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Buch Lauren Dane ist aus der magischen Welt Oria zurückgekehrt und trauert um ihre Schwester Molly, die sich geopfert hat, um ihren kleinen Sohn Jake zu retten. Da erhält Lauren die Nachricht, dass Molly lebt. Sofort macht sie sich erneut auf den Weg durch den magischen Spiegel in die Geschwisterwelt der Erde. Laurens Schwester lebt tatsächlich wieder, doch zu einem hohen Preis - ihre Seele ist im Jenseits geblieben und Molly fühlt sich leer. Schlimmer noch: Sie hat das Gefühl, den dunklen Göttern ähnlich zu werden, die mit jedem Tod, den sie erleben, noch boshafter als zuvor zu neuem Leben erwachen. Lauren hilft Molly bei der Suche nach einer Lösung für ihr Problem, doch da gelingt es ihrem kleinen Sohn Jake, in das Jenseits zu wechseln, um seinen toten Vater zu suchen. Lauren folgt ihm und versucht, vier Seelen zu retten: die ihres Mannes, Jakes, Mollys und ihre eigene. Doch dunkle Mächte haben es auf die Vernichtung der beiden Schwestern abgesehen und sehen jetzt ihre Chance gekommen ... Autorin Holly Lisle wurde 1960 in Salem, Ohio, geboren und wuchs in den USA, in Costa Rica und Guatemala auf. Zunächst arbeitete Holly Lisle als Musikerin, bevor sie sich in enger Zusammenarbeit mit Marion Zimmer Bradley auf das Schreiben konzentrierte und schon bald ihre ersten Erfolge als Autorin feierte. Von Holly Lisle bereits erschienen: DER MAGISCHE SPIEGEL: 1. Der Schlaf der Zauberkraft (26550), 2. Die Weissagung (26551), 3. Der Flug der Falken (26552) DAS GESETZ DER MAGIE: 1. Die Höllenfahrt (24126), 2. Die Torweberin (24127)
Holly Lisle
Die Torweberin Das Gesetz der Magie 2 Aus dem Englischen von Michaela Link BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Wreck of Heaven. The World Gates, Book 2« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung August 2005 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24127 Redaktion: Patricia Woitynek UH ■ Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24127-8 www.blanvalet-verlag.de Für Matthew in Liebe 1 Kupferhaus, Ballahara, Nuue, Oria Molly McColl zog die Bänder des schweren Seidenleibchens stramm und schlüpfte in das Brokatgewand. Ich lebe, dachte sie. Ich lebe! Ich war tot, und jetzt lebe ich, und ich bin wieder im Kupferhaus. Sie versuchte ein
Lächeln, aber es schien ihr nicht zu passen. Sie erinnerte sich allzu deutlich daran, gestorben zu sein - erinnerte sich daran, das Kind ihrer Schwester durch das Tor zwischen den Welten gebracht zu haben, nur zu langsam, denn sie war nicht bereit gewesen, zu tun, was sie tun musste. Und ihr Zögern hätte den dreijährigen Jake um ein Haar das Leben gekostet. Seine Rettung hatte dann ihr Leben gekostet. Die Heilung, die auf Oria so mühelos gewesen wäre, hatte sie auf der Erde dazu gezwungen, Jakes Schmerz und all seine Verletzungen in ihren eigenen Körper aufzunehmen. Zu absorbieren. Auf der Erde war sie nur ein Mensch gewesen, bar jeder unter weltlichen Magie oder der Macht einer Vodi. Und auf der Erde war sie gestorben. Aber jetzt lebte sie wieder, war zum Leben erweckt worden durch die Magie der Vodi. Dieselbe Magie hatte sie nach Oria zurückgebracht - und in ihrem Kopf hörte sie die Stimmen lange verstorbener Vodi wispern; sie erzählten ihr von ihrem eigenen Sterben, von ihren Wiedergeburten und ihrem abermaligen Sterben. Molly war erst seit wenigen Stunden wieder lebendig - zumindest konnte sie sich nur an die letzten paar Stunden 7 erinnern. Sie fühlte sich fehl am Platz in ihrer eigenen Haut; sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Kupferhaus gelangt war. Sie war nackt durch den Wald gestolpert, das war das Erste, woran sie sich erinnerte. Ihre einzigen Hinweise, was die Umstände ihrer Rückkehr betraf, waren die Blätter in ihrem Haar und der Schmutz unter ihren Fingernägeln. Die glatte, schwere Goldkette schnurrte an ihrem Hals, beinahe wie eine Katze, die sich an einen schmiegt. Sie wollte nicht über die Kette nachdenken oder darüber, dass sie die Vodi war; eigentlich wollte sie überhaupt nicht darüber nachdenken, dass sie lebte, ebenso wenig wie über die Frage, warum das falsch war. Sie wollte einfach das Zusammensein mit Seolar genießen. Sie wollte verliebt und glücklich und sorglos sein in einer Welt, die von dem Wohnwagenpark in Cat Creek so weit entfernt war wie nur irgend möglich. »Du bist nicht geboren worden, um sorglos zu sein«, murmelte sie ihrem Bild im Spiegel zu. Der Spiegel betonte diese Wahrheit nur noch. Auf der Erde war sie von durchschnittlicher Größe gewesen, halbwegs attraktiv und eindeutig menschlich. Auf Oria hatte sich das verändert, und ihre unerwartete Rückkehr vom Tod ins Leben hatte sie noch mehr verändert. Ihr Haar fiel ihr jetzt bis zur Taille, und es war von einem so glänzenden Kupferton, dass es beinahe metallisch wirkte. Sie war sowohl größer als auch schlanker geworden - ihrer Schätzung nach musste sie jetzt etwa einen Meter achtzig groß sein, aber sie wusste es nicht mit Bestimmtheit, da ihr jede Möglichkeit fehlte, die Maßeinheiten der Einheimischen in die ihr vertrauten umzurechnen; für eine Veyär war sie immer noch eher klein. Die Knochenstruktur ihres Gesichtes hatte neue Kanten bekommen, mit hohen Wangenknochen und einem scharfen, kleinen Kinn. Die Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegen8 blickten, waren von einem unmöglichen Smaragdgrün, riesig und mandelförmig. Glücklicherweise besaß sie noch immer die richtige Anzahl von Fingern und Zehen. Sie warf einen Blick auf die zwölfsaitige Gitarre, die in einer Ecke des Raums lehnte, und versuchte sich vorzustellen, dass sie das Spiel noch einmal ganz von vorn würde erlernen müssen, mit den zusätzlichen Fingern an einem Paar Veyär-Hände. »Du siehst atemberaubend aus«, flüsterte Seolar, der ihr Geliebter war und der Imallin vom Kupferhaus. Sie hätte dasselbe von ihm sagen können. Seine goldfarbene Haut, sein Haar, das von einem dunkleren Goldton war, die pechschwarzen Augen, seine Größe und seine Anmut verliehen ihm die Ausstrahlung eines anderweltlichen Engels. Selbst die goldbraunen Tätowierungen, die spiralförmig seine Wangen überzogen, vergrößerten seine Schönheit nur noch. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte unsicher. »Findest du?« »Ich schwöre es.« Das Lächeln, mit dem er ihren Blick erwiderte, zitterte ein wenig, und sie sah einen unnatürlichen Glanz in seinen Augen. Er überwand die Entfernung zwischen ihnen mit drei Schritten und zog sie an sich. »Verlass mich nie wieder. Ich war vollkommen verloren ohne dich. Ich bin innerlich gestorben, und erst als du heute Abend auf dem Balkon erschienen bist, habe ich wieder zu atmen begonnen.« Die Dunkelheit in Molly senkte sich von neuem auf sie herab. »Ich bin die Vodi«, wisperte sie. »Ich weiß. Ich liebe dich trotzdem.« Sie nickte. »Aber ich bin die Vodi.« Sie rückte ein wenig von ihm ab, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte. »Wusstest du, was für eine Art Leben meine Vorgängerinnen gelebt haben?« 9 »Ich habe die alten Aufzeichnungen gelesen. Nachdem du ... nachdem du gestorben warst...« Seolar wandte sich von ihr ab und blickte durchs Fenster, wo gerade das letzte Zwielicht verdämmerte und helle, gold- und rosafarbene Streifen den tiefblauen Himmel überzogen. »Ich habe kaum etwas anderes getan, als zu lesen, als zu versuchen, es zu verstehen.« »Dann weißt du ja, was mit den Vodi geschehen ist.« »Sie wurden gejagt. Gnadenlos, von furchtbaren Feinden.« Er wandte sich wieder zu ihr um. Dann fuhr er mit heiserer Stimme fort: »Sie sind wieder und wieder gestorben. Aber das wird nicht dein Schicksal sein. Ich werde es nicht zulassen.« Molly sagte: »Ich hoffe, dass du es verhindern kannst, Seo. Du kannst die Bilder nicht sehen, die ich sehe, oder die Stimmen der anderen Vodi hören. Ich bin durch die Kette eng mit ihnen verbunden, und wenn ich die Augen schließe und mich von ihnen führen lasse, kann ich sehen, wo die anderen Vodi vor mir gewesen sind. Das
Grauen ist noch immer nicht von ihnen gewichen. Sie sind hohl - uralte Hüllen -, und alles, was von ihnen übrig geblieben ist, sind der Tod und der Schmerz und die Angst. Ich halte sie von mir fern, so gut ich kann. Ich möchte nicht dorthin gehen, wo sie gewesen sind.« Als er sich wieder zu ihr umwandte, fügte sie hinzu: »Nicht noch einmal.« »Nein. Du bist meine Geliebte. Du bist mein Herz und meine S...« Seine Stimme verlor sich, und in seine Züge trat ein Ausdruck, der Molly beunruhigte. »Du bist mein Herz und meine Seele. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts zustößt.« Er legte einen Arm um sie und geleitete sie aus ihren gemeinsamen Gemächern hinaus. »Während du dich angekleidet hast, habe ich Birra angewiesen, uns eine Mahlzeit in den Wintergarten bringen zu lassen. Ich weiß, dass 10 dir dieser Raum von allen im Haus der liebste ist, und ich dachte, ein behagliches Abendessen inmitten der Blumen und neben dem kleinen Wasserfall würde dir an deinem ersten Abend daheim gewiss gefallen. Mittlerweile sollte alles vorbereitet sein.« Molly sah lächelnd zu ihm auf. »Das klingt wunderbar.« Der Druck seiner Hand in ihrem Rücken und seine wohltuende Wärme und Gegenwart beruhigten sie. Sie brauchte eine Beruhigung; so glücklich sie darüber war, am Leben zu sein, so unendlich dankbar sie dafür war, wieder in Oria, im Kupferhaus, in Seolars Armen zu sein, konnte sie doch weder die Dunkelheit in sich abschütteln noch ein hässliches Gefühl der Leere, das selbst im kürzesten Augenblick der Stille widerzuhallen schien. Der Tod hatte sie verändert, und das nicht zum Guten. »Das klingt wunderbar«, wiederholte sie. Und sie wünschte, es wäre die Wahrheit gewesen. Aber in einem tief verborgenen Winkel ihrer selbst bewegte sich die Dunkelheit, verlagerte sich bald hierhin, bald dorthin, und flüsterte ihr zu. Tief in ihren Gedanken hatten die Feinde ihrer verstorbenen Vorgängerinnen ihre Augen geöffnet, sie gähnten und reckten sich, sie sogen die Luft ein, witterten frisches Fleisch. Auf der einen Seite sehnte Molly sich nach der Alltäglichkeit des Abendessens und dem Charme eines im Haus angelegten Wasserfalls, nach dem süßen Duft von Blumen, die außerhalb der ihnen bestimmten Jahreszeit blühten, nach diesem Raum, wo sie durch die Fenster das Mondlicht auf dem Schnee sehen konnte. Andererseits konnte sie sich jedoch nicht vor den Jägern verstecken, die am Rand ihres Bewusstseins auf sie lauerten. Sie konnte sich nicht vor dem Leben verstecken, das ihr von Geburt an bestimmt war, vor der Pflicht, die nur sie erfüllen konnte, vor der Hand des Schicksals, die sie mit unerbittlichem Griff umklammert hielt. 11 Sie fragte sich, wie sie es fertig bringen sollte, zu essen und unbeschwert zu plaudern, während sich diese schreckliche Angst in ihr ausbreitete. Seolar führte sie durch die privaten Korridore, die sie gleichermaßen vor den Blicken der Gäste und der Diener schützten; sie schlüpften durch die Geheimtür zum Wintergarten in ein Feenreich, wo Tausende schlanker Kerzen die Wände säumten und in Kandelabern zwischen den Blumen und Pflanzen standen - selbst in dem stillen Fischteich gegenüber der kleinen, steinernen Brücke, die über den Bach führte, schwammen Hunderte von golden flackernden Kerzen. Auf der Terrasse mitten im Wintergarten, wo sie und Seolar das erste Mal miteinander gegessen hatten, erwartete sie bereits ein kleiner, gedeckter Tisch, allerdings ohne Speisen und Getränke. »Das Essen wird gebracht, sobald wir rufen«, sagte Seolar. »Ich wollte nicht, dass es kalt wird.« »Das alles ist so schön«, erwiderte Molly. »Wie hast du das in so kurzer Zeit fertig gebracht?« Seolar lachte. »Ich habe hundert Diener und Soldaten damit beauftragt. Hätten sie sich der Aufgabe nicht gewachsen gezeigt, hätte ich zweihundert abkommandiert.« Molly fand ein echtes Lächeln in sich. »Es hat seine Vorteile, der König zu sein«, murmelte sie. Seolar zog eine Augenbraue in die Höhe. Molly zuckte die Achseln. »Ein Satz aus ... aus einem Theaterstück daheim.« »Ich sehe dich gern lachen.« Molly lächelte ihn an, während er ihr einen Stuhl vom Tisch zog. »Es fühlt sich auch gut an. Ich bin so froh, hier zu sein.« Seolar läutete und nahm ihr gegenüber Platz. »Ich wage 12 kaum, danach zu fragen, aus Angst, dich an großen Schmerz oder großen Kummer zu erinnern, aber ... hast du gelitten?« Molly schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht mehr, sobald es vorüber war.« »Was ist passiert?« »Ich war dumm. Ich habe gezögert, den Schauplatz des Kampfes zu verlassen - du weißt von dem Kampf?« »Yaner hat uns ausführlich von den Vorfällen berichtet.« »Das sieht ihm ähnlich«, antwortete Molly. »Meine Schwester hatte mir aufgetragen, den Kampfplatz zu verlassen und ihren Sohn, Jake, in der anderen Welt in Sicherheit zu bringen. Sie hatte das Tor bereits fertig; ich hätte mühelos hindurchgehen können. Aber ich habe gewartet, weil ich Angst hatte, dass es mir vielleicht nicht gelingen würde, wieder hierher zurückzukommen. Ich habe gezögert, und wir wurden beschossen. Ein Schuss hat ihren Sohn getroffen - er hat ihn beinahe in zwei Stücke gerissen -, gerade als ich endlich durch das Tor trat. Wir kehrten zur Erde zurück, aber während wir zwischen den Welten waren, spürte ich eine Kraft, die Jake am
Leben hielt. Sobald wir jedoch auf der anderen Seite ankamen, wusste ich, dass er sterben würde. Ich konnte es spüren, und je näher ich der Erde kam, umso grauenvoller wurde es. Und wenn er gestorben wäre, wäre es meine Schuld gewesen.« Sie schloss die Augen, holte tief Luft und spürte, wie die ersten Tränen ihr über die Wangen rannen. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen«, sagte Seolar. »Doch, es muss sein. Du musst es wissen, denn es wäre uns um ein Haar ... teuer zu stehen gekommen.« Molly riss sich zusammen und fuhr fort. »Ich habe vor langer Zeit einmal einen anderen kleinen Jungen nicht gerettet, und ich wusste, dass ich unmöglich damit würde leben können, 13 wenn ich Jake sterben ließ. Ich hätte nur zu tun brauchen, was Lauren mir aufgetragen hatte, und wir wären beide in Sicherheit gewesen ... Also habe ich, als wir auf der anderen Seite ankamen, seine Verletzungen auf mich genommen. Niemand kann solche Wunden überleben. Um Jake zu retten, bin ich an seiner Stelle gestorben.« »Das tut mir Leid«, sagte Seolar und legte eine Hand auf ihre. »Mir auch. Es hätte nicht sein müssen.« »Ich bedauere jedes schreckliche Erlebnis, das dir jemals widerfahren ist.« Er beugte sich vor und küsste sie. »Nie wieder, meine Geliebte. Nie wieder.« Molly hörte Schritte und ein Räuspern. Sie öffnete die Augen, und Seolar rückte von ihr ab. Birra - der gute Birra - stand mit einem abgedeckten silbernen Tablett vor ihr. »Imallin«, sagte er und verneigte sich. Dann wandte er sich an Molly, und sein Gesichtsausdruck verriet nichts als bedächtige Höflichkeit. »Und ...« Seine Stimme geriet ins Stocken, sein Körper versteifte sich, und das Tablett fiel mit einem schrecklichen Krachen auf den Tisch. Birra riss die Hände vors Gesicht und ließ sich auf ein Knie sinken. Aus seinem Mund drang ein Heulen, das auf der Erde jeden Hund im Umkreis von einem Kilometer veranlasst hätte, ebenfalls mitfühlend zu winseln. Seolar legte Birra eine Hand auf die Schulter und sagte: »Genug, Mann! Nimm dich zusammen.« Birra presste die Stirn auf den Boden und wisperte: »Ersetzt mich durch einen anderen, Imallin. Ich wage nicht, mir einzugestehen, was meine Augen mir vorgaukeln. Enthebt mich meines Postens - ich habe den Verstand verloren.« »Sie ist wirklich da«, entgegnete Seolar. »Deshalb habe ich all dies veranlasst. Sie ist wirklich da, sie ist wieder bei uns, und diesmal werden wir auf sie aufpassen.« 14 Birra hob den Kopf gerade hoch genug, um über den Tisch zu spähen. »Vodi?«, stieß er krächzend hervor. »Seid Ihr das wirklich?« Molly lächelte. »Ja, Birra, ich bin es. Ich hatte einen langen Weg, um nach Hause zu kommen, aber jetzt bin ich hier.« Birra blickte von Molly zu Seolar und wandte sich dann wieder Molly zu. Tränen rollten über seine tätowierten Wangen, und er tupfte sie mit seinen Zöpfen ab. »Wie?«, wollte er wissen und nahm die Frage dann unverzüglich mit einem vehementen Kopfschütteln zurück. »Nein, es steht mir nicht an, solche Fragen zu stellen. Oh, Vodi«, sagte er, »ich hätte selbst die Sonne verkauft, um dich zurückzuholen, wäre sie mein gewesen. Was immer du von mir willst, du brauchst nur darum zu bitten. Ich danke all den kleinen Göttern, dass du zu uns zurückgefunden hast.« Er erhob sich, holte tief Luft und besah sich, ein wenig gefasster anscheinend, das Durcheinander auf dem Tisch. »In der Küche gibt es von allem noch mehr«, erklärte er. »Ich werde euch euer Mahl bringen, ohne euch mit meiner ...«Er warf Seolar einen zweifelnden Blick zu. »... mit meiner Torheit zu stören.« »Es tut mir Leid, Birra«, griff Seolar sein Stichwort auf. »Ich hätte es dir erzählen müssen. Doch ich dachte, du würdest mich für verrückt halten, solange du sie nicht mit eigenen Augen gesehen hattest - aber sie hat sich gerade umgekleidet. Danach war ich so aufgeregt, dass ich vollkommen vergessen habe, was für ein Schock ihre Anwesenheit für dich bedeuten musste.« »Reines Glück, dass ich nicht vor Schreck gestorben bin, um die Wahrheit zu sagen.« »Allerdings.« Seolar hatte den Anstand, zerknirscht dreinzublicken. »Vielleicht solltest du besser die übrigen 15 Diener warnen, bevor wir nach etwas anderem schicken -es wäre mir grässlich, den Rest der Nacht damit zuzubringen, Speisen und Geschirr vom Boden aufzusammeln.« Birra beseitigte die Spuren seiner Unachtsamkeit und zog sich dann wieder zurück. Seolar sagte: »Morgen wird das Haus und das ganze Dorf mit Bändern geschmückt, und ich denke, übermorgen wird es im ganzen Land so aussehen.« Molly entgegnete: »Ein überwältigendes Willkommen.« Sie seufzte. »Lauren weiß es noch nicht.« »Deine Schwester? Du hast es ihr nicht erzählt?« »Ich bin in dem Wald ganz in der Nähe des Hauses aufgewacht. Es gab keine Möglichkeit für mich, sie zu erreichen oder ihr irgendetwas mitzuteilen. Aber wenn wir das tun wollen, was unsere Eltern für uns geplant haben, muss ich eine Möglichkeit finden.« »Ich werde mich darum kümmern«, sagte Seolar. »Ich möchte das Risiko nicht eingehen, dich allein fortzulassen.«
Molly hätte Einwände erheben können, aber in Wahrheit wollte sie dieses Risiko auch nicht eingehen. »Schick einen verlässlichen Mann zu ihr«, bat sie. »Vielleicht Yaner - Lauren kennt Yaner.« »Natürlich.« Molly hörte ein Schlurfen aus Richtung des Eingangs zum Wintergarten, und als sie sich umdrehte, entdeckte sie eine Hand voll Diener, die sie durch die gewölbten Zweige der Bäume und das feine Blätterwerk der Farne beobachteten. Sie lächelte ihnen zu, woraufhin sie sich der Länge nach auf den Boden warfen und dann hastig kehrtmachten und flohen. »Es hat sich bereits herumgesprochen«, bemerkte Seolar. »Ich könnte sie für eine derartige Unverfrorenheit bestrafen ... aber ich werde es nicht tun. Wir glaubten, der Unter16 gang der Veyär sei besiegelt; dass sie sich selbst davon überzeugen wollten, dass wir wieder Hoffnung haben, nun ... das werde ich ihnen nicht vorwerfen.« Molly lächelte. »Nein. Es tut mir Leid, dass ich ihnen so töricht ihre Hoffnung geraubt habe, und sei es auch nur für kurze Zeit gewesen.« Seolar küsste sie abermals. Als neue Speisen gebracht wurden, schmeckten sie wundervoll, und Molly stellte fest, dass sie vollkommen ausgehungert war. Sie nahm von allem eine zweite Portion und noch eine dritte von dem köstlichen Obstdessert. Seolar beobachtete sie mit einem Ausdruck der Verwunderung beim Essen, noch lange nachdem er selbst fertig war. »Ich weiß nicht, warum ich solchen Hunger habe«, sagte Molly. »Vielleicht war die Rückkehr so anstrengend, dass jetzt nichts mehr in mir ist.« Sie runzelte die Stirn. »Hm, nein - es war ohnehin nichts in mir ...« Sie zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei, es kommt mir so vor, als hätte ich ein Jahr lang nichts mehr zu essen bekommen, und dies hier ist einfach himmlisch. Und ich bin so dankbar, dass die Küche Extraportionen gemacht hat.« Seolar stützte das Kinn auf eine Hand und fragte: »Meinst du, dass du jetzt bei jeder Mahlzeit solchen Hunger haben wirst? Dann müsste ich vielleicht zusätzliche Köche einstellen.« Er grinste sie an, und Molly lachte. »Keine Ahnung. Aber ich glaube es nicht. Es ist einfach so, dass dies seit einiger Zeit die erste Mahlzeit für mich ist. Und dabei wusste ich nicht einmal, dass ich solchen Hunger hatte.« »Es ist noch mehr da, wenn du willst«, erwiderte Seolar. Molly lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte. »Nein, ich glaube nicht, dass ich noch etwas will. Jetzt nicht mehr.« 17 Seolars Lächeln wurde breiter. »Schön. Denn ich schätze, dass nicht mehr allzu viel da ist.« Molly lachte und beugte sich dann vor. »In den nächsten paar Tagen werden wir viel zu tun haben. Aber heute Abend - heute Abend haben wir doch nichts Besonderes vor, oder?« »Gewiss nicht. Warum fragst du?« »Weil ich furchtbar gern etwas schöne Musik hören und mit dir tanzen würde. Ließe sich das machen?« »Du brauchst nur darum zu bitten, meine Geliebte.« Seolar blickte zu der Haupteingangstür des Wintergartens und hob an, etwas zu sagen. Bevor er jedoch einen Laut über die Lippen bringen konnte, wehte Birras Stimme wieder zu ihnen hinüber. »Ich bin schon auf dem Weg, die Musikanten zu holen, Imallin. Sie werden im Handumdrehen hier sein.« Molly seufzte und lächelte, wahrhaft zufrieden, in das Schweigen hinein. In diesem Schweigen, in der Stille ihrer Gedanken, hörte sie das schwere, träge Klatschen einer ledrigen Schwinge, und ihr Glück schmolz dahin wie Schnee auf heißem Pflaster. Sie erstarrte und konzentrierte sich. Hatte sie etwas gehört, oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie schloss die Augen und lauschte. Und da war es wieder. Klatsch. Eine Pause. Klatsch. Es kam aus einiger Entfernung, und obwohl sie das Geräusch nicht mit den Ohren hörte, hatte sie keinen Zweifel daran, dass es real war. Sie schlug die Augen auf, sah Seolar an und sagte: »Da kommt etwas.« »Etwas?« »Jäger«, antwortete sie. »Sie kommen. Sie wissen, dass ich hier bin, und sie suchen nach mir.« »Was für eine Art Jäger sind das?« 18 Molly graute davor, auch nur das Wort auszusprechen. »Die Rrön«, wisperte sie. Cat Creek, North Carolina Krokusse auf der Wiese, die ersten Spuren von Narzissen, die die Köpfe durch die Erde schoben, und eine Reihe geradezu unvernünftig gelber Forsythien, die neben der Einfahrt am Haus entlang wuchsen. Es sah so fröhlich aus und so alltäglich, dachte Lauren, als sie in die Einfahrt einbog. »Gut, kleiner Junge«, sagte sie zu Jake. »Diesmal hilfst du mir aber, unsere Einkäufe ins Haus zu tragen, hm?« Jake schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Ich helfe«, sagte er. »Ich bin ein großer Junge.« Während sie seinen Sicherheitsgurt öffnete, saß er ganz still im Wagen; dann stand er reglos da, bis sie ihm die Plastiktüte mit dem Brot in die Arme drückte. Die meisten der übrigen Einkaufstaschen nahm sie selbst, dann klemmte sie sich den Schlüssel zwischen die Zähne und sagte: »Komm, Jake. Gehn wir.« Wie ein gehorsames kleines Lämmchen stolperte er dicht hinter ihr her. Lauren hätte am liebsten geschrien. Sie
hätte am liebsten geweint. Jake war niemals ein gehorsames kleines Lämmchen gewesen. Niemals. Tatsächlich war er ihr immer wie eine Kreuzung zwischen einem mit Koffein voll gepumpten Kätzchen und dem Marsupilami aus der Zeichentrickserie erschienen. Während der beiden letzten Wochen hatte sie nichts von dem kleinen Jungen gesehen, den sie kannte - nicht mehr, seit ihm auf dem Weg durch die Weltentore etwas Furchtbares zugestoßen und Molly gestorben war, um ihn wieder gesund zu machen. Lauren wollte ihren quirligen, eigensinnigen, witzigen kleinen Kerl 19 zurückhaben. Sie fragte sich, ob er es jemals schaffen würde, wieder zu sich selbst zu finden - immerhin hatte er endlich wieder angefangen, zu sprechen, aber er plapperte nicht mehr wie früher. Er kletterte nirgendwo mehr hinein. Er lief nicht herum. Er blieb, wo sie ihn hinsetzte, tat, was sie ihm auftrug, und sonst nichts. Lauren nahm alle Tüten in eine Hand und schloss die Haustür auf. Dann stieß sie sie mit der Hüfte auf und stellte ihre Einkäufe schwungvoll auf den Fußboden in der Diele. Als sie sich umdrehte, kämpfte Jake sich gerade die Stufen zur Veranda hinauf, den Arm mit dem Brot vorsichtig erhoben, damit es nicht über den Boden schleifte. »Kommst du zurecht?«, fragte sie ihn. »Ja.« Er hielt sich mit der anderen Hand am Geländer fest und bewegte sich in einem Tempo, das Lauren als gemäßigten Hochzeitsmarsch bezeichnet hätte, die Treppe hinauf - linker Fuß vor, schließen; linker Fuß vor, schließen. Vorsichtig. »Ich bin gleich wieder da«, rief sie ihm zu, während sie die Treppe hinuntereilte. »Ich muss noch die anderen Sachen aus dem Wagen holen.« Lauren beeilte sich; sie lud sich die übrigen Taschen auf einen Arm, betete, dass die dünnen Plastikgriffe nicht reißen würden, schlug den Kofferraumdeckel zu und rannte beinahe zum Haus zurück. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Jake war lediglich durch die Tür bis zur Treppe gegangen, die in den zweiten Stock hinaufführte, und hatte sich auf die erste Stufe gesetzt. »Also schön«, sagte Lauren. »Lass uns das ganze Zeug in die Küche bringen. Komm.« Er schüttelte den Kopf, rührte sich nicht von der Stelle, sondern sah sie nur an. 20 Lauren seufzte. »Jake, ich muss das Essen wegpacken. Das Eis wird schmelzen, und viele dieser Sachen müssen in den Kühlschrank. Kannst du das Brot für mich in die Küche tragen?« Er blieb immer noch da, wo er war, und schüttelte den Kopf. Also gut. Bis auf diese Kleinigkeit war er ungeheuer brav. Er weigerte sich, durch den Flur zu gehen - da half kein Bitten und nicht einmal die Aussicht auf ein Eis. Sie beugte sich vor, küsste ihn und nahm die Tasche mit dem Brot. »In Ordnung. Ich bringe die Sachen weg und komme sofort zurück. Du bleibst hier.« »Neiiiiin!«, heulte er, als er sah, dass sie sich zum Gehen wandte. »Ich gehe durch den Flur. Es ist alles in Ordnung, Äff-chen. Wirklich.« »Neiiiiin«, sagte er. Der hintere Teil der Diele machte ihm Angst. Der riesige Spiegel, der dort an der Wand hing, machte ihm Angst. Sie konnte ihn in die Küche schaffen, wenn sie ihn auf den Arm nahm und dort hintrug, und das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie in letzter Zeit etwas von seinem alten Kampfgeist zu spüren bekommen hatte. Dann verwandelte er sich, wenn auch nur vorübergehend, in einen richtigen Dämon, und sie hatte das Gefühl, ihr kleiner Sohn sei wieder da - wie er leibte und lebte. Sie hatte allerdings zu viele Lebensmittel, die sie verstauen musste, um sich freiwillig auf einen Kampf einzulassen. »Es muss sein, Schätzchen. Mir wird schon nichts passieren. Und dir auch nicht.« »NEIIIIIN!« Lauren holte tief Luft und schickte sich an, einfach ihre Plastiktüten zusammenzuraffen, den Flur hinunterzugehen 21 und Jake schreien zu lassen. Hinter ihr klopfte jemand an die Haustür. Sie drehte sich um. Pete Stark stand dort, immer noch in Uniform. Pete war der Stellvertreter des Sheriffs von Cat Creek. Außerdem war er ein Neuling bei den Wächtern, die - bis zu Laurens Rückkehr nach Cat Creek - eine geschlossene und heimlichtuerische Zelle einer Gruppe von Wächtern gewesen waren. Das Amt war erblich, und die Zugehörigkeit zu diesem illustren Kreis ließ sich über Generationen zurückverfolgen. Die Menschen in Laurens eigener Familie waren länger bei den Wächtern gewesen, als sie Amerikaner waren - und sie waren seit über hundert Jahren Amerikaner. Die Wächter standen an den Weltentoren und versuchten, magische Schäden zu verhindern - und wenn nötig zu beheben -, deren Echo aus anderen Welten in der Weltenkette bis zur Erde vordrang. Sie lebten ein gefährliches Leben und starben häufig jung. Versteckt in kleinen Städten verbrachten sie ihre Tage als Floristen, Versicherungsvertreter, Bankangestellte und Hausfrauen, während sie die uralten Geheimnisse der Weltentore und der Magie hüteten, die zu beiden Seiten dieser Tore zu finden war - denn jeder konnte es lernen, die Tore zu benutzen, und jene, die sich innerhalb der Weltenkette nach unten bewegten, erlangten die Macht von Göttern, wenn auch nicht deren Weisheit. Und Magie, die in einer unteren Welt benutzt wurde, wirkte sich auf die obere Welt aus, häufig mit entsetzlichen
Folgen. Die Wächter von Cat Creek hatten kürzlich schwere Verluste erlitten. Neun von vierzehn Wächtern waren im vergangenen Monat gestorben, darunter die Verräter, die mit ihrer Magie eine menschheitsbedrohende Seuche ausgelöst 22 hatten. Allein in Cat Creek waren dreihundert Menschen gestorben, weltweit waren es Millionen gewesen. Die überlebenden Wächter hatten Lauren als ihre neue Torweberin vereidigt, und Pete hatten sie vor allem deshalb in ihren Kreis aufgenommen, weil er ein Freund von Eric MacAvery war - Cat Creeks Sheriff und Oberhaupt der Wächter von Cat Creek. Zum Teil aber hatten sie es wohl auch deshalb getan, weil Pete zu viel über die Wächter und die Weltentore wusste, als dass sie ihn einfach hätten ziehen lassen können. Obwohl seine Aufnahme bei den Wächtern beinahe einer Zwangsrekrutierung gleichgekommen war, hatte Pete die Pflichten und die Verantwortung eines Wächters mit einer Begeisterung und Hingabe übernommen, die alle überraschte. Nur Lauren schien daran zu zweifeln, dass er sich in einer Gefahrensituation bewähren würde. Nur sie schien zu bemerken, dass unter der Oberfläche seines Wesens noch andere Dinge verborgen lagen, oder zu argwöhnen, dass er mehr war, als er zu sein vorgab. Sie hielt ihn für vertrauenswürdig, was immer das wert sein mochte. Taten sprachen die Wahrheit, wo Worte logen - und er hatte Erics Leben gerettet und sein eigenes viele Male auf verschiedenste Weise riskiert. Ihr gefiel der Ausdruck seiner Augen. Ihr Bauch sagte ihr: Er ist in Ordnung. Er ist einer von den Guten. Aber von welchen Guten? »Hallo«, sagte sie und öffnete die Tür. »Hast du Zeit, ein oder zwei Minuten bei Jake im Flur zu sitzen, damit ich die Lebensmittel wegpacken kann?« Er sah sie verblüfft an. »Hm ... ich denke schon. Ich bin vorbeigekommen, um mit dir zu reden, aber ...«Er zuckte die Achseln, lächelte Jake an und setzte sich dann neben 23 ihn auf die Treppe. »Hast du Lust zu spielen? Autos? Oder Pferdchen? Oder etwas anderes?« Jake starrte Pete an, als hätte dieser zwei Köpfe. »Bin gleich wieder da«, sagte Lauren und schleppte ihre Einkaufstaschen den Flur hinunter, bevor Pete es sich anders überlegen konnte. Seit der Beerdigung war er fast jeden Tag vorbeigekommen. Sie traf ihn auch, wenn sie durch die Stadt fuhr und bei den einzelnen Wächtern die Tore überprüfte, und manchmal liefen sie einander zufällig auf der Straße über den Weg. In einer Stadt, in der - seit der Grippeepidemie - kaum mehr als siebenhundert Menschen lebten, war es schwierig, jemandem nicht zu begegnen. Pete wollte mit ihr zusammen sein, er wollte Zeit mit ihr verbringen, um sie kennen zu lernen; er wollte ihr helfen, all die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Monate zu überwinden - und vielleicht auch die des vergangenen Jahres. Er mochte sie. Was das betraf, sie mochte ihn ebenfalls. Aber er war nicht Brian und konnte niemals Brian sein. Brian hatte sich aus dem Reich des Todes gewagt, um Jakes Leben zu retten, und er hatte Lauren gesagt, dass er sie immer lieben und dass er auf sie warten würde. Damit blieb Lauren nicht viel Spielraum, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Sie wusste einfach nicht mehr weiter. Das Haus gehörte ihr, und die kleine Rente, die ihr allmonatlich ausgezahlt wurde, reichte ihr aus, um sich und Jake durchzubringen, auch wenn sie ein recht bescheidenes Leben führen mussten. An einem Ort wie Cat Creek war es nicht allzu schwierig, bescheiden zu leben. Aber das Leben hatte so viel mehr mit ihr vorgehabt. Bis zu Mollys Tod war sie eine Hälfte einer Partnerschaft gewesen, deren Bestimmung es war, die Erde vor der Selbstzer24 Störung zu retten und den endgültigen Zusammenbruch der Weltenkette zu verhindern, in der die Erde lediglich eine einzelne Perle war. Sie hatte fünfunddreißig Jahre ihres Lebens damit zugebracht, sich auf ein Schicksal voller unvorstellbarer Wunder zuzubewegen, und sie hatte an einem einzigen Tag am Ende dieses fünfunddreißig Jahre währenden Marsches nicht nur herausgefunden, wer sie war und wer Molly war, sondern auch Aufschluss darüber erhalten, was ihre Eltern mit ihnen beiden vorgehabt hatten. An jenem Tag war ihr klar geworden, dass ihr Leben eine Bedeutung hatte, deren Ausmaß sie nicht einmal annähernd erfassen konnte ... und am selben Tag war dann Molly gestorben, und sie hatte die Schwester verloren, die sie gerade erst gefunden hatte, und mit ihr die Zukunft, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Und ebendieser bittere Tag hatte das furchtbare Opfer ihrer Eltern vor so vielen Jahren nutzlos gemacht - denn wenn Lauren und Molly die Pläne ihrer Eltern nicht in die Tat umsetzen konnten, waren Laurens Mom und ihr Dad umsonst gestorben. Lauren knallte die Büchsen auf die Regale in der Speisekammer, legte die Früchte in die großen Holzschalen auf der Theke und weigerte sich, den Tränen ihren Lauf zu lassen. Solcher Mist passierte eben manchmal. Er passierte jedem, und auch wenn es ihr nicht fair erschien, dass sie so viel davon abbekommen hatte, nun, niemand, der auch nur einen Funken Verstand hatte, hatte je behauptet, dass das Leben fair war. Oder dass irgendjemand auch nur versuchen sollte, für eine gewisse Fairness zu sorgen. Außerdem hatte sie immer noch Jake. Sie hatte einen Ort zum Leben, ein wenig Geld und die Zeit für ihren kleinen Sohn, die so vielen jungen
Müttern fehlte. Sie hatte eine ganze Menge, und sie würde sich nicht gestatten, in Selbstmitleid zu schwelgen. Auf keinen Fall. Sie verabscheute Jammerlappen. 25 Draußen in der Diele konnte sie Pete hören, der mit Jake redete. Er las ihm eine Geschichte vor, wie sie jetzt bemerkte. Die kleine alte Dame, die vor nichts Angst hatte? Sie zuckte zusammen. Das war eins von Jakes Lieblingsbüchern gewesen, bevor ... nun ja, bevor das alles passiert war. Aber jetzt schien er die Spannung nicht länger zu ertragen, und wenn der Kürbis »Buh, buh!« sagte, brach er immer in Tränen aus, selbst wenn der Kürbis nur ganz leise »Buh, buh!« sagte. »Auf dieses Buch spricht er in letzter Zeit nicht besonders gut an«, schrie sie. »Im Moment kommt er recht gut klar«, rief Pete zurück. »Er hält sich zwar die Augen zu, aber ich mach's nicht übermäßig dramatisch.« »Beim Kürbis fängt er an zu weinen.« »Ich passe schon auf.« Wie du willst, dachte Lauren verärgert. Aber wenn er einen Anfall bekommt, kriegst du es mit uns beiden zu tun. Das Brot in den Kühlschrank, die Kuchenmischung aufs Regal, Mehl und braunen Zucker in das oberste Fach mit den Backsachen. »Das TUT ER NICHT!«, hörte Lauren Jake plötzlich rufen. »Der furchtbar schreckliche Kürbis sagt: >BUH! BUH!<, nicht >Ich hab ein Plätzchen!<« Lauren hielt bei ihrer Arbeit inne und lauschte. »Es steht genau hier«, sagte Pete jetzt. »Siehst du - da steht: >Der furchtbar große, furchtbar orange und furchtbar schreckliche Kürbis sagt: >Ich habe ein Plätzchen in meinem Bauch.<« »Du Blödian!«, schimpfte Jake. Eins von Brians Worten. Normalerweise fand Lauren es tröstlich, Brians Worte aus Jakes Mund zu hören, geradeso wie sie es tröstlich fand, zu wissen, dass er sich jetzt an seinen Vater erinnern konnte 26 aber sie war sich nicht sicher, wie Pete darauf reagieren würde, wenn ein Dreijähriger ihn Blödian nannte. Pete lachte. Und einen Augenblick später lachte auch Jake. Lauren lehnte sich an die Theke, ließ den Kopf sinken und weinte. Es war Jakes erstes Lachen seit dem Unfall, seit all dem Schrecklichen - und von Rechts wegen hätten sie und Jakes Vater es sein sollen, die ihn zum Lachen brachten. Stattdessen lachte er mit dem Mann, der anscheinend die Stelle seines Vaters einnehmen wollte. Lauren wäre gern glücklich gewesen über diesen Durchbruch. Ein Teil von ihr war es - Jake wieder lachen zu hören war wie Musik für sie, Musik, die direkt aus dem Himmel kam. Aber ein großer Teil von ihr war gekränkt und eifersüchtig und - ja, sie gestand es sich ein - badete in Selbstmitleid. Verdammt. Sie richtete sich auf, wischte sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Augen und holte tief Luft, bis die Regung sich legte. Brian war tot, und er konnte nicht länger für seinen Sohn da sein, obwohl er weiß Gott da gewesen war, als es darauf ankam. Molly war tot, und sie konnte nicht für Lauren da sein oder für den Plan. Mom und Dad waren tot, und so beschissen das war, sie waren schon sehr lange tot. Und wenn Lauren ihren Hintern nicht langsam in Bewegung setzte, würde das Eis schmelzen und sich über den Fußboden ausbreiten. Sie hörte Schritte im Flur und drehte sich um. Jake saß auf Petes Schultern - und Pete hatte ihn vom hinteren Teil des Flurs an dem gefürchteten Spiegel vorbeigebracht, ohne dass auch nur ein Wimmern von ihm zu hören gewesen wäre. »Mama, Pete hat die Geschichte falsch gelesen«, rief 27 Jake, und auf seinem Gesicht stand ein echtes Lächeln. »Er hat gesagt ... er hat gesagt ...« Jake begann zu kichern, »dass der furchtbar große, furchtbar schreckliche, furchtbar orange Kürbis sagt, er hätte ein Plätzchen in seinem Bauch.« Er schlang die Arme um Petes Augen, beugte sich über dessen Kopf und lachte wieder, so heftig, dass sein Bauch zitterte. »Aber der Kürbis muss eigentlich >BUH! BUH!< sagen.« Jake verlieh diesen »Buhs« den gleichen bebenden Nachdruck, mit dem Lauren diese Stelle des Buches früher immer vorgelesen hatte. »Und ich habe gesagt, Pete ist ein Blödian.« Lauren zuckte zusammen und erwiderte: »Ich hab's gehört.« Pete grinste sie an. »Er hat seinen eigenen Kopf, wie?« »Und ob.« Sie sah ihren Sohn lächelnd an. »So glücklich habe ich ihn nicht mehr gesehen, seit ...« Sie zuckte die Achseln. »Er ist ein zäher kleiner Bursche«, meinte Pete. Dann schwang er Jake auf den Fußboden hinunter, und der Junge kam auf sie zugelaufen und schlang die Arme um ihre Oberschenkel. »Kann ich helfen?« Lauren gab ihm eine Suppendose und zeigte unten in die Speisekammer. »Die kommt da drüben hin«, antwortete sie. »Stell sie weg und hol dir die nächste.« Pete sagte: »Ich wollte dir mitteilen, dass wir heute eine neue Wächterin bekommen haben. Eine junge Frau namens Darlene Fullbright. Eric hat mich gebeten, bei dir vorbeizufahren und dir Bescheid zu geben. Wenn du
willst, fahre ich dich zu ihr rüber, damit du ihr Tor einrichten kannst. Sie wollte ursprünglich bei June Bug wohnen, aber anscheinend ist Darlene allergisch gegen Rauch, und June Bug meinte, dass sie sich in ihrem Alter nicht von irgendjeman28 dem in ihrem eigenen Haus zum Rauchen vor die Tür schicken ließe - die beiden hatten jedenfalls keinen guten Start miteinander.« Lauren lächelte leicht. »Ich kann mir gut vorstellen, dass June Bug von niemandem allzu begeistert wäre, der ihr irgendwelche Veränderungen vorschlägt. Und alles, was ihre verdammten Zigarren betrifft...« »Sie ist ein Unikum«, stimmte Pete ihr zu. »Soll ich dich rüberfahren? Natürlich erst, wenn du den Rest deiner Einkäufe verstaut hast.« Lauren zuckte die Achseln. »Warum nicht. Ich muss Jake heute Abend noch baden, aber das ist das größte Ereignis, das mir bevorsteht.« »Wir könnten zusammen etwas unternehmen. Irgendwo essen gehen - drüben in Rockingham oder in Laurinburg oder unten in Bennettsville. Du brauchst nicht jeden Abend allein zu verbringen. Du hast eine Menge durchgemacht -und ich habe das Gefühl, dass dir ein wenig Gelächter genauso gut täte wie unserem kleinen Jake.« Lauren dachte voller Sehnsucht an die Abende zurück, an denen sie und Brian sich herausgeputzt hatten - Lauren in einem hübschen Kleid, Brian in seiner blauen Uniform mit allen Rangabzeichen -, wenn sie zu besonderen Anlässen zum Stützpunkt in Pope fuhren. Sie konnte die Augen schließen und ihn im Wohnzimmer ihres einfachen, kleinen Doppelhauses sehen, die Fliegerkappe in der Hand, ein Lächeln auf dem Gesicht. Seit Brians Tod hatte sie außer zu Beerdigungen niemals mehr eine Strumpfhose oder ein Kleid angehabt. Vielleicht würde es nichts schaden, Pete beim Wort zu nehmen - vielleicht wurde es Zeit, dass sie aufhörte, hochhackige Schuhe nur als etwas zu betrachten, das man anzog, wenn jemand starb. 29 Aber wäre das Pete gegenüber fair? Sie war nicht frei. Sie war zwar Witwe, aber eine Witwe in einer besonderen Situation - sie würde niemals mehr frei sein. Ja, beantwortete sie sich ihre eigene Frage. Sie wusste, dass sie Pete etwas bedeutete und dass er gern mit ihr ausgehen würde, daher konnte sie nichts mit gutem Gewissen akzeptieren, das er als ein Rendezvous betrachten würde. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Aber ... du gibst mir einen Korb.« Pete lächelte traurig. »Ich schwöre, Lauren, ich konnte den ganzen Film auf deinem Gesicht ablaufen sehen, während ich auf deine Antwort wartete. Du wolltest Ja sagen, du hast es erwogen, Ja zu sagen, und dann hat irgendetwas deine Meinung geändert. Was?« »Brian.« Pete schloss die Augen, holte langsam Atem und stieß ihn mit dem Gehabe eines Mannes aus, der versuchte, mehr Geduld aufzubringen, als er hatte. Jetzt würde er ihr sagen, dass Brian tot war, dachte Lauren, dass ein Ehegelübde nur bis zum Tod galt - aber stattdessen nickte er nur. »Also gut.« Lauren stellte fest, dass sie sich gewünscht hatte, er würde versuchen, sie umzustimmen. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Sie wandte sich ab, räumte die letzten Lebensmittel weg, knüllte die Plastiktüten zusammen, warf sie in den Mülleimer und wünschte, sie könnte sich selbst verstehen. Zu ihren Füßen machte sich Jake bemerkbar. »Oh, nein«, wimmerte er. »Mama. Nein.« Lauren drehte sich um, um herauszufinden, was ihn beunruhigte. Sie konnte nichts entdecken. Sie machte einen Schritt nach vorn und trat an eine Stelle, wo die Luft so eisig, so erschreckend war, dass sie beinahe laut gekreischt 30 hätte. Aber in ihren Gedanken wisperte etwas: Schick den Mann weg. Ich habe Neuigkeiten für dich. 2 Cat Creek Lauren erstarrte und versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann nahm sie Jake auf den Arm, drückte ihn fest an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Seht, Schätzchen, es wird alles gut.« Beruhigend strich sie ihm übers Haar und trat aus dem eisigen Luftstrom heraus, bei dem es sich kaum um etwas anderes handeln konnte als um einen Orianer. »Mama, der Mann will mit dir reden«, sagte Jake und begann laut zu schluchzen. »Lass uns hier weggehen. Komm, Mama. Lass uns weggehen.« Lauren zwängte sich an Pete vorbei aus der Küche, woraufhin dieser ihr mit verwirrter Miene nacheilte. »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Lauren. »Jake hat ... Wenn er älter wäre, würde ich sagen, dass er jedes Mal Panikattacken hat, wenn wir in den hinteren Teil des Hauses kommen. Natürlich reagiert er auf den Spiegel in der Diele sehr schlecht, aber er gerät auch in der Küche in Panik. Er weigert sich, sie allein zu betreten, und versucht auch, mich davon abzuhalten.« Pete sah sie zerknirscht an. »Tut mir Leid. Das wusste ich nicht. Ich dachte, es würde ihn von seiner Angst vor dem Spiegel ablenken, wenn ich ihn nach hinten bringe ...« Er klopfte Jake auf die Schulter, doch der Junge
wandte den Kopf ab und vergrub das Gesicht in Laurens Haaren. 32 »Geh weg.« Pete sah Lauren an. »Ist er böse auf mich?« Lauren, die Pete zur Haustür brachte, warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. »Er hat in letzter Zeit einige Übung darin, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Person, die ihn in eine Situation bringt, in der er nicht sein will, wird zum Feind - zumindest für ein Weilchen. Im Allgemeinen bin ich es, da ich die Einzige bin, mit der er die ganze Zeit zusammen ist.« Achselzuckend öffnete sie Pete die Tür. Jake klebte noch immer an ihr wie eine Muschel an einem Boot. »Aber er ist nicht nachtragend«, fügte sie hinzu. »Was das betrifft, ist er ein ziemlich cooler kleiner Junge. Wenn er dich das nächste Mal sieht, ist alles wieder in Ordnung.« »Wir hatten doch so viel Spaß miteinander«, meinte Pete, während er auf die Veranda hinaustrat. »Genau. Und dann hat er begriffen, dass du ihn gegen seinen Willen in die Küche bringen wolltest - also bist du jetzt in seinen Augen einfach ein genauso hinterhältiger Erwachsener wie alle anderen auch.« Lauren trat so weit auf die Veranda hinaus, dass Pete den Eingang freigeben musste. Als sie sicher sein konnte, dass er sich endgültig zum Gehen entschlossen hatte, machte sie einen halben Schritt zurück ins Haus und sagte: »Ich werde das Tor für die Neue später machen. Sie braucht es ja ohnehin nicht auf der Stelle. Sie kann sich einfach freinehmen, wenn sie zu Hause ist, bis ich die Gelegenheit hatte, bei ihr vorbeizuschauen. Jetzt muss ich zuerst Jake beruhigen.« Pete, der offensichtlich nicht recht begriff, welche Dampfwalze ihn auf die Veranda hinausbefördert hatte, wollte protestieren. Dann nickte er jedoch. »Klar - kümmer dich um ihn. Tut mir Leid, Kleiner. Ich wollte dir keine Angst machen.« 33 Jake riss den Kopf zur Seite, so dass er Pete nicht ansehen musste. »Er wird schon darüber hinwegkommen«, erklärte Lauren. Dann trat sie in die Diele und schloss die Tür. Pete blieb noch einen Moment lang auf der Veranda stehen, ohne dass der verblüffte Ausdruck aus seiner Miene gewichen wäre. Dann drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Lauren verschloss die Haustür - ihre Mitstreiter unter den Wächtern hatten die unangenehme Angewohnheit, anzuklopfen, um ihr Erscheinen anzukündigen, und dann einfach hereinzukommen, falls die Tür nicht verschlossen war. Die meiste Zeit über störten Lauren diese kleinstädtischen Gewohnheiten nicht weiter. Jetzt jedoch konnte ein ungebetener Gast - oder eher ein zweiter ungebetener Gast - zum Problem werden. »Ich komme nicht in die Küche zurück«, sagte sie, als sie Pete mit seinem schwarzweißen Wagen aus der Einfahrt fahren sah. »Wenn du mit mir reden willst, wirst du schon hier heraufkommen müssen. Mein Sohn fürchtet sich vor der Küche.« Sie sah ein Schimmern im hinteren Teil der Diele - etwas Durchsichtiges bewegte sich auf sie zu. Sie wartete ab, und das Ding nahm Gestalt an. Es war einer der Veyär. Da er durchsichtig blieb und sich weiterhin im hinteren Teil des Raumes aufhielt, fern des hellen Lichtes von draußen, konnte sie seine Farbe nur erraten, vermutete aber, dass es einer von den blaugrünen war. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte der Veyär. Zwar konnte Lauren seine Stimme jetzt hören, aber sie klang, als spreche er vom Ende eines sehr langen Tunnels, so dass seine Worte ein starkes Echo hatten. »Das erwähntest du bereits.« Lauren drückte Jake fest an sich. Sein kleiner Körper war stocksteif geworden, und 34 sie spürte, dass er vor Furcht zitterte. »Beeil dich. Du erschreckst meinen kleinen Sohn.« Veyär-Gesichter waren schwer zu deuten - Lauren konnte die Gefühle nur ahnen, die über das tätowierte Antlitz huschten. Der Veyär wirkte nervös und furchtsam, gleichzeitig aber beinahe erregt. »Kurz. Ja. Ich werde es kurz machen. Der Imallin schickt mich - du musst nach Oria kommen, um dein Schicksal zu erfüllen.« »Mein Schicksal ist mit meiner Schwester gestorben«, erwiderte Lauren leise. »Ich habe kein Schicksal mehr.« Der Veyär ließ nachdrücklich seine Handgelenke knacken, indem er sie heftig schüttelte; dann sagte er: »Nein, nein, nein. Dein Schicksal ist wiedergeboren worden. Die Vodi ist zu uns zurückgekehrt.« »Ihr habt eine neue Vodi gefunden?«, fragte Lauren, die versuchte, sich einen Reim auf diese Worte zu machen. »Nein. Deine Schwester. Die Vodi. Sie lebt.« Laurens Magen krampfte sich zusammen. Ärger stieg in ihr auf. Furcht. Irgendetwas, das dunkel und hässlich war. »Ich habe Molly beerdigt«, sagte sie, und ihre Stimme wurde weicher, während ihre Wut wuchs. »Sie ist tot. Ich kann dich zu ihrem Grab führen, wenn du willst. Aber ich werde mich nicht wegen irgendeiner Farce, die ihr euch ausgedacht habt, zusammen mit meinem kleinen Sohn noch einmal nach Oria verschleppen lassen. Ohne Molly kann ich ohnehin nichts tun, was von Belang wäre.« »Und ohne dich kann auch sie nichts tun«, versetzte der Veyär. »Sie hat mir eine Nachricht für dich gegeben. Sie sagte, du würdest wissen, dass sie von ihr kommt, dass es etwas sei, das nur ihr beide verstehen könntet. Eure Eltern wollten, so erzählte sie mir, dass sie die Kette sein sollte und du der Schussfaden.« 35 Lauren starrte den Veyär ungläubig an. »Das musst du mir näher erklären.« »Ich weiß nicht mehr darüber. Ich kann nur wiedergeben, was sie mir für dich aufgetragen hat. Sie sagte, eure
Eltern hätten gewollt, dass ihr beide unsere Weltenkette wieder zu einem Gewebe zusammenfügt, und dass sie die Kette sein sollte und du der Schussfaden.« Er zuckte die Achseln - diese Geste zumindest konnte Lauren verstehen. Eure Eltern wollten, dass sie die Kette sein sollte und du der Schussfaden. Ja. Genau das war es - der Vergleich, den sie Lauren und Molly mit magischen Mitteln ins Gehirn gepflanzt hatten. Dieses Bild war zusammen mit tausend anderen Gedankenverbindungen urplötzlich zum Leben erwacht, als Lauren und Molly einander endlich kennen gelernt und berührt hatten. Am selben Tag, an dem die Erinnerung in ihnen wach geworden war, war Molly jedoch gestorben, ohne eine Gelegenheit oder einen Grund gehabt zu haben, diese Information mit irgendjemandem zu teilen. Lauren selbst hatte niemals jemandem davon erzählt - sie hatte niemals auch nur ein einziges Wort darüber verloren, was sich zwischen ihnen ereignet hatte. Vielleicht verfügten die Veyär über eine Möglichkeit, ihre Gedanken zu lesen - zuzutrauen wäre es ihnen. Aber irgendwie ... irgendwie hatte Lauren nicht das Gefühl, hintergangen zu werden. Konnte Molly wirklich noch am Leben sein? Nein. Natürlich nicht. Lauren war bei der Beerdigung gewesen, hatte ihre Schwester in dem Sarg liegen sehen und beobachtet, wie June Bug Täte beim Anblick von Mollys Leiche lautlos zusammengebrochen war. Jake lebte nur deshalb noch, weil Molly ihr eigenes Leben geopfert hatte, um ihn zu retten. Kette und Schuss. 36 Sie holte tief Luft und fragte den Veyär: »Wie? Wie kommt es, dass sie lebt?« »Sie ist die Vodi«, antwortete der Veyär. »Sie trägt die Kette, die alle Vodi vor ihr getragen haben, und diese Kette beschützt sie geradeso, wie sie die anderen Frauen beschützt hat. Sie lebt, und sie und der Imallin bitten dich, nach Oria zu kommen.« »Er ist böse, Mama«, sagte Jake, das Gesicht gegen ihren Hals gedrückt. »Mach, dass der böse Mann weggeht.« Lauren lehnte sich an die Wand und starrte den Veyär an, während sie ihren Sohn sanft in den Armen wiegte und ihm auf den Rücken klopfte, als sei er noch ein Baby. Kette und Schuss - die Fäden, die die hinfällige Weltenkette wieder zusammenfügen sollten. Ihre Eltern hatten diese Nachricht Molly eingepflanzt, sie hatten sie Lauren eingepflanzt -und nun war sie wieder aufgetaucht, um Lauren zu verfolgen. Und wenn Molly wirklich noch lebte, dann lebte auch der Plan. Laurens Eltern waren nicht umsonst gestorben. Lauren hatte immer noch ein Schicksal. Die Welt, die sie liebte und die sie Jake und den Kindern, die er vielleicht einmal haben würde, hinterlassen wollte, diese Welt hatte noch immer eine Chance. Aber wenn der Plan noch lebte, dann würden die Wächter vielleicht ein Problem werden, genauso wie einige andere Dinge auch. Schutzlos waren Lauren und Jake in dem alten Haus ihrer Familie eine leichte Beute für jeden, der diese Lage der Dinge bereinigen wollte - nachdem Mollys Beerdigung dazu offensichtlich nicht gereicht hatte. Scheiße. Im Kupferhaus wären sie und Jake in Sicherheit - zumindest so lange, wie sie brauchen würde, um festzustellen, ob Molly tatsächlich noch lebte und ob ihnen irgendwelche realen Gefahren drohten. Das Kupferhaus lag jenseits der 37 Tore, in Oria, der Unterwelt der Erde, und es war dazu erbaut worden, der Magie der ältesten und tödlichsten unter den dunklen Göttern standzuhalten. Die Veyär mochten kurz vor dem Aussterben stehen, aber das lag nicht daran, dass sie es versäumt hätten, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um ihre Haut zu retten. Wenn Molly noch lebte, musste Lauren nach Oria gehen. Sie hatte eine Pflicht zu erfüllen. Sie hatte eine Aufgabe, die sie nicht einfach ignorieren durfte, denn einzig und allein sie war zu ihrer Erfüllung auserkoren. Sie war geboren worden, um die Dinge zu tun, die sie tun musste. Laurens Mutter hatte einen ungeheuren persönlichen Preis bezahlt, um Molly, die halb Mensch, halb Veyär war, zu empfangen und zur Welt zu bringen. Lauren wusste nicht, ob ihre Eltern ihren Plan vor oder nach der Entdeckung gefasst hatten, dass Lauren Tore weben konnte und eine ausgesprochene Begabung dafür hatte, mit ihren Toren eine Verbindung zu Orten zu knüpfen, an denen sie noch nie gewesen war. Sie wusste, dass das selbst unter Torwebern eine Seltenheit war. Lauren sah sich in dem Haus um, das ihren Eltern gehört hatte und jetzt ihr gehörte, und begriff, dass sie, wenn der Veyär die Wahrheit sagte, dieses Haus würde verlassen müssen, vielleicht für immer. Sie wollte es nicht. Ihre Mutter hatte die Narzissen und Krokusse gepflanzt, die Phloxe und die Forsythien, den Hartriegel und die Azaleen. Ihr Vater hatte die Bücherregale und die Fensternischen geschreinert, hatte die Veranda renoviert und die Schaukel dort gebaut, und er hatte Dinge auf dem Dachboden hinterlassen, deren Sinn Lauren noch immer nicht ganz entschlüsselt hatte. Dies war der einzige Ort auf der Welt, den sie wahrhaft ihr Zuhause nennen konnte. Nirgendwo sonst gehörte sie hin. 38 »Ich werde Jake mitnehmen müssen«, erklärte sie dem schattenhaften Veyär. »Tu das.« »Du verstehst nicht. Ich bekomme ihn nicht einmal in die Nähe eines Tores, ohne dass er vollkommen durchdreht. Etwas Schreckliches ist ihm zugestoßen, etwas, das mit Molly und den Toren zusammenhängt, und ich möchte ihm nicht noch mehr wehtun.« Der Veyär sah sie mitfühlend an - zumindest interpretierte Lauren sein Mienenspiel und seine Bewegungen als
Mitleid. Er sagte: »Der kleine Junge wird im Kupferhaus sicherer sein als hier. Der Imallin hat mir aufgetragen, dir unbedingt mitzuteilen, dass sich bereits Kräfte zusammengeschlossen haben, die von der Rückkehr der Vodi wissen -und von der Bedeutung dieses Geschehens. Diese Kräfte werden sich auch über deine Beziehung zu ihr im Klaren sein. Sie werden wissen, wie wichtig du bist. Und wenn sie an Molly nicht herankommen - und das können sie nicht, weil sie im Kupferhaus in Sicherheit ist -, dann werden sie es bei dir versuchen.« »Nein«, widersprach Lauren, aber in Wirklichkeit wusste sie bereits, dass der Veyär die Wahrheit sagte. »Bitte. Um deiner Sicherheit willen, um unserer Welten willen - um unserer Völker willen. Bitte, komm. Sie braucht dich. Wir brauchen dich.« Lauren drückte Jake noch fester an sich und strich ihm übers Haar. »Geh zurück nach Oria. Sag ihr, dass ich so schnell wie möglich kommen werde. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich die Erde verlassen kann - ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde, und ich muss einige Vorkehrungen treffen.« Sie konnte jedoch keinem der Wächter sagen, dass sie fortging. Sie war sich nicht sicher, ob sie auf ihrer Seite sein 39 würden, wenn sie erfuhren, dass MoUy noch lebte. Bis auf Pete vielleicht. Sie glaubte, dass sie Pete vertrauen konnte. Sie musste ihm ihre Schlüssel geben und dafür sorgen, dass er in ihr Haus gelangen und ihre Rechnungen bezahlen konnte, falls es ihr nicht möglich war, schnell genug zurückzukehren ... und sie musste dafür sorgen, dass er die übrigen Wächter davon abhielt, ihr zu folgen, wenn sie nicht unverzüglich auf die Erde zurückkehren konnte. Was das Packen betraf, brauchte Lauren sich keine Sorgen zu machen; die Veyär würden ihr alles beschaffen, was sie benötigte, während sie im Kupferhaus lebte. Sobald sie die Festung der Veyär verließ und ihre Aufgaben erledigte, würde sie sich in den meisten Fällen mit Magie behelfen können. Ein paar von Jakes Lieblingsspielsachen sollte sie allerdings einpacken. Und sie brauchte ihr Foto von Brian. Davon abgesehen ... Sie hatte auf den Fußboden gestarrt, und als sie nun aufblickte, um dem Veyär zu erklären, dass sie ihm ein oder zwei Tage später folgen würde, war er bereits fort. Lauren holte tief Luft. Molly lebte. Vielleicht ... und wenn sie noch lebte, wie war das möglich? Und wie passte diese Tatsache zu dem rigorosen Verbot der Wächter, jemanden von den Toten zurückzuholen? Und was bedeutete dieses Übelkeit erregende Gefühl, das Laurens Magen zusammenkrampfte, wenn sie auch nur daran dachte, einen Toten mithilfe von Magie wieder zum Leben zu erwecken? Aber diese Einzelheiten konnte sie nur in Erfahrung bringen, wenn sie nach Oria ging. Zuerst einmal musste sie dort sein. Lauren listete die Dinge auf, die sie noch tun musste. Sie würde einen Brief und einen Schlüssel für das Haus durch ein kleines Tor in Petes Wohnung befördern und auf den Tisch legen, wo er beides finden würde, wenn er nach Hau40 se kam. Und sie musste sich irgendeine plausible Lüge für ihn ausdenken; sie musste der Putzfrau absagen; eine vertrauenswürdige Person finden, die ein Auge auf das Haus hielt; Bearish und Mr Puddleduck und die CrashAutos zusammen mit Jakes Flanelllätzchen und Brians Foto in einen Rucksack packen. Und die Briefe. Sie würde nicht ohne die Briefe fortgehen, die sie und Brian einander geschrieben hatten, wenn er in Übersee stationiert gewesen war. Das alles konnte sie an einem Nachmittag erledigen. Während sie Jake noch immer auf den Armen wiegte, wurde ihr klar, dass sie durchaus aus dem Haus sein konnte, bevor es dunkel wurde. Es widerstrebte ihr. Aber je schneller sie nach Oria kam, umso schneller würde sie die Wahrheit erfahren. Und dann würde sich vielleicht herausstellen, dass alles eine Lüge war, und sie konnte nach Hause zurückkehren. Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass der Veyär ihr die Wahrheit gesagt hatte. Sie konnte es spüren, wie das Heraufziehen eines Unwetters. Molly war wieder lebendig, und sie beide hatten eine Aufgabe zu erfüllen. Von Cat Creek ins Kupferhaus Lauren schaffte sich das Tor für das neue Mädchen vom Hals, einfach weil sie nichts unerledigt lassen wollte. Sie bestellte ihre Zeitung ab, legte eine Nachricht für den Postboten in den Briefkasten und drehte den Thermostat im Haus herunter, so dass er die Heizung nur noch einschalten würde, um bei einem späten Frost in Cat Creek ein Einfrieren der Rohre zu verhindern. Sie überzeugte sich davon, dass alle Fenster und Türen verschlossen waren, dass ihr Wagen 41 abgeschlossen in dem Schuppen hinterm Haus stand und dass ihre privaten Tore in diesem Schuppen alle geschlossen und mit ihrem persönlichen Schlüssel blockiert waren. All das war erledigt, und soeben senkte sich die Dämmerung über die Stadt. Lauren war noch nicht bereit, zu gehen. »Aber ich weiß nicht, ob ich jemals bereit sein werde«, sagte sie zu Jake. »Die große Frage ist, ob wir jemals zurückkommen werden ... Und diese Frage kann ich uns nicht beantworten.« Jake, der es gewohnt war, bei Gesprächen, die keinen Sinn für ihn ergaben, den Zuhörer zu spielen, schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln und konzentrierte sich auf die Worte, die er kannte. »Gehen?«, fragte er. »Gehen wir zu Hardee's, Kekse kaufen?«
»Nicht heute, Jakey«, verneinte Lauren. »Heute haben wir andere Dinge zu tun. Es wird Zeit, deine Tante Molly zu besuchen.« Das sagte ihm nichts. Nun, er war ihr nur ein einziges Mal begegnet, und das unter den denkbar schlimmsten Umständen; es gab keinen Grund, warum er ihren Namen hätte behalten sollen. Aber wenn er durch ein Tor gehen sollte, würden gewiss die Alarmglocken bei ihm schrillen. Lauren griff nach ihrer kleinen Reisetasche, hängte sie sich über die Schulter und trat auf den Spiegel in der Diele zu. Sie hatte Petes Brief griffbereit. Jetzt überflog sie ihn noch einmal, um ihn nach möglichen Fehlern zu überprüfen. Hallo Pete, tut mir Leid, dass ich dich so ohne Vorwarnung um einen Gefallen bitten muss, aber jake und ich müssen nach Charlotte reisen. Brians Eltern werden für ein paar Tage in der Stadt sein; sie haben mich aus heite42 rem Himmel angerufen und darum gebeten, ihren Enkel sehen zu dürfen. Da nicht einmal der Teufel persönlich ihn dazu bringen könnte, diese Leute zu besuchen, ohne dass ich in der Nähe bin, werde ich in den nächsten Tagen nicht in der Stadt sein. Falls wir einen Notfall haben sollten, bevor ich zurück bin, können die Wächter sich Verstärkung bei den Torwebern in Vass holen. Ich werde keine Telefonnummer hinterlassen - was ich zu tun habe, muss ich tun, ohne Wenn und Aber und ganz gleich, wie lange es dauern wird. Bitte entschuldige mich bei allen. Ich hätte diese Angelegenheit lieber mit ein wenig mehr Anstand und einer gewissen Vorwarnung erledigt. Ich komme zurück, sobald ich kann. Bitte halte in der Zwischenzeit für mich ein Auge auf das Haus und nimm dir alles aus dem Kühlschrank, was du gebrauchen kannst. Danke, Lauren In ihren Augen sah der Brief ganz annehmbar aus. Lauren setzte Jake auf die unterste Treppenstufe im vorderen Teil der Diele, wo er auf sie warten sollte. Dann ging sie zu dem riesigen Spiegel an der hinteren Wand, holte tief Luft und legte eine Hand auf das Glas. Sie starrte in ihre Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und konzentrierte sich auf Petes Küchentisch. Eine Sekunde später konnte sie ein winziges grünes Schimmern in den Augen ihres Spiegelbilds ausmachen. Sie rief dieses Feuer zu sich und spürte, wie der Spiegel unter ihren ausgebreiteten Fingerspitzen einer glücklichen Katze gleich zu schnurren begann. Sie ließ ihren Blick ein klein wenig unschärfer werden, und das Bild, das sie sah, veränderte sich - es war nicht länger eine dunkelhaarige Frau, die in der Diele eines alten 43 Hauses stand, eine Hand auf einen übermannsgroßen Spiegel gelegt. Jetzt sah sie eine adrette, beinahe kahle Küche; der Klapptisch in der Ecke war sauber abgewischt, und darauf lagen exakt rechtwinklig ausgerichtet einige wenige ungeöffnete Rechnungen. Sie betrachtete die Küche von Petes kleiner Wohnung durch einen grünen Schimmer, einen Nebel aus bleichem, kaltem Feuer. Für den Fall, dass er zu Hause war, wollte sie den Brief nicht einfach durch das Tor hindurchschieben, daher konzentrierte sie sich darauf, auch den Rest der Küche mit ihrem Blick zu erfassen. Seine Speisekammer, türlos und mit ordentlichen Regalen, die er, wie sie wusste, selbst aufgestellt hatte, war erschreckend. Lauren hatte innerhalb des militärischen Systems gelebt, und trotzdem hatte sie noch niemals einen gar so zwanghaft ordentlichen Raum gesehen. Er hatte die Büchsen alphabetisch sortiert und bewahrte sie auf einem anderen Regal als Müsli und Backwaren - tatsächlich hatte er sogar Letztere im Haus. Darauf sollte man sich nun einen Reim machen. Der typische Junggeselle war er jedenfalls nicht. Sie konnte jetzt den ganzen Raum sehen, und falls Pete tatsächlich da war, hielt er sich in einer Ecke auf, in der sie ihn nicht ausmachen konnte. Also schob sie den Brief durch die Oberfläche des Spiegels und spürte dabei den sinnlichen Sog der Pfade zwischen den Welten. Da sie wollte, dass Pete den Brief fand, sorgte sie dafür, dass er nicht gerade auf dem Tisch lag, sondern eher so, als hätte sie ihn achtlos von der anderen Seite des Raums aus dort hingeworfen und ihr Ziel nur mit knapper Not getroffen. Dann ließ sie ihren Schlüsselring neben dem Brief auf den Tisch fallen. Sie zog den Arm zurück, und das Feuer, das sie heraufbeschworen hatte, erstarb. Als sie sich umdrehte, hatte 44 Jake sich auf der untersten Treppenstufe zusammengerollt und die Arme vors Gesicht gelegt. Er flüsterte: »Nein, nein, nein ...« »Oh Gott«, stieß Lauren leise hervor. Sie eilte zu ihm, hockte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme. »He. Äffchen. Kleiner Wolf. Es ist in Ordnung. Es ist alles gut. Niemand wird dir wehtun. Ich beschütze dich.« Sie küsste ihn, wiegte ihn hin und her und wartete. Nach langer, langer Zeit spürte sie, wie er sich entspannte. Lauren hätte sich am liebsten übergeben. Dies war das Kind, das sie durch ein Tor zerren wollte; dies war das Kind, das sie zu der Frau bringen wollte, deren Verhalten es beinahe das Leben gekostet hätte, und in die Welt, die es beinahe getötet hätte. Sie schloss die Augen und überlegte, ob es irgendjemanden gab, irgendwo, dem sie das Leben ihres Kindes anvertrauen konnte. Aber es gab niemanden. Nicht einen einzigen Menschen. Am ehesten wäre wohl noch Pete in Frage gekommen - aber Lauren hatte den Verdacht, dass Pete ein Geheimnis hütete, und bevor sie nicht wusste, was es war, würde sie auch mit ihm kein Risiko eingehen. Wir müssen nach Oria, dachte sie. Ich muss es tun, denn wenn Molly und ich Erfolg haben, werden wir diese
Welt für alle folgenden Generationen retten und die Welten darüber wieder zum Leben erwecken und die darunter schützen. Wenn ich nicht nach Oria gehe, könnte der nächste Fehler, die nächste Katastrophe, der nächste Ausrutscher der letzte sein, und alle Menschen auf diesem Planeten werden sterben, bis auf die, die Tore finden oder schaffen können. Ich muss gehen. Ich kann Jake nicht zurücklassen. Ich kann nicht warten, bis er so weit ist, denn er wird 45 vielleicht niemals so weit sein, und Molly und ich haben nicht bis in alle Ewigkeit Zeit, um zu tun, was wir tun müssen. Sie zog ihren Sohn fester an sich und wiegte ihn in den Armen, während lautlose Tränen über ihre Wangen rannen. Sie hasste es aus ganzem Herzen, was sie tun musste, weil Jake darunter leiden würde; sie hasste das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein, und sie hasste den Mangel an Alternativen, die sich ihr boten. Einen Augenblick lang hasste sie sogar ihre Eltern, weil sie ihr eine solche Last auferlegt hatten. Dann, weil sie um die Pflichten wusste, die ihr aufgetragen waren, und weil sie ihre Verantwortung nicht abschütteln konnte, trug sie Jake zu dem Spiegel hinüber, legte ihre freie Hand auf das Glas und beschwor das Feuer herauf, das sie durch die Wirklichkeiten tragen würde. Sie beschwor die Welt von Oria herauf, mit ihren riesigen, uralten Wäldern, und konzentrierte sich auf das umfriedete Dorf, das um das prächtige Kupferhaus herum erbaut worden war. Dann zeichnete sie einen Kreis aus Feuer in die Mitte der gepflasterten Straße direkt vor dem Palast, genau zwischen den zwei blauhäutigen Veyär-Wachen, die zu beiden Seiten der Tür standen. Endlich war es so weit. Die kleine Tasche mit ihrer persönlichen Habe über der Schulter und Jake, der sich starr vor Entsetzen an sie klammerte, auf der Hüfte, drückte sie sich sachte an das Spiegelglas. Es gab nach, und das Universum dahinter hieß sie sanft willkommen. Für eine Zeit, die keine Zeit war, die eine Ewigkeit war, fiel und schwebte und trieb sie, während die Musik des Universums vibrierte und jede Zelle ihres Körpers erfüllte. Das Universum strömte an ihr vorbei, sie berührte ihre eigene Unsterblichkeit, und ihre Seele wurde eins mit der von 46 Jake. Es ist gut, sagte sie zu dem Universum und zu Jake, alles binnen eines Atemzuges und eines einzigen Gedankens, und irgendwie sorgte sie dafür, dass es tatsächlich gut war. Sie bewegte sich innerhalb des Schmerzes und des Grauens, die in seinem winzigen Körper Wohnung genommen hatten, und glättete die Kanten, so dass es immer noch sein Schmerz war, den er sich verdient hatte und den er zu Recht sein Eigen nennen konnte - aber jetzt konnte er sich dem Schmerz stellen. Magie. Hinter den Toren lag Magie; die Bausteine des Universums und der Geburtsort des Göttlichen. Während jener Zeit außerhalb der Zeit war sie purer Geist; das Gewicht ihres Körpers war null und nichtig geworden, und sie und Jake flogen wie Adler und Engel. Dann schob das Universum sie auf der anderen Seite hinaus, und Lauren und Jake standen vor den beiden VeyärWachen, die, völlig unvorbereitet auf ihr jähes Erscheinen aus dem Nichts, aufheulten und ihre Waffen senkten, als wollten sie sie angreifen. »Ich bin die Schwester der Vodi«, schrie Lauren und presste Jake fest an sich. Als sie das Tor gemacht hatte, hätte sie nicht nur an ihre eigene Bequemlichkeit denken dürfen, das wurde ihr jetzt klar. Diese Speere hatten höllisch scharfe Spitzen, und sie waren so nah. Sie konnte natürlich einen Zauber heraufbeschwören und beide Wachen in der Luft zerreißen - aber die Männer standen angeblich auf ihrer Seite. Sie bot all ihre Willenskraft auf, um die Wachen dazu zu bringen, ihre Speere in eine aufrechte Position zu bringen, und schließlich gehorchten sie ihr, obwohl Lauren die Anspannung in ihren Muskeln erkennen konnte, während sie sich gegen den fremden Willen zur Wehr setzten. Schließlich wiederholte sie: »Ich bin die Schwester der Vodi. Ich bin hier, weil sie nach mir geschickt hat.« 47 Die beiden starrten sie an, und einer von ihnen wandte kaum merklich den Kopf zur Seite. Ohne sie aus den Augen zu lassen, rief er: »Ein Gast für die Vodi; sie behauptet, ihre Schwester zu sein.« Sie zwängte sich nicht an ihnen vorbei. Sie hätte es tun können, wollte sich aber keine Feinde machen. Irgendetwas hatte diese Leute zutiefst beunruhigt - sie hätte die Zeichen erkennen müssen, als sie sie durch den Spiegel beobachtet hatte. Wachen gingen auf den Zinnen des Kupferhauses entlang und hockten auf den Türmen der Mauer, die die Siedlung umgab. Bewaffnete Soldaten beobachteten den Himmel, und nun beobachteten einige von ihnen auch Lauren. Lauren blickte auf. Über ihr kreisten dunkle Gestalten. Sie hatte sie für Geier oder vielleicht für Raben gehalten, aber die schuppigen, nach unten hängenden Ränder ihrer Flügel und Schwänze, die die Länge von Peitschen hatten, machten ihr klar, in welch großer Höhe diese Geschöpfe flogen. Sie zählte ein Dutzend von ihnen, bevor sie sich an die Wachen wandte, die sie beobachteten. »Rrön«, sagte sie und schauderte. Die Männer nickten. »Sie sammeln sich, seit die Vodi zurückgekehrt ist. Sie führen nichts Gutes im Schilde.« »Sicher nicht«, stimmte Lauren ihnen zu. Die Menschen nannten sie Drachen und hatten sie als Drachen gekannt, als sie noch auf der Erde lebten, und sie
hatten sie entweder gefürchtet oder ihnen gehuldigt. Aus gutem Grund. Sie waren Albtraumgestalten. Lauren hatte an einem schrecklichen Tag drei von ihnen gesehen und einen getötet. Jetzt war sie versucht, die Magie zu benutzen, über die sie in Oria gebot, um Waffen zu schaffen und die Rrön vom Himmel zu schießen. Nur dass Magie, die Tod brachte, ihr Echo in die obere Welt sandte; wenn sie hier ei48 nen der Rrön tötete, würde ein Dutzend unschuldiger Menschen daheim auf der Erde ein furchtbares Schicksal erleiden - es konnte aber auch hundert oder tausend Menschen treffen, die weniger unschuldig waren. Niemand verstand genug von der Bewegung der Magie zwischen den Welten, um vorhersagen zu können, welche Auswirkungen irgendeine Tat haben mochte. Aber jeder konnte die groben Zusammenhänge sehen - ein Heilzauber, der eine Welle von Begnadigungen zur Folge hatte, ein Mord, der eine Unzahl von Gewaltverbrechen nach sich zog. Lauren würde nichts mithilfe von Magie töten, es sei denn, es blieb ihr keine andere Wahl. Also ließ sie die Rrön weiterkreisen und konzentrierte sich auf das vordere Portal des Kupferhauses, durch das gerade ein bernsteinhäutiger, goldhaariger Veyär trat und auf sie zukam. Der König der Burg, dachte sie. Er trug ein schlichtes Gewand aus dunkelrotem Samt, schwarze Kniehosen und weiche, flache, schwarze Stiefel, doch weder Krone noch Zepter. Aber er strahlte Macht aus, und diese Macht strafte die schlichte Kleidung ebenso Lügen wie den schmucklosen Zopf, der ihm über den Rücken fiel. Seine Männer drehten sich zu ihm um und verneigten sich tief; er antwortete mit einem Nicken. Dies musste also Seolar sein, Mollys Geliebter. Lauren wartete ab, ohne sich zu verbeugen. Als Seolar zwischen die beiden Wachen trat, die Lauren immer noch in Schach hielten, blieb er stehen und sah sie lange ausdruckslos an. Pechschwarze Augen, riesig und ohne Lederhaut, blickten in ihre, und sie hatte das Gefühl, als sei ihr ganzes Leben bloßgestellt, so dass jeder es betrachten konnte. Für die Veyär war sie eine alte Göttin. Aber verdammt, die Veyär hatten eine ungeheure Ausstrahlung. Lauren hätte diesen Burschen mit einem Wort und einer 49 winzigen Handbewegung rösten können, aber er war ihr auf eine Weise überlegen, die sich mit keinem Maß messen ließ. »Du ähnelst ihr in hundert Einzelheiten, die ich nicht zu fassen vermag«, erklärte er schließlich. Dann verneigte er sich vor ihr, anmutig und tief, und setzte hinzu: »Schnell, bitte. Lass uns hineingehen - die Rrön sind vor einiger Zeit erschienen, und seither ist die Vodi nicht mehr recht sie selbst gewesen. Sie beobachten alles, was wir tun, und ich befürchte, sie wissen vielleicht, dass die Jägerin der Vodi eingetroffen ist.« Lauren warf noch einen flüchtigen Blick gen Himmel und sah, dass die Rrön sich näher herangewagt hatten. Sie drückte Jake fester an sich, umklammerte ihre schäbige, kleine Reisetasche und eilte dem Herrn der Burg nach. Sie fühlte sich klein und bedeutungslos und war ausgesprochen nervös. Durch Türen aus massivem Kupfer, unter mit Kupfer überzogenen Deckenbögen, über kupferbeschlagene Fußböden, vorbei an Kupfer, das in Lampen, Springbrunnen, Geländer und Balustraden eingearbeitet war, folgte sie dem Veyär, der ihr mit raschem Schritt voranging. Endlich kam sie in eine geräumige Bibliothek, wo Bücher bis zu drei Stockwerke hoch die Wände säumten, überall erreichbar durch umlaufende Gänge in verschiedener Höhe und Wendeltreppen. In der Mitte befand sich ein wunderschöner, prächtiger Kamin. Und vor dem Kamin stand Molly - eine Molly, die größer war, als sie es hätte sein dürfen, mit den zarten Knochen und den unglaublich grünen Augen, die das Veyär-Blut in ihren Adern verrieten. Lauren sah ihre Schwester, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Molly eilte durch den Raum und umarmte sie und Jake. 50 Eine Weile standen sie nur da und wiegten einander in den Armen, bis Molly schließlich ein klein wenig von Lauren abrückte. Lauren ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und setzte sich Jake auf die Hüfte. Sie schüttelte den Kopf, lächelte und suchte vergeblich nach Worten. »Irgendwie schwierig, herauszufinden, was man sagen soll, wie?«, meinte Molly schließlich. »Abgesehen von: >Mein Gott, es ist schön, dich zu sehen<, ja. Irgendwie schwierig.« Lauren schüttelte den Kopf. »Aber ... mein Gott, es ist schön, dich zu sehen.« Cat Creek Pete kam spät nach Hause. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, noch zu arbeiten, aber nachdem Lauren ihn abermals abgewiesen - und ihn anschließend so abrupt aus dem Haus gescheucht - hatte, war ihm einfach nicht danach zumute gewesen, heimzugehen und darüber nachzugrübeln. Außerdem hatte Eric bei verschiedenen Dingen Hilfe gebraucht; anschließend waren sie ins Reden gekommen, hatten miteinander gelacht und waren dann auf ein paar Bier und ein Steak nach Bennettsville gefahren. Er wollte eigentlich sofort zu Bett gehen. Aber als er an der Küche vorbeikam, sah er aus den Augenwinkeln etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Er blieb stehen, und in seinem Inneren schrillten die Alarmglocken. Die Hand auf dem Knauf seiner Browning, lauschte er mit angehaltenem Atem. Er konnte nichts hören. Er versuchte, herauszufinden, was ihn in der dunklen Küche beunruhigt hatte, bis sein Blick an einem Fleckchen Weiß auf dem Küchentisch hängen blieb.
Er hatte nichts auf dem Küchentisch liegen gelassen. Sei51 ne Fähigkeit, sich genau einzuprägen, in welchem Zustand er einen Raum verlassen hatte, und jede Veränderung wahrzunehmen, hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Und er war nicht plötzlich nachlässig geworden. Er schob sich um die Ecke herum in die Küche. Sie war leer, aber es war jemand dort gewesen. Er sah ein Stück Papier und einen Schlüsselring. Sollte er zuerst nach Bomben suchen? Konnte er es wagen, Licht zu machen? Er beschloss, den Brief zu lesen. Dazu zog er Handschuhe an und setzte sich eine Atemschutzmaske auf, denn Dinge, die einfach irgendwo auftauchten, wo sie nichts zu suchen hatten, konnten sich als tödlich erweisen. Nachdem er alle Vorbereitungen getroffen hatte, las er den Brief. Er fühlte sich besser - zumindest empfand Lauren genug für ihn, um ihm für ein paar Tage ihre Sachen anzuvertrauen. Aber gerade als er beschlossen hatte, sich geschmeichelt zu fühlen, blickte er auf ihre Schlüssel hinab, und sein Magen verkrampfte sich, die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Sie hatte ihm nicht nur ihren Hausschlüssel dagelassen. Oder den Hausschlüssel mitsamt dem Schlüssel für den Briefkasten. Sie hatte ihren kompletten Schlüsselring auf den Tisch gelegt - einschließlich ihres Wagenschlüssels. Und es waren keine Ersatzschlüssel. Es war ihr Schlüsselring, der mit dem Bild des Heiligen Toten Ehemanns auf der einen Seite eines kleinen Rähmchens und Jake als Baby auf der anderen. Alle möglichen Szenarien schössen Pete durch den Kopf - niemand war durch die Tür gekommen; die kleine Falle, die er stets hinterließ, war unversehrt geblieben. Wenn man durchs Fenster hineingelangen wollte, musste man eine Scheibe einschlagen, und nach einer hastigen 52 Überprüfung der übrigen Wohnung strich er die Fenster als Zugangsmöglichkeit von seiner Liste. Also hatte Lauren ihren kleinen Spiegeltrick benutzt, um den Brief herzubringen. Das war kein Problem. Das Problem war die Frage, ob sie es aus freiem Willen oder unter Zwang getan hatte. Und wenn sie es unter Zwang getan hatte, von wem war sie dann dazu gezwungen worden? Von einem weiteren verräterischen Wächter? Von einem der Feinde, die Lauren sich in Oria gewiss gemacht hatte? Oder war es eins von seinen Problemen gewesen, jemand, der ihn mit ihr zusammen gesehen hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass sie und Jake hübsche Geiseln abgeben würden? Oder ... hatte sie lediglich einen dummen Fehler gemacht? Hatte sie ihm ihren Schlüsselring gegeben und selbst die Ersatzschlüssel mitgenommen? Er war nicht immun gegen gewisse Neigungen, stets das Schlimmste zu vermuten, Katastrophen zu wittern, wo es keine gab, oder voreilig in Rage zu geraten - obwohl er sich in dieser Hinsicht im Laufe der Jahre durchaus gebessert hatte. Also, was sollte er jetzt tun? Zuerst, beschloss er, würde er in ihrem Haus nachsehen. Er würde nach Spuren eines gewaltsamen Eindringens Ausschau halten und nach ihrem Wagen in dem Lagerschuppen dahinter; er würde nach Hinweisen für einen Kampf im Haus suchen. Als Nächstes musste er die Schwiegereltern überprüfen. Wo waren sie, welche Geschichte hatten sie zu erzählen? Dann ... nun, je nachdem, was er herausfand, war vielleicht ein Besuch bei einigen alten Freunden angesagt. Er würde natürlich vorsichtig zu Werke gehen. Aber für gewisse Probleme, vor allem wenn es um Menschen ging, die aus unerfreulichen Gründen verschwunden waren, hatte er genau die richtige Art von Freunden. 3 Über Kupferhaus, Ballahara, Oria Die Rrön kreisten in Spiralen über dem niedrig hingekauerten, kupferumhüllten Gebäude am Himmel. Rr'garn zog über allen anderen seine Runden. Rr'garn, der Gebieter der dunklen Rrön - der Jäger, der Zerstörer -, trug die Narben von hundert Toden zwischen seinen Schwingen; jeder dieser Tode hatte ihn verbrannt und ihn härter gemacht, bis er so kalt war wie der Tod selbst, frei von den Bürden, dem Hunger und den Träumen des Lebens. Er atmete Macht, sang Macht, und Macht trug seine Schwingen; er schlief nicht einmal mehr und hatte somit auch die letzte Schwachheit der Träume abgeschüttelt. Jetzt wölbte er den Hals und setzte seine Schwingen so vorteilhaft wie möglich ein, da er sich des Schauspiels bewusst war, das er bot, wenn er durch die Luft dahinglitt. Die Ehrfurcht, die er in anderen weckte, befriedigte ihn zutiefst. Er würde zum Meister der Nachtwache aufsteigen. Er hatte es verfügt, und seine Rrön würden darum kämpfen, ihn in dieser Machtposition zu sehen. Er trank den Tod von Welten, und sein Bauch schrie bereits nach der nächsten großen Mahlzeit. Noch nie war ein Rrön so herausragend und prächtig gewesen wie Rr'garn, und niemals würde ein anderer ihm gleichkommen. Selbst seine Verbündeten zitterten vor Furcht, wenn er in ihre Nähe kam. Versteckt hinter den kupferbeschlagenen Mauern, schüttelte die erste echte Bedrohung für die Ziele der Nachtwa54 che seit mehr als hundert Jahren die anhaltenden Qualen ihres ersten Todes ab. Rr'garn sehnte sich danach, das Schlagen ihrer Herzen zu fühlen, die Luft zu spüren, die durch ihre Lungen strich, den mausschnellen Tanz ihrer
Gedanken zu hören. Aber sie und ihre Gedanken waren ihm entzogen. Er wusste, dass sie hinter den Barrieren vom Kupferhaus wartete; seine Spione hatten es beschworen. Er hatte gehört, dass sie eine Verbündete hatte eine Schwester, die ihrerseits über beängstigende Kräfte verfügte. Auch das hatten seine Spione beschworen. Die Frage, auf die er keine Antwort hatte, war die, was diese neue Vodi und ihre Schwester tun würden. Ärger lag in der Luft; Rr'garn spürte, dass diese Vodi nicht das furchtsame, scheue kleine Geschöpf war wie viele Vodi vor ihr. Diese beiden neuen Figuren in seinem Spiel umgab ein Nebel der Ungewissheit. In dieser Ungewissheit lag das Potenzial für eine Katastrophe. Wenn das Problem möglicherweise zu einer Katastrophe führen konnte, war das Heilmittel sehr einfach. Vernichte die Vodi, ermorde ihre Schwester. Und zwar bald, bevor sie anfingen, gegen die Nachtwache zu arbeiten. Rr'garn erinnerte sich gut an die Gedanken der Vodi, die er aufgefangen hatte, bevor sie eine Möglichkeit gefunden hatte, ihren Geist gegen die dunklen Götter abzuschirmen. Die, die seine Spione die Jägerin nannten, war eine andere Angelegenheit. Weder er noch einer der Seinen konnten die Jägerin irgendwie ausmachen; sie hatte ihren Platz noch immer unter den wahrhaft Lebenden. Ein vorsichtiges, raffiniertes Vorgehen würde wohl das Beste sein, wenn seine Krieger dazu imstande waren. Die Verhandlungen mit den anderen dunklen Göttern hingen in der Schwebe; und wenn er gar zu eifrig war, würde Rr'garn sein Streben nach dem obersten Sitz der Nachtwache wo55 möglich verraten, bevor er für den Krieg gerüstet war, der ausbrechen würde, sobald er beschlossen hatte, dass die Zeit für seinen Vorstoß reif war. Also - keine Heere von Rron, die auf das Kupferhaus hinabstürzten. Stattdessen würde es nur einen einzigen speziellen Soldaten geben, der allein in die Hallen vom Kupferhaus gesandt wurde, um die Jägerin mit einem schnellen, säuberlichen Schlag zu vernichten und die Vodi, deren Tod erheblich mehr Anstrengung kosten würde, aus der Burg zu treiben. Dieser Plan gefiel Rr'garn. Und er wusste, welcher Soldat sich dieser Aufgabe gewachsen zeigen würde. »Beobachte das Haus«, wies er seinen Geschwaderkommandanten Trrtrag an. »Wenn sich irgendetwas verändert, gib mir Bescheid. Ich werde Baanraak suchen.« Trrtrag sah ihn an, als hätte Rr'garn den Verstand verloren. »Baanraak? Er ist schon vor einem Aon von seinem Amt zurückgetreten. Er wird dich verschlingen, bevor er zur Nachtwache zurückkehrt.« »Rr'garn verschlingen?«, fragte Rr'garn. »Baanraak ist in deiner Vorstellung in all diesen Jahren übergroß geworden. Doch er ist klug, sonst würde ich nicht die Zeit opfern, um nach ihm zu suchen. Aber ... muss man sich vor ihm fürchten? Ich glaube nicht. Wie ich höre, sonnt er sich wie eine alte Eidechse und begnügt sich auf seine alten Tage damit, Wühlmäuse und Insekten zu fressen.« Dann fügte Rr'garn hinzu: »Ich möchte nicht, dass er zur Nachtwache zurückkehrt. Ich möchte mich lediglich seiner ... Talente bedienen. Er hat noch mehr zu verlieren als wir, wenn diese elenden Geschöpfe unser Werk zunichte machen oder Kerras wiederbeleben.« »Dann wünsche ich dir Glück und hoffe, dass du ihn findest«, sagte Trrtrag, »und dass du ihn überzeugen kannst, bevor er dir die Kehle aufreißt und dein Gold einschmilzt.« 56 Rr'garn fand, dass Trrtrag es ihm gegenüber an Respekt mangeln ließ. Ihm war zu Ohren gekommen, dass einer der Seinen möglicherweise unzuverlässig war und Pläne für seinen eigenen Aufstieg verfolgte. »Ich danke dir für deine Wünsche«, sagte er und nahm sich vor, sich gleich nach seiner Rückkehr um Trrtrag zu kümmern. Dann spannte er die Flügel, um die letzten Aufwinde des Tages zu nutzen, ließ sich hoch in den Himmel hinauftreiben, die Nüstern gebläht, Körper und Geist angespannt wie Bogensehnen, und machte sich auf die Suche nach dem ältesten der dunklen Rron, dem leblosesten der Toten. Kupferhaus Molly saß in einem breiten, weichen Sessel in ihrer Suite Lauren gegenüber, aber ihr Körper war steif vor Anspannung. Sie starrte aus dem Fenster, das ihr am nächsten war, in den Himmel und sagte nichts. »Was tun diese Geschöpfe da draußen?«, fragte Lauren. Seolar, der am Fenster stand, zuckte die Achseln. »Sie fliegen. Kreisen. Es sind weder mehr noch weniger als vor einer Stunde.« »Es ist einer weniger«, widersprach Molly, und sowohl Seolar als auch Lauren zuckten zusammen. Sie hatte fast nichts gesagt, seit sie hier zusammen waren - und Lauren vermutete, dass seither etwa eine halbe Stunde verstrichen war. Seolar drehte sich zu ihr um. »Ich habe gute Augen, und ich habe keinen wegfliegen sehen. Von hier aus ist meine Sicht besser als deine. Wie kannst du dir so sicher sein?« Mollys Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. Sie wandte sich von dem Fenster ab und schloss die Augen, entspannte 57 sich dabei aber nicht im Mindesten. »Mein Geliebter, das willst du gar nicht wissen.« »Meine Liebste, und ob ich das wissen will«, entgegnete Seolar. Lauren fand sich mitten in einem Gespräch wieder, das sich zu einem Streit unter Liebenden zu entwickeln drohte. Sie rutschte in ihrem Sessel hin und her und sah Jake an, der auf dem Sofa schlief - von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Sie konnte nicht ohne ihn weggehen, und sie konnte ihn auch kaum als Vorwand benutzen.
