Marc Tannous
Die Seelenfestung Version: v1.0
Mike Malloy fühlte sich, als sei er in der Hölle ge landet. Das Steuer ...
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Marc Tannous
Die Seelenfestung Version: v1.0
Mike Malloy fühlte sich, als sei er in der Hölle ge landet. Das Steuer des Gefangentransporters fest um klammert, den Blick starr nach vorn gerichtet, lenkte er den Kastenwagen die kurvenreiche Küstenstrecke hinauf. Wie Lanzen bohrte sich das Licht der Scheinwerfer in die Dunkelheit, die umso undurchdringlicher zu werden schien, je näher sie ihrem Ziel kamen. Wind und Regen zerrten mit unsichtbaren Händen an dem schweren Fahrzeug, als wollten sie es mit samt seinen drei Insassen in den Abgrund reißen …
Malloy schluckte. Obwohl er schon bisher kaum schneller als Schritttempo gefahren war, drosselte er die Geschwindigkeit noch weiter. »Verfluchtes Sauwetter!«, fluchte Sam O’Reilly. Der 28-jährige blonde Ire, der auf dem Beifahrersitz saß, hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet, als würde er insgeheim zu seinem Schöpfer beten. »Man könnte denken, dass jemand da oben es auf uns abgesehen hat.« Er sah andeutungsweise gen Himmel. »Auf uns?«, gab Malloy zurück und verzog das Gesicht. »Wohl eher auf den da hinten.« Sein Blick huschte zum Rückspiegel, als könne er so einen Blick in den gepanzerten Frachtraum erhaschen. »Wenn ich mir vorstelle, was der Mistkerl mit seinen Opfern angestellt hat, wundert es mich nicht, dass Petrus die Tränen kommen.« Stu Hannigan war eine Legende. Als einer der kaltblütigsten Seri enkiller Englands hatte er Kriminalgeschichte geschrieben. Seine Opfer waren ausnahmslos junge Anhalter gewesen, die er als Handelsvertreter auf seinen Reisen durchs ganze Land mitgenom men hatte. Jedes Mal war er mit ihnen an einen einsamen Ort gefah ren, hatte sie getötet und ihnen danach die Herzen aus dem Leib ge schnitten. Drei Jahre lang hatte er England in Angst und Schrecken versetzt, bis er durch Zufall geschnappt worden war, als Polizisten bei einer Routinekontrolle die Leiche seines letzten Opfers im Kofferraum sei nes Wagens gefunden hatten. Nach schier endlosen Verhören hatte er fünf weitere Morde gestanden, aber die Polizei war der festen Überzeugung, dass er für mindestens ein Dutzend bislang unge klärter Todesfälle verantwortlich war. O’Reilly winkte ab. »Da wo er jetzt hingeht, hat er genügend Zeit, um über seine Taten nachzudenken.« Das Hochsicherheitsgefängnis, zu dem Malloy und Reilly mit ih rem Passagier von London aus gestartet waren, lag völlig abgelegen
an der Küste von Cornwall. Die nächste Ortschaft war gut 50 Meilen entfernt. Ein Fischerdorf, das nur aus ein paar Häusern bestand. Mit dem Transporter hatten sie den Ort vor wenigen Minuten durchquert, bevor sie auf diese tagsüber sicherlich malerische Küstenstraße gelangt waren. Schließlich war der Regen, der sie bereits während der gesamten Fahrt begleitet hatte, von Minute zu Minute heftiger geworden, bis er diese geradezu sintflutartigen Ausmaße angenommen hatte. Es war, als würde der Herrgott zürnen, angesichts der unzähligen Sünder, die hinter den Mauern von Dunwood Castle ihr klägliches Dasein fristeten. O’Reilly nahm die Uniformmütze ab, warf sie vor sich auf die Ab lage und fuhr durch sein rotblondes Haar, das trotz der niedrigen Außentemperaturen nass geschwitzt war. »Wie weit ist es denn noch?«, knurrte er. »Der Karte zufolge müss ten wir längst …« Die nachfolgenden Worte seines Kollegen hörte Malloy nicht mehr. Urplötzlich war er da. Ein dunkler Schatten, der wie aus dem Nichts kommend gegen die Windschutzscheibe donnerte. Malloy reagierte sofort. Ohne nachzudenken hämmerte er den Fuß auf die Bremse. Erst im nächsten Moment wurde ihm klar, wie gefährlich ein solches Brems manöver auf der regennassen Fahrbahn eigentlich war. Der Wagen geriet ins Schlingern. Das Heck brach nach links aus und schlitterte auf den Abgrund zu. »Verdammt!« O’Reillys Schrei gellte durch die Fahrerkabine, als der linke Hin terreifen über den Abgrund rutschte, der Transporter damit in eine gefährliche Schräglage geriet. Auch Malloy sah sich bereits am Abgrund zerschellen – doch der
Wagen stand. Die gerade gedrosselte Geschwindigkeit hatte sie vor dem Sturz über die Klippe bewahrt. Malloys Herz pochte wild, während er den ersten Gang einlegte und den Wagen vorsichtig an den linken Fahrbahnrand bugsierte. »Was, zur Hölle, war das?«, fragte O’Reilly. Er war kreidebleich. »Irgendein Tier …« Malloy schaltete die Warnblinkanlage ein, gurtete sich los und öffnete die Tür. »Was hast du vor?« »Was wohl? Ich will nachsehen, was wir da gerade erlegt haben.« »Bist du wahnsinnig? Du weißt genau, dass wir den Wagen unter keinen Umständen verlassen dürfen.« Malloy kannte die Sicherheitsbestimmungen, denen sich ein Gefangenentransport zu unterwerfen hatte. Doch er musste einfach nachsehen. Seinem Kollegen gegenüber erwähnte er es nicht, aber im Augen blick des Zusammenpralls hatte er etwas gesehen, das … Er schüttelte den Kopf. Sicherlich hatte es sich dabei um eine optische Täuschung gehandelt, um ein kurzzeitiges Versagen der Sinne in einem Moment höchster Aufregung. Andererseits … »Warte hier und verriegle die Tür hinter mir«, sagte Malloy. Er griff nach der Stablampe auf der Ablage, trat hinaus in den strö menden Regen und schlug die Tür hinter sich zu. Das dumpfe Brummen des Motors begleitete ihn, während er an der rechten Seite des Panzerwagens vorbeihuschte. Ohne Unterlass prasselte der Regen auf den Schirm seiner Mütze und das wasserabweisende Ma terial seiner Uniform. Erst nach wenigen Schritten schaltete er die Lampe ein. Ihr breiter Lichtkegel bohrte sich in die Dunkelheit. Weit konnte es nicht sein – was auch immer es war. Das Fahrzeug
war bereits nach wenigen Yards zum Stehen gekommen. Wenn hier noch irgendetwas lag, dann in unmittelbarer Nähe. Langsam ließ er den Strahl über die Fahrbahn wandern, peinlich darauf bedacht, keine Stelle zu übersehen. »Hier ist nichts«, murmelte er zu sich selbst und fragte sich dabei, ob die Wucht des Aufpralls dieses … Ding … möglicherweise in den Abgrund geschleudert hatte. Malloys Gedankenfluss geriet ins Stocken, als etwas in den Kegel der Lampe geriet. Etwas, das hier so fehl am Platz war, wie ein Goldfisch in der Sahara. Ein menschlicher Körper! Er lag auf dem Rücken, die Augen weit geöffnet, den Blick starr nach oben gerichtet. Doch am absonderlichsten war, dass er keinen Faden am Leib trug. Er war völlig nackt. Malloys Herzschlag beschleunigte sich. Er trat an den Mann heran, ging vor ihm in die Knie, nahm seine Hand und tastete nach dessen Puls. Bereits als er die Kälte der Haut spürte und ihm dabei in die aufgerissenen, blicklosen Augen sah, ahnte Malloy, was er wenige Sekunden später bestätigt sah. Der Mann war tot!
