Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 701 Das neue Konzil
Die Stadt über dem Fluß von Arndt Ellmer
Ein Ark...
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 701 Das neue Konzil
Die Stadt über dem Fluß von Arndt Ellmer
Ein Arkonide unter Caironen
Die überhastete Flucht des »Erleuchteten«, des mysteriösen Herrschers der Galaxis Alkordoom, bringt Atlans Wirken in jenem Bereich des Universums zu einem abrupten Ende. Auf Terra schreibt man gerade die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide, eben noch dem sicheren Tode nah, sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer völlig unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald neue, ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie etwa in der Sonnensteppe von Alkordoom. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam‐Turu, was in der Sprache der Daila soviel wie »Rauchstreifen vom verlöschenden Feuer« bedeutet. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die fremde Sterneninsel zu bereisen, um die Spur des Erleuchteten oder des Juwels, seines alten Gegners, wiederaufzunehmen, ist ein technisch hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das neue Raumschiff sorgt für manche Überraschung, denn es ist äußerst eigenwillig – ebenso eigenwillig wie Chipol, der junge Daila, der Atlan erst nach dem Leben trachtet und dann zum Gefährten des Arkoniden an Bord der STERNSCHNUPPE wird. Schließlich bringt der Psi‐Spürer des Schiffes Atlan dazu, den Planeten Cairon anzufliegen. Der Arkonide erwartet sich Informationen über den Erleuchteten – und er betritt DIE STADT ÜBER DEM FLUSS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide wird . Chipol ‐ Atlans junger Begleiter. Chumboro ‐ Ein Priesterschüler von Umharaton. Auferhan und Jodanon ‐ Zwei fahrende Händler. Ghaidor ‐ Oberster Priester von Umharaton.
1. »Dieses Schiff ist verrückt, Atlan. Absolut verrückt. Es redet Dinge, die kein Intelligenzwesen des Universums verstehen kann. Und wenn man Fragen stellt, dann bekommt man entweder keine Antwort oder eine, die noch viel unverständlicher ist als alles andere. Langsam ziehe ich in Zweifel, ob wir damit Cairon jemals erreichen werden!« Der so sprach, war Chipol, der junge Daila, den ich auf dem dritten Planeten dieses Sonnensystems aufgelesen hatte. Nach ersten Schwierigkeiten in der Verständigung und nach ausführlichen Diskussionen über Absichten und Chancen eines gemeinsamen Fluges waren wir uns einig geworden, daß er als letzter Bewohner von Joquor‐Sa mit mir zusammen in die STERNSCHNUPPE ging. Selbst wenn er es abgelehnt hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als ihn mit Gewalt in das Schiff zu schaffen. Ich hätte es nicht verantworten können, den vierzehnjährigen Daila allein auf diesem trostlosen Planeten zurückzulassen. Der Name des Planeten sagte alles. Joquor‐Sa war der Sandhaufen, auf dem überhaupt nichts mehr wuchs. »Ganz so schlimm ist es auch wieder nicht«, erwiderte ich. »Immerhin befolgt die STERNSCHNUPPE meine Anweisungen und fliegt den vierten Planeten an.« Zu dem Schiff war ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Als ich aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, hatte ich mich in der
STERNSCHNUPPE befunden, einem voll ausgerüsteten Schiff von luxuriösem Hauch, und es stand auf einem kleinen Ödplaneten unter einem Sternenhimmel, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ich war mir sofort im klaren darüber gewesen, daß mich die Kosmokraten an einen anderen Ort versetzt hatten, in eine andere Galaxis. Deutlich war mir ihre Botschaft im Gedächtnis haften geblieben, die ich kurz vor meiner Bewußtlosigkeit erhalten hatte. »WIR WISSEN, IN WELCHE GALAXIS DER ERLEUCHTETE FLIEHT, ABER ES WIRD ALLEIN DEINE AUFGABE SEIN, IHN DORT ZU FINDEN UND ZU STELLEN!« So hatte die Botschaft gelautet, dann hatten mich unbegreifliche Kräfte aus einer tödlich gefahrvollen Situation herausgerissen, und nach meinem Erwachen in dem fremden Schiff hatte ich zunächst nichts als Einsamkeit in mir gespürt. Aber ich hatte ein unwiderstehliches Verlangen in mir gehabt, eine Triebkraft, die danach drängte, dem Erleuchteten endlich an den Kragen zu gehen und Sühne zu verlangen für all das, was der Unbekannte angerichtet hatte. Für seine Untaten in Alkordoom, für die vergewaltigten Völker, und vor allem für die Toten, die zurückgeblieben waren. Viele Lebewesen hatte der Erleuchtete auf dem Gewissen, und auch Colemayn und ANTMA gehörten dazu. Die STERNSCHNUPPE war nur ein winziger Ersatz für all das, was ich hatte zurücklassen müssen. Sarah Briggs, die Celesterin. Arien Richardson und seine Helfer. Was mochte aus den Celestern werden? Ich spürte in mir das Verlangen, eines Tages nach Alkordoom zurückzukehren und mich davon zu überzeugen, daß sich die Verhältnisse dort wirklich normalisiert hatten. Etwas Optimismus könnte nicht schaden, drang die Stimme des Extrasinns in meine Gedanken. Oder traust du den Erdabkömmlingen so wenig zu? Das ist es nicht, dachte ich. Die Trennung allein könnte ich noch
verschmerzen. Ich empfand Leere um mich herum, Einsamkeit, wie ich sie aus früheren Stadien meines Lebens bereits kannte. Unbewußt glitten meine Finger zu der Wölbung an der Brust, umklammerten den Zellaktivator und ließen ihn erst wieder los, als eine Hand mich vorsichtig an der Schulter berührte. »Atlan, du träumst«, erklang Chipols Stimme neben meinem Ohr. »Was ist mit dir los?« »Nichts ist los«, erwiderte ich. »Woran denkst du?« Ich hatte Chipol über die wichtigsten Dinge erzählt, die den Erleuchteten betrafen. Ich hatte ihm über meine Tätigkeit in Alkordoom berichtet und von ihm seine Geschichte erfahren. Ich faßte nach der Lehne des komfortabel gepolsterten Sessels und drehte ihn herum, bis ich das Gesicht des Daila vor mir hatte. »Ist das so schwer zu erraten?« fragte ich. »Woran denkt einer, der sich plötzlich in einer völlig fremden Welt wiederfindet?« Chipol lachte. Es war ein unsicheres Lachen, und für einen kurzen Augenblick weiteten sich die Augen des Hominiden, so daß ich die bläulichen Augäpfel sah. Der junge Daila machte eine Geste mit der rechten Hand, die ich nicht verstand. »Es ist nicht schwer«, gab er zu. »Aber ich glaube, daß es nötig ist, sich um das Schiff zu kümmern. Etwas stimmt nicht!« Wir befanden uns in der sechs Meter durchmessenden, runden Kommandozentrale. Sie lag im Zentrum des Diskus, und um sie herum waren die Wohnkabinen gruppiert, eine automatische Küche, ein Aufenthaltsraum und Fitneßräume sowie eine Medostation im Miniformat. Diese Räume waren auf drei Etagen verteilt. Entsprechend den sechs Wohnkabinen war das Schiff für sechs Passagiere eingerichtet, und die Räume waren verhältnismäßig groß und bequem. Die STERNSCHNUPPE war ein Luxusdampfer der Spitzenklasse, und hinter der Geheimniskrämerei des Schiffes steckte mit Sicherheit eine ganz
simple Erklärung. Kosmokratentechnik war nicht für gewöhnliche Sterbliche gedacht. Ich konnte das Schiff zwar benutzen und fliegen, aber seine Geheimnisse würde ich wohl nie erfahren. War es Kosmokratentechnik? »STERNSCHNUPPE«, sagte ich. »Du hast gehört. Was stimmt nicht?« Das Schiff schwieg, aber die Teleoptik des Bildschirms schaltete sich ein und holte einen der Lichtpunkte heran, die draußen im Weltall leuchteten. Er entpuppte sich als glühender Streifen mitten im interplanetaren Raum. Ich musterte Chipol. »Meinst du das da?« wollte ich wissen. Er bejahte es. »Ein gefährliches Ding, Atlan. So etwas habe ich noch nie gesehen, und ich bin schon mehrmals mit meiner Familie nach Cairon geflogen. Auch die Berichte meines Vaters haben so etwas nie enthalten. Es stellt eine Gefahr dar!« Ich kniff die Augen ein wenig zusammen und befahl dem Schiff, wieder auf Normaloptik zu gehen. Ein Lichtpunkt blieb übrig, der sich nicht von denen ferner Sterne unterschied. »Wie hast du es erkannt?« Ich war verwundert. »Ich habe ein kurzes Aufblitzen gesehen. Nicht wahr, es ist eine Gefahr?« »Es ist ein gewöhnlicher Komet, hast du es nicht gesehen? Ein kosmischer Brocken, der sich der Sonne nähert und durch den Sonnenwind einen Schweif erhält. Er ist keine Gefahr, es sei denn, wir befänden uns auf dem Kollisionskurs.« »Kollisionskurs nicht gegeben«, meldete sich das Schiff. »Wir nähern uns dem Körper noch kurze Zeit, dann entfernen wir uns wieder von ihm. Kleinster Abstand eine Lichtminute.« »Es ist ein Teufel«, beharrte Chipol. »Ein winziger, kosmischer Teufel. Ein Relikt aus der Frühzeit von Manam‐Turu!«
Manam‐Turu bedeutete in der Sprache der Daila so viel wie »Rauchstreifen vom verlöschenden Feuer«. Es war die Bezeichnung für die Galaxis, in der das Volk lebte. Sie trug dem Glauben und der Mythologie Rechnung. Chipol erzählte: »Die vielen Sterne am Himmel hat es nicht immer gegeben. Einst war da nur ein großes Feuer, an dem sich alle Götter, Geister und Dämonen wärmen konnten. Das war weise eingerichtet, aber eines Tages gab es Streit. Die unterschiedlichen Gruppen wollten jede ein eigenes Feuer oder das eine ganz für sich. Und sie schlichen sich heimlich an den Wächtern des Feuers vorbei und stahlen Teile davon. Sie legten viele kleine Feuer an und entzogen dem großen Feuer immer mehr von seiner Kraft, bis es endgültig erlosch und nur sein Rauch als ewiges Mahnmal am Himmel erhalten blieb. Vorher aber sandte das große Feuer seine letzten Bestandteile als Warner und Unglücksboten aus, und sie sind heute noch unterwegs und künden von jener frevelhaften Tat. Wer sie sieht, muß damit rechnen, daß ihm Unglück widerfährt!« »Das mit dem Unglück ist natürlich Aberglaube«, sagte ich. »Dennoch haben die Daila in ihrer Mythologie recht deutlich die tatsächlichen Ereignisse im Lauf eines bestimmten Vorgangs festgehalten. Wie lange besitzt dein Volk bereits die Raumfahrt?« Chipol konnte es nicht sagen. Er war noch zu jung, um die Kultur auf seiner Heimatwelt Aklard richtig beurteilen zu können, die seine Familie bereits vor Jahren hatte verlassen müssen. Man hatte sie wegen ihrer psionischen Fähigkeiten diskriminiert. Das hatte Spannungen geschaffen, und die Daila auf Joquor‐Sa hatten sich darauf vorbereitet, Aklard zu vergessen und auf dem vierten Planeten Cairon eine neue Heimat zu finden. Der Erleuchtete hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mit Ausnahme Chipols hatte er alle Daila von Joquor‐Sa entführt. Außer den Gebäuden und ihrem Raumschiff war keine Spur von ihnen zurückgeblieben, und der Sand der Ödwelt würde auch sie bald zugedeckt haben.
Inzwischen befanden wir uns auf dem Weg, der uns auf die Spur des Erleuchteten bringen sollte. Und was bot sich für ihn mehr an als der Nachbarplanet Joquor‐Sas, wo es Städte gab mit Priestern, die ebenfalls über psionische Fähigkeiten verfügten. »Eine Lektion steht noch aus, Atlan«, erinnerte mich das Schiff. »Wir erreichen Cairon in einer halben Stunde. Du solltest dich also beeilen!« Ich erhob mich und ging mit Chipol hinüber in die Kabine, in der das Schiff zwei Projektoren und zwei Pneumoliegen aufgebaut hatte. Wir hatten die Aufzeichnungen der Daila über Cairon an Bord gebracht und sie in die Computer der STERNSCHNUPPE eingespeist. Drei Lektionen hatten wir bereits hinter uns, und die Hypnogeräte aktivierten sich und warteten, daß wir uns auf die Liegen legten. Dann senkten sich zwei flimmernde Felder auf unsere Köpfe herab, Produkte einer fremdartigen Technik, in die Einblick zu nehmen uns verwehrt war. Wir erfuhren alles, was wir über Cairon und seine Bewohner wissen mußten, und nach weniger als fünf Minuten war auch die letzte Lektion beendet, und wir kehrten in die Zentrale zurück. »An Stelle einer Übermittlung der Impulse durch mechanische und elektronische Hilfsmittel projizierst du Hypnofelder«, sagte ich zu dem Schiff. »Auf welcher Basis arbeiten diese Felder? Sind sie mittels Kosmokratentechnik erschaffen, oder beruhen sie auf den Kreationen eines deiner Vorbesitzer?« »Die multisensiblen Dynamikfelder entstammen einer hoch entwickelten Technik und sind in einen Ring unterschiedlicher Felder eingebettet. Die Variablität der Felder ist hoch. Sie können an fast jeder Stelle des Schiffes eingesetzt werden und unterschiedlichste Funktionen erfüllen!« »Das beantwortet nicht meine Frage, STERNSCHNUPPE. Lege Baupläne auf den Tisch oder wenigstens einen Lageplan. Projiziere irgend etwas Konkretes auf deine Bildschirme!« Es kam keine Ablehnung, aber auch keine Zustimmung. Die
Monitoren blieben dunkel. »Wenigstens eine Rißzeichnung der Projektoren«, fuhr ich fort. »Multisensible Dynamikfelder kann man nicht darstellen«, erwiderte das Schiff. »Es ist außerdem wichtiger, daß ihr euch jetzt die Aufnahmen anseht, die vom Planeten Cairon eintreffen!« »Nicht nur das. Sämtliche Ortungssysteme auf die Oberfläche des Planeten legen. Cairon ist ein Planet mit verhältnismäßig junger Kultur. Ich brauche eine Zusammenstellung aller dort feststellbaren Metallobjekte sowie eine geographische Detailkarte mit dem Aufenthaltsort aller psi‐begabten Wesen!« Das Schiff nahm seine Arbeit auf. Wir warteten auf umfassende Informationen, die sich natürlich nur über den Teil der Oberfläche erstrecken konnten, der jetzt sichtbar auf dem Hauptbildschirm auftauchte. Endgültige Daten würden wir erst nach einer Umkreisung des Planeten erhalten. Die STERNSCHNUPPE bremste ab. Der Diskus veränderte seine Flugbahn, die bald in eine Kreisbahn hoch über der Oberfläche münden würde. Ich sah, wie Chipol die Hände zu Fäusten ballte. Die silbrigweißen Fingernägel verschwanden unter den Handflächen, und die engen Augen des Jungen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Du denkst an den Erleuchteten«, stellte ich fest. »Du hoffst, ihn auf Cairon zu finden!« »An ihn und an meine Familie denke ich«, sagte er hart. »Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie gefunden habe. Ist das Unrecht, Atlan?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist kein Unrecht. Du mußt es tun. Es ist deine Pflicht. Und ich werde dir dabei helfen. Wenn wir erst den Erleuchteten gefunden haben, wird er uns den Aufenthalt der Familie Sayum verraten müssen!«
* Auf den ersten Blick konnte man Chipol für einen Terraner mit asiatischem Einschlag halten. Die äußerlichen Unterschiede waren gering. Bis auf die Fingernägel und die Augäpfel, die in der Dunkelheit schwach leuchteten, gab es nichts, was aufgefallen wäre. Er war einen Meter und sechzig groß und schlank, besaß dunkles, sehr dichtes Haar, und seine Haut leuchtete hellbraun. Seine Augäpfel wurden meist nur in Schrecksekunden sichtbar, oder wenn er sich über etwas besonders wunderte. Jetzt schien seine Stirn zu glühen. Er verfolgte die Meldungen, die das Schiff uns gab. Psionische Aktivitäten. Etwa zweihundert Gruppen, auf einem bananenförmigen Kontinent, der sich von den Tropen bis in die kalten Nordregionen zog. Der Osten wurde von einem umfangreichen Gebirge eingenommen. Land der Bathrer, so wurde der Kontinent genannt. Etwa zweihundert Stadtstaaten gab es im westlichen Teil des Gebirges, und die Priester in jenen Städten verfügten alle über das sogenannte Wahakù, eine besondere Art psionischer Begabung. Aber sonst war der Planet psionisch tot. Es gab keinen Hinweis auf den Erleuchteten. Als ich von den Kosmokraten nach Manam‐Turu versetzt worden war, war ich davon ausgegangen, daß sie mich so nahe wie möglich an meinen Gegenspieler herangebracht hatten. Chipols Erlebnisse auf Joquor‐Sa hatten mir diese Einschätzung bestätigt. Der Daila hatte ein gewaltiges Ding gesehen, das sich mit seinem Schatten über die Landschaft gesenkt hatte. Es war viel zu groß gewesen, als daß er auch nur die ungefähre Form hätte erkennen können. Es konnte nur ein Fahrzeug des Erleuchteten gewesen sein. Dieser hatte bei seiner überhasteten Flucht aus Alkordoom irgend etwas zurücklassen müssen oder etwas verloren, nur so war es erklärlich, daß er hier in Manam‐Turu blindlings die nächstbesten
Psipotentiale aufgriff, ohne zu beachten, daß er dabei deutliche Spuren und mit Chipol sogar einen Zeugen zurückließ. Der Erleuchtete befand sich nach meiner Einschätzung in einer Klemme, aus der er sich nur durch rasches Einholen von Psipotentialen befreien konnte. Was lag näher, als daß er sich sofort an den Nachbarplaneten Cairon wandte, wo es ja auch solche Potentiale gab. Diese Gedanken hatten den Ausschlag für unser Flugziel gegeben. Von dem Erleuchteten selbst oder seinem riesigen Fahrzeug fanden wir aber keine Spuren. Es war nicht auf Cairon versteckt, und der Psi‐Spürer der STERNSCHNUPPE sprach auf ihn und EVOLO nicht an. EVOLO beschäftigte mich am meisten. Ich wußte nicht, was es war. Ich konnte mir nur denken, daß der Erleuchtete die Psipotentiale dafür verwendete. Und ich wußte, daß es sich bei EVOLO um eine Bedrohung für die Kosmokraten handeln würde, wenn es fertiggestellt war. Seit meiner Ankunft in Alkordoom hatte mich EVOLO beschäftigt, und manchmal überkam mich kalte Wut, weil ich hinter diesem Gebilde herspürte, ohne es bisher zu Gesicht bekommen zu haben. War EVOLO in der Nähe? Befand es sich in dem riesigen Ding, das Chipol beobachtet hatte? Oder hatte der Erleuchtete es bereits irgendwo versteckt? »Landen wir endlich?« klang die Stimme des jungen Daila auf. »Atlan, ich kann es kaum erwarten. Warum ist das riesige Ding nicht hier!« Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. »Es ist eben nicht hier«, sagte das Schiff. »Da es sich nach deiner Beschreibung um ein Raumfahrzeug handelt, kann es am anderen Ende von Manam‐Turu sein. Sogar in einer anderen Galaxis!« Ich sah, wie Chipol zusammenzuckte, und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Denke nicht daran«, mahnte ich. »Wir werden deine Familie finden. Es ist auch gar nicht sicher, ob sie sich noch in dem
Riesenschiff befindet. Vielleicht hat der Erleuchtete sie längst auf einem anderen Planeten abgesetzt. Oder er läßt sie für sich arbeiten!« Ich konnte den Daila mit meinen Worten nicht fröhlicher stimmen und wandte mich deshalb an das Schiff. »Liegen die endgültigen Daten vor? Wir haben die erste Umkreisung beendet.« Die Daten kamen, ehe ich mit dem zweiten Satz zu Ende war. Es gab lediglich den einen Kontinent, der eine nachweisbare Besiedlung besaß. Es war das Land der Bathrer, in dem sich auch die Sayums hatten niederlassen wollen. Dort wollten wir landen und uns unter das Volk mischen. »Landeanflug einleiten«, sagte ich. »Wir halten uns jedoch den Städten fern und machen zunächst einmal eine Erkundungstour über dem unbewohnten Teil des Gebirges.« Der Diskus mit seinen vierzig Metern Breite und zwanzig Metern Höhe verließ die Kreisbahn und drang in die Hochatmosphäre des vierten Planeten ein. Unter uns zogen abwechselnd Wasserflächen und Kpntinente vorbei. Acht Landmassen besaß der Planet insgesamt, und er machte einen recht erdähnlichen Eindruck. Automatisch stellte ich mir vor, wie die Kultur der Bathrer beschaffen sein mochte. Nur zu gern wollte ich sie mit jenen Verhältnissen im Mittelalter Terras vergleichen, als ich mich immer wieder unauffällig unter das Volk gemischt und zahlreiche Abenteuer erlebt hatte. Das war lange her. Bathrer sind keine Terraner, warf der Extrasinn ein. Vergiß die Informationen der Daila nicht, die du besitzt. Du wirst es dir nicht erlauben können, wegen törichter Nostalgie einen Fehler zu machen. Natürlich nicht. Und schon gar nicht in dieser Situation. Etwas war da, was sich meinem Bewußtsein verbarg. Es war nicht greifbar, und doch war es da. Eine unbestimmte Ahnung begleitete mich, und jedesmal, wenn ich versuchte, sie in Gedanken zu fassen,
entglitt sie mir. Die Kosmokraten hatten mich hierhergeschickt. Sie hatten meine Versetzung bewirkt und mir kurz davor erneut vor Augen geführt, welche Opfer auch von meinen Gefährten verlangt wurden. Ich befand mich erneut auf der Spur meines Gegners, in einer Welteninsel, in der es keine festgefügten Machtstrukturen unter der Herrschaft von Facetten gab. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, für Manam‐Turu gerade das Gegenteil anzunehmen, eine Galaxis ohne jede Macht, die über Sternsysteme bestimmte. Ich konnte es nicht beweisen, denn bisher hatte ich lediglich mit einem einzigen Sonnensystem zu tun, dem des Sterns Tsybaruul. Wenn ich mein Bewußtsein über dieses System hinaus richtete, wurde ich unsicher. Beklemmung befiel mich, und die bohrenden Zweifel wurden nur deshalb nicht übermäßig stark, weil ich immer wieder daran dachte, daß ich jederzeit den Rückzug aus meinem Auftrag antreten konnte. Ich brauchte nur das Kodewort zu denken, das die Kosmokraten mir gegeben hatten, als sie mich aus dem Wasserpalast auf Kran holten. Vergiß nicht, daß die Kosmokraten auf deine Fähigkeiten bauen, Atlan. Deine Aufgabe ist nicht zu Ende. Du mußt den Erleuchteten erst finden! Wir konnten auf Cairon nichts entdecken. Wir mußten damit rechnen, daß er doch ein anderes Ziel angesteuert hatte. Und doch sprach alles dafür, daß er da war. Ich konnte es kaum mehr erwarten, meinen Fuß auf die Oberfläche des Planeten zu setzen und die Priester zu treffen. Immer wieder musterte ich unauffällig die Anzeige des Psi‐Spürers. Da war ein beträchtliches Potential, eine nicht zu übersehende Verlockung für meinen Gegner, der er kaum widerstehen würde. Er versteckte und tarnte sich. Er war es gewohnt, krumme Wege zu gehen und andere Intelligenzen für seine Zwecke auszunutzen. Wir erreichten den Kontinent von Süden her. Ich wies das Schiff an, ganz tief zu fliegen und sofort in den Schrunden und Klüften des
östlichen Gebirgsteils zu verschwinden. Die Gefahr, daß wir geortet wurden, schrumpfte dadurch auf ein Minimum herab. Noch immer gab es keine Anzeichen auf den Erleuchteten. Die Gebirgsregion war verlassen. Nur einmal entdeckten wir in der Ferne eine kleine Gruppe von Wagen. Sie zogen ein eng gewundenes Tal entlang und überschritten einen Paß, der sie nach Westen führte. »Händler!« rief Chipol aus. »Das sind Händler mit ihren Karren. Sieh nur, Atlan. Die seltsamen Tiere, die sie ziehen, sind die Xarrhis!« Aus der Ferne wirkten die Tiere wie Ponys. Erst bei weiterer Annäherung erkannten wir Details, ihr zottiges Fell von eigenartiger Musterung sowie die rüsselartig verlängerten Nasen, deren Fell von Tier zu Tier unterschiedlich gefärbt war. Die Händler schienen uns nicht wahrzunehmen, und ich wollte die STERNSCHNUPPE anweisen, daß sie sich zurückziehen sollte. Ich wollte vorerst unentdeckt bleiben und dem Erleuchteten, der bisher nichts von meiner Anwesenheit in Manam‐Turu wußte, keinen Hinweis geben, daß etwas gegen ihn im Gang war. Noch ehe ich den Mund aufmachen konnte, entdeckte ich, daß das Schiff zusätzliche Systeme aktiviert hatte. Die Kontrollichter flackerten. »Was machst du?« fragte ich. »Zusätzliche Maschinen des Aggregatrings sind aktiviert, Atlan. Die Händler können uns weder hören noch sehen!« Deflektor und Schallschlucker, das war es. Die Geräusche wurden von einem energieschirmähnlichen Gebilde eingefangen und nicht in die Umgebung durchgelassen. In geringer Höhe zog die STERNSCHNUPPE über die Händler hinweg und setzte ihren Flug nach Norden fort. »Alle überflüssigen Maschinen ausschalten«, verlangte ich. »Wenn sich der Erleuchtete oder ein Spion in der Nähe aufhält, wird er die Emissionen des Schiffes orten und seine Schlüsse daraus ziehen!« »Du unterschätzt mich«, erklärte da^ Schiff beinahe gelangweilt.
