Die sieben Altäre von Dûsarra Ein Roman von Lawrence Watt-Evans
Zweiter Roman des Zyklus >Die Herren von Dûs<
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Die sieben Altäre von Dûsarra Ein Roman von Lawrence Watt-Evans
Zweiter Roman des Zyklus >Die Herren von Dûs<
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Kapitel 1 Der Reiter hielt auf der Kuppe der Anhöhe an; die Ebene, die jetzt direkt unter ihm lag, dehnte sich vor ihm im blassen Sternen schein des Spätsommerhimmels. Unmittelbar vor ihm wurde die glatte Fläche der Ebene von einer unregelmäßigen Erhebung un terbrochen: Zerklüftete Silhouetten ragten wie schwarze Buckel empor, dicht zusammengedrängt in einem unebenen steinernen Ring. An der ihm nächsten Stelle war der steinerne Kreis durch brochen, und ein einzelner zertrümmerter Wall markierte die Stelle, wo einst ein ansehnliches Torhaus gestanden hatte. Neben dem verfallenen Wall flackerte eine orangefarbene Flamme, so warm, wie die Sterne kalt waren. Obwohl er noch zu weit weg war, um Einzelheiten zu erkennen, wusste er, dass dies die Stadt Skelleth war und dass das spärlich flackernde Licht vom Wachfeuer der Wächter an den Ruinen des Nordtores herrührte. Er war schon einmal hier gewesen und wusste, dass von den fünf Toren der zerbröckelnden Stadtmauer nur dieses bewacht wurde. Es wurde bewacht vor ihm und seiner Art. Außer dem einsamen Feuer war kein Lebenszeichen zu sehen, und selbst wenn der Wächter, der dort postiert war, höchste Auf merksamkeit hätte walten lassen (was er zweifelsohne zu dieser nächtlichen Stunde nicht tat), hätte er den Reiter oder seine Gruppe auf diese Entfernung in der Dunkelheit nicht erkennen können. Ihr Kommen war unbemerkt geblieben. Der Reiter saß eine Weile reglos im Sattel, das Gesicht verdeckt vom Schatten seines Hutes, und studierte das Panorama; er blickte erst auf, als ein Nachtvogel über ihm vorüberflog, und seine Augen leuchteten unheilvoll rot im Widerglanz der Sterne. Sein
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hohlwangiges Gesicht hatte keine Nase, sondern nur eng beiein anderliegende schlitzförmige Nüstern. Sein zottiges schwarzes Haar reichte fast bis zu den Schultern, aber auf der lederartigen braunen Haut, die sich über die Wangen spannte, war nicht eine Spur von Bartwuchs zu sehen. Er war von einer Körpergröße und -breite, die menschliches Maß überstieg. Er war, in einem Wort ausgedrückt, nicht menschlich, sondern übermenschlich. Seine langfingrige Hand mit dem mehrfach gegliederten Dau men und dem beweglichen gegenüberstehenden fünften Finger umklammerte den Führgriff am Geschirr seines Reittiers, eine un nötige Vorsichtsmaßnahme: Sein Kriegstier war darauf abgerich tet, auf verbale Kommandos oder den Schenkeldruck seines Rei ters prompt zu reagieren, und es bewegte sich mit solch katzen hafter Geschmeidigkeit, dass keine Gefahr bestand, dass es seinen Reiter abwarf. Das Tier war schwärzer als der Nachthimmel – und ebenso still. Seine goldenen Augen und scharf geschliffenen Krallen waren die einzigen wahrnehmbaren Körperstellen. Es war, voll aufgerichtet, groß wie ein Mensch, und von seinen strup pigen Schnauzhaaren bis zu seinem peitschenden pantherartigen Schweif maß es gut achtzehn Fuß. Seine dreieckigen Ohren waren zum Lauschen aufgerichtet, aber es gab kein warnendes Knurren von sich. Dementsprechend hob der Übermann den Arm zum Zeichen des Weiterreitens und führte seine Gefährten hinunter in die Ebene. Sein Kriegstier bewegte sich mit katzenhaft lautloser Anmut vorwärts; die großen weichen Tatzen brachten nicht ein Steinchen ins Rollen. Der Rest der Gruppe war nicht so vorsichtig. Sie waren zu viert, allesamt ausgewachsene Übermänner, doch ritt nur der Anführer auf einem Kriegstier. Seine drei Begleiter mussten sich mit Yackern zufriedengeben, dem allgemein ge bräuchlichen Lasttier der Nördlichen Wüste. Jeder von ihnen ritt
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auf einer der hässlichen Kreaturen und führte je ein zweites, das schwer beladen war mit den Waren, die sie in Skelleth zu ver kaufen hofften. Es lag etwas Lächerliches in der würdevoll-steifen Haltung, in der die Übermänner auf den breiten, mit struppigem braunen Zottelhaar bewachsenen Rücken ihrer Yacker thronten und ihre Lasttiere an fein gearbeiteten silbernen Trensen führten, die in den sabbernden schwarzlippigen Mäulern mit den schiefen gelben Zähnen so deplatziert wie nur etwas wirkten. Die Hufe der Yacker schlugen, wie es schien, gegen jeden Kiesel, der auf dem Boden lag, und von den sechs zottigen Köpfen her war ein stän diges Grunzen und Schnauben zu hören. Sie näherten sich auf der alten Wüstenstraße, welche gerade wegs zum Nordtor von Skelleth führte. Doch als der letzte Yacker den Fuß der Hügelkette erreichte, bog der Anführer von der Stra ße ab und ritt nach Westen statt nach Süden. »Halt an, Garth!« rief der hinter ihm Reitende. Der Anführer tippte mit dem Absatz ganz leicht gegen die Flanke seines Kriegs tieres, und sofort blieb es stehen. »Was ist?« Sein Gefährte ritt an seine Seite und fragte: »Wohin willst du uns führen? Ist das dort nicht Skelleth?« Er zeigte auf das flackernde Wachtfeuer. Der dritte Übermann gesellte sich in dem Moment zu ihnen, als Garth antwortete: »Ja, gewiss ist das Skelleth, und genau dorthin reiten wir auch.« »Warum haben wir dann die Straße verlassen? Diese Yacker sind ohnehin schon langsam genug.« Es war der dritte Übermann, der darauf erwiderte: »Larth, hat Garth dir unsere Situation denn nicht er-klärt?« »Ich kann mich jedenfalls an nichts erinnern, was unser Abwei chen vom Ziel erklären könnte.«
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»Dann hast du gar nichts behalten. Wir sollen heimlich die Stadt betreten.« »Ich habe nicht dich gefragt, Galt.« »Aber was Galt sagt, ist richtig«, wandte Garth ein. »Der Baron von Skelleth will keine Übermänner in seiner Stadt, und ganz besonders mich will er dort nicht haben. Als ich ihn das letzte Mal sah, befahl er seinen Wächtern, mich auf der Stelle zu töten. Zum Glück spielten die Wächter nicht mit. Wenn wir den Baron jedoch mit einer friedlichen Handelskarawane auf dem Marktplatz über raschen können, nicht als Möglichkeit, sondern als vollendete Tat sache, dann, so glaube ich, nimmt er Vernunft an und akzeptiert uns.« »Wir sollen uns also wie Diebe in die Stadt stehlen?« »Warum sonst reisen wir bei Nacht?« erwiderte Galt. »Das ist unserer nicht würdig!« »Und was wäre deiner Meinung nach unserer würdig?« fragte Garth. »Stolz und erhobenen Hauptes bei Tageslicht in die Stadt zu rei ten und es als unser gutes Recht zu verlangen, dass uns die Erlaubnis erteilt wird, Handel zu treiben. « Galt stieß ein Schnauben aus. »Das wäre vielleicht unserer würdig, aber ebenso wäre es eine Dummheit, vielleicht sogar eine tödliche. Garth sagt, es gebe mehr als dreißig Wächter in Skelleth; gewiss, es sind bloß Menschenwesen, und seinem Bericht nach sind sie nicht allzu gut ausgerüstet. Aber wir sind schließlich selbst nur zu viert, und wir sind auch nicht sonderlich gut ge wappnet.« Bevor Larth etwas erwidern konnte, fügte Garth hinzu: »Es würde sicherlich nicht gut zu friedlichen Händlern passen, waffenstarrend in die Stadt einzureiten; wir können keine Zwi -7-
schenfälle riskieren, die womöglich mit Blutvergießen enden. Aus diesem Grund habe ich verlangt, dass ihr drei unbewaffnet seid, und ich selbst werde meine eigenen Waffen verbergen, bevor wir unsere Handelsgeschäfte mit dem Volk von Skelleth beginnen.« »Ganz richtig.« Galt nickte beipflichtend. Larth schien freilich noch immer nicht überzeugt. »Trotzdem!« Er blieb hartnäckig. »Warum sind wir von der Stra ße abgewichen?« Die Antwort kam diesmal vom vierten und jüngsten Übermann, der aus dem den älteren gegenüber gebo tenen Respekt bis jetzt noch nicht das Wort ergriffen hatte; doch jetzt konnte er sich nicht verkneifen zu erwidern: »Weil auf der Straße ein Wächter postiert ist, Dummkopf!« Larths Stimme klang neutral, als er sagte: »Galt, zügle deinen Lehrling!« Wie alle nur zu gut wussten, war dieser scheinbar so gelassene Ton bei Larth ein Zeichen hochkochender Wut; Galt zögerte daher nicht, seinen Ge hilfen zur Ordnung zu rufen. Als Larth sich einigermaßen beruhigt hatte, fragte er: »Woher wisst ihr, dass wir einen anderen, den unbewachten Eingang finden können?« »Ich weiß es nicht mit letzter Gewissheit«, sagte Garth. »Doch als ich das letzte Mal hier war, bewachten sie lediglich das Nord tor. Das Westtor öffnet sich zu einer Straße, die nur zur yprischen Küste führt, welche angeblich seit Jahrhunderten verödet liegt, so dass kein Grund besteht, das Westtor zu bewachen. Und deshalb werden wir durch dieses nämliche Tor in die Stadt reiten. Wir er reichen es, indem wir einen großen Bogen schlagen, in ausrei chendem Abstand zum Posten am Nordtor. Nun denn, wenn wir den Marktplatz noch vor Sonnenaufgang erreichen wollen, dann müssen wir uns jetzt sputen und dürfen die Zeit nicht mit wei teren Debatten vertrödeln.« Sein Kriegstier setzte sich auf ein Si gnal, das anderen unerkennbar blieb, in Bewegung.
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»Na schön«, sagte Larth. Es bedurfte einiger Anstrengungen mehr, seine Yacker wieder in Bewegung zu setzen, aber das kurze Anstacheln mit dem Sporn drang mit einiger Verzögerung schließlich auch zu ihren dumpfen Hirnen durch, und sie setzten sich behäbig und schnaufend in Trab. Galt und sein Lehrling folg ten nicht weit dahinter. Es blieb noch immer eine Stunde Zeit bis zum ersten Licht, als die kleine Karawane das Westtor erreichte — das, wie Garth erwartet hatte, unbewacht war. Zudem war es in einem so fortge schrittenen Zustand von Verfall, dass nur noch die kaum sichtbare Spur eines alten Pfades, die durch das Geröll führte, darauf hin deutete, wo es sich einst befunden hatte, und nur unter größtem Widerstreben ließen sich die Yacker dazu bewegen, sich einen Weg durch die scharfkantigen Steinbrocken zu bahnen. Garths Kriegstier hingegen schien von dieser geringfügigen Unannehm lichkeit gänzlich unbeeindruckt. Auch innerhalb der Stadtmauer trat kaum Besserung am Zu stand des allgemeinen Verfalls ein. Beide Seiten des Pfades waren von Ruinen gesäumt. Gähnende Löcher, halb mit Schutt angefüllt, zeigten, wo sich einstmals Keller befunden hatten; manchmal waren sie um-rahmt mit ausgezackten Mauerresten aus Stein oder Holz oder Mörtel, und zwischen diesen Gruben lagen die Trüm merbrocken von Häusern, die keinen Keller besessen hatten und jetzt als Schutthaufen auf der nackten Erde herumlagen. »Kaum die ehrfurchteinflößende Festung, von der unsere Ahnen berichteten«, bemerkte Galt im Flüsterton. Worauf Larth in etwas weniger vorsichtiger Lautstärke er widerte: »Wer kann das bei dieser Dunkelheit schon sagen? Die Stadt sieht verlassen aus; Garth, bist du sicher, dass dies Skelleth ist?«
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»Ja, ganz sicher; nur der eigentliche Kern ist noch bewohnt. Mit dem Ende der Kriege endete auch der Daseinszweck der Stadt, und aus war es damit auch mit den Versorgungszügen aus dem Süden, welche die Stadt am Leben gehalten hatten. Seither stirbt sie einen langsamen Tod. Und aus diesem Grund glaube ich auch, dass die Bevölkerung Handel begrüßen wird, selbst wenn es Handel mit Übermännern ist.« »Das hoffe ich.« Larths Stimme sank zu einem unzusammen hängenden Murmeln herab. Je weiter sie in die Stadt hineinkamen, desto weniger verfallen wirkten die Häuser; auf beiden Seiten der Straße standen Häuser und Geschäfte, die zwar größtenteils ebenfalls vom Verfall ge zeichnet waren (mit rissigen Wänden, eingefallenen Dächern, auch sie allesamt von ihren einstigen Bewohnern verlassen), aber immer noch aufrecht standen. Vermoderte Läden hingen an ver bogenen Angeln; zerbrochene Türen, die sperrangelweit offen standen und den Blick in schwarze Leere freigaben. Doch dann, als sie sich langsam dem noch lebenden Stadtkern näherten, ge wahrten sie immer mehr Türen, die geschlossen, zum Teil gar ver riegelt waren, und auch die Anzahl der fehlenden oder zerbro chenen Fensterläden wurde geringer. Es dauerte nicht mehr lange, und die einzigen Lücken auf beiden Seiten waren die Ein mündungen anderer Straßen und nicht mehr, wie anfangs, leere Grundstücke, auf denen der Schutt abgerissener oder ein gefallener Häuser lag. Jedoch war alles noch dunkel; die Be wohner von Skelleth lagen gewiss noch im Schlummer. Schließlich mündete die Straße in den Marktplatz, welcher exakt in der Stadtmitte lag. Auch er lag dunkel, still und menschenver lassen. Garth sah mit Freude, dass das Haus des Barons, das die gesamte Nordseite des quadratisch geformten Platzes einnahm, genauso dunkel war wie alle anderen Gebäude. Er hielt sein
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Kriegstier in der Mitte des Marktplatzes an und bedeutete Galt, zu ihm zu kommen. Als Galt gehorchte, flüsterte er: »Dieses ist der Platz, Händler; das dort ist der Sitz der hiesigen Regierung. Wo, meinst du, sollen wir uns aufstellen?« Galt studierte den Platz ausgiebig und deutete schließlich auf die Südostecke. »Das da sieht ganz gut aus.« Garth nickte. »Dann stellt ihr drei euch also da auf. Ich könnte mir denken, dass ein Kriegstier kein willkommener Anblick in Skelleth ist, und werde deshalb Koros und meine Waffen irgendwohin schaffen, wo nie mand sie sehen kann. Ich schlage vor, dass ihr mit den Yackern gleichermaßen verfahrt; ihr könnt sie ja irgendwo in einer kleinen Seitengasse festbinden, wo sie die Händler und Kaufleute nicht stören. Koros, denke ich, sollte ich besser irgendwo außerhalb des Stadtzentrums verstecken; ich werde zu diesem Zweck eine ge eignete Ruine an der Weststraße suchen.« »Wie du wünschst.« »Ich werde bald zurück sein. Und denkt daran: Bleibt ruhig und friedlich.« Galt nickte. Garth wendete sein Kriegstier und ritt zu rück auf demselben Weg, den sie gekommen waren, während die anderen zur südöstlichen Ecke des Marktplatzes ritten und absa ßen, die Glieder noch steif vom langen Ritt. Galt inspizierte den von ihm gewählten Standort mit geübtem Blick, ehe er schließlich auf eine Stelle vor einem Geschäft wies, dessen Läden fest verschlossen waren; gleich nebenan befand sich die Einmündung einer schmalen Straße. Sein Gehilfe wuchtete so fort ein großes Bündel von einem der Yacker und fing an, Decken auf dem ihm von Galt bezeichneten Flecken auszulegen. Larth stand daneben, ängstlich im Dämmerlicht umherspähend, und Galt war froh, dass Garth darauf bestanden hatte, dass ihre Gruppe unbewaffnet losgezogen war; so nervös, wie Larth of
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fensichtlich war, hätte er glatt beim leisesten Geräusch sein Schwert gezückt, und alles wäre verdorben gewesen. Aber so war Larth nun einmal. Er selbst, Galt, ließ sich nicht so leicht nervös machen, aber er ließ sich auch nicht so leicht Vor schriften machen. Der Dolch in seinem Stiefelschaft war schlicht eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme und ging Garth nichts an. Er ließ Larth mit seiner Nervosität allein und begann ebenfalls mit dem Abladen der Yacker. Es war nur eine Sache von ein paar Minuten, und die hässlichen Kreaturen waren ihrer Traglast entle digt. Galt wies im Flüsterton seinen Lehrling an: »Tand, fang an, unsere Waren auszubreiten! Bitte Larth, dir zu helfen, wenn er aber nicht will, lass ihn in Ruhe und fang keine großen Debatten mit ihm an! Ich bin gleich zurück.« Er fasste die Führleinen von den sechs Geschirren zusammen und begann unter viel gutem Zureden die Yakker in die schmale Straße hineinzubugsieren. Die Tiere waren nicht auf böswillige Art störrisch, aber es war schwierig, alle sechs auf einmal zu ma növrieren, und so brauchte er mehrere Minuten, bis er sie endlich vom Marktplatz weg und in besagte Gasse geführt hatte. Mit viel Geduld schaffte er es schließlich, ihre Führleinen so zu sammenzubinden, dass sie im Kreis standen. Zwar konnten sie sich so immer noch bewegen, aber sie waren viel zu dumm, um sich alle gleichzeitig in dieselbe Richtung zu bewegen; auf diese Weise war sichergestellt, dass sie für eine ganze Weile mehr oder weniger an derselben Stelle bleiben würden. Zwar versperrten sie jetzt die ganze Straße, aber Galt hoffte, dass das nicht so schlimm sein würde. Sie sah nicht nach einer Hauptverkehrsstraße aus. Zu dem hatte es den positiven Nebeneffekt, dass die Übermänner nicht von hinten über diese Straße angegriffen werden konnten. Selbst wenn es eventuellen Angreifern gelingen sollte, sich an den
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Yackern vorbeizuzwängen, würde der dabei entstehende unver meidliche Lärm sie rechtzeitig warnen. Die Yacker waren für ihn ein neues Problem. Er war zwar Meis terhändler, aber er hatte alle seine bisherigen Erfahrungen auf diesem Gebiet bei Expeditionen nach Lagur gesammelt, da das der einzige Ort war, an dem die Übermänner der Nordwüste gegenwärtig Handel trieben. Und bei diesen Expeditionen wurden keine Yacker verwendet, da der gesamte Handelsverkehr mit Lagur über den Seeweg abgewickelt wurde. Als die Yacker einigermaßen ruhig standen, machte er sich auf den Rückweg zum Marktplatz. Er hörte das Rascheln von Fellen, die ausgepackt und ausgebreitet wurden. Nach den Geräuschen zu schließen, arbeitete Tand entweder unglaublich schnell, oder er hatte Larth dazu herumgekriegt, ihm zu helfen. Doch dann, gerade als er sich anschickte, um die Ecke auf den Marktplatz zu biegen, hörten die Geräusche jählings auf. Er blieb sofort stehen. Irgend etwas musste dort geschehen sein. Friedlich bleiben, immer friedlich bleiben, ermahnte er sich; er zauberte das menschenähnlichste Lächeln, dessen er fähig war, auf sein Gesicht und schlenderte so ruhig und gelassen, wie er nur konnte, auf den Marktplatz. Larth und Tand knieten regungslos zwischen Haufen von Fellen und geschnitzten Walknochen und starrten nach rechts, quer über den Marktplatz. Als Galt ihrem Blick folgte, sah er an einer Stra ßeneinmündung am Ostende des Marktes einen zerlumpten menschlichen Bauern mit einem klapprigen Karren halb voll mit Matsch stehen. Er stand da wie zur Salzsäule erstarrt, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Galt sah das Weiße in sei nen Augen blass im ersten Morgenlicht schimmern: Inzwischen hatte, unbemerkt von ihm, der Morgen zu dämmern begonnen. Seinem verdutzten Blick nach zu urteilen, hatte dieser Mann noch
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nie zuvor einen Übermenschen gesehen — was durchaus möglich war. Larth und Tand starrten ebenfalls mit großen Augen, was Galt vermuten ließ, dass auch seine beiden Gefährten zum ersten Mal ein Menschenwesen sahen. Galt wusste, dass dies der entscheidende Moment war. Sie waren entdeckt. Wenn ihre Mission ein Erfolg werden sollte, dann galt es nun, die Menschen davon zu überzeugen, dass nichts Be ängstigendes oder Außergewöhnliches daran war, wenn Über männer auf ihrem Marktplatz Waren feilboten. Garth hatte ihn als Experten für den Handel mit Menschenwesen angeheuert, und er wusste, man konnte die Menschen von allem überzeugen, wenn man sie nur richtig anpackte. Er winkte fröhlich, verstärkte sein Lächeln und rief: »Seid ge grüßt, guter Herr! Wollt Ihr Euch nicht unsere Waren anschauen?« Der Bauer wandte seinen Blick von den anderen ab und starrte Galt an, aber sein Mund blieb offen, und auch sein Augenaus druck veränderte sich nicht. Galt deutete auf die aufgehäuften Waren. »Wir haben feine Felle von solcher Art, wie man sie in dieser Gegend selten zu sehen be kommt; wir haben fein geschnitzte Werkzeuge, welche in jedem Heim von Nutzen sind. Kommt her und seht sie Euch an, mein Freund!« Der Mund des Mannes schloss sich zögernd. Er schluckte und schaute unsicher zwischen den Übermännern hin und her. Sein Blick schweifte forschend über den Marktplatz und entdeckte nie manden und nichts sonst Außergewöhnliches – außer der Gruppe von Übermännern. Galt kam zu dem Ergebnis, dass er sich von seinem Schreck erholt hatte und jetzt die Situation abwägte. Er würde nicht kehrtmachen und Fersengeld geben, weil das hieße, seinen Karren im Stich zu lassen; sie hatten Glück gehabt, dass der erste Mensch, der sie entdeckt hatte, seinen Karren dabei hatte. Er -14-
hatte zwei vernünftige Möglichkeiten: Er konnte sich so verhalten, als ob die Übermänner dort hingehörten, oder er konnte Alarm schlagen. Es war Galts Aufgabe, ihn davon zu überzeugen, dass die erstere die bessere Wahl war. Immer noch lächelnd rief er: »Schauen kostet nichts, Herr, und sollte etwas Euren Gefallen finden, unsere Preise sind vernünftig.« Das waren sie in der Tat! Diese Mission war nicht dazu gedacht, Gewinn zu erzielen, ja nicht einmal die eigenen Kosten zu decken; ihr einziger Zweck war, einen Fuß in die Tür zu bekommen und das Eis zu brechen. Demgemäß waren er und Garth übereinge kommen, kein ernstgemeintes Angebot abzuschlagen — natürlich würden sie feilschen; das wurde erwartet, und es würde Miss trauen erregen, wenn sie das nicht taten; und sie würden sogar Waren umsonst abgeben, wenn es geraten schien. »Wenn Ihr kein Geld bei Euch habt, könntet Ihr auch mit Eurem feinen Gemüse dort bezahlen.« Das gab den Ausschlag. Der Mann fand seine Stimme wieder und rief: »Wartet einen Moment, und ich komme, mir eure Waren anschauen.« Er packte seinen Karren und schob ihn auf den Marktplatz. Unterdessen öffnete sich ein Fenster im zweiten Stock des Hauses, vor dem die Übermänner ihre Waren ausgebreitet hatten, und ein Kopf lugte heraus. »Was soll das Geschrei da unten? Es hat ja doch nicht mal zu dämmern begonnen!« Galt lüftete höflich seinen Hut und rief hinauf: »Ich bitte viel mals um Verzeihung, gute Frau; es war gedankenlos von mir, so zu brüllen.« Der Kopf, der tatsächlich einer Frau gehörte (Galt war sich nicht ganz sicher gewesen), drehte sich in seine Richtung. Für einen Moment herrschte Stille, nur unterbrochen vom Quietschen der Karrenräder, als der Bauer sich einen geeigneten Platz zum Aus -15-
legen seiner Waren suchte. Dann fragte die Frau, in normalem Gesprächston, aber mit ein wenig unsicher klingender Stimme: »Ihr seid ein Übermann, nicht wahr?« »Ja, gute Frau, meine Gefährten und ich sind Übermänner, und wir sind hergekommen, um friedlich mit euch Handel zu treiben. Wir haben feine Pelze und Schmuck, welche einer so hübschen Dame wie Euch gewiss gefallen werden. Tand, halt doch einmal den weißen Fuchs hoch, damit die Dame ihn sehen kann!« Tand stand immer noch wie erstarrt vor Überraschung, aber jetzt befolgte er die Anweisung seines Meisters ohne das leiseste Zögern: Er bückte sich und hielt der Frau einen wunderschönen Pelz vor. Die Frau bemerkte Larth und Tand erst jetzt, aber sie zollte ih nen überhaupt keine Beachtung; ihr ganzes Augenmerk war auf die Felle gerichtet. Nach kurzem Zögern sagte sie: »Ich komme gleich runter.« Ihr Kopf verschwand vom Fenster, und Galts auf gesetztes Lächeln wich einem echten. Die Gefahr war vorüber. Man hatte sie akzeptiert. Als Garth wenige Minuten später zurückkam, fand er eine kleine Menschenmenge vor, die sich um seine Gefährten drängte und fröhlich um Qualität und Preis feilschte.
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Kapitel 2 Garth blickte erwartungsvoll gespannt auf die Tür des Hauses des Barons, als diese sich zum ersten Mal an diesem Morgen öff nete. Bisher hatten die Götter — welche auch immer es geben mochte — wohlwollend auf seine kleine Karawane herabgelächelt; sie hatten weder auf dem Weg von Ordunin hierher Schwierigkei ten irgendwelcher Art gehabt noch mit den Händlern und Bauern, die inzwischen auf den Markt gekommen waren. Die Reaktion der Dörfler auf das Quartett von Übermännern, die ruhig in ihrer Mit te saßen und ihre Felle und Schnitzereien feilboten, hatte sich zwi schen selbstverständlicher Hinnahme und Erstaunen und — in vereinzelten Fällen — Entsetzen bewegt, welches letztere sie mit ein paar freundlichen Worten und dem Zustecken von einer oder zwei Goldmünzen rasch hatten besänftigen können. Die Tatsache, dass die, die schon da waren, keinerlei Anzeichen von Angst oder Erregung mehr zeigten, hatten jeden möglichen Aufruhr schon im Keim ersticken lassen. Leider wusste Garth, dass der Baron von Skelleth und seine Gardisten sich nicht so leicht beeindrucken ließen. Sein früherer Besuch in diesem nördlichsten Außenposten der Menschheit hatte in einem Misserfolg geendet, welcher darin gipfelte, dass der Ba ron seinen Tod angeordnet hatte, nicht etwa, weil er irgendein Verbrechen begangen hätte, sondern schlicht deshalb, weil er ein Übermann und darüber hinaus nicht bereit gewesen war, sich sei nen Forderungen zu beugen. Natürlich würde es keiner von Skelleths armseligen Gardisten wagen, sich mit vier Übermännern anzulegen; Garth hielt es sogar für unwahrscheinlich, dass die gesamte Einwohnerschaft von drei Dutzend ein ebenbürtiger Gegner für sie gewesen wäre, hätte er
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nicht darauf bestanden, dass seine Gefährten auf jedwede Bewaff nung verzichteten. Sie waren in einer friedlichen Mission hier, und er war entschlossen, dafür Sorge zu tragen, dass sie friedlich blieb. Schon viel zu lange waren die Übermenschen der Nord wüste abhängig von den Seehändlern Lagurs, die keine Gelegen heit ausließen, ihr Monopol auszunutzen; gelang es Garth, einen Landhandelsweg durch Skelleth zu eröffnen, dann war ihre Monopolstellung gebrochen, und sein Volk würde zum ersten Mal seit den bitteren Rassenkriegen vor drei Jahrhunderten die Chance haben, anständig zu leben — und nebenbei würde er, Garth, wohlhabend und geachtet sein, was ebenfalls sehr erfreulich sein würde. Die Tür war jetzt offen, und drei Wächter kamen her-aus und schauten blinzelnd in die helle Morgensonne. Einen von ihnen er kannte Garth wieder: Der Lange mit dem stählernen Helm dort war Herrenmer, der Hauptmann der Garde. Die beiden ihm Unbekannten bezogen ihre Stellung, einer links, der andere rechts von der Tür. Sobald Herrenmer seine Männer postiert hatte, warf er einen flüchtigen Blick über den Platz; seine Pflicht hatte er fürs erste getan. Sein Blick blieb auf den Über männern haften, und Garth sah, wie er sich straffte. Er sagte etwas zu seinen Leuten, aber Garth konnte nicht hören, was; zu laut waren die Geräusche vom Marktplatz. Alsdann kamen alle drei auf die Übermänner zu, Herrenmer voran; die Hände hielten sie in der Nähe ihrer Schwertgriffe. Garth legte das Wolfsfell nieder, das er soeben einer überge wichtigen Frau vorgehalten hatte, und sagte: »Larth, wirf ein Auge auf meine Waren, während ich mit diesen Männern spre che.« Er trat den Soldaten entgegen. Das Trio blieb etwa ein Dutzend Schritte vor den Auslagen stehen; Garth stand auf halbem Weg dazwischen. Nach einem
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kurzen Augenblick des Zögerns fragte Herrenmer in herrischem Ton: »Was treibt ihr hier?« »Wir sind gekommen, Handel zu treiben.« »Ihr wisst, dass der Baron keine Übermänner in Skelleth duldet.« »Mir war lediglich bewusst, dass er keine bewaffneten Über mann-Abenteurer haben will, eine Haltung, welche ich voll ver stehen kann, würde doch die Anwesenheit von solchen wo möglich den Frieden eurer Stadt stören; doch gewiss kann er keine Einwände gegen vier unbewaffnete Händler haben, gleich welcher Rasse oder Nation sie auch angehören mögen!« Garth hatte sich diese kleine Ansprache vorher sorgfältig zurechtgelegt, und er re gistrierte mit Genugtuung, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlte: Herrenmer war für den Moment erst einmal verwirrt und sprach los. Sofort nutzte Garth seinen Vorteil aus. »Ich habe den Baron höchstselbst seiner Bestürzung über Skelleths Armut und seinem Fehlen jedweder Handelsbezie hungen Ausdruck geben hören; da wird er gewiss froh darüber sein, dass ein ganzes neues Volk darauf erpicht ist, mit Skelleth Handel zu treiben. Wir haben Gold und Felle und andere Waren, die Skelleths Kaufleuten Wohlstand bringen werden, so sie sie im Süden verkaufen, wo wir uns nicht hinwagen. Und da kann der Baron sicherlich nichts gegen haben, denn wenn die Handels männer wohlhabend sind, kommt dies auch dem Säckel der Re gierung zugute.« »Ich weiß von solchen Dingen nichts; das geht mich nichts an.« Herrenmer zögerte einen Moment, nachdenklich geworden, dann fuhr er fort: »Ich werde mit meinem Herrn darüber sprechen.« Er machte kehrt und stapfte wütend zum Haus zurück. Seine zwei Männer folgten ihm, und als er die Tür hinter sich zugeknallt hatte, bezogen sie wieder ihren Posten. -19-
Garth sah ihnen nach, dann wandte er sich wieder seinen Ge fährten zu. Er hatte noch keine zwei Schritte getan, als er je manden seinen Namen rufen hörte. Er blieb stehen und hielt Aus schau nach dem Rufer. Sein Blick fiel auf eine winkende Hand, und er erkannte einen Mann wieder, der über den Marktplatz auf ihn zukam. »Sei ge grüßt, Saram!« rief er ihm entgegen. »Sei gegrüßt, Garth«, rief der Mann zurück. Saram war von kräftigem Wuchs und mittlerer Körpergröße; er trug das Haar kurz und seinen schwarzen Vollbart peinlich ge stutzt, dies jedoch nicht aus Eitelkeit, wie er behauptete, sondern weil es so praktischer wäre. Als Garth ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er das Kettenhemd und das Kurzschwert der Garde des Barons getragen; die eisernen Beschlagnägel in seinem Le derhelm hatten ihn als Leutnant ausgewiesen. Jetzt trug er einen schäbigen, aber sauberen Rock aus grauem Wollstoff und war bar häuptig. Nur die ledernen Hosen und die schweren Stiefel waren dieselben geblieben. Er blieb in einiger Entfernung vor Garth stehen, jedoch nahe genug, um sich in normalem Gesprächston unterhalten zu können, und bemerkte: »Du bist also zurückgekommen, wie du es versprochen hattest.« Seine Stimme klang gelassen, aber seine grü nen Augen huschten aufmerksam hin und her, ließen sich nichts entgehen. »Ja, ich bin zurückgekommen«, erwiderte Garth höflich. Saram hatte sich ihm gegenüber seinerzeit sehr anständig verhalten, in dem er sich geweigert hatte zu versuchen, ihn zu töten. »Der alte Mann sagte, du würdest zurückkommen.« Sarams Blick heftete sich auf Garths Gesicht, während er sprach. Der Übermann zuckte die Achseln, verzog keine Miene und sag te nichts. -20-
»Ich hatte ja meine Zweifel, aber nun bist du hier. Wo ist dein Kriegstier? Ich war sicher, falls du kämest, würdest du es mit bringen.« Saram blickte umher. »Ich habe es ganz in der Nähe versteckt. Ich sah keine Ver anlassung, der Bevölkerung einen unnötigen Schreck einzujagen.« »Zweifellos sehr klug von dir. Und du hast dieses Mal Freunde mitgebracht.« »Ich würde sie eher als Gefährten bezeichnen; ich selbst bin nicht sehr bewandert in den Geheimnissen des Kaufens und Ver kaufens, deshalb habe ich den Meisterhändler Galt, seinen Lehr ling Tand und meinen Vetter Larth mitgebracht.« Er deutete nach einander auf die anderen Übermänner, während er ihre Namen nannte; der junge Tand und der schwerfällige Larth nahmen es nicht wahr, aber Galt nickte freundlich. »Es freut mich, deine Gefährten kennenzulernen. Bei den Göt tern, was sind das denn da für welche?« Er hatte die Yacker erspäht, die von der Stelle aus, wo er stand, gerade noch zu sehen waren. Garth war erschrocken. »Das sind Yacker. Kennst du sie nicht?« Er lugte in die Gasse. Die großen Lasttiere standen ruhig da, in si cherer Entfernung vom Marktgetriebe. »Nein, ich habe noch nie von ihnen gehört.« Saram starrte sie für einen kurzen Augenblick an, dann wandte er sich wieder den Übermännern zu und sagte: »Garth, ich habe eine Botschaft für dich. Der alte Mann will mit dir sprechen.« »Aber ich will nicht mit ihm sprechen«, erwiderte Garth. »Nein? Er sagt, er hätte dir einen Vorschlag zu machen.« »Ich bin nicht interessiert; als ich das letzte Mal einen Handel mit ihm machte, kamen dabei nichts als Tod und Schwierigkeiten heraus.« -21-
»So wie dein Übereinkommen mit dem Baron ihm wenig Gutes gebracht hat«, sagte Saram mit einem falschen Lächeln. »Und doch erwartest du von ihm, dass er sich deine Erklärungen anhört, warum du wieder hier bist.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte Garth: »Du hast deinen Kopf durchgesetzt. Ich werde mir den Vorschlag des Königs anhören. Wo ist er?« »Musst du da erst fragen?« »Nein. Einen Augenblick noch!« Er drehte sich um und rief sei nen Gefährten zu: »Ich habe etwas zu erledigen. Galt, du passt hier auf.« Dann, zu Saram gewandt: »Komm, gehen wir!« Die beiden machten sich auf den Weg. Ihr Ziel war eine alte Taverne namens Gasthof des Königs, wenngleich niemand etwas von irgendeiner Beziehung zwischen dem Gasthof und irgendeinem anerkannten Monarchen wusste; er lag an einer Gasse, die einst nur ein paar Schritte vom Dorfmarkt entfernt gelegen hatte, die aber abgeschnitten worden war, als der erste Baron von Skelleth sein Haus auf der Nordseite des Platzes errichtet und keinen Durchgang zu den dahinter liegenden Stra ßen offen gelassen hatte. Die Gasse, die jetzt nur noch über eine komplizierte Route durch das Labyrinth von verwinkelten Stra ßen und Gassen zu erreichen war, das den größten Teil Skelleths ausmachte, war zu einem Grad von Verfall und Verwahrlosung heruntergekommen, der in der bekannten Welt seinesgleichen suchte; der Gasthof des Königs indes war eine Insel der Behaglich keit und Sauberkeit inmitten des ihn umgebenden Drecks ge blieben und hatte sich einen festen Stamm von Gästen bewahrt. Zu diesem treuen Gästeinventar (so treu, dass er in der Tat noch nie außerhalb der Mauern des Gasthofs gesichtet worden war) zählte ein seltsamer alter Mann, so alt, dass niemand sich daran erinnern konnte, ihn jemals nicht an seinem Ecktisch kauern gese
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hen zu haben. Diesen Mann kannte Garth als den Vergessenen König, ein Titel, den ihm die Weisen Frauen von Ordunin gegeben hatten; die Leute von Skelleth hatten indes überhaupt keinen Namen für ihn. Bis vor ungefähr drei Monaten, als der Übermann zum ersten Mal gekommen war, hatten nur wenige jemals mit ihm gesprochen, und noch weniger hatten eine Antwort bekom men, und aufgesucht hatte ihn überhaupt nie jemand. Neuerdings jedoch, seit er wegen Gehorsamsverweigerung aus der Garde des Barons ausgestoßen worden war, hatte Saram viele Stunden am Tisch des Alten sitzend verbracht und versucht, ihn in eine Un terhaltung zu verwickeln. Der Lohn seiner Mühen hatte jedoch nur in ein paar rätselhaften Antworten bestanden, mit denen ihn der Alte abgespeist hatte. Eines von diesen wenigen Worten, die er dem alten Mann hatte abringen können, war die Anweisung ge wesen, wenn Garth wiederkäme – nicht falls, sondern wenn -, solle er, Saram, ihn unverzüglich zu ihm bringen, damit er mit ihm sprechen könne. Saram ging voraus durch die stinkenden Straßen, die zum Glück mangels Regen in der jüngsten Zeit trocken waren, und Garth folgte ihm, seinen Widerwillen durch betont lässigen Gang ka schierend. Das schräg einfallende Sonnenlicht hatte das obere Stockwerk des Gasthofs noch nicht erreicht bei seiner täglichen langsamen Wanderung entlang der schiefen, halb mit Holz ver schalten Fassade des Gebäudes; der Müll, der die Gasse säumte, lag noch im Schatten; aber der Gestank, der von ihm ausströmte, war unüberriechbar, und nicht zum ersten Mal wunderte sich Garth, wie Menschen es damit aushalten konnten. Er hielt den Atem an, als er und Saram sich mühsam einen Weg zur Tür bahn ten und ihre Stiefel auf der Steinstufe abtraten, bevor sie hinein gingen. Das Innere der Taverne stand in angenehmem Gegensatz zu dem Schmutz draußen: Nicht ein Staubkörnchen lag auf dem alten -23-
Fußboden, den die schlurfenden Schritte von Jahrhunderten zu einer regelrechten hölzernen Landschaft aus niedrigen Hügeln und sanft abfallenden Tälern ausgetreten hatten, die klar zeigten, dass die Möbel seit Menschengedenken nicht umgestellt worden waren und dass die Gäste ihre Gewohnheiten seit vielen Jahren nicht mehr geändert hatten. Jeden der Hügel krönte ein Tisch, je der Stuhl ruhte in breiten Furchen, die seine Beine durch stetiges Vor-und Zurückrücken in langen Jahren in den Fußboden ge kratzt hatten. Die großen Bier- und Weinfässer, die die nach Wes ten hin liegende Wand des Schankraumes säumten, ragten dräu end über einer Dielung auf, die so abgewetzt war, dass Garth sich wunderte, dass sie überhaupt noch hielt; wie dick das Holz der Bohlen darunter war, konnte er ja nicht sehen; er konnte nur se hen, dass dieser gewiss beliebteste und daher am häufigsten auf gesuchte Teil des Raums gut zwei Zoll weniger an Fußbodenstär ke aufwies als der Rest des Raumes. Der Schieferboden, der sich über die Hälfte der nach Osten gelegenen Wand vor dem riesigen Kamin erstreckte, wies kaum Abnutzungsspuren auf, da er härter war als die Holzdielen; hingegen hatten die Stufen der alten Treppe, die an der hinteren Wand nach oben führte, nur ganz geringe Vertiefungen. Daraus war klar zu ersehen, dass das Etablissement eher als Schenke denn als Herberge überlebte, war doch jene Treppe der einzige Zugang zu den oberen Räumlichkei ten. Obgleich jeder Zoll des Raumes alt und abgenutzt war, hätte niemand ihn sich je leer vorstellen können, denn er war makellos sauber, abgesehen von den ausgeblichenen tausendmal ge schrubbten Weinflecken von Jahrhunderten. Die Morgensonne war noch nicht hoch genug geklettert, um ungehindert durch die blanken, vom Alter purpurfarben angelaufenen Fenster herein scheinen zu können, doch glänzten auch so schon jetzt matt die Messingbeschläge der Fässer, blitzten die Krüge aus Zinn, Porzel -24-
lan und Glas sauber in ihren Regalen, schimmerte wie frisch ge bohnert der schwarze Schiefer vor dem Kamin. Die einzigen un sauberen Flecken in der Schankstube waren zwei betrunkene Bau ern, die einen kleinen Tisch gleich bei der Tür zierten, mit ihren Kleidern aus schmuddeliger grauer Wolle, ihren fettigen Haaren und verdreckten Gesichtern. Sie hatten die Köpfe zusammenge steckt und murmelten leise miteinander. Der Wirt, ein dicker Mann mittleren Alters, erweckte trotz seiner fleckigen Schürze keinesfalls den Eindruck von Unordentlichkeit, sondern, genau wie seine Schenke, von wohlabgewetzter Gemütlichkeit. Der außer den beiden Bauern einzige andere Insasse des Raums, der allein in der Ecke zwischen Kaminsims und Treppe saß, schien ir gendwie über solchen irdischen Sorgen wie Sauberkeit zu schwe ben. Und just diese einsame Gestalt war es, auf die Garth und Saram jetzt zusteuerten. Der Wirt blickte erschreckt auf, als das Duo zur Tür hereintrat und durch den Schankraum ging, und zweimal öff nete er den Mund, um Protest gegen ihre Anwesenheit zu erheben, aber beide Male verließ ihn der Mut, und er zog es vor zu schweigen. Als sie sich zu dem alten Mann an den Tisch gesetzt hatten, wich die Spannung langsam wieder von ihm, und er wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu, dem Polieren von Krügen, die auch ohnedies schon makellos seidig glänzten; aber er putzte denselben Krug gute fünfzehn Minuten mit fahrigen Hand bewegungen weiter und warf zwischendurch immer wieder ner vöse Blicke auf den Übermann, der da in das friedliche Idyll sei nes kleinen Reiches eingedrungen war. Nachdem Garth und Saram auf ihren Stühlen Platz genommen hatten, saßen sie zunächst einen Moment lang schweigend da und musterten die seltsame Gestalt, die ihnen da regungslos gegen über saß und scheinbar nicht die geringste Notiz von ihnen nahm.
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Der alte Mann, den die Orakelweiber von Ordunin den Vergessenen König genannt hatten, war von Kopf bis Fuß in zerfetzte gelbe Lumpen gehüllt, die er trotz der sommerlichen Wärme fest um seinen Körper geschlungen hatte; seinen Umhang hielt er vorn geschlossen, und überdies hatte er die Kapuze über den Kopf gezogen, so dass ein großer Teil seines Gesichts verdeckt war. Sein langer zottiger weißer Bart reichte hinunter bis über die eingefallene Brust, und das, was von seinem Gesicht und seinen Händen an Haut zu sehen war, war trocken und runzlig wie die Haut einer Mumie, und nichts deutete darauf hin, dass sich noch irgend etwas zwischen ihr und seinen Knochen befand. Seine Augen verloren sich im Dunkeln; bei all ihren Unterhaltungen mit ihm hatten weder Garth noch Saram jemals seine Augen gesehen, und nur bei den seltensten Gelegenheiten hatte einer von beiden einmal kurz die Andeutung eines Fünkchens Licht in ihnen auf leuchten sehen. Die Schatten, hinter denen er sie verbarg, gau kelten einem vor, dass er überhaupt keine Augen hatte, sondern nur leere Höhlen; vielleicht war das, mehr als alles andere, der Grund, warum Generationen von Wirtshausbesuchern es vorgezo gen hatten, ihn allein und unbehelligt an seinem Tisch sitzen zu lassen. Garth studierte ihn eingehend, aber er sah nichts, was er nicht schon früher gesehen hätte. Garth war ein typischer Vertreter sei ner Art in fast jeder Beziehung, und als solcher war er nicht son derlich gut im Wiedererkennen von menschlichen Gesichtern, und auch seine Fähigkeit, Gefühle in ihnen zu lesen, war nicht gut entwickelt. Doch das Gesicht des Vergessenen Königs hatte irgend etwas an sich, das ihm Unbehagen einflößte. Er rutschte auf sei nem Stuhl hin und her, der unter seinem Gewicht knarrte. Er stand mit seinen Ausmaßen in einem Missverhältnis zu seiner Umgebung: Die Taverne war auf die Proportionen von Menschen zugeschnitten, nicht auf die von Übermenschen. Er überragte die -26-
anderen um mehr als Haupteslänge, wobei seine natürliche Größe von fast sieben Fuß noch gesteigert wurde durch einen wollenen Händlerhut, der nicht nur sein rotäugiges, hohlwangiges, für das Auge des Menschen abstoßend aussehendes Gesicht verdeckte, sondern auch einen stählernen Halbhelm unter sich verbarg. Friedlich hin, friedlich her, Garth hielt Vorsicht für geboten; unge achtet der Tatsache, dass er seine Kameraden angewiesen hatte, unbewaffnet zu kommen, und dass er den größten Teil seiner Rüs tung und seiner Waffen bei seinem Kriegstier versteckt hatte, ver barg sich unter seinem wallenden braunen Umhang ein dickes Panzerhemd, und in seinem rechten Stiefel steckte ein Stilett — eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als ziemlich unbequem erwies, da sein Heft, obwohl sicher verborgen unter seinen Ledergama schen und dem spärlichen schwarzen Haarfell, das seine ledrige Haut zierte, beim Gehen scheuerte. Er studierte den alten Mann, sagte aber nichts. Saram neben ihm blickte von dem Übermann zum König und wieder zurück, wobei er mit dem Finger gelangweilt an einem kreisrunden hölzernen Pfropf in der Tischplatte herumspielte der von seiner Art und Maserung her nicht zum Holz der Tischplatte passte und überdies ein wenig mit den Kanten hervorstand. Dieser kreisrunde Holzpfropf war die abgesägte Spitze eines Arm brustpfeils, den Saram seinerzeit auf Befehl des Barons auf Garth abgefeuert hatte. Der Übermann hatte den Tisch als Schild benutzt, und da der mit Widerhaken versehene Bolzen sich nicht mehr hatte aus der Tischplatte herausziehen lassen, hatte der Wirt ihn kurzerhand abgesägt und mit Sandpapier plangeschliffen. Nach einer Weile, als es so schien, als wäre weder Garth noch der Mann gewillt, als erster das Wort zu ergreifen, räusperte sich der Ex-Soldat und sagte: »Ich habe Garth hierhergebracht, wie du es gewünscht hast.«
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Der alte Mann nickte kaum wahrnehmbar, ließ aber ansonsten durch keinerlei andere Regung erkennen, dass er die Anwesenheit anderer an seinem Tisch bemerkt hatte. Erneutes Schweigen folgte, jedoch diesmal kürzer als das vor ausgegangene. Und diesmal war es Garth, der es brach, indem er schließlich sagte: »Ich bin auf deine Bitte hin gekommen. Also sprich endlich und sag mir, was du von mir willst. Ich muss mich um meine Geschäfte kümmern und kann nicht endlos meine Zeit hier vergeuden.« Und der alte Mann sprach mit einer Stimme, die wie das Rascheln von verdorrtem Laub klang. »Garth, ich möchte, dass du mir wieder dienst.« Der Übermann unterdrückte den Schauer, der ihn beim Klang dieser Stimme durchrieselte; er hatte sie schon einmal gehört, aber es war eine Stimme, deren Klang man nicht genau in der Erinne rung behalten konnte – oder wollte. Er erwiderte: »Ich habe nicht den Wunsch, dir oder irgendeiner anderen Person außer mir selbst zu dienen.« Der Vergessene König hob ganz leicht den Kopf und sprach er neut. »Es gibt nur sehr wenige in diesen zu Ende gehenden Jahren des Dreizehnten Zeitalters, die dazu geeignet sind, mir zu dienen. Ich habe keine Lust, auf einen anderen zu warten.« »Das mag sein; ich stelle nicht in Abrede, dass ich für dich von Nutzen sein könnte. Aber warum sollte ich dir dienen? Du bietest mir nichts, und ich habe wenig Grund, dir zu vertrauen, wenn ich an den Ausgang meines letzten Unternehmens in deinen Diensten denke.« »Was wünschst du?« »Ich wünsche mir nichts von dir, außer in Ruhe gelassen zu werden. Beim letzten Mal versprachst du mir unvergänglichen
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Ruhm. Und das Ergebnis waren ein Dutzend Tote und Kummer und Leid, und das alles für nichts.« »Ich habe dich nicht herabgesetzt.« »Ist mein Ruhm denn nun so groß? Ich merke nicht viel davon, alter Mann.« »Erfülltest du denn deine Pflicht mit nur einer einzigen Prüfung?« »Nein. Ich sah meine Torheit nach nur einer Prüfung und ging nach Hause.« »Und doch bist du zurückgekehrt, wie ich es dir geraten habe.« Garth wollte etwas erwidern, zögerte aber. Es stimmte, was der alte Mann sagte. Er war es gewesen, der ihn auf die Möglichkeit des Handels durch Skelleth hinge-wiesen hatte. »Na und? Ich erwies dir einen Dienst, und du vergaltst ihn mir mit einem simplen Vorschlag, auf den ich auch selbst hätte kom men können — aber, wie ich zugeben muss, nicht gekommen bin. Wir sind also quitt. Ich habe keine Lust, dir weiter zu dienen. Nimm doch Saram!« Dieser fuhr erschrocken auf. »Ich? O nein! Ich bin kein Abenteu rer.« Der Vergessene König nahm überhaupt keine Notiz von Saram und sagte: »Gibt es denn da nichts, wonach du strebst, Garth? Bist zu zufrieden mit deinem Los?« Für einen Moment lang herrschte Schweigen; Garth betrachtete das schattenumhüllte Gesicht, wäh rend Saram hin und her blickte, und keiner von beiden konnte se hen, wohin der Blick des alten Mannes gerichtet war. Schließlich gab der Übermann zu: »Nein, ich bin nicht zufrieden. Ich suche noch immer das, was ich in Wahrheit schon vorher such te; ich will die Gewissheit haben, dass ich nicht unbedeutend bin, nicht bloß ein bedeutungsloses Stäubchen im Kosmos. Ich strebte -29-
nach ewigem Ruhm, weil mir schien, dass ich mich dadurch am ehesten würde herausheben können, und weil ich glaubte, dass ich dadurch meinem Ziel, Unsterblichkeit zu erringen, am nächs ten käme. Mir liegt wenig an Reichtum oder Macht oder Ehre, welche doch nur so lange währen, wie ich lebe. Was kannst du mir sonst bieten? Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass die Verheißung unsterblichen Ruhms noch genügen kann, mich zu trösten; kannst du mir mehr bieten?« »Unter den gegebenen Umständen kann ich dir alles geben, was du wünschst. Wenn du den Tod fürchtest, kann ich dir ein Leben bis ans Ende der Zeit versprechen. Wenn du danach strebst, deinem Leben eine Bedeutung zu geben, wel che über die Norm hinausgeht, dann sind wir uns einig, denn ich brauche deine Hilfe, weil ich einen grundlegenden Wandel in der Natur unserer Welt bewirken will.« Erneut trat ein kurzes Schweigen ein; dann fragte Garth. »Was ist das für ein Wandel, den du bewirken willst? Du lässt dein Ziel im unklaren. Als ich dir seinerzeit diente, ließest du mich den Ba silisken holen, wolltest mir aber nicht sagen, warum du ihn wolltest. Wolltest du ihn für dieses selbe geheimnisvolle Ziel?« »Mein Ziel ist unverändert geblieben.« Die harsche Eintönigkeit in der Stimme des alten Mannes war gleichfalls unverändert ge blieben, aber sein Kopf war ein wenig heruntergesunken, wo durch sich die Schatten noch vertieften, die sein Gesicht verhüll ten. Garth lehnte sich zurück und überlegte. Er war nach vielem Nachdenken zu dem Schluss gelangt, dass die Verwendung, die der Vergessene König für den Basilisken hatte (eine Verwendung, für die er sich als ungeeignet erwiesen hatte), den Tod des alten Mannes mit einschloss. Er hatte keine Ahnung, warum der Alte sterben wollte; war er vielleicht seines langen Lebens überdrüssig? Auch vermochte er nicht einzusehen, warum es einem einsamen
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alten Mann schwer fallen sollte zu sterben, wenn er sich dazu ent schlossen hatte. Und doch war es unbestreitbar, dass er überlebt hatte, was immer er auch mit dem Basilisken getan haben mochte. Vielleicht, dachte Garth, hatte er auch irgendwie frühere Ereig nisse missinterpretiert, denn wie konnte die Selbstentleibung eines einzigen einsamen alten Mannes kosmische Auswirkungen haben? Das setzte natürlich voraus, dass der alte Mann die Wahrheit sprach. Es war möglich, dass er tatsächlich unter irgendeiner Art von Unsterblichkeitsfluch stand, den er mit Garths Hilfe zu bre chen hoffte — und Tote sind nicht mehr dazu verpflichtet, ihr Ver sprechen einzuhalten; also würde er dem Übermann versprechen, was immer dieser verlangte, wusste er doch, dass er sein Verspre chen niemals würde einzuhalten brauchen. Andererseits wiederum war es durchaus möglich, dass der alte Mann — der sehr wahrscheinlich irgendeine Art von Magier oder Hexer war — sich tatsächlich an einer welterschütternden Magie versuchte. Das bedeutete natürlich nicht, dass Garth mit seinen Zielen übereinstimmen musste. »Was ist das für ein geheimnisvolles Ziel? Warum willst du es mir nicht offenbaren? Es könnte doch etwas schrecklich Schlim mes sein, ein Angriff auf die Natur und die Götter.« »Ich suche nur den Zweck zu erfüllen, den die Götter mir gege ben haben, Garth; und ich schwöre, dass das die Wahrheit ist.« »Du sagst noch immer nicht, was es ist.« »Und das werde ich auch weiterhin nicht sagen.« »Trotzdem bittest du mich, dir dabei zu Diensten zu sein, ohne dass ich weiß, wofür?« Der alte Mann erwiderte nichts, aber er nickte kaum wahrnehm bar.
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»Ich muss sorgfältig darüber nachdenken. Ich werde dich in Kenntnis setzen, sobald ich zu einem Entschluss gekommen bin.« Garth erhob sich und entfernte sich vom Tisch; Saram schickte sich ebenfalls an aufzustehen, blieb dann aber sitzen, und als der Übermann die Taverne verlassen und die Tür hinter sich ge schlossen hatte, wandte er sich wieder dem Vergessenen König zu. »Mir scheint, du bietest da einen Handel an, auf den sich nur ein Tor einließe — voll von unklaren Bedingungen und Geheim nissen.« Der Vergessene König sagte nichts, aber Saram sah, dass er ganz leicht die Achseln zuckte.
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Kapitel 3 Als Garth um die letzte Ecke bog und Einblick auf den Markt platz bekam, sah er Galt dort stehen und mit jemandem sprechen. Der Übermann überragte zwar die Menge um mehr als Haupteslänge, so dass er schon von weitem deutlich auszumachen war, aber zuerst vermochte Garth nicht zu sehen, wer die Person war, mit der er sprach. Dann, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte, sah er einen stählernen Helm im Sonnenlicht auf blitzen und wusste, dass Herrenmer zurückgekehrt war, vermut lich mit der Entscheidung des Barons. Er beschleunigte seinen Schritt; die Menge, eingeschüchtert von seiner Größe, wich erschrocken vor ihm zurück, so dass er nur einen kurzen Moment später schon neben Galt stand. »Ah, Garth, es scheint, als wünsche die Regierungsgewalt nur mit dir zu sprechen. Ich bot mich als dein Stellvertreter an, wurde aber abgelehnt.« Galt sprach gleichmäßig und schnell, in lockerem Ton, aber Garth bemerkte sofort die leichte Spannung, die in sei ner Stimme mitschwang, und er sah, dass Herrenmers Hand auf dem Griff seines Schwertes ruhte. Hinter ihrem Hauptmann stand ein Dutzend Gardisten, und obwohl noch keiner die Waffe ge zückt hatte, war klar, dass sich eine Konfrontation zusammen braute. »Oh? Verzeiht meine Abwesenheit, Hauptmann Herrenmer, aber einer Eurer Bürger wünschte mich unter vier Augen zu spre chen.« »Der Baron wünscht dich auch zu sprechen, Übermann – und zwar unverzüglich.« Die Stimme des Mannes zitterte leicht. »Ich werde seinem Wunsch sogleich willfahren. Larth, du bleibst hier und passt auf. Galt, du begleitest mich, für den Fall, dass wir -33-
über Geschäftliches reden müssen.« Die anderen Übermänner nickten; Garth tat einen Schritt auf das Haus des Barons zu, wurde aber von Herrenmers erhobener Hand aufgehalten. »Wart einen Moment! Ich bin beauftragt, dich zu bringen, nicht dieses andere Ungeheuer.« »Aber Galt ist der geschäftliche Leiter unserer Abordnung. Soll ten wir über genaue Bedingungen diskutieren müssen, möchte ich ihn dabei haben.« »Wenn es Euch beruhigt, Hauptmann, verspreche ich, dass ich nur das Wort ergreife, wenn ich dazu aufgefordert werde.« Galts Stimme klang honigsüß. Herrenmers Blick huschte vom einen furchterregenden Gesicht zum anderen, von Garths karmesinroten Augen zu Galts goldenen, und nach kurzem Zögern zuckte er dann die Achseln und ging über den Platz voraus. Das Audienzzimmer des Barons war so, wie Garth es in Erinne rung behalten hatte: ein ziemlich großer Raum mit alten Wandbe hängen und drei kleinen Fenstern hoch an der Nordseite hinter dem Stuhl des Barons, die die einzige Lichtquelle darstellten. Der Thron des Barons war ein schlichter Eichenholzstuhl, und der Ba ron selbst räkelte sich schlaff darin. Er war ein kleiner hagerer Mann, bekleidet mit einem reich bestickten scharlachroten Ge wand. Auf dem Kopf trug er einen schlichten goldenen Reif. Er spielte einen Moment an seinem dünnen schwarzen Bart, bevor er sprach: »So ist es also wahr; du bist zurückgekehrt.« Da dies offensichtlich war, schien eine Antwort unnötig, aber da Garth den Unmut des Barons durch unbotmäßiges Schweigen nicht noch weiter herausfordern wollte, antwortete er schlicht: »Ja.«
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»Ich hätte nicht gedacht, dass du tatsächlich die Frechheit besä ßest, das zu tun, obwohl du dich ja vor diesem Abschaum Saram damit gebrüstet hast. Und nun bist du also tatsächlich zurückge kommen. Und du hast sogar andere von deiner schmutzigen Rasse mitgebracht.« »Wir sind in einer friedlichen Handelsmission gekommen.« »Das wurde mir berichtet. Ist dir klar, dass über dir das Todes urteil schwebt, dass du unter der Anklage des widerrechtlichen Eindringens auf unser Hoheitsgebiet, der Spionage und des Ver brechens gegen den Staat stehst? Und dass alle von deiner stin kenden Rasse als feindliche Fremdlinge angesehen werden?« »Es war mir bewusst, dass Ihr nicht erpicht darauf wart, uns hier zu haben. Ich hoffe indes, Euch davon zu überzeugen, dass es zu Eurem Vorteil sein könnte, wenn Ihr uns bei Euch willkommen heißt.« »Und wie willst du das anstellen?« »In zwei Etappen: Als erstes werde ich Euch überzeugen, dass ein regulärer Handelsverkehr zwischen Skelleth und der Nord wüste sehr in Eurem eigenen Interesse liegt; und zweitens dass ein solcher Handel unmöglich würde, wenn Ihr mich töten ließet oder anderweitig verfolgtet. « »Nun gut, ich will mir deine Worte anhören. Warum, glaubst du, sollte ich euch Ungeheuern gestatten, auf meinem Hoheitsge biet Handel zu treiben?« »Weil wir viel Gold aus verborgenen Minen in den Bergen des Nordens haben, mit dem wir alles bezahlen können, was wir wollen. Und gewiss würde viel von diesem Gold seinen Weg zu Euch finden, in Form von Steuern und Zöllen. Ihr habt mir einmal gesagt, Ihr wärt nicht glücklich mit Eurem Erbe und hofftet, Euer Los durch Krieg und Plünderung verbessern zu können. Wäre es nicht mindestens ebenso befriedigend, wenn Ihr Euch auf friedli -35-
chem Wege bereichern könntet? Und selbst wenn es das Blut und der Ruhm des Krieges wären, wonach Ihr strebt; würde nicht un ser Gold Euch helfen, ein solch ehrgeiziges Unternehmen zu fi nanzieren? Die Bedingungen unseres früheren Abkommens – von dem Ihr offensichtlich meint, ich hätte es verletzt, wohingegen ich der Ansicht bin, dass ich es lediglich anders als Ihr ausgelegt habe – enthielten die Klausel, dass alle Übermänner, die Euer Territori um durchquerten, einen Tribut an Euch zu zahlen hätten, in einer von Euch zu bestimmenden Höhe. Wir sind bereit, das zu akzep tieren, so lange, wie ein solcher Tribut unseren Handel nicht un rentabel macht. Ein solches Angebot könnt Ihr gewiss nicht aus schlagen!« »Was ich ausschlagen kann und was nicht, hast nicht du zu be stimmen, Übermann! Doch ich muss gestehen, was du sagst, klingt sehr verlockend. Wenn ihr tatsächlich so viel Gold habt, wie du behauptest, könnte ich in der Tat gute Verwendung dafür finden.« Der Baron sann einen Moment nach und fuhr dann fort: »Aber um auf deinen zweiten Punkt zu kommen, dein Leben – was sollte mich daran hindern, Handelsvereinbarungen mit deinem Volk einzugehen und dich trotzdem zu töten? Ich könnte ja ohne weiteres dein Leben als Tribut fordern. Glaubst du nicht, dass die Übermänner bereit wären, für eine neue Handelsroute das Leben eines einzelnen zu opfern?« »Vielleicht würden sie das unter bestimmten Umständen tun; aber mein Leben werden sie nicht opfern, denn ich bin der Erb prinz von Ordunin, und das Leben eines regierenden Fürsten ist von Eurem Forderungsrecht ausgeklammert.« Garth vertraute in diesem Punkt auf die Unkenntnis des Barons bezüglich der Kultur der Übermänner der Nordwüste; tatsächlich war der Titel, den er für sich reklamierte, zwar echt, aber strenggenommen rein re präsentativer Natur: Über das Privileg hinaus, als erster im Stadtrat das Wort ergreifen zu dürfen (ein Privileg, auf das der -36-
Träger dieses Titels in aller Regel verzichtete), hatte er keinerlei politische Bedeutung. Für einen Moment herrschte Schweigen, während der Baron hierüber nachdachte. Dann wandte er plötzlich seinen Blick Galt zu, und fragte in herrischem Ton: »Du da! Wer bist du?« »Ich bin Galt, Herr, ein Händler aus Ordunin.« »Und wer ist das?« Er zeigte auf Garth. »Das ist Garth, Prinz von Ordunin, ein Adliger der Übermänner der Nordwüste.« Galt sprach ruhig und gelassen. Seinen hellblau en Umhang hielt er lässig über dem Arm, seinen breitkrempigen Hut hatte er keck in die Stirn gezogen, so dass seine goldgelben Augen verdeckt waren. Er vermittelte den Eindruck vollkom mener Gelassenheit und Sorglosigkeit. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass eine solche Pose höchst wünschenswert bei fast jeder Art von Verhandlungen mit Menschen war, ganz gleich, ob es sich um geschäftliche oder solche diplomatischer Natur handelte. »Würdest du das auch beschwören?« Galt blinzelte und antwortete mit einem lippenlosen Lächeln: »Wenn Ihr das wünscht.« »Das tue ich.« »Ich schwöre bei meinem Leben, dass dieser Übermann Garth ist, Erbprinz von Ordunin, Sohn von Karth und Tarith, und dass ich ihn seit vielen Jahren als solchen kenne, wie alle aus meinem Volk.« »Da sind doch noch ein paar von euch, nicht wahr?« »Ja.« »Werden sie das auch schwören?« »Zweifellos. Larth ist Garths Vetter, und Tand kennt ihn seit sei ner Kindheit.« -37-
Der Baron wandte sich erneut Garth zu. »Warum ließest du mich dies nicht vorher wissen, damit ich dich hätte behandeln können, wie es deinem Rang gebührt?« »Warum hätte ich Euch mit dem Lösegeld eines Prinzen in Ver suchung führen sollen?« »Tust du das nicht jetzt auch?« »Nein, denn diesmal bin ich nicht allein, und überdies weiß mein Volk jetzt, dass Skelleth nicht mehr die mächtige Festung ist, die einst den Angriffen meiner Vorfahren trotzte. Und selbst wenn Ihr uns alle vier gefangennähmet, gäbe es kein Lösegeld, sondern Feuer und Schwert als Antwort. Wie Ihr sicherlich einsehen werdet, schafft das Zahlen von Lösegeld einen schlechten Präze denzfall.« Der Baron zog ein finsteres Gesicht und ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Nach einer Pause nachdenklichen Schweigens sagte er: »Es scheint ganz so, als hättest du in dieser Angelegenheit die besseren Trümpfe; meinen Launen nachzugeben, wäre bei weitem zu kostspielig, also muss ich dich wohl laufen lassen. Indes, wenn du wahrhaftig der regierende Fürst von Ordunin bist, dann gibt es da noch andere Forderungen, die ich stellen könnte. Du erheischst für dein Volk die freie Benutzung von Wegen und Wegerechte für Straßen, über deren Besitzrechte ich zufällig verfüge. Unsere beiden Nationen liegen jedoch genaugenommen noch immer mit einander im Krieg, so dass ich unter normalen Umständen solche Rechte, wie du sie begehrst, nicht gewähren kann, ohne gegen meinen Treueeid als Vasall des Hohen Königs in Kholis zu ver stoßen. Dies muss ich in Betracht ziehen, obwohl es offensichtlich für mich persönlich und für mein Reich von großem Vorteil wäre, und obwohl in dem Krieg zwischen unseren Völkern seit nun mehr drei Jahrhunderten die Waffen schweigen. Hattest du das auch mit bedacht?«
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»Nicht im einzelnen«, antwortete Garth; er zögerte einen Moment lang, und fuhr dann fort: »Ich bin nicht voll vertraut mit den Gesetzen von Eramma, und ich ging davon aus, dass vernünf tige Wesen wie wir schon einen Weg zur Umgehung eines solchen Hindernisses finden würden.« »Und ich denke, das werden wir auch, Garth, ich denke, das werden wir auch.« Der Baron grinste. »Es gibt Bedingungen, unter denen ich einen Separatfrieden schließen kann, ohne die Interven tion des Hohen Königs. Unter der Bedingung nämlich, dass ich deine Kapitulation annehme und du mir den Lehnseid als Vasall schwörst.« »Was?« entfuhr es Garth in höchster Verblüffung. »Ganz recht. Auf diese Weise wäre der Krieg auf elegante Art beendet, und alle Hindernisse, die sein Fortdauern schafft, wären aus dem Weg geräumt. Unter den Bedingungen meiner eigenen Verpflichtung gegenüber dem Hohen König kann ich selbst mich euch nicht ergeben, es sei denn, ich würde von euch im Felde besiegt; ihr aber seid nicht durch eine derartige Verpflichtung in eurer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Wärst du mein Vasall und loyaler Diener, dann lägen unsere beiden Völker nicht länger mit einander im Krieg.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Ferner hät ten – wärst du mein Vasall – deine Untertanen selbstverständlich vollen Zugang, und zwar gänzlich frei von jeglichen Zöllen, zu allen meinen Ländereien. Natürlich müssten auch sie die üblichen Steuern sowie Benutzungsgebühren für einige Straßen entrichten, aber nur in solcher Höhe, wie dies auch meine menschlichen Un tertanen tun müssen. Kurz, dein Ziel, offene Handelsbeziehungen einzurichten, wäre erreicht.« Garth war so schockiert, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte. Nach einer kurzen Pause des Schweigens sagte der Baron: »Nun sag schon, Übermann, ist das so unvernünftig? Du botest
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mir jede Art von vernünftigem Tribut an; ist ein simpler Lehnseid, verbunden mit den daraus sich ergebenden Verpflichtungen, denn etwas so Unvernünftiges? Die hundert Barone von Eramma finden das nicht.« Garth stammelte etwas und verstummte gleich wieder. Nach einem kurzen Moment fasste er sich und er-widerte: »Ich kann Euch darauf nicht sofort eine Antwort geben. Eine solche Ent scheidung kann ich nicht ohne vorherige Beratung mit dem Stadtrat fällen.« Seine anfängliche Verblüffung wich allmählich einem Gefühl wachsenden Zorns; woher nahm dieser Mensch die Dreistigkeit, auch nur in Erwägung zu ziehen, sich zum Herrn über Übermenschen aufschwingen zu können? Trotzdem war es angezeigt, weiter diplomatisch zu bleiben; vielleicht sollte er aus taktischen Gründen erst einmal auf das Ansinnen des Barons ein gehen, ihm sozusagen einen Lippendienst erweisen; später konnte man dann ja immer noch ein vernünftiges Abkommen aus handeln. Jedenfalls bedurfte diese Angelegenheit der Beratung durch den Stadtrat. »Oh? Euer Rat? Na schön, wenn es denn sein muss. Ich hatte ge hofft, wir könnten die Sache gleich hier und jetzt abschließen, aber ich denke, ich kann einen gewissen Aufschub einräumen. Wo ist dieser Rat?« »In Ordunin.« Garth musste sich auf die Zunge beißen, um nicht hinzuzufügen: »Wo denn sonst?« »Natürlich, wo sonst? In dem Fall scheint mir: Je früher du dich auf den Weg nach Ordunin machst, desto besser. Ich gebe dir vier undzwanzig Stunden Zeit, Skelleth über die Wüstenstraße zu verlassen, und du musst mir hier und jetzt schwören, dass du diesem Rat meinen Vorschlag unterbreitest, sobald du in Ordunin eingetroffen bist, und dass du ihn fair und vernünftig vorträgst, so wie ich ihn dir vorgetragen habe. Stimme diesen meinen Be
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dingungen zu, und deine Gefährten dürfen hierbleiben und in Frieden Handel treiben.« Garth unterdrückte den Impuls, dem Ba ron ins Gesicht zu schlagen. Sein Gesichtsausdruck blieb wie immer ruhig und gefasst. Es kostete ihn jedoch erhebliche Mühe zu sagen: »Ich schwöre hiermit, dass ich Euren Vorschlag fair und vernünftig dem Stadtrat vortrage, sobald ich in Ordunin einge troffen bin.« »Gut! Ich denke, damit ist unsere Unterredung beendet; und nun fort mit dir! Ich möchte jetzt mit diesem Händler sprechen.« Der Baron bedeutete ihm mit einer gebieterischen Geste zu verschwinden. Garth zwang sich, seine Wut nicht nach außen dringen zu lassen; er verbeugte sich, machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Die Wachen des Barons wichen hastig vor ihm zur Seite. Der Baron schaute ihm nach, bis er zur Tür hinaus war, und lä chelte selbstzufrieden. Er war sicher, dass der Übermann auf seine Bedingungen eingehen würde; er würde den Lehnseid in dem Glauben schwören, dass er sich damit bloß zu ein paar ernied rigenden Zeremonien und der Entrichtung unbedeutender Steuern verpflichten würde, dass es sich gleichsam um eine ProForma-Unterwerfung handelte. Wie köstlich würde für ihn, Baron Doran von Skelleth, der Augenblick sein, in dem er diesem Mons trum den wahren Grund für diesen Lehnseid enthüllen würde! Schloss dieser Eid doch die Verpflichtung ein, dem Lehnsherrn die gesamte Militärmacht, über die man gebot, zur Verfügung zu stellen. Dann konnte er es endlich wagen, es diesem schwachköp figen Baron von Ur-Dormulk heimzuzahlen! Er würde einen Krieg mit ihm vorn Zaune brechen, und wenn dieser Tölpel mit seinem Heer anrückte, in der Erwartung, Skelleth im Handstreich zu nehmen, dann würde er sein blaues Wunder erleben! Nicht ein ar mseliges Häuflein schlecht ausgebildeter Bauern würde seinen
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Angriff erwarten, sondern eine Streitmacht von gut gerüsteten Übermännern und Kriegstieren! Nie wieder würde dieser fette Trottel über Doran von Skelleth lachen! Nie wieder würde man es wagen, ihn, Doran von Skelleth, zu ignorieren und der Lächerlich keit preiszugeben, indem man ihm bei den Zehnjahresversamm lungen in Kholis den Platz am Ende des Tisches des Hohen Königs zuwies! Ein Heer von hundert Übermännern in voller Rüstung, mit hundert Kriegstieren, würde ihn zum mächtigsten Baron in Eramma machen. Das war der Tribut, den er aus diesem absurden Handel herauszuschlagen gedachte! Als die Tür hinter Garth ins Schloss gefallen war, riss er sich aus seinen Tagträumereien von Macht und Ruhm heraus und winkte Herrenmer zu sich. Er flüsterte seinem Hauptmann ein paar Worte ins Ohr und wandte dann seine Aufmerksamkeit Galt zu. »So, Händler, du strebst also danach, Reichtum über unsere beiden Länder zu bringen. Was sähest du als eine gerechte Steuer auf eure Einnahmen an?« Als Galt sich erhob, um mit den Verhandlungen zu beginnen, entfernte sich Herrenmer aus dem Raum. Der Übermann schenkte ihm keine Beachtung. Einen Moment später hörte Garth, als er auf dem Rückweg zu seinen beiden Gefährten gerade den Marktplatz überquerte, das Klirren von Metall und das dumpfe Getrappel von sich eilig nä hernden Schritten hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er Herren mer, der hinter ihm hergerannt kam. »Suchst du mich?« Der Hauptmann verschnaufte einen Moment; dann antwortete er: »Ja. Ich habe Befehl, dich bis zur Stadtmauer zu begleiten.« »Ich habe eine Frist von vierundzwanzig Stunden.«
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»Ich weiß; aber ich soll dich nicht aus den Augen lassen, bis du Skelleth verlassen hast.« Übermänner zeigen Wut nicht in ihrem Gesichtsausdruck, eine natürliche Tarnung, die in der Regel eine gute Überlebenshilfe ist, da sie es erlaubt, das Element der Überraschung selbst im Zustand höchster Wut ohne geringste Vorwarnung einzusetzen. Der vielleicht einzige Nachteil ist der, dass sie selbst dadurch so gut wie unfähig sind, in den Gesichtern anderer Arten, zum Beispiel der Menschen, zu lesen. In diesem speziellen Moment war es ent schieden zum Besten, dass Herrenmer Garths unbeteiligten Gesichtsausdruck als gleichmütiges und gelassenes Betrachten der Situation deutete; hätte er gewusst, welch rasende Wut in dem Übermann brodelte, er hätte sofort sein Schwert gezückt und nach Verstärkung gerufen. So aber zuckte er nur die Achseln und wandte den Blick von dem abstoßenden Gesicht des Übermannes ab: Er schaute lieber den zerlumpten Bauern beim Feilschen zu, als dass er den lederhäutigen Schädel dieses Ungeheuers anstarr te. Was Garth so aufgebracht hatte, war die offensichtliche Undank barkeit des Barons, mit der er auf die Verheißung großen Reich tums reagiert hatte, zumal er sich diesen doch durch nichts verdient hatte. Noch mehr empört hatte ihn sein Misstrauen: Wel che Dreistigkeit, von Galt zu verlangen, die Richtigkeit seiner, Garths, Behauptung, er sei Garth, Erbprinz von Ordunin, in sei ner, Garths, Gegenwart zu beschwören! Am meisten erzürnt hatte ihn jedoch das freche Ansinnen, er, Garth von Ordunin, solle diesem armseligen Tyrannen den Lehnseid schwören, und die em pörende Art und Weise, in der er das Gespräch beendet hatte. Und das alles hatte er zähneknirschend hingenommen und der Versuchung widerstanden, den Dolch aus seinem Stiefel zu reißen und ihn dem Mann ins Herz zu stoßen oder ihn einfach in Stücke zu reißen, nur um sich jetzt auch noch diese neuerliche Beleidi -43-
gung gefallen lassen zu müssen! Er sollte aus der Stadt eskortiert werden wie ein Dieb oder irgendein sonstiges unerwünschtes Element! Das beraubte ihn seiner ganzen Persönlichkeit und Würde, und es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Diese Behandlung konnte er nicht stillschweigend hinnehmen! So konnte und würde er nicht nach Ordunin zurückkommen, aus Skelleth hinausgeworfen, bis er sich zum Vasallen eines schur kischen Verrückten erklärte, zu dem Schwur genötigt, den Stadtrat um die Erlaubnis anzubetteln, sich selbst und sein Volk erniedrigen zu dürfen! Er würde es dem Baron irgendwie heim zahlen. Leider konnte er das nicht offen tun; der Baron war eine Schlüsselfigur für die Entwicklung friedlicher Handelsbezie hungen. Wenn Garth ihn tötete oder ihm auf andere Weise Leid zufügte, würde er den Grimm von ganz Eramma heraufbeschwö ren, nicht nur über sich, sondern über sein ganzes Volk. Man würde die Übermänner als Räuber und Halunken beschimpfen. Vielleicht würde ein solcher Vorfall sogar die seit langem schlum mernden, alten Rassenkriege wieder auf-flammen lassen. Ein raf finiert durchgeführter Giftmord an dem Baron würde vielleicht unentdeckt bleiben und dem Aufbau friedlicher Handelsbezie hungen keinen Abbruch tun, aber eine solche Lösung war dafür zutiefst unbefriedigend. Der Baron sollte wissen, was er mit seiner Unverschämtheit angerichtet hatte. Er sollte wissen, wofür er be straft wurde. Gab es vielleicht eine Möglichkeit, den Wahnsinn des Barons auszunützen? Wie er bei seinem früheren Aufenthalt in Skelleth gesehen hatte und wie ganz Skelleth wusste, verfiel der Baron in regelmäßigen Abständen in Depressionen von solcher Heftigkeit, dass er außerstande war, sich zu bewegen, geschweige denn ohne
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fremde Hilfe Nahrung zu sich zu nehmen, so dass er wie ein Säugling gepflegt und umsorgt werden musste, bis der Anfall vor über war. In den Phasen zwischen diesen Depressionsschüben schwankten seine Stimmungen zwischen wacher Intelligenz — wie er sie heute an den Tag gelegt hatte — und mürrischer Verschlossenheit oder wütendem Jähzorn. Garth hatte ihn in allen diesen Stimmungen erlebt, wenngleich nicht lange genug, um fest stellen zu können, ob ihnen irgendein Muster zugrunde lag. Er hatte jedoch gehört, wie jemand sagte, die Phasen wiederholten sich in einem alljährlichen Zyklus, und am schlimmsten stünde es mit dem Baron im Frühling. Alles dies ging ihm durch den Kopf, während er über den Platz zu Larth und Tand ging; Herrenmer blieb an seiner Seite, sagte aber nichts. Garth beugte sich über seine Kameraden, die auf der Erde saßen und sich leise miteinander unterhielten, da sie im Moment keine Kundschaft hatten. »Ich muss zurück nach Ordunin; es gibt da einige Dinge, die ich dem Rat vortragen muss.« Die zwei blickten verblüfft auf. »Sollen wir zusammenpacken?« fragte Larth. »Nein; der Baron fordert nur meine Abreise. Ihr zwei und Galt werdet hier bleiben, bis ihr alle Waren verkauft und Abma chungen über zukünftige Karawanen getroffen habt. Galt über nimmt die Verantwortung; Larth, du übernimmst den Verkauf meines Anteils an den Waren und lieferst den Erlös bei Kyrith ab.« »Bei Kyrith, deinem Weib? Wirst du denn nicht in Ordunin sein?« Garth warf einen Blick auf Herrenmer, der in Hörweite stand. »Zerbrecht euch darüber nicht den Kopf.« »Sollst du denn sofort aufbrechen?« fragte Larth.
