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Von Eric Frank Russell sind bisher erschienen: Ferne Sterne Utopisch-technische Erzählungen Die rauhe Wirklichkeit Kriminalroman
Von diesem Roman ist auch eine Ausgabe auf dickerem Papier und in Leinen gebunden erschienen, die sich besonders zum Einstellen in Leihbüchereien, Werkbüchereien und Volksbibliotheken eignet. Das Einstellen der vorliegenden Taschenbuchausgabe in Büchereien ist vom Verlag ausdrücklich untersagt.
ERIC FRANK RUSSELL
Die rauhe Wirklichkeit WITH A STRANGE DEVICE Kriminalroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Die Hauptpersonen des Romans sind: Richard Bransome Dorothy Bransome Arline Lafarge Jim Pascoe Kostavik Frank Henderson George Laidler Ralph Bates Joseph Reardon
Metallurg seine Frau ein junges Mädchen Polizeichef von Hanbury der ›große Unbekannte‹ Physiker Chef des Sicherheitsdienstes Abteilungsleiter Beamter des Abwehrdienstes
Der Roman spielt in einem wissenschaftlichen Forschungszentrum im Staat New York
I Ungekürzte Ausgabe • Made in Germany © Copyright 1964 by Eric Frank Russell. © Copyright 1966 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Goldmann Verlag AG, München. Ins Deutsche übertragen von Hans-Ulrich Nichau. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf von H.-J. Weißfuß. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-, Druckund Verlags-GmbH. Augsburg. K 545 / KRIMI 2174 • vB
1 Das Forschungszentrum der Regierung, Kern aller wissenschaftlichen Anstrengungen der USA, war – selbst im technischen Jahrhundert – in jeder Hinsicht gewaltig und atemberaubend. Verglich man diese Festung mit Fort Knox, der Bastille oder dem Kreml, so wirkten die letzteren wie primitiv gebaute Grenzforts. Aber die Festung war verwundbar. Feindliche Augen hatten das wenige, was zu sehen war, inspiziert; feindliche Gehirne hatten das wenige, was sie in Erfahrung gebracht hatten, ausgewertet, und anschließend war das ganze Forschungszentrum nicht viel sicherer als ein von Motten zerfressenes Zelt. Die Außenwand ragte zwölf Meter aus der Erde, schob sich neun Meter in die Erde hinein und bestand aus zweieinhalb Meter dicken Granitblöcken, die mit Stahlbeton vermauert und spiegelglatt geschliffen waren. Nicht einmal eine Spinne hätte sich daran halten können. Die Fundamente waren mit einem hochempfindlichen Alarmsystem abgesichert für den Fall, daß ein paar menschliche Maulwürfe auf den Gedanken kamen, einen Tunnel zu graben, um sich auf diese Weise Einlaß zu verschaffen. Die Erbauer dieser Wand hatten an alles gedacht, hatten gewußt, wozu Fanatiker fähig sind, und daß selbst die scheinbar überflüssigsten
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Sicherheitsvorkehrungen durchaus ihre Existenzberechtigung hatten. In dem ganzen großen Viereck dieser nahtlosen Wände gab es nur zwei Durchbrüche: einen schmalen Ein- und Ausgang für das Personal auf der Vorderseite, einen breiteren auf der Rückseite für die Lieferwagen, die Material brachten oder Material abholten. Beide Durchbrüche waren von drei vierzig Tonnen schweren Stahltüren geschützt, die elektrisch bewegt wurden und von denen sich immer nur eine öffnen konnte. Jede Tür hatte ihre eigene Bewachung – große, zähe Männer mit mürrischen Gesichtern, von denen behauptet wurde, daß sie diesen Posten nur ihrem knauserigen, mißtrauischen Charakter zu verdanken hatten. Man kam leichter hinaus als hinein. Wer das Forschungszentrum verließ, mußte in jedem Fall eine schriftliche Genehmigung vorweisen und lange warten, bis sich die eine Tür geschlossen und die nächste geöffnet hatte. Wer hineinging, der vollbrachte eine richtige Arbeitsleistung. Ein Angestellter, den die Posten gut kannten, wurde meistens nur an einer Tür überprüft, entweder an der ersten, der zweiten oder dritten – das konnte niemand voraussagen, weil niemand die Wachvorschriften kannte. Doch für den Fremden – wie wichtig er auch tat oder wie beweiskräftig die Dokumente waren, die er 7
vorzeigte – war es eine umständliche Prozedur. Die Posten der ersten Tür unterzogen ihn einer langen und gründlichen Untersuchung. Waren die Fragesteller mit den Antworten nicht hundertprozentig zufrieden – und sie waren überhaupt mit nichts zufrieden, was sich auf der Erde oder im Himmel abspielte –, dann wurde der Besucher aufs genaueste kontrolliert. Alles, was den leisesten Verdacht erregte, was überflüssig, nutzlos, unerklärlich und dem Zweck des Besuches nicht dienlich war, wurde dem Fremden abgenommen und ihm erst beim Verlassen des Forschungszentrums wieder ausgehändigt. Und das war nur die erste Etappe. Die zweite Postengruppe wiederholte die Fragen der ersten, fügte noch eine Anzahl hinzu und bestand auf einer nochmaligen Untersuchung. Sie konnte den Fremden auffordern – und manchmal tat sie es auch –, beispielsweise sein künstliches Gebiß aus dem Mund zu nehmen. Auf diese Idee war man gekommen, seit man von einer Kamera wußte, die nur halb so groß wie eine Zigarette war. Die dritte Postengruppe setzte sich gewissermaßen aus Leuten zusammen, die nahezu krankhaft mißtrauisch waren. Sie faßten die Fragen der ersten und zweiten Postengruppe noch einmal zusammen und prüften, wie stark die Antworten voneinander abwichen. Sie zweifelten grundsätzlich an der Wahrheit dieser oder jener Antwort und legten eine 8
andere so aus, daß sie sich wie eine Lüge anhörte. Weiter wollten sie wissen, was der Fremde schon abgegeben hatte, und es machte ihnen gar nichts aus, ihn auch noch ein drittesmal zu durchsuchen. Im Besitz der dritten Postengruppe befanden sich eine Röntgenapparatur, ein Lügendetektor, eine Stereoskopkamera, eine Vorrichtung zum Abnehmen der Fingerabdrücke und noch einige andere unheimliche Anlagen. Die große Schutzwand, die das Forschungszentrum umgab, konnte sich mit den inneren Absicherungen messen. Büros, Forschungsgruppen, Maschinenräume und Laboratorien waren mit Stahltüren versehen, die ebenfalls von starrköpfigen Posten bewacht wurden. Korridore und Türen jeder Sektion hatten ihre bestimmten Farben, und je dunkler die Farbtöne, um so wichtiger und sorgfältiger bewacht war die betreffende Abteilung. Angestellte der Sektionen mit gelben Türen durften nicht die blauen Türen öffnen. Hingegen konnten die Leute hinter den blauen Türen auch einmal in den gelben Sektionen ›hausieren‹ gehen, wie sie das nannten, durften ihre Nasen aber nicht durch die purpurroten Türen stecken. Doch nicht einmal die Posten durften hinter die schwarzen Türen; es sei denn, sie wurden von der anderen Seite dazu eingeladen. Nur die Leute hinter den schwarzen Türen und der Direktor konnten sich in
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allen anderen Sektionen und im ganzen Forschungszentrum umsehen. Durch die ganze Anlage zog sich ein verzweigtes Nervensystem in Form von Drähten, die sich in den Wänden, den Decken und, in einigen Fällen, im Fußboden befanden. Drähte, deren Berührung Alarmglocken, Sirenen, Schließmechanismen der Türen, empfindliche Mikrophone und Fernsehaugen in Betrieb setzen konnten. Das Horchen und Beobachten wurde selbstverständlich von den Leuten hinter den schwarzen Türen ausgeübt. Man hatte längst die Notwendigkeit einer ständigen Beobachtung eingesehen, die sich bis zur Toilette erstreckte, in der man geheime Schriftstücke besser auswendig lernen, kopieren oder fotografieren konnte, als in dem dafür vorgesehenen Raum. Diese Vorsichtsmaßnahmen, Spitzfindigkeiten, der ganze Kostenaufwand, waren nutzlos, wenn feindliche Blicke das Forschungszentrum von außen betrachteten. Es war, in der Tat, einem Angriff aus einer völlig unerwarteten Richtung ausgesetzt. Dabei bestand an sich kein Grund, an der Unverwundbarkeit dieser Festung zu zweifeln, aber die Möglichkeit, daß man infolge übergründlicher Planung von Sicherheitsvorrichtungen übersehen hatte, was gewissermaßen auf dem Präsentierteller lag, war nicht von der Hand zu weisen. Und man hatte es, trotz aller Alarmanlagen, übersehen. Die an der Spitze des Forschungs10
zentrums stehenden Leute waren hochqualifizierte Fachmänner – jeder auf seinem Gebiet. Doch andere Gebiete waren ihnen fremd. So konnte beispielsweise der Chefbakteriologe stundenlang über einen neuen bösartigen Bazillus reden, ohne zu wissen, ob der Saturn zwei oder zehn Monde hatte. Der Chef der Forschungsgruppe Ballistik konnte die kompliziertesten Diagramme von Flugbahnen zeichnen, ohne daß er hätte sagen können, ob ein Okapi zur Familie der Pferde, der Rehe oder der Giraffen gehörte. Es wimmelte von Experten aller Wissensgebiete – nur ein Experte fehlte: der einen Fingerzeig rechtzeitig wahrnehmen und verstehen konnte. Zum Beispiel nahm niemand von der Tatsache Notiz, daß die Angestellten, die Durchsuchungen, Schnüffeleien und sonstige Überprüfungen als etwas Selbstverständliches hinnahmen, eine starke Abneigung gegen die Farben der einzelnen Sektionen hatten. Farben waren zum Symbol des persönlichen Ansehens geworden. Die Männer der gelben Sektionen fühlten sich von den Männern der blauen von oben herab angesehen. Die Männer hinter den dunkelroten Türen kamen sich um die entsprechende Anzahl von Farbabstufungen erhabener vor als die Männer hinter den weißen Türen. Und in diesem Sinne weiter. Frauen, schon immer das gesellschaftsbewußte Geschlecht, verbreiterten noch diese Kluft. Weib11
liche Angestellte und die Frauen männlicher Angestellter übertrugen die Kontraste der Farben auch auf ihr Privatleben. Die Frauen der Angestellten, die hinter schwarzen Türen arbeiteten, zählten sich zur Spitzenklasse und waren stolz darauf; die Frauen der in der weißen Sektion arbeitenden Männer gehörten zur niedrigsten Kaste dieser sozialen Schichtung und ärgerten sich darüber. Verbindliches Lächeln, oberflächliche Unterhaltung – die Katzen schnurrten und spreizten die Krallen! In diesem Zustand sahen alle und jeder ›eins von diesen Dingern‹. Aber es war eben nicht eins von diesen Dingen. Es war vielmehr eine nicht zu übersehende Tatsache, daß das Forschungszentrum von menschlichen Lebewesen beherrscht wurde, die keine stählernen, seelenlosen Roboter waren. Der fehlende Experte – ein guter Psychologe – hätte das mit halb geschlossenen Augen erkannt, auch wenn er keine Hochfrequenzröhre von einer Raketenspitze unterscheiden konnte. Das war der echte wunde Punkt des Forschungszentrums. Nicht die Granitblöcke, der Stahlbeton, die Mechanismen und elektronischen Apparaturen hatten Schwächen, wohl aber das Fleisch und das Blut – der Mensch. Hapernys Abschiedsgesuch löste mehr Verwirrung als Beunruhigung aus. Zweiundvierzig Jahre alt, dunkelhaarig und schon zum Fettansatz neigend, war er ein Experte der roten Sektion und auf 12
atmosphärische Vakuumforschung spezialisiert. Alle, die Haperny kannten, sahen in ihm einen klugen, tüchtigen, gewissenhaften Arbeiter, dessen Gefühlsleben man mit dem eines Denkmals vergleichen konnte. Soviel bekannt war, interessierte sich Haperny ausschließlich für seine Arbeit; alles andere ließ ihn kalt. Er war Junggeselle, und so konnte er auch für nichts anderes als seine Arbeit leben. Ralph Bates, sein Abteilungsleiter, und George Laidler, der oberste Sicherheitsbeamte, hatten ihn zu sich beordert. Sie saßen Seite an Seite hinter einem großen Schreibtisch, als er eintrat und sie durch seine dicken Brillengläser anblinzelte. Bates legte ein Blatt Papier auf den Schreibtisch und schob es ein Stück vor. »Das habe ich eben bekommen, Mr. Haperny. Ihr Abschiedsgesuch… Wie kommen Sie auf diese Idee?« »Ich möchte weg«, sagte Haperny nervös. »Warum? Haben Sie irgendwo eine bessere Stellung gefunden? Wenn das so ist – bei wem? Wir sind berechtigt, es zu erfahren.« Haperny scharrte mit den Füßen und machte ein unglückliches Gesicht. »Nein, ich habe keine andere Stellung gefunden. Ich habe mich auch nicht darum gekümmert. Noch nicht. Später vielleicht.« 13
»Warum wollen Sie dann weg?« fragte Bates. »Ich habe genug«, antwortete Haperny mürrisch und unruhig. »Genug?« Bates wunderte sich. »Wovon genug, Mr. Haperny?« »Von der Arbeit hier.« »Damit wir uns richtig verstehen«, sagte Bates. »Sie sind ein wertvoller Mann und seit vierzehn Jahren bei uns. Bis jetzt schienen Sie auch zufrieden zu sein. Sie haben ständig erstklassige Arbeit geleistet, und niemand hat jemals Ihre Arbeit – oder Sie – kritisiert. Wenn Sie diese Tradition fortsetzen, brauchen Sie sich um Ihre berufliche Existenz und Ihren Lebensabend keine Sorgen zu machen. – Wollen Sie wirklich eine sichere und lohnenswerte Stellung aufgeben?« »Ja«, antwortete Haperny. »Und ohne eine bessere Stellung in Aussicht zu haben?« »So ist es.« Bates lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte ihn. »Wissen Sie, was ich denke? Ich denke, Sie sollten einen Arzt aufsuchen.« »Das ist nicht nötig«, sagte Haperny. »Niemand kann mich dazu zwingen.« »Er würde feststellen, daß Sie an einer durch Überarbeitung hervorgerufenen Nervosität leiden«, 14
sagte Bates, »und Ihnen eine längere Erholung verordnen. Bei voller Bezahlung. Sie könnten dann irgendwo fischen und angeln und dann wie neugeboren wiederkommen.« »Angeln interessiert mich nicht.« »Zum Teufel, was interessiert Sie dann? Was wollen Sie anfangen, wenn Sie hier aufhören?« »Zunächst einmal werde ich tun, was mir Spaß macht. Ich will frei sein und mich frei bewegen können.« Laidler krauste die Stirn und warf ein: »Haben Sie die Absicht, die USA zu verlassen?« »Nicht sofort«, antwortete Haperny. »Aus Ihren Papieren geht hervor, daß Sie noch nie einen Reisepaß beantragt haben«, fuhr Laidler fort. »Ich sollte Sie darauf aufmerksam machen, daß man Ihnen allerlei Fragen stellen wird, wenn Sie einen Reisepaß beziehungsweise ein Visum beantragen. Sie sind im Besitz von Informationen, die einem Feind sehr nützlich sein können. Die Regierung wird diese Tatsache nicht übersehen.« »Wollen Sie damit sagen, daß ich diese Informationen verkaufen könnte?« fragte Haperny, leicht errötend. »Durchaus nicht – nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, sagte Laidler. »Ihr Charakter ist in jeder Hinsicht einwandfrei. Niemand zweifelt an Ihrer Loyalität. Aber –« 15
»Aber was?« »Das kann sich ändern. Wer ohne eine Stellung ziellos herumwandert und kein Einkommen hat, der muß eines Tages seine Ersparnisse verbraucht haben. Dann macht er mit der Armut Bekanntschaft. Sein Charakter verändert sich. – Verstehen Sie, was ich meine?« »Natürlich werde ich mich zum gegebenen Zeitpunkt nach einer Stellung umsehen.« »Wirklich?« fragte Bates und wölbte eine Augenbraue. »Was wird ein Chef davon halten, wenn Sie in sein Büro spazieren und ihn fragen, ob er einen Vakuumforscher brauchen kann?« »Meine Fähigkeiten hindern mich nicht daran, mich als Tellerwäscher zu bewerben«, sagte Haperny. »Wenn Sie nichts dagegen haben, löse ich meine Probleme auf meine Weise. Wir leben in einem freien Land – oder nicht?« »Lassen wir es dabei bewenden«, warf Laidler mit gereizter Stimme ein. Bates seufzte tief und meinte: »Wenn jemand plötzlich verrückt werden will, kann ich ihn nicht daran hindern. Gut, ich nehme Ihr Gesuch an und werde es an die Direktion weiterleiten. Wenn die Direktion darauf besteht, daß Sie im Morgengrauen erschossen werden, so geht mich das nichts an.« Er machte eine verabschiedende Geste. »In Ordnung, überlassen Sie alles mir.« 16
Haperny ging, und dann sagte Laidler: »Haben Sie sein Gesicht gesehen, als Sie von der Erschießung im Morgengrauen sprachen? Er machte einen ziemlich verstörten Eindruck. Vielleicht fürchtet er sich vor etwas?« »Einbildung!« spottete Bates. »Ich habe ihn mir auch angesehen, und er machte einen durchaus normalen Eindruck. Ich denke, er ist nur nervös geworden – aus ganz natürlichen Gründen.« »Und was heißt das in diesem Fall?« »Er hat sein Sexualleben vernachlässigt und sich daran gewöhnt. Auch mit zweiundvierzig ist es noch nicht zu spät, etwas dagegen zu tun. Er läuft uns im gestreckten Galopp davon, und ich glaube, er wird laufen, bis er die passende Ehegefährtin gefunden hat. Dann wird er sich abkühlen und seine Stellung wiederhaben wollen.« »Vielleicht haben Sie recht«, entgegnete Laidler. »Aber ich würde keine Wette eingehen. Ich fühle instinktiv, daß Haperny schwere Sorgen hat, und ich möchte gern den Grund wissen.« »Er ist nicht der ängstliche Typ«, sagte Bates. »Das war er noch nie und wird es auch niemals sein. Was er will – und braucht –, ist eine Frau. Nichts dagegen einzuwenden, wie?« »Wie dem auch sei, wenn ein hochqualifizierter Fachmann plötzlich den Entschluß faßt, ins Blaue hineinzuwandern, können wir das nicht mit Sicherheit seinem Interesse am schönen Geschlecht 17
zuschreiben. Er hat vielleicht tiefere und gefährlichere Gründe. Das müssen wir herausfinden.« »Wie?« »Er wird beobachtet werden, bis wir wissen, daß er kein Unheil anstiftet und auch nicht die Absicht hat. Zwei Leute von der Abwehr werden sich an seine Fersen heften. Das kostet Geld.« »Kommt das Geld aus Ihrer Brieftasche?« fragte Bates. »Nein.« »Was kümmern Sie sich dann darum?« Die Neuigkeit von Hapernys Kündigung sprach sich herum, wurde aber nur oberflächlich diskutiert. In der Kantine sprach Richard Bransome, ein Metallurg der grünen Sektion, mit seinem Mitarbeiter Arnold Berg darüber. »Haben Sie schon gehört, daß Haperny uns verlassen will, Arny?« »Ja. Er hat es mir vor einigen Minuten selbst erzählt.« »Hm! Hat er Mißerfolge zu verzeichnen? Oder hat ihm jemand mehr Geld angeboten?« »Nein«, antwortete Berg. »Er sagte, er hätte die ständige Kontrolle und Reglementierung satt. Er will einmal eine Weile frei herumlaufen. Das ist der Zigeuner in ihm.« 18
»Merkwürdig…«, grübelte Bransome. »Er ist mir nie unruhig vorgekommen. Schien so schwerfällig und solide zu sein wie ein Felsen.« »Zugegeben, diese Wanderlust paßt nicht zu ihm«, sagte Berg. »Aber bekanntlich heißt ein altes Sprichwort: ›Stille Wasser sind tief.‹« »Kann schon stimmen. Mir hängt diese Routine manchmal auch zum Hals heraus. Aber nicht so sehr, daß ich deswegen eine gute Stellung aufgeben würde.« »Sie haben ja auch eine Frau und zwei Kinder zu versorgen«, führte Berg aus. »Haperny braucht sich um niemanden zu kümmern – nur um sich selbst. Er ist frei und kann tun, was ihm Spaß macht. Wenn er vom Forschungszentrum zur Müllabfuhr überwechseln will, kann ich ihm nur viel Glück wünschen. Und jemand muß sich ja schließlich um den Müll kümmern, sonst ersticken wir noch drin. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?« »Mein Geist beschäftigt sich nur mit höheren Dingen«, sagte Bransome mit tugendhafter Betonung. »Er würde sich auch mit niederen Dingen beschäftigen, wenn der Müll auf Ihrem Hof abgeladen würde«, entgegnete Berg. Bransome ging nicht darauf ein und sprach: »Haperny ist schwerfällig, aber kein Tölpel. Er denkt langsam, aber er ist hervorragend klug. Darum 19
wird er sich alles sehr genau überlegt und auch einen Grund für sein Verhalten haben.« »Zum Beispiel?« »Keine Ahnung. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht hat er irgendwo eine besser bezahlte Stellung bekommen und darf nicht darüber sprechen?« »Kann sein. In dieser unberechenbaren Welt ist alles möglich. Vielleicht verschwinde ich eines Tages selbst – und trete als Muskelmann auf.« »Mit dem Bauch?« »Der macht meinen Auftritt erst interessant«, sagte Berg und klopfte ihn zärtlich. »Wie Sie es für richtig halten.« Bransome dachte schweigend nach. Dann sagte er: »Da fällt mir gerade ein, daß das Forschungszentrum in letzter Zeit allerlei Angriffen ausgesetzt war.« »Alles, was den Steuerzahler belastet, ist von Zeit zu Zeit Angriffen ausgesetzt«, erklärte Berg. »Es gibt immer jemanden, der sich über Geldausgaben aufregt.« »Ich dachte nicht an die neuesten Maßnahmen zur Verringerung des Kostenaufwands. Ich dachte an Haperny.« »Seine Kündigung wird nicht die ganze Arbeit in Frage stellen«, behauptete Berg. »Die Sache wird nur verdammt unangenehm sein. Ein Fachmann ist 20
nicht so ohne weiteres zu ersetzen. Der Vorrat an Spezialisten ist keineswegs unbegrenzt.« »Genau! Und es scheint, daß es gerade in letzter Zeit auffallend viel Ärger und Zeitverlust gegeben hat.« »Wie meinen Sie das?« fragte Berg. »Ich bin acht Jahre hier. In den ersten sechs Jahren verringerte sich unser Personalbestand auf natürliche Weise. Die Leute erreichten ihr fünfundsechzigstes Lebensjahr und machten ihre Pensionsansprüche geltend. Andere arbeiteten noch weiter, wurden krank und starben schließlich. Ein paar jüngere Leute kamen bei Unfällen ums Leben und einige wurden versetzt. Und so weiter… Wie gesagt, diese Einbuße an Personal war zu erklären.« »Und?« »Sehen Sie sich einmal die letzten zwei Jahre an. Außer den normalen Todesfällen, Pensionierungen und Versetzungen gab es noch eine Reihe anderer Ausfälle. Zum Beispiel McLain und Simpson. Sie machten eine Urlaubsreise an den Amazonas, lösten sich in der Luft auf und wurden nie mehr gesehen.« »Ja, das war vor achtzehn Monaten«, bestätigte Berg. »Es ist so gut wie sicher, daß sie tot sind. Kann alle möglichen Ursachen haben: Ertrunken, Fieber, Schlangenbiß oder lebendig von den Piranhas aufgefressen.«
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»Dann war da Jacobert. Heiratete eine reiche Dame, die eine große Rinderranch in Argentinien geerbt hatte. Dann zog er zu ihr, um sich auch als Rinderzüchter zu versuchen. Er war ein ungewöhnlich begabter Chemiker, aber ich wette, daß er nicht mal eine Kuh von einem Ochsen unterscheiden kann.« »Das kann er lernen. Aus Liebe und weil seine Frau reich ist. Da kann man sich schon anstrengen. Ich würde dasselbe tun, wenn ich dazu Gelegenheit hätte.« »Und Henderson«, fuhr Bransome fort, ohne auf diese Bemerkung zu achten. »Ein Fall, der dem von Haperny nicht unähnlich ist. Er kündigte einfach aus einer Laune heraus. Ich hörte ein Gerücht, er habe kurze Zeit später im Westen eine Eisenwarenhandlung eröffnet.« »Und ich hörte auch ein Gerücht, er soll sofort wieder verschwunden sein, als sich das herumgesprochen hatte«, sagte Berg. »Weil wir gerade von Gerüchten sprechen… Da war die Sache mit Muller. Er wurde erschossen aufgefunden. Die gerichtliche Leichenschau ergab: ›Tod durch Unfall‹. Man sprach von einem Selbstmord. Doch Muller hatte keinen plausiblen Grund dazu, und er war gewiß nicht der Typ, der fahrlässig mit einer Schußwaffe umging.« »Glauben Sie, daß er ermordet wurde?« fragte Berg. 22
»Ich glaube nur, daß man seinen Tod zumindest als ungewöhnlich bezeichnen kann. Und was geschah vor zwei Monaten mit Arvanian? Er fuhr mit seinem Wagen ins Hafenbecken. Angeblich hatte er sein Bewußtsein verloren. Er war zweiunddreißig, athletisch gebaut und bei guter Gesundheit. Die Bewußtlosigkeitstheorie erscheint mir nicht sehr glaubwürdig.« »Haben Sie medizinische Kenntnisse?« »Nein«, gestand Bransome. »Nun, der Mann, der von einer Bewußtlosigkeit gesprochen hat, war Arzt und wußte sicher, was er sagte.« »Ich behaupte nicht das Gegenteil. Aber er hat letzten Endes nur eine Vermutung ausgesprochen und keine Diagnose gestellt. Eine Vermutung ist eine Vermutung, und es spielt keine Rolle, wer sie ausgesprochen hat.« »Wissen Sie etwas Besseres?« »Ja – vorausgesetzt, daß Arvanian ein schwerer Trinker gewesen ist. In diesem Fall halte ich es für möglich, daß er wegen Trunkenheit am Steuer ums Leben gekommen ist. Aber er war kein Alkoholiker, soviel mir bekannt ist.« Bransome legte eine nachdenkliche Pause ein und schloß: »Vielleicht ist er auch am Steuer eingeschlafen …« »So etwas kann passieren«, sagte Berg. »Und vor Jahren passierte es mir auch. Dabei war es nicht 23
einmal Müdigkeit, nur die Eintönigkeit einer langen Fahrt auf einer dunklen Straße, das Summen der Reifen, das Schwanken des Lichtscheins der Scheinwerfer. Ich gähnte einige Male und dann – Krach! Ich saß im Graben und hatte eine Beule am Kopf. Der Schreck steckte mir noch wochenlang in den Gliedern, kann ich Ihnen sagen.« »Arvanian hatte keine lange, ermüdende Fahrt hinter sich. Er hatte genau vierundzwanzig Meilen zurückgelegt, als es ihn erwischte.« »Und? Er kann trotzdem übermüdet gewesen sein. Möglich, daß er in der letzten Zeit schlecht geschlafen hatte. Ein paar schlaflose Nächte, dann möchte man sich überall ins Bett legen, auch hinter dem Steuer.« »Da haben Sie recht, Arny. Als Vater von zwei Kindern kann ich ein Liedchen davon singen. Ein Mangel an Schlaf kann einen fix und fertig machen. Das wirkt sich auch auf die Arbeit aus.« Bransome tippte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Bei Arvanian hat es sich nicht ausgewirkt.« »Aber –« »Weiter nahm man an, daß er sich auf dem Nachhauseweg befand. Das Hafenviertel liegt drei Meilen – oder mehr – von der normalen Fahrtrichtung weg. Er machte also einen Umweg. Warum?« »Ich habe keine Ahnung.«
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»Ich auch nicht. Einerseits sieht es wie ein Selbstmord aus, andererseits gibt es keinen Beweis dafür. Keiner weiß, was es wirklich war. Mir kommt es in jedem Fall merkwürdig vor, mehr möchte ich nicht dazu sagen.« »Sie haben einen durchdringenden Verstand«, sagte Berg. »Warum betätigen Sie sich nicht als Privatdetektiv?« »Ein größeres Risiko und weniger Sicherheit«, antwortete Bransome lächelnd. Er blickte auf seine Uhr. »Zeit, daß wir wieder in die Tretmühle zurückkehren.« Zwei Monate später war Berg verschwunden. Während der letzten zehn Tage war er still, nachdenklich und verschlossen gewesen. Bransome, der in seiner Nähe arbeitete, hatte es bemerkt und diese Veränderung einer vorübergehenden Laune zugeschrieben. Aber als Bergs Stimmung sich nicht besserte und noch schlechter wurde, war er neugierig geworden. »Krank oder irgend etwas?« »Wie?« »Ich wollte wissen, ob Ihnen etwas fehlt. Sie brüten ja in letzter Zeit vor sich hin wie eine alte Henne.« »Davon weiß ich nichts«, sagte Berg trotzig.
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»Ich habe es Ihnen erzählt, jetzt wissen Sie es. Fühlen Sie sich krank?« »Mit mir ist alles in Ordnung. Und warum soll ich denn dauernd reden?« »Kein Gedanke, daß Sie das sollen.« »Okay, dann rede ich, wenn mir danach zumute ist, und ich halte auch den Mund, wenn mir danach zumute ist.« Nach dieser Unterhaltung nahm Bergs Einsilbigkeit zu. An seinem letzten Tag sprach er kein Wort mehr als unbedingt nötig war. Und den Tag darauf erschien er nicht an seinem Arbeitsplatz. Am Nachmittag wurde Bransome in Laidlers Büro beordert. Laidler begrüßte ihn mit düsterer Miene und deutete auf einen Sessel. »Nehmen Sie Platz. Arnold Berg war doch Ihr Arbeitskollege, nicht wahr?« »Ja, das stimmt.« »Waren Sie gut mit ihm befreundet?« »Befreundet ja, aber ich würde nicht ›gut befreundet‹ sagen.« »Können Sie das genauer erklären?« »Wir kamen gut miteinander aus«, sagte Bransome. »Ich verstand ihn, und er verstand mich. Jeder von uns wußte, daß er sich auf den anderen verlassen konnte.« »Also eine rein berufliche Freundschaft?« 26
»Ja.« »Und diese Freundschaft dehnte sich nicht ins Privatleben aus?« »Nein. Abgesehen von unserer Arbeit, hatten wir wenig gemeinsam.« »Hm!« Laidler war enttäuscht. »Er hat sich heute noch nicht gemeldet. Er hat auch nicht offiziell frei genommen. Wissen Sie ungefähr, weshalb er heute nicht gekommen ist?« »Tut mir leid. Er hat gestern keinerlei Andeutungen gemacht. Vielleicht ist er krank?« »Das ist er nicht«, erwiderte Laidler. »Dann würde uns ein ärztliches Attest vorliegen.« »Wenn es heute abgeschickt wurde, werden Sie es nicht früher als morgen bekommen.« »Er hätte anrufen können«, entgegnete Laidler. »Er weiß doch schließlich, wozu ein Telefon da ist. Oder wenn er bettlägerig ist, kann an seiner Stelle ein anderer Bescheid sagen.« »Vielleicht wurde er ins Krankenhaus gebracht«, gab Bransome zu bedenken. »Das kommt auch manchmal vor. Wie dem auch sei, das Telefon kann man hüben wie drüben benutzen. Wenn Sie ihn anrufen würden –« »Eine grandiose Idee! Darauf können Sie sich etwas einbilden.« Laidler schnaufte verächtlich. »Wir haben ihn bereits vor zwei Stunden angerufen, haben uns mit dem Nachbarn, der über ihm wohnt, 27
unterhalten und an seine Wohnungstür getrommelt. Keine Antwort. Der Nachbar holte den Pförtner, der die Tür dann mit seinem Hauptschlüssel öffnete. Sie gingen hinein. Kein Mensch da. Doch in seiner Wohnung scheint alles in Ordnung zu sein. Der Pförtner weiß nicht, wann Berg weggegangen oder wann er gestern abend nach Hause gekommen ist.« Laidler rieb nachdenklich sein Kinn. »Berg ist geschieden. Wissen Sie zufällig, ob er eine feste Freundin hat?« Bransome dachte nach. »Er sprach gelegentlich von Mädchen, die er sympathisch fand. Waren ungefähr vier oder fünf. Aber Frauen scheinen ihn nicht über alle Maßen zu interessieren. Soviel mir bekannt ist, war er nie hinter einer her oder ging ständig mit ihr. Was seine Haltung Frauen gegenüber betrifft, so ist er so etwas wie ein kalter Fisch; die meisten kommen rasch dahinter und ziehen sich zurück.« »Dann besteht also kaum die Möglichkeit, daß er sich in irgendeinem Liebesnest verschlafen hat – es sei denn, er unterhält noch Beziehungen zu seiner früheren Frau.« »Das bezweifle ich.« »Hat er unlängst von ihr gesprochen?« »Nein. Ich glaube, daß er während der letzten Jahre nicht mal einen Gedanken an sie verschwendet hat. Wie er mir sagte, paßten sie nicht zusammen, kamen aber erst nach der Hochzeit dahinter. Sie 28
wollte Leidenschaft, er wollte seine Ruhe haben. Sie sprach von seelischer Grausamkeit und ließ ihn sausen. Nach einigen Jahren heiratete sie dann wieder.« »Aus seinen Papieren geht hervor, daß er keine Kinder hat. Als nächste Angehörige hat er seine Mutter angegeben. Sie ist achtzig Jahre alt.« »Vielleicht ist seine Mutter krank geworden und er zu ihr gefahren?« »Wie ich schon sagte, hätte er den ganzen Tag Gelegenheit gehabt, uns anzurufen. Und seiner Mutter fehlt nichts – das haben wir bereits überprüft.« »Dann kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.« »Vielleicht können Sie es doch«, sagte Laidler. »Eine letzte Frage: Gibt es im Forschungszentrum jemanden, der sich in Bergs Privatleben auskennt? Jemand, der seinen Geschmack kennt oder das gleiche Hobby hat? Jemand, der an den Abenden und Wochenenden mit ihm zusammen gewesen ist?« »Ich kenne niemanden. Berg war nicht reserviert, aber auch nicht sehr gesellig. Nach der Arbeit schien er mit seiner Gesellschaft zufrieden zu sein. Ich habe in ihm immer einen sehr selbstzufriedenen Menschen gesehen.« »Nun, wenn er morgen hier hereinspaziert und das fette Grinsen im Gesicht hat, dann wird er alle seine Selbstzufriedenheit bitter nötig haben. Er wird 29
sich nämlich rechtfertigen müssen. Sein Verhalten ist eine grobe Verletzung der Vorschriften, die bekanntlich nicht zum Übertreten da sind. Wir wollen keinen Ärger.« Er sah Bransome gereizt an und sagte: »Wenn er nicht wiedererscheint und Sie etwas von ihm hören – woher auch immer –, so ist es Ihre Pflicht, mich sofort zu benachrichtigen.« »Das werde ich tun.« Als Bransome das Büro verließ und in die grüne Sektion zurückkehrte, beschäftigten sich seine Gedanken mit Berg. Hätte er Laidler von Bergs Verhaltensweise während der letzten Tage erzählen sollen? Würde das etwas genutzt haben? Er konnte keine Erklärung darüber abgeben; er konnte sich keinen Grund vorstellen, höchstens, daß er möglicherweise etwas getan oder gesagt hatte, was Berg aufregte. Aber Berg war ganz entschieden nicht der Typ, der seinen Ärger schweigend in sich hineinfraß. Noch weniger war er der Typ, der sich – wie ein störrischer Junge – in einen Schmollwinkel zurückzog. Während er darüber nachdachte, fiel ihm Bergs seltsame Bemerkung vor zwei Monaten ein: ›Vielleicht verschwinde ich eines Tages selbst und trete als Muskelmann auf.‹ War das nur so einfach dahergeredet? Oder hatte es eine versteckte Bedeutung? Was hatte Berg mit ›Muskelmann‹ gemeint? Er wußte es nicht. 30
Zum Teufel damit, dachte Bransome, ich habe andere Sorgen! Sicher wird Berg morgen wieder auftauchen und eine glaubwürdige Entschuldigung mitgebracht haben. Aber Berg tauchte weder am folgenden Tag noch an allen anderen Tagen wieder auf. Er war und blieb verschwunden.