»Ich habe Vorkehrungen getroffen, daß man mich nicht orten kann. Seit dem Start von Joquor‐Sa bin ich nicht erkennbar.« Wieder einmal geriet ich ins Staunen. Das Schiff, das über ein hoch entwickeltes Bewußtsein verfügte und wie ein Lebewesen normale Unterhaltungen führen konnte, war. auf jede Eventualität vorbereitet. Es trug jeder Konsequenz Rechnung. Mehr noch, Atlan, sagte der Extrasinn. Es scheint über gezielte Informationen bezüglich deines Auftrags zu verfügen. Das ist die eigentliche Quintessenz. Täuscht du dich da nicht? Ich meine, wer sollte es informiert haben? Du selbst, während du bewußtlos warst? Das wäre eine von mehreren Möglichkeiten. Es war vor allem eine, die mir nicht behagte. Ich beschloß, die Erkenntnis vorläufig jedoch für mich zu behalten. So wie es aussah, würden wir die STERNSCHNUPPE ohnehin bald zurücklassen müssen, um im Land der Bathrer nicht aufzufallen. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann hatten wir die tropische Region des Kontinents durchquert und drangen in die gemäßigte Klimazone ein. Weit im Westen machten die Wärmedetektoren des Schiffes die ersten Städte aus, und ich rief mir die Daten ins Bewußtsein, die ich in den Hypnolektionen gelernt hatte. Die Stadtstaaten der Bathrer waren regelrechte Stadtberge, die teilweise an und in den jeweiligen Berg hineingebaut waren. Zu den so geschaffenen Höhlungen kamen teilweise noch künstliche Labyrinthe, die man den Bergen aufgesetzt hatte. Jede Stadt besaß eines oder mehrere Tore, die scharf bewacht waren. Niemand kam so hinein oder hinaus, ohne gesehen zu werden. Die Bathrer lebten in dauernder Feindschaft mit den Nomaden im Westen, der eigentlich eine einzige, große Ebene war, die sich vom Nordzipfel des Kontinents bis zum Südende zog. In Küstennähe war diese Ebene so unfruchtbar wie der Ostteil des Gebirges, durch den wir flogen. Während die Nomaden die unfruchtbaren Teile der
Ebene bewohnten, lebten die Bathrer im fruchtbaren Teil des Gebirges. Immer wieder bestürmten die Nomaden die Städte, um Beute zu machen. Meistens jedoch gelang ihnen das nicht, weil die Städte zu unzugänglich waren. »Wir nähern uns dem Zielgebiet«, meldete das Schiff. »Hast du besondere Anweisungen für mich, Atlan. Du oder dein junger Freund?« »Du gehorchst Atlan«, sagte der junge Daila. »Wie könntest du von mir einen Befehl annehmen!« »Warum nicht? Solange er nicht gegen das gerichtet ist, was Atlan will! Muß ich das erst noch betonen?« »Mußt du nicht«, warf ich ein. »Aber schön wäre es doch, wenn du ab und zu etwas mehr sagen würdest, als nötig ist. Zum Beispiel, wie und warum du an jenen Ort gekommen bist, an dem die Kosmokraten mich absetzten. Oder was sich alles in dem umlaufenden Ring befindet, der die Kante des Diskus säumt. Oder wer dich erbaut hat und warum der Psi‐Spürer nachträglich erst eingebaut wurde. All das sind Fragen, die wir dir nicht zum ersten Mal stellen.« »Und auf die ich die Antwort nicht zum ersten Mal schuldig bleibe«, gab die STERNSCHNUPPE heraus. »Warum gibst du dich nicht mit dem zufrieden, was du weißt? Was du nicht weißt, berührt dich schon nicht.« Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich sah in Chipols wütendes Gesicht, und der Daila knurrte: »Ich sagte es bereits. Dieses Schiff ist verrückt. Wie bescheuert müssen erst seine Auftraggeber oder Erbauer gewesen sein, wenn sie so etwas auf die Intelligenzen Manam‐Turus loslassen!« Jetzt lachte ich, wurde aber übergangslos wieder ernst. »Es hat alles seinen Sinn«, behauptete ich, obwohl ich selbst nicht so recht vom Sinn der STERNSCHNUPPE überzeugt war. Zumindest nicht von ihrem Hintersinn. Der Diskus war in eine Schlucht hinabgesunken und flog dicht
über dem Boden entlang. Aufragenden Felszacken wich er seitlich aus oder hüpfte elegant über sie hinweg. Hoch über uns leuchtete ein hellblauer Himmel ohne Wolken. Ab und zu sahen wir die Scheibe Tsybaruuls, die uns blendete. Sie stand hoch am Himmel, es war Mittag in diesem Bereich des Planeten. Die Schlucht endete, und wir fanden uns in einem langgestreckten Tal, in dem mehrere Reitergruppen unterwegs waren. Sie trugen bunte Kleidung, führten aber keine Karren mit sich. Sie ritten auf hochbeinigen, schnellen Vleehs. »Es sind Bathrer«, erkannte ich. »Sie sind vermutlich zwischen mehreren Städten unterwegs.« »Das Plateau taucht auf der Ortung auf«, sagte das Schiff. »Wir fliegen es an.« Ich warfeinen Blick auf Chipol, der Anzeichen von Ungeduld zeigte. Er konnte es kaum erwarten, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Am liebsten hätte er sich aus der Bodenschleuse geworfen und wäre zu einer der Reitergrupen hinübergerannt, um sich ein Vleeh zu erobern. Die Einheimischen hätten vermutlich an böse Geister geglaubt, wenn aus dem Nichts des Deflektorfeldes plötzlich ein junger Mann aufgetaucht wäre. Sie hätten die Flucht ergriffen, und rasch hätte sich die Kunde von dem schlitzäugigen Geist über das Land verbreitet. Ein solches Risiko durften wir nicht eingehen. Wir mußten uns unauffällig unter die Bathrer mischen, und wir würden es genauso tun, wie es die Daila in zurückliegender Zeit getan hatten, um sich das nötige Wissen über Cairons Bewohner anzueignen, das es ihnen ermöglichte, sich unter die Bevölkerung des Kontinents zu mischen und hier eine neue Heimat zu finden. Am nördlichen Ende des Tales ragte ein Spitzkegel auf. Er war nicht hoch genug, um auf seiner Spitze Schnee zu tragen. Dennoch war seine Spitze heller als die Hänge. Das mußte unser eigentliches Ziel sein. »Ich sehe sie, das ist Umharaton«, rief Chipol aus. »Sie klebt am Berg und hat ihn noch ein paar Meter höher gemacht, als er
ursprünglich war.« Das Schiff schwenkte zur Seite ab und flog ein engeres Seitental an, das zunächst nach Osten und dann ebenfalls nach Norden führte. An seinem oberen Ende gab es ein Waldgebiet, das die beiden Täler miteinander verband. Auf der rechten Seite endete der Wald an einem hohen Felsplateau, von dem Chipol und ich wußten, daß es von den Stadtbewohnern wie von den Nomadenhorden gemieden wurde. Dort trieben angeblich Geister ihr Unwesen, was nicht schwer zu verstehen war. Gelegentlich mochten die Einheimischen die kleinen Beiboote der Daila bei ihren Manövern beobachtet haben. Sie hatten daraus die Schlüsse gezogen, die der Bildungsstand ihrer Kultur zuließ. Uns konnte das nur nützlich sein. Kein Bewohner des Kontinents würde sich auf dieses Plateau hinaufwagen. Es war das ideale Versteck für die STERNSCHNUPPE. Im Nordosten hinter dem Plateau weideten in einem Felseinschnitt mehrere Xarrhis. Wir sahen sie, als das Schiff eine kurze Runde drehte und dann die Mitte des Plateaus ansteuerte, wo es mehrere Felszacken gab, zwischen denen mit künstlichen Mitteln eine plane Fläche geschaffen worden war. Ich wies das Schiff an, dort zu landen. Es zog dicht über dem Geröllboden dahin und versank mit einer winzigen Kurskorrektur zwischen den aufragenden Zacken. Ein paar der Felsen waren bis zu vierzig Meter hoch. Die STERNSCHNUPPE, setzte auf. Sie hatte ihre acht Landestützen ausgefahren und kam mitten auf der Fläche zur Ruhe. Die Anzeigen für die Triebwerke erloschen, und auf dem Hauptbildschirm blendeten sich die Daten der unmittelbaren Umgebung ein. Luftdruck, Temperatur, Zusammensetzung der Luft, Feuchtigkeit. Es waren Werte, die der gemäßigten Zone entsprachen. Die generellen Werte der Atmosphäre waren zufriedenstellend, so daß wir das Schiff ohne Raumanzüge verlassen konnten. »Auftrag ausgeführt«, sagte das Schiff. »Weitere Anweisungen?«
»Danke. Keine weiteren Anweisungen. Wir verlassen das Schiff und machen uns auf den Weg. Jeder von uns nimmt ein als Schmuck getarntes Funkgerät mit, mit dem wir dich herbeirufen können. Bis zum Eintreffen eines solchen Signals hältst du absolute Energiestille und tust das Nötige, um deine Entdeckung zu vermeiden!« »Verstanden. Viel Glück!« erwiderte die STERNSCHNUPPE. Wir verließen das Schiff durch die Bodenschleuse, die zwei Meter über der Oberfläche lag. Eine Rampe war ausgefahren, und wir eilten hinab, Chipol voraus. Er war ungeduldig, und ich nahm mir vor, ihn rechtzeitig zur Ordnung zu rufen, bevor er uns durch sein Ungestüm in eine schwierige Situation bringen konnte. Die ganze Zeit des Fluges war er voll innerer Ungeduld gewesen, und ich rechnete damit, daß sich das irgendwann entladen würde. Wir traten zwischen den Landestützen hinaus. Unter dem umlaufenden und sechs Meter durchmessenden Ring, der die Kante des Diskus umgab und in dem der Antrieb und alle anderen technischen Systeme untergebracht waren und der ferner unzugänglich war, blieben wir stehen. Ich warf einen Blick hinauf zu dem Ring, der mir seine Geheimnisse vermutlich nie enthüllen würde. Dann setzte ich mich entschlossen in Bewegung und schritt über die plane Fläche bis zu den Felsen hinüber. Chipol folgte mir auf dem Fuß, und als wir den Bereich der Schutzschirme verlassen hatten, da war das Plateau hinter uns leer. Wir sahen nur die Felszacken gegenüber. Von dem dazwischenstehenden Schiff war nichts zu erkennen. Die STERNSCHNUPPE wußte sich vollendet zu tarnen, was mir nur recht war. »So. Da wären wir also«, sagte ich. »Willst du mich zu dem Versteck deiner Familie führen, Chipol?« Der Daila wedelte mit den Händen und eilte mit langen Schritten davon.
* Wir bewegten uns auf das nördliche Ende des Plateaus zu. Unter unseren Füßen knirschte das Geröll. Es gab keine Deckung für uns, und im Westen hinter dem Wald sahen wir den Berg mit seinem hellen Fleck. Dort wollten wir zunächst hin. Chipol hatte mir Namen von Sayums genannt, die bereits im Umharaton gewesen waren. Es war ihnen nur für kurze Zeit gelungen, sich dort unauffällig zu bewegen. Immer wieder hatten sie sich zurückziehen müssen, weil die Gefahr einer Entlarvung bestand. Wir erreichten den Steilabfall des Plateaus. Ich blickte hinab und sah einen engen Pfad, der aber auf halber Höhe aufhörte. Nach unten zu gab es keinen Weg. »Auf der Südseite gibt es zwei beschwerliche Wege«, sagte Chipol an meiner Seite. »Auf ihnen kann man vom Tal heraufklettern. Es ist aber nicht ratsam. Man braucht nur einmal auszurutschen, und schon stürzt man ab.« Ich sah ihn stirnrunzelnd an und deutete auf den Pfad, den ich entdeckt hatte. »Ich nehme an, wir müssen da hinunter. Ist das etwa weniger gefährlich?« Der junge Daila lachte mich unbekümmert an. »Endlich etwas, was du nicht weißt«, freute er sich. »Du siehst von hier aus das Drahtseil mit den Schlaufen nicht, das im Felsgestein befestigt ist. Du brauchst dich nur festzuhalten und gelangst unversehrt hinab bis zum Eingang. Er befindet sich dort, wo der Pfad zu Ende ist. Von da an verläuft der Weg im Innern der Felsen!« Er trat zu einer Bodenrille und bückte sich. Ich sah, daß er eine Metallschiene herauszog und sie hin und her bewegte. Die Rille im Boden wurde breiter, und knirschend öffnete sich eine Platte, unter der ich die Stufen einer Treppe entdeckte. Chipol klappte die Platte mit den Händen ganz zurück und winkte mir. »Der Einstieg schließt sich nach einiger Zeit von selbst«, erklärte
er. »Wir brauchen uns nicht darum zu kümmern!« Er stieg die Stufen hinab, und ich folgte ihm. Hier war ein natürlicher Riß im Fels künstlich erweitert worden. Die Stufen führten schräg nach unten auf das Licht zu, und zwei Minuten später befanden wir uns unmittelbar an der Steilwand des Plateaus. Ich hörte noch das Scharren, mit dem sich der versteckte Eingang schloß, dann folgte ich Chipol auf den Pfad hinaus. Die Daila hatten sich mit dem schmalen Weg keine große Mühe gemacht. Da das Drahtseil fest verankert war und man sich von Schlaufe zu Schlaufe hangeln konnte, brauchte man bei entsprechend kräftiger Armmuskulatur nicht einmal die Beine zu Hilfe zu nehmen. Ich tat es trotzdem und stemmte meine Stiefel gegen den rutschigen Untergrund. Meter um Meter glitt ich hinab, und bald hatte ich erkannt, daß ohne das Seil der Pfad völlig unbegehbar war. Ich dachte an den Aufstieg, der erheblich mehr Kraft kosten würde, falls wir jemals auf ihn angewiesen waren. Trotz der Kletterhilfen hingen wir über eine Viertelstunde in der Wand. Immer näher kamen wir dem Erdboden, aber noch trennten uns gut hundert Meter von ihm. Eine Brüstung ragte mir entgegen. Sie war nach unten hin durch einen vorspringenden Felsen gegen Entdeckung gesichert. Ich griff mit der freien Hand nach dem Geländer und bekam endlich wieder brauchbaren Boden unter die Füße. Ich ließ die letzte Schlaufe des Drahtseils los. Chipol verschwand vor mir in einer Nische. Er kehrte mit einer Taschenlampe zurück und leuchtete mich an. »Sie funktioniert noch«, sagte er. »Komm rasch!« Treppenstufen führten in das Innere des Felsmassivs. In der Art einer Wendeltreppe ging es abwärts, und nach meiner Schätzung mußten wir längst den Fuß des Massivs und damit den Boden des umgebenden Waldgebiets erreicht haben. Der Daila deutete auf eine rot gefärbte Kerbe, die in die Wand neben der Treppe eingelassen war.
»Der Mechanismus für den Ausguck«, erklärte er. »Wenn man den kleinen Hebel in der Kerbe umlegt, schwenkt die Treppe mit ihrem unteren Teil zur Seite und gibt eine Plattform frei. Gleichzeitig öffnet sich ein Stück Felsen, und man hat einen Blick auf den Wald und das Gelände direkt an der Steilwand. Der Ausguck ist keine fünf Meter über dem Boden angebracht.« »Dann besteht die Gefahr der Entdeckung«, stellte ich fest. »Deshalb ist er nie benutzt worden. Mein Vater hat es verboten«, erwiderte Chipol mit einem schmerzlichen Zug um den Mund. Die Erinnerung an seinen Vater holte all die zwiespältigen Gefühle aus seinem Innern hervor, mit denen er zeit seines Lebens zu kämpfen gehabt hatte und auch jetzt noch kämpfte. Als einziger Sproß seiner Familie, der nicht mit Psifähigkeiten begabt war, war Chipol immer das schwarze Schaf gewesen. Und die ablehnende Haltung, die sein Vater ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte, hatte ihn besonders geschmerzt. Er hatte alles getan, um für voll genommen zu werden, ohne daß er sein Ziel erreicht hätte. Vielleicht war es jetzt das erste Mal in seinem Leben, daß er in mir einen Gefährten hatte, der ihn vorbehaltlos akzeptierte. Wir stiegen weiter die Treppe hinab. Dreißig Stufen nach der Kerbe folgten noch, dann sah ich im Schein der Taschenlampe, daß wir uns an einer Tür befanden. Chipol öffnete sie, und dann flammte Licht auf. Ich betrat einen Raum von der Größe der Kommandozentrale der STERNSCHNUPPE. Die Wände waren mit Metallsegmenten verkleidet, und im Hintergrund erkannte ich mehrere kleine Bodenfahrzeuge mit unterschiedlichem Tarnanstrich. »Ihr habt auch Ausflüge mit Fahrzeugen unternommen?« »Nachdem wir erfahren hatten, daß man unsere Aktivitäten auf dem Plateau für den Spuk böser Geister hielt, haben wir diesen Ruf ausgenutzt«, meinte mein Gefährte. »Ich habe auf Joquor‐Sa immer mit besonderem Interesse den Erzählungen zugehört, die von Ausflügen mit diesen Fahrzeugen berichteten. Meine Familie ist mit
ihnen bis weit in den Norden gekommen, und eines der Fahrzeuge hat sogar Eiskufen bei sich, die bei starkem Schnee und Eis montiert werden können. Natürlich wurde meist bei Nacht gefahren und immer nur dort, wo wir nicht entdeckt werden konnten. Aber einmal geriet einer meiner Brüder fast in einen Hinterhalt der Nomaden, die in der Nacht in die Berge eindrangen und gegen Durvinon marschierten. Die Stadt zwischen den Kaminen erschien ihnen leicht einnehmbar.« »Was hat er getan, um ihnen zu entkommen?« »Er hat gewendet und stark beschleunigt. Die dabei entstehenden Motorgeräusche haben die Nomaden in die Flucht geschlagen. Wir haben nie mehr gehört, daß sie Durvinon überfallen wollten!« Chipol führte mich zu einer Tür, die in eine weitere Kammer führte. Ich staunte über das, was die Daila hier angelegt hatten. Sie hatten eine Basis geschaffen, in der es alles gab, um auf einer fremden Welt Erkundungen durchzuführen und notfalls vor den Nachstellungen der Einheimischen sicher zu sein. »Dort hinten ist das Lager mit den kleineren Dingen, die man auf Cairon so braucht«, sagte er. »Ich kenne nicht von allen – den Verwendungszweck, aber wir werden finden, was wir brauchen, um uns als Händler ausgeben zu können!« Wir hatten uns bereits nach dem Abflug von Joquor‐Sa auf unsere Taktik geeinigt. Als reisende Händler standen die Chancen am besten, daß wir unerkannt von Stadt zu Stadt ziehen konnten, ohne das Mißtrauen der Bathrer oder der Nomaden zu erregen. 3. Harakesch hatte die Mauerkrone erklommen und eilte gebückt den Wehrgang entlang. Niemand sah ihn, die Wachen saßen in ihrer Stube beim Steinchenspiel, und die Händler unten auf dem Markt hatten ihre Aufmerksamkeit auf ihre Kunden gerichtet.