* »Wie ist das möglich?« Sam O’Reillys Stimme klang wie ein tro ckener Ast, der gegen eine Hauswand kratzte. »Der Aufprall kann ihn doch unmöglich getötet haben, so langsam wie wir gefahren sind. Und wo sind seine Klamotten?« Malloy atmete zischend aus und beugte sich zu dem Toten hinab. »Heb dir deine Fragen für später auf und hilf mir, ihn hochzuheben!«
»Du willst ihn doch nicht etwa mitnehmen?« »Wir können ihn ja schlecht hier liegen lassen, nicht wahr? Also los, pack mit an!« Mit einer kaum zu übersehenden Abscheu nahm O’Reilly den To ten an den Beinen, während Malloy ihn an den Schultern packte. Gemeinsam hoben sie ihn hoch und schleppten ihn bis zum Heck des Panzerwagens. Dort ließ O’Reilly ihn absinken, kramte seine Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür des fensterlosen ›Frachtraums‹ auf. Sofort richtete Malloy seine Taschenlampe durch die geöffnete Tür. Stu Hannigan war auf einer Pritsche fixiert. Arme und Beine waren mit stabilen Riemen gefesselt. Seine Mundpartie war von einer Maske bedeckt, die Malloy an den Mundschutz eines Chir urgen erinnerte – mit dem Unterschied jedoch, dass sie aus einem sehr robusten Kunststoff gefertigt war. Nur ein paar Löcher erlaub ten es dem Serienkiller zu atmen. Wie ein verfluchtes Insekt in einem Schuhkarton, dachte Malloy, nicht ohne eine gewisse Genugtuung dabei zu empfinden. Dabei war es eine unerlässliche Vorsichtsmaßnahme. Schaudernd dachte Malloy an jenen Kollegen, der so unvorsichtig gewesen war, ihn an seinem ersten Gerichtstermin lediglich in Handschellen aus seiner Zelle zu führen. Er war nur einen kurzen Moment lang unachtsam gewesen. Doch diese wenigen Sekunden hatten Hannigan genügt, um sich auf ihn zu stürzen und seine Zähne in sein linkes Ohr zu vergraben. Zwei weitere Wärter waren nötig gewesen, den Zwei-Meter-Mann von ihm loszureißen. Nein, auf solch einen Zwischenfall konnte Malloy gut verzichten. »Hallo Kumpel«, sagte O’Reilly. »Du bekommst Gesellschaft!« Hannigan ließ keinen Laut vernehmen. Teilnahmslos beobachtete
er über den Rand der Maske hinweg, wie die beiden Polizisten den Leichnam in den Innenraum hievten und genau neben seiner Prit sche ablegten. »Okay, das war’s dann wohl«, meinte Malloy mit noch immer schwankender Stimme. »Lass uns schleunigst hier abhauen!« Sorgfältig schlossen sie die Tür wieder ab. Nur eine Minute später setzten sie ihre Fahrt fort. Was sie nicht sahen, war das funkelnde Augenpaar, das aus dem Dunkel heraus ihrem Weg in die Nacht folgte …
* Das Gefängnis glich einer Festung. Am äußersten Punkt eines gewaltigen Felsvorsprungs erbaut, waren zwei seiner Mauern dem Meer zugewandt. Die Küstenstraße führte bis direkt vor das wuchtige Tor, das Mal loy an eine Zugbrücke erinnerte. Überhaupt ähnelte das gesamte Gebäude tatsächlich mehr einer Burg denn einem Gefängnis. Riesige Türme bildeten die vier Eck punkte, die die unüberwindbar erscheinenden, pechschwarzen Mauern miteinander verbanden. Die Ankömmlinge mussten nicht lange warten, bis das Tor mit lautem Getöse vor ihnen in die Höhe glitt. Im Schritttempo ließ Malloy den Panzerwagen in den quadra tischen Innenhof rollen. Sekunden vergingen, dann flammten mehrere Flutscheinwerfer gleichzeitig auf und rissen die Umgebung aus der Dunkelheit. Malloy entdeckt zwei Uniformierte, die durch eine Tür in der Wand vor ihnen traten und mit gesenkten Häuptern durch den strö menden Regen auf den Transporter zu rannten.
Malloy öffnete die Fahrertür erst, als einer der beiden Männer di rekt davor stehen blieb. »Eine schöne Nacht habt ihr euch ausgesucht«, sagte der Bursche, ein stämmiger, rotgesichtiger Hüne mit kahl rasiertem Kopf, zur Be grüßung. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« »Nicht ganz zu Unrecht«, gab Malloy zurück und stellte den Mo tor ab. Er ignorierte den fragenden Blick des Hünen, stieg aus und ging an ihm vorbei zur Rückseite des Wagens, wo O’Reilly ihn bereits erwartete und dabei war, die Tür zu öffnen. Mit der Taschenlampe leuchtete Malloy in den Innenraum. Ohne den Serienkiller Stu Hannigan auch nur im Mindesten zu be achten, richtete er den Lichtkegel auf das Gesicht des Toten, der noch immer wie aufgebahrt neben der Pritsche lag. »O mein Gott …!« Der Wärter prallte zurück, als würde ihn ein wildes Tier aus dem Wageninneren heraus anspringen. »Das gibt’s doch nicht. Roy!« Selbst in der Dunkelheit glaubte Malloy zu sehen, wie dem Kollegen in Sekundenschnelle jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. »Sie kennen den Toten?«, fragte er. »Sein Name ist Roy Malowe«, sagte der Wärter tonlos, den Blick starr auf die Leiche gerichtet. »Er ist einer unserer Mitarbeiter …«
* Der Wärter, der sich ihnen als Steve Dobson vorstellte, ließ zunächst Stu Hannigan in seine Zelle führen. Erst danach wurde der Tote zur Obduktion in die medizinische Abteilung von Dunwood Castle gebracht. »Grear war gesund und munter, als ich ihn das letzte Mal sah«, er
zählte Dobson, während er Malloy und O’Reilly in den Besu chertrakt des Gebäudes führte. »Wann genau war das?«, fragte Malloy, erleichtert darüber, dass man ihm die Verantwortung für den Toten abgenommen hatte. »Gestern Abend. Seitdem war er wie vom Erdboden verschluckt. Allerdings hatte er heute seinen freien Tag. Was er jedoch völlig un bekleidet im strömenden Regen auf einer Landstraße zu suchen hatte … Fragen Sie mich nicht.« Bei einem kurzen Rundgang durch Dunwood bestätigte sich Mal loys Eindruck, den er sich bereits von außen von dem Gemäuer ge macht hatte. Die Burg war so ganz anders als all die den modernen Strafvollzugsanstalten, in die Malloy bisher seinen Fuß gesetzt hatte. »Das wundert mich nicht«, sagte Dobson, als er ihn darauf an sprach. »Dunwood wurde bereis im Jahre 1284 erbaut. Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geriet es zunächst in den Besitz eines amerikanischen Öl-Millionärs, der es nur Jahre später der britischen Regierung überließ. Diese wusste zunächst nicht so recht etwas damit anzufangen und beschloss daraufhin, es zu einem Hochsicherheitsgefängnis umzubauen.« Dobson führte sie in ein winziges Besucherzimmer, das mit einem zerkratzten Metalltisch und einigen Holzstühlen ausgestattet war. »Ich nehme an, dass Sie die Heimfahrt nach London erst morgen früh antreten möchten?« Malloy bejahte. »Sehr gut. Direktor Saint-George hat bereits ein Zimmer im Westturm für sie herrichten lassen. Ich denke, sie wird es sich nicht nehmen lassen, Sie zuvor selbst willkommen zu heißen.« »Sie …?«, fragte O’Reilly erstaunt. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und eine schlanke Frau von etwa 45 Jahren betrat das Zimmer. Malloy musterte sie.