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2 In den nächsten zwei Monaten reichten drei weitere Spitzenkräfte ihre Abschiedsgesuche unter Umständen ein, die alle Alarmglocken in Bewegung hätten setzen können und das eigentlich auch getan haben sollten – doch nichts geschah. Einer verschwand, ähnlich wie Berg, anscheinend aus einer Laune heraus. Die anderen beiden kündigten unter Vorwänden, die lediglich den Zorn von Laidler schürten. Dieser hatte aber keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Dann kam die Wende im Leben von Richard Bransome. Ausgerechnet am Freitag und dem Dreizehnten des Monats zerklirrte seine Welt in Scherben. Bis zu diesem Zeitpunkt war es, trotz gewisser Unzulänglichkeiten, eine angenehme, behagliche Welt gewesen. Gelegentlich hatte es Langeweile, Rivalitäten und unwichtige Ängste gegeben, eben die tausendundeins lächerlichen Nadelstiche, denen jeder Mann ausgesetzt ist. Aber er hatte sein Leben gelebt – ein Leben voll von jenen kleinen Freuden, die man nie so richtig zu schätzen weiß, bis sie plötzlich für immer verschwunden sind. Morgens die pünktliche Abfahrt des Zuges um 8.10 Uhr. Die gleichen Gesichter in den gleichen Sitzen, das gleiche Rascheln der sich auseinanderfaltenden Zeitungen und das gleiche leise Murmeln der Unterhaltung. Oder die Rückkehr 32
am Abend – die von Bäumen begrenzte Allee, wo rechts und links immer einige Nachbarn den Rasen mähten oder ihre Wagen putzten. Der kleine Hund, der ihm auf dem Gartenweg entgegensprang. Das Gesicht von Dorothy, lächelnd und noch rot von der Küchenhitze. Die beiden Kinder, die nach seinen Händen griffen und von ihm verlangten, daß er sich im Kreis drehen und die Geräusche eines Karussells nachahmen solle. All diese unbedeutenden, doch kostbaren Schätze, die den Tagen ihren Wert verliehen: Mit einem Schlag verloren sie ihre Gestalt, ihre Umrisse, ihre Wirklichkeit. Sie verschwammen und verschwanden wie zögernde Geister, die nicht wußten, ob sie sichtbar bleiben oder sich in Luft auflösen sollten. Sie flohen vor ihm und ließen ihn in einer schrecklichen Einsamkeit zurück. Er griff nach ihnen mit dem ganzen Verlangen seiner erschütterten Seele, und sie kehrten zurück – doch nur, um wieder zu verschwinden. Ein paar Worte hatten das zustande gebracht. Er fuhr an einem schon winterlich kalten Abend nach Hause. Dünne Nebelströme krochen durch die Dämmerung. Wie immer mußte er unterwegs umsteigen und zwölf Minuten auf den Anschlußzug warten. Einer langen Gewohnheit folgend, ging er in die Bahnhofsgaststätte, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Er nahm rechts vor der Theke Platz und sagte, was er schon unzählige Male gesagt hatte: 33
»Einen Kaffee – schwarz.« In der Nähe saßen zwei Männer, die ihren Kaffee tranken und sich zwanglos unterhielten. Sie sahen wie Fernfahrer aus, die sich auf dem Weg zum Dienst befanden. Einer von ihnen hatte eine eigentümlich gedehnte Sprechweise, deren Akzent Bransome fremd war. »Es steht fünfzig zu fünfzig«, sagte der Mann mit dem fremden Akzent, »auch wenn's erst gestern passiert ist. Die Polizei löst niemals mehr als die Hälfte aller Mordfälle. Das gibt sie ja selbst zu.« »Oh, ich weiß nicht«, entgegnete der andere. »Zahlen können irreführend sein. Wie oft wurden schon Leute festgenommen, die mehr als einen Mord auf dem Gewissen hatten?« »Was heißt das schon?« »Sehen wir die Dinge doch mal so, wie sie wirklich sind, und nicht, wie sie sein sollten. Nicht alle, die einen Mord begangen haben, werden gefaßt, und das ist eine Tatsache. Vor allem muß die Polizei erst mal wissen, daß er der Mörder ist, und sie muß es beweisen können. Dann hat sie ihn im Griff.« »Und?« »Wenn er mehrere Morde begangen hat, können sie ihm nicht alle beweisen, und die kommen in die Akten mit den unaufgeklärten Verbrechen. Und was spielt das schon für eine Rolle, ob sie ihm die anderen Morde nachweisen können oder nicht? Das 34
spielt überhaupt keine Rolle. Sie können ihn immer nur einmal aufhängen. Büßt er für einen Mord, büßt er auch für alle anderen. Er zahlt nur für das Verbrechen, das ihm nachzuweisen ist.« Der Sprecher trank einen Schluck Kaffee. »Berücksichtigt man diese Tatsache, dann werden achtzig von hundert Mordfällen aufgeklärt.« »Zugegeben«, sagte der Mann mit dem Akzent. »Wie dem auch sei, sie rechnen damit, daß dieser Mord wenigstens zwanzig Jahre zurückliegt.« »Woher weißt du das alles so genau?« »Das sagte ich doch schon. Das Hochwasser hatte diesen großen Baum unterspült. Der neigte sich in einem gefährlich spitzen Winkel quer über die Straße. Ich habe unwillkürlich den Kopf eingezogen, als ich darunter hinwegfuhr. Einige Meilen weiter hielt ich einen Streifenwagen an und warnte die Besatzung vor diesem Baum, der bald die Straße blockieren mußte. Sie fuhren nachsehen.« »Und dann?« »Zwei Tage später kam ein Wachtmeister der Staatspolizei in die Firma und erkundigte sich nach mir. Er sagte, der Baum sei gefällt, zersägt und wegtransportiert worden. Unter den Wurzeln, sagte er, habe man das Skelett einer Frau gefunden, das dort ungefähr zwanzig Jahre gelegen haben mußte. Ein paar Sachverständige wollten sie sich ansehen – die Knochen, meine ich.« Er trank einen Schluck, blickte die Wand an und endete: »Der Wachtmeister 35
sagte, der Schädel sei eingeschlagen worden. Dann starrte er mich an, als ob ich's gewesen wäre. Und er wollte wissen, wie viele Jahre ich schon auf dieser Straße gefahren bin und ob ich mich an irgend etwas ›Verdächtiges‹ erinnern könnte.« »Aber du konntest dich an nichts erinnern«, grinste der andere. »Woher denn? Er notierte sich meine Adresse für den Fall, daß mir noch was einfällt und ich noch mal aussagen muß. Wenn ich wieder mal durch Burleston fahre, werde ich todsicher beobachtet. Das hat man nun davon, wenn man der Öffentlichkeit einen Dienst erweisen will.« Burleston… Burleston! Der Lauscher am anderen Ende der Theke starrte in seine Kaffeetasse. Sie rutschte in den Fingern, aus denen die Kraft wie unsichtbares Wasser weggeflossen war. Burleston! Die Tasse drohte überzuschwappen. Er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um sie langsam und vorsichtig auf den Unterteller zu stellen. Dann stand er auf und ging hinaus. Die beiden Fernfahrer nahmen keinerlei Notiz von ihm. Er ging langsam, schwach in den Knien, und kalte Schauer rieselten ihm den Rücken hinunter. In seinem Hirn wirbelte alles durcheinander. Burleston! 36
Ich bin Richard Bransome, ein hochqualifizierter Metallurge im Dienst der Regierung. Ich habe das Vertrauen meiner Vorgesetzten, die Freundschaft meiner Kollegen und Nachbarn, die Liebe meiner Frau, meiner beiden Kinder und eines kleinen Hundes. Bevor ich meine Stellung im Forschungszentrum antrat, wurde meine Vergangenheit sorgfältig von Leuten überprüft, die ihre Sache hundertprozentig machten. Mein Ruf ist einwandfrei, meine Vergangenheit fleckenlos. Es sind keine Skelette in meinem Keller. Keine Skelette? Mein Gott, warum steigen die Toten aus den Gräbern und zeigen mit ihren Fingern in die Gegenwart hinein? Warum können sie nicht für ewig liegenbleiben und die Lebenden in Frieden leben lassen? Er stand wie betäubt und mit leerblickenden Augen auf dem Bahnsteig, während der Anschlußzug einfuhr. Er wußte es nicht, wußte auch nicht, wie er in sein gewohntes Abteil gekommen war. Er fand sich sogar auf seinem alten Platz wieder. Warum habe ich Arline umgebracht? Das Abteil war ziemlich voll, wie immer. Er sah die gleichen Gesichter um sich herum. Sie begrüßten ihn mit dem üblichen Nicken und bereiteten sich auf die übliche belanglose Unterhaltung vor. 37
Der ihm gegenübersitzende Mann, Farmiloe, faltete eine Abendzeitung zusammen, steckte sie in die Manteltasche, gab sein einleitendes Räuspern von sich und meinte: »Für mich war das heute ein guter Tag. Wurde ja auch höchste Zeit, daß endlich mal –« Seine Stimme verstummte und meldete sich in einer höheren Tonlage wieder. »Fühlen Sie sich krank, Bransome?« »Ich?« Bransome gab sich einen sichtbaren Ruck. »Nein, mir fehlt nichts.« »So sehen Sie gerade nicht aus«, sagte Farmiloe. »Haben so ein blasses Gesicht, als ob Sie sich mit Bleichsoda gewaschen hätten.« Er lachte behäbig und stieß Connelly, seinen Nachbarn, mit dem Ellenbogen an. »Haben Sie gehört? Ich sagte, Bransome sieht so blaß aus, als ob er sich mit Bleichsoda gewaschen hätte.« »Aber er sieht trotzdem nicht gut aus«, sagte Connelly, der die Bemerkung des anderen offenbar nicht sehr witzig fand. Er sah Bransome an und bewegte seine Knie zur Seite. »Wenn Sie sich übergeben müssen, dann bitte nicht in meinen Schoß.« »Ich fühle mich okay. Mir fehlt nichts.« Ihm war, als gehöre seine Stimme einer völlig anderen Person. Warum habe ich Arline umgebracht? Farmiloe wechselte das Thema, sprach über geschäftliche Erfolge und Mißerfolge, und seine Augen waren die ganze Zeit forschend auf 38
Bransome gerichtet. Er schien zu fürchten, daß ihm eine Bemerkung über die Lippen rutschte, die Bransome als Beleidigung auffassen konnte. Auch Connelly teilte diese Befürchtung, wenn auch nicht so offensichtlich. Sie benahmen sich wie Leute, die eine Unannehmlichkeit vermeiden wollten – beispielsweise die erste Hilfeleistung an einem Unfallverletzten im Straßenverkehr. Der Zug ratterte und donnerte weiter, während die Unterhaltung völlig verstummte, weil keiner mehr wußte, was er noch sagen sollte. Es war ein bedrückendes, gespanntes Schweigen. Schließlich huschten wieder Bahnhofslichter am Abteilfenster vorbei. Der Zug fuhr langsamer und hielt. Stimmen drangen aus dem nassen Nebel. Ein Handwagen rumpelte über den Bahnsteig. Farmiloe und Connelly sahen erwartungsvoll Bransome an, der nicht davon Notiz nahm und starr geradeaus blickte. Nach einigen Sekunden beugte Farmiloe sich vor und tippte auf Bransomes Knie. »Wenn Sie nach Hause wollen, müssen Sie hier aussteigen.« »Sind wir schon da?« Bransome machte ein verwundertes Gesicht, rieb den Wasserhauch von der Fensterscheibe und blickte hinaus. »Tatsächlich!« Er griff nach seiner Aktentasche, lächelte verkrampft, verließ das Abteil, eilte den Gang entlang und stieg aus. »Ich muß mit offenen 39
Augen geträumt haben«, sagte er noch und hörte Connelly murmeln: »Sicher war's ein Alptraum.« Dann stand er auf dem Bahnsteig und sah den Zug anfahren. Die hellen Abteile zogen an ihm vorbei; er sah die Fahrgäste, die sich unterhielten, in Zeitungen lasen oder sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt hatten. Niemand von ihnen hatte Sorgen, keine echten Sorgen. Ihr Verstand beschäftigte sich mit nüchternen Dingen. Was gibt es zum Abendessen? Was Interessantes im Fernsehen? Wird Mabel ausgehen oder zu Hause bleiben wollen? Wird der alte Sowieso morgen seinen Namenszug unter ein wichtiges Schriftstück setzen? Sie waren so faul und selbstgefällig, wie er, Bransome, es bisher auf der Heimfahrt immer gewesen war – bis heute. Aber jetzt hatte die Jagd begonnen, und er war das Wild. Allein auf dem Bahnsteig stehend und dem Zug nachblickend, lernte er die Furcht des Verfolgten kennen. Das war durchaus kein abenteuerliches Gefühl, sondern etwas Beängstigendes und Gemütsstörendes, eine psychologische Umwälzung von einer Art, wie er sie noch nie gekannt hatte. Und am Ende dieser Jagd winkte dem Langstreckenläufer der Preis: der elektrische Stuhl. Er konnte sich diesen Stuhl deutlich vorstellen, und diese Vision betäubte ihn beinahe. Es gab keinen Ausweg aus dieser Situation, dieser ständigen Drohung; jedenfalls fiel ihm im 40
Augenblick keine Fluchtmöglichkeit ein. Der Schock steckte noch zu tief in seiner Seele, als daß er hätte logisch denken können. Er verließ die Bahnstation, bog um die Ecke der Allee und wußte nicht, wohin ihn seine Schritte führten. Ein unbewußtes, automatisch arbeitendes Lenksystem steuerte ihn nach Hause. Er sah die hellen Fenster der Nachbarhäuser, ein Anblick, der ihm wie ein Fanal des Lebens vorgekommen war. Doch jetzt sah er in den hellen Fenstern nur Lichter – weil seine Gedanken sich mit dem Tod beschäftigten. Knochen unter den Wurzeln eines Baumes, der sie noch ein weiteres Jahrhundert hätte verbergen können. Knochen, die niemand gefunden hätte – oder erst dann, wenn die Gegenwart sich so weit von der Vergangenheit entfernt hatte, daß niemand mehr eine Spur verfolgen konnte. Die sogenannten Gesetze des Zufalls schienen eine teuflische Perversität zu sein, eine ungeheuerliche Verzerrung des Wahrscheinlichkeitsfaktors zum Nachteil des Schuldigen. Darum mußte von den Multimillionen Bäumen in dieser Welt ausgerechnet dieser eine Baum umkippen, um eine Menschenjagd in die Wege zu leiten. Der kleine Jimmy Lindstrom ging an ihm vorbei, zog ein rotes Spielzeugauto hinter sich her und rief: »Hallo, Mr. Bransome!« »Hallo!« antwortete er mechanisch und vergaß ›Jimmy‹ hinzuzufügen. 41
Mit den steifen Bewegungen eines Roboters ging er weiter. Vor einiger Zeit hatte er unterwegs in einem jener knallig aufgemachten Kriminalmagazine gelesen, das jemand auf dem Nebensitz vergessen hatte. In einer Geschichte war von einem Hund die Rede, der eine knöcherne Hand ausgebuddelt hatte, an deren Ringfinger sich noch ein Goldreif befand. Dieser Ring hatte die Ermittlungen der Polizei in Fluß gebracht. Man war Spuren nachgegangen, hatte Fragen gestellt und schließlich das Fangnetz über den Täter geworfen. Das hatte Jahre gedauert, aber die Kriminalbeamten waren letzten Endes doch ans Ziel gekommen, wußten plötzlich alles über den Mörder und dessen Opfer – und ein Mann war auf den elektrischen Stuhl gekommen für ein Verbrechen, das vierzehn Jahre zurücklag. Und damit mußte auch Bransome rechnen. Irgendein wissenschaftlicher Spürhund würde die Todesursache feststellen, das ungefähre Datum, das Geschlecht des Opfers, das Alter, die Größe, das Gewicht und die zahlreichen anderen Einzelheiten, die nur ein Fachmann auf diesem Gebiet ergründen konnte. Die Spinne begann ihr Netz anzulegen, dessen Vollendung nur eine Frage der Zeit war. Sein Herz klopfte schneller bei diesem Gedanken. Wie würde das Ende aussehen und wann würde es ihn überraschen? Am Arbeitsplatz, zu Hause, oder vielleicht auf dem Weg von einem zum anderen? 42
Vielleicht zu Hause, wo er es am meisten haßte. Sein aufgepeitschtes Gehirn konnte sich die Szene deutlich vorstellen: Es klingelte. Dorothy öffnete die Tür und sah sich zwei Männern mit grimmigen Gesichtern gegenüber. Die Männer blickten sie an, und einer von ihnen ergriff das Wort. ›Richard Bransome? – Wir sind von der Kriminalpolizei. Wir haben einen Haftbefehl, und es ist unsere Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß alles, was Sie sagen…‹ Ein Schrei von Dorothy. Das Weinen der Kinder, als sie die Handschellen klirren hörten und ihn ins Wohnzimmer zurückzerren wollten. Das hilflose Winseln des Hundes. Und die Kriminalbeamten führten ihn ab, hatten ihn in die Mitte genommen, so daß jeder Fluchtversuch ausgeschlossen war. Weg von Dorothy, den Kindern, dem Hund, der Wohnung und allem, was ihm lieb und teuer gewesen war. Für immer und ewig. Trotz der abendlichen Kühle brach ihm der Schweiß aus, und er stellte fest, daß er gute fünfzig Schritte an seinem Haus vorbeigegangen war. Er machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück, den Gartenweg entlang und auf die Vordertür zu. Wie ein Betrunkener suchte er nach dem Hausschlüssel. Als er eintrat, kamen die Kinder auf ihn zugelaufen, kreischten vergnügt und versuchten, an ihm hochzuklettern. Jeder Schrei erfüllte ihn mit 43
einer nie gekannten Qual, zerrte an seinen Nerven. Der Hund bellte, schlängelte sich zwischen seinen Beinen hindurch und brachte ihn fast zu Fall. Er hatte Mühe, seine Gefühle halbwegs unter Kontrolle zu bringen und ein falsches Lächeln in sein Gesicht zu dirigieren. Er strich über die beiden zerzausten Köpfe, tätschelte zwei Wangen, stieg vorsichtig über den Hund hinweg, nahm seinen Hut ab und zog den Mantel aus. Aber die Kinder ahnten irgendwie, daß mit ihrem Vater etwas nicht stimmte. Sie wurden plötzlich schweigsam, traten zurück und sahen ihn ernst und fragend an. Er spielte die alte Rolle des in den Schoß der Familie zurückkehrenden Vaters, doch sie ließen sich nicht täuschen. Ihre Haltung beunruhigte ihn nur noch mehr. Die Art, wie sie ihn ansahen, riefen den Gedanken in ihm wach: Sie wissen, daß ich verdammt bin. Dorothys Stimme kam aus der Küche. »Bist du es, Liebling? Hattest du heute einen guten Tag?« »Nicht besonders gut«, gab er zu und ging in die Küche. Er küßte sie und verriet sich dabei. Er hielt sie ein wenig zu fest und ein wenig zu lange, als wolle er sie überhaupt nie mehr freigeben. Sie neigte sich zurück und betrachtete ihn mit fragend gewölbten Augenbrauen. »Ist es etwas Ernstes, Rich?« fragte sie. 44
»Was denn?« »Was dich bedrückt.« »Nichts bedrückt mich«, log er. »Höchstens die Arbeit. Es gibt da Probleme, die mich einfach verrückt machen. Und ich muß sie lösen, denn dafür werde ich ja bezahlt.« »Dann bringe diese Probleme nicht auch noch mit nach Hause«, entgegnete sie zögernd. »Denn zu Hause sollst du sie doch vergessen, nicht wahr?« »Ich weiß. Leider kann man sie nicht so leicht vergessen. Einige Leute bringen das zwar fertig, aber zu denen scheine ich nun mal nicht zu gehören. Ich brauche immer einige Zeit, um sie zu vergessen.« »Überstunden, die nicht bezahlt werden.« »Aber ich verdiene ganz gut.« »Das steht dir auch zu«, sagte sie überzeugt. »Die besten Gehirne verdienen die beste Bezahlung.« Er tätschelte ihre Wange. »Die bekommen sie auch, mein Schatz – aber es gibt viele Gehirne, die besser funktionieren als das meine.« »Unsinn!« Sie stellte eine Schüssel unter den Mixer der Küchenmaschine und betätigte einen Schalter. »Ich fürchte, in dir entwickelt sich ein Minderwertigkeitskomplex. Das überrascht mich!« »Nicht doch«, widersprach er. »Gute Gehirne erkennen stets die besseren. Dieser Tatsache 45
begegnet man im Forschungszentrum auf Schritt und Tritt. Es gibt da kluge Leute, mein Schatz, sehr kluge Leute. Ich beneide sie um ihre Fähigkeiten.« »Nun, wenn du noch nicht so klug bist, dann wirst du es bald sein.« »Hoffentlich.« Er stand nachdenklich da. Wirst du es bald sein, hatte sie gesagt. Die Zukunftsform. Gestern wäre sie noch wertvoll gewesen – heute nicht mehr. Er wurde jetzt von anderen Händen in die Zukunft gelenkt, die langsam einen Faden nach dem anderen aufnahmen, bis sie früher oder später alle Fäden in den Händen hielten… »Du bist heute abend ungewöhnlich ruhig. – Hast du Hunger?« »Nicht viel.« »Dauert nur noch ein paar Minuten.« »Gut, mein Schatz. Dann werde ich mich sofort waschen.« Er ging ins Badezimmer, zog sein Hemd über den Kopf und wusch sich, als könne er damit die Schwärze in seinem Gehirn hinwegspülen. Die Gehirnmasse schien in Bewegung zu geraten, sobald er sich über das Waschbecken beugte. Dorothy trat ein. »Ich vergaß zu sagen, daß ein frisches Handtuch in der –« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Du hast ja eine Schramme an deinem Ellenbogen?« 46
»Ja, ich weiß.« Sie gab ihm das Handtuch. Er trocknete Gesicht und Oberkörper ab und betrachtete die blutunterlaufene Stelle an seinem Ellenbogen. »Wie kam denn das?« »Bin heute morgen in Branigan die Treppe hinuntergefallen. Dabei habe ich mir den Ellenbogen aufgeschlagen und mir noch eine Beule am Hinterkopf zugezogen.« Ihre schmalen Finger glitten tastend über sein Haar. »Ja, eine ziemlich dicke Beule.« »Aber erträglich – man darf sie nur nicht berühren!« »Um Himmels willen, Rich, du hättest dir das Genick brechen können. Die Treppe ist lang und steil. Wie konnte das nur passieren?« »Das weiß ich nicht genau.« Er fuhr noch einmal mit dem Handtuch über sein Gesicht und griff nach dem Hemd. »Ich ging die Treppe hinunter wie immer. Plötzlich kippte ich nach vorn. Ich kann mich nicht entsinnen, daß ich über etwas gestolpert oder ausgeglitten bin. Ich weiß auch nicht, ob es ein Schwächeanfall war oder meine Beine einknickten. Ich kippte eben nur nach vorn. Zwei Leute kamen gerade die Treppe hinauf, sahen mich stolpern und packten mich gleich nach dem Aufschlag. Ich denke,
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sie haben mich vor schlimmeren Verletzungen bewahrt.« »Und dann?« »Ich muß wohl für kurze Zeit die Besinnung verloren haben. Dann saß ich halb betäubt auf der Treppe. Einer der beiden Leute gab mir einen Klaps auf die Wange und fragte: ›Nichts gebrochen, Mister?‹ Ich stand auf, war noch ein wenig unsicher auf den Beinen, bedankte mich und ging weiter. Überflüssig zu sagen, daß ich mir einigermaßen blöde vorkam.« »Hast du den Arzt aufgesucht?« »Nein. Warum auch? Das ist doch nicht weiter gefährlich. Ich laufe nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt.« Sie blickte ihn unverhohlen besorgt an. »Aber wenn du ohnmächtig wurdest, Rich, hättest du lieber doch zum Arzt gehen sollen. So etwas kann immer nur an irgendeiner Krankheit liegen und –« »Ich bin vollkommen gesund. Rege dich also nicht gleich über ein paar Beulen und Schrammen auf.« Er band seine Krawatte um. »Ich muß geistesabwesend oder einfach unvorsichtig gewesen sein. Das war mir eine Lehre. In Zukunft werde ich besser aufpassen. Und jetzt wollen wir nicht mehr darüber reden.«
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»Aber ich an deiner Stelle –« Sie atmete heftig ein und rief: »Mein Gott, da brennt ja etwas an!« Sie rannte in die Küche zurück. Er betrachtete sich im Spiegel und zupfte seine Krawatte gerade. Hagere, asketische Züge, schmale Lippen, dunkle Augen, schwarze Augenbrauen und Haare, kleine weiße Narbe an der linken Schläfe, ohne Bart, noch keine vierzig Jahre alt, elegant gekleidet. Wie lange noch, bis diese Beschreibung in Umlauf gesetzt wurde? Wie lange noch, bis ein krawattenloser, zigarettenrauchender Reporter einen Sensationsartikel mit der Schlagzeile ›Der Phantommörder von Cooper's Creek‹ oder so etwas schrieb? Wie das Gesicht eines Mörders sah sein Spiegelbild nicht aus. Zu nachdenklich und pedantisch. Aber wenn er, eine Erkennungsnummer am Kragen, in die Kamera eines Polizeifotografen blickte, würde sein Gesicht einen weniger vorteilhaften Eindruck machen. Jeder würde in ihm mit Sicherheit den Kandidaten für die Todeszelle erkennen, besonders dann, wenn die Aufnahme nach einem ermüdenden nächtlichen Verhör gemacht worden war. »Das Abendessen ist fertig!« »Ich komme!« rief er zurück. Er hatte keinen Appetit, aber er würde so tun, als ob es ihm schmecke. Die Angst, die unablässig in 49
seine Gedankenwelt einsickerte, kam dem flauen Gefühl in seinem Magen gleich. Doch wenn er keinen Bissen zu sich nahm, mußte er um so mehr peinliche Fragen beantworten. Darum mußte er sich zusammennehmen und das Essen hinunterwürgen. ›Der Verurteilte nahm noch eine reichhaltige, aus vier Gängen bestehende Mahlzeit zu sich…‹ Rätselhaft! Wie konnte ein Mensch, der den Tod vor Augen hatte, überhaupt noch etwas essen? Um neun Uhr morgens passierte er die Postenkette und empfing von jeder Gruppe ein erkennendes Kopfnicken. Dann wartete er ungeduldig, bis sich die drei Türen geöffnet und geschlossen hatten. Theoretisch waren die Posten verpflichtet, ihn nach jeder Tür zu überprüfen und abzutasten, selbst wenn sie ihn schon jahrelang kannten. Aber diese Vorschrift war ein wenig entschärft worden, nachdem der freimütige und jähzornige Cain explodiert war, als er seinem Schwager zum siebzehntenmal innerhalb weniger Minuten seine Papiere vorzeigen mußte. Jetzt nickten die Posten den prominenten Leuten nur zu, stürzten sich aber auf alle, die sie nicht kannten. Drinnen verwahrte er seinen Hut und seinen Mantel in einem Metallschrank, zog seinen grünen Kittel mit dem numerierten Schild und der Leuchtplakette über, ging eine Reihe Korridore entlang an weiteren Posten vorbei und durch eine 50
grüne Tür. Dahinter ging er durch ein langes, reichhaltig ausgestattetes Labor und verschiedene große Werkstätten. Schließlich erreichte er die Montagehalle im Hintergrund. Sie hatte die Größe einer Flugzeughalle. Cain und Potter, beide in grünen Kitteln, waren schon anwesend, deuteten mit den Spitzen ihrer Bleistifte auf die verstreut auf einer Werkbank herumliegenden Zeichnungen und diskutierten über einen Gegenstand in der Mitte der Halle. Das glänzende, metallene Objekt auf der Betonfläche sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Kraftwagenmotor und einer langen Flugabwehrkanone. Sein Aussehen täuschte nicht. Jeder Waffenexperte hätte nach kurzer Betrachtung den Verwendungszweck dieses Objekts nennen können. Das Thema der Diskussion zwischen Cain und Potter war das Versuchsmodell eines vollautomatischen Flak-Geschützes, das neuartige Geschosse mit flüssigem Explosivstoff besonders gefährlich machen sollte. Nach den Zeichnungen war das Geschütz in der Lage, pro Minute sechshundert Geschosse mit einstellbaren Zündern in eine Höhe von siebzigtausend Fuß zu befördern. Aber auf dem Schießplatz sah die Sache anders aus: Innerhalb von acht Sekunden torkelten die Geschosse ohne Drall aus einem von der Reibungshitze ausgedehnten Rohr. 51
So hatten sie mehrere Änderungen vorgenommen und dadurch nur vier Sekunden wirkungsvolle Feuerkraft gewonnen. Die Grundidee war erstklassig gewesen, doch in der Praxis wies sie mehr Flöhe auf als der Hund eines Flohzirkusdirektors. Wenn Wochen oder Monate mit neuen Experimenten und Fehlschlägen, Diskussionen und Kopfzerbrechen endlich doch die ersehnte Lösung bescherten, würden sie eine Waffe haben, mit der man den Himmel auseinanderreißen konnte. Doch im Augenblick konnten sie nur hoffen, daß ihnen die Lösung dieses Problems einfiel. Cain unterbrach seine Unterhaltung mit Potter und wandte sich Bransome zu. »Hier ist ja noch ein verhindertes Genie. Zu Ihrer Information: Wir sind zu einem endgültigen Schluß gekommen.« »Der wäre?« fragte Bransome. »Entweder das Rohr oder die Geschosse – eins von beiden muß aus einer Legierung hergestellt werden, die keine Reibungshitze entstehen läßt.« Cain grinste. »Als angeblicher Experte auf dem Gebiet der Metallurgie haben Sie jetzt Gelegenheit, Ihre Fähigkeiten zu beweisen. Darum lassen Sie sich schleunigst etwas einfallen.« »Geht leider nicht.« »Sie reiten auf Hilderman herum«, warf Potter nachdenklich ein. »Wenn seine Abteilung diesen 52
Explosivstoff so stabilisieren kann, wie sie sich das vorstellen, dann« – er deutete auf das Geschütz – »können wir diesen Schrotthaufen in den Fluß werfen. Die Geschosse schwirren von allein los, und alles, was wir zu bauen brauchen, ist ein riesiges Magazin.« »Ich kenne mich nicht so gut in Sprengstoffen aus und weiß nicht, was daran verkehrt sein soll«, sagte Cain. »Nun ja, man wird sehen.« Er ging viermal um das Geschütz herum und klagte laut: »Dieses Ding ist das Opfer seiner eigenen Wirksamkeit. Wir müssen eine Möglichkeit finden, den Ärger auszumerzen und die reine Freude zu erhalten. Warum bin ich nicht Buchmacher geworden, um ein leichteres Leben zu führen? Aber ich weigere mich, meine Niederlage zuzugeben. Und Sie geben das auch nicht zu. Keine Kapitulation. Ich liebe diese häßliche Unzulänglichkeit. Ich habe sie gebaut. Sie ist mein Leben, meine Liebe. Kritik sei verdammt!« Er suchte moralische Unterstützung von Bransome. »Würden Sie das Objekt Ihrer Zuneigung zerstören, nur weil Sie sich einmal darüber geärgert haben?« Dann sah er, wie Bransome blaß wurde und wortlos davonging. Nach ein paar inhaltsschweren Augenblicken wandte er sich an Potter und fragte verwundert: »Habe ich etwas Falsches gesagt? Teufel, ich wußte nicht, ob er mich umbringen oder durchs Fenster springen wollte. So habe ich ihn noch nie erlebt. Und was habe ich denn gesagt?« 53
Potter starrte die Tür an, hinter der Bransome verschwunden war. »Sie müssen ihm auf ein Hühnerauge getreten haben.« »Auf was für ein Hühnerauge? Alles, was ich sagte, war –« »Ich weiß, was Sie sagten. Ich hab's mit beiden Ohren gehört. Anscheinend erinnerte ihn das an etwas Besonderes, Empfindliches. Vielleicht hat er zu Hause Ärger. Vielleicht hat er Streit mit seiner Frau und ihr den Teufel auf den Hals gewünscht...« »Das würde er niemals tun. Ich kenne ihn gut genug. Er ist nicht der Typ, der seine Familie tyrannisiert.« »Vielleicht ist seine Frau anders. Einige Frauen können wegen nichts und wieder nichts hysterisch werden. Sollte seine Frau ihm aus diesem Grund das Leben zur Hölle machen?« »Ich denke, er würde dann den Mund halten und nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. In der letzten Instanz würde er stillschweigend seine Koffer packen und verschwinden.« »Ja, so schätze ich ihn auch ein«, meinte Potter. »Aber wir können uns irren. Keiner weiß, was der andere in dieser oder jener Situation tun würde. Jede Krise hatte unerwartete Reaktionen im Gefolge. Da verkriechen sich die großen, zähen und lautstarken Typen plötzlich in einem Fuchsloch, während die 54
ruhigen, kleinen Burschen irgendeiner heldenhaften Handlung fähig sind.« »Zum Teufel mit seinen Launen«, sagte Cain ungeduldig. »Soll er seine eigenen Probleme lösen, und lösen wir die unseren. « Er betrachtete wieder die Zeichnungen auf der Werkbank, und die Diskussion begann von neuem.
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3 Bransome verließ das Forschungszentrum um fünf Uhr nachmittags, tauschte mit den Posten das übliche Kopfnicken aus und trat den Nachhauseweg an. Es war ein schlechter Tag gewesen – der lausigste Tag, solange er zurückdenken konnte. Alles war verkehrt und nichts richtig gewesen. Er schien die meiste Zeit damit verbracht zu haben, über seine Schulter zu blicken, die Angst zu verscheuchen und unbefriedigende Versuche zu machen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, war in einem Forschungszentrum gewissermaßen die erste Tugend. Aber wie brachte das ein Mann fertig, der in Gedanken schon in der Todeszelle saß? Bei Licht betrachtet, hatte er vierundzwanzig Stunden lang Höllenqualen erlitten, weil zwei unbekannte Fernfahrer von einem unbekannten Verbrechen an einer nicht genau bezeichneten Stelle in der Nähe von Burleston gesprochen hatten. Der Baum, von dem sie gesprochen hatten, mußte nicht unbedingt dieser ganz bestimmte Baum gewesen sein, die Knochen nicht unbedingt diejenigen seines Opfers. Sie konnten von einem anderen stammen – und die Jagd nach dem anderen Mörder war vielleicht schon in vollem Gange. Ein Jammer, dachte er, daß ich nicht den Mumm hatte, mich in die Unterhaltung einzumischen, um 56
nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Wäre das wirklich klug gewesen? Ja – wenn ihre Antworten seine Angst verringert oder ganz beseitigt hätten. Nein – wenn sie seine schlimmsten Befürchtungen nur bestätigten oder seine Zukunft noch schwärzer malten. Zweifellos würde der Mann mit dem Akzent in der Stimme dann auch gefährliche Gegenfragen gestellt haben: »Sagen Sie, Mister, warum interessiert Sie das so?« Was hätte er darauf antworten können? Was hätte er überhaupt sagen sollen? Irgend etwas Dummes, Weithergeholtes – und das wäre gefährlich geworden. »Och, ich habe einmal in dieser Gegend gewohnt, wissen Sie.« »In der Nähe von Burleston, he? Da werden Sie sich doch an eine Frau erinnern können, die damals verschwand? Oder wissen Sie jemanden, der sich daran erinnern kann? Oder vielleicht wissen Sie sogar selbst ein wenig mehr, was?« Wie sollte er sich verhalten, wenn er die beiden heute abend wieder in der Bahnhofsgaststätte traf? Sie übersehen? Sie in eine belanglose Unterhaltung verwickeln und dabei geschickt ausfragen? Er konnte es beim besten Willen nicht sagen. Wäre er ein trink- und kontaktfreudiger Typ gewesen, hätte er über die Antwort nicht lange nachzudenken brauchen; er wäre dann einfach auf sie zugegangen, 57
hätte sich im Handumdrehen mit ihnen angefreundet und zwei Bier auf seine Rechnung bestellt. Aber er war nicht dieser Typ und zweifelte an seiner Fähigkeit, sich so völlig anders benehmen zu können. Diese Überlegungen flohen aus seinem Gedächtnis, als er um eine Ecke bog und dahinter einen Polizisten stehen sah. Das Herz klopfte ihm plötzlich bis zum Hals. Er ging an ihm vorbei und bemühte sich verzweifelt, ein gleichgültiges Gesicht zur Schau zu stellen. Er spitzte sogar die Lippen, als pfeife er eine Melodie vor sich hin. Die Augen des Polizisten durchbohrten ihn, glitzerten im Schatten des Mützenschirms. Bransome ging im gleichen Tempo weiter und spürte den Blick des Polizisten auf seinem Rücken brennen. Er fragte sich, ob er seine Gleichgültigkeit übertrieben und gerade deshalb das Interesse des Mannes auf sich gelenkt habe – so wie ein Junge, der eine Missetat begangen hatte und sich selbst zu beruhigen versuchte, indem er den Unschuldsengel spielte. Er ging weiter, die Nerven zum Zerreißen gespannt, und er wußte, daß ein plötzliches »Hallo – Sie!« ihn auf den Trab bringen würde. Und dann würde er wie verrückt die Straßen entlanghetzen, durch den Verkehrsstrom, alle möglichen Seitengassen entlang – und hinter ihm die Schritte der Verfolger, das Schrillen der Trillerpfeifen, das Rufen der Leute. Er würde laufen, laufen und laufen, 58
bis er erschöpft zusammensank. Und dann hatten sie ihn. Doch kein Ruf schreckte ihn auf. An der nächsten Ecke konnte er nicht der Versuchung widerstehen, einen Blick über seine Schulter zu werfen. Der Polizist stand noch immer da und blickte in seine Richtung. Bransome bog um die Ecke, blieb stehen, zählte bis zehn und blickte noch einmal zurück. Der Polizist stand nach wie vor da, hatte ihm aber den Rücken zugekehrt. Er atmete erleichtert auf und setzte seinen Weg zur Bahnstation fort. Dort kaufte er eine Abendzeitung und blätterte sie hastig auf der Suche nach Neuigkeiten durch, die lebenswichtig für ihn waren. Er fand nichts. Aber das bedeutete nicht viel. Die Polizei gab den Reportern nur dann Auskunft, wenn sie es für angebracht hielt. Oft hielt sie es nicht für angebracht, bis sie dann den Namen des Verbrechers kannte und die Presse an der Jagd beteiligte. Der Zug rollte ein und brachte ihn zum Umsteigebahnhof. Er stieg aus und betrat das Bahnhofsrestaurant. Die Fernfahrer waren nicht da. Er wußte nicht, ob er sich erleichtert oder enttäuscht fühlen sollte. Der einzige Gast war ein großer Mann mit einem ausdruckslosen Gesicht, der rittlings auf einem der Hocker saß und gelangweilt in den Spiegel hinter der Theke blicke. 59
Bransome bestellte schwarzen Kaffee, trank einen Schluck und bemerkte, daß der große Mann nicht so sehr sein eigenes Spiegelbild, sondern vielmehr ihn, Bransome, betrachtete. Bransome blickte zur Seite, wartete eine Minute und blickte wieder zurück. Der große Mann beobachtete ihn noch immer im Spiegel und machte keinen Versuch, diese Tatsache zu verbergen. Es war eine Art massive Arroganz in diesem Blick, so als wolle er den Betreffenden auffordern, etwas dagegen zu unternehmen. Ein Eisenbahnarbeiter trat ein, kam an die Theke und wickelte zwei Sandwiches aus dem Pergamentpapier. Der große Mann blieb auf seinem Hocker sitzen und sah weiter in den Spiegel. Bransome trank noch einen Schluck Kaffee und bemühte sich seinerseits, nicht mehr in den Spiegel zu sehen. Doch immer wieder, wie unter einem hypnotischen Bann, bewegten sich seine Augen auf das Spiegelbild des Mannes zu. Er beschloß, die Bahnhofsgaststätte in Zukunft zu vermeiden. Ich war zu regelmäßig hier, dachte er, und zu lange. Wer seine Gewohnheiten nicht ändert, der macht es den Verfolgern leicht. Sie brauchen sich nur nach dem ›Fahrplan‹ zu richten, den man aufgestellt hat, brauchen nur zu warten, bis man an dieser oder jener Stelle hält – und dann packen sie zu. Zerstörte man hingegen seine Gewohnheiten, so konnte man sie in die Irre führen. ›Sie‹? Wer sind ›sie‹? 60
Natürlich die Polizei. Dieser bullige Beobachter konnte ein Kriminalbeamter sein. Ja, dieser Verdacht lag auf der Hand. Selbst wenn der Mann ihn nicht auf der Stelle verhaften konnte, würde die Zeit für ihn arbeiten. Er wartete, bis er, Bransome, nervös wurde und sich auf diese Weise eine Blöße gab. Nun, er würde sich keine Blöße geben, solange er noch im Vollbesitz seiner Geisteskräfte war. Die Polizei hatte menschliche Knochen gefunden, und dieses Problem sollten sie nur ruhig ohne seine Hilfe lösen. Sie sollten beweisen, daß sie ihr Geld tatsächlich verdienten – denn das Leben ist schön, selbst wenn die Seele eine Last mit sich herumschleppt. Und der Tod ist und bleibt voller Schrecken, auch wenn man weiß, daß man ihn verdient hat… Er verzichtete auf den restlichen Kaffee, rutschte vom Hocker und ging zur Tür. Der bullige Mann drehte sich langsam nach ihm um und stellte sich ebenfalls auf die Beine. Er benahm sich, als wolle er – aus reinem Vergnügen – seinem Opfer einen kleinen Vorsprung lassen; ein berufsmäßiger Verfolger, der den Spaß an seiner Arbeit verlor, wenn sie ihm zu leicht gemacht wurde. Hatte er es darauf angelegt, Bransome wie ein Kaninchen aufzuscheuchen, so ging seine Rechnung nicht auf. Bransome war ein Amateur, aber er war kein Dummkopf. Was Strategie und Vorsicht betraf, 61
so konnte er einem Angehörigen der Unterwelt gewiß das Wasser reichen. Das war eben, mehr oder weniger, nur eine Frage der Intelligenz. Er würde noch einiges dazulernen – langsam, aber sicher. Die Episode mit dem uniformierten Polizeibeamten hatte ihn schon mal gelehrt, daß man nicht zu rasch und zu auffällig reagieren durfte. Jeder rannte instinktiv hinter einem Mann her, der aus irgendeinem Grund plötzlich vor ihm davonlief. Die wirksamste und sicherste Taktik ist die, sagte er sich, völlig normal zu reagieren, zu beweisen, daß man nichts zu befürchten hat, und dann hinter einer Ecke verschwinden, als müßte es so sein. Das war schwer, sehr schwer, wenn man keine Erfahrung als Schauspieler hatte, sich schlecht verstellen konnte und über ein Hirn verfügte, das jede Warnung mit dem Kommando: ›Weglaufen!‹ beantwortete. Aber er durfte dieses Kommando nicht ohne weiteres blindlings befolgen und mußte sorgfältig prüfen, ob es auch zu seiner Rolle paßte. An der Tür drehte er sich noch einmal nach dem Mann um und erwiderte, anscheinend aufrichtig verwundert, dessen Blick. Der Zug war schon eingefahren. Bransome stieg in den letzten Wagen. Das hatte einen Vorteil: durch das Endfenster konnte er die Bahnsteigsperre sehen und angeblich in der Zeitung lesen. Er saß gespannt da, schaute über den Zeitungsrand hinweg und sah den Mann durch die 62
Sperre kommen. Er stieg in das Abteil, in dem Bransome normalerweise anzutreffen gewesen wäre und in dem jetzt Connelly und Farmiloe saßen. Warum stieg der Mann ausgerechnet in das Abteil? War es ein reiner Zufall? Oder kannte er die Gewohnheiten seiner Beute so gut? Im letzteren Fall würde er irgend etwas unternehmen, wenn er Bransome im bewußten Abteil vermißte. Was würde er tun? Würde er in allen anderen Abteilen nachsehen? Nein, das schaffte er nicht. Außerdem mußte er damit rechnen, daß er, Bransome, vielleicht überhaupt nicht eingestiegen war. Nun überlegte er, ob er im Zug bleiben solle oder nicht… Die Lokomotive pfiff; der Zug rückte an und erhöhte langsam seine Geschwindigkeit. Nichts deutete darauf hin, daß der bullige Mann wieder ausgestiegen war. Demzufolge fuhr er mit. Wenn er nicht auf Bransomes Station ausstieg, war alles in Ordnung. Aber wenn er den Mittelgang der einzelnen Abteile entlangschlenderte, Bransome ausfindig machte und mit ihm gemeinsam ausstieg… Vielleicht biederte er sich in diesem Augenblick mit Connelly und Farmiloe an und verwickelte sie in eine Unterhaltung, die ihnen zwar wenig, aber ihm um so mehr sagte. Er war neugierig von Beruf und würde seine Neugier auch meisterhaft unauffällig zu befriedigen wissen. Vielleicht würde er erfahren, daß Bransome zum erstenmal seit langen Monaten 63
nicht auf seinem alten Stammplatz saß, daß er sich gestern so komisch benommen und einen kranken Eindruck gemacht habe. Ja, das würden die beiden ihm erzählen – ohne sich etwas dabei zu denken. Diese Situation stellte den Gejagten vor ein neues Problem: Bleibe im alten Gleis und werde erwischt. Springe ab, und du lenkst die Aufmerksamkeit auf dich. Benimm dich absolut normal, und du machst es ihm zu leicht. Ändere deine Gewohnheiten, dann bist zu schwerer zu finden, wirst aber um so gründlicher gesucht… ›Unschuldig wollen Sie sein? Warum sind Sie dann vor uns davongelaufen und haben – wie ein Hase – alle möglichen Haken geschlagen?‹ Oder: ›Wir mußten Sie jagen. Und nur der Schuldige läßt sich jagen. Mächtig gespannt, was Sie für eine Ausrede haben.‹ Und damit saß er dann fest. ›Warum haben Sie Arline umgebracht?‹ ›Los, los, erzählen Sie uns etwas von dieser Arline… Arline –‹ Es traf ihn wie ein Stein. Arline – und weiter? Der Zug rollte in Bransomes Station ein und hielt. Er stieg beinahe automatisch aus, ohne sich dessen richtig bewußt zu werden. Seine Gedanken beschäftigten sich so sehr mit dem Nachnamen 64
seines Opfers, daß er völlig vergessen hatte, auf den Mann zu achten. Ich müßte doch beide Namen der Frau kennen, die ich begraben habe, dachte er. Mein Gedächtnis kann gelitten haben, aber nicht in diesem Maße. Ich kenne den Namen, er fällt mir nicht ein. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Gewiß, ich habe versucht, diese Episode aus meinem Gedächtnis zu verdrängen, etwas darin zu sehen, was niemals wirklich geschehen ist, einen schlechten, doch bedeutungslosen Traum. Aber es ist merkwürdig, daß ich nicht einmal mehr ihren Familiennamen weiß… Arline –? Der große Mann kam wieder in Sicht, als die Lokomotive pfiff und der Zug sich in Bewegung setzte. Das Namensproblem entfloh aus Bransomes Gedächtnis; er ging durch die Sperre und wenig später die Straße entlang. In seinen Haarwurzeln war ein merkwürdiges Kribbeln, als er ein Stück hinter sich die Schritte des ihn verfolgenden Mannes hörte. Er bog um eine Ecke. Der Mann folgte seinem Beispiel. Er überquerte die Straße. Der Mann tat dasselbe. Er bog in die Allee ein, in der er wohnte, und der Mann kam hinter ihm her. Probleme, die immer neue Probleme aufwarfen. Jetzt hatte er wieder eins. Frage: Kannte der große Mann seine Adresse oder folgte er ihm, um sie herauszufinden? Sollte Bransome kühn und 65
verwegen in seine Wohnung spazieren? Nein, damit würde er dem Mann nur einen Dienst erweisen. Er faßte den Entschluß, an seinem Haus vorbeizugehen in der Hoffnung, daß die beiden Kinder nicht zufällig hinausgelaufen kamen und ihn erkannten. Keinen Augenblick dachte er über die Frage nach, weshalb ein Überwacher sich derart auffällig benehmen konnte. Hätte er darüber nachgedacht, wäre er sicher zu der Erkenntnis gekommen, daß der Mann ihm bewußt Angst einjagen wollte, um ihn zu irgendeiner Kurzschlußhandlung zu bewegen. Glücklicherweise lief ihm kein Bekannter über den Weg, und als der kleine Jimmy Lindstrom um eine Ecke kam, bog Bransome rechtzeitig in eine Seitenstraße ein. Die schweren Schritte folgten ihm vertrauensvoll. Am anderen Ende dieser kurzen Seitenstraße sah er einen Polizisten neben einem Lampenpfosten stehen. Sein Anblick ließ ihn einen Moment zögern. Dann fiel ihm ein, daß sich Kühnheit in dieser Situation möglicherweise bezahlt machte. Er beschleunigte seine Schritte, erreichte den Polizisten und sagte: »Seit einer halben Stunde verfolgt mich ein großer Bursche. Das gefällt mir nicht. Vielleicht hat er es auf meine Brieftasche abgesehen.« »Was für ein Bursche?« fragte der Polizist, die Straße entlangblickend. 66
Bransome folgte seinem Blick, aber der Mann, über den er sich beschwert hatte, war nirgendwo zu sehen. »Vor der letzten Ecke war er noch hinter mir. Und ich hörte ihn auch um die Ecke kommen.« Der Polizist sog an seinen Zähnen und schlug vor: »Dann wollen wir mal zurückgehen.« Er begleitete Bransome bis zur Ecke, aber von dem Mann war immer noch nichts zu sehen. »Sie werden sich das doch nicht nur eingebildet haben?« »Durchaus nicht«, sagte Bransome. »Dann muß er weiter die Allee entlanggegangen und in einem Haus verschwunden sein«, meinte der Polizist. »Und wenn er in einem Haus verschwunden ist, dann ist er Ihnen nur gefolgt, weil er immer auf diesem Weg nach Hause geht.« »Das kann schon sein. Aber ich kenne die meisten Leute in dieser Gegend. Er war hier völlig fremd.« »Das heißt doch nichts«, entgegnete der Polizist. »Leute kommen und gehen. Würde ich bei jedem neuen Gesicht nervös werden, hätte ich schon seit zehn Jahren weiße Haare.« Er sah Bransome neugierig an. »Haben Sie besonders viel Geld oder was ähnlich Wertvolles bei sich?« »Nein?« »Wo wohnen Sie?« 67
»Dort drüben«, sagte Bransome und zeigte in die entsprechende Richtung. »In Ordnung, Mister. Gehen Sie nach Hause und zerbrechen sich nicht weiter den Kopf darüber. Ich werde die Augen offenhalten, und ich halte mich im übrigen noch eine Weile in der Nähe auf.« »Danke«, sagte Bransome. »Verzeihen Sie die Störung.« Er ging nach Hause und wunderte sich insgeheim, ob er richtig handelte. Vielleicht hatte der große Mann ihn noch immer im Auge und war – wegen dem Polizisten – nur etwas vorsichtiger geworden. Andererseits war es durchaus möglich, daß es sich in seinem Fall um einen neuen Bewohner des Viertels handelte. Aber wenn das nicht so war… Diese ständige Wachsamkeit konnte man mit der Konzentration vergleichen, die ein überschnelles Schachspiel erforderte, bei dem man sein Leben gewinnen oder verlieren konnte. Ein falscher Zug hier, ein anderer dort, und das Spiel mußte zwangsläufig mit einem Schachmatt enden. Er konnte nicht begreifen, daß es Leute gab, die dieses Spiel um Monate und Jahre verlängern konnten, bis sie dann letzten Endes doch die Nerven verloren und sich von ihrem Gegner schachmatt setzen ließen. Erstmals beschäftigte ihn die Frage, wie lange er es aushalten und wann er immer schneller seinem Ende entgegenrasen würde. 68
Dorothy sagte mit echt weiblicher Besorgnis: »Mein Gott, Rich, dein Gesicht ist ja glühend heiß und ganz rot. Und das an einem so kühlen Abend?« »Ich habe mich etwas beeilt.« Er küßte sie noch einmal. »Ich weiß nicht, warum. Mir war eben so nach einem raschen Schritt zumute.« »Beeilt?« Sie wölbte fragend die Augenbrauen und blickte nach der Uhr. »Aber du bist doch sechs, sieben Minuten später als sonst gekommen. Hatte der Zug Verspätung?« Es wäre leicht gewesen, einfach mit dem Kopf zu nicken. So leicht, eine Lüge zu erzählen – so leicht, die Wahrheit herauszufinden. Er kämpfte gegen den Gedanken an, seine eigene Frau zu belügen; selbst wenn es nur eine kleine Lüge war, er konnte sie nicht aussprechen und würde es auch nicht tun – noch nicht. »Nein, mein Schatz, ich habe mich nur mit einem Polizisten unterhalten.« »Aber anschließend hättest du doch nicht wie verrückt nach Hause zu laufen brauchen? Du weißt, daß das Abendessen immer noch ein paar Minuten warten kann.« Sie strich langsam mit ihrer schmalen Hand über seine Wange. »Sagst du mir auch die Wahrheit, Rich?« »Worüber?«
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»Über dich selbst, Rich. Fühlst du dich wirklich nicht krank?« »Natürlich nicht. Ich fühle mich erstklassig.« »Kein bißchen Kopfweh oder Fieber?« »Wie kommst du darauf, um Himmels willen?« fragte er. »Du hast ein erhitztes Gesicht, das sagte ich schon. Und du bist nicht so wie sonst. So etwas weiß ich immer. Ich kenne dich ja schließlich lange genug und spüre deutlich, wenn du in düsterer Stimmung bist.« »Warum hackst du denn dauernd auf mir herum?« fauchte er, bereute es aber sofort und fügte zerknirscht hinzu: »Tut mir leid, mein Schatz. Heute war ein harter Tag für mich. Ich werde mich jetzt waschen und ein bißchen erfrischen.« Er ging ins Badezimmer und dachte, daß es zwangsläufig so hatte kommen müssen. Seine nervöse Art, die peinlichen Fragen seitens Dorothy, seine Ausweichmanöver, die Flucht ins Badezimmer. So konnte das nicht Abend für Abend und Woche für Woche bleiben – vorausgesetzt, daß er sich noch längere Zeit seiner Freiheit erfreute. Und in dieser Hinsicht war er nicht sehr optimistisch. Er zog Jacke und Hemd aus und betrachtete seinen Ellenbogen. Er sah noch immer dunkelblau
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aus, war ein wenig steif, tat aber kaum noch weh. Es hätte wesentlich schlimmer ausgehen können. Wenig später nahm er im Kreis seiner Familie zum Abendessen Platz. Sie saßen um den Tisch herum und aßen mit ungewohntem Schweigen. Sogar der Hund gab keinen Laut von sich. Ein dunkler Schatten schwebte über dem Haus, den jeder spüren, aber keiner sehen konnte. Nach einer Weile wurde die Spannung unerträglich; sie brachen das Schweigen mit kurzen Bemerkungen und gleichsam kurzen Erwiderungen. Aber die Unterhaltung war gezwungen, künstlich in Gang gehalten, und sie wußten es. Dorothy wälzte sich in jener Nacht fast eine Stunde lang von der einen auf die andere Seite, ehe sie flüsterte: »Bist du noch wach, Rich?« »Ja«, gab er zu und wußte, daß er sie nicht zum Narren halten konnte, indem er sich schlafend stellte. »Wie wäre es, wenn du dir eine Woche Urlaub nehmen würdest?« »Mein Urlaub ist noch nicht fällig.« »Kannst du ihn nicht schon früher nehmen?« »Warum?« »Du hast Erholung nötig. Das tut dir bestimmt gut.«
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»Mein Gott, ich bin doch vollkommen –« Er sprach den Satz nicht zu Ende und murmelte: »Mal sehen, wie ich mich morgen fühle. Jetzt wollen wir endlich schlafen. Es ist schon spät genug.« Sie streckte ihre Hand aus und tätschelte die seine. Während des Frühstücks am nächsten Morgen schnitt sie das Thema noch einmal an. »Du hast Erholung nötig, Rich. Andere nehmen doch auch Urlaub, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Warum kannst du das nicht? Du bist doch nicht aus Stahl.« »Aber ich bin auch nicht krank.« »Das will ich dir auch nicht einreden. Doch ein paar Tage Ruhe können den ganzen Unterschied ausmachen.« »Was für einen Unterschied?« fragte er. »Ob du dir weiter über etwas Bestimmtes Sorgen machst oder nicht«, erwiderte sie. »Ich weiß, daß deine Arbeit dir viel bedeutet – aber sie ist nicht alles. Deine Gesundheit geht schließlich vor.« »Es hat sich noch keiner zu Tode gearbeitet.« »Genau das hat Jeff Anderson zu seiner Frau gesagt – erinnerst du dich?« Er krauste die Stirn und sagte: »Jeffs Schlaganfall muß nicht unbedingt etwas mit seiner Arbeit zu tun haben. Das war eben eines von den Dingen, die schon mal passieren.« 72
»Vielleicht war es das«, meinte sie, »und vielleicht auch nicht.« »Hört, hört«, sagte er scherzend. »Du behauptest, ich mache mir Sorgen, und dabei machst du dir selber mehr als genug.« »Rich, wir sind verheiratet. Da muß sich doch einer um den anderen kümmern. Wenn wir das nicht tun, wer tut es dann?« »Schon gut.« Er stand auf, griff nach dem Hut und der Aktentasche und drückte Dorothy an der Vordertür einen Kuß auf die Wange. »Ich will es mir im Zug überlegen.« Damit verabschiedete er sich. Er hielt es noch weitere vier Tage durch, wich auf dem Arbeitsplatz den Fragen seiner Kollegen aus und zu Hause den Fragen und Vorhaltungen seiner Frau. Am ersten Abend folgte ihm der große, bullige Mann wieder; an den anderen drei Abenden benutzte er Seitenstraßen und konnte den unangenehmen Verfolger abschütteln. Und weil seine Umwege immer länger wurden, immer mehr Zeit beanspruchten, kam er später nach Hause. Das bedeutete noch mehr ahnungslose Fragen seitens Dorothy und noch mehr Ausflüchte, die ihre Besorgnis nur verstärkten. Er konnte beobachten, wie Dorothys Besorgnis in stumme Verzweiflung ausartete, obwohl sie ihr möglichstes tat, es zu verbergen. Wirklich schwierig war es auf der Arbeitsstelle. Trotz aller Bemühungen, sich so zu geben wie 73
immer, fiel die Veränderung seines Charakters den Kollegen auf. Er machte Fehler, lächerliche Fehler, reagierte auch langsamer, wenn man ihm eine unerwartete Frage stellte, was seine Kollegen veranlaßte, ihn von der Seite anzusehen. Einige unterhielten sich mit ihm wie mit einem Kranken oder Begriffsstutzigen, der nichts dafür konnte. Der vierte Tag war mit Abstand am schlimmsten. Ein großer, scharfblickender, schlaksiger Mann namens Reardon tauchte im Forschungszentrum auf und verbrachte die meiste Zeit in der grünen Sektion, besonders in der Nähe von Bransome. Seine abnorme Empfindungsfähigkeit verriet ihm, daß der Neue ihn beobachtete, obwohl er ihn nie dabei ertappte. Aber niemand konnte das Forschungszentrum betreten, ohne eine Genehmigung von höchster Stelle zu haben, was soviel bedeutete, daß der Mann offiziell herumschnüffelte, mit Billigung des Direktors. Wie konnte ein Verfolger nach zwanzig langen, langen Jahren so rasch eine Spur finden? Konnte es überhaupt möglich sein, daß die Polizei den Täter schon kannte und ihn nun unter ständiger Beobachtung hielt, bis sie genügend Beweise gesammelt hatte? Diese Fragen lasteten so sehr auf seinem Gemüt, daß er in der Mittagspause nicht der Versuchung widerstehen konnte, sich bei Potter zu erkundigen.
