A. F. Morland
Die Spur des Wolfs Version: v1.0
Der schwarze Wagen preschte mit mörderischer Ge schwindigkeit schling...
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A. F. Morland
Die Spur des Wolfs Version: v1.0
Der schwarze Wagen preschte mit mörderischer Ge schwindigkeit schlingernd und schleudernd durch die kalte Vollmondnacht. Wer so fuhr, konnte nicht alle fünf Sinne beisammen haben. Saß der Fahrer zum ersten Mal in einem Auto? War er schwer alko holisiert? Hatte er irgendwelche verbotene Drogen genommen? Eine solche unverantwortliche Raserei konnte nicht lange gut gehen. Und da passierte es auch schon …
Das Fahrzeug streifte mehrere am Straßenrand abgestellte Wagen, überschlug sich krachend und rutschte Funken sprühend etwa hundert Meter weit über den Asphalt. Ein markerschütterndes Brüllen, Heulen und Jaulen flog durch die Nacht. Und dann … Nichts mehr. Stille … Menschen kamen von allen Seiten gelaufen. Sie zogen einen bewusstlosen Mann aus dem Wrack. Sein Gesicht war blutverschmiert. Behutsam trugen sie ihn zum Straßenrand. Zwei von ihnen versuchten, erste Hilfe zu leisten. Ein dritter holte sein Handy heraus und rief einen Krankenwagen. Zehn Minuten später war der Schwerverletzte bereits unterwegs zum nächsten Krankenhaus. Keuchend brachten ihn die Sanitäter in die Notaufnahme der Holy-Cross-Klinik. Dr. Spall, der diensthabende Arzt, eilte ihnen entgegen. »Was ist passiert?« »Autounfall«, berichtete der Rettungsärzt knapp. »Der Mann hat sehr viel Blut verloren.« »Keine Sorge, wir füllen ihn schon wieder auf«, sagte Jonathan Spall. Der Bewusstlose wurde hinter weißen Vorhängen von der fahrba ren Trage auf ein Untersuchungsbett gehoben. Die Rettungsmann schaft zog sich zurück, während Dr. Spall Schwester Sarah bat, das Emergency-Team zusammenzutrommeln. Inzwischen untersuchte er den Mann. »Allmächtiger, den hat es ziemlich schlimm erwischt«, murmelte er. Ein Krankenpfleger erschien, und Jonathan Spall schickte ihn mit einer Blutprobe zur Blutgruppen-Bestimmung ins Labor. »Machen Sie schnell!«, wies ihn der diensthabende Arzt an. »Jede Sekunde zählt! Sobald feststeht, welche Blutgruppe der Mann hat,
kommen Sie mit sechs Blutbeuteln zurück, verstanden?« »Ja, Dr. Spall.« Der Krankenpfleger eilte davon. Jonathan Spall wandte sich an Schwester Sarah. »Waschen Sie ihm das Blut vom Gesicht. Ich bin gleich wieder da.« Er ließ sie mit dem Schwerverletzten hinter dem Vorhang kurz allein … Als Sarah anfing, sein Gesicht zu säubern, öffnete er die Augen. Sein starrer Blick erschreckte die blonde Krankenschwester. Ein feindseliger Ausdruck kerbte sich in seine Züge. »Wie heißen Sie?«, fragte Sarah Cook. Der Mann antwortete nicht. »Wie ist Ihr Name?« Er sagte nichts. »Können Sie nicht sprechen?« Ein aggressives Knurren drang aus seiner Kehle. »Sie haben vermutlich starke Schmerzen. Ich bin Schwester Sarah. Sie befinden sich im Holy-Cross-Krankenhaus. Sie hatten einen Autounfall.« Der Mann wollte sich aufsetzen. Doch sie ließ es nicht zu. »Ruhig! Ganz ruhig. Entspannen Sie sich. Wir helfen Ihnen. Es wird alles wieder gut.« Mit einem jähen Ruck setzte der Mann sich dennoch auf. Sarah konnte es nicht verhindern …
* Zur selben Zeit sah im Labor Dr. George Bancroft den Kranken pfleger ärgerlich an. »Sagen Sie mal, wollt ihr mich verarschen, oder was?« »N … nein«, gab der Angeschnauzte verwirrt zurück. »Wieso?«
»Von wem stammt das Blut?« »Von einem Mann, der soeben eingeliefert wurde. Er hatte einen Autounfall und ist schwer verletzt.« George Bancroft schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nicht sein.« »Was kann nicht sein? Dass der Mann schwer verletzt ist?« »Dass das Blut von ihm stammt«, sagte Dr. Bancroft. »Wieso nicht?«, wollte der Krankenpfleger gepresst wissen. »Weil es Tierblut ist!«
* »Um Himmels willen, bleiben Sie liegen«, beschwor Schwester Sa rah den Mann. »Sie stehen unter Schock. Vermutlich spüren Sie deshalb keine Schmerzen. Aber Sie sind schwer verletzt. Wenn Sie aufstehen, könnten Sie tot umfallen.« Der Mann hörte nicht auf sie. Er stand auf – und er fiel nicht tot um, sondern schien die Absicht zu haben, das Krankenhaus zu verlassen. Sarah Cook stellte sich ihm in den Weg. Er fegte sie mit einer raschen Armbewegung mühelos zur Seite. Sie stürzte, war fassungslos. Wie konnte ein Schwerverletzter so stark sein? »Dr. Spall!«, schrie sie. »Dr. Spall!« Ihre Stimme überschlug sich. Der Mann hatte den mit Vorhängen abgegrenzten Untersuchungs bereich verlassen. Schwester Sarah sprang in dem Moment auf, in dem Dr. Spall zurückkehrte. Er schaute auf das leere Untersuchungsbett. »Wo ist der Patient?« »Weg.«
»Was heißt ›weg‹?« »Er ist aufgestanden und fortgegangen«, antwortete Sarah Cook. »Sind Sie ihm nicht begegnet?« »Nein.« Jonathan Spall sah sie vorwurfsvoll an. »Mein Gott, Schwester Sarah, wieso haben Sie das zugelassen?« »Ich habe ihn zurückzuhalten versucht, aber er war zu stark für mich.« »Zu stark? Das gibt ‘s doch nicht. Der Mann hat fast kein Blut mehr in den Adern …« »Er ist stark wie ein Bär«, sagte die Krankenschwester zornig. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie gelogen, war eine Wahrheits fanatikerin. Es ärgerte sie, wenn ihr jemand nicht glaubte. »Glauben Sie’s oder nicht, Dr. Spall!«, stieß sie beleidigt hervor und wandte sich ab. Dr. Spall veranlasste, dass der abhanden gekommene Patient im ganzen Haus gesucht wurde. Aber man fand ihn nicht. Es war ihm gelungen, die Holy-Cross-Klinik unbemerkt – durch den Leichen keller – zu verlassen …
* Wieder in Freiheit »trank« er das Licht des Vollmonds. Er saugte den fahlen Schein förmlich in sich auf. Ein triumphierendes Funkeln war in seinen Augen. Er hatte keine Schmerzen, und der Mondschein verlieh ihm über natürliche Kräfte. Gleichzeitig veränderte er nach und nach sein Aussehen. Während er sich von der Klinik absetzte, wurde er allmählich zum Tier. Haare sprossen aus seinen Armen. Sein ganzer Körper überzog sich mit einem dichten Fell.