Also blieb sie sitzen, wo sie war, und wand sich innerlich in Qualen. Molly hatte nicht reden wollen und war immer stiller geworden, je länger die Rron über dem Kupferhaus kreisten, und während Lauren ihre Schwester beobachtete, die ihrerseits die Rron beobachtete, gewann sie langsam das Gefühl, dass Molly etwas darüber wusste, was hier vorging. Jetzt stand Molly auf und wischte alle Zweifel beiseite. »Derjenige, der weggeflogen ist«, sagte sie mit einer unüberhörbaren Schärfe in der Stimme und Zorn in jeder Faser ihres Körpers, »heißt Rr'garn. Seine Gedanken sind kalt und hart, hässlich und voller Pläne, die schlimmer als das Schlimmste sind, was ich je gedacht habe.« Dann wandte sie sich zu Lauren um und fuhr fort: »Er glaubt, er und seine Ungeheuer da oben müssten dich und mich so schnell wie möglich töten, weil wir ein Problem darstellten.« Seolar klappte der Unterkiefer nach unten - ein Gesichtsausdruck, der bei einem Veyär keinen Deut attraktiver war als bei einem Menschen, wie Lauren bemerkte. »Woher weißt du das?«, fragte er Molly nach kurzem Schweigen. Der Zorn schien aus Mollys Körper auszuströmen, beinahe so, als hätte jemand einen Stöpsel herausgezogen, um die Wut abfließen zu lassen. »Ich kann ihn hören«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie. Ich kann Bruchstücke von dem 58 hören, was sie alle denken ... oder vielleicht fühlen. Ich weiß nicht, welches von beidem. Aber selbst während ich jetzt mit euch spreche, senden ihre Gedanken einen Widerhall in meine. Es ist beinahe so, als seien die Rron und ich Saiten eines Instruments, das auf dieselbe Melodie eingestimmt ist, und der Finger, der an ihren Saiten zupft, lässt mich vibrieren.« Lauren musterte ihre Schwester. Molly sah krank aus, so als sei allein dieses Eingeständnis mehr, als sie ertragen konnte. »Molly?« Lauren stand auf und trat neben ihre Schwester. »He, es ist schon gut. Du erzählst uns, was sie denken, und wir werden es gegen sie verwenden.« Molly blickte in Laurens Augen hinab, und für einen flüchtigen Moment lang huschte ein Ausdruck purer Trauer über ihre Züge. Dann war er fort, und Molly brachte ein Lächeln zuwege. »Aber verstehst du nicht«, sagte sie, »sie können mich genauso deutlich hören, wie ich ihn höre. Oder jedenfalls könnten sie es. Ich denke, es ist mir inzwischen gelungen, sie auszusperren, aber nicht, bevor sie mehr über mich in Erfahrung gebracht hatten, als mir lieb war.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Und nachdem sie in mich hineingeschaut haben, glauben sie noch immer, ich sei wie sie. Oder dass ich es eines Tages sein werde, wenn nur genug Zeit vergeht und ich genug Tode gestorben bin.« Molly schauderte und schlang die dünnen Arme um ihren Leib. Lauren zog sie an sich. »Du bist nicht schlecht, Molly. Du bist nicht wie diese Kreaturen dort oben. Es steckt irgendein unheimlicher Trick dahinter, dass du ihre Gedanken hören kannst.« Molly holte tief Luft, lächelte Lauren an und nickte. »Wahrscheinlich hast du Recht. Nach allem, was passiert 59 ist, bin ich immer noch irgendwie ... erschüttert. Ich fühle mich verloren. Und dieses Ungeheuer wusste es wusste, dass ich gerade erst zurückgekehrt war, dass ich immer noch unter den Nachwirkungen meines Erlebnisses leide. Ich hatte diese Möglichkeit nicht einmal in Erwägung gezogen, aber es wird wahrscheinlich vergehen. In der Zwischenzeit«, sagte sie an Seolar gewandt, »musst du dafür sorgen, dass niemand, den du nicht persönlich kennst, ins Kupferhaus gelangen kann. Rr'garn hat sich auf die Suche nach einem Killer gemacht, einem, der seiner Meinung nach jedes wie auch immer geartete Hindernis überwinden kann, das du ihm in den Weg stellst. In seinen Gedanken war das Bild eines Rröns, es war nur ein einziger, aber einer mit besonderen Fähigkeiten.« »Sie sind dunkle Götter«, entgegnete Seolar leise. »Sie verfügen alle über besondere Fähigkeiten.« »Die Wächter reden von alten Göttern«, wandte Lauren ein. »Du sprichst von dunklen Göttern. Gibt es da einen Unterschied?« Seolar warf einen kurzen Blick in Mollys Richtung - es war nur ein kaum merkliches Zucken der Augen nach links, dann nach rechts, bevor er wieder wegsah -, dann presste er die Lippen zusammen und nickte. »Es gibt einen Unterschied. Erlaub mir nur, dafür zu sorgen, dass die Wachen in höchster Alarmbereitschaft und sämtliche Tore verschlossen und verriegelt sind, dann werde ich euch die Geschichte von der Zerstörung des Himmels erzählen.« Mit diesen Worten verließ er sie. Lauren und Molly sahen einander an. »Die Zerstörung des Himmels?«, fragte Lauren. Molly zuckte die Achseln. »Diese Geschichte kenne ich auch noch nicht.« Lauren sagte: »Dann müssen wir eben warten, bis er zu60 rückkommt. In der Zwischenzeit erzähl mir, wie es dir geht. Wie es dir wirklich geht.« »Im Wesentlichen ist alles in Ordnung«, antwortete Molly. Sie spielte mit dem Stoff ihres weit ausgestellten Seidenrocks und starrte auf den Fußboden. Als sie wieder zu Lauren aufsah, sagte sie: »Allerdings habe ich Angst. Ich habe Angst vor dem, was wir tun sollen, und vor der Verantwortung, die wir tragen; ich habe Angst vor dem, was geschehen wird, wenn wir es nicht versuchen. Ich fürchte diese Bastarde da oben. Ich fürchte mich davor, irgendeinen Fehler zu machen, der unser Zuhause zerstört. Die Erde. Ich schätze, für mich ist jetzt dies
mein Zuhause, aber du weißt, was ich meine.« »Ich weiß.« »Und ich fühle mich ... ganz schwummerig.« Molly legte den Kopf schräg und sah Lauren stirnrunzelnd an. »Das klingt falsch. Ich fühle mich, als fehlte etwas. Ich bin hier, und soweit ich das erkennen kann, erinnere ich mich an alles, woran ich mich früher erinnert habe, aber - es ist so wie bei einem Bleistift, den man sich dicht vor die Augen hält. An irgendeiner Stelle verschwindet plötzlich die Bleistiftspitze.« Lauren nickte. Sie hatte dieses kleine Experiment selbst einmal durchgeführt; wahrscheinlich kannte jedes Kind es aus dem Biologieunterricht. »Ich habe das Gefühl, als hätte ich einen solchen blinden Fleck irgendwo in mir, nur dass ich den Bleistift noch nicht bis zu der Stelle bewegt habe, an der er verschwindet, so dass ich herausfinden könnte, wo genau dieser blinde Fleck liegt. Irgendwo in mir ist ein Loch, Lauren, und ich kann es nicht finden, und ich weiß nicht, ob ich mir selbst trauen kann, bevor mir das gelungen ist.« Lauren seufzte und umarmte sie noch einmal. »Es tut mir 61 so Leid, Molly. Ich bin froh, dass du lebst. Aber ich fühle mich so schrecklich, wenn ich daran denke, dass du gestorben bist.« Molly lachte. »Weiß Gott! Es hat mich selbst auch nicht übermäßig begeistert. Es scheint so, als hätte das Ganze keinen allzu großen Schaden angerichtet, aber ... ich werde das lieber nicht noch einmal tun.« »Ich kann allerdings nicht begreifen, wie du zurückgekommen bist. Wenn du es konntest, warum konnte Brian es dann nicht auch?« »Brian war dein Mann?« »Ja.« Molly nickte. »Wahrscheinlich, weil er nicht dieses Halsband getragen hat, als er starb.« Sie legte eine Hand auf die wunderschöne, glatte Goldkette, die sie trug. »Die Kette der Vodi. Meine Vorgängerinnen haben sie getragen, und wann immer sie getötet wurden - und anscheinend wurde jede von ihnen ziemlich oft getötet -, hat die Kette sie zurückgebracht.« »Bis sie es irgendwann nicht mehr tat«, warf Lauren ein. Molly zog die Augenbrauen zu einer unausgesprochenen Frage in die Höhe. »Keine von ihnen ist noch hier«, erklärte Lauren. »Also sieht es doch wohl so aus, als würde die Magie sich irgendwann verlieren ...?« »Nein. Jede dieser Frauen ist irgendwann all des Schmerzes und des Sterbens müde geworden und hat einfach aufgehört. Sie haben die Kette abgenommen, sie irgendwo hingelegt, wo jemand sie finden würde, der um ihre Bedeutung wusste, und sind dann fortgegangen, um endgültig zu sterben. Wenn du die Kette bei deinem Tod nicht trägst, kann sie dich nicht zurückbringen, denn sie weiß nicht, dass du gestorben bist.« 62 Lauren dachte darüber nach - über die Frage, wie es wohl war, der Unsterblichkeit müde zu werden und sich aus freiem Willen für den Tod zu entscheiden. Sie glaubte, es verstehen zu können. Sie musterte die Kette, die Molly trug, und dachte an Brian und an die monströsen Jäger außerhalb des Kupferhauses, die gerade in diesem Augenblick versuchten, einen Weg zu finden, um sie zu töten. Sie dachte an Jake, der schlafend auf dem weichen, gepolsterten Sessel lag, daran, wie vertrauensvoll und verletzlich er war und dass er außer ihr selbst niemanden auf der Welt hatte, auf den er wahrhaft zählen konnte. Und sie dachte einmal mehr an die Magie, die sie zu wirken vermochte, und an die Grenzen, die ein herzloses Universum dieser Magie auferlegte. Ich brauche Brian, dachte sie. Ich brauche ihn hier bei mir; er würde wissen, wie man diese Ungeheuer da draußen bekämpfen kann. Er würde Moms und Dads Notizen entschlüsseln, ihnen einen Sinn geben und mir sagen, was Molly und ich tun sollen. Er könnte Jake viel besser beschützen, als ich es kann. Aber Brian besaß keine magische Kette. Und Brian war nicht da. »Wo warst du?«, fragte Molly, und Lauren schreckte aus ihrem Dämmerzustand auf. »Verdammt«, sagte sie. »Ich habe darüber nachgedacht, welche Vorteile es hätte, wegzulaufen.« Molly lachte leise. »Du hast auch Angst?« »Mehr um Jake als um mich, ja. Ich habe Todesangst.« »Aber wir müssen es tun, nicht wahr?«, fragte Molly. »Wir könnten weggehen«, antwortete Lauren. »Aber wenn die Erde stirbt, glaube ich nicht, dass wir mit dem Wissen leben könnten, dass wir sie hätten retten können.« Molly sah so aus, als hätte ihr jemand einen Fausthieb 63 versetzt. Schmerz zuckte über ihr Gesicht, in ihren Augen leuchteten ungeweinte Tränen, und sie schluckte heftig. »Ich habe einmal eine Chance vertan, jemanden zu retten. Ich hatte es auf später verschoben - aber da war es schon zu spät. Ich habe meine Gelegenheit verpasst. Und jetzt muss ich diesen Fremden auf dem Rücken tragen, solange ich Atem und Erinnerung in mir habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Nie wieder. Wir ergreifen die Chance, die uns angeboten wurde, in Ordnung?« Lauren sah zu Jake hinüber. »Ja. Ja - wir nutzen unsere Chancen, und wir tun, was wir können.« Mit einem
seltsamen Lächeln reichten sie einander die Hand. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr für uns«, sagte Molly. »Wir müssen die Welt retten.« »Es ist noch schlimmer«, wandte Lauren ein. »Wir müssen alle Welten retten.« Kupferhaus Molly hörte Seolars Schritte schon lange bevor er zu ihnen zurückkam. Immer wieder fielen ihr kleine Veränderungen an sich selbst auf - die Schärfe, mit der sie hörte und sah, Gerüche, die sie unerwartet wahrnahm, die Fähigkeit, die Gedanken und Absichten der Ungeheuer draußen über dem Kupferhaus zu lesen -, und diese Veränderungen machten ihr Angst. Wäre sie dieselbe gewesen, die sie früher war, hätte sie sich einreden können, dass nichts geschehen sei. Sie konnte sich jedoch nichts dergleichen vormachen. Ebenso wenig, wie sie die Frage leugnen konnte, die all diese kleinen Veränderungen ihr aufdrängten: Was hatte sich in ihr verändert, das sie nicht sehen konnte? Seolar wirkte angespannt, als er eintrat. Er erklärte 64 nichts, und Molly verlangte auch keine Erklärungen. Lauren war weniger höflich. »Was ist passiert?« Seolar verbeugte sich leicht und sagte: »Schwierigkeiten mit dem Personal. Die Situation im Kupferhaus war nicht so wohl geordnet, wie sie das normalerweise ist; ich lasse das von Pirror, meinem Stellvertreter, regeln.« Molly spürte, wie ausweichend diese Erklärung war, und ein Blick auf ihre Schwester sagte ihr, dass Lauren es ebenfalls bemerkt hatte. Aber Seolar kam allen weiteren Fragen zuvor, indem er erklärte: »Ich habe versprochen, euch von den Rrön und von der Zerstörung des Himmels zu erzählen.« Er deutete auf die Sessel, und Lauren und Molly nahmen Platz. Seolar setzte sich ihnen gegenüber und drehte seinen Stuhl so, dass er sowohl die Fenster als auch die Tür im Auge behalten konnte. »Es ist ein Mythos, müsst ihr wissen - eine der Geschichten von den alten Göttern und den dunklen Göttern, die, so behaupten die Veyär jedenfalls, von durchreisenden alten Göttern stammen. So kann es gewesen sein. Es könnte auch Unsinn sein, und ich vermag nicht zu sagen, wie viel Wahrheit in diesen Geschichten steckt.« Er seufzte und sah aus dem Fenster. »Ein Körnchen Wahrheit werden sie wohl enthalten, denke ich.« Er warf Molly ein schwaches Lächeln zu, und sie erwiderte es. »Zu Anfang, in der Jugendzeit unserer Weltenkette, lebten alle Welten, und niemand reiste von der einen zu der anderen - und da die Völker einer jeden Welt dort blieben, wo sie hingehörten, gab es keine Götter; aber die Magie konnte frei strömen und war jedem verfügbar, der nach ihr griff. So geht die Geschichte.« Seolar zuckte die Achseln. »Das war das Paradies - alles war, wie es sein sollte, und das Böse, soweit es überhaupt existierte, bestand in kleinen Dingen, die sich auf die jeweilige Welt beschränkten. Dann öffnete sich ein Tor 65 und verschlang jenen, der zum ersten der alten Götter werden sollte, und trug ihn in die Welt unter der seinen, wo dieser erste alte Gott herausfand, dass er über mehr Macht gebot, als er sich hätte vorstellen können. Und die Macht sang zu seinem Herzen und zu seinem Geist und verbog seine Seele zu etwas Hässlichem, und er schuf weitere Tore. Durch diese Tore holte er einige seiner Freunde herbei und gab ihnen eine Welt, die sie ausbeuten konnten, und Einheimische, die sie niederwerfen und zu Sklaven machen konnten.« »Hübsch«, meinte Lauren. »Dann waren die ersten Torweber also Arschlöcher.« Seolars Augenbrauen zuckten in die Höhe, und Molly grinste und steuerte die Übersetzung bei. »Böse, schlechte Menschen.« Seolar sagte: »Aber das ... Arschloch ... ist der A... dies ist ein ziemlich derber Ausdruck ...« »Ja«, fiel Molly ihm ins Wort. »Das ist es. Wenn man jemanden als Arschloch bezeichnet, deutet man damit an, dass ... hm ... der Betreffende eine Menge vergleichbarer Eigenschaften besitzt.« Seolar dachte einen Moment lang gründlich darüber nach. Dann lächelte er. »Oh. Wie passend. Was für eine raffinierte Benutzung des Wortes, um einen bestimmten Sinn ohne lange Beschreibungen deutlich zu machen.« Er sah Lauren mit bewundernder Miene an und sagte: »Das ist eine hervorragende Wendung.« »Aber nicht gerade originell«, erwiderte Lauren errötend. An Molly gewandt fügte sie hinzu: »Sag mir, dass ich in Oria nicht soeben das Fluchen eingeführt habe.« »Du bist gerade in die Geschichte eingegangen - als moderner Prometheus«, erklärte Molly ihrer Schwester. »Seh...« Lauren unterbrach sich. »Nein. Für einen Tag habe ich genug Schaden angerichtet.« 66 Seolar runzelte die Stirn. »Ich fand, dass die Anwendung dieses Wortes außerordentlich geistreich von dir war.« »Mag sein«, stimmte Lauren zu, »aber falls ich es jemals in die Geschichtsbücher schaffen sollte, möchte ich dort nicht als diejenige aufgeführt werden, die den Veyär das Fluchen beigebracht hat. Also, was ist aus den ersten alten Göttern geworden?« »Sie erzählten ihren Freunden von der ungeheuren Magie, die jenseits der Tore auf sie wartete, und diejenigen, die es konnten, holten ihre Freunde herbei, die ihrerseits Freunde holten, bis die alten Götter die erste Welt, die sie gefunden hatten, vollends überschwemmten, ihre Magie aussaugten und es in ihrer eigenen Welt zu Problemen kam, weil in der Welt darunter Magie zu bösen Zwecken verwendet worden war. Ihre Welt litt. Also wanderten noch mehr Leute in die Welt darunter ab und von dort aus in die Welt unter dieser. Und an irgendeiner Stelle kamen diese relativ weichen und arglosen alten Götter mit den Rrön in Berührung.« Seolar flüsterte das Wort, und Molly sah, dass er in die Dunkelheit hinter dem Fenster hinausstarrte. Sie hätte ihm sagen
können, dass die Rrön noch immer dort draußen kreisten, aber sie tat es nicht. Sie bezweifelte, dass er wissen wollte, wie genau sie das Haus beobachteten oder dass sie sich ausmalten, wie sie jeden innerhalb seiner Mauern töten würden. Ebenso wenig würde Seolar hören wollen, wie sehr diese Kreaturen das Kupfer verabscheuten, das die Bewohner vom Kupferhaus vor ihrer Magie schützte. Seolar schüttelte den Kopf und fuhr fort. »Die Rrön lernten schnell. Es dauerte nicht lange, und sie verstanden die Funktionsweise der Tore, wie noch niemand es vor ihnen getan hatte. Sie wussten, wie sie gegen die natürliche Strömung in die obere Welt gelangen konnten, sie konnten mit 67 Magie umgehen, und sie verstanden, auf welche Weise die Magie zwischen den Welten fließt. Außerdem fanden sie heraus, dass eine Welt sie mit zusätzlicher Magie versorgen konnte, wenn sie diese Welt töteten. Mit der Zeit weihten sie andere in ihren Plan ein - einige der teuflischsten unter den alten Göttern, wie die Keth und die Shuminn, schlössen sich ihnen an. Sie begannen gezielt, Magie aus den Welten zu ziehen, in die sie kamen, sie verleibten sich diese Welten ein, so berichtet die Geschichte, und saugten sie aus, bis eine nach der anderen starb. Und wenn eine Welt starb, machte die in ihrem Sterben freigesetzte Magie die Rrön noch stärker, so dass sie die nächste Welt noch schneller töten konnten.« Molly und Lauren sahen einander an. Molly nickte - das war etwas, das Laurens Eltern in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Einige der alten Götter töteten Welten mit voller Absicht. »Das ist die Geschichte von der Zerstörung des Paradieses«, fuhr Seolar fort. »Dass keiner der alten Götter an der Weltenkette entlangreisen sollte, dass einige der alten Götter sich jedoch von dem Tod der Welten nährten; dies sind die dunklen Götter, und ihre Unbarmherzigkeit, ihre Gnadenlosigkeit und ihre Schlechtigkeit übersteigen jedes Begreifen. Ohne sie würde, so sagen es die Geschichtenerzähler, keine Welt sterben.« Er erhob sich. »Das mag die Wahrheit sein. Es mag auch ein Irrtum sein. Aber ob die Rrön und die dunklen Götter nun das Leben von Welten trinken, um ihre eigene Unsterblichkeit zu nähren, oder ob sie einfach böse sind aus purer Lust daran oder ob irgendein Hunger sie treibt, sie werden auf jeden Fall zwischen euch beiden und dem stehen, was ihr zu tun hofft. Sie sind eure Feinde und können nichts anderes sein. Sie sind die Feinde allen Lebens.« Dann wandte 68 er sich an Molly und sagte: »Es ist spät geworden. Ich lasse die Diener etwas zu essen bringen, dann können sie deiner Schwester ihre Gemächer zeigen. In Anbetracht der Umstände denke ich, dass wir am besten beraten wären, wenn wir heute Abend kein Fest veranstalten würden.« »Oh, für mich bestimmt nicht«, erklärte Lauren. »Ich brauche etwas Ruhe. Ich bin vollkommen erschöpft.« Seolar verbeugte sich. »Und morgen könnt ihr beiden ... mit eurer Arbeit beginnen, wenn ihr so weit seid.« Cat Creek Pete lehnte sich an die Schlafzimmertür in Laurens Haus und versuchte, ein Muster in dem Durcheinander zu erkennen. Sie hatte hastig gepackt und die Spielzeugkiste nach Spielsachen für Jake durchstöbert. Außerdem hatte sie ihren Kleiderschrank nach etwas durchwühlt, das sie im obersten Regal bei den Schuhkartons aufbewahrte. Das Bild des Heiligen Toten Ehemannes war auch von ihrem Nachttisch verschwunden. Aber ihr Wagen stand in der alten Werkstatt versteckt, verborgen unter einer Plane, und die Ex-Schwiegereltern waren immer noch in Kalifornien und entsetzt über den bloßen Gedanken, sie könnten irgendetwas mit ihrer hinterwäldlerischen Ex-Schwiegertochter oder deren Kind zu tun haben wollen. Oh Mann, wie er diese Leute verabscheute. Und sowohl Laurens Kleider als auch die von Jake waren buchstäblich unberührt. Sie war freiwillig fortgegangen, und er war ziemlich sicher, dass sie und Jake allein unterwegs waren. Aber nicht nach Charlotte. Er vermutete, dass sie während des Wachwechsels der Wächter nach Oria hinübergeschlüpft waren. 69 Was bedeutete, dass sie ihn belogen hatte. Schön zu wissen, dass sie darin nicht besonders gut war. Kein Mann plante gern eine Zukunft mit einer guten Lügnerin. Also. Irgendetwas war passiert, und da Lauren den Wächtern nichts davon erzählt hatte, vermutete Pete, dass es irgendwie mit den geheimen Plänen zu tun haben musste, die sie und ihre Schwester verfolgt hatten. Der Theorie nach hatte er sich auf Gedeih und Verderb den Wächtern verschworen. Aber Lauren und Molly hatten irgendetwas ausgeheckt - und wenn es hart auf hart kam, würde Pete sein Geld darauf setzen, dass Lauren auf der Seite des Guten stehen würde, ganz gleich, welche Position die Wächter einnehmen mochten. Er sah auf die Uhr. Es war eindeutig zu spät, um Eric wegen einer scheinbaren Belanglosigkeit anzurufen. Pete würde einfach am nächsten Morgen auf dem Revier mit ihm reden. Er wollte Eric den Brief zeigen und sagen, dass er Laurens Geschichte überprüft habe und die Schwiegereltern waschechte Arschlöcher waren, und dass er in Laurens Haus wohnen und ein Auge auf die Dinge halten würde, bis sie zurückkam. Dann würde er übergangslos auf den neuesten Klatsch überschwenken, die Geschichte, wie Mayhem eine der beiden neuen Frauen, Darlene, angemacht und dafür ein volles Glas Pepsi ins Gesicht bekommen hatte. Pete nickte. Der Plan gefiel ihm. Er ging nach unten in Laurens Wohnzimmer, schleuderte die Schuhe von den Füßen und ließ sich auf das Sofa sinken. Es bestand für ihn ein gewisser Unterschied darin, die Sachen aus Laurens Kühlschrank zu essen oder in
ihrem Bett zu schlafen. Letzteres würde er nicht tun, bevor er dazu eingeladen wurde. Und sie da wäre, um das Bett mit ihm zu teilen. 4 Kupferhaus KLACK - KLACK »Wumm!« Klack - schütter - klack - bum. »Kaaa... WUMM!« Lauren öffnete ein Auge. Ein fremdes Schlafzimmer. Das Licht ein wenig zu pfirsichfarben. Jake saß im Nebenzimmer auf dem Fußboden, mit Bearish auf der einen Seite und Mr Puddleduck auf der anderen, und ließ Autos gegeneinander krachen. Sehr schnell verlor sie ihre Schläfrigkeit und war hellwach. Heiliger Himmel - sie glaubte nicht, dass Jake in diesem Haus allein Türen öffnen konnte. Die Riegel, die hier benutzt wurden, erforderten eine gewisse Koordination, und alle Türen wogen eine Tonne. Aber sie würde sich verdammt genau davon überzeugen, dass er die Türen tatsächlich nicht öffnen konnte, bevor sie es noch einmal wagte, so tief zu schlafen. In diesem riesigen, alten Haus, in dem es von Fremden und Gefahren nur so wimmelte, durfte sie kein Risiko eingehen. Sie richtete sich auf und reckte sich, und er drehte sich lächelnd zu ihr um. »Hallo, Äffchen«, sagte sie. »Hallo, Mama. Bearish hat sein Auto kaputtgefahrt.« »Das hat er getan? Dann muss er in Zukunft etwas vorsichtiger sein.« »Ja«, pflichtete Jake ihr bei. »Er hat sich wehgetut. Er hat eine Beule am Kopf bekommt.« 71 »Das tut mir Leid. Soll ich ihn küssen, damit es besser wird?« Jake nickte und brachte Bearish zu ihr, und sie fragte: »Wo tut es ihm denn weh?« Sie hatte gelernt, solche Fragen zu stellen - medizinische Küsse an der falschen Stelle hatten stets ein entrüstetes »NEIN! Da doch nicht!« von Jake zur Folge. »Genau da«, sagte Jake und zeigte auf die Stelle. Lauren küsste den Bären auf den Hinterkopf. »Ist jetzt alles wieder gut?« »Ja«, sagte er und stieg zu ihr ins Bett. »Danke.« Er setzte sich neben sie, eine Hand auf ihrem Knie. Er wirkte beunruhigt. »Was ist los, kleiner Wolf?« Jake dachte einen Moment lang nach und suchte nach den richtigen Worten. »Ich habe von Daddy geträumt.« Oh nein. Lauren nahm ihn in die Arme und knuddelte ihn. »Was hast du geträumt?« »Autos sind über Daddy gefahrt.« Das war etwas, das sie ihm nie erzählt hatte. Es mussten Erinnerungen sein, die er von Brian übernommen hatte. Brian hatte Jake das Leben gerettet, indem er ihm einen Teil seiner Seele gab. Das hatte Jake am Leben erhalten, während er und Molly zwischen den Welten waren. Und es hatte Jake in vielen kleinen Dingen verändert. Er kannte jetzt mehr Worte, sprach deutlicher, benutzte Ausdrücke, die sein Vater benutzt hatte ... und erinnerte sich anscheinend an Dinge, die Brian zugestoßen waren. »Ja. Es war ein Bus, der Daddy überfahren hat.« »Kannst du Daddy nicht küssen, damit er wieder gesund wird?« Lauren drückte Jake fest an sich. »Ach, Liebling. Ich wünschte, das hätte ich tun können. Ich wünsche es mir mehr, als du jemals wissen wirst. Aber Daddy war zu 72 schlimm verletzt für Küsse. Nichts konnte ihn wieder gesund machen.« »Oh.« Jake legte den Kopf an ihre Schulter. »Er war ein guter Daddy.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie blinzelte dagegen an. »Der beste«, sagte sie, mit plötzlich heiserer Stimme. Sie schluckte energisch. »Hol ihn zurück«, verlangte Jake. Lauren schloss die Augen. »Glaub nicht, daran hätte ich nicht auch schon gedacht.« Sie küsste Jake auf die Stirn und zerzauste ihm das Haar. »Aber ich kann es nicht«, sagte sie. »Er ist an einem Ort, von dem ich ihn nicht zurückholen kann. Er ist... weit weg. Er ist fort.« »Ich will ihn zurückholen.« Sie drückte ihn noch fester an sich. »Ich auch, Liebling. Ich auch.« Kupferhaus Molly erwachte mit dem ganzen Gewicht der Rron in ihrem Kopf und verbrachte den ersten Teil des Morgens mit Seolar. Dabei vermied sie es, die Anwesenheit dieser Kreaturen draußen vor dem Fenster und in ihren Gedanken zu erwähnen. Als Seo ging, um sich seinen täglichen Pflichten zu widmen, beschloss sie herauszufinden, warum sie die Rron hören konnte. Erst wenn sie sich darüber im Klaren war, konnte sie irgendwelche Pläne mit Lauren machen. Im Kupferhaus gab es eine hervorragende Bibliothek. Sie konnte kein einziges Wort in diesen Büchern lesen, da sie bisher noch keine der vielen hundert orianischen Sprachen beherrschte - wenn sie einen Orianer sprechen hörte, übersetzte ihr Gehirn mithilfe einer Magie, die nur wenig Ener73 gie kostete, die Worte ins Englische. Bei geschriebenen Texten versagte diese Magie jedoch.
Also holte sie Birra, der vor der Tür Wache stand. »Komm mit mir«, sagte sie. »Wir haben zu arbeiten.« Birra lächelte sie an. »Du siehst heute einfach prachtvoll aus, Vodi. Ich bin so froh, so ungeheuer froh, dass du ... nach Hause zurückgefunden hast.« »Ich auch - um es mal höflich auszudrücken.« Sie eilte den Korridor hinunter, auf die Bibliothek zu. Birra ging neben ihr her. »Also, was für eine Art Arbeit ist das, von der du gesprochen hast?«, fragte Birra. »Wir stellen Nachforschungen über die Rrön an. Und über frühere Vodi.« Während ihrer Zeit auf Oria hatte Molly herausgefunden, dass Befehle viel Zeit sparten - dass Leute wie Birra, die zum Dienen ausgebildet waren, bei höflichen Bitten in Verwirrung gerieten und nicht begriffen, was von ihnen erwartet wurde. Es lag ihr nicht besonders, Befehle zu erteilen - sie war als einfacher Soldat, nicht als Offizier bei der Luftwaffe gewesen -, aber sie hatte oft genug welche bekommen und glaubte, dass sie sich recht gut darauf verstand, Autorität zu heucheln. »Vodi?« Birra klang bekümmert. Molly verlangsamte ihren Schritt keineswegs. »Ja, Birra?« Das Schweigen zwischen ihnen zog sich immer mehr in die Länge, und Molly fühlte sich mit jedem neuen Schritt den Flur hinunter unbehaglicher. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Birra den Mund öffnete und wieder schloss, als sei er ein Fisch, den jemand ans Ufer geworfen hatte. Er wirkte ebenso verängstigt wie entsetzt, und solange sie Birra kannte, hatte sie weder den einen noch den anderen Ausdruck je bei ihm beobachten können. 74 »Spuck es aus, Birra«, verlangte Molly. Er warf den Kopf herum und starrte sie an. »Ich habe nichts im Mund, Vodi.« Molly seufzte. Fast alle umgangssprachlichen Redewendungen blieben bei der Übersetzung jämmerlich auf der Strecke, und doch konnte sie sie sich nicht abgewöhnen. »Erzähl mir, was du sagen willst und von dem du glaubst, dass ich es nicht würde hören wollen.« »Oh.« Wieder folgte eine Pause, aber als das Schweigen einmal mehr beklemmend zu werden drohte, seufzte Birra und sagte: »Es gibt so viele andere Dinge, die du mit deinem Tag anfangen könntest, Vodi. Deine Schwester und ihr Sohn sind hier, und du hast doch gewiss die Absicht, mit der Jägerin Pläne zu schmieden ...« Molly hob die Hand. »Halt. Seit ich dich kenne, Birra, hast du dir stets die Mühe gemacht, ehrlich zu mir zu sein. Jetzt bist du nicht ehrlich. Du verbirgst etwas. Was ist es?« Birra sah sie nicht an. Als sie die Türen der Bibliothek erreicht hatten, erklärte er mit steifem, förmlichem Tonfall: »Ich glaube nur, Vodi, dass es dir keine Freude bringen wird, wenn du nach Informationen über die Rrön oder über frühere Vodi suchst. Ich würde dir davon abraten, einfach weil ich dich nicht unglücklich sehen möchte.« »Man sucht nur selten nach Informationen, weil man sich Glück davon erhofft«, bemerkte Molly. »Du wirst mir die Informationen, die ich brauche, doch geben, oder?« »Ja.« »Schön. Bitte, suche mir alles heraus, was wir über die Rrön haben. Woher sie kommen, woran sie glauben, wo sie gewesen sind, was sie getan haben - alles. Außerdem brauche ich Biografien früherer Vodi, insbesondere jedwede Aufzeichnungen über Kontakte zwischen den Vodi und den Rrön.« 75 »Das ganz besonders?« Molly nickte. »Das ganz besonders. Etwas Komisches geht in meinem Kopf vor, Birra, und ich möchte wissen, was das ist und wie ich ihm ein Ende machen kann.« »Also gut. Welche Bücher sollen wir uns zuerst ansehen?« Molly dachte kurz nach. »Die aktuellsten Informationen.« »Wie aktuell ist aktuell?« »Alles, was während des letzten Jahres geschrieben wurde.« Birra schüttelte den Kopf. »In den letzten zehn Jahren?« Wieder schüttelte Birra den Kopf. »Heiliger Himmel. Die letzten fünfzig?« »Wir haben möglicherweise etwas da, das in den letzten fünfzig Jahren geschrieben wurde, aber ich würde nicht auf die Verlässlichkeit dieser Texte bauen.« Molly sah ihn von der Seite an, um festzustellen, ob er ihr einen Bären aufband, aber er wirkte todernst. »In Ordnung. Weißt du von irgendwelchen Dokumenten, die sich eigens mit Kontakten zwischen den Vodi und den Rrön beschäftigen, ganz gleich, in welcher Epoche deiner Welt?« »Nein.« »Nein. Natürlich nicht. Wie wäre es dann, wenn du mir einfach helfen würdest, alles zu finden, was ihr über die Rrön habt. Und ich möchte auch sämtliche Biografien der Vodi sehen - und überhaupt alles, was über meine Vorgängerinnen niedergeschrieben wurde.« Birra warf einen Blick in einen Aktenordner, griff nach einem Verzeichnis, das auf dem Ordner lag, und ermittelte die Titel und Katalognummern der Bücher, die er brauchte. Molly, die ihm über die Schulter sah, erkannte den Unterschied zwischen den Zahlen und den Buchstaben des oria-
76 nischen Schreibsystems, aber das war auch schon alles. Sie musste unbedingt lesen lernen. Die Tatsache, dass sie es nicht konnte, frustrierte sie ungeheuer. Sie folgte Birra durch die Reihen, ging mit ihm treppauf, treppab in andere Stockwerke und half ihm schließlich, die beiden Stapel mit Büchern und Manuskripten zu tragen, die er hatte aufspüren können. Sie hievten alles auf einen langen Tisch unten vor dem Kamin, und Molly setzte sich. Sie bedeutete Birra, neben ihr Platz zu nehmen, und sagte: »Jetzt erklär mir, was wir hier haben.« »Das erste Manuskript heißt Imallin Merionals Gespräche mit den dunklen Göttern und wurde wahrscheinlich vor fünfhundert Jahren niedergeschrieben. Ich kann nicht beschwören, dass viel über die Rrön dort drinsteht, aber es wäre möglich, und es lohnt sich gewiss, einen Blick hineinzuwerfen. Merionals Fähigkeit zu klarem schriftlichem Ausdruck und seine Wahrhaftigkeit sind über die Jahrhunderte hinweg gerühmt worden. Molly nickte. »Das klingt viel versprechend. Was haben wir sonst noch?« »Jene, deren Namen nicht genannt werden. Nach meinem besten Wissen handelt es sich hier um eine Zusammenfassung unserer Kenntnisse über die Rrön und die Keth, ein Werk, das die Veyär vor etwa erst hundert Jahren verfasst haben. Das Buch hatte aufgrund seines geringen Alters bisher noch keine Chance, seinen bleibenden Wert unter Beweis zu stellen, aber es wird dir vielleicht von einigem Nutzen sein, wenn du bereit bist, mögliche Irrtümer in Kauf zu nehmen.« Hundert Jahre alt, und in Birras Augen handelte es sich um aktuelle Informationen. Molly seufzte. Die Veyär waren kein Volk, das großes Interesse an der ständig in Veränderung begriffenen, von Nachrichten getriebenen Welt ge77 habt hätte, aus der Molly kam, einer Welt, in der man stets danach trachtete, auf dem neuesten Stand zu sein. Sie zogen Informationen vor, die gut abgelagert waren - am liebsten schon etwas bemoost. Vermutlich war diese Vorliebe für alte Informationen und ihr Argwohn gegenüber neueren der Grund, warum es ihnen gelang, zwei miteinander verwandte Illusionen aufrechtzuerhalten: zum einen, dass alles ungefähr so blieb, wie es immer gewesen war, und zum anderen, dass die Welt ein verständlicher Ort war. Molly jedoch wäre überglücklich gewesen über einen druckfrischen, möglicherweise kontroversen, unerprobten Bericht von einem Team von Anthropologen, Biologen und Soziologen, die während der letzten fünf oder zehn Jahre die Rrön und ihre Gesellschaft seziert und den jüngsten Klatsch und Tratsch zu einer dicken, vielsilbigen Einschätzung zusammengetragen hätten. Irgendwo im Kern dieses Berichts hätte sie den Grund gefunden, warum sie die Bastarde denken hören konnte, warum sie einen geheimnisvollen, unaussprechlichen, unheimlichen Drang verspürte, ins Freie hinauszurennen und zu schreien: »He, ich bin eine von euch«. Und irgendwo in diesem Bericht hätte sie auch die Information gefunden, was zum Teufel sie dagegen unternehmen sollte. Birra listete die anderen Manuskripte und Bücher für sie auf: Das Leben der Vodi Elsbeth. Das Leben der Vodi Melantha. Das Leben der Vodi Aki. Das Leben der Vodi Kelda. Die Reisen der Veyär aus der Verlorenen Heimat. Die Erzählungen des Imallin Galorayne. Daneben fanden sich einige Journale ohne Titel. Es sah so aus, als würde es ein langer Tag werden, aber das sollte Molly nur recht sein. Sie sagte: »Also schön. Fangen wir mit den Dunklen Göttern Merionals an. Das Wort >Gespräche< klingt zumindest viel versprechend.« 78 Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und stellte fest, dass Birra sie verwirrt ansah. »Was ist los?« »Ich verstehe nicht, Vodi. Ich habe dir die Bücher herausgesucht. Was soll ich jetzt mit ihnen anfangen?« »Lies sie mir vor.« Einen winzigen Augenblick lang hielt seine Verwirrung an. Dann erschien auf Birras Zügen ein kaum merklicher Ausdruck der Erleichterung, und er sagte: »Du willst, dass ich sie dir vorlese?« »Ich kann nicht lesen - zumindest nicht diese Bücher. In meiner eigenen Sprache habe ich keine Probleme mit dem Lesen.« »Aber wenn du dir diese Bücher ansiehst, die ich für dich herausgesucht habe, dann kannst du die Worte nicht erkennen? Du verstehst sie nicht... überhaupt nicht?« »Kein einziges Wort«, bestätigte Molly. »Das ist etwas, das sich ändern muss, aber für den Augenblick brauche ich einen Vorleser. Und dieser Vorleser wirst du sein ... denn ich weiß, dass ich darauf vertrauen kann, dass du ehrlich zu mir sein wirst. Habe ich Recht?« »Selbstverständlich, Vodi«, antwortete Birra. Aber in seiner Miene spiegelten sich noch immer winzige Spuren von Erleichterung wider. Sie fragte sich, was in diesen Büchern stand, das er sie nicht wissen lassen wollte. Was es auch war, Molly war davon überzeugt, dass es ihr nicht gelungen war, Birra dazu zu überreden, ihr die Wahrheit zu präsentieren. Es kam ihr immer noch so vor, als erfülle die Situation ihn mit einem winzigen Hauch von Befriedigung, dem Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Solange sie diese Schriften nicht selbst lesen konnte, war die Welt für ihn in Ordnung. Sie konnte also nur darauf hoffen, dass es ihm nicht ge79 lingen würde, herauszufinden, welche Informationen sie am dringendsten benötigte, so dass ihm irgendetwas
entschlüpfen würde. Birra überflog die Seiten und las ihr den Titel der einzelnen Kapitel vor, und Molly drängte: »Weiter ... weiter ... weiter ...«, bis er zu einem Abschnitt mit der Überschrift »Meine Unterredung mit Baanraak« kam und Molly den Namen erkannte. Baanraak war der Killer, den der Anführer der Rrön suchen wollte. »Lies mir dieses Kapitel vor«, befahl sie. Birra runzelte die Stirn und seufzte, begann jedoch zu lesen. Baanraak fand sich bereit, sich mit mir in den Wäldern weit jenseits des Dorfes zu treffen. Er sollte schönes, gelbes Gold dafür bekommen, und mir hatte er dafür meine Sicherheit garantiert; als wir uns wie vereinbart trafen, gab ich ihm die erste Hälfte des Goldes, um meine guten Absichten unter Beweis zu stellen, und er verschlang mich nicht unverzüglich mit Haut und Haaren und bewies damit seinerseits, dass er sich an die Vereinbarungen halten würde. Wie viele der dunklen Götter, die ich bisher kennen gelernt habe, ist er von Angesicht zu Angesicht durchaus freundlich und weiß eine gute Geschichte zu erzählen. Er berichtete mir von einigen seiner Heldentaten in Welten oberhalb der unseren, und obwohl ich ihm nicht in jedem Punkt Glauben schenkte, erzählte er seine Geschichten doch mit großer Begeisterung und einem so guten Blick für das Detail, dass ich seinen Worten voller Faszination lauschte. Er stimmt mit anderen dunklen Göttern darin überein, dass es in der Weltenkette keine anderen Geschöpfe wie uns gibt, 80 dass wir die einzigen Veyär sind - und das ist ein Gedanke, dem ich nicht beipflichten kann. Gewiss würden die Götter, wenn sie erst einmal erkannt hatten, dass ihnen eine Sache gut gelungen war, dasselbe immer wieder genauso machen. Molly konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Birra sah zu ihr auf. »Du bist nicht der Meinung, dass die Götter ihre Sache bei den Veyär gut gemacht haben?« »Darüber habe ich nicht gelacht. Der Verfasser klingt nur genauso wie viele Menschen, die ich kenne. Diese Leute glauben entweder, die Menschen seien die einzigen lebenden, denkenden Wesen im Universum und existierten nirgendwo anders als auf der Erde, oder sie vertreten die Auffassung, dass es anderswo durchaus Leben gebe, dass es jedoch alles menschlichen Ursprungs sein müsse.« »Gibt es in eurer Welt keine anderen Geschöpfe«, fragte Birra, »so wie wir die Tradrona haben oder die Goroths und noch etwa ein Dutzend anderer Rassen?« »Nein«, antwortete Molly. »So etwas gibt es bei uns nicht. Vielleicht hat es einmal welche gegeben, aber heute nicht mehr.« »Was ist dann mit den alten Göttern? Deine Leute können doch unmöglich die alten Götter sehen und glauben, sie seien die einzigen Besitzer des Universums.« »Die alten Götter haben sich auf der Erde rar gemacht«, erklärte Molly. »Entweder sind sie weitergezogen oder sie halten sich versteckt.« Birra runzelte die Stirn. »Ich wünschte, ich wüsste, wie ihr das zuwege gebracht habt. Diese Welt wäre eine bessere ohne sie.« Molly schenkte ihm ein trauriges kleines Lächeln und sagte: »Ich denke, das liegt daran, dass unsere Welt bereit 81 ist, zu sterben. Die meisten alten Götter ziehen weiter, weil sie dort nicht in der Falle sitzen wollen, wenn es so weit ist.« »Ah.« Birra schüttelte den Kopf. »Dann vergessen wir das also. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, sie bei uns zu dulden.« Er wandte sich wieder dem Buch zu. Baanraak schien mir ehrlicher zu sein als die meisten der alten Götter, die mit mir gesprochen haben. Er schützt weder Schmerz noch Trauer über den Schaden vor, den er stiftet, noch behauptet er, den Weg zu bedauern, den er gewählt hat, lange bevor ich oder einer der Meinen geboren wurde. Er sagt, dass das Sterben ... Birra blätterte weiter und begann von neuem zu lesen. Dieser Baanraak behauptet, er habe nicht viel übrig für sein eigenes Volk, die Rrön, aber wenn ich seinen Worten Glauben schenken darf, so waren die Rrön von jeher einsiedlerische Kreaturen. »Moment mal«, sagte Molly. »Auf der Seite, die du gerade vorgelesen hast, stand etwas darüber, dass Baanraak gestorben ist.« »Keineswegs«, widersprach Birra. »An dieser Stelle lässt er lediglich eine lange und schauerliche Beschreibung der Ermordung von Veyär folgen, die ich anstößig fand. Ich möchte jetzt weiter vorlesen.« Molly starrte Birra an. Er belog sie. Seine Worte waren eine glatte Lüge gewesen. Und was immer er ausgelassen hatte, hing irgendwie mit ihr zusammen - oder zumindest mit Dingen, über die Birra sie im Unklaren lassen wollte. 82 Da Birra nichts aus eigenem Antrieb unternahm, musste sie davon ausgehen, dass er auf Befehl Seolars handelte. Aber warum? Von Birra würde sie es nicht erfahren, so viel war sicher. Vielleicht würde sie etwas aus Seolar herausholen können, aber nicht einmal darauf konnte sie sich verlassen. Eines stand jedoch fest: Sie musste verhindern, dass diese Bücher, die Birra für sie herausgesucht hatte, nicht bequemerweise einfach verschwanden, sobald sie sie
aus den Augen ließ. Wenn diese Bücher und Manuskripte Informationen enthielten, die Seolar unbedingt vor ihr verbergen wollte, wäre sie jede Wette eingegangen, dass sie sich in Luft auflösen würden, bevor sie am nächsten Tag noch einmal herkommen konnte. Sie heuchelte ein Gähnen und sagte: »Birra, lass uns das hier auf später verschieben, ja? Ich bin eine schlechte Gastgeberin für Lauren und ihren Sohn, und meine Schwester und ich haben weitaus wichtigere Dinge zu besprechen als irgendwelche alten Geschichten aus grauer Vorzeit.« Sie stand auf, und die pure Erleichterung, die von Birra ausging, wäre komisch gewesen, hätte sie nicht so deutlich gezeigt, wie sehr es ihm widerstrebte, dort zu sein, wo er war, und zu tun, was er tat. Auch er erhob sich und lächelte sie an. »Natürlich, Vodi. Wir können das hier gewiss zu einem späteren Zeitpunkt erledigen, wenn du nichts Wichtigeres vorhast.« »Stimmt.« Molly griff sich einen der Bücherstapel und sagte: »Nimm du die anderen, bitte. Wir bringen sie in meine Gemächer. Seolar kann sie mir heute Abend vorlesen oder vielleicht ein andermal.« Birra nickte und nahm die Bücher auf. »Natürlich.« Sie trugen die beiden großen Stapel in die geräumige Suite, die Molly sich mit Seolar teilte, aber sie hatte genau83 so wenig die Absicht, die Bücher dort zu lassen, wie sie sie in der Bibliothek gelassen hätte. »Birra«, sagte sie, »ich möchte mich umziehen. Würdest du währenddessen bitte Lauren herholen? Ich muss mit meiner Schwester reden.« »Selbstverständlich, Vodi. Soll ich den langen Weg zu ihren Räumen nehmen, damit du genug Zeit hast, dich umzukleiden?« Molly lächelte. »Wenn du so freundlich sein willst, dann zeig ihr auf dem Weg hierher das ganze Haus. Ich könnte auch ein Bad gebrauchen. Diese Bibliothek hatte etwas an sich, das mir das Gefühl gibt, plötzlich ganz staubig und klebrig zu sein.« Sie hob die Hände, an denen tatsächlich ein wenig Bücherstaub haftete, und gab sich mit Erfolg den Anschein, als finde sie das grässlich. »Sie wird ein wenig später hier eintreffen; ich werde dafür sorgen, dass sie alle bemerkenswerten Teile des Kupferhauses zu sehen bekommt.« »Danke«, sagte Molly. »Du warst mir eine große Hilfe.« Als Birra gegangen war, wickelte Molly die Bücher in zwei ihrer Reiseumhänge, verschnürte sie mit Ledergürteln und rief zwei von Seolars Wachen herbei, denen sie den Auftrag gab, die Päckchen in Laurens Zimmer zu bringen. Wenn Lauren nicht da sei, wies sie die Männer an, sollten sie sie einfach auf ihr Bett legen. Als das erledigt war, nahm sie ein Bad und schlüpfte in bequeme Kleider. 5 Kupferhaus Lauren, die Jakes Hand fest umklammert hielt, sah Birra durchdringend an. »Wie weit ist es denn noch bis zu ihrem Zimmer?« »Wir müssen nur noch durch diesen Korridor.« »Dieser Korridor hat verdächtige Ähnlichkeit mit dem, der zu dem Flur führt, von dem unsere Zimmer abzweigen.« »So ist es«, erwiderte Birra und warf ihr ein Lächeln zu, das freundlich wirken sollte, vermutete Lauren. Lauren biss sich in die Wange, um sich daran zu hindern, ihre Gedanken laut auszusprechen. Dann holte sie tief Luft. »Hat es dir keinen Spaß gemacht, dir das Kupferhaus anzusehen?«, fragte Birra. Er klang ehrlich überrascht. »Es ist wunderschön. Aber ich dachte, meine Schwester wollte mit mir reden - und sie und ich haben eine Menge miteinander zu besprechen. Ich befürchte, dass Hausbesichtigungen zurzeit ganz unten auf meiner Prioritätenliste stehen.« »Sie musste sich umziehen und baden, wollte aber nicht, dass du allein in deinem Zimmer sitzt, während sie das tat; deshalb hat sie mich gebeten, dir mit einer Führung durch das Kupferhaus die Zeit zu vertreiben.« »Das Haus ist wirklich schön«, sagte Lauren und fragte sich gleichzeitig, was für ein frivoles Geschöpf ihre Halbschwester sein mochte, wenn ihr Hauptanliegen darin bestand, die Kleider zu wechseln, obwohl sie dringend über 85 die Ungeheuer draußen und das Schicksal der Welt hätten reden müssen. Birra führte sie in Mollys Zimmer, doch bevor Molly Lauren auch nur begrüßte, sagte sie: »Birra - ich muss dich um einen riesigen Gefallen bitten; es ist mir grässlich, dir damit zur Last zu fallen, aber ich fürchte, es ist schrecklich wichtig. Ich brauche eine Liste sämtlicher Völker von Oria mit einer genauen Beschreibung ihres Aussehens und all der Dinge, die über ihre Philosophie, ihre Religion und ihren Glauben bekannt sind. Außerdem benötige ich eine Liste aller bekannten alten Götter und dunklen Götter sowie sämtlicher Informationen, die wir über sie haben. Ich habe beim Baden nachgedacht. Lauren und ich benötigen diese Informationen, sobald du sie beschaffen kannst.« Lauren warf einen Blick auf Birra und sah, dass er ein langes Gesicht machte. »Noch mehr Nachforschungen, Vodi?« »Ich fürchte, ja. Aber dies ist - wirklich wichtig. Ohne diese Listen können wir nicht tun, was wir tun müssen.«
Birra richtete sich ein klein wenig höher auf. »Ich werde einige Gelehrte versammeln. Wir werden die Informationen, um die du bittest, innerhalb einer Woche beschaffen können.« »Eigentlich«, bemerkte Molly, »brauche ich sie heute. Und zwar so detailliert wie möglich.« Lauren hörte Birra etwas murmeln, das verdächtig wie »Oh, Scheiße!« klang. »Du sollst deine Informationen noch heute bekommen«, versprach er und wandte sich zum Gehen, ohne den Gruß der Wachen zu bemerken. »Komm rein«, sagte Molly, sobald er außer Hörweite war. Ihr ganzes Verhalten hatte sich verändert. »Was geht hier vor? Der Auftrag, mit dem du ihn gerade weggeschickt hast, klang in meinen Ohren vollkommen idiotisch.« 86 »Das war er auch«, antwortete Molly. »Genauso idiotisch wie es war, dich durch diesen verdammten Steinhaufen schleppen zu lassen. Ich musste einige Bücher in dein Zimmer bekommen, ohne dass Birra etwas davon erfuhr. Ich habe eine der Zimmerwachen mit einer kleinen Notlüge dazu gebracht, mir an ihrer Stelle einige andere herbeizuschaffen, damit Birra nichts bemerkt. Ich habe ein Problem.« »Das hatte ich mir irgendwie schon gedacht«, bemerkte Lauren. Sie setzte Jake in einen Sessel, gab ihm Mr Puddleduck und zwei der Crash-Autos und sagte: »Spiel ein paar Minuten.« »Spielst du mit?« »Gleich«, erwiderte Lauren. Dann küsste sie ihn auf die Stirn und fügte hinzu: »Fürs Erste könntet ihr beiden, du und Mr Puddleduck, die Autos fahren, okay?« Jake nickte. Seit er beschlossen hatte, dass Mr Puddleduck außerdem der Robin zu seinem Batman war, konnte Jake sich sehr lange mit diesem ausgestopften Tier beschäftigen, ohne sich zu langweilen. Er hockte sich zu den Autos und der Ente auf den Fußboden und begann zu spielen, wobei er sich mit seiner Ente unterhielt, ihr Fragen stellte und dann mit seiner Entenstimme Antwort gab. Molly beobachtete ihn ein paar Sekunden lang mit großen Augen. »Das ist... wow. Das ist wirklich merkwürdig.« »Manchmal hat er auch noch zwei oder drei unsichtbare Freunde dabei. Er macht alle Stimmen selber, manchmal sogar mit Akzent. Ich habe mir mit ihm einen Harry-Potter-Film angesehen, und das war vielleicht der schlimmste Fehler, den ich je gemacht habe - nachdem er ihn gesehen hatte, ist er dahinter gekommen, dass nicht alle Leute gleich reden.« »Puh.« Molly zog eine Grimasse. »Ich wette, das treibt dich manchmal die Wände hoch.« 87 »Allerdings.« Lauren blickte auf ihren Sohn hinab, der jetzt mit solcher Heftigkeit seine Autos gegeneinander krachen ließ, dass sie sich wünschte, sie hätte daran gedacht, andere Spielsachen für ihn mitzunehmen. Unterdessen machten Jake und die Ente Bemerkungen wie: »Oh, oh, das ist aber gar nicht gut«, und: »Ich wette, das hat wehgetan«. Lauren beobachtete ihn und versuchte, nicht über die Dinge nachzudenken, die er ihr am Morgen offenbart hatte. Dann schob sie die Hände in ihre Jeanstaschen. Sie fühlte sich furchtbar unpassend gekleidet neben Molly in ihrer komplizierten Kreation aus Samt und Seide. »Was ist das für ein Problem, das du mit mir besprechen wolltest?« »Sie verbergen etwas Wichtiges vor mir«, sagte Molly. »Wer?« »Seolar. Birra. Alle Veyär.« Lauren fragte: »Hast du irgendeine Ahnung, was es sein könnte? Oder warum sie es tun?« »Es hat irgendwie mit den Rrön zu tun. Und mit den Vodi im Allgemeinen und mit mir, wie ich vermute, im Besonderen. Und vielleicht mit der unheimlichen ... Verbindung ..., die ich zu diesen Rrön da draußen verspüre.« »Du meinst deine Fähigkeit, zu hören, was einige von ihnen denken?« »Ja. Ich habe heute Morgen versucht, mehr darüber herauszufinden, aber ich musste mir die Bücher von Birra vorlesen lassen, da ich keine der orianischen Sprachen selbst lesen kann - und er hat Teile ausgelassen. Möglicherweise hat er auch einige Teile verändert. Sobald mir das klar wurde, habe ich mir von ihm helfen lassen, die Bücher hierher zu bringen. Damit Seolar sie mir später vorlesen könne, sagte ich, aber in Wirklichkeit möchte ich, dass du in Erfahrung bringst, wie ich die Wahrheit aus diesen Büchern herausbekomme.« 88 »Mach dich zu einer Leserin«, sagte Lauren. Molly sah sie stirnrunzelnd an. »Darüber brauchtest du aber nicht lange nachzudenken. Wie meinst du das? Soll ich mich in jemanden verwandeln, der lesen kann?« »Ich meine, du sollst irgendwo hingehen, wo du Magie wirken kannst, ohne dass dir all das Kupfer hier in die Quere kommt. Dann erschaffst du dir eine Lupe oder eine Art Scanner, den du nur auf die Seite eines Buches in irgendeiner fremden Sprache zu legen brauchst, damit es den Text in verständliches Englisch übersetzt.« »Glaubst du, das würde funktionieren?« »Aber sicher. Ich hatte keine Gelegenheit, allzu viel mit Magie zu arbeiten, aber mir sind schon nicht minder komplizierte Dinge gelungen. Wenn du vorsichtig bist, solltest du es schaffen, etwas mit einem sehr niedrigen Energiebedarf zustande zu bringen - und weil du diejenige bist, die es tut, wird das Ding keinen magischen Rückstoß auslösen.« Lauren runzelte die Stirn. »Genau genommen ist die Idee so gut, dass du mir auch so etwas
machen kannst. Ich habe das Gefühl, dass es ausgesprochen nützlich wäre, wenn wir alles lesen könnten, wo immer wir auch hinkommen.« Molly runzelte die Stirn. Offensichtlich hatte sie sich noch nicht wirklich mit der Tatsache abgefunden, dass sie abgesehen von der Heilmagie noch andere Zauber wirken konnte oder dass sie allein durch ihre Willenskraft so ziemlich alles erschaffen konnte, was sie sich deutlich vorzustellen vermochte. »Ich soll es einfach ... machen. Wie?« Lauren sagte: »Gibt es irgendeinen Raum im Kupferhaus, in dem du Magie wirken kannst, wo du aber trotzdem geschützt bist vor - sagen wir, vor Angriffen durch die Rrön?« Molly nickte. »Gut. Bring mich dorthin, und ich zeige dir, was ich meine.« 89 Molly warf einen Blick auf Jake, der gerade ein sehr braver Junge war und eine Menge Spaß mit seinen Autos hatte, die er über die komplizierten Fliesenmuster auf dem Fußboden von Mollys Wohnzimmer rollte. »Wir nehmen ihn mit«, sagte Lauren. »Er wird schon klarkommen.« »Dann lass uns gehen.« Draußen vor der Tür erklärte Molly den beiden Wachen: »Begleitet uns, bitte. Wir müssen in die Gemächer des Heilens.« Die Wachen nickten und nahmen Lauren, Jake und Molly in ihre Mitte. Sobald sie auch nur in die Nähe einer Weggabelung kamen, nickte eine der beiden Wachen den anderen zu, die in dem betreffenden Korridor standen, und diese Männer traten eilig vor und setzten sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Lauren hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Die beiden anderen Wachen bildeten jetzt die Nachhut. Sie hatten ihre Stellung ohne großes Aufhebens und wie selbstverständlich gewechselt - aber Lauren wurde trotzdem klar, wie engmaschig die Sicherheitsvorkehrungen waren, die Seolar getroffen hatte. An den meisten Stellen, an denen ein Korridor den anderen kreuzte, kamen sie an weiteren Wachposten vorbei. Sie lächelte den Männern zu, die ihren Gruß mit einem Nicken erwiderten. Aber ihre Konzentration galt den Personen, die sich durch die Korridore bewegten. Lauren begriff, dass sie niemandem begegnen würden - weder Dienern, noch anderen Gästen -, und glaubte bereits, dass Seolar am Abend zuvor fast alle Bewohner des Kupferhauses fortgeschickt hatte, bis sie dann doch einige Leute sah, die von Wachposten am Ende eines langen Korridors weggeführt wurden. Die Wachen schafften also die Leute aus dem Weg. Sie wollten offensichtlich verhindern, dass irgendjemand ihr oder ihrer Schwester nahe kam. Sie 90 konnte es Seolar nicht zum Vorwurf machen, dass er sich um ihre und Mollys Sicherheit sorgte. Es tat ihr auch nicht Leid, dass andere um ihretwillen Unbequemlichkeiten auf sich nehmen mussten; diese Ungeheuer kreisten noch immer über dem Kupferhaus, und wann immer Lauren an sie dachte, krampften sich ihre Eingeweide zusammen. Sie kamen an zwei kunstvoll gewölbte, mit Kupfer verkleidete Türen, die von den Wachen geöffnet wurden, bevor sie sich dann in dem riesigen Saal dahinter verteilten. »Wow«, sagte Lauren, als sie in den Raum hineinspähte. An der Wand, die ihnen am nächsten war, stand ein prachtvoller Thron auf einem Podest. Am anderen Ende des Saals machte sie zwei riesige Türen aus, die jetzt von innen verriegelt waren und ebenfalls mit Kupfer ummantelt schienen. »Kannst du uns irgendwie gegen ihre Blicke abschirmen?«, fragte Molly plötzlich. Keine der beiden Frauen war bisher in den großen Saal getreten. »Ich denke, ja. Zumindest weiß ich, wie man einen Schild errichtet. Ich kann nicht garantieren, dass er bei Geschöpfen wirkt, die so alt oder so mächtig sind wie diese, aber wir können es wenigstens versuchen.« »Dann mach dich bereit, zu den Türen hinüberzulaufen«, sagte Molly. »Denn falls sie doch wissen, dass wir hier sind, werden sie wahrscheinlich direkt durchs Dach stoßen, um an uns heranzukommen. Das einzige Kupfer dort drinnen - an den Türen zu beiden Seiten des Raums - dient dem Schmuck. Der Saal selbst ist frei von Kupfer, so dass ich die Leute heilen kann, die herkommen, um mich um meine Hilfe zu bitten.« Lauren nickte. Sie konzentrierte sich mit aller Macht und zog Energie aus dem reichen Kraftfeld, das diesen Teil Orias durchdrang. In Gedanken schuf sie einen machtvollen Energieball um sich und Molly - etwas, durch das kein Rrön 91 hindurchsehen konnte, etwas, dessen Existenz die Rrön nicht einmal wahrnehmen würden. Der Schild würde erst dann wirklich existieren, wenn Lauren, Jake und Molly einen nicht durch Kupfer geschützten Raum betraten aber bevor sie das taten, brauchten sie einen solchen Schild auch nicht. Solange sie ihn im Geiste vor sich sah, würde er da sein, wenn sie ihn brauchten, davon war Lauren überzeugt. Zu ihrer eigenen Beruhigung stellte sie sich jedoch vor, dass er ein helles, blaues Licht verströmen würde. Sobald sie außer Reichweite des Kupfers und damit in Gefahr waren, würde der Schild aufschimmern und sie alle einhüllen. »Ich bin so weit«, sagte sie nach ein paar Sekunden. »Bleib in meiner Nähe.« Sie nahm Jake vom Boden auf und trat über die Schwelle; Molly hielt sich dicht an ihrer Seite. Nachdem sie etwa acht Schritte in den Raum hineingegangen waren, erschien rechts vor ihnen auf Kniehöhe ein leuchtender, blauer Kreis. Beim nächsten Schritt hatte er sich in eine strahlende, blaue Linse von knapp anderthalb Metern
Höhe verwandelt. Noch ein Schritt, und aus der Linse war eine Halbkugel geworden, von der etwa ein Drittel unter ihren Füßen verschwand. Sie taten noch zwei Schritte nach vorn und standen schließlich in einer großen, strahlend blauen Blase. »Alle Achtung«, sagte Molly. Sie wollte den Schild berühren, aber er schien vor ihrer Hand zurückzuweichen. »Oh. Klasse. Das heißt, wir können ihn nicht versehentlich verlassen.« »Genau. Er wird dich, mich und Jake beschützen, entweder zusammen oder getrennt, und das so lange, wie wir hier drin sind. Die Rrön werden uns weder hören noch spüren können.« Molly entfernte sich einen Schritt von Lauren. Lauren erinnerte das, was mit dem Schild geschah, an die Dias von 92 Zellteilungen, die sie im Biologieunterricht auf der Highschool gesehen hatte. Es funktionierte perfekt. Ein weiterer Wachmann kam in den Raum, und Lauren bemerkte ihn nur, weil er, im Gegensatz zu den anderen Wachen, direkt auf sie zukam, statt an einer der Wände Aufstellung zu nehmen. Wahrscheinlich konnte es nur von Vorteil sein, einen der Männer in unmittelbarer Nähe zu haben, dachte sie. »Jetzt«, sagte sie zu Molly, »brauchst du dich nur auf eine Vorrichtung zu konzentrieren, die dünn und biegsam ist, leicht und transparent und in etwa die Größe einer durchschnittlichen Buchseite hat. Stell dir vor, dieser Gegenstand läge über der Seite, und die Worte darunter verwandelten sich ins Englische ...« Ein Ausdruck des Entsetzens erschien auf Mollys Gesicht. »Lauf!«, schrie sie. Lauren packte Jake, hatte aber keine Zeit, zu fliehen. Der Wachposten - der Mann, der in den Raum getreten war -stürzte plötzlich mit gezücktem Schwert auf sie zu. Lauren stieß Jake von sich und sah, dass von überallher Soldaten herbeikamen. Sie drehte sich um, beschwor einen Zauber herauf, um den Wachposten zurückzuhalten, und spürte, wie das Schwert sich in ihr Fleisch bohrte. Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie wahr, dass es eher ein Druckgefühl war als Schmerz, was sie erschreckte. Dann wob sie den Zauber, der ihren Angreifer zu einem rauchenden Aschehäufchen machte und schließlich in Staub verwandelte. Das Schwert bohrte sich ihr in den Bauch. Sie konnte spüren, dass die Spitze der Klinge aus ihrem Rücken ragte. Verständnislos starrte sie die Waffe an, stellte fest, dass sie ihre Beine nicht spürte, dann hörte sie Jakes durchdringenden Schrei, die Rufe der Veyär-Soldaten und das Getrappel eiliger Schritte. Plötzlich verwandelte sich der Druck in einen Schmerz, der sie aufriss und die Welt rot und schwarz 93 werden ließ. Sie fiel, und während sie fiel, konnte sie nur an eins denken: Jake - wer würde dafür sorgen, dass Jakev nichts zustieß? Dunkelheit. Dunkelheit und Stimmen und schrecklicher Schmerz. Über dem Kupferhaus Trrtrag fluchte. Der Spion war tot - und nicht nur tot; er war zu Staub zerfallen, ohne jede Aussicht auf Rettung. Trrtrag glaubte, dass er Rr'garn, diesem selbstherrlichen Mistkerl, die Mitteilung machen konnte, dass eines von zwei Problemen gelöst war. Aber solange er es nicht mit Bestimmtheit wusste, hielt er sich lieber zurück. Trrtrag fragte sich, ob er es wagen durfte, einen weiteren von Rr'garns Schläfern zu aktivieren, so kurz nach der Vernichtung des letzten. Vielleicht konnte er Rr'garn bei seiner Rückkehr einfach erklären, dass der Versuch unternommen worden war und der Spion verloren gegangen sei. Sollte Rr'garn doch Baanraak ins Haus schicken, um festzustellen, wie sich das Ganze entwickelt hatte - vorausgesetzt natürlich, dass Baanraak ihnen allen nicht das Leben erleichtert und Rr'garn einfach aufgefressen hatte. Trrtrag hoffte beinahe, dass es so gekommen war. Aber dann durchzuckte ihn ein anderer Gedanke - lieber wollte er es mit hundert Rr'garns aufnehmen als mit einem einzigen Baanraak. 94 Kupferhaus Und dann Licht. Lauren schlug die Augen auf und sah Seolar vor sich stehen und Birra und Molly und Jake, der sich mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an sie klammerte, als sei er dort festgeklebt. »Mama?«, fragte er. Sie richtete sich auf. Sie fühlte sich ganz normal. Sie waren nicht in der großen Halle - stattdessen hatten sich die anderen in einem winzigen, mit kupfernen Zierstücken förmlich überladenen Raum um sie geschart. Sie trug nicht länger ihre Jeans und das Sweatshirt, sondern eine seidengefütterte Wollhose und eine Seidenbluse, ein duftiges, elegant geschnittenes Etwas. Sie bewegte die Füße. Sie gehorchten ihr ohne weiteres. »Es ist alles in Ordnung, Jake«, sagte sie, schlang die Arme fest um ihn und küsste ihn; er schmiegte sich an sie, und der Griff seiner Arme um ihre Taille wurde noch kräftiger. »Was zum Teufel ist eigentlich passiert?« »Wir müssen wohl annehmen, dass es ein Verräter war«, antwortete Molly. Lauren fiel auf, dass Molly einen langen Dolch an der Hüfte trug - etwas, das Lauren noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. »Du hast nicht gerade viel von ihm übrig gelassen, das man befragen könnte.« »Tut mir Leid«, sagte Lauren. »Aber was ist eigentlich passiert?« »Das Schwert hat beträchtlichen Schaden angerichtet. Ich musste einen schnellen Zauber wirken, um dich vor Blutverlust zu schützen, während wir dich von dort weggeschafft und in einen geheimen und sehr gut geschützten, kupferfreien Raum gebracht haben, den Seolar tief im Herzen des Hauses angelegt hat.«
95 »Diesen Raum gibt es seit den Zeiten früherer Vodi«, warf Seolar ein. »Ich wusste lediglich von seiner Existenz.« »Wir haben dich hier heruntergebracht, ich habe eine komplette Heilung vorgenommen, und die Wachen haben dich dann hierher verlegt, damit du dich erholen kannst.« »Du wirst keinen Schaden zurückbehalten«, sagte Seolar. »Und nach dem, was du mit deinem Angreifer gemacht hast, werden die Übrigen es sich zweimal überlegen, bevor sie eine von euch noch einmal angreifen.« »Nein, das werden sie nicht«, widersprach Lauren leise. »Sie werden keinen Augenblick lang zögern. Es werden einfach immer mehr von ihnen kommen, bis sie uns getötet haben.« Sie fuhr mit den Fingern durch Jakes seidiges Haar und fühlte die Feuchtigkeit auf seinen Wangen. Er hatte geweint. Er hatte mit angesehen, was ihr zugestoßen war. Er wusste es. Dieses Martyrium würde ihn zerstören. Seolar zeigte auf einen Gürtel und einen schlichten Dolch in einer schmucklosen Scheide, der an einem Haken an der Wand hing, an einer Stelle, wo Jake ihn unmöglich erreichen konnte. »Ich habe dir das da mitgebracht. Es ist eine gute Waffe. Wenn du wieder auf den Beinen bist, musst du sie zu jeder Zeit bei dir tragen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Gefahren von dir abzuwenden -aber wenn du dich in einem von Kupfer geschützten Teil des Hauses aufhältst, brauchst du einen letzten Ausweg - eine Möglichkeit, dich zu verteidigen, falls wir ... gefallen sind.« Lauren blickte zu Molly hinüber und sah die Trostlosigkeit in ihren Augen. »Ich werde den Dolch tragen«, versprach sie. Jake berührte ihr Gesicht und flüsterte: »Du bist zu Daddy gegangt. Aber du bist zurückgekommt.« Sie sah zu den Gesichtern auf, die auf sie hinabstarrten, und fragte: »Ist das wahr? Bin ich gestorben?« 96 »Beinahe«, antwortete Molly. »Beinahe, aber wir haben dich sehr schnell zurückgeholt.« Molly zuckte zusammen. »Mir war nicht klar, wie viel Jake mitbekommen hat. Oder wie viel er ... verstanden hat.« »Ihm entgeht nicht viel«, erwiderte Lauren. Sie legte sich hin und zog Jake fest an sich. Wie sollte sie nur tun, was sie tun musste? Wie konnte sie das Risiko eingehen, ihn allein auf der Welt zurückzulassen? Und welche Alternativen hatte sie? Cat Creek »Ich höre, du hattest gestern Nacht Erfolg«, bemerkte Eric, als Pete durch die Tür des Reviers trat. Er bedachte ihn mit einem traurigen Lächeln. Pete blieb wie angewurzelt stehen. »Du hast was gehört?« Eric runzelte die Stirn. »Dass du Erfolg hattest. Dass du, nachdem wir beide mit dem Essen fertig waren, zu Lauren rübergefahren bist und dass dein Wagen heute Morgen immer noch dort stand. Und als ich dich vorhin bei dir zu Hause angerufen habe, bist du nicht an den Apparat gegangen - was mich dazu veranlasst hat, den Gerüchten zu glauben.« »Ich hasse Kleinstädte«, murmelte Pete. Eric breitete die Arme aus, zuckte die Achseln und lächelte. Pete reichte ihm den Brief, den Lauren ihm dagelassen hatte. »Ich passe für ein paar Tage auf ihr Haus auf«, sagte er. »Ihr Wagen steht nicht im Carport. Er hat auch nicht dort gestanden. Aber die verdammten Nachbarn müssen natürlich das Schlimmste annehmen.« 97 Eric starrte den Brief an, als hätte man ihm soeben eine Mokassinschlange in den Schoß geworfen. »Mayhem hat deinen Wagen gesehen. Als er in aller Herrgottsfrühe von seiner Pirsch nach Hause fuhr, erschien ihm seine Entdeckung amüsant genug, um mich deswegen zu wecken.« »Mayhem ist ein Arschloch.« »Das will ich nicht bestreiten.« Eric erhob sich. »Sie hat die Stadt verlassen? Sie ist einfach auf und davon und erzählt uns, wir sollen uns an Vass wenden, wenn wir einen Torweber brauchen? Heiliger Bimbam.« »Wahrscheinlich fand sie, die Lage habe sich ein wenig beruhigt. Sie klingt nicht so, als sei sie zum Spaß weggefahren.« Eric musterte ihn mit ruhigen Augen, die plötzlich kalt geworden waren. »Und interessiert mich das? Vor nicht mal zwei Wochen war diese Welt so kurz vor dem Ende ...« Er hob Daumen und Zeigefinger, die so nah übereinander lagen, dass Pete kaum das Licht zwischen ihnen hindurchscheinen sah. »... und in dieser Woche macht sie Urlaub und hinterlässt nicht einmal eine Telefonnummer für den Notfall. Was ist, wenn die Wächter aus Vass ihren Torweber selbst brauchen und wir einen Notfall haben? Wir haben während der letzten drei Tage in der ganzen näheren Umgebung eine massive Zunahme an Toraktivitäten verzeichnet. Es ist fast so, als seien alte Götter unterwegs. Ich lasse June Bug ein Zeit-Raum-Diagramm erstellen, und obwohl ich zugeben muss, dass es sich bei dieser Angelegenheit um etwas Freundliches handeln könnte, erscheint es mir doch nicht wahrscheinlich.« Pete seufzte. »Im Augenblick sind all unsere Tore in guter Verfassung, aber sollte etwas hindurchkommen, das sie abermals zum Einsturz bringt, werden wir hier herumsitzen und Däum98
chen drehen, wenn wir keinen Torweber haben, der sie uns wieder hochzieht. Was zum Teufel denkt sie sich nur dabei?« »Das weiß ich nicht. Wenn sie anruft, richte ich ihr aus, dass du sauer bist, wenn du willst.« »Du kannst noch etwas Besseres tun. Sag ihr, sie soll ihren Hintern hierher zurückbewegen. Und zwar schnell. Bevor wir plötzlich hilflos mitten in einem Hurrikan sitzen.« »Ich kann versuchen, sie zu finden, wenn du willst.« Eric hängte die Daumen in seine Hosentaschen und starrte finster ins Leere. »Oder auch nicht.« Eric stieß den Atem aus, ein Geräusch, das bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Schnauben eines Pferdes hatte. »Du willst mich wohl beschwatzen, dass ich dich nach Charlotte fahren lasse?« Pete lachte. »Treffer.« Dann zuckte er die Achseln. »Wahrscheinlich bin ich von allen Wächtern der entbehrlichste.« »Quatsch. Jemand, der unter Beschuss die Ruhe bewahrt, ist niemals entbehrlich. Aber du hast eine gewisse Erfahrung darin, Leute zu finden, die nicht gefunden werden wollen, stimmt's?« »Eine gewisse.« Eric dachte kurz nach. Dann sagte er: »Die Menschen brauchen ihre Familien, und auch wenn Lauren sich nicht so anhört, als gäbe sie einen Pfifferling auf ihre Schwiegereltern, könnte ich mir vorstellen, dass Jake die einzigen Verwandten, die er hat, kennen lernen muss. Also ... such sie. Sorg dafür, dass du eine Möglichkeit findest, jederzeit zu ihr Kontakt aufnehmen zu können. Aber sie braucht davon nichts zu wissen, solange wir nicht in Schwierigkeiten geraten. Einverstanden?« 99 »Das kann ich tun«, antwortete Pete und schenkte Eric ein freundliches Lächeln. Also. Er würde nach Charlotte fahren und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, die während des Kampfs der Wächter gegen die Verräter aus ihren eigenen Reihen und die Carolina-Grippe hatten ruhen müssen. Dann würde er feststellen, ob er Lauren finden konnte, ohne durchsickern zu lassen, was sie wirklich trieb. Wobei sich ihm die Frage aufdrängte, was genau das sein mochte. Kupferhaus Molly hatte ihren Wachtrupp auf dem Weg zum Abendessen nicht auf direktem Weg in den Speisesaal geführt, sondern einen Umweg über Seolars kupferfreien, sicheren Raum gemacht; dort hatte sie sie gerade lange genug warten lassen, um zwei magische Lesehilfen anzufertigen. Allerdings konnte sie nicht sicher sein, ob sie so funktionierten, wie sie es sich erhoffte; sie hatte keine Zeit für einen Abstecher in die Bibliothek gehabt, und in ihrem eigenen Zimmer waren ihre Zofen bei ihr gewesen. Später würde sie sich jedoch die Bücher vornehmen, die sie in Laurens Zimmer versteckt hatte, und wenn die Lesehilfe nicht funktionierte, würden die Wachen ihr eben in den Keller folgen müssen, während sie einen zweiten Versuch unternahm. Aber ihre kleinen Lesehilfen gefielen ihr. Sie hatte ihnen die Form von Blättern gegeben, die sich wie Plastik anfühlten. Jedes einzelne Blatt ließ sich in Viertel zusammenfalten, so dass man es in eine Tasche stecken und bei Bedarf wieder auffalten konnte. Außerdem hatte sie noch einen kleinen Zauber hinzugefügt, der die Falze verschwinden 100 ließ. Die Dinger sahen jedenfalls elegant aus; Molly hoffte nur, dass sie auch funktionierten. Sie war nicht einmal zu spät dran, als sie die Speisehalle erreichte. Lauren und Jake saßen an einer Längsseite des Tisches, Seolar am Kopfende, und für Molly war ihm gegenüber gedeckt. Dazwischen saßen nebeneinander fünf Goroths. Lauren und Jake unterhielten sich mit ihnen und bemerkten Molly erst, als die Goroths auf ihre Stühle stiegen und sich vor ihr verneigten. Hässliche Geschöpfe, alle durch die Bank. Riesige Ohren, runzlige, blaugrüne Haut, gewaltige, gelbe Augen und der unvermeidliche Haarstreifen, der von der niedrigen Stirn mit den an Käfer erinnernden Augenbrauen über den kahlen, klobigen Schädel verlief und bis zur Mitte des Rückgrats reichte. Molly begrüßte jeden von ihnen mit einer höflichen Verneigung und nahm dann ihren Platz am Tisch ein. Während die Diener die ersten Schalen herbeibrachten, erfuhr Molly, was die Goroths wollten. »Wie wir bereits der Jägerin erklärt haben«, sagte einer von ihnen, »ist unser Embar ermordet worden, wegen der Sache, die jetzt begonnen hat - oder, falls dem nicht so ist, wegen der Sache, die zu dem führte, was wir jetzt erleben -, und wir denken, dass wir einen Platz und einen Anteil daran haben. Einen Platz und einen Anteil und unsere Chance, zu kämpfen. Jeder weiß, dass die Goroths einen Ehrenplatz am Anfang dieser Geschichte beanspruchen dürfen - unser Embar war die rechte Hand der Helden.« »Der Helden?«, fragte Molly Lauren. »Ihrer geheiligten Eltern«, erklärte der am besten gekleidete unter den Goroths, »und deiner. Jener, die sahen, was getan werden musste, und die starben, damit es getan werden konnte. Wir werden das Unsere tun.« 101 »Hündchen«, sagte Jake, zeigte auf die Goroths und ließ ein winziges Lächeln erkennen. »Du erinnerst dich an Embar?«, fragte Lauren ihn und zwang sich zu einem Lächeln, das vergeblich Begeisterung heucheln wollte. Molly musterte ihre Schwester. Körperlich gesehen ging es Lauren gut - das
wusste Molly. Aber sie hatte einen gehetzten, verzweifelten Blick in den Augen, der Mollys eigene Gefühle widerspiegelte. »Hündchen«, wiederholte Jake. »Er mochte Embar«, erklärte Lauren den Goroths. »Wir fühlen uns geehrt, Jägerin«, schnatterten sie im Chor. Sie trugen wirklich sehr feine Gewänder, dachte Molly. Wunderschön gewobene und bestickte Leinenhemden mit weiten, gebauschten Ärmeln, prächtige lederne Kniehosen, bestickte Schnallenschuhe. Wenn sie nicht solch grässliche kleine Geschöpfe gewesen wären, hätten die Kleider sogar prächtig wirken können. An ihnen jedoch ... Molly schüttelte den Kopf. Groteske kleine Wesen - sie konnte sie einfach nicht ganz ernst nehmen. »Inwiefern könntet ihr von Nutzen sein?«, fragte Seolar, während die Diener zugedeckte Silberteller vor sie alle hinstellten. »Ich danke euch dafür, dass ihr die Reise auf euch genommen habt, und ich verstehe euren Wunsch, zu helfen, aber was könntet ihr tun, das meine Wachen nicht vermöchten?« Der Sprecher der Goroths antwortete: »Diese Fragen haben die Helden Embar nicht gestellt.« Er zeigte auf Lauren. »Sie hat Embar diese Frage nicht gestellt. Sie wussten, dass die Goroths ehrlich, entschlossen, unerschütterlich und mutig sind. Sie wussten, dass ein Goroth stehen bleibt, wenn andere weglaufen.« »Aber stehen bleiben und sich umbringen lassen hilft nie102 mandem, weder uns noch euch«, wandte Seolar ein. »Und ihr seid weder groß noch stark genug, um zu kämpfen.« Einer der kleineren Goroths sagte: »Du kennst die Geschichte, großer Imallin. So klein und schwach wir sind, haben die Goroths schon immer gegen die dunklen Götter gekämpft. Jetzt sind wir hier und bieten abermals unsere Hilfe an.« Seolar nahm einen Bissen, kaute nachdenklich, trank etwas aus seinem Becher und lehnte sich dann auf seinem Stuhl zurück. »Ich danke euch - offiziell -, so wie jeder Imallin vor mir es getan hat. Euer Angebot, uns zu dienen und euch für uns zu opfern, ist ehrenwert, und ich weiß es zu schätzen. Aber es ist unnötig, und es wäre nachlässig von mir, jene zu gefährden, deren sinnloser Tod so wahrscheinlich wäre.« »Du sagst Nein«, murmelte der Sprecher der Goroths. Er wandte sich an das Quartett seiner Kameraden und wiederholte: »Er sagt Nein.« »Wir wussten es.« Der Kleinste ließ den Kopf hängen. Er wirkte niedergeschmettert. »Ihr könnt mit mir arbeiten«, erklärte Lauren. Molly zuckte innerlich zusammen und blickte zu Seolar hinüber, der entschieden unglücklich dreinschaute. »Lauren ...«, sagte sie, aber Lauren sah ihr in die Augen und zog herausfordernd eine Braue in die Höhe. »Embar war mein Freund«, stellte sie fest. »Er war mein Freund, als ich noch ein kleines Kind war wie Jake, und er war mein Freund, als ich mich selbst wieder gefunden hatte. Er ist gestorben, weil er mir half. Das kann ich ihm niemals wieder gutmachen. Außerdem stehe ich noch aus einem anderen Grund in Embars Schuld: Wenn er mir nicht geholfen hätte, wäre ich dir niemals begegnet und hätte nicht herausgefunden, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Sie 103 wollen helfen. Und wenn Seolar sie nicht haben will, ich will sie.« »Es ist nicht unsere Art, das Leben der geringeren Rassen aufs Spiel zu setzen«, erklärte Seolar steif. Lauren drehte sich zu ihm um, und ihre Stimme klang plötzlich wie ein Knurren. »Du und deine Leute, ihr steht kurz vor dem Aussterben, wenn ich mich recht erinnere. Ihr schafft es mit Mühe und Not, an einigen wenigen Fleckchen dessen festzuhalten, was früher einmal eure Welt war. Vielleicht solltet ihr anfangen, Hilfe anzunehmen, wenn sie euch angeboten wird.« Sie erhob sich, sichtlich verärgert, und nahm Jake auf den Arm. »Ich beende meine Mahlzeit in meinem Quartier«, sagte sie zu einem der Diener, der sich verbeugte, nickte und Seolar hinter Laurens Rücken einen verzweifelten, angstvollen Blick zuwarf. Alle fünf Goroths erhoben sich, ließen sich mit einem leisen Aufprall auf den Boden fallen und sagten: »Wir begleiten dich, ehrenwerte Jägerin.« »Nennt mich Lauren«, erwiderte sie. »Und er heißt Jake.« Sie wandte sich wieder dem Diener zu. »Bring auch das Essen für die Goroths in meine Räume.« Und dann waren sie, die Wachen, die für ihre Sicherheit abkommandiert waren, und die Goroths, allesamt fort, und Molly und Seolar sahen einander von gegenüberliegenden Enden der langen Tafel aus an. »Sie sind nutzlos.« Seolar blickte zur Tür, durch die soeben seine Gäste und Lauren verschwunden waren. »Sie sind dumm und schwach und feige. Wenn einer von ihnen deiner Schwester einmal geholfen hat, dann nur deshalb, weil er sich selbst davon etwas erhofft hat; und wenn er gestorben ist, dann nur, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Mit Heldentum hatte das ganz sicher nichts zu tun.« Seolar wandte sich wieder Molly zu, und der Ab104 scheu, den sie auf seinem Gesicht las, erschreckte sie. »Sie verzehren Nahrung und verbrauchen Feuerholz und Ackerland und andere Güter, und sie geben nichts zurück. Sie vermehren sich und verbreiten Krankheiten.« Molly sagte: »Aber sie sind hergekommen, um ihre Hilfe anzubieten.« »Lass dich nicht mit ihnen ein, Liebes. Du würdest nur Schande über dich bringen; deine Schwester wird durch
ihre Beziehung zu solchen Geschöpfen gebrandmarkt werden. Nicht einmal alte Götter sind immun gegen den Makel dieser abscheulichen Subkreaturen.« Molly aß schweigend und beobachtete Seolar. Diese Facette seiner Persönlichkeit, diese Vorurteile, hatte sie noch nie bei ihm wahrgenommen. Sie fragte sich, ob alle Veyär diese Auffassung vertraten oder ob Seolar damit allein stand - und warum sein Widerwille gegen die Goroths so nachdrücklich und scheinbar unvernünftig war. Sie wirkten durchaus harmlos. Tatsächlich erinnerten sie Molly auf eine komische Art und Weise an die Veyär. Veyär, die ins Hässliche verzerrt waren, aber trotzdem Veyär blieben - die seltsame Hautfarbe, die großen, juwelengleichen Augen mit den kräftigen Farben, die Form der Knochen, der Hände und Finger, der Ohren und der Gesichter. Auch wenn alles an ihnen übertrieben wirkte, waren sie doch vom gleichen Schlage. Ein wenig erinnerten sie Molly an Wölfe und Chihuahuas - der eine ein prächtiges Geschöpf, der andere eine Karikatur -, aber beide entsprangen dem gleichen Stammbaum. Molly beschloss jedoch, diese Beobachtung Seolar gegenüber nicht zu äußern. Er war schlecht gelaunt - etwas, das sie noch nie bei ihm erlebt hatte -, und ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass eine Bemerkung zu Gunsten der Goroths ihm zurzeit nicht willkommen wäre. 105 Sie aß und beobachtete ihn. »Birra und ich waren heute in der Bibliothek«, bemerkte sie. Er schüttelte den verärgerten Gesichtsausdruck ab und lächelte. »Ach ja? Ich würde mich freuen, wenn du etwas findest, mit dem du dich in deinen Mußestunden unterhalten kannst.« »Ich habe ihn nicht nach unterhaltsamer Lektüre suchen lassen«, erwiderte sie. »Ich hatte gehofft, etwas über die früheren Vodi in Erfahrung zu bringen und über die Rrön. Ich wollte feststellen, was andere wie ich durchmachen mussten.« »Und nach den Rrön hast du gesucht, weil...« »Weil sie Jagd auf mich machen«, sagte sie, ohne den wahren Grund ihres Interesses zu enthüllen. »Ich finde, ich sollte meinen Feind kennen.« Seolar schob seinen Teller von sich, obwohl er nur die Hälfte dessen gegessen hatte, was aufgetischt worden war. »Wirklich«, sagte er. »Ich glaube, dass du alles weißt, was du wissen musst, wenn dir klar ist, dass sie dich zu töten versuchen. Außerdem kannst du ihre Gedanken hören.« Molly entgegnete: »Konnten die anderen Vodi auch die Gedanken der Rrön hören? Und vielleicht auch die der anderen dunklen Götter? Der alten Götter? Wenn sie es konnten, warum? Wenn sie es nicht konnten, warum kann ich es dann?« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und sagte: »Ich bin nicht mehr die, die ich war, Seo. Ich fühle ... kleine, blinde Flecken in mir. Mir fällt keine bessere Art ein, um es zu beschreiben, aber ich muss es verstehen. Ich muss wissen, wer ich bin; ich muss wissen, was ich geworden bin.« Sie blickte an ihrem hoch gewachsenen, schlanken Körper hinab, auf ihre unmenschlichen, langfingrigen Hände und breitete die Arme aus. »Ich bin nicht mehr dieselbe wie früher. Bei weitem nicht. Also, wer zum Teufel bin ich dann?« 106 Seolar sah ein wenig blass aus, als er sie fragte: »Und? Was hast du herausgefunden?« »Rein gar nichts! Birra hat mir geholfen, einige Bücher zu finden, aber es macht ihm keinen Spaß, sie vorzulesen. Und ich kann es nicht. Ich dachte, du könntest mir heute Abend vielleicht daraus vorlesen.« Sie beobachtete sein Gesicht und entdeckte dort die gleiche Erleichterung, den gleichen Vorsatz, sie zu hintergehen, wie sie sie auch bei Birra gesehen hatte. »Natürlich«, beteuerte er. »Ich fürchte zwar, dass die Bücher eine eher langweilige Lektüre abgeben, aber wir können uns so viele vornehmen, wie du magst. Ich werde dir nach Kräften helfen, die ... Rrön ... zu verstehen und deine Rolle als Vodi.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter, dann zog er seinen Teller wieder zu sich heran und machte sich abermals über das Essen her. Molly beobachtete ihn interessiert. Sie war nicht von ihm abhängig, was die Bücher betraf, aber es würde doch sehr aufschlussreich sein, festzustellen, was er sie wissen ließ, verglichen mit dem, was sie selbst herausfinden konnte. Und ein dunkles, kleines Beben der Erregung durchlief sie -eine gewisse Neugier. Wie groß mochte seine Entschlossenheit sein, sie zu belügen? Gleichzeitig verspürte sie einen wilden Hunger, der sich mit nichts vergleichen ließ, was sie je zuvor erlebt hatte. Während sie Seolar beobachtete, hatte sie eine Vorahnung, dass der Abend für sie beide noch interessant werden würde. 6 Kupferhaus Lauren und Jake sahen erstaunt zu, wie die Goroths durch ihr Quartier schwärmten. »Wandgang hier«, rief einer von ihnen. »Darüber wird sie wohl Bescheid wissen«, sagte ein anderer. »Wusstest du davon?«, fragte der bestgekleidete unter den Goroths. »Nein.« »Guckloch hier.« »Akzeptables Versteck zwischen den Wänden hier hinten - seht zu, dass ihr es jedes Mal überprüft, wenn wir hereinkommen.« Lauren drückte Jake fester an sich und fragte den einen Goroth, der nicht wie ein Kolibri mit Koffeinschock herumschwirrte: »Was tun sie?«
»Sie untersuchen deine Zimmer auf Schwächen und Fluchtwege. Hast du das nicht bereits getan?« »Nun - ich habe mir die Zimmer angesehen«, erwiderte Lauren. »Aber mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.« Die anderen Goroths kehrten jetzt zu ihrem Ausgangspunkt zurück. »Alles fertig«, sagte einer. »Sonst nichts.« Der Wortführer erwiderte: »Das genügt dann. Verhaltet euch unauffällig.« Lauren hatte bis zu diesem Zeitpunkt einiges an Zauberei gesehen - obwohl sie wusste, dass die Goroths keine Magie benutzten. Unter ihren Augen fanden die kleinen 108 Geschöpfe Plätze im Raum und verschmolzen mit diesen auf eine Art und Weise, die sie unsichtbar machte. Einen Augenblick später hatte es den Anschein, als seien sie, Jake und der Anführer der Goroths allein übrig geblieben. »Verstecken«, sagte Jake. »Darf ich die Hündchen suchen?« »Nicht jetzt, Äffchen«, erwiderte Lauren. Sie ging in die Hocke, so dass sie und der Anführer der Goroths fast auf Augenhöhe miteinander reden konnten. Dann fragte sie: »Warum haben sie das getan?« »Ehrwürdige Jägerin, wir sind nicht stark, wir sind nicht schnell, und wir sind keine großen Krieger. Aber wir verstehen uns darauf, uns zu verstecken und zuzuhören und dafür zu sorgen, dass sich nichts an uns heranschleichen kann, ohne dass wir es bemerken. Wir werden dafür sorgen, dass in deinen Räumen nichts ohne dein Wissen kommen oder gehen kann. Wir werden dich und deinen Kleinen beschützen, so gut wir es vermögen.« Er verneigte sich vor ihr - es war eine tiefe Verbeugung voller Leidenschaft und ausholender Gebärden -, dann fügte er hinzu: »Wir bitten nur darum, zu dienen und gegen das große Übel zu kämpfen, das uns und alles, was uns teuer ist, zu zerstören trachtet. Du hast uns gestattet, dir zu dienen, und indem wir dir dienen, dienen wir der größeren Sache; und du hast den Goroths einen Ehrenplatz unter allen Völkern gegeben. Durch deine Güte können wir jetzt die Schande tilgen, ein Goroth zu sein. Wir sind dir dankbar; wir werden dir im Leben und im Tod dienen.« Lauren streckte eine Hand nach dem Goroth aus. »Embar war mein Freund«, sagte sie. »Ich erwarte nicht von euch, dass ihr Diener seid oder unsichtbare Leibwachen oder wofür ihr euch sonst zu halten scheint. Ihr könnt einfach meine Freunde sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Embar 109 habe ich im Stich gelassen. Es ist mir nicht gelungen, ihn vor einigen sehr bösen Männern zu beschützen, und er ist gestorben.« Sie bedachte den kleinen Goroth mit einem schiefen Lächeln. »Ich möchte nicht, dass ihr in seine Fußstapfen tretet. Wenn ich Glück habe, werdet ihr, du und die anderen, mir und Jake noch Gesellschaft leisten, wenn er in meinem Alter ist.« Tränen kullerten über die runzligen Wangen des Goroths, und er flüsterte: »Du erweist uns große Ehre. Ah, Jägerin, was für eine Ehre du uns erweist. Dass einer der alten Götter uns seine Freundschaft anbietet...« Lauren hörte aus vier Verstecken ein Schnüffeln. Sie hätte den Goroths am liebsten erklärt, dass es keine große Sache sei, aber wer war sie, das zu sagen? Sie hatte gesehen, wie Seolar sie behandelte. Für sie war es vielleicht wirklich eine große Sache, irgendjemandes Freund zu sein, und es hätte keinen Sinn ergeben, diese Tatsache zu schmälern. Stattdessen fand sie, dass sie ebenso gut ein paar freundliche Worte hinzufügen konnte. »Ich danke euch für eure Hilfe«, sagte sie zu dem Goroth. »Und für eure Freundschaft. Wenn du mir deinen Namen verraten könntest...?« »Rue«, flüsterte er. »Rue«, wiederholte sie. Sie drückte seine Hand und erhob sich. »Du musst mir auch die anderen vier noch vorstellen.« »Darf ich jetzt mit dem Hündchen spielen?«, fragte Jake. »Für ein Weilchen«, antwortete Lauren. Sie musste über einiges nachdenken. Und während sie nachdachte und plante, würde Jake sich mit den Goroths amüsieren. Sie seufzte. »Befolgt«, sagte Rue, »Ihren Befehl.« Lauren konnte förmlich hören, dass das »Ihr« in seinen Worten groß geschrieben wurde. 110 Die vier Goroths rappelten sich hoch und eilten herbei. Sie waren schnell, auch wenn sie noch so sehr beteuerten, das Gegenteil sei der Fall. Sie stellten sich in einer Reihe auf - eine Reihe von runzligen Gnomen in prächtigen Kleidern. »Das ist Herot, der Vogelfänger.« Der magerste Goroth verneigte sich. »Und Wyngi, der Bootsmann.« Ein Goroth mit verfilztem, geflochtenem, blauem Haar verbeugte sich bis zum Fußboden hinab. »Der Nächste ist Tarth, der Fährtenleser.« Der größte Goroth - er mochte fünf Zentimeter größer sein als Jake - und Laurens Meinung nach der hässlichste, verneigte sich tief. »Und zu guter Letzt die Tochter von Creeg, dem Seher.« Die kleine Goroth, deren Haut die wenigsten Runzeln aufwies, verneigte sich, bis sie mit der Stirn den Boden berührte. »Wie heißt du?«, fragte Lauren. »Diese hier hat sich noch keinen Namen verdient und muss sich zuerst beweisen, bevor sie in das Volk aufgenommen wird. Ihr wurde die größte für eine Namenlose denkbare Ehre erwiesen, indem ihr gestattet wurde, der Jägerin zu dienen, und sie wird sich dieser Ehre mit ihrem Betragen würdig erweisen.« Die namenlose
Goroth verneigte sich abermals, und diesmal stieß sie mit dem Kopf hörbar auf dem Boden auf. Jake zappelte, und Lauren stellte ihn vor die Goroths hin. Er grinste. Er hatte so viel durchgemacht; dass er sich überhaupt davon erholt hatte, ließ erkennen, aus welchem Holz er geschnitzt war. »Ja, Hündchen«, rief er und packte die Tochter von Creeg. »Du spielst mit mir.« »Diese hier hat den Namen Hündchen bekommen«, wisperte die Tochter von Creeg, dem Seher. Tränen rollten ihr über die Wangen. »Diese hier hat von einem der alten Götter einen Namen bekommen.« 111 Die anderen Goroths scharten sich um sie und umarmten sie. Lauren krümmte sich innerlich, tröstete sich dann aber mit dem Gedanken, dass es auf Oria anscheinend keine Hunde gab, so dass der Name »Hündchen« immerhin besser war als nichts. Sie beobachtete Jake, wie er der kleinsten der Goroths seine Autos zeigte. Die anderen huschten in ihre Verstecke zurück und verschwanden dort. Rue, die Stimme ihrer neuen Verbündeten, nahm Aufstellung an der Tür, wo er sich, die Knie bis zur Brust hochgezogen, auf den Boden setzte. Überraschenderweise fühlte Lauren sich ein wenig sicherer. Die Anwesenheit der Goroths tröstete sie - und wenn Seolar und die anderen Veyär sie nicht mochten, so würde sie, Lauren, sich nicht davon beirren lassen. Sie waren ein kleines Stück Heimat, und nach dem Angriff und der Angst, die immer noch so lebendig in ihr war, tat ihr alles gut, was sie irgendwie an zu Hause erinnerte. Kupferhaus Das wilde Verlangen wurde zu einer Dunkelheit, die wie schwarzes Feuer durch Molly hindurchströmte. In ihren Gedanken war das Gewicht der am Himmel kreisenden Rrön. In ihrem Bauch war ein Hunger nach etwas, das die gähnende Leere in ihrem Inneren füllte. Molly schloss die Augen, als unerwartet eine Woge der Verzweiflung über ihr zusammenschlug, und als sie sie wieder öffnete, war Seolar von seinem Platz am anderen Ende des Tisches aufgestanden, um neben ihr niederzuknien. »Was ist passiert?« Molly sah ihn an, und die Dunkelheit wurde zu einem gefährlichen Knurren tief in ihrer Kehle. Seolar legte ihr eine Hand auf die Schulter, und die Wär112 me seines Fleisches auf ihrem weckte eine animalische Lust in ihr, den ausgehungerten Wahnsinn einer in der Brunft befangenen Kreatur, und sie beugte sich zu ihm vor, legte die Lippen auf seinen Hals und biss so fest zu, dass sie ihn aufkeuchen hörte. »Ich will dich«, sagte sie, und ihre Stimme war so leise, dass nur er sie hören konnte. »Jetzt. Hier.« Sie hatte noch nicht mit ihm geschlafen - ihre Trennung durch ihren Tod und ihre Verwirrung nach ihrer Rückkehr hatten dem im Weg gestanden. Sie hatten dem Versprechen im Weg gestanden, das ihre Liebe barg, der Leidenschaft, die zwischen ihnen knisterte, wenn sie einander ansahen, wenn sie sich berührten, wenn sie sich küssten. Sie waren nie Liebende gewesen. Aber Hunger und Dunkelheit trieben sie an, und Seolar stand wie ein Lichtstrahl vor ihr, und in diesem Augenblick würde sie sich nicht zurückweisen lassen. »Wachen, hinaus«, sagte Seolar. »Verschließt die Türen; lasst niemanden hindurch.« Er klang, als sei seine Kehle voller Sand. Molly gab den Wachen gerade genug Zeit, um den Raum zu verlassen, dann stand sie auf, zog Seolar hoch, stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn ins Ohr zu beißen, um ihre Zunge mit schnellen, harten und ruckartigen Bewegungen über die weiche Haut wandern zu lassen. Er löste sich von ihr, und in seinen Augen stand ein unsicherer Ausdruck. »Was tust du da?« »Fürchte den Schnitter nicht«, wisperte sie, öffnete ihr Mieder und zog ihre Bluse hinunter, so dass die Seide unter ihren entblößten Brüsten hing. Seolars Atem ging schneller, und er starrte sie an. »Warum?«, fragte er. »Weil es kein Morgen gibt. Und das Jetzt sich leer anfühlt 113 und ich die Leere füllen will. Mit dir.« Sie löste die Bänder ihres Rockes und hielt den Taillenbund gerade lange genug in die Höhe, um darunter zu greifen und auch ihre Unterröcke aufzubinden. Dann ließ sie die vielen Seidenschichten raschelnd zu Boden gleiten und trat darüber hinweg. »Füll mich aus«, sagte sie. Er machte Anstalten, sie zu küssen, aber sie entwand sich seinen Armen und riss ihm mit einer heftigen Gebärde die Hosen über die Hüften. »Beiß mich.« Sie beugte sich vor und legte den Kopf in den Nacken, um sich das Haar aus dem Gesicht zu schütteln und ihren Hals zu entblößen. Sie spürte seine Zähne auf ihrer Haut, während sie seine Hüften umfasste und ihn an sich zog. Sie grub die Finger in seine Haut und knurrte: »Fester.« Er biss fester zu, und sie stöhnte; der Schmerz kämpfte gegen die Dunkelheit, gegen die Leere. Ich lebe, sangen die verlorenen Stimmen in ihrem Kopf. Ich lebe. Sie stieß ihn zurück - heftig -, und er prallte gegen den Tisch. Sie trat auf ihn zu und fing sein Gewicht mit einer Stärke, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß, mit ihren Hüften und Schenkeln auf. Dann schob sie ihn, die Beine zwischen seinen, hoch und warf ihn auf den Tisch. Teller und Platten rutschten über den Tisch, und eine Schale krachte zu Boden. Seo fiel auf den Rücken und fing
sich mit den Ellbogen ab. Molly stieg ebenfalls auf den Tisch, richtete sich vor Seolar auf und hielt inne. Sie riss ihm sein Gewand über den Kopf und fing seine Handgelenke in dem Gewirr von Stoff auf. Dann beugte sie sich langsam über ihn, bis ihre Brüste über seinen Oberkörper strichen. »Du gehörst mir«, murmelte sie. »Ja«, sagte er. 114 »Du willst mich.« »Ja.« Seine Stimme war heiser. Verbanne die Geister, dachte sie und erhob sich, und langsam, ganz langsam nahm sie ihn in sich auf. »Ja«, flüsterte er. Sie ritt auf ihm, ihre Oberschenkel spannten und entspannten sich, während sie um Stille in ihrem Kopf rang, während sie um einen Ort fern des Gewispers der Rrön kämpfte, fern des Zugriffs der Toten, fern ihrer eigenen Selbstzweifel und Albträume. Sie trieb sich selbst an und trieb ihn an, immer härter und schneller, und zu guter Letzt gelang es Seolar, die Hände aus den Fesseln des verhedderten Hemdes zu befreien. Er umklammerte ihre Hüften und übernahm das Kommando. Mit einem mächtigen Stoß seiner Hüften und Beine drehte er sie beide um, so dass Molly unter ihm lag, und er fing ihre Knöchel auf und legte sie sich über die Schultern. »Nichts wird dich in deinen Träumen verfolgen. Nichts, außer mir«, versprach er, dann beugte er sich über sie und drückte ihr die Schenkel auf den Bauch. »Keine Geister, keine Dämonen, kein Bedauern.« Er stieß in sie hinein und brüllte über ihr wie eine tosende Flut auf einem felsigen Ufer, und Molly wölbte sich ihm entgegen, um ihn besser in sich aufnehmen zu können. Dann, als das herrliche Gefühl des Ertrinkens sie überwältigte und über sie hinwegspülte, schrie sie auf. »Noch nicht«, sagte Seo und hielt mit seinen Bewegungen inne. Als sie ein wenig ruhiger wurde, ließ er sanft die Hände über ihren Körper wandern. Sie hob sich ihm voller Verlangen entgegen, und er lächelte leicht und umkreiste mit den Daumen ihre Brustwarzen, bis Molly es kaum mehr ertragen konnte. Sie stöhnte, ließ die Beine von seinen Schultern gleiten, 115 verschränkte sie hinter seinem Rücken und versuchte, ihn dazu zu zwingen, ganz in sie einzudringen. Aber er lachte nur, umfasste ihre Hüften, brach ihren Widerstand und drehte sie um. Jetzt zog er sie hoch, so dass sie an ihm lehnte, dann stieß er zu, und sie schrie auf. In einem entlegenen Winkel ihrer Gedanken waren die Stimmen - sie wisperten. Heute, jetzt - aber dann nie mehr. Die Rrön, die Geister, Mollys grausame Angst - nichts war gebannt, alles wartete noch immer auf sie. Sie stürzte sich in körperliche Verausgabung, in Wildheit und ein vernunftloses, tierisches Verlangen und kämpfte gegen die Stimmen und die Angst an. Sie bohrten und verkrallten sich ineinander, taumelten, ein rauer Kampf der Leidenschaft, die bis zur Sonne emporloderte und brannte wie das Weltenende. Eine Welle nach der anderen riss sie mit sich, verschlang sie in ihrem Strudel; sie ertranken und tauchten wieder auf, bissen sich, rollten sich herum, drangen noch heftiger aufeinander ein, noch schneller und wilder, bis eine Woge sie schließlich weit auf den Strand warf. Sie schrie seinen Namen, und er brüllte auf in wortloser Erleichterung. Sie schauderte und bebte an Körper und Geist, ihre Beine zu schwach, sie länger zu tragen, so erregt, dass er sie mit der leisesten Berührung zu einem neuen Höhepunkt führte. Nichts war mehr in ihr. Keine Stimmen. Kein Schmerz. Nur das Brausen ihres eigenen Blutes in den Ohren, das Schlagen ihres wilden Herzens. Wie in Zeitlupe ließ sie sich vornüberfallen, so dass sie flach auf dem Tisch lag und er über ihr und in ihr. Beide erschöpft. Gesättigt. Einen Augenblick später rollte er sich von ihr herunter und legte ihr eine Hand um den Hinterkopf. So lagen sie ein Weilchen da, dann sagte er: »Liebes?« »Ja?« 116 »So hatte ich es nicht geplant.« »Ich wollte keine leise Musik und Kerzenlicht. Ich wollte keinen langen Tanz und langsame Verführung.« Sie starrte ins Leere, und ihre Stimme hallte in ihren Ohren wider. »Ich wollte dich. Jetzt.« »Hier ging es nicht um mich«, erwiderte er, und sie konnte es nicht bestreiten und sagte deshalb nichts. Nach einem langen Schweigen bemerkte er: »Du kannst dich vor den Dingen, die dir Angst machen, nicht verstecken. Und du kannst sie nicht vergraben und so tun, als seien sie nicht da.« »Nein«, sagte sie. »Ich weiß. Sie sind immer noch da.« »Du musst dich ihnen stellen. Aber du brauchst dich ihnen nicht allein zu stellen. Ich werde bei dir sein, was es auch sein mag, wovor du dich fürchtest. Ich liebe dich, Molly.« Molly drehte sich auf die Seite, sah ihm in die Augen und zeichnete mit dem Finger die Linie seines Wangenknochens und die Umrisse seiner Tätowierungen nach, die auf seinem Gesicht seine Lebensgeschichte beschrieben. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Ich weiß.« Sein Lächeln war zaghaft. »Und das hier - das waren nicht wir.« Er streichelte sie. »Das war dein Schatten und vielleicht meiner. Aber Schatten ziehen vorbei.« Nur wenn die Dunkelheit sie verschlingt, dachte Molly, sprach den Gedanken aber nicht aus. Stattdessen sagte
sie: »Ich hoffe es.« Der hohle Schmerz lag unter der friedlichen Oberfläche ihrer Gedanken und wartete darauf, wieder aufzusteigen. Sie konnte ihn spüren, geradeso wie sie den Druck der zum Schweigen gebrachten Stimmen spürte. Sie waren nicht fort. Sie warteten nur. Sie fragte sich, wie sie sie verbannen konnte - welcher Zauberspruch würde sie davon befreien? Sie küsste Seolar sachte, dann erhob sie sich und zog sich 117 an. »Ich werde für ein Weilchen zu Lauren gehen«, erklärte sie. »Ich möchte dich nicht allein lassen, aber Lauren und ich hatten noch keine Gelegenheit, über all die Dinge zu reden, die wir tun müssen. Der - der Überfall ist uns dazwischengekommen.« Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, während sie das sagte, denn sie wollte nicht, dass er den ausweichenden Ausdruck in ihren Augen sah. Sie würde nicht in Laurens Quartier gehen, um mit ihrer Schwester zu reden. Mit ein wenig Glück war Lauren bereits müde und wollte zu Bett gehen, und Molly würde sich ohne Störung den Büchern widmen können, die sie in Laurens Zimmer versteckt hatte - vielleicht würden sie ihr weiterhelfen. Irgendwann in den nächsten Tagen, dachte Molly, würde sie sie vielleicht zu Seolar bringen, um festzustellen, was er ihr vorlas und was er ausließ, nur um eine bessere Vorstellung davon zu gewinnen, welche Stellen sie lesen sollte. Aber eigentlich wollte sie gar nicht wissen, dass er sie belog. Vielleicht würde sie die Bücher einfach behalten und Seolar erzählen, sie habe den Entschluss gefasst, keine Nachforschungen mehr anzustellen. Was bedeutete, dass sie ihn belügen würde. So wie sie ihn gerade jetzt belog - es war keine direkte Lüge; sie erzählte ihm nur nicht alles. Aber eine Lüge war es trotzdem. Ein Verrat war es trotzdem. Wieder angekleidet lehnte sie sich an einen hohen, schweren Stuhl, während Seolar sich ebenfalls anzog. Er war schön. Nicht menschlich - aber andererseits war auch sie nicht menschlich, zumindest nicht ganz. Seolar verfügte über eine nichtmenschliche Anmut, eine sehnige Stärke, die ihr den Atem raubte und ihr Herz schneller schlagen ließ und es getan hatte, seit sie einander das erste Mal begegnet waren. Sie waren füreinander bestimmt. Es war ihr Schicksal, ihr Leben zu teilen - sie passten perfekt zusam118 men; und mehr denn je wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, was sie an ihm hatte, und sie vermochte die Vollkommenheit dieser Beziehung zu würdigen. Aber sie hatte das Gefühl, als halte sie einen Kelch aus Zuckerglas in Händen und beobachtete dabei die Sturmwolken, die sich über ihr zusammenbrauten. Nichts von alledem fühlte sich so an, als sei es von Dauer, als könne es von Dauer sein. Irgendwann im siebzehnten Jahrhundert hatte Andrew Marvell ein Gedicht mit dem Titel An seine spröde Geliebte geschrieben, ein Gedicht, das Molly vor langer Zeit für die Schule auswendig gelernt und seither nie mehr vergessen hatte. Die letzten Worte dieses Gedichtes stahlen sich in ihre Gedanken: Deshalb, so lang auf deiner Brau Die Jugend glänzt wie Morgentau, Hingebend deine Seele glüht, Und jede Faser Funken sprüht, Genießen wir in vollen Zügen, Wie Adler, die auf Beute fliegen. Lass uns der Zeit mit eins bezahlen, Nicht träge Kiefer uns zermahlen, All unsere Stärke sei und all Die Süßigkeit als wie ein Ball, Den jauchzend wir trotz seinem Sträuben Dem Leben durch die Tore treiben. Steht drum auch nicht die Sonne still, Genug, wenn sie sich sputen will. * Seolar lächelte ihr zu, und während er das tat, spürte sie, wie er ihr entglitt, nicht nur für den Augenblick, sondern * Zitiert in der Übersetzung von Levin Ludwig Schücking. 119 für immer. Sie erinnerte sich, ihn angeschaut und die Zukunft gesehen zu haben. Aber das war gewesen, bevor sie starb, bevor sich alles verändert hatte. Es war so dumm - sie wusste, dass sie ewig leben würde oder zumindest so lange, wie sie die Kette trug. Sie konnte getötet werden, aber niemand konnte dafür sorgen, dass sie tot blieb; sie hätte das Gefühl haben müssen, eine Ewigkeit vor sich zu haben. Wenn sie Seo anschaute, hätte sie sie beide sehen sollen, miteinander alt geworden und glücklich, nachdem sie das Grauen der Gegenwart bezwungen hatten und die Welt in Sicherheit und unversehrt war. Aber sie fühlte sich so zerbrechlich und so flüchtig wie Andrew Marvells spröde Geliebte, die längst zu Staub zerfallen war. Sie fühlte sich, als sei sie schon nicht mehr da, und alles um sie herum waren nur Bilder, die am Fenster eines schnell dahinrasenden Zuges vorüberflogen. Eines Zuges, den sie nicht anhalten und aus dem sie nicht aussteigen konnte. Sie holte tief Luft. Die Tränen lagen zu nahe an der Oberfläche, und sie würde sich nicht gestatten, zu weinen. Sie hatte keinen Grund, zu weinen.