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»Wer ist eigentlich dieser Reardon, der anscheinend ohne Arbeit leben kann? Ziemlich undurchsichtige Existenz, wie? Man sollte ihn direkt mal fragen, was er hier will.« »Irgend so ein Ermittler, denke ich.« »Wirklich? Was soll er denn ermitteln?« »Ich will verdammt sein, wenn ich das weiß«, antwortete Potter leichthin. »Ich habe ihn schon einmal herumlaufen sehen. Vor ungefähr anderthalb Jahren.« »Damals hielt er sich aber nicht in unserer Sektion auf. Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen.« »Ja, er war damals in der roten Sektion«, sagte Potter. »Darum werden Sie ihn auch nicht bemerkt haben. Er kam kurz nach Hendersons Abschied. Jeder hielt ihn für Hendersons Nachfolger; das war er aber nicht. Er latschte ein paar Wochen durch die Gegend, tat nichts und sagte nichts, und dann verschwand er wieder. Wahrscheinlich in die Richtung, aus der er gekommen war. Vielleicht ist es sein Beruf, im ganzen Forschungszentrum herumzuschnüffeln und aufzupassen, ob niemand die kostbare Zeit beim Würfelspiel verschwendet. Vielleicht hält uns irgend jemand in Washington für eine faule Bande, die dann und wann mal unter die Lupe genommen werden muß.« »Irgendein Ermittler«, sagte Bransome skeptisch. »Wandert überall herum, steckt sich eine Zigarette 75
an der anderen an, sagt nichts und stellt nicht einmal Fragen…« »Möchten Sie denn gern Fragen hören?« »Nein.« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Es macht mich jedenfalls nervös, wenn mir so ein Schnüffler dauernd über die Schulter blickt.« »Mir ist das egal«, sagte Potter. »Ich habe ein reines Gewissen.« Bransome starrte ihn an, preßte die Lippen zusammen, und das war das Ende der Unterhaltung. Er wußte, daß er es nicht noch einen Tag aushalten konnte. Bemerkungen wie die von Potter, Reardons unmittelbare Nähe und der große Mann, dem er allabendlich ausweichen mußte, zermürbten seine Widerstandskraft. So blieb nur noch die letzte verzweifelte Lösung: Zeit, daß er Urlaub machte. Kurz vor Dienstschluß ging er stracks zum Personalbüro, sah sich dort Markham gegenüber und sagte: »Ich komme nicht gern ohne Anmeldung, aber ich möchte gern eine Woche frei haben. Ohne Bezahlung. Ab morgen.« »Warum ohne Bezahlung?« »Ich will noch nicht meinen Tarifurlaub anschneiden.« Markham gab sich verständnisvoll und fragte: »Haben Sie zu Hause Ärger? Sind die Kinder krank oder so was Ähnliches?« 76
»Nein, nichts dergleichen.« Er suchte nach einem glaubwürdigen Vorwand. Es schien, als sei er für den Rest seines Lebens dazu verdammt, immer neue Lügen, Entschuldigungen und Ausreden zu erfinden. »Schwierigkeiten im Verwandtenkreis. Ich muß eine längere Reise machen und versuchen, die Dinge zu klären.« »Das kommt wirklich sehr plötzlich«, sagte Markham und machte ein mißtrauisches Gesicht. »Ich weiß. Ich würde auch nicht um unbezahlten Urlaub bitten, wenn es nicht so wichtig wäre.« »Davon bin ich überzeugt.« Er dachte einen Augenblick nach, griff nach dem Telefonhörer, rief Cain an und sprach kurz mit ihm. Dann sagte er zu Bransome: »Cain hat nichts dagegen, was soviel bedeutet, daß Laidler auch nichts dagegen hat. Und ich habe nichts einzuwenden… Morgen in einer Woche sind Sie wieder da?« »Ja.« »Okay, ich werde es auf Ihrer Karte vermerken.« »Vielen Dank. Ich weiß Ihr freundliches Entgegenkommen zu schätzen.« Er ging hinaus und Reardon trat ein. Ein rascher Seitenblick durch das Bürofenster sagte ihm, daß Reardon sich mit Markham unterhielt. Aus irgendeinem Grund beschleunigte er seine Schritte. Ein flüchtiger Bekannter, der ungefähr den gleichen Weg hatte, nahm Bransome den größten 77
Teil der Strecke in seinem alten asthmatischen Wagen mit. Dadurch vermied er erstens eine Begegnung mit dem großen Mann und traf, zweitens, früher zu Hause ein. Er hatte das Stadium erreicht, in dem er sich sagte: ›Wenn es nicht mehr schlimmer wird, sieht gleich alles viel heller aus.‹ Die Familie nahm seine leichte Gemütsverbesserung mit lebhafter Freude zur Kenntnis. Das zeigte ihm, wie groß ihre Anteilnahme an seiner düsteren Stimmung gewesen war. Die Kinder lachten wieder, der Hund drehte sich ausgelassen im Kreis herum, Dorothy lächelte glücklich, blickte auf die Uhr und machte sich in der Küche zu schaffen. »Ich werde verreisen, mein Schatz«, sagte er. Sie blieb stehen, die Pfanne in der Hand. »Du willst den Urlaub nehmen, um den ich dich immer gebeten habe?« »Natürlich nicht. Ich kann doch meinen Urlaub nicht allein nehmen – ohne dich und die Kinder. Das wäre ja überhaupt kein richtiger Urlaub. Dies ist die nächstbeste Lösung.« »Wie sieht sie denn aus?« »Ich werde eine Woche lang dienstlich unterwegs sein. Das ist mal eine Abwechslung, und ich werde mich gleichzeitig erholen können.« »Das hast du auch nötig. Ich freue mich, Rich.« Sie stellte die Pfanne auf die Kochplatte und legte einen Deckel drauf. »Wo fährst du denn hin?« 78
Wohin? Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht darüber nachgedacht; es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, daß Dorothy ihm diese Frage stellen könne. Was ihn einzig und allein beschäftigt hatte, war der Gedanke, allen Problemen des Forschungszentrums – den Verfolgern, Beobachtern und Fragestellern – zu entgehen und ein Versteck zu finden, in dem er ruhig über seine Lage nachdenken konnte, um möglicherweise eine Lösung zu finden. Wohin? Sie wartete auf seine Antwort und zählte die Sekunden der immer länger werdenden Pause. »Burleston«, antwortete er gepreßt und wußte nicht, weshalb er das sagte. Der verhaßte Name schlüpfte ihm einfach über die Lippen. »Wo liegt das?« »Burleston? Ein kleiner Ort im Mittelwesten.« »Den Namen habe ich noch nie gehört. Warum – ?« Er sprach rasch weiter, um ihren Fragen zu entgehen. »Ich werde mich dort nur drei, vier Tage aufhalten und habe im übrigen nicht die Absicht, ein Flugzeug zu benutzen. Ich fahre mit der Bahn, werde es mir gemütlich machen und die Landschaft genießen. Wie jemand, der viel Zeit hat.« Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und hoffte, daß es überzeugend aussah. »Natürlich wird mir die Fahrt 79
auf die Dauer langweilig werden. Ich wollte, du würdest mitkommen…« »Aber ich kann doch die Kinder unmöglich allein lassen! Außerdem müssen sie zur Schule, so daß wir sie auch nicht mitnehmen können.« Sie nahm wieder die Küchenarbeit auf, und ihre Stimmung hatte sich wesentlich gebessert. »Hole das Beste aus deiner Reise nach Burleston heraus, Rich. Schlaf gut, iß gut und mache dir über nichts Sorgen. Dann kommst du wie aus einem richtigen Urlaub wieder zurück.« »Jawohl, Doktor«, sagte er mit geheuchelter Demut. Zurück? Es gab nur ein gefährliches Gleis, in das er zurückkehren konnte. Doch nun hatte er die Wahl zwischen zahlreichen anderen Gleisen – warum sollte er sich da für das gefährlichste entscheiden? Innerhalb einer Woche mußte er, wenn möglich, das Fundament zu einem neuen, anonymen Leben gelegt haben, in dem ihn niemand mehr beobachten und jeden seiner Schritte überwachen konnte. Aber das allein genügte nicht; er mußte auch einen Modus finden, Dorothy begreiflich zu machen, daß er von Zeit zu Zeit seine Wohnung wechseln müsse – plötzlich und ohne eine Spur zu hinterlassen. Das würde alles andere als einfach sein. Eine andere Möglichkeit war, seine Familie zu verlassen und sich jeglichen Nachforschungen zu entziehen. 80
Aber das brachte er nicht fertig, so gefährlich es auch war, die Verbindung mit seiner Familie aufrechtzuerhalten. Er würde seine Familie nicht im Stich lassen; es sei denn, er wurde von anderer Seite gewaltsam dazu gezwungen. Gewaltsam – beispielsweise durch das Todesurteil.
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4 Am nächsten Morgen ließ er sich von einem Taxi abholen. Er hatte nur einen leichten Koffer bei sich. Dorothy winkte ihm zum Abschied lächelnd zu. Sie stand neben dem Wagen der Familie und wollte mit den Kindern zur Schule fahren, die auf dem Rasen herumsprangen und ihm ebenfalls noch einmal zuwinkten. Bransome mußte daran denken, daß er alle, wenn man ihn in den nächsten Tagen verhaftete, zum letztenmal gesehen hatte. Er blickte durch das Rückfenster des Taxis und trank den Anblick seiner Familie in sich hinein, bis der Wagen um die nächste Ecke gebogen war. Das Taxi hielt vor der Bank, wo Bransome eine bescheidene Summe von seinem Konto abhob. Eine größere Summe wäre besser für ihn, aber schlechter für Dorothy gewesen, wenn das Schicksal gegen ein baldiges Wiedersehen war. Er mußte einen Kompromiß zwischen seinen augenblicklichen Bedürfnissen und der Zukunft seiner Familie schließen. Sie hatten zwar fleißig gespart, aber keine Reichtümer angehäuft, die ohne weiteres eine große Sonderausgabe gestatteten. Von der Bank aus ließ er sich zur Bahnstation bringen. Das Taxi fuhr davon. Er blickte herum und stellte zutiefst erleichtert fest, daß kein bekanntes Gesicht zu sehen war. Er würde eine Stunde später als üblich in der Stadt eintreffen; dadurch entging er 82
der Neugier seiner Mitpendler, die ihm sonst im Zug begegnet wären. Er kam ohne Zwischenfälle in der Stadt an, mischte sich unter die Leute und war nicht mehr als eines von Millionen Sandkörnern auf der Ladefläche eines Lastwagens. Er hatte keinen anderen Plan als den, seine Verfolger abzuschütteln und indessen über die Lösung seines Problems nachzudenken. Er nahm an, daß die Vergangenheit einen Menschen, der ständig unterwegs war, nicht so leicht einholen könne; darum war es wichtig, immer in Bewegung zu bleiben und die Richtung zu wechseln. Mehr oder weniger ziellos schlenderte er die belebten Bürgersteige entlang. Den leichten Koffer hatte er in der Hand. Plötzlich fand er sich in der Halle des Hauptbahnhofs wieder. Erst dann und nur dann begriff er, daß ein noch normal und unbeeinflußt funktionierender Teil seines Gehirns ihn in diese Richtung gesteuert haben mußte, und insofern war die Richtung von Anfang an bekannt gewesen. Merkwürdig, dachte er, daß es in einem derart verwirrten Gehirn noch immer eine kleine Zelle gab, die ruhig überlegen und kommandieren konnte. Es kam ihm nicht in den Sinn – und er hatte auch noch nicht die Ruhe gehabt, darüber nachzudenken –, daß ein schwieriges Problem wohl ein Chaos auslösen, aber nicht restlos den Verstand benebeln kann.
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Wie dem auch sei, er gehorchte diesem inneren Befehl, dem Instinkt oder was es auch sein mochte, trat an den Fahrkartenschalter und starrte den Mann hinter dem Guckfenster an, als ihm einfiel, daß er nun den Bestimmungsort nennen mußte. Er konnte ja nicht einfach sagen: ›Wohin der nächste Zug fährt.‹ Da mußte man schon den Namen einer Station nennen, die erste, die einem in den Sinn kam. Tatsächlich hatte er schon den Mund geöffnet, um wiederum unwillkürlich den Namen auszusprechen, den er Dorothy bereits genannt hatte. Doch die Gehirnzelle, die noch störungsfrei arbeitete, hielt das Wort zurück. Wenn sie dich suchen, signalisierte die innere Stimme, werden sie in allen Bus- und Bahnstationen herumhören, werden sich auch bei diesem Mann am Fahrkartenschalter erkundigen, der möglicherweise eine Beschreibung von dir abgeben kann. Selbst wenn er an einem Tag Hunderte von Leuten abfertigt, wird er vielleicht über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügen und sich – ausgerechnet – besonders gut an dein Gesicht erinnern können. Nein, dieses Risiko darfst du nicht in Kauf nehmen. Du darfst dich auf überhaupt kein Risiko einlassen. Die Leute, die im Gefängnis oder im Zuchthaus sitzen, sind nur deshalb drin, weil sie überflüssige Risiken in Kauf genommen haben. Bransome löste eine Fahrkarte nach einer größeren Stadt, war aber entschlossen, schon einige 84
Stationen früher auszusteigen. Er steckte die Fahrkarte ein, nahm seinen Koffer auf, drehte sich um und wäre beinahe gegen den großen, hageren Mann mit dem Bürstenhaarschnitt und den scharfen Luchsaugen geprallt. »Hallo, Mr. Bransome«, sagte Reardon, und seine Stimme verriet keine große Überraschung. »Fahren Sie in Erholung?« »Mit offizieller Genehmigung«, antwortete Bransome. Er gab sich eine wahrhaft gigantische Mühe, seiner Stimme einen gelassenen Klang zu verleihen. »Von Zeit zu Zeit muß man mal ausspannen.« »Sicher, sicher«, sprach Reardon. Er betrachtete interessiert Bransomes Koffer und erweckte dabei den Anschein, als sei er in der Lage, durch feste Gegenstände zu blicken. »Erholen Sie sich gut.« »Das habe ich auch vor«, entgegnete Bransome. Dann mit gereizter Stimme: »Was tun Sie hier, wenn ich fragen darf?« »Dasselbe wie Sie.« Reardon lächelte kaum merklich. »Ich reise irgendwohin. Wir haben nicht zufällig den gleichen Weg – oder?« »Keine Ahnung«, erwiderte Bransome. »Da müßte ich erst Ihren Bestimmungsort wissen.« »Oh, das ist ja auch unwichtig.« Reardon biß nicht an. Er blickte nach der Bahnhofsuhr und trat an
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den Schalter. »Ich muß mich beeilen. Vielleicht sehen wir uns noch – irgendwo.« »Vielleicht«, sagte Bransome, den diese Möglichkeit keineswegs entzückte. Er ging zum Zug, erleichtert und doch nicht erleichtert, Reardon abgeschüttelt zu haben. Er war nervöser als eine Katze bei einem Feuerwerk. Diesem Burschen hier zu begegnen, das war wirklich mehr als ein Zufall, wenn es überhaupt einer war. Hinter der Sperre drehte er sich rasch und doch vorsichtig um. Von Reardon war im Augenblick nichts zu sehen. Zehn Minuten vergingen bis zur Abfahrt des Zuges, und Bransome rechnete in jeder Sekunde mit dem Auftauchen des unerwünschten Gesellschafters. Wenn Reardon ihm auf der Spur blieb und ermächtigt war, ihm Fragen zu stellen, so war es leicht für ihn, die gleiche Fahrkarte zu verlangen, die Bransome gelöst hatte, und dann in den Zug zu steigen. Fehlte nur noch, daß der Schnüffler ihm gegenüber Platz nahm – das war das Letzte! Stundenlang Fragen beantworten, ihnen ausweichen, ständig wachsam sein; schon allein der Gedanke ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Er blickte besorgt durch das Abteilfenster und hielt den Kopf so, daß er den Bahnsteig sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Schließlich setzte sich der Zug in Bewegung, und nichts deutete darauf hin, daß Reardon hinzugestiegen war. 86
Als Bransome nach einer ereignislosen Fahrt sein Ziel erreichte, verließ er den Bahnhof, schlenderte durch die Stadt, sah sich unauffällig um oder blieb gelegentlich vor einem Schaufenster stehen, um in dessen Glas die andere Straßenseite zu beobachten. Dann ging er in eine Gaststätte. Das Essen war mäßig; er hatte auch keinen Appetit. Anschließend schlenderte er noch ein wenig herum und kehrte zum Bahnhof zurück. Soweit er die Lage überblicken konnte, war ihm niemand gefolgt und wartete auch niemand am Bahnhofseingang auf sein Wiedererscheinen. »Nach Burleston«, sagte er zu dem Beamten am Fahrkartenschalter. »Dorthin fährt kein Zug«, war die Antwort. »Die nächste Station ist Hanbury. Vierundzwanzig Meilen. Da können Sie dann einen Bus nehmen.« »Gut, dann geben Sie mir einmal Hanbury. Wann fährt der nächste Zug?« »Sie haben Glück. In zwei Minuten. Gleis neun. Sollten sich beeilen.« Er griff nach der Fahrkarte, rannte durch die Sperre und die Treppe zu Gleis neun hinauf. Er schaffte es rechtzeitig; der Zug fuhr an, ehe er noch richtig Platz genommen hatte. Er war in jeder Hinsicht zufrieden, was die letzten zwei Minuten betraf. Sein Tempo mußte einen Verfolger zurückgelassen haben, falls diese Vermutung zutraf. 87
Es war sein Fluch, daß er seine Vergangenheit wohl oder übel auch in der Gegenwart mitschleppen mußte, was sie gleichermaßen verdüsterte: das ständige, unerschütterliche Gefühl des Beobachtet-, Verdächtigt- und Verfolgtwerdens. Die fixe Idee, von Augen umgeben zu sein, die die Wahrheit sahen und ihn anklagten. Warum habe ich Arline umgebracht? Er hatte bei dieser Frage ein flaues Gefühl im Magen. Jetzt, da seine Gedanken sich weniger intensiv mit seiner Sicherheit beschäftigten, kehrten die näheren Einzelheiten in sein Gedächtnis zurück. Er erinnerte sich jetzt auch an ihren Familiennamen: Lafarge – Arline Lafarge. Ja, das war ihr voller Name. Sie hatte ihm einmal erzählt, daß Arline eine Abwandlung von Eileen und der Familienname französischen Ursprungs sei. Arline hatte eine wundervolle Figur und nahm jede Gelegenheit wahr, sie zur Geltung zu bringen. Das war wohl auch ihre beste Eigenschaft gewesen. Ansonst war sie schwarzhaarig, schwarzäugig, überaus berechnend und überaus starrköpfig. Eine alte Hexe in der Maske der Jugend, wenn es so etwas jemals gegeben hatte. Sie übte damals einen fast hypnotischen Einfluß auf ihn aus. Er war noch nicht ganz zwanzig gewesen, aber ein zehnmal größerer Narr, als er das jemals vor oder nach seiner Bekanntschaft mit Arline gewesen war. Als er bis zum Äußersten ge88
hen wollte, hatte sie ihn wissen lassen, daß sie sich bis zum Äußersten beherrschen würde – bis er das College verlassen, eine Stellung gefunden habe und gutes Geld verdiene. Inzwischen wurde er ihr williger Sklave, wartete und sehnte sich nach der Belohnung in Form ihres Körpers. Von Zeit zu Zeit verlangte sie von ihm, daß er ihr zu Füßen kroch. Sie wollte nur einmal prüfen, ob er ihr noch immer aus der Hand fraß und ihrem Willen gehorchte. Und er hatte all ihre Kommandos gehorsam ausgeführt, sich nach ihrer Gunst gesehnt und sie gleichzeitig verflucht. So war es dann, vor zwei Jahrzehnten, zur Explosion gekommen. Sie hatte ihn an jenem Tag nach Burleston beordert, hatte ihm den Köder ihres Körpers vorgeworfen, ihn gereizt und zur Weißglut gebracht, indem sie den Köder wieder wegzog. Sie wollte sich über ihn lustig machen, ihn mit Füßen treten und zum zwölften oder zwanzigsten Male prüfen, ob er auch mit Leib und Seele ihr gehörte. Das war ihr Fehler. Plötzlich zerbrach etwas in ihm; seine Leber schien die Funktion des Herzens zu übernehmen und bittere Galle in seine Seele zu träufeln. Er konnte sich nicht einfach von ihr zurückziehen; seine Wut war zu groß, als daß er mit einer derart einfachen Lösung zufrieden gewesen wäre. So war er nach Burleston gefahren, hatte sie erschlagen und unter einem Baum begraben. Er mußte verrückt gewesen sein, total verrückt. 89
Die Einzelheiten jener Szene leuchteten so hell in seinem Gedächtnis auf, als hätte sich das alles nicht vor zwanzig Jahren, sondern vor wenigen Tagen abgespielt. Er sah ihr blasses ovales Gesicht, als sie nach dem Hieb niedergestürzt und unbeweglich liegengeblieben war. Ein dünner Blutfaden, rot wie ihr Mund, rieselte unter ihrem schwarzen Haar hervor. Er spürte noch die wahnsinnige Wut, die er in den Hieb hineingelegt hatte. Er erinnerte sich noch an den wilden Eifer, mit dem er das Loch gegraben hatte, um ihre Leiche zu verstecken, sah sich noch ängstlich die einsame Straße entlangspähen, das Grab sorgfältig mit den ausgestochenen Grasplacken bedecken und sie festtrampeln. Dann hatte er sich einer langen Periode geistigen Trainings unterzogen, das den Zweck verfolgte, die Vergangenheit auszulöschen. Er hatte es darin zu einer Meisterschaft gebracht und sich beinahe selbst davon überzeugt, daß die Tat nie geschehen war, Arline Lafarge nie existiert und er weder sie noch Burleston jemals gekannt hatte. Im Laufe der Jahre war diese Erinnerung immer mehr und mehr verblaßt. Wenn er jetzt Rückschau hielt, so konzentrierten sich seine Gedanken nur auf das unmittelbare Geschehen; was nicht direkt etwas damit zu tun hatte, blieb hinter einem Nebelschleier verborgen. Er hatte ja auch einige Zeit gebraucht, um darauf zu kommen, daß Arlines Familienname Lafarge gewesen war. Doch sosehr er sich auch 90
anstrengte, an Burleston erinnerte er sich nicht mehr genau und wußte nicht, ob er die Häuser und Straßen mit denen anderer Städte durcheinanderbrachte. Er wußte nicht einmal, ob Burleston eine Stadt oder ein Dorf war. Und noch etwas war ihm unbekannt: weshalb er Arline damals ausgerechnet in Burleston getroffen hatte. Vor allem wußte er nicht, was ihn derart von Arline abhängig gemacht hatte, Und daran, an das Hauptmotiv seines Verbrechens, hätte er sich doch in jedem Fall erinnern müssen. Aber es gelang ihm nicht. Der Zorn über ihre Boshaftigkeiten und Sticheleien war letzten Endes kein ausreichendes Motiv, selbst wenn er, der an sich immer ruhig gewesen war, die überschwenglichen Gefühle seiner Jugend berücksichtigte. Er mußte einen anderen Grund gehabt haben. Vielleicht hatte er einmal irgend etwas getan, was seine Karriere hätte ruinieren können, wenn es herausgekommen wäre – etwas, worüber Arline Bescheid wußte, und das sie ihm ständig wie ein spitzes Messer auf die Brust setzte. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung. Was war es wohl gewesen? Ein Diebstahl? Ein Überfall? Eine Unterschlagung oder eine Fälschung? Er dachte über alle Ereignisse bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr nach und konnte nichts entdecken. Es waren nur unbedeutende Kleinigkeiten. So hatte er vielleicht einmal einen Nachbarjungen verprügelt oder mit 91
dem Ball eine fremde Fensterscheibe eingeworfen, mehr nicht. Er rieb sich nachdenklich die Stirn und wußte, daß eine starke nervöse Spannung das logische Denkvermögen beeinträchtigte. Er fragte sich, ob die klugen Köpfe, mit denen er zusammenarbeitete, jemals eine ähnliche Lücke aufgewiesen hatten. Er dachte auch ernsthaft darüber nach, ob er noch normal sei oder sich eine Geisteskrankheit, die vor zwanzig Jahren begann, stärker in den Vordergrund geschoben habe. War er damals ein wenig verrückt gewesen, dann war er jetzt vielleicht nicht so normal, wie er immer angenommen hatte… Als er in Hanbury aus dem Zug stieg, war es schon dunkel. Er nahm ein Zimmer in einem kleinen Hotel, wälzte sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere, frühstückte mit schweren Augenlidern und ohne Appetit. Der erste Bus nach Burleston fuhr um 9.30 Uhr. Seinen Koffer ließ er im Hotel zurück. Um 10.15 Uhr traf der Bus in Burleston ein. Er stieg aus, blickte die Hauptstraße entlang und konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Das wunderte ihn nicht einmal, denn innerhalb von zwanzig Jahren konnte sich viel verändern. Straßen konnten verlegt, Häuser abgerissen und gebaut werden. In zwanzig Jahren konnte sich ein Dörfchen in ein Dorf, ein Dorf in eine Stadt verwandeln. 92
Soviel er erkennen konnte, war Burleston jetzt eine kleine Stadt mit schätzungsweise viertausend Einwohnern und größer, als er erwartet hatte. Er wußte nicht, weshalb er sich Burleston kleiner vorgestellt hatte; vielleicht war noch irgendwo in seinem Gehirn ein Stückchen Erinnerung an seinen letzten Besuch zurückgeblieben. Er blieb einige Zeit unschlüssig auf der Straße stehen und fragte sich, was er als nächstes unternehmen könne. Er wußte nicht, was ihn hierher geführt hatte; nur daß er einem scheinbar unnützen Instinkt gefolgt war. Oder war es der Instinkt, der, wie es hieß, den Mörder zum Schauplatz des Verbrechens zurücktrieb? Das konnte möglich sein, denn tatsächlich hatte er den Wunsch, die betreffende Stelle zu besichtigen, ohne zu wissen, ob sie sich in nördlicher, südlicher, östlicher oder westlicher Richtung befand. Er erinnerte sich nur an eine Strecke Landstraße, die sich nicht von tausend anderen Landstraßen unterschied. Sein geistiges Auge sah diese Strecke deutlich genug: eine gerade Straße aus Steinschotter mit jungen Bäumen rechts und links. Zu beiden Seiten Felder mit kniehohem Korn. Ein größerer Baum stand etwas abseits, der Baum, unter dessen Wurzeln er ein Loch gegraben hatte, um Arline – mit dem Kopf voran – hineinzuschieben. Zuletzt hatten noch die Schuhe herausgeguckt, ehe er sie mit
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der letzten Erde bedeckte und die Grasplacken feststampfte. Das muß irgendwo außerhalb von Burleston gewesen sein. Eine Meile von der Stadtgrenze entfernt – oder fünf Meilen? Er wußte es nicht. Und in welcher Richtung? Auch davon hatte er keine Ahnung. In dieser Straße gab es keinen Anhaltspunkt, keinen Hinweis. Schließlich fiel ihm eine Lösung ein, die keinerlei Verdacht erregen konnte und ihn vor neugierigen Fragen schützte. Er mietete ein Taxi und sagte zu dem Fahrer, daß er Geschäftsmann sei und außerhalb der Stadt ein günstig gelegenes Grundstück für eine kleine Fabrik suche. Der Fahrer, mehr an dem Geld als am Motiv interessiert, fuhr mit ihm alle Straßen im Umkreis von zehn Meilen entlang. Aber ohne Erfolg. Nirgendwo sah Bransome ein Stück Landstraße, das ihm bekannt vorkam. Als sie zum Ausgangspunkt zurückkehrten, sagte Bransome zu dem Fahrer: »Man erzählte mir, daß da irgendwo ein Kornfeld sein soll. Eine Straße aus Steinschotter führt mittendurch. Rechts und links stehen in regelmäßigen Abständen Bäume. Wissen Sie, wo das sein könnte?« »Nein, Chef. Ich habe Ihnen alle Straßen gezeigt. Gibt keine mehr, die Sie nicht schon entlanggefahren sind. Da müßten wir schon weiter als zehn Meilen –« 94
»Nein, danke«, sagte Bransome überstürzt. »Die Straße, von der die Rede war, soll gar nicht so weit von Burleston entfernt sein.« »Dann muß der Mann sich geirrt haben«, meinte der Taxifahrer. »Und gerade die klügsten Menschen sollen sich am häufigsten irren.« Nachdem er diese philosophische Weisheit von sich gegeben hatte, fuhr er davon. Nun, möglicherweise hatten die Bäume der Axt weichen müssen, weil die Straße verbreitert worden war; vielleicht war er genau an der Stelle vorbeigefahren und hatte sie nur nicht wiedererkannt. Doch nein, das war so gut wie ausgeschlossen. Der Fernfahrer, dessen Bericht ihn derart in Aufruhr versetzte, hatte einen umgestürzten Baum erwähnt, der die Straße zu blockieren drohte. Zumindest dieser Baum war nicht gefällt worden, und man konnte annehmen, daß auch die anderen Bäume noch vorhanden waren, zumal er während der ganzen Kreuzfahrt weder Baumstümpfe noch Spuren von Ausrodungen gesehen hatte. Rastlos schlenderte er einige Male die Hauptstraße auf und ab, betrachtete die Läden, Gaststätten und Tankstellen in der Hoffnung, seine Erinnerung auffrischen zu können und irgendeinen konkreten Anhaltspunkt zu finden. Es war vergeblich. Alles kam ihm so fremd vor wie eine völlig unbekannte Stadt. Wenn es sich um eine unbekannte Stadt handelte, wenn er tatsächlich noch nie hier gewesen 95
war, dann hatte er den Namen nicht richtig verstanden. Es konnte nicht Burleston sein, sondern ein ähnlicher Name – beispielsweise Boyleston oder Burlesford oder sogar Bakerstown. ›Es ist Burleston‹, sagte die Stimme in ihm. Verwirrung. Sein Gedächtnis sagte dies, seine Augen sagten das. Sein Gedächtnis erklärte: ›Hier in Burleston hast du Arline umgebrachte.‹ Seine Augen sagten: ›Der Name sagt dir nicht mehr und nicht weniger als Singapur oder Seringapatam.‹ Um alles noch schlimmer zu machen, schien sich sein Verstand in zwei widerspruchsvolle Hälften zu spalten. Eine Hälfte kicherte: ›Paß auf! Die Polizei sammelt Beweise. Paß auf!‹ Die andere Hälfte entgegnete: ›Zum Teufel mit der Polizei! Du mußt es selbst beweisen, weiter nichts.‹ Schizophrenie, lautete seine Selbstdiagnose. Diese Bewußtseinsspaltung erklärte alles. Er lebte in zwei verschiedenen Welten, hatte seit Jahren darin gelebt. Die linke Hand hatte nicht gewußt, was die rechte tat. Bransome, der Wissenschaftler, hatte etwas von Bransome, dem Mörder, erfahren. In letzter Instanz konnte das möglicherweise seine Rettung sein. Für geisteskrank erklärte Verbrecher wurden nicht hingerichtet; sie kamen in Verwahrung, in die Irrenanstalt. Rettung? 96
Dann schon lieber tot sein! Ein dickbäuchiger Mann im Türrahmen eines billigen Bekleidungsgeschäfts sprach ihn an, als er zum sechsten oder siebenten Male daran vorbeimarschierte. »Suchen Sie jemanden, Fremder?« Bransome zögerte diesmal nicht. Er hatte schon eine gewisse Übung, was das Erfinden von Ausreden betraf. Abgesehen davon, hatte er bereits eine Ausrede; er erzählte dem Dicken dieselbe Geschichte, die er dem Taxifahrer aufgetischt hatte. In einer Kleinstadt sprach sich alles rasch herum; deshalb war es besser, bei einer Geschichte zu bleiben, sonst begannen die Leute unnötig nachzudenken. »Ich suche ein Grundstück für den Bau einer kleinen Fabrik, kann aber nichts finden. Mein Gewährsmann muß die Sache irgendwie verpfuscht haben.« »In Burleston?« fragte der Dicke und krauste nachdenklich die Stirn. »Nicht direkt in Burleston – weiter außerhalb.« »Wie soll denn das Grundstück ungefähr aussehen? Wenn Sie die Lage beschreiben können, kann ich Ihnen vielleicht helfen.« Bransome gab so viele Einzelheiten an wie möglich und fügte hinzu: »Ich hörte, daß das Hochwasser an jener Stelle einen Baum entwurzelt 97
haben soll.« Ein riskanter Hinweis. Er wartete gespannt und hätte wetten können, daß der Dicke ausrufen würde: ›Aha, da wurden ja auch die Knochen des Mädchens gefunden!‹ Aber der Mann grinste nur und sprach: »Sie schildern die Gegend, wie sie vor einem halben Jahrhundert ausgesehen hat.« »Ich begreife nicht ganz.« »Seit fünfzig Jahren wohne ich hier, aber während dieser Zeit haben wir in dieser Gegend noch nie Hochwasser gehabt.« »Wissen Sie das mit Sicherheit?« »Sicherer geht's überhaupt nicht.« »Vielleicht bin ich im falschen Burleston gelandet.« »Das glaube ich nicht. Ich habe noch nie etwas von einem zweiten Burleston gehört; jedenfalls nicht in diesem Teil der Welt.« Bransome zuckte die Achseln. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren, um mich noch einmal zu erkundigen.« Er bemühte sich, ein verwundertes Gesicht zu machen. »Diese Reise ist Zeit- und Geldverschwendung.« »Pech«, sagte mitfühlend der Dicke. »Warum versuchen Sie's nicht mal bei Kaster? Das ist nämlich der Grundstücksmakler hier in Hanbury. Der Bursche kennt sämtliche Grundstücke im Umkreis von hundert Meilen.« 98
»Keine schlechte Idee. Vielen Dank!« Er kehrte kopfschüttelnd zur Bushaltestelle zurück. In einer Stadt, die so klein war wie diese, mußte ein Ereignis, so groß wie ein Mord, das Tagesgespräch sein, selbst wenn er zwei Jahrzehnte zurücklag. Außerdem hätte der Taxifahrer automatisch die Rede darauf gelenkt, wenn er an dem umgestürzten Baum vorbeigefahren wäre. Das galt auch für den Dicken, mit dem er sich jetzt unterhielt. Doch keiner von beiden ließ eine diesbezügliche Bemerkung fallen. Dann kam ihm die Lokalzeitung in den Sinn. Vielleicht hatte sie nur eine kurze Notiz über den Knochenfund veröffentlicht, um ihre Leser nicht mit einer knalligen Schlagzeile zu erschrecken. Er hätte sich selbst ohrfeigen können, daß ihm dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war. In jedem Fall mußte die Lokalzeitung darüber berichtet haben. Möglicherweise gab die Notiz auch darüber Auskunft, was die Polizei zu unternehmen gedachte und sonstige Anhaltspunkte mehr. Er sprach mit einem schnauzbärtigen Alten, der einsam auf einer Bank in der Nähe saß. »Können Sie mir sagen, wie ich zur Geschäftsstelle der Lokalzeitung komme?« »Wir haben keine, Mister. Wir lesen die ›Hanbury Gazette‹. Sie kommt Freitag heraus.« Der Bus kam. Er stieg ein und blickte durchs Fenster. Auf der anderen Straßenseite stand der 99
Dicke noch immer im Türrahmen des Geschäfts und blickte gelangweilt zum Bus herüber. Es steht fest, dachte Bransome, daß er eine genaue Beschreibung meiner Person abgeben kann, wenn ihn jemand danach fragt; er kann sogar die Uhrzeit meines Eintreffens und meiner Abreise angeben. Er betrachtete den Dicken, der sein Schicksal maßgeblich bestimmen konnte. Großer Gott, dachte er seufzend, warum haben manche Menschen so ein gutes Gedächtnis und ich so ein schlechtes? Wenn seine Verfolger ihn jemals stellten, so würde man ihn aus seinem Abstecher nach Burleston einen Strick drehen. Vielleicht war diese Reise ein grober Fehler gewesen. Er hatte dem Befehl eines kranken Gehirns Folge geleistet, und so etwas würde sich bitter rächen. Bei einem Verhör konnte diese Reise schwer ins Gewicht fallen. »Gut, dann sind Sie nicht schuldig. Nehmen wir mal an, daß Sie wirklich nicht wissen, wovon die Rede ist. Nehmen wir an, daß Sie noch nie etwas von Arline Lafarge gehört haben. Warum haben Sie sich dann aus dem Staub gemacht?« »Davon kann keine Rede sein. Ich wollte ohnehin von zu Hause weg, wollte mich ein paar Tage erholen. Ich brauchte ganz einfach Ruhe.« »Hat der Arzt Ihnen das empfohlen?« »Nein. Ich war bei keinem Arzt.« 100
»Warum nicht? Wenn Sie einem Nervenzusammenbruch nahe waren, würde er Ihnen doch etwas verordnet haben, nicht wahr?« »Ich hatte keinen Nervenzusammenbruch und habe das auch nie behauptet. Legen Sie mir keine Worte in den Mund.« »Solche Bemerkungen können Sie sich sparen. Sie brauchen nur unsere Fragen zu beantworten. Sie haben doch nichts zu verbergen – oder?« »Nein.« »Okay. Sie waren also erschöpft und wollten sich eine Weile ausruhen?« »Ja.« »Sie wußten, was mit Ihnen los war, und Sie verschrieben sich selbst eine Kur?« »Ja. Kein Gesetz ist dagegen.« »Wir kennen die Gesetze. Beantworten Sie jetzt folgende Frage: Ist es nicht sonderbar, daß Sie ausgerechnet zu dem Zeitpunkt eine Fahrt ins Blaue machten, als wir Ihre Spuren aufnahmen? Und zu Hause – bei Ihrer Familie – hätten Sie sich doch auch ausruhen können.« »Das hätte nichts genützt.« »Wie meinen Sie das?« »Meine seelische Verfassung machte meiner Frau Sorgen, und das wiederum machte alles noch schlimmer. Je schlechter ich mich fühlte, um so besorgter war sie – und um so schlechter fühlte ich 101
mich. Ein paar Tage verreisen, das schien mir die einzige Lösung zu sein. Irgendwohin. In eine ruhige, friedliche Stadt.« »Zum Beispiel nach Burleston?« »Wenn ich verreise, dann muß ich doch schließlich auch irgendwohin, nicht wahr? Ich hätte in alle Himmelsrichtungen fahren können.« »Sie haben es gesagt, Mister! Sie hätten in alle Himmelsrichtungen fahren können, haben sich aber ausgerechnet für Burleston entschieden. Wie kommt das?« »Das könnte ich Sie fragen.« Vielleicht begann er an dieser Stelle zu schreien, und sie warfen sich verständnisinnige Blicke zu, weil sie aus Erfahrung wußten, daß ein Schreier in der Klemme zu sitzen pflegt. Er würde die Antworten schreien, um seine Schuldlosigkeit zu unterstreichen, und sie würden darin nur einen Beweis seiner Schuld sehen. »Ich weiß nicht, weshalb ich ausgerechnet hierhergekommen bin! Ich war so durcheinander, daß ich keinen klaren Gedanken fassen konnte! Ich war selten weg, und darum glaubte ich, daß mir eine Reise nur nützlich sein würde! Warum wollen Sie das denn nicht einsehen? Und daß ich nach Burleston fuhr, war ein reiner Zufall!« »Nicht mehr?« »Nein.« 102
»Dann sind Sie rein zufällig hier gelandet…« »Das stimmt.« »Wirklich?« »Ja, wirklich!« »Und Sie haben auch Ihrer Frau erzählt, daß Sie nach Burleston fahren?« »Habe ich das?« Zeit gewinnen, fieberhaft nachdenken. »Sie behauptet es.« »Das kann nicht sein.« »Ihre Kinder haben es gehört.« Schweigen. »Sie haben sich auch geirrt, wie?« Schweigen. »Alle drei – Ihre Frau und Ihre beiden Kinder – machen den gleichen Fehler, wie?« »Vielleicht habe ich es meiner Frau erzählt – obwohl ich mich nicht erinnern kann.« »So sind Sie also in dieses gottverlassene Nest gefahren, das selbst in dieser Gegend nur wenige Leute kennen. Aber Sie kannten es! Wie haben Sie es eigentlich kennengelernt?« »Das weiß ich nicht.« »Aus Ihren Papieren geht hervor, daß Sie nicht in Burleston geboren sind. Sie haben auch nicht in Burleston geheiratet. Ihre Frau stammt nicht aus 103
Burleston. Oberflächlich betrachtet, haben Sie keinen persönlichen Kontakt mit dieser Stadt. Warum sind Sie hierhergekommen?« »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich es nicht weiß?« »Warum halten Sie es für nötig, uns dauernd Lügen aufzutischen?« »Ich lüge nicht! Ich habe meiner Frau von meiner Reise nach Burleston erzählt – das ist Ihre Behauptung.« »Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihre Aussagen Was haben Sie denn Markham erzählt? Schwierigkeiten im Verwandtenkreis – stimmt doch? Aber Ihre Frau weiß von nichts. Sie haben ihr erzählt, daß Sie eine Dienstreise nach Burleston machen müßten, aber Ihre Vorgesetzten bestreiten das. Sie haben einen Taxifahrer und einem Ladenbesitzer erzählt, daß Sie ein Baugrundstück für eine kleine Fabrik suchen. Tatsächlich haben Sie nichts dergleichen unternommen.« »Markham sollte nicht wissen, wie elend ich mich fühlte.« »Warum nicht?« »Er sollte nicht glauben, daß ich nicht mehr Schritt halten konnte. Es ist nur von Nachteil, irgendeine Schwäche zu zeigen.« »So? Nun, Ihre Erklärungen stehen auf sehr, sehr wackeligen Beinen. Es ist doch durchaus normal, 104
daß Angestellte gelegentlich erkranken. Und warum sollten sie ein Hehl daraus machen? Zehn Prozent aller Angestellten des Forschungszentrums sind jährlich aus diesem Grund arbeitsunfähig. Warum sehen Sie in Ihrem Fall etwas Außergewöhnliches?« Schweigen. »Und was ist mit dem Märchen, das Sie Ihrer Frau erzählt haben? Ein Mann täuscht keine attraktive Frau, da muß er schon ein gutes Motiv haben.« »Sie war meinetwegen schon sehr besorgt. Ich wollte ihr nicht noch mehr Sorgen machen.« »So fuhren Sie nach Burleston und behaupteten, einen Bauplatz für eine Fabrik zu suchen. Dafür haben wir zwei Zeugen. Wollen Sie selbst ins Geschäft kommen? An was für eine Fabrik dachten Sie? Warum suchen Sie in Burleston einen Bauplatz, wo es doch keine Eisenbahnverbindung gibt?« »Die Zeugen haben das falsch verstanden.« »Beide?« »Ja.« »Hm! Sie haben genauso falsch verstanden wie Ihre Frau und Ihre Kinder, wie? Merkwürdig, daß Sie niemand begreift…« Keine Antwort. »Aus dem medizinischen Untersuchungsbefund geht hervor, daß dieses Mädchen ermordet wurde. Von allen Verdächtigen hatten Sie die Gelegenheit 105
und, wie wir annehmen, auch das Motiv. Das Verbrechen liegt zwanzig Jahre zurück. Sie verwandelten sich während dieser Zeitspanne in einen liebevollen Gatten, einen guten Vater und soliden Bürger. Sie boten das perfekte Bild eines ehrenwerten Mannes.« Schweigen. »Aber Sie wechselten diese Rolle, als der Mord ans Tageslicht kam. Sie nahmen plötzlich unbezahlten Urlaub. Und wo fuhren Sie hin? Ausgerechnet nach Burleston!« Schweigen. »Machen Sie uns nichts vor – wir haben schon genug Zeit verschwendet. Befassen wir uns lieber mit den Tatsachen. Als Sie von dem Knochenfund hörten, wurden Sie nervös, und Sie hatten ja auch allen Grund dazu. Sie mußten der Sache nachgehen. Sie mußten herausfinden, ob die Polizei schon eine Spur gefunden hatte und wohin diese Spur führte. Sonst hätten Sie nicht mehr ruhig schlafen können.« Schweigen. »Sie sitzen fest, Mister. Ein umfassendes Geständnis kann Ihre Situation nur verbessern. Vielleicht rettet es sogar Ihren Kopf.« Eine Pause, ein Anstarren, eine wedelnde Handbewegung. »Abführen. Er soll nachdenken, bis sein Anwalt eingetroffen ist.«
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Bransome fiel es leicht, sich die ganze schreckliche Unterhaltung vorzustellen, in der er die Rolle einer in die Ecke gescheuchten Ratte spielte. Würde das Ende so aussehen? Bei diesem Gedanken machte sein Herz einen verzweifelten Sprung.