Sein Mund wurde zur Schnauze, seine Fingernägel verwandelten sich in schwarze Krallen, seine Hände wurden zu Pfoten und er sprang in vollem Lauf über die hohe Backsteinmauer des Friedhofs, der sich direkt hinter dem Krankenhaus befand. Die gespenstische Stille des Gottesackers nahm den Werwolf auf. Geduckt lief er an Gräbern, Grüften und Denkmälern vorbei. Die schweren Verletzungen, die er beim Unfall erlitten hatte, heil ten buchstäblich in Sekundenschnelle. Er wusste mit seiner neuen Kraft noch nicht richtig umzugehen. Sie war während der Autofahrt jäh aus ihm hervorgebrochen. Die Metamorphose hatte ihn überrascht. Er hatte sie nicht verhindern können und war gezwungen gewesen, das Fahrzeug in Wolfsgestalt zu lenken, was begreiflicherweise nicht lange gut ge hen konnte. Doch nun fühlte er sich großartig, unvorstellbar stark – und schrecklich hungrig. Er zog die Lefzen hoch. Bleich schimmerten seine langen Reißzäh ne, die er so bald wie möglich in menschliches Fleisch schlagen wollte. Er blieb kurz stehen, hob den Kopf und heulte den Mond an. Für Menschen mochte es sich schaurig anhören. Ihm jedoch gefiel es. Das war Musik in seinen spitzen Ohren …
* Moses Muldoon, der Friedhofswärter, hörte das Wolfsgeheul. Er wohnte gleich neben dem Haupttor. Mit gerunzelter Stirn legte er die Zeitung beiseite, in der er gelesen hatte. Langsam stand er auf. Seine alten Knochen schmerzten ihn, doch das hörte zumeist nach wenigen Schritten auf. Mit grimmiger Miene ging er zum Fenster und schaute hinaus. Ein vertrauter Anblick bot
sich ihm. Der Friedhof war für ihn nicht unheimlich – wie für die meisten Menschen. »Vor den Toten brauchst du dich nicht zu fürchten«, pflegte er zu sagen. »Die sind tot. Die können dir nichts mehr tun. Vor den Lebenden musst du dich in Acht nehmen, denn von denen sind viele ziemlich gefährlich!« Natürlich hielt er das, was er vernommen hatte, für kein Wolfs-, sondern für Hundegeheul, und Hunde hatten auf »seinem« Friedhof nichts zu suchen. Ein aggressiver Rottweiler hatte sich mal hierher verirrt und angefangen, die Toten auszubuddeln. Tiefe, hässliche Löcher hatte er in die gepflegten Grabhügel gebuddelt, und als Muldoon ihn ver jagen wollte, hatte er ihn angegriffen. Die Bissspuren waren noch immer gut zu sehen. Seitdem besaß Moses Muldoon eine Schrotflinte. Die holte er jetzt. Er würde sich nicht noch mal von so einem verdammten Köter beißen lassen! Er lud die Waffe und trat entschlossen aus dem kleinen Friedhofs wärterhaus. Sollte ihm der Hund zu nahe kommen, würde er ihm eine Ladung Blei in den Pelz brennen. Es war keine klare Vollmondnacht. Immer wieder schoben sich dichte Wolkenbänke vor die große helle Scheibe dort oben am tin tigen Himmel. Moses Muldoon strengte seine alten Augen an. Wo trieb sich das verfluchte Biest herum? Er glaubte, ganz kurz zwischen zwei hohen Grabsteinen einen schlanken Tierkörper zu sehen. »Ist ‘n besonders großes Exemplar«, murmelte er. »Aber du kannst noch so riesig sein, Kumpel, wenn ich meine doppelläufige Flinte auf dich abfeuere, bist du erledigt.« Mit schussbereiter Waffe entfernte er sich von seinem Haus. Der Werwolf spielte mit ihm, ohne dass es ihm bewusst wurde. Er
zeigte sich mal hier, mal da. Immer nur einen Lidschlag lang. Dann verschwand er wieder. Raf finiert lockte er sein Opfer in die Tiefe des Friedhofs hinein. Schließ lich ließ er sich für eine Weile nicht mehr blicken … Muldoon stand unter einer uralten Platane und lauschte in die kompakte Stille. Nichts war zu hören. Hatte der Hund den Gottesa cker verlassen? »Das wäre sehr gut für dich, Alter«, brummte der Friedhofswärter. »Denn mit umherstreunendem haarigem Gesindel mache ich kurzen Prozess.« Die Schrotflinte in den Händen ging er noch einige Schritte weiter, bevor er kehrtmachte. Plötzlich war der Werwolf wieder da. Groß, kraftstrotzend, knur rend, mit gesträubtem Fell, glühenden Lichtern und glänzenden Zähnen. Die ungeheure Bedrohung, die von ihm ausging, ließ Moses Mul doon unwillkürlich zurückweichen. Aber im nächsten Augenblick besann er sich der Schrotflinte in seinen Händen. Er riss die Waffe hoch und zielte auf das Tier. »Wage es ja nicht, Köter!«, keuchte er. »Sonst knall ich dich eiskalt über den Haufen.« Der »Hund« kam näher … »Ich gebe dir drei Sekunden, um zu verschwinden … Eins …« Der »Hund« kam näher … »Zwei …« Der »Hund« kam näher … »Drei!« Der »Hund« setzten zum Sprung an. Moses Muldoon drückte ab. Die Schrotflinte donnerte los, jagte dem Ziel gehacktes Blei ent
gegen. Der Friedhofswärter wollte sich bereits selbst loben, denn er hatte das Vieh voll getroffen. Umso größer war sein Entsetzen, als sich die Bestie nur kurz schüttelte – und den Mann aus glühenden Augen anstierte. Muldoon schrie, brüllte seine Angst und seine Verwirrung hinaus. Doch der Werwolf übertönte ihn mit Leichtigkeit, indem er ein tri umphierendes Heulen anstimmte. Der Friedhofswärter verstummte, wich langsam zurück – und ebenso langsam folgte ihm die Bestie. Ein bedrohliches Knurren grollte durch die Nacht. Das war zu viel für Muldoon. Panisch feuerte er die zweite Ladung seines Gewehrs ab, obgleich er schon ahnte, dass sich keine Wirkung zeigen würde. Darum wartete er auch gar nicht erst ab, sondern fuhr herum und eilte zu seinem Häuschen entgegen. Hinter sich vermeinte er, schweres Atmen zu vernehmen, das sich bedrohlich näherte. Spürte er nicht bereits den heißen Hauch des Todes im Nacken? Er strengte sich noch mehr an, lief schneller, als ihn seine alten Beine tragen wollten. Da geschah, was kommen musste. Er stolperte, verlor das Gleich gewicht und stürzte mit einem Aufschrei zu Boden. Wimmernd lag er da und wartete auf sein Ende. Doch es kam nicht. Schließlich wagte Muldoon, sich umzusehen. Nirgendwo war das Ungeheuer zu sehen. Ein hysterisches Kichern kämpfte sich in ihm hoch und schallte durch die Nacht. Er lebte! Irgendwie war er der Bestie entkommen! Moses Muldoon rappelte sich auf die Füße. Er musste den Hunde fänger benachrichtigen – Blödsinn! –, die Polizei. Oder noch besser
die Armee. Aber würden sie ihm glauben? Egal, er musste es versuchen und wenn … Der Schmerz, der in diesem Moment in seinem Rücken explo dierte, war unvorstellbar. Muldoon konnte nicht einmal schreien. Nur ein ersticktes Keuchen entrang sich seiner Kehle. Als er zu Boden sackte, war er bereits tot. Doch das hinderte die Bestie nicht daran, sich an seinen Überresten gütlich zu tun …