Als Seolar angezogen war, fragte sie ihn: »Was werden sie denken? Die Wachen, die Diener?« »Sie werden denken, dass ich großes Glück habe«, antwortete Seo mit einem schiefen Lächeln. »Und selbst das werden sie nicht allzu laut zu denken wagen. Es hat durchaus seine Vorteile, der Imallin zu sein.« »Küss mich«, flüsterte sie. Er tat es. Es war ein sanfter, zärtlicher, liebevoller Kuss, und Molly ließ sich hineinfallen, als sei es der letzte, den sie jemals bekommen würde. Sie konnte aus diesem Zug nicht aussteigen, nicht einmal, wenn Seolar sie in den Armen hielt. 120 »Ich sollte jetzt gehen«, sagte sie. »Bevor es zu spät wird und ich Lauren aus dem Schlaf reiße.« »Ich begleite dich zu ihrem Quartier«, entgegnete er und hob die Hand, als sie einwenden wollte, dass das nicht nötig sei. »Ich vertraue dich niemandem außer mir selbst an. Nicht nach dem, was heute geschehen ist. Ich kenne all meine Männer. Du nicht. Wäre ich heute bei dir gewesen, hätte der Verräter nicht in Laurens Nähe kommen können. Ich werde nicht zulassen, dass ein solches Ungeheuer dir etwas antut.« »Ich wollte dir nur nicht zur Last fallen.« Er legte einen Arm um ihre Taille. »Das ist unmöglich. Ich habe mein Leben lang auf dich gewartet. Du bist ein Geschenk.« Sie traten durch die Türen in die große Halle, vorbei an Wachposten, die mit ausdrucksloser Miene geradeaus blickten, als sei dies eine Aufgabe, die sie regelmäßig verrichteten. Molly musste gegen ein plötzliches Lächeln ankämpfen, gegen den jähen Drang, in Gekicher auszubrechen. Wenn sie kicherte, da wäre sie jede Wette eingegangen, hätte es auch einer der Männer getan, und das Lachen hätte sich ausgebreitet, bis sich sämtliche Soldaten mit Tränen in den Augen und nach Luft ringend die Seiten gehalten hätten. Aber sie biss sich in die Innenseiten ihrer Lippen und hielt sie zwischen den Zähnen fest. Und der kurze, herrliche Augenblick der Torheit verstrich. Kupferhaus Jake lag fest schlafend zusammengerollt mitten im Bett. Lauren hatte eine wunderbare, silberne Teemaschine und Streichhölzer entdeckt, mit denen sie den kleinen, einge121 bauten Wasserkocher entzünden konnte - das Gerät sah zwar nicht so aus wie ein Samowar, aber sie vermutete, dass es genauso funktionierte. Und mit ihrer heißen Tasse Tee und einer großen Schachtel Plätzchen, die sie in der Speisekammer gefunden hatte, hatte sie sich gerade in dem Schaukelstuhl niedergelassen, als Rue ihr mitteilte, dass Molly und Seolar auf dem Weg zu ihr seien. Sie hatte gerade noch Zeit, Tee und Plätzchen vor ihrer Ankunft auf einen Tisch zu stellen und sich einen Morgenmantel über den weichen, weißen Baumwollschlafanzug zu ziehen, den sie im Kleiderschrank gefunden hatte. Sie begrüßte die beiden an der Tür. »Du wusstest, dass wir kommen würden?«, fragte Molly. Lauren wollte Seolar nicht abermals verärgern, daher antwortete sie nur mit einem Ja und ließ es dabei bewenden. »Ich dachte, wir könnten das Gespräch nachholen, auf das wir vorhin verzichten mussten«, bemerkte Molly. Lauren hatte nicht die mindeste Lust, gerade jetzt über den Plan ihrer Eltern oder ihre Pflichten den Welten gegenüber zu sprechen. Aber sie war Gast in diesem Haus und konnte Molly kaum einfach wieder wegschicken. »Kommt herein«, sagte sie zu Molly und Seolar. »Ich kann nicht«, antwortete Seolar, »obwohl ich dir für die Einladung danke. Selbst ein kleiner Imal wie meiner bedarf der ständigen Aufmerksamkeit, und ich befürchte, dass die heutigen Ereignisse mich von vielen meiner Verpflichtungen fern gehalten haben.« Er verbeugte sich, schenkte Molly ein winziges, verschwörerisches Lächeln, das Lauren durchaus faszinierend fand, und ging den Flur hinunter, gefolgt von nur einigen wenigen der Wachen, die ihn zu seinem Ziel begleitet hatten. Die übrigen nahmen zu beiden Seiten des Korridors Aufstellung und mischten sich 122 unter die Soldaten, die für Lauren verantwortlich waren, bis das Spektakel so aussah wie ein Kostümabend bei der Fremdenlegion. Molly machte nur einen einzigen Schritt in den Raum hinein, dann lehnte sie sich an den Türrahmen, bis Seolar außer Sicht war. »Ich möchte diese Bücher lesen«, erklärte sie. Aus den tiefen Taschen ihres Seidenrockes zog sie zwei kleine, zusammengefaltete Quadrate, die Lauren an Laminierfolie erinnerten, und fügte hinzu: »Hier. Du wolltest eins von diesen Dingern haben.« Lauren nahm den Gegenstand in die Hand und starrte ihn an. »Das ist das ... Lesegerät?« »Ich hoffe es«, erwiderte Molly. »Ich hatte nicht viel Zeit, um mich darauf zu konzentrieren - ich habe es auf dem Weg zum Abendessen gemacht. Willst du mir dabei helfen, es auszuprobieren?« »Natürlich.« Lauren ging auf das Bett zu; sie hatte die Bücher darunter versteckt. Jetzt zog sie sie hervor, breitete sie auf dem Boden aus und entschied sich für eines mit einem hübschen, mit zierlichen Mustern bestickten Einband aus roter Moireseide. Lauren faltete die Lesefolie auf und stieß einen leisen Pfiff aus, als die Falzlinien
verschwanden und sie ein makellos glattes Rechteck von gut zwanzig Zentimetern Breite und dreißig Zentimetern Höhe in Händen hielt. »Ah, saubere Arbeit, Molly«, sagte sie, während sie das gelungene Werk bewunderte. Sie legte die Lesefolie zur Probe wieder zusammen - sie faltete sich entlang unsichtbarer Linien, als hätte sie Scharniere. Als sie die Folie wieder auseinander faltete, war sie wieder genauso makellos wie zuvor. »Ich werde erst dann in Begeisterung ausbrechen, wenn es funktioniert«, murmelte Molly. »Ich hatte bisher weder 123 Zeit noch Lust, um mit irgendetwas anderem als Heilmagie zu experimentieren, daher könnte es sich durchaus als komplettes Fiasko erweisen.« Lauren erhob sich und blickte durch die glatte Plastikfolie auf den Einband des Buches, das sie ausgewählt hatte. Er blieb unverändert. »Wenn es nicht funktioniert, gehen wir morgen zusammen in den sicheren Raum und versuchen es noch einmal.« Molly hatte einen besonders schweren Folianten zu dem viel zu üppig gepolsterten Sofa im Wohnzimmer geschleppt, eine Lampe angezündet und sich dort niedergelassen. Sie legte sich das geöffnete Buch auf den Schoß und breitete dann die Lesefolie über eine Seite aus. Nach einem kurzen Moment blickte sie mit einem Grinsen zu Lauren auf. ... und dann ritten sie nach der Schlacht am Schlimmwassersee gen Norden - die Helden, die edlen Veyär -, fort von dem Krieg und den Toten, die sie sowohl verbrannt als auch begraben hatten. Sie näherten sich der Stadt der Hoffnung, Naarth, und dem Fluss, reich an Fischen, und den Feldern, die sich dem Pflug unterwarfen und einen Überfluss an Gräsern für die Tiere boten ... »Naarth liegt südlich von hier«, erklärte Molly, »in dem Imal Dalieam. Ein Botschafter von dort hat hier seinen ständigen Sitz; es ist eines der letzten Bollwerke der Veyär, und sie tauschen viele Dinge, die ihr Fluss und ihre Ländereien hervorbringen, gegen Erzeugnisse aus den Wäldern von Ballahara.« Molly klappte das Buch zu und legte die Lesefolie auf den Einband. »Die Reisen der Veyär aus der "Verlorenen Heimat. Ich hätte den Einband zuerst ent124 schlüsseln sollen, aber mir war nicht bewusst, dass es sich bei den Dekorationen tatsächlich um Worte handelte. Ich dachte, es wäre lediglich ein aufgesticktes Muster. Zumindest weiß ich jetzt, dass die Lesefolie funktioniert.« Sie bückte sich, versteckte das Buch unter dem Sofa und holte sich ein anderes. »Was hast du da?« Lauren saß in ihrem Schaukelstuhl, mit dem geschlossenen Buch auf dem Schoß, und legte die Lesefolie auf den Einband. Solange die Folie den Einband noch nicht direkt berührte, geschah überhaupt nichts, aber sobald sie darauf zu liegen kam, lösten sich die leuchtenden, aufgestickten Seidenmuster zu Worten auf. »Das Leben der Vodi Elsbeth«, sagte sie. »Ein paar von den Büchern hier müssten eigentlich was taugen«, meinte Molly und ging jetzt zu den Büchern hinüber, die auf dem Fußboden ausgebreitet lagen. »Die Biografien interessieren mich sehr, aber vorher will ich unbedingt die Sachen lesen, die uns meiner Meinung nach wirklich weiterhelfen können.« Sie ließ sich auf die Knie nieder und legte ihre Lesefolie auf einen der Einbände. »Wird wohl auf der Rückseite stehen«, meinte sie und drehte das Buch um. »Nein. Dieses hier hat keinen Titel. Was wahrscheinlich bedeutet, dass es sich um eins der Tagebücher oder der Journale handelt.« Sie versuchte es mit einem anderen Buch. »Die Erzählungen des Imallin Galorayne. Ich habe keine Ahnung, inwiefern uns dieses hier von Nutzen sein könnte, und es ist ziemlich dick. Später vielleicht.« Sie griff nach einem dünnen, in purpurfarbene Seide mit schwerer Blumenstickerei eingebundenen Buch. »Ich wette, das ist ein Tagebuch«, sagte Molly und entzifferte die Aufschrift. »Da soll mich doch der Teufel holen. Dieses ist Jene, deren Namen nicht genannt werden. Das hier will ich unbedingt lesen, aber nicht jetzt. Ich suche nach einem großen, dicken Buch. 125 Ich wünschte, ich hätte genauer darauf geachtet, wie der Einband aussah ... oh, da ist es. Imallin Merionals Gespräche mit den Dunklen Göttern.« »Klingt heiter«, meinte Lauren. »Eine leichte, fröhliche Lektüre für die finstersten Stunden der Nacht.« Molly lachte leise und wandte den Blick ab. »Das ist bestimmt ein Riesenspaß.« Sie zuckte die Achseln, und Lauren, die ihre Schwester beobachtete, gewann den Eindruck, dass Molly etwas vor ihr verbarg. Vielleicht etwas Großes. Lauren legte Das Leben der Vodi Elsbeth beiseite und nahm sich das mit dem interessanten Titel vor - Jene, deren Namen nicht genannt werden. Sie begann am Anfang, bei dem es sich um eine Liste jener Geschöpfe handelte, die der Autor für dunkle Götter hielt. Die meisten der Rrön, viele Keth, einige Anguawyr, sämtliche überlebenden Triiga ... die Liste erstreckte sich über zwei Seiten, aber an keiner Stelle stand einfach die unumwundene Feststellung, diese Spezies oder jene Rasse seien dunkle Götter. Stets gab es irgendwelche Einschränkungen. Lauren fragte sich, ob vielleicht eine Art politischer Korrektheit die Veyär davon zurückhielt, einfach festzustellen: »Hier. Das hier sind allesamt böse Leute aus bösen Kulturen oder einer durch und durch schlechten Welt.« Oder umrissen ihre vorsichtigen Einschränkungen die Grenzen einer unvermuteten Realität? Aber vielleicht war diese Realität nicht gar so unvermutet. In der christlichen Mythologie waren Gott und sämtliche Engel zu Anfang gut gewesen, aber Luzifer war gefallen und hatte einen ordentlichen Brocken des
Himmels mit sich genommen. Bei den griechischen Göttern gab es gute und böse. Dasselbe galt für die indischen Götter und die nordischen Götter - man brauchte sich nur Loki anzusehen. Gerissen und stets zu Streichen aufgelegt... wenn man mit 126 dem Finger auf jemanden zeigen wollte, der auf der falschen Seite des Zaunes stand, dann war es ganz sicher Loki. War das der einzige Unterschied zwischen alten Göttern, denen reichlich Bewunderung zuteil wurde, und dunklen Göttern, deren Namen nicht einmal genannt wurden? Lauren las weiter. Sie hatte eigentlich schlafen wollen - um die Gräuel des vergangenen Tages hinter sich zu lassen -, aber wahrscheinlich würde sie im Bett lediglich weitergrübeln, und vielleicht würde es ihr helfen, sich später zu entspannen, wenn sie ihren Geist noch für ein Weilchen mit anderen Dingen beschäftigt hielt. »Das klingt interessant«, sagte sie kurze Zeit später. »Ich kann nicht direkt den Finger darauf legen, aber wann immer sich in diesem Buch eine kurze Biografie über einen speziellen dunklen Gott findet, wird erwähnt, mit welchen Methoden besagter Gott bereits getötet wurde. Es behauptet also niemand, diese Burschen seien unsterblich.« Molly blickte mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht von ihrer Lektüre auf. »Nenn mir ein Beispiel.« Lauren nickte. »Hier steht ein Eintrag über einen der Rrön.« Aus den kleinen Schlupflöchern überall im Raum hörte sie ihre neuen Freunde scharf den Atem einsaugen - die Goroths schätzten es offensichtlich gar nicht, wenn jemand das Wort »Rrön« laut aussprach. Lauren grinste Molly an, die mit gerunzelter Stirn in die Richtung blickte, aus der die leisen Laute gekommen waren. Lauren formte mit den Lippen das Wort »goroths«, und nachdem sie das zweimal getan hatte, huschte ein Ausdruck des Verstehens über Mollys Züge, und sie grinste nun ihrerseits. Lauren begann, laut vorzulesen: 127 Als Baanraak als Meister der Rrön die Macht übernahm, zog er aus, um die Veyär zu vernichten, die sich weigerten, den dunklen Rrön den Zehnten zu zahlen oder ihnen zu opfern. Er kam in einem Sturm, den er heraufbeschworen hatte, und mit ihm zerstörte er das Dorf Thiethe Hamar und metzelte so viele Bewohner des Dorfes nieder, wie er zur Strecke bringen konnte. Aber der Veyär Nidral, Sohn des Atharene, griff ihn an, während Baanraak Frauen und Kinder verschlang, die er versteckt in einem der letzten stehen gebliebenen Häuser des Dorfes gefunden hatte, und Nidral attackierte Baanraak mit einem silbernen Messer, das die alten Götter gesegnet hatten. Der Name des Messers war Thice. Nidral rammte Baanraak ein Messer in die Kehle und trieb es in seinen Blutkanal, und als das Blut hervorschoss und Nidral besudelte, starb Baanraak und kehrte erst zurück, um die Veyär zu jagen, als zehn Jahre und ein Tag verstrichen waren. Und als er zurückkehrte, suchte er zuerst nach Nidral und verschlang den Kämpen, denn Baanraaks Gedächtnis war lang, und sein Hunger nach Rache brannte ohne Unterlass. Die ganze Zeit über, während Lauren las, bildete das gedämpfte Heulen und Ächzen der Goroths einen steten Geräuschteppich, so dass Lauren mehr und mehr das Gefühl hatte, als müsse sie beim Lesen eine Popcornmaschine im Nebenzimmer übertönen. Sie sagte kein Wort zu den Goroths, aber ihre Reaktion, wann immer sie den Namen Baanraak oder die Rrön erwähnte, zerrte an ihren Nerven. Molly dagegen reagierte nicht mit dem unbeteiligten Interesse, das Lauren erwartet hatte. Als sie von dem Buch aufblickte, sah sie, dass Molly blass geworden war. 128 »Was ist los?« »Baanraak«, sagte Molly. »Das ist der Name des gedungenen Mörders, nach dem der Rrön Rr'garn suchen wollte. Baanraak ist derjenige, den er herholen wollte, damit er uns tötet.« Ein eiskalter Wurm der Furcht stahl sich in Laurens Eingeweide und verkrampfte alles, was er berührte. Sie sah ihre Schwester an und fragte: »Du glaubst doch nicht, dass es derselbe ist, von dem in dem Buch die Rede ist?« »Ich halte es für sehr wahrscheinlich«, antwortete Molly. »Ich möchte keine Panik verbreiten, aber ich konnte einige Gedanken von Rr'garn auffangen. Danach war dieser Baanraak früher einmal der Anführer aller Rrön.« Der Goroth Rue tauchte plötzlich aus seinem Versteck auf - wo immer es sich befunden haben mochte - und rief: »Bitte, oh bitte, Jägerin ... Vodi. Sprecht nicht von ihnen. Ihr nennt ihre Namen, und böse Dinge werden geschehen - Ihr dürft nicht von den dunklen Göttern sprechen, nicht darüber, was sie sind, oder darüber, wer sie sind. Sie sind bösartig und haben die Winde dafür bezahlt, ihnen jede Erwähnung ihrer Namen zuzutragen, und sie spüren jene auf, die sie heraufbeschwören.« Lauren tat das kleine Geschöpf herzlich Leid. Es sah aus, als stünde es kurz vor einem Schlaganfall - es war noch grauer im Gesicht als Molly, und Schweiß bildete winzige Perlen auf seiner Haut und rann in alle seine Runzeln; es atmete, als sei es soeben zehn Meilen gerannt, und seine zuvor gelben Augen hatten einen erschreckenden Orangeton angenommen. »Es tut mir Leid, Rue«, sagte Lauren. »Wir wollen euch nicht aufregen - aber wenn wir unsere Feinde besiegen wollen, müssen wir zuerst wissen, wer sie sind, wie sie vorgehen und wo ihre Schwächen liegen. Wir dürfen uns nicht 129
von abergläubischen Vorstellungen ins Bockshorn jagen lassen.« Sie lächelte ihn an und fügte hinzu: »Aber wir sind im Kupferhaus. Das ist ein guter Ort; ihr braucht euch nicht um uns zu sorgen und auch nicht um euch selbst. Wenn die Rrön in der Lage wären, hier hereinzukommen, hätten sie es bereits getan. Tatsache ist, dass sie bisher nichts anderes unternehmen konnten, als am Himmel über uns zu kreisen. Sie können uns hier nichts anhaben. Macht euch keine Sorgen.« Aber Molly beobachtete den Goroth, den Kopf schräg gelegt, einen gespannten Ausdruck auf dem Gesicht. »Du kennst sie? Du bist ihnen schon einmal begegnet?« »Oh nein!«, rief Rue, den die bloße Idee schon entsetzte. »Meistenteils ignorieren sie meinesgleichen, und wenn sie uns doch einmal bemerken, dann nur, um uns zu fressen. Sie haben nichts übrig für ... für Denker und Gedanken. Alles, was sich bewegt, ist Nahrung, glauben sie. Sie sind böse. Böse - und wenn ihr von ihnen redet, werden sie euch hören.« Lauren hätte Rue am liebsten eine Ohrfeige verpasst, aber er hatte sich in ihren Dienst gestellt. Verglichen mit Embar wirkte er launisch, töricht und leicht erregbar, aber wahrscheinlich konnte sie nicht erwarten, dass jeder Goroth so war wie Embar. Geradeso gut hätte sie erwarten können, dass jeder Mensch so war wie Brian. So funktionierten die Dinge einfach nicht. Als Lauren wieder zu Molly hinübersah, saß diese mit geschlossenen Augen da, und aus dem Gesichtsausdruck ihrer Schwester konnte Lauren nur den Schluss ziehen, dass ihr eine beginnende Migräne zu schaffen machte. »Molly, alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie, aber Molly hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Lauren beobachtete sie weiter, verwirrt von Mollys Blässe, ihrer 130 tief gerunzelten Stirn und ihrem hoch aufgerichteten Rückgrat, das immer steifer zu werden schien. Die Folie wie ein Lesezeichen zwischen den Seiten, klappte Lauren das Buch auf ihrem Schoß zu und legte es schweigend neben den Schaukelstuhl auf den Boden. Dann beugte sie sich vor, um aufzustehen und ihrer Schwester Trost oder Hilfe anzubieten. Aber noch bevor sie sich von ihrem Platz erheben konnte, riss Molly die Augen auf, und ihr Kopf fuhr zu dem kupfernen Gitter vor dem Ostfenster des Raums herum. Dann stieß sie ein schrilles Kreischen aus. Lauren folgte Mollys Blick und sah - und fühlte - ein Ungeheuer, das draußen vor ihrem Fenster schwebte. Ein höllenhaft gelbes Auge von der Größe eines Basketballs starrte sie an. Und in derselben Sekunde spürte sie etwas hinter sich, drehte sich um und sah ein weiteres, gleichermaßen riesiges Auge am Nordfenster. Das Auge glühte wie das rubinfarbene Katzenauge eines Scheinwerfers. »Sie sind hier!«, schrie Molly und sprang auf. »Wir müssen hier raus.« Lauren rannte ins Schlafzimmer, packte Jake und hörte dann auch schon das schwerfällige Flügelschlagen der Ungeheuer vor den Fenstern und das entsetzliche Kratzen von Krallen auf Glas. Und dann ein Krachen und ein gellender Schrei. Sie klemmte sich ihren schlaftrunkenen Sohn wie einen Fußball unter den Arm und rannte, als seien ihr alle Furien der Hölle auf den Fersen. 7 Kupferhaus Molly half Lauren, den Goroths und den Wachen, Jake, die Bücher und Laurens geringe Habe in sichere - wenn auch fensterlose - Räume im Herzen des Kupferhauses zu bringen. Die Wachen nahmen vor dem Raum ihre Positionen ein. Die Goroths durchsuchten die kleinere Suite mit paranoider Effizienz, erklärten unbeirrbar, dass es zwei Schwachpunkte dort gäbe - eine geheime Dienstbotentür zum Wohnzimmer und einen schmalen Korridor zwischen dem Ankleidezimmer und dem Schlafzimmer, der nirgendwo hinführte - und machten es sich zur Aufgabe, beide zu bewachen. Als Seolar ankam, gab er den Wachen den Befehl, die Rrön im Auge zu behalten, und überzeugte sich dann davon, dass Molly in Sicherheit war. Er verabschiedete sich wieder, als sie ihm erklärte, sie müsse für ein Weilchen bei ihrer Schwester und deren kleinem Sohn bleiben - zumindest bis die beiden sich wieder gefasst hätten. Endlich waren die Schwestern wieder allein - soweit das in diesem Haus überhaupt möglich war. »Was zum Teufel sollen wir tun?«, fragte Lauren. Sie wiegte Jake in den Armen und betrachtete argwöhnisch das Bett, als könne es sich in etwas Schreckliches verwandeln, das sie verschlingen würde. »Was die ... was sie betrifft?« Der Aberglaube, was die Erwähnung der dunklen Götter anbelangte, erschien Molly plötzlich nicht mehr gar so absurd. 132 »Ja.« Mit einem Seufzer legte Lauren Jake ins Bett. Unbekümmert, wie nur ein Kind es sein konnte, blinzelte er ein paar Mal, lächelte verschlafen und rollte sich dann zusammen. Binnen Sekunden schlief er so fest, als sei nichts geschehen. Molly sagte: »Für den Augenblick kümmern die Veyär sich um sie. Sie können aus dem Verborgenen auf sie schießen und sie auf diese Weise zumindest verscheuchen. Langfristig ...? Langfristig müssen wir beide eine Lösung finden.« Lauren sah krank aus. »Wir haben das heraufbeschworen, Molly. Wir haben sie angelockt und alle in Gefahr gebracht.«
Molly biss sich auf die Unterlippe und fingerte an den Bändern ihres Mieders herum. »Ich weiß. Wir müssen die Regeln kennen, Lauren. Wir müssen wissen, was wir tun können und was nicht. Wir müssen begreifen, wer wir sind, und um das herauszufinden, müssen wir ein paar von diesen Büchern lesen. Oder zumindest ich muss es tun.« »Ich weiß nicht, ob uns das weiterbringen wird«, sagte Lauren. Sie setzte sich auf die Bettkante. Molly sah, dass sie ihren Sohn betrachtete. »Es treibt mich in den Wahnsinn, dass ich Jake in Gefahr bringe. Ich kann nicht denken, ich kann mich nicht konzentrieren. Ich sollte Moms und Dads Notizbuch lesen, aber ich kann mich auf nichts anderes besinnen, als dass er ganz allein auf der Welt sein wird, wenn ich getötet werde.« Lauren verbarg das Gesicht in den Händen. Molly hörte sie mit gedämpfter Stimme sagen: »Heute Morgen hat er mir erklärt, er wolle seinen Daddy zurückhaben, und nur wenige Stunden später hätte er um ein Haar auch mich verloren.« »Wir werden in Zukunft vorsichtiger sein«, versprach Molly. 133 »Vorsicht wird uns nicht viel helfen. Du und ich, wir sind die Zielscheiben von etwas Großem und Schrecklichem und Bösem. Mein Sohn steht in der Schusslinie. Und ich ... ich weiß nicht einmal, an wen ich mich wenden kann, um meine Kündigung einzureichen. Das hier ist keine Pflichterfüllung, Molly. Das ist Gefangenschaft, und sie stinkt zum Himmel. Was haben unsere Eltern sich bloß dabei gedacht?« »Sie haben gedacht, dass sie das Richtige tun«, antwortete Molly. »Und es ist nicht so, als hätten sie nicht auch einige Gefahren auf sich genommen.« »Sie hätten mich in Gefahr bringen können.« Lauren erhob sich und blickte auf ihren schlafenden Sohn hinab. »Aber sie hatten nicht das Recht, ihn in Gefahr zu bringen.« Sie sah zu Molly hinüber. »Vielleicht könnten wir ihm eine Kette wie deine beschaffen. Etwas, das ihn beschützen wird. Ich weiß, dass Arbeit auf uns wartet, aber solange Jake nicht in Sicherheit ist, glaube ich nicht, dass ich irgend jemandem von Nutzen sein werde.« »Eine Kette, die seine Unversehrtheit garantiert wie meine Kette«, wiederholte Molly. Sie fühlte sich nicht unversehrt. Sie konnte Lauren nichts von dem leeren Ort in ihr erzählen. Sie konnte Lauren nicht erzählen, dass sie seit ihrer Rückkehr vom Tod keinen Schlaf mehr brauchte - dass sie seit Tagen wach war und dass sie nicht ein einziges Mal in dieser Zeit auch nur den schwächsten Impuls verspürt hätte, sich niederzulegen und auszuruhen. Sie verbrachte einige Stunden mit Seolar im Bett - aber sobald er schlief, stand sie auf und starrte in die Dunkelheit. Die Dunkelheit sprach jetzt ihren Namen, und sie tat es auf eine Art und Weise, wie es noch nie zuvor geschehen war. »Also - du hast nichts zu sagen zu der Idee? Du denkst, 134 ich sei verrückt oder dass das Ganze unsinnig klingt oder ... irgendetwas?« Molly zuckte die Achseln. »Wir werden morgen in den sicheren Raum hinuntergehen und feststellen, was wir tun können. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee wäre. Es könnte sich sogar als eine ausgesprochen schlechte Idee entpuppen. Aber es ist dein Kind, und du hast jedes Recht, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um es zu beschützen. Ich an deiner Stelle würde wohl dasselbe tun.« Sie klopfte sanft auf eine Ecke des Bettes. »Danke, Molly. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.« Molly dachte lange Sekunden nach. Schließlich sagte sie: »Warum schläfst du nicht ein wenig? Ich bleibe hier, lese und halte Wache - ich will wirklich nicht schlafen gehen, und ich möchte euch gerade jetzt auch nicht allein lassen. Überschlaf die Angelegenheit, versuche, eine Lösung für das Problem zu finden, und ich werde sehen, ob ich mit unserem Problem etwas weiterkommen kann. Wir haben viel Arbeit - aber du hast Recht. Solange du dich nicht konzentrieren kannst, werden wir nichts ausrichten.« Lauren bedachte sie mit einem hohlen Lächeln. »Und versuch, ein bisschen glücklicher zu sein«, sagte Molly mit erzwungener Munterkeit. »Wenn du Erfolg hast, wird Jake in Sicherheit sein.« Lauren stand auf, lächelte ein wenig glaubhafter und trat auf sie zu, um sie zu umarmen. »Ich wünschte, wir wären zusammen aufgewachsen. Du bist genau die Schwester, die ich mir ausgesucht hätte, auch wenn du zu hübsch bist und riesige, fremdartige Augen hast.« Molly lachte - ein echtes Lachen. »Ich weiß genau, was du meinst. Du wärest die perfekte ältere Schwester gewesen, als ich noch klein war.« Sie grinste. »Wie dem auch sei, sieh zu, dass du etwas Schlaf bekommst, und nimm deinen 135 kleinen Sohn in die Arme. Ich gehe noch für ein Weilchen ins Wohnzimmer, um zu lesen.« »Wenn du müde wirst...« Molly winkte ab. »Wenn ich müde werde, haue ich mich auf dem Sofa hin. Es wäre nicht das erste Mal in meinem Leben, und dieses Kleid ist erheblich bequemer, als es aussieht.« Als Lauren sich ins Bett legte, ging Molly ins Wohnzimmer zu der langen Couch hinüber. »Lass die Tür einen Spaltbreit offen, ja?«, rief Lauren ihr nach. Diesmal nahm Molly sich sofort Jene, deren Namen nicht genannt werden vor. Lauren hatte ihre Lesefolie an der Stelle in dem Buch liegen lassen, aus der sie vorgelesen hatte, und Molly wollte mehr über die Rrön wissen, über die dunklen Götter und über die Frage, wie man zu einem dunklen Gott wurde.
Sie erfuhr auch mehr über Baanraak, der ein Dutzend Mal gestorben, aber immer wieder zurückgekommen war, und über den verhassten Keth-Gott Aril, für den die Veyär zum Zeitpunkt der Niederschrift des Buches nur fünf Tode und Wiederauferstehungen hatten zählen können. Schließlich stieß sie auf einen Gott namens Cisgig, den die Veyär vernichtet hatten - dauerhaft, wie es schien. Sie las gerade über Cisgigs endgültige Vernichtung, als ihr Herz zu hämmern begann und ein unheimliches Gefühl des Entsetzens sie überwältigte. Dann brachte der Kämpe Val Väryn den Leichnam des toten Cisgig zum Scheiterhaufen und beraubte ihn, bevor er verbrannt wurde, all seines Goldes. Und der Goldschmied sagte: »Gib mir das Gold, denn wir werden nicht der Habgier erliegen und unsere Feinde in unserem Bauch beherbergen, wie unsere ermordeten 136 Brüder es taten.« Und er brach die Steine aus der Kette, den Armbändern und Ohrgehängen und zermahlte sie zu Staub, und als er damit fertig war, zermalmte er das Gold zu einem feinen Pulver, vermischte es mit Quecksilber, brachte es zum Fluss und ließ es Tropfen für Tropfen ins Wasser rinnen. Und den Staub von den Edelsteinen zerstreute er in die vier Winde, und als er fertig war, entzündeten sie den Scheiterhaufen unter Cisgigs Leichnam und verbrannten ihn, bis seine Knochen Asche waren, und verstreuten dann auch die Asche in den Wind. Das seelenlose Ungeheuer erhob sich nicht mehr und wird es auch niemals mehr tun. Molly strich mit den Fingern über die glatte Goldkette, die sie trug, und berührte den schweren, goldenen Anhänger, bevor sie mit dem Zeigefinger langsam die Umrisse der Saphire nachzeichnete, die das Medaillon umrahmten. Die Kette summte und schnurrte unter ihren Fingerspitzen wie ein lebendiges Geschöpf. Die Kette war der Grund, warum sie zurückgekehrt war; sie wusste es. Die Kette erzählte ihr manchmal von Dingen - nicht in Worten, sondern in Bildern in einem fernen Winkel ihrer Gedanken oder wenn sie die Augen geschlossen hatte. Durch die Kette hatte sie sowohl von Rr'garn als auch von Baanraak gewusst; durch die Kette konnte sie die Rrön hoch über dem Kupferhaus kreisen spüren, wo sie wieder einmal unerreichbar waren für die Wachen und deren mit silbernen Spitzen versehenen Armbrustbolzen. Seelenlos hatte das Buch Cisgig genannt - und, wenn sie darüber nachdachte, auch jeden anderen dunklen Gott. Molly blätterte das Buch bis zum Ende durch, in der Hoffnung, ein Register zu finden, in dem sie das Wort »Seele« nachschlagen konnte, aber es gab kein solches Verzeichnis. 137 Am Anfang des Buches hatte sie jedoch mehr Glück, da der Autor oder die Autoren dort ein wortreiches Inhaltsverzeichnis aufführten, auch wenn sie keinerlei Seitenzahlen angaben. Zu den ersten Kapiteln gehörte eins mit der Überschrift: Die Kennzeichen der dunklen Götter, ihre Flüche und Eigenschaften sowie die Kräfte, über die sie verfügen. Molly ging es langsam Seite für Seite durch; mit der Lesefolie entzifferte sie jeweils die ersten Worte eines jeden Absatzes. Abgesehen davon, dass das Buch nicht über Seitenzahlen verfügte, besaß es auch nichts, das Molly als Kapitelüberschriften hätte erkennen können. Keine Veränderungen in der Handschrift, keine spezielle Prägung, keine kleinen Bilder oder Linien. Nichts. Aber sie fand den Abschnitt trotzdem recht bald und begann zu lesen. Obwohl die meisten der dunklen Götter, ebenso wie die alten Götter, ihre Gestalt verändern können, so dass sie den Veyär oder den einheimischen Geschöpfen der Welt ähneln, verströmen sie stets eine Aura der Bedrohlichkeit, die sie nicht zerstreuen können. Sie sind tote und wiedergeborene Kreaturen, die mit ihrem ersten Tod ihre Seelen verlieren und sie danach nie wieder zurückgewinnen. Sie sind die Verlorenen, Enteigneten des jenseitigen Lebens, das ihnen gehört hätte, und auch wenn sie in ihren ersten Reinkarnationen häufig noch einen Großteil der Erinnerung daran besitzen, wer sie waren, verlieren sie doch mit jedem weiteren Tod mehr von dem, was an ihnen lebendig war, während ein immer größerer Teil von dem, was tot ist, verbleibt. Sie werden zu etwas Bösem, etwas unsterblich Bösem, das von einer dunklen Wiederge138 burt zur nächsten weitergereicht wird, und zwar mit hilfe des gottverfluchten Goldes, das sich an sie erinnert und sie wieder erstehen lässt. Molly klappte das Buch zu und schloss die Augen. Dies war die Wahrheit, die vor ihr zu verbergen Birra und Seolar gehofft hatten; dass sie ein Ding war, eine Konstruktion, ein seelenloses Monstrum, das ewig leben würde, im Laufe der Zeit aber immer mehr und mehr von sich selbst verlor. Sie konnte die Rrön draußen vor dem Kupferhaus fühlen, weil sie ihnen ähnlich war; sie war dasselbe wie sie, nur jünger. Frischer. Seelenlos, tot, ausgestattet mit der Magie einer goldenen Kette, die den Leichnam wiederbelebte und ihn glauben machte, er sei eine reale Person, die es ihm gestattete, Hoffnungen und Träume und Ziele zu haben, auch wenn das alles vergeblich war. Ihre Seele hatte sie verlassen - sie war an den Ort gegangen, an den Seelen gehen, wo immer das sein mochte, um zu tun, was immer Seelen taten. Und sie blieb zurück, ein Kind, das seine Eltern an einer höllischen Bushaltestelle im Stich gelassen hatten, auf sich allein gestellt an einem Ort voller mordender Ungeheuer und sadistischer Menschen. Und sie würde ihren Eltern niemals folgen können. Man hatte sie ausgesetzt. Wie konnte Seolar sie lieben? Er wusste, was sie war. Heuchelte er Liebe, nur weil sein Volk ihre Hilfe brauchte? Wenn sie eine Zynikerin gewesen wäre, wäre dies die einfachste Erklärung gewesen. Aber sie war nicht zynisch — zumindest noch nicht. Sie glaubte, sie könne seine Berührung, seine Stimme, seine Fürsorge
und seine Zuneigung hinreichend deuten, um zu wissen, dass sie nicht das Opfer einer Täuschung war. 139 Also glaubte sie, dass er sie liebte. Aber wie konnte er? Und wie konnte sie mit sich selbst leben? Sie wollte mit Seolar leben, wollte mit ihm alt werden und am Ende mit ihm sterben. Aber so würden die Dinge sich nicht entwickeln. Unglücklich schloss sie die Augen und beschwor Seolars Bild herauf, erfüllt von ihrer Liebe zu ihm und ihrer Qual angesichts der Zukunft, die sie vor sich sah. Sie würde jetzt leben, bis sie sich aus freien Stücken dafür entschied, zu sterben - bis sie den Mut und die Kraft aufbrachte, die Kette abzunehmen und sich von immer von ihr zu trennen. In der Zwischenzeit würde sie mit ansehen, wie Seolar alt wurde und starb, während die Zeit sie selbst unberührt ließ - und nach ihm würde sie vielleicht einen anderen schönen, jungen Mann finden und nach diesem vielleicht wieder einen. Die Echos der früheren Vodi, die ihr in dem stillen Raum zuflüsterten, beklagten nicht ihre eigene verlorene Jugend, denn sie hatten sie niemals verloren, sondern das Leben eines jeden Geschöpfes, das zu lieben sie jemals gewagt hatten. Sie konnte ihre Biografien durchgehen, um Einzelheiten über ihr Leben in Erfahrung zu bringen, aber jetzt, da sie den Schlüssel zu dem Puzzle kannte, konnte sie die wichtigste Tatsache im Leben einer jeden dieser Frauen bereits vor sich sehen. Jede einzelne von ihnen hatte die Chance in Händen gehalten, unsterblich zu sein, und jede hatte sich am Ende freiwillig - freiwillig - für den Tod entschieden. Diese Wahrheit entsetzte Molly. Denn nach dem Tod würde nichts auf sie warten. Sie war real; sie fühlte, sie hoffte, sie liebte und hatte Sehnsucht aber ihre Seele war fort, und wenn sie starb, würde sie einfach erlöschen wie eine Kerze, die man ausgeblasen hatte. Und alle um sie herum würden weitergehen ins Jenseits. In die Unendlichkeit, wo immer Seelen auch hingehen mochten, um zu tun, was immer sie taten. 140 Molly hatte sich noch nie so verlassen oder so haltlos gefühlt. Oder so wütend - auf Seolar, weil er die Wahrheit vor ihr verborgen hatte; auf sich selbst, weil sie so dumm gewesen war, Jake nicht rechtzeitig in Sicherheit zu bringen; auf Lauren, weil sie sie in eine Lage gebracht hatte, in der sie zwei Entscheidungen treffen musste, die sie nicht treffen wollte - erstens, Oria zu verlassen, als sie bleiben wollte, und zweitens, Jake zu retten, als sie wusste, dass sie dafür würde sterben müssen. Sie war wütend auf die Welt und auf ihr Leben und auf die Seele, die sie nicht länger besaß, und auf die dunklen Götter, die über dem Haus in der Luft schwebten und auf etwas warteten ... etwas ... das es ihnen gestatten würde, sie, Molly, zu vernichten. Und sie haderte mit dem Wissen, dass sie diesen Geschöpfen ähnlicher war als selbst ihrer Schwester oder dem Mann, den sie liebte. Sie legte eine Hand auf die Kette. Sie konnte sich eine Menge Zeit, eine Menge Schmerz und Kummer ersparen. Sie konnte die Kette abnehmen, auf den Balkon hinaustreten und die Rrön zu sich herunterrufen. Sie würden ihr ein schnelles Ende gewähren - sie würde nur noch einen einzigen weiteren Tod erleiden, schneller wahrscheinlich als der letzte, und es würde kein neuerliches Erwachen geben. Wenn ihr Leben ein Albtraum war, der sich nur verschlimmern konnte, dann bedeutete der Tod die Freiheit, nicht wahr? Oder zumindest ein Ende des Grauens. Jammerschade, dass sie in einem Raum ohne Fenster, ohne Balkone, ohne Zugang nach draußen saß. Dann hätte sie hinausgehen und tot sein können, bevor irgendjemand sie aufhalten konnte - bevor sie die Chance hatte, sich noch einmal zu besinnen. Aber. 141 Der einfache Weg war fast immer der falsche. Lauren brauchte sie. Und die Veyär ebenfalls. Molly hatte die Pflichten, die auf ihren Schultern lasteten, nicht freiwillig übernommen, aber wenn sie die Bürde nicht trug, würde es auch sonst niemand tun. Niemand sonst konnte es tun. Ohne sie würde die Welt wahrscheinlich ein schnelles und grausames Ende finden. Sie zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um ihre Beine. Das Kinn auf die Knie gestützt, wiegte sie sich langsam hin und her. Leben und leiden und kämpfen oder für immer sterben? Hin und her. Hin und her. Sie war ein Feigling. Sie konnte sehen, was kam, und sie wollte es nicht. Sie wollte die schnelle, saubere Lösung, jetzt sofort. Sie wollte leben und lieben, und sie wollte Seolar. Sie wollte an der Seite ihrer Schwester kämpfen. Sie wollte weglaufen. Sie wollte alles -und nichts. Zu guter Letzt wollte sie eine Lösung, einen Fluchtweg, ein glückliches Ende, und das war das Einzige, was sie niemals bekommen konnte, das wusste sie. Molly schloss die Augen, wiegte sich hin und her, weinte und wartete auf den Morgen. Cat Creek Pete quälte sich lange vor Morgengrauen aus dem Bett und war bereits auf dem Weg nach Charlotte, als die Sonne hinter ihm aufging. Es war kein Problem, wenn sein Verhalten Eric ein wenig übereifrig erscheinen würde - das konnte ihm nur nutzen. Und durch seine frühzeitige Ankunft in der Stadt würde Pete noch Zeit haben, sich eine Strategie zurechtzulegen, wie er ein Treffen einfädeln sollte - etwas, das verdammt schwierig werden würde. 142 Er konnte nicht auf die üblichen Verfahren zurückgreifen - hingekritzelte Zeilen, abhörsichere Telefone, kodierte
Mitteilungen. Diesmal wagte er sich auf ein vollkommen neues Gebiet vor, und er musste zugeben, dass er eine Scheißangst davor hatte. Kupferhaus Molly saß noch immer auf dem Sofa im Wohnzimmer, als Lauren und Jake mit ihrem Gefolge von Goroths auf der Suche nach einem Frühstück aus ihrem Schlafzimmer kamen. Und Molly sah aus, als käme sie direkt aus der Hölle. »Molly, was ist los?« »Ich habe herausgefunden, wie das alles hier funktioniert.« Molly zog die Nase hoch und wischte sich das Gesicht ab, als sei ihr in diesem Augenblick erst klar geworden, dass es tränenüberströmt war. »Ich bin zurückgekommen, aber meine Seele ist ohne mich weitergegangen. Ich bin - ich bin eine dunkle Göttin. Anscheinend werde ich kontrolliert von der Kette, die ich trage - in mehreren Biografien der Vodi finden sich eine Menge Informationen darüber, auf welche Weise die Kette es mir möglich macht, an meinen Erinnerungen und meiner Persönlichkeit festzuhalten und außerdem zu verhindern, dass ich allzu schnell auf die dunkle Seite gelange. Aber ich bin eine seelenlose Unsterbliche, und es wird immer weniger und weniger von mir zurückkehren und immer mehr von ... nichts. Ich werde mehr und mehr zu einer leeren Hülle. Nur dass ein Vakuum, wie ich es bin, unvereinbar ist mit der Natur, und die Rrön sind wie ich. Sie sind Dinge - seelenlose, unsterbliche Ungeheuer. Deshalb kann ich sie hören, Lauren. Deshalb ruft etwas in ihnen nach mir. Es liegt daran, dass wir ein und 143 dasselbe sind oder es jedenfalls sein werden, wenn ich lange genug existiere.« Lauren wollte Einwände erheben, aber Molly war mit ihren Erklärungen noch nicht am Ende. »Sie haben sich alle selbst getötet, Lauren. Alle Vodi vor mir - am Ende haben sie alle die Kette abgenommen und sind schnurstracks zu denen gegangen, die sie gerade jagten, um sich in Stücke reißen zu lassen. Das war besser, denn als das weiterzuleben, wozu sie geworden waren. Und ... wozu auch ich geworden bin.« Lauren sah sie wortlos an und zog sie an sich. »Du hast Menschen, die dich lieben«, sagte sie nach einer Weile. Sie strich Molly zärtlich über den Rücken und wiegte sie ein wenig in ihren Armen, so wie sie Jake zu trösten pflegte. »Seolar, mich ... alle Veyär ...« »Jetzt habe ich dich«, antwortete Molly. Sie löste sich von Lauren und sah sie an. »Aber du wirst mit jedem Tag älter. Ich nicht. Ich werde noch so aussehen, wenn du neunzig bist - ich werde so aussehen, wenn du hundert Jahre tot bist, tausend Jahre. Ich werde alles, was ich liebe, sterben sehen - alle Menschen, vielleicht alle Welten.« Dann flüsterte sie: »Eine einzige Nacht kenne ich jetzt die Wahrheit, und schon verstehe ich ein wenig besser, warum die Rrön sind, wie sie sind, die Rrön und die Keth und die übrigen alten Götter, die irgendwie als dunkle Götter endeten. Sie sind zu ihrem eigenen Universum geworden - alles ist vergänglich, nur sie nicht. Sie haben die Ewigkeit - aber nicht den Himmel. Kein Karma, Lauren. Keine Vergeltung für böse Taten; keinen Lohn für gute. Und keine Möglichkeit, für irgend jemanden die Zeit anzuhalten, der ihnen am Herzen liegt. Ich kann nicht dafür sorgen, dass du ewig leben wirst. Oder Jake. Oder Seolar. Du wirst bald fort sein, und ich werde hier bleiben und mich leerer fühlen als je zuvor.« 144 Sie wandte das Gesicht von Lauren ab und fügte hinzu: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendeinen Teil des Plans durchführen werde, Lauren. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so leben kann.« Lauren wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte nicht einmal ahnen, was sie empfinden würde, wäre sie an Mollys Stelle. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie tun würde. Also stand sie einfach nur da, hilflos und außerstande, auch nur eine einzige Bemerkung zu machen, die Molly trösten konnte und trotzdem wahr wäre. Jake hatte Molly mit gerunzelter Stirn beobachtet. Als sie in Schweigen verfiel, brachte er Bearish zu ihr hinüber und sagte: »Superman wird dich retten. Er rettet Mamas und Papas. Er wird dir einen Kuss geben, und dann geht es dir besser.« Er drückte Bearishs Nase auf Mollys Wange und machte ein schmatzendes Geräusch. Lauren beobachtete, wie Molly abermals die Fassung verlor; die Tränen begannen von neuem zu fließen. »Und ich werde niemals ein eigenes Kind haben«, schluchzte Molly. »Niemals.« Sie zog Jake auf ihren Schoß hoch, und der Junge sah seine Mutter unsicher an. Dann schlang er, ohne dass sie ihn dazu hätte drängen müssen, die Arme um Mollys Hals und streichelte sie zärtlich. »Es ist alles gut«, murmelte er. »Es ist alles gut.« In diesem Augenblick sah Lauren in Jake ein wenig von sich selbst und ein wenig von dem Mann, der Jake eines Tages sein würde - wenn sie ihn lange genug schützen konnte, um ihn erwachsen werden zu lassen. Sie würde ihn nicht schützen, indem sie ihm eine Kette gab, wie Molly sie besaß. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte. Aber nach dem Frühstück, überlegte sie, würde sie in den siche145 ren Raum hinuntergehen - entweder mit Molly oder ohne sie, je nachdem, was Molly vorhatte - und feststellen, welche genialen Zauber ihr einfallen würden. Sobald sie Jake in Sicherheit wusste, konnte sie über andere Dinge nachdenken. Über Mollys albtraumhafte Entdeckung. Über die Aufgaben, die ihre Eltern ihnen beiden hinterlassen hatten. Über das Problem der Rron und der anderen alten Götter. Und, nicht zuletzt, über das Schicksal ungezählter Welten, ganz gleich, wie
hochtrabend ihr das erschien, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging. Aber zuerst kam Jake. 8 Charlotte, North Carolina Pete saß auf der grünen Parkbank, fütterte ein paar fette Wildenten und gab sich alle Mühe, unauffällig zu erscheinen. Es war ein guter Tag, um im Freien zu sitzen - ein strahlender, leicht windiger Frühlingsmorgen, wie er für North Carolina so typisch war. Rosafarbene Hartriegel, Narzissen, Forsythien und Azaleen säumten den See und die Gehwege, und die Silhouette von Charlotte erhob sich über den oberen Rand des Hartriegels wie der Postkartentraum eines kleinen Angestellten des Fremdenverkehrsamtes. Pete rechnete jedoch jeden Augenblick mit der kurzen, grauenhaften Explosion einer Kugel, die seinen Hinterkopf zerfetzte, und dieser Umstand verdarb ihm die Freude an dem schönen Wetter, der Aussicht und der Tatsache, dass er einen Tag lang der Enge Cat Creeks entronnen war. Er zog etwas Brot aus seiner Papiertüte und warf den Enten Krümel zu. Auf der Bank neben ihm lag ein kleiner, quadratischer Handspiegel. Er beachtete den Spiegel nicht. Ein Mann in einem grauen Anzug setzte sich neben ihn, öffnete ein in eine Papiertüte verpacktes Frühstück und machte sich daran, ein Schinkenbrötchen zu verzehren. »Das hat uns wirklich noch gefehlt. Verdammt lästig.« Pete sah ihn nicht an. Fred war während der letzten drei Jahre nicht nur ein guter Freund gewesen, sondern auch Petes heimlicher Chef. Pete sagte: »Das tut mir Leid. Lässt sich nicht ändern. Nimm den Spiegel.« 147 Fred griff ohne Fragen nach dem Spiegel. »Also schön. Was ist das für ein Notfall?« »Ich habe Kontakt aufgenommen.« Eine kurze, unheilschwangere Pause folgte. »Verdammt. Das ist kein Notfall, Pete. Das ist ein Erfolg.« »Es ist ein Notfall. Weißt du noch, wie wir dachten, wir wären ziemlich nah daran, die Technologie zu verstehen? Dass wir dachten, wir würden vielleicht nur noch fünf Jahre brauchen, um die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen, ganz egal, ob sie beschließen sollten, Kontakt zu uns aufzunehmen oder nicht?« Fred sagte nichts. Sie wussten beide, dass es eine rhetorische Frage war. »Halt den Spiegel fest in der Hand«, verlangte Pete. Er nahm einen weiteren Spiegel aus seiner Tasche, zog anschließend ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor und legte die Fingerspitzen dann sachte auf die Oberfläche des Spiegels. Ein schwaches, grünes Licht glomm darin auf, ebenso wie in dem zweiten Spiegel in Freds Hand. Fred fluchte leise. Pete schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Das kommt noch.« Er schob das Papier in den Spiegel hinein, der daraufhin aufflackerte und sich kräuselte wie eine glatte Wasseroberfläche, wenn man einen Kieselstein hineinwirft. Das Papier verschwand. Eine Sekunde später kräuselte sich die Oberfläche des Spiegels in Freds Hand, und das Papier glitt aus dem Glas heraus. Fast sofort erstarb das grüne Leuchten in beiden Spiegeln. »Heiliger Vater im Himmel«, murmelte Fred. Pete steckte seinen Spiegel wieder in die Tasche und warf abermals den Enten Brotkrümel hin. »Du kennst das alte Sprichwort, nach dem eine hinreichend fortgeschrittene Technologie nicht von Magie zu unterscheiden sei?« 148 Fred, der immer noch den Spiegel in seiner Hand anstarrte, nickte. »Willkommen in der schönen neuen Welt.« Fred saß einen Moment lang nur da, ohne den Spiegel in seiner zitternden Hand aus den Augen zu lassen. »Der Spiegel ist noch nicht alles, oder?« »Sichere Bereiche sind ebenfalls ein Problem. Im Grunde ... nun ja, im Grunde gibt es keine sicheren Bereiche mehr. Diese Leute können Dinge durch Spiegel schicken, und sie können in Spiegel blicken und jederzeit sehen, was jeder tut. Überall.« Freds Haut nahm die Farbe von sieben Tage alter Kaminasche an. »Unsere ETs?« Pete dachte einen Moment lang daran, die Wahrheit zu sagen, dann zuckte er die Achseln. »Ich weiß nicht, wer das entwickelt hat. Ich weiß nur, dass die ETs es haben.« »Was ist da noch? Wie schlimm wird es noch? Allmächtiger, das hier war schon vorher ein Albtraum für die nationale Sicherheit. Jetzt... wie zum Teufel sollen wir eine Einrichtung gegen diese Art von Technologie absichern?« »Vielleicht könnten wir einige von ihnen dafür gewinnen, für uns zu arbeiten. Wenn sie es gebaut haben, dann kennen sie auch Mittel und Wege, um es zu blockieren.« Fred drehte den Spiegel in seiner Hand um und betrachtete die Rückseite. »Wie bist du da rangekommen?« »Ich habe einen Durchbruch gehabt. Ich stehe in Kontakt zu einigen der ETs. Meine Spur in England hat sich ausgezahlt, obwohl es so lange gedauert hat.« Fred sah Pete zum ersten Mal, seit er sich neben ihn gesetzt hatte, direkt an. »Du hast Kontakt? Zu einem lebenden? Und das erzählst du mir erst jetzt?« »Nicht zu einem. Zu mehreren. Und sie beobachten mich. Soweit ich weiß, könnten sie mich auch gerade jetzt 149 beobachten - aber ich halte das für unwahrscheinlich. Ich habe einen von ihnen dazu bewegen können, mich wegen einiger Kleinigkeiten nach Charlotte zu schicken; sie haben keinen Grund zu der Annahme, dass ich
ohnehin hierher fahren wollte.« »Also schön.« Fred steckte den Spiegel in seine Tasche und sagte: »Ich lasse das Ding von unseren Leuten analysieren.« »Vergiss es«, entgegnete Pete. »Es ist einfach nur ein Spiegel. Da gibt es nichts zu analysieren. Es ist diese ganze ... Technologie, schätze ich, die das Zeug funktionieren lässt...« Er rieb sich die Schläfen und spürte, dass er Kopfschmerzen bekam. »Es muss irgendwo anders sein. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich das Ganze erklären soll. Ich habe dir den Spiegel gegeben, weil ich dich nicht anrufen kann, und ich weiß nicht, wann ich wieder nach Charlotte werde kommen können, ohne dass irgendjemand neugierig wird. Auf diese Weise kann ich dir wenigstens regelmäßig Berichte schicken.« »Wie bediene ich das Ding?« »Gar nicht. Es funktioniert nur in eine Richtung.« Das war eine weitere Lüge, aber Pete hatte nicht die Absicht, sich näher über Tore auszulassen oder Fred zu zeigen, wie man eins öffnete. Lauren hatte Stunden darauf verwandt, es ihm beizubringen, und er war noch immer außerstande, etwas zu benutzen, das größer als ein Taschenspiegel war. Außerdem war da noch ein Problem. Sobald er Fred zeigte, dass Menschen diese Technik ganz ohne fremde Hilfe benutzen konnten, würde dieser eine Unmenge von Fragen stellen, und Pete war sich nicht sicher, ob er bereits Antworten darauf geben wollte. Falls er es überhaupt jemals würde tun wollen. Im Augenblick sprachen er und Fred über außerirdische Eindringlinge, die zum ersten Mal 1947 150 auf dem Radar des FBI in Roswell aufgetaucht waren. Wenn er jetzt von Ober- und Unterwelten, Vorder- und Hinterwelten und vielleicht auch noch Seitenwelten sprach, hätte er keine Kontrolle mehr darüber, wie das FBI mit der Situation in Zukunft umgehen würde. Solange Fred einigermaßen davon überzeugt war, zu wissen, was vorging, konnte Pete sich die Zeit verschaffen, die er brauchte, um herauszufinden, was wirklich vorging und was er deswegen unternehmen musste. Falls er überhaupt etwas unternehmen musste. Pete warf den Enten zu seinen Füßen die letzten Brotkrümel hin, seufzte und erhob sich. »Ich melde mich, wenn ich etwas Neues in Erfahrung bringe.« Fred zerknüllte seine Papiertüte und warf sie in den Mülleimer neben der Bank. »So schnell du kannst, wenn's recht ist. Heute hast du mir jedenfalls mit Erfolg eine Scheißangst eingejagt.« »Wir kriegen die Sache schon in den Griff«, meinte Pete. »Ich hoffe es. Ich fand die Vorstellung nie besonders erstrebenswert, dass einer dieser kleinen, grauen Bastarde Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Oder Herrscher des Planeten.« Pete drehte sich nicht noch einmal um. Kupferhaus Die Wachen führten sie - Lauren, Jake, Molly und sämtliche Goroths - durch den geheimen Korridor in Laurens Wohnräumen hinunter in die dunkelsten Stockwerke des Hauses. Lauren wollte jeden nur erdenklichen Schutz; sie hätte gern geglaubt, dass ihr, Jake und Molly nichts zustoßen würde, wenn sie allein durchs Haus gingen, aber das 151 wäre pure Illusion gewesen. Sie wusste nicht, wie sie sich an die Vorstellung gewöhnen oder diese gar akzeptieren sollte, dass sie und ihr Kind für diese Geschöpfe da draußen nichts anderes waren als Beutetiere. Der Dolch an ihrer Hüfte erschien ihr so schwer wie die Kugel eines Sträflings mitsamt der daran befestigten Kette, und beim Gehen stieß sie immer wieder mit dem Arm gegen die Waffe. Aber sie musste sich an die neuen Umstände anpassen. Sie musste sich klar machen, dass sie und die Menschen, die sie liebte, jetzt in einem ständigen Kriegszustand lebten - und sie musste dafür sorgen, dass dieses Wissen ihr zur zweiten Natur wurde. Außerdem musste sie dafür sorgen, dass Jake und sie selbst so unangenehme Ziele abgaben wie irgend möglich. Der Weg in den sicheren Raum hinunter schien recht einfach zu sein: geradewegs durch den Gang bis zur ersten Treppe, dann diese Treppe hinunter und weiter durch das feuchte, kalte Kellergemäuer bis zu einer großen Tür aus Eisen und dunklem, uraltem Holz. Die ganze Situation wirkte überaus schauerlich auf Lauren - eine kleine Prozession von Gefangenen, die sich einem Kerker näherten. »Die oberen Stockwerke dieses Hauses sind großartig«, sagte sie zu Molly. »Aber bei Gott, hier unten könnten sie wirklich einen Innenarchitekten gebrauchen.« Molly lachte, obwohl das Lachen ein wenig angespannt klang. »Vielleicht könnten wir Martha Stewart dafür gewinnen, das Haus zu renovieren. Oder Christopher Lowell.« Lauren grinste sie an. »Oder alle beide. Ich dachte immer, die beiden verabscheuen einander. Wir könnten Eintrittskarten für das Gezänk verkaufen.« Das Innere des sicheren Raums wirkte nicht freundlicher, als man es von außen hatte erwarten können. Steinerne Mauern ringsum, ein steinerner Fußboden, steinerne Säu152 len, eine steinerne Kuppeldecke. Es war kalt und feucht, und Laurens erster Gedanke war die Sorge, dass Jake sich erkälten könnte, wenn sie zu lange hier blieben. Als Molly durch die Tür trat, nahm sie eine Pose ein wie ein Grundstücksmakler, der einem Kunden ein Haus zeigt, und erklärte: »Und dieser Raum hier ist ein Musterbeispiel aus Heim und Kerker. Achten Sie auf die genau berechnete Verwendung von Felsen für Boden, Mauerwerk und Decken und die Art, wie die Steine die
Dunkelheit einfangen. Und ... und ...« Sie brach ab. »Hilf mir auf die Sprünge. Ich bin nicht überzeugt davon, dass Martha und Christopher mit vereinten Kräften diesen Raum retten könnten.« Lauren lachte. »Er ist wirklich grässlich. Ich meine, er ist nicht nur hässlich, sondern wirkt obendrein auch so elend. In dieser Atmosphäre können wir nicht arbeiten. Die Kälte und die Feuchtigkeit tun niemandem gut, vor allem aber sind sie nichts für kleine Jungen.« Molly nickte. »Du kannst einiges verändern.« Lauren dachte einen Moment lang nach, dann wob sie einen winzigen, sorgfältigen Zauber, um die Luft zu wärmen, einen weiteren, um Licht hereinzuholen, und einen dritten, um den Fußboden mit Teppich zu belegen. Bei jeder Veränderung ging sie sparsam mit der Energie um und konzentrierte sich punktgenau auf ebendiesen Ort und ebendiesen Augenblick. Die Wärme, das Licht und selbst der Teppich würden wieder verschwinden, sobald sie und Molly den Raum verließen. Sie konzentrierte sich in jeder Hinsicht darauf, Schaden und magische Rückwirkungen möglichst gering zu halten, denn ein winziger, achtlos gewobener und schlecht durchdachter Wärmezauber konnte auf der Erde eine Dürre nach sich ziehen; ein nachlässiger Lichtzauber konnte dazu führen, dass die Autoscheinwerfer in einer Stadt plötzlich so grell wurden, dass sie entgegenkommen153 de Fahrer blendeten; und was den Teppich betraf... Lauren wollte nicht einmal darüber nachdenken, was für eine Katastrophe der Teppich auslösen konnte. Die Rückkehr der Zottelteppiche aus den Siebzigern? Gott behüte. Sie riss sich zusammen. Ihre Neigung, Dinge, die ihr Angst machten, ins Lächerliche zu ziehen, war bisweilen vielleicht eine gute Sache, aber sie durfte dabei nicht so weit gehen, die Magie gering zu schätzen. Eine kleine Achtlosigkeit dreier Verräter unter den Wächtern hatte vor einigen Wochen zum Tod von Millionen Menschen daheim auf der Erde geführt - und dabei war die Ursache dafür so nichtig und so dumm gewesen ... Lauren schüttelte den Kopf. Sie wollte die Magie nicht ins Lächerliche ziehen. »Schon besser«, meinte Molly. Und Jake, der sich die Veränderungen besah, lachte. »Runter, bitte«, sagte er. Lauren stellte ihn und die kleine Tasche mit Bearish, Mr Puddleduck und seinen Autos auf den Fußboden. »Du kannst ein Weilchen spielen«, erklärte sie ihm. »Molly und ich haben zu tun.« Er grinste. »Ich spiele mit den Hündchen.« Molly zog eine Augenbraue in die Höhe. »Hündchen?« Lauren beobachtete ihren Sohn. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem Molly gestorben war, wirkte er glücklich und selbstbewusst, als er jetzt auf die Goroths zulief. »Es wäre zu schwierig, ihm zu erklären, dass die Goroths keine Hündchen sind, und soweit ich das beurteilen kann, gibt es in dieser Welt ohnehin keine Hunde. Also kann es keine Beleidigung für sie sein. Ebenso wenig wie ein Kompliment. Was immer das auch bedeuten mag, Jake liebt Hunde wirklich.« Molly sagte: »Er ist ein entzückender kleiner Junge, Lauren.« 154 »Danke.« Lauren dachte an all die Dinge, auf die Molly verzichtet hatte, damit Lauren ihr entzückender kleiner Junge erhalten blieb. Sie drehte sich zu ihrer Schwester um. »Danke, dass du ihn gerettet hast«, sagte sie. »Ein einfaches Danke ist nicht annähernd genug - und ich glaube nicht, dass ich jemals irgendetwas für dich tun kann, das genug sein könnte. Aber ich werde tun, was in meiner Macht steht.« Molly lächelte mit traurigen Augen. »Lass uns dafür sorgen, dass ihm nichts zustößt. Wenn uns das gelingt, dann bin ich nicht umsonst gestorben.« »Was wir brauchen«, sagte Lauren, »ist eine Möglichkeit, sofort zu erkennen, welche Auswirkungen unsere Magie in oberweltlicher Richtung hat. Deine Magie ist doch angeblich vollkommen sauber, nicht wahr? Da du aus beiden Welten stammst, hat die Magie, die du wirkst, einen ... eine Art Stoßdämpfer, in Ermangelung eines besseren Wortes. Stimmt's?« Molly nickte. »Das ist die Theorie.« »Aber für meine Magie gilt das nicht. Wenn wir also etwas tun müssen, das unangenehme Folgen haben könnte, wird die Aufgabe dir zufallen. Ich kann die Kleinigkeiten erledigen und die positiven Zauber - die Dinge, die günstige Rückwirkungen auslösen sollten. Aber trotzdem sollten wir in der Lage sein, die Ergebnisse zu überprüfen. Wenn wir es nicht tun, könnten wir mit irgendetwas, das uns vollkommen nichtig erscheint, eine Katastrophe auslösen.« Molly setzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und schloss die Augen. »Gehen wir das Problem logisch an. Wir müssen sehen, was auf der Erde passiert, und zwar so ziemlich im selben Augenblick, in dem wir einen Zauber wirken.« »Das wäre ideal.« Lauren setzte sich neben sie auf den 155 Fußboden. Sie dachte, dass Stühle und ein Tisch angenehm wären, aber wenn sie länger brauchten, konnten sie die Wachen bitten, ein paar Möbel herzubringen. Dieses Problem ließ sich erheblich leichter lösen als die Temperaturregelung im Kellergeschoss einer uralten Burg. »Nach meinem besten Wissen - und ich gebe zu, dass mein Wissen stark begrenzt ist - arbeitet jeder, der mit Magie umgeht, blind. Wir fangen also bei nichts an, wenn wir nach einer Möglichkeit Ausschau halten, die Konsequenzen unseres Tuns zu überblicken, noch während wir es tun. Wie machen wir das? Wonach suchen wir?« »Kannst du den Zauber mit einer Art Sehvorrichtung ausstatten? Was ich meine ist wohl ... kannst du den Zauber
markieren? Etwas machen wie die großen Radarreflektoren, die Wissenschaftler an Tieren befestigen, um zu sehen, wo sie hingehen, und herauszufinden, was sie tun, ohne ihnen tatsächlich folgen zu müssen.« Lauren wurde nachdenklich. Nach allem, was sie erlebt hatte, fuhr man bei der Magie recht gut mit Analogien. Wenn man so gut wie jeden Arbeitsprozess beschreiben konnte, konnte man diesen Prozess benutzen, um mithilfe einer Analogie einen funktionierenden Zauber zu schaffen. Wenn sie die Prozedur, mit der man Tieren nachspürte, benutzte, sich jeden Zauber als markiert vorstellte und den Marker dann mit einem Spiegel verband »Wir könnten die Zauber markieren und sie mit den Sehspiegeln verbinden. Das sind Spiegel, die ihrerseits mit geschlossenen, relativ stabilen Toren verbunden sind. Auf diese Weise sollten wir in der Lage sein, unsere Ergebnisse sofort zu überprüfen: Die Marker müssten automatisch das Sichtziel für die Spiegel festlegen, und wir müssten dann nur noch die Spiegel im Auge behalten.« Molly bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. »Du 156 magst damit klarkommen. Ich habe keine Ahnung, wie man ein Tor benutzt oder durch einen Spiegel blickt - ich verstehe nichts von alledem. Die Heilmagie habe ich ziemlich gut im Griff, und ich gewöhne mich langsam an den Gedanken, Dinge mithilfe von Magie zu schaffen und zu verändern -elementare Zauberei. Aber Tore und Spiegel - ich habe keine Ahnung, was ich damit anfangen soll. Wenn du das Tor nicht bereits geöffnet gehabt hättest, als du mich mit Jake zur Erde zurückgeschickt hast, hätte ich nicht hindurchgehen können.« Lauren dachte über den Einwand ihrer Schwester nach. »Wenn wir die Auswirkungen nicht überprüfen, müsstest du einfach alle Zauber wirken.« »Das ginge. Gibt es eigentlich irgendeine Situation, in der magische Rückwirkung überhaupt erstrebenswert ist?« »Hm - ja. Wenn du hier jemanden heilst, klingt bei einer Hand voll Menschen daheim eine Krebserkrankung vorübergehend ab. Wenn du hier etwas Nützliches baust, löst du damit in einer Stadt, die einen wirtschaftlichen Aufschwung dringend gebrauchen kann, einen Bauboom aus. Oder du wärest vielleicht verantwortlich für ein weiteres Einkaufszentrum mitten in einer überfüllten, schon völlig zugebauten Stadt, könnte ich mir vorstellen. Alles, was gut ist für eine Person, ist wahrscheinlich schlecht für jemand anderen.« Lauren winkelte die Beine an, schlang die Arme um die Knie und stützte das Kinn darauf. »Auf nichts von alledem gibt es eine einfache Antwort - alles hat seinen Preis, und unsere große Aufgabe besteht darin, dass die Dinge, die wir für Jake tun, keine Konsequenzen haben, mit denen wir nicht leben können.« »Können wir sicher sein, dass meine Magie keine Rückwirkungen hat?«, fragte Molly. »Ich bin mir keiner Sache sicher«, antwortete Lauren. 157 »Der Theorie nach hat deine Magie keinen Rückstoß. Was das betrifft, schienen die Wächter sich ziemlich sicher zu sein. Aus Moms und Dads Notizen geht hervor, dass dieser Umstand ein wichtiger Bestandteil deiner Macht ist. Und als June Bug Täte versuchte, dahinter zu kommen, wo du warst und was du tatest, ist es ihr höllisch schwer gefallen, deinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Und sie hat eine Menge Jahre Erfahrung als Spurensucherin auf dem Buckel.« Molly runzelte die Stirn. »Aber das kommt mir alles so falsch vor. Wenn gute Magie den Leuten in der Welt über dieser nutzt, warum zum Teufel bin ich dann die Heilerin? Das scheint mir eine Verschwendung zu sein. Wenn du eine Aufgabe zu erledigen hast und eine Person es erledigen kann und dabei eine Nebenwirkung erzielt, die ungezählten Leuten von Nutzen ist, und eine zweite Person kann die gleiche Arbeit tun, ohne dass diese Nebenwirkung sich zeigt - welche würdest du mit der Sache betrauen?« »Willst du darauf eine amtliche Antwort, eine Air-Force-Antwort oder die logische Antwort?« Molly schnaubte. »Ich hatte ganz vergessen, dass du auch Bekanntschaft mit der Air Force gemacht hast.« »Das hatte manchmal durchaus seine Vorteile. Wie dem auch sei - es muss einen Grund dafür geben, warum unsere Eltern es so verfügt haben. Selbst ein gutes magisches Echo könnte destabilisierend wirken. Vielleicht hat es auch etwas mit negativen Wirkungen positiver Magie zu tun. Ich weiß es nicht. Wir werden der Sache auf den Grund kommen, während wir arbeiten.« Molly runzelte die Stirn. »Was meine Magie - und deren Rückstoß - betrifft, so sind die Bücher, die ich gestern Nacht gelesen habe, alle von lange verstorbenen Veyär geschrieben worden, von denen keiner einen Schimmer da158 von hatte, wie die Magie wirklich funktioniert. Also sind ihre Biografien früherer Vodi zwar interessant, für mich aber ziemlich nutzlos. Ich wollte in Erfahrung bringen, auf welche Weise und zu welchen Zwecken die früheren Vodi Magie eingesetzt haben, doch das Einzige, was ich den Büchern entnehmen konnte, war eine Auflistung ihrer Begegnungen mit den alten Göttern. Von Magie war überhaupt nicht viel die Rede. Wahrscheinlich könnte ich die toten Stimmen als Hilfsmittel benutzen, um weitere Dinge herauszufinden, aber davon möchte ich nicht häufiger Gebrauch machen, als unbedingt nötig ist. Die toten Vodi sind gefährlich, auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, inwiefern.« Lauren wusste am Ende von Mollys Ausführungen genauso wenig darüber, was Molly eigentlich antrieb, wie zuvor. »Und worauf willst du nun hinaus?« »Ich glaube nicht, dass wir mit Sicherheit davon ausgehen können, dass meine Magie keine Rückwirkungen hat.
Möglicherweise ist nur deren Ausmaß oder Richtung anders.« »Und das bedeutet...?« »Dass wir die Resultate all meiner Zauber genauso gründlich beobachten müssen wie die Ergebnisse deiner Zauber. Ich dachte, es könnte vielleicht funktionieren, wenn ich die Magie wirke, aber ich glaube nicht, dass wir eine Garantie dafür haben.« Lauren nickte. »Das klingt vernünftig.« Sie sah zu Jake hinüber, der seine Armee von Goroths befehligte. »Ich bin Superman«, erklärte er. »Ich bin ein Superheld.« Ihm ging es gut. Ein wenig später würde er sein Mittagessen brauchen, aber er war in ihrer Nähe, sie konnte sehen, dass er in Sicherheit war, an den Türen und sogar im Raum selbst waren Wachen postiert, und wenn nötig konnte Lau159 ren mit Magie gegen alles vorgehen, was die Wachen angriff. Sie konnte ein wenig leichter atmen, konnte es sich leisten, sich etwas Zeit zu lassen. Allerdings nicht viel. Sobald sie eine Vorstellung davon hatte, wie sie und Molly den Plan ihrer Eltern, der ihr noch immer ziemlich unklar war, in die Tat umsetzen sollten, würde sie mit den Wächtern Verbindung aufnehmen müssen, zumindest lange genug, um ihnen mitzuteilen, dass sie nicht zurückkommen würde. Natürlich nur, wenn sie wirklich nicht zurückkam. Aber sie und Molly konnten sich einen Tag Zeit nehmen, um über Spiegel zu sprechen, nach einer Möglichkeit zu suchen, magische Rückwirkungen aufzuspüren, und sich dann die Schutzzauber vornehmen. Sie und Jake konnten ohne weiteres eine Nacht in diesem Raum schlafen, wenn es sein musste - hier fühlte sie sich sicher. Vielleicht konnten sie diesen Raum einfach in ihre Wohnung verwandeln und von hier aus arbeiten. Er war groß genug, um für die Dauer ihres Aufenthalts in Oria eine hübsche kleine Wohnung abzugeben, und wenn sie und Jake hier blieben, glaubte Lauren, dass sie vielleicht ein wenig besser schlafen würde. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Molly zu. »Dann wollen wir dich zunächst mit Toren und dem Sehen etwas vertrauter machen. Ich kann dir zeigen, was du wissen musst, und danach kannst du üben.« »Was benötigen wir dafür?« »Lediglich Spiegel. Wir sollten uns ein paar größere und einige kleinere beschaffen. Außerdem müsstest du lernen, ein bereits bestehendes Tor zu öffnen und zu schließen -eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich denke, wir brauchen auch ein paar Gegenstände, die wir durch die Tore stoßen können - sobald du eins öffnest, musst du es benutzen, denn es wird sich erst dann wieder schließen, wenn du es tust oder wenn etwas anderes es tut.« 160 Molly sah ein wenig grün um die Nasenspitze aus. »Etwas anderes?« Lauren nickte nachdrücklich. »Mal dir das Schlimmste aus und multipliziere es dann mit zehn. Vielleicht fliegt ein Vogel hindurch und schließt das Ding für dich. Vielleicht aber auch nicht. Und dieser Punkt eröffnet einige ziemlich schreckliche Möglichkeiten.« »Was für Gegenstände sollen wir denn hindurchschicken?« Lauren überlegte kurz. »Abgekochte Steine wären ideal. Es wäre töricht, das Risiko einzugehen, Bakterien einzuschleusen oder Viren oder ... Gott weiß was. Außerdem sind Steine unbeweglich, und einer sieht so ziemlich aus wie der andere, zumindest für jeden, der kein Geologe ist.« Molly erhob sich mit einer einzigen anmutigen Bewegung aus dem Schneidersitz in eine elegante, aufrechte Pose. Lauren, die älter war als ihre Schwester und dies auch deutlich spürte, dachte: Ich erinnere mich, dass ich das auch einmal konnte. Ob ich es jemals wieder werde tun können? »Wir werden ein paar Spiegel brauchen«, sagte Molly zu dem zuständigen Wachposten. »Lass uns eine kleine Sammlung davon hierher bringen - Standspiegel und Handspiegel.« Sie drehte sich zu Lauren um. »Spielt die Qualität des Spiegels eine Rolle?« »Es ist einfacher, mit einer guten Oberfläche zu arbeiten als mit einer zerkratzten oder stumpfen.« »Gute Spiegel«, fügte Molly ihren Anweisungen hinzu. »Und abgekochte Steine. Irgendeine Vorliebe, was die Größe betrifft?«, fragte sie Lauren über die Schulter gewandt. Lauren zeichnete mit den Händen in etwa die Größe eines Softballs nach. »Und etwas zu essen«, ergänzte Lauren. Molly lachte. »Hast du jetzt schon Hunger?« »Ich glaube, ja. Hier drin geht einem irgendwie das Zeit161 gefühl verloren - wir haben kein Fenster, und mein Magen knurrt. Außerdem habe ich zum Frühstück nicht viel gegessen.« »Stühle und einen Tisch«, wies Molly den Wachposten an. »Es wäre vielleicht eine gute Idee, einfach Seo zu sagen, was wir brauchen. Er kann die Sachen dann vom Hauspersonal hierher schaffen lassen.« Der Soldat nickte, verneigte sich tief und verließ den Raum. Lauren drehte sich um, um noch einen Blick auf ihren Sohn zu werfen, der nach wie vor die Goroths befehligte, vollauf zufrieden in der Rolle des verwöhnten Kindgottes. »Ich werde Jake Gesellschaft leisten, bis unsere Sachen hergebracht werden«, sagte sie zu Molly. »Außerdem muss ich ein Wörtchen mit den Goroths reden. Jake ist schon schwierig genug, ohne dass die Leute springen, wenn er mit den Fingern schnippst. Größenwahn gehört nicht zu den Eigenschaften, in denen ich ein erstrebenswertes Erziehungsziel sehe.«
Molly beobachtete ihn einen Moment lang und zuckte zusammen. Er verlangte tatsächlich gerade von den Goroths, auf und ab zu springen. »Ich glaube, das wäre viel-- leicht eine gute Idee.« Lauren zog Jake von seinen Spielgefährten weg und setzte sich mit ihm auf dem Schoß auf den Boden, bevor sie den Goroths erklärte: »Ihr braucht nicht zu tun, was er euch befiehlt. Genau genommen sollte er tun, was ihr ihm befehlt.« »Aber er ist ein alter Gott«, wandte Rue ein, der Sprecher der übrigen Goroths, die allesamt zustimmend nickten. »Nein«, sagte Lauren entschieden. »Er ist ein kleiner Junge. Das ist alles. Ihr lasst euch doch von euren eigenen Kindern nicht herumkommandieren, oder?« 162 »Nein, Jägerin. Das tun wir nicht.« »Schön. Denn wenn ihr euch von ihnen herumkommandieren ließet, wäre es auf die Dauer unerträglich, mit ihnen zu leben, nicht wahr?« »Ja.« »Dasselbe Prinzip also. Jake ist erst drei. Er kann nicht mehr ausrichten, als eure kleinsten Kinder es könnten. Wenn er groß wird - nun, dann wird sich das ändern, aber bis dahin wollen wir ihm alle zusammen beibringen, wie er andere behandeln soll, dass er Verantwortung trägt und dass er auch an andere denken muss und nicht nur an sich selbst. Damit er, wenn er eines Tages über die Kräfte eines alten Gottes gebietet, nicht auf die Idee kommt, er habe das Recht, sie zu benutzen, wie es ihm gerade gefällt.« Die Goroths nickten. Rue sagte: »Das ist sehr weise, Jägerin. Dann werden wir ihn also behandeln, wie wir eins unserer Kinder behandeln würden. Freundlich, aber auch fest.« »Vielen Dank.« Hündchen sagte: »Wann wird er denn die Kräfte eines alten Gottes entwickeln?« Lauren zuckte die Achseln. »Das weiß ich wirklich nicht. Ich hoffe, es wird noch einige Jahre dauern.« Die Goroths nickten abermals, wobei sie seltsam erleichtert wirkten. Von ihrer Warte aus, ging es Lauren durch den Kopf, musste es ziemlich unerquicklich gewesen sein, die Verantwortung für einen sehr aktiven kleinen Jungen zu tragen, der ihrer Meinung nach jederzeit einen Blitz in ihre Richtung schleudern konnte. Kein Wunder, dass sie gesprungen waren, als er es ihnen befohlen hatte. »Du darfst den ... Hündchen ... nicht sagen, was sie tun sollen«, erklärte sie Jake. »Du bist ein kleiner Junge.« 163 »Ich bin Superman«, entgegnete er und betrachtete sie mit jenem Blick, der besagte, dass er sie auf die Probe stellte, dass er sehen wollte, wie sie auf Trotz reagierte. »Du bist Jake. Du kannst später so tun, als seiest du Superman, aber im Augenblick rede ich mit Jake.« Sie zeigte weder in ihrer Stimme noch in ihrer Miene Schwäche, und ein paar Sekunden später senkte er den Blick und kuschelte den Kopf an ihre Brust. »In Ordnung, Mama.« Sie strich ihm übers Haar, drückte ihn fest an sich und wiegte ihn sanft hin und her. »Ich hab dich lieb«, sagte sie. »Ich hab dich auch lieb.« Er sah lächelnd zu ihr auf und küsste sie auf die Wange. Sie küsste ihn auf den Kopf. »Ich will meinen Supermanumhang.« Lauren seufzte. »Den hätte ich wirklich mit einpacken sollen. Tut mir Leid. Ich hole ihn dir, sobald ich kann.« Er sah sie an. »Ich will meinen Supermanumhang.« »Das verstehe ich.« Sie zeigte auf die Tasche. »Ich habe Bearish mitgenommen. Ich habe Mr Puddleduck mitgenommen. Und ich habe die Autos mitgenommen. Aber den Umhang habe ich vergessen.« Jake sagte: »Wir sind die Justisch League.« Die Justice League war ein Superheldencomic, den Jake über jedes vernünftige Maß hinaus liebte. Er bewunderte Superhelden - alle Superhelden. Und er wollte einer von ihnen sein - ob Powerpuff Girl, Captain Underpants oder Batman, war ganz gleich. Er war da nicht wählerisch -Hauptsache, der betreffende Superheld gehörte eindeutig zu den Guten, dann war Jake mit allem einverstanden. Wenn er Superman war, dann konnte Bearish Green Lan-tern sein und Mr Puddleduck Batman. Vor einiger Zeit hatte er entschieden, dass sie, Lauren, Wonder Woman sei. Natürlich liebte er seine Superhelden am meisten, wenn sie Umhänge trugen. Als Lauren seine aufkeimende Leiden164 schaff bemerkt hatte, hatte sie ihm daher einen Supermanumhang gemacht: Sie hatte einfach die Ärmel eines kurzen, rotseidenen Bademantels, den sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte, zusammengeknotet. Das Ergebnis war ein überraschend überzeugender Umhang gewesen. Wenn Jake ihn trug, reichte der Saum bis auf den Boden, und der Stoff umhüllte ihn tadellos. Er liebte diesen Umhang. Natürlich hatte sie ihn vor der Katastrophe ständig im Auge behalten müssen, damit er nicht versuchte, mit dem Umhang von der obersten Treppenstufe zu fliegen, aber es hatte ihr auch viel Spaß gemacht, ihn in Supermanunterhosen und dem Umhang vor dem Spiegel zu sehen, die Hände in die Hüften gestemmt und mit strenger Miene, während er immer wieder sagte: »Ich bin Superman. Ich bin Superman.« Aber heute war seit jenem Tag das erste Mal, dass er echtes Interesse daran gezeigt hatte, Superman zu sein. Sie lächelte und drückte ihn fest an sich. Vielleicht würde er es ja doch schaffen, wieder ganz er selbst zu werden. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das glauben zu können.
»Ich hole ihn dir heute noch her, in Ordnung? Und du kannst ihn mit der übrigen Justisch League in deiner Tasche herumtragen.« »Ja. Das wäre schön.« In diesem Moment erschien Seolar mit den ersten Hausdienern, und der Raum füllte sich mit Spiegeln und Stühlen, einem Tisch und Nahrungsmitteln, dann kamen Feldbetten für Lauren, Molly und Jake und Decken für die Goroths. Anschließend machten Lauren und Molly sich an die Arbeit, versenkten sich in die Magie und merkten für Stunden nicht mehr, was um sie herum vorging. Als Molly in der Lage war, ein Tor zu öffnen und zu 165 schließen und langsam den Bogen heraushatte, durch einen Blick in den Spiegel weite Räume zu überwinden, stellte Lauren fest, dass Jake bereits schlief. Sie sah ihn an, wie er da allein zusammengerollt auf dem Feldbett lag; seine Decke hatte er bereits weggestrampelt. Überall um ihn herum lagen auf dem Fußboden in kleinen Häufchen Goroths auf zusammengeknüllten Decken. An der einzigen Tür, durch die man in den sicheren Raum ge^ langen konnte, standen Soldaten - hochkonzentriert und bewaffnet. Hündchen hielt hinter ihnen Wache. »Als lebte man in einer Festung innerhalb einer Festung«, bemerkte Molly, die Laurens Blick gefolgt war. Lauren nickte. »Ich wünschte, es käme mir übertrieben vor.« »Ich weiß, was du meinst.« Molly zuckte die Achseln. »Aber zumindest wird heute Nacht nichts hier hereinkommen.« Als Lauren ihre eigene Pritsche neben die von Jake geschoben hatte, bereits darauf lag und dem Schlaf schon sehr nahe war, registrierte sie, dass er einen roten Umhang trug. Sie fragte sich, welchem der Goroths es wohl gelungen sein mochte, Jake gut genug zu verstehen, um den Stoff zu finden und einen Umhang daraus zu machen. Lieb von ihnen, dachte sie und versank langsam in der Dunkelheit. Kupferhaus »Jägerin? Jägerin? Er ist... fort.« Als Lauren erwachte, waren die Goroths bereits auf den Beinen und liefen aufgescheucht durch den Raum. Die Wachen blickten sich mit vor Panik geweiteten Augen um. 166 Lauren bemerkte, dass Jakes Bett leer war. Sie sah sich nach ihm um und konnte ihn nicht entdecken. Im nächsten Moment war sie aus dem Bett gesprungen, erfüllt von einer ungeheuren Wut und einer harschen, schrecklichen Angst. »Wo ist er?«, fragte sie jeden im Raum. »Was ist passiert?« »Er hat dich geküsst«, sagte Hündchen, die ihre knotigen Hände rang. »Er hat gesagt: >Alles wird gut, Mommy. Superman geht Daddy holen.< Ich dachte, er spielt, denn er hat gestern viel von diesem Superman geredet, nachdem er den roten Umhang aus der Tasche gezogen hat, die du für ihn mitgebracht hattest - obwohl ich ihn dort nicht finden konnte, als er mich bat, ihn aus der Tasche zu holen. Und dann sagte er zu mir, dass er Superman sei.« Sie rang jetzt noch hektischer als zuvor die Hände: »Und du hast gesagt, er hätte die Gottkräfte noch nicht, also dachte ich, es könne ihm nichts zustoßen, wenn er mit den Spiegeln spielt.« Auf Laurens Haut schimmerte plötzlich kalter Schweiß. »Die Spiegel«, flüsterte sie. Sie war als kleines Kind durch Tore gegangen. Sie hatte sich sogar Spielkameraden aus Oria in ihr Zimmer geholt, indem sie Tore öffnete. Aber Jake hatte noch nie ein Tor geöffnet. Er hatte noch nie Magie gewirkt. Aber er beobachtete sie. Er war über den Pfad zwischen den Welten gegangen. Er kannte das Gefühl sich öffnender Tore, das Gefühl der Macht, das sie öffnete. »Aber als er eine Hand auf den Spiegel legte und das grüne Feuer sich vor ihm auftat, war ich nicht schnell genug. Wäre ich es gewesen, hätte ich ihn zurückgezogen - oder wenn das nicht möglich gewesen wäre, wäre ich mit ihm gegangen. Aber hinter ihm hat sich der Korridor geschlossen, und ich konnte nichts anderes tun, als dich zu wecken.« 167 Lauren fühlte sich benommen. Ihr war übel. Ihre Gedanken überschlugen sich, gerieten in Verwirrung wie die eines Tieres, das in einer Falle gefangen war und versuchte, einen Ausweg zu finden. Versuchte, die Zeit nur um einige wenige kostbare Minuten zurückzuspulen. »Welcher war es?«, fragte Lauren, und plötzlich war Molly an ihrer Seite. »Was ist passiert? Was hast du vor? Ich bin gerade erst aufgewacht, und ich habe nur mitbekommen, dass Jake weg ist.« »Er hat ein Tor geöffnet und ist hindurchgegangen. Er wollte seinen Vater holen.« Molly sah sie verwirrt an. »Aber sein Vater ist tot.« »Welcher Spiegel war es?«, fragte Lauren an Hündchen gewandt. Hündchen zeigte ihn ihr, und Lauren ließ sich vor dem Spiegel auf die Knie nieder, drückte die Finger sachte auf das Glas und erspürte das Echo des letzten Durchgangs. »Lauren«, sagte Molly, ihre Stimme ein Hintergrundgeräusch in Laurens Gedanken, »Brian ist tot. Wo könnte Jake glauben, ihn vielleicht zu finden?« Lauren spürte die ersten Echos von Jakes Durchtritt und schauderte; am liebsten hätte sie sich zurückgezogen.
Kälte, Dunkelheit, ein langsames und entsetzliches Vibrieren, das nichts mit Welten und Leben zu tun hatte und alles mit Ewigkeit und Tod. Es sickerte durch ihre Fingerspitzen in ihren Körper, floss durch ihre Adern und ließ ihr Herz gefrieren. Ihr Kind war da drin. Jake. Jake, der glaubte, er sei Superman. »Wo ist er hingegangen?«, fragte Molly noch einmal. »In den Himmel«, antwortete Lauren mit dumpfer Stimme. »Oder in die Hölle. Oder vielleicht einfach dahin, wo nichts existiert. Ich weiß es nicht.« 168 Molly legte Lauren eine Hand auf die Schulter. »Woher konnte Jake wissen, wohin er gehen musste?« »Brian hat Jake einen Teil von sich selbst gegeben - einen Teil seiner Seele, seines Wesens -, um Jake am Leben zu erhalten, als du ihn nach dem Unfall von Oria zurück auf die Erde gebracht hast. Jake kann seinen Vater so deutlich spüren, wie ich Jake spüren kann. Vielleicht noch deutlicher.« Lauren starrte in den Spiegel, in ihre eigenen Augen, und suchte dort nach dem Feuer - dem tröstlichen, grünen Feuer der Vereinigung aller Energien des Universums. Sie legte die Finger auf das Glas, beschwor die Torfeuer herauf und den Sturm, der ihr Gefährte war. Aber die vertrauten Energien kamen nicht. Kein grünes Licht schimmerte in weiter Ferne auf. Das Feuer, das ihr entgegenkam, das Feuer, das Jake verschlungen hatte und das auch sie holen würde, schwappte ihr entgegen, grau und kalt und schrecklich, und Tränen traten in ihre Augen, als sie an ihren kleinen Sohn dachte. Das hier hatte er herbeigerufen, um seinen Daddy holen zu können. Und als die Dunkelheit kam, war er tapfer hineingetreten. Diese Kälte, dieses Grau, diese Hölle war nichts Geringeres als der Tod, und der Fluss, durch den der Tod strömte, hatte einen winzigen Nebenarm, der vom Ende von allem direkt auf Lauren zufloss. Sie musste eine Angst bezähmen, die so schrecklich war, dass sie sich am liebsten zurückgezogen und versteckt hätte. »Geh nicht«, sagte Molly, und die Furcht in ihrer Stimme durchschnitt die Nebel des Entsetzens, die Laurens Geist umwölkten. »Wir werden einen Weg finden, um Jake zurückzuholen. Mit Magie. Mit irgendetwas. Geh nicht. Wenn du gehst und nicht zurückkommst, werden Welten sterben.« Der Durchgang vergrößerte sich kreiselnd - zuerst ein 169 Daumenabdruck, dann ein Pfirsich, schließlich eine Melone. Lauren hörte nicht auf, danach zu rufen, und plötzlich spürte sie unter ihren Fingerspitzen den Tod vorbeifließen. Einen breiten, tiefen, machtvollen Strom von Seelen, kalt und wütend und entsetzlich, verwirrt und voller Trauer, erleichtert und unglücklich, klagend oder einfach stumpf und taub, floss er stetig in eine Richtung. Die Richtung, aus der sie Jake spüren konnte, wie er sich immer weiter von ihr entfernte. Lauren presste die Knie zusammen, verkrampfte ihren Unterkiefer und wich keinen Schritt zurück, obwohl ihr Herz sich so anfühlte, als würde es gleich explodieren, und sie nach ihrem eigenen Angstschweiß stank. »Der Tod hat sich nicht sehr kooperativ gezeigt, wenn es darum ging, mir die Menschen zurückzugeben, die ich liebe. Ich werde ihn zwingen, mir mein Kind wiederzugeben.« Hinter sich hörte Lauren Seolar, hörte das Dröhnen von Schritten auf den Steinen, Schritten, die sich in einem höllischen Tempo näherten - und andere kamen mit ihm. Er schrie: »Halte sie hier fest. Tu, was immer du tun musst, aber halte sie hier fest.« »Jeder, der versucht, mich daran zu hindern, Jake zu folgen, wird sterben«, sagte Lauren. »Hier und jetzt.« Molly, die hinter ihr stand, flüsterte: »Ich gebe dir Deckung.« Und dann schrie sie jenen, die jetzt in den sicheren Raum gestürzt kamen, zu: »Fasst sie nicht an. Niemand bewegt sich.« Und dann sprach Molly weiter, mit einer Stimme, die Lauren das Herz brach, und so leise, dass nur sie sie verstehen konnte: »Pass auf dich auf. Und wenn du mein wirkliches Ich siehst... bring mich zurück.« »Ich liebe dich, Molly«, sagte Lauren. Und trat in die Dunkelheit. 9 Kupferhaus Molly sah zu, wie Lauren in das dunkle, kalte Feuer des Tores trat. Einen langen, lautlosen Augenblick stand sie einfach nur da, verloren zwischen Hoffnung und Verzweiflung; dann dachte sie an Seolar, der die Wahrheit gekannt und sie vor ihr verborgen hatte, und Zorn stieg in ihr auf und spülte alles andere fort. Sie drehte sich um und wartete, während Seolar sich durch seine Männer auf sie zubewegte, und auf seinem Gesicht las sie einen Widerhall ihres eigenen Zorns. Sie funkelte ihr Bild in Laurens Torspiegel an, der hinter Seolar stand - ihre grünen Augen glitzerten. Da war nichts Weiches in ihrem Bild, nichts Nachgiebiges. Nicht einmal der Schatten der Frau, die in der vergangenen Nacht Leidenschaft und wilden Sex bei ihrem Geliebten gesucht hatte, war übrig geblieben. »Ich möchte mit dir sprechen«, verlangte sie, und es gelang ihr nur mit knapper Not, die Wut zu beherrschen. Seolars Augen wurden schmal. Er drehte sich zu seinen Männern, den Goroths und zu einem dünnen, kleinen Veyär um, der in graue und braune Gewänder gehüllt war. Der Gast hob eine Hand, um Seolar zuvorzukommen, und sagte: »Die Angelegenheiten zwischen dir und der Vodi haben Vorrang vor allem, was ich möglicherweise zu sagen habe. Wir werden draußen warten.« Er führte die übrigen Anwesenden aus dem Raum, und binnen einer Sekunde waren Molly und Seolar allein. 171 Kaum hatte sie das Klicken der Tür hinter sich vernommen, fiel Molly über Seo her. »Du hast mir die Wahrheit darüber, was ich bin, nicht nur verschwiegen, du hast sie aktiv vor mir verborgen. Als wir auf Grauwind waren,
habe ich dir geraten, Gegner nicht mit Feinden zu verwechseln. Ich will vielleicht nicht dasselbe wie du, wir mögen unsere Ziele auf unterschiedlichen Wegen erreichen, aber ich bin nicht dein Feind. Es sei denn, du belügst mich.« Sie schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. »Du hättest mir Zeit und Verwirrung ersparen können; du hättest mir einfach die Tatsachen darlegen und darauf vertrauen können, dass ich auf meine Weise damit fertig werde. Stattdessen hast du beschlossen, mich zu verhätscheln, als sei ich eine zerbrechliche, hirnlose kleine Närrin, und Wichtiges vor mir verborgen. Und du hast mich belogen - und es ist nicht minder widerwärtig, jemandem bewusst etwas zu verschweigen, als ihm eine offene Lüge aufzutischen. Du hättest mich weiter in dem Glauben gelassen, nichts habe sich geändert, du Bastard. Warum? Hattest du Angst, dass ich, wenn ich die Wahrheit kenne, vielleicht nicht gar so bereitwillig mein Leben aufs Spiel gesetzt hätte, um die Weltenkette zu retten? Angst, ich könnte auf der Stelle auf die dunkle Seite überwechseln und mich mit meinesgleichen zusammentun? Angst, ich könnte vielleicht einfach sagen: >Zur Hölle mit alledem< und mir irgendeinen anderen Ort im Universum suchen, um zu schmollen oder mich in der Sonne zu aalen oder sonst etwas zu tun? Ist es das, was du gedacht hast? Du Mistkerl! Du Arschloch! Du Widerling! Du wolltest mir nicht einmal sagen, dass ich ein Ungeheuer bin, dass du meinen Anblick nicht ertragen kannst, dass ich einfach nur ein seelenloses Ding bin, das immer böser wird, immer verwirrter ... und dass immer weniger von mir übrig bleiben wird.« Während dieser Schimpftirade ging sie 172 langsam und mit kleinen Schritten auf ihn zu, bis sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie ihn tatsächlich anschrie; sie hatte nicht vorgehabt, in solchem Maße die Beherrschung zu verlieren, und es gefiel ihr nicht. Daher senkte sie die Stimme zu einem leisen Knurren und fuhr fort: »Begrab mich nur weiter in dieser ganzen Scheiße, lass mich weiter die Kranken heilen. Lass meine Schwester und mich alles aufs Spiel setzen, um das Sterben der Weltenkette umzukehren. Tu weiter so, als läge dir etwas an mir, nur damit ich still und zufrieden bin und mich nicht weiter darum sorge, dass ständig irgendwelche Ungeheuer vom Himmel herabstoßen oder aus dem Boden emporschießen, um mich umzubringen, solange ich hier bin und das, was meine Eltern für mein Leben geplant haben, in die Tat umsetze. Und da wir gerade von Ungeheuern sprechen, einige von ihnen werden durchkommen, und ich werde sterben, und jedes Mal, wenn ich sterbe, werde ich weitere kleine Bröckchen meiner selbst verlieren. Und dabei könnte ich doch stattdessen zehn oder fünfzehn Welten weiter unten in der Weltenkette sein, in irgendeinem hübschen, unerschlossenen Winkel irgendeines Planeten, wo ich nichts zu tun hätte, als mir eine schöne Bräune zuzulegen, und niemand jemals versuchen würde, mich umzubringen.« Sie rang nach Luft und blitzte Seolar wütend an. »Ich könnte ein halbwegs normales Leben führen, du Scheißkerl, wenn ich nicht hier wäre und meinen Arsch riskierte, damit unser Teil des Universums nicht über den Jordan geht.« Seolar hatte während dieser ganzen Schimpftirade kein Wort gesagt und keinen Laut von sich gegeben; Molly glaubte nicht, dass er auch nur geblinzelt hatte. Jetzt jedoch, als ihr vorübergehend Dampf und Atem ausgingen, wich die Wut aus seinem Gesicht, und er legte eine Hand 173 auf ihren Arm. »Es tut mir Leid. Ich wollte dich vor der Wahrheit schützen, weil sie so traurig ist und weil ich dich liebe. Ich wollte dir nicht wehtun.« Er sah aus, als habe sie ihm das Herz gebrochen. »Du hast es aber getan.« »Das sehe ich ein. Aber, meine Liebste, es ist nicht meine Absicht, dir Schmerz zuzufügen, und es wird niemals meine Absicht sein.« »Du kannst mich unmöglich lieben«, entgegnete Molly. »Ich bin ein ... Ding.« Seolar schüttelte den Kopf, streckte die Hand aus und strich ihr übers Haar. »Du bist du. Jetzt und hier bist du immer noch du. Mein Kummer rührt von dem Wissen, dass du allmählich dahinschwinden wirst. Vielleicht können wir dich beschützen, und du wirst du selbst sein, solange ich lebe - und wenn das egoistisch klingt, dann ja, es ist egoistisch. Ich weiß, dass du mich überleben wirst, und es macht mir nichts aus - aber ich möchte nicht den Teil von dir überleben, der dein wahres Ich ist.« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange und wandte einen flüchtigen Moment lang den Blick ab. »Das ist leicht gesagt...« Er drückte ihr einen Finger auf die Lippen. »Es ist nicht leicht gesagt. Es war sehr hart - zuzugeben, dass eine Zeit kommen könnte, da alles zwischen uns anders wäre. Ich würde dich betrachten, und du würdest genauso aussehen wie in diesem Augenblick, aber was immer in dir wäre, hätte keine Erinnerung mehr an deine Liebe zu mir, da wäre kein Gedanke für mich, kein Mitgefühl mit mir. Ich liebe dich - ich liebe dich mit allem, was in mir ist. In dir habe ich die Partnerin und die Geliebte gefunden, auf die ich mein Leben lang gewartet habe. Und kaum habe ich dich gefunden, entgleitest du mir bereits wieder, und wenn ich dich 174 gut genug beschützen kann, werde ich dich vielleicht als das behalten können, was du bist - aber ich bin nur ein Mann, und deine Feinde sind Götter.« Er zog sie in seine Arme und strich ihr übers Haar. »Ich wünschte, ich wäre ein Gott. Ich wünschte, ich könnte alles sein, was du brauchst, so wie du alles bist, was ich brauche.« Der Zorn in ihr schmolz. »Du bist alles, was ich will. Bei dir habe ich Liebe gefunden, und das ist etwas, das ich
nie zuvor hatte. Ich dachte nur ... ich dachte, dass du mich nicht länger lieben könntest.« »Ich werde dich immer lieben.« Er beugte sich ein wenig zurück, so dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir sagen.« Er lächelte bei diesen Worten, aber der Kummer in seinen Augen war so gewaltig wie ein Ozean. Sie sah ihn an und prägte sich sein Gesicht ein und diesen Augenblick und die Liebe, die sie erfüllte - und wusste, noch während sie das tat, dass es vergebens war. Das Begreifen war wie ein Messer in ihrem Herzen. »Ich werde dich immer lieben - was immer das wert ist. Ich werde dich lieben, solange ich ich bin.« Er nahm sie in die Arme und presste sie an sich. Dann löste er sich mit einem Seufzer von ihr, und seine Stimmung veränderte sich. »Ich habe jemanden mitgebracht, der dich kennen lernen will. Er ist hier, um zu helfen - er hat die Ankunft deiner Schwester gespürt und bemerkt, dass die ... ah, dass sie sich über dem Haus versammelten, und er sagt, er habe lange darauf gewartet, dass ihr beide, du und Lauren, hierher kommen würdet. Dein, ah ... Temperament ... hat ihn aus dem Raum verjagt, bevor er Gelegenheit hatte, sich vorzustellen.« 175 »Dieser unscheinbare kleine Veyär?« »Das ist die Gestalt, die er hier annimmt. Er ist einer der alten Götter. Einer der Tergathi. Sein Name ist Quawar, und er ist fast so alt wie die ... Rrön ... und sehr mächtig. Und er steht absolut auf deiner Seite - wenn auch nicht auf unserer.« »Er mag die Veyär nicht?« »Wir spielen keine Rolle für ihn. Er macht sich jedoch Sorgen um Oria und um die Erde und all die Welten darüber und darunter.« »Dann wird er nicht allzu glücklich sein, dass Lauren fortgegangen ist«, erwiderte Molly. Eine Spur des Zorns, den Molly zuvor auf Seolars Zügen gesehen hatte, huschte über sein Gesicht. »Er war wütend. Aber gleichviel. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen.« Seolar öffnete die Tür und bat den alten Gott herein. Auf den zweiten Blick fand Molly, dass Quawar nicht ganz wie ein Veyär aussah. Abgesehen von seinem kleinen Wuchs schienen seine Augen - die geradeso schwarz waren wie die Seolars - ein wenig zu winzig und nicht leuchtend genug. Seine Wangenknochen und seine Nase saßen irgendwie schief in seinem Gesicht - wäre er eine Skulptur gewesen, hätte man ihn wohl als zweite Wahl bezeichnet. Und im Gegensatz zu den Veyär hatte er die Ausstrahlung von klumpigem Kartoffelbrei. Einem ersten Blick mochte er standhalten, dachte Molly, aber keiner eingehenderen Musterung. »Teuerste Vodi«, sagte er und verneigte sich. Ganz anders als seine äußere Erscheinung hatte seine Stimme die Wirkung einer Stradivari in den Händen eines Genies. An dieser Stimme war nichts Furchtsames oder Unscheinbares. »Du bist eine Zierde des Universums.« 176 Sie erwiderte seine Verbeugung und sagte: »Quawar, ich entschuldige mich für die Unbeherrschtheit, die ich zur Schau gestellt habe.« »Entschuldigungen sind nicht nötig. Kleiner Schwan, auf deinen Schultern ruht eine Last, die selbst große Männer nicht zu tragen hoffen könnten, und ich würde dir keinen Vorwurf machen, wenn du deiner Bürde bisweilen grolltest.« Wieder verneigte er sich. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen.« »Wie?«, fragte sie. Abermals entblößte er lächelnd die Zähne. »Vielleicht könntest du die Jägerin von dort zurückholen, wohin sie gegangen ist, wo immer das sein mag. Auf diese Weise müsste ich meine Dienste nur ein einziges Mal anbieten?« Es war jedoch keine Frage, lediglich ein mit Höflichkeit ummantelter Befehl. Molly hatte bei der Air Force eine Menge Befehle entgegengenommen. Hier jedoch bekleidete sie den höheren Rang. Sie spürte es in ihren Eingeweiden, und die Tatsache, dass er zu ihr gekommen war, bestätigte es. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Sowohl Seolar als auch der alte Gott warfen ihr argwöhnische Blicke zu. »Warum sollte es nicht möglich sein?«, fragte Seolar. »Ihr habt gestern den ganzen Tag an Toren und Sehungen gearbeitet. Gewiss könntest du einfach nach ihr suchen und ihr sagen, sie solle heimkommen.« »Sie befindet sich nicht an einem Ort, an dem wir sie vielleicht erreichen könnten.« »Finde einen Weg«, sagte Quawar. »Ihre Ankunft hat endlich Bedingungen ausgelöst, nach denen ich auf einem Dutzend Welten und über, ah, mindestens zehntausend Jahre hinweg Ausschau gehalten habe.« 177 »Dorthin, wo sie jetzt ist, können wir ihr nicht folgen«, entgegnete Molly. »Wenn wir Glück haben, wird sie es schaffen, zurückzukehren.« »Wo ist sie?«, fragte Seolar. »Wir brauchen sie.« »Von da, wo ich stand«, antwortete Molly, »fühlte es sich so an, als sei sie in den Fluss des Todes gegangen ... sie ist auf dem Weg ins Jenseits.« Zwei erwachsene Männer konnten nicht wirklich einen Höllenlärm zustande bringen - dafür bedurfte es einer aufgebrachten Menschenmenge oder eines einzigen Kindes. Aber Seolar und Quawar taten wahrlich ihr Bestes. Molly verschränkte die Arme über der Brust und ließ sie schreien. Die beiden schrien abwechselnd sie an,
einander und niemand Bestimmtes. Sie verstand ungefähr, in welchem Punkt beide Männer übereinzustimmen schienen, nämlich, dass Molly verantwortungslos gehandelt habe, als sie Lauren nicht aufgehalten hatte, und dass jene, die den Abgrund überschritten, niemals zurückkehrten, und dass der Plan, der die Weltenkette gerettet hätte, nunmehr zunichte geworden sei und dass weiterhin ganze Welten und Völker auf grauenhafte Weise sterben würden. Und das alles wäre Mollys Schuld. »Sie sucht nach ihrem Sohn«, sagte Molly, kaum dass die beiden Männer einmal eine winzige Atempause machten. Wenn sie vorher wütend gewesen waren, waren sie jetzt schlicht und einfach sprachlos. »Sie sucht nach Jake?«, fragte Seolar. »Er ist ... gestorben?« »Nein. Jake ist in den Fluss des Todes gegangen, um seinen Vater zu suchen. Er wollte seinen Daddy heimholen.« Quawar fragte: »Wie alt ist ihr Sohn? Wie mächtig? Wenn er den Strom des Flusses der Seelen auf sich ziehen konnte ...« 178 »Er ist erst drei«, unterbrach Molly ihn. »Er ist einfach ein sehr kleiner Junge, der seinen Daddy liebt und ihn zurückhaben will.« Quawar sah krank aus. »Und die Jägerin ist diesem dreijährigen Jungen Hals über Kopf in den Tod gefolgt?« »Sie tut, was sie tun muss. Sobald sie es getan hat, wird sie einen Weg zurückfinden.« »Nein, das wird sie nicht«, sagte der alte Gott. »Sie ist für immer verloren. Ich kann genauso gut wieder dorthin zurückkehren, woher ich gekommen bin.« »Sie hat herausgefunden, wie sie dorthin gelangen konnte«, erklärte Molly. »Ich wette, sie schafft es auch, wieder zurückzukommen.« Der Fluss des Todes und das Jenseits Lauren hatte die Hölle gefunden - aber anscheinend war sie die Einzige, der das auffiel. Der Tod umringte sie so dicht, dass sie sich nicht umdrehen, sich nicht bewegen, beinahe nicht atmen konnte. Sie trieb, ertrank im Tod, und obwohl sie sie sehen und ihre Berührung spüren konnte, schien jede Seele doch ausschließlich mit sich selbst beschäftigt zu sein, blind für Raum und Zeit und Bewegung. Die Seelen rasten in ungeheuren Zahlen durch das Dunkel und trugen Lauren in ihrem Strom mit sich. Der Tunnel dunklen Feuers, den Lauren heraufbeschworen hatte, um sich der Menge anzuschließen, war lange fort. Die Dunkelheit war jedoch nicht absolut; Lauren konnte die Seelen um sich herum in dem wabernden Grau erkennen, das mit albtraumhafter Geschwindigkeit an ihr vorbeischoss. Irgendwo da vorn bewegte sich ihr Kind in der gleichen Masse allzu naher Geister. Er musste solche Angst haben. 179 Er würde es grässlich finden, derart eingeengt zu sein; die Schreie, das Weinen und die wahnsinnigen Mätzchen einiger dieser Toten würden ihn furchtbar erschrecken. Und er war so klein. Das Gedränge der Seelen um ihn herum musste ihm noch schlimmer zusetzen als ihr, Lauren. Jake würde diesen Ort nicht verstehen. Diese Leute. Einige von ihnen weinten. Einige lachten. Einige wirkten verängstigt. Einige starrten hinter sich, streckten die Hände aus und griffen verzweifelt nach dem Leben, dem man sie entrissen hatte. Aber alle, abgesehen von Lauren, bewegten sich, ohne die Übrigen wahrzunehmen. »Du bist tot!«, schrie sie einer kreischenden Frau zu, die offensichtlich auf Dauer im letzten Augenblick eines schrecklichen Unfalls gefangen war. »Es ist vorbei! Nichts kann dir mehr wehtun!« Aber das Schreien ging weiter und weiter und weiter. Sie versuchte, den Mann beiseite zu stoßen, der lachte. Sie wollte ihn verletzen. Aber ihre Hände glitten durch ihn hindurch, und er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. Er hatte ein grausames Lachen. Er hatte etwas Böses getan - etwas Schreckliches -, und er schien zu denken, dass er damit davongekommen war. Das Schlimmste war die junge Mutter, die immer wieder schluchzend hervorstieß: »Mein Kind, mein Kind, mein Kind. Wo ist mein Kind?« Ja. Und wo ist meins? Laurens Augen füllten sich mit Tränen, die sie nun nicht länger wegblinzeln konnte. Fort, dachte sie. Sie sind irgendwo, wo wir nicht sind. Wir können sie nicht finden, wir können ihnen nicht helfen, wir können nicht zu ihnen. Und ich kann nicht einmal den Arm um dich legen und mit dir weinen. 180 Die Hölle. Es gab eine Hölle, Lauren hatte sie gefunden. Und irgendwo darin steckte auch Jake. Die Geister waren nicht alle Menschen - aber in Gedanken hörte sie sich sagen: Dies sind Leute wie ich. Sie wollten irgendwohin, und wenn sie ihr Ziel erreichten, würde gewiss irgendjemand alles in Ordnung bringen. Würde den Mann mit dem grausamen Lachen bestrafen, würde die Mutter trösten, deren Kind verschwunden war, und die Frau beruhigen, die auf so furchtbare Weise den Tod gefunden hatte. Würde Lauren zu Jake führen und dann zu Brian und Molly. Es musste doch jemanden geben, der dafür verantwortlich war, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Oder nicht?