Sie war auffallend blass und hatte die roten Haare streng nach hin ten gezurrt. Ihr gertenschlanker Körper steckte in einem schwarzen Zweiteiler. Eine schwarze Hornbrille mit zentimeterdicken Gläsern ließ ihre grünen Augen doppelt so groß erscheinen. Trotz ihrer matronenhaften Aufmachung entging Malloy nicht ihre Attraktivität, die sie mit dieser Fassade möglicherweise bewusst zu kaschieren versuchte. Wenn man wie sie in einer reinen Männerwelt lebte, war es vermutlich nicht gerade ratsam, seine weiblichen Reize zu offen zur Schau zu stellen. »Ich bin Loretta Saint-George«, stellte sie sich vor und gab beiden Besuchern nacheinander die Hand. »Seit einigen Wochen Direktorin der Strafvollzugsanstalt von Dunwood.« Ihre Stimme war tief und rauchig und hätte auch einer Nachtclub sängerin gut zu Gesicht gestanden. »Ich hörte bereits, was Ihnen auf dem Weg hierher widerfahren ist«, sagte sie, nachdem auch die beiden Männer sich vorgestellt hatten. »Mr. Grear war einer unserer langjährigsten Mitarbeiter. Ich kann nur schwer zum Ausdruck bringen, wie sehr mich die Nach richt seines … nun … so absonderlichen Todes bestürzt. Sie werden verstehen, dass …« Sie verstummte, als die Tür unvermittelt aufgerissen wurde und ein blonder, abgehetzt wirkender junger Mann in einem weißen Arztkittel auf der Schwelle erschien. Er sah aus, als habe er einen Geist gesehen. Sein Gesicht war aschfahl, die Augen schreckgeweitet. Die Lippen bebten, als habe er die letzte halbe Stunde in einer Kühlkammer verbracht. »Mr. Saunders!«, sagte Loretta Saint-George tadelnd. »Was ist nur in Sie gefahren?« »Es ist Dr. Ryker«, stieß Saunders atemlos hervor und klammerte sich dabei mit Händen am Türrahmen fest. »Kommen Sie! O mein Gott, so kommen Sie doch mit!«
* Die medizinische Abteilung, Wirkungsstätte von Chefarzt Dr. Martin Ryker, glich einem Schlachtfeld. Medizinische Gerätschaften lagen umgestürzt auf dem Boden. Gläser, Reagenzröhren waren zerbrochen. Alles deutete auf einen Kampf hin, der hier vor kurzem stattgefunden haben musste. Wirklich erschreckend war jedoch der Anblick, den Dr. Ryker selbst bot. Er lag rücklings auf dem Boden. Sein weißer Arztkittel war aufge knöpft, das Hemd darunter regelrecht zerfetzt, als habe etwas seine Krallen hineingeschlagen. Doch das war längst nicht alles. Seine Brust war geöffnet worden. »Ist er tot?«, fragte O’Reilly. Er und Malloy hatten es sich nicht nehmen lassen, Loretta Saint-George, Steve Dobson und Tom Saunders, den jungen Assistenzarzt in die medizinische Abteilung zu begleiten. »Als Laie würde ich sagen, ja«, meinte Malloy und deutete auf einen blutigen Klumpen, der etwa eine Armlänge neben Rykers Kopf in einer metallenen Schale lag. Auch O’Reilly benötigte kein medizinisches Diplom, um sofort zu erkennen, worum es sich dabei handelte: das Herz eines Menschen. Er würgte. Malloy dachte an Stu Hannigan. Hätte er nicht sicher gewusst, dass der Serienkiller in einer ausbruchsicheren Zelle saß, hätte er Stein und Bein geschworen, dass er für Rykers Tod verantwortlich war. »Ich war im Labor, als es passierte«, erklärte Saunders, der sich in zwischen etwas beruhigt hatte. »Dr. Ryker hatte gerade damit be gonnen, den verstorbenen Roy Grear zu untersuchen, als …« Saunders verstummte unwillkürlich. Sein Blick durchmaß den
Raum, als würde er irgendetwas suchen. »Was haben Sie, Saunders?«, fragte Loretta Saint-George und rückte in einer hilflos wirkenden Geste ihre Hornbrille zurecht. Saunders Hand zitterte, als er mit dem Zeigefinger auf den umge stürzten Untersuchungstisch deutete. »Genau dort hat die Leiche gelegen«, krächzte er. Steve Dobson drehte sich zu ihm um und hob ungläubig die rechte Augenbraue. »Und wo ist sie jetzt?« Saunders starrte ihn so entgeistert an, dass Malloy befürchtete, er würde jeden Moment den Verstand verlieren. »Ich weiß es nicht. Sie …« »Mein Gott! Seht euch das an!« O’Reilly, der einige Schritte vorge treten war, deutete zu Boden. Glas knirschte unter Malloys Schuhen, als er sich dem Kollegen näherte. Sein Puls beschleunigte sich, als er sah, was O’Reilly ent deckt hatte – Spuren von nackten Füßen, die von der umgestürzten Bahre aus zur Tür am anderen Ende des Zimmers führten. »Offenbar hat unser Freund Lust auf einem Ausflug verspürt.« Dobsons Versuch, seinen Worten einen ironischen Unterton zu verleihen, misslang. Loretta Saint-George sah ihn tadelnd an. Sie holte tief Luft, um zu einer scharfen Entgegnung ansetzen, hielt jedoch unvermittelt inne, als ein leises Piepsen ertönte. Sie griff in die Außentasche ihrer Jacke, zog einen oval geformten Pager hervor und warf einen kurzen Blick auf das Display. Die Nachricht, wie auch immer sie lautete, musste es in sich haben. Mit zusammengepressten Lippen steckte sie den Pager wieder ein. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. »Noch mehr Probleme?«, fragte Malloy. »Es geht um Stu Hannigan«, sagte Saint-George an Dobson ge
wandt. »Er ist offenbar ausgerastet und schlägt wild um sich. Küm mern Sie sich darum!« Mike Malloys zuckte zusammen wie unter einem unsichtbaren Peitschenschlag und ballte die Fäuste. Noch konnte er sich nicht Mindesten vorstellen, was hier eigentlich vor sich ging. Doch er spürte bereits jetzt, wie sich sein Weltbild auf den Kopf zu stellen begann …
* Der Lärm war bereits von weitem zu hören. Dutzendfach verstärkt hallte er von den massiven Felswänden des unterirdischen Laby rinths wider, in dem der Zellentrakt untergebracht war. Immer wieder mischten sich Rufe anderer Gefangener in das Getö se. Immer wieder sah Mike Malloy Hände, die ihm durch die Gitter stäbe der Zellen, an denen Dobson, O’Reilly und er selbst im Lauf schritt vorbeihasteten, entgegengestreckt wurden. Der Wärter hatte ihnen zuvor bereits erklärt, wie wichtig es war, hintereinander zu gehen und den mit weißer Farbe auf den Boden des Gangs ge pinselten Mittelstreifen unter keinen Umständen zu verlassen. Nur so war gewährleistet, dass keiner der gewaltbereiten Straftäter ge fährlich werden konnten. »Sie sind wie Bestien«, hatte Saunders erklärt. Für Stu Hannigan hatte sich diese Möglichkeit offenbar schon sehr früh ergeben. Malloy konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie er sich – in eine Zwangsjacke gezwängt und mit einem Maulkorb versehen – mehrerer Wärtern erwehren konnte. »Da hinten muss es sein!«, rief Saunders, ohne sich umzudrehen und deutete auf die nächste Biegung, etwa dreißig Meter vor ihnen. Tatsächlich schwoll der Lärmpegel an, je näher sie dem Ort des
Geschehens kamen. Malloy glaubte, ein Brüllen herauszuhören. Wie das eines rasenden Löwen. Oder eines Grizzlys. Sie sind wie Bestien … Dobsons Worte schossen ihm noch einmal durch den Kopf, als er hinter ihm und O’Reilly um die Biegung jagte – und wie vor eine Mauer gerannt stehen blieb. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass Loretta Saint-George mit ihrer verkürzten Darstellung der Ereignisse stark untertrieben hatte. Stu Hannigan schlug nicht einfach nur um sich. Er war völlig außer Kontrolle. Fassungslos starrte Malloy auf den Wärter, den Hannigan am Kopf gepackt und einen Yard in die Höhe gehoben hatte. Für einen kurzen Moment sah zu ihnen hinüber, dann drehte er den Kopf des Wärters blitzschnellen nach rechts. Das Genick des Mannes brach wie ein trockener Ast. Schlaff wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte, fiel er zu Boden und blieb regungslos liegen. Erst jetzt sah Malloy die anderen beiden Körper, die schrecklich zugerichtet zu Füßen des Serienkillers lagen. »O mein …« Malloy konnte den Satz nicht beenden. Noch immer kämpfte er gegen den Nachhall des Anblicks an, den Hannigan bot. Er hat keine Augen mehr!, ging es ihm durch den Kopf, korrigierte sich jedoch sofort selbst: Falsch. Seine Augen sind noch da. Nur seine Pupillen sind verschwunden. Tatsächlich war in dem kurzen Moment, den Hannigan sich ihnen zugewandt hatte, nur das Weiße in seine Augen zu sehen gewesen. Wie bei einem seelenlosen Ungeheuer … Das Donnern eines Schusses sprengte Malloy den letzten Ge danken aus dem Kopf. Dobson hatte seine Waffe gezogen, auf Hannigan gerichtet und abgedrückt.