* Das Telefon schlug an. »Donner«, meldete ich mich. Ein Scherzkeks hatte darauf mal erwidert: »Hallo, hier ist Blitz. Wollen wir nicht mal zusammen ein Gewitter veranstalten?« Diesmal sagte am andern Ende der Leitung mein Chef: »Komm bitte mal in mein Büro, Dominic.« »Bin schon unterwegs, Clive.« Ich legte auf und ging zu ihm hin über. Fett und unzufrieden hockte er an seinem Schreibtisch. »Da bin ich«, sagte ich und rieb mir die Hände. »Was hast du auf dem Herzen?« Er hakte die Daumen in seine Hosenträger. Sein Jackett hing über der Stuhllehne. Man sah ihm an, dass er gerne viel aß. »Setz dich!«, sagte er. Ich ließ mich auf den Besucherstuhl nieder. »Wie geht es dir, Dominic?«, erkundigte sich Clive Nelligan. »Es geht mir gut«, gab ich nickend zurück. »Ist mit deinem Liebesleben alles in Ordnung?«
»Aber ja doch.« »Sonst irgendwelche Probleme?«, fragte er. »Keine Probleme, Clive.« »Wir sollten mal wieder was zusammen unternehmen«, schlug er vor. Ich grinste. »Ich bin zu jeder Schandtat bereit – wann immer du möchtest. Du bist derjenige, der in letzter Zeit ein paar Gänge zu rückgeschaltet hat.« Clive Nelligan nickte. »Wenn man so viel Zucker hat wie ich, muss man aufpassen.« Ich lehnte mich zurück und schlug das linke Bein über das rechte. »Okay, dann komm jetzt bitte mal zur Sache. Wo drückt dich der Schuh?« Er musterte mich mit kummervoller Miene, als hätte ich ihm zu einem neuen Magengeschwür verholfen. »Was ist los mir dir, Do minic?« »Nichts«, gab ich ohne schlechtes Gewissen zur Antwort. »Warum fragst du?« Er zeigte auf die bedruckten Blätter, die vor ihm lagen. »Du lieferst in letzter Zeit nur noch Müll. Bist du ausgeschrieben oder was?« Ich schüttelte den Kopf. »Doch nicht mit 35 Jahren.« Er seufzte. »Ich kann den Lesern unseres Blattes deine Artikel nicht mehr zumuten.« »Du hast doch nicht etwa vor, mich zu feuern.« »Das nicht …« »Sind die Artikel schlecht geschrieben?« »Sie sind brillant verfasst«, musste Clive zugeben. »Aber diese Themen interessieren keine Sau.« Ich hob bedauernd die Schultern. »Es ist Sauregurkenzeit, Clive. Was soll ich machen? So etwas kommt immer wieder mal vor. Das
weißt du doch. Ich kann mir keine brandheiße Sensationsstory aus den Fingern saugen. Wenn nichts passiert, muss ich über das berich ten, was sich gerade mal so anbietet.« »Du kennst doch das Zeitungsgeschäft, schließlich bist du lange genug dabei. Gute Nachrichten sind schlechte Nachrichten. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.« »Sorry, aber ich werde keine schlechten Nachrichten erfinden, um dir eine Freude zu machen.« »Greif irgendeinen korrupten Politiker an. Davon gibt es doch genug. Berichte über die Abartigkeiten eines berühmten Popstars. Schreibe über bescheuerte Teufelsanbeter. Du hast das doch in der Vergangenheit alles schon so mal großartig getan.« Ich nickte. »Und ich werde mich auch wieder voll ins Zeug legen, sobald mir etwas in dieser Richtung zu Ohren kommt. Doch bis da hin muss ich dich um etwas Geduld bitten, mein Lieber.«
* Zwei Stunden später schenkte mir Fortuna eine neue heiße Story. Ich aß mit Sarah Cook bei unserem Italiener zu Mittag. Wir waren seit einem Jahr ein Paar, wohnten aber noch nicht zusammen. Das sollte der nächste Schritt sein, der zu tun war. Aber es gab ein Problem: Sarah wollte ihre Wohnung nicht aufge ben – weil sie nicht weit vom Holy-Cross-Krankenhaus entfernt war –, und ich meine nicht – weil ich ein Gewohnheitstier bin und zu sehr an meiner Bude hing. Während des Essens erzählte sie mir eine ganz unglaubliche Ge schichte: Ein Mann war nach einem Autounfall bei ihr in der Not aufnahme der Holy-Cross-Klinik gelandet und … Ich hörte aufmerksam zu, und je mehr Sarah erzählte, desto größer wurde mein Interesse. Das Sahnehäubchen dieser irren Geschichte
war schließlich, dass der geheimnisvolle Unbekannte Tierblut in sei nen Adern gehabt hatte. Tierblut! Und er war trotz schwerster Verletzungen so stark ge wesen, dass niemand ihn davon abhalten konnte, die Klinik zu verlassen. Dieser mysteriösen Story musste ich einfach nachgehen. Ich wäre ein schlechter Journalist gewesen, wenn ich mich nicht darum ge kümmert hätte. Was immer dabei herauskommen würde – »Big Boss« Clive Nel ligan würde seine helle Freude daran haben, das glaubte ich jetzt schon zu wissen. Ich begann sofort zu recherchieren, ließ meine hervorragenden Be ziehungen zur Polizei spielen, sobald Sarah wieder im Krankenhaus war, und erfuhr dabei etwas höchst Unerfreuliches: Auf dem Gottesacker hinter dem Holy-Cross-Krankenhaus war in der vergangenen Nacht der Friedhofswärter Moses Muldoon vermutlich von einem wilden Hund zerfleischt worden. Das war geschehen, kurz nachdem der Mann, der angeblich Tier blut in seinen Adern gehabt hatte, aus der Klinik verschwunden war. Zufall? Ich glaubte nicht daran. Aber ich behielt es für mich, als ich mit Sergeant Viggo Moore, meinem guten Kumpel beim NYPD, telefonierte. »Hast du die Leiche auf dem Friedhof gesehen, Viggo?«, fragte ich ihn. »O ja, Dominic, das hab ich. Mir kommt jetzt noch beinahe alles hoch, was ich im Magen habe, wenn ich daran denke.« »Und dabei bist du einiges gewöhnt.« »Du sagst es«, gab Viggo mir Recht. »Moses Muldoon hatte eine doppelläufige Schrotflinte bei sich. Er hat sie auch abgefeuert. Aber
er muss das verdammte Tier verfehlt haben. Es hat … Es hat …« »Was, Viggo? Was hat es?« »Es hat sein Herz gefressen!« Mir lief es kalt über den Rücken. Ich wechselte das Thema und sprach über den Autounfall, der den Tier blut-Mann in die Holy-Cross-Klinik gebracht hatte. Viggo wusste, dass der schwarze Wagen von einem Künstler namens Mordecai Haskell als gestohlen gemeldet worden war. Ich bat den Sergeant um Haskells Adresse und erhielt sie. »Danke, Viggo«, sagte ich. »Du warst mir mal wieder eine große Hilfe.« »Wenn du mal ein Buch schreiben solltest …« »… widme ich dir ein ganzes Kapitel.« Er lachte. »Das macht mich unsterblich.«
* Mordecai Haskell wohnte in einem Haus auf Staten Island. Aber zu den begüterten Künstlern gehörte der bullige Maler und Bildhauer noch nicht. Er hing mit seinem Durchbruch noch in der Warteschleife. Zunächst begegnete er mir mit Misstrauen, doch als er erfuhr, dass ich Journalist war, taute er auf. Wahrscheinlich erhoffte er sich durch mich ein wenig Gratis-Publicity. Stolz zeigte er mir einige seiner Arbeiten. Die Bilder waren düster und sagten nicht viel aus. Die Skulpturen waren allesamt hässlich und sprachen mich nicht an. Wenn er so weitermachte, würde sein Durchbruch noch sehr lange auf sich warten lassen – oder über haupt nie stattfinden. »Ich habe die Schönheit der Hässlichkeit entdeckt«, sagte er enthu siastisch. »Genau genommen gibt es nichts wirklich Hässliches auf