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»Ich habe Zeit bis morgen, aber es sind da noch ein paar andere Dinge, um die ich mich kümmern muss, und ich werde höchst wahrscheinlich noch vor Ende des Jahres wieder zu Hause sein.« In Wirklichkeit wusste er nicht, wann er wieder zu Hause sein würde, aber da noch immer Sommer war und das Jahr mit der Frühlings-Tagundnachtgleiche endete, konnte er ziemlich sicher sein, dass er es vorher schaffen würde. Auch wusste er bis jetzt noch nicht, wohin er gehen würde; er wusste nur, dass es nicht Ordunin sein würde. Der Baron hatte von ihm verlangt, Skelleth zu verlassen und zu schwören, dass er mit dem Rat sprechen würde, sobald er in Ordunin eintraf — aber er hatte nicht daran gedacht, sicherzustellen, dass er auch tatsächlich nach Ordunin gehen würde. Garth hatte nicht die Absicht, unter den gegebenen Umständen nach Ordunin zurückzukehren — ein weiteres Ärgernis, das dem Baron zuzuschreiben war. Er hätte das seinen Gefährten gesagt und ihnen die ganze Situation erklärt, wenn Herrenmer nicht so dicht dabei-gestanden und für seinen Herrn die Ohren gespitzt hätte. Er blieb noch einen Moment lang stehen, aber da ihm nichts mehr einfiel, was er seinen Gefährten noch hätte sagen sollen, und da weder Larth noch Tand Anstalten machten, irgendwelche wei teren Fragen zu stellen, machte er auf dem Absatz kehrt und mar schierte in Richtung Gasthof des Königs; dabei legte er einen sol chen Schritt vor, dass Herrenmer fast rennen musste, um mit ihm mitzuhalten. Im Gasthof des Königs angekommen, setzte er sich nicht so gleich zu dem Vergessenen König an den Tisch, sondern nahm an einem Tisch in der Nähe des Fensters Platz und starrte hinaus auf den Unrat, der die Gasse und die Rückfront des Hauses des Bar ons säumte. Er saß einfach da und goß sich einen Krug guten küh
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len Biers nach dem anderen die Kehle hinunter. Herrenmer ver suchte, sich an denselben Tisch zu setzen, aber Garth packte ihn mit einer Hand beim Kragen und setzte ihn ungeachtet seines wü tenden Protests an einen anderen Tisch. Der Hauptmann meckerte noch ein wenig, doch dann gab er seinen Widerstand auf und beschränkte sich darauf, dem Übermann wütende Blicke zuzu werfen. Kurz darauf gesellte sich Saram zu ihm, der noch immer an dem Tisch in der hinteren Ecke gesessen hatte, und die beiden Männer diskutierten über die Ereignisse des Vormittags, dergestalt, dass Herrenmer die Fakten von der Unterredung des Übermanns mit dem Baron lieferte und Saram sie mit Kommenta ren bezüglich der verschlagenen Natur des Barons und des da hinter steckenden Wahnsinns garnierte. Alsdann ließ er sich über die Vorteile aus, die es bringen würde, wenn das Gold aus dem Norden ins Dorf käme. Es war bereits weit nach Mittag, als Garth schließlich seine Ent scheidung fällte: Er würde keinem Herrn, egal wem, irgendeinen Untertaneneid schwören, aber er hatte keinen Zweifel, dass der Dienst, den er dem Vergessenen König erweisen sollte, weniger schlimm für ihn sein würde als der, den er für den Baron tun sollte. Er würde also einen neuen Handel mit dem alten Mann ver einbaren, dessen Erfüllung ihn zweifellos in irgendein fremdes Reich führen und ihn somit erst einmal der Verpflichtung ent heben würde, unverzüglich nach Ordunin zurückzukehren. Und sicherlich würde sich da-bei irgend etwas ergeben, das ihm den Weg zu einer befriedigenden Lösung aus seiner gegenwärtigen verzwickten Lage aufzeigte. Die Stunden verstrichen, die Sonnenstrahlen waren über den Fußboden gewandert und fielen schon in den hintersten Winkel des Kamins an der Ostseite des Schankraums, und mehrere ande
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re Gäste waren hereingekommen, um sich Gesellschaft zu suchen und ein gemütliches Plätzchen zum Entspannen oder auch nur, um im Stehen einen Schoppen zu trinken und wieder zu gehen. Garth schenkte keinem von ihnen Beachtung, als er sich schließ lich erhob und in die Ecke hinüberging, in der der alte Mann an seinem Tisch saß, immer noch in der selben Haltung wie am Morgen, als wären bloß Sekunden vergangen, seit der Übermann hinausgegangen war und nicht ein halber Tag. Herrenmer sah, dass Garth aufstand, und erhob sich ebenfalls, um ihm zu folgen. Zu seinem Erstaunen musste er jedoch fest stellen, dass seine Füße sich weigerten, ihm zu gehorchen; er konnte stehen und sich ungehindert nach links und nach rechts bewegen, doch sobald er den Versuch unternahm, einen Schritt in die Richtung zu tun, in die der Übermann ging, schienen seine Stiefel am Boden festzukleben. Er starrte auf Garths Rücken, dann ließ er seinen Blick weiter schweifen auf die gelb vermummte Gestalt, die immer noch re gungslos in der Ecke saß. Der ausgefranste Rand der Kapuze des alten Mannes flatterte, obgleich in der Taverne kein Wind ging und auch kein Fenster und keine Tür offen standen, durch die ein Luftzug hätte entstehen können. Herrenmer sah einen Funken Licht in einem verborgenen Auge aufblitzen. Er konnte das Auge selbst nicht sehen, nur das leise, flüchtige Funkeln in der dunklen Höhle; er fühlte, wie ihm ein eiskalter Schauer durch den Körper rieselte, und ihm verging jegliche Lust, sich dem seltsamen alten Mann zu nähern. Er setzte sich wieder an seinen Tisch; schließlich, beruhigte er sich, gab es nur die eine Tür. Von seinem Platz aus konnte er Garth gut im Auge behalten, ohne Angst haben zu müssen, dass der Ober-mann durch irgendeinen anderen Ausgang entschlüpfte.
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Erneut lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, und er beschloss, auf die weitere Beobachtung des Übermanns zu ver zichten; er würde sich damit begnügen, die Tür im Auge zu behal ten. Er wandte sich wieder Saram zu, der das kurze Zwischenspiel mit großem Interesse verfolgt hatte, jetzt aber fortfuhr, seinen frü heren Vorgesetzten mit der unwahrscheinlichen Geschichte von seiner derzeitigen Geliebten zu ergötzen, worin ihn Garths Auf stehen unterbrochen hatte. Weder Saram noch Herrenmer war indes aufgefallen, dass es da noch jemanden gab, der des Hauptmanns missglückten Versuch, dem Übermann zu folgen, ebenfalls beobachtet hatte, und der nun mit Interesse die Unterhaltung Garths mit der geheimnisvollen gelb gekleideten Gestalt verfolgte. Dieser dritte Beobachter, ein ernster alter Mann, dessen Kleidung die Farbe von getrocknetem Blut hatte, saß unweit vom Kamin und tat so, als gälte sein aus schließliches Interesse der Einnahme seines Mittagstrunkes; sein Blick jedoch huschte flink hin und her und ließ sich nichts von dem entgehen, was in der Schankstube vor sich ging, kehrte aber immer wieder zu dem ungleichen Paar in der Ecke zurück, dessen Gespräch noch gerade innerhalb seiner Hörweite stattfand. Garth selbst hatte von alledem überhaupt nichts mitbekommen, da sein Blick in die entgegengesetzte Richtung ging. Er nahm gegenüber dem Vergessenen König Platz und starrte für einen Moment auf die zerfranste Kapuze, die das Gesicht des Alten in Schatten tauchte; ihre Farbe war in der Düsternis der Ecke kaum zu erkennen, und der Übermann fragte sich, wie Gelb so dunkel erscheinen konnte. Aus seinem Blickwinkel sah er keine Bewe gung, kein Aufglimmen von Licht, sondern nur Schatten und den strähnigen Bart, der vom welken Kinn des alten Mannes herun terhing. »Sei gegrüßt, o König!« sagte er.
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»Sei gegrüßt, Garth!« Die schreckliche Stimme des Alten war wie immer eine unangenehme Überraschung. »Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht.« Der alte Mann gab keine Antwort, aber Garth glaubte ein winziges Nicken be merkt zu haben. »Ich würde gern mehr über die Art des Dienstes wissen, für den du mich einzuspannen gedenkst.« Ein paar Sekunden lang herrschte nachdenkliches Schweigen, dann erwiderte der alte Mann: »Ich brauche gewisse Gegenstände. Welche, vermag ich im Moment nicht exakt zu sagen.« Garth, dessen Wut auf den Baron noch immer nicht ganz ver raucht war, spürte, wie ob der schwammigen Erklärung des Alten erneut Ärger in ihm hochwallte. »Höre, alter Mann, ich habe keine Lust, meine, Zeit damit zu verschwenden, dir die Wörter einzeln aus der Nase zu ziehen. Ich will mich nicht zu deinem Dienst ver pflichten, sondern ich suche im Moment einen Weg, mir die Zeit zu vertreiben, bis mir eine Idee gekommen ist, was für eine Art von Antwort ich eurem Baron von Skelleth präsentieren werde. Was sind das für Gegen-stände, und wo finde ich sie? Willst du, dass ich sie für dich hole?« Wieder schwieg der König eine Zeit lang, und Garths Gereizt heit wuchs. Schließlich sagte der alte Mann: »Du sollst mir alles bringen, was du auf den sieben Hochaltären der sieben Tempel in Dûsarra findest.« »Dûsarra?« Der Name war ihm unbekannt. »Eine Stadt in Ne kutta, weit im Westen.« »Und werde ich auf diesen Altären das finden, was du für deine geheimnisvollen kosmischen Veränderungen brauchst?« »Du wirst die Lösung für deine Probleme mit Doran von Skelleth finden: das sollte dir fürs erste genügen.«
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»Was? Wird einer dieser Altargegenstände mir irgendein Zau bermittel gegen diesen Verrückten in die Hand geben, oder wie soll ich das verstehen? Du drückst dich absichtlich unklar aus.« Der alte Mann zuckte die Achseln. Garth lehnte sich zurück und dachte lange nach. Es war klar, dass er dem Vergessenen König keine weiteren Erklärungen würde entlocken können, und die Aufgabe, die er ihm gestellt hatte, war höchst rätselhaft. Andererseits stellte eine solche Auf gabe zweifellos eine interessante Ablenkung dar, und der alte Mann hatte gesagt, sie würde ihm eine Lösung seiner Probleme bescheren — vermutlich irgendein Mittel, mit dem er den Baron zu vernünftigem Benehmen zwingen konnte, oder aber eines, das ihn instand setzte, auf befriedigende Weise Rache zu üben, ohne dabei das noch junge Pflänzchen des Handels zu zerstören. Er hatte den alten Mann noch nie bei einer Lüge ertappt, und es bestand kein Zweifel, dass er Wissen besaß, das über das Normale hinausging. Und welche andere Wahl blieb ihm? Nach Ordunin zurückkeh ren konnte er unter den gegebenen Umständen auf keinen Fall. Bis er irgendeinen Ausweg aus seinem Schwur gegenüber dem Baron gefunden hatte, hatte er nichts Besseres zu tun. Irgendeinen hane büchenen Botengang über die halbe Welt durchzuführen, war eine willkommene Ablenkung. Und letztlich und endlich hatte er ge nau das erwartet. Die Worte des alten Mannes, geheimnisvoll und verschwommen, wie sie waren, machten das Ganze nur um so reizvoller. Doch bereiteten sie ihm auch irgendwie Unbehagen. »Gut. Ich werde es tun«, sagte er. »Ich werde diese Stadt finden, von der du sprichst, und das rauben, was ich auf den sieben Altären finde; und dann werden wir ja sehen, ob meine Probleme dadurch gelöst sind.« -51-
Der Vergessene König lächelte hinter seinem Bart. Der alte Mann in Dunkelrot neben dem Kamin nickte zufrieden. Drei Tage später, in einem fensterlosen, lampenerhellten Raum mit goldenen Wandbehängen irgendwo in der von schwarzen Mauern umgebenen Stadt Dûsarra, saß der Hohepriester des Ag had, schlürfte bitteren Rotwein und studierte einen alten Text. Mit raschelndem Gewand trat eine seiner Schülerinnen in den Raum und wartete stehend, bis ihr erhabener Meister geruhen würde, ihr Beachtung zu schenken. Das Warten war nur von kurzer Dauer; der Hohepriester ließ sein Buch sinken und fragte: »Ja, mein Kind?« »Darsen von Skelleth hat eine Botschaft gesandt.« Das Mädchen hielt einen schmalen Streifen dünnen Pergaments hoch, von der Art, wie man sie am Bein einer Brieftaube befestigte. Der Hohepriester streckte die Hand aus, und die Altardienerin übergab ihm die Botschaft. Als er sie gelesen hatte, zerknüllte er sie in seiner großen braunen Hand. »Wir müssen diesen angehenden Besucher sehen. Geh zu Hag gat und sag ihm, er solle sein Sehglas bereithalten. « Die Altardienerin verneigte sich und verschwand mit einem er neuten Rascheln ihres Gewandes durch einen Schlitz im Vorhang. Der Hohepriester nahm sein Buch wieder auf, warf einen Blick auf die Seitenzahl, legte einen dünnen Streifen bestickten Samtes ein, der ihm als Lesezeichen diente, klappte das Buch zu und schob es in ein Regal neben ein Dutzend andere. Fünfzehn Minuten später schlenderte der Priester in einen anderen fensterlosen Raum; dieser war mit schwarzen und dun kelroten Tapeten ausgeschlagen, deren düstere Schwermut durch das Licht der einzigen riesigen Kerze kaum gemildert wurde. Ein dicker Mann mittleren Alters mit einer weiten schwarzen Robe
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stand darin, in den Händen eine große kristallene Kugel haltend. Die Altardienerin kniete neben ihm, das Gesicht im Schatten ihrer Kapuze verbergend. »Sie hat dir gesagt, was ich zu sehen wünsche?« Der Mann nick te und hielt dem Hohepriester die Kugel hin. Der Hohepriester nahm die Kugel, hielt sie mit beiden Händen und schaute hinein. Die beiden anderen blieben mucksmäuschen still. Tief im Innern der Kugel begann sich der flackernde Wider schein der Kerze zu verzerren und sich zu dem Bild eines sonnen beschienenen Pfades zu formen, einem schmalen Weg, der durch eine Graslandschaft führte. Während der Hohepriester schaute, kam eine Gestalt den golden schimmernden Pfad herabgeritten. Die Gestalt, die auf einem riesenhaften katzenartigen schwarzen Tier saß und einen Helm, einen Brustpanzer und einen wehenden braunen Umhang trug, war die eines rotäugigen Übermannes. Der Priester studierte die Vision mehrere Minuten, bevor er die Kugel ihrem Besitzer zurückgab. »Dieser Übermann könnte für uns von Nutzen sein, von großem Nutzen sogar. Du, Haggat, wirst mir alles berichten, was du über ihn in Erfahrung bringen kannst. Du darfst diese Altardienerin als dein persönliches Eigentum behalten, als Gehilfin bei dieser Sache und als Belohnung. Verstanden?« Der Mann nickte; eine Hand glitt hinunter, zog die Kapuze der Altardienerin zur Seite und streichelte besitzergreifend ihr nacht schwarzes Haar. Die andere Hand hielt die Kristallkugel, die selt sam blitzte und glitzerte. Trotz des trüben flackernden Kerzen lichts war deutlich die Furcht zu sehen, die dem Mädchen im Gesicht stand, als es zu seinem neuen Herrn aufblickte. Der Hohepriester wandte sich um und ging, in tiefes Nachden ken versunken; obwohl Haggat nicht im Zentrum seiner Überle -53-
gungen stand, wurde ihm einmal mehr bewusst, was für eine angenehme Gesellschaft er doch war: ein Mann, dem die Zunge herausgeschnitten war, konnte nicht ziellos daherplappern, wie es so viele taten. Er riss sich aus derlei Betrachtungen los und überlegte, was mit diesem diebischen, unverschämten Übermann geschehen würde.
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Kapitel 4 Die Sonne stand tief im Westen; ihr Rot, so leuchtend und in tensiv wie Garths Augen, verwandelte die schmalen Wolkenfetzen in ein flammendes Gespinst aus Licht und Schatten. Der Über mann betrachtete voller Bewunderung die unheimlich anmutende Schönheit der Szene. Die Farben schienen strahlender, feuriger als die Sonnenuntergänge der Nordwüste. Er überlegte, wie dieses Phänomen zu erklären war. Sein Reittier schien unbeeindruckt. Es hielt den Kopf gesenkt, und seine katzenartigen Ohren waren gespitzt, ein deutliches Zei chen, dass ihm die Umgebung missfiel. Garth konnte ganz schwach das Knirschen von vulkanischer Asche unter den riesigen weichen Tatzen des Kriegstieres hören — ein ziemlich bemerkens werter Umstand, bewegte sich das Tier normalerweise doch ge nauso lautlos vorwärts wie jede andere niedrigere Katzenart. Kein Wunder dann, dass es dieses seltsame neue Land nicht mochte! Das Geräusch seiner eigenen Schritte, das ihm ansonsten fremd war, erinnerte es fortwährend daran, dass es weit weg war von zu Hause und von allem, was ihm vertraut war. Vor ihnen hob sich dunkel und bedrohlich ein weiterer Gebirgs zug gegen den flammend roten Abendhimmel ab. Während ihrer vierzehntägigen Reise, seit sie von Skelleth aufgebrochen waren, hatten sie schon eine Gebirgskette überquert, die höchste und schroffste, die Garth jemals gesehen hatte; sie hatten einen schma len pass überquert und dann einen Umweg um den südlichen Ausläufer einer zweiten niedrigeren Kette gemacht. Und nun nä herten sie sich einer dritten Barriere; diese war aktiv vulkanisch, wie der Rauch bewies, der durch die Wolken zog. Ein weiterer klarer Beweis dafür, dass erst jüngst ein kleinerer Ausbruch statt
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gefunden hatte, war die dünne Schicht aus frischer Asche, die allenthalben die Landschaft überzog. Der groben Landkarte nach, die ihm der Vergessene König mit auf den Weg gegeben hatte, lag die Stadt Dûsarra irgendwo in den Vorbergen dieser Gebirgskette, doch bis jetzt vermochte er noch kein Zeichen von ihr zu entdecken. Er fragte sich, wie in einer sol chen Gegend Menschen leben konnten, ständig bedroht von Feuer und Vernichtung; aber es stand außer Frage, dass hier welche leb ten: Der Weg, auf dem er ritt, schlängelte sich schon seit einer Weile durch fruchtbares, kunstvoll bewässertes Ackerland, auf dem ihm unbekannte Früchte wuchsen. Ihm war aufgefallen, dass die Dächer der Bauernhäuser alle mit Ziegeln oder Zinn gedeckt waren statt mit dem sonst üblichen Stroh. Der Grund war klar: Stroh geriet zu leicht in Brand durch die Funken, die der ständig von den Bergen herabwehende Wind mit sich trug; eine warme trockene Brise, die schwanger war von seltsamen neuen Gerüchen, wie er sie noch nie zuvor gerochen hatte. Er war ohne jegliche Zwischenfälle bis hierher gelangt, worüber er sich freute. Nachdem er sich zu dieser Reise bereit erklärt hatte, war es eine Sache von kaum mehr als einer Stunde gewesen, sich eine Auswahl von Taschen und Beuteln zu besorgen, welche er zum Transport der Altargegenstände benötigte, sowie Proviant und Wasser für eine Woche; letztere hatte er unterwegs durch Jagen und kleine Diebstähle von Feldern und aus Brunnen ergänzt. Dergestalt gerüstet, hatte er sich zum Nordtor hinaus eskortieren lassen. Alsdann war er um die Stadt herum zum Westtor gelaufen, wo er Koros und seine Waffen abgeholt hatte. Danach war er weiter um Skelleth herumgeritten, bis er die Süd weststraße erreicht hatte. Und einer Abzweigung derselben folgte er jetzt noch immer. Anders als seine erste Reise im Dienst des Vergessenen Königs, die ihn durch karges, nur von vereinzelten kleinen Barbarenstämmen bewohntes Land geführt hatte, hatte -56-
ihn diese durch bewohntes, kultiviertes Land geführt, wie er es Zuvor nie gesehen hatte. Er war zwei Dutzend Dörfern ausgewi chen und hatte einen weiten Bogen um eine riesige ummauerte Stadt geschlagen – Ur-Dormulk geheißen, wie aus der Karte des alten Mannes zu ersehen war –, bevor er den ersten Gebirgszug überquert hatte, der die Grenze zwischen Eramma und Nekutta bildete. Fünfmal hatte er bisher Koros während der Nacht freien Lauf gelassen, um dem Kriegstier die Möglichkeit zu geben, sich selbst Nahrung zu jagen; und jedesmal hatte er sich Sorgen ge macht, dass das Tier vielleicht kein Fleisch nach seinem Ge schmack fände außer menschlichem, in Gestalt von schlafenden Bauern, da in solch dichtbesiedelten Gebieten wenig Wild zu finden war. Zum Glück schien Koros sich, in Ermangelung anderen jagdbaren Waidwerks, mit herumstreunenden Ziegen und Schafen begnügt zu haben; Garth war froh, dass das Tier sich an seine Ausbildung hielt und es vermied, humanoide Wesen zu töten – wenn es sich vermeiden ließ. Es hatte gelegentlich auch Menschen verspeist, als sich nichts anderes Essbares hatte finden lassen, und es hatte selbstverständlich auch die gefressen, die es in Notwehr getötet hatte, aber es wusste sehr wohl, dass dies Aus nahmen waren und Ausnahmen zu bleiben hatten. Es war ein äußerst nützliches Tier, Produkt tausendjähriger Aus lesezucht und magischer Formung, aber sein unersättlicher Appe tit konnte sehr lästig sein. Für gewöhnlich war es sehr gehorsam, aber seine Loyalität nahm in dem Maße ab, wie sein Hunger zu nahm, und Garth wusste, dass fünf Tage ohne Fressen ausreichten (normalerweise fraß es alle drei Tage), es in eine Bestie zu verwandeln, die bereit war, alles zu verschlingen, was sich beweg te – einschließlich ihres Herrn. In der vergangenen Nacht hatte es zwei dicke Ziegen vertilgt, und normalerweise war es mit frisch gefülltem Bauch sanft wie ein Stubenkätzchen; heute jedoch schien es durch die herbe Land -57-
schaft und das Knirschen der Asche unter seinen Tatzen ver stimmt, und als wieder einmal eine Rauchfahne in den West himmel stieg, stieß es aus tiefer Kehle ein leises Knurren hervor. Garth sah den Rauch, und plötzlich fiel ihm auf, dass er von einem Punkt zwischen zwei Berggipfeln aufgestiegen war; er starrte auf die zerklüfteten schwarzen Berge und glaubte zwischen den unregelmäßigen Bauwerken der Natur die Wölbung einer Kuppel zu erkennen. Die Schatten verdunkelten noch alle Farbe und alle Einzelheiten, aber je länger er hinschaute, desto über zeugter war er, dass sich in diesen düsteren Bergen tatsächlich zu mindest ein von Menschenhand geschaffenes Bauwerk befand. Er rief das Wort, das Koros als das Kommando zum Stehenbleiben kannte, da selbst der geschmeidige Gang des Kriegstieres ihn noch so schüttelte, dass es schwierig für ihn war, auf eine so große Ent fernung den Blick auf einen winzigen Punkt zu konzentrieren. Ja, kein Zweifel, da war etwas. Was, vermochte er nicht genau zu erkennen, da die Sonne jetzt bereits hinter den höchsten Gipfeln verschwand und es schwieriger denn je war, Einzelheiten auszumachen. Er ließ den Blick umherschweifen, damit sich seine Augen erholen konnten, und bemerkte einen Bauern, der in etwa hundert Schritt Entfernung auf seine Hacke gestützt stand und ihn und sein Kriegstier neugierig musterte. »Ho! Bauer!« rief er. Der Mann zeigte keine Reaktion. »Komm her! Ich möchte mit dir sprechen!« Er winkte dem Bau ern zu. Der Bauer blickte sich um, wie als wolle er sich vergewissern, ob der Übermann nicht vielleicht jemand anderen meinte, obgleich weit und breit keine andere Menschenseele zu sehen war, nur sei ne eigenen zwanzig Morgen Landes und der leere Weg. Dann zuckte er die Achseln und kam herübergeschlendert, die Hacke -58-
lässig hinter sich her ziehend. Ein Dutzend Schritt vor Garth blieb er stehen. »Ist das Dûsarra, Bauer?« Garth zeigte auf die Stelle, wo er die Kuppel gesehen hatte. Der Bauer folgte mit seinem Blick dem ausgestreckten Finger und antwortete: »Ich glaube, ja.« Sein harter gutturaler Akzent klang fremd in Garths Ohren, aber die Worte waren klar zu ver stehen. »Wie weit ist es bis dorthin?« Der Bauer zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Du bist ein Übermann, wie ich sehe, aber was ist das für ein Tier, auf dem du da reitest?« Er musterte Koros eingehend, von den schimmernden drei Zoll langen Fangzähnen in seinem Maul bis zur Spitze seines peitschen-den Schweifes; und von seiner glänzenden schwarzen Schulter bis zu seinen riesigen Tatzen. Mit seiner Länge von gut achtzehn Fuß erinnerte das Tier stark an einen übergroßen Pan ther, wenngleich es ein wenig anders proportioniert war, um sei nem größeren Rumpf mehr Halt zu geben. Es hatte die goldenen Schlitzaugen, die spitzen Ohren und den schwarzen Schnauzbart einer Katze, dazu einen langen schlanken Schweif; aber kein Pan ther hatte solch furchterregende Fangzähne, und sowohl das Gesicht als auch die Beine wirkten seltsam langgezogen: Es war fast so groß wie der Bauer. Sein ganzer Körper war von einem tiefen Schwarz, ohne die geringste Farbschattierung und ohne auch nur ein einziges graues Haar; Muskelstränge malten sich in sanften Wellen unter dem makellosen Fell ab. Es hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten, das volle Gewicht des gepanzerten Übermanns und seiner Vorräte zu tragen. »Es ist ein Kriegstier.« Koros stieß ein tiefes Knurren aus. Der Bauer schien mit einem Mal weniger selbstsicher. -59-
Er hatte angenommen, dass jedes Tier, das als Lasttier diente, egal, wie furchterregend es auch aussehen mochte, harmlos und fügsam sein musste – aber kein friedlicher Ochse oder launische Karrenziege gab jemals ein solches Knurren von sich. In erheblich freundlicherem Ton als vorher sagte er: »Dûsarra liegt zehn Mei len von hier, Herr. Ihr müsst diesem Weg weiter folgen; vom Kreuzweg bei Weideth sind es dann noch drei Meilen.« »Kreuzweg?« »Ja. Er ist aber ohne Bedeutung; um nach Dûsarra zu gelangen, müsst Ihr auf diesem Weg bleiben und dürft nicht abbiegen.« »Was ist Weideth?« »Das Dorf an der Wegkreuzung; eine kleine Stadt ohne Mauern. Ihr werdet dort keine Schwierigkeiten haben.« Garth war sich da weniger sicher als sein Informant. Dieser Mann schien einen Übermann und ein Kriegstier ja mit ziemlicher Gelassenheit aufzunehmen, aber würde das auch ein ganzes Dorf tun? »Gibt es keinen Umweg um das Dorf? Ich möchte nicht gesehen werden.« »Einen Umweg? Nein, mein Herr, nicht dass ich wüsste; das Ge lände in der Gegend dort ist sehr rau, und Weideth liegt in einem Engpass, direkt auf dem Weg. Es ist schon beinahe ein Wunder, dass man keinen Wegzoll verlangt.« »Ich verstehe. Vielen Dank, Mann.« Der Bauer verbeugte sich und trat zurück, und als Garth keine weitere Bemerkung machte und auch keine Anstalten, ihn aufzu halten, wandte er sich um und entfernte sich eiligen Schrittes. Dieses Dorf, dachte Garth, als er Koros antrieb, kam äußerst un gelegen. Er durfte es nicht riskieren, durch ein Umgehen des Dorfes den Weg zu verlieren; er musste hindurchreiten und hof -60-
fen, dass sich das Aufsehen, das er mit Sicherheit erregen würde, in Grenzen hielt. Zehn Meilen bis Dûsarra, und von Weideth aus noch drei, hatte der Mann gesagt; das bedeutete, dass es bis Weideth noch sieben Meilen waren. Sieben Meilen, das bedeutete einen Ritt von zwei bis drei Stunden, vielleicht auch ein bisschen mehr, wenn das Ge lände unwegsam war; wenn er jetzt weiterritt, würde er das Dorf nach Einbruch der Dunkelheit passieren und mitten in der Nacht in Dûsarra ankommen. Hielt er aber an und schlug hier sein Nachtlager auf, würde er am Mittag des nächsten Tages ankom men. Mittag war kaum die richtige Zeit, um sich unbemerkt durch ein Dorf zu schleichen, es war aber auch nicht der geeignete Zeit punkt für einen unauffälligen Einzug in Dûsarra. Er war noch nicht müde, und Koros war fürs erste gesättigt; er würde also keine Probleme bekommen, wenn er seine Reise ohne weiteren Verzug fortsetzte. Wenn er schon ein Dieb war, dann wollte er auch in der Nacht ankommen, wie sich das für einen Dieb ge ziemte. Er gab Koros das Kommando zum Trab, und das Kriegs tier beschleunigte seine Gangart, das einzige Geräusch das leise Knirschen von Asche unter seinen Tatzen. Das Licht des zunehmenden Mondes machte es Garth leicht, dem Weg zu folgen, auch nachdem die Sonne ganz untergegangen war, obgleich es nicht unbedingt notwendig war, ihn zu sehen, da ein Abweichen vom Weg nach beiden Seiten bedeuten würde, in das gut zwei Fuß hohe Spätsommergras zu geraten, das den Pfad säumte. Außer dem blassen Licht des Mondes sah Garth noch einen rötlich flackernden Schein über den scheinbar stetig höher wachsenden Berggipfeln — Vulkanfeuer natürlich. Er begann Ko ros‘ Abneigung gegen diese Landschaft zu teilen; diese unheimli chen Lichter hatten in der Tat etwas Bedrohliches an sich. Ein Vul kan, der aktiv genug war, um bei Nacht die Wolken in rotes Licht zu tauchen, konnte sehr wohl auch aktiv genug sein, um seine -61-
Umgebung unter Asche und Lava zu begraben; und doch kam Garth ihnen immer näher. Mehr als zwei Stunden waren vergangen, seit er mit dem Bauern gesprochen hatte, längst war der letzte Schimmer von Tageslicht am westlichen Horizont verblichen, und nur noch das weiße Licht des Mondes und der rote Schein der Vulkane boten Beleuchtung, als er von einem der Wachtposten zum ersten Mal gesichtet wurde. Garth selbst sah die junge Frau nicht, und selbst wenn er sie erkannt hätte, hätte er ihr keine große Aufmerksamkeit ge schenkt; aber sie sah ihn, und sie musterte ihn eingehend, bevor sie von ihrem Ausguck auf dem Hügel schlüpfte und nach Weideth zurückrannte, um sein Herannahen zu melden. Der Seher von Weideth war gerade dabei, seinen letzten Krug Wein zu leeren und ernsthaft in Erwägung zu ziehen, sich ins Bett zu begeben, als die Wächterin in den einzigen, namenlosen Gast hof des Dorfes (der gleichzeitig als öffentliche Versammlungsstät te und bei Regenwetter als Marktplatz diente) mit ihrer Nachricht hereinplatzte. Sie hielt aufgeregt nach jemandem Ausschau, dem sie ihre Entdeckung melden konnte, aber die Dorfältesten waren alle schon längst im Bett; in Ermangelung eines besseren An sprechpartners stürzte sie auf den Seher zu und sprudelte atemlos hervor: »Da kommt ein Übermann auf dem Ostpfad! Er reitet auf einem Tier, wie ich noch nie eines gesehen habe!« Der Seher schmunzelte ob ihrer melodramatischen Pose. »Hast du denn schon alle Arten von Tieren gesehen, die es gibt? Man sieht häufig Übermänner auf den Pfaden nach Norden und Wes ten, und sie begnügen sich nicht alle mit Pferden oder Ochsen.« »Ja, aber der hier kommt auf dem Ostpfad geritten, und er trägt einen Panzer!« -62-
Der Seher schüttelte den Kopf und machte eine weg-werfende Handbewegung. »Übermänner benutzen nicht den Ostpfad.« »Aber dieser doch! Wenn du mich nicht anhören willst, dann su che ich mir jemand anderen!« Der Seher ließ die Hand sinken, und zum ersten Mal blickte er dem Mädchen richtig ins Gesicht. Da wurde ihm deutlich, dass es die Wahrheit sprach; ein Teil seines Talents bestand darin zu wissen, wann jemand die Wahrheit sprach, und diese junge Frau — sie mochte kaum älter als achtzehn Jahre sein — war nicht bloß aufgeregt. Kein Zweifel, es nahte ein Übermann auf dem Ostpfad, über welchen seit drei Jahrhunderten kein Übermann mehr geritten war; ein Übermann war aus dem Osten gekommen. »Die Prophezeiungen sagen, dass im Osten Tod und Vernich tung liegen«, sagte er. »Das ist mir auch bekannt«, erwiderte das Mädchen höhnisch, die Arme in die Hüften gestemmt. »Wir müssen die Ältesten wecken.« Das Mädchen nickte. »Sie werden wissen, was zu tun ist.« »Ja. Wir können nicht zulassen, dass ein Übermann aus dem Osten nach Dûsarra kommt.« Nur wenige Minuten nach dieser Unterredung folgte Garth einer Biegung des Pfades, der sich auf den letzten drei Meilen durch die Vorhügel geschlängelt hatte und jetzt durch eine enge Talschlucht führte, und erblickte Weideth. Es blieb jedoch nur ein kurzer Blick, denn das Dorf, das er gesehen zu haben glaubte, verschwand fast sofort wieder aus seinen Augen, und vor ihm lagen wieder ein paar hundert Schritt Wegstrecke, die ein Stück weiter voraus erneut nach rechts hinter einem Hügel verschwand.
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Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Kein Dorf war zu sehen. Nicht die Spur von einem Dorf. Nur der Pfad, der hinter dem Hügel verschwand. Er hielt sein Reittier an und studierte den Pfad. Nichts war von einem Dorf zu sehen. Nach kurzer Überlegung fielen ihm mehrere mögliche Erklärungen ein für das, was er gesehen zu haben glaub te — eine Reihe kleiner Hütten zu beiden Seiten des Weges, eine Verbreiterung der Schlucht zu einem ansehnlichen Tal. Es konnte sich um eine Sinnestäuschung handeln, hervorgerufen durch das Mondlicht, obwohl es dafür eigentlich zu deutlich ausgeprägt ge wesen war. Es konnte sich auch um eine Luftspiegelung handeln, verursacht durch irgendeinen unbekannten Effekt des Vulkans, die ihn ein Dorf sehen ließ, das in Wirklichkeit ganz woanders lag. Er konnte es aber auch mit einer Halluzination zu tun haben, die durch vulkanische Gase verursacht wurde; er hatte von solchen Dingen gehört. Es war auch möglich, dass er erschöpfter und müder war, als er angenommen hatte, und dass sein Geist oder seine Augen ihm einen Streich gespielt hatten. Oder es hatte mit Magie zu tun. Diese letzte Möglichkeit schien ihm in der Tat die wahrschein lichste, und sie verhieß nichts Gutes; aber dadurch, dass er hier verharrte, konnte er auch nichts dagegen tun. Er gab Koros das Kommando zum Weiter-laufen, und das Kriegstier setzte sich wieder in Bewegung. Nichts Ungewöhnliches geschah; die kahlen Hügel auf beiden Seiten des Weges setzten sich fort. Als sie die Hälfte des Weges bis zur nächsten Biegung zurückgelegt hatten, ohne dass irgend etwas passiert war, atmete Garth erleichtert auf. Es schien keine Gefahr zu bestehen. Wenn es sich tatsächlich um Magie handelte, überlegte Garth, was für eine Art von Zauberei mochte es dann gewesen sein? War ein ganzes Dorf innerhalb von ein paar Sekunden an eine andere
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Stelle verpflanzt worden? Das schien äußerst unwahrscheinlich. Vielleicht war auch das Dorf selbst nur ein Trugbild gewesen. Wenn das zutraf, hatte dann diese Sinnestäuschung ihm gegolten oder jemand anderem? Als sie sich der Biegung näherten, zögerte Koros; er schien un schlüssig zu sein, ob er weiter dem Weg nach rechts folgen oder ob er geradeaus zum Rande des Engpasses weiterlaufen sollte. Garth gab ein leises, knappes Kommando, und das Kriegstier folg te der Wegbiegung. Dieser Zwischenfall beunruhigte Garth für einen kurzen Augen blick; ein solches Zögern war nicht typisch für das Verhalten des Tieres. Es wusste, dass es normalerweise dem Weg zu folgen hatte, falls ihm sein Herr keine andere Anweisung gab. Ach, sagte er sich, das hatte nichts zu bedeuten; das Tier war einfach müde. Vielleicht hatte ja auch er sich das Dorf in seiner eigenen Müdig keit eingebildet. Ja, so musste es wohl gewesen sein: das Dorf war ein Trugbild gewesen, dem er in seiner Erschöpfung aufgesessen war. Vielleicht verhielt es sich aber auch so, dass dieses verlassene Tal das Trugbild und das Dorf Wirklichkeit war! Dieser Gedanke hatte etwas beunruhigend Plausibles an sich, und Garth hielt sein Kriegstier abermals an. Das Dorf Weideth musste irgendwo hier in der Gegend sein, und trotzdem hatte er bis jetzt noch keine Spur von ihm gesehen, abgesehen vielleicht von jenem kurzen, flüchtigen Blick, der ebenso gut eine Sinnestäu schung gewesen sein konnte. Es lag an einer Kreuzung, und Koros hatte gezögert, so als wäre er unschlüssig, welches der richtige Pfad sei – so, als hätte er vor einer Gabelung oder Wegkreuzung gestanden. Aber warum (vorausgesetzt, er befand sich in der Tat in der Mit te von Weideth) wurde eine solche Sinnestäuschung inszeniert? Er -65-
blickte an seinem Tier und dann an sich selbst hinunter; die Krallen seines Kriegstiers glänzten im Mondlicht, und sein Schwert schlug ihm bei jedem Schritt gegen den Oberschenkel. Er musste zugeben, er war nicht die Art von Persönlichkeit, de ren Erscheinungsbild auf Fremde besonders vertrauenerweckend wirkte. Bestimmt hatten die Dörfler irgendeine Art von Zauberer in ihren Reihen, der solche Art von Blendwerk in Szene setzte, um das Dorf unsichtbar zu machen für Reisende, die gefährlich aussa hen. Immer vorausgesetzt, es handelte sich tatsächlich um ein Trug bild. Aber das konnte man herausfinden; er hieß Koros, stehenzu bleiben und Wache zu halten, und saß ab. Er schien sich noch immer in einem felsigen Hohlweg durch die Hügel zu befinden und nicht in einem Dorf – aber es gab keinen Grund, warum das Trugbild bei einem Übermann zu Fuß weniger wirksam sein sollte als bei einem, der auf einem Kriegstier ritt. Er ging vorsichtig zum Rand des Pfades und streckte die Hand aus, um einen der Felsblöcke zu berühren. Er war real, da bestand kein Zweifel, und er fühlte sich ganz wie ein Stein an. Garth ließ die Finger über ihn gleiten. Ja, es war glatter Stein. Er legte die Handfläche darauf und ließ sie ein paar Zoll nach unten gleiten. Einer seiner Daumen glitt in einen Ritz. Er betrachtete die Stelle näher. Ja, da war ein Spalt zu sehen; er musste ihn im Mondlicht übersehen haben, vorausgesetzt er war tatsächlich schon da ge wesen. Fühlte er da nicht Mörtel unter seinem Daumen? Er ließ seine Hand seitwärts gleiten; der Ritz war schnurgerade und ver lief exakt horizontal. Er ließ die Hand weiter an dem Ritz entlanggleiten, bis zu der Stelle, wo der Felsblock aufzuhören schien. -66-
Aber seine Hand glitt nicht ins Leere! Da war etwas. Er betastete es vorsichtig. Es war Glas. Eine kleine quadratische bleigefasste Scheibe; und daneben war noch eine – und noch eine. Er kniff die Augen zu sammen und öffnete sie wieder. Er stand vor einem kleinen steinernen Haus, und was seine Hand da berührte, war ein Flügelfenster; links und rechts von ihm standen weitere Häuser. Hinter ihm gab Koros ein unbehagliches Knurren von sich. Er wirbelte herum. Er stand im Zentrum eines Dorfes, genauso, wie er es gesehen hatte. Was ausgesehen hatte wie eine Wegbie gung, war in der Tat eine Kreuzung. Das bedeutete, dass er vom Weg abgekommen war; er war nach Norden abgebogen, statt wie geplant in Richtung Westen weiterzureiten. Er stieß ein wütendes Knurren aus. So etwas gefiel ihm nicht. Er mochte keine Zauberei. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass da jemand mit übernatürlichen Fähigkeiten war, der es bewusst dar auf anlegte, ihn zu täuschen. Seine Hand glitt zum Schwertgriff, während er sich umschaute, und im Geist klopfte er sich dafür auf die Schulter, dass er seit seinem Aufbruch von Skelleth gut ge rüstet war – ein Panzer war zwar unbequem, aber er verlieh ein Gefühl von Sicherheit. Das Dorf lag still und schweigend; das einzige Geräusch waren seine eigenen Schritte. Die Häuser waren allesamt dunkel, die Fensterläden geschlossen. Alle – bis auf eines. An der Kreuzung stand ein Haus, das um einiges größer war als die übrigen, mit einem Schild über der Tür. Was darauf stand, vermochte er in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber es sah ganz nach einem Gast hof oder einer Schenke aus, und durch die Ritzen in den Vor hängen vor den Fenstern sickerte Licht.
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Sein mit Zauberkraft begabter Gegenspieler konnte aus der Fer ne wirken oder sich vielleicht auch irgendwo in der Dunkelheit versteckt halten, wahrscheinlicher aber war es, dass er (oder sie) sich in jenem Gebäude aufhielt. Was sollte, konnte er tun? Er hatte zwei Möglichkeiten: Er konnte den Vorfall als gegeben hinnehmen und sich wieder auf den Weg machen, oder aber der Person entgegentreten, die da hinter jenen Vorhängen lauerte. Wenn er die Sache auf sich beruhen ließ und weiterzog, bedeutete das, dass eine potentielle Gefahr hinter ihm lauerte, jederzeit fä hig, ihm in den Rücken zu fallen oder aber ihm auf dem Rückweg einen Hinterhalt zu legen. Das Risiko konnte und wollte er nicht eingehen. Er schärfte Koros ein, sich nicht vom Fleck zu rühren, lockerte sein Schwert in der Scheide und marschierte zu dem Gasthaus. Die Tür stand einen Spaltbreit offen; er stieß sie mit einem kräf tigen Tritt ganz auf und machte einen Schritt zur Seite, um einem etwaigen Hinterhalt vorzubeugen. Als nichts geschah, trat er einen Schritt vor und schaute hinein. Ein plötzliches Schwindelge fühl packte ihn; er blinzelte und schaute durch die Tür. Er schaute in sein eigenes Heim in Ordunin, das weiträumige Holz- und Steinhaus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut hatte. Einen Wimpernschlag lang war er starr vor Schreck, aber die Ungereimtheit schien plötzlich ganz unwichtig. Er war da heim! Er trat ein und sah sich um. Durch das große Fenster zu seiner Rechten sah er die breite Terrasse und das wunderschöne Panorama der Bucht; das Sonnenlicht funkelte auf den Wellen und floss warm in den Raum. Er lauschte, und ganz schwach vernahm er das Rauschen des Ozeans; irgendwo ganz in der Nähe sang ein Vogel. -68-
Jetzt fiel ihm auf, dass er noch immer seinen Helm und seinen Brustpanzer trug, sein Schwert und seine Axt, die er um die Schulter geschnallt hatte; solcherlei Vorsichtsmaßnahmen waren doch überflüssig hier in seinem eigenen Heim! Er hob die Hände, um den Helm abzusetzen, doch dann hielt er plötzlich inne. Wie war er nach Hause gekommen? Er konnte sich nicht an die Reise erinnern, und er hatte nicht die Absicht gehabt, hierher zu kom men. Nach Hause zurückzukommen, das bedeutete, dass er un verzüglich mit dem Rat sprechen musste, seinem Schwur gemäß. Irgend etwas war hier faul, und solange er nicht herausgefunden hatte, was es war, schadete es sicherlich nichts, wenn er seine Rüs tung und seine Waffen anbehielt. Das war zwar nicht sonderlich bequem — es wurde ihm schon langsam ein wenig warm — aber es ließ sich aushalten. Von irgendwo aus einem. Der hinteren Räume kam ein Ge räusch; das konnte natürlich nur jemand von seiner Familie sein. Es würde eine große Freude sein, sie alle wiederzusehen! Er über legte, welcher Tag heute war. Seltsam, er konnte sich nicht erinnern, obwohl er doch sonst den Kalender immer genau im Kopf hatte, schon um zu wissen, wann er damit rechnen konnte, dass seine Frauen in Brunst waren. Er würde nach dem Datum fragen müssen. Er rief: »Ho! Wer da?« Eine Tür ging auf, und herein trat eine Überfrau: Kyrith, sein Lieblingsweib. Er roch den Duft, der ihr entströmte, und Wärme durchflutete ihn: Sie war bereit, ihn zu empfangen. Nach menschlichen Maßstäben war sie alles andere als schön; sie war groß und flachbrüstig wie alle Überfrauen, und ihr Gesicht war ebenso menschenunähnlich wie das aller Übermenschen. In Garths Augen freilich war sie ein hübsches, liebreizendes Ge schöpf. Ihre goldenen Augen waren warm und anziehend; ihr schwarzes Haar war für eine Überfrau sehr lang, und Garth
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streckte die Hand aus, um es durch die Finger gleiten zu lassen. Ihr Duft war bezaubernd. Sie lächelte und umschlang spielerisch seine Finger; er lächelte zurück. Er spürte, wie sein Körper auf ihren Geruch zu reagieren begann; dieser Geruch war der einzige sexuelle Stimulus, auf den ein Übermann ansprach, und er war unwiderstehlich. Er öffnete die Arme, um sie zu umfangen. Sie lächelte und tippte mit dem Daumen auf seinen Brustpanzer. »Solltest du nicht vorher deinen Panzer ablegen?« fragte sie. Er murrte neckisch, hob die Hände, um seinen Helm abzusetzen – und zögerte erneut. Irgendwas war hier faul. Sogar oberfaul. Kyrith war stumm. Die echte Kyrith jedenfalls. Sie war vor Jah ren beim Skifahren schwer gestürzt. Bei dem Sturz waren ihr Eiss plitter in die Kehle gedrungen. Sie hatte überlebt, und nur eine kleine Narbe war zurückgeblieben, aber ihre Stimme hatte sie für immer verloren. Das hier war nicht Kyrith. Das Ganze war ein Trugbild. Er stieß die falsche Kyrith von sich und zückte sein Schwert; der Zauberer hatte einen fatalen Irrtum begangen, indem er Kyrith eine Stimme gegeben hatte, aber es bestand kein Zweifel, dass sei ne – oder ihre – Magie höchst wirksam war. Nicht nur das Abbild seines Heims war perfekt gewesen, sondern sogar die Geräusche und Gerüche, und auch sein Erinnerungsvermögen durchein anderzubringen war seinem geheimnisvollen Illusionisten ge lungen. Garth wollte nicht das Wagnis weiterer Risiken eingehen. »Komm her und zeige dich, Schwarzkünstler, oder ich werde mit dieser meine Klinge um mich schlagen, bis ich dich aufgespürt habe!« Sein Heim verschwand, und er befand sich in einer kleinen Dorftaverne; ein Feuer flackerte im Kamin, und das fahle Licht eines Kandelabers mit einem Dutzend zu Stummeln herunterge -70-
brannter Kerzen beleuchtete ein Dutzend leerer Tische und fünf Menschenwesen. Eines davon war eine alte Frau, die auf dem Boden lag, genau an der Stelle, wo er die falsche Kyrith von sich gestoßen hatte; sie trug eine Kapuze und einen hellblauen Umhang, der unordentlich um. Sie herum lag und den Blick auf ihre knochigen blauge äderten Altweiberbeine freigab. Ihr Gesicht war voller Runzeln. Ihr Haar war lang und von einem silbrigen Weiß. Sie machte keine Anstalten, vom Boden aufzustehen, sondern blieb liegen, wo sie war, und starrte Garth mit einem Ausdruck höchsten Entsetzens an. Die anderen vier saßen um einen Tisch herum. Garth am nächs ten saß eine junge Frau mit einem braunen Lederhelm, einem Kittel von der gleichen Farbe und einem schwarzen Rock. Ein Bo gen lehnte an der Rückenlehne ihres Stuhls, und um die Schulter hatte sie einen Köcher mit weiß gefiederten Pfeilen geschnallt. Neben ihr saß ein Mann von undefinierbarem Alter, dessen Gesicht unter einer grauen Kapuze verborgen war. Sein grauer Umhang verhüllte den ganzen Körper bis auf die Hände – musku löse Hände, von denen eine den Henkel eines Zinnkrugs um klammerte. Die übrigen zwei trugen Roben von dem gleichen Blau, das der Umhang der Alten auf dem Boden hatte. Auch sie waren sehr alt. Es waren ein Mann mit stahl-grauem Haar und einem schwarzen, von grauen Strähnen durchsetzten Bart und eine weißhaarige Frau, welche kleiner und dünner war als ihre am Boden liegende Kameradin. Nach einem Moment des stummen gegenseitigen Musterns frag te Garth: »Warum habt ihr mich bedrängt?« Beklommenes Schweigen folgte; keiner antwortete ihm.
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»Ist das die Art, in der ihr alle Reisenden behandelt? Oder handelt ihr so, weil ich ein Übermann bin? Weil ich einen Panzer trage? Was wollt ihr von mir?« Die alte Frau am Tisch antwortete mit hoher brüchiger Stimme: »Wir wollten dir kein Leid antun!« »Was wolltet ihr dann? Ihr habt mich zweimal mit Trugbildern angegriffen! Warum?« »Wir haben dich nicht angegriffen; unser einziges Bestreben war, dass du unser Dorf durchrittest, ohne es zu sehen.« »Ihr habt mich von meinem Wege abgebracht; ich wollte nicht nach Norden.« »Das wussten wir nicht; wir dachten, du müsstest auf dem Wege nach Norden sein, denn dort, so heißt es, sind die Übermänner zu Hause.« Garth dachte einen Moment lang darüber nach; es klang logisch. »Ihr versuchtet, mich zu täuschen, als ich diese Taverne betrat.« »Wir trachteten lediglich danach, dich zu entwaffnen, um einen leichteren Stand gegen dich zu haben.« Das entsprach den Tatsa chen. Garths Anspannung löste sich ein wenig. Diese Handvoll Menschen stellte keine Bedrohung für ihn dar, außer vielleicht mit ihrer Magie, aber die schien er geschlagen zu haben; und nur einer von ihnen trug überhaupt Waffen, und derjenige war lediglich ein Mädchen. »Wer von euch bewirkte diesen Zauber?« Der Mann mit der grauen Kapuze, der bisher geschwiegen hatte, ergriff das Wort. »Er ist das Werk gemeinsamer Anstrengung; keiner von uns ist allein dafür verantwortlich.« Garth überdachte dies und entschied sich, es zu bezweifeln. Diese Behauptung roch allzusehr nach Taktik. »Wer seid ihr alle?«
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»Ich bin der Seher von Weideth, und diese drei sind die Dorfäl testen.« Er zeigte auf den anderen Mann und auf die beiden alten Frauen. »Und wer ist die?« Er zeigte mit dem Schwert auf das Mädchen. »Das ist bloß die, die dich rechtzeitig genug sah, um uns zu war nen. Sie ist keine Person von Bedeutung.« »Du bezeichnest dich als Seher?« »Ja.« »Kannst du in die Zukunft blicken?« Garth hatte von solchen Talenten gehört und auch selbst schon mit einem solchen Orakel zu tun gehabt, den Weisen Frauen von Ordunin, die einiges über Ereignisse zu wissen schienen, die in der Zukunft lagen; er sah viele Verwendungsmöglichkeiten für eine derartige Fähigkeit. »Gelegentlich. Ich bin, um die Wahrheit zu sagen, kein sehr gu ter Seher. Ich besitze zwar Kenntnisse und Talente, welche über das gewöhnliche Maß hinausgehen, aber ich habe nur wenig Kon trolle über sie. Ich bin der letzte und geringste aus einem alten Ge schlecht von Sehern in Weideth, und ich verbringe eher Zeit da mit, die Prophezeiungen meiner Vorgänger zu studieren, als eigene zu machen.« Das erklärte, warum es ihm nicht gelungen war vorauszusehen, dass Garth sich von den Trugbildern nicht würde täuschen lassen; deshalb beschloss Garth, ihm zu glauben. Er hatte den Eindruck, dass der Mann aufrichtig war. Vielleicht würde eine ähnliche Of fenheit seinerseits dazu beitragen, dass er diese Episode rasch hin ter sich bringen und sich wieder auf den Weg machen konnte. Er wollte noch vor Tagesanbruch Dûsarra erreichen; wenn er es so gar noch vor Mitternacht schaffte, um so besser. »So höret denn: Ich habe weder mit euch noch mit eurem Dorf irgend etwas Böses im Sinn. Ich will niemandem, weder einer Per son noch einer Gemeinde, außerhalb des Dorfes Skelleth übel. Ich -73-
hege keinen Groll gegen euch ob eurer missglückten Versuche, mich zu täuschen, unternahmt ihr sie doch zu eurem Selbstschutz. Lasst uns unseren Disput friedlich beenden; ich werde euch kein Leid zufügen und meines Weges ziehen. Als Gegenleistung werdet ihr davon Abstand nehmen, mich weiter mit eurer Magie zu belästigen. Ist das nicht eine gerechte und wünschenswerte Lö sung für alle?« Der Seher sagte zu seinen Gefährten: »Er spricht die Wahrheit, so wie er sie kennt.« Für einen Moment herrschte nachdenkliches Schweigen. Die Dorfältesten schauten einander an. Die größere der beiden Frauen raffte sich vom Boden auf, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Garth ließ sein Schwert sinken, steckte es aber noch, nicht in die Scheide zurück. Es war das Mädchen, das das Schweigen als erste brach. »Aber was ist mit den Prophezeiungen?« Der Dorfälteste nickte. »Wir müssen darüber sprechen.« »Was für Prophezeiungen?« fragte Garth. »Ich bin keine unver nünftige Person. Erklärt mir, was es damit auf sich hat, und vielleicht kann ich euch gefällig sein.« Alle wandten sich dem Se her zu und gaben ihm damit zu verstehen, dass es ihrer Ansicht nach ihm als dem Seher zukam zu erklären, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hatte. Er räusperte sich und begann: »Es gibt zwei Prophezeiungen, welche uns bewogen, besonders auf der Hut zu sein vor deinem Kommen, Übermann. Die erste, vor langer, langer Zeit gemacht, besagte lediglich, dass Tod und Vernichtung im Osten lauern und aus dem Osten zu uns kommen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Die zweite Weissagung, welche von meinem unmittelbaren Vorgänger gemacht wurde (der im Gegen satz zu mir einer unserer größten Seher und Propheten war; es scheint ein regelmäßiges Auf und Ab in der Linie zu geben), nun, diese seine Weissagung war eine Vervollkommnung der ersten,
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und sie besagt, dass ein Übermann, aus dem Osten nach Dûsarra kommend, Chaos und Verderben für die ganze Welt entfesseln wird. Nun verstehst du gewiss, dass wir nicht gern sehen, dass du von unserem Dorfe aus in Richtung Westen weiterziehst, denn jener Pfad führt nur nach Dûsarra.« Garth dachte hierüber nach. Das Ganze kam ihm recht nebelhaft vor, und es widerstrebte ihm, der Sache große Beachtung zu schenken; er hatte in Dûsarra Wichtiges zu erledigen. »Nennt die Prophezeiung meinen Namen, oder gibt sie eine ge nauere Beschreibung besagten Übermannes?« »Nein.« »Sagt sie, irgendein Übermann aus dem Osten werde Unglück bringen, oder spricht sie von einem bestimmten?« »Aus der Weissagung geht hervor, dass es sich um einen be stimmten Übermann handelt, aber wir ziehen es vor, auf Nummer Sicher zu gehen; du bist der erste Übermann, der seit langer, langer Zeit über den Ostpfad gekommen ist – genau gesagt, der erste, seit die Prophezeiung gemacht wurde.« ‚ »Ich komme gleichwohl aus der Nordwüste, nicht aus dem Osten, und ich habe nicht die Absicht, irgend etwas zu entfesseln.« »Ich habe noch nie von der Nordwüste gehört; indes muss sie im Osten liegen, sonst wärst du nicht über den Ostpfad gekommen. Und deine guten Absichten in allen Ehren, aber wer will wissen, ob das, was am Ende dabei herauskommt, ihnen tatsächlich auch entspricht?« »Dennoch glaube ich nicht, dass ich der Übermann aus der Weissagung bin, und ich habe fest vor, nach Dûsarra zu gehen. Ich gebe euch den guten Rat, versucht nicht, mich aufzuhalten oder mir auf dem Rückweg den Weg zu verlegen.«
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»Wir werden dich nicht behelligen, sobald du Dûsarra erst ein mal erreicht hast, da es dann ohnehin zu spät wäre. Und alles, was wir danach tun könnten, wäre sinnlose Rache, und wir sind nicht so töricht, einen solchen Versuch zu unternehmen. Doch ich bitte dich inständig, es dir noch einmal zu überlegen. Gehe nicht nach Dûsarra! Vielleicht bist du wirklich nicht der Übermann, vor dem uns die Weissagung gewarnt hat, aber warum ein solches Risiko erst eingehen? Du bist ein guter Mensch ... Eh, ich meine, eine gute Person. lass es nicht darauf ankommen, Verderben über dich und andere zu bringen!« »Ich bedaure, aber ich kann eurem Wunsche nicht willfahren. Wie es scheint, wird es uns nun doch nicht vergönnt sein, in Freundschaft voneinander zu scheiden, und daher sehe ich mich nun gezwungen, diese junge Frau zu bitten, mit ihren Bogen aus zuhändigen; ich habe kein Verlangen, einen Pfeil in den Rücken zu bekommen. Ich werde den Bogen unversehrt außerhalb des Dorfes am Wegesrand niederlegen. Ferner muss ich darauf be stehen, dass ihr von jedwedem weiteren Blendwerk gegen mich Abstand nehmt; ich weiß nun, wo und wer ihr seid, und ich würde es euch sehr übelnehmen, solltet ihr erneut den Versuch unternehmen, mich vom Wege abzulenken.« Er streckte die Hand nach dem Bogen aus. Widerstrebend, mit einem Auge auf das Schwert in seiner anderen Hand schielend, gab das Mädchen ihm die Waffe. »Danke. Ich verlasse euch jetzt und wünsche euch alles Gute. Ich hoffe aufrichtig und glaube, dass ich nicht der Übermann bin, von dem eure Propheten spra chen.« Er nickte höflich und ging rückwärts, das Schwert in der Hand, aus dem Gasthof. Niemand machte Anstalten, ihn daran zu hindern. Alle fünf saßen reglos und in stummem Entsetzen da. Sobald er draußen war, drehte er sich um und rannte in die Richtung, in der er Koros zurückgelassen hatte; er zweifelte nicht
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daran, dass sie trotz seiner Warnung einen weiteren Versuch un ternehmen würden, ihn aufzuhalten, und er wollte einen so großen Abstand wie nur möglich zwischen sich und das Dorf ge legt haben, bevor die Menschenwesen sich genügend erholt hatten, um ihren Angriff in Szene zu setzen. Seine Augen waren nach dem Aufenthalt in der erleuchteten Ta verne nicht mehr an die Dunkelheit gewöhnt, und er stolperte auf dem holprigen Pfad; verärgert rief er den Namen seines Kriegs tieres. Aus der Dunkelheit kam als Antwort ein leises Knurren, und einen Moment später tauchte das Tier vor ihm auf. Seine goldenen Augen glänzten im Mondlicht. Garth steckte sein Schwert in die Scheide und streckte die Hand aus; gehorsam schritt Koros auf ihn zu. Er griff ins Geschirr und schwang sich in den Sattel; dann gab er das Zeichen zum Trab – bei weitem nicht die schnellste Gangart des Tieres, aber Garth hielt es für ausreichend, und er verspürte keine Lust, bei der Dunkelheit mehr zu riskieren. Er lenkte das Tier in Richtung des Westpfades, und dann hielt er inne; wie konnte er sicher sein, dass es der echte Westpfad war und dass die Menschenwesen ihn nicht mit einem neuen Trugbild verwirrten? Der Stand des Mondes war richtig, und der rote Feu erschein des Vulkans befand sich in der rechten Hälfte des Himmels, aber er hatte ja schon einmal erfahren, dass ihre Trug bilder gut genug waren, um auch solcherlei Einzelheiten zu be rücksichtigen. Sorgfältig rekonstruierte er im Geiste noch einmal jeden Schritt, den er seit Verlassen des Gasthofes gemacht hatte, und kam zu dem Schluss, dass sie in der Tat nichts verändert hatten – es sei denn, sie hatten abermals seine Erinnerung verzerrt. Er bezweifelte zwar, dass sie genug Zeit gehabt hatten, um irgend etwas in der Art zu bewerkstelligen, aber es war ja
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nicht auszuschließen, dass sie sein Zeitgefühl ebenfalls verzerrt hatten. Wie auch immer er es betrachtete, absolut sicher konnte er nicht sein; aber wie es aussah, schien es unwahrscheinlich, dass der Pfad eine Sinnestäuschung war, und überdies hatte er keine Möglichkeit, diesbezüglich Gewissheit zu erlangen. Also würde er davon ausgehen, dass kein magisches Blendwerk im Spiele war, und sollte sich später herausstellen, dass das doch der Fall war, würde er hierher zurückkehren und dem Seher und den Dorfältes ten handfest demonstrieren, was es hieß, Garth, den Prinzen von Ordunin, zu erzürnen. Er gab erneut das Signal zum Trab und ritt rasch aus dem Dorf, fort von der Kreuzung und dem trübe erleuchteten Gasthof.
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Kapitel 5 Der Bauer hatte ihm gesagt, dass es von Weideth bis nach Dûsarra drei Meilen seien; das war ein Ritt von einer Stunde, aber ein Blick auf den Himmel zeigte ihm, dass er es mit einigem Glück noch bis Mitternacht schaffen konnte. Das hing in hohem Maße davon ab, wie müde Koros war. Bis jetzt hatte das Kriegstier über haupt noch keine Anzeichen von Ermüdung erkennen lassen. Sie kamen gerade an den letzten Häusern des Dorfes vorbei, als Garth aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm; in stinktiv duckte er sich, und das schattenhafte fledermausartige Wesen, das auf ihn herabstieß, schoss lautlos an ihm vorbei. Die glänzenden schwarzen Krallen verfehlten sein Gesicht nur um Haaresbreite Den Bogen des Mädchens hielt er noch immer in der Hand; er warf ihn weg, wobei er sich nachträglich dafür verfluchte, dass er nicht auch die Pfeile mitgenommen hatte, und hechtete vom Rücken seines Kriegstiers. Noch während er sich auf dem steinigen Boden des Pfades abrollte, zog er sein Schwert. Ober ihm, ein Stück voraus, beschrieb das Fledermauswesen einen Bo gen und schoss erneut auf ihn herab. Er hatte ausreichend Zeit, um es sich genau anzusehen, bevor es sich auf ihn stürzte: Es war keine echte Fledermaus. Es hatte eine Flügelspanne von gut zehn Fuß, und obwohl die Flügel die einer Fledermaus waren, waren Kopf und Rumpf die eines Raubvogels. Deutlich sah er die runden schwarzen Augen und den gekrümm ten Schnabel. Die gespreizten Krallen glänzten im Mondlicht. Er duckte sich erneut und riss dabei sein Schwert hoch. Die Klinge fuhr widerstandslos und ohne eine Spur zu hin terlassen durch das Tier hindurch. -79-
Die Spannung wich aus Garths Körper; er grinste und richtete sich auf. Das Ding war natürlich ein weiteres Trugbild, und nicht einmal ein besonders kluges. Hatten sie etwa erwartet, dass er sich kampflos vor dem Ding verkroch? Ganz offensichtlich hatten sie das erwartet, denn sonst hätten sie es nicht geschickt. Er wandte sich zu Koros um und schickte sich an aufzusitzen, ohne dem Fledermauswesen, das erneut einen Bo gen beschrieb und zum Sturzflug ansetzte, weitere Beachtung zu schenken. Seine Krallen fegten ihm den Helm vom Kopf und rissen blutige Furchen in seinen Hinterkopf. Er wirbelte erneut herum, vor Schmerz und Wut knurrend; durch die ruckartige Bewegung spritzten Blutstropfen aus seinen Wunden. Sie waren echt, kein Zweifel, und schmerzhaft, aber zum Glück nicht tief. Die Dorfältesten von Weideth vermochten offen bar doch stärkere Geschütze aufzufahren als bloße Sinnestäu schungen. Das Wesen schoss zu einer neuen Attacke auf ihn herab; er tauchte weg und hieb mit dem Schwert nach ihm. Wie schon beim ersten Mal fuhr die Klinge durch das Ungeheuer, als bestände es aus Luft. Garth stieß ein wütendes Knurren aus. Beim nächsten Angriff duckte er sich wieder, schlug aber dies mal nicht mit dem Schwert aus, sondern mit der freien Hand, wobei er versuchte, das Ungeheuer beim Bein zu fassen. Seine Hand Schloss sich um Nichts, und die Krallen rissen blutige Fur chen in sein Handgelenk. Die Sache begann ernst zu werden. Zwar war das Wesen nicht allzu klug, aber es war beharrlich und würde ihn am Ende wo möglich ermüden und in Fetzen reißen. Es schien eine seltsame einseitige Körperlichkeit zu besitzen, die anders war als alles, was Garth bisher erlebt hatte. Er hatte zuerst gedacht, es sei auf ma -80-
gische Weise gegen kalten Stahl gefeit, als das Schwert keine Wirkung gezeitigt hatte, aber seine Hand hatte auch nichts aus richten können. Hand und Schwert waren durch seinen Körper hindurchgegangen, ohne ihn zu berühren, und doch hatten seine Krallen zweimal ihre schmerzhaften Spuren hinterlassen. Ja, seine Krallen hatte er gespürt – aber nur die Krallen! Selbst als er sich in dem Irrglauben, es handle sich wieder um eine Sinnestäuschung, dem Angriff völlig schutzlos preisgegeben hatte, hatte das Ungeheuer weder seinen großen Schnabel benutzt noch mit seinen Flügeln nach ihm geschlagen – Flügeln, die kein Ge räusch und keinen Wind machten. Als es zu einer erneuten Attacke herabstieß, studierte Garth sei ne Krallen; ihr Glitzern war irgendwie anders als das Glänzen nor maler Krallen, es war mehr ein hartes Funkeln wie von schwarzem Glas als das typische weiche Schimmern von Horn oder Knochen. Sie waren nicht sanft gebogen und von glatter Oberfläche, auch nicht schuppig, sondern unregelmäßig ge krümmt und gezackt. Sie sahen eher nach einer Art Glas oder Kristall aus, als nach dem Körperteil eines Lebewesens. Wieder schoss es heran, die seltsamen schwarzen Krallen ausge streckt, und wieder hieb Garth mit dem Schwert zu, diesmal je doch nicht auf seinen immateriellen Körper zielend, sondern auf die Krallen. Er wurde belohnt mit einem lauten Klirren, als die Klinge ihr Ziel fand und eine der großen Krallen in einen Regen glitzernder Splitter verwandelte. Das Wesen riss den Schnabel auf, als stieße es einen Schmerzens schrei aus, aber kein Laut drang heraus; es stieß steil in die Höhe und begann über ihm zu kreisen. Garth bückte sich und hob eine Scherbe der zerschmetterten Kralle auf. Nun, da er sie in der Hand hielt, war es ein leichtes, sie -81-
zu identifizieren: Es war Obsidian – schwarzes vulkanisches Glas. Es war real und auch sonst in nichts außergewöhnlich. Das Wesen schien sich jetzt wieder erholt zu haben, denn es setzte erneut zum Sturzflug an. Diesmal gab er sich gar nicht erst die Mühe, wegzuducken, son dern hielt die Klinge einfach waagrecht mit beiden Händen vor sein Gesicht, als das Ungeheuer heranschoss. Die verbliebene Kralle prallte mit voller Wucht gegen den Stahl; der Obsidian zer sprang in tausend Stücke, ein Schauer von nadelfeinen Splittern regnete auf ihn herab. Ein paar von ihnen ritzten ihm winzige Wunden in die Hände, andere prallten an seinem Brustpanzer ab. Sein Gesicht war durch die Klinge geschützt, trotzdem hatte er die Augen instinktiv geschlossen. Als er sie aufschlug, war die Kreatur verschwunden. Das einzige, was von ihr übriggeblieben war, waren die Splitter, die auf der Erde verstreut lagen und im Mondlicht glitzerten. Er klopfte sich die restlichen Splitter von den Kleidern, steckte sein Schwert zurück in die Scheide, hob seinen Helm auf, setzte ihn auf und schaute sich um. Keine weitere Gefahr war zu sehen, Koros war unversehrt, und seine eigenen Verletzungen waren nicht der Rede wert. Er stieg auf sein Kriegstier, drehte sich um und donnerte in Richtung Weideth. »Seher, wenn du mich hören kannst, dann hör mir gut zu! Sei gewarnt! Wenn du noch einmal irgend etwas gegen mich zu un ternehmen versuchst, dann werde ich in der Tat Tod und Verder ben entfesseln, indem ich nämlich euer Dorf auslösche! Sei also ge warnt!« Ein leises Echo seiner Stimme hallte von den Hügeln zu beiden Seiten des Pfades wider, aber es kam keine Antwort. Er wandte sich wieder nach Westen und setzte seinen Ritt fort.