Der Hüne prallte getroffen zurück, fing sich aber ab, bevor er rück lings zu Boden stürzte. Ganz deutlich sah Malloy das dunkle Loch, das die Kugel auf Höhe seines Herzen in Hannigans Brust gestanzt hatte. Dobson hatte perfekt gezielt und dem Amokläufer keine Chance gelassen. Erst einen Augenblick später wurde Malloy klar, dass der Killer offenbar nicht einmal daran dachte, tot umzufallen. Er stand einen Moment lang nur da, blickte verständnislos auf die Schusswunde in seiner Brust – und stürmte auf Dobson zu. Unmöglich, dass er den Treffer überlebt hat, ging es Malloy noch durch den Kopf, während ihm die eigenen Sinne das Gegenteil be wiesen. Wie ein Wahnsinniger stürzte sich Hannigan auf Dobson, riss ihn mit einem harten Faustschlag zu Boden. Der Schlag wirkte unkontrolliert wie der Prankenhieb eines außer Kontrolle geratenen Gorillas. Ein weiterer Schuss ertönte. O’Reilly hatte ihn aus kürzester Distanz abgefeuert. Malloy sah, dass die Kugel durch die Schläfe des Hünen gedrungen war. Für einen kurzen Moment verlor Hannigan das Gleichgewicht und stützte sich an der Wand zu seiner Rechten ab. Malloy wich aus, als O’Reilly vor ihm zurückstolperte. Dieser schi en das Gesehene genauso wenig zu verstehen wie sein Partner. Kurz sah es so aus, als wolle Hannigan sich ihn als nächsten vor knöpfen – doch plötzlich drehte er sich um und rannte in die ent gegensetzte Richtung davon, bis er hinter der nächsten Abbiegung verschwand. Einen Moment lang spielte Malloy mit dem Gedanken, sich an sei ne Fersen zu heften, doch ein weiterer Blick auf die drei am Boden liegenden Leichen hielt ihn davon ab. Was auch immer da gerade davongerannt war, hatte nichts
Menschliches mehr an sich. Dieses Ding hatte zwei Treffer kassiert, die kein normaler Mensch überlebt hätte. Ein Untoter …, zuckte es in Malloy auf, während der rationale Teil seines Denkens den Gedanken empört von sich wies. Das hier war die Realität, kein billiger Horrorstreifen. Vielleicht steht er unter ir gendwelchen seltsamen Drogen … Noch einmal sah Malloy vor seinem inneren Auge Grear im Scheinwerfer des Panzerwagens auftauchen, bevor er vom Kühler erfasst und durch die Luft geschleudert wurde. Er erinnerte sich an den ersten Gedanken, der ihm beim Anblick des auf der Straße liegenden Körpers gekommen war. Dieser Mann muss schon eine ganze Weile lang tot gewesen sein … »Was, zur Hölle, war das?«, fragte Dobson mit zitternder Stimme. Zu Malloys Erleichterung schien er keine nennenswerten Verletzungen davon getragen zu haben. Er erhob sich wankend und rieb dabei seine Stirn. »Ich weiß es nicht«, gab Malloy zurück. »Aber wir sollten es so schnell wie möglich unschädlich machen, bevor es noch mehr Un heil anrichtet.« »Wohin werden diese Bilder gesendet?«, klang plötzlich O’Reillys Stimme auf. Malloy drehte sich zu ihm um, sein Blick folgte dem ausgestreck ten Zeigefinger. Und da verstand er, worauf ihn der Kollege auf merksam machen wollte. Eine Überwachungskamera, die über ihm an der Wand befestigt war und vermutlich den gesamten Gang überblickte. »In den Kontrollraum«, sagte Dobson, während er die Pistole im Gürtelhohlster verschwinden ließ. In einem Funkspruch an alle Kollegen gab er Stu Hanigans Flucht bekannt und wies dabei noch einmal ausdrücklich auf die Gefähr lichkeit des Mannes hin. Malloy bemerkte den unsicheren Blick, den
er dabei in die Richtung warf, in der Hannigan verschwunden war …
* Mit einigem Unbehagen wurde Mike Malloy bewusst, dass er und O’Reilly ohne Dobson Schwierigkeiten gehabt hätten, den Weg durch das Netz aus verzweigten Gängen zurückzufinden. Aber selbst unter Dobsons Führung dauerte es mehr als doppelt so lange, bis sie das schwere Stahltor erreichten, das aus dem unter irdischen Gewölbe zurück ins Erdgeschoss führte. Zu verdanken war dies dem Umstand, dass sie sich jeder Abzwei gung mit äußerster Vorsicht näherten. Die monströse Bestie, die ein mal Stu Hannigan gewesen war, konnte hinter jeder Ecke lauern. Malloy war mittlerweile davon überzeugt, dass es sich bei Doc Ry kers Mörder tatsächlich um den tot geglaubten Grear handelte. Es war völlig verrückt, aber Malloy musste sich nur den Anblick des offenbar von einer bösen Macht beseelten Hannigan ins Gedächtnis zurückrufen, um sich selbst daran zu erinnern, dass sie den Boden der Realität längst verlassen hatten. Wieso?, kam es ihm immer wieder in den Sinn. Wieso imitiert Grear die Handschrift des Serienkillers? Was war während der kurzen Zeit ge schehen, die beide miteinander im Panzerwagen verbracht hatten? Malloy beschloss, die Frage fürs Erste zurückzustellen, andernfalls war er mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem besten Wege, den Verstand zu verlieren. Dobson schloss das Tor sorgfältig ab. »Ist das hier der einzige Zugang zu den Gewölben?«, fragte O’Reilly, während sie über die schmale Wendeltreppe hinauf stiegen. »Ja«, war Dobsons Antwort. Er überlegte kurz. »Angeblich exis
tieren hier aber Geheimgänge. Ich und die Jungs haben schon ein paar Mal danach gesucht. Na ja, sie können Sie wohl denken, dass es hier sonst nicht sehr viel zu tun gibt. Fündig sind wir jedoch nicht geworden.« »Na, hoffentlich kommen Ihnen Ihre Mörder und Vergewaltiger da nicht zuvor«, gab Malloy zu bedenken. Dobson winkte ab. »Die Zellen wurden im Vorfeld natürlich gründlich untersucht, jeder Stein einzeln abgeklopft. Es …« Dobson verstummte. Er hatte gerade das Ende der Wendeltreppe erreicht, wollte seinen Schlüssel ins Schloss des Tores stecken, als es wie von selbst nach außen schwang. Über Dobsons Schulter hinweg sah Malloy eine schlanke Silhou ette. Im nächsten Moment hallte auch schon Loretta Saint-Georges Stimme zwischen den Wänden des engen Treppenhauses wieder. »Mr. Dobson! Was ist dort unten gerade passiert?« »Stu Hannigan ist entkommen«, gab Dobson zurück. »Er hat drei Wachleute getötet und dann die Flucht ergriffen.« »Es ist Ihnen nicht gelungen, einen unbewaffneten Mann aufzu halten?« Ihr Tonfall wurde schärfer. »Sowohl Dobson als auch Mr. O’Reilly haben auf Hannigan ge schossen«, kam Malloy zu Hilfe. »Eine Kugel traf ihn in die Brust, die andere in den Kopf. Beides schien Hannigan nicht im Mindesten zu stören.« Sekundenlang sagte Loretta Saint-George nichts. Malloy konnte sehen, wie sie innerlich mit sich rang. »Wir wollten gerade in die Kontrollzentrale«, erklärte Malloy. »Ich schlage vor, wir setzen unseren Weg fort. Bei so vielen Kameras, die dort unten installiert sind, wird es nicht schwer sein, Hannigan wieder zu finden.« Loretta Saint-George überlegte. »Hält sich noch irgendjemand da
unten auf?« »Negativ«, sagte Dobson und schüttelte den Kopf. »Bis auf die Häftlinge. Und die sitzen gut verwahrt in ihren Zellen.« Was Dobsons letzte Bemerkung anging, war sich Malloy alles andere als sicher. Er erinnerte sich daran, mit welcher Leichtigkeit Hannigan das Genick des Wärters gebrochen hatte. Aus irgend einem Grund hatte sich seine Körperkraft vervielfacht. Reichte sie auch aus, um mit bloßen Händen ein Zellengitter auf zubiegen? Malloy wusste es nicht, aber allein der Gedanke führte ihm vor Augen, wie wichtig es war, keine Zeit mehr zu verlieren. Loretta Saint-George nickte, drehte sich um und eilte voraus. Dosbon wartete, bis Malloy und O’Reilly durch das Tor getreten waren, dann warf er es ins Schloss und drehte den Schlüssel zweimal um. Malloy warf noch einen letzten Blick auf das massive Stahltor, das vermutlich stabil genug war, um auch einer Bombenexplosion zu wiederstehen. Irgendwo dahinter, ging es ihm durch Kopf, schleicht ein Monster durch das Labyrinth des Zellentrakts … Fröstelnd wandte er sich um und folgte Direktor Saint-George und den anderen durch den von kaltem Neonlicht gefluteten Gang.