Die Höllenfahrt erstreckte sich über eine Ewigkeit, bis zu dem Punkt, an dem Lauren sich mit Zähnen und Klauen aus dem Mob freigekämpft hätte, um eine andere Möglichkeit zu finden, zu Jake zu gelangen. Aber in dieser Hölle gab es nichts, woran man sich festhalten konnte, keine Decken oder Fußböden - nur die Toten, die dicht gedrängt wie Sardinen überall um sie herum waren, vor ihr und hinter ihr, unter ihren Füßen und über ihrem Kopf. Eine stets in Veränderung begriffene, sich windende, unausweichliche Kakophonie, die weder Anfang noch Ende hatte. Plötzlich kam Lauren ein Gedanke, der sich nicht wieder abschütteln ließ; was, wenn es das war? Was, wenn dies hier das Jenseits war und es niemanden gab, der die Dinge in Ordnung brachte? Was, wenn das Jenseits dieser Fluss war, wenn dies der Ort war, von dem Brian kam, wenn er sich zwischen den Welten bewegte? Wie sollte Jake ihn jemals finden ... hier? Wie sollte sie Jake jemals finden? Panik stieg aus den Tiefen ihrer Eingeweide auf, ließ ihr 181 Herz rasen und presste ihr die Kehle zu, bis sie nur noch schreien und immer weiterschreien wollte, bis irgendjemand sah, dass sie nicht zu den Toten gehörte, und sie aus ihrem Strom befreite. Dann verebbten die Schreie, das Schluchzen, das Gelächter und der Wahnsinn langsam; die Gesichter um sie herum wurden eines nach dem anderen ruhiger, und eine Seele nach der anderen wandte sich nach vorn und blickte nach oben. Ein Ausdruck des Erkennens huschte über ihre Gesichter, und nach und nach senkte sich Frieden herab. Die Dunkelheit verblasste ein wenig, wurde zu einem monotoneren Grau, und Lauren hatte das Gefühl, als sei sie ihrem Ziel nahe. Sie hatte keine Vorstellung davon, was die Toten um sie herum sahen. Keine Ahnung, warum sie plötzlich Frieden gefunden hatten, oder wenn nicht Frieden, so doch zumindest Ruhe. Der Druck ließ etwas nach, langsam gewann sie ein wenig Abstand von ihren Mitreisenden. Sie konnte die Arme bewegen, sich umdrehen und Ausschau halten. Alles, was sie sehen konnte, waren weitere Tote, und diese schenkten ihr noch immer keine Beachtung, obwohl sie jetzt fast alle einen glückseligen Gesichtsausdruck zeigten. Dann erlosch einer der Toten neben ihr. Dann ein weiterer. Plötzlich verschwanden sie alle. Lösten sich mit einem schwachen Aufflackern von Licht einfach auf. Und Lauren bewegte sich immer noch weiter nach vorn, zumindest kam es ihr so vor, als täte sie das, aber die Schar der Toten um sie herum verringerte sich mit bestürzender Geschwindigkeit, so dass sie jetzt hie und da etwas von dem Ort erkennen konnte, an dem sie sich befand. Und es ergab keinen Sinn. Sie kämpfte sich weiter vorwärts - unbeirrbar, da nun immer weniger Tote um sie herum waren und das Univer182 sum zu einem monotonen, leblosen Grau geworden war. Das war das Jenseits? Keine Wolken, keine Tore, keine Orientierung. Wenn sie sich große Mühe gab, konnte sie die Linien ausmachen, wo eine Art Grund unter ihren Füßen dahinraste, aber es war nichts da, anhand dessen sie seine Ausmaße hätte erkennen können, so dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, ob sie nur Zentimeter darüber schwebte oder ob es Kilometer waren. Sie beobachtete, wie die Toten überall um sie herum heller wurden, bevor sie mit einem Blinken erloschen. Und dann stellte sie fest, dass sie allein war und immer noch dahinjagte ... irgendwohin. Ihr kam ein Gedanke, und sie drehte sich um, um hinter sich zu schauen. In der Ferne konnte sie sehen, wie die Seelen in diesen Ort hineinströmten, heller wurden, erloschen. Aber schließlich war sie so weit von ihnen entfernt, dass sie sie nicht mehr erkennen konnte. Und noch immer war nichts da, woran sie sich hätte orientieren können, nichts, was diesem Ort einen Sinn oder eine Gestalt gegeben hätte. Nichts als der graue Grund war unter ihr, nichts als der graue Himmel wölbte sich über ihr, und noch immer war da nichts, was die Monotonie durchbrochen hätte. Sie versuchte, sich umzudrehen, um in die Richtung zurückzukehren, aus der sie gekommen war, aber obwohl sie sich mühelos umdrehen konnte, musste sie entdecken, dass sie ohne irgendeinen Orientierungspunkt unmöglich wissen konnte, welcher Weg zurückführte. Außerdem stellte sie fest, dass sie sich nicht länger bewegte - oder dass sie es zumindest nicht mehr wahrnahm, falls sie sich noch bewegte. Sie hing mitten im leeren Raum, ganz allein, und ihr fiel nichts, aber auch gar nichts ein, was sie hätte tun können. War Jake so weit gekommen? Hatte er einen Weg zu Brian 183 gefunden? Oder hatte auch er sich auf dieser endlosen Ebene verirrt? Sie musste ihn finden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. In den wenigen Sekunden zwischen ihrer Entdeckung, dass Jake sich aufgemacht hatte, um seinen Daddy von den Toten zurückzuholen, und dem Augenblick, als sie in den Fluss des Todes getreten war und festgestellt hatte, dass er ihr keinen Wunsch erfüllen würde, hatte Lauren eine flüchtige, strahlende Hoffnung verspürt. Sie hatte gehofft, dass sie mit einem Schritt in den Himmel gelangen, ihr Kind retten und dann den Orpheus zu Brians Eurydike spielen könnte. Sie hatte gehofft, dass sie die Herzen aller, die zwischen ihr und Brian standen, mit der Geschichte ihrer Liebe und ihrer Trauer würde erweichen können. Einen herrlichen Augenblick lang hatte sie sich vorgestellt, dass man ihr erlauben würde, Brian dem Tod zu stehlen. Dass sie mit ihrer Beredsamkeit und ihrer Leidenschaft auch Mollys Seele würde zurückgewinnen können. Dass dieser Albtraum nicht nur ein glückliches, sondern ein strahlendes Ende finden würde. Dass sie sich allein und hilflos an einem Ort wieder finden würde, der buchstäblich das Gottverlassenste war,
was sie je gesehen hatte, dieser Gedanke war ihr überhaupt nicht gekommen. »JAKE!«, schrie sie aus Leibeskräften. Der Laut, der über ihre Lippen kam, klang so gedämpft, als hätte sie mit einem Mund voller Federn geschrien. Schreien würde ihr also nicht weiterhelfen. Würde sie einfach für alle Zeit hier bleiben müssen? Das würde sie nicht akzeptieren. Jake brauchte sie. Sie befanden sich im Jenseits, aber sie waren nicht tot - welches System auch immer hier herrschen mochte, es war offensichtlich nicht dazu gedacht, Lebende zu beherbergen. Die See184 len der Toten waren alle irgendwo hingegangen - für sie ergaben die Dinge langsam einen Sinn, und sie hatten eine Art von Frieden gefunden; sobald sie ihre neue Situation akzeptierten, so schien es Lauren, verschwanden sie. Lauren glaubte nicht, dass sie einfach zu existieren aufhörten. Dann wäre alles, was geschehen war, bedeutungslos gewesen. Sie waren Seelen; Seelen waren Energie; Energie hörte nicht einfach auf, zu existieren. Das verstieß gegen alles, was Lauren über Physik wusste - obwohl das nicht viel war. Also waren die Seelen dort hingegangen, wo sie hingehörten. Und da sie und Jake hier nirgendwo hingehörten, mussten sie unweigerlich am Ende ankommen. Am Ende von ... was? Der Sortieranlage? Sie musste festen Boden unter den Füßen haben, dachte Lauren. Sie musste etwas Festes unter sich spüren, um inmitten dieses Grauens eine Spur von Wirklichkeit wieder zu finden. Und während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, wurde ihr klar, dass sie nach unten trieb - und kaum war ihr das bewusst geworden, landete sie mit den Füßen sanft auf festem Grund. Sie holte tief Luft und fühlte sich schon ein wenig besser. Allein das Wissen, dass sie nicht für alle Zeit im Nichts treiben würde, half. Was sie jedoch wirklich brauchte, war etwas, woran sie sich orientieren konnte. Eine Art Wegweiser, der ihr sagte, in welcher Richtung es nach vorn ging, welcher Weg zurückführte und welche Richtung sie zu Jake bringen würde. Sie drehte sich um - langsam - und hielt Ausschau nach irgendetwas, das ihr Orientierung bieten konnte. Ein Fleck am Horizont, ein Wegweiser, ein Baum ... Ein Baum wäre großartig, dachte sie. Etwas, das dem trostlosen Grau dieses Ortes ein wenig Schönheit verlieh. Eine große, starke Eiche, deren knorrige Zweige sich drei185 ßig Meter weit in alle Richtungen erstreckten, mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern und fast halbkugeliger, abgeplatteter Krone. Auf der Kuppe eines grasbewachsenen Hügels, geschmückt mit einer Schaukel aus einem Autoreifen, die für einen eingeschüchterten kleinen Jungen einfach unwiderstehlich sein würde ... Eingewoben in helles Sonnenlicht, das auf den Blättern funkelte, würde dieser Baum ... Und er tat es wirklich. In weiter Ferne, geradeso weit, wie sie es sich vorgestellt hatte, stand eben die Eiche, die sie in Gedanken erschaffen hatte, und obwohl sie keine Sonne sehen konnte, schimmerte dennoch Sonnenlicht auf den Blättern. Wunderschön - und das kleine Stückchen Gras darunter und der Autoreifen, der still und wartend von einem Ast hing - das alles war wunderschön. Geh zu dem Baum, Jake. Wo immer du bist, geh zu dem Baum. Lauren machte einige Schritte auf die Eiche zu, blieb dann aber wieder stehen. Vielleicht war Jake zu weit entfernt, um den Baum zu sehen. Vielleicht existierte der Baum auch nur in ihrer Fantasie. Sie hätte am liebsten geweint, hätte sich am liebsten zu einem Ball zusammengerollt und dem Universum ihre Schreie entgegengeschleudert. Aber damit würde sie Jake nicht helfen. Sie musste stark bleiben. Sie musste in Bewegung bleiben. Es gab keine Garantie dafür, dass Jake den Baum fand oder dass er, selbst wenn er ihn fand, zu ihm gehen würde. Aber wenn sie einen Baum erschaffen konnte, konnte sie auch etwas erheblich Nützlicheres schaffen. Straßen, dachte sie. Mit Schildern. Und es würden nützliche Schilder sein, beschloss sie. ZU JAKE -». ZU BRIAN -». ZU MOLLY -». NACH HAUSE ->. Sie schloss die Augen, stellte sich die Schilder vor und 186 machte sie in Gedanken so real, wie sie nur konnte. JAKE -weiße Buchstaben auf grünem Grund, ein Pfeil, der in die entsprechende Richtung wies, ein glatter, schwarzer Teerstreifen, der durch all dies gesichtslose Grau zu dem Ort führte, an dem sie sein musste. Ein weiteres Schild, geradeso wie das erste, das sie zu Brian und Molly bringen würde. Und dann ein Schild, das ihr den Weg weisen würde, auf dem sie und Jake und Brian und Molly alle nach Hause gehen konnten. Lauren öffnete die Augen und sah zu ihrer Erleichterung den Asphalt, der sich vor ihr erstreckte, ein schönes, schmales, pfeilgerades Band, das zu ihrer Rechten verlief. Eine einzige Straße, nur eine Richtung, und sie, Lauren, stand direkt am Anfang. Und genau vor ihr erhob sich ein Schild. Das Schild hatte tatsächlich seinen kleinen Pfeil, und es war grün und weiß. Aber es stand nicht JAKE darauf. Oder BRIAN. Oder MOLLY. Oder auch nur NACH HAUSE. Dort stand: VERWALTUNG. »Scheiße«, flüsterte Lauren. Die Straße schien unendlich zu sein, ohne jede Kurve oder Biegung. Tatsächlich lief sie in weiter Ferne in einem winzigen Punkt zusammen, so weit vor Lauren, dass sie Himmel und Horizont nur erahnen konnte. Die Straße führte an dem Baum vorbei.
Lauren ging zu dem Baum hinüber, und dort fand sie, ins Gras gebohrt, ein weiteres Schild. Darauf stand: BITTE KEINE VERÄNDERUNGEN AM TERRAIN VORNEHMEN. Lauren runzelte die Stirn. Der Verwaltung gefiel der Baum nicht. Die Verwaltung wünschte nicht, dass Lauren Wegweiser für ihren kleinen Sohn aufstellte - offensichtlich scherte es diese Verwaltung nicht, ob Lauren ihn fand. Nun, scheiß auf die Verwaltung. 187 Aber vor ihren Augen glitt der Baum in den Boden hinab, nicht ohne zuvor grau und schwammig zu werden. Und dann war er fort. Das Gras verschwand. Das Schild verschwand. Lauren starrte den Boden an, das Grau, dann drehte sie sich um, um hinter sich zu blicken und festzustellen, was aus dem grünen Schild mit dem Pfeil geworden war. Die Straße endete unmittelbar zu ihren Füßen. »Oh, Jake ... das ist nicht gut«, flüsterte sie. Die Straße zog sich jedoch immer noch vor ihr dahin, zeigte schnurgerade auf trostlose Ewigkeit, unterteilte alle Unendlichkeit in zwei gleichermaßen grauenhafte Hälften. Lauren hatte nicht die Absicht, die ganze Strecke zu gehen. Sie schloss die Augen und ließ in Gedanken ihren kleinen, gelben CRX vor sich erstehen. Sie öffnete die Augen. Ein weiteres Schild. DAS GEHEN WIRD DICH NICHT UMBRINGEN. UND DU WIRST VIELLEICHT ETWAS DABEI LERNEN. »Ich will mein Kind zurück, du Ungeheuer!«, schrie Lauren. Und das graue Nichts verschluckte ihren Schrei, geradeso wie es den Baum verschluckt hatte. Sie bekam keine Antwort. Obwohl Tränen durch ihre Wimpern rannen und ihre Kehle wie zugeschnürt war, begann Lauren zu gehen. Nach einer Weile stellte sie fest, dass das Nichts sich mit nur unzureichender Geschwindigkeit veränderte, und sie begann, zu rennen. Der Horizont blieb unverändert, das schmale Band der Straße blieb unverändert, der graue Boden und der graue Himmel blieben unverändert. Ich könnte ewig so weitergehen und nirgendwo hingehen, dachte sie. Sie blieb stehen, erfüllt von panischer Angst und Verzweiflung und ohne einen blassen Schimmer, was sie als 188 Nächstes tun sollte. Sie setzte sich auf die Straße, presste das Gesicht auf die Knie und blieb einen Moment lang einfach so sitzen. Sie forderte den Himmel heraus, und sie wusste es - aber sie wollte doch nur ihre Familie zurückhaben, und nachdem sie den Weg hierher gefunden hatte, meinte sie, hätte sie sich das Recht verdient, Jake, Brian und Molly für sich zu beanspruchen und mit ihnen nach Hause zu gehen. Trotzdem sah es so aus, als sei diese ... diese Verwaltung, um den bürokratischen Ausdruck zu benutzen, den der Bastard für sich gewählt hatte, dass diese Verwaltung nicht der Meinung war, sie habe sich irgendetwas verdient. »Du hast Mut«, erklang eine Stimme in ihrem Ohr. »Aber du hast dir tatsächlich nichts verdient.« Sie zuckte zusammen und sah sich um. Nichts. Die Stimme hatte durchaus freundlich geklungen. Nicht höhnisch. Eindeutig verständnisvoll und mitfühlend. Aber es war keine Stimme, die gute Nachrichten überbrachte. Lauren hatte nicht diesen langen Weg auf sich genommen, um schlechte Neuigkeiten zu hören. Sie würde Jake finden - und dann Brian, denn Jake hatte sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um seinen Daddy zurückzuholen, und sie beide liebten Brian und brauchten ihn. Und dann Molly. Lauren stand auf und ging weiter. »Ich werde dir nicht gestatten, mir zu erzählen, dass ich sie nicht bekommen kann!«, schrie sie. Sie ballte die Fäuste, starrte in das gewaltige Nichts vor ihr und brüllte: »ICH WERDE MEINEN SOHN ZURÜCKBEKOMMEN! ICH WERDE SIE ALLE ZURÜCKBEKOMMEN!« Sie verfiel in Laufschritt, diesmal fest entschlossen, nicht eher stehen zu bleiben, als bis sie Jake gefunden hatte. Brian würde mit ihr nach Hause kommen, Molly würde nach Oria zurückkehren, all diese Tragödien würden enden 189 und ungeschehen gemacht werden. Es kümmerte Lauren nicht, dass die Dinge normalerweise nicht so funktionierten. Es kümmerte sie nicht, dass man im Allgemeinen die Menschen, die man liebte, nicht vom Tod zurückbekam. Es kümmerte sie nicht, wenn irgendjemand ihr erklärte, »das ist nicht die Art, wie wir die Dinge hier handhaben«. Bürokratie würde sie nicht aufhalten, kleine grüne Schilder mit der Aufschrift VERWALTUNG würden sie nicht aufhalten, genauso wenig wie solche, auf denen zu lesen stand: DAS BETRETEN DES RASENS IST VERBOTEN oder DAS VERLASSEN DER GEHWEGE IST VERBOTEN. Und wenn sie diesen ganzen Ort umgestalten und alles durcheinander bringen musste, wenn sie dem Torhüter, der zwischen ihr und den Menschen stand, die sie liebte und brauchte, den Krieg erklären musste, dann bei Gott, würde sie es tun. Sie rannte - schneller und schneller, das Herz hämmerte ihr in der Brust, und sie spürte, wie sie zu einem Geschöpf mit Flügeln wurde, unaufhaltsam, ein Krieger, ein Held. Während sie rannte, zweifelte sie nicht daran, dass sie es mit allem würde aufnehmen können. »Ich komme, hörst du!«, schrie sie. »Ich komme, und du wirst nicht derjenige sein wollen, der zwischen mir und Jake steht, wenn ich mein Ziel erreiche. Ich werde euch alle, wie ihr da seid, in Stücke reißen, ich werde diesen Ort in einen Krater verwandeln, ich werde den Himmel von oben nach unten stürzen und ihn schütteln, bis ihr
alle herausfallt und in das Nichts hinabstürzt, es sei denn, ihr könnt mir mein Kind zeigen. SOFORT!« Plötzlich veränderte sich das Bild. Die Welt brach auf, und Dunkelheit quoll daraus hervor, und aus der Dunkelheit trat eine Gestalt in Schwarz, ein Mann, dessen Roben ihn umwogten und sein Gesicht unkenntlich machten. 190 »Und du würdest es mit Himmel und Hölle aufnehmen und mit allem, was sich zwischen dich und dein Ziel stellt, deinen Sohn zurückzubekommen - und wo du schon mal dabei bist, gleich auch noch die Seelen deines Mannes und deiner Schwester. Habe ich das richtig verstanden? All das würdest du tun?« »Ich werde all das tun«, sagte Lauren, und plötzlich stand sie mit einer Bazooka an der Schulter da, die sie direkt auf den schwarz gewandeten Bastard richtete, und sie zweifelte keine Sekunde daran, dass sie ihn damit in ein Häufchen Asche verwandeln konnte. Cat Creek Pete löschte das Bild aus, das er in dem Handspiegel beobachtet hatte, und löste seine Verbindung mit Lauren. Wie lange er sie auch beobachtete, es würde alles keinen Sinn für ihn ergeben. Er legte den Kopf auf Laurens Küchentisch. Es war ihm nicht gelungen, sie irgendwo zu finden. Und dann, ganz plötzlich, war sie von einem Moment auf den anderen in dem Spiegel zu sehen gewesen, aber, und wenn es seinem Leben gegolten hätte, Pete konnte sich keinen Reim auf das machen, was er sah - oder, was das betraf, auf das was er fühlte. Von der Sekunde an, als Lauren das erste Mal in Sicht kam, vibrierten unter seinen Fingerspitzen die Echos von etwas Schrecklichem, etwas, das sich direkt auf der anderen Seite des Glases abspielte. Er starrte durch das Fenster zu Lauren hinüber - den einzigen dunklen Fleck in einem Fluss aus Licht, der ihm eine Höllenangst einjagte. Der Puls dieses Flusses fühlte sich an wie jeder Verbrechensschau191 platz, den er je besucht hatte, wie jedes Trauerhaus, das er jemals betreten hatte; es zerrte an seinen Nerven mit denselben nächtlichen Ängsten, die Pete erschüttert hatten, als sein Vater im Krankenhaus gestorben war, als der alte Mann seine Hand gehalten und um noch einen weiteren Atemzug gerungen hatte. Das Gefühl erinnerte Pete an den Tag, an dem sein Hund gestorben war, überfahren von einem Auto, und an den Tag während seines ersten Jahres beim FBI, als Petes Partner, January Ellison, aus dem Hinterhalt von der Kugel eines Heckenschützen getroffen worden war - einer Kugel, die für ihn, Pete, bestimmt gewesen war. Pete wusste nicht, wo Lauren war, aber er wusste verdammt genau, dass sie dort nicht hingehörte. Dann wurde der Fluss zu einem Rinnsal und versiegte schließlich zu Nichts, und Lauren hing im leeren Raum. Eine Straße. Ein seltsam deplatziertes Schild - sie alle befanden sich mit Lauren in der Mitte von etwas, das ganz offensichtlich nichts war. Und plötzlich war da ein riesiges, schwarz gewandetes, gesichtsloses Gräuel, das aus den Tiefen der Hölle emporgestiegen war und das für den Rest der Ewigkeit eine Hauptattraktion in Petes Albträumen sein würde. Dann hielt Lauren plötzlich eine Bazooka im Arm, die aus dem Nichts erschienen war, geradeso wie der Albtraum, dem sie sich gegenübersah. Pete konnte nicht zu ihr gehen. Er konnte ihr nicht helfen. Er konnte nicht einmal irgend jemandem mitteilen, wo Lauren war - damit hätte er jedwedes Vertrauen, das sie in ihn gesetzt hatte, verraten. Sie kam anscheinend auch so zurecht. Oder zumindest gab sie nicht auf. Aber Pete konnte es nicht länger ertragen, sie weiter zu beobachten. Er fühlte sich hilflos, und er kam sich dumm vor, nicht zu verstehen, wo sie war oder was sie tat. Er wusste nicht, ob er in der Lage sein würde, die Ver192 bindung zwischen ihnen noch einmal herzustellen, wenn er den Kontakt zu Lauren erst abreißen ließ. Aber er konnte nicht einfach hilflos zusehen, während Gefühle unaussprechlicher Tode und gerade erst begangener Morde aus dem Spiegel durch seine Fingerspitzen krochen und von dort aus direkt in sein Gehirn strömten. Er überlegte kurz, ob er nach Oria gehen sollte, aber dort war sie offensichtlich nicht. Er konnte in Oria Magie wirken, aber wenn er versuchte, Lauren zu folgen, um sie zu retten - vorausgesetzt, dass sie überhaupt gerettet werden musste, was keineswegs feststand -, würde er ihr wahrscheinlich mehr schaden als nutzen. Er wünschte, er hätte das, was er soeben gesehen hatte, Fred zeigen können, aber Fred dachte immer noch in seinen festgefahrenen Kategorien, glaubte an Außerirdische auf der Erde, und Pete war noch nicht bereit dazu, ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Allerdings hatte Fred eine wirklich nette religiöse Erziehung genossen, die ihn mit vielen merkwürdigen, mystischen Glaubensvorstellungen in Berührung gebracht hatte, und Pete vermutete, dass Fred eine gewisse Logik in Dingen entdecken konnte, die ihn selbst vollkommen ratlos machten: zum Beispiel Lauren in dem leuchtenden Fluss stehen zu sehen oder Lauren, wie sie mit einer Bazooka auf ein Ding in Schwarz losging. An Pete war die christliche Erziehung ziemlich spurlos vorbeigegangen - was bedeutete, dass seine Eltern ihn kurz nach seiner Geburt in eine altmodische Kirche gebracht hatten, wo man ihm Wasser auf den Kopf spritzte, und dass er seitdem außer bei Beerdigungen und Hochzeiten keine Kirche mehr von innen gesehen hatte. Und doch roch das, was er in dem Spiegel gesehen hatte, irgendwie nach Mutter Kirche, und plötzlich bedauerte er sein mangelndes Interesse an religiösen Themen. Er fragte 193
sich, ob ihm da nicht vielleicht etwas Wichtiges entgangen sein könnte. Auf seine alten Tage hatte er einfach keine Zeit für einen Crashkurs an der Sonntagsschule. Also blieb ihm nichts anderes übrig, folgerte er, als sich damit zu begnügen, ihr von dort aus zu helfen, wo er war, und mit dem, was er wusste. Und was er wusste - zumindest der Teil seines Wissens, der Lauren von Nutzen sein konnte -, war Irreführung und Täuschung. »Man benutzt, was man hat«, dachte er laut. 10 Die Wildnis des südlichen Oria Baanraak lag bequem vor dem Eingang seiner Höhle und genoss die Wärme der Sonne auf seiner Haut und die Röte, die durch seine geschlossenen Augenlider drang. Als Rr'garn näher kam, zog er es vor, nicht aufzuwachen. Er hatte das Nahen des jüngeren Rrön gespürt, lange bevor dieser am Himmel zu sehen war. Rr'garn besaß weder Raffinesse noch Anmut; er ritt die Welt, als sei sie sein Eigentum, aber mehr noch, er ritt sie, als wolle er sie wissen lassen, dass sie sein war. Baanraak hatte zu einem frühen Zeitpunkt seiner Laufbahn als Meister der Nachtwache gelernt, wie wichtig Zurückhaltung für das eigene Überleben war, und er war bisher der einzige Meister, der sich erfolgreich aus dem Amt zurückgezogen hatte, statt durch die extreme Maßnahme ewiger Vernichtung daraus entfernt zu werden. Jetzt ging es ihm durch den Kopf, dass Rr'garn kaum eine Chance hatte, jemals auch nur Meister der Nachtwache zu werden -eine Position, die er lautstark begehrte -, bevor seine Untergebenen seiner müde wurden und ihn auslöschten. Was waren das für laute und chaotische Gedanken - vielleicht, überlegte Baanraak, sollte ich der Nachtwache die Mühe sparen und die Sache für sie erledigen. Baanraak öffnete die Augen, als er donnerndes Flügelschlagen über sich hörte; eine weitere alberne und affektierte Angewohnheit. Er konnte landen, ohne dass Blätter oder Gräser sich regten oder auch nur Staub aufwirbelte, 195 wenn er vorsichtig war. Er störte den Geist nicht mit seinen Gedanken, er störte die Welt nicht mit seiner Anwesenheit. Natürlich aalte er sich heutzutage meist einfach nur in der Sonne - er war des Spieles schon vor langer Zeit müde geworden. Und jetzt wollte dieser törichte Nichtsnutz ihn wieder in das Spiel hineinziehen. Endlich hob Baanraak den Kopf von seinem gemütlichen Ruheplatz auf seinem Rumpf, gerade als Rr'garn landete und angewidert die Aussicht betrachtete. Rr'garn hatte sich in geziemend respektvoller Entfernung auf dem Boden niedergelassen, aber schließlich wollte er etwas von Baanraak. Dieser konnte in dem lärmenden Inhalt von Rr'garns Gehirn keinen wirklichen Respekt entdecken. »Ich habe kein Interesse«, sagte Baanraak. »Du hast deine Reise umsonst gemacht.« »Aber du hast mich bisher nicht einmal angehört«, wandte Rr'garn ein. »Ich habe dich angehört, lange bevor du hier angekommen bist. Du möchtest, dass ich eine Vodi für dich eliminiere und vielleicht auch ihre Jägerin, obwohl dir zur Erfüllung des Vertrags auch die Vodi allein reichen würde, falls es mit der Jägerin nicht so einfach sein sollte. Du bietest mir eine schöne, große Masse reinsten Goldes an, unverdorben durch Magie und jederzeit zu meiner Verfügung bereit, und dazu ein gleichermaßen hübsches Häufchen Silber - und es steckt kein Betrug hinter diesem Angebot; du hast sowohl das Gold als auch das Silber und die Absicht, dich davon zu trennen, sollte ich Erfolg haben. Das ist auch der Grund dafür, warum du noch lebst und nicht mit aufgerissener Kehle dort im Gras liegst.« Rr'garns Zierschuppen sanken ein, und er duckte sich wie ein getadeltes Küken. Eine Sekunde lang glitten sämtliche 196 Membranen über seine Augen, bevor er die Fassung wiedergewann und sich die Schuppen wieder aus ihren Furchen aufrichteten, wie es dem Bild eines stolzen Rrön entsprach. »Wer hat dir diese Nachricht überbracht, bevor ich es tun konnte?« »Deine lärmigen Gedanken, Junge. Geradeso, wie du jetzt denkst, dass du den Verräter töten solltest, der vor dir zu mir gekommen ist und deine Mission vereitelt hat.« Diesmal brachte Rr'garn es fertig, seine Zierschuppen gesträubt zu lassen, aber die Membranen über seinen Augen verrieten ihn mit einem kurzen Zucken, bevor er seine Gedanken ordnen konnte. »Was für eine Art von Magie ist das, Baanraak, dass du mir die Gedanken aus dem Kopf ziehen kannst?« »Keine Magie. Nur Selbstbeherrschung, Rr'garn. Du hast dir nie die Mühe gemacht, dein eigenes Schweigen zu finden, und es stattdessen vorgezogen, deine Gedanken geheim zu halten, indem du dich in einem Rudel deinesgleichen versteckt hast, von denen keiner jemals auch nur für eine Minute still geworden wäre. Wenn du sehr still wirst und deine eigenen Gedanken verlangsamst, bis sie mit der Geschwindigkeit eines Wurms kriechen, der sich durch die Erde bohrt, oder noch langsamer gar, mit der Geschwindigkeit, mit der ein Baum wächst, dann werden die Gedanken anderer, die weder so still noch so langsam sind, zu runden, leuchtenden Blasen, die du nach Belieben aus der Luft pflücken kannst.« »Ich habe zu viel zu denken, um mich in einen Wurm oder einen Baum zu verwandeln, Baanraak. Ich nehme
noch immer aktiven Anteil an der Welt.« Baanraak blinzelte langsam und lächelte ein schläfriges Lächeln. »Und doch habe ich, während du auf der Suche nach mir mein Territorium überflogen hast, alles erfahren, 197 was du gegenwärtig weißt und was dir Sorge bereitet. Soll ich die Feinde auflisten, die danach trachten, deinen Aufstieg zum Meister zu vereiteln? Soll ich auflisten, welche Akte des Verrats du gegen die Keth unternommen hast? Soll ich dir den Namen des Weibchens nennen, das du einem Gefährten zu stehlen beabsichtigst, der dich als Verbündeten betrachtet, oder die Mittel und Wege, mit denen du deinen Plan durchzuführen gedenkst? Während du mir deine Geheimnisse entgegengeschrien hast, habe ich hier gelegen, wo jeder mich sehen kann, und beobachtet, wie du dich abgestrampelt hast.« Baanraaks Lächeln wurde breiter. »Und doch bist du zu beschäftigt, um Schweigen oder Stille zu suchen.« Darauf wusste Rr'garn keine Antwort. Baanraak sagte: »Jetzt hasst du mich und wünschst meine Vernichtung - und dennoch, deine Angst lässt dich hier ausharren. Und wie überaus merkwürdig. Du glaubst, dies sei nicht eine Vodi, sondern die Vodi.« Er streckte seine Flügel und erhob sich. Er war größer als Rr'garn, und neben seinem schillernden Schwarz wirkten Rr'garns hellgraue und gelbe Schuppen matt und kraftlos. »Die Vodi? Wirklich? Was bringt dich auf diesen Gedanken? Sie ist wie all die anderen.« »Nicht ganz.« Rr'garn sprach, obwohl er zaghaft wirkte. Mit Recht - Baanraak konnte die meisten seiner Gedanken mühelos lesen. Der kleine Feigling hatte es geschafft, den Grund der Angst, die seinen Geist in Aufruhr brachte, so tief in sich verborgen zu halten, dass Baanraak eine gewisse Überraschung eingestehen musste. Die Vodi. Er hatte geglaubt, dieser kleine Mythos sei während seiner Amtszeit als Meister ausgestorben. Rr'garn fuhr fort: »Sie ist stark. Sie war schon stark, bevor sie ins Dunkel ging - und sie trägt ein Mal, das keine der anderen vor ihr hatte.« 198 »Ein Mal?« Entgegen seinen ursprünglichen Absichten flackerte in Baanraak ein Funke von Interesse auf. »In ihrer Heimatwelt war sie eine Todesseherin. Aber mehr als das, sie war eine Kriegerin. Sie ist nicht als zartes Kind hierher gekommen, und sie hat eine Hand voll ihrer Entführer beinahe umgebracht, als sie sie von dort nach hier schafften. Sie hat jetzt das Gebaren einer Kriegerin.« Während Baanraak nachdachte, begann seine Schwanzspitze zu zucken. Nach einem uralten Mythos sollte eines Tages eine Vodi erscheinen, die nicht nach Frieden trachtete, sondern nach Krieg, die kein Pardon kennen, sondern gegen die dunklen Götter in die Schlacht ziehen und sie schließlich besiegen würde, um die Dunkelheit zu zerstreuen, die die alten Götter aufgebaut hatten. Der Geschichte zufolge würde diese Vodi an der gesamten Weltenkette entlangwandern, und wo immer sie den Fuß hinsetzte, würde Leben erwachen. Leben aus dem Tod denn im Herzen war sie ebenso ein seelenloses, totes Ding wie all die dunklen Götter, gegen die sie ihren Speer richtete. So lautete der Mythos, und zu Baanraaks Zeiten hatten sie darüber gespottet, denn die damalige Vodi war ein zerbrechliches, kleines Butterblümchen gewesen, genauso wie die, die ihr vorangegangen waren. Sie hatte verhandelt, sie hatte beschwichtigt, sie hatte hier einen Kompromiss geschlossen und dort ein Zugeständnis gemacht, bis ihre Veyär nur noch auf ein paar Fetzchen des Landes saßen, auf dem zur Zeit der ersten Vodi eine gesunde und viel versprechende junge Zivilisation gesprossen war. »Eine Kriegerin«, sagte er. »Man stelle sich vor.« Dann schüttelte er den Kopf und lachte. »Aber du würdest wohl jeden für einen Krieger halten, der bei deinem Anblick nicht in schrilles Kreischen ausbricht.« »Keineswegs. Mein Spion hat mir einiges erzählt. Er wag199 te sich nicht in ihre Nähe; er lebte in der Furcht, dass sie ihn bemerken könne, denn sie habe, so erklärte er, die Augen eines Habichts und bewege sich völlig geräuschlos.« Baanraak hatte nicht die Absicht, diesen ehrgeizigen Grünschnabel wissen zu lassen, dass sein Bericht ihn faszinierte. Daher gähnte er gekonnt und legte sich wieder nieder. »Und doch ist dir ein Bote nachgejagt, um dir zu melden, dass dein Spion am Ende doch seinen Mut zusammengenommen und es mit der Vodi und ihrer Jägerin aufgenommen hat. Und jetzt ist er nur noch ein Häufchen Staub.« Baanraak kicherte. »Du brauchst einen besseren Spion. Oder zumindest einen, der nicht gar so tot ist.« »Er hat mir beschafft, was ich wissen musste, und sein Ruf war untadelig. Die Veyär haben ihm vertraut und ihn gemocht. Wenn er nicht besonders mutig war, was gibt es daran auszusetzen? Ich brauchte seine Augen und seine Ohren und seinen Takt, nicht sein Schwert. Mut wird als Eigenschaft bei Spionen meist überschätzt. Und in seinem Fall war es Verschwendung.« »Rede dir das ruhig ein.« Baanraak lachte leise auf. »Und jetzt kommst du mit deinem dahingeschlachteten Spion und deinen lärmigen Gedanken zu mir, um mich zu bitten, eine Vodi für dich zu vernichten.« »Ja.« »Du glaubst nicht, dass es genügen würde, sie ein paar Mal zu töten, damit sie vor lauter Angst freiwillig das Nichts wählt, hm?« Er schloss die Augen, obwohl er Rr'garn mit seinem Geist und seinen anderen Sinnen genau beobachtete. Er wusste, dass er perfekt den alten, gelangweilten Rrön spielte, den die Wärme der Sonne und die süßen Winde in seiner Nase träge machten, aber er hätte nicht konzentrierter sein können, und jede Faser seines
Leibes war sprungbereit. 200 Rr'garn beobachtete ihn, und sein aufgewühlter Geist schwemmte all den Müll seiner Gedanken nach oben. So laut und so voller Angst. Baanraak wartete. Auch Rr'garn wartete - und zwar überraschend lange. Aus irgendeinem Grund, auf den er nicht recht die Kralle zu legen vermochte, gefiel Baanraak das. Endlich sagte Rr'garn: »Du nimmst doch immer noch an dem Festmahl teil, das der Untergang einer Welt uns bereitet, nicht wahr? Du hast die Gewohnheit nicht aufgegeben, den Tod zu trinken?« Baanraak unterdrückte ein Lächeln. »Ich nehme immer noch teil an den Festmahlen.« »Diese Vodi könnte den Festen ein Ende bereiten und damit uns.« »Der Nachtwache stehen die Krieger der oberen Welten zur Verfügung - die besten, stärksten und klügsten, allesamt Unsterbliche.« »Und doch ist keiner von ihnen wie du«, sagte Rr'garn. »Wir wollen aus dieser Angelegenheit kein Abenteuer machen, Baanraak. Wir wollen lediglich eine schnelle Lösung und einen Erfolg. Dein Ruhm gründet sich nicht auf einen Hang zum Dramatischen - man schätzt dich, weil du die Dinge prompt und ordentlich erledigst.« Baanraak tat nicht länger so, als schlafe er. Er hob den Kopf, schüttelte die Falten um sein Gesicht zu voller Pracht und grinste. »Das wäre ein Nachruf, gegen den ich nichts einzuwenden hätte.« »Wirst du es tun? Der Lohn für einen Erfolg wird wahrhaft reich sein.« Baanraak legte den Kopf schräg und dachte nach. »Ich glaube, ich werde es tun. Aber nicht wegen des Goldes oder des Silbers.« Rr'garns Zierschuppen standen so aufrecht wie die 201 Schnurrhaare einer Katze - eine offene Zurschaustellung von Erschrecken. In einem Pokerspiel, vermutete Baanraak, würde er den armen, ungeschickten Narren in zwölf von zwölf Runden bloßstellen, selbst wenn er Rr'garns Gedanken nicht lesen könnte. »Versteh mich nicht falsch. Gut möglich, dass ich beschließe, die Bezahlung anzunehmen. Aber ich tue es nicht deswegen. Ich möchte mir diese Vodi ansehen, die so anders ist. Falls sie wirklich die Vodi sein sollte, werde ich sie dir vom Hals schaffen. Wenn sie es nicht ist, werde ich meiner Wege gehen und es deinen Leuten überlassen, sie loszuwerden - und werde den nächsten von euch, der mein Schläfchen stört, fressen.« Rr'garn nickte wortlos. »Du lässt sie überwachen?« »Oh ja.« Rr'garn blickte selbstzufrieden drein. »Ich habe eine Truppe eigens dafür abgestellt, ständig über dem Kupferhaus zu kreisen. Sie ist im Haus; sie hatte keine Gelegenheit, es zu verlassen.« Baanraak hätte die Augen verdreht, wäre er im Gegensatz zu Rr'garn nicht imstande gewesen, seine Reaktionen unter Kontrolle zu halten. »Sie kreisen - soll heißen, sie ziehen ihre Kreise über dem Kupferhaus.« »Ja. Außerhalb der Schussweite ihrer besten Waffen. Bisher hat keiner von uns auch nur einen Kratzer abbekommen.« »Wie viele?« »Wie - oh. Turnusmäßig wechselnde Schichten von jeweils zwölf Leuten. Eine Mischung aus Bewachung und Bedrohung.« »Raffiniert«, sagte Baanraak, obwohl es alles andere war als das. »Passt allerdings nicht zu dem, was ich vorhabe. Ich werde mir einen günstig gelegenen Wachposten außerhalb 202 der Sicht- und Schussweite der Veyär suchen. Sobald ich mich dort festgesetzt habe, gebe ich dir ein Zeichen, und all deine Leute werden abziehen.« »Und dann wirst du dich hineinstehlen und sie vernichten.« »Und dann werde ich wahrscheinlich eine Weile warten, um ein Gefühl für die Dinge zu bekommen. Du scheinst schrecklich ungeduldig zu sein.« »Wir haben auf der Erde ein paar Ereignisse eingefädelt, die die Sache für uns in nur einem Monat beenden werden. Ich möchte, dass die Vodi beseitigt ist, bevor wir dort den letzten Krieg auslösen.« Diese Nachricht traf Baanraak vollkommen überraschend. »Den letzten Krieg? Die Erde hat bisher nicht einmal die maximale Bevölkerungsdichte erreicht. Sie ist frühestens in zehn Jahren schlachtreif.« »Viele von uns haben Hunger.« »Wir haben früher zehntausend Jahre zwischen zwei Welten gewartet«, erwiderte Baanraak. »Jetzt sind es nicht einmal mehr fünfzig, oder?« »Diese Welt reift sehr langsam.« Rr'garn warf einen angewiderten Blick auf die knospenden Wälder um den Felsvorsprung herum, der Baanraaks Höhle markierte. »Es müsste riesige Fabriken hier geben, machtvolle Kriegsmaschinen und Massentransportmittel, zumindest in den ersten Anfängen. Stattdessen herrscht allenthalben Stillstand, und nichts weist auf irgendwelche Fortschritte hin. Es könnte noch tausend Jahre dauern, bevor wir Oria ernten werden. Und das haben wir den Veyär und ihren rückschrittlichen Methoden zu verdanken.« Sie hatten es einer schlechten Führung zu verdanken, dachte Baanraak, sprach den Gedanken aber nicht aus. Warum Wellen schlagen wegen unwichtiger Dinge? Plötzlich
203 lag eine interessante Aufgabe vor ihm, und er konnte sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal irgendetwas sein Interesse geweckt hätte. Also zuckte er nur die Achseln und sagte: »Nun, wenn die Erde kurz vor ihrem Ende steht, wäre ich einem Imbiss nicht abgeneigt. Aber ich werde die Angelegenheit mit dieser Vodi nicht überstürzen. Wenn du willst, dass ich es erledige, dann mache ich es auf meine Weise.« »Glaubst du, du könntest es schnell erledigen?« »Ich werde die Angelegenheit richtig erledigen. Wenn die richtige Methode eine schnelle ist, dann wird es schnell gehen. Aber wenn Geschwindigkeit deine erste Priorität ist, dann schlage ich vor, du überträgst die Aufgabe jemandem, der es eilig hat.« Rr'garn seufzte verbittert und sagte: »Ich habe nicht die weite Reise auf mich genommen, um jetzt zu beschließen, dass ein anderer genauso gut wäre wie du. Ich will dich, weil du der Beste bist, den es gibt.« »Dann wirst du meine Bedingungen erfüllen?« »Selbstverständlich. Wir verschwinden, und du stellst fest, ob sie die Vodi ist oder nicht. Wenn sie es ist, schaffst du sie uns vom Hals, und wir bezahlen dich.« »Ich schaffe sie euch vom Hals, aber mit einer Methode meiner Wahl.« »Amüsier dich«, sagte Rr'garn, und Baanraak nahm eine leise Neugier in seinen Gedanken wahr. Er hätte gern gewusst, welche Methode Baanraak wählen würde, um die Vodi zu vernichten, aber der Jüngere unterdrückte diese Regung schnell. »Dann lass mich jetzt allein. Ich muss hier einige Dinge erledigen, und wenn ich damit fertig bin, werde ich nachkommen.« Er lächelte leise angesichts der offenkundigen Ungeduld, die Rr'garn zu verbergen suchte. »Geh. Ich 204 möchte etwas in einem alten Manuskript nachschlagen - es könnte wichtig sein. Es wird so lange brauchen, wie es braucht... genauso wie ich.« Rr'garn nickte. »Ich werde nach dir Ausschau halten.« Baanraak entgegnete: »Spar dir die Mühe. Du würdest mich nicht sehen. Ich werde dich finden.« Als Rr'garn seinen hageren Leib in den Himmel schwang und die Luft mit seinen Flügeln umspannte, verströmte er aus allen Poren Zorn und gekränkten Stolz. Bei näherem Nachdenken, befand Baanraak, konnte der Dummkopf von Glück reden, wenn er das Jahr überlebte. Kupferhaus In einem dunkelgrünen Raum, fern der Ohren eines jeden, der vielleicht lauschen mochte, ging der alte Gott Quawar unruhig auf und ab. »Deine Schwester hat die Weltenkette des Universums wegen eines nutzlosen und vergeblichen Unternehmens im Stich gelassen. Sie hat ihr Leben gegen den Tod eingetauscht, so gewiss, als hätte sie sich vor unseren Augen getötet. Was sie genau genommen ja auch getan hat. Und du wusstest, was sie vorhatte, und hast sie gehen lassen. Mehr noch, du hast sogar jene bedroht, die sie aufhalten wollten. Und glaubst du, dass wir einen Ersatz für sie werden finden können? Wahrhaftig, wie viele Torweber gibt es deiner Meinung nach, die ein Tor zum Tod erschaffen können?« Quawars Schritte hallten unangenehm auf dem steinernen Fußboden wider. Molly fand, dass sie sich jetzt lange genug mit Vorwürfen und Beschimpfungen hatte überhäufen lassen. »Erstaunlich, dass ich nicht länger ein Dekorationsstück für das Universum bin. Möchtest du das übernehmen?«, fragte sie. 205 »Hier - nimm diese verdammte Vodi-Kette und mach dich zum Ziel für alles Böse, das atmet und sich bewegt, gib deine Seele her und dann geh da raus und rette die Welt.« Sie griff nach der Schließe der Kette, als wolle sie sie abnehmen; sie hatte nicht die Absicht, das zu tun, hoffte aber, ihren Standpunkt auf diese Weise klar zu machen. Die Reaktion, die sie bekam, hatte sie nicht erwartet. »Nein!«, schrie Seolar im gleichen Augenblick, in dem der alte Gott - überraschend schnell - auf sie zusprang und ihre Arme festhielt. So klein und zierlich Quawars Hände waren, so verblüffend fest war der Griff, mit dem er Mollys Knochen umklammerte. Er sah ihr grimmig in die Augen. »Du wirst diese Kette nicht abnehmen«, erklärte der alte Gott. Er tat ihr weh. Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht beinahe das seine berührte, und sagte: »Rutsch mir den Buckel runter. Wenn du willst, dass ich die Rron auf deinen Arsch hetze, dann mach nur weiter so. Ansonsten rate ich dir, deine Pfoten wegzunehmen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, rammte sie ihm ein Knie kräftig zwischen die Beine, was ihr ein befriedigendes »Uff« von ihm eintrug. Quawar ließ sie los, und Molly rieb ihre Handgelenke. Der alte Gott sagte: »Ich ... entschuldige mich. Ich hatte befürchtet, du würdest ... äh, dir Schaden zufügen, indem du die Kette abnimmst, und das wollte ich nicht.« »Wie rücksichtsvoll von dir.« Molly stellte fest, dass sie blaue Flecken an beiden Handgelenken davontragen würde, wenn sie sie nicht heilte. Nun gut, wenn sie tatsächlich blaue Flecken bekam, würde sie nichts dagegen
unternehmen. Sollte der Bastard doch sehen, was er angerichtet hatte, und sollten auch alle anderen es sehen. »Ich bin ja so froh, dass du dich um mich sorgst, da ich nichts mehr tun kann, das dir und deiner Sache helfen würde.« 206 »Du kannst nicht genug tun«, entgegnete der alte Gott. »Aber du kannst mehr als gar nichts tun - solange du die Vodi bist. Solange du lebst und auf unserer Seite stehst.« »Lass uns ehrlich miteinander sein, ja? Du bist nicht aus Sorge um mich hier. Du willst etwas, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich die einzige Person auf der Welt oder vielleicht im Universum bin, die dir geben kann, was du willst. Also. Was kann ich für dich tun, Quawar?«, fragte Molly mit kalter Stimme. »Und was kannst du für mich tun?« »Ehrlichkeit...« Der alte Gott legte den Kopf in den Nacken und sah Molly mit schmalen Augen an. »Ja. Lass uns ehrlich miteinander sein, wie unerfreulich das auch sein mag. Was weißt du über die dunklen Götter?« »Dass sie seelenlos sind, wie ich. Dass sie immer wieder zurückkommen, wenn wir sie töten ... wie ich. Dass der größte Teil dessen, was sie einst waren, durch wiederholtes Sterben fortgespült wurde, bis nur noch Leere übrig blieb. Wie es auch mit mir eines Tages geschehen wird. Dass sie böse sind. Und werde auch ich eines Tages böse sein, Quawar? Ist das ein Teil der Wahrheit?« »Ich hoffe nicht.« Dann fügte der alte Gott hinzu: »Du bist nicht wie sie, und du brauchst nicht wie sie zu sein. Keine deiner Vorgängerinnen ist dem Bösen, dem die dunklen Götter huldigen, erlegen. Sie sind nicht einfach nur deshalb böse, weil sie keine Seelen haben. Sie sind böse, weil sie dem Tod und der Zerstörung huldigen, und zwischen bloßer Seelenlosigkeit und dem aktiven Streben nach dem Bösen klafft ein gewaltiger und tiefer Abgrund. Du bist, wer du zu sein beschließt. Die dunklen Götter sind, was sie sein wollen. Du und sie, ihr braucht nicht dieselben Entscheidungen zu treffen.« »Nein. Aber obwohl dich das zweifellos erschrecken 207 wird, kann ich die Entscheidungen, die sie treffen, durchaus verstehen. Trotz allem durchzuhalten, sich um jeden Preis für sich selbst und das eigene Überleben zu entscheiden ...« Der alte Gott warf einen Seitenblick auf Seolar. »Vielleicht solltest du uns für kurze Zeit allein lassen. Was ich der Vodi zu sagen habe, ist im Grunde nicht für die Ohren eines Sterblichen ...« »Er bleibt«, unterbrach Molly Quawar. »Ich habe nicht den Wunsch, deine Gesellschaft - oder deine Schimpftiraden - ohne einen Zeugen über mich ergehen zu lassen.« Sie sah Seolar an und bedachte ihn mit einem schwachen Lächeln. »Und er ist mein Geliebter und mein Freund.« Der alte Gott schnaubte, ein Laut voller Abscheu. »Sterbliche und Unsterbliche passen nicht gut zusammen. Es gibt keinerlei Aussicht auf ein glückliches Ende.« »Danke, dass du mich darauf hinweist«, sagte Molly mit zornfunkelnden Augen. »Ohne dich hätte ich sicher nicht einmal darüber nachgedacht, wie all das einmal enden wird.« Der Sarkasmus war an Quawar offenkundig nicht verschwendet. Er sah Molly ruhig und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken an und sagte: »Deine Entscheidung. Aber darüber sollte man sich nicht lustig machen.« Molly verschränkte die Arme vor der Brust. Sie mochte Quawar von Sekunde zu Sekunde weniger. Aber dennoch sagte sie: »Ich höre. Sag mir, was du weißt und was so bedeutsam ist, dass es selbst die Bösartigkeit der Rrön in den Schatten stellt.« Quawar sagte: »Welten gehen nicht durch das Tun oder die Untätigkeit jener zugrunde, die sie bewohnen, oder durch die Benutzung von Magie oder die Anwesenheit oder Abwesenheit von alten Göttern, die gute Magie wirken. Es war kein natürlicher Prozess, der die Kette von Welten 208 über uns in verkohlte Asche verwandelt hat, eine jede heimgesucht von den Geistern ihrer Bewohner. Welten sterben, weil die dunklen Götter sie töten. Sie füttern die Welten, die sie sich als Beute erkoren haben, mit Informationen. Diese Informationen ermöglichen es den Welten, an ihrer eigenen Zerstörung mitzuwirken; die dunklen Götter infiltrieren die Regierungen; sie flüstern in die richtigen Ohren; sie schüren Uneinigkeit und vereiteln Verhandlungen und Kompromisse. Deine Welt zum Beispiel würde sich wohl kaum mit ihren Atomwaffen selbst vernichten. Welten sind riesig und verfügen über genügend natürliche Mittel, um sich zu erholen. Wenn ökologische Systeme dazu nicht imstande wären, würde keine Welt Kometeneinschläge oder auch nur große Vulkanausbrüche überleben. Und die Länder, die am ehesten Atomwaffen einsetzen würden, besitzen nur wenige davon, und diese sind dann relativ klein. Was die Technologie von terminiertem Saatgut betrifft, bin ich mir da nicht so sicher.« Molly unterbrach ihn. »Die was?« »Die Technologie der Terminierung von Saatgut. Ein schwerer Fall von Habgier, der jede Vernunft unterlegen ist. Das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten hat zusammen mit einer Gesellschaft namens Monsanto und mit heimlicher Finanzierung durch die Nachtwache eine Methode entwickelt, um auf genetischem Wege die Neuaussamung von Getreide zu verhindern - das heißt, Saatgut zu produzieren, das eine Ernte hervorbringt, die selbst nicht keimfähig ist. Auf diese Weise sollen die Landwirte daran gehindert werden, patentierte Pflanzensamen selbst nachzuzüchten und im nächsten Jahr statt neu gekauften Saatguts auszusäen. Aber die Nachtwache hatte ihre eigenen Gründe, warum sie die Forschung in diesem Punkt finanziert hat. Das
Mindeste, was sie damit erreichen 209 können, ist eine Zunahme von Hunger und Armut in den Ländern der Dritten Welt, indem sie es den Bauern unmöglich machen, Samen für künftige Ernten zu lagern.« »Das ist ja schrecklich.« »Es kommt noch schlimmer. Es besteht eine Chance, dass das Terminator-Gen seinen Weg in die allgemeine Pflanzenpopulation finden wird, und wenn das geschieht, werden Ernten und vielleicht ganze Spezies von Pflanzen ausgelöscht werden. Für jeden, der hofft, Massenhungersnöte und die Ausbreitung der Wüsten auf einem Planeten zu fördern, ist die Technologie der Terminierung von Saatgut ein echtes Geschenk. Und die Regierung deines Landes hat die Technologie insgeheim abgesegnet, nachdem sie einige Jahre zuvor aufgrund von Protesten die Forschungsarbeiten offiziell eingestellt hatte. Zweifellos wird die Nachtwache diese Technologie in die unteren Welten mitbringen, wenn die Erde nur noch Schutt und Asche ist. Um jedoch alles Leben - und jedwede Chance auf ein Wiederaufflammen von Leben - von einem ganzen Planeten voller reicher, fruchtbarer und mannigfaltiger Ökosysteme auszulöschen, bedarf es einer konzentrierten Anstrengung und jahrhundertelanger Planung und Vorbereitung.« »Welcher Art von Vorbereitung?«, fragte Molly. »Neben all ihren subversiven Aktivitäten üben die dunklen Götter zusätzlich Todesmagie aus. Sie stacheln Kriege an und benutzen das Sterben auf beiden Seiten für Zauber, die der Feindseligkeit zusätzliche Nahrung geben, die nach noch mehr Tod verlangen, nach mehr Technologie und mehr Wahnsinn. Wann immer die Dauer eines Krieges jedes vernünftige Maß übersteigt, wirst du feststellen, dass die Nachtwache sich an dem Krieg labt und ihm gleichzeitig Nahrung verschafft. Ihr Ziel sind gewaltige Opferzahlen und brennender Hass. Und weil sie bereits bestehende Nei210 gungen bestärken, bereits bestehenden Hass schüren, haben sie immer gewonnen. Wenn sie zu guter Letzt ihre besten und größten Zauber weben, kommt das Ende schnell. Und nichts, was all diese jämmerlichen kleinen Gruppen, die sie bekämpfen, tun können, nichts davon kann das Ende aufhalten, wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist.« »Jämmerlich ... du meinst Leute wie Laurens Wächter?« »Leute wie sie. Sie sind nicht die Einzigen, nicht auf deiner Welt, nicht auf dieser oder den Welten unter dieser.« Molly trat vor den Kamin am einen Ende des Raums und starrte in die Flammen. »Also kämpfen die Wächter umsonst?« »Nein. Sie kämpfen nur in zu kleinem Ausmaß und mit den falschen Werkzeugen. Sie ziehen nicht gegen die dunklen Götter in den Kampf - sie versuchen, den Status quo aufrechtzuerhalten. Aber in jedem Spiel, in dem eine Seite auf einen Gewinn aus ist, während die andere um ein Patt spielt, wird die Seite mit den großen Zielen den Sieg erringen. Und die Nachtwache hat immer die Entropie auf ihrer Seite.« »Also haben die dunklen Götter es sich zum Ziel gesetzt, immer nur eine Welt gleichzeitig zu zerstören. Aber das ergibt einfach keinen Sinn. Warum? Warum überhaupt Welten zerstören? Das kommt mir so ... lächerlich vor. Ein absurdes, aufgeblasenes, kindisches Getue, das das Böse um seiner selbst willen sucht.« »Du fragst dich, was die Zerstörung einer Welt den dunklen Göttern einbringt?« »Ja.« »Sie bringt ihnen Unsterblichkeit. Eine Unsterblichkeit des Fleisches, aber trotzdem Unsterblichkeit - und zwar nicht diese von Schuldgefühlen durchlöcherte Leere, die dich jetzt bereits quält und die dich am Ende verschlingen 211 wird. Ich weiß von keinem dunklen Gott, der sich um die Welten grämte, die er und seinesgleichen zerstört haben, um all das Leben, das sie ausgelöscht haben. Sie erlangen Macht - eine Macht, die den Geist verbiegt. Und sie gewinnen ... so viel zumindest habe ich von dem dunklen Gott erfahren, der mich zu rekrutieren versucht hat ... eine mit nichts anderem vergleichbare Euphorie, wenn sie den Tod von Welten und Leben trinken, ein Rausch, der Hunderte von Jahren anhält. Das ist der Grund, warum sie so hart arbeiten, um auf ihren Zielwelten gewaltige Populationen zu züchten. Reife Welten sind stark überbevölkert.« Molly bekam Kopfschmerzen. »Sie ... trinken den Tod von Welten und Leben?« Sie wandte sich von dem tröstlichen Flackern der Flammen ab und runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.« »Sie töten eine Welt nach der anderen, und während die Welt selbst und ihre Bewohner in ihrem Weltenbrand sterben, saugen die alten Götter von der Magie, die der Todeskampf der Welt hervorbringt, so viel ab, wie sie nur in sich aufnehmen können. Und noch hundert Jahre danach - oder mehrere hundert Jahre, je nachdem, wie mächtig sie bereits waren und wie viel von der dunklen Magie sie aufnehmen konnten - verfügen sie über unvorstellbare Kräfte.« Nach einer kurzen Pause fügte Quawar hinzu: »Aber sie sind gierig. Deine Welt ist ein wenig zu früh reif geworden, aber statt sie ruhen zu lassen, bis sie die Energie brauchen, drängen sie den Planeten jetzt schon seiner Vernichtung entgegen. Ihre Leute stehen bereit, ihre letzten Pläne sind beinahe abgeschlossen, und wenn die Erde stirbt, wird es für die dunklen Götter ein Festmahl.« Er seufzte. »Indem sie deine Welt jedoch jetzt schon verzehren, werden sie die nächste nur umso dringender benötigen. Je mehr Kraft sie absorbieren, umso mehr brauchen sie, um ihren neuen
212 Kraftpegel aufrechtzuerhalten. Sie haben bereits damit begonnen, der Technologie hier auf die Sprünge zu helfen und für einen Bevölkerungszuwachs zu sorgen, und überall auf dieser Welt arbeiten Mitglieder der Nachtwache auf die Zerstörung Orias hin. Ich habe das schon früher erlebt, viele Male. Sie sind fast fertig. Wenn ich mich nicht sehr irre, werden sie die Erde zerstören, noch bevor dieses Jahr vorbei ist.« Molly schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Ihr war übel, und sie war immer noch verwirrt. »Eines wüsste ich gern«, sagte sie. »Alte Götter wie du - ihr könntet doch etwas gegen die dunklen Götter unternehmen, oder?« Quawar hob die Hand, als wolle er Mollys Frage abwehren. »Wir haben es gelernt, uns bedeckt zu halten. Wir besitzen einige derselben Fähigkeiten wie die dunklen Götter, wenn auch in geringerem Maße. Wir haben Zugang zu den Kräften des Lebens, so, wie die dunklen Götter Zugang zu den Kräften des Todes haben. Aber wir sterben und sie nicht - und sie haben ihre Kräfte gestärkt, bis sie uns weit überlegen waren.« »Dann lautet die Antwort also Ja. Ihr könntet etwas tun.« Quawar breitete die Hände aus und entgegnete: »Es gibt nicht Milliarden von uns. Die Überlebenden unserer Welten bemessen sich in Hunderten. Hunderten. Wir sind alles, was von ganzen Welten übrig geblieben ist, und wir ... sind ... sterblich. Im Gegensatz zu den dunklen Göttern werden wir nicht zurückkommen, wenn wir sterben, und diese Wahnsinnigen wären überglücklich, wenn sie uns töten könnten. Wir haben die Wahl, weiterzuziehen, die meisten von uns jedenfalls, so dass wir nach ein paar hundert Jahren oder tausend Jahren auf einer Welt an der Weltenkette hinabsteigen können, bevor die Lage sich allzu sehr zuspitzt.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Du funkelst 213 mich wütend an, aber du bist nicht in meiner Lage. In unserer Lage. Ich besitze noch eine Seele. Ich besitze ein echtes Leben. Ich habe etwas zu verlieren in alledem - viel mehr als du, Vodi. Du bist das, was übrig geblieben ist, nachdem der wichtigere Teil deiner selbst weitergezogen ist.« Molly starrte ihn ungläubig an. »So etwas sagst du und glaubst, ich würde dir trotzdem helfen?« »Du möchtest, dass ich dir Honig ums Maul schmiere und dich belüge? Du hast mir gerade erklärt, du wollest die Wahrheit. Also, wie hättest du es nun gern? Ich werde dir nicht sagen, was du hören willst, obwohl es viele gibt, die genau das tun würden. Du bist nicht das, was die dunklen Götter sind, und du brauchst es nicht zu sein. Außerdem bist du nicht allein. Und du hast nichts zu verlieren, was von Wert wäre.« Molly sah erst Seolar an, dann wieder den alten Gott. »Einen Moment mal. Ich habe alles zu verlieren. Ich laufe Gefahr, das zu verlieren, was ich bin - alles, was ich liebe, alles, was für mich zählt, jeden Funken Barmherzigkeit, der in mir ist. Und wenn ich es am Ende nicht länger ertragen kann und die Kette abnehme und mich für den Tod entscheide, dann werde ich mich in Staub verwandeln. Nichts von dem, was ich bin, wird weiterziehen. Also bin ich von uns beiden diejenige, die mehr zu verlieren hat.« »Ich habe erwartet, dass du das sagen würdest. Aber ...« Quawar lehnte sich mit der Haltung eines Mannes, der seiner Sache absolut sicher ist, an die Wand. »... der Teil von dir, der wirklich du warst, ist lange fort. Dieses physische Konstrukt« - er deutete lässig mit der Hand auf Molly - »ist ein belebtes Werkzeug, keine reale Person. Durch das Zusammenspiel der verzauberten Kette - deren Schöpfung auf den Einsatz machtvollster Chaosmagie zurückgeht -und des widerstandsfähigen Körpers, der nur wenig Ener214 gie benötigt, gibt dieses Konstrukt ein ganz hervorragendes Werkzeug ab. Aber dieses Konstrukt ist kein Du. Es ist ein Es. Ich spreche dich als du an, aber du wirst den Unterschied gewiss verstehen. Du bist dazu geschaffen worden, einen Job zu erledigen.« »Ich komme mir ganz real vor«, sagte Molly. »Mein Leben, so wie es ist, bedeutet mir eine Menge.« »Das ist ein misslicher Aspekt des Vodi-Zaubers, an dem bisher niemand etwas ändern konnte. Im Laufe viel zu vieler Inkarnationen bleibt noch zu viel von der ursprünglichen Persönlichkeit haften.« »Zum Teufel mit dir«, stieß Molly, die das Ganze nicht länger ertragen konnte, hervor. »Für dich hat mein Leben keinen Wert. Für mich schon. Also zum Teufel mit dir, hörst du?« Sie drehte sich zu Seolar um. »Ich will hier raus. Ich will dieses Ding da nie wieder sehen.« Seolar zuckte zusammen, und Molly wurde bewusst, dass sie ihn mit ihrem Verhalten zwang, zwischen ihr und einem alten Gott zu vermitteln. Keine gute Idee. Also fügte sie hinzu: »Ich gehe. Begleite mich bitte - wir müssen reden.« In Seolars Augen schimmerte Erleichterung. In Quawars Augen Erheiterung. »Er liebt dich, glaubst du ... tut er es wirklich? Bedenke dies: Wenn er dich wirklich liebte - dich -, hätte er dir niemals die Kette der Vodi gegeben, denn jede Frau, die sie trägt, wird damit automatisch zur schlimmsten Feindin der dunklen Götter, und jede dieser Frauen wird für den Rest ihrer Existenz eine Zielscheibe sein. Als er dir diese Kette gab, hat er dich zum sicheren Tod verurteilt, und das nicht nur einmal, sondern viele Male, immer wieder. Und er wusste es, als er es tat. Denke auch daran, wenn du über diesen erbärmlichen Sterblichen nachdenkst, den du angeblich liebst. Denk daran, ja? Es 215 gibt Leute, die in den kommenden Schlachten auf deiner Seite stehen werden, und Leute, die an dich glauben, und vielleicht sogar Leute, die deine Freunde sind. Aber es sind nicht zwangsläufig jene, die du für deine
Freunde hältst.« Quawar blickte von Molly zu Seolar, der starr vor Entsetzen dastand, und fügte kummervoll hinzu: »Wie schmeckt dir diese Wahrheit?« 11 Der Himmel oder vielleicht die Hölle Lauren wandte sich, die Bazooka an ihrer Schulter, kampflustig der schwarz gekleideten Gestalt zu und entblößte mit einem boshaften Lächeln die Zähne. »Hol Jake her, oder ich drücke ab.« »Und was glaubst du, wird dann geschehen, du dummes Mädchen? Du bist die Einzige hier, die sterben kann. Wir anderen sind Unsterbliche, ohne körperliche Gestalt oder...« Lauren drückte ein wenig fester auf den Abzug. »Ich verliere langsam die Geduld.« Die Bazooka verschwand, der schwarz gewandete Mann verschwand, und Lauren hörte dieselbe Stimme in ihrem Ohr sagen: »Nun, ich nicht.« Wieder stand sie allein auf der weiten Ebene, und die Straße zu beiden Seiten von ihr war genauso form- und gestaltlos wie alles andere hier. Grau. Trostloses, ödes Grau. Einen Ort wie diesen könnte es im Himmel nicht geben, befand Lauren, daher konnte dies also nicht der Himmel sein. Es gab vielleicht einen Himmel, voller Engel und Harfen und Hosiannas, aber das hier war er nicht. Da dieser Ort auch keinerlei Bewohner hatte, konnte er auch nicht einmal ein echter Bestandteil des Jenseits sein. Langsam drehte sie sich um und kämpfte ihre furchtbare Angst um Jake nieder, nur um denken zu können. Sie hätte ihre Begegnung mit dem ... was? ... dem Verwalter? ... besser meistern können. Sie hätte sich nicht vom Zorn lei217 ten lassen und auch nicht mit Gewalt reagieren dürfen. Als sie jedoch noch einmal darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass eigentlich beabsichtigt gewesen war, sie zu erschrecken. Der Verwalter sollte Furcht einflößend sein, aber Bürokraten hatten sie schon immer wütend gemacht, statt sie zu verängstigen. Trotzdem hatte sie ... nun, sie musste sich den Tatsachen stellen. Sie hatte falsch gehandelt. Lauren schätzte es gar nicht, etwas falsch zu machen; ebenso wenig verstand sie sich darauf, Fehler einzugestehen. Jetzt sah sie sich möglicherweise mit dem größten Fehler konfrontiert, den sie je gemacht hatte. Sie besaß eindeutig ein Zuviel an Temperament. Im Allgemeinen wusste sie es unter Kontrolle zu halten. Dies war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, die Beherrschung zu verlieren. Die Straße endete nicht mehr zu ihren Füßen. Jetzt führte sie in zwei Richtungen, obwohl es - natürlich - kein Schild gab, das ihr gesagt hätte, welche Richtung die richtige war. Sie hatte das Gefühl, dass die Straße sie für alle Zeit immer weiter und weiter führen würde, wenn sie ihr in der einen oder anderen Richtung folgte. Mit einer Straße ließ sich ihr Rätsel also nicht lösen. Ebenso wenig mit ihrem Temperament und einer Bazooka obwohl sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, sich eine Bazooka gewünscht oder auch nur an eine gedacht zu haben. Die Straße war nicht die Lösung, aber das Auf- und Abgehen half Lauren beim Denken. Nachdem sie also zu dem Schluss gekommen war, dass es keine Rolle spielte, ob sie sich nach vorn bewegte oder zurück, entschied sie sich wahllos für eine Richtung und ging los. Als sie noch im Kupferhaus in Oria gewesen war, war ihr dieses Abenteuer durchaus machbar erschienen. Sie 218 brauchte nur ein Tor zu erschaffen, Jake zu folgen und ihn zurückzuholen. Brian holen, Molly holen und nach Hause gehen. Das war zwar nicht die »normale« Art, wie man die Dinge handhabte, aber sie wollte es auf diese Weise tun und sah keinen Grund dafür, warum es ihr nicht möglich sein sollte. Aber die Verwaltung hatte sie nicht auf ihrer Rechnung gehabt. Hätte sie aber besser. Der Mythos von Orpheus und Eurydike ließ sie nicht los, sondern quälte sie immer wieder mit Fingerzeigen, wie sie sich hätte benehmen sollen. Genauso wie Lauren war Orpheus ins Jenseits hinübergestürzt, um jemanden zu retten. Nun gut, er war ein Halbgott gewesen und hatte eine magische Harfe und eine Stimme gehabt, die mit ihrem Gesang Vögel aus den Bäumen locken konnte, aber er musste trotzdem ins Jenseits gehen. Am Ende hatte er mit Charon den Styx überquert und war zu Pluto und Persephone gegangen, wo er sein Anliegen mit einem Lied vorgetragen hatte. Angenommen, Orpheus war tatsächlich ein Torweber gewesen. Die Glaubensvorstellungen seinerzeit hätten ihn auf die Idee bringen können, diesen Ort hier als die griechische Unterwelt anzusehen. Wenn er erwartet hätte, Charon und den Styx zu sehen, Zerberus, der die Tore bewachte, und Geister, die angesichts seines traurigen Klageliedes in Weinen ausbrachen, dann wäre dieser Ort genau das Richtige für ihn gewesen. Nachdem sie nun alten Göttern begegnet war, nachdem sie Magie erlebt und zumindest einen kleinen Einblick in die Quelle beider bekommen hatte, neigte Lauren dazu, nach Wahrheit zu schürfen, wo immer sie sie finden konnte. Orpheus' Reise hatte womöglich mehr mit ihrer eigenen zu tun, als sie es sich zuerst hatte vorstellen können. In welchem Falle der Verwalter Pluto wäre, und zwar in einer 219 Verkleidung, die für Lauren einen Sinn ergeben sollte. Gleichzeitig verkörperte er damit auch Anubis und später Osiris und Zalmoxis und andere, deren Namen sie bei ihren dürftigen Kenntnissen der vergleichenden
Religionswissenschaft nicht kannte. An eines jedoch erinnerte sie sich genau, dass die Götter nämlich die Seelen, die sie sich mühelos beschafft hatten, nicht wieder hergaben, und selbst wenn sie sich bereit fanden, jemanden gehen zu lassen, dann passierte stets etwas, das die Seele daran hinderte, fortzugehen. Eurydike hätte es geschafft, nur dass Orpheus sich nach ihr umgedreht hatte. Persephone hatte, obwohl sie lebte, die Granatapfelsamen gegessen und musste deshalb die Hälfte ihrer Zeit in der Unterwelt zubringen. Oh Gott, Jake - du darfst nichts essen, solange du hier bist. Lauren konnte sich kein Versagen gestatten. Sie durfte ihren kleinen Sohn nicht verlieren. Jake brauchte seinen Vater und sie. Und sie würde alles tun, um Brian zurückzubekommen. Und was war mit Molly? Molly würde für die Rettung und die Erneuerung eines Universums kämpfen; gewiss verdiente sie es, eine Seele zu haben, während sie das tat, verdiente es, dass man ihr das Grauen ersparte, sich langsam zu verlieren. Lauren musste den Verwalter wieder finden. Sie musste ihm ihren Fall darlegen - ruhig und gelassen diesmal. Sie musste ihm erklären, warum sie ihren Sohn zurückhaben wollte und warum sie Brian an ihrer Seite brauchte. Außerdem musste sie auch Mollys Seele zurückgewinnen; wie konnte man schließlich von Molly verlangen, alles zu geben, was in ihr war, ohne ihr eine Gegenleistung anzubieten? Was war das für ein Universum, was für eine Art von Gott oder Göttern, dass man etwas Derartiges von ihr verlangen konnte? 220 Aber wie sollte Lauren den Verwalter noch einmal auf sich aufmerksam machen, damit sie überhaupt eine Gelegenheit bekam, ihn für ihre Sache zu gewinnen? Er hatte Geduld, hatte er gesagt. Und offenkundig verlangte er dasselbe von ihr - nur dass sie keine Zeit für Geduld hatte. Sie hatte keine Zeit für irgendetwas anderes, als hierher zu kommen, Jake, Brian und Molly zu holen und wieder zu verschwinden. Sie verfügte über die Mittel und Wege, um für das Leben der Menschen zu kämpfen, die sie liebte; sie brauchte Waffen. Wenn auch keine Bazookas. Sie sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Nichts würde sich verändern, bis sie den Verwalter erreichte. Also musste sie zu ihm. Aber wie? Er sprach direkt in ihre Gedanken hinein, ließ sich aber nicht dazu herab, ihre Fragen zu beantworten. Als sie ihre Umgebung verändert hatte, hatte er darauf reagiert, aber sie glaubte nicht, dass sie ihn sich damit zum Freund gemacht hatte. Allerdings hatte er sie nicht vollkommen aufgegeben; er hatte betont, dass er Geduld habe. Was Laurens Meinung nach bedeuten musste, dass er bereit war, mit ihr zusammenzuarbeiten, wenn sie nur dahinter kam, wie sie ihn erreichen sollte. Er gab ihr jedoch keinen Fingerzeig. Keine großen Neonschilder mit der Aufschrift GEHE DORTHIN oder »Erster Schritt: Mach einen Tunnel. Zweiter Schritt: Bezahl den Burschen am Fluss.« Wahrscheinlich, so vermutete Lauren, würde dieser Ort eher einen Sinn für jemanden ergeben, der eine gewisse Vorstellung davon hatte, was er hier vorfand. In diesem Augenblick wäre ihr ein fester Glaube an irgendeine Religion recht nützlich gewesen. 221 Langsam drehte sie sich um und blickte über das entsetzliche Grau hinweg, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis darauf, dass etwas sich verändert hatte. Nichts. Ihre Füße standen auf der Straße, die sie geschaffen hatte, aber die Straße führte nirgendwohin, und die Zeit verstrich - gut möglich, dass sie zu Hause geradezu raste. Was war, wenn sie bei ihrer Rückkehr feststellte, dass Wochen oder Monate vergangen waren? Oder Jahre? Was, wenn ihre Welt bei ihrer Rückkehr bereits tot war - ein schwarzes Häufchen Asche? »Was willst du von mir? Was soll ich tun?«, murmelte sie. »Rein gar nichts«, erklang die Stimme des Verwalters in ihrem Ohr. »Du willst etwas von mir, nicht umgekehrt.« »Ich weiß, dass ich etwas von dir will. Was muss ich tun, um es zu bekommen?« »Du kannst nicht bekommen, was du willst. Du musst deinen Wunsch ändern.« »Inwiefern muss ich ihn verändern?« »Du musst dir wünschen, nach Hause gehen zu dürfen.« Lauren sah sich um und wünschte sich vor allem, sie hätte den Verwalter in seinen verdammten, wehenden schwarzen Roben sehen können. Sie wünschte sich, sie hätte ihn erwürgen können. »Ich will nach Hause. Ich will Jake, Brian und Molly mitnehmen.« »Konzentrier dich auf deinen Wunsch, nach Hause zu gehen. Vielleicht erlaube ich es dir.« »Es mir erlauben?«, fragte Lauren. »Ich habe einen Sohn hier, der ebenso wenig hierher gehört wie ich. Der Vater meines Sohnes ist hier - er wurde uns allzu früh gestohlen. Die Seele meiner Schwester ist hier - und sie selbst ist drüben auf Oria und kämpft darum, Welten zu retten, und sie braucht mich. Es kommt nicht in Frage, dass ich hier bleibe.« 222 »Oh doch, das tut es.« Lauren spürte, wie sie von neuem der Zorn übermannte, aber diesmal hielt sie ihn in Schach. »Du bist hier der Verwalter. Du kannst mir helfen, wenn du es willst.« »Dein Geist gaukelt dir mich in der Rolle des Verwalters vor. Das ist etwas, was für dich einen Sinn ergibt. Was
ich zu tun vermag, hat jedoch wenig gemein mit deinen Erwartungen, die, wie ich dir versichere, auf ihre Art und Weise genauso engstirnig sind wie die von Orpheus. Ja, es hat ihn wirklich gegeben. Ja, er ist hierher gekommen. Nein, die Geschichte spielte sich nicht ganz so ab, wie die Mythologie es berichtet.« »Könntest du bitte zu mir kommen, um mit mir zu reden?«, fragte Lauren. »Ich habe es langsam satt, mich mit der leeren Luft zu unterhalten.« »Das bezweifle ich nicht. Hast du die Absicht, noch weitere dumme Streiche zu spielen?« »Nein. Den letzten hatte ich auch nicht beabsichtigt - ich habe nicht die leiseste Vorstellung, wie ich an eine Bazooka gekommen bin.« Der Verwalter kicherte. »Oh, die habe ich dir gegeben. Ich wollte mich ein wenig amüsieren.« Eine Sekunde später erschien er vor Lauren, und sofort durchzuckte sie der Gedanke, wie gut es war, dass sie die Bazooka nicht mehr in Händen hielt. Abermals trug er flatternde schwarze Roben, und abermals wogten und wirbelten sie um seinen Körper herum, aufgepeitscht von einem Wind, der Lauren nicht einmal berührte. Eine tiefe Kapuze machte sein Gesicht unkenntlich, und Lauren dachte, dass er mit einer Sichel in der Hand so aussehen würde wie der personifizierte Tod. »Ich spiele ihn manchmal«, erklärte der Verwalter. »Manche Leute rechnen fest damit, ihm irgendwo entlang 223 des Weges zu begegnen. Wir geben uns alle Mühe, entgegenkommend zu sein.« »Du bist nicht im Mindesten entgegenkommend gewesen«, protestierte Lauren. »Du bist nicht tot«, kam die Antwort. Lauren biss die Zähne zusammen. »Ich bitte tausend Mal um Entschuldigung. Mein Sohn ist es übrigens auch nicht.« »Du solltest nicht hierher kommen, wenn du nicht tot bist. Wenn du eine geeignetere Glaubensstruktur hättest, hätte Zerberus dich mit gebleckten Zähnen am Tor empfangen und du hättest den Wink verstanden und wärest nach Hause zurückgekehrt. Du. Gehörst. Nicht. Hierher.« »Ich weiß, dass ich nicht hierher gehöre. Ich möchte nicht hier sein. Aber ich gehe nicht ohne meinen Sohn. Außerdem ist Brian hier, und ich muss ihn wiederhaben. Und meine Schwester ist ebenfalls hier.« »Sie fällt dir erst ganz am Schluss ein, wie?« Lauren errötete. »Nein. Aber kurz bevor ich hierher kam, hat sie mir erzählt, dass sie ihre Seele verloren hat, und mich gebeten, sie zurückzuholen, und mir fällt es ein wenig schwer, mich an diese Vorstellung zu gewöhnen.« »Warte mal. Deine Schwester hat mit dir gesprochen, bevor du hierher gekommen bist?« »Ja.« »Dann brauchst du sie nicht zurückzuholen.« »Ich brauche ihre Seele. Sie hat sie nicht mehr.« Diese Eröffnung schien den Verwalter unvorbereitet zu treffen. »Entweder lebt deine Schwester und hat ihre Seele bei sich, oder aber sie ist tot, und ihre Seele ist hier. Es ist unmöglich, dass eine Person sich an einem Ort befindet, ihre Seele sich aber anderswo aufhält.« 224 »Und doch hält meine Schwester sich auf Oria auf, und ihre Seele ist hier. Stell dir vor.« Der Verwalter neigte den Kopf unter seiner Kapuze, und Lauren hatte das Gefühl, dass er sie durchdringend anstarrte. »Du bist kein besonders angenehmer Mensch«, bemerkte er. »Heute ist nicht mein Tag.« »Denk einen Moment lang an deine Schwester, ja? Beschwör sie vor deinem inneren Auge herauf, erinnere dich an Erlebnisse, die ihr miteinander geteilt habt, Dinge, die ihr zusammen getan habt.« Lauren hatte im Grunde nur eine Erinnerung an Molly vor deren Tod, daher dachte sie an den letzten Kampf zwischen den Wächtern und den Verrätern, daran, wie Molly Jake auf den Arm genommen hatte und zum Tor gelaufen war. Daran, dass sie nicht schnell genug hindurchgegangen war, um sie beide zu retten. Dass sie ihr eigenes Leben hergegeben hatte, um seins zu retten. »Ich habe sie«, erklärte der Verwalter. »Ja, ihre Seele ist hier. Dann ist die Person in Oria, die behauptet, deine Schwester zu sein, jemand anderer.« »Es ist eine lange Geschichte«, sagte Lauren. »Meine Schwester ist gestorben, um meinem Sohn das Leben zu retten ...« »Dem Sohn, der jetzt hier ist?« »Ja.« »Ah. Ja, das hat sie tatsächlich getan. Ich entnehme ihren Unterlagen, dass ihre Seele an jenem Tag einen großen Fortschritt gemacht hat.« »Lass mich aussprechen. Die Kette, die sie bei ihrem Tod trug, hat eine Art von Magie gewoben, die ihren Körper zurückgebracht hat. Sie lebt wieder, in Oria, und sie und ich müssen die Zerstörung unserer Weltenkette verhindern. 225 Sie tut so viel für unsere Welt und alle Welten über unserer, und sie wird jedes Mal, wenn sie stirbt, mehr und mehr von sich selbst verlieren. Es ist nicht recht, dass sie so viel gibt und nichts dafür zurückbekommt - und wenn sie keine Seele hat, wird sie alles verlieren. Ihre Erinnerung, ihre Liebe, ihre Hoffnung, wer sie ist...«
»Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?« »Mir erlauben, ihr ihre Seele zurückzubringen.« »Du willst von mir die Erlaubnis, eine ruhende Seele von hier fortzuholen? Um sie in eine Welt zurückzuschicken, wo man sie in eine Art Lumpenpuppe stecken wird, in einen von Amateuren zusammengestoppelten Körper?« »Hm ... ja.« »So etwas tun wir nicht.« »Ich hatte auch nicht erwartet, dass ihr es gewohnheitsmäßig tut. Ich verlange nicht von dir, etwas zu tun, das du normalerweise nicht tust. Ich verlange von dir, mir meinen Sohn zurückzugeben und ein paar kleine Ausnahmen zu machen.« »Dein Sohn hat mithilfe der Verbindung, die er zu seinem Vater hat, seinen Weg hierher gefunden. In seinem Falle liegt eine gewisse ... Unregelmäßigkeit vor. Sie sind zusammen, und Brians Geist ist jetzt an einem einzigen Ort - wenn auch in zwei Körpern. Bei dir liegt keine derartige Unregelmäßigkeit vor. Soweit es dich betrifft, ist dein Sohn tot. Du jedoch bist noch heil und bewohnst einen lebenden Körper, und du kannst entweder nach Hause gehen oder den Rest deiner sterblichen Existenz hier auf den Ebenen ausharren und warten. Ich glaube nicht, dass dir Letzteres viel Spaß machen würde.« »Ich. Will. Meinen. Sohn.« »Ich kann ihn dir nicht geben. Ich kann dir keinen von ihnen geben.« 226 »Wer kann es dann?« »Du müsstest mit ihnen sprechen.« Lauren starrte ihn an. »Das kann ich?« »Nein. Wenn sie mit dir sprechen wollten, wären sie bereits hier.« »Ich will zu ihnen.« »Alle Seelen sind autonom. Glaubst du etwa, wir betreiben hier ein Gefängnis? Als die Seele, die sich um schwierige Situationen kümmert, kann ich dir jedoch hier und jetzt versichern, dass du glücklicher sein wirst, wenn du nicht mit ihnen sprichst, sondern einfach kehrtmachst und nach Hause gehst. Es steht in meiner Macht, dir einen Weg zu weisen, damit du dich nicht verirrst.« Lauren hielt den weiß glühenden Zorn, der sie zu verschlingen drohte, unter Kontrolle und zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sagen: »Ich will mit ihnen reden.« Der Verwalter nickte bekümmert. »Das wollen sie immer.« Kupferhaus »Ist das wahr?«, fragte Molly. Seolar machte sich nicht die Mühe, um den heißen Brei herumzureden. »Ja. Als ich dir die Kette gab, liebte ich dich noch nicht. Aber -ja. Ich wusste, wozu die Kette fähig ist.« »Warum hast du sie mir nicht wieder abgenommen, nachdem du dich in mich verliebt hattest?« Er wandte sich von ihr ab. »Du hättest es tun können, oder? Hättest es tun können, als wir zu unserem Picknick ausritten, als wir während des Schneesturms auf Grauwind ausharrten, als die Verräter die Wächter auf den Plan riefen, als ich zu meiner Schwes227 ter ging. Du hättest die Kette jederzeit zurückholen können.« »Das hätte ich«, sagte er und sah sie immer noch nicht an. »Doch hätte ich das getan, wäre mein Volk gestorben.« »Dann hieß es also, ich oder sie.« »So einfach ist das nicht. Ich dachte, ich könnte dich beschützen. Ich dachte, du wärest hier im Kupferhaus in Sicherheit und würdest unter dem Schutz von Soldaten stehen, sobald du das Haus verlässt. Ich war davon überzeugt, dass du, zumindest solange ich lebe, in Sicherheit wärest, dass dir nichts zustoßen könnte.« Mollys Zorn war zu gewaltig, um sich mit bloßen Worten Ausdruck zu verschaffen, aber noch immer beherrschte sie sich. »In der Nacht, als ich hierher zurückkam und euch alle schwarz gekleidet vorfand, als das ganze Kupferhaus schwarz verhängt war und du so offensichtlich getrauert hast, da wusstest du bereits, dass ich zurückkommen würde. Du hast nicht darum getrauert, dass du mich nie wieder sehen würdest, sondern nur darum, dass mein eigentliches Ich verloren war.« Jetzt endlich drehte er sich zu ihr um. »Nein«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren. Du bist nicht hier gestorben, nicht auf dieser Welt. Du bist auf deiner eigenen Welt gestorben, und du warst die erste Vodi überhaupt, der so etwas widerfahren ist. Ich hatte allen Grund zu glauben, dass die Kette es dir nicht gestatten würde, dich in deiner Welt wiederzuerschaffen, und ich hatte keinen Grund zu glauben, dass sie dir erlauben würde, wieder hierher zu kommen. Als ich trauerte, war meine Trauer echt.« »Aber du hast nicht um Molly getrauert. Du hast um die Vodi getrauert, die die Veyär vor den Raubzügen der Rrön hätte retten sollen.« 228 Seine Augen wurden schmal, und er versteifte sich. »Ich habe um dich getrauert. Um die Frau, die ich liebte und
von der ich gedacht hatte, ich würde sie mein Leben lang an meiner Seite haben. Ich habe um dich getrauert. Ja, ich habe auch um mein Volk getrauert. Ist das ein Unrecht? Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, Spione auszusenden, die dich suchen sollten, und die ganze Zeit über habe ich gebetet, dass wir die verheißene Vodi würden finden können, bevor es zu spät war. Ich habe gebetet, ich habe den gesamten Reichtum des Kupferhauses auf diese Suche verwandt. Ich habe mir Verbündete zu Feinden gemacht, weil ich mich weigerte, Bataillone zu ihrer Verteidigung zu bewaffnen und auszuschicken; jeden, den ich zur Unterstützung anderer abgestellt hätte, hätte ich von meiner besessenen Suche nach dir abziehen müssen.« Er durchschritt den großen Raum, den sie sich miteinander teilten, trat auf die Bücherregale zu und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. »Die habe ich alle gelesen. Ich wusste, was passieren könnte. Ich dachte, ich sei vorbereitet; ich dachte, ich könnte es verhindern und dass du erst, wenn du in hohem Alter eines natürlichen Todes gestorben wärest, als das zurückkehren würdest, was ... was du jetzt bist.« »Ein seelenloses Ungeheuer. Ein durch Magie belebtes Monstrum. Du hast gedacht, dass du bis zu diesem Zeitpunkt ohnehin alt oder gar tot wärest, wozu also sich aufregen?« Jetzt drehte er sich zu ihr um, und sie konnte Wut in seinem Gesicht lesen. »Du warst beim Militär. Du weißt, was Pflicht ist - dass Pflicht manchmal vor dem Leben kommt, vor Liebe, vor persönlichem Ehrgeiz, vor allem anderen. Ich habe meinem Volk gegenüber eine Pflicht zu erfüllen, und als ich dich fand und dafür sorgte, dass du die Kette be229 kamst und das Amt der Vodi auf dich nahmst, habe ich nur meine Pflicht erfüllt. Hätte ich es nicht getan, hätte ich alles verraten, wofür ich gelebt habe.« »Pflicht«, zischte sie. »Pflicht. Du hast deine Pflicht freiwillig auf dich genommen und sie abgeschüttelt, als du ihrer müde wurdest. Ich wurde in meine Pflicht hineingeboren und werde nicht frei sein von ihr, bis ich sterbe. Wenn ich dieselben Entscheidungen wieder treffen müsste und dabei wüsste, was ich jetzt weiß - wenn ich alles wüsste, was geschehen ist -, würde ich alles genauso machen wie beim ersten Mal. Denn das Leben meines Volkes liegt in meinen Händen, und jede Liebe, die in meinem Herzen sein mag, alle Träume, die ich vielleicht für mich selbst hegen mag, all das steht an zweiter Stelle und wird immer an zweiter Stelle stehen.« Molly lachte - ein erschrockenes, ungläubiges Lachen und erwiderte: »Ich mag die Air Force der USA hinter mir gelassen haben, aber auch ich trage seit meiner Geburt die Last einer Pflicht, und mein Leben hat auch mir niemals selbst gehört. Als ich den Tod Fremder verursachte, habe ich es nicht getan, weil es Spaß machte oder weil es mich glücklich machte. Ich habe es getan, weil es meine Pflicht war.« Sie funkelte ihn wütend an. »Aber ohne die Vodi-Kette hätte ich vielleicht für dein Volk und deine Welt - und darüber hinaus für die Weltenkette tun können, was ich tun musste, ohne die Aufmerksamkeit eines jeden mordgierigen, Leben verschlingenden dunklen Gottes entlang der Weltenkette auf mich zu ziehen. Vielleicht hätte ich nicht mit ansehen müssen, wie ein Kind von den verdammten Rrön in Fetzen gerissen wurde; vielleicht hätte ich mein Leben nicht opfern müssen, um seines zu retten. Vielleicht hätten wir beide eine Art normales Leben miteinander füh230 ren können, statt uns tagein, tagaus vor diesen Gräueln verstecken zu müssen, die auch jetzt über dem Dach kreisen. Und - ja - sie sind immer noch da.« »Ich weiß«, sagte Seolar. »Meine Wachen halten mich über ihre Bewegungen auf dem Laufenden.« »Ich brauche die Wachen nicht«, zischte Molly. »Diese Bastarde sind in meinem Kopf. Und was glaubst du, warum das so ist? Weil ich unterm Strich eine von ihnen bin. Auch ich bin ein dunkler Gott, ein Monstrum, ein Ding.« Sie wandte sich von ihm ab und bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, bis Blut floss. Dann starrte sie auf ihre blutenden Hände hinab und dachte: Ich bin real. Und Shakespeares Shylock flüsterte in ihrem Kopf: Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Wenn man sie vergiftete, würde sie sterben. Sie würde nur einfach wieder zurückkommen und dabei etwas weniger von der Frau mitbringen, die sie einst gewesen war, und etwas mehr von dem Ungeheuer, das sie eines Tages sein würde. Rache - sie konnte ihre Rache so mühelos bekommen, dass es ihr Angst machte. Sie konnte sich auf hundert verschiedene Arten rächen, und die Kette der Welten und alle Geschöpfe darauf würden für die Kränkung bezahlen, die dieser eine Mann ihr zugefügt hatte, und für diesen einen bitteren Verrat. Sie konnte die VodiKette abnehmen und das Kupferhaus verlassen, um sich den mörderischen Mäulern der Rrön entgegenzustürzen. Sie konnte sich weigern, ihre Pflicht auf sich zu nehmen. Sie konnte auf die Erde zurückkehren und auf das Ende warten - nun, vielleicht. Genau genommen war sie sich nicht sicher, ob sie auf die Erde zurückkehren konnte. Sie war sich jedoch ziemlich sicher, 231 dass es ihr möglich wäre, an der Weltenkette hinabzureisen, so dass sie ihr Ende vielleicht dort hätte abwarten können. Oder sie konnte Seolar aus ihrem Leben verbannen. Das hätte er verdient - er hatte sie getötet, so gewiss, als hätte er den Feuerball selbst geschleudert. Mochte er noch so nobel daherreden von Pflicht, er hatte sie verraten. Er hatte sie ermordet. Er hatte ihr die Seele genommen und sie zu einer Hölle verurteilt, deren Schrecken immer
grausamer werden würde. Zu einer Hölle, der sie nur entkommen konnte, indem sie zu existieren aufhörte. Sie blutete. Sie atmete. Sie hatte Sehnsucht und Hunger und Hoffnung - und es war alles ein Trugbild. Sie wandte sich ab und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Sie konnte Seolar nicht ansehen und wusste nicht, ob sie jemals wieder dazu in der Lage sein würde. Seolar sagte nichts. Das war in Ordnung. Was hätte er auch sagen können? Vor der Tür erwartete Birra sie mit einem Wachtrupp. »Ich gehe in Laurens Zimmer«, erklärte sie. »Ich werde dort auf sie und Jake warten.« Sie begleiteten sie - Vorhut, Flanken und Nachhut, wachsam und argwöhnisch -, und Molly dachte: Dies ist ein Geschenk von Seolar, diese schreckliche Vorsicht, diese endlose Gefahr. Das alles hat er über uns gebracht, als er mir die Kette gab, denn ohne sie wäre ich für den Feind unsichtbar, und nichts von all diesen schrecklichen Dingen wäre geschehen. Die Goroths hießen sie in dem Raum willkommen, in dem auch sie warteten. Sie ging an den Wachen vorbei und sah sich in Laurens Schlafzimmer um; ihr Blick fiel auf ein dickes, schwarzes Ringbuch auf dem Nachttisch. Die Bücher, die sie aus der 232 Bibliothek stibitzt hatte und die jetzt säuberlich übereinander gestapelt auf einem Tisch lagen, konnten ihr eine Menge über die Vergangenheit verraten. Aber Laurens Ringbuch war ein Rätsel - etwas, das durchaus interessant sein konnte, wenn Lauren es für wichtig genug befunden hatte, um es mitzunehmen. Molly ging zum Nachttisch und nahm das schwere Notizbuch zur Hand. Dahinter sah sie das Foto eines blauäugigen jungen Mannes mit Fliegermütze und blauer Uniform, der vor einer amerikanischen Fahne saß. Das also war Brian. Molly griff nach dem Foto; Lauren hatte es in einen schlichten, altmodischen Rahmen aus Sterlingsilber gesteckt. In den Zügen des Mannes konnte Molly viel von Jake erkennen und ein wenig von dem, wie Brian gewesen sein musste. Er hatte intelligente Augen, ein freundliches Lächeln und eine gewisse Ausstrahlung, obwohl seine Lebensumstände zu dem damaligen Zeitpunkt gewiss nicht einfach gewesen waren das Foto war während der Grundausbildung aufgenommen worden. Molly hatte ein ganz ähnliches Bild von sich selbst. Brians war besser. Sie erkannte ihn nicht. Gut möglich, dass sie ihm einmal oder sogar ein Dutzend Mal begegnet war, aber es gab eine Menge gut aussehender junger Männer bei der Air Force, und sie konnte sich unmöglich an alle erinnern. Er war jedoch zwischen den Welten bei ihr und Jake gewesen, als Jake starb. Molly hatte gespürt, dass er einen Teil seiner Lebenskraft geopfert hatte, um seinen Sohn zu retten. Und davor war Brian mehr als ein Jahr lang den Konsequenzen seines eigenen Todes ausgewichen, um seiner Frau und seinem Sohn nahe zu sein, wenn nicht körperlich, so doch zumindest im Geiste. Und sein Kind hatte sich in das große Unbekannte hineingestürzt, um ihn zu retten, dicht gefolgt von der Frau, 233 die ihn liebte und die gleichermaßen entschlossen war, ihn zurückzuholen. Molly fragte sich, was es wohl für ein Gefühl sein mochte, jemanden so sehr zu lieben - und jemanden zu haben, von dem man so sehr geliebt wurde. Sie hatte geglaubt, es zu wissen ... aber die Wahrheit hatte keinen Respekt vor törichten Gefühlen. Molly stellte das Bild wieder auf den Nachttisch und wandte sich, das Notizbuch immer noch fest umklammert, ab. Sie konnte es im Wohnzimmer lesen. Das wäre besser, dachte sie. In dem Schlafzimmer fühlte sie sich unbehaglich, obwohl Brian niemals dort gewesen war; es kam ihr jedoch immer noch so vor, als dringe sie in seine Privatsphäre ein, als sei er hier und beobachte sie. Als sei dies ein Raum, der nur ihm und Lauren gehörte. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl und begann zu lesen. Es waren Tagebucheinträge, die in den fünfziger Jahren begannen und sich bis in die siebziger Jahre fortsetzten. Der Text war in zwei verschiedenen Handschriften verfasst worden, und die ordentlichere der beiden hatte ihrer Mutter gehört, wie Molly bald herausfand. Die andere war die des Mannes, der beiseite getreten war, damit ihre Mutter Molly empfangen konnte - von einem Mann, der nicht von ihrer Welt war und nicht einmal zu ihrer Spezies gehörte. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, wie diese Beziehung ausgesehen haben mochte. Wie hatten sie es gemacht? Was hatte der alte Walt zu dieser Frau gesagt, die er so offensichtlich liebte? Vielleicht: »Nur zu, Marian - es ist in Ordnung, wenn du ein Baby von dieser Kreatur bekommst, die nicht einmal ein Mensch ist. Wir finden dann schon eine Möglichkeit, es als unser eigenes großzuziehen.« Denn das war ihre ursprüngliche Absicht gewesen, bevor alles so schief gegangen war. Sie überflog die Seiten und stieß auf 234 kleine Notizen, die sich eindeutig auf sie bezogen, denn sie wusste, wie alt sie war, wusste, wann sie geboren worden war, kannte die Geschichte. Dann fanden sich über eine lange Zeit hinweg keine Einträge mehr von Marian, und nur Walts dunkle, eckige Schrift überzog die Seiten. In dieser Zeit musste Marian irgendwo im Westen North Carolinas gewesen sein, um sie zur Welt zu bringen. Sie fand Einträge, die sich auf Lauren bezogen, auf Probleme und auf Fortschritte und auf Rückschläge des großen Plans, den die beiden ausgebrütet hatten. »Das wird nicht gut ausgehen, Leute«, murmelte sie. »Es wird überhaupt nicht gut ausgehen, und wenn ihr klug seid, vergesst ihr diese Idee und tut, was ihr nur könnt, um ein normales, bedeutungsloses Leben zu führen.«
Seite um Seite überflog sie - auf der Suche nach Einzelheiten über ihren Plan und ihre Erwartungen für ihre Töchter. Sie waren beide vorsichtig. Sie machten nur Andeutungen, doch aus ihnen konnte Molly sich trotzdem ein paar Einzelheiten zusammenreimen, die sie nicht in die Erinnerungen eingeschlossen hatten, die sie ihr, Molly, mittels Magie übermittelt hatten. Die beiden glaubten, sie und Lauren könnten die Weltenkette retten. Sie glaubten, dass ihre beiden Töchter über besondere Arten von Magie verfügten, die ihnen zu tun ermöglichen würden, was niemand zuvor hatte tun können: den Tod von Welten aufzuhalten und vielleicht sogar umzukehren. Aber wie ... Molly las die Einträge, und ihre Verwirrung wuchs. Hier fanden sich Diagramme von Dingen, die hergestellt werden sollten, Listen von Zaubern, die zu weben waren, verrückte Verbindungen, die zwischen den Welten geschaffen werden sollten - während sie weiterlas, dachte sie immer wie235 der: Selbst wenn uns ein Dutzend Leute zur Verfügung stünde, würde das hier Jahre dauern. Und so viel Zeit haben wir nicht. . Stirnrunzelnd klappte sie das Ringbuch zu. Warum hatten sie das alles nur so vage ausgedrückt, so widersprüchlich von einer Seite zur nächsten, so schrecklich verwirrend? So verwirrend, dass es ihr beinahe so vorkam, als sei es Absicht gewesen. Etwas an diesem Gedanken erschien ihr plausibel. Aber es gab andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit verlangten, und so schob sie ihn erst einmal beiseite. Kupferhaus Die Goroths blieben in dem Raum auf ihren Positionen und warteten auf die Rückkehr ihrer geliebten Jägerin. Draußen auf dem Korridor tuschelten die Wachen miteinander - wenn Molly sich konzentrierte, konnte sie hören, dass sie über Frauen und Sex und Glücksspiele sprachen. Alles schien wie immer zu sein. Aber etwas hatte sich verändert. Sie legte das Notizbuch beiseite, stand auf und sah sich um, um ein Gefühl für die Richtung zu bekommen, aus der die Veränderung kam, ein Gefühl für deren Bedeutung. Dann begriff sie, was anders war. Die Rrön, die über dem Haus gekreist waren, waren weggeflogen. Molly trug noch immer die Dunkelheit dieser Kreaturen in sich, aber ihre Gedanken waren zu einem Nichts zusammengeschrumpft, und der bedrohliche Druck, den sie auf sie ausgeübt hatten, war vollkommen verschwunden. 12 Außerhalb vom Kupferhaus Wie Baanraak vorausgesehen hatte, sah Rr'garn ihn nicht kommen und bemerkte seine Ankunft erst, als Baanraak ein paar Mal hart mit den Flügeln schlug und sich über die Baumkronen erhob. Rr'garn ließ sich kreiselnd nieder, um ihn zu begrüßen. »Siehst du«, sagte er selbstgefällig, während er so weit hinabstieg, bis er Flügelspitze an Flügelspitze mit Baanraak flog, »ich habe dich kommen sehen.« »Ach ja?«, antwortete Baanraak, der von oben beobachtet hatte, wie sie über dem Kupferhaus kreisten, während die Sonne am Himmel hinab gesunken war. »Nun, dann muss ich mich wohl geirrt haben.« Rr'garn sah so aus, als wolle er dem anderen Rrön zustimmen - aber im letzten Augenblick besann er sich eines Besseren. Also, dachte Baanraak, würde Rr'garn heute vielleicht doch nicht sterben. »Bist du bereit, sie wegzuschicken?«, fragte er, und seine Stimme und sein ganzes Gebaren verströmten eine solche Höflichkeit, dass es beinahe an Beleidigung grenzte. Rr'garn schien nichts davon zu bemerken. »Ich bin bereit - aber bist du dir sicher, dass du sie nicht als Verstärkung benötigen wirst?« »Ich bin mir sicher. Ich arbeite allein - immer. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich nur so absolute Kontrolle über den Ausgang der Dinge habe.« »Nun, dann ... ich kann ihnen befehlen, ein wenig Unru237 he zu stiften, während du dich in Position bringst«, erbot sich Rr'garn. »Etwas, das alle Blicke von dir ablenken wird.« »Ich bin dir ... dankbar«, sagte Baanraak, der Mühe hatte, sich ein Lachen zu verkneifen. Die Vorstellung, dass diese lärmigen Tölpel über ihm versuchten, eine Szene zu machen, beschwor Bilder in ihm herauf, die einfach unerträglich komisch waren. »Aber du brauchst nichts Besonderes zu tun. Ein sorgfältig inszeniertes Drama würde die Leute nur erstaunen und vielleicht Argwohn wecken. Wenn deine Leute einfach in einer Richtung abziehen würden - nach Westen vielleicht -, dürfte das genug sein, um mir zu helfen, ohne euch über Gebühr zu strapazieren.« Baanraak hatte nicht viel übrig für andere Rrön; selbst jene, die sich nicht für den Weg des Todeskreislaufs und der Unsterblichkeit entschieden hatten, waren ihm lästig. Er verachtete die übrigen dunklen Götter. Rr'garn war ihm zutiefst unsympathisch. Von Rechts wegen hätte er sich noch immer auf seinen Felsen in der Sonne aalen und auf das Geplätscher des Wassers in dem nahen Bach lauschen sollen, auf das leise Raunen des Windes in von Knospen schweren Bäumen und das unablässige Gezwitscher der Vögel, die ihre Nester bauten und ihre Territorien verteidigten. Von Rechts wegen hätte er nicht einmal in der Nähe dieses Ortes sein sollen, denn er hatte kein Interesse daran, jenen zu helfen, die seine Hilfe brauchten. Und doch war er hier.