der Welt. Alles ist auf seine ganz spezielle Art schön. Man muss nur den richtigen Maßstab anlegen … Für welches Blatt, haben Sie ge sagt, schreiben Sie, Mr. Donner?« »Für ›Flash News‹.« Er leckte sich die Lippen. »Können Sie einen Bericht über mich in Ihrer Zeitung unterbringen?« Er sah mich gespannt an. »Im Feuille ton-Teil. Am Wochenende.« Ich nickte. »Ich rede mal mit meinem Chef darüber. Wenn er da mit einverstanden ist, setzen wir uns zu einem netten Gespräch zu sammen und ich fotografiere Sie mit Ihren Arbeiten.« Freude funkelte in seinen Augen. »Ich stehe Ihnen jederzeit für ein langes, ehrliches Interview zur Verfügung.« Ich kratzte mich hinterm Ohr. »Ich bin heute aus einem anderen Grund hier, Mr. Haskell.« »Aus welchem?« »Ihnen wurde Ihr Wagen gestohlen?« »Das ist richtig«, bestätigte der Künstler. »Wollen Sie darüber einen Bericht schreiben?« »Der Dieb baute mit Ihrem Auto einen Unfall und landete schwer verletzt in der Klinik, in der meine Freundin als Krankenschwester arbeitet.« »Tatsächlich? Wie ist der Name Ihrer Freundin?« »Sarah Cook.« »Konnte man dem Mann helfen?«, wollte Mordecai Haskell wissen. Ich schüttelte den Kopf. »Er ist aus der Holy-Cross-Klinik abge hauen.« Haskell staunte. »Was Sie nicht sagen. Obwohl er schwer verletzt war?« Ich nickte mit finsterer Miene. »Obwohl er schwer verletzt war. Wann haben Sie bemerkt, dass Ihr Wagen weg war, Mr. Haskell?«
»Am frühen Abend. So gegen 18 Uhr. Ich wollte Tanya besuchen.« »Tanya?« »Tanya Pugh«, erklärte Mordecai Haskell. »Meine Freundin. Sie ist ebenfalls Künstlerin – malt sehr ausdrucksstarke Bilder.« Er machte sehr viel Reklame für Tanya. Als wollte er ihr zu einem Karriereschub verhelfen. Ich blieb noch etwa zehn Minuten. Anschließend verabschiedete ich mich mit dem Versprechen: »Wir bleiben in Verbindung.«
* Bereits zwanzig Minuten später stand ich bei Tanya Pugh auf der Matte. Ihre Adresse hatte ich aus dem Telefonbuch. Sie war eine blasse rothaarige Frau von schätzungsweise dreißig Jahren, trug einen mit bunten Klecksen übersäten Malerkittel und lieferte mir eine erste Überraschung, indem sie bestritt, Mordecai Haskells Freundin zu sein. »Aber Mr. Haskell sagte doch …«, setzte ich an. »Ich war mal seine Freundin«, erklärte Tanya Pugh. »Jetzt bin ich es nicht mehr.« »Er wollte Sie gestern Abend besuchen«, sagte ich. Die Malerin schüttelte den Kopf. Wir befanden uns in ihrem Atelier, waren umgeben von ihren leuchtenden, fantasievollen, fröh lichen Bildern. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Wieso nicht?« »Ich hätte ihn nicht reingelassen. Das weiß er. Ich habe vor zwei Monaten mit Mordecai Haskell Schluss gemacht.« »Würden Sie mir sagen, warum?«, fragte ich. »Weil er immer sonderbarer wurde.«
»In welcher Form?« »Alles Hässliche übte auf ihn eine geradezu beängstigende Faszi nation aus«, erzählte Tanya Pugh mit belegter Stimme. »Er begann mit Räucherstäbchen, selbst erzeugten Sphärenklängen, Alkohol und Medikamenten zu experimentieren und schuf im Drogenrausch die widerwärtigsten Monster. Er versetzte sich in tiefe Trance und malte schreckliche Kreaturen. Die Grauen erregende Abscheulich keit seiner Werke war so groß, dass er sie im Keller seines Hauses versteckte. Aber das reichte ihm noch nicht. Er hatte die Absicht, sein Bewusstsein mit Hilfe von schwarzer Magie zu erweitern. Als er mir davon mit einem irren Funkeln in den Augen erzählte, sagte ich: ›Wenn du das tust, sind wir geschiedene Leute.‹ Er ließ sich dennoch nicht davon abhalten, und so trennten sich unsere Wege.« Hey, Mordecai Haskell!, ging es mir durch den Sinn. Worauf bist du mit deiner gewagten Experimentierfreudigkeit gestoßen?
* Es klopfte, und Tanya Pugh öffnete die Tür. Sie dachte, Dominic Donner, der sich vor wenigen Augenblicken verabschiedet hatte, wäre noch einmal zurückgekommen. Doch vor ihr stand nicht der sympathische Reporter, sondern Mordecai Haskell – der Mann, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte, seit er selbst einem Pakt mit dem Teufel nicht abgeneigt ge wesen war, um als Künstler den lang ersehnten Durchbruch zu schaffen. Er lächelte, aber dieses Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Hal lo, Tanya.« »Was willst du hier?« Er hob die Schultern. »Ich möchte dich besuchen. Sehen, wie es dir geht. Darf ich reinkommen?«
»Nein.« Sie wollte die Tür schließen. Er ließ es nicht zu, drückte die Tür zur Seite und trat ein. »Aber, aber. Behandelt man so einen lieben Freund?« Sie war wütend. Ihr Herz klopfte hoch oben im Hals. »Du bist kein lieber Freund mehr«, zischte sie. »Ich sehe das anders.« »Würdest du bitte gehen?« »Ich bin doch eben erst gekommen.« Er schloss die Tür. Eine unangenehme Empfindung beschlich sie. Sie fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Nähe, hatte Angst vor ihm. »Ich möchte, dass du mein Atelier auf der Stelle verlässt, Morde cai!«, verlangte sie. Er blickte ihr in die Augen, als wollte er sie hypnotisieren. »Du hattest Besuch von diesem Reporter. Ich weiß es. Du brauchst es nicht zu leugnen. Ich bin ihm hierher gefolgt. Der Knabe ist ver dammt neugierig, und das gefällt mir nicht. Was hast du ihm er zählt?« »Nichts.« »Dominic Donner machte einen sehr zufriedenen Eindruck, als er aus dem Haus kam.« Tanya wich zurück. »Lass mich in Ruhe.« »Hast du ihm von meinen Experimenten erzählt?« Sie schwieg. »Hast du über meinen Keller gesprochen?« Sie ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Wenn du nicht augenblicklich verschwindest, rufe ich die Polizei.« Er packte den Apparat und schleuderte ihn durch das Atelier, nachdem er die Schnur aus der Wand gefetzt hatte. Tanya riss die Augen auf. »Was fällt dir ein? Bist du verrückt ge worden?«
»Du wolltest die Polizei rufen«, sagte der zu seiner Rechtfertigung. »Das musste ich verhindern.« Ohne ein weiteres Wort fing er an, Dinge zu zerschlagen. NippesFiguren mussten dran glauben. Eine Tischlampe ging zu Bruch. Dann nahm er ein schweres Whiskyglas und zertrümmerte damit den großen Wandspiegel. »Donner wird wiederkommen«, sagte er rau. »Diese lästigen Reporter kommen immer wieder und stellen immer neue Fragen. Wenn sie erst mal angefangen haben, hören sie damit nicht mehr auf. Bis alles ans Tageslicht gelangt. Auch das, was besser verborgen bleiben sollte.« Tanyas Furcht wuchs. Sie sprintete los, wollte an Haskell vorbei rennen und aus dem Atelier fliehen. Ein furchtbarer Schlag stoppte sie und schleuderte sie weit zurück. Sie landete hart auf dem Boden und stieß einen dünnen Schmerz schrei aus. Es war mehr ein Wimmern. »Hast du Donner von dem Buch erzählt?«, wollte Haskell wissen. Tanya starrte ihn entsetzt an. »Antworte!« Sie zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. »Hast du Dominic Donner von dem Buch erzählt!«, schrie Morde cai Haskell. Er begann, ihre Bilder zu zerfetzen. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein.« »Sag die Wahrheit!« Er schlitzte ein weiteres Gemälde mit seinen Fingernägeln auf, die auf rätselhafte Weise lang, spitz, schwarz und rasiermesserscharf geworden waren. »Ich habe das Buch mit keiner Silbe erwähnt!«, schluchzte Tanya. »Ganz bestimmt nicht! Bitte, Mordecai … Bitte, hör auf damit … Mach meine Bilder nicht kaputt … Du weißt, wie lange ich an ihnen gearbeitet habe, weißt, wie viel sie mir bedeuten …« Seine Augen verfärbten sich, leuchteten immer mehr wie gelbe
