Roy Palmer Die Piratenfalle
1. »Legt sie in Ketten!« Philip Hasard Killigrews Ruf schallte über das tiefblaue, glitzer...
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Roy Palmer Die Piratenfalle
1. »Legt sie in Ketten!« Philip Hasard Killigrews Ruf schallte über das tiefblaue, glitzernde Seewasser der Kraterbucht von Santorin, brach sich an den grauschwarzen Lavafelsen der Insel, die die dreihundert Yards tiefe Kaldera hufeisenförmig umklammerte, und wurde von ihnen zurückgeworfen. Breitbeinig stand der Seewolf auf dem primitiven hölzernen Anleger, den die sechzehn wüsten Kerle des Sizilianers Lorusso gezimmert hatten. Sie würden hier nie wieder etwas errichten und nie wieder in den Höhlen über der Bucht hausen. Die Kykladen-Insel war der Schlupfwinkel dieser Piraten gewesen, doch jetzt mußten sie ihn aufgeben zwangsläufig. Hasard hatte fünf weiße Sklaven aus der Mine im Inselinneren befreit. Anschließend hatte er Lorusso und dessen Bande in einem tollkühnen Handstreich überwältigt. Und jetzt verfuhr er ungefähr so mit ihnen, wie sie mit den Zwangsarbeitern, diesen armen Teufeln, umgesprungen waren. Fast einen Monat lang rackerten sich die Bedauernswerten schon ab, für nichts und wieder nichts. Lorusso war von der Wahnsinnsidee besessen gewesen, Silber zu finden, aber bis jetzt waren die von Malta entführten Gefangenen nicht auf die Spur des kostbaren Metalls gestoßen. Big Old Shane, Ferris Tucker, Carberry und Batuti schleppten die Ketten heran, die sie den soeben Befreiten abgenommen hatten. »In den Hütten vor der Mine haben wir noch mehr Ketten gefunden«, erklärte Shane. »Ich dachte, es wäre wohl ratsam, 2
sie gleich mitzunehmen.« »Sie leisten uns jetzt beste Dienste«, sagte Hasard grimmig. Er sah zu Iride, während er weitersprach. Iride war Lorussos Geliebte. Sie und die anderen sieben Mädchen, hatten sich sogleich ergeben, als der Sizilianer besiegt worden war. »Sperrt sie im Vordeck ihres eigenen Schiffes ein«, fuhr Hasard fort. »Wir nehmen sie mit.« »Was hast du mit ihnen vor?« fragte Iride entsetzt. »Glaubst du, ich lasse sie hier zurück?« »Nein. Aber willst du sie - umbringen?« In den dunklen Augen des Mädchens flackerte Angst. Sie war eine temperamentvolle, etwas derbe Schönheit aus Sizilien. Ihre schwarzen Haare umflossen wie Wellen ihr Gesichtsoval und hingen lang über ihre Schultern. Sie tat so, als sei ihr an Lorusso, dem Erledigten, plötzlich nichts mehr gelegen - aber ganz so schien es doch nicht zu sein. Hasard musterte sie kühl. Ihre Blicke verschmolzen ineinander. »Du hast mir doch selbst erzählt, daß die Aradschy-Brüder, die auch hier ihren Schlupfwinkel haben, nach Malta aufgebrochen seien und die übrigen sechs Gefangenen mitgenommen hätten.« »Ja.« »Ist es die Wahrheit?« »Ich schwöre es dir.« Ihr Spanisch war voller Akzente, aber dennoch war sie gut zu verstehen. »Na also.« Mehr antwortete Hasard nicht. Sollte sie sich den Kopf darüber zerbrechen, was er nun mit den gefangenen Piraten vorhatte. Er ließ sich von ihr nicht in die Karten schauen. Eins stand fest, er hatte es schon gesagt. Sie brachen so schnell wie möglich nach Malta auf. Ohnehin war die Insel sein Ziel, denn er hatte den Schatz der Malteserritter an Bord. Shane und die anderen legten die Piraten in Ketten. Der Rest der Crew verharrte oberhalb des Anlegers und richtete 3
unausgesetzt die Schußwaffen auf Lorussos Meute. Lorusso, der große, fast kahlhäuptige Sizilianer aus Palermo, saß immer noch auf dem Hosenboden. Nach Hasards Fausthieb war er bewußtlos zusammengebrochen, dann aber wieder zu sich gekommen. Durch seinen gebrüllten Befehl hatte er verhindert, daß die letzten vier Piraten von ihrem Zweimaster aus mit den Bordgeschützen auf die Seewölfe feuerten. Er, Lorusso, hätte dafür mit dem Leben bezahlt. Hasard hielt die doppelläufige Radschloßpistole immer noch auf ihn gerichtet. Wenn die Niederlage auch deprimierend war - den Piraten galt der Befehl ihres Oberhauptes genausoviel wie vorher. Haßerfüllt funkelte Lorusso seinen Bezwinger an. »Das wirst du mir büßen, Diaz de Veloso. Ich zahle es dir heim, maledetto cane, verfluchter Hund.« Ferris Tucker, Hasards rothaariger Schiffszimmermann, wollte dem Kerl einen Tritt versetzen. Aber Hasard winkte ihn zurück. Lorussos Flüche berührten ihn nicht. Diaz de Veloso - um Lorusso zu überlisten, hatte er sich wieder einmal dieses Namens bedient. Er hatte ein Gebräu getrunken, das der Kutscher während der Nacht zubereitet hatte, und ihm war sterbenselend zumute geworden. Mehr noch, er war im Gesicht und am ganzen Körper gelb wie eine Quitte gewesen. Gelbsuchtsymptome. Das vollständige Erscheinungsbild einer gefürchteten Krankheit. Den Trick mit dem Trank hatte der Kutscher Doktor Freemont, seinem einstigen Herrn, abgeschaut. Nachdem Hasard seine komplette Crew mit den beiden Beibooten zum Ostufer von Santorin geschickt hatte, hatte er die ›Isabella VIII.‹ allein direkt in die Höhle des Löwen gesteuert. Auf halbem Weg hatten die Piraten ihn in der Kaldera abgefangen. Sie hatten die ›Isabella VIII.‹ geentert und bis zum Anleger neben ihren Zweimaster geführt wo sie auch jetzt noch lag. Lorusso war Hasards List auf den Leim gegangen. Und er 4
hatte den Seewolf leben lassen, weil dieser ihm zwischen zwei Ohnmachtsanfällen versichert hatte, ein zweites Schatzschiff sei von Malaga zur Republik Venedig unterwegs. Er wisse, wo es Zwischenstation einlege. Lorusso hatte den wieder bewußtlos zusammengebrochenen Hasard daraufhin in die Mine bringen lassen. Lorusso hatte erfahren wollen, wo das zweite Schiff lag, fürchtete andererseits aber auch die Ansteckungsgefahr. So hatte er in seiner maßlosen Gier nach Gold, Silber und Juwelen seinen schwerwiegendsten Fehler begangen. Kaum in der Mine angelangt, hatte Hasard mit seiner Rettungsaktion für die Gefangenen begonnen. Hasard war immer noch gelb im Gesicht, aber die Übelkeit hatte sich gelegt, wie ihm der Kutscher ja auch prophezeit hatte. »Lorusso«, sagte er auf spanisch. »Es gibt kein Silber auf Santorin. Leuchtet dir das endlich ein?« »Merda. Woher willst du das wissen?« »Ich kenne die Neue Welt. Ich weiß, wie die Erde, in der Silber und Gold lagern, beschaffen ist. In diesem Lavagestein hättest du niemals auch nur die winzigste Ader entdeckt.« Lorusso hob in ohnmächtiger Wut die Fäuste. »Lügen, nichts als Lügen wie die Geschichte mit dem zweiten Schatzschiff, die du mir aufgetischt hast Fahr zur Hölle!« »Du hast also endlich begriffen.« »Gelbsucht! Pah!« Lorusso spuckte aus. »Ich Narr, daß ich darauf hereingefallen bin!« Er senkte den mächtigen Schädel, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wer bist du wirklich? Ich habe deutlich gehört, daß du mit deinen Hurensöhnen von Männern eine andere Sprache sprichst. Englisch? Du Hund - du bist nicht Diaz de Veloso!« Hasards Miene wurde steinhart. Er hob die sächsische Reiterpistole etwas und zielte nun genau auf Lorussos Kopf. »Paß auf, wie du dich ausdrückst, Lorusso. Zügle deine Zunge, 5
sonst vergesse ich mich doch noch und knalle dich nieder.« Der Pirat erblaßte. Sein breites Gesicht war jetzt kalkweiß. Er war ein fast sechs Fuß großer, massiv gebauter Mann, nur Knochen und Muskeln, kein Quentchen Fett auf dem Leib. Am Körper war er behaart wie ein Affe, auf dem Haupt hingegen nur spärlich. Seine blauen Augen spiegelten die ganze Grausamkeit, die in ihm steckte. Aber seine Miene hatte sich verändert, seit Hasard ihm die Faust unter die Kinnlade gerammt hatte. Lorusso wußte, daß er zum ersten Mal in seinem Leben einen Gegner gefunden hatte, der ihm haushoch überlegen war. In allem. Diese Gewißheit setzte ihm mehr als alles andere zu. »Also gut«, sagte der Seewolf. »Ich heiße Philip Hasard Killigrew.« »Verdammt«, entfuhr es dem Sizilianer. »Il lupo del mare.« »Ja, el Lobo del Mar, so nennen mich auch die Spanier.« Stille breitete sich aus. Lorusso blickte zu den Umstehenden, zu seinen Kerlen, zu den vieren, die jetzt mit erhobenen Händen den Zweimaster verlassen hatten und von Shane, Ferris, Carberry und dem Gambia-Neger in Ketten gelegt wurden - zu Iride und den anderen sieben Mädchen. Ein spöttischer Zug spielte um Irides Lippen, fiel jedoch von ihr ab, als der Blick des Anführers sie traf. »Der Seewolf«, wiederholte Lorusso. »Al diavolo - zum Teufel. Ich habe vernommen, du hast Uluch Ali zu den Fischen geschickt.« »Das stimmt.« »Die algerischen Piraten erzählen die haarsträubendsten Geschichten über dich ...« »Und die syrischen Piraten werden es jetzt auch tun, denn ich habe einen ihrer Verbände völlig aufgerieben. Es ist erst ein paar Tage her.« Hasard sagte es ohne Überheblichkeit. Es entsprach ja den Tatsachen. Im allgemeinen prahlte er nicht mit seinen Unternehmungen, aber es war gut, Lorusso noch ein 6
wenig mehr einzuschüchtern. »Vor einem, der den großen Uluch Ali erledigt hat, brauche ich mich nicht zu schämen«, sagte Lorusso. Iride lachte auf. »Ach, so drehst du das Ganze! Um dich für die Niederlage zu rechtfertigen, erklärst du wahrscheinlich sogar noch, es sei dir eine Ehre, von dem legendären Seewolf überwältigt worden zu sein, wie?« »Schweig!« brüllte Lorusso sie an. »Beweg dich nicht in meine Nähe, sonst drehe ich dir den Hals um, du Miststück!« Er bediente sich seiner Muttersprache, aber die Seewölfe nahmen doch genügend Vokabeln auf, um den Wortsinn verstehen zu können. Spanisch und Italienisch war einander schließlich sehr verwandt. Lorusso wandte weiter den Kopf und entdeckte Giuliano Salce. Der Malteserritter stand hoch oben auf dem terrassenförmig gestuften Westufer der Insel, inmitten der Männer der ›Isabella VIII.‹ und der anderen fünf befreiten weißen Sklaven. »Bastard!« schrie der Pirat. »Jetzt erst sehe ich, daß auch du zurückgekehrt bist. Ich verfluche dich, elender Hund von einem Toskaner! Dir habe ich also alles zu verdanken!« Salce nickte ernst. »Du nahmst wohl an, nach meiner Flucht sei ich im Sturm umgekommen. Du hast dich getäuscht. Ich wurde aus dem kaputten Kaiki auf eine winzige Insel gespült. Dann schickte ich die Katze auf einem Stück Treibholz aus. Ich hatte ihr einen Rohlederstreifen mit einer Botschaft um den Hals gebunden - und die Seewölfe fanden sie.« Zärtlich strichen seine knochigen Finger über das Fell der Katze Micia. Er hatte sie auf seinen Arm genommen. »Ich forderte dich zum Zweikampf heraus!« rief Lorusso. Hasard tat einen Schritt auf ihn zu, und er verstummte augenblicklich. »Schluß jetzt«, sagte Hasard. »Wir haben uns dein Gekläff lange genug angehört. Schweig.« 7
»Warum duellierst du dich nicht mit dem Seewolf?« fragte Iride ihren Geliebten. »Du traust dich jetzt wohl nur noch an so abgezehrte Gestalten wie den Toskaner heran, was?« »Teufelshure!« stieß Lorusso hervor. Hasard beschrieb eine Gebärde mit der Pistole. Beide preßten nun die Lippen zusammen und äußerten kein Wort mehr. In die lähmende Stille fiel der Ruf Dan O’Flynns. »Hasard die ›Isabella‹! Verdammt, sie macht sich selbständig!« Der Seewolf fuhr herum und blickte zu den beiden Schiffen. Die jähe Erkenntnis traf ihn wie ein Hieb. Wirklich, seine Galeone hatte sich von dem Zweimaster, an dessen Backbordseite sie vertäut gewesen war, gelöst. Sie dümpelte in die Kaldera hinaus. Plötzlich ging alles sehr schnell. Eine ganze Kette von Ereignissen nahm ihren Lauf. * Hasard wollte sich von Lorusso abwenden, über den Laufsteg an Bord des Zweimasters stürmen und dann auf die ›Isabella VIII.‹ hinüberjumpen er wollte! Kaum hatte er sich aber ganz umgedreht, fühlte er sich an den Beinen gepackt. Lorusso! Der heimtückische Kerl nutzte seine Chance und unternahm einen Angriff. Er hatte sich einfach nach vorn geworfen und mit beiden Armen zugegriffen. Hasard flüchte unter der Umklammerung. Er versuchte, sich loszureißen, aber es gelang nicht. Lorusso hielt ihn wie mit Eisenzangen. Hasard geriet aus dem Gleichgewicht und schlug hin. Er prallte mit dem Bauch auf. Es tat höllisch weh. Aber keine Sekunde vergaß er seine Pistole. Er hielt sie fest und paßte auf, daß sie ihm nicht entglitt. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte Edwin Carberry, der Profos, mit offenem Mund dagestanden. Jetzt aber löste sich ein Fluch aus seiner Kehle: »Himmel, Arsch und Zwirn, so 8
ein verfluchter Mist!« Er duckte sich als erster, jagte wie der Blitz quer über den hölzernen Anleger und nahm die Gangway zum Piratenschiff mit zwei Sätzen. Wer Carberry nicht genau kannte, traute ihm dieses Tempo keineswegs zu. Er war ein schwerer, bulliger Mann, aber er konnte laufen wie ja, wie ein aufgebrachter Keiler, den man aus der Suhle aufgescheucht hat. Hasards Männer schrien und richteten die Waffen auf Lorusso. Nur Ferris, Shane und Batuti, die jetzt ebenfalls die Pistolen gezückt hatten, paßten bei der Pier darauf auf, daß es keinem der Gefangenen einfiel, es dem Sizilianer gleichzutun. Die meisten waren schon mit Ketten versehen, aber zwei, drei standen noch frei. »Hölle, warum haben wir den Hund Lorusso nicht als ersten in Eisen gelegt?« schrie Big Old Shane. »Oh, ich könnte mir vor Wut in den Hintern beißen!« Hasard unternahm trotz seiner Schmerzen einen zweiten Versuch, um sich aus Lorussos Griff zu befreien. Er bewegte sich ruckend, robbte praktisch über die Pier. Wieder hatte er keinen Erfolg. Der Sizilianer hielt ihn fest und zog ihn schließlich sogar zu sich heran. Er warf sich mit der ganzen Wucht, die in seinem Sechs-FußKörper steckte, auf den Seewolf. Hasard drehte sich und trachtete, den Schurken von sich zu wälzen, aber Lorusso war zäh. Schwer landete er auf seinem Todfeind. »Hund, ich erdrossle dich«, stieß er aus. Der Profos hatte die Kuhlgräting des Piratenschiffes passiert. Er bereitete sich schon auf den gewaltigen Sprung vor, den er zur wegtreibenden ›Isabella VIII.‹ hin vollführen wollte da krachte es explosionsartig. Gleichzeitig blitzte es grellrot vor ihm auf. Carberry verfügte über ausgezeichnete Reflexe. Er ließ sich fallen. Er landete wie Hasard auf dem Bauch, fing sich aber mit den Händen ab. Etwas orgelte über ihn weg und fauchte auf die 9
Pier zu. Carberry brüllte, daß die Planken des Zweimasters zu vibrieren begannen: »O Hölle und Verdammnis, diese Ratten, diese Mistfresser, diese dreimal verfluchten, hinterhältigen Hurensöhne - sie haben uns eine Falle gestellt, und was für eine!« Auf dem Anleger und an Land gingen die Männer und Frauen ebenfalls in Deckung. Das, was da über den Profos hinweggesaust war, schlug mit dumpfem Laut in die Lavafelsen und blieb stecken. Ein paar Gesteinsbrocken wirbelten durch die Luft und klatschten ins Wasser. »Eine Drehbassenkugel!« rief Old Donegal Daniel O’Flynn. Und Matt Davies schrie: »Von unserem eigenen Schiff!« Carberry war bis zum Backbordschanzkleid des Piratenschiffes gekrochen. Er riß seine Pistole aus dem Gurt, spannte den Hahn, schob sie hoch. In diesem Augenblick sah er etwas, das ihn buchstäblich erstarren ließ. Ein paar Festmacherleinen, die die Schiffe miteinander verbunden hatten, baumelten diesseits des Schanzkleides herab. Sauber durchgetrennt. Gekappt. Aber das war es nicht. Eine davon war keine Leine, kein Tampen, und sie hing auch nicht lose auf Deck, sondern führte bis zur Gräting, dann durch den Holzrost bis in den Schiffsbauch hinunter. Eine Lunte. Ihr Ende glomm leise knisternd dahin. Zug um Zug schmolz es weg - Carberry gingen die Augen über. Er schluckte, dann packte er zu. Das Luntenfeuer sengte ihm die schwieligen Hände an, aber o Schockschwerenot - es war ihm so verdammt egal. Wenigstens brachte er die Glut zum Ersticken. Dafür war kein Preis hoch genug. Auf der Pier balgten sich immer noch der Seewolf und der Sizilianer. Hasard steckte zwei Hiebe ein, dann richtete er sich unter dem Gegner auf und preßte ihm die Mündung der Doppelläufigen gegen den Leib. Die Crew sah es. Ben Brighton, Al Conroy und ein paar andere hatten schon ihre Waffen auf die Kämpfenden angelegt. 10
Aber sie konnten nicht auf Lorusso abdrücken. Sie riskierten, ihren Kapitän mit zu töten oder zumindest zu verletzen. Ihnen waren im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden. »Drück ab, Hasard!« rief Al Conroy jetzt. »Ja, töte ihn!« schrie Gary Andrews. Hasards eisblaue Augen fixierten den Gegner. Lorusso verhielt, spürte den Druck der Waffe, sah an sich hinunter und fuhr zusammen, als er die Waffe erblickte. In seinem blindwütigen Eifer hatte er nicht bedacht, daß der Seewolf die Radschloßpistole nicht verloren hatte. »Bring mich nicht um«, sagte er entsetzt. »Du Ratte«, erwiderte Hasard. »Ich habe einen Fehler begangen. Einen deiner Männer habe ich oben in der Mine getötet, fünf habe ich gefangengenommen. Fünf befanden sich auch in deiner Begleitung, als wir dich überraschten und festnahmen. Das sind elf - mit dem Toten. Vier Mann verließen das Deck deines Zweimasters. Macht fünfzehn. Ich habe den sechzehnten vergessen. Er versteckte sich auf meinem Schiff, dann, als keiner hinsah, kappte er die Taue.« Hasard sprach so laut, daß es alle verstehen konnten, auch der Profos. »Ich habe es nicht bemerkt«, flüsterte Lorusso. Der kalte Angstschweiß war ihm ausgebrochen. »Du lügst.« »Ich schwöre es.« »Was ist denn dein Schwur wert?« »Bei allem, was ich habe, bei allem, was mir etwas bedeutet bei meinem Leben«, haspelte der Sizilianer hervor. »Ich schwöre, daß ich es nicht wußte.« »Es war ein abgekartetes Spiel?« »Nein, nein, bestimmt nicht.« Carberry, immer noch hinter dem Schanzkleid des Piratenseglers in Deckung, schrie: »Und eine Lunte zu den Pulverfässern im Frachtraum hat dieser Hundesohn gelegt und angezündet, bevor er mit der ›Isabella‹ auf und davon 11
gegangen ist!« »Lösche sie, Ed!« rief Matt Davies. »Das hab ich doch schon getan, du Tintenfisch!« dröhnte es zurück. Immer weiter dümpelte die ›Isabella VIII.‹ in die Kraterbucht hinaus. Hasards Crew legte mit Musketen und Arkebusen auf das eigene Schiff an. Edwin Carberry entdeckte, daß eins der Backbordgeschütze auf dem Zweimaster fix und fertig geladen war. Er stieß die Stückpforte auf, brachte die Kanone in Feuerstellung und schickte sich an, die Lunte zu entfachen. »Hasard!« rief er. »Der Henker soll mich holen, aber ich muß auf die ›Isabella‹ feuern. Gib mir den Befehl, und ich verpasse ihr mit der Kanone hier ein Ding, das sich gewaschen hat!« »Warte, Ed!« Von Bord der ›Isabella VIII.‹ klang ein hämisches Lachen herüber. Alle spähten hinüber. Auch der Profos lugte über den oberen Rand des Schanzkleides - nur Hasard hielt die Augen unverwandt auf Lorusso gerichtet. Auf der ›Isabella VIII.‹ lief eine Gestalt auf und ab. Sie hatte die eine Drehbasse des Achterdecks abgefeuert, jetzt wechselte sie zu der anderen hinüber. »Lorusso«, sagte Hasard. Er sprach nicht einmal besonders laut. »Du hast noch eine Chance. Bring diesen Schweinehund von seiner Wahnsinnsidee ab. Du hast dein Schicksal selbst in der Hand.« Der Sizilianer fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Sie schmeckten spröde und salzig. In seiner Kehle schien ein Kloß festzusitzen, er würgte, kriegte ihn aber nicht herunter. Er drehte sich zu den Terrassen um. »Ovidio!« brüllte er heiser. »Capo?« Ovidio, der Kalabrese, war die rechte Hand des Piratenführers. Ihn hatte der Seewolf, als ersten oben in der Mine übertölpelt. Er lag jetzt flach neben seinen Bewachern 12
auf einer der Hangterrassen. »Ovidio, wer ist der Hurensohn auf dem Schiff?« »Ahmed, Capo.« »Der Türke«, murmelte Lorusso. »Zerspringen soll er, daß er mir das eingebrockt hat ...« »Du verlierst Zeit«, sagte Hasard kalt. »Beeil dich.« Er drückte nur etwas fester mit der Reiterpistole zu, und Lorusso richtete sich steif und voller Angst auf. »Ahmed!« donnerte seine Stimme aufs Wasser hinaus. Stille breitete sich aus. Hasards Männer an Land kauerten bereits fertig zum Aufspringen. Ben Brighton hatte ein Zeichen gegeben. Jawohl, sie würden das Ufer hinabjagen und versuchen, sich zu Carberry zu gesellen. Ahmed konnte sie mit einem einzigen Drehbassenschuß ins Jenseits befördern, aber trotzdem würden sie es wagen. Denn der einzige Weg, die ›Isabella VIII.‹ zurückzugewinnen, war die Verfolgung. Ben Brighton war zumindest davon überzeugt. »Wir müssen diesem Halunken mit dem Zweimaster nach«, sagte er immer wieder. »Wir müssen es schaffen, sonst sind wir unser Schiff und den Schatz für alle Zeiten los!« »Ahmed!« schrie Lorusso noch einmal. Wider Erwarten erfolgte die Antwort : »Ich höre dich!« Schrill wehte die Stimme von Bord der ›Isabella VIII.‹ herüber. Sie schien einem total Übergeschnappten zu gehören. Ahmed hatte sämtliche Trümpfe in der Hand, aber das Spiel schien erheblich an seinen Nerven zu zerren. »Dreh sofort bei und kehre zum Anleger zurück!« brüllte der Sizilianer. »Das ist ein Befehl!« »Den Teufel werde ich tun!« gellte es zurück. »Ich erwürge dich, du Bastard!« »Versuch’s!« schrie Ahmed triumphierend. »Mich kriegst du nicht mehr. Mich erwischt keiner mehr, denn ich habe ein wunderbares, schnelles Schiff ergattert, das auch ein einzelner Mann eine beträchtliche Strecke steuern kann.« 13
»Ahmed!« Lorussos Stimme zitterte jetzt. »Der Seewolf - er bringt mich um, wenn du nicht augenblicklich umkehrst!« Ahmeds Gelächter tönte meckernd herüber. »Soll er dich abservieren! Es ist mir scheißegal, was mit dir geschieht, Lorusso! Kratz ab! Du hast mich lange genug gepiesackt. Das Blättchen hat sich gewendet. Du kannst mich mal, du alter Narr!« Lorusso war den Tränen nahe. Er versah auch jetzt, kurz vor dem Abschluß seines fluchwürdigen Daseins, seine Rolle mit südländischer Theater Grandezza. »Der Sturm soll dich zerschmettern, du Türkenhund!« brüllte er. »Ich verfluche dich! Du wirst an dem Schatz ersticken und in der See ersaufen wie ein räudiger Hund! Drück ab, Seewolf, drück endlich ab!« Hasard hatte geahnt, daß Ahmed seinem Anführer nicht gehorchen würde. Ohne daß Lorusso es bemerkte, hatte er den Pistolenhahn in Ruhestellung zurückgeführt, indem er den Abzug betätigte und den Hahn dabei mit dem Daumen festhielt. Jetzt zog er die Waffe einfach hoch. Er drehte sie, daß der Lauf steil nach oben wies und knallte Lorusso den Griff unter die Kinnlade. Sie war ein bildschönes, wunderbar verziertes Modell, diese sächsische Reiterpistole. Der Knauf am unteren Griff war besonders dick ausgearbeitet - damit man einen Gegner traktieren konnte, wenn beide Schüsse fehlgingen. Lorussos Kinn wurde also zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit poliert. Es knackte bedenklich darin, dann sank er hintenüber und schlug auf die Planken der Pier. Seine Arme sackten schlaff zu den Seiten weg. Danach lag er reglos. Hasard verlor keine Sekunde Zeit. Er legte die Pistole hin, entledigte sich der Stiefel, der Hose und der Lederweste und glitt zwischen Anleger und Steuerbordseite des Zweimasters ins Wasser.