Er nickte Rr'garn kurz zu, als der Idiot sich aufschwang, um seinen Kameraden und Speichelleckern zu berichten, dass es Zeit für den Rückzug sei. Warum war er hierher gekommen? Baanraak hatte keine gute Erklärung dafür; gewiss konnte seine Existenz ihn nicht derart langweilen, dass das Er238 scheinen eines weiteren Mischlingsgeschöpfs aus Menschen- und Veyär-Blut echtes Interesse in ihm wecken konnte, selbst wenn das Geschöpf verzaubertes Gold trug. Oder sollte er sich da irren? Er wartete, bis Rr'garn die untersten der kreisenden Rrön erreicht hatte. Dann wölbte er mit der Geduld und Sorgfalt, die er jahrtausendelanger Übung verdankte, das Licht um sich herum, bis von ihm nichts mehr sichtbar war als ein Flirren von Hitze, die sich über dem sonnendurchglühten Sand erhob. Er brachte seinen Geist zum Stillstand, wölbte seine Flügel so, dass die Luft so gut wie geräuschlos an ihnen entlangströmte, und flog dann zweimal über die Mauern des dem Kupferhaus vorgelagerten Dorfes und zweimal über das Kupferhaus selbst, um es sich in allen Einzelheiten einzuprägen. Dann ließ er sich bis zum Rand des Waldes treiben und landete auf einer Lichtung. Nachdem er sich auf dem Boden niedergelassen hatte, machte er sich mit Zweigen und Steinen zu schaffen, bis er eine bequeme Lage gefunden hatte. Er schüttelte seine Flügel aus, legte sie an den Körper und schob den Kopf unter eine seiner Schwingen - seine bevorzugte Haltung, wenn er über längere Zeit hinweg in einer Position ausharren musste. Er hielt sich ein gutes Stück abseits vom Treiben der Veyär und doch nahe genug bei der Dorfmauer und dem Kupferhaus. Mit seinen Augen konnte er nicht sehen, deshalb hielt er sie geschlossen. Er brauchte nichts zu sehen. Selbst praktisch unsichtbar und außer Reichweite für jeden, der versehentlich über ihn stolpern könnte, brachte er seine Gedanken zum Stillstand, bis sie nicht schneller dahinströmten als Pflanzensaft in den uralten Hartholzbäumen mitten im Winter. Er verlangsamte sein Herz, seine Lungen, das Blut in seinen Adern. Und dann lauschte er. 239 Zuerst machte ihm das schiere Chaos der Gedanken im Dorf die Konzentration auf ein einziges Wesen unmöglich. Baanraak, den das Unmögliche noch nie von irgendetwas abgehalten hatte, durchsiebte langsam einzelne Geister, blockte sie einen nach dem anderen ab und beschirmte seine Gedanken gegen weitere Störungen durch die Gedanken eines jeden Geistes, der nicht der von ihm gesuchte war. Die männlichen Wesen sonderte er schnell aus, ebenso diejenigen, die keine Veyär oder noch Kinder waren. Bei den Frauen musste er vorsichtiger zu Werke gehen, denn er wollte nicht versehentlich sein Ziel ausschließen, was ihn dazu gezwungen hätte, ganz von vorn anzufangen. Er zog es vor, die Dinge beim ersten Mal gleich richtig zu machen, daher ließ er sich Zeit, um sein Fundament zu legen. Er hatte Zeit. Das eilige, umherhuschende Oberhaupt des RrönZweiges der Nachtwache und all seine vielen Anhänger hatten sich nie von der Hast gelöst, die so typisch für ihre sterbliche Existenz gewesen war. Sie hatten nie gelernt, die Dinge langfristig zu betrachten - aber andererseits hatte Baanraak schon als Sterblicher langfristig gedacht. Bereits als Sterblicher hatte er die Kunst der Stille zu beherrschen gelernt. In den ungezählten Jahrtausenden danach, in denen er seine Unsterblichkeit genossen hatte, hatte er seine Techniken lediglich verfeinert. Eine nach der anderen schob er die Frauen der Veyär beiseite, blockte sie ab. Als nur noch einige Dutzend von ihnen übrig geblieben waren, hätte es ihm ein Leichtes sein müssen, die Gesuchte auszumachen. Aber es gelang ihm nicht. Er konnte sie zwischen den Geistern nicht finden, und er befürchtete, dass er sie vielleicht übersehen hatte. Nachdem er seine eigenen Gedanken zur Gänze ausgelöscht hatte, ließ er die Gedanken der Fremden wie Wasser über ein Flussbett durch seinen Geist fließen und setzte geduldig 240 sein Unternehmen fort, einzelne auszuschließen. Eine Frau hatte er bereits eliminiert, dann eine weitere und eine dritte. Auf leisen Sohlen stahl sich ein Gefühl der Neugier in seine Gedanken, ein winziger Juckreiz, doch er wagte es nicht, sich zu kratzen. Still. Er musste seine Stille bewahren. Baanraak schirmte ein weiteres Dutzend ab. Und dann noch ein Dutzend. Er spürte nichts als Veyär-Gedanken, keine Vibration in der Dunkelheit, die eine einstmals tote Vodi kennzeichnete. Das Wasser, das durch seine Gedanken strömte, gurgelte. Er siebte weiter. Entfernte weiter einen Geist nach dem anderen. Und endlich hatte er jeden einzelnen Geist innerhalb des Dorfes und innerhalb des Hauses selbst ausgeschlossen - aber er konnte sich nicht entschließen, noch einmal von vorn zu beginnen. Er wusste, dass er keinen Fehler gemacht hatte. Er wusste, dass sie ihm nicht mit der gewöhnlichen Herde einfach durch die Finger geglitten war. Was eines von zwei Dingen bedeuten musste: Entweder hatte sie sich trotz der lärmenden Überwachung durch die Rrön aus dem Dorf gestohlen - oder auch sie beherrschte die Kunst der Stille. Er lag da wie tot, kein Puls bewegte sich in seinen Adern, keine Luft in seinen Lungen, kein Hämmern in seinem Herzen und kein Gedanke in seinem Vorderhirn. Geduld. Warten. Unsichtbarkeit. Und noch mehr Geduld. Dann setzte sie zum Sprung an, und Baanraak spürte ihren Ärger; jemand war hereingekommen und hatte sie gestört, und sie machte sich daran, dem Eindringling einen scharfen Tadel zu erteilen. Jetzt erklärte sie, dass es
keineswegs eine Einladung sei, sie zu stören, wenn sie still dasaß und scheinbar nichts tat. Sie war etwas auf der Spur gewe241 sen, das draußen vor dem Kupferhaus lauerte, sagte sie. Etwas Großem, etwas Bösem. Baanraak, der sich zur Stille in einem Körper zwang, dem diese Stille plötzlich ein Gräuel war, platzierte sorgfältig einen winzigen Marker in ihrem Geist - etwas, das es ihm ermöglichen würde, sie ohne diese lästige Suche schnell wieder zu finden. Dann, bevor er sich verraten konnte, errichtete er einen Schild, der sie gegen ihn abschirmte -und ihn gegen sie. Erst als er das getan hatte, zog er den Kopf unter seinem Flügel hervor, sprang auf die Füße und kratzte seine Schwingen. Bei allen Eiern, sie hätte ihn genauso leicht erwischen können wie er sie! Er lief im Kreis herum, so erregt, dass er seinen Bewegungsdrang kaum darauf beschränken konnte, nur zu gehen - er wäre am liebsten hoch in die Luft aufgestiegen, um seine Flügel singen zu lassen, bis er so schnell war wie das Licht. Er wollte brüllen, wollte kreischen, wollte Loopings um die Bäume herum drehen, und er wollte singen. In dieser frisch geschlüpften Vodi, in diesem Geschöpf, das nach geologischen Maßstäben ein bloßes Kind war, hatte er eine würdige Gegnerin gefunden. Jemanden, der sich still verhalten und warten und wachen konnte, ohne zu blinzeln, ohne zu atmen, ohne sich zu verraten. Jemanden, den seine vorsichtige, geduldige, verstohlene Suche in Alarmbereitschaft versetzt hatte - und Baanraak konnte sich an niemanden erinnern, der ihn jemals ertappt hatte, wenn er vorsichtig war. Wunderbar, dachte er. Oh, es war wunderbar. Urplötzlich hatte seine Existenz wieder Würze. Urplötzlich war er nicht mehr allein. Er war nicht der Einzige in der Weltenkette, der sich darauf verstand, zu wachen, darauf ver242 stand, zu warten ... zu jagen. Mit einem Mal hatte er einen würdigen Feind. Rr'garn hatte Recht gehabt: Sie war etwas Besonderes. Ob sie nun die Vodi war oder nicht, die Kriegergöttin, um die sich so viele Mythen rankten, die gegen die geballte Macht der dunklen Götter antreten, ihre Pläne vereiteln und ihre Gräuel in alle vier Winde verstreuen, die der ganzen Weltenkette neues Leben bringen würde, aber bei allen Eiern, bei den Unendlichkeiten, bei seiner eigenen verlorenen und längst beklagten Seele, sie sang in seinem Blut wie die Feuer einer gemeuchelten Welt. Er würde sie jagen. Er würde sie töten. Oder vielleicht würde sie ihn töten. Dieser Gedanke erregte ihn ebenso wie die Möglichkeit, dass sie es tun konnte. Die Erregung verzehrte ihn auf eine Art und Weise, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, sich zu beruhigen, bevor die Sonne unterging. Er hatte Zeit. Er hatte die Ewigkeit. Sollten sie doch alle zur Leere und zum Nichts verflucht sein, Rr'garn und die Nachtwache mit ihrem verfrühten Hunger nach Terra und allem Leben dort. Baanraak hatte etwas Wunderbares vor sich, und er hatte die Absicht, es zur Gänze auszukosten und das bedeutete, dass er sich das prickelnde Gefühl der Lebendigkeit gestatten würde, das ihm über so viele seelenlose Jahre des bloßen Existierens hinweg verwehrt gewesen war. Als die Sonne jedoch am Horizont versunken war, riss er sich langsam wieder zusammen und bezähmte die Gefühle, die so lange brachgelegen hatten und die jetzt zügellos aufgekeimt waren. Er zog in die Schlacht, und irgendwo innerhalb der Mauern des Dorfes wartete eine Kriegerin, die sein Schweigen gespürt und es mit ihrem eigenen Schweigen beantwortet hatte. Sie argwöhnte seine Anwesenheit. Sie argwöhnte sein Interesse. Er hatte keine Ahnung, auf welche Weise er sich verraten hatte, aber er hatte es getan. 243 Er war nicht unvorsichtig gewesen, hatte keine Fehler gemacht, und sie wusste trotzdem, dass er hier draußen war. Diese Tatsache elektrisierte ihn. Er würde vielleicht verlieren. Eier und Knochen, er würde vielleicht verlieren. Er grinste, seine Haut kribbelte, und er fuhr seine Krallen aus. Er verneigte sich vor dem Dorf, zog den Kopf zwischen seine Vorderläufe und breitete seine Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus. Dann grüßte er die Kriegerin, die auf ihn wartete, als stünden sie einander auf dem Schlachtfeld von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In Tausenden von Jahren hatte er seiner Beute niemals die Ehre eines Saluts erwiesen. Anschließend riss er den Kopf hoch, machte sich sprungbereit und wisperte in den Wind: »Ich komme.« Baanraak schoss in die Luft hinauf, fing sie unter seinen Flügeln und stieß hoch in den Himmel empor. Die frische Nachtluft roch nach feuchter Erde und wachsenden Pflanzen, die auf die Rückkehr der Sonne warteten. Die dünne Sichel des Mondes durchschnitt den purpurnen Nebel des Zwielichts, das kurz davor war, hinter der Sonne am Horizont zu verschwinden. Schon funkelten die ersten Sterne. Baanraak erhob sich über die Mauer und blickte in das Dorf, dessen Bewohner noch immer auf den Beinen waren. Es gab jedoch einige stille Fleckchen, und eines davon wählte er aus - ein Feld gerodeter Erde hinter den öffentlichen Ställen, groß genug, um ihm einen bequemen Landeplatz zu bieten. Er umkreiste das Feld einmal, um sicherzugehen, dann ließ er sich geräuschlos und ohne jedwedes Aufhebens auf dem Boden nieder. Anschließend wob er zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren den Zauber, der seine Gestalt veränderte. Er wand sich, Muskeln dehnten sich und zogen sich zusammen, Knochen schmolzen und verschoben sich, Flü244
gel zogen sich in das Rückgrat zurück, sein Rücken straffte und versteifte sich. Es dauerte eine Weile, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und zerrte so grimmig an seinem gerade erst umgestalteten Brustkorb, dass er kaum atmen konnte. Aber als der Zauber seine Magie an ihm gewirkt hatte, hatte er große Ähnlichkeit mit einem Veyär; die Spitzen seiner Flügel bewegten sich hinter ihm, als Umhang getarnt, und er konnte das Dorf durchstreifen. Wenn die Leute ihn ansahen, würden sie glauben, ihn zu kennen. Er wusste, auf welche Weise er sie das erste Mal angreifen wollte. Ein schneller, sauberer Mord würde ihm ungemein gefallen; wenn er ihn bekam, würde er das Gefühl haben, er hätte ihn verdient. Wenn sich herausstellte, dass sie besser war als das Beste, was er selbst zu bieten hatte, dann war er auch darauf gefasst. Er würde sie bekommen. Baanraak übte das Gehen, um sich daran zu gewöhnen, nur zwei Füße für die Fortbewegung zu haben. Das letzte Mal lag eine ganze Weile zurück, und er hatte die Einschränkungen einer Existenz ohne Flügel vergessen. Er überprüfte seine Hände und bog die Fingerspitzen, um sich davon zu überzeugen, dass die ausfahrbaren Krallen funktionierten. Die Veyär hatten keine Krallen, aber Baanraak hatte bereits auf Flügel, Schwanz und Zähne verzichtet, und er war nicht gewillt, sich auch seiner Lieblingswaffe zu berauben. Als er sicher sein konnte, dass das Problem der Fortbewegung gelöst war, schlenderte er auf die gepflasterte Straße hinaus und blickte über den schmalen, gewundenen Weg zum Kupferhaus. Von seinem Standpunkt aus konnte er nur die oberen Zinnen und Türme erkennen, aber nicht einmal die brauchte er zu sehen. Er wusste, wo er war, und er wusste, wo sie war. Die Zeit war gekommen. Er ging auf das Kupferhaus zu. Am Tor stellte er sich vor. Die Wachen sahen ihn an, sag245 ten: »Guten Abend, Hauptmann«, und traten salutierend beiseite, um ihn passieren zu lassen. Er wartete, während die Wachen vor dem Innentor ihm aufmachten. Dann war er im Inneren des Kupferhauses angelangt, und als er unter dem Querbalken hindurchging, spürte er, wie das Gewicht des Kupfers die magische Energie der Weltenkette durchschnitt. Jetzt hatte er keinen Zugriff mehr auf seine Magie. Er konnte keinen neuen Zauber weben, er konnte sich nicht unsichtbar machen, er konnte das Arsenal magischer Waffen nicht mehr benutzen, das er jahrtausendelang für seine Attentate bevorzugt hatte. Er hatte seine Krallen und seinen Verstand und seine angeborene Fähigkeit, den Sog des einzigen Geschöpfes in diesem ganzen Haus zu spüren, das so war wie er. Er konnte ihre Gedanken hören, aber nur deshalb, weil er kurz vor seiner Ankunft im Kupferhaus die Mauer des Schweigens eingerissen hatte, die er zwischen ihr und sich selbst errichtet hatte. Er bewegte sich schnell, aber gelassen auf einen der Nebenkorridore des riesigen Hauses zu, schloss die Augen und lauschte. In diesem Moment war sie mit etwas anderem beschäftigt; sie las etwas, und sie konzentrierte sich auf die Worte, nicht auf ihn. Dann hatte er sie diesmal also nicht auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht - zumindest noch nicht. Gut. Er ging in ihre Richtung, wobei er sich der schwachen Spur ihrer seltsam stillen Gedanken bediente. Die Grauen Ebenen und das Jenseits Mit in der Kehle hämmerndem Herzen sah Lauren den Verwalter an. »Lass mich mit ihnen reden.« »Du wirst es bedauern, wenn ich es dir erlaube.« 246 »Inwiefern werde ich es bedauern?«, fragte Lauren, denn die Stimme des Verwalters hatte einen tiefen, hohlen Klang angenommen, als er seine Warnung aussprach. »Das kann man unmöglich vorher wissen. Aber wenn zwei Liebende, die einander verloren haben, sich hier wieder sehen, gibt es kein glückliches Ende.« »Ich habe meinen Sohn nicht verloren, er ist nicht tot. Ich will ihn zurück. Und was Molly und Brian betrifft, das Risiko gehe ich ein.« »Dann zuerst Molly - sie bedeutet dir weniger und wird dir daher weniger wehtun, so dass du immer noch die Chance haben wirst, unversehrt von hier fortzugehen.« »Du begreifst wirklich gar nichts, wie? Ich will zuerst Jake sehen.« »Molly zuerst oder überhaupt niemanden.« »Also schön. Dann bring sie her.« Der Verwalter sagte: »Ruf, wenn du mich brauchst. Bis dahin möchte ich nichts mit dem zu tun haben, was hier vorgeht.« Er verschwand mit einem hellen Aufflackern von Licht. Lauren stand wieder allein auf der Ebene. Sie ging im Kreis, vollauf darauf gefasst, Molly aus dem Nichts auftauchen zu sehen, geradeso wie der Verwalter es getan hatte. Stattdessen geschah jedoch überhaupt nichts. Sie wartete, behielt die Straße in beiden Richtungen im Auge und wagte es nicht, sich zu bewegen, weil sie Angst hatte, Molly würde sie dann nicht finden können. Die Zeit verstrich und nichts geschah. Die Straße war das Einzige, was die graue Monotonie der Ebene durchschnitt, und auf dieser Straße bewegte sich nichts. »He!«, schrie Lauren. »Wo ist sie?« »Erwartest du, dass sie alles stehen und liegen lässt und zu dir eilt? Sie kommt, wenn sie kommt.« 247 Hurensohn, dachte Lauren. »Warum erlaubst du mir nicht, zu ihr zu gehen?«
»Du kannst die Tore zu dem, was dahinter liegt, nicht passieren. Du lebst - unter den Toten ist kein Platz für dich.« »Ich habe ein Kind hier, das auf mich wartet. Mein Platz ist bei meinem Sohn, ganz gleich, wo er sich aufhält.« Sie wartete darauf, dass die Stimme des Verwalters sie daran erinnern würde, dass sie jederzeit gehen und ihnen allen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen konnte, aber er sagte nichts. »Hör mal«, rief sie, »Orpheus ist es gelungen, dort hinzugelangen. Dem Mythos zufolge hat er dort gestanden, umringt von den Toten, und vor Pluto und Persephone von seiner Trauer gesungen, bis sie ihm erlaubten, Eurydike mit nach Hause zu nehmen.« »Und du weißt, was für ein schlimmes Ende die Geschichte genommen hat.« »Er ist reingekommen.« »Er hat den Himmel mit seinem Gesang verzaubert. Kannst du singen?« »Jeder kann singen«, entgegnete Lauren düster. »Ich kann zwar den Himmel mit meinem Gesang nicht bezaubern, aber es würde mir bestimmt gelingen, die Krähen damit zu töten. Ich sag dir was, wenn du mich reinlässt, werde ich nicht singen. Dann bist du glücklich, ich bin glücklich ...« Lauren hörte einen tiefen, ärgerlichen Seufzer. »Ich stelle fest, dass du wiederholt gewarnt wurdest und dass ich meine Hände in Unschuld wasche. Was immer dir von jetzt an widerfahren mag, ich habe nichts damit zu tun. Also schön ... Hiermit beschwöre ich das Tor herauf, das dich zu deiner Schwester, Molly, bringen wird und das dich, nach248 dem du mit ihr gesprochen hast, entweder zu Brian und deinem Sohn bringen oder dich nach Hause führen wird. Es wird dich auch jetzt nach Hause bringen, wenn du es von ihm verlangst.« Eine Pause, dann ein gemurmeltes: »Nicht dass du das tun würdest.« Mit einem leisen Klicken erschien aus dem Nichts vor ihr ein Bogen. Im einen Augenblick war er noch nicht da gewesen, im nächsten ragte er vor ihr auf: aus massivem, bläulich schimmerndem, weißem Stein, durchzogen von goldenen Adern, die das trostlose Licht des grauen Reiches in etwas Wundersames verwandelten. Dahinter sah Lauren eine Wiese mit hüfthohen Blumen und Sonnenlicht, das durch weiße, flauschige Wolken schien. Sie sah Menschen die Wege entlanggehen und entzückende kleine Häuser und das Ufer eines prächtigen Sees. Während ihrer ganzen Zeit auf der Erde hatte sie niemals einen so schönen Tag gesehen, niemals so leuchtende Farben oder einen so einladenden Ort. Eine Stimme wisperte in ihrem Herzen: »Das ist mein wahres Zuhause, in das ich zurückgekehrt bin.« Sie trat durch das Tor und hielt nach Molly Ausschau. Eine Frau, die älter war als Molly zum Zeitpunkt ihres Todes, wenn auch immer noch jünger als Lauren, sagte: »Ich wäre gekommen.« Schwarze Locken fielen ihr nach präraffaelischer Manier bis auf die Knie. Lauren starrte sie an. Das war nicht die Molly, die sie erwartet hatte, aber dennoch schimmerte in den Augen und der Stimme etwas von Molly hindurch. »Ich weiß, dass du gekommen wärest. Ich war nur schneller. Jake ist hier. Er sollte eigentlich gar nicht hier sein, aber der Verwalter hat mir erklärt, dass ich ihn nicht mit nach Hause nehmen könne. Ich muss ihn holen, aber ich musste zuerst mit dir sprechen.« 249 Mollys glückseliges Lächeln schien der Situation nicht recht angemessen zu sein. »Wenn er hier ist, gehört er hierher. Alles ist besser hier, Lauren. Du kannst doch unmöglich den Wunsch haben, ihn dorthin zurückzubringen ... zu alledem. Wie schrecklich.« »Ich bin hier. Und ich gehöre ganz gewiss nicht hierher.« Eine winzige Falte erschien auf Mollys Stirn. »Und doch hast du es geschafft, bis hierher vorzudringen. Du musst sehr überzeugend gewesen sein.« »Nur sehr beharrlich«, erwiderte Lauren. Molly blickte in die Ferne und lächelte etwas an, das Lauren nicht sehen konnte. Dann sagte sie: »Also - du hast einen so weiten Weg zurückgelegt und so viele Hindernisse überwunden, um Jake zu holen. Und doch bist du hier bei mir. Warum?« »Ich will, dass du mit mir zurückkommst. Ich brauche dich. Seolar braucht dich. Und ... Molly braucht dich.« Mollys Lächeln nahm einen verwirrten Ausdruck an. »Du brauchst mich ... das kann ich noch begreifen. Es gab so vieles, was wir zu tun gehofft hatten. Und Seolar - das ist traurig, aber sein Leben ist noch nicht vorüber. Er wird schon recht bald hierher kommen, zu mir. Aber ... Molly braucht mich? Ich bin hier, Lauren. In diesem Universum gibt es keine Molly McColl mehr.« Lauren seufzte. »Es ist kompliziert, aber es gibt sie durchaus noch. Du bist - sie ist - verdammt. Ich weiß nicht, an wie viel du dich erinnern kannst.« »An alles, angefangen von dem Augenblick, da ich meinen ersten Atemzug tat, bis zu meinem letzten. Das gilt für jenes Leben und eine Hand voll weiterer.« »Das ist gut«, sagte Lauren. Sie hätte gern so viele Fragen gestellt, aber dies war nicht der rechte Zeitpunkt. »Du erinnerst dich an die Vodi-Kette.« 250 »Ja.« »Nachdem du gestorben bist, um Jakes Leben zu retten, hat irgendeine Magie in der Kette dich zurückgebracht,
allerdings ohne deine Seele. Du erinnerst dich an dein Leben, du siehst genauso aus wie früher, hast die gleichen Gefühle, die gleichen Hoffnungen und Ziele - aber dein Körper ist dort, und deine Seele ist hier. Ich möchte beide wieder zusammenbringen.« Jetzt sah Molly sie angewidert an. »Das bin nicht ich, Lauren. Dieses Ding mag zwar aussehen wie ich, es mag sich benehmen wie ich, aber ich bin es nicht, es ist nicht einmal ein Teil von mir. Es ist nicht mehr als das Echo, das ich zurückgelassen habe und das in ein Monstrum hineingeströmt ist.« Sie sah Lauren tief in die Augen und sagte: »Diese Anwendung der Magie - um tote Dinge zu erschaffen, die die Gestalt und Persönlichkeit Verstorbener nachahmen - ist abscheulich.« »Sie wäre nicht abscheulich, wenn du zurückkommen würdest«, wandte Lauren ein. »Dann wäre deine Seele in deinem Körper, und alles wäre in Ordnung.« »Ich soll in eine kalte, schwere, lichtlose Gruft aus Fleisch steigen, um ungezählte Jahre weiterzuleben, nachdem ich mir einen Ausweg aus diesem Leben verdient habe? Ich habe getan, was zu tun mein Auftrag war. Ich habe jenes Leben gelebt, um Opferbereitschaft zu lernen, und am Ende habe ich meine Lektion begriffen - aber jetzt bin ich fertig. Ich habe dort nichts mehr zu tun.« Lauren starrte sie an. »Der Plan, Molly. Moms und Dads ... und deines Vaters ... Plan. Wir sollten das Sterben der Weltenkette verhindern. Wir sollten die toten Welten wiederbeleben.« Molly schüttelte den Kopf. »Mom und unsere Väter hatten nicht begriffen, dass Weltenketten manchmal sterben. 251 Wenn diese Welt stirbt, werden die Seelen einfach in andere Welten weiterziehen.« »Ich lebe auf dieser Welt. Jake lebt auf dieser Welt. Alle, die ich kenne und liebe, leben auf dieser Welt. Ich will nicht, dass sie stirbt.« »Natürlich willst du das nicht - aber vielleicht ist das der Grund, warum du jenes Leben gewählt hast: um am Tod einer Welt teilzuhaben. Ich kann nicht wissen, welche Lektionen du dir zu lernen vorgenommen hattest. Ich weiß nur, dass ich keinen Anteil mehr daran habe. Ich bin fertig.« Sie setzte sich ins Gras und klopfte auf eine freie Stelle zwischen den Blumen an ihrer Seite. »Setz dich. Sprich mit mir. Erzähl mir, wie du auf den Gedanken kommen konntest, irgendein totes Ding sei ich, oder warum du den Wunsch hattest, dieser Kreatur zu helfen, obwohl du bereits weißt, dass sie eine grauenhafte Perversion der Magie des Universums ist. Du musst verwirrt sein, doch ich kann dir helfen.« Lauren starrte sie an. Dieser Ort rief nach ihr, und Molly wirkte in ihrer schönen, strahlenden Gestalt klug und vernünftig. Zu guter Letzt würden sie ohnehin alle an diesem Ort enden. Warum gegen irgendetwas kämpfen? Warum sich anstrengen? Vielleicht war dies die Lektion, die sie im Leben zu lernen hatte: sich mit Würde zu ergeben. Vielleicht sollte sie lernen, dass alles Kämpfen nutzlos war. Jake war bereits hier. Und Brian ebenfalls. Sie wollte zwischen den Blumen sitzen. Sie wollte mit Molly reden. Sie wollte der Musik lauschen, die hier in der Luft lag, wollte die wunderbaren Gerüche einatmen und die Sorge und den Schmerz und die Mühsal loslassen - denn zu guter Letzt taten es alle. Sie brachten niemals alles zu Ende; sie packten einfach mitten im Wort ihre Sachen und gingen fort, ohne irgendetwas erledigt zu haben, und doch drehte die Welt sich weiter. 252 Oder sie tat es nicht, und anscheinend spielte auch das keine Rolle. Sie und Jake und Brian konnten hier bleiben. Sie konnte auf den Schmerz des Lebens verzichten - denn anders als die trostlose graue Ebene war dieser Ort ein einziges Wunder; es war ein Ort, an dem eine Seele sich entspannen und genesen konnte, ohne auch nur einen einzigen Augenblick der Qual oder der Sorge zu erleiden. Dieser Ort schloss jeden Kummer aus. Er tilgte jede Furcht. Und dann dachte sie: Ja. Und wenn Jake und ich bleiben, dann wäre das dasselbe, als hätte ich ihn getötet, nicht wahr? Dasselbe, als hätte ich auch mir das Leben genommen. Ich würde uns beiden unser Leben stehlen. Und was war mit Molly - der Molly auf Oria, die bereit war, gegen den Sturz eines Universums zu kämpfen, obwohl ihr dieser wunderbare Ort hier verwehrt war? Was war mit Molly, die etwas Besseres verdiente, als das, was sie bekam? Gleichgültig, was Mollys Seele, die sicher und gut behütet auf dieser Wiese saß, sagen mochte, die Molly auf Oria war real. Eine reale Person. Sie war es wert, dass man ihr half, war es wert, mit ihr und für sie zu kämpfen. Lauren setzte sich nicht. Das Gras, die Blumen, die strahlende Molly, der vollkommene Tag - all dies gehörte nicht ihr. Sie gehörte nicht hierher. All dies würde immer noch hier sein, wenn sie zurückkam, sagte sie sich. Dieselben Worte, die sie immer zu Jake sagte, wenn sie ihn zur Schlafenszeit dazu brachte, ein besonders geliebtes Spielzeug im Stich zu lassen. »Es wird noch hier sein, wenn du zurückkommst.« Wenn sie jedoch nicht zurückkehrte und kämpfte, würde ihre Welt - ihr Zuhause - nicht mehr auf Jake oder irgend jemanden sonst warten. Schaudernd holte sie Luft und sagte: »Ich denke, ich 253 habe meine Aufgabe noch nicht erfüllt, Molly. Ich denke, ich muss zurückkehren und kämpfen. Ich muss tun, was ich kann, um die Weltenkette zu retten.« »Ohne mich wird dir das nicht gelingen«, wandte Molly ein. »Aber ich gehe nicht mit dir zurück - das ist nicht mein Auftrag.«
»Vielleicht ist es nicht dein Auftrag«, sagte Lauren. »Aber der Teil von dir, der immer noch dort ist - die Person, die immer noch glaubt, Molly zu sein -, glaubt ebenfalls, dass sie und ich diesen Kampf kämpfen sollten, und sie kann ihn nicht ohne mich gewinnen, ebenso wenig wie ich es ohne sie kann.« Molly starrte Lauren an, und eine Sekunde lang trübte ein Schatten diese perfekte Gelassenheit und dieses strahlende Glück. »Wenn du dich mit den Untoten einlässt, werden sie sich irgendwann gegen dich wenden und dich auf eine Art und Weise zerstören, die du dir nicht einmal in deinen Träumen ausmalen kannst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie unendlich böse die Magie ist, die dieses Ding ins Leben gerufen hat. Daraus kann nichts Gutes entstehen.« »Und doch«, erwiderte Lauren, »und doch werde ich herauszufinden versuchen, ob ich nicht trotzdem etwas Gutes daraus machen kann.« Sie trat einen Schritt zurück auf den Bogen zu, durch den sie gekommen war, und wandte sich dann wieder zu Molly um. »Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast. Ich wünschte, du würdest mich begleiten - um ihretwillen. Nicht um deinetwillen.« Mollys Lächeln war nun wieder das glückselige, fromme Lächeln, das Lauren zuvor bei ihr gesehen hatte. »Vielleicht ist es in dieser Existenz dein Schicksal, Fehler zu machen. Ich werde nicht länger darum kämpfen, dich von deinem Weg abzubringen. Ich wünsche dir viel Glück.« »Ja. Danke«, sagte Lauren. 254 Molly drehte sich um und entfernte sich von ihr. Ihre Schritte sahen ganz normal aus, aber jeder einzelne entfernte sie so schnell von Lauren, als werde sie von einem starken Wind fortgeweht. Lauren sah ihr nach, bis Molly hinter einem kleinen Wäldchen erlosch; sie erschien ihr wie ein Stern, der plötzlich hinter einer Wolke versteckt war. Lauren ging wieder auf den Bogen zu. Es war ein entsetzlicher Gedanke, dass Brian den bevorstehenden Tod seiner Welt mit ebensolcher Gleichgültigkeit betrachtete, wie Molly es getan hatte. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, dass Jake vielleicht würde hier bleiben wollen, statt mit ihr heimzukehren. Denk nicht. Handle einfach, befahl sie sich. »Ich möchte zu Brian und Jake gehen«, sagte sie zu dem Bogen. Der antwortete: »Auf deine eigene Verantwortung.« Dann trat sie hindurch. Brian stand auf der anderen Seite und hinter ihm ein überglücklicher Jake. Jetzt kam er auf sie zugerannt, schlang die Arme um ihre Beine und kreischte: »Mama!« Und Lauren wurde klar, dass sie, wenn sie nicht mit Jake zurückkehren konnte, überhaupt nicht zurückkehren würde. Sie hob Jake hoch, drückte ihn an sich, verbarg das Gesicht in seinem Haar und vergaß einen Moment lang, zu atmen. Er wurde ihrer Umarmung jedoch bald müde und sagte lächelnd: »Ich will spielen.« Und dann stand sie vor Brian. Er war ein wenig größer als zu seinen Lebzeiten. Ein wenig hagerer. Die Form seines Gesichtes hatte sich auf eine kaum merkliche Art und Weise verändert, auf die sie nicht recht den Finger legen konnte, doch er war nun noch attraktiver. Aber seine Augen und sein Lächeln ... Sie hatte sie im Wachen und im Schlafen ge255 sehen, sowohl bevor sie ihn verloren hatte, wie auch danach. Und bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, dass sie sie nie wieder sehen würde. Sie hätte ihn überall erkannt. Er sah sie an und lächelte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie versuchte zu schlucken, obwohl ihre Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. »Oh, Brian«, flüsterte sie. Er nahm sie in die Arme und küsste sie, und ihr ganzer Körper schluchzte: »Ja.« Ja. Das war Brian - ihr Brian. »Wie hast du es geschafft, zu mir zu kommen?«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Lauren, ich habe dich so sehr vermisst und so lange. Es war die Hölle, in deiner Nähe zu sein und dich nicht berühren zu können.« Er strich ihr mit der Hand über das Gesicht und küsste sie abermals. »Wie ist Jake hierher gekommen? Er wollte es mir nicht erzählen.« »Als wir in Oria waren, ist er dahinter gekommen, wie man ein Tor macht.« Sie runzelte die Stirn. Oria war nach Brians Tod gekommen. »Wisst ihr hier über Oria Bescheid? Über die Weltenkette?« Den Kopf an ihre Wange gedrückt, nickte er. »Ich weiß Bescheid. Ich war die ganze Zeit bei dir, Lauren. Ich war in dem Haus und zwischen den Welten bei dir. Ich war jede Minute bei euch beiden, bis ich mit Jake hinübergegangen bin, als er starb, und ich mich entscheiden musste - ich konnte ihn retten oder bei dir bleiben.« Er löste sich von ihr. »Ich brauchte nicht einmal darüber nachzudenken.« »Nein«, sagte Lauren. »Ich hätte dasselbe getan.« Sie strich ihm über das Gesicht. »Mein Gott, ich liebe dich. Ich habe nicht mehr atmen können, seit du gestorben bist.« Er drückte sie abermals an sich. »Ich weiß«, sagte er. »Ich war dabei. Ich hätte eigentlich fortgehen sollen, aber ich habe es nicht getan. Ich konnte es nicht. Ich konnte dich 256 nicht allein lassen, bevor ich nicht wusste, dass du zurechtkommen würdest.« »Manchmal glaubte ich, dich in meiner Nähe spüren zu können. Es war so hart. Dann habe ich dich gefunden, als ich das Tor entdeckte - du hast mich berührt, und ich habe mich ... ich habe mich weniger allein gefühlt. Und
dann habe ich dich wieder verloren.« Sie fuhr ihm mit den Fingern durch das kurz geschnittene Haar und atmete seinen Geruch ein. Er hatte dasselbe Strahlen an sich, das sie bei Molly gesehen hatte, aber er schien ihr nicht so weit von ihr entfernt oder so weit über ihr zu sein. Er war ihr Brian, und sie gehörten zusammen. So war das Universum beschaffen. Brian sah sie fest an. »Sobald ich Jake gerettet hatte, wusste ich, dass ich meinen Zweck erfüllt hatte - und dass für mich endlich die Zeit gekommen war, weiterzuziehen.« »Es ist alles gut. Ich kann das jetzt in Ordnung bringen. Ich bin hergekommen, um dich mit zurückzunehmen. Jake ...« Sie schüttelte den Kopf, halb lachend, halb weinend. Sie und Brian und Jake waren wieder zusammen, und alles würde gut werden. Jetzt konnte sie beinahe über den Albtraum lachen, den sie Jakes wegen durchlitten hatte. Beinahe. »Jake ist hergekommen, um dich zu retten. Um dich nach Hause zu holen. Ich bin hier, um euch beide nach Hause zu bringen.« »Lauren ...« Lauren schüttelte den Kopf. »Sag nichts. Ich weiß, dass du wahrscheinlich alles erledigt hast, was du dort tun musstest, und dass dein Platz jetzt hier ist; das alles habe ich schon von Molly gehört. Aber Jake braucht seinen Daddy, und ich kann dafür sorgen, dass es Wirklichkeit wird. Wir können wieder wir sein, Brian.« Sie spürte Feuchtigkeit auf ihrem Hals und dachte einen Augenblick lang, dass vielleicht ein warmer Regen eingesetzt hatte. Und dann begriff sie, dass Brian weinte. 257 Ihr erster Gedanke war: Es gibt keine Tränen im Himmel. Und ihr zweiter war: Nein. Sag es mir nicht. Ich will es nicht hören. 13 Kupferhaus Etwas hatte sie beobachtet, aber Molly konnte es nicht länger spüren. Als die Rron fortflogen, bemerkte Molly ein wachsendes Schweigen in ihrem Geist, während das leise Summen des Lebens überall um sie herum verstummte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie dieses leise Summen wahrgenommen hatte, das dem Atmen so ähnelte, bis das Geräusch langsam verschwand. Zuerst war sie erschrocken, aber als sie die Leute um sie herum sich bewegen sehen konnte, noch während sie in ihren Gedanken still wurden, stieg ein jähes Bild in ihr auf, das Bild von etwas, das Jagd auf sie machte. Sie verließ Laurens Wohnräume mitsamt der Schar von Goroths, suchte sich ein ruhiges Plätzchen und verfiel in eine meditative Trance, etwas, das sie bei der Air Force gelernt hatte. Die Fähigkeit, Stille zu finden, hatte ihr geholfen, ihre Zeit in den Kasernen zu überleben - den Widerhall von Schmerz und Verletzungen, die Kater und die Krankheiten, die ihre Kameraden erdulden mussten und die sie nicht zu heilen wagte, die sie aber auch nicht ignorieren konnte. Sie wartete sehr lange, während der Druck in ihr zunahm und mit ihm ihre Gewissheit, dass sie nur auszuharren brauchte, um ihren Gegner bei einer Art Blinzeln des Geistes zu ertappen. Dann würde sie wissen, wer oder was sie jagte. Nur dass Birra und einige der Wachen irgendwann unru259 hig wurden, weil sie beharrlich schwieg und auf ihre Rufe nicht antwortete. Und als sie sie fanden - sie lag so still, als sei sie tot -, hatten sie sich mit Macht in ihre Gedanken gedrängt. In dem Augenblick, als die Trance brach, spürte Molly den Jubel ihres Feindes, gefolgt von einer totalen Leere, die ihr sagte, dass er nicht von ihr gefunden oder identifiziert werden wollte. Etwas jedoch hatte sie mitbekommen. Er war ein Rrön, aber unter den Rron, die über dem Kupferhaus gekreist waren, war er das, was ein Rolls-Royce Silverghost neben einem Ford Fiesta gewesen wäre. Er war unvorstellbar alt und mächtig, und trotz seines Alters und seiner Macht, oder vielleicht gerade deswegen, war er auch sehr vorsichtig. So viel begriff sie, dann brachte er das dürftige Bild, das sie von ihm gewonnen hatte, zum Erlöschen. Im größten Teil des Kupferhauses konnte sie nicht einmal genug Magie wirken, um ihre Gedanken gegen ihn abzuschirmen. Sie konnte jedoch wieder still werden und Wache halten. Er würde kommen und sie suchen. Er würde eine Möglichkeit finden. Und wenn er das prächtige Haus betrat, würde es auch ihn seiner Magie berauben, so dass er und sie ungefähr gleiche Chancen hatten. Also. Auf welche Weise konnte sie sich einen Vorteil verschaffen? Sie zog Waffen in Erwägung. Schwerter, Messer, Bögen und Armbrüste, Pistolen, Gewehre, militärische Ausrüstung, Dinge, die sie mit Magie heraufbeschwören konnte. Sie hatte ein gewisses Training im Kampf Mann gegen Mann absolviert, doch wünschte sie jetzt, ihre Ausbildung wäre gründlicher gewesen. Die Benutzung eines Schwertes traute sie sich nicht zu, auf die Entfernung, die für einen effektiven Einsatz von Bogen oder Armbrust vonnöten war, konnte sie sich nicht verlassen, und sie besaß keine der amerikanischen Standardwaffen, weder von der zivilen 260 noch von der militärischen Sorte, und hatte nicht die Möglichkeit, sie sich rechtzeitig zu beschaffen. Das Problem war die Zeit. Ihr Jäger würde sich bald auf den Weg machen. Sie wusste nicht, wie er in das Kupferhaus hineingelangen konnte - gewaltiges Albtraumungeheuer, das er war.
Sie wusste nur, dass er glaubte, an sie herankommen zu können. Wenn er es glaubte, dann hatte er Informationen, die sie nicht hatte; sein Verstand war der klarste und intelligenteste, dem sie je begegnet war. Sie spürte ihre Furcht, erinnerte sich aber an ihre Ausbildung bei der Air Force - dass dies ein Teil des Spieles war; dass jene, die lernten, mit der Angst zu arbeiten, statt sie zu leugnen, auch diejenigen waren, die überlebten, diejenigen, die Erfolg hatten. Einen winzigen Moment lang wünschte sie sich, sie wäre bei der Marine gewesen dort gab es für die Soldaten erheblich mehr Kampfpraxis. Aber Molly besaß den Killerinstinkt, und sie war nicht zimperlich. Sie würde einen Weg finden, um alles, was sie hatte, möglichst Gewinn bringend einzusetzen. Das Ding, das Jagd auf sie machte, war groß und böse, aber sie hatte die Absicht, trotzdem zu siegen. Sie wollte Seolar auf keinen Fall in der Nähe haben. Es war nicht nur sein Verrat, die Tatsache, dass er seine Pflicht über ihr Leben gestellt hatte. Es war auch ihre Angst, dass sie die Bewohner des Hauses in Schwierigkeiten bringen würde, deshalb wäre es das Beste und Ehrenwerteste, wenn sie sich von allen fern hielt, die ihr etwas bedeuteten. Sie war die Einzige, die zurückkommen würde - sie wollte Seolars Leben nicht auf dem Gewissen haben, selbst wenn sie kaum seinen Anblick ertragen konnte, seit sie wusste, dass er sie in diese Situation gebracht hatte. Wenn sie Laurens Wohnräume erreichen konnte, konnte sie so tun, als studiere sie das Notizbuch. Sie konnte die 261 Wachen draußen lassen, durch die hinteren Korridore in den sicheren Raum laufen und sich eine mächtige Waffe schaffen, die sie gegen das Grauen, das ihr auflauerte, einsetzen würde. In der Halle erwartete sie Birra mit den Wachen. Bemüht, ruhig zu wirken, so auszusehen, als sei alles in Ordnung, trat sie auf Birra zu. »Ich werde den Rest des Abends in Laurens Zimmer verbringen und ihr Manuskript studieren«, erklärte sie. »Ich denke, ich kann vielleicht irgendeine Möglichkeit finden, um sie zurückzurufen.« »Das sind wunderbare Neuigkeiten, Vodi«, sagte er. »Ich glaube jedoch, dass der Imallin gern mit dir sprechen würde.« Molly sah ihn fest an und antwortete: »Ich werde heute Abend nicht mit Seolar sprechen. Ich werde vielleicht ziemlich lange nicht mehr mit Seolar sprechen.« Birra sah sie erschüttert an, dann nickte er mit den Worten: »Wie du wünschst. Ich werde es ihm ausrichten.« »Nachdem du mich in Laurens Wohnräume begleitet hast, wenn es dir recht ist. Ich möchte da sein, falls sie sich meldet. Richte Seolar außerdem bitte aus, dass ich keinen Besuch von ihm wünsche. Was das betrifft, spreche ich als die Vodi. Ich werde keine Missachtung meiner Anordnungen dulden.« »Ja, Vodi«, sagte Birra. Sie eilten durch die Korridore zu Laurens Quartier. An der Tür empfing sie Rue mit einem nervösen »Ist sie zurückgekehrt?«. »Noch nicht«, antwortete Molly. Dann wandte sie sich an Birra. »Überbring ihm jetzt bitte meine Nachricht.« Birra nickte, und Molly schloss die Tür vor all den Veyär, die im Korridor standen. Anschließend wandte sie sich wieder an Rue. 262 »Ich werde heute Nacht hier arbeiten. Ich muss euch alle bitten, zu gehen - ich brauche die Räume meiner Schwester für mich allein.« »Wir werden keinen Lärm machen«, erwiderte Rue. Molly warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Eure Gedanken werden Lärm machen.« Er sagte nichts mehr, sondern verbeugte sich nur und sammelte die anderen Goroths ein. Molly zeigte auf die versteckte Tür, die zum Korridor der Dienstboten führte. »Hier entlang, wenn ihr so freundlich sein wollt.« Molly wartete, bis alle Goroths fort waren. Dann betrat sie ebenfalls den Korridor. Sie hatte keine Schwierigkeiten, etwas zu sehen - durch die Gitter im Fußboden und in der Decke drangen sowohl Luft als auch Licht, und ihre Augen, die nicht länger menschlich waren, kamen mit dem Halbdunkel besser zurecht, als sie es zu Hause getan hätten, wo sie nur Molly McColl gewesen war. Sie wollte jedoch nicht, dass der Rrön sie in diesen Korridoren erwischte - die Gänge waren zu schmal und zu eng, und es gab zu viele Sackgassen und Schlupflöcher, zu viele Türen, hinter denen Räume lagen, die sie nicht im Auge behalten konnte. Sie musste so schnell wie möglich den sicheren Raum erreichen. Dort konnte sie unverzüglich eine magische Falle errichten, die jeden Rrön tötete, sobald er durch die Tür trat. Sie wusste genau, wie sie es anstellen musste. Schließlich begann sie zu rennen, denn sie spürte einen seltsamen Druck auf ihrem Rückgrat und in ihren Eingeweiden - eine Nervosität, die sie weder ignorieren noch abschwächen konnte. Schneller. Er kam. Sie lief, rannte durch die Dunkelheit den Korridor hinab. Plötzlich und ohne Vorwarnung öffneten sich Augen in ihrem Geist, Augen, die sie beobachteten. Er war jetzt nicht mehr reglos, der Jäger, und es war ihm gelungen, ins Kup263 ferhaus zu kommen, ohne Argwohn zu erregen oder irgend jemanden zu erschrecken. Nichts Reales stand zwischen ihm und ihr, kein anderes Hindernis als Raum und ein wenig Zeit. Er versteckte seine Gedanken, aber seine Augen konnte er nicht verstecken. Ich brauche eine Waffe. Aber alles, was sie hatte, war Seolars Dolch. Sie stürzte die Rampe hinunter und spürte den Jäger hinter sich. Im Laufen raffte sie ihre Röcke und wünschte, sie hätte Shorts und Turnschuhe getragen. Sie wagte es nicht, einen Moment lang stehen zu bleiben, um die
dummen, natürlich zu ihrem Kleid passenden Slippers fester zuzubinden. Als sie einen der Schuhe verlor und aus dem Gleichgewicht zu geraten drohte, schleuderte sie auch den anderen von sich. Der raue Steinfußboden war eine Folter für ihre nackten Füße, aber ihr Tritt wurde sicherer, und sie bewegte sich schneller. Kurz darauf lief sie um die letzte Ecke und eine Rampe hinunter und kam in einen Weinkeller. Sie war irgendwo falsch abgebogen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dorthin zurückfinden sollte, woher sie gekommen war, und ohne den Vorteil, als Einzige Zugriff auf Magie zu haben, hatte sie keine Chance, den Rron in die Flucht zu schlagen. Ohne den sicheren Raum ... Sie sah sich um. An der hinteren Wand stand eine Holztür mit Stahlrahmen, die sich nach innen öffnete, einen Spaltbreit auf. Molly stürzte auf die Tür zu und schloss sie. Sie hievte Metallriegel in die beiden dazu vorgesehenen Aufnahmen auf jeder Seite der Tür, ein Unterfangen, für das sie ihr ganzes Gewicht benötigte - sie schätzte, dass die Dinger mehr wogen als sie selbst. Hätte sie nicht jeweils nur ein Ende hochheben können, wäre es ihr nie gelungen, die Tür zu versperren. 264 Aber am Ende schaffte sie es. Dann stand sie schwer atmend da und starrte den Dolch an. Sie musste herausfinden, wo ihr Verfolger war und was er tat. Molly lehnte sich an die Wand hinter ihr und ließ sich zu Boden sinken; trotz ihrer Angst ließ sie ihren Geist still werden, bis jeder Gedanke sich aufgelöst hatte. Die Augen in ihrem Inneren wurden heller und klarer, und plötzlich blickte sie selbst aus diesen Augen. Der Rron folgte weder ihren Gedanken noch ihrem Geruch, sondern einem Marker, den er ihrem Geist eingepflanzt hatte, sobald sie ihre Anwesenheit verraten hatte. Da sie jetzt durch seine Augen blickte, konnte sie den Marker erkennen, und sie konnte sehen, wie er konstruiert war ... und sie konnte außerdem sehen, wie er sich vielleicht ausschalten ließ. Einfach ... so ... Der Marker erlosch mit einem Flackern, und der Rron geriet ins Stocken und blieb stehen. Molly verharrte vollkommen reglos. Ihr Feind hatte die Gestalt eines Mannes angenommen - sie hatte nicht gewusst, dass die Rron dazu imstande waren, hätte aber eigentlich mit etwas Derartigem rechnen müssen. Auch sie konnte ihre Gestalt verändern, ebenso wie andere Oberweltler. Die Magie bot ihnen diese Möglichkeit. Der Rron schien auf den ersten Blick ein Veyär zu sein, aber seine Maskerade war nicht besonders gut. Er hatte Magie benutzt, um die Gedanken der Männer an den Toren zu trüben, um sie davon zu überzeugen, dass sie ihn kannten und Grund hatten, ihm zu vertrauen. Mit dieser List war er durch die Tore gekommen. In einem riesigen Käfig aus Kupfer konnte er derartige Tricks jedoch nicht anwenden. Seine Gestalt würde Bestand haben, aber wer immer ihn sah, würde ihn als das erkennen, was er war. Molly stieß auf diese Tatsache, weil sie 265 als ein scharfer, winziger Eindruck am Rand des Bewusstseins des Rrön lauerte, ein Gedanke, den zu verbergen er sich nicht die Mühe gemacht hatte, weil er ihn für unwichtig hielt. Er trug keine Waffen bei sich, hatte aber keinen Zweifel daran, dass er alles würde zerstören können, was sich ihm in den Weg stellte. Und er hatte die volle Absicht, genau das zu tun. Wenn er mit ihr, Molly, fertig war, wollte er jeden töten, dem er auf dem Weg ins Freie begegnete, einfach zum Spaß. Still... still. Molly sorgte dafür, dass ihre Gefühle und Reaktionen dem Ungeheuer auf keinen Fall ihre Anwesenheit verrieten. Als sie seinen Marker gelöscht hatte, hatte er seine Gedanken zum Stillstand gebracht, aber er konnte sich den Luxus nicht leisten, still zu sitzen und darauf zu warten, dass sie ihre Anwesenheit preisgab. Sie hatte sich einen festen Platz gesucht; er musste weitergehen, um sie zu finden. Er bewunderte sie. Sie erregte ihn. Auf eine seltsame Weise gefiel es ihm, dass sie den Marker gefunden hatte, es hatte etwas merkwürdig Befriedigendes für ihn, dass es ihr gelungen war, zu verschwinden, gerade als er sich am Ziel wähnte. Er sehnte sich nach einer Herausforderung und betrachtete sie als ebenbürtig oder doch als fast ebenbürtig. Er verachtete die Rrön, die über dem Kupferhaus gekreist waren. All das entnahm sie einzelnen seiner Gedanken, einfach indem sie vollkommen reglos blieb. Er setzte sich wieder in Bewegung und folgte dem Weg weiter, den er eingeschlagen hatte, als Molly verschwunden war. Am Ende würde dieser Weg ihn zu Molly führen, wenn auch nicht mit der Geschwindigkeit, mit der er sich ihr zuvor genähert hatte. Noch immer wartete Molly, Herz, Blut und Gedanken beinahe reglos. Er suchte nach ihr, er machte Jagd auf sie ... aber warum? 266 Sie war die Vodi. Sie war ebenso unsterblich wie er. Beide konnten sie getötet werden, aber beide würden sie einfach zurückkehren. Was also wollte er? Sie wartete, wartete schweigend hinter seinen Augen, kalt und geduldig innerhalb seiner Gedanken. Er war vorsichtig; er bewegte sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit, blieb gelegentlich stehen, um zu schnuppern, und Molly begriff, dass er eine Witterung aufgenommen hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass sie ihn zu ihr führen würde. Er hatte sich inzwischen eine klare Vorstellung davon verschafft, wie sie roch. Nachdem er ihre Fährte aufgenommen hatte, bewegte er sich nun wieder schneller. Einmal blieb er stehen, und durch seine Augen sah sie ihre Schuhe. Er wandte sich wieder von den Schuhen ab. Sie bestätigten ihm nur, was er bereits wusste.
In wenigen Minuten würde er sie finden. Seine Erregung schwoll an, und plötzlich, nur für einen winzigen Moment, flackerte sein Plan in Mollys Gedanken auf. Er hatte nicht die Absicht, sie sofort zu töten. Er wollte sie lange genug am Leben halten, um ihr die Kette abzunehmen. Dann wollte er sie töten - auf diese Weise würde er sie für alle Zeit vernichten. Sie würde nicht zurückkommen. Er und seinesgleichen würden den Sieg davontragen, und sie und ihresgleichen würden verlieren. Baanraak bog um eine weitere Ecke, und durch seine Augen konnte Molly sehen, wie der Fußboden flach wurde, und sie erkannte eine Reihe von Weinfässern, die vor ihm standen. Und hinter den Weinfässern lag eine Tür. Ihre Tür. 267 Das Jenseits Lauren, die noch immer Brians Tränen warm auf ihrem Hals spüren konnte, löste sich aus seiner Umarmung und fasste ihn an den Schultern. »Du kommst mit mir nach Hause, Bri. Ich bin zu weit gegangen und habe zu viel durchgemacht, um Ausreden zu akzeptieren.« Er lächelte das traurigste Lächeln, das sie je gesehen hatte, und legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Ich gehöre dort nicht mehr hin, mein Liebes. Ich habe meine Aufgaben erledigt. Und dir öffnen sich jetzt andere Türen, du musst noch andere Schritte auf dem von dir erwählten Weg machen. Ich habe keinen Platz auf diesem Weg in diesem Leben nicht mehr.« Lauren bückte sich und nahm Jake auf den Arm. Der Junge protestierte ein wenig, schien aber ihre Stimmung zu spüren. Er beruhigte sich schnell, schlang die Arme um ihren Hals und sagte: »Siehst du? Ich bin Superman. Ich habe Daddy gefindet.« Lauren blickte von Jake zu Brian und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Du wirst immer einen Platz in unserem Leben haben«, sagte sie. »Ja. Als Erinnerung. Oh, Lauren - die ganze Situation ist so kompliziert, aber ich kann nicht mit dir heimkehren.« »Nein«, antwortete Lauren. »Das kann ich nicht akzeptieren. Er hat dich gefunden, Bri. Er ist durch die Hölle gegangen, um dich zu retten. Er braucht dich, und ich brauche dich auch.« Sie wandte sich ab und spürte, wie ihr Tränen den Hals hinunterliefen. Sie holte bebend Luft und drehte sich dann wieder zu ihm um. »Du hättest nicht in diesem Unfall sterben sollen, du hättest mich damals nicht verlassen sollen, und das weißt du. Du hast es versprochen.« 268 Er sah sie an und sagte nichts. Sie blickte in seine Augen und wollte ihn dazu zwingen, zu sagen, dass er einen Weg finden oder einen Weg schaffen würde und dass er und sie wieder zusammen sein würden. »Komm schon, Brian«, flüsterte sie. »Machen wir, dass wir hier wegkommen.« »Ich habe ein Abkommen getroffen«, antwortete er schließlich. Und dann schwieg er. Lauren wollte es nicht hören, fragte aber dennoch. »Was für eine Art von Abkommen?« »Als Jake starb, hatte ich die Chance, ihn am Leben zu erhalten, während er zwischen den Welten war. Aber nach meinem Tod hätte ich nicht in deiner Nähe bleiben dürfen; ich hätte unverzüglich hierher kommen müssen. Ich habe es nicht getan, aber um Jake retten zu können, musste ich meinen Frieden mit diesem Ort machen, denn ich musste Jake einen Teil meiner selbst geben - einen Teil meiner Seele. Es war keine Garantie dafür, dass er weiterleben würde, wenn er die andere Seite erreichte, denn wenn Molly sich nicht für ihn geopfert hätte, hätte ich diesen Teil meiner selbst verloren, und er wäre trotzdem gestorben.« Brian seufzte. »Aber ich tat, was ich tun musste, und Molly tat, was sie tun musste, und Jake hat überlebt.« Lauren nickte. »Aber als ich einen Teil von mir selbst Jake gab, bin ich auf dem ... nun ja, auf dem riesigen Radar aufgetaucht, in Ermangelung eines besseren Wortes. Denn auch das dürfen wir eigentlich nicht tun, nur mit dem Unterschied, dass dich niemand sucht, wenn du dich nach deinem Tod versteckst. Wenn du allerdings als Seele, die sich sozusagen unerlaubt von der Truppe entfernt hat, plötzlich auffällige Dinge tust, die du nicht tun darfst, haben sie dich plötzlich am Haken und ziehen dich rüber.« 269 »Mistkerle.« Brian zuckte die Achseln. »Es gibt Gründe. Seelen sollten sich eigentlich zwischen zwei Leben erholen, sollten aus ihren Taten lernen und ein Weilchen darauf verwenden, ihre nächsten Herausforderungen auszuwählen, oder sich überlegen, wie sie die Herausforderungen, an denen sie sich noch einmal versuchen müssen, besser in den Griff bekommen können ...« Er bedachte sie mit jenem schiefen Lächeln, das sie immer an ihm geliebt hatte. »Ich habe an deinem Bett gesessen, während du schliefst, habe dir übers Haar gestrichen oder bin in Jakes Zimmer gegangen und habe ihn nach dem Aufwachen beim Spielen beobachtet. Ich habe in der Küche herumgelungert, während du für dich und Jake das Essen gemacht hast, und mir gewünscht, wir beide könnten wieder zusammen kochen. Ich habe mich nicht ausgeruht oder erholt, und ich habe auch nicht am Wachstum meiner Seele gearbeitet. Ich habe mich nicht vorwärts bewegt. Ich habe ... festgesessen.« »Aber jetzt brauchst du nicht länger festzusitzen.« Brian zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. »Du hast, wie ich sehe, noch immer nicht die Kunst gelernt,
eine Niederlage mit Würde einzustecken.« »Ich habe auch nicht die Absicht, das zu lernen. Was bedeutet es schon, eine Niederlage einzustecken? Es heißt doch nur, dass man verliert, obwohl man immer noch die Chance hat, vielleicht zu gewinnen. Ich habe die Absicht, zu gewinnen.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie auf einen Weg. Als sie eine Weile gelaufen waren, begriff Lauren, dass sie auf einen See zugingen, fort von ihrem steinernen Bogen, der sie, Jake und Brian nach Oria und in ein gemeinsames Leben zurückführen würde. »Laurie, hör mich an. Sie haben mich völlig zu Recht sterben lassen. Ich hatte die Regeln 270 nicht nur einmal gebrochen, sondern zweimal. Damit sie mir die Dinge durchgehen ließen, die ich Jakes wegen getan hatte, musste ich mich verpflichten, mich für unbestimmte Zeit aus dem Leben zurückzuziehen. Ich werde kein neues Leben beginnen, bis ... ich weiß es nicht. Es wird wohl lange dauern. Bis ich gelernt habe, loszulassen.« »Keiner von uns versteht sich gut darauf, loszulassen«, versetzte sie. »Aber das ist doch nichts Schlimmes. Das ist etwas Gutes. Wir gehören zusammen.« »Du und Jake, ihr gehört zusammen.« Er lachte leise. »Ihr seid wirklich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ich? Hm, ich bin der Grund, dass du Jake noch hast, und das war das Beste, das ich in jenem Leben getan habe.« »Sie haben mir gesagt, dass ich auch Jake nicht mit zurücknehmen kann.« Brian schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe mit ihnen ausgemacht, dass Jake sein Leben leben darf. Sie werden nicht mogeln.« Er schüttelte den Kopf. »Aber du verstehst nicht, worauf ich hinauswill, Laurie. Ich sollte sterben, als ich starb. Du solltest weiterziehen.« »Ohne dich? Nein.« »Dir stehen jetzt andere Möglichkeiten offen. Neue Wege.« »Ich will keine anderen Möglichkeiten oder neuen Wege«, entgegnete sie. »Und das Gleiche gilt für Jake. Wir wollen dich. Wir lieben dich. Genug Ausreden, genug Bürokratie, genug Leute, die dir sagen, was angeblich gut für dich ist. Komm mit nach Hause. Ich bringe uns hin.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, sah ihr in die Augen und schüttelte langsam den Kopf. »Setz Jake für einen Augenblick auf den Boden. Es wird ihm nichts passieren.« Lauren stellte ihren Sohn auf das Gras. Jake setzte sich hin und blickte zu ihr auf, plötzlich sehr ernst und geduldig. 271 Brian sagte: »Wir haben diese Gelegenheit, einander Lebewohl zu sagen, du und ich. Diese eine Gelegenheit, für die du so hart gekämpft hast. Vergeude sie nicht. Küss mich und sag mir, dass du mich liebst.« Lauren kämpfte gegen die Tränen an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Tot ist tot, Laurie. Und mein Wort ist mein Wort. Ich liebe dich, und ich werde dich für immer lieben. Wenn du hierher zurückkommst - wenn du wirklich hierher gehörst -, werde ich hier sein und auf dich warten. Aber ich bin nicht die letzte Liebe, die du in deinem gegenwärtigen Leben haben wirst. Küss mich und sag mir Lebewohl und fang wieder an zu leben.« »Oh, Brian, es gibt niemanden wie dich.« »Das will ich hoffen.« Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, und sie sah Tränen auf seinen Wangen. »Ich möchte nicht, dass du einen Ersatz für mich findest - das würde bedeuten, dass du in der Vergangenheit lebst. Schau einfach nach vorn. Und denk daran, dass du frei bist. Der Himmel kennt keine Eifersucht - hier haben alle, die wir lieben, Raum, um zu blühen und zu gedeihen.« Er zog sie an sich und küsste sie so ungestüm, wie er es früher immer getan hatte, wenn sie im Hangar standen und Lauren das Flugzeug draußen auf der Rollbahn schon hörte, das nur darauf wartete, ihn wieder von ihr fortzubringen. Sie erwiderte seinen Kuss, ließ sich in seine Umarmung sinken und wünschte sich so sehr, dies wäre das erste Mal, nicht das letzte. Wünschte sich, dies würde ewig dauern. Aber Brian löste sich von ihr, bückte sich und nahm Jake in die Arme. »Ich freue mich, dass du mich besucht hast, Sportsfreund. Aber du weißt, dass du nicht wieder herkommen darfst.« 272 »Ich weiß.« Jake nickte. »Und du weißt, dass ich immer in dir sein werde.« Er tippte Jake auf die Brust. »Ich weiß.« »Pass auf deine Mommy auf«, flüsterte Brian und zog Jake fest an sich. Jake schlang seinem Vater die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wange. »Ich wollte Superman sein«, sagte er. »Ich wollte dich retten.« »Du wirst Mommys kleiner Superman sein müssen, okay? Sei ein braver Junge. Ich bin stolz auf dich.« Er stellte Jake wieder auf das Gras. »Geh jetzt mit Mommy. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.« Brians Gesicht verzog sich, und er musste sich abwenden. »Noch nicht«, flüsterte Lauren. »Ihr müsst gehen«, sagte Brian. »Ihr werdet dort drüben gebraucht.« Er drehte sich um, um sie noch einmal
anzusehen, und zwang sich zu einem winzigen Lächeln. »Ich werde hier sein, wenn ihr zurückkommt.« Endlich akzeptierte Lauren es. Er würde nicht nach Hause kommen. Keine Rettung in letzter Minute, kein Wunder, keine Stimme Gottes, die über ihnen sagte: »Geht. Geht. Ihr habt so sehr darum gekämpft, zusammen zu sein - ihr habt es verdient.« Da war nur dieses Tor, das auf sie wartete. Und Jake. Und das Wissen, dass sie zu Hause gebraucht wurde. Sie nahm Jake hoch und setzte ihn sich auf die Hüfte. »Du wirst mir fehlen, Bri.« »Du mir auch. Aber es dauert nie so lange, wie es scheint. Im Allgemeinen dauert es nicht einmal so lange, wie du es dir wünschst. Sei glücklich. Das wird auch mich glücklich machen.« Mit Jake, der ihr die Beine um die Taille geschlungen hat273 te, in den Armen, legte sie eine Hand auf das Tor und sagte: »Ich möchte nach Hause gehen.« »Auf Wiedersehen, Daddy«, schrie Jake. Und dann trat Lauren hindurch. Auf eine gesichtslose, graue Ebene unter einem gesichtslosen, grauen Himmel, und jetzt gab es dort nicht einmal eine Straße, die die Ebene teilte und ein gewisses Gefühl von Richtung und Endlichkeit vermittelte. »Oh, nein«, flüsterte Lauren. »Das ist nicht der Ort, zu dem wir wollten.« Sie schloss die Augen und beschwor eine Straße unter ihren Füßen herauf. Dann stattete sie sie mit einem Wegweiser aus, auf dem NACH HAUSE stand, und begann zu gehen. »Hier gefällt es mir nicht«, sagte Jake. »Du hast gesunde Instinkte, kleiner Wolf.« Sie drückte ihn fester an sich und ging schneller. »Du weißt, warum du hier bist«, sagte der Verwalter. Seine Stimme klang, als wäre er direkt hinter ihnen, obwohl Lauren den Geräuschen an diesem Ort nicht traute. Trotzdem spähte sie über ihre Schulter, als Jake ein leises Wimmern ausstieß und das Gesicht an ihrem Hals verbarg. Sie wünschte, sie hätte es nicht getan. Der Verwalter stand direkt hinter ihr, eingehüllt in sein fließendes, windgepeitschtes Schwarz, und mit ihm waren hundert schwarz gekleidete Klone gekommen, allesamt gesichtslose Gestalten, die sich unter ihren dunklen Kapuzen versteckten, die Arme über der Brust verschränkt und Tadel in ihrer ganzen Haltung. Sie sagten nichts. Sie standen einfach nur da. »Ich werde nicht ohne meinen Sohn fortgehen«, erklärte Lauren. »Brian hat ein Abkommen getroffen - er würde hier bleiben und lernen, was er zu lernen hat, und Jake werde sein Leben zu Ende leben dürfen.« 274 »Das Kind hat sein Leben zu Ende gelebt«, erwiderte der Verwalter. »Er hat es aus eigenem Antrieb verlassen. Und es gibt einige Regelwidrigkeiten in seinem Fall.« »Er ist drei«, schrie Lauren. »Wenn man drei ist, hat man keinen eigenen Antrieb.« »Ein Teil von ihm ist viel älter.« »Der größte Teil von ihm ist es nicht Ihr werdet jetzt nichts mehr an dem Abkommen ändern!« »Wir haben nichts daran geändert. Wir setzen lediglich seine Bedingungen durch.« »Er Lebt« »Der Teil von ihm, der hierher gehört, ist groß genug, um uns das Recht zu geben, Anspruch auf ihn zu erheben und ihn zu behalten.« »Jake ist hergekommen, weil er seinen Daddy liebt. Er ist ein kleiner Junge, und er wollte Brian retten, und ihr wollt ihm wegen einer Regelwidrigkeit sein Leben stehlen und mir meinen Sohn wegnehmen. Ich dachte, der Himmel sei ein Ort der Liebe. Ein Ort, frei von Kleinkariertheit und bürokratischer Scheiße.« »Regeln sind wichtig. Du kannst denken, was du willst, aber das Kind bleibt hier. Und wenn du ihn uns nicht freiwillig überlässt, wirst du den Rest deines Lebens allein auf dieser Ebene zubringen.« »Geht zur Hölle«, sagte Lauren. »Ihr bekommt meinen Sohn nicht.« »Ja, Mama«, flüsterte Jake. Der Verwalter begann zu sprechen und mit ihm all die schweigenden Gestalten. Kraft der uns verliehenen Autorität, geführt von der Hand all dessen, das uns geschaffen hat, 275 verurteilen wir, die wir die Schlüssel des Tores verwalten, das zwischen Leben und Tod und Jenseits steht... Aber Lauren hörte nur den ersten Teil: Kraft der uns verliehenen Autorität. »Ihr seid nicht die letzte Autorität!«, überschrie sie den Singsang der dunklen Gestalten. »ICH WILL MIT DEM KERL REDEN, DER HIER DAS SAGEN HAT!« Das brachte sie für einen Augenblick zum Schweigen. Der Verwalter brach seinen Singsang ab, ebenso wie der gesichtslose Mob hinter ihm. Sie alle wirkten wie vom Donner gerührt, und einen langen, herrlichen Augenblick standen sie schweigend da. Dann sagte der Verwalter pikiert: »Nun, das ist nicht möglich. Ich kümmere mich um Fälle wie deinen.« Lauren war jedoch lange genug die Ehefrau eines Soldaten gewesen, um zu wissen, wann man sich an die vorgegebene Hierarchie halten musste. Sie wusste aber auch, wann man sich gegen das System auflehnen musste. Sie sog die Macht dieses Ortes in sich auf, griff nach dem ungeheuren Potenzial der gesichtslosen,
grauen Ebene, des endlosen grauen Himmels und des trostlosen Lichtes und machte ihren Anspruch darauf geltend, den Anspruch, diese Kraft zu ihren eigenen Zwecken einzusetzen. Langsam reckte sie sich dem Himmel entgegen und nahm Jake mit sich. Zuerst überragten sie nur den Verwalter und seine Kumpane, dann auch die Linie der Straße, die sie geschaffen hatte, und die jetzt zusammenschrumpfte, bis sie wie eine mit dem Lineal auf graues Papier gezeichnete Bleistiftkontur aussah. Sie und Jake wurden immer größer und gewaltiger, sie klammerten sich aneinander fest und sahen sich in die Augen, bis selbst die Bleistiftlinie, die die Straße gewesen war, ver276 schwand und die Ebene wieder gesichtslos wurde. Plötzlich erklang jedoch eine Stimme: »Hast du etwa die Absicht, die Ewigkeit auszufüllen?« Die Stimme war männlich und freundlich, und sie schien gleichzeitig von nirgendwo und von überallher zu kommen. »Ist es das, was ich tun muss, um Jake und mich von hier fort und zurück nach Hause zu bringen, wo wir hingehören?« Das Licht um sie und Jake herum wurde heller und heller, auf eine unvorstellbare Art und Weise. Es war ein wunderschönes Licht, warm und liebevoll, und Lauren hatte keine Angst in seiner Gegenwart. »Ihr beide - Mutter und Sohn - seid Seelen, die wirklich gut zusammenpassen«, bemerkte die Stimme. »Eure Liebe und euer Mut gereichen euch beiden zur Ehre.« »Ehre ist eine tolle Sache«, erwiderte Lauren. »Aber was hatte die Bemerkung dieses ... dieses Verwalters zu bedeuten? Was ist mit dem Urteil, das er über uns beide gesprochen hat?« »Das habe ich wieder aufgehoben. Der Verwalter hat seine Befugnisse überschritten. Du musst jedoch ein wenig Mitleid mit ihm haben. Seelen in den unteren Bereichen zieht es immer zu Situationen, die ihnen vertraut vorkommen. Wir haben oft Probleme mit seinesgleichen - so viele Bürokraten steigern sich nach ihrem Tod in diese Art von Hunger hinein: Sie wollen das kleine bisschen Macht, über das sie im Leben geboten, unbedingt auch hier wieder finden, so sehr, dass sie nicht davon ablassen können. Sie verfangen sich in den grauen Orten und üben ihre Macht über andere aus, die noch kleiner sind als sie selbst. Einige von ihnen finden niemals das Glück der Freiheit, das Macht über niemanden als sich selbst bedeutet, an einem Ort, an dem jeder genauso viel und genauso wenig 277 Macht besitzt. Einige von ihnen - vielleicht sogar der Verwalter selbst - werden die Ewigkeit dort verbringen, außerstande, sich zu befreien und zu besseren Dingen weiterzugehen.« Lauren sah Jake hoffnungsvoll an. »Dann dürfen wir nach Hause zurückkehren?« Ein verhaltenes Lachen. »Ihr dürft beide nach Hause zurückkehren. Bevor ihr geht, hätte ich noch eine kleine Nachricht für deine Molly.« Nicht Molly, bemerkte Lauren, sondern deine Molly. Sie nickte. »Jene, die mit einer Seele geboren werden, verlieren diese häufig oder werfen sie fort. Aber ein Mensch wie deine Molly, der ohne Seele geboren wurde, hat durchaus die Chance, in sich eine entstehen zu lassen.« »Molly könnte ihre Seele zurückbekommen?« »Nein. Deine Molly hat nie eine Seele gehabt. Sie wurde geboren, nachdem die erste Molly starb, und sie sind nicht dieselbe Person.« »Aber trotzdem ist sie wirklich eine Person.« »Wenn sie sich dafür entscheidet, eine zu sein.« Seine Stimme wurde sanft. »Nun, meine lieben Kinder, wird es Zeit für euch, zu gehen. Gebt gut Acht aufeinander, findet euer Schicksal... und kommt nicht allzu bald wieder her.« Noch ein leises Kichern, und er war fort, und das strahlende Licht war fort, und die graue Ebene war fort. Lauren und Jake trieben im Nichts dahin. Vor ihnen erschien ein winziger Funke grünen Feuers; er dehnte sich rasch aus und verwandelte sich in ein Tor. Auf der anderen Seite konnte Lauren den Raum in Oria sehen, durch den sie hierher gekommen war. Ausgestoßen aus dem Himmel, dachte sie. Ohne Brian oder Molly waren sie nun wieder genau dort, wo sie ange278 fangen hatten. Sie hatten nichts erreicht, nichts zuwege gebracht, nichts gewonnen. Als das grüne Feuer sie einhüllte, schmiegte sich Jake an sie, und Lauren drückte ihn fest an sich. Zumindest, dachte sie, hatten sie auch nichts verloren. 14 Kupferhaus Baanraak wusste, dass seine kleine Vodi sich hinter der Tür versteckte. Er konnte sie dort drinnen riechen, und ihr Geruch war der eines lebenden Wesens. Aber er konnte ihre Gedanken nicht finden, er konnte sie nicht atmen hören, er konnte nicht einmal spüren, ob sie ihn wahrnahm. Er bewunderte ihr Geschick - aber sie hatte einige Fehler begangen, von denen sie sich nie wieder erholen würde. Sie war geflohen, statt zu kämpfen; sie hatte andere aus einer fehlgeleiteten Selbstlosigkeit heraus daran gehindert, sich zu opfern, um sie zu retten. Hätte sie sich anders entschieden, hätten die Veyär ihn vielleicht aufgrund ihrer überlegenen Zahl besiegt, und wenn sie
ihn nicht besiegt hätten, hätten sie ihn vielleicht so sehr verletzt, dass die Vodi ihn selbst hätte schlagen können. Außerdem hatte sie sich von der Magie wegbewegt, statt auf sie zuzugehen; wenn sie die Magie vor ihm erreicht hätte, hätte sie sie vielleicht schnell genug gegen ihn wenden können, um ihn zu töten oder sogar zu vernichten. Und in einem Kampf, in dem es nur um Stärke ging, würde sie ihn nicht besiegen. Sie konnte es nicht. Er hatte ungezählte Jahrtausende Erfahrung im Kämpfen und Sterben, Erfahrung darin, zu leben, um abermals zu kämpfen und die Fehler zu vermeiden, die er zuvor gemacht hatte. Nach den Maßstäben ihrer eigenen Spezies war sie kaum mehr als ein Kind - nach seinen Maßstäben existierte sie eigentlich noch gar nicht. 280 Er musste einen jähen Stich der Enttäuschung unterdrücken und der Versuchung, sich abzuwenden und ihr eine zweite Chance zu geben, um es besser zu machen, widerstehen. Er würde keinen würdigen Gegner finden. Nicht jetzt, niemals. Er war der Einzige seiner Art, und er konnte ebenso gut hineingehen, seinen Klunker nehmen, dessen Trägerin töten und zu seinem Felsen zurückkehren, um sich in der Sonne zu aalen. Es war eine törichte Hoffnung gewesen, seine Existenz könne ihm vielleicht noch einmal eine Herausforderung bieten, etwas, das ihn erregte, etwas, um das zu kämpfen es sich lohnte ... Sie hatte die Tür verriegelt, und es war ein schwerer Riegel. In dieser menschlichen Gestalt würde er ein paar Minuten brauchen, um die Tür einzurennen. Er konnte sich nicht wieder in seine natürliche Gestalt zurückverwandeln, die es ihm ermöglicht hätte, das Ding zu zerbrechen, als sei es aus verrotteten Zweigen gefertigt. Daran war das verdammte Kupfer schuld; es war keine Herausforderung, durch eine Tür zu gelangen, das war lediglich ein Hindernis und noch dazu ein jämmerliches. Er verlagerte sein Gewicht, das sich nicht zusammen mit seiner Gestalt verändert hatte, und übte langsam und stetig Druck auf den schwächsten Teil der Tür aus, die Stelle direkt über dem Boden gegenüber den Angeln, wo keine Halterungen der Konstruktion Festigkeit gaben. In diesem Moment gab die Tür langsam nach und wölbte sich nach innen. Baanraak nickte und verstärkte den Druck. Nicht mehr lange, und er würde nach Hause zurückkehren können. 281 Kupferhaus Molly folgte all seinen Gedanken, seiner Einschätzung ihrer Situation, seinen Überlegungen in Bezug auf die Frage, an welchen Stellen sie falsch gehandelt hatte. Sie ließ sich von seinen Erwägungen durchströmen, obwohl sie zunächst nicht auf die Informationen reagierte. Sie nahm sie einfach in sich auf und versuchte, Mängel in den Schlussfolgerungen ihres Gegners zu finden. Es gab keine. Sie war allein, sie saß in der Falle und hatte nur eine Waffe, auf deren Benutzung sie sich kaum verstand, und er war ein Killer, der länger getötet hatte, als ihre Spezies zivilisiert war. Sie konnte ihn nicht besiegen, sie konnte nicht gewinnen. Dann wurde ihr blitzartig klar, dass es eine - und nur eine - Möglichkeit gab, wie sie ihn schlagen konnte. Und noch bevor sie darüber nachdenken und sich verraten konnte, ergriff sie ihre Chance. Kupferhaus Baanraak überlegte gerade, dass er nur noch ein oder zwei Sekunden brauchen würde, um auf die andere Seite der Tür zu gelangen, als ohne Vorwarnung die Gedanken der Vodi für einen kurzen, flammenden Augenblick aufloderten. Dann war plötzlich nur noch Schmerz da, ein Schmerz, der direkt durch sein Gehirn zuckte, so wild und unverständlich, dass er auf Hände und Knie fiel, sich auf dem Steinboden erbrach und sich schreiend wie ein Fötus zusammenrollte. Seine Blase entleerte sich, und er verlor die Kontrolle über seine Därme. Er krümmte sich und schrie. 282 Der Schmerz verebbte jedoch. Was immer sie ihm angetan hatte, ließ schnell nach, und er rappelte sich wieder hoch und nahm sich vor, ihr seinerseits dafür Schmerz zuzufügen. Er hatte keine Ahnung, wie es ihr gelungen war, ihn ohne Zuhilfenahme von Magie derart außer Gefecht zu setzen, aber in diesem Augenblick hatte er solche Qualen erlitten, wie er sie nur bei den wenigen Gelegenheiten erlebt hatte, als man ihn folterte. Argwöhnisch erhob sich Baanraak. Seine Sinne waren immer noch verwirrt, der Gestank seiner Exkremente und des Erbrochenen drangen an seine Nase, beharrliche Lichtblitze machten ihn halb blind - hatte er sich den Kopf angeschlagen, als er zu Boden gefallen war? -, und jene erste, schreckliche Explosion, mit der sie ihn angegriffen hatte, machte ihm das Denken schwer. Er schauderte bei der Vorstellung, sich noch einmal gegen diese Tür zu werfen. Es war der Vodi bemerkenswert gut gelungen, echte Zweifel in ihm zu wecken, ob er ihr wirklich nachsetzen wollte. Konnte sie, was immer sie getan hatte, noch einmal tun? Er wusste, dass er geschrien hatte, und das ziemlich laut. Jetzt würden überall im Haus Soldaten nach ihm suchen, und er vermutete, dass er ihnen mit seinem Schrei verraten hatte, wo er zu finden war. Wenn er Pech hatte, würde er im Handumdrehen von einer ganzen Horde bewaffneter Veyär umzingelt sein, und seine Beute würde ihm entwischen. Er konnte es nicht fassen. Er hatte keinen Ausweg für sie gesehen, und doch hatte sie es fertig gebracht, ihn zu schwächen. Jetzt war sie auf der anderen Seite der Tür wieder vollkommen still - er konnte keine noch so kleine Spur ihrer Gedanken finden. Sie war wieder genauso tief untergetaucht wie zuvor. Emotionslos, dachte er, oder mit atemberaubender Selbstbeherrschung war es ihr gelungen, sich aus den Tie283
fen ihres Verstecks zu erheben, ihn mit einem einzigen Schlag in die Knie zu zwingen und sich dann wieder vor ihm zu verstecken. Er lächelte schwach. Er würde trotzdem den Sieg davontragen, aber bei den Göttern, sie war eine stärkere Gegnerin, als er für möglich gehalten hatte. Wieder drückte er gegen die Tür, und diesmal wappnete er sich gegen einen neuerlichen Blitz, der sein Gehirn treffen würde - aber jener zweite Angriff kam nicht, und als er aus der Ferne Schritte und Rufe hörte, die sich langsam näherten, gab die Tür nach, und er stürzte mit gebogenen Krallen hindurch. Und dann sah er, dass sie doch gewonnen hatte. Sie lehnte schlaff an der Mauer, das Gesicht auf ein Knie gebettet, vollkommen entspannt, als habe sie keinen einzigen Knochen im Leib. Mit den Fingern ihrer rechten Hand hielt sie locker den Griff eines langen Messers umfasst. Die Klinge war rot von ihrem Blut. Lange Sekunden musterte er sie, obwohl er sich der näher kommenden Gefahr durchaus bewusst war. Er hatte jedoch das Gefühl, dass er sich diesen Augenblick und diese Feindin einprägen musste. Sie hatte das getan, was er einmal in einer ähnlichen Situation auch getan hatte - gejagt von einem klügeren und mächtigeren Feind, hatte er im letzten Moment begriffen, dass seine größte Gefahr nicht im Sterben, sondern im Leben lag, und er hatte sich, ohne lange zu zögern, getötet. Obwohl er nicht so gerissen gewesen war, seinen Schmerz und das Entsetzen über seinen eigenen Tod mit seinem Feind zu teilen. Das war ein Geniestreich gewesen. Sie hatte ein Glücksspiel gespielt und dabei mehr gewonnen, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Als Baanraaks Verfolger seinerzeit begriffen hatte, dass Baanraak nicht nur ein würdiger Gegner war, sondern auch ein wür284 diger Nachfolger, hatte er das goldene Band, mit dem Baanraak Fleisch und Geist aneinander gekettet hatte, nicht zerstört. Stattdessen hatte er Baanraak auch des letzten Restes seiner Sterblichkeit entkleidet, und als er so hart wie ein Diamant gewesen war, hatte der Alte ihn ausgebildet. Als Baanraak schließlich der perfekte Jäger gewesen war, der perfekte Krieger und der perfekte Killer, war der Alte zu ihm gekommen und hatte sich von der Last der Unsterblichkeit erlösen lassen. Hatte sich durch die Klinge eines Mannes, der würdig war, diesen letzten Hieb zu führen, von den Schmerzen und der Mühsal der Existenz befreien lassen. Baanraak kniete neben der Vodi nieder und strich ihr sachte das Haar vom Hals. Er öffnete die Kette, die sie trug; jetzt, da die Vodi tot war, konnte er die Kette ohne weiteres an sich bringen, während er einen höllischen Kampf hätte führen müssen, um sie der jungen Frau abzunehmen, solange diese noch lebte. Er legte das Schmuckstück nicht selbst an - das Seelengold der Unsterblichen vernichtete jeden, der versuchte, ein aktives Stück zu tragen. Baanraak ließ die Kette stattdessen in einen kleinen Beutel gleiten, den er an den Gürtel um seine Taille band. Als der Beutel an seiner Hüfte herunterbaumelte, griff er nach der Waffe der Vodi und ging auf die Tür zu. Die Soldaten, die sich dem Raum näherten, würden glauben, dass er sie getötet hatte, aber das spielte keine Rolle. Die Überlebenden würden ihn verfolgen, ganz gleich, was er tat; sollten sie doch denken, was sie wollten. Er erwog die Möglichkeit, das Haus auf demselben Weg zu verlassen, auf dem er gekommen war - seine Verfolger kamen aus dieser Richtung, und es hätte ihm gewiss Spaß gemacht, sie mit ihren eigenen Waffen, mit der Klinge der Vodi und mit seinen Krallen in Stücke zu reißen. Aber er hatte etwas in seinem Besitz, das für ihn kostbarer war als 285 alles andere. Kostbarer als irgendein goldenes Schmuckstück, das er jenen aushändigen sollte, in deren Dienst er stand, kostbarer auch als jeder noch so große Haufen unbesudelten Goldes oder Silbers, das man ihm als Lohn anbieten mochte. Er hatte in seinem Beutel den Geist, den späteren Körper und die unbezwingbare Willenskraft des einen Geschöpfes, das er an diesem Ort und zu dieser Zeit niemals zu finden gehofft hätte. Er hatte seinen Erben gefunden, und aus diesem Grund allein würde er besonnen und vorsichtig zu Werke gehen. Er würde das Haus auf dem Weg verlassen, der die geringst möglichen Gefahren barg, und er würde sich so wenig Risiken wie nur möglich aussetzen. Kupferhaus Ein nagendes Unbehagen störte die Stille in Seolars Geist, und er kämpfte sich aus einem unruhigen Schlummer. Mol-ly war nicht bei ihm, aber in Anbetracht dessen, was sie herausgefunden hatte und wie sie es herausgefunden hatte, würde er ihr keine Vorwürfe machen, wenn sie nie wieder mit ihm sprach. Es war nicht ihre Abwesenheit, die ihn geweckt hatte. Was dann? Er richtete sich auf und lauschte. Er konnte die Wachen vor seiner Tür nicht hören, und er hätte sie hören müssen. Als er seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Frage konzentrierte, konnte er auch keine Wachen in der Halle hören - und obwohl die Männer sich stets still verhielten, konnte er mit seinem scharfen Gehör doch immer ausmachen, wo genau sie sich aufhielten. Seolar stand auf, schlüpfte in seine Schuhe und einen Morgenmantel und bewaffnete sich mit Schwert und 286 Schild. Sein erster Gedanke galt natürlich Molly, aber er wusste, dass auch er Feinde hatte, unter den Veyär wie auch außerhalb seines eigenen Volkes. Voller böser Vorahnungen öffnete er die Tür; er wusste, dass er seine Wachen, von denen viele seit Kindertagen seine Freunde waren, tot auf dem Boden vorfinden konnte, während der Feind ihm auflauerte. Was er jedoch
tatsächlich erblickte, war eine leere Halle, in der nichts auf einen Kampf hinwies, in dem es überhaupt keinen Hinweis darauf gab, was vorgefallen sein könnte. Da seine Männer jedoch ihre Posten verlassen hatten, während er schlafend und unbewacht im Bett lag, musste die Situation unvorstellbar schlimm sein. Birra hatte ihm mitgeteilt, dass Molly in den Wohnräumen ihrer Schwester sein würde; dass Molly es für notwendig erachtete, ein wenig Zeit für ihre Studien zu haben. Seolar ging in diese Richtung und lauschte angespannt, aber das ganze Haus verströmte eine quälende Stille, die sich weder erklären noch verstehen ließ. Er versuchte, sich eine Situation vorzustellen, in der all seine Männer abziehen würden - und je weiter er in das Zentrum des Hauses eindrang, ohne einer anderen Person zu begegnen, umso klarer wurde, dass sie tatsächlich alle ihre Posten verlassen hatten. Seolar fiel keine Erklärung dafür ein; wenn irgendeine Gefahr drohte, hätte die eine Hälfte der Männer sich um Molly und die andere Hälfte um ihn scharen müssen. In den Korridoren war kein Blut, lagen keine Waffen, keine Leichen, es gab keinen Rauch und kein Laut war zu vernehmen ... Als er sein Quartier verlassen hatte, war er langsam durch den ersten Korridor gegangen, aber die Leere um ihn herum erdrückte ihn, und Angst verzehrte ihn, so dass er schon bald rannte. So schnell er konnte, rannte er zu Lau287 rens Wohnräumen hinüber. Sobald er sicher sein konnte, dass Molly unversehrt war, würde er über seinen nächsten Schritt nachdenken. Keine Wachen versperrten jedoch den Weg zu Molly, und die Tür zu Laurens Quartier stand offen. Seolar wollte toben, wollte sich übergeben, aber stattdessen betrat er den ersten der Räume. Keine Goroths. Keine Molly. Doch abgesehen von der Tatsache, dass kein lebendes Wesen dort war, schien alles in Ordnung zu sein. Endlich hörte er jedoch etwas. Er ging in Laurens Schlafzimmer und fand die versteckte Tür zum Dienstbotenkorridor einen Spaltbreit offen. Er öffnete sie weiter und hörte aus der Ferne die gedämpften Laute von Männern, die auf der Jagd nach irgendetwas waren, leise und mit einem Unterton der Verzweiflung. Seolar rannte los, das Schwert gezückt; er stürmte in die Schlacht, um die Frau, die er liebte, zu retten oder zu rächen, die Frau, von deren Leben die weitere Existenz seines Volkes und seiner Welt abhing. Er rannte und betete, dass er diesmal rechtzeitig kommen würde, um zu helfen, dass alles noch gut werden konnte. Dann setzte das Wehklagen ein. Er konnte nicht denken. Er konnte nicht atmen. Er lief immer weiter hinunter, folgte den Schreien und rannte schließlich, so schnell er konnte. Hinunter in die Dunkelheit, wo er sehr bald den Gestank von Blut und Urin, von Kot und Erbrochenem und Tod roch. Seine Männer, die sich in den engen Steinkorridoren drängten, suchten mit harten Augen und gezückten Waffen. Er drängte sich durch sie hindurch auf das Wehklagen zu, das ausgerechnet aus dem Weinkeller kam. Bei seinem Eintritt bemerkte er, dass etwas die Tür zerschmettert hatte, durch die man in den Lagerraum des Kellermeisters gelangte. Am schlimmsten war 288 der Gestank von Erbrochenem und Exkrementen vor dieser Tür. In dem Raum selbst steckten Fackeln in Wandhaltern und warfen ein blasses, fahles Licht. Birra und einige andere Männer aus dem inneren Kreis knieten auf dem Steinfußboden und versperrten Seolar den Blick auf das, was sie gefunden hatten. Sie hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Und sie heulten. Er wollte es nicht sehen. Er wollte es nicht sehen. Aber er musste. Das Schwert noch in der Hand, das Herz im Hals, ging er weiter. Sein Blick fiel auf die Kaskade offenen, kupferfarbenen Haares, auf die erschlafften, schlanken Schultern, auf Augen, die noch geöffnet waren und reglos ins Leere starrten, die bereits die Stumpfheit des Todes annahmen. Er sah Blut, das an manchen Stellen noch rot war und an anderen verkrustet und schwarz - so viel Blut. »Oh, Molly«, flüsterte er. »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid - ich werde es wieder gutmachen.« Er zwängte sich an seinen Männern vorbei und strich ihr zuerst über die Wange, dann übers Haar. Er tastete ihren Hals ab, auf der Suche nach der Schließe der Vodi-Kette -und fand nichts. Dann starrte er auf ihren Leib hinab, starrte seine Männer an, die um sie herumknieten, und brüllte: »Auf mit euch! Steht auf und sucht nach dem, der das getan hat! Wer immer es war oder was immer es war. Wir haben keine Zeit zu trauern - der Mörder hat die Vodi-Kette.« Das Wehklagen brach jäh ab, und Birra sprang auf die Füße und zog gleichzeitig sein Schwert aus der Scheide. Er sah so aus, als wolle er es sich selbst in den Leib rammen. »Das habe ich nicht gesehen«, sagte er. »Ich habe nur an meine Pflichten gedacht, daran, ihren Tod zu betrauern ich habe nicht daran gedacht, nachzusehen ...« 289 Seolar deutete ohne ein weiteres Wort auf die Tür. Dieser Fehler - dieser grauenhafte, unverzeihliche Fehler gab ihm jedes Recht, das Leben eines jeden Mannes zu verlangen, der ihm diente. Er konnte nicht mit diesen Männern sprechen, denen er alles anvertraut hatte. Alles. Er fand vor Zorn keine Worte. Seolar rannte in den Korridor hinaus; er hatte keine Vorstellung davon, was er jagte, aber er versuchte, so zu denken, wie sein Feind denken musste. Mollys Mörder hatte etwas von unvorstellbarem Wert gestohlen; er hielt das Schicksal von Welten in den Händen. Ganz gleich, wie er ins Haus gelangt war, er würde jetzt den sichersten Weg ins Freie wählen und sich möglichst verborgen halten. Im Augenblick war es unwichtig, wie er ins Innere hineingekommen war - zu diesem Zweck hätte er Magie benutzen können und hatte es höchstwahrscheinlich
auch getan; im Augenblick interessierte nur die Frage, auf welchem Wege er wieder hinausgelangen konnte. Auf dem Weg nach draußen würde ihm keine Magie zur Verfügung stehen. So riesig das Kupferhaus auch war, es gab nur vier Türen, die auf das freie Gelände hinausführten: das Vordertor, das Dienstbotentor, das Soldatentor und das geheime Tor. Seolar wählte hastig einige Hauptmänner aus und schickte sie zu jedem der vier Tore. Die Hauptmänner brachen ihre Durchsuchung der unterirdischen Korridore ab, befahlen ihren Soldaten, ihnen zu folgen, und rannten hinauf zu den vier Toren, durch die der Bastard entkommen konnte. Seolar blieb zurück. Er wollte nicht noch einmal in den Keller gehen, um ihren Leichnam zu sehen. Aber ihr Körper war vielleicht alles, das den Welten von ihr verblieben war; wenn der Mörder sie nicht nur für ein einziges Mal tot sehen wollte, sondern für immer, und wenn es ihm gelungen war, ihr die Kette vor ihrem Tod abzunehmen, dann 290 hatten die Veyär verloren. Ohne Lauren und ohne Molly würden sie schon bald ihrem Untergang gegenüberstehen, während die dunklen Götter die letzten von ihnen zur Strecke brachten und vernichteten. Auch die Welten würden weiter sterben, dachte Seolar -aber die Veyär würden nicht mehr lange genug existieren, um das mit anzusehen. Er holte tief Luft, trat wieder in den Keller und ging zu Molly hinüber. Neben ihr ließ er sich auf die Knie nieder, nahm sie in die Arme und hob sie mit einiger Mühe hoch. Im Leben war sie sehr leicht gewesen; im Tod schien sie dreimal so schwer zu sein wie zuvor. Während die ersten Tränen ihm die Sicht raubten, setzte er Molly aufrecht hin, so dass ihr Kopf auf seine Schulter fiel. Er konnte es nicht ertragen, den grauenhaften, dunklen Schnitt anzusehen, der quer über ihren schlanken Hals verlief. Nachdem er sie so hingesetzt hatte, lief er zu der Rampe, die nach oben führte. Er wollte sie in das Bett legen, das sie miteinander geteilt hatten, bis die Frauen den Leichnam waschen, die Wunde verbergen und sie für die Beerdigung zurechtmachen konnten. In der Dunkelheit vor ihm bewegte sich etwas Großes und Schnelles, und Seolar sah das Blinken blassgelber Augen. Es schien ihm, als wären es zwei Gestalten, die einander überlagerten, als könne er gleichzeitig einen Mann sehen und etwas ganz anderes und weitaus Schrecklicheres. Nur einen Herzschlag lang zögerte er, da er Molly auf den Armen trug und sein Schwert für ihn unerreichbar war, und in diesem Moment jagte die Kreatur Mann oder Tier - die nächste Rampe hinauf. »Oh, ihr Götter, verzeiht mir«, murmelte Seolar und ließ Mollys Leichnam hastig auf den Boden fallen. Dann zog er sein Schwert und stürzte der Kreatur hinterher. Was 291 immer es war, es rannte schneller als er, obwohl Seolar seit seiner Knabenzeit flinker war als alles andere, mit Ausnahme der Hirsche im Wald. Und doch bewegte sich dieses Ding vor ihm so schnell, dass er es schon bald aus den Augen verlor. Seolar konnte seine Spur nur verfolgen, indem er sich auf die Geräusche des flüchtenden Geschöpfs konzentrierte. Sie stürmten die Rampen hinauf; beide liefen noch immer, so schnell sie konnten. Der Eindringling geriet kein einziges Mal ins Stocken. Stattdessen schien er genau zu wissen, wo er hinwollte. Keiner von beiden vergeudete seinen Atem auf Schreie; Seolar war davon überzeugt, dass der Mörder einem der Ausgänge entgegenstrebte, durch die er aus dem Kupferhaus entkommen konnte, und für Seolar war ein Ausgang so gut wie der andere. Er hatte an allen Toren Wachen stehen. Der Feind jedoch verfolgte eine andere Absicht. Er rannte immer weiter die Rampen hinauf, und zuerst erfüllte Seolar sein Tun mit Jubel. Der Mörder hatte einen Fehler gemacht, und Seolar würde ihn überrennen und die Kette zurückholen können, sobald der andere seinen Irrtum erkannte und begriff, dass ihm nur zwei Möglichkeiten blieben: Er musste entweder umkehren, oder er würde auf das Dach gelangen. Aber selbst als dem Mörder klar geworden sein musste, dass er die ebenerdigen Flure hinter sich gelassen hatte, rannte er im gleichen Tempo weiter und in die gleiche Richtung - weiter nach oben. Glaubte er, er könne Seolar in seinem eigenen Haus abschütteln? Glaubte er, er würde einen anderen Weg zurück nach unten finden? Er hatte einigen Vorsprung vor Seolar, und dieser Vorsprung wuchs mit jedem Schritt, den sie beide machten; Seolar vermutete, dass der Mörder ihm inzwischen fast ein ganzes Stockwerk voraus war. Schließlich erreichten sie das Dach292 geschoss, der Mörder ein gutes Stück vor Seolar; dann rannte er mit einem donnernden Krachen die Tür ein und stürzte auf den schmalen Gang hinaus, der zu den Turmzinnen führte. Seolar dachte: Vom Dach kommt er nur herunter, wenn er in diese Richtung läuft, und er packte sein Schwert noch im Laufen fester, während er sich im Geiste für den bevorstehenden Kampf wappnete. Ein halbes Stockwerk. Ein viertel. Einige wenige Schritte, und er stand draußen in der Dunkelheit, die unter den leuchtenden Sternen lag. Vor sich konnte er den Mörder sehen; er floh auf die westliche Brustwehr zu. Und plötzlich veränderte sich etwas an ihm. Sein Gleichgewicht schien sich nach vorn zu verlagern, die Arme wurden länger, sein Umhang peitschte seltsam auf und ab, so dass er irgendwie eher Flügeln ähnelte; sein Hals reckte sich nach vorn, und mit schockierender Plötzlichkeit brach ein Schwanz aus seinem Rücken heraus. Seolar, der bisher versucht hatte, seinen Gegner als einen Mann anzusehen, begriff mit einem Mal, was er wirklich vor sich sah, und prallte zurück. Ein Rrön hockte auf der westlichen Brustwehr, und er sah Seolar mit glühenden, gelben Augen an und entblößte grinsend Zähne, die nur den Tod versprachen. Er sagte: »Ich gewinne, kleiner Mann.«
Dann spannte der Mörder die Muskeln an und stieß sich mit ausgebreiteten Flügeln in die Leere, die unter dem Turm lag. Das Ungeheuer stieg schnell in die Höhe, und obwohl Seolars Männer den Feind sahen und Pfeile und Armbrustbolzen in seine Richtung schössen, trafen sie ihn offensichtlich nicht; er schwang sich hoch hinauf und flog in die Nacht davon. Seolar sah dem Rrön nach. Einige seiner Männer würden nun bald ins Haus zurückkehren, aber er selbst sah keinen Sinn darin. Langsam drehte er sich um und ging über die 293 lange Abfolge von steinernen Rampen hinunter, um Mollys Leichnam zu holen. Cat Creek Es war Pete zutiefst zuwider, ans Telefon zu gehen, wenn er sich im Haus anderer Leute befand, vor allem spät am Abend. Nichts war seltsamer, als plötzlich einen fremden Mann am Apparat eines Hauses zu haben, das nur von einer Frau und ihrem Sohn bewohnt wurde. Nichts konnte peinlicher sein - und jetzt war es drei Uhr morgens ... Er seufzte und nahm beim vierten Klingeln den Hörer ab. »Deputy Pete Stark.« »Immer mit der Ruhe.« Eric war am anderen Ende der Leitung. »Ich bin kein unerwarteter Verwandter, der aus irgendeinem Busch gekrochen kommt.« »Schön. Aber da es drei Uhr morgens ist, würde ich auch von dir lieber nichts hören.« »Irgendetwas ist in Oria los. Genau genommen hier und in Oria. Wir treffen uns im Blumenladen.« Pete legte den Hörer auf, rieb sich die Augen und fluchte. Bei Katastrophen wurden Torweber eher früher als später benötigt. Er hatte keinen Torweber, obwohl er Eric nach seiner Rückkehr aus Charlotte belogen und behauptet hatte, er könne Lauren erreichen, wenn es sein müsse, und sie ziemlich schnell zurückholen. Lügen haben kurze Beine, dachte er. Und professionelle Lügner ein recht unerfreuliches Leben. Er warf seine Kleider über und fuhr zu dem Blumenladen hinüber, der jetzt geschlossen war, und versteckte seinen Wagen bei den anderen hinterm Haus. Es standen einige neue Autos auf dem Parkplatz, und eine ganze Reihe ande294 rer fehlten - eine unübersehbare Erinnerung an die Seuche, an den Verrat und an das Unglück, das beinahe zur Katastrophe geworden wäre und das noch keinen Monat zurücklag. Die Erde war noch nicht einmal fest geworden auf den Gräbern von Nancine Tubbs, der der Blumenladen gehört hatte, und ihrem Mann, Ernest. Ebenso wenig wie auf denen der anderen toten Wächter. Er ging eilig durch die Fliegentür und lief, immer zwei Stufen gleichzeitig, die Treppe hinauf. Zumindest war er nicht der Letzte - Eric fehlte noch, ebenso wie einer von den Neuen, ein unangenehmer Zwanzigjähriger mit Namen Raymond Smetty. Alle anderen hatten sich um die Kaffeemaschine auf dem Aktenschrank an der hinteren Wand versammelt. Niemand war im Spiegel, etwas, das er seiner Erinnerung nach noch nie erlebt hatte. June Bug Täte nickte ihm zu. Sie kaute auf dem durchweichten Ende einer nicht angezündeten Zigarre herum, einen unglücklichen Ausdruck auf dem Gesicht. Immer wieder sah sie die neue junge Frau an, die dunkelhaarige Darlene Fullbright. Darlene saß stocksteif auf einem der harten Stühle und sah demonstrativ alles und jeden an außer June Bug. Offensichtlich war die Rauchfrage wieder aufs Tapet gekommen. Der zweimal geschiedene Terry »Mayhem« Mayhew hatte die aridere Neue, eine kecke, großbusige kleine Blondine namens Betty Kay Nye, in eine Ecke gedrängt, wo er sein betörendes Lächeln und seinen Versicherungsvertretercharme an ihr erprobte. Pete konnte keinen von beiden hören, aber Betty Kays Wangen hatten die Farbe von Tomaten und wurden ziemlich schnell reif. Der dünne, kahlköpfige George Mercer schob sich die Brille hoch und räusperte sich, als Pete auf ihn zukam, und auch Louisa Täte blickte in Petes Richtung. Sie nickte ihm 295 zu, aber was auch immer sie gerade mit George besprochen hatte, ihre Unterhaltung fand jetzt ein jähes Ende. »Weiß irgendjemand irgendetwas Näheres darüber, was eigentlich los ist?«, fragte Pete. June Bug nickte. »Ich bin diejenige, die das Problem entdeckt hat.« Petes Magen krampfte sich zusammen bei der Erinnerung, dass June Bug auch ihr letztes Problem mehr oder weniger allein entdeckt hatte - und das war ... nun ja. Er hätte den Rest seines Lebens gut auf derartige Probleme verzichten können. Aber mit der gleichen kranken Neugier, die Menschen dazu treibt, sich Zugunglücke anzusehen, statt wegzuschauen, fragte er nun: »Das Ende der Welt?« June Bug biss heftig auf ihre Zigarre. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß. Aber ich werde erst darüber reden, wenn auch Eric und Raymond hier sind.« Von unten war das Zuschlagen der Fliegentür zu hören, dann Eric, der fluchte. Also musste wohl Raymond derjenige gewesen sein, der die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Es folgten schwere, schnelle Schritte von zwei Personen, dann stürzte Eric mit Gewittermiene in den Raum, gefolgt von dem ziemlich aufsässig dreinblickenden Raymond Smetty. Raymond hatte einmal geglaubt, er könne seiner Herkunft und seinem Schicksal als Wächter entrinnen - unten in Enigma, Georgia, war er an seiner High School ein viel versprechender Fußballspieler gewesen. Talentsucher hatten Jagd auf ihn gemacht, und er hätte so ziemlich von jedem College, das ihm gefiel, ein Stipendium bekommen können. Aber dann hatte er einen unglücklichen Tritt abbekommen, der sein rechtes Knie irreparabel zu Pudding gemacht hatte, und all die großen Träume und großen Versprechungen waren sang- und klanglos zu Schall und Rauch geworden. Er war ein unglücklicher Neuzugang,