Lämpchen. Schwarze Haarbüschel bedeckten seine Handrücken. »Um Himmels willen, was ist mit dir los?«, krächzte Tanya Pugh angesichts der stetig fortschreitenden Verwandlung. Aus dem Mann, den sie einst geliebt hatte, wurde ein Tier. Ein ge fährlicher Wolf, der hechelnd nach ihrem Leben gierte, denn mit je dem Opfer, das er tötete, wurde er stärker. Tanya Pugh traute ihren Augen nicht. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich? Was sie sah, konnte nicht sein, war überhaupt nicht möglich. Oder doch? Fassungslos starrte sie das Scheusal an. Sie war unfä hig, sich zu bewegen. Der Werwolf bleckte sein todbringendes Ge biss. Pfeilschnell schoss er heran – und wurde seiner dämonischen Bestimmung gerecht …
* Mein Freund Eric Silverman war Antiquitätenhändler. In seiner Freizeit verschlang er alles, was sich mit Geistern, Monstern und Dä monen befasste. Nicht Romane, sondern wissenschaftliche Aufzeichnungen. Seri öse Abhandlungen von bekannten Parapsychologen. Okkulte Schriften. Arbeiten über Teufelsaustreibung und Besessenheit. Angeblich kannte er unzählige Bannsprüche, mit denen man üble Dämonen, die einem nach dem Leben trachteten, von sich fernhalten konnte. Gelegenheit, sie anzuwenden, hatte er noch nie gehabt, doch das machte ihn nicht traurig, weil er um die Verschlagenheit und Ge fährlichkeit schwarzer Wesen besser Bescheid wusste als irgendje mand sonst. Als ich ihm meine sonderbare Geschichte erzählte, wiegte er mit besorgter Miene seinen Kopf. Er war zwanzig Jahre älter als ich,
ging auf die sechzig zu, sah aber wesentlich jünger aus. Er ernährte sich bewusst gesund, aß viel Gemüse, wenig Fleisch und mindestens zweimal in der Woche Fisch und hielt sich mit regelmäßigem Sport fit. »Junge«, sagte Eric Silverman sehr ernst zu mir. »Ich kann dir nur raten, verdammt vorsichtig zu sein. Was du mir soeben erzählt hast, deutet ohne jeden Zweifel darauf hin, dass du einem Werwolf auf der Spur bist.« »Sind die nicht nur nachts gefährlich? Und bei Vollmond?« »Es gibt auch welche, die jederzeit zuschlagen können«, klärte Eric mich auf. Wenn mir das irgendjemand anderes gesagt hätte, hätte ich ihm nicht geglaubt. Aber wenn es aus Erics Mund kam, konnte ich es be denkenlos für bare Münze nehmen. Wir standen inmitten von kostbaren Antiquitäten, teuren Raritäten und wertvollen Unikaten einer handwerklichen Kunst aus längst vergangenen Tagen. »Das kommt darauf an, wie stark der Wolfszauber ist, der sie zu dem gemacht hat, was sie sind«, sagte mein Freund und hob die Hand. »Augenblick …« Er ließ mich stehen und verschwand für fünf Minuten. Eine Frau betrat das Geschäft. Sie hielt mich für den Besitzer und fragte nach dem Preis einer hübschen Tiffany-Lampe. Ich hob die Lampe hoch, drehte sie um und las von einem kleinen Aufkleber ab, was Eric dafür haben wollte. »Puh!«, machte die Frau. »Grundgütiger, ist das gute Stück teuer. Nein, das kann ich mir nicht leisten. Vielen Dank.« »Nichts zu danken.« Die Frau ging. Eric kam zurück. »Ich hab versucht, einer Lady diese Tiffany-Lampe anzudrehen«, berichtete ich. »Aber sie war ihr zu teuer.«
»Es wird sich ein Käufer finden, der sie sich leisten kann«, meinte Eric zuversichtlich und legte einen verchromten Revolver vor mich hin. »Hier, Dominic. Den leihe ich dir.« Ich hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Ich bin ein erklärter Pazifist, wie du weißt. Ich brauche so etwas nicht. Meine Waffe ist das Wort. Damit weiß ich bestens umzugehen.« Eric nickte. »Das ist mir bekannt. Aber gegen einen Werwolf rich test du mit Worten nichts aus. Dieser Revolver gehörte zum Nach lass eines sehr erfolgreichen Dämonenjägers. Es spricht für den Mann, dass er an Altersschwäche in seinem Bett starb. Die meisten Dämonenjäger treffen nämlich irgendwann auf einen Gegner, der schneller, stärker oder gerissener ist als sie – und dann hat die Jagd ein Ende.« Ich nahm die Waffe in die Hand. Sie war schwer und fühlte sich gut an. Wie vielen Monstern mochte ihr früherer Besitzer damit den Garaus gemacht haben? »Wie hieß der Mann?«, wollte ich wissen. »Hyram Gasko«, antwortete Eric. »Wie alt wurde er?« »95. Er schlief friedlich ein.« Ich stellte fest, dass der Revolver geladen war. Es war nicht die erste Waffe, die ich in der Hand hatte. Man hatte mir bei der Army das Schießen beigebracht, und ich hatte mich dabei gar nicht mal so dumm angestellt. Dennoch lehnte ich Waffen jeder Art grundsätz lich ab. Weil sie nur für einen Zweck erzeugt worden waren … Eric zeigte auf die Trommel. »In den Kammern befinden sich ge weihte Silberkugeln, in die Hyram Gasko auch noch ein Kreuz gefeilt hat.« »Damit hat er sie zu Dumdum-Geschossen gemacht«, sagte ich, »die auseinander fächern, sobald sie auf ein Hindernis treffen …« »… wodurch ihre Vernichtungskraft noch sehr viel effizienter
wird«, vollendete Eric Silverman den Satz. »Hätte Moses Muldoon, der Friedhofswärter, nicht mit der Schrotflinte auf seinen blutrüns tigen Mörder geschossen, sondern mit diesem Revolver, wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch am Leben – und es gäbe keinen Werwolf mehr. Du solltest diese Waffe von nun an immer bei dir tragen, Dominic«, riet mir mein Freund. »Sie kann dir das Leben retten.« Ich schob das Schießeisen am Rücken in den Hosenbund. »Sehr vernünftig«, lobte Eric Silverman. »Du gibst mir die Waffe zurück, sobald du den Werwolf erledigt hast … Gott sei mit dir.«
* Sarah Cook war im Supermarkt gewesen und hatte für ein leckeres Abendessen eingekauft. Sie wollte Dominic mal wieder bekochen. Ächzend stellte sie die prall gefüllten Einkaufstüten auf den Kü chentisch. Als sie nach der Schürze griff, läutete jemand an der Tür. Sie legte die Schürze beiseite, verließ die Küche und öffnete die Wohnungstür. Draußen stand ein Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Im Moment konnte sie ihn aber nirgendwo unterbringen. »Ja, bitte?«, fragte sie. »Miss Cook?« »Ja.« »Mein Name ist Mordecai Haskell«, stellte sich der Fremde vor. »Dominic Donner, Ihr Verlobter …« Sarah schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mein Verlobter.« Mordecai Haskell lächelte. »Entschuldigen Sie. Ihr Freund Dominic … Ist er hier?« Er schaute an ihr vorbei in die Wohnung. »Noch nicht«, antwortete Sarah. »Er war bei mir«, erzählte Haskell. »Er möchte mich interviewen.