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Kapitel 6 Etwas mehr als eine Stunde später kam er zwischen zwei Hügeln hervor und hatte nun erstmalig freie Sicht auf Dûsarra, das den langen glatten Anstieg krönte, der vor ihm lag. Das Mondlicht schimmerte auf den Kuppeln und Türmen der Stadt, ein blasses sanftes Silber, das überhaupt kein Licht zu spenden schien. Ein Vergleich der schemenhaften Gebäude mit dem rau chigroten Himmel hinter ihm brachte ihm die Lösung des Rätsels: Die Häuser waren allesamt von tiefschwarzer Farbe, weshalb selbst das hellste Mondlicht sie nicht zu beleuchten vermochte. Die Stadt war von einer Mauer umgeben, wenngleich Garth es für unwahrscheinlich hielt, dass in einem solch zerklüfteten Land je mals Kriege ausgefochten worden waren, noch je ausgefochten würden. Auch die Mauer schien aus demselben schwarzen Stein gebaut zu sein wie die übrigen Gebäu-de. Bei dem schwachen Licht konnte Garth nicht erkennen, wo die Mauer aufhörte und der Erdboden darunter anfing; der vor ihm liegende Hang sah aus wie ein glattes Tuch aus dunkelstem Schwarz, das an seinem obe ren Ende übergangslos mit der Stadt verschmolz. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich dieses Tuch in der Tat als ein uralter erstarrter Lavastrom; es war eine einzige riesige Lavaplatte, auf der nichts wuchs. Der Pfad, auf dem er gekommen war, endete am Fuße dieser Lavaplatte. Er lenkte sein Tier vorwärts auf die Platte; Koros gehorchte ohne Widerstreben. Etwa eine Meile zurück hatte die frische Vulka nasche aufgehört, über die Garth seit Stunden geritten war, als der Pfad nach Norden ab-gebogen war; welcher Vulkan auch immer sie ausgeworfen haben mochte, es war jedenfalls nicht der, der über Dûsarra aufragte und den Himmel vor ihnen in ein schmut ziges Rot tauchte. -84-
Als sie sich den Hang hinauf bewegten, fiel Garth etwas ins Auge; irgend etwas war da an der Stadtmauer. Er blickte schärfer hin und sah es wieder; direkt vor ihnen flackerte ein winziges Licht, offenbar in der Mitte der Mauer. Hatte da vielleicht jemand vor dem Stadttor sein Nachtlager aufgeschlagen? Es war möglich, aber irgendwie sah das Licht nicht nach einem Lagerfeuer aus, und es schien auch nicht außerhalb der Mauern auf dem Hang zu sein. Vielleicht ein Fenster in der Mauer, hinter dem sich ein er leuchteter Wachraum befand? Das mochte schon eher zutreffen; es störte ihn daran jedoch, dass es sich dann um ein enorm großes Fenster handeln musste; andernfalls hätte man es aus so großer Entfernung nicht sehen können. Auch wenn letztere in der Dun kelheit nur sehr schwer abzuschätzen war, musste die Mauer doch noch mindestens eine Meile entfernt sein. Kurze Zeit später wusste er, was es mit dem Licht auf sich hatte: Die Stadttore waren geöffnet, und der direkt dahinter liegende Platz war ringsum von Fackeln erhellt. Seltsam! Es war fast Mitternacht, und doch standen die Tore Dûsarras weit offen, als wäre es Mittag am Markttag. Was mochte das für eine merkwürdige Art von Stadt sein, der er sich da nä herte? Fand dort vielleicht gerade irgendein religiöses Fest oder etwas ähnliches statt? War man dort so vertrauensselig gegenüber Fremden, dass man die Stadttore die ganze Nacht hindurch offen stehen ließ? Wenn das der Fall war, warum dann die Mauer und warum der erleuchtete Marktplatz? Nein, das konnte nicht der Grund sein, denn jetzt konnte er Gestalten ausmachen, die sich auf dem Platz bewegten. Richtig, dort waren Leute, und es sah so aus, als ob die Einwohner der Stadt ganz normal ihren Geschäften nachgingen — mitten in der Nacht! Er begann zu hoffen, dass es sich in der Tat um ein religiöses Fest oder irgendeine andere festli che Veranstaltung handelte; das wäre wenigstens noch irgendwie verständlich gewesen. -85-
Schlagartig schoss ihm durch den Kopf, dass durch diesen Um stand seine Absicht, im Schutze der Nacht heimlich in die Stadt einzureiten, zunichte gemacht worden war. Nun, dachte er, wenigstens würde es bei Fackelschein nicht gar so direkt ins Auge fallen, dass er ein Übermann war, wie am hellichten Tag. Anderer seits wiederum, eine Stadt, die bei Nacht auf den Beinen war, lag am Tag wahrscheinlich in tiefem Schlummer, und unter diesen Umständen wäre er doch besser tagsüber angekommen. Nein, das war absurd; es musste irgendeine vernünftige Erklä rung für dieses nächtliche Treiben geben. Was für eine, konnte er sich nicht vorstellen, aber es musste eine geben. Nun, er würde es früh genug erfahren; er ließ das Spekulieren sein und ritt weiter. Dûsarra, entschied er, als er durch das Tor ritt, war eine sehr merkwürdige Stadt, zumindest nach seinen Maßstäben. Nun ja, er war auch noch nicht viel herumgekommen. Außerhalb seines eigenen Landes hatte er bis jetzt nur Skelleth, Weideth und Mor moreth gesehen, und Ur-Dormulk von weitem. Mormoreth war eine tote Stadt, Skelleth war so gut wie tot, Weideth war bloß ein Dorf, und Ur-Dormulk hatte er nur aus einem Abstand von einer Meile gesehen. Vielleicht war Dûsarra ja auch normal, und die anderen waren seltsam. Er brachte sein Reittier zum Stehen und ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Es war ein ziemlich gewöhnlicher Marktplatz; alle Seiten waren von Ständen gesäumt, jeder dieser Stände wurde von Fackeln be leuchtet – eine oder zwei pro Stand. Auf dem Markt herrschte reges Treiben; Männer und Frauen schlenderten umher, manche hasteten auch, man feilschte um Preise, plauderte mit Freunden, kurz, man tat das, was Leute normalerweise auf einem Marktplatz so taten. Nur die Sterne am Himmel und das flackernde Fa ckellicht verliehen der Szenerie etwas Unnatürliches.
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Garth bemerkte mit Interesse, dass die Einheimischen anders ge kleidet waren als die Leute von Skelleth; trugen die Männer von Skelleth Jacken und Hosen und die Frauen Blusen und Rock, so trugen hier beide Geschlechter lange wallende Umhänge. Die ar men Leute von Skelleth konnten sich nur billigste graue und braune Farben für ihre Kleider leisten; hier aber sah Garth viele, die in leuchtendes Rot, in Grau, Braun, Weiß und Schwarz gehüllt waren. Die Mehrheit jedoch schien einen dunkelblauen Farbton zu bevorzugen; zweifelsohne die herrschende Mode, möglicherweise aber auch Kennzeichen einer bestimmten sozialen Klasse. Viele trugen auch Kapuzen. Nun, es sollte ihm schon gelingen, sich einigermaßen unauffällig unter das Volk zu mischen; obwohl er während des größten Teils seiner Reise offen seinen Brustpanzer, seinen Helm, sein Ketten hemd und sein Schwert getragen hatte — eine willkommene Ab wechslung von dem kratzenden Heft seines Dolches, den er gleich bei seiner Abreise von Skelleth in seinem Bündel verstaut hatte —, war er vorausschauend genug gewesen, seinen groben braunen Umhang anzuziehen, bevor er sich der Stadt genähert hatte. Der Händlerhut, den er in Skelleth aufgehabt hatte, passte hier nicht ins Bild; keiner der Einheimischen trug als Kopfbedeckung etwas anderes als diese allenthalben ins Auge stechende Kapuze. Auch sein Umhang war natürlich mit einer solchen Kapuze ausgestattet, jedoch hatte er noch nie Gelegenheit gehabt, sie überzuziehen. Er holte dies jetzt nach, zögerte dann aber: Da er ohnehin schon durch seine außergewöhnliche Körpergröße auffiel, hielt er es für besser, diese nicht auch noch zu betonen. Er streifte die Kapuze wieder ab, entledigte sich seines Helmes, verstaute diesen in sei nem Bündel und setzte erst dann die Kapuze wieder auf. Bis jetzt hatte er noch kein Anzeichen dafür bemerkt, dass er ir gend jemandem aufgefallen war, was ihm nur recht sein konnte.
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Offenbar waren alle zu sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Merkwürdig war nur, dass am Stadttor kein Wachtposten stand. Er saß ab und schlenderte so unauffällig wie eben möglich durch die Menge; dabei hielt er den Oberkörper leicht geduckt, um seine Größe zu verbergen. Er hoffte, dass bei dem flackernden Schein der Fackeln niemand merken würde, dass er kein Mensch war. Eine Möglichkeit, Koros zu verbergen, gab es freilich nicht. Es gab allerdings auch keinen Grund, warum die Leute an einem Kriegs tier hätten Anstoß nehmen sollen, schon allein deshalb, weil sie höchstwahrscheinlich gar nicht wussten, was das war. Klar war natürlich, dass er Koros nicht würde mitnehmen können, wenn er loszog, den Tempel auszurauben; eines seiner nächsten Ziele würde also sein, einen Gasthof mit einem guten Stall ausfindig zu machen. Abgesehen davon, dass er eine Un terbringung für Koros brauchte, war er hungrig und durstig, und außerdem war eine Taverne immer ein guter Ort für Auskünfte je der Art. Er hatte damit gerechnet, gleich am Marktplatz einen Gasthof zu finden, bot sich dieser doch schon aufgrund seiner Nähe zum Stadttor als idealer Standort für einen solchen an; doch als er seinen Blick über die schattenverhangenen Steinfassaden hinter den Marktständen gleiten ließ, konnte er kein Hinweis schild auf einen Gasthof entdecken. Mit einem inneren Achselzu cken trat er zum nächstliegenden Stand, an dem ein Seidenhänd ler gerade einem Kunden die Vorzüge seiner Ware pries. Er wartete höflich, bis die beiden sich auf einen für beide Seiten zufriedenstellenden Preis geeinigt hatten, und fragte dann, wäh rend der Kunde sorgfältig seine Münzen auf die Theke zählte, den Händler: »Gibt es hier in der Nähe einen guten Gasthof? Ich habe eine weite Reise hinter mir.«
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Der Händler erwiderte, ohne den Blick von dem langsam wachsenden Münzenstapel abzuwenden: »Da wäre der Gasthof Zu den Sieben Sternen.« »Könntet Ihr mir den Weg dorthin zeigen?« Ohne aufzublicken, deutete der Händler mit dem Finger und sagte: »Nehmt die erste Straße links.« »Vielen Dank.« Die erste Prüfung hatte er erfolgreich überstanden; keiner der beiden hatte ihn auch nur eines Blickes gewürdigt. Er kehrte zu Koros zurück, den er direkt vor dem Stadttor zurückgelassen hatte, und befahl ihm, ihm zu folgen. Er fand den Spalt im Ring von Buden und Häusern, der die Einmündung der von dem Händler genannten Straße markierte, und führte das Kriegstier hindurch. Die Straße war kaum mehr als eine kleine Gasse. Niemand schenkte ihm oder dem Tier besondere Aufmerksamkeit; er kam zu dem Ergebnis, dass Dûsarra doch großstädtischer sein musste, als er gedacht hatte; wie sonst war zu erklären, dass seine Einwohner nichts Auf fälliges an einem so ins Auge stechenden Paar wie ihm und Koros zu finden schienen? Die Gasse war beleuchtet und fast unbelebt. Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich nach der re lativen Helligkeit des Marktplatzes auf die Finsternis einzustellen. Wie schon ihre Mitbürger auf dem Markt schenkten auch die wenigen Passanten, die am Rand der Gasse entlangschlenderten, ihm und Koros keinerlei Beachtung. Hier hatten alle ihre Kapuzen auf und tief ins Gesicht gezogen, anders als auf dem Markt, wo die Barhäuptigen in der Mehrzahl waren. Vorsichtig ging er durch die Dunkelheit. Die Häuser zu beiden Seiten schirmten das Mondlicht ab, so dass er kaum etwas er kennen konnte, aber die Gasse war völlig frei von irgendwelchen Hindernissen. Zumindest, ging ihm durch den Kopf, stand dieser Gasthof in einer saubereren Straße als der Gasthof des Königs in Skelleth.
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Er folgte einer leichten Biegung; hier wurde die Straße ein wenig heller. Das Licht schien hinter einer zweiten Biegung hervor, hin ter welcher die Straße wieder ihre ursprüngliche Richtung nahm. Als er diese zweite Biegung genommen hatte, sah er auch schon den Gasthof vor sich. Das Licht fiel aus seinem breiten Vorderfenster, und drinnen konnte er Stimmen hören. Die Tür stand offen – nicht überraschend in einer solch warmen Sommer nacht -, und darüber hing ein Schild. In dem Licht, das aus dem Fenster fiel, erkannte er darauf sieben Sterne. Sie waren zu einem Oval gruppiert, weiß auf blauem Untergrund. Ein weißer Bo gengang gleich dahinter führte, wie er hoffte, zu einem angebauten Stall. Er überquerte das vom Lichtschein erhellte Feld und fand einen Jungen in dem Bogengang schlafend. Die Aus dünstungen von Pferden und Ochsen drangen in seine geschlitz ten Nasenlöcher und überzeugten ihn, dass seine Hoffnungen ihn nicht getrogen hatten. Er stupste den Jungen sanft mit der Stiefel spitze an. Der Bursche wachte sofort auf und sprang auf die Füße, sagte aber nichts. »Ich benötige einen Stallplatz für mein Reittier.« »Eine Mark pro Nacht, Herr, und dazu kommt noch Futter.« »Ich habe kein Geld in hiesiger Währung; wird dies ausreichen?« Er zog sein kleinstes Goldstück hervor und legte es in die geöffnete Hand des Jungen. Der Bursche warf einen Blick darauf und trug es zum Fenster, um es bei Licht betrachten zu können. Nachdem er es inspiziert hatte, fragte er: »Was ist das?« »Ein Goldstück aus dem Norden.« »Gold?« Der Junge betrachtete es erneut, und dann prüfte er es mit den Zähnen.
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»Es ist bestimmt Gold.« »Ja, Herr; aber wir sehen hier nur selten Gold. Die meisten be zahlen in Silber. Verzeiht, dass ich Euch so lange warten ließ. Die dritte Box ist Eure, hoher Herr.« Er machte eine tiefe Verbeugung. Garth ignorierte die unterwürfige Geste des Stalljungen und führte Koros zu dem angegebenen Standplatz, der sich als ausrei chend geräumig erwies und reichlich mit Stroh ausgelegt war, wenngleich ihm auch eine gewisse Sauberkeit abging. Ein Eimer mit leidlich klarem Wasser hing an einer Seite, und in Anbetracht der Tatsache, dass Koros erst kurz zuvor gefressen hatte, sah Garth keine Notwendigkeit, sein Kriegstier mit weiterer Nahrung auszustatten. Er nahm ihm das Bündel und den Sattel ab und leg te sie an die Seite. Dann hieß er Koros, an Ort und Stelle zu bleiben, und begab sich zum Eingang der Taverne. Er brauchte nicht zu befürchten, dass sich irgend jemand an seinen Sachen zu schaffen machte; jeder, der töricht genug war, das zu versuchen, würde auf der Stelle in Stücke gerissen werden. Ein Kriegstier zu haben, war etwas sehr Nützliches. Obwohl es von der Straße her so ausgesehen hatte, als wäre die Taverne hell erleuchtet, musste Garth, als er eintrat, feststellen, dass dieser Eindruck getrogen hatte. Das Licht kam von einer Rei he von Laternen; die quer vor dem Fenster aufgehängt waren, so wie von zwei tief heruntergebrannten Kaminfeuern, die sich an den bei-den Enden des Hauptraumes befanden. Eine andere Licht quelle gab es nicht, und so lag der größte Teil des Raumes im Dunkeln. Die Kamine schienen nicht gut zu ziehen; die Luft war rauchig. Ein Dutzend Einheimische bevölkerten die verstreut herum stehenden Tische, und es bediente nicht, wie Garth erwartet hatte, ein einzelner Wirt, sondern zwei Dienstmädchen und ein Junge, alle drei im Jünglingsalter, welche sich von ihren Gästen durch die
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grauen Schürzen unterschieden, die sie über der Kleidung trugen. Vermutlich die Sprößlinge des Gastwirts, dachte Garth, und ihr Vater war wohl in der Küche oder in den oberen Räumen. Er winkte eines der Mädchen zu sich; es drehte gerade einen Spieß, auf dem ein formloser Klumpen Fleisch über einem der Ka minfeuer schmorte. Sofort ließ es von dem Spieß ab und kam zu ihm geeilt. »Ja, Herr?« »Bring mir Bier und Fleisch; und habt ihr Obst? Ich könnte et was Süßes gebrauchen.« Garth sprach mit verstellter Stimme, weit höher als normal, und nahm eine geduckte Haltung ein, um seine Größe zu verbergen. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. »Ja, Herr.« Das Mädchen eilte davon, und er nahm an einem der Tische Platz. Während er auf seine Mahlzeit und sein Bier wartete, studierte er seine Umgebung; er suchte jemanden, mit dem er sprechen konnte, der ihm von der Stadt und von den Tempeln erzählen würde. Was er sah, war ein Dutzend mit Umhängen und Kapuzen vermummte Gestalten, die zusammengekauert an ihren Tischen hockten und kaum ein Wort miteinander sprachen, geschweige denn mit einem Fremden, der sein Gesicht verbarg. Angesichts der allgemeinen Dûsarranischen Tracht fragte er sich für einen Moment, ob der Vergessene König vielleicht aus dieser seltsamen Stadt stammte, aber nach kurzem Überlegen entschied er, dass das unwahrscheinlich war. Der König trug Gelb, eine Farbe, die er nir gendwo in dieser Gegend gesehen hatte, und ging in Lumpen, trotz seiner angeblichen königlichen Abstammung, während hier dunkle Farben vorherrschten und die Kleidung der meisten Leute in besserem Zustand war als sein eigener, von der langen Reise abgewetzter Umhang. Ferner war der König von blasser Haut farbe, wohingegen die Dûsarraner, nach dem, was er sehen konn te, von mittlerer Hautfarbe waren, heller als er selbst, aber brauner
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als die Einwohner von Skelleth; und schließlich trugen die Dûsar raner ihre Umhänge weit und wallend, während der König seine Lumpen eng um den Körper gewickelt hatte. Aber andererseits, wurde Garth plötzlich klar, trug auch nicht jeder der im Raum Anwesenden den Standardumhang mit Ka puze; die beiden Dienstmädchen und ihr Bruder — wenn er es denn war — trugen zum Beispiel kürzere, tief ausgeschnittene Umhänge ohne Kapuze und von dunkelblauer Farbe. Alle drei liefen barfuß; ihr langes braunes Haar trugen sie straff nach hinten gerafft und zu einem langen Zopf geflochten, der ihnen über den Rücken hing. Die Ähnlichkeit ihrer Haarfarbe bestärkte Garth noch mehr in seiner Überzeugung, dass sie Geschwister waren; Farbton und Struktur ihrer Haare waren fast identisch. Diese drei waren vielleicht eher geneigt, mit ihm in eine Un terhaltung zu treten, als ihre Kunden. Eine kurzweilige Plauderei war für solch junges Volk sicherlich eine angenehmere Beschäfti gung, als Krüge und Tabletts herumzutragen. Er richtete sein Augenmerk jetzt stärker auf sie als zuvor. Der Bursche war der jüngste von den dreien; er hatte offenbar noch nicht seine volle Körpergröße erreicht und war noch bar je den Bartwuchses. Garth konnte das Alter von Menschenwesen nicht sonderlich gut einschätzen, aber es war offensichtlich, dass der Junge noch lange nicht ausgereift war. Und als Knabe, der auf der Schwelle zum Jüngling stand, war sein Wissen vermutlich noch begrenzt; zumindest war es bei den Übermenschen so, dass Dinge wie Philosophie und Religion keine Themen für Kinder waren. Es war also zu vermuten, dass der Junge nichts über die Tempel wusste. Was die beiden Mädchen betraf, so gab es zwischen ihnen — so weit er das aus seiner Sicht als Übermann beurteilen konnte — keine augenfälligen Unterschiede. Sie waren ungefähr gleich groß,
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folglich auch etwa im gleichen Alter. Sie waren so groß wie viele heranwachsende Menschenmädchen; einmal mehr wunderte sich Garth über die Laune der Natur, die die beiden menschlichen Ge schlechter so ungleich groß werden ließ, ganz im Gegensatz zu den Übermenschen. Menschenfrauen wirkten so klein und zerbrechlich gegenüber ihren Männern, und so seltsam pro portioniert. Eines der beiden Mädchen schien ein wenig lebhafter als seine Schwester; Garth folgerte, dass es sich um das jüngere handeln musste. Es war das ältere Mädchen, mit dem er gesprochen hatte, als er hereingekommen war, und wahrscheinlich würde dieses ihm auch sein Essen bringen. Er beschloss, die Gelegenheit, wenn es ihm das Essen auftrug, beim Schopfe zu packen und es einfach anzusprechen. Gerade hatte er diesen Entschluss gefasst, als das Mädchen auch schon, mit einem Teller und einem vollen Krug beladen, aus einer Tür im hinteren Teil des Schankraums kam. Seine Last geschickt auf den Händen balancierend, durchquerte es behende den Raum und lud sie auf dem Tisch vor ihm ab. »Vielen Dank.« Er sprach mit verstellter Stimme und hielt sein Gesicht weiterhin verborgen, während er seine Mahlzeit in Augenschein nahm; neben den erwarteten Scheiben roten Fleisches lagen drei Klumpen einer breiigen gelben Substanz, und den Tellerrand zierte eine seltsame rote Frucht, die er noch nie gesehen hatte. »Was ist das?« fragte er und deutete auf die vier kuriosen Unbekannten. »Bratkartoffeln, Herr. Und unser letzter guter Apfel; anderes Obst haben wir zur Zeit nicht auf Vorrat.« Beide Namen sagten dem Übermann nicht das geringste; er vermochte aufgrund des starken Dûsarranischen Akzents, mit dem das Mädchen sprach, nicht einmal ihre Schreibweise zu -94-
erahnen. In Nekutta wurde wenigstens die gleiche Sprache wie in Eramma und in den anderen Ländern des Nordens gesprochen, wenn auch mit einer anderen Betonung, aber dieser Dûsarranische Akzent war nur mit größter Mühe zu verstehen. Nun, der »Apfel« war zumindest eine einheimische Frucht, so viel war klar; die »Kartoffeln« waren eine andere Sache. »Was ist »Kartoffel«?« »Eh? Oh, Ihr scherzt wohl!« »Nein. Ich komme von weit her.« »Die Kartoffel ist ... es ist eine Wurzel, ein Gemüse. Esst, und Ihr werdet sehen.« Das Mädchen schien echt verwirrt; Garth war sich nicht sicher, ob das in dieser Situation wünschenswert war oder nicht. Nun, jedenfalls hatte er es jetzt in ein Gespräch verwickelt. »Komm, setz dich her; ich werde diese seltsame Wurzel pro bieren, und bei der Gelegenheit könntest du mir etwas über eure Stadt erzählen.« »Aber ...« »Ich bin ein zahlender Gast, oder nicht? Gewiss kannst du ein paar Minuten für mich erübrigen.« Er klopfte mit einem Gold stück auf den Tisch; plötzlich durchfuhr es ihn siedend heiß, dass er damit die Aufmerksamkeit des Mädchens auf seine Über menschenhände lenkte. Er ließ die Münze fallen und zog seine Hand wieder zurück unter die Tischplatte. Dem Mädchen war of fenbar nichts Außergewöhnliches aufgefallen; es starrte einen Augenblick lang mit großen Augen auf die Münze, dann erraffte es sie mit einer geschickten Handbewegung und ließ sie im Aus schnitt seines Gewandes verschwinden. Garth registrierte es mit innerer Belustigung. Er hatte noch nie ein Menschenwesen etwas an dieser Stelle aufbewahren sehen, aber wenn er es recht überleg te, schien dies für eine Frau ein logischer Ort, um etwas aufzube
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wahren. Die Münze war ein großes Goldstück gewesen, nicht eines von diesen winzigen, wie er es dem Stalljungen zugesteckt hatte, und er bemerkte: »Damit dürfte doch auch die Mahlzeit abgegolten sein, nicht wahr?« »Aber ja, gewiss!« Das Mädchen setzte sich lächelnd auf den Stuhl Ihm gegenüber. »Gut. Erzähl mir von eurer Stadt; ich bin ein Wanderer aus dem fernen Osten.« »Was gibt es da groß zu erzählen?« »Eh ...« Mit dieser Antwort hatte Garth nicht gerechnet. Er hatte keine sonderliche Erfahrung im Umgang mit Menschenwesen. »Warum herrscht auf dem Marktplatz trotz der mitternächtlichen Stunde ein so geschäftiges Treiben? Und warum steht das Tor weit offen?« »Das ist immer so.« Damit war seine Theorie von dem religiösen Fest zunichte ge macht. »Aber warum? In den meisten Städten treibt man seine Ge schäfte am Tage, und die Nacht ist dem Schlaf vorbehalten!« »Aber wir sind hier in Dûsarra!« Ihr Ton ließ durchklingen, selbst für das ungeübte Ohr eines Übermenschen, dass sie sich auf den Arm genommen fühlte. Er spießte ein Stück Kartoffel mit sei nem Messer auf und aß es, während er nachdachte; das Zeug schi en essbar, war aber nicht sonderlich schmackhaft. »Und was ist so Besonderes an Dûsarra?« »Das wisst Ihr nicht?« »Nein.« »Der Name drückt es doch schon aus.« Garth hatte sich mit dem Namen bisher noch nicht befasst; er hatte ihn für nichts weiter als eine willkürliche Abfolge von Ge räuschen gehalten, die zur Bezeichnung dieses speziellen Ortes -96-
dienten; auch jetzt, bei näherem Hinsehen, fiel ihm nichts Bedeut sames dazu ein. Die Endung -arra war eine gebräuchliche Desi gnation für einen Ort, an dem sich Leute versammelten, und der Stamm Dûs- sagte ihm überhaupt nichts. »Was bedeutet er denn?« »'Dûsarra' heißt soviel wie 'der Ort der Dunklen Götter'. Wir verehren hier die Götter, die von der Außenwelt gemieden werden. Hauptsächlich Tema, die Göttin der Nacht. Vielleicht, Fremder, war es ein Fehler von Euch, hierherzukommen, ohne dies zu wissen.« »Ja, vielleicht.« Er saß für einen Moment schweigend da und dachte nach. Er hätte etwas in dieser Art vom Vergessenen König erwarten müssen. Er wusste nur wenig von den Religionen der Menschen, außer dass sich keine zwei von ihnen je über irgend etwas einig waren; aber von den Dunklen Göttern hatte er schon gehört. Es hieß, dass sie Menschenopfer verlangten und dass sie durch und durch böse waren. Es gingen Gerüchte, dass der Baron ein heimli cher Anhänger von ihnen war, was, würde man es ihm nach weisen können, Grund genug für seine sofortige Hinrichtung wä re. Doch war es, wie gesagt, nur ein vages Gerücht. Es hieß, dass die Dunklen Götter, anders als die meisten anderen Götter, sich noch immer direkt in die Angelegenheiten der Sterblichen ein mischten und dass sie ihren Anhängern besondere Kräfte und Fä higkeiten verliehen, als Gegenleistung für die grausamen und blu tigen Taten und Opfer, die diese dafür begehen mussten. Es ging die Mär, dass böse Zauberer ihre Seele (so lautete der Begriff, den die Menschen gebrauchten) an die Dunklen Götter verkauften. Und die ganze Stadt Dûsarra betete diese finsteren Gottheiten an? Es schien fast unglaublich. Wie konnte ein denkendes Wesen das Böse anbeten? -97-
»Dann erzähl mir von diesen Göttern.« Wenigstens hatte das Gespräch jetzt eine Wendung zu den Tempeln genommen, ohne dass er es erst dorthin hätte lenken müssen. »Es sind sieben an der Zahl. Die sieben Herren von Dûs, die Gegenspieler der sieben Herren von Eir, die woanders angebetet werden. Ich weiß nur wenig über die meisten von ihnen; ich bin Anhängerin der Tema, wie die übrigen aus meiner Familie.« »Wie kam es dazu?« »Natürlich, indem ich in dem Glauben erzogen wurde.« »Wie kam es dazu, dass die ganze Stadt diese Götter verehrt?« »Ich weiß nicht; es war schon immer so. Mein Vater erzählte mir einst, es sei wichtig für das kosmische Gleichgewicht, dass diese missverstandenen und zu Unrecht geschmähten Götter wenigs tens eine Stadt hätten, die ihnen ganz allein gehöre.« »Aber sind sie denn nicht böse?« »Tema nicht!« In ihre Züge kam plötzlich Leben, und Garth war überrascht über die Leidenschaft, mit der sie ihre Göttin verteidig te. »Tema ist wunderschön! Die Nacht ist wundervoll, kühl und ruhig; ich könnte niemals den Tag verehren! Wie können Men schen es nur aushalten mit all diesem grellen, blendenden Licht? Und diese schreckliche Hitze, die einem die Kleider am Leibe festkleben lässt? Und all den Tieren, die bei Tag herumstreifen, und den Insekten? Die Sonne ist so grell, dass man sie nicht an schauen kann, und sie lässt die ganze Schönheit der Flammen ver blassen. Und es gibt am Tage keine Sterne! Ich ...« Sie verstummte plötzlich. »Verzeiht mir!« »Nein; ich bin es, der dich um Verzeihung bitten muss. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen. In den anderen Ländern, die ich besucht habe, gelten die Dunklen Götter als die Herren des Bö sen.«
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Sie zuckte die Achseln. »Die so sprechen, sind offenbar un wissende und törichte Heiden. Es gibt keine bösen Götter. Böse sind nur die Missverständnisse zwischen den Menschen oder zwi schen den Menschen und den Göttern. Das sagen die Priester.« »Ich verstehe. Du betest die Göttin der Nacht an. Was ist mit den anderen sechs Dunklen Göttern?« »Auch sie haben ihre Anhänger, aber ich schenke ihnen keine Beachtung. Manchmal glaube ich auch, dass einige von ihnen böse sind, ganz gleich, was die Priester sagen. Zum Beispiel Aghad; sei ne Anhänger machen mich schaudern, und seine Priester machen mir angst. Ich habe sie bei einer ihrer Versammlungen in seinem Tempel gesehen. Und natürlich betet auch niemand zu dem GottDessen-Namen-Man-Nicht-Spricht, wenngleich auch er einen Tempel hat.« Garth spürte, wie ihn ein Gefühl des Unbehagens beschlich. Er hatte von dem Gott-Dessen-Namen-Man-NichtSpricht gehört; es war der Gott des Todes, bekannt und gefürchtet auf der ganzen Welt. Es hieß, dass der, der seinen wahren Namen aussprach, auf der Stelle starb. Und dieser Gott wurde hier ver ehrt? Nein, das Mädchen hatte eben noch gesagt, dass niemand ihn verehrte, dass ihm gleichwohl aber ein Tempel geweiht war. War es einer der sieben, die er ausrauben musste? Es musste so sein; denn alle schienen darin übereinzustimmen, dass es nur sieben Tempel in Dûsarra gab. Und obgleich er es weit von sich gewiesen hätte, auch nur im geringsten abergläubisch zu sein, und obwohl sein eigenes Volk darauf bestand, dass es keine Götter gab, und wenn doch, dass sie sich niemals in die Angelegenheiten von Sterblichen einmischten, verspürte er keine große Lust, den Tempel des Todes auszurauben. Andererseits, sagte ihm sein Sinn für das Praktische, wenn es keine Anhänger gab, dann war der Tempel auch nicht bewacht und somit am leichtesten von allen auszurauben.
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»Sag mir, wer die sieben Götter sind!« »Ihr meint die Sieben, die Tempel haben?« »Gibt es denn noch andere?« »Aber ja; zum Beispiel Temas Tochter Mei, die Herrin des Mondes, und noch eine ganze Reihe andere.« »Dann sag mir nur, wer die sieben sind.« »Bheleu, P‘hul, Sai, Aghad, Andhur Regvos und Tema.« »Das sind nur sechs, wenn ich richtig mitgezählt habe.« »Nun, und der Gott ohne Namen. Ihr wisst schon.« »O ja, natürlich!« Man hielt es offenbar für unglücksbringend, den Namen des Todesgottes zu oft zu erwähnen, selbst in seiner umschriebenen Form. »Ihn kenne ich ja nun schon, und P‘hul auch, und dass Tema die Göttin der Nacht ist, hast du mir gesagt. Aber wer sind die anderen?« »Bheleu ist, glaube ich, der Gott des Krieges und der Zerstö rung. Andhur Regvos ist der Gott der Finsternis.« »Wieso hat er zwei Namen?« »Das weiß ich nicht.« »Oh. Gut, fahr fort; was ist mit den anderen zwei?« »Ich weiß es nicht; Aghad und Sai sind Geheimnis. In ihre Tem pel dürfen keine Außenstehenden. Beide ... nun, das ist bloß ein Gerücht. Nicht so wichtig.« »Und die ganze Stadt lebt bei Nacht, um mit der Religion dieser Götter im Einklang zu sein?« »O nein! Nicht alle! Nur die Anbeter der Nacht und der Dunkel heit. Aber wir sind die große Mehrheit in der Stadt. Ich selbst kenne niemanden, der bei Tag wacht, aber das liegt natürlich zum Teil auch daran, dass ich den ganzen Tag über schlafe.«
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»Ich finde das alles höchst interessant. Ob ich die Tempel wohl besuchen könnte?« »Was die anderen anbetrifft, so vermag ich das nicht zu sagen, aber zum Tempel der Tema kann ich Euch gern einmal führen.« »Sehr gut. Aber zuerst will ich essen.« Ober die Unterhaltung war sein Essen kalt geworden, und erst jetzt merkte er, was für einen gewaltigen Hunger er hatte. Mit Appetit machte er sich über seine Mahlzeit her; sowohl das Fleisch als auch das Bier mundeten ihm vorzüglich; das Mädchen lachte fröhlich auf, als er versuchte, den Apfel mitsamt Kernge häuse und Kernen zu verspeisen.
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Kapitel 7 Der Tempel der Tema war ein mächtiges, imposantes Bauwerk; gekrönt wurde es von einer riesigen schwarzen Kuppel. Garth vermutete, dass es diese Kuppel war, die er als erste aus der Ferne gesehen hatte. Der Eingang befand sich im Fuße eines Turmes, der gut hundert Fuß hoch aufragte. Das gesamte Bauwerk bestand aus mächtigen blankpolierten Blöcken aus schwarzem Stein. Auf beiden Seiten des großen offenstehenden Tores waren kunstvolle Verzierungen in den Stein gemeißelt. Zum Tor selbst gelangte man über eine Treppe aus dreizehn schwarzen steinernen Stufen, welche flankiert wurde von Balustraden, die die Form von inein ander verschlungenen Schlangenleibern hatten. Garth fand den Ort nicht sonderlich anheimelnd. Zwar hatte das Bauwerk etwas unbestreitbar Beeindruckendes, aber ihm missfiel die be drückende Atmosphäre von düsterer, bedrohlich wirkender Wuchtigkeit, die von ihm ausging, seine erdrückende, unheimli che Schwärze, die durch das Mondlicht noch unterstrichen wurde; die Art und Weise, in der seine Größe offenbar ausschließlich dazu diente, seine Besucher klein und gering erscheinen zu lassen und ihnen Ehrfurcht einzuflößen. Die vermummten Gestalten, die durch das dunkle Portal eintraten, wirkten wie kleine Kinder, in dem sie in bizarrem Missverhältnis zu der überwältigenden Wuchtigkeit ihrer Umgebung standen. Auch missfiel ihm die Düsternis, die im Innern des Tempels herrschte. Nicht der kleinste Schimmer von Licht war durch das Portal zu sehen. gewiss, das war nicht anders zu erwarten ge wesen in einem Tempel, der der Göttin der Nacht geweiht war, aber es missfiel ihm trotzdem.
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Das Mädchen ging neben ihm, als er die Treppe hinaufstieg; plötzlich fiel ihm ein, dass er seinen Namen ja noch gar nicht wusste. Aber seinen Namen wusste es ja auch nicht. Vor ihnen verschwanden drei andere Gottesdienstbesucher, in Mitternachts blau gewandet, in der Dunkelheit des Portals. Einen Moment später traten auch er und das Mädchen in die Düsternis des Tempelinnern. Garth hielt einen Moment lang inne, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Von den dreien, die direkt vor ihnen eingetreten waren, war keine Spur mehr zu entdecken; kein Rascheln von Kleidern, keine Schritte waren mehr zu hören, nicht einmal einen Duft hatten sie hinterlassen. Sein Unbehagen wuchs. Das Mädchen war nicht wie er stehengeblieben und hatte schon den Raum durchquert, eine Vorhalle von etwa vierzig Fuß im Quadrat; er hörte es flüstern: »So kommt!« Er ging zu dem Mäd chen, das einen oder zwei Schritte vor der inneren Wand stand. Er hatte eine verhangene Tür erwartet oder irgendeine andere Wand öffnung, die zum eigentlichen Tempel führte, aber er konnte nichts dergleichen entdecken; vor ihnen schien sich nichts als eine kahle Steinwand zu befinden. Dann, mit verblüffender Plötzlich keit, schwang ein Segment der steinernen Wand nach innen auf; der schwere süßliche Geruch von Weihrauch schlug ihm ent gegen. Er konnte eine Gestalt in der Öffnung ausmachen, dunkel gekleidet, aber mit heller Haut und weißem Haar, welches ganz schwach in dem Mondlicht schimmerte, das von irgendwo her einfallen musste. Die Dunkelheit in der Öffnung schien nicht ganz so undurchdringlich wie in der Vorhalle, und er spürte eine ge wisse Erleichterung. Das Mädchen ging durch die Öffnung, und er folgte. Sie waren im Haupttempel. Der Weihrauchgeruch war fast überwältigend; der Rauch wir belte in dicken Schwaden, fast unsichtbar in der Dunkelheit. Von
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irgendwoher sickerte Mondlicht herein, obwohl er keine Fenster entdecken konnte; die Wände hinter ihm waren kahl und dunkel, und bis zur gegenüberliegenden Seite konnte er in der Finsternis nichts sehen. Der Raum, in dem er sich befand, war offenbar von gewaltigen Ausmaßen; rings um ihn herum war ein stetiges unde finierbares Geflüster und Geraschel, das verzerrt wurde durch Entfernung und Echos und das durch den Rauch zu schweben schien. Auch die Decke des Raumes vermochte er nicht auszuma chen; seine Augen hatten noch nicht genügend Zeit gehabt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ein Luftzug veranlasste ihn, sich umzudrehen. Die Öffnung, durch die er soeben eingetreten war, hatte sich wieder ge schlossen; die Wand erschien wieder durchgehend und massiv. Die weißhaarige Erscheinung war ebenfalls verschwunden. Er drehte sich wieder dem Innern zu und war erleichtert, die Gestalt des Mädchens ein paar Schritte vor ihm stehen zu sehen. Sie bedeutete ihm zu folgen und ging voran durch den Saal; er gehorchte, sorgsam darauf bedacht, seine gebückte Haltung beizu behalten. Ihm wurde peinlich bewusst, dass die Absätze seiner Stiefel laut auf dem steinernen Fußboden dröhnten, während das Mädchen sich völlig lautlos vorwärtsbewegte. Sie waren vielleicht hundert Fuß gegangen, als das Mädchen stehenblieb; es drehte sich ein wenig zur Seite und kniete sich dann in einer seltsam unterwürfigen Haltung, mit gesenktem Haupt, die Hände vor der Brust verschränkt, auf den Boden. Garth folge dem Beispiel und wartete darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er kniete hinter einer Menschenmenge, alle in einer ähnlichen Pose wie das Mädchen auf den Boden gekauert; der Saal, so er kannte er jetzt, füllte den gesamten Innenraum des riesigen Kuppelbaus aus. Er maß in der Länge und in der Breite gut
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hundert Fuß und war in der Mitte der Kuppel bestimmt siebzig Fuß hoch. Das Mondlicht fiel durch winzige Löcher in der Kuppel; es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende, und nachdem er eine Weile hingeschaut hatte, wurde ihm bewusst, dass sie die Sterne am Himmel darstellen sollten. Sie waren so angeordnet, dass sie den Sternbildern glichen, die man in der Mitte einer Winternacht sehen konnte. Der große runde Saal war voller Menschen, die teils knieten, teils lagen. Keiner von ihnen sprach jedoch, nicht einmal im Flüsterton. Das stetig auf- und abschwellende Geräusch, das von den Kuppelwänden widerhallte und das er zunächst fälschlicher weise für Getuschel gehalten hatte, war nichts anderes als das un vermeidliche Kleidergeraschel der Betenden. Zumindest vermoch te er es nicht anders zu deuten. Einige der Geräusche waren zu fremdartig, als dass er sie so ohne weiteres hätte deuten können. Alle Leute, ob sie nun knieten oder lagen, hatten das Gesicht in dieselbe Richtung gewandt; als sich seine Augen genügend auf die Dunkelheit eingestellt hatten, konnte er das Objekt ihrer Anbe tung ausmachen. Es war die Skulptur einer Menschenfrau, gehauen aus dem selben schwarzen Stein, aus dem auch die Wände und die Kuppel bestanden. Sie war gut dreißig Fuß hoch und ein wahres Meister werk der Bildhauerkunst. Sie stand vor der Wand, aufrecht, aber nicht steif und gerade; sie hielt die Arme erhoben und breitete ih ren steinernen Umhang über der betenden Menge aus. Der Um hang selbst verschmolz an seinen Säumen mit der Wand und der Kuppel, und bei näherem Hinsehen erkannte Garth, dass seine Falten sich unendlich fortsetzten, so dass das gesamte Kuppelge wölbe einschließlich der »Sterne« und die Wände die Gläubigen wie ein gewaltiger Umhang zu umfangen schienen. Die Figur selbst war in ein loses Gewand von der Art gehüllt, wie es an
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scheinend alle Dûsarraner trugen, wobei der Künstler es jedoch so arrangiert hatte, dass die anmutigen Rundungen des Körpers der Frau zu sehen waren. Das Gesicht war oval, ebenmäßig und von heiterem Ausdruck, und umrahmt von einem Halo aus we hendem Haar, welches auf die gleiche Weise mit der Kuppel verschmolz wie der Umhang. Der Gesamteindruck, den die Skulptur auf den Übermann machte, war der von Anmut und be sänftigender Ruhe; die Sinnlichkeit, die die Gestalt der Göttin aus strahlte, vermochte er als Übermann natürlich nicht in dem Maße zu empfinden und zu würdigen, wie dies ein Menschenmann vermocht hätte. Auch leuchtete ihm zwar der Symbolismus ein, der der Gestalt der Göttin innewohnte, die ihren Mantel der Nacht über ihre Anhänger ausbreitet, doch erfasste er nicht voll und ganz die trostspendende Mütterlichkeit, die die Verehrer von Tema in dem Abbild sahen. Gleichwohl vermochte er auf intellek tueller Ebene sehr wohl nachzuvollziehen, dass Menschen sich von einer solchen Gottheit angezogen fühlten und es ihnen nicht schwer fiel, sie zum Gegenstand ihrer Verehrung zu erheben und ihren Glauben an sie zu hängen. Kein Wunder, dass sich das Mäd chen ereifert hatte, als er die Göttin böse genannt hatte. Er war so versunken in die Betrachtung der prachtvollen Statue, dass es mehrere Minuten dauerte, bis ihm der Altar, der zu ihren Füßen stand, überhaupt erst ins Auge fiel. Es war ein großer Klumpen meteorischen Eisens, der an den Sei ten in seinem natürlichen Zustand belassen worden war, mit Za cken und Graten, dessen Oberfläche jedoch abgeschliffen und blankpoliert worden war. Selbst in der Dunkelheit des Tempels war der metallische Schimmer zu erkennen, der auf der Oberflä che lag. Es bestand kein Zweifel: dies war der Altar, den Garth be rauben sollte, und das Objekt seines Diebstahls war jener runde, nur vage zu erkennende Gegenstand von etwa einem Fuß Durch messer Größe, der darauf lag. -106-
Er nahm einen blassen Lichtschein auf seiner Oberfläche wahr; eines der Löcher in der Kuppel befand sich in exakter Linie mit dem Einfallswinkel des Mondlichts, und ein Strahl silbrigen Lich tes fiel jetzt direkt auf den Gegenstand auf dem Altar. Garth fragte sich, ob dahinter eine bewusste Absicht steckte. Dann, mit einem Mal, so unvermittelt, dass er vor Schreck um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte, erfüllte Gesang den Saal. Der Weihrauch wirbelte in dichteren Schwaden denn je zu vor; er quoll gleichzeitig aus einem Dutzend Nischen ringsum in der Wand her-vor. Priester tauchten hinter dem Altar auf, voll kommen vermummt in wallende schwarze Roben. Einer von ih nen streckte die Hand zum Altar aus, packte den Zipfel des Tu ches, das, wie Garth jetzt erkannte, den runden Gegenstand auf dem Altar verhüllte, und zog es mit einer raschen Bewegung weg. Sofort erstrahlte der Gegenstand zu funkelndem Glitzern von solch gleißender Helligkeit, dass es die an die Dunkelheit gewöhn ten Augen fast zu blenden schien. Es war ein großer Kristall, eine Kugel mit Millionen Facetten, die den dünnen Strahl Mondlicht einfing und in ein glitzerndes Feuerwerk reinen weißen Lichts brach. Einen Moment lang dachte Garth, es sei ein Diamant, verwarf diesen Gedanken aber sogleich als absurd. Kein Diamant konnte so groß sein, und er bezweifelte, dass selbst ein Diamant das Licht so einfangen und brechen konnte. Es war eine Art von Edelstein oder Kristall, die ihm gänzlich unbekannt war. Und diesen Edelstein musste er stehlen, wenn er seinen Auftrag in Dûsarra erfüllen wollte. Er lauschte dem Gesang der Priester und fragte sich, wie er das jemals schaffen sollte.
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Kapitel 8 Der Singsang der Priester hatte einen Text, und die Zeremonie hatte zweifellos irgendeine besondere Bedeutung, aber Garth war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als dass er ihren Sinn hätte entschlüsseln können, zumal der Gesang hundert fach zwischen den Wänden und der Kuppel hin und her hallte und dadurch die Worte zur Unkenntlichkeit verzerrt wurden. Er klang in seinen Ohren lediglich wie ein unregelmäßig an- und ab schwellendes Gesumm. Er schaute kaum hin, als die Priester in ihren dunklen Roben den großen Kristall vom Altar hoben und ihn mit zeremoniellen Gebärden nach einem genau festgelegten Ritual in der Luft be wegten, wobei sie die Menge abwechselnd mit Lichtpunkten besprenkelten und in Dunkelheit tauchten; er plante, wie er vorge hen sollte. Er würde dem Mädchen aus der Taverne einige Fragen stellen müssen, aber es war völlig in sein Gebet versunken; stumm bewegte es die Lippen, einen Ausdruck höchster Verzückung auf dem Gesicht. Als ein verirrter Mondlichtstrahl für einen Moment ihr Gesicht erhellte, sah er sofort, dass er zumindest für eine Weile nichts mit ihr würde anfangen können. Da dies der Tempel der Göttin der Nacht war, konnte er mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass alle Gebete und Gottesdienste des Nachts stattfanden; bei Tag würde der Tempel so gut wie leer sein, wenn sich auch vermutlich einige Priester darin aufhalten würden. Es war bereits weit nach Mitternacht. Er brauchte jetzt nur noch bis zum Morgengrauen warten, sich des Kristalls bemächtigen und dann verschwinden. Wenn irgend möglich, würde er warten, bis keine Priester in der Nähe waren, aber wenn es nicht anders zu bewerkstelligen war, würde er sich
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nötigenfalls auch gewaltsam Zugang zu dem Edelstein verschaf fen. Es deutete nichts darauf hin, dass sie Waffen irgendwelcher Art trugen; ein gezücktes Schwert würde ihnen den nötigen Re spekt einjagen, zumal die meisten Menschenwesen ohnehin eine fast abergläubische Angst vor Übermenschen hatten. Immerhin waren diese ein gutes Stück größer und stärker als Menschen und in den Augen der letzteren grässliche Ungeheuer. Es empfahl sich, ein ruhiges Versteck zu finden, wo er bis Tages anbruch warten konnte; wenn er blieb, wo er war, würde er vielleicht unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Er erwog einen Moment lang, zu gehen und bei Sonnenaufgang wiederzukom men, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Er hatte keine Ahnung, mit welchem Mechanismus das Öffnen der Wand zu bewerkstelligen war — wenn sie sich überhaupt von außen öff nen ließ. Und selbst wenn man sie von außen öffnen konnte, bestand noch immer die Möglichkeit, dass sie tagsüber verschlossen war. Das Ritual endete mit einem simplen Singsang, in den die Gläubigen einfielen. Jedes zweite Wort war der Name der Göttin, und der Text bestand lediglich aus sechs Worten, aber Garth konnte die anderen drei nicht verstehen. Es wurde dreimal gesungen; dann hob der Priester den Kristall ein letztes Mal in die Höhe, stellte ihn auf den Altar und deckte das Tuch wieder dar über. Sein letzter Lichtstrahl fiel auf die Augen des Priesters, und Garth fuhr überrascht hoch: Die Augen des Priesters waren genau so rot wie seine eigenen! Einen Moment lang glaubte er, die Gestalt in der Robe sei vielleicht ein Übermann, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Er war bei weitem zu klein für einen Übermann, und wie der Mann, der ihn in den Tempel gelassen hatte, war er auch weißhaarig. Übermenschen hingegen hatten ausnahmslos pechschwarzes Haupthaar. Überdies hatte er selbst in dem winzigen Moment, da das Licht auf das Gesicht gefallen -109-
war, sehen können, dass es Augen mit Pupille, Iris und Weißem waren, wohingegen Übermenschen nur Pupille und Iris besaßen. Nein, der Priester konnte kein Übermann sein, er war bloß missge bildet. Die Zeremonie war vorüber, und das Mädchen erhob sich und bedeutete ihm, ihm nach draußen zu folgen. Er schüttelte den Kopf. Das Mädchen schaute ihn kopfschüttelnd an, dann zuckte es die Achseln und ging. Fast alle Gläubigen, die Knienden wie die Liegenden, standen jetzt auf und gingen zum Ausgang, aber Garth blieb, wo er war, um auf die Morgendämmerung zu warten. Es war ein langes, ermüdendes Warten; er hatte nicht bedacht, wie müde er war. Die Strapazen seines langen Ritts machten sich jetzt mit Heftigkeit bemerkbar. Als die Menge den Tempel verlassen hatte, stand er allein in der Mitte des riesigen Saales, aber die vermummten Priester, die sich mit raschelnden Roben wortlos entlang der Wand hinter dem Altar bewegten, schenkten ihm keinerlei Beachtung. Kaum waren jedoch die letzten Verehrer Temas durch die Wandöffnung ent schwunden, da begannen schon neue hereinzutröpfeln. Eine halbe Stunde später war der Saal wieder voll, und er sah sich erneut um ringt von knienden oder flach auf dem Bauch liegenden Gläubigen, die allesamt den Blick auf das prachtvolle schwarze Götzenbild aus Stein richteten. Die dünnen Lichtstrahlen des Mondes, die ihren Weg durch die Löcher in der Kuppel fanden, wanderten durch den Saal, während der Mond draußen am Himmel seine Bahn zog, und etwa eine Stunde nachdem das Mädchen gegangen war, fiel wieder ein Strahl genau auf die verhüllte Kristallkugel auf dem Altar. Ein Priester zog das Tuch weg, und die Gesänge begannen aufs neue. Diesmal war es nicht das Planen seiner Tat, das Garth vom Zu hören ablenkte; es war sein angestrengter Kampf gegen die -110-
Müdigkeit. Die Knie schmerzten vom langen bewegungslosen Knien auf dem harten Steinboden, die Augen taten ihm weh vom angestrengten Sehen durch die unverändert herrschende Dunkel heit, und sein ganzer Körper war müde von dem langen strapazi ösen Ritt. Er wusste, wenn er die Augen auch nur einen Moment lang zufallen ließ, schliefe er unweigerlich ein. Er war früh aufge standen, noch vor dem Morgengrauen. Das bedeutete, dass er mehr als vierundzwanzig Stunden durchwacht hätte, wenn der neue Tag anbrach; das war unter normalen Umständen keine auf sehenerregende Leistung, aber nach einem Tag im Sattel und einer langen, langweiligen, auf einem steinernen Boden durchhockten Nacht erschien es ihm jetzt allerdings schon als fast unmöglich, das durchzustehen. Die Zeremonie endete, die Menge zerstreute sich, neue Gläubige tröpfelten herein, und immer noch kniete er da, und immer noch beachtete ihn keiner. Die Priester schlurften vor den Füßen der Göttin herum; sie hatten scheinbar alle langes weißes Haar, und mindestens zwei von ihnen hatten die gleichen seltsamen roten Augen. Und alle waren blasshäutig, im Gegensatz zu den anderen Dûsarranern, die Garth gesehen hatte. Selbst die, deren Gesichter vollkommen verborgen blieben, zeigten gelegentlich ihre Hände, und diese Hände waren durchweg weiß und offenbar gänzlich unbehaart. Ansonsten gab es nur wenig Ähnlichkeit zwischen ih nen; einige waren groß, andere klein, einige waren dick, andere dünn. Zumindest eine Priesterin schien unter ihnen zu sein, so weit er das bei den wallenden Roben beurteilen konnte, die sie alle gleicher-maßen trugen. Er hatte einmal einen weißen Wolf gese hen, ein Tier mit schneeweißem Fell und blutroten Augen; ein kir panischer Gelehrter hatte ihn »Albino« genannt. Diese Priester mussten menschliche Albinos sein. Er hatte nicht gewusst, dass es solche gab. Und warum mussten alle Priester solche Albinos sein? Eine merkwürdige Bedingung -111-
für das Priesteramt, fand er — vorausgesetzt, es existierte tat sächlich eine solche Bedingung. Warum sollten Albinos besonders dazu geeignet sein, der Göttin der Nacht zu dienen? Mit solcherlei müßigen Betrachtungen schaffte er es, sich auch noch durch die dritte Zeremonie hindurch wachzuhalten. Dies mal, als der Schlussgesang endete und der Kristall verhüllt war, bewegte sich die Menge langsamer als bei den ersten beiden Ma len auf den Ausgang zu, und zum ersten Mal hörte er, dass sich welche von ihnen beim Hinausgehen miteinander unterhielten. Auch die Priester hörten jetzt mit ihrem scheinbar ziellosen Um herwandern auf; alle bis auf drei von dem halben Dutzend oder mehr, die er gezählt hatte, verschwanden — wohin, vermochte er nicht zu erkennen. Die verbliebenen drei standen regungslos hin ter dem Altar; der in der Mitte hatte beide Hände auf den verhüll ten Kristall gelegt. Garth schätzte, dass es bis zum Morgengrauen noch zwei Stunden waren. Da es ganz so aussah, als seien die Gottesdienste für diese Nacht beendet, stand er auf. In seinen Knien begann es schmerzhaft zu prickeln, als das Blut wieder in die Partien zurück kehrte, die durch das lange Knien eingeschlafen waren. Er starrte zu dem Götzenbild hinauf, so als betete er es an, damit niemand ihn fragen könnte, wieso er nicht mit den anderen hinausging. Seine Augen hatten sich schon lange auf die Dunkelheit einge stellt, doch fand er sich jetzt zu seiner Überraschung nicht in der Lage, Details an der Statue zu erkennen, die er zuvor deutlich hatte ausmachen können. Er blinzelte, aber es wurde nicht besser. Das Mondlicht war nicht mehr gleichmäßig verteilt; hatte es sich lediglich verlagert? Nein, jetzt begann es überall gleichmäßig dunkler zu werden. Einen Moment lang befiel ihn die irrationale Angst zu erblinden, bevor ihm bewusst wurde, was geschah. Der Mond ging unter.
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Natürlich, das war der Grund, warum keine weiteren Zeremoni en mehr abgehalten wurden und warum alle gingen; sobald der Mond untergegangen war, würde es im Tempel viel zu dunkel sein. Die Leute würden gegeneinander stoßen, in die falsche Rich tung blicken und überhaupt unfähig sein, sich angemessen zu verhalten; selbst Anbeter der Nacht sahen das ein. Er fragte sich, was sie wohl in mondlosen Nächten taten. Ob dann überhaupt keine Gottesdienste stattfanden? Das Licht der Sterne reichte auf keinen Fall aus. Und was geschah, wenn der Himmel bedeckt war? Würde der Fackelschein von den Straßen oder die von den Wolken reflektierte Vulkanglut für ausreichendes Licht sorgen? Und es würde keinen Strahl Mondlichtes geben, der auf den Kris tall fallen konnte. Nun, derlei Erwägungen mochten zwar ganz interessant sein, aber sie waren müßig, da diese Nacht ja klar und mondhell ge wesen war. Die sich rasch ausbreitende Dunkelheit konnte für sei ne Zwecke nur von Nutzen sein, da niemand ihn beim Stehlen des Edelsteins würde sehen können; er studierte den Altar und schätz te die Entfernung zu ihm ab, um ihn im Dunkeln schnell erreichen zu können. Die drei Priester standen noch immer hinter dem Altar. Die letz ten Gottesdienstbesucher hatten den Tempel verlassen, und Garth bemerkte, dass die Priester ihn anschauten. Das passte ihm ganz und gar nicht ins Konzept. Ihm blieb keine andere Wahl, als eben falls in Richtung Ausgang zu gehen. Einen Schritt davor blieb er jedoch stehen und wandte sich um; er konnte nur hoffen, dass die Priester, falls sie ihn dabei sahen, das nicht als ungewöhnlich er achteten. Aber allem Anschein nach sahen sie ihn nicht, wie er stehen blieb, wenn sie in der Dunkelheit überhaupt so weit sehen konn ten. Garth bezweifelte das, da er sie seinerseits auch nicht mehr se
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hen konnte. Er war sich zwar nicht absolut sicher, aber es war un wahrscheinlich, dass diese kleinen schielenden Menschenaugen so scharf sehen konnten wie die Augen eines Übermenschen — ob wohl es sich, wie er sich wieder in Erinnerung rief, bei den Augen der Priester ja offensichtlich nicht um normale Menschenaugen handelte. Irgendwo ertönte ein Gong, und die steinerne Tür schloss sich langsam. Wer auch immer ihren Mechanismus bediente, er musste in dem Glauben handeln, dass Garth hinausgegangen war. Er trat von der Wand zurück und stand in tiefster Dunkelheit. Er hörte das Rascheln von Kleidern und Flüstern. Obwohl es die Akustik des Saales sehr schwer machte, den Ursprung von Ge räuschen zu lokalisieren, war Garth sich ziemlich sicher, dass die drei Priester sich von dem Altar wegbewegten. Plötzlich ver stummten die Geräusche jäh, wie wenn ein Vorhang gefallen wäre; Garth lauschte angestrengt in die Dunkelheit und hörte ganz leise das Geräusch sich entfernender Schritte. Die Priester waren fort. So geräuschlos, wie er nur eben konnte, schlich Garth über den Steinboden in die Richtung, wo der Altar stand; er konnte nicht weiter als ein paar Zoll sehen, und die leisen Schlurfgeräusche, die seine Stiefel auf dem Boden machten, kamen ihm, durch das hundertfach von der Kuppel widerhallende Echo verstärkt, wie das Tosen eines fernen Wasserfalls vor. Nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorkam, stieß seine aus gestreckte Hand gegen etwas; er betastete es mit den Finger spitzen und entschied, dass es eine Falte in dem Umhang des Standbildes war. Er hatte den Altar verfehlt und war an die Wand zur Linken gestoßen. Vorsichtig tastete er sich an der Falte entlang, bis sie nach oben abschwenkte, außerhalb seiner Reich weite, und bewegte sich dann weiter an der Wand entlang, bis er
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die Füße des Standbildes erreichte, die, wie er sich erinnerte, un mittelbar hinter dem Altar waren. Er drehte sich, bis sein Gesicht genau in die entgegengesetzte Richtung der Wand blickte, und spähte in die Dunkelheit. Er glaubte, ganz schwach die Umrisse des Altars zu erkennen. Er tat behutsam einen Schritt vorwärts und streckte die Arme aus. Langsam ließ er sie hinuntergleiten bis zu der Höhe, wo seiner Schätzung nach der Altar anfing; seine Hand berührte gleich darauf die blankpolierte Oberfläche. Vor sichtig tastete er mit beiden Händen an der Oberfläche entlang, bis er den von seinem Tuch verhüllten Kristall gefunden hatte. Er hob ihn mitsamt Tuch vom Altar und steckte ihn unter seinen Um hang. Jetzt musste er nur noch ungesehen aus dem Tempel hin auskommen. Er wusste, dass die versteckte Tür zur Vorhalle dem Altar direkt gegenüberlag. Er erwog einen Moment lang, sich an der Wand entlangzutasten, bis er sie gefunden hatte, verwarf die Idee aber sogleich wieder. Es bestand dabei die Gefahr, dass er zurück in den Saal kommenden Priestern in die Arme lief oder dass sie ihn durch die Tür hörten, durch die sie entschwunden waren. Statt dessen beschloss er, sich auf seinen Orientierungssinn zu verlassen und den Saal in der Mitte zu durchqueren. Wieder schien der Weg Stunden zu dauern; doch endlich stieß seine ausgestreckte Hand gegen Stein. Er ging mit dem Gesicht ganz nah an die Wand heran, konnte aber nichts außer Schwärze sehen. Er tastete mit den Fingerspitzen die Wand in der Hoffnung ab, vielleicht irgendwo eine Klinke oder eine Fuge oder eine Angel zu finden. Da er die linke Hand brauchte, um den gestohlenen Altarkristall unter seinem Umhang festzuhalten, war dies ein schier endloses Unterfangen. Er ging zuerst drei Schritte nach rechts, wobei er jeden Zollbreit der Wand befühlte, dann sechs Schritte nach links, dann wieder neun Schritte nach rechts; ein Ge
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fühl von Verzweiflung kroch langsam in ihm hoch, als seine Fingerspitzen immer wieder über nichts als glatten Stein glitten. Plötzlich vernahm er ein Geräusch hinter sich. Er wirbelte her um, seine freie rechte Hand fuhr automatisch zum Schwertgriff unter seinem Umhang, aber er konnte in der Dunkelheit nichts er kennen. »Wenn du den Stein zurückbringst, magst du in Frieden gehen, Dieb.« Er erkannte die Stimme als die von einem der Priester wieder. Er gab keine Antwort. »Du kannst die Tür nicht öffnen; nur die Priester der Tema kennen das Geheimnis.« Garth fragte sich, wie viele es sein moch ten, und wie sie es geschafft hatten, so nahe an ihn heranzukom men, ohne dass er sie gehört hatte; er schätzte, dass die Stimme — denn bis jetzt hatte nur einer gesprochen — zehn, vielleicht fünf zehn, keinesfalls aber mehr als zwanzig Fuß von ihm entfernt war. »Gib den Stein zurück!« Er musste Zeit gewinnen. »Und wenn ich das nicht tue?« rief er. »Dann wirst du hier den Tod finden.« Garth verstärkte seinen Griff um den Kristall, presste ihn fest an sich und zückte sein Schwert. »Ich habe einen Gegenvorschlag. Du öffnest mir die Tür, oder du wirst es sein, der den Tod findet, nicht ich.« Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass der oder die Pries ter das schabende Geräusch gehört und erkannt hatten, das sein Schwert verursacht hatte, als es aus seiner ledernen Scheide fuhr. Es dauerte eine Weile, bis die Stimme erneut sprach. »Es ist möglich, dass es dir gelingt, einen oder zwei von uns zu töten, bevor du selbst stirbst; wenn wir sterben, dann tun wir dies in der Gewissheit, dass wir unser Leben für unsere Göttin gegeben haben und für alle Ewigkeit in ihr Reich aufgenommen werden. -116-
Du aber wirst auf alle Ewigkeit verdammt sein für dein Sakrileg. Ich fordere dich abermals auf: Gib den Stein zurück; noch ist es nicht zu spät. Gib ihn zurück, und wir werden dich in Frieden zie hen lassen, obwohl du eine Waffe in unserem Allerheiligsten ge zogen hast.« Garth erwiderte eine lange Zeit nichts, und auch der Priester schwieg, offenbar um dem Dieb eine Frist zu gewähren, in der er sich über die Hoffnungslosigkeit seiner Lage klar werden sollte. Der Übermann indes dachte nicht über seine Alternativen bezie hungsweise über das Fehlen derselben nach, sondern über die Tat sache, dass er ganz schwach die Umrisse einer etwa zwölf Schritt vor ihm stehenden einsamen Gestalt erkennen konnte. Das war nicht das Ergebnis einer Anpassung seiner Augen an die Dunkel heit; diese hatten sich schon längst auf die Dunkelheit eingestellt und waren an der Grenze ihrer Empfindlichkeit. Nein, es sickerte neues Licht herein, der erste schwache Dämmerschein des anbre chenden Tages. Das erinnerte ihn daran, wie lange es her war, seit er zum letzten Mal geschlafen hatte, und plötzlich überfiel ihn wieder die Müdigkeit, noch während er darüber nachdachte, wie die wachsende Helligkeit seine Chancen vergrößern würde. Die Priester waren zweifellos daran gewöhnt, sich ständig in fast völ liger Dunkelheit aufzuhalten; wenn er es erst einmal geschafft hatte, nach draußen ins Tageslicht zu gelangen, würden sie wohl kaum noch etwas gegen ihn ausrichten können; das Tageslicht würde sie so sehr blenden, dass sie nichts mehr würden sehen können. Er fragte sich, ob der Priester ihn überhaupt sehen konnte, da das Licht sich nicht gleichmäßig verteilte. Des weiteren fragte er sich, ob der Priester wusste, dass er selbst von ihm, Garth, gesehen wurde. Und es war jetzt offensichtlich, dass der Priester allein war. Wahrscheinlich hatte er allein einen letzten Rundgang ge macht und versuchte nun, den Eindringling ins Bockshorn zu ja-117-
gen, indem er so tat, als wäre er von mehreren Priestern um zingelt. Pech für ihn, dass Garth seinen Bluff durchschaut hatte! Nun, da er wusste, dass er es nur mit einem Gegner zu tun hatte, griff er zu einer List. »Wenn ich dir den Kristall gebe, öffnest du mir dann die Tür und lässt mich unbehelligt ziehen?« »Ja.« »Schwörst du mir das? Bei deiner Göttin?« »Ich schwöre es bei Tema, dass ich dich unbehelligt werde zie hen lassen.« »Sehr gut.« Mit gespieltem Widerwillen hielt Garth den Kristall mit der Linken hoch, wobei er den Arm absichtlich nicht genau in die Richtung des Priesters ausstreckte, sondern ein wenig daneben, so als ob er noch immer nicht sehen könne, wo der Mann stand. Das Schwert behielt er in der Rechten. Der Priester kam vor und nahm vorsichtig mit beiden Händen den Stein. »Und nun öffne mir die Tür!« forderte Garth. »Lass mich zuerst den Stein zurück zum Altar bringen.« »Nein! Du hast versprochen, du würdest die Tür öffnen, sobald ich dir den Stein übergeben hätte.« Er hob das Schwert, wie als wolle er blindlings zuhauen; obwohl das Licht immer heller wurde und er bereits Einzelheiten wie die Sprünge im Fußboden und die Falten in der Robe des Priesters erkennen konnte, hoffte er, den Blinden noch eine Weile weitermimen zu können. Er ver folgte keine spezielle Absicht damit; es ging ihm lediglich darum, sich jeden noch so kleinen Vorteil zu sichern, wie es ihn seine Aus bildung in der Kunst des Krieges und der Staatsführung gelehrt hatte. »Wenn du darauf bestehst.« Der Priester klemmte sich den Kris tall unter den Arm und ging hinüber zur Wand; seine freie Hand -118-
glitt über die glatte schwarze Oberfläche und griff nach etwas, das Garth nicht erkennen konnte. Der Priester zog mit sichtbarer An strengung; die verborgene Tür in der Wand schwang auf, und graues Licht flutete herein. Garth hatte vergessen, dass das große Portal nach Osten zeigte, aber das war der Fall; und obwohl die Sonne den Horizont noch nicht erklommen hatte, färbte sich der Himmel schon rosa. Die große Vorhalle wirkte in dem kalten Morgenlicht viel weniger unheimlich und bedrohlich, als sie ihm beim Mondlicht vorgekommen war – sie war jetzt nur mehr ein großer kahler Raum, von dem eine Treppe nach draußen auf die Straße führte. Garth lächelte voller Befriedigung. Mit übermenschlicher Ge schwindigkeit übersprang er die wenigen Schritte Entfernung, die zwischen ihm und dem Priester lagen; noch nicht ganz eine Se kunde, nachdem er die Tür geöffnet hatte, spürte der Priester schon die Klinge des Übermanns an seiner Kehle. »Und nun, Priester, wirst du mir den Stein zurückgeben. Ich habe ihn dir gegeben, und du hast mir, wie versprochen, als Gegenleistung die Tür geöffnet; und nun nehme ich dir den Stein wieder ab und gehe unbehelligt meines Weges.« »Nein!« »Doch!« »Du darfst ihn nicht nehmen!« »Du wirst dein Leben aushauchen, wenn du ihn mir nicht gibst.« »Meine Brüder werden dich finden.« »Und was ist mit deinem Schwur? Du hast geschworen, dass ich unbehelligt würde gehen können.« »Nein! Ich habe geschworen, dass du unbehelligt gehen kannst, aber nicht dass wir nicht alles daran setzen würden, dich einzu fangen, sobald du den Tempel verlässt. Wenn du den Altarstein -119-
mitnimmst, werden die Anhänger Temas deiner Fährte folgen und dich hetzen, wohin auch immer du zu entkommen versuchst.« »Vielleicht. Das Risiko gehe ich ein. Und nun gib mir den Stein; ich will gehen.« »Nein!« »Hör, Dummkopf! Wenn du mir den Stein freiwillig heraus gibst, lasse ich dir das Leben, und du kannst die Verfolgung an führen; zwingst du mich aber dazu, dich zu töten, dann gibt es niemanden mehr, der weiß, wer den Stein gestohlen hat. Es wäre nur zu meinem Vorteil, wenn ich dich auf der Stelle niederstreck te, aber das ist nicht mein Begehr. Gib mir den Stein, und du be hältst dein Leben.« »Du könntest mich trotzdem töten. Wie soll ich wissen, ob du die Wahrheit sprichst?« »Warum sollte ich warten? Nun gib mir endlich den Stein!« »Nein! Hilfe! Brüder! Dieb, Mörder!« Der Priester begann aus voller Lunge zu schreien. Angewidert griff Garth nach dem Kris tall und bekam ihn mit den langen Fingern seiner linken Hand zu fassen; seine überlegene Reichweite hatte den Priester überrascht, und er ließ für einen Augenblick locker. Dieser Augenblick reichte Garth aus; mit einem kräftigen Ruck entriss er dem Priester den Edelstein. Mit einem Schrei, der hundertfach von der Kuppel zu rückgeworfen wurde, stürzte sich der Priester auf Garth, um ihm den Stein wieder zu entreißen. Der Übermann reagierte automa tisch, ohne nachzudenken, wie ein Krieger reagiert: er stieß zu und spießte den Mann mit seinem Breitschwert auf. Blut spritzte gegen die Wand hinter dem Priester, und Garth stieß einen Schrei des Abscheus aus. Es bestand kein Zweifel, dass der Mann tot war — oder so gut wie tot. Garths Reflexe waren so zuverlässig wie immer, und wenn er seine Klinge nicht mitten durch das Herz des Mannes -120-
gestoßen hatte, dann nur unwesentlich daneben. Jedenfalls hatte er den Stein. Jetzt galt es nur noch zu entkommen; die anderen Priester hatten das Gebrüll bestimmt gehört, besonders den letz ten Schrei. Er riss seine Klinge aus der Leiche des Priesters; sie ragte gut einen Fuß aus dem Rücken heraus, und er musste ein zweites Mal heftig ziehen, bevor sie frei war. Der unglückselige Priester fiel auf den Steinboden. Dabei glitt seine Kapuze zur Seite, und zum ersten Mal sah Garth sein Gesicht. Es war ein schmales blasses Gesicht. Die roten Augen waren weit aufgerissen und starrten gla sig ins Nichts. Aus dem offen stehenden Mund rann Blut. Sein langes weißes Haar hing wirr ihm übers Gesicht und bedeckte den spärlichen weißen Bart; er war jung gewesen, vielleicht sogar noch ein Novize, noch kein vollwertiges Mitglied des Priesterstandes. Garth war alles andere als glücklich über diesen Vorfall. Er hatte gehofft, niemanden auf seiner Mission töten zu müssen. Er wisch te sein Schwert am Saum der Robe des Priesters ab und stieg über die Leiche hinweg in die Vorhalle, wobei er peinlich darauf achte te, nicht in die sich langsam ausbreitende Blutlache zu treten. Dann hielt er einen Moment inne und steckte das Schwert in die Scheide zurück. Hinter ihm erscholl ein Schrei; er drehte sich um, sah aber nichts als Dunkelheit. Er rannte zur Treppe. Weitere Schreie ertönten jetzt, und etwas kam durch die Luft gesaust und verfehlte knapp sein Ohr. Er hechtete vorwärts, rollte sich im Flug zu einem Ball zusammen, der sich fest um den Kris tall Schloss, und kugelte die dreizehn Stufen zur Straße hinunter, wo er aufsprang und losrannte, ohne zunächst darauf zu achten, in welche Richtung. Wahllos bog er in Seitenstraßen und Gassen ein; es kam ihm jetzt erst einmal darauf an, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und seine Verfolger zu legen. Die
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Kapuze rutschte ihm beim Rennen vom Kopf und entblößte sein Übermann-Gesicht, aber keiner der verdutzten Passanten versuch te, ihn aufzuhalten. Schließlich, als die Schreie hinter ihm verhallt waren, verlang samte er seinen Schritt; in einer menschenleeren Gasse blieb er stehen und zog sich die Kapuze wieder über den Kopf. Seine ge duckte Haltung wieder einnehmend, humpelte er aus der Gasse hinaus; auf den ersten Blick hätte man ihn jetzt für einen harm losen alten Mann halten können. Den Altarstein trug er unter sei nem Umhang, zusätzlich getarnt durch seine gekrümmte Haltung. Er brauchte eine halbe Stunde, bis er sich auf einer Straße wiederfand, die er kannte; von dort aus machte er sich auf den Weg zum Marktplatz, und von dort aus ging er zum Gasthof der Sieben Sterne. Er traute sich jedoch nicht, die Schankstube zu be treten; zu groß war die Gefahr, dass seine Verfolger ihn dort fanden. Statt dessen ging er geradewegs in den Stall zu Koros. Dort angekommen, beschloss er, zuerst einmal seine Beute in Augenschein zu nehmen. Er zog den Kristall unter seinem Um hang hervor. Er funkelte unheimlich im Morgenlicht. Fasziniert starrte Garth ihn an. Er war von einer intensiven kalten Schönheit. Garth ertappte sich dabei, wie er verzückt zu den Tiefen des Steins vorzudringen versuchte, wie als suche er etwas, das er dort zu fühlen glaubte; er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden von einer überirdischen Macht; ihm war, als starre ihn die Göttin der Nacht selbst aus dem Innern des Kristalls an. Er nahm nichts anderes mehr wahr als den Stein und das tiefe kalte Leuchten in seinem Innern; er verlor jedes Zeitgefühl und glaubte, seit aller Ewigkeit in den Kristall geschaut zu haben. Eine kühle Stille, wie die Luft in einer klaren Nacht, umfing ihn und nahm ihn in sich auf, und er kniete völlig regungslos und versunken da.
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Ein plötzliches Gefühl von etwas Warmem auf seinem Gesicht riss ihn aus seiner Versunkenheit; es war, wie wenn Feuer auf Eis trifft. Er wandte unwillkürlich den Blick von dem Kristall, und der Bann brach, als der Stein nicht mehr das Zentrum seines Blickes war. Er blinzelte und merkte, dass er wie ein Tor auf dem Stroh des Stalles kniete und den Stein umklammert hielt, während Ko ros ihn verwundert mit der Schnauze anstieß. Es war nicht das erste Mal, dass er in einen hypnotischen Bann geschlagen worden war, und er hatte einen gesunden Respekt da vor. Er bedeckte den großen Kristall mit Stroh, wobei er es sorgfäl tig vermied, ihn direkt anzuschauen. Zudem war er unter dem Stroh bestens aufgehoben; um ihn dort zu finden, musste man schon sehr nahe an ihn herankommen — und da war Koros vor. Garth bedauerte jeden, der ein solches Wagnis unternehmen würde. Nachdem er seine Beute so in Sicherheit gebracht hatte, machte er es sich erst einmal auf einem Strohhaufen bequem und überleg te, wie er weiter vorgehen sollte. Lange bevor er zu irgendeinem Entschluss gekommen war, übermannte ihn die Müdigkeit, und er schlief ein.