und er 296 schien versessen darauf zu sein, seinen Frust an jedem auszulassen, der ihm in die Nähe kam. Pete fand es nicht gerade tröstlich, dass das Schicksal der Welt eines Tages in den Händen von Raymond Smetty liegen könnte. »Fang an, June Bug«, sagte Eric, während er sich setzte. Er warf Raymond einen finsteren Blick zu. »Wir hatten ein paar alte Götter in der Gegend«, begann June Bug. »Genauer gesagt drei, so wie es aussieht. Heute haben alle drei einfach ihre Sachen gepackt und sind verschwunden. Sie haben in verschiedenen Häusern gelebt, sie hatten nicht viel miteinander zu tun, und alle drei hatten ziemlich dauerhafte Verbindungen hier. Und alle sind einfach auf und davon gegangen. Ein Torweber hat sie aufgesucht - einer, dessen ganze Arbeit förmlich nach altem Gott stinkt. Er ist in jedes der drei Häuser gegangen, hat ein Tor geschaffen und ist dann weitergezogen.« June Bug seufzte. »Ich bin ein paar Spuren nachgegangen und habe mich anschließend etwas umgehört. Wir sind nicht die Einzigen, in deren Stadt alte Götter ihre Sachen gepackt haben und verschwunden sind. Wie es aussieht, sind an ziemlich vielen Orten Torweber der alten Götter von Tür zu Tür gegangen.« »Ratten«, murmelte Pete. Eric warf ihm einen Seitenblick zu. »Mir würden da ein paar schärfere Ausdrücke einfallen.« »Nein. Ich meine, die Ratten verlassen das sinkende Schiff, sie suchen ihr Glück lieber im Meer und hoffen, auf irgendeinem Wrackteil per Anhalter weiterzukommen. Ratten wittern solche Dinge.« June Bug nickte. »Die alten Götter haben anscheinend irgendetwas gehört. Für mich sieht das nach einer Notevakuierung aus. Das ist eindeutig keine gute Nachricht.« 297 Eindeutig nicht. Pete dachte an Lauren, die unerreichbar war, und er dachte daran, dass er, wäre sie greifbar gewesen, vielleicht seine Eltern, seine Geschwister und deren Kinder und noch ein paar gute Freunde nach Oria hätte bringen können, bevor ihnen die ganze Erde um die Ohren flog. Das war wahrscheinlich auch gegen die Grundsätze der Wächter, aber wenn er sich zwischen einer lebenden Familie entscheiden musste und dem Festhalten an Idealen, deren Sieg immer aussichtsloser erschien, würde er für die Familie stimmen. »Irgendeine Ahnung, wo das Problem seinen Ursprung hat?«, fragte Eric. »Ich kann nichts finden«, entgegnete June Bug. »Ich habe überall Ausschau gehalten, und ich habe mit Fährtensuchern im ganzen Land gesprochen, aber keiner von uns kann irgendetwas entdecken, das der Anlass sein könnte, warum diese Leute verschwunden sind. Sie lebten in dieser Gegend seit... nun ja, vielleicht seit der Kolonialzeit... und jetzt haben sie einfach ein paar Sachen in eine Tasche geworfen und sind weggelaufen.« »Woher weißt du, dass sie schon so lange hier sind?«, fragte George. »Hätten wir sie nicht bemerken müssen?« »Wir haben sie aber nicht bemerkt. Wahrscheinlich übersehen wir sie schon seit sehr langer Zeit. Einer von ihnen war Billy Mabry, drüben auf der alten Farm. Du weißt sicher, dass die Leute immer wieder betont haben, welche Ähnlichkeit Billy mit dem Bild seines Ururgroßonkels Gideon hat, das unmittelbar vor der Schlacht bei Monroe's Crossroads aufgenommen wurde? Und dass es diesen Mabrys gelungen ist, die Uniformen, die Tagebücher, die Säbel und das ganze Zeug aufzubewahren? Billy ist vielleicht Gideon gewesen. Ich selbst kannte keinen der beiden persönlich, aber ich nehme an, sie kennen uns. Ich nehme an, sie 298 haben während der letzten hundert Jahre oder so eine Menge Spaß mit uns gehabt.« Sie runzelte die Stirn und legte die kalte Zigarre weg. Pete dachte über diese Leute nach, die über ein Jahrhundert oder länger unter einer Vielzahl verschiedener Namen in denselben Häusern gelebt hatten und die plötzlich alle am selben Tag fortgegangen waren. Eine Gänsehaut überlief ihn. »Aber es scheint doch alles in Ordnung zu sein«, sagte er. June Bug sah ihn an, legte den Kopf schräg und erwiderte: »Schätzchen, ich weiß, dass Sie Zeitung lesen, denn ich habe Sie schon dabei gesehen. Schauen Sie sich mal die Überschriften während der letzten zehn Jahre an, und erzählen Sie mir dann noch einmal, dass alles in Ordnung zu sein scheint.« Heiße Schamröte kroch Petes Hals hinauf. »Ich meinte, dass es nicht schlimmer zu sein scheint als gewöhnlich.« »Das stimmt«, pflichtete June Bug ihm bei. »Aber vielleicht liegt das Problem gerade in dem Teil des Eisbergs, den wir nicht sehen können. Vielleicht ist der Grund für das Sinken unserer Titanic etwas, das sich über die letzten tausend Jahre hinweg aufgebaut hat und das nun unterhalb der Oberfläche dessen liegt, was wir sehen können.« »Du weißt bestimmt alles über die Titanic, du alte Vettel«, murmelte Raymond so leise, dass Pete es beinahe überhört hätte. »Ich wette, du warst damals als Passagier an Bord.« Eric drehte sich zu Raymond um und flüsterte: »Wir werden später mal ein Wort miteinander reden«, und June Bug, deren Gehör legendär war, meinte: »Ich fürchte, die erste Titanic war ein Weilchen vor meiner Zeit. Aber ich glaube nicht, dass ich das Glück haben werde, die zweite zu verpassen.« 299 Im nächsten Augenblick wandten Eric und June Bug sich beide gleichzeitig zu Pete um, und Eric sagte: »Lauren muss zurückkommen. Heute. Auf der Stelle. Ich übernehme deine Aufgaben, während du nach Charlotte fährst
und sie herholst. Lass dich nicht mit irgendwelchen Ausreden abspeisen. Wir brauchen einen flexiblen Zugang nach Oria oder weiß Gott wohin sonst noch -, während wir feststellen, was los ist und wie wir es bekämpfen können.« »Zumindest«, fügte George hinzu, »brauchen wir Tore, die groß genug sind für viele Leute. Wenn das hier die endgültige Niederlage ist, möchte ich meine Familie hier wegbringen, und ich bin davon überzeugt, dasselbe gilt für euch alle. Ich werde hier bleiben und kämpfen, aber ich muss wissen, dass meine Familie in Sicherheit ist.« Und Pete schluckte heftig und nickte. »Ich tue mein Bestes.« Oria Baanraak, der überglücklich über seinen Erfolg war, wog seine Möglichkeiten ab, während er über den Trauerwald hinweg durch die Nacht flog. Er musste Molly irgendwo wiederbeleben, wo reichlich Rohmaterialien zur Verfügung standen; die würde er für den Zauber benötigen, mit dem er ihren Körper neu erschaffen wollte. Immerhin würde er nicht eine solche Menge an Material benötigen, wie Fher-gass sie gebraucht hatte, als er Baanraak als seinen Nachfolger erschaffen hatte - die schmale Gestalt der Vodi war nichts im Vergleich zu der eines Rröns. Aber Baanraak würde sie immer wieder töten und neu beleben müssen, bis all ihre sterblichen Züge und Neigungen ausgelöscht waren, und selbst die wiederholte Wieder300 auferstehung eines Geschöpfs von geringer Körpermasse verlangte Material. Außerdem würde er es auch mit den Rrön von der Nachtwache zu tun bekommen, die gewiss der Meinung waren, dass sie ein Mitspracherecht bei dem hätten, was weiter mit der Vodi geschah. Sie wollten, dass die Vodi verschwand; wenn sie dahinter kamen, dass Baanraak sie keineswegs vernichten, sondern bearbeiten wollte, wie ein Schmied eine edle Klinge bearbeitet, würden sie nach Blut schreien. Zuerst nach dem der Vodi, dann nach seinem. Der Gedanke, die Nachtwache könne Jagd auf ihn machen, kümmerte Baanraak nicht allzu sehr, aber er hatte gewisse Vorlieben, was den Zeitpunkt betraf - er wollte seine neue Gefährtin und zukünftige Nachfolgerin ohne Störung ausbilden können. Es wäre kein Problem gewesen, zu lügen. Er könnte behaupten, er habe sie im Kupferhaus getötet - was der Wahrheit entsprach und sich leicht beweisen ließ. Er könnte ferner behaupten, er habe die Gelegenheit genutzt und die Kette zerstört, bevor die Vodi die Chance hatte, sich einen neuen Körper zu erschaffen - das entsprach zwar nicht den Tatsachen, ließ sich aber unmöglich widerlegen, bis die Vodi eines Tages mitsamt der Kette zurückkehrte. Er konnte lügen - aber zu lügen war der Weg des Feiglings. Er würde diesen Weg nicht beschreiten. Stattdessen würde er einfach verschwinden und die Vodi mitnehmen. Die Weltenkette ein Stück weit hinunter, dachte er. Auf Dalchi, das vier Welten unterhalb von Oria lag, gab es einen exzellenten Vorrat an Flora und Fauna, der ihm alles Benötigte liefern würde, außerdem reichlich Rohmaterialien und magische Energie, die der Vodi mehrfache Wiederauferstehungen ermöglichen würden, ohne diese Welt allzu sehr zu belasten. Zudem mied die Nachtwache diesen Pla301 neten meistenteils, weil er - noch - zu tief in den Schichten lebendiger Welten lag, um sich von dort aus einen guten Anteil an der Todesenergie der oberen Welten zu sichern. Dort würde er so viel Zeit haben, wie er brauchte, dachte er. Er konnte seine Arbeit ordentlich erledigen, und wenn er fertig war, würde er eine Gefährtin, eine Kameradin und spätere Erbin haben. Und während der ganzen Zeit würde er endlich wieder einen Grund zum Leben haben. 15 Kupferhaus Lauren und Jake fielen durch den Spiegel in den steinernen Raum, aus dem sie gekommen waren. Lauren konnte nur einen kurzen Blick auf das Zimmer werfen, dann erstarb das grüne Feuer des Tores hinter ihr, und zurück blieb nur absolute Dunkelheit. Einen Moment lang gaukelten ihr geisterhafte Bilder Licht vor, aber als diese Bilder verblassten, stellte Lauren fest, dass sie nichts sehen konnte - und auch nichts sehen würde. Der steinerne Raum, der in den Tiefen des Kupferhauses lag, hatte keine Fenster, und niemand war auf den Gedanken gekommen, ein Licht für sie brennen zu lassen. Jake umklammerte ihren Hals so fest, dass sie nach Luft ringen musste. »Ganz ruhig, Äffchen«, sagte sie und beschwor eine Lampe herauf. Der Raum war leer, aber es kam Lauren vor, als sei er mehr als nur leer. Er fühlte sich verlassen an. Wie lange waren sie und Jake fort gewesen? Stunden? Tage? Jahre? Lauren lauschte, konnte aber nichts hören, außer ihrem eigenen Atem und dem ihres Sohnes. Ihr Herz begann zu rasen - sie hätte nicht damit rechnen dürfen, dass Molly und die Goroths bei ihrer Ankunft hier auf sie warten würden, und es war auch vollkommen logisch, dass sie im Dunkeln hier ankam, da niemand wusste, wann sie zurückkehren würde. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls der Angst nicht erwehren, das sie erfüllte. 303 »Wir werden eine Taschenlampe brauchen, um hier rauszukommen«, erklärte sie Jake. Zu Hause hatte sie mehrere unter ihrem Bett liegen. Die Weltenkette nahm weniger Schaden, wenn man Dinge
mithülfe von Magie von einem Ort zum anderen bewegte, statt etwas zu erschaffen oder zu zerstören - daher konzentrierte Lauren sich auf die Taschenlampe mit der gelben Gummiarmierung und den frischen Batterien, sie drückte ihre Nase auf den Spiegel und starrte durch das Glas, bis sie auf der anderen Seite ihr Schlafzimmer und ihr Bett sehen konnte. Unter der linken Seite des Bettes lag die Taschenlampe mühelos erreichbar vor dem Nachttisch. Der Anblick ihres Schlafzimmers und das Wissen um die Sicherheit, die das Haus darstellte, krampften ihr den Magen zusammen. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte mit Jake in das alte Haus zurückkehren und irgendeine Möglichkeit finden, für sie beide ein normales Leben aufzubauen. Sie fragte sich, ob sie wohl je wieder nach Hause zurückkommen würde ... und falls es so war, ob ihr ein normales Leben jemals möglich sein würde. Sie gestattete es sich nicht, länger darüber nachzudenken. Wenn alles funktionierte, würde sie glücklich sein. Wenn nicht, machte sie die Dinge auch nicht besser, indem sie sich ihr Leben schon im Voraus ruinierte. Sie schuf ein winziges Tor, griff hindurch, schnappte sich die Taschenlampe und widerstand der Versuchung, noch andere Dinge mitzunehmen oder sich zusammen mit Jake für einen Augenblick hinüberzuschleichen. Wenn sie nach Hause gingen, würde Jake gewiss keine Lust haben, gleich wieder nach Oria zurückzukehren. Sie setzte sich Jake auf die Hüfte und trat durch die Tür, dankbar dafür, dass der Letzte, der den Raum verlassen hatte, so klug gewesen war, nicht hinter sich abzuschließen. 304 Das Labyrinth der Korridore auf der anderen Seite erstreckte sich in alle Richtungen, ein unheimliches und einschüchterndes Bild, wenn man es im schwachen Lichtstrahl einer einzigen Taschenlampe sah und einen Dreijährigen bei sich hatte, der die Dunkelheit nicht mochte. Lauren betrachtete den Gang, der nach links und nach rechts abzweigte und andere Gänge rechtwinklig kreuzte. Jenseits der Reichweite ihrer Taschenlampe war nichts als Dunkelheit. Sie lehnte sich an die Wand und fluchte leise und ausgiebig. Offensichtlich musste sie zunächst einmal nach oben gelangen. Wenn sie eine Möglichkeit fand, in ein anderes Stockwerk zu kommen, würde sie vielleicht auf etwas stoßen, das ihr eine gewisse Orientierung bot. Lauren hatte sich früher schon oft verirrt. Sie hatte eine grobe Regel, um sich in Situationen zurechtzufinden, in denen sie keine Ahnung hatte, wo sie war - man geht immer geradeaus, bis etwas bekannt aussieht oder der Weg plötzlich endet. Dann biegt man rechts ab und wiederholt das Ganze. Sie wandte sich von der Tür aus nach rechts und ging geradeaus. An jeder Wegkreuzung schaltete sie die Taschenlampe aus und hielt nach Licht Ausschau. Nichts. Als sie die steinerne Grundmauer erreichte, bog sie nach rechts ab und begann von neuem. Wo sich Wege kreuzten, schaltete sie die Taschenlampe immer wieder aus, aber es half nichts. An einer Wegkreuzung nahm sie einen Gestank wahr, der ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Dort drüben war etwas gestorben - entweder viele kleine Dinge oder ein sehr großes. Sie hastete weiter, weil sie es gar nicht genauer wissen wollte, und wünschte sich plötzlich, sie hätte ein paar Vey-är mit Speeren hinter sich, die ihr Schutz boten. Endlich kam sie zu einem gemauerten Bogen, der in einen Tunnel führte. Einen Augenblick lang dachte sie nach. Nach ihrer 305 Kompassregel hätte sie weiter geradeaus gehen müssen. Wenn sie dagegen die Regel »alles, was anders ist, ist gut« anwandte, stellte der gewölbte Tunnel, dessen Ende sie nicht sehen konnte, eine eindeutige Verbesserung dar. Immerhin war sie nun schon eine ganze Weile in dem Labyrinth des weltgrößten Kellers umhergeirrt und hatte nach einer Treppe gesucht. Sie schaltete die Lampe ein weiteres Mal aus und blickte in den Tunnel. Auch von dort kam kein Licht. Andererseits war draußen vielleicht Nacht, und der Tunnel machte vielleicht eine so große Biegung, dass kein Licht hineindrang, oder aber er endete in einer Treppe und einer Tür. Jede dieser drei Möglichkeiten stellte eine entschiedene Verbesserung dar. Und wenn sie im Weinkeller oder in einem Kerker landen sollte, konnte sie immer noch kehrtmachen und wieder zurückkommen. Sie betrat den Tunnel. Sie konnte noch immer nichts hören außer ihrem und Jakes Atem und dem Echo ihrer Schritte. Sie gab sich alle Mühe, sich nicht den schlimmsten Fall vorzustellen - dass sie tausend Jahre nach ihrem Aufbruch von dort in den kupferfreien Werkraum zurückgekehrt war - dass die Welt von Oria nur wenige Sekunden von der Zerstörung entfernt und die Erde seit Jahrhunderten tot war ... Der Tunnel machte eine scharfe Biegung und stieg dann leicht an. »Ja«, flüsterte sie. Von überall her war jetzt ein leises, lang gezogenes Flüstern zu hören: »Ja.« Sie zuckte zusammen und drehte sich um, wobei sie den Tunnel mit dem Strahl ihrer Taschenlampe ableuchtete. Es war nichts mehr zu hören. »Echo«, sagte sie in beiläufigem Tonfall. »Echo«, antwortete der Korridor ihr ein Dutzend Mal, 306 lauter zwar, aber mit einer Stimme, die sie als die ihre identifizieren konnte. »Mir gefallen diese Stimmen nicht«, sagte Jake, und das Echo gab ihm Recht. Er kreischte. Der Korridor kreischte ebenfalls. »Seh«, beruhigte ihn Lauren, und der Tunnel hörte sich an, als sei soeben ein ganzes Flammennest erwacht. Jake hielt sich die Ohren zu und verbarg das Gesicht an Laurens Hals. Lauren wünschte, sie hätte dasselbe bei
etwas tun können, das größer und stärker war als sie. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hinauszukriechen. Die Vorstellung, sie und Jake könnten die letzten Menschen auf dem Planeten sein, war schon schlimm genug. Noch schlimmer war allerdings der Gedanke, dass sie die Letzten auf dem Planeten waren und Dinge hinter ihnen herschlichen, während sie ahnungslos weitergingen. Lauren beschleunigte ihren Schritt. Der Korridor führte jetzt steiler in die Höhe, und die Biegung wurde enger, bis Lauren begriff, dass sie sich in einer Art Spirale aufwärts bewegte. Sie versuchte, sich vorzustellen, welchem Zweck diese Spirale diente, dann ging ihr auf, dass breite, leicht ansteigende Korridore erheblich praktischer waren als Treppen, wenn man Kisten, Kartons, Möbel oder irgendwelche anderen großen, sperrigen Gegenstände transportieren wollte. Jemand, der Vorräte brachte, konnte sie auf einen Pferdewagen laden, wenn die Pferde gut ausgebildet waren und der Wagen nicht zu breit. Damit erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in einem Vorratstunnel befand, und fast unmittelbar nach dieser Erkenntnis erreichte sie das Ende des Gangs - eine massive, kupferne Doppeltür, die verschlossen war. Lauren legte die Hand auf einen der Metallgriffe und zog. Jemand hatte die Tür abgeschlossen. Von außen. 307 Sie fluchte laut, und all ihre vielen Echos überall im Tunnel fügten ihre Kommentare hinzu. »Ich will hier raus«, brüllte Jake. »Ich auch.« Lauren zog noch ein paar Mal kräftig an den Türgriffen, weil sie hoffte, das Schloss würde sich auf diese Weise lockern oder vielleicht sogar aufbrechen. Nichts Derartiges geschah, daher stellte sie Jake auf den Boden, befahl ihm: »RÜHR DICH NICHT VON DER STELLE«, schob sich die Taschenlampe in den Bund ihrer Jeans, hängte sich an den rechten Türgriff und begann wie eine Wahnsinnige zu rütteln. Die kupfernen Türen dröhnten unter Laurens Ansturm, und Metall klirrte auf Metall, während sie langsam in Schwung kam. Sie machte einen Höllenlärm, aber niemand schien herbeigelaufen zu kommen, um ihr zu helfen. Dann hörte sie ein befriedigendes Krachen von der anderen Seite, und die Tür wurde plötzlich und mit erheblich mehr Kraft aufgerissen, als sie erwartet hatte. »Weg da«, schrie sie, als sie den Halt verlor und zu Boden fiel. Es gelang ihr gerade noch, sich im Fallen nicht den Kopf aufzuschlagen, aber der Aufprall war dennoch so hart, dass sie befürchtete, sich das Steißbein gebrochen zu haben. Die Taschenlampe flog ihr aus der Tasche, und Jake machte einen Satz und fing sie auf. Aber es spielte keine Rolle. Auf der anderen Seite der Tür war die Sonne dicht über dem Horizont zu erkennen, und pinkfarbene Streifen zogen sich wie die Spuren von Krallen über den purpurfarbenen Himmel. Vor dem Hintergrund dieses atemberaubenden Anblicks konnte Lauren ein halbes Dutzend Veyär ausmachen, die alle ihre Armbrust auf sie gerichtet hielten. »Oh, Scheiße«, sagte sie. »Schießt nicht auf das Kind. Ich bin es. Lauren.« Langsam rappelte sie sich hoch, dann bückte sie sich vor308 sichtig und nahm Jake auf den Arm. »Wirklich. Ich bin es. Steckt die Pfeile weg und ruft Molly oder Seolar oder tut sonst etwas, ja?« Die Männer zogen sich langsam von der Tür zurück, aber keiner von ihnen senkte seine Armbrust. Was ihr eine höllische Angst einjagte. Wenn einer von ihnen in seiner Nervosität auf den Abzug drückte, konnte er Jake töten, ohne es zu beabsichtigen. Da jedoch kein Kupfer sie behinderte, machte sie sich die Magie zunutze, um einen unsichtbaren Schild um ihren Sohn zu werfen; dann wob sie einen ähnlichen Schutz für sich selbst. Der Anführer der Veyär, den sie nicht kannte, sagte: »Tretet langsam vor und ins Licht. Behaltet die Hände oben, wo wir sie sehen können.« Lauren seufzte und machte einen Schritt nach vorn. »Ich brauche die Hände für meinen Jungen. Reicht das?« Keine Antwort. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Nach vorn«, befahl einer der Männer. »Wenn du dich plötzlich bewegst oder irgendetwas tust, das uns nicht gefällt, schießen wir.« Sie waren also wieder bei Drohungen und Armbrüsten angelangt. Lauren fragte sich, ob das die Art von Begrüßung war, die sie jedes Mal erwarten würde, wenn sie ins Kupferhaus zurückkehrte. Sie ließ sich von den Soldaten zum vorderen Tor führen; gleichzeitig legte sie sich einen Zauber zurecht, den sie jederzeit ausführen konnte, für den Fall, dass die Dinge hässlich wurden. Doch sie wollte ein paar Antworten, und sie würde wohl kaum welche bekommen, wenn sie diese Burschen in Kröten verwandelte - ein sehr freundlicher Plan im Vergleich zu dem, was sie angesichts der Tatsache, dass diese Männer Jake bedrohten, wirklich gern getan hätte. 309 Am vorderen Tor konnte sie zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr wieder durchatmen. Hinter einem der beiden Wachposten stand Birra. Er sah genauso aus wie immer nicht älter, nur vielleicht eine Spur grimmiger, aber bei Birra ließ sich das schwer sagen. Lauren sagte: »Was geht hier vor, Birra?«
Er sah sie lange an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Dann schien er zu begreifen, wen er vor sich hatte, und sagte: »Oh.« Einen winzigen Augenblick lang flackerte Hoffnung in seinen Zügen auf, aber diese Regung erlosch schnell. Dann sagte er noch einmal »Oh« und starrte die Veyär mit den Armbrüsten hinter Lauren an. »Sie hätte euch zur Strafe für eure Unverschämtheit in Asche verwandeln können«, erklärte er. »Was vielleicht gar keine schlechte Idee gewesen wäre.« Und an sie gewandt fügte er hinzu: »Komm mit. Seolar wird dich gewiss sofort sehen wollen.« Birras Verhalten sagte Lauren, dass sie von ihm keine Antworten zu erwarten hatte. Also nickte sie nur. Schweigend gingen sie bis zum vorderen Tor und traten dann ins Haus. Schließlich erklärte Lauren: »In Ordnung - lass mich Molly holen, ich habe eine Nachricht für sie. Dann können wir beide zusammen mit Seolar reden.« Sie bemerkte, dass Birra sie kurz von der Seite ansah und den Blick dann wieder abwandte, und ihr Herz begann zu hämmern. Sie blieb stehen. »Wir müssen sofort zu Seolar gehen«, widersprach Birra. »Nein. Ich muss mit Molly reden. Alles andere kann warten.« Birra drehte sich zu ihr um. Sie standen in der prächtigen Eingangshalle, in der das Kupfer jeden einzelnen steinernen Bogen in der Gestalt eines Baums bedeckte und zigtausend silberne Blätter von den Zweigen hingen, die bei jedem noch 310 so geringfügigen Lufthauch klimperten. In diesem Korridor sah Birra mit seinen tätowierten Wangen, dem langen, blassblauen Haar und den smaragdgrünen Augen wie ein zusätzliches Dekorationsstück aus. Ohne einen Wimpernschlag und ohne sich zu bewegen starrte er sie an, seine Haut wächsern und seine Miene undeutbar. Er sagte nichts. »Erzähl mir, was passiert ist, Birra.« »Ein Rrön ist ins Kupferhaus eingedrungen.« Seine Stimme klang schleppend, als koste jedes weitere Wort ihn ungeheure Kraft. »Molly ... ist tot. Die Vodi-Kette ... fort.« Lauren hatte das Gefühl, als würde der Raum unter ihren Füßen leicht und schlüpfrig, und sie lehnte sich einen Moment lang gegen die Wand, nur um irgendetwas zu haben, woran sie sich festhalten konnte. »Oh Gott.« Sie sah Birra an und versuchte, irgendeinen Hoffnungsschimmer in seinen Worten zu entdecken. »Wie ist das passiert?« »Das wissen wir nicht. Nachdem ... nachdem der Rrön mit der Kette geflohen war, haben wir versucht, herauszufinden, an welcher Stelle wir versagt haben. Wir haben das ganze Haus durchsucht - wir konnten sehen, an welcher Stelle der Rrön durch deine Wohnräume gegangen ist, um an die Vodi heranzukommen, aber wir wissen nicht, wie er sie gefunden hat oder wie es möglich war, dass es uns allen misslungen ist, sie zu schützen.« Lauren dachte daran, was hätte geschehen können, wenn Jake in diesem Raum gewesen wäre, als der Rrön dort war, und ihr Mund füllte sich vor Entsetzen mit Speichel, bis sie glaubte, sie müsse sich übergeben. Sie wäre natürlich auch dort gewesen, aber ... Sie schloss die Augen und murmelte: »Dein Vater hat dich also wieder einmal gerettet.« »Jägerin?«, fragte Birra. »Geht es dir nicht gut?« 311 Lauren tat seine Sorge mit einer kurzen Handbewegung ab. »Molly ist also wieder tot, und ein Rrön hat die Kette. Aber uns bleiben dennoch gewisse Möglichkeiten.« »Möglichkeiten?«, fragte Birra, in dessen Stimme plötzlich ein Hauch von Hoffnung mitschwang. »Wir haben Möglichkeiten?« »Ein paar. Noch sind wir nicht aus dem Spiel, ganz gewiss nicht.« Plötzlich schien Birra bewusst zu werden, dass sie und Jake allein waren. »Hast du von den Göttern irgendwelche guten Nachrichten bekommen, was Mollys Seele betrifft oder die des Mannes, den du ... liebst?« Lauren sah ihn nicht an. »Nein.« Dann zuckte sie die Achseln. »Nun - eine gute Nachricht für Molly hätte ich, auch wenn es nur eine winzige Chance ist. Ich hoffe, dass ich Gelegenheit haben werde, ihr diese Nachricht zu überbringen.« Sie wandte sich von Birra ab und kämpfte gegen die Tränen an. Sie wollte nicht, dass er ihre Schwäche sah. Leute, deren Job es war, die Vernichtung von Planeten abzuwehren, konnten sich den Luxus öffentlicher Tränen nicht leisten. Kupferhaus Lauren sah Seolar an, der in seinem mit Büchern übersäten Arbeitszimmer an einem Zeichentisch saß. Jake war auf ihrem Arm eingeschlafen, und sie spürte seinen Atem an ihrer Schläfe. Mit seinen dreißig Pfund war er schwer genug, um sie sein Gewicht deutlich spüren zu lassen - aber Lauren war noch nie in ihrem Leben so dankbar für die Verspannung zwischen ihren Schulterblättern gewesen. 312 »Die Götter haben dir deine Bitte nicht gewährt?«, fragte Seolar. »Das ist noch milde ausgedrückt. Die Molly, die dort ist, hat jeder Beziehung zu derjenigen, die noch hier ist, abgeschworen. Aber ich habe Neuigkeiten für Molly.« Seolar warf Birra einen panikerfüllten Blick zu, und Birra sagte: »Ich habe es ihr erzählt.«
Seolar räusperte sich. »Sie ist nicht mehr hier.« Lauren sah sich nach einem Sitzplatz in dem Raum um. Am Ende schob sie ein paar Bücher von einer Bank und ließ sich darauf nieder. »Das weiß ich. Ich weiß, was ihr zugestoßen ist, und ich weiß, dass der Rrön die Kette hat.« »Es ist also alles vorbei. Wir haben verloren. Mein Volk ist dazu verdammt, die Raubzüge der alten Götter zu erleiden, dein Volk wird noch zu deinen Lebzeiten die Zerstörung seiner Welt mit ansehen ...« Lauren schloss die Augen. Sie war zu müde für all das, zu müde für die Verzweiflung anderer. Es wäre so einfach gewesen, nach Hause zu gehen, um dort auf das Ende zu warten. Aber sie hatte eine Verantwortung ihrem Sohn gegenüber und musste weitermachen; wie sie sich dabei fühlte, bedeutete weniger als gar nichts. Sie hob die Hand, die sie nicht benötigte, um Jake festzuhalten. »Halt. Einen Moment mal. Wir wissen nichts dergleichen.« Seolar sah sie ungläubig an. »Die Kette ist fort. Wenn der Rrön sie Molly abgenommen hat, bevor er sie tötete, wird sie nicht zurückkommen. Falls er es nicht getan hat, dann hat er die Kette inzwischen gewiss zerstört.« »Du könntest Recht haben«, meinte Lauren. »Möglich, dass wir bereits verloren haben, aber wir können nicht einfach davon ausgehen, dass wir verloren haben. Wir müssen es wissen. Ich denke, ich sollte alles in meiner Macht Stehende tun, um Molly zu finden und sie zurückzuholen.« 313 Seolar schien in seiner Trauer keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Er machte nur eine halbherzige Handbewegung, als wolle er ihren Vorschlag beiseite schieben. Lauren, die ihn genau beobachtete, gewann den Eindruck, dass etwas an Seolars Verhalten nicht stimmte. »Hattest du etwas damit zu tun?« Er blickte auf und sah sie zum ersten Mal, seit Birra sie in seinen Arbeitsraum geführt hatte, richtig an. »Was?« »Hattest du etwas damit zu tun, dass der Rrön hier hereingekommen ist? Dass sie getötet wurde, dass die Kette verschwunden ist - ist irgendetwas davon deine Schuld?« Augen, die nicht blinzelten, blickten in Laurens, und eine Stimme wie der Tod an einem schlechten Tag sagte: »Natürlich ist es meine Schuld. Alles. Ich habe sie gegen ihren Willen hierher geholt, ich habe ihr die Kette gegeben, obwohl ich wusste, dass sie sie zur Zielscheibe für die übelsten dunklen Götter in der Weltenkette machen würde, ich habe sie angelogen, was die Kette betraf, damit sie sie trug, ich habe sie glauben lassen, ich könne sie beschützen, obwohl ich es nicht konnte, ich habe ihr Vertrauen missbraucht...« Er löste seinen Blick und wandte sich ab, und Lauren hörte ihn sagen: »Ich habe sie nicht genug geliebt.« »Liebst du sie?« »Ja. Natürlich habe ich sie geliebt. Ich habe sie geliebt. Molly. Ich weiß, dass ich die Frau liebe, die sie war. Wenn ich die ... Frau ... sehe, die zurückgekommen ist, sehne ich mich nach ihr, aber gleichzeitig fühle ich mich ... ich fühle mich irgendwie von ihr abgestoßen. Sie ist die Frau, die ich liebe, und ist es doch wieder nicht, und dieses Wissen ist eine Schlange, die mein Herz von innen heraus verschlingt und mich nachts nicht schlafen lässt, weil sie an mir nagt. Ich kann Molly nicht mehr so ansehen wie früher. Verrate ich die wahre Molly, wenn ich das Geschöpf liebe, das jetzt 314 unsere Vodi ist? Verrate ich eine Frau, die mich noch immer liebt, weil sie nicht die Frau ist, die sie einmal war?« Er wandte sich zu Lauren um. »Es ist alles Dunkelheit. Alles in mir ist Dunkelheit, und ich glaube nicht, dass noch ein Ort übrig geblieben ist, an den das Licht vordringen kann. Die Zukunft ist fort, die Gegenwart ist tot, die Vergangenheit war nichts als törichte Hoffnung ohne jeden Grund zur Hoffnung.« Lauren strich Jake über den Kopf, und er bewegte sich im Schlaf, schmiegte sich enger an sie und schlang die Arme um ihren Hals. »Nein«, sagte Lauren. »Das lasse ich nicht gelten. Und jetzt willst du einfach aufhören? Du willst das Böse siegen lassen, weil du nicht den Mut oder den Willen hast, dagegen zu kämpfen? Du willst Milliarden sterben lassen - mein Volk und schließlich auch deins? Ist das recht, Seolar? Wir haben beide jemanden verloren, den wir lieben, aber du, der du noch mehr von dem geliebten Menschen behalten hast als ich, du willst einfach verzweifelt die Hände in den Schoß legen?« Sie erhob sich, Jake fest umklammert, und taumelte ein wenig, als sie versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Du liebst sie nicht genug, oder du liebst sie auf die falsche Art und Weise, du hast einen schlechten Tag, und du leidest furchtbar, also vergisst du deine Pflicht? Deine Gefühle rechtfertigen den Tod von Welten, ja?« Lauren ging auf die Tür zu. »Wenn du wieder klar denken kannst, komm zu mir. Wer Entscheidungen, die ganze Welten verändern werden, nach seinen Gefühlen trifft statt aufgrund seiner Gedanken, ist der Geschöpfe, für die er diese Entscheidungen trifft, nicht würdig.« Sie schob sich durch die Tür und befahl Birra: »Bring mich in mein Quartier. Ich brauche etwas Schlaf, bevor ich mich auf die Suche nach Molly mache. Ich weiß nicht, wann 315 ich das letzte Mal geschlafen habe, aber es war, bevor ich von hier fortgegangen bin, wann immer das gewesen sein mag. Es kommt mir so vor, als bewege sich der Fußboden unter meinen Füßen.« »Du willst Molly suchen?« Lauren sah ihn von der Seite an. »Du auch, Birra?« Einen Moment lang antwortete er ihr nicht. »Was meinst du damit, ich auch?«
»Du denkst, wir sollten uns alle einfach zusammenrollen und den Dingen ihren Lauf lassen?« »Ich denke, wir haben verloren. Ich denke, für uns ist alles vorbei - für mein Volk, für deine Welt. Aber wenn du anderer Meinung bist, werde ich dir durch die Hölle folgen, um zu versuchen, so viel zu retten, wie wir können.« Lauren musterte ihn eingehend und sagte schließlich: »Ich war diese Woche schon in der Hölle. Mal sehen, ob wir einen besseren Weg finden können, um an unser Ziel zu gelangen.« In ihrem Quartier, wo sich die Goroths in den Ecken drängten und selbst für die schärfsten Augen unsichtbar waren und Wachen vor der Tür und in den geheimen Korridoren standen, steckte Lauren Jake ins Bett und legte sich neben ihn. Die Erschöpfung lastete so schwer auf ihren Augen, dass sie sie nur wenige Sekunden lang offen halten konnte, bevor sie ihr zufielen. Aber ihre Gedanken überschlugen sich. Sie verlor Brian immer wieder. Ihre Hoffnungen wurden immer wieder zunichte gemacht; er würde am Ende ihres Lebens auf sie warten, aber was immer sie im Jenseits miteinander teilten, würde nicht das sein, was sie als Mann und Frau auf der Erde miteinander geteilt hatten. Sie hatte das gewollt, und sie konnte es nicht haben. Als sie nun auf sauberen, weichen Laken in der Dunkelheit lag, ihren kleinen 316 Sohn dicht neben sich, begriff Lauren endlich, dass sie den Traum, Brian zurückzubekommen, aufgeben musste. Jede Frau, die einen geliebten Ehemann verloren hatte, würde alles tun, um ihn zurückzubekommen - aber irgendwann kam die Zeit, da es nur wehtat, wenn man weiter festhielt, und man nichts dadurch gewann. Sie hatte diesen Punkt überschritten. Er wartet auf dich, sagte sie sich. Er wird dort sein. In der Zwischenzeit musst du die Dinge im Auge behalten, die wichtig sind. Es gibt Menschen, die auf dich zählen. Dein Leben ist wichtig, und du bist hier noch nicht fertig. Und auch wenn du dieses Leben allein leben musst, musst du es trotzdem tun. Du kannst dir den Luxus nicht leisten, alles hinzuwerfen, denn niemand steht hinter dir. Niemand gibt dir Deckung. Selbst mit geschlossenen Augen hatte sie das Gefühl, als drehte sich das Bett um sie herum. Sie versuchte, sich zu entspannen. Sie versuchte, loszulassen. Aber ihre Gedanken kreisten weiter um diesen einen Satz: Niemand gibt dir Deckung. Cat Creek Pete winkte Eric zu und fuhr aus der Stadt, bevor die Sonne auch nur am Horizont erschien, angeblich auf dem Weg nach Charlotte, um Lauren abzuholen. Er hatte nicht erklärt, dass er sie vielleicht nicht würde finden können, er hatte seiner Geschichte nichts hinzugefügt. Soweit die anderen wussten, war ihm bekannt, wo Lauren steckte, und sie würde in etwa vier Stunden wieder in Cat Creek sein. Vielleicht fünf, wenn viel Verkehr war. Er fuhr durch Laurinburg und auf die 74, geradeso, als sei 317 er auf dem Weg nach Charlotte. Aber kurze Zeit später verließ er die Straße wieder und fuhr von Hamlet aus nach Norden in die Sandhills. Auf unbefestigten Straßen holperte er tief in den wilden Wald hinein bis zu einer Stelle, von der er wusste, dass sie nicht allzu genau überwacht wurde, weil sie einfach zu weit abseits lag. Je weiter ein Wächter bei seiner Arbeit seinen Kreis zog, umso winziger wurde die Chance, etwas zu finden. Pete ging jedoch keine Risiken ein. Er entfernte sich selbst von der unbefestigten Straße, der er gefolgt war, ein gutes Stück, dann versteckte er den Wagen. Anschließend nahm er seinen Torspiegel zur Hand - den er um vier Uhr morgens aus seinem Badezimmer geholt und in seinen Kofferraum geworfen hatte - und legte ihn behutsam auf die Rückbank des Wagens. Dies, befürchtete er, würde verdammt schwierig werden. Denn wenn er nicht vorsichtig war und einen Fehler machte, wäre seine Tarnung beim Teufel. Er konnte es sich jedoch nicht leisten, darüber nachzudenken. Also schloss er die Augen, holte tief Atem und sagte sich, dass alles gut gehen würde. Er würde seine Aufgabe erfüllen, und das Universum würde ihm nicht im Weg stehen. Pete war schon einmal in Laurens Elternhaus in Oria gewesen. Nicht unter den günstigsten Umständen, so viel stand fest - er hatte Eric, der damals dem Tode nahe war, hinter sich hergeschleift, und Pete und Lauren waren sich ziemlich sicher gewesen, dass die Welt sich im Schweinsgalopp ihrem Ende näherte. Trotzdem hatte sich dieser Ausflug in sein Gedächtnis gegraben, und Pete glaubte, dass er das alte Haus wieder finden konnte. Er musste zu diesem Haus gehen, denn Lauren hatte dort bereits ein Rückkehrtor errichtet; falls er Lauren nicht fin318 den konnte, wäre er immerhin in der Lage, nach Hause zurückzukommen. Pete beugte sich über den Spiegel, legte die Fingerspitzen auf das Glas und hielt sein Gesicht so dicht darüber, dass er die Pupillen seiner Augen deutlich sehen konnte. Er starrte in sie hinein und hielt, über die Dunkelheit darin hinweg,. Ausschau nach dem Inneren des kleinen Hauses in Oria der primitiven Küche mit der Handpumpe, dem Kamin an der Küchenwand, dem Holzofen, den handgemachten Brettern. Er blickte in die Schwärze seiner eigenen Augen und erinnerte sich an den Geruch der Luft in Oria, an die Geräusche des Waldes draußen vor dem kleinen Haus und das Gefühl, dass etwas Uraltes, Wartendes zwischen diesen Bäumen lauerte. Tief in diesen beiden dunklen Punkten blitzte grünes Feuer auf, ein kleines Flackern nur, ein winziger Vorgeschmack auf greifbaren Erfolg. Er lockte das Feuer näher heran, dachte an die gefalteten Decken, das aufgestapelte Feuerholz, das gusseiserne Kochgeschirr, die handgeknüpften Teppiche. In seinen Augen konnte er
eine Spur der anderen Welt entdecken; dann dehnte die Welt sich aus, und sein Spiegelbild verblasste. Der Spiegel unter seinen Fingerspitzen wurde warm. Pete spürte die Energie jenes Ortes zwischen den Welten, nahm ihre Vibration unter seinen Händen wahr, so schwer fassbar wie Quecksilber und durch und durch magisch. Grünes Feuer bewegte sich flackernd vom Zentrum des Glases nach außen, und als es den ganzen Spiegel erleuchtete, verschwand das Gefühl, etwas Festes zu berühren. Pete holte tief Luft und schob einen Fuß durch das, was einen Augenblick zuvor noch eine feste Oberfläche gewesen war, jetzt jedoch als offenes Tor diente. Dann trat er mit dem anderen Fuß hindurch. Seine Beine waren plötzlich 319 ohne Gewicht und baumelten im Nichts, und er musste seine Arme benutzen, um sich in den Spiegel hinunterzulassen. Um seine Schultern hindurchzuzwängen, musste er sich auf die Seite drehen, und am Ende schlitterte er den Rest des Weges auf den Pfad hinunter, indem er die Hände über den Kopf hielt und sich einfach fallen ließ. Auf dieselbe Art und Weise hatte er sich oft in ein Schwimmbecken hineingleiten lassen, das Vorgehen war in beiden Fällen ähnlich. Unter beiden Oberflächen war nichts mehr wie vorher. Aber auf der Feuerstraße, die nach Oria führte, strömten Zufriedenheit, Glück und die Berührung der Ewigkeit in ihn hinein und durch ihn hindurch, und während der kurzen Zeit, in der er sich durch den Ort zwischen den Welten bewegte, wurde er eins mit dem Universum. Diese Erfahrung hatte ihn bisher noch immer zutiefst berührt, und sie hatte ihn verändert. Obwohl er sich nicht gerade auf seinen Tod freute, fürchtete er ihn auch nicht länger. Er konnte sich als Teil der Ewigkeit spüren, und welchen Anspruch konnte der Tod darauf schon erheben? Schließlich erreichte er die andere Seite des Tores - den Spiegel in Laurens Elternhaus. Und die Unendlichkeit spie ihn aus in Dunkelheit, Staub und das Wissen, dass er sich furchtbar beeilen musste. Er musste zum Kupferhaus gehen, hatte aber natürlich keine Ahnung, wie er es finden sollte. Pete trat aus dem Haus und schloss die Tür hinter sich. Überall um ihn herum war Wald. Uralt und massig und teuflisch beängstigend - kein Wald, in dem man Hirsche jagte, kein Wald wie daheim auf der Erde, in dem man mit einem Mädchen schmuste. Dies hier war urzeitliche Wildnis, und er war Rotkäppchen, das vom Weg abgekommen war und sich jetzt inmitten von hungrigen Bären, Wölfen und Drachen wieder fand. Pete bekam eine Gänsehaut. Er 320 war auf dem Land groß geworden, aber er mochte die Zivilisation. Er hatte immer Städte und Autos gemocht und Elektrizität und ... Landkarten. Bäume, so breit wie Häuser - Kolosse, deren wuchernde Äste die Bäume in den meisten Wäldern auf der Erde beschämt hätten -, breiteten sich in alle Richtungen vor ihm aus, so weit das Auge reich, te. Und der Frühling hatte den Bäumen gerade genug Blätter gegeben, um Pete jede echte Sicht zu versperren. Grün. Und Baumstämme. Und sonst verdammt wenig. Er fluchte - leise, aber mit Inbrunst. Selbst wenn er gewusst hätte, in welche Richtung er gehen musste, brauchte er ein schnelles Transportmittel, um dorthin zu gelangen -und er hatte nichts. Nur seine eigenen Füße. Nun, er mochte sich mitten im schlimmsten Albtraum der Gebrüder Grimm befinden, aber er war nicht völlig hilflos. Er hatte Magie - und die Wächter hatten in der letzten Woche eine Menge Zeit darauf verwandt, mit ihm zu arbeiten, nur um sicherzustellen, dass er keine nicht wieder gutzumachende Dummheit damit anstellte. Er musste an die drei grundlegenden Punkte denken. Die Energie kontrollieren, die er benutzte. Wenn irgend möglich, leihen statt neu schaffen. Und keinen Schaden anrichten. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf das, was er brauchte - ein Transportmittel, das ihn mit der schnellstmöglichen Geschwindigkeit direkt zum Kupferhaus brachte, ohne irgendwo falsch abzubiegen. Etwas, das kein Problem mit dem Fehlen jedweder Straßen hatte. Etwas, das er nicht verpfuschen oder zerstören konnte, und etwas, das keine Aufmerksamkeit erregen würde. Er begrenzte weder die Gestalt noch die Größe des Dings 321 und stellte sich bewusst keine bestimmte Gestalt dafür vor. Er benutzte einfach seine Willenskraft, um das richtige Transportmittel erscheinen zu lassen, etwas, das er sofort benutzen konnte. Er öffnete die Augen. Zwei riesige, braune Augen starrten ihm entgegen, an einer Nase entlang, die aus Petes Blickwinkel so lang wie ein Eisenbahnwaggon aussah. Das Pferd schnaubte, und Pete zuckte zusammen. »Ich hasse Pferde«, murmelte er. Kupferhaus Jake weckte Lauren, indem er versuchte, mit den Fingern ihre Augenlider zu öffnen. Gesegnet mit der typischen Geschicklichkeit eines Dreijährigen, war dieses Vorgehen genauso effektiv, als hätte er sie mit einem Stock gepiesackt. »Jake!«, heulte sie auf und schlug mit fest geschlossenen Augen seine Hände weg. »Kitzeln?«, fragte er erwartungsvoll. Sie drehte sich um, blies ihm mit gespitzten Lippen Luft auf den Bauch und kitzelte ihn, bis er schrie, sie solle aufhören. Daraufhin ließ sie sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett fallen, weil sie hoffte, er würde sie wieder einschlafen lassen. So viel Glück hatte sie jedoch nicht.
»Ich will etwas zu essen«, erklärte er. »Steh auf.« »Du hast leicht reden«, murmelte sie. »Du hast geschlafen.« Sie hatte keine Ahnung, wann sie eingedöst war. Ihre Augenlider fühlten sich jedoch so an, als seien sie aus Sand, und obwohl der Raum sich nicht länger drehte, schien um das Bett herum eine anormale Schwerkraft zu herrschen, die Lauren allein den Gedanken ans Aufstehen unmöglich machte. Sie rollte sich auf die Seite und lächelte ihren Sohn 322 an. »Du hättest wohl nicht Lust, noch ein Weilchen zu schlafen?« »Ich will aufstehen. Wir können meine Zähne putzen, und dann kann ich frühstücken.« »Und ich will schlafen.« »Du hast doch schon geschlaftet.« Seit neuestem interessierte er sich für die Vergangenheitsform. Er hatte irgendwie begriffen, dass man zu diesem Zweck ein »t« an das Ende der Worte hängte, war aber außerdem zu dem Schluss gekommen, dass zwei »t« besser waren als eins. Sie zerzauste ihm das Haar und richtete sich auf. Er wurde zu schnell groß. Er benutzte ganze Sätze, und solange sie wusste, wovon die Rede war, ergaben seine Worte für gewöhnlich durchaus Sinn. »Das Frühstück«, sagte sie und stand auf, »wird allgemein überschätzt.« Sie reckte sich, dann hob sie ihn hoch und wirbelte ihn herum. »In Ordnung. Sehen wir mal nach, was da ist.« Die Vorräte in ihrem Quartier waren begrenzt. Mit dem heißen Wasser für den Tee konnten sie sich eine Art Haferbrei machen. Außerdem konnten sie Brot mit Erdnussbutter essen (die Erdnussbutter - Jif - war ein Import von der Erde). Oder sie konnten einen Dienstboten herbeirufen und sich irgendetwas Leckeres bringen lassen. Lauren hatte ihre Schwierigkeiten, sich an die Vorstellung von Dienstboten zu gewöhnen. Das Ganze gefiel ihr nicht. Aber andere Länder, andere Sitten ... Einer der Goroths - Lauren wünschte, sie hätte allein aufgrund des Aussehens sagen können, welcher es war stürzte plötzlich zur Tür, presste den Kopf dagegen und erklärte kurz darauf: »Der Herr des Hauses ist gekommen. Er ist im Vorraum. Er hat den alten Gott mitgebracht.« 323 Lauren seufzte. So viel zu ihrer Idee, jemanden dazu zu überreden, ihr einen großen Teller mit Obst zu bringen. »Danke«, sagte sie. »Ich ziehe mich an und gehe hinüber.« Der Besuch bedeutete, dass sie sich erst ins Badezimmer verkriechen musste, um sich anzukleiden. Sie war das Aquarium, in dem sie bei ihren Aufenthalten in Oria leben musste, bereits gründlich leid. »Komm, Jake«, sagte sie. »Wir müssen uns die Zähne putzen und uns anziehen, dann holen wir uns etwas zu essen.« Als Lauren und Jake wieder aus dem Bad kamen, hatte jemand das Bett gemacht, die Tür geöffnet und auf dem Tisch im Vorraum ein kleines Festmahl bereitgestellt. »Frühstück!«, rief Jake, dann packte er ihre Hand und zerrte sie hinter sich her. Nicht gerade die würdevollste Art, einen Raum zu betreten, in dem ein Prinz und ein Gott warteten, aber wenn man Würde wollte, dachte Lauren, war die Vermeidung der Mutterschaft ein unerlässlicher erster Schritt. »Guten Morgen«, sagte sie zu Seolar. Sie betrachtete den Fremden, der auf den ersten Blick wie ein Veyär aussah, aber keiner war. »Ich bin Lauren«, stellte sie sich vor. »Und du bist...?« »Beeindruckt. Ich hatte nicht erwartet, dass ich dich kennen lernen würde.« Er verbeugte sich. »Mein Name ist Quawar.« Seolar ließ sich in dem Schaukelstuhl nieder, Quawar blieb an der Wand stehen. »Du hattest Recht«, sagte Seolar, der sich jedwede Begrüßung schenkte. »Wir dürfen nicht aufgeben. Also habe ich, während du geschlafen hast, mit Quawar gesprochen. Er hat seine Magie benutzt, um herauszufinden, was Molly zugestoßen ist. Er hat festgestellt, dass der Rrön, der ins Haus eingedrungen ist, Baanraak war ...« »Molly hat von ihm gesprochen«, sagte Lauren. 324 »Er ist böse«, erklärte Quawar ihr, »und bei weitem der schlimmste der dunklen Götter.« »Das passt«, murmelte Lauren. »Quawar glaubt«, fuhr Seolar fort, »er kenne nun auch die Richtung, in die Baanraak geflohen ist.« »Ich glaube, dass Baanraak an der Weltenkette entlang abwärts gereist ist und zwar mehr als nur eine Welt weit. Ich kann mühelos eine magische Spur finden, aber ich kann die Tore nicht schaffen, um ihr zu folgen. Ich vermute allerdings, dass Baanraak die Kette der Vodi noch in seinem Besitz hatte, als er Oria verließ.« Seolar sagte: »Erzähl ihr, was du herausgefunden hast.« »Er hat sich größte Mühe gegeben, zu verstecken, was immer er mitgenommen hat. Ich konnte nur so viel erkennen: Er wollte verhindern, dass irgendjemand erfuhr, was er bei sich hatte, oder eine Spur davon entdecken konnte.« Quawar runzelte die Stirn und nahm nun doch auf dem Sofa Platz. Lauren setzte sich ihm gegenüber und erlaubte Jake, sich eine Pastete zu nehmen. Die anderen bedienten sich ebenfalls. Quawar fuhr fort: »Baanraak hatte eine Abmachung mit der Nachtwache. Er sollte Molly töten und die Kette abliefern, aber offensichtlich ist er fortgegangen, ohne seinen Lohn zu kassieren - und die dunklen Götter sind unzufrieden, weil er ihnen die Vodi-Kette nicht ausgehändigt hat, damit sie sie zerstören können.« Lauren nickte und versuchte, diese Puzzlestücke zusammenzusetzen. Sie passten nicht. »Warum sollte er die Kette an sich nehmen und damit in eine der unteren Welten verschwinden? Kann er denn irgendetwas damit
anfangen?« Quawar zuckte die Achseln. »Sie wird zurückkommen«, sagte er kurz darauf. Er biss in eine Pastete hinein und kau325 te nachdenklich. »Vielleicht hat ihr erster Tod Baanraak nicht zufrieden gestellt. Vielleicht möchte er sie noch ein paar Mal töten, bevor er sie endgültig zerstört.« Lauren fand Quawar definitiv unsympathisch. »Aber es gibt keinen Grund, warum er die Kette nicht hier auf Oria hätte zerstören und die ... Nachtwache? ... zufrieden stellen sollen, wenn er das gewollt hätte.« »Das würde mir auch als die vernünftigste Vorgehensweise erscheinen«, warf Seolar ein. »Wenn Baanraak unvernünftige Dinge tut«, sagte Lauren, »dann muss das für uns nicht zwangsläufig schlecht sein. Alles, was ihn davon abhält, die Kette zu zerstören, kann uns nur nutzen. Zumindest verschafft er uns damit Zeit.« Sie schloss die Augen. Sie hatte Mollys Gegenwart spüren können, als sie beide auf demselben Planeten gewesen waren. Selbst nach Mollys Tod und Wiederauferstehung konnte Lauren die Verbindung noch immer ertasten. Wenn sie in den unteren Welten ein Tor nach dem anderen öffnete, würde sie dann Mollys Gegenwart auf der richtigen Welt spüren können? Das schien ihr eine Möglichkeit zu sein, der sich nachzugehen lohnte. Aber erst nachdem sie ein paar Bissen gefrühstückt hatte. Sie stellte fest, dass sie vollkommen ausgehungert war und schlimmeren Durst hatte als je zuvor in ihrem Leben, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nichts mehr gegessen hatte, seit sie ins Jenseits gegangen war. »Wie lange war ich fort?«, fragte sie Seolar plötzlich. »Zwei volle Tage.« Das erklärte eine Menge. Über Niidaa nach Dalchi Baanraaks Flucht war ein Meisterstück gewesen. Er hatte jede Begegnung mit Rr'garn oder seinen Kumpanen vermeiden können und war recht zufrieden mit dieser Leistung. Die Freude, die er darüber empfand, erschien ihm jedoch merkwürdig. Fhergass hatte in Baanraak alle Gefühle ausgebrannt, als er ihn zu seinem Erben auszubilden begann. Zumindest war das die Theorie gewesen - dass wiederholte Tode und Wiederauferstehungen Baanraak von allen verderblichen Einflüssen seiner verlorenen Seele und seines verlorenen Lebens befreien würden, um ihn zu einem perfekten, emotionslosen Jäger zu machen. Jahrhundertelang hatte es funktioniert. Baanraak verschlang, jagte und mordete ohne Schmerz oder Bedauern oder Schuldgefühle, und er wurde in jeder Hinsicht zum perfekten Partner von Fhergass. Fhergass stellte ihm eine Aufgabe, und Baanraak hob die Welt aus den Angeln, um der Aufgabe gerecht zu werden. Aus einer Laune heraus forderte Fhergass die Meisterin der Nachtwache zum Zweikampf und tötete sie, und nachdem er für sich selbst den Platz als der neue Gott des Todes errungen hatte, wies Fhergass Baanraak den Platz zu seiner Rechten zu. Als Fhergass schließlich müde wurde und den Geschmack an Welten und Toden verlor, zerstörte Baanraak ihn, wie sie es für diesen Fall vereinbart hatten, und Baanraak bestieg an Fhergass' Stelle den Thron der dunklen Götter. Im Laufe der Zeit begann Baanraak das Spiel zu 327 langweilen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger jedoch erstreckte seine Langeweile sich nicht auch auf seine bloße Existenz. Daher tat er, was noch niemand je zuvor getan hatte: Er trat als Meister der Nachtwache zurück und ließ seine Untergebenen miteinander um seine Nachfolge kämpfen. Dann verschwand er von der Bühne. Bis zum heutigen Tag war er der Nachtwache ein Rätsel, aber eines, das sie respektierte - oder zumindest fürchtete. Baanraak seufzte bei dem Gedanken, dass ihre Bereitschaft, seine Existenz zu ignorieren, mit seinem offenkundigen Verrat gewiss ein Ende gefunden hatte. Ah, nun. Wenn sie ihn verfolgten, würde er sie zerstören. Schließlich entdeckte er einen schönen, natürlichen Steinbogen in einer Felsschlucht unter sich und breitete die Flügel aus. Er glitt über das Gebiet hinweg und kundschaftete es sorgfältig aus. Es war niemand in der Nähe - er konnte sich nicht genau daran erinnern, welche Art von intelligentem Leben es auf Niidaa gab, wusste aber, dass es Vierfüßler waren, kleine, säugetierähnliche Geschöpfe - die gottverdammten Säugetiere waren überall -, doch nichts Derartiges war dort unten zu entdecken. Baanraak ließ sich auf den Boden nieder und besah sich den Steinbogen. Er gefiel ihm; von Wasser durch diesen kahlen Flecken Landes geschnitten, wo die Büsche sich verzweifelt an die Felsen klammerten und es selbst Baanraak mit seiner empfindsamen Nase schwer fiel, einen Hauch von Feuchtigkeit zu erschnuppern, erregte dieser Ort gewiss keine Aufmerksamkeit. Er würde die Energiespuren von dem Tor, das Baanraak schuf, absorbieren und den größten Teil davon binnen ein oder zwei Tagen weiterleiten. Jemand von seinem Kaliber mochte in der Lage sein, seine Spuren zu finden, falls der Betreffende wusste, wo er suchen musste, aber unter den dunklen Göttern gab es niemanden von seinem Kaliber. 328 Baanraak lächelte schwach. Dies war die Welt, in der man ihn zuallerletzt aufspüren würde - er glaubte, dass Cadwa, Povreack und diese Welt selbst für den besten Fährtensucher hinreichend verwirrend waren. Und Dalchi war eine reife, lebhafte Welt, die noch immer übersprudelte vor unberührter, unveränderter, unbeschirmter natürlicher Energie. Es war praktisch unmöglich, ihn und alles, was er vor einem solchen Hintergrund tat, aufzuspüren. Er würde die Zeit haben, die er brauchte, um die Vodi auszubilden. Und um herauszufinden, was er
anschließend tun wollte. Er schuf das Tor, wobei er sich den Bogen als Rahmen zunutze machte, und als das grüne Feuer wie ein vertikales Tuch aus Wasser vor ihm aufschimmerte, spähte er hindurch auf die andere Seite. Er brauchte eine schöne, tiefe Höhle an einem warmen, sonnigen Ort - nicht zu viel Regen, große, flache Felsbrocken und überall um ihn herum ein Gelände, das reich an Leben war, an warmem, rohem Fleisch. Das Fleisch und die Knochen würde die Vodi brauchen, um nicht nur einen, sondern eine Vielzahl von Körpern wiederaufzubauen; er würde häufig auf die Jagd gehen müssen, um die Vodi-Kette zu nähren und Fleisch für den in der Kette gefangenen Willen heraufzubeschwören. Was natürlich nichts war im Vergleich zu dem, was Fhergass hatte tun müssen. Aber Fhergass war bereit gewesen, Jahre auf Baanraaks Umgestaltung zu verwenden. Baanraak war ungeduldig. Und er wusste nicht, warum. Langeweile. Ungeduld. Erregung. Freude. All das hätten nur Worte für ihn sein dürfen - Theorien, die er verstand, aber nicht am eigenen Leib erfuhr. Doch nun strömten diese Gefühle durch ihn hindurch wie dunkles Wasser durch einen Sumpf. Sie rührten Dinge unterhalb der Oberfläche auf, die sich seinem Blick entzogen, und 329 nahmen untergründige Veränderungen in ihm vor. Er konnte weder den Ursprung der Gefühle ausmachen, noch ihren Weg verfolgen, aber er konnte sie wahrnehmen - ebenso wie die seltsamen Strömungen, die sie in ihm in Gang setzten. Er hatte lange genug in einer gefühlsmäßigen Wüste gelebt, und er hatte die Reinheit und Strenge jenes Ortes zu schätzen gelernt. Der üppige Sumpf der Gefühle, in dem er sich nun wieder fand, erschien ihm wie ein tödlicher Verrat. Er konnte keine Kralle auf die Veränderung legen - weder auf die Frage, was es war, noch auf die Frage, wann es geschehen war. Aber jetzt wollte er Dinge, und er war seit unvordenklichen Zeiten frei von jedem Wollen gewesen. Was wollte er? Er starrte in das grüne Feuer und ließ seine Gedanken schweifen. Visionen von seiner Heimatwelt blitzten in ihm auf - einer Welt, die schon lange zu Asche verbrannt war und keine Überlebenden hatte, bis auf jene, die geflohen waren, und deren Nachfahren. Einen flüchtigen Moment lang erinnerte er sich an die Wärme seiner eigenen Sonne, an die Form vertrauter Felsen unter seinem Bauch, während er sich in einer Luft räkelte, die den richtigen Geruch hatte - und die Luft auf anderen Welten hatte niemals den richtigen Geruch -, und nur für einen flüchtigen Moment nagte Sehnsucht an ihm. Dumm, wirklich dumm; seit er als junger Rrön aus dem Ei geschlüpft war, waren schon so viele tausend Jahre vergangen, dass er schon lange nicht mehr mitzählte. Er hatte den Überblick über die Zahl der Welten verloren, die er hinuntergewandert war, und er wusste, dass er beim Gedanken an jene alten Zeiten nichts mehr hätte empfinden dürfen. Und doch tat er es, obwohl er einmal in der Lage gewesen war, die Vernichtung seiner Welt und alles darin zu be330 obachten und nichts zu empfinden als vorübergehende Befriedigung, während er sich am Tod Unschuldiger labte. Seltsam. Baanraak schüttelte die Regung ab und ließ seinen Blick über die Landschaft zu beiden Seiten des Tores wandern, bis er den idealen Platz gefunden hatte: einen schönen, spitzen Felsvorsprung, der in eine Höhle mit einer weiten Öffnung führte, und darunter Ebenen, die übersät waren mit Tieren in allen Formen und Größen. Das würde genügen. Baanraak trat durch das Tor und spürte einmal mehr voller Abscheu die Energie des Weges zwischen den Welten, die unangenehm auf seiner Haut kratzte. Als er jung war, vor seinem ersten Tod, war er voller Jubel durch die Tore gegangen; das grüne Feuer sang für ihn und belebte ihn. Jetzt, da er aus anderem Holz geschnitzt war und von einer Energie am Leben gehalten wurde, die das schiere Gegenteil dieses grünen Feuers des Lebens war, jetzt war das Durchschreiten eines Tores jedes Mal eine Qual für ihn. Aber es lohnte sich. Dankbar dafür, endlich am Ziel zu sein, kletterte er durch das Tor. Er stieg auf den höchsten Felsbrocken, ließ sich darauf nieder und breitete die Flügel unter einer Sonne aus, die sich zu kalt und zu fern anfühlte. Er hatte ein wenig Zeit, um zu dösen und sich auszuruhen, bevor er mit der Jagd begann; er konnte sich zunächst einmal von dem Unbehagen erholen, das das Durchschreiten des grünen Feuers in ihm geweckt hatte. Später war immer noch Zeit, um mögliche Bewohner der Höhle zu verjagen - oder besser noch, zu töten und ihr Fleisch für die Ernährung der Vodi zu verwenden. Und die Vodi... Baanraak durchschnitt das Seil, mit dem er den Beutel mit der Vodi-Kette festgebunden hatte, und löste ihn von seinem goldenen Piercing-Ring. Er fuhr mit einer Kralle in den Beutel, zog die Kette heraus und musterte sie. Ein alter Gott, der sowohl über ungeheuere Macht als 331 auch über einen exzellenten Geschmack verfügt hatte -eine echte Seltenheit -, hatte diesem speziellen Stück zu seinem vollen Wert und zu noch etwas mehr verholten. Die Kette selbst war dick und glatt, und jedes einzelne Glied überlappte sich mit dem nächsten, so dass die Glieder selbst beinahe unsichtbar wurden. Das Ergebnis sah aus wie ein schwerer Strang aus flüssigem Gold. Auf dem Medaillon damit waren nur die wenigsten Auferstehungsartefakte ausgestattet - umgab ein Kreis von eingefassten Saphiren die in Hochrelief ausgeführte Zentralfigur einer geflügelten Frau, die sich aus einem stürmischen Meer erhob.
Er vermutete, dass das Stück zur Zeit der Vorherrschaft der Zweiten Dathianischen Schule angefertigt worden war, also während seiner eigenen Herrschaft als Meister der Nachtwache. Dies war die einzige Schule, die Juwelen in Auferstehungsstücke einarbeitete, wodurch das betreffende Stück zwar mächtiger, aber auch empfindlicher wurde -ein schlechter Handel, fand Baanraak. Es war jedoch kein dathianisches Stück. Die Auferstehungsarbeiten dieser Schule waren geprägt von einer einheitlich düsteren Stimmung; ferner hatten die Dathianer Symbole für die Vergänglichkeit der physischen Gestalt bevorzugt. Auf ihren Medaillons fanden sich häufig Totenschädel, Vipern, Waffen und sterbende Wesen. Dieses Medaillon dagegen barg eine seltsame Art von Hoffnung in sich: Die darauf abgebildete Figur erhob sich unversehrt aus dem Herzen des Aufruhrs, der um sie herum tobte. Auch Baanraak konnte die Hoffnung spüren, die von dem Schmuckstück ausging. Es verfügte über all die Dunkelheit, die jedem Auferstehungsstück eigen war; Unsterblichkeit aus der Energie der Zerstörung zu schaffen war unausweichlich mit dem Makel des Todes behaftet. Darin waren alle diese Stücke gleich. Aber das war nicht alles. Er 332 hielt sich die Kette ans Kinn, an die Sensorgruben dort, und schloss die Augen. Das Summen der Kette durchlief seinen Körper, und seine Sensorgruben machten verschiedene Energien aus. Etwas Besonderes waren offenbar die Saphire, durch die seltsame, konträre Energien liefen. Sie sogen Licht und Schnelligkeit und Feuer in sich auf und hielten Leidenschaft fest, so wie große Felsen noch lange nach Sonnenuntergang Wärme speicherten. Wenn er die Steine aus dem Medaillon brach, würde er die Vodi von einem großen Teil ihrer Sehnsucht nach ihrem verlorenen Leben befreien. Allerdings würde er sie damit auch beschädigen. Am Ende würde er vielleicht gerade den Teil von ihr zerstören, der ihm am nützlichsten erschien. Er legte die Kette auf den Felsen, gut verborgen unter seinem lang gestreckten Maul. Nachdem er eine Weile mit geschlossenen Augen dagelegen hatte, konnte er die Vodi spüren, die sich in der Kette langsam regte. Baanraak beruhigte Atem und Geist, wob einen Schild um sich herum, der ihn vor Blicken schützte, und lag dann ganz still da, verbunden mit einem Geist, der von Gold und Juwelen und der Magie des Chaos zusammengehalten wurde. Er spürte einen scharfen Verstand, Wildheit, Zorn, Verlangen, Hass, Leidenschaft, Hoffnung ... und Liebe. Die Gestalt ihres Geistes umspielte ihn, und er wand sich langsam hindurch, darauf bedacht, ihre Gedanken dabei nicht zu stören und sie nicht auf seine Gegenwart aufmerksam zu machen. Es war mehr von ihr in der Kette, als es hätte sein dürfen. Der Auferstehungszauber holte so viel wie möglich von dem zurück, was vorher da gewesen war, aber er hätte eigentlich in dem Stadium zwischen Tod und Rückkehr keinerlei Bewusstsein zulassen dürfen. Künstler und Götter 333 hatten Atem und Zorn auf erhitzte Diskussionen über die Vorteile oder das Grauen vergeudet, das ein Zustand der Wachheit innerhalb des Goldes zur Folge gehabt hätte; am Ende waren alle übereingekommen, dass es unmöglich sei, einen solchen Zustand zu erschaffen, und damit war die Angelegenheit erledigt gewesen, das hatte Baanraak zumindest immer geglaubt. Die Künstler fertigten ihre wunderschönen Kostbarkeiten, die Götter statteten sie mit Macht aus, dann wurden die Ketten, Armbänder und Ringe jenen überantwortet, die sie verdienten, jenen, die sich Vergünstigungen erworben hatten, jenen, die Unsterblichkeit um jeden Preis begehrten. Molly, sagte etwas in Baanraaks Kopf. Ich bin Molly. Baanraak öffnete ein Auge. Anscheinend hatte nicht jeder die Beschränkungen des Mediums akzeptiert. Anscheinend hatte nicht jeder die Angelegenheit als erledigt angesehen. Er hob den Kopf und schob seine lange Schnauze unter einen Flügel und tief in die Hautfalte, in der sich sein eigenes Auferstehungsstück in sein Fleisch grub. In seinem Falle handelte es sich um einen großen, schweren Ring, der durch seine Haut gepierct war, einen Ring, der dort an Ort und Stelle geschlossen und so eng zusammengestaucht worden war, dass er danach weder eine Naht noch eine Öffnung aufwies. Als ihn das letzte Mal etwas getötet hatte, war er um den bereits in seinem Fleisch eingebetteten Ring herum wieder erstanden. Er bettete das Kinn auf den Ring, so dass er ihn direkt unter seinen Sensorgruben hatte, und versuchte sich Klarheit zu verschaffen über die Unterschiede der beiden Artefakte. Die beiden Beschwörungszauber verströmten nur leicht unterschiedliche Energien. Sie waren in der Tat einander 334 sehr viel ähnlicher, als er erwartet hatte. Sein eigener Ring war einst völlig frei gewesen von dem optimistischen Zug, der für den Erweckungszauber der Vodi bezeichnend war. Für Mollys Zauber. Das hätte er schwören können, wenn ihm nur etwas eingefallen wäre, das heilig genug war, um sein Wort zu binden. Aber dieser Makel war da, deutlich spürbar in ihrem und wie von einem Nebel umgeben in seinem. Das war völlig unverkennbar. Er fragte sich, ob er wohl Opfer irgendeines langfristigen Zaubers war, irgendeines ausgeklügelten Witzes, irgendeines Tricks. Er fragte sich, wer wohl so etwas getan haben und wie er es zustande gebracht haben mochte, denn eigentlich sollte ein von den dunklen Göttern gewirkter Zauber durch nichts und um keinen Deut mehr zu ändern sein. Die Zauberer hatten für die Qualität ihrer Erzeugnisse mit ihrem Leben gebürgt, und Baanraak hatte diese Eide bisher als bindend betrachtet. Natürlich konnte er jetzt, da die Hersteller schon lange nicht mehr lebten, nicht mehr hoffen, sich auf
irgendwelche Garantien berufen zu können. Leider. Trotzdem wollte er natürlich wissen, was da eigentlich nicht stimmte. Er zog den Kopf unter dem Flügel hervor und legte das Kinn wieder auf das Vodi-Halsband. Dann schloss er die Augen und versuchte, die Wärme der Sonne auf seinen Schuppen und die Hitze des sonnendurchglühten Felsens unter seinem Bauch zu genießen. Er konzentrierte sich auf den wohltuenden Geruch des Sandsteins. Die Gedanken der Vodi schirmte er ab - er wollte nicht, dass sie in seinen Kopf eindrangen und dort Unruhe stifteten. Alles, worauf er sich zu verlassen können geglaubt hatte, zerbrach ihm nun unter den Klauen, als sei seine Wirklichkeit kein sichereres Gelände mehr als ein steiler, nebliger Hang. Gerüche - der Duft des Sandsteins; und darunter auf den 335 grasbewachsenen Ebenen der von heißem Fleisch und pulsierendem Blut, überall reich und köstlich; sein eigener Geruch, den er kaum wahrnahm, aber als leicht erdig und etwas würzig einschätzte; doch irgendetwas war mit den Gerüchen nicht ganz so, wie es sein sollte. Seine Nase lag über der Vodi-Kette - Baanraak hatte sich um ihren Geruch nie gekümmert, aber jetzt näherte er sich ihr mit einem Nasenloch und atmete tief und langsam ein, mit halb geöffnetem Mund, um sicherzugehen, alle Feinheiten des Duftes aufzunehmen. Metalle gaben in dieser Hinsicht wenig her, aber seine Nase konnte sogar ausmachen, ob ein Stück Bimsstein mit Kupfer in Berührung gekommen war oder nicht. Er verfügte über ein sehr empfindliches Wahrnehmungsvermögen und setzte es nun ein. Nachdem er sich den Geruch deutlich eingeprägt hatte, beschnupperte er auf gleiche Weise seinen eigenen Ring. Als er damit fertig war, prüfte er den Geruch einer der kleinen Barren reinen Goldes, die er mitgebracht hatte, und dann den von einem der Barren aus reinem Silber. Er erhob sich fluchend, und die Falschheit der altvorderen Zauberer entlockte ihm jede Obszönität, die ihm aus hunderttausend Jahren in Erinnerung geblieben war. Silber. Das Gold im Vodi-Halsband war mit Silber versetzt. Und das Gold in seinem eigenen Ring ebenfalls. Gold saugte seine Energie aus dem Chaos und nährte sich von den Schwingungen des Todes. Silber bezog seine Energie aus der Ordnung und gewann seine Macht aus dem Vibrieren des Lebens. Diese beiden Elemente in einem einzigen Auferstehungsartefakt zu legieren, konnte nur zu einem Fiasko führen, denn die Energien und Kräfte würden um die Kontrolle des Geistes, den das Artefakt gefangen hielt, ringen. 336 Misstrauisch beäugte Baandraak das Halsband, das in der allzu kühlen Sonne glänzte. Er wusste nicht, ob sie auf seine Ausbildung richtig reagieren würde. Er wusste nicht einmal mehr, ob er selbst richtig reagieren würde. Kupferhaus Lauren musste Jake und seine Spielsachen bei den Goroths in ihrem Quartier lassen. Sie hätte ihn gern bei sich gehabt, wagte es aber nicht, ihn noch einmal in dem sicheren Raum spielen zu lassen. »Hör mal, kleiner Wolf«, sagte sie, »Hündchen wird dich zum Essen zu mir nach unten bringen, und du wirst nachts bei mir schlafen. Wir werden einander trotzdem noch sehen. In Ordnung?« Jake begriff nicht. Sie hatte ihn noch nie allein gelassen. Er wusste nicht, dass sie aus dem Raum gehen und er bleiben würde - und er würde es auch nicht verstehen können. Im Grunde gefiel Lauren die ganze Idee ebenfalls nicht. Jake war alles, was sie auf der Welt hatte. Wie konnte sie ihn an diesem gefährlichen Ort allein lassen? Aber wie hätte sie ihn mitnehmen können, wohl wissend, dass er der Einzige mit gottgleichen Kräften im Raum sein würde, wenn sie in Trance fiel. Er saß mit seinen Autos auf dem Fußboden und sagte: »Okay, Mama, spiel mit mir. Du bist der Laster.« Sie umarmte ihn. Er würde nicht immer drei bleiben, und er würde nicht immer wollen, dass sie der Laster war. Sie spürte die Ungeduld von Seolar und dem alten Gott, Quawar, aber sie würde sich nicht drängen lassen. Sie würde nach Molly suchen; sie würde ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. 337 Es konnte jedoch alles Mögliche schief gehen, und sie wollte ihrem Sohn bei ihrem vielleicht letzten Zusammensein nicht erklären, dass sie keine Zeit hatte, um mit ihm zu spielen. »Ich werde dreimal der Laster sein«, sagte sie. »Und dann spielst du mit Hündchen. Okay?« Jake grinste sie an. Sie hockten einander gegenüber auf dem Boden, und ein paar Minuten lang ließen sie ihre Autos aufeinander prallen. Wann immer sie sich verfehlten, rief Jake: »Oh. Daneben!« Wenn sie zusammenstießen, lachte er nur. Sie ließen die Autos nicht nur dreimal gegeneinander krachen, sondern deutlich öfter, aber als Lauren schließlich sagte: »Letzte Runde, Äffchen«, akzeptierte Jake es. Wenn er im Voraus wusste, dass das Spiel begrenzt war, nahm er diese Entscheidung gut auf. In der letzten Runde schaffte Lauren einen ziemlich spektakulären Aufprall, bei dem Jakes Auto in hohem Bogen durch die Luft flog, und er lachte so heftig, dass er zitterte. Sie hörte ihn furchtbar gern lachen - doch seit alles in ihrem Leben so seltsam geworden war, kam das nicht mehr allzu häufig vor. Sie küsste ihn auf die Stirn und sagte: »Es wird Zeit, dass du mit Hündchen spielst.« Sobald Jake und Hündchen ganz in ihr Spiel versunken waren, stahl Lauren sich zur Tür hinaus. Seolar, Birra und Quawar bildeten die Vorhut auf dem Weg in den kupferfreien, sicheren Raum, und eine Hand voll Wachen folgte Lauren. Sie hatte das Gefühl, als führte sie eine Parade an, und sie musste der Versuchung widerstehen,
sich umzudrehen und ihnen allen einfach zu befehlen, zu verschwinden. Die Goroths waren wenigstens nützlich. Vielleicht konnte sie die anderen wegschicken, um etwas zu essen zu holen, wenn sie Hunger bekam. Sie versuchte nicht, an die Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens zu denken. 338 »Warum tun wir das?«, fragte Quawar. Sie biss sich auf die Zunge und verkniff sich die Frage nach der Bedeutung dieses »wir«. Stattdessen sagte sie: »Ich werde ein Reihentor öffnen und in den unteren Welten nach irgendwelchen Anzeichen dafür Ausschau halten, dass Molly dort gewesen ist.« »Du willst einen ganzen Planeten absuchen? Bitte.« »Wenn Baanraak sich um mehr als eine Welt von Oria entfernt hat, werde ich wohl mehrere Planeten absuchen. Meine Schwester und ich haben eine Verbindung, die das Verfahren vereinfachen müsste, aber ich rechne nicht damit, dass es schnell gehen oder dass es einfach sein wird. Ich werde sie finden ...« »Du wirst sie nicht finden«, murmelte Quawar leise. »Es gibt keinen einzigen alten Gott, der tun könnte, was du vorhast. Das Ganze ist vergebene Liebesmüh.« Lauren tat so, als hätte sie seine Worte nicht gehört. »... aber ich werde meine ganze Konzentration dafür benötigen und einige ziemlich hochkarätige Zauber. Ich habe nicht die Absicht, eine Welt nach der anderen zu durchsuchen. Wie ich bereits sagte, werde ich ein Reihentor öffnen und zu einer Hand voll Welten gleichzeitig Fühlung aufnehmen, um nach Molly zu suchen. Ich brauche nicht zu wissen, welchen Weg sie genommen hat. Ich brauche lediglich zu wissen, wo sie jetzt ist.« Birra und Seolar tauschten einen Blick, und Seolar fragte: »Was verstehst du unter einem Reihentor?« Lauren fand, dass der Ausdruck ihr Vorhaben ziemlich gut umschrieb, aber sie zuckte die Achseln und antwortete: »Ich werde ein kleines Tor öffnen, das gleichzeitig durch sieben oder acht Welten verläuft - durch so viele Welten, wie ich ohne allzu große Anstrengung zugänglich machen kann.« 339 Quawar entfuhr ein Ächzen, das laut genug war, um die Aufmerksamkeit der Wachen, des Imallins und Birras auf sich zu lenken. Sämtliche Blicke waren auf den alten Gott gerichtet. »Das kannst du tun?«, wollte er von Lauren wissen. »Ja.« Die Frage überraschte sie. Sie hatte nicht gedacht, dass alte Götter Grenzen hatten, aber offensichtlich war das ein Irrtum gewesen. Die meisten von ihnen waren keine Torweber und hatten im Grunde nur eine sehr vage Vorstellung davon, wie die Magie, die sie benutzten, funktionierte. Sie waren, dachte Lauren, ganz ähnlich wie der durchschnittliche Computerbenutzer daheim auf der Erde, der zwar ein paar Programme zu benutzen verstand, aber selbst niemals eines hätte schreiben können, und wenn es sein Leben gegolten hätte. Und sie, Lauren, war wohl eine Programmiererin. Und zwar eine der obersten Kategorie, obwohl auch sie immer noch neue Tricks dazulernte. Sie stand gerade im Begriff, einen davon auszuprobieren. Lauren wandte ihre Aufmerksamkeit dem Spiegel zu. Sie hatte gründlich über ihr Vorhaben nachgedacht - wenn man Tore in eine Reihe von unteren Welten öffnen und sie gleichzeitig offen halten wollte, bestand der Trick wahrscheinlich darin, jedes Tor so klein zu machen, dass nichts hindurchgelangen konnte, um es zu schließen. Andererseits mussten die Tore natürlich groß genug sein, damit man sie benutzen konnte. Sie ging davon aus, dass sie im Grunde nur einen Faden in jede Welt benötigte, der sie alle mit dem Spiegel verband, welcher wiederum als eine Art Radnabe fungieren würde. Es war jedoch denkbar, dass sie mehrere Tage dafür brauchen würde, und es würde gewiss Kräfte zehrend sein, über Tage hinweg mehrere miteinander verbundene Tore aufrechtzuerhalten. Noch anstrengender 340 würde es sein, wenn sie dabei Publikum hatte, aber sie vermutete, dass die anderen nach einer Weile müde werden und verschwinden würden. Zumindest hoffte sie das. Lauren ging nicht davon aus, dass sie Mollys Anwesenheit gleich zu Anfang irgendwo spüren würde. Sie und ihre Schwester waren durch ein mächtiges, magisches Band miteinander verbunden - aber Lauren wusste nicht, ob dieses Band durch die Vodi-Kette zustande kam oder durch den Körper, den die Kette für Molly neu erschaffen würde. Wenn sie auf Mollys Auferstehung warten musste, konnte es eine lange Schicht werden. Sie ließ sich vor dem Spiegel auf die Knie nieder, schloss die Augen, legte die Fingerspitzen auf das Glas und konzentrierte sich auf die Welten, die unterhalb von Oria in der Weltenkette hingen. Die erste Welt durchquerte sie überraschend schnell - sie fühlte sich klar und grün und lebendig an. Sie musste an das traurige, dunkle Gefühl denken, das von der Erde ausging, und an das Gift, das die darüber liegende Welt, Kerras, verströmte, und hätte am liebsten geweint. Alle Welten sollten sich so anfühlen wie die unterhalb von Oria. Cadwa war ihr Name, das hatte sie von einem der alten Götter erfahren. Lauren öffnete ein nadelspitzengroßes Tor nach Cadwa - theoretisch war dieses Tor so klein, dass es durch die Ereignisse in seiner Nähe nicht beeinträchtigt wurde. Und durch dieses Tor wollte Lauren einen Suchzauber schicken, der ein Klingeln im Raum erzeugen sollte, falls sie auf irgendein Zeichen von Molly stieß. Lauren griff tief in sich hinein, versank in einem Ort absoluter Stille, an dem sie nichts als das Feuer der Universen berühren konnte. Sie gab alles, was sie von Molly wusste, in ihren Zauber hinein, jeden noch so kleinen Funken des magischen Soges, der sie miteinander verband, und verlieh ih341
rem Zauber in Gedanken die Gestalt eines Lichtstrahls, der sich um die verschiedenen Welten schmiegen würde. Sie gab sich selbst in diesen Zauber - ihre Empfindungen, ihre Gefühle und ihren unbezähmbaren Wunsch, ihre Schwester schnell zu finden, und am Ende ging ein höchst zufrieden stellendes Summen von ihrem Zauber aus. Sie sandte ihn aus, damit er die Oberfläche der Welt absuchte, und zwar so schnell und so gründlich, wie sie es einrichten konnte. Der Zauber jagte davon wie ein wildes Geschöpf, und kaum war er frei, löste Lauren sich aus ihrer angestrengten Konzentration und öffnete die Augen. Sie war unglaublich durstig; sie hatte zwar noch eine Menge Energie übrig behalten, aber ihre Knie brachten sie fast um. Sie würde sich einen Stuhl organisieren müssen, bevor sie sich das nächste Tor und den nächsten Zauber vornahm. Sie beschloss, ein paar Minuten Pause zu machen und sich etwas zu trinken und einen bequemen Stuhl bringen zu lassen. Nachdem sie diesen Vorsatz gefasst hatte, wandte sie sich wieder ihrem Publikum zu, nur um feststellen zu müssen, dass Quawar und die meisten der Wachen verschwunden waren. Seolar saß mit geschlossenen Augen in einer Ecke. Neben ihm stand Birra, so wachsam wie eh und je. »Birra? Was ist passiert?«, fragte Lauren. Birra schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Dir bei der Arbeit zuzusehen war wohl doch nicht ganz das Abenteuer, auf das Quawar aus war. Ich glaube, er hat nach der ersten Stunde aufgegeben.« Seolar runzelte die Stirn und musterte Lauren versonnen. »Ich habe bisher noch nie darüber nachgedacht, aber ... ich glaube nicht, dass er ein sehr ... talentierter alter Gott ist.« Lauren verzichtete auf einen Kommentar. Sie war schon früher zu diesem Schluss gekommen, aber es wäre ihr unhöflich erschienen, den Gedanken auszusprechen. Statt342 dessen konzentrierte sie sich auf etwas anderes, das Seolar gesagt hatte. »Eine Stunde?« Sie war verwirrt. »Wie lange habe ich ...?« »Du hast dich seit fast drei Stunden nicht mehr bewegt«, antwortete Birra. Lauren starrte ihn verständnislos an. »Scheiße.« Kein Wunder, dass ihr die Knie wehtaten. Seolar fragte: »Irgendetwas gefunden?« »Noch nicht. Ich bin gerade mit der ersten Welt fertig geworden. Ich habe noch eine Menge vor mir.« Seolar nickte, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Verzeih mir«, sagte er, »aber ich habe nicht geschlafen, und ich befürchte, das rächt sich jetzt.« »Kein Problem«, antwortete Lauren. »Du brauchst nicht hier zu bleiben. Wenn ich irgendetwas finde, schicke ich sofort jemanden zu dir hinüber. Aber das könnte Tage dauern.« Er schloss die Augen für einen Moment und seufzte. »Ja, natürlich. Ich hatte gehofft, dass es schneller gehen würde, aber das war wohl nicht zu erwarten, oder?« »Nur wenn ich großes Glück habe.« »Ich befürchte, wir haben unsere Glücksquote weit überschritten.« »Ja«, sagte Lauren. »Wahrscheinlich hast du Recht.« Sie beugte sich vor und stand wieder auf, wobei sie die Knie durchbog. »Könntest du wohl jemanden mit etwas Wasser für mich herunterschicken, ein paar Broten, einem Stuhl - vielleicht lässt sich ja auch eine Pritsche oder etwas in der Art auftreiben, worauf ich schlafen kann. Und ...« Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die drei Stunden sich auch in anderer Hinsicht bemerkbar machten. »... wo ist das nächste Badezimmer? Ich werde hier wohl eine ganze Weile nicht wegkommen.« 343 »Auf diesem Stockwerk gibt es keine Bäder«, erwiderte Seolar. »Auch nicht auf dem Stockwerk darüber.« Lauren starrte ihn an, dann seufzte sie. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich hier ein wenig umbauen würde?« »Wie meinst du das?« »Hättest du etwas dagegen, wenn ich ein wenig Magie wirke, um diese Räume etwas wohnlicher zu gestalten, solange ich hier festsitze?« »Hm ... nein. Natürlich habe ich nichts dagegen. Tu, was immer du tun musst.« Was sie brauchte, war ein Badezimmer. Eine magische Spülung musste her, dachte sie, damit sie sich keine Gedanken über Rohre oder Wasserleitungen zu machen brauchte. Und wenn sie schon einmal dabei war, konnte sie auch eine hübsche kleine Küche machen und einen Tisch, an dem sie und Jake zusammen essen konnten, außerdem einen Kühlschrank, ein bequemes Sofa und ein Doppelbett, weil Jake beim Schlafen alle viere von sich streckte. Ein so kleines Geschöpf hätte beim Schlafen eigentlich nicht allzu viel Platz beanspruchen sollen, aber Jake tat es. Außerdem konnte sie noch ein Bücherregal und ein paar gute Bücher hinzufügen - sie rechnete mit langen Wartezeiten. Sie brauchte eine natürliche Lichtquelle, auch wenn es natürlich kein Fenster oder nicht einmal ein Oberlicht sein durfte - sie wollte nichts tun, was ihre Sicherheit gefährdete. Ein Plätzchen für Jake würde auch nichts schaden, damit er sie besuchen und auf warmem, weichem, gut gepolstertem Teppich spielen konnte. Und etwas anderes als diese elenden Kerkermauern aus grauem Stein. Lauren schloss die Augen und beschwor im Geiste das Bild eines hellen, fröhlichen Raums herauf, der innerhalb der gegenwärtigen Mauern existieren würde, es sollte nur ein einziger, offener Raum sein, mit Ausnahme eines klei344 nen Badezimmers mit einer Toilette, einem Waschbecken und einer Dusche hinter einer Tür in einer Ecke. Magiebetriebene elektrische Lampen; eine große, quadratische Glasscheibe, die aussah wie ein Panoramafenster,
sollte in der Wand hinter dem Futon erscheinen, ohne aber das zu zeigen, was draußen war - zweifellos Schmutz und Felsen und Würmer. Stattdessen wollte sie durch dieses Fenster in den Wald hinter dem Dorf sehen können. Dann brauchte sie noch ein Regal für Wäsche, das sie mit flauschigen Handtüchern und Flanelllaken in leuchtenden Farben füllte. Teppichboden überall, außer in der Küche und im Bad, wo sie saubere, weiße Kacheln wünschte. Ein Kleiderschrank voll mit Bluejeans, Sweatshirts und sauberer Unterwäsche. Ach ja, und kojenähnliche Schlafstellen für die Goroths. Niemand würde Jake noch einmal erlauben, sich mitten in der Nacht zu einem Spiegel zu schleichen - falls es ihm gelingen sollte, sich ihrem Arm zu entwinden, würden die Goroths ihn aufhalten. Lauren konzentrierte sich darauf, all diese Dinge herbeizurufen, und als sie die Augen wieder öffnete, fiel strahlender Sonnenschein in einen Raum mit hellgelben Wänden und einem dicken Teppichboden. Alle Anwesenden brachen in lautes Oh und Ah aus, alle bis auf Lauren, die nur den Ruf des Badezimmers hörte. Als sie wieder herauskam, probierte sie den Küchenhahn aus. Kaltes, klares Wasser kam heraus. Nur um ganz sicherzugehen, fügte sie noch einen Filter hinzu. Sie wusste, dass eine solche Menge an Magie Folgen nach sich zog ... Aber dies war zumindest konstruktive Magie. Sie würde Konsequenzen auf der Erde haben, aber Lauren durfte hoffen, dass diese Konsequenzen positiver Natur waren. Sie sah in den Kühlschrank. Schön kalt, aber leer. Einen 345 Moment lang dachte sie daran, ihn mithilfe von Magie zu füllen, beschloss dann jedoch, das ihren Gastgebern zu überlassen. Seolar und Birra wanderten voller Interesse durch den Raum. »Es ist sehr schlicht«, sagte Seolar schließlich. »Keinerlei Zierstücke irgendwo.« »Zweckmäßig«, pflichtete Birra ihm bei. »Nicht direkt hässlich, aber ...«Er zuckte die Achseln. Lauren sagte: »Ich wollte mich einfach nur hier wohl fühlen. Rüschen finde ich im Allgemeinen eher unbehaglich. Ich wollte Kleider, die bequem sind, einen Ort, an dem ich keine Gewissensbisse zu haben brauche, wenn ich die Füße auf den Tisch lege, und ... reichlich Sonnenlicht.« »Du hast unter der Erde einen Wald und einen Himmel geschaffen, nur um hier drinnen Licht zu haben?«, fragte Seolar. »Nein«, antwortete Lauren. »Ich habe das Fenster so eingerichtet, dass es mir Bilder von einem Ort schickt, der ein paar Meilen von hier entfernt liegt. Auf diese Weise bekomme ich mein Sonnenlicht, ohne dass wir in den Mauern irgendwelche Schwachstellen schaffen, die die bösen Buben ausnutzen könnten.« Sie klopfte gegen die Scheibe. »Dahinter ist nichts als Stein und Schmutz.« Sie zog einen der beiden gepolsterten Küchenstühle heran und stellte ihn vor den Spiegel. »Ich werde jetzt das nächste Tor öffnen und den nächsten Suchzauber wirken«, sagte sie. »Es wird wahrscheinlich genauso lange dauern wie beim letzten Mal - vielleicht noch ein wenig länger.« Dann fügte sie hinzu: »Könntet ihr wohl dafür sorgen, dass der Kühlschrank voll ist, wenn ich fertig bin? Und irgendjemand sollte Jake und die Goroths holen, sobald ich das erledigt habe. Ich möchte meine freie Zeit mit meinem Sohn verbringen können.« 346 »Man wird sich darum kümmern«, versprach Seolar. »Aber willst du diesen Raum wirklich nicht verlassen, bis du sie gefunden hast?« »Oder bis ich mir sicher bin, dass sie nicht gefunden werden kann.« »Ich werde dafür sorgen, dass du das Beste von allem bekommst.« Ein Wachposten erschien in der Tür, sah sich mit offenkundiger Überraschung um und trat dann auf Seolar zu. Die beiden berieten sich im Flüsterton und sahen Lauren dabei sorgenvoll an. Schließlich kam Lauren zu dem Schluss, dass sie durchaus noch ein oder zwei Minuten warten konnte, bevor sie sich wieder in die Arbeit stürzte. Seolar machte dem Soldaten mit der Hand ein Zeichen, woraufhin dieser eilig den sicheren Raum verließ. Als der Mann fort war, wandte Seolar sich wieder an Lauren. »Du hast Besuch«, sagte er. Kupferhaus Die Armbrüste und Speere, die auf Petes Rücken gerichtet waren, als er und seine militärische Eskorte durch das Kupferhaus marschierten, raubten ihm eindeutig jede Chance, sich umzusehen. Und als sie die Hauptkorridore verließen und in die Tiefen des Gebäudes hinunterstiegen, bekam er eine Gänsehaut. Er fragte sich, ob die Veyär vielleicht beabsichtigten, ihn zu ermorden und in einem Kellergeschoss zu begraben, um Willard, das Wunderpferd, für sich zu behalten. Willard, überlegte Pete, wäre es wohl wert, einen Mord für ihn zu begehen. Der Ritt zum Kupferhaus war unglaublich problemlos gewesen und unvorstellbar schnell. Petes Begrüßung ließ dagegen zu wünschen übrig. Er zog 347 es ernsthaft in Erwägung, zu fliehen. Oder zu kämpfen. Schließlich ging er jedoch einfach weiter und hoffte dabei inbrünstig, dass sie ihn wirklich zu Lauren brachten, wie sie behauptet hatten. Endlich hatte die kleine Gruppe buchstäblich den felsigen Grund der Burg erreicht. Sie marschierten über steinerne Fußböden und zwischen steinernen Grundmauern hindurch. Fackeln beleuchteten ihren Weg. Am Ende stießen seine Wachen Pete durch eine gewaltige Tür, die aussah wie etwas aus Schöner Wohnen.
»Pete!«, rief Lauren, die ihn über die Theke einer kleinen Küche hinweg anstarrte. Ihr Gesicht leuchtete auf. Das war ganz und gar nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Einen Augenblick später schien Lauren etwas Ähnliches durch den Kopf zu gehen, und plötzlich sah sie sehr ernst und sehr besorgt aus. »Wie zum Teufel hast du mich gefunden?«, fragte sie. »Und was machst du hier?« Aber er hielt an seiner Erinnerung fest, an diesem ersten, erfreuten Lächeln. Das konnte sie nicht zurücknehmen. Und auch nicht korrigieren. Dieses Lächeln war es, was zählte. »Wir haben ein Problem«, antwortete er. »Oh, nein«, stöhnte sie. »Doch. Wir haben ein Problem. Du und ich. Auf der Erde werden scharenweise alte Götter evakuiert. Eric will, dass du auf der Stelle zurückkommst - möglich, dass uns der ganze Planet bald um die Ohren fliegt, und was immer passiert, die Wächter werden deine Hilfe dringend brauchen. Ich habe dich gedeckt, als Eric wegen deines Verschwindens Verdacht schöpfte - ich habe ihm erzählt, ich hätte deine Geschichte überprüft, und sie entspreche der Wahrheit -, deshalb glaubt er jetzt, ich sei in Charlotte, um dich zurückzuholen.« 348 »Du hast für mich ... gelogen? Du wusstest, dass ich dich belogen hatte?« Er grinste sie an. »Du bist eine lausige Lügnerin. Sobald ich deinen Schlüsselring gesehen hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Aber ich habe dir Deckung gegeben. Ich dachte, dass es bestimmt einen guten Grund geben müsse, warum du so plötzlich verschwunden bist, um hierher zu kommen.« Sie starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen und erschrocken, und etwas Merkwürdiges war in ihrem Gesichtsausdruck. Dann legte sie den Kopf zur Seite und fragte: »Was hast du gesagt?« »Ich habe gesagt, dass du bestimmt einen guten Grund hattest, um hierher zu kommen.« »Davor.« »Dass ich für dich gelogen habe ... dass du eine erbärmliche Lügnerin bist ... dass ich dir Deckung gegeben habe ...« Klick. Etwas in ihren Augen veränderte sich, und ein geradezu unheimliches kleines Lächeln trat in ihre Züge, dann schüttelte sie den Kopf. »Das Universum ist schon komisch«, sagte sie. Und ohne zu erklären, was zum Teufel diese kleine Bemerkung zu bedeuten hatte, fuhr sie fort: »Kannst du noch ein Weilchen länger für mich lügen? Ich weiß, dass es Probleme gibt, und ich bin hier, um daran zu arbeiten. Ich bin die Einzige, die das tun kann. Einer der Rrön hat Molly getötet und die Vodi-Kette gestohlen, und jetzt versuche ich, meine Schwester mitsamt der Kette zurückzuholen. Zusammen, glauben wir, können wir die Probleme auf der Erde rückgängig machen.« Pete schloss die Augen und rieb sich den Nasenrücken. In Ordnung. Er hatte auch nicht im Entferntesten an die Möglichkeit gedacht, Lauren könne einfach übergeschnappt 349 sein. Sie hatte unter starkem Druck gestanden, aber ... Scheiße. Er kramte seine Polizistenstimme heraus - die vernünftige, die bei Leuten, die kurz vorm Durchdrehen standen und dabei dicke Waffen in der Hand hielten, am besten funktionierte. »Lauren ... Schätzchen ... Molly ist schon eine ganze Weile tot. Wir alle waren mit dir bei ihrer Beerdigung. Erinnerst du dich? Wie wär's, wenn du einen kleinen Spaziergang mit mir machst, wir holen Jake und gehen zurück nach Hause, und dann reden wir über das alles. Es tut mir Leid ...« Sie bedachte ihn mit einem schiefen Grinsen und unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung. »Du machst das sehr gut. Ansprechender Tonfall, ansprechender Vortrag. Ich bin beeindruckt. Aber ich bin noch nicht reif für die Klapsmühle. Die Vodi-Kette - dieser dicke Goldklunker, den Molly um den Hals trug, als sie das erste Mal starb - ist ein magisches Artefakt. Es bringt den Träger vom Tod zurück.« Pete erinnerte sich gut an den Tag, an dem Eric angeschossen worden war, und an Laurens verzweifelte Eile, ihn aus dem Krankenhaus und durch das Tor nach Oria zu bringen, bevor er starb. »Hast du nicht gesagt, es sei... übel... jemanden von den Toten zurückzuholen.« »Das ist es auch. Nun, zumindest wäre es das, wenn du oder ich es täten. Die Vodi-Kette enthält eine Menge von dem, was Molly war, daher ist das, was zurückkommt, größtenteils immer noch Molly. Es ist nicht perfekt. Und jedes Mal, wenn sie stirbt, verliert sie ein klein wenig mehr von dem, was sie war. Aber ... nun ja ... möglicherweise habe ich, was das betrifft, eine gute Neuigkeit für sie, wenn wir sie zurückholen können. Vielleicht. Aber zuerst einmal müssen wir sie zurückholen.« »Dann ist sie also schon einmal ... zurückgekommen. Und du hast sie gesehen.« 350 »Alle haben sie gesehen. Sie ist an dem Tag hierher gekommen, an dem du bei mir zu Hause warst - an dem Tag, an dem ich fortgegangen bin. Sie war real, sie und ich haben noch viel Arbeit vor uns, und vielleicht werden wir in der Lage sein, die Pläne unserer Eltern in die Tat umzusetzen.« »Nur dass sie tot ist. Wieder einmal.« »Tja. Für eine Weile.« »Puh. Das ist... puh. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.« Lauren zog eine Augenbraue in die Höhe. »Kann ich mir denken. Aber wie dem auch sei - kannst du noch ein Weilchen länger für mich lügen?« »Du arbeitest an dem Problem? An dem Problem, dass die alten Götter von der Erde fliehen?«
»Ja.« »Ich kann für dich lügen. Was soll ich den anderen sagen?« »Es muss offensichtlich erheblich überzeugender sein als das, was ich dir erzählt habe. Ich bin nicht gut im Lügen.« Pete dachte einen Moment lang nach. »Aber ich.« Wieder sah sie ihn mit diesem seltsamen kleinen Lächeln an. »Vielleicht lügst du nicht ganz so gut, wie du denkst. Also, sei vorsichtig, in Ordnung? Wenn sie glauben, sie können dir nicht vertrauen, dann werden sie dich binnen einer New Yorker Minute fressen.« »So schnell?« Pete seufzte. »Dann geh ich jetzt wohl besser. Mal sehen, ob ich mir nicht eine überzeugende Lüge zurechtlegen kann, bevor ich nach Hause fahre. Wenn du zurückkommst, musst du zuerst mit mir reden, damit wir unsere Geschichten aufeinander abstimmen können. Abgemacht?« Sie lachte leise. »Abgemacht. Und ich hoffe ...« Sie dreh351 te sich um, blickte in den grün leuchtenden Spiegel in der Ecke und schüttelte den Kopf. »Egal. Ich hoffe, ich schaffe es, nach Cat Creek zurückzukommen, damit wir unsere Geschichten abstimmen können.« Er begriff, dass sie in Gefahr war und dass er im Augenblick nur eins für sie tun konnte: ihr nicht länger im Weg stehen. Das gefiel ihm nicht. Wenn er nach Cat Creek zurückkam, würde er etwas Nützliches tun - aber nichts, was sie beschützen konnte. Er stellte fest, dass er den starken Wunsch hatte, sie zu beschützen. Er ging auf sie zu, umarmte sie und sagte: »Pass auf dich auf, ja? Und wir sehen uns, wenn du nach Hause kommst.« Sie nickte und drückte ihn einen Moment lang fest an sich. »Danke.« Während der ganzen langen, umständlichen Rückreise nach Cat Creek schwankte Pete zwischen Verzweiflung und dem Gefühl, auf Wolken zu gehen. 17 Kupferhaus Als Lauren mit dem nächsten Tor fertig war, war Jake bereits bei ihr im Raum und brachte Hündchen bei, wie man Superman spielt. Jake, umwogt von roter Seide, stampfte mit den Füßen, als wolle er das Dach zum Einsturz bringen. Superhelden schritten nicht leichtfüßig einher. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und eine finstere Miene aufgesetzt. Superhelden lächelten auch nicht, niemals. »Pause«, entschied Lauren. Sie nahm Jake hoch und umarmte ihn. Draußen vor ihrem magischen Fenster blitzte die Sonne durch die hohen Bäume, und Lauren stellte fest, dass sie halb verhungert war. »He, Äffchen, hilf mir, Mittagessen zu machen.« Jake bedachte sie mit dem Superhelden-Blick und sagte: »Ich bin Superman.« »Das ist schön. Aber Superman kann entweder beim Mittagessen helfen oder von Supermom einen Tritt in den Hintern bekommen.« »Du wirst mir nicht in den Hintern treten.« Lauren sah ihren Sohn von der Seite an und erwiderte: »Sag: >In Ordnung, Mama, ich helfe dir, das Mittagessen zu machen.<« Er verstand den Tonfall ihrer Stimme und wiederholte den Satz Wort für Wort. Als sie sich abwandte, murmelte er: »Und ich bin doch Superman.« Aber er benahm sich. Zusammen machten sie für sich und die Goroths das Mittagessen, und als alle ihre Mahlzeit 353 beendet hatten, gönnte Lauren sich eine kurze Pause bei einer Tasse heißem, grünem Tee. Sie umarmte Jake und küsste ihn, dann übergab sie ihn den Goroths und ließ sich wieder in die Zwiesprache mit den Wegen zwischen den Welten, den Toren und der Magie versinken. Dalchi »Es wird dir hier gefallen. Es ist ein schönes, warmes Fleckchen, mitten im Sonnenlicht, und ich habe dir reichlich Fleisch verschafft - Fleisch beschleunigt die ganze Prozedur.« Baanraak grub vor dem Eingang der Höhle, die er ausgewählt hatte; er hatte ein weiches Fleckchen süßer Erde gefunden, das reich an Humus war und sich leicht bewachen ließ. Jetzt wirbelte er mit den Vorderbeinen Erde auf, wie ein Hund, der im Garten buddelt, bis er ein Loch gemacht hatte, das ungefähr zwei Meter tief und in etwa genauso breit war. Er besah sich die Vodi-Kette, die auf dem kleinen Felsen zu seiner Rechten in der Sonne glitzerte. »Du wirst mich jetzt ein Weilchen hassen, aber am Ende wirst du frei von Gefühlen sein, und der Hass wird zusammen mit der Liebe einfach verbrennen; am Ende wirst du umso klarer sein. Und umso gefährlicher.« Er packte sich einen Kadaver, entfernte Haut und Eingeweide und warf den Tierkörper in das Loch. Dann ließ er seine Vorderbeine mit gespreizten Krallen mehrmals schwer auf den Kadaver fallen, so dass die Knochen barsten und das Fleisch zerriss, bis das tote Tier kaum mehr war als ein blutiger Brei. Er scharrte eine Erdschicht über den Kadaver, umkreiste ihn einmal, um das Resultat zu mustern, fügte ein wenig mehr Erde hinzu und warf dann einen 354 weiteren gehäuteten Kadaver hinein, um das Ganze zu wiederholen. Eine weitere Schicht Erde, ein weiteres Tier.