»Vierzig Jaculruns für diese hochwertige Samtrobe«, hörte er die kreischende Stimme des Händlers Auferhan, und Jodanon neben ihm hielt sich die Ohren zu und begann danach noch lauter zu schreien. »Bei mir nur achtunddreißig Jaculruns für dieselbe Robe«, brülle er und hielt das Kleidungsstück empor in das Sonnenlicht. Die Goldborten und Tressen funkelten, und ein allgemeines »Ah!« klang unter den Interessenten auf. »Glaubt ihm kein Wort«, schrillte Auferhan. »Er hat sie von einer Bettlerin erstanden, und sie ist mit schlechterem Faden genäht als die, die ich anzubieten habe. Glaubt ihm nicht, er will euch über die Nase schlagen!« Harakesch hatte sein Ziel erreicht. Er duckte sich hinter einen Mauervorsprung und zog die dünne Schnur aus der Umhängetasche. Er raffte seine Beinkleider zusammen und kniete sich hin. Noch einmal prüfte er die Festigkeit der Schnur und den Knoten am Haken, dann beugte er sich langsam vor. Aus dem Schatten heraus schob er sich auf die Oberseite des Vorsprungs, bis er mit der Brust und dem Bauch darauf lag. Sein Kopf befand sich jetzt unmittelbar hinter der Kante. Der Halbwüchsige warf die Angel aus. Unbemerkt von den Leuten unten auf dem Marktplatz glitt die Schnur an der Mauer hinab und suchte sich dann ihr Ziel. Harakesch feixte. Er hatte einen günstigen Zeitpunkt erwischt. Der Streit der beiden Händler zog die Aufmerksamkeit aller Marktbesucher auf sich und lenkte von ihm ab. Wenn die Gunst der Stunde ihm hold war, dann würde er seine Frechheit bald belohnt sehen. »Seht nur!« rief Auferhan und hielt seine Robe empor. »Sie ist viel besser geschnitten. In meiner Robe macht man eine bessere Figur. Und der Faden, denkt an den Faden. Der Schneider, der meine Robe hergestellt hat, hat reinsten Frikkafaden verwendet.« Jodanon stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und versuchte,
ihn von der kleinen Tribüne zu schieben, auf der sie standen. Auferhan ließ die Robe fallen und versetzte seinem Kollegen einen Doppelschlag auf beide Ohren, daß diesem vorübergehend Hören und Sehen verging. Er verdrehte die Augen, stieß die Luft aus und schwankte leicht. »Denkt euch nichts dabei«, rief Auferhan. »Eine freundschaftliche Geste unter Brüdern. Wir Händler sind ein Herz und eine Seele!« »Vor allem eine Seele«, tobte Jodanon und gab dem Großsprecher einen Tritt in den Hintern, daß dieser von der Tribüne taumelte. Er warf ihm dessen Robe hinterher und setzte seine Anpreisungen fort. »Natürlich ist auch diese Robe mit edlem Frikkafaden genäht, Faden vom besten Jahrgang. Ich habe hier ein Zertifikat, das meine Worte beweist!« Er zog ein Stück Papier aus einer seiner Taschen und faltete es auseinander. Er streckte es dem Publikum entgegen und deutete auf das Siegel. »Aus Cainaruul!« verkündete er. »Von einem Priester gefertigt. Und da kommt dieser Schuft von Auferhan und behauptet, die Robe sei minderwertige Qualität!« »Glaubt ihm kein Wort!« schrillte der zweite Händler vom Rand der Tribüne. Er versuchte, wieder hinaufzuklettern, aber Jodanon stieß ihn immer wieder mit den Füßen zurück. Er hielt das Zertifikat so hoch, daß der andere es nicht in die Finger bekommen konnte. »Priester sind geschickte Leute«, fuhr er fort. »Als Inhaber des Wahakù verfügen sie über einen hohen Grad an Inspiration. Deshalb sind achtunddreißig Jaculruns ein Schleuderpreis für diese Ware!« Einer der Bathrer, die die Tribüne umstanden, drängte herbei und streckte die Hand nach dem Zertifikat aus. »Ich will sie kaufen, aber laß mich zuvor einen Blick darauf werfen«, verlangte er. Der Händler gab ihm das Papier, und er hielt es gegen die Sonne. Er betastete das wächserne Siegel und las eingehend den Text der Urkunde. Die Prüfung schien zu seiner
Zufriedenheit auszufallen. Er klatschte mehrmals mit den Handflächen gegeneinander. Das Zertifikat wurde dabei ein wenig zerknittert, aber den Bathrer interessierte das nicht. Er streckte sich nach vorn, reichte das Zertifikat zurück und schickte sich an, die Tribüne zu besteigen. In diesem Augenblick handelte Auferhan. Mit einem Hechtsprung warf er sich dazwischen, riß dem Bathrer das Zertifikat aus der Hand, stürzte zu Boden und wälzte sich herum. Ehe ihn jemand hindern konnte, hatte er das Siegel abgerissen, das Papier zusammengeknüllt und in den Mund gesteckt. »Haltet ihn auf«, schrie Jodanon. »Er darf es nicht schlucken. Drückt ihm den Hals zu!« Die Bathrer zögerten. Sie waren es nicht gewohnt, Gewalt gegen Menschen anzuwenden. Es widersprach den Gesetzen der Harmonie, unter denen sie lebten. Sie verhielten sich passiv, und Jodanon war so klug, die Tribüne nicht zu verlassen. Er hatte seinen Blick fast unablässig auf die Robe gerichtet, und inzwischen hatte Auferhan das Papier mit Speichel getränkt und hinuntergeschluckt. Erleichtert richtete er sich auf. »Zertifikat hin, Zertifikat her«, verkündete er. »Wie willst du es beweisen?« Der kaufwillige Bathrer trat an ihn heran. »Ich kann es bezeugen. Ich kenne zufällig das Siegel von Cainaruul, der südlichsten Stadt. Land der Sonne wird sie genannt, und unter der Sonne vollbringen ihre Bürger wahre Wunderwerke. Laßt euch gesagt sein, daß beide Roben aus Cainaruul stammen. Eine Fälschung oder Imitation ist nicht möglich. Man erkennt die Roben an den eingewebten Spitzen!« Er kletterte auf die Tribüne und besah sich das wertvolle Stück. Er lachte freudig auf und zeigte den Bathrern, was er meinte. Diese Robe war echt, das konnte jeder sehen, und das Zertifikat war keine Fälschung eines Unehrlichen. Der Bathrer zog unter seinem Umhang einen Beutel mit Nüssen
hervor. Er ließ ihn in der Luft hin‐ und herpendeln. Er legte dem Händler eine Hand auf die Schulter und trat ihn vorsichtig gegen das Schienbein. »So will es der Brauch«, sagte er. »Ich hoffe, ich habe dir nicht weh getan!« »Achtunddreißig«, sagte Jodanon nur. Der Bathrer öffnete den Beutel und zählte achtunddreißig der erbsengroßen, dunkelbraunen Nüsse ab. Sie dienten als Zahlungsmittel im Land der Bathrer, falls kein Tauschgeschäft abgeschlossen wurde. Jodanon steckte die Nüsse zufrieden ein, nachdem er eine davon geöffnet und verzehrt hatte. Auch das war ein alter Brauch bei den Händlern, und Auferhan raffte sich auf und rief: »Er frißt sein eigenes Geld. Er muß wahnsinnig sein!« »Sei still, du Unhold«, erhielt er zur Antwort. »Ich führe lediglich die Mehrwertsteuer ab!« Alle lachten über den Scherz. Im Land der Bathrer gab es keine Steuern, hatte es nie welche gegeben. Daß sie dennoch diese und ähnliche Begriffe kannten, lag an den Nomaden, mit denen sie hin und wieder zu tun hatten. In den Steppenlagerri waren Begriffe wie Steuer und Tribut bekannt und solche Abgaben üblich. Jodanon übereignete dem Bathrer die wertvolle Robe, und der Mann zog stolz von dannen. Auferhan machte sich schimpfend hinüber zu der Stelle, wo er seine eigene Robe zurückgelassen hatte. Sie war nicht mehr da, und der Händler traute seinen Augen nicht. Er stieß einen lauten Alarmruf aus, und augenblicklich eilten mehrere Händler herbei. »Sie ist weg«, ächzte Auferhan. »Die wertvolle Robe ist gestohlen!« »Du träumst«, sagte einer der Händler. »Wir sind hier in einer Stadt der Bathrer. Da wird nichts gestohlen. Oder siehst du einen Nomaden unter den Zuschauern?« Auferhan begann vor Erregung am ganzen Körper zu zittern, und nichts half, ihn zu beruhigen. Er rannte hin und her, aber die Robe
war und blieb verschwunden. Die Händler wurden unruhig. Sie kehrten an ihre Plätze zurück und begannen, ihre Sachen einzupacken. Sie murmelten undeutliches Zeug, und die Bathrer brauchten eine Weile, um völlig zu begreifen, was da vor sich ging. »Bleibt«, baten sie die Händler. »Wir werden euch den Schaden ersetzen. Vierzig Jaculruns, sagtet ihr? Wartet einen Augenblick. Wir sammeln für euch. Es soll niemand sagen, Umharaton sei seinen Gästen etwas schuldig geblieben!« Einer wandte sich zu den Schaulustigen um und wollte etwas sagen. Da aber fiel sein Blick auf den Schatten neben dem Mauervorsprung. Dort baumelte etwas, und es bewegte sich langsam aufwärts. Es hing an einer Schnur, und der Bathrer glaubte, daß es die zweite Robe war. Der Mann beherrschte sich. Er hätte Alarm geben können, so aber verschwand er in der Menge und tauchte kurz darauf neben der Treppe auf, die hinauf auf den Wehrgang führte. Immer zwei Stufen nehmend, sprang er hinauf und eilte zu dem Mauervorsprung hinüber. Er rannte auf den Zehenspitzen und wurde nicht gehört. Er sah eine Bewegung an dem Vorsprung. Der Dieb hatte die Robe inzwischen ganz heraufgezogen und war vom Vorsprung heruntergeglitten. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Wehrgang und sah den heraneilenden Mann. Er wandte sich um und wollte in die andere Richtung verschwinden, aber da wurde er bereits am Arm gefaßt. »Seht her!« rief der Bathrer laut. »Harakesch ist der Dieb! Er hat sich gegen die Gesetze der Harmonie und der Stadt vergangen und einen Händler bestohlen!« Er zerrte den Halbwüchsigen zur Treppe und auf den Marktplatz hinab, wo er sofort von den Bathrern in Empfang genommen und zur Tribüne gezogen wurde. Schimpfrufe hallten ihm entgegen, und Auferhan trat drohend vor ihn hin und nahm die Robe in Empfang. »Ein Dieb unter den Bathrern«, rief er ungläubig aus. »Was ist
geschehen in Umharaton, daß so etwas vorkommt!« »Wir wissen es nicht«, sagten die Bathrer zerknirscht. »Aber damit du erkennst, daß wir diesen Diebstahl verabscheuen, sollst du nicht nur die Robe behalten, sondern auch den zusätzlichen Kaufpreis von vierzig Jaculruns bekommen! Wir haben gesammelt!« Auferhan legte die Stirn in Falten. Er ließ sich die Nüsse geben und steckte sie in einen seiner Ärmel. »Habt Dank, Bathrer«, sagte er laut. »Natürlich werden wir die Stadt nicht verlassen, sondern noch ein wenig bleiben!« Das Aufatmen der Städter war über den ganzen Marktplatz zu hören. Die Kunde von dem Vorfall verbreitete sich rasch durch die ganze Stadt, und kurze Zeit später trafen mehrere Torwächter ein. Ein Priester befand sich in ihrer Begleitung. Sie nahmen Harakesch mit sich und verschwanden mit ihm in jenen Bereichen der Stadt, die im Innern des Berges lagen. »Ausgerechnet Harakesch«, sagten die Bathrer. »Hat keiner der Priester erkannt, was er vorhat? Warum hat Chumboro nichts gemeldet? Der alte Babelun wird keine Freude haben!« * Chumboro war ein schmächtiger Jüngling. Er war nicht kleiner als andere Jungen seiner Altersstufe, aber er war hager und vielleicht auch ein wenig schwächlich. Nie hatte man ihn anstrengende Feldarbeit tun gesehen, aber wenn er sich in seiner Freizeit irgendwo aufhielt, dann war es eben in den Feldern oder den Buschpflanzungen auf den Dächern der Stadt. Auch an diesem Tag stieg er die Labyrinthe hinauf an das Licht. Die Händler unten in der Vorstadt interessierten ihn nicht. Sie waren Fremde, und sie störten die Harmonie. Sie stammten von Ausgestoßenen ab, hatten sich vermischt. Das Blut der Bathrer, aber auch das der Nomaden floß in ihren Adern. Händler waren ein
Anachronismus in einer Stadt der Harmonie, und sie wußten das genau. Sie hatten sich schon in alter Zeit Gesetzen unterworfen, die ihnen vorschrieben, sich aus den Dingen herauszuhalten, die Bathrer und Nomaden angingen. Dies war richtig so, und aufgrund der Tatsache, daß die Händler sich streng an ihre Gesetze hielten, waren sie in den Städten immer willkommen. Tauchten ein paar von ihnen mit ihren Karren auf, dann brachten sie Neuigkeiten und Abwechslung in den Alltag der Torwächter und der Bathrer, die in der Vorstadt lebten. Vorstadt nannte man in Umharaton jenen Teil der Stadt, der außen am Berg unter freiem Himmel lag. Chumboro interessierte sich nicht für solche Äußerlichkeiten wie das Treiben und Feilschen auf dem Markt. Er war Priesterschüler, und er lebte, um seine empathischen und hypnotischen Fähigkeiten zu schulen und später einmal mit über die Harmonie in Umharaton zu wachen. Er durchquerte die Halle der silbernen Häuser. Aus einer natürlichen Höhle im Innern des Berges hatten frühere Generationen ein ganzes Wohnviertel geschaffen. Sie hatten Häuser in das Felsgestein der Höhlenwände gebaut, und inzwischen gehörte auch diese Halle zum klimatisierten System der Stadt. Durch eine Unzahl von Schächten wurde aus dem Tal frische und kühle Luft zugeführt, während \die erwärmte und verbrauchte Luft nach oben hin entwich und auf der abgeplatteten und bebauten Spitze des Berges die Stadt verließ. Bathrer begegneten dem Priesterschüler, auch eine Bathra ging in seiner Nähe vorbei. Alle grüßten ihn, und er grüßte höflich und freundlich zurück und gab ihnen einen Segensspruch mit in den Tag. Er gelangte an ein Treppenhaus, das über fünfzig Meter in die Höhe führte und in einem Korridor mit eng aneinanderliegenden Kammern mündete. Hier waren Priesterschüler untergebracht, die sich von den Schulungen erholten. Chumboro sah sie durch die offenen Türen hindurch auf ihren Lagern ruhen. Er störte sie nicht,
denn sie benötigten die Ruhe, um ihre Kräfte neu zu finden und in der Ausbildung weitermachen zu können. Ein Luftzug ließ Chumboro erkennen, daß er sich in der Nähe eines Ausgangs befand. Er eilte den Korridor weiter bis hin zu der Leiter, die zu einer Dachluke hinaufführte. Er kletterte empor und öffnete die Luke. Tsybaruul hing bereits über den Gipfeln der Umgebung und blendete ihn stark. Er schloß die Augen, während er hinauskletterte und die Luke hinter sich zumachte. Er hatte das Innere der Stadt hinter sich gelassen und befand sich übergangslos zwischen den Feldern. Er blinzelte, um die Umgebung in sich aufzunehmen, und nach ein paar Augenblicken hatten sich seine Augen an das helle Tageslicht gewöhnt. Er richtete sich auf und ging langsam den Pfad zwischen den beiden Kornfeldern entlang. In der Ferne hörte er den Gesang der Frauen, die das Grünzeug ernteten. Hinter seinem Rücken, in den Fruchtbeeten, rauschte das Wasser der Besprühungsanlage. Chumboro befand sich am Rand der Felder. Eine Steinmauer, aus den Felsen des Berges gehauen, bildete das Geländer. Der Priesterschüler schritt auf sie zu und blickte hinab. Unter sich, an den Steilhang des Berges geklebt, und von seinem Standpunkt aus frei in die Luft hinausragend, sah er die Vorstadt. Sie war von einem dreifachen Ring aus dicken Mauern umfaßt, in dem es drei Tore gab, die Tag und Nacht bewacht wurden. Mehrere Straßen führten zu den Toren hinauf und vereinigten sich jeweils zu einem Platz mittlerer Größe, der teilweise in den Berg hineingemeißelt war. Hinter den Mauern lagen der Marktplatz sowie eine Anzahl von fünfzig öffentlichen und privaten Gebäuden. Wie Nester streckten sie sich an den Felswänden nach oben, als sei im Innern des Berges kein Platz zum Wohnen. Von außen wirkte Umharaton klein. Die Stadtviertel im Innern des Berges waren wesentlich größer, und in Chumboros Rücken hoben sich die nachträglich aufgesetzten Viertel in die Höhe und begrenzten die Felder an der hinteren Seite des Berges. Die
Neuviertel, wie sie seit vielen Jahrhunderten genannt wurden, waren in ihrer Bauart den Höhlen und Labyrinthen im Innern des Berges nachempfunden und besaßen keine Ähnlichkeit mit der Vorstadt. Es gab nur wenige Öffnungen zum Tageslicht hin. Die meisten Eingänge befanden sich unten und waren nichts anderes als die Fortsetzung der Etagen, die darunter im Berg lagen. Und unten im Tal, wo es keine Felder und Fruchtgärten gab, rauschte der Umhar durch seine Klippen und umgab Dreiviertel des Bergfußes mit seinen Fluten. Umhar war der Name des Wassers, das schnell und klar aus dem Norden kam. Aton bedeutete »die Große darüber«, und so hatte Umharaton ihren Namen erhalten. Die Stadt über dem Fluß thronte wie eine Königin über dem Tal, und die Sonne des Frühsommers schickte ihre Wärme bis hinauf zu dem künstlich erhöhten Gipfel. Chumboro wanderte langsam in die Felder hinein. Er beobachtete die Bathrer und Bathras bei ihrer Arbeit, und nach einer Weile ließ er sich mitten in den ausgedehnten Salatbeeten nieder und lauschte dem Trillern eines Saatschnappers. Der kleine, kaum daumengroße Vogel hüpfte zwischen den Sprengern hin und her und schnappte im Fliegen nach einzelnen Wassertropfen. Dann pickte er wieder ein paar Insekten, und der kleine Kropf an der Unterseite seines Schnabels wuchs und wuchs, bis er fast doppelt so groß war wie der Kopf des Vogels. Er hat Junge, erkannte Chumboro. Fasziniert verfolgte er, wie das winzige Lebewesen pfeilschnell davonschoß und irgendwo in den Kornfeldern untertauchte. Er strengte seine Ohren an, aber er vernahm das Piepsen der Jungen nicht. Das Rauschen der Berieselungsanlagen übertönte es. Der Priesterschüler schloß die Augen. Er lenkte seine Aufmerksamkeit in sich hinein und auf die Männer und Frauen, die ernteten. Er spürte ihren Stimmungen nach, von denen sie beherrscht wurden. Er empfing Fröhlichkeit, Arbeitseifer, Lust an dem, was getan wurde. Aber er erspürte mit Hilfe seiner teilweise
ausgebildeten Empathie auch Unzufriedenheit oder Zorn, das Bewußtsein des Unrechts, ausgerechnet an diesem Tag zur Ernte eingeteilt worden sein. Das stimmte Chumboro traurig, und er veränderte immer wieder seinen Standort zwischen den Feldern. So gelang es ihm, die Betroffenen langsam herauszufinden, und er wanderte ein wenig umher, bis er unauffällig in ihre Nähe gekommen war. Mehrmals wiederholte er seine Taktik, und jedesmal kauerte er sich irgendwo an einen Wegrand und vergaß das, was um ihn herum vorging. Er konzentrierte sich auf seine einflußnehmenden Kräfte, und er unterstützte die Bathrer dabei, mit sich ins reine zu kommen, ohne daß sie etwas von seiner Einflußnahme merkten. Danach entfernte sich Chumboro wieder von ihnen und spürte ihren Empfindungen nach. Sie waren jetzt von Freude und Gelassenheit geprägt. Kein Ärger war zurückgeblieben, und alle waren zufrieden. Die Harmonie in den Gärten war wieder hergestellt. Niemand war glücklicher darüber als Chumboro selbst. Man hatte seine Fähigkeiten erkannt und ihn ausgewählt, als er noch ein Kind gewesen war. Seither hatte er ein behütetes, aber hartes Leben geführt, das ihn ohne Pause auf seine zukünftige Aufgabe vorbereitete. Den größten Teil des Tages und der Nacht hatte er in der Schule der Priester zugebracht, und manchmal hatte er den Eindruck gehabt, daß seine Eltern und Geschwister ihn wie ein Weltwunder betrachteten. Manchmal hatten sie ihn auch geärgert oder verspottet, und als Kind hatte er sich mit den Mitteln zur Wehr gesetzt, die die Natur ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Er hatte gekratzt und geschlagen wie viele Kinder, und erst unter dem Einfluß der Priester war er ruhiger und beherrschter geworden. Inzwischen konnte nichts mehr ihn aus der Fassung bringen, und ein wenig war er stolz darauf, seine Fähigkeiten schon weiter entwickelt zu haben als andere in seinem Alter. Manchmal hörte er Priester über ihn sprechen. Sie bezeichneten ihn als guten Schüler,
dem eine große Zukunft winkte. Sein Vater war besonders stolz auf ihn. Der Priesterschüler atmete tief die frische, reine Luft der Felder ein. Wieder kehrte er zu der natürlichen Mauer zurück und ließ seinen Blick über das Tal schweifen. Er sehnte sich nach einem erfrischenden Bad im Fluß, und er nahm sich vor, an einem der nächsten Tage hinabzusteigen und in den Wellen unterhalb der Klippen zu schwimmen. Seine Augen wanderten weiter. Sie blieben an dem Wald hängen, der sich nach Osten bis hin zum Plateau der bösen Geister erstreckte. Der Wald leuchtete in allen Farbnuancen von hellgrün bis dunkelblau. Seine Wipfel schaukelten im Wind des Vormittags, und drüben auf dem Plateau glitzerten die Felsen im Sonnenlicht. Sie blendeten ein wenig, und Chumboro kniff die Augen zusammen. Böse Geister, dachte er und erinnerte sich an die Beobachtungen der Stadtbewohner, die vor nicht allzu langer Zeit noch gemacht worden waren. Auch Priester hatten es von hier oben aus gesehen, und seither galt das Plateau als verrufen, und nachts wagte es kein Bathrer, zu den Feldern auf der Stadt hinaufzusteigen und seinen Blick in die Ferne zu richten. Denn die Nacht war die Zeit der bösen Geister, und manchmal wirkte ihre Anwesenheit bis in den hellen Tag hinein. Eine Weile stand der Priesterschüler so da, und seine Gedanken bewegten sich immer um das eine Thema der Geister und Dämonen. Er beschäftigte sich so intensiv damit, daß er es gar nicht bemerkte, wie plötzlich seine Knie nachgaben und er zu Boden sank. Er hielt sich mit den Händen an der Felsmauer fest, legte das Kinn darauf und hielt die Augen weiter wie magisch auf das Plateau gerichtet. Böse Geister. Sie konnten ihm nichts anhaben, denn er war im Besitz des Wahakù. So zumindest hatten es ihn die Priester gelehrt, und er glaubte daran. Und doch bildete er sich ein, daß sich mit einemmal sein Geist öffnete, und er sein Bewußtsein auf die Reise in die Ferne schickte. Er wollte es gar nicht tun, denn in der Ferne gab
es nichts, was für ihn wertvoll gewesen wäre. Chumboro wollte seine Gedanken zurückziehen, aber es ging nicht. Sie wurden von etwas festgehalten, und sie öffneten sich immer mehr, und der Priesterschüler glaubte an Halluzinationen, hervorgerufen durch einen Sonnenstich. Seine Augen durchdrangen die Felsen des Plateaus und die Berge, und ein schwarzer, riesiger Schatten schob sich in ihr Gesichtsfeld. Es war etwas Fremdartiges, und er schloß in tiefem Schrecken die Augen. Als er sie wieder öffnete, war alles wie bisher. Das Plateau war da, und Chumboro wandte rasch den Kopf, um nicht nochmals hinüberblicken zu müssen. Er glaubte jetzt zu wissen, was geschehen war. Dort drüben saß ein böser Geist verborgen, und er hatte seine Macht über die nächtliche Dunkelheit bis in den Mittag hinein bewahrt. Er hatte versucht, ihn zu hypnotisieren, und Chumboro hatte ein gewaltiges Ding gesehen, das am Himmel hing. Er sammelte sich mit Hilfe von Konzentrationsübungen, und je länger er sich konzentrierte, desto deutlicher wurde das Bild in ihm. Er hatte etwas gesehen, was nicht hier gewesen war, nicht in dieser Gegend, vielleicht gar nicht auf Cairon. Aber das Ding hatte seinen Einfluß bis hierher ausgedehnt, und Chumboro wandte sich rasch um und eilte zu der Dachluke zurück, durch die er heraufgekommen war. Er öffnete sie und verschwand überhastet im Innern der Stadt. Die Luke fiel krachend hinter ihm zu und traf ihn fast am Kopf. Er kletterte die Leiter abwärts und rannte den Korridor entlang, und mehrere Priesterschüler, die der Lärm aufgeschreckt hatte, traten unter ihre Tür und riefen ihn an. Er beachtete sie nicht und stürmte weiter, durch die Wohnviertel bis zu einer der Balustraden, von denen aus er die Purpurstraße überblicken konnte, in der seine Familie wohnte. »Bei der Harmonie«, stieß er bestürzt hervor, als er den Auflauf an seinem Elternhaus sah. Er wandte sich zur nächsten Treppe und beschädigte einen Ärmel seines Gewandes, als er damit am oberen Ende des Treppengeländers hängenblieb.