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2. Shane, Ferris und Batuti hatten sich bei dem Schuß, den Ahmed aus der Drehbasse abgegeben hatte, auf die Pier fallen lassen. Sie lagen neben den bereits mit Ketten gefesselten Piraten und waren durch den zweimastigen Segler vor weiteren Schüssen geschützt. Shane kroch auf allen vieren vorwärts. Was Hasard vorhatte, war ihm sofort klar. Eins war dabei von größter Bedeutung: daß Ahmed nicht einmal ahnte, was gespielt wurde. Er hatte die Sicht auf den Anleger von seiner jetzigen Position aus höchstens halb frei, folglich hatte er Hasards heimlichen Abgang nicht bemerken können. Jetzt galt es, den Türken abzulenken. Shane war neben dem bewußtlosen Lorusso und nahm die Radschloßpistole auf. Er drehte sich auf die Seite, hob die Waffe - und drückte ab. Grollend brach der Schuß. Er stieg in den azurblauen Himmel der Ägäis auf, ohne Schaden anzurichten. Shane grinste wild unter Schwaden von Pulverdampf und schrie: »Feuer!« Ben Brighton begriff ebenfalls. »Drauf!« schrie er in seiner Deckung. »Gebt es diesem Hund, solange die Munition reicht.« Die Seewölfe deckten ihre ›Isabella VIII.‹ mit konzentriertem Beschuß ein. Fast stakkatoartig belferten die Musketen und Arkebusen, und im Nu waren die Terrassen des Ufers mit beißendem Rauch überzogen. Iride und die anderen sieben Mädchen lagen dicht nebeneinander. Sie hielten sich die Ohren zu. Die Kugeln und das gehackte Blei und Eisen der Gewehre erreichten sehr wohl noch das Achterdeck der ›Isabella VIII.‹. Wenngleich ein genaues Zielen auf den Türken auch nicht möglich war - das Feuer hinderte ihn zumindest daran, seinen Platz zu verlassen und ins Ruderhaus zu laufen. 15
Und dann trat Carberry in Aktion. Er zündete das Backbordgeschütz des Piratenschiffes. Ein Donnerhall, und die Kanone raste unter dem immensen Rückstoß zurück. Hart rumpelte sie über Deck, bis sie von ihrem Brooktau aufgefangen wurde. Ihr Rohr entließ eine kurze Feuerzunge. Sie trieb die Eisenkugel vor sich her über die Wasserfläche in leicht ansteigender Bahn auf die ›Isabella VIII.‹ zu - und dann fegte sie haarscharf über die achtere Schmuckbalustrade. Ahmed wagte es nicht mehr, den Kopf zu heben. Carberry atmete auf. Die Kugel raste weiter und klatschte weit draußen wirkungslos ins Wasser. Aber er hatte erreicht, was er wollte - den Türken einzuschüchtern. Er hatte die stolze Dreimast-Galeone nicht treffen wollen, und hätte er sich verkalkuliert, so hätte es ihm in Herz und Seele weh getan. Das Musketenfeuer dauerte an. Ben Brighton ließ die leergefeuerten Waffen in aller Eile nachladen. Er achtete darauf, daß kein Schuß zu kurz saß und in das Wasser zwischen Anleger und ›Isabella VIII.‹ schlug. Auf keinen Fall durften sie Hasard in Gefahr bringen. Der Erfolg ihres Unternehmens stellte sich ein. Ahmed konnte die ›Isabella VIII.‹ nicht dirigieren. Sie trieb quer. Die Strömung, die sie in den Kraterkessel weiterbefördert hatte, nahm jetzt eine andere Richtung. Ahmed hätte Segel setzen und zum Ruder greifen müssen, um den Kurs zu halten. Doch er riskierte, eine Musketenkugel verpaßt zu kriegen, wenn er auch nur ein paar Schritte auf dem Achterdeck tat. Kriechen konnte er. Aber damit verlor er kostbare Zeit. Die ›Isabella VIII.‹ lief aus dem Ruder und dümpelte der Südseite der Kaldera entgegen. * Hasard hatte sofort getaucht. Er trug jetzt nur noch eine kurze Hose, alle anderen Kleidungsstücke hätten ihn behindert. Als 16
einzige Waffe hatte er sein Messer in dem Gurt stecken, der die Hose um seine Hüften festhielt. Mit einigen kräftigen Zügen glitt er an der Steuerbordseite des Zweimasters entlang und gelangte an das Heck. Er schob sich am Steuerruder vorbei und stieß mitten in die Kaldera, das Kraterloch, hinein. Tiefblau gähnte das Wasser des Abgrundes. Mit jeder Schwimmbewegung, die Hasard tat, wurde das Naß kälter. Der Göttervater Zeus, so berichtet die Legende, habe eine Handvoll Felsen mitten aus der Insel Santorin geklaubt, um sie den flüchtigen Titanen hinterherzuschleudern. Fünf Einschnitte in der Halbkreisform des Westufers stellten die Ausbuchtungen dar, die sein Daumen und die Fingerknöchel hinterließen. Die Brocken, so heißt es, flogen bis ins Tyrrhenische Meer und ließen als Mahnmal den Stromboli zurück. Giuliano Salce hatte dem Seewolf erzählt, daß Santorin und ihre Nachbarinseln in grauen Vorzeiten den Kraterrand eines Vulkans gebildet hätten. Ein Ausbruch unvorstellbaren Ausmaßes sprengte die Inselmitte in die Luft und begrub den östlichen Mittelmeerraum unter einer über hundert Yards hohen Flutwelle, die auch das Kreta des Königs Minos auslöschte. In den übriggebliebenen Ringen brach an drei Stellen das Meer ein und ließ nur die Restinseln Santorin und Thirasia sowie das Eiland Aspronisti zurück. Mythos und Wirklichkeit - doch in dem meergefüllten Loch, das angeblich der zornige Faustgriff des Göttervaters geschaffen hatte, kündete jetzt ein weiterer schwarzbrauner Lavabuckel von der Rastlosigkeit des amphibischen Vulkans: 1557 hatte sich die Insel Mikra Kaimeni an die Oberfläche des Kratermeeres geschoben. Hasard glaubte die uralte Drohung, die aus der Tiefe erfolgte, körperlich zu spüren. Eine unheimliche Macht, unsichtbar, sie schob sich auf ihn zu, drang in ihn ein und wollte ihn überwältigen. Gewaltiger Druck und stechender Schmerz 17
setzten seinen Lungen von innen her zu. Die Atemnot wuchs ins Unerträgliche. Hasard hielt so lange stand, wie er irgend konnte, und beforderte sich mit mächtigen Arm und Beinbewegungen weiter voran. Als der Luftmangel ihm Kopf und Brust regelrecht zu zersprengen drohte, ließ er sich vom Auftrieb des Wassers nach oben führen. Vorsichtig schob er den Kopf aus den Fluten und schöpfte Luft. Der einströmende Sauerstoff verdrängte die Schmerzen und das Gefühl des Berstens. Hasard atmete zweimal tief durch. Dabei hielt er blitzschnell Ausschau. Schüsse strichen pfeifend über ihn weg, von Land her drang das Krachen der Musketen und Arkebusen herüber. Aber er hatte keine Bedenken. Seine Crew verfügte über den Scharfsinn, sein Vorhaben im Ansatz zu erkennen. Sie wußte also, daß er hier, zwischen dem Zweimaster und der ›Isabella VIII.‹ schwamm, und trachteten, nicht zu tief zu zielen. Ein Blick noch zur Galeone, dann tauchte der Seewolf wieder unter und nahm den Eindruck mit in die Tiefe: Sein Schiff hatte sich in der Strömung gedreht und driftete auf den südlichen Rand der Kraterbucht zu. Für Hasard war das eine ausgesprochen günstige Wende. Er schwamm der ›Isabella VIII.‹ nun nicht mehr nach, sondern hielt praktisch im spitzen Winkel auf sie zu. Seine Hoffnung, sie noch zu erreichen, wuchs. Zwei, drei Fuß unter der Wasseroberfläche glitt er dahin. Er wußte nicht, ob er noch einmal zum Luftholen auftauchen mußte. So genau ließen sich die Dinge nun auch wieder nicht bemessen. Er baute aber darauf, es mit seinem jetzigen Atemvorrat zu schaffen. Die Wassertemperatur sank und die Farbe des Nasses ging von Tiefblau in Schwarzblau über. Dann aber schob sich ein Schatten vor das bedrohliche Bild des Abgrundes. Es war ein gigantischer Schemen, schwarz wie die Nacht aber für Hasard ging eine Aura des Familiären, 18
Vertrauten von ihm aus. Die ›Isabella VIII.‹! Zur Hölle mit dem Schurken Ahmed, der es gewagt hatte, sie zu entführen! Sie war der ganze Stolz der Seewölfe, diese prächtige Dreimast-Galeone, und jeder von ihnen ließ sich lieber eine Kugel durch den Kopf schießen, als daß er sie aufgab. Das hatte besondere Gründe. Hasard hatte den sehr fortschrittlich konstruierten Segler in Plymouth von Englands bestem Schiffbauer gekauft - und die Crew hatte mit zugelegt. Die ›Isabella VIII.‹ war also ihr rechtmäßiges Eigentum. Sie brauchten keinem mehr Rechenschaft abzulegen und fuhren dieses Schiff mit einem ganz anderen Bewußtsein als seine Vorgänger. Lautlos zog der Riesenschatten an Hasard vorbei. Er verdoppelte seine Anstrengungen. Das Heck rückte auf ihn zu. Kurz darauf sah er in dem kristallklaren Wasser auch das Steuerruder. Er schoß darauf zu und packte es mit beiden Händen. Ein Ruck, und die ›Isabella VIII.‹ hatte ihn in ihre Bahn gezogen. Hasard krümmte sich, zog sich näher heran und klammerte sich wie ein Affe an das Ruder. Ohne weitere Zeit zu verlieren, klomm er hoch. Behutsam hob er den Kopf aus den Fluten, atmete durch und gab sich dabei Mühe, nicht zu japsen. Er hangelte weiter nach oben und gelangte an die Hennegatöffnung, das Loch im Schiffsheck zur Durchführung des Steuerruders. Hier richtete er sich auf. Die Männer an Land mußten ihn jetzt sehen können. Hasard blickte nicht hin, er konzentrierte sich auf sein Ziel. Wo steckte Ahmed, der Türke? Noch auf dem Achterdeck? Würde er ihn entdecken, wenn er an Bord kletterte? Was war, wenn einer der Piraten auf der Insel einen Warnruf ausstieß? Hasard zwang sich, nicht daran zu denken. Er wippte ein wenig in den Knien, dann stieß er sich ab und sprang zur Heckgalerie hoch. Seine Finger erreichten die 19
Schmuckbalustrade und umklammerten sie. Einen Moment baumelte Hasard, dann schwang er sich weiter hoch, stützte sich mit den Armen auf und brachte die Beine über die Handleiste weg. Geduckt stand er auf der Heckgalerie. In diesem Augenblick setzte der Beschuß aus. Ben Brighton war es zu gefährlich geworden, auf die Galeone feuern zu lassen. An seinem jetzigen Standort konnte der Seewolf leicht durch eine Kugel verletzt oder gar getötet werden. Das mußte dem Türken auffallen! Hasard huschte zur Tür, die ins Achterkastell führte. Sie war verriegelt. Hölle und Teufel, dachte er, du selbst hast sie abgeschlossen, zum Henker mit der Pedanterie! Eins der Bleiglasfenster ließ sich aufdrücken. Hasard atmete auf. Er stieg über die Bank weg, stand nun in seiner Kapitänskammer und schob das Fenster lautlos wieder zu. Das Musketen und Arkebusenfeuer seiner Crew begann wieder zu krachen. Hasard schlich, pudelnaß und halbnackt, quer durch die Kammer zur Tür, öffnete sie und trat in den Schiffsgang hinaus. Dunkelheit umfing ihn. Leise huschte er weiter. Selbst im Stockfinsteren hätte er sich zurechtgefunden, denn er kannte die Anordnung der Räume und Gänge im Schlaf. Ein feiner, kaum spürbarer Ruck lief durch den Schiffskörper. Hasard wußte, was das war. Ahmed hatte es geschafft, bis zum Ruderhaus zu kriechen. Jetzt brachte er die ›Isabella VIII.‹ wenigstens mittels des Ruderrades auf den alten Fluchtkurs zurück. Die Segel konnte er immer noch nicht setzen, weil er sich noch in Schußweite der Seewölfe befand. Aber wahrscheinlich hoffte er, doch allmählich vom ablandigen Wind aus der Bucht gedrückt zu werden. Hasard zog sein Messer aus dem Gurt. Er nahm die Stufen des Backbordniederganges und befand sich hinter dem Querschott, das auf das Quarterdeck führte. 20
Wenn er hinaustrat, hatte er das Achterdeck schräg nach oben versetzt in seinem Rücken und das Ruderhaus vor sich. Hasard betätigte den Riegel. Disziplin und Pedanterie an Bord eines Segelschiffes hatten auch ihre Vorteile: lautlos glitt das Schott in gut gefetteten Angeln auf, als er dagegendrückte. Ferris Tuckers Verdienst - der rothaarige Riese achtete darauf, daß Schotten, Luken, Niedergänge und alle anderen Teile des Schiffskörpers stets in Schuß waren. Der Seewolf glitt gebückt auf das Ruderhaus zu. Durch die Öffnung in der Hinterwand konnte er jetzt Ahmeds Gestalt erkennen. Ja, der Kerl stand am Ruderrad. Rastlos wandte er den Kopf hin und her, um mal zur See, mal zur Insel zu blicken. Gerade rechtzeitig ließ Hasard sich auf die Planken sinken. Der Türke spähte zum Westufer und stieß einen Fluch gegen seine Widersacher aus. Hätte Hasard sich nicht platt hingelegt, hätte der Kerl ihn zweifellos entdeckt. Hasard kroch auf allen vieren bis zur nächsten Nagelbank. Ahmed hatte es geschafft, den vorherigen Kurs wiederzuerlangen. Der ablandige Wind preßte die ›Isabella VIII.‹ tatsächlich langsam, aber stetig auf die offene See hinaus. Schon erreichten die Kugeln der Seewölfe das Achterdeck der Galeone nicht mehr. Sie siebten nur noch das Kielwasser. Hasard richtete sich halb auf, bewaffnete sich mit einem Belegnagel und schleuderte ihn. Ahmed war ein Bulle von Kerl - in der Körpergröße ähnelte er dem Mann aus Siri-Tongs Mannschaft, den die Rote Korsarin im Zweikampf getötet hatte, nachdem er versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Den Schlächter hatten sie den Burschen genannt, und nach dem gleichen Beinamen schien auch Ahmeds Stiernacken zu verlangen. Seine Schultern waren gewaltig breit, so ausladend wie ein Kombüsenschapp. Um den Kopf hatte er sich den unvermeidlichen Turban gewickelt, und selbst von hinten waren die Enden seines dicken schwarzen 21
Schnauzbartes zu sehen. Der Belegnagel flog am Ruderhaus vorbei und landete klappernd auf der Kuhl. Ahmed streckte sofort den Kopf aus dem Ruderhaus, und zwar an der Steuerbordseite. Hasard hielt bereits einen zweiten Belegnagel. Er warf auch diesen und traf Ahmed am Hinterkopf. Ein dumpfer Laut, als das Holz auf den Schädelknochen prallte - und der Türke torkelte aus dem Ruderhaus. Jetzt stand er frei, jetzt hatte Hasard die richtige »Angriffsfläche«. Er schwang hoch, federte auf den Piraten zu und packte ihn. Unter der Wucht seiner Bewegung gingen sie beide zu Boden. »Beim Scheitan!« brüllte Ahmed. Hasard rammte ihm die Faust unters Kinn. Aber Ahmed war hart im Nehmen. Er stöhnte zwar, verlor aber nicht das Bewußtsein. Voll Haß und Ingrimm wälzte er sich und versuchte - wie vorher Lorusso - den Seewolf mit seinem Körpergewicht auf die Planken zu pressen. »Verdammter Giaur!« schrie er. »Hast du es also geschafft, mir nachzuschwimmen? Warte, das wirst du mir mit dem Tod büßen!« Hasard rutschte mit einer schnellen, geschickten Körperdrehung unter dem Kerl weg. Sein Fuß krachte gegen Ahmeds Schienenbein. Ahmed kippte vornüber, Hasard warf ihn in der Hüfte herum und kauerte sich flink auf ihn. Mit den Knien drückte er auf die Ellenbogen des Türken. Seine linke Hand legte sich auf die Stirn des Mannes, daß dieser den Kopf nicht mehr heben konnte. In der Rechten hielt Hasard das Messer. Die Spitze rückte auf Ahmeds Gurgel zu. »Der Blitz soll dich treffen, Ungläubiger«, keuchte der Pirat. »Allah wird dich vernichten.« »Narr«, sagte Hasard. »Allah wird einen feuchten Dreck tun. Dir steht keiner mehr bei, und allein kommst du nicht aus der 22
Patsche. Also los, Ahmed, ergib dich. Und bitte mich um Verzeihung. Ich will dich um Gnade flehen hören.« »Niemals!« »Ich schenke dir dein elendes Leben, wenn du zu Kreuze kriechst.« »Fahr zum Scheitan!« Hasard ritzte mit der Messerspitze den Hals des Türken. Das Metall war gut gefeilt, so scharf, daß man sich mit der Klinge die Bartstoppeln abrasieren konnte. Ein Blutstropfen quoll aus der winzigen Wunde hervor. Hasard lockerte den Druck auf Ahmeds Stirn. Der Kerl hob den Kopf und auch ein wenig den Hals und Oberkörper. Das Blut rann auf seine Brust. Seine Augen weiteren sich, als wollten sie jeden Moment aus den Höhlen quellen. »Streich die Flagge«, stieß der Seewolf aus. »Töte mich!« schrie Ahmed. Da war wieder der gleiche Gewissenskonflikt wie in den Sekunden, in denen er Lorusso durch einen Schuß aus der Radschloßpistole hätte umbringen können. Durfte er, Philip Hasard Killigrew, einen Todfeind auch dann noch töten, wenn dieser praktisch schon wehrlos war? Nein. Er war kein hemmungsloser Mörder, er fühlte sich nicht als durch seine Aufgabe legalisierter Scharfrichter. Er tötete nur, wenn er selbst in äußerste Bedrängnis geriet und keinen anderen Weg mehr sah. Nicht vorsätzlich. Es gab einen ungeschriebenen Moral und Ehrenkodex, der das sowohl ihm als auch seinen Männern verbot. Hasard zögerte also - und der Türke nutzte es aus. Ein Aufbäumen, ein Zucken seines Körpers, und Ahmed hatte den Gegner aus der Balance gebracht. Hasard glitt zur Seite weg. Ahmed setzte sofort nach, indem er brutal ein Knie hochriß. Hasard kriegte es in den Unterleib. Er fühlte sich hochkatapultiert und sah Sterne vor seinen Augen blitzen. 23
Ahmed trat noch einmal wie wild zu. Der Seewolf rollte über Deck, gelangte an den Steuerbordniedergang zur Kuhl und polterte ihn hinunter. Er überschlug sich und landete mit dröhnendem Schlag auf den Planken der Kuhl. Bei alledem hatte er noch Glück, daß er sich nicht den Schädel verletzte. Der Schädelbruch, den er vor gut anderthalb Jahren erlitten hatte, war verheilt, gewiß. Aber das schloß nicht aus, daß er sich eines Tages eine ähnliche Blessur zuzog. Ob er dann wieder so glimpflich davonkam wie damals, war fraglich. Seinerzeit hatte er schon mit einem Bein im Grab gestanden. Verdammt, irgendwann erwischte es jeden Mann, und war er noch so tapfer und gewandt. Aber nicht Ahmed, der Türke, sollte es sein, der Hasard in den Sarg springen ließ. Kalte Wut packte Hasard, ein Gefühl, wie er es selten erlebte. Er rappelte sich trotz seiner Schmerzen auf. Sein Messer hatte er verloren. Es lag oben auf dem Quarterdeck unerreichbar. Ahmed richtete sich mit höhnischem, siegessicherem Grinsen auf. Er griff sich den Dolch, holte aus und schleuderte ihn. Hasard sah die Waffe auf sich zurasen. Die Klinge blitzte in der Mittagssonne. Gevatter Tod streckte seine Klauenhände nach ihm aus. Aber auch einem sausenden Sensenblatt konnte man noch ausweichen. Hasard lag plötzlich wieder. Platt wie eine Flunder. Das Messer zischte über seinen Rücken weg und segelte außenbords. »Hund von einem Giaur!« schrie der Türke. »Willst du wohl krepieren?« Hasard erhob sich gedankenschnell. Er schritt rückwärts, zur Nagelbank. Die Belegnägel waren seine einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen. Aus den Augenwinkeln gewahrte er, daß der Zweimaster sich von der Pier gelöst hatte. Die Crew hatte den Kampf verfolgt. Jetzt handelte sie und eilte ihrem Kapitän zu Hilfe. Aber ehe 24
das Piratenschiff längsseits der ›Isabella VIII.‹ ging, konnte für den Seewolf alles verloren sein. Hilf dir selbst, sagte er sich wütend. Ahmed war bis an die Zähne bewaffnet. Er hatte eine Pistole und einen Tschakan im Gurt stecken, außerdem trug er in einem prunkvollen Wehrgehänge einen Krummsäbel, wahrscheinlich eine Beutewaffe. »Gib’s auf«, brüllte er. »Ich hau dich in Stücke!« »Und wenn ich mich ergebe?« »Dann schenke ich dir dein Hundedasein!« »Du bist ein schlechter Lügner«, antwortete Hasard. Mit sicherem Griff riß er drei, vier Belegnägel an sich. Seine scheinbare Gelassenheit brachte den Türken zur Raserei. Der Tschakan zuckte hoch. Ahmed schwang ihn über dem Kopf. Hasard schleuderte einen der Koffeynägel, aber diesmal war auch der Türke auf der Hut. Er tänzelte nach links und war dicht neben dem Ruderhaus. Der Belegnagel polterte gegen die Querwand, die den vorderen Abschluß des Achterdecks bildete. »Stirb!« schrie der Pirat. Er warf den Tschakan. Ein Tschakan war eine orientalische Wurfaxt. Es hing von der Geschicklichkeit des Kämpfers ab, wie weit und zielsicher er diese Waffe zu befördern vermochte. Tschakan-Experten verliehen ihr durch besondere Armbewegungen solchen Drall, daß sie bis zu fünfzig Yards weit durch die Luft wirbelte und einem Gegner den Schädel spaltete. Hasard hatte mit dieser gefährlichen Axt bereits üble Bekanntschaft geschlossen. El Hakim, der durchtriebene Berater des Scheichs Manach el Bedi, hatte sie vom Achterdeck der Piratengaleere aus geworfen, um ihm, Hasard, den tödlichen Hieb zu versetzen. Dan O’Flynn hatte den heimtückischen Angriff jedoch vom 25
Großmars aus bemerkt. Er hatte einen Pfiff ausgestoßen. Daraufhin hatte sich Arwenack auf Hasard fallen lassen und ihn umgeworfen. Die Tat hatte dem Seewolf das Leben gerettet. Der Tschakan war über ihn hinweggefegt und hatte sich in den Besanmast der ›Isabella VIII.‹ gebohrt. Die Ritze war immer noch zu sehen. Batuti hatte El Hakim durch einen Pfeil getötet. Und Big Old Shane hatte den Tschakan an sich genommen, als Andenken sozusagen. Ahmed ließ seine rechte Hand nach vorn schnellen. Der Tschakan entglitt seinen Fingern und wirbelte auf Hasard zu. In einer instinktiven Abwehrgeste duckte sich Hasard und hielt dabei einen Belegnagel hoch. Es knackte, dann hielt er nur noch den Stummel des Nagels in der Faust. Der Tschakan war haarscharf über seine Hand hinweggeglitten. Ahmed heulte vor Wut und Enttäuschung. Etwas tiefer nur, und er hätte dem Seewolf zumindest den Arm vom Rumpf getrennt. Hasard fuhr herum und raste über Deck. Der Tschakan flog bis zum Vordeck, prallte gegen das Kombüsenschott, blieb aber nicht stecken, sondern fiel auf die Planken. Er hatte das Schott nicht mit der Schneide, sondern mit der Fläche seiner Klinge getroffen. Hasard vollführte einen Hechtsprung. Er landete auf dem Bauch, schlidderte über die blankgeschrubbten Planken der Kuhl, streckte die Hände aus, erreichte das Kombüsenschott und griff nach dem Tschakan. Einen Tschakan hatte er noch nie benutzt. Aber der Gebrauch der Streitaxt war auch den Engländern nicht fremd. Im Nahkampf wurde sie benutzt und bei Entermanövern gehörte sie zu den unvermeidlichen Geräten. Der Türke hatte die Pistole gezückt. Er spannte den Hahn und gedachte Hasard endlich durch einen wohlgezielten Schuß ins Jenseits zu befördern. Als er die Waffe anschlug, reagierte der 26
Seewolf. Zweimal wirbelte Hasards rechter Arm im Kreis, dann huschte der Tschakan über die Kuhl und sirrte dem Piraten entgegen. Ahmed war zu verbissen in seinem Bestreben, den Seewolf niederzuschießen - er achtete nicht mehr auf die Axt. Sie traf ihn genau in dem Moment, in dem er abdrückte. Das Krachen der Steinschloßpistole rollte über Deck. Hasard rutschte erneut über die Planken, geriet bis ans Steuerbordschanzkleid und prallte gegen eine der 17-PfünderCulverinen. Die Kugel traf ihn nicht. Sie schlug ins Kombüsenschott und blieb darin stecken. Hasard hob vorsichtig den Kopf. Er peilte über das Geschützrohr. Ahmed schien verschwunden zu sein, jedenfalls sah er ihn nicht mehr. Er entdeckte ihn erst wieder, als er sich erhob. Ahmed, der Türke, lag neben dem Ruderhaus, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Der Tschakan steckte in seinem Kopf. Es war ein fürchterlicher Anblick. Hasard drehte sich um und winkte seinen Männern zu. Der Zweimaster glitt längsseits. Ben Brighton, Carberry, Shane, Ferris, Al, Gary und Dan O’Flynn befanden sich an Bord. Der Rest der Crew paßte an Land auf, daß die Piraten keine weiteren Scherereien verursachten. Stumm blickten die Männer auf den Leichnam des Türken. Sie hatten alles beobachtet, es bedurfte keines Kommentars mehr. Hasard hatte seine Überlegenheit bewiesen und die ›Isabella VIII.‹ sowie den Schatz der Malteserritter aus der Hand eines Größenwahnsinnigen zurückerobert. Gleichzeitig hatte er ein Exempel statuiert. Ob das aber ausreichte, um Lorussos Piraten endgültig zu entmutigen und von weiteren Aktionen abzuhalten, wußte er nicht. Gewiß, die Tat des Türken war eine Einzelhandlung gewesen, er hatte sie vorher nicht mit den Kumpanen abgesprochen. Dennoch. Wenn Hasard nicht aufpaßte, würden 27
sich weitere solche Einzelfälle ereignen. Die Piraten waren unberechenbar wie Schakale.