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Kapitel 9 Er erwachte allmählich, mit benommenem Kopf; von irgendwo her kamen Stimmen. Er brauchte mehrere Sekunden, bis er seine Umgebung als Koros‘ Box im Stall des Gasthofs wiedererkannte; und weitere Sekunden vergingen, bis er sich daran erinnerte, dass er unabsichtlich eingeschlafen war. Sein Nacken schmerzte; er hatte mit schräg gegen die Wand gelehntem Kopf geschlafen. Geistesabwesend rieb er sich den Nacken und lauschte nach den Stimmen. Es waren zwei; beide waren noch junge Männer; sie stritten sich wegen irgend etwas, offenbar um irgendeinen Gegenstand. Um einen kleinen Gegenstand, wie es schien, da der, der ihn besaß, ihn an seinem Körper trug. Garth setzte sich auf und sah sich um; es war helllichter Tag, und den Schatten nach zu urteilen entweder sehr früh oder sehr spät. Er dachte einen Moment lang nach, rief sich die Lage des Stalles in die Erinnerung zurück und entschied dann, dass es spä ter Nachmittag war. Er hatte fast den ganzen Tag geschlafen. Nun, er hatte den Schlaf bitter nötig gehabt. Er rief sich die Ereignisse der vorausgegangenen Nacht in die Erinnerung zurück und schaute nach, ob seine Beute noch immer dort lag, wo er sie versteckt hatte; sie war noch da. Er hatte ge glaubt, dass der Kristall klar sei, doch als er ihn jetzt bei Sonnen licht betrachtete — sorgsam darauf bedacht, sich nicht erneut von ihm in hypnotischen Bann ziehen zu lassen —, stellte er fest, dass er milchigweiß war. Indes machte das keinerlei Unterschied; er hatte ohnehin keine Verwendung für den Stein. Er deckte ihn wieder mit Stroh zu.
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Der Zank draußen schien beigelegt; offenbar hatten die beiden Streithähne sich auf irgendeinen Kompromiss geeinigt. Nun, das ging ihn nichts an. Er rappelte sich auf und schwor sich, niemals wieder im Kettenhemd zu schlafen; jedes Glied schi en einen dauerhaften Abdruck auf seinem Rücken hinterlassen zu haben, trotz des gesteppten Hemdes, das er darunter trug und des Brustpanzers darüber. Als ihm letzterer einfiel, legte er ihn erst einmal ab; das Kettenhemd, dachte er, musste ausreichenden Schutz bieten. dass er sein Schwert auch noch trug, fiel ihm erst ein, als er fast darüber gestolpert wäre. Koros begrüßte seinen Herrn mit einem Knurren, und die Stimmen draußen verstummten schlagartig. Dann fragte einer: »Was war das?« »Keine Ahnung«, antwortete der andere. »Dugger sagt, in Num mer drei steht irgendein fremdartiges Untier, aber ich dachte, er lügt mir wie immer was vor.« Es folgte Schweigen. Garth tätschelte dem Kriegstier die Nase und langte hinunter in sein Bündel, um die Drahtbürste hervorzu holen, die er zum Säubern der Ohren des »Untiers« benutzte und die die Eigenschaft hatte, Kletten und andere unangenehme Plagegeister zu entfernen. Die erste Stimme meldete sich jetzt wieder. »Sollen wir mal nachsehen?« »Ich weiß nicht.« »Ich gehe mal gucken. Kommst du mit?« »Ach, geh lieber allein gucken!« »Los, komm schon!« »Na schön; wenn du unbedingt willst.« Jetzt näherten sich Schritte — leichte Schritte. Eindeutig junge Menschenwesen, dach
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te Garth, während er dastand, die Bürste in der Hand, und warte te. Gleich darauf lugten die Gesichter zweier Jünglinge über die Stalltür — und verschwanden sofort wieder. Garth musste grinsen. Dann, ganz langsam, schob sich zuerst das eine, dann das andere Gesicht wieder über die Stalltür. »Guten Tag«, sagte Garth. »Eh ... guten Tag«, erwiderte der größere der beiden Jungen, verlegen stotternd. »Ich hoffe, mein Tier hat euch keinen Schreck eingejagt.« »Nein.« Dann, nach einigem Zögern, fuhr der Junge fort: »Ihr seid ein Übermann, nicht wahr?« »Ja.« Diesen offensichtlichen Tatbestand abzustreiten, hätte keinen Sinn gehabt: Sein Umhang mit der Kapuze lag unordent lich auf dem Stroh, so dass sein nasenloses lederhäutiges Gesicht entblößt war und der schwarze Kettenpanzer zu sehen war. »Oh.« »Was ist das?« fragte der andere Junge, scheu auf Koros deu tend. »Ein Kriegstier.« »Oh.« »Wie seid Ihr hereingekommen? Ich war den ganzen Tag hier.« »Nun, ich bin nun mal hereingekommen«, erwiderte Garth mit einem Achselzucken. Der Junge schien es für besser zu halten, keine weiteren Fragen zu stellen; statt dessen erklärte er: »Ich bin angehalten, auf den Stall aufzupassen und sicherzustellen, dass jeder seine Rechnung bezahlt.«
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»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen; ich werde bezahlen. Für den ersten Tag habe ich schon bei dem anderen Jungen be zahlt.« »Bei Dugger? Oh.« Schweigen kehrte ein. Die beiden wussten of fensichtlich im Moment nicht, was sie noch fragen sollten. Garth begann die Ohren des Kriegstiers mit der Bürste zu reinigen; zwar waren keine Zecken oder Dornen zu entdecken, aber Koros schien es auch so zu genießen. Als das Schweigen unbehaglich zu werden schien, fragte Garth: »Was gibt es denn heute so Neues? Ich war seit dem Morgengrauen beschäftigt.« »Oh! Dann habt Ihr es also noch nicht gehört! Jemand hat im Tempel der Tema einen Priester ermordet, und seither ist die halbe Stadt hinter ihm her.« »Wer hat es getan?« »Niemand weiß es. Mernalla sagt, sie hätte gestern nacht einen Fremden mit in den Tempel genommen, einen alten Mann mit einem fremdländischen Akzent; also suchen sie jetzt nach einem solchen Mann. Aber der Priester wurde mit einem einzigen Schwertstich niedergestreckt; es kann daher kein alter Mann ge wesen sein. Es muss ein Krieger gewesen sein.« »Warum sollte jemand einen Priester töten?« »Ich weiß es nicht; ich glaube, dass dahinter irgendein Geheim nis steckt.« Aus dem Augenwinkel bemerkte Garth, dass der andere Junge ihn mit merkwürdigen Blicken musterte, wobei sein besonderes Augenmerk dem Schwert an seinem Gürtel galt. Der Junge verschwand plötzlich hinter der Tür, und einen kurzen Augenblick später folgte ihm, offenbar auf ein Zerren am Hemd zipfel hin, der andere.
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Unvermeidlich, dachte Garth, während er die Bürste wieder wegpackte. Nun, aber es gab keinerlei Beweis gegen ihn. Niemand hatte ihn richtig gesehen. Interessant war, dass die Priester den Verlust des Altarsteins offenbar bis jetzt verheimlicht hatten. Es wäre sicherlich das Klügste, wenn er sich von dem Gasthof fernhielt, zumindest für die nächste Zeit; und Koros sollte er vielleicht auch besser anderswo unterbringen. Nun kannte er sich in der Stadt nicht aus, und ein geeignetes Versteck zu finden, war sicherlich nicht einfach. Dieser Stall war günstig gelegen, und bis jetzt lagen noch keine Beweise gegen ihn vor; mit einigem Glück bliebe er hier unbehelligt. Anlässlich dieser Überlegungen fiel ihm ein, dass er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit sein Schwert einer gründlichen Reinigung unterziehen musste; es klebte immer noch das Blut des Priesters daran. Auch durfte er nicht vergessen, dass er noch in sechs weitere Tempel eindringen musste. Und da er außerdem als Fremder von vornherein in Verdacht geraten würde, .war es das beste, er erledigte er seine Aufgabe so schnell wie möglich Je eher er hier verschwand, desto besser. Es galt also, zügig weiterzumachen. Zuerst jedoch musste er sich stärken; er hatte seit der vergangenen Nacht nichts mehr gegessen, und die Sonne stand bereits tief im Westen. Er überlegte, ob er seinen Umhang anziehen sollte oder nicht; die Jungen hatten nicht negativ auf die Erscheinung eines Über mannes reagiert, aber das sagte nichts über die Reaktion der Erwachsenen aus. Er hob das Kleidungsstück auf und bemerkte zu seinem Entsetzen, dass es voller Blutflecken war. Sie waren ihm in dem trüben Morgenlicht nicht aufgefallen, da sie auf dem braunen Stoff kaum zu erkennen waren. Ein eindeutigeres Beweis stück konnte es kaum geben. Es würde ausreichen, ihn des Mordes und der Tempelschändung zu überführen. Er musste sich
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des Umhangs so schnell wie möglich entledigen. Er rollte ihn zu sammen und klemmte ihn sich unter den Arm, sorgsam darauf achtend, dass die Blutflecken nicht zu sehen waren. Er würde ohne den Mantel auskommen müssen; er konnte nur hoffen dass man Übermännern in Dûsarra nicht mit gar zu großem Abscheu begegnete. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Nekutta an den Rassenkriegen nicht teilgenommen, aber genau wusste er das nicht; und Geschichte war nie sein Lieblingsthema gewesen. Selbst wenn es das gewesen wäre – keine Nachricht von Bedeutung war in den letzten drei Jahrhunderten bis zur Nordwüste vorge drungen; in dieser Zeit konnte alles mögliche passiert sein. Indes, soweit er wusste, war kein Übermann mehr seit den Kriegen in diesem Teil der Welt gesehen worden; die Menschenwesen würden wahrscheinlich also viel zu überrascht sein, als dass sie groß etwas gegen ihn unternehmen würden. Abgesehen davon hatte er gar keine andere Wahl. Er hatte nur diesen einen Mantel mitgebracht, da er ursprünglich ja nur mit einer Handelsreise nach Skelleth gerechnet hatte und nicht mit einer langen abenteuerlichen Wanderung in einen anderen Teil der Welt. Er tätschelte Karos mit einem Wort des Lobes den Hals, öffnete die Stalltür und trat ins Freie. Die Sonne stand schon tiefer, als er erwartet hatte; der Himmel im Westen leuchtete in tiefem Rot. Er konnte das Geklapper von Geschirr und das Schwatzen der Leute aus dem Gasthof der Sieben Sterne hören, und aus der Ferne vernahm er ganz schwach die Geräusche des Marktplatzes. Durch den Torweg, der die einzige Verbindung zwischen dem Stall und der Außenwelt darstellte, sah er vereinzelte Passanten draußen auf der Gasse vor beigehen. Manche hatten es eilig, andere schlenderten gemächlich vorüber, wieder andere stolzierten mit gespreiztem Gehabe ihres Weges.
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Er hatte in der Nacht zuvor nur wenig von dem Stall gesehen, da es an angemessener Beleuchtung fehlte; jetzt schaute er sich ausgiebig um, in der Hoffnung, eine geeignete Stelle zu finden, wo er den belastenden Mantel verschwinden lassen konnte. Der Hof war ein langer schmaler Streifen Schmutz, beiderseits gesäumt von je einem halben Dutzend großer, hölzerner, ziegelge deckter Stallboxen. An seinem vorderen Ende befand sich der Tor weg, der zur Straße führte; das hintere Ende wurde von einer grauen Steinmauer begrenzt. Vor der Mauer befand sich ein Bottich aus demselben grauen Stein, der vermutlich als Tränke diente. Garth schlenderte durch den Hof und spähte in die Stallboxen; die meisten waren leer, aber drei beherbergten Pferde – Wesen, die die Übermenschen der Nordwüste seit langem nur noch für eine Legende hielten. Garth hatte gleichwohl schon einmal welche gesehen: fern im Osten; aber er hatte nicht erwartet, auch hier welchen zu be gegnen. Er erwog, den Umhang unter dem Stroh zu verstecken, mit dem die Boxen ausgelegt waren, verwarf den Gedanken aber wieder; die Wahrscheinlichkeit, dass er dort gefunden wurde, war viel zu groß. Dann würde der Verdacht auf die Besitzer des Gasthofes fallen, und womöglich würde ein Unschuldiger zum Tode verur teilt, der zufällig den Stall gemietet hatte, in dem Garth den Mantel verborgen hatte. Er erreichte das Ende der Boxenreihe, ohne dass ihm eine besse re Lösung eingefallen wäre, und da sah er, dass der steinerne Trog leer war. Offenbar war er schon seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt worden; auf seinem Boden hatte sich eine dicke Staub schicht angesammelt, und eine Ecke war voller Spinnweben.
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Es sah ganz so aus, als hätte seit Jahren keiner der Stallbenutzer überhaupt noch wahrgenommen, dass dort ein Trog war; die Leu te gewöhnten sich an ihre Umgebung manchmal so sehr, dass sie die Dinge an ihr, die sie nicht unmittelbar betrafen, regelrecht vergaßen. Ein solches Schicksal schien auch dieser Tränke widerfahren zu sein. Kurzerhand warf er den zusammengerollten Mantel in den Trog. Aber es bestand immer noch die Möglichkeit, dass irgend je mand — zum Beispiel einer der Stallburschen — ihn dort fand; aber der Trog war tief, und der Umhang war aus einem Material, das gut brennen würde, jedoch nicht — und das war wichtig — mit allzu hell lodernder Flamme. Die Flammen, da war er sicher, würden jedenfalls nicht über den Rand der Mauer lecken, und wenn er Glück hatte, würde nicht einmal der Rauch jemandem auffallen, war diese Stadt doch ohnehin ständig in Rauch gehüllt. Zunder, Feuerstein und Stahl trug er stets in einem Beutel am Gürtel; und so war es eine Sache von Sekunden, den Mantel in Brand zu stecken. Das bisschen, was an Asche übrig blieb, würde nicht auffallen bei dem ganzen Staub und Schutt, der den Boden des Troges be deckte, und von den Blutflecken würde nicht mehr die geringste Spur zu sehen sein. Die Sache konnte er als erledigt betrachten. Er stand auf und machte sich auf den Weg zum Toreingang. Er hatte den Hof gerade zur Hälfte durchquert, als er Stimmen hörte, die sich näherten. Gleich darauf erschienen vier Gestalten; sie gingen jedoch nicht vorbei, sondern kamen durch den Torweg auf ihn zu. Er blieb stehen. Zwei von den vieren waren die beiden Stallburschen; die dritte war das Mädchen, das ihn in Temas Tempel mitgenommen hatte, und der vierte war ein großgewachsener Mann im typischen
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Dûsarranischen Gewand, um das er jedoch einen Gürtel trug; und an diesem hing ein langes, gerades Schwert. »Guten Tag«, sagte Garth höflich. »Guten Tag, Fremder.« Das Quartett blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Garth nickte und setzte sich wieder in Bewegung, so als wolle er an ihnen vorbeigehen, um in den Torweg und nach draußen zu gelangen. »Warte, Fremder!« Die Hand des Mannes fuhr zum Schwert griff. Garth blieb erneut stehen. Den Blick auf den Übermann gerichtet, fragte der Mann seine Begleiter: »Ist er das?« »Ja«, antworteten die beiden Jungen wie aus einem Munde. Das Mädchen sagte nichts. »Mernalla?« »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.« »Könnte er es nicht gewesen sein?« »Nein ... nein, unmöglich. Der Mann war kleiner. Und seine Stimme war höher. Und er trug einen schmutzigen braunen Um hang.« »Du sagtest doch, er sei groß gewesen.« »Für einen Menschen ja.« »Dürfte ich fragen, Herr«, mischte sich Garth ein, »warum Ihr an mir interessiert seid?« »Wir suchen einen Mörder.« »Und was hat das mit mir zu tun?« »Ihr seid ein bewaffneter Fremdling; das macht Euch natürlich verdächtig.« »Das verstehe ich wohl. Wann geschah dieser Mord? Ich bin erst gestern Abend in Dûsarra angekommen.« »In den frühen Morgenstunden; ein Priester wurde getötet.« -132-
»Ein Priester? Könnte es sich nicht vielleicht um eine interne Angelegenheit handeln?« »Die Priester der Tema töten doch nicht ihresgleichen.« »Könnte dann nicht vielleicht ein rivalisierender Kult für die Bluttat verantwortlich sein?« Der Mann wollte zu einer Antwort ansetzen, hielt dann aber inne. Das Mädchen schaute ihn an, wäh rend er über diese neue Möglichkeit nachsann, während die zwei Jungen weiterhin Garth anstarrten. Schließlich, nach langem Über legen, sagte er: »Eine Idee, die nicht von der Hand zu weisen ist. Es könnte sein, dass sie es waren. Es könnte sogar sehr gut sein.« Garth sah mit Freude und Erleichterung, dass der Mann seinen Köder so bereitwillig aufschnappte. »Schließlich«, stieß er nach, »welchen Grund sollte ein Fremder haben, ein solches Sakrileg zu begehen? Ich bin in Dûsarra, um ein paar Waren für meinen Dienstherrn zu besorgen; was habe ich da mit Tempeln zu schaf fen oder gar mit Priestermord?« »Gewiss nichts, Herr.« Der Mann lächelte. »Entschuldigt, dass ich Euch aufgehalten habe.« Er trat zur Seite und machte Garth Platz zum Vorbeigehen. Einer der Jungen ließ jedoch nicht locker. In herausforderndem Ton fragte er: »Wozu braucht Ihr denn das Schwert, wenn Ihr bloß ein Händler seid?« »Was?« Garth schaute mit gespielter Überraschung an seinem Körper herab. »Oh. Das ist bloß so eine Gewohnheit; ein Abenteu rer wie ich reist immer bewaffnet.« Der Mann legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und sag te: »Komm, es gibt kein Gesetz, das es verbietet, eine Waffe zu tragen, sonst wäre ich selbst auch ein Gesetzesbrecher. Nach allem, was ich gehört habe, würde es an Selbstmord grenzen, an der yprischen Küste ohne eine gute Klinge zu reisen.« Wieder lä chelte er Garth zu. -133-
Garth lächelte ohne Begeisterung zurück und ging an dem Quartett vorbei. Er betrat die angrenzende Taverne und suchte sich einen freien Tisch. Ihn beunruhigte die letzte Bemerkung des Mannes. Wieso setzte der Bursche voraus, dass er entlang der yprischen Küste hierhergekommen war? Wieso war niemand son derlich überrascht von der Anwesenheit eines Übermannes in Dûsarra? Konnte es sein, dass andere Übermänner in diese Stadt kamen? Existierte vielleicht gar eine feste Handelsroute von der yprischen Küste nach hier? Ein Mann mittleren Alters nahm seine Bestellung entgegen. Wenn vor ihm schon andere Übermänner von der Nordwüste hierhergereist wären, hätte er davon gewusst; schließlich war er eine bedeutende Person im Rat in Ordunin, dem sein ganzes Volk durch einen Treueeid verpflichtet war. Gab es vielleicht Abtrünnige an den westlichen Randgebieten der Nordwüste? Sein Bier kam, und der Wirt versicherte ihm, dass sein Essen bald folgen würde. Eine andere Möglichkeit schoss ihm plötzlich durch den Kopf: Konnte es sein, dass es Übermenschen gab, die außerhalb der Nordwüste lebten? Vielleicht sogar an der yprischen Küste selbst? Diese Erklärung hatte einiges für sich; wenn dort tatsächlich Über menschen lebten, dann war Dûsarra für sie ein natürlicher Um schlagsplatz für den Handel mit Nekutta und die anderen Länder im Süden. Die Landkarte zeigte, dass die Küstenebene gleich hin ter dem vulkanischen Gebirgsmassiv begann, vor dem Dûsarra lag; und wenngleich die Route über diese Gebirgskette gewiss un gleich beschwerlicher war als die Pfade nach Osten in Richtung Eramma, würden sich die yprischen Übermenschen — sofern sie tatsächlich existierten — wahrscheinlich nicht nach Eramma vor wagen. Die Übermänner der Nordwüste hatten das seit drei Jahr -134-
hunderten nicht mehr gewagt; die bitteren Erinnerungen an die Rassenkriege erwiesen sich als eine wirksamere Barriere, als jede Bergkette es je hätte sein können. Auch nach Westen, über den Golf von Ypri, hatten sich die Übermänner aus dem Norden niemals vorgewagt; ihre Geschichte lehrte, dass die Länder im Westen öde und menschenleer waren. Zweifelsohne lernten auch die Yprier, dass die Nordwüste unbe wohntes Ödland sei — was sie in der Tat bis vor dreihundertfünf zig Jahren auch gewesen war. Dies war eine Sache, der er sofort auf den Grund gehen würde, wenn er wieder nach Hause kam; er zog sogar für einen Moment in Erwägung, seine Mission abzubrechen und sofort von Dûsarra abzureisen. Sein einziges Beutestück konnte er ja unterwegs in Skelleth beim Vergessenen König abgeben ... Nein, das ging nicht. Er konnte noch nicht nach Ordunin zu rückkehren; er war noch immer an seinen Eid gebunden. Und er konnte auch nicht nach Skelleth zurückkehren, ohne vorher in Or dunin gewesen zu sein; das würde der Baron nicht dulden. Er konnte vielleicht heimlich nach Skelleth zurückkehren, aber sich wie ein Feigling verstecken und noch dazu nur eines der Beutestücke mitbringen, ein solch schmähliches Verhalten konnte er mit seinem Stolz nicht vereinbaren. Nein, er würde hier in Dûsarra bleiben und seine Aufgabe zu Ende führen. Der Wirt kam an seinen Tisch und stellte einen Teller mit dampfendem Hammelfleisch und diesem seltsamen Gemüse (Kartoffeln?) vor ihn. Garth nahm eine Goldmünze aus dem Beu tel an seinem Gürtel und fragte: »Habt Ihr ein Zimmer frei?« »O ja, gewiss, mein Herr. Ich hole Euch gleich den Schlüssel.« Er nahm die Münze entgegen und verschwand wieder. Sechs Tempel waren noch übrig; wenn er das Mädchen richtig verstanden hatte, war einer von ihnen ein Tempel der Nacht wie -135-
der der Tema, und da es dunkel sein würde, wenn er seine Mahlzeit beendet hatte, würde dieser sein nächstes Ziel sein. Der Tempel des Gottes der Dunkelheit. Der mit den zwei Namen; wie hieß er noch gleich? Andhur Sowieso. Das war er. Aber er hatte noch genügend Zeit, alles Nähere später herauszu finden. Er wandte seine ganze Aufmerksamkeit seiner Mahlzeit zu. Der Hammel schmeckte vorzüglich.
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Kapitel 10 Der Tempel der Dunkelheit war eine riesige schwarze Pyramide, die anstelle einer Spitze eine kleine Kuppel krönte; sie war umge ben von einem großen, leeren, mit Basaltsteinen gepflasterten Platz. Ein Passant hatte ihm den Weg erklärt, und er hatte keine Mühe gehabt, den Tempel zu finden; er stand ganz in der Nähe des Stadtzentrums, und mehrere breite Straßen mündeten in den Basaltplatz. Im Gegensatz zum Tempel der Tema hatte dieses Bauwerk keinen mächtigen Turm und keine große Freitreppe; es war von glatter, kahler Schlichtheit, ohne jeden Zierrat, und der einzige Eingang, den Garth sehen konnte, war eine kleine einflügelige Tür an einer Seite der breiten Basis. Es gab keine Treppe, nicht einmal eine Stufe; die Tür führte direkt auf den Platz hinaus. Der gesamte Bereich rings um den Tempel schien verlassen; nur ganz vereinzelte Fußgänger tauchten am Rande des Platzes auf, auf ihrem Weg von einer der Einmündungsstraßen in die andere. Niemand näherte sich dem Tempel. Vielleicht, dachte Garth, lag es daran, dass es noch immer nicht ganz dunkel war; der Himmel im Westen war noch rosafarben, während er über ihm schon dun kelblau war und im Osten bereits die ersten Sterne aufgegangen waren. Er konnte sich immer noch nicht an den zweiten Namen des Gottes erinnern; er hatte lediglich nach dem Tempel der Dunkel heit gefragt, was dem Passanten genügt hatte. Auch wenn es die Verehrer des Gottes noch zu früh fanden; Garth brannte bereits vor Ungeduld. Er ging hinüber zu der Tür und fand sie offen. Im Innern sah er nichts als Dunkelheit, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Vorsichtig trat er ein. -137-
Im Licht, das durch die Tür hinter ihm hereinsickerte, konnte er erkennen, dass er sich in einer kleinen Vorhalle von kaum mehr als zehn Fuß Breite befand. In der Mitte der ihm gegenüber liegenden Wand befand sich eine weitere Tür; ansonsten konnte er keine andere Öffnung entdecken. Mit einem Achselzucken durchquerte er die Vorhalle und versuchte die Innentür zu öffnen. Sie war unverschlossen, wurde jedoch von einer Klinke gehal ten. Er drückte die Klinke herunter, doch bevor er daran ziehen konnte, veranlasste ihn ein Geräusch hinter ihm, sie loszulassen. Es war die Außentür gewesen. Sie war in dem Moment zuge schlagen, als er die Klinke heruntergedrückt hatte; offenbar waren die beiden Türen durch irgendeinen geheimnisvollen Mechanis mus miteinander verbunden, der verhindern sollte, dass Licht von außen in den Hauptraum des Tempels drang. Er war jetzt umge ben von totaler Schwärze, einer Dunkelheit, die so absolut und vollkommen war, dass sich seine Augen nicht daran gewöhnen würden, ganz gleich, wie lange er wartete. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnte. Er ertaste te die Klinke der Innentür und zog sie auf. Die Dunkelheit dahinter war genauso undurchdringlich; vor sichtig trat er ein. Mit ausgestreckten Armen tat er vorsichtig einen zweiten Schritt; seine Fingerspitzen stießen gegen Stein. Er wandte sich nach rechts, machte einen Schritt – und berührte wieder Stein. Er machte eine volle Drehung und versuchte die einzige verbliebene Richtung – und abermals endete sein Weg nach einem Schritt vor einer Wand. Er blieb stehen und überlegte. War er in einen Schrank gelaufen? Er hörte das Rascheln von Kleidern; aus welcher Richtung das Geräusch kam, vermochte er nicht exakt zu bestimmen. Er streng
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te sein Gehör an und hörte leise Atemgeräusche. Jemand befand sich mit ihm in dieser winzigen Kammer. »Ist da jemand?« fragte er. »Wer bist du?« Die Stimme war leise und hatte etwas Zischendes an sich. »Ich bin bloß ein neugieriger Fremder. Was ist dies für ein Ort?« »Dies ist das zentrale Heiligtum von Andhur Regvos, dem Herrn der Finsternis und der Blinden. Warum bist du gekommen?« »Aus reiner Neugier, guter Herr.« »Ist es in deinem Land Brauch, ungebeten in heilige Stätten einzudringen?« »Ich wusste nichts von der Natur des Tempels; ich tat es nicht in böser Absicht.« »Nun gut; dann magst du in Frieden scheiden.« »Herr, seid Ihr ein Priester dieses Tempels?« »Das bin ich.« »Könntet Ihr mir vielleicht gestatten, hierzubleiben? Ich bin bis jetzt noch an keine Religion gebunden, und ich würde gern mehr über Euren Kult wissen, denn vielleicht möchte ich Eurem Glau ben beitreten.« Der Priester schwieg eine ganze Weile, und Garth wünschte, er könne das Gesicht des Mannes sehen. Schließlich erwiderte der Priester: »Ich wüsste keinen Grund, warum das nicht möglich sein sollte, und obwohl ich stark bezweifle, ob du dich dazu ent scheiden wirst, dem Pfade Regvos‘ zu folgen, möchte ich je manden, der nach der Wahrheit sucht, nicht abweisen, auch wenn es sich um einen so kecken Burschen wie dich handelt. Gib mir deine Hand.« Garth streckte die Hand aus; sofort schloss sich die knochige Hand des Priesters darum. Er fragte sich, ob der Priester -139-
vielleicht über irgendeine magische Fähigkeit verfügte, die es ihm erlaubte, in der Dunkelheit zu sehen. Er sagte nichts, als er durch eine Türöffnung geführt wurde, die – er hätte es schwören können – noch nicht dagewesen war, als er wenige Momente vorher die Wand berührt hatte. Jetzt führte ihn der Priester anscheinend durch einen engen Korridor; dieser verlief in dicht aufeinander folgenden Biegungen und Verwinklungen, die so planlos und verworren anmuteten, dass Garth sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass er bewusst so angelegt war, um den Besu cher in die Irre zu führen und ihm die Orientierung zu rauben. Einmal kam es ihm so vor, als liefen sie im Zickzack, dann wieder hatte er das Gefühl, als führe ihn der Priester in die Richtung zu rück, aus der sie soeben gekommen waren, und schließlich glaub te er fast sicher zu sein, dass sie wieder in der Nähe ihres Aus gangspunktes angekommen waren. Er streckte die freie Hand aus, um zu vermeiden, dass er gegen Wände oder Pfeiler stieß, und dabei stellte er fest, dass sie an mehreren abzweigenden Gängen vor überkamen; kein Zweifel, sie bewegten sich durch ein Labyrinth. Nach einer Weile hatte Garth trotz aller Anstrengungen jede Orientierung verloren und war daher erstaunt, als sie sich plötz lich in einem Raum wiederfanden, der, den Echos und der Kühle der Luft nach zu urteilen, von beträchtlicher Größe sein musste und nicht, wie er erwartet hatte, an einem Punkt direkt an der Außenwand des Tempels. Der Priester hantierte an irgend etwas herum und Garth fühlte, wie ein schwerer Samtvorhang über ihn fiel; er trat einen Schritt vor, und der Vorhang glitt hinter ihn und trennte den Raum, in dem er sich jetzt befand, von dem Labyrinth ab. »Hast du ein Feuerzeug oder ein sonstiges Werkzeug zum An zünden von Licht?« Die Stimme des Priesters lenkte Garth von sei nem Versuch ab, die Größe des Raumes abzuschätzen. »Ja«, ant wortete er. -140-
»Solcherlei Werkzeug ist hier nicht erlaubt; gib es mir bitte her aus.« Widerwillig löste Garth den Beutel mit Feuerstein, Stahl und Zunder von seinem Gürtel und übergab ihn dem Priester. »Danke. Nun muss ich gehen; die Pflicht ruft mich. Ich überlasse dich nun der Dunkelheit, auf dass du sie betrachtest. Ein anderer Priester wird zu gegebener Zeit zu dir kommen.« Die Hand des Priesters löste sich von ihm. Er hörte drei leise Schritte, und dann war der Priester verschwunden. Kein Laut war mehr von ihm zu hören; kein Atem, kein Herzklopfen, nicht einmal das Rascheln seiner Kleider. Beunruhigt machte Garth ein paar vorsichtige Schritte vorwärts; dem Hall seiner Stiefel auf dem Steinboden nach zu urteilen, war der Raum, in dem er sich befand, in der Tat von beträchtlicher Größe, wenn auch nicht so riesig wie die Kuppelhalle im Tempel der Tema. Die Luft war kalt; er spürte die Kühle sogar durch sei nen Kettenpanzer und sein gestepptes Hemd. Höchstwahrscheinlich war dies also das Allerheiligste des Tem pels. Irgendwo in diesem Raum mussten demnach der Altar und die Statue des Gottes stehen — wenn sie denn überhaupt exis tierten. Ihm kam der Gedanke, dass der Gott der Dunkelheit ja eigentlich gar keines Abbildes bedurfte, wenn dieser Raum doch von der Präsenz des Gottes selbst erfüllt war. Und auch für die Existenz eines Altars bestand keine zwingende Notwendigkeit; welchen Zweck sollte ein Altar erfüllen, den man niemals sah? Wie sollte er das dem Vergessenen König erklären? Bevor er sich den Kopf darüber zerbrach, sagte er sich, dass es das Beste sei, sich erst einmal zu vergewissern, ob seine Vermu tung überhaupt stimmte. Er streckte die Arme aus und machte vorsichtig ein paar weitere Schritte vorwärts. Auch jetzt tasteten seine Hände ins Leere.
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Plötzlich ertönte eine Stimme, kein Dutzend Schritte von ihm entfernt. »Sei gegrüßt, Fremder! Willkommen im Heiligtum Andhur Reg vos‘! Mir wurde gesagt, du suchst Unterweisung; die beste Un terweisung ist die Dunkelheit selbst.« »Was?« Garth wurde im selben Moment bewusst, dass seine Er widerung nicht sehr diplomatisch war, aber sie war ihm spontan herausgerutscht. »Den besten Beweis unseres Glaubens fühlt man in der Dunkel heit; fühlst du ihn nicht? In dieser vollkommenen Dunkelheit — fühlst du da nicht die Präsenz des Übernatürlichen? Greift da nicht eine leise Angst, ein gewisses Gefühl von Respekt, nach deinem Herzen?« »Ich ... ich bin nicht ganz sicher.« »Diese Unsicherheit ist ein Zeichen der Ehrfurcht, die unser Herr einflößt; du, der du ein Ungläubiger bist, spürst nur einen ganz winzigen Hauch seiner Macht. Du hast bisher nur Andhur kennengelernt, die Dunkelheit, die vergeht; bevor du in dieses Allerheiligste tratest, hattest du wahrscheinlich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was vollkommene Dunkelheit ist, denn in der Welt draußen kriecht das Licht überall herein und setzt den ewigen Kampf fort. Hier aber ist die Festung Andhurs, in der die Dunkelheit nicht vorübergeht, sondern ewig ist. Die Dunkelheit bleibt, auch wenn du und andere deinesgleichen wieder fortgehen und zum Licht zurückkehren.« »Ihr sprecht immer von Andhur; ich dachte, der Name Eures Gottes sei Andhur Regvos?« »Die zwei Namen stehen für die zwei Aspekte des Gottes; And hur, der geringere von den beiden, ist jene Dunkelheit, die vom Licht durchdrungen werden kann, die Dunkelheit, die äußerlich ist. Regvos hingegen ist die innere Dunkelheit, jene Dunkelheit -142-
des Körpers und der Seele, welche nicht vergeht; du würdest sie Blindheit nennen. Und so, wie die Dunkelheit in vielen Formen er scheint – Nacht, Schatten, Dämmerung -, erscheint auch die Blind heit in vielen Formen. Wir, die Priester des Andhur Regvos, streben nach der vollkommenen Blindheit, so wie wir in diesem Tempel die vollkommene Dunkelheit erlangt haben.« Garth fühlte sich ganz verwirrt von dem Gerede; diese bizarre Philosophie lenkte ihn von seinem eigentlichen Ziel ab. Er unter drückte den Drang zu gestehen, dass er nichts verstand, aus Angst, damit eine weitere langatmige Erläuterung heraufzu beschwören, und fragte statt dessen: »Und welche Form haben Eure Rituale?« »Unsere Zeremonien gehen Außenstehende nichts an.« »Habt Ihr eine Statue Eures Gottes, wie man sie in fast allen Tempeln findet?« »Nein; wozu brauchen wir ein steinernes Abbild, wenn die fühlbare Präsenz unseres Gottes doch allgegenwärtig um uns ist?« »Und einen Altar, auf welchem das Zeremoniell durchgeführt wird?« »Ja, wir haben einen Altar, nur ein Dutzend Schritte von dir ent fernt. Glücklicherweise schützt unser Gott ihn vor deinen entwei henden Blicken. Wie ich sehe, hast du nicht das Zeug zu einem wahren Verehrer der Dunkelheit; du bist zu sehr in weltlichen Dingen befangen.« »Vielleicht habt Ihr recht. Dann bitte ich Euch um Verzeihung.« Garth schritt tollkühn in dieselbe Richtung weiter, in die er sich anfangs schon bewegt hatte, und die, wie er glaubte, in die Mitte des Raumes führte. Er tat dies in der verzweifelten Hoffnung, den Altar zu finden und das, was er darauf fand, herunterzunehmen, bevor die Priester irgend etwas unternehmen konnten, um ihn da von abzuhalten. Schließlich konnten doch auch sie in der Dunkel -143-
heit nicht mehr sehen als er! gewiss, sie lebten fast ständig oder so gar immer in ihr und waren vollkommen mit dem Tempel vertraut, im Gegensatz zu ihm; dennoch wäre es auch für sie ge wiss kein Kinderspiel, in völliger Dunkelheit einen Dieb aufzu spüren und zu überwältigen. Er hatte lediglich acht Schritte zurückgelegt und nicht zwölf, wie der Priester gesagt hatte, als er mit dem Bein gegen ein nied riges Hindernis stieß. Er tastete es ab und stellte fest, dass es in der Tat der Altar war. Er war ungefähr drei Fuß hoch, zehn Fuß lang und vielleicht fünf Fuß breit. In seiner Mitte fühlten seine tastenden Hände einen Gegenstand; er war annähernd kugelför mig und maß etwa einen Fuß im Durchmesser. Kein Zweifel, es handelte sich um einen Stein, ganz ähnlich wie jener, den er aus dem Tempel der Tema entwendete. Seltsam. »Halt! Was tust du da?« »Ich hatte lediglich den Wunsch, den Altar einmal zu berühren.« Er nahm den Stein vom Altar. Da er keinen Mantel trug, unter dem er ihn hätte verstecken können, klemmte er ihn sich kurzerhand unter den linken Arm. In der Dunkelheit des Tempels war er ohnehin nicht zu sehen, und wenn er erst draußen auf of fener Straße war, konnte er sich auf die überlegene Schnelligkeit seiner Beine verlassen. Er hatte, was er haben wollte, und in der Dunkelheit würde nie mand das Fehlen des Steines bemerken, bis die Zeremonie be gann. Er ging die acht Schritte zurück und sagte: »Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe.« Er hörte hinter sich das Rascheln von Kleidern, und eine neue Stimme rief: »Der Stein ist fort! Er hat den Stein!« Garth stieß ein Knurren aus, in Ermangelung eines passenden Fluches; da sein Volk atheistisch war, kannte es keine Flüche.
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Plötzlich hörte er Rascheln von allen Seiten; er war von Priestern umzingelt. Hatten sie schon die ganze Zeit dort gestanden? »Leg den Stein an seinen Platz zurück, Tempelschänder!« Die Stimme gehörte seinem Unterweiser, aber sie klang jetzt tiefer, ge bieterischer. Garth ignorierte sie; wenn er jetzt sprach, konnten sie ihn nur um so leichter lokalisieren. Er schlich in die Richtung des Ein gangs. Ein Dutzend Hände griffen nach ihm; Finger schlossen sich um seine Handgelenke. Mit einem wütenden Aufschrei sprang Garth zurück und zog sein Schwert, während er mit dem freien Arm seine Beute fest um klammerte. »Aus dem Weg!« brüllte er. »Nein, Tempelentweiher! Du musst den Stein zurückgeben!« »Ich möchte euch kein Leid zufügen, aber wenn ihr den Weg nicht freigebt, muss ich ihn mir mit Gewalt bahnen.« »Ja, Dieb, wir hörten, wie du dein Schwert zücktest; aber kannst du es in der Dunkelheit auch benutzen? Wir sind viele, und du bist allein. Wir können dich finden, denn wir haben unser ganzes Leben in der Dunkelheit verbracht, aber wie kannst du uns finden? Dies ist der einzige Ort in der Welt, wo die Blinden herr schen und die Sehenden dienen.« Garth hieb blindlings mit dem Schwert um sich, aber seine Streiche gingen ins Leere. Erneut grif fen unsichtbare Hände nach ihm; er riss sich los und schlug weiter um sich. Hätte er doch nur nicht so bereitwillig sein Feuerzeug herausgegeben, das einzige Mittel, Licht zu machen; hätte er sehen können, wäre der Vorteil auf seiner Seite gewesen. Wenigstens nahm er das an; bis jetzt hatte er noch kein Anzei chen dafür entdecken können, dass die Priester Waffen besaßen.
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Jedenfalls war noch keine Waffe gegen ihn benutzt worden; und es war unwahrscheinlich, dass sie, so sie welche gehabt hätten, das Risiko eingegangen wären, sie in der Dunkelheit zu benutzen. Zu groß war die Gefahr, dass sie anstelle ihres Gegners ihre eigenen Kameraden trafen. Und wenn die Priester tatsächlich blind waren, wie die Stimme es angedeutet hatte, dann würde ihm Licht einen gewaltigen Vorteil verschaffen. »Gib auf, Altarschänder! Du kannst uns nicht entrinnen. Selbst wenn es dir gelingen sollte, uns alle zu töten, wirst du niemals von hier entfliehen können. Der einzige Weg nach draußen führt durch das Labyrinth, und ohne Führer wirst du niemals den richtigen Weg finden.« Garth gab keine Antwort, sondern schwang statt dessen erneut sein Schwert – und wieder schlug er ins Leere. Fingerspitzen be rührten seinen Arm, und instinktiv wich er zurück. Er war sich jetzt nicht mehr sicher, an welcher Stelle er sich in Bezug zum Altar und zum Ausgang befand; durch sein ständiges Zurückwei chen vor den haschenden Händen der Priester war er so abgelenkt gewesen, dass er nicht gemerkt hatte, wohin er sich bewegt hatte. »Weißt du, was geschehen wird, Dieb, wenn du dich nicht er gibst? Du wirst schließlich ermüden; du wirst zu Boden sinken und einschlafen, und dann werden wir dich packen und fesseln.« Garth schlug wieder um sich, und diesmal schien seine Klinge etwas gestreift zu haben; vielleicht einen Ärmel. Leider war es kein Fleisch gewesen. »Und wenn du dann fest verschnürt bist, wirst du ein Opfer darbringen. Nicht Andhur, der Dunkelheit, die vergeht, sondern dem immerwährenden Regvos. Du wirst einer von uns werden.« Statt wie bisher mit weit ausholenden Streichen versuchte Garth es diesmal mit einem Stoß. Er hatte Glück – ein kläffender Schmerzensschrei war die Belohnung. Er bezweifelte, dass die -146-
Verletzung, die er dem Priester zugefügt hatte, ernst war; in dem Schrei war ebenso viel Überraschung wie Schmerz durchge klungen. Wahrscheinlich hatte er jemandem den Arm angeritzt. »Gotteslästerer! Weißt du, wie ein solches Opfer durchgeführt wird? Ein Seil, ein dickes, zweimal geknotetes Seil wird dir um den Kopf gelegt, und zwar so, dass die Knoten auf deinen ge schlossenen Lidern liegen.« Garth machte einen erneuten Ausfallschritt. Diesmal zielte er in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien. Der Spre cher hielt inne, als er das Zischen des Stahls hörte, aber die Klinge stieß nicht auf Widerstand. Als dieselbe Stimme einen Moment später fortfuhr, kam sie aus einer anderen Richtung, obwohl Garth weder Schritte noch Kleiderrascheln gehört hatte. »Und dann beginnen wir das Große Ritual, und mit jedem Ge sang werden wir dir die Schlinge um eine halbe Drehung fester um den Kopf ziehen, bis die Knoten schließlich deine Augen zermalmen werden ...« Ein besonders schneller wütender Stoß ließ hörbar Stoff zer reißen, und die Stimme verstummte jählings; Garth hörte zwei, drei, hastige Schritte, die sich von ihm entfernten. Das machte ihm neuen Mut; er hatte schon geglaubt, er kämpfe gegen ein Phan tom. Die Stimme blieb jetzt stumm; statt dessen spürte Garth, wie Finger nach ihm tasteten. Er wirbelte herum und hieb ansatzlos zu. Die Klinge biss in Fleisch und kratzte an Knochen; er hatte ein Handgelenk erwischt, bevor der Besitzer die Hand hatte zurück ziehen können. Doch nicht einmal der leiseste Schmerzlaut war zu hören; die Tapferkeit und Selbstbeherrschung, die daraus spra chen, forderten Garth Hochachtung ab. Trotz der Dunkelheit gab ihm das Schwert eine gewisse Über legenheit; da alle um ihn herum seine Gegner waren, konnte er be -147-
denkenlos um sich schlagen, ohne Gefahr zu laufen, einen Falschen zu treffen. Das half ihm zwar nicht, aus dem Tempel zu kommen, aber es hielt ihm seine Widersacher vom Leib, zu mindest für eine gewisse Zeit. Wieder sprang er vor und holte zu einem mächtigen Streich aus. Das Schwert fuhr singend durch die Luft und durch Stoff, traf aber zu seinem Leidwesen auf nichts Festes. Sofort startete er einen neuen Angriff, diesmal in eine andere Richtung – und traf überhaupt nichts. Er hielt inne und lauschte. Kein Laut war zu hören. Hatten sich die Priester zurückgezo gen? Er wusste, dass sie die Fähigkeit besaßen, nicht das geringste Geräusch von sich zu geben, aber er war sich ziemlich sicher, dass keiner von ihnen in Reichweite seiner Klinge stand. Er hätte sich gewünscht, um sich tasten zu können, aber seine linke Hand hielt den Stein fest, und er wagte nicht, das Schwert in seiner Rechten zu senken. Einen Moment lang stand er unschlüssig da und über legte, was er als nächstes tun sollte. Er hatte diesen Kampf nicht ins Kalkül gezogen; er hatte nicht damit gerechnet, dass diese lästigen Priester das Verschwinden des Steins so schnell bemerken würden. Eine Hand schloss sich um seinen rechten Unterarm; er riss sich los und schlug zu. Die Klinge traf auf Widerstand; ein Ächzen er tönte, und als er die Waffe wieder zur Abwehrstellung aufrichtete, rann etwas Warmes, Nasses über seinen Handrücken. Er empfand ein Gefühl grimmiger Befriedigung über die gelungene Attacke; ein Hieb, der eine solch starke Blutung hervorrief, konnte sehr wohl tödlich sein. Er wünschte sich fast, dass der Priester wieder anfing, ihn zu verhöhnen; diese Stille machte ihn nervös. Die anderen mussten doch irgendeine Regung zeigen, nachdem er ih ren Kameraden so schwer verwundet hatte, vielleicht sogar töd lich!
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Er vernahm das Geräusch von sich entfernenden Schritten; es waren die von zwei Personen, die sich gleichzeitig bewegten, als trügen sie etwas zwischen sich. Er hörte ein schleifendes Ge räusch, als zögen sie etwas über den Boden. Er hatte aber keinen Körper zu Boden fallen hören; sein Opfer musste also noch auf recht stehen; offenbar halfen sie ihm lediglich aus der Gefah renzone. In der Hoffnung, seine Gegner zu überraschen und noch mehr zu entmutigen, schnellte er ohne Warnung vor und schlug mit der blutigen Klinge um sich; er hörte kurze spitze Schreie, aber der Streich ging ins Leere. Ihm fiel ein, dass er es mit Menschenwesen zu tun hatte, die viel kleiner waren als er; ob sie sich vor seinen Streichen duckten und ihnen so auswichen? Er bückte sich, stützte sich auf ein Knie und machte einen weiten horizontalen Rund schlag mit seiner Klinge, kaum mehr als zwei Fuß über dem Boden; er endete jäh, als der Stahl gegen etwas krachte, das härter war als Fleisch oder Knochen. Die Klinge prallte mit solcher Wucht zurück, dass sie ihm fast aus der Hand gefallen wäre. Er musste den Altar getroffen haben. Er fühlte sich von zwei Händen an der Schulter gepackt; er entwand sich dem Griff, riss die Klinge hoch und schlug aufs Ge ratewohl zu; der Streich ging schräg nach unten. Wieder traf die Klinge den Altar und schrammte klirrend über den Stein, und zum ersten Mal seit Garth den Tempel betreten hatte, nahmen sei ne Augen etwas wahr: Ein blauweißer Blitz zuckte über den Altar, so grell, dass ihm die lichtentwöhnten Augen fast weh taten. Reg los, wie benommen, stand er da und fragte sich, was er da gesehen hatte. Schließlich wurde ihm klar, was geschehen war: Sein Schwert hatte Funken auf dem Altar geschlagen. Der Altar, aus was für
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Stein er auch immer war, hatte dem Stahl seiner Waffe als Feuer stein gedient. Eine Hand schloss sich um sein rechtes Fußgelenk; er vermutete, dass sie dem Priester gehörte, der ihn zuvor bei den Schultern ge packt hatte. Offenbar hatte er sich vor Garths Schwerthieb wegge deckt und war dabei zu Boden gegangen. Jetzt versuchte er, Garth ins Straucheln zu bringen. Garth rief sich in Erinnerung zurück, aus welcher Richtung der Angreifer ihn an den Schultern gepackt hatte — denn dort musste er jetzt liegen — und ließ die Klinge senkrecht nach unten sausen. Die Schneide biss durch Stoff und Fleisch, und ein hoher gellender Schrei hallte durch den Raum. Garth trat einen Schritt zurück. Er unternahm nicht den Versuch, dem Priester den Garaus zu machen. Ihm war plötzlich eine Idee gekommen. Mit Hilfe seines Schwertes und des Altars konnte er sich das Licht verschaffen, das er brauchte, wenn er etwas fand, das er als Zunder verwenden konnte. Im Geiste ging er alle Gegenstände durch, die er bei sich trug: einen Beutel mit einem Dutzend Gold münzen, einen Dolch, der in seinem Gürtel steckte; den Gürtel selbst; einen ledernen Beutel mit getrocknetem Rindfleisch, Tro ckenobst, eine Ahle und andere nützliche Gegenstände — unter anderem die Landkarte, die ihm der Vergessene König mitgege ben hatte, auf der der Weg nach Dûsarra eingezeichnet war. Sie war aus altem trockenen Pergament; sie musste leicht anzuzünden sein. Leider hatte er im Augenblick beide Hände voll. Auch durften die Priester nicht merken, dass er irgend etwas im Schilde führte; er machte ein paar Scheinangriffe mit seinem Schwert, ohne ernsthaft damit zu rechnen, dass er jemanden traf. Dann bückte er sich vorsichtig und klemmte sich den Stein fest zwischen die Knie; er wagte nicht, ihn irgendwo auf den Boden zu
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legen, aus Angst, einer der Priester könne ihn erhaschen. Dann griff er mit der linken Hand in den Beutel und zog die Landkarte heraus. Er steckte sie in die rechte Hand, wo er sie mit dem Außendaumen und zwei Fingern fest gegen das Heft seines Schwertes gepresst hielt, und zog den Stein mit der Linken wieder zwischen seinen Knien hervor. Er machte einen Ausfall in die Richtung, wo der Altar stand, um sicherzugehen, dass niemand ihm den Weg versperrte, und dann schlug er mit einem diagonal angesetzten langen Streich einen Funkenregen aus dem Altar. Diesmal war er darauf eingestellt, und er sah alles klar und deutlich: den Altar aus roh behauenem Stein und sein blutverschmiertes Schwert; in dem schwachen, kurz aufleuchtenden Licht sah das Blut schwarz aus. Er merkte sich, wohin die Funken fielen, und legte die zusammengerollte Karte an die entsprechende Stelle. Ihm war klar, dass die Karte nicht sehr lange brennen würde – sofern es ihm überhaupt gelänge, sie anzuzünden -, aber er hatte nichts anderes Brennbares zur Hand und musste sich damit be scheiden. Als er sich zurückbeugte, drückte eine Hand gegen seinen Rücken; er wirbelte herum und schlug zu und wurde belohnt mit einem Schrei. Blitzschnell legte er den Altarstein auf den Boden, stellte einen Fuß darauf und griff mit der Linken in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Er bekam etwas zu packen; es war Stoff. Er fasste nach, hielt das Stück Stoff fest umklammert und riss. Er hörte ein lautes Reißge räusch; der Stoff gab nach, und er hielt einen breiten Fetzen in der Hand. »Was tust du da, Gotteslästerer?« Er gab keine Antwort; statt dessen zog er mit der Linken seinen Dolch und wickelte den Stofffetzen, so gut das mit einer Hand -151-
ging, um die Klinge. Mit der rechten Hand führte er ein paar planlose Schwertstreiche, um die Priester auf Distanz zu halten. Die Dolch-Fackel, die er sich so gefertigt hatte, würde nicht gut brennen, das war ihm klar; er brauchte Fett oder Schmalz oder Öl, um den Stoff damit einzuschmieren. Er legte den Dolch mit dem Stofffetzen auf den Altar neben die Landkarte, wobei er sich vergewisserte, dass das zusammenge rollte Pergament noch da lag. »Was tust du da?« wiederholte die Stimme. Die Besorgnis, die in ihr mitschwang, war nicht zu überhören; zweifellos konnten die Priester alles hören, was er tat, und sie mussten ahnen, dass er et was im Schilde führte. »Warum ziehst du deinen Dolch, Dieb? Reicht dir dein Schwert noch nicht aus, um mit unbewaffneten Priestern fertigzuwerden? Brauchst du das Stück Tuch, um dich zu verbinden? Haben wir dich so schwer verwundet?« Garth war erleichtert, dass sie seinen Plan noch nicht durch schaut zu haben schienen. Er zog das größte Stück Trockenfleisch aus seinem Beutel und rieb es über die Klinge, damit es den Rest von dem Blut aufsaugte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, dass der Proviant, den er bei sich hatte, nicht von bester Qualität war, denn das Fleisch hatte einen hohen Fettanteil, und er hoffte, das Blut würde es ein wenig aufweichen. Überall um ihn herum hörte er Geraschel; auch die Priester planten etwas. Jetzt hörte er, wie etwas über den Boden zu ihm hin geschleift wurde. Er rieb das blutige Fleisch über den Fetzen Stoff, den er um sei nen Dolch gewickelt hatte, dann warf er es fort. Er hatte getan, was er konnte; er holte aus und schlug mit sei nem Schwert auf den Altar.
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Der Winkel war falsch; nur ein paar ganz wenige Funken stoben auf. Wieder holte er aus, und diesmal war das Ergebnis schon et was ermutigender: Ein Schauer aus blauweißen Funken stob über den Altar und das Pergament, aber die Funken erloschen, bevor das Pergament Feuer fing. »Willst du uns noch mehr erzürnen, indem du auf unseren Altar einschlägst? Dummkopf! Du kannst ihn nicht zerstören, egal wie stark dein Arm auch sein mag; kein Mensch kann das!« Garth hörte mit Belustigung, dass sie ihn für einen Menschen hielten; er widerstand der Versuchung, ihren Irrtum zu be richtigen, konnte es ihm doch nur recht sein, dass sie ihn für je mand anderes hielten, als er war. Das würde sie bei der Suche nach ihm in die Irre führen – wenn er erst einmal draußen war. Er hieb erneut auf den Altar, und Funken sprühten auf; und wieder und wieder ließ er seine Klinge über den Stein schrammen. Ihm war klar, dass er damit die Schneide ruinierte. Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und wieder schluckte ihn die Dunkelheit, die ihm jetzt, nach der kurzen Unterbrechung, die ihm die Funken verschafft hatten, undurchdringlicher denn je er schien; aber war sie wirklich vollkommen? Aus dem Augenwinkel gewahrte er ein winziges Glimmen; er beugte sich über den Altar und spähte. Tatsächlich! Ein schwaches orangefarbenes Glimmen kroch über den Rand der zusammengerollten Landkarte. Ein Funke war über gesprungen! Mit angehaltenem Atem, die raschelnden Bewegungen hinter ihm und das schleifende Geräusch ignorierend, das jetzt kaum mehr als zehn Fuß von ihm entfernt war, fachte er behutsam die rötliche Glut an. Seine Mühe wurde belohnt von einer winzigen Flammenzunge, die plötzlich aufflackerte. Mit stummem Jubel hob er vorsichtig das brennende Pergament vom Altar und hielt -153-
es hoch. Dann drehte er sich um, um zum ersten Mal seine Umge bung genauer in Augenschein zu nehmen. Noch während er sich umdrehte, wurde ein schweres Netz über ihn geworfen; das also war es, was die Priester herangeschleift hatten! Er schaffte es, sein Schwert und die brennende Landkarte festzuhalten, aber sein Fuß rutschte von dem Altarstein. Zum Glück blieb aber auch dieser in dem Netz hängen, so dass die Priester nicht an ihn herankommen konnten, selbst wenn sie ihn entdeckten. Er kämpfte darum, sein Gleichgewicht zu halten – und schaffte es; die Priester hatten, in dem Glauben, er sei ein Mensch, seine Körperkräfte unterschätzt. Für einen Augenblick war er zu sehr damit beschäftigt, seine erstmals wahrnehmbare Umgebung zu studieren, als dass er dem Netz besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Er befand sich in der Mitte eines großen Raums von etwa hundert Fuß Breite. Der Raum war völlig kahl bis auf den Altar, der aus einem einzigen rohen Steinblock bestand. Die Wände waren nackt und unverputzt; hier und da hingen schwere Vorhänge, hinter denen sich vermutlich Türen befanden. Das karge Licht seiner kleinen Flamme reichte nicht aus, um Einzelheiten oder gar Farben zu er kennen. Die Hitze der Flamme erreichte jetzt seine Finger, und er riss sich aus seiner Betrachtung; er machte sich daran, sich mit dem Schwert aus dem Netz zu befreien, was ziemlich einfach war. In Sekundenschnelle hatte er ein so großes Loch in das Netz ge schnitten, dass er die Arme und den Oberkörper hindurch schieben konnte. Das Netz rutschte ihm auf die Hüften. Die Priester hatten sich im Kreis um das Netz gestellt und zerr ten daran in dem Bemühen, ihn zu Boden zu reißen. Sie merkten nicht, dass sie dadurch Garth die Arbeit noch erleichterten, indem -154-
sie die nötige Spannung herstellten, die er brauchte, um die Ma schen bequem durchtrennen zu können, ohne sie festzuhalten. Die provisorische Fackel war bereits so weit heruntergebrannt, dass die Flamme seine Fingerspitzen ansengte. Er durfte keine Zeit mehr verlieren, sollten nicht alle seine Mühen und sein Er findungsreichtum umsonst gewesen sein! Er nahm den präpa rierten Dolch vom Altar und hielt die schon fast erlöschende Flamme an den eingefetteten Lappen. Einen bangen Augenblick lang geschah nichts, und es sah schon so aus,. als würde die Flamme erlöschen. Doch dann, als er fast schon nicht mehr damit gerechnet hatte, züngelte eine Flamme auf. Der Lappen hatte Feu er gefangen! Die Flamme war rußig und übelriechend, aber sie brannte und spendete Licht! Er ließ die qualmenden Überreste der Landkarte zu Boden fallen und sah sich erneut um. Diesmal richtete er sein Augenmerk auf die Priester. Sie waren allesamt schwarz gekleidet oder zumindest so dunkel, dass ihre Roben in dem trüben Licht schwarz aussahen. Sie plapperten auf geregt miteinander, denn inzwischen hatten sie gemerkt, dass ihr Opfer sich aus dem Netz befreit hatte und irgend etwas in Brand gesteckt hatte; der Qualmgeruch war unverkennbar. Garth bedau erte das, denn damit war ihm ein Teil des Überraschungsmoments genommen. Es waren ungefähr zwei Dutzend; unter ihnen waren alle Sta turen vertreten: große, kleine, dicke, dünne; und, ihren Gesichtern nach zu schließen, alle Altersgruppen, vom Jüngling bis zum Greis. Ihre Roben waren schmutzig und zerlumpt, und ihre Gesichter starrten vor Dreck; aber wen störte das letztlich in der ewigen Finsternis des Tempels? Und selbst draußen: Wer erwarte te schon, dass die Blinden auf Äußerlichkeiten wie saubere Kleider Wert legten? Dieser Gedanke lenkte Garths Blick auf ihre Augen, was er sogleich bereute: Ein paar sahen nicht schlimm aus,
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sie waren lediglich permanent geschlossen oder starrten blind ins Leere; andere jedoch waren glasig oder vom grauen Star gezeich net oder von hässlichen, blutunterlaufenen Narben entstellt. Den schlimmsten Anblick jedoch boten die Priester, denen die Augen einfach herausgerissen worden waren, so dass nur die leeren blut unterlaufenen Höhlen zurückgeblieben waren. Garth sah, dass einer der Priester einen langen winkelförmig ausgezackten Riss in seiner Robe hatte, unter dem eine Schnitt wunde sichtbar war, die sich quer über seine Brust zog. Sie schien seltsam sauber und blutlos, bis Garth seine provisorische Fackel hob, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Als das trübe Licht voll auf die Brust des Mannes fiel, begann plötzlich Blut aus der Schnittwunde zu quellen, und der Priester ächzte vor Schmerz auf. Ein anderer hatte einen notdürftigen Verband um das Handge lenk; als der flackernde Lichtschein darauf fiel, tränkte sich der Lappen blutrot. Nicht weit von Garth lag ein Mann, ein sehr alter Mann, auf dem Boden; eine Blutspur zeigte Garth, dass es sich um den Priester handelte, der ihn bei den Schultern und beim Fußgelenk gepackt hatte und den er am Fuße des Altars mit seinem Schwert verwundet hatte. Welche dunkle Magie auch immer bewirkt hatte, dass die Wunden seiner Kameraden sich schlossen, solange kein Licht auf sie fiel — gegen die Schwere seiner Wunden war sie of fenbar machtlos gewesen, denn sein Blut schien ungehindert geflossen zu sein. Der alte Mann atmete noch ganz schwach, und Garth fragte sich, ob er wohl überleben würde. Auf dem Fußboden unter dem Netz entdeckte er eine weitere Blutspur; sie stammte von dem ersten Priester, den er voll getrof fen hatte und den zwei seiner Gefährten weggeschleift hatten. Sein Blick folgte der Spur bis zu dem Punkt, wo sie unter einem der
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Vorhänge verschwand. Dahinter befanden sich vermutlich Schlafquartiere oder ähnliche Räume, in denen sie ihre Verwundeten versorgen konnten. »So hast du uns also belogen, Dieb, und doch irgend etwas mit gebracht, mit dem man Feuer entfachen kann. Unter diesen Um ständen wagen wir es nicht mehr, dich anzugreifen; hast du doch ein Schwert, während wir unbewaffnet sind. Aber wir trösten uns damit, dass du trotzdem nicht hinausfinden kannst. Das Labyrinth wird dir den Ausweg versperren.« Zum ersten Mal konnte Garth sehen, wer sprach; es war ein großer älterer Mann mit grauem Haar. Einer seiner Ärmel war zerfetzt von einem Schwerthieb Garths. Er hatte keine Augen, son dern nur leere Höhlen, die längst zugeheilt waren. Garth hielt es für unwahrscheinlich, dass das Labyrinth tat sächlich so unüberwindlich war, wie die Priester ihn glauben ma chen wollten. Mit einem wachsamen Auge auf die Priester legte er für einen Augenblick sein Schwert nieder, wechselte die Dolch-Fa ckel in die rechte Hand, hob den Altarstein mit der linken auf und klemmte ihn wieder wie vordem zwischen Armbeuge und Rumpf, wechselte die Fackel wieder in die linke Hand — die sie zwar festhalten konnte, aber durch den Stein in ihrer Bewegungs freiheit eingeschränkt war — und hob das Schwert auf. Diese Ope ration dauerte eine Minute, während der er relativ schutzlos war, aber die Priester wagten es nicht, näher zu kommen; sie wussten, dass sie nur im Dunkeln etwas gegen ihn ausrichten konnten. Dergestalt gerüstet, das Schwert in der rechten, die Fackel in der linken Hand, den Stein unter den linken Arm geklemmt, schritt er auf den Vorhang zu, durch den er hereingekommen war; welcher es war, konnte er anhand seiner Stellung -zum Altar feststellen. Der Vorhang war, wie er sehen konnte, als er mit der Fackel dicht genug herangekommen war, aus weinfarbenem Samt; er war -157-
fleckig und staubig. Außerdem war er, wie ihm gleichzeitig durch den Kopf schoss, ein ausgezeichneter Platz für einen Hinterhalt. Er blieb brüsk stehen und hieb mit dem Schwert auf den Vorhang. Ein gellender Schrei erscholl, und ein Körper stürzte ihm ent gegen, den Vorhang mit sich reißend. Er hatte dem Mann mit sei nem Hieb die Gurgel aufgeschlitzt. Ein langer Krummdolch fiel klirrend auf die Steinfliesen; auf dem zerfetzten Samt des Vor hangs breitete sich ein neuer dunklerer Fleck aus. Der dicke Stein unter seinem Arm hinderte ihn daran, die Fackel hochzuhalten und den Raum hinter der jetzt offenen Tür auszu leuchten; also ging er vorsichtig vorwärts, mit kurzen Schritten, abwechselnd nach links und nach rechts spähend und immer der zwei Dutzend Feinde hinter sich gewahr. Doch es kamen keine weiteren Angriffe; er trat durch die Tür in das Labyrinth. Nicht weniger als fünf Gänge zweigten von da ab, wo er stand. Er studierte sie der Reihe nach — und folgte dann ohne Zögern dem zweiten von links. Er konnte sich keine Hoffnung machen, sich des verschlungenen Kurses zu erinnern, dem er auf dem Hin weg gefolgt war, aber das brauchte er auch nicht: In vier der Gänge lag eine dicke Staubschicht auf dem Boden. Nur einer schi en regelmäßig benutzt zu werden. Dieselbe Methode leistete ihm gute Dienste an jeder weiteren Gabelung, und es waren derer zahlreiche; zweifellos würde sein Entschwinden für die Priester ein großes Rätsel sein, wenn nicht gar ein Wunder, über das sie noch lange nachgrübeln würden. Schließlich, als er sich schon zu fragen begann, ob er nicht vielleicht doch an irgendeiner Stelle falsch abgebogen war, endete der Korridor, und zwar nicht vor einer kahlen Wand, sondern vor einer schweren Eisentür, die auf seiner Seite verriegelt war. Er steckte sein Schwert in die Scheide zurück; hier konnte ihn gewiss -158-
keiner der Priester mehr erreichen! Er schob den Riegel zur Seite, und die Tür ließ sich lautlos und ohne Mühe nach innen öffnen; vor ihm lag die winzige Kammer, in die er aus dem Vorraum ge treten war. »Wer ist da?« Die Gestalt in der schwarzen Robe wirbelte zu ihm herum, aber die Augen des Mannes waren leer und glanzlos; es war der Priester, der ihn durch das Labyrinth geführt hatte, dessen war er sich sicher. »Warum hast du kein Zeichen gegeben?« Verärgert zückte Garth erneut sein Schwert und hielt es dem Mann an die Kehle. »Sei still!« befahl er. Der Priester gehorchte. Garth zog ihn zurück in das Labyrinth, trat an ihm vorbei in die winzige Kammer und ließ die Eisentür zufallen; offenbar hatte sie Federn, die sie zuhielten. Die Seite, die er jetzt sah, war nicht aus Eisen, sondern aus Stein; eine dünne Steinplatte war auf den Me tallrahmen genietet. Er war froh, dass der Mann keinen Widerstand geleistet hatte; er hatte mindestens einen der Priester hier getötet, wenn nicht gar deren zwei oder drei, und er wollte kein weiteres Blutvergießen. Die Tür zum Vorraum ließ sich problemlos öffnen; doch als sie aufschwang, erfasste der Luftzug seine schon weit herunterge brannte Fackel, welche flackerte und fast erlosch. Er blieb stehen, wo er war, und hoffte, dass sie sich noch einmal erholen würde; statt dessen sank sie zu einem matten Glimmen herab. Der größte Teil des Lappens war zu Asche verbrannt. Aber das war jetzt ziemlich einerlei; er war so gut wie draußen. Er ging durch den Vorraum und zog an der Tür, die nach draußen auf den Platz führte. Sie ließ sich nicht bewegen. Er beugte sich hinunter, um nach dem Griff zu sehen. In dem Moment erlosch das letzte Fünkchen Glut seiner Fackel. Er tastete nach einer Klinke, fand aber keine. -159-
Da kam ihm ein Gedanke; er tastete sich zurück durch den Vor raum und Schloss die Tür der winzigen Kammer, wobei er darauf achtete, dass der Schnäpper ordnungsgemäß einschnappte. Dann ging er wieder zur Außentür zurück; diesmal ließ sie sich leicht öffnen, und er trat hinaus auf den Platz. Einen Moment lang stand er blinzelnd im hellen Mondlicht.
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Kapitel 11 Von seinen Verfolgern war keine Spur zu sehen; wahrscheinlich glaubten die Priester des Andhur Regvos, dass er sich unrettbar ir gendwo in ihrem Labyrinth verirrt hatte. Der Platz war immer noch fast menschenleer. Die paar Leute, die vorübergingen, zollten ihm keine Beachtung, obwohl er sicher war, dass er einen ziemlich seltsamen Anblick bot: ein Übermann, der aus dem Tempel der Dunkelheit auftauchte, mit einem blu tigen Schwert in der einen Hand und einem rußgeschwärzten Dolch in der anderen, und einem großen Stein unter dem linken Arm – das Tuch, das den Stein umhüllte, war verrutscht, und er konnte sehen, dass der Altarstein aus einem obsidianartigen Mate rial war. Gewiss, er befand sich noch immer im Schatten des Tempels; vielleicht nahmen die Dûsarraner aber auch an, dass er Teil nehmer an irgendeinem geheimnisvollen blutrünstigen Ritual war, in das man seine Nase am besten nicht hineinsteckte. Natürlich konnte er so nicht durch die Straßen der Stadt gehen; er zog sich in den Eingang zurück, setzte sich auf das Pflaster und legte seine drei Lasten ab. Er wickelte den Stein aus dem Tuch und wischte sorgfältig seine Waffen mit dem Tuch sauber, bevor er sie wieder in ihre Scheiden zurücksteckte. Das einzige Problem war jetzt nur noch, wie er den Stein verbergen sollte. Andererseits – war das überhaupt ein Problem? Schließlich hatte niemand das Ding je gesehen. Für Uneingeweihte sah es lediglich wie ein ganz normaler großer Klumpen Obsidian aus, wie er auf dem Markt frei verkauft wurde.
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Es war zwar nicht ganz ungefährlich, aber da ihm nichts Besseres einfiel, klemmte er sich den Stein, nachdem er, so gut es ging, seine Hände und sein Kettenhemd von Blut und Russ befreit hatte, ganz offen unter den Arm und machte sich auf den Weg. Es war noch immer relativ früh; er hatte zwar während seines Aufenthalts im Tempel jedes Zeitgefühl verloren, aber dem Stande des Mondes nach zu urteilen, musste es noch vor Mitternacht sein. Er musste sich entscheiden, ob er noch in dieser Nacht den nächs ten Tempel in Angriff nehmen sollte, oder ob es besser war, noch bis zum nächsten Tag damit zu warten. Die Entscheidung konnte jedoch warten, bis er sich seiner Beute entledigt hatte. Er fand mühelos den Weg zum Gasthof der Sieben Sterne und steuerte, dort angekommen, sogleich auf den Stall zu, um seinen frisch erbeuteten Stein zu dem ersten zu legen. Ein Junge saß in dem Bogengang; Garth erkannte in ihm den Stallburschen, dem er bei seiner Ankunft ein Goldstück für die Unterbringung von Ko ros gegeben hatte. Wenn er die Unterhaltung der zwei anderen Burschen richtig verstanden hatte, dann war sein Name Dugger. Ihm kam der Gedanke, dass der Bursche sich als Unsicherheits faktor erweisen konnte; er würde die Verbindung herstellen können zwischen dem Übermann mit dem Kriegstier und dem braungekleideten alten Mann, der ein so verdächtiges Interesse an Temas Tempel gezeigt hatte. Das schmeckte ihm nicht. Er trat in den Torweg; der Junge sprang auf und sagte: »Seid ge grüßt, Herr. Womit kann ich Euch dienen?« Eine weit höflichere Begrüßung als die vom Abend zuvor, dach te Garth; Gold hatte eine verblüffend heilsame Wirkung auf das Benehmen der Menschenwesen. »Auf zweierlei Weise, Junge. Erstens, indem du dafür Sorge trägst, dass mein Reittier morgen Abend zu fressen bekommt; du gibst ihm entweder soviel frisches rohes Fleisch, wie du tragen kannst, oder aber eine lebendige -162-
Ziege oder auch zwei, wenn du willst, sowie einen Eimer Wasser. Zweitens, indem du niemandem gegenüber ein Wort von mir erwähnst, so du nicht gefragt wirst, und wenn dich jemand fragen sollte, wirst du abstreiten, mich je in einem anderen Aufzug gese hen zu haben als in meinem jetzigen. Ist das klar?« Bei diesem sei nem letzten Satz erschien ein großes Goldstück in seiner Hand; er hielt es hoch, so dass es im Mondlicht funkelte. Der Junge nickte eifrig. »O ja, Herr!« »Gut. Und nun entschuldige mich; ich muss mich um mein Tier kümmern.« Die Goldmünze fiel in die Hand des Jungen und verschwand sogleich in irgendeiner verborgenen Tasche. Garth trat an ihm vorbei in den Stallhof. Koros knurrte zur Begrüßung, als sein Herr die Stalltür öffnete. Garth ignorierte ihn und kramte zwei Säcke aus seinem Vorrats bündel hervor. Er stopfte den obsidianähnlichen Stein in einen der Säcke, dann holte er den jetzt durchsichtigen weißen Kristall unter dem Stroh hervor und legte ihn obendrauf. Nachdem er ihn mit Stroh umpolstert hatte, um zu verhindern, dass seine scharfen Kanten das grobe Sacktuch aufrissen, band er den Sack zu und schob ihn unter seine anderen Sachen. Den zweiten Sack faltete er zu einem kleinen Päckchen zusammen und stopfte ihn in seinen Gürtel; er würde ihm, so hoffte er, als Behältnis dienen für das, was er im nächsten Tempel finden würde. Fünf Tempel fehlten noch. Es galt, keine Zeit zu verlieren; er würde sofort seine Mission fortsetzen und einen dritten Tempel berauben. In den ersten beiden Tempeln waren die Dinge nicht gut gelaufen: Er hatte bis jetzt mindestens zwei Leute getötet, vielleicht sogar vier. Das war nicht gut. Er würde versuchen, ab jetzt vorsichtiger zu Werke zu gehen. Wenn das mit dem Töten so weiterging ...