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5 Die bedrückende Vorstellung eines Verhörs hatte sich verflüchtigt, als er in Hanbury eintraf. Es war ihm gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, daß Gedanken und Tatsachen zwei grundverschiedene Dinge waren. Seine Zukunft lag eher in Gottes Hand als in den Tiefen übersteigerter Einbildungskraft. Möglicherweise trat das Schlimmste überhaupt niemals ein, und wenn das doch der Fall war, mußte er sich damit abfinden. Einige hundert Meter von seinem Hotel entfernt fand er die Geschäftsstelle der ›Hanbury Gazette‹, trat ein und sagte zu dem mageren, gelbgesichtigen Jüngling hinter dem Schalter: »Haben Sie ein paar Exemplare da, die einige Zeit zurückliegen?« »Wie lange?« »Ab letzte Ausgabe.« »Ja, die haben wir. Wie viele wollen Sie?« Bransome überlegte einen Moment und sagte: »Ein Dutzend.« »Sie meinen zwölf Exemplare der letzten Ausgabe?« »Nein, ich möchte jeweils eine von den letzten zwölf Ausgaben.« Der junge Mann besorgte die Zeitungen, rollte sie zusammen, streifte einen Gummiring darüber und gab sie ihm. Bransome zahlte, kehrte in sein Hotel 108
zurück und nahm sie mit in sein Zimmer. Er schloß die Tür ab, öffnete das Zeitungsbündel und begann darin zu blättern. Zwei Stunden lang studierte er sorgfältig Seite um Seite und ließ keinen Artikel aus. Die Blätter behandelten einen Zeitabschnitt von drei Monaten, beginnend mit der letzten Woche. Sie berichteten von einem Brand, einer Reihe Einbrüche, verschiedenen Autodiebstählen in der Stadt, einem Selbstmord außerhalb der Stadt und einer aufsehenerregenden Schießerei vierzig Meilen weiter. Sonst war nichts Außergewöhnliches in oder in der Nähe von Burleston passiert. Seiner Ansicht nach konnte es dafür nur zwei Erklärungen geben. Entweder hatte der Fernfahrer das Gehörte falsch ausgelegt oder es war ihm schon falsch erzählt worden. Möglich, daß es sich nur um ein ähnliches Verbrechen handelte, das gar nichts mit Arline Lafarge zu tun hatte? Möglich, daß er nur die Schuldgefühle eines anderen empfand und selber nichts zu befürchten hatte? Doch in jedem Fall waren die Knochen erst kürzlich gefunden worden, und der Fernfahrer hatte auch davon gesprochen, daß sie zwanzig Jahre alt waren und von einer Frau stammten. Wieder ergriff ein vorübergehendes Schwindelgefühl von seinem Verstand Besitz. Bis jetzt hatte er angenommen, daß die Verfolger erst unlängst seine Spur aufgenommen haben konnten; aber in Wirklichkeit hatte ihnen eine viel längere Zeit zur 109
Verfügung gestanden, und darum konnten sie schon sehr nahe sein. Dicht auf seinen Fersen. Vielleicht waren sie in diesem Augenblick in seiner Wohnung und feuerten ihre Fragen auf die völlig verstörte Dorothy ab… »Wo wollte Ihr Mann bin? Nach Burleston? Wo liegt denn das? Rufen Sie doch gleich mal die Dienststelle an, Joe. Wenn er wirklich nach Burleston gefahren ist, müßte er auch dort zu fassen sein.« Er blieb in seinem Zimmer sitzen und dachte intensiv über seine Lage nach. Er hatte bislang mit Ängsten kämpfen müssen, die in ihm selbst entstanden waren. Es wurde Zeit, ihnen einen energischen Widerstand entgegenzusetzen. Sie waren also bei Dorothy und würden mittlerweile auch die Polizei in Burleston oder Hanbury benachrichtigt haben. Trotzdem mußte er bis morgen hierbleiben. Die Geschäftsstelle der ›Hanbury Gazette‹ war schon geschlossen. Weiter zurückliegende Ausgaben konnte er leider erst morgen bekommen. Er konnte Hanbury nicht früher verlassen, bis er den Zeitungsartikel gefunden und sich Gewißheit verschafft hatte. Und er mußte diese Gewißheit haben – um jeden Preis. Er warf die nutzlosen Zeitungen in den Papierkorb und strich mit der Handfläche über sein Kinn. Vor dem Abendessen mußte er sich noch rasieren. Er schloß seinen Koffer auf, öffnete ihn 110
und betrachtete mißtrauisch dessen Inhalt. Doch alles war ordentlich gepackt, nichts fehlte. Seit seiner Jugend war er immer sehr gründlich gewesen und hatte an alles gedacht. Er würde sofort gewußt haben, daß mit dem Kofferinhalt etwas nicht stimmte. Er wollte den Deckel schon wieder zuklappen, als ihn plötzlich das Gefühl überkam, daß schon vor ihm jemand den Koffer geöffnet hatte, obwohl noch alles an Ort und Stelle lag. Die betreffende Person hatte ihn aus- und eingepackt, ein Meisterstück der Unauffälligkeit. Er konnte es natürlich nicht schwören, aber sein Mißtrauen blieb. Was hatte der Mann gesucht? Und es konnte kein gewöhnlicher Dieb gewesen sein, denn der hätte bestimmt nicht alles wieder säuberlich eingepackt und den Koffer geschlossen. Er hätte vielmehr alles im Zimmer herumgeworfen, um seinem Ärger Luft zu verschaffen, weil er nichts Wertvolles gefunden hatte. Nur eine Amtsperson würde sich die Mühe gemacht haben, alles wieder an Ort und Stelle zu legen. Er untersuchte die Schlösser auf Spuren von Gewaltanwendung, entdeckte aber keinen Kratzer. Konnte er sich geirrt haben? Hatte er den Koffer vor dem öffnen ein wenig geschüttelt? Oder war die Polizei in Hanbury schon in Aktion? Während der nächsten Minuten sah er sich im Zimmer um, suchte nach einem Zigarettenstummel, einer Aschenflocke auf dem Fußboden oder etwas 111
anderem, das einen Eindringling verraten konnte. Aber er fand nichts. Die Bettdecke war glatt, der Schrank verschlossen. Nein, es gab keinen sicheren Beweis – und ob er beispielsweise seine Krawatten mit der geschlossenen Kante nach rechts oder links gelegt hatte, das wußte er selber nicht. Dann trat er ans Fenster, stellte sich hinter die Gardine und blickte auf die Straße hinunter. Doch er konnte niemanden entdecken, der möglicherweise das Hotel beobachtete. Es kamen zwar Leute vorbei, aber sie tauchten nicht zum zweitenmal auf, und es schien sich auch keiner für das Hotel zu interessieren. Aber natürlich brauchte man die Person, die das Hotel beobachtete, nicht unbedingt draußen vermuten; sie konnte auch im Hotel sein, in der Halle Zeitung lesen und tun, als erwarte sie jemanden. Bransome gab sich einen Ruck und ging die Treppe hinunter, um nach einem Beobachter Ausschau zu halten, der sich vielleicht durch ein zu gleichgültiges Gesicht verriet. Doch die einzigen Personen in der Halle waren zwei ältere Damen, die sich unterhielten, und er konnte sich alle beide nicht als eifrige Verfolgerinnen eines Mörders vorstellen. In der Anmeldung hatte ein kleiner, untersetzter Bursche Dienst, den man sich recht gut in der Uniform eines Polizeibeamten vorstellen konnte. Bransome ging auf ihn zu. 112
»Hat sich jemand nach mir erkundigt, während ich weg war?« »Nein, Mr. Bransome.« »War vielleicht jemand in meinem Zimmer?« »Nein, Sir; nicht daß ich wüßte.« »Hmhm!« »Stimmt etwas nicht?« fragte der Mann, ihn ansehend. »Ich habe nur das komische Gefühl, daß sich jemand in meinem Zimmer umgesehen hat.« »Vermissen Sie etwas?« fragte der Mann und richtete sich auf. »Nein.« Der Mann ließ erleichtert seine Schultern sinken und meinte: »Es kann das Zimmermädchen gewesen sein.« »Möglich.« Bransome blickte nach unten, mürrisch und unzufrieden. Das offene Gästebuch lag praktisch direkt unter seiner Nase. Er mußte die Eintragungen verkehrt herum lesen, doch die letzte war deutlich zu erkennen. Er starrte die Buchstaben an, und es dauerte kurze Zeit, bis sein Gehirn begriff, was seine Augen registriert hatten: ›Joseph Reardon – Zimmer 13.‹ »Danke«, war alles, was Bransome noch zu sagen hatte. 113
Er ging wieder nach oben in sein Zimmer, nahm auf der Bettkante Platz, faltete seine Hände zusammen und wieder auseinander, während er darüber nachdachte, wie viele Reardons es auf der ganzen Welt geben mochte. Vielleicht sechs- bis siebentausend oder noch mehr. Er hatte keine Ahnung. Abgesehen davon, brauchte dieser hagere, scharfäugige Schnüffler im Forschungszentrum nicht unbedingt ein Joseph gewesen zu sein. Er konnte auch Dudley, Mortimer und dergleichen geheißen haben. Wie dem auch sei, es war ein unangenehmes Zusammentreffen, so unangenehm wie die Begegnung an einem Fahrkartenschalter der Bahnhofshalle, oder der Verdacht, daß dieser Reardon sich an seinem Koffer zu schaffen gemacht hatte. Er überlegte einen Moment ernsthaft, ob er seine Rechnung begleichen und verschwinden sollte – nicht aus der Stadt, sondern in ein anderes Hotel, wo er die Nacht verbringen konnte. Leider war das nicht so einfach. In Hanbury gab es nur zwei Hotels, und es war schon zu spät am Abend, um noch auf der Suche nach einem Logierhaus durch die Straßen zu streifen. Und doch stand noch eine Möglichkeit offen: sich so zu benehmen wie eine in der Falle sitzende Ratte, die einen verzweifelten Versuch unternahm, den sie anbellenden Hund zu erschrecken. Er konnte kühn an die Tür von Zimmer 13 klopfen und diesem 114
Reardon gegenübertreten. Handelte es sich bei diesem Burschen um einen völlig Fremden, war alles in Ordnung. »Verzeihung, ich habe mich in der Tür geirrt.« War der Bewohner von Zimmer 13 der einzige Reardon, der zur Debatte stand, so hatte Bransome zwei gezielte Fragen auf Lager, die er in dem Augenblick abfeuern würde, wenn Reardon die Tür öffnete. »Zum Teufel, was tun Sie hier? Warum sind Sie mir ständig auf den Fersen?« Ja, das konnte sich bezahlt machen. Ohne stichhaltige Beweise würde Reardon niemals Anklage gegen ihn erheben. Hatte er hingegen ausreichende Beweise, dann würde er ihn, Bransome, noch vor der Tür verhaften. Nun ja, es spielte wohl auch keine Rolle, ob er in seinem oder vor Reardons Zimmer verhaftet wurde. So konnte er es ruhig einmal darauf ankommen lassen. Er ging hinaus und den Korridor entlang auf Zimmer 13 zu. Er atmete einmal tief ein und klopfte. Er war darauf vorbereitet, ein bekanntes Gesicht zu sehen – das Gesicht jenes Reardon, den er in Erinnerung hatte. Nichts rührte sich. Er klopfte noch einmal, lauter und ungeduldiger. Noch immer nichts. Er legte ein Ohr ans Schlüsselloch und horchte. Kein Laut. Er klopfte wieder, länger und noch lauter. Stille. Es war niemand im Zimmer. Er stellte fest, daß die Tür abgeschlossen war. 115
Hinter der Biegung des Korridors wurden Schritte laut. Bransome verschwand in seinem Zimmer, ließ die Tür ein wenig offen und blickte durch den Spalt. Ein dicker, untersetzter Mann marschierte an Zimmer 13 vorbei und weiter den Korridor entlang. Bransome schloß die Tür, nahm auf der Bettkante Platz und betrachtete nachdenklich seinen Koffer. Dann schob er die Lehne eines Stuhls unter die Türklinke, blickte noch einmal durchs Fenster, ohne jedoch einen Beobachter zu entdecken, und ging zu Bett. Aber er fand keine Ruhe und hätte genausogut durch die Straßen spazieren können. Er vermißte Dorothy und die Kinder, stellte sie sich im Geiste vor, dachte darüber nach, was sie jetzt wohl machten und wann er sie wiedersehen würde. Vier Stunden verbrachte er in einem wirren Halbschlummer, wurde von den unsinnigsten Traumbildern geplagt und fuhr beim leisesten Geräusch zusammen. Als der Morgen dämmerte, fühlte er sich wie gerädert. Um halb neun Uhr, genau zur Öffnungszeit, war er wieder in der Geschäftsstelle der ›Hanbury Gazette‹ und kehrte mit einem Paket älterer Zeitungsausgaben in sein Hotelzimmer zurück. Er ging zum Frühstück hinunter und sah ein Dutzend Leute, die ihm alle unbekannt waren. Sie konnten alle Reardon heißen, die beiden alten Damen mit einbegriffen. Nach dem Frühstück eilte er wieder in sein Zimmer und blätterte in den Zeitungen. Die älteste 116
Ausgabe war fast ein Jahr alt, doch in keiner war von seinem Verbrechen die Rede. Vielleicht hatte die Polizei – aus Gründen, die sie nur allein kannte – diese Information für sich behalten. Andererseits schien es unglaublich, daß noch niemand dahintergekommen war. Oder lag die Entdeckung des Skeletts länger als ein Jahr zurück? Hatte der Fernfahrer nur von einem ähnlichen Mord gesprochen? Darüber mußte er sich unter allen Umständen Gewißheit verschaffen, aber nicht auf Kosten seiner Sicherheit. Das würde ein gefährliches Unternehmen werden – vorausgesetzt, daß er überhaupt den Mut dazu aufbrachte. Steckte er den Kopf in den Rachen eines Löwen, so konnte das kaum gefährlicher sein. Zur Polizei gehen und sich frank und frei nach der Lage der Dinge erkundigen… Würde er davonkommen, wenn er sich unter einem falschen Namen vorstellte und der Polizei eine glaubwürdige Geschichte erzählte? Er konnte sich beispielsweise als Schriftsteller ausgeben, der ein Buch mit dem Titel ›Die ungeklärten Verbrechen‹ zu schreiben gedachte, und die Polizei um nähere Einzelheiten bitten. Aber den Namen Arline Lafarge durfte er nicht aussprechen. Schlüpfte er ihm doch irgendwie über die Lippen, so konnte er sich die Reaktion der Polizei lebhaft vorstellen.
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»He, woher wissen Sie denn das alles? Die Zeitungen haben kein Wort darüber geschrieben. Und wie kommen Sie auf den Namen des bedauernswerten Opfers? Den wissen wir ja selbst noch nicht einmal! Uns scheint, Mister, daß Sie eine Menge mehr wissen, als Ihrer Gesundheit zuträglich ist. Nur ein Mann kann so viel wissen, nämlich der Mann, der den Mord begangen hat!« Dann würden sie ihn als Hauptverdächtigen festhalten und seinen wirklichen Namen in Erfahrung bringen. Das war zu riskant und vor allem auch zu dumm. Und wenn er von einer Telefonzelle aus anrief? Keine schlechte Idee. Dann kamen sie nicht so leicht an ihn heran. Sie wußten auch nicht, woher der Anruf kam, und er würde nicht so lange warten, bis sie das festgestellt hatten. Er lernte die Tricks und Ausreden eines Mannes auf der Flucht, lernte eines nach dem anderen, und so ein Leben war einfach die Hölle. Das Telefonhäuschen neben der Bushaltestelle schien ideal zu sein. Er mußte sich erst einmal die Abfahrtszeiten ansehen und es so einrichten, daß er, wenn er sich mit der Polizei unterhalten hatte, sofort in einen Bus steigen konnte. Dann war er verschwunden, wenn die Polizei eintraf. Natürlich würde die Polizei sich ausrechnen können, daß er mit dem Bus davongefahren war, aber erstens wußte sie dann immer noch nicht, wie der Mann, den sie suchte, aussah, und zweitens war er dann schon 118
wieder in seinem Hotel. Die Polizei konnte nur feststellen, daß ein anonymer Anruf aus dieser oder jener Telefonzelle gekommen war, und auch das nur, wenn das Gespräch eine gewisse Zeit dauerte. Gut, er konnte es auf einen Versuch ankommen lassen und mit einer Portion Glück auf telefonischem Wege etwas für ihn Wichtiges in Erfahrung bringen. Er konnte beispielsweise dem Polizeichef die Frage stellen, ob er eine Information bezüglich des unter einem Baum gefundenen Skeletts brauchen könne. Zeigte der Mann Interesse, so bedeutete das nichts anderes, als daß man tatsächlich Knochen gefunden hatte und die Ermittlungen bereits eingeleitet waren. Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, sah er keinen Grund, ihn lange hinauszuzögern. Er verließ sein Zimmer, nicht ohne sorgfältig darauf zu achten, daß sein Koffer und die Tür abgeschlossen waren. Er ging auf dem weichen Läufer des Korridors entlang und war in Höhe von Zimmer 13, als die Tür geöffnet wurde und Reardon hinausgehen wollte. Reardon zeigte nicht die Spur einer Überraschung und sagte: »Nun, das ist aber wirklich ein –« Weiter kam er nicht. Bransome schlug ihm die rechte Faust in die Zähne. Es war ein verheerender Hieb, dem Schreck und Wut den nötigen Nachdruck verliehen. Reardon kippte der Länge nach durch die noch immer offene Tür ins Zimmer zurück. 119
Von der Verzweiflung angespornt, sprang Bransome hinter ihm her und versetzte ihm einen zweiten Hieb auf die Kinnspitze, der jeden Mann außer Gefecht gesetzt hätte. Doch Reardon war ein zäher Bursche und hart im Nehmen. Er ging nicht völlig zu Boden, wälzte sich herum und wollte wieder hochkommen. Angst und Zorn verliehen Bransome ungeahnte Kräfte. Er schlug wieder zu. Der Mann schnappte mühsam nach Luft, mußte noch drei weitere Schläge von Bransome einstecken und sackte zusammen. Bransome beugte sich heftig atmend über ihn. Ein Luftzug erinnerte ihn daran, daß die Tür weit geöffnet war. Er warf einen Blick in den Korridor. Keine Seele zu sehen. Keiner war Zeuge des kurzen Zwischenfalls gewesen, keiner hatte Alarm gegeben. Sorgfältig schloß er die Tür und wandte sich wieder seinem Gegner zu. Er rieb seine Fingerknöchel und blickte nachdenklich auf Reardon herab. Seine Nerven waren noch immer gespannt; die Muskeln zitterten. Dieser Bursche, dachte er, ist zu zähe und zu beständig. Er bleibt mir auf den Fersen, und wenn ich ihn abschütteln will, dann habe ich jetzt die beste Gelegenheit dazu. Es wäre pure Dummheit, die Situation nicht auszunutzen und diesen Spürhund von meiner Fährte abzulenken. Und war er jetzt nicht in der glücklichen Lage, Reardon ein für allemal zu beseitigen? Letzten Endes konnte er nur einmal wegen Mordes 120
hingerichtet werden, nicht zweimal für zwei Morde. Aber er konnte sich nicht mit diesem Gedanken befreunden, konnte Reardon nicht kaltblütig umbringen, auch nicht für eine Million; selbst dann nicht, wenn das seine Rettung bedeutete. Reardon lag auf dem Rücken, leicht auf einer Seite; seine Augen waren geschlossen, die Lippen blutig. Seine Jacke war etwas zurückgeschlagen, und Bransome sah die Schulterhalfter mit dem kleinen Revolver. Er betrachtete die Waffe, rührte sie aber nicht an. Dann öffnete er Reardons Koffer, fand darin ein Dutzend Taschentücher, einige Krawatten und das übliche Reisezubehör. Mit den Krawatten fesselte er Reardons Knöchel und Handgelenke. Die Taschentücher drehte er zu einem Knebel zusammen, den er Reardon in den Mund schob. Als er fertig war, gab Reardon schnaufende Geräusche von sich. Er mußte jeden Augenblick aufwachen. Bransome durchsuchte ihn rasch, entdeckte seine Brieftasche und blickte hinein. Papiergeld, drei unwichtige Briefe, Quittungen, ein Versicherungsschein für einen Wagen. In einem anderen Fach waren Briefmarken; im Fach gegenüber steckte ein schmales Ausweisetui mit einer Karte darin. Bransome warf einen Blick auf die Karte und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Er sah einen Adler, eine Erkennungsnummer und las die
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Worte: ›… Militärischer Abwehrdienst …Joseph Reardon…‹ Um Himmels willen, was hatte der Abwehrdienst mit einem sonnenklaren, niederträchtigen Mord zu tun? Das wunderte ihn. Seines Wissens gab es dafür nur eine Erklärung: Die Polizei arbeitete mit dem Abwehrdienst zusammen, weil ein Angestellter des Forschungszentrums mit dem Mord zu tun hatte. Aber das schien nicht zuzutreffen. Die Polizei bearbeitete einen Mordfall allein und würde auch den größten Wissenschaftler der Welt die dreizehn Stufen hinaufmarschieren lassen, wenn dieser seine eigene Mutter erschlagen hatte. Egal, dieser Spürhund war für eine Weile außer Gefecht gesetzt. Jetzt kam es für Bransome darauf an, bis zum Zeitpunkt seines Erwachens eine möglichst weite Entfernung hinter sich zu bringen. Er steckte die Brieftasche wieder in Reardons Tasche, schob ihn unter das Bett und blickte vorsichtig durch die Tür. Niemand zu sehen. Er verließ Zimmer 13 und hörte das Türschloß hinter sich zuschnappen. Es bestand keine unmittelbare Gefahr, aber er durfte keine Zeit verlieren. Er rannte in sein Zimmer, griff nach seinem Koffer, sah nach, ob er nichts vergessen hatte, eilte die Treppe hinunter und zahlte seine Rechnung. Der Mann in der Anmeldung bewegte sich so langsam und müde, als sei er entschlossen, Bransomes Ungeduld bis zum äußersten zu steigern. Während 122
kostbare Minuten vergingen, blickte Bransome in der Halle herum, ob irgendwo noch jemand von Reardons Sorte zu sehen war, und rechnete damit, daß oben jeden Augenblick ein Spektakel losbrechen würde. Endlich hatte der Mann die Quittung ausgeschrieben; Bransome steckte sie ein und eilte zur Bushaltestelle. Der nächste Bus kam erst in fünfzig Minuten. Er rannte zum Bahnhof, nur um feststellen zu müssen, daß in den nächsten anderthalb Stunden kein Zug fuhr. Das bedeutete eine unerwünschte Verzögerung. Der Instinkt des Gejagten warnte ihn davor, auch nur eine Minute länger als nötig in Hanbury zu bleiben. Den Gedanken, die Polizei anzurufen, ließ er einstweilen fallen. Das konnte man von überall her tun, auch aus einer Entfernung von tausend Meilen. Je weiter er weg war, um so geringer die Aussicht, ihn in einer Telefonzelle zu stellen. Am wichtigsten war, daß er erst einmal aus Hanbury verschwand, ehe Reardon sich befreit und die Polizei veranlaßt hatte, die Stadt abzuriegeln. Er beschloß, den nächsten Bus zu nehmen, der in irgendeiner Richtung die Stadt verließ. Dann war er schon mal vier, fünf Meilen weiter und entging somit den Nachforschungen in der Stadt, falls es Reardon in den nächsten fünfzig Minuten gelang, Zeter und Mordio zu schreien. Die Polizei würde sofort die Bus- und Bahnstationen unter Beobach-
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tung stellen, sich bei allen Taxifahrern und Autoverleihern erkundigen. So mußte er die Stadt zu Fuß verlassen, einen schnellen Schritt einhalten und nur daran denken, daß er im Laufe des Tages unbedingt Dorothy anzurufen hatte. Er wollte schließlich wissen, wie es ihr und den Kindern ging, und bei dieser Gelegenheit würde er auch erfahren, ob sich jemand nach ihm und seinem Verbleib erkundigt hatte. Wieder wurde er sich seiner Unzulänglichkeit und seines Mangels an Erfahrung auf kriminellem Gebiet bewußt; es war ihm nicht in den Sinn gekommen, einen Wagen zu stehlen, zu verschwinden, ihn in irgendeiner größeren Stadt stehenzulassen und – um seine Spur zu verwischen – den nächsten Wagen zu stehlen. Er hatte nur einmal in seinem Leben gestohlen, im Alter von sechs Jahren. Das war ein großer Apfel gewesen, der ihm höllische Bauchschmerzen bereitet hatte. Andererseits konnte seine Ahnungslosigkeit gewisse Vorteile haben. Denn nach Ansicht der Polizei hatten hartgesottene Verbrecher ein bestimmtes Schema, nach dem sie sich richteten. Aber keiner konnte sagen, wie ein Anfänger in dieser oder jener Situation reagierte. Der alte ›Knastschieber‹ dachte instinktiv an eine rasche Flucht in einem gestohlenen Wagen. Der Neuling war einfach zu allem fähig und konnte, unter anderem, auch zu Fuß gehen. 124
Und Bransome ging zu Fuß. Er hatte Glück. Als er zwanzig Minuten unterwegs war, holte ihn eine verbeulte und schnaufende Limousine ein, hielt und bot ihm Mitfahrt an. Bransome überlegte nicht lange, nahm neben einem rotgesichtigen, rotnackigen und geschwätzigen Mann Platz, dem er erzählte, daß er zur nächsten oder übernächsten Bushaltestelle wolle, das käme ganz auf die Abfahrtszeiten an. »Und wo wollen Sie sonst hin?« fragte Rotgesicht jovial und neugierig. »In irgendeine größere Stadt.« Bransome tippte auf seinen Koffer. »Ich bin nämlich Vertreter.« »Und Ihre Branche?« »Versicherung.« Würden diese Situationen und Fragen, die blitzschnelle Lügen erforderten, jemals ein Ende nehmen? »Alles Schwindel und Schiebung«, erklärte Rotgesicht, ohne die Spur von Taktgefühl. »Meine Frau hätte mir bald 'ne dicke Lebensversicherung aufgeschwatzt. Will mich lieber tot als lebendig. Könnte ihr so passen. Ich sterbe und sie kassiert, he? Alles Schiebung, sage ich. Da interessiert sich 'ne Frau für ihren Mann nur noch als Toten. Das ist verkehrt. Gibt sowieso schon Ärger genug in der Welt, und da braucht an keinen Menschen die Versuchung heranzutreten, einen anderen wegen so 125
'ner Lebensversicherung vorzeitig unters Gras zu bringen.« »Ich habe Feuer- und Einbruchsversicherungen«, sagte Bransome besänftigend. »Das ist natürlich was ganz anderes, Mister. Da steckt wenigstens Sinn drin. Meinem Onkel drüben in Decatur ist kürzlich 'ne Scheune abgebrannt. Ging hoch wie'n Vulkan. War zu geizig, um 'ne Feuerversicherung abzuschließen. Das hat er nun davon.« Er redete weiter, während die Limousine fauchend, holpernd und schwankend eine Meile nach der anderen zurücklegte. Er beschrieb alle Brände der verflossenen vierzig Jahre und meinte, daß eine Feuerversicherung eine gute Sache sei, obwohl Einbrüche in dieser Gegend so gut wie gar nicht vorkämen. »Wer was mopsen will«, meinte er, »der braucht ja auch nicht gleich einzubrechen; dem wird's doch viel leichter gemacht, nicht wahr?« »Einbrüche gibt's hier also kaum«, stellte Bransome fest. »Auch keine Morde?« »Ja, da hat's mal einige gegeben, und an allen waren Alkohol und Frauen schuld. Aber nur einer davon wurde nicht geklärt.« »Was war denn das?« fragte Bransome in der Hoffnung, endlich einmal etwas wirklich Wissenswertes zu erfahren. 126
»Kann ungefähr acht oder zehn Jahre her sein«, antwortete Rotgesicht leichthin. »Da wurde der alte Jeff Watkins zusammengeschlagen und starb, ohne noch ein Wort zu sprechen. Die Polizei suchte nach einem Strolch, der mal hier und mal da gesehen worden war; aber keiner hat ihn gefunden.« »Was ist mit dem Mädchen, dessen Leiche beziehungsweise Skelett unter einem Baum entdeckt wurden?« Rotgesicht warf ihm einen kurzen verwunderten Seitenblick zu. »Was für'n Mädchen?« »Vielleicht ist das nur ein Gerücht«, sagte Bransome. »Vor ein paar Tagen hörte ich eine Unterhaltung. Da war vom Skelett eines Mädchens die Rede. Dies Skelett soll – angeblich – unter einem Baum in der Nähe von Burleston gefunden worden sein.« »Wann war das?« »Das habe ich nicht so genau mitbekommen. Ich denke, daß es wenigstens eine Woche oder sogar ein paar Monate zurückliegt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß der Bursche von einem Mord gesprochen hat, der schon wer weiß wie lange zurückliegt.« »Der hat sich bloß selbst 'n Märchen erzählt«, meinte Rotgesicht überzeugt. »Kann sein.« 127
»Wenn an der Geschichte was Wahres dran wäre, hätte sich das im Umkreis von hundert Meilen so rasch herumgesprochen wie ein Waldbrand«, versicherte Rotgesicht. »In dieser Gegend müssen die Leute immer über was reden, und sie reden 'ne ganze Menge zusammen. Ich hätte doch bestimmt was davon gehört.« »Aber Sie haben keine Ahnung?« »Nein, Mister. Vielleicht haben Sie auch nicht richtig verstanden, was der Bursche gesagt hat.« Der Wagen rollte in eine ländliche Stadt, kleiner als Hanbury, aber größer als Burleston. Rotgesicht sah seinen Mitfahrer an. »Wollen Sie's hier nicht mal versuchen?« »Wenn Sie nicht weiterfahren, soll's mir recht sein.« »Ich könnte Sie noch vierzig Meilen mitnehmen, aber dann haben Sie wieder zwölf Meilen bis zur nächsten Stadt.« »Macht nichts, ich komme noch ein Stück mit.« »Ich habe nichts dagegen. Sie denken, daß in dieser Stadt nicht viel zu machen ist, he?« »Um ehrlich zu sein, diese kleinen Städte hängen mir zum Halse 'raus. In einer Großstadt komme ich in meiner Branche besser zum Zuge.« »Kann ich mir denken«, sagte Rotgesicht. »Hat Ihre Versicherung Ihnen nicht mal 'nen Wagen zur Verfügung gestellt?« 128
»Ja, aber den hat im Augenblick meine Frau.« »Haben Sie auch 'ne Lebensversicherung abgeschlossen?« »Ja – natürlich.« »Frauen!« grunzte Rotgesicht, düster geradeaus blickend. »Die passen schon auf, daß sie nicht zu kurz kommen, wenn der Mann erst mal ins Gras gebissen hat.« Er verfiel in Schweigen und nagte an seiner Unterlippe, während der Wagen durch die Stadt rollte und sie hinter sich ließ. Bransome war zufrieden. Je mehr Meilen der alte Wagen zurücklegte, um so ruhiger konnte er atmen. Der Fahrer schwieg weiter und dachte anscheinend verärgert über die Schlechtigkeit der Frauen nach. Dreißig Meilen nach der letzten Stadt und zehn Meilen von Rotgesichts Bestimmungsort entfernt, mußten sie halten. Einstweilen rasselte die Limousine immer näher und näher an die beiden Wagen heran, die anscheinend einen Unfall hatten. Ein Polizeibeamter stellte sich auf die Straße und hob die Hand. Es war ein Wachtmeister der Staatspolizei. Es hatte keinen Unfall gegeben, denn einer der beiden Wagen schnurrte in dem Augenblick davon, als Rotgesicht fragte: »Was ist denn hier los?« Er trat auf das Bremspedal.
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Ein zweiter Wachtmeister erschien neben dem ersten, und dann kamen beide – einer rechts und einer links – auf die Limousine zu. Man merkte ihnen schon von weitem an, daß sie sich mehr für die Insassen des Wagens als für den Wagen selbst interessierten. Der kleinere Wachtmeister blickte durch das Seitenfenster und sagte zu Rotgesicht: »Hallo, Wilmer! Was macht das Geschäft?« »Geht nur mittelmäßig«, antwortete Rotgesicht, nicht übermäßig erfreut. »Was gibt's denn diesmal zu verpfuschen, he?« »Zu suchen«, stellte der Wachtmeister richtig und deutete mit einer Kopfbewegung auf Bransome. »Kennen Sie diesen Mann?« »Natürlich. Würde er sonst neben mir sitzen?« »Das leuchtet mir ein, Wilmer; aber nun wollen wir endlich vernünftig reden. Wo ist dieser Mann zugestiegen?« »Ich hab' ihn hinter Hanbury aufgelesen.« »Sie haben ihn aufgelesen?« Der Wachtmeister und sein Kollege sahen sich Bransome genau an. »Ihr Aussehen stimmt mehr oder weniger mit der Beschreibung des Mannes überein, den wir suchen. Ihr Name?« »Carter.« »Beruf?« »Versicherungsvertreter.« 130
»Ja, das stimmt«, bestätigte Rotgesicht mit boshaftem Unterton. »Wir haben uns über diesen Versicherungskram unterhalten, und ich erzählte ihm, daß meine Frau Maisie mich überreden wollte –« »Carter, he?« unterbrach der Wachtmeister Rotgesicht, ohne sich um dessen Bemerkung zu kümmern. »Und Ihr Vorname?« »Lucius.« Bransome wußte nicht, wie er auf diesen Namen gekommen war, nur daß er ihn sofort aussprach. Diese prompten Antworten ließen die Fragesteller unsicher werden. Sie sahen bald sich selbst und bald Bransome an und schienen sein Aussehen im Geiste mit einer Beschreibung zu vergleichen, die ihnen über Sprechfunk mitgeteilt worden war. »Was taten Sie in Hanbury?« fragte der eine. »Ich wollte Versicherungen an den Mann bringen.« Bransome lächelte säuerlich. »Leider blieb es beim Versuch.« Er beherrschte seine Rolle nicht schlecht und mußte nur die Nerven behalten. Es war überhaupt erstaunlich, wie gut er lügen konnte, und er wußte nicht, ob er sich darüber freuen oder schämen sollte. Denn von Natur aus verachtete er Lügner. »Haben Sie irgendeinen Ausweis bei sich?« fragte der kleinere Wachtmeister. »Meine Papiere lasse ich immer zu Hause.«
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»Nichts in Ihrem Koffer oder in Ihrer Brieftasche? Karten, Briefe oder dergleichen?« »Tut mir leid.« »Merkwürdig, daß ein Vertreter herumreist, ohne auch nur einen Zettel mit seinem Namen in der Brieftasche zu haben. Ich meine, er muß sich doch irgendwie ausweisen können, nicht wahr?« Der kleinere Wachtmeister preßte die Lippen zusammen und warf seinem Kollegen einen warnenden Blick zu. »Am besten, Sie steigen erst mal aus diesem klapprigen Leichenwagen, Mr. Lucius Carter.« Er öffnete die Tür. »Wir wollen Sie einmal aus der Nähe betrachten und uns Ihren Koffer ansehen.« Bransome stieg aus, und eine idiotische Stimme in seinem Gehirn flüsterte fortwährend: ›Das ist es! Das ist es!‹ Rotgesicht blieb im Wagen sitzen und starrte die beiden Polizeibeamten düster an. Der kleinere Wachtmeister hob Bransomes Koffer aus dem Wagen und legte ihn am Straßenrand ab, während der andere, die rechte Hand am Revolverkolben, in einiger Entfernung stehenblieb. Davonlaufen hatte keinen Sinn. Der Wachtmeister mit dem schußbereiten Revolver konnte eine Kugel hinter ihm herschicken, ehe er noch drei Schritte zurückgelegt hatte. »Ihre Brieftasche und Ihre Schlüssel, bitte.« Bransome kam der Aufforderung nach und wußte, daß er ausgespielt hatte. 132
Der größere Wachtmeister sah in der Brieftasche nach, grunzte zufrieden und sagte zu seinem kleineren Kollegen: »Lucius Carter – das könnte ihm so passen! Er ist Richard Bransome, der Bursche, den wir suchen.« Er wandte sich an Rotgesicht. »Sie können jetzt weiterfahren.« Rotgesicht knallte die Tür zu und schrie wütend durch das Seitenfenster: »Eine Frechheit, meine Kiste als umgebauten Leichenwagen zu bezeichnen! Ich habe den Wagen mit meinem eigenen Geld gekauft! Und weil ich Steuerzahler bin, habe ich auch Ihren verdammten Wagen gekauft! Wir Steuerzahler müssen in den schäbigsten Kisten fahren, während die Polizei – !« Der größere Wachtmeister bückte sich, sah Rotgesicht aus einer Entfernung von nur wenigen Zentimetern an und sagte, jede Silbe betonend: »Sie sollen weiterfahren, Wilmer, und nicht den wilden Mann markieren. Sie sind doch kein kleiner Junge mehr – oder? « Wilmer sah Bransome mitleidig an, bedachte die beiden Wachtmeister mit einem boshaften Blick und trat auf das Gaspedal. Der alte Wagen heulte gequält auf, machte einen Satz nach vorn und ließ eine blaue Auspuffwolke zurück. »Steigen Sie ein, Mister«, sagte der kleine Wachtmeister, auf den Streifenwagen deutend.