3. »Kehrt zum Anleger zurück!« rief Hasard seinen Männern auf dem Piratenschiff zu. Er griff nach den auf der Kuhl belegten Fallen des Großmarssegels. »Brauchst du Unterstützung?« fragte Ben Brighton besorgt. »Nein, danke. Ich steure die ›Isabella‹ allein. Habe ja schon Übung darin.« Hasard setzte das Großmarssegel. Der Wind, immer noch aus Osten blasend, fuhr hinein und blähte es. Prompt nahm die Galeone mehr Fahrt auf. Sie reagierte geradezu sensibel auf jede Veränderung und war in dem Sinne schon gar kein plumper Rahsegler mehr, wie ihn die Spanier immer noch zu bauen pflegten. Hasard nahm den Steuerbordniedergang zum Quarterdeck mit zwei Sätzen. Er lief an dem Toten vorbei ins Ruderhaus. Nur mit einem flüchtigen Blick streifte er den Mann. Der Tschakan, soviel stellte er dabei fest, hatte verheerende Arbeit geleistet. Es war unglaublich, wie tief solch eine Axt spalten konnte. Das Ruderrad tanzte hin und her. Hasard griff hinein, stoppte seinen unkontrollierten Lauf und verlieh dem Schiff wieder einen präzisen Kurs. Auch am Morgen dieses Tages hatte er sich als einsamer Steuermann betätigt - als er Santorin angelaufen und Lorusso durch seine haarsträubenden Schwindeleien überlistet hatte. Zweimaster und Galeone hatten sich voneinander getrennt und vollzogen jetzt die gleichen Manöver, ohne sich dabei gegenseitig ins Gehege zu geraten. Vor dem Wind laufend, nahmen sie zunächst Fahrt auf. Dann luvten sie nach Steuerbord an, fuhren einen Viertelkreis, hielten auf den Nordrand der Kraterbucht zu, vollendeten schließlich die 28
Schleife in einem Halbkreis und nahmen wieder die Segelfläche weg. Der Wind hatte den Schiffen genügend Schwung verliehen. Im Auslaufen hatten sie immer noch genügend Fahrt und gelangten bis an die hölzerne Pier. Smoky und Sam Roskill standen schon auf dem Anleger bereit und nahmen die Wurfleinen des Piratenseglers entgegen. Kurze Zeit darauf lag der Zweimaster wieder an der Pier und die ›Isabella VIII.‹ an dem Schiff des Sizilianers vertäut. Nur wies beider Bug diesmal nach Süden, nicht - wie vorher - nach Norden. »Smoky!« rief Hasard seinem Decksältesten zu. »Sir?« »Wir haben verdammt viel Zeit verloren. Habt ihr auch den restlichen Gefangenen Ketten angelegt?« »Aye, aye.« »Dann schafft sie jetzt aufs Achterdeck des Zweimasters.« »Aufs Achterdeck, Sir?« Smoky hob überrascht den Kopf. Er blickte von der Pier aus über das Deck von Lorussos Schiff weg zum Quarterdeck der Galeone. Der Seewolf stand vor dem Ruderhaus. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und erwiderte: »Du hast schon richtig verstanden, Smoky. Nun beeilt euch schon, verdammt noch mal.« Smoky, Blacky, Sam und Bob Grey dirigierten die Piraten über den Laufsteg auf das Oberdeck des Zweimasters. Lorusso, wieder voll bei Sinnen, führte den Trupp an. Ovidio folgte dichtauf, dann marschierten unter Kettenrasseln und dem Scharren von Fußsohlen die restlichen dreizehn auf. Diesmal zählte der Seewolf sie ganz genau. Der Rest der ›Isabella VIII.‹-Crew verharrte auf Hasards Wink hin noch an Land bei den sechs befreiten Maltesern und den acht Huren. Als die Piraten auf dem Achterdeck ihres Schiffes standen, 29
konnten sie ihren toten Kumpanen sehen. Hasard hatte ihn unverändert liegengelassen - mit dem Tschakan im Schädel. Ein paar Piraten begannen erschrocken zu murmeln. Sie waren hartgesottene Teufel, aber einige verzogen doch unwillkürlich das Gesicht. Ovidios Miene hingegen war eine undurchdringliche Maske. »Geschieht ihm recht, diesem Schwein.« Lorusso spuckte aus. »Hätte er meinen Befehl befolgt, wäre er jetzt noch am Leben.« Hasard sagte: »Seht ihn euch genau an. So ergeht es jedem, der sich einbildet, sich gegen uns auflehnen oder gar den Ausbruch wagen zu können.« »Wir werden vernünftig sein«, erwiderte der Sizilianer. »Aber verrate mir, was du mit uns vorhast.« »Ich sperre euch ins Vordeck eures Schiffes.« »Und dann?« »Du bist zu neugierig, Lorusso. Das zahlt sich nicht immer aus. Zügle deine Wißbegierde.« Der Piratenführer biß sich auf die Unterlippe. Hasard sah den Haß in seinen Augen und konnte sich angesichts des Mienenspieles des Sizilianers gut vorstellen, was der in diesem Moment dachte. »Ed«, sagte Hasard zu seinem Profos. »Einen Teil dieser Burschen pfercht ihr in die Vorpiek, die anderen verteilt ihr auf die übrigen Räume des Vorschiffes. Sucht die finstersten aus. Kettet die Kerle fest. Du teilst Wachen ein, die im Rhythmus von jeweils acht Glasen abgelöst werden.« »Aye, aye, Sir!« Carberry rief es mit dröhnender Baßstimme, dann drehte er sich den Gefangenen zu und fuhr sie noch eine Spur lauter an: »Los, ihr Rübenschweine, bewegt euch, oder ich mache euch Feuer unter euren gestreiften Pavianärschen!« Hasard wandte sich an seinen Stellvertreter und Ersten Offizier. Ben Brighton stand auf dem Achterdeck des Zweimasters und verfolgte mit verschränkten Armen das 30
Abrücken der Piraten. Shane, Ferris, Al, Gary, der junge O’Flynn und Smoky begleiteten den Zug. Sie hielten ihre Waffen schußbereit. Carberry öffnete das Schott, das ins Vordeck hinabführte. Er verschwand als erster in dem dunklen Viereck. Unter seinem unausgesetzten Gebrüll beeilten sich die Gefangenen höllisch, es ihm nachzutun. »Ben«, sagte Hasard. »Du übernimmst bis auf weiteres das Kommando auf dem Zweimaster. Bei dir bleiben Ed, Ferris, Batuti, Blacky, Shane und Stenmark. Das ist ein Drittel der Crew. Glaubst du, mit diesen Männern eine genügend große Mannschaft zu haben?« »Durchaus. Dieses Schiff ist nur halb so groß wie die ›Isabella‹.« »Vergiß nicht die Wachen im Vorschiff.« »Nein«, sagte Ben. »Wir sind ausgeruht genug, um ständig auf den Beinen zu bleiben. Fünf Mann im Turnus auf Oberdeck, zwei im Vorschiff, damit komme ich aus. Die anderen Männer brauchst du, um die ›Isabella‹ zu manövrieren. Wenn ich Verstärkung benötige, melde ich mich.« »Wir segeln in schräg versetzter Kiellinie, du hinter mir.« »In Ordnung.« Giuliano Salce war auf die Gangway getreten. »Sir!« rief er Hasard auf spanisch zu. »Ich habe in etwa verstanden, was du deinen Männern soeben auf englisch gesagt hast. Glaub mir, wir sechs Malteser können auch schon wieder mit zupacken. Wir bleiben auf dem Schiff der Piraten und helfen deinem Ersten Offizier ...« Hasard winkte ab. »Kommt gar nicht in Frage. Du kennst meinen Standpunkt, Giuliano.« »Augenblick!« rief der Malteserritter David von der Pier aus. Er war Engländer und bediente sich seiner Muttersprache. Hinter ihm standen sein Landsmann Ronald sowie die Muschelfischer Fausto, Samuele und Alof. »Gestatte uns, daß 31
wir da auch noch ein Wörtchen mitreden, Seewolf. Wir wissen deine Haltung zu schätzen. Aber du brauchst uns nicht zu schonen, wirklich nicht.« »Kommt zu mir«, entgegnete Hasard. Die sechs gingen über den Laufsteg auf das Piratenschiff, überquerten dessen Kuhl und enterten auf die ›Isabella VIII.‹ über. Sie waren bis auf die Knochen abgemagert, wandelnde Skelette. Sie boten ein Bild des Schreckens und weckten das Mitleid der Seewölfe. Wie sie es einen Monat lang in der Mine ausgehalten hatten, ohne völlig zusammenzubrechen, war sowohl Hasard als auch der Crew ein Rätsel. Hasard stand an der Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Achterdecks bildete. Er stützte sich auf und sah ruhig zu, wie sie unten vor ihn hintraten. Der Kutscher hatte ja bereits damit angefangen, den Toskaner Salce aufzupäppeln. Aber es würde einige Zeit vergehen, bis die jammervollen Gestalten wieder voll zu Kräften gelangten. »Danke für euer Anerbieten«, sagte Hasard. »Aber ich lehne es strikt ab.« »Ich begreife nicht, warum du solche Rücksicht auf uns nimmst«, erwiderte Ronald. »Wir sind nicht unter der Fuchtel des Sizilianers gestorben. Wir sind zäh, verstehst du? Ein bißchen Decksarbeit macht uns weiß Gott nichts aus.« »Der Befehl eines Kapitäns an Bord seines Schiffes ist Gesetz.« Hasard war ernst, sehr ernst. »Aber ihr habt ein Anrecht auf eine Erklärung. Kutscher!« Der Kutscher eilte herüber und verharrte neben den sechsen auf der Kuhl. Hasard wies mit der Hand auf ihn. »Das ist mein Koch und Feldscher. Er hat bei Sir Anthony Abraham Freemont, dem fähigsten Arzt von Plymouth und ganz Cornwall, gedient und ist bei ihm in die Lehre gegangen. Kutscher, was kannst du mir über den Gesundheitszustand dieser Männer sagen?« »Willst du die Wahrheit hören?« 32
»Rückhaltlos.« Der Kutscher sagte: »Sie sind völlig am Ende. Nur ihrer ursprünglich guten Verfassung haben sie es zu verdanken, daß sie unter den Entbehrungen der letzten vier Wochen nicht gestorben sind. Was sie jetzt brauchen, ist Ruhe, viel Ruhe, und kräftige Nahrung. Nur auf diesem Weg können sie wieder das werden, was sie einmal waren - vollwertige Männer. Arbeit wäre die denkbar schlechteste Behandlungsmethode. Ihr mögt es glauben oder nicht«, er wandte sich jetzt direkt an die sechs, »schon die kleinste Anstrengung könnte euch umbringen.« »Ich verstehe«, sagte David. Giuliano, Ronald und die Fischer blickten betreten zu Boden. »Ich habe euch nicht verletzen wollen«, sagte Hasard. »Aber ihr müßt einsehen, daß wir nur euer Bestes wollen.« David nickte. »Danke. Wir werden uns an deine Anweisungen und Ratschläge halten, Seewolf.« »Sucht euch eine Kammer im Achterkastell der ›Isabella‹ aus. Oder besser, zwei. Es gibt Platz genug. Richtet euch gemütlich ein und meldet euch, wenn ihr etwas braucht.« »Und wir nehmen Kurs auf Malta?« erkundigte sich Giuliano leise. »Ja. Es bleibt dabei.« Der Toskaner preßte seine schwarzweiße Katze an sich und führte die Kameraden ins Achterkastell. »Kutscher«, sagte Hasard. »Hol ein großes Stück Segeltuch und deck damit den Toten zu. Später, auf See, nähst du ihn in den Stoff ein. Danach übergeben wir ihn den Fluten.« Der Kutscher wandte sich um, verschwand im Vorschiff und erschien binnen Sekunden mit dem Segeltuch. Als er sich auf dem Quarterdeck über den Türken beugte, wechselte er die Gesichtsfarbe. Er war kein Weichling, aber dieser schaurige Anblick nahm auch ihn mit. »Bist du krank?« fragte Hasard. 33
»Ich - nein, Sir.« »Du bist gelb im Gesicht. Hast du etwa ein Gebräu getrunken, in dem Senf enthalten ist, viel Senf?« Der Kutscher grinste schief. Hasard spielte auf den Trank an, den der Kutscher für die vorgetäuschte Gelbsucht zubereitet hatte. Ohne recht über die ganze Angelegenheit lachen zu können, deckte der Kutscher den Toten zu. Dann trat er zu seinem Kapitän. »Deine Haut färbt sich wieder normal, Sir«, sagte er. »Wie fühlst du dich?« »Ausgezeichnet. Dieses verdammte Würgen ist vorbei.« »Ich bin heilfroh.« »Du bist ein Künstler, Kutscher.« Der Kutscher kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Nicht deswegen nur - nun, ich war selbst nicht sicher, ob die Dosis richtig bemessen war!« Hasard blickte betroffen, lachte dann aber auf und hieb seinem Koch auf die Schulter. »Dann habe ich ja ein brauchbares Versuchskaninchen abgegeben, oder? Wenn wir mal wieder Gelbsüchtige an Bord brauchen, weißt du wenigstens genau Bescheid.« Der Kutscher sah betrübt aus. »Verflixt, die ganze Sache wäre beinahe doch ins Auge gegangen.« »Aber nicht deinetwegen, sondern wegen des Türken.« »Das stimmt.« »Dann zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber.« Hasards Miene wurde hart. »Das ist ein Befehl, Kutscher.« »Aye, aye, Sir.«
Blacky hatte an Land die Wohnhöhlen der Piraten durchsucht. Er erschien auf dem Achterdeck der ›Isabella VIII.‹, um Meldung zu erstatten. 34
»Große Reichtümer haben die Piraten nicht gehortet. Man müßte Lorusso mal befragen, wo er seine Schätze versteckt hat. Vielleicht auf einer der Nachbarinseln ...« »Geschenkt«, erwiderte Hasard. »Ich pfeife darauf, außerdem kann es sich, wenn überhaupt, nur um Kleinigkeiten handeln. Gerade aus diesem Grund, so nehme ich an, war Lorusso auf Silber versessen. In seiner Verbissenheit begriff er nicht, daß diese Lavafelsen so armselig wie Schiefer oder Kreide beschaffen sind.« Carberry stelzte von Bord des Zweimasters herüber und sagte: »Also, der Frachtraum des verdammten Kahns ist auch leer. Ich habe ihn von hinten bis vorn durchstöbert, ebenso das Vordeck und das Achterkastell.« »Wie steht es mit Proviant?« fragte Hasard. »In den Höhlen lagern gesalzene Schinken und gepökeltes Fleisch, getrocknete Früchte und einige Fässer mit Wein«, erwiderte Blacky. »Her mit dem Zeug. Wir verstauen alles an Bord«, sagte Hasard. Blacky ging, um den Befehl mit der an Land verbliebenen Restcrew durchzuführen. »Die Piraten sind angekettet«, meldete der Profos. »Lorusso, Ovidio und sechs andere in der Vorpiek. Sie hocken gedrängt wie die Sardinen und können sich nicht rühren. Bald werden sie ihre Freude an dem schwappenden Bilgewasser haben. Von dem Resthaufen habe ich je vier in zwei andere Räume des Vordecks verfrachten lassen.« »Gut Laßt sie nicht aus den Augen.« »Nein.« Carberrys Blick wanderte zu den acht Mädchen auf der untersten Terrasse des Westufers. »Was wird aus den Frauenzimmern?« »Das fragst du noch?« »Du willst sie - ehm - nicht zu unserer Verfügung ...« »Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen«, sagte der 35
Seewolf. »Leuchtet dir das nicht ein, Ed? Mein Gott, die Brüder Aradschy haben die sechs anderen Minensklaven nach Malta mitgenommen und wollen Valetta stürmen, indem sie die Ordensritter mit den Gefangenen erpressen. Wir müssen da eingreifen. Jede Stunde, jede Minute ist kostbar.« Carberry kratzte sich an seinem Rammkinn. »Weiß ich doch. Aber ich meine, es gäbe da noch einen anderen Weg.« Als hätte sie ihre Worte verstanden, stolzierte jetzt Iride über den Laufsteg. Entschlossen steuerte sie über die Decks der beiden Schiffe auf den Seewolf zu. Dicht vor ihm blieb sie stehen, so daß Carberry und er in ihren üppigen Brustausschnitt schauen konnten. Dem Profos gingen fast die Augen über. »Du hast uns geschont«, sagte sie zu Hasard. »Und wir hätten einiges wiedergutzumachen. Sagtest du nicht, daß deine Männer dieses Angebot gern annehmen würden?« »Blume von Santorin«, erwiderte Hasard. »Wir verschieben das auf einen späteren Tag, ja?« »Du willst uns also hier zurücklassen?« »Ja. Du solltest froh darüber sein.« Tränen standen plötzlich in ihren Augen. »Santa Maria, heilige Mutter Gottes, weißt du denn nicht, daß du uns damit in den Tod schickst?« »Wie soll ich das verstehen?« fragte Hasard ärgerlich. »Die Aradschys werden zurückkehren und uns Mädchen die Schuld an der Niederlage von Lorusso geben. Was sollen wir denn tun? Wir können nichts leugnen, wir müssen ihnen berichten, was vorgefallen ist.« Sie schluchzte trocken. »Aber sie werden uns nicht glauben, Oh, du kennst sie nicht, Seewolf! Barud und Hamun Aradschy sind Teufel in Menschengestalt. Lorusso ist ein großer, gutmütiger Junge im Vergleich zu ihnen. Sie werden uns die Kehlen durchschneiden, das versichere ich dir.« »Hör auf. Ich kann es nicht ändern.« Entsetzt fuhr sie zurück. 36
»Du - du lieferst uns diesen tollwütigen Kerlen aus?« »Was soll ich deiner Meinung nach denn sonst tun?« Ihre Stimme wurde leise und flehend. »Uns mitnehmen, Engländer. Nur bis zur nächsten Insel. Das kannst du uns doch nicht verwehren.« »O doch. Ich dulde keine Frauen an Bord meines Schiffes.« »Laß uns auf dem Schiff des Sizilianers mitfahren.« »Ausgeschlossen!« erwiderte Hasard hart. »Hör mal«, brummte Carberry. »Ich will dir da nicht reinreden, aber etwas Wahres ist doch an dem, was Iride sagt. Diese türkischen Piraten werden bestimmt glauben, die Mädchen hätten uns gegen Lorusso geholfen.« Hasard sah ihn aus blitzenden Augen an. »Warum sollten sie das wohl annehmen?« »Weil - nun, weil die Mädchen unverletzt sind.« »Ist das ein Beweis für einen Verrat?« »Piraten haben doch ihre eigene Weise, über irgend etwas nachzudenken.« »Wie denn, wenn man fragen darf?« Carberry blickte zu Iride, zu Hasard, dann wieder zu dem Mädchen. Eine stumme Klage lag in ihren feuchten Augen, und dem bulligen Profos wurde mulmig zumute. Einerseits fühlte er sich in eine Art Beschützerrolle gedrängt, andererseits wollte er sich aber auch nicht mit dem Seewolf anlegen. Das war wieder mal eine der verzwickten Situationen, die Carberry auf den Tod haßte. Er war für klare Verhältnisse. Da wußte man, wie man sich zu bewegen hatte. Wenn Hasard ihn aber mit Worten herausforderte wie hier, trat er meistens prompt ins Fettnäpfchen. Carberry bewegte schabend die Hand übers Kinn. »Also, diese Drecksäcke von Piraten sehen doch alles verdreht. Und wenn die Dinge, die man ihnen erzählt, auch noch so - so logisch klingen, sie vermuten überall Hinterlist, Bosheit und Erzschweinereien.« 37
In gewissem Sinne war er stolz auf diese Rede und fand sogar, daß er großartige Worte gewählt hatte. Aber Hasard grinste spröde, und das warf den Profos geistig sofort wieder aus dem Gleichgewicht. »Ed«, sagte Hasard gedehnt. »Ich sehe schon, sie hat dich mit ihrem Geflenne weichgekocht.« »Ist nicht wahr!« »Du brauchst nur einen Rock vor deiner Nase rumflattern zu sehen, und schon wirfst du Anstand und Disziplin über Bord«, rügte der Seewolf seinen Profos. »Und dem Rest der Crew geht es nicht anders. Ich habe für alles Verständnis, das weißt du. Aber ein Bordell an Bord der ›Isabella‹, ein schwimmendes Freudenhaus - nein, das kommt nicht in Frage.« Iride hatte nur wenig verstanden, weil die Männer englisch miteinander gesprochen hatten. Dennoch konnte sie aus Hasards Tonfall schließen, daß ihre Felle davonschwammen. Aber so schnell gab sie die Partie nicht verloren. Weinend sank sie vor Hasard auf die Knie, umklammerte seine Beine und stammelte Unverständliches im Dialekt ihrer Heimatinsel. Sie hatte schon einmal eine solche Szene vorgeführt, und ihn unterwürfigst und händeringend angefleht, sie und die anderen sieben Mädchen doch zu verschonen, als die Piraten sich ergeben hatten. Sie schien einen Hang zu solchen Kniefällen zu haben. Im übrigen war es ja bekannt, daß Sizilianer und andere Südländer das Theatralische, Dramatische liebten. »Mann«, sagte Carberry. »Wie kannst du nur so hart sein?« »Spiel dich nicht wie ein Narr auf, Ed.« Carberry lief dunkel an. »Ich sage nur, die Mädchen haben uns nichts getan, und wir dürfen es nicht zulassen, daß ihnen die Gurgeln durchgeschnitten werden. Himmel, wenn wir sie bis zur nächsten Insel mitnehmen, geht doch die Welt nicht unter.« Hasard maß den Profos mit einem vernichtenden Blick. Er 38
schaute zu dem Piratenschiff und zur Pier hinüber, wo seine Männer standen und wie gebannt zuhörten. Er sah auf Iride hinunter, Verdammt, sie war schon ein raffiniertes Biest. Sie schluchzte und jammerte und rief offenbar sämtliche Schutzheiligen an, die sie kannte. Sie war total aufgelöst und wurde ziemlich laut bei dem Ganzen. Überdies trug Hasard nach wie vor nur seine kurze, nasse Hose, und Iride hielt sich derart provozierend an seinen Beinen fest, daß es schon fast eine Schande war. So konnte das nicht weitergehen. Hasard legte ihr die Hand auf die Schulter. »Steh auf.« Sie hob den Kopf. Ihr ganzes Gesicht war tränennaß. Langsam erhob sie sich, schluckte ein paarmal und sagte dann in ihrem unbeholfenen Spanisch: »Du glaubst, ich will dich zum Narren halten. Aber das liegt mir fern. Was ich sage, ist die Wahrheit.« Zum Teufel mit allen schrägen Frauenzimmern, dachte der Seewolf. Laut entgegnete er: »Ich sage nicht, daß du lügst. Ich meine nur, ihr würdet euch sicherlich auch mit den AradschyBrüdern arrangieren falls sie jemals wieder nach Santorin zurückkehren.« »Was willst du damit andeuten?« fragte sie überrascht. »Gar nichts.« Sie riß sich eine dünne Kette aus Silberdraht vom Hals und hielt das daran befestigte Amulett hoch. »Hier! Mein ganzer Besitz! Er gehört dir, wenn du meinen Wunsch erfüllst. Auch meine Freundinnen Schenka, Agnes, Rossana, Ornella, Elia, Alexia und Jeanne geben dir gern ihren gesamten Schmuck - als Bezahlung. Wir erwarten ja nicht, daß du es umsonst tust. Nur fort von hier, das ist unser ganzes Verlangen. Wir waren gern auf der Insel, aber jetzt hassen wir sie und wollen woanders neu anfangen.« Hasard überlegte, ob er ihnen den Zweimaster überlassen sollte. Aber nein, das wollte und konnte er nicht. In seinem 39