Alles war ihm jetzt egal. Er hatte zwei Dinge gesehen, und das nächstliegende mußte er in Erfahrung bringen. Er sprang in die Straße hinein und rannte auf die Bathrer zu. Er drängte sich hindurch, und nur langsam begriffen die Männer und Frauen, wer da kam. Plötzlich bildete sich eine Gasse, und jemand rief: »Das ist Chumboro. Laßt ihn durch. Wenn jemand helfen kann, dann nur er!« »Was ist denn geschehen?« schrie der Priesterschüler. »Umharaton, er weiß es noch nicht«, kam die Antwort. »Wir müssen es ihm sagen!« Einer der Männer packte ihn am Arm und zog ihn in Richtung auf die Haustür zu. »Es ist etwas Furchtbares geschehen, Chumboro«, flüsterte er heiser. »Dein Bruder Harakesch hat einen Diebstahl begangen!« Chumboro schluckte entsetzt. Er starrte den Mann an und las in seinen Augen nichts als die Wahrheit. Es war zuviel für den jungen Priesterschüler. Seine Beine gaben nach. Bewußtlos sank er an die Haustür. * Der alte Babelun hatte wirklich keine Freude. Seine Nasenflügel zitterten heftig, und er griff unablässig nach seinem Schweißtuch und tupfte sich die Stirn damit ab. Sein Atem ging rasselnd, und aus seinen Augen leuchtete das Unverständnis. Seine Wangen glühten vor Fieber, und der Hausarzt beugte sich immer wieder mit besorgtem Blick über ihn. Er fühlte seinen Puls und maß die Temperatur, und schließlich gab er der Frau des Hauses einen Wink. »Ich habe keine andere Wahl«, erklärte er. »Ich muß ihn zur Ader lassen!« »Nein«, ächzte der alte Bathrer. »Alles, nur das nicht!«
Er hustete schwer, und die nicht rauchenden Fackeln an den Wänden wurden durch den Luftzug in Bewegung versetzt. Die Lichter schwankten hin und her und verzerrten die Schatten der Einrichtung und der Anwesenden. Es klopfte. Zwei Bathrer brachten Chumboro herein. Sie legten ihn schweigend auf die Liege und flüsterten mit der Mutter. Babelun bekam es gar nicht richtig mit, denn der Arzt hatte eine Schüssel herbeigezogen und mit einem feuergehärteten Messer eine Schlagader seines Patienten geöffnet. Er ließ ihm etwa einen halben Liter Blut ab, dann band er den Arm ab und vernähte die Wunde. Babelun erhielt einen Verband und durfte den Arm zwei Tage lang nicht bewegen. »Was soll aus mir werden?« ächzte der alte Bathrer, und seine Stimme weckte Chumboro auf. Er kam zu sich. Seine Augen wanderten erkennend umher, dann sprang er auf und trat vor seinen Vater. Jetzt erst nahm der Alte wahr, daß jemand gekommen war. »Chumboro«, flehte er. »Hast du gehört, was geschehen ist? Ich überlebe diese Schande nicht!« »Vater«, sagte der Priesterschüler rasch. »Vertraue mir. Ich werde mich um Harakesch kümmern. Er wird so etwas nie wieder tun!« Ein Aufatmen ging durch das Zimmer. Aus einem Nebenraum kamen seine Schwestern und Brüder, um ihn zu begrüßen. Chumboro gab ihnen verwirrt die Hand. Er suchte mit den Augen Harakesch, aber dieser war nicht anwesend. »Wo ist er?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Ich muß zu ihm!« Seine Mutter deutete stumm zur Treppe, und Chumboro raffte sein Gewand zusammen und eilte die Stufen hinauf. Er schritt den Korridor entlang und blieb vor der Tür stehen, hinter der er seinen Bruder wußte. Einen Augenblick zögerte er, dann stieß er die Tür entschlossen auf und trat ein. Harakesch lag am Boden. Er hatte den Kopf unter den Armen vergraben und weinte leise vor sich hin. Chumboro ließ sich neben
ihm nieder und strich ihm vorsichtig über das dunkelbraune Haar. Harakesch war drei Jahre jünger als er, noch viel zu jung, um die Prinzipien der Harmonie mit dem Verstand zu begreifen. Er befolgte sie, weil er mit ihnen erzogen worden war und die Eltern sie ihm vorlebten. Ihm und allen anderen Bathrern. Der Übeltäter hob den Kopf. »Es war doch gar keine Absicht«, schluchzte er. »Du mußt das doch erkennen. Jeder Priester muß das erkennen. Ich wollte doch nur einen Streich spielen und die Robe oder irgendeinen anderen Gegenstand hinterher zurückgeben!« Chumboro nahm den Bruder in den Arm. Er wischte ihm die Tränen von den Wangen. »Keine Angst«, sagte er. »Ich werde Ghaidor benachrichtigen. Er selbst soll kommen. Er wird die Wahrheit ganz gewiß finden!« »Ja, hole ihn. Tu das, Bruder. Aber bitte prüfe du mich zuvor. Unten liegt Vater. Er muß es schnell erfahren. Ich habe Angst, daß er sonst stirbt. Babelun geht es nicht gut!« »Ja. Sei still. Denke intensiv an das, was du getan hast und wie es ablief!« Er ließ den Bruder los und schloß die Augen. Er versank in tranceähnlicher Konzentration und streckte seine empathischen Fühler aus. Langsam tastete er sich in Harakesch hinein. Da war nichts. Er stieß in eine unendliche Leere und erschrak so heftig, daß er die Augen aufriß und einen unterdrückten Schrei ausstieß. »Was ist?« fragte Harakesch ängstlich. »Was hast du erkannt?« »Nichts habe ich erkannt. Gar nichts«, wehrte Chumboro ab und konzentrierte sich erneut. Er wollte es nicht glauben. Es gab nichts, was einen Menschen leer machen konnte, außer dem Tod. Und Harakesch war nicht tot. Er lebte. Oder hatte ein böser Geist seine Seele geraubt? Er aktivierte erneut seine empathischen Fähigkeiten. Er sensibilisierte alle Kräfte, die in ihm schlummerten. Er konnte nichts
erkennen, und da versuchte er es mit hypnotischen Einflüssen. Er wollte den bösen Geist bannen, der ihm den Zutritt zu seinem Bruder verwehrte. Auch damit hatte er keinen Erfolg, und schließlich begann Chumboro an sich selbst zu zweifeln. Er wandte seine Aufmerksamkeit seiner Familie im Erdgeschoß zu. Er suchte nach ihrer Ausstrahlung, aber auch sie waren wie tot. Der Priesterschüler verstand die Welt nicht mehr. Alles, was er in den vergangenen zehn Jahren von den Priestern gelernt hatte, schien mit einemmal keine Gültigkeit mehr zu besitzen. Alles war dahin, ohne Einfluß und ohne Kraft. Chumboro war von einem endlosen Nichts umgeben. Er sprang auf. »Dir wird geholfen, Bruder«, rief er aus. »Wenn ich Ghaidor nicht finde, dann einen anderen Priester. Es dauert nicht lange. Warte hier auf mich!« Er achtete nicht auf Harakeschs betroffenes Gesicht, sondern stürmte hinaus, die Treppe hinunter und aus dem Haus. Eine Gruppe von drei Priestern näherte sich bereits dem Haus, und Chumboro empfing sie hastig und führte sie hinauf. »Helft ihm«, bat er. »Ihr könnt es besser als ich!« Er schlich hinaus und machte sich aus dem Staub, verließ das Elternhaus und eilte tief in die Stadt hinein. Er floh vor etwas, was er nicht fassen konnte. Und jedesmal, wenn er sich einredete, daß er sich täuschte und einem Irrtum zum Opfer gefallen war, machte er die Probe. Er kehrte zu den Feldern zurück und versuchte dort, die Arbeiter zu beeinflussen. Es gelang ihm nicht. Er brachte nichts mehr fertig, was er trainiert hatte. Die ganze Ausbildung war umsonst gewesen. Und der junge Priesterschüler begriff mit einer nie dagewesenen Intensität, daß sich von einem Augenblick auf den anderen sein ganzes Leben verändert hatte. Er verschwand irgendwo in einem unbeleuchteten, düsteren Bereich der Stadt und zitterte vor sich hin.
Er konnte nicht einschlafen, und sein Inneres schrie lautlos die Qual hinaus. Er hatte sein Wahakù verloren. Er war kein Priesterschüler mehr. Seine Zukunft war jetzt zu Ende, und es war das beste, wenn er sich von der Felsmauer an den Feldern hinab in die Tiefe stürzte, um seiner Familie die Schande zu ersparen. Mochten die Priester immerhin herausfinden, daß Harakesch die Wahrheit gesagt hatte. Babelun würde sich erholen bis zu dem Zeitpunkt, an dem er die Wahrheit über Chumboros Schicksal erfahren würde. »Das Plateau der bösen Geister ist daran schuld«, flüsterte er mit erstickter Stimme. »Ich habe es zu lange betrachtet.« Auch seine Vision war ihm wieder gegenwärtig, er verstand sie jetzt endgültig als Blendwerk von Dämonen, und er schalt sich einen Narren, daß er nicht vorsichtiger gewesen war. Er dachte nach. Was ihm widerfahren war, hatte es noch nie gegeben. Zwar kam es hin und wieder vor, daß ein Priester seine ungewöhnlichen Kräfte verlor, aber dann gingen dem immer ungewöhnliche Vorfälle voraus, ein schwerer Unfall, Krankheit oder andere schlimme Dinge. Chumboro hatte nichts dergleichen als Entschuldigung vorzubringen. Der Priesterschüler überlegte fieberhaft. Er hatte keinen Zeugen für den Vorfall. Es war nicht zu erwarten, daß die Priester ihm seine unwahrscheinliche Geschichte glaubten, wenn er sie erzählte. Selbst wenn sie erkannten, daß er die Wahrheit sagte. Er selbst konnte sich ja täuschen, und es steckte mehr dahinter. Man würde ihn möglicherweise verdächtigen, daß er sich so schwer am Großen Geist der Harmonie versündigt hatte, daß die guten Götter ihm sein Talent zur Strafe entzogen hatten. Abgesehen davon, daß er ohne das Wahakù kein Priester werden konnte, würde man ihm eine schwere Buße auferlegen. Und das alles nur, weil er sich von einem Geist hatte übertölpeln lassen.
Zorn auf sich selbst erwachte in Chumboro. Und mit diesem Zorn kam der Trotz. E wollte es nicht so einfach hinnehmen, daß er seiner Fähigkeiten beraubt worden war. Noch immer sah er seine Zukunft vor sich, eine glorreiche Zukunft im Kreis der bathrischen Priester. Alle seine Träume waren nun in weite Ferne gerückt, und der junge Städter spürte intensiv, daß er persönlich etwas dazu tun mußte, um sie zurückzuholen. Er mußte sein Wahakù zurückerlangen. Noch schwankte er ein wenig. Es war Unrecht, den Priestern diese Entwicklung vorzuenthalten. Aber was würden sie denken? Erst Harakesch, jetzt Chumboro. Die ganze Familie würde darunter leiden. Nein, es mußte sein. Chumboro traf seine Entscheidung, und es gab für ihn keinen Ausweg. Er mußte es tun. * Noch vor dem Beginn des Morgengrauens machte sich der Priesterschüler auf den Weg. Er verließ die Stadt durch einen Felsenriß, der für Erwachsene zu schmal war. Selbst Chumboro hatte Schwierigkeiten, und er zog sein Gewand aus und schob es zusammengerollt vor sich her. Der Felsenriß begann innen an der Stadtmauer und endete unterhalb von ihr an der Stelle, wo zwei der Straßen zusammentrafen. Chumboro zwängte sich hindurch. Mehrmals holte er sich rote Striemen oder winzige Schnittwunden. Dann aber war er hindurch, zog sich an und stahl sich die Straße hinab in das Tal. Keine halbe Stunde benötigte er, bis er den Wald erreicht hatte. Er verschwand zwischen den Bäumen, und als der Tag hereingebrochen war, da hatte er das Tal bereits verlassen und wanderte die verschlungenen Pfade durch das Dickicht entlang in Richtung Osten. Bis am Mittag war er unterwegs, und immer wieder hielt er an und versteckte sich, weil Bathrer sich auf der Jagd
befanden. Niemand durfte ihn sehen, denn Chumboro wollte sich seine Fähigkeiten zurückholen und verschweigen, daß er sie zwischenzeitlich nicht besessen hatte. Nun war es eine Sache, das Plateau aus der Ferne zu betrachten, und eine ganz andere, auf es hinaufzusteigen und gar noch einen Geist aufzustöbern und ihn zur Herausgabe seiner Diebesbeute zu bewegen. Abgesehen davon, daß Chumboro nicht wußte, wie er so etwas anstellen sollte, rutschte ihm das Herz immer tiefer in die Hose, und als er endlich vor dem steil aufragenden Felsmassiv stand, da mußte er erkennen, daß man da nicht hinauf konnte. Dennoch entschloß er sich, den Aufstieg zu versuchen. Er wollte bei Tag hinauf und dann die Nacht und damit die Zeit der bösen Geister abwarten. Er konnte nur hoffen, diesen unter Kleptomanie leidenden Geist zu erwischen. Er versuchte es an mehreren Stellen, wo es so etwas wie Pfade in der Wand gab. Immer hörten sie auf und zwangen ihn zum Rückzug. Und dort, wo er hoch oben einen Riß entdeckte, gab es keinen Weg hin. Zweimal umrundete Chumboro das Plateau, und mit jedem Schritt sank sein Mut weiter. Die bösen Geister hatten ihren Schlupfwinkel gut gesichert. Kein Sterblicher konnte hinauf. Zu allem Unglück begann das Felsmassiv auch noch lebendig zu werden. Ein paarmal fielen an einer bestimmten Stelle feinste Felsteilchen aus der Höhe herab und überschütteten den Priesterschüler, obwohl er sich rasch von seinem Standort entfernte. Das Böse bewarf ihn, um ihn zu vertreiben, und der letzte Rest Stolz ließ ihn langsamer gehen als er es eigentlich wollte. Er kehrte an jenen Teil der Felswand zurück, die in Richtung Wald und Umharaton zeigte. Drohend schüttelte er die Faust empor. Zu allem Ungemach begann sich der Geist nun auch noch über ihn zu amüsieren. Aus dem Felsen heraus vernahm Chumboro seltsame Geräusche. Wie das Klingen von Musikinstrumenten hörte es sich an, manchmal auch wie das Knarren einer hölzernen Treppe.
Und plötzlich hörte er Stimmen. Das Felsmassiv begann zu sprechen, und Chumboro vernahm die Worte als Gemurmel, ohne ihren Sinn zu verstehen. Für den jungen Priesterschüler war es zuviel. Er vergaß sein Vorhaben endgültig und machte, daß er aus dem Machtbereich des bösen Spuks kam. Er rannte an der Felswand entlang, und die Stimmen aus dem Innern verstummten langsam. Dafür bebte unter ihm der Boden, und Chumboro sah einen Riß, der sich zwischen den Büschen bildete. Der junge Bathrer lief um sein Leben. Er hatte endgültig begriffen, daß mit bösen Geistern nicht zu spaßen war. So sehr er sich bemüht und Tapferkeit gezeigt hatte, sein Wahakù würde er kaum mehr zurückerhalten. In weiten Sätzen jagte Chumboro davon. Er warf keinen Blick zurück. Er sah nur die Bäume des schützenden Waldes vor sich und die Silhouette des Stadtberges über den Wipfeln. Er hetzte auf das Grün zu, verstauchte sich beinahe einen Fuß und atmete auf, als er die ersten Zweige über seine Wangen schrammen spürte. Er blieb an einer Wurzel hängen, aber er nahm es gar nicht richtig wahr. Er dachte nur: Der böse Geist faßt nach dir. Er hält dich am Fuß gepackt. Er schlug mit dem Kopf hart auf und verlor augenblicklich das Bewußtsein. Leblos blieb er am Rand des Waldes liegen. 3. Chipol zeigte mir die Kleider. Wir zogen uns um und trugen nun kurze Stiefel aus weichem Leder, Hosen aus gewebtem Stoff und kurze, um die Taille mit einem Ledergürtel zusammengehaltene Umhänge mit angenähter Kapuze. Jetzt sahen wir wie echte Händler aus, und wenn wir die Kapuzen ins Gesicht zogen, konnte niemand auch nur ahnen, daß wir keine Wesen von Cairon waren. Durch eine weitere Tür kamen wir in einen kleinen Raum, in dem
Wasser von der Decke tropfte und durch mehrere Rinnen abgeleitet wurde. Es bestätigte meine Vermutung, daß wir uns bereits unter der Oberfläche der Umgebung aufhielten. Im Hintergrund stand auf einem erhöht angebrachten Fundament ein Karren, wie wir sie im Ostteil des Gebirges bereits gesehen hatten. Ein richtiger Händlerkarren. »Es hat meiner Familie einiges Kopfzerbrechen bereitet, einen solchen Karren zu beschaffen«, sagte Chipol. »Wir wollten keinen Händler berauben und mußten deshalb solange suchen, bis wir ein verlassenes Exemplar fanden. Er mußte von allen verräterischen Merkmalen befreit werden und erhielt eine neue Achse und bessere Räder, die sich jedoch von der Bauweise der Händler nicht unterscheiden. Mehrmals haben wir ihn benutzt, und es fiel uns nicht schwer, Waren einzuhandeln oder zu kaufen. Siehst du die Beutel dort an der Wand? Sie stecken voll mit Nüssen der Jaculrun‐ Pflanzen. Sie sind sehr schmackhaft, und sie werden auch als Zahlungsmittel benutzt!« Ich wußte das, denn ich hatte es aus den Daten der Daila gelernt. Wir traten an den Wagen. Er war bis obenhin mit Waren beladen, die vor allem für die Priesterkaste von hohem Wert waren. Ich sah Knochen seltener Tiere, Federn, Perlen, Weisheitssteine, Erzbrocken, die als Amulette hoch im Kurs standen, Räucherwerk, farbigen Ton, feingewebte Kleidungsstücke und anderes, womit ein Händler die Bewohner einer Stadt erfreuen konnte. Der Wagen enthielt auch Mundvorräte für die beschwerliche Fahrt durch die Berge, von Stadt zu Stadt, und an seiner Unterseite waren Holzteile befestigt, die als Ersatzteile verwendet werden konnten, wenn der Karren einmal zu Bruch ging. Ich beugte mich hinunter und sah eine Achsenstange, mehrere Räder und Bodenbretter. »Wir sind komplett«, stellte ich fest. Chipol trat zur Wand und deutete auf mehrere Hebel und ein armdickes Zugseil. »Hilf mir, die mechanische Öffnungsvorrichtung zu bedienen«,
bat er. »Die Hebel gehen sehr schwer!« Ich trat neben ihn, und gemeinsam legten wir die Hebel um. Unter uns begann es im Boden zu rumoren. Schleifgeräusche traten auf und hielten an, ich hörte das Schaben von Stein an Stein. Es war eine ideal ausgedachte Vorrichtung, ähnlich einem Uhrwerk. Schwere, rundgehauene Felsen bildeten die Gewichte, und jetzt zogen sie nach unten, glitten in künstlich angelegte Schächte hinein und öffneten dadurch die Decke im vorderen Teil des Raumes, in dem wir uns befanden. Es prasselte, als kleine Steine, Holzbrocken und Erde hereinfielen. Die schweren Deckplatten schoben sich auseinander und bildeten eine Öffnung von drei mal drei Metern. Chipol zog an dem Seil. Ein Teil des Bodens begann sich zu heben und eine Rampe zur Oberfläche hinauf zu bilden. »Es liegt an der Beschaffenheit des Gesteins, daß die Räume hier unten angelegt wurden und nicht höher«, erklärte er. »Außerdem ist ein Ausgang im Boden besser zu verbergen als in der Wand des Felsmassivs.« Irgendwo rastete ein Riegel ein, und der junge Daila eilte die Rampe hinauf und verschwand draußen im Tageslicht. Nach einer Weile kehrte er mit einem Zugseil zurück, an dessen Ende sich ein Eisenhaken befand. Wir hängten den Karren an, dann schritten wir hinauf ins Freie, wo die Daila im Wurzelwerk eines Baumes die Zugvorrichtung verborgen hatten. Wir griffen nach dem Hebel und nahmen die Winde in Betrieb. Langsam kam der Karren herauf an die Oberfläche, und als er neben dem Baum stand, hängten wir den Haken ab, und Chipol kehrte kurz nach unten zurück, um den Schließmechanismus zu aktivieren. Fünf Minuten später war von dem geheimen Eingang nichts mehr zu bemerken, und der Daila zog die Handbremse des Karrens an und winkte mir. »Wir holen die Xarrhis«, meinte er. Ich erinnerte mich an die Zugtiere, die wir beim Anflug auf das Plateau gesehen hatten. Sie weideten auf der Nordostseite in einem engen Tal, dessen schmaler Zugang durch hohes Buschwerk
verdeckt war. Niemand hatte die Tiere bisher entdeckt, und wir nahmen uns vier der gutmütigen Wesen und zogen sie mit uns. Chipol zeigte mir, wie man sie angeschirrte, nämlich in der Art des Kreuzjochs. Anschließend saßen wir auf. »Es gibt einen Pfad durch das Waldgebiet«, sagte der Daila. »Aber ihn sollten wir nicht nehmen, wenn wir nach Umharaton wollen!« Ich nickte. Es hätte unser Fortkommen behindert, wenn man uns von Anfang an mit den bösen Geistern in Zusammenhang gebracht hätte. Die Bathrer hätten uns womöglich gar nicht in die Stadt hineingelassen. »Aiijeeh!« rief Chipol und nahm die Zügel auf. Der Karren setzte sich in Bewegung und rumpelte entlang des Waldrandes davon. Ein Stöhnen klang auf, und ich machte dem Gefährten Zeichen, die Tiere anzuhalten. Das Geräusch war ganz aus der Nähe gekommen, und ich sprang vom ausrollenden Karren herab und machte mich auf die Suche. Zwischen zwei Büschen fand ich einen Bathrer. Es war ein junger Bewohner, und er trug das Gewand eines Priesterschülers. Er blutete aus einer Schulterwunde, und ich rief Chipol mit dem Verbandszeug herbei. »Was mag er hier gesucht haben?« wunderte der Daila sich. »Woher nimmt er die Kraft, sich bis zum Plateau der bösen Geister zu wagen?« »Sprich nicht so viel«, warnte ich. Ich untersuchte die Wunde. Sie war von einer spitzen Wurzel hervorgerufen, und ich nahm Wasser aus den Vorräten und wusch sie aus. Danach legte ich einen Verband an. Ich öffnete meinen Umhang und holte den Zellaktivator hervor, legte ihn dem Verletzten eine Zeitlang auf die Wunde. »Hilf mir, ihn auf den Wagen zu betten«, sagte ich. Wir schufen durch Umräumen der Ladung eine Nische, in die wir den Körper legten. Der Priesterschüler stöhnte noch immer, aber er war nicht bei Bewußtsein. Er mußte bei dem Sturz die Besinnung verloren haben.
Eine Beule am Kopf lieferte den Beweis. Warum läßt du ihn nicht liegen? sagte der Extrasinn. Er gefährdet euer Vorhaben. Was ist, wenn er beobachtet hat, wie ihr aus dem Innern der Erde emporgestiegen seid? Ich war mir der Gefahr wohl bewußt, in die wir uns begaben. Andererseits widerstrebte es mir zutiefst, den Jungen einfach liegen zü lassen. Er hatte eine tiefe Fleischwunde, und wenn das Wundfieber eintrat und niemand ihn versorgte, konnte das seinen Tod bedeuten. Nein, ich hatte richtig gehandelt, und auch Chipol hätte es nicht anders getan. Wir saßen wieder auf, und der Wagen rumpelte davon, ließ das Plateau hinter sich und fuhr das kleine Tal nach Süden. Wir kehrten den Weg zurück, den wir mit der STERNSCHNUPPE gekommen waren. Wir wollten im Süden in das große Tal des Umhar einbiegen und dann wieder nach Norden fahren bis zur Stadt. So konnten wir unseren Ausgangsort verschleiern, und jeder Bathrer würde uns glauben, wenn wir erzählten, daß wir weit aus dem Süden kamen, wo die Sonne so heiß brannte, daß man die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen mußte, wie es bei Chipol der Fall war. * Der Priesterschüler war erwacht. Er schlug die Augen auf und wollte sich erheben. Mit einem Seufzer sank er zurück. Ich hob beide Hände und streckte ihm die Handflächen entgegen. »Du bist verwundet«, sagte ich in der Sprache der Bathrer. »Bewege dich nicht. Wir bringen dich nach Umharaton!« Er schloß die Augen, aber nach einer halben Minute öffnete er sie wieder. Ein mißtrauischer Blick streifte mich, dann starrte der Bathrer demonstrativ in eine andere Richtung. Gerade kein dankbares Verhalten. Du mußt dich vorsehen! warnte
der Logiksektor. Warten wir es ab, dachte ich. Er wird schon noch reden. Wir hatten das Tal des Umhar erreicht, und Chipol lenkte die Xarrhis auf die breite Straße, die am Fluß entlangführte. Wir fuhren nun stetig nach Norden, und nach einer Weile schob sich der Berg mit der Stadt in unser Gesichtsfeld. Er glänzte im Licht der nachmittäglichen Sonne, und an seinem Fuß erkannte ich etliche Händlerkarren. »Sie tränken die Xarrhis«, sagte ich zu Chipol. »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir sie, bevor sie die Stadt betreten, und können uns ihnen anschließen.« »Aiijeeh!« machte der junge Daila erneut, und die Xarrhis trampelten ein wenig schneller, und der Wagen holperte ungefedert hinter ihnen her. Jedes Schlagloch auf der staubigen Straße setzte sich als Schlag in den Rücken fort, und jeder Stein wurde zur Bewährungsprobe für die hoch aufgestapelte Ladung. »Wie heißt du?« fragte ich den Verwundeten. Er gab keine Antwort. Eine Weile betrachtete ich ihn und sah nach seinem Verband. »Du brauchst keine Angst zu haben«, fuhr ich fort. »Wir sind Händler auf dem Weg nach Umharaton. Wir bringen dich hin. Bald wirst du sachkundige Pflege haben!« Erneut herrschte Schweigen, und diesmal war es Chipol, der es unterbrach. »Du hast geträumt?« fragte er. »Hast dir eingebildet, am Plateau der bösen Geister gewesen zu sein? Was hast du in deinem Traum dort gesucht?« »Laß das Theater«, mahnte ich, als wieder keine Antwort kam. »Wir haben dich schließlich gerettet. Ein wenig Dankbarkeit könntest du wenigstens zeigen, selbst wenn du uns nicht .traust!« Der Priesterschüler schwieg beharrlich. Vielleicht nutzte er seine psionischen Fähigkeiten, um unsere Identität zu erfahren. Bei mir würde er sich die Zähne ausbeißen, denn ich war mentalstabilisiert.