Ich bin Künstler, müssen Sie wissen. Maler und Bildhauer. Ein Be richt im ›Flash News‹ wäre mir sehr willkommen. Ich bin leider noch nicht allzu bekannt. Deshalb gehen meine Arbeiten auch noch nicht weg wie die berühmten warmen Semmeln. Aber wenn Mr. Donner gut über mich schreibt, erwacht vielleicht das allgemeine In teresse an meiner Person und an meinen Werken.« Sarah schmunzelte. »Und was wollen Sie von mir, Mr. Haskell? Soll ich in Ihrem Sinn Einfluss auf meinen Freund nehmen?« »Oh, das ist nicht nötig, Miss Cook«, wehrte Mordecai Haskell ab. »Meine Arbeiten sprechen für sich. Sie sind außergewöhnlich.« Er lächelte. »Ich brauche keine Fürsprecherin. Ich möchte für Mr. Donner lediglich eine Nachricht hinterlassen. Darf ich reinkommen?« »Selbstverständlich.« Sarah gab arglos die Tür frei. Mordecai Haskell trat ein. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ih nen, Miss Cook.« Sein aufmerksamer Blick wanderte rasch umher, als würde er irgend etwas suchen. »Wenn Sie noch einen Kugel schreiber und ein Stück Papier für mich hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« »Kugelschreiber und Papier. Klar. Bringe ich Ihnen.« Sarah ließ den Mann kurz allein. Als sie zurückkam, fiel ihr nicht auf, dass er die Tür geschlossen hatte. »Hier«, sagte sie lächelnd. »Kugel schreiber und Papier.« »Vielen Dank. Ich danke Ihnen sehr.« Er hatte nichts dagegen, dass sie ihm über die Schulter schaute, während er schrieb. Donner, dein Mädchen befindet sich in meiner Gewalt! Wenn du sie lebend wiederhaben willst, ruf mich an! – Mordecai Haskell. Das hatte der Mann geschrieben, das las Sarah Cook. Ihr Herz krampfte sich unwillkürlich zusammen. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Mordecai Has kells Gesicht war ihr vorhin irgendwie bekannt vorgekommen.
Jetzt wusste sie, woher. Wenn sie dem Unfallopfer in der HolyCross-Klinik, das geflohen war, das Blut abgewaschen hätte, wäre dieses Gesicht zum Vorschein gekommen. Haskell richtete sich auf und grinste kalt. »Ich sehe, Sie erinnern sich an mich, Schwester Sarah. Sie wollten mich am Verlassen der Klinik hindern. Nicht einmal aufstehen wollten Sie mich lassen. Weil ich Ihrer Ansicht nach tot hätte umfallen können.« Er breitete die Arme aus. »Sehen Sie mich an. Es geht mir gut. Ich bin okay. Eine Kraft, von der Sie mit Sicherheit noch nie gehört haben, füllt mich bis in die allerletzte Haarspitze aus.« Sie zeigte mit zitternder Hand auf die Nachricht, die er ge schrieben hatte. »Was … was soll das?«, stammelte sie. »Ich nehme Sie mit.« »Wohin?« »Zu mir.« Sarah schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe mit Ihnen nirgendwo hin.« Mordecai Haskell lächelte frostig. »Sie haben keine andere Wahl.« »Warum tun Sie das?«, fragte Sarah mit zugeschnürter Kehle. »Dominic Donner ist hinter mir her«, knurrte Haskell aggressiv. »Ich muss ihn unschädlich machen, bevor er mir gefährlich werden kann. Er ist ein verdammt neugieriger Dreckskerl und steckt seine Nase überall rein. Reporter sind ein verfluchtes Pack. Wenn sie ein mal Blut gerochen haben, kann nichts mehr sie von einer Fährte ab bringen.« Er grinste böse. »Es sei denn, man tötet sie … Er wird diese Nachricht lesen, wird mich anrufen und ich werde ihm einen Tausch vorschlagen: Ihr Leben gegen seines. Ich bin sicher, er wird darauf eingehen.« »Dominic hat Freunde bei der Polizei«, sagte Sarah mit vibrierender Stimme. »Wenn er Ihre Nachricht liest, wird er sich an
sie um Hilfe wenden.« »Das wird er nicht tun.« »Natürlich wird er das!« »Dominic Donner ist nicht dumm«, erklärte Mordecai Haskell. »Er besitzt sicherlich genug Fantasie, um sich vorstellen zu können, was mit Ihnen passiert, wenn er mit den Bullen bei mir anrückt.« Nacktes Grauen packte Sarah Cook, als ihr Blick auf Haskells Hände gelenkt wurde. Seine Fingernägel veränderten sich in Farbe und Form. Sie wurden zuerst grau, dann schwarz, begannen zu wachsen und wurden schließlich zu spitzen, scharfen Krallen. Wie war so etwas möglich? Sarah hatte keine Erklärung dafür. Mordecai Haskell unterband die Metamorphose. Er wollte sich jetzt nicht verwandeln, wollte Sarah Cook nicht töten. Er brauchte sie lebend – als Geisel. Wenn sie der Mordlust des Werwolfs zum Opfer fiel, hatte er nichts mehr, womit er Dominic Donner unter Druck setzen konnte. Er musste sehr viel Willenskraft aufbringen, um eine weitere Verwandlung zu verhindern. Die Bestie in ihm durfte noch nicht hervorbrechen. Die Zeit war noch nicht reif dafür. »Gehen wir!«, befahl er knurrend wie ein Wolf. Das Böse hatte sich auch schon auf seine Stimmbänder geschlagen und ließ sich nur sehr mühsam zurückdrängen. Sarah Cook wich kopfschüttelnd zurück. Mordecai Haskell packte sie, doch sie riss sich von ihm los, floh ins Bad und verriegelte die Tür. Er warf sich zornig dagegen. Der Riegel brach. Die Tür flog auf, prallte gegen Sarah und schleu derte sie in die Wanne. Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie sah Has kells Gesicht völlig verschwommen. Als er sich knurrend über sie beugte, dachte sie, ihre letzte Stunde hätte geschlagen …
* Ich freute mich auf das Abendessen bei Sarah. Sie kochte hervorragend. Mit sehr viel Liebe, dem richtigen Fingerspitzengefühl und erlesenem Geschmack zauberte sie jedes Mal die exquisitesten Köstlichkeiten auf den Tisch. Es war immer wieder ein kulinarisches Fest für mich, bei Sarah zu speisen. Ich hatte Wein gekauft. Da ich nicht wusste, was Sarah mir vorsetzen wollte, brachte ich Rotwein, Weißwein und eine Flasche edelsten Roses mit. Ich bog in die Straße ein, in der sie wohnte, war guter Dinge und früh genug dran, um ihr bei den Vorbereitungen ein wenig zur Hand gehen zu können. Plötzlich traf mich der Schock mit der Wucht eines Keulenschlags. Ich sah Sarah. Sie war in Begleitung von Mordecai Haskell. Die beiden waren soeben aus dem Haus getreten. Sarah wirkte ange schlagen. Sie ging auf unsicheren Beinen, wurde von Haskell ge stützt. Es war Gewalt im Spiel! Verdammt, was hat der Mistkerl ihr angetan?, schrie es in mir. Was hat er mit Sarah vor? Wohin bringt er sie? Sie musste in ihren Wagen steigen. Mordecai Haskell setzte sich auf den Beifahrersitz. Trotz offensichtlich schwerer Benommenheit musste meine Freundin sofort losfahren. Sie hielt das Lenkrad nicht besonders fest in ihren Händen, fuhr unkonzentriert und schlängelnd. Das war eine Entführung. Mordecai Haskell entführte mein Mädchen! Eine unbändige Wut brannte mit einem Mal in meinen Einge weiden.