Hirn reifte ein Plan, zu dessen Durchführung es beide Schiffe brauchte. Gleichzeitig mußte er einräumen, daß Iride recht haben konnte. Angenommen, es gelang ihm, Hasard, nicht, die Aradschys zu stellen. Dann kehrten sie ganz gewiß auf die Vulkaninsel zurück. Was sollte er tun? Etwa hier auf sie warten und zulassen, daß Malta in ihre Hände fiel? Da waren eine Menge Widersprüche, aber er rang sich zu einem Entschluß durch. »Profos«, sagte er. Sein strenger Blick nagelte Carberry förmlich fest. »Wir lassen die Ladys also mitreisen. Auf der ›Isabella‹. Du hast dich so leidenschaftlich für sie und ihre Sache eingesetzt. Du trägst die Verantwortung, daß hier nichts passiert, klar?« »Jawohl«, gab Carberry schleunigst zurück. »Die Ladys werden hübsch artig ein paar Kammern im Achterkastell beziehen und sich mucksmäuschenstill verhalten. Ausflüge aufs Oberdeck gibt es nur im echten Bedarfsfall oder wenn ich den Befehl dazu erteile.« »Aye, aye, Sir.« »Und noch etwas, Ed. Du und die anderen Teufelsbraten, ihr werdet euch gefälligst in Abstinenz üben.« »Absti ... was?« »Enthaltsamkeit. Mein Schiff ist kein Hurenhaus, merk dir das. Ein für allemal. Wer die Ladys anfaßt, kriegt die Neunschwänzige zu spüren. Oder ich hänge ihn zum Zappeln an der Rahnock auf. Klar?« »Klar, Sir«, antwortete Edwin Carberry verdattert. Ja, er hatte sich in seinen kühnen Träumen bereits ausgerechnet, wie das mit der »Bezahlung« der Mädchen für die Mitnahme ausfallen konnte - aber damit war es jetzt Essig. Entsagungsvoll blickte er Iride an. »Du großer, starker Bär«, sagte sie. »Was bist du für ein Mannsbild.« 40
»Hör zu.« Hasard nahm sie an der Schulter herum. »Wir schließen einen Pakt. Laßt euch nicht einfallen, meine Männer zu reizen. Meine Großmut könnte leicht in Wut umschlagen.« »Si, Senor«, erwiderte sie kleinlaut. * Unter dem mattweißen Licht der Nachmittagssonne legten die beiden Schiffe von der Pier ab. Hasard und Ben, die Kapitäne, ließen die Segel setzen und vor den Wind gehen. Nach wie vor fiel er aus Osten ein. Groß und stolz wie ein eitler Schwan rauschte die ›Isabella VIII.‹ durch die Kraterbucht. Ben Brighton steuerte seinen Segler wie angeordnet in schräg versetzter Kiellinie hinterher. Die Takelung des Piratenschiffes bestand aus zwei großen Lateinersegeln an langen Gaffelruten. Die Seewölfe hatten inzwischen auch erfahren, welchen Namen Lorusso dem Schiff verliehen hatte: ›Grifone‹ also »Greif«. Beide Segler hatten von dem Proviant geladen, den Blacky und seine Helfer aus den Wohnhöhlen geschleppt hatten. Der Kutscher hatte auch die Trinkwasservorräte ergänzt, so daß in dieser Hinsicht keine Probleme für die nun folgende Fahrt bestanden. Auch um die gefangenen Piraten bereitete sich Hasard im Moment keine großen Sorgen. Sie schmachteten im Vorschiff der ›Grifone‹ und wurden zur Zeit von Batuti und Blacky bewacht. Nach dem Ablauf von acht Glasen würden sie abgelöst werden. Dann versahen sie Decksdienst - und so ging es schichtweise weiter. Jeff Bowie hatte Carberrys Platz an Bord der ›Grifone‹ eingenommen. Den Profos hatte Hasard auf die ›Isabella VIII.‹ zurückbeordert. Er hatte schließlich auf die acht Mädchen aufzupassen. Und da war die Nuß, an der der Seewolf hart zu knacken 41
hatte: Er bezichtigte sich nachträglich, zu nachgiebig gewesen zu sein. Schön, die acht »Ladys« hatten sich brav in zwei Kammern des Achterkastells zurückgezogen und rührten sich nicht vom Fleck. Den sechs Maltesern, die zwei andere Kammern innehatten, würden sie kaum gefährlich werden - die Männer waren noch nicht wieder in der Lage, sich mit Frauen zu beschäftigen. Trotzdem war Hasard ganz und gar nicht begeistert. Er saß auf einem schwelenden Pulverfaß. Und er mußte die Lage so schnell wie möglich bereinigen, sonst gab es Verdruß. Frauen an Bord - das war wie Gift! Beim Landurlaub konnten seine Männer sich austoben, wie sie wollten. Aber nicht auf der ›Isabella VIII.‹. Das untergrub die Disziplin und war gegen die Gesetze der Seefahrt. Eine einzige Frau war schon bei den besten Schiffsbesatzungen Anlaß zur Meuterei gewesen. Außerdem hatte Hasard ja schon erlebt, was man sich einhandelte, wenn man eine Ladung Weiberröcke an Bord hatte. Damals, als sie das Flaggschiff des Don Francisco Rodriguez in der Karibik gekapert hatten, waren sie zu ihrem Erstaunen auf eine solche Meute von Huren gestoßen. Hasard hatte sie schleunigst auf Grand Cayman an Land gesetzt, aber Maria Juanita, die Wortführerin dieser Frauen, hatte ihm nichts als Schwierigkeiten bereitet. Zunächst hatte sie die Spanier, später Caligu, den Piraten, gegen die Seewölfe aufgewiegelt und auf sie gehetzt. Jüngst hatten Hasard und die Rote Korsarin sogar noch auf Tortuga wieder mit der Hure zu tun gehabt, und wieder hatte sie das Weib in Teufels Küche gebracht. Das erste Fleckchen Erde, das sich südwestlich von Santorin darbot, sollte die neue Heimat der acht Mädchen werden. Hasard hatte sich fest vorgenommen, sie so rasch wie möglich wieder abzusetzen. Und diesmal würde er unerbittlich sein! Er stieg vom Achterdeck aufs Quarterdeck hinunter. Der 42
Kutscher war dabei, den toten Türken in die Segeltuchbahn einzunähen. Das Blut des Piraten hatte bereits erheblich die Planken getränkt und verfärbt. »Pete«, sagte Hasard zu seinem Rudergänger. »Fünf Strich nach Backbord abfallen.« Er wandte sich zur Kuhl und formte die Hände zu einem Schalltrichter vor seinem Mund. »Wir fallen ab und runden den Südzipfel der Insel. Dann laufen wir das Ostufer an und nehmen unsere Beiboote über.« »Abfallen - aye, aye, Sir!« rief Carberry pflichtschuldigst zurück. So ganz wohl war ihm auch nicht zumute. Er hatte Hasard gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil er ihn überredet hatte, Iride und ihre Freundinnen mitzunehmen. Um das Ostufer zu erreichen, mußten sie halsen. Während das Manöver auf der ›Isabella VIII.‹ vollzogen wurde, blickte Hasard durch das Spektiv zur ›Grifone‹ hinüber. Ben Brighton und die anderen vier auf Oberdeck kamen hervorragend mit den Lateinersegeln zurecht, schließlich hatten sie Übung darin. Hasard war nun völlig überzeugt, daß sieben Mann Besatzung auf dem Zweimaster ausreichten. Das Ostufer bestand fast ausschließlich aus sanft abfallendem Strand - aus schwarzem Lavasand. Die ›Isabella VIII.‹ und die ›Grifone‹ liefen die winzige Bucht an, in der Ben Brighton und die Crew beim Anpirschen auf Santorin die beiden Schaluppen zurückgelassen hatten. Gut vertäut lagen sie immer noch unter dem flachen Überhang, der sie zum Land hin gegen Blicke abdeckte. Hasard und Ben ließen die Segel aufgeien und warfen die Buganker, um die Schiffe nicht von dem auflandigen Wind zum Strand treiben zu lassen. Ben ließ das Beiboot der ›Grifone‹ abfieren. Es wurde von Big Old Shane und Stenmark zur ›Isabella VIII.‹ herübergepullt. Sie nahmen vier Mann über, legten wieder ab, ruderten in die kleine, versteckte Bucht, wo Hasards Männer die Schaluppen besetzten. Wenig später befanden sich alle drei Beiboote an Bord ihrer Schiffe. 43
Sie gingen ankerauf und segelten bei anhaltendem Ostwind mit Südwestkurs auf die Passage zwischen Kreta und der kleinen Insel Antikythira zu. Der tote Türke wurde der See übergeben.
4. Iride teilte ihre Kammer im Achterkastell der ›Isabella VIII.‹ mit der jungen, sehr hübschen Türkin Schenka, der rothaarigen Agnes aus Piemont und der Neapolitanerin Rossana. Den ganzen Nachmittag über hatten sich die Mädchen mit einfachsten Mitteln so gut wie möglich herausgeputzt. Iride hatte Ornella, Elia, Alexia und Jeanne in der Nachbarkammer verständigt und ihnen Anweisung gegeben, sich ebenfalls aufzudonnern. Iride betrachtete sich in einem winzigen Spiegel. Natürlich war ihr Lippenrot viel zu kräftig und zu dick aufgetragen. Genauso verhielt es sich mit dem Rest der Schminke. Ihr Busenausschnitt war eine einzige Herausforderung. »Gut«, sagte sie lächelnd. »Sehr gut. Diese Hunde brauchen farbenfrohe, griffige Kost, um richtig in Fahrt zu geraten. Los, Schenka, wir unternehmen einen Vorstoß.« Agnes hatte immer noch Bedenken. »Wir geraten in Teufels Küche. Der Seewolf hat uns verboten, die Kammern zu verlassen.« »Der Seewolf«, äffte Iride ihn nach. »Dieser eingebildete Bastard. Bist du etwa verschossen in ihn?« Agnes wurde rot unter der Tünche in ihrem Gesicht. »Natürlich nicht. Aber ich habe Angst, das sag ich dir ganz ehrlich.« »Meinetwegen, du bleibst ja auch hier.« Iride ging zur Tür. »Es ist dunkel. Wahrscheinlich liegt ein Teil dieser 44
verdammten Kerle in den Kojen. Wir werden es nur mit der Deckswache zu tun haben. Kleine Fische. Und wenn wir diesem Killigrew über den Weg laufen - es gibt ja Gründe, aus denen man seine Kammer mal verlassen muß.« »Schon, aber dazu ist die Heckgalerie da«, erwiderte Agnes. »Oder die Galion.« Iride funkelte sie an. »Mit wem hältst du es eigentlich, hm?« »Mit dir. Und mit Lorusso. Mit wem denn sonst?« »Dann ist es ja gut. Ich habe mich nur vergewissern wollen.« Die Sizilianerin öffnete leise die Tür, schob sich durch den Spalt und war auf dem dunklen Gang. Schenka folgte ihr auf dem Fuß. Die Tür der Nachbarkammer stand ebenfalls ein Stück offen. Iride gab Ornella, die gerade herauslugte, ein Zeichen, noch zu warten. Dann schlich sie mit Schenka zum Niedergang. Sie wollten zuerst einmal die Lage erkunden und das Terrain sondieren. Danach konnten sie einen »Großangriff« auf die Seewölfe unternehmen, wie Iride es genannt hatte. Sie war überzeugt, daß die harten Männer den Waffen der Weiblichkeit erliegen würden. Ihr Ziel war, die Mannschaft zu überwältigen und die ›Isabella VIII.‹ in ihre Gewalt zu kriegen. Anschließend würden sie die Männer auf der ›Grifone‹ zwingen, den Zweimaster zu übergeben - und Lorusso und die anderen vierzehn Piraten befreien. Sie hatte von Anfang an nur vorgetäuscht, Lorusso wegen seiner Niederlage zu verachten und nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen. Sie war nach wie vor in ihn verliebt. Und sie haßte den Seewolf. Sie wollte ihm heimzahlen, was er ihnen angetan hatte. Etwas strich Iride um die Beine, maunzte und brachte sie fast zum Straucheln. Leise fluchend trat sie danach. »Al diavolo, zum Teufel; was war denn das?« »Die Katze«, gab Schenka ebenso gedämpft zurück. »Das Biest, das dieser Hund Giuliano Salce bei seiner Flucht 45
mitgenommen hat?« »Ja.« »Verrecken soll sie. Ihr haben wir es zu verdanken, daß Killigrew Salce gefunden hat und dann nach Santorin gesegelt ist.« »Sei still«, zischte Schenka. »Man könnte uns belauschen.« Iride schritt sehr vorsichtig aus, weil sie befürchtete, wieder auf die Katze Micia zu stoßen. Aber das Tier war so rasch wieder verschwunden, wie es im Gang erschienen war. Die beiden Frauen stiegen die Stufen des Niederganges hoch, erreichten das Schott und schlüpften ins Freie. Ein klarer Nachthimmel spannte sich über der ›Isabella VIII.‹. Er war mit Sterntupfern durchsetzt wie ein schwarzer, mit Silberfäden durchwirkter Mantel. Prall bauschten sich die Segel vor dem Wind. Das Knarren der Blöcke und Rahen war zu vernehmen, und das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden. Sonst herrschte Stille. Behäbig hob und senkte sich die Galeone in der leichten Dünung. Iride tappte auf leisen Sohlen über die Kuhl und bemühte sich, die Schiffsbewegungen durch richtigen Hüftschwung und Beinarbeit auszugleichen. Schenka stolperte jedoch plötzlich. Sie kippte nach vorn über, hielt sich an dem rechten Arm der Sizilianerin fest und brachte sie beinahe zu Fall. Sie torkelten bis zur Kuhlgräting und wären bäuchlings daraufgestürzt, wenn sie sich nicht im letzten Moment gefangen und gedreht hätten. So drückte die Kante der Gräting in ihre Kniekehlen, und sie setzten sich mit ihren wohlgerundeten Hinterteilen auf den Gitterrost. »Dumme Gans«, sagte Iride. »Kannst du nicht aufpassen?« »Tue ich doch. Aber ich hab nun mal keine Seebeine.« »Die wachsen dir auch nicht mehr«, sagte die Sizilianerin verärgert. Auf dem Achterdeck war eine Bewegung. Undeutlich sahen 46
die beiden Frauen eine Gestalt, die sich auf sie zubewegte. Auch in ihrem Rücken registrierten sie eine Regung. Iride wandte den Kopf und sah zwei Männer aus Richtung Back anmarschieren. »Da haben wir den Salat«, tuschelte sie erzürnt. »Sie haben uns schon bemerkt.« »Das sollten sie doch auch, oder?« Die Türkin war pikiert. »Aber nicht so rasch.« »Jetzt läßt es sich nicht mehr ändern.« »Da hast du ausnahmsweise mal recht«, sagte Iride spöttisch. »Bist ein kluges Kind.« Die beiden vom Vorkastell sich nähernden Männer waren heran. Iride musterte sie aus schmalen Augenschlitzen. Der eine war ein hagerer Typ mit hellen Haaren. Über seine Brust, das hatte sie am Tag gesehen, zog sich eine Narbe. Der andere fiel durch die Eisenhakenprothese auf, die er anstelle der rechten Hand trug. Iride entsann sich, daß der Seewolf sie mit Gary Andrews und Matt Davies angesprochen hatte. »Sieh mal an«, sagte Gary. »Zwei von den Ladys.« »Ihr habt doch Ausgangsverbot«, fügte Matt hinzu. Beide sprachen spanisch. Sie hatten es in mühseliger Paukerei von Hasard gelernt und konnten sich zwar nicht akzentfrei, jedoch fließend und fast ohne Fehler ausdrücken. »Süßer«, entgegnete Iride ihm mit einem vielverheißendem Augenaufschlag. »Ist das nicht eine romantische Sternennacht? Wo hat sich eigentlich der Mond versteckt, dieser Schlingel? Wollen wir ihn gemeinsam suchen gehen?« »Ich wüßte was Besseres zu suchen«, erwiderte Matt. Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Pilze beispielsweise. Die wachsen auf so einem Segelschiff massenweise.« »Halts Maul, Matt!« stieß Gary hervor. »Wir haben klare Anweisungen. He, Mädchen, verzieht euch schleunigst wieder unter Deck, bevor der Seewolf euch hier sieht.« »Du bist aber gar nicht nett.« Schenka sprach halblaut. 47
Sie hatte ein etwas heiseres Timbre, das ihre erotische Ausstrahlung noch unterstrich. Matt blickte tief in den Ausschnitt dieses blutjungen Geschöpfes und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Diese Proportionen! Diese Verlockung! Iride war irgendwie enttäuscht. Sie hatte erwartet, den bulligen Profos auf Oberdeck anzutreffen. Sie dachte, ihn sehr leicht herumkriegen zu können. Schließlich hatte er so leidenschaftlich eine Lanze für ihre Sache gebrochen. Dieser Bär, dachte sie. Matt wollte wieder etwas sagen, aber Gary hielt ihn am Arm fest. »Augenblick mal. Ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt. Ihr sollt hier verschwinden, Mädchen. Das ist ein Befehl. Matt, du hältst gefälligst die Schnauze, ja?« »Gary, du kannst mir doch nichts vorschreiben!« »Ich kann. Hast du vergessen, was Hasard befohlen hat?« »Nein, aber ...« »Na also. Willst du dagegen anstinken?« »Ich bin doch kein Meuterer«, sagte Matt. »Dann hör mit dem Süßholzgeraspel auf«, warnte Gary. Iride blickte ihn ungeniert von oben bis unten an. Ihre Miene war halb amüsiert, halb mitleidig. »Du hast ja gewaltige Angst vor deinem Seewolf, Junge. Dio mio, mein Gott, was für ein Mann bist du eigentlich?« »Mit mangelndem Mut hat das nichts zu tun«, entgegnete Matt Davies. »Aber ihr müßt uns verstehen, wir ...« »Matt«, sagte Gary eindringlich. »Bist du jetzt still oder nicht?« In diesem Moment war eine Gestalt vom Achterdeck heran. Sie wuchs aus dem Dunkel neben den beiden Mädchen und den Männern hoch - Profos Edwin Carberry. »So«, sagte er grollend. »Das ist also eure Auffassung vom Wachdienst, was, wie? Gary und Matt, ihr beiden verfluchten Hurensöhne, euch zieh ich die Haut streifenweise von euren 48
Affenärschen.« Schenka kicherte. Das letzte Wort hatte sie verstanden, obwohl sie des Englischen sonst nicht mächtig war. Iride lächelte auch. Carberry blickte sie an. »O verflixt ehm, Verzeihung, falls ihr da was Unfeines aufgeschnappt habt.« »Sprich nicht weiter, mein großer, starker Bär«, sagte Iride. »Ich kann dir alles erklären. Deine beiden Männer haben keine Schuld. Schenka und ich haben aus eigenem Antrieb die Kammer verlassen.« »Du weißt, daß das verboten ist«, sagte Carberry streng. »Läßt sich nicht eine Ausnahme versuchen?« Iride legte den Kopf schief und sah ihn herausfordernd an. Ihre Blicke verfingen sich ineinander. Heftig kratzte sich der Profos an seinem mächtigen Kinn. »Unmöglich.« Er gab sich alle Mühe, Härte zu zeigen. »Befehl ist Befehl. Zieht ab. Verschwindet! Laßt euch hier nicht mehr blicken.« »Aber, aber.« Iride wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen, zwang sich aber zu einer liebenswürdigen Miene. »Wer wird denn gleich so ruppig werden? Es gibt Ausnahmen, du Stier. Besondere Fälle. Der Seewolf hat es selbst gesagt. Hat er’s oder nicht?« »Er hat«, bestätigte Matt. Iride warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Na bitte. Das ist nämlich so Schenka und ich, wir müssen mal auf die Galion. Begleitet ihr uns?« Carberry verschluckte sich, mußte husten, krümmte sich und bekämpfte den Juckreiz in der Halsgegend, nur mit Mühe. »Hölle und Teufel, ist denn das zu fassen? Sag bloß, deswegen habt ihr euch so grell bekleistert, ihr beiden Früchtchen.« »Man tut eben, was man kann«, erwiderte Schenka. »Nun sei doch nicht so.« Iride beugte sich ein bißchen vor, damit Carberry noch mehr von den üppigen Rundungen in 49
ihrem Ausschnitt erspähen konnte. »Bellende Hunde beißen nicht, oder? Gehen wir also. Wir haben bestimmt eine Menge Spaß miteinander, wir fünf. Oh, ich glaube, es ist besser, wenn wir noch eine unserer Freundinnen rufen, damit die Rechnung aufgeht. Oder soll ich sie gleich alle wecken?« Ihr Plan war einfach. Waren diese drei Männer erst einmal umgarnt, dann würde es nicht schwer sein, auch die Restcrew einzuseifen und zu übertölpeln. Carberry nahm es jedoch ernst mit seiner Pflicht. O ja, er konnte sich bis zum äußersten kontrollieren, wenn er nur wollte. Der Wunsch, diese freche Sizilianerin einmal kräftig durchzunehmen, war groß. Aber übermächtig war die Disziplin. Hasard verlangte ihm dieses Opfer ab. Brachte er es nicht, hatte er ein für allemal verspielt. Nicht nur vor seinem Kapitän. Auch vor sich selbst. Als Iride sich von der Kuhlgräting erhob, packte er sie beim Handgelenk. »Schluß mit dem Geplänkel, du Kröte. Los jetzt, ich bringe dich selbst in deine Kammer zurück.« Iride rang sich ein verkrampftes Lächeln ab. »Soll das heißen, daß du dich bei mir in der Kammer wohler fühlst? Hast du’s vielleicht lieber, wenn wir es dir zu viert besorgen?« »Luke dicht!« fuhr Carberry sie an. »Ich versohle dir noch deinen Hintern, wenn du nicht parierst.« »Das ist nicht dein Ernst ...« »Und ob!« Iride hatte noch einen Arm frei. Den schlang sie ihm in einem plötzlichen »Gefühlsausbruch« um den Hals. Sie drängte sich gegen ihn, klammerte sich förmlich an ihm fest und hauchte: »Oh, mein großer, starker Bär, du bist also einer von den ganz brutalen. Jetzt verstehe ich dich.« Ihr Mund suchte seine Lippen. Der Profos taumelte zurück. So was war ihm noch nicht passiert! Für einen Augenblick war er total schockiert. Iride 50
wußte das auszunutzen. Sie dirigierte ihn bis an den nächsten Niedergang, drückte ihn auf die Stufen nieder und preßte sich mit ihrem Leib auf ihn. »Jetzt verschling mich«, forderte sie ihn auf. Schenka wollte aufstehen und sich an Matt heranpirschen, aber Gary hielt sie plötzlich fest. Sie drehte den Kopf und wollte etwas sagen, aber es lag etwas in Garys Blick, das sie zurückschrecken ließ. Carberry hatte sich gefangen. So leid es ihm ganz tief in seiner Seele tat - er mußte sich Respekt verschaffen. Und zwar auf nachhaltige Weise. Ein scharfes Geräusch ertönte, fast ein Knall. Iride sprang auf und wimmerte. Mit der linken Hand hielt sie sich die Wange. Der Profos hatte ihr eine Ohrfeige verpaßt. Eine Maulschelle, das war in Anbetracht seiner klüsengroßen Pranken ein Ding, das einem Geschöpf wie Iride glatt den Kopf abreißen konnte. Bloß hatte Carberry eben nicht richtig hart zugehauen. Er hatte sie nur »angetickt« - und das reichte, um sie vor Schmerz heulen zu lassen. Sie wäre rücklings hingestürzt, wenn er sie nicht weiterhin am rechten Handgelenk gehalten hätte. »Hurensohn!« zischte sie voll Haß. »Das mußt du gerade sagen«, erwiderte er. »Ich spucke dich an, du Satan.« »Versuchs’s mal. Willst du noch mal gestreichelt werden?« Er hob sie an der Hüfte hoch. Sie zappelte und kreischte, aber es nutzte ihr nichts. Der Profos trug sie durch das Schott und über den Niedergang ins Achterkastell. Gary folgte mit Schenka. Er hielt sie unerbittlich fest und dirigierte sie vor sich her. Matt folgte ihnen. Er zündete ein Talglicht an. Himmel, er war ja auch kein Kostverächter und bedauerte, nicht an die Huren heranzukönnen - aber die Art, wie sich die Sizilianerin an Carberry herangeworfen hatte, fand er mehr als 51
hinterhältig. Plötzlich begriff auch er, daß mehr dahintersteckte als das reine »berufliche« Interesse dieser acht Frauen. Er begann zu fluchen. * Hasard war in einen unruhigen Schlaf gefallen. Die Traumbilder, die in einem dämonischen Spektrum an ihm vorüberzogen, waren wieder die gleichen wie in den vergangenen Nächten. Ein Greis von mächtiger Gestalt, ein Hüne mit schlohweißem Haar erhob sich vor seinem geistigen Auge und schmetterte Uluch Ali, dem teuflischsten aller algerischen Piraten, den Stummel des zerbrochenen Galeerenriemens gegen den Leib. Ein jüngerer Mann - schwarzhaarig, mit eisblauen Augen und dem weißhaarigen Malteserritter wie aus dem Gesicht geschnitten, er selbst also, Hasard - warf sich in die Bresche zwischen den Kämpfenden und focht auf Leben und Tod mit Uluch Ali. Dann rammte der feige Meuchelmörder seinem Vater Godefroy von Manteuffel das Messer in den Rücken. De Coria! Er fiel unter Carberrys furchtbarem Axthieb, doch der Malteserritter war nicht mehr zu retten. Er starb in Hasards Armen, und die Füße der Crew trommelten einen dumpfen, anklagenden Rhythmus auf den Planken der ›Isabella VIII.‹. Gwendolyn Bernice, geborene O’Flynn, seine junge, schöne Frau! Sie stand hochaufgerichtet an Bord einer einmastigen Schaluppe und streckte die Arme nach ihm aus. Die kochende See riß die Schaluppe mit sich fort, Schüsse krachten aus dem Nichts, der Bootsführer fiel - und Gwens Schrei wehte aus dem Sturm herüber, immer schwächer, bis er ganz verebbte. Philip und Hasard, die Zwillinge, die Gwen ihm geboren hatte! Bis nach Syrien hatte er Isaac Henry Burton, den 52