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»Warum?« fragte Bransome. »Was soll ich denn verbrochen haben? Wenn Sie etwas gegen mich haben, dann sagen Sie das gefälligst!« »Das werden Sie in der Station erfahren«, entgegnete der Wachtmeister. »Wir können Sie vierundzwanzig Stunden lang wegen irgendeines xbeliebigen Verdachts festhalten. Erst dann kann Ihr Anwalt etwas unternehmen. Steigen Sie also ein.« Bransome sagte nichts mehr. Es hatte auch keinen Zweck. Der größere Wachtmeister nahm auf dem Fahrersitz Platz, der kleinere stieg hinten ein und setzte sich neben Bransome, während sein Kollege ein Mikrophon zur Hand nahm und sagte: »Wagen neun – Healy und Gregg. Wir haben eben Bransome aufgegriffen und bringen ihn sofort zur Station.«
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6 In der Staatspolizeistation legten sie ihm gegenüber eine mehr als merkwürdige Haltung an den Tag. Sie behandelten ihn nicht gerade freundlich, aber keineswegs so hart wie einen Hauptverdächtigen. Er hatte jedenfalls diesen Eindruck. Nach eingehender Überprüfung seiner Personalien gab man ihm etwas zu essen, führte ihn in eine Zelle und stellte keine Fragen mehr. Seine eigenen Fragen wurden mit den knappen Worten beantwortet: »Warten Sie erst einmal ab.« Drei Stunden später traf Reardon ein. Er hatte zwei Leukoplaststreifen über seine Lippen geklebt, aber sonst war ihm nicht anzumerken, daß er noch weitere Verletzungen davongetragen hatte. Sie wiesen ihm ein kleines Büro ah, wo er geduldig wartete, bis ihm Bransome vorgeführt wurde. Beide sahen sich einige Zeit schweigend an. Dann sagte Reardon: »Ich denke, Sie wissen, daß gegen Sie eine Anklage wegen Körperverletzung erhoben werden kann?« »Ich kann es nicht ändern«, antwortete Bransome. »Warum haben Sie das getan? Warum sind Sie einfach auf mich losgegangen?« »Ich wollte Ihnen nur nahelegen, sich um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.« 135
»Hmhm. Sie ärgerten sich, weil ich mich ständig in Ihrer Nähe aufhielt – nicht wahr?« »Natürlich. Wer würde sich nicht darüber ärgern?« »Die meisten Leute würden nichts dagegen haben«, sagte Reardon. »Warum auch? Sie haben nichts zu verbergen. Und was haben Sie zu verbergen?« »Finden Sie das heraus.« »Ich bin dabei. Wollen Sie mir nicht von sich aus ein paar Tips geben?« Bransome betrachtete die Wand. Bis jetzt war von einem Mord noch nicht die Rede gewesen, aber es würde sicher nicht mehr lange dauern. Vielleicht wollte Reardon sich das bis zuletzt aufsparen, wenn ihm schon der Schweiß auf der Stirn stand. Ein Sadist, der noch ein wenig Katz-und-Maus mit ihm spielte und ohnehin schon wußte, daß er ihn fressen würde. »Vielleicht hilft Ihnen das etwas«, fuhr Reardon mit gleichbleibend ruhiger Stimme fort, »und vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Sehr freundlich«, sagte Bransome. »Aber niemand kann Ihnen helfen, der nicht weiß, was Sie in Ihren Haaren haben.« »Läuse«, entgegnete Bransome. Reardons Stimme schwoll an. ».Wir wollen hier kein Lustspiel aufführen, Mr. Bransome. Es ist eine 136
durchaus ernste Angelegenheit. Wenn Sie in einer Klemme sitzen und Hilfe brauchen, dann müssen Sie den Mund aufmachen.« »Ich kann schon auf mich selber aufpassen.« »Aber wenn Sie vor Ihrer Arbeit, Ihrer Wohnung und Ihrer Familie davonlaufen, haben Sie kein sehr großes Talent dazu.« »Das kann ich besser beurteilen.« »Nun, wir werden sehen, wer sich besser in Ihnen auskennt. Denken Sie stets daran, daß ich alles – restlos alles – versuchen werde, um dieser Angelegenheit auf den Grund zu kommen.« »Welcher Angelegenheit?« fragte Bransome sarkastisch. »Ich habe Urlaub, meinen Urlaub vorschriftsmäßig beantragt und ihn auch genehmigt bekommen. Was ist denn verkehrt daran? Oder wurde inzwischen ein neues Gesetz verabschiedet?« Reardon stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie wollen also nichts sagen – noch nicht. Dann bleibt mir keine andere Wahl, als mit Ihnen nach Hause zu fahren. Unterwegs können wir uns weiter unterhalten.« »Ich komme von zu Hause«, sagte Bransome. »Sie können wohl eine Anklage wegen Körperverletzung gegen mich erheben, aber bis zur Verhandlung kann ich tun und lassen, was mir Spaß macht.« 137
»Ich würde mir ein Armutszeugnis ausstellen, wenn ich wegen eines Schlags ins Gesicht einen Prozeß anstrengen würde. Sie werden mitkommen. Freiwillig oder –« »Oder was?« »– ich hänge Ihnen einen Prozeß wegen Verbreitung wichtiger Staatsgeheimnisse an. Dann werden Sie genau tun, was ich Ihnen sage, und nichts dagegen einzuwenden haben.« Bransome spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er beugte sich vor und keuchte: »Ich bin kein Verräter!« »Das hat niemand behauptet.« »Nur Sie!« »Sie übertreiben, Mr. Bransome. Ich habe keinen Grund, an Ihrer Loyalität zu zweifeln. Aber wenn ich es für nötig halte, werde ich Feuer mit Feuer bekämpfen. Wie gesagt, ich werde restlos alles versuchen, um dieser Angelegenheit auf den Grund zu kommen.« »Sie sind darauf vorbereitet, mir einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen?« »Ich würde keine Sekunde zögern.« »Und Sie wollen mir helfen?« »Gewiß.« »Dann sehe ich nur zwei Möglichkeiten«, sagte Bransome. »Entweder sind Sie verrückt oder Sie halten mich für verrückt.« 138
»Soviel mir bekannt ist, liegt Ihrerseits eine Kurzschlußhandlung vor. Ich möchte gern wissen, weshalb Sie so plötzlich auf Reisen gingen.« »Warum interessiert Sie das?« »Weil Sie nicht der erste Mann sind und wahrscheinlich auch nicht der letzte sein werden.« Bransome sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und fragte: »Zum Teufel, was reden Sie eigentlich?« »Ich spreche von Geistesgestörten – von normalen, intelligenten Männern, die plötzlich den Verstand verlieren. Wir haben zu viele von dieser Sorte. Es wird Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.« »Ich begreife kein Wort und will mich auch gar nicht anstrengen. Sie glauben anscheinend, daß ein Mann, der Urlaub nimmt, weil er dringend eine Erholungspause nötig hat, verrückt sein muß? Sie müssen selbst nicht ganz richtig im Kopf sein.« »Aber Sie haben ja keinen Urlaub genommen.« »Was Sie nicht sagen!« »Wären Sie in Urlaub gefahren, hätten Sie Frau und Kinder mitgenommen.« »Sie kennen meine Motive offenbar besser als ich«, sagte Bransome trocken. »Was soll ich denn getan haben?«
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»Sie sind vor etwas davongelaufen. Oder, zur Abwechslung, hinter etwas hergelaufen. Ersteres dürfte eher zutreffen.« »Vor was soll ich davongelaufen sein?« »Das müssen Sie mir erzählen«, entgegnete Reardon, ihn anstarrend. »Es ist Ihre Theorie und nicht meine; also liegt es auch an Ihnen, die Richtigkeit dieser Theorie zu beweisen.« Reardon krauste die Stirn und blickte auf seine Uhr. »In zwanzig Minuten fährt ein Zug. Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir es noch schaffen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wollen Sie freiwillig mitkommen oder zum Bahnhof geschleppt werden?« »Da lasse ich mich lieber schleppen und verklage Sie anschließend, wenn ich mir dabei eine Schramme zugezogen habe!« »Oh, jeder Anwalt wird Ihnen sagen, daß das keinen Sinn hat. Ich habe Sie aufgefordert, weiß also genau, was ich tue. Wenn Sie mir nicht folgen, haften Sie für alle sich daraus ergebenden Konsequenzen.« »Nun gut, gehen wir zum Bahnhof«, hörte Bransome sich sagen.. Er stand auf. In seinem Kopf wirbelte ein Schneegestöber von Gedanken. Noch immer waren nicht die Worte Arline Lafarge gefallen. Diese 140
Drohung schwebte über ihm wie ein Damoklesschwert und war eine direkte Gefahr für sein Leben oder, zumindest, für seine Freiheit. Doch aus irgendeinem geheimnisvollen und unerklärlichem Grund hatten sie sich für ihn eine andere unbekannte Drohung ausgedacht. Wenn ein Mann vorsätzlich und mit Überlegung eine Frau umbringt, dann ist das ein Mord, in moralischer und juristischer Hinsicht. Aber der militärische Abwehrdienst schien diesen Mord aus einer anderen Perspektive zu sehen. Warum? Dieser Gedanke beschäftigte ihn mehr als alles andere. Als der Zug sich durch die Landschaft schlängelte, griff Reardon wieder das alte Thema auf und sagte: »Sehen Sie, Bransome, ich will doch nur ein offenes Wort mit Ihnen reden. Um Himmels willen, verkriechen Sie sich nicht dauernd in Ihrem Schneckenhaus! Sie sollen auch erfahren, weshalb ich an Ihrer Person ein besonderes Interesse habe. Als Gegenleistung verlange ich von Ihnen eine ehrliche Antwort auf meine Frage, was Sie in die Flucht getrieben hat.« »Ich bin nicht auf der Flucht!« »Jetzt nicht mehr. Wir haben Sie ja schließlich gefunden, nicht wahr? Aber ursprünglich waren Sie auf der Flucht.« 141
»Irrtum, das reden Sie sich nur ein.« »Was haben wir davon, wenn wir dauernd mit unseren Köpfen zusammenprallen? Nur Schädelbrummen. Ich möchte Sie an etwas erinnern, das Sie anscheinend vergessen haben. Es ist nämlich Krieg. Kein Krieg, in dem geschossen wird, aber es ist nichtsdestoweniger ein Krieg. Warum sonst würden Sie und viele andere ständig an der Entwicklung neuer und besserer Waffen arbeiten?« »Und?« »Alles für den Fall, wenn aus dem kalten Krieg ein heißer werden sollte. In der Zwischenzeit wird der Kampf ohne Schußwaffen geführt. Beide Seiten stehlen sich die besten Köpfe weg – oder kaufen, sabotieren und zerstören sie. Wir verlieren ständig Menschen, Pläne und Ideen. Auch die andere Seite. Wir haben einige von ihren Leuten gekauft, sie einige von uns. Sie wissen, was ich meine?« »Natürlich. Das sind alte Kamellen.« »Aber sie sind noch immer aktiv«, sagte Reardon. Sein hageres Gesicht und seine scharfen Augen sahen mißtrauischer aus denn je. »Die Waffen in diesem kalten Krieg sind Diebstahl, Erpressung, Bestechung, Verführung, Mord und alle Mittel, die der Zweck heiligt. So sieht es auf beiden Seiten aus. Dieser Kämpf hat den Sinn, dem Gegner Verluste beizubringen und eigene Verluste auszuschalten. Letzteres ist noch wichtiger als ersteres. Es ist 142
unsere Aufgabe, die Angriffe auf unsere Wissenschaftler abzuschlagen.« »Sie erzählen mir nichts Neues«, seufzte Bransome. »Und wenn Sie meine Meinung hören wollen, so finde ich es außerordentlich lästig, daß man nicht einmal in Urlaub fahren kann, ohne in Verdacht zu geraten, dem Gegner Geheimmaterial zu verkaufen.« »Sie machen es sich zu einfach«, erwiderte Reardon. »Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, den Feind zu schwächen: Sie können seine Intelligenz für sich ausnutzen oder – falls das nicht möglich ist – seine Intelligenz zerstören. Das ist so eine Neidhammel-Theorie frei nach dem Motto: ›Wenn du mir nicht dein Pferd gibst, dann sollst du auch nichts von ihm haben‹. Sagen wir, daß Sie zu loyal sind, um ein Stück Ihrer Gehirnsubstanz zu verkaufen. Was bleibt dann noch übrig?« »Das möchte ich auch gern wissen.« »Der Gegner nimmt Ihnen den Kopf weg.« »Quatsch! So viel ist mein Kopf überhaupt nicht wert.« »Genausogut könnten Sie behaupten, daß ein Soldat nicht wert ist, an die Front geschickt zu werden. Als einziger Soldat mag er es vielleicht nicht immer sein, aber wenn Hunderte, Tausende oder Zehntausende mit ihm gehen, macht das den Unterschied von Sieg und Niederlage aus.« Reardon schwieg kurze Zeit, um die Worte in Bransomes 143
Hirn eindringen zu lassen. Dann sagte er: »Ich mache mir keine Sorge um einen Bransome, wohl aber um hundert oder tausend Bransomes.« »Einen Trost haben Sie wenigstens«, entgegnete Bransome. »Mein Kopf sitzt noch immer auf meinen Schultern.« »Das war symbolisch gemeint, wie Sie wissen werden. Ein Gehirn, das sich plötzlich weigert, weiter für sein Land zu arbeiten, ist ein Verlust für sein Land, ein Todesfall im kalten Krieg. Das Gehirn seines Gegners unbrauchbar machen, ist in unserem technischen Zeitalter der tödlichste Schlag, dem man seinem Gegner beibringen kann. Ob man nun selbst auf sein Wissen angewiesen war oder nicht, es ist einem Menschenleben gleichzusetzen.« »Das leuchtet mir ein«, gab Bransome zu. »Abgesehen davon, weiß ich das schon seit vielen Jahren. Ich begreife nur nicht, was das mit mir zu tun haben soll.« »Ich komme gleich darauf zurück«, sagte Reardon. »Wir haben in den letzten Jahren eine Reihe guter Leute verloren – nicht nur in dem Forschungszentrum, in dem Sie tätig sind, sondern auch in anderen. Diese Verluste übertreffen bei weitem die Quote der Ausfälle durch Pensionierung, Krankheit oder Tod. Wenn wir diese Entwicklung nicht unterbinden können, wird aus einer verlorenen Kompanie ein verlorenes Regiment oder sogar eine 144
ganze Armee.« Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Und dann – paff!« »Sind Sie sicher, daß die Verluste nicht durch natürliche Ereignisse hervorgerufen werden?« fragte Bransome und dachte an das, was er zu Berg gesagt hatte. »Wir sind so gut wie sicher. Wir wissen, daß etwas geschieht, aber wir wissen nicht genau, was es ist. Bei allen Ausfällen handelte es sich durchweg um wertvolle, vertrauenswürdige Leute. Und die Symptome waren immer die gleichen: Sie konnten sich plötzlich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren, benahmen sich merkwürdig, und ihr Charakter fiel nach und nach auseinander. Einige suchten stillschweigend das Weite, andere kündigten oder nahmen ihren Urlaub, aus dem sie nicht mehr in die Forschungszentren zurückkehrten. Einige wechselten auch über die Grenze. Wir wissen, womit sie sich heute beschäftigen – und sie tun durchaus nichts, was den Interessen unseres Landes widerspricht. Aber wir können sie nicht zurückholen, weil wir kein Recht dazu haben. Kürzlich haben wir drei Leute entdeckt, die sich noch in unserem Land aufhalten.« »Und was geschah?« »Nichts. Alle drei behaupteten stur, sie hätten ein Recht darauf, dort zu leben, wo es ihnen am besten gefalle, und wenn sie nun eine andere Tätigkeit ausüben würden, so ginge das keinen Menschen 145
etwas an. Und keiner gab darüber Auskunft, weshalb er eine gute Stellung gegen eine schlechte eingetauscht hatte. Aus den Berichten der Agenten ging deutlich hervor, daß die drei Männer sich anscheinend vor irgend etwas fürchteten, aber nicht sagen wollten, was es war.« »Da kann ich ihnen keinen Vorwurf machen«, meinte Bransome. »Ich werde auch wütend, wenn mich ständig jemand verfolgt. Und Sie werden es bestätigen können. Ich habe Sie nicht ohne Grund niedergeschlagen. Ich dachte, es sei höchste Zeit, Ihnen einmal begreiflich zu machen, was ich unter leben und leben lassen verstehe.« Reardon fuhr ungerührt fort: »Kurz nachdem die drei Männer von den Agenten aufgestöbert worden waren, verschwanden sie wieder, tauchten woanders auf und hatten eine andere Beschäftigung. Wir beschlossen, sie im Auge zu behalten, ohne sie weiter zu belästigen. Sie benehmen sich in keiner Weise verdächtig, nur daß sie mit sich allein sein wollen. Sie leben, aber als Wissenschaftler sind sie für uns gestorben.« »Und so haben Sie mich als nächsten ›Toten‹ auf Ihrer Liste vermerkt?« fragte Bransome und war froh, daß Reardon dem Grund seiner künstlichen Entrüstung noch nicht auf die Spur gekommen war. »Sie und einen anderen«, antwortete Reardon. »Als wir Ihre Spur aufnahmen, begannen wir auch 146
nach der Spur des anderen zu schnuppern. Er zeigte übrigens die gleichen Symptome wie Sie.« »Haben Sie ihn schon eingeholt?« »Nein – aber das ist nur eine Frage der Zeit. Sie können es nicht wissen, aber wir haben uns über alle Leute informiert, die plötzlich komisch wurden, um dann aus irgendeinem Grunde davonzulaufen. Darum sind wir auch auf Sie gekommen.« »Und wer hat Ihnen den Tip gegeben?« »Jemand, dem Ihre Veränderung aufgefallen war.« »Dann kann es nur Cain gewesen sein. Der hat sich ja schon immer für einen großartigen Amateurpsychologen gehalten.« »Ich möchte kein Ratespiel mit Ihnen veranstalten, und so werden Sie mit Ihren Fragen auch nicht den Namen dieser Person herausbekommen.« »Nun gut, es hat eben irgendwer geredet.« »Darum fuhr ich hinter Ihnen her. Ich wollte gern wissen, wie Sie sich benehmen würden. Woran liegt es nur, daß ein Mann so einfach eine gute Stellung und ein gutes Gehalt aufgeben kann? Wenn wir das herausfinden, können wir auch etwas dagegen unternehmen.« »Dann werden Sie es bei mir nicht leicht haben. In meinem Fall müßten Sie nämlich etwas herausfinden, was gar nicht vorhanden ist.« 147
»Sehen Sie, das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Reardon. »Ich nehme vielmehr an, daß Sie sich von irgendeiner Seite bedroht fühlen oder Angst haben, Ihrer Frau und Ihren Kindern könne möglicherweise etwas zustoßen. Sie fühlen sich bedroht, aber Sie sollten mir ruhig vertrauen.« Bransome sagte nichts. »Es gibt keine Drohung, der man nicht entgegentreten kann; man muß sie nur genau kennen. Andernfalls tappen wir im Dunkeln.« Seine durchdringenden Augen musterten Bransome sorgfältig. »Wenn Sie oder ein Angehöriger Ihrer Familie bedroht werden, dann verraten Sie uns den Grund und nennen, wenn möglich, die betreffende Person. Wir werden uns der Sache annehmen, darauf können Sie sich verlassen!« Du lieber Himmel, war das ein Witz! Die Regierung würde dann einen Übeltäter beschützen, um ihn, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kam, auf den elektrischen Stuhl zu schicken. Reardon redete von einem Feind auf der anderen Seite der Erdkugel, während doch Bransomes Feind allein der elektrische Stuhl oder die Gaskammer war. Jetzt wußte er auch, weshalb der militärische Abwehrdienst eingegriffen hatte. Er arbeitete unabhängig von der Polizei. Dem Abwehrdienst kam es nur auf die Sicherstellung wichtiger Staatsgeheimnisse an, die Polizei war nur an der Aufklärung eines Mordes interessiert. 148
»Habe ich recht?« unterbrach Reardon seine Gedanken. »Wird das Leben eines Menschen bedroht?« »Nein.« »Sie lügen!« »Wie Sie wollen«, murmelte Bransome. Reardon blickte durch das Fenster und auf den Zug, der in einiger Entfernung vorüberrollte. Er schwieg einige Minuten nachdenklich, drehte sich plötzlich wieder nach Bransome um und fragte: »Ich weiß noch immer nicht, was Sie in Burleston wollten, Mr. Bransome.« Bransome zuckte unwillkürlich zusammen und wechselte die Farbe. Diese völlig unerwartete Frage traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. »Worauf wollen Sie jetzt hinaus?« »Ihr Gesicht hat Sie verraten. Burleston hat für Sie eine bestimmte Bedeutung, etwas Dunkles und Verzweifeltes hält sich darin verborgen – aber Sie mußten trotzdem hinfahren und Nachforschungen anstellen.« »Wenn Sie schon so verdammt klug sind, müssen Sie doch auch wissen, was ich dort suchen wollte!« »Das weiß ich leider nicht. Andererseits nehme ich auch nicht an, daß Sie es gefunden haben.« Reardon ballte die Fäuste und betrachtete die Knöchel. »Ich kann mir denken, daß Sie die Reise vergeblich gemacht haben.« 149
»Dann raten Sie nur weiter, wenn es Ihnen Spaß macht«, sagte Bransome trotzig. »Sie glaubten, mit einem Unbekannten Kontakt aufnehmen zu können. Aber meine Anwesenheit hat Ihnen das verdorben. Ich wurde gesehen, und mein Gesicht gefiel den Leuten nicht. Darum nahmen sie auch nicht mit Ihnen Kontakt auf, wie das anfangs vorgesehen war. Oder sie ließen sich einfach nicht blicken, obwohl sie Ihnen das versprochen hatten. « »Sie?« »Die andere Seite. Tun Sie nicht so ahnungslos, Sie wissen doch genau, wen ich meine.« »Sie haben eine Hornisse unter Ihrem Hut, und die brummt so laut, daß Sie überhaupt nichts anderes hören können.« »Ich bin besser informiert, als Sie glauben. Sie geisterten in Burleston herum wie eine verlorene Seele im Hades. Sie suchten etwas, das Sie nicht finden konnten. Oder Sie warteten auf etwas, das nicht eintraf. Eine merkwürdige Art, seinen Urlaub zu gestalten, nicht wahr?« Bransome schwieg. »Und Sie kauften sich eine Menge länger zurückliegender Ausgaben der ›Hanbury Gazette‹. Ihr Appetit auf alte Nachrichten war geradezu unstillbar. Sie zogen sich mit den Zeitungen in Ihr Hotelzimmer zurück und studierten eine nach der
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anderen. Aber Sie fanden nichts, was Ihre Nerven hätte beruhigen können, wie?« Bransome preßte die Lippen zusammen und antwortete nicht. »Sie haben in Burleston und Hanbury mit einigen Leuten gesprochen. Mit diesen Leuten haben wir uns gestern abend unterhalten. Wir wollten wissen, ob sie irgendeinen Kontakt mit dem Ausland haben. Aber das ist nicht der Fall. Es kann sich also nur um andere Leute gehandelt haben, die rechtzeitig davon Wind bekamen, daß Sie von uns beobachtet wurden. Darum kamen diese Leute auch nicht zum Vorschein.« »Sie werden lachen«, sagte Bransome, »ich suche eine rothaarige Fußpflegerin, weil ich mir einbilde, daß sie ihr Handwerk am besten versteht.« »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Reardon beleidigt. Bransome fuhr fort: »Ich will Ihnen nur folgendes sagen: Am allerschwersten ist bekanntlich das zu finden, was überhaupt nicht vorhanden ist.« »Was Sie aufgesucht haben oder noch suchen – es ist vorhanden. Ein Mann von Ihrem geistigen Format tappt nicht planlos im Dunkeln herum.« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Sie benehmen sich wie die drei Männer, von denen ich sprach. Wollen nicht reden und weichen allen vernünftigen Antworten aus. Sagen, es gäbe 151
kein Gesetz, das ihnen die Freiheit der Persönlichkeit verbietet. Sie bestehen darauf, das zu tun, was sie gern tun möchten.« »Bitte, was ist verkehrt daran?« »Wir wissen nur, daß etwas nicht stimmt. Henderson hatte eine Eisenwarenhandlung eröffnet und begründete diesen Entschluß ungefähr folgendermaßen: ›Das gefällt mir eben. Ich stehe gern auf eigenen Beinen und bin vollkommen zufrieden. Im Forschungszentrum hatte ich eine gesicherte Stellung, aber jetzt bin ich endlich frei und kann meine Unabhängigkeit genießen.‹« »Das sind ganz vernünftige Gründe, wenn Sie mich fragen.« »Ich frage Sie nicht«, sagte Reardon. »Diese Gründe sind nicht die ganze Wahrheit, und wir wissen es. Wir entdeckten Henderson in Calumet und stellten ihm eine Reihe Fragen. Einen Monat später verkaufte er sein Geschäft und hatte vierzehn Tage danach ein neues in Lakeside. Wir verlieren ihn nicht aus den Augen. Er muß für sein störrisches Benehmen ein Motiv haben – und das haben Sie auch!« Bransome tat, als langweile ihn die Unterhaltung, und blickte schweigend durch das Fenster. »Sie waren in irgendeiner Klemme und mußten nach Burleston reisen, um wieder herauszukommen. Aber leider sitzen Sie noch immer drin. Sie sind in 152
Burleston herumgelaufen wie eine gefangene Ratte, ohne eine Fluchtmöglichkeit zu sehen.« »Hören Sie doch endlich auf damit!« fauchte Bransome. »Der Teufel, den Sie auf Ihrem Rücken trugen, stieg leider nicht in Burleston ab, wie Sie sich das erhofft hatten. Er klammerte sich an Ihrem Rücken fest und sitzt noch immer da. Sie werden ihn nicht abschütteln können. Und dabei ist alles so einfach. Sie brauchen uns nur den Namen des Teufels zu nennen, der Sie reitet.« »Entschuldigen Sie«, sagte Bransome lächelnd und stand auf. »Ich gehe mal zur Toilette.« Er verließ das Abteil, ehe der verdutzte Reardon noch wußte, was er davon halten sollte. Reardon konnte ihn auch nicht einfach zurückhalten, denn er stand ja nicht unter Arrest, war im Augenblick vollkommen frei und konnte sich so zwanglos bewegen wie alle anderen Fahrgäste auch. Aus einem Augenwinkel sah er Reardon aufspringen. Er rannte den Gang entlang, verschwand in der Toilette, schloß die Tür ab, öffnete das Fenster und blickte hinaus. Dann kletterte er rückwärts hindurch. Der Fahrtwind brauste ihm um die Ohren. Seine Finger umklammerten die Metallfassung des Fensters. Dann stieß er sich ab.
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7 Er landete hart auf der hohen Böschung des Bahndamms, prallte ab, flog nach vorn, machte sich so klein wie möglich und rollte schräg die Böschung hinunter. Sie schien eine Meile hoch zu sein, und er fragte sich, ob er jemals unten ankommen würde. Schließlich landete er in dem trockenen Graben, schmutzig, atemlos und die Nasenlöcher voller Staub. Er blieb kurze Zeit liegen und horchte gespannt. Der Zug ratterte gleichmäßig weiter. Reardon wußte noch nicht, daß er durchs Toilettenfenster gesprungen war, sonst hätte er die Notbremse gezogen. Vielleicht merkte Reardon es erst nach weiteren zehn, zwanzig Meilen. Oder der scharfsinnige Agent hatte die Flucht Sekunden später bemerkt und war selbst aus dem Zug gesprungen? Bransome richtete sich langsam und vorsichtig auf. Er war auf den jähen Schmerz eines gebrochenen Knochens vorbereitet, aber es war alles heil – bis auf seine Kleidung. Die Flucht war filmreif; jeder Regisseur wäre mit dieser Szene zufrieden gewesen. Filmreif – dieses Wort kehrte noch einmal in sein Gedächtnis zurück, so als sei es etwas Wichtiges. Jeder Regisseur wäre mit dieser Szene zufrieden gewesen… Die Filme? Die Filme! 154
Merkwürdig, daß dieses Wort seine Gefühle derart in Bewegung setzte. Bisher hatte ihm der Film nicht mehr und nicht weniger gesagt als alle anderen Erfindungen der Zivilisation. Doch jetzt schien es, ohne einen ersichtlichen Grund, eine andere Bedeutung zu haben. Das Wort Film löste eine eigenartige Spannung in ihm aus. Es war keine direkte Furcht, sondern etwas anderes, das er nicht identifizieren konnte. Film… Kinovorstellung… Vielleicht hatte Reardon recht mit der Behauptung, daß er den Kopf verloren habe oder nicht mehr weit davon entfernt war. Vielleicht war seine geistige Verfassung schon so schlecht, daß der endgültige Zusammenbruch nicht mehr eine Frage von Wochen, sondern von wenigen Stunden war. Dann würde er im Kerker des Wahnsinns leben und nur von Zeit zu Zeit eine traurige, tränenüberströmte Dorothy zu Gesicht bekommen. Er kletterte aus dem Graben, die Böschung hinauf und blickte das Eisenbahngleis entlang. Der Zug war verschwunden. Bransome sah auch keinen verschrammten und staubbedeckten Reardon auftauchen, der in seine Richtung blicken konnte. Er dachte über sich und seine Situation nach und kam zu dem Schluß, daß sein Verstand noch einwandfrei arbeitete. Was auch immer nicht mit ihm stimmen mochte – verrückt war er nicht. Er war nur ein Mann, der eine übergroße Sorgenlast mit sich
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herumschleppte und alle Anstrengungen unternahm, sie loszuwerden. Er wanderte das Bahngleis zurück und erreichte eine Brücke, die sich über eine Landstraße spannte. Er ging die Böschung hinunter und auf diese Straße. Er durfte nicht lange überlegen, welche Richtung er einschlagen sollte oder wo diese Straße hinführte. Reardon würde auch nicht lange nachdenken, sondern kombinieren und blitzschnell zu dem Schluß kommen, daß Bransome, wenn er an dieser oder jener Stelle aus dem Zug gesprungen war, diese oder jene Straße benutzen würde. Er bog links ein und legte, halb gehend und halb laufend, zwei Meilen zurück. Dann stieß er auf eine Steinschotterstraße, bog wieder links ein und wurde zehn Minuten später von einem mit Gemüse beladenen Lastwagen mitgenommen. Der Fahrer interessierte sich nicht für ihn, stellte keine Fragen und sprach die zwanzig Meilen zur Stadt kaum ein Wort. So schweigend wie er ihn zum Einsteigen aufgefordert hatte, setzte er ihn auch wieder ab. Diese Stadt war für ihn gefährlich. Er durfte sich nicht länger darin aufhalten als unbedingt nötig. Er stieg in den nächsten Bus und dankte allen guten Geistern, daß er – obwohl sein Koffer im Zug zurückgeblieben war – noch immer seine Brieftasche und sein Geld bei sich hatte. Mit dem Bus legte er sechzig Meilen zurück und stieg in einer verhältnismäßig großen Stadt aus. Er 156
war sich seines schäbigen Aussehens bewußt und blieb nur so lange, um sich zu waschen, zu rasieren und den Staub von seinem Anzug zu bürsten. Aber sein Selbstvertrauen ließ immer noch sehr zu wünschen übrig. Er kam sich vor wie ein Landstreicher. Nach einer Mahlzeit fühlte er sich schon besser, ging vom Restaurant zur Bushaltestelle und begegnete unterwegs zwei Polizisten, die ihn zwar sahen, aber nicht weiter wichtig nahmen. Anscheinend wußte hier noch niemand etwas von seiner Flucht, doch es würde nicht mehr lange dauern. Ein Schnellbus, der siebzig Meilen in östlicher Richtung fuhr, war abfahrbereit. Bransome stieg ein und war, als er Platz genommen hatte, in nichts von den anderen Mitreisenden zu unterscheiden. Ohne Zwischenfälle erreichte er den Bestimmungsort. Jetzt war er seiner Wohnung einen großen Sprung näher. Zu Hause! Er sehnte sich nach dem Klang einer vertrauten Stimme, der Stimme von Dorothy. Vielleicht hatten sie die Telefonleitung angezapft und konnten alles mithören? Ein Gespräch mit Dorothy würde der Polizei oder der militärischen Abwehr seinen gegenwärtigen Standort verraten. Es war riskant, doch andererseits mußte er sein moralisches Rückgrat stärken. Auf keinen Fall würde man ihn hier so leicht finden wie beispielsweise in Burleston oder Hanbury. Mit ein wenig Vorsicht und Verstand konnte er hier einen 157
Monat leben, ohne daß sich ein Polizist für ihn interessierte. In der Halle der Hauptpost standen eine Reihe Telefonzellen; er wählte eine der mittleren und rief Dorothy an, die sich sofort meldete. Er bemühte sich, seiner Stimme einen unbeschwerten, heiteren Klang zu verleihen, und grüßte: »Hallo, meine Lieben! Wie geht's euch so?« »Ich habe schon gestern abend auf deinen Anruf gewartet, Rich«, sagte Dorothy. »Ich wollte anrufen, aber es klappte leider nicht. Da war so ein schwatzhafter Bursche; der redete und redete und fand kein Ende. Darum habe ich erst heute angerufen. Besser später als überhaupt nicht, wie?« »Natürlich, Rich. Was machst du jetzt? Fühlst dich nun wieder besser?« »Und ob!« log er. »Was geht bei euch vor?« »Bei uns ist alles in Ordnung, bis auf ein paar komische Ereignisse.« »Wie sahen die aus?« »Am Tag nach deiner Abreise rief jemand an. Vom Forschungszentrum. Er wollte wissen, wo du hingefahren bist.« »Und was hast du geantwortet?« »Diese Frage kam mir merkwürdig vor. Du hast mich immer gewarnt, von deiner Arbeit zu sprechen, 158
und darum habe ich ihm gesagt, er soll sich bei der zuständigen Abteilung erkundigen.« »Wie reagierte er darauf?« »Ich glaube, er ärgerte sich«, antwortete Dorothy mit besorgter Stimme. »Oh, Rich, hoffentlich habe ich nicht eine wichtige Persönlichkeit verschnupft!« »Du hast vollkommen richtig gehandelt«, beruhigte er sie. »Das ist noch nicht alles«, fuhr sie fort. »Zwei Stunden später standen zwei Männer vor der Tür. Sie sagten, sie seien von der Sicherheitsabteilung des Forschungszentrums und zeigten auch einen entsprechenden Ausweis vor. Einer war groß und hager und hatte kleine Augen; der andere sah ziemlich kräftig aus, war kleiner und hatte kurzgeschnittenes Haar. Sie sagten, ich solle mir keine Gedanken machen, es handele sich um eine routinemäßige Überprüfung. Dann wollten sie wissen, ob du mir etwas von deiner Reise erzählt hättest. Ich sagte, mir sei lediglich bekannt, daß du weggefahren wärst, sonst nichts. Das genüge, sagten sie, verabschiedeten sich und gingen. Sie waren freundlich, aber auf eine recht kühle Art.« »Geschah noch etwas?« »Ja. Am folgenden Morgen fragte so ein großer, athletisch gebauter Mann nach dir, und ich hatte irgendwie das Gefühl, als wüßte er genau, daß du nicht zu Hause bist. Ich sagte ihm auch, du wärst vorübergehend unterwegs. Wo und für wie lange, 159
wollte er wissen. Er nannte mir weder seinen Namen noch seinen Beruf und wich immer aus, wenn ich darauf anspielte. Ich sagte, er solle sich an das Forschungszentrum wenden, und ich hatte dabei den Eindruck, als würde er das nicht tun. Ich weiß auch nicht, warum. Aber ich wurde ihn wenigstens rasch los.« »Das ist wahrscheinlich der Bursche gewesen, der am Vortag angerufen hat«, meinte Bransome. »Ich glaube nicht, daß es derselbe Mann gewesen ist – seine Stimme klang anders.« »Wie sah er denn aus?« Dorothy war eine gute Beobachterin und konnte ihn annähernd beschreiben. Bransome sah ihn in groben Umrissen vor sich und mußte an den Mann denken, der ihn in der Gaststätte im Spiegel angestarrt und sich auf dem Nachhauseweg mehrmals an seine Fersen geheftet hatte. Er konnte sich keinen anderen Mann vorstellen, der Dorothys Beschreibung noch näherkam. »Und er sagte nicht, was er von mir wollte?« »Nein, Rich.« Sie machte eine Pause und sprach: »Vielleicht irre ich mich, aber ich hatte den Eindruck, daß er dich überhaupt nicht sprechen wollte. Er wollte sich nur davon überzeugen, daß du wirklich weggefahren bist. Er war auch nicht enttäuscht, als ich mich weigerte, nähere Auskunft über deinen Verbleib zu geben. Aber eins muß ich 160
ihm lassen: er war sehr höflich – so wie das bei manchen Ausländern der Fall ist.« »Glaubst du, daß er ein Ausländer war?« »Ja. Er hatte so etwas Fremdes an sich. Das spürt man doch. Er sprach fließend, aber mit einem leichten Kehlkopfakzent.« »Hast du die beiden Leute vom Forschungszentrum angerufen und ihnen etwas über diesen Mann erzählt?« »Nein, Rich. Hätte ich das tun sollen? Ich dachte nicht, daß es so wichtig –« »Das ist auch nicht wichtig«, unterbrach Bransome. Er unterhielt sich noch einige Zeit mit ihr, erkundigte sich nach dem Wohlbefinden der Kinder, machte ein paar witzige Bemerkungen und ließ durchblicken, daß er möglicherweise ein paar Tage später nach Hause kommen würde als vorgesehen. Dann verabschiedete er sich und ging eiligst aus der Telefonzelle. Das Gespräch hatte gefährlich lange gedauert. Er ging durch die Straßen, überdachte die letzten Informationen und fragte sich, was sie wirklich bedeuteten. War der letzte geheimnisvolle Besucher tatsächlich der Mann, für den er ihn hielt, und wenn er ein Ausländer war, wie Dorothy wissen wollte, dann mußte Bransome sich ursprünglich geirrt haben. Der Bursche war kein Kriminalbeamter oder 161
irgendein Agent der Regierung; er war vielmehr ein Beobachter, aber keiner, der etwas mit den zivilen und militärischen Behörden zu tun hatte. Zunächst hatte jemand angerufen, wahrscheinlich vom Forschungszentrum aus, und von Dorothy keine befriedigende Antwort bekommen. Dann waren Reardon und ein Assistent persönlich erschienen. Aus unbekannten Gründen war Reardon ihm nicht zum Bahnhof gefolgt, sondern erst ein, zwei Tage später nach Hanbury gefahren, um dort mit ihm zusammenzutreffen. Wahrscheinlich hatte Reardon noch mit jemandem Rücksprache genommen und die Beobachtung einem anderen Mann überlassen. Dann war da noch der letzte Besucher, dieser Ausländer. Die einzig logische Schlußfolgerung war, daß sich zwei getrennte und verschiedene Gruppen gleichermaßen für seine Bewegungen und Handlungen interessierten. Keine von beiden unterstand der Polizei. Aber die Polizei war die einzige Behörde, die das Recht hatte, sich mit seiner Person zu befassen. Je mehr er darüber nachdachte, um so verrückter kam ihm alles vor. Dieser Wahnsinn mußte irgendeine Methode haben. Es gab eine Lösung – sie mußte nur gefunden werden. Bransome übernachtete in einem kleinen Logierhaus der Vorstadt. Es war eine dürftige Absteige, kaum viel besser als ein Rattenloch, aber die Besitzerin, eine mürrisch dreinblickende, kantige 162
Frau, sah aus, als rede sie nur ungern. Diese Charaktereigenschaft, vermutete Bransome, hatte ihr einen Kundenkreis beschert, der sich aus Leuten zusammensetzte, die auf ein besonders hohes Maß Diskretion angewiesen waren. Bransome hatte die Adresse des Logierhauses von dem Zeitungsjungen an der Ecke erfahren, einem abgerissen aussehenden Burschen, für den eine Strohmatratze schon ein Luxusgegenstand sein mochte. Um zehn Uhr morgens war Bransome wieder im Stadtzentrum anzutreffen. Dort suchte und entdeckte er die Volksbücherei, ging hinein, verlangte das Städtelexikon und zog sich damit in den Leseraum zurück. Es gab eine Menge Städte, die mit ›Lake‹ begannen: Lake Thisse, Lake Thatta, verschiedene Laketowns, Lakeville, Lakehurst, Lakeview und nicht weniger als vier Lakesides. Nur der letztere Name interessierte ihn. Ein Lakeside hatte vierhundert, ein anderes nur ganze zweiunddreißig Einwohner. Obwohl er nichts von einer Eisenwarenhandlung wußte, hatte er Grund zu der Annahme, daß beide Orte nicht groß genug waren, um diesen Erwerbszweig ertragreich zu machen. Die anderen beiden Lakesides sahen vielversprechender aus. Jedes hatte annähernd zweitausend Einwohner. Und welche von beiden Städten sollte er aufsuchen? Eine telefonische Rückfrage hatte wenig Sinn. Er mußte die Eisenwarenhandlung an Ort und Stelle aufsuchen. Befand sie sich nicht im ersten Lakeside, 163
dann eben im zweiten. Er beschloß, zunächst dem weniger weit entfernten Lakeside einen Besuch abzustatten. Es war Zeit- und Geldverschwendung, weiter zu reisen als nötig. Er ging zum Hauptbahnhof und sah sich am Fahrkartenschalter und auf dem Bahnsteig alle Leute gründlich an. Busstationen und Bahnhöfe waren die Lieblingsplätze von Schnüfflern und Beobachtern, waren die Wasserlöcher in der Wüste, an denen sich Verfolger und Gejagte zwangsläufig treffen mußten. Er ließ seinen Blick herumschweifen, bis der Zug einfuhr. Als er ins Abteil stieg, tat er das in der beruhigenden Gewißheit, daß ihn niemand kannte. Die Fahrt nahm einen großen Teil des Tages in Anspruch, und er mußte zweimal umsteigen. Am frühen Abend schlenderte er die Hauptstraße einer in Wälder eingebetteten Kleinstadt entlang. Im Süden schimmerte ein langer, schmaler See. Er trat in eine Imbißstube, bestellte Sandwiches und Kaffee und sprach mit dem Bediensteten. »Gibt's hier in der Nähe eine Eisenwarenhandlung?« »Die von Addy«, antwortete der Mann. »Einen Block weiter und dann um die Ecke.« »Hat der Laden kürzlich den Besitzer gewechselt?« »Nicht daß ich wüßte, George.«
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»Danke!« sagte Bransome. In einer Stadt von dieser Größe kannte einer den anderen, wußte auch alles über den anderen. Er verließ die Imbißstube, blickte die Straße entlang und wußte nicht, welche Richtungen unter ›hinauf‹ und ›hinunter‹ zu verstehen waren. Die waagerechte Straße konnte an beiden Enden aufhören oder anfangen. Nun, das würde sich feststellen lassen. Er wandte sich nach rechts, ging einen Block weiter und dann um die Ecke. Die Richtung stimmte; er sah einen kleinen Laden, über dessen Eingang eine Tafel mit der Beschriftung: ›Addy's Eisenwarenhandlung‹ zu sehen war. Zwei Kunden waren im Laden. Einer kaufte eine Rolle Maschendraht, der andere betrachtete gerade einen Ölofen. Der erste Kunde wurde von einem schlaksigen Jüngling mit einer Pilzkopffrisur bedient, um den zweiten kümmerte sich ein Mann, der eine dicklinsige Brille trug. Er blickte bei Bransomes Eintritt auf, machte ein verwundertes Gesicht, unterhielt sich aber weiter mit dem Kunden über den Ölofen. Bransome setzte sich auf eine Nagelkiste, wartete, bis die beiden Kunden gegangen waren, und sagte: »Hallo, Henny!« Frank Henderson war alles andere als entzückt und grunzte: »Was wünschen Sie, Sir?« »Ich hätte mir Ihre Begrüßung anders vorgestellt«, grinste Bransome. »Freuen Sie sich gar nicht, einen alten Kollegen wiederzusehen?« 165
»Ich kenne Sie nur dem Namen nach und gewissermaßen vom Ansehen. Wenn wir Freunde sind, dann ist mir jedenfalls nichts davon bekannt.« »Alle Freundschaften beginnen schließlich mit dem Namen, Henny.« »Sie haben die weite Reise doch nicht nur deshalb gemacht, um mir einen Kuß zu geben!« war Hendersons bissige Entgegnung. »Kommen Sie also zur Sache. Was wollen Sie?« »Mit Ihnen sprechen – unter vier Augen.« »Wer hat Sie hergeschickt?« »Niemand. Keine Seele. Ich bin hier, weil ich mit Ihnen sprechen will.« »Stimmt. Sonst würden Sie ja nicht vor mir stehen.« Henderson machte aus seinem Ärger kein Hehl mehr. »Meine Adresse ist Ihnen vermutlich im Traum erschienen, wie?« »Nein.« »Wie sind Sie dann dahintergekommen? Wer hat Ihnen meine Adresse gegeben?« »Ich werde Ihnen alles erklären, aber zunächst müssen wir uns erst einmal in Ruhe unterhalten können.« Henderson wollte etwas sagen, aber Bransome hob die Hand und fügte besänftigend hinzu: »Nicht jetzt. Nach Ladenschluß, sagen wir mal.«
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Henderson krauste die Stirn und brummte widerwillig: »Nun gut. Um acht Uhr. Drücken Sie auf den Klingelknopf an der Seitentür.« »Wird gemacht.« Als Bransome hinausging, trat ein neuer Kunde ein. Draußen dachte er an Reardons Hinweis, daß Henderson diskret beobachtet würde. Diese Beobachtung erstreckte sich zwangsläufig auf alle Leute, die Henderson aufsuchten. Er blickte die Straße entlang in der Hoffnung, einen Beobachter ausfindig machen zu können, aber der Mann verstand entweder sein Handwerk, oder er hatte gerade dienstfrei. Soviel Bransome feststellen konnte, war nirgendwo eine verdächtige Gestalt zu sehen. Es erhob sich die Frage, wie er bis acht Uhr am besten die Zeit totschlagen konnte. Spazierte er stundenlang auf der Hauptstraße hin und her, zog er neugierige Blicke nach sich, und das war das letzte, was er im Sinn hatte. Er löste das schwierige Problem, indem er zum See ging und an dessen Ufer entlangschlenderte, als genieße er die herrliche Aussicht. Schließlich überfiel ihn gähnende Langeweile, und er kehrte wieder in die Stadt zurück. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, stattete der gleichen Imbißstube einen weiteren Besuch ab und bestellte sich etwas Eßbares. »Kaffee mit Sahne, Albert. Und ein Schinkensandwich.« 167
Der Mann bediente ihn und sagte: »Macht sechzig Cent. Ich heiße übrigens nicht Albert.« »Ich heiße ja auch nicht George.« Bransome gab ihm das Geld. »Ihr Pech«, erwiderte der Mann und kehrte wieder hinter das Büfett zurück. Punkt acht Uhr drückte Bransome auf den Klingelknopf der Seitentür. Henderson öffnete sofort, ließ ihn eintreten und deutete auf einen Stuhl mit Sitzpolster. Henderson nahm ihm gegenüber Platz, zündete sich eine Zigarette an und sprach: »Ich kann mir schon denken, was jetzt kommt, Bransome. Und ich habe das schon mehr als einmal gehört.« Er blies eine dünne Rauchwolke in die Luft und wartete, bis sie sich verflüchtigt hatte. »Sie haben doch im Forschungszentrum eine hübsche runde Summe verdient, Henderson. Bringt Ihnen dieser schimmelige Laden denn mehr ein? Was finden Sie daran so attraktiv? Wissenschaftliche Forschungen sind doch wesentlich interessanter. Warum haben Sie einen guten gegen einen mäßigen Job getauscht? Was steckt wirklich dahinter?« Er legte eine Pause ein und fragte: »Richtig? Übrigens: Ich bin nicht gekommen, um Sie zurückzuholen.« »Warum denn sonst?« »Ich bin selbst in Schwierigkeiten. Vielleicht können Sie mir helfen.« 168