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Er tötete nicht gern. Einer der Hauptgründe für seine Abnei gung, noch einmal in den Dienst des Vergessenen Königs zu tre ten, war, dass sein erster Auftrag mit einem Dutzend Toten ge endet hatte, vielleicht sogar mehr. Befand er sich jedoch in einer Kampfsituation, dann obsiegten seine Reflexe über seine Selbst kontrolle. Er handelte zuerst und bedauerte es dann später. Er war nicht stolz darauf; es war einfach ein Teil seiner Natur. Alles was er tun konnte: Kampfsituationen wenn möglich aus dem Weg zu gehen. Fünf Tempel blieben noch übrig, darunter der Tempel des Todes; letzteren würde er sich bis zum Schluss aufheben. Welches waren die anderen vier? Einer davon war der von P‘hul, der Göt tin des Verfalls. Und dann gab es einen, von dem das Mädchen aus der Taverne gesagt hatte, er mache ihm Angst; Agha? Nein, aber ganz ähnlich. Richtig, Aghad. So lautete der Name. Er er innerte sich, dass er gehört hatte, wie jemand in Skelleth diesen Namen als Fluch benutzte; das klang ja vielversprechend. Er erwog, zuvor noch einmal die Taverne aufzusuchen, ent schied sich dann aber dagegen. Er hatte keinen Hunger, nicht ein mal besonderen Durst, und nach dem Weg konnte er auch je manden auf der Straße fragen. Er verließ den Stall, nickte im Weggehen dem Stallburschen zu, der ihm mit Verschwörermiene zublinzelte, und ging Richtung Marktplatz. Wie schon in der Nacht zuvor herrschte dort geschäftiges Treiben. Er schlenderte erst einmal ein wenig umher und studierte die Reaktionen der Dûsarranischen Bevölkerung auf die Anwesenheit eines Übermannes in ihrer Mitte. Es gab keine; sie nahmen ihn hin wie eine Selbstverständlichkeit. Er konnte sich ihr Verhalten nur so erklären, dass es etablierte Be
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ziehungen zwischen Dûsarra und einem ihm noch unbekannten Volk von Übermenschen geben musste. Beiläufig fing er eine Unterhaltung mit einem Händler an, in dem er vorgab, sich für dessen Steinfiguren zu interessieren; als er erfuhr, dass die Figuren die Dûsarranischen Götter darstellten, verwandelte sich sein gespieltes Interesse in ein höchst echtes. »Wer ist das hier?« fragte er, auf eine sechs Zoll hohe Figur von wahrhaft atemberaubender Hässlichkeit deutend; sie hatte ein verzerrtes, höhnisch blickendes Gesicht mit gebleckten Fangzäh nen und übertrieben maskulinen Zügen und war in einem groben primitiven Stil gearbeitet. »Aghad natürlich.« »Und das?« Er zeigte auf eine Statuette mit einem behelmten To tenschädel als Kopf, die ein Miniaturschwert in der Hand hielt, das fast so lang wie ihr Körper war. »Bheleu, der Gott der Zerstörung. Einer von Eurer Art, wie es heißt.« »Was?« Garth schaute genauer hin und sah, dass das Gesicht kein Totenschädel war; die Statuette hatte fransiges glattes Haar, zwei Daumen an jeder Hand, und das, was er auf den ersten Blick für leere Augenhöhlen gehalten hatte, waren tiefliegende Augen. Kurz, es war die Nachbildung eines Übermannes. Wirklich äußerst seltsam, dachte Garth, dass Menschenwesen einen Gott verehrten, der die Gestalt eines Übermannes hatte. Schließlich hatten die Übermenschen nichts mit den Göttern zu schaffen, da sie atheistisch waren; und hieß es nicht auch, dass Götter ewig waren, dass sie weder Anfang noch Ende hatten, wo hingegen die Übermänner doch erst seit tausend Jahren exis tierten? Er sah sich die anderen Figuren an. Er erkannte die schlanke, graziöse Tema, obwohl diese kleinen Statuen keine Ge wänder hatten, die sie wallend umhüllten; die Figur mit den zwei -165-
augenlosen Gesichtern war zweifelsohne Andhur Regvos. Die beiden letzteren waren zahlreicher vertreten (in verschiedenen Größen und geringfügigen Detailabweichungen) als alle anderen; von der zähnebleckenden Horrorgestalt, die Aghad darstellte, war etwa ein Dutzend vorhanden, während von dem übermannähnli chen Bheleu etwa halb so viele Exemplare feilgeboten wurden. Darüber hinaus gab es zwei weitere mehrfach vertretene Figuren, beides weibliche: Eine hielt einen Dolch und eine Peitsche und trug ein grausames Lächeln zur Schau; die andere trug eine Kutte und hatte den Kopf mit einer Kapuze verhüllt. Letztere schaute er sich genauer an. Unter der Kapuze hatte der Künstler das Gesicht einer Mumie dargestellt: runzlige Haut, die sich über vorstehende Wangenknochen spannte. Das Vorhandensein einer Nase deutete jedoch darauf hin, dass sie keine Überfrau darstellen sollte. Garth vermutete, dass es sich um P‘hul handelte. Damit kam er jedoch lediglich auf sechs. »Ich sehe hier nur sechs Eurer Götter.« »Natürlich.« Der Händler schaute ihn überrascht an. Garth wurde sich seines Fehlers bewusst: Der siebente Gott war der Gott des Todes, der Gott-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht; und es war nur zu verständlich, dass man den Gott, dessen Namen man nicht aussprach, auch nicht in Stein meißelte. Er versuchte, seine Torheit zu kaschieren. »Natürlich. Wer ist das da?« Er deutete auf die Frau mit Peitsche und Dolch. »Sai. « Garth schaute den Händler verblüfft an. »Die Göttin des Schmerzes und des Leides.« »Ach ja, natürlich.« Er ließ seinen Blick erneut über die Auslage schweifen. »Und jeder von ihnen hat einen Tempel hier in Dûsar ra?«
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»Wie es der Name schon sagt.« »Wo sind diese Tempel? Ich würde sie vielleicht gern einmal besichtigen.« Der Händler sah ihn argwöhnisch an. »Nur wenige Fremde besichtigen die Tempel.« »Ich war nur neugierig.« »Ach so. Nun, der Tempel der Tema liegt dort hinten, in dieser Richtung, und die meisten anderen liegen an der Straße der Tem pel, dort.« Er deutete auf den nordöstlichen Teil der Stadt. »Ich danke Euch.« Garth warf einen letzten Blick auf die Figu ren, dann wandte er sich um und ging in Richtung Nordosten. Die Straße der Tempel war nicht schwer zu finden; es war eine breite gerade Allee, gepflastert und offensichtlich für feierliche Prozessionen und Aufmärsche angelegt. Ihr weitaus größter Teil war jedoch nicht von Tempeln gesäumt, sondern von Wohn häusern und Palästen; offensichtlich wohnten hier die besseren Leute Dûsarras. Es gab auch einige Geschäfte; sie waren jedoch allesamt während der Nacht geschlossen. Dieser Stadtteil gehörte den Tag-Leuten, nicht den Anbetern der Nacht. Das eine Ende der Straße bildete das Tor zu einem Palast, dem größten und elegantesten, den Garth jemals gesehen hatte; er ge hörte vermutlich dem Oberherrn der Stadt. Das andere Ende, wel ches erheblich weiter von der Stelle entfernt war, an der er auf die Allee gestoßen war, schien nichts anderes als die kahle steinerne Wand des Vulkans zu sein, auf dessen Hängen die Stadt erbaut war; die Straße war ein paar Yards in die Wand hineingetrieben worden und hörte dann plötzlich auf. Entlang der beträchtlichen Strecke zwischen Palast und Berg hang zählte Garth vier Tempel. Sie waren von den angrenzenden Gebäuden leicht zu unterscheiden, weil sie allesamt aus
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schwarzem Stein gebaut waren und Kuppeldächer hatten, wäh rend die Paläste und anderen Gebäude flache Dächer hatten und aus verschiedenen Materialien gebaut waren. Die Tempel waren so angeordnet, dass jeweils zwei auf jeder Seite standen, und zwar so gegeneinander versetzt, dass sie die Allee in fünf gleichlange Abschnitte unterteilten. Garth war über eine Seitenstraße auf die Allee gestoßen, die di rekt gegenüber dem vorletzten Tempel vor dem Palast des Oberherrn mündete; da es ihm ziemlich gleich war, welchen Tem pel er als nächstes aufsuchen würde, wählte er den nächst liegenden und steuerte zielstrebig auf ihn zu. Der Tempel war zum größten Teil hinter einer hohen Mauer ver borgen, die aus dem allgegenwärtigen schwarzen Stein gebaut war. Lediglich die Kuppel – eine vergleichsweise bescheidene – war zu sehen. Die Mauer wies weder Fenster noch irgendwelche anderen architektonischen Merkmale auf, die darauf hingewiesen hätten, dass sie ein Teil des Tempels selbst war. Garth nahm an, dass sie einen Hof umgrenzte und dass der Tempel innerhalb dieses Hofes stand. Der einzige sichtbare Eingang war ein zweiflügeliges Tor von etwa zehn Fuß Höhe und acht Fuß Breite, bestehend aus einem Metall, das im Mondlicht einen fast unheimlich anmutenden silbernen Schimmer abgab. Die Flügel hatten keine glatte Oberflä che, sondern waren mit kunstvoll verschlungenen Ornamenten verziert. Garth fuhr verblüfft zusammen, als er erkannte, dass die Ornamente bei näherem Hinsehen stilisierte Runen darstellten, zwei auf jedem Flügel, die hintereinander buchstabiert das Wort AGHAD ergaben. Als er sich dem Tor näherte, fiel ihm ein weiteres über raschendes Merkmal ins Auge: Die Mauer war aus sorgfältig be arbeiteten Steinen von exakt gleicher Größe erbaut, und in jeden
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Stein waren die gleichen vier Runen gemeißelt: AGHAD. Der Name des Gottes prangte tausendfach auf der Mauer des Tempels. Nun, dachte Garth, wenigstens brauchte er sich diesmal nicht den Kopf zu zerbrechen, wessen Tempel es war. Er streckte die Hand aus, um zu prüfen, ob das Tor abgeschlossen war; doch be vor seine Hand das schimmernde Metall berührte, schwangen beide Flügel vor ihm auf und gaben den Blick auf den Hof frei. Seine Erfahrungen mit geheimnisvollen Mechanismen hatten ihn vorsichtig gemacht; er spähte in alle Richtungen, bevor er zö gernd eintrat, konnte aber nicht feststellen, wie das Tor geöffnet worden war. Er versuchte durch den Ritz an den Angeln zu spä hen, musste jedoch feststellen, dass keiner vorhanden war; beide Flügel hingen jeweils an einer einzigen durchgehenden Angel. Der Hof machte einen ziemlich leeren Eindruck; Gefahr schien dort, soweit er feststellen konnte, nicht zu lauern. Er bestand aus einer kiesbestreuten breiten Fläche, in deren Zentrum ein Spring brunnen plätscherte. Eine lange Kolonnade umgrenzte ihn auf drei Seiten; hinter der jenseitigen Kolonnade stand der Tempel selbst, ein elegantes Gebäude aus schwarzem Stein, mit vielen Fenstern und Ornamenten. An jeder Säule auf allen drei Seiten war eine Halterung befestigt, in der eine brennende Fackel steckte — eine willkommene Ab wechslung gegenüber der Dunkelheit in den ersten beiden Tem peln. Er hätte eigentlich schön sein müssen, mit dem leisen Plätschern des Springbrunnens, dem flackernden Fackelschein, mit seinen Säulen und Arkaden — aber er war es nicht. Er hatte etwas Düsteres, Drohendes an sich, und seine Proportionen schienen ir gendwie falsch, so als hätte der Architekt die Maße perfekt berech net und sie dann böswillig verzerrt.
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Garth schritt durch das Tor, und erst jetzt fiel ihm auf, dass auf dem silbrig schimmernden Metall seltsame bräunliche Flecken waren. Er hatte freilich keine Gelegenheit, sie genauer in Augen schein zu nehmen, denn kaum war er durch das Tor getreten, da schwangen die Flügel hinter ihm auf ebenso geheimnisvolle Weise zu, wie sie sich geöffnet hatten. Einen Moment lang schwankte er, ob er sich umdrehen und ver suchen sollte, sie wieder zu öffnen, oder ob er einfach weitergehen sollte; da erscholl ein langgezogener Schrei von irgendwo im In nern des Tempels. Garth zuckte zusammen, seine Hand fuhr zum Schwert. Der Schrei brach abrupt ab, und es folgte ein leises spöt tisches Lachen, das sich schaurig durch die Kolonnaden fort pflanzte. Seine Neugierde war geweckt, und die Sache mit den selbsttätig sich öffnenden und schließenden Torflügeln war vergessen. Er schritt in Richtung des Tempels. »Sei gegrüßt, Übermann!« Die Stimme klang tief und dunkel. Sie kam irgendwo von hinten, so schien es ihm; er wirbelte herum, riss sein Schwert aus der Scheide, aber er sah nichts außer dem ge schlossenen Tor. Er bemerkte, dass es jetzt verriegelt war. Er hatte den Riegel nicht herunterfallen hören; sofort machte er sich Vorwürfe, nicht wachsam genug gewesen zu sein. »Willkommen im Tempel des Aghad!« Die Stimme schien von rechts zu kommen; er drehte sich langsam nach rechts um. Noch immer war niemand zu sehen. »Wir empfangen nicht oft Besucher hier.« Wieder kam die Stimme aus einer anderen Richtung; er beschloss, nicht weiter auf das Spiel einzugehen und sich nicht beirren zu lassen; sicher steck te dahinter irgendein Trick. »Aghad ist kein volkstümlicher Gott, befürchte ich. Die Massen lieben mehr die harmlose, machtlose kleine Tema.« Die Stimme lachte leise. -170-
Gereizt erwiderte Garth: »Ich liebe es nicht, mit jemandem zu sprechen, den ich nicht sehen kann.« »Das ist auch nicht beabsichtigt.« »Warum nicht?« »Liebes Kind, du bist unwissend, nicht wahr?« »Auf manchen Gebieten, ja. Die Religion und ihr mystisches Schmuckwerk sind in meinem Heimatland nicht beliebt.« »Oh; du liebe Güte, nicht beliebt, sagt er! Aghad ist nirgendwo beliebt, du Tor. Aghad ist Furcht, Hass, Ekel; alles Dinge, die die Menschen und (auch wenn du das nicht wahrhaben wollen wirst, die Übermenschen) gegenüber dem Unbekannten empfinden, dem Andersartigen, dem, das sie nicht begreifen können.« »Ich kann verstehen, warum eine solche Gottheit nur wenig Anziehungskraft ausübt.« »O ja, dessen bin ich sicher! Aber warum bist du dann gekom men?« »Weil ich alle sieben Tempel besichtigen möchte.« »Du lügst mit Halbwahrheiten.« »Wie soll ich es deiner Meinung nach ausdrücken?« »Du kommst, um zu stehlen, elender Wicht. Die Altarsteine von Tema und Regvos liegen zu den Füßen deines Kriegstiers ver steckt, im Gasthof der Sieben Sterne.« Garth gab darauf keine Ant wort, sondern verstärkte lediglich den Griff um das Heft seines Schwertes. Wieder lachte die Stimme. »Oh, du armseliger Narr, steck dein albernes Schwert wieder ein! Wir dienen hier Aghad, und nur Aghad, nicht Tema oder Regvos oder Sai oder P‘hul oder Bheleu. Aghad ist der Hass, Ag had ist Hass und Neid und jede andere Regung, die den Men schen gegen seinen Nächsten sich wenden lässt. Wir, die wir Ag had dienen, haben keine Veranlassung, Mitgefühl für die Priester -171-
der anderen Tempel zu hegen, geschweige denn ihnen zu helfen. Unseretwegen magst du ganz Dûsarra in Schutt und Asche legen und ausplündern, wenn du willst. Wir werden dich nicht daran hindern.« »Habt ihr keine Angst um euren eigenen Tempel? Du sagtest doch, ich wäre hergekommen, um zu stehlen.« »Idiot, Selbsthass ist der grundlegendste von allen; wenn einer sich nicht selbst hasst, wie soll er dann andere hassen und verach ten? Du magst nehmen, was auf unserem Altar liegt, denn es ist nichts Einzigartiges, sondern eine ganz gewöhnliche Substanz, welche bei jeder Zeremonie ausgewechselt wird. Wir verlangen jedoch eine Bezahlung.« Garth hielt seine Klinge weiter erhoben. »Welcher Natur?« »Du musst Aghad ein angemessenes Opfer darbringen.« »Was für ein Opfer?« »Für gewöhnlich muss der Bittsteller einen Freund verraten, eine geliebte Person betrügen oder auf irgendeine andere Weise Zwietracht säen; aber in Anbetracht deiner fremdländischen Herkunft, Abschaum, verlangen wir von dir etwas Besonderes. Einen Dienst an unserem Gott: Töte uns sechs oder mehr Priester, mindestens aber einen von jedem der anderen Tempel. Du tötetest bereits den an der Tür von Temas Tempel und einen Priester so wie eine Priesterin im Tempel des Regvos, einen dritten jedoch ließest du leben. Damit hast du bereits einen guten Anfang ge macht. Nun musst du vier weitere töten, einen aus jedem der vier restlichen Tempel, oder die Anhänger Aghads sorgen dafür, dass du die Stadt nicht lebend verlässt.« Garth unternahm gar nicht erst den Versuch, sein Erstaunen zu verhehlen. »Ist das euer Ernst?«
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»Ja, es ist unser Ernst.« »Warum?« »Weil unsere Spitzel in den anderen Kulten die Tat, die du be gangen hast, auf ihre >Mitbrüder< schieben werden, auf dass sich Zwietracht und Misstrauen ausbreiten. Du hast dein Werk bereits für uns begonnen.« Die Anspielung auf seine Unterhaltung mit dem Schwertmann im Stall des Gasthofs entging ihm nicht. Es war offensichtlich, dass der Kult des Aghad über hervorragende Möglichkeiten der Informationsbeschaffung verfügte, ganz gleich ob dies vermittels magischer Kräfte bewerkstelligt wurde oder über ein höchst wirkungsvolles System von Spitzeln und Agenten. Gleichwohl fand er es fast unglaublich, dass diese Leute von ihm verlangten, dass er ihre eigenen Landsleute tötete. »Ihr dient einem sonderbaren Herrn, Priester des Aghad.« »Nicht sonderbarer als deiner, Garth von Ordunin, zuletzt um triebig in Skelleth.« Garth verbarg seine Verblüffung; welches auch immer ihre Methoden sein mochten, es gab keinen Grund zu dem Glauben, dass sie auf diese Stadt beschränkt waren. Es war mehr als wahrscheinlich, dass der Kult des Aghad sein Spitzelnetz über alle Reiche der Menschenwesen ausgedehnt hatte. »Und wenn ich mich weigere, euren Preis zu zahlen?« »Die Entscheidung liegt ganz bei dir, elender Wicht; wir stellen dich lediglich vor folgende Wahlmöglichkeiten, die du annehmen kannst oder nicht, ganz wie es dir beliebt: Du darfst das, was du auf unserem Altar findest, mitnehmen und in Frieden deines Weges ziehen – sofern du unsere Forderung erfüllst. Du kannst das, was du auf unserem Altar findest, mitnehmen und den Preis, den wir dafür verlangen, zu entrichten dich weigern – und sterben, ehe du Dûsarra verlässt. Oder – die letzte Möglichkeit – du schlägst unser Angebot ganz aus und darfst am Leben bleiben, -173-
aber mit dem Wissen, dass du mit deiner Feigheit unseren Gott und unseren Kult schwer beleidigt hast.« »Keine dieser Wahlmöglichkeiten ist besonders verlockend.« »Das kümmert uns nicht. Wenn du nun unseren Altar sehen möchtest, Sklave; geh an dem Springbrunnen vorbei, und vor dir liegt die Tür zum Allerheiligsten.« Garth überlegte fieberhaft. Er hatte nicht den Wunsch, noch mehr Blut zu vergießen. Anderer seits war es durchaus möglich, dass er nicht umhin kam, weitere Priester zu töten, wie es ja bereits in den ersten beiden Tempeln der Fall gewesen war – was bedeuten würde, dass er gewisserma ßen ohne es zu wollen die Forderung der Aghad-Priester erfüllte. Aber das war etwas anderes. Er hatte jedenfalls nicht die Absicht, mutwillig Priester zu töten, nur um den perversen Gelüsten dieser Bestien zu willfahren. Wenn es sich nicht als notwendig erweisen würde, die geforderten vier Priester abzuschlachten, dann würde er es auch nicht tun. Er würde auf seine eigene Kraft und seinen Witz vertrauen und versuchen, aus der Stadt zu entkommen. Vorsichtig ging er an dem Springbrunnen vorbei in Richtung Tempel, doch nur, um jäh stehenzubleiben. Auf dem Kies hinter dem Brunnen lag, mit dem Gesicht nach unten, die Leiche eines Menschenwesens; direkt neben seiner im Todeskampf zu sammengekrampften Hand lag ein leerer Zinnbecher. »Was ist das?« »Achte auf den Geruch des Springbrunnens, Hexenbrut.« All mählich begannen die ständigen Beleidigungen, die der ver borgene Priester in seine Reden flocht, seinen Groll zu erwecken. Er gehorchte jedoch und schnupperte an dem kristallklaren Wasser. Der Geruch von Bittermandeln stach ihm in die Nüstern; hätte er eine Nase gehabt, er hätte sie angewidert gerümpft. »Sehr hübsch.«
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»Der arme Tor bat uns um einen kühlen Trunk; eine solch be scheidene Bitte konnten wir ihm doch nicht abschlagen, oder?« Der Priester brach in schallendes Lachen aus, ein Lachen, in dem ein Anflug von Hysterie mitschwang. Garth vermutete allmählich, dass der Mann verrückt war. Eine Vermutung, die nur logisch er schien; würde ein geistig normaler Mensch einem solchen Gott dienen? Beunruhigt ging er weiter, das Schwert in der Hand. Die Kolonnade war vielleicht zehn Fuß von ihm entfernt, eine Distanz, die immer noch ausreichte, um die Sicht auf die Tempel wand zu versperren; die Säulen, an denen die Fackeln befestigt waren, schirmten alles Licht ab, da die Fackeln allesamt zur Hof seite hin angebracht waren. Garth zögerte, in den Schatten hinter der Kolonnade zu treten, zumal er die Tür nicht sehen konnte, von der der Priester gesprochen hatte. Plötzlich jedoch öffnete sich ein Tor in der Dunkelheit, und blutrotes Licht fiel heraus. Garth trat durch das zweiflügelige Portal und gelangte in einen mit Wandbehängen geschmückten Raum. Das rote Licht rührte von Leuchtern, die hinter Scheiben aus dunkelrotem Glas brann ten, welche zwischen den Wandbehängen in die Wände einge lassen waren. Der Raum war nicht allzu groß, und Garth fragte sich, ob dies tatsächlich schon das Allerheiligste war oder le diglich ein Vorraum; er maß kaum mehr als zwanzig Fuß im Qua drat. Er sah keinen Altar, aber es gab auch keine Tür außer jener, durch die er hereingekommen war. Er ging weiter bis in die Mitte des Raums, und prompt schloss sich das Portal hinter ihm. Allmählich gewöhnte er sich an diese Gaukeleien. Das rote Licht machte es schwierig, Einzelheiten zu erkennen; er vermochte nicht zu erkennen, was auf den Wandbehängen abge bildet war. Er stand da und wartete, was als nächstes passieren würde.
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Irgendwo von oben kam ein seltsames rhythmisches Geräusch, wie von Schlägen, und von vorn hörte er eine Stimme, zu hoch für einen Mann oder Übermann, die einen unterdrückten Laut von sich gab. Gleich darauf ertönte grelles, grausames« Lachen, das anschwoll und immer höher und schriller wurde; die Schläge ver stummten oder wurden vielleicht auch nur von dem Lachen über tönt, und der Wandbehang direkt vor ihm glitt nach oben in die Decke und gab den Blick auf einen Alkoven frei. Das Licht, das aus diesem flutete, war normaler: es stammte von Hunderten von Kerzen, die ringsum an allen drei Wänden des Alkoven brannten und einen kunstvoll verzierten goldenen Altar beleuchteten. Die Oberfläche des Altars bestand aus einer Platte aus rot emailliertem Holz und war fast vollkommen bedeckt mit goldenen und roten Münzen. Als Garth näher an den Altar herantrat und vorsichtig die Hand nach den Münzen ausstreckte, fragte er sich, woraus die roten wohl bestanden; noch nie hatte er ein Metall gesehen, das eine fast karmesinrote Tönung hatte, und Münzen aus Stein waren zu selten und zu spröde für den alltäglichen Gebrauch. Er nahm eine Handvoll Münzen auf und sah sofort, dass es ganz gewöhnliche Goldmünzen waren; das Rote war frisches Blut — Blut, das ihm am Handgelenk herunterlief und ihm von den Fingern tropfte. Angewidert warf er die Münzen zurück auf den Altar und wandte sich ab. Der Wandbehang glitt wieder herunter; jetzt saß er in dem Alko ven gefangen. Zuvor hatte er jedoch gerade noch sehen können, dass die Vorderwand des ersten Raumes nackt und glatt war; die Tür, durch die er hereingekommen war, hatte sich schlicht in Luft aufgelöst! An ihrer Stelle war nur noch nackter Stein! Das Lachen gellte jetzt lauter denn je zuvor.
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Kapitel 12 Garth war für einen Moment vor Überraschung wie erstarrt; ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn herumwirbeln: Der Altar war nicht mehr da! An seiner Stelle kauerte ein zum Sprung geduckter Panther! Garth hob sein Schwert und wich zurück zum Wandbe hang, damit die Raubkatze weiter springen musste und so an Schwung verlöre. Aber es kam kein Angriff. Statt dessen fiel ein schwerer Samt vorhang zwischen ihn und die Bestie, so dass er nun einge schlossen war in einen Raum von kaum mehr als drei Fuß Breite. Ein paar von den Myriaden von Kerzen befanden sich jedoch mit in dem durch den Vorhang abgetrennten Raumabschnitt, so dass er wenigstens sehen konnte. Er drückte mit der Hand gegen die samtene Barriere; sie gab nicht nach. Irgend etwas hielt sie straff. Sie wurde offenbar rings um von soliden Verankerungen festgehalten. Er lehnte sich mit seinem vollen Gewicht dagegen — vergebens, der Vorhang hielt stand. Er zuckte die Achseln und wandte sich dem Vorhang zu, der ihn von dem Hauptraum trennte. Doch dieser war ebenso fest veran kert. Er sah sich um. Sein Gefängnis war vielleicht acht Fuß lang; er stand in der Mit te. An jeder der beiden Seiten brannte ein Dutzend Kerzen; sie steckten in schwarzen Eisenhaltern, die mit Bolzen in der Wand verankert waren. Der Fußboden bestand aus einer einzigen festen Steinplatte, vermutlich Schiefer. Er inspizierte die Decke; sie war mit Blattgold belegt und mit kunstvollen Ornamenten und Blu menmotiven verziert. An einem Ende, halb im Schatten, hing et was herab, das aussah wie eine Kordel; ihr unteres Ende befand -177-
sich oberhalb seiner Augenhöhe, was erklärte, wieso er sie bis jetzt übersehen hatte. Er machte ein, zwei Schritte und wollte nach ihr greifen, in der Hoffnung, es sei vielleicht die Zugkordel für einen der beiden Vorhänge; doch statt einer Kordel sah er sich plötzlich einem Schlangenkopf gegenüber, der hochfuhr und wütend seine Hand anzischte. Langsam wurde es ihm zu bunt; er durchtrennte die KordelSchlange mit einem Schwertstreich und hieb dann gegen den Vor hang. Die Klinge drang mühelos durch den Stoff. Garth spähte durch den Schlitz; der Panther war fort, wenn er überhaupt je wirklich dagewesen war, und der Altar stand wieder an seinem alten Platz, und das Gold lag noch genauso da, wie es zuletzt gelegen hatte, nur war das Blut inzwischen fast getrocknet. Er fragte sich, wieviel von alledem Sinnestäuschung war, wie viel Magie und wie viel auf simplen mechanischen Tricks beruhte. »Sehr gut, Garth.« Das Lachen hatte aufgehört, und es sprach wieder die schon bekannte höhnische Stimme. »Du hast eine harmlose Felsenschlange getötet und einen tausend Jahre alten yeshitischen Wandbehang zerstört. Nimm dein Gold und verschwinde. Stoße dich nicht an dem Blut; es stammt von einer orunischen Jungfrau von gerade sechzehn Jahren, aber sie war keine von deiner Art. Du brauchst also ihren Tod nicht zu bedau ern.« Der Priester kicherte obszön, und Garths Wut geronn zu Hass. Im hintersten Winkel seines Bewusstseins wusste er, dass der Priester genau dies wollte, dass er, genau wie sein widerwärtiger Gott, auf Hass gedieh und aufblühte — aber dieses Wissen diente nur dazu, seinen Hass noch mehr zu steigern. Mit einem unterdrückten Knurren stieg er durch den Riss im Vorhang, steckte sein Schwert zurück in die Scheide, zog den Sack aus sei
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nem Gürtel und fegte mit einem Armschwenk die Goldmünzen hinein, das getrocknete Blut ignorierend. »Fein gemacht, Bursche; vielleicht könnten wir dich als Stuben mädchen einstellen, solltest du den Mut aufbringen, dich für einen solch verantwortungsvollen Posten zu bewerben. Und nun geh und schlachte uns vier Priester ab, wenn du das schaffst; oder meinetwegen auch Priesterinnen, falls das mehr deinem Ge schmack entspricht – wiewohl Bheleu und der Letzte Gott nur männliche Diener haben. Nun geh schon, Abschaum, und beläs tige uns nicht länger mit deiner nichtsnutzigen Gegenwart!« Er hörte ein klickendes Geräusch hinter sich; als er sich umdreh te, war der Vorhang verschwunden, und das zweiflügelige Portal stand wieder offen. Ein plötzlicher Windstoß, der aus dem Nichts zu kommen schien, stob ihm entgegen: Die Kerzen erloschen, und nur das rote Licht der Fackeln hinter den Glasscheiben erhellte noch den Raum. Er machte einen Schritt auf den Ausgang zu, verharrte dann aber plötzlich. In einem letzten Akt des Trotzes zückte er sein Schwert, stellte den Sack mit dem Gold ab, packte das Heft seiner Waffe mit beiden Händen, dann drehte er sich um, holte aus und hieb mit einem mächtigen Streich die emaillierte Altarplatte in Stücke. Noch ein Hieb, und das Goldfiligran zersplitterte und zer barst. Er schob sein Schwert in die Scheide, spie auf die Trümmer des Altars, dann hob er den Sack auf und schritt zur Tür hinaus. Diesmal folgte ihm kein Gelächter. Der Vorhang glitt hinter ihm herunter, und die Türflügel fielen krachend ins Schloss. Er schritt durch die Kolonnade und durch querte den Hof. Die Leiche, die neben dem Springbrunnen ge legen hatte, war nicht mehr da. Er wandte den Blick auf das silber ne Tor – und blieb abrupt stehen.
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Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Quer über das Tor war der ausgemergelte runzlige Körper eines alten, ural ten Mannes genagelt, die Füße auf dem einen Flügel, die ausge streckten Arme auf dem anderen. Voller Entsetzen sah Garth, dass sich der schmale Brustkorb noch hob und senkte, langsam und un regelmäßig. Das Gesicht des Mannes war in Todespein verzerrt, seine Augen fest geschlossen. Garth bebte vor Zorn und Abscheu, als er sah, dass aus den Flanken des Greises Hautstreifen her ausgeschnitten und ebenfalls an das Tor genagelt worden waren. Von Ekel geschüttelt, donnerte mit zornbebender Stimme der Übermann: »Ihr grausamen Bestien! Warum ist dieser Mann hier?« Für einen Moment herrschte Stille, während das Echo seines Schreis durch den Hof hallte und sich zwischen den Säulen verlor; dann, ganz leise, erklang wieder die schon vertraute, höhnische Stimme. »Es scheint dir Spaß zu machen, dein Schwert zu schwingen, Kind; warum benutzt du es nicht auch zum Öffnen des Tores?« Für einen langen Moment stand Garth reglos da. Dann stellte er den Sack mit den Münzen ab und ging zum Tor; und mit aller Be hutsamkeit, derer er fähig war, begann er, die Nägel herauszuzie hen, mit denen der Mann an das Tor geschlagen worden war. Es war eine knifflige, schwierige Aufgabe; sie waren tief hineinge trieben, und er musste all seine Kraft aufwenden, um sie locker zubekommen, ohne allzu sehr an ihnen zu wackeln oder zu dre hen; jede überflüssige Bewegung riss das Fleisch noch weiter auf und bereitete dem armen geschundenen Greis neue Schmerzen. Er war daher sehr froh, dass der Mann ohnmächtig wurde, bevor er den ersten Nagel herausgewunden hatte. Zum Glück war das Metall, aus dem die Torflügel bestanden, re lativ weich und hielt die Nägel nicht so fest, wie Holz es getan -180-
hätte; die übermenschliche Kraft von Garths Fingern reichte aus, sie herauszuziehen. Nur bei den Nägeln, die die Füße hielten, musste er ein wenig mit dem Dolch nachhelfen. Schließlich, nach langem, mühseligem Zerren, Drehen und Wa ckeln, hatte er den Mann frei und legte ihn vorsichtig auf den Kies; das Tor ließ sich ohne Anstrengung öffnen. Er raffte seinen Sack auf und trat durch das Tor nach draußen, um sich zu verge wissern, dass niemand in der Nähe war. Er hatte vor, den Mann zum Gasthof der Sieben Sterne zu tragen und dafür zu sorgen, dass er die bestmögliche Pflege erhielt, aber es war gewiss nicht günstig für ihn, wenn man ihn mit einem halb zu Tode ge schundenen Körper über die Schulter die Straße der Tempel entlangmarschieren sah. Die Straße war leer; er wandte sich um, um zurück-zugehen, und sah, wie im selben Moment die Torflügel zuschwangen. Verzweifelt sprang er vorwärts, um sie aufzuhalten — durch den schmalen Spalt sah er den alten Mann auf dem Kies liegen —, aber er war nicht schnell genug; das Tor fiel zu und drückte ihn auf die Straße zurück. Mit einem Wutschrei warf sich Garth erneut gegen das Tor; es gab nicht nach. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass ihm trotz seines Stepphemdes und seines Kettenpanzers ein heftiger Schmerz durch die Schulter zuckte. Er riss sein Schwert aus der Scheide und hieb auf das Metall ein; die Waffe hatte ihm gute Dienste geleistet, aber unter der Bean spruchung stark gelitten, die er ihr zugemutet hatte, als er Funken aus dem Altar im Tempel des Andhur Regvos geschlagen hatte. Seine wütenden Schläge gegen das Tor gaben ihr den Rest, und sie zerbrach: Metallspäne flogen in alle Himmelsrichtungen, und in der Hand hielt er nur noch das Heft mit einem etwa zehn Zoll langen Klingenstumpf. Das Tor indes war unversehrt; lediglich
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der obere Teil der GH-Rune war zerbeult und wies ein paar Kratzer auf. Und wieder hörte er das schon vertraute Gelächter. Etwas kam über die Mauer geflogen und landete mit einem dumpf klingenden Aufprall auf dem Pflaster zu seinen Füßen. Es war die Leiche des alten Mannes; sie war in zwei Teile zerhackt, genauso, wie sie es gewesen wäre, hätte er zum Öffnen des Tores sein Schwert benutzt, wie es der Priester des Aghad vorgeschlagen hatte. Sprachlos vor Entsetzen starrte Garth einen Moment lang auf die blutigen Überreste, dann wandte er sich ab und ging davon, ver folgt von hysterischem Gelächter.
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Kapitel 13 Der Mond stand noch ein Stück über dem Horizont; Garth schätzte, dass es noch gut drei Stunden bis zum Morgengrauen waren. Unter normalen Umständen hätte er sich mit seiner Aus beute zufriedengegeben und wäre zum Gasthof der Sieben Sterne zurückgekehrt, aber die Ereignisse im Tempel des Aghad hatten ihn erzürnt, und er war viel zu erregt und aufgewühlt, als dass er sich jetzt ruhig hätte schlafen legen können. Einem spontanen Ent schluss folgend, schlug er die Richtung zum Palast des Oberherrn ein, die ihn zum nächstgelegenen Tempel führen würde. Er war sich darüber im klaren, zumindest mit einem Teil seines Bewusst seins, dass sein Vorhaben an Tollkühnheit grenzte, nämlich mit einem abgebrochenen Schwert und zusätzlich behindert durch den schweren Sack in einen Tempel einzudringen, aber er war zu erregt, um kühl abzuwägen. Am liebsten hätte er gleich wieder kehrtgemacht, um den Tempel des Aghad zu zerstören und den Besitzer dieser höhnischen Stimme aufzustöbern und niederzu strecken, aber er wusste, dass er keine Chance hatte; die Priester rechneten zweifelsohne mit seiner Rückkehr und wären daher ent sprechend auf seinen Angriff vorbereitet. Aber er würde statt dessen seinen ganzen Zorn an denen auslassen, die den nächsten Tempel bewachten, wer auch immer er oder sie sein mochten. Auch wenn er nur einen Dolch und einen Schwertstumpf hatte, konnte er es noch immer mühelos mit jedem Menschenwesen aufnehmen, auch mit zweien oder dreien. Er bedauerte, dass er seine Streitaxt bei seinen anderen Sachen in Koros‘ Stall zurückgelassen hatte, weil er damit kein unnötiges Aufsehen in den Straßen hatte erregen wollen. Der Tempel, dem er sich jetzt näherte, war der bizarrste von allen, die er bis jetzt gesehen hatte; waren die anderen aus -183-
schwarzem Basalt oder Marmor oder ähnlichem Stein gebaut, so bestand dieser ganz aus schimmerndem Obsidian, übersät mit scharfkantigen Graten, Zacken und Spitzen, die allenthalben aus dem Gemäuer herausragten. Es war ein hohes schmales Gebäude, überdacht von einer spitz zulaufenden Kuppel und zur Straße hin mit einem kleinen Vorhof abgesetzt. Der Hof maß vielleicht zwanzig Fuß im Quadrat und war von einer acht oder neun Fuß hohen Mauer aus Obsidian umgeben; auf der Vorderseite befand sich ein zweiflügeliges, durchbrochen gearbeitetes großes Eisen tor. Garth fragte sich, wo man — auch wenn dies eine Vul kangegend war — soviel Obsidian gefunden hatte. Und wie hatte man es angestellt, daraus ein Gebäude zu errichten? Obsidian war nicht als Baumaterial geeignet. Es musste eine Fassade sein, ent schied er, unter der sich herkömmliches Mauerwerk verbarg. Im Gegensatz zum Tor des Aghad-Tempels gab das Tor dieses Tempels keinen Hinweis auf den Namen der Gottheit, die hier verehrt wurde; auch auf den zerklüfteten Mauerwänden konnte Garth nichts dergleichen entdecken. Dafür fiel dieses Tor aber durch eine andere, im wahrsten Sinne des Wortes hervorste chende Besonderheit auf: die Flügel waren aus verdrehten, za ckigen Eisendornen gemacht, die so zusammengeschweißt waren, dass das Ganze aussah wie ein Wall aus Stacheln. Es gab keine Klinken oder Knäufe, und aus jedem der größeren Dornen ragten Dutzende nadelfeiner kleinerer Dornen. Wo für diese kein Platz war, war das Metall mit sägeblattartig gezackten Kanten versehen. So wütend er auch war; dieses Tor nötigte ihm kühles Nachden ken ab: Er konnte es nirgendwo anfassen, ohne Gefahr zu laufen, dass er sich verletzte. Die Spitzen und Stacheln waren rasier messerscharf. Angemessen, dachte er, für den Gott der Schärfe, sollte es einen solchen geben. Was für ein verrückter Kult mochte
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ein solches Ding gebaut haben? Er steckte den Stumpf seines Schwertes durch einen der Ritze in dem glitzernden Gewirr aus Eisendornen und zog; zu seiner Überraschung ließ sich das Tor mühelos öffnen. Er hatte damit gerechnet, dass es über Nacht abgeschlossen war. Er trat hindurch und bemerkte erst jetzt, dass der Hof mit Ob sidian gepflastert oder besser — ausgelegt war; auch hier ragten, ähnlich wie aus der Mauer, unzählige Zacken und Spitzen hervor. Das Gehen darauf war mühselig und halsbrecherisch, und selbst durch die dicken Sohlen seiner Stiefel spürte er, wie die scharfen Kanten und Grate aus vulkanischem Glas ihm in die Füße schnitten. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg über den zackigen Un tergrund zum Portal des Tempels. Dieses war wie das Hoftor aus stählernen Dornen zusammengeschweißt. Er stieß mit dem abge brochenen Schwert dagegen; er rutschte ab, und ein langer nadel spitzer Dorn riss ihm den Finger auf, aber die Tür schwang auf. Sie war, wie das Tor, unverschlossen. Als sie aufging, merkte Garth plötzlich, dass die Nacht nicht still war; von irgendwoher drang ein leiser Chor klagender Stimmen an sein Ohr, ein weh leidiges Jammern; wie in großem Schmerz oder unendlicher Verzweiflung. Im gleichen Moment war ihm klar, woher das Weh klagen kam: Es drang aus dem Innern des Tempels. Und noch etwas flutete ihm entgegen: Licht — ein grelles weißes Licht, ein Licht, das vollkommen anders war als das gelbe Licht von Fackeln oder der rote Schein von Feuer. Dieses Licht hatte einen bläulichen Stich, wie ein Blitzstrahl. Er ignorierte es. Er war nicht in der Stimmung, Vorsicht walten zu lassen. Er ging durch die Tür.
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Er befand sich am Fuße einer unregelmäßigen schiefen Treppe. Die Stufen waren selbst für einen Übermann hoch und allesamt krumm und schief. Er erklomm sie und trat in das Tempelinnere. Es bestand aus einem einzigen großen Raum von zwanzig Fuß Breite, hundert Fuß Länge und mindestens fünfzig Fuß Höhe, die Kuppelwölbung nicht mitgerechnet. Die Wände bestanden aus rauem ausgezackten Stein und schienen sich nach innen zu neigen; Garth war nicht sicher, ob es sich um eine optische Täu schung handelte oder ob der Raum sich tatsächlich nach oben hin verengte. Der Fußboden war mit zerbrochenen schiefen Stein platten ausgelegt, aber weit besser begehbar als der mit Vulkan kiesel gepflasterte Hof. Das Licht kam von Dutzenden von Leuch tern, die allesamt an einer Wand loderten und ein grelles, blendendes Licht er-zeugten, welches scharfkantige schwarze Schatten von den etwa zwanzig Gläubigen warf, die vor dem Altar knieten. Die Schatten bewegten sich nicht; die Leuchter brannten gleichmäßig hell, ohne das tröstliche, behagliche Fla ckern, das gewöhnlichen Flammen eigen war. Der Altar bestand aus einem einzigen Granitblock; hinter ihm standen drei Priester in schwarzen Roben, deren Gesichter von Kapuzen verhüllt waren, und auf dem Altar lag eine nackte junge Frau – vielleicht sogar noch ein Mädchen. Garth vermochte das Alter und das Reifestadium von Menschenwesen nur schwer abzuschätzen. Der Priester in der Mitte hielt einen langen dünnen Dolch in der Faust; der Mann zu seiner Rechten hielt eine Peitsche, und der dritte Priester hielt eine Schlinge aus gewöhnlichem Tau. Das Wehklagen kam von den Gläubigen; die Priester und das Mädchen auf dem Altar gaben, soweit Garth hören konnte, keinen Laut von sich.
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Hinter den Priestern, eingemeißelt in die Rückwand des Tem pels, sah Garth das Bild einer lächelnden nackten Frau, die die Hände zum Altar hin ausstreckte; die Schatten der Priester, die auf das Bild fielen, machten es schwierig, nähere Einzelheiten zu erkennen. Aber obwohl die Statuette, die Garth auf dem Markt platz gesehen hatte, eine Robe und Waffen getragen hatte, erkannte er sie sogleich an ihrem Gesicht und ihrem boshaften Lä cheln wieder: Es war Sai, die Göttin des Schmerzes und des Leids. Niemand nahm Notiz von ihm. Er stellte seinen Sack mit dem blutbesudelten Gold der Aghaditen ab und schlenderte nach vorn zum Altar. Als er näher kam, sah er, dass der Dolch des Priesters an der Spitze rot war und dass der Leib des nackten Mädchens über und über mit feinen, nicht allzu tiefen Schnittwunden be deckt war. Er fragte sich, ob die Zeremonie mit dem Tode des Mädchens enden sollte oder ob die Priester sie nur zu foltern und dann freizulassen beabsichtigten. An ihrem Gesicht war jedenfalls deutlich abzulesen, dass sie nicht freiwillig an dieser Zeremonie teilnahm. Eine grimmige Vorfreude erfüllte Garth bei der Vorstel lung, diesen Sadisten ihr grausames Spiel zu verderben. Es würde ihm fast soviel Genugtuung bereiten, wie die Aghad-Priester zu töten. Gleichwohl hoffte er, keinen von den Sai-Priestern töten zu müssen, nicht nur deshalb, weil er unnötiges Blutvergießen hasste, sondern auch weil er den Aghaditen diesen Triumph nicht gönnen wollte. Er war jetzt direkt hinter der knienden Gläubigenschar. »Halt!« donnerte er, als der Priester erneut das Messer ansetzte, um dem Mädchen eine weitere Schnittwunde beizubringen. Er wollte nicht, dass das Mädchen noch weiter gequält wurde. Schließlich war sie das, was er auf dem Altar vorgefunden hatte und deshalb dem Vergessenen König mitbringen musste. Er fragte sich, was der alte Mann wohl mit ihr anfangen würde.
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Verdutzt hielt der Priester in seiner Bewegung inne; der Klagegesang der Menge verstummte. »Lass das Messer fallen, Priester, oder du bist des Todes!« Er stieß eine der knienden Gestalten beiseite, die ihm im Weg war, und trat vor den Altar; er hielt noch immer das abgebrochene Schwert in der Hand, und wenn es auch kaum noch die fürchterli che Waffe war, die es einmal gewesen war, so konnte es doch immer noch schneiden. Für dieses Gesindel, dachte er, würde es allemal reichen. Der Priester wich zurück, ließ aber den Dolch nicht fallen. Garth zog seinen eigenen Dolch, der jetzt länger war als sein Schwert, aber auch länger als die Klinge des Priesters, war er doch für einen Übermann gemacht und nicht für einen Menschen. Er sah, dass. das Opfer an den Altar gefesselt war, und schnitt die Stricke durch. Sofort rollte sich das Mädchen vom Altar, sprang auf und wollte zur Tür rennen; doch ehe es mehr als einen Schritt gemacht hatte, hatte Garth es schon beim Arm gepackt und hielt es fest. Den Schwertstumpf hatte er blitzschnell fallenlassen; den Dolch hielt er jedoch in der Hand für den Fall, dass ein Priester oder einer der Gläubigen versuchen sollte, ihn anzugreifen. Er hielt sie beim Arm gepackt, nicht allzu sanft, und befahl: »Warte. Du kommst mit mir.« Sie zuckte zusammen und nickte. Totenstille herrschte jetzt in dem Tempel; die Gläubigen starrten bestürzt auf den Übermann. Der Mann mit dem Dolch, vermutlich der Hohepriester, schrie: »Gotteslästerer! Das Mädchen ist unser Opfer!« Garth erwiderte mit breitem Grinsen: »Es war euer Opfer, Pries ter.« Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er, wenn er zu einem anderen Zeitpunkt gekommen wäre, vielleicht etwas ganz anderes auf dem Altar vorgefunden hätte, etwas, das mehr nach dem Ge -188-
schmack des Vergessenen Königs gewesen wäre, und er fügte hin zu wich bin hergesandt worden, das zu holen, was auf diesem Altar liegt.« Er war allerdings ganz froh darüber, dass er just zu diesem und keinem anderen Zeitpunkt gekommen war; es war ganz of fensichtlich, dass das Mädchen nicht freiwillig hier war. »Du hast einen Fehler gemacht! Sie ist bloß ein Opfer!« »Was pflegt sonst auf diesem Altar zu liegen?« »Wer hat dich hergeschickt? Irgendein Zauberer?« »Ich komme vom Tempel des Aghad.« Es bereitete Garth ge radezu Vergnügen, Zwietracht zwischen den Bestien beider Kulte zu schüren; abgesehen davon sprach er ja tatsächlich die Wahr heit. »Was wollen die Aghaditen mit unseren Ritualwaffen?« »Niemand hat irgend etwas von irgendwelchen Waffen gesagt.« »Bemüh dich nicht, nach Ausflüchten zu suchen; du bist hier, um die Peitsche und den Dolch zu holen. Was ...« Die Stimme des Priesters erstarb in einem Gurgeln, als Garth mit einem Satz über den Altar sprang und ihn bei der Kehle packte. »Du redest zuviel, Priester. Gib mir den Dolch!« Garth wunderte sich über die Dummheit des Mannes; es war bemerkenswert ent gegenkommend von ihm; gewesen, so rasch und bereitwillig zu verraten, was normalerweise auf dem Altar lag. Verzweifelt versuchte der Priester, Garth den Dolch in die Seite zu stoßen; wirkungslos glitt die Klinge an Garths Kettenhemd ab. Sein eigener Dolch indessen glitt nicht ab; er stieß ihn dem Priester durch das Handgelenk, und die Finger öffneten sich. Der Dolch fiel klirrend zu Boden. Jetzt kam plötzlich Leben in den Priester, der die Peitsche hielt; wie alle anderen im Tempel hatte er in starrer Bewegungslosigkeit -189-
zugeschaut, zu verwirrt und überrascht, um irgend etwas gegen den Eindringling zu. Unternehmen; doch jetzt sprang er zu dem Dolch, hob ihn auf und stürmte auf Garth zu. Er stieß mit der Waffe nach Garth; der Übermann parierte den Stoß, und der Priester wich zurück. Der Hohepriester wand sich indessen in Garths eisernem Griff. Er hängte sich an Garths Arm und zerrte aus Leibeskräften; da durch behinderte er den Übermann ein wenig in seiner Bewe gungsfreiheit, als der andere Priester erneut anstürmte und mit dem Dolch zustieß. Die Klinge verfehlte Garth nur um Haaresbrei te. Wütend schleuderte Garth den Hohepriester von sich; er prallte zu Füßen des Götzenbildes gegen die Wand, sackte leblos zu Boden und blieb reglos liegen. Nun wandte Garth sich dem anderen zu; dieser hatte trotz seiner Robe, die ihn behinderte, eine korrekte Messerkampf-Stellung eingenommen. Da sprang der dritte Priester Garth von hinten an und legte ihm eine Schlinge um den Hals. Den Priestern mochte es so scheinen, als gewönnen sie dadurch die Oberhand; für den Übermann freilich bedeutete der Angreifer kaum mehr als ein lästiges Insekt. Mit der Linken den Priester mit dem Dolch in Schach haltend, langte er mit der Rechten blitz schnell hinter sich und packte den Angreifer bei der Gurgel. Als der Mann versuchte, die Schlinge festzuziehen, verstärkte Garth seinen Klammergriff und grub beide Daumen der rechten Hand in den Hals des Mannes. Er schätzte die Stärke seines Genicks falsch ein: Es gab ein lautes Knacken, und der Priester rutschte von seinem Rücken herunter; seine Augen waren bereits glasig, als er zu Boden sackte. Er schlug mit dem Kopf auf die Kante des steinernen Altars, und erneut hörte Garth das kurze trockene Knacken brechender Knochen. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Mann tot war. -190-
Der übriggebliebene Priester erstarrte; er stand mit dem Gesicht zu der Wand mit den gleißenden Leuchtern, so dass die untere Hälfte seines Gesichts trotz der tief heruntergezogenen Kapuze zu sehen war. Garth sah, wie sein Kinn herunterfiel und das Blut ihm aus dem Mundwinkel tropfte; der Dolch und die Peitsche ent glitten seinen zitternden Fingern. »Mädchen! Heb sie auf!« Garths Stimme klang hart und gebiete risch, und das Mädchen beeilte sich, seinen Befehl zu befolgen. Sie hatte den Kampf beobachtet und wusste nun, dass jeglicher Widerstand gegen ihren Befreier — oder neuen Peiniger (sie war sich noch nicht sicher, ob sie in Garth den ersteren oder den letz teren sehen sollte) — aussichtslos war und dass es wohl das beste war, ihm zu gehorchen. Sie huschte flugs um den Altar herum, den rauen, kantigen Fußboden ignorierend, der ihr in die Fußsoh len schnitt, und hob die Waffen auf. Der Priester gab ihr den Weg frei, ohne zu protestieren. »Geh und warte auf den Stufen!« befahl Garth. »Und«, fügte er drohend hinzu, »wer es wagt, sie daran zu hindern, ist des Todes.« Wieder gehorchte das Mädchen ohne Murren, und keiner der Tempelbesucher machte Anstalten, es aufzuhalten. Garth folg te ihr in etwas gemächlicherem Schritt; unterwegs bückte er sich und hob den Schwertstumpf vor dem Altar auf. Vor der Treppe angekommen, steckte er seinen Dolch in die Scheide zurück und hob den Sack mit den Münzen auf, den er dort beim Eintreten abgestellt hatte: Dabei fiel sein Blick auf die Füße des Mädchens. Sie bluteten, und der mit Obsidianscherben gepflasterte Hof war viel schlimmer als die zerbrochenen Steinfliesen des Tempelbodens. Er reichte ihr den Sack mit der Anweisung, ihn zu halten; sie nahm ihn entgegen und ließ ihn fast fallen, überrascht von seinem Gewicht. Er legte den Arm um ihre Körpermitte, hob sie hoch mitsamt Dolch, Peitsche und Sack und
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legte sie sich vorsichtig über die Schulter. Nach einigem Hin- und Herrücken.. fand er eine Stellung, die für sie beide einigermaßen bequem war, wenngleich er vermutete, dass sein Kettenhemd ihre nackte Haut stärker kratzte, als sie zugeben wollte, und ging die Stufen hinunter. Einen Moment später waren sie den Blicken der Verehrer Sais entschwunden, die schweigend das ganze Ge schehen verfolgt hatten.
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Kapitel 14 Die Tür und das Hoftor waren noch offen, was er als höchst erfreulich empfand; er hatte fürs erste wahrlich genug von Toren, die sich selbsttätig schlossen. Mit dem Gewicht des Mädchens auf der Schulter geriet der Gang über die Obsidiansplitter zu einem noch mühseligeren Unterfangen als auf dem Hinweg; die Spitzen und Zacken bohrten sich tief in die Sohlen seiner Stiefel. Als er schließlich durch das Tor auf die Straße der Tempel hinaustrat, konnte er fühlen, dass eine Spitze die Sohle glatt durchbohrt hatte; sein Fuß blutete zwar nicht, aber der Stiefel war ruiniert. Er seufz te. Sein Ausflug in den Tempel der Sai war, was das Abreagieren seiner Wut anging, ein voller Erfolg gewesen; aber er würde mit Gewissheit unliebsame Folgen nach sich ziehen, von denen ruinierte Stiefel gewiss nur die geringsten waren. Abenteuer dieser Art schienen Füßen und Schuhwerk offenbar besonders zuzusetzen; schon seine erste Mission im Dienste des Vergessenen Königs hatte ihn ein gutes Haar Stiefel und mehrere selbstgefertigte Notbehelfe gekostet und ihm überdies ein stattli ches Sortiment von Abschürfungen, Schnittwunden und Blasen eingetragen. Er fand die Seitenstraße wieder, auf der er gekommen war, und bog von der Straße der Tempel ab. Sobald er außer Sichtweite der Allee und damit einigermaßen sicher vor möglichen Verfolgern war, steckte er den Schwertstumpf zurück in die Scheide und lud das Mädchen von seiner Schulter. Er sah nicht ein, wieso er sich den ganzen Weg bis zum Gasthof der Sieben Sterne unnötig mit ihr abmühen sollte; sie musste eigentlich imstande sein, selbst zu gehen. Abgesehen davon war es schwierig, sich mit ihr zu un
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terhalten, wenn er sie über der Schulter trug, und er hatte eine Reihe von Fragen, die er ihr stellen wollte. Sie war anscheinend ganz froh, wieder auf ihren eigenen Füßen zu stehen; sie wischte sich notdürftig den Schmutz ab, wobei sie jedesmal einen leisen Schmerzensschrei ausstieß, wenn sie zufällig mit den Fingern an eine der zahllosen Schnittwunden kam, die sich kreuz und quer über ihren Bauch und ihre Brüste zogen. Be stürzt schaute sie auf die Wunden und die roten Flecken, die Garths Finger, die noch immer feucht waren vom Blut der getöte ten Aghaditen, hinterlassen hatten. Garth vermutete, dass die Schnittwunden sehr schmerzhaft sein mussten; trotzdem kamen kein Wort der Klage und kein Laut des Schmerzes über ihre Lippen. Sie stand wortlos da und wartete, dass er etwas sagte. »Folge mir; wir gehen in meinen Gasthof.« Sie nickte, zögerte aber. »Was ist?« fragte er. »Mein Herr, ich bin nackt.« Das war nicht zu übersehen, aber Garth hatte sich keine Gedanken darüber gemacht. »Ist das schlimm?« »Es ... es schickt sich nicht. Ich kann nicht nackt durch die Stra ßen gehen.« Garth seufzte. »Es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben; ich habe keine Kleider für dich dabei.« »Aber jeder wird mich angaffen!« Das war natürlich ein schlagendes Argument. Garth wollte tun lichst vermeiden, Aufmerksamkeit auf sich zu, lenken. Obwohl er geglaubt hatte, vor den Anhängern Temas und Andhur Regvos‘ sicher zu. Sein, wussten die Aghaditen, dass er für die Schändung der beiden Tempel – und natürlich ihres eigenen – verantwortlich ;war; und eben noch waren mindestens zwanzig Personen Augen -194-
zeuge seines Eindringens in den Tempel der Sai gewesen. Wenn er seine Taktik beibehielt und sich weiter wie bisher in der Öffent lichkeit zeigte, so als habe er nichts zu verbergen, war er ziemlich sicher, dass die meisten Dûsarraner keine große Notiz von ihm nehmen würden; bisher hatten sie das schließlich auch nicht ge tan. Wenn jedoch der Anblick einer unbekleideten Frau genügte, um soviel Aufmerksamkeit zu erregen, dann konnte er es sich keinesfalls leisten, mit einer solchen gesehen zu werden. Jemand konnte auf ihn zeigen, wenn zufällig gerade ein Aghadit oder ein Anhänger der Sai in der Nähe war, denen er sonst womöglich gar nicht aufgefallen wäre. Er löste seinen Gürtel, schälte sich aus seinem Kettenhemd und begann die Schnüre seines Stepphemdes zu lösen. Er hielt jäh inne, als er merkte, dass das Mädchen ängstlich zurückwich. »Was fehlt dir? Ich will dir bloß dieses Hemd zum Anziehen ge ben; ich habe sonst leider nichts, was ich dir geben könnte.« »Oh!« Das Mädchen war sichtlich erleichtert; Garth streifte das wattierte Unterhemd ab und überreichte es ihr. Ein wenig unbe haglich stand er für einen Moment da, mit nichts am Leibe außer seiner Hose aus weichem Leder und seiner natürlichen Körperbe deckung aus dünnen schwarzem Fell. Das Mädchen nahm das Hemd entgegen, zog es jedoch nicht sofort an, sondern starrte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Faszination an, während er sein Kettenhemd wieder anlegte. Er schaute sie mit fragendem Blick an. »Du hast ja ein Fell!« platzte sie heraus. »Du nicht«, erwiderte er trocken. »Nun zieh schon das Stepp hemd an; die Nachtluft ist kühl.« »Oh!« Leicht errötend zog sie sich das viel zu große Hemd über den Kopf; Garth sah, dass sie vor Schmerzen zusammenzuckte, als sie es an ihrem Körper herunterzog. Es musste ihr höllische -195-
Schmerzen bereiten, als es an den Schnittwunden scheuerte, die ihr der Sai-Priester mit dem Dolch beigebracht hatte. Trotzdem ließ sie nur ein einziges Mal einen kleinen leisen Schmerzensschrei hören. Als sie es endlich geschafft hatte, das Hemd ganz herun terzuziehen, band sie die Schnüre an beiden Seiten zu. Das Hemd, das Garth gerade bis zur Hüfte reichte, ging ihr bis zu den Knien; es verdeckte nicht nur ihre Blöße, sondern verbarg auch vollstän dig die Schnittwunden, was nur von Vorteil sein konnte, wenn es ihr nur nicht allzu weh tat. Als sie das Hemd so gut wie möglich zurechtgezupft hatte, frag te sie: »Haben alle Übermänner Fell?« Garth, der sich noch immer damit abmühte, das Kettenhemd in möglichst bequemen Sitz zu ziehen, ließ sich Zeit mit der Antwort und beschränkte sich auf ein knappes »Ja.« Als er die Kettenglieder endlich so arrangiert hatte, dass sie nicht übermäßig auf der Haut kratzten oder scheuerten, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen. Jetzt, dachte er, zahlte sich aus, dass er sein Kettenhemd und seine übrigen Kleider schwarz gefärbt beziehungsweise angestrichen hatte, um in der Dunkelheit besser getarnt zu sein: Die Wattierung des Hemdes war im Dunkeln kaum zu sehen; wäre der Stoff heller ge wesen, wäre sie sicherlich ins Auge gefallen. Aus der Entfernung konnte man es, sofern man nicht genauer hinschaute, durchaus für ein gewöhnliches Gewand halten — abgesehen davon, dass es le diglich bis zu den Knien des Mädchens reichte. Aber es war immer noch besser als gar nichts. Er hob den Dolch und die Peit sche auf, steckte sie in den Sack zu dem Gold und warf sich den Sack über die Schulter. »Gut. Komm jetzt!« Das Mädchen gehorchte, und er schlug die Richtung zum Gast hof der Sieben Sterne ein. Er hielt sich im Schatten der -196-
Häuserwände und benutzte Seitengassen, wann immer es möglich war, und machte einen weiten Bogen um den Marktplatz. Diese Taktik war recht erfolgreich. Die wenigen Passanten, denen sie begegneten, widmeten ihnen kaum mehr als einen flüchtigen Blick. Dieser nächtliche Marsch durch die Straßen und Gassen der Stadt zerrte an Garths Nerven; jeden Moment war er darauf gefasst, jemanden schreien zu hören: »Da ist der Tempelschänder; ergreift ihn!« Doch nichts dergleichen geschah, und sie erreichten schließlich die Herberge und stahlen sich durch den Torweg in den Stall. Dugger, der Stallbursche, hatte noch Dienst; Garth gab ihm ein Zeichen, Stillschweigen zu bewahren, und der Junge grinste verschwörerisch und nickte. Koros hatte sich zwar zum Schlafen zusammengerollt, nahm aber immer noch den größten Teil der Box ein, die für kleinere Tiere gedacht war als das Kriegstier eines Übermannes. Garth trat in die Box und machte es sich auf der anderen Seite im Stroh be quem, neben seinen Sachen und den Beutestücken aus den ersten beiden Tempeln; mit nur geringem Zögern gehorchte das Mäd chen seiner Geste und setzte sich neben ihn. Er kramte einen Schwamm aus seinem Bündel, tränkte ihn mit Wasser aus einer seiner Feldflaschen (er würde sie bald wieder auffüllen müssen) und sagte: »Zieh das Ding aus, damit ich deine Wunden reinigen kann.« Sie nestelte die Schnüre auf und zog sich das Hemd über den Kopf. Trotz der Behutsamkeit, mit der sie dabei zu Werke ging, sah Garth, dass einige der Wunden durch das Reiben des Stoffes wieder aufgegangen waren und erneut bluteten. Er begann, das geronnene Blut und den Schmutz so behutsam wie möglich abzu waschen; trotzdem zuckte sie ein paarmal zusammen.
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Während er hiermit beschäftigt war, fragte er: »Nun, Mädchen, sag, wer bist du?« »Ich heiße Frima.« Sie hatte eine hohe, aber angenehme Stimme, die ein wenig schüchtern klang. »Bist du Dûsarranerin?« »Ja, natürlich!« »Wie kam es, dass du Sai geopfert werden solltest? Bist du eine ihrer Anhängerinnen?« »O nein! Ich verehre Tema. Die Priester Sais entführten mich gestern Abend aus dem Geschäft meines Vaters.« »Wie kommt es, dass die Zeremonie zu dieser Stunde abgehal ten wurde? Ich dachte, nur die Kulte der Tema und des Andhur Regvos erwachten bei Nacht zum Leben.« »Das stimmt; deshalb werden ja auch die Opferriten zu Ehren Sais stets – aua! - zu nächtlicher Stunde abgehalten.« »Ich verstehe nicht.« »Der Sai-Kult ist geheim; seine Anhänger tun ihre – au! - Zuge hörigkeit nicht öffentlich kund. Deshalb halten sie alle ihre Ze remonien in der Nacht ab, wenn – uuh! - die Dunkelheit sie schützt und ihre Abwesenheit von ihrem üblichen Tagwerk nicht auffällt.« »Sind die anderen Kulte auch so geheimnistuerisch?« »Die Tageskulte, ja. Autsch! Das ist einer der Gründe, weshalb die Anhänger der Nachtkulte denen der Tageskulte aus dem Weg gehen; würdest du mit jemandem Umgang pflegen wollen, der den Schmerz – aua! Verdammt sollen sie sein! - oder die Krankheit anbetet? Es heißt, dass viele von denen, die am Tage wachen, überhaupt keine Götter anbeten, aber das ist auch nicht viel besser; und es gibt keine Möglichkeit zu erkennen, wer von ihnen einem Tageskult anhängt und wer überhaupt keinem.« Garth war jetzt mit dem Reinigen der Wunden fertig und kramte in seinem -198-
Bündel nach dem Beutel mit Heilkräutern, den er stets auf Reisen mitführte. »Eure Stadt frönt einer sehr komplizierten Lebensweise. Sind solche Entführungen wie die, deren Opfer du wurdest, hier etwas Normales?« Er fand die Kräuter und rieb ein paar von ih nen in den Schwamm. »O ja, ständig verschwinden hier Leute.« »Und euer Oberherr duldet das?« Er begann die Kräuter behut sam über jede der Schnittwunden zu reiben; das Mädchen unter stützte ihn dabei, indem es so still hielt, wie es eben konnte, wäh rend es seine Fragen beantwortete. »Er kann nichts dagegen tun. Die Leichen werden niemals ge funden, und es gibt keine Möglichkeit herauszubringen, welcher Kult für die Tat verantwortlich ist.« »Warum verbietet und zerschlägt er dann nicht einfach alle Kulte, die Menschenopfer praktizieren?« »Oh, so etwas darf niemals geschehen! Die Götter selbst haben Dûsarra ausgewählt; die Dunklen Götter müssen hier Tempel haben, andernfalls geschähe ein großes Unglück! Außerdem weiß niemand, welche Kulte Menschenopfer bringen und welche nicht.« »Es dürfte wohl auf der Hand liegen«, sagte Garth, als er mit dem Auftragen der Heilsalbe fertig war, »dass der Kult des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht, Menschenopfer verübt; kann der Oberherr nicht zumindest diesen Kult zer schlagen? Mir ist aufgefallen, dass selbst in Dûsarra die meisten Leute nichts mit diesem Gott zu schaffen haben wollen.« »In diesem Fall gibt es gar keinen Kult, den man zerschlagen könnte; niemand verehrt den Letzten Gott, außer einem einzigen alten Priester. Der Gott selbst ruft Opfer in seinen Tempel, und keiner von denen, die seinem Ruf gefolgt und in den Tempel ge gangen sind, wurde je wieder gesehen – außer dem Priester. Nie -199-
mand weiß, was in dem Tempel ist; man findet nie Spuren von den Opfern. Keine Kleider, keine Leichen. Wenn ein Dûsarraner sterben möchte, aus welchem Grund auch immer, geht er einfach in den Tempel des Letzten Gottes, und wenn der Gott nicht zufrie den mit der Anzahl von Selbstmorden ist, macht er die Menschen irre, so dass sie in den Tempel gehen, ohne zu wissen, was sie tun. Der Oberherr würde es nicht wagen, dem Priester auch nur ein Haar zu krümmen oder gar den Tempel zu schleifen, denn dann würde er vielleicht selbst gerufen werden.« Garth bemerkte nichts weiter zu dem Thema; statt dessen sagte er: »Es tut mir leid, aber ich kann deine Wunden nicht gehörig verbinden; es sind zu viele, und ich habe nicht das nötige Tuch. Ich hoffe, sie schmerzen nicht allzu sehr und verheilen rasch.« Er lehnte sich zurück, um über seine Situation und das nachzuden ken, was Frima ihm soeben gesagt hatte. Jetzt war es Frima, die zögernd eine Frage an ihn richtete. »Wer bist du? Warum hast du mich gerettet?« »Ich bin Garth von Ordunin, und ich bin nach Dûsarra gekom men, um zu stehlen, was immer ich auf den sieben Altären vor finden würde. Du warst auf dem Altar der Sai, und also stehle ich dich und werde dich mit nach Skelleth nehmen.« »Würdest du mich schänden?« Garth blickte sie überrascht an. Ihre Frage erklärte ihr ängstli ches Zurückweichen, als er sich seines Unterhemdes entledigt hatte, um es ihr zu geben, aber die Ignoranz, von der sie zeugte, war schon verblüffend. »Das könnte ich gar nicht, selbst wenn ich es wollte. Wir gehören zu verschiedenen Gattungen, so verschie den wie Koros hier und eine Hauskatze. Übermänner interessieren sich für nichts anderes als für Überfrauen.«
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»Oh.« Er konnte in der Dunkelheit nicht sehen, wie sie errötete, und selbst wenn er es gesehen hätte, hätte er nicht verstanden, was es bedeutete. »Ich nehme dich mit nach Skelleth, weil ich dich auf dem Altar der Sai gefunden habe; ein anderes Interesse habe ich nicht an dir.« Er fragte sich, ob ihre sexuellen Erwartungen oder – was ihn anging, Befürchtungen – wohl durch ihr Aussehen gerechtfertigt waren; sie schien durchaus sauber und gesund, war nicht zu fett, aber auch nicht so dünn, dass die Rippen zu sehen waren; aber darüber hinaus vermochte er ebenso wenig zu beurteilen, ob sie schön war, wie ein Bulle es vermocht hätte. Überfrauen waren ebenso nasenlos, flachbrüstig und behaart wie er selbst; sie erreg ten durch ihren Geruch, nicht durch ihre äußere Erscheinung, und Frima war für ihn um keinen Deut interessanter als jedes andere Tier. Er nahm an, dass sie auf Männer anziehend wirkte, auch wenn ihre Brust, selbst nach menschlichen Maßstäben, ziemlich üppig war. Sie schwieg einen Moment, dann platzte sie heraus: »Ich will nicht nach Skelleth! Übrigens, wenn du aus Ordunin bist, wieso willst du dann überhaupt mit mir nach Skelleth? Und wo liegt dieses Ordunin überhaupt? Und wo ist Skelleth?« »Ordunin ist in der Nordwüste. Skelleth ist in Eramma. Ich füh re diese Mission für jemanden aus, der in Skelleth wohnt. Es inter essiert mich wenig, ob du dorthin willst oder nicht, und ich rate dir, dich nicht zu widersetzen. Es besteht nämlich keine Abma chung darüber; in welchem Zustand ich dich dort hinbringe.« Garth war nicht ernstlich verärgert, sondern wollte lediglich in Ruhe nachdenken, und er hatte nur deshalb so barsch zu ihr gesprochen, damit sie endlich Ruhe gab. Der Kniff zeigte die erhoffte Wirkung: Frima hielt sofort den Mund und drückte sich eingeschüchtert ins Stroh.
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Es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, die Sai-Priester zu töten, auch wenn ihn Folter und Menschenopfer anwiderten; er hoffte, dass der Hohepriester überlebte, und wenn er eine noch so große Bestie war. Er bedauerte, dass er dem anderen Priester das Genick gebrochen hatte, nicht so sehr aus Respekt vor dem Menschen leben, das er dadurch ausgelöscht hatte, sondern weil sich die Ag haditen darüber freuen würden. Es war indes unvermeidlich ge wesen; er war angegriffen worden und hatte darauf entsprechend reagiert. Zudem hatte der Tod des Mannes die angenehme Neben wirkung gehabt, dass die anderen eingeschüchtert waren. Vier der sieben Altäre hatte er geplündert. Somit blieben noch drei, von denen sich zwei an der Straße der Tempel befanden. Sei ne Ausflüge in die Tempel Temas und Andhur Regvos‘ waren zwar nicht ganz komplikationslos abgelaufen, aber zumindest hatte er dabei seine Identität verheimlichen können; in den Tem peln Aghads und Sais indes hatte man ihn gesehen, und die Ag haditen kannten sogar seinen Namen. Frima behauptete nun zwar, dass die beiden letzteren Kulte geheime Vereinigungen waren, was ihn zu der berechtigten Hoffnung veranlasste, dass sie ihr Wissen um seine Identität nicht in der Öffentlichkeit verbreiten würden, andererseits aber die Befürchtung nährte, dass sie versu chen würden, ihn auf eigene Faust aufzuspüren und zu erledigen. Die ganze Sache begann langsam kompliziert zu wer-den. Er hatte ursprünglich die Absicht gehabt, sein Zimmer im Gast hof ganz normal zu benutzen und in einem bequemen Bett zu schlafen; dass er bis jetzt nicht dazu gekommen war, lag allein daran, dass er schon vorher vor Erschöpfung eingeschlafen war. Unter den gegebenen Umständen freilich war es nicht ratsam, sein Zimmer aufzusuchen und dort zu nächtigen, auch wenn er nicht unmittelbar gefährdet war. Er würde hier in diesem Stall bleiben. Er war unbequem und primitiv, aber hier war Koros und hier
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waren seine Beutestücke und seine Waffen. Solange sein Kriegstier in seiner Nähe war, würde sich niemand heimlich an ihn her anschleichen und ihn im Schlaf überraschen können. Zudem war ihm hier — außer, man belagerte ihn und hungerte ihn aus — nur schwerlich beizukommen; der Stall war zu klein, als dass eine grö ßere Anzahl von Angreifern gleichzeitig über ihn hätte herfallen können, und die wenigen, die gleichzeitig durch die Tür gepasst hätten, waren keine Gegner für ihn und sein Kriegstier. Er wusste, ohne sich zu überschätzen, dass er es mindestens mit drei Men schen gleichzeitig aufnehmen konnte und Koros mit wenigstens doppelt so vielen. In sein Zimmer im Gasthof konnten durchaus ein halbes Dutzend Bewaffnete gleichzeitig eindringen und ihn überwältigen; hier im Stall, mit Koros an der Seite, hätten dieselben sechs Männer nicht die geringste Chance. Des weiteren sprach für den Stall, dass ihm hier keine un angenehmen Fragen bezüglich Frimas gestellt wurden, etwa, was eine Menschenfrau in Begleitung eines Übermannes zu suchen habe und wieso sie einen solch merkwürdigen Aufzug frage. Das erinnerte ihn daran, dass sie unbedingt etwas zum Anzie hen brauchte; ihm fiel ein, dass irgendwo in seinem Bündel noch ein zweites Gewand steckte, welches er bei förmlichen Anlässen anzuziehen pflegte und das sie sicher besser kleidete als sein Stepphemd. Und selbst wenn es ihr nicht gefallen sollte, hatte er wenigstens wieder die gewohnte Polsterung unter seinem Ketten hemd, dessen Glieder sich schmerzhaft in seinen Rücken bohrten, an der Stelle, wo er sich gegen die Wand der Stallbox lehnte. Er langte nach seinem Bündel und musste feststellen, dass er es nicht mehr sehen konnte; der Mond war, während er nachge grübelt hatte, unter dem Horizont versunken, und die Morgen dämmerung ließe noch mindestens zwei Stunden auf sich warten. Er tastete nach seinem Feuerzeug, und als er es nicht fand, fiel ihm
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wieder ein, dass er eg ja den Priestern des Andhur Regvos ausge händigt hatte. Nun, sicher gab es im Gasthof eine Laterne oder Fackel oder ir gendein sonstiges tragbares Licht. »Warte hier!« befahl er dem Mädchen und verließ den Stall. Draußen im Hof war es ein klein wenig heller als in der Stallbox, ein seltsames rötliches Licht. Er hob den Blick zum Himmel, um die Quelle dieses merkwürdigen Lichts zu erforschen (von den Sternen konnte es schwerlich herrühren; Sterne, die rotes Licht aussendeten, gab es nicht), und sah, dass vom Osten her Wolken aufgezogen waren, die schon fast den ganzen Himmel bedeckten; das rötliche Licht war der Widerschein der Vulkane und der Fa ckeln, die den Marktplatz der Stadt erleuchteten. Der Streifen klaren Himmels über dem westlichen Horizont wurde zusehends schmaler, ein sich rasch schließender schwarzer Spalt zwischen der Stallwand und der grauroten Wolkendecke. Er zuckte die Achseln. Ein bisschen Regen tat niemandem weh. Er schlenderte durch den Torweg zu der angrenzenden Taverne. Die Schankstube war nicht sehr voll; etwa ein halbes Dutzend Gäste in dunklen Roben saßen an den Tischen. Von den zwei Dienstmädchen oder ihrem Bruder war nichts zu sehen; an ihrer Statt bediente eine Frau mittleren Alters und von ungesundem Aussehen. »Ho, Bedienung!« Die Frau warf einen kurzen Blick in seine Richtung, ging jedoch weiter und brachte erst einmal ihre Bierkrüge an den Mann, bevor sie sich den Weg durch die Tische zu ihm bahnte, und dabei mit dem Fuß die Stühle unter Tische schob, zu denen sie jeweils ge hörten. »Und was kann ich für Euch tun?« fragte sie den Übermann.
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»Habt Ihr eine Laterne? Ich würde mich gern um mein Reitpferd kümmern, aber das Licht im Stall reicht nicht aus.« »Eine Laterne? Nicht zum Verkaufen.« »Könnte ich mir denn eine leihen? Ich kann bezahlen.« Sie zuck te die Achseln. »Wie Ihr wünscht.« Sie wandte sich um, ging wieder zwischen den Tischen und Stühlen hindurch zum hinteren Ende der Schankstube und verschwand durch eine Tür. Kurz dar auf tauchte sie wieder auf, eine geschlossene Laterne in der Hand. Garth nahm sie entgegen, bedankte sich, steckte ihr eine Münze in die Hand und ging hinaus; er bemerkte nicht den musternden Blick, mit dem einer der Gäste ihn taxierte, und war auch schon über den Torweg verschwunden, als derselbe Mann von seinem Tisch aufstand und schnellen Schritts in die Richtung des TemaTempels entschwand.