gemeinen Entführer der Kinder verfolgt. Er hatte den Schatz der Malteserritter gefunden und an Bord der ›Isabella VIII.‹ gebracht aber er hatte seine Kinder nicht retten können. Stark, Burtons Verbündeter, so hatte Burton im Augenblick seines Todes gestanden, hätte Philip und Hasard umgebracht ... Die Schreie der Kinder erreichten aus dem Dunkel der Nacht und des Jenseits sein Ohr. Sie vermengten sich mit Gwens verzweifeltem Hilferuf - und wieder klang das dumpfe Trommeln und Stampfen als Untermalung dazu. Seine Familie, alles, was er auf Erden besessen hatte vernichtet. Von Mördern in den Tod getrieben. Welchen Sinn hatte das Leben noch? Eine Pistolenkugel, rasch und zielgenau auf den eigenen Schädel abgefeuert, konnte die immer wiederkehrenden, bohrenden, deprimierenden Fragen und Visionen beseitigen und ihn mit seinen Lieben wiedervereinigen. Die sächsische Reiterpistole, die er einem bretonischen Freibeuter abgenommen hatte, ruhte auf einem Podest vor ihm. Er brauchte sich nur ein Stück zu erheben, den Arm auszustrecken und danach zu greifen. Der Rest war ein Kinderspiel. Schweißgebadet richtete der Seewolf sich von seiner Koje auf. Er öffnete die Augen. Etwas weißliches Licht drang durch die Bleiglasfenster der Kapitänskammer ein. Das Bild der Pistole war wie weggewischt. Das Lager unter ihm, so stellte Hasard durch einen raschen Blick fest, war völlig zerwühlt. Seine Augen brannten. Er wischte mit dem Handrücken darüber und stellte fest, daß sie ein wenig feucht waren. Tränen? Fast schämte er sich. Aber die Realität nahm ihn unverzüglich gefangen und ließ ihm keine Zeit für Grübeleien. Das Trampeln von Füßen war immer noch da, und auch den Schrei vernahm er nach wie vor. Aber das war weder Gwens Stimme noch die der Zwillinge. 53
Hasard fuhr ganz hoch, rutschte von der Koje und streifte sich eilends Hemd und Hose über. Auf die Stiefel verzichtete er. Barfuß lief er auf den Gang des Achterkastells hinaus. Er gewahrte das Licht eines Talgleuchters, und in diesem mattgelben, flackernden Schein spielte sich eine ergötzliche Szene ab. Matt hielt das Licht. Gary führte Schenka, Carberry trug Iride wie eine federleichte Puppe, und sie strampelte dabei wie verrückt mit den Beinen und veranstaltete einen Heidenspektakel. Sie schrie wie am Spieß. Natürlich rief der Lärm die übrigen sechs Mädchen und die Männer der Crew auf den Plan, die sich bereits aufs Ohr gelegt hatten. Hasard erfaßte mit einem Blick, was sich da ereignet haben mochte. Seine Züge verhärteten sich. Der Profos beförderte Iride in ihre Kammer zurück. Gary Andrews schob die junge, hübsche Türkin hinterher. Carberry riegelte die Tür zu, und Iride konnte kreischen, soviel sie wollte, sie erreichte damit nichts. »So«, sagte Carberry. »Jetzt dürft ihr nicht mal mehr auf den Gang.« Ornella, die Wortführerin der Mädchengruppe aus dem zweiten Raum, schob sich protestierend auf ihn zu. »Das kannst du mit uns aber nicht tun.« Sie bediente sich eines ähnlich holprigen Spanisch wie er. Sie stammte aus Sardinien. »Marsch, ab mit euch!« fuhr der Profos die vier Huren an. »Wollt ihr Ohrfeigen wie eure saubere Kumpanin?« Er rückte so drohend auf sie los, daß sie sich augenblicklich in die Kammer zurückzogen. Carberry zog auch diese Tür zu und riegelte sie ab. Die Schlüssel steckte er in die Tasche. »Seht zu, wie ihr klarkommt, ihr Weibsbilder. Von mir aus könnt ihr ersticken.« Er erblickte erst jetzt seinen Kapitän - und verstummte. Die gesamte Crew, die sich inzwischen in dem engen Gang 54
versammelt hatte, wagte kein Wort zu sagen. Hasard trat dicht vor seinen Profos hin. »Dein Glück, daß du energisch durchgegriffen hast, Ed. Andernfalls hätte ich mich gezwungen gesehen, dich zu bestrafen.« Carberry würgte einen Kloß in seinem Hals herunter. »Jawohl. Und ich hätte es verdient. Aber ich habe nun mal die Verantwortung übernommen, daß wegen der Frauenzimmer kein Scheiß an Bord gebaut wird und ich stehe dazu.« »O verdammt«, sagte nun Matt Davies. »Ich kapier erst jetzt, was für ein falsches Aas diese Sizilianerin ist. Männer, machen wir uns nichts vor. Die ist nicht zusammen mit der Türkin an Deck gepirscht, nur, um ein bißchen Spaß zu suchen. Nein. Die wollte mehr. Den Schatz. Das Schiff. Die Befreiung ihres kreuzverfluchten Freundes Lorusso.« »Na endlich«, erwiderte Gary. »Und ich hatte schon Angst, du wärst völlig blind geworden.« »Das genügt«, sagte Smoky. »Es ist wohl das Beste, wenn wir die Mädchen eingesperrt halten, bis wir die Insel gefunden haben, auf der wir sie aussetzen können.« Der alte Donegal Daniel O’Flynn schüttelte drohend seine Krücke. »Ich hab’s gewußt. Wir hätten dieses Kruppzeug am besten auf Santorin gelassen. Weiber an Bord, das gibt böses Blut. Und es war ja zu erwarten, daß sie den Piraten helfen würden, indem sie uns zu überwältigen versuchten.« »Das ist nicht wahr!« schrie Iride aus dem Inneren der Kammer. »Lüge, nichts als Lüge!« »He!« stieß Old O’Flynn verwundert aus. »Versteht die etwa englisch?« Hasard schüttelte den Kopf. »Unsinn. Aber sie kann sich ausmalen, was wir sprechen. Und da hält sie es für gegeben, einfach alles pauschal abzustreiten. Ed, wie lange habt ihr noch Deckswache?« »Noch fünf Glasen.« »Gut. Auch die Ablösung soll Augen und Ohren aufsperren, 55
ob die Mädchen weitere Tricks versuchen. Es braucht nicht extra jemand hier auf dem Gang Wache zu schieben, das halte ich für übertrieben. Aber jeder einzelne von euch steht mir mit seinem Leben dafür ein, daß die acht uns nicht in den Rücken fallen.« Er blickte von einem zum anderen. Ihre Mienen besagten, daß sie nicht am Ernst seiner Worte zweifelten. Giuliano, Ronald, David und die drei Muschelfischer hatten ihre Kammern verlassen und schauten verstört um sich. Hasard trat zu ihnen. Er legte dem Toskaner die Hand auf die Schulter. »Geht wieder schlafen. Ihr habt an dem Ganzen keine Schuld.« Micia, die schwarzweiße Katze, kuschelte sich in Giulianos Arm zusammen. Listig blinzelte sie den Seewolf dabei aus einem Auge an - so, als hätte sie dies alles längst erfaßt und verarbeitet. Die Männer zogen sich aus dem Gang zurück. Hasard kehrte in seine Kapitänskammer zurück, legte sich aber nicht mehr schlafen. Er beschloß, wachend auf den neuen Tag zu warten. Seine Müdigkeit war verflogen, er spürte kein Verlangen danach, wieder mit den scheußlichen Träumen konfrontiert zu werden. Er trat auf die Heckgalerie hinaus und atmete tief die klare Luft ein. Ernst blickte er nach unten, in das leicht phosphoreszierende Kielwasser der ›Isabella VIII.‹. Die Selbstmordgedanken waren verflogen. Hasard war nicht der Typ, der wirklich zur Pistole griff. Sein seelischer Schmerz war enorm, doch - abgesehen von dem kurzen Moment des Einschlags der Kugel - der Freitod war wohl die bequemste Art, mit solchen Problemen fertigzuwerden. Außerdem gab es immer etwas, wofür es sich noch lohnte, am Dasein festzuhalten. Da war die Karibik, der Gedanke an die Schlangeninsel und an Siri-Tong, die Rote Korsarin, in der er eine vollwertige Mitstreiterin gefunden hatte. Sein selbstgesetzter Auftrag, den 56
Spaniern etwas von ihrem Reichtum zu entreißen, blieb bestehen. Er wollte verhindern, daß die Macht der Dons wuchs, daß sie eines Tages auch England angriffen und es sich in einem vernichtenden Schlag einverleibten. Gewiß, er war weder ein richtiger Engländer, noch Spanier, noch Deutscher, wie er herausgefunden hatte. Eingedenk dieser Erkenntnis war es vielleicht dumm von ihm gewesen, nach seiner Vergangenheit zu forschen. Er hatte alte Feinde seines Vaters und seiner Mutter aufgesucht, Geheimnisse entwirrt und Verrat aufgedeckt. Nahezu vernarbte Wunden waren wieder frisch aufgebrochen - und was hatte ihm das alles eingebracht? Noch mehr Haß und Vergeltungssucht gegenüber ihm, dem verfluchten Bastard. Oh, er hatte die Spanier nun auch in ihrem Mutterland das Fürchten gelehrt, und besonders in Cadiz hatten sie einen nachhaltigen Eindruck von ihm gewonnen. Aber das änderte nichts an den Tatsachen. Er war ein verdammter, dahergelaufener, mehr aus Zufall als innigem Wunsch großgewordener Bastard. Er konnte sich dem nicht verschließen - und er tat es auch nicht mehr. Er bekannte sich zu seiner Rolle. Doch auch ein Bastard hatte seine Ehre. Und manchmal legte so ein Strolch mehr Würde, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeitssinn an den Tag als die meisten hochwohlgeborenen, blaublütigen Adligen. Es war doch unvermeidlich gewesen, die Wahrheit über seine Herkunft herauszubringen. Immerhin sah er jetzt klar und tappte nicht mehr im dunkeln. Die Erinnerung an die Ränkeschmiede, die seine leibliche Mutter Graciela de Coria und seinen Vater Godefroy von Manteuffel zum Straucheln gebracht hatten, hatte ihren bitteren Beigeschmack verloren. Ja, nicht einmal den Killigrews war er gram für das, was sie ihm zugefügt hatten. Jetzt nicht mehr. Was blieb, war der tiefe Schmerz über den Tod der Seinen, besonders über die Zerstörung seiner eben erst aufgebauten, 57
kleinen, geliebten Familie. Er atmete tief durch. Er mußte damit fertigwerden. Wie hatte der alte Donegal, sein Schwiegervater, ihm doch so richtig vor der syrischen Küste gesagt? »Die Zeit heilt Wunden.« Das klang abgeschmackt, aber Old O’Flynn hatte es nicht nur einfach so dahergesagt. Es war ein Erfahrungsgrundsatz. Hasard begriff immer mehr, daß etwas Wahres daran war. Das Leben ging weiter und forderte ihn heraus. Er, der Sohn eines Malteserritters und einer adligen Spanierin, fühlte sich doch nach wie vor als Engländer. Wenn er in Cornwall und in London auch miserabel behandelt worden war - sein Herz schlug immer noch für das Land, seine aufrechten Bewohner und für die königliche Lissy. Übel hatten die Hofschranzen und Schergen, die Intriganten und gierigen Hunde wie Keymis und Burton ihm mitgespielt, als er seinen immensen Schatz bei Hof abgeliefert hatte. Aber Keymis und Burton waren tot. Und der Mensch konnte nicht von seiner Vergeltungssucht leben. Irgendwann, so hoffte Hasard, würde ganz England ihn in einem anderen Licht sehen. Immerhin war er dort aufgewachsen. Das hieß viel. Englands Sache war auch die seine. Niemals würde er zulassen, daß Spanien den Boden besetzte, auf dem er als Kind gespielt hatte, als Jugendlicher geritten und gewandert war und seine ersten Abenteuer erlebt hatte. Genug davon, sagte er sich. Vordringlich war, was ihn auf Malta erwartete. Er hoffte inständig, daß die Aradschys und ihre Verbündeten noch nicht zugeschlagen hatten. Hatten sie Valetta schon eingenommen, würde es verflixt schwierig sein, es ihnen wieder zu entreißen. Aber Hasard baute darauf, daß die Piraten Santorin erst kurz vor seiner Ankunft verlassen hatten. Es nahm doch etwas Zeit in Anspruch, sich mit den anderen Teilnehmern dieser Verschwörung zusammenzurotten und eine Angriffsstrategie 58
durchzusprechen. Malta indes ahnte nichts von dem Sturm, der sich da zusammenbraute. Hasard dachte an die ›Grifone‹, an Lorusso, Ovidio und die anderen Piraten. Seine vagen Überlegungen verknüpften sich zu einem sinnvollen Ganzen. Ein Plan reifte heran. Wölfe im Schafspelz! Auf Kuba hatten sie sich wieder einmal als Spanier ausgegeben und so im Hafen von Havanna einen fabelhaften Trick angewendet. Sie hatten sich als Mannschaftsmitglieder für einen Konvoi »pressen« lassen und dann fette Beute gerissen. Natürlich war die Grundvoraussetzung gewesen, daß Hasard, Ben, Blacky und Sam Roskill wegen ihrer hervorragenden Spanischkenntnisse unbesehen als echte »Dons« durchgingen. Italienisch müßte man können, überlegte der Seewolf. Oder sizilianischen Dialekt. Aber auch dafür würde sich eine Lösung finden.
5. Im Morgengrauen wechselte der Wind von Osten auf NordNordost, blies aber nach wie vor günstig für die ›Isabella VIII.‹. Sie legte sich platt davor und segelte in direktem Kurs auf die Nordwestspitze der Insel Kreta zu. Hasard hielt auf dem Achterdeck eine kurze Besprechung mit Carberry, Old O’Flynn und Smoky ab. »Wenn der Wind nicht schralt und weiterhin so handig einfällt, haben wir vor dem Dunkelwerden Kreta erreicht«, sagte er. »Dort befördern wir die ›Ladys‹ an Land.« »Warum nicht schon eher?« fragte O’Flynn. »Weil es auf unserem Kurs von Santorin bis zur Passage kein einziges Eiland gibt«, erwiderte Hasard. »Jedenfalls sind auf 59
meinen Seekarten keine verzeichnet.« »Mist. Die Weiber sind uns ein Klotz am Bein. Schlimm genug, sie noch den ganzen Tag über ertragen zu müssen.« Smoky lachte. »He, Donegal, nun reg dich doch nicht mehr über die Mädchen auf. Sieh dir lieber mal an, wie schön der Herbst im Mittelmeer ist.« Er hatte recht. Wieder spannte sich azurblauer Himmel über den Schiffen, und nur eine leichte Dünung kräuselte die See. Es war ein richtiges Bilderbuchwetter. Fast zu schön, um wahr zu sein. Die Männer auf Oberdeck entledigten sich ihrer Hemden, ließen sich von der Sonne bräunen und genossen das Wetter. So gab es wenigstens einen angenehmen Grund, diesen Oktober des Jahres 1581 in Erinnerung zu behalten. Hasard ließ zur ›Grifone‹ signalisieren. Ben Brighton gab zurück, es sei alles in bester Ordnung. Hasard hätte zufrieden sein können, aber er wurde das dumpfe Gefühl nicht los, es könne sich etwas Unvorhergesehenes ereignen. Es war keine bloße Ahnung. Es war fast eine Gewißheit. Später erhielt er die Bestätigung, daß sein Pessimismus nicht unbegründet gewesen war. Das Verhängnis nahm zur Mittagsstunde seinen Lauf. Alles begann damit, daß Giuliano Salce sich zum Kutscher in die Kombüse begab. »Ich fühle mich schon wieder ganz in Ordnung«, sagte er. »Und dieses Nichtstun macht mich krank. Kann ich dir nicht wenigstens beim Zubereiten des Essens behilflich sein? Das ist doch keine anstrengende Arbeit.« Der Kutscher untersuchte ihn erst einmal, dann entgegnete er: »Also gut, meinetwegen. Schönen Dank für dein Anerbieten, ich nehme gern an. Hilfe kann ich gebrauchen. Außerdem kann ich einen Patienten am besten kontrollieren, wenn ich ihn dauernd vor mir habe. Wie geht es deinen Leuten?« »Besser.« »Richtige Ernährung ist die Grundlage für Gesundheit und 60
Kraft«, predigte der Kutscher. »Verstehst du was vom Kochen?« »Wir aus der Toskana sind da nicht unbegabt ...« »Richtig, das habe ich auch schon gehört. Wenn mich nicht alles täuscht, sind seit Marco Polo doch die Nudeln in ganz Italien eine Art Nationalgericht geworden.« »Das stimmt. Besonders Spaghetti. Wir garnieren sie mit besonderen Soßen.« »Nudeln haben wir leider nicht an Bord. Aber wir haben Gemüse von Santorin, Fleisch und Fisch.« Giuliano rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet. Dann an die Arbeit. Hast du auch Öl?« »Ja, aber ...« »Ich weiß, ich weiß, ihr Engländer seid nicht so begeistert davon, ihr nehmt lieber Butter und Schmalz zum Braten. Aber laß mich mal eine Gemüsesuppe und ein Fischgericht zaubern, dann änderst du deine Meinung vielleicht.« Nach einigem Zögern ließ der Kutscher den Mann aus Livorno wirtschaften. Und nicht sehr viel später wehten tatsächlich verführerische Essensdüfte von der Kombüse über Deck. Der einzige, der wieder mal nicht begeistert war, war Matt Davies. »Mann, hier riecht’s nach gekochten Tomaten«, beschwerte er sich. »Seit wann, Hölle und Teufel, werden die Dinger heißgemacht?« Carberrys mächtige Gestalt erschien ihm. »Wie werden sie denn deiner Meinung nach verschlungen, du Schlauberger?« »Roh natürlich.« »Roh natürlich«, ahmte der Profos ihn nach. »Wer sagt dir denn das?« »Wir Engländer haben Tomaten bis jetzt immer ungekocht gefressen«, erwiderte Matt. Er hob seinen Eisenhaken wie zufällig, aber Carberry konnte so was absolut nicht beeindrucken. Außerdem war er der Profos, und der Profos 61
hatte das Sagen in der Kuhl. »Gegessen«, verbesserte er. »Und Tomaten kennst du erst, seit wir im Mittelmeerraum und in der Karibik herumtörnen.« »Was du nicht sagst!« »Also solltest du den Toskaner ruhig wursteln lassen«, erklärte Carberry. »Er hat mehr Ahnung als du, was man mit Tomaten und anderem Zeug alles anstellen kann.« Damit marschierte er geradewegs auf das Kombüsenschott zu. Er streckte seinen Kopf ins Innere. »He, was braut ihr denn da Gutes zusammen, ihr Stinte?« »Minestrone und Zahnfisch in pikanter Tomatensoße«, erklärte Giuliano. »Der Kutscher hat mich schon nach den Rezepten gefragt.« »Was ist denn Minestrone?« fragte Carberry. »Gemüsesuppe«, sagte der Kutscher. Carberry fühlte etwas Weiches, Warmes an seinen Beinen. Er blickte an sich hinunter und sah Micia, die schwarzweiße Katze. Schnurrend strich sie auf den Türspalt zu. »Hoppla, du willst wohl auch mal kosten, was, wie?« sagte Carberry noch grinsend. Im nächsten Moment grinste er nicht mehr, denn etwas knallte dröhnend auf seine Schädelplatte. Er fluchte, duckte sich - das Etwas klapperte auf die Kuhlplanken. »Himmel, Arsch und Zwirn!« Er bückte sich und hob das Geschoß auf. Es entpuppte sich als halbe, ausgehöhlte Kokosnußschale. Arwenack, der Schimpanse, hatte die Kokosnüsse irgendwo gehortet, seit sie ihn an Bord geholt hatten. Und immer wieder war es ihm gelungen, die Dinger auf jede neue ›Isabella VIII.‹ zu schleppen, ohne daß der Profos es verhindern konnte. Carberry hob den Kopf. Arwenack turnte über ihm an einer Schot und war im Begriff, bis zum Vormars aufzuentern. Carberry schüttelte die Faust. »Du Pavian, du Brüllaffe, paß bloß auf! Wenn ich dich zu fassen kriege, ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem ...« 62
»... Affenarsch!« rief jemand hinter ihm. Er drehte sich um und erkannte Sam Roskill als den Sprecher. Die anderen Männer standen rund um Sam herum auf der Kuhl und prusteten los. Sie alle hatten Arwenacks Manöver verfolgt. Sie bogen sich vor Lachen. Carberry ließ einen grollenden Laut vernehmen. »Ihr Himmelhunde! Die Nuß war für Micia bestimmt, nicht für mich.« Das stimmte. Arwenack, nach wie vor eifersüchtig auf die Katze, zog sich schmollend in den Vormars zurück. Er war überzeugt, daß Micia den ersten Platz in der Gunst der Seewölfe einnahm. Nicht einmal von dem jungen Dan O’Flynn wollte er etwas wissen. Der Kutscher und Giuliano Salce teilten das Essen aus. Giuliano brachte seinen fünf Freunden die Rationen in die Kammern. Er mußte sie wecken. Sie hatten in tiefem Erschöpfungsschlaf gelegen. Als der Toskaner auf die Kuhl zurückkehrte, sagte er: »Die Mädchen haben sich gemeldet. Sie hätten ein Recht auf Verpflegung, hat die Sizilianerin mir zugerufen.« Carberry wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Klar, wir lassen sie ja nicht den Hungertod sterben. Nur soll Iride die Klappe nicht zu weit aufreißen, sonst leg ich sie wirklich noch übers Knie. Übrigens schmeckt das Zeug hier wirklich toll, das muß man dir lassen, Giuliano.« »Ja, wie eingeschlafene Füße«, sagte Matt Davies grinsend. »Nimm es ihm nicht übel«, sagte der Kutscher zu dem Toskaner. »Er ist von Natur ein Meckerbeutel, meint es aber nicht so, sondern meistens genau umgekehrt.« Der Profos setzte Essensnapf und Muck ab, stand auf und holte die Schlüssel für die beiden Achterdecks-Kammern aus der Tasche. »Gehen wir. Allein lasse ich dich nicht zu den Weibern, Mann.« »Ich gehe auch mit«, sagte Matt. 63
Carberry streifte ihn mit einem zurechtweisenden Blick. »Das könnte dir so passen, du Prielwurm. Kutscher, du begleitest uns.« Zu dritt transportierten sie die Kübel mit dem Essen ins Achterkastell. Hasard, Smoky und der alte O’Flynn nahmen auf dem Achterdeck ihre Mahlzeit ein. Carberry winkte ihnen zu und grinste. Giuliano Salce trug die Holznäpfe und Trinkbecher. Als sie vor der Tür zur Kammer von Iride, Schenka, Agnes und Rossana verhielten, stand er neben dem Profos und der Kutscher hinter ihnen beiden. Carberry schloß auf. Giuliano schaute nach unten und sah im Halbdunkel des Ganges Micia um seine Beine streichen. »Was, bist du schon wieder da, du alte Schmeichlerin? Du hast doch deine Portion gehabt. Kannst du den Hals nicht vollkriegen?« »Sie ist auf den Fisch versessen«, sagte der Kutscher. Carberry hatte aufgeriegelt und drückte die Tür auf. Unwillkürlich fragte er sich, in welchem Zustand sich die Frauen wohl befanden und wie sie sich mit ihrem Gefangenendasein zurechtgefunden hatten. Hatte sich die Kammer in einen Schmutzpfuhl verwandelt? Nein, es gab ja immerhin ein Backbordfenster, durch das sie frische Luft einlassen konnten und gewisse Kleinigkeiten verrichten konnten. »Iride«, sagte er in seinem dröhnenden Baß. »Antreten zum Essenfassen.« »Gib schon her, du Menschenschinder«, entgegnete die Sizilianerin. Er sah jetzt ihr Gesicht - düster, verzerrt, voll Haß. Micia schlüpfte aus unergründlichem Antrieb in die Kammer. In diesem Moment geschah es. Iride sah ihre Chance und bückte sich nach dem Tier. Sie zog es am Schwanz, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Ein Schmerzenslaut entfuhr der Katze. Es war ein langgezogener, 64