Und Chipols jugendliche Gedanken waren alles andere als verläßlich für eine Einschätzung. »Gut«, sagte ich schließlich. »Wenn du uns überhaupt keine Antwort geben willst, dann laß es bleiben. Aber wundere dich, nicht, wenn wir dich einfach in den Fluß werfen!« Das trotzige Schweigen des Priesterschülers zeigte, daß er etwas wußte. Entweder hatte er unser Auftauchen aus dem Boden miterlebt oder etwas anderes. Auf alle Fälle war es ein Risiko, ihn mit in die Stadt zu nehmen. Der Bathrer schloß die Augen und fing zu stöhnen an. Er wälzte sich unruhig hin und her, und nach kurzer Zeit begann er die Lippen zu bewegen. Lautlos gab er Dinge von sich. »Sprich lauter«, sagte ich, aber es war sinnlos. Sein Unterbewußtsein empfing meine Worte nicht. Das Wundfieber begann. Damit waren alle Vorbehalte für mich vergessen. Im Wundfieber befand er sich in Lebensgefahr, und wir mußten uns beeilen. Spät am Nachmittag erreichten wir die Stadt. Wir machten an der einzigen Brücke halt, die den Umhar oberhalb der Klippenregion überspannte. Es war eine gewöhnliche Holzbohlenkonstruktion, und die Xarrhis stampften ohne Zögern hinüber. Wächter mit stumpfen Speeren empfingen uns und musterten die Waren, die wir bei uns führten. Als sie den Priesterschüler entdeckten, wurden sie unruhig. »Das ist Chumboro«, stellten sie fest. »Er wird bereits vermißt! Was ist mit ihm geschehen?« »Wir fanden ihn eine Stunde südlich von hier. Er war bewußtlos und hatte sich an der Schulter verletzt. Wir haben ihn mitgenommen und notdürftig versorgt. Die Götter allein wissen, was ihm widerfahren ist!« antwortete ich. Die Brückenwächter gaben den Weg frei, und wir fuhren mit dem Karren hinüber zu dem Platz an der mittleren Straße, die hinauf zur Stadt führte. Umharaton hing hoch oben am Berg, und die Auffahrt
nahm mindestens eine halbe Stunde in Anspruch. Mit unserem schwer beladenen Karren benötigten wir wahrscheinlich noch länger. Die Mauern der Stadt ragten teilweise über den Untergrund hinaus. Sie waren im Felsgestein verankert, und die Straßen führten zu verschiedenen Toren, die in die Bergwand gehauen waren. Alle Bathrer lebten in solchen Städten, ein deutlicher Hinweis, daß sie direkt von Höhlenbewohnern abstammten. Landwirtschaft betrieben sie auf der Oberseite ihrer Stadt und auf den Dächern der Gebäude, die im Freien lagen. Das Tal selbst nutzten sie kaum zum Nahrungsanbau, und ich vermutete, daß dies mit den regelmäßig jeden Winter stattfindenden Überfällen der Nomaden zusammenhing. Lebensmittel, die in der Stadt angebaut wurden, mußten nicht erst in Sicherheit gebracht werden, wenn die Plünderer kamen. Die Händlerkarren hatten auf uns gewartet. Es war ein Dutzend, und der Mann auf dem vordersten stieg ab und kam uns entgegen. Wir tauschten die in unserem Gewerbe üblichen Grußformeln aus und fragten uns dann gegenseitig nach unserem Weg. Chipol schwieg, er hielt sich aus dem Gespräch heraus. Ich hatte ihm im Versteck bereits ins Gewissen geredet, uns ja nicht durch eine übereilte Auskunft zu verraten und auch nichts zu tun, was die Bathrer mißtrauisch machen konnte. »Dem Priesterschüler ist Übles widerfahren«, schloß ich. »Wenn ihr es erlaubt, werden wir als erster Wagen hinauffahren!« »Wir erlauben es«, sagte der Händler mit dem Namen Frorgon. »Wir haben keine Eile. Noch steht der Markt voller Karren, die erst morgen abziehen. Auch ihr werdet warten müssen. Aber bringt nur erst den jungen Bathrer hinauf!« Wir bedankten uns und fuhren los. Hoch oben konnten wir bereits die Köpfe der Torwächter sehen, die uns erwartungsvoll entgegenstarrten. Noch wußten sie nicht, was sie sich mit uns einhandelten. Als wir außer Hörweite der Händler waren, warf Chipol einen
prüfenden Blick auf den Verletzten. Chumboro murmelte unverständliches Zeug. »Wir haben die Feuerprobe bestanden«, sagte der Daila. »Die Händler akzeptieren uns als Ihresgleichen!« »Das schon. Aber der Kontakt war nur kurz. Noch mußten wir nichts unter Beweis stellen. Das kann sich ändern.« Die Händler waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Sowohl bei den Bathrern, als auch bei den Nomaden konnte es vorkommen, daß ein Individuum aus verschiedenen Gründen aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Es wurde in der Stadt oder bei dem Stamm nicht mehr geduldet. Solche Einzelgänger hatten die Wahl, sich entweder als Einsiedler in die unzugänglichen Regionen der Berge zurückzuziehen, oder sich den Händlern anzuschließen und für den Rest ihres Lebens das reisende Gewerbe zu betreiben. Irgendwann vor langer Zeit hatten sich die Händler organisiert und einige Gesetze aufgestellt. Es hieß, daß sie im öden Ostteil des Gebirges feste Stützpunkte und Warenlager besaßen, sogar eigene Städte, die sie manchmal aufsuchten. Genaues konnte niemand sagen, und die Händler sprachen nicht darüber. Es war aber eine erwiesene Tatsache, daß die Händler oft auf Engpässe in der Versorgung reagierten und zum richtigen Zeitpunkt mit Waren auftauchten, die gerade knapp waren. Sie schufen also einen Ausgleich und bewirkten, daß die Auseinandersetzungen zwischen den Bathrern und Nomaden nie ein Maß erreichten, das für eine der beiden Bevölkerungsgruppen gefährlich gewesen wäre. Die Händler transportierten aber nicht nur Waren, sondern auch Informationen. Sie genossen eine traditionelle Immunität und durften sich nicht in die Auseinandersetzungen zwischen Städtern und Nomaden einmischen oder in sie verwickeln lassen. Schwerter, Pfeil und Bogen dienten ihnen lediglich zur Selbstverteidigung, und sie mußten die Waffen immer erst ablegen, bevor sie eine Stadt oder ein Lager betraten. Auch uns ging das nun an, und ich legte die Waffen schon bereit,
um sie gleich abliefern zu können, wenn man sie uns abverlangte. »Böse Geister«, murmelte Chumboro im Wundfieber. »Sie holen dein Wahakù.« * Als ich die hohen, unüberwindlichen Mauern vor mir sah, überkam mich wieder diese ungewisse Ahnung, die mir sagte, daß nicht alles in Ordnung war. Irgend etwas stimmte nicht mit meiner Mission, und dieses ferne Gespür in mir machte mich ein wenig unsicher. Ich versuchte, mich zusammenzureißen und keinen Fehler zu machen, und erneut dachte ich daran, daß ich ja kein Einsamer im eigentlichen Sinn war. Ich hatte die Möglichkeit, die Galaxis Manam‐Turu mit all ihren Sternen und Planeten einfach zu verlassen. Aber wollte ich das wirklich? Ich wußte es nicht, und ich war dem Extrasinn dankbar, daß er sich meldete und mir Mut und Selbstvertrauen gab. Du trägst Verantwortung, sagte er. Seit deinem Erwachen in der STERNSCHNUPPE bist du für viele Dinge verantwortlich, die sich abspielen. Du kannst das nicht einfach von dir weisen oder es wegwerfen wie ein benutztes Taschentuch. Denke daran, was aus Chipol wird, wenn du ihn allein zurückläßt. Er ist dann ein Gestrandeter auf Cairon, und er wird sich irgendwann verraten oder die Bathrer, Händler oder Nomaden auf die Spur des Verstecks der Daila bringen. Dann ist er ein Ausgestoßener in Lebensgefahr. Und du selbst? Hast du dir nicht geschworen, solange zu suchen, bis du den Erleuchteten gestellt hast? »Du brauchst es mir nicht zu sagen«, dachte ich. Ich weiß es. »Und ich habe nicht vor, davon abzuweichen. Und doch ist da ein Gefühl in mir, das mich zur Vorsicht mahnt und mir rät, lieber alles hinzuschmeißen und zurückzukehren an meinen Ausgangsort.« Angst?
»Nein. Keine Angst. Eher Unsicherheit. Ich glaube, daß ich eine winzige Kleinigkeit übersehe, daß mir eine wichtige Information fehlt, die ich dringend brauchte, um konsequenter handeln zu können. Das ist es, was mir Sorgen bereitet.« Unser Gespann hielt auf dem Platz vor dem Tor. Über unseren Köpfen befand sich das Felsgestein des Berges, in das hinein der Platz eingemeißelt worden war. Über dem Tor sah ich die Köpfe der Wächter. Stumm starrten sie auf uns herab, und ich richtete mich auf dem Kutschbock auf und rief: »Öffnet! Wir bringen Chumboro, den Priesterschüler!« Die Gesichter der Wächter wandten sich ab. »Chumboro!« hörten wir sie rufen. »Meldet es den Priestern. Sie bringen Chumboro!« Die Köpfe verschwanden, und ich ließ mich wieder nieder. Ich hatte bereits damit gerechnet, daß wir warten müßten. Aber als nach einer halben Stunde noch immer nichts geschah, das Tor aus schwerem Holz mit seinen eisernen Beschlägen sich noch immer nicht bewegte, da wurde ich ein wenig ungeduldig. Auch Chipol verstand nicht, warum man uns warten ließ, und er rutschte auf seinem Gesäß hin und her. Ich sah den Priesterschüler an. Er fieberte noch immer und nahm seine Umgebung nicht wahr. »Ich will endlich hinein, Atlan«, sagte Chipol. »Da drinnen sind andere Händler, und Händler wissen viel. Wenn wir eine Spur finden, dann nur mit ihrer Hilfe!« »Fragen ist gefährlich«, erwiderte ich. »Vergiß nicht, daß die Händler zurückfragen. Und wenn wir uns durch etwas verraten könnten, dann dadurch, daß wir zu wenig wissen!« Der junge Daila stieß die Luft aus und knurrte etwas Unverständliches. »Du traust mir wenig zu«, flüsterte er. »Was muß ich noch tun, um dein Vertrauen zu erwerben, Arkonide?« Das Tor begann zu knarren. Es öffnete sich ein wenig, so daß ein
Bathrer hindurchpaßte. Ein Dutzend Wächter kam heraus und umringte unseren Wagen. Sie nahmen uns die Waffen ab und trugen sie davon. Dann tauchte das Gewand eines Priesters auf. Der Bathrer schritt würdevoll daher und kam bis an den Wagen. Er beugte sich über den Verletzten und lauschte auf dessen Gebrabbel. Schließlich hob er den Kopf und sah uns an. »Die Information, die ihr den Brückenwächtern gegeben habt, sind sie wahr?« »Haben Händler jemals die Unwahrheit gesagt?« fragte ich zurück. »Wie kannst du uns so etwas unterstellen!« Er entschuldigte sich hastig und stieß einen schrillen Pfiff aus. Mehrere Priesterschüler kamen aus dem Tor. Sie trugen eine Bahre und betteten Chumboro eilig um. Der Verwundete bekam von all dem nichts mit. Er wurde in die Stadt hineingebracht, und der Priester warf einen langen Blick auf die Waren, die wir geladen hatten. Als gute Händler hatten wir sie so gepackt, daß man alles sehen konnte, was wir mit uns führten. Wir erhielten die Erlaubnis, die Stadt zu betreten. Das Tor öffnete sich ganz, und wir fuhren in einen kleinen Hof zwischen zwei Mauern. Von dort aus ging es durch ein weiteres Tor in einen anderen Hof, und erst dann gelangten wir an das Fallgitter der dritten und letzten Mauer. Hinter ihr begann die eigentliche Stadt. Einer der Wächter am Gitter nahm uns in Empfang. Er führte uns auf die Straße hinaus, die an der innersten Mauer entlangführte. Vor uns erhoben sich schlank und schmal die Häuser Umharatons. Sie streckten sich an der Bergwand hinauf, die in einem leicht silbrigen Ton schimmerten und ab und zu von grünen Bändern unterbrochen war. Die unterschiedlichen Gesteinsschichten und Moosablagerungen riefen die Farben hervor. Obwohl die sichtbaren Gebäude aus Steinen an die Wand gebaut worden waren, sahen sie aus, als hätte ein begabter Künstler sie aus der Felswand herausgemeißelt und auf unbegreifliche Weise zum
Leben erweckt. Täuschte ich mich, oder atmeten diese Gebäude tatsächlich? Bathrer blickten aus den Fenstern und musterten uns. Sie schienen alle schwindelfrei zu sein, und ich sah ein paar junge Bewohner, die in zwanzig Metern Höhe auf kleinen Mauervorsprüngen herumturnten. Der Wächter führte uns nach rechts. Wir waren an dem Tor auf der linken Seite der Stadt angekommen, unser Ziel mußte sich in der Mitte oder auf der entgegengesetzten Seite befinden. Die Straße wurde immer belebter. Es schien sich rasch herumzusprechen, daß wir den vermißten Priesterschüler mitgebracht hatten. Die Bathrer starrten uns an, als seien wir Wundertäter, aber keiner wagte es, uns anzusprechen. Nur einmal huschte ein kleiner Junge an uns vorbei und flüsterte hastig seinen Dank. »Er ist mein Bruder«, verstand ich noch, dann war er bereits hinter dem Karren verschwunden. »Dort vorn sind die Schüler mit der Bahre«, hauchte Chipol. »Sollen wir schneller fahren?« Ich warf einen Blick auf den Wächter. Dieser bemerkte es ebenfalls und deutete nach links, wo eine kleine Gasse einmündete. Er wies uns an, in der Einmündung zu warten, bis wir abgeholt würden. Wir taten es, und Chipol glitt geschmeidig vom Kutschbock. »Sei vorsichtig!« raunte ich, aber da war er bereits im Schatten eines Gebäudes verschwunden. Minuten später erschien ein gewöhnlicher Bathrer bei mir. Er forderte mich auf, ihm weiter bis zum Markt zu folgen. Ich tat ihm den Gefallen und ließ ihn obendrein auf dem Karren mitfahren. Von Chipols Abwesenheit schien er nichts zu wissen oder zu merken, und ich nahm an, daß der Wächter ihn nicht informiert hatte, wie viele Personen zu dem Karren gehörten. Mir konnte das nur recht sein, und Chipol würde hoffentlich soviel Umsicht besitzen, keinen Fehler zu machen. Er war noch jung und unerfahren, und
Eigenmächtigkeiten konnten unser Verderben sein. Aus einer Stadt wie Umharaton würden wir nicht so schnell herauskommen, wenn man uns einmal entlarvt hatte. Die Straße folgte der Krümmung der Mauer, und ich sah vor mir den Marktplatz auftauchen. Überall standen Händlerkarren, und das Gedränge zwischen ihnen und den errichteten Ständen und Tribünen war groß. Der Platz war voll belegt, und der Bathrer führte mich in eine Ecke an der Mauer. Hier sollte ich den Karren abstellen und anschließend die Xarrhis in den Stall am oberen Marktende bringen. Ich versprach es, und er entfernte sich und verschwand in der Menge. Der Marktplatz der Bathrer war ein Schlauch. Platz war wenig an dem Felshang, und ich bewunderte die Statik des Baumeisters, der so etwas Großartiges vollbracht hatte. Die Pflastersteine, auf denen ich stand, bedeckten das Fundament, das die Stadt nach unten sicherte. Unter mir, wußte ich, war nicht der Berg, sondern die freie Luft. Wo ich mich befand, ragte die Stadt in die Luft hinein, und tief unter ihr rauschten die Fluten des Umhar durch die Klippen. »Ein neuer Händler!« riefen sich die Kunden des Marktes gegenseitig zu. Auch die Händler wurden aufmerksam, und ein paar unterbrachen ihre Geschäfte und kamen zu mir herüber. Ich stieg ab, zog die Bremsen an und spannte die vier Xarrhis aus. Sie waren von dem Lärm nicht beeindruckt, der plötzlich um sie herum war. »He, Bruder, woher kommst du?« wurde ich gefragt. Ich war von Vertretern meiner Zunft umringt, und bald taten mir die Hände vom ständigen Aneinanderklatschen der Handflächen weh. Aber das Begrüßungszeremoniell war unvermeidlich. »Wir sind seit Wochen unterwegs und kommen aus dem Süden«, sagte ich. »Leider haben wir keine Neuigkeiten, denn alles ist ruhig geblieben, und die Stadt zwischen den Kaminen hat noch immer Ruhe vor den Nomaden.« Die Händler lachten.
»Durvinon ist eine glückliche Stadt«, sagten sie. »Aber hast du zufällig Frorgon gesehen? Er war mit uns verabredet. Jodanon schuldet ihm den Erlös für eine Robe!« »Frorgon wartet unten an der Brücke«, sagte ich, innerlich froh, daß sich das Gespräch in unproblematischen Bahnen bewegte. »Die Bathrer wollen ihn und seine Begleiter offensichtlich erst herauflassen, wenn es hier oben wieder Platz gibt!« »Hört, hört«, lachten die Händler. Einer, der sich unter dem Namen Auferhan vorstellte, sagte: »Sie haben Angst, daß Umharaton in die Tiefe stürzt. Es ist ein Witz. Aber Frorgon ist nicht allein. Er bringt seine ganze Clique mit. Das wird ein lustiges Frühsommerfest werden.« »Ihr wollt in Umharaton feiern?« fragte ich, erkannte aber gleichzeitig, daß ich einen Fehler gemacht hatte. »Wo denn sonst?« sagte Auferhan entrüstet. »Bis zur nächsten Stadt sind es drei Tagesreisen, und das Fest ist morgen. Aber sage mir, Bruder Atlan, warum hat man dich heraufgelassen und nicht Frorgon?« Ich erzählte es, und die Händler wurden ein wenig schweigsamer. »Das ist schlecht«, meinte Auferhan. »Wir geben uns seit Tagen Mühe, das Publikum bei Laune zu halten und so das Fest vorzubereiten. Und jetzt müssen wir damit rechnen, daß es ausfällt. Wenn der Priesterschüler stirbt, wird die Stadt sich in Trauer hüllen.« Er trat näher an unseren Karren und begutachtete die Waren. Immer wieder stieß er einen Ruf der Überraschung aus. »Atlan hat alle Schätze bei sich, die eine Stadt wie diese gebrauchen kann«, verkündete er. »Ich sehe schon, daß er ein guter Händler ist. Strengt euch an, Brüder des fahrenden Gewerbes. Wir haben eine starke Konkurrenz erhalten!« Sie entfernten sich wieder zu ihren eigenen Karren und setzten ihre Geschäfte fort. Ich brachte die Xarrhis weg und bezahlte den Wirt des Stalles für die Unterbringung. Er selbst empfahl mir eine
Herberge, in der ich unterkommen konnte. Ich ging dorthin und meldete zwei Schlafplätze an, dann kehrte ich zu unserem Karren zurück. Chipol erwartete mich. Er hatte sich im Schatten hinter dem Karren gehalten und auf die Ware aufgepaßt. »Es war gut, daß ich der Bahre nachgeschlichen bin«, berichtete er hastig. »Wir müssen auf der Hut sein. Am besten wäre es, wir verließen die Stadt sofort wieder. Chumboro spricht jetzt deutlicher im Fieber. Er redet über das Plateau der Geister und von bösen Geistern in der Gestalt von Bathrern, die sich auf dem Weg befinden. Er sagt nicht, auf dem Weg wohin, aber sobald er aus seinem Delirium erwacht, wird er mit seinen Beobachtungen herausrücken!« Es war gut, daß wir das wußten. Wir mußten wachsam sein und zusehen, daß wir möglichst viele Informationen sammelten, solange wir uns frei in der Stadt bewegen konnten. Abreisen durften wir auf keinen Fall. Wir hätten uns sofort verdächtig gemacht, und die Händler hätten von dem Vorfall in anderen Städten erzählt. Das durfte nicht geschehen. »Hilf mir die Waren ausladen«, flüsterte ich. »Wir dürfen uns nicht verdächtig machen!« * Die Priester hatten bestätigt, daß Harakesch die Wahrheit gesagt hatte. Er war kein Dieb, sondern er hatte sich einen Scherz machen wollen. Glücklich schlossen ihn seine Eltern in ihre Arme, und die Priester erhielten als Geschenk für ihre Bemühungen einen Beutel mit Jaculrunsamen. Babelun nahm seinen Sohn zur Seite und redete ihm noch einmal ins Gewissen, seine Scherze in Zukunft besser zu überlegen. »Ich werde mir Mühe geben«, versprach Harakesch. Dann
berichtete er von dem seltsamen Verhalten Chumboros, und Babelun machte übergangslos ein betroffenes Gesicht. »Was bedeutet das?« fragte er tonlos. »Wie kann Chumboro sich so verhalten? Das ist eines Priesterschülers unwürdig. Die Angelegenheit mit dir muß ihn stark verwirrt haben.« »Aber er muß doch erkannt haben, daß ich unschuldig war«, begehrte Harakesch auf. »Warum hat er dir nichts davon gesagt, was er in mir fand?« Babelun schickte seinen Sohn hinaus und auch alle anderen Geschwister. Er wollte nicht, daß sie zuhörten, wenn er mit seiner Frau sprach und seine Befürchtungen äußerte. »Es hat schon Fälle gegeben, da haben Priester ihr Wahakù verloren«, sagte er zu ihr. »Wie steht es mit Chumboro? Wo ist er überhaupt? Niemand hat ihn gesehen, seit er überstürzt das Haus verließ!« »Du glaubst doch nicht etwa, daß er sein Wahakù …« Der Frau erstarb vor Schreck die Stimme. »Ich kann es nicht glauben und muß mich doch damit abfinden. Der Schock über Harakeschs angebliche Missetat muß so groß gewesen sein, daß er seine Fähigkeiten verloren hat. Welche Schande für unsere Familie. Und warum? Weil Harakesch einen Scherz machen wollte, der von den Bathrern und Händlern gründlich mißverstanden wurde. Man sollte keine solchen Scherze mit ehrlichen Leuten treiben!« »Wir müssen den Jungen finden«, stimmte sie zu. »Ich werde zu den Priestern gehen und sie bitten, uns dabei zu helfen!« Sie begannen mit der Suche, aber Chumboro war nirgends zu finden. Den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch suchten sie nach ihm, ohne eine Spur von ihm zu finden. Niemand von den über neuntausend Bewohnern der Stadt war ihm begegnet. Aber er konnte nicht einfach spurlos verschwinden. Suchgruppen verließen die Stadt. Sie suchten die Steilhänge ab und das Gelände unten im Tal. Sie ritten auf schnellen Vleehs am
Ufer des Umhar entlang und tauchten in der Nähe der Klippen nach seiner Leiche. Ergebnislos kehrten sie in die Stadt zurück, und Babelun wurde wieder sehr krank und mußte sich erneut hinlegen. Der Arzt kam, aber diesmal konnte er keinen Aderlaß machen und verordnete lediglich heiße Wickel und kalte Güsse. »Ghaidor hat den Ältestenrat der Priester zusammengerufen«, teilte er der verängstigten Familie mit. »Die Priester werden einen Tarod bilden und versuchen, Chumboro mit ihren Gedanken zu erreichen!« Ein Tarod! Eine Vereinigung aller vorhandenen Priester in einem Meditationsring. Eine Konzentration aller psionischen Kräfte der Stadt. »Wie können wir das nur vergelten«, hauchte Babelun ratlos. »Wir werden ewig in der Schuld der Priester stehen!« Der Nachmittag kam, und plötzlich durcheilte die Meldung die Stadt, daß Chumboro gefunden worden war. Ein Händler hatte ihn weiter südlich entdeckt und mitgebracht. Er hatte sich gedacht, daß der Priesterschüler nur zu Umharaton gehören konnte. Babelun erfuhr es von einem der Berater des alten Ghaidor. Der Priester kam persönlich zu ihm und brachte ihm die frohe Nachricht. Babelun wollte sich sofort erheben und mit ihm gehen, aber der Priester ließ es nicht zu. »Schone deine angegriffene Gesundheit«, sagte er. »Chumboro wird dich besuchen, sobald er genesen ist!« Jetzt war es also heraus, und der Berater brachte es der Familie so schonend wie möglich bei, daß Chumboro verletzt war und im Wundfieber lag. »Er redet irr, aber er wird bald zu sich kommen und uns dann Auskunft geben können, was geschehen ist. Er hat sein …« Der Priester brach ab und wandte sich der Tür zu. »… sein Wahakù verloren?« ächzte Babelun. Der Priester senkte den Kopf. »Durch den Unfall oder bereits vorher. Wir haben Harakesch