Und noch eins. Und noch eins. Schließlich legte er die Kette vorsichtig in die Mitte des Lochs und bedeckte sie mit dem Rest der Erde, die er anschließend festtrat. Als er fertig war, hatte er einen kleinen Hügel vor seiner Höhle, den er bewachen und beschützen konnte. Die Vodi würde schnell ihre neue Gestalt annehmen - er hatte das Fleisch schön weich gemacht, hatte die Erde sorgfältig festgetreten und nur eine dünne Schicht obenauf gelegt, so dass die Vodi die Oberfläche durchbrechen konnte, wenn ihr neuer Körper reif war. »Ich werde dich schnell töten«, erklärte Baanraak dem Erdhügel. »Es ist grässlich, in so einem Zustand aufzuwachen - aber du musst ganz wach sein, bevor es etwas nutzt, dich wieder zu töten. Sonst ist beim nächsten Mal, wenn der Körper sich bildet, alles noch da. Ich müsste allerdings deine Augen sehen können, wenn sie sich öffnen. Ein schneller Schlag, wenn du das erste Mal blinzelst, und wir brauchen noch nicht einmal das Loch neu zu graben. Du wirst in der Lage sein, dein eigenes Fleisch zu benutzen, um den nächsten Körper zu nähren, und auch das wird uns Zeit sparen.« Er seufzte, ließ sich auf dem warmen Boden nieder und breitete die Flügel aus, um das Sonnenlicht aufzufangen. »Du bist klein - du müsstest binnen eines Tages so weit sein, dass ich dich das erste Mal töten kann, gewiss wird es nicht länger als zwei Tage dauern. Das Ganze wird schnell gehen. In dreißig oder vierzig Tagen solltest du jeden noch so kleinen Rest deines Lebens abgestreift haben.« Er gestattete sich nicht, an die Juwelen zu denken, an das Silber, das das Gold verunreinigte, an den Verrat der Gefühle, die seine eigenen Gedanken beschmutzten. Er hatte zu lange gelebt - hatte einige der ältesten Angewohnheiten 355 der Beseelten angenommen. Ein Tod würde ihn von dieser Verseuchung befreien. Vielleicht würde Molly ihm diesen Gefallen tun, sobald er mit ihrer Erschaffung fertig war. Er stützte das Kinn auf die festgetretene Erde seines Hügels und sagte: »Fhergass hat länger gebraucht, um mich zu machen, aber schließlich war auch erheblich mehr von mir da, das jedes Mal zerstört und wieder aufgebaut werden musste.« Er schloss die Augen und ließ das Sonnenlicht blutrot durch seine Lider scheinen. Warme Sonne, kühler Wind, das Rascheln von Blättern und die Geräusche von Leben überall um ihn herum. Seine Gedanken schweiften ab, und er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, eingegraben in die Erde zu erwachen - erinnerte sich daran, wie Erde in seine Augen eingedrungen war, in seinen Mund und seine Nase, erinnerte sich an das Grauen, das er bei der Entdeckung verspürt hatte, dass seine Flügel nicht funktionierten, dass seine Beine von etwas festgehalten wurden, das durchaus hätte Stein sein können. Er konnte noch immer seine Furcht und seine Verzweiflung spüren, als er sich freigekämpft hatte. Fhergass' Methode, Baanraak wieder aufzubauen, war grausam gewesen; er hatte ihn niemals wirklich getötet. Er hatte Baanraak einfach in der unbarmherzigen Erde liegen gelassen, bis Baanraak erstickt war, nur um in das gleiche Grauen wiedergeboren zu werden. »Du wirst nicht sehr leiden«, sagte Baanraak zu dem Erdhügel. »Nicht so wie ich. Fhergass meinte, sein Vorgehen bei mir sei die beste Methode, um einen dunklen Gott zu reinigen, aber später bin ich dahinter gekommen, dass er selbst nicht auf diese Art und Weise gemacht worden war. Er hatte es leicht - angekettet auf einem Bett in einem Beinhaus, hatte sein Auferstehungsring sich von den Leichen von Pestopfern genährt, wann immer er Nahrung benötig356 te. Er konnte atmen, er konnte sehen, er konnte sich ein bisschen bewegen, und sein Reiniger hat ihn jedes Mal sofort getötet, wenn er aufwachte.« Baanraak seufzte und machte es sich ein wenig bequemer auf dem Boden. »Im Laufe der Jahre bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Fhergass entweder faul war oder ein sadistischer Bastard oder vielleicht beides.« Er tätschelte den Hügel mit einem krallenbewehrten Vorderbein und brachte ein Lächeln zuwege. »Aber ich bin es nicht. Ich werde dich nicht leiden lassen.« Cat Creek »Lauren und Jake hatten das Hotel bereits verlassen, als ich dort ankam«, sagte Pete. »Ich habe mit den Angestellten gesprochen, bin in einigen anderen Häusern gewesen und habe mich am Flughafen nach ihr erkundigt - solche Sachen. Ich habe nichts herausgefunden. Also habe ich gehofft, dass sie vielleicht schon wieder zu Hause ist.« Eric sah aus, als bekäme er womöglich einen Schlaganfall. »Sie ist nicht hier.« »Sie ist ein verantwortungsbewusster Mensch. Was sie tut, bedeutet ihr viel - sie versucht, die Welt für ihren kleinen Sohn zu retten und für alle anderen Menschen ebenfalls. Sie wird euch nicht im Stich lassen oder einfach von der Bildfläche verschwinden.« »Ich sage es wirklich nicht gern«, antwortete Eric und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen, »aber sie hat uns im Stich gelassen, und sie ist von der Bildfläche verschwunden. Wenn es nicht so wäre ...« Er klopfte mit einem Kugelschreiber auf die Schreibtischoberfläche. »Wenn es nicht so wäre, hätten wir 357 jetzt eine Torweberin hier, wo wir so dringend eine brauchen.« Pete nickte. »Sie wird schon zurückkommen.« Eric sah ihn forschend an. »Bist du dir wirklich sicher, dass sie in Charlotte war?«
Pete zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ich muss fragen«, sagte Eric. »Wir haben schließlich in letzter Zeit häufig Probleme mit Wächtern gehabt, die nicht dort waren, wo sie zu sein vorgaben, und die andere Dinge taten, als sie uns glauben machen wollten. Und Laurens Eltern waren Verräter.« »Nein, waren sie nicht.« »Lass es mich anders formulieren. Ihre Eltern haben ... außerhalb der umrissenen Rolle für Wächter agiert. Sie waren Einzelgänger.« Eric räkelte sich, stand auf und trat an das Fenster, das auf die Hauptstraße hinausführte, bevor er weitersprach. »Wenn unser Leben und das Leben eines jeden auf dem Planeten davon abhängt, dass wir alle zusammenarbeiten, mit einer einzigen Vision vor Augen und indem wir alle an einem Strang ziehen, ist ein Einzelgänger so ziemlich dasselbe wie ein Verräter.« Das Telefon klingelte. Eric ging an den Apparat. Eine Sekunde später sagte er: »Lauren? Das ist die schlechteste Verbindung, die mir je untergekommen ist. Wo zum Teufel steckst du? Wir brauchen dich hier. Sofort.« Er schwieg ziemlich lange, dann wurde er ein wenig blasser. »Oh.« Er starrte das Telefon an und hörte noch ein paar Sekunden zu. »Oh. Nein, das kannst du wohl wirklich nicht. Ich werde dir später erzählen, dass es eine beschissene Idee war, einfach zu verschwinden, ohne mit irgendjemandem zu reden. Fürs Erste reicht es, wenn du auf dich aufpasst. Und viel Glück. Wir denken uns etwas aus.« 358 Er legte den Hörer wieder auf die Gabel und sah dabei so aus, als sei ihm schrecklich übel. »Was ist?«, fragte Pete. »Das war Lauren.« »So viel habe ich mitbekommen.« »Jakes Großeltern haben den Kleinen entführt. Lauren verfolgt sie.« Pete schloss die Augen. »Was irgendwie erklärt, warum sie so plötzlich aufgebrochen ist.« »Ja.« »Was zur Hölle ist passiert?« »Sie hatte keine Zeit, mir Näheres zu erzählen. Nur dass sie die Behörden verständigt habe, dass sie auf dem Weg nach Kalifornien sei, um den Großeltern zu folgen, und dass sie so schnell wie möglich wieder zurückkommen wolle.« »Was ist mit unserem Notfall?« »Leute, die Lauren allem Anschein nach hassen, haben ihr Kind entführt. Wir können nicht von ihr erwarten, dass sie die Sache einfach auf sich beruhen lässt und nach Hause kommt - wir müssen halt irgendwie improvisieren.« Pete nickte. »Ich wollte eigentlich nicht sagen, dass ich erwartet hätte, sie würde zurückkommen, solange Jake verschwunden ist. Ich meinte nur, wen werden wir als Ersatz für sie herholen?« »Keine Ahnung. Man kann schließlich nicht zu Sears fahren und sich einen neuen Torweber greifen. Fürs Erste werden wir an all unseren Toren zusätzliche Wartungsarbeiten durchführen, um sie gut in Schuss zu halten. Alle sechs Stunden, würde ich sagen. Das müsste genügen, damit sie uns nicht zusammenstürzen. Außerdem werde ich mich bei anderen Gruppen umhören - mal sehen, ob uns irgendjemand aushelfen kann. Wir ... wir werden uns schon etwas überlegen.« 359 Pete nickte. »Du bist ein guter Mann, Eric«, sagte er. Eric zog die Augenbrauen hoch. »Aber kein glücklicher.« Pete dachte: Du wärest noch viel unglücklicher, wenn du wüsstest, dass das nicht Lauren war - dass es sich um eine schlechte Verbindung von einem FBI-Apparat in einem Flugzeug über Charlotte handelte. Und dass am anderen Ende der Leitung eine Agentin gesprochen hat, die ich kenne. Wir brauchten nur eine möglichst schlechte Verbindung zu deichseln, dann würde ihre Stimme halbwegs wie die von Lauren klingen ... Pete atmete tief durch. Er würde sich schriftlich bei Fred dafür bedanken, dass er Mariyne so kurzfristig in ein Flugzeug gesetzt und sie überredet hatte, zu lügen. Pete strich über den Spiegel in seiner Brieftasche. Ein wirklich nützliches Ding. Kupferhaus Jede Welt wirkte reicher als die vorangegangene. Lauren hatte Tore nach Cadwa, Povreack und Niidaa geschaffen und miteinander verbunden, und die Macht, die durch diese drei Tore in sie selbst und in den Raum strömte, fühlte sich an wie die Luft am ersten richtigen Frühlingstag, verwandelt in eine Flüssigkeit und in ihre Adern injiziert. Sie fühlte sich wie ein Kind, einfach durch ihre Verbindung zu solchen Orten, und fragte sich, wie jemand so viel Leben und so viel Macht in seinen Adern und auf seiner Haut summen spüren konnte, um diese Welt dann anschließend mit voller Absicht zu vergiften und zu töten. Hunger und das Bedürfnis ihres Körpers nach Schlaf trieben sie schließlich ins Bett, aber kaum war sie eingenickt, ertönte eine ihrer Alarmglocken. Sie stürzte sich auf den Spiegel, öffnete das Tor gerade weit genug, um die Stelle zu 360 sehen, die ihr Suchzauber aufgespürt hatte, und seufzte frustriert, als sie erkannte, was sie vor sich hatte - einen Felsbogen, den Baanraak mit ziemlicher Sicherheit als Tor benutzt hatte. Außerdem befand er sich auf der ersten
Welt - auf Cadwa. Also sagte der Spiegel ihr im Grunde nur, dass er und Molly - oder die Vodi-Kette, die Molly wieder auferstehen lassen würde - diesen Weg genommen hatten. Lauren überlegte, ob sie den Zauber schließen sollte, ließ ihn dann aber laufen. Er kostete sie nicht viel Kraft, und sollte Baanraak auf die kluge Idee kommen, auf demselben Weg dorthin zurückzukehren, würde Lauren eine Chance haben, ihn zu finden. Sie kroch wieder ins Bett und stellte fest, dass Jake in ihrer Abwesenheit die ganze Schlaffläche für sich erobert hatte; er lag mit dem Gesicht nach unten wie ein Seestern da und beanspruchte doppelt so viel Platz, wie das einem Menschen von ungefähr dreißig Pfund Körpergewicht hätte möglich sein dürfen. Sie seufzte, hob ihn hoch und rollte ihn zur Seite. Er wachte nicht auf. Dankbar stieg sie wieder ins Bett, schlang einen Arm um ihren Sohn und schlief ein. Diesmal schlief sie, bis Sonnenlicht durch ihr magisches Fenster auf den Futon schien und sie weckte. In ihrer nächsten Schicht vollendete sie Tore und Zauber für Dalchi, Zodhfr und Iio, wobei sie zwischen diesen drei Welten jeweils kurze Pausen machte, um zu essen, mit Jake zu spielen und sich die Beine zu vertreten. Obwohl sie jetzt in einem Sessel saß, kostete ihre Arbeit sie viel Kraft. Der Tag war lange vorüber, und Mondlicht schimmerte auf den knospenden Bäumen im Wald, als sie endlich Schluss machte. Nachdem sie sich zum letzten Mal aus ihrer Trance geschüttelt hatte, sah sie zu ihrer Überraschung zwei Wachposten, die auf sie warteten. 361 »Seolar möchte mit dir sprechen, Jägerin«, sagte einer der beiden und verneigte sich. »Gut«, erwiderte Lauren. Sie gähnte und reckte sich. »Ich spreche gern mit ihm, aber er wird hierher kommen müssen. Ich wage es nicht, den Spiegel allein zu lassen.« »Das weiß er, Jägerin«, sagte der andere Soldat. »Er wollte nur, dass man ihm Bescheid gibt, sobald du für ihn Zeit hast.« »Sag ihm, er soll kommen. Er kann eine Tasse Kaffee oder eine heiße Schokolade mit mir trinken.« Beide Wachen drehten sich ohne ein weiteres Wort um und verließen den Raum. Lauren sah Jake an, der sich neben Hündchen im Bett zusammengerollt hatte, einen Arm besitz ergreifend um sie gelegt, als sei sie sein Spielzeug, und Lauren hätte am liebsten geweint. Das war das erste Mal in seinem Leben, dass Jake ohne sie eingeschlafen war, und diese Vorstellung war ihr grässlich. Es war ihr grässlich, zu denken, dass sie ersetzbar war, und sei es auch nur in einer solchen Kleinigkeit. Es war ihr grässlich, ihn so schnell groß werden zu sehen, zu wissen, dass er ihr eines Tages entwachsen und zu einem Mann heranreifen würde, der ein eigenes Leben und eine eigene Welt hatte. Und doch war sie jetzt schon so stolz auf ihn. Trotz allem, was er durchgemacht hatte, konnte er immer noch lachen, konnte immer noch spielen, war immer noch in der Lage, zu vertrauen. Als Seolar anklopfte und durch die Tür trat, hatte Lauren bereits zwei große Becher mit dampfender, heißer Schokolade auf dem Tisch stehen. Sie lächelte Seolar an, reichte ihm eine Tasse und zeigte auf einen der Küchenstühle. »Setz dich.« Er nahm die heiße Schokolade entgegen, beschnupperte sie und nippte vorsichtig daran. Der erste Eindruck entlockte ihm ein leichtes Stirnrunzeln, dann nahm er einen größe362 ren Schluck. »Das ist eine flüssige Form der braunen Süßigkeiten, die Molly so sehr liebte.« »Schokolade?« »Ich nehme es an.« Seolar setzte sich auf den Stuhl. Er sah müde und erschöpft aus, und die Tatsache, dass er von Molly in der Vergangenheit gesprochen hatte, tat Lauren weh. Sie setzte sich ihm gegenüber und nippte an ihrer eigenen Schokolade. »Sie ist noch nicht Vergangenheit, Seo.« Er musterte sie mit diesen unheimlichen, großen, durch und durch schwarzen Augen und sagte: »Selbst wenn sie es nicht ist, haben wir andere Probleme, und diese Probleme sind mit diesen hier verbunden.« Lauren zog eine Augenbraue hoch, entgegnete jedoch nichts. »Quawar zufolge, der dergleichen Dinge im Auge behält, sammeln sich die dunklen Götter der Nachtwache. Sie können deine Tore spüren, und sie wissen, dass irgendetwas im Gange ist. Quawar behauptet, eine derartige Versammlung dunkler Götter in diesem Distrikt habe es noch nie gegeben. Sie sind aus der ganzen Welt herbeigeströmt, und auch aus deiner Welt und der Welt unterhalb von Oria. Er glaubt, die dunklen Götter hätten sich zusammengetan, um Krieg gegen dich und deine Schwester zu führen, und dass sie nicht Ruhe geben werden, bevor sie euch beide zerstört haben - oder ihr sie zerstört habt. Außerdem glaubt er, dass die dunklen Götter nicht mit Baanraak im Bunde sind, dass er sie in irgendeiner Hinsicht betrogen hat und sie jetzt hoffen, auch ihn vernichten zu können.« Lauren nahm einen großen Schluck von ihrer heißen Schokolade und verbrannte sich dabei die Zunge und den Gaumen. Es hörte niemals auf, oder? Ein gelöstes Problem er363 zeugte lediglich ein halbes Dutzend weiterer Probleme, die am Ende weit schlimmer waren als das ursprüngliche. Dunkle Götter und Krieg. Sie nahm noch einen Schluck und fragte sich, ob die alten Götter, die die Erde verließen, wirklich alte Götter waren - oder nicht vielmehr dunkle Götter, die sich an all der Disharmonie ergötzten.
Wer konnte diese Frage beantworten? Die Wächter? Lauren glaubte es nicht. Sie hätte jedoch gewettet, dass Molly darüber Bescheid gewusst hätte. Was Lauren nicht im Mindesten weiterhalf. »Zur Hölle damit«, murmelte sie und trank einen weiteren großen Schluck aus ihrer Tasse. Seolar sah sie über den Rand seines Bechers hinweg an, während er an der Schokolade nippte. Dann stellte er ihn weg und sagte kurz darauf: »Was ... denkst du gerade?« »Ich denke, dass das alles hier für die Katz ist.« Er legte die Stirn in Falten. Sie seufzte. Metaphern und Vergleiche ließen sich manchmal schlecht übersetzen. »Ich denke, dass ich meinen kleinen Sohn nicht mitten in einer Kriegszone haben will, und ich habe furchtbare Angst, ihn allein zu lassen. Ich denke, ich sollte vielleicht einfach das bisschen an Zeit, das meiner Welt noch verbleibt, mit meinem Sohn verbringen und dann entweder hierher auswandern oder mit allen anderen sterben und ins Jenseits gehen, was immer dort auf uns warten mag. Ich denke, wie gut ich mich auch auf Magie verstehe, ich werde es wohl kaum mit Baanraak und einer Armee dunkler Götter aufnehmen und Molly retten können - falls ich sie überhaupt finde. Am Ende werde ich dabei wahrscheinlich umgebracht, und dann war alles umsonst.« »Wenn du Molly rettest, wirst du nicht allein kämpfen müssen.« 364 »Deine Soldaten sind in Ordnung. Aber sie gebieten nicht über Magie.« »Das ist wahr. Hier. Aber wenn sie mit dir in die Welt gehen, auf der sich Baanraak und Molly befinden, werden sie nicht länger einfach nur Männer sein. Auch sie werden zu alten Göttern werden. Und der Krieg ist eine Art von Magie, auf die sie sich nur allzu gut verstehen.« Seolar zuckte die Achseln und trank von seiner Schokolade. »Quawar sagte, er würde dich ebenfalls begleiten - wenn auch nur in beratender Eigenschaft. Ich werde mit dir gehen. Wenn du uns führst, wirst du die beste Armee führen, die wir zusammenbekommen können.« »Und sieh dir nur an, wie weit Jeanne dArc damit gekommen ist.« Lauren betrachtete ihren Sohn, der jetzt allein schlief. Hündchen war irgendwann aufgestanden und in ihre eigene Koje gekrochen, und Lauren hatte es nicht einmal bemerkt. Sie senkte den Blick und fand Rue an ihrer Seite. »Wir kommen auch mit, wenn du wünschst«, sagte er. »Wir alle. In den nächsten Welten werden wir über Magie gebieten, und wir werden mit dir kämpfen oder wir werden den kleinen Gott mit unserem Leben beschützen. Wir sind uns alle einig; niemand wird ihm auch nur ein Haar krümmen. Hier bleiben oder gehen, du brauchst es uns nur zu sagen.« Lauren lächelte schwach. »Es gibt wohl keine Feiglinge auf Oria außer mir, wie?« Seolar erwiderte ihr Lächeln. »Oh, nein. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst wie jetzt. Aber ich habe noch mehr Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn wir nicht kämpfen.« 365 Dalchi Baanraak beobachtete seinen Hügel voller Interesse. Vor einer Weile hatte sich direkt an der Erdoberfläche der Kopf herausgebildet, ein schwabbeliges Etwas aus rosafarbenem, weichem Fleisch - und allmählich nahm er Form an, bekam Haare und entwickelte deutliche Gesichtszüge. Er hatte einen solchen Vorgang noch nie zuvor gesehen; er fand ihn überraschend abstoßend. Und doch besaß die junge Frau jetzt, da die Neubildung ihrer Gestalt fast abgeschlossen war, eine Schönheit, die selbst über die Barrieren der Spezies hinweg unverkennbar war. Sie hatte noch nicht geatmet oder die Augen aufgeschlagen, aber Baanraak wartete, vollkommen reglos bis auf die Spitze seines Schwanzes, die nervös zuckte. Er wollte unbedingt alles richtig machen. Seit er die Kette in den Schmutz geworfen und mit Erde bedeckt hatte, war er im Geiste hundert Alternativen durchgegangen, hundert verschiedene Möglichkeiten, zu sagen, was er sagen musste, oder ihr zu zeigen, was zu zeigen war - er hatte es auch in Erwägung gezogen, nichts zu sagen und ihr nichts zu zeigen, und die Sache einfach schnell hinter sich zu bringen. Er konnte sich nicht entscheiden, welche Methode die beste war, und jetzt verstand er beinahe Fhergass' Entscheidung, ihn einfach in dem Erdloch zu lassen, bis er all das mit ihm begrabene Fleisch verbraucht und ungefähr fünfzig Leben und fünfzig Tode hinter sich gebracht hatte. Auf diese Weise hatte Fhergass es sich erspart, irgendwelche schmutzigen Entscheidungen treffen zu müssen. Und selbst wenn es für Baanraak die Hölle gewesen war, so war es nichtsdestotrotz eine Hölle gewesen, die irgendwann geendet hatte. Und zu guter Letzt hatte Baanraak sich erhoben, bereit, 366 sich zu einer atemberaubenden Mordmaschine ausbilden zu lassen. Sein Schwanz zuckte immer schneller. Ihre Haut verströmte jetzt in der Dunkelheit einen schwachen Lichtschimmer, und plötzlich sah sie von Kopf bis Fuß wie eine Göttin aus. Bald, dachte er. Bald. Das Licht verblasste, und schließlich schlug sie die Augen auf, und er konnte die schwachen Bewegungen erkennen, die darauf schließen ließen, dass sie sich freizukämpfen versuchte. Dann sah sie ihn und erstarrte. Sie musterte ihn von oben bis unten, und etwas in ihr wurde sehr still, und er spürte, wie ihr Geist den seinen berührte. Du, sagte sie direkt in seine Gedanken hinein. Ich, stimmte er ihr zu. In der Zeitspanne, in der er diese eine Silbe dachte!, bohrte sie sich durch seine Gedanken, um herauszufinden, was er mit ihr vorhatte, und im gleichen Augenblick hatte sie auch schon begonnen, einen Zauber gegen ihn
heraufzubeschwören. Noch nie hatte er irgendjemanden so schnell oder so zornig reagieren sehen. Mit einem einzigen Hieb seiner Vorderpfote zerschmetterte er ihr den Schädel. »Nummer eins«, flüsterte er, und sein Schwanz lag jetzt bewegungslos da. Ihr erster Tod unter seiner Aufsicht bescherte ihm weniger Befriedigung, als er erwartet hatte. 18 Kupferhaus Lauren und Seolar, die ihre heiße Schokolade ausgetrunken und ihr Gespräch im Wesentlichen abgeschlossen hatten, erhoben sich gerade vom Tisch, als die Alarmglocke von neuem zu läuten begann. Diesmal bimmelte sie jedoch nicht nur höflich. Diesmal schrie sie. Lauren stürzte zum Spiegel und riss in ihrer Hast den Stuhl hinter sich um. Sie drückte die Hände auf das Glas und war bereits durch ihren Suchzauber mit der Welt verbunden, in der der Alarm schrillte. Jetzt brauchte sie das Tor nur noch zu verbreitern, um sehen zu können, worauf sie gestoßen war. Als ihre Finger das Glas berührten, verstummte die Alarmglocke, und Lauren stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte ihren Zauber so eingerichtet, dass er einen Höllenlärm machte, wenn er auf Molly traf und nicht nur Spuren von Mollys Weg vermeldete; wie laut ihre Alarmvorrichtung sein würde, hatte Lauren jedoch erst begriffen, als sie losging. Das Bild, das anfangs nur die Größe einer Stecknadelspitze in der Mitte des Spiegels gehabt hatte, blühte jetzt voll auf und zeigte Lauren etwas, das sie für den Rest ihres Lebens in ihren Träumen verfolgen würde. Sie sah eine deutliche Seitenaufnahme von Molly vor sich, die bis zum Hals in einem Erdhügel begraben war und mit einem Ausdruck weiß glühenden Zorns auf dem Gesicht einen riesigen Rrön anstarrte. Im nächsten Augenblick ließ der Rrön 368 seine gewaltige Vorderpranke herunterkrachen und zerschmetterte Molly den Schädel. Lauren wandte sich von dem Bild ab. Sie fühlte sich benommen, und ihr war gleichzeitig heiß und kalt. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Vergeblich kämpfte sie gegen eine Welle der Übelkeit an. Lauren stürzte ins Badezimmer, klammerte sich an das kühle Porzellan der Toilette und erbrach sich. Hinter sich hörte sie Seolar ein schrilles, ohrenbetäubendes Heulen anstimmen, das ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Jake begann zu weinen. Lauren spülte sich am Waschbecken den Mund aus und ging zu ihrem Sohn hinüber; sie hatte das Gefühl, als liefe sie über das Deck eines von den Wellen hin und her geschleuderten Schiffes. Sie hatte noch nie etwas mit angesehen, das sie mit solcher Wucht getroffen hatte. Sie legte sich auf das Bett, zog Jake an sich, strich ihm über das Haar und weinte lautlos. Hinter sich konnte sie Seolar hören, der die Tür öffnete und etwas in den Korridor dahinter schrie. Die Goroths brüllten irgendetwas, und Lauren dachte, dass die Rufe vielleicht ihr galten, konnte sich aber nicht sicher sein. Soldaten kamen herbeigestürzt, und in dem kleinen Raum brach ein unvorstellbarer Tumult aus - aber es war ein Tumult, der sich in weiter Entfernung von Lauren abspielte, die selbst auf dem Grund des Meeres lag und auf unklare, wässrige Stimmen aus weiter Ferne lauschte. Ihre Welt wurde grau an den Rändern und zog sich immer mehr zusammen, bis sie nur noch Platz hatte für sie selbst und Jake. So fühlt es sich also an, wenn die Welt stehen bleibt, dachte sie. Ein Blinzeln, ein Blitz und Schweigen. Sie wollte nicht nur gegen eine dieser Kreaturen kämpfen, sondern gegen ein ganzes Heer davon? Sie wollte ihren Sohn dieser Gefahr aussetzen oder ihn zurücklassen, damit dunkle Göt369 ter in dieses Haus einbrechen und ihn finden konnten, wie das Ungeheuer Molly gefunden hatte? Er ist bereits in Gefahr, flüsterte etwas in ihr. Er ist dein Kind - allein deshalb ist er eine Zielscheibe. Für dieses Ungeheuer, für die anderen Ungeheuer, für jeden einzelnen dunklen Gott, der sieht, dass du zwischen ihm und dem Tod der Welten stehst, von denen er sich ernährt. Sie strich über das weiche Haar, die weiche Wange ihres Sohnes. Sie spürte, wie Jake sich langsam entspannte und dann trotz des Lärms im Raum schlaff und schwer wurde, während er wieder einschlief. Er vertraute fest darauf, dass seine Mutter ihn beschützen würde. Sie war die Einzige, die das konnte. Lauren richtete sich auf. Ihre Mission war noch umfassender geworden als zuvor. Bisher hatte sie es als ihr Schicksal betrachtet, gemeinsam mit Molly alles daranzusetzen, die oberen Welten wieder aufleben zu lassen. Aber dies war eine ganz neue Aufgabe. Das Wort »Jägerin« nahm eine ganz neue Bedeutung für sie an: Sie musste die dunklen Götter vernichten. Um Jake zu beschützen, um es ihm zu ermöglichen, jemals wieder auch nur für einen Augenblick Frieden zu finden, würde sie die Ungeheuer jagen und zur Strecke bringen müssen. Das war es nicht, was ihre Eltern für sie geplant hatten; nirgendwo in ihren Notizen fand sich der Auftrag: »Töte die Nachtwache.« Stellenbeschreibungen sind nun mal Veränderungen unterworfen, sagte sie sich. Und ihr erster Job bestand darin, Molly zurückzuholen, bevor dieses Ungeheuer sie noch einmal töten konnte. Sie strich Jake das Haar aus der Stirn und sah die Soldaten an, die Goroths, den alten Gott, Seolar und Birra, auf deren Gesichtern sich eine Mischung aus Entsetzen, Grauen und Trauer spiegelte. 370 »Wir folgen ihr«, sagte Lauren. »Und zwar schnell. Wir werden den Rrön töten, und wir werden Molly oder die Vodikette zurückholen. Es spielt keine Rolle, welches von beidem, und es spielt keine Rolle, ob sie tot oder
lebendig ist, wenn wir dort ankommen; wir werden sie trotzdem zurückholen. Wir wissen, wo sie ist, wir wissen, wo er ist. Mit ein wenig Glück sind wir die Einzigen, die das wissen, aber wir können uns nicht darauf verlassen. Wir müssen davon ausgehen, dass es einen Krieg geben wird.« Sie sah die Wachen an, die sich in Kürze zum ersten Mal in einer Lage wieder finden würden, in der sie Magie benutzten. Sie dachte über die Konsequenzen nach, die ein Krieg in einer unteren Welt für die oberen Welten haben würde, und wand sich innerlich. »Alles, was wir dort tun, wird hier zu Problemen führen, und wir müssen darauf vorbereitet sein. Wenn wir gegen Baanraak in die Schlacht ziehen oder gegen Baanraak und einen ganzen Haufen dunkler Götter, werden wir damit zivile Unruhen heraufbeschwören, Kriege und möglicherweise sogar Naturkatastrophen, und die Konsequenzen unseres Tuns werden nicht nur hier spürbar sein, sondern auch in den Welten oberhalb von Oria. Und das bedeutet, dass wir aus einer schwierigen Situation in der unteren Welt in eine schwierige Situation zu Hause zurückkehren werden. Aber das lässt sich nicht verhindern. Dieses Grauen darf nicht weiterwüten.« Sie verschränkte die Arme über der Brust und wünschte, sie hätte ihre Ansprache nicht in einem Flanellschlafanzug mit Teddybärenaufdruck und einem Frotteebademantel halten müssen. Sie bezweifelte, dass jemals ein Heerführer seine Truppen in solcher Aufmachung auf die Schlacht vorbereitet hatte. »Wir verfolgen drei Ziele«, erklärte sie den Männern. »Erstens - wir müssen Baanraak und alle anderen Götter töten, die auf Dalchi auftauchen. Zweitens - wir 371 müssen sämtliches Geschmeide unserer Feinde einsammeln und es vollständig zerstören. Und - drittens - wir müssen entweder Molly oder ihre Vodi-Kette von Dalchi fortholen und sicher hierher zurückbringen.« »Lauren, du kannst nicht in den Krieg ziehen«, sagte Seolar. »Du musst in Sicherheit bleiben, denn wenn wir Molly retten und dich verlieren, dann ist unsere Sache genauso gescheitert, als hätten wir Molly verloren.« Lauren dachte kurz darüber nach und nickte dann zustimmend. »Ich werde dort sein müssen, aber vielleicht kann ich den eigentlichen Kampf von einem relativ sicheren Ort aus koordinieren.« Sie schloss die Augen und überlegte. »Ich kann uns alle durch ein Tor direkt nach Dalchi bringen und uns direkt über Baanraak fallen lassen. Aber ihr Veyär habt keine Erfahrung im Umgang mit Magie, und wenn ihr den Überblick über euer Tun verliert, geraten wir möglicherweise in üble Schwierigkeiten.« Hinter einer Gruppe von Veyär-Soldaten erklang jetzt Quawars Stimme. »Umso mehr, da die Macht eines Anfängers zunimmt, je weiter er die Weltenkette hinunterwandert. Ich habe den Gipfel meiner Macht auf Jerr erreicht. Seither ist es nur noch bergab gegangen. Ich werde mit jeder neuen Welt, die ich passiere, verletzbarer. Vier Welten unterhalb ihrer eigenen werden die Veyär dagegen große Macht besitzen, ohne irgendeine Erfahrung in der Magie zu haben. Die Jägerin hat vollkommen Recht. Sie und ich, wir müssen sichere Waffen für die Soldaten schaffen; wenn möglich solche, die nicht töten, sondern ...« »Nein«, widersprach Lauren. Aller Augen wandten sich in ihre Richtung. »Ich wollte Waffen empfehlen, mit denen man nicht töten kann«, sagte Quawar, »um den Schaden für die oberen Welten möglichst gering zu halten ...« 372 »Ich weiß, was du empfehlen wolltest«, unterbrach Lauren ihn. »Dies ist keine Situation, in der wir uns damit begnügen können, Baanraak oder die anderen dunklen Götter nur zu betäuben. Wir müssen sie töten, und wenn wir fertig sind, müssen wir sie vernichten.« Quawar schüttelte den Kopf. »Du gibst ihnen einen furchtbaren Rat - du bist jung. Du verstehst nicht. Du kannst nicht begreifen, dass es keine Möglichkeit gibt, um die Weltenkette von den dunklen Göttern zu befreien. Wir müssen sie überlisten. Manchmal muss man ihnen einen Knochen geben, manchmal müssen wir so tun, als existierten sie gar nicht. Aber die Idee, sie zu vernichten - du wirst die ganze Weltenkette in Schutt und Asche legen, wenn du dich an einem derart närrischen Streich versuchst.« »Ihnen einen Knochen geben?«, fragte Lauren. »Was für eine Art Knochen kann man Kreaturen geben, die sich vom Tod der Welten ernähren? Was? Lässt du einfach von Zeit zu Zeit eine Welt fallen, um sie daran zu hindern, dich aufs Korn zu nehmen?« »Sie sind unsterblich«, sagte Quawar. »Wir nicht.« »Das sind wir sehr wohl«, widersprach Lauren. »Ich habe den Beweis dafür. Ich bin im Jenseits gewesen, und ich garantiere dir, dass es jenseits dieses Tores weitergeht.« »Das ist nicht dasselbe«, protestierte Quawar. »Nichts ist dasselbe.« Lauren betrachtete ihn und fragte sich, ob sie jedes Mitglied seiner Spezies verabscheuen würde oder ob Quawars Persönlichkeit nichts mit dem zu tun hatte, was er war. »Meine Welt ist in deinen Augen also einfach der nächste >Knochen<, den du den dunklen Göttern vorwerfen willst, um sie von deiner Fährte abzubringen. Was bedeutet, dass dir das Leben von mehr als sechs Milliarden Menschen nicht das Geringste bedeutet. Schön. 373 Dann weiß ich jetzt zumindest, wie nützlich deine Ratschläge sein werden.« »Das ist keineswegs meine Meinung. Ich trauere um den Tod einer jeden Welt. Aber du hast dich nicht zehntausend Jahre lang mit den dunklen Göttern herumgeschlagen. Ich schon.«
»Dann hast du dich vielleicht so lange versteckt, dass du vergessen hast, was wirklich wichtig ist. Du kannst einem Gegner keinen >Knochen hinwerfen<, wenn dieser bereits geschworen hat, dass er dich töten wird, um die ganze Kuh zu bekommen. Du kannst niemanden beschwichtigen, dessen fortgesetzte Existenz deine eigene Vernichtung notwendig macht. Du kannst dir vielleicht auf Kosten aller anderen ein wenig zusätzliche Zeit verschaffen, aber früher oder später werden die Ungeheuer sich auch dich holen.« Nun ergriff Seolar das Wort: »Quawar hat mit den dunklen Göttern verhandelt, um die Veyär zu schützen.« »Zu welchem Preis?«, fragte Lauren. »Wir mussten Zugeständnisse machen«, antwortete Seolar, ohne auf die Einzelheiten einzugehen. »Trotzdem hat es Zeiten gegeben, zu denen Quawar alles war, was zwischen uns und der Vernichtung stand. Wir hatten keine Vodi, die für uns verhandeln konnte ... und selbst die Vodi vor Molly haben den dunklen Göttern im Austausch gegen Frieden Land und Privilegien gegeben.« »Geschäfte mit dem Teufel nehmen selten ein gutes Ende«, bemerkte Lauren und überließ es Seolar, zu entscheiden, ob sie von Geschäften mit den dunklen Göttern sprach oder von Geschäften mit Quawar. Sie sagte: »Wie dem auch sei, wir werden keine solchen Geschäfte machen. Unser Ziel ist nicht nur der Tod, sondern die absolute Zerstörung der dunklen Götter. Die Frage ist jetzt, ob ihr auf meiner Seite steht?« 374 »Ich denke«, antwortete Quawar, »dass du einen Fehler machst, der alles zerstören wird, was du zu retten hoffst. Aber ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte, und die Verantwortung liegt nun allein bei dir. Ich werde folgen, aber ich werde nicht führen.« »Wir sind auf deiner Seite«, erklärten die Soldaten. Und Birra und Seolar ergänzten: »Alle Veyär stehen hinter dir.« Die Goroths verneigten sich, bis sie mit dem Kopf auf den Fußboden schlugen, und riefen: »Du weißt, dass wir auf deiner Seite stehen, Jägerin! Bis zum Ende aller Welten!« Lauren sah sie an, lächelte und nickte nur leicht. »Wollen wir hoffen, dass wir dort heute nicht hingelangen.« Sie zeigte auf die Goroths. »Ihr werdet hier bleiben. Eure Aufgabe wird darin bestehen, auf Jake aufzupassen, wenn ich alle anderen durch das Tor führe. Einer von euch wird in unmittelbarer Nähe bleiben müssen, um das Tor zu schließen, falls ein dunkler Gott versuchen sollte, hindurchzukommen.« Dann wandte sie sich an Seolar. »Du und deine Leute, ihr werdet über tödliche Waffen verfügen. Ich kann sie so konzipieren, dass sie nur dunkle Götter töten werden. Falls ihr dann aus Versehen auf einen eurer Verbündeten schießen solltet, werdet ihr den Betreffenden nicht töten.« Sie drehte sich zu Quawar um. »Was auch immer in der Vergangenheit passiert ist, wir dürfen uns keine Illusionen über die Gegenwart machen. Wir müssen die dunklen Götter besiegen. Wir können nicht darauf warten, dass etwas, das größer ist als wir oder mutiger oder stärker, den Kampf gegen sie aufnehmen wird. Wir dürfen nicht darauf hoffen, dass jemand anderes uns retten und dieser Zerstörung ein Ende machen wird. Das Schicksal vieler Welten liegt in unseren Händen; das Leben jener, die jetzt dort leben, und je375 ner, die eines Tages dort geboren werden, hängt von uns ab. Wir können uns dieser Last nicht verweigern, denn wenn wir sie abstreifen, wird niemand anderes sie sich nehmen.« Dalchi Baanraak betrachtete den Hügel, der nun wieder ganz aus sauberer Erde bestand, nachdem er die kleine Schweinerei vergraben hatte. Die erste Reinigungsrunde war gut verlaufen ... und auch wieder nicht. Er richtete ein Auge auf den Himmel und brachte seinen Geist zur Ruhe. Etwas hatte ihn gesehen. Er hatte den Schock des Wieder erkennens gespürt, hatte das Aufwallen von Energie wahrgenommen, als ein Tor weit geöffnet und dann hastig wieder geschlossen worden war, und er hatte Magie gespürt. Klein, verstohlen - aber dennoch machtvoll. Was immer ihn beobachtet hatte, war entweder fort oder so winzig gemacht worden, dass nicht einmal er es wahrnehmen konnte, aber er zweifelte weder an seinen Sinneswahrnehmungen noch an seiner Erfahrung. Diese beiden Dinge hatten seine Haut häufiger gerettet, als er zählen konnte, und das über unvorstellbar lange Zeit hinweg. Er hatte auch keinen Zweifel daran, dass das, was ihn gefunden hatte, auf der Suche nach ihm gewesen war. Nur war die Frage, wer hinter dem Tor und dem Zauber lauerte. Rr'garn und der Teil der Nachtwache, der von den Rrön gestellt wurde? Baanraak glaubte nicht, dass sie die Raffinesse für einen so komplizierten kleinen Zauber besaßen. Sie waren Keulenschwinger, keine Chirurgen. Irgendein alter Gott, der einen jähen Anfall von törichtem Mut und Verwegenheit erlitten hatte? Unwahrscheinlich - nachdem Baanraak so viele Jahre lang jeden alten Gott verfolgt hat376 te, der ihm in die Quere kam, fürchtete er diese Geschöpfe nicht mehr, mit Ausnahme der wenigen verbliebenen Unsterblichen. Und selbst sie waren ihm seit ungezählten Zeitaltern nicht mehr in den Weg gekommen. Vielleicht jemand, der mit seiner kleinen Vodi verbunden war? Wenn dieser verborgene Beobachter ein Band mit der Vodi teilte, würde die Herausforderung, die Baanraak bevorstand, vielleicht größer ausfallen als erwartet. Er besah sich seinen Erdhügel und sagte: »Wen zählst du zu deinen Freunden und Gefährten, meine Molly? Wer würde es wagen, mich herauszufordern, um dich zu retten? Ich denke, es muss jemanden geben ... und ich frage
mich, ob ich mir deinen Heldenfreund nicht einfach ebenfalls schnappen und ihn formen sollte, wie ich dich formen werde.« Baanraak hatte das saubere, durch keinen Zauber befleckte Gold. Er konnte nicht behaupten, das Talent der großen Auferstehungsmeister früherer Zeiten zu besitzen, aber er kannte die Auferstehungszauber gut genug, um ein schlichtes, dauerhaftes Stück zu erschaffen. Plötzlich öffnete sich in einiger Entfernung, aber aus einer anderen Richtung ein neues Tor. Dieses machte sich durch ein leises, misstönendes Klicken bemerkbar, gefolgt von einem Rauschen der durch Tod genährten Energie, die typisch für die dunklen Götter war. Ein Klicken folgte dem nächsten, dann ein weiteres. Die dunklen Götter, die nach Dalchi kamen, waren noch ein gutes Stück entfernt, aber so würde es nicht bleiben. Sie kamen. Helden und Schurken, und er und seine Vodi mittendrin. Interessante Zeiten, dachte Baanraak. 377 Kupferhaus Als Lauren das Gelände um Baanraaks Versteck auf Dalchi herum einer genaueren Musterung unterzog, stellte sie fest, dass Quawar Recht gehabt hatte. Eine Armee dunkler Götter - Rrön und Keth und eine Mischung anderer Kreaturen aus einer Reihe gemordeter Welten - strömten einer nach dem anderen aus miteinander verbundenen Toren. Es bestand keine Chance, nach Dalchi zu gehen, Molly zu holen, Baanraak zu töten und wieder zu verschwinden. Andererseits hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, eine solche Gelegenheit zu bekommen, so sehr sie es auch gehofft haben mochte. Es würde Krieg geben. Lauren war noch nie zuvor in einem Krieg gewesen. Sie betrachtete Quawar, den die Idee, in all das hineingezogen zu werden, ungeheuer unglücklich machte. Lauren wäre jede Wette eingegangen, dass die Vorstellung, als Erster eine Feuerzone zu betreten, ihn noch bei weitem unglücklicher machen würde. Sie machte ihm keinen Vorwurf daraus, hatte aber gleichzeitig nicht die Absicht, die in der Magie völlig unerfahrenen Veyär allein nach Dalchi zu schicken, um es mit weiß Gott was aufzunehmen. »Kannst du halbwegs robuste Schilde zustande bringen?« Quawar nickte. »Ich habe es in allen Dingen, die mich am Leben erhalten, zur Meisterschaft gebracht.« »Gut«, sagte Lauren. »Wenn wir so weit sind, wirst du als Erster rübergehen. Du kannst die Schilde hochziehen und aufrechterhalten - ich schätze, als Kämpfer taugst du nicht viel.« »Ich bin eher ein Flüchter. Aber ich brauche nicht nach Dalchi hinüberzugehen, um Schilde hochzuziehen. Ich 378 kann den Soldaten Schilde machen, wenn sie durch die Tore treten - schöne, enge, individuelle Schilde. Darin bin ich ein Meister. Und vier Welten weiter unten werden die Schilde noch stärker werden.« »In Ordnung.« Lauren wandte sich an Seolar. »Du kannst die dunklen Götter dort unten sehen. Gibt es auf dem Gelände irgendwelche Besonderheiten, die euch helfen könnten?« Seolar und Birra blickten konzentriert durch das Tor, dann sagte Seolar: »Könntest du die Perspektive ein wenig verändern?« »Was brauchst du?« »Eine ... Landkartenansicht. Von oben.« Lauren kam seiner Bitte nach, und Birra und Seolar studierten das Terrain, dann grinsten sie einander an. »Sie wollen sich gegen Angriffe von diesem Punkt aus schützen«, sagte Seolar und zeigte auf Baanraaks erhöhte Position. »Wenn wir uns ihnen von hier aus nähern könnten ... und von hier aus ...« »Wir könnten sie auf diese Weise ins Kreuzfeuer nehmen«, erklärte Birra. »Sie haben bei der Auswahl ihres Standorts einen Angriff im Kopf gehabt, keine Verteidigung.« »Also braucht ihr Tore, die sich an zwei Stellen gleichzeitig öffnen werden«, sagte Lauren. »Ich werde Spiegel über die ganze Breite der Wand hier benötigen. Ich werde so viele Tore weben, dass ihr ein Dutzend Männer in einer Welle hindurchschicken könnt, jeweils sechs durch eines der beiden Zieltore.« Das würde schwierig werden - so große Tore über eine solche Entfernung so lange aufrechtzuerhalten würde viel Kraft kosten. Aber es schien ihr keine gute Idee zu sein, die Männer einzeln hindurchzuschicken. Seolar sagte: »Wenn wir unsere Leute an dieser Stelle rü379 herbringen könnten und an dieser hier« - er zeigte auf das Gelände hinter zwei Hügeln - »könnten wir sie vielleicht überwältigen.« »Das kann ich einrichten«, versprach Lauren. »Ich habe zweihundertsechzig Männer, die du nach Dalchi transportieren musst«, sagte Seolar. »Dazu kommen achtzehn Hauptmänner. Und Birra. Und ich.« Lauren sah in den Spiegel. »Dann sind wir also in der Minderzahl.« Birra und Seolar sahen sie beide gleichermaßen überrascht an. »Ich würde schätzen, dass wir ihnen um fast hundert Männer überlegen sind - obwohl sie vielleicht noch weitere Leute rüberbringen werden.« Lauren besah sich das zukünftige Schlachtfeld, auf dem sich das unsterbliche Grauen scharte, und staunte über die beiden Männer, die die Ungeheuer betrachten und zu einer akkuraten Schätzung gelangen und dann auch noch halbwegs optimistisch klingen konnten, was den Ausgang des Ganzen betraf. Natürlich konnten die Veyär
mit einer guten Strategie und besseren Waffen die Chancen zumindest ein wenig ausgleichen. An Quawar gewandt sagte sie: »Wir beide müssen Waffen machen. Ich will verstärkte, nichtmagische Waffen gegen Baanraak und die anderen dunklen Götter zum Einsatz bringen«, erklärte sie. »Etwas, auf das sie nicht gefasst sein werden. Der dunkle Gott, den ich getötet habe, starb, als ich ihm mit echten Kugeln zu Leibe gerückt bin, statt mit Magie.« Sie bemerkte einen seltsamen Ausdruck auf Quawars Gesicht. »Was ist los?«, fragte sie ihn. »Du hast einen dunklen Gott getötet?« »Ja. Einen der Rrön.« Ohne seine Gedanken zu offenbaren, taxierte er sie mit 380 unbewegtem Blick. Schließlich sagte Quawar: »Vielleicht bringst du uns da doch irgendwie durch. Ich bin seit oh - seit Tausenden von Jahren niemandem mehr begegnet, der einen dunklen Gott getötet hat. Bis auf andere dunkle Götter natürlich - aber aus dieser Richtung haben wir kaum Hilfe zu erwarten.« Lauren zuckte die Achseln. »Bete, dass sich möglichst viele von ihnen versehentlich gegenseitig umbringen. Das würde uns sehr helfen.« Sie erwiderte seinen Blick ohne einen Wimpernschlag. »Wir brauchen etwas Einfaches. Das gleiche Prinzip wie ein Maschinengewehr, ein Automatikgewehr - nur zielen und abdrücken. Wir werden Magie benutzen, um Munition zu produzieren und die Waffen zu laden, damit sie niemals leer werden, und wir werden Magie benutzen, um die Zielgenauigkeit zu vergrößern. Außerdem müssen wir jede Waffe mit einem Zauber belegen, damit unsere Leute sich nicht versehentlich gegenseitig erschießen. Das Einzige, was wir töten werden, sind dunkle Götter - sie verströmen eine durch Tod genährte Magie. Du hast diese Todesmagie gefühlt. Stell die Waffen darauf ein, wenn du kannst, um sicherzugehen, dass nur alte Götter von ihnen getroffen werden.« Quawar starrte sie immer noch an. »Was ist?« »Du machst diese Sache einfach zu gut.« Lauren mochte Quawar noch immer nicht. »Was soll das heißen?« Er zuckte die Achseln. »Du hast nicht ein einziges Mal gesagt: Vielleicht können wir mit ihnen verhandeln^ Warum nicht? Warum hast du dich sofort für einen Krieg entschieden? Warum bist du nicht zaghaft und furchtsam und auf Frieden bedacht?« 381 »Frauen sind nicht immer zaghaft und furchtsam«, erwiderte Lauren. »Menschliche Mütter teilen einige Eigenschaften mit anderen Müttern. Wenn du unsere Jungen bedrohst, reißen wir dir deinen gottverdammten Kopf ab. Denk an eine Bärenmutter, die von ihren Jungen getrennt ist. An eine Adlermutter, die ihr Nest von einem Eindringling bedroht sieht. Jedes menschliche Wesen ist bei seiner Geburt wild, ist verzweifelt auf das eigene Überleben bedacht und bereit, dafür zu kämpfen. Einige von uns bleiben so.« 19 Vom Kupferhaus nach Dalchi Lauren drückte Jake fest an sich, dann ließ sie ihn los und schickte ihn mit Hündchen weg. »Es ist alles bereit«, sagte sie zu Seolar. Sie legte die Fingerspitzen auf den Spiegel, den sie für das Haupttor ausgewählt hatte, und verband ihn mit allen anderen. »Was ist, wenn Baanraak nicht mehr dort ist?«, fragte Seolar. »Was ist, wenn er nicht in dieser Höhle ist?« »Die Vodi-Kette ist immer noch dort«, antwortete Lauren. »Ich kann sie spüren. Meinst du, er würde ohne die Kette fortgehen?« »Vielleicht«, sagte Seolar leise. »Wir haben keine Ahnung, warum er die Vodi-Kette überhaupt wollte. Vielleicht wollte er lediglich die alten Götter und die Veyär gemeinsam auf ein Schlachtfeld bringen, wo wir einander auslöschen können, ohne dass es ihn große Mühe kostet.« Lauren nickte. »Vielleicht. Aber wir dürfen die Kette Baanraak nicht überlassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er Molly so etwas noch einmal antut.« Die Hauptmänner der Veyär formierten ihre Leute, gaben ihnen Anweisungen, wo sie Gefechtsformation annehmen und was sie tun sollten, sobald sie durch das Tor stürmten. Lauren hoffte, dass ihnen die Magie, die sie von einem Ort zum anderen brachte, nicht die Orientierung rauben würde - sie selbst hatte dieses Phänomen oft genug erlebt, um damit umgehen zu können, obwohl das Wunder dieser Erfahrung sich anscheinend nie verlor. 383 Die Veyär stellten sich in einer Schlange auf. Lauren wob persönlich einen Schutzschild um jeden der Goroths und dann um Jake. Sie ging in die Hocke und sagte zu Rue: »Sorg dafür, dass Hündchen Jake hier festhält und auf ihn aufpasst. Er muss in diesem Raum bleiben - wenn er es nicht tut, wird der Schild zusammenbrechen und er wäre ohne jeden Schutz. Aber lass ihn nicht in die Nähe des Tores. Du beobachtest, was auf der anderen Seite geschieht. Ich muss es offen lassen, damit wir zurückkommen können, sobald wir Molly haben, aber ich werde einen Notfallschalter für dich machen. Wenn du einen Rrön oder irgendeinen anderen dunklen Gott darauf zulaufen siehst - und du wirst sie sehen können, bevor sie das Tor erreichen, denke ich -, dann legst du den Notfallschalter um.« Rue nickte. »Ich werde ... ihn umlegen.« Lauren gab dem Notschalter die Form eines Knopfes und platzierte ihn auf dem Haupttor, so weit oben, dass der Goroth ihn mit seinen langen Armen würde
erreichen können, Jake dagegen nicht. Quawar hatte inzwischen einige der Veyär im Raum mit Schilden versehen. Jetzt trat er von der Tür zurück und sagte: »Mehr kann ich nicht tun, bevor diese Gruppe durch ist - und wir können sie nicht in die Korridore hinausschicken, um dort zu warten. Dort würden die Schilde zusammenbrechen.« Dann wurde es also Zeit. Die ersten Veyär marschierten durch das Tor. Lauren drückte Jake noch einmal an sich, und die Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hasste es, ihn allein zu lassen, hasste die Tatsache, dass es wieder einmal die beste von all ihren üblen Alternativen war, das tun zu müssen. In diesem Augenblick hasste sie ihre Eltern dafür, dass sie keine normalen Menschen gewesen waren, die ein normales Leben gelebt hatten. 384 Die Veyär bewegten sich zügig durch das Tor - beinahe im Laufschritt sprangen sie hindurch, während Lauren all ihre Kraft und ihre Konzentration dazu benutzte, sämtliche Tore offen zu halten. Schon näherte Seolar sich dem Tor; er würde der letzte der Veyär sein, bevor Lauren an die Reihe kam. Sie schluckte heftig, wandte sich von ihrem entzückenden Sohn ab und holte Seolar ein, als dieser das Tor erreichte. Sie konnte bereits die Kämpfe auf der anderen Seite sehen. Sie zögerte jedoch nicht - denn wenn sie die Hand nicht auf den Spiegel legte und unverzüglich hindurchtrat, befürchtete sie, dass sie es niemals tun würde. Und sie war die Einzige, die Molly spüren konnte, diejenige, die am ehesten herausfinden konnte, wo Baanraak sie versteckt hatte. Seolar blieb dicht an ihrer Seite und ahmte ihre Bewegungen nach. Keiner von beiden sagte etwas. Einen herrlichen, zeitlosen Augenblick lang verschmolz Lauren mit der Unendlichkeit; sie wusste, dass ihre Unsterblichkeit die Ewigkeit berührte. Das Universum sang für sie, als sei sie der einzige Grund, warum es überhaupt existierte. Und dann spie der Pfad zwischen den Welten sie auf harten Boden aus, hinein in heiße Luft, unter eine leuchtende Kuppel aus blauem Licht, das Spritzer schwarzen Feuers von ihr fern hielt. Sie hörte Schreie, sie sah Gestalten auf dem Boden liegen, von denen einige sich bewegten und andere nicht. Im Tod waren die dunklen Götter und die Sterblichen nicht mehr voneinander zu unterscheiden - Klumpen aus blutigem Fleisch und glitzernden Knochenstücken. Lauren atmete beißenden Qualm ein und fluchte, dann zog sie den Schild enger um sich, so dass er die Luft reinigte, bevor sie sie einatmete. Mit purer Willenskraft zwang sie ihre Stimme, sehr laut zu klingen - laut genug, um jeden Veyär an ihrer Seite zu erreichen -, und sagte: »Wenn ihr 385 saubere Luft zum Atmen benötigt, braucht ihr sie euch nur zu wünschen, und ihr werdet sie bekommen.« Seolar, der neben ihr stand, sagte: »Ich sehe nichts von dem verdammten Schlachtfeld.« Lauren nickte. »Wir werden hinaufgehen, bis wir oberhalb davon sind. Aber zuerst möchte ich herausfinden, wo Baanraak ist und was er tut.« »Schon drüben auf der anderen Seite hast du gesagt, du könntest Molly hier spüren. Kannst du es immer noch?« »Ja«, erwiderte Lauren. »Er hat sie noch nicht von hier fortgebracht. Sie sind ganz in der Nähe.« Sie schloss die Augen und griff nach dem Band, das zwischen ihr und Molly bestand. »Sie hat schon ein weites Stück Weg zurück ins Leben hinter sich gelegt, seit Baanraak sie getötet hat«, erklärte Lauren Seolar nach kurzem Schweigen. »Sie atmet noch nicht, und sie hat noch kein Bewusstsein, aber wenn ich mich auf sie konzentriere, kann ich ... Leben fühlen. Allerdings weiß ich nicht, warum sie so schnell zurückkommt - nach dem ersten Mal hat sie mehr als nur ein paar Tage gebraucht.« »Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass wir sie zumindest noch nicht verloren haben.« »Noch nicht«, erwiderte Lauren. Nach einem weiteren Zögern fügte sie hinzu: »Aber wir sollen glauben, dass sie und die Kette noch in dem Erdhügel sind. Er hat dort eine Falle aufgestellt. Lasst nicht zu, dass irgendjemand den Hügel berührt.« Lauren empfing Bilder von Kälte, von berechnender Verderbtheit, die Freude aus Schmerz gewann, von sorgfältig geplantem Verrat. Möglich, dass sie all das von demjenigen auffing, der in dem Hügel wartete; möglich, dass sie diese Gedanken von Baanraak selbst auffing. Sie konnte ihn spüren, obwohl ihr auch klar war, dass er sein Bestes tat, um seine Anwesenheit zu verbergen. 386 »Baanraak ist irgendwo dort unten in den Höhlen. Die Öffnung führt weit in die Höhlen hinein, und ich habe das Gefühl, dass er einige Mühe auf sich genommen hat, um das Gelände seinen Bedürfnissen anzupassen.« Lauren schüttelte den Kopf. »Er ist bereit für uns. Er weiß nicht, wer kommen wird, aber er wartet auf denjenigen, der das tut. Er hat sich ausgerechnet, dass er am besten seine Feinde die Arbeit für ihn tun lässt - er will, dass wir einander töten und ihm die Mühe ersparen und das Risiko. Und dann wird er alle, die am Ende übrig geblieben sind, auslöschen.« »Er ist nur einer, und wir sind viele.« Lauren nickte. »Baanraak verfügt über einige besondere Talente. Er versteht sich sehr gut auf Magie, aber da ist noch mehr. Ich kann nicht genau sagen, warum er so zuversichtlich ist - es ist höllisch schwer, seine Gedanken zu lesen.« Sie drehte sich zu Seolar um, unsicher, ob sie ihm erzählen sollte, was sie sonst noch in Erfahrung gebracht hatte. Dann kam sie zu dem Schluss, dass sie damit im Augenblick eher Schaden anrichten als ihrer Sache nützen würde. Denn Seolar kannte die Mythen und die Geschichte seiner Welt, sie dagegen nicht. »Er hütet sie eifersüchtig«, sagte sie. Seolar hatte bisher mit einiger Nervosität die Salven von Flammen und Magie beobachtet, die auf seinen Schild
prallten, und die Lichtblitze, wenn die Kugeln der dunklen Götter den Schild trafen. Bei ihren letzten Worten wandte er jedoch seine ganze Aufmerksamkeit Lauren zu. »Baanraak ... der Rrön. Er hütet Molly eifersüchtig?« Lauren nickte. Mit geschlossenen Augen grub sie sich unter Baanraaks Schilden hindurch und in seinen Geist hinein. »Er beschirmt sich selbst und seine Gedanken - es ist nur meine Verbindung zu Molly, die es mir ermöglicht, zu ihm durchzudringen, denn aus irgendeinem Grund hat er 387 Molly nicht abgeschirmt. Er hat sich auf sie eingestimmt. Er ...« Sie rieb sich die Schläfen und öffnete die Augen. »Er glaubt wirklich, dass er ihr einen Gefallen damit tut, wenn er sie wiederholt tötet und zurückholt.« Seolar wirkte ebenso verwirrt, wie Lauren sich fühlte. »Das verstehe ich nicht. Er will weder die Vodi-Kette zerstören noch Molly?« Lauren schloss die Augen und griff tief in sich hinein, nach dem dünnen Faden, der sie mit Molly verband - und über diese Verbindung hinweg bekam sie auch Kontakt zu Baanraak. Bilder und Gefühle fluteten durch sie hindurch. Ein großes, dunkles Ei; es hing am Himmel und fiel dann wie ein Stein auf eine winzige, sich bewegende Fläche tief darunter; die Gefühle von Sonne auf schuppiger Haut, von Wind, der vorüberrauschte; ungeheurer Hunger; die Erregung des erfolgreichen Jägers. Lauren konnte die Bilder in keine vernünftige Reihenfolge bringen, ebenso wenig wie sie sich einen dunkleren Faden im Geist des Ungeheuers zu erklären vermochte. Der Faden wand sich durch tiefe Finsternis, in der das Ungeheuer lebendig begraben war, durch Tod und Tod und noch mehr Tod, durch Schmerz und so ungeheures Leiden, dass Lauren nicht verstehen konnte, wie etwas dieses Grauen überleben und geistig unversehrt daraus hervorgehen konnte. Zwischen den Jägerfantasien und den Albträumen fand Lauren Bilder von Molly, und auch die verwirrten sie. Im Geiste hatte Baanraak Molly die Form einer riesigen, schwarzen Kugel gegeben, die von innen heraus leuchtete. Diese Metapher bedeutete ihm etwas, das beinahe heilig war, aber Lauren konnte den Grund dafür nicht erkennen. Und Baanraak sah Molly mit Flügeln, wie sie gleich dem Racheengel des Todes vom Himmel herabstieß. 388 »Ich kann nicht feststellen, was er will, aber obwohl er sie zu töten beabsichtigt, scheint er sie nicht ... vernichten ... zu wollen.« Lauren betrachtete das Schlachtfeld um sie herum. Dies, durchzuckte es sie, war nicht die wirkliche Schlacht. Zumindest nicht für sie. »Er ist nicht menschlich -er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Menschen. Dank Molly und der Vodi-Kette kann ich in seine Gedanken eindringen, aber viele Dinge, die in seinem Kopf kreisen, ergeben für mich keinen Sinn. Ich bin kein Rrön. Er denkt nicht, wie ich denke. Verstehst du?« Seolar nickte. »Dass du überhaupt seine Gedanken lesen kannst...« Lauren legte Seolar einen Finger auf die Lippen und sagte: »Denk es nicht. Sag es nicht. Ich habe dafür gesorgt, dass er mich nicht sehen kann, aber dich wird er wahrnehmen. Du musst dich darauf konzentrieren, die Schlacht anzuführen. Denk daran, dass du deine Leute am Leben erhalten willst, dass du die dunklen Götter vielleicht zu diesem Erdhügel locken kannst, aber nur, wenn du dich in der richtigen Position befindest, um all deine Männer anschließend schnell von hier wegbringen zu können. Denk an nichts anderes als daran. In Ordnung?« »Das kann ich tun«, entgegnete Seolar, »obwohl es mir lieber wäre, wenn ich wüsste, warum.« »Wenn ich es dir sage, würde ich es ihm sagen. Du bist beschirmt, eins der Tore ist eigens für dich geöffnet.« Lauren wirkte einen sorgfältig geplanten Zauber, dann fügte sie hinzu: »Das Tor wird von jetzt ab bei dir bleiben. Es ist an dich gekettet, was bedeutet, dass du der Letzte sein musst, der Dalchi verlässt - aber solange du hier bist, kannst du alle anderen fortbringen.« »Wir wollten das Tor doch mit dir verbinden, um deine Sicherheit zu garantieren.« 389 »Wollten wir. Aber wenn wir Molly zurückholen wollen, gibt es etwas, das ich unbedingt tun muss. Und ich muss es allein tun.« »Das kannst du nicht.« »Jetzt heißt es alles oder nichts, Seo. Entweder ich tue es, und wir haben eine Chance, zu siegen. Oder ich tue es nicht, und jeder einzelne deiner Männer, der auf dieser fremden Welt sein Leben gelassen hat, ist umsonst gestorben.« Seolars Gesicht wirkte grau, aber er nickte. »Dann geh. Geh mit den Göttern; ich werde dich in meinen Gedanken und Gebeten bewahren.« Lauren schüttelte den Kopf und sagte: »Danke. Ich nehme gern alle Hilfe an, die ich bekommen kann.« »Ich kann dir einige meiner Männer geben.« »Ich weiß, dass du das kannst. Aber ich könnte sie nicht an Baanraak vorbeibringen - sie würden mich nur verraten.« Sie griff nach seiner Hand und sagte: »Viel Glück und alles Gute. Ich hoffe, dass wir beide diesen Tag überleben werden, um uns wiederzusehen.« Er wollte Protest erheben. Lauren konnte die Worte, die sich auf seinen Lippen formten, so deutlich sehen wie den Ausdruck in seinen Augen. Dann nickte er jedoch nur, drückte ihre Hand und sagte: »Viel Glück.« Sie brauchte einen guten Schild, bevor sie Baanraak in seine Höhle folgte, aber es würde nicht die Art von Schild sein, die sie vor Angriffen schützen oder diese zurückschleudern und gegen ihre Angreifer selbst richten konnte.
Manchmal sah sie Schilde, die so strahlend glänzten wie frischer Lack auf neuen Autos. Aber im Moment brauchte sie diese Art von Schild nicht - aus dem Inneren von Baanraaks Augen konnte sie spüren, dass er nach solchen Dingen Ausschau hielt. Was sie jetzt brauchte, war etwas, das ihre An390 Wesenheit dämpfen und verbergen würde, das sie mit ihrem Hintergrund verschmelzen, das sie still und unauffällig erscheinen ließ. Um das zu erreichen, musste sie auf jedweden Schutz verzichten. Sie würde nackt in die Höhle des Ungeheuers gehen, wohl wissend, dass Baanraak Fallen geschaffen hatte für jeden, der es wagte, ihm dorthin zu folgen. Sie brauchte ein magisches Gegenstück zur Tarnfarbe -etwas, das Geräusche, Gerüche, Vibrationen, Licht und Magie absorbierte, ebenso wie jeden Lärm, den ihre Gedanken möglicherweise machen würden. Sie brauchte etwas, das nichts, aber auch gar nichts von ihr verriet. Etwas, das den Blick eines Betrachters einfach weiterwandern ließ, in der festen Überzeugung, nichts gesehen zu haben. Sie konnte sich das, was sie brauchte, genau vorstellen. Sie stellte sich vor, ganz darin eingehüllt zu sein. »Lauren?«, fragte Seolar, obwohl sie sich nicht bewegt hatte. »Ich bin direkt neben dir«, sagte sie. »Lauren? Wo bist du?« In Ordnung. Es absorbierte tatsächlich Geräusche. Gut. Sie gab Seolar keine Erklärung; sie hatte keine Ahnung, wie groß das Zeitfenster war, in dem sie handeln konnte, wie » lange die Möglichkeit, die sie erkannt hatte, bestehen bleiben würde. Sie schlüpfte durch den Schild und bewegte sich an dem Felsvorsprung hinauf zu dem Höhleneingang. Ein gutes Stück entfernt von dem Erdhügel zu ihrer Linken überquerte sie die offene, freie Ebene. Sie fühlte sich nackt. Nichts als die Tatsache, dass sie kaum zu sehen war, schützte sie vor dem Kreuzfeuer von magischen und ganz gewöhnlichen Geschossen, mit dem die Ebene und die Höhen ringsum belegt wurden. Eine fehlgegangene magische Salve konnte sie töten, bevor sie Zeit hatte, sie abzuwehren. 391 Als sie den Höhleneingang erreichte, hämmerte ihr das Herz in der Brust, als hoffe es, sich daraus befreien zu können. Sie brauchte eine Weile, nur um wieder zu Atem zu kommen und sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Eingang stellte einige Probleme dar - heruntergefallene Steine bedeckten den Boden so dicht, dass Lauren bezweifelte, ob sie zwischen ihnen hindurchgehen konnte, ohne einen von ihnen dabei zu bewegen. Was möglicherweise der Sinn der Sache war. Dalchi Tief in der Dunkelheit lag, zusammengerollt und reglos neben Mollys neu erwachendem Körper und eingegraben in einen Haufen stinkender Tierkadaver, Baanraak. Er beobachtete das Näherkommen seiner Feinde hinter geschlossenen Augen und wob Zauber zu prachtvollen Fallen. Die Nachtwache verfügte über die besseren Waffen, aber die Veyär kämpften aus dem Schutz eines der besten Schilde heraus, die Baanraak je gesehen hatte - und Verzweiflung gab ihnen zusätzliche Energie bei ihrem Ansturm. Den dunklen Göttern, überlegte Baanraak, fehlte es sowohl an Leidenschaft als auch an Überzeugung. Den Veyär fehlte nichts von beidem. Er lächelte. Beide Gruppen konnten siegen, und für ihn würde in jedem Falle alles beim Alten bleiben. Er hatte die Vodi-Kette, er hatte den Vorteil der sicheren Höhle, und er war er - was seit einer unendlich langen Zeit der größte aller Vorteile war. Vielleicht argwöhnten sie, dass er sich irgendwo in dem Höhlenlabyrinth versteckt hatte, aber er hatte Geist und Körper zu einem perfekten, wartenden Stillstand gebracht 392 und sich selbst und die Vodi - Molly - mit einem Schild umgeben, der sie vor Blicken verbarg und unerreichbar für jedwede suchende Magie machte. In der Welt über sich konnte er die lärmenden Gedanken seiner Feinde hören und die leuchtende, sich selbst stets verratende Magie auflodern und kreisen sehen, angetrieben von endloser Energie und ohne jede Raffinesse, jede Zurückhaltung ... und jede Heimlichkeit. Er empfand nichts als Verachtung für jene, die gekommen waren, um ihn zu jagen; gerade ihre Macht und ihr Zorn würden ihr Untergang sein. Besonders begeistert war er von seinen Fallen. In der geringen Zeit, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, hatte er hervorragende Arbeit geleistet; seine Feinde waren mit großer Macht herbeigekommen, er, Baanraak, kämpfte dagegen mit sanften, ruhigen Hieben, die keinerlei Aufmerksamkeit erregen und dabei doch höchst wirksam sein würden: Alles, was seine Angreifer ihm an Energie entgegenschleuderten, würde sich gegen sie selbst richten. Baanraak war im Herzen Taoist gewesen, lange bevor die Menschen von den Bäumen herunterfanden, um dem Prinzip »Durch Nachgeben erobern« einen Namen zu geben. Die alten Götter waren seit unvordenklichen Zeiten nicht mehr gegen die dunklen Götter in den Krieg gezogen. Die Weltenkette hatte den Preis vergessen, den der Krieg zwischen Göttern verlangte. Als plötzlich gewaltige Zauber des Grauens und des Todes auf dem Schlachtfeld von Dalchi explodierten, verbreitete sich der magische Rückstoß in die oberen Welten, nach ... 393 ... Nüdaa ...
..., wo an einem herrlichen warmen Nachmittag, an dem die Wolken wie Burgen über dem Dorf Iri aufragten, ohne Vorwarnung die Erde rumorte und aufriss. Geschmolzene Steine schössen empor. Feuer regnete gen Himmel, und das Dorf starb binnen eines einzigen Atemzuges und nahm jeden darin mit. Aus dem Boden quoll ein Hügel auf, rotes Feuer raste in alle Richtungen, und ein Berg wälzte über den Hügel und schob Flüsse aus Steinen und Krusten aus Lava vor sich her. Gifte strömten in die Luft, der Himmel wurde schwarz, und noch immer bebte die Erde. Die Sonne verschwand und die Wälder und Flüsse in weitem Umkreis mit ihr - Seen versanken im Boden, als hätte es sie nie gegeben, und Tod breitete sich in alle Richtungen aus. Meere wälzten sich gegen die Küsten und zerschmetterten sie mit haushohen Wellen. Noch wochenlang würde die Sonne nicht auf Nüdaa hinabscheinen - und in nur wenigen Tagen würde es zu schneien beginnen, während sich auf ... ... Povreack ... ... ein Hurrikan, der in weiter Entfernung von der bevölkerungsreichsten Küste getobt hatte, plötzlich landeinwärts wandte. Er kroch gen Norden, stark, eng umgrenzt und boshaft, und zerstörte den größeren Teil einer Nation. Über... 394 ... Cadwa ... ... hingen Wolken. Noch mehr Wolken. Die Völker der dürregeplagten Ebenen von Zentral-Hwyr auf Cadwa blickten mit verblüffter Dankbarkeit zum Himmel auf. Donner grollte, etwas, das man in einem Dutzend Jahren in dieser Gegend nicht mehr gehört hatte, und feuchte Luft kräuselte den Staub auf dem Boden und strich mit dem sanften Versprechen von Regen über die Wangen der Cadwaner. Die ersten Tropfen, groß wie Fäuste, klatschten hernieder, und die Leute jubelten und standen mit ausgestreckten Armen und emporgewandten Gesichtern da. Dann riss der Himmel auf. Aber der Boden, der zu ausgedörrt war, um die Fülle, die ihm zuteil wurde, trinken zu können, war schnell überflutet, und Freude verwandelte sich in Entsetzen, während reißende Wasser über die Ebenen peitschten und lose Erde, Häuser, Vieh und Menschen mitnahmen. Über den nördlichen Wäldern von ... ... Oria ... ... schwoll das Geräusch schlagender Flügel langsam an. Für sich genommen war jedes Flügelpaar nicht lauter als das Knistern eines Blattes Papier. Bald jedoch wuchs es sich zu einem Tosen aus, während Millionen und Abermillionen von Cherikkäfern nach einem zweijährigen Winterschlaf schlüpften. Ausgehungert schwangen sie sich in den Himmel auf und stürzten sich auf alles, was grün war und wuchs. Zarte Pflanzen, die gerade die ersten Knospen zeig395 ten, wurden in Minuten kahl gefressen, dann schwangen die Käferwolken sich wieder in die Höhe und zogen weiter. Die Plage würde einen Monat dauern, dann würden die Cheriks sich wieder in die Erde graben, so tief, dass niemand sie jemals finden konnte, sie würden ihre Eier legen und sterben. Und ein großer Teil der Bevölkerung auf der Nordhalbkugel würde in diesem Jahr verhungern. Währenddessen herrschte in allen Observatorien der ... ... Erde ... ... wilde Panik, als Asteroiden wie aus dem Nichts herbeigeschwärmt kamen, Satelliten zerfetzten, geheime Horchposten explodieren ließen und auf der Erde einschlugen, wo sie Trümmer und Feuer und Zerstörung hinterließen. Nachrichtensprecher jagten zu ihren Stühlen, ungeschminkt, in Hemdsärmeln und mit Zigaretten zwischen den Lippen, um in tausend Sprachen in die Kameras zu schreien: »Man hat uns gerade darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Erde in einen bisher unbekannten Asteroidengürtel geraten ist und wir von Meteoren bombardiert werden. Bewahren Sie Ruhe ... Die meisten dieser Meteore werden in der Atmosphäre verglühen ...« Aber viele taten es nicht. Einige der Meteoriten schlugen wie explodierende Bomben ein, löschten Hochhäuser mitsamt ihren Bewohnern aus, trafen mit grotesker Perversion einen Menschen, der an einer Bushaltestelle wartete, und verfehlten die Leute links und rechts von ihm. Oder sie schlugen mit solcher Wucht auf dem Boden auf, dass die Erde bebte und die Menschen, die von einem direkten Treffer verschont blieben, dem Erdbeben zum Opfer fielen. 396 Feinde beargwöhnten einander über die Grenzen hinweg, weil sie ein faules Spiel vermuteten - aber nicht ein einziger Kontinent blieb unversehrt. ... und weiter ... ... strömte die Magie die Weltenkette hinauf, durch Kerras und Frejandur und sogar durch Jerrits - aber diese Welten waren tot und verlassen, und es gab niemanden dort, der neue Katastrophen vermerkt hätte. Cat Creek Pete setzte sich neben Mayhem und sah zu, wie die anderen Wächter auf den hölzernen Klappstühlen Platz nahmen. Die Wächter, die mitten in der Krise zusammengerufen worden waren, hatten sich in dem oberen Raum des Blumenladens eingefunden, und alle blickten sie grimmig drein. June Bug verschwendete keine Zeit auf Vorreden. »Ich habe das Phänomen durch drei Welten verfolgt, aber ich
habe weder die Kraft noch die Möglichkeiten, weiterzugehen. Es handelt sich um Rückstoßmagie - daran besteht kein Zweifel -, aber wir sind bei weitem nicht diejenigen, die das Schlimmste davon abbekommen. Unsere Katastrophe ist relativ geringfügig.« »Chicago sieht aus wie ein Schlachtfeld«, bemerkte Betty Kay Nye. Pete blickte zu ihr hinüber und sah, dass sie die Finger ineinander geschlungen hatte, so dass die Knöchel weiß hervortraten. In ihren Augen stand ein Ausdruck von Panik. Möglicherweise war sie zu neu, zu unerprobt, um 397 viel zu taugen. Vielleicht, dachte er, war sie eine ebenso große Niete wie Raymond Smetty, der es bisher nicht geschafft hatte, seinen Hintern auf einen Stuhl zu bequemen oder auch nur durch die Tür im unteren Stock zu treten. Pete hatte das Gefühl, dass die Wächter aus anderen Gebieten, die auf Cat Creeks Hilferuf reagiert hatten, keineswegs ihre besten und klügsten Leute geschickt hatten, sondern diejenigen, die ihnen die größten Kopfschmerzen bereiteten. »Was machen wir jetzt?«, fragte Pete. Eric, der an der Wand lehnte, schüttelte den Kopf. »Ohne einen Torweber und ohne ein erprobtes Team von Respondern können wir nur beten. Und hoffen, dass andere Gruppen besser vorbereitet sind als wir.« »Könnten wir nicht an der Weltenkette hinuntergehen und eine Magie wirken, die sowohl positiv als auch stark ist?«, fragte Pete. Alle drehten sich zu ihm um, und in einigen Mienen zeichnete sich Ärger darüber ab, dass er eine dumme Frage gestellt hatte, oder gar der Verdacht, dass er vielleicht einfach dumm war. Eric sagte: »Warum versuchen wir nicht, das Feuer zu löschen, indem wir Benzin drüberkippen?« »Ich dachte, dass positive und negative Magie sich vielleicht ausgleichen würden«, erwiderte Pete. »Dass wir den Schaden vielleicht begrenzen könnten.« »Denken Sie lieber nicht«, riet Louisa Täte. »Sie könnten sich dabei wehtun.« Einige Leute kicherten, aber es war ein dünnes Kichern, das schnell erstarb. Pete sagte nichts. Er war noch immer ein Außenseiter in diesem Kreis - noch mehr als die beiden Frischlinge, die in der letzten Woche hergekommen waren. Er würde immer der Außenseiter sein, denn er war nicht in diese Sache hi398 neingeboren worden, anders als die anderen. In ihren Augen würde er niemals ein richtiger Wächter sein. Vielleicht konnten seine Kinder es sein, falls er überlebte und Kinder bekam und überdies bereit war, sie in diesen fortgesetzten Albtraum zu verwickeln. Er war ein Außenseiter. Aber vielleicht, dachte er, ein Außenseiter, der Dinge sehen konnte, für die die Insider blind geworden waren. Und er dachte an Lauren, die andere Außenseiterin in diesem Kreis trotz ihrer Wächtereltern. Sie war in einer der unteren Welten und kämpfte gegen dieses Ding, und er wünschte, er hätte bei ihr sein können, statt in Cat Creek zu sitzen und Däumchen zu drehen. Er fragte sich, wo sie sein mochte und was sie wohl tat. Dalchi Die Schlachtengeräusche erstarben schnell. Viele Tonnen Stein absorbierten sie, und kaum war der letzte Lichtschimmer verloschen, verlor sich auch jedes Geräusch von draußen. Dunkelheit trat an die Stelle des Lichtes. Dunkelheit und Feuchtigkeit und die Gerüche nach nassem Hund und Ammoniak, dazu gelegentlich ein schwacher Gestank nach etwas Dumpfigem, Unangenehmem, Verwestem, und dieser Gestank war schlimmer als alles andere. In der Nähe konnte sie Wasser tröpfeln hören und ein stetiges Plätschern in weiterer Entfernung. Sie hatte keine Taschenlampe dabei, und als sie feststellte, dass ihre Augen sich nicht an die vollkommene Dunkelheit gewöhnen würden - dass sie ohne eine eigene Lichtquelle blind war -, geriet sie in Panik. Sie wagte es nicht, mithilfe von Magie Licht heraufzubeschwören. Und selbst wenn sie hinausträte und sich eine Taschenlampe oder eine 399 Laterne anfertigte, würde sie sie nicht benutzen können. Baanraak würde ein Licht bemerken. Blind und reglos stand Lauren da, sie konzentrierte sich auf die Gerüche und Geräusche um sie herum und wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagestanden hatte, aber als sie schließlich die Augen schloss, um sich mit einer Hand die Schläfen zu massieren, passierte etwas Interessantes. Sie stellte fest, dass sie mit geschlossenen Augen sehen konnte, zumindest auf eine gewisse Weise. Mit geschlossenen Augen und zur Ruhe gebrachtem, empfänglichem Geist konnte sie einer schwachen Lichtspur folgen, die hinabführte - einer Spur der Magie, die Baanraak hinterlassen hatte. Lauren bewegte sich sehr langsam; je schneller sie vorwärts zu kommen versuchte, umso schwächer wurde das Licht, und wenn sie auch nur einmal vom Weg abkam, hätte sie Baanraaks Spur für immer verloren. Während sie mit geschlossenen Augen weiterging, konnte sie außerdem die Stellen spüren, an denen Baanraak auf seinem Weg nach unten Halt gemacht hatte, um für jeden, der sich in die Höhle wagte, Überraschungen zu hinterlassen. Diese Fallen erschreckten sie fast zu Tode, aber obwohl einige davon auf schnelle Bewegungen reagierten und andere auf magische Energie oder starke magische Schilde, stellte anscheinend keine dieser Fallen eine Gefahr für jemanden dar, der sich heimlich und verstohlen seinen Weg durch die Höhle bahnte.
Von Zeit zu Zeit öffnete Lauren die Augen, wenn ihre Nerven zu versagen drohten; es war schwer, das animalische Kleinhirn davon zu überzeugen, dass sie nicht in ein tiefes Loch fiel, wenn sie mit geschlossenen Augen ging; außerdem fühlte sich ohnehin jeder Schritt so an, als bewegte sie sich über eine Klippe, unter der sich ein klaffender Ab400 grund auf tat. Aber wenn sie die Augen aufschlug, wurde die Dunkelheit noch dunkler. Baanraaks schwache Spur verschwand, und sie verlor alles Gefühl dafür, wo er sich befand, wo sie sich befand und wo die Fallen lagen. Lauren hasste dunkle, feuchte Orte. Ihr war der Gedanke grässlich, dass sie unter der Erde und damit dem Tod für ihren Geschmack viel zu nahe war. Sie hatte gern ein Dach überm Kopf, aber kein Gebirge. Die Vorstellung, dass tierische Höhlenbewohner sie streifen konnten, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, ob es in dieser Welt Fledermäuse, Höhlenschlangen oder Riesenspinnen gab. In der Dunkelheit konnte alles Mögliche leben, und von Zeit zu Zeit hörte sie ein Zirpen oder Knarren oder ein leises Stöhnen, das sie davon überzeugte, dass es hier unten tatsächlich Leben geben musste. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und die Höhle verlassen. Aber sie tat es nicht. Sie kämpfte Panik, Ekel und Grauen nieder, schloss die Augen und ertastete einmal mehr die schwache Lichtspur, während sie Baanraaks Weg folgte. Einen Schritt nach dem anderen stahl sie sich weiter nach unten, angetrieben von nichts als Vertrauen und einer schwachen Verbindung zu dem Ungeheuer, das sie jagte, durch ihre tote, aber der Auferstehung nahen Schwester. Dalchi Seolar wünschte sich inbrünstig, er hätte sich über die Schlacht erheben können, um zu sehen, an welchen Stellen seine Leute Fortschritte machten und wo sie an Boden verloren. Vor seinem geistigen Auge konnte er den Ausguck sehen, den er sich wünschte; in der Luft; so weit oben, dass 401 er alles vor sich und hinter sich erspähen konnte, so weit oben, dass der Felsvorsprung des Rröns, Baanraak, direkt unter ihm lag, aber nicht so weit oben, dass er keine Einzelheiten mehr hätte erkennen können. Das grüne Feuer des Tores hinter sich und geborgen in dem Schild, mit dem Lauren ihn umgeben hatte, um alle Angriffe abzuwehren, fühlte er sich sicher genug, diesen Ausguck heraufzubeschwören - und jäh verschwand der Boden unter ihm, und er fand sich und das Tor und die Blase seines Schildes hoch in der Luft wieder. Immer höher trug es ihn hinauf, bis zu genau der Stelle, an der er glaubte, den besten Ausblick auf die Schlacht zu haben. Der Blick von oben war nützlicher, als er erwartet hatte. Er konnte die Schilde sehen, die Quawar über jeder Hauptgruppe aufrechterhielt - auch wenn von Quawar selbst jede Spur fehlte. Dafür entdeckte er sofort eine Stelle auf dem Schlachtfeld, an der einige seiner Männer sich einer Falle näherten; er rief ihnen eine Warnung zu und zwang sie mit schierer Willenskraft, ihn zu hören, so dass sie sich aus der Klemme befreien konnten, bevor der Feind sie in die Zange nahm und tötete. Kurz darauf sah er eine wunderbare Möglichkeit, zwei Einheiten nahe einer Stelle zusammenzubringen, an der eine Gruppe dunkler Götter bereits von schwerem Feuer zu Boden gestreckt worden war, und Seolar leitete die Anführer dieser beiden Einheiten dorthin. Der Zangengriff funktionierte besser, als er gehofft hatte - seine Männer machten den dunklen Göttern gegenüber Boden wett und würden am Ende vielleicht doch noch den Sieg davontragen. Im nächsten Moment entdeckte Seolar einen der dunklen Götter, der über seinem Kopf kreiste. Seolar wusste, dass er sich in einer sehr verletzbaren Position befand, falls seine Feinde den Schild zu durchdringen vermochten; er wusste 402 jedoch nicht, ob sie ihn durch den Schild hindurch erreichen konnten. , Er brauchte sich nicht lange über diese Frage Gedanken zu machen. Der Rrön, der über ihn hinwegflog, brüllte, und zwei weitere Ungeheuer erschienen aus den Wolken. Seolar fragte sich, was sie dort oben getan hatten; dann dämmerte ihm, dass er keine Ahnung hatte, wie man gegen Götter kämpfte. Alle drei Rrön legten ihre Flügel an, ließen sich auf ihn hinabfallen und schlugen mit ihren Köpfen und Körpern von unten gegen seinen Schild. Sie warfen ihn in die Höhe und schleuderten ihn durch die Luft, als sei er ein Spielzeug. Bei ihrem ersten Ansturm verlor er das Gleichgewicht und stürzte, und er hatte keine Chance, wieder auf die Füße zu kommen. Sie stießen ihn in die Wolken hinein. Er fragte sich, warum, und begriff, dass er etwas unternehmen musste, um nicht allzu bald Antwort auf seine Frage zu bekommen. Er musste wieder zurück auf den Hügel, zu seinen Männern, um das Tor an einer Stelle offen zu halten, wo er seine Leute hindurchschicken konnte, sobald Lauren auftauchte. Und er musste sich beeilen. Er konnte kaum denken. Die Rrön hatten ihn mit ihrem Angriff überrascht und hinderten ihn daran, sein Gleichgewicht wieder zu finden, sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne, und er konnte kein Bild lange genug festhalten, um es Wirklichkeit werden zu lassen. Und die ganze Zeit über wurde er zwischen den Wolken hin und her geworfen und prallte vor allem immer wieder gegen eine gewundene, schwarze Wolke, an
deren unterem Teil sich ein Schacht zu bilden begann. Er musste eine Möglichkeit finden, sich zu verankern, 403 dachte er, während er haltlos in der Blase seines Schildes herumrollte. Um ein Haar wäre er in Laurens Tor gefallen -und er wusste, dass er das ganz gewiss nicht wollte. Anker. Anker. Dieser Gedanke lieferte ihm ein festes Bild, an das er sich klammern konnte. Er stellte sich vor, sein Schild sei durch ein unsichtbares, unzerstörbares Seil an dem steinernen Felsvorsprung festgebunden - so fest, dass die Rrön bei ihrem nächsten Ansturm heftig gegen seinen Schild geschleudert und vom Himmel fallen würden. Mit purer Willenskraft zwang er ein Seil und einen Mammutanker herbei, und obwohl er immer noch in seinem Schild herumgewirbelt wurde, stieg er zumindest nicht weiter empor. Einer der Rrön duckte sich instinktiv unter seinem Schild hinweg und versuchte, ihn mit einem Stoß weiter in den Himmel hineinzukatapultieren - aber das unsichtbare Seil durchschnitt seinen Flügel direkt an der Schulter, und solchermaßen entzweigerissen, trudelte das Ungeheuer kreischend zu Boden. Seolar ließ sich seinerseits langsam zu Boden sinken, wobei er vor seinem geistigen Auge das Bild einer großen, hölzernen Winde festhielt, die sich stetig drehte und das unsichtbare Seil schnell aufspulte. Er rappelte sich hoch, blickte hinab und sah das Schlachtfeld wieder näher kommen. Außerdem sah er, dass die dunklen Götter sich nicht länger auf Waffen beschränkten - sie beschworen nun auch die Kräfte der Natur und der Zerstörung herauf. Und weil er so eine glänzende Zielscheibe abgab, konzentrierten sie sich nun auf ihn. Feuerbälle explodierten aus dem Nichts überall um ihn herum und krachten in seinen Schild. Tornados fielen aus den Wolken über ihm und jagten auf ihn zu. Blitze schössen 404 in die hohen Felsen direkt unter ihm, zerschmetterten den Stein und ließen die Trümmer in alle Richtungen fliegen. Langsam kamen Seolar Zweifel, ob sein Schild halten würde. Er wusste, dass er das Tor bewachen musste - und er befürchtete, dass er nichts durch den Schild hindurch angreifen konnte, ohne den Schild zu verletzen. Er musste es zulassen, dass sie auf ihn schössen. Er starrte auf den Erdhügel unter sich hinab, in dem Molly gelegen hatte und in dem jetzt, wie Lauren meinte, etwas anderes begraben lag. Eine Art Falle. Vielleicht war er doch nicht hilflos. Vielleicht konnte er seine Angreifer ins Verderben führen. Tiermütter taten oft so, als seien sie verletzt, um gefährliche Gegner von ihren Jungen wegzulocken. Er würde vielleicht dasselbe tun können. Er versuchte, sich vorzustellen, was seine Feinde sehen würden, wenn sein Schild schwächer würde. Er sah, wie der Schild sich verformte, wie das Licht aus seinem Inneren ungleichmäßig wurde und an einigen Stellen vollends erlosch. Er brauchte den Schild nicht wirklich zu schwächen, aber wenn er sich darauf konzentrierte, würde es ihm vielleicht gelingen, ihm den Anschein zu geben, als sei er beschädigt. Er konzentrierte sich auf einen Hinterhalt - darauf, eine visuelle Lüge zu erschaffen. Er wünschte, er hätte Gelegenheit gehabt, ein wenig den Umgang mit Magie zu üben, um selbst herauszufinden, was sich damit anfangen ließ - andererseits konnte er durchaus mit nichtmagischen Mitteln lügen, also sollte es ihm mit magischen Mitteln ebenfalls möglich sein. Lauren hatte es ihm erklärt: Er musste sich das, was er wollte, deutlich vorstellen, mit klaren, exakten Einzelheiten, und es dann so sehr wollen, dass es Wirklichkeit wurde. Also dachte er daran, wie verletzte Tiere aussahen und wie sie sich benahmen. Wenn sie Aufmerksamkeit erregen 405 wollten, gaben sie Geräusche von sich, bewegten sich unkontrolliert und machten einen großen Wirbel, um ihre Feinde von ihren Nestern abzulenken. Als er genau das vor sich sehen konnte, was er wollte, konzentrierte er seine ganze Willenskraft darauf, es zu bekommen - und als sein Schild das nächste Mal getroffen wurde, begann die Blase aus Licht, in der er trieb, zu schwanken und zu zittern. Die Wände vibrierten, und die Bewegung riss ihn von den Füßen. Er zwang die Blase, in Schräglage abzusinken. Unten, auf der anderen Seite des Schlachtfelds, blickten Veyär und dunkle Götter auf, sahen, was geschah, und reagierten entsprechend. Sie alle rannten auf die Anhöhe zu; die dunklen Götter, um das Tor zu zerstören und mit ihm alle Hoffnung auf einen sicheren Rückzug, die Veyär, um das Tor zu retten. Bleibt zurück, befahl Seolar. Wieder setzte er seinen Willen ein, um seinen eigenen Leuten seine Botschaft zu überbringen, und zu seiner Erleichterung sah er, dass einige von ihnen stockten und ihren Schritt verlangsamten. Aber die meisten rannten weiter. Ich bin Seolar, dachte er. Hört mich und bleibt zurück. Lasst die dunklen Götter kommen - ich bin bereit für sie. Er kämpfte um eine klare Verbindung zu seinen Soldaten, um einen gebieterischen Tonfall, der seine Leute davon überzeugte, dass die plötzlichen Gedanken, die sie hörten, von ihm kamen und nicht aus ihrem eigenen, angstvollen, müden Geist. Einige der Männer liefen weiter, verlangsamten aber ihr Tempo - sie schienen irgendetwas zu verfolgen, doch Seolar konnte sehen, dass sie nur den Eindruck machten, als bewegten sie sich. Sie wollten verhindern, dass die
dunklen Götter die Falle witterten. 406 Jetzt konzentrierte der Angriff sich fast zur Gänze auf ihn. Endlose Ströme dunkler Energie wurden in seine Richtung geschleudert, Feuer und Wurfgeschosse, Sturzbäche aus Regen und Hagel und Wind. In seiner dünnen Blase, beschirmt durch etwas, das für das Auge kaum sichtbar war, betete er zu fast vergessenen Göttern - zu den gütigen, tröstenden Gottheiten seiner Kindheit, die allen, die ihnen folgten, Rettung und Schutz versprochen hatten. Er betete, dass sie ihn sahen und ihn und das Tor vor der näher kommenden Horde schützten; und er betete, dass es Lauren gelingen möge, Molly zu retten. Und er betete, dass er und seine Leute sicher nach Hause zurückkehren würden - und bald. Denn jetzt konnte er spüren, was Lauren aus dem Hügel vor dem Höhleneingang wahrgenommen hatte. Das Ding, das dort drinnen wartete, wuchs und nährte sich -aber es nährte sich von der vergifteten Magie, die von allen Seiten auf Seolar einströmte, und das Ding, was immer es sein mochte, wurde sehr mächtig. Dann erreichte der erste der Feinde die Stelle unter Seolars Schild, und Seolar dachte, dass er sich für den Rest seines Lebens - wie kurz dieser auch sein mochte - an das Grauen der nächsten Ereignisse erinnern würde. 20 Die Erde »... soeben erreichen uns jüngste Berichte über das erschreckende Erdbeben mit Zentrum in Südlondon, das die Stärke acht Komma vier auf der Richterskala erreicht hat... Fotos von der Katastrophe ...« »... gehäuftes Auftreten von Tornados im ganzen Gebiet um den Blue Ridge Mountain herum ...« »... sie sind einfach aus blauem Himmel gekommen - ohne jede Vorwarnung, gar nichts - nur plötzlich waren überall gewaltige Wirbel wie Rüssel und Häuser ... Häuser wurden auseinander gerissen ... oh, Entschuldigung, ich kann einfach nicht mehr darüber reden ...« »... Südflorida unter einer einen Meter hohen Schneedecke begraben, und es schneit immer noch ... die Meteorologen haben keine Erklärung für diesen unnatürlichen, katastrophalen Schneesturm, und obwohl sie es für möglich halten, dass das Phänomen mit dem Meteoritenhagel zusammenhängt, der auf dem größten Teil des Planeten niedergegangen ist, hat noch niemand eine Erklärung dafür, was für ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorfällen bestehen könnte ...« »... wir müssen davon ausgehen, dass die gesamte Orangenernte dieses Jahres verloren ist. Im Augenblick tun wir alles, was in unseren Kräften steht, um die Bäume zu retten, anderenfalls müssten wir vielleicht ganz von vorn anfangen und hätten über Jahre hinweg überhaupt keine Ernte ...« »... die Stadt Melbourne wurde von Feuerbällen getrof408 fen, die in schneller Folge durch die Atmosphäre stürzten, bevor sie in Hochhäuser krachten. Diesem unerklärlichen Feuersturm ging ein Unwetter voraus, das den Boden mit einer Hagelschicht von mehr als einem Meter Höhe überzogen hat. An manchen Stellen waren die Verwehungen bis zu drei Metern hoch. Der Schaden beläuft sich nach Schätzungen auf Hunderte von Millionen Dollar, obwohl es nach bisherigen Erkenntnissen nur relativ wenig Tote gegeben hat...« Kupferhaus Hündchen wiegte Jake in ihren Armen, aber er ließ sich nicht trösten. Immer wieder schluchzte er: »ICH WILL ZU MEINER MAMA!« Er weigerte sich, zu schlafen. Er weigerte sich, zu essen. Hündchens Herz weinte für ihn. Sie zog ihn fest an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Hab Geduld. Wir werden zum Spiegel gehen, und wir werden deine Mama sehen. Doch du musst ein braver Junge sein.« Jake zog die Nase hoch und wischte sich mit Hündchens Gewand die Tränen ab. Er sah sie an und sagte: »Gut. Ich bin ein braver Junge.« Hündchen umarmte ihn. »Du bist wirklich ein braver Junge. Es ist schlimm, wenn die Mama weit weg ist. Aber es geht ihr gut - ich werde es dir zeigen. Aber du darfst den Spiegel nicht anfassen.« Sie hatte ihn die ganze Zeit über von den Spiegeln fern gehalten, hatte das Bett, seine Spielsachen und die Dinge, die sie sich von den Dienerinnen vom Kupferhaus für ihn hatte bringen lassen, in die Ecke des Raumes verfrachtet, die von den Spiegeln am weitesten entfernt war. Sie hatte Wandschirme verlangt und sie so aufgestellt, dass sie einen 409 kleinen Teil des Raums zu einer Art Nest machten, und weder sie noch Jake hatten dieses Nest bisher verlassen. Aber er hatte furchtbare Angst - er war ein empfindsamer kleiner Junge, und er musste wissen, dass seine Mama in Sicherheit war. Hündchen stieg auf das Sofa und kletterte auf die Rückenlehne, um über den Wandschirm hinausblicken zu können. Dann sagte sie zu Rue: »Er muss sie sehen, nur für einen Augenblick, nur um zu wissen, dass es ihr gut geht. Ich werde mit ihm zum Spiegel gehen, wir werden nach ihr Ausschau halten, und dann kommen wir zurück.« Rue sah Hündchen an. »Er darf die Tore nicht berühren.« »Natürlich nicht.« Sie verließen den Schutz der Wandschirme, und das Erste, was Hündchen sah, war das Bild hinter dem magischen Fenster der Jägerin. Es war ein Furcht erregender Anblick; vor ihren Augen riss der Wind uralte
Bäume aus und wirbelte sie durch die Luft, als seien sie Feuerholz. Aber so tief in das Kupferhaus konnte der Lärm des Sturms nicht vordringen, so dass die Szene draußen einfach wie ein Bild wirkte, das nichts mit ihnen zu tun hatte. Die Reihe grün leuchtender Spiegel machte Hündchen jedoch Angst. Trotzdem trat sie nahe genug heran, um hineinschauen zu können. Sie hielt Jakes Hand fest, um ihn von der Glasscheibe fern zu halten, und hoffte, ihm seine Mama zeigen zu können. Aber das Einzige, was sie sehen konnte, war Krieg, ein schrecklicher Krieg, voller Ungeheuer und Tod. Und nirgendwo konnte sie die Jägerin entdecken. Was sie sehen konnte, entsetzte sie; das Bild vor ihr schaukelte hin und her, als blickte sie durch die Augen einer Person, die bei schwerer See auf einem Schiff stand. Hündchen war - einmal - auf einem Schiff gewesen. Sie hatte sich geschworen, dass sie niemals wieder etwas anderes als festen Boden unter ihren Füßen haben würde. 410 Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Jakes Hand nicht länger in der ihren hielt, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, ihn losgelassen zu haben. Sie drehte sich um, um Jake zu sagen, dass sie würden warten müssen, dass er seine Mama nicht sehen konnte und dass sie wieder hinter die Wandschirme zurückkehren und später noch einmal nachschauen würden. Aber Jake war fort. Sie drehte sich zu Rue um. »Wo ist er?« Rue sagte: »Er war gerade noch hier.« Aber von ihrem Platz aus konnte Hündchen den ganzen Raum überblicken, bis auf den Bereich hinter dem Wandschirm und die kleine Toilette. Und Jake war nicht dort. Sie rührte sich nicht von der Stelle; sie schickte Tarth, den Fährtensucher, Wyngi, den Bootsmann, und Herot, den ach so schnellen Vogelfänger, und sogar Rue aus, der die ganze Truppe anführte. Sie rannten durch den kleinen Raum, um nach Jake zu suchen, während Hündchen ganz still dastand, lauschte und nachdachte. Er war nicht im Raum. Die Goroths sahen einander mit entsetzter Miene an. Er war nicht durch das Tor gegangen - das wussten sie. Aber wo steckte er dann? »Du bleibst hier, für den Fall, dass er zurückkommt«, befahl Rue Hündchen. Auch diesmal schalt er sie nicht aus und machte ihr keine Vorwürfe. Tatsächlich hatte er sie nicht mehr gescholten, seit sie ihren Namen bekommen hatte. Diese Entdeckung überraschte sie ebenso sehr wie das, was er als Nächstes sagte: »Die Schuld trifft mich ich werde mich mit den anderen aufmachen, und wir werden ihn finden.« Einer der Veyär blieb bei Hündchen. Die anderen machten sich zusammen mit den Goroths an die Durchsuchung der Korridore. Sie würden ihn finden, dachte Hündchen. Bestimmt wür411 den sie ihn finden. Er war nur ein kleiner Junge und nicht sehr schnell - er konnte noch nicht weit gekommen sein. Hündchen lief nervös in dem sicheren Raum auf und ab, blickte zwischen dem Krieg auf der anderen Seite des Tores und dem furchtbaren Sturm, der in ihrer eigenen Welt tobte, hin und her, und sie dachte, was für ein schrecklicher Zeitpunkt dies war, um sich zu verlaufen. Dalchi Die schwache Lichtspur, die sich vor Laurens geschlossenen Augen erstreckte, wurde heller. Und der Geruch wurde schlimmer. Während sie sich nun auf mehr oder weniger ebenerdigem Grund bewegte, verlangsamte sich ihr Tempo zu einem Kriechen. Sie hörte niemanden atmen; sie nahm keine Bewegungen der Luft wahr, die die Anwesenheit des Ungeheuers verrieten, nach dem sie suchte - aber sie hatte trotzdem das unheimliche Gefühl, dass Baanraak ganz in der Nähe war. Ihre Knie fühlten sich an, als hätte irgendein gottverdammter Witzbold die Gelenke weggezaubert und Gelatine an ihrer Stelle zurückgelassen. Sie musste dringend zur Toilette. Sie wollte weglaufen. Sie dachte an Jake und fragte sich, ob sie in diesem dunklen Loch in der Erde sterben und ihn nie wieder sehen würde. Sie ging weiter, denn das war es, was Mütter taten. Sie kämpften für ihre Kinder. Sie beschützten ihre Kinder - wenn möglich, hoben sie die Welt aus den Angeln für ihre Kinder. Sie hatte einfach das Glück, dazu in der Lage zu sein. Sie hatte Glück. Immer wieder hielt sie sich diesen Gedanken vor Augen. Sie konnte etwas tun. Sie war nicht hilflos und dazu verdammt, passiv darauf zu warten, dass die 412 Welt unterging. Sie konnte mehr tun, als nur beten. So schlimm es auch war, es war immer noch besser, aktiv sein zu können. In Baanraaks Gedanken fing sie jetzt einen Anflug von Interesse auf, ein plötzliches, kurzes, scharfes Auflodern von Wachheit, als hätte jemand ein Streichholz angezündet, und sie blieb stehen. Dieses kurze, prompt wieder erloschene Aufflackern sagte ihr zweierlei. Erstens: Sie musste jetzt fast in Reichweite des Ungeheuers sein. Zweitens: Obwohl Baanraak sich nicht bewegte, obwohl er totenstill dalag, beobachtete er alles mit der Geduld und der Leidenschaft eines Jägers. Zuerst dachte sie, dass sie vielleicht irgendetwas getan hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wusste, dass sie mit jedem Schritt vorwärts leise Bewegungen in der Luft auslöste, daher hatte sie sich sehr langsam und vorsichtig durch das Höhlenlabyrinth geschlichen. Wenn ein leiser Luftzug ihn streifte, weil sie einen weiteren Schritt auf ihn zugemacht hatte, würde er das mit ein wenig Glück für die natürlichen Bewegungen der Luft in
der Höhle halten. Aber wenn er sich auch nur einen Augenblick lang konzentrierte, würde sie umsonst auf ihr Glück hoffen. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch etwas draußen vor der Höhle. Lauren fing nur einen Anflug seiner Erregung auf, bevor er seinen Geist still werden ließ, und sie tastete sich durch den reglosen Teich seiner Gedanken und suchte nach dem Grund dafür. Seine Feinde näherten sich der ersten seiner Fallen, und sie hatten eine Menge Anstrengung darauf verwandt, Magie in diese Falle hineinströmen zu lassen, nicht ahnend, dass sie ihr damit nur zusätzliche Energie gaben. Sie zog sich aus Baanraaks Geist zurück und schauderte. Er hatte dort einen Albtraum erschaffen; sie hatte das 413 Grauen gespürt und Seolar gewarnt, seine Männer von der Stelle fern zu halten, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, wie schrecklich Baanraaks Falle war. Sie konnte nur hoffen, dass Seolar auf sie gehört hatte und dass jene, die nun in Kürze den Kampf mit diesem Ding aufnehmen würden, dunkle Götter waren. Natürlich würde, was immer es war, noch immer dort draußen sein, wenn sie die Höhle verlassen musste - und ihr Rückzug würde wohl kaum so heimlich und geordnet verlaufen wie ihre Ankunft. Ich tue das für Jake, dachte sie. Für Jake. Jetzt, da sie wusste, wo Baanraak sich befand, stellte sie auch fest, dass sie aus dieser Richtung eine leichte Wärme und Trockenheit fühlen konnte. Nicht einmal mit geschlossenen Augen konnte sie auch nur den schwächsten Hauch von Licht aus seinem Versteck wahrnehmen, obwohl sie der Spur, die er hinterlassen hatte, ohne Mühe gefolgt war. Plötzlich durchzuckte sie ein entsetzlicher Gedanke, und sie drehte sich sehr, sehr langsam um, um mit geschlossenen Augen in die Richtung zu »sehen«, aus der sie gekommen war. Das, was sie erkennen konnte, bevor die Biegung des Tunnels es unkenntlich machte, leuchtete schwach. Sie war mit keinem Schritt von Baanraaks Weg abgewichen, konnte aber dennoch schwache Spuren ihrer Anwesenheit ausmachen. Sie ließ ein schmaleres Band von kaum merklich hellerem Licht zurück, wo immer sie ging. An den Stellen, an denen sie einen Augenblick verharrt hatte, wurde das Leuchten erkennbar. Allerdings musste man, um es zu bemerken, zunächst einmal danach Ausschau halten und außerdem das Kunststück beherrschen, die Augen zu schließen und den Geist ruhig werden zu lassen und ... 414 Also gut. Er konnte sie sehen. Der einzige wahrscheinliche Grund, warum er ihrer schwachen Spur keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war offensichtlich: Er ging davon aus, dass jeder, der in den Tunnel kam, seine Fallen auslösen würde. Sie dagegen war an allen Fallen vorbeigekommen. Was natürlich der einfache Teil ihrer Aufgabe gewesen war. Der schwierige Teil bestand darin, ihm Molly und die Vodi-Kette wegzunehmen. Und das, dachte Lauren, würde wirklich schwierig werden. Lauren hatte eine vage Vorstellung, auf welchem Wege sie Baanraak die Kette abnehmen konnte. Wenn sie sehr vorsichtig war, konnte sie vielleicht nahe genug herankommen, um Molly zu berühren. Baanraak hatte sie in einem Haufen verwesender Kadaver begraben, und soweit Lauren erkennen konnte, beschleunigten diese Kadaver die Geschwindigkeit, mit der Molly sich regenerierte. Als Baanraak Molly den Schädel zerschmettert und sie damit getötet hatte, hatte er ihr die Kette nicht abgenommen. Lauren hatte herausfinden können, was Baanraak beabsichtigte: Er wollte, dass Molly so schnell wie möglich wieder zum Leben erwachte, damit er sie immer wieder aufs Neue töten konnte. Indem er den größten Teil ihres Körpers unversehrt ließ und ihr die Kette nicht abnahm, beschleunigte er den Regenerationsprozess. Es wäre einfacher, Molly fortzubringen, wenn sie lebte. Wenn sie dagegen ihren Körper aus der Höhle schleppen musste, würde das ein hartes Stück Arbeit bedeuten - aber für Lauren war dies der kleinste Teil ihres Dilemmas. Bei weitem schwieriger würde es werden, Molly von Baanraak wegzubekommen. Wie sollte sie es vermeiden, eine Magie zu benutzen, die die Fallen auslösen und weiß Gott welche Gräuel auf den Plan rufen würde? Wie sollte sie aus der 415 Höhle herauskommen, ohne die Fallen auszulösen? Welche Ungeheuer würden über Tage toben, und wie konnte sie ihnen entgehen? Und wie sollten sie von der Höhle zurück zum Tor gelangen, ohne mitten auf das Schlachtfeld zu geraten? Wie sollte es ihr gelingen, am Leben zu bleiben? Diese Frage war ziemlich überwältigend. Wie zum Teufel sollte sie es fertig bringen, am Leben zu bleiben? Es tut mir Leid, Jake, dachte sie. Es tut mir Leid, dass du die falsche Mom erwischt hast. Das alles hier hättest du nicht gebraucht - du brauchst jemanden, der zu Hause geblieben wäre und mit dir Kekse gebacken hätte, der mit dir Pferdchen gespielt, dir Lesen beigebracht und dir erzählt hätte, was für ein großartiger Mann dein Dad war. Es tut mir Leid, dass du mich bekommen hast. Oder dass du dir mich ausgesucht hast. Oder wie immer das funktionieren mag. Dies jedenfalls kann nicht das sein, was du wolltest. Mit geschlossenen Augen gelang es ihr, sich in Baanraak hineinzuversetzen. Wenn sie sehr vorsichtig in seine Gedanken eindrang, konnte sie ein Gefühl für die Haltung seines Körpers gewinnen, für die Art, wie er dalag, für seine Gestalt und die Position von Molly und dem Haufen von Kadavern neben Baanraak. Sie konnte jedoch nicht herausfinden, wo er sich von ihr aus gesehen befand, wenn sie jetzt nicht noch einige Schritte in gleicher
Richtung weiterging. Sie machte einen sehr vorsichtigen Schritt - und betete, dass sie nicht auf Baanraak trat, womit sie sich unweigerlich verraten hätte. Dann wagte sie einen zweiten Schritt. Und dann erwachte Molly mit tosendem Zorn zum Leben, immer noch maßlos wütend nach ihrem letzten Tod, immer noch angetrieben von dem einzigen Gedanken, Baanraak mithilfe von Magie anzugreifen. Lauren hatte das Gefühl, als hätte jemand in ihrem Gehirn ein ganzes Feld 416 voller Flutlichter angeschaltet. Sie ging in die Hocke und dachte aus irgendeinem Grund an Seolars Dolch, der immer noch an ihrer Hüfte befestigt war. Sie hatte ihn die ganze Zeit bei sich getragen, aber seit dem Angriff, der sie um ein Haar getötet hätte, nicht mehr benutzt. Jetzt griff sie nach der Waffe, während Molly einen Zauber gegen Baanraak schleuderte, der ihn in Brand setzte, die Luft um ihn herum mit einem Donnerschlag zusammendrückte, ihn zerschmetterte, seine Flügel bersten ließ und ihn verkrüppelte und verstümmelte. Lauren hörte, wie die Fallen überall im Tunnel bis hinauf zur Oberfläche losgingen; sie waren so eingestellt worden, dass sie auf jedwede Magie in den Tunneln reagierten. Im nächsten Augenblick hallte das Brüllen und Stöhnen von Baanraaks kleinen Überraschungen durch die Höhlen und Gänge. Molly erhob sich aus dem von Maden bedeckten Knochenhaufen, beleuchtet von dem Feuer, das ihren Feind verzehrte, und mit einem Aufschrei puren Zorns begann sie, Feuerbälle nach dem Rron zu schleudern. Baanraak drehte seinen langen Hals, um Molly anzustarren, und Lauren sah ihre Chance. Sie stürzte sich in den Kampf, verwandelte ihren Dolch mit schierer Willenskraft in ein tödliches Schwert und schlug die Waffe in das Fleisch von Baanraaks Hals. Gleichzeitig verlieh sie ihrem Hieb zusätzliche Kraft, indem sie ein Bild in sich heraufbeschwor. Im Geiste sah sie, wie der Dolch sauber Haut, Muskeln und Knochen durchtrennte und den Kopf des Rrön vom Rumpf schlug. Baanraak hatte keine Vorsichtsmaßnahmen gegen sie getroffen; er hatte keinen Augenblick lang damit gerechnet, dass Lauren bei ihnen war. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte Molly gegolten, und dieser Umstand war sein Tod. Seolars Dolch, der durch Laurens Willenskraft und ihre Magie die Ausmaße eines sa417 genhaften Heldenschwertes angenommen hatte, trennte Baanraaks Hals so säuberlich von seinem Rumpf, als hätte sie einen Kuchen zerteilt. Ströme heißen Blutes ergossen sich über Lauren, Baanraaks Oberkörper kippte taumelnd vornüber, und der Ekel erregende, schwere Hals und sein Kopf krachten auf sie herab und drückten sie auf den Boden. »Molly«, rief sie. »Wir müssen uns beeilen. Hilf mir!« Molly drehte sich um, schrie: »Lauren?!« und rannte direkt auf sie zu. Baanraaks gewaltiger Leib, der sich in Todeskrämpfen wand, traf Molly, und die gespreizten, rasierklingenscharfen Klauen zerrissen sie in Stücke, schleuderten ihren Kopf in die eine Richtung und den Körper in eine andere. Und die funkelnde, juwelenbesetzte goldene Kette in eine dritte. Das alles geschah so schnell, dass Lauren es zuerst nicht begreifen konnte. Molly ... Molly war wieder tot. Lauren konnte nicht denken. Sie kämpfte sich unter dem Ungeheuer hervor, während donnernde Schritte, Stöhnen und Gebrüll immer näher kamen. Als sie sich endlich befreit hatte, rannte sie zu Molly hinüber, packte Kopf und Körper ihrer Schwester und machte sich taumelnd auf die Suche nach der Kette, die sie schließlich in dem Haufen von Kadavern fand. Sie raffte alles zusammen und konzentrierte sich darauf, Molly zu heilen. Sie wieder zum Leben zu erwecken. Aber sie konnte es nicht. Mollys Kopf und Hals fügten sich nicht zusammen, und die Kette, die in dem sterbenden Licht der auf Baanraaks Körper flackernden Feuer glänzte, schien Lauren zu verhöhnen. Über ihr kamen die Gräuel, die Baanraak ersonnen hatte, immer näher. Es hatte keinen Sinn, sich noch länger zu verstecken. Es hatte keinen Sinn, sich heimlich und verstohlen bewegen zu wollen. Jetzt musste sie nur noch fort von hier. Aber hatte sie gewonnen, oder hatte sie verloren? Wenn 418 die Kette sich von Molly gelöst hatte, bevor sie gestorben war, dann war alles umsonst gewesen, denn die Kette würde sie nicht mehr zurückbringen. Lauren versuchte, den verwüsteten Körper ihrer Schwester nicht anzusehen, versuchte, nicht an das Grauen zu denken, das ihre Schwester erlitten hatte. Sie schuf ein Tor, das sie an die Oberfläche bringen sollte, und betete, dass es ihr gelingen mochte, die Veyär alle in Sicherheit zu bringen. Und sie betete, dass Molly zurückkehren möge. Sie benutzte den Querschnitt des Tunnels, um ihr Tor zu schaffen, dann rief sie die Mauer aus grünem Feuer herbei. Sie spürte, wie der Boden der Höhle unter ihren Füßen im Rhythmus eines sich nähernden Ungeheuers erbebte. Sie konnte es atmen hören. Sie konnte es riechen. Dann drang ein schrilles Heulen an Laurens Ohr, ein so entsetzliches Geräusch, dass es die Stille der Höhle in Fetzen riss und ihr einen Aufschrei des Grauens entlockte. Die Oberfläche, dachte sie. Die große Falle am Höhleneingang war gerade zugeschnappt. Die Wand aus grünem Feuer bildete sich, und im gleichen Augenblick hörte Lauren ein leises, tödliches Knurren und spürte, wie die Luft hinter ihr sich bewegte. Sie sprang in das Tor hinein, obwohl es noch nicht zur Gänze fertig gestellt war, und eine Sekunde lang spürte sie, wie das Universum sie umarmte, sie tröstete, sie hielt. Dann taumelte sie auf der anderen Seite hinaus.