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Kapitel 15 Frima war alles andere als angetan von dem Gewand. Es war kaum länger als das Stepphemd, und sie behauptete hartnäckig, ein kalter Luftzug streiche ihr über die Unterschenkel, obwohl Garth nicht den geringsten Lufthauch spüren konnte. Außerdem war es mit roten und goldenen Stickereien versehen, wie es sich für ein Kleid schickte, das ein Prinz von Ordunin bei förmlichen Anlässen trug; sie aber schien solcherlei Zierat als ein Zeichen von Dekadenz zu betrachten. Sie wies ihn darauf hin, dass kein Dûsar raner jemals ein Kleid anziehe, das mehr als eine Farbe habe; das Mitternachtblau des Gewandes sei ja durchaus akzeptabel, nicht aber die roten und goldenen Stickereien, die, so ließ sie ihn wissen, finde sie geradezu abscheulich. Garth ließ sie nörgeln; solange sie das Ding nur anzog und er sein Stepphemd wiederbekam, war er es zufrieden. Er sagte ihr, es sei ihm nur recht, wenn sie für eine Fremdländerin gehalten werde, worauf sie erwiderte, sie habe gar nicht gewusst, dass Fremdländerinnen einen derart scheußlichen Geschmack hätten. Trotz ihrer Vorbehalte ließ sie sich schließlich dazu breit schlagen, das Gewand anzuziehen. Garth schlüpfte zufrieden wieder in sein gewohntes Unterhemd, streifte das Kettenhemd darüber, warf den Schwertstumpf und die jetzt nutzlos ge wordene Scheide beiseite ins Stroh und schnallte sich seine Streitaxt auf den Rücken. Er wünschte sich jetzt, er hätte einen zweiten Umhang mitgenommen; er nahm sich vor, bei zukünf tigen Abenteuern daran zu denken – und an ein Paar Ersatzstiefel. Der Gedanke, offen mit Kettenhemd und Streitaxt durch die Stra ßen zu marschieren, behagte ihm ganz und gar nicht; es erweckte den Eindruck, als suche er Streit. Aber er hatte keine andere Wahl;
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es war unbestreitbar sicherer als vollkommen ungeschützt und unbewaffnet aufzutreten. Überdies baute er darauf, dass die Menschenwesen gewiss nicht damit rechnen würden, dass ein gesuchter Mörder und Tempel räuber sich offen unter ihnen zeigte. Er hatte bis jetzt noch keine genauen Vorstellungen, wie er wei ter vorgehen sollte; es galt, noch drei Tempel zu berauben, und er war müde und hungrig und hatte eine Gefangene, auf die er auf passen und um die er sich kümmern musste. Ihm fiel ein, dass er gut daran getan hätte, etwas zu essen mitzubringen, als er in die Taverne gegangen war, um die Lampe zu holen. Er beugte sich über die Tür der Stallbox und spähte durch den Torweg hinaus auf die Straße. Ein Passant ging vorbei, und eine Sekunde später folgte ein Ochsenkarren. Am östlichen Himmel machten sich die ersten Anzeichen des Morgengrauens bemerkbar, zunächst nur sichtbar als eine kaum wahrnehmbar hellere Grauabstufung in der Wolkendecke, aber dem scharfen Auge des Übermannes nicht ver borgen bleibend. Dugger, der Stallbursche, war fort, und vermut lich trat jeden Moment einer seiner Tageskollegen seinen Dienst an; Garth hatte keine Lust, noch mehr von seinem Gold als Schweigegeld für Stallburschen zu vergeuden. Gleichwohl kam er zu dem Entschluss, dass er keinen Drang verspürte, schon jetzt loszuziehen. Statt dessen kramte er erst einmal den kargen Rest seines Reiseproviants hervor. Frima beäugte mit argwöhnischer Miene die Streifen Trocken fleisch und die gedörrten Beeren, die er ihr offerierte, aber dann nahm sie sie nach einigem Zögern doch und aß sie; Garth stopfte sich ebenfalls eine Handvoll von dem trockenen, fade schme ckenden Zeug in den Mund und spülte es mit dem metallisch schmeckenden Wasser aus seiner Feldflasche hinunter. Etwas von
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dem Wasser ließ er in der Flasche, damit seine Gefangene das glei che tun konnte. Er war überrascht, dass sie den Fraß klaglos hin unterwürgte. Um so besser, dachte er, denn auf dem langen Ritt zurück nach Skelleth müsste sie mit ähnlicher Kost vorlieb nehmen. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, lehnte er sich zurück und überlegte, ob er die verbleibenden Tempel bei Tage oder bei Nacht in Angriff nehmen sollte; nach einigem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass er einfach nicht genügend Informationen hatte, und so fragte er Frima nach ihrer Meinung. »Was wäre sicherer: wenn ich die Tempel des P‘hul und des Bheleu bei Tag oder bei Nacht ausraubte, Mädchen?« Frima, die keinen Laut mehr von sich gegeben hatte, seit sie auf gehört hatte, über ihr neues Gewand zu nörgeln, antwortete schlicht: »Das weiß ich nicht.« »Die Anhänger dieser Kulte wachen bei Tage, halten aber ihre Zeremonien bei Nacht ab, richtig?« »Ja.« »Und was ist mit den Priestern? Wann schlafen die?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht brauchen Sie überhaupt keinen Schlaf.« »Jeder, egal ob Mensch oder Übermensch, braucht Schlaf.« Wie es aussah, konnte das Mädchen ihm bei der Entscheidung auch nicht weiterhelfen. Er vermutete indes stark, dass die Priester tagsüber schliefen, dass somit die günstigste Zeit für das Unter nehmen der Tag war; andererseits wiederum, wenn er am helllich ten Tag draußen gesehen wurde, riskierte er, von den Anhängern der Sai gesehen und angegriffen zu werden. Und bei Nacht drohte ihm natürlich dasselbe von seiten der Ge folgsleute Temas und Andhur Regvos‘. -208-
So kam er offensichtlich nicht weiter; es war nicht möglich, auf der Grundlage der Fakten, die er kannte, eine Entscheidung zu treffen. Also überlegte er, was er tun sollte, wenn er beschloss, das Unternehmen zunächst einmal hinauszuschieben. Das Nächstliegende wäre, sich auszuruhen und zu schlafen. Wollte er überhaupt schlafen? Nun, wenn er es sich recht überlegte, war er doch ziemlich müde und konnte ein Nickerchen gut gebrauchen. Nun gut, er würde ein Nickerchen machen, und sobald er aufwachte, würde er den nächsten Tempel in Angriff nehmen Nachdem er sich endlich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte, verkündete er seiner Gefangenen: »Wir schlafen jetzt.« Ohne lange abzuwarten, was Frima dazu zu sagen hatte, machte er es sich so gut wie möglich im Stroh bequem und fiel rasch in tiefen Schlummer. Frima folgte nicht sofort seinem Beispiel, sondern blieb erst ein mal sitzen und ließ die Ereignisse dieser Nacht und des vorausge gangenen Tages an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Sie hatte den Laden ihres Vaters gehütet, während er der allnächtlichen Ze remonie im Tempel beiwohnte, als plötzlich drei große Männer hereingekommen waren, und an einem Topf, den sie angeblich dort gekauft hatten, eine fehlerhafte Naht reklamiert hatten. Sie hatte sofort gewusst, dass sie logen, denn ihr Vater war zweifellos der beste Kesselflicker in Dûsarra. Trotzdem hatte sie sich den Topf angeschaut. Plötzlich jedoch wurde sie gepackt und von zwei der Männer festgehalten, während der dritte sie knebelte und fesselte. Dann wurde sie in einen Sack gesteckt und davonge schleppt. Den darauffolgenden Tag hatte sie irgendwo in einem kleinen engen Verlies verbracht; lange Zeit hatte sie sich wachge halten, da sie zu viel Angst gehabt hatte, um einzuschlafen, ob wohl es schon weit nach Morgengrauen gewesen sein musste. Als -209-
sie dann schließlich doch eingenickt war, wurde sie kurze Zeit später von denselben drei Männern unsanft wieder geweckt. Sie wurde nicht nur von ihren Fesseln, sondern auch von ihren Kleidern befreit und alsdann in den Tempel der Sai geschleppt. Sie hatte sofort, von dem Moment an, als man ihr den Knebel in den Mund presste, gewusst, dass sie von einem der Tageskulte entführt wurde. Das, wovor sie von Kindesbeinen an Angst ge habt hatte — eine Angst, die sie mit allen Kindern der Anhänger der Nachtkulte teilte —, war plötzlich schreckliche Realität ge worden. Sie hatte keine Hoffnung gehabt zu entkommen; noch nie war jemandem die Flucht aus den Tempeln geglückt. Also hatte sie versucht, sich in ihr unvermeidliches Schicksal zu fügen, tapfe ren Herzens dem Tode ins Auge zu sehen, wie es einer treuen Anhängerin der Nachtgöttin und der Tochter des besten Kesselflickers der Stadt würdig war. Und dann, als die Zeremonie schon in vollem Gange war und sie nichts mehr wahrgenommen hatte als den Schmerz, den der Priester ihr mit seinem Dolch zu fügte, war plötzlich dieses große rotäugige Ungeheuer mit seinen blutverschmierten Händen aufgetaucht und hatte sie befreit. Sie war vertraut mit dem Anblick von Übermännern; es kam immer mal wieder vor, dass einer von ihnen in den Laden kam, um eine Gürtelschnalle zu kaufen oder einen Harnisch reparieren zu lassen, jedoch nie, um die Töpfe und Kessel zu kaufen, die der ganze Stolz ihres Vaters waren. Sie sprachen derb und ungeschlif fen und trugen Schwerter und hatten Gesichter wie der leibhaftige Tod — oder zumindest wie Bheleu, dessen furchterregendes Gesicht sie von den Figuren kannte, die sie auf dem Marktplatz gesehen hatte. Sie mochte diese Übermänner nicht; sie waren groß und gefährlich und geheimnisvoll, und es hieß, dass sie über die Götter lachten und dennoch nicht niedergeschmettert wurden, was bewies, dass sie über irgendwelche magischen Kräfte
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verfügen mussten, wiewohl sie noch nie etwas von einem Über mann-Magier gehört hatte. Doch ein solcher Übermann hatte sie nun gerettet, und plötzlich verdankte sie ihr Leben einem unmenschlichen Monstrum. Diese Kreatur zerbrach beiläufig mit einer Hand das Genick eines Mannes und sprach davon, sie zu töten, als wäre sie nicht viel mehr als einer der Straßenköter, die in den Gassen herum streunten, um sie einen Moment später zu kleiden, ihre Wunden auszuwaschen und ihr zu essen zu geben. Und nicht einmal vergewaltigt hatte er sie; dass er, wie er behauptet hatte, dazu nicht in der Lage sei, nahm sie ihm nicht ab. Sie war in der Tat noch Jungfrau; der Hohepriester Sais hätte sie im Verlaufe der Ze remonie noch geschändet, als Teil des Rituals, aber so weit war er nicht mehr gekommen. Und ihre drei Entführer hatten nicht ge wagt, das Privileg, das ihrem Hohepriester vorbehalten war, für sich in Anspruch zu nehmen. Des weiteren sprach Garth, anders als jeder ändere Übermann, den sie je kennengelernt hatte, höflich und zivilisiert mit ihr, und er schlug sie nicht, sondern drohte ihr lediglich. Und dann sprach er davon, dass er aus irgendeinem geheimnisvollen Wüstenland komme und dass er die Absicht habe, sie in das verbotene Land Eramma mitzunehmen, ob sie wollte oder nicht. Es war alles sehr verwirrend. Übermänner kamen von der Yprischen Küste und ritten auf Ochsen oder großen Pferden und nicht auf riesigen schwarzen Panthern. Sie fand die ganze Geschichte unverständlich und war sich ihrer Gefühle für Garth unsicher. Er hatte sie entführt, aber gleichzeitig hatte er sie vor dem Tode gerettet; er hatte gedroht, sie zu töten, doch nun lag er friedlich schlafend neben ihr und vertraute ihr sein eigenes Leben an. Was sollte sie daran hindern, zu fliehen oder ihn sogar mit seinen eigenen Waffen zu töten? Sie stand auf.
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Ein leises Knurren ertönte, und sie setzte sich rasch wieder hin. Sie hatte geglaubt, das riesige schwarze Untier schlafe auch; statt dessen beobachtete es sie mit seinen goldenen Augen, die im Licht des jetzt hereinsickernden Morgens glänzten. Sie starrte zurück. Es blinzelte, dann senkte es wieder den Kopf und schien wei terzuschlafen. Sie starrte noch einen Moment lang auf das schwarze Ungetüm, dann fiel die Spannung von ihr ab. Es hatte keinen Zweck, sich mit dem Monstrum anzulegen. Immer noch vollkommen verwirrt, lehnte sie sich zurück. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie er schöpft sie war. Kurze Zeit später schlief sie ein. Sie schlief unruhig, und als Garth aus dem ersten tiefen Erschöp fungsschlaf in eine leichtere Schlafphase glitt, wurde er prompt von ihrem Gestöhn und Herumgezappel wach. Im ersten Moment war er noch so schlaftrunken, dass er sich nicht erinnerte, wo er war, und seine Hand fuhr instinktiv zu seiner Axt, aber dann fiel ihm wieder ein, wo er war, und er ließ die Hand sinken. Nicht viel hätte gefehlt, und er hätte dem Mädchen den Schädel gespalten. Es war später Morgen; er hatte vier oder fünf Stunden ge schlafen. Frima war erst nach dem Morgengrauen eingeschlafen, und er sah keinen Grund, warum er sie wecken sollte. Ihr unru higer Schlaf war immer noch besser als gar keiner. Garth vermute te, dass die zahllosen unverbundenen Schnittwunden schuld dar an waren, dass sie sich immer wieder im Schlaf hin und her wälz te; er bedauerte, dass er sie nicht anständig hatte verbinden können (vorausgesetzt natürlich, sie hätte das erlaubt), aber er hatte zumindest getan, was er konnte. Obwohl er sicherlich noch ein wenig Schlaf hätte brauchen können, beschloss er wachzubleiben. Er stand auf und klopfte sich das Stroh vom Kettenhemd; dann schnallte er sich die Axt auf den
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Rücken, stopfte sich einen Sack unter den Gürtel, sagte Koros ein paar beruhigende Worte und ging aus dem Stall. Bis jetzt hatte er alle seine Missetaten in der Nacht begangen. Er hoffte, dass sein nächstes Unternehmen, indem er es am helllich ten Tag durchführte, um so überraschender und unerwarteter sein würde. Für einen, der gesucht wurde, war es nur von Vorteil, wenn er in seinen Aktionen unberechenbar war. Einer der zwei Stallburschen, mit denen er am Tag zuvor gesprochen hatte, saß im Torweg und schnitzte gelangweilt mit einem alten Küchenmesser an einem Holzscheit herum; nichts deutete darauf hin, dass er die Anwesenheit des Übermannes be merkte. Das konnte Garth nur recht sein; zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, sich einmal umzusehen, ob es nicht vielleicht noch eine andere Möglichkeit gab, von dem Hof herunterzukommen. Die Sonne, die schon hoch am östlichen Himmel stand, war nur schwach sichtbar, da sie von einer dicken Wolkenschicht verdeckt war. An anderen Stellen waren die Wolken noch dichter zu sammengeballt, und nirgendwo hatte der Himmel eine andere Farbe als Grau. Selbst die ewige Glut der Vulkane wurde aufgeso gen von dem allgegenwärtigen trüben Grau des Tageslichts. Es regnete nicht, aber die Pfützen auf dem Hof zeigten ihm, dass es geregnet hatte, während er geschlafen hatte. Er schaute sich um, studierte erneut die Reihen von Stallboxen an den Seiten des Hofs, die kahle Mauer, den offenen Torweg. Letzterer war der einzige Zugang zum Hof. Es gab keinen wirklich zwingenden Grund, ihn nicht zu benutzen. Der Stallbur sche stellte gewiss keine Bedrohung für ihn dar. Garth schaute erneut zu dem Burschen hinüber, der noch immer in seine lustlose Schnitzerei vertieft war; es war der, der ihn be harrlich gefragt hatte, warum er ein Schwert trug. Garth kam der
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Gedanke, dass es dem Jungen vielleicht merkwürdig vorkommen mochte, wenn er ihn jetzt plötzlich ohne die Waffe sah. Garth kam zu dem Schluss, dass es besser sei, wenn der Junge ihn nicht sähe. Überhaupt war es das beste, wenn niemand ihn beim Verlassen des Stalles sah; er wollte nicht, dass noch mehr Leute ihn mit diesem Ort in Verbindung brachten, als es ohnehin schon der Fall war. Ganz abgesehen von logischen Erwägungen passte ihm der Gedanke rein gefühlsmäßig nicht. Seine Lage war mittlerweile so kompliziert geworden, dass er mit seiner Logik am Ende war, und er beschloss deshalb, sich ganz auf seinen Instinkt zu verlassen. Und dieser sagte ihm, dass es besser sei, sich nach einem zweiten Ausweg aus dem Stallhof umzusehen. Auf Bodenhöhe gab es, wie er bereits festgestellt hatte, keine andere Möglichkeit, von dem Hof hinunterzukommen, es sei denn, er schlug ein Loch in die Mauer. Und sich einen Tunnel un ter der Mauer hindurch zu graben, dazu hatte er nicht die Zeit. So blieb ihm nur eine Richtung — die nach oben. Er öffnete die breite Tür von Koros‘ Stallbox so weit, dass sie im rechten Winkel zur Stallwand stand; der Abstand zwischen ihrem oberen Rand und dem Stalldach war nicht sehr groß. Er prüfte die Festigkeit der Tür; sie war zwar nicht ganz so stabil, wie er es sich gewünscht hätte, aber es würde reichen. Er schwang sich an der Tür hoch, stemmte sich mit beiden Armen empor, zog einen Fuß nach, setzte ihn auf dem Rand der Tür, lehnte sich vorsichtig gegen die Stall wand und drückte sich, die Wand als Seitenhalt benutzend, lang sam hoch, bis er mit beiden Füßen auf der Tür stand. Schon wäh rend er sich hochdrückte, legte er den linken Arm über die Dach kante, und gleich darauf, als er Halt hatte, den rechten Arm und den Oberkörper. Vorsichtig stemmte er sich hoch, bis sein ganzes Gewicht auf den nassen roten Ziegeln ruhte.
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Zu seiner Freude hatte er beim Hinaufklettern kaum Geräusche gemacht; so war das Fehlen seines Schwertes wenigstens in dieser einen Hinsicht von Vorteil; die Scheide wäre beim Hinaufklettern mit Sicherheit mehrere Male gegen die Tür oder die Stallwand ge prallt, und das Klirren hätte den Stallburschen aufgescheucht. Vorsichtig richtete er sich auf, sorgfältig mit dem Fuß die Festig keit der Ziegel prüfend, bevor er es wagte, sein ganzes Gewicht darauf zu verlagern. Dann ließ er den Blick ringsum schweifen. Das Dach, auf dem er stand, war ungefähr zehn Fuß breit und fünfzig Fuß lang und fiel zur Hofseite hin leicht ab; dem Hof gegenüber lag ein zweiter, der im wesentlichen identisch mit dem ersten war, und beide Höfe waren an beiden Enden durch eine schmale Mauer miteinander verbunden, die breit und stabil genug aus-sah, dass er darauf gehen konnte, wenn es nötig sein sollte — aber wirklich nur im äußersten Notfall. Hinter dem gegenüber liegenden Dach ragte die Wand des Obergeschosses des Gasthofs auf. Das obere Ende des Daches, auf dem er sich befand, wurde von einer kahlen grauen Steinmauer von einer Höhe von mindes tens zwanzig Fuß begrenzt. Er fragte sich, was hinter dieser Mauer liegen mochte; er hatte von der Straße aus nicht darauf geachtet, was für ein Gebäude an der Stelle stand, und die nackte graue Mauer selbst gab keinerlei Aufschluss. Jedenfalls gab es in diese Richtung keinen Fluchtweg; die Mauer war zu hoch zum Über springen, und er war kein besonders guter Kletterer. Die steinerne Wand des Gasthofs auf der gegenüberliegenden Seite wies eine Reihe von Fenstern auf, ein halbes Dutzend an der Zahl, deren Läden jedoch, wie er zu seiner Erleichterung sah, alle samt geschlossen waren; es bestand also keine Gefahr, dass er von den Bewohnern der dahinterliegenden Räume gesehen wurde. Die Wand dort war niedriger; die Fenster lagen alle auf gleicher Höhe, und er schätzte den Abstand zwischen dem Dach des Stalles und dem des Gasthofs auf nicht mehr als zwölf Fuß, eher -215-
sogar noch weniger. Das Dach des Gasthofs war mit den gleichen Ziegeln gedeckt wie das, auf dem er stand, nur dass es erheblich steiler war, und zwischen den Schornsteinkappen waren mindes tens zwei Oberlichter zu sehen. In diese Richtung gab es also auch keinen Fluchtweg. An dem einen Ende des Hofes, hinter der Mau er, lag die Straße. Somit blieb nur noch eine Richtung, nämlich das hintere Ende des Hofes; was jedoch hinter der nackten Mauer lag, die die Rückseite des Hofes eingrenzte, vermochte er von der Stelle des Daches, an der er stand, nicht zu übersehen. Zwar rag ten weiter hinten die Obergeschosse weiterer Häuser auf, aber zwischen ihnen und der Mauer musste eine größere Lücke klaffen. Vorsichtig bewegte er sich über das schräg abfallende Dach, sorgfältig darauf achtend, nicht aus Versehen mit dem Fuß einen der zerbrochenen Ziegel herunterzutreten, bis er einen Schritt vor dem Rand des Daches stand. Er spähte hinunter in einen kleinen ummauerten Hof, der mit Abfall übersät war und nach dem nächtlichen Regen halb unter Wasser stand. Ein unangenehmer fauliger Geruch stieg von dem Hof auf und drang ihm an die Nüstern. Der hintere Teil des Hofs wurde von einem schlichten zweistö ckigen Gebäude eingenommen, offensichtlich einem gewöhnli chen Wohnhaus; hinter den fünf oder sechs Fuß hohen Mauern, die den Hof zu beiden Seiten begrenzten, befanden sich zwei wei tere Höfe von ähnlicher Art und Größe, die er jedoch von seinem Standort aus nicht voll einsehen konnte. Der Hof zur Linken war, soweit er sehen konnte, sauberer als der direkt unter ihm liegende; in den rechten Hof war ihm der Einblick fast vollständig verwehrt. Er überlegte einen Moment lang und schaute zurück auf den Stallhof; von seiner erhöhten Position aus konnte er sehen, dass der Trog, in dem er seinen Mantel verbrannt hatte, jetzt gut einen
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Zoll hoch mit schmutzigem Regenwasser gefüllt war, das schwarz war von der Asche seines Umhangs. Sich die Mühe zu machen, zu dem Hof zur Rechten hinüberzu klettern, war überflüssig, da die beiden anderen Höfe von dem Dach aus zu erreichen waren, auf dem er stand. Der mittlere Hof erstreckte sich über die gesamte Breite des Stallhofes und reichte auf beiden Seiten bis jeweils zur Mitte der überdachten Ställe; der linke Hof, der direkt an den mittleren angrenzte, erstreckte sich unterhalb der anderen Hälfte des Daches entlang der ver bleibenden vier bis fünf Fuß des Stalles. Der Sprung in den Hof zur Linken war der höhere, da das Dach zu der Seite hin anstieg; deshalb ging Garth zur unteren Dachecke hinüber, wo die graue Steinmauer direkt unterhalb der Ziegel entlanglief, ließ sich vorsichtig auf den Mauervorsprung hinunter und sprang. Er landete mit einem platschenden Geräusch und spürte sofort, wie Wasser durch das Loch, das er sich im Vorhof des Sai-Tem pels in die Sohle gebohrt hatte, in seinen rechten Stiefel drang. Es war kalt und schmutzig; vermutlich bestand es mehr als zur Hälf te aus Schlamm. Er hätte sich in diesem Moment gewünscht, eben so fluchen zu können wie die Menschen; er murmelte verdrossen die Namen von ein paar Göttern, aber das verschaffte ihm keine Erleichterung, und so zog er es statt dessen vor, einmal tief und herzhaft zu knurren. Es war schwierig, die exakte Tiefe des Wassers zu schätzen, weil seine Stiefel unter dem Gewicht seines Körpers und des Ketten hemdes tief in den Schlamm einsanken; aber es war mindestens einen Zoll tief. Er mühte sich über den kleinen Hof, angewidert von den verfaulten Obstschalen und matschüberzogenen alten Knochen, die unter seinen Stiefeln hervorquollen, und stieg auf die steinerne -217-
Stufe einer Türschwelle, die, aus der schlammigen Brühe ragte; er fühlte, wie das Wasser langsam aus seinem ruinierten Stiefel ab lief; zurück blieb ein schleimig unter seinem Fuß schmatzender Rest. Die Tür befand sich in der Mitte der Hauswand. Links und rechts von ihr waren zwei schmale Fenster, dunkel und mit zuge zogenen Vorhängen, aber geöffneten Läden. Das ließ darauf schließen, dass irgendwo im Haus jemand war, höchstwahrschein lich jedoch nicht in den zum Hof liegenden Zimmern. Er drückte die Klinke hinunter und lehnte sich gegen die Tür. Sie war abge schlossen. Er stieß ein gereiztes Knurren aus und stemmte sich fester gegen die Tür, wobei er den linken Fuß in die Schmutzbrühe setzte, um sich besser abstoßen zu können. Die Tür gab immer noch nicht nach. In einer plötzlichen Aufwal lung von Wut zog er die Axt hinter dem Rücken hervor und hieb damit gegen das widerspenstige Hindernis. Splitter flogen umher. Er schlug ein zweites Mal zu und fühlte, wie die Schneide durch das Holz in den leeren Raum dahinter fuhr. Er zog die Axt mit einem kräftigen Ruck heraus und beugte sich vor, um durch das Loch zu spähen, das er in das Holz geschlagen hatte. Der Raum war dunkel, und er vermochte nichts zu sehen. Er trat einen Schritt zurück und ließ erneut seine Axt gegen die Füllung sausen; das Holz gab nach und barst splitternd nach innen. Jetzt klafften zwei große Löcher in der Tür. Er schlang sich die Axt wieder um die Schulter und brach das Holz wischen den beiden Löchern heraus; die so entstandene Öffnung war groß genug, dass er mit der Hand hindurchgreifen konnte. Er langte hinein und stellte wie erwartet fest, dass die Tür verriegelt war. Der Riegel befand sich jedoch nur wenige Zoll unterhalb der Öffnung, so -218-
dass es keiner großen Fingerfertigkeit bedurfte, ihn hochzuheben und nach unten auf den Fußboden fallenzulassen. Ihm wurde bewusst, dass er ziemlich viel Lärm machte, doch bis jetzt war noch niemand aufgetaucht, ihn ob seines gewaltsamen Eindringens zur Rede zu stellen; offenbar war das Glück auf sei ner Seite. Der Gedanke, dass er mit viel weniger Aufwand und Lärm durch eines der Fenster hätte einsteigen können, kam ihm nicht. Er drückte erneut die Klinke hinunter und presste den Ell bogen gegen die Tür. Sie wollte sich noch immer nicht öffnen lassen. Er drückte stär ker. Sie bog sich nach innen, gab aber nicht nach. Es musste also noch weitere Riegel geben; der Art, wie sie sich bog, nach zu urtei len, saß einer oben und einer unten. Seine Geduld, seit seinem demütigenden Erlebnis von Ohn macht im Aghad-Tempel arg auf die Probe gestellt, war zu Ende. Mit einem Wutschrei riss er erneut seine Axt aus dem Tragegurt und schmetterte sie horizontal gegen das Holz. Es regnete Splitter, und ein großes Stück von einem der Bretter, aus denen die Tür bestand, brach heraus und platschte in das schmutzige Wasser. Und wieder schlug er zu, indem er alle Kraft in den Hieb legte. Die Schneide biss in das Holz und ließ einen erneuten Splitterregen über die Stufe und seine Füße herniedergehen. Er riss sie heraus, wobei sich ein weiteres großes Stück aus dem Brett löste, und langte mit der freien Hand durch das jetzt erheblich vergrößerte Loch. Er erreichte mit den Fingerspitzen den oberen Riegel, aber sein Unterarm war zu kurz, um ihn herauszuheben; er zog den Arm wieder heraus, steckte den anderen Arm mit der Axt hindurch und schlug mit der Axt den Riegel aus der Halterung. Er machte beim Herunterfallen noch mehr Lärm als der erste. Alsdann taste te er nach dem dritten Riegel und hakte ihn mit der Kante der
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Axtschneide heraus; sein Fall erzeugte nur ein leises Klirren. Dann, immer noch wütend, drückte er die Klinke abermals hinun ter. Die Tür ließ sich einen Spaltbreit öffnen. Er zog seinen Arm mit der Axt aus der Öffnung und drückte die Tür mit voller Wucht auf; der durch seine wuchtigen Axthiebe arg traktierte Rahmen zerbrach, als er gegen die Wand krachte, und was eben noch eine Tür war, hing jetzt nur noch als verzogenes Trümmerwerk aus zerborstenen Brettern an den verbogenen Angeln. Garth trat ein. Er stand in einer kleinen Küche; an einer Wand befand sich ein Spülstein, die anderen Wände waren mit Tischen und Schränken vollgestellt. Kein Lebenszeichen war zu entdecken, aber es war sauber, und nirgends lag Staub; das Haus war ohne Zweifel be wohnt. Vielleicht war der Besitzer taub; denn wenn er — oder sie — da war, konnte er den Lärm unmöglich überhört haben. Vielleicht war er aber auch ausgegangen und hatte sich nicht die Mühe gegeben, die Läden zu schließen. Oder aber er war bettläge rig. Wie auch immer, Garth scherte das nicht sonderlich; er hatte lediglich einen anderen Ausweg aus dem Stallhof finden wollen. Er durchquerte die Küche und schlenderte durch die offene Tür, die in einen großen Vorderraum führte. Im Gegensatz zur Küche nahm dieser die volle Breite des Hauses ein, gut zwanzig Fuß, wie er schätzte; er war in der Breite etwas größer als in der Tiefe, und die niedrige Decke ließ ihn noch breiter erscheinen. Garth musste sich sogar ein wenig ducken, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. In der Küche hatte er sich voll aufrichten können, so lange er nicht direkt unter den Balken stand, die das Obergeschoss trugen; dieser größere Raum jedoch hatte eine Bohlendecke. Hinter ihm in der Wand war eine Tür, die, wie er vermutete, in eine Vorratskammer neben der Küche führte, und auf der linken -220-
Seite führte eine Treppe zum Obergeschoss hinauf. Diverse Stühle, Teppiche und Tische füllten den Raum; die rechte Wand nahm ein mächtiger Kamin ein. Auf der Vorderseite waren zwei breite Bo genfenster mit zugezogenen Vorhängen, dazwischen befand sich eine schwere Eichentür. Er ging hinüber zu der Tür, schob den Riegel zurück, öffnete sie einen Spalt und lugte hinaus; es schien eine reine Wohngegend zu sein, denn er konnte weder Geschäfte noch öffentliche Gebäude sehen. Er öffnete die Tür und schlüpfte hinaus. Die Sonne war inzwischen durch die Wolken gebrochen; die Straße war menschenleer. Er zog die Tür hinter sich zu und wand te sich nach rechts, die Richtung, in der, sofern sein Orientierungs sinn ihn nicht trog, die Straße der Tempel lag.
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Kapitel 16 Er hatte großes Glück gehabt, dass er auf einer leeren Straße her ausgekommen war; er fand davon nur wenige andere auf seinem Weg quer durch Dûsarra, aber irgendwie erreichte er sein Ziel, ohne unterwegs angesprochen worden zu sein. Zwar hatten meh rere Passanten neugierige Blicke in seine Richtung geworfen, und häufig war ihm ein Raunen gefolgt, aber niemand hatte gewagt, ihm in den Weg zu treten. Jetzt schlenderte er offen die Straße der Tempel entlang und hoffte, dass sein Glück anhielt. Er näherte sich einem Tempel, dem drittletzten vor dem Palast des Oberherrn; düster ragte er vor ihm auf, ein riesiger Würfel aus schwarzem Stein, mit dunklen Fenstern gesprenkelt und von einer breiten Kuppel überdacht. Sieben flache Stufen führten zu seinem offenen Portal; es gab kein Tor und keinen Hof und keinen Hin weis darauf, welcher Gott hier verehrt wurde. Er war nur noch ein paar Schritte von der untersten Stufe entfernt, als jemand hinter ihm rief: »Halt, Übermann!« Er beschleunigte seinen Schritt und hastete die Stufen hinauf; er hörte, wie jemand hinter ihm hergerannt kam, als er durch das Portal in ein Vorzimmer trat. Das Zimmer war klein und hatte einen hölzernen Fußboden, der bedenklich unter seinen Füßen nachgab; die Wände waren mit vermoderten, verblichenen Tapisserien behängt. Für einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, dass der Tempel vielleicht längst aufgegeben und verlassen war; da die Tageskulte im geheimen wirkten, war es gut möglich, dass einer von ihnen ausgestorben war, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Ihm gegenüber war eine Tür mit einem rostigen Knauf; als Garth nach ihm griff, zerbröckelte er unter seiner Hand. Er hob -222-
die Faust, um gegen die Tür zu pochen, in der Hoffnung, dass ir gend jemand ihn hereinließe; zu seiner Verblüffung flog die Tür beim ersten Schlag mit quietschenden Angeln nach innen auf. Staubwolken wirbelten auf, und er bekam einen Hustenanfall, aber er schaffte es, hineinzustolpern. Gleichzeitig wurde ihm be wusst, dass die Schritte seines Verfolgers verstummt waren; statt dessen rief eine entsetzte Stimme: »Wir können dort nicht hinein gehen!« Er hielt inne. Wenn er nicht verfolgt wurde, gab es keinen Grund zur Hast. Er wischte sich den Staub aus den brennenden Augen und sah sich um. Die Tür, durch die er hereingekommen war, stand neben ihm, und jetzt war offensichtlich, warum sie so schnell nachgegeben hatte: sie war von innen völlig zerfressen von Termiten und Fäulnis, so dass sein Schlag ihr Werk lediglich vollendet hatte. Der Schnäpper, der sie im Schloss gehalten hatte, war geblieben, wo er war, bis auf den Rahmen durchgerostet, und das Holz um ihn her um war zu Staub zerfallen, so dass in der Kante der Tür jetzt ein riesiges Loch klaffte. Der Raum, in dem er sich befand, war vielleicht fünfzehn Fuß tief und zwanzig Fuß breit; anders als die anderen Tempel, die er bisher besucht hatte, hatte dieser einen Holzfußboden, der sich zur Mitte hin unter dem Gewicht eines dicken Teppichs be denklich senkte. Auch die Wände waren aus Holz, bis auf eine, welche aus Stein war und offensichtlich gleichzeitig eine der Außenmauern des Tempels bildete; denn sie war von drei schma len Fenstern durchbrochen, durch die das Tageslicht hereinfiel. Die Decke des Raums war mit Seide ausgeschlagen, die mit Dutzenden von Flecken aller Art übersät und an manchen Stellen schwarz von Fäulnis war. Auch sie hing, wie der Fußboden, in der Mitte durch. Überall hingen Spinnweben.
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Auch Möbel waren vorhanden: Zwei mit kunstvollem Schnitz werk verzierte Tische standen vor der gegenüberliegenden Wand, eine Tür flankierend, und eine Anzahl staubbedeckter Stühle standen verstreut herum. Über allem hing der Gestank von Fäulnis, Moder und Schimmel; Garth glaubte plötzlich ziemlich sicher zu wissen, in wessen Tem pel er sich befand. Er machte behutsam einen Schritt vorwärts; der Fußboden knarrte unheilvoll, und neue Gerüche von Zerfall bestürmten sei ne Nüstern. Er legte eine Hand vorsichtig auf eine der holzgetä felten Wände, doch nur, um sie sogleich wieder erschrocken zu rückzuziehen, als er spürte, wie das Holz nachzugeben drohte; auch hier war das Holz von Würmern und Fäulnis zerfressen. Es konnte kein Zweifel mehr bestehen: Dies war der Tempel P‘huls, der Göttin des Zerfalls. »Sei gegrüßt, Fremder!« Die Stimme kam von irgendwo zu sei ner Rechten; der übliche gutturale Dûsarranische Akzent war von einem seltsamen Lispeln verfremdet. Er wandte sich in die Rich tung, aus der die Stimme gekommen war, und sah, dass eine Gestalt in grauer Robe in den Raum getreten war. Er wollte etwas erwidern, hielt aber inne, als die Gestalt ihre Ka puze zurückstreifte und den Grund für das Lispeln offenbarte. »Stimmt irgend etwas nicht?« Die Stimme der Priesterin klang besorgt. »Nein. Ich war bloß verblüfft.« Die Unterlippe der Frau war eine geschwollene, auf-geworfene Masse schwärenden Fleisches, und ein großer Teil ihres Halses und ihres Gesichts war aufgeschwollen und bis zur Unkenntlich keit entstellt; an einer ihrer Hände fehlte ein Finger. An der Art ih rer Entstellungen erkannte Garth die Menschenkrankheit Lepra, und ein Schauer rieselte ihm den Rücken hinab. Seine Verfolger -224-
hatten wahrlich andere Gründe als religiöse gehabt, warum sie vor dem Portal kehrtgemacht hatten. Die Priesterin lächelte, ein Lächeln, das durch die Entstellungen nur um so schauriger wirkte. »Natürlich. Es ist Brauch, dass die Diener der P‘hul das Werk ihrer Herrin auf dem Fleisch tragen; gleichwohl vermag ich mir vorzustellen, dass es jenen, die einen solchen Anblick nicht gewohnt sind, im ersten Moment vielleicht einen Schrecken einjagen kann. Warum bist du gekommen? Was führt einen gesunden Übermann in den Tempel des Verfalls?« Garth bemerkte, dass sie sich ihres Lispelns sehr wohl bewusst war und sich größte Mühe gab, den Namen ihrer Göttin korrekt auszusprechen. Er spürte, wie sich Mitleid in ihm regte. »Ich war einfach neugierig.« »Das überrascht mich. Nur selten kommen Fremde zu uns. Was kann ich tun, um deine Neugier zu befriedigen?« »Erzähl mir von deiner Göttin!« Garth war zwar nicht sonder lich erpicht, etwas von P‘hul zu erfahren, aber er wollte Zeit zum Nachdenken gewinnen, und er vermutete, dass die Priesterin, erfüllt von ihrem Glauben, wie sie war, ihm auf den leisesten An stoß hin über Stunden hinweg erschöpfende Auskunft über sämt liche Aspekte und Details ihrer Religion erteilen würde. Hätte er sofort ihren Verdacht erregt, wenn er sie über irdischere Dinge befragt hätte, so war er überzeugt, dass sie in ihrem Enthusiasmus nichts seltsam daran fände, wenn er bereitwillig weitschweifige Ausführungen über ihre Religion über sich ergehen ließ. »Wenn du das wünschst, gern! Ich bin sicher, du weißt über die grundsätzliche Natur P‘huls Bescheid; sie ist die Ursache und die Essenz jedweder Krankheit und jedweden Zerfalls. Auf unserer ganzen Welt. Sie ist es, die uns altern lässt, die uns zur leichten Beute für den Tod werden lässt, auf dass die Alten den Jungen Platz machen. Sie lässt das grüne Laub braun werden, lässt es von -225-
den Bäumen fallen und verfaulen, so dass es der Erde neue Nah rung geben kann. Sie zerfrisst die Früchte, auf dass die Samen dar in aufgehen und erblühen. Durch Krankheit und Seuchen vertilgt sie die Schwachen und Unwerten. Die Würmer der Erde und die niederen Insekten dienen ihr, indem sie alles verschlingen, was sie ihnen gibt; doch sie wiederum sind es, die die Vögel am Himmel und die Tiere des Feldes nähren. Sie ist die Magd des Todes.« Während die Priesterin mühsam ihre Worte formte, ließ Garth noch einmal die Ereignisse der jüngsten Zeit an seinem Geiste vor überziehen; ihm war schlagartig bewusst geworden, dass er sich, seit er den Aghad-Tempel verlassen hatte, höchst unvorsichtig, ja geradezu schon idiotisch verhalten hatte. Dass er offen in den Tempel der Sai marschiert war, war äußerst töricht gewesen, auch wenn er dadurch zufällig ein unschuldiges Menschenleben vor dem Opfertode bewahrt hatte. Sein ganzer Auftritt dort zeugte von erschreckender Planlosigkeit; selbst sein Kampf mit den Pries tern war alles andere als ein Ruhmesblatt gewesen, hätte er doch in der Lage sein müssen, sie zu überwältigen, auch ohne sie gleich zu töten. »Es gibt manche, die sagen, der Tod sei das große Übel unserer Welt«, fuhr die Priesterin fort, »und daher müsse P‘hul als seine Dienerin gleichfalls schlecht sein. Das ist nicht der Fall; der Tod würde auch existieren, wenn es P‘hul nicht gäbe. Die Göttin macht uns bereit für seine Berührung. Ist es nicht besser, alt und müde zu sterben, als auf der Höhe seiner Kraft und Gesundheit aus dem Leben gerissen zu werden?« Sein Verhalten am heutigen Morgen hatte sich durch noch grö ßere Plan- und Ziellosigkeit ausgezeichnet. Er hatte keinen zwingenden Grund gehabt, auf Dächern herumzuklettern und die Türen unbescholtener Bürger einzuschlagen. Seine berser kerhaften Ausbrüche hatten lediglich dazu gedient, den Zorn, der
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immer noch in ihm brodelte, an unschuldigen Dingen auszu lassen. »Da wir nun einmal alle nach einer vorherbestimmten Zahl von Jahren sterben müssen, ist es da nicht besser, wenn der Tod uns als Ende eines langen Niedergangs ereilt, als Endpunkt des Zerfalls, und nicht, solange wir noch jung und in der Blüte un seres Lebens sind? Unser Leben bleibt auf diese Weise im Gleich gewicht; auf der einen Seite der Waage steht der Aufstieg vom Kinde zum Erwachsenen, welchem auf der anderen Seite der Ab stieg zum Greise gegenübersteht. Aal, der Herr des Wachstums, ist P‘huls Zwillingsbruder und Widerpart; keiner von beiden könnte ohne den anderen existieren. Aal herrscht über unsere Jugend, P‘hul über unser Alter.« Offenbar ärgerte er sich noch immer über die Hilflosigkeit, die er im Aghad-Tempel empfunden hatte. »Damit es Wachstum geben kann, muss es Verfall geben; damit das Neue wachsen und gedeihen kann, muss das Alte vergehen, sonst würde die Welt unter dem Wachsenden ersticken.« Es lag auf der Hand, dass die Verbannung aus seiner Heimat noch immer in ihm nagte, in welche er sich durch den törichten Eid, den er dem Baron von Skelleth geleistet hatte, selbst hinein geritten hatte. »Das mag ja sein; aber selbst wenn wir die Notwendigkeit des Verfalls akzeptieren müssen, bedeutet das doch noch lange nicht, dass wir auch die Göttin verehren müssen.« Noch viel tiefer aber saß der Ärger über den Vergessenen König, der ihn wie ein dummes Kind behandelte und ihn manipulierte wie eine Marionette, und auf die Weisen Weiber von Ordunin, im Vertrauen auf deren Orakel er überhaupt erst nach Skelleth ge gangen war.
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»Wir verehren, sie, weil wir tiefere Schönheit erkennen, die ih rem Werk zugrunde liegt; weil wir erkennen, dass Verfall Frieden bringt und dass wir in ihm Zufriedenheit und Glück finden können. Sie setzt unserem Kampf gegen unser unvermeidliches Schicksal ein Ende und befreit uns von Sorge und Kummer.« Dies alles waren natürlich Symptome seines Zorns über seine eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit, seines Ärgers über seine eigene Bedeutungslosigkeit im Kosmos; es war sein Unvermögen, die Welt nach seinem Willen und Geschmack zu formen, das sei ner Wut über alle diese Erscheinungsformen seiner Ohnmacht zu grunde lag. »Jeder Bauer betet zu Aal; alle Eltern heranwachsender Kinder verehren ihn. Er bedarf nicht der Verehrung solch niederer Krea turen wie uns bei der Flut von Schmeicheleien und Lobhudelei, mit der er allenthalben überschüttet wird. Und doch wäre er nichts ohne seine Schwester, und wir haben uns entschieden, ihr die Anerkennung zu zollen, die sie verdient, als Dank für die Male, die sie uns aufgedrückt hat.« Im Verlauf des gelispelten Vortrags der Priesterin hatten beide auf dem ihnen am nächsten stehenden Stuhl Platz genommen; die Priesterin hatte die Staubwolke, die beim Hinsetzen aus dem Polster hochwirbelte, mit Todesverachtung ignoriert, und Garth hatte versucht, es ihr gleichzutun, wobei seine Befürchtungen ohnehin in erster Linie um die Frage kreisten, ob das wurmsti chige Möbelstück seinem Gewicht standhielte. Jetzt beugte sich die Dienerin der P‘hul vor, wobei ihr Stuhl beängstigend unter ihr knarrte, und fragte: »Hast du irgendwelche Fragen?« »Ich ...« Garth hatte seinem Hauptanliegen, nämlich der Plünderung des Altars, bisher überhaupt noch keinen Gedanken gewidmet; er stockte einen Moment lang und stellte dann eine Frage, die ihn nur vage interessierte. »Ich habe gehört, dass dies
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das Dreizehnte Zeitalter der Welt ist, das Zeitalter des Zerfalls, und als solches wird es von P‘hul regiert. Könntest du mir das er klären? Herrschen denn nicht alle Götter stets über ihre eigene Do mäne, ungeachtet des Zeitalters?« »Doch, natürlich tun sie das. Die Zeitalter der Welt sind le diglich eine Theorie, die die Theologen, Philosophen und Astro logen ausgearbeitet haben, und doch scheinen sie in gewisser Weise zuzutreffen. Ich verstehe nicht, wie die Zeitalter festgelegt sind, aber es heißt, dass es bestimmte Zeichen gibt, die jede Ära markieren. Unser jetziges Zeitalter ist gekennzeichnet von sin kender Bevölkerung, sinkendem Wohlstand und Verlust an Wissen, und daher wird es P‘hul zugeschrieben, denn dies sind die Symptome eines Verfalls der Menschheit — und Über menschheit — als Ganzem, so wie die Krankheiten P‘huls Ursache für den Verfall von Individuen sind. Die Theologen sagen, dies sei so, weil P‘hul in diesem Zeitalter auf dem Höhepunkt ihrer Macht sei, während die Götter, die ihr ebenbürtig oder die gar größer als sie sind, in einem Zustand der Ruhe verharren würden oder auf andere Weise geschwächt seien. Der Verfall schreitet schneller voran als das Wachstum; aber es gibt noch immer Wachstum, und wenn dieses Zeitalter zu Ende geht, wird das Gleichgewicht zwi schen P‘hul und Aal wiederhergestellt werden, und eine andere Gottheit wird sich vorübergehend über das kosmische Gleichge wicht erheben. Die Astrologen sagen, dass unser Zeitalter gerade jetzt zu Ende geht; dass das Vierzehnte Zeitalter vielleicht sogar schon angefangen hat, und wenn nicht, dass es jedenfalls sehr bald schon anfangen wird.« Letzteres erregte Garths Aufmerksamkeit; ein paar Monate zu vor hatte der Vergessene König zu ihm gesagt, dass es sinnlos sei zu versuchen, dem Ausufern von Tod und Zerfall Einhalt zu ge
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bieten, solange das Zeitalter P‘huls noch andauere. Wenn es erst zu Ende gehe, brächen vielleicht bessere Zeiten an, eine Ära, in der große Dinge vollbracht würden. »Wie wird das Vierzehnte Zeitalter sein? Welcher Gott wird es beherrschen?« »Das weiß ich nicht. Das Zwölfte Zeitalter war das Zeitalter Ag hads, welches von Krieg und Verrat gekennzeichnet war, und vieles von der Geschichte der Welt ging in jenem Zeitabschnitt verloren, der erheblich länger dauerte als die drei Jahrhunderte von P‘huls Herrschaft, so dass außer vielleicht ein paar Gelehrten niemand mehr etwas über das Elfte Zeitalter weiß. Daher vermag ich auch keinen Plan dahinter zu erkennen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass einer der Eir, der Herren des Lebens, zur Macht empor steigt; obwohl ich einer Dame der Dûs diene, würde ich solch einen Wechsel nicht bedauern.« »Könnte nicht auch irgendein anderer Gott regieren? Ich habe von Göttern gehört, die weder den Dûs angehörten noch den Eir.« »Solche Götter, sofern sie überhaupt existieren, sind nur von nie derem Rang – ausgenommen natürlich Dagha. Es gibt die sieben Dûs, die sieben Eir und den Gott der Zeit, der sie alle geschaffen hat; diese fünfzehn sind die großen Götter, und du kannst gewiss sein, dass einer von ihnen das Neue Zeitalter der Welt regieren wird.« »Dies ist das Dreizehnte Zeitalter; das Vierzehnte wird bald be ginnen. Aber es gibt nur fünfzehn von diesen höheren Göttern. Was wird geschehen, wenn jeder von ihnen sein Zeitalter gehabt hat?« »Vielleicht beginnt dann der Zyklus von vorn.« Garth lehnte sich zurück und dachte darüber nach. Das ganze System klang ziemlich .an den Haaren herbeigezogen; Zeitalter von verschiedener Länge und in einer unbekannten Reihenfolge? -230-
Und nur fünfzehn, die als Herrscher in Frage kamen? So inter essant sich das Ganze auch anhörte, und wenn auch die Charakte risierung der letzten drei Jahrhunderte als ein Zeitalter des Zerfalls und die der Periode, die mit den Rassenkriegen zu Ende gegangen war, als ein Zeitalter des Hasses scheinbar zutrafen – für ihn stand fest, dass das ganze System nicht mehr war als eine wei tere menschliche Übung in fruchtlosem Theoretisieren. Schließlich und endlich konnten die Menschen nicht einmal die Existenz auch nur eines einzigen ihrer unzähligen Götter beweisen; wie konnte man da auch nur einen Hauch von Vertrauen in ein System setzen, das auf eben diesen Göttern basierte? Im übrigen, wenn dies das Dreizehnte Zeitalter war, dann musste es logischerweise vor langer Zeit einmal ein Erstes Zeitalter gegeben haben; und was war davor gewesen? Er schüttelte den Kopf. »Ich bin verwirrt. Vielleicht könntest du mir ein wenig euren Tempel zeigen, während ich diese neuen Erkenntnisse verdaue.« »Wenn du es wünschst.« Die Priesterin stand auf; Garth folgte ihrem Beispiel, erfreut, dass sie so bereitwillig auf seinen Wunsch einging. Bei einer Führung durch den Tempel würde er mit Si cherheit auch den Altar zu sehen bekommen. Die Frau in der grauen Robe führte ihn durch eine knarrende Tür in einen düsteren Korridor mit Holzfußboden und zerfetzten, vermodernden Wandbehängen; er war überrascht zu sehen, dass von beiden Seiten mehrere Türen abgingen. Der Tempel war kom plizierter, als er gedacht hatte. »Dies sind die Studierstuben unserer Scholaren«, erklärte seine Führerin. Sie öffnete eine der Türen, scheinbar aufs Geratewohl, und ein kleiner Raum kam zum Vorschein, kaum mehr als eine Zelle, angefüllt mit Regalen, die sich unter dem Gewicht von Hunderten von Büchern, Schriftrollen und Papieren bogen, und er-hellt vom Licht eines einzigen winzigen Fensters. Ein schmaler
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Schreibtisch stand in der Mitte, dahinter ein wackliger Stuhl; auf dem Schreibtisch lagen weitere Papiere ausgebreitet; als Brief beschwerer diente ein menschlicher Schädel. »Der Schädel ist nur eine Erinnerung an die Sterblichkeit des Menschen«, erklärte die Priesterin. »Wie kommt es, dass euer ... dass ihr solche Gelehrten un terhaltet? Ich habe anderswo in Dûsarra kein Zeichen solcher Ge lehrsamkeit gesehen.« »Das entspringt der Natur unseres Glaubens. Je mehr wir von der Welt wissen, desto mehr wissen wir von den Göttern, die sie erschaffen haben; und je mehr wir über die Götter wissen, um so besser können wir unserer Göttin dienen. Ich habe gehört, dass es auch unter den Anhängern Aghads viele Gelehrte gibt, wenn dies wohl auch mehr dem Wunsch entspringt, der Menschheit zu schaden, als den Göttern zu dienen; und es gibt eine ausgezeich nete Bibliothek im Tempel der Tema. Die Priester Andhur Regvos‘ sind natürlich außerstande zu lesen. Die Priester des Bheleu bringen nicht die Geduld zum Studieren auf. Über die Kulte Sais und des Letzten Gottes weiß ich nichts.« Während die Priesterin sprach, führte sie ihren Gast wieder aus der Studierstube und Schloss die Tür hinter sich. Am Ende des Ganges angekommen – ein zweiter Gang zweigte rechtwinklig von ihm ab -, stieg sie eine schmale Wendeltreppe aus rostigem Eisen hinauf, die bedenklich unter dem Gewicht der beiden schwankte. Garth fragte sie, wohin der zweite Korridor führte. »Zum Schlafsaal«, erwiderte sie. »Hast du einen besonderen Grund, dass du ihn mir nicht zeigst?« »Ich glaubte nicht, dass er dich interessieren würde; unsere Un terkünfte sind schlicht. Außerdem schlafen die meisten meiner Mitpriesterinnen zur Zeit, und ich wollte sie nicht stören. Haben -232-
wir nicht genauso ein Recht auf Ruhe und Privatleben wie andere, normale Menschen? Unsere Krankheiten machen uns zu Ausge stoßenen, aber wir sind trotzdem immer noch Menschen.« »Natürlich; ich habe es nicht böse gemeint. Eure Zeremonien finden also des Nachts statt?« »O ja, gewiss doch! Die Herren von Dûs sind schließlich die Dunklen Götter; und sie alle sind Götter der Nacht, ganz gleich, welche Gewohnheiten ihre Anhänger haben.« Während sie dies sagte, erreichten sie das Ende der Wendeltreppe. Sie standen in einem ziemlich großen Vorraum, dessen hintere Wand von einer riesigen doppelflügeligen Tür beherrscht wurde; beide Seitenwände waren mit Holz getäfelt und mit verblichenen Wandbehängen geschmückt, deren Vermoderungsprozeß so weit vorangeschritten war, dass Garth sich nicht schlüssig war, ob sie ursprünglich einmal Banner, Tapisserien. Oder sonstwas gewesen waren. Die Wendeltreppe war in einer halbrunden Nische in der Rückwand, welche aus schmucklosem schwarzen Basalt war. Sie war durchbrochen von drei schmalen Spitzbogenfenstern. Die Priesterin durchquerte den Raum mit sicherem, leichtfüßigem Schritt, was Garths wachem Auge nicht unbemerkt blieb. Die Frau mochte zwar krank sein, aber bisher jedenfalls schien ihr Gebre chen sie nicht ernstlich geschwächt zu haben; sie bewegte sich ge nausogut wie die meisten Menschenwesen. Ihr Alter war schwer zu schätzen; sie hatte zweifellos ihre Jugend hinter sich, gleich wohl hatte sie noch nicht das weiße Haar und die gebeugte Haltung der Greisin, darüber hinaus aber vermochte er keine Anzeichen zu entdecken, die Aufschluss über ihr Alter gegeben hätten. Die Schwellungen in ihrem Gesicht hatten alle Falten ge glättet, aus denen er sonst das Alter vielleicht hätte herauslesen können.
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Sie öffnete die große Doppeltür, und die beiden traten in den da hinter liegenden Raum. Garth sah sich genötigt, die Luft anzuhalten, bis der Staub sich etwas gelegt hatte. Der Raum wirkte riesengroß, größer, als er in Wirklichkeit war; er füllte die gesamte restliche Höhe des Tempels aus, einschließ lich der Kuppel. Er war annähernd quadratisch, mit einer Seiten länge von rund vierzig Fuß, aber seine Dimensionen wurden verzerrt durch den Rauch und den Staub, die in dichten Schwaden in der abgestandenen Luft schwebten. Trübes Licht sickerte durch die schmutzverkrusteten Fenster aus farbigem Glas herein und malte dunkle Muster auf den abgetretenen Holzfußboden und auf die kunstvoll geschnitzten Geländer, die die in drei übereinander liegenden Reihen rings um den Saal laufenden Galerien zierten. Ein heller Kegel ungefärbten Lichts, das durch einen Ring von Fenstern in der Basis der Kuppel hereinflutete, tauchte das Zentrum des Raumes in Helligkeit. In der Mitte dieses Licht kreises stand, nur vage erkennbar, der Altar. Das gleißende Sonnenlicht ließ ihn in hellem Glanz erleuchten, versteckte ihn aber zugleich hinter einer Wand aus ebenso hell beleuchteten Spinnweben, Weihrauchschwaden und Staubwolken. Der Altar bestand aus einer breiten quadratischen Fläche, die sich zwei oder drei Fuß oberhalb des Fußbodens erhob; er war aus Holz gefertigt, die Seiten waren mit Seide ausgepolstert, und die Kanten waren mit Kupferbeschlägen versehen, die mit einer di cken Schicht Grünspan überzogen waren. Die Oberfläche war mit verblichenem, halb verschimmeltem Stoff bespannt, und in der Mitte war ein Quadrat aus Mahagoniholz ausgespart. Das einzige, was auf dem Altar lag, war eine dicke Staubschicht. Garth starrte angewidert darauf.
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»Dies ist natürlich das Allerheiligste des Tempels. Hier führen wir unsere Zeremonien durch, hier tun wir der Göttin unsere Frömmigkeit kund, flehen sie an, unserer zu gedenken und uns gnädig zu sein.« Sie schwieg einen Moment lang, auf eine Erwiderung Garths wartend; der Raum war wunderschön oder war es zumindest ein mal gewesen, und sie schien sicher, dass der Übermann das würdigen würde. Garth indes war mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache und sagte nichts. Unschlüssig, ob dies als schlichte Unhöflichkeit zu werten war oder ob er zu beeindruckt von dem Raum war, um zu einer direkten Antwort fähig zu sein, fügte sie hinzu: »Viele von uns kommen gern hierher, auch außerhalb der Zeremonien, einfach um die Atmosphäre und Schönheit dieses Raums zu genießen.« Garth riss sich aus seiner Versunkenheit. »Verzeih mir. Ich war mit den Gedanken woanders.« Er ließ sei nen Blick weiter schweifen, über die von Spinnweben überzo genen Galerien, über die gesprungenen und schmutzüberdeckten Fenster, die von Rauch und Staubwolken milchige Säule aus Sonnenlicht. Trotz des allgegenwärtigen Verfalls hatte der Raum etwas Liebliches, Warmes, Einladendes an sich; vielleicht war es gerade der Verfall selbst, der diesen Eindruck hervorrief, indem er allzu grelle Farben milderte, scharfe Kanten runder erscheinen ließ, Fehler und Makel unter einer gnädigen Staubschicht verbarg. Der Gedanke ging ihm durch den Kopf, dass solche Schönheit an einem solchen Ort irgendwie unpassend war. Erwartete man nicht an einer Kultstätte des Verfalls Fäulnis und Gestank? Rechnete man nicht damit, allenthalben auf Schimmel und Verwesung zu stoßen? »Es ist nicht das, was ich erwartet hatte«, sagte er wahr heitsgemäß, als er sah, dass die Priesterin noch immer auf irgend eine Äußerung wartete. »Oh?«
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»Nein. Ich ... hatte gedacht, es gäbe ein Standbild eurer Göttin.« »Vielleicht gab es ein solches früher einmal; der größte Teil dessen, was ursprünglich in diesem Tempel war, ist längst zu Staub zerfallen. Wie es für unseren Glauben unvermeidlich ist, wurde jeder Teil des Tempels mindestens einmal renoviert; da wir nur vergängliche Materialien verwenden dürfen und alles tun müssen, was wir können, ihren Verfall zu beschleunigen, zerfallen sie schließlich gänzlich und müssen ersetzt werden, wenn der Sinn und Zweck des Tempels erhalten bleiben soll. Bis auf das Glas und den Stein ist wohl kaum etwas in diesem Gebäude älter als vier oder fünf Jahrhunderte.« »Vier oder fünf ...« Garth schwindelte fast bei der Vorstellung. Seine Geburtsstadt Ordunin war weniger als dreihundertfünfzig Jahre alt, die älteste noch bestehende Übermenschenansiedlung. »Wie alt ist der Tempel?« »Oh, er ist erst zwei oder dreitausend Jahre alt, aber er ist natür lich nicht der ursprüngliche Tempel; es hat seit der Gründung Dûsarras immer einen P‘hul-Tempel gegeben.« »Wann war das?« »Das weiß niemand genau.« »Oh.« Garth war noch nie der Gedanke gekommen, dass die Stadt, oder überhaupt irgendeine Stadt, älter als zweitausend Jah re sein konnte. Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen. »Nun, jedenfalls, solange ich lebe, hat es hier kein Bild P‘huls gegeben.« »Oh.« Garth hatte gehofft, das Thema irgendwie unauffällig auf den leeren Altar bringen zu können, aber seine Hoffnung schien vergeblich – wenngleich diese Ausführungen durchaus informativ und interessant waren. Er beschloss, es auf einem direkteren Weg zu probieren.
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»Wie ich sehe, ist euer Altar leer, wohingegen in allen anderen Tempeln der Stadt dort kostbare Gegenstände oder zeremonielle Geräte aufbewahrt werden.« »Ich weiß nicht, wie die anderen es halten; wir jedenfalls bewah ren nichts auf dem Altar auf. Er dient lediglich als Tafelaufsatz für unsere Rituale. Manchmal steigen auch Bittsteller hinauf, um zu beten; es heißt, dass solche Gebete eher erhört werden.« »Ist denn überhaupt je etwas auf ihm aufbewahrt worden?« »Nicht dass ich wüsste, abgesehen vom Staub; der liegt natürlich überall. Warum fragst du?« Garth sah keinen Grund, warum er die Wahrheit verschweigen sollte. »Ich wurde gebeten – von einem sogenannten Philosophen — zu schauen, ob ich das, was auf eurem Altar stünde, bekommen könnte.« »Oh, ich verstehe.« Sie lächelte, und die Grimasse, zu der sie ihr entstelltes Gesicht bei dieser mimischen Äußerung zwang, wirkte durch das grüne Licht, das durch ein nahes Fenster auf sie fiel, noch abstoßender. »Dann musst du ja sehr überrascht gewesen sein, als du sahst, dass er leer ist.« »Das war ich in der Tat.« »Du darfst dich gern von dem Staub bedienen, wenn du möch test.« »Vielen Dank; ich weiß diese Geste zu schätzen.« »Es macht uns nichts aus; wir wischen ohnehin alle paar Monate den Staub vom Altar.« »Oh.« Garth zog den Beutel aus seinem Gürtel hervor und be trachtete ihn skeptisch; er war aus ziemlich grob gewebtem Stoff genäht. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass er den Staub gut halten würde. Aber was machte das schon? Es war schließlich und endlich nichts als gewöhnlicher Staub. Er wusste nichts von Magie und
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Zauberei, aber er wusste, dass Staub Staub war. Er kam sich ziem lich idiotisch dabei vor, als er ein Meines Häufchen Staub auf dem Altar zusammenfegte und es in den Beutel wischte. Dann knotete er den Beutel zu und schob ihn wieder unter seinen Gürtel. »Danke«, wiederholte er. »Ist das alles, weswegen du hergekommen bist?« »Ja.« »Dann habe ich also ganz umsonst zu dir gesprochen?« Garth gefiel der Ton nicht, der in der Stimme der Priesterin lag. »Ich fand deine Worte sehr interessant, Frau. Du musst nicht das Gefühl haben, dass du deine Zeit vergeudet hast.« »Habe ich das nicht?« »Nein. Dieser Besuch war mein bisher aufschlussreichster, wirklich.« »Er könnte vielleicht mehr als das sein.« Sie lächelte wieder. »Wie meinst du das?« »Du bist seit einiger Zeit in unserem Tempel; vielleicht liegt die Hand der Göttin schon auf dir.« »Wie soll ich das verstehen?« »Alle, die P‘hul dienen, tragen ihre Male; ihre Priester sind die Altersschwachen, die Kranken, die, die Lepra haben und Krebs und Tuberkulose und alle die vielen anderen zehrenden Leiden. Die Luft dieses Heiligtums ist geschwängert mit Krankheiten. Du hast lange mit einer Leprakranken gesprochen, vor der die meis ten Menschen mit Grauen fliehen, wenn sie sie nur ansieht. Es ist sehr gut möglich, dass du schon irgendeine Krankheit in dir trägst; wenn nicht meine, dann vielleicht eine von den anderen.« Garth erwiderte nichts; er fühlte einen kurzen Moment lang Panik in sich aufsteigen, unterdrückte sie aber sogleich, indem er
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sich ins Bewusstsein rief, dass, ganz gleich, was diese Kreatur auch glauben mochte, kein Übermann jemals an Lepra erkrankt war. Auch vor den meisten anderen Krankheiten brauchte er sich nicht zu fürchten; nur sehr wenige menschliche Krankheiten konnten auch Übermenschen befallen, und die, die es vermochten, waren entweder nicht ansteckend, oder es waren solche, die einen rasch dahinrafften, keineswegs aber solche von der langwierigen, zehrenden Art. Übermenschen hatten ihre eigenen Krankheiten und Gebrechen. »Soll ich dich nun hinausbegleiten? Du hast ja nun das, wofür du gekommen bist.« »Ich habe es nicht eilig. Ich möchte deine Göttin nicht be leidigen, indem ich hastig aus ihrem Tempel fliehe.« »Wahrhaftig? Vielleicht habe ich dir in meinen Gedanken doch unrecht getan.« Garth zuckte die Achseln. Hinter ihnen war ein Geräusch; beide drehten sich um und sa hen eine gebeugte, schlurfende Gestalt am Ende der Wendeltreppe an der Rückseite des Vorzimmers auftauchen. Es war ein Mann; er trug die graue Robe eines Priesters der P‘hul. Er war welk vom Alter und bewegte sich nur ganz langsam vorwärts, als litte er Schmerz. Sein weißes Haar hing ihm in ver filzten Strähnen ins Gesicht und verflocht sich übergangslos mit seinem struppigen Bart. Er schaute den Übermann und die Pries terin mit blinzelnden Augen an. »Sei gegrüßt, Tiris. Dieser Übermann hat unseren Tempel be sucht.« Die Priesterin sprach laut und langsam und artikulierte je des Wort so sorgfältig, wie sie es mit ihrer deformierten Lippe vermochte. Der Greis schlurfte näher; sie sagte leise zu Garth: »Er kann kaum noch hören. Tiris ist der älteste unserer Priester. Es
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heißt, er genieße die besondere Gunst der Göttin und könne Dinge sehen, die andere nicht sehen.« Garth war nicht sonderlich beeindruckt. Er hatte die Menschen gut genug kennengelernt, um zu wissen, dass sie bei weitem leichtgläubiger waren als sein eigenes Volk; oft genug reichten Alter und ein mysteriöses Gehabe aus, um den Ruf eines Zaube rers angedichtet zu bekommen. Er konnte nicht bestreiten, dass es echte Zauberer gab und dass überall in der Welt magische Kräfte wirkten; er hatte mehr als einmal unliebsame Erfahrungen mit wirklicher Magie machen müssen. Aber das bedeutete nicht, dass er gewillt war, sich vor jedem verrückten Greis, der ein paar Ta schenspielertricks beherrschte, ehrfurchtsvoll zu verneigen. Er sagte höflich: »Sei gegrüßt, Tiris.« Der alte Mann blieb stehen und musterte Garth eingehend mit schielenden blauen Augen. Und dann sagte er ganz plötzlich, mit einer Stimme, die nicht zitterte, einer Stimme, die weit kräftiger war, als es die eingeschrumpfte, unscheinbare Gestalt hätte vermuten lassen: »Sei gegrüßt, Bheleu.«
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Kapitel 17 Für einen Moment standen alle drei wie angewurzelt; Garth und die Priesterin vor Verblüffung, und der alte Mann, weil er sich of fenbar durch das Treppensteigen zu sehr verausgabt hatte. Dann sagte Garth: »Ich bin nicht Bheleu. Ich heiße Garth von Ordunin.« Tiris zuckte die Achseln und erwiderte: »Wie du meinst.« Garth war verärgert, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen. Es schien fast verständlich. Er erwog, ihn auf die Figuren hinzuweisen, die auf dem Marktplatz verkauft wurden; vielleicht wusste der senile alte Trottel nicht einmal, dass er ein Übermann war, sondern glaubte, dass die Figuren ein einmaliges, einzigartiges Wesen darstellten. Merkwürdig hätte ihm jedoch vorkommen müssen, dass der vermeintliche Bheleu – abgesehen davon, dass es höchst absurd war, dass ein Gott in einem Tempel herumspazieren sollte, der nicht der seine war – weder Schwert noch Helm trug. Aber nach kurzem Überlegen verwarf er den Gedanken wieder; er war zu dem Schluss gekommen, dass es wenig Sinn haben würde. Die Priesterin wich ängstlich von ihm weg. Er fand das amüsant; eine Aussätzige, das am meisten gemiedene Wesen auf der ganzen Welt, wich vor einem gewöhnlichen Übermann zurück, weil ein alter Mann ihn mit dem Namen eines Gottes angeredet hatte. »Ich versichere Euch, ich bin kein Gott.« »Wie du möchtest. Doch was auch immer du bist, du wirst von unserer Göttin geliebt; wenn du nicht ihr Brudergott bist, dann bist du seine Verkörperung. Das Zeitalter des Bheleu beginnt heu te Nacht, musst du wissen; du bist gerade zur rechten Zeit gekom men.« »Zur rechten Zeit? Zur rechten Zeit wofür?«
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»Um P‘huls Dienste entgegenzunehmen. Ihre Kraft schwindet, da ihre Ära sich dem Ende zuneigt, aber sie schuldet ihrem älteren Bruder Treue; bevor sie sich aus unserem sterblichen Reich zu rückzieht, wird sie ihre Pflicht erfüllen und dir dienen, um die Sa che des Herrn der Zerstörung zu unterstützen.« Die Priesterin wich jetzt offen vor dem Übermann zurück. Garth murmelte: »Das ist absurd. Ich stehe in keinerlei Beziehung zu ir gendeinem Gott.« Er fühlte sich unbehaglich an die Prophezei ungen erinnert, die der Seher von Weideth zitiert hatte; die Leute schienen überzeugt, in ihm einen Bringer von Leid und Zerstö rung zu sehen. »Vielleicht bist du dir deiner Rolle nicht bewusst. Wir alle dienen den Göttern, und du mehr als jeder andere.« Garth war nicht sicher, ob der angeblich schwerhörige alte Pries ter seine Bemerkung gehört hatte oder ob er lediglich seine Ge danken erraten hatte. Ganz gleich, es gefiel ihm nicht. Er wollte scharf erwidern, dass er niemandem diente, als ihm bewusst wurde, dass das ja nicht der Wahrheit entsprach, denn er diente ja in der Tat dem Vergessenen König. Der alte Mann mochte ja selt sam sein, aber er war kein Gott. War er das wirklich nicht? Wie sah ein Gott aus? Woran erkannte man ihn? Konnte der mysteriöse Greis vielleicht doch eine Art Gottheit sein? Es schien unwahrscheinlich. »Ich diene keinem Gott«, sagte Garth. Tiris zuckte die Achseln, sagte aber weiter nichts; statt dessen wandte er sich ab und schlurfte weg, an einer Seite des Altar raums entlang. Garth wandte sich seiner Führerin zu, die jetzt fast bis zur Wand zurückgewichen war und in ängstlich geduckter Haltung dastand.
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Es bestand kein Zweifel, dass zumindest sie voll an die geheimnis vollen seherischen Fähigkeiten des alten Priesters glaubte. Empört marschierte er an ihr vorbei, durchquerte das Vor zimmer und stieg die rostige Wendeltreppe hinab; er hatte bekom men, was er wollte. Er ging durch den Korridor, das Knarren des Fußbodens ignorierend. Die Tür am Ende des Ganges stand immer noch offen; er ging durch sie hindurch und dann durch die Tür, die er mit der Faust eingeschlagen hatte. Erst als er schon draußen auf der sonnenbeschienenen Treppe stand, fiel ihm wieder ein, dass er ja bis zum Eingang des Tempels verfolgt worden war, und dass es sehr gut möglich war, dass der oder die Verfolger draußen auf ihn warteten. Aber es war niemand zu sehen. Es war früher Nachmittag; die Straße war voll von Spa ziergängern, die die warme Sonne genossen, die längst alle Pfützen des nächtlichen Regens weggetrocknet hatte. Mehrere sa hen ihn, als er aus der Dunkelheit des P‘hul-Tempels ins helle Licht der Sonne trat, aber erhoben kein Geschrei, sondern zogen es schlicht vor, einen weiten Bogen um ihn zu machen. Als er an das entstellte Gesicht der leprakranken Priesterin dachte, verstand er ihr Verhalten und war dankbar dafür. Für eine Weile würde er unbehelligt bleiben, zumindest so lange, wie offenbar war, woher er gerade kam. Er hatte ein wenig Hunger, war aber überhaupt nicht müde. Jetzt hatte er nur noch zwei Tempel vor sich. Er schob den Ge danken an Essen beiseite und schloss sich dem Spa ziergängerstrom nach Norden an, wo sein nächstes Ziel lag. Er warf einen kurzen Blick nach Südosten, zum Aghad-Tempel, und empfand tiefe Genugtuung darüber, dass er im P‘hul-Tempel niemandem etwas zuleide getan hatte.