nochmals befragt. Es sieht so aus, als sei es bereits vorher geschehen. Der Schock … Chumboro wird einige Zeit brauchen, um sich zu erholen, und dann wird auch sein Wahakù zurückkehren!« Der Priester ging hinaus, und Babelun legte die Hände vor das Gesicht. Schüttelfrost befiel ihn, und er rief nach den heißen Wickeln. Er fühlte sich plötzlich ganz elend, und immer wieder wollte er aufstehen und die Viertel der Priester aufsuchen, um Chumboro zu sehen. Aber er war so schwach, daß er es nicht einmal bis zur Tür schaffte. Wieder verging eine Nacht, und als der Morgen graute, da ging ein Aufschrei durch das Haus des Bathrers. Die Nachbarn liefen zusammen, und Harakesch machte sich weinend auf, um Ghaidor zu benachrichtigen. Babelun war tot. Sein geschwächtes Herz hatte die Aufregung nicht ertragen. * Daß die Daila mit der Auswahl ihrer Handelsgüter eine geschickte Hand bewiesen hatten, zeigte sich bereits nach einer halben Stunde. Die Bathrertraube um unseren Karren wurde immer größer, und das Geschehen des Marktes verlagerte sich zu einem großen Teil an seinen Rand und drohte die anschließende Straße zu verstopfen. »Kauft!« ermunterte ich die Männer und Frauen, die sich drängten und sich von Chipol die Waren zeigen ließen. »Bei der Kapuze meines Großvaters, der der berühmteste Händler in den Südstädten war, alles, was wir euch hier anbieten, ist feinste und auserlesenste Ware. Und die Preise, ihr werdet mit den Ohren wackeln vor Begeisterung. Gerade jetzt hat es im Süden einen Preissturz für Kosmetika gegeben. Wir haben günstig eingekauft und können billig liefern. Denkt immer daran, daß wir Händler so gut wie keine Transportkosten haben. Xarrhis sind genügsam und geduldig. Ein
bißchen saftiges Gras, und sie ziehen nicht nur einen, sondern zwei Karren!« Chipol reichte ein paar Federbüsche herum. Sie ähnelten dem Häuptlingsschmuck terranischer Indianer und waren aus den Hinterfedern der Mandali gemacht. Kundige Nomadenfrauen hatten sie geschmackvoll eingefärbt. Mandali, das waren große, plumpe Laufvögel, die außer saftigem Fleisch und Federn ein sehr feines, weiches Leder lieferten. Von einem einzigen Mandalon konnte eine Großfamilie gut eine Woche leben, und von der Haut und den Federn wurden Kleidungsstücke angefertigt, die im ganzen Land der Bathrer geschätzt waren. Die Federbüsche gingen weg wie warme Semmeln. Da wir keinen großen Wert darauf legten, andere Dinge für sie einzutauschen, die unseren Wagen nur noch schwerer machten, wir andererseits aber genug Säcke mit Jaculrun‐Nüssen mit uns führten, verkauften wir sie tatsächlich für einen regelrechten Schleuderpreis, und unser Gebaren erregte sehr rasch den Unmut der übrigen Händler. Ich beruhigte sie jedoch, indem ich ihnen versicherte, daß wir die Federbüsche quasi als Geschenk für die Bathrer Umharatons mitgebracht hatten und sie deshalb so billig verkauften. Alle anderen Waren würden den sonst üblichen Preisen entsprechen. Das Geschäft florierte, und erst spät nach Einbruch der Dunkelheit flaute es ab. Ich benutzte die Gelegenheit, überließ Chipol das Handeln und Feilschen um den Preis und machte mich auf den Weg. Ich wollte mit den Händlern ins Gespräch kommen und mir Informationen verschaffen. Ich fand Auferhan an einer kleinen Feuerschüssel, wie er sich eine Wurst briet. Er stellte mir seinen Begleiter als Jodanon vor und bot mir eine Wurst an, die ich dankend annahm. »Du sprengst beinahe den Markt«, meinte er tadelnd. »Du kannst froh sein, daß ich meine Geschäfte schon abgewickelt habe. Mein Ansehen wäre durchaus so groß, daß ich dich aus der Stadt weisen lassen könnte!«
»Ich weiß«, sagte ich frech und beobachtete, wie er große Augen bekam. »Du willst doch nicht etwa sagen, daß mein Ruf bis in die Südstädte gedrungen ist?« platzte er heraus. Ich klappte die Händen nach unten und verfolgte lächelnd, wie er trotz seines Schneidersitzes um ein paar Zentimeter wuchs. »Also doch«, rief er erstaunt. »Warum hat mir das noch nie jemand gesagt?« »Vermutlich aus Neid!« »Du bist ein echter Freund, Bruder Atlan! Komm, iß eine weitere Wurst von mir!« Wir machten uns schweigend über die inzwischen garen Würste her und steckten danach eine zweite auf die Spieße. Jodanon bediente sich schweigend aus dem Korb, der neben Auferhan stand, und ich nahm an, daß die beiden Händler zusammenarbeiteten und gemeinsame Vorräte besaßen. »Ihr seid schon lange in der Stadt?« erkundigte ich mich. »Seit drei Tagen.« Diesmal sprach Jodanon. »Und wir haben eine der Fürstenroben aus dem Süden verkauft, aus Cainaruul!« Vorsicht, Arkonide! warnte der Extrasinn. Du bist ein Händler aus dem Süden! »Es geschehen Zeichen und Wunder. Nicht einmal ich bin im Besitz einer solchen Robe! Es ist mir auch nicht bekannt, daß sich das Land unter der Sonne so ohne weiteres von seinen Fürstenroben trennen würde, wollt ihr mir erzählen, was sich da zugetragen hat?« Ich wußte, wie hoch ich mit meinen Worten pokerte. Ich konnte voll danebenliegen und forschte deshalb aufmerksam in den Augen der beiden Händler. Ich konnte nicht erkennen, was sie dachten. »Du hast recht«, sagte Auferhan dann. »Wir haben sie von einem Nomadenstamm erworben, das aus dem Süden kam. Sie hatten Cainaruul im vergangenen Winter einen Besuch abgestattet und dabei diese Roben erbeutet. Ich weiß, daß sie in Cainaruul als Heiligtum betrachtet werden, deshalb hat man den Diebstahl den
Bürgern verheimlicht und in aller Eile von den Priestern neue Roben herstellen lassen. Damit haben die gestohlenen ihren Wert verloren, und wir verkaufen sie für bis zu vierzig Jaculruns. Wie bei den Federbüschen ein echter Schleuderpreis.« Er berichtete von ihrem Verkaufserfolg. Sie hatten sich gegenseitig so lange beschuldigt, bis einer seine Robe verkauft hatte. Den Gewinn hatten sie untereinander geteilt, wie es üblich war. Und sie hätten auch die zweite Robe verkauft, wenn nicht der Zwischenfall mit dem Dieb gewesen wäre. »Nach dem Fest verlassen wir Umharaton. Vielleicht haben wir Glück und werden sie noch los«, meinte Jodanon. »Der Diebstahl hat sich inzwischen als Scherz herausgestellt, aber die Aufregungen, die damit verbunden waren, führten dazu, daß keiner sich mehr getraute, Interesse für das wertvolle Stück zu zeigen. Außerdem haben uns die Marktbesucher als Zeichen ihrer Verbundenheit den vollen Kaufpreis zusätzlich gegeben, ohne die zweite Robe zu verlangen.« Ich runzelte die Stirn. So hatte ich es mir nicht vorgestellt, aber aufgrund dieser Schilderung bekam ich meinen ersten Eindruck von der Wirkung der Harmonie, in der die Bathrer in den Städten lebten. Da gab es keine Mißgunst und kein Verbrechen. Da neidete keiner, dem anderen seinen Besitz. Und wenn es einmal zu einem Zwischenfall kam oder sich ein Mitglied der Stadtgemeinschaft gegen die Gesetze verging, dann sprangen sofort die anderen ein und brachten den Schaden in Ordnung. Das also war Harmonie, das war ein Teil des Geheimnisses, hinter dem die Priester mit ihren Fähigkeiten steckten. Die Harmonie war der wesentliche Bestandteil ihrer Kultur und Hauptursache dafür, daß die Stadtbathrer von allen Bewohnern des Kontinents die höchste Entwicklungsstufe erreicht hatten. Und das war jetzt in Gefahr, weil der Erleuchtete sich irgendwo in der Nähe herumtrieb. Er würde bald zuschlagen, da war ich mir ganz sicher.
»Es ist nicht recht, daß ihr die Jaculruns behaltet«, gab ich zur Antwort. »Da sich alles als Irrtum herausgestellt hat, kann leicht ein schiefer Sonnenstrahl auf euch fallen. Habt ihr euch schon Gedanken darüber gemacht?« Die beiden Händler machten ein verdutztes Gesicht. Sie kauten verbissen an ihrem Würsten, während ich den letzten Bissen hinunterschluckte. »Du meinst wirklich?« begann Auferhan. »Wir sollen …« »Was sind schon vierzig Nüsse? Damit kannst du keinen Jacul‐ Mesh brauen!« »Er hat recht. Wir sind es unserem Ruf als Händler schuldig. Die Betroffenen müssen ihr Geld zurückerhalten!« Jodanon griff unter sein Gewand. Er zog einen Beutel hervor und zählte vierzig Nüsse ab. »Nicht so voreilig!« mahnte ich. »Kennst du die Betroffenen denn? Willst du sie alle suchen? Kein Händler darf alle Bereiche der Stadt betreten!« »Was meinst du?« »Chumboro!« sagte ich. »Er liegt im Wundfieber. Gebt ihm die Nüsse, sobald er wieder auf den Beinen ist. Ich vermute, daß er sie gut gebrauchen kann!« »So soll es sein!« bekräftigten die beiden Händler. »Danke, Atlan, für deinen guten Rat!« Chipol tauchte auf. Er hatte den Karren im Stich gelassen und winkte mir. »Die Priester verlangen nach dir«, sagte er. »Beeile dich!« Ich verabschiedete mich von den Händlern und folgte ihm zurück zum Karren. Acht Bathrer in weißen Gewändern hatten sich dort versammelt, und die Stadtbewohner machten ihnen respektvoll Platz. Ich legte mir ein paar Gedanken zurecht, denn der einzige Grund, warum sie mich aufsuchten, konnte nur Chumboro sein. Ich wurde jedoch angenehm enttäuscht. Die Priester wollten kaufen, und sie
interessierten sich vor allem für die Knochen seltener Tiere, Weisheitssteine und Erzbrocken, für Räucherwerk und farbigen Ton. Sie kauften fast alle meine Bestände auf, und Priesterschüler kamen mit einem Handwagen, um die Waren aufzuladen. Ich erkundigte mich beiläufig nach Chumboro. Der junge Bathrer befand sich noch immer im Wundfieber, aber er wurde von mehreren Heilkundigen betreut. Eine Gefahr für sein Leben bestand nicht. »Wenn er wieder bei sich ist, besteht dann die Möglichkeit, daß ich ihn besuche?« Die Priester verneinten. »Er liegt in den Gewölben der Harmonie, wohin niemand Zutritt hat«, erklärten sie. Sie zahlten den wirklich günstigen Preis für die Waren und zogen sich dann zurück. Auch wir packten ein. Die Dämmerung war hereingebrochen, und über das Gebirge und die Stadt senkte sich die Nacht. Fackelmänner schritten die Straße entlang und entzündeten die in regelmäßigem Abstand an den Mauern angebrachten Fakkeln. Sie rauchten und qualmten nicht und waren deshalb besonders für jene Stadtbereiche geeignet, die im Innern des Berges lagen. Wir deckten unseren Karren mit der Plane ab und schritten dann zu unserer Herberge. Zu bewachen brauchten wir unser Hab und Gut nicht. Es gab niemanden in der Stadt, der etwas gestohlen hätte. Nicht einmal ein Marktwächter war nötig, lediglich ein Bathrer, der sich um die Xarrhis in der Gemeinschaftsscheune kümmerte und sie fütterte und tränkte. Wir nahmen in der Herberge eine Mahlzeit ein, dann ließen wir uns die Kammer zeigen, in der man uns zwei Strohmatrazen bereitgelegt hatte. Wir waren allein in dem engen Raum und konnten uns ungestört unterhalten. »Als du die Bahre mit dem Priesterschüler verfolgtest, ist dir da etwas Besonderes aufgefallen? Etwas Ungewöhnliches?« fragte ich Chipol. Er verneinte.
»Ich habe mir die größte Mühe gegeben. Alles läuft in Umharaton so, wie es laufen muß. Die Bathrer benehmen sich wie immer. Auch die Händler tun das, was sie jedesmal tun, wenn sie sich in einer Stadt aufhalten. Nur die Anwesenheit eines Priesterschülers am Plateau der bösen Geister ist auffällig.« Als Indiz für etwas war das zu wenig. Und doch glaubte ich, daß es mit dem Priesterschüler eine Bewandtnis hatte, die nicht zu unterschätzen war. »Morgen«, sagte ich, »werde ich dich für ein paar Stunden allein lassen. Ich muß die Gewölbe der Priester finden. Chumboro muß mir endlich Auskunft geben, was mit ihm los ist. Ich werde ihm die Nüsse bringen und das als Vorwand für mein Eindringen nehmen.« Ich berichtete Chipol von dem Gespräch mit den beiden Händlern. »Laß mich es tun«, bat er. »Auf mich achtet man nicht so schnell!« »Nein, es ist zu wichtig. Es gibt Dinge, die du nicht beurteilen kannst, weil du den Erleuchteten nicht kennst. Ich habe schon Erfahrungen mit seinem Wirken gesammelt und kann Indizien besser beurteilen. Bleibe du bei den Waren.« Er fügte sich murrend in sein Schicksal, und wir schliefen ein und erwachten erst am nächsten Morgen, als ein dumpfes Dröhnen uns weckte. Es ließ die Wände des Gebäudes erzittern, und wir sprangen auf und streckten unsere Köpfe zu der kleinen Fensterluke hinaus. Wir sahen den Markt und die Straße unter uns, aber von den Händlern war weit und breit nichts zu sehen. Dafür strömten die Bathrer zusammen. Sie bildeten eine lange Schlange, die am hinteren Ende des Marktes eine Treppe hinaufdrängte und in einem Tor verschwand, das in den Berg führte. Auf dem Felddach des Nachbargebäudes stand ein alter Mann mit einem großen Klöppel in der Hand. Er schlug in regelmäßigen Abständen auf eine schwere, bronzene Scheibe ein, die in einem Holzgestell hing. Die Scheibe dröhnte, und es hallte über das ganze Tal. »Schnell!«
Ich dachte an Chumboro. Ungewaschen wie wir waren, stürmten wir das enge Treppenhaus hinab in die Gaststube. Ich sah Auferhan an einem Tisch sitzen. Jodanon kam soeben zur Eingangstür herein und setzte sich zu ihm. Augenblicklich war der Tisch von den Händlern umringt. »Was ist geschehen?« rief ich. »Atlan, das Fest fällt aus«, sagte Jodanon bedauernd. »Im Morgengrauen ist ein Bathrer gestorben. Er heißt Babelun.« Der Name sagte mir nichts. »Babelun ist Harakeschs und Chumboros Vater«, erklärte der Herbergswirt hinter der Theke. »Er hatte schon lange ein schwaches Herz. Er hat die Aufregungen nicht überlebt. Große Trauer ist in Umharaton eingekehrt!« »Und was ist mit Chumboro?« rief ich. »Die Priester sagen, daß sein Zustand unverändert ist«, sagte Jodanon. Er dämpfte seine Stimme. »Und er soll als Folge seines Unfalls das Wahakù verloren haben. Aber ob es wirklich der Unfall war oder der Schock über den angeblichen Diebstahl seines Bruders …?« »Was willst du damit sagen?« Ich zog einen Stuhl herbei und setzte mich dicht neben ihn. »Nichts«, hauchte Jodanon, so daß nur ich und die umstehenden Händler es hörten. »Es wäre auch ungehörig, in Anwesenheit eines Bathrers darüber zu sprechen. Aber ich habe draußen am Markt mehr durch Zufall zwei Frauen belauscht, die miteinander über die neuesten Meldungen aus den Priestergewölben sprachen. Es ist nicht alles in Ordnung in dieser Stadt!« »Was ist es, sprich!« zischte ich. »Er ist nicht der erste. Vor kurzem haben mehrere Priester ihre Begabung verloren. Es ging kein Unfall, keine Krankheit, kein Schock voraus. Das Wahakù war plötzlich weg.« Ein Raunen kam unter den Händlern auf. »Seid still«, fauchte Auferhan. »Laßt ihn zu Ende erzählen. Er weiß
noch mehr!« »Es ist nicht nur in dieser Stadt geschehen«, fuhr Jodanon fort. »Ich habe auf unserem Weg nach Umharaton Händler getroffen, die von Gehondor und Flamerlan kamen. Dort soll es ähnliche Vorfälle gegeben haben. Und hat einer von euch den Namen Brenniman gehört? Geht hinaus. Fragt die Bathrer nach Brenniman. Sie werden euch sagen, daß er ein hochgestellter Priester der Stadt ist, der ein Gelübde erfüllt und sich auf einer langen Reise durch das Land befindet. Die Priester verbreiten diese Botschaft. Die Wahrheit ist schrecklicher. Brenniman, einer der begabtesten überhaupt, ist spurlos verschwunden! So, jetzt wißt ihr es.« Vor Erregung zitterten meine Hände. In meinen Augen bildete sich salziges Sekret wie immer, wenn ich erregt war. »Chipol«, sagte ich. »Wir müssen sofort hinaus zu …« Ich wollte Chumboro sagen und unterdrückte das Wort gerade noch. »… den Xarrhis?« fragte der junge Daila geistesgegenwärtig. »Warum das? Willst du Umharaton verlassen?« Stille setzte ein am Tisch, und sie wurde erst nach einer Weile von Auferhan unterbrochen. »Vielleicht hat Atlan recht, und es ist ein Fluch, der die Bathrer trifft. Wir sollten uns vorsehen!« »An einen Fluch glaube ich nicht«, gab ich zur Antwort. »Du verstehst meine Reaktion falsch. Es muß etwas anderes dahinterstecken!« Ich wußte genau, was es war. Und aus diesem Grund mußte ich so schnell wie möglich in das Innere der Stadt. Ich mußte Chumboro finden und ihn zwingen, meine Fragen zu beantworten. Ich rechnete fest damit, daß auch ihm das Wahakù geraubt worden war. Ihm und allen anderen Priestern. Und die fähigsten von ihnen entführte der Erleuchtete, wie er es auf Joquor‐Sa mit der Familie Sayum getan hatte. Der Erleuchtete schlug zu, und er tat es unerbittlich. Mir brannte plötzlich der Boden unter den Füßen, und die Händler sahen mir
meine Nervosität an. Sie ließen verwundert ihre Augen auf mir ruhen, und Auferhan fragte: »Was hast du? Du machst ein Gesicht, als hätte man dir ebenfalls ein Wahakù geraubt!« Keine Angst, ich bin noch da! meldete sich der Extrasinn. Fast hätte ich laut gelacht. »Es hat einen anderen Grund. Ich fürchte nämlich, daß es keine Einzelfälle bleiben werden. Und was ist dann? Was wird aus den Städten der Bathrer, wenn die Harmonie zerbricht?« Die Händler starrten mich stumm an. Sie schienen zu glauben, daß ich prophetische Gaben besaß. Schweigend aßen und tranken sie und verließen dann die Herberge, um sich um ihre Tiere zu kümmern. »Ich habe es kommen sehen«, murmelte der Herbergsvater. »Ihr werdet die Stadt verlassen und sie meiden. Ein Fluch wird sich über Umharaton legen, und eines Tages wird es diese Stadt nicht mehr geben. Sie wird ein totes Gemäuer sein, in dem Schlangen, Echsen und Vögel hausen. Es ist ein Fluch, wie der Händler es gesagt hat.« »Keine Angst. Wir werden tun, was in unseren Kräften steht, um den Fluch zu vertreiben!« Wir aßen kurz eine Kleinigkeit und tranken den üblichen Tee, dann gingen auch wir hinaus. Das Dröhnen der Signalscheibe hatte aufgehört, und die Bathrer waren im Innern ihrer Stadt verschwunden. Die Straße war leer, nur die Händler standen herum und bildeten kleine Grüppchen. »Er ist da«, stieß Chipol unterdrückt hervor. »Ich kann ihn fast spüren. Meinst du, er hält sich in dieser Stadt auf?« »Wer weiß, was im Innern der Stadt vor sich geht. Aber ich glaube es kaum, daß er so nah ist!« Ich überlegte, ob ich mit Hilfe des als Armschmuck getarnten Funkgeräts Kontakt mit der STERNSCHNUPPE aufnehmen sollte. Ich unterließ es. Das Risiko, daß der Erleuchtete von meiner Anwesenheit erfuhr, war zu groß. Ich mußte irgendwann heimlich
auf das Plateau zurückkehren und direkt mit dem Schiff kommunizieren. Dann würde ich erfahren, ob das riesige Ding aufgetaucht war, das Chipol auf Joquor‐Sa beobachtet hatte. »Was tun wir jetzt?« Ich überlegte. In der Stadt herrschte ein gewisses Maß an Verwirrung. Das gab mir Gelegenheit, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich wollte Chumboro aufsuchen und ihm die Nüsse bringen. »Es bleibt dabei. Ich verschwinde. Paß du auf den Karren auf!« Ich suchte eine passende Gasse, in die ich mich absetzen konnte. Ich fand eine und setzte mich in Bewegung. Wenn ich Erfolg haben wollte, mußte ich mich beeilen. »Bis bald!« raunte ich Chipol noch zu. Aber es wurde nichts daraus. Die Dinge entwickelten sich anders, als ich mir das vorstellte. 4. Als sich bis zum späten Abend nichts getan hatte, bauten Frorgon und seine Händler ihre Einmannzelte auf. Sie gruppierten sie um die Karren herum, und als die Wachen an der Brücke abgelöst worden waren und sich umgesehen hatten, legten die Händler sich schlafen bis zum Morgengrauen. Sie erhoben sich, nahmen ein Bad im seichten Uferwasser des Umhar und spannten die Xarrhis aus, um sie zu tränken. Anschließend wurden die Zugtiere wieder in das Geschirr gestellt, und die Händler warteten weiter. Sie warteten darauf, daß endlich ein paar ihrer Kollegen aus der Stadt abzogen und Platz machten für die nachfolgenden Händler. Nichts geschah. So sehr Frorgon sich auch den Hals verrenkte, oben an der Stadt blieb alles ruhig, und der Händler trug sich mit dem Gedanken, einmal zu Fuß hinaufzusteigen und nachzusehen. Etwas konnte dort nicht stimmen. Selbst wenn es galt, das Fest zu
feiern, durfte kein Händler in der Stadt bleiben, der schon drei Tage und länger dort war. Er mußte zumindest seinen Platz auf dem Marktplatz räumen, und die Torwächter würden einen Boten herabschicken, der es meldete. Alles blieb ruhig, und Frorgon besprach sich mit seinen Brüdern, wie die Händler sich untereinander bezeichneten. Es war nicht gut, was da vor sich ging, und sie beschlossen, daß er hinaufgehen und nachsehen sollte. Über dem Tal war es schon hell, aber es würde noch eine Zeit dauern, bis Tsybaruul über den Gipfeln erschien. Frorgon machte sich auf den Weg. Da aber hörte er den Gong, der über das Tal dröhnte, und er kehrte um und setzte sich zu den anderen. Sie kannten diese Art von Glockenschlag. In Umharaton war jemand gestorben, und das träge, dumpfe Geläut rief die Bathrer auf, von der Leiche ihres Mitbürgers Abschied zu nehmen. Solches Geläut von einem Stadtberg war weithin zu hören, und weiter im Norden, wo die Städte ein wenig enger standen als in den gemäßigten Breiten, da konnte man die klingende Botschaft von einer Stadt zur nächsten hören. Frorgon wußte, daß sie jetzt warten mußten, bis die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren. In .dieser Zeit konnte auch kein Händler die Stadt verlassen. Jetzt wußten sie den Grund und bezähmten ihre Ungeduld, und Frorgon beneidete Atlan, der es am Vortag geschafft hatte, hinaufzukommen, weil er einen verletzten Bathrer transportierte. Der Händler verließ das Karrenlager und schritt eine Weile am Ufer hin. Der Umhar umspülte den Stadtberg auf drei Seiten, und er war nicht schiffbar, weil die Klippen zu gefährlich waren. Das Wasser rauschte an ihnen vorbei und erzeugte Strudel, die jedem Schwimmer zur tödlichen Falle werden mußten. Selbst der schmale Uferpfad zwischen dem Fuß des Berges und dem reißenden Strom war gefährlich, weil der Umhar manchmal regelrechte Wogen auf ihn warf und alles mitriß, was sich auf ihm befand. Dennoch wagte Frorgon es. Das Wasser war heute nicht so
wütend wie am Vortag, und er folgte der Krümmung des Flusses und des Berges, bis er einen guten Blick nach Norden hin hatte, wo sich das Tal langsam anhob und in einer Entfernung von über zehn Angern zu einem Paß anstieg, der in die roten Täler führte und für die Händler den direkten Weg zur Stadt Heyrabad darstellte, die zehn Tagesreisen entfernt lag. Auf dem Paß schimmerte es dunkel, und als Frorgon die Augen ein wenig zusammenkniff, da sah er, daß sich das Dunkle dort ständig veränderte. Der Händler ahnte sofort, womit er es zu tun hatte. Zu vertraut waren ihm die optischen Erscheinungen im Gebirge und in der Ebene. Zu oft hatte er mit den verschiedenen Reittieren und Volksgruppen zu tun. Er wandte sich um und rannte zum Lager zurück, so schnell ihn seine Beine trugen. Von weitem rief er schon, und als er atemlos ankam, da hatten die meisten seiner Begleiter bereits verstanden, was los war. Frorgon rief die Wächter herbei, die inzwischen wieder abgelöst worden waren, und teilte ihnen mit, was er gesehen hatte. »Es tut uns leid, aber wir müssen jetzt die Trauer stören«, fügte er hinzu. »Wir bitten Umharaton offiziell um Schutz. Zwar ist es uns nicht erlaubt, uns einzumischen, aber wir müssen unsere Waren in Sicherheit bringen. Das können wir nur in der Stadt.« »Die Stadt gewährt euch Schutz«, erwiderte einer der Wächter, während ein anderer bereits die Straße hinaufrannte, um Meldung zu machen. »Setzt euch sofort in Bewegung. Nehmt alle Straßen. Schaut, daß ihr so schnell wie möglich oben seid. Dort werden die Torwächter weitersehen!« Das ließen sich die Händler nicht zweimal sagen. Sie saßen auf und trieben die Xarrhis zu höchster Eile an. Ruckartig setzten sich die Wagen in Bewegung und strebten den steilen Straßen entgegen, die sich in Serpentinen an der Flanke des Berges hinaufwanden bis zur Stadt.