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf –« »Und ich glaube«, unterbrach Bransome, »daß ich Ihnen auch helfen kann.« »Ich brauche keine Hilfe«, sagte Henderson. »Ich brauche nur ein ruhiges, friedliches Leben.« »Was glauben Sie, wie dringend ich das brauche. Aber das ist mir leider genauso wenig vergönnt wie Ihnen.« »Wer sagt denn, daß ich mich nicht wohl fühle?« »Ich will Ihnen nur sagen, daß ich mich nicht so friedlich und ausgeglichen fühle, wie ich mich eigentlich fühlen sollte. Ich denke, das gilt auch für Sie; sonst müßte ich mich wirklich sehr getäuscht haben. Aber vielleicht können wir uns gegenseitig aus der Patsche helfen. Wollen Sie meine Geschichte hören?« »Nun sind Sie schon mal hier. Erzählen Sie, aber belästigen Sie mich nicht mit der alten Leier von ›Komm zurück – alles ist verziehen!‹ So etwas kommt bei mir nicht an, da halte ich jede Wette.« »Sie sind noch immer mißtrauisch«, meinte Bransome. »Ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen. Aber wenn Sie meine Geschichte gehört haben, werden Sie vielleicht anderer Meinung sein. So, und jetzt hören Sie zu.« »Wir sind beide Wissenschaftler, Henny«, begann er. »Jeder hat sein Gebiet. Und wir wissen auch 169
beide, daß unser Beruf ein gutes Gedächtnis voraussetzt. Für uns ist ein gutes Gedächtnis eine absolute Notwendigkeit, sonst würden wir unsere Aufgaben niemals bewältigen können. Das ist Ihnen doch klar?« »So klar, daß sich jedes Wort erübrigt«, sagte Henderson unbeeindruckt. »Wenn Sie mir eine Lektion erteilen wollen, kann ich nur hoffen, daß Ihnen möglichst rasch etwas Besseres einfällt.« »Haben Sie ein wenig Geduld mit mir. Nun weiter: Mein Gedächtnis war immer ausgezeichnet, und ich verdanke ihm, daß ich auf meinem Wissensgebiet ein Spezialist geworden bin. Ich habe alle Möglichkeiten meines Gedächtnisses genutzt und konnte mich stets darauf verlassen. Kein Zweifel, daß das auch in Ihrem Fall zutrifft.« »Kein Zweifel«, bestätigte Henderson gelangweilt. »Ich bin ein Mörder, Henny. Können Sie sich das vorstellen? Ich habe vor ungefähr zwanzig Jahren ein Mädchen erschlagen und diese Tat aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich habe sie unter eine Art seelischen Teppich gefegt, weil ich nicht mehr daran erinnert werden wollte. Kürzlich hörte ich, daß der Mord entdeckt worden sei, was soviel bedeutet, daß die Polizei sich damit beschäftigt. Wenn ich jetzt noch nicht verhaftet bin, dann wird das früher oder später der Fall sein. Ich bin auf der Flucht, Henny, weil ich nicht gefaßt und verurteilt werden will.« 170
Henderson starrte ihn ungläubig an und murmelte: »Sie wollen mir erzählen, daß Sie ein wirklicher Mörder sind?« »Das behauptet mein zuverlässiges Gedächtnis.« Bransome wartete die Wirkung seiner Worte ab und zerstörte sie mit: »Mein Gedächtnis kann auch hervorragend lügen.« Die Zigarette glitt Henderson aus den Fingern. Er bückte sich und hob sie wieder auf. Fast hätte er das glühende Ende in den Mund genommen, aber er merkte es im letzten Augenblick, drehte die Zigarette um und machte einen tiefen Zug. Der Rauch kam ihm in die falsche Kehle. Er bekam einen gelinden Hustenanfall, und es dauerte kurze Zeit, bis er wieder sprechen konnte. »Eins wollen wir erst einmal klarstellen, Bransome. Haben Sie sich einen Mord auf Ihr Gewissen geladen oder nicht?« »Mein Gedächtnis behauptet, daß ich ein Mörder bin. Es weiß sogar genaue Einzelheiten. Auch jetzt sehe ich das Gesicht des Mädchens vor mir, als wir uns gegenseitig anschrien. Ich sehe die Bestürzung in diesem Gesicht, als ich ihr den Schädel eingeschlagen hatte. Ich sehe sie noch auf dem Boden liegen und sterben. Ich sehe mich selbst, wie ich sie unter einem Baum verscharre. Ich sehe die ganze Szene von Anfang bis zu Ende – und alles ist so klar, als hätte es sich erst vor wenigen Tagen abgespielt. Meine Theorie sieht folgendermaßen aus: 171
Ich vermute, daß ich nur deshalb alles so klar und deutlich vor mir sehe, weil sich die ganze Sache tatsächlich erst vor wenigen Tagen abgespielt hat.« »Aber Sie haben mir doch eben erzählt, daß der Mord zwanzig Jahre zurückliegt?« »Das behauptet mein Gedächtnis. Ich sagte Ihnen schon, daß mein Gedächtnis hervorragend lügen kann.« »Wie sind Sie darauf gekommen?« »Anhand von Tatsachen, beziehungsweise wegen nicht vorhandener Tatsachen. Beides deutet darauf hin, daß ich so ein Verbrechen niemals begangen haben kann.« »Was sind das für Tatsachen?« wollte Henderson wissen, dem es nicht gelang, seine Neugier zu verbergen. »Ich bekam es mit der Angst zu tun und rannte davon. Vielleicht weil ich mir einbildete, daß es für einen Verfolger schwerer ist, ein bewegliches Ziel zu treffen.« Bransome lächelte zerknirscht. »Ich hätte eine andere Richtung einschlagen können, aber aus irgendeinem mir unbegreiflichen Grund tat ich das, was ein Verbrecher angeblich immer tun soll, aber im wirklichen Leben nur selten tut: Ich kehrte zum Schauplatz des Verbrechens zurück.« »Ah!« Henderson drückte seine noch nicht zu Ende gerauchte Zigarette aus, beugte sich vor und
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wandte Bransome seine volle Aufmerksamkeit zu. »Was dann?« »Ich konnte nirgendwo eine Spur entdecken.« »Keine?« »Absolut keine. Ich habe das Mädchen in der Nähe einer Ortschaft namens Burleston umgebracht. Haben Sie diesen Namen schon einmal gehört?« »Nein.« Bransome schien diese Antwort mit Enttäuschung zur Kenntnis zu nehmen, aber er fuhr fort: »Ich reiste nach Burleston und erkundigte mich bei Leuten, die schon seit Ewigkeiten dort wohnen. Sie wußten nichts von einem kürzlich aufgedeckten Mord. Ich bin mit einem Taxi herumgefahren, um mir diese Stelle noch einmal anzusehen. Leider konnte ich sie beim besten Willen nicht finden. Dann habe ich sämtliche Zeitungsausgaben eines Jahres durchgeblättert, aber von einem Mord in oder in der Umgebung von Burleston war nicht die Rede.« »Vielleicht sind Sie dann zum falschen Burleston gefahren«, meinte Henderson. »Daran habe ich auch gedacht – aber es gibt nur ein Burleston.« »Dann haben Sie den Namen nicht richtig verstanden. Es kann ja ein Dorf oder eine Stadt mit einem ähnlichen Namen sein.«
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»Es ist Burleston; das weiß ich ganz genau. Ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen.« Henderson dachte einen Augenblick nach und sagte: »Dann ist mit Ihrem Gedächtnis etwas nicht in Ordnung, wenn Sie mich fragen.« »Vollkommen richtig!« Bransome sagte es mit Nachdruck. »Und was ist mit Ihrem Gedächtnis los?« »Was mit meinem Gedächtnis los ist?« Henderson kam auf die Beine. »Wie meinen Sie das?« »Erinnern Sie sich an ein Mädchen namens Arline Lafarge?« »Noch nie von ihr gehört, Bransome, und das ist die reine Wahrheit.« Henderson begann, auf und ab zu gehen. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und einen Ausdruck von Konzentration in seinem Gesicht. »Ist das die Frau, die Sie umgebracht zu haben glauben?« »Ja.« »Warum sollte ich denn etwas von ihr wissen?« »Ich hoffte, Sie würden Arline Lafarge auch umgebracht haben«, entgegnete Bransome gelassen. »Das hätte uns beiden die Augen geöffnet. Dann hätten wir das gleiche Problem gehabt und gemeinsam über eine Lösung nachdenken können.« Er beobachtete Henderson, der wie ein unruhiges Tier im Käfig weiter auf und ab ging. Die Stille war 174
mit Elektrizität geladen, als Bransome plötzlich fragte: »Wen haben Sie umgebracht, Henny?« »Sind Sie verrückt?« Henderson blieb sofort stehen. »Schon möglich. Aber wenn ich verrückt bin, sind es noch andere. Eine ganze Reihe von Leuten hat das Forschungszentrum unter mehr als merkwürdigen Umständen verlassen. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß das auch in anderen Forschungsstätten der Fall gewesen ist. Doch niemand weiß oder kann es sich auch nur vorstellen, weshalb diese Leute ihre Stellung aufgaben. Ich hätte das ebenfalls nicht sagen können. Heute sieht es ein wenig anders aus. Ich bin selbst einer von diesen Ausreißern und weiß, weshalb die Leute den verängstigten Hasen spielen. Jeder kennt insgeheim den Grund seiner Flucht, aber keiner kennt die Motive der anderen Männer. Manche wissen nicht einmal, daß – außer ihnen – noch andere auf der Flucht sind.« »Ich weiß es«, warf Henderson ein, der seine Wanderung durch das Zimmer noch nicht wiederaufgenommen hatte. »Ich habe es selbst erlebt.« »Und ich bin der Sache nachgegangen«, fuhr Bransome fort. »Weiß der Himmel, warum. Vielleicht weil ich von Natur aus mißtrauischer bin als der Durchschnitt. Ich hatte auch kein Loch, in das ich mich verkriechen konnte. Wie dem auch sei, 175
ich fuhr nach Burleston. Dort habe ich mich gründlich umgesehen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich einen Mord auf dem Gewissen habe, der, soviel ich feststellen konnte, niemals begangen wurde.« »Und was hat das mit mir zu tun?« Bransome sah Henderson aufmerksam an, als er antwortete: »Wenn alle Ausgeschiedenen aus dem gleichen oder einem ähnlich triftigen Grund davongelaufen sind, sollten sie sich die Zeit nehmen, zum Schauplatz des Verbrechens zurückzukehren, um nachzuforschen, ob sie wirklich schuldig sind oder nicht. Was sie finden – oder nicht finden –, kann ihnen die Haare zu Berge stehenlassen, aber es würde ihnen eine Menge helfen, wenn sie miteinander Verbindung aufnehmen und ihre diesbezüglichen Erfahrungen austauschen würden.« »Sind Sie deshalb gekommen?« fragte Henderson. »Ja.« »Haben Sie sich schon mit anderen darüber unterhalten?« »Nein. Ich habe keine Ahnung, wo die sind. Daß ich Ihre Adresse erfahren konnte, war reiner Zufall. Ich konnte mir die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, nicht entgehen lassen. Aber das nützt mir nichts, wenn wir nicht frei und offen miteinander reden.« 176
»Sie sind zu mir gekommen – nicht ich zu Ihnen.« »Ich weiß. Ich habe Ihnen den Grund genannt und möchte Ihnen auch einen ausgezeichneten Rat geben: Wenn Sie etwas auf dem Gewissen haben, dann prüfen Sie nach, ob es wirklich existiert. Ich wette zehn zu eins, daß es nicht existiert, selbst wenn Ihr Gehirn noch so sehr das Gegenteil behauptet.« »Ich glaube nicht, daß Sie wirklich intensiv nachgeforscht haben«, meinte Henderson. »Das schimmert deutlich durch Ihre Worte. Ich an Ihrer Stelle hätte gründlicher nachgeforscht. Sie haben nur Beweise gesucht, die Ihnen bestätigen sollten, daß Sie verrückt sind – frei nach dem Motto: Verrückt ist immer noch besser als schuldig. Ich für meine Person würde noch andere Möglichkeiten nutzen, bevor ich mich selber für verrückt erkläre.« »Sie haben vollkommen recht«, sagte Bransome. »Morgen werde ich reinen Tisch machen.« »Wie?« »Ich werde mich an die Polizei wenden.« »Soll das heißen, daß Sie sich aufgeben wollen?« »Davon kann keine Rede sein! Ich werde nur dann aufgeben, wenn man mich gewaltsam dazu zwingt. Keine Kapitulation, ist meine Devise.« Er grinste Henderson an. »Ich will mit der Polizei ein Ferngespräch führen und sie aushorchen. Hat die 177
Polizei so wenig Ahnung wie alle anderen Leute, mit denen ich darüber gesprochen habe, dann ist der Fall erledigt. Dann bin ich eben nicht ganz richtig im Kopf.« »Und Sie würden dann alles auf sich beruhen lassen?« »Nein, ich würde der Ursache meiner Geistesverwirrung nachgehen und, wenn möglich, etwas dagegen tun. Ich möchte in Zukunft nicht noch einmal so einen Alptraum bekommen.« »Klingt logisch.« Henderson nahm Platz und zündete sich eine neue Zigarette an. Er rauchte eher nervös als mit Genuß, sah seinen Besucher skeptisch an und sagte: »Nehmen wir an, Sie sind so unschuldig wie ein Baby. Sie wollen herausfinden, wer Ihnen diesen Wahn aufgehalst hat – wo wollen Sie mit den Ermittlungen beginnen?« »Zu Hause. Dort begann meine Angst.« »Direkt in Ihrem Haus?« »Nein, das würde ich nicht sagen. In meinem Haus, im Forschungszentrum – oder auf dem Weg von einem zum anderen. Meine einzige Informationsquelle liegt in Burleston, und wenn die Polizei dort nichts weiß –« »Gut. Sie wissen ungefähr, wo Sie suchen werden. Aber wissen Sie auch, was Sie suchen?« »Im Augenblick habe ich nicht die entfernteste Ahnung«, gestand Bransome. »Wenn die Polizei in 178
Burleston mich gewissermaßen freispricht, fahre ich in der Überzeugung nach Hause, daß etwas existiert, was ich unbedingt finden muß. Ich bin kein Kriminalbeamter und werde mich daher nach Mutmaßungen und nach Gott richten müssen.« Henderson verdaute diese Worte erst einmal und sagte nach einiger Zeit: »Ich wollte, Myerscough wäre hier.« »Wer ist das?« »Ein Bekannter von mir. Arbeitet in der Abteilung für bakteriologische Kriegsführung. Ich habe allerlei seltsame Gerüchte gehört, die mit dieser Abteilung zusammenhängen. Es heißt, sie haben etwas erfunden, wovon die Leute die Wände hochgehen sollen. Vielleicht hat sich irgendeine Virusart selbständig gemacht und sucht ihre Opfer. Myerscough könnte uns bestimmt mehr darüber berichten.« »Uns?« fragte Bransome. »Es ist Ihr Problem, aber wir beide sprechen doch darüber, nicht wahr?« wich Henderson aus. »Ja, das tun wir. Und wir kommen nicht weiter. Ich weiß, woran das liegt.« »Dann sagen Sie es mir.« »Sie verbergen etwas und sind entschlossen, es so lange wie möglich geheimzuhalten. Zweifellos ist Ihr Interesse an meiner Geschichte echt. Zweifellos können Sie sich in meine Gefühle versetzen – unter 179
der Voraussetzung, daß meine Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber das wissen Sie nicht. Ich könnte Ihnen ja eine Falle gestellt haben, um Sie aus Ihrer Reserve zu locken, und so weit geht Ihre Sympathie nun auch wieder nicht.« »Erlauben Sie, ich –« »Hören Sie genau zu«, sagte Bransome mit fester Stimme. »Nehmen wir an, Sie haben die gleiche Halluzination, die in Ihrem Fall aber tiefer steckt, und Sie wagen nicht, diese Halluzination auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Sie wollen weder Ihr Verbrechen gestehen noch den Namen des Opfers nennen. Von Ihrem Standpunkt aus betrachtet, würde eine solche Dummheit nur die Kräfte auf den Plan rufen, die den Fall aufdecken und Sie zur Rechenschaft ziehen.« »Aber –« »Nehmen wir weiter an, Sie würden mir erzählen, daß Sie irgendwann in Ihrer Vergangenheit jemanden ermordet haben, und ich melde es der Polizei. Was würde die Polizei tun? Sie würde zunächst einmal freundlich lächeln und mir dann einen Stuhl und Kaffee anbieten. Dann werden sie wissen wollen, wann es geschehen ist, wo es war, wie alles vor sich ging und wie der Ermordete geheißen hat. Das kann ich ihnen nicht sagen. Dann werden sie alles für einen schlechten Witz halten und mich hinauswerfen. Und was würden Sie sagen, wenn die Polizei zu Ihnen kommt? Sie werden alles 180
abstreiten und behaupten, daß ich nicht ganz richtig im Kopf bin. Dann wird die Polizei die Nase voll haben, weil sie schließlich etwas Wichtigeres zu tun hat, als ihre Zeit mit sinnlosem Geschwätz zu vergeuden.« Henderson rieb sein Kinn, fuhr mit der Hand über das Haar und machte einen zutiefst besorgten Eindruck. »Und wie soll ich mich zu Ihrer Moralpredigt äußern?« »Sie brauchen mir keine Namen, Daten oder sonst dergleichen zu nennen. Ich möchte nur eine klare Antwort auf eine klare Frage – oder zwei Antworten auf zwei Fragen. Sind Sie der Angelegenheit nachgegangen und haben dabei irgend etwas gefunden, das diese Überzeugung bestätigt?« Nach langem Schweigen antwortete Henderson: »Ja und nein.«
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8 Bransome stand auf und sagte: »Mehr brauche ich nicht zu wissen. Es ist die Hölle, in einem Boot zu sitzen, das im Meer der Illusion treibt. Beruhigend zu wissen, daß noch jemand in dem gleichen Boot sitzt. Wie sehen Sie es?« »Auch so.« »Schade, daß wir uns nicht mit den anderen in Verbindung setzen können. Wir beide würden sie möglicherweise zum Reden bringen, und dann könnten wir uns gemeinsam um eine Aufklärung dessen bemühen, was unseren Verstand heimgesucht hat.« Er blickte auf seinen Mantel und seinen Hut. »Sie wollen gehen?« fragte Henderson. »Ja. Die Unterhaltung ist einstweilen beendet.« »Aber wo wollen Sie um diese Zeit noch hin?« Bransome blickte verwundert auf das Zifferblatt seiner Uhr und antwortete: »Ich muß irgendeine Schlafgelegenheit finden. Notfalls kann ich im Wartesaal ein Nickerchen machen.« »Sind Sie nicht mit dem Wagen gekommen?« »Nein, den Wagen braucht meine Frau, um die Kinder zur Schule zu fahren.« »Sie sind hier in keiner Großstadt«, erinnerte ihn Henderson, »sondern in der tiefsten Provinz. Der nächste Zug fährt morgen um halb elf. Warum 182
übernachten Sie nicht bei mir? Ich habe noch ein Bett in Reserve.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen! Aber ich mache Ihnen doch keine Umstände?« »Durchaus nicht. Ich freue mich über Ihre Gesellschaft. Immerhin haben wir etwas gemeinsam – wenn es auch nur eine Geistesstörung ist.« Bransome blieb sitzen und sah Henderson an. »Sie haben mich beruhigt«, sagte er. »Wie stellen Sie sich die weitere Entwicklung der Dinge vor?« »Nach allem, was Sie mir erzählt haben, muß ich etwas unternehmen. Es ist mir unerklärlich, daß ich nicht sofort daran gedacht habe, mich von der wirklichen Situation zu überzeugen, wie Sie das gemacht haben. Ich hätte daran denken sollen, aber es kam mir einfach nicht in den Sinn. Ich hatte nur den Wunsch, zu verschwinden.« »Vielleicht wußten Sie schon, wohin Sie sich notfalls wenden konnten«, meinte Bransome. »Ich wußte es nicht und dachte lediglich an Burleston. Und ich fuhr mehr oder weniger deshalb nach Burleston, weil mir keine andere Stadt einfiel.« Ihm kam ein anderer Gedanke, und er fügte hinzu: »Vielleicht war ich ängstlicher als Sie, zu ängstlich…« »Das möchte ich nicht sagen. Ich denke, daß in Ihrem Hirn noch ein kleiner Fetzen Ungläubigkeit war, der Sie nach Burleston trieb. Ein Mensch ist nicht wie der andere. Wir mögen ähnlich reagieren, aber nicht völlig übereinstimmend.« 183
»Sicher haben Sie recht.« »Um wieder von meinem Problem zu sprechen«, fuhr Henderson fort, »so muß ich Rückfrage halten. Ich wäre ein Narr, wenn ich es nicht täte. Der alte Addy wird mich vertreten, wenn er damit einverstanden ist.« »Wer ist dieser alte Addy?« »Der Bursche, dem dieser Laden gehörte. Er hat zum erstenmal seit vielen Jahren Urlaub gemacht. Er hat den Urlaub so angenehm verbracht, wie ihn jemand im Alter von zweiundsiebzig verbringen kann. Jetzt trottet er hier herum wie ein verlorenes Kind. Er kann sich nicht mit Nichtstun abfinden. Er hat schon mehrfach Andeutungen gemacht, daß er mir jederzeit zur Verfügung steht, falls ich auf eine Aushilfe angewiesen bin. Ich werde auf sein Angebot zurückkommen und mich in meiner Vergangenheit umsehen. Ich habe zuviel hart verdientes Geld in diesen Laden gesteckt, um ihn auch nur für eine Woche vernachlässigen zu können. Wenn Addy bereit ist, für kurze Zeit die Geschäftsführung zu übernehmen, werde ich in der Lage sein die Reise nach –« Als Henderson mitten im Satz abbrach, warf Bransome ein: »Den Ort brauchen Sie mir nicht zu nennen – ich will ihn gar nicht wissen.« »Was macht das schon? Sie haben mir doch auch von Burleston erzählt.« 184
»Ja, aber ich fühle mich ein wenig sicherer. Ich habe Nachforschungen angestellt, was Sie noch nicht getan haben. Das ist der Unterschied. Solange Sie noch keine näheren Einzelheiten wissen, werden Sie glücklicher sein bei dem Gedanken, daß ich nicht in der Lage bin, Ihnen etwas anzuhängen. Wenn ich weg bin, brauchen Sie mir nicht den Vorwurf machen, Sie ausgefragt zu haben. Sie haben mehr als genügend Sorgen. Ich weiß es – ich habe auch meinen Anteil.« »Kann ich mir denken.« »Nur eins würde ich gern noch wissen.« »Das wäre?« »Angenommen, Sie prüfen nach und entdecken, daß alles nur eine Täuschung ist – was werden Sie dann tun? Werden Sie dann weiterhin diese Eisenwarenhandlung führen oder in Ihren früheren Beruf zurückkehren?« »Meinen Posten hat bestimmt schon lange ein anderer. Und mit Leuten, die gehen, wann sie wollen, und zurückkehren, wann es ihnen beliebt, will das Personalbüro bestimmt nichts zu tun haben.« »Wie würden Sie reagieren, wenn man Sie wieder mit offenen Armen aufnimmt?« »Das wird nie der Fall sein. Ein paar Neugierige haben mich nach dem Grund meiner Kündigung gefragt. Mehr interessierte sie auch nicht.« Henderson seufzte resigniert. »Ich wehrte diesen Angriff ab. 185
Sie bekamen nichts aus mir heraus. Dann zog ich hierher und bin seitdem nicht mehr belästigt worden. Sollte das früher oder später doch wieder der Fall sein, dann gehe ich über die Grenze.« »Das haben die meisten Leute getan.« »Ich weiß.« »Ich wünsche, wir könnten uns mit diesen Leuten unterhalten«, murmelte Bransome. Er dachte daran, Henderson zu erzählen, daß man schon seine Spur aufgenommen habe und ihn heimlich beobachte. Aber er nahm davon Abstand, weil das Henderson nur beunruhigt hätte. »Was Sie in Zukunft unternehmen, ist ausschließlich Ihre Angelegenheit. Wie dem auch sei, ich denke, wir sollten in Fühlung bleiben.« »Das ist auch meine Meinung.« »Wie wäre es, wenn Sie mich hin und wieder anrufen? Ich würde gern die Ergebnisse Ihrer jeweiligen Nachforschungen erfahren. Selbstverständlich bekommen Sie von mir die gleiche Auskunft. Vielleicht stolpert jemand von uns über etwas, das dem anderen nützlich sein kann. Wir müssen zusammenhalten, wenn wir nicht eingesperrt werden wollen.« »Ich kann Ihnen nur immer wieder recht geben. Rufen Sie mich an, wenn Sie es für richtig halten. Ich rufe Sie in Ihrer Wohnung an, wenn ich Ihnen etwas Mitteilenswertes zu sagen habe.« Henderson 186
warf einen Blick auf die Uhr. »Ich werde Ihr Bett herrichten.« »Nichts dagegen einzuwenden.« Bransome stand auf und unterdrückte ein Gähnen. »Ich muß sagen, daß Sie mich sehr ermutigt haben.« »Das dürfte auch umgekehrt der Fall sein«, erwiderte Henderson. Am nächsten Morgen wollte Henderson seinen Gast zum Bahnhof begleiten, doch Bransome wehrte ab. »Wir wollen nicht unnötig die Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Bleiben Sie ruhig in Ihrem Laden. Ich gehe hinaus wie ein Kunde, der etwas bei Ihnen gekauft hat.« Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck. Vor dem Laden sah Bransome sich nach einem von Reardons Beobachtern um. Der einzige Verdächtige war ein verkommen aussehender Faulenzer, der an der nächsten Ecke herumlungerte. Der Bursche sah ihn stumpfsinnig an, als er an ihm vorbeiging. Ein Stück weiter drehte Bransome sich nach ihm um, aber der Bursche machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen. Entweder war die Beobachtung von Hendersons Eisenwarenhandlung ein Meisterstück der Geheimhaltung, oder von dem Beobachter war nur deshalb nichts zu sehen, weil er noch schlief. Auch im Zug konnte er niemanden entdecken, der sein Mißtrauen erregte. Er mußte, wie auf der Hinreise, zweimal umsteigen und einmal eine halbe 187
Stunde warten. Er füllte diese Zeitspanne aus, indem er eine Telefonzelle aufsuchte und die Polizei in Hanbury anrief. Als sich eine Stimme meldete, verlangte er den Chef zu sprechen. Die Stimme am anderen Leitungsende wollte den Grund wissen, aber Bransome wich aus und drohte, den Hörer sofort aufzulegen, wenn er nicht mit ihm verbunden würde. Es knackte in der Leitung. »Polizeichef Pascoe«, meldete sich eine tiefere Stimme. »Mit wem spreche ich?« »Mein Name ist Robert Lafarge«, sagte Bransome schlagfertig. »Vor ungefähr zwanzig Jahren hielt meine Schwester Arline sich besuchsweise in Burleston auf. Sie kehrte nie von dieser Reise zurück. Wir hatten damals Grund zu der Annahme, daß sie mit einem Mann davongelaufen war. Sie hatte nämlich einen recht launischen und unberechenbaren Charakter.« »Was habe ich damit zu tun?« fragte Pascoe geduldig. Er weiß von nichts! durchzuckte es Bransome. »Aber vielleicht können Sie mir das ein wenig genauer erklären«, fuhr Pascoe fort. »Kürzlich habe ich mich mit jemanden aus Ihrer Stadt unterhalten. Er sagte, daß vor einiger Zeit – ich weiß nicht genau, wann – das Skelett eines unter einem Baum begrabenen Mädchens gefunden worden sei. Demnach muß es sich um ein altes Verbrechen gehandelt haben. Das macht mir Sorgen. 188
Ich frage mich, ob die Knochen von meiner Schwester Arline stammen könnten. Sehen Sie, Arline ist damals weggelaufen, ich habe bis zum heutigen Tag nichts mehr von ihr gehört. Die Knochen unter dem Baum geben mir jedenfalls zu denken…« »Von wem haben Sie das erfahren? Von einem Freund?« »Nein, von einem flüchtigen Bekannten.« »Und er hat von Hanbury gesprochen?« »Außerhalb von Burleston, sagte er. Das liegt doch in Ihrem Bezirk, nicht wahr?« »Gewiß, gewiß. Aber wir wissen von nichts.« »Wollen Sie damit sagen, daß –? »Wir haben kein Skelett gefunden, Mr. Lafarge. Haben Sie irgendeinen Verdacht, daß Ihre Schwester das Opfer eines Mordes wurde?« »Eigentlich nicht. Wie gesagt, wir haben viele Jahre nichts mehr von Arline gehört, und so muß sich zwangsläufig der Verdacht aufdrängen, daß es sich um ihr Skelett handeln könne.« »Wußte Ihr Bekannter etwas von Ihrer Schwester?« »Nein.« »Und Sie haben ihm nichts von ihr erzählt?« »Nein.«
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»Dann war das, was er Ihnen erzählt hat, ein Produkt seiner Phantasie.« »Das kann schon möglich sein«, sagte Bransome und kam zu dem Schluß, daß der Polizeichef nicht die Absicht hatte, das Gespräch zu verlängern. »Aber dann weiß ich nicht, weshalb er mir ein Märchen erzählt hat.« »Er wußte, daß Sie ihm aufmerksam zuhörten«, erklärte Polizeichef Jim Pascoe mit sarkastisch klingender Stimme. »Ein Schwätzer braucht einen Zuhörer wie der Rauschgiftsüchtige sein Gift. Darum kommen ja auch immer wieder Leute zu uns gerannt, die ein Verbrechen gestehen, das sie gar nicht begangen haben. Meiner Meinung nach sind die Strafen für ›Irreführung der Behörden‹ oder ›Erregung öffentlichen Ärgernisses‹ viel zu gering. Wir haben ohnehin genug Zeitverluste wegen lächerlicher Unwichtigkeiten.« »Ich verstehe«, sagte Bransome und wußte, daß Pascoe bei der nächsten Frage die Falle öffnen würde, damit er hineinging – wenn eine Falle existierte. »Dann brauche ich also nicht persönlich zu kommen und mich umzusehen?« »Es gibt nichts zu sehen, Mr. Lafarge.« »Danke«, erwiderte Bransome erleichtert. »Verzeihen Sie die Störung.« »Nicht der Rede wert. Sie haben auch vollkommen richtig gehandelt. Die besten Tips bekommen wir immer noch von mißtrauischen Leuten. 190
Leider hat sich Ihr Verdacht nicht bestätigt, und mehr können wir nicht sagen.« Bransome bedankte sich nochmals, beendete das Gespräch, verließ die Telefonzelle, nahm auf einer Bank in der Nähe Platz und dachte nach. Er schüttelte den Kopf. Die Stimme des Polizeichefs hatte einen in jeder Hinsicht aufrichtigen Klang gehabt. Er hatte nicht versucht, ihn in der Telefonzelle festzuhalten, um die örtliche Polizeibehörde zu benachrichtigen. Das wäre die übliche Taktik gewesen, wenn es sich um einen unaufgeklärten Mord gehandelt hätte. Aber der Polizeichef hatte sogar Bransomes Angebot abgeschlagen, den Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken. Damit war alles klar. In Burleston war kein Skelett gefunden worden, obwohl Bransomes Gedächtnis das behauptete und der Fernfahrer bestätigt hatte, daß so etwas geschehen war. Die einfachste Lösung dieses Problems lag immer noch in der Theorie, die er bereits mehr als einmal in Betracht gezogen hatte: der Fernfahrer hatte von einem verblüffend ähnlichen Verbrechen gesprochen und dadurch ahnungslos Bransomes Schuldbewußtsein geweckt. Doch andererseits hatte diese Idee ein paar Schönheitsfehler. Während sie sein eigenes angstvolles Herumirren erklären mochte, sagte sie nichts über Henderson aus. Sie erklärte nicht Reardons Tätigkeit und erst recht nicht das
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Auftreten jenes geheimnisvollen großen Mannes, den Dorothy für einen Ausländer gehalten hatte. Selbst Reardons eigene Erklärungen konnten diesen Fall nicht aufhellen. Nach seinem Bericht hatten die verschiedenen Forschungsstätten des Landes eine Reihe guter Leute verloren. Reardon kümmerte sich um zwei von ihnen, und einer war Bransome. Aber zeichnete der schwatzhafte Fernfahrer auch für alle anderen Fälle verantwortlich? Was hatte Reardon gesagt? Aus der Kompanie könne ein Regiment und aus dem Regiment eine Armee werden, wenn es nicht gelinge, dieser Entwicklung Einhalt zu bieten. Welch einer Entwicklung? Antwort: Was immer diese Männer plötzlich in die Flucht trieb. Immerhin waren all diese Männer Wissenschaftler oder zumindest hochqualifizierte Fachleute. Sie konnten logisch denken und ihre Gefühle sondieren. Was waren es also für Ereignisse, die Leute dieses Schlages durcheinanderbringen konnten? Bransome konnte sich nur einen Grund vorstellen. Die Furcht vor dem Tod – besonders vor einer vom Gericht verhängten Todesstrafe. Der Zug fuhr ein. Bransome fand einen ungestörten Platz, auf dem er sich in Ruhe mit seinen Problemen auseinandersetzen konnte. Im Moment nahm er kaum von den anderen Fahrgästen Notiz, und es war 192
ihm auch gleichgültig, ob seine Person jemanden interessierte. Er war ruhiger geworden und konnte jetzt systematischer und zusammenhängender denken. Ihm war, als habe eine unsichtbare Hand in seinen Schädel gegriffen und einen Haufen überflüssiger Murmeln weggenommen, die schon zu lange darin herumgerollt waren. Einige waren noch geblieben, aber er hatte nun einen bedeutend besseren Überblick. Sein Schuldgefühl existierte noch, aber die Alarmglocke war verstummt. Polizeichef Pascoe hatte sie zum Schweigen gebracht, entfernt und auf den Schrotthaufen geworfen. Zum erstenmal seit Tagen konnte er ruhig dasitzen und seine eigenen Denkprozesse verfolgen. Wichtig war, daß Arline – die echte oder die eingebildete Arline – noch immer auf dem alten Platz war und das sicher bis zum Tag des Jüngsten Gerichts bleiben würde. Das war wohl der wichtigste Punkt der ganzen Angelegenheit. Die Polizei suchte ihn nicht, verdächtigte ihn nicht, kümmerte sich den Teufel um diese düstere Episode in seiner Vergangenheit. Sein Name war noch nicht für die Todeskammer vorgemerkt, doch vielleicht der Name eines anderen, den die gleichen Ängste verfolgten, die Bransome gepeinigt hatten. Weiter war wichtig, daß es nicht die Polizei, sondern offenbar nur eine bestimmte Interessengruppe auf ihn abgesehen hatte. Damit war die 193
Gefahr geringer. Man jagte ihn wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte, aber leicht hätte begehen können. Es war nichts, was er bereits getan hatte; davon war er überzeugt. Ohne Zweifel beherrschte Arline die dunklen Verliese seines Geistes. Andere Schuldgefühle gab es nicht, jedenfalls keine, deren Ursache er selbst verschuldet hatte. So mußte es sich um ein Verbrechen handeln, das nicht in der Vergangenheit, sondern noch in der Zukunft lag. In seiner besonderen Position sah er nur zwei Möglichkeiten, sich diesen nach ihm greifenden Kräften zu entziehen: er konnte zum Feind überlaufen oder seiner eigenen Seite den Dienst verweigern. Das war es, was Reardon unmißverständlich angedeutet hatte. Nicht sehr schmeichelhaft für ihn. Es besagte, daß beide Seiten, Freund und Feind, in seiner Person einen recht labilen Menschen sahen. Beide Seiten blickten gewissermaßen von oben auf ihn herab. Er krauste bei diesem Gedanken die Stirn. Die anderen Leute mußten eine sehr niedrige Meinung von ihm haben. Man sah in ihm einen Unglücksraben und wußte schon im voraus, wie er sich in dieser oder jener Situation verhalten würde. Sie hatten es nicht mit harten, schweigsamen Männern wie Markham, Cain und Potter zu tun. O nein, sie brauchten sich lediglich an einen Schwächling wie Bransome heranzumachen, der nur einen sanften 194
Schubs benötigte, wenn er die gewünschte Richtung einschlagen sollte. Mein Gefühl meldet sich wieder zu Wort, dachte er. Männer reagieren so, wenn sie ihr Selbstbewußtsein verloren haben. So etwas kann in die Irre führen. Das kommt nicht in Frage. Ich muß die Dinge objektiv betrachten. Warum hat der Feind es ausgerechnet auf mich abgesehen? Antwort: Seine Taktik beruht auf dem Prinzip der Zweckmäßigkeit; sie wählen ihre Opfer, wie es die Umstände erfordern. Warum passe ich besonders gut in sein Konzept? Antwort: Das kann ein Zufall sein. Als der Feind bereit war, stand ich zur Verfügung und die anderen nicht. Ich war die Gelegenheit. Warum wird beispielsweise Joe Soap von einem Wagen überfahren, während seine Freunde und Nachbarn von einem Unfall verschont bleiben? Antwort: Weil Joe und sein Wagen sich zur entsprechenden Zeit am entsprechenden Ort aufhielten. Überfahren? Gestoßen! Seine Hände wurden plötzlich feucht, während sich in seinen Augen Verwunderung widerspiegelte. Jener teuflische Tag hatte mit einem unerklärlichen Sturz auf der Treppe begonnen. Er sah die Szene noch deutlich vor sich. Er war zehn oder zwölf Stufen hinuntergestiegen und hatte noch vierzig vor sich gehabt. Dann der grelle Blitz und sein halsbrecherischer Sturz, vor dessen Folgen ihn nur die 195
beiden die Treppe hinaufkommenden Männer schützten. Er konnte noch ihre ausgestreckten Arme sehen, als er auf sie zustürzte… Ihre Hände hatten ihn blitzschnell aufgefangen, sonst wäre er alle vierzig Stufen hinuntergestürzt und hätte sich das Genick gebrochen. Jetzt fiel ihm ein, daß sie die Situation erstaunlich rasch erkannt hatten – als wären sie auf seinen Sturz vorbereitet gewesen, als hätten sie gewußt, daß er von einer ganz bestimmten Stufe stürzen würde. Nur ihr blitzschnelles Zupacken hatte ihn gerettet. Dennoch hatte sein Sturz schmerzlichere Folgen gehabt, als er Dorothy gegenüber zugegeben hatte. Er war bewußtlos geworden, und als er wieder klar denken konnte, da saß er auf der Treppe, während seine beiden Helfer glaubwürdige Anteilnahme zeigten. Die bläuliche Schramme an seinem Ellenbogen war verständlich, denn er konnte mit dem Arm aufgeschlagen sein. Doch der Schlag auf den Schädel und die dadurch hervorgerufene Beule waren etwas anderes. Er wußte nicht, wie diese Verletzung entstanden war. Mein Gott, konnte man ihn hinterrücks niedergeschlagen haben? Der Unfall hatte ihn seelisch und geistig derart durcheinandergeschüttelt, daß sein dienstfreier Vormittag eine Kette lückenhafter Ereignisse gewesen war. Wenn er jetzt darüber nachdachte, konnte er sich nicht erinnern, was er bis zum Mittag mit der 196
restlichen Zeit angefangen hatte. Er mußte hauptsächlich über seine Bewußtlosigkeit nachgedacht haben, die seinen Sturz entweder ausgelöst oder begleitet hatte, und er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, einen Arzt aufzusuchen. In jedem Fall war seine Verwirrung so stark gewesen, daß er vorübergehend den Zeitbegriff verloren hatte. Es fehlten ein paar Stunden – und darum hatte er auch ein Taxi genommen, um pünktlich im Forschungszentrum anzukommen. Und so hatte Freitag der Dreizehnte angefangen. Sein Unglückstag. Ein Sturz. Zwei Männer, die ihn aufgefangen hatten. Von irgendwoher ein Schlag auf den Kopf. Die fehlende Zeit an jenem Morgen. Die Unterhaltung der beiden Fernfahrer. Der große Mann, der ihm folgte. Seine Flucht. Reardon auf den Fersen. Eine Kompanie, ein Regiment, eine Armee… Seine Gestalt straffte sich, sein Mund wurde schmal, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Herstellung einer Atombombe bedurfte schwieriger und sorgfältiger Vorbereitungen. Die fertige Atombombe war an sich harmlos – um wirksam zu werden, mußte sie explodieren. Man muß erst auf den Knopf drücken oder den Zeitzünder einstellen, dachte Bransome. Wenn man diese Technik auch bei einem menschlichen Gehirn anwenden konnte, indem man es ebenfalls mit einem Explosivstoff anreicherte, auf 197
den Knopf drückte oder den Zünder auf ein bestimmtes Wort einstellte… Das menschliche Gehirn konnte Wochen oder Monate vollkommen ruhig bleiben, bis der Augenblick gekommen war, an dem jemand auf den Knopf drückte oder das Kommando zum Entfesseln dieser Kräfte gab. Ein paar Worte eines Fernfahrers, der keiner war. Beunruhigende Worte fürwahr! Der Mechanismus, der die Explosion – die geistige Explosion auslöste! Mehr laufend als gehend verließ er das Bahnhofsgebäude, rempelte dabei die Leute an und murmelte Entschuldigungen. Einige starrten verwundert hinter ihm her. Er spürte ihre prüfenden Blicke, wußte, daß er Aufmerksamkeit erregte, war aber zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, als daß er sich darum gekümmert hätte. Der Schlüssel zu seiner unangenehmen Situation war die Kompanie, aus der ein Regiment werden konnte. Das war so sicher wie Tag und Nacht. Einige dieser Leute würden ihm erzählen, weshalb sie davongelaufen waren, andere würden weniger vorsichtig und ehrlicher sein als der nicht allzu hilfsbereite Henderson. Und einigen würde man gewaltsam ins Gewissen reden müssen. »Jetzt prägen Sie sich das endlich ein: Ich bin kein Polizeibeamter, ich bin nicht von der Abwehr, ich habe überhaupt nichts mit irgendeiner Behörde 198
zu tun. Ich bin Richard Bransome, einer Ihrer Kollegen, der sich ebenfalls auf der Flucht befindet, weil er in seiner eigenen Traumwelt lebt. Ich werde nicht wegen eines Mordes gesucht, der nur in meiner Einbildung existiert. Ja, ich bilde mir nämlich ein, ein Mädchen namens Arline Lafarge erschlagen zu haben. Bitte, was bilden Sie sich ein?« Wenn nur einer, ein einziger, von ihnen sagen würde: »Mein Gott, Bransome, das ist aber verdammt komisch! Arline Lafarge habe ich doch selbst umgebracht. In einem Kaff namens Burleston. Und ich weiß genau, daß ich es getan habe. Sie kann doch schließlich nur einmal umgebracht worden sein – oder?« »Dann sagen Sie mir, weshalb Sie es getan haben.« »Sie trieb mich dazu. Ich tat es nicht vorsätzlich. Sie hat mich in Weißglut gebracht.« »Wie?« »Nun ja… Hm… Das weiß ich nicht mehr so genau. Ich habe ja auch immer versucht, die ganze Geschichte zu vergessen.« »Das war auch bei mir der Fall. Wie wäre es, wenn wir jetzt die anderen suchen würden, um uns zu erkundigen, wer Arline sonst noch umgebracht hat? Wäre doch nett, wenn wir das erfahren. Dann kämen wir zusammen ins Zuchthaus und könnten unsere letzten Stunden zählen.« 199
Würde das etwas helfen? Nichts, was der menschliche Geist sich vorstellen kann, ist unmöglich. Andererseits konnten die unbekannten Kräfte Vorbeugungsmaßnahmen getroffen haben, um eine derartige Gegenaktion von vornherein unwirksam zu machen. Vielleicht hatten diese Kräfte jedem Opfer einen anderen Alptraum aufdiktiert? Das schien bei Henderson der Fall zu sein, denn er hatte nicht einmal geblinzelt, als Bransome die Namen Burleston und Arline Lafarge erwähnte. Er gewann immer mehr den Eindruck, daß diese unglückselige Arline nichts weiter als eine Wahnvorstellung war. Es war schwer, furchtbar schwer, den Gedanken an sie aus seinem Verstand zu verbannen. Fast dasselbe, als wolle man sein Spiegelbild verleugnen, wenn man es anblickte. Trotz der erdrückenden oder gleichsam mangelnden Beweise, trotz seiner ständig zunehmenden Zweifel, blieb seine Erinnerung an den schlimmsten Augenblick seines Lebens scharf und klar. Auch wenn er die Möglichkeit in Betracht zog, daß diese Szene seiner Vergangenheit ein schlechter Traum war, der sich um eine gespenstische Frau gedreht hatte, sah er noch immer deutlich Arlines Gesicht vor sich, sah sie stürzen, sah ihr schwarzes Haar mit der blauen Schleife, das Entsetzen in ihren pechschwarzen Augen, ihren Mund, die schwachen Sommersprossen neben ihrer Nase und den Blutfaden, der ihr über die Stirn 200
rieselte. Sie hatte eine Kette getragen, deren Perlen zu ihren Ohrringen paßten, ein blaues Kleid, schwarze Schuhe und eine goldene Armbanduhr. Es war ein plastisches Bild, und alle Farbtöne waren deutlich zu unterscheiden. Aber war es echt? Oder war es nur ein besonders gut gelungenes Phantasieprodukt, das jeder kritischen Betrachtung standhielt? Die anderen Kollegen würden alles über sie oder Phantome wie sie wissen. Aber es würde schwer sein, wenn nicht unmöglich, diese Leute ohne Reardons Unterstützung zum Reden zu bringen. Er hatte keine Lust, diesen Versuch zu unternehmen, besonders nicht nach den letzten Ereignissen. Abgesehen davon, konnte sich das hemmend auswirken, wenn er nun vom Verfolgten zum Verfolger wurde. Er würde sich nur dann an Reardon und die hinter ihm stehenden Kräfte wenden, wenn ihm keine andere Wahl mehr blieb. Seine Mitflüchtlinge konnten ihm bei dieser Verfolgung nicht helfen, obwohl Henderson, im günstigsten Fall, eine Ausnahme sein mochte. Doch einstweilen mußte er die Jagd allein aufnehmen. Und er glaubte auch, seine Beute zu kennen. Fünf Männer konnten das Geheimnis um Arline Lafarge lösen. Fünf Männer wußten alles über sie und konnten zum Sprechen gebracht werden. 201
Zu diesen fünf Männern gehörten die beiden, die ihn im Sturz aufgefangen hatten, der gesprächige Fernfahrer und sein Kollege und der große Ausländer, der ihn zur Flucht angetrieben hatte. Waren seine Vermutungen richtig, so gab es noch einen sechsten Mann, den unsichtbar gebliebenen Schläger, den er nicht miteinbeziehen konnte, weil er nicht wußte, wie er aussah. Jeder dieser fünf Männer konnte einen Verfolger zum anderen führen und, vielleicht, noch zu einer größeren Gruppe, die im Hintergrund lauerte. Während er weiterhastete, mußte er über seinen plötzlich erwachten Rachedurst lächeln. Er war ein objektiv denkender Mensch, hatte es immer als primitiv empfunden, wenn jemand den Wunsch äußerte, einem anderen die Nase einzuschlagen. Doch jetzt fand er das ziemlich selbstverständlich und hätte sich sogar verachtet, wenn ihm nicht danach zumute gewesen wäre. Es gab Dinge, mit denen man sich nicht abfinden durfte; man mußte etwas unternehmen. Ja, wenn die Gelegenheit kam oder er sie herbeiführen konnte, würde er alle aufgestauten Gefühle in seine rechte Faust packen und die Faust seinem Gegner ans Kinn schlagen. Mit anderen Worten, er war wütend und genoß diesen Zustand.