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Bald tauchte vor ihm der vierte Tempel der Straße auf, und vermutlich der letzte, falls nicht der siebte und letzte Tempel der Stadt doch noch irgendwo weiter unten an der Straße versteckt lag. Er sah sofort, dass es eine Ruine war. Es war ihm in der Nacht nicht aufgefallen, als das Schwarz des Himmels mit dem Schwarz des Tempels verschmolzen gewesen war; aber jetzt, bei Tageslicht, war es nicht zu übersehen. Die große Kuppel war nur noch ein Gerippe, ein metallenes Skelett, verbogen und halb eingesackt; nur noch ein paar zerbrochene Fragmente waren von der steiner nen Außenhaut übrig geblieben. Das breite niedrige Gebäude selbst war zum größten Teil von den umliegenden Häusern verdeckt, aber durch die Lücken konnte er die breiten Risse und klaffenden Löcher im Gemäuer erkennen. Dies war entweder der Tempel der Zerstörung oder der Tempel des Todes; in beiden Fällen war eine Ruine durchaus passend. Deshalb nahm er auch nicht an, dass das Gebäude verlassen war. Er vermutete, dass es der Tempel des Bheleu war; das würde be deuten, wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, dass der letzte Tempel, den er noch nicht entdeckt hatte, der Tempel des GottesDessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht war, was nur logisch war: Ein Gott, dessen Name sogar geheim war, würde seinen Tempel kaum offen an einer belebten Allee haben. Als er näher kam, sah er, dass der Tempel einen Vorhof hatte, ähnlich denen des Aghad- und des Sai-Tempels. Zwei offen stehende stählerne Torflügel, von denen nur noch die Rahmen üb rig waren – der Rest war regelrecht zerfetzt -, hingen verbogen in ihren Angeln. Garth fragte sich, welche Kraft sie wohl so zugerich tet haben mochte; warum sie so waren, war klar, war doch der Tempel das Symbol der Zerstörung, immer vorausgesetzt, es war wirklich der Tempel des Bheleu; aber er konnte sich nicht vor
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stellen, mit welchen Mitteln ein solches Zerstörungswerk voll bracht worden war. Der Hof war eine schuttbedeckte Steinfläche; zwischen den schiefen und zerborstenen Steinplatten wucherte ungehindert das Gras. Der Eingang zum Tempel wurde durch einen Holzhaufen versperrt, der vor einem zerschmetterten Türrahmen aufgeschich tet war. Von den Türflügeln selbst war keine Spur mehr zu sehen. Die rohen Bretter und Scheite sahen aus wie Brennholz; Garth fragte sich, was in aller Welt sie dort zu suchen haben mochten. Er hatte noch nie in seinem Leben gesehen, dass jemand Brennholz vor seiner Haustür lagerte. Er blieb vor dem Tor stehen, und plötzlich merkte er, dass er in den Brennpunkt der Neugier der Passanten zu rücken drohte. Mehrere von ihnen hatten bemerkt, wie er sich dem Tempel genä hert hatte und ihn neugierig studierte — und waren stehenge blieben, um ihn ihrerseits zu studieren, wenngleich keiner von ih nen wagte, sich ihm zu nähern. Er kam zu der Überzeugung, es sei besser, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Einstweilen würde er sich erst einmal et was zur Stärkung besorgen. Er wandte sich von dem zerstörten Tempel ab und ging wieder in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Er glaubte sich zu erinnern, dass er irgendwo in der Nähe des Palastes des Oberherrn Geschäfte gesehen hatte. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen; er fand eine Metzge rei, eine Bäckerei und einen Weinladen. Eine Scheibe gut abge hangenen Rindfleisches, gebraten im besten Teig des Bäckers und heruntergespült mit einer Flasche süßen Rotweins, stillte seinen Hunger fürs erste. So gestärkt, entschloss er sich, zum Gasthof zurückzukehren und dort den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten. Es musste -245-
ziemlich leicht sein, im Schutze der Dunkelheit in den Tempel des Bheleu zu gelangen, zumal er in einem nur tagsüber belebten Teil der Stadt stand. Natürlich musste er auch diesmal darauf gefasst sein, dass er wieder mitten in eine Zeremonie hineinplatzte; er würde also beim Herannähern größte Vorsicht walten lassen müssen. Er hoffte, kurz nach Sonnenuntergang dort einzutreffen, wenn die nächtlichen Festlichkeiten, falls sie überhaupt statt fanden, noch nicht begonnen hätten. Wäre es später am Tag gewesen, dann hätte er vielleicht vorge zogen, irgendwo in der Nähe des Tempels zu warten; aber es war erst früher Nachmittag, und ihm war nicht sehr wohl bei dem Ge danken, Frima den ganzen Tag über allein zu lassen. Außerdem war es an der Zeit, dass Koros etwas zu fressen bekam, und er wollte sich nicht unbedingt darauf verlassen, dass Dugger daran dachte, dem Tier Futter zu besorgen. Dementsprechend lenkte er, als er die Weinhandlung verließ, seine Schritte in Richtung Südwesten; er hatte kaum einen Block hinter sich gebracht, als er einen Tumult hinter sich hörte. Er wollte sich gerade umdrehen, um die Ursache des Lärms zu erkunden, als er eine Stimme schreien hörte: »Übermann! Halt! Bleib stehen!« Sofort rannte er los und tauchte in die nächstbeste Seitengasse; hinter sich hörte er die Schritte und Rufe der Verfolger. Auf freiem Feld war es kein großes Kunststück für einen Über mann, selbst dem schnellsten Menschen davonzulaufen, aber er war sich nicht sicher, ob ihm das in den winkligen Straßen und Gassen von Dûsarra so ohne weiteres gelingen würde; deshalb rannte er vorsichtshalber weiter, auch nachdem die Rufe seiner Verfolger lange hinter ihm verstummt waren. Überall, wo er vor beistürmte, blieben die Passanten erschrocken stehen und gafften ihm verblüfft nach. Übermänner an sich waren zwar kein unge
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wohnter Anblick für die vermummten Bürger der Stadt, aber ein Übermann, der wie von Furien gehetzt durch die Straßen stürmte, mit klirrendem Kettenhemd und wippender Streitaxt auf dem Rücken, war etwas, das man fürwahr nicht alle Tage sah. Schließlich fand er sich in einer leeren Seitenstraße wieder; von seinen Verfolgern war nichts mehr zu hören. Er blieb stehen, nach Atem ringend, und versuchte sich zu orientieren. Er war in dieser Straße noch nicht gewesen. Er hatte sich verlaufen. Seine Flucht, soviel wusste er, hatte ihn in ungefähr südwestli che Richtung verschlagen; da die Sonne inzwischen ihren Zenit überschritten hatte, brauchte er, um nach Westen zu gelangen, wie ursprünglich vorgesehen, folglich nur der Sonne entgegenzuge hen. Er machte sich also auf den Weg. Immer der Sonne folgend, bewegte er sich vorsichtig von Straße zu Straße, vorsichtig um jede Ecke spähend, bevor er Einmündungen und Kreuzungen überquerte. Er war offenbar in ein Stadtviertel geraten, das von Anhängern eines Nachtkults bewohnt wurde; er sah nirgends Leute auf den Straßen, und an einer Straßenecke sah er einen Schrein, auf dem eine Statue Temas aus schwarzem Onyx stand. Es überraschte ihn ein wenig, dass ein solch kostbares Kunstwerk so offen an einer Straßenecke stand; entweder war es auf irgendeine – auf den ersten Blick nicht erkennbare – Weise gegen Diebstahl gesichert, oder sogar die Anhänger der Tageskulte wagten es nicht, die beliebteste Göttin der Stadt zu erzürnen. Nach einer Weile wurden die Straßen enger, und ihre Kurven und Windungen zwangen ihn einige Male, von seinem beab sichtigten Kurs abzuweichen, bis er die nächste Straßenecke er reicht hatte; so machte er einmal, ohne es zu wollen, einen großen Umweg um einen besonders verwinkelten dreiseitigen -247-
Häuserblock und musste ein ganzes Stück weiter nach Süden ge hen, ehe er endlich wieder eine Straße fand, die nach Westen ver lief. Die anhaltende Stille und Verlassenheit der Straßen lullte ihn ein, und seine Vorsicht ließ mit jeder Straßenecke nach, hinter der wieder nichts als geschlossene Geschäfte, verriegelte Fensterläden und trocknender Straßenmatsch zum Vorschein kamen. So wäre er fast, ohne es zu merken, auf den Marktplatz gelaufen, der ur plötzlich vor ihm auftauchte. Im letzten Moment jedoch bemerkte er seinen Fehler; schlagartig wieder hellwach, machte er kehrt und schlug einen weiten Bogen um den Platz. Sein Umweg führte ihn durch Viertel, die nicht gänzlich im Schlummer lagen, und er sah sich verstohlen um Häuserecken spähen und geduckt von Gasse zu Gasse huschen. Schließlich bog er in die Straße ein, wo das Haus stand, in das er eingebrochen war; allem Anschein nach war es noch immer verlassen. Vorsichtig versuchte er, die Tür zu öffnen, und fand sie unverriegelt. Vermutlich war der Bewohner des Hauses noch nicht zurückgekehrt. Er ging durch das Haus in den Hof, wo das Regenwasser inzwi schen bis auf ein paar kleine Pfützen versickert und verdunstet war; von hier aus war es nur eine Kleinigkeit für ihn, sich auf die Mauer zu schwingen, die den Hof vom angrenzenden trennte, und von dort aus auf das Stalldach zu klimmen. Es war später Nachmittag; die Sonnenstrahlen fielen etwa im gleichen Winkel ein wie am Morgen, als er aufgebrochen war, nur dass die Sonne jetzt im Westen statt im Osten stand. Er ließ sich vorsichtig über den Rand des Daches gleiten und landete im Stall hof. Die Stallbox war so, wie er sie verlassen hatte, außer dass Koros jetzt wach war und ruhig dastand; Frima indes schlief noch -248-
immer. Garth steckte den Beutel mit dem Staub in den größeren Sack, in dem sich jetzt die zwei Altarsteine, die blutbefleckten Goldmünzen sowie der Dolch und die Peitsche aus den anderen Tempeln befanden, dann setzte er sich und überlegte, was er bis zum Einbruch der Dunkelheit tun sollte. Nichts drängte sich auf; er Schloss die Augen, um ein kleines Nickerchen zu machen, und war Sekunden später fest einge schlafen.
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Kapitel 18 Als er erwachte, schien ihm der Mond ins Gesicht; sein Licht tauchte den Stallhof in Silber, milderte den gelb-braunen Dreck zu einem milchigen Grau und ließ die verschiedenen Grauschattierungen des Holzes und des Steins zu einem einzigen blassen Ton verschwimmen. Mit einem wütenden Knurren sprang er auf; er hatte sich verschlafen. Es war offenbar mindestens zwei bis drei Stunden nach Sonnenuntergang. Etwas bewegte sich schattenhaft in der Dunkelheit der Stallbox. Er spähte in die Finsternis und sah, dass es Frima war. Aufge schreckt von seinem Knurren, war sie zusammengezuckt und vor ihm zurückgewichen. Ein Schreck durchfuhr ihn, als er bemerkte, wo sie war; sie stand neben Koros, ihre kleine Hand lag auf dem großen schwarzen Kopf des Tieres und kraulte zärtlich sein Fell. Offensichtlich hatten die beiden sich in der Zwischenzeit miteinander angefreundet. In der anderen Hand hielt sie die Drahtbürste, die Garth zum Striegeln seines Reittieres gekauft hatte, und die Augenlider des Tieres waren halb geschlossen, ein Zeichen woh liger Zufriedenheit; offenbar kamen die zwei prächtig miteinander aus. Garth tat es leid, dass er so jäh in dieses liebliche Idyll hinein geplatzt war. »Entschuldige«, sagte er, »aber ich habe verschlafen. Ich wollte eigentlich bei Sonnenuntergang aufwachen.« »Oh! Das konnte ich nicht wissen; ich hätte dich geweckt, wenn ich es gewusst hätte.« Frimas Stimme klang aufrichtig zerknirscht, obwohl sie keine Schuld an seinem Verschlafen trug, und Garth spürte erneut Ärger in sich aufkeimen. Dieses Mädchen verwirrte -250-
ihn immer wieder aufs neue mit seinen abrupten Gefühls schwankungen, in denen er keine Logik erkennen konnte. Er ver kniff sich jedoch weitere Bemerkungen und bereitete sich statt dessen auf seinen Besuch im Tempel des Bheleu vor; er brachte sein Kettenhemd (das, wie sich einmal mehr gezeigt hatte, als Schlafgewand denkbar ungeeignet war) wieder in den richtigen Sitz, massierte sich die schmerzenden Glieder und überprüfte sei nen Dolch und seine Axt. Er hätte einiges dafür gegeben, dass seine Stiefel unversehrt ge wesen wären; er stellte fest, dass der Matsch in seinem rechten Stiefel zu einer harten Kruste getrocknet war, die schmerzhaft an den Fußsohlen und Zehen scheuerte. Er zog den Stiefel aus und reinigte ihn so gut es ging mit einem der Säcke. Das erinnerte ihn daran, dass er einen Sack in seinen Gürtel stecken musste, was er sofort tat, nachdem er sich den Stiefel wieder angezogen hatte. Das Schlafen mit Stiefeln an den Füßen hatte letztere nicht ge rade appetitlicher gemacht, wie er nicht zuletzt dem Geruch ent nehmen konnte, der ihnen entströmte; er beschloss, sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ein langes, wohlduftendes Bad zu gönnen. Frima schaute ihm schweigend zu, wobei sie geistesabwesend den Hals des Kriegstiers kraulte. Schließlich fragte sie: »Wohin willst du gehen?« »Zum Tempel des Bheleu.« »Um den Altar zu plündern?« »Ja.« »Ist das dann der letzte?« »Nein; ich muss auch noch den Altar im Tempel des Todes plündern.«
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»Aber das kannst du nicht! Noch nie ist jemand dort lebend wieder herausgekommen!« »Außer dem alten Priester, und was der kann, das kann ich auch.« Sie schien davon nicht sehr überzeugt. »Was soll ich tun, wenn du stirbst?« »Das steht dir frei.« »Aber das Tier wird mich nicht gehen lassen!« »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen; wenn ich nicht binnen eines Tages zurückkomme, wird Koros auf Jagd ge hen. Er braucht bald wieder etwas zu fressen, und wenn sein Hunger zu groß wird, wird er sich etwas zu fressen jagen. Ich würde dir nahelegen, dass du dir eine Waffe suchst; unter meinen Sachen findest du einen Dolch, und außerdem ist da ja noch der Dolch aus dem Sai-Tempel. Vielleicht gelingt es dir, ihn damit zu überzeugen, dass er es vorzieht, sich andere Nahrung zu beschaf fen, die leichter zu bekommen ist als du, zumal er weiß, dass ich nicht möchte, dass dir ein Leid geschieht.« »Er frisst Menschen?« Sie zog ihre Hand hastig vom Nacken des Tieres zurück. »Es; er ist ein Neutrum, kein Männchen. Ja, es isst Menschen. Einmal hat es sogar einen Zauberer verspeist.« »Oh!« ächzte sie mit tonloser Stimme. »Aber ich würde mir nicht allzu viel Sorgen machen; es scheint dich zu mögen.« Sie gab ein leises Seufzen von sich, als Garth mit einem letzten prüfenden Blick an sich hinunterschaute. Zufrieden mit seinen Vorbereitungen, befahl er Frima und Koros: »Wartet hier!« Und er marschierte zur Tür hinaus. Dugger hatte Dienst, wie er es erwartet hatte. Es bestand daher kein Grund, den Umweg über das Dach und durch das Nachbar haus zu nehmen; außerdem war er über seine Wut, die ihn am -252-
Vormittag so unvorsichtig hatte agieren lassen, ziemlich hinweg. Sie schlicht zu erkennen, hatte ihm dabei beträchtlich geholfen; zudem war er jetzt ausgeruhter — wenn er sich auch noch immer ein wenig darüber ärgerte, dass er verschlafen hatte. Er schlenderte zum Torbogen und fragte den dösenden Stallbur schen: »Hast du dafür gesorgt, dass mein Reittier etwas zu fressen bekommt?« Der Junge schrak hoch und rief: »Oh! Ihr seid es!« »Ja.« »Ihr seid der Tempelräuber!« »So? Bin ich das?« »Seid Ihr es denn nicht? Ich ... ich ... sie haben gesagt, es sei ein Übermann, und Ihr seid der einzige Übermann, den ich seit Wo chen hier gesehen habe.« »Du siehst aber doch nicht jeden Fremden, der nach Dûsarra kommt, oder?« »Nein.« »Also kannst du auch nicht ganz sicher sein, dass ich derjenige bin, der den Tempel ausgeraubt hat, nicht wahr?« Der Junge zögerte einen Moment, dann sagte er kleinlaut: »Das stimmt.« »Und solange du zweifelst, solltest du mir recht geben. Doch nun zu etwas anderem: Ich beauftragte dich gestern Nacht, meinem Tier Futter zu besorgen; hast du dich darum gekümmert?« »Ich habe es vergessen.« »Nun, es sei dir noch einmal verziehen.« Ihm war eingefallen, dass jeder, der seinem Tier das Futter brachte, auch Frima sehen und ob ihrer Anwesenheit natürlich stutzig werden würde. Ein
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Übermann hatte normalerweise mit einer Menschenfrau nichts zu schaffen, und schon gar nicht hatte er sie in einem Stall gefangenzuhalten. Dugger hatte sie zwar hereinkommen sehen, aber er, Garth, musste ihn nicht unbedingt daran erinnern, indem er ihn in den Stall schickte; wahrscheinlich dachte der Junge – wenn er überhaupt noch an Frima dachte -, dass sie längst wieder ge gangen war. »Ist draußen die Luft rein? Andere könnten mich wo möglich auch mit dem Tempeldieb verwechseln, und ich möchte nicht unnötig aufgehalten werden.« »Oh.« Der Junge beugte sich hinaus und spähte in beide Rich tungen. »Ich sehe niemanden.« »Gut.« Garth trat an dem Jungen vorbei, vergewisserte sich selbst und machte sich auf den Weg zur Straße der Tempel. Er kam unbehelligt voran; allmählich kannte er sich in der Stadt aus und wusste, welche Straßen nachts belebt waren, welche tags über und in welchen rund um die Uhr Passanten anzutreffen waren. Wie schon in der Nacht zuvor war die Straße der Tempel toten still, nicht ein einziger Passant bewegte sich über das mondbe schienene Pflaster. Garth ging raschen Schritts zu dem verfallenen Tempel. Doch kurz davor blieb er jäh stehen: Leises Gemurmel drang durch die Stille der Nacht; es kam von der zerstörten Kuppel. Verärgert blies er die Luft durch die Zähne. Schon wieder eine Zeremonie! Offenbar war er dazu verdammt, jedesmal gerade dann anzukommen, wenn irgendein albernes Ritual ablief. Jedenfalls blieb ihm diesmal die Möglichkeit, auf Beobachtungs posten zu gehen und in Ruhe sein weiteres Vorgehen zu planen; entweder zu warten, bis die Zeremonie zu Ende war, oder mitten in sie hineinzuplatzen, oder einfach wieder umzukehren und es
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später noch einmal zu versuchen. Auf leisen Sohlen schlich er durch das zerborstene Tor in den Hof. Das Brennholz, das vor der Eingangstür gelegen hatte, war ver schwunden; die türlose Öffnung gähnte ihm entgegen wie ein zahnloses Maul; orangefarbenes Licht fiel von innen heraus. Er nä herte sich vorsichtig von der Seite und spähte hinein. Das Innere der Ruine präsentierte sich als ein riesiger leerer Raum; wenn es dort je Innenwände gegeben hatte, dann waren sie jetzt nur noch ein Teil des Staubes, der allenthalben den Fußboden bedeckte. Die schwarzen Steinwände und der zerfetzte Metall rahmen der zerstörten Kuppel wurden beleuchtet von den Flammen eines großen Feuers, das in der Mitte des Tempels lo derte, und um das Feuer herum tanzten etwa zwanzig Gestalten in roten Roben. Sie sprangen und hüpften, seltsame Verrenkungen vollführend, im Kreis umher und füllten den Tempel mit schau rigen Gesängen: ihre langen schwarzen Schatten huschten un heimlich über die vom flackernden Feuerschein rot beleuchteten Wände. Die Szenerie hatte etwas seltsam Faszinierendes an sich. Garth starrte gebannt. Von einem Altar war nichts zu sehen, es sei denn, das Feuer selbst diente als ein solcher; jedenfalls bildete es den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Tänzer. Garth kniff die Augen zusammen und sah sich die lodernden Flammen etwas ge nauer an. Ihre Nahrung fanden sie zweifellos in dem Holz, das vorher den Eingang versperrt hatte. Klötze und Scheite aller Grö ßen waren auf einen großen Haufen geworfen worden; aus der Mitte ragte, kaum sichtbar hinter den Flammen, ein einzelnes dünnes, fast senkrecht stehendes Scheit heraus. Garth blinzelte erneut, um besser sehen zu können. Der Gesang schien jetzt anzuschwellen. Irgend etwas an dem einzelnen her ausragenden Stab störte ihn. Es war kein Holz; es glänzte, sein Rot
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leuchtete eine Spur zu hell. An seinem oberen Ende glaubte er ein kurzes Querstück zu erkennen. Ein dumpfes Rumpeln drang an sein Ohr, für einen kurzen Moment den Gesang übertönend, der seinen Kopf auszufüllen schien; vermutlich fernes Donnergrollen, sagte er sich. Er blickte hoch und sah, dass die Sterne hinter einer Wolkendecke ver schwunden waren. Das Unwetter musste außerordentlich schnell heraufgezogen sein, dachte er, oder aber er hatte dem Tanz länger zugeschaut, als ihm bewusst gewesen war. Der Mond, der bei sei nem Eintreffen noch klar und deutlich zu sehen gewesen war, war hinter den Wölken verschwunden. Er wandte seinen Blick wieder auf die Zeremonie, wenn man das, was dort vorging, denn als eine solche bezeichnen konnte; sie hatte nicht den Pomp und die Würde anderer Rituale, die er gesehen hatte, aber ihr wohnten ganz unbestreitbar eine eigene Kraft und Faszination inne. Der Gesang erfüllte ihn erneut, und sein Blick wurde wie magisch von den Flammen angezogen. Während er gebannt dem Schauspiel zuschaute, drang erneut ein dumpfes Grollen an sein Ohr; wie als Antwort darauf sackte der mittlere Teil des Feuers nach innen in sich zusammen, so dass dort, wo eben noch ein mächtiger Feuer kegel gelodert hatte, nun ein Ring aus Flammen waberte, in dessen Zentrum nun deutlich der seltsame, aufrecht stehende Stab zu erkennen war. Es war ein Schwert, ein riesiges Zweihandschwert, das in der Mitte des glühenden Scheiterhaufens stak. Ein großer roter Edel stein funkelte in seinem Knauf. Es war breit und kerzengerade und ragte um gut eine Elle aus dem glühenden Haufen heraus. Das Heft war schwarz und lang genug, um selbst den mächtigen Pranken eines Übermannes genügend Platz zum Greifen zu bieten. Garth schätzte seine volle Länge auf mindestens sechs Fuß, den Proportionen des Hefts und des Querstücks nach zu urteilen.
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Eine wahrlich herrliche Waffe; dagegen machte sich das Schwert, das er zerstört hatte, wie ein Taschenmesser aus. Er trat in den Türeingang, um es besser in Augenschein nehmen zu können. Die Anhänger Bheleus nahmen ihn überhaupt nicht wahr; immer wilder wurde ihr Tanz, und der Gesang schwoll an und steigerte sich schließlich zu einem furiosen Wechselgesang, der in hypnotischem Rhythmus sich selbst zu jagen schien. Altar hin, Altar her – Garth wusste, dass der Grund seines Kom mens dieses Schwert war; dieses Schwert und nichts anderes wollte er. Mit einer solchen Waffe würde er unbesiegbar sein. Er hatte für nichts anderes mehr Augen als für dieses wunderbare Schwert. Wie hypnotisiert starrte er es an. Der Stahl glänzte im flackenden Schein des Feuers, und der Ge sang vereinte sich mit dem erneut herangrollenden Donner zu einer tosenden Klangwoge, die mit ohrenbetäubender Gewalt über ihn hinwegbrandete. Er nahm nur noch das Feuer und das glühende Schwert wahr; die Tänzer, die über sein Gesichtsfeld huschten, waren plötzlich unwichtig geworden, waren nur noch bedeutungslose Randfiguren. Er würde sich dieses Schwert holen; er würde warten, bis der Tanz zu Ende und das Feuer erloschen war, und dann würde er hingehen und es aus dem schwelenden Scheiterhaufen reißen. Aber warum erst noch lange warten? Nein! Er würde es sich jetzt holen, jetzt sofort! Er würde in den Tempel hineinstürmen, während die Tänzer noch in ihrem ekstatischen Gesang um das Feuer herumsprangen, und es — rotglühend, wie es war — an sich reißen! Und dann würde er fliehen — so dachte er im ersten Moment, doch dieser Gedanke wurde sofort von anderen beiseite gedrückt; er würde nicht fliehen! Fliehen? Ein Übermann sollte vor Menschen fliehen? Nein, er würde nicht fliehen; er würde
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diese prachtvolle Klinge unter ihnen wüten lassen, bis sie so rot war von Blut, wie sie es jetzt war von Glut! Irgendein Teil von ihm sagte ihm, dass das verrückt war, dieses unbezwingbare, dämonische Verlangen nach dem Besitz des Schwertes; dieser Teil seines Bewusstseins kämpfte vergeblich darum, wieder die Überhand über sein Denken und Fühlen zu er ringen. Dieser letzte Rest kühlen Denkens revoltierte gegen die Vorstellung, mutwillig und ohne Not Blut zu vergießen. Es wurde brutal unterdrückt von der unheimlichen, über irdischen Macht, die jetzt von ihm Besitz ergriffen hatte und ihn vollständig beherrschte; sein rationales Denken ging unter in einer Woge von rasender Mordlust, die anders war als alles, was er je zuvor gefühlt hatte. Er kannte die wilde, unbezähmbare Leiden schaft, die einen Übermann verzehrte, wenn er eine Überfrau roch, die in Hitze war; er kannte auch den blindwütigen Blutrausch des Kriegers im wilden Schlachtgetümmel, der einen Sterblichen in einen Berserker verwandelte; doch diese neue, unbekannte Lust war so gewaltig, dass jene anderen Wallungen sich dagegen wie bloße Schatten ausnahmen, wie lächerliche, unbedeutende Ge fühlsanwandlungen. Diese neue Lust vereinte alle anderen Lüste in sich und war doch hundertmal stärker als sie alle zusammenge nommen. Er vermochte sie nicht länger zu bezähmen. Einen Moment später sahen die taumelnden, halb hypnotisierten Tänzer zu ihrer großen Freude die große dunkle Gestalt eines ge panzerten Übermannes mit rot lodernden Augen brüllend in ihre Mitte springen; sie wussten sofort, mit der absoluten, unumstößli chen Gewissheit des Fanatikers, dass dies ihr Gott war. Sie schrien und kreischten vor Ekstase, der Gesang überschlug sich zu ra sendem, chaotischem Freudengebrüll; die Erde unter ihren Füßen erbebte, und Blitze durchzuckten den Himmel.
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Mit kühnem, zielstrebigem Schritt, als wären die Hitze und die lodernden Flammen überhaupt nicht vorhanden, marschierte die Erscheinung geradewegs bis zum Rande des heiligen Schei terhaufens und entriss ihm das geweihte Schwert. Ihre Hände qualmten, als sie sich um das glühende Heft schlossen, und der Gestank versengten Fleisches füllte den Tempel. Der Übermann schien dies gar nicht wahrzunehmen, sondern er hob die Klinge hoch über den Kopf und wirbelte sie im Kreis herum, so dass sie im Feuerschein glänzte und funkelte. »Ich bin Bheleu!« schrie das Ungeheuer in Garths Körper; er stieß die Klinge empor zum Himmel, und als Antwort erscholl ein ohrenbetäubender Donnerschlag, begleitet von einem gleißenden Blitz. Der Blitz schlug krachend in die zerschmetterte Kuppel und pflanzte sich in Gestalt zischender kleiner Feuerzungen strahlen förmig über das metallene Gerippe der Kuppel fort; ein Schauer von Funken regnete auf die Tanzenden herab, die in wilder Eksta se sprangen und tobten und ihre Glückseligkeit herausbrüllten. Dem ersten Blitz folgte sofort ein zweiter; er sprang von den Wolken direkt in die Spitze der Kuppel und von dort in die Spitze des Schwertes; er floss durch Garths Leib und ließ das Feuer zu den Füßen des Übermannes mit einem Knall auseinanderstieben, so dass die brennenden Holzscheite wie Geschosse durch den Tempel sausten. Der Donner hatte sich jetzt zu einem dröhnenden Paukenwirbel unmittelbar aufeinander folgender Schläge gesteigert; der Himmel über Dûsarra war ein einziges gleißendes Spinnengewebe pausen los zuckender Blitze. Garths Hände, die das Heft des Schwertes immer noch fest umklammert hielten, sausten herab, und seine Augen loderten hellrot auf, als die Klinge den Schädel des Hohe priesters von Bheleu spaltete.
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Die Anhänger schrien in wilder Raserei und riefen den Namen ihres Gottes. Die Klinge hob sich, triefend von Blut und golden im Schein des Feuers glänzend; Blitze zuckten, silberner Stahl blitzte für einen Moment auf, und dann sauste das Schwert wieder herab und fuhr durch den Hals eines weiteren Mannes; Blut spritzte im hohen Bo gen auf und fiel in die Reste des Feuers, .wo es zischend und stin kend verdampfte. »Ich bin Zerstörung!« Die Anhänger Bheleus schrien heiser ihren Jubel hinaus und stürmten ihm entgegen, ihren Tanz vergessend. Die Klinge hob sich und sauste herunter; Blut spritzte über Feuer, Boden und Leiber. Nicht eine Spur von Widerstand erhob sich; in fanatischem Eifer warfen sich die Gläubigen in die blutige Bahn des singenden Stahls, während die Erde bebte und der Himmel raste, und das Monstrum, das die todbringende Klinge schwang, lachte nur. Eine halbe Stunde wütete der Gott unter seinen Anhängern, alles niedermetzelnd, was sich ihm näherte; eine wahnwitzige halbe Stunde lang brachte er die totale Vernichtung, die ihr Glau be als heilig erklärte. Die Priester des Bheleu waren Kämpfer und Krieger gewesen, wie es ihr Glaube verlangte. Und keiner von ih nen wich vor dem Blutbad zurück, keiner von ihnen schrak vor dem grausigen Anblick zurück, den die verstümmelten, aufge schlitzten Leichen seiner Kameraden boten; mehr noch: Sie kämpf ten untereinander um das Privileg, als erster dahingeschlachtet zu werden; ihr religiöser Eifer vermengte sich mit der Kampfeslust des alten Kriegers, den Todeswunsch derer manifestierend, die tö ten. Und während des ganzen Gemetzels rollte und trommelte un ablässig der Donner sein arhythmisches Stakkato, zuckte Blitz um Blitz in die offene Kuppel. Immer wieder schlugen Blitze in den -260-
blanken Stahl, und jedesmal erzitterte der Tempel in seinen Grundfesten. Mit der Behändigkeit der Krieger, die sie einst waren, hielten sich die Priester auf den Füßen und drängten vor wärts zum Gemetzel. Schließlich, als sich die bluttriefende Klinge zum letzten Streich hob, ertönte ein fürchterlicher Donnerschlag, gewaltiger als alle zuvor; der letzte Priester sank vor seinem Gott auf die Knie, taub vom Donnerhall und geblendet vom Glanze des Schwerts, das in wütendem Wirbel, rot und golden gegen den Himmel gleißend, über dem Kopf des rasenden Übermann-Monstrums kreiste. Es sauste herab, einem Falken gleich, der aus luftiger Höhe auf sein Opfer herabstößt, und spaltete den Mann vom Haupt bis zu den Schultern; kein Metall war mehr zu sehen: Die Klinge war bis zur Spitze überzogen mit einem blutigen Brei aus Haaren, Haut, Fleisch und Knochensplittern. Der Donnerschlag des letzten Blitzes hallte von den zerborstenen Wänden des Tempels wider, die plötzliche Stille überdeckend, die mit dem Tode des letzten schreienden Priesters eingetreten war; die zerstörte Kuppel sackte in sich zusammen, bog sich durch und zerbrach. Zischende Funken fielen zwischen die erlöschenden Überreste des Scheiterhaufens, und gesch molzenes Metall tropfte herab. Das stählerne Gerippe der Kuppel löste sich langsam in seine Einzelteile auf. Dann brach endlich der Sturm los und peitschte dicke Regentropfen über die in ihrem Blut liegenden Leichen und das zum Himmel gewandte Gesicht ihres Schlächters. Lange Minuten lang stand der Übermann reglos da; Regen füllte seine Augenhöhlen und rann ihm in kühlen Bächen über das Gesicht. Das Schwert hielt er noch immer mit den Händen um klammert, das Heft glitschig von Blut, die Klinge stak immer noch im Leib seines letzten Opfers. Der Wahn, der von ihm Besitz er
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griffen hatte, begann zu schwinden, schrumpfte irgendwo in ihm in sich selbst zusammen; er blinzelte sich das Regenwasser aus den Augen und senkte den Blick. Er schaute auf die zusammengesunkene Gestalt, die auf seinem Schwert stak, auf die zwanzig abgeschlachteten Männer, auf die verstreuten Überreste des Feuers, die zischend im Regen erlo schen. Seine Hände glitten kraftlos vom Heft der Waffe, und Schwert und Kadaver fielen vornüber vor seine Füße. Er wich ent setzt zurück und sank auf die Knie; und dann, zum ersten Mal seit hundertvierzig Jahren, weinte Garth von Ordunin, während das zerborstene Metall der Kuppel rings um ihn herum auf den Tem pelboden krachte.
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Kapitel 19 Er kam zu sich, als der erste Schimmer des Morgengrauens durch die Wolken brach; er lag, alle viere von sich gestreckt, auf dem schmutzigen Boden des Tempels, umgeben von verbogenen, halb geschmolzenen Metalltrümmern und zerlumpten, rotge kleideten Leichen. Asche und verkohle Holzreste lagen zu seinen Füßen verstreut. Vor ihm ragte das lange Heft des großen Breitschwerts aus der Kehle seines letzten Opfers; der Edelstein in seinem Knauf leuch tete rot wie Blut, aber die Klinge war vom Regen abgewaschen worden. In dem halbdunklen Licht wirkte das Metall mattgrau. Er erhob sich mühsam auf die Füße, und die Ereignisse der vergangenen Nacht sickerten in sein Bewusstsein; angeekelt ver zog er das Gesicht zu einer Grimasse. Hier war sie, die Vernich tung, die die Seher von Weideth prophezeit hatten. Was war nur über ihn gekommen? Er war nicht willens, sich einzugestehen, dass in der Tat eine hö here Macht von ihm Besitz ergriffen hatte, dass er, Garth von Or dunin, nichts weiter als eine Marionette, ein willenloses Werkzeug dieser Macht gewesen sein sollte; andererseits konnte er den Ge danken, dass in ihm selbst eine solch berserkerhafte Mordgier schlummern sollte, die noch dazu so leicht zu erwecken war, ebenso schwer akzeptieren. gewiss, seine Wut und sein Hass auf die Aghaditen schwelten noch immer in ihm, desgleichen sein Zorn auf den Baron von Skelleth. Hatte das Gewäsch des senilen alten P‘hul-Priesters die unterdrückte dunkle Seite seines Wesens dazu angestiftet, sich auf diese Weise Bahn zu brechen? Oder hatte vielleicht der Tanz des Bheleu hypnotische Kräfte, die sich dergestalt auf den Beobachter auswirkten, dass er seinen unter
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drückten zerstörerischen Gelüsten freien Lauf ließ? Oder hatten möglicherweise irgendwelche geheimnisvollen Dämpfe ihn in eine Art Trance versetzt? Er hatte gehört, dass Vulkane bisweilen solche Gase freisetzten, und Dûsarra war auf den Hängen eines großen Vulkans gebaut. Aber es war im Grunde auch gleich; was geschehen war, war ge schehen, und er konnte nichts mehr daran ändern. Er erinnerte sich an das tosende Unwetter, von dem nichts übrig geblieben war außer Pfützen und ein paar letzte Wolkenfetzen; die Kuppel war eingestürzt. Er erinnerte sich an den flammenden Blitz – hatte er tatsächlich ihn getroffen? Das konnte nicht sein. Er betrachtete seine Hände; die Innenseiten waren schwarz verkohlt. Er schauderte zusammen. Hatte er tatsächlich das Schwert glü hend aus dem Feuer gezogen? Nein. Er wies den Gedanken strikt von sich. Die ganze Sache konnte unmöglich so abgelaufen sein, wie er sie in Erinnerung hatte; er musste unter irgendeinem magischen Einfluss gestanden haben – ob Hypnose, giftige, bewusstseinsverändernde Dämpfe oder tatsächliche Besessenheit durch eine höhere Macht, vermoch te er nicht zu entscheiden. Er hatte den gesamten Bheleu-Kult aus gelöscht, soviel stand fest; es hatte ein Unwetter gegeben, und ein Blitz hatte die Überreste des Kuppeldachs zerstört, auch das war Fakt; aber alles andere weigerte er sich zu akzeptieren. Er hatte keine Erklärung für seine verbrannten Handflächen oder wie es dazu gekommen war, dass das Feuer auseinandergestoben war; was seine Erinnerung ihm hierzu vorgaukelte, wies er strikt von sich. Seine Hände waren, wie er jetzt feststellte, vollkommen taub; es war gut möglich, dass auch die Nerven zerstört waren. Zumindest waren sie vorübergehend überbeansprucht worden. Wenn sie noch heil waren, konnte jeden Moment das Gefühl in seine Hände
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zurückkehren, und er war ganz sicher, dass das mit fürchterlichen Schmerzen verbunden sein würde, wie er sie noch nie zuvor gelitten hatte — bis auf einmal vielleicht, als ihn ein Zauberer tot gehext hatte und er langsam aus der Todesstarre erwacht war. Der Gedanke machte ihn noch jetzt schaudern. Das war ein Erlebnis, an das er nur mit Grausen zurückdenken konnte. Er hatte immer noch einen Tempel zu plündern und seine Flucht glücklich zu bewerkstelligen; er war eine vielgesuchte Person in Dûsarra. Er konnte es sich nicht leisten, Zeit zu vergeuden. Wenn er erst warten wollte, bis seine Hände geheilt waren, dann konnte das bedeuten, dass er sich noch auf Wochen hinaus in der Stadt versteckt halten musste. Wenn er hingegen rasch zu Werke ging, konnte er seine Mission vielleicht vollenden, bevor der Schmerz einsetzte und bevor eine Infektion eintrat — falls das der Fall sein sollte. Es konnte durchaus sein, dass seine Hände für immer taub blieben. Er hatte keine Lust, sich diesen erschreckenden Gedanken weiter auszumalen; statt dessen zog er das Schwert Bheleus aus der Lei che seines letzten Opfers und wischte das restliche Blut mit der Robe des Toten von der Klinge. Er hatte den Tempel des GottesDessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht noch nicht gesehen, aber ir gendwie glaubte er zu wissen, wo er sich befinden musste. Die To ten sind wieder zu Erde geworden, pflegten die Menschenwesen zu sagen; der Tod ist ein Bestandteil der Welt. Es lag daher nahe, dass der Gott des Todes seinen Tempel in der Erde selbst hatte. Garth marschierte aus dem zerstörten Tempel, durchquerte den schuttbedeckten Hof und trat durch das zerfetzte Tor auf die Stra ße hinaus. Es war noch früh, noch war keiner der Tages kultanhänger unterwegs, und so zog sich die Straße frei und men schenleer dahin vom Palast des Oberherrn bis zum nackten Stein des Vulkans.
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Garth schlug den Weg nach rechts ein, zum Vulkan hin. Als er näher kam, gewahrte er das, was er zu finden erwartet hatte; am Ende der Allee, zwischen den schwarzen Schatten und dem schwarzen Stein, war ein noch tieferer Schatten zu erkennen; es war eine Öffnung im Berghang, und dahinter, wusste er, ver barg sich der Tempel des Letzten Gottes. Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, wieso er plötzlich mit solch unumstößlicher Gewissheit Dinge wissen konnte, die er vor dem Blutbad im Tempel des Bheleu nicht ein mal erahnt hätte. Das große Breitschwert lag nackt in seinen gefühllosen Händen; es gab keine andere Möglichkeit, es zu tragen. Selbst wenn er noch die Scheide seines alten Schwertes getragen hätte, niemals hätte die fünf Fuß lange Klinge dieser gewaltigen Waffe hineingepasst. Am Rande der Höhle blieb er stehen; es schien fast unglaublich, dass eine solche Höhle innerhalb der Stadtmauern existierte, aber sie tat es tatsächlich. Er spähte in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Er erinnerte sich an das, was Frima gesagt hatte, verwarf es aber sogleich wieder: nichts als bloße Mythen, ausge dacht, um einfältige Menschenwesen zu beeindrucken. Eine Stimme hinter ihm sprach: »Du hast dein Wort gebrochen, Garth.« Er wirbelte herum, konnte jedoch niemanden sehen; der Sprecher musste sich irgendwo verbergen. Garth bemühte sich erst gar nicht, herauszufinden, wo er steckte: Es war derselbe, der ihn schon im Tempel des Aghad verhöhnt hatte. »Ich habe niemandem mein Wort gegeben.« »Du hast durch dein Schweigen unserem Handel zugestimmt, Dieb; gleichwohl hast du im P‘hul-Tempel niemanden getötet.« Garth konnte nur staunen über die Perversität dieser Kreatur; da warf sie ihm doch tatsächlich vor, nicht genügend Menschen getö
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tet zu haben, und das nach dem gigantischen Blutbad, das er in der Nacht im Tempel des Bheleu angerichtet hatte! »Machen denn die vielen Toten im Tempel des Bheleu das nicht mehr als wett?« »Nein. Du solltest auch einen P‘hul-Priester töten.« »Wen? Das leprakranke Mädchen vielleicht? Oder den hinfäl ligen, senilen Greis? Ich habe dergleichen niemals versprochen, feiger Lügner; wenn ich die Bedingungen, die du mir gestellt hast, nicht wortgetreu erfüllt habe, was macht das schon? Hör auf, mich zu belästigen.« »Du solltest einen Priester der P‘hul töten. Und nun schickst du dich an, den Tempel des Letzten Gottes zu betreten, obwohl der Priester des Kultes nicht dort ist. Du verstößt gegen unsere Abma chung. Sei gewiss, auch wenn du lebend aus dieser Höhle zurück kommen solltest, wirst du dennoch dem Tode nicht entrinnen.« »Zweifelsohne werde ich das nicht; auch ich werde eines Tages sterben, aber du kannst gewiss sein, dass dies nicht durch eure Hand geschehen wird! Wenn ich aus dieser Höhle zurückkomme, werde ich die Stadt verlassen, und ich rate euch, versucht nicht, mich daran zu hindern!« »Sag, was du willst, aber wisse, dass wir Informationen ebenso gut verbreiten wie unterdrücken können und dass du es allein uns zu verdanken hast, dass die wütenden Massen, die sich vor dem Tempel Temas zusammengerottet haben, noch nicht den Stall am Gasthof der Sieben Sterne gestürmt haben. Ihr Agent, der dir nachspioniert hat, und der Besitzer des Hauses, in das du so rück sichtslos eingebrochen bist, wurden von den Anhängern Aghads daran gehindert, ihr Wissen zu verbreiten, doch ab sofort ziehen wir unsere schützende Hand von dir zurück; der Knabe Dugger wird für sein Schweigen bestraft, und die braven Leute von Dûsarra werden nicht länger in Schach gehalten.« Für einen kurz en Moment ließen diese Worte echte Sorge in ihm aufkeimen; -267-
doch dann schob er sie mit einem Achselzucken beiseite. Er vertraute auf die Unbesiegbarkeit seines Kriegstiers. Trotzdem; es gab keine Zeit zu verlieren. Die weiteren Dro hungen des Aghaditen ignorierend, tauchte er in die Dunkelheit der Höhle ein; er empfand eine kleine Genugtuung bei dem Ge danken, dass der andere zuviel Angst haben würde, ihm zu folgen. Es gab weder Tor noch Tür noch Wache; der Ruf des Letzten Gottes reichte aus, ungebetene Besucher fernzuhalten. Das Graue Licht des frühen Morgens verblasste hinter ihm, als er den glatten, leicht abschüssigen Höhlenboden hinuntermar schierte, aber irgendwo weiter vorn gewahrte er einen schwachen rötlichen Lichtschein; er würde also nicht mit totaler Dunkelheit zu kämpfen haben. Die Höhle verbreiterte sich allmählich, und der rote Licht schimmer wurde stärker, bis er sich schließlich in einer großen Kammer befand, einer künstlich geschaffenen Vergrößerung der ursprünglichen Höhle. Der Fußboden war glatt und eben, die Wände waren gerade, aber der mittlere Teil der Decke war rau und zerklüftet und ließ erkennen, wo die ursprüngliche Höhle ge wesen war; die Seiten waren niedriger und zu einer leichten Wöl bung ausgekehlt, ganz eindeutig das Werk von Menschenhand. Es war unmöglich, irgendwelche Farben auszumachen, denn das einzige Licht war jener mysteriöse rote Schimmer, der irgend wo von jenseits der hinteren Wand der Kammer kam; er sickerte aus der Fortsetzung des natürlichen Tunnelgangs herauf, der, wie Garth sehen konnte, hinter der Wand steil nach unten abfiel. Eine trockene Wärme schien gleichzeitig mit ihm heraufzusteigen. Formen waren indes deutlich zu erkennen; Garth sah, dass die Wände mit Reliefs von grotesker und widerwärtiger Natur ausge staltet waren: sie stellten verschlungene, halb menschliche, halb -268-
tierische Wesen dar, die sich in obszönen Verrenkungen wanden und einander abschlachteten, während sie sich gleichzeitig in per versesten Stellungen begatteten. Garth fragte sich, was für eine kranke Phantasie solche Scheußlichkeiten geschaffen haben moch te. In der Mitte des Raumes stand der Altar; er war kaum eine Elle breit, maß aber fast fünf Fuß in der Höhe; die Seitenflächen waren aus glattem Stein und verschmolzen nahtlos mit dem Boden. Of fenbar war er aus einer Säule oder einem Stalagmiten herausge hauen worden. Die Oberfläche war verziert und abgeschrägt, so dass der Altar einem Lesepult ähnelte, von der Art, wie man es in den besten Bibliotheken finden konnte, mit kunstvollen Ver zierungen an beiden Seiten. Am oberen Rand der Platte stand ein seltsamer, halb menschlicher Schädel. Die Fläche, auf der, wäre es tatsächlich ein Lesepult gewesen, das aufgeschlagene Buch gestanden hätte, war aus nacktem, glatt poliertem Stein. Das bedeutete, dass der Gegenstand, dessentwegen er gekom men war, der Schädel war. Er ging zum Altar und betrachtete ihn. Er lag in seiner Größe irgendwo zwischen dem eines Menschen und dem eines Übermenschen, nur dass er sehr hoch und sehr schmal war und dass aus den Schläfen zwei aufwärts ge schwungene Hörner sprossen; die Zähne fehlten, und die Kinn lade war halb geöffnet, so dass Garth dadurch das Gefühl hatte, der Schädel grinse ihn an. Er legte sein Schwert beiseite und griff nach dem Schädel; dieser war jedoch auf irgendeine Weise fest in der Altarplatte verankert. Darüber hinaus war er mit einer Art Schleim überzogen, so dass seine tauben Finger von ihm abglitten. Vermutlich handelte es sich bloß um von der Decke tropfendes Wasser, schloss er, wenngleich die warme Luft in der Höhle völlig
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trocken war. Er unternahm einen neuerlichen Versuch, den Schädel von der Altarplatte zu brechen, aber er gab nicht nach. Ein leises Rumpeln ertönte, und er spürte ein leichtes Vibrieren unter den Füßen; er dachte vage, dass es ungewöhnlich war, dass sich nach dem Unwetter der Nacht so rasch ein zweites zu sammenbraute, und ließ seine Finger über die Seiten des Schädels gleiten, um der Natur des seltsamen Schleims auf die Spur zu kommen. Da ihm seine gefühllosen Finger keinen näheren Aufschluss über die Beschaffenheit der glitschigen Masse gaben, löste er die Hände von dem Schädel und betrachtete seine Handflächen; was sie bedeckte, war jedenfalls kein Tropfwasser. Der rote Schimmer wurde ein wenig schwächer; er blickte kurz auf und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Schädel zu. Bei der schleimigen Substanz schien es sich um eine Art Eiter oder Blutwasser zu handeln, was ihm überaus seltsam vorkam, hatte er in der Höhle doch keine Spur von Leben gesehen. Der Schädel, so schien es, war mit einer schweren Niete an der Altar platte befestigt. Er spürte ein leichtes Prickeln in den Händen; die Nerven waren nicht vollkommen abgetötet. Er schaute auf seine Hände herab und bemerkte, dass der rote Lichtschimmer noch schwächer ge worden war. Auf seinen Handflächen begannen sich Blasen zu bilden. Er blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie das Ungeheuer sich auf ihn zubewegte, bevor sein Schatten ihn in völlige Dunkelheit hüllte und das schwache rötliche Licht gänz lich auslöschte.
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Kapitel 20 Das Wesen war ungeheuer groß; sein augenloser Kopf schien den halben Altarraum auszufüllen, und sein gähnender lippen loser Schlund schien groß genug, um einen Übermann mitsamt Kettenhemd und Stiefeln mit einem einzigen Schluck in sich verschwinden zu lassen. Es hatte keinen Hals, auch keinen Kopf im eigentlichen Sinne, sondern nur einen langen, ringförmig ge gliederten Körper, der bis weit in den hinteren Tunnel hineinreichte und ihn so vollständig ausfüllte, dass das rote Licht ihn nicht länger zu durchdringen vermochte. Es war, kurz gesagt, ein riesiger Wurm. Garth wich instinktiv zurück, und als er das Gewicht seiner Axt auf dem Rücken spürte, langte er über die Schulter und zog die vertraute Waffe aus ihrer Halteschlaufe; in diesem Moment dachte er gar nicht an das herrliche Schwert, das neben dem Altar lag. Er stand in völliger Dunkelheit, hatte das Monstrum nur für diesen einen kurzen Augenblick zu Gesicht bekommen; jetzt war er gezwungen, seinen Standort anhand der Geräusche und der Luftbewegung, die es im Vorwärtskriechen verursachte, zu be stimmen. Es schwenkte seinen Kopf blind in der Nähe des Altars umher, dort, wo er noch vor einem Moment gestanden hatte, vermutlich in dem Versuch, nach seinem üblichen Opfer zu schnappen. Vorsichtig, in dem Bewusstsein, dass schon das leiseste Ge räusch das Ungeheuer auf ihn aufmerksam machen konnte — welche Sinne eine solche Kreatur leiteten, war nicht zu sagen —, bewegte er sich rückwärts zum Höhleneingang. Irgendein Teil seines Bewusstseins registrierte zweifelsohne die Vollkommenheit der Schwärze, die ihn umgab; und so war seine -271-
Überraschung auch nur gering, als er feststellte, dass der Eingang durch eine solide Metallbarriere versperrt war, die lautlos zuge glitten sein musste, während er den Altar inspiziert hatte. Er vergeudete seine Kräfte nicht damit, gegen sie zu schlagen; gewiss hatten frühere Opfer das auch schon versucht, wenn vielleicht auch keines, das mit solchen Körperkräften ausgestattet war wie er, und außerdem bot er damit dem Angreifer den ungeschützten Rücken. Statt dessen stellte er sich dem Monstrum in Abwehr haltung entgegen und wartete darauf, dass es angriff. Der Wurm ließ nicht lange auf sich warten; Garth hörte ein schabendes Geräusch, als die Bestie auf ihn zuglitt, und ein hef tiger Luftzug blies ihm entgegen. Er sprang zur Seite und hieb gleichzeitig mit der Axt zu. Die Schneide fuhr mit einem qualligen, klatschenden Geräusch in etwas Weiches, Wabbeliges, aber weder spritzte Blut oder Schleim über seine Hand, wie er erwartet hatte, noch gab das Monstrum irgendeinen Schmerzenslaut von sich. Er riss die Axt heraus und wich zurück, sich mit der Linken an der Wand entlangtastend. Er hätte sich gewünscht, normales Gefühl in den Händen zu haben; er wollte die Schneide seiner Axt prüfen, ob irgend etwas an ihr hing oder ob sie vielleicht mit derselben schleimigen Sub stanz bedeckt war wie der Altar. Er war sich ziemlich sicher, dass der Schleim auf dem Totenschädel von dem Wurmmonster stammte, und irgendwo im Hinterkopf fragte er sich, ob es sich um eine äußerlich aufgetragene Substanz handelte oder ob es vielleicht eine Art Speichel war. Seine Handflächen schmerzten — nicht von der Wucht des Schlages, sondern von seinen Verbrennungen. Der Kopf schwenkte jetzt wieder zu ihm herum, und für einen winzigen Moment fiel ein roter Lichtschimmer durch den Tunnel -272-
herein, als das Ungeheuer seinen Körper zusammenzog, um auf ihn herabzustoßen. Garth sah den wulstigen Hornrand seines zahnlosen Mauls auf sich zukommen und tauchte zur Seite weg, im Sprung mit der Axt zuschlagend. Die Schneide grub sich tief in das Fleisch der Kreatur, und die Axt wurde ihm aus der Hand gerissen. Für einen kurzen Moment stieg Panik in ihm hoch, als ihm be wusst wurde, dass er jetzt völlig unbewaffnet diesem schaurigen Schoßtier des Todesgottes gegenüberstand, doch dann fiel ihm das große Schwert ein, das vermutlich noch immer in der Nähe des Altars lag. Er raffte sich hoch, mit seinen brennenden und pri ckelnden Fingern die Wandreliefs umkrallend, um sie zu fühlen; als der Wurm sich zu einem neuen Angriff aufbäumte, rannte er mit drei schnellen Anlaufschritten unter seinem Kopf hindurch und hechtete mit ausgestreckten Armen zum Altar. Das Klirren von Stahl auf Stein verriet ihm, dass seine Hand die heilige Waffe berührt hatte. Der Schmerz in seinen Händen wurde immer stärker, aber er zwang sich, ihn zu ignorieren, als er nach dem Schwert tastete. Über ihm schnellte der Kopf des Wurms vor, und der Luftzug schmetterte ihn wie eine Faust platt auf den Boden; der Kopf war kaum einen Fuß über ihm, er wand und krümmte sich vor Wut und Enttäuschung darüber, dass er sein Opfer nicht entdecken konnte. Garth zwang seine Hände, sich um das Schwert zu schließen; jede geringste Handbewegung sandte jetzt einen stechenden Schmerz durch seine Arme. Die Klinge kratzte über Stein, und das Monstrum wandte den Kopf und wollte sich zurückringeln, muss te jedoch feststellen, dass der Platz in dem Raum für ein solches Manöver nicht ausreichte.
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Er hörte ein kratzendes Geräusch, gefolgt von einem Klirren, als die Axt, die er im Körper des Monstrums zurückgelassen hatte, an der Wand entlangschleifte und dann zu Boden fiel, als das Unge heuer sie abgestreift hatte. Seine schmerzenden Hände schlossen sich um das Heft des Schwertes, und eine Woge neuer Kraft durchpulste seinen Körper. Adrenalin, redete er sich ein. Der Wurm zog jetzt einen Teil seines Körpers in den Tunnel zu rück, und für einen Moment sickerte wieder etwas von dem roten Licht herein. Er schaffte sich Platz, den Platz, den er brauchte, um seinen Kopf zu bewegen und mit seinem hungrigen Maul nach dem widerspenstigen Bissen schnappen zu können, der dort ir gendwo im Raum sein musste. Garth rollte sich zur Seite, als er den Luftzug im Gesicht spürte, der dem heranschnellenden Kopf des Ungeheuers vorausging. Der Kopf verfehlte ihn, und Garth schwang, nur wenige Zoll von der Flanke des Wurmes entfernt auf dem Rücken liegend, das mächtige Breitschwert. Die Klinge drang tief in den Leib des Mon strums, ohne jedoch spürbare Wirkung zu hinterlassen. Dick flüssiger Schleim rann über das Querstück und über Garths Handrücken. Bevor das Ungeheuer sich zurückziehen konnte (so riesig und stark wie es war, so schwerfällig war es auch, und abgesehen von den schnellen Stößen mit dem Kopf, hinter die es die Wucht seines ganzen Gewichts legen konnte, war es zu keinen schnellen Manö vern fähig), schlug er erneut zu, und wieder fuhr die Klinge mit einem eklig schmatzenden Geräusch in die wabbelige Körper masse des Wurms, ohne die geringste Wirkung zu zeitigen. Es war, als drösche er in einen Matschhaufen. Als sich die Bestie zu einem erneuten Angriff in den Tunnel zu rückzog, holte er aus und schlug noch einmal zu; mit einem ekel -274-
erregenden, saugenden Schmatzen löste sich eine Scheibe seines kalten feuchtschleimigen Fleisches und landete klatschend auf dem Boden. Offenbar war die Klinge dicht neben einer der vo rigen Schnittstellen eingedrungen, und er hatte buchstäblich eine Scheibe herausgehackt. Das brachte ihn auf eine Idee. Die inneren Organe des Mons trums schienen außer Reichweite seiner Klinge zu liegen; aber er konnte sich zu ihnen durchhacken. Wenn es ihm gelang, ge nügend von der gefühlsempfindlichen Schicht an ein und derselben Stelle wegzuhacken, dann würde er früher oder später zu den Innereien vordringen und es vielleicht so stark verletzen können, dass es sich in seinen Tunnel zurückzog und er sich die Tür vornehmen konnte. Kein Lebewesen, das Garth kannte, gleich, wie groß es auch sein mochte, vertrug es, wenn man ihm dicke Fleischstücke aus dem Körper hackte. Ein Jammer nur, dass er nichts sehen konnte! Er warf sich zur Seite, als ein Luftzug den nächsten Angriff ankündigte; wieder schlug er zu, die Klinge diesmal ein wenig schräg führend. Das Monstrum zog sich wieder zurück, ein wenig langsamer als bei den ersten Malen, wie ihm schien; er fragte sich, ob seine Schläge womöglich schon erste Wirkung hinterlassen hatten. Jetzt hielt das Monstrum in seiner Rückwärtsbewegung inne, was Garth daran erkannte, dass das schabende Geräusch, das sein Körper beim Gleiten über den Steinboden verursachte, plötzlich verstummte. Er vermutete den Kopf des Ungeheuers ir gendwo in der Mitte des Raums, vielleicht über dem Altar. Er befand, dass es an der Zeit war, selbst zum Angriff überzuge hen; mit einem gellenden Wutschrei, der weniger dazu dienen sollte, die Bestie zu erschrecken – vermutlich besaß sie ohnehin keine Hörorgane, die in der Lage waren, menschliche oder über menschliche Gefühlsäußerungen zu differenzieren – als vielmehr,
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sein Blut in Wallung zu bringen und ihn in seinem Kampfesmut anzuspornen, sprang er auf und stürzte sich mit zum Streich erhobener Klinge auf die Wurmkreatur. Die Klinge traf mit einem kratzenden, schabenden Geräusch auf das hornige Maul des Monstrums, ohne jedoch einzudringen; gleichwohl bäumte der Wurm sich auf, und Garth warf sich unter ihn. Er fand sich dicht neben dem Altar stehend, und ihm kam der Gedanke, dass dies ein ausgezeichneter Platz war; offenbar konnte das Monstrum den Altar nicht zerstören, denn sonst hätte es das schon Jahre zuvor getan. Wenn er sich nur dicht genug an den steinernen Pfeiler presste, konnte der Wurm weder von oben noch von hinten an ihn heran. Erneut schoss der Kopf herab, doch nur, um sofort wieder zu rückzuzucken, als er gegen die Altarplatte stieß. Garth nutzte die Gelegenheit zu zwei rasch hintereinander folgenden, in ent gegengesetzem Winkel angesetzten Hieben und vernahm zu sei ner Freude, wie ein weiterer Klumpen des teigigen Wurmfleisches auf den Boden klatschte. Das Monstrum zog sich diesmal nicht zurück, sondern schob sich weiter vorwärts in dem hirnlosen Bemühen, sich an dem Altar vorbeizuzwängen. Eine solche Gelegenheit ließ sich Garth nicht entgehen. Auf die selbe Stelle, die er eben mit seinem Doppelschlag aufgerissen hatte, ließ er eine ganze Serie kurz ange setzter Schläge prasseln. Dicke Fleischfetzen lösten sich aus der Wunde oder hingen in losen Streifen an der Flanke des Mons trums herab. Der Schleim, der das Ungeheuer bedeckte, rann in dicken zähen Bächen über seine Hände und Handgelenke, und es schien ihm fast, als lindere er ein wenig den brennenden Schmerz — den er in der Hitze der Schlacht ohnehin ignorierte. Er führte seine Schläge aus einer Kauerstellung neben dem Altar und konnte daher nicht seine ganze Kraft in die Streiche legen; da
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der Kopf vor und zurück pendelte, wagte er nicht, sich voll aufzu richten: zu groß war die Gefahr, dass der Kopf ihn traf, und selbst, wenn er nicht mit voller Wucht zustieß, reichte seine Kraft doch aus, ihn wie eine Spielzeugpuppe gegen die Wand zu schmettern. Gleichwohl wusste Garth, dass er in weitaus kürzerer Zeit weit mehr Schaden anrichten konnte, wenn er sich in eine Stellung bringen konnte, aus der heraus sich seine Klinge frei und unge hindert wirbeln ließe und in der die Schwerkraft nicht gegen ihn wirkte, sondern ihn unterstützte. Wenn er es schaffte, auf den Wurm zu gelangen und seine Streiche von oben zu führen ... Seine Schläge hatten ein ausgefranstes, schleimtriefendes Loch in die Flanke des Untiers gerissen, eine Bresche in seine glatte, glitschige Oberfläche; dieses Loch diente ihm als Fußstütze, als er sich hochschwang, das große Schwert mit der einen schmerzenden Hand mühsam umklammert haltend, während die andere Hand und beide Füße verzweifelt nach Halt auf dem glatten, schmierigen Fleisch des Wurmes suchten. Er spürte rasch, dass er es nicht schaffen würde; er fühlte, wie er langsam abrutschte, als der Wurm plötzlich den Kopf in seine Richtung schwenkte, offenbar als Reaktion auf Garths Gewicht. Einen Moment lang glaubte er, er würde gegen die Wand ge schmettert werden, bevor er es schaffen würde, abzuspringen, und er krallte sich mit der Kraft der Verzweiflung in die glitschige Masse, gleichzeitig mit beiden Beinen strampelnd, um wieder nach oben zu gelangen. Zu seiner großen Überraschung war seine Panikreaktion erfolg reich; der Vorwärtsschwenk des Kopfes hatte ihm den nötigen Schwung gegeben, den er brauchte. Mit Hilfe seines Schwertes, das er wie einen Pfahl in die weiche Fleischmasse rammte, gelang es ihm, sich so weit hochzuziehen, dass er sich rittlings auf den »Nakken« des Wurms setzen konnte.
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Jetzt hatte das Untier keine Möglichkeit mehr, mit seinem Maul an ihn heranzukommen; das einzige, was er jetzt noch befürchten musste, war, dass es sich aufbäumte und ihn gegen die Decke schmetterte. Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und bohrte ihn bis zum Heft in die glitschige Schwarte, um sich mit einer Hand festhalten zu können; dann machte er sich an das widerwärtige Geschäft, sich mit dem Breitschwert in das Monstrum hineinzu metzeln. Um schneller voranzukommen, benutzte er beide Hände; hin und wieder hielt er für einen Moment inne, um Atem zu schöpfen und sich an dem Dolchgriff wieder in die richtige Positi on hochzuziehen, wenn er zu einer Seite hin abzugleiten drohte. Seine breitbeinige Sitzhaltung auf dem Rücken des Ungeheuers gestattete ihm zwar immer noch nicht, mit dem größtmöglichen Schwung zuzuschlagen, aber er kam dennoch recht gut voran. In kurzer Frist hatte er einen Graben freigelegt, in den er hinein kroch, wobei er wahrhaft »übermenschliche« Beherrschung auf bringen musste, um den allgegenwärtigen widerlichen Schleim zu ignorieren, der aus jedem Zoll des Fleisches des Monstrums aus trat. Im Schutze dieses Grabens war er vor dem Abrutschen gefeit und konnte im Knien Weiterhacken. Immer tiefer arbeitete er sich in den Leib der Bestie vor. Diese war offensichtlich nicht gewillt, ihre Beute so ohne wei teres fahrenzulassen; sie zog sich nicht in ihren Tunnel zurück, sondern stöberte mit hin und her pendelndem Kopf weiter in der Tempelkammer herum, offenbar immer noch auf der Suche nach dem kleinen Plagegeist, der sich tiefer und tiefer in ihren Rücken hineinwühlte; mehrere Male glaubte Garth, er würde durch die Heftigkeit ihrer Bewegungen heruntergeschleudert werden, oder das Schwert würde ihm entgleiten. Doch schließlich fühlte er, wie die Klinge in etwas Festeres eindrang als das schwabbelige Fleisch; als er sie herauszog, spru
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delte ein dickflüssiger, scheußlich stinkender Schleim aus der Wunde. Er war zu den Innereien der Kreatur vorgedrungen. Es blieb ihm nicht viel Zeit, sich seines Erfolges zu freuen; die Bestie schüttelte sich in wilden Zuckungen, gegen die ihre frühe ren Bewegungen geradezu sanft waren, und er wurde durch die Luft geschleudert wie ein lästiges Insekt. Er schlug mit dem Kopf gegen die steinerne Wand; das Schwert flog ihm aus der Hand, und die Dunkelheit, die bis jetzt nur äußerlich gewesen war, verschlang ihn völlig. Das letzte, was er wahrnahm, war ein fer nes, kaum hörbares unheimliches Lachen; etwas schien zufrieden mit ihm zu sein.
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Kapitel 21 Frima war nicht glücklich mit ihrer Situation. Gleichwohl muss te sie zugeben, dass es immer noch besser war, in einem Stall von einem menschenfressenden Ungeheuer bewacht zu werden, das auf das Kommando eines Übermanns gehorchte, als auf einem Altar im Sai-Tempel langsam zu Tode gefoltert zu werden. Eine ganze Weile war vergangen, seit Garth aufgebrochen war, die letzten beiden Altäre zu plündern, und Frima war ziemlich si cher, dass er nicht mehr wiederkehren würde. Sie hatte noch nie gehört, dass jemand lebend aus dem Tempel des Todes zurückge kehrt war, und wenn Garth auch gewiss nicht zu den üblichen Opfern des Namenlosen Gottes zu zählen war, so traute sie ihm doch nicht zu, dass er es schaffen würde, sich ungestraft über eine der grundlegenden Gegebenheiten der Existenz Dûsarras hinweg zusetzen. Sie war mithin in diesem Stall festgenagelt, bis Koros es aufgeben würde, weiter auf die Rückkehr seines Herrn zu warten. Der Übermann hatte gesagt, es würde etwa einen Tag ausharren; sie hatte jetzt eine Nacht und einen Vormittag und einen halben Nachmittag gewartet, aber die Bestie zeigte noch keine Neigung zu verschwinden. Sie hatte sie ungestört Garths Sachen durch kramen lassen, und sie hatte das Messer gefunden, das Garth erwähnt hatte; es trug freilich nicht sehr zur Steigerung ihres Selbstvertrauens bei; zum einen, weil sie nicht wusste, wie man eine solche Waffe richtig handhabte, zum anderen, weil sie sich kaum vorstellen konnte, dass ein solch lächerlich kleines Ding ein so ungeheuer starkes Wesen wie das Kriegstier ernsthaft abschre cken konnte. Das Tier war unbestreitbar schön und zudem ausgesprochen freundlich zu ihr; sie hatte es mehrmals getätschelt und gestrei
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chelt, war jedoch jedesmal, wenn ihr dann plötzlich wieder ein gefallen war, was Garth gesagt hatte, wieder ängstlich zurückge schreckt. Es hatte einmal einen Zauberer verspeist! Zauberer waren für sie bis zu ihrer Entführung immer die mächtigsten und stärksten Wesen gewesen, die sie sich hatte vorstellen können, und dieses Tier hatte einen von ihnen schlicht und einfach gefressen, als wäre er nichts als ein einfacher Sterblicher! Sie kam gar nicht auf den Gedanken, an Garths Worten zu zweifeln; was er gesagt hatte, hatte absolut überzeugend ge klungen, und zudem war sie ohnehin sehr vertrauensselig und leichtgläubig. Sie stand auf und ging zur Tür der Stallbox, um ihr Glück ein weiteres Mal zu versuchen; wie schon bei ihren vorausge gangenen Versuchen, verhielt Koros sich still, bis ihre Hand die Klinke berührte, dann stieß er ein warnendes Knurren aus. Sie zog ihre Hand zurück, seufzte, und blickte hinaus in den leeren Stall hof. Sie war schon im Begriff, sich wieder umzudrehen, als sie eine Bewegung gewahrte. Da war jemand direkt hinter dem Torbogen; und nicht nur einer, wie sie jetzt sah. Sie lehnte sich hinaus, um bessere Sicht zu haben, und sofort stieß Koros ein Knurren aus; sie ignorierte es und späh te durch den Torbogen. Eine große Menschenmenge hatte sich dort draußen ver sammelt, wie es schien. Sie fragte sich, was sie dort wohl wollten. Vielleicht waren sie gekommen, um sie zu befreien! Sie überleg te, ob sie sich durch Rufen bemerkbar machen sollte. Aber nach kurzem Überlegen entschied sie, das besser zu unterlassen. Koros würde es mit größter Wahrscheinlichkeit missverstehen, und es würde vielleicht zu Blutvergießen kommen. Sie war noch nicht so verzweifelt, das zu riskieren.
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Sie hörte ein seltsames Schnüffeln neben sich; das Kriegstier war an ihre Seite gekommen und beobachtete ebenfalls die Leute hin ter dem Torbogen. Eine aufgeregte Debatte schien unter ihnen stattzufinden; ein paar Leute schrien erregt. Sie konnte jedoch nicht heraushören, worum es ging. Ein Umhang glitt für einen Moment auf, und dar unter kamen ein Kettenhemd und ein Schwert zum Vorschein. Alarmiert schaute sie genauer hin und stellte fest, dass mehrere Männer – offenbar sogar alle – Schwerter trugen, wie an den Aus buchtungen in ihren Roben zu erkennen war. Und, wie sie jetzt merkte, waren es allesamt Männer, die sich dort zusammenge schart hatten; nirgends sah sie ein bartloses Gesicht. Ein Mann in dunkelroter Robe kam jetzt etwa bis zur Mitte des Torwegs vor; er verharrte einen Moment lang, dann drehte er sich um, reckte die Faust hoch und sagte etwas zu der Menge. Immer noch konnte sie wegen des Lärms, den die Menge machte, kaum etwas verstehen, aber sie hörte deutlich die Worte »Übermann« und »Tempelschänder« heraus. Koros neben ihr begann zu knurren. Der Mann in Rot wandte sich wieder um und deutete auf die Stallbox – deutete, so schien es ihr, direkt auf sie. Die Menge drängte sich durch den Torweg und marschierte mit dem Mann in der roten Robe, offenbar ihrem Anführer, an der Spitze in den Stallhof. Koros sprang mit einem mächtigen geschmeidigen Satz über die Tür und landete in der Mitte des Hofes. Er stieß ein ohrenbetäu bendes Brüllen aus und duckte sich zum Sprung; die Vorwärtsbe wegung der Menge kam jäh zum Stillstand. Frima schaute gebannt zu; ganz abgesehen von den verwir renden Ereignissen, die sich hier vor ihren Augen entwickelte, fand sie es faszinierend, ja geradezu unglaublich, wie ein solch -282-
riesiges Tier wie Koros es angestellt hatte, durch den relativ schmalen Spalt zwischen der Stalltür und dem überhängenden Dach zu springen. Koros brüllte erneut auf und machte einen Schritt vorwärts, auf die unschlüssig dastehende Menge zu; Frima sah, dass mehrere Männer ihre Schwerter gezückt hatten, doch keiner wagte es, sich dem Kriegstier zu nähern. Im Gegenteil: Die ersten wichen lang sam zurück. Wieder brüllte Koros und duckte sich zum Sprung. Die Rück wärtsbewegung erfasste allmählich die ganze Menge, und nur wenige Momente später befanden sich alle wieder hinter dem Tor bogen. Koros richtete sich wieder auf, streckte sich, gähnte und wartete gelassen dastehend ab, was als nächstes geschehen würde. Der Mann in Rot trat erneut vor die Menge und sprach; und diesmal konnte Frima gut verstehen, was er sagte, da die Menge, offenbar eingeschüchtert durch das unerwartete Auftauchen des Kriegstiers, erheblich leiser geworden war. »Dûsarraner! Wir sind nicht eingeschüchtert von diesem schrecklichen Ungeheuer, sondern nur etwas vorsichtiger! Wir wollen nicht gegen diese Bestie kämpfen, sondern gegen ihren ruchlosen Herrn! Lasset uns also hier warten, bis er zurückkommt, um ihn dann in unserem aufrichtigen Zorn niederzustrecken, sein grausiges Schoßtier zu töten und das Opfer, das er gestohlen hat, wieder an seinen rechtmäßigen Platz zurückzubringen! Wir werden unsere Stadt von diesem Unrat säubern!« Seine Rede wurde mit tosendem Applaus begrüßt. Als Frima den Teil mit dem Opfer hörte, war sie plötzlich heilfroh, dass sie nicht um Hilfe gerufen hatte. Mit einem Mal sah sie in Koros nicht mehr ihren Bewacher, sondern ihren Beschützer, und konnte es kaum noch erwarten, dass Garth endlich zurückkam – während sie gleichzeitig Angst davor hatte. Was würde geschehen, wenn -283-
die Männer ihn töteten? Und was, wenn er sich am Ende als ge nauso schlimm und grausam wie der Sai-Kult entpuppte? Zudem war es ja immer noch möglich – und sogar sehr wahrscheinlich dass er überhaupt nicht mehr zurückkehrte ...