gellender, fast menschlich klingender Schrei. Giuliano ließ die Näpfe und Mucks fallen, daß es polterte, dann stürzte er in die Kammer. Die Tür schwang unter dem Aufprall seines Körpers ganz zurück. »Du Biest!« schrie er. »Laß meine Katze in Ruhe!« Ein Bein schoß vor - es gehörte Schenka. Giuliano stolperte und stürzte, aber die vier Mädchen fingen ihn blitzschnell auf. Iride schleuderte Micia auf den Profos. In einer instinktiven Abwehrbewegung riß Carberry die Hände hoch. Micia fauchte, saß ihm plötzlich mitten im Gesicht und zerkratzte ihm die Wangen. Er griff so behutsam wie möglich nach ihr, setzte sie auf dem Gangboden ab - und erstarrte. Drei Mädchen hielten Giuliano an Armen und Beinen fest. Iride stand hinter ihm, hatte einen Arm um seine Gurgel gelegt und hielt in der anderen Faust ein Messer. Es gehörte dem Toskaner. Sie hatte es ihm aus dem Gurt gerissen. »Halt, ihr Hunde!« rief sie. »Ich schneide ihm den Hals durch, wenn ihr auch nur einen Schritt tut.« * Der Kutscher setzte den Kessel mit der Minestrone langsamab. »Du bist ja verrückt«, sagte er zu der Sizilianerin. »Was willst du denn damit erreichen?« »Das wirst du sehen!« schrie sie. »Los, leg deine Pistole auf den Boden.« Der Kutscher zögerte. Iride zog die Messerklinge bis an Giulianos Adamsapfel hoch. Der Toskaner würgte, seine Augen weiteten sich. Er hatte sich nicht genügend zur Wehr setzen können, dazu war er noch zu schwach. Außerdem hatten die Huren das Überraschungsmoment zu ihren Gunsten ausgenutzt. 65
»Ich ritze ihm jetzt die Kehle«, drohte Iride. »Ja, wir wollen sein Blut sehen!« rief Schenka. Der Mann aus Livorno hatte sich gefaßt. »Bringt mich doch um«, sagte er gepreßt. »Um mich ist es nicht schade, Ed, Kutscher - hört nicht auf diese Hexen.« »Du glaubst wohl, ich scherze?« kreischte Lorussos Geliebte. »Nein.« Carberry schüttelte den mächtigen Schädel. »Kutscher, leg die Pistole hin.« Der Kutscher befolgte die Aufforderung. »Nicht so«, befahl Iride. »Schieb sie weiter vor, ja, über die Schwelle. Und jetzt entwaffnest du dieses Schwein von einem Profos!« Sie bediente sich wieder der spanischen Sprache fehlerhaft, fast gebrochen, aber es hatte keinen Zweck, so zu tun, als verstünden sie sie nicht. Der Kutscher tat also, wie ihm geheißen. Er hatte Carberrys Pistole und Entermesser gerade über die Türschwelle befördert, da erschien der Seewolf auf dem Niedergang. Er hatte Micias Schrei vernommen. Die Katze war zu ihm gelaufen, er trug sie auf den Händen. Hinter ihm traten Old O’Flynn, Smoky und ein paar andere durch das Schott. Carberry wandte nicht den Kopf, obwohl auch er sie bemerkt hatte. Er trachtete, ihnen ein Zeichen zu geben, da sagte die Sizilianerin voll Hohn und Verachtung: »Du denkst, ich hätte deine Spießgesellen nicht bemerkt, wie? He, Seewolf, du Lump fermati! Bleib stehen! Rühr dich nicht vom Fleck, sonst geht es dem Toskaner dreckig!« »Was soll das Ganze?« fragte Hasard. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt?« Iride lachte schrill auf. »Zunächst mal will ich das Schiff, dann sehen wir weiter.« »Das schaffst du nicht«, flüsterte der Profos entsetzt. »Niemals.« »Lassen wir es darauf ankommen?« schrie sie ihn an. Er lief dunkel an und stand leicht geduckt. Seine Arme 66
pendelten. »Wenn du Giuliano tötest, ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert, du Miststück!« »Leere Sprüche! Du hast nicht den Mumm dazu.« »Treibe es nicht auf die Spitze«, warnte er. Er sprach immer noch gedämpft. Er konnte mächtig auf die Palme gehen und brüllen, daß das Schiff bis in die Maststengen erbebte, das war bekannt. Aber wenn der Profos leise wurde, drohte allerhöchste Gefahr. Iride wußte das nicht. Außerdem scherte sie sich den Teufel um Carberrys inneren Zustand. Sie rief: »Hört zu, ihr Bastarde! Ich ritze diesem Burschen die Haut, wie der Seewolf es bei Ahmed getan hat. So bist du doch mit dem Türken umgesprungen, nicht wahr, Killigrew?« Hasard antwortete nicht. »Wenn du fertig bist«, sagte Schenka, das Türkenmädchen, »habe ich auch noch ein Hühnchen mit Killigrew zu rupfen.« Iride entblößte ihre untadeligen Zähne. »Genehmigt. Ich verstehe sehr gut, daß du deinen Landsmann rächen willst. He, Profos, ich fange bei dem Toskaner am Hals an, aber ich bringe ihn nicht gleich um. Er soll nur ein bißchen schreien. Ich schneide ihm dann ein Muster auf den Rücken und noch etwas tiefer ...« »Hör auf«, sagte Carberry. »Was verlangst du?« »Meine Gefährtinnen heben jetzt die Waffen auf. Ihr beiden Figuren dreht euch um und marschiert brav vor uns her. Wir schließen die Nachbarkammer auf und holen unsere Freundinnen raus, und dann gehen wir alle bis zum Seewolf. Du wirst ihn überzeugen, daß Widerstand sinnlos ist, klar?« »Ist gut«, antwortete der Profos in tiefster Zerknirschung. Auf der Schlangeninsel in der Karibik hatte sich auch eine Frau erdreistet, ihnen Paroli zu bieten. Mehr noch, sie hatte ihre ›Isabella VIII.‹ gekapert und sie mit erhobenem Degen zur Kapitulation gezwungen - Siri-Tong, die Rote Korsarin. Aber ganz abgesehen davon, daß die Seewölfe dann den Spieß 67
umgedreht hatten - ihr hatten sie das verzeihen können, zumal sie nach den ersten Reibereien eine kühne Verbündete in ihr gefunden hatten. Aber das hier, das brachte Carberrys Blut in Wallung. Er stand kurz vorm Überkochen. »Hebt die Waffen auf«, befahl Iride ihren Genossinnen. Schenka, Agnes und Rossana schickten sich prompt an, die beiden Pistolen und Carberrys Entermesser vom Boden aufzulesen. Dazu mußten sie den Toskaner kurz loslassen. Und Giuliano nahm die Gelegenheit wahr. Er trat nach hinten aus und traf Irides Schienbein. Gleichzeitig versuchte er ihrem Klammergriff zu entschlüpfen, schaffte es jedoch nur halb, weil sie sofort nachfaßte. Die Messerklinge fuhr über seine Schulter und trennte den Hemdstoff durch. Carberry, scharlachrot im Gesicht und einen Fluch auf den Lippen, stürzte in die Kammer. Er hechtete über die drei gekrümmten Mädchenkörper weg, flog auf die Sizilianerin und den Malteserritter zu und packte sie beide. Er pflückte den Toskaner förmlich von der Frau los. Eine wischende Handbewegung, und Giuliano flog quer durch den Raum auf eine der Kojen. Carberry schnappte sich die kreischende Iride. Schenka traf Anstalten, mit einer der Beutepistolen auf den Profos zu schießen, aber der Kutscher zog ihr einen Strich durch die Rechnung. Er sprang, griff sie, rollte sich mit ihr ab, und die Pistole segelte in die Ecke zu dem stöhnenden, blutenden Mann aus Livorno. Carberry drehte sich einfach im Kreis und schlug Agnes aus Piemont und Rossana aus Neapel ihre zeternde Kumpanin um die Ohren. Beide sanken hin und jammerten zum Gotterbarmen. Hasard, Smoky und der alte O’Flynn waren nun ebenfalls heran. Es war immer wieder erstaunlich anzusehen, wie schnell 68
Old Donegal mit seinen Krücken und dem Holzbein zu laufen vermochte. Während er den Fluchtweg zum Gang versperrte, sprangen Hasard und sein Decksältester in die Kammer und hielten Rossana und Agnes fest. Schenka befand sich in einer Art Schwitzkasten. Der Kutscher hielt sie mitgrimmiger Miene fest. Carberry hatte Iride ein Stück hochgehoben und ließ sie zappeln. Sie gebärdete sich hysterisch. Aber sie konnte nicht nach ihm schlagen, denn er hielt ihr mit einer Pranke beide Hände fest. »Ich will wissen, was mit Giuliano ist«, sagte der Profos. Hasard zwang Rossana, aufzustehen. Er drängte sie gegen die achtere Kammerwand. Smoky tat mit Agnes das gleiche, zückte seine Pistole, spannte den Hahn und sagte: »Sonst benehmen wir uns Frauen gegenüber wie Kavaliere. Aber das habt ihr euch jetzt selbst gründlich verdorben. Wenn ihr weitere Dummheiten anstellt, knallt es.« Hasard eilte zu dem Toskaner, untersuchte ihn rasch und teilte den anderen mit: »Es ist nur ein Kratzer. Nichts Schlimmes.« Giuliano war zutiefst betroffen und beschämt. »Daß mir das passieren mußte. Einem Malteserritter! Es ist eine Schande.« »Jeder von uns hätte in die Falle laufen können«, beschwichtigte ihn der Seewolf. »Bedenke, daß keiner damit gerechnet hat, auf eine so hinterhältige Art von den Weibsbildern angegangen zu werden.« Er mußte laut sprechen, um gegen das Geschrei der Sizilianerin anzutönen. Aber dann brüllte Carberry, und zwar so, daß die Schiffswände wackelten. »So! Das Maß ist voll. Ich hab dich gewarnt, Iride, und das nicht nur einmal. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen!« Er stapfte an den anderen vorbei, walzte durch den Gang nach vorn, trat auf die Kuhl und hielt die Schwarzhaarige in die 69
Sonne. Sie drehte den Kopf und blickte in seine zornig blitzenden Augen. Er sah grauenhaft aus mit den blutigen Kratzern auf den Wangen und den vielen Narben in seinem Gesicht, und erst jetzt kriegte sie es richtig mit der Angst zu tun. »Laß mich los«, sagte sie in flehendem Tonfall. »Sei doch nicht so, mein großer, starker Bär. Ich hab nur Spaß gemacht, ich hätte dem Toskaner nichts getan. Du kannst es mir glauben. Gütiger Himmel, laß uns noch mal kräftig darüber lachen, dann vergessen wir es, ja?« Er lachte wild und grollend auf. »Das könnte dir so passen, du Schlange. Warte.« »Nein!« kreischte sie. »Tu’s nicht! Töte mich nicht!« Der Profos setzte sich auf die Kuhlgräting, legte sich die Zappelnde über die Knie und raffte ihren Rocksaum hoch. Der Stoff bauschte sich mächtig. Iride schrie, als habe tatsächlich ihre letzte Stunde geschlagen. Die Crew versammelte sich auf Deck und hielt die widerspenstigen Huren fest. Drüben, an Bord der ›Grifone‹, standen Ben und seine Männer ebenfalls an Oberdeck und beobachteten wie gebannt, was auf der ›Isabella VIII.‹ geschah. Iride trug nichts weiter unter dem Rock. Ihr praller, wohlgerundeter Hintern glänzte im Mittagslicht. Matt Davies konnte es nicht lassen, er steckte beide Zeigefinger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff vernehmen. »Ho!« grölte Dan O’Flynn aus dem Großmars. »Land in Sicht, Männer! Zwei fette Wonnehügel ...« Carberry hob ohne weitere Vorrede seine Pranke und hieb zu. Diesmal »streichelte« er Iride nicht nur, sondern schlug richtig zu. Sie bäumte sich unter seinem Griff auf und kreischte, daß es den Seewölfen in den Ohren gellte, konnte aber nichts mehr ändern. Sie bezog ihre Prügel, und was für welche! 70
Zehnmal klopfte der Profos ihr auf den Achtersteven, aber das reichte aus, um sie bis an ihr Lebensende an den Vorfall zu erinnern. Zehn Prankenhiebe von Carberry auf den nackten Hintern, das war etwa so, als zöge man einem ausgewachsenen, hartgesottenen Seemann dreißig Schläge mit der neunschwänzigen Katze über. Iride hatte blaue und rote Striemen auf dem Hinterteil, als sie aufsprang. Ihr Rock fiel wieder. Matt, Sam, Al, Bob und ein paar andere gaben bedauernde Rufe von sich. Iride lief im Kreis, wimmerte, heulte, wollte sich ihre wie Feuer brennenden hinteren Rundungen halten, konnte es aber nicht, weil jede Berührung alles nur noch schlimmer werden ließ. »Von jetzt an futterst du im Stehen!« rief Carberry ihr in grimmiger Genugtuung zu. »Das hast du davon.« Iride wollte glattweg außenbords springen, aber am Schanzkleid verharrte sie. Zu diesem Schritt fehlte ihr doch die Courage. Sie seufzte, wandte sich wieder ab, ließ sich bäuchlings auf die Planken sinken und schluchzte hemmungslos. »Will noch jemand den Hintern voll haben?« Carberry musterte drohend die Mädchen, die von Hasard und seinen Helfern auf Deck geführt worden waren. »Nein, um Gottes willen, nein!« schrie Rossana. »Laß jetzt, Ed«, sagte Hasard. »Sie haben auch so schon die Nase voll.« Carberry nickte bedächtig. »Aye, aye, Sir. Aber wie lange hält das bei diesen Satansweibern vor?« * »Land in Sicht!« rief Dan O’Flynn am späten Nachmittag, und dieses Mal war es kein Scherz. »Küstenstrich Backbord voraus!« 71
»Kreta«, sagte Hasard nach einem kurzen, prüfenden Blick durch den Kieker. »Wir haben das Nordwestufer erreicht, und zwar noch vor der Zeit, die ich berechnet hatte. Das haben wir dem günstigen Wind zu verdanken.« Das nun erforderliche Manöver ging zügig vonstatten. Hasard ließ Ben Brighton signalisieren. Sie luvten beide nach Backbord an, liefen mit Südostkurs auf die Insel zu, geiten kurze Zeit später die Segel auf und ankerten etwa eine Meile von der schroffen, bleigrau herüberdrohenden Küste entfernt. Smoky hatte die Tiefe ausgelotet. Bis hierhin und nicht weiter, lautete die Devise. Jede weitere Annäherung an Kreta konnte üble Folgen haben. »Wir wollen wegen der ›Ladys‹ nicht auch noch auf Grund laufen«, sagte Hasard. »Männer, fiert die Beiboote ab. Ed, du übernimmst mit dem Kutscher, Smoky, Gary, Matt und Al die erste Schaluppe und beförderst Iride und ihre Kammergenossinnen hinüber. Vier Mann pullen, zwei passen mit gezückten Waffen auf, daß es keine Zwischenfälle mehr gibt. Desgleichen auf der zweiten Schaluppe. Pete, Dan, Sam, Bob, Luke und Will, ihr stellt die Besatzung.« »Hey!« rief der Profos. »Wer bleibt denn da noch auf der ›Isabella‹ übrig?« »Der alte Donegal, Arwenack, Micia, die Malteser und ich«, erwiderte Hasard. »Sonst noch Fragen?« »Nein, Sir.« Die Boote wurden zu Wasser gelassen und bemannt. Beim Ablegen von der Bordwand sandte Iride einen vernichtenden Blick zu Hasard hinauf. Sie sprach aber kein Wort. Auch ihre sieben Begleiterinnen schwiegen. Die Zurückbleibenden blickten den davongleitenden Schaluppen nach. »Kreta sieht nicht sehr einladend aus«, sagte Hasard. »Aber die Huren finden dort sehr schnell ein neues Betätigungsfeld! In der Beziehung haben sie bestimmt keine Schwierigkeiten. 72
Und Irides Hinterteil wird auch rasch wieder abkühlen.« »Du bedauerst sie wohl noch, was?« Der alte O’Flynn war sofort wieder aufgebracht. »Hölle, sie hätten es verdient, zu den Fischen geschickt zu werden.« »Man muß über den Dingen stehen, Donegal.« »Wegen der Frauenzimmer wären wir fast in des Teufels Küche geraten!« »Im Grunde war das vorauszusehen, und zwar von dem Moment an, in dem ich einwilligte, sie von Santorin fortzubringen.« Der Alte schnaufte. »Das war ein Fehler, laß dir das von mir gesagt sein.« Hasard stieß sich vom Schanzkleid ab, stemmte die Fäuste in die Seiten und fixierte den Alten. »Hör mal, Old Donegal, wer ist hier eigentlich der Kapitän?« »Du, wer sonst?« »Dann laß das Gestänker. Ich bestimme, was getan wird, und irgendwo liegt immer ein Risiko. Wem das nicht paßt, der kann abmustern.« Statt richtig böse zu werden, strahlte der Alte plötzlich. »Holla!« rief er aus. »Was sind denn das für Töne? Das ist Musik in meinen Ohren! Hasard, jetzt bist du wieder der harte, unverwüstliche Teufelsbraten, den ich von früher kenne! Ho, nur weiter so, Junge!« Auf seine Art hatte der Alte ihm ein gewaltiges Lob ausgesprochen. Hasard wußte das zu würdigen. Er grinste versöhnlich. Die Schaluppen kehrten zurück. Später, als ihre Besatzungen sich wieder an Bord befanden und sie die Boote hochgehievt und festgezurrt hatten, wandte sich Carberry an den Seewolf. »Wir haben sie im Flachwasser an Land gescheucht, die feinen Damen. Zuerst haben sie kein Wort gesagt, aber dann, als sie das Ufer erreicht hatten, haben sie geflucht, daß selbst ich noch rot geworden bin.« 73
»Nicht übertreiben, Ed«, mahnte Hasard. »Ich bin froh, daß die Weiber von Bord sind. Verdammt, es ist schon was Wahres dran: Man sollte sich nur in den Häfen mit ihnen befassen. Da gehören sie hin, nicht an Bord eines Schiffes. Zum Teufel mit allen Frauenzimmern.« Er trat zu Giuliano und kraulte die Katze, die sich dieses Mal auf der Schulter ihres Herrn niedergelassen hatte. »He, damit meine ich dich natürlich nicht. Ich kann dich gut leiden - obwohl du mir die Backen zerkratzt hast.« Aus dem Vormars erklang wütendes Gekecker. Carberry lachte. Arwenack beschwerte sich mal wieder, er verging vor Eifersucht. Bevor sie weitersegelten, stieg Hasard aufs Achterdeck. Er versammelte seine Männer auf der Kuhl. Die ›Grifone‹ hatte er so dicht heranstaffeln lassen, daß sie sich in Hörweite befand. Man konnte von Schiff zu Schiff spucken, wie Carberry das ausdrückte. Ben, Shane, Batuti, Blacky und Ferris grüßten winkend herüber. Stenmark und Jeff befanden sich im Vorschiff und bewachten die gefangenen Piraten. Ben hütete sich, Lorusso und seine Kerle auch nur eine Minute aus den Augen zu lassen. Strikt wurde schichtweise vor der Vorpiek und den anderen beiden »Zellen« Posten gegangen. Hasard trat an die Five-Rail. »Von hier aus benötigen wir weitere zwei Tage bis nach Malta«, begann er. »Vorausgesetzt natürlich, die Wetterverhältnisse bleiben so gut. Was uns auf Malta erwartet, wißt ihr bereits. Die Aradschy-Brüder haben eine kleine Flotte zusammengestellt und wollen Valetta einnehmen. Giuliano, was denkst du, wie viele Schiffe brauchen sie, um im Falle einer Schlacht gegen die Malteser bestehen zu können?« »La Valetta hat natürlich auch seine Kriegsschiffe«, entgegnete der Toskaner. »Es handelt sich um zwölf gut bestückte Segler verschiedener Ausführungen. Die Piraten müßten schon das doppelte 74
vorweisen können, um die Ordensbrüder und die Bevölkerung der Stadt überhaupt einzuschüchtern.« »Zwei Dutzend Piratenschiffe«, sagte Hasard. »Setzen wir mal diese Mindestzahl voraus. Und vergessen wir nicht, daß die Aradschys die sechs Geiseln haben, die sie ganz gewiß rücksichtslos ins Spiel bringen.« Seine Miene wurde hart wie gemeißelter Stein. »Wenn die Hafenkommandantur und der Großmeister des Ordens der Kavaliere nicht nachgeben, dann bringen die Schurken einen Gefangenen nach dem anderen um. Es ist die hundsgemeinste Erpressung, von der ich je gehört habe.« Seine Finger spannten sich um die Handleiste der FiveRail, als wolle er sie zerbrechen. »Ich gehe noch einen Schritt weiter. Gelingt den Aradschys dieser Schlag, fällt Malta also, dann werden die Herrscher des Osmanischen Reiches zu einem neuen Feldzug im Mittelmeergebiet ermutigt. Lepanto könnte sich wiederholen. Wir haben es vielleicht noch in Händen, den Auftakt dazu im Ansatz zu ersticken.« »Wir gegen zwei Dutzend Piratenschiffe?« sagte der Profos mit bedenklicher Miene. »Ich weiß«, antwortete der Seewolf. »Aber vergiß eins nicht, Ed. Wir haben Lorusso und seine vierzehn Halunken.« »Willst du sie gegen die sechs Malteser austauschen?« »Ich glaube nicht, daß die Aradschys sich darauf einlassen würden. Lorusso ist ihnen nicht viel wert. Anders ausgedrückt, sie halten ihn für einen Spinner wegen der Sache mit dem angenommenen Silbervorkommen auf Santorin. Niemals würden sie einen Trumpf wie die sechs Geiseln aus der Hand geben, nur um Lorusso aus der Patsche zu helfen.« »Was wollen wir dann mit den fünfzehn Kerlen?« fragte Giuliano Salce. »Im Kampf sind sie nur ein Ballast für uns.« »Nein«, erwiderte Hasard. »Ich habe lange hin und her überlegt, aber jetzt steht mein Plan. Wir bereiten uns in aller Eile darauf vor, und ich erläutere euch genau, was jeder von uns zu tun hat.« 75
Als er ihnen auseinandergesetzt hatte, wie er sich das Unternehmen vorstellte, stieß Edwin Carberry einen Pfiff der Überraschung aus. »Hölle und Verdammnis«, sagte er. »Das wird der verrückteste Raid, den wir je übernommen haben.«
6. Malta. Die Insel mit ihren kleineren Nachbarn Gozo und Comino bildete einen flachen Buckel inmitten der glatten, türkis gefärbten See, die sich von hier aus wie eine gewaltige geschliffene Platte erstreckte - zweihundertfünfzig Seemeilen bis nach Tunesien, zweihundertvierzig nach Tripolis, rund sechzig bis nach Sizilien, tausend zur Straße von Gibraltar und fast tausend auch bis zur Mündung des ägyptischen Flusses Nil. Malta schien das einzige Überbleibsel der vielen Bergzüge zu sein, die vor Tausenden von Jahren einmal Europa und Afrika miteinander verbunden haben sollen. Den besten Beweis für die vorgeschichtliche Vergangenheit lieferten die zahlreichen Höhlen und Grotten, die sich in die Hänge der Insel gruben. In Ghar Dalam, der größten Höhle, gab es versteinerte Wasservögel und die Überreste seit Jahrhunderten ausgestorbener Tiere, ein Platz, den die abergläubischen Inselbewohner als verfluchte Stätte mieden. Aber Gefahr hatte Malta seit jeher nicht von Götzen und Geistern und jeder Art von Mummenschanz gedroht, sondern ausschließlich von dem Eroberungswillen der Seefahrer. Wegen seiner schönen Lage und seiner natürlichen geschützten Häfen war die Insel schon während der ersten Jahrhunderte dieser Zeitrechnung von mächtigen Nationen 76