Kupferhaus Jake saß in dem sicheren Raum, gut versteckt in einer Ecke des Sofas. Er wollte nicht, dass irgendjemand ihn sah, denn dann würde man ihn fortbringen. In diesem Raum konnte 419 er die Dinge, die er wollte, Wirklichkeit werden lassen. In diesem Raum konnte er Mommy spüren, und im Augenblick wollte er nichts dringender, als bei ihr zu sein. Sie war auf der anderen Seite des Spiegels, sehr weit fort an einem bösen Ort. Aber er konnte sie nicht sehen. Wenn er sie nicht sah, konnte er sie auch nicht finden. Also beobachtete er Hündchen, die vor ihm auf und ab ging, und er wünschte sich, dass niemand ihn sehen konnte, damit er in Mommys Nähe bleiben konnte. Und dann wartete er, bis er sie sah. Er hatte seinen Umhang. Er war Superman. Und Daddy hatte ihm gesagt, er solle auf Mommy aufpassen. Jake war bereit. Dalchi Seolar, der immer noch in seiner Blase stand, sah den Boden wie eine Wunde unter sich aufreißen, als die ersten dunklen Götter Baanraaks Hügel berührten. Er sah Feuer daraus hervorbrechen, kein körperloses Feuer, sondern Feuer, das über den Boden quoll wie Schlamm, zischend und knackend wie weiß glühendes, geschmolzenes Metall, das aus einem Schmiedeofen strömte. Und aus diesem tosenden Höllenloch drängte sich gewaltsam ein sich windendes, das Licht aufsaugendes Ungeheuer mit einem Ring aus Augen, die weiß loderten, während das Feuer dieses Gräuel gebar. Das Monstrum sah aus wie Fleisch gewordener Schatten, wie ein Ort, den nichts Lebendes durchqueren konnte. Vage konnte man so etwas wie eine Gestalt ausmachen; Seolar glaubte, ungezählte Arme und Beine zu erkennen, aber er konnte das Ungeheuer nicht lange genug ansehen, um sich sicher zu sein. Es hätte sich in der schlimmsten Hölle einer 420 jeden Welt heimisch gefühlt, aber nach den Reaktionen der dunklen Götter zu schließen, die seinen gewaltsamen Vormarsch beobachteten, war es kein Fremder für sie. Groß, dachte Seolar. Groß, oh, ihr Götter, wie furchtbar groß. Wenn es auf dem Boden stand, hätte es mühelos in den Turm im fünften Stock des Kupferhauses hineinsehen können. Am Anfang war es nicht so groß gewesen. Das war einfach unmöglich. Es verschlang den dunklen Gott, der die Falle ausgelöst hatte, dann griff es sich so viele andere, wie es zu fassen bekam, und stopfte sie sich ins Maul, wie ein Kind sich verschüttete Bonbons in den Mund stopfen würde. Im Zuge seiner Geburt hatte es den Eingang der Höhle zerschmettert, und Seolar schrie auf, weil er an Lauren und Molly denken musste, die nun in dieser Höhle gefangen waren. Aber dann bohrten sich grüne, klauenbewehrte Hände von unten durch den Schutt, ein Kopf erhob sich, dann ein Körper, und das zweite Ungeheuer schuf einen neuen Eingang, als es auf dem Schlachtfeld erschien. Glitzernde grüne Schuppen wie ein Plattenpanzer, ein Körper, so schwer und massig wie der Berg selbst, scharfkantige Zähne wie schartige Klingen. Und hinter diesem Ungeheuer tauchte ein weiteres auf - ein Ding, das auf Spinnenbeinen umherhuschte, neben dem jedoch selbst die grässlichsten und tödlichsten Spinnen wie zarte, liebenswerte Spielsachen erschienen. Und dahinter tauchte eine weitere Monstrosität auf, in einer anderen Gestalt. Seolar, den das Höllengezücht vor seinen Augen lähmte, erkannte die Gefahr erst, als der erste und schlimmste Albtraum sich ihm zuwandte. Die Bestie öffnete das Maul und stieß einen Schrei aus, der Seolar das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er konnte nur einen einzigen Gedanken fassen: weg von hier. 421 Das magische Halteseil, das er für sich geschaffen hatte, riss, und er trieb gen Himmel, außer Reichweite des Ungeheuers. Außer Reichweite sämtlicher Ungeheuer. Und dann begriff er, dass er das Tor hatte. Dass er die einzige Zuflucht für seine Männer war, für Lauren, und bitte, Gott, für Molly. Die Ungeheuer hielten die dunklen Götter in Schach. Seolar musste seine Leute von dem Schlachtfeld wegbringen - Lauren würde keine Armee benötigen. Sie brauchte nur einen Weg nach Hause, und selbst wenn seine Leute in Sicherheit waren, konnte Seolar ihr einen solchen Weg offen halten. Die Bestien hatten sich wieder den dunklen Göttern zugewandt, um sich an ihnen gütlich zu tun. Und das war es, worauf Lauren gehofft hatte: Ein dunkler Gott richtete seine Waffen gegen andere dunkle Götter. Allerdings fand Seolar diese Entwicklung in der Realität weitaus weniger erfreulich, als er es in seiner Fantasie getan hatte. Er stellte fest, welche seiner Leute der Gefahr am nächsten waren. Dann konzentrierte er sich auf eine freie Stelle, wo Bäume und Felsen einen gewissen Schutz boten, und verlagerte den Schutzschild mitsamt dem Tor so schnell er konnte dorthin. Seine Männer sahen ihn kommen, und er nutzte die Magie, damit sie ihn hören konnten. Zieht euch zurück, befahl er ihnen. Ihr seid hier fertig-jetzt bringt euch in Sicherheit. Seine Männer kamen im Laufschritt herbeigeeilt, wobei sie versuchten, möglichst in Deckung zu bleiben. Die meisten aber blickten nur zum Himmel auf, um sich davon zu überzeugen, dass sie von dort aus nicht angegriffen wurden. Als die Ersten ihn erreichten, stieß Seolar sie durch das Tor. Jedes Mal flackerte es ein wenig, aber es hielt stand. Er betete zu den Göttern, an die er nicht länger glaubte, dass 422
es lange genug halten würde, um alle hindurch zu bekommen. Außerdem betete er, dass seine Männer schneller laufen würden - Baanraaks Ungeheuer, denen dunkle Götter als Kost auf Dauer vielleicht zu langweilig wurden, blickten bereits in seine Richtung. Auf dem Hügel zu seiner Linken nahm er jetzt aus den Augenwinkeln ein Aufblitzen grünen Feuers wahr. Er wandte sich von seinen Männern ab, die sich weiter durch das Tor bewegten, so schnell es sie aufnehmen konnte, und sah Lauren aus der Mauer aus Licht hervorstürzen. Selbst von seinem Platz aus konnte er das Glitzern von Gold in ihrer Hand erkennen. Direkt hinter ihr schoss ein weiterer Wirklichkeit gewordener Albtraum aus Laurens Tor, das Maul weit aufgerissen, die Krallen ausgefahren, ein gehörntes, Grauen erregendes Dämonengezücht auf vier Beinen in glitzerndem Rot. Das Monstrum rannte hinter Lauren her. Kupferhaus Jake beobachtete, wie die großen Leute in den Spiegel liefen und dann in den Raum hinaus sprangen, in dem sie saßen. Auf der anderen Seite des Spiegels konnte er Ungeheuer sehen, riesige, schreckliche Ungeheuer. Er ließ den Spiegel nicht aus den Augen, und plötzlich sah er sie. Er zeigte auf das Glas und kreischte: »Mama!« Sie hörte ihn nicht. Aber Hündchen hörte ihn. Mama lief auf den Spiegel zu, aber eins der Ungeheuer jagte sie. Sie hatte Angst. »Ich bin Superman«, brüllte er dem Ungeheuer zu. »Du wirst meine Mama nicht jagen!« Er streckte einen Arm aus, sprang hoch und flog in den 423 Spiegel hinein. Er würde seine Mama vor dem Ungeheuer retten. Vom Kupferhaus nach Dalchi Für Hündchen ging alles viel zu schnell, um es zu verhindern. Immer mehr Veyär kehrten durch das Tor zurück und drückten sie an die Wand, während sie blutüberströmt und zerschunden in den Raum sprangen. Und plötzlich hörte sie trotz des Lärms der Soldaten Jakes Stimme in dem Raum, wo er unmöglich sein konnte. Sie sah in den Spiegel und erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Jägerin, die von etwas Furchtbarem verfolgt wurde. Wieder hörte sie die Stimme des kleinen Gottes, und diesmal sah sie ein Aufblitzen von Rot, als er über ihren Kopf hinweg in den Spiegel flog. Hündchen schrie, kämpfte sich durch die Veyär hindurch und rannte auf den Spiegel zu. Sie hatte versprochen, ihn zu beschützen. Sie hatte es der Jägerin versprochen, und jetzt war Jake, der Sohn der Jägerin, unbestreitbar in Gefahr. Hündchen konnte nicht sofort durch das Tor gehen, weil einer der Veyär herauskam, aber sobald er den Weg freigegeben hatte, stürzte sie sich hinein und flehte dabei die Großen Schicksalsgötter und die Kleinen Schicksalsgötter an, dass dem Jungen nichts geschehen, dass sie in der Erfüllung ihrer Pflicht nicht jämmerlich versagt haben möge. Sie wirbelte durch das grüne Feuer und verlor sich für einen Augenblick, während tiefes Staunen sie erfüllte. Als sie vom Tod ins Leben schritt, konnte sie die Stimmen ihrer Vorfahren singen hören, geradeso wie die Sprecher der Großen Schicksalsgötter es gesagt hatten. Sie konnte ihre 424 eigene Vergangenheit spüren, ihre Gegenwart und ihre Zukunft, die durch sie hindurchströmten, und in ihnen spürte sie die Ewigkeit. Sie würde weitergehen - sie konnte die Wahrheit dessen fühlen, während die Beteuerungen der Sprecher der Großen Schicksalsgötter einfach nur Worte gewesen waren. Friede erfüllte sie, Friede und Glück. Sie war in Sicherheit. Sie würde immer in Sicherheit sein. Hündchen hatte keine Ahnung, wie lange sie an diesem herrlichen Ort trieb, aber als sie auf der anderen Seite herauskam, war sie verwandelt. Und sie wusste, dass sie tun konnte, was immer sie tun musste, um Jake zu retten. Sie sah ihn in der Luft, wo er wie eine winzige Sternschnuppe auf seine Mutter und das Ungeheuer zujagte, das sie verfolgte, und Hündchen blieb gerade genug Zeit, um das Entsetzen auf den Gesichtern der Veyär um sie herum wahrzunehmen - Veyär, die noch immer kopfüber auf das Tor zujagten, das ihnen Sicherheit versprach. Hündchen dagegen ließ die Sicherheit des Tores hinter sich und stürzte sich in den Kampf. Sie rannte durch Gräser, die ihr bis über die Augen reichten, und wünschte sich mit jeder Faser ihres Seins, sie wäre größer, um darüber hinwegschauen zu können. Doch plötzlich hatte sie die Stelle mit den hohen Gräsern hinter sich gelassen, obwohl es um sie herum ansonsten nicht anders aussah als zuvor. Sobald Hündchen etwas sehen konnte, fiel ihr das Laufen leichter, aber sie war immer noch nicht schnell genug. Bei allen Schicksalsgöttern, wenn sie doch nur fliegen könnte ... Beinahe hätte sie laut aufgeschrien, als ihr Fuß, der vorschnellte und auf harten Boden zu treffen erwartete, ins Leere trat. Auch der zweite Fuß hatte nur noch Luft unter sich, und einen Augenblick lang ruderte sie auf groteske Weise mit Armen und Beinen, auf der Suche nach Halt, den 425 es nicht länger gab. Als sie jedoch begriff, dass sie fliegen konnte und dass sie Jake würde einfangen können, schoss sie vorwärts durch die Luft und verringerte den Abstand zwischen sich und dem kleinen Jungen. Er erreichte seine Mutter und das Ungeheuer jedoch, bevor Hündchen ihn aufhalten konnte, und schrie der Bestie zu: »GEH WEG, BÖSES MONSTER!« Das Ungeheuer wandte seine Aufmerksamkeit Jake zu, und sein Maul öffnete sich zu einem wölfischen Grinsen.
Und dann war es fort. Kein Lichtblitz, keine Rauchwolke, keine Trümmer und kein Staub hingen in der Luft. Hündchen schlug, betäubt und verängstigt, mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Jake flog in die Arme seiner Mutter, und die Jägerin stolperte, um ihn aufzufangen. Sie verlangsamte ihren Lauf, und Hündchen sagte: »Es sind noch mehr hinter dir her, Jägerin. Flieg fort und bring dich in Sicherheit.« Aber die Jägerin sah sie nicht an. Stattdessen starrte sie hinter sich. Hündchen drehte sich mühsam im Gras um. Und sah, dass das rote Ungeheuer jetzt die Veyär angriff. Das Kind hatte die Bestie an einen anderen Ort bewegt; es hatte sie nicht zerstört. Und da Jake eben nur ein kleines Kind war, hatte er das Ungeheuer nicht weit genug fortbewegt. Weitere Bestien stürzten von oben auf sie herab, und Feuerbälle und Wurfgeschosse flogen über den Himmel und droschen auf den Schild ein, in den die Veyär flüchteten. Den meisten von ihnen war es gelungen, sich in Sicherheit zu bringen, stellte Hündchen fest. Einige wenige hatten es jedoch nicht geschafft, und das rote Ungeheuer hetzte sie nun um den Schild herum. Die Jägerin konnte einen ungehinderten Schuss auf das Monstrum abfeuern, als es einen Moment lang zwischen ihr und dem Schild war. Sie zeigte mit dem Finger auf die Bestie und stieß rau hervor: »Stirb!« 426 Diesmal ging das Monstrum in Flammen auf, die so heiß waren, dass sie blau aufloderten, und ein Regen aus verkohltem Fleisch und Knochensplittern schoss auf sie herab. Hinter dem toten Ungeheuer flackerte der Schild einmal kurz auf und erstarb dann vollends. »Scheiße, Scheiße, SCHEIßE!«, schrie die Jägerin und zeigte auf die Stelle, an der der Schild gewesen war. Bevor sie tun konnte, was sie zu tun beabsichtigt hatte, hagelten Feuer und Trümmer auf das Tor, die Veyär, die sich darauf zubewegten, und den Imallin hinab. Der Imallin und mehrere der Veyär heulten auf; es waren Grauen erregende Schreie, und die Jägerin blieb wie angewurzelt stehen, obwohl Ungeheuer in jeder nur erdenklichen Gestalt auf sie zustürmten, und befahl Hündchen: »Halt Jake fest.« Trotz ihrer Prellungen und Schürfwunden war Hündchen inzwischen wieder auf den Beinen. Als sie jetzt Jake an sich riss, fiel ihr auf, dass sie nur noch eine Handspanne kleiner war als die Jägerin. Merkwürdig. Sie hielt Jake fest, der die Arme um sie legte und sich mit wilden Blicken umsah, nicht länger der tapfere kleine Superman, der er noch wenige Minuten zuvor gewesen war. Die Jägerin zog einen Schild um alle, die in der Nähe waren - die Veyär, Hündchen, Jake und sich selbst. Mit geschlossenen Augen stand sie einen Moment lang da, und der Schild wurde so stark, dass das Licht ihn kaum noch durchdrang. »Zur Hölle damit«, sagte die Jägerin zu Hündchen und klopfte ihr auf die Schulter. »Gehen wir heim.« Sie liefen zu den verletzten Veyär hinüber, und Lauren kniete nacheinander vor jedem von ihnen nieder, berührte sie mit den Händen und heilte ihre Wunden. »Du kannst das auch, Hündchen«, sagte sie. »Du brauchst nur zu wollen, dass sie gesund sind, und es wird geschehen. Aber du musst sie heilen, bevor sie sterben.« 427 Eine Weile arbeiteten sie schweigend, bis Hündchen sah, dass die Jägerin den Imallin erreicht hatte. Sie hörte ihn krächzen: »Lass mich sterben. Lass mich zu ihr gehen.« »Vergiss es«, erwiderte die Jägerin. »Auf dich wartet hier noch Arbeit, mein Freund - genauso viel wie auf Molly oder mich. Du wirst sterben, wenn deine Zeit gekommen ist. Aber diese Zeit ist nicht jetzt.« Hündchen hörte lautes Brüllen und sah, wie einzelne Bereiche des machtvollen Schildes der Jägerin von Lichtflecken beleuchtet wurden. Sie schauderte; jetzt, da sie in relativer Sicherheit war, wurde ihr erst bewusst, wie nahe sie dem Tod gekommen war. Sie drückte den kleinen Jungen in ihren Armen an sich und dachte an ihre Familie und ihr Dorf. Sie hatte jetzt einen Namen - einen Namen, den ein Gott ihr gegeben hatte. Sie war von einem belanglosen jungen Mädchen zu einer angesehenen Frau geworden. Sie galt etwas unter den Goroth. Sie konnte sich einen Gefährten nehmen, Geborgenheit finden, ihr Leben mit eigenen Kindern und Enkelkindern bis zum Ende leben und niemals auf dieses Grauen zurückblicken, auf diese Jagd zwischen den Welten, auf den Anblick von Ungeheuern, auf das Fliegen, den Kampf gegen Götter, die Magie, die sie gewirkt hatte. Sie konnte das Leben haben, das sie sich immer ersehnt hatte. Die Jägerin wob aus dem Nichts ein Tor - einen herrlichen Kreis aus Licht und Harmonie und Gesang, der eine Brücke durch die Ewigkeit schlug -, und Hündchen begriff, dass sie, wenn sie dem Pfad ihrer alten Träume folgte, nie wieder über die Feuerstraße gehen würde. Sie würde nicht mit alten Göttern zusammentreffen, und sie würde auch nicht die Welt verändern. Die Goroth waren kein Volk, das große Träume träumte oder sich selbst in der Rolle von Helden sah. Sie nannten 428 sich ein kleines Volk und rühmten sich, praktische, vernünftige Geschöpfe zu sein, die ihrer Tradition folgten. Aber irgendetwas in Hündchen rastete in diesem Augenblick leise ein, und ihr wurde klar, dass sie trotz Angst und Gefahr und allem anderen nicht wieder die sein konnte, die sie vor ihrer Begegnung mit der Jägerin gewesen war. Sie trug einen gottgegebenen Namen. Sie war geflogen, sie hatte sich zu ungeahnter Größe emporgereckt, sie hatte eine andere Welt gesehen und war durch Feuer gegangen. Sie durfte das Recht beanspruchen, die Träume von Göttern zu träumen. Kupferhaus
Lauren zwängte sich als Letzte durch das Tor und schloss es hinter sich. Zuvor hatte sie dafür gesorgt, dass der Schild erlöschen würde, sobald sie fort war. Es wäre sinnlos gewesen, aktive Magie zurückzulassen; sie hatte das Gefühl, dass sie ohnehin einen höllischen Preis für diesen Tag würden zahlen müssen. Der Pfad zwischen den Welten tröstete sie, und als sie in den überfüllten Raum mit all den hoffnungsvollen, wartenden Menschen darin trat, Jake auf die Arme nahm und ihn festhielt, hatte sie das Gefühl, nach Hause zu kommen. Aber. »Du hast die Kette noch?«, fragte Seolar. Lauren nickte. Überall im Raum brach Applaus aus, so laut, dass Jake zusammenzuckte und das Gesicht an Laurens Hals vergrub. Sie hob die Hand, mit der sie Jake nicht festhielt, und sagte: »Für Jubel ist es noch zu früh.« Die Stille, die nun folgte, schmerzte. Aller Augen be429 obachteten sie, und das Einzige, was sie hören konnte, war das Atmen der anderen - und auch das nur mit knapper Not. »Sie ist zurückgekommen«, sagte Lauren. »Sie hat den ganzen Weg vom Tod zu neuem Leben noch einmal zurückgelegt, und sie wusste, wo sie war, und sie handelte schnell. Sie war diejenige, die Baanraak abgelenkt hat; sie hat ihn, kaum dass sie die Augen aufgeschlagen hatte, mit einer gewaltigen magischen Breitseite getroffen. Ich kam hinzu und habe ihn getötet, bevor er irgendetwas tun konnte, um zurückzuschlagen, aber er ist auf mich gestürzt. Molly kam herbeigelaufen, um mir zu helfen, und Baanraak hat sie in seinen Todeskrämpfen in Stücke gerissen, und die Kette hat sich gelöst.« Lauren holte tief Luft, blickte in die Augen der Leute, deren Welt und deren Leben von ihren nächsten Worten abhing, und sagte: »Es ist möglich, dass sie sie verloren hat, bevor sie tot war.« Das Schweigen zog sich unerträglich in die Länge. Lauren hatte nichts mehr hinzuzufügen, also schob sie sich mit Jake durch die erstarrte Menge, hinaus in das nunmehr gut beleuchtete Untergeschoss. Sie folgte der Reihe der Fackeln bis zum nächsten Treppenaufgang; wie viel müheloser sie ihn jetzt fand als an jenem Tag, als sie zum ersten Mal danach gesucht hatte. Schließlich ließ sie Jake zu Boden gleiten, damit er neben ihr hergehen konnte. Sie schob eine Hand in die Tasche ihrer Jeans, in der die Vodi-Kette lag, zog sie aber schnell wieder heraus. Die Kette fühlte sich fettig und seltsam unangenehm auf ihrer Haut an. Sie vibrierte, wenn Lauren sie berührte, eine Vibration, die sich beinahe wie das Schnurren einer Katze anfühlte - aber der Vergleich hinkte. Als Lauren die Vodi-Kette berührte, öffnete sich eine dunkle Stelle in ihrem Geist und erfüllte sie mit trostlosen Bildern, die ihr Angst machten. Orte, an de430 nen kein Leben war, Orte voller Grauen und Schmerz und Qual, voll endlosem Leiden und endloser Trauer. Sie fragte sich, wie Molly es je ertragen hatte, dass das Ding sie berührte. Sie stiegen ein Stockwerk höher, dann noch eins, und schließlich kamen Lauren und Jake in einen der wunderschönen Korridore voller kupferner Bogengänge, die wie Bäume aussahen. Dieser Ort besaß eine solche Schönheit, und nun war er vielleicht zum Untergang verdammt. Ihre Heimat, die Erde, konnte Wochen oder vielleicht nur wenige Tage vor der Zerstörung stehen. Alles hing von Molly ab, und Molly würde vielleicht nicht mehr zurückkommen. Einer der Diener sah sie mit Jake durch den Korridor gehen und trat schüchtern an sie heran. »Jägerin, du bist zurückgekehrt.« Lauren nickte. »Und die anderen?« »Die Überlebenden sind zurück.« »Und die Vodi?« »Ich habe ihre Kette«, antwortete Lauren. »Aber feiert noch nicht. Wir wissen nicht, wie die Dinge sich entwickeln werden.« Der Diener sah sie mit großen, besorgten Augen an, dann verbeugte er sich tief und eilte davon. Lauren und Jake setzten ihren Weg fort. Die Korridore waren praktisch verlassen. Draußen tobte ein Sturm. Lauren spürte die Erschöpfung bis in die Knochen hinein. Sie hatte versagt. Es war ihr nicht gelungen, Brian zurückzuholen, es war ihr nicht gelungen, Molly ihre Seele zurückzubringen, und am Ende war es ihr nicht gelungen, Molly zu retten. Sie hatte tapfer gekämpft, sie hatte alles gegeben, was sie besaß, und sie war gescheitert. 431 Quawar trat an sie heran. »Wir sind noch nicht fertig, das weißt du doch?« Lauren warf ihm einen Seitenblick zu. »Meinst du?« »Wir haben Berichte aus der unteren Welt bekommen, aus dieser Welt und von der Erde. Unsere Schlacht mit den dunklen Göttern hat verheerende Konsequenzen nach sich gezogen. In jeder Welt, von Dalchi aufwärts, zerren Katastrophen am Gewebe der Welten, und das Blutbad ist grauenhaft. Je weiter man an der Weltenkette nach oben kommt, umso schwächer werden die Auswirkungen, aber selbst in deiner Welt ist der Himmel von bösen Omen erfüllt und der Boden übersät von Tragödien.« Er seufzte. »Hier ... nun ja, hier stehen die Dinge
schlimm, und weiter unten in der Weltenkette sieht es noch schlimmer aus.« Lauren zuckte mit den Schultern. »Es spielt keine Rolle. Begreifst du das nicht? Wir sind fertig, und ob wir fertig sind. Wir haben verloren, wir sind am Ende, und mit Ausnahme meines Sohnes wird alles, was mir jemals etwas bedeutet hat, in nur ein oder zwei Wochen nicht mehr existieren. Ich werde nicht mehr nach Hause kommen.« »Viele von uns werden nicht mehr nach Hause kommen«, sagte Quawar. Lauren drehte sich um und starrte ihn an. »Wenn dir das alles nicht scheißegal ist, warum hast du dann nichts unternommen, um gegen die dunklen Götter zu kämpfen? Du hast Magie. Du hast erheblich mehr Magie als ich. Und du hast sie seit... seit wann? Wie alt bist du? Ein paar hundert Jahre? Ein paar tausend? Sagtest du nicht, du seiest zehntausend Jahre alt oder etwas in der Art? Die ganze Zeit über hättet ihr gegen die dunklen Götter kämpfen können, ihr hättet irgendetwas tun können, um den Schaden zu begrenzen, den sie anrichten, aber ihr wolltet ja eure kostbare Haut nicht aufs Spiel setzen, da ihr ja einfach nur ein 432 Stück weiter an der Weltenkette hinabspazieren musstet, wenn es brenzlig wurde. Du und all die anderen alten Götter, ihr habt euch versteckt, bis ihr andere Leute finden konntet, die bereit waren, an vorderster Front zu kämpfen, und selbst dann warst du der einzige alte Gott, der aufgetaucht ist - und du hast dich hübsch zurückgehalten und die Veyär vorgeschickt. Weiß jemand, wie viele Veyär in diesem Kampf gestorben sind?« Quawar zuckte die Achseln. »Sie zählen noch. Vielleicht fünfzig.« »Fünfzig. Von den paar hundert Leuten, die die Veyär erübrigen konnten. Wie viele alte Götter? Wie viele alte Götter sind gestorben?« Quawar erwiderte nichts. »Komm schon. Wie viele?« »Keiner natürlich.« »Ich habe nichts mehr zu sagen.« Lauren drehte sich um und ging davon. Hinter ihr rief Quawar: »Wir brauchen deine Hilfe ...« Sie spürte Jakes Hand in ihrer - klein und weich und verletzlich. Der einzige Mensch auf der Welt, der sie in diesem Augenblick brauchte, war Jake. Sie drehte sich wieder zu dem alten Gott um und sagte: »Sieh zu, wie du zurechtkommst. Ich bin fertig.« Sie und Jake betraten ihr Quartier, und Lauren konnte sich zum ersten Mal in einem Spiegel sehen. Es verschlug ihr den Atem. Sie war von Kopf bis Fuß bedeckt mit Blut, Baanraaks Blut und Mollys Blut. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie nach Blut stank, dass ihre Haut juckte und ihr Haar blutverfilzt war. Jake hatte kein Wort darüber verloren, und auch sonst hatte niemand etwas dazu gesagt - aber niemand konnte Lauren ansehen und glauben, sie könne etwas anderes hinter sich haben als einen Krieg. 433 Sie schloss die Tür, suchte weiche Baumwollschlafanzüge für sich selbst und Jake heraus, schälte erst ihre Kleider ab und dann seine und sagte schließlich: »Zeit für die Dusche, Äffchen.« Jake duschte gern, doch Lauren fragte sich, wie sie selbst jemals wieder in den Genuss einer Dusche kommen sollte, wenn er erst zu alt war, um ihn mitzunehmen. Sie versuchte sich vorzustellen, Jake länger als eine Minute in einem Raum allein zu lassen, doch ihr Verstand weigerte sich einfach, sich die daraus resultierenden Bilder der Zerstörung auszumalen. Sie seifte zuerst ihn ein, dann sich selbst, bevor sie das nach Blumen duftende Shampoo ergriff, das der Diener ihr besorgt hatte, und sich daran machte, das Blut aus ihrem Haar zu waschen. Sie hatte ziemlich lange zu kämpfen, während das Wasser rot ihre Füße umspielte und Jake das Blut argwöhnisch beäugte. Schließlich wurde ihr klar, dass sie nur eine Chance hatte: Sie musste sich den größten Teil ihres Haares abschneiden und es dann noch einmal versuchen. In ihrem Quartier gab es so ziemlich alles, was man im Badezimmer brauchte, einschließlich einer extravaganten Schere, deren Griffe aussahen, als seien sie aus Gold. Die Klingen waren nicht übermäßig scharf, aber sie würden ihren Zweck erfüllen. Lauren zog Jake aus der Dusche, hüllte ihn in ein Badehandtuch und setzte ihn neben dem Waschbecken auf den Fußboden. »Bleib da sitzen«, befahl sie, und er sah zu, wie sie sich abmühte, so viel wie möglich von ihrem Haar zu retten. Sie schnitt dicke, lange Locken ab, eine jede davon eine verfilzte Masse, und während sie das tat, weinte sie - sie weinte um die Schwester, die sie hatte sterben sehen, um die Welt, die sie nicht retten konnte, und all die Menschen 434 darin, um den Ehemann, den sie nicht zurückbekommen konnte, und um den Sohn, der nie mehr würde nach Hause zurückkehren können. Mit jedem Schnitt der Schere wurde Laurens Kopf leichter, und ihr Kummer wurde ein klein wenig erträglicher. Als sie fertig war, hatte sie keine Tränen mehr. Ihr Haar war jetzt noch ungefähr fünf Zentimeter lang. Lauren konnte sehen, dass sie keine Zukunft als Friseurin hatte. Sie hatte eine starke Ähnlichkeit mit ihren BarbiePuppen, nachdem sie sie »hergerichtet« hatte. Sie sprang noch einmal unter die Dusche, gerade lange genug, um sich die letzten Spuren von Blut aus den Haaren zu waschen, dann trocknete sie sich ab. Jake hockte geduldig neben dem Waschbecken und wartete auf
sie - was absolut untypisch für ihn war. Aber auch er hatte einen harten Tag hinter sich. »Weißt du was, mein Schatz«, sagte sie, während sie ihm seinen Schlafanzug überstreifte, »das Einzige, was hier wirklich fehlt, ist ein Telefon, um den Zimmerservice zu rufen.« Sie ließ ihr Handtuch fallen und stieg in ihren eigenen Schlafanzug. »Im Moment könnte ich wirklich etwas Leckeres gebrauchen.« »Lecker?« Er sah sie an und brachte ein müdes, hoffnungsvolles kleines Lächeln zustande. Sie hob ihn hoch und drückte ihn an sich. »Wir werden etwas Leckeres finden. Wir brauchen es beide. Ich könnte einen Elch verspeisen.« »Warum?« Sie antwortete nicht. Jake konnte einen Elch nicht von Michelangelo unterscheiden und würde es auch nicht lernen, wenn sie nicht eine halbe Stunde darauf verwandte, es ihm zu erklären. Also rieb sie ihre Nase an seiner und sagte: »Das wirst du erst in einigen Jahren verstehen, voraus435 gesetzt, dass wir so lange leben, aber danke, dass du mir da drüben den Arsch gerettet hast. Ich konnte einfach nicht mehr denken, und ich bin in Panik geraten. Du warst wirklich ein kleiner Superman, stimmt's?« Jetzt leuchtete sein Gesicht auf. »Ich war Superman, und ich bin gefliegt.« »Ja, das bist du. Und wenn ich dächte, es würde irgendetwas nützen, würde ich dir das Versprechen abnehmen, dass du so etwas nie wieder tust.« Jake, der über Magie gebieten konnte und sich danach sehnte, ein Superheld zu sein. Sobald ihre Erschöpfung sich ein wenig gelegt hatte, würde diese Erinnerung ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Die einzige Welt, in der Jake nicht über Magie gebot, war seine eigene ... Üble Gedanken. Gedanken, die sie heute ganz gewiss nicht weiter verfolgen würde. Mit Jake auf der Hüfte ging sie in den Hauptraum ihrer Suite. Dort fand sie Seolar, Birra und die Goroths vor, die auf sie warteten. »Scheiße«, sagte sie. »Scheiße!«, wiederholte Jake mit einer Spur mehr Nachdruck. Die anderen sahen sie mit einem Ausdruck an, den sie unmöglich deuten konnte, bis Seolar schließlich höflich bemerkte: »Dein Haar sieht... interessant aus.« »Ich habe das Blut nicht rausbekommen«, erwiderte sie knapp und fügte dann hinzu: »Ich möchte mich ausruhen, ein wenig Zeit mit meinem Sohn verbringen und etwas essen. Was wollt ihr alle?« »Die Kette«, sagte Seolar. »Wo ist sie?« Lauren ging zu ihrer Jeans hinüber, hob sie hoch und schüttelte sie, bis die Vodi-Kette auf das Bett fiel. Sie wollte das Schmuckstück nicht berühren. Also trat sie einen 436 Schritt zurück, hob die Hände und sagte: »Sie gehört euch.« Quawar gab sich alle Mühe, Lauren nicht anzusehen. Stattdessen starrte er Seolar an und erklärte: »Wir müssen die Kette in den sicheren Raum bringen, damit die Magie arbeiten und Molly ... zurückkehren kann. Aber es muss langsam vonstatten gehen. Schafft alles aus dem Raum weg, alles bis auf die bloße Luft - je langsamer Molly die Materialien zusammenbekommt, um ihren Körper neu zu formen, umso mehr von ihr wird zurückkehren.« »Dann schätze ich, dass es üble Folgen hätte, sie in einem Haufen toter Tierkadaver zu begraben«, meinte Lauren. Quawar nickte, weigerte sich aber immer noch, sie anzusehen. »Baanraak hatte offensichtlich das Ziel, alles an ihr auszulöschen, das sie mit dem Leben verband. Indem er sie wiederholt tötete und sie dann nach jedem Tod sehr schnell wiederbelebte, wäre er in der Lage gewesen, sie in sehr kurzer Zeit zu etwas zu machen, wie er es ist.« Lauren schluckte die Tränen herunter, die sich immer wieder in ihren Augen bilden wollten, und sagte: »Ich glaube nicht, dass das jetzt noch ein Thema sein wird, Jungs. Ich glaube es wirklich nicht.« »Wir brauchen Hoffnung«, erwiderte Seolar. »Zumindest für ein Weilchen. Zumindest bis wir uns sicher sein können, so oder so. Wir müssen uns an der Möglichkeit festhalten können, dass sie vielleicht zurückkommen wird. Und du hast keinen Grund zu glauben, dass sie es nicht tun wird - es ist genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass sie zurückkehren wird ...« Seine Stimme verlor sich, als er sah, dass Lauren den Kopf schüttelte. »Ich wünschte, das wäre die Wahrheit, Seo. Mehr als du jemals wissen wirst. Aber es gibt da etwas, das ich euch bis437 her noch nicht erzählt habe, und das ... nun.« Sie blickte auf ihre Füße hinab. »Ich habe versucht, sie zu retten, sobald ich unter Baanraaks Körper hervor kriechen konnte. Ich habe die ... Stücke ... aufgesammelt.« Einen Moment lang gewannen die Tränen die Oberhand, und Lauren schloss die Augen und atmete tief durch, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Ich habe ihr die Kette umgelegt, und ich habe jedes Fetzchen Magie benutzt, das ich heraufbeschwören konnte, um alles wieder zusammenzusetzen und Molly zurückzuholen. Es hat nicht funktioniert.« Wieder sah sie sich furchtbarem Schweigen gegenüber und Gesichtern, in die der Schmerz tiefe Furchen zog. Niemand sagte ein Wort. Niemand deutete an, dass Laurens Erlebnis vielleicht keine Rolle spielte. Niemand
hatte auch nur noch einen Schimmer Hoffnung in den Augen. Lauren richtete sich auf und nickte leicht. »Also, ich glaube nicht, dass sie diesmal zurückkommen wird. Aber ihr könnt die Kette selbstverständlich mitnehmen und sie in den sicheren Raum hinunterbringen und tun, was immer in eurer Macht steht, um Molly die besten Chancen zu geben, vielleicht doch noch zurückzukehren.« Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, und Lauren hatte das Gefühl, dass sie niemanden außer Jake noch länger ertragen konnte. Sie sagte: »Bitte, geht jetzt einfach.« Ohne Einwände oder Bemerkungen verließen sie den Raum. Seolar trug die Kette - aber nicht mit der Hand. Er hob sie mit dem Saum seines Gewandes auf und schob sie in den prächtigen Kummerbund aus Seidenbrokat, den er trug. Er konnte es also ebenfalls nicht ertragen, die Kette zu berühren. Seolar verließ als Letzter den Raum, und Lauren musste daran denken, wie er auf dem Boden gelegen und sie angefleht hatte, ihn sterben zu lassen. Lauren wusste, wie er sich 438 fühlte, und jetzt, da sie den Wahnsinn der Schlacht und ihre eigene Angst hinter sich gelassen hatte, fragte sie sich, warum sie ihm seinen Wunsch nicht erfüllt hatte. Denn wenn er starb, wäre er wieder bei Molly, und Lauren überlegte, ob dieser Gedanke sie vielleicht mit Eifersucht erfüllte? Wollte sie, dass er genauso litt, wie sie es tat? Mühelos konnte sie sich auf alle möglichen grausamen Gründe besinnen, warum sie ihn nicht hatte sterben lassen - aber als ihre Blicke sich begegnet waren, hatte kein Vorwurf in seinen Augen gestanden. Das, dachte sie, würde wahrscheinlich später kommen, nachdem der Schock sich gelegt und Seolar Zeit gehabt hatte, um über all das nachzudenken, was er verloren hatte. 21 Kupferhaus Im Kupferhaus verstrichen drei Tage in vollkommenem Schweigen. Drei Tage lang sahen Lauren, Birra, Seolar, Quawar und die Wachen einander, wenn sie sich auf den Treppen begegneten oder aus dem sicheren Raum kamen, mit dem gleichen fragenden Ausdruck an in der Hoffnung, im Gesicht der anderen Zeichen für gute Neuigkeiten zu entdecken, und immer wieder wurden sie enttäuscht. Lauren überlegte, ob sie ihre wenigen Besitztümer und Jake nehmen und nach Cat Creek zurückkehren sollte. Dort konnte sie Jake davon abhalten, in den Zimmern umher zu fliegen; dort konnte sie mit jemandem über die Geschehnisse reden (Pete, ging es ihr mit einer Beharrlichkeit durch den Kopf, die sie überraschte), und dort konnte sie ihre wenigen Freunde und die Menschen, die sie liebte, zusammenrufen und sie durch ein Tor in Sicherheit bringen, bevor die Erde zerstört war. Sie wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb - dass der endgültige Untergang der Erde jederzeit beginnen konnte und dass jeder Tag, den sie zögerte, den Planeten dem unaufhaltsamen Zusammenbruch näher brachte. Aber sie konnte sich nicht eingestehen, dass Molly es nicht schaffen würde. Sie vermochte sich zwar keinerlei Hoffnung vorzugaukeln, aber genauso wenig konnte sie den letzten, öffentlichen Schritt vollziehen und erklären: »Es ist vorbei. Es wird Zeit für mich, heimzugehen und andere Vorkehrungen zu treffen.« 440 Als jedoch drei Tage verstrichen waren, musste sie den Tatsachen ins Auge sehen. Ihr törichter Hilfeschrei hatte der Welt und fast all ihren Bewohnern einen hohen Preis abverlangt. Sie konnte nicht länger warten, sonst war es vielleicht zu spät. Sie und Jake würden zurückkehren, sie würde Tore machen, durch die jeder, der es wollte, die Erde verlassen konnte, und dann würde sie mit ihrem Sohn fliehen. Der Radiomann - Art Bell - konnte wahrscheinlich dafür sorgen, dass ihre Informationen publik wurden, dachte sie. Lauren vermutete, dass sein Publikum das einzige auf der ganzen Welt war, das ihr glauben würde, was sie zu sagen hatte, und bereit wäre, entsprechend zu handeln. Auf diese Weise würde sie vielleicht... hm ... eine Million Leute retten können? Vielleicht nicht einmal eine Million, denn Art hatte natürlich durchaus auch Skeptiker unter seinen Zuhörern. Fünfhunderttausend? Von sechs Milliarden. Scheiße. Sie blickte zu dem dunklen Himmel auf und dachte: Ich werde mich hier nie zu Hause fühlen. Dann steckte sie Jake ins Bett, legte sich dicht neben ihn und versuchte, zu schlafen. Kupferhaus Seolar saß neben der Kette, die auf dem Marmorblock lag, den er mit seinen Männern in den sicheren Raum getragen hatte. Nichts an der Kette ließ darauf schließen, dass Molly jemals zurückkehren würde. Aber da er mit der Kette allein im Raum war und nicht wusste, was er sonst tun sollte, sprach er mit dem Metall, als sei Molly vielleicht irgendwo dort drinnen; als könnte sie ihn vielleicht hören. 441 »Ich habe Dinge zu dir gesagt, die ich bedauere, meine Geliebte. Ich habe Dinge über dich gedacht, von denen ich wünschte, ich hätte sie nicht gedacht. Ich weiß nicht, ob ein Teil von dir noch immer in der Kette ist. Ich weiß nicht, ob ein Teil von dir mich noch hören kann. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe. Wenn ich im Leben nicht mit dir zusammen sein kann, werde ich nach dem Tod meinen Weg zu dir finden. Diese Trennung wird nicht von Dauer sein.« Er stützte den Kopf in die Hände und schluchzte leise.
Schließlich stand er auf. »Wir hätten etwas Besseres verdient, du und ich. Wir hätten eine Welt verdient, in der wir einander ohne Schatten zwischen uns hätten lieben können. Wenn du zurückkommst, mögen die Schatten unsere Tage verdunkeln, aber sie werden unsere Sonne nicht zum Erlöschen bringen. Ich schwöre es. Wenn du mich noch willst, werde ich dich lieben, solange ich lebe und darüber hinaus.« Er erhob sich und betrachtete die Kette. Sie lag einfach nur da. Was hatte er denn auch erwartet. Wenn er auf ein Zeichen gehofft hatte, so wurde keines sichtbar. Nach einem Augenblick des Schweigens drehte er sich um und ging. Die Wachen an der Tür sahen ihn hoffnungsvoll an, aber er schüttelte nur den Kopf. Kupferhaus Nachdem Jake eingeschlafen war, lag Lauren noch lange in der Dunkelheit wach. Ihr Geist wollte einfach nicht ruhig werden, und keine der beruhigenden Meditationstechniken, die sie kannte, boten ihr Entspannung oder Frieden. Sie stand auf, tastete nach einer Lampe und knipste sie an. 442 Unverzüglich umringten sie die Goroths, die wissen wollten, was sie ihr besorgen oder für sie tun konnten. Eigentlich hatte sie nur erklären wollen, dass sie nichts brauche, aber die Goroths fühlten sich genauso nutzlos, wie sie selbst es tat - sie konnte also genauso gut dafür sorgen, dass irgendjemand sich etwas besser fühlte. »Ich könnte eine große Tasse heißen Tee vertragen und etwas Gutes zu essen.« Zwei der Goroths huschten davon, um ihr das Gewünschte zu holen. Lauren ging ein Weilchen im Raum auf und ab, und die verbliebenen Goroths begriffen schließlich, dass sie nicht die Absicht hatte, in unmittelbarer Zukunft irgendwo hinzugehen, und ließen sich dort nieder, von wo aus sie sie beobachten konnten. Irgendetwas nagte an Lauren. Sie ging im Raum umher und versuchte, ihren Gedanken durch stetige, rastlose Bewegung auf die Sprünge zu helfen. Da war etwas an dem Notizbuch ihrer Eltern - eine einzelne Zeile, die jemand mit einer andersfarbigen Tinte an den Rand gekritzelt hatte. Sie hatte nur einen kurzen Blick darauf geworfen und aus irgendeinem Grund gedacht, ihr Vater müsse wohl einen schlechten Tag gehabt haben, aber jetzt, in der finstersten Nacht, da alle Hoffnung bereits verloren war, jetzt bekam sie diese Zeile einfach nicht mehr aus dem Sinn. Wessen Handschrift war es gewesen? Die ihres Vaters? Ihrer Mutter? Etwas an dieser Notiz ... stimmte nicht. Sie holte das Notizbuch hervor und begann, es sorgfältig, Seite für Seite, durchzulesen. Es stand alles da drin. Die akkuraten Diagramme ihres Vaters für die Ausrüstung zum Weben von Zaubern, eine Ausrüstung, die sie und Molly anfertigen sollten, um den stetigen Abfluss vergifte443 ter Energie aus Kerras einzudämmen. Ideen für eine Kette von Stationen, die miteinander verbunden jede lebende Unterwelt umfassen und zusammenschließen sollte - das alles bedeutete jahrelange Arbeit für zwei Personen, und nur Molly konnte dem Ding Energie einflößen, während sie, Lauren, die Einzige war, die seine Verbindungen herstellen konnte. Das alles schien so kompliziert, so gefährdet, praktisch zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn Molly überlebt hätte, wie hätten sie die Materialien zusammenbekommen sollen, woher hätten sie die Zeit nehmen sollen, um ein derart gewaltiges Unternehmen auf die Beine zu stellen, und zwar rechtzeitig, um ihre sterbende Welt zu retten? Aber der Knoten in ihrem Innern fühlte sich hoffnungsvoll an. Also, was zum Teufel hatte sie mit einem jähen, törichten Gefühl der Hoffnung aus dem Bett gezerrt? Seite um Seite ging sie das alte Notizbuch durch, bis sie endlich am äußeren Rand einer Seite, auf der ihr Vater sich bitter über den Fehlschlag eines seiner Experimente beklagte, die gesuchte Zeile fand. »Es ist alles Scheißdreck, bis auf das hier.« Aber die Randnotiz stammte von ihrer Mutter, wie ihr die Handschrift verriet. Von ihrer Mutter, die Lauren in ihrem ganzen Leben niemals ein Wort hatte sagen hören, das man auch nur im Entferntesten für einen Fluch hätte halten können. Marion hatte nicht einmal »Potztausend« gesagt, weil »tausend« in dieser Wendung für »Teufel« stand, und ebenso wenig das Wort »Verflixt«. Ein explizites »Verdammt« schon gar nicht. Kein »Jesus!« oder »Mist« war ihr über die Lippen gekommen. Und ganz sicher war ihr niemals in Hörweite eines anderen als vielleicht Gott das Wort »Scheißdreck« entfahren. 444 Ihre Mutter war eine Frau gewesen, die nicht einmal furzte. Es ist alles Scheißdreck, bis auf das hier. Die Handschrift ihrer mit Sütterlin groß gewordenen Mutter, das sie jahrelang widerstrebenden Fünft- und Sechstklässlern beigebracht hatte, ließ sich unmöglich mit dem engen, steifen Gekritzel ihres Vaters verwechseln. Lauren hätte selbst im Dunkeln sagen können, ob ein Absatz von ihrem Vater oder von ihrer Mutter geschrieben worden war, einfach indem sie mit dem Finger über die Rückseite des Papiers gefahren wäre. Wenn es sich anfühlte wie Blindenschrift, stammte es von ihrem Vater. Also waren dies die Worte ihrer Mutter und sie waren es auch wieder nicht. Sie stellten ein Rätsel dar. Es ist alles Scheißdreck, bis auf das hier. Bis auf was? Das müde Gejammer ihres Vaters über etwas, das schief gegangen war? Das war die Wahrheit?
Lauren überflog die Seite, und plötzlich sprang ihr ein Wort in dem Bericht ihres Vaters ins Auge, das er nicht geschrieben hatte. Ein einziges Wort, in derselben farbigen Tinte wie die kryptische Notiz ihrer Mutter, in der Sütterlinschrift ihrer Mutter. Das Wort war Notizbuch. Die Haut auf Laurens Nacken kribbelte plötzlich, und sie starrte zuerst das Diagramm am oberen Rand der Seite an, dann das eine Wort in der rechten unteren Ecke. Es stand mitten in einem Satz und fügte sich nahtlos in die Ausführungen ihres Vaters ein, aber ihr Vater hatte dieses Wort nicht geschrieben. Sie blätterte eine Seite zurück und überflog den Text. Auf der Mitte der Seite standen zwei Worte. Ignoriert das. Vor diesem Eintrag waren einige Seiten von ihrer Mutter 445 beschrieben worden, wenn auch mit andersfarbiger Tinte - Lauren sah sich diese Seiten aufmerksam an, konnte aber nichts entdecken, das nicht dort hingehört hätte. Auch in dem älteren Teil des Notizbuches fand sich nichts Merkwürdiges. Als sie wieder zu der »Scheißdreck«-Seite zurückkehrte und von dort aus weiterblätterte, stieß sie auf zwei weitere Worte. Es dient. Mit wachsender Erregung wandte sie sich an Rue. »Hol mir Papier und etwas zum Schreiben. Schnell. Ich habe gerade etwas entdeckt.« Sie begann am Anfang. Die Arbeit dauerte fast die ganze Nacht lang, aber als Lauren fertig war, hatte sie die folgende Botschaft entschlüsselt. Ignoriert das Notizbuch; es dient dazu, die Aufmerksamkeit von dir und Molly abzulenken. Ihr beide seid das Geheimnis. Ihr seid die Lösung. Molly, du musst die Jägerin werden. Du allein kannst die Nachtwache zur Strecke bringen und die Magie benutzen, die diese Kreaturen töten und dann vernichten wird, ohne dass deine Taten Rückwirkungen in unserer eigenen Welt auslösen. Es ist eine furchtbare Aufgabe, aber du wirst über Unsterblichkeit gebieten, die dir dabei hilft. Die Veyär werden sich dagegen auflehnen; sie haben ihre eigenen Erwartungen an eine Vodi, und du wirst diesen Erwartungen nicht gerecht werden können, sobald du dich veränderst. Und du wirst dich verändern. Aber um zu überleben und zu tun, was du tun musst, bleibt dir nichts anderes übrig. Lauren, du musst die Baumeisterin sein, die alles wieder aufbaut. Du wirst keine magische Kette haben, keinen anderen Schutz als den, den deine Schwester und jene, denen du vertrauen kannst, dir geben; du 446 wirst dich auf nichts anderes verlassen können als auf dein eigenes Talent, deine Entschlossenheit und deinen Charakter, und diese Dinge allein werden darüber entscheiden, ob unsere Welt weiterlebt oder stirbt. Du brauchst keine Unsterblichkeit, und falls sie dir jemals angeboten werden sollte, musst du sie zurückweisen. Benutze deine Talente als Torweberin, um Durchgänge zu schaffen, die aus gesunden Welten weiter unten in der Weltenkette wieder hinauf zur Erde führen -Durchgänge, die offen bleiben werden. Mach sie so klein, wie es sein muss, um sie stabil zu halten; verstecke sie gut. Jeder einzelne dieser Durchgänge wird ein Rettungsanker für unsere Welt sein. Überzeuge die alten Götter davon, dass sie in unsere Welt kommen und dort die durch diese Durchgänge entstandene frische Magie benutzen müssen, um Gutes zu tun. Jede positive Magie wird positive Rückwirkungen auslösen. Gute Magie löst in den oberen Welten entlang der Weltenkette gute Rückwirkungen aus, aber während die oberen Welten sterben, stirbt auch die Energie, die Magie überhaupt möglich macht. Irgendwann wird die Weltenkette einen Punkt erreichen, an dem nur drastische Maßnahmen, wie wir sie in diesem Buch umreißen, Hoffnung auf Rettung bieten können. Ein Wort an euch beide: Sucht euch irgendeine Welt, die euch Sicherheit bietet, und arbeitet von dort aus. Bringt frische Magie in unsere Welt zurück und in die Welten darüber. Ihr könnt Tore zu diesen Welten öffnen, auch wenn ihr selbst dort nicht viel werdet ausrichten können. Sucht nach den Göttern, die in diesen Welten leben können. Geht der Nachtwache um jeden Preis aus dem Weg. Beschützt einander. Wenn keine von euch beiden durch Erinnerungen 447 zu dieser Botschaft geführt wurde, dann seid vorsichtig. Möglich, dass einige unserer Warnungen verloren gegangen sind. Wir hatten niemanden, an dem wir üben konnten - und auch nicht viel Zeit, um alles richtig zu machen. Wir werden beobachtet. Wir lieben euch beide und werden euch immer lieben, ganz gleich, wo ihr seid und wo wir sein werden, wenn ihr dies hier lest. Lauren las die dekodierte Nachricht dreimal durch, bevor sie langsam begriff. »Verdammt noch mal«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ihr wart wirklich Geheimniskrämer ersten Ranges. Am Ende hat es euch nicht das Geringste genutzt, aber an mangelndem Talent hat es jedenfalls nicht gelegen.« Sie dachte über die Information in ihren Händen nach. Zuerst die Frage. Hatte eine Erinnerung, die ihre Eltern ihr eingepflanzt hatten, ihre plötzliche Hoffnung geweckt und ihre Neugier in Bezug auf die Randnotiz ausgelöst? Oder war sie ohne Hilfe seitens ihrer Eltern darauf gekommen? Musste sie an allem anderen zweifeln, woran sie sich erinnerte oder zu erinnern glaubte? Als Nächstes die Hoffnung. Der versteckten Botschaft zufolge war Lauren und nicht Molly die Quelle der heilenden Energie, die die Erde und die Welten darüber wiederbeleben sollte. Molly sollte sie beschützen, und sie sollte die Nachtwache aus dem Weg räumen - aber vielleicht konnte Lauren allein tun, was getan werden musste.
So lange, bis die Nachtwache sie und Jake aufspürte und sie beide tötete. Sie stöhnte, steckte das Blatt in das Buch, schob dieses dann wieder in ihre Tasche und kroch zu Jake ins Bett, der immer noch schlief. Plötzlich hatte sie nicht mehr die ge448 ringste Lust, sich dem Tag zu stellen, der bereits durch das Ostfenster herein kroch. Sie glaubte nicht, dass sie jemals wieder in der Lage sein würde, die Augen zu schließen. Aber irgendwie gelang es ihr dann doch. Kupferhaus In der Dunkelheit des leeren Raumes begann die Vodi-Kette schwach zu glühen. Und die Tränen, die der Imallin vergoss, leuchteten kurz auf, dann verschwanden sie. Kupferhaus Jemand hämmerte an die Tür. Lauren erwachte benommen. Sie erinnerte sich vage daran, dass sie einen Durchbruch gehabt hatte, war aber so müde, dass sie sich nicht darauf konzentrieren konnte, was es war. Sie richtete sich auf und bemerkte, dass Jake nicht mehr neben ihr im Bett lag. Das weckte sie gründlicher, als Eiswasser es getan hätte. Sie sprang aus dem Bett und zur Tür, stürzte an irgend jemandem vorbei, der dort gestanden hatte, und sah Jake und Hündchen im Schneidersitz auf dem Fußboden sitzen, wo sie Jakes Autos gegeneinander krachen ließen. Lauren drehte sich um, um zu sehen, wen sie hinter der Tür eingekeilt hatte. Einer der Soldaten, die im sicheren Raum Dienst getan hatten. Lauren kannte seinen Namen nicht und hatte ein schlechtes Gewissen deswegen; ihre Gewissensbisse verschlimmerten sich noch, als sie bemerkte, dass er aus dieser Begegnung mit ihr ein gewaltiges Veilchen davontragen würde. 449 »Der Imallin braucht dich unten«, sagte er. Lauren sah den Schmerz in seinen Augen. »Was ist passiert?« »Keine Ahnung. Irgendetwas. Es herrscht jedenfalls ein furchtbarer Aufruhr.« Aufruhr. Wunderbar. Lauren hatte etwas, das vielleicht helfen konnte - das ihnen vielleicht einen Hoffnungsstrahl geben konnte, wenn auch keine Lösung, und jetzt war etwas anderes schief gegangen. Sie nahm Jake auf den Arm, setzte ihn sich auf die Hüfte und sagte: »In Ordnung - gehen wir.« Der Soldat machte sich mit schnellem Schritt auf den Weg. Lauren folgte ihm, und die Goroths bildeten die Nachhut. Als sie das Kellergeschoss und den sicheren Raum erreichten, fand Lauren jedoch keinen Aufruhr dort vor - nur eine Anzahl von Veyär, die sehr still dastanden, die Gesichter der Tür zugewandt. Sie gaben keinen Laut von sich. »Du sollst hineingehen«, sagte der Soldat. »Der Imallin hat darum gebeten.« Lauren und Jake traten durch die Tür, die sie gemacht hatte, hinein in einen Raum, der noch immer grob der Wohnung entsprach, die sie für sich selbst errichtet hatte. An der rechten Wand war nach wie vor das Bild des Waldes draußen vor den Toren des Kupferhauses zu sehen. Quawar hatte jedoch alle Teppiche und Möbel entfernt, ebenso wie die Küche und die Badezimmereinrichtung. Einzig die Kette lag auf einem hohen Quader aus schwarzem Marmor, der unter den grellen Lichtern und vor dem Hintergrund der weißen Wände scharf hervorstach. Zuerst dachte Lauren, das Schmuckstück hätte sich nicht verändert. Dann fiel ihr ein schwaches Leuchten auf. Sie runzelte die Stirn. »Hat sie je zuvor geleuchtet?« 450 »Nicht dass ich wüsste«, antwortete Seolar. »Weiß Quawar, was die Kette tut?«, fragte Lauren. »Nein.« »Das Leuchten ist nicht Teil des Zaubers, der die Kette aktiviert?« »Das weiß niemand - aber Quawar zufolge ist es unwahrscheinlich. Die Kette ist ein Stück Magie der dunklen Götter; unter normalen Umständen würde sie laut Quawar das Licht eher absorbieren, statt es zu verströmen, wenn sie ... ahm ... arbeitet.« »Dann glaubt er, der Zauber sei gebrochen?« »Er weiß es nicht. Soweit ich das verstehen konnte, denkt er wohl, dass die Kette gar nichts tun würde, wenn sie zerstört wäre.« Lauren starrte ihn an, dann wandte sie sich zu Jake um, der zwischen Seolar und der Kette auf dem Marmorquader hin und her schaute, als verfolgte er ein ungeheuer schnelles Tennismatch. »Was ist los, Jake?« Er zeigte mit dem Finger auf den leeren Raum zwischen Seolar und der Kette, dann ließ er den Finger hin und her wandern. Seolar sah Jake an, sah die Kette an und drehte sich zu Birra um. »Bring Quawar herein - ich möchte wissen, was er sieht.« Einen Augenblick später kam Birra mit Quawar zurück, der nur einen Blick auf die Kette warf und sagte: »Bringt den Kleinen hier weg. Schnell.« Lauren rannte zur Tür und rief Hündchen herbei. »Nimm ihn, und wartet im Korridor. Jake, du bleibst bei
Hündchen und bist ein braver Junge.« »Die Kette bezieht Energie aus Leben, und der kleine Junge ist ... verletzbar. Birra, hol die Veyär herein. Wir 451 brauchen hier so viele Leute, wie der Raum aufnehmen kann.« Während immer mehr Veyär sich in den Raum zwängten, leuchtete das Licht um die Vodi-Kette immer heller auf, bis sie wie eine kleine Sonne strahlte. Dann erfüllte ein leises Summen den Raum, und Bänder aus weißem Licht krochen an den Wänden entlang, über die Decke und den Fußboden, wie Blitze, die darin gefangen waren. Lauren nahm ein sanftes, ungleichmäßiges Dröhnen wie von Donnergrollen wahr. Der einzige Sturm war natürlich der, der sich in dem sicheren Raum aufbaute. Plötzlich jagte Quawar die Veyär hinaus. »Ich habe mich geirrt! Hinaus«, rief er. Seolar befahl Birra, fortzugehen, während er selbst blieb. Trotz ihrer Angst blieb Lauren ebenfalls bei Seolar. »Sie ist da drin«, sagte Seolar. Er starrte die Kette an, und Lauren konnte die Tränen über seine Wangen laufen sehen. Ihr fiel auf, dass der Boden um Seolars Füße herum heller leuchtete als der Rest des Raumes und dass jede Träne, die darauf landete, wie eine Flamme aufflackerte, bevor sie zischend zu Nichts verdampfte. »Sie ist da drin, und sie ist ganz allein, und ich kann sie nicht retten.« Lauren griff nach seiner Hand. »Auch ich kann ihre Anwesenheit spüren, Seo. Wir sind beide hier bei ihr; das ist das Beste, was wir tun können.« »Weiß sie das? Weiß sie, dass wir hier sind? Ich möchte nicht, dass sie denkt, wir hätten sie im Stich gelassen.« »Ich glaube, sie weiß es.« Lauren schloss die Augen und versuchte den Ort zu erreichen, an dem Molly sich befand. Sie suchte die Stimme ihrer Schwester, aber alles, was sie fand, war Furcht. Instinktiv streckte sie die Hand aus und berührte die Kette, um eine Verbindung herzustellen und ihre gefangene, 452 sterbende Schwester zu trösten. Lauren wollte Molly wissen lassen, dass zumindest die beiden Menschen, die sie liebten, immer noch bei ihr waren. Aber als ihre Finger die Kette dann berührten, bekam sie mehr als das. Sie hielt immer noch Seolars Hand. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, um zu denken: Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn ich nicht seine Hand gehalten hätte. Gewiss reichte die Zeit nicht, um die Ereignisse mit dem Schild, den sie vorbereitet hatte, aufzuhalten. Der Sturm, der sich durch den Raum bewegte, brach sich in ihr und Seolar Bahn. Die kriechenden Blitze zuckten aus den Wänden, dem Fußboden und der Decke und bewegten sich knisternd über den Marmorquader, auf dem die Kette lag. Dann strömten sie von der Kette in Lauren hinein und durch Lauren weiter in Seolar hinein. Das Ganze dauerte nicht einmal so lange wie ein Wimpernschlag. Feuer erfüllte Lauren von innen nach außen - sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht atmen, sie konnte weder ihre Verbindung zu der Kette noch zu Seolar lösen. Alles war plötzlich grellweiß, und ihre Sinne versagten. Einen Moment lang trieb sie in dem grellen Licht dahin, allein und voller Angst - dieser Ort hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem tröstlichen, grünen Feuer der Tore und ihren Wanderungen zwischen den Welten, keine Ähnlichkeit mit den Reichen des Jenseits. Dies war die Hölle in ihrem Kopf, der Schmerz, auf der Oberfläche der Sonne zu stehen, ohne einen Ort zu haben, an den sie flüchten, an dem sie sich verstecken konnte, und es war niemand da, der sie retten würde, während ihre Lider versengt wurden, so dass sie nicht einmal die Augen schließen konnte. Sie stand in der Hölle, und inmitten dieser Hölle hörte sie ihre Schwester rufen: »Hier, ich bin hier! Ich bin hier!« 453 Lauren schrie: »MOLLY!«, und versuchte, ihre Schwester zu erreichen. Sie hatte das Gefühl, zu treiben, auf etwas zuzujagen, und langsam ergaben die Dinge einen Sinn. Dann fiel sie aus dem blendenden Licht in den sicheren Raum hinein, in die gesegnete Kühle und das gedämpfte Licht nach dem magischen Sturm. Sie packte die Kante des Marmorquaders, um nicht zu fallen; neben ihr brach Seolar, der weniger günstig gestanden hatte, schluchzend zusammen. Lauren stand schwach und zitternd da und starrte auf die Stelle, an der die Kette gelegen hatte, nur um zu sehen, dass sie fort war. Was zum Teufel ist hier passiert?, schoss es ihr durch den Kopf. »Sie ist fort«, flüsterte Seolar. »Das war das Ende - Molly ist fort, und ich konnte sie nicht rechtzeitig erreichen, obwohl ich es versucht habe.« »Ich bin nicht fort«, erklang Mollys Stimme. Lauren zuckte zusammen, und obwohl sie noch immer furchtbar geschwächt von ihrem Erlebnis war, hielt sie sich abermals an dem Marmorquader fest und ließ sich dann langsam zu Boden sinken. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich jemals im Leben so kraftlos gefühlt hätte. Seolar blickte an Laurens Schulter vorbei, und Lauren sah, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte. Strahlendes Glück verwandelte ihn in einen Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte - Glück und vielleicht Liebe. »Molly«, wisperte er und versuchte, aufzustehen. Er konnte jedoch nur einen Fuß auf den Boden setzen, bevor er wieder in sich zusammensackte. »Es tut mir Leid. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Aber ... oh, Molly. Du bist hier. Du lebst. Und du bist... du!« Lauren spürte eine Bewegung neben sich, und eine nack454
te Molly, die offensichtlich immer noch eine klare Mischung aus Veyär und Mensch war, ließ sich zwischen Lauren und Seolar auf Hände und Knie fallen. Das Erste, was Lauren auffiel, war die Tatsache, dass Molly die Kette nicht mehr trug. Gleich darauf stellte sie mit einem Stich des Neides - fest, dass Frauen von Mitte zwanzig keine der Cellulitisbeulen oder Schwangerschaftsstreifen aufwiesen, wie sie eine Frau von fünfunddreißig beklagen konnte, die ein Kind geboren hatte. Molly sagte: »Ihr habt mich gerettet. Ihr beide. Ich danke euch - ohne euch hätte ich es nicht geschafft, zurückzukommen.« »Wir haben gar nichts getan«, sagte Lauren, und Seolar stimmte ihr zu. »Habt ihr doch. Ihr habt mich geliebt. Seolar hat um mich geweint, du hast mich berührt - und ihr beide wart hier, als ich euch brauchte. Die Kette hat euch einen Preis abverlangt, um mich wieder auferstehen zu lassen - ihr habt mit einer Menge Energie und, wie ich vermute, auch mit Substanz bezahlt, aber es war wohl nicht allzu viel. Ihr seht beide dünner aus, wenn auch nur ein wenig.« Dünner? Lauren dachte darüber nach, und ihre Miene hellte sich ein wenig auf. Dünner wäre nett. Vielleicht zehrte die Kette ja einfach Fettdepots auf. Sie beugte sich vor, ein wenig verlegen angesichts der Nacktheit ihrer Schwester, und umarmte Molly. »Dann bist du - du bist... wieder du selbst? Mit Körper und Seele, ein sterbliches Wesen, ohne Kette?« Molly sah sie sehnsüchtig an. »Nein. Ich bin ... ich bin dieselbe. Ich erinnere mich daran, dass die Kette mir weggeflogen ist, als Baanraak die Krallen in mein Fleisch grub. Daran erinnere ich mich, dann ist da für eine Weile gar nichts. Und dann ein Echo meiner selbst, gefangen in der Kette, zusammen mit all den Echos der Vodi, die vor mir ge455 storben sind. Ich wusste, dass ich gefangen war - dass ich für immer dort sein würde. Dass ich euch im Stich gelassen hatte, dass ich die Veyär im Stich gelassen hatte, den Plan, die Weltenkette. Ich würde nicht zurückkommen können, denn die Kette wusste nicht, dass ich gestorben war. Ich war dort drin, aber es hat mir nichts genutzt. Dann ... es war wohl eine Art Magie. Seolar hat mir gesagt, dass er mich liebe, und er hat geweint, und irgendwie hat die Kette seine Tränen absorbiert und durch die Berührung mit seinem Geist von meinem Tod erfahren. Der Zauber, der die Kette antreibt, hat verstanden ... vielleicht ist >verstanden< nicht das richtige Wort... aber die Kette hat auf Seolars Liebe zu mir reagiert und angefangen, mich zurückzuholen. Sie brauchte jedoch Energie von lebenden Quellen, denn ihr hattet alle toten Quellen entfernt. Die vielen Leute im Raum haben die Kette natürlich gespeist, aber sie brauchte trotzdem mehr. Sie bekam es von dir und Seo, als du die Kette berührt hast. Sie brauchte ... Leben. Ein wenig Blut, ein wenig Knochen, ein wenig Fleisch. Und eine Menge Energie, die sie von euch beiden genommen hat.« »Aber wo ist die Kette jetzt?«, fragte Lauren. »Wenn du immer noch mit ihr verbunden bist, warum trägst du sie dann nicht?« »Ich tue es. Irgendwie. Diesmal habe ich mich um die Kette herum neu gebildet. Die Schließe war zerbrochen, so dass der Zauber kreativ wurde - ich nehme an, dass viele der dunklen Götter ihren eigenen Wiederauferstehungs-schmuck mittlerweile im Inneren ihres Körpers tragen.« Sie lächelte schwach. »Zumindest werde ich von jetzt an ganz tot sein müssen, bevor jemand die Kette in die Hände bekommen kann.« Seolar hatte an dem komplizierten Knoten seines Gürtels 456 herumgefingert; jetzt gelang es ihm endlich, ihn zu öffnen, und er schüttelte seine Robe ab, die er Molly gab. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich auch.« »Ich meine, ich liebe dich. Dich, wie du jetzt hier vor mir stehst. Ich liebe auch dein früheres Ich, und das Ganze ist in meinem Kopf ein furchtbares Durcheinander, aber ich weiß jetzt, dass ich dich für den Rest meines Lebens an meiner Seite haben will. Das ist das Einzige, was ich will.« Lauren lächelte traurig bei diesen Worten, und als sie sich umdrehte, sah sie Tränen in Mollys Augen. »Was ist los?«, fragte Lauren sie. Molly sah erst Seolar an, dann Lauren, dann senkte sie den Blick. Sie band sich das Gewand um die Taille zusammen, blickte aber nicht wieder auf. Stattdessen starrte sie den Gürtel an, als sei dieser das Tor zum verheißenen Land. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Mir entgleitet alles. Ich entgleite mir, ich spüre, dass es geschieht, und ich kann es nicht verhindern. Ich bin nichts als Erinnerung, und was mir an Erinnerung verblieben ist, ist weniger geworden, und es wird immer weniger werden, bis mein Körper noch hier ist, aber ich nicht mehr. Wie soll ich damit fertig werden? Wie soll ich immer wieder und wieder zurückkehren, wenn jedes Mal etwas weniger von mir übrig geblieben ist, und ich weiß, dass ich am Ende ganz fort sein werde?« »Ich weiß nicht, wie du es machen sollst«, sagte Lauren. »Aber du wirst nicht allein sein. Du hast mich. Du hast Seo. Und wir lieben dich.« Molly seufzte. »Und ich werde eine verdammte Ewigkeit leben, wenn ich es so will, während ihr beide ...« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist im Augenblick nicht wichtig. Es ist eine Sorge für später. In der Zwischenzeit, Seo, mein Liebster, werden wir ein wenig Zeit miteinander verbringen 457 müssen. Ich muss stärker werden, und dasselbe gilt für dich, also können wir uns zu diesem Zweck genauso gut
zusammen ins Bett legen und reden. Lauren - du und ich, wir müssen mit der Arbeit anfangen. Wir haben so viel zu tun, und ich weiß nicht, wie wir das alles bewerkstelligen sollen ... warum schüttelst du den Kopf?« Lauren schenkte ihr ein winziges Lächeln. »Mom und Dad haben uns in ihrem Notizbuch ein paar Überraschungen hinterlassen. Ich muss es dir zeigen - unsere Aufgabe ist nicht so kompliziert, wie wir gedacht haben. Hart ... aber nicht kompliziert.« »Ich freue mich über alle guten Nachrichten, die ich bekommen kann«, erwiderte Molly leise. »Ich bin mir nicht sicher, ob meine Neuigkeiten wirklich zu dir durchgedrungen sind. Besuch uns in unserem Zimmer, wenn du Zeit hast. Dann zeige ich dir, was ich gefunden habe und womit wir es zu tun haben.« Lauren rappelte sich hoch, indem sie sich abermals an dem Marmorquader festhielt. Es war absolut ausgeschlossen, dass sie den Marsch durch die Kellergeschosse noch einmal bewältigen konnte, um in ihr Quartier zurückzukehren. Gütiger Gott - sie konnte von Glück sagen, wenn sie sich nicht schon umbrachte, indem sie durch die Tür des sicheren Raums trat. Molly sah, dass sie Probleme hatte. Sie stand auf, half Seolar auf die Füße und legte Lauren dann einen Arm um die Taille. »Wir stehen das zusammen durch«, sagte sie. »Also lass dich einfach von mir stützen. Ich weiß, es wird eine Zeit kommen, da du mich wirst stützen müssen.« Und zusammen traten sie durch die Tür. 458 Cat Creek »Das FBI hat erklärt, man arbeite an Laurens Fall, aber man wird weder ihren Aufenthaltsort preisgeben noch mir sonstige Einzelheiten mitteilen«, sagte Eric. Pete saß am Schreibtisch und blickte auf die Main Street hinaus. »Das Schlimmste scheint vorbei zu sein. Wir haben das hier immerhin ohne sie durchgestanden. Warum bist du immer noch so versessen darauf, sie zu finden?« »Weil June Bug sie nicht aufspüren kann«, antwortete Eric. »Weil sie nicht das geringste Zeichen von Lauren entdecken kann.« Pete zuckte die Achseln. »Ist das so merkwürdig? Die Großeltern waren drüben in Kalifornien. Wenn Lauren und Jake dort sind, in einer bevölkerungsstarken Stadt wie Los Angeles, warum glaubt June Bug dann, sie könne sie aufspüren?« Auf Erics Gesicht zeichneten sich Müdigkeit und Ärger ab. »Ich mache mir Sorgen um sie, kapiert? Ich mache mir Sorgen um sie und Jake - ich will wissen, dass sie in Sicherheit sind. Wenn sie Jake verliert, glaube ich, dass es sie umbringen würde. Nur weil es eine logische Erklärung für das Ganze gibt, heißt das nicht, dass ich mich damit zufrieden gebe. Oder dass ich es akzeptieren muss.« »Du bist immer noch ... ah ... sie bedeutet dir immer noch etwas, ja?« Eric bedachte ihn mit einem harten Blick. »Ich werde dir nicht in die Quere kommen, wenn es das ist, was dich beschäftigt.« »Das war es nicht, was mich beschäftigt hat. Tut mir Leid.« Eric verzog die Lippen zu einem gepressten Lächeln, das 459 nicht bis in seine Augen hinaufreichte. »Wenn es andersherum wäre, würde es mir nicht Leid tun.« Kupferhaus Während Molly durch die Räume schlenderte, die sie sich mit Seolar teilte, berührte sie immer wieder irgendwelche Dinge. Kühles Kupfer; glatten, polierten Stein; kostbaren, dicken Samt; duftige Seide. Sie öffnete die Fenster, ließ die Abendbrise an sich vorüberwehen und atmete die Düfte wachsender Dinge und fruchtbarer Erde ein, den Rauch von den Kochfeuern im Dorf und die Gerüche der Tiere, ein unausweichlicher Bestandteil einer Welt, die von der Arbeitskraft der Tiere abhängig war. Sie hatte gierig das Festmahl verzehrt, das die Diener ihr in ihr Quartier gebracht hatten, hatte alles mit verzweifelter Dankbarkeit gekostet. Sie lauschte - auf das Lärmen der Feier unten im Dorf, auf die Rufe von Vögeln und Tieren, das Summen von Insekten - allesamt Geräusche, die denen ihrer Heimat ähnelten, sich aber doch genug davon unterschieden, um in ihr die Sehnsucht nach Orten zu wecken, die sie einmal gekannt hatte und die sie vielleicht nie wieder sehen würde. Aus dem Vorzimmer wehten die süßen Klänge eines Streichquartetts zu ihr herein. Sie sah sich alles an und sog die Welt in sich auf, die sie beinahe verloren hätte. Sie wagte es noch nicht, über die Dunkelheit in ihr nachzudenken. Noch nicht. Seolar hatte inzwischen einen halben Tag Zeit gehabt, um zu essen, zu trinken und sich zu erholen, und als er jetzt die Tür zwischen dem Schlafzimmer und dem Wohnzimmer schloss, fühlte er sich ein wenig kräftiger. Er trat neben 460 Molly ans Fenster. »Du bist so still gewesen, Liebes«, sagte er. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. »Ich weiß es zu schätzen, am Leben zu sein.« Seolar zog sie an sich und flüsterte: »Vielleicht nicht so sehr, wie ich es zu schätzen weiß, dass du am Leben bist. Ich wusste nicht, wie sehr ich dich liebe, bis mir klar wurde, dass du fort warst und dass ich dich vielleicht für immer verloren hatte.« Sie lächelte schwach und küsste ihn. »Wie fühlst du dich?«
»Besser. Viel besser.« Er griff nach ihrer Hand. »Komm weg vom Fenster, meine Geliebte. Die Welt wird morgen immer noch dort sein, aber ich möchte dich lieben, wie du es verdienst, geliebt zu werden. Du und ich, wir haben viel zu lange auf diese Nacht warten müssen.« Molly strich ihm mit den Fingern übers Gesicht, dann reckte sie sich und küsste ihn. »Das ist wahr«, pflichtete sie ihm bei. »Und um ein Haar hätten wir diese Nacht niemals bekommen.« Er nickte und führte sie zu ihrem Bett. Sie berührten einander sehr sanft und mit Muße - diesmal war die Liebe für sie kein Akt der Verzweiflung, in dem sie Schmerz oder Furcht begraben wollten. Seolar führte; er küsste sie, liebkoste sie, hielt sie in den Armen, wie noch niemand es je zuvor getan hatte. Molly ließ ihre Angst für ein Weilchen los, ließ die geheime, sie verzehrende Dunkelheit los und klammerte sich an den Augenblick. Ihre Hände wanderten über seine glatte Haut, ihr Körper wölbte sich seinem langsamen Eindringen entgegen. Sie bewegten sich zusammen, liebten sich an einem Ort jenseits der Zeit, in einer Welt, die ganz ihre war, in der die einzige Magie, die existierte, die Magie war, die sie zusammen erschufen. 461 Molly blickte in Seolars Augen und sah Liebe und Leidenschaft und - was für sie im Moment das Wichtigste war - Akzeptanz. Sie war nicht die Molly, in die er sich seinerzeit verliebt hatte, und sie würde es auch niemals mehr sein. Aber er liebte sie. Er liebte sie genug, dass er sie mit seinen Tränen und seiner Berührung durch Magie hatte erreichen und aus dem Nichts zurückholen können. Als sie endlich zwischen den verhedderten Laken nebeneinander lagen, einer verloren in den Augen des anderen, konnte Molly nicht länger zweifeln, konnte keine Angst mehr haben. Wie viel Zeit auch immer ihr noch verblieben sein mochte, sie hatte nach Hause zurückgefunden. Kupferhaus Lauren und Molly saßen in Laurens Quartier, und Lauren zog das Notizbuch hervor und schlug es auf. »Es ist alles Scheißdreck, bis auf das hier«, las Molly laut vor. »Das hier? Die Einträge auf dieser Seite?« »Das dachte ich zuerst auch«, erwiderte Lauren. »Dann ist mir dies hier aufgefallen.« Sie zeigte auf die Tinte mit der merkwürdigen Farbe. »Ein Code. Sie haben uns eine codierte Nachricht hinterlassen.« »Unsere Eltern hatten anscheinend großes Zutrauen zu uns«, bemerkte Lauren. »Aber es war eigentlich kein Code, sondern eher einfach eine ... eine versteckte Botschaft. Ich habe alles herausgeschrieben. Wenn du willst, kannst du das Notizbuch noch einmal durchgehen und dich davon überzeugen, dass ich nichts übersehen habe.« Sie reichte Molly den Bogen Papier, den sie beschrieben hatte, und beobachtete das Gesicht ihrer Schwester, während diese es las. 462 Molly runzelte die Stirn. Sie schürzte die Lippen und legte den Kopf schräg. Nachdem sie den Text noch ein zweites Mal gelesen hatte, blickte sie zu Lauren auf und sagte: »Aber das ist praktisch das Gegenteil von dem, was wir glaubten, tun zu müssen. Ich bin die Jägerin. Du bist in gewisser Weise die Heilerin.« »Ich weiß. Es ergibt durchaus einen Sinn. Aber es ist kein glücklicher Sinn, vor allem für dich nicht.« Molly starrte wieder das Papier an. »Aber auf eine seltsame, unbequeme Art und Weise tut es das doch, Laurie.« Molly faltete das Papier in ihren Händen zusammen, strich es wieder glatt, blickte starr vor sich hin und wirkte entschlossen und irgendwie grimmig. »Ich möchte mir die Bastarde holen, die hinter mir her sind - die Nachtwache. Baanraak. Vor allem Baanraak. Ich will ihn in Stücke reißen und die Stücke verbrennen und die Knochen zu Staub mahlen, und wenn ich fertig bin, will ich seinen Wiederauferstehungsring finden und ihn einschmelzen und die Flüssigkeit ins Meer kippen.« Ihre Stimme wurde sanfter, bekam aber einen bedrohlichen Unterton. »Ich habe mein Leben darauf verwandt, zu heilen, und das Heilen hat einigen Wert. Aber irgendwo entlang des Weges habe ich herausgefunden, dass auch die Zerstörung ihren Wert hat - wenn es die Zerstörer sind, die du zerstörst. Und es ist schließlich nicht so, als hätte ich eine Seele, die durch mein Tun besudelt werden könnte.« Lauren holte tief Luft. »Aber du könntest eine haben.« Molly drehte sich um und sah sie erstaunt an. »Könnte ich?« »Der ... Gott ... die Seele des Universums ... hat etwas Derartiges gesagt. Keine Vodi hat jemals wieder eine Seele bekommen, aber das Allmächtige Wesen meinte, es sei möglich.« 463 »Aber nicht, wenn ich eine Zerstörerin bin.« »Er wusste, was du warst und was du tun musstest. Ich denke ... ich denke, du musst dir vor allem sicher sein, dass du nicht zu dem wirst, das du zerstörst.« »Ich habe Liebe«, sagte Molly. »Ich habe Menschen, die mich lieben, und ich habe Leidenschaft, und ich habe immer noch eine Menge von der Frau, die ich einmal war, in mir. Ich möchte nicht zu dem Ungeheuer werden, das Baanraak aus mir machen wollte. Ich möchte leben und glücklich sein und frei. Und ich sage mir immer wieder, dass mein wirkliches Ich bereits frei ist. Dass ich nur das Echo bin -aber ein Echo, mit dem man rechnen muss.« Lauren setzte sich so hin, dass sie ihrer Schwester in die Augen sehen konnte. »Molly, hör mir zu. Du musst eine Möglichkeit finden, nicht zu dem zu werden, was du hasst. Wir alle erleiden Verluste. Du wirst Seolar eines
Tages verlieren, und du wirst mich verlieren, und du wirst vielleicht dich verlieren.« »Ich könnte den erprobten und wahren Ausweg der Vodi wählen«, antwortete Molly und bedachte ihre Schwester mit einem hohlen Lächeln. »Wir waren alle zusammen dort drin, und diese Frauen waren vollkommen wahnsinnig. Eine Ewigkeit, gefangen in einem Schmuckstück, blind und taub gegen die Außenwelt, aber durchaus in der Lage, die Stimmen deiner Leidensgefährtinnen nur allzu deutlich zu verstehen ... Wenn ich einen Weg finden könnte, die Kette abzulegen und diese Prozedur zu überleben, und wenn ich dann jemanden dazu bewegen könnte, mich zu töten, würde das, was von mir übrig bliebe, in der Kette gefangen sein, bis eine gütige Seele sie zerstört.« Molly seufzte. »Nachdem ich gesehen habe, was dieser Ausweg aus meiner speziellen Art von Unsterblichkeit kostet, glaube ich nicht, dass ich diesen Weg nehmen 464 kann.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn ich fertig bin, werde ich vielleicht den Mut aufbringen, die Kette selbst zu zerstören.« »Vielleicht ist das die einzige Methode, mit der man sie zerstören kann. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du eine Chance hast. Und damit Hoffnung.« »Das ist mehr, als ich bisher hatte.« Molly stand auf und blickte nachdenklich durch Laurens Fenster. Der Himmel über dem Kupferhaus war klar - wolkenlos und frei von Rrön-Spionen. »Also soll ich die Zerstörerin sein und du die Beschützerin.« Sie lächelte schwach. »Und du sollst die Magie wirken, die zu Hause wunderbare Dinge geschehen lässt und die Welten rettet. Das kann ich akzeptieren.« »Ich habe Angst um dich.« »Ich weiß, Laurie. Ich habe auch Angst um mich. Ich werde auf der dunklen Seite wandeln. Und ... verdammt ... Seolar kriegt einen Anfall, wenn er herausfindet, dass ich nicht die Heilerin der Veyär sein werde und ihre persönliche Abgesandte für Verhandlungen mit den dunklen Göttern.« Lauren kicherte leise. »Nun, du wirst... ahm ... mit den dunklen Göttern verhandeln. Wenn auch eher nach der Clint-Eastwood-Chuck-Norris-Arnold-Schwarzenegger-Methode .« »Ich bin begeistert«, erwiderte Molly. »Also. Wann fangen wir an?« Kupferhaus Lauren und Molly beschlossen, die erste Sicherheitsverbindung zurück zur Erde in dem sicheren Raum im Kupferhaus zu schaffen. Molly fühlte sich noch nicht stark genug, um 465 jetzt schon gegen weitere dunkle Götter zu kämpfen. Lauren wollte zumindest eine einzige Chance, in einer geschützten und nachsichtigen Umgebung herauszufinden, was sie tun sollte. Sie brachte das Tor, das von Oria zur Erde führte, ohne große Mühe zustande, und sie wählte einen Ort auf der Erde aus, der dünn besiedelt und größtenteils unberührt war. Aber als sie sich schließlich daran machte, die Verbindung zu schaffen, die Lebensenergie durch das Tor in die obere Welt bringen sollte, stand sie endlos lange Zeit hilflos da. Was sollte sie tun, um die Menschen zu retten? Wie konnte sie ihrer sterbenden Welt Leben zuführen? Sie legte ihre freie Hand auf das Tor und sog Kraft aus der Berührung des grünen Feuers und der pulsierenden Energie Dalchis. Und plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Brian gesagt hatte: Der ganze Sinn und Zweck des körperlichen Lebens bestehe darin, lieben zu lernen. Liebe. Sie liebte sie alle, die verwundbaren Menschen, die in ihrer Stadt lebten, in ihrem Land, in ihrem Staat. Sie liebte ihre Energie und ihre Hoffnung, ihre Hartnäckigkeit angesichts gewaltiger Hindernisse und herzzerreißender Rückschläge. Sie liebte ihren Mut, ihre Furchtsamkeit und die Tatsache, dass sie in schlimmen Zeiten zu Helden wurden. Sie liebte die Menschen - und Liebe schuf einen Fluss, der langsam in das Tor hinein und durch es hindurchströmte. Sie liebte - und ihre Liebe erwies sich als machtvoll genug, um ihrer sterbenden Heimat neue Nahrung zuzuführen. Sie verankerte diese Liebe an dem Tor, hüllte es in einen Zauber, der diesen Augenblick und das, was sie herausgefunden hatte, im Gedächtnis bewahrte. Diese Magie war 466 real, und die Magie, die dem Universum Leben einhauchte, war die Liebe. Kupferhaus Du wirst an mich denken, wisperte eine Stimme in Mollys Kopf. Baanraak. Nicht tot, nicht entmutigt und bereits wieder zurück und Mollys Gegenwart gewahr. Er wusste, wo sie sich aufhielt. Molly, die gerade hinter Lauren den sicheren Raum verlassen wollte, blieb wie angewurzelt stehen. Und ich werde an dich denken, meine Geliebte. Molly trat durch die Tür, in die Behaglichkeit einer von Kupfer beschirmten Sicherheit, wohl wissend, dass diese Sicherheit eine Illusion war und dass sie, auch wenn sie dazu geboren worden war, zu jagen und zu zerstören, ebenfalls eine Gejagte sein würde. An Baanraak denken. Ja. Das würde sie tun. Kupferhaus Quawar erwartete Lauren in ihrem Quartier, als sie zurückkam. »Dann hast du es also getan, ja?« Lauren sah ihn an. »Was soll ich getan haben?« »Du hast einen Siphon gemacht. Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet
und gewusst, dass ihr, wenn ihr wirklich die wart, auf die ich gehofft hatte, zu guter Letzt einen Siphon machen würdet. Und ihr habt es getan, nicht wahr? Ich kann ihn natürlich noch nicht spüren. Wenn er relativ klein ist, werden einige Tage vergehen, bevor wir hier die Auswirkungen zu spüren bekommen. Aber ... Irgendetwas an dir sagt mir, dass du es getan hast.« 467 »Warum willst du das wissen?«, fragte Lauren argwöhnisch. »Weil ich die Erde mag. Und wenn ihr irgendwo auf der Erde einen Siphon platziert habt, könnte ich dorthin zurückkehren und anfangen, mein Leben auf die Art und Weise zu leben, an die ich mich gewöhnt habe.« »Was bedeuten würde ...«, sagte Lauren, »dass du dich in einem Loch verstecken wirst?« »Absolut. Hm - das und Magie wirken.« Jetzt sah Lauren ihn interessiert an. »Magie, die Menschen helfen würde?« »Ich habe viele Jahre als wandernder Glaubensheiler verbracht, damals, als die Erde noch über ein wenig eigene Magie gebot. Ich habe positive Magie verbreitet. Ich weiß, wie sie funktioniert. Und wenn du mir den Weg zu deinem Siphon weist, werde ich dafür sorgen, dass er in kurzer Zeit Dividenden für dich abwirft.« »Und was ist mit den dunklen Göttern? Sie werden mit Sicherheit nach etwas Derartigem Ausschau halten.« »Ja, natürlich«, antwortete Quawar. »Aber ich verstehe mich darauf, mich zu verstecken. Das ist das, was ich seit einer Ewigkeit am besten beherrsche. Ich will nicht der tapferste Mann auf dem Planeten sein - aber du brauchst niemanden, der sich durch besondere Tapferkeit auszeichnet. Du brauchst jemanden, der sich zu verstecken weiß und der Magie wirken wird, um Gutes zu tun, ohne sich dabei erwischen zu lassen. Und genau das kann ich tun. Das ist meine größte Stärke.« »Ich hatte keine Freiwilligen erwartet«, meinte Lauren. »Du wirst auch nicht viele finden«, erwiderte Quawar. »Verglichen mit den anderen alten Göttern, bin ich tollkühn. Aber wenn du lange genug und angestrengt genug suchst, wirst du noch mehr von uns finden, die bereit sind, 468 ein Risiko einzugehen - vor allem, wenn das bedeutet, dass sie vielleicht nach Hause kommen.« »Wie sollten sie das machen?«, fragte Lauren. »Die Welten oberhalb der Erde sind alle tot.« »Jetzt sind sie es, ja. Aber wenn du Siphons schaffen würdest, die auch in diese Welten führen, bekämen alte Götter, wie ich einer bin, eine Chance, diese Welten wiederzubeleben, wenn auch nur sehr allmählich. Außerdem würde auf diese Weise etwas anderes als nur Tod und Gift an der Weltenkette hinab fließen.« Lauren nickte. Es klang vernünftig. »Und der Anreiz für die alten Götter bestände in einer Möglichkeit, nach Hause zurückkehren zu können?« »Wäre das für dich kein Anreiz?« »Oh doch«, sagte Lauren. »Dann zeig mir, wo ich hingehen soll - wo du den Ausgang des Siphons versteckt hast. Solange ich nur weiter die Weltenkette hinaufkomme, wenn du anfängst, die Siphons höher zu platzieren, will ich überall arbeiten, wo du mich hinschickst. Aber bei allen Göttern, ich vermisse meine Heimat.« »Ich mache dir ein Tor dorthin, sobald du bereit bist«, sagte Lauren. »Der Ausgang liegt in einem tiefen Tal in West Virginia. Ich war mal dort. Es ist zu unwirtlich, um es zu besudeln, und es gibt dort keine Kohle, die sich bequem abbauen ließe. Ich dachte mir, es wäre ein guter Ort, um ein wenig Magie zu verbreiten.« Er nickte. »Schick mich jetzt dorthin. Ich habe niemanden hier, von dem ich mich verabschieden müsste. Wenn du so freundlich sein willst, richte Seolar Grüße von mir aus. Er war ein guter Gastgeber, aber jetzt bietet sich mir endlich die Gelegenheit, nach der ich mich so sehr gesehnt habe. Die Chance, das Gift der Nachtwache in der von ihr 469 erwählten Welt zu unterminieren. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als sie scheitern zu sehen.« Er grinste schwach, und zum ersten Mal fand Lauren, dass er durchaus mutig aussah. Vom Kupferhaus nach Cat Creek Auch Lauren und Jake verabschiedeten sich am nächsten Tag. »Es ist ja nur für kurze Zeit«, sagte sie zu Molly. »Ich muss dafür Sorge tragen, dass jemand sich um das Haus kümmert, und ich muss mich davon überzeugen, dass die Wächter einen Torweber haben, der mich vertreten kann. Auf mich werden sie sich nicht verlassen können.« »Pass auf dich auf.« »Mache ich.« Seolar umarmte sie. »Danke, dass du mir geholfen hast, meine Molly zurückzubekommen.« »Sorg dafür, dass sie nicht in Schwierigkeiten gerät«, erwiderte Lauren mit einem leisen Lächeln. »Zumindest bis Jake und ich wieder hier sind.« Jake umarmte Hündchen. Als er erfahren hatte, dass er sie nicht mit nach Hause nehmen konnte, hatte er geweint, aber Lauren hatte ihm versprochen, dass sie Hündchen bei ihrer Rückkehr wieder sehen würden, und er hatte das akzeptiert. Nachdem Lauren auch alle anderen umarmt und sich von ihnen verabschiedet hatte, griff sie nach ihrer Tasche, legte eine Hand auf das Tor und drückte Jake an sich. »Es wird Zeit, wieder nach Hause zu gehen«, flüsterte sie
ihm ins Ohr. Sie traten durch das Tor, ohne zurückzublicken. Oria würde ihnen nicht weglaufen, es würde nur allzu bald Forderungen an sie stellen. Aber für den Augenblick ... 470 Lauren trat in ihre Diele hinaus, und Jake kreischte: »HAUS!«, ließ sich auf den Boden stellen und rannte durch den Korridor, das Wohnzimmer, das Esszimmer und die Küche. Er schrie - es war ein Angstschrei. Lauren ließ ihre Tasche fallen und stürzte in die Küche. Und dort stieß sie auf Pete, der durch die Hintertür eingetreten war und ein erschrockenes Gesicht machte. Als er sie sah, rief er einige Worte, die keinen Sinn ergaben, dann kam er auf sie zugerannt, hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum, während er schrie: »Du lebst! Allmächtiger Gott im Himmel, du lebst! Hier war die Hölle los, und als ich ein einziges Mal eine Verbindung zu dir herstellen konnte, sahen die Dinge ziemlich ... übel aus.« Lauren löste sich nicht aus seiner Umarmung. »Die Dinge waren auch übel«, sagte sie. »Aber ich habe Molly zurückbekommen. Wir haben angefangen, den Plan in die Tat umzusetzen. Wir haben eine Schlacht gewonnen, und vielleicht wird doch noch alles gut.« »Nur wenn du lernst, besser zu lügen«, entgegnete Pete. »Denn ich musste mir ein paar ziemlich knallige Geschichten ausdenken, um dir Deckung zu geben - und du wirst dabei bleiben müssen. Gott im Himmel, bist du mager. Und was hast du mit deinen Haaren angestellt?« Dann grinste er, ohne sie loszulassen. »Aber ihr beide, du und der kleine Bursche, ihr lebt. Und es tut verdammt gut, euch zu sehen.« Lauren lächelte ihn an - und stellte fest, dass sie nicht Pete, den Deputy, anlächelte oder Pete, den Wächter. Sie lächelte Pete, den Mann, an. »Ich bin auch froh, dich zu sehen«, sagte sie leise. »Und es ist schön, wieder zu Hause zu sein.« Danksagung Ich bedanke mich bei: Sheila Veil und Robert A. Sloane für die Durchsicht und Kritik der Rohfassung dieses Buches. Eure Hinweise waren eine immense Hilfe. Diana Gills, deren Verbesserungsvorschläge mich dazu herausgefordert haben, die tieferen Schichten des Plots zu erkunden. Danke schön. Matthew, der in drei Sekunden erkannte, was ich ein ganzes Jahr lang übersehen hatte, und dessen brillanter Vorschlag der Geschichte ein neues Herz gegeben hat. Du bist großartig. Den Lesern und Verfassern der Gemeinschaft Vorwärts (http://hollylisle.com) für ihre unablässige Unterstützung während dieser schweren Geburt. Voran! Und meinen Kindern, die eine Freude, lustig und ermutigend sind, mit denen man sich sachkundig über das Schreiben unterhalten kann, die gute Vorschläge machen und die mir etwas zu essen bringen, wenn ich kurz vorm Verhungern bin. Ich liebe euch.