* »Atlan, warte!« Jodanon kam mir hinterher, und ich bog dicht vor der Gasse ab und blieb stehen. »Du hast eine wichtige Meldung?« erkundigte ich mich. »Soeben ist ein Bote durch das Tor gekommen. Umharaton wird angegriffen. Die Nomaden kommen!« Ich folgte dem Händler bis zur Stadtmauer. Wir kletterten auf einen der Wehrgänge hinauf und blickten über die drei Mauern hinweg hinab ins Tal. Die Karren der Händler waren verschwunden. Sie bewegten sich als dunkle Schlangen die Straßen herauf. Weit im Norden, wo das Tal in den Paß überging, hatte sich eine Staubwolke gebildet, die von etlichen hundert oder tausend Vleehs erzeugt wurde. Es gab kein anderes Reittier, das so schnell war. »Die Bathrer müssen sofort davon erfahren«, stieß ich hervor und stürmte die Treppe hinab. Ich rannte zur Herberge hinüber und berichtete dem Wirt, was sich über der Stadt zusammenbraute. »Nomaden?« fragte er ungläubig. »Was wollen Nomaden im Frühsommer hier? Das ist nicht normal. Sie kommen immer nur im Winter oder zu Beginn des Frühjahrs, wenn ihnen die Früchte und Wurzeln ausgegangen sind. Nomaden hier im Tal, das ist kaum zu glauben!« »Und doch ist es so. Benachrichtige die Bürger. Sie müssen die Trauerfeier unterbrechen und Vorbereitungen zur Verteidigung treffen!« Er stürzte davon, und kurze Zeit später hörten wir am aufkommenden Lärm, daß die Bathrer im Innern der Stadt erfuhren, was bevorstand. Ich rief die Händler herbei und schickte sie zu den drei Toren. Sie wurden dort benötigt. Die Torwächter hatten jetzt alles andere zu tun als sich um die Versorgung der neu eintreffenden Karren und
Tiere zu kümmern. Sie hatten die Tore weit geöffnet, waren selbst aber nirgends zu entdecken. Ich selbst stellte mich am mittleren Tor auf, wo auch Chipol zu mir stieß. Ich deutete hinab auf die Straßen. »An diesem Tor werden sich die meisten Wagen stauen«, sagte ich zu ihm. »Wenn wir uns schon nicht in die Auseinandersetzung einmischen dürfen, dann wollen wir wenigstens unseren Freunden helfen, ihre Karren in Sicherheit zu bringen.« Das Warten wurde zur Nervenprobe. Unten donnerten die Nomaden durch das Tal heran und auf die Brücke zu. Längst hatten sich die letzten Brückenwächter zurückgezogen, aber hier oben war noch immer kein einziger Händler angekommen. Endlich sahen wir sie. Sie kamen von zwei Seiten auf dem Platz vor dem Tor an, dann von drei, weil hier drei Straßen mündeten. »Wechselseitig einfahren!« schrie ich ihnen entgegen. »Fangt links an!« Der erste Wagen fuhr auf den Platz und ruckte herum. Die Xarrhis dampften von der Anstrengung. Sie hatten die beschwerliche Strecke etwa in der Hälfte der Zeit bewältigt, die Chipol und ich am Vortag gebraucht hatten. Ich sah Frorgon unter den ersten und schrie ihm laut eine Anweisung zu. Der erste Wagen erreichte das äußere Tor. Chipol sprang auf den Kutschbock. Der Karren rollte weiter und durchquerte die dreifache Mauer in einem Zug. Drinnen wurde er sofort von der Straße in eine der Seitengassen umgeleitet, da die Bathrer die Straße mit den Wehrgängen zur Verteidigung brauchten. »Schneller!« schrie ich. »Treibt die Tiere an!« Wenn ich über die Mauer in die Tiefe blickte, sah ich die Horden der Nomaden, die sich an der Holzbrücke stauten und hinüberdrängten. Die ersten Vleehs befanden sich bereits auf den Straßen, die zur Stadt führten. Es ging um Sekunden. Ein Karren nach dem anderen kam oben an, und dicht auf dicht durchfuhren sie die Tore. Wenn es jetzt drinnen
in der Stadt eine Rückstau gab, weil eines der Fahrzeuge liegenblieb oder die Bathrer den Zug behinderten, dann war es für die letzten Karren zu spät. Bis jetzt ging alles glatt. Ich rannte an den Fahrzeugen vorbei bis zum Anfang des Platzes und spähte dort in die Tiefe. Ich zählte für dieses Tor noch acht Wagen, die sich unterwegs befanden. Bei dem einen streikten die Zugtiere, und der Händler tat alles, um sie zum Weitergehen zu bewegen. Er gab ihnen Futter, und endlich zogen sie wieder an und schleppten den Karren hinauf. Die Nomaden hatten die Hälfte der Straße zurückgelegt. Ich wartete am Rand des Platzes, bis der letzte Wagen angekommen war. Ich saß auf und sprang hinter dem ersten Tor wieder ab. Frorgon wartete hier auf mich, und der Händler half mir beim Schließen. Wir verschlossen auch das zweite Tor und ließen in der innersten Mauer das Fallgitter herab und verankerten es. Damit war unsere Arbeit getan. »Zu den anderen Toren«, keuchte ich, aber da kam uns Chipol bereits entgegen. »Wir haben es gerade noch geschafft«, rief er. »Das südlichste Tor konnte aber erst im letzten Moment geschlossen werden. Die Nomaden waren bereits auf dem Vorplatz.« »Wo stecken die Bathrer?« »Dort!« Chipol deutete auf die Wehrgänge, wo sich eilig Gestalten bewegten. Jemand tippte mir auf die Schulter, es war unser Herbergswirt. »Folgt mir!« sagte er. »Alle Händler sind in Sicherheit. Ich führe euch dorthin, wo ihr nicht belästigt werdet;. Niemand kann euch dort in Auseinandersetzungen zwischen uns und den Nomaden verwickeln. Die Erfahrung beweist außerdem, daß es noch nie ein Nomade geschafft hat, bis zu den Dachgärten vorzudringen. Die Priester sind außer sich. Nur Ghaidor hat seine Sinne beisammen. Es ist unvorstellbar, was geschieht. Noch nie in der Geschichte der
Stadtstaaten haben die Nomaden im Sommer angegriffen.« »Etwas stimmt nicht. Es wird Zeit, daß man dahinterkommt, was los ist«, stimmte ich zu. * Nomaden waren wilde Gesellen. Im Gegensatz zu den friedlichen Bathrern besaßen sie eine kriegerische Kultur. Sie verehrten entsprechende Naturgötter und hausten in Zelten aus Tierhäuten und geflochtenen Matten. Sie waren in eine Unzahl einzelner Stämme aufgeteilt, die oft Krieg untereinander führten. Als Waffen benutzten sie Keulen, Steinäxte und Speere, ganz selten nur Pfeil und Bogen und noch viel seltener Schwerter, die von den Bathrern hergestellt worden oder von den Händlern aus dem hohen Norden mitgebracht worden waren. Die Nomaden waren berühmt für ihre Herden, in denen sie Vleehs, Xarrhis und Mandali züchteten. Vleehs waren kamelgroße Säugetiere mit spitzen, geraden Hörnern und grobem, kurzem Fell. Sie wurden zum Reiten abgerichtet. Xarrhis waren etwas kleinere, sanfte Zugtiere, und die Mandali waren in erster Linie Fleischlieferanten, wurden jedoch auch als Reittiere gezüchtet. Diesmal kamen die Nomaden mit ihren Vleehs. Mit diesen Tieren waren sie am schnellsten, und der Überfall konnte, wenn die Annäherung nicht frühzeitig entdeckt wurde, mit Hilfe des Überraschungseffekts gelingen. In diesem Fall war die Warnung gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Sie war ausgerechnet einem Händler zu verdanken, der sich nach den ungeschriebenen Gesetzen seiner Zunft aus den Auseinandersetzungen heraushalten mußte. Frorgon war es jedoch um die Waren gegangen, und es gab nichts Schlimmeres für einen Händler, als wenn man ihm seinen Karren abnahm, dessen Inhalt sein ganzer Reichtum war.
Der Herbergsvater hatte uns zu einem der Dachgärten emporgeführt, die unmittelbar an der Steilwand des Berges endeten. Da diese Gärten zu schmal waren, lohnte sich hier der Anbau von Gemüse nicht. Man hatte sich mit ein paar Blumen zufrieden gegeben. Sie schillerten uns in allen Farben entgegen, und ich betrachtete sie eingehend und prägte sie mir ein. Selten hatte ich auf einer Welt so schöne Blumen gesehen, und in ihrer Gestalt und Ausdruckskraft schienen sie mir direkt ein Abbild der Harmonie zu sein, in der die Bathrer lebten. Wir traten nach vorn an die Brüstung. Die Wehrgänge an der innersten Mauer hatten sich belebt, und auch auf den beiden anderen Mauern sah ich Bathrer, die sich bewaffnet hatten. Mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, versuchten sie, dem Angriff der Nomaden zu begegnen. Ich sah erstaunlich viele Bogen mit Pfeilen. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, daß die Stadtbathrer mit solchen Waffen umzugehen verstanden. Denke nach, wisperte der Extrasinn. Es sind die Waffen der Händler, die diese beim Betreten der Stadt abgeben mußten. Auch deine sind darunter. Die Nomaden hatten Erfahrung mit ihrer Kampfestaktik, das sah man sofort. Sie bildeten rasch ein paar Menschenpyramiden, und schon tauchten die ersten wilden Gesichter oben auf der äußersten Mauer auf. Die Bathrer reagierten. Sie nahmen lange Stangen und stießen die Gegner wieder hinunter. Immer wieder begann dieses Spiel von neuem, und es artete zu einer reinen Konzentrationsübung aus, bis einmal ein paar Bathrer nicht aufpaßten. Prompt gelang es einem Nomaden, auf der Mauer Fuß zu fassen und ein paar Bathrer in einen Nahkampf zu verwickeln. Die Städter ließen sich nicht darauf ein. Sie zogen sich hastig zurück und warteten eine Gelegenheit ab, bis sie den Krieger mit einem Schlag aus dem Hinterhalt außer Gefecht setzen konnten. Eine Weile ging das gut. Dann jedoch war es einigen Dutzend gelungen, auf der Mauer Fuß zu fassen, und sie sammelten sich
rasch zu einer schlagkräftigen, kleinen Truppe, die die Bathrer rasch davontrieb. Die Bewohner der Stadt wehrten sich, und es gab einige Verletzte. Sie hatten jedoch bald keine Chance mehr und mußten ihren Abschnitt der Außenmauer dem Feind überlassen. »Das ist nicht zum Aushalten«, rief Chipol aus. »Sieh nur, sie benehmen sich wie die Feiglinge!« Die Bathrer rannten davon und verschwanden durch das Tor der mittleren Mauer. Sie tauchten dort auf der Brüstung auf und verstärkten die Mannschaft. Die Verletzten wurden in das Innere der Stadt getragen und im Berg in Sicherheit gebracht. Die Nomaden begannen die Außenmauer vollständig für sich zu erobern. Eine Dreiviertelstunde etwa verging, dann hatten sie sie eingenommen und ließen ein Triumphgeheul los, das es einem durch Mark und Bein ging. »Was ist das?« wunderte Jodanon sich. »Ich verstehe das nicht. Gut, ich habe von Kampf nicht viel Ahnung, aber es scheint mir, als wollten die Nomaden aufgeben oder zumindest eine Pause einlegen!« Die äußere Mauer wimmelte von ihnen. Es waren inzwischen über tausend, und sie hatten alle drei Tore geöffnet und waren in die Innenhöfe eingedrungen. Sie begannen zu lagern und zu essen, Siegeslieder zu singen, und ich sah sogar einen Tonkrug kreisen, der Wein oder Wasser enthalten mochte. Oder Jacul‐Mesch, das anregende Getränk, das aus den Jaculrun‐Blättern gewonnen wurde. Die Nomaden aßen und tranken, und die Bathrer sahen ihnen tatenlos zu. Sie beobachteten nur und taten nichts, um die Angreifer in ihrer Beschaulichkeit zu stören. »Es ist tatsächlich verrückt, was sie tun«, sagte ich. »Es fehlt mir der Sinn des Ganzen!« Du kennst die Kampfregeln auf Cairon nicht, warf der Extrasinn ein. Allerdings wundern sich auch die Händler. Sei auf der Hut oder rechne mit einer Überraschung. Eine Gruppe von Bathrern erschien bei uns. Es waren ohne
Ausnahme alte Männer, die sich nicht am Kampf beteiligen konnten. Sie kamen an die Brüstung und beobachteten ebenfalls, was geschah. Eine halbe Stunde dauerte das Gelage, dann stieß einer der Nomaden einen Schrei aus. Die Krieger sprangen auf und fuhren mit dem Angriff fort. Auch jetzt beschränkten sich die Bathrer in ihren Abwehrmaßnahmen auf das Nötigste, und bald war auch die zweite Mauer in der Hand der Angreifer. Ich trat zu einem Bathrer und sprach ihn an. »Die Nomaden werden die Stadt einnehmen«, machte ich ihm begreiflich. »Warum sieht das keiner? Seid ihr nicht in der Lage, euch energischer zu verteidigen? Dann laßt die Priester es tun. Laßt sie in den Kampf eingreifen. Mit ihren Fähigkeiten werden sie jeden Nomaden davonjagen!« Der Bathrer starrte mich an, als sei ich ein Geist. Er klappte den Mund auf und zu und trat mehrere Schritte zurück. »Fremder!« stieß er hervor. »Was sagst du da? Weißt du es nicht? Du mußt wahnsinnig sein, daß du auf einen solchen Gedanken kommst! Die Priester dienen dem Großen Geist der Harmonie! Niemals dürfen sie ihre Fähigkeiten für kriegerische Zwecke mißbrauchen. Das wäre das Ende unserer Kultur!« Er wandte sich um und verließ den Dachgarten unter allen Zeichen des Entsetzens. Die übrigen Bathrer folgten ihm, und wir waren wieder allein. Das war ein Fehler, Arkonide. Als Händler bist du mit den Gepflogenheiten der Stadtbewohner bestens vertraut! Ich blickte mich unauffällig um. Außer Chipol schien keiner den Wortwechsel richtig mitbekommen zu haben. Alle starrten hinab auf das Kampfgeschehen. »Gleich sind sie an der innersten Mauer«, hörte ich Jodanon. Ein Rauschen klang auf. Es kam von links und rechts aus der Gegend, wo die Stadtmauern an den Felshang stießen. Dort hatten sich große, dunkle Öffnungen gebildet, und jetzt sah ich Wasser
hervorschießen. Es wälzte sich wie eine riesige Flut herbei und füllte bald den gesamten Bereich zwischen der zweiten und dritten Mauer aus. Die Nomaden begannen zu schreien. Sie verloren den Boden unter den Füßen, und das Wasser riß sie mit sich fort, durch die offenen Tore hinaus auf die Vorplätze und teilweise die Straßen hinab. Ein Wasserring umgab die Stadt, und als sich die Öffnungen im Berg wieder schlossen und die Flut versiegte, da waren nur ein paar wenige Nomaden übrig. Sie hatten sich an die Gitterstäbe der Fallgitter geklammert und wurden mit Stöcken hinausgetrieben. Hinter ihnen schlossen sich die Tore. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was ich gesehen hatte, war einfach unglaubhaft. Ein Theaterspiel, mehr nicht. Und doch steckte ein Sinn dahinter. Ich versuchte, alle Beobachtungen in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Die Bathrer hatten sich bei dem Abwehrkampf auf das Nötigste beschränkt. Sie waren, wo es ging, dem Kampf Mann gegen Mann aus dem Weg gegangen. Auch die Nomaden hatten nicht den Eindruck gemacht, als würden sie mit aller Kraft die Stadt erstürmen wollen. Sie hatten erst einmal eine Mahlzeit eingelegt und die Bathrer warten lassen. Und jetzt das Wasser, das aus einem Speicher irgendwo im Berg gekommen war. Es war bestimmt nicht das erste Mal, daß auf diese Weise ein Angriff abgewehrt wurde. Die Bathrer verließen sich auf das Wasser und ließen die Nomaden ruhig bis zur dritten Mauer herankommen. Ich schaute hinaus zu den Vorplätzen. Die Vleehs stampften zornig, und die Nomaden ließen ein Freudengeheul ertönen, als hätten sie den größten Sieg errungen. Dann zogen sie ab, aber sie taten es in der Siegerpose. Die Bathrer setzten ihnen nicht nach und waren anscheinend auch nicht gewillt, ihre technische Überlegenheit auszuspielen. Noch lange tönten die Jubelrufe der Nomaden zur Stadt herauf. Hatten sie aus purem Vergnügen angegriffen, eine Art Sport? Oder
hatten sie testen wollen, wie wehrhaft Umharaton zur Zeit war? Wenn ja, dann hatten sie einen äußerst guten Eindruck gewonnen, denn ihre Laune konnte besser nicht sein. Der Jubel der siegreichen Verteidiger dagegen hielt sich in Grenzen. Sie sammelten sich an bestimmten Stellen, und aus dem Innern des Berges kamen Priester, um sie in Gruppen in die Stadt hineinzuführen. Der Herbergsvater kehrte zurück und holte uns ab. Er brachte uns hinunter zum Marktplatz, und die meisten Händler suchten sofort den Schankraum der Herberge auf. »Was tun die Priester jetzt?« erkundigte ich mich. »Sie führen die Bürger hinein in die Gewölbe. Dort entledigen sich die Bathrer aller störenden, kriegerischen Gefühle, die sie durch den Kampf in sich aufgenommen haben!« lautete die Antwort. Ich tastete nach dem Beutel mit den Jaculruns, der an meinem Gürtel hing. Heimlich gab ich Chipol ein Zeichen. Wir sonderten uns von den Händlern ab und verschwanden in einer dunklen Gasse. »Jetzt ist die Gelegenheit«, flüsterte ich. »Dort vorn verschwinden die letzten Bathrer im Berg. Bald werden die Öffnungen wieder verschlossen sein!« Wir rannten los und hatten die Gruppe der Männer und Frauen bald erreicht. Sie nahmen keine Notiz von uns. Wie in Trance schritten sie in das Halbdunkel hinein, das nur von ein paar Fackeln erhellt wurde. Wir bildeten den Abschluß, und als unsichtbare Mechanismen hinter uns das Tor verschlossen, da wußten wir, daß es vorläufig nur einen Weg für uns gab. * Seit Jodanon von dem verschwundenen Priester berichtet hatte und die Fälle anführte, in denen Priester ihr Wahakù verloren hatten,
stand ich unter einer unbezähmbaren Spannung. Als Chipol und ich uns auf den Weg nach Umharaton gemacht hatten, hatten wir nicht ahnen können, daß wir gleich in der ersten Stadt eine Spur des Erleuchteten finden würden. Inzwischen wußten wir, daß es sie gab. Die verschwundenen Psi‐Potentiale zeigten es. Und nicht nur Umharaton war davon betroffen. Auch in anderen Städten hatte es solche Zwischenfälle gegeben. Wir waren gerade rechtzeitig gekommen, und ich war fest entschlossen, dieser Spur zu folgen und sie nicht aus den Augen zu verlieren, was auch immer geschehen mochte. Zuviel stand auf dem Spiel. Auch Chipol war sich der Bedeutung unseres Vordringens bewußt. Im Schein der rußlosen Fackeln sah ich, wie seine schmalen Augen vor Begeisterung und Entschlußkraft leuchteten. Mehrmals brachte er seinen Mund in die Nähe meiner Ohren, aber ich wehrte immer ab. Es hatte jetzt keinen Sinn, etwas zu sagen. Außerdem würden wir nur die Bathrer vor uns auf uns aufmerksam machen. Wir drangen tief in die Stadt ein. An Galerien entlang, durch Korridore und Treppen. Der Priester führte uns zielsicher, aber trotz meines photographischen Gedächtnisses fiel es mir schwer, nicht die Orientierung zu verlieren. Das Innere der Stadt war ein einziges Labyrinth, und ich fragte mich, wie ich ohne Führer hier wieder hinausfinden könnte. Oder wie es gewesen wäre, wenn ich auf Chipols Vorschlag eingegangen wäre, daß er allein zu Chumboro vordringen wollte. Vermutlich wäre er nie mehr ans Tageslicht gekommen. Wir kamen an einer mechanischen Schöpfvorrichtung vorbei. Hier wurde vom Fluß unten das Wasser emporgeholt, wahrscheinlich um den bei der Verteidigung geleerten Trinkwasserspeicher neu aufzufüllen. Ein voller Behälter nach dem anderen tauchte aus seinem Schacht auf und verschwand über uns in der Decke. Unser Weg führte abwärts. Einmal überquerten wir eine Steinbrücke. Der Abgrund unter uns lag im Schatten der Fackeln
und gab sein Geheimnis nicht preis. Dann jedoch tauchte vor uns ein Tor auf. Priesterschüler öffneten es, und wir sahen dahinter ein Gewölbe liegen. Wahrscheinlich war es unser Ziel. Die Bathrer schritten langsam hinein, und wir mischten uns unter die letzten, so gut es ging. Daß wir dennoch entdeckt wurden, hatten wir der Aufmerksamkeit eines Priesterschülers zu verdanken. Er sah unsere Kleidung und wußte sofort, daß wir Händler waren. Er hielt uns zurück. »Dieser Raum ist für alle Fremden tabu«, zischte er leise, um die Bathrer nicht in ihrer Verinnerlichung zu stören. »Niemand, schon gar nicht ein dahergelaufener Händler, darf zusehen, wie sich die Bathrer ihres störenden Ballasts entledigen!« »Wir wollen nicht stören«, sagte ich ebenso leise. »Aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Wir sind gekommen, um Chumboro vierzig Jaculruns zu bringen!« Der Priesterschüler gab keine Antwort. Er faßte uns an den Umhängen und ließ uns nicht mehr los. Andere Schüler hatten sich bereits entfernt und kehrten nach kurzer Zeit mit mehreren Wächtern zurück. Diese nahmen uns zwischen uns und führten uns ab, weg von dem Gewölbe und in einen anderen Teil der Anlage. »Ghaidor wird über euch urteilen«, erfuhren wir. »Euer Versuch, das Gewölbe zu betreten, ist ein ungeheuerlicher Vorfall.« Ghaidor bedeutete ›Der Weise‹. Wenigstens dem Namen nach konnten wir auf ein gerechtes Urteil hoffen, und das Zusammentreffen mit dem Priester konnte uns vielleicht Aufklärung geben über das, was wir suchten. Wir wurden in ein ähnliches Gewölbe gebracht, aber in ihm war es heller. Eine Unzahl von Fackeln brannten an den Wänden, und in der Mitte des Gewölbes hing an einer dünnen Schnur ein Stück Metall, das langsam hin und her pendelte. In den Boden war ein metallener Ring eingelassen, der zu dem Pendel in irgendeinem Bezug stand. Im Hintergrund des Gewölbes stand ein steinerner Sessel, und auf