besucht worden. Das erste Mal war sie der Überlieferung nach von den Phöniziern besetzt worden, die als vortreffliche Seeleute und Händler von Bronze und Glaswaren bekannt waren. Danach erschienen in chronologischer Reihenfolge die Karthager, die Römer, die Araber, die Normannen, Anjouiner, Aragonier und Kastilianer und zuletzt schließlich die Ritter des Heiligen Johannes von Jerusalem. Der Malteserorden. 1522 hatten sich die Ritter hier niedergelassen - nach schweren, langwierigen Kämpfen auf Rhodos, das zuvor die Heimat des Ordens mit dem berühmten weißen Kreuz auf rotem Grund gewesen war. Acht Jahre später hatten Karl V., Herr über Sizilien, Malta in den Besitz der Ritter übergehen lassen. 1564 waren zum ersten Mal die Türken auf See erschienen, um Malta zu erobern, waren aber zurückgeschlagen worden. 1565 hatten sie es erneut versucht. Vier Monate lang hatte die Belagerung gedauert, aber dann hatte die Schlacht wieder mit einer Niederlage für die Türken geendet. Jean de la Vallette-Parisot, der schon damals einundsiebzig Jahre alte Großmeister des Ordens, hatte die Verteidigung der Insel und ihrer Nachbareilande glänzend geleitet und nun mit dem Bau der Stadt La Valetta begonnen. Die Festung Sant Angelo hatte er erneuern lassen, die Kathedrale des Heiligen Johannes von Jerusalem und der Großmeisterpalast waren ganz neu errichtet worden. Sechs Jahre später hatte die Heilige Allianz in der Schlacht bei Lepanto ihren großen Sieg über die dreihundert Schiffe zählenden vereinigten Flotten des Ali Pascha, Uluch Ali und Sirocco errungen und eine Invasion der Muselmanen im Mittelmeerraum verhindert. Jean Vallette hatte fortan alles getan, um auch die barbarischen Piratenhorden aus dem Mittelmeer zurückzudrängen, und er hatte mit seinem Orden neue Kampfmethoden erprobt und beispielhaft angewandt. Der 77
Malteserorden war zum Schrecken für alle Piraten geworden und doch hatten sie es nie aufgegeben, voll Haß und nur mühsam gezügelter Gier nach Malta zu blicken. Jetzt, 1581, war Jean de la Vallette-Parisot siebenundachtzig Jahre alt, ein Greis zwar, aber immer noch von vollkommener geistiger Frische und unermüdlichem Kampfgeist. Barud Aradschy stand auf dem Achterdeck seiner Karavelle. Durch das Spektiv blickte er kurz zum Verband seiner Mitstreiter zurück - neunundzwanzig Schiffe waren es, dreißig mit seinem. Segler und Galeeren. Während die Verbündeten etwa anderthalb Seemeilen nordwestlich querab von Valetta verharrten, hatte Barud Aradschy die unerhörte Frechheit, geradewegs auf die Hafenmole und die Festung Sant Angelo zuzusteuern. Hart am Südostwind segelnd, hielt er im rechten Winkel auf die Nordküste der Insel zu. Hamun Aradschy, sein zwei Jahre jüngerer Bruder, befand sich mit seiner Karavelle an der Spitze der Piratenflotte - und an Bord seines Schiffes wurden auch die sechs Geiseln festgehalten. Es war dies seit 1565 die dreisteste Art, den verhaßten Maltesern den Kampf anzusagen. Barud Aradschy lächelte kalt. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten entschlossen unter schwarzen, an der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen. Pechschwarze Haarsträhnen lugten auch unter dem Turban hervor. Zusammen mit der langen, dünnen, leicht gekrümmten Nase und dem schmallippigen Mund in dem hageren Gesichtsoval verliehen sie ihm einen diabolischen Ausdruck. Er hob das Spektiv ans Auge und ließ den Blick über die Festungsanlagen von Valetta, die Hafeneinfahrt, den Kai, die Piers und die Häuser gleiten. »Nur sechs Schiffe«, murmelte er. »Zwei Galeassen, vier Galeonen. Die übrigen scheinen sich unterwegs zu befinden. Ausgezeichnet.« 78
Ras Harran, sein Stellvertreter und Stockmeister, war neben ihm. Im Gegensatz zu Aradschy trug er den bei Türken allgemein üblichen stark geknebelten Schnauzbart. Er war groß, breit, stämmig und von dem unbändigen Willen beseelt, den Herren von Malta und ihrem Großmeister so rasch wie möglich persönlich die Gurgeln durchzuschneiden. An Verschlagenheit, Habsucht und Haß gegen die Christen stand er seinem Kapitän keine Spur nach. Ras Harran spähte ebenfalls durch ein Fernrohr. »Die Schiffe sind voll bemannt, liegen aber noch vertäut«, sagte er. »Doch ich bin sicher, daß sie gefechtsklar sind.« »Zweifellos«, erwiderte Barud Aradschy. »Und auch die Festungskanonen sind auf uns gerichtet. Oh, ich kann mir gut vorstellen, wie sie aufgescheucht auf und ab laufen, diese verfluchten Giaur, wie sie sich auf die Schlacht vorbereiten. Nun, noch befindet sich unser Verband außerhalb der Reichweite ihrer besten Geschütze.« »Aber wir, Sihdi, sind jetzt nahe genug heran«, sagte Ras. »Willst du nicht die Parlamentärsflagge hissen lassen?« »Warte.« Ras Harran stand der Schweiß auf der Stirn. »Du wagst viel.« Baruds Mund war höhnisch verzerrt. »Beim Scheitan, ich will wissen, wie es wirklich um die gepriesene Anständigkeit und den Edelmut dieser Hunde bestellt ist. Bevor wir sie nicht tatsächlich angreifen, dürfen sie nicht offen auf uns feuern.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen ...« »Schweig!« fuhr Barud ihn an. Vom Söller der Festung puffte plötzlich weißer Pulverqualm hoch und stieg in Wölkchen in den blauen Oktoberhimmel. Sekunden darauf erreichte das Donnergrollen des Geschützes die Karavelle der Türken. Aradschy und sein Stockmeister gingen in Deckung. Die gesamte Mannschaft der Karavelle lag flach, aber die Kugel der Malteser schlug lediglich vor dem Schiffsbug ins Wasser und riß eine imposante Fontäne hoch. 79
Rauschend fiel sie wieder in sich zusammen. »Allah sei gelobt!« rief Barud Aradschy. »Ich hab’s doch gewußt. Es war die erste Warnung. Wir sollen uns nicht weiter anpirschen, sonst sitzt der nächste Schuß gezielter. Ras, du Sohn eines Dromedars, laß die Parlamentärsflagge hissen.« Harran schrie seinen Befehl. Kurz darauf flatterte das weithin sichtbare Zeichen der Friedfertigkeit und Verhandlungsbereitschaft im Topp des Großmastes. Sowohl Baruds Karavelle als auch die seines Bruders Hamun führte drei Masten mit Rahsegeln, eine etwas ausgefallene Takelung für diesen Schiffstyp. Die Piraten hatten sie den Spaniern als Prise geraubt, sich mit dem Rigg vertraut gemacht und ihre Armierungen noch verstärkt, jedoch den Ballast reduziert, so daß die Gewichtsveränderung sich nicht nachteilig auf die Manövrierfähigkeit der Karavellen auswirkte. Aradschy beobachtete unausgesetzt durch sein Spektiv. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Eine Schaluppe verläßt den Hafen und läuft auf uns zu.« »Die Abgesandten der Kommandantur und des Ordens der Kavaliere«, erwiderte Ras verächtlich. »Was tun wir? Begrüßen wir sie mit einer Kugel?« »Narr!« versetzte Barud Aradschy barsch. »Dein Gefasel ist das Kläffen eines räudigen Köters, der nicht überlegt, bevor er zubeißt. Wie sollen wir dem Großmeister unsere Bedingungen stellen, wenn wir seine Stiefellecker nicht unterrichten, daß wir die sechs Geiseln haben?« »Vielleicht hat der Ausguckposten auf der Insel die Bastarde längst auf dem Schiff deines Bruders entdeckt.« »Kaum. Dazu ist Hamun noch zu weit entfernt. Aber die Besatzung der Schaluppe wird gleich Gelegenheit haben, die Burschen ausgiebig zu betrachten. Schweig jetzt, Ras, und mische dich nicht in meine Verhandlungen ein, sonst trifft dich mein Zorn.« 80
Die Schaluppe glitt am Südostwind heran, luvte, als nur noch eine Kabellänge die beiden Schiffe trennte, noch mehr an und geite ihre Segel auf. Langsamer werdend, dümpelte sie heran und ging nahezu an der Backbordseite der Karavalle längsseits. Barud Aradschy hatte sein Schiff ebenfalls in den Wind drehen und die Segelfläche wegnehmen lassen. Der Türke trat an die Backbordseite des Achterdecks. Sechs Männer erkannte er an Bord der Schaluppe. Sie trugen alle das gleiche Gewand, vorn und hinten aufgestickt das weiße Kreuz auf rotem Grund. Malteserritter. Ihre Waffen hatten sie abgelegt. Barud vollführte eine ausschweifende Gebärde. »Allah sei mit euch! Wollt ihr uns nicht willkommen heißen?« »Zur Sache«, entgegnete einer von ihnen, ein hochgewachsener Mann mit blondem Vollbart. »Du bist Barud Aradschy, wir kennen dich. Bist du erschienen, um Valetta zu stürmen? Schlag dir das aus dem Kopf. Es dürfte sich doch wohl herumgesprochen haben, daß es hier nur Niederlagen für euch zu holen gibt.« »Wer bist du?« »Henrik Argout. Ich bin der Hafenkapitän von La Valetta.« »Eure Flotte ist ein mickriges Häuflein, Argout, und ihr werdet wie die Schakale um Gnade winseln, wenn wir euch vernichten.« »Du vergißt die Befestigungsanlagen. Außerdem erwarten wir den Rest unserer Flotte aus Sizilien zurück«, antwortete Argout erbost. »Wie viele Schiffe?« fragte Aradschy. »Das werde ich dir gerade auf die Nase binden.« »Wie du willst.« Ein höhnisches Lächeln spielte um Aradschys Züge. »Hör mir gut zu, Giaur. Wenn du dein Fernrohr auf die Karavelle drüben an der Spitze unserer Flotte richtest, wirst du sechs knochige Gestalten erkennen, die jetzt von meinem Bruder aufs Oberdeck geführt werden. Versuche 81
herauszufinden, wer sie sind, Sohn einer Aussätzigen.« Henrik Argout folgte der Aufforderung. Aradschy hatte nicht gelogen. Auf der zweiten Karavelle marschierten wirklich sechs jammervolle Männer auf, wurden an das Schanzkleid des Achterdecks gestoßen und blieben dort vor den Musketen und Säbeln der Piraten mit gesenkten Köpfen stehen. »Das - nein, das darf nicht wahr sein!« stieß Argout aus. »Maynard, Dario, Heinrich und Arthur, unsere treuen Kameraden. Und Tobias und Felice, zwei der entführten Muschelfischer!« Er wirbelte zu Barud Aradschy herum und brüllte: »Du Teufel! Was habt ihr mit ihnen getan? Und wo sind die anderen sechs - Giuliano, David, Ronald, Fausto, Samuele und Alof?« Aradschy hob die Hand. »Zügle deine Zunge, Ungläubiger, sonst werde ich ungehalten.« »Wir sind Parlamentäre, vergiß das nicht ...« »Ich stelle die Bedingungen«, sagte der Pirat. »Ich bestimme, wie hier verfahren wird, wer sich was erlauben darf und wer zu kuschen und mir die Füße zu küssen hat. Denn wenn ihr euch nicht ergebt, Hunde, bringen wir die Geiseln um. Einen nach dem anderen. Und in unserem Versteck bewahren wir immer noch die anderen sechs auf, denen es auch dreckig ergeht, falls ihr euch nicht beugt. Zwölf der euren, Argout! Will dein Großmeister ihre Leben in die Waagschale werfen, um die verdammte Insel zu retten?« Argout und seine fünf Begleiter waren zutiefst erschüttert. Betroffen standen sie, ohne ein Wort hervorzubringen. Endlich sprach der Hafenkapitän wieder. »Das dürft ihr nicht. Das ist ein unlauteres Mittel, eine Auseinandersetzung für sich zu entscheiden.« »Unlauter?« Aradschy legte den Kopf in den Nacken und lachte wiehernd. »Giaur, es gibt keinen Weg, der nicht willkommen wäre, um euch von hier zu verjagen. Der Prophet lobpreist jedes seiner 82
Kinder, das den Ungläubigen ihr ruchwürdiges Handwerk legt, ganz gleich, wie.« »Wir haben alle den gleichen Herrn, wir bedienen uns nur verschiedener Sprachen«, entgegnete Henrik Argout in mühsam gezügelter Wut. »Aber es hat keinen Zweck, sich über Grundsätzliches herumzustreiten. Im übrigen steht es mir nicht zu, die Entscheidung zu fällen. Gib mir eine halbe Stunde Zeit, Aradschy, und ich werde dir die Antwort unseres Großmeisters mitteilen lassen.« »Gut. Eine halbe Stunde.« Der Türke beugte sich weit über das Schanzkleid. »Aber hüte dich, o Giaur. Wenn die Frist abgelaufen ist, beginnen wir mit der Prozedur. Ihr werdet eure lieben Kameraden schreien hören, furchtbar schreien, denn wir lassen sie des qualvollsten Todes sterben, den wir kennen.« Argout war kalkweiß im Gesicht. »Das werdet ihr nicht tun.« »Tod allen Ungläubigen!« brüllte Barud Aradschy los. »Wir schneiden sie in Stücke und füttern mit ihnen die Haie. Danach unterwerfen wir die Stadt und die ganze Insel und vierteilen euch und euren von den Blattern befallenen Großmeister, wenn ihr nicht die Flagge streicht!« »Segel setzen«, sagte Argout heiser. »Das brauchen wir uns nicht anzuhören, Männer. Zurück in den Hafen!« Mit triumphierendem Grinsen blickte Aradschy der Schaluppe nach. Er signalisierte seinem Bruder, daß er die Geiseln auf dem Oberdeck lassen solle. Die Malteser sollten sie jetzt ständig vor Augen haben. Befreien konnten sie sie nicht. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn Barud sie an Bord mitgeführt hätte - die Ritter hätten zumindest versuchen können, etwas zur Rettung der sechs zu unternehmen. Aber Barud hatte wohlweislich darauf verzichtet, die Gefangenen so nahe an den Feind heranzuführen. Er fühlte sich völlig sicher. Sein Bruder und er befehligten einen überlegenen Verband von türkischen, algerischen, syrischen, griechischen, albanischen und sizilianischen Piraten, ein wilder Haufen von 83
rund fünfhundert Verschwörern. Nahezu eine Woche hatte es gedauert, bis sie sich alle an einer geheimen Position in der Nähe von Lampedusa zusammengeschart hatten und Kurs auf Malta hatten nehmen können. Aber sie dienten Aradschy nur als Rückendeckung. Denn er war schon jetzt überzeugt, daß die Kanonen nicht sprechen würden. La Valetta würde ohne Gefechtslärm fallen. Der Großmeister Jean de la Vallette-Parisot durfte nicht zulassen, daß die Geiseln grausam hingerichtet wurden. Das war gegen die Gebote, denen er gehorchte. »Ich werde als klügster Feldherr des Orients gefeiert werden«, sagte Barud Aradschy. Der Ausguck im Großmars stieß einen Ruf aus. Ras Harr an blickte als erster in die angegebene Richtung nach Osten. Ein zweimastiges Schiff hatte das Ostufer der Insel gerundet und hielt jetzt auf sie zu. »Das ist Lorussos Schiff!« rief Ras. »Die ›Grifone‹!« Aradschy lächelte kalt. »So? Ist dieser Narr also doch noch erschienen? Na, meinetwegen. Ich glaube aber nicht, daß er seinen närrischen Traum vom Silber auf Santorin aufgesteckt hat. Er erscheint nur, weil er meinen Zorn fürchtet, falls er uns bei diesem Unternehmen nicht hilft.« Ruhig blickte er zur ›Grifone‹, die platt vor dem Südost mit rauschender Bugsee auf seine Karavelle zusegelte.
7. Hasard saß auf den Planken des Achterdecks der ›Grifone‹, mit dem Rücken gegen das Backbordschanzkleid gelehnt. Die doppelläufige Radschloßpistole lag gleich neben ihm, griffbereit, mit gespanntem Hahn. »Noch einmal, Lorusso«, sagte er zu dem Sizilianer. »Ich zögere nicht, dich niederzustrecken, wenn du gegen meine 84
Befehle handelst. Du weißt, wie du dich zu verhalten hast. Richte dich danach, oder es gibt ein verheerendes Massaker.« Lorusso stand breitbeinig mitten auf dem Deck. Eigentlich war er eine recht beeindruckende Erscheinung mit seinen sechs Fuß Körpergröße, den breiten Schultern und den glitzernden blauen Augen. Äußerlich mußte er völlig normal wirken. »In deiner Kostümierung siehst du wie ein Narr aus«, erwiderte er. »Gebe ich nicht einen guten Ovidio ab?« »Du bist ein jämmerliches Abbild.« Hasard grinste hart. »Spuck nur Gift und kleine Steine, Freundchen, es nutzt dir nichts. Du warst so versessen darauf, zu erfahren, was ich mit euch vorhabe. Jetzt weißt du es. Jetzt hängt es von dir ab, ob ihr fünfzehn Schurken leben werdet oder wie die Fliegen sterbt.« »Ich kann mich auf dein Wort verlassen?« »Ich heiße nicht Lorusso. Ich habe auch Iride, Schenka und die anderen Mädchen wie versprochen auf Kreta abgesetzt, obwohl sie es nach allem weiß Gott nicht mehr verdient hatten.« Lorusso seufzte. »Ja. Das stimmt.« Kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht, aber das konnte man auf Distanz nicht sehen. Hasard hatte Ovidio’s Kleidung angelegt, nachdem der Kutscher einen ganzen Tag darauf verwendet hatte, die Gewänder der gefangenen Piraten zu waschen und zu trocknen. Auf Wanzen, Flöhe und Läuse waren die Seewölfe nämlich nicht begierig. Lorussos Kumpane brüteten nach wie vor in der Vorpiek und den anderen beiden Vorschiffsräumen über ihren Schandtaten. Nur waren sie inzwischen nur noch mit Unterhosen angetan. Die »Piraten« auf dem Oberdeck des Zweimasters waren außer Lorusso und Hasard, dem falschen Ovidio: Ben Brighton, der Kutscher, Blacky, Matt Davies, Al Conroy, Dan O’Flynn, Jeff Bowie, Sam Roskill, Luke Morgan, Will Thorne 85
sowie Big Old Shane. Die Wachen waren aus dem Vordeck abgezogen worden, aber die Crew behielt die Schotten ständig im Auge, bereit, auf jeden der Kerle zu feuern, der die Nase auch nur einen Zoll weit heraussteckte, falls das Wunder geschah und die Piraten sich von ihren Ketten befreiten. Aber Allah persönlich hätte ihnen schon helfen müssen, das zu schaffen. Hasard hatte alle dunkelhaarigen Männer ausgesucht, die anderen befanden sich unter Edwin Carberrys Kommando auf der ›Isabella VIII.‹. Dort wurde ihnen inzwischen von den sechs Maltesern bei den Segelmanövern und dem Laden und Richten der Geschütze geholfen. Hasard hatte sich auf Giulianos, Ronalds und Davids Drängen hin schließlich doch zu dem Entschluß durchgerungen, sie an dem Unternehmen teilhaben zu lassen. Der Kutscher hatte auch bestätigt, daß sie erstaunlich schnell wieder zu Kräften gelangt seien. Hasard und seine Männer auf der ›Grifone‹ hatten sich also verkleidet und überdies etwas von dem Schminkzeug benutzt, das die Huren in den Kammern der ›Isabella VIII.‹ zurückgelassen hatten. Matt und Jeff hatten ihre Eisenhaken kunstvoll unter Ledermanschetten versteckt, die Will Thorne und Ferris Tucker eigens zu diesem Zweck hergestellt hatten. Shane hatte sein graues Bartgestrüpp gestutzt, um ja nicht aufzufallen. Jeder von ihnen hatte sich einen der Piraten zum leiblichen »Vorbild« ausgewählt, überdies hatten sie alle ein paar Brocken sizilianischen Dialekt lernen müssen. Derart gewappnet begannen sie nun ihr tolldreistes Unternehmen. Die Daumen zu drücken und Stoßgebete zum Himmel zu schicken, das hatte keinen Sinn, es war auch zu spät dazu. Gut eine Kabellänge war die Karavelle des älteren Aradschy jetzt nur noch von ihnen entfernt! Um sich gedämpft mit Lorusso zu verständigen, bediente sich der Seewolf nach wie vor der spanischen Sprache. 86
»Anluven, Segel wegnehmen, beidrehen«, sagte er. »Na, wird’s bald, Freundchen?« Lorusso brüllte es in seiner Muttersprache über Deck, und Hasards Männer begriffen. Wenn sie auch nicht alle Wörter des Piraten verstanden - sie wußten aus der Entwicklung der Situation heraus, welche Manöver Hasard vorzunehmen hatte. So strich die ›Grifone‹ mit verhaltener Fahrt in Luv an die Karavelle heran, drehte mit dem Bug zum Hafen von La Valetta und hatte Aradschy und seine Meute also an Steuerbord liegen. »Barud!« schrie Lorusso auf Hasards Wink hin. »He, ich bin’s, dein Compagno, dein Kamerad Lorusso!« »Beim Scheitan!« schallte es auf türkisch zurück. »Hätte ich dich nicht erkannt, dann hättest du längst meine Breitseite zu spüren gekriegt!« Lorusso war des Türkischen ebenfalls mächtig - Hasard nicht. Er erhob sich. »Zwinge den Kerl, italienisch zu reden«, sagte er. »Was hat er dir eben zugerufen?« Lorusso übersetzte es. Hasard nickte, grinste, winkte dem Türken zu. Und der grüßte ebenso jovial zurück. Er benutzte nicht den Kieker, das war von großer Bedeutung, weil er durch die Optik wahrscheinlich den ganzen Schwindel entdeckt hätte. Aus der Nähe betrachtet ähnelten Hasard und seine Männer den Piraten natürlich nicht aufs Haar. »Ovidio, du Satansbraten!« schrie Aradschy. »Hast du deinen Herrn endlich überzeugt, daß es auf der Insel Santorin kein Silber gibt?« Hasard verstand nicht. Er beschrieb eine nichtssagende, vielfältig zu deutende Geste. In diesem Augenblick stand er Höllenängste durch. »Sprich«, zischte er dem Sizilianer zu. »Die Pistole steckt jetzt in meinem Gurt - immer noch mit gespanntem Hahn.« »Kein Silber!« rief Lorusso zurück. »Aber ich habe die 87
Hoffnung noch nicht aufgegeben! Nur wollte ich bei der Belagerung dabeisein.« »Wo sind die fünf auf Santorin verbliebenen Gefangenen?« »Immer noch auf der Insel. Iride und die sieben Mädchen bewachen sie.« »Narr. Glaubst du denn, dazu sind die Weiber in der Lage?« »Ich bringe sie um, wenn sie auch nur einen der Bastarde entwischen lassen!« rief Lorusso standhaft zurück. »Außerdem sind die Burschen viel zu sehr geschwächt, um auch nur zur Nachbarinsel zu schwimmen. Und Boote gibt es auf Santorin nicht mehr, seit Salce mit dem einzigen Kaiki ...« »Schon gut«, schnitt Aradschy ihm das Wort ab. »Das genügt. Die fünf stellen für uns eine brauchbare Reserve dar. Ich habe den Maltesern eben versichert, es seien noch sechs, von Salces Flucht brauchen sie ja nichts zu erfahren.« »Nein, das brauchen sie nicht!« rief der Sizilianer. Er dachte dabei: Wäre diesem Hund doch die Flucht niemals gelungen! »Wenn unser Angriff auf Malta dank der Geiselnahme gelingt, werden wir in naher Zukunft die gleiche Taktik auch mit den anderen fünf wiederholen«, versetzte Barud siegesgewiß. »Beispielsweise könnten wir Sizilien überfallen oder Neapel, Genua, Venedig! Malteserritter gelten bei den Ungläubigen mehr als jeder andere Sterbliche.« Hasard hatte in diesem Augenblick große Lust, dem Kerl eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber damit hätte er alles vermasselt. Nein, er durfte nicht impulsiv handeln und mußte sich noch bezwingen. »Die Belagerung hat also bereits begonnen?« fragte Lorusso von Schiff zu Schiff. Aradschy nickte. »Ja. Sechs Ritter sind erschienen und wieder zu ihrem Großmeister zurückgekehrt, um ihm mitzuteilen, was wir, die Parlamentäre, ihnen gesagt haben.« »Hast du die Geiseln an Bord?« »Nein. Sie sind bei Hamun auf der Karavelle.« 88