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9 Der dunkle Vorhang der Nacht war über den Himmel gezogen; Straßenlampen brannten; Schaufensterbeleuchtungen waren aufgeflammt. In dieser Stadt war er zu Hause, aber er suchte nicht seine Wohnung auf; wenn ihn jemand fassen wollte, würde er dort Wache halten und auf die Heimkehr des verlorenen Schafes warten. Was ihn betraf, konnten sie warten, bis sie Wurzeln schlugen. Er hatte nicht die geringste Lust, erwischt zu werden – noch nicht. Was er mehr brauchte als alles andere, war Zeit – genug Zeit, um einen Gegner zu finden, an dem er seine Wut auslassen konnte. Er schob sich rasch, aber vorsichtig durch die Stadt. Hier lebten hundert Leute, einige von ihnen arbeiteten im Forschungszentrum, die ihn kannten, und sei es nur vom Ansehen. Und er wollte nicht gesehen, noch weniger angesprochen werden. Je weniger Leute etwas von seiner Rückkehr wußten, um so besser. Er benutzte die Seitenstraßen und Hintergassen, vermied das helle Einkaufsviertel und trat in einen kleinen Laden, in dem er sich einen Rasierapparat, eine Zahnbürste und einen Kamm kaufte. In einem am weitesten von seiner Wohnung entfernten Motel machte er Station, nahm ein Bad und bestellte eine Mahlzeit. Er kämpfte gegen die Versuchung an, Dorothy anzurufen und mit ihr einen Treffpunkt zu 203
vereinbaren – vielleicht in einem kleinen Cafe oder irgendwo. Aber die Kinder würden bald zu Bett müssen, und es war fraglich, ob Dorothy einen Nachbarn fand, der die Aufgaben eines Babysitters übernehmen konnte. Der Vormittag war günstiger, weil die Kinder dann in der Schule waren. In der Zwischenzeit konnte er Henderson anrufen, falls dieser ehrenwerte Mann sich noch in Lakeside aufhielt. Er ging in die Telefonzelle, wählte die Nummer, und Henderson antwortete sofort. »Sie sind noch immer zu Hause?« fragte Bransome. »Wie Sie hören.« »Ich dachte, Sie wären schon unterwegs.« »Morgen nachmittag«, sagte Henderson. »Der alte Addy freut sich, daß er mich eine Weile vertreten kann. Haben Sie – Sie wissen schon, was ich meine – einen Köder ausgeworfen?« »Ja. Es hat keiner angebissen.« »Wie meinen Sie das?« »Sie wußten nichts, wußten wirklich nichts.« Henderson war skeptisch. »Wenn sie etwas wissen, brauchen sie sich das nicht unbedingt anmerken zu lassen. Ich denke eher, daß sie versucht haben, Sie zu stellen. Haben Sie ihnen genügend Zeit gelassen?« »Nein.« 204
»In diesem Fall läßt sich überhaupt nichts mit Sicherheit sagen.« »Ich habe ihnen keine Zeit gelassen; sie haben nicht versucht, mich zu stellen.« »Wie können Sie so fest davon überzeugt sein?« »Weil sie keinen Versuch machten, die Unterhaltung hinauszuzögern«, erklärte Bransome. »Weiter wollte ich persönlich erscheinen, aber sie legten keinen Wert darauf und sagten, das sei Zeitverschwendung. Alles in allem, sie interessieren sich nicht für mich. Ich sage Ihnen, Henny, die ganze Angelegenheit ist illusorisch, und von diesem Grundsatz werde ich ausgehen.« »In welche Richtung wollen Sie gehen? Was können Sie schon tun? Wollen Sie vielleicht wieder ins Forschungszentrum zurückkehren, wie?« »Nein, das ist nicht meine Absicht – noch nicht.« »Was dann?« »Ich möchte mich ein bißchen umsehen. Mit etwas Glück entdecke ich vielleicht den berühmten roten Faden. Ich werde mir jedenfalls alle Mühe geben. Nichts gewagt, nichts gewonnen, Sie wissen ja.« »Haben Sie schon irgendeine Spur?« »Schon möglich – aber ich möchte dafür nicht die Hand ins Feuer legen.« Bransome krauste die Stirn und fuhr fort: »Wenn, wie ich annehme, Ihre eigenen Ermittlungen den Beweis erbringen, daß 205
Ihre Sorgen grundlos sind, schlage ich vor, daß Sie sich noch einmal an die Umstände erinnern, die Ihre Kopfschmerzen auslösten. Vielleicht fallen Ihnen dabei ein paar Leute ein, die etwas damit zu tun haben könnten. Das sind die Verdächtigen. Sie wissen, was ich meine?« Henderson antwortete unbeeindruckt: »Sie mögen Spaß an Ihrer Rolle als Privatdetektiv haben, Bransome, aber ich traue mir auf diesem Gebiet nicht sehr viel zu. Erstens eigne ich mich nicht zum Privatdetektiv, zweitens bringe ich keinerlei Voraussetzungen mit und drittens kein Interesse.« »Auch mir fehlen die nötigen Voraussetzungen, aber das wird mich nicht hindern. Man kann über seine Talente und Fähigkeiten nur dann ein Urteil fällen, wenn man beides auf die Probe gestellt hat.« »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Bransome.« »Das ist auch meine Absicht. Ich hasse es, auch nur daran zu denken, daß meine Widersacher tun, was sie für richtig halten.« Er ballte eine Hand und betrachtete die Faust. »Wenn Sie herausfinden, daß Sie eine reine Weste haben, Henny, dann lassen Sie es um Himmels willen nicht auf sich beruhen. Geben Sie nicht nach, halten Sie es nicht mit dem Sprichwort, daß man schlafende Hunde nicht wecken soll. Kommen Sie hierher und schließen Sie sich unserer Kampfgruppe an. Vielleicht wurden wir alle von den gleichen Leuten verhext. Vielleicht erkennen Sie den einen und ich den anderen. Wir 206
können uns gegenseitig Tips geben und schließlich das ganze Nest ausheben.« »Ich möchte mich noch nicht festlegen«, sagte Henderson, der instinktiv zu großer Vorsicht neigte. »Sie haben Ihren Fall überprüft und wollen Blut sehen. Meinen Fall werde ich erst noch überprüfen müssen und kann nur auf meine baldige Erlösung hoffen. Im Augenblick sind unsere Positionen verschieden, aber in einigen Tagen haben unsere Boote vielleicht die gleiche Position. Wie ich mich kenne, würde ich dann ebenfalls an einem Racheakt interessiert sein. Und in diesem Fall würde ich dann selber entscheiden, was ich für richtig halte.« »Sie wären kein Mensch aus Fleisch und Blut, wenn Ihnen nicht die Galle überlaufen würde, Henny«, prophezeite Bransome. »Und Sie werden einen Gehilfen brauchen, der den Burschen festhält, wenn Sie ihn auseinandernehmen. Ich bewerbe mich schon im voraus für diese Aufgabe. Umgekehrt rechne ich auch mit Ihrer Unterstützung.« »Ich werde Sie auf dem laufenden halten«, versprach Henderson. »Viel Glück!« Bransome beendete das Gespräch, lieh sich eines der Telefonbücher des Motels aus, nahm es mit in sein Zimmer, las zwei Stunden lang eine Seite nach der anderen und machte sich gelegentlich eine kurze Notiz. 207
Nach der letzten Seite hatte er eine Liste mit Adressen und Rufnummern, unter anderem von einer Beratungsstelle, einem Nervenarzt, einem Autoverleih, zwei Detektivagenturen, vier Speditionsfirmen und einigen Gaststätten für bescheidene Ansprüche, die er noch nie besucht hatte. Die meisten Adressen und Rufnummern würde er nicht brauchen, aber es war vorteilhafter, lieber einige mehr zu haben. Er steckte die Liste in seine Brieftasche und bereitete sich auf die Bettruhe vor. Sein Schlaf war in dieser Nacht tief und traumlos. Am nächsten Morgen um halb zehn Uhr – Dorothy mußte die Kinder zur Schule gebracht haben und wieder zurückgekehrt sein – rief er zu Hause an. Er wollte Dorothy sehen, mußte aber vorsichtig sein. Die Leitung konnte überwacht werden; außerdem bestand die Möglichkeit, daß Dorothy, wenn sie zum vereinbarten Treffpunkt kam, von jemandem verfolgt werden konnte. »Hör zu, mein Schatz, ich habe sehr wenig Zeit. Können wir um halb eins zu Mittag essen?« »Natürlich, Rich, ich werde –« »Du kennst doch die Gaststätte, in der du mal deine silberne Puderdose verloren hattest? Dort warte ich auf dich.« »Ja, aber –« Er hatte schon den Hörer aufgelegt. Zweifellos ärgerte sie sich, aber er konnte nichts daran ändern. 208
Reardon und die Leute hinter ihm hatten die Macht, eine Telefonleitung anzuzapfen, wenn sie das für erforderlich hielten. Kürze und vorsichtiges Ausweichen waren die einzigen Waffen gegen amtliche Lauscher. Um zehn Uhr lungerte er in Nähe der Tore einer großen Speditionsfirma herum. Hier war das Industrieviertel der Stadt: eine breite Straße, rechts und links Fabriken, Höfe, Warenhäuser und Lagerräume. Der Verkehr war spärlicher als im Stadtzentrum, man sah fast nur große Lastwagen mit schweren Ladungen. Es waren auch nur wenige Fußgänger zu sehen, so daß Bransome ein wenig unbehaglich zumute war. Immerhin schlenderte er anderthalb Stunden hin und her. Während dieser Zeit fuhr nur ein Lastwagen hinein, aber keiner heraus. Er sah sich den Fahrer und den Beifahrer an, kannte aber keinen von beiden. Gleich hinter dem Tor war eine Wiegebrücke, daneben ein kleines Häuschen. Er sah einen Mann, der etwas notierte, als der Wagen über die Brücke gefahren war, und dann gelangweilt durch das Fenster blickte. Er bemerkte Bransome, der immer wieder vorbeigeschlendert kam, wurde neugierig, kam schließlich aus dem Häuschen und stellte ihn zur Rede. »Warten Sie auf jemanden, Mister?« »Ich halte nach zwei Leuten Ausschau, die ich kenne«, antwortete Bransome leichthin. 209
»Die lassen Sie aber ziemlich lange warten, wie? Nennen Sie mir die Namen der Leute, dann werde ich mich einmal drinnen umsehen und –« »Leider kenne ich die beiden nur vom Aussehen«, unterbrach ihn Bransome. »Das ist schon mal nützlich«, sagte der Mann. In dem Häuschen schrillte ein Telefon. »Einen Moment!« Er eilte hinein, nahm den Hörer von der Gabel, klappte ein Buch auf, machte eine Eintragung und kam wieder. »Ich kann sie beschreiben«, sagte Bransome und fügte hinzu: »Ungefähr.« »Das ist sehr nützlich. Ich bin nicht besonders gut darin. Könnte nicht mal meine Tante Martha erkennen, wenn Sie sie in Öl malen würden.« »Das würde mich auch sehr überraschen. Sowie ich male…« »Schlimmer als ich können Sie's auch nicht, Mister.« Er kratzte seinen borstigen Kopf, dachte nach und deutete dann quer über den Hof. »Gehen Sie doch mal in das Büro dort und erkundigen sich nach Richards. Der kennt alle Leute so gut wie sein eigenes Gesicht. Er ist für ihre Einstellung und Entlassung verantwortlich.« »Herzlichen Dank.« Bransome schlenderte über den Hof, betrat das Büro und sagte zu dem Mädchen hinter der Barriere: »Bitte, kann ich Mr. Richards sprechen?« 210
Sie blickte ihn mit kühler Berechnung an. »Wollen Sie eingestellt werden?« »Nein«, antwortete Bransome erschrocken, »ich möchte lediglich eine kleine Auskunft.« Wenige Minuten später erschien Richards. Er war ein schmalgesichtiger, enttäuscht aussehender Mann, und seine Stimme hatte einen verkrampft höflichen Klang, als er fragte: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Ich hoffe es. Ich suche nämlich zwei Lastwagenfahrer.« »Warum?« »Bitte?« »Was wollen Sie von den beiden? Hatten Sie Ärger? Und wer sind Sie? Ein Polizist oder ein Versicherungsdetektiv?« »Mir scheint, Sie rechnen immer gleich mit dem Schlimmsten«, grinste Bransome. »Sie müssen viel Ärger mit Ihren Fahrern haben.« »Das ist meine Angelegenheit. Und Ihre?« Weil der Mann offenbar gewohnt war, sich nur mit Amtspersonen – gleich welcher Art – zu unterhalten, erzählte Bransome ihm eine Halbwahrheit. »Ich bin vom Verteidigungsministerium.« Er zog seinen Ausweis und sah, daß der andere ihn mit wachsendem Respekt betrachtete. »Ich habe Grund zu der Annahme, daß zwei Fahrer eine dem Interesse des Ministeriums dienende 211
Auskunft geben können. Gelingt es mir, sie zu finden, möchte ich ihnen einige Fragen stellen.« Richard war zufrieden und sagte weniger mürrisch: »Und die Namen der beiden?« »Die Namen sind mir leider unbekannt, aber ich kann eine Beschreibung abgeben. Der Mann im Wiegehäuschen meinte, Sie würden Bescheid wissen.« »Ich werde mich bemühen. Wie sehen sie aus?« Bransome gab eine Beschreibung der beiden Fernfahrer ab, die sich in der Gaststätte über den Skelettfund in Burleston unterhalten hatten. Es war eine sehr gute Beschreibung, wie er annahm. Als er fertig war, sagte Richards: »Wir haben insgesamt achtundvierzig Leute, die in alle Himmelsrichtungen fahren. Ungefähr zwanzig könnten mehr oder weniger die Männer sein, die Sie soeben beschrieben haben. Einige sind nur einen Tag unterwegs, andere eine Woche oder noch länger. Wenn Sie sich alle Leute ansehen wollen, müssen Sie sich auf eine lange Wartezeit gefaßt machen.« »Das ist schon bedeutend schlechter«, murmelte Bransome enttäuscht. »Wissen Sie genau, daß die beiden Leute bei uns beschäftigt sind?« »Ich habe keine Ahnung, für wen sie arbeiten.«
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»Gerechter Himmel!« Richards sah ihn fassungslos an. »Was für Abzeichen trugen sie denn auf ihren Mützen oder Taschenklappen?« »Keine Ahnung.« »Nun, wie sah der Wagen aus? Welche Farbe hatte er? Haben Sie an der Seitenwand irgendeine Beschriftung gesehen?« »Als ich die beiden Männer zum letztenmal sah, hatten sie keinen Wagen bei sich. Sie waren in einer Bahnhofsgaststätte und warteten wahrscheinlich auf einen Zug.« »Großer Gott!« Richards blickte seufzend nach oben. »Ich will Ihnen mal was sagen. Normale Lastwagenfahrer benutzen keine Züge, es sei denn, sie fahren darin zum Krematorium. Sie laden ihre Wagen ab und nehmen auf der Rückfahrt, wenn möglich, eine Ladung mit. Sonst kommen die Wagen leer zurück. Dann sind die Leute, die Sie suchen, aller Wahrscheinlichkeit nach Überführungsfahrer.« »Hm?« »Ein Überführungsfahrer«, erklärte Richards, sich zur Ruhe zwingend, »fährt mit einer Ladung weg und liefert sie – einschließlich des Wagens – bei einem weiter entfernten Lastwagendepot ab. Dort bekommt er seine nächsten Anweisungen. Er steigt dann in einen anderen beladenen Lastwagen um, entweder in diesem Depot oder in einem anderen, das er mit der Bahn oder dem Bus erreichen kann. 213
Dann liefert er Lastwagen und Ladung wieder woanders ab und so weiter und so fort. Er ist auch gleichzeitig Ersatzmann, vertritt die Leute, die Urlaub haben, krank oder betrunken sind. Er ist der Zigeuner unter den Fernfahrern, heute hier, morgen da und der Himmel weiß, wo er übermorgen ist.« »Ich verstehe«, sagte Bransome und hatte das Gefühl, daß seine kriminalistischen Fähigkeiten mehr als bescheiden waren. »Allerdings liegen die Dinge so, daß Überführungsfahrer nur bei zwischenstaatlichen Gesellschaften Verwendung finden, die über eine Anzahl Depots verfügen. Nicht bei kleineren Unternehmen wie beispielsweise die vier in unserer Stadt. Es gibt Dutzende von Zwischenstaatlichem, die weit über hundert Leute beschäftigen. Und die Beschreibung, die Sie eben abgegeben haben, trifft auf einige tausend Fahrer zu, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendwo zwischen dem Nord- und Südpol auf der Achse sind.« Er spreizte in einer Geste des Bedauerns die Hände. »Wenn Sie in einer Hundehütte zwei besondere Flöhe suchen würden, hätten Sie bestimmt mehr Erfolg. Ich an Ihrer Stelle würde die Suche abbrechen und alles dem Zufall überlassen. Das Leben ist nur kurz.« »Kann man wohl sagen«, murmelte Bransome und wandte sich zum Gehen. »Vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft.«
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»Nicht der Rede wert.« Richards sah Bransome zur Tür gehen und rief hinter ihm her: »Da fällt mir noch etwas ein, Mister! Zwei Fernfahrer würden niemals in der hiesigen Bahnhofsgaststätte warten.« »Warum nicht?« »Hier kommen nie welche her. In dieser Stadt gibt's nämlich kein zwischenstaatliches Depot.« Bransome dachte über diese Information nach. »Soll das heißen, daß es am Ende überhaupt keine Fernfahrer gewesen sind?« fragte er. »Ich habe die beiden Männer gesehen und muß sagen, daß sie mich sehr an Lastwagenfahrer erinnerten.« »In unserer Tankstelle arbeitet ein Bursche, der sieht wie Napoleon aus – ist es aber nicht.« Bransome kehrte noch einmal zur Barriere zurück, beugte sich hinüber, griff nach Richards' Arm, riß ihn hoch und sagte: »Ich erkläre Sie hiermit zum Sieger.« Er verließ das Büro und ging zum Tor. Der Mann im Wiegehäuschen steckte den Kopf durchs Fenster und fragte: »Haben Sie Glück gehabt, Mister?« »Nein, die beiden werden morgen gehängt«, antwortete Bransome. »Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf.« Er ging weiter und bot dem Mann keine Gelegenheit, noch weitere Fragen anzubringen. Der Mann blickte einen Moment, wie vom Donner gerührt, hinter ihm her. Dann schlug er das Fenster zu und riß den Telefonhörer von der Gabel. 215
»Wer soll aufgeknüpft werden? Oder ist der Bursche, der eben im Büro war, übergeschnappt?« Am anderen Leitungsende antwortete eine müde Stimme: »Sie werden bezahlt, um uns solche Leute vom Leib zu halten – nicht, um sie auf uns zu hetzen. Schlafen Sie eigentlich, Sweeny?« Bransome wußte, wo Dorothy den Wagen abstellen würde, nahm in der Nähe des kleinen Parkplatzes Aufstellung und wartete. Fünf Minuten vor der verabredeten Zeit lenkte Dorothy den Wagen auf den Parkplatz und geschickt in eine Lücke. Sie stieg aus, schloß die Wagentüren ab und löste einen Parkschein. Dann ging sie durchs Tor, bog rechts ab und schlenderte die Straße entlang. Sie hatte die Handtasche unter den rechten Arm geklemmt und hielt noch eine Tasche, die Bransome bekannt vorkam, in ihrer linken Hand. Sie schwenkte die Tasche im Rhythmus ihrer Schritte und stellte ihre langen, schlanken Beine zur Schau, die die anerkennenden Blicke einiger Männer auf sich zogen. Noch ein Wagen rollte auf den Parkplatz und hielt unweit von Dorothys Wagen. Zwei Männer stiegen aus, lösten einen Parkschein und schlugen Dorothys Richtung ein. Sie gingen im gemütlichen Schritt und hatten anscheinend nicht die Absicht, sie einzuholen. Normalerweise wäre Bransome mißtrauisch geworden, aber es handelte sich um ältere Herren mit silbergrauen Haaren, und er nahm an, daß sie in jeder Beziehung harmlos waren. Er verließ 216
seine Bereitstellung und hielt nach einem Beobachter Ausschau, den Dorothy unwissentlich im Schlepp haben konnte. Es dauerte nicht lange, da verschwanden die beiden älteren Herren hinter der Drehtür eines Ladens. Dorothy war noch immer zu sehen. Gelegentlich ging sie langsamer, um einen Blick in dieses oder jenes Schaufenster zu werfen. Bransome konnte niemanden entdecken, der ihr folgte. Er sah sich nur die Fußgänger an, aber es kam ihm nicht in den Sinn, die Wagen auf der Straße zu beobachten. Dorothy hatte die kleine Gaststätte erreicht, wo sie vor Jahren ihre silberne Puderdose verloren und wiedergefunden hatte. Sie ging hinein. Bransome, auf der anderen Straßenseite, ging noch hundert Meter weiter, überquerte die Straße und kam wieder zurück. Er entdeckte niemanden, der sich beim Beobachten dieses Manövers verriet. Soviel er sehen konnte, war die Küste klar. Er trat ein und sah Dorothy an einem für zwei Personen bestimmten Tisch sitzen. »Hallo, mein Schatz!« Er hängte seinen Hut auf den nächsten Haken und nahm Dorothy gegenüber Platz. »Hallo, Strolch«, grüßte sie. »Hast du in deinem Anzug geschlafen?« Er glättete instinktiv seine Ärmel und sagte: »So schlimm sieht's nun auch wieder nicht aus.« 217
»Wo hast du überhaupt geschlafen?« fragte sie mit gefährlicher Liebenswürdigkeit. »In Betten«, antwortete er. »Sieh mal, ich habe dich nicht hierherbestellt, um –« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn sie beugte sich zur Seite, nahm etwas vom Boden auf und stellte es auf den Tisch. Es war die Reisetasche, die er im Zug zurückgelassen hatte, als er durch das Toilettenfenster sprang. Er betrachtete sie düster. »Wo hast du die her?« »Ein großer, dunkler Fremder klopfte an die Wohnungstür und gab sie mir.« »Hat er dir auch seinen Namen genannt?« »Ja – Reardon. Natürlich wollte ich wissen, wo er sie gefunden hatte und was du ohne dein Rasierzeug und so weiter machen würdest.« »Wenn du es unbedingt wissen willst, so habe ich in Unterhosen geschlafen. Und was hat er gesagt?« »Du würdest dir einen Bart wachsen lassen und nackt schlafen aus Gründen, über die er lieber nicht reden würde. Wenn ich keine Fragen stelle, meinte er, würde ich auch keine Lügen zu hören bekommen, und außerdem wolle er mit einer möglichen Scheidung nichts zu tun haben.« »Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, was? Du solltest etwas über mich ausplaudern. Zweifellos nahm er an, daß du – mit ein wenig Sorgen – gesprächiger sein würdest. Hat er nicht gefragt, ob 218
du etwas von mir gehört hättest, wo ich bin, was ich tue und so weiter?« »Ja, er stellte mir ein paar Fragen. Ich habe ihm nichts erzählt. Abgesehen davon, konnte ich ihm auch gar nichts erzählen.« Sie machte ein ernstes Gesicht. »Was geht eigentlich vor, Rich?« »Das kann ich dir leider nicht sagen – wenigstens noch nicht. Wenn es dem Ende zugeht, möchten die Behörden es vielleicht gern geheimhalten wollen. Du wirst wissen, daß unsereins nicht mehr reden darf als unbedingt nötig.« »Ja, natürlich.« »Wie dem auch sei, eins kann ich dir verraten: Es ist eine Sache der Sicherheit. Ich bin darin mit einbegriffen. Darum habe ich mir vor meiner Reise Sorgen gemacht. Mittlerweile habe ich herausgefunden, daß noch andere darin verwickelt sind. Weiter habe ich festgestellt, daß die Dinge, was meine Person betrifft, bei weitem nicht so ernst sind, wie es anfangs den Anschein hatte.« »Das ist ein Trost«, sagte sie erleichtert. »Einstweilen nur ein schwacher Trost, mein Schatz. Aus Gründen, die ich nicht erklären kann, muß diese Angelegenheit bis zum Ende durchgestanden werden.« Er suchte nach einer verständlichen Erklärung, ohne dabei alles zu sagen. »Das ist wie mit einem kranken Zahn, weißt du. Ich habe einen Wattebausch mit einer schmerzlindernden Tinktur hineingesteckt und fühle mich nun 219
bedeutend wohler. Aber dieses Mittel hilft nur vorübergehend, denn der Zahn muß samt der Wurzel gezogen werden.« »Von dir selbst?« »Ich bin einer der Leidtragenden und fühle mich berechtigt, etwas zu tun – wenn mir das möglich ist.« »Und die anderen Leidtragenden, wie du sie nennst? Können sie nichts tun?« »Sie sind nicht da und wissen auch nicht, was vorgeht. Ich habe –« Er bemerkte ihren warnenden Blick und sah, daß ein Kellner schweigend an den Tisch getreten war. Er nahm die Speisekarte, diskutierte mit Dorothy über das Menü und gab die Bestellung auf. Der Kellner ging, und Bransome nahm den Faden wieder auf. »Ich habe jemanden gefunden, der sich vielleicht bald an meinen Ermittlungen beteiligen wird. Ein Bursche namens Henderson, Ballistiker aus der roten Sektion. Erinnerst du dich an ihn?« »Nicht daß ich wüßte«, gab sie zurück. »Ein stämmiger Typ mit leichtem Bauchansatz und spärlichem Haar. Trägt so eine randlose Brille. Du hast ihn vor einigen Monaten kennengelernt.« »Ich kann mich trotzdem nicht an ihn erinnern. Anscheinend gehört er nicht zu den Männern, die einen starken Eindruck hinterlassen.«
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»Er hat es auch noch nie versucht. Im übrigen schätzt er keine Frauen.« »Hört, hört!« Er sagte lächelnd: »Henderson kann jederzeit anrufen. Ich werde einige Tage nicht zu Hause sein, aber darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich habe meine Gründe.« »Die hat schon dieser Reardon angedeutet.« »Zum Teufel mit Reardon! Wenn Henderson anruft, dann sage ihm, daß ich in Aktion bin, aber im Augenblick nicht zu erreichen. Er soll dir sagen, was er mir zu sagen hat. Wenn er eine Antwort erwartet, frage ihn, ob ich ihn telefonisch in seinem Laden oder sonst irgendwo erreichen kann. In Ordnung?« »Okay.« »Noch etwas: Wenn Reardon oder der große Ausländer oder sonst irgendwer dich mit Fragen belästigen sollte, dann weißt du nichts. Du weißt nicht, wo ich bin oder wann ich zurückkehren, werde. Du hast auch nie etwas von Henderson gehört, selbst wenn er inzwischen angerufen haben sollte. Wer der Fragesteller auch sein mag – ein Reporter, ein FBI-Beamter oder ein General in Uniform –, du weißt absolut nichts. Okay?« »Okay«, bestätigte sie. »Und darf ich wenigstens wissen, wer dieser Reardon ist?« »Ein Sicherheitsbeamter.« Sie blickte ihn verwundert und überrascht an. 221
»Aber dann ist es doch seine Aufgabe und nicht –« »Schmerzliche Erfahrungen machen weise«, unterbrach Bransome. »Und er weiß nicht, was seelische Qualen bedeuten. Hier kommt es darauf an, außergewöhnliche Probleme mit außergewöhnlichen Methoden zu bekämpfen. Ich möchte nicht, daß er mir dauernd auf die Füße tritt und mich nach Belieben herumkommandiert. Die Kontrollen im Forschungszentrum reichen mir.« »Nun gut, wenn er wieder vor der Haustür stehen sollte, werde ich den ahnungslosen Engel spielen.« »Tue das. Wir halten ihn nicht zum Narren, wir sagen ihm aber auch nichts.« Der Kellner servierte das Essen. Sie plauderten über belanglose Dinge; erst bei einer Tasse Kaffee kam Bransome wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. »Diesen großen Burschen, den du für einen Ausländer hältst, habe ich schon einige Male gesehen. Ich weiß, wie er aussieht, aber du könntest ihn mir noch einmal beschreiben. Verschiedene Leute bemerken verschiedene Dinge, und vielleicht kannst du mein eigenes Bild von ihm vervollständigen.« Dorothy schilderte den Mann und bewies, daß sie eine ausgezeichnete Beobachterin war. Sie wußte zu berichten, daß der Mann auf der rechten Seite der Oberlippe eine ungefähr zwei Zentimeter lange, schmale weiße Narbe hatte. Er habe die 222
Angewohnheit, sagte sie, nach jeder Frage den Mund zu spitzen, wobei die Narbe besonders deutlich zu sehen sei. Sonst hatte sie nichts mehr hinzuzufügen, nur noch, daß er einen schwerfälligen, doch brutalen Eindruck gemacht habe. »Er kam mir vor wie jemand, der nicht so leicht wütend wird, aber alles kurz und klein schlägt, wenn er erst mal wütend geworden ist.« »Und wie war seine Haltung dir gegenüber?« »Durchaus höflich, möchte ich sagen, aber irgendwie ölig.« »Hm!« Bransome trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, während er über diese Auskünfte nachdachte. Der Kellner mißverstand die Klopfzeichen und brachte die Rechnung. Bransome zahlte und sagte, nachdem der Kellner verschwunden war, zu Dorothy: »Hattest du in den letzten Tagen das Gefühl, von jemanden verfolgt zu werden?« »Nein, Rich. Ich habe auch nicht darauf geachtet. Hältst du so etwas für möglich?« »Durchaus. Denn wer mich finden will, der wird in erster Linie dich beobachten.« »Das leuchtet mir ein.« »Bitte, halte von jetzt an die Augen offen. Wenn dir jemand auffällt, so laß dir nichts anmerken, sieh ihn dir aber nach Möglichkeit genau an. Vielleicht kann er mich auf eine bestimmte Spur bringen.« 223
»Könnte er nicht auch ein anderer Sicherheitsbeamter sein?« »Ja – einer von Reardons Gruppe. Aber er kann auch der Beobachter einer anderen Gruppe sein, für die ich mich besonders interessiere.« Er stand auf und griff nach seinem Hut. »Sage den Kindern, daß ich bald wieder zu Hause bin. Morgen abend, wenn sie im Bett liegen, rufe ich an.« »Gut.« Sie nahm ihre Handtasche, ging mit ihm gemeinsam hinaus und fragte draußen: »Brauchst du den Wagen? Oder kann ich dich irgendwo hinfahren?« »Lieber nicht. Die Wagennummer ist zu vielen Leuten bekannt. Ich will nicht durch die ganze Stadt Reklame für mich fahren.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Weißt du auch genau, was du tust, Rich?« »Nein, leider nicht. Ich bin wie ein Blinder, der im Dunkeln herumtastet und hofft, daß seine Hand bald irgend etwas berühren möge.« Er sah sie an und lächelte beruhigend. »Vielleicht komme ich überhaupt keinen Schritt weiter – aber sollte das der Fall sein, werde ich um so glücklicher sein bei dem Gedanken, daß ich nichts unversucht gelassen habe.« »Ich weiß, wie dir zumute ist, Rich.« Dorothy verabschiedete sich mit einem leicht skeptischen Lächeln und schlug die Richtung zum Parkplatz ein. 224
Bransome blickte ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war, winkte dann ein Taxi heran und ließ sich zum Büro einer anderen Speditionsfirma fahren. Er war nicht sehr optimistisch, was den praktischen Nutzwert seines Besuches betraf, aber er wollte die von Richards gemachten Angaben gern bestätigt sehen. »Sehen Sie mal, Mister«, sagte man zu ihm, »ohne die Namen oder die Fotos dieser beiden Leute sind Ihre Chancen einer Begegnung äußerst gering. Da haben Sie schon größere Aussichten, von Tutench-Amun zu 'nem Drink eingeladen zu werden. Die Leute können alle Leute sein – und alle sind woanders. Was erwarten Sie von uns?« Trotzdem verließ er zufrieden das Büro der Firma. Er mußte es anderweitig versuchen und durfte sich erst dann geschlagen geben, wenn alle Möglichkeiten erschöpft waren... Er schlenderte durch eine Reihe Seitenstraßen und dachte in Ruhe über seine weiteren Schritte nach. Gab es noch andere Mittel und Wege, die ihn zu den beiden Fernfahrern führen konnten? Er dachte nur an eine Möglichkeit: die Bahnhofsgaststätte. Jemand, der sich häufig in der Gaststätte oder im Bahnhofsgebäude aufhielt, mußte die beiden kennen: ein Eisenbahnbeamter, ein Dauerkarteninhaber oder ein anderer Lastwagenfahrer. Wenn er sich nicht mehr um diese beiden Männer kümmerte – welche Anhaltspunkte blieben ihm dann 225
noch? Einmal der große Kerl, der ihn im Spiegel angestarrt hatte, unweit von seiner Wohnung verschwunden war und demnach vielleicht in der näheren Nachbarschaft leben konnte. Dann gab es noch die beiden Männer, die Zeugen seines Sturzes von der Treppe gewesen waren. Er hatte ihre Gesichter gesehen – vor dem Sturz und nach dem Sturz. Er sah sie noch deutlich vor sich und war fest davon überzeugt, daß er sie wiedererkennen würde. Aber wo sollte er sie suchen? Wie die verschwundenen Fernfahrer, so konnten sie ›alle Leute und alle woanders sein‹. In letzter Instanz hatte er drei Möglichkeiten. Er konnte Dorothy als Köder benutzen, einen ihrer Verfolger ausfindig machen und diesen Mann selbst verfolgen. Er konnte auf Hendersons Mitarbeit bauen in der Hoffnung, daß zwei Leute mehr Erfolg hatten, wo einer allein versagte. Oder er konnte Reardon die reine Wahrheit sagen und alles andere ihm überlassen. Die letzte Möglichkeit erfüllte ihn mit einem derartigen Widerwillen, daß er seine Schritte beschleunigte und in Richtung des Bahnhofs ging. Er wußte es nicht und konnte es auch nicht wissen, aber dieser war der erste Schritt in die richtige Richtung. Er stand kurz vor den ersten Erfolgen.
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10 Lange vor der üblichen Zeit trat er in die Bahnhofsgaststätte, nahm auf einem der hohen Hocker Platz, bestellte einen Kaffee und wartete, bis der Bedienstete sich um die anderen Gäste gekümmert hatte. Dann nickte er ihm zu, beugte sich vor und sprach mit gedämpfter Stimme. »Vielleicht können Sie mir helfen, Walt. Ich suche jemanden. Erinnern Sie sich an zwei stämmige Burschen in Drillichzeug und mit blanken Mützen auf dem Kopf, die vor ungefähr einer Woche hier Kaffee tranken? Sie sahen wie Lastwagenfahrer aus und unterhielten sich über irgendeinen Mord.« »Mord?« Walt wölbte die Augenbrauen und machte ein Gesicht wie jemand, der das Beste hoffte, aber das Schlimmste befürchtete. »Nein, Mr. Bransome. Ich habe keinen von einem Mord reden gehört und kann mich auch nicht an diese beiden Burschen erinnern.« »Denken Sie scharf nach. Zwei Lastwagenfahrer.« Walt dachte gehorsam nach. »Tut mir leid, Mr. Bransome, ich kann mich an keinen erinnern. Und eigentlich müßte ich mich doch erinnern. Lastwagenfahrer sieht man hier selten.« Dann fiel ihm etwas ein und er fügte hinzu: »Vielleicht hatte ich gerade dienstfrei?« 227
»Es war Freitag abend – und am Freitag haben Sie doch immer Dienst, nicht wahr?« »Ja, das stimmt. Vielleicht hatte ich zu tun. Dann sehe ich mir nicht alle Leute an, nur wenn sie ihre Bestellung aufgeben.« »Würden Sie sich an die beiden Männer erinnern, wenn sie häufiger hier gewesen wären?« »Ganz bestimmt«, versicherte Walt. »Wie ich schon sagte, wir haben hier nicht oft Lastwagenfahrer zu Gast.« »Dann waren sie also nur einmal hier, und Sie haben sie seitdem nicht mehr gesehen?« »Ja, das stimmt.« »Und dann interessiere ich mich noch für einen Mann, der einige Tage später hier auftauchte. Ungefähr 1,80 m groß, 90 Kilo schwer, flache Nase, rötliches Gesicht, weiße Narbe an der Oberlippe. Sieht beinahe wie ein Kriminalbeamter aus. Er saß auch hier, sagte nichts und starrte nur in den Spiegel, als wäre er von ihm hypnotisiert.« »Trug er einen Schlangenring an der linken Hand?« fragte Walt, die Augenbrauen zusammenziehend. »Ich glaube, er trug irgendeinen Ring, aber ich habe ihn mir nicht genau angesehen.« »Sprach er wie ein Ausländer?« »Ich habe kein Wort von ihm gehört, möchte aber mit Sicherheit behaupten, daß er ein Ausländer ist.« 228
»Ja, er war einige Male hier.« Walt blickte auf die Uhr. »Immer ungefähr um diese Zeit. Allerdings habe ich ihn schon eine Woche nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich aber an ihn, weil er stets allein war, herumblickte und kein Wort sprach. Er sah mich meistens an, als wolle er sich über irgend etwas beschweren; aber es kam niemals so weit.« »Wissen Sie etwas über ihn?« »Nur daß ich ihn für einen Ausländer halte.« »Haben Sie ihn schon einmal in Begleitung gesehen?« »Nein, Mr. Bransome.« Walt wischte ein unsichtbares Stäubchen von der Theke und machte ein gelangweiltes Gesicht. »Schade«, sagte Bransome. Ein Kunde wollte bedient werden, und Walt ging zum anderen Ende der Theke. Bransome brütete über seiner Tasse Kaffee. Nach einer Weile kam Walt wieder zurück und sagte: »Ich denke, der große Bursche heißt Kossy oder Kozzy oder so ähnlich. Warum wollen Sie das alles wissen?« »Damit die Polizei keine Fragen mehr stellt. Wie haben Sie seinen Namen erfahren?« »Ich habe eines Abends hier bedient. Er saß auf dem Hocker und starrte wie üblich in den Spiegel. Da kamen vier junge Burschen herein; einer begrüßte ihn mit ›Hallo, Kossy!‹ oder ›Hallo, Kozzy!‹. Das gefiel ihm anscheinend nicht. Er warf 229
dem Jüngling einen langen, harten Blick zu, stellte die Tasse ab und ging hinaus. Dem Jüngling war das wohl egal.« »Kennen Sie diesen jungen Mann?« »Nein. Das heißt, ich habe ihn schon mal gesehen, aber nicht sehr oft. Wahrscheinlich nur ein gelegentlicher Kunde.« »Und die anderen drei?« »Einen kenne ich – Jim Falkner.« »Dann wollen wir doch mal sehen, ob ein Karnickel im Hut ist«, sagte Bransome, stellte die Tasse ab und stand auf. »Wo kann ich diesen Jim Falkner finden?« »Ich weiß nicht, wo er wohnt, Mr. Bransome, aber ich kann Ihnen sagen, wo er arbeitet.« Wieder ein Blick auf die Uhr. »Im Friseurladen gleich hier in der Nähe, in der Bleeker Street. Dort könnten Sie ihn jetzt antreffen.« »Danke, Walt. Ich werde Sie in mein Abendgebet einschließen.« »Das freut mich«, entgegnete Walt mit unmerklichem Lächeln. Bransome schlenderte zu dem Friseurladen in der Bleeker Street, die nicht allzu weit entfernt war. Es war ein kleiner schäbiger Laden mit vier Stühlen und zwei Friseuren. Auf dem Fußboden lagen eine Menge Haare herum. Einer der beiden Friseure, ein grauhaariger Mann, bediente den Kunden auf dem 230
zweiten Sessel. Der andere Friseur, ein junger gelbgesichtiger Knirps, hatte sich auf die Bank an der Wand geflegelt und las in einem Witzblatt. Als Bransome eintrat, stand er widerwillig auf und deutete auf den freien Sessel. Bransome nahm Platz. »Nacken und Seiten kurz.« Als der Jüngling seine Arbeit beendet hatte, gab er ihm ein Trinkgeld und flüsterte: »Ich möchte Sie mal unter vier Augen sprechen – vor der Tür.« Der Jüngling folgte ihm zur Tür und fragte, ebenfalls mit gedämpfter Stimme: »Was wünschen Sie?« »Sind Sie Jim Falkner?« »Ja. Woher wissen Sie meinen Namen?« »Walt in der Bahnhofsgaststätte ist ein guter Freund von mir.« »Dieser alte Quatschkopf!« »Ich verfolge einen Burschen, der zuletzt in der Bahnhofsgaststätte gesehen wurde. Er ist ein großer, häßlich aussehender Bursche und war nur einige Male dort. Walt sagte mir, Sie seien eines Abends mit drei Freunden aufgetaucht, und einer davon hätte den Mann angesprochen. Erinnern Sie sich daran?« »Sicher. Der große Lulatsch reagierte ziemlich sauer. Gil lachte nur und meinte, er wäre so freundlich wie 'ne Klapperschlange.« »Gil?« 231
»Gilbert.« Auf Falkners Gesicht zeichnete sich Mißtrauen ab. »Was suchen Sie? Worauf wollen Sie hinaus? Sind Sie Polizist?« »Sehe ich so aus? Ich habe nur die Spur von dem Burschen verloren und möchte sie gern wiederfinden. Eine Privatangelegenheit. Gilbert braucht sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, das verspreche ich Ihnen. Also, wer ist dieser Mann und wo kann ich ihn finden?« »Er heißt Gilbert Mitchell«, antwortete Falkner ein wenig mürrisch. »Er arbeitet in der Star-Garage am Ende dieser Straße.« »Mehr wollte ich auch nicht wissen. Ich danke Ihnen für die Auskunft.« »Schon erledigt«, sagte Falkner und fragte sich, ob er den Namen seines Freundes nicht doch lieber für sich hätte behalten sollen. Es stellte sich heraus, daß Mitchell ein gutgebauter blonder Bursche war. Seine Hände waren fettig, und sein Gesicht hatte ein paar schwarze Ölstreifen. Er wischte sie mit dem noch schwärzeren Ärmel ab und grinste Bransome abwartend an. »Ich suche einen Schwergewichtler, dessen Name und Adresse ich nicht kenne. Zuletzt wurde er in der Bahnhofsgaststätte gesehen. Walt sagte, Sie wären eines Abends mit Jim Falkner und noch zwei anderen dort gewesen, und Sie hätten den Burschen mit ›Kossy‹ oder ›Kozzy‹ angesprochen. Aber er 232
soll ziemlich sauer reagiert haben. Was wissen Sie über ihn?« »Nichts.« »Aber Sie haben ihn doch angesprochen, nicht wahr?« »Reine Zeitverschwendung.« »Dann ist er Ihnen doch nicht unbekannt, wie?« »Ich habe ihn ziemlich oft in einer Billardhalle im Stadtzentrum gesehen. Da gehe ich so zwei- bis dreimal wöchentlich hin, und er ist fast genauso oft da. Spielt meistens an dem Tisch neben meinem und ist immer mit ein paar sturen Vertretern zusammen, die ihn Kossy nennen. Mehr weiß ich nicht.« »Wo ist diese Billardhalle?« Mitchell beschrieb ihm deren Lage. »Und wann taucht Kossy dort auf?« wollte Bransome wissen. »Das kommt ganz darauf an. Manchmal früher, manchmal später. Durchschnittlich gegen neun Uhr, würde ich sagen.« Mitchells Grinsen verbreiterte sich. »Wenn Sie sich mit ihm auf ein Spiel einlassen, dann spielen Sie bloß nicht um Geld. Die Burschen ziehen Ihnen glatt das Fell über die Ohren!« »Danke für die Auskunft – und für den Tip.« Bransome hatte nicht die Absicht, mit Kossy oder sonst jemandem Billard zu spielen. Sein einziger Wunsch war, endlich die Beute zu Gesicht zu 233
bekommen, und was er dann weiter unternehmen würde, das kam auf die Umstände an. Die Billardhalle hatte dreißig Tische. An zwanzig Tischen wurde gespielt. Er schlenderte durch die rauchgeschwängerte Atmosphäre und betrachtete die Spieler und die Zuschauer, die keinerlei Notiz von ihm nahmen. Er konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Er kam vor dem kleinen Geschäftszimmer in der Ecke der Halle an und blickte durch die Tür. Drinnen saß ein kahlköpfiger Mann, der einen schmalen Stumpen rauchte und sich mit dem Mechanismus einer auseinandergenommenen Uhr beschäftigte. An der Wand stand ein Halter mit Billardstöcken und auf einem kleinen Regal eine Schachtel mit grüner Kreide. »Kennen Sie zufällig einen großen Kerl namens Kossy?« Kahlkopf blickte auf, zeigte ihm seine zerknitterten, gelblichen Gesichtszüge und nahm den Stumpen aus dem Mund. »Warum wollen Sie das wissen?« Bransome ging über diese Frage hinweg, zückte seine Brieftasche und nahm einen Geldschein heraus, den der andere mit der Gewandtheit eines Zauberkünstlers verschwinden ließ, ohne dabei seinen essigsauren Gesichtsausdruck zu verlieren.