ihm ruhte eine alte, ausgemergelte Gestalt. Die Wächter führten uns zu ihr und wiesen uns an, in sicherem Abstand stehenzubleiben. Sie selbst teilten sich. Ein Teil postierte sich neben dem Sessel, ein anderer verschwand im Hintergrund. Ghaidor war sehr alt. Die weißen Haare hingen ihm über die Schultern, und der silberne Bart reichte ihm bis zum Gürtel, mit dem er das weiße Gewand zusammenhielt. Aus den Ärmeln ragten zwei skelettartige, bleiche Hände, und auch das Gesicht war bleich und leer. Nur die Augen verliehen ihm Leben, sie blickten lebhaft drein, und der Priester unterzog uns einer längeren Musterung. »Ein Händler mit roten Augen«, sagte er nach längerem Schweigen. »Ein Mann aus dem Süden. Wie lautet der Name deines Gehilfen?« »Chipol«, erwiderte ich. »Auch er stammt aus den Südstädten!« Ghaidor lachte. »Wie sich doch die Namen verändern. Geschmäcker sind eben verschieden. Früher hätte man in den südlichen Städten keinen Jungen Chipol genannt, höchstens Chaipol!« Vorsicht, Atlan. Dieser Mann ist in seiner Weisheit gefährlich für dich! »So ist das mit dem Geschmack«, sagte ich. »Aber du hast uns nicht zu dir bringen lassen, um dich über Namen zu unterhalten. Ich bin Atlan, nicht etwa Aitlan!« »Aitlan gibt es«, erwiderte Ghaidor. »Es ist ein typischer Nomadenname. Bestimmt waren deine Vorfahren Nomaden, ehe sie ausgestoßen wurden.« Ich gab darauf keine Antwort, was hätte ich auch sagen sollen. Solange er mich für einen Bewohner Cairons hielt, konnte ich zufrieden sein. »Nenne mir den Grund, der euch in das Innere der Stadt geführt hat«, fuhr der Oberste Priester fort. Ich berichtete von meinem Gespräch mit den Händlern Auferhan und Jodanon, von meinem Vorschlag, Chumboro die vierzig
Jaculruns zur Verfügung zu stellen, da seine Familie so sehr vom Schicksal mitgenommen worden war. Und ich sagte ihm, daß wir jetzt die Gelegenheit für günstig gehalten hatten, trotz des Verbotes bis zu Chumboro vorzustoßen. »Chumboro«, sinnierte der Alte. »Habt ihr ihn wirklich im Süden gefunden? Oder vielleicht doch drüben am Plateau der bösen Geister!« In mir schrillte eine Alarmglocke. Ghaidor wußte mehr, als er uns bisher glauben machen wollte. Es konnte nur bedeuten, daß der Priesterschüler aus dem Wundfieber erwacht war und geplaudert hatte. Aber was hatte er berichtet? Daß wir ihn gefunden hatten? Oder daß er uns aus der Erde hatte emporsteigen sehen? »Du bist sehr scharfsinnig«, erwiderte ich. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich beantworte deine Fragen und du meine!« »Nicht anders habe ich es mir vorgestellt, Händler!« »Gut. Wir haben Chumboro am Plateau der bösen Geister gefunden. Er war gestürzt und hatte sich verletzt. Wir haben ihn aufgeladen und zur Stadt gebracht!« »Was suchtet ihr am Plateau?« »Kannst du es dir nicht denken? Wir haben dort ein Depot, in dem wir einen Teil unserer Waren unterbringen!« Ghaidor hob eine Hand. Wir sahen, daß alle Wächter das Gewölbe verließen. Wir waren mit dem obersten Priester allein. Ein Zeichen, daß er uns glaubte und vertraute? »Sagst du die Wahrheit?« forschte er. »Große Unruhe erfüllt die Priester Umharatons. Mehrere Fälle von Diebstahl ihrer Kräfte sind uns widerfahren. Auch Chumboro hat sein Wahakù verloren, und es wird nie mehr zu ihm zurückkehren. Und es war nicht der Schock oder die Verletzung. Chumboro stand oben in den Feldern unserer Stadt und hat zum Plateau hinübergeblickt. Und er hat eine seltsame Vision gehabt, mit der ihm sein Wahakù abhanden kam. Und jetzt frage ich dich, Atlan, warst du in den Städten, in denen es auch solche Vorfälle gab?«
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. Ich sah ihm an, daß er mir nicht glaubte. Chipol hatte bisher geschwiegen. Es mochte daran liegen, daß er sich in der Gegenwart psibegabter Wesen nicht wohl fühlte. Jetzt aber trat er vor und streckte Ghaidor die geballte Faust entgegen. »Unhold!« fauchte er. »Willst du etwa behaupten, Atlan sei ein böser Geist? Willst du das sagen? Und wenn, ist es dein freier Wille, oder steckt irgendeine Erleuchtung dahinter? Antworte rasch, oder ich fahre dir an die Gurgel!« Ghaidor war zusammengezuckt. Ärger zeichnete sein Gesicht, aber auch Verwunderung. Offensichtlich hatte er uns anders eingeschätzt. »Bist du ein böser Geist, der Umharaton und die Bathrer quält?« fragte er mich. »Nein!« »Kannst du es beweisen?« »Deine Rechtsauffassung scheint nicht die beste zu sein, Ghaidor. Muß ich meine Unschuld beweisen oder du meine Schuld?« »Ich deine Schuld, Atlan. Und wir Priester kennen ein harmloses Verfahren, einen Geist zu entlarven. Wir nennen es die Geisterprobe. Sie dient zur Unterscheidung zwischen Sterblichen und Geistern, egal ob gut oder böse. Bist du mit einem solchen Verfahren einverstanden?« »Ja«, sagte ich. »Aber gib mir zuvor eine ehrliche Antwort. Stehen die Priester Umharatons oder die Bürger dieser Stadt unter dem Zeichen der Erleuchtung? Huldigen sie einem Erleuchteten?« »Niemals. Allein der Große Geist der Harmonie ist maßgebend, und er erfüllt uns seit vielen Generationen!« * Wir warteten in einem kleinen Zimmer, bis die Priester ihre
Sitzungen mit den Bürgern beendet hatten und Ghaidors Ruf folgten. Chipol war mit meinem Verhalten nicht einverstanden, aber ich setzte ihm auseinander, daß es keine andere Möglichkeit gab, als auf den Wunsch des Obersten Priesters einzugehen. Es konnte nicht viel passieren. Man würde meine Gedanken nicht erkennen und feststellen, daß ich ein gewöhnlicher Sterblicher war. Du unterschätzt die Harmonie! Und sie unterschätzte mich. »Der Erleuchtete ist nicht in der Stadt«, sagte ich. »Es gibt keine Anzeichen, die mich mißtrauisch machen würden. Und die Methode, mit der er die Psi‐Potentiale an sich bringt, ist uns unbekannt. Gehen wir davon aus, daß er nur Stichproben macht und erst später in vollem Umfang zuschlagen wird. Ist die Geisterprobe erst überstanden, wird es uns leichterfallen, mit den Priestern über diese Gefahr zu sprechen!« Der junge Daila widersprach weiter. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß es für uns keine andere Möglichkeit gab. Und als wir erneut in das Gewölbe geschafft wurden, hätte er die Wächter am liebsten niedergeschlagen und sich den Weg in die Freiheit erkämpft. Zehn Priester hatten sich im Kreis niedergelassen. Innerhalb des Kreises stand eine Liege, und Ghaidor wies mich an, mich auf diese Liege zu legen und mich nicht zu rühren. »Wenn du ein böser Geist bist, hast du die Macht, uns alle jetzt zu töten«, verkündete er. »Tust du es nicht, kann das Hinterlist sein. Wir rechnen jedoch mit deiner Macht. Wisse, daß andere unser Werk fortsetzen werden. Der Harmonie kannst du nicht schaden!« Chipol fuhr auf Ghaidor los und packte ihn am Gewand. Er zerrte daran. »Atlan will niemandem schaden und niemanden verderben«, schrie er. »Geht das in deinen Schrumpfkopf hinein?« Er erwachte wie aus einem Traum und ließ den Priester los. Ich gab ihm einen Wink, und er zog sich zu den Wächtern zurück.
»Fangt endlich an«, sagte ich. Ghaidor zog sein Gewand zurecht und warf mir einen undefinierbaren Blick zu. »Die Geisterprobe wird dich an den Ort deiner Herkunft zurückschleudern, egal, ob du ein guter oder böser Geist bist. Bist du jedoch ein guter, wird es dir gelingen, uns vor deinem Verschwinden ein Zeichen zu geben!« Ich lachte innerlich, denn ich vertraute auf meine Mentalstabilisierung. Ich schloß die Augen und sagte: »Macht schon, ich habe nicht viel Zeit!« Die Priester um mich herum versanken in Trance. Ich konzentrierte mich, aber ich konnte keine Einwirkungen feststellen. Ihre empathischen und hypnotischen Fähigkeiten waren nicht so geartet, daß ich sie hätte feststellen können. Plötzlich jedoch hörte ich, wie Ghaidor aufsprang. Ich öffnete die Augen und starrte in das hagere Gesicht. »Wachen«, rief er. »Herbei mit diesem Chipol!« Ich sah plötzlich ein Messer in seinen Händen blitzen und sprang auf. Augenblicklich waren die Priester um mich herum und drängten mich ab. »Du bist nicht ehrlich«, stieß Ghaidor hervor. »Du blockst deine Gedanken ab und versuchst, uns zu täuschen. Von Anfang an warst du nicht ehrlich!« Er trat auf Chipol zu. Die Wächter rissen den sich heftig wehrenden Jungen nieder, und Ghaidor drückte einem von ihnen das Messer in die Hand. »Er schneidet deinem Begleiter die Kehle durch, wenn du dich nicht den Regeln der Geisterprobe beugst«, machte er mir klar. »Und denke nicht, daß du ihn jetzt befreien kannst. Bis du ihn erreicht hast, ist es zu spät!« »Ihr seid verrückt geworden«, sagte ich nur. Ich war mir bewußt, daß die Priester in Panik reagierten. Sie hatten ihr eigenes Leben abgeschrieben, und die Verluste von Wahakù hatten sie aufgerüttelt.
Ich mußte damit rechnen, daß sie ihre Drohung wahrmachten, auch wenn es nicht zu ihrer Lehre von der Harmonie paßte. »Tut ihm nichts«, fuhr ich fort. »Ich werde tun, was ihr verlangt.« »Du kannst uns nicht täuschen. Hoffentlich hast du das begriffen«, hörte ich Ghaidors Stimme. Die Prozedur begann von neuem. Ich konzentrierte mich stärker und begann, meinen Mentalblock zu öffnen. Daß die Bathrer meine Gedanken lasen und meine wahre Herkunft erkannten, brauchte ich nicht zu befürchten. Sie waren der Telepathie nicht mächtig. Einzig meine Empfindungen konnten sie interpretieren und daraus Rückschlüsse auf meine Existenz ziehen. Unregelmäßigkeiten in der Gehirntätigkeit würden sie ebenso erkennen wie den Versuch, ihnen etwas vorzumachen. Sollten sie es also ruhig versuchen und mich ausloten. Etwas anderes beschäftigte mich viel mehr. Was geschah, wenn die Priester es tatsächlich schafften, mich an meinen Ausgangsort zurückzuschicken, an den Ort, von dem ich gekommen war? Der für sie irgendwo jenseits der sichtbaren und begreiflichen Welt lag? Wohin würde ich zurückkehren? Nach Alkordoom? Oder in den Wasserpalast auf Kran? Und was wurde dann aus Chipol? Viele Fragen gingen mir plötzlich im Kopf herum, und über ihnen vergaß ich fast, in welcher Lage ich mich befand. Laßt Chipol gehen, wollte ich sagen. Ich ahnte, daß kein Ton aus meinem Mund kam, und es lediglich bei den Gedanken blieb. Empfingen die Bathrer diese Empfindung? Begriffen sie, daß Chipol nicht von Cairon stammte? Ich werde müde! Es ist der Einßuß der Bathrer, Atlan. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Es muß sein. Für eine Unterbrechung ist es jetzt zu spät! Von da an schwieg der Extrasinn, und ich war mit mir allein. Ich spürte wieder jene Stimmungen in mir, jene Einsamkeit, die meine Ankunft in Manam‐Turu begleitet hatte. Meine Gedanken weilten
bei Sarah Briggs, der geliebten Sarah, und den Celestern. Sie beschäftigten sich mit dem rätselhaften Colemayn und ANIMA. Und ich rätselte über die Herkunft meines Schiffes, der STERNSCHNUPPE, von der ich nur vermuten konnte, daß sie der Technik der Kosmokraten entstammte. Was also war. mein Ziel? Die Müdigkeit in mir nahm zu. Ich spürte, daß sie von den Priestern ausging, die mit ihren psionischen Sinnen tief in mein Bewußtsein eindrangen und jeder Empfindung nachspürten. Ich konnte nichts mehr dagegen tun, daß sie meine intimsten Gefühle kennenlernten und interpretierten. Ich konnte nur hoffen, daß sie sie für sich behielten. Und daß sie sich in der Interpretation täuschten für den Fall, daß eines Tages der Erleuchtete sich ihrer Bewußtseine bemächtigte und in ihnen las wie in einem Offerten Buch. Wieder befaßten sich meine Gedanken mit jener Ahnung, die ich seit meiner Ortsversetzung in mir trug. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Ich besaß eine wichtige Information nicht, und die Unsicherheit in mir wuchs. Ich begann einzuschlafen, und mit den letzten Gedanken versuchte ich zu ergründen, welche Information das war und wo ich etwas übersehen hatte. Hing es mit den Celestern zusammen? Mit Colemayn und ANIMA, die nicht mehr existierten? Oder war es der Erleuchtete? War ich ihm begegnet, ohne ihn zu erkennen? Ich redete mir ein, daß die Begegnung unmittelbar bevorstand. Daß mich die Bathrer zu dem Erleuchteten schafften, ohne es zu wollen. Oder daß die Priester Manifestationen des Erleuchteten waren. Meine Gedanken schrien diese vemeintliche Wahrheit hinaus, aber es geschah nichts. Die Priester unterbrachen ihre Suche nicht, sie setzten sie im Gegenteil mit verstärkter Intensität fort. Und plötzlich war ich hellwach. Ich riß die Augen auf, aber ich sah nur wallende Nebel. Ich rief den Extrasinn, aber seine Worte
drangen nicht bis in mein Bewußtsein vor. Ich wollte mich bewegen und wußte doch, daß ich in Wirklichkeit bereits schlief. Die Bathrer mühten sich mit mir ab, aber sie schienen nicht den Erfolg zu haben, den sie sich wünschten. Und dann drangen ihre Absichten klar in meine Gedanken ein. Sie wollten mich an den Ursprungsort zurückschicken. Nach Arkon? Sie wollten, daß ich verschwand. Mein ganzes Inneres lag vor ihnen bloß. Sie starrten auf meinen Körper und schwitzten. Weitere Priester kamen hinzu und verstärkten ihren Kreis, und ganz zum Schluß, nach einer Ewigkeit vielleicht, waren es alle, die Umharaton aufzubieten hatte. Sie bildeten einen Tarod. Und verzweifelten. Verzweifelten? Mein Bewußtsein begann zu erlöschen. Ich bekam Angst und suchte verbissen nach dem Kodewort. Die Absichten der Priester verblaßten immer mehr, verschwanden ganz und kehrten wieder. Und sie verschwanden erneut, kamen zu mir zurück. Das Ganze wiederholte sich ständig und trieb mich in die Nähe des Wahnsinns. Jetzt begriff ich endgültig, daß es für mich nur den einen Ausweg gab. Noch einmal dachte ich an Chipol, der ohne mich allein war und keine Chance hatte, seine Familie zu finden. Dann aktivierte ich alle Reserven an Kraft, die mein Bewußtsein noch aufbringen konnte. Ich dachte das Kodewort, das mir gerade noch rechtzeitig einfiel. Varnhagher‐Ghynnst! VARNHAGHER‐GHYNNST! 5. Als ich zu mir kam und vorsichtig die Augen aufschlug, da tanzten
über mir die Sterne. Es waren fremde Sterne, aber da war der Extrasinn, der mir einredete, daß ich sie kannte. Ich bewegte mich und vernahm das Rollen von Rädern, und die Unterlage, auf der ich ruhte, schlug und bebte ständig. Ich fuhr mir über die Augen. Die Erinnerung setzte ein. Die Sterne über mir gehörten zu Manam‐Turu. Sie hingen an dem mondlosen Himmelsgewölbe Cairons, und nicht sie tanzten, sondern der Karren unter mir verursachte die Bewegung. Vorsichtig hob ich den Kopf. Vor mir sah ich die Silhouette eines Lebewesens, und ich erkannte die Gestalt sofort. »Chipol!« hauchte ich. Der junge Daila hielt den Karren an und rutschte über den Kutschbock zu mir herab. Er faßte mich bei den Schultern. »Atlan!« rief er aus. »Du bist erwacht. Bei allen Feuern der Galaxis. Ich dachte schon, du würdest für immer bewußtlos bleiben. Was haben die Priester mit dir gemacht?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht mehr genau, was geschehen ist. Aber es war gar nicht so schlimm. Wo sind wir?« »Am Ende des Tales. Neben uns fließt der Umhar!« Ich richtete mich auf und hielt mich an einem Warenballen fest. Soweit ich es erkennen konnte, war mit mir alles in Ordnung. Auch Chipol wies keine Anzeichen einer Verletzung auf. »Berichte mir«, bat ich ihn. »Was geschah in dem Gewölbe? Warum bin ich noch immer auf Cairon?« »Zunächst geschah überhaupt nichts. Die Priester waren in Meditation versunken. Nach einer Weile begannen sie zu schwitzen und zu zittern. Weitere Priester wurden geholt, und schließlich waren alle versammelt und versuchten, dich an den sogenannten Ausgangsort zurückzubefördern. Endlich schien es zu gelingen, denn du wurdest durchsichtig und löstest dich auf. Dann aber lagst du wieder da, als sei nichts geschehen. Dieser Vorgang wiederholte sich ungefähr zehnmal. Ich war ganz starr und steif, denn ich sah immer das Messer vor mir glitzern, aber schließlich ließ der Wächter
es sinken. Die Priester brachen ihre Beschwörung ab, und Ghaidor kam zu mir und teilte mir mit, daß sie zu einem Ergebnis gekommen seien. Sie hielten dich für einen Geist, der harmlos sei, weil er von den hohen Mächten des Kosmos verstoßen sei. Sie trugen dich zur Seite und betteten dich auf eine Trage.« »Und dann?« »Dann machten sie die Geisterprobe mit mir und kamen zu dem Schluß, daß ich ein gewöhnlicher Sterblicher sei. Sie übergaben mir deinen Körper und legten mir ans Herz, Umharaton so schnell wie möglich zu verlassen. Für Geister sei kein Platz im Land der Harmonie, und wir sollten uns nie mehr blicken lassen. Als ich in die Vorstadt kam, und die Träger dich auf den Karren umluden, da war es bereits Nacht, und der Marktplatz war leer. Ich holte die Xarrhis und verließ Umharaton. Seither ist eine knappe Stunde vergangen!« Ich stieg ab und machte ein paar Schritte, damit mein Kreislauf wieder auf Touren kam. Der Zellaktivator an meiner Brust sorgte dafür, daß die Nachwirkungen der Geisterprobe rasch vergingen. Ich setzte mich neben Chipol auf den Kutschbock, und wir fuhren weiter in die Nacht hinein. Ich wußte jetzt, was in Manam‐Turu anders war. Die dunklen Vorahnungen hatten sich bestätigt. Ich erinnerte mich deutlich, daß ich in der Endphase der Geisterprobe nicht nur mehrfach das Kodewort Varnhagher‐Ghynnst gedacht, sondern mir auch intensiv die Rückkehr nach Kran gewünscht hatte. Unter dem Einfluß der Priester war mir gar nichts anderes übriggeblieben, als ehrlich über meine Herkunft zu sein. Trotzdem war nichts passiert. Ich war nicht in den Wasserpalast zurückgekehrt, auch nicht nach Alkordoom. Was war der Grund? Hatten die Kosmokraten erkannt, daß ich falschen Alarm gab? Daß es noch nicht Zeit war, um aufzugeben? Oder war ich ihrer Kontrolle entglitten, weil sie mich aus ihrer Reichweite gebracht hatten, indem sie mich nach Manam‐Turu versetzten?
Ich hatte es unterbewußt von Anfang an gespürt. Ich wußte jetzt, daß ich mich auf das Kodewort nicht länger verlassen durfte und auch nicht auf die Hilfe der Kosmokraten. Ich mußte davon ausgehen, daß ich völlig auf mich selbst gestellt war und keine Hilfe aus dem Hintergrund erwarten durfte. Wie ich dieses Abenteuer überstand, war von meinem persönlichen Geschick abhängig. Ich dachte auch daran, daß dies im Sinn des Erleuchteten gewesen sein könnte. Daß er sein neues Ziel mit der Absicht gewählt hatte, eventuelle Verfolger aus dem Machtbereich der Kosmokraten zu entfernen. Das ist unlogisch, meldete sich der Extrasinn. Die Kosmokraten können überall im Universum eingreifen. Es ist nur eine Frage des Zeitpunkts. Eben! dachte ich. Ich habe keine Lust, hunderttausend Jahre zu warten, bis sie mich lokalisiert und unterstützt haben! Ich teilte Chipol alles mit, was mit dem Erleuchteten zusammenhing, und machte ihn darauf aufmerksam, daß wir in Zukunft mit noch größerer Vorsicht agieren mußten. In Umharaton waren wir mit unserer Absicht, Spuren des Erleuchteten zu finden, gescheitert. Wir hatten nicht einmal Chumboro befragen können, was es mit seiner Vision auf sich hatte, bei der er sein Wahakù verloren hatte. Wir wußten nichts außer der Tatsache, daß der Erleuchtete bereits stellenweise eingegriffen hatte. »Wir suchen weiter«, meinte der junge Daila. »Wir wissen jetzt, daß er in der Nähe ist. Wir werden ihn weiter jagen. Ich werde meine Familie finden, und du wirst dieses EVOLO unschädlich machen, was immer das auch sein mag.« Bei soviel Optimismus wagte ich nicht zu widersprechen. Ich fühlte mich noch immer als Beauftragter der Kosmokraten, wenn auch jetzt mehr auf freiwilliger Basis, ohne die direkte Abhängigkeit. Und wenn mir jetzt die bequeme Rückendeckung fehlte und die Möglichkeit, jederzeit in die Sicherheit des Wasserpalasts zurückkehren zu können, dann tröstete ich mich mit
dem Gedanken, daß wir ja die STERNSCHNUPPE zur Verfügung hatten, die im Schutz des Plateaus versteckt stand. Ich oder Chipol brauchten nur das Armbandfunkgerät zu aktivieren, und schon würde uns der Diskus zu Hilfe eilen. Unser Karren rumpelte weiter und entfernte sich immer mehr von Umharaton. Die Händler würden sich wundern, daß wir abgezogen waren, aber viel würden sie kaum in Erfahrung bringen. Und wenn wir später einem von ihnen nochmals begegnen sollten, war es nicht schwer, eine Ausrede bereitzuhalten. Vorläufig hatten wir einen Vorsprung. »Wohin fahren wir eigentlich?« fragte ich Chipol. »Warum hast du. den Weg nach Süden eingeschlagen?« »Wir kommen bald an ein Seitental, das nach Südwesten führt. Ungefähr drei Tagesreisen entfernt liegt eine andere Stadt. Dorthin könnten wir uns wenden. Vielleicht erfahren wir dort mehr.« Manchmal hatte ich den Gedanken, daß dieses Umherziehen von Stadt zu Stadt sinnlos war. Andererseits gab es für uns keine andere Möglichkeit, als auf diese Art Spuren zu suchen und das Wirken des Erleuchteten langsam und gründlich zu lokalisieren. Es war der Strohhalm, an dem wir uns hielten. »Bakholom heißt diese Stadt«, sagte Chipol. »Bakholom, die Prächtige!« ENDE Von den Bewohnern des Planeten Cairon sind es die in Stadtstaaten lebenden Bathrer, mit denen Atlan zuerst in näheren Kontakt kommt. Und obwohl die Priester der Bathrer äußerst friedliche Leute sind und dem Großen Geist der Harmonie huldigen, steht Atlans Begegnung mit ihnen unter einem schlechten Stern. Der Arkonide und sein junger Gefährte müssen fliehen …
Wie es weitergeht auf Cairon, das berichtet Harvey Patton im Atlan‐Band der nächsten Woche. Der Roman trägt den Titel: KRIEGER FÜR DIE GÖTTER.