Die Totenfalle
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 148 von Jason Dark, erschienen am 27.07.1993, Titelbild: Oliviero Be...
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Die Totenfalle
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 148 von Jason Dark, erschienen am 27.07.1993, Titelbild: Oliviero Berni
Ein Friedhof. Nebel. Gräber - und geheimnisvolle Lichter. Brennende Kerzen, die von zahlreichen Menschen gehalten wurden. Sie alle waren nur erschienen, um Tabitha, die Geisterheilerin zu sehen. Aber Tabitha war tot. Sie lag in der kalten Graberde. Doch die Menschen kannten auch ihre Botschaft. Ich komme wieder, hatte sie versprochen. Und sie kehrte zurück. Doch nur, um die Totenfalle zu öffnen...
Tabitha Leroi wußte, daß sie sterben mußte, und sie hatte sich dafür einen besonderen Ort ausgesucht. Es war genau der Friedhof, auf dem sie auch bestattet werden würde. Sie bereitete alles sehr gut vor. Ihre geräumige Wohnung im Erdgeschoß des Hauses schloß sie nicht mal ab. Wenn die Klienten und die Ratsuchenden erschienen, würden sie schon wissen, was mit ihr geschehen war, und sie würden auch den entsprechenden Weg finden, um ihr immer wieder die Ehre eines Besuchs zu erweisen. Bei diesem Gedanken umspielte ein Lächeln ihr Gesicht. Sie hatte nicht mal einen Koffer mit auf die Reise genommen, dafür trug sie einen gefütterten Staubmantel, der auch die winterliche Kälte abhielt. Um das Haar hatte sie ein wollenes Tuch gebunden. Es verdeckte die dunkle Flut mit den grauen Strähnen, die Tabitha ein interessantes und beinahe altersloses Aussehen gab. Das Taxi wartete vor dem Grundstück. Der Fahrer schaute aus seiner Illustrierten hoch, als der Schatten der Frau an der hinteren Tür erschien. Tabitha öffnete den Wagenschlag und tauchte in das alte Londoner Gefährt, in dem der Fahrer der große Herrscher war. Die Frau war froh, einen älteren Chauffeur erwischt zu haben, die jüngeren waren oft zu frech. Auf ihre Bemerkungen konnte sie verzichten. Sie gab ihr Ziel an, und der Mann hinter dem Lenkrad nickte nur. Für ihn war es wohl nicht ungewöhnlich, daß sich jemand zu einem Friedhof fahren ließ. Als der Wagen anfuhr, schaute Tabitha noch einmal zurück. Durch die Lücken im winterlichen Gesträuch konnte sie einen Blick auf das große Haus werfen. Sie empfand nicht einmal Bedauern, denn sie wußte, daß es kein Abschied für immer sein würde. Die Menschen starben, ihr Körper verging, aber es gab andere Kräfte, die alles wieder ausglichen. Bei diesem Gedanken lächelte sie versonnen. Sie hatte noch die vollen Lippen eines jungen Mädchens, und auch ihr Gesicht war so gut wie faltenlos. Die Stadt London zeigte sich nicht eben von der besten Seite. Sie hatte ihr Dunstkleid übergestreift, das sich in Themsenähe zu Nebel verdichtet hatte. Tabitha hatte einen schweren Entschluß gefaßt. Fast schien es so, als freute sie sich auf den Tod, denn auf ihren Mund hatte sich ein Lächeln gelegt. Ihr Kopf bewegte sich wie der eines Touristen, der sich durch London fahren ließ und diese Stadt zum erstenmal erlebt, wobei er möglichst viel von ihr sehen wollte. Der Fahrer meldete sich. »Soll ich auf Sie warten, wenn ich Sie am Friedhof abgesetzt habe?« »Nein, das ist nicht nötig. Warum?« »Das Gelände liegt ziemlich einsam, da werden Sie so leicht keinen zweiten Wagen bekommen, wenn Sie zurückkehren.«
»Danke für den Tip, doch was ich zu erledigen habe, dauert länger.« »Dann ist es gut.« Es dauerte sogar sehr lange, dachte Tabitha. Dabei ist die Zeit dann ausgeschaltet worden. Sie räusperte sich und strich mit einer müden Bewegung über ihr Kopftuch. Der Stoff fühlte sich so herrlich weich an. Es war feinstes Kaschmir, sie liebte das Tuch, und zahlreiche ihrer Klientinnen kannten es auch. Tabitha hatte es oft als Seelentuch bezeichnet, als Verbindung zwischen zwei Welten oder zwei Extremen, und es war keinem eingefallen, jemals darüber zu lächeln. Sie mußten in den Südwesten von London, wo die Themse nach ihrer großen Schleife wieder ihren Bogen nach Norden machte und die großen Wasserwerke lagen. In unmittelbarer Nähe befand sich der Ortsteil Hammersmith, zu dessen Friedhof sie sich fahren ließ. Vergangenheit und Gegenwart waren dort eine Symbiose eingegangen. Über die breite Talgarth Road erreichten sie ihr Ziel. An der U-BahnHaltestelle Barons Court Station mußten sie nach links ab in die Palliser Road und waren damit in direkter Nähe des Friedhofs, der an der linken Seite wie ein großer, winterlich grau gewordener Park lag. »Wo soll ich halten, Madam?« »Fahren Sie bitte an die Schmalseite.« Der Fahrer kannte sich aus. »Ah, Sie wollen den alten Teil des Friedhofs besuchen.« »Sehr richtig.« »Er ist auch der bessere.« »Sie kennen ihn?« »Mein Großvater liegt dort begraben. Als Kind bin ich mit meinen Eltern oft an seinem Grab gewesen, doch da habe ich immer Angst bekommen. Mir lief es jedesmal kalt den Rücken runter!« »Warum?« »Das kann ich Ihnen sagen. Friedhöfe machen mir einfach Angst. Ich habe immer das Gefühl, daß sich jeden Augenblick die Gräber öffnen und die Toten herausklettern. Das mag aber daher kommen«, er lachte jetzt über sich selbst, »daß ich zu viele dieser Grusel-Streifen gesehen, und nach dem neuen Dracula-Film von Coppola habe ich mir sogar auf dem Trödelmarkt ein altes Kreuz aus Silber gekauft, das jetzt über meinem Bett hängt.« »Nutzt es dort etwas?« »Klar.« »Ich denke, daß Sie es lieber bei sich tragen sollten, wenn Sie schon Schutz wollen.« »Nein, Madam, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn mich irgendwelche Blutsauger besuchen, dann in der Nacht. Und dort werden sie dann vor dem Kreuz zurückschrecken.« »Das kann auch sein.«
Kies knirschte unter den Reifen des Fahrzeugs, als der Fahrer vom Weg abbog und auf das hohe, offenstehende schmiedeeiserne Tor zufuhr, in dessen Schatten noch ein breiter Kiosk stand, in dem Blumen verkauft wurden. Um diese Zeit war der Kiosk geschlossen. Rolläden verdeckten die Fenster. Auf dem Gelände rechts daneben wuchsen struppige Sträucher, und ein kantiger Ford Transit stand in der Nähe und rostete vorsieh hin. Das Taxi hielt. Tabitha zahlte den Preis, legte noch ein Trinkgeld hinzu und wünschte dem Fahrerein langes Leben. Der schaute sie erstaunt an. »Wie… wie meinen Sie das?« »Wie es gesagt wurde.« »Ja, dann… ahm… dann bedanke ich mich.« »Bitte schön«, sagte sie lächeld. »Keine Ursache.« Tabitha drehte sich um und ging davon. Der Fahrer schaute ihr nach. Er schüttelte den Kopf. »Eine seltsame Person«, murmelte er. »Nun ja, mir soll es egal sein. Soll jeder sein Glück finden, wo er es will, und wenn es auf dem Friedhof war. Aber in dieser Zeit war ja nichts unmöglich…« *** Seit einigen Tagen ging es der siebenundzwanzigjährigen Yvonne Terry nicht sehr gut. Das hing, wie sie genau wußte, nicht mit der Entlassung zusammen, denn in zwei Wochen würde sie ihren neuen Job bei einer Versicherung antreten und sogar in die Direktionsetage rutschen, wo sie für einen Anwalt arbeitete. Nein, das Unwohlsein hatte einfach einen anderen Grund, und der hing mit ihrer Psyche zusammen. Sie schlief einfach schlecht. Auch darüber hätte sie noch hinweggesehen, wären da nicht die schlimmen Träume gewesen, die sie in den kurzen Einschlafphasen immer wieder gequält hatten. Zuerst hatte sie über die Träume gelacht, später nicht mehr, denn da waren sie intensiver geworden und hatten sich zu einem kalten Horror verdichtet. Es ging um Dinge, die Yvonne nicht mochte. Um alte Gräber, um einen Friedhof, um unheimliche Lichter, um Geister und auch um lebende Tote, die Zombies genannt wurden. Das alles bedrückte sie während des Schlafs und machte sie nervös. Mit ihrer Chefin hatte sie nie darüber gesprochen, zudem arbeitete sie nicht mehr für Tabitha Leroi, aber Yvonne sah sie trotzdem noch als Chefin an. Tabitha war mit ihr immer sehr zufrieden gewesen, und doch war sie von einem auf den anderen ‘Tag entlassen worden. Natürlich mit einer
entsprechenden Abfindung, und die zehntausend Pfund waren mehr als großzügig bemessen. Der Grund war auch einfach: Tabitha löste ihre Praxis auf. Und das in einer Zeit, in der sie als bekannte Geistheilerin immer mehr Zulauf erhielt. Viele Menschen vertrauten der Schulmedizin nicht mehr. Hinzu kamen die Berichte in den Medien, die sich mit der Wunderheilerin beschäftigten, und Tabithas Terminplan war praktisch übervoll. Doch von einem Tag zum anderen war alles vorbei. Nun, Yvonne war gegangen, aber sie hatte im nachhinein auch festgestellt, daß die Träume sie seit dieser Kündigung quälten, an Dichte noch zunahmen. Deshalb fürchtete sie sich vor der Nacht! Sie hätte gern schon jetzt einen Job angenommen, aber der Vertrag war auf ein bestimmtes Datum fixiert, und daran konnte sie erst recht nichts ändern. Also mußte sie warten. Die Tage und vor allen Dingen die Nächte würden sich quälend langsam hinziehen. Bei jedem Zubettgehen überkamen Yvonne die gleichen Angstvorstellungen. Klappte es mit dem Einschlafen, klappt es nicht damit? Sie schlief immer ein. Dann aber wurde es schlimm… Irgend etwas mußte sie dagegen tun. Sie hatte schon überlegt, sich einem Therapeuten anzuvertrauen. Das wollte sie dann auch nicht, weil sie davon ausging, daß der Mann sie unter Umständen auslachte. Es mußte eine andere Möglichkeit geben, und ihr war auch etwas eingefallen, obschon sie diesen Gedanken wieder weit von sich gedrängt hatte. Man würde sehen… An diesem Montag war sie sehr spät aufgestanden, hatte unter Kopfschmerzen gelitten. Ihr war auch schwindlig gewesen. Sie hatte Kaffee getrunken und darauf gewartet, daß es ihr besserging, was dann auch der Fall gewesen war. Sie hatte sich dann entschlossen, mit der UBahn in die City zu fahren, um dort einen Bummel zu machen. Es tat ihr gut, durch die Geschäfte zu laufen; das lenkte sie von den Erinnerungen an ihre Träume ab. Der Abend rückte näher, denn die Zeit war unerbittlich. Am späten Nachmittag entschloß sich Yvonne, in ein Kino zu gehen, und erschrak, als sie das Plakat des neuen Dracula-Streifens sah. Nein, dieser Film sollte es auf keinen Fall sein. Sie ging in einen anderen, in dem Whoopi Goldberg eine Krankenschwester spielte, die Action in ein Kloster brachte.
Als Yvonne das Kino verließ, war es schon dunkel. Fröstelnd hüllte sie sich in ihren warmen Mantel, während über ihr Gesicht die bleichen Farben einer Leuchtstoffreklame huschten. Die Besucher verschwanden in alle Richtungen, bevor Yvonne sich versah, stand sie ziemlich verloren auf dem Gehsteig. Zwei Männer blieben stehen und gafften sie an. »He, Süße, willst du es mal mit uns beiden versuchen?« Yvonne erschrak, wurde blaß, drehte sich um und rannte weg, verfolgt vom Lachen der beiden. Sie lief so lange, bis sie ein Taxi fand, dessen Fahrer sie erst vor der Wohnungstür absetzte. Die Frau lebte in einem großen Haus, das mehr als fünfzig Jahre auf dem Buckel hatte. Nach der Renovierung sah man ihm das Alter nicht mehr an. Yvonne schloß die Haustür auf und betrat den breiten Flur. An der rechten Seite befanden sich die beiden Fahrstühle. Links von ihr reihten sich die Briefkästen der Mieter aneinander. Automatisch warf sie einen Blick auf ihren Kasten. Der weiße Brief schimmerte durch das schmale Sichtfenster. Yvonne fiel ein, daß sie am Morgen zu früh das Haus verlassen hatte, da war die Post noch nicht durchgewesen. Sie schloß den Kasten auf, holte den Brief hervor, und gleichzeitig fiel ihr auch das Reklameschreiben einer Boutique in die Hände. Die Klamotten waren reduziert worden, dafür aber interressiertc sich Yvonne momentan nicht. Sie betrat den Lift und fuhr in die sechste Etage, wo auch ihre kleine Wohnung lag. Es waren drei Zimmer, das Bad und die Küche nicht mitgezählt. Die Räume waren allesamt sehr klein. Für eine Person reichte der Platz jedoch aus. Sie zog den Mantel aus, nachdem die Wohnungstür hinter ihr zugefallen war. Yvonne stellte fest, daß die Luft doch ziemlich verbraucht war, deshalb öffnete sie zwei Fenster. Erst dann kümmerte sie sich um die Post. Mochte das Wohnzimmer auch noch so klein sein, Platz für den Schreibtisch gab es. Davor nahm Yvonne Platz. Sie schlitzte den Brief auf und faltete das weiße Büttenpapier auseinander. Das Knistern kam ihr überlaut vor. Sie wunderte sich darüber, daß ihr Herz so heftig schlug. Lag es daran, daß sie schon beim ersten Blick erkannt hatte, wie wenig auf diesem Papier geschrieben stand? Yvonne machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Sie faltete das Schreiben so auf, daß sie den Text lesen konnte. Und der warf sie fast um.