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Kahlkopf bewegte nicht die Lippen, als er antwortete: »Er heißt Kostavik oder so ungefähr. Wohnt hier irgendwo in der Nähe. Kommt erst seit fünf, sechs Wochen hierher, aber ziemlich oft. Ich weiß nicht, was er für einen Beruf hat, und ich will das auch nicht wissen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Können Sie mir über seine Kollegen Auskunft geben?« »Einer von ihnen heißt Shas und ein anderer Eddy. Den Namen des vierten Mannes habe ich noch nicht gehört. Alle sprechen Englisch mit so 'ner ausländischen Betonung. Wenn das Engländer sind, dann ist die Tinte auf ihren Einwanderungspapieren noch nicht trocken.« »Vielen Dank«, sagte Bransome, den anderen bedeutungsvoll ansehend. »Keiner hat Ihnen eine Frage gestellt, damit das klar ist.« »Keiner.« Kahlkopf steckte wieder seinen Stumpen in den Mund und beschäftigte sich weiter mit dem Eingeweide der Uhr. Nachdem Bransome die Billardhalle verlassen hatte, überquerte er die Straße, nahm in einem Türrahmen Aufstellung und beobachtete. Das war alles, was er unternehmen konnte. Verschwand heute abend niemand in der Billardhalle, würde er morgen und übermorgen noch einmal warten. Es war eine willkommene Abwechslung, einmal die 235
Rollen vertauscht zu wissen und nicht mehr der Gejagte, sondern der Jäger zu sein. Schon brach die Dunkelheit an; viele Läden hatten geschlossen, und das galt auch für den Laden, in dessen Eingang er stand. Das fehlende Tageslicht war nicht von Nachteil, denn die Lampen und Neonbeleuchtungen machten die Passanten auf beiden Straßenseiten deutlicher sichtbar; nur der vorüberfließende Verkehr ließ manchmal den Eingang der Billardhalle verschwinden. Doch Bransome stand gut und hätte sich keinen besseren Platz aussuchen können – vorausgesetzt, daß ihn kein diensteifriger Streifenbeamte weiterscheuchte. Damit konnte er früher oder später rechnen. Polizisten hatten etwas gegen Leute, die in Hauseingängen lauerten. Er hatte gerade daran gedacht, als hundert Meter weiter auf seiner Straßenseite ein Polizeibeamter erschien und langsam auf ihn zugeschlendert kam. Bransome blickte ihm entgegen und begriff, daß seine Beobachtertätigkeit nicht so einfach war, wie es den Anschein gehabt hatte. Er wollte seinen Standort wechseln, aber wenn er das jetzt tat, machte er sich am Ende noch verdächtiger. Der Polizist kam näher – und schlenderte an ihm vorbei. Das war merkwürdig. Alles an seiner Haltung und seinem Benehmen hatte darauf hingedeutet, daß er Bransomes Gegenwart zur Kenntnis nahm, aber entschlossen war, ihn nicht zu 236
beachten. Dieser Zwischenfall widersprach ganz und gar dem üblichen Verhalten eines Polizeibeamten. Bransome starrte hinter ihm her und wunderte sich. Genau eine Stunde später kam der Polizist wieder und sah sich alle Türrahmen an. Doch an dem Türrahmen, in dem Bransome stand, ging er auch diesmal vorbei, obwohl er ihn ansah und einen Grunzlaut von sich gab. Bransome war zumute wie einem Mann, der eine Medaille bekommen hatte und nicht wußte, warum. Er blickte wieder zur Billardhalle herüber. Sechs Männer kamen heraus, vier gingen hinein. Er konnte die Gesichter der herauskommenden Leute sehen, aber nicht die der hineingehenden. Wie dem auch sei, alle waren mittelgroß, hatten eine durchschnittliche Figur und waren anscheinend nicht in Begleitung von Kostavik. Seine Wache endete um elf Uhr dreißig. Drei Männer erschienen, und in einem von ihnen erkannte Bransome einen jener beiden Männer, die ihn bei seinem Sturz von der Treppe aufgefangen hatten. Die anderen beiden waren ihm hingegen völlig fremd. Er hatte sie nicht in der Billardhalle vermutet, hatte sie auch nicht eintreten sehen. Sofort schaltete er alle Gedanken an Kostavik aus und folgte diesem Trio. Seiner Meinung nach war ein Anhaltspunkt so gut wie der andere. Die drei Männer schlenderten langsam die Straße hinunter, und Bransome auf der anderen Seite folgte 237
ihnen in ungefähr hundert Schritten Abstand. Weiter hinten tauchten zwei Männer aus dem Dunkel auf und folgten Bransome auf beiden Straßenseiten. Noch weiter zurück, an einer Straßenecke, gab der Polizist ein Zeichen, wonach ein mit vier Leuten besetzter Wagen in die Straße einbog. Diese Prozession bewegte sich eine halbe Meile die Straße entlang, überquerte verschiedene Seitenstraßen, und dann hielten die drei vorderen Männer an einer Straßenkreuzung. Sie sprachen ein paar Minuten miteinander und verteilten sich in drei Richtungen. Bransome überlegte nicht lange und folgte dem Mann, den er wiedererkannt hatte. Die beiden hinter ihm trennten sich ebenfalls und verfolgten die zwei Männer, um die Bransome sich nicht mehr kümmern konnte. Der Wagen hielt. Ein Mann stieg aus und heftete sich Bransome an die Fersen, während der Wagen in unauffälliger Entfernung hinter ihm herfuhr. Der Mann vor Bransome ging auf eine Telefonzelle an einer Ecke zu, trat ein und wählte eine Nummer. Bransome blieb im Schatten einer Hauswand stehen und wartete. Der Mann hinter ihm stellte sich neben einem geparkten Wagen auf und tat, als warte er auf jemanden. Der Mann in der Telefonzelle bekam seine Verbindung und sagte: »Ich bin in der Nähe von Slater, Kossy. Ich werde verfolgt. – Wie? – Wahrscheinlich FBI! Aber der Bursche benimmt sich so 238
plump, daß er genausogut mit 'ner roten Lampe blinken und 'ner Feuerglocke bimmeln könnte. – Was? – In Ordnung, ich bringe ihn zu Sammy.« Er verließ die Telefonzelle, drehte sich nicht nach Bransome um und ging ruhig weiter. Bransome wartete, bis er einen kleinen Vorsprung hatte, und folgte ihm. Auch der Mann, der neben dem Wagen stand, setzte sich in Bewegung. Eine halbe Minute später hielt der Wagen, der auf den Wink des Polizisten in die Straße eingebogen war, neben der Telefonzelle. Ein Mann stieg aus, wählte eine Spezialnummer und ließ sich von jemanden Auskunft geben. Dann führte er noch ein weiteres Gespräch und kehrte zum Wagen zurück. »Der Junge ist gut. Hoffentlich hat er kein Loch im Kopf, bevor die Sache zu Ende ist.« »Hatten Sie Glück mit Ihrem Telefonat?« »Ja. Die wissen jetzt, wen er angerufen hat.« »Okay.« Der Wagen fuhr wieder an. Von den Anführern der Jagd war nichts mehr zu sehen; aber das war unwichtig, denn der Mann zu Fuß gab die Richtung an. Alles verlief reibungslos. Drei Straßen weiter trat er aus dem Dunkel hervor und hielt den Wagen an. Er unterhielt sich mit den Insassen und deutete auf ein graues Appartementgebäude der rechten Straßenseite. Zwei Männer stiegen aus und 239
schlossen sich ihm an. Vorsichtig näherten sie sich zu dritt dem Haus. Der Fahrer, jetzt allein im Wagen, griff unter das Armaturenbrett, brachte ein Handmikrophon zum Vorschein, schaltete ein Funksprechgerät ein und schickte eine Meldung hinaus. Irgendwo in der Stadt, nicht allzu weit entfernt, rollten zwei Wagen in seine Richtung. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, machte der fliehende Mann eine plötzliche Seitenwendung, rannte vier Treppenstufen hinauf und in ein graues Gebäude. Er verschwand in der Dunkelheit des Flurs und ließ die Tür offenstehen. Auf der anderen Straßenseite ging Bransome vorsichtig weiter und an dem grauen Gebäude vorbei. An der nächsten Straßenecke blieb er stehen und dachte über diese neue Situation nach. Eigentlich brauchte er gar nicht lange zu überlegen, denn er mußte entweder in das Haus gehen oder draußen bleiben. Im letzteren Fall verlor die Jagd ihren Sinn. Da hätte er die ganze Nacht das Haus beobachten müssen und warten, bis er diesen Burschen mit den anderen Verdächtigen in Verbindung bringen konnte. Er brauchte den Beweis dafür, daß es solch eine Verbindung gab, denn bis jetzt hatte er nur Theorien und Verdachtsmomente, die den amtlichen Stellen allzu phantastisch vorkommen mußten. Eine Adresse unter ständiger und fachmännischer Beobachtung zu halten, war mehr die Angelegenheit 240
der Polizei oder einer Detektivagentur. Er hatte die Adresse zweier Agenturen in der Tasche, mit denen er leider nicht viel anfangen konnte. Nur er allein wußte, wen er suchte, nur er allein war in der Lage, bestimmte Leute wiederzuerkennen. Darum müßte er selbst handeln. Aber er hatte nicht die Ausdauer, eine ganze Nacht um ein Haus herumzuschleichen. Das erforderte Geduld, die sich bei ihm nur auf wissenschaftliche Probleme konzentrieren konnte, aber nicht auf die Probleme einer persönlichen Vergeltungsmaßnahme. Abgesehen davon, hatte er an diesem Abend die Andeutung einer Verbindung entdeckt: Er hatte gehofft, in der Billardhalle die Spur eines Mannes zu finden – und er hatte eine andere gefunden. Wenigstens zwei von diesen Leuten mußten regelmäßig die Billardhalle aufsuchen. In diesem grauen Gebäude konnte noch ein dritter, zu dieser Gruppe gehörender Mann sein, vielleicht sogar alle fünf oder sechs Männer, die sich bei einem Glas Bier lachend unterhielten. Ja, sie grinsten sicher, weil irgendwo ein Mann umherirrte, der sich einbildete, ein Mörder zu sein. Dieser Gedanke schürte seine Wut; er beschloß, die Chance wahrzunehmen und in das Haus zu gehen. Zum erstenmal im Leben wünschte er sich einen Revolver, obwohl eine Waffe nicht unbedingt ausschlaggebend sein mußte. Wenn ein gar nicht so intelligenter Einbrecher in ein Schlafzimmer einstei241
gen und die Taschen der Schläfer plündern konnte, dann würde er, Bransome, durchaus in der Lage sein, sich ins Haus zu schleichen, ein paar wichtige Dinge in Erfahrung zu bringen und unbemerkt wieder zu verschwinden. Ja, er würde ins Haus gehen, leise von einem Stockwerk zum anderen schleichen und sich die Namen an den Türen der einzelnen Wohnungen ansehen. Stieß er irgendwo auf den Namen Kostavik, so wußte er Bescheid, konnte hinauslaufen und die Polizei benachrichtigen. Er kehrte zu dem grauen Gebäude zurück, stieg die Treppenstufen hinauf, ging durch die offene Tür und sah sich in einem langen, schmalen Flur, der von einer flackernden Gaslampe spärlich erhellt wurde. Der Flur endete vor einer schmalen Treppe, neben der sich ein kleiner Lift befand. Er sah vier Appartementtüren. Hier unten war alles still, doch oben hörte er leise Geräusche, und noch eine Etage höher spielte ein Radio den Radetzkymarsch. Der Flur machte einen unordentlichen Eindruck, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Wohnungen zutraf. Die Farbe blätterte von den Wänden, die Holztäfelung war zerkratzt, und die Treppenstufen waren ausgetreten. So leise wie möglich bewegte er sich von Tür zu Tür und las die Namensschilder. In dem dürftigen Licht der Gaslampe mußte er die Schilder beinahe mit der Nasenspitze berühren, um die Buchstaben entziffern zu können. Er hatte gerade das Schild an 242
der letzten Tür in Augenschein genommen und den Vornamen Samuel gelesen, als die Tür aufgerissen wurde und er einen Stoß in seinem Rücken verspürte, der ihn ins Zimmer schleuderte. Diese beiden gleichzeitig eintretenden Ereignisse überraschten ihn derart, daß er, vornübergebeugt und das Gleichgewicht suchend, ins Zimmer schoß und die Tür in dem Augenblick zuschlagen hörte, als er der Länge nach auf dem Teppich landete. Noch im Sturz blitzten eine Reihe Gedanken in seinem Hirn auf. Sie hatten mit seinem Besuch gerechnet. Hier nützten keine Entschuldigungen oder Erklärungen, so etwas würde ihm keiner glauben. Wenn er etwas unternehmen wollte, dann mußte das sofort und gründlich geschehen. So rollte er sich zur Seite, sah ein Paar Beine, packte deren Knöchel und zog mit aller Kraft. Die Dielen zitterten, als der andere neben ihm auf dem Rücken landete. Es war Kossy. Ein Mann, der sich – mit üblen Absichten – über Bransome gebeugt hatte, wurde durch Kossys Sturz daran gehindert, sie in die Tat umzusetzen. Er stieß einen gutturalen Fluch aus, tanzte auf der Suche nach einer neuen Angriffsfläche herum und mußte einen Tritt von Kossy in Kauf nehmen, der seine Kniescheibe traf. Er fluchte wieder und ließ etwas fallen, das metallen schepperte. Kossy hatte guten Grund, seine schweren Gliedmaßen herumzuschwenken. Sein großer, roter 243
Kopf berührte den Teppich auf der von Bransome vorausberechneten Stelle. Bransome, auf dem Bauch liegend, konnte nicht zuschlagen und tat das nächstbeste: er umklammerte Kossys fetten Hals mit einem Schraubstockgriff und drückte mit beiden Daumen gegen seine Luftröhre. Noch vor einer Woche hätte Bransome es nicht für möglich gehalten, daß ihm eine solche Würgeszene ein derart sadistisches Vergnügen bereiten würde. Er genoß diesen Augenblick buchstäblich, wußte andererseits aber auch, daß er Kossy nur auf diese Weise unter Kontrolle halten konnte. Zorn und Furcht verliehen ihm Kräfte, von denen er sich bisher nichts hatte träumen lassen. Und während er seine Daumen immer tiefer in Kossys Hals drückte, wiederholte er in Gedanken immer wieder: ›Ich werde dir zeigen, wer Arline ist, du Hund! Du sollst Arline noch kennenlernend!‹ Kossys haarige, spatelartige Hände umklammerten Bransomes Handgelenke und wollten sie wegziehen. Doch Bransome hielt so entschlossen fest, daß der andere sich lediglich an seinen Handgelenken hochziehen konnte. Sie wälzten sich auf dem Teppich herum. Kossys Gesicht nahm langsam eine dunkelrote Farbe an. Der dritte Mann hörte zu fluchen auf, bückte sich und bekam Bransomes Haare zu fassen. Er zog, als wolle er ihm den Skalp vom Schädel reißen. Glücklicherweise waren Bransomes Haare kurz geschnitten, so daß die 244
Finger des Mannes abglitten, der sofort seine Schultern packte. Bransome schlug aus wie ein störrischer Esel, spürte Widerstand und hörte einen Schmerzensschrei, als die Hände seine Schultern losließen. Der Schrei und der Lärm des Kampfes bewirkten, daß irgendwo eine Tür aufsprang. Bransome hörte heranhastende Schritte, blickte aber nicht auf, weil er sich auf sein Opfer konzentrierte. Kossy keuchte nach Luft und bemühte sich verzweifelt, ein Knie hochzubekommen. Dann fühlte Bransome sich von einer Anzahl Hände gepackt und weggerissen. Er wurde auf die Beine gezogen. Eine harte und hornige Hand schlug ihm mehrmals ins Gesicht, rasch und brutal, mit einer Kraft, die ihn betäubte und rückwärtstaumeln ließ. Jetzt hörte er alle Geräusche, heftiges Atmen, gedämpfte Flüche und Erklärungen, das Scharren von Füßen. Ein heftiger Hieb auf ein Ohr drohte ihn zu betäuben. Er blinzelte mit den Augen, sah Kossy wie hinter einem Nebelschleier, sah noch andere Gesichter, von denen eins dem angeblichen Fernfahrer gehörte. Das war der Bursche, der so viel über den Skelettfund in Burleston wissen wollte. Bransome holte aus, schlug mit aller Kraft in das Gesicht und hörte seine Fingerknöchel krachen. Dann explodierte vor seinem linken Auge ein Feuerwerk und er ging zum zweitenmal zu Boden. 245
Er stürzte mit dem Gedanken, daß es ein Fehler gewesen war, allein in dieses Gebäude zu gehen, denn er würde nicht mehr hinauskommen. Es waren wenigstens sechs Leute im Zimmer, und jeder davon war ein brutaler Schlägertyp. Die Karten waren zu ungleichmäßig verteilt. Er hatte keine Chance. Ehe er den Boden berührte, war sein letzter Gedanke, daß man in verzweifelten Augenblicken die seltsamsten Dinge tun konnte. Jemand bearbeitete ihn mit Fußtritten. Die Luft entwich mit einem zischenden Geräusch aus Lunge und Magen. Instinktiv wußte er, daß der nächste Tritt ihm die Rippen brechen würde, aber er war zu schwach, um sich zur Seite zu rollen und den Tritt auf diese Weise zu vermeiden. Er wartete, lag flach auf dem Rücken und schnappte nach Luft. In dem schmalen Flur wurden Schritte laut, dann folgte ein Krachen, und Bransome spürte die kalte Nachtluft ins Zimmer dringen. Dann eine harte Stimme: »Schluß jetzt!« Sofort war es still. Der die Rippen brechende Tritt blieb aus. Bransome wälzte sich herum, konnte aber nicht den Kopf heben. Er preßte beide Hände auf seinen Magen, kam endlich auf die Knie und blinzelte aus einem Auge seine Gegner an. Er hatte sich geirrt. Es waren nichts sechs, sondern acht Leute. Sie hatten ihm ihre Gesichter zugekehrt, aber sie blickten auf die Tür hinter seinem Rücken. Sie 246
standen da wie Wachsfiguren, steif reglos und sprachlos. Hände griffen unter Bransomes Achselhöhlen. Er wurde langsam auf die Beine gestellt und blieb schwankend stehen. Langsam drehte er sich zur Tür um und sah vier Männer in Zivil und einen Polizeibeamten in Uniform, die alle Revolver in den Händen hatten. Einer der Männer in Zivil war Reardon. »Hallo!« sagte Bransome nur, denn etwas Besseres fiel ihm im Augenblick nicht ein. Er lächelte mit seiner unverletzten Gesichtshälfte, die andere verweigerte hartnäckig die Zusammenarbeit und blieb unbeweglich ernst. Reardon konnte in dieser Situation nichts Komisches entdecken und fragte streng: »Alles in Ordnung?« »Nein – ich fühle mich nicht sehr gut.« »Brauchen Sie Krankenhausbehandlung?« »Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen.« »Sie haben mir wahrhaftig mehr als genügend Kopfschmerzen gemacht«, sagte Reardon. »Erstens lehnen Sie jede Zusammenarbeit mit uns ab und zweitens wollen Sie alles allein machen.« »Ich habe es auch allein gemacht – trotzdem sind Sie im richtigen Augenblick gekommen.« »Ein Glück für Sie, Bransome.« Reardon wandte sich an den Polizeibeamten in Uniform und machte 247
eine Geste in Richtung der schweigenden acht Männer. »Ich denke, der Wagen ist da. Führen Sie die Burschen ab, einen nach dem anderen.« Die acht Männer verschwanden einzeln, widerstandslos und mit unbeweglichen Gesichtern. Auch Kossys Gesicht war starr; er hatte den Mund geöffnet und massierte seinen Hals. Ansonsten sah sein Gesicht so aus, als sei er in dem Augenblick festgenommen worden, als er gerade ein Gebet sprach. Reardons scharfe Augen tasteten das Zimmer ab. Dann sagte er zu den Männern in Zivil: »Seht euch in dieser Absteige mal gründlich um, Jungs, und zwar in allen Appartements. Wenn irgendein Amateuranwalt einen Durchsuchungsbefehl sehen will, dann bringt ihn mit. Durchsucht alles äußerst sorgfältig und reißt die Wände ein, wenn's sein muß. Ruft mich im Präsidium an, wenn ihr etwas gefunden habt, das für uns von Bedeutung ist.« Er wandte sich an Bransome. »Sie kommen auch mit.« Bransome, noch immer ein wenig benommen, folgte ihm. Er kletterte in den Wagen, nahm auf dem Rücksitz Platz und fuhr vorsichtig mit der Handfläche über eine Gesichtshälfte. Der Backenknochen schmerzte, er hatte ein zugeschwollenes Auge, ein Klingeln in einem Ohr und eine aufgeplatzte Lippe. Sein Magen war so flau, als habe er zu viele grüne Äpfel gegessen.
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Reardon nahm auf dem Vordersitz Platz, wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer und benutzte das Funksprechgerät, um einige Anweisungen durchzugeben. Drei weitere Wagen hielten vor dem grauen Gebäude. Eine kleine Gruppe neugieriger Leute, einige von ihnen in Pyjamas, standen herum. Der Wagen fuhr an. Reardon drehte sich nach Bransome um und stützte einen Ellenbogen auf die Sitzlehne. »Wenn ich wissen will, wie sich eine bestimmte Legierung Metall bei einer bestimmten Temperatur verhält, dann würde ich mich bei Ihnen erkundigen. Und wenn Sie wissen wollen, wer durchs Schlüsselloch Ihrer Schlafzimmertür blinzelt, dann sollten Sie sich bei mir erkundigen.« Bransome sagte nichts. »Ich zweifle nicht daran, daß Sie als Wissenschaftler einen ausgezeichneten Ruf genießen«, fuhr Reardon fort. »Aber als Ganove sind Sie eine Niete und als Detektiv eine glatte Null.« »Danke«, sagte Bransome mürrisch. »Als Sie aus dem Zug sprangen, hätten Sie sich das Genick brechen können. Das war sehr dumm. Meiner Ansicht nach hatte es auch überhaupt keinen Sinn. Sie hätten uns niemals abschütteln können.« »Wirklich nicht?«
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»Nein! Wir konnten uns genau in Ihre Lage versetzen und wußten, welche Richtung Sie einschlagen würden. Lange Umwege nützten Ihnen gar nichts. Wir wußten, daß Sie früher oder später dort auftauchen würden, wo wir Sie erwarteten.« Er machte eine Pause und hielt sich am Türgriff fest, als der Wagen scharf um eine Ecke bog. »Polizeichef Pascoe hatte Anweisung, ohne Verzögerung alles zu melden, was auch nur entfernt mit Burleston zusammenhing. Als er uns anrief und sagte, daß sich jemand nach einem unbekannten Mord erkundigt habe, wußten wir, daß Sie dieser Fragesteller waren. Kein anderer hätte Polizeichef Pascoe von einer ganz bestimmten Telefonzelle zu einer bestimmten Zeit angerufen, um sich nach dem geheimnisvollen Skelett zu erkundigen, das in der Nähe von Burleston vergraben sein sollte. Uns ging ein Licht auf. Tatsächlich erzählten Sie mir indirekt, was Sie mir unter vier Augen nicht hatten erzählen wollen, nämlich, daß Sie einen Mord auf dem Gewissen hatten – oder es sich jedenfalls einbildeten.« Bransome strich über seine verbeulte Gesichtshälfte und enthielt sich jeglichen Kommentars. »Damit wußten wir Bescheid«, sprach Reardon weiter. »Aber es gab kein derartiges Verbrechen. Pascoe garantierte dafür. Und er sagte es auch Ihnen. Nun kannten wir Ihre nächsten Schritte. Ihr Gewissen war wieder rein, und Sie konnten nun vor 250
Freude an die Decke springen oder mordsmäßig wütend werden – das kam ganz auf Ihre Leber an. In jedem Fall mußten Sie wieder zurückkommen. Sie konnten zu Ihrer Familie zurückkehren und alles vergessen; Sie konnten auch vor Wut schäumen und sich entsprechend austoben. Uns waren die Hände gebunden, weil wir den Mann, der dahintersteckte, nicht kannten. Aber Sie kannten diesen Mann und waren in der Lage, uns zu ihm zu führen. So beobachteten wir in die Stadt kommende Wagen, Autobusse und Züge. Es war leicht, Sie auf dem Bahnhof ausfindig zu machen und Ihnen zu folgen.« »Ich habe niemanden bemerkt.« Bransome fuhr mit der Zungenspitze über seine Lippe. Sie war so dick wie ein Autoreifen und wurde noch dicker. »Sie sollten auch niemanden bemerken. Wir hatten nicht die Absicht, einen Schnitzer zu machen.« Reardon zeigte lächelnd seine Zähne. »Sie gingen nicht nach Hause. Sie liefen blutdürstig herum. Das paßte ausgezeichnet in unser Konzept. In der Bahnhofsgaststätte gab Ihnen der Mann hinter der Theke einen Tip, den nächsten bekamen Sie von dem jungen Burschen in jenem Friseurladen, dann noch einen von dem Mechaniker. Schließlich bezogen Sie vor der Billardhalle Position, und da nahmen wir an, daß Sie uns diesmal einen Tip geben würden – und Sie taten es.«
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»Zwei von ihnen verschwanden«, sagte Bransome. »Ich konnte nicht in drei Richtungen gleichzeitig gehen.« »Aber wir konnten es. Wir werden zupacken, wenn sie uns zu ihrem Bestimmungsort geführt haben.« Der Wagen hielt vor einem Block Geschäftshäuser. Nur im ersten Stock brannte Licht. Reardon stieg aus, Bransome folgte ihm. Sie traten ein, benutzten nicht den Lift, sondern gingen die Treppe hinauf, an einer Reihe heller Büroräume vorbei und hielten vor einer Tür, an der nur eine Nummer zu lesen war. In der ganzen Etage herrschte die Aktivität eines Vierundzwanzigstundentages, Sonn- und Feiertage miteinbegriffen. Reardon öffnete die Tür und bot Bransome einen Stuhl an. Er blickte mit einem Auge herum, blinzelte nur schwach mit dem anderen und sagte: »Wie in einem Polizeipräsidium sieht es hier nicht aus.« »Es ist auch kein Präsidium. Wir arbeiten nur mit der Polizei zusammen, wenn wir es für richtig halten. In unser Ressort gehören Spionage, Sabotage und andere Verbrechen, die sich gegen die Staatsverfassung richten.« Er nahm hinter einem Schreibtisch Platz, schaltete die Sprechanlage ein und sagte: »Schicken Sie Casasöla zu mir.« Der Mann erschien eine Minute später. Er war noch jung, hatte einen olivfarbenen Teint und erinnerte an einen Arzt, der wenig Zeit hat. 252
Reardon deutete mit einer Kopfbewegung auf Bransome. »Dieser Herr hier hat sich verletzt. Flicken Sie ihn zusammen, damit er wieder menschliche Züge bekommt.« Casasöla lächelte, nickte Bransome zu und führte ihn den Korridor entlang zur Unfallstation. Dort machte er sich an die Arbeit, bepinselte die Regenbogenfarben um Bransomes Auge, kümmerte sich um die aufgesprungene Lippe und tupfte die geschwollene Wange und das dicke Ohr mit einer eiskalt wirkenden Flüssigkeit ab. Er arbeitete flink und schweigend, so als sei er Tag und Nacht auf die Behandlung derartiger Verletzungen vorbereitet. Als er mit seinem Patienten ins Büro zurückkehrte, war Reardon schon unruhig geworden. »Sie sehen noch immer verboten aus«, begrüßte er Bransome. »Es ist schon zehn vor zwei, aber wir werden wohl die ganze Nacht nicht ins Bett kommen.« »Warum nicht? Ist etwas passiert?« »Ja. Die beiden Flüchtlinge führten uns zu zwei weiteren Adressen, und bei einer davon hat's geknallt. Ein Polizeibeamter wurde verletzt. Bekam eine Kugel durch die linke Hand. Sie machten vier Gefangene. Die Meldung von der zweiten Adresse steht noch aus.«
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Er starrte auf das Telefon, das sich offenbar ›angesprochen‹ fühlte, weil es prompt zu klingeln begann. Reardon nahm den Hörer ab. »Wer? – McCracken? – Noch einmal drei von der Sorte? – Merkwürdiger Apparat, sagen Sie? – Nein, nein, die Einzelheiten erklären Sie mir später. Ich komme sofort und bringe die nötigen Experten mit. – Schicken Sie die drei Leute hierher und beobachten Sie das Haus weiter.« Er griff nach dem Bleistift und einem Blatt Papier. »Geben Sie mir noch einmal die Adresse.« Dann legte er den Hörer auf, steckte den Zettel in seine Tasche und erhob sich. »Ich denke, wir sind am Ziel angekommen. Am besten, ich nehme Sie mit.« »Das paßt mir gut«, sagte Bransome. »Vielleicht finde ich noch einen, dem ich die Luftröhre abklemmen kann.« »Sie werden nichts dergleichen tun«, entgegnete Reardon. »Ich nehme Sie mit in der Hoffnung, daß Sie uns einiges über dieses Agentennest sagen können. Wir wollen wissen, was das für ein Betrieb ist, wie er funktioniert und was darin zusammengebraut wird.« »Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber ich weiß absolut nichts.« »Wenn Sie der Sache auf den Grund gehen, wird Ihnen schon etwas einfallen.«
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Unterwegs guckten sie noch in ein anderes Büro und nahmen zwei Männer, Saunders und Waite, mit. Saunders war mittleren Alters, plump und kräftig gebaut; Waite war schon älter, trug eine Brille und machte einen nachdenklichen Eindruck. Beide strahlten das Selbstbewußtsein von Leuten aus, denen niemand ein X für ein U vormachen konnte. Sie stiegen in einen Wagen, der sie rasch quer durch die Stadt brachte und vor einem kleinen Lagerhaus hielt. Ein athletisch gebauter Mann öffnete die Tür und blickte hinaus. »Mac ist mit den drei Burschen schon weggefahren«, sagte er zu Reardon, als sie hineingingen. Er deutete mit dem Daumen auf eine Tür des Büroraums. »Zwei schliefen dort und schnarchten wie Wildschweine. Der andere Tölpel führte uns hierher. Sie wußten nicht, wie ihnen geschah. Wir mußten sie ein wenig unsanft aufwecken…« »Hat sich seitdem noch jemand blicken lassen?« »Keine Seele.« »Vielleicht taucht noch vor Tagesanbruch jemand auf. Ich habe noch zwei Leute mitgebracht.« Reardon blickte neugierig herum. »Mac sagte am Telefon etwas von einer Apparatur – wo ist die denn?« »Hier hinein.« Der Mann deutete auf die gleiche Tür. 255
Reardon stieß sie auf, ging hindurch und die anderen folgten ihm. Verstaubte und zerfledderte Plakate an den Wänden zeigten, daß in diesem Lagerraum einmal Spielzeuge aufbewahrt wurden. Jetzt war er mittels Trennwände in drei Räume aufgeteilt. Es gab einen Schlafraum für drei Personen, eine Art Erholungsraum und schließlich eine Abteilung mit der von Mac erwähnten Apparatur. Sie standen nebeneinander und betrachteten die metallen glänzende Vorrichtung, an deren Seiten abnehmbare Kästen angebracht waren, die den Mechanismus dieser seltsamen Apparatur verbargen. Sie war zwei Meter hoch, zwei Meter lang und einen Meter breit. Ihr Gewicht konnte man auf zwei Tonnen schätzen. Dahinter war ein Elektromotor angebracht; vorn sah man zwei abgedeckte Projektionslinsen; Reardon sagte zu Saunders und Waite: »Seht euch das Ding einmal gründlich an. Ihr habt Zeit, aber je früher ihr mir etwas Genaues darüber berichten könnt, um so besser. Ich bin im Büro zu erreichen.« Er nickte Bransome zu. Sie gingen zu dem Posten, der im Halbdunkel saß und die Vordertür beobachtete. »Hier werden keine Ratten mehr reinkommen«, sagte der Mann. »Der Wagen verrät uns.« 256
»Ich weiß.« Reardon nahm hinter einem baufälligen Schreibtisch Platz und schwang seine Beine auf dessen Fläche. »Setzen Sie sich in den Wagen und holen Sie zwei Leute zurück. Anschließend parken Sie den Wagen so, daß er nicht zu sehen ist – zwei, drei Straßen weiter –, und lassen einen Mann zur Bewachung zurück. Sie und der andere Kollege kommen wieder. Dann sind wir sechs Personen, und das sollte genügen.« »In Ordnung.« Der Posten öffnete die Tür, blickte hinaus und verschwand. Sie hörten den Wagen davonfahren. Bransome sagte: »Sechs Personen sollten genügen – wofür?« »Bis wir die Burschen verhört haben, wissen wir nicht, ob wir es mit zwanzig oder zweihundert Galgenvögeln zu tun haben. Vielleicht haben wir sie schon alle, können es aber nicht mit Sicherheit sagen. Solange noch einer herumläuft, wird er Alarm geben, wenn er entdeckt, daß eine Nummer fehlt. In diesem Fall können sie hierher gebraust kommen, um den Apparat verschwinden zu lassen oder zu zerstören. Oder sie verschwinden selbst. Ich weiß nicht, was sie unternehmen werden, aber ich muß mit allen Möglichkeiten rechnen und sie ausnutzen.« »Ich denke, Sie haben recht.« Reardon beugte sich vor und sah Bransome forschend an. »Erinnern Sie sich an dieses Quartier?« 257
»Nein.« »Auch nicht an diesen Apparat?« »Nein.« »Sie wissen mit Bestimmtheit, daß Sie ihn noch nie gesehen haben?« »Tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern.« Reardon war die Enttäuschung so deutlich anzumerken, daß Bransome krampfhaft nach einem Erinnerungsfetzen suchte. »Ich habe das komische Gefühl, daß ich den Apparat eigentlich kennen müßte, doch leider –« »Hmhm!« Sie schwiegen. Bis auf den durch das Fenster fallenden Lichtschein der Straßenlampe war das Büro dunkel. Sie warteten drei Stunden. Während dieser Zeit trafen die beiden Leute ein und warteten mit. Um fünf Uhr morgens machte sich jemand am Schloß der Vordertür zu schaffen. Ein Posten, den Revolver in der Hand, riß die Tür auf, während die anderen auf die Beine sprangen. Aber es war nur der Streifenpolizist. Zwanzig Minuten später tauchte Waite aus dem Hintergrund auf. Er hielt ein glänzendes, baumelndes Etwas in der rechten Hand. Sein Gesichtsausdruck war gespannt, seine Brille fast von der Nase gerutscht.
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»Mit diesem Apparat sollte man nicht einmal die Hunde erschrecken«, gab er bekannt. »Das ist ein stroboskopisches Ungeheuer. Den Burschen, der das Ding erfunden hat, sollte man erschießen!« »Wie funktioniert der Apparat?« wollte Bransome wissen. »Einen Moment.« Waite blickte zur Hintertür. Saunders kam, setzte sich auf die Schreibtischkante und betupfte sein Gesicht mit einem Taschentuch. Er war dunkelrot, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Ich kann von Glück sagen, daß ich nicht betäubt und schon darauf vorbereitet war. Anderenfalls wäre mir noch elender zumute gewesen.« Saunders wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn und starrte Reardon an. »Ich habe in dieser Folterkammer eben einen Menschen umgebracht. Und ich habe ihn mit dem größten Eifer erledigt. Ich warf ihn auf das Bett und schnitt seinen Hals von einem Ohr zum anderen durch.« »Das stimmt«, warf Waite ein. »Es war ein vorsätzlicher und kaltblütiger Mord, wie man ihn in tausend Jahren nur einmal mit eigenen Augen beobachten kann. Nur eins stimmte nicht.« »Nämlich?« fragte Reardon, ihn mit kleinen Augen ansehend.
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»Er kann nicht der Mörder sein. Weil ich den Mord begangen habe. Von einem Ohr zum anderen, genauso war es!« Reardon zeigte sich von diesen beiden Mordgeständnissen wenig beeindruckt und sagte: »Die gleiche Technik, der gleiche Ort, das gleiche Opfer, das gleiche Motiv?« »Natürlich«, antwortete Waite. »Das gleiche Bild.« Er wedelte mit dem glänzenden Streifen. »Dies ist ein Stück des Mordes. Sehen Sie sich's einmal an.«. Er warf den Streifen auf den Schreibtisch und fuhr fort: »Das Ding dort ist ein ganz besonderer Projektionsapparat. Er gibt ein stereoskopisches Bild in natürlichen Farben. Das Bild ist auf einer Projektionsfläche zu sehen, die aus Tausenden von winzigen, pyramidenförmigen Erhöhungen besteht, und der 3-D-Effekt kommt auch ohne Polarisationsbrille zur Geltung.« »Das ist doch nicht neu«, sagte Reardon ironisch. »Und 3-D-Filme, bei denen man sich eine Brille aufsetzen muß, sind schon lange aus der Mode.« »Da ist noch etwas«, erklärte Waite. »Die Szene wurde so aufgenommen, daß die Kamera sich mit dem Zuschauer identifiziert. Die Perspektive der Kamera ist die des Zuschauers.« »Auch das ist nicht neu.« »Was neu ist, zeigt teilweise dieser Streifen. Er läuft über die Bildfenster der zwei gekoppelten und schräge auf die Projektionsfläche gerichteten Linsen. 260
Bei diesen Streifen handelt es sich nicht um den üblichen 35-mm-Normalfilm, außerdem werden sie mit einer Geschwindigkeit von dreitausenddreihundert Bildern pro Minute abgespult. Bei jedem fünften Bild wird die Lichtstärke gleißend hell. Dadurch entstehen pro Sekunde sieben Lichtblitze, die mit dem natürlichen Rhythmus der Sehnerven übereinstimmen. Wissen Sie, was das bedeutet?« »Nein – berichten Sie weiter.« »Die Lichtblitze wiederholen sich immer wieder und wieder und versetzen den Betrachter in einen hypnotischen Zustand.« »Teufel noch mal!« sagte Reardon, hielt den Filmstreifen hoch und betrachtete ihn im Schein der Straßenlampe vor dem Fenster. Waite erklärte: »Falls der Betrachter nicht vorher betäubt wurde, sieht er in den Bildern zunächst nur Bilder. Aber bald dämmert er in einen hypnotischen Schlaf hinüber, wobei sein optisches Wahrnehmungsvermögen sich immer stärker in eine Kamera verwandelt. Seine Sinne empfangen und registrieren zwangsläufig eine falsche Erinnerung. Das Gehirn kann diese Erinnerung natürlich nicht dort einordnen, wo bereits eine existiert. Aber es sind viele leere Plätze frei, die gewissermaßen noch nicht ausgelastet sind und nur unwichtige Dinge aufgespeichert haben. Dieser Apparat fabriziert das Verbrechen, die Charaktere, den Ort, das Motiv, die Begleitumstände und den Zeitabschnitt der 261
Vergangenheit. Das Gehirn speichert die ganze Handlung dort auf, wo aus diesem oder jenem Grund noch keine wichtige Erinnerung registriert wurde.« »Unglaublich für jemanden, der keine persönlichen Erfahrungen gesammelt hat«, warf Bransome ein. »Aber ich für meine Person weiß, wie überzeugend so etwas wirkt.« »Irgendein Genie hat eine vollautomatische Gehirnwäsche erfunden«, sagte Waite. »Mit diesem Verfahren kann man Jeden davon überzeugen, daß schwarz weiß ist – vorausgesetzt, daß er sich in einem Dämmerzustand befindet und nicht weiß, was mit ihm geschieht.« Er griff in die Tasche, brachte noch einen kurzen Filmstreifen zum Vorschein und gab ihn Bransome. »Die Kästen enthalten eine kleine Bibliothek fertiger Morde, deren Schauplatz irgendwo zwischen hier und Timbuktu liegt. Ein Film hat das Etikett ›Burleston‹, aber er kann tausend Meilen von hier entfernt gedreht worden sein. Wie gefällt Ihnen dieser Streifen?« Bransome hielt ihn gegen das spärliche Licht. »Um Himmels willen, das ist Arline!« »Wahrscheinlich eine kleine unbekannte Schauspielerin von irgendwo«, meinte Reardon. »Das bezweifle ich«, ließ Saunders nach langer Pause seine Stimme vernehmen. Er schwitzte noch immer. »Diese Morde wirken viel zu echt. Ich habe das elende Gefühl, daß die Hauptdarsteller buchstäblich ihren eigenen Tod spielten.« 262
»Das Gefühl habe ich auch«, sagte Wake. »Wie meinen Sie das?« fragte Reardon. »Die Morde wirken zu überzeugend, um nur gestellt zu sein. Ich nehme an, daß gewisse Leute die Hauptdarsteller für alle Zeiten mundtot machen wollten. Jeder wurde überredet, eine Rolle zu spielen, und er entdeckte zu spät, daß die letzte Szene tödlich ernst gemeint war.« Reardon dachte mit ausdruckslosem Gesicht darüber nach. »Ich halte es durchaus für möglich«, meinte er dann. »Wie dem auch sei, es ist eine Höllenmaschine«, sagte Waite. »Wer von ihr behandelt wurde, der schweigt von allein. Was kann man schon für jemanden tun, der sich verkriecht und entschlossen ist, die Tatsache zu verbergen, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmt?« »Ich weiß, ich weiß.« Reardon warf Bransome einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich werde diesen Apparat fortschaffen und gründlich untersuchen lassen.« Er blickte auf seine Uhr. »Ich denke, wir können unsere Zelte abbrechen.« Dann zu Bransome: »Ich nehme Sie mit zu unserer Dienststelle. Sie werden acht Stunden schlafen können und dürfen essen, was Sie wollen. Dann erzählen Sie uns Ihre Geschichte in allen Einzelheiten und identifizieren die Typen, die wir erwischt haben. Anschließend können Sie nach Hause gehen.« 263
Um sechs Uhr abends fuhr Reardon Bransome nach Hause und unterhielt sich zwanglos mit ihm. »Kein Zweifel, daß Sie – gemäß den besonderen Aspekten jener Woche – die leichteste Beute gewesen sind. Sie wurden niedergeschlagen, betäubt und wegtransportiert. Dann wurden Sie ›behandelt‹, zur Treppe zurückgebracht und mit einem freundlichen Schulterklopfen verabschiedet. Einer der Burschen löste mit dem Stichwort ›Burleston‹ Ihr Erinnerungsvermögen aus, und ein anderer brachte Sie auf den Trab.« »So muß es sich abgespielt haben«, murmelte Bransome. »Ein Jammer, daß ich mir um die fehlenden Stunden keine Gedanken machte…« »Sie waren verwirrt.« Reardon dachte kurz nach und fuhr fort: »Wir müssen noch alle die anderen Opfer aufsammeln. Die armen Teufel wissen nicht, daß man ihnen Gespenster ins Hirn gepflanzt hat. Wie sollen wir die zur Vernunft bringen? Wer gibt uns die Garantie, daß so etwas nicht mehr passieren wird? Die Bande, die wir festgenommen haben, kann nur die erste von mehreren Gruppen sein, die irgendwo ihre Netze auswerfen.« »Dafür gibt es eine leichte Antwort«, sagte Bransome. »Stellen Sie mich als schlechtes Beispiel hin. Erzählen Sie allen, wie es mir ergangen ist, warum und wie es passierte. Das macht mir nichts aus – ich werde ein gutes Gegengift sein. Ein Wissenschaftler wird darin in erster Linie einen 264
wissenschaftlichen Trick sehen, auch wenn es sich um einen schmutzigen Trick handelt.« »Glauben Sie, daß das die anderen zurückbringen wird?« »Ganz gewiß. Sie werden in ihren Stall zurückkehren und dumme Gesichter machen. Und dann werden sie so verärgert sein, daß sie stundenlang über wirksame Gegenmaßnahmen nachdenken. Und früher oder später werden sie auch etwas Wirksames erfunden haben.« Er blickte seinen Zuhörer von der Seite an und sagte: »Eins haben Sie mir noch nicht erzählt, und das möchte ich gern wissen.« »Das wäre?« »Wer hinter diesem ganzen Humbug steckt.« »Tut mir leid, das kann ich nicht sagen. Aber ich kann Ihnen zwei Anhaltspunkte nennen, die Sie mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen werden. Erstens reisen heute abend auf unser dringendes Ersuchen drei Regierungsbeamte einer bestimmten Botschaft mit dem Flugzeug ab; zweitens werden Sie zwar keine Medaille verliehen bekommen, aber ein höheres Gehalt kassieren können.« »Das ist schon etwas. Und ich glaube beinahe, das habe ich auch verdient.« »Wirklich? Na, ich glaube eher, daß es in dieser Welt keine Gerechtigkeit gibt.« Der Wagen hielt vor Bransomes Haus. Reardon stieg mit Bransome aus und begleitete ihn zur Tür. Als Dorothy erschien, 265
sagte er rasch: »Ich habe den Ausreißer zurückgebracht – ein bißchen verbeult, aber noch ganz. Ich habe ihm auch eine Gehaltserhöhung versprochen, und dafür bekomme ich einen großen Whisky!« Verblüfft eilte Dorothy davon. Reardon hob sein Glas in die Höhe und sah beide an. Dann sagte er: »Zum Wohl des Mörders!« und trank das Glas leer. Das Telefon klingelte. Dorothy nahm den Hörer ab, meldete sich und sagte zu Bransome: »Das ist für dich.« Sie trat zur Seite und beobachtete Reardon wachsam und mißtrauisch. Bransome grinste sie nur an und griff nach dem Hörer. Am anderen Leitungsende rief eine aufgeregte Stimme: »Sie hatten hundertprozentig recht, Bransome! Ich habe ein reines Gewissen. Hören Sie, was ich sage? Ich habe ein reines Gewissen! Wir müssen der Sache gemeinsam auf den Grund gehen, Bransome. Ich bin schon auf dem Rückweg und treffe um zehn Uhr dreißig ein. Können Sie mich vom Bahnhof abholen?« »Ich werde da sein.« Bransome legte den Hörer auf die Gabel zurück und sagte zu Reardon: »Das war Henderson. Er trifft um zehn Uhr dreißig ein und will mit mir gemeinsam die Jagd eröffnen.« »Wir haben ihn in dem Augenblick, wenn er sein Gesicht sehen läßt. Er kann uns einen Dienst erweisen und vielleicht einige der Leute 266
identifizieren, mit denen er es zu tun hatte.« Reardon äugte nach der Whiskyflasche. »Ich denke, das sollte auch gefeiert werden, nicht wahr?« Dorothy, noch immer fassungslos, füllte sein Glas nach. Reardon hob das Glas wieder in die Höhe und sagte: »Trinken wir nun auf das Wohl des anderen Mörders!« ENDE
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