»Na warte, du Scheißkerl!«, schrie ich gegen die Windschutz scheibe, während ich Sarahs Wagen folgte. Welch Riesenglück, dass ich die Entführung mitbekommen habe, ging es mir durch den Sinn. Wenn ich nur eine Minute später eingetroffen wäre, wäre Sarah weg gewesen. Mordecai Haskell ließ meine Freundin nach Staten Island fahren. Ich befand mich hinter ihnen, doch sie bemerkten mich nicht. Sarah fuhr allmählich sicherer. Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen die Rippen. Die Tatsa che, dass sich mein Mädchen in der Gewalt eines gefährlichen Killers befand, raubte mir beinahe den Verstand. Mein Handy meldete sich. Ich schaltete die Freisprechanlage ein und meldete mich. Am andern Ende war Sergeant Viggo Moore. Sollte ich ihm sagen, was hier soeben lief? Ich entschied mich dagegen, denn ich wollte Sarahs Leben nicht gefährden. »Was gibt’s?«, fragte ich. »Bist du noch immer interessiert an dem Killer des Friedhofswäch ters?« »Natürlich!« »Na, dann halt dich fest«, sagte Viggo. »Möglicherweise haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun.« »Wie kommst du darauf?« »Wir haben eine weitere Leiche gefunden. Es deutet eine Menge darauf hin, dass es derselbe Mörder war.« »Zum Beispiel?«, erkundigte ich mich – und hörte ihn seufzen. »Na, zum Beispiel wurde auch das Herz des zweiten Opfers gefressen. Möchtest du Details hören?« »Nicht über des Zustand der Leiche, danke. Wer war es?« »Der Name des Opfers lautet Tanya Pugh.«
Mein Herz übersprang einen Schlag. »Eine Künstlerin«, fuhr Viggo fort. »Sie wurde in ihrem Atelier ermordet.« Ich musste mehrmals tief durchatmen. Tanya Pugh … Ich hatte erst kürzlich mit ihr gesprochen – und nun war sie tot. Zerfleischt von einem schrecklichen Monster. Von einem Monster, das jetzt Sarah in der Gewalt hatte. Ich war knapp vorm Durchdrehen. Er darf meinem Mädchen kein Leid zufügen!, hallte es in mir. Ich muss es verhindern, muss Sarah retten, muss dieses grausame Ungeheuer ver nichten! Doch das erwähnte ich Viggo gegenüber mit keiner Silbe, sondern beendete das Gespräch und fuhr etwas näher an Sarahs Wagen her an. »Er bringt sie nach Hause!«, murmelte ich. Mein Blut kochte. »Er bringt sie in sein Nest!« Ich musste Mordecai Haskell töten. Aber es würde kein Mord sein, denn er war kein Mensch mehr. Irgendein verfluchter Zauber hatte ihn zum Tier gemacht. Schließlich hatte er Tierblut in den Adern, wie Dr. Bancroft in der Holy-Cross-Klinik festgestellt hatte. Mordecai Haskell hatte sein künstlerisches Bewusstsein erweitern wollen und sich dabei mit Hilfe von schwarzer Magie selbst zum Höllenwesen gemacht. Sarahs Wagen erreichte sein Haus. Ich sah mein Mädchen und den Killerwolf, der im Moment noch in menschlicher Gestalt auftrat, aussteigen und das Haus betreten. Um Ruhm und Geld zu erlangen, war dem gewissenlosen Künst ler jedes Mittel recht gewesen. Er schreckte nicht einmal davor zu rück, einen Pakt mit dem Bösen, mit den Mächten der Finsternis zu schließen. Einen Pakt, der nie mehr rückgängig gemacht werden konnte …
Ich stoppte meinen Wagen und stieg aus – und ich war zum Äußersten entschlossen, damit Sarah am Leben blieb!
* Mordecai Haskell schob die junge Krankenschwester vor sich her die Kellertreppe hinunter und folgte ihr mit schweren Schritten. Hier unten hatte das nackte Grauen erschreckend Gestalt ange nommen. Sarah sah sich mit Gemälden und Skulpturen konfrontiert, die an Abscheulichkeit nicht zu übertreffen waren. Böse, dä monische Fratzen starrten sie an. Ausgeburten einer gefährlich kranken Fantasie. Geschaffen von einem satanischen Geist. Hässlich. Grauenvoll. Furchterregend. Werke, entstanden unter höllischem Einfluss jenseits aller menschli chen Bewusstseinsgrenzen. Haskell führte das Mädchen zu einem Altar aus schwarzem Mar mor, über dem ein Angst erregender Wolfsschädel mit hochgezo genen Lefzen und gefletschten Zähnen hing. Er war so lebensecht, dass man meinen konnte, das Tier würde jeden Moment zubeißen. Auf einem Pult neben dem Altar lag ein aufgeschlagenes Buch – in schwarzes Leder gebunden, mit eingerissenen, stark vergilbten Sei ten. »Die Wolfsfibel«, sagte Mordecai Haskell mit stolzgeschwellter Brust. »Ich habe sie auf einem Flohmarkt entdeckt. Sie lag dort völ lig unbeachtet herum. Niemand wollte dieses schwarze Kleinod haben. Ich habe es für einen Spottpreis gekauft. Es hat mir Wege zu finsteren Orten gezeigt und für mich Tore zu ungeahnten Welten aufgestoßen. Durch sie habe ich erfahren, wie man den Wolfsgeist beschwört. Wie man selbst zum Wolf wird und Macht über Leben und Tod erhält. Ich stehe auf der Schwelle zu ganz neuen dunklen Erfahrungen, die mein Schaffen entscheidend beeinflussen und prä
gen werden.« Er legte seine Hand, die zur Wolfspranke geworden war, auf den glatten Altar. »Hier werde ich dich den Mächten der Finsternis opfern, und auf diesem Stein wird auch Dominic Donner sterben.« Sarah Cooks Augen schwammen in Tränen …
* Ich verschaffte mir Einlass in Mordecai Haskells Haus. Dabei ging ich nicht besonders lautlos vor – schließlich bin ich kein Einbrecher –, aber was sollte ich sonst tun? Sobald ich drinnen war, lauschte ich angestrengt. Nichts war zu hören? Wohin hatte der Satans-Künstler meine Freundin gebracht? Die Grauen erregende Abscheulichkeit seiner Werke war so groß, dass er sie im Keller seines Hauses versteckte, hatte mir Tanya Pugh erzählt. Ich zog den verchromten Revolver, der einst dem Dämonenjäger Hyram Gasko gehört und den mir mein Freund Eric Silverman geliehen hatte. Hart presste ich die Kiefer zusammen, während ich den Keller abgang suchte. Als ich ihn gefunden hatte, stieg ich so vorsichtig wie möglich die Stufen hinunter. Haskells Stimme drang an mein Ohr. Ich hörte ihn über die Wolfsfibel sprechen. So also war er zum Werwolf geworden! Ich stieg hinab in das Reich der Fratzen und Abscheulichkeiten, sah das gefährliche Buch, sah den schwarzen Marmoraltar, sah den Wolfsschädel, der darüber an der Wand hing … Und ich sah Sarah, in deren Augen Tränen glitzerten … Es war unverzeihlich, was dieses Ungeheuer meiner Freundin an tat. Aber noch viel unverzeihlicher war das, was Haskell dem Fried