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Kapitel 22 Garth hatte keine Ahnung, wie lange er besinnungslos gewesen war. Als er zu sich kam, lag er auf dem Steinboden, neben sich das Schwert Bheleus. Der rote Lichtschimmer drang ungehindert aus dem Tunnel und ließ den Edelstein im Knauf des Schwertes in einem düsteren karmesinroten Feuer erglühen. Auf dem Boden ringsum standen Schleimpfützen, und sein Kettenhemd war mit einer dicken Schicht der glitschigen Substanz bedeckt. Er blieb noch einen Moment still liegen und sammelte seine Gedanken. Er streckte den Arm aus und packte das Schwert; als seine Finger sich um das Heft schlossen, merkte er, dass der Schmerz vollkommen verschwunden war. Er setzte sich auf, legte das Schwert wieder hin und betrachtete seine Handflächen. Das Fleisch war leicht gerunzelt, wie nach fast verheilten Wunden, aber von Blasen oder Verbrennungen war keine Spur mehr zu sehen. Erschrocken fragte er sich, wie lange er bewusstlos dagelegen haben mochte. Er prüfte seinen Tastsinn, indem er seine Finger über verschie den geartete Oberflächen gleiten ließ, und empfand für einen kurzen Moment Panik, als sich das Kettengewebe seines Hemdes stumpf und weich anfühlte; um so größer war daher seine Erleich terung, als ihm bewusst wurde, dass die Schleimschicht der Grund für die vermeintliche Gefühllosigkeit seiner Fingerkuppen war. Als er gleich darauf mit den Händen über die Wandreliefs fuhr, stellte er fest, dass sein Tastsinn wieder vollkommen intakt war. Er war also körperlich wieder in bester Verfassung. Aber wie lange hatte er hier gelegen? Was war aus Koros ge worden, dessen Fütterung längst überfällig war? Und aus Frima, die er in der Obhut des hungrigen Kriegstiers zurückgelassen -285-
hatte? Und aus der Beute aus den ersten fünf Tempeln? Hatten die Aghaditen ihre Drohungen wahr gemacht, und wenn ja, welche Folgen waren daraus erwachsen? Er rappelte sich auf. Wie auf einen unsichtbaren Wink hin glitt die metallene Tür, die den Eingang verschloss, genau in dem Moment, als sein Blick sich auf sie richtete, lautlos in die Wand zurück, und herein trat eine gebeugte Gestalt, deren Robe von einem solch tiefen Schwarz war, dass sie nicht einen Strahl von dem roten Licht reflektierte, das aus dem Tunnel drang. Das Gesicht des Mannes war, wie bei den Dûsarranischen Priestern üblich, von einer Kapuze verhüllt, so dass er in seinen fast unsichtbaren Kleidern wie ein lebender Schatten wirkte, der noch tiefer und dunkler war als alle anderen in der Höhle. Kein Licht fiel von draußen herein, und im ersten Moment glaubte Garth, das bedeute, dass draußen Nacht herrschte; ihm fiel nicht sogleich ein, dass der Gang so lang und gewunden war, dass so gut wie kein Sonnenlicht bis zu der Tempelkammer durchdringen konnte, ganz gleich, welche Tageszeit es war. Die Gestalt in der Robe war klein und zerbrechlich, wie Garth trotz ihrer fast völligen Unsichtbarkeit erkennen konnte; zuerst glaubte er, es handle sich um ein Mädchen oder einen kleinen Jungen, trotz der Langsamkeit, mit der sich die Gestalt voranbe wegte; doch als sie die Stimme erhob, eine hohe brüchige Stimme, bestand kein Zweifel mehr, dass er einen alten Mann vor sich hatte. »Ich höre deine Atemzüge«, sagte der Greis. Garth gab keine Antwort. »Kannst du nicht sprechen? Ich weiß, dass du da bist und dass du lebst.«
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»Ja, ich bin hier. Was soll ich dir sagen?« Garth hob, während er sprach, das Schwert auf; der kleine alte Mann machte zwar einen harmlosen Eindruck, aber er wollte kein unnötiges Risiko einge hen. »Was immer du sagen möchtest.« »Es gibt nichts, was ich dir sagen möchte.« »Würdest du mir dann ein paar Fragen beantworten, rein aus Höflichkeit?« »Vielleicht. Frag mich, was du willst.« Garth war aufgefallen, dass der Priester ihm nur dann den Kopf zuwandte, wenn er sprach; das und die Worte des Mannes ließen es ziemlich sicher erscheinen, dass er, wie die Priester des Andhur Regvos, blind war. Es schien seltsam, dass eine solch hinfällige, harmlose Person der einzige Diener des meistgefürchteten aller Götter sein sollte — vorausgesetzt, der Letzte Gott hatte wirklich nur einen Priester. Nun, da er wusste, dass es nicht erforderlich War, dem Priester seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, ließ Garth seinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Die überall auf dem Boden herumliegenden Fleischfetzen, die er aus dem Monster herausge hackt hatte, waren bereits in den Zustand der Verwesung überge gangen; die Schleimpfützen waren zum Teil getrocknet. Er sah die große Eiterpfütze, ‚die die Stelle bedeckte, an der er zu den Einge weiden der Bestie durchgedrungen war. Der Altar mit dem Schädel stand nach wie vor unversehrt. »Hast du das gesehen, was bisher alle, die hier eingedrungen sind, vernichtet hat, so dass nichts von ihnen übriggeblieben ist?« »Ja.« »Dich hat es nicht vernichtet.« »Es hat sich redlich gemüht.« »Was geschah?« -287-
»Es kam aus dem Tunnel hervorgekrochen; ich wich ihm aus. Wir kämpften miteinander, und es gelang mir, es schwer zu verwunden. Es schleuderte mich gegen die Wand, und ich verlor das Bewusstsein, aber seine Verletzung war offenbar so schwer, dass es vorzog, sich zurückzuziehen, statt mir den Garaus zu ma chen.« Das, so fand er, war eine knappe und akkurate Zusammen fassung seines verzweifelten Kampfes; er dachte sich, dass ein solch schlichter, schmucklos-nüchterner Bericht ihm besser diente als ein blumenreich vorgetragenes Heldenepos, zumindest so lange, wie er noch nicht wusste, wie der Priester zu dem Unge heuer stand. Immerhin bestand durchaus die Möglichkeit, dass es schon als Gotteslästerung betrachtet wurde, dass er sich über haupt verteidigt hatte. »Was ist es?« »Das weißt du nicht?« Garth war ob dieser Frage so verblüfft, dass er fast ins Stottern geraten wäre. »Nein. Ich bin lediglich der Wärter dieses Tempels; ich weiß nichts von den Geheimnissen des Gottes. Der wahre Diener des Letzten Gottes ist noch nicht zurückgekehrt. Was war das denn, gegen das du gekämpft hast?« Garth empfand ein plötzliches Widerstreben bei dem Gedanken, die Frage des Greises zu beantworten, obwohl es keinen logischen Grund gab, den Mann nicht über die Natur der Kreatur aufzuklä ren, die im Tempel hauste. »Erzähl mir erst mehr über euren Kult. Bist du denn nicht der Hohepriester des Gottes-Dessen-NamenMan-Nicht-Ausspricht?« »Nein. Ich bin nur ein niederer Priester. In den Büchern der Weissagungen steht geschrieben, dass der einzige wahre Hohe priester des Todes seit mehr als vier Zeitaltern nicht mehr in Dûsarra gewesen ist und dass er erst wiederkehren wird, wenn das Fünfzehnte Zeitalter anbricht.« -288-
Ein Gefühl von Unbehagen beschlich Garth bei dieser neuerli chen Erwähnung des Systems der Menschen, die Zeitalter zu zäh len. »Dies sei der Beginn des Vierzehnten Zeitalters, wurde mir ge sagt.« »So ist es. Wenn dieses neue Zeitalter, das soeben anbricht, sich dem Ende zuneigt, wird der Hohepriester zurückkehren.« »Wenn, wie du sagst, er seit vier Zeitaltern nicht mehr hier ge wesen ist ... Das Dreizehnte Zeitalter hat mindestens dreihundert Jahre gedauert. Euer Hohepriester muss schon vor Jahrhunderten gestorben sein. Ist es vielleicht sein Erbe, den ihr erwartet?« »O nein! Der, den wir erwarten, ist der einzige wahre Hohe priester des Todes. Es liegt in der Natur seines Dienstes, dass er selbst nicht sterben kann.« Garth brauchte einen Moment, um diese Information zu verdauen. Er erinnerte sich, dass bei einem seiner Gespräche im Gasthof des Königs in Skelleth das Thema Unsterblichkeit angeschnitten worden war. Eine Theorie, die ihn mit Unbehagen erfüllte, schlich sich in seine Gedanken. Der Vergessene König hatte gesagt, er strebe danach, den Zweck zu erfüllen, den die Götter ihm gegeben hätten; aber welche Göt ter waren es, von denen er sprach? Er wandte erneut den Blick zu dem unnatürlichen Schädel, der vom Altar grinste. »Was weißt du sonst noch von eurem Hohe priester?« »Oh, da gibt es viele Legenden! Er war einst König in einem Land, das so alt ist, dass seine Existenz in Vergessenheit geraten ist; er schloss einen Handel mit den Göttern des Lebens und des Todes ab, durch den er Unsterblichkeit bis zum Ende aller Zeiten erlangte, aber er bereute diesen Handel und entsagte dem Dienst an seinem Königreich und an seinen Göttern, um fortan in Lum pen gehüllt durch die Welt zu wandern. Er wird wiederkehren, -289-
wenn das Fünfzehnte Zeitalter anbricht, das Zeitalter des Todes, um seinen Vertrag zu erfüllen. Er ist der einzige, der mit dem Letzten Gott gesprochen hat und weiterlebte; ein Teil seiner Auf gabe besteht darin, dafür Sorge zu tragen, dass der Name-DenMan-Nicht-Ausspricht nicht verloren geht. Er beherrscht die alte Magie der gesamten Welt, hat jedoch keine Verwendung für sie. In den heiligen Texten steht noch viel mehr — sein Name, den ich nicht genau aussprechen kann, und die Zeugnisse seiner Taten.« »Steht in euren heiligen Büchern auch etwas vom Sechzehnten Zeitalter?« »Nein. Sie umfassen nur den gegenwärtigen Zyklus, der mit dem Fünfzehnten Zeitalter endet.« »Und was steht in ihnen über das Vierzehnte?« »Das Zeitalter der Zerstörung? Dass es beginnen soll mit der Verheerung und Schändung Dûsarras und dass es ein Zeitalter des Feuers und des Schwerts sein werde. Es ist darin die Rede von einem mächtigen Diener Bheleus, der auf das Geheiß des Vergessenen Königs handelt.« »Des Vergessenen Königs?« »Ein anderer Name für den Hohepriester des Todes.« »Der Hohepriester des Todes.« Garth starrte auf den Toten schädel und beschloss, dass die Prophezeiungen sich nicht erfül len würden. »Ja.« Die Stimme des alten Priesters klang weniger sicher. »Das Wesen aus dem Tunnel war bloß ein Wurm.« Garth schob mit einer Armbewegung den blinden Priester zur Seite und stapf te hinaus; den gehörnten Totenkopf ließ er da, wo er war. Der Priester lief ihm hinterher und rief, er solle warten; Garth blieb stehen und wartete; ihm war noch eine Frage eingefallen, die
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er dem alten Mann stellen wollte. Er sah, dass die Kapuze des Mannes zurückgeglitten war, nahm aber keine Notiz davon: »Wie lange war ich hier drinnen?« fragte er. »Der Aghad-Priester sagte, du seist bei Morgengrauen gekom men; die Sonne wird gleich untergehen.« »Ich war also nur einen Tag hier?« »Ja.« Die Stimme des Priesters klang jetzt furchtsam. Garth starrte auf seine Hände. Wie hatten seine Verbrennungen so schnell verheilen können? Das Schwert des Bheleu hielt er noch immer mit der Rechten umklammert; für einen kurz en Augenblick verspürte er den Impuls, es wegzuwerfen, doch dann besann er sich. Sein Dolch war in dem Monstrum steckenge blieben; seine Axt lag irgendwo in der Altarkammer; sein altes Schwert war am Tor des Aghad-Tempels zerbrochen. Diese teuf lische Klinge war seine einzige Waffe, und er hatte nicht vor, seine Flucht aus Dûsarra unbewaffnet zu wagen: schließlich hatten die Aghaditen gedroht, ihn zu töten. Er ging weiter zum Ausgang der Höhle, so langsam, dass der Priester mit ihm Schritt halten konnte; als der rötliche Lichtschein hinter ihm verblaßte, drang ihm von vorn das blasse Rosa der Abenddämmerung entgegen. Der Priester schnatterte unverwandt auf ihn ein, löcherte ihn mit Fragen über den Wurm; er beschränkte sich auf knappe, mür rische Antworten: ja, der Schleim auf dem Altar stamme von dem Wurm; nein, er habe nicht alles von dem Wurm sehen können; nein, er hätte nicht ganz in den Altarraum hineingepasst; nein, er glaube nicht, dass er ihn getötet habe; ja, er fresse Menschen; vermutlich verschlucke er sie in einem Stück. Schließlich trat das ungleiche Paar zusammen in das düstere Licht der Abenddämmerung; Garth hielt das Schwert stoßbereit
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erhoben, als er auf das Pflaster der Straße der Tempel trat. Er warf einen Blick auf den Priester, und zum ersten Mal sah er das Gesicht des Mannes. Sein Haupthaar war schlohweiß; ein Auge fehlte, das andere schimmerte rosafarben unter einer Glasur von grauem Star; eine Seite seines Gesichtes war von einer Art Geschwulst bedeckt. Aus einem der schwarzen Ärmel seiner Robe ragte ein vernarbter Ar mstumpf heraus. Er war das abstoßendste Menschenwesen, das Garth je gesehen hatte. Das passte natürlich zu einem Priester von etwas so Ab stoßendem wie dem Tod. Während Garth ihn musterte, redete der Priester weiter; er tat sein Erstaunen darüber kund, dass es sich bei dem Wesen um einen Wurm handelte, erzählte, wie viele Menschen er schon ver schlungen habe. Garth unterbrach ihn in seinem Redeschwall. »Alter Mann, sag, wie konntest du die Bücher lesen?« »Was? Oh. Ich war nicht immer blind, und ich habe einen Gehil fen, der mir aus ihnen vorliest, wann immer ich es wünsche.« »Und du besitzt nicht die Gabe des zweiten Gesichts?« »Nein. Ich bin nur ein schlichter Tempelwärter.« Schade, dachte Garth; es wäre ihm sehr gelegen gekommen, wenn der alte Trottel in der Lage gewesen wäre, ihm die nächsten Schritte der Aghaditen vorauszusagen. Er war auf seiner Mission schon so vielen Sehern begegnet, dass ihn ein weiterer kaum noch überrascht hätte; aber wie es aussah, musste er sich wohl auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen. Er öffnete den Mund, um dem Priester Lebewohl zu sagen, als ihn eine vertraute Stimme, die von irgendwo aus den Felsen kam, innehalten ließ. »Wir geben dir eine letzte Chance, Verräter. Töte den alten Idio ten, und wir lassen dir dein Leben.« -292-
Kapitel 23 Garth wog seine Lage ab. Sein erstes und wichtigstes Ziel war, heil aus Dûsarra herauszukommen; sein zweites Ziel war, Frima, Koros und seine Beute mit hinauszuschaffen. Um so schöner, wenn es ihm dabei vielleicht noch gelang, den einen oder anderen Aghaditen zu töten, zum einen weil es seine Verfolger entmutigen würde, zum anderen weil er sich damit Genugtuung verschaffen würde; moralische Bedenken hatte er dabei keine, war doch dieser verbrecherische Kult für zahlreiche Greueltaten verantwortlich. Hier und jetzt war er indes im Nachteil; erstens hielt der Aghadit sich verschanzt, vermutlich in einer guten Verteidigungsstellung, die auszusuchen er viel Zeit gehabt hatte, und zweitens wusste Garth nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte. Vielleicht war es nur der eine Priester, vielleicht aber auch der gesamte Kult, womöglich sogar mehrere Kulte. Es auf einen offenen Kampf an kommen zu lassen, war daher nicht ratsam. Was sein erstes Ziel anging, nämlich heil aus Dûsarra herauszukommen, so galt es nun zu überlegen, wie er dies am besten anstellte; die Aghaditen konn ten nicht gewusst haben, wann er wieder aus dem Tempel des Todes auftauchen würde, es sei denn, sie hatten Orakel oder Seher zur Hand, und selbst in dem Fall würden sie bestätigt haben wollen, ob er auch wirklich herausgekommen war. Höchstwahr scheinlich waren in diesem Moment schon Boten unterwegs, die die Nachricht von seinem Wiederauftauchen in der Stadt verbrei teten; auf einen einzigen Hinterhalt würden sich die Aghaditen gewiss nicht verlassen. Vermutlich lauerten schon weitere Priester und Anhänger des Kults am Stall und an den Stadttoren auf ihn. Wenn er sie noch vor den Boten erreichen konnte, war der Überra schungseffekt auf seiner Seite. Er durfte keine Zeit verlieren! Er ignorierte die spottende Stimme des Aghaditen, schob den Pries -293-
ter des Letzten Gottes mit einer Armbewegung beiseite und rann te, was die Beine hergaben, die Straße der Tempel hinunter, ohne auf die paar Fußgänger zu achten, die aufgescheucht aus dem Weg spritzten und ihm verdattert hinterherschauten. Er hatte seine Entscheidung in weit kürzerer Zeit getroffen, als es gedauert hat, sie zu erklären; als der Aghadit seinen zweiten Satz beendet hatte, war Garth schon ein Dutzend Schritte vom Tempeleingang entfernt, das große Breitschwert noch immer in der Hand haltend. Die lange Klinge behinderte ihm beim Laufen, aber es war die einzige Waffe, die er hatte. Ihm kam der Gedanke, dass vielleicht an den Tempeleingängen entlang der Straße weitere Feinde lauerten; bei der ersten Gelegen heit bog er nach rechts ab und hetzte eine Seitenstraße hinunter. Er hatte nicht vergessen, wie er sich schon einmal in dem Laby rinth aus engen Straßen und Gassen verlaufen hatte, aus dem der größte Teil der Stadt bestand, aber er schätzte das Risiko, sich zu verirren, als weniger schwerwiegend ein als das Risiko, in einen Hinterhalt zu laufen. Und einen Hinterhalt konnte man nur legen, wenn man im voraus wusste, welchen Weg die Person nahm. Er sah nur ein einziges schwerwiegendes Problem, das auf ihn zukam: Die Stadt hatte nur das eine Tor, durch das er gekommen war, und einen anderen Weg, der aus ihren Mauern herausführte, wusste er nicht. Außerdem wollte er natürlich Frima und seine andere Beute mitnehmen. Koros konnte für sich selbst sorgen. Nachdem er zwei Blocks zwischen sich und die Straße der Tem pel gelegt hatte, bog er nach links ab und fand sich auf einer re lativ geraden Straße wieder, die parallel zur Straße der Tempel verlief; er folgte ihr, so weit er konnte, und gelangte in eine Straße, durch die er schon einmal gekommen war. Er ließ sich in einen lo ckeren Trab zurückfallen und schlug die Richtung zum Gasthof der Sieben Sterne ein.
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Zufällig des Weges kommende Passanten machten einen weiten Bogen um ihn; mit einem Übermann, der mit blankem Schwert durch die Straßen trabte, legte man sich tunlichst nicht an. Der lange Spurt quer durch die Stadt hatte ihn mehr erschöpft, als ihm lieb war; er hatte sich offenbar noch immer nicht ganz von dem Kampf mit dem Wurm und dem Schlag gegen den Kopf erholt. Sein Schritt war erheblich müder geworden, als er schließ lich in die Straße bog, in der das Haus stand, durch dessen Tür er gebrochen war. Er war sich nicht ganz sicher, warum er sich entschieden hatte, den Weg über den Hinterhof zu nehmen; die Aghaditen würden zweifellos dort Posten aufgestellt haben. Aber dass sie sich vor den Toreingang zum Stallhof postiert hatten, stand ebenso außer Zweifel, und der Weg durch das Haus und den Hinterhof würde ihm mehr Deckung bieten und seinen Feinden weniger Möglich keit, ihn durch schiere Zahl zu überwältigen. dass er seinen Feinden aber auch bessere Möglichkeiten für einen Angriff aus dem Hinterhalt bot, war ihm nicht entgangen; dieses Risiko muss te er eingehen. Die Straße war nicht leer wie bei früheren Gelegenheiten; eine Handvoll Frauen und Männer, mit den üblichen dunklen Um hängen bekleidet, blieb stehen und starrte ihn entgeistert an, als er plötzlich auf die Tür in der Mitte des Blocks zu startete. Er hörte ein sirrendes Geräusch, und ein Pfeil bohrte sich in den festgetretenen Straßendreck; der Schütze konnte nicht in allzu großer Nähe sein. Sie hatten ihm einen Hinterhalt gelegt — aber er hatte sie überrascht. Er versuchte erst gar nicht zu probieren, ob die Tür auf war; nur ein Trottel hätte vergessen, sie abzuschließen. Er nahm das Heft des Schwertes in beide Hände und hieb mit aller Kraft gegen die
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Füllung, in der Hoffnung, dass die Klinge fest genug war, einer solchen Beanspruchung standzuhalten. Ein zweiter Pfeil pfiff an seinem Ohr vorbei und prallte klirrend an der steinernen Fassade des Hauses ab. Das Schwert traf auf die schwere Holztür und schnitt durch sie hindurch wie ein Messer durch Käse. Das Heft fühlte sich plötz lich heiß unter seinen Händen an; er erklärte sich dies mit einer Sinnestäuschung, die darauf zurückzuführen war, dass die Brand wunden auf seinen Handflächen noch nicht vollständig ausgeheilt waren. Er riss die Klinge aus dem Holz und schlug ein zweites Mal zu. Die Tür zerbarst krachend in tausend Splitter und fiel nach in nen; Garth trat hindurch. Er wusste, dass hier eine geheimnisvolle Kraft am Werke sein musste, denn, so stark wie er war, er besaß nie und nimmer die Kraft, eine solch massive Tür mit nur zwei Schlägen zu zertrümmern; aber er hatte nicht die Zeit, Überle gungen dazu anzustellen. Zwei weitere Pfeile bohrten sich nicht weit hinter ihm in die Straße. Der Raum war so, wie er ihn in Erinnerung hatte — die Treppe auf der einen Seite, auf der anderen der Durch-gang zur Küche, die Decke so niedrig, dass er sich bücken musste. Ein paar Details jedoch waren neu; in erster Linie die Leiche, die ausgestreckt vor der Tür lag: ein Stück Eichenholz aus der zertrümmerten Tür hatte ihr den Schädel gespalten. Der Tote trug einen Helm, ein Ketten hemd und einen Brustpanzer und war mit Schwert und Kurzspeer bewaffnet. Das Schwert in Garths Händen schwenkte plötzlich zur Seite, und er fand sich unversehens zu einem horizontalen Streich aus holend; ein kurzer spitzer Schrei erscholl, als die Klinge den Bauch eines zweiten Mannes aufschlitzte, der neben der Tür gelauert
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hatte. Es gab ein Klirren, als er das Schwert fallen ließ, und einen dumpfen Schlag, als er vorwärts in sein eigenes Blut fiel. Der rote Stein im Schwertknauf leuchtete jetzt so hell auf wie eine Laterne in dem düsteren Zimmer. Spätestens jetzt konnte Garth sich nicht mehr einreden, dass die Waffe nichts weiter als simpler, gewöhnlicher Stahl war; er hatte unter gröbster Vernach lässigung der einfachsten Vorsichtsmaßregeln den zweiten Angreifer schlicht übersehen, und das Schwert war selbsttätig in Aktion getreten. Dem Ding war nicht zu trauen. Aber es war seine einzige Waffe, und er hatte keine Zeit, sich mit langen Mutma ßungen den Kopf zu zerbrechen. Ein Pfeil kam durch die Tür geflogen und bohrte sich in das Bein der Leiche; Garth machte, dass er schnell aus dem Bereich der Tür kam. Durch den jüngsten Vorfall vorsichtig geworden, hieb er, be vor er in die Küche trat, mit dem Schwert erst einmal um die Tür ecken — und wurde belohnt mit dem keuchenden Aufschrei eines weiteren Mannes, der seine Waffen fallen ließ, als die Klinge in seinen Arm schnitt. Im gleichen Moment sprangen ihm drei weitere Angreifer mit gezücktem Schwert entgegen, und hinter sich hörte er polternde Schritte die Treppe herunterkommen; er durfte keine Zeit mehr verlieren. Als der Angreifer zu seiner Rechten zum Streich aushol te, riss Garth die schwere Klinge hoch; mit lautem Klirren prallte sie gegen die Klinge des Angreifers und schmetterte sie zurück gegen die Stirn des Mannes; das gebogene Querstück schlug um, einen blutigen Striemen in die Stirn des Angreifers reißend, und es gab ein lautes knackendes Geräusch, als der Daumen von der Wucht des Aufpralls zwischen Heft und Schädelknochen zermalmt wurde. Die Klinge des zweiten Angreifers schrammte über Garths Kettenhemd, als er sein Schwert weiter hochriss, um es von dem
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kürzeren Schwert des ersten Mannes zu befreien, der stöhnend vor ihm zusammenbrach; die Spitze der mächtigen Klinge ratschte direkt über dem Kopf des zweiten Angreifers über die Decke, eine Kerbe im Holz hinterlassend, da ihr Schwung so heftig war, dass Garth ihn nicht sofort abbremsen konnte. Dann ließ er sie mit voller Kraft herabsausen; mit einem schmatzenden Geräusch fuhr sie in den Hals des dritten Angreifers und drang ihm bis tief in die Brust. Als der zweite Angreifer, der in der Mitte stand, seine beiden Spießgesellen innerhalb von nur wenigen Sekunden zu Boden sin ken sah, machte er einen wütenden Ausfall, mit der Schwertspitze auf die ungeschützte Kehle des Übermanns zielend; Garth duckte sich zur Seite und riss seine Klinge aus der Leiche des dritten Angreifers. Als der Mann sah, dass sein Angriff erfolglos ge blieben war, ließ er sein Schwert fallen und hob die Arme zum Zeichen der Aufgabe. Garth versuchte noch, seinem Streich den Schwung zu nehmen, aber die Klinge fuhr mit immer noch beacht licher Wucht tief in die Seite des Mannes, durch sein Kettenhemd schneidend, als wäre es aus Stoff. Der Brustpanzer des Dûsar raners hielt sie auf, bevor sie auf Knochen traf, und Garth hoffte, dass die Wunde nicht tödlich sein würde. Der Mann schlug auf dem Boden auf, und Garth stieg über ihn hinweg. Der Durchgang zu dem kleinen Hof stand offen; der Besitzer hatte nichts unternommen, die Tür, die Garth aufgebrochen hatte, durch eine neue zu ersetzen. Sehr wahrscheinlich lauerten dort draußen weitere Männer. In der Hoffnung, sie zu überraschen, stürmte er mit vorwärts gerichtetem Schwert hinaus und ließ, als er die Mitte des Hofes erreichte, die Klinge in einem gewaltigen Rundschlag herumwirbeln. Der kleine Hof war leer — leider jedoch nicht die beiden Höfe zur Linken und zur Rechten. Ober die sechs Fuß hohen Mauern
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spähten Armbrustschützen. Garth sah sie gerade noch rechtzeitig, um sich blitzschnell ducken zu können. Pfeile schwirrten ihm um die Ohren und prasselten gegen die Mauern, als er in geduckter Haltung in die Küche zurückstürmte — um sich den Männern gegenüber zu sehen, die oben auf der Lauer gelegen hatten. Zwei von ihnen waren Bogenschützen. Sie hatten nur kurze Bogen; sie hielten sie zwar gespannt, aber da sie keine Pfeile eingelegt hatten, stellten sie keine unmittelbare Bedro hung dar, und er ignorierte sie. Die anderen, drei an der Zahl, waren mit Schwertern bewaffnet. Sie standen alle fünf über ihre gefallenen Kameraden gebeugt; offenbar hatten sie nicht mit Garths plötzlichem Erscheinen gerechnet. Keiner von ihnen mach te eine drohende Bewegung, als sie sich so unvermittelt mit dem wütenden Übermann mit seinem riesigen Breitschwert konfron tiert sahen. »Lasst eure Waffen fallen!« bellte Garth. Widerstrebend ge horchten die fünf. »Und nun hinaus mit euch! Sammelt eure Verwundeten ein und verlasst das Haus!« Zögernd gehorchten sie. Von den sechs Männern, die Garth niedergestreckt hatte, waren drei tot; der, dem er das eigene Schwert gegen die Stirn geschlagen hatte, war bewusstlos, aber nicht ernsthaft verletzt; der, der als letzter gefallen war, lebte noch, aber sein Zustand war ernst; sein pro visorischer Verband war blutdurchdränkt; und der, der hinter der Tür gestanden hatte und dem er den Arm aufgeschlitzt hatte, trug den Arm in einer blutdurchtränkten Schlinge, konnte aber noch gehen. Die Neuankömmlinge, die ihre Waffen gestreckt hatten, trugen die Verwundeten hinaus, jeweils zwei von ihnen einen, der, der noch gehen konnte, wurde vom fünften gestützt. Garth schaute ihnen nach, bis sie verschwunden waren.
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Das Überraschungselement war verloren; dafür hatte er jetzt eine verteidigungsfähige Stellung. Ein donnerndes Brüllen erscholl hinter ihm; er wirbelte herum, das Schwert zum Streich erhoben, und dann erkannte er das Ge räusch. Koros! Das Kriegstier war in Aktion! Sein Schlachtruf war so laut, dass man ihn über eine halbe Meile hören konnte, aber der Lautstärke nach zu urteilen, musste es viel näher sein; vermutlich war es im Stallhof und verteidigte Frima und Garths Sachen. Wieder erscholl das Brüllen, vermengt mit einem menschlichen Schrei. Garth wünschte, er hätte sehen können, was vor sich ging, aber er wollte nicht riskieren, sich dem Armbrustfeuer, das ihn draußen auf dem Hof erwartete, ohne Not auszusetzen. Das Brüllen hielt an, und andere Geräusche mischten sich dar unter: Waffenklirren, heisere Schreie, gellendes Kreischen. Ein Schreck durchfuhr Garth, als er das Schnappen von Armbrust sehnen hörte. Das konnte gefährlich werden; so dick die Haut Koros‘ war, ein aus kurzer Distanz abgeschossener Armbrustbolzen konnte sie unter Umständen durchdringen. Wenn ein Scharfschütze Glück hatte und es ihm gelang, einen Bolzen in den Mund oder das Auge des Kriegstiers zu platzieren, konnte er damit ernsten Schaden anrichten. Garth wollte sein treues Tier nicht allein der Gefahr gegenüberstehen lassen. Er spähte durch die Tür in den kleinen Hof, um nachzuprüfen, ob die Armbrustschützen noch immer hinter den Mauern lauerten. Zu seiner Verwunderung war keine Spur von ihnen zu sehen. Kein Kopf, keine Waffe zeigte sich hinter der Mauer. Verdutzt wagte er vorsichtig einen Schritt nach draußen, in der Erwartung, dass die Armbrustschützen jeden Moment auftauchten.
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Nichts dergleichen geschah jedoch. Das Brüllen des Kriegstiers war zu einem leisen Knurren verebbt, und der Kampfeslärm war merklich schwächer geworden; gegen wen Koros auch immer ge kämpft haben mochte, er schien obsiegt zu haben. Garth lauschte gespannt, und jetzt merkte er, dass der Lärm nicht direkt von vorn kam, vom Stallhof her, sondern von rechts. Er wandte sich nach rechts und näherte sich der Mauer so weit, dass er über sie hin wegblicken konnte. Koros war in dem Hof nebenan; er hielt den Kopf gesenkt, so dass Garth ihn nicht eher hatte sehen können. Zwei Armbrust bolzen staken in seinem Fell, aber Garth konnte keine Anzeichen für eine schwerwiegendere Verletzung erkennen. Was er sah, erklärte den Verbleib der Hälfte der Armbrust schützen; die übrigen mussten, so nahm er an, panikartig die Flucht ergriffen haben. Was aus Frima und seiner Beute geworden war, blieb vorerst ein Geheimnis. Er hielt wachsam nach allen Sei ten Ausschau, ehe er bis dicht an die Mauer herantrat und seinem Kriegstier beim Fressen zuschaute. Koros fraß mit gierigem Appetit, und Garth bekam ein schlech tes Gewissen, als er sich zu Bewusstsein brachte, dass er seinem treuen Kriegstier seit seiner Ankunft in Dûsarra noch nichts zu fressen verschafft hatte. Zu den Füßen der Bestie lagen die Leichen – oder das, was von ihnen übriggeblieben war – von fünf oder sechs Männern verstreut; Garth fand, dass das mehr als reichlich war, denn gar so viel Zeit war noch nicht vergangen, seit Koros zum letzten Mal zu fressen bekommen hatte. Unter normalen Um ständen hätte das Kriegstier sich nicht so schnell über die Anwei sungen seines Herrn hinweggesetzt. Es musste gereizt vor Hunger gewesen sein und sich schließlich so sehr über die Dûsarranische Soldateska geärgert haben, dass es seinen Befehl, an Ort und Stelle zu bleiben und Wacht zu halten, vergessen hatte.
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Es war höchstwahrscheinlich noch immer gereizt, und Garth wollte es nicht stören, bis es sich an seinen Opfern satt gefressen hatte. Er schaute zu, wie es mit seinen Fangzähnen derbes Kettengewebe zerriss, um an das weiche Fleisch zu gelangen, das darunter war, und einmal mehr staunte er über die ungeheure Kraft des Tieres. Das Geräusch von klirrendem Panzer hinter der Mauer zum Stallhof erinnerte ihn schlagartig daran, dass der Verbleib Frimas und seiner Beute noch immer ungeklärt war; er schwang sich auf die niedrigere Mauer zwischen den beiden Privathöfen; von diesem Punkt aus hatte er einen guten Überblick über das rote Ziegeldach des Stalls und einen Teil des Hofes. Dort unten marschierten Männer; viel mehr als ihre Helme konnte er nicht sehen, aber es war ziemlich klar, dass sie es auf die Stallbox abgesehen hatten, in der er Frima zurückgelassen hatte. Wie zur Bestätigung seiner Vermutung hörte er im selben Moment die Stimme seiner Gefangenen rufen: »Koros!« Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Er schwang sich auf das Dach und rannte mit langen Schritten über die Ziegel. Als die behelm ten Männer, aufgeschreckt durch das Geräusch, aufschauten, sa hen sie einen brüllenden, über und über mit Blut bespritzten Übermann auf dem Dach auftauchen, der ein riesiges Breitschwert über seinem Kopf kreisen ließ. Sein Erscheinen erwies sich als ausgezeichnetes Ablenkungsma növer; sie blieben jählings stehen, der Anführer nur noch einen oder zwei Schritte von der Tür der Stallbox entfernt. Er wich sogar entgegenkommenderweise zwei Schritte zurück, um den Über mann besser sehen zu können. Ein Schrei ging durch die Menge. »Der Übermann! Der Über mann!« Draußen auf der Straße erhob sich ein Tumult, und weite re Männer kamen durch den Toreingang in den Hof geströmt. -302-
Wieder brüllte Garth und schrie: »I‘a bheluye! Ich bin Zerstörung!« Er wusste, das psychologisch Richtige in diesem Moment wäre gewesen, mitten zwischen die Männer zu springen und mit dem Schwert um sich zu schlagen; mit einem solchen An griff hätte er sie mit ziemlicher Sicherheit allesamt zurück durch das Tor getrieben. Doch leider konnte er sich nicht zu einem sol chen unnötigen Blutvergießen durchringen. Statt dessen beschränkte er sich darauf, möglichst furchterregend dreinzu schauen und die Klinge über seinem Kopf kreisen zu lassen, so dass sie rot aufblitzte, als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf sie trafen. Die Männer starrten mit offenen Mündern zu ihm hinauf; keiner von ihnen wagte weiterzugehen — aber es wich auch keiner zu rück, wenngleich einige nervös mit den Füßen zu scharren be gannen. Er konnte sie nur in die Flucht schlagen, wenn er atta ckierte, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Ganz abgese hen von seiner Aversion gegen solcherlei mutwilliges Blutver gießen, war es ein langer Satz vom Dach auf den Stallhof; selbst wenn er ihn schaffte, ohne sich dabei zu verletzen, was nicht allzu schwierig sein durfte, würde er beim Landen höchstwahrschein lich stolpern oder gar hinfallen, was seiner Würde abträglich sein würde und seinem Auftritt die ganze Wirkung nehmen würde, entpuppte er sich damit doch als ganz normaler Sterblicher. Zu dem setzte er sich damit der Gefahr aus, bei der zu erwartenden konzertierten Gegenattacke sofort überwältigt zu werden. Die Rettung aus seiner verzwickten Lage kam ganz unverse hens, just in dem Augenblick, als der Effekt seines Auftritts zu verblassen begann und die ersten ihre Fassung wiederfanden; mit einem einzigen gewaltigen Satz flog Koros über die Stallhofwand, landete, einen Schauer von Ziegelsplittern unter der Wucht seiner mächtigen Pranken aufspritzen lassend, auf dem Stalldach und sprang, alles in einer einzigen fließenden Bewegung, mitten unter -303-
die Dûsarraner, drei auf einmal unter sich begrabend. Sie starben, noch ehe sie überhaupt wussten, was da über sie gekommen war, als die Krallen des Kriegstiers Roben, Kettenpanzer und Fleisch aufrissen; das Knacken von brechenden Knochen war auf dem ganzen Stallhof zu hören, über das Triumphgebrüll hinweg, das Koros ausstieß, als er zuschlug. Die Schwerter, die die drei Männer in der Hand gehalten hatten, flogen in hohem Bogen durch die Luft und krachten scheppernd gegen die Brustpanzer ihrer hinter ihnen stehenden Spießgesellen; eines von ihnen schlug eine klaffende Wunde in die Schädeldecke eines Mannes, bevor es zu Boden fiel. Noch nicht zufrieden mit diesem einzigen Angriff, schnellte Ko ros noch einmal hoch — ein kurzer kraftvoller Sprung, der einen weiteren Mann so jäh und heftig von den Beinen riss, dass der hin ter ihm stehende mit ihm zu Boden ging, eingeklemmt unter dem Körper seines Vordermannes zappelnd. Während der zuoberst liegende von den Fangzähnen des Kriegstiers von der Stirn bis zum Geschlecht aufgeschlitzt wurde, versuchte sich der untere un ter gellenden Angstschreien strampelnd zu befreien, festgenagelt unter dem Gewicht der auf dem Körper seines Kameraden liegenden Vorderpranken des Kriegstiers. Fast spielerisch, mit einer Bewegung, die an eine Katze erinnerte, die ein Garnknäuel anstupst, schnellte einer dieser mächtigen Tatzen plötzlich vor, und die gebogenen Krallen der Bestie rissen dem Schreienden den Kopf ab. Garth stand, buchstäblich vergessen, auf dem Dach und sah zu, wie die Krieger, in panischer Angst einander drängelnd und schubsend, im Torbogen verschwanden. Das riesige Breitschwert hing locker in seinen Händen, als Koros, einen letzten kurzen Blick auf die fliehenden Dûsarraner werfend, auf ein weiteres Nachsetzen verzichtete und sich mit einem behaglichen Knurren niederließ, sich an dem frisch erlegten Festschmaus zu erlaben. Er -304-
leckte sich geziert die Tatzen, blickte aus seinen geschlitzten Pu pillen zu seinem Herrn hinüber und begann zu fressen. Als ein Moment vergangen war und kein Anzeichen eines neu erlichen Angriffs zu sehen war, warf Garth das Schwert in den Stallhof und ließ sich vorsichtig an der Dachtraufe hinunter. Mit einem kurzen Sprung landete er im Hof. Die Dämmerung hatte die Stallboxen in düsteres Halblicht gehüllt, und er hatte nichts, womit er Licht machen konnte; er spähte durch das graue Dunkel hinüber zu seiner Stallbox und er kannte das blasse Oval von Frimas Gesicht über der Tür. Er schlenderte zu ihr und fand sie mit aufgerissenen Augen und of fenem Mund auf Koros starrend, der gerade zufrieden auf einem Oberschenkelknochen kaute. »Wir müssen aus der Stadt raus«, sagte er. Sie antwortete nicht, sondern starrte weiter auf Koros. Ihr Mund klappte zu, sie schluckte ein-, zweimal, dann fiel ihre Kinnlade wieder herunter. »Das beste ist, wir reiten auf Koros. Er ist wahrscheinlich mit uns beiden immer noch schneller, als wir es zu Fuß je sein könn ten; zudem brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir getrennt werden.« Sie schwieg noch immer. Schließlich blinzelte sie und wandte sich dem Übermann zu. »Wir sollen darauf reiten?« Ihre Stimme klang heiser. »Ja. Es ist dasselbe Tier, das du gestern noch gestreichelt hast, und nun, da es satt ist, dürfte es uns keine Probleme bereiten.« Ihr Blick schweifte wieder zurück auf Koros, der, mittlerweile gesättigt, seine Tatzen sauber leckte. Als er damit fertig war, wanderte er zwischen den Überresten seiner Opfer umher und ließ sich schließlich auf dem abgetrennten Kopf nieder, der unbe
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merkt quer über den Hof gerollt und vor der Wand neben dem Toreingang liegengeblieben war. Frimas Mundwinkel begannen zu zucken, und dann wandte sie sich ab und er-brach sich auf das schmutzige Stroh, mit dem die Stallbox ausgelegt war. Garth wartete geduldig, bis sie fertig war, dann sagte er: »Es wäre hilfreich, wenn du mir beim Aufladen der Vorräte zur Hand gehen würdest.«
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Kapitel 24 Obwohl aus dem Rasseln von Kettenpanzern, dem Gemurmel von Stimmen und einem gelegentlich um die Ecke des Torbogens spähenden Kopf deutlich wurde, dass eine beträchtliche Anzahl bewaffneter Männer auf der Straße vor dem Gasthof lauerte, gab es keine weiteren Angriffe oder Versuche, in den Stallhof einzu dringen. Koros war vollkommen fügsam, seit er sich satt gefressen hatte, und Garth hatte keine Mühe mit dem Aufladen und Fest schnallen seiner restlichen Vorräte und des Sacks, der die Beute stücke aus den ersten fünf Tempeln enthielt — ausgenommen Frima, die nervös war und sich dem Kriegstier nur mit größtem Wider-streben näherte. Als er damit fertig war, fand er einen Platz für das große Schwert; er schob es so in das Geschirr, dass seine riesige Klinge an der rechten Flanke des Kriegstiers entlanglief, mit dem Heft zum Halse hin. Es war auf diese Weise nicht beson ders zugänglich, aber es war sicher und fest verstaut: Garth war weit mehr geneigt, ihre Sicherheit Koros anzuvertrauen, als zu versuchen, die unhandliche Waffe festzuhalten, während sie mit hoher Geschwindigkeit ritten. Als das Schwert zu seiner Zufrie denheit befestigt war, hob er Frima auf das hintere Ende des Sattels, dann schwang er sich in seine gewohnte Stellung, direkt vor sie. Sein Plan war denkbar einfach; er und Frima würden sich so gut sie konnten festhalten, während Koros mit voller Geschwindigkeit zum Stadttor jagte. Die Dûsarraner hatten noch nicht viel Gelegen heit gehabt, das Kriegstier in voller Aktion zu erleben, und Garth baute auf die Hoffnung, dass sie nicht in der Lage sein würden, ir gend etwas zu unternehmen, um seinen Ansturm aufzuhalten. ge wiss, es bestand immer die Möglichkeit, dass ein Bogenschütze mit einem Glücksschuss einen Pfeil in das Auge des Tieres jagte -307-
oder durch seine, Garths, ungeschützte Kehle, oder durch irgend einen Körperteil des ungepanzerten Mädchens hinter ihm, aber er sah keine Möglichkeit, dieses Risiko zu vermeiden. Er überprüfte ein letztes Mal die Knoten und Schnallen, mit denen alles festgezurrt war, rückte seinen eigenen Sitz zurecht und mahnte Frima, sich gut festzuhalten; dann beugte er sich vor und flüsterte in das dreieckige Ohr des Kriegstiers das eine Wort, das bedeutete: »Bring uns heim!« Koros schnaubte und trottete auf lautlosen Tatzen in den Hof hinaus; er ging einmal im Kreis herum, studierte genau seine Um gebung, und dann, ganz unvermittelt und ohne Warnung, schnellte er mit einem gewaltigen Satz hoch. Er landete auf dem Stalldach, streckte sich übergangslos zu einem zweiten, kürzeren Sprung, der ihn an die Kante des Daches brachte, auf der Seite, die der Straße zugewandt war, und glitt dann in langgestrecktem Sprung hinunter auf die Straße, die Men schenmenge ignorierend. Garth hatte erwartet, dass das Kriegstier diese Route wählte, aber die Wirklichkeit war nicht zu vergleichen mit dem, was er sich in seiner Vorstellung ausgemalt hatte; noch nie zuvor war er derartig abrupten Richtungs- und Geschwindigkeitsver änderungen ausgesetzt gewesen, solch jähen Stürzen ins scheinbar Bodenlose, solch schwindelmachenden Aufwärtsschwüngen; sein vermeintlich eiserner Griff, mit dem er das Geschirr umkrallt hielt, erschien ihm plötzlich so unsicher, wie als hielte er sich an einem Strohhalm fest. Sein Magen schien sich bei jeder Bewegung von innen nach außen zu stülpen; er hatte einmal einen Sturm auf See erlebt – nun, genaugenommen war es nicht auf hoher See ge wesen, sondern in einer geschützten Bucht; jedenfalls hatte das Schiff für seine Begriffe höllisch geschwankt — und die Übelkeit, die ihn bei jener Gelegenheit befallen hatte, war die einzige Emp
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findung, die er in etwa mit dem vergleichen konnte, was er jetzt durchmachte. Die Seekrankheit hatte ihn indes langsam und all mählich beschlichen; die Übelkeit, die er jetzt empfand, war ge nauso jäh auf und abflauend und unberechenbar wie die Bewe gung, durch die sie hervorgerufen wurde. Er beugte sich tief über den Hals des Tieres, schloss die Augen und kämpfte gegen den Brechreiz an. Frima erging es nicht besser als ihm; ihr Kopf flog bei jedem Satz hin und her, während sie verzweifelt darum kämpfte, den Halt an Garths Hüfte nicht zu verlieren. Ihr gepeinigter, soeben noch ge leerter Magen rebellierte schmerzhaft und versuchte immer wieder, das von sich zu geben, was er schon längst ausgespien hatte. Vor Schmerzen standen ihr die Tränen in den Augen. So konnten sie beide nicht sehen, was passierte — was vielleicht auch besser war. Als wären die winzigen Menschenwesen gar nicht vorhanden, war Koros mitten unter ihnen gelandet, gleich mehrere von ihnen unter sich zermalmend; und sofort sprang er wieder vorwärts, ein halbes Dutzend weitere mit seinen Pranken nieder-mähend. Ein Hagel von Armbrustbolzen, viel zu spät abge feuert, pfiff wie ein Insektenschwarm an der Stelle über das Dach, wo er eben noch gelandet war, und weitere, aufs Geratewohl abgefeuerte Geschosse schwirrten hinter ihm her, ohne ihn zu treffen, als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte, auf den Marktplatz zuhaltend. Anfangs war sein Pfad gesäumt von blutüberströmten Leibern, doch sehr bald schon spritzte der Mob vor diesem unaufhaltsam vorwärts stürmenden Moloch zur Seite, und er bewegte sich wieder in seiner normalen, gleitenden Gang art vorwärts anstatt in heftigen, alles niedermähenden Sprüngen. Garth hatte sich jetzt wieder soweit erholt, dass er es wagte, die Augen aufzuschlagen. Er staunte über die große Zahl von Männern, die seine Feinde aufgeboten hatten — und er staunte
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über die unglaubliche Kraft und Geschwindigkeit seines Reittiers. Er hatte das Tier schon früher in Aktion gesehen und seine ge schmeidige Kraft und ungeheure Schnelligkeit bewundert, aber diese Geschwindigkeit als Zuschauer zu erleben und sie als Reiter am eigenen Leibe zu erfahren, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn Koros in voller Kampfgeschwindigkeit dahinflog, war der Wind, der dem Reiter ins Gesicht blies, wie eine feste Wand, die ihn fast aus dem Sattel stemmte; es war unmöglich, die Augen länger als eine Sekunde auf einmal offenzuhalten. Koros hatte mehr strategisches Geschick an den Tag gelegt, als man von einem bloßen Tier erwarten konnte; statt die kürzeste und direkteste Route zum Marktplatz zu nehmen, hatte er einen Bogen nach Norden um mehrere Häuserblocks geschlagen und tauchte jetzt aus einer völlig unerwarteten Richtung auf dem Marktplatz auf. Er war schneller vorwärts gekommen als die Kunde von seinem Herannahen und brach unangekündigt über den Marktplatz herein; zum ersten Mal, seit er den Stallhof verlassen hatte, brüllte er. Der Markt sah auf den ersten Blick wie immer aus; ringsum ge säumt von den Ständen der Händler, wie stets von zahllosen Fa ckeln beleuchtet und von einer Menschenmenge bevölkert. Die Menge indes verteilte sich auf ungewöhnliche Weise: Gruppen waren an jedem Zugang konzentriert, und die Straße, die zum Gasthof der Sieben Sterne führte, war schwarz von Menschen. Je mand schrie und heizte die Menge auf. Und noch etwas war anders, etwas, das viel wichtiger war: Das Stadttor war geschlossen. Das Brüllen des Kriegstiers hallte vom Stein der Stadtmauer und vom Holz und Metall des Tores wider, und für einen kurzen Augenblick verebbte das Gemurmel der Menge; der Einpeitscher brach mitten im Satz ab, und eine kurze Stille schweifte über den
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Platz, um gleich darauf wieder von Tumult und Geschnatter aufgeschluckt zu werden. Niemand rührte sich, als Koros über den Marktplatz zum Tor stolzierte. Er blieb wenige Schritte davor stehen und blickte an der Barriere hinauf; seine goldenen Augen glänzten im Schein der Fa ckeln. Garth, der immer noch benommen war von dem wilden Ritt — der weniger als eine Minute gedauert hatte —, tat dasselbe. Das Tor war aus solidem eisenbeschlagenen Eichenholz und rag te hoch in die Dunkelheit hinein, eine schwarze Wand vor den Sternen; es war mindestens dreißig Fuß hoch. Garth war nicht si cher, ob Koros eine solche Höhe überspringen konnte, und das Kriegstier schien ebenfalls unsicher; in einem Punkt jedoch war er ganz sicher, nämlich dass es diese Höhe unmöglich mit der Last von zwei Reitern und Gepäck auf dem Rücken meistern konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzusitzen und das Tor zu öffnen. Sein Kopf wurde jetzt rasch wieder klarer, aber er fühlte sich noch nicht imstande zu gehen; er flüsterte seinem Tier ein beru higendes Wort ins Ohr und spähte auf das Tor, um herauszu bringen, wie es gesichert war. Ein schwerer Riegel lag auf einer Reihe von Klammern; in der Dunkelheit und dem flackernden Fackellicht vermochte er nicht zu erkennen, woraus der Riegel gemacht war, er nahm jedoch an, dass er aus massivem Holz bestand, möglicherweise geteert, um ihn widerstandsfähiger gegen den Zahn der Witterung zu ma chen. Ober und unter ihm waren Massen von geknotetem Tau, of fenbar Zurrringe um die Querhölzer an den beiden Flügeln; auch diese waren dunkel. Ein Geräusch lenkte ihn ab; als er sich umwandte, sah er, dass die Menge sich näherte, offenbar mit dem Plan, den Übermann und sein Kriegstier durch ihre schiere Zahl zu erdrücken. Er sah -311-
zahlreiche Schwerter, Keulen, Äxte, Prügel und andere Waffen, die zwischen den Roben geschwenkt wurden, und hier und da glänzten Kettenhemden im Fackelschein. Er fragte sich, wieso so viele dem Anschein nach gewöhnliche Dûsarraner solcherlei Panzerung zur Hand hatten; vertraute die Stadt im Kriegsfalle auf eine Bürgerwehr? Ihm fiel ein, dass er im Moment unbewaffnet war und dass er nicht auf Koros Rücken sitzen wollte, wenn es zum Kampf kam. Bevor die ersten Angreifer ihn erreichen konnten, glitt er vom Rücken seines Kriegstiers und zog das Schwert Bheleus aus dem Geschirr. Er bekam es gerade noch rechtzeitig frei; als die Dûsarraner sa hen, was er vorhatte, fielen sie in Laufschritt, in der Hoffnung, ihn töten zu können, bevor er sich verteidigen konnte. Statt dessen wurden den vordersten in der Front der Angreifer, die viel zu sehr mit dem Laufen beschäftigt waren, als dass sie sich richtig hätten verteidigen können, die Bäuche aufgeschlitzt. Das Schwert Bhe leus schnitt durch Roben, Panzer und Fleisch mit derselben Leichtigkeit, und die größere Reichweite des Übermannes sorgte im Verein mit der Länge der großen Klinge dafür, dass die ersten Dûsarraner ihr Leben aushauchten, bevor sie auch nur einen Schwertstreich zu führen imstande gewesen wären. Ihre Kameraden hinter ihnen stockten in ihrem Vorwärtsdrang, durch das rasche Fallen ihrer Anführer unsicher geworden, und Garth ergriff die Gelegenheit, psychologischen Nutzen aus ihrer Verwirrung zu ziehen. »Abschaum! Ist das die Art Dûsarras? Hunderte gegen einen einzigen Krieger ins Gefecht zu schicken? Feiglinge, die ihr seid, alle miteinander! Hat einer von euch den Mumm, mir im fairen Zweikampf entgegenzutreten? Zwar bin ich mehr als ein bloßer Mensch, aber ich habe bereits lange und harte Gefechte hinter mir.
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Ich tötete das Scheusal im Tempel des Todes! Ich vernichtete den Kult des Bheleu!« Wieder erhob sich Gemurmel in der Menge; keiner trat näher. Nach ein paar Sekunden schrie eine Stimme: »Du hast unseren Tempel geschändet!« »Ich habe ein Ungeheuer besiegt, das sich von Menschenfleisch nährte; ich habe die getötet, die das Töten verherrlichten; und ich habe ein unschuldiges Opfer vor einem schändlichen Ritualmord gerettet! Heißt das, euren Tempel schänden?« »Du hast den Priester der Tema getötet!« Ein Raunen der Empö rung ging durch die Menge. Zweifelsohne waren die meisten aus der Menge Anhänger der Göttin der Nacht. »Wer sagt das? Ich habe im Tempel des Todes gekämpft; ich habe im Tempel Bheuleus getötet und im Tempel Sais, und ich habe den Tempel des Aghad verspottet und verhöhnt, aber wer behauptet da, ich hätte einem Priester der Tema ein Leid zuge fügt?« »Du hast den Tempel der Dunkelheit geschändet und entweiht!« »Wer ist der Kerl, der solches von mir behauptet? Er soll hervor treten und mir seine ungeheuerlichen Anschuldigungen ins Gesicht sagen!« Wieder ging ein Rumoren durch die Menge, aber es kamen keine weiteren Rufe; ein paar taten zögernd einen Schritt vorwärts, doch nur, um sogleich wieder zurückzuweichen. Da lös te sich eine hochgewachsene Gestalt aus der Menge und bahnte sich den Weg nach vorn. Garth musterte die Person, die sich ihm näherte; wer immer es war, er überragte die Mehrheit der Menge um mehr als Haupteslänge. Sein Gesicht war hinter einer Kapuze verborgen, die die Farbe von getrocknetem Blut hatte. Eine Gasse öffnete sich vor ihm, und das letzte Drittel seines Weges über den Marktplatz zu Garth legte er in beherztem, kühnem Schritt zurück. -313-
»Wer ist es, der sich mir entgegenstellt?« »Ich bin es, Tempelschänder; ich bin es, der behauptet, dass du den Priester der Tema getötet und ihren Altar geplündert hast und dass du Priester und Priesterinnen des Regvos getötet hast. Und ich bin es, der sich dir zum Zweikampf stellt!« Mit diesen Worten zog er die Kapuze zurück; zum Vorschein kam das nasen lose braune Gesicht eines Übermannes; seine gelben Augen lo derten im Glanz der Fackeln. Garth brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ihm einer von seiner eigenen Art gegenüberstand; er erkannte die Stimme wieder. Der ihm da gegenüberstand und ihn herausforderte, war kein anderer als der Hohepriester des Aghad! Sein Erzfeind hatte sich endlich gestellt; hier war die Gelegenheit, einen Teil der Ra che zu üben, nach der es ihn so sehr verlangte! Er hob das Schwert Bheleus. »Priester des Aghad! Ihr Leute von Dûsarra, ihr habt dem Herrn des Kultes der Tücke und der Falschheit Glauben geschenkt, dem Hohepriester der Lüge und der Hinterlist, dessen Altar ich in ge rechtem Zorn entweihte! Möge unser Zweikampf mein Los ent scheiden!« Der Aghadit grinste und warf seinen Umhang ab; aufrecht und in voller Größe stand er vor Garth. Zum ersten Mal kam Garth der Gedanke, dass er diesen Kampf vielleicht nicht gewinnen würde. Er war müde, während der Übermann-Priester frisch und ausge ruht war. Darüber hinaus maß er, nun, da er seine geduckte Tarnhaltung aufgegeben hatte, fast acht Fuß in der Länge, was selbst nach Übermann-Maßstäben weit über dem Durchschnitt lag. Er war seltsam unsymmetrisch in seinem Körperbau, seine rechte Schulter war viel höher als seine linke; solche Missbil dungen traten häufig bei den Brustkindern der Nordwüste auf, doch wurden sie, die davon betroffen waren, gewöhnlich gleich
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nach der Geburt getötet. Das war einer der Gründe für die geringe Wachstumsrate der Bevölkerung der Nordwüste gewesen, gleich wohl ein notwendiger, dem sehr stark begrenzten Nahrungs angebot zuzuschreiben. Silbernes Kettengewebe glänzte auf den Armen und Beinen der Übermann-Missgeburt; seine Brust zierte ein rot emaillierter glän zender Brustpanzer. Eine schwere Schädelkappe aus blitzendem Stahl mit Kettenglied-Ohrenklappen schützte seinen Kopf, und bläulich schimmernde stählerne Panzerhandschuhe bedeckten sei ne Hände. Garth fragte sich einen Moment lang, wo er die Hand schuhe erworben haben mochte, die auf die Besonderheiten einer Übermannhand mit ihrem doppelten Daumen und langen Fingern perfekt zugeschnitten waren; seine eigenen Hände waren unge schützt. Immer noch grinsend hob der Aghadit den Arm und zog sein Schwert aus einer Scheide auf seinem Rücken; sein Heft war blut rot und seine Klinge mattschwarz — bis auf die Schneiden, die silbrig-rot im Schein der Fackeln glänzten. Es war eine prachtvolle Waffe, ein zweischneidiges Beidhandschwert. Es war allem An schein nach dem Schwert des Bheleu ebenbürtig. Die Kreatur war ein Priester, so machte Garth sich Mut; er konn te nicht viel echte Kampferfahrung haben. Seine eigene überlegene Geschicklichkeit und Kampferprobtheit mussten eigentlich den Ausschlag zu seinen Gunsten geben, auch wenn der Aghadit über die größere Reichweite und vermutlich auch über die größere Körperkraft verfügte. Die schwarze Klinge sauste herab; Garth parierte die Attacke, doch musste er zu seiner Überraschung zusehen, wie die Klinge seines Gegners blitzschnell zurückzuckte und plötzlich und un erwartet unter seine eigene Klinge glitt. Nur mit einer Reflexbewe gung konnte er dem Stoß ausweichen.
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Noch immer lag das höhnische Grinsen auf den Zügen des Priesters, und Garth wusste, dass das Manöver keinesfalls Anfängerglück war. Er führte eine matte Riposte aus, die der Ag hadit ohne Mühe parierte. Er fühlte einen leisen Anflug von Verzweiflung über sich kom men, als er die Antwort auf seinen Schlag reflexartig parierte und konterte. Das hatte er sich nicht vorgestellt. Er war erschöpft, sein Magen schmerzte noch von dem wilden Ritt, seine Hände kamen ihm schwach und immer noch steif von den Narben seiner Brand wunden vor; so hatte er sich seine Abrechnung mit dem Priester des Aghad nicht ausgemalt. Gewiss, er hatte nicht gewusst, dass der Priester ein Übermann war. Einer von seiner eigenen Art! Einer von seinem Volk Diener jenes widerlichen Kults! Nein, nicht Diener, Anführer! Trotz seiner Müdigkeit schlug seine Verzweiflung plötzlich in Zorn um, und sein nächster Streich war schneller, aggressiver als die vorausge gangenen. Nein, er würde nicht verzweifeln! Verzweiflung war das Fach Sais, der Schwester Aghads. Der Zorn war natürlich das Werk von Aghad selbst, und diese Erkenntnis versetzte ihn noch mehr in Wut. Er würde diesem grinsenden Monstrum seinen Fehler zeigen, würde ihm seinen erbärmlichen Geschmack in der Wahl seines Herrn vor Augen führen! Das Schwert Bheleus zuckte blitz artig hoch, schmetterte die herabsausende Klinge des Aghaditen zur Seite, wirbelte mit wuchtigem Schwung herum und hieb eine breite Schramme in den scharlachroten Brustpanzer des Priesters. Emaillesplitter spritzten auf. Das Grinsen des Aghaditen wurde unsicher. Aghad! Aghad war nichts! Seine Zeit war vor Jahrhunderten zu Ende gegangen; dies war das Zeitalter Bheleus! Der rote Edelstein im Knauf des Schwerts loderte auf.
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»Ich bin Bheleu!« donnerte Garth. Das Grinsen schwand. Das schwarze Schwert hob sich zu einer Parade, und mit einem weit ausholenden wuchtigen Streich sauste das Schwert Bheleus auf die schwarze Klinge herab und zerschmetterte sie; Splitter schwarzen Metalls spritzten auf, kerb ten den roten Brustpanzer. Das Gesicht des Priesters verzerrte sich zu einer Grimasse blan ken Entsetzens, als er auf den Klingenstumpf starrte, der aus dem langen Heft ragte, das er mit beiden Händen umklammert hielt; instinktiv riss er den Stumpf hoch, um den nächsten Streich abzu wehren. Das Schwert Bheleus fuhr diagonal durch Klingenstumpf, Heft und Hände; Knochen brachen knackend, Blut spritzte auf, aber der Hohepriester Aghads hatte keine Zeit zum Reagieren. Die Klinge wanderte weiter, schnitt sich ihre blutige Bahn durch Helm und Schädelknochen. Die Wucht des Streiches war so gewaltig, dass die Leiche nicht in sich zusammensackte, sondern der Länge nach in den Dreck des Marktplatzes geschmettert wurde, wo sie ausgestreckt liegen blieb, umringt von glitzernden Metallsplittern; Blutspritzer malten einen eiförmigen Hof um den zerschmetterten Kopf. Der Sieger hob das Schwert im Triumph, das unheilvolle rote Glühen des Edelsteins ignorierend, und bellte: »Ich bin Zerstö rung!« Koros antwortete mit markerschütterndem Brüllen. Dann, so plötzlich, wie er über ihn gekommen war, fiel der Bann wieder von ihm ab; Garth taumelte und starrte von Entsetzen ge schüttelt auf den toten Körper seines Feindes. Er ließ sein Schwert sinken und sah sich um.
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Mit dem Fall des Aghaditen war für viele aus der Menge der Be weis erbracht, dass Garth recht gehabt hatte; die Menge schrumpf te zusehends. Die jedoch blieben, waren der militante harte Kern des Mobs; als das rasende Monstrum, das ihren Führer abge schlachtet hatte, wieder zu einen ermatteten Übermann wurde, begannen sie gegen ihn vorzurücken. Wieder hob Garth das Schwert. Mit einem furchterregenden Brüllen stellte sich das Kriegstier neben seinen Herrn; die Menge stockte, blieb stehen. Aus dem Augenwinkel sah Garth, dass Firma nicht mehr rittlings auf dem breiten Rücken des Tieres saß, aber er wagte nicht, seinen Blick von der wütenden Menge abzuwenden. Das Schwert fühlte sich unendlich schwer in seinen Händen an. Obwohl der Mob zu einem Bruchteil seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft war, waren es noch immer zu viele, als dass Koros allein hätte mit ihnen fertig werden können; nicht, dass die Gefahr bestanden hätte, dass das Kriegstier getötet wurde, aber es würde von der schieren Anzahl der Feinde zu sehr in Anspruch genommen sein, um Garth zu Hilfe eilen zu können. Er würde sich selbst verteidigen müssen, und er wusste, dass er dazu nicht mehr in der Lage war, es sei denn, diese seltsame Tran ce überkam ihn aufs neue — und das wollte er nicht. Er konnte nie wissen, ob er wieder aus ihr erwachen würde. Außerdem hatte er nicht die geringste Ahnung, was er tun musste, dass sie ihn überkam; sie war jetzt zweimal über ihn ge kommen, einmal im Tempel des Bheleu, das andere Mal hier auf dem Marktplatz, jetzt eben, aber er hatte sie nicht im Tempel des Todes gespürt; es war also nicht Zorn oder physische Gefahr, die sie auslösten. Vielleicht würde das Schwert selbst ihn retten, wie es das schon einmal, in dem Haus hinter dem Stall, getan hatte; er schaute auf
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den Edelstein: das Glühen war zu einem matten Schimmern ver blasst, das nicht sehr ermutigend aussah. Vielleicht konnte er der Menge ihr Vorhaben ausreden; mit sei nem Schwert und seinem Kriegstier und ein paar starken Worten gelang es ihm vielleicht, sie einzuschüchtern. Er hob das Schwert hoch über seinen Kopf, mit einer Mühe, die die Menge hoffentlich nicht bemerkte, doch bevor er zu sprechen anheben konnte, ertönte ein leises Rumpeln, wie er es schon im Tempel des Bheleu gehört hatte. Garth, der sich von seiner Verblüffung schneller erholte als die Dûsarraner, erkannte, dass das Grollen gerade im rechten Moment gekommen war; er nutzte diesen seinen Vorteil aus, in dem er in seinem tiefsten, volltönendsten Tonfall sprach, so tief, wie kein Menschenwesen es je vermocht hätte. »Halt, Abschaum! Ich habe euren Führer in fairem Zweikampf getötet; wollt ihr es noch immer wagen, mir zu trotzen?« Ein hochaufgeschossener junger Mann in dunkelroter Robe ant wortete ihm. »Du bist noch immer ein Gotteslästerer und Tempelschänder, ein Mörder und Altarräuber; die Götter verlangen deinen Tod!« »Dummkopf! Welcher von euren Göttern würde es wagen? Ich bin der Diener von Dûs, Bheleu, ich bringe Tod und Zerstörung; Elend und Verheerung folgen mir wie Bluthunde. Wer bist du, dass du es wagst, dich gegen mich zu empören?« Noch während er sprach, wunderte sich Garth über die Wahl seiner Worte; ob wohl er wusste, dass seine größte Hoffnung darin lag, seine Feinde davon zu überzeugen, dass er mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher war, spürte er, dass seine Beredsamkeit nicht von ihm selbst kam. »Du bist Garth, ein Übermann aus der Nordwüste, von einem drittrangigen Zauberer zum Stehlen hierher gesandt!« -319-
Der Mann war offensichtlich ein Aghadit, da er soviel wusste. Garth wollte sich gerade anschicken, ihn als einen solchen vor der Menge zu entlarven, als eine neue Stimme ertönte. »Dies ist der leibhaftige Bheleu, der gekommen ist, das neue Zeitalter anzukündigen! Er ist der fleischgewordene Gott der Zer störung, was immer er auch früher gewesen sein mag! Die, die ihm die Stirn bieten, mögen wissen, dass P‘hul und ihre Diener ihn als der Göttin Bruder anerkennen und seinen Zwecken dienen!« Der Sprecher dieser Verkündigung stand seitlich in der Menge; in seinem Gefolge waren ein Dutzend Gestalten in grauen Roben, die allesamt ihre Gesichter unter Kapuzen verbargen. Als er zu ih nen hinüberblickte, hatte Garth das Empfinden, dass das Licht sich ränderte und der Platz plötzlich heller wurde. Die Helligkeit schien innerhalb weniger Augenblicke noch wei ter zuzunehmen, und er erkannte, dass dies eine Sinnestäuschung war; eine neue Flamme war hinter ihm aufgetaucht, aber er wagte nicht, sich umzusehen. Einen Augenblick lang herrschte fast völlige Stille, während die, die sich noch immer gegen ihn auflehnten, unsicher tuschelnd bei einander standen; ihm fiel auf, dass weitere abgewandert waren und in den Straßen und Gassen verschwanden. »P‘hul, deine Schwester, entbietet dir ihren Gruß, Herr; was wünschest du von ihr?« Der Grauberobte hielt Garth einen Stab entgegen. Bevor er sich eine Antwort überlegen konnte, hörte er sich brül len: »Ich bin Zerstörung!« »Zerstörung!« wiederholten die Priester und Priesterinnen P‘huls im Chor. Hände flogen empor und streuten ein feines graues Pulver in die Luft; ein plötzlich heranfegender Windstoß trieb es über den Marktplatz und verteilte es. -320-
»Nein!« schrie der Aghadit. »Der Übermann ist ein Betrüger und Dieb! Tötet ihn!« Er zog ein unter seiner Robe verborgenes Schwert und stürmte voran, gefolgt von einem Dutzend seiner Anhänger. Ein schwarzer Schatten füllte für einen kurzen Moment Garths Blickfeld aus, gefolgt von einem Aufblitzen knochenweißer Krallen und schimmernder Fangzähne und einer roten Fontäne; aber, wie Garth befürchtet hatte, waren es zu viele Angreifer für Koros auf einmal; noch während ein halbes Dutzend von ihnen sich preiend in ihrem Blut wälzten, brandete die nächste Woge von Angreifern gegen das Kriegstier an und umspülte es. Garth empfing sie mit einem mächtigen Rundschlag seiner tödlichen Klinge; sie schlitzte einem den Bauch auf, und hatte doch noch Schwung genug, um einem zweiten eine klaffende Wunde in die Seite zu reißen; ein dritter schaffte es, zu ihm vorzudringen; mit knapper Not konnte Garth seinem Schwertstreich ausweichen. Die Klinge schrammte hart über seinen Brustpanzer und quetschte schmerzhaft seine Haut, trotz des Stepphemdes, das er darunter trug. Das Schwert Bheleus kreiste erneut. Als Garth es herumriss, um den Hals des Angreifers mit der Spitze zu durchstoßen, sah er, dass ein neues Feuer in dem roten Edelstein aufzulodern begann. Nachdem er die eine Bedrohung aus dem Weg geschafft hatte, wandte er sich dem nächsten Angreifer zu – und sah, dass die P‘huliten ruhigen Schrittes davongingen, ohne seinen Feinden Widerstand zu leisten; er hatte gehofft, dass sie ihm zur Seite stehen würden. Ein Dutzend Verbündete, ganz gleich, wie krank und gebrechlich sie auch sein mochten, hätten ausgereicht, um das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Welchen Wert hatte ihr ganzes salbungsvolles Gerede gehabt!
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Seine Klinge zertrümmerte das Gesicht eines Mannes. Wo, fragte er sich, war dieser Bheleu, wenn man ihn brauchte? Garths Arme schmerzten, als er mit seiner schweren, unbiegsamen Klinge wei ter wild um sich schlug. Ein Gesicht tauchte vor ihm auf, und er holte aus, um es mit sei ner Klinge zu zerschmettern; bevor jedoch der Streich sein Ziel traf, schien sich das Gesicht plötzlich aufzulösen. Der Mund klappte auf; die Haut zerbröckelte wie getrockneter Matsch, über all trat eitriger Schleim aus; eine weiße klebrige Masse quoll aus den Augenhöhlen, und der Mann sackte wimmernd vor Garths Füßen zusammen. Der Streich des Schwertes Bheleus ging ins Leere; Garth wurde vom Schwung mitgerissen und erlangte stolpernd sein Gleichge wicht wieder. Der Schock über das, was er soeben gesehen hatte, ließ ihn für einen Moment wie betäubt dastehen. Weitere Schreie gellten jetzt über den Platz und vermengten sich mit den Schreien der Männer, die Koros zerfleischte. Eine Klinge ritzte leicht Garths Hals und fiel dann klirrend zu Boden; der Mann, der den Streich geführt hatte, sank röchelnd zu Boden; die Haut löste sich in Streifen von seinem Gesicht. Als Garth sich umsah, nach weiteren Angreifern Ausschau haltend, stellte er zu sei ner Überraschung fest, dass keiner mehr da war. Statt dessen lagen überall Sterbende auf dem Platz, aus deren Wunden anstelle von Blut weißer eitriger Schleim quoll. Die, die sich noch auf den Beinen halten konnten, hatten entsetzt die Flucht ergriffen; Garth sah, wie viele von ihnen strauchelten und röchelnd ihr Leben aushauchten. Das Schwert Bheleus fiel ihm aus den Händen, ohne dass er es merkte. Er hatte Chaos und Verderben über Dûsarra gebracht, trotz all seiner gegenteiligen Beteuerungen.
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Ein Schrei riss ihn aus seinem Grübeln. »Herr Garth! Zu Hilfe!« Er riss sich zusammen, so gut er konnte, hob das Schwert von der Erde auf und ging in die Richtung, aus der Frimas Stimme gekom men war. Sie stand am Tor und versuchte keuchend, den schweren Riegel hochzuheben, ein Unterfangen, das offensichtlich ihre Kräfte über forderte; die Zurrringe waren verschwunden, nur noch schwe lende Aschenreste waren von ihnen übrig geblieben, und neben ihr auf dem Boden lag eine Fackel. Als er auf sie zuging, sah er, dass die Dachplanen der Stände auf der Ostseite des Marktplatzes in hellen Flammen standen; das also war das neue Licht gewesen, das hinter ihm aufgelodert war, als er dem Mob gegenüber gestanden hatte. Er hatte keine Ahnung, wer sie in Brand gesteckt hatte und warum; er würde Frima bei nächster Gelegenheit da nach fragen. Er hatte vorgehabt, Frima mit der letzten ihm verbliebenen Kraft dabei zu helfen, den schweren Holzriegel aus seinen Halte klammern zu heben; doch als er näher kam, schien das Schwert heft in seinen Händen sich plötzlich von selbst zu bewegen, und er sah sich zu seiner Verblüffung auf den Riegel einhacken, so als wolle er Brennholz mit einer Axt zerspleißen. Das Schwert, oder welche Kraft es auch immer lenkte, schien zu wissen, was es tat; schon beim zweiten Schlag zerbrach der Riegel in der Mitte, und das Holz zerbröckelte auf unnatürliche Weise. Die Enden blieben heil, aber das Tor ließ sich jetzt so weit öffnen, dass zuerst Frima, dann Garth und schließlich Koros in die Nacht hinaus schlüpfen konnten.
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Kapitel 25 Die Luft war trocken und warm, als das Trio den Hang hinunter ging, unwillkürlich einen schnellen Schritt anschlagend, um möglichst rasch einen großen Abstand zwischen sich und das Chaos auf dem Marktplatz von Dûsarra zu legen; die orangefarbene Glut, die durch das Tor fiel, wurde blasser und verlor sich schließlich im silbrigen Licht des Mondes. Irgendwo weit hinter ihnen war ein leises Grollen zu hören. Einige hundert Schritte jenseits der Stadtmauer blieb Garth stehen und sammelte Frima und Koros um sich. Dann machte er sich daran, die Knoten und Gurte zu überprüfen, die seinen Provi ant und die Beute auch während des Kampfes auf dem Rücken seines Kriegstieres gehalten hatten. Während er damit beschäftigt war, fragte er Frima: »Wie kam es zu den Feuern?« »Ich habe sie angezündet. Mit einer Fackel von einem der Pfos ten.« »Warum?« »Zur Ablenkung; ein paar Männer schlichen hinter deinem Rücken herum.« »Oh.« Die Vorstellung ließ noch im nachhinein einen Schauer des Unbehagens über seinen Rücken rieseln. Er hatte an die Möglichkeit eines solchen Manövers nicht im geringsten gedacht. »Ich danke dir. Und die Seile am Tor?« »Sie waren geteert, um zu verhindern, dass sie sich im Regen dehnen; Teer brennt hervorragend. Deshalb hatte ich die Fackel, als ich die Männer kommen sah.« »Danke. Du warst sehr hilfreich.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, während er eine Schnalle festzurrte, die sich gelockert
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hatte. Ein leises Knistern drang aus der Stadt herüber; das Feuer musste sich ausgebreitet haben. Garth blickte auf, sah aber keine Anzeichen, dass sie verfolgt wurden. »Ich weiß gar nicht, warum ich dir geholfen habe!« platzte Frima plötzlich heraus. »Entführst du mich etwa?« »Ja«, antwortete Garth. »Aber würdest du jetzt in Dûsarra sein wollen? Wo Feuer, Panik und Seuche in den Straßen wüten?« »Nein.« Ihre Stimme klang fest und entschieden. Alle Auf lehnung war aus ihr verschwunden. »Diese Krankheit – hast du sie schon einmal gesehen?« »Nein, aber ich habe von ihr gehört. Es ist der Weiße Tod. P‘hul bedient sich dieser Krankheit, um sich derer zu entledigen, die ihr Missfallen erregt haben. Sie muss dir gewogen sein, wie ihr Pries ter sagte.« Noch ein paar Tage zuvor hätte Garth das als typisch menschlichen Aberglauben belächelt; jetzt war er sich da nicht mehr ganz so sicher. Bei den Ereignissen der letzten Tage und Nächte waren zweifelsohne Kräfte mit im Spiel gewesen, wie er ihnen zuvor noch nicht begegnet war. Er schob das Schwert Bhe leus in Koros‘ Geschirr, an dieselbe Stelle, wo es vorher gesteckt hatte, wobei er sich wünschte, er hätte eine andere, handlichere und vertrauenswürdigere Waffe. »Es kann sein«, sagte er, »dass der Vergessene König keine Verwendung für dich hat. Sollte das der Fall sein, bist du frei und kannst gehen, wohin du willst; wenn du möchtest, kannst du nach Dûsarra zu deiner Familie zurückkehren. Ich kann es dir jedoch nicht fest versprechen.« »Vielleicht entfliehe ich dir auch vorher.« Ihre Stimme klang jetzt fast ein bisschen heiter.
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»Ich hoffe, dass ich das verhindern kann. Bedenke, du bist unbe waffnet und nur halb bekleidet, und die Stadt ist zur Zeit ein sehr ungesunder Ort.« »Ach, mach dir mal keine Sorgen, Dummerchen!« Sie tätschelte Koros, der damit beschäftigt war, sich das Blut von den Tatzen zu lecken. Garth lächelte. Noch nie zuvor hatte ihn jemand Dummerchen genannt. Zumindest nicht innerhalb der letzten hundert Jahre. Ein roter Lichtschein erhellte den Himmel; als Garth und Frima sich umwandten, um nach der Quelle des Lichts zu forschen, sa hen sie, dass einer der Vulkangipfel hell aufloderte. Einen Moment später ließ das schon bekannte Rumpeln die Erde unter ihren Füßen erzittern. »Ich denke, es wäre ratsam, wenn wir aufbrächen«, bemerkte Garth. Er hob das Mädchen auf den Rücken des Kriegstiers, dann schwang er sich selbst hinauf. Er war müde und hätte lieber ge schlafen, aber es schien ziemlich klar, dass er so lange nicht in Si cherheit wäre, wie er sich in der Nähe der Stadt befand. Als beide in bequemer Stellung saßen, setzte sich Koros in Bewe gung und fiel rasch in seine gewohnte gleitende Gangart, offenbar unbeeindruckt von seinen jüngsten Anstrengungen. Als Dûsarra und der lodernde Vulkan hinter ihnen verschwunden waren, dachte Garth über die jüngsten Ereignisse nach. Seine atheistische Weltsicht, der er ein Leben lang nachgehangen hatte, war nachhaltig erschüttert; irgend etwas war da, das seine Handlungen gelenkt hatte, seit er das Schwert Bheleus an sich ge nommen hatte. Es gab keine andere auch nur halbwegs befrie digende Erklärung. Ob es tatsächlich der Gott der Zerstörung war, der sein Handeln geleitet hatte, wusste er nicht; ebensowenig be griff er die Beziehung zwischen dieser Macht, seiner Person und dem Schwert. Was immer es war, es hatte ihm mächtige Ver -326-
bündete in Gestalt des P‘hul-Kults verschafft, und es hatte ihm deshalb möglicherweise auch Feinde eingetragen — etwas, wor auf er fortan würde achten müssen. Die Feindschaft des AghadKults hatte er sich selbst eingebrockt, und er war sicher, dass der Kult auch in Ländern außerhalb Dûsarras über Macht verfügte; auch das würde er in Zukunft bei allem, was er tat, mit ins Kalkül ziehen müssen. Dem Schwert selbst traute er nicht; wenn es nicht seine einzige Waffe gewesen wäre, hätte er auf der Stelle geschworen, es nie wieder in die Hand zu nehmen. Er war froh, wenn er es dem Vergessenen König abliefern würde; dann hatte er nichts mehr da mit zu schaffen. Der Vergessene König — das war eine andere Sache, über die er sich Gedanken machen musste. Der alte Mann war der Hohepries ter des Todes; es war daher nicht erstrebenswert, ihm weiter zu dienen. Er würde ihm die Beute von den verschiedenen Altären aushändigen und alsdann seines Weges gehen. Die vagen Versprechungen von Ruhm, möglicher Unsterblich keit und großer kosmischer Bedeutung waren gegenwärtig für ihn von geringem Interesse; seine jüngsten Konfrontationen mit kos mischen Mächten hatten ihm einen großen Teil seiner Begeiste rung für solche Dinge geraubt. Es gab fürwahr irdische Dinge genug, mit denen er seine Zeit ausfüllen konnte. Da war die mögliche Entwicklung von Handelsbeziehungen mit den Über menschen der Yprischen Küste — falls sie tatsächlich existierten; da war die mögliche Auseinandersetzung mit den Folgen der jüngsten Ereignisse; da war die Rechnung, der er mit dem Baron von Skelleth noch zu begleichen hatte. Handel oder nicht, er war entschlossen, es dem Baron heimzuzahlen. So ritt er dahin durch die Nacht, hinter sich im Sattel einsam und verloren das Mädchen Frima, das die einzige Heimat zurück
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ließ, die es je gekannt hatte; unter ihm der geschmeidige, musku löse Rücken seines treuen Koros, der auf lautlosen Tatzen da hinflog. Sein Geist schwelgte in Phantasien, wie er den Baron de mütigen würde, wie er den Aghad-Kult ausrotten würde, in Phan tasien künftiger Ruhmestaten, die er vollbringen würde. Keiner der drei nahm Notiz von dem großen roten Edelstein, der im Knauf des großen, an Koros‘ Seite auf- und abwippenden Schwertes des Bheleu steckte; keiner von ihnen sah die düstere blutrote Glut, die in seinem Innern schwelte.
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