* Die Überwachungszentrale befand sich im Ostturm der Burg. Auf ihrem Weg dorthin, mussten Malloy und O’Reilly immer wieder Wärtern ausweichen, die bis an die Zähnen bewaffnet an ih nen vorbeistürmten. Die Jagd auf Dr. Rykers Mörder war in vollem Gange. Malloy bezweifelte jedoch mittlerweile, dass er mit herkömmlichen Waffen
zur Strecke gebracht werden konnte. Eine schwere Metalltür führte zu einer steinernen Treppe, die sich im Inneren des Ostturms spiralförmig nach oben wand. Bereits auf halbem Wege hörten sie Schritte, die ihnen entgegenkamen. Steve Dobson und O’Reilly, die sich an der Spitze des Trosses befanden, blieben unvermittelt stehen und brachten ihre Dienstwaffen in Anschlag. Wie stumme Vorboten huschten die Schatten der Ankömmlinge über die Wand. Die Schritte wurden lauter und … Dobson starrte in den Lauf einer Pistole, der durch das trübe Däm merlicht auf seine Stirn zeigte. Zwei, drei Schrecksekunden später ließen er und sein Bedroher fast synchron die Waffen sinken und entspannten sich. Dobson stieß hörbar die Luft vor Erleichterung aus, während sein Gegenüber verlegen grinste – nur ein weiterer Wachmann. »Steve!«, stieß Letzterer hervor. »Zum Glück!« »Was ist passiert?«, fragte Dobson. »Ich komme gerade aus der Überwachungszentrale und … Na, seht am Besten selbst. Es ist kein schöner Anblick.« Die dunkle Vorahnung, die in den vergangenen Minuten wie ein bösartiger Tumor in Malloys Denken gewuchert hatte, vergrößerte sich. Schnellen Schrittes folgten sie dem Wachmann die letzten Stufen hinauf bis zu einer Tür auf der rechten Seite. Mit gezückter Pistole stieß der Wärter die Tür nach innen, bereit, jeden Moment zu schießen. Das Erste, was Malloy sah, war ein gutes Dutzend Monitore, die mit brutaler Gewalt zerschlagen worden waren. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Malloy den Wachmann, der hier anscheinend bis vor kurzem noch seinen Dienst getan hatte. Er saß in gekrümmter Haltung, mit vor der Brust baumelndem Kopf
auf einem Stuhl. Sein aufgeknöpftes Hemd umrahmte seine nackte Brust wie ein Theatervorhang und präsentierte eine klaffende Öff nung, aus dem sich bis vor kurzem noch ein dicker Schwall dunkeln Blutes ergossen haben musste. Im nächsten Moment fiel Malloys Blick auf seine halbgeöffnete Hand und damit auf den tropfenden Klumpen zwischen den zur Hälfte gekrümmten Fingern. Sein Mörder hatte ihm sein eigenes Herz in die Hand gedrückt! »Verdammt!« Steve Dobson war nun nicht mehr aufzuhalten. Mit schreckverzerrtem Gesicht stürmte er in den Raum und auf den Leichnam zu. »Fassen Sie bloß nichts an!«, rief Malloy und folgte ihm über den mit Scherben übersäten Boden. Sein Interesse galt jedoch weniger dem toten Wachmann, als viel mehr den Überwachungsmonitoren. Zwei von ihnen hatten die Zer störungswut überlebt. Möglicherweise war der Täter bei seinem Werk gestört worden. Einer von ihnen zeigte das Bild eines leeren Korridors. »Das ist einer der Gänge des Zellentrakts«, erklärte Loretta SaintGeorge. Sie war fast lautlos hinter Malloy getreten. »Und wo ist das da?« Er deutete auf den zweiten heil gebliebenen Monitor, der eine grobkörnige Außenaufnahme zeigte. »Unmittelbar vor dem Tor, durch das auch sie bei Ihrer Ankunft gekommen sind. Es …« Loretta verstummte und trat näher an den Monitor heran. Sie musste den Schatten bemerkt haben, den Malloy schon einige Sekunden früher entdeckt hatte. Wie ein Stück stofflich gewordene Dunkelheit löste er sich aus dem Schleier der Nacht, nahm dabei zunehmend menschliche Konturen an. »Erwarten Sie Besuch?«, fragte Malloy. »Nein. Wir …« Sie richtete sich auf. »Dobson! Schalten Sie sofort
die Außenbeleuchtung an!« Der Wärter nickte und verließ den Raum. Eine knappe halbe Mi nute später wurde die schmale Straße von starken Scheinwerfern erhellt. Die Gestalt hatte das Tor inzwischen erreicht und füllte jetzt fast den gesamten Monitor aus. Sie blieb stehen, sah direkt nach oben in die Kamera und schirmte die Augen dabei ab. Es handelte sich um einen Mann in mittleren Jahren. Er trug einen langen Mantel, nein, eher einer Art Cape, das ihn vor dem prasselnden Regen schützte. In der Hand hielt er einen kleinen Koffer. Er musste weit gelaufen sein. Zumindest machte er auf Malloy einen ziemlich erschöpften, orientierungslosen Eindruck. Im nächsten Moment kippte er nach vorne, sank auf die Knie, während sein Koffer polternd zu Boden fiel. »Himmel …«, stöhnte Malloy. »So kümmern Sie sich doch um ihn!« Die Direktorin sah aus, als würde sie aus einer Kältestarre erwa chen. Ruckartig drehte sie sich um und gab den Befehl an Dobson weiter. »Warten Sie! Ich begleite Sie«, rief Malloy und rannte ihm nach …
* Bereits nach zwei Minuten im strömenden Regen war Malloy bis auf die Knochen durchweicht. Ziemlich genau diese Zeitspanne benötigten er und Dobson, um den Innenhof zu überqueren. Bereits auf halbem Wege schob sich das breite Zufahrtstor ratternd in die Höhe. Als sie es erreichten, stand es offen. Der Fremde lag davor, sein Koffer neben ihm. Eilig gingen die
beiden Männer neben ihm auf die Knie. Malloy presste Zeige- und Mittelfinger auf die Halsschlagader des Fremden. Die Haut war kalt, doch er nahm einen schwachen Puls wahr. »Er lebt!«, rief er. »Hat vermutlich nur einen Schwächeanfall. Hel fen Sie mir, ihn rein zu tragen!« Gemeinsam hoben sie ihn und seinen Koffer auf und schleppten ihn durch das Tor über den Innenhof und zurück ins Hauptgebäu de, wo sie bereits von O’Reilly und Loretta Saint-George erwartet wurden. »Am besten, wir bringen ihn in den Aufenthaltsraum«, schlug Dobson vor. Saint-George nickte und ging voran bis zu einer zerschrammten Metalltür im Westflügel der Burg. Diese führte in ein geräumiges Zimmer, in dem sich neben einem großen, ovalen Tisch, einem Bücherschrank und einem unter der Decke montierten Fernseher auch eine Couch befand. Gerade als sie den Fremden auf dem zerschlissenen Leder abgelegt hatte, flackerten die Lampen im Raum. Das Krachen des Donners, das sich jenseits der Mauern erhob, deutete darauf hin, dass das Unwetter gerade einen neuen Höhe punkt erreichte. Im nächsten Moment erlosch das Licht endgültig und undurch dringliche Dunkelheit breitete sich aus. »Verdammt«, knurrte Malloy. »Das habe ich schon fast befürch tet.« »Nicht ungewöhnlich bei diesem Mistwetter«, gab Dobson zurück. »Warum springt denn die Notbeleuchtung nicht an?«, fragte Lo retta Saint-George. »Woher soll ich das wissen?«, fuhr Dobson auf. Die Ereignisse der letzten Stunde hatten sein Nervengerüst arg in Mitleidenschaft ge
zogen. Mike Malloy tastete suchend nach seiner Stablampe, die er in sei ner rechten Innentasche wähnte. Doch er hatte sie offenbar im Wagen gelassen. Immerhin fand er sein kleines, silbernes Feuerzeug. Er zog es heraus und schnippte es an. »Ausgezeichnet, Mr. Malloy.« Dobson, der nur eine Armlänge von ihm entfernt stand, nickte anerkennend. »Irgendwo hier müssten so gar noch einige Kerzen sein.« Er begab sich auf geradem Weg zu einem kleinen Schrank, kniete nieder und zog die unterstete Schublade auf. Triumphierend hielt er kurz darauf eine schmale Schachtel in die Höhe. Malloy entzündete vier Kerzen und verteilte sie unter den Anwesenden. O’Reilly machte sie sich unterdessen daran, den ausgemergelten Körper des Fremden aus dem nassen Cape zu schälen. Ein schwarzes Priestergewand kam zum Vorschein. »Sieh an«, murmelte Malloy zu sich selbst. »Ein Mann Gottes, der Zuflucht im Vorhof zur Hölle sucht …« Der Priester hatte ein eckiges Gesicht mit einem spitzen Kinn, das aussah, als sei es nachträglich in sein blasses Gesicht eingefügt worden. Ein ergrauter Spitzbart stand steil davon ab. Sein Haupthaar war schwarz, von einigen grauen Strähnen abgesehen. »Lassen wir ihn erst einmal zur Ruhe kommen«, beschloss SaintGeorge. »Danach …« Schreie und ein lautes Poltern ließen sie den Rest ihrer Worte vergessen. Malloy und Dobson sahen sich nur kurz an, da eilten sie auch schon durch die Tür. »Da lang!« Dobson deutete den Gang hinunter, der nur durch den Schein der beiden Kerzen beleuchtet wurde. Da sonst die Flammen erloschen wären, kamen die Männer nicht so schnell voran, wie sie gewünscht hätten. Malloy, der einige
Schritte Vorsprung vor Dobson hatte, trat als Erster um die Biegung des Ganges – und blieb abrupt stehen. Knapp zehn Meter weiter endete der Gang an einer halb geöffne ten Tür. Hatten die Laute dort ihren Ursprung? Die markerschütternden Schreie waren inzwischen verklungen, doch ein leises Poltern ver riet, dass sich irgendjemand dort aufhielt und vermutlich orientierungslos im Dunkel herumirrte. »Passen Sie auf!«, rief Dobson, als dieser sich der Tür langsam nä herte. Malloy bedeutete ihm, den Mund zu halten. Gleichwohl war er sich sicher, dass der Schein der Kerzen sie längst verraten hatte. Das Poltern verstummte. Wer auch immer sich in dem Zimmer aufhält, wartet auf uns … Lang sam, als könne ihn jede unbedachte Bewegung verraten, zog Malloy seine Dienstwaffe. Den Lauf der Pistole nach vorn gerichtet ging er langsam weiter. Von der Tür trennten ihn nur noch wenige Schritte. »Oh, Shit …« Dobsons Stimme klang kratzig und vibrierte vor un überhörbarer Nervosität. Malloy wusste, dass jetzt alles schnell gehen musste. Nur mit einer Blitzaktion hatten sie die Chance, ihren unbekannten Gegner doch noch zu überraschen. Er stieß die Tür mit dem Fuß vollends auf und zielte mit der Waffe in den Raum dahinter. Der Schein der Kerze reichte nicht weit. Es dauerte daher einige Sekunden, bis er den leblosen Körper entdeckte, der einige Schritte von der Tür entfernt auf dem Boden lag. Ein Wachmann, blutüberströmt und aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Sekunden später fand er den zweiten Toten. Er saß auf einem Stuhl, den Kopf wie zum Schlafen auf die Tischplatte vor ihm ge bettet. Blut rann aus einer Wunde in seinem Kopf und bildete einen
kleinen See. Ein zischendes Geräusch wie das Fauchen einer Raubkatze ließ Malloy herumfahren. Und da sah er sie! Die bleiche Gestalt, die er erst im zweiten Moment als den tot geglaubten Roy Grear identifizierte. Der junge Mann war noch immer nackt. Das blonde Haar hing ihm in Strähnen über die Augen, aus denen er Malloy anfunkelte. Im nächsten Moment registrierte Malloy das Blitzen in seiner rech ten Hand – ein Skalpell! »Vorsicht!«, warnte Dobson. Im nächsten Moment schoss Grear auch schon auf Malloy zu, stieß dabei die Klinge in einer gerade Bewegung nach vorn. Wäre dieser nicht im letzten Moment zurückgewichen, hätte sich das Skalpell unweigerlich in seine Bauchdecke gebohrt. So jedoch fuhr die Klinge ins Leere. Noch während Malloy zurückstolperte, feuerte Dobson. Begleitet von einem donnernden Knall hämmerte die Kugel in Grears Stirn, der durch die Wucht des Aufpralls zu Boden geworfen wurde. Mike Malloy blieb wachsam. Mit Schrecken dachte er an Stu Hannigan und an die Leichtigkeit, mit der er die beiden Treffer weg gesteckt hatte. Grear machte einen ähnlichen Eindruck auf ihn, auch wenn irgendetwas anders war. Stu Hannigan hatte auf ihn gewirkt, wie eine entfesselte Bestie. Ein seelenloses Etwas, dessen Handeln instinktgesteuert war. Bei Grear verhielt es sich anders. Die Art, wie er Malloy kurz vor seiner Attacke angesehen hatte, die Geschmeidigkeit seiner Bewe gungen. All das waren Verhaltenweisen eines Menschen, der wusste was er tat und der bewusst handelte. Vorsichtig näherte sich Malloy dem am Boden Liegenden, tippte ihn mit der Schuhspitze an. Keine Reaktion.
»Passen Sie auf, Mr. Malloy.« Dobson hatte ebenfalls aus der Be gegnung mit Stu Hannigan gelernt. Und tatsächlich. Plötzlich schoss Grears Hand vor und legte sich wie eine Stahlfessel um Malloys Fußgelenk. Malloy sah zu Boden und starrte in die weit aufgerissenen, blutun terlaufenen Augen von Roy Grear. Das Loch in dessen Stirn ließ den Anblick umso bizarrer erscheinen. Weitere Schüsse aus Dobsons Waffe hämmerten in Grears Körper, bis nur noch ein metallisches Klacken zu hören war. Dobson hatte das komplette Magazin geleert. Für einen kurzen Moment lockerte sich der Griff um Malloys Fuß. Lange genug, damit der sich aus der unmittelbaren Gefahrenzone retten konnte. Der Frieden währte nur für einige Augenblicke. Malloy musste mit ansehen, wie sich der mit Kugeln voll ge pumpte Grear aufsetzte und sich nach dem Skalpell umsah. Dobson legte erneut an und wollte gerade abdrücken, als ihn eine schneidende Stimme davon abhielt. »Halt!« Malloy und Dobson fuhren herum. Ihre Blicke fielen auf die schwarz gekleidete Gestalt, die jetzt im Türrahmen stand – der Priester, den sie mit Saint-George und O’Reilly im Besuchszimmer zurückgelassen hatten. Sein mitleidiger Blick streifte Dobson Waffe. »Damit wollen Sie einer Kreatur der Hölle beikommen? Offensichtlich bin ich keine Mi nute zu früh gekommen.« Mit diesen Worten zog er die rechte Hand hinter seinem Rücken hervor. Befremdet starrte Malloy auf die handliche Armbrust, die der Priester einhändig auf Grear richtete. Bevor er reagieren konnte, schnellte auch schon der auf die Sehne gespannte Pfeil an ihm vor bei und jagte mit einem hässlichen Geräusch in Grears Stirn.
Dieser brach augenblicklich zusammen. »Bleiben Sie bloß von ihm weg«, warnte Malloy, als der Priester furchtlos auf den scheinbar Toten zuging. »Sein Zustand täuscht. Glauben Sie mir!« Als er Malloy passierte, hielt der Geistliche kurz inne und lächelte wissend. »Glauben Sie mir – diesmal nicht.« Ohne jede Scheu beugte er sich vor dem leblosen Körper hinab und drehte ihn auf den Rücken. Malloys Blick fiel jetzt auf den funkelnden Gegenstand, der aus seiner Stirn ragte. Der Bolzen schien aus Silber zu bestehen …
* »Mein Name ist Lester McGinty«, stellte sich der Geistliche vor, nachdem auch O’Reilly wieder zu ihnen gestoßen war. Wie sich herausgestellt hatte, hatte ihn McGinty zuvor um ein Glas Wasser gebeten und als O’Reilly gegangen war, um es zu besorgen, hatte sich der Pfarrer aus dem Staub gemacht. »Ich bin ein direkter Nachfahre von Morton McGinty«, fuhr der Geistliche fort, als würde das bereits alles erklären. Malloy sah Dobson fragend an, doch auch der Wärter zuckte nur mit den Schultern. »Sie sind nicht von hier, nehme ich an.« Es war keine Frage, son dern eine Feststellung. »Morton war ein berühmter Hexenjäger. Im Jahre 1346 verlegte er seine Wirkungsstätte von London nach Corn wall, weil ihn die Kunde von mysteriösen, ja grauenvollen Begeben heiten auf Dunwood Castle erreicht hatte.« Noch vor drei Stunden hätte Malloy lauthals gelacht. Doch die Be gebenheiten, deren Zeuge er seit seiner Ankunft geworden war, be lehrten ihn eines Besseren.
»Es hieß, Countess Eleonora, die rechtmäßige Erbin und einzige Bewohnerin des Schlosses, sei mit dem Teufel im Bunde. Immer wieder verschwanden Menschen aus dem Ort und ehemalige Be dienstete der Gräfin erzählten von schauerlichen Ritualen, die des Nachts in dem Gemäuer zelebriert wurden. Keiner im Dorf hatte den Schneid, Eleonora die Stirn zu bieten. Also schickten sie nach meinen Vorfahr und baten ihn darum, sich dem Monster in Men schengestalt entgegenzustellen.« »Eleonora war also eine Hexe?«, fragte Malloy, doch McGinty wehrte ab. »Wissen Sie, was ein Seelenvampir ist?« Malloy wusste es nicht. »Wie ein Vampir labt sich auch diese Kreatur an uns Menschen, saugt sie aus und lässt nur eine leere Hülle zurück. Doch es ist kein Blut, wonach ihm dürstet. Es ist die Essenz, auf die sich unser Menschsein gründet. Jener Funke, der unseren Körper beseelt, ihm seine Identität verleiht. Gräfin Eleonora hatte sich durch ein miss glücktes schwarzmagisches Ritual in ein solches Wesen verwandelt. Ewige Jugend und Schönheit war es, wonach sie strebte. Was sie stattdessen bekam, war eine widernatürliche Existenz jenseits alles Menschlichen. Immer wieder brauchte sie neue Nahrung, um diese Existenz aufrecht zu erhalten. In teuflischen Ritualen raubte sie ih ren Opfern die Seelen, infizierte sie dabei mit dem Keim des Bösen, auf dass sie ihrerseits verdammt waren, auf Beutezug zu gehen.« Schaudernd dachte Malloy an Grear und an Stu Hannigan. Was war passiert, als er die beiden im Panzerwagen allein gelassen hatte? Die Worte des Pfarrers und das spätere Verhalten des tot geglaubten Grear, erlaubten nur einen Schluss. »Die Opfer werden selbst zu Seelenvampiren?«, fragte er. »Wenn Sie nicht zuvor durch geweihtes Silber den endgültigen Tod finden. Um keine Spuren zu hinterlassen, pflegte auch Eleonora ihre Opfer zu töten.«
McGintys Worte versickerten bleischwer in der Stille des Zimmers. Der Unglaube der Anwesenden paarte sich mit einem fortschrei tenden Verständnis der Ereignisse auf dem Schloss. Malloy hatte noch nie etwas gehört, das so verrückt klang und gleichzeitig so viel Sinn ergab. »Heißt das, Gräfin Eleonora ist zu rückgekehrt?« »Es sieht ganz danach aus«, sagte McGinty. »Der Hexenjäger ahnte schon damals, dass er das Monster nur gebannt hatte. Nachdem er sie mit einem weißmagischen Bannspruch belegt hatte, versuchte er, ihren Leib zu verbrennen. Ihr Fleisch konnte er vernichten, nicht je doch ihre Knochen, die sich als unzerstörbar erwiesen. Kurzerhand verscharrte er sie im Boden der Folterkammer und sicherte die Grabstelle mit geweihtem Silber. Zudem sorgte er dafür, dass sein Wissen um die Ereignisse jener Nacht bis in alle Zeit an seine Nachfahren weitergegeben wurde, auf dass einer von ihnen die Zei chen erkennen und sich dem Ungeheuer gegebenenfalls erneut ent gegenstellen würde.« »Und dieser Jemand sind Sie«, schloss Dobson. »Die Zeichen waren in der Tat nicht schwer zu deuten. Mr. Grear war bereits der zweite Seelenlose, dem die Flucht gelang.« Malloy grinste schief. »Die Gräfin scheint nachlässig zu werden.« »Sie, oder einer ihrer Helfer.« »Sie meinen …?« »Eleonora hat Unterstützung. Um aufzuerstehen benötigt sie mindestens einen menschlichen Helfer. Jemanden, der sie mit Seelen versorgt und sie damit zu neuem unheiligen Leben erweckt.« Malloy und Dobson sahen sich irritiert an. Sie dachten beide dasselbe, doch Malloy sprach es als Erster aus: »Wo steckt eigentlich Ihre Chefin?«
*
Kurz zuvor … Loretta Saint-George atmete schwer, als sie in die Katakomben hin unter stieg. Irgendetwas war faul. Die Ankunft des Pfarrers konnte kein Zufall sein. Die Gräfin hatte sie davor gewarnt, dass jemand kommen würde, um ihre Wiederkehr zu vereiteln. Und Loretta glaubte ihr. Bisher hatte die Gräfin mit allem Recht behalten, seit sie ihr in ihrer ersten Nacht auf Castle Dunwood im Traum erschienen war. Loretta erinnerte sich noch genau daran, wie sie danach in der al ten Folterkammer des Schlosses erwacht war. Und aus irgendeinem Grund hatte sie genau gewusst, was zu tun war. Mit bloßen Händen hatte sie damit begonnen, an einer be stimmten Stelle die Steine aus dem Boden zu lösen und das Erdreich beiseite zu schaufeln. Fast die ganze Nacht hatte es gedauert, ohne dass sie selbst auch nur eine Ahnung hatte, wonach sie suchte. Sie musste es einfach tun, konnte sich dieses inneren Zwangs nicht erwehren. Erst als sie auf die bleichen Gebeine gestoßen war, hatte sie aufge hört zu graben. Alles was danach passiert war, lag in ihrer Erinnerung hinter einem dichten Nebel …
* »Nachdem du und Dobson losgerannt wart, um dem Pater zu hel fen, stürmte Miss Saint-George aus dem Zimmer«, erklärte O’Reilly auf dem Weg zum Gefängnistrakt. »Ich dachte, sie wollte Hilfe ho len, aber …«
»Pustekuchen«, zischte Dobson, der bereits den schweren Schlüsselring gezückt hatte. »Sie hat irgendwie erkannt, dass es sich bei ihm um einen Priester handelt und wurde misstrauisch.« »Das denke ich auch«, gab McGinty ihm Recht. »Mein Auftauchen hat Gräfin Eleonora in die Defensive gedrängt. Sie muss etwas un ternehmen. Ich fürchte, uns bleibt nicht viel Zeit.« Wie Dobson ihnen erklärt hatte, war es in den letzten Wochen un ter den Häftlingen zu mehreren ungeklärten Selbstmorden gekom men. Pater McGinty war davon überzeugt, dass Gräfin Eleonora sich deren Seelen einverleibt und dass Loretta Saint-George ihr dabei geholfen hatte. Die Direktorin, davon mussten sie ausgehen, war zu einem willenlosen Werkzeug des Seelenvampirs geworden. Vor dem Stahltor, das in die Katakomben führte, blieben sie stehen. Im Licht seiner Kerze steckte Dobson den Schlüssel ins Schloss, dann drehte er sich noch einmal zu Malloy um. »Es wird verdammt gefährlich da unten«, sagte er. »Wenn Sie hier oben bei Mr. O’Reilly bleiben wollen …« »Unsinn«, knurrte Malloy, der spürte, wie ihnen die Zeit zwischen den Fingern verrann. »Machen Sie schon!« Auch er hatte keinen Zweifel daran, dass Stu Hannigan, den sie als Seelenvampir dort unten zurückgelassen hatten, in der Zwischenzeit schlimm gewütet haben musste. Wahrscheinlich hatte sich der Keim des Bösen mittlerweile bereits unter den Häftlingen und den zu Hil fe geeilten Wärtern verbreitet. Dennoch hatten sie keine Wahl. Die Folterkammer befand sich nun einmal in den Katakomben. Die Tür schwang knarrend auf. Einer nach dem anderen huschten die drei Männer die Treppe hin ab, immer darauf gefasst, angegriffen zu werden. Schon kurz nachdem sie den Gang des Zellentraktes betraten, wurde ihnen klar, dass in ihrer Abwesenheit das reinste Massaker stattgefunden hatte.
Der Boden war übersäht mit Leichen. Die meisten von ihnen hatten zur Wachmannschaft der Strafanstalt gehört. Doch Malloy fiel noch etwas ganz anderes auf. Die Zellen standen offen und waren leer. Wie es aussah, waren sie jedoch nicht mit roher Gewalt, sondern mit einem Schlüssel geöffnet worden. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Dobson. McGinty schwieg dazu, doch die Sorge auf seinem Gesicht verriet, dass er die Antwort kannte. »Kommen Sie!« Ungefragt übernahm er die Führung. Er schien genau zu wissen, wohin sie mussten. Sie waren eine Weile gegangen, als Malloy, der sich am Ende des Trosses eingereiht hatte, ein Geräusch bemerkte. Unwillkürlich hielt er inne und sah sich um. Es schien aus einer der Zellen zu kommen. Die anderen schienen nichts gehört zu haben, denn sie gingen wei ter. Behutsam hielt er seine Kerze in die Höhe und näherte sie der of fen stehenden Zellentür zu seiner Linken. Noch bevor das Licht die Dunkelheit vertrieb, schoss etwas aus dem Innern brüllend auf ihn zu und warf ihn zu Boden. Mit weit aufgerissenen Augen sah er die verzerrte Grimasse des Mörders Stu Hannigan, der Malloys Kopf schraubstockartig zwi schen seine Pranken nahm. In Gedanken hörte Malloy sein Genick bereits knacken. Da schoss etwas seitlich auf Hannigan zu. Wie ein gefällter Baum kippte der Hüne zur Seite. Malloy hatte alle Mühe, sich unter dem massigen Körper hervor zukämpfen. Als er es geschafft hatte, fiel sein Blick auf den silbernen Bolzen, der in Hannigans rechter Schläfe steckte. »Sie müssen vorsichtiger sein«, sagte McGinty nur, dann drehte er sich auch schon um und ging weiter. Fluchend quälte sich Malloy auf die Beine und folgte den anderen.
Nach einer Weile erreichten sie eine weitere Treppe, die noch ein mal ein Stück weit in die Tiefe führte. Pater McGinty warf einen Blick in die Runde. »Wir sind am Ziel. Seien Sie auf alles gefasst!« Das bin ich sehen seit Stunden, wollte Malloy bissig erwidern, doch er schluckte die Bemerkung unausgesprochen hinunter. Die Treppe führte in einen kurzen Gang, der an einer schweren Eisentür endete. »Die alte Folterkammer«, flüsterte Dobson, während er den passenden Schlüssel heraussuchte. »Was erwartet uns dort?« Keiner der Anwesenden, nicht einmal Pater McGinty, traute sich eine Antwort zu. Es war der Pfarrer, der die Tür schließlich öffnete – und damit die Hölle entließ …
* Zuerst sah Malloy nur eine Wand aus Leibern, die ihnen ent gegendrängte, kaum dass McGinty die Tür geöffnet hatte. Grob schlächtige Gestalten mit leeren, seelenlosen Gesichtern, in Gefäng niskleidung. Damit war also die Frage geklärt, wo die Häftlinge abgeblieben waren. Doch was war mit ihnen passiert? Da in dem schmalen Gang nicht alle gleichzeitig Platz finden konnten, behinderten sich die Sträflinge beim Sturm auf die Tür gegenseitig. Doch die ersten, die den Ausgang schließlich über wanden, rissen McGinty einfach zu Boden und rannten über ihn hinweg. Entsetzt beobachtete Malloy, wie eine der Kreaturen Dobson bei den Schulter nahm, ihn wie ein Spielzeug in die Luft hielt und … Malloy riss die Waffe hoch, aber der Winkel war ungünstig, die
Wahrscheinlichkeit, das falsche Ziel zu treffen, zu hoch. Die Kreatur sah dem um sich tretenden Dobson tief in die Augen, bannte ihn mit einem einzigen Blick. Schließlich wurden Dobsons Bewegungen langsamer, bis er schlaff wie eine Puppe im Griff sei nes Peinigers hing. Im nächsten Moment sag Malloy kleine Lichtverästelungen, die zwischen den Köpfen der Männer aufblitzten. Kaum war das ge schehen, löste die Kreatur ihren Griff um Dobsons Schultern und der Wärter sank schlaff zu Boden. Bald würde er zu neuem, unhei ligen Leben erwachen, davon war Malloy überzeugt. Jetzt wandte sich die Bestie Malloy zu, hob die Arme – und brach zusammen. Hinter ihr erschien McGinty, der bereits den nächsten Silberbolzen in der Hand hielt. Mehrere der Seelenvampire lagen in unmittelba rer Nähe des Pfarrers auf dem Boden verstreut. Die übrigen wichen zurück. Dennoch wirkte der Pfarrer nervös. Irgendetwas schien ihn zu be unruhigen. Malloy bemerkte sofort den Grund dafür. Der Köcher mit den Silberbolzen war fast leer. Höchste Zeit also, die Sache ein für allemal zu beenden. Die Seelenlosen waren inzwischen weit genug zurückgewichen, dass Malloy freie Sicht ins Innere der Folterkammer hatte. Tatsächlich waren einige der alten Folterinstrumente noch intakt. Da war eine Eiserne Jungfrau, die aufgeklappt an der Rückwand stand. Schräg davor befand sich eine Streckbank. Malloys Aufmerksamkeit wurde jedoch von der Gestalt gebannt, die auf dem Boden kniete. Es handelte sich um eine Frau mit langem rotem Haar, das wallend über ihre Schultern fiel. Ihr schlanker Kör per steckte in einem ledernen Korsett, das ihre Proportionen aufrei zend betonte. Erst als sie den Kopf hob und in Malloys Richtung sah, erkannte er Loretta Saint-George. Sie war kaum wieder zu erkennen. Ihre dicke Hornbrille hatte sie
abgelegt, die Haare geöffnet. Abgründig lächelnd blickte sie kurz zu Malloy auf, bevor sie sich erneut zu Boden beugte. Saint-George kniete vor einem Loch in der Erde. Gräfin Eleonoras Grab? Pater McGinty hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, um sich auf die Direktorin zu stürzen – und erstarrte mitten in der Bewegung. Malloy konnte zunächst nur erkennen, dass Loretta zusammenge brochen war. Mit klopfendem Herzen wagte er sich weiter in den Raum vor, blickte an McGinty vorbei und … Zuerst sah er nur eine vertrocknete Klaue, die sich aus dem frisch geöffneten Grab schob. Im nächsten Augenblick erhob sich eine Frau aus dem Loch. Eine Frau? Das Wesen sah aus wie eine Gletschermumie. Die Haut war tro cken und lederig. Die kleinen, listigen Augen lagen tief in Höhlen und waren von dunklen Schatten umlagert. Der zahn- und lippen lose Mund des Monsters klaffte auf und ein heiseres Knurren drang daraus hervor. »McGinty!«, brüllte Malloy. »Tun Sie etwas! Schießen Sie!« Doch anstatt etwas zu unternehmen, trat der Geistliche wie hyp notisiert auf die Kreatur zu, bis er den Rand des Grabes erreichte. Kraftlos sank er vor dem Monstrum auf die Knie. »Pater!« Malloy stürmte vor, wollte den Geistlichen packen, ihn Eleonoras Bann entreißen. Bevor er ihn auch nur berühren konnte, traf ihn ein harter Schlag. McGinty selbst war herumgewirbelt und hatte ihm die Faust in die Magengrube gerammt. Ächzend sank Malloy zusammen. Dunkle Schleier waberten vor seinem Blickfeld. Der Pfarrer hatte den Schlag mit einer Kraft ge führt, die unmöglich seine eigene sein konnte. Es war die untoten Gräfin, die ihre geistige Fessel um seinen Willen geschlungen hatte.
Die ihn kontrollierte, wie sie Loretta Saint-George kontrollierte. Durch die Schleier vor seinen Augen erkannte Malloy, dass die Dämonin bereits dabei war, McGinty die Seele aus dem Leib zu saugen. Er musste etwas unternehmen, sonst war alles aus. Sein Blick wanderte umher, kroch über den Boden. Und da sah er es. Ein kleines, schwarzes Leder gebundenes Buch. Es musste Mc Ginty aus der Tasche gefallen sein, als er so abrupt herumgewirbelt war. Den Schmerz ignorierend warf er sich zu Boden, griff nach. dem Buch. Aufgeregt las er die goldenen Initialen auf dem Deckel. M.MG. Mortimer McGinty! Es enthielt nur wenige handschriftliche Einträge, vermutlich jene Informationen und Anweisungen, die der Hexenjäger an seine Nachfahren weitergegeben hatte. Eine bestimmte Seite war mit einem Zettel markiert. In Windeseile überflog Malloy die wenigen Worte, die dort einge tragen waren. Es war eine ihm fremde Sprache. War dies der Bann spruch, mit dem Mortimer bereits damals die Bestie in ihre Schran ken verwiesen hatte? Sofort begann er damit, die Worte vorzulesen und hoffte dabei in ständig, dass er sie richtig betonte. Die Gräfin ließ derweil von McGinty ab, den sie achtlos wie einen alten Wäschesack zur Seite schleuderte. Mit ausladenden Schritten stieg sie aus ihrem Grab und kam auf Malloy zu, während dieser die letzten Worte sprach. Plötzlich stoppte die Gräfin und ein Zittern ging durch ihren aus gedorrten Leib. Sie war wie am Fleck gebannt und augenscheinlich zu keiner Regung mehr fähig. Der erste Schritt war getan, der zweite lag auf der Hand. Malloy packte McGintys Armbrust und legte einen Bolzen ein. Er konnte
mit dieser Waffe nicht so meisterhaft umgehen vie der Priester, doch auf so kurze Entfernung konnte er kaum daneben schießen. Mit einem schmatzenden Geräusch fuhr das silberne Geschoss in die Dämonin, mitten in die Brust. Das Ergebnis ließ Malloy angeekelt zurückweichen. Eleonoras Körper verfaulte in Windeseile, das Fleisch schmolz geradezu von den Knochen. Das schaurige Schauspiel dauerte nur wenige Minuten, dann war von dem Wesen nur noch ein Haufen blanker Gebeine übrig. Auch die Seelelosen brachen wie vom Blitz getroffen zusammen, kaum dass ihre Schöpferin ihr Ende gefunden hatte. Der Funke des Bösen in ihnen war erloschen. Dennoch konnte Malloy keine Freude über den errungenen Sieg empfinden. Er war zu teuer gewesen. Er seufzte als sein Blick auf die all Toten fiel, die um ihn herum lagen. Auch Pater McGinty hatte den Kampf mit dem Leben bezahlt, wie Malloy bedauernd fest stellte. Minutenlang stand er nur da und starrte in die Luft. Dann öffnete er erneut das Buch des Hexenjägers und begann, sein Werk zu be enden …
* O’Reilly stutzte, als Malloy den Panzerwagen an den rechten Fahr bahnrand lenkte und den Motor ausschaltete. Sie befanden sich mitten in der Ortschaft Dunwood. Die Straßen waren zu dieser frühen Stunde vollkommen leer. »Ich wünsch dir eine gute Heimreise«, sagte er zu seinem Kollegen und öffnete die Tür. O’Reilly sah ihn verständnislos an. »Wie meinst du das?«
»Ich bleibe erst einmal hier«, sagte Malloy bestimmt. »Pater Mc Ginty ist tot. Irgendjemand muss dafür Sorge tragen, dass sein Vermächtnis überlebt.« »Du glaubst, dass die Gräfin zurückkehrt?« Malloy überlegte. Er hatte ihr Grab mit geweihtem Silber und einigen Zaubersprüchen gesichert, so wie es in dem Buch des He xenjägers beschrieben wurde. »Nicht heute und auch nicht morgen«, gab er leise zurück. »Aber es wird der Tag kommen und die Welt muss darauf vorbereitet sein.« »Du willst dich hier allen Ernstes niederlassen?« »Fürs Erste zumindest. Bis ich jemanden gefunden habe, der verlässlich genug ist, diese Aufgabe zu übernehmen.« »Und wenn du niemanden findest?« Malloy verharrte einen Moment schweigend, dann stieg er aus dem Wagen, ohne auf den Einwand einzugehen. »Grüß London von mir«, sagte er nur noch, als O’Reilly das Steuer übernahm. Wehmütig sah er dem Wagen nach, bis dieser in der Fer ne verschwunden war. Niemand konnte sich seiner Bestimmung entziehen, zumindest das hatte Malloy in dieser Nacht gelernt … ENDE