hofswärter Moses Muldoon und der Malerin Tanya Pugh angetan hatte. Ich musste die Stadt von diesem mordgierigen Monster befreien! Haskell, der im Begriff war, Wolfsgestalt anzunehmen, witterte mich. Mit einem wilden Knurren fuhr er herum. Seine gelben Lich ter funkelten mich feindselig an. Ich hob den Revolver. »Sarah!«, brüllte ich. »Weg von ihm!« Sie warf sich zur Seite. Haskell wollte sie noch packen, doch seine Pranken verfehlten sie ganz knapp. Mein Revolver krachte. Eine rote Feuerblume platzte aus dem Lauf. Ich hatte zu überhastet abgedrückt und nicht Haskell, sondern den Wolfsschädel über dem Altar getroffen. Er landete krachend auf dem Altar und zertrümmerte die Marmorplatte. Mordecai Haskell stieß ein langgezogenes Wutgeheul aus. Sarah taumelte einige weitere Schritte von ihm weg. Er setzte zum Sprung an. Eine nie erlebte Angst um meine Freundin saß in meinem Nacken. Er darf ihr nichts anhaben!, schrie es in mir. Der Werwolf sprang in dem Moment, in dem ich den Stecher durchzog. Die Waffe bäumte sich in meiner Faust auf. Geweihtes Silber traf die Bestie. Aber wieder hatte ich nicht genau ins Ziel getroffen. Dennoch war die Wirkung beeindruckend. Die Kugel war in Kreuzform angefeilt – ein Dumdum-Geschoss – und riss dem Monster den rechten Hinterlauf ab. Sein schrilles Jaulen schmerzte in meinen Ohren. Doch der Werwolf gab noch nicht auf. Auf drei Beinen jagte er
heran. Geballte Mordlust trieb das Untier auf mich zu. Ich feuerte, traf aber nicht, feuerte, wich zurück, schoss abermals. Wie oft hatte ich schon abgedrückt? Ich wusste es nicht … Wie viele der sechs geweihten Silberkugeln standen mir noch zur Verfügung? Würden sie reichen, um dem tobenden Scheusal den Garaus zu machen? Ich stieß mit der Ferse gegen ein Hindernis, verlor das Gleichge wicht und stürzte. Und es kam noch schlimmer: Ich verlor den Revolver! In der nächsten Sekunde war das Scheusal über mir. Ich hörte Sa rahs schrillen Entsetzensschrei. Sie dachte wohl, ich wäre verloren, und – offen gestanden – ich dachte es auch. Aus dem weit aufgerissenen Wolfsmaul traf stin kender, heißer Höllenatem mein Gesicht. Die Schnauze stieß nach unten. Mir war, als spürte ich schon die kräftigen Reißzähne in meiner Kehle. Da fand meine suchende Hand den Revolver wieder. Ich rammte dem Satansköter den Lauf der Waffe in den Rachen, hoffte, dass wenigstens noch eine Kugel in der Trommel war, drück te ab – und das Geschoss zerfetzte dicht über mir den hässlichen Monsterschädel. Ich war dem Tod noch nie so grauenvoll nahe gewesen. Mit schlotternden Knien stand ich auf. Von dem Erlebten sichtlich ge zeichnet, wankte ich Sarah entgegen. Sie sank mir weinend in die Arme. »Bist du okay?«, fragte ich mit einer Stimme, die mir fremd war. »Ja«, kiekste Sarah. »Gut«, sagte ich. »Das ist gut.« »Oh, Dominic, ich hatte solche Angst«, schluchzte sie. »Es ist vorbei, Kleines.«
»Ich dachte vorhin, er würde dich töten.« »Es ist vorbei«, wiederholte ich, und dann verließ ich mit ihr den Keller und das Haus …
* Die Wolfsfibel nahm ich mit. Ich wollte dafür sorgen, dass sie niemals mehr in falsche Hände geriet. Bei Eric Silverman würde sie gut aufgehoben sein. Zu sammen mit Hyram Gaskos Revolver, ohne den ich meine Begeg nung mit dem Werwolf nicht überlebt hätte. Tags darauf schrieb ich nieder, was ich erlebt hatte, und es dauerte nicht lange, bis Clive Nelligan mich wieder in sein Büro zitierte. Ich trat ein und schaute ihn abwartend an. Schwer und breit saß er an seinem Schreibtisch. Im Hemd. Mit Hosenträgern. Das Jackett hing da, wo es meistens hing. Ich sah Clive an, dass er mir mein Ma nuskript am liebsten vor die Füße geworfen hätte. »Was hast du vor, Dominic?«, fragte er. Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. »Wieso?«, fragte ich zurück. »Willst du unsere Leser verärgern?« »Wieso?« »Ein Werwolf?«, schnappte er, als wollte er mich fressen. Ich nickte und schwieg. »In New York?« Ich nickte und schwieg. Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Was Blöderes konnte dir wohl nicht einfallen?«, machte er seinem Unmut Luft. »›Flash News‹ ist ein seriöses Blatt, Mann. Kein Horror-Maga zin.«
»Jedes Wort, das ich geschrieben habe, ist wahr, Clive.« Er verzog widerwillig das Gesicht. »Ach komm, hör doch auf. Es gibt keine Werwölfe. Und ich werde diesen Schwachsinn nicht in unserer Zeitung bringen.« Ich zuckte gleichgültig mit den Achseln und nahm das Manuskript an mich. »Na schön, dann mache ich eben ein Buch daraus.« Mein Chef nickte. »Ja. Als Roman würde die Story bestimmt gut ankommen.« »Kann ich Urlaub nehmen?«, fragte ich. »Meinetwegen«, sagte Clive Nelligan. »Wir sehen uns wieder, wenn ich mit dem Buch fertig bin.« »Ist mir recht«, sagte Clive, und ich verließ sein Büro. Am Abend kochte Sarah für mich. Wir hatten am Vortag einen trif tigen Grund gehabt, das Abendessen ausfallen zu lassen. Nun hol ten wir das Versäumte nach. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück zog es mich nach Hause an meinen Schreibtisch. Ich begann zu schreiben, und die Story ging mir so gut wie noch niemals eine andere von der Hand. Ich schaffte an diesem einen Tag gleich drei Kapitel – und das Schreiben reinigte zugleich auch meine Seele, befreite mich von dem schrecklichen Albtraum, den ich erlebt hatte und der mir bis ans Ende meiner Tage in Erinnerung bleiben wird. Von wegen: Es gibt keine Werwölfe … Es gibt sie. Aber ich wünsche niemandem, einem solchen Monster jemals zu begegnen. Denn es kann so enden, wie es für Moses Mul doon und Tanya Pugh geendet hat … ENDE