»Soll ich an deiner Seite bleiben, Barud?« »Nein«, antwortete der Türke ziemlich ungehalten. »Scher dich zum Verband und gliedere dich ein, du Sohn eines hinkenden Dromedars. Wir haben schon viel zuviel Zeit mit Geschwätz verloren. Achte auf meine Zeichen. Alles richtet sich nach mir.« »Jawohl«, erwiderte der Sizilianer noch. Dann wandte er sich zur Kuhl und gab seine barschen Befehle. Die ›Grifone‹ nahm Fahrt auf, sobald die Segel gesetzt waren, ging an den Wind und strich in angemessener Entfernung am Bug der Karavelle vorbei. Hasard sah aus den Augenwinkeln, daß Barud Aradschy zum Spektiv gegriffen hatte. Wieder stand er einiges durch, aber dann, im Vorbeiziehen, gewahrte er, daß der Türke zur Stadt hinüberspähte. An der ›Grifone‹ hatte er bereits wieder das Interesse verloren. »Er kann dich nicht leiden«, sagte Hasard. Lorusso knirschte mit den Zähnen. »Ich muß mich sogar von ihm beschimpfen lassen, diesem Hurensohn.« »Eins verstehe ich nicht. Als du vor einem Monat die zwölf Geiseln nahmst, da hättest doch du den Orden erpressen können - mit der Drohung, die Männer zu erdolchen, falls Malta nicht kapitulierte.« Lorusso sah Hasard in die Augen. »Weißt du was, Seewolf? Ich bin ehrlich zu dir. Das wäre mir eine Nummer zu groß gewesen. Außerdem wollte ich Sklaven für meine Mine.« »Es gibt kein Silber auf Santorin.« »Langsam glaube ich es auch.« Ben Brighton erschien auf dem Achterdeck. Er hatte sich als Türke verkleidet und trug einen Turban, Farbe im Gesicht und einen Krummsäbel im roten Leibgurt. »Was tun wir jetzt, Hasard? Mischen wir uns einfach unter die Galeeren und Segler der Piraten?« »Wir gehen bei Hamun Aradschy längsseits.« »Wie bitte?« 89
»Ich gehe aufs Ganze«, sagte der Seewolf. »Wenn wir nicht sofort handeln, ist auch unser Eingreifen sinnlos. Also, Ben, sag den Männern, sie sollen die Ohren steif halten.«
8. Die Piratenflotte rückte bedrohlich auf die ›Grifone‹ zu. Keiner der Männer sprach ein Wort. Ben hatte gefechtsklar machen lassen, das fiel beim Feind nicht weiter auf, weil ja ohnehin Belagerungszustand herrschte. Wuchtig und gleichsam entschlossen ragten die Bugpartien der Galeeren und Segler höher und höher vor ihnen auf. Hasard fixierte die Karavelle von Hamun Aradschy. Er stand jetzt aufrecht neben Lorusso. Seine Haare wurden vom Wind zerzaust, seine eisblauen Augen blitzten angriffslustig. Nichts, aber auch gar nichts konnte den Seewolf jetzt noch von seinem tollkühnen Vorhaben abbringen. »Backbrassen und längsseits gehen«, ordnete Hasard an. Lorusso brüllte es in seinem Kauderwelsch, damit es auch echt klang. Backbrassen war jetzt die einfachste Art, Fahrt aus dem Schiff zu nehmen und sich neben die Karavelle zu legen. Mit verminderter Fahrt glitt die ›Grifone‹ zum Gegner und ging längsseits. Fender an beiden Bordwänden verhinderten, daß bei der Berührung Schäden entstanden. »Ist das Hamun?« fragte Hasard. Drüben auf dem Achterdeck stand ein Kerl, der Barud wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur einen Vollbart trug, der sich fast bis auf seine Brust kräuselte. »Ja.« »Ruf ihm jetzt zu, was ich dir gesagt habe. Denke an meine Pistoje.« »Ich denke immer daran.« 90
Lorusso legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund und begann: »Hamun, mein treuer Freund und Compagno! Soeben habe ich mit Barud gesprochen.« Hamun Aradschys Stimme klang kalt und schneidend. »Und? Faß dich kurz. Was willst du?« »Natürlich zur Flotte stoßen. Aber ich habe eine Nachricht, die ich schon Barud mitgeteilt habe. Er sagt, ich soll auch dich unterrichten.« »Dann spuck’s aus, beim Scheitan.« Lorusso schüttelte den Kopf. »Nur unter vier Augen. Die Sache ist geheim.« Er verließ, vor Hasard herschreitend, das Achterdeck, begab sich auf die Kuhl und enterte, ohne Hamun Gelegenheit zu einer Erwiderung zu lassen, auf die Karavelle über. Hasard schloß dicht auf. Sie marschierten an ein paar wüsten Gestalten vorbei, die sie teils mit offenen Mündern, teils verdattert, teils amüsiert anschauten, dann den Backbordniedergang zum Achterdeck hoch - und dann standen sie vor Hamun Aradschy, diesem grausamen, berüchtigten türkischen Piratenführer. »Was kann denn da so Wichtiges vorgefallen sein, daß du so ein Theater abziehst?« sagte er auf italienisch zu Lorusso. »Und was, beim Scheitan, will Ovidio, wenn du unter vier Augen ...« Weiter gelangte er nicht. Hasard war blitzschnell hinter ihn getreten und hatte die Radschloßpistole gezückt. Er preßte sie ihm gegen den Rücken. »Sag deinen Männern, sie sollen die Waffen wegwerfen«, zischte er ihm auf spanisch zu. »Ich töte dich, wenn du nicht spurst.« Hamuns Augen waren nach wie vor auf Lorusso gerichtet. »Verräter ...« Lorusso hätte sich am liebsten in einem Spundloch verkrochen, wenn das möglich gewesen wäre. Zwei, drei Piraten hatten Hasards Aktion verfolgt und 91
stürmten aufs Achterdeck, um etwas zum Schutz ihres Kapitäns zu unternehmen. Hasard griff den Türken beim Kragen und verstärkte den Druck der Pistolenmündung gegen dessen Wirbelsäule, so daß er aufstöhnte. »Stehenbleiben!« rief Hamun seinen Kerlen zu. »Laßt die Waffen fallen, mein Leben ist bedroht.« Sie erstarrten. Hasard drängte Hamun Aradschy weiter nach vorn, bis zum Querabschluß des Achterkastells, und sowohl die türkischen Piraten als auch der Sizilianer wichen auf die Kuhl zurück. Ben Brighton, der Kutscher, Blacky, Matt Davies, Al Conroy und der junge Dan O’Flynn rückten von Bord der ›Grifone‹ aus nach und hielten sofort die komplette Karavellenbesatzung mit ihren Pistolen, Tromblons, Entermessern und Piken in Schach. Big Old Shane war in den Großmars des Zweimasters aufgeentert und zielte mit Pfeil und Bogen auf die Halunken. Einer der Piraten wollte seine Pistole in Anschlag bringen. »Nicht«, ächzte Hamun Aradschy. »Dieser Hund bringt mich um, wenn ihr nicht alle eure Waffen ablegt.« Auch diese Pistole polterte auf die Planken. »Wer bist du?« stöhnte Hamun. »Allah, wer in aller Welt bist du, Fremder, daß du dir so etwas erlauben kannst?« »Schweig«, sagte Hasard. »Sag jetzt deinen Lumpenhunden, sie sollen schleunigst die Beiboote abfieren, sich hineinsetzen und in Richtung Insel pullen. Wenn sie den Kurs ändern, kriegen sie das Feuer unserer Kanonen in den Hintern. Los, sag’s ihnen!« Hamun sprach zu seiner völlig entgeisterten Mannschaft. Er hätte einen Trick versuchen können, da Hasard ja die türkische Sprache nicht verstand, aber er wagte es nicht. Die Seewölfe hatten die Lage auf der Karavelle im Griff. Keiner wagte es, den Befehlen zuwiderzuhandeln. Während die Piraten tatsächlich die beiden Beiboote der Karavelle zu Wasser brachten und ohne Waffen abenterten, blickte Hasard 92
zu den sechs Geiseln, die vorn auf die Back des Schiffes gebracht worden waren. Hunger, Durst, Erschöpfung und die seelischen Entbehrungen hatten sie zu Schatten ihrer selbst werden lassen. Hasard kannte durch Giuliano und die anderen Malteser an Bord der ›Isabella VIII.‹ ihre Namen: Maynard, Dario, Heinrich, Arthur, Tobias und Felice. Sie standen gefesselt und blickten aus tiefen, dunklen Augenhöhlen zum Achterdeck. Sie begriffen noch nicht, was gespielt wurde, und doch zeichnete sich schon jetzt ein Schimmer des Erkennens und der Hoffnung auf ihren Gesichtern ab. Auf den am nächsten liegenden Piratenschiffen war der Vorgang beobachtet worden. Aber auch dort zauderte man noch und erfaßte nicht ganz, was diese Sache bedeutete und welche Tragweite sie hatte. Diese Minuten nutzte der Seewolf. Ben und die anderen streckten ihre Schußwaffen über das Steuerbordschanzkleid der Karavelle - die Beiboote mußten ablegen. Die Piraten mußten auf Valetta zupullen, ob sie wollten oder nicht. Nur Lorusso und Hamun waren als Hasards Geiseln an Bord verblieben. Er drückte wieder mit der Pistole gegen Aradschys Rücken und nickte auch Lorusso aufmunternd zu. »Los, nach vorn. Lorusso, du bindest die armen Teufel dort los. Denke immer daran, daß ich zwei Kugeln in meiner Pistole stecken habe - eine ist für dich bestimmt, falls du Scherereien versuchst.« »Ich denke daran, immer«, erwiderte der Sizilianer wieder. Sie hasteten den Niedergang hinunter und durch die Kuhl. Ben, der Kutscher und die anderen waren hier bereits damit beschäftigt, die Festmachertaue zwischen beiden Schiffen zu lösen und sich auf Gefechtsstation zu begeben. Blacky übernahm das Ruder. Zweimaster und Karavelle trennten sich. Drüben auf der ›Grifone‹ hatte Luke Morgan den Kolderstock übernommen. 93
Die ersten Piratenschiffe schoben sich auf die Karavelle zu, von beiden Seiten. Rufe wurden laut. Die Verbündeten wollten wissen, was los sei. Hasard war mit seinen beiden Gefangenen auf dem Vorkastell angelangt. »Hinlegen«, sagte er zu den Gefangenen. »Mein Gott, streckt euch auf Deck aus, damit ihr nicht getroffen werdet, wenn es losgeht. Ich bin ein Freund von Giuliano, David, Ronald, Fausto, Samuele und Alof.« »Dem Himmel sei Dank«, entgegnete Maynard. Sie befolgten seine Anweisung. Hasard entdeckte eine schußbereite Serpentine, die vorn auf der Reling der Back in einer drehbaren Gabellaffette montiert war. Dorthin begab er sich mit seiner Geisel Hamun Aradschy. »Beeil dich, Lorusso, sonst gibt es Arger«, fuhr er den Sizilianer an. »Hölle und Teufel, soll ich dir ein zweites Loch in deinen verfluchten Hintern schießen?« Lorusso löste die Fesseln der sechs Malteser. Die Karavelle und die ›Grifone‹ fächerten unter Blackys und Lukes Bestrebungen auseinander, bis sie beide beigedreht am Wind lagen. Die Seewölfe kauerten hinter den Kanonen. Die Schiffe hielten sich die Bugs zugewandt und richteten ihre Backbord beziehungsweise Steuerbordbreitseite direkt auf den Gegner. Und die Piratenschiffe rückten an - sechs von achtundzwanzig! Lorusso hatte die Malteser befreit. Sie waren mit ihren Fesseln auch am Schanzkleid festgeknotet gewesen, hätten sich also ohne Hilfe nicht von hier fortrühren können. »Schnell«, rief Hasard ihnen zu. »Ab in die Kuhl. Legt euch in Deckung oder helft meinen Männern, wenn ihr irgend könnt.« »Soviel Durchhaltevermögen haben wir noch«, erwiderte der Malteserritter Dario grimmig. 94
Sie hatten kaum den Niedergang erreicht, da schrie der Seewolf seinen Befehl: »Klar bei Lunten! Feuer!« Die Hölle brach los. * Das Grollen der Kanonen wälzte sich über die See auf Land zu, passierte die im Nordwesten liegende Landzunge von Malta und stieß bis in die Passage zwischen der großen Insel und dem nur anderthalb Quadratmeilen messenden Eiland Comino. Es lag zwischen Malta und Gozo, das etwa halb so groß wie die Hauptinsel war - und bot der ›Isabella VIII.‹ vorzüglichen Sichtschutz gegen die Piraten. Carberry hatte die Segel aufgeien lassen. Die Zeit war quälend langsam verstrichen, doch jetzt brüllte er los: »Da ist das Zeichen! Hasard hat angefangen!« »Oder der Feind«, murmelte Smoky auf der Back. »Himmel, gib daß es nicht so ist.« »Setzt die Segel und geht an den Wind, ihr Kanalratten!« dröhnte die Stimme des Profos. »Macht mir keine Schande! Wir zeigen diesen kreuzverdammten Muftis, was eine Harke ist! Oh, ihr Kümmeltürken, haltet euch die Affenärsche, denn wir kommen, um sie euch aufzureißen!« Die ›Isabella VIII.‹ ging an den Wind, tastete sich durch die Passage und hatte dann den Gegner vor sich. Eine überwältigende Macht war das, ein Kontingent, dessen Anblick einem biederen Seemann das Fürchten beibringen konnte. Aber sie waren keine biederen Seeleute, sie waren Wölfe zur See, die Männer der ›Isabella VIII.‹! Viel Geschick hatten sie darauf verwandt, sich vor den Ausguckposten des Feindes versteckt zu halten - jetzt fiel die Tarnung, jetzt bedurfte es keiner Maskierungen und Täuschungen mehr. Es gab nur noch eine Sprache, die der Geschütze. 95
Außer Carberry befanden sich noch an Bord: Ferris Tucker, Batuti, Smoky, Pete Ballie, Gary Andrews, Old O’Flynn, Bob Grey, Stenmark und die sechs Malteser - sowie Arwenack und Micia, die sich doch lieber unter Deck verzogen hatte, während der Schimpanse hoch oben im Vormars kauerte und seine Wurfgeschosse bereithielt. Hasard hatte den Maltesern jetzt doch gewährt, mit zuzugreifen. Sie hatten sich in den zwei Tagen von Kreta bis hierher regeneriert, und außerdem wurde jetzt jede Hand gebraucht. Der Profos stand breitbeinig auf dem Quarterdeck, neben dem Ruderhaus, und blickte angestrengt zur ›Grifone‹ und zu der Karavelle, die das Feuer auf den Verband eröffnet hatten. »Ho. Freunde!« brüllte er. »Seht doch mal, wie Hasard diesen Hurensöhnen einheizt! Holla, und jetzt schießt Shane auch seine Brandpfeile ab, daß die Takelagen der Kümmeltürken in Flammen aufgehen. Batuti, bist du bereit?« »Aye, aye«, gab der Gambia-Neger aus dem Großmars zurück. Carberry richtete sein Augenmerk auf die ihm zuvorderst liegende Flanke des gefährlichen Konvois. »Teufel auch, jetzt haben sie uns gesichtet! Obacht, vier Galeeren staffeln heran und - nein, fünf sind es. Ihr Himmelhunde, es gibt Arbeit für uns!« Carberry ging vor, wie er es vom Seewolf gelernt hatte. Bevor die Galeeren mit ihren Bordgeschützen auf Reichweite waren, ließ er die ›Isabella VIII.‹ abfallen und die Steuerbordbreitseite abfeuern. Wummernd entluden sich die überlangen Rohre der Culverinen, Feuerstöße leckten über die Wasserfläche und stießen die todbringende Ladung in die Schiffsleiber des Gegners. Schreie hallten zur ›Isabella VIII.‹ herüber. Panik entstand an Bord der getroffenen Galeeren. »Gut so!« rief Carberry. »Herum nach Steuerbord, Pete! 96
Durch den Wind mit der Lady, und dann gebt ihnen auch die Backbordbreitseite zu schmecken!« Wenig später spuckten auch die Backbordgeschütze ihre Eisengeschosse - und fünf Galeeren trieben stark beschädigt in der See. Der einen hatten sie den Vorsteven glatt weggerissen, der nächsten Mast und Segel abrasiert und Männer vom Deck gefegt, der dritten ein Loch unterhalb der Wasserlinie verpaßt. Die vierte krängte unter Treffern in der Backbordseite. Die fünfte hatte plötzlich nur noch die Steuerbordriemen und fuhr im Kreis. »Drehbassen!« befahl der Profos Smoky feuerte die beiden vorderen Hinterlader rasch hintereinander ab. Unvorstellbarer Zustand herrschte auf den Piratengaleeren - und die ›Isabella VIII.‹ unternahm den Durchbruch. Als sie sich zwischen den stark angeschlagenen Schiffen hindurchschob, feuerte Batuti seine Brandpfeile ab. Feurige Lohen stoben aus den Riggs der Galeeren hoch. Die ›Isabella VIII.‹ ging an den Wind und segelte mit nördlichem Kurs über Backbordbug. Ferris schickte die Kugeln der achteren Drehbassen auf die bereits ramponierten Gegner. Einem von ihnen zerstörte er das Steuerruder, so daß er völlig manövrierunfähig wurde. Die Breitseiten waren wieder einsatzbereit, und die ›Isabella VIII.‹ zwängte sich mitten zwischen die Piratenschiffe, um ihnen eine Lektion zu erteilen, wie sie sie noch nicht erfahren hatten. In diese dramatische Schlachtszene fiel das Handeln von Barud Aradschy. Er war vor den Wind gegangen, rauschte mit seiner Karavelle heran, an der ›Grifone‹ und der Karavelle seines Bruders vorbei und griff die ›Isabella VIII.‹ an. Ein einzelner Schuß eins ihrer Steuerbordgeschütze raste auf die Galeone der Seewölfe zu, als Stenmark gerade bis aufs Schanzkleid geklettert war, um seine beim Laden plötzlich verkeilte Culverine in die richtige Stellung zurückzubringen. 97
Smoky turnte von der Back, bewegte sich über die Rüsten und rief ihm zu: »Warte, ich helfe dir!« In diesem Augenblick heulte die Kanonenkugel heran und krachte in die Bordwand der ›Isabella VIII.‹. Der Treffer saß tief. Smoky konnte sich festhalten, aber Stenmark verlor unter der Wucht des Aufpralls des Geschosses seinen Halt und stürzte in die See. »Himmel!« brüllte Smoky. Er drehte sich, ließ sich fallen und tauchte dem Kameraden nach. Stenmark war bereits untergegangen. Oben, auf dem Achterdeck der ›Isabella VIII.‹, fluchte Edwin Carberry und übertönte noch das infernalische Donnern und Krachen der Schiffsgeschütze.
9. Hasard erkannte, daß die ›Grifone‹ dank des Einsatzes der ›Isabella VIII.‹ gut allein mit ihren derzeitigen Gegnern fertigwerden konnte. Er gab Blacky einen Wink. Blacky drehte die Karavelle sofort mit dem Bug in nördliche Richtung das hieß, er fiel ab. Das Schiff ging vor den Wind und setzte der Karavelle von Barud Aradschy nach. Hasard hatte die Serpentine auf der Back abgefeuert und nachgeladen. Er zielte, so gut es ging, mußte dabei aber immer wieder auf seine Gefangenen Lorusso und Hamun Aradschy blicken, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Barud Aradschy hatte gedreht, um der ›Isabella VIII.‹ eine volle Steuerbordbreitseite verpassen zu können. Hasard zündete die Serpentine und duckte sich. Sie bäumte sich in ihrer Gabellaffette auf und sandte ihre Ladung zur Backbordseite der Karavelle von Barud hinüber. In das Pfeifen der Kugel fiel jählings das Krachen und Splittern von Holz. Hasard hatte getroffen, drüben wirbelten 98
die Trümmer nur so durch die Luft und verteilten sich in alle Himmelsrichtungen. Schreie verwundeter Männer wehten herüber. Für einen Augenblick war Hasard durch den Erfolg so gebannt, daß er nicht mehr auf die beiden Gefangenen achtete. Lorusso und der jüngere Aradschy nutzten die Gelegenheit. Plötzlich kauerten sie auf dem Schanzkleid der Back und stießen sich ab. »He!« schrie Hasard. Sie sprangen in die Tiefe. Hasard raste zum Schanzkleid, beugte sich hinüber und sandte ihnen zwei Pistolenschüsse nach, aber sie waren bereits untergetaucht. »Verdammt«, stieß Hasard aus. Aber er hatte keine Zeit, sich Selbstvorwürfe zu machen - die Situation nahm ihn zu sehr in Anspruch. Unter seinem donnernden Befehl schwenkte die Karavelle wieder herum und deckte Baruds Schiff mit einer Backbordbreitseite ein, die in ihrer Zielgenauigkeit und gleichmäßigen Schußfolge kaum zu übertreffen war. Wieder flogen die Trümmerteile auf der Führerkaravelle. Piraten wurden außenbords gerissen, die Karavelle krängte nach Steuerbord. Hasard glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Barud Aradschy zog sich nach Norden zurück, ohne eine Erwiderung auf die Breitseite zu geben. Ja, er wählte an diesem entscheidenden Wendepunkt der Schlacht den Rückzug als einzige verbleibende Alternative - und die Schiffe, die dazu noch imstande waren, folgten seinem Beispiel. Überrascht, fast betroffen, beobachtete Hasard von der Back seiner Beutekaravelle aus. Einen letzten Segler der Piraten versenkte die ›Isabella VIII.‹, dann war auch für sie die Schlacht vorbei. Nur zehn Schiffe, die Karavelle des älteren Aradschy mitgerechnet, hatten die Flucht anzutreten vermocht. Hasard sah die Galeassen und Galeonen der Malteserritter aus 99
der Hafeneinfahrt segeln und mußte unwillkürlich grinsen. So schnell, so unerwartet war dies alles passiert, daß die Ritter mit ihrem helfenden Einsatz zu spät erschienen. Carberry wollte den Flüchtigen nachstellen, aber Hasard signalisierte ihm, den Kampf abzubrechen. Es war genug Blut geflossen. Hasard ließ anluven und fast in den Wind gehen, dann nahm er in Lee zwei Schiffbrüchige über: Stenmark und Smoky. »Hol’s der Teufel«, sagte Stenmark. »Da haben wir Narren doch das Schönste an dem ganzen Gefecht verpaßt.« Hasard lachte. »Seid froh, daß ihr noch lebt. Männer, sucht nach Lorusso und Hamun Aradschy. Die müssen hier irgendwo treiben.« Die Nachforschungen blieben ohne Erfolg. Hamun Aradschy und Lorusso waren verschwunden, als wären sie imstande, sich in nichts aufzulösen. Hasard begnügte sich mit diesem Ergebnis. Im sonnigen Mittagslicht von Malta zog er mit seinen Schiffen in den Hafen von La Valletta ein. Die Bevölkerung feierte sie als Helden. Dann endlich durfte Hasard den Palast des Großmeisters des Ordens der Kavaliere betreten und vor Jean de la Vallette-Parisot niederknien. Lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Jetzt sagte er feierlich: »Sir, ich habe die Ehre, Ihnen den Schatz der Malteserritter zurückzubringen. Ebenso habe ich die Ehre, zwölf Ihrer treuen Untergebenen in Ihre Obhut zurückzuführen ...«
ENDE
Im Feuerhagel von Gibraltar
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von Roy Palmer Vierzig Kriegsschiffe hatten die Spanier aufgeboten, um die Meerenge abzuriegeln und zu verhindern daß die ›Isabella VIII.‹ zum Atlantik durchbrach. Aber die Seewölfe nutzten die Nacht und den Sturm. Und sie waren so unverschämt, das Flaggschiff der Dons zu entern. Wieder zog Philip Hasard Killigrew eine Trumpfkarte aus dem Ärmel - und die stach ..
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