Ihre ehemalige Chefin hatte ihr geschrieben. Sie las den Brief einmal, sie las ihn zweimal, aber der Text blieb gleich. Liebe Yvonne, ich habe mich entschlossen, heute zu sterben. Du aber solltest daran denken, was ich dir immer gesagt habe. Mit dem Tod ist nicht alles vorbei. Wir bleiben in Verbindung. Es grüßt dich Tabitha Leroi Das Schreiben rutschte ihr aus der Hand. Es fiel zu Boden, Yvonne kümmerte sich nicht darum. Ihr fielen ihre Träume ein, und plötzlich wurde ihr eiskalt… *** Der Friedhof war eine Welt für sich, ein abgeschirmter Platz, wo sich die Ruhe der Toten auch auf die Besucher übertrug. Besonders auf dem alten Teil des Friedhofs, wo die Hand des Gärtners noch zögernd eingriff und viele Pflanzen und Sträucher so wachsen ließ, daß sie einen natürlichen Park bildeten, der nur eben von den Gräbern und Grüften unterbrochen war. Tabitha erlebte das November-Syndrom. Feuchtes Wetter, dazu kalt und klamm, der weiche Dunst, als wäre der Nebel noch einmal fein gemahlen worden, und die nahezu bedrückende Stille, die höchstens einmal von einem Rascheln unterbrochen wurde, wenn ein Tier durch das feuchte Laub zwischen den Gräbern huschte. Dieser Teil des Friedhofs war eine Welt für sich. Kenner hätten von einer Atmosphäre gesprochen, vielleicht auch von der alten Seele des Friedhofs, denn die Gräber hier gab es schon seit einigen Jahrzehnten. Manche wurden noch gepflegt, andere wiederum waren unter Bodendeckern verschwunden. Die Grabsteine sahen hier aus wie graue Wächter, die zum Schweigen verurteilt waren. Hätten sie gekonnt, so hätten sie lange Geschichten erzählen können über Tote und Besucher. Die einsame Frau hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. Sie ging sehr langsam. Manchmal blieb sie stehen und schaute sich um. Gespenstisch kamen ihr die kahlen Bäume vor. Sie wirkten wie erstarrte Riesen in einer fremden Umgebung. Es war kein anderer Mensch zu sehen, nur Tabitha Leroi schritt als einsame Gestalt dahin. Sie hatte sich tatsächlich einen günstigen Ort ausgesucht, um zu sterben. Sie wußte auch schon wo. Es war ein Platz, der etwas versteckt lag. Noch kein Grab, aber es würde eines werden, denn sie hatte dieses kleine Grundstück gekauft. Ein Anwalt wußte Bescheid, bei ihm lagen die entsprechenden Unterlagen,
und er würde auch dafür sorgen, daß sie genau an dieser Stelle bestattet wurde. Sie lächelte, als sie daran dachte. Es war für sie ein wunderschöner Ort, denn das Grab lag etwas erhöht. Normalerweise wäre es Unsinn gewesen, an so etwas überhaupt zu denken, aber Tabitha dachte eben anders. Bei ihr würden die Dinge nicht so ablaufen wie bei anderen Menschen, sie war eben etwas Besonderes. Das hatte sie im Leben bewiesen, und im Tod würde sie es beibehalten. Niemand störte sie. Die Frau war völlig allein, als sie sich in den schmalen Pfad hineinwand, der dort endete, wo sie sich ihre letzte Ruhestätte ausgesucht hatte, die ebenfalls unter einer Dunsthaube lag. Ein kleiner Hügel bildete die Grabstätte, er war mit Gras und Unkraut bewachsen. Der Wind hatte Zweige und Blätter dorthin getrieben, und sie bildeten so etwas wie eine Matte. Tabitha blieb dort stehen, wo sehr bald das Grab geschaufelt werden würde. Sie selbst hatte den kantigen Stein an diese Stelle geschafft und sich somit einen Sitzplatz geschaffen. Mit einer langsamen Bewegung ließ sie sich darauf nieder. Sie blieb hocken, schaute auf ihre Schuhe und dachte daran, daß sie sich jetzt konzentrieren mußte. Sie war als Geistheilerin bekannt. Bisher hatte sie die Geister gebraucht, um andere zu heilen, nun mußten dieser Geister einmal etwas für sie tun, und sie würden sie bestimmt nicht im Stich lassen. Eine ungewöhnliche Stille hüllte sie ein. Gleichzeitig spürte sie etwas von derStimmung, die langsam auf sie zuwehte. Sie lauschte nach innen, sie konzentrierte sich auf sich selbst, um die Botschaften der anderen empfangen zu können. Sie waren hier, das wußte Tabitha, sie waren eigentlich überall, und sie würden sie bestimmt nicht im Stich lassen, wenn die Zeit reif zum Sterben war. Sie hatten ihr oft geholfen, und auch jetzt würden sie den Menschen nicht im Stich lassen. Es war alles vorbereitet, es gab überhaupt keinen Grund für sie, anders zu handeln. Der Dunst trieb heran. Es war nur mehr eine weiche, sanfte Flut, die Tabihta umhüllte wie ein Gespinst. Sie hatte noch immer das Kopftuch über ihre Haare gestreift, hockte zusammengesunken auf dem Stein und überließ sich selbst der Einsamkeit, der Natur und der in ihr wohnenden Kräfte. Geister gab es überall. Die ganze Welt war ein Konglomerat von Geistern und geheimnisvollen Wesen. Diese allerdings hielten sich nur in gewissen Zwischenstationen auf, damit sie für die normalen Menschen nicht sichtbar waren. Sie
waren eingetaucht in Reiche, wo sie sich wohl fühlten und nur hin und wieder den Weg nach draußen fanden. Tabitha kriegte kalte Füße. Sie schauderte zusammen. Nicht wegen der Kälte, denn dieses Gefühl war für sie gleichzeitig eine Botschaft. Sie kamen… Eigentlich war sie enttäuscht, daß sie sich so lange Zeit gelassen hatten, nun aber war alles anders. Sie waren da, sie freuten sich, und Tabitha spürte, aber sah sie nicht. Die Lippen zeigten ein Lächeln, denn erste Stimmen hatten sie erreicht. Sie bewegten sich in ihrem Kopf, sie waren die Botschafter, die ihr klarmachten, daß das Ende ihres Weges dicht vor ihr lag. Tabitha hob den Kopf. Ihre Gesichtshaut war blaß geworden. Sie hielt die Augen weit geöffnet und schaute in den dünnen Dunst, der ebenfalls aussah, als hätte er sich aus zahlreichen Gestalten zusammengesetzt. Er blieb in ihrer Nähe nie ruhig, er tanzte, er rollte, er wehte, er schickte ihr Botschaften, und es formten sich in seinem Innern die ersten Gesichter. Unterschiedlichste Formen, mal in die Länge gezogen, dann wieder in die Breite gezerrt. Fratzen und blasse Umrisse, knochig wirkende Totengestalten, als wären einige der hier liegenden Leichen als geisterhafte Projektionen wieder an die Oberfläche gelangt. Ein unheimliches Bild, das nur sie sah, denn allein Tabitha war es vergönnt, einen Blick in die Geisterwelt zu werfen. Sie wartete. Die Geister ließen sie nicht in Ruhe. Sie umdrängten sie weiter. Sie krochen herum, sie hatten sich mit dem Nebel vermischt, sie zeigten ihr verzerrte Gesichter, sie umtanzten sie als nebulöse Gestalten, und sie schickten ihr als Botschaft die Kälte entgegen. Es war die Kälte des Todes… Tabitha schauderte zusammen. Ihr Körper war noch warm, aber er konnte sich gegen das andere nicht mehr anstemmen. Die Geister drangen ein, sie fanden Lücken, und im Kopf der Frau hörten sie die unheimlichsten Stimmen. Es gelang ihr nicht mehr, normal sitzen zu bleiben. Zwar blieb sie hocken, aber sie bewegte sich zuckend. Stieß ihre Arme vor, nahm sie wieder zurück, drückte den Kopf nach hinten, öffnete den Mund, als wollte sie anfangen zu schreien, und der Atem drang stoßweise aus ihrem Mund. Vor den Lippen kondensierte er, vermischte sich mit dem Dunst, so daß es aussah, als würde sie, die bald Sterbende, weitere Geister produzieren, um sie mit dem Nebel zu vereinen. Es war einfach schlimm für sie, dies alles zu erleben, aber sie hatte es sich gewünscht. Sie wollte es nicht anders haben, das war der Preis, den sie zahlen mußte. Bisher hatten ihr die Kräfte des Jenseits’ geholfen, nun war es an der Zeit, die Rechnung zu begleichen, denn die
berühmteste Geistheilerin Londons bereitete in einer nahezu klassischen Form ihren Abgang vor. In ihrem Innern war alles anders geworden. Sämtliche Funktionen wichtiger Organe schienen ihren Rhythmus verloren zu haben. Ihr Herz schlug zwar noch, jedoch unregelmäßig. Zwischendurch kam es ihr vor, als würde es aussetzen, dann kriegte sie auch keine Luft mehr. Das Lächeln war von ihren Lippen längst verschwunden. Tabitha hatte mit sich selbst zu tun, die anderen Kräfte waren dabei, sie vollständig zu unterwandern, und genau das hatte sie gewollt, obwohl sie jetzt schon negativ überrascht war. So schlimm hatte sie sich ihr Sterben nicht vorgestellt. Längst war die Kälte des Steins vergessen. Sie hockte noch auf ihm, aber sie hatte ihren Körper nach vorn gebeugt, den Mund geöffnet, und ihr Atem pfiff gegen den wabernden Dunst, der wie eine Decke war. Der Dunst hing zwischen dem Geäst der Bäume, er umgab sie wie eine schützende Mauer, und wenn sie den Kopf hob, dann sah sie in ihm die tanzenden Gestalten. In ihrem Innern wurde das Leben aufgezehrt. Sie fressen meine Seele, sie wollen mich ganz, sie wollen mich ganz… ganz… Diese Gedanken zuckten durch ihren Kopf. Nie hätte sie sich das Sterben so schwer vorgestellt. Ihr Gesicht war verzerrt, um Jahre gealtert, als gehörte es einer Greisin. Dann brach es aus ihrem Mund hervor. In einem hohen Bogen schoß eine gelblichweiße, mit Blut vermischte Flüssigkeit durch die Luft. Es war ihre Seele, die nicht mehr wollte, und mit einer letzten Kraftanstrengung stemmte sich die Frau in die Höhe. Dabei hatte sie den Eindruck, in eine fremde Welt zu treten. Plötzlich sah sie nichts mehr, was sonst in ihrer Nähe gewesen wäre. Die Welt hatte sich verändert, sie bestand nur mehr aus zuckenden, tanzenden Formen, aus Dingen, die Tabitha nie zuvor gesehen hatte. War das bereits das Jenseits? Sie konnte es sich gut vorstellen, aber es war nicht das Jenseits, daß sich die Menschen wünschten. Es war ihr Teil dieser Welt. Ein Part, wo die Geister lebten, mit denen sie so intensiv zusammengearbeitet hatte. Noch einmal raffte sich Tabitha auf. Sie schleuderte ihre Arme in die Höhe. Die Hände bewegten sich zuckend, als könnten sie irgendwo Halt finden, aber sie griff nur ins Leere hinein, denn kein Geist wollte sie auffangen. Sie rutschte aus. Dabei bewegte sie sich grotesk. Sie schleuderte ihren Körper noch nach vorn, all den Geistern entgegen, die sie jedoch nicht auffingen. Sie fiel hin. Der schwere Aufprall schüttelte sie durch. Ihre Hände zuckten, die Finger krallten sich in den feuchten Boden. Über ihr lagen die
Dunstschleier mit den fratzenhaften Gesichtern der Besucher aus einer anderen Welt. Die Geister stürmten auf sie ein. Tabitha Leroi hörte Musik, sie vernahm Stimmen. In ihrem Kopf drehte sich ein gewaltiges Karussell, während sie selbst auf dem Boden liegenblieb und miterleben mußte, daß man ihr keine Chance mehr gab. Dicht unter dem Hügel, wo einmal ihr Grab sein würde, beendete sie ihr Leben. Tabitha Leroi war tot. Viele hatten sie gekannt, und viele würden sich noch an sie erinnern, das stand fest… *** An diesem Morgen waren Suko und ich sogar überpünktlich ins Büro gekommen und hatten eigentlich vorgehabt, Glenda Perkins zu ärgern, wenn sie zu uns kam, doch sie war bereits da und kümmerte sich nicht um uns, als wir eintraten, denn der größte Teil ihres Körpers war hinter einer aufgeschlagenen Zeitung verborgen, und selbst der berühmte Kaffeeduft durchwehte den Raum diesmal nicht. Das war seltsam. Ich schaute Suko an, der hob die Schultern, gemeinsam sahen wir, daß Glenda eine andere Sitzhaltung einnahm, die Beine übereinanderschlug, die Zeitung aber nicht senkte. Der Artikel schien ja wahnsinnig interessant zu sein, ebenso wie Glendas Beine für mich. Ich räusperte mich. Glenda las weiter. »Guten Morgen«, sagte Suko laut. »Ja, guten Morgen. Stört mich nicht.« »Ob die einen neuen Job sucht?« erkundigte sich mein Freund flüsternd bei mir. »Wenn ja, dann nur wegen dir.« »Meinst du?« »Sicher.« Suko ging vor und tippte mit dem Finger gegen die Zeitung. Auch das lenkte Glenda nicht ab. Wir hörten sie murmeln, aber sie sprach mehr mit sich selbst. Ich verdrehte die Augen, dann machte ich kurzen Prozeß und trat an ihre Seite. Der rote Pullover war neu, und die Perlenkette in Glendas Haar schimmerte wie aneinandergereihte Tropfen aus Eis. »He«, sagte ich nur. Unsere Sekretärin ließ sich nicht stören. »Sie ist tot«, sagte sie nur, »sie ist tatsächlich tot. Hier steht es.« »Wer ist tot?« »Tabitha Leroi.« »Aha, und wer ist das, bitte schön?« Glenda seufzte, drehte den Kopf und schaute mich beinahe vorwurfsvoll an. »Du kennst Tabitha Leroi nicht?«
»Nein.« »Das ist schon eine Bildungslücke.« »Kann sein, aber könntest du mich denn nicht aufklären? Das wäre sehr nett, wirklich.« Sie faltete die Zeitung zusammen, legte sie aber so auf den Schreibtisch, daß ich den Bericht und die beiden Fotos noch sehen und lesen konnte. Da sehr viel geschrieben stand, hoffte ich, daß Glenda mir die Mühe des Lesens abnahm und mir einen Kurzbericht gab. »Also, meine Liebe, was hat dich so interessiert, daß du vergessen hast, uns den Kaffee zu kochen?« Sie dachte einen Moment nach. »Das ist schwer zu sagen. Es geht mich persönlich nichts an, dennoch läuft es mir kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke.« »An den Tod?« »Ja, dieser Tabitha Leroi.« Ich hatte die Überschrift gelesen und wiederholte sie. »Londons berühmteste Geistheilerin gestorben, okay, das muß ich akzeptieren. Aber was interessiert dich daran so, Glenda?« »Kanntest du sie?« fragte Suko, der zugehört hatte. »Nicht persönlich.« »Und trotzdem…« »Hör auf, John, das mußt du anders sehen.« »Wie denn?« Sie stand auf und stellte die Kaffeemaschine an. Uns noch immer den Rücken zudrehend, sagte sie leise: »Es ist der Umstand, wie sie ums Leben gekommen ist. Sie starb dort, wo sie auch begraben werden wollte, und zwar auf dem Friedhof. Genau an dem Ort, den sie sich als Grab ausgesucht hatte. Und sie ist dort begraben worden, schau dir nur mal die Fotos an, das war ja eine irre Beerdigung, da sind die Menschen geströmt, denn sie war wirklich eine berühmte Person. Sie hatte in London einen Namen, sie war die beste Geistheilerin, die ihr euch vorstellen könnt. Jetzt gibt es sie nicht mehr.« Glenda schüttelte sich. Ich begriff sie nicht, auch Suko machte ein verständnisloses Gesicht. »Himmel, was kümmert es dich denn, Glenda?« rief er. »Allein der Umstand, wie sie ums Leben kam. Das… das ist doch nicht normal.« »Stimmt.« »Da geht jemand auf den Friedhof, stirbt an der Stelle, wo er begraben werden will, und die Ärzte sind ratlos. Sie haben die Tote untersucht. Es gab keine Gewaltanwendung, keine äußeren Zeichen, daß sie gequält oder gefoltert worden wäre. Sie liegt einfach da, ist tot und wird gefunden.« »Richtig. Nur – was geht dich das an?« »Mich, John?«
»Ja, dich.« Glenda lächelte breit. »Das geht uns etwas an, mein Lieber. Dich und Suko.« »Wie schön. Davon bist du überzeugt.« »Ja.« »Und weiter?« »Soll ich dir eine Lupe geben?« »Nein, weshalb?« »Damit du sehen kannst, wer alles an ihrer Beerdigung teilgenommen hat.« »Eine Menge Leute.« »Richtig.« Sie ging zum Schreibtisch und winkte auch Suko herbei. Gemeinsam beugten wir uns dem Artikel und den Fotos entgegen. »Neues Parfüm?« fragte ich und schnupperte an Glendas Hals. »Laß die Scherze.« »Ich habe es ja nur gut gemeint.« Sie strich die Falten aus der Zeitung. »Schaut euch mal die Bilder an. Einige der Trauergäste sind selbst bei diesem schlechten Druck zu erkennen. Sieh nur auf die Gesichter, John, bin gespannt, ob du nicht blind bist.« Das taten Suko und ich gemeinsam. Wir suchten die Gestalten ab, sofern sie zu erkennen waren, und plötzlich lachte Suko auf. Es klang allerdings nicht freundlich. »Himmel, das ist Sarah Goldwyn, und die Frau daneben könnte Jane sein.« »Stimmt!« Glenda rief es triumphierend, während sie Tassen aus dem Schrank holte. »Das sind Sarah und Jane. Auch ich habe sie gesehen, und ich frage mich, was sie auf dieser Beerdigung zu suchen hatten.« Ich richtete mich wieder auf. »Am besten wird es sein, wenn du sie anrufst.« »Nein, das mache ich nicht. Dann heißt es, ich wäre neugierig.« »Kann es denn nicht sein, daß sich eine der beiden von ihr hat behandeln lassen?« Das wollte Glenda nicht akzeptieren. »Wir hätten es sicherlich gewußt, denke ich.« »Stimmt auch wieder.« »Warum denn?« fragte ich. »Die sind doch nicht verpflichtet, mit uns darüber zu sprechen.« Ich ging zur Kaffeemaschine und goß aus der Kanne die drei Tassen voll. »Nein, nein, das sehe ich anders. Ihr wißt ja auch, wie neugierig Lady Sarah ist und daß sie sich überall auskennt. Bestimmt hat sie auch die Verstorbene gekannt. Ich sehe da überhaupt keine Verschwörung. Du, Suko?« Mein Freund hob nur die Schultern. »Aber ich«, sagte Glenda. »Und warum?«
»Feeling, mein lieber John. Es ist einfach das Feeling. Aber davon willst du ja nichts wissen.« »Da hast du recht. Trotzdem frage ich dich, wo dein Feeling eigentlich hinführen soll.« »In einen Fall für uns.« Ich verteilte die Tassen. »Ach so, nun ja, du gestattest, daß wir das etwas anders sehen.« »Sicher, jeder hat seine Meinung, trotzdem bin ich davon überzeugt, daß es so ist.« »Was macht dich denn so sicher?« Sie lächelte. »Ich möchte dir eine Frage stellen und dir auch, Suko.« »Gern«, sagte er. »Kennt ihr beide eine Person namens Yvonne Terry?« »Nein«, sagte Suko. »Du, John?« Ich überlegte etwas länger und unterdrückte einen Fluch, weil ich mir beim zweiten Schluck die Oberlippe leicht verbrannt hatte. »Wahrscheinlich nicht.« »Aber ich kenne sie.« »Du kennst viele Menschen, die wir nicht kennen, Glenda.« Auch sie trank von ihrem Kaffee. »Dein Spott wird dir bald vergehen, wenn du hörst, wer diese Yvonne Terry ist.« »Na los.« Glenda Perkins setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs. »Yvonne Terry ist oder war Tabitha Lerois Sekretärin.« Glenda legte eine Pause ein. Sie wartete auf unsere Reaktion. Als diese nicht kam, zeigte sich eine Unmutsfalte auf ihrer Stirn. »Habt ihr nicht gehört, sie war Tabitha Lerois Sekretärin.« »Na und?« »Ich kenne sie.« »Dafür können wir nichts. Soll ich fragen, woher du sie kennst?« »Das hatte ich erwartet.« »Dann sag es uns.« »Wir sind oft zusammen in der U-Bahn gefahren, und deshalb sind wir auch ins Gespräch gekommen. Sie hat oft von ihrer Chefin erzählt, deshalb weiß ich etwas mehr über sie.« »Und was weißt du?« »Sie war wirklich toll. Die hat ein Publikum gehabt, das war unwahrscheinlich.« Ich machte ein zweifelndes Gesicht. »Die Menschen, die zu ihr kamen, haben das alles geglaubt?« »Sie wurden geheilt, John.« »Das sagte diese Yvonne Terry.« »Ja, aber weshalb hätte sie lügen sollen?«
Das stimmte auch wieder. Nur – weshalb hätten wir uns um den Fall kümmern sollen? Diese Frage stellte ich Glenda, und erreichte damit bei ihr einen sehr ernsten Gesichtsausdruck. »Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich habe einfach das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmt. Irgendwas ist bei dem Ableben der Frau nicht mit rechten Dingen zugegangen. Da kann die Beerdigung noch so pompös gewesen sein, es bleibt ein bitterer Nachgeschmack.« Ich sah, daß Suko die Schultern hob. »Den Nachgeschmack spüre ich nicht.« »Kannst du auch nicht«, sagte Glenda. »Und warum nicht?« »Weil du Yvonne Terry nicht kennst. Ich habe oft mit ihr gesprochen…« »Aber nicht über den Tod ihrer Chefin.« Glenda stellte sich wieder hin. Sie ging im Büro auf und ab. »Nein, John, nicht direkt. Außerdem hätte ich es gern getan, aber ich habe Yvonne in den letzten Tagen nicht gesehen. Sie ist nicht mehr mit der U-Bahn gefahren. Ich bin sicher, das dies einen Grund gehabt hat, der nicht allein mit der Beerdigung zusammenhängt.« Suko griff als Schlichter ein. »Bevor wir uns darüber Gedanken machen, sollten wir vielmehr mit Sarah Goldwyn und Jane Collins reden, wenn überhaupt.« »Richtig!« sagte ich. Glenda war nicht der Meinung. »Dann hältst du das hier alles für völlig natürlich?« »Das ist der Tod fast immer.« »Aber nicht bei ihr, John!« Ich stellte meine Tasse weg und hatte etwas Mühe, ruhig zu bleiben. »Findest du nicht, Glenda, daß du jetzt übertreibst?« »Nein, gar nicht.« »Was willst du denn mit deiner Bemerkung sagen? Sie ist tot, aber nicht so normal wie bei jedem anderen Menschen. Rechnest du damit, daß sie als Zombie zurückkehren wird?« Sie streckte mir ihren Zeigefinger entgegen. »Du wirst es nicht glauben, John, aber damit rechne ich tatsächlich.« Das war eine verdammt kühne Behauptung, die ich auf keinen Fall bestätigen konnte. »Ich weiß nicht, Glenda, was du dir in deiner Phantasie da alles eingebildet hast, ich glaube auf keinen Fall, daß es da einen Zusammenhang gibt.« »Meinst du?« »Ja, zum Henker!« Glenda schüttelte den Kopf. »Denk doch mal daran, wie sie gestorben ist. Man hat sie an der Stelle gefunden, wo sie jetzt unter der Erde liegt. Hast du das vergessen?« »Überhaupt nicht.«
»Das war doch ungewöhnlich.« Ich hob die Schultern. »Stimmt, es ist ungewöhnlich. Es ist aber auch klar, daß diese Person nicht gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Demnach haben wir keinen Grund, einzugreifen. Was sollen wir denn tun? Zum Grab hingehen und darauf warten, daß diese Tabitha als Zombie aus der Erde gekrochen…« »Das ist Quatsch.« »Bitte. Schlag etwas Besseres vor.« »Im Auge behalten, John. Und du auch Suko. Vielleicht solltet ihr einmal mit Yvonne Terry reden. Die kann euch sicherlich mehr über das Leben und auch über den Tod ihrer Chefin sagen. Erst dann könnt ihr euch entscheiden, was ihr unternehmen wollt.« Ich winkte mit beiden Händen ab. »Das ist noch immer kein Grund, muß ich dir sagen.« »Soll ich mit ihr sprechen?« Es war typisch Glenda. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie nicht locker. Bevor ich etwas sagen konnte, gab Suko eine Antwort. »Verbieten können wir es ja nicht, John. Wenn sie will, kann sie reden.« »Ja, ist gut.« Glenda nickte. »Fein, das werde ich. Heute sogar noch. Und wenn ich etwas herausbekomme das ungewöhnlich ist, lasse ich es euch wissen. Können wir uns daruf einigen?« »Meinetwegen.« »Kennst du ihre Anschrift?« fragte Suko. »Weißt du denn, ob sie überhaupt mit dir über diese Dinge sprechen will?« »Das läßt sich leicht herausfinden«, sagte Glenda. »Die Beerdigung liegt jetzt zwei Tage zurück. Ich denke, daß sich Yvonne gut erholt hat und in der Lage sein wird, mir gewisse Dinge zu berichten. Für mich steckt da mehr dahinter.« »Was denn?« fragte ich. »Möglicherweise sogar ein Angriff aus dem Jenseits. Denk daran, daß Tabitha Geistheilerin gewesen ist. Ich an eurer Stelle würde mal über den Begriff nachdenken.« Ich winkte ab. »Geist kommt auch in dem Begriff Weingeist vor.« Glenda blieb ernst. »Du solltest nicht spotten, John. Ich bin davon überzeugt, daß ihr Tod erst der Anfang gewesen ist, und daß da noch einiges auf uns zukommen wird.« Ich war es nicht. Ein Fehler, denn später wurde ich eines Besseren belehrt und hatte feststellen müssen, daß irren nun mal sehr menschlich ist… ***
Die schreckliche Beerdigung lag zwei Tage zurück, und wenn Yvonne dachte, daß es ihr besser ergangen wäre, dann hatte sie sich getäuscht. Das Gegenteil warder Fall gewesen. Gewisse Dinge hatten sich verschlimmert. Ihr war es vorgekommen, als hätte sich das Band, das zwischen ihr und Tabitha bestand, noch mehr gefestigt. Daß sie jetzt durch eine Tote an der langen Leine geführt wurde, die sich leider nicht mehr lockerte. Für sie gab es das Band zwischen den beiden Welten, dem Diesseits und dem Jenseits, und es war Tabitha, die es festigte. Und noch etwas war anders geworden. In der ersten Nacht nach der Beerdigung hatte Yvonne nicht mehr geträumt. Sie war in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen, aus dem sie am Morgen erholt wieder erwacht war. Doch die Gedanken ließen sich nicht wegwischen. Sie hatten sie den Tag über gequält, Erinnerungen waren plastisch in ihr hochgestiegen. Ihre gesamte Tätigkeit bei Tabitha Leroi lief immer wieder wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ab, und sie wunderte sich darüber, an wie viele Einzelheiten sie sich doch erinnern konnte. Die meisten Erlebnisse waren positiv gelegen, dennoch hatte über ihnen stets ein Schatten gelegen, ein gewisser Nebel, wie der Gruß aus einer fremden Welt. Auch Erinnerungen an ein Lachen, an frohe Stunden, waren immer mit einem bedrückenden Gefühl verbunden, denn eine große Gefahr schwebte unsichtbar darüber. Yvonne kam diese Gefahr vor, als wäre sie zwar da, würde aber trotzdem in der nahen Zukunft liegen, so daß sie sich zwangsläufig vor ihr fürchten mußte. Zudem konzentrierte sich dieses Böse, diese andere ausgerechnet auf sie, und das wiederum wollte sie einfach nicht zugeben und auch nicht verstehen. Was war geschehen? Wieso gab es dieses Band noch zwischen Tabitha und ihr? Sie hatte sich die Tote auch nicht mehr im Sarg liegend angesehen. Nein, sie wollte sie so in Erinnerung behalten, wie sie einmal gewesen war. Nur keinen Aufstand machen, nur nicht mehr seelischen Druck erleben, es war alles schon schlimm genug, und sie ging einfach von der Vorstellung aus, daß die Verbindung zwischen ihr und Tabitha noch nicht gestoppt worden war. Da gab es noch etwas… Sie schluckte einige Male ihre Furcht herunter, doch wie beim Schluckauf kam sie immer wieder hoch, und Yvonne fühlte sich in ihrer Wohnung plötzlich wie in einer Gefängniszelle, in der vier Löcher in die Wände hineingebohrt worden waren, damit sie von allen Seiten beobachtet werden konnte. Auch ihr kam es so vor, als würden sie gewisse Kräfte unter Kontrolle halten. Das steigerte die Furcht…
Am späten Nachmittag war es dann soweit. Sie konnte es nicht mehr aushalten und verließ beinahe fluchtartig ihre Wohnung. Sie hatte sich noch den Mantel umgehängt, die Handtasche geschnappt und war davongelaufen. Nur raus aus dieser verdammten Bude, raus aus dem Knast, weg mit den Erinnerungen. In der kalten Luft ging es ihr zunächst besser. Sie wanderte ziellos durch die Straßen, bis sie sich selbst sagte, daß es Unsinn war, was sie tat. So allein zu sein, paßte ihr auch nicht. Sie mußte einfach unter Menschen kommen, und da fiel ihr die Leuchtreklame eines kleinen Restaurants auf, mehr ein Bistro, in dem es keine große Speisekarte gab. Um eine Kleinigkeit zu essen, reichte ihr Hunger aus. Auch wenn ihr das kleine Restaurant vom Interieur her nicht gefiel und ihr die Musik zu laut war, freute sie sich doch über die Wärme und auch darüber, daß sie unter Menschen war. Sie setzte sich nicht an die Theke, sondern fand ihren Platz am Fenster. Der kleine runde Tisch gefiel ihr, der Hocker war zwar nicht bequem, aber sie konnte sich etwas ausruhen. Über die kahlen Wände huschten immer wieder die Lichtreflexe eines sich drehenden Strahlers, der seine blauroten Kaskaden auch gegen die Fensterscheibe schleuderte, sie hindurchschoß, so daß sie sich auf dem Gehsteig verliefen. Ein junger Mann mit schwarzen Haaren und verschiedenfarbigen Ringen in den Ohrläppchen erkundigte sich nach ihren Wünschen. Yvonne hatte bereits in die Speisekarte geschaut, sich aber noch nicht entscheiden können. Sie bestellte zunächst ein Glas Weißwein. »Und trocken bitte.« »Selbstverständlich, Miß.« Der Kellner verschwand, Yvonne blieb sitzen, nahm sich abermals die Karte vor und fuhr mit dem ausgestreckten Zeigefinger die Gerichte ab. Sie entschied sich schließlich für einen Salat mit dünnen Streifen aus Kalbfleisch. »Geht es Ihnen gut?« Sie erschrak, als der junge Mann sie ansprach und gleichzeitig das Glas Wein auf den Tisch stellte. Yvonne zuckte zurück. »Ja, ja… warum fragen Sie?« Lächelnd und mit schiefgelegtem Kopf schaute er auf sie. »Sie sehen so blaß aus und machen einen nervösen Eindruck. Mir kommt es vor, als hätten Sie Sorgen, und ich mag es nun mal nicht, wenn sich eine schöne Frau sorgt, pardon…« »Ich möchte den Salat mit Kalbfleisch bestellen und nicht angemacht werden.« »Sorry, das hatte ich nicht vor.« »Dann ist es ja gut.«
Der Kellner verschwand lächelnd, und Yvonne schüttelte unwillig den Kopf. Was der sich nur einbildete. Sogar in den Lokalen war man nicht mehr sicher. Da versuchte selbst das Personal die Gäste anzumachen. Eigentlich hätte sich Yvonne über ihre Reaktion wundern müssen. Normalerweise wäre sie nicht so abweisend gewesen. Sie hätte sich sogar über das Kompliment gefreut und einen Flirt angefangen, doch heute war einfach nicht ihr Tag. Da braute sich etwas zusammen, und sie war sicher, daß sie nicht die relative Ruhe des letzten Tages finden würde. Die Wolken waren dichter geworden, die Bedrohung hatte zugenommen. Hin und wieder trank sie einen Schluck Wein. Er war besser, als sie angenommen hatte. Kaum Süße, was sie sehr mochte. Kühl rann er die Kehle hinab, und als der Salat kam, bestellte sie ein zweites Glas. Auch das Essen sah gut aus. Der Salat verschwand nicht unter einer dicken Soße, auch die dünn geschnittenen Fleischscheiben sahen appetitlich aus, und sie schmeckten ihr zusammen mit dem Salat köstlich. Eigentlich hätte es ihr gutgehen können, aber es ging ihr nicht gut. Schon nach wenigen Bissen hatte sie das Gefühl, als würde das, was sie soeben geschluckt hatte, wieder hochkommen. Sie mußte sich zwingen, weiter zu essen, deshalb trank sie wieder einen Schluck Wein, damit das Essen auch rutschte. Das Lokal lag in einer belebten Gegend. Nicht nur auf der Straße herrschte Betrieb, auch auf dem Gehsteig. Zumeist passierten die Menschen in Gruppen das Fenster, schauten kurz hinein, gingen dann weiter, und es kamen kaum neue Gäste. Gedankenverloren schaute die Frau aus dem Fenster. Sie sah die Passanten und nahm sie doch nicht richtig wahr, weil sie mit den Gedanken und Erinnerungen ganz woanders war. Die Vergangenheit ließ sie einfach nicht los. Immer wieder holte sie sie ein, und der Druck in ihrem Magen ließ nicht nach. Dann sah sie die Frau. Sie kam von der anderen Seite der Straße, um die Fahrbahn zu überqueren. Sie ging langsam, sie kümmerte sich nicht um die Wagen, und sie hätte eigentlich mehrmals überfahren werden müssen, aber das trat nicht ein. Sie ging einfach weiter. Ein Windstoß erwischte sie, er ließ das Tuch um ihren Kopf flattern, ohne es jedoch wegzuwehen. Ein grauer Mantel bedeckte die Gestalt. Er war weit geschnitten, und Yvonne Terry dachte daran, daß auch die verstorbene Tabitha Leroi einen derartigen Mantel getragen hatte. Moment mal… Sie versteifte für einen ihr sehr lang vorkommenden Augenblick. Dann rutschte ihr plötzlich das Besteck aus der Hand. Messer und Gabel
klirrten auf den Tellerrand, was aber nicht zu hören war, weil dieses Geräusch in der Musik unterging. Diese Person sah nicht nur so aus wie Tabitha Leroi, es war Tabitha, und daran gab es keinen Zweifel. Yvonne konnte den Blick nicht wenden. Sie sah nur dieses Wesen, das die Fahrbahn beinahe überquert hatte und nun den Gehsteig erreichte, ohne daß es von einem Fahrzeug erfaßt worden war. Es ging noch weiter, bis es die Scheibe erreichte, davor stehenblieb und in das Lokal hineinlächelte. Dieses Lächeln aber galt nur ihr. Yvonne saß wie versteinert auf ihrem Hocker. Ihr war kalt und heiß geworden, die Hitzewellen lösten sich mit den Kälteschauern ab, und sie konnte nicht mehr denken. Sie schaute nur. Tabitha hob die Hand. Dann lächelte sie. Yvonne bekam das Lächeln sehr genau mit, und sie stellte fest, daß es grausam, böse und gemein war. Das Lächeln einer Toten, ein bleckendes und wissendes Grinsen, als wäre diese Person davon überzeugt, einen anderen Menschen sehr bald in ihr feuchtes Grab holen zu können. »Nein… nein… du bist tot«, keuchte Yvonne. »Du kannst es nicht sein, die da steht. Du… du liegst in der Erde…« Sie rang nach Atem, und dann schrie sie. »Du bist doch tot!« Die Worte gellten durch das Lokal. Diesmal nicht von der Musik verschluckt, und wenige Augenblicke später hatten sich alle Gäste gedreht und schauten auf Yvonne. Die schwankte, als stünde sie auf einem Floß. »Los hin!« Der Besitzer reagierte als erster und schickte seinen Kellner los, der hinter der Theke hervorwieselte und auf die schwankende Gestalt zulief. Er kam wirklich im letzten Augenblick. Für Yvonne war die Realität nicht mehr vorhanden, sie verschwamm in einem wahren Nebel, und sie fühlte sich plötzlich so leicht und unbeschwert, als wäre sie aus dieser normalen Welt hervorgerissen worden. Alles war vor ihren Augen verschwunden, auch die Gestalt ihrer ehemaligen Chefin, sie sah gar nichts mehr. Kalter Dunst umwallte sie, und sie hatte das Gefühl, als wären schleimige oder schlierenartige Finger dabei, sie zu umfassen, um sie zu entführen. Sie blieb auf den Beinen. Die Finger veränderten sich zu Krallen, und plötzlich war da eine Stimme, die sich flüsternd in ihr Ohr hineindrängte und ihr fremd vorkam. »Keine Sorge, ich halte Sie fest…«
Yvonne kannte die Stimme nicht. Oder hatte sie den Klang schon gehört? Jedenfalls hatte ein Mann zu ihr gesprochen. Verwirrt öffnete die Frau die Augen. Sie schaute nicht mehr gegen die Scheibe, sondern in das Gesicht des dunkelhaarigen Kellners, der sie gedreht hatte und besorgt anblickte. Noch schienen sich die Konturen des Kopfes auflösen zu wollen. Sekunden später aber sah sie klarer, und sie fühlte sich auch wieder besser, obwohl ihr Herz noch sehr stark klopfte. »Danke, danke«, flüsterte sie. »Es ist schon gut.« »Ich verstehe das auch nicht«, sagte sie über ihr Gesicht streichend. »Es ist plötzlich alles so anders geworden. Dieser Schwindel, ich… ich kann es nicht fassen.« »Gab es denn einen Grund? Sind Sie gesundheitlich angeschlagen, Miß?« Yvonne riß die Augen weit auf. »Einen Grund?« murmelte sie. »Mein Gott, nein – ja, doch…« »Soll ich einen Arzt rufen?« »Unsinn, das ist nicht nötig. Ich fühle mich ja wieder besser. Ja, es geht mir relativ gut. Es ist vorbei.« Der Wirt brachte ein Glas Wasser. Sie leerte es wie im Traum, denn wieder kehrten Erinnerungen zurück. Dabei drehte sie den Kopf dem Fenster zu, denn hinter der Scheibe hatte sie die Gestalt der toten Tabitha Leroi gesehen. Sie stellte das Glas ab, ohne etwas anderes gesehen zu haben, als den normalen Betrieb. »Sie sind so blaß«, sagte der Wirt. »Das geht wieder vorbei.« »Was ist denn geschehen?« Beinahe hätte sie vor ihrer Antwort noch gelacht. Soll ich ihm sagen, daß ich eine Tote gesehen habe, die draußen über die Straße spaziert ist? Oder soll ich von einem Geist sprechen? Nein, sie hätte sich bei beidem lächerlich gemacht und gab eine Antwort, die in dieser modernen Zeit immer akzeptiert wurde. »Ich bin etwas überarbeitet, der Streß im Büro…« »Ja, das verstehe ich.« Yvonne wischte über ihre Stirn, dann tupfte sie die Lippen mit der Serviette ab. »Es ist schon wieder vorbei, ich komme zurecht, danke.« »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?« »Das wäre nett.« Der Wirt kümmerte sich persönlich darum, während Yvonne beim Kellner die Rechnung beglich. Sie tat dies automatisch und kam sich vor wie in einem Theaterstück, in dem sie eigentlich gar nicht mitspielen wollte. Warum hatte sie diese Halluzinationen, warum war das gerade ihr passiert? Wie stark war das Band zwischen ihr und der Verstorbenen?
Yvonne stellte sich zahlreiche Fragen, ohne darauf je eine Antwort zu finden. Hier lief alles so, wie es nicht mehr hätte sein sollen. Das war eine verkehrte Welt, man hatte die Dinge auf den Kopf gestellt. Da hatte die Welt der Geister die Kontrolle über die normale erlangt, und das war verrückt. War es das tatsächlich? So ganz wollte sie nicht zustimmen, denn ihre Chefin hatte als Geistheilerin gearbeitet und ihr manchmal erzählt, daß sie nur deshalb so gut war, weil der Kontakt zu den anderen stimmte. Aber wer waren die anderen? Etwa die Toten? »Taxi?« Die Tür war aufgestoßen worden. Ein Farbiger stand auf der Schwelle, hatte gefragt und lächelte. »Hier«, sagte Yvonne und hob die Hand. Vor dem Verlassen des Lokals nickte sie den Gästen und dem Personal noch einmal zu. Danach war sie froh, sich in die Polster des Wagens fallen zu lassen. Es war vorbei, sie hatte es überstanden und trotzdem schwebte die Angst vor dem beginnenden Abend und der nachfolgenden Nacht wie eine finstere Drohung über ihr… *** Und dieses Angst verging auch nicht, als Yvonne Terry ihr kleines Bad betreten hatte und unter der Dusche stand. Sie freute sich über das Prasseln der heißen Strahlen auf ihren Körper. Das brachte ihren Kreislauf wieder in Schwung. Ihr Erlebnis lag jetzt knapp zwei Stunden zurück. Die Dunkelheit hatte sich über London gelegt, und sie wurde von einem leichten Dunst durchweht, als hätten sich zahlreiche Gespenster zusammengefunden, um die Stadt zu bewachen. Abermals lag eine Nacht vor Yvonne, und abermals würde sie mit Furcht und klopfenden Herzens in ihr Bett steigen. In der letzten Nacht hatte sie gut geschlafen, und sie hoffte stark, daß sich dies wiederholen würde. Während des Essens hatte sie zwei Gläser Wein geleert, eigentlich genug, um sie schläfrig zu machen, doch dieser andere Vorgang hatte sie so aufgeputscht, daß es ihr schwerfallen würde, überhaupt einzuschlafen. Sie brauchte etwas, um die nötige Ruhe zu finden, und dabei würde ihr der Wein wahrscheinlich helfen. Nach dem Abtrocknen streifte sie einen dünnen Slip über und schlüpfte in den kuscheligen Bademantel. Das blonde Haar hatte sie hochgebunden, so daß es einen Turban auf dem Kopf bildete. Sie reinigte den Spiegel von der Feuchtigkeit und schaute sich ihr eigenes Gesicht in der Fläche an. Zufrieden war sie damit nicht.
Man konnte sie als hübsche Frau bezeichnen, auch wenn ihr das eigene Gesicht etwas zu hart vorkam. Ihr waren zudem die Lippen zu schmal, das Kinn zu eckig, die Stirn etwas zu hoch und auch zu breit. Dafür hatte sie eine gerade Nase und helle Augen, von denen schon so mancher Mann fasziniert gewesen war. Sie strich etwas Feuchtigkeitscreme auf die Haut und drehte sich dann um, weil sie das Bad verlassen wollte. Seit einiger Zeit haßte sie eine stille Wohnung, deshalb hatte sie auch den Fernseher nicht abgeschaltet. Sie gab sich der Illusion hin, wenigstens durch die Bilder einen Besucher zu haben und nicht so allein zu sein. Es war einfach wichtig für ihre Seele. Sie hatte auch überlegt, sich einen zweiten Apparat ins Schlafzimmer zu stellen, dazu war sie noch nicht gekommen. Als sie einen Blick auf den Bildschirm warf, sah sie die Discotypen sich nach einer lauten Musik verrenken. Sie mochte das nicht mehr. Vor einigen Jahren noch hatte es ihr Spaß gemacht, die Nächte durchzutanzen, das war nun vorbei. Sie stellte den Ton leiser, knipste noch eine Stehlampe an und wollte die Flasche Wein aus der Küche holen, als sich das Telefon meldete. Es schrillte nicht mehr, es summte nur. Ein Anruf um diese Zeit paßte ihr gar nicht, obwohl es im Prinzip nicht so spät war, nur fragte sie sich, wer etwas von ihr wollte. Was auch an Normalem passierte, Yvonne brachte es stets in einen Zusammenhang mit ihrer verstorbenen Chefin. Diesmal sogar das Summen des Telefons. Etwas zögernd hob sie ab. Sie meldete sich auch nicht mit Namen, sondern nur mit einem schwach klingenden »Hallo…?« Zuerst hörte sie nichts. Nur ein seltsames Rauschen, vergleichbar mit einer fernen Meeresbrandung. »Hallo…« Keine Antwort. »Wer sind Sie denn? Melden Sie sich!« Ärger und Beklemmung schwangen in ihrer Stimme mit. »Yvonne…?« Eine ferne, sehr ferne Stimme erreichte sie, und die junge Frau schloß die Augen. Am liebsten hätte sie geschrien, das aber brachte sie nicht fertig. Plötzlich wurden ihre Knie weich, sie hatte Mühe, überhaupt stehen zu bleiben. Zum Glück stand der kleine Regiestuhl in der Nähe, auf dem sie ihren Platz fand. Sie kannte die Stimme. Mein Gott, das konnte nicht sein. Da… sprach eine Tote! »Hörst du mich Yvonne?« Das muß ein Tonband sein. Das muß einfach über eine Kassette laufen. Hier treibt jemand mit dir einen makabren Scherz, hier will dich jemand fertigmachen.
Wollte man das wirklich? Sie legte auf. Hastig, blitzschnell, einem Gefühl folgend. Sie wollte einfach nicht mehr die Stimme der Toten hören, auch wenn sie von einer Kassette kam. Nur keine Erinnerung! Wieder summte der Apparat. Und wieder traf es sie wie ein Stich mit einer Glasscherbe. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, es summen lassen oder abheben… Sie hob ab. Darüber wunderte sich Yvonne selbst, denn sie hatte das Gefühl, wie unter einem Zwang zu stehen, als hätte eine andere Person bei ihr Regie geführt. »Ja…« »Warum hast du denn aufgelegt, Yvonne?« Im letzten Augenblick konnte sie den Schrei unterdrücken, denn die Frage der toten Tabitha Leroi war so glasklar an ihr Ohr gedrungen, als würde die Frau lebend neben ihr stehen. Sie zitterte. Schweiß bedeckte ihre Stirn. Über ihren Nacken lief es eisig hinweg, bis hinab zum Rücken. Ihre Augen kamen ihr plötzlich blutunterlaufen vor. Die Magenschmerzen waren kaum auszuhalten, und die Stimme versagte ihr völlig. Das war keine Kassette, die irgend jemand ablaufen ließ, das war echt, da hatte sich eine Tote gemeldet! Oder ein Geist? »Gib Antwort, Yvonne…« »Ja,ja…« »Ich freue mich, daß du jetzt redest.« Die Angesprochene schluckte. Ich muß die Nerven behalten, sagte sie sich, ich darf jetzt nicht durchdrehen. Es ist alles nicht wahr, aber ich muß so tun, als wäre es wahr. »Wer bist du denn?« Das leise Lachen kannte sie. Ja, so hatte Tabitha immer gelacht, wenn sie sich amüsierte. »Wer ich bin, brauche ich dir nicht zu sagen. Schön, daß wir noch auf eine gewisse Art und Weise zusammen sind. Du weißt, daß du mich besuchen wirst. Du sollst auf den Friedhof kommen, wir alle werden dort ein Fest feiern. Es wird wunderbar werden, und ich werde dafür sorgen, daß viele erscheinen.« »Ein Fest…?« »Mein Totenfest…« »Aber das geht nicht, du bist… wer soll denn kommen?« »Sie alle werden von mir informiert werden, und wir beide bleiben in einem besonderen Kontakt, Yvonne. Gute Nacht…« Schluß, aus, das Ende! Die Frau hielt den Hörer in der Hand und starrte ihn an wie einen fremden Gegenstand. Durch ihren Kopf huschten zahlreiche Begriffe. Sie
hörte das Lachen und auch wieder die Stimme, doch über allem aber schwebte das Gefühl der Angst, nichts mehr zu begreifen. Sie legte den Hörer auf und erhob sich. An einem Tisch hielt sie sich fest, bevor sie den Weg zur Küche einschlug. Es war alles so furchtbar geworden, die Welt stand einfach köpf. Nichts war mehr so, wie sie es kennengelernt hatte. Andere Kräfte und Mächte hatten sich ihrer bemächtigt und trieben mit ihr ein makabres Spiel. In der Küche blieb sie so stehen, daß sie aus dem Fenster schauen konnte. Sie sah die Silhouetten der Bäume und nahm sie trotzdem nicht wahr. Etwas hielt sie umklammert und hemmte ihren Gedankenfluß. Aber sie mußte was tun, sie konnte nicht alles laufenlassen, auch wenn man sie auslachen würde, sie mußte mit einer Person über bestimmte Probleme reden. Doch wer würde sie verstehen? Ihre Bekannten würden sie auslachen. Einen festen Freund hatte sie zur Zeit nicht, und wenn es anders gewesen wäre, hätte sie bei ihm kein Verständnis erwarten dürfen. Wer also kam in Frage? Diesmal tauchte das Bild einer Person auf, die schwarzes Haar hatte, die in einer U-Bahn saß und sich des öfteren mit ihr unterhalten hatte, weil die Frauen stets ein Stück des Weges gemeinsam fuhren. Glenda Perkins hieß die Person. Hätte sie ihr geglaubt? Was wußte sie überhaupt von Glenda? Yvonne überlegte. Es war nicht viel, eigentlich zuwenig, trotzdem setzte sie ihr ein gewisses Vertrauen entgegen. Sie hatten sich so oft über verschiedene Dinge unterhalten, eigentlich hatten sie den gleichen Job, nur war Glenda Perkins beim Yard angestellt. Konnte man ihr dort helfen? Sie hatte leider nie viel über ihren Job gesprochen, aber Yvonne glaubte zu wissen, daß sie für einen Mann arbeitete, der beim Yard eine Sonderfunktion ausübte und sich mit nicht alltäglichen Vorgängen beschäftigte. Ja, so hatte Glenda es gesagt, daran erinnerte sie sich genau. War Glenda die Hilfe, die sie benötigte, die sie jetzt brauchte? Ja, sie würde sie anrufen, es war ihre einzige Chance. Nur wollte sie die nicht jetzt ergreifen, es war einfach zu spät geworden. Morgen früh würde sie bei Scotland Yard anrufen und mit Glenda Perkins über den Fall sprechen. Als sie diesen Entschluß gefaßt hatte, ging es ihr wieder etwas besser. Sie dachte an den Wein, den sie noch trinken wollte, um die nötige Bettschwere zu erlangen. Es gab auch Rotwein in halben Flaschen, und für eine solche entschied sich Yvonne. Sie öffnete sie, holte ein Glas und schenkte es voll. Sie trank einige Schlucke ab, ging mit dem Glas und der Flasche zurück in den Wohnraum und ließ sich in den weichen Stahlrohr-Sessel fallen, der vor der Flimmerkiste stand.
Sie schaltete einige Sender durch, fand einen lustigen Film, der sie interessierte, aber sie schaute hin, ohne die Handlung begreifen zu können. Allmählich beruhigten sich ihre Nerven. Es ging ihr etwas besser. Daran trug auch der genossene Wein die Schuld. Er sorgte dafür, daß die Müdigkeit über sie kam, so daß sie kaum noch an den Fall dachte. Auch fühlte sie sich wie benebelt. Irgendwann, es war kurz vor Mitternacht, stellte sie die Glotze aus. Das Licht aber ließ sie im Wohnraum brennen. Mit müden Schritten ging Yvonne in ihr Schlafzimmer. Sie legte sich auf das Bett, ohne das Nachtzeug angezogen zu haben, und sie hoffte, diesmal durchschlafen zu können. Die Tür zum Schlafraum stand offen. Licht sickerte aus dem Wohnzimmer durch den breiten Spalt. Sie wollte sich noch etwas Bestimmtes vornehmen, doch ihre Gedanken flössen einfach weg. Ihr fielen die Augen zu, die Decke über ihr verschwamm. Dann schlief sie ein… Der Traum kam, und er war einfach schrecklich! Yvonne erlebte ihn in einem schrecklich klaren Bewußtsein, obwohl sie schlief. Es war alles Wichtige aus einer bestimmten Welt hervorgehoben worden, nur damit die Realität verschwinden konnte. Jetzt war der Traum zur Wirklichkeit geworden, und aus ihm formierten sich Bilder, die der Schlafenden zu schaffen machten. Sie war der Mittelpunkt! Sie und ein großer, nebelverhangener Friedhof, über den sie schritt und sich dabei nicht an die Regeln hielt. Quer marschierte sie über die Gräber, durch Büsche hindurch und unter Bäumen hinweg, immer einem geheimnisvollen Licht folgend, das wie eine blasse Scheibe im Nebel vor ihr schwebte. Es war der Stern, der ihr den Weg über den Friedhof wies. Ein unruhiger, zuckender Punkt, der mal über den Boden tanzte, dann über die Gräber hinweg irrte oder hin und wieder bestimmte Grabsteine mit seinem fahlen Glanz anleuchtete. Sie folgte ihm. Angst davor, ihn zu verlieren, überkam sie. Sie lief schneller, und sie sah sich selbst, wobei sie noch immer dieselbe Kleidung trug, die sie auch angehabt hatte, als sie zu Bett gegangen war. Man lockte sie zu einem Grab! Aus dem Dunst bildeten sich düstere Gestalten hervor. Geisterhafte Wesen, die gegen sie geweht wurden und kurz vor einer Berührung sich wieder auflösten. Grinsende Gesichter, wissende Augen, verzerrte Mäuler und der Geruch nach verwestem Fleisch. Sie lief weiter und hatte ihre Arme vorgestreckt. Die Hände bewegten sich zuckend, als wollte sie nach irgendwelchen Dingen greifen, die aber
nicht zu fassen waren, weil sie sich immer wieder auflösten, bevor sie zupacken konnte. Yvonne erlebte den Friedhof mit all seinen Geheimnissen. Sie hörte die flüsternden und manchmal auch rauhen Stimmen irgendwelcher Wesen, als wollten sich diese über das Schicksal beschweren, das man ihnen zugemutet hatte. Der Wind fuhr der einsamen Gestalt entgegen. Er jammerte um die Grabsteine hinweg, er spielte mit ihrem Haar und auch mit ihrer Kleidung. Sie hörte das trockene Rascheln, das entstand, als Laub bewegt wurde, und das Jammern der Stimmen erklang allmählich, als sie erkannte, daß dieses helle Licht nicht mehr weiterwanderte. Es hatte sein Ziel erreicht. Auch ihr Ziel? Die Frauengestalt lief schneller dahin. Sie hatte dabei das Gefühl, den Untergrund nicht zu berühren. Alles wirkte so leicht, als läge die normale Welt hinter einem Vorhang verborgen. Sie hatte den Weg und den Blick geöffnet für die Reiche der Geister, in denen es jedoch so aussah wie auch in der Realität. Das Licht schimmerte und funkelte. Es stand zitternd an einer bestimmten Stelle, es zeichnete einen Fleck an, der über dem normalen Niveau des Friedhofs lag und einen flachen Hügel bildete. Die Frauengestalt wußte, was dort lag, sie konnte ihre Gedanken jedoch nicht formulieren. Sie lief dennoch weiter, weil sie es einfach tun mußte, denn die anderen Kräfte waren stärker als ihr Wille. Noch konnte sie das Ziel nicht genau erkennen. Erst als sie dicht davorstand, da sah sie, daß der Hügel ein von Nebelschwaden umwehtes frisches Grab war. Ein Brett steckte in der noch weichen Erde. Auf dem Brett bildeten Buchstaben einen Namen. TABITHA LEROI Die Gestalt blieb stehen, sie senkte den Kopf. Sie starrte das Brett an und las den Namen mehrere Male. Immer und immer wieder, wobei bei jedem Lesen das Bild einer Frau erschien. Es war still. Sie spürte keinen Wind mehr. Nicht das geringste Geräusch erreichte ihre Ohren. Die Totenruhe hielt sie eingehüllt wie eine übergroße Decke. Die Einsamkeit drückte auf ihre Seele. Wellen von Schwermütigkeit überkamen sie wie ein Schauder. Sie konnte den Himmel nicht sehen, dafür die braune Graberde, in die sich Grasbüschel gemischt hatten. Wie ein ruhiger See lag die Erde vor ihr. Die Gestalt spürte weder die Kälte noch die Nebelnässe, aber sie merkte, daß sich in ihrer Umgebung etwas tat. Da kroch was Unbegreifliches hoch, das sie sich nicht erklären konnte und nur als etwas sehr, sehr Böses ansah.
Angst… Da passierte es! So schnell, daß die am Grab stehende Gestalt nicht mehr reagieren konnte. Plötzlich riß die lockere Erde auf. Lehm und Grasbüschel wirbelten in die Höhe, und mit ihr kam der schreckliche Arm und die zur Klaue gekrümmte Hand. So schnell, so hastig, daß es ihr nicht gelang, auch nur die Arme zu heben. Die Totenklaue war schneller. Sie umklammerte den Hals der einsamen Gestalt. Eisig fühlte sich die Hand an, doch es war nicht die Kälte des Winters, sondern die des Todes oder eines tiefen Grabs, aus dem sie nach oben geschossen war. Die Frau röchelte. Sie hatte ihren Körper zurückgedrückt, sie schlug mit den Armen um sich, sie trampelte, und ihre Füße wühlten dabei den Boden auf, hinterließen tiefe Spuren. Sie bewegte sich heftig unter dem gnadenlosen Griff der Hand. Keine Gnade… Der Kampf ging verloren. Die Tote war stärker! Luft, Luft, Luft… Es war wie ein Schrei, wie ein Trompetenstoß – und der Schrei gellte auf. Er zitterte wie eine schaurigfrenetische Botschaft durch das Zimmer – und Yvonne erwachte… *** So schlimm, so real und grauenhaft war dieser Traum noch nie zuvor gewesen. Sie hatte sich aufgesetzt, ohne es direkt bemerkt zu haben. Sie saß im Bett, sie hörte jemand weinen und stellte erst nach einer Weile fest, daß sie es war, die weinte. Sie war fertig, am Ende. Ihr Körper zuckte, das Herz schlug wie rasend, denn dieser Traum hatte sie regelrecht zerstört und ihr auch die Hoffnung geraubt. Er war einfach so furchtbar und so real gewesen, daß sie es nicht schaffte, ihn zu verdauen. Besonders der Schluß, wo sich das Grab geöffnet hatte und die Klaue hervorgejagt war, um ihren Hals zu umfassen, der seltsamerweise schmerzte, als wäre all dies tatsächlich passiert. Wie konnte ein Mensch nur so intensiv träumen? Diese Frage beschäftigte sie trotz ihrer Furcht, die noch immer als Folge des Traums in ihr steckte.
Sie schaltete das Licht ein. Es floß weich über das Bett hinweg, es verströmte Ruhe, es war sanft, doch auch als die Schatten der Dämmerung im Zimmer vertrieben waren und sie die vertraute Umgebung besser sah, kam sie zu keinem Ergebnis. Zwei Dinge kristallisierten sich sehr stark hervor. Zum einen sie persönlich, zum anderen Tabitha Leroi, die Person, die sie vor zwei Tagen begraben hatte. Yvonne hatte selbst gesehen, wie der Sarg in die Grube hineingelassen worden war. Es mußte einfach unmöglich sein, daß aus dem Grab eine Hand erschien und nach ihrer Kehle faßte. Außerdem hatte man ihr mitgeteilt, daß sie den Friedhof besuchen würde. Auch im Tod bestand die Verbindung noch. Es war wie bei liebenden Menschen, die lange Jahre zusammen gewesen waren, da hörte die Beziehung eigentlich auch dann nicht auf, wenn einer der beiden gestorben war. Tabitha und sie. Tabitha und andere… Warum dachte sie an die anderen. An all die Menschen, die bei der Geistheilerin Trost und Hoffnung gesucht hatten. Alte und Junge, Reiche und Arme waren gekommen, und für jeden hatte Tabitha die nötige Zeit aufgebracht. Viele waren von ihren Krankheiten geheilt worden und hatten die Praxis als glückliche Menschen verlassen. Sehr oft hatte sich Yvonne die Frage gestellt, wie Tabitha so etwas nur fertigbrachte, und sie hatte auch eine Antwort erhalten. »Schau dir die Hände an!« hatte Tabitha mit beschwörend klingender Stimme erklärt, »sie und der Glaube an die anderen Welten sind meine Geheimnisse.« Der Glaube an andere Welten! Über diesen Satz stolperte Yvonne auch in der Erinnerung. Dieser Glaube mußte ungemein stark gewesen sein, doch welche anderen Welten hatte Tabitha damit gemeint? Etwa das Jenseits? Saß dort jemand, zu dem sie einen Kontakt aufgebaut hatte? War von dort Hilfe zu erwarten? Yvonne hatte nie versucht, tiefer in diese Person zu drängen. Auf der einen Seite hatte sie sich natürlich dafür interessiert, auf der anderen aber wollte sie nicht Bescheid wissen. Diese Dinge waren ihr einfach zu unheimlich und auch zu kompliziert. Sie erklären zu können, warf nur ihr Weltbild durcheinander. Der Hals tat ihr weh. Und zwar beim Schlucken. Sie hatte auch mit offenem Mund gelegen, und durch den heftigen Atem war die Kehle wie ausgetrocknet. Dagegen half Wasser. Sie mußte also aufstehen und ins Bad gehen. Das grelle Licht schmerzte in ihren Augen. Auch fühlte sie sich wie benebelt. Ihre Schritte waren nicht so wie sonst. Sie sah im Spiegel, daß sie leicht schwankte.
Die Zahnbürste nahm sie aus dem Glas, drehte das Wasser an und ließ es in das Gefäß schäumen. Als sie es an den Mund ansetzte, schaute sie dabei zwangsläufig in den Spiegel. Das Wasser schwappte über. Es klatschte ihr ins Gesicht, weil sie sich vor sich selbst erschreckt und die Hand mit dem Glas ruckartig bewegt hatte. Nicht vor ihrem Gesicht, sondern vor dem Hals! Sie erinnerte sich an die schlimmste Szene des Traums, als die starke Hand aus dem Grab gekommen war und sich blitzartig um ihre Kehle geklammert hatte. War das überhaupt ein Traum gewesen? Nein, bestimmt nicht, denn durch einen Traum hätten nicht die roten Druckstellen an ihrem Hals erscheinen können… *** »Was hältst du von der Sache?« fragte Suko, als er aus dem Vorzimmer zurückkehrte und frischen Kaffee brachte. »Weiß nicht.« Er stellte die Tassen ab. »Kein Gefühl wie sonst?« Ich nahm die Beine nicht vom Schreibtisch, als ich die Schultern hob. »Weder ein gutes noch ein schlechtes. Im Prinzip habe ich gar keines gehabt, wenn ich ehrlich sein soll.« »Das ist nicht gut.« »Wieso nicht?« »Weil ich dich so gar nicht kenne.« Er schob mir die Tasse in Reichweite. »Läßt du nach, Alter?« Ich nuckelte an der braunen Brühe. »Wie kommst du darauf?« Er hob die Schultern. »Ganz einfach, du bist einfach so lethargisch, als hättest du zu nichts Lust.« »Das siehst du falsch. Glendas Vorschlag interessiert mich nur nicht.« »Du glaubst also, daß da nichts dahintersteckt?« »Richtig.« Da Suko schwieg, nahm ich an, daß er eine andere Meinung hatte als ich. »Na, hat sie dich überzeugt?« »Fast.« »Warum?« »Wir sollten wirklich Lady Sarah anrufen, um mehr über sie zu erfahren«, schlug er vor. »Wir?« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist doch derjenige, welcher. Ich halte mich da raus.« »Und so etwas nennt sich Freund.« »Jeder soll sich auf seine Weise blamieren.« Suko legte sich fast auf den Schreibtisch, doch zwischen seinem Kinn und der Platte befanden sich noch immer die beiden Hände. »Ich denke
nicht einmal, daß ich mich blamieren werde. Ich habe das Gefühl, daß uns da etwas erwartet.« Mit einer großzügigen Geste deutete ich auf das Telefon. »Da steht der Apparat, aber schalte bitte den Lautsprecher ein und laß mich mithören.« »Gern.« Suko wählte, auch das Geräusch bekam ich mit. Ich hatte meine bequeme Haltung nicht verändert, nuckelte noch immer am Kaffee und beobachtete Suko mit spöttischem Blick. Der aber ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und hatte Glück, daß Lady Sarah abhob und nicht die bei ihr wohnende Jane Collins. »Ach nein, du rufst an, Suko?« »Wie du hörst.« »Gibt es Probleme? Ärger mit John?« Ich verdrehte die Augen, und Suko zeigte ein Grinsen. »Weißt du, die gibt es im Prinzip nicht. Wir beide haben nur andere Meinungen, wenn du verstehst.« »Noch nicht. Um was geht es denn?« Lady Sarah kam dabei sehr schnell zur Sache. »Um eine Beerdigung, bei…« »Hach, ihr habt die Zeitung gelesen.« »So ist es.« »Wie bin ich denn auf dem Foto gekommen? Was meinst du?« »Super.« »Hör auf, du willst mich auf den Arm nehmen.« »Nein, das auf keinen Fall, Sarah. Ich möchte nur etwas anderes wissen.« »Okay, was?« »Warum warst du da?« Suko hatte den Klang seiner Stimme geändert und sehr ernst gesprochen. Das merkte auch Sarah Goldwyn. »Ich denke, daß du so einige Sorgen hast, mein Lieber.« »Natürlich.« »Wie schön, laß hören.« »Da ich dich auf der Beerdigung gesehen habe, muß dich doch etwas mit dieser Person verbunden haben, denke ich.« Schweigen, ziemlich lange, so daß selbst ich aufhorchte und die Beine vom Schreibtisch nahm. »Bist du noch da?« »Natürlich. Ich habe auch deine Frage verstanden. Du wolltest wissen, was mich mit ihr verband. Im Prinzip nichts – und doch eine ganze Menge, wenn du verstehst.« »Nein.« »Dann erkläre ich es dir.« »Das wäre nett.«
Lady Sarah holte tief Luft, bevor sie loslegte. »Tabitha Leroi gehörte zu den außergewöhnlichen Frauen, für die man sich einfach interessieren mußte. Sie war gut.« »Als Heilerin?« »Klar.« Suko verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Hast du dich denn heilen lassen?« erkundigte er sich. »Unsinn. Wie kommst du denn darauf?« »Weil du doch bei ihr warst.« »Klar, zusammen mit Jane Collins. Diese Frau hat uns einfach interessiert, verstehst du das? Sie ist ungewöhnlich gewesen, sie ging schon im Leben einen anderen Weg. Sie hatte die heilenden Hände, wie man so schön sagt. Auch wenn ich mich nicht in ihre Behandlung gegeben habe, ich habe mich trotzdem mit ihr sehr gut unterhalten. Es gab keine Differenzen zwischen uns. Ich habe ihr hin und wieder sogar geholfen, wenn es um eine bestimmte Literatur ging, die sie gern gehabt hätte, um etwas nachzulesen. Das klappte schon zwischen uns.« Ich hob die Hand und erregte so Sukos Aufmerksamkeit. »Frag sie mal, warum wir davon nichts wissen?« »Mach’ ich.« Lady Sarah hatte mich gehört. »Was will John denn?« Suko wiederholte meine Frage. Wir hörten sie lachen. »Das ist ganz einfach, ihr Ignoranten. Wie oft sehen wir uns denn? Sehr selten, wie ich finde. Da ist kaum einer über die Aktivitäten des anderen informiert, oder liege ich da falsch?« »Nein.« »Eben. Ich habe mein Leben, ihr das eure. Mir ist es auch nie in den Sinn gekommen, daß ihr euch beruflich mit der Geistheilerin beschäftigen wollt.« »Es waren auch nur Fragen«, schwächte Suko ab. Sarah Goldwyn war natürlich mißtrauisch geworden. »Was steckt denn nun wirklich dahinter. Ist bei ihrem Tod etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen?« »Du weißt, wo man sie gefunden hat?« Sie räusperte sich. »Ja, ich hörte davon. Sie hat sich auf den Friedhof begeben, um zu sterben.« »Stimmt. Findest du das denn normal?« »Auf keinen Fall, aber sie war schon immer exzentrisch, und ich muß dir ehrlich sagen, daß ich Menschen mag, die nicht stromlinienförmig sind.« Sie räusperte sich. »Außerdem ist da noch eine Sache, über die ihr Bescheid wissen solltet.« »Welche denn?« »Nun ja, ich habe eine Einladung erhalten. Heute abend soll ich auf dem Friedhof erscheinen. Und wie ich erfahren habe, bin ich nicht die einzige
Person, auch viele andere Kunden oder Patienten sind eingeladen worden, um so etwas wie eine Gedenkfeier für die Verstorbene zu halten. Zwar ein wenig früh, wo sie doch erst einige Tage tot ist, aber doch originell.« »Das stimmt«, sagte Suko und schaute mich an. »Was meinst du denn dazu?« »Es wird interessanter.« »Finde ich auch.« »Dann wollt ihr auch kommen?« rief Sarah. »Wenn du uns sagst, wohin wir müssen, ist alles gebongt.« »Es ist der alte Teil auf dem Hammersmith-Friedhof. Dort hat sie auch ihre letzte Ruhestätte gefunden. Man kann das Grab nicht verfehlen, es ist ein kleiner Hügel.« »Wie sieht es mit Jane aus? Kommt sie mit?« »Das denke ich schon.« »Und wann soll die Schau beginnen?« »Um zwanzig Uhr.« »Danke.« »Ihr kommt auch?« Bevor Suko antworten konnte, nickte ich. »Ja, Sarah, wir werden dort auch erscheinen.« Sie lachte wissend. »Das ist interessant. Und ihr wolltet mir erzählen, daß ihr euch nicht für die Frau interessiert habt? Schämen sollt ihr euch.« »Wir haben uns auch jetzt erst entschlossen.« »Glaube ich euch nicht. Was steckt denn nun wirklich dahinter?« »Das müssen wir noch herausfinden. Begonnen jedenfalls hat es mit einer Person, die wir bald kennenlernen werden, einer Frau.« »Wie heißt sie?« »Yvonne Terry.« »Ha, die kenne ich doch. Sie war, sie war… laßt mich überlegen, sie hatte was mitTabitha zu tun.« »Sie war ihre Sekretärin.« »Richtig, Suko.« Lady Sarah pfiff vergnügt. »Ich denke schon, daß sich hier etwas anbahnt, und ich werde Jane ebenfalls davon in Kenntnis setzen.« »Tu, was du nicht lassen kannst«, erwiderte Suko seufzend. »Wir sehen uns dann spätestens heute abend.« »Ja, ich freue mich. Und grüße John von mir.« Suko schielte zu mir herüber. »Er hat es soeben nickend zur Kenntnis genommen.« »Dann ist ja alles klar.« Sie legten gemeinsam auf und Suko schaute für einen Moment nachdenklich auf den Hörer, bevor er sich an mich wandte. »Nun, was denkst du jetzt?«
Ich strich über mein Haar. »Ich weiß es noch nicht.« »Du willst es nicht wissen, Alter, du bist faul geworden.« Ich konnte ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. »Heute schon, das gebe ich zu.« »Na bitte.« »Da wäre noch Yvonne Terry«, sagte Suko. Wie auf ein Stichwort hin öffnete sich die Tür, und Glenda Perkins betrat unser Büro. Sie nickte uns zu. »Fertig mit der Telefoniererei?« »Ja.« Glenda lächelte süffisant. »Wir haben Besuch bekommen, und ich denke, daß er sehr wichtig ist.« »War er angemeldet?« fragte ich. »Quatsch, nein. Es ist Yvonne Terry.« Sie kam näher und senkte ihre Stimme. »Wenn ihr mich fragt, dann geht es ihr nicht gut. Ich denke, wir sollten uns näher mit ihr beschäftigen…« *** Wieder war ein neuer Tag angebrochen. Wieder drückte die Kälte, und wieder wehte der Dunst über die Gräber hinweg, kroch schlangengleich durch die Büsche, wehte über den Boden, hüllte die Gräber ein und hinterließ seine Nässe auf der Pflanzenwelt. Der Friedhof lag da als eine Oase der Ruhe. Der Verkehrslärm war nur schwach zu hören, denn der Dunst dämpfte viele Geräusche. Das Dach der Leichenhalle hatte ein weißes Kleid bekommen. Eis schimmerte auch auf den Pfützen, es lag wie eine dicke Schicht auf den Zweigen der Bäume und der Büsche. Auch an den Gräbern rührte sich nichts. Nicht einmal Besucher durchwanderten bei diesem Wetter das Gelände, und so fiel der einsame Mann schon auf, der sich über das Gelände hinwegbewegte wie ein Dieb, der nicht gesehen werden wollte. Er war eine Gestalt, die sich anpassen konnte. Es mochte an seiner Kleidung liegen, einem langen, grauen Mantel, dessen Kragen er hochgestellt hatte. Auf einen Hut hatte er verzichtet, dafür trug er Handschuhe und hatte zusätzlich einen Schal um seinen Hals geschlungen. Der Mann ließ sich Zeit. Er durchwanderte den Friedhof mit langsamen Schritten, als wollte er jedes Teil genießen, das er zu Gesicht bekam. Er schaute sich nicht allein die Grabsteine an, er betrachtete auch die Bäume und Büsche, als hätten sich dahinter irgendwelche gefährlichen Wesen versteckt, die er aufspüren wollte. Der einsame Mann wirkte wie ein Kenner der Materie. Es war ihm anzusehen, daß er sich nicht zum erstenmal hier aufhielt, denn trotz seines langsamen Tempos ging er zielsicher, und er näherte sich der Stelle, wo das frische Grab der Geistheilerin lag.
Je dichter er herankam, um so kantiger wurde sein Gesicht. Die innere Spannung hielt ihn umklammert, und er schien sich nicht mehr sicher zu sein, ob er sich überhaupt allein auf dem alten Totenacker bewegte, denn immer öfter schaute er sich um, ob er nicht verfolgt wurde. Zum Glück war das nicht der Fall. Mutterseelenallein wanderte er über das Gelände, eine einsame Gestalt im Dunst, ein Schatten, der es hin und wieder verstand, sich lautlos zu bewegen. Der Wind hatte sich zurückgezogen. Durch nichts wurde der Dunst bewegt. Er lag einfach da und hüllte alles ein. Es gab keine Lücke, in die er nicht hineingekrochen war. Der Mann blieb stehen. Erlegte den Kopf zurück, schaute für einen Moment zum Himmel, als wollte er versuchen, die Wolken zu sehen, die aber nicht da waren. Der Dunst verschluckte alles und machte die Grabsteine zu stummen Zeugen. Wieder ging der Einsame weiter. Sein Atem strömte über die Lippen und vermischte sich mit dem Dunst. Er war nervöser geworden, hin und wieder entstand auf seinem Rücken eine Gänsehaut. Als er den frischen Grabhügel wie ein Buckel im Dunst vor sich aufragen sah, drang ein Stöhnen über seine Lippen. Er hatte es geschafft, er war da – endlich! Nervös wischte er über seinen Mund. Das feuchte Wetter hatte auch in seinem Gesicht Spuren hinterlassen. Tropfen lagen auf seiner Stirn, einige hingen auch wie Perlen an den Augenbrauen. Er verzog den Mund, und plötzlich lag auf seinem Gesicht ein haßverzerrter und auch trauriger Ausdruck. Wieder dachte er an Anne, und als ihm der Gedanke gekommen war, durchlief ein Zittern seinen Körper. Er spürte den Druck im Magen und die Gänsehaut auf seinem Gesicht. Haß durchströmte sein Inneres. Der Haß auf sie! Da lag ihr Grab! Er lachte. Verdammt noch mal, sie trug daran die Schuld, daß seine Frau gestorben war. Anne Todd, gerade mal achtundvierzig Jahre alt geworden, eine Frau, die immer seelisch krank gewesen war, die unter Depressionen gelitten hatte, die Stammpatientin bei mehreren Ärzten gewesen war. Die hatten ihr jedoch auch nicht helfen können. Dann war sie zu Tabitha Leroi gegangen. Eine Freundin hatte ihr davon berichtet, denn Tabitha war etwas Besonderes. Keine Ärztin, nein, sie heilte anders, sie stand mit den Mächten in Verbindung, die einige ihrer Patientinnen als gottgleich bezeichneten. Das aber hatte William Todd nie glauben wollen. Er hatte seine Frau vor Tabitha gewarnt, vergeblich, sie war immer und immer wieder hingegangen, bis zu dem Tag, an dem sie von einem Besuch nicht mehr zurückgekehrt war. Man hatte sie als Tote gebracht, und von diesem Tag an haßte William Todd die
Geistheilerin. Er gab ihr die Schuld an Annes Tod, und er hatte sich geschworen, Anne zu rächen. Es war ihm nicht mehr gelungen, denn auch Tabitha hatte ihrem Ende nicht entrinnen können. Jetz lag sie ebenfalls in der feuchten Erde, und in der Zeitung hatte William Todd soviel über die Beerdigung gelesen. Er hatte die Artikel ausgeschnitten, sie gesammelt, sich dann einen Plan zurechtgebastelt, den er nun in die Tat umsetzen wollte. Er wußte, daß er mit Tabitha Leroi nicht mehr abrechnen konnte, auch seine Frau konnte er nicht mehr zurück ins Leben holen, doch er würde sich Genugtuung verschaffen, wenn er das Grab dieser Tabitha Leroi erreichte. Er würde sich auf seine Art und Weise rächen und auf das Grab spucken, so groß war sein Haß. Er hatte sich noch viel schlimmere Dinge vorgestellt, aber er wußte nicht, ob er den Mut fand, so etwas auch zu tun, deshalb blieb es zunächst beim Vorsatz. Er konnte auch Feuer legen, das verdammte Grab einfach an- oder abbrennen. Er konnte darauf herumtrampeln und dieses Weib noch im nachhinein verfluchen, das alles hätte jedoch seine Frau auch nicht wieder lebendig gemacht. Es gab ihm nur ein Gefühl, etwas getan zu haben, auch wenn es zu spät gewesen war. Geistheilerin hatte sie sich genannt. Da konnte er nur lachen. Sie war ein weiblicher Scharlatan gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Nichts hatte sie geheilt, obwohl sich die Presse überschlagen hatte, wenn sie über die Frau berichtete. Das alles hatte einfach nicht gestimmt, er konnte es sich nicht vorstellen. Sie war einfach nur eine Frau gewesen, die sich auf Bauernfängerei verstanden hatte. Und dann war da noch etwas gewesen, worüber er immer hatte nachdenken müssen. Man hatte dieser Person magische Kräfte nachgesagt. Nur weil sie mit anderen Welten in Kontakt gestanden hatte, waren die Erfolge überhaupt möglich gewesen. Angeblich hatte sie mit den Geistern und den Toten sprechen können, um von ihnen die Informationen zu kriegen die sie brauchte. Ja, die Verstorbenen sollten ihr gesagt haben, was für sie zu tun war. Kaum zu fassen, einfach grauenhaft, aber viele Menschen hatten daran geglaubt, besonders die Patientinnen. Vor dem kleinen Hügel blieb William Todd stehen. Er spürte selbst, wie er sich verändert hatte. Er war wütend geworden, gleichzeitig aber beschlich ihn ein ungewöhnliches Gefühl, das seine Vorsätze dämpfte. Vorsichtig schaute er sich um, denn er konnte sich dieses Gefühl einfach nicht erklären. Es war da, es war der innere Motor, der ihm zu schaffen machte. War er noch allein? Nebel, wohin er auch schaute. Dunst, der wie gebacken auf dem Friedhof lag und das graue Tageslicht noch undurchsichtiger machte. Konnte sich hier jemand verstecken?
Nein, nicht in der unmittelbaren Nähe, denn dieses Grab lag relativ frei im Gegensatz zu dem Teil des Friedhofs, wo die Grabstätten dicht an dicht lagen und von irgendwelchen Hecken, Büschen oder Bäumen geschützt wurden. Sein Blick fiel auf das schief in der weichen Graberde steckende Brett. In das Holz war der Name Tabitha Leroi eingeschnitzt worden, und als er ihn las, überkam ihn wieder der blanke Haß. Er achtete nicht mehr auf die Warnungen, er würde das Holz herausziehen und es mit den eigenen Händen zertrümmern. Dieser Vorsatz gab ihm genau den Push, den William Todd brauchte. Er ging auch die letzten Schritte auf das Grab zu, und in seinen Augen stand plötzlich ein kaltes Leuchten. Es lag nicht ein Kranz um das Grab herum. Todd dachte daran, daß sie auch keinen verdient hatte, und das aus seinem Mund dringende leise Knurren machte ihm abermals Mut, auch den Rest zu gehen und mitten auf dem Grab stehenzubleiben. Die Erde war weich wie ein Teppich. Todd erschrak, als er sie zum erstenmal berührt hatte. Seine Füße sanken etwas ein, er hatte den Eindruck, als hätten sich von unten her Hände in die Höhe geschoben, die seine Sohlen umklammerten, und ein Strom der Furcht durchzuckte seinen Körper. Unsinn! Wer tot ist, der ist tot. Tote können einem Lebenden keine Falle mehr stellen. Über sein Gesicht lief ein Zucken, als er genügend Speichel sammelte. Todd dachte dabei an seine Frau Anne, an deren Tod Tabitha die Schuld getragen hatte. Er würde abrechnen, bitter und böse. Und er spuckte auf das Grab! Todd wußte, daß es sich nicht gehörte, er tat es trotzdem, er tat es bewußt, und er schaute zu, wie der Speichel auf der Graberde landete – und aufzischte! Todd hatte für einen Moment das Gefühl festzufrieren. Er konnte nichts begreifen, es war ihm ungeheuerlich, denn dafür gab es keine logische Erklärung. Er hatte nicht auf eine glühende Holzplatte gespien, sondern auf kalte Graberde, die an einigen Stellen sogar noch leicht gefroren war. William Todd verschwand nicht. Er blieb wie unter einem inneren Zwang stehen. Sein Gesicht hatte einen entsetzten und gleichzeitig erstaunten Ausdruck angenommen. Er kam nicht mehr zurecht. Innerhalb von Sekunden hatte sich vieles verändert. Wie war das möglich? Er blickte auf den Speichel, der noch immer vor seinen Füßen lag und aussah wie eine weiße Kruste. In seinem Kopf hämmerte es. Er schalt sich einen Narren, der sich etwas eingebildet hatte, so ganz wollte er dem nicht zustimmen. Es fiel ihm schwer, sich auf sich selbst und auf die
makabre Umgebung zu konzentrieren. Etwas war hier anders. Er dachte an den weichen Untergrund und hatte plötzlich das Bedürfnis, sein Ohr darauf zu legen und zu lauschen, als könnte er dann Stimmen oder Botschaften aus dem Grab hören. Als er daran dachte, nahm sein Gesicht eine graue Farbe an. Die Falten gruben sich noch tiefer in seine Haut hinein, und er kam sich vor wie ein Mensch, der vor einer Aufgäbe stand, die er nicht mehr bewältigen konnte. Hier war einiges anders geworden. Er erinnerte sich wieder daran, wer hier begraben lag und was man von dieser Frau alles gesagt und was man über sie geschrieben hatte. Hatte sie tatsächlich mit finsteren Mächten in Einklang gestanden? Er wollte es nicht glauben, sein Verstand sagte nein, doch sein Gefühl reagierte anders. Es konnte möglich sein. Warum hatte der Speichel so aufgezischt? Todd bückte sich. Er hatte es plötzlich eilig. Er wollte noch dieses verdammte Holz aus der Erde ziehen, dann weglaufen und es zertrümmern. Dieses Weib sollte ein anonymes Grab erhalten, niemand sollte sich daran erinnern. Mit beiden Händen packte er zu. Das Holz steckte ziemlich locker in der Erde, er würde es leicht hervorziehen können. Es klappte nicht. Todd war irritiert. Ein zweiter Ruck! Auch jetzt bewegte sich das Holz nicht von der Stelle. Scharf stieß der Mann die Luft aus. Ihm kam es vor, als wäre dieses Stück Holz in der Tiefe des Grabs einbetoniert worden, oder befand sich dort unten tatsächlich jemand, der es festhielt? Sein Magen zog sich zusammen. Das Herz schlug schneller. In seinem Kopf rauschte es plötzlich, und er erstarrte in seiner gebückten Haltung, als er plötzlich den eisigen Lufthauch spürte, der über seinen Nacken hinwegstreifte und selbst durch die Wolle des Schals drang. Was, zum Teufel, war das gewesen? Hatte plötzlich der Wind aufgefrischt, oder mußte Todd von völlig anderen Vorausetzungen ausgehen, die ihm gar nicht gefielen. Viele Menschen verbanden einen Gruß aus dem Jenseits – falls es so etwas überhaupt gab – mit einem eisigen Hauch, als wäre Atem zu Frost gefroren. So hatte es sich angefühlt. Das ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Todd hörte sich schwer atmen. Er nahm sich vor, noch einmal an dem verdammten Holz zu ziehen. Wenn er es dann nicht losbekam, würde er seinen Vorsatz aufgeben und wieder verschwinden. Der dritte Ruck!
Wieder geschah nichts. Das Holz blieb in der Erde. Aus der Tiefe des frischen Grabs glaubte Todd, ein Knurren gehört zu haben. »O Gott…« Er ließ das Holz los, die Kälte aber war geblieben. Auf der Stelle stehend blickte er sich um, weil er den Eindruck hatte, von unsichtbaren Gegnern umzingelt worden zu sein. Er sah nichts – aber da war etwas mit dem Nebel geschehen. Todd glaubte daran, daß er sich verdichtet hatte, und plötzlich hatte er es auch geschafft, sich zu bewegen. Ja, er tanzte, er wallte, er floß und rollte in einer gespenstischen Lautlosigkeit. Todd atmete schneller. Waren da nicht Gesichter zu sehen, feingesponnen wie aus einem hauchdünnen Garn? Hatte er nicht Besuch bekommen von irgendwelchen Wesen, die ihr Reich jetzt verlassen hatten? Nein, nein und abermals nein! Trotzdem wollte und mußte er weg. Er drehte sich um. Das schaffte der Mann noch, mehr aber nicht, denn als er einen Fuß anheben wollte, hielt ihn die Graberde fest. William Todd kam nicht mehr weg! *** Wir hatten Yvonne Terry als eine nervöse, sehr unruhige und hypersensible Frau erlebt, die manchmal sehr schnell berichtet hatte, dann wieder in einen Zustand der Lethargie hineingefallen war, sich selbst bejammerte und so schien, als hätte sie überhaupt keine Kraft mehr, am Leben zu bleiben. Glenda hatte sie mit Kaffee versorgt, ich mit Zigaretten, um die sie mich gebeten hatte, aber sie hatte die Glimmstengel immer nur angeraucht und dann ausgedrückt. Wir waren skeptisch gewesen, ich stärker als die anderen, aber die Streifen am Hals hatten mir schon zu denken gegeben. Sie selbst hatte sich diese bestimmt nicht zugefügt, doch es war schwer vorstellbar, daß sie dies während eines Traums erlebt hatte. Auf unsere Nachfragen hin hatte sie es immer wieder bestätigt und schließlich einen Satz gesagt, der uns ebenfalls zu denken gab. »Ich habe seit kurzem das Gefühl, daß Tabitha Leroi gar nicht richtig tot ist.« Keiner von uns Männern redete. Nur Glenda sprach mit ihr und schob ihr die Tasse mit dem frischen Kaffee zu. Danach schaute sie uns auffordernd an, als wollte sie uns deutlich machen, daß nun unsere Zeit gekommen war. Ich übernahm auch das Wort und fragte: »Wieso haben Sie dieses Gefühl, Yvonne?«
»Das Band ist nicht gerissen«, flüsterte sie. »Hat es denn immer bestanden?« »Ja, davon bin ich überzeugt.« »Und Sie haben Tabitha gemocht?« »Wir kamen gut miteinander aus.« »Ist es ihr denn gelungen, Sie zu überzeugen, Yvonne? Haben Sie an Tabitha und ihre Kräfte geglaubt?« Die blonde Frau runzelte die Stirn. »Was heißt geglaubt? An mir hat sie ihre Methoden nicht ausprobieren brauchen, ich kann da nur wiederholen, was die Patienten sagten, wenn sie Tabitha verließen. Die waren stets zufrieden, sie fühlten sich besser, oft schon nach der ersten Sitzung. Es gab nicht wenige, die auf Tabitha schworen.« »Sie ist also gut mit den Patienten ausgekommen?« »Super sogar.« »Tja«, sagte ich, »um so unverständlicher ist es für mich, daß sie dann sterben wollte. War sie denn krank?« »Nein.« »Und trotzdem…« »Tabitha war eine besondere Frau. Sie mochte den Tod, sie mochte das Jenseits, und sie hat mir immer gesagt, daß der Tod noch längst nicht das Ende ist. Da beginnt es für manche erst, und auch sie war davon überzeugt. Das kann ich behaupten. Sie hat oft von den wunderbaren Welten gesprochen, von den Geistern, die mit ihr in Verbindung standen, denn sie brauchte ja die Informationen, um die Menschen zu heilen.« Ich runzelte die Stirn. »Die hat sie sich aus dem Jenseits geholt?« »Ja, so ist es immer gewesen.« »Schwer vorstellbar.« Suko tippte mich an. »Eigentlich nicht für uns, John, wir sind diese Dinge gewohnt. Denk nur an das Horror-Telefon, den heißen Draht zum Jenseits. Da hatten auch wir den Kontakt.« »Das ist allerdings wahr.« Yvonne Terry starrte auf den vollen Aschenbecher. »Diese Tote will etwas von mir, denke ich. Den Grund kann ich nicht sagen, aber ich habe das Gefühl, als wäre sie immer bei mir, obwohl ich sie nicht erkennen kann. Sie lauert in meiner Nähe, sie ist über jeden Schritt informiert, denke ich. Sie weiß genau, daß ich zu Ihnen gekommen bin, um über meine Ängste zu sprechen. Ich… ich kann es nicht fassen, es ist einfach zu schlimm.« »Aber Sie haben den Kontakt tagsüber nie so intensiv erlebt wie in Ihren Träumen«, vermutete Suko. »So ist es.« »Hatten Sie ihn überhaupt mal?« »Bis jetzt noch nicht. Das heißt, heute schon. Heute ist sowieso alles anders. Dieser Tag ist etwas Besonderes für mich, denn ich weiß auch, daß ich mich nicht wehren kann. Ich werde sogar heute abend zum
Friedhof gehen, und ich werde nicht die einzige sein, denn sie hat so etwas wie ein Testament hinterlassen. All die Menschen, die durch sie eine Heilung erfahren haben, sollen ihr einen letzten Besuch abstatten. Sie alle sollen sich auf dem Friedhof und um ihr Grab herum versammeln, um das Wunder zu erleben?« »Welches Wunder?« »Das weiß ich nicht, Mr. Sinclair.« »Ihre Rückkehr?« Als Yvonne zusammenzuckte, da wußte ich, daß ich ins Schwarze getroffen hatte. Auch sie hatte wohl daran gedacht, ohne jedoch eine Erklärung zu finden, denn es war für einen normalen Menschen unvorstellbar, sich die Rückkehr eines Toten zu erklären. »Werden Sie denn gehen?« »Ich möchte nicht.« Sie hob die Schultern. »Aber ich gehe trotzdem hin. Nicht, weil ich es ihr schuldig bin, sondern weil es eben Dinge gibt, die man nicht aufschieben kann. Ich habe sogar den Eindruck, daß sie mich holen wird, wenn ich nicht gehorche.« »Sitzt das Band so fest?« »Ja.« Als Glenda zum Fenster ging, um es zu öffnen und frische Luft hereinzulassen, erkundigte sich Suko, ob Yvonne etwas Besonderes für Tabitha gewesen war. »Das war ich wohl.« »Inwiefern?« »Ich habe für Sie gearbeitet. Ich habe die Abrechnungen für die Honorare gemacht und setzte die Termine fest. Sie hat mir voll und ganz vertraut, doch als sie dann gestorben war, wobei keiner weiß, wie sie ums Leben gekommen ist, begannen meine Alpträume. Sie haben sich immer mehr verdichtet. Heute bin ich davon überzeugt, daß sie mich noch immer braucht, und ich für sie arbeite.« »Sie haben Tabitha immer nur in der Nacht in ihren Träumen erlebt – oder?« »Ja, Mr. Sinclair.« »Und heute abend sollen alle Patienten endgültig von ihr Abschied nehmen, wie ich hörte?« »So ist es.« Yvonne kramte in der Tasche. »Ich habe zahlreiche Briefe mit dem gleichen Wortlaut schreiben müssen, und wenn ich ehrlich sein soll, dann glaube ich sogar, daß sich Tabitha auf die eine oder andere Weise meldet.« Sie holte einen Brief hervor und reichte ihn mir. Suko rückte näher an mich heran, damit er mir über die Schulter schauen konnte. Ich las das Schreiben halblaut vor. »Lieber Freund! Es ist wichtig, daß ich mich nun endgültig verabschiede, deshalb möchte ich Sie bitten, zu meinem Grab zu kommen und Kerzen mitzubringen. Die Trauerfeier soll
ein unvergeßliches Ereignis sein. Ich hoffe, ich kann auf Sie zählen.« Es waren noch der Ort, die Uhrzeit und das Datum hinzugefügt worden. »Das ist es gewesen«, sagte Yvonne. Ich gab ihr den Brief zurück. »Können Sie ungefähr sagen, wie viele Personen wohl kommen werden?« »Nein, aber ich rechne mit fast allen.« »Warum?« Sie hob die Schultern. »Das Verhältnis zwischen Tabitha und ihren Patienten war ein besonderes. Die Menschen haben in ihr mehr gesehen als nur die Ärztin oder Geistheilerin. Für sie war Tabitha eine Freundin, die es gut mit ihr meinte, und das hat sie ja durch zahlreiche Heilungen bewiesen. Sie können das in der Presse nachlesen.« »Ja, das glaube ich schon. Ich frage mich allerdings nur, was sie mit dieser Abschlußfeier bezweckt.« Yvonne nagte an ihrer Unterlippe. Unser Dialog geriet ins Stocken, denn auch sie wußte keine Antwort. Suko meinte: »Eine rein persönliche Sache, denke ich.« »Auf einem Friedhof?« Die Frage hatte Glenda gestellt. »Nein, zu ungewöhnlich.« »Finde ich auch«, bestätigte ich. Suko blieb am Ball. Er wollte von Yvonne Terry wissen, ob Tabitha eine gewisse Beziehung zu dem Friedhof gehabt haben könnte. Oder einfach nur zu Friedhöfen. Die junge Frau überlegte eine Weile. Dabei strich sie geistesabwesend über ihre Abdrücke am Hals. »Eigentlich nicht«, murmelte sie. »Es ging ihr mehr um die Geisterwelt, und Tabitha war davon überzeugt, daß sie dort einige Freunde besaß.« »Das wunderte uns. Sah sie die Geisterwelt nur als gut an?« wollte ich wissen. »Das ist die Frage. Jedenfalls habe ich nicht bemerkt, daß sie sich davor gefürchtet hätte.« »Wie kam der Kontakt zustande?« Beinahe wehmütig schaute mich Yvonne an. »Das dürfen Sie mich nicht fragen, Mr. Sinclair. Auch Tabitha hatte ihre Geheimnisse, so gut wie wir uns auch verstünden haben.« Sie atmete tief ein. »Es gab Dinge, die blieben auch für mich hintereinem Schleier verborgen. Ich habe auch nicht gefragt, denn ich spürte, daß sie nicht bereit war, den Schleier zu lüften.« »Das Rätsel der ungewöhnlichen Einladung blieb trotzdem bestehen«, faßte Glenda zusammen. »Darauf sollten wir uns einrichten, finde ich.« Sie blickte uns der Reihe nach an, bevor sie uns eine weitere Frage stellte. »Hat sich einer von euch eigentlich schon Gedanken darüber gemacht, daß es eine Falle sein könnte?« »Eine Falle?« wiederholte Suko.
»Genau, ja, eine Falle.« Yvonne tat nichts, ich räusperte mich und hielt mich mit einer Antwort ebenfalls zurück, während Glenda ihren Part genoß und dabei in die Runde lächelte. »Für alle Menschen?« fragte Yvonne. »Genau.« »Um sie möglicherweise in den Tod zu schicken?« Ihre Worte tropften schwer in die Stille hinein, und selbst ich bekam einen leichten Schauder, als ich mir das vorstellte. Ich wußte nicht, wie viele Menschen der Aufforderung folgen würden, allerdings wäre schon ein Toter zuviel gewesen. »Was hast du?« fragte Suko, der gesehen hatte, wie blaß ich geworden war. »Ich dachte bereits näher darüber nach.« »Über die Falle, die mit dem Tod enden kann?« »Ja.« »Warum sollte sie so etwas tun?« rief Yvonne. »Himmel, sie ist eine gute Frau gewesen, sie hat den Menschen wirklich geholfen. Die waren immer gut zu ihr, und sie war gut zu ihnen. Die Patienten haben sich unter ihren Schutz wohl gefühlt. Es gab keine Differenzen, sie hat so vielen geholfen, und nicht wenige von ihnen blieben noch später im Kontakt mit ihr. Die Verbindungen sind nie abgebrochen, nein, warum sollte sie das tun?« »Da gäbe es mehrere Theorien«, meinte Suko. »Welche denn, Inspektor?« Suko lächelte. »Das will ich Ihnen sagen, Yvonne. Möglicherweise hat sie etwas abzuarbeiten gehabt. Es gibt im Leben kaum etwas ohne Gegenleistung. Auch auf der anderen Seite ebenso nicht. Du kriegst etwas zurück, wenn du mir was gibst. So einfach ist die Rechnung.« »Und was hätte sie zu bezahlen gehabt?« »Menschen.« »Bitte?« Yvonne erschrak zutiefst. »Sie sprechen davon, daß sie Menschen in den Tod schicken will.« Suko nickte. »Ja, sie könnte eine Totenfalle aufgebaut haben. Nicht mehr und nicht weniger. Oft genug haben wir erlebt, daß Personen, die mit anderen Mächten in Verbindung stehen, etwas Besonderes leisten müssen, um von den anderen Mächten profitieren zu können. Oft genug sind es Opfer, und da wird auch auf Leben keine Rücksicht genommen, das kann ich Ihnen sagen.« Yvonne war geschockt. Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte. »Meine Güte«, preßte sie schließlich hervor. »Wo bin ich hier eigentlich hineingeraten? Sind Sie… sind Sie denn noch normale Polizisten, sagen Sie mal?«
Glenda legte ihr die Hände beruhigend auf die Arme. »Keine Sorge, Yvonne, es ist alles in Ordnung. Sie sind hier in Sicherheit, Sie sind auch bei der Polizei, nur haben John Sinclair und Suko Spezialaufgaben übernommen und kümmern sich um Dinge, die etwas außerhalb der normalen Polizeiarbeit liegen.« »Das habe ich auch bemerkt. Sie scheinen sich ja in dieser jenseitigen Welt auszukennen.« »Wir haben unsere Erfahrungen machen können«, lautete Sukos bescheidene Antwort. »Aber bleiben wir mal bei dieser Falle. Was meinst du, John? Liege ich da falsch?« »Wohl nicht, obwohl es dafür noch keinen hundertprozentigen Beweis gibt. Jedenfalls werden wir es nicht außer acht lassen und heute abend ebenfalls auf dem Friedhof sein.« »Zusammen mit Sarah und Jane, denke ich.« Ich schaute ihn an. Er lächelte. »Nicht, meinst du?« »Die Überraschung wäre noch größer, wenn dies nicht der Fall sein würde. Wir werden ihnen jedenfalls keinen Bescheid geben, denke ich, und alles auf uns zukommen lassen.« Suko nichte. »Okay, der Gedanke gefällt mir, je länger ich darüber nachdenke. Machen wir es also!« »Genau.« Yvonne Terry hatte zugehört. Sie wagte erst jetzt, eine Frage zu stellen. »Ahm… ich… ich denke, daß ich dann nichts tun sollte – oder?« »Im Gegenteil, Sie gehen hin.« Yvonne schaute mich an. Sie schluckte einige Male, bevor sie eine Frage stellen konnte. »Können Sie sich eigentlich vorstellen, daß auch ich Angst habe, nach allem was ich erlebt habe? Ich spreche da nicht nur von meinen Träumen, sondern auch der Demontage, die Sie an der Person meiner Chefin durchgeführt haben.« »Das mag für Sie eine Demontage gewesen sein. Wir aber müssen alles in Betracht ziehen. Es kann durchaus sein, daß sie auf der anderen Seite steht.« »Dadurch haben Sie meine Angst noch vergrößert.« »Das hatte ich nicht vor. Zynisch könnte ich sagen: Sie müssen damit leben.« Ich hielt inne, weil mir Glenda einen bösen Blick zuwarf. Dann lächelte ich. »Aber Sie werden bestimmt nicht ohne Schutz sein, denke ich.« »Wollen Sie mich schützen?« »Nein, nicht jetzt.« »Wer dann?« Ich deutete auf Glenda. »Wie wäre es denn, wenn du bei Yvonne bleibst, und wir uns später auf dem Friedhof treffen? Ist das ein Vorschlag, den du akzeptieren kannst?«
Glenda überlegte nicht eine Sekunde. »Aber immer.« Sie strahlte, und ich kannte auch den Grund, denn sie war froh, dem Büroalltag entrissen worden zu sein. Stellte sich nur die Frage, wie Yvonne Terry reagierte, und sie spürte unsere Blicke auf sich gerichtet. »Nun ja…« Ein schüchternes Lächeln huschte um ihre Lippen. »Wenn Sie meinen, daß es am besten ist, gern. Was sollte ich auch dagegen haben? Darüber könnte ich nur froh sein und mich bedanken.« Sie nickte Glenda zu. »Und Ihnen macht es wirklich nichts aus, bei mir zu bleiben und mit auf den Friedhof zu gehen?« »Ganz im Gegenteil.« Glenda lachte. »Ich bin sehr froh, und ich freue mich darüber.« »Dann… dann«, sie hob die Schultern. »Gut, dann darf ich mich schon jetzt bedanken.« »Das meine ich nicht. Wir beide werden es schon schaffen.« Sie strich Yvonne über den Arm, bevor sie sich direkt an uns wandte. »Sollen wir einen Platz ausmachen, wo wir uns treffen?« »Das ist nicht nötig, denke ich. Wir werden euch schon finden.« »Wie du willst.« Zögernd stand Yvonne Terry auf. »Ich möchte Sie nicht mehr länger aufhalten. Wenn Sie gestatten, Glenda, können wir jetzt gehen. Alles andere erledigen wir bei mir.« »Einverstanden. Ich brauche ja nicht zu packen und hole nur meinen Mantel.« Auch Suko und ich hatten uns erhoben. Vom langen Sitzen war ich doch steif geworden. Draußen lag noch immer der trübe Tag. Die Sonne hatte ich nicht gesehen, sie versteckte sich irgendwo, als wollte sie auf den Frühling warten. Glenda kehrte aus ihrem Zimmer zurück. Den Wollmantel trug sie locker über die Schultern gehängt. »So, wir können.« Ich ging auf sie zu. »Gebt trotzdem acht. Friedhöfe können manchmal sehr gefährlich werden.« »Ich weiß.« »Jedenfalls werden wir in der Nähe des Grabes sein«, sagte Yvonne. »Dort können Sie uns dann finden.« »Okay, wir halten die Augen offen.« Damit war alles gesagt, und wir schauten den Frauen nach, wie sie das Büro verließen. Suko räusperte sich. »Nun ja«, sagte er, »da kann man nur hoffen, daß wir alles richtig gemacht haben.« »Das denke ich schon.« »Mal ehrlich, John, was hältst du von dieser Totenfalle, die ja sehr theoretisch ist?« »Ich hoffe, daß sie nicht zuschlägt!«
*** Das Grauen hatte William Todd starr werden lassen! Er stand so steif da wie nie zuvor in seinem Leben, wollte nachdenken, doch seine Gedanken waren einfach festgefroren. Er schaffte es einfach nicht. Da war etwas gewesen, über das er nicht hinwegkam. Er war auch nicht in der Lage, es richtig nachzuvollziehen, und erst als einige Sekunden vergangen waren, merkte er, was überhaupt geschehen war. Er steckte fest. Das Grab hielt ihn! Ruhig bleiben, hämmerte er sich ein. Nur ruhig bleiben. Das kann alles nicht stimmen, das ist verrückt, das widerspricht allen Gesetzen. Das hier ist kein Sumpf, das ist ein normaler Friedhof mit einem völlig normalen Grab… Normales Grab? Bei diesem Gedanken rann es kalt seinen Rücken hinab. Nein, so normal war es auch nicht, wobei es nicht um die weiche Erde ging, die paßte dazu, aber was lag darunter? Wer hielt ihn fest? Er hörte sich selbst keuchen, und versuchte es erneut, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Das rechte Bein hochziehen. Einfach so, nur anheben, mehr nicht. Es ging nicht! Scharf saugte er die Luft ein. Plötzlich packte ihn wieder der Schwindel, und er meinte, es wären Wogen, die ihn von der Stelle wegschwemmten. Leider traf das nicht zu. Er blieb auf der Stelle, und seine Füße waren in der Graberde verschwunden. Angst und Entsetzen kehrten zurück. Er traute sich nicht mehr, nach unten zu schauen. Statt dessen blickte er nach vorn, auch von der Hoffnung beseelt, dort Hilfe zu finden, die aber kam nicht. Er sah nur den weichen Dunst, einen Nebel, der ihn wie ein Schwamm umtanzte, sich allerdings verändert hatte. Todd hatte den Eindruck, daß sich in dem Dunst Gesichter abzeichneten. Schreckliche Fratzen irgendwelcher Wesen, die in dem Dunst eine Heimat gefunden hatten. Sie grinsten ihn an, sie lachten ihn aus. Sie hatten Mäuler, die schon Schlünden glichen. Zungen schlugen nach ihm, und Todd hatte den Eindruck, als würden sie sich wie eisige Schals um seinen Nacken legen und zudrücken, um ihm die Luft aus den Lungen zu pressen. Er stand da und röchelte. In seinem Kopf hämmerte es. Er wußte nicht, ob es das Blut war oder seine schrecklichen Gedanken der Angst, die ihn ebenfalls durchtosten. Er war zu einem fürchterlichen Mittelpunkt geworden, denn von allen Seiten drang die Gefahr auf ihn ein. Es war der Nebel.
Es war das Grab. Und es war die Kälte! So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gespürt. Sie war von innen gekommen, um ihn mit ihrem klirrenden Frost zu umklammern. Todd spürte seine Beine nicht mehr! Auch das wollte er nicht richtig glauben. Er schaute nach unten, sie waren noch vorhanden, nur so steif geworden oder eingefroren, als wären sie Eissäulen. Die Angst steigerte sich noch weiter. Wieder unternahm er den Versuch einer Befreiung. Nicht möglich. Die Erde war wie Leim und Beton zugleich. In ihr standen die Beine wie hineingedrückt. So starr sie auch waren, er spürte sie trotzdem, das heißt, es passierte an seinen Füßen. Dort… mein Gott… ja, es stimmte. Da glitt etwas über die Füße, die in der Graberde steckten. Er wollte es zunächst nicht wahrhaben, nun gab es keinen Zweifel. Etwas hielt seine Füße umfaßt, und dieses Etwas fühlte sich an wie Hände oder kalte Klauen. Totenfinger…Ihm wurde bei diesem Gedanken schlecht. Sein Kreislauf versagte, Schwindel überkam ihn, und er, Todd, hatte das Gefühl, in den folgenden Sekunden einfach weggespült zu werden. Er wußte nicht mehr so recht, wo er sich noch befand. Um auszuschließen, daß er keinen Traum erlebte, kratzte er sich im Gesicht. Der Schmerz war da, er träumte nicht, und er träumte auch nicht, daß die Klauen, die die Füße umklammerten und die er nicht sehen konnte, wanderten. Er war schon bis zu den Schienbeinen in der feuchten Graberde eingesackt, doch was nun passierte, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Da waren die eisigen Hände, die sich seine Füße dafür ausgesucht hatten, um daran in die Höhe zu klettern. Jemand wollte aus dem Grab heraus! Diese grauenvolle Wahrheit schoß ihm wie eine Flamme durch den Kopf. Sofort dachte er an dieses schreckliche tote Wesen, das einmal eine Geistheilerin gewesen war. Sie war tot! Sie konnte nicht… Oder doch? Er glaubte, laut zu schreien, statt dessen drang nur ein Wimmern aus seinem Mund, das einen noch verzweifelteren Klang bekam, als er erleben mußte, wie sich die Erde plötzlich bewegte. Da wanderte etwas nach oben. Es ließ sich einfach nicht aufhalten, es war ein schleimiger widerlicher Tod, der einfach nicht zu begreifen war. Wie kann eine Tote leben? schrie es in ihm. Dann jedoch entstand das Bild der Geistheilerin vor seinem geistigen Auge. Er sah Tabitha Leroi, sah, daß sie lebte und eingehüllt in wallende
Gewänder durch ihre Praxis ging, sich um die Patienten kümmerte und sie anlachte. O ja, sie hatte alle in ihren Bann gezogen. Sie verfügte über außergewöhnliche Kräfte. Nicht grundlos hatte Anne so von ihr geschwärmt, obwohl sie den Tod seiner Frau nicht hatte verhindern können. Selbst ihr Leiden hatte sie nicht gelindert, es war schlimmer geworden, und Anne hatte nicht mehr leben können. Dieser Frau war alles zuzutrauen, auch das Unwahrscheinliche, daß sie es schaffte, den Tod zu besiegen. Sie kam. Er sah die Hände! Der Magen wollte ihm mit all seiner Flüssigkeit in den Mund steigen. Er spürte einen alten, rauchigen und widerlichen Geschmack, und er war auch kaum in der Lage, Luft zu holen. Was er hier erleben mußte, war das Furchtbarste, was einem Menschen widerfahren konnte. Das war das Grauen pur. Die Hände schimmerten weiß. Er sah sogar die gelblichen Kratzstellen auf der Haut, aber er sah auch die Erde, die sich an den Klauen und unter spitzen Fingernägeln festgeklemmt hatte. Es waren die Nägel, die den Stoff seiner Hose durchstoßen und seine Haut in Mitleidenschaft gezogen hatten. Es fühlte sich an, als hätte jemand kalte Messerspitzen dagegen gedrückt. Sicherlich blute ich schon, dachte er plötzlich. Sein Gedächtnis war mit einemmal wieder klar. Irgend etwas hatte das Grauen fortgewischt. Er konnte denken, und plötzlich beugte er seinen Körper nach unten. Der Gedanke hatte ihn nicht mehr losgelassen. Auch wenn es ihn schüttelte, er mußte die verdammten Klauen anfassen und versuchen, sie von seinen Beinen zu lösen. Todd faßte zu. Er drehte seine Hände um die Gelenke der Leiche. Allein schon der Gedanke, daß es eine Leiche war, ließ ihn beinahe wieder wahnsinnig werden. Auch seine Hände waren kalt, noch stärker war die Totenhaut der weiblichen Leiche. Nie zuvor hatte er eine derartige Kälte erlebt, auch wenn er bei Sinnen gewesen wäre, hätte er sie nicht beschreiben können, weil sie einfach anders war und nicht von dieser Welt stammte, so jedenfalls dachte er. Dann passierte es. Mit diesem Vorgang hatte er nicht gerechnet, denn er bekam den plötzlichen Ruck voll mit. Daran änderte auch nichts der Griff, mit dem er die anderen Klauen festhielt, eine zweite Kraft schleuderte ihn nach vorn, und diesmal schrie er wirklich auf. Der Schrei erstickte erst, als er mit dem Gesicht auf die weiche Graberde fiel.
Er konnte es nicht überwinden und hatte den Fehler gemacht, den Mund nicht zu schließen. So war die Erde in seinen Mund eingedrungen. Er schmeckte sie und hatte dabei das Gefühl, auf Moder zu kauen und alte Knochen statt Krumen zwischen den Lippen zu spüren. Keine Luft mehr. Panik erfaßte ihn. Seine Arme schlugen unwillkürlich umher. Der Nebel bedeckte ihn. Er hörte Stimmen und hatte den Eindruck, von bösen Geistern umwabert zu sein. Er mußte weg, deshalb mußte er sich herumdrehen und vom Grab wegrollen. Es war nicht möglich. Nur auf die Seite konnte er sich drehen, alles weitere ließen die Totenklauen nicht zu, denn die Leiche im Grab dachte gar nicht daran, ihn aus den Klauen zu lassen. Sie zerrten an ihm. Da merkte er, daß er rutschte! Es war der reine Irrsinn, es war verrückt, aber er rutschte tatsächlich über das Grab hinweg, weil die Hände ihn so zerrten. Er sollte in das Grab hinein! Diese Vorstellung schockte Todd so sehr, daß er zunächst nicht mehr denken konnte. So etwas wollte ihm nicht in den Sinn. Ein lebendiger Mensch sollte begraben werden, geholt von einem Toten und in dessen finsteres Reich gezogen. Diese Vorstellung war ihm abstrakt. Er wußte, daß es so etwas in Horrorfilmen gab, aber in der Wirklichkeit? Nein, das konnte nicht sein. Der nächste Ruck. Beide Beine steckten in der Klemme. Es war ihm überhaupt nicht mehr möglich, sie zu bewegen, aber sie bewegten sich trotzdem, denn das Gewicht der klammernden Klauen zog ihn in die Erde hinein. Er würde darin verschwinden… Todd wunderte sich über sich selbst, daß er diesen klaren und gleichzeitig schrecklichen Gedanken fassen konnte. Er suchte auch nach einem Halt, doch seine Hände patschten wie die eines Kleinkindes auf der Graberde herum, wobei die gebogenen Finger nach einem Halt suchten, den sie aber nicht fanden. Er glitt hinein, und seine Füße rissen den Boden auf, der ihnen kaum Widerstand entgegensetzte. Mit dem Oberkörper und auch mit dem Gesicht schleifte er über das Grab hinweg. Er spürte die kalte Erde einfach überall, auf seinen Lippen, an der Stirn, den Wangen, und er hielt die Augen geschlossen, damit nichts von dem Dreck hineindrang und ihn blind machte. Sein Ende war nahe. Die Vorstellung, hier in der Erde elendig zu ersticken, das Trauma, lebendig begraben zu werden, ließ ihn schreien und auch weinen. Er spürte nicht einmal, daß seine Hose vorn naß geworden war, diese
Angst war derart schrecklich, daß er sie kaum fassen , geschweige denn beschreiben konnte. Es gab einfach nur die, und es gab diese furchtbare Umgebung, den Nebel, die Todeskälte, die Erde und auch seltsame Stimmen, die er sich in seiner Todesangst nur einbildete, denn er glaubte sogar, die Stimme seiner Mutter zu hören. Furchtbar… Sein Kopf drehte sich automatisch. Für einen Moment riß der Schleier des Entsetzens. Todd konnte normal sehen und erkannte, daß seine Arme hochstanden, weil ein großer Teil seines Körpers bereits im feuchten Grab versunken war. Schultern, Kopf und Arme schauten noch hervor. Todd hatte die Augen verdreht, er sah noch die Bäume mit ihrem kahlen Geäst, das ihm wippend zuzuwinken schien. Am Hals wurde es ihm kalt. Da spürte er die Erde wie einen Ring, die wenig später auch sein Kinn erfaßte. Er röchelte. Diese Geräusche kannte er von sich selbst nicht. Sie hätten auch von einem Tier stammen können. Speichel und Schleim vermischte sich vor seinen Lippen. Der Druck hörte nicht auf. Die Kälte der Erde wanderte weiter. Die Oberfläche war aufgewühlt worden und in Bewegung geraten, deshalb rollten einige Krumen auch gegen sein Gesicht und erwischten seinen Mund. Er schluckte das Zeug einfach, auch die Existenz von Würmern und Käfern konnte ihn dabei nicht mehr schrecken. Was er durchgemacht hatte, war viel schlimmer gewesen. Noch ein Ruck. Todd gelang es nicht mehr, einen letzten Schrei auszustoßen, denn die Graberde quoll in seinen Mund, füllte ihn fast völlig aus. Sie brachte ihn beinahe zum Ersticken. Er schluckte einige Male automatisch. Erde geriet dabei in seinen Magen. Beim nächsten Ruck in die Tiefe drang der Dreck bereits in seine Augen. Die Dunkelheit tauchte ihn in ihr schwarzes Tuch, und er schaffte es einfach nicht mehr, wenigstens noch ein letztes Quentchen Luft zu holen. Die Erde schloß sich über ihm. Kein Licht mehr, keine Luft. Nur ewige Dunkelheit. Die Tote hatte den Lebenden geholt… *** Als Student kann man sich seinen Job nur selten aussuchen. Man muß froh sein, wenn man überhaupt etwas bekommt, aber die Arbeit auf dem
Friedhof gefiel Mark Freeman doch nicht so recht, was ihn widerum wunderte. Der junge Mann mit den schwarzen Haaren, die er im Nacken zu einem Zopf trug, hatte sich bisher als cool und locker angesehen. Sein Motto lautete: Was kostet die Welt? Zeig sie mir, ich werde sie bezahlen und erobern. Nur klafften zwischen Theorie und Praxis oft genug Lücken, und ihm war es nicht anders gegangen, als er die Arbeit angenommen hatte. Drei Stunden am Tag sollte er Gräber pflegen. In diesen drei Stunden kam er sich so schrecklich allein auf dem Friedhof vor, und mit seinem Werkzeug konnte er nun mal keine Zwiesprache halten. Wahrscheinlich war er in dieser Jahreszeit auch der einzige Mensch auf diesem Gelände, denn wer war schon so blöd, bei Nebel und Kühle, einen Spaziergang zu machen? Er hatte die Gräber zu reinigen. Der Friedhofsgärtner, der Mark angestellt hatte, wollte, daß die Gräber anständig aussahen, schließlich zahlten die Hinterbliebenen für die Grabpflege, und da wollte sich der Mann nichts nachsagen lassen, denn das war schlecht fürs Geschäft. So tat Mark Freeman seinen einsamen Job, der ihm auch Gelegenheit gab, über gewisse Dinge nachzudenken und sich dabei mit dem Sinn des Lebens zu beschäftigen. Aus dem coolen Anmacher wurde in diesen Arbeitsstunden ein ernster junger Mann, der sich manches Mal die Frage stellte, warum denn alles so plötzlich vorbei sein mußte. Bei dem einen schneller, bei dem anderen langsamer. Welchen Sinn hatte es dann noch, zu ackern, zu schuften, das Leben an sich vorbeilaufen zu lassen, um im Endeffekt in der feuchten Graberde zu enden? Nichts, gar nichts, es hatte keinen Sinn, aber wenn alle so dachten, wurde die Welt auch nicht weitergebracht, und so geriet Marks Ansicht wieder ins Wanken. Er war erst zweiundzwanzig und er würde noch Gelegenheit bekommen, seine Theorie zu überprüfen. Zunächst würde er sich um seinen Job kümmern, der gar nicht so schlecht war. Großartig anstrengen brauchte er sich nicht, er war zudem immer an der frischen Luft – was man in London so frische Luft nannte – und er konnte sich bewegen, wenn er die Zweige und den Abfall aufhob, den gewissenlose Besucher einfach weggeworfen hatten. Dafür hätte er sie umbringen können. Anfangs hatte ihm der Job gefallen. Über gute drei Wochen hinweg hatte er gearbeitet und sich auch an seine Umgebung gewöhnt. Nun aber war es anders geworden. Es hatte sich äußerlich nichts verändert, doch seit einigen Tagen schwebte etwas über dem Friedhof, für das er persönlich keine Erklärung hatte. Es war der böse Geist…
Beinahe hätte er darüber gelächelt, aber es gab ihn trotzdem, diesen bösen Geist, dieses andere, das die Umgebung irgendwie verändert hatte. Mark hatte nach einer Erklärung gesucht, jedoch keine gefunden. Zuhause in seiner Bude hatte ihn das Problem auch nicht losgelassen, und in dieser Stille hatte Mark versucht, es zu analysieren. Schließlich war er zu einem Entschluß gekommen. Diese seltsame und unerklärliche Veränderung hatte eigentlich mit der Beerdigung einer Person begonnen, die sehr bekannt gewesen sein mußte, wenn er nach der Anzahl der Trauergäste ging. Er selbst hatte daran nicht teilgenommen und die Trauerfeier am Grab nur aus der Distanz betrachtet. Später hatte ersieh dann erkundigt, wen man da in die feuchte Erde gelegt hatte. Der Name Tabitha Leroi hatte ihm nichts gesagt, auch nicht ihr Beruf Geistheilerin, doch die Veränderung ließ sich einfach nicht wegdiskutieren, und so war Mark irgendwann zu einer für ihn wichtigen Lösung gelangt. Sie mußte mit der Beerdigung dieser Person zusammenhängen. Keinen anderen Grund konnte es dafür geben. Aber wieso? Vielleicht deshalb, weil das Grab etwas abseits lag? Auf seinem Weg über den Friedhof kam er zwangsläufig daran vorbei, doch Mark hielt stets auf eine gewisse Distanz. Vom Gefühl her sagte er sich, daß es möglicherweise gefährlich sein konnte, wenn er sich dem Grab zu sehr näherte. Auch wenn das Quatsch war. Darin lag eine Tote, und auch in den anderen Gräbern lagen Leichen. Alles normal… Hätte es sein müssen, und trotzdem war doch alles anders geworden. Die Atmosphäre hatte sich verändert. Nichts war mehr so, abgesehen vom nebligtrüben Wetter. Damit konnte es möglicherweise zusammenhängen, denn all die feinen Nebeltröpfchen schienen mit dieser Atmosphäre aufgeladen zu sein. Schrecklich… Schon deshalb, weil Mark nicht mehr über sich selbst lachen konnte. Er hatte sich in den letzten Tagen verändert, ging zwar noch seiner Arbeit nach, das aber nicht mehr so locker und cool. Immer öfter schaute er sich plötzlich um, weil er einfach das Gefühl hatte, jemand würde hinter ihm stehen. Ein Monstrum, ein Geist, eine unheimliche Gestalt – womöglich ein Gespenst. Quatsch, Unsinn, alles Einbildung – oder? Warum war er nicht mehr so locker? Warum freute er sich immer auf den Feierabend?
Auch an diesem Tag dachte er daran, wie schön es sein würde, wenn er endlich nach Hause gehen konnte. Das dauerte noch, denn er mußte noch einige Gräber säubern, und die letzten lagen so, daß er von ihnen aus auch das frische Hügelgrab sehen konnte. An diesem Tag war der Nebel besonders dicht. Das Grab war nur undeutlich zu erkennen. Hatte es sich verändert? Der Student glaubte, etwas entdeckt zu haben, doch bei der schlechten Sicht war er sich nicht sicher. Vielleicht war es ein einsamer Besucher, den selbst dieses Wetter nicht störte, und so wandte sich Mark Freeman wieder seiner Arbeit zu. Noch fünf Gräber hatte er zu reinigen. Zu seinem Glück stellte er fest, daß in der Nacht nicht viel Laub herangeweht worden war. Es hatte auch niemand Abfall abgeladen, so würde die Arbeit rasch beendet sein. Bald konnte er also nach Hause. Mark Freeman arbeitete am zweitletzten Grab, als er den Schrei hörte. Augenblicklich stand er starr und ließ die Arbeit liegen. Die Harke bekam das Übergewicht und sank in einem Zeitlupentempo dem Boden entgegen. Der Schrei hatte ihn erschreckt. Er war keine akustische Täuschung gewesen, auch wenn ihm der Nebel einiges von seiner Stärke genommen hatte. Mark erwachte allmählich aus seiner Erstarrung und drehte sich langsam um. Er hatte sich die entsprechende Richtung genau gemerkt, und als er seinen Blick dorthin richtete, da rann ihm ein Schauer über den Rücken. Jenseits der Buschgruppe lag das frische Hügelgrab, und dieser Schrei konnte nur dort aufgeklungen sein. Er schluckte. Bisher hatte er keinen Menschen auf dem Friedhof gesehen, er hätte nur mit sich selbst sprechen können, und eine verrückte Frage zuckte ihm durch den Kopf. Können Tote schreien? Eigentlich lachhaft, nur schaffte er es nicht, darüber zu lachen, sein Gesicht blieb starr. Er lauschte, ob sich der Schrei wiederholte, aber da tat sich nichts. Es blieb still… Was tun? Nachschauen, ob sich ein Mensch in Gefahr befand? Das wäre seine Menschenpflicht gewesen, und doch zögerte er. Ihm kam die Umgebung nicht mehr geheuer vor, es hatte sich nichts verändert, doch zum erstenmal nahm er sie wahr wie eine böse Filmkulisse. Ihm gefielen der Nebel und die Stille nicht mehr. Die Schatten schienen sich mit geisterhaften, unheimlichen Wesen gefüllt zu haben, und der gesamte Friedhof mit allen seinen steinernen Zeugen flößte ihm Furcht ein.
Kein Schrei mehr, auch kein anderer Laut, nur eben diese bedrückende Stille. Er hörte sich selbst atmen und stellte auch fest, daß seine Hände zitterten. Das war ihm noch nie passiert. Nicht daß er seinen Job verflucht hätte, nein, er hätte sich jetzt nur in ein ruhiges Büro hineingewünscht, um dort am Schreibtisch zu sitzen und durch ein Fenster in die graue Suppe zu starren. Gehen, bleiben oder weglaufen? Er blieb nicht stehen, er ging. Wenn auch zitternd, aber immerhin. Es gab ihm Mut, die Hemmschwelle überwunden zu haben, und er blieb nahe der Büsche stehen, um einen ersten Blick darüber hinwegwerfen zu können. Denn dahinter, auf der flachen Anhöhe, lag das Grab. Genau von dort war der Schrei gekommen. Mark Freeman sah nichts. Nur die treibenden Nebelschwaden, in die seine Phantasie Gesichter hineininterpretierte. Der Nebel wallte auch über der Grabstätte. Große Wolken, dazwischen dünnere Schwaden, die wie Tücher festhingen und von den Wolken mitbewegt wurden, so daß sie in seiner Phantasie die schlimmsten Monstren schufen. Er sagte sich selbst, daß er verrückt war, doch der Schrei war keine Einbildung gewesen. Wo verbarg sich der Rufer? Oder war er einfach nur über den Friedhof gelaufen und hatte das Grab passiert? Mark duckte sich. Keine Panik, es war nur ein Vogel, der in seiner Nähe vorbeigestreift war. Eine Krähe, ein Rabe, so genau hatte er das Tier nicht erkennen können. Er ging weiter. Plötzlich hatte Mark es geschafft und all seine Gedanken ausgeschaltet. Sein Blick galt einzig und allein dem in der nebligen Stille liegenden Grab. Am Fuß des flachen Hügels stoppte er seine Schritte. Wenn er genauer hinschaute, sah er auch das Brett mit dem Namen. Es steckte in der Grabmitte. Auf ihn machte es den Eindruck wie ein krummer Arm, der sich nach dem Himmel strecken wollte, es aber nie schaffen würde, ihn zu erreichen. Hier war nichts. Er ging einmal um das Grab herum – und blieb plötzlich stehen, weil ihm trotz der schlechten Sicht auf dem weichen Boden etwas aufgefallen war. Da waren Fußspuren zu sehen. Mark Freeman ging in die Knie. Er schaute sie sich genauer an. Zwar war er kein Fachmann oder Waldläufer, wenn ihn jedoch nicht alles täuschte, waren die Fußspuren frisch. Von dem Schreier?
Der junge Mann blieb jetzt am Ball. Er schaute nach, ob sich die Spuren verfolgen ließen, und tatsächlich sah er sie, wie sie sich am Hügel abmalten. Der Unbekannte war zum Grab hochgegangen… Mark Freeman schluckte. Also doch. Jemand hatte das Grab der Geistheilerin besucht. Möglicherweise ein Verehrer oder jemand, der erst jetzt von ihrem Tod erfahren hatte, war gekommen, um ihr durch Blumen einen letzten Gruß zu erweisen. Nur sah er weder Blumen noch Kränze. Die Umgebung des Grabs erschreckte ihn in ihrer Leere. So etwas war ihm noch nicht passiert, und er schüttelte sich. Sollte er hochgehen? Wieder überkam ihn dieses zögerliche Gefühl. Die kalte Haut lag auf seinem nacken, aber Mark überwand sich selbst und ging auch das letzte Stück des Weges. Der Untergrund schien aus weichen Schleimhäuten zu bestehen, die nach seinen Füßen griffen. Der Dunst umdampfte ihn. Mit jedem Schritt, den er rutschend zurücklegte, hatte er den Eindruck, einer unheimlichen Gefahrenquelle näher zu kommen. Am oberen Rand des Grabes blieb er stehen. Vor ihm ragte das Brett mit dem Namen in die Höhe. Der weiche Nebel floß zitternd über die Erde, und nicht weit entfernt standen Bäume wie stumme Gespenster. Das alles interessierte Mark Freeman nicht mehr. Seine Augen hatten sich geweitet, denn was er vor sich sah, wollte er einfach nicht glauben. Das war unglaublich, so etwas hatte er bei einer Grabstätte kurz nach der Beerdigung noch nie erlebt. Der Boden war nicht mehr geglättet, sondern aufgewühlt, als hätte jemand mit Stangen darin herumgestochert. Allerdings nur beim ersten Hinschauen sah es so aus. Konzentrierte er sich aber auf das Grab, so mußte er seine Meinung revidieren. Nein, diese Erde war nicht aufgehackt oder aufgeharkt worden, es sei denn, die Tote hätte ein derartiges Werkzeug besessen. Der Untergrund war von unten her aufgelockert worden, als hätte die Tote versucht, aus der letzten Ruhestätte zu klettern. Hatte sie geschrien? Ein verrückter Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß. Wie konnten Tote schreien? Aber Tote konnten auch nicht aus dem Grab steigen! Mark Freeman wußte nicht mehr, was er noch denken sollte. Alles war so schrecklich für ihn geworden. Das Durcheinander hatte sich zu einem regelrechten Chaos in seinem Kopf entwickelt. Er wußte überhaupt nichts mehr. Mark stand da, zitterte und dachte über seine Angst nach, die wellenartig in ihm hochschoß.
Er rannte trotzdem nicht weg. Wie unter Zwang bückte er sich. Dabei sank er leicht in die Knie, denn ihm war etwas aufgefallen. Obwohl die Erde aufgewühlt war, hätte sie an bestimmten Stellen nicht so aussehen dürfen wie vor ihm. Da schimmerte etwas Helles durch, es sah kalkig und auch bleich aus, wie dünnes Leder. Nein, das war Haut – oder? Er bückte sich noch tiefer. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, und er hörte sich keuchen. Behutsam strich er über den aus der Graberde ragenden hellen Gegenstand hinweg, und als er ihn berührt hatte, zuckte er wieder zurück. Verdammt, das war… das war eine Hand gewesen – ein Knöchel, der Teil einer Faust. Jemand hatte nach ihm gegriffen, eine Kralle, die aus langen Stahlfingern bestand. Sie hatte sich in seinen Magen gebohrt und hielt ihn umklammert. Im Mund hatte sich ein widerlicher Geschmack ausgebreitet, der ihn an alte Asche erinnerte. Hinter seinen Schläfen hämmerte es. Das Zucken war vergleichbar mit seinen Herzschlägen. Längst war das Blut in seinen Kopf gestiegen, und er hatte das Gefühl, das Übergewicht zu bekommen. Keuchend saß er in der Hocke, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er wirkte wie jemand, der im nächsten Augenblick über das Grab hinwegspringen wollte, doch er riß sich zusammen und blieb sitzen. Das alles konnte er nicht schaffen, er war nahe daran, verrückt zu werden, und die Grabfläche verschwamm vor seinen Augen, wie ein Teich, in den ein Stein hineingefallen war. Das war eine Hand gewesen. Sehr deutlich hatte er die Haut gespürt. Dabei wußte er nicht einmal genau, ob sie kalt oder warm gewesen war. Möglicherweise warm. Sollte das tatsächlich der Fall gewesen sein, konnte die Hand keinesfalls der Toten gehört haben, sondern einer Person, die erst seit kurzem hier im Grab lag. Er schloß die Augen und hatte das Gefühl, fliegen zu können. Mark merkte nicht, daß er langsam, aber unaufhaltsam kippte. Erst als er rücklings auf der weichen Erde landete, war er sich dessen bewußt geworden. Dann geriet er ins Rutschen und glitt den sanften Hügel hinab. Er drehte und überschlug sich dabei, kam zur Ruhe, raffte sich wieder hoch, und plötzlich wurde ihm bewußt, was er da auf dem Grab gesehen hatte. Ja, das war eine Hand gewesen! Er schnellte hoch, lief weiter, rutschte, konnte sich wieder fangen und hetzte davon. Seine Schreie wirkten im Nebel wie schaurige Echos… *** »Hier also wohnen Sie«, stellte Glenda fest.
»Ja.« Yvonne lachte etwas bitter. »Ist nicht eben berauschend, wie?« Sie hatte den Schlüssel hervorgeholt und ließ ihn im Schloß verschwinden. »Das will ich nicht sagen. Denken Sie mal an die vielen Menschen, die keine Wohnung haben. An die neuen Armen, die auf der unteren Hälfte der Schere hocken und nicht einmal wissen, wo sie am nächsten Abend ein Dach über den Kopf finden.« Yvonne Terry stieß die Tür auf. »Da haben Sie sicher recht. Bitte.« Sie ließ Glenda vorgehen in den dunklen Flur, in dem es irgendwie neutral roch. »Müssen wir mit dem Lift fahren?« fragte Glenda. »Es wäre besser.« »Gut.« Glenda holte den Lift. Die beiden Frauen mußten warten, schauten sich an, und keine von ihnen wußte so recht, was sie der anderen sagen sollte. »Ich hoffe ja nicht, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe.« Glenda schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht, meine Liebe. Es ist alles okay.« »Danke.« »Sie brauchen sich auch nicht zu bedanken.« Glenda lächelte. »Irgendwie gehöre ich auch zum Yard. Da ist es manchmal ganz gut, wenn man rauskommt.« »Ja, das denke ich auch.« Der Lift hielt vor ihnen, und Yvonne zog die Tür auf. Sie machte einen erschöpften Eindruck. Ihr Haar bildete ein wirres Durcheinander. Graue und blonde Strähnen verteilten sich, wobei das Graue eingefärbt worden war, weil es als chic galt. Das eigentlich hübsche Gesicht zeigte einen harten Zug, ebenso wie der schmale Mund. Irgendwie paßte es nicht zu Yvonne, ebenso wie der Blick, der doch einen etwas gehetzten Ausdruck zeigte. Auch jetzt, als Yvonne in den Lift stieg und sich dabei noch einmal umdrehte. Glenda Perkins lächelte sie an. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Yvonne, wir schaukeln das schon.« »Haben Sie denn keine Angst?« »Vor wem?« Yvonne lehnte an der Fahrstuhlwand und hob die Schultern, während sie zu Boden schaute. »Na, vor ihr, vor der loten.« »Ausgerechnet Sie sagen das?« Heftig schüttelte Yvonne den Kopf. »Das kann ich nicht so recht glauben, Glenda.« Die dunkelhaarige Sekretärin schwieg. Sie wollte die Frau nicht noch mehr ängstigen, sie hatte schon genug hinter sich, und so öffnete Glenda schweigend die Fahrstuhltür, um ihre neue Bekannte zuerst aussteigen zu lassen.
Sie ging etwas zögerlich. Es standen auf dieser Etage mehrere Wohnungen zur Verfügung. Da Yvonne in eine bestimmte Richtung schaute, wußte Glenda sofort, wo sie wohnte. Sie ließ Yvonne vorgehen und die Tür aufschließen. »Wollen Sie zuerst eintreten?« Glenda lächelte. »Wenn Sie möchten, gern.« »Ja, bitte.« Ein kurzes Räuspern. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin wirklich kein Angsthase, aber da sind Dinge passiert, die mir schon an die Nieren gehen. Die Wohnung ist für mich zu einem Alptraum geworden. Ich hatte nie das Gefühl, allein dort zu sein. Immer fühlte ich mich kontrolliert und beobachtet.« »Ja, das verstehe ich.« Glenda setzte den Fuß über die Schwelle. Es war zu dunkel in dem schmalen Flur, sie machte Licht und sah die offenstehenden Zimmertüren. Glenda schaute zunächst in die kleinen Räume hinein. Erst als sie gesehen hatte, daß sich dort kein Fremder aufhielt, winkte sie Yvonne zu. Mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen betrat die Frau ihre eigene Wohnung. »Bitte, halten Sie mich nicht für übergeschnappt, aber so etwas kommt schon mal vor.« »Das weiß ich doch.« Yvonne schloß die Tür. Sie zog den Mantel aus. Darunter trug sie einen grauen Pullover und eine Steghose. Vor dem Spiegel blieb sie für einen Moment stehen, fuhr mit dem Finger durch die aschblonde Haarmähne und war der Meinung, daß sie schrecklich aussah. Glenda hörte die Beschwerde nicht, sie war bereits in das kleine Wohnzimmer gegangen und blieb dort stehen, um sich umzuschauen. Nichts wies darauf hin, daß sich hier finstere Mächte aufhielten oder ihre Spuren hinterlassen hatten. Dieses Zimmer zumindest sah normal aus, und auch sie war beruhigt. »Tja«, sagte Yvonne, »so wohne ich also.« Sie lächelte scheu. »Möchten Sie etwas trinken?« »Wäre nicht schlecht.« »Was?« »Wenn Sie haben, könnte ich was Scharfes gebrauchen.« »Cognac?« »Ja.« »Bitte, dann setzen Sie sich doch.« »Später. Ich möchte mich erst noch in der Wohnung umschauen, wenn es Ihnen recht ist.« Vom Schrank her hörte Glenda das Lachen. »Da gibt es nicht viel zu sehen, allein wegen der Größe nicht. Die Zimmer sind sehr klein, aber für eine Person groß genug.« »Finde ich auch. Außerdem haben Sie die Räume nett und gemütlich eingerichtet.«
»Danke.« Yvonne kam mit zwei Gläsern zurück. Sie hatte sich für einen Martini entschieden. Glenda lächelte, als sie ihr Glas entgegennahm und mit der Frau anstieß. »Trinken wir auf uns.« »Danke, das tut gut.« »Wieso? Haben Sie etwas anderes angenommen?« »Beinahe.« »Was denn?« »Auf meine tote Chefin.« Glenda schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie, Yvonne. Man soll auf die Toten keine Trinksprüche mehr halten.« Sie probierte den Cognac, fand ihn gut und trank einen größeren Schluck. Dann ging sie zum Fenster und schaute hinaus in den trüben Tag, während Yvonne gegen ihren Rücken sprach. »Nicht mehr lange, dann sieht die Welt wieder anders aus. Sie glauben gar nicht, wie ich mir den Frühling herbeisehne. Der macht alles so frisch. Ich warte auf das erste Grün, auf die Strahlen der Sonne, sie werden die schlimmen Erinnerungen vertreiben, denke ich. Oder sind Sie anderer Meinung?« »Nein, auf keinen Fall.« Glenda drehte sich wieder um, leerte das Glas und stellte es weg. Yvonne Terry hatte sie beobachtet. Glendas Geste war ihr ein wenig abrupt vorgekommen. »Haben Sie einen Plan?« »Wie kommen Sie darauf?« »Sie sehen so energiegeladen aus.« »Nein«, erwiderte Glenda lachend, »das kann man keinen Plan nennen. Ich wollte mich in Ihrer Wohnung nur ein wenig umschauen, mir die Zimmer ansehen, darf ich?« »Gern, wenn Sie wollen. Suchen Sie denn etwas Bestimmtes?« »Das kann ich nicht sagen. Es sei denn«, sie winkte ab. »Lassen wir das lieber.« »Sie denken an Tabitha Leroy.« Glenda nickte. »Ja, auch an sie. Ich weiß ja nicht, ob sie tatsächlich die Kraft hat, um sich noch aus dem Jenseits bemerkbar zu machen.« Yvonne antwortete zuerst mit einem heftigen Nicken. »Doch, Glenda, diese Kraft hat sie. Tabitha Leroi ist gefährlich, sie ist… man möge mir verzeihen, für mich ist sie einfach ein Monstrum. Das war sie früher nicht, aber heute sehe ich das anders. Sie ist tot, aber sie ist trotzdem noch da. Natürlich nicht körperlich, sondern geistig. Irgendwie fühle ich ihre Nähe. Sie umgibt mich, sie umlauert mich, sie tanzt mir vor der Nase herum, es ist einfach schrecklich, wenn ich daran denke. Manchmal spürte ich sie wie einen kalten Schatten, der über meinen Nacken streift und mich zum Frieren bringt.« »Jetzt auch?«
»Nein, das nicht, aber es kann sich von einer Sekunde auf die andere ändern. Schauen Sie sich meinen Hals an. Das sind die Spuren meines Traumes, und ich frage mich deshalb, ob es tatsächlich nur ein Traum gewesen ist, Glenda?« »Was sonst?« »Ein Wachtraum. Sie ist hier bei mir gewesen. Hierin der Wohnung.« »Als Geist oder materialisiert?« Yvonne wand sich um eine Antwort herum. »Das… das habe ich nicht sehen können, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was es… nun ja… es ist mir einfach unerklärlich.« »Sie wissen also nicht, ob sie Ihnen als Geist erschienen ist oder als Gestalt?« »So sehe ich es.« »Nun ja, das macht nichts. Ich denke schon, daß wir mehr über sie erfahren, wenn wir auf dem Friedhof sind, wobei ich noch immer nicht weiß, weshalb sie die Einladung gekriegt haben. Mir ist schon klar, daß etwas dahintersteckt, nur weiß ich nicht, was es ist, aber das werden wir noch herausbekommen.« Yvonne tat drei Dinge zugleich. Sie lächelte, senkte den Kopf und schüttelte ihn. »Wissen Sie, Glenda, was ich an Ihnen bewundere? Es ist Ihre Unbefangenheit, Ihr Mut, wie Sie an die Dinge herangehen. Sie reden von einem Phänomen, als wäre es völlig normal.« »Stimmt.« »Wie kommt das?« »Sehen Sie, Yvonne. Vielleicht habe ich gelernt, daß es besser ist, sich den Problemen auf diese Art und Weise zu stellen.« »Ja, vielleicht, nur kann das nicht jeder. Zumindest ich nicht als unmittelbar Betroffene.« »Da haben Sie recht.« Glenda leerte ihr Glas und stemmte die Hände in die Hüften. »So, jetzt schaue ich mich noch kurz in der Wohnung um. Wenn das vorbei ist, können wir meinetwegen fahren. Es ist zwar noch Zeit bis zum Treffen, aber wir könnten unterwegs noch einen Kaffee trinken, denke ich.« »Den kann ich auch kochen.« »Lassen Sie mal. Wollen Sie sich noch umziehen?« »Nein, Glenda, nein, ich bin schon okay, denke ich.« »Schön.« Glenda drückte sich durch die Tür. Sie wußte, wo das Schlafzimmer lag. Ein ebenfalls sehr kleiner Raum, in dem gerade ein Bett und ein Schrank Platz gefunden hatten. Für eine Person reichte er aus, eine zweite dort unterzubringen, wäre schon schwierig gewesen. Auch das Fenster war ziemlich schmal, hinter dem der graue Tag nur als Ausschnitt zu sehen war. Glenda war neben dem Bett stehengeblieben. Sie hielt sich in einem normalen Zimmer auf, dennoch störte sie etwas. Sehr langsam drehte
sie sich nach links. Sie selbst verursachte keine Geräusche. Was sie hörte, drang aus dem Wohnraum, wo sich Yvonne aufhielt. Glenda schaute in einen Spiegel. Sie sah nicht nur sich selbst, sondern auch einen Feil des Raumes, und dieser Spiegel, zumindest seine Fläche, gefiel ihr gar nicht. Der Spiegel schien mit einem schmutzigen Lappen abgewischt worden zu sein. Sehr alte Spiegelflächen sahen oft so stumpf aus, aber dieser stammte nicht aus einer früheren Zeit. Die Verunreinigung mußte einen anderen Grund haben. Hatte sie sich und den Raum nicht beim ersten Hinsehen viel klarer gesehen? Ja, Glenda erinnerte sich. Die Veränderung war innerhalb weniger Sekunden erfolgt, und Glenda hatte das Gefühl, als hätte jemand das Zimmer betreten, wobei sie diesen Jemand als ein Neutrum ansah, als ein ES. Tabithas Geist? Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz schon schneller. Möglicherweise bildete sie es sich auch ein, aber war die Luft nicht kühler geworden? So, als wären die kalten Dunstschwaden von draußen her in den Raum gedrungen, um sie zu streifen? Sie schluckte, sie zog die Wangen zusammen, so daß sie Kuhlen bildeten. Plötzlich war ihr auch warm, der Schweiß lag auf ihrer Stirn und gleichzeitig im Nacken. Zwar fürchtete sich Glenda vor dem Spiegel, dennoch ging sie darauf zu, und je mehr sie sich ihm näherte, um so stärker wurde ihr Gefühl, nicht mehr allein zu sein. In der Fläche steckte etwas. Glenda sah sich beileibe nicht als eine Expertin oder Geisterjägerin an, aber durch John Sinclair hatte sie genügend Erfahrung, um gewisse Dinge mit anderen Augen sehen zu können. Dazu gehörte auch dieser Spiegel, den sie auf keinen Fall als normal ansah, sondern schon als verhext bezeichnen wollte. Ja, er war beeinflußt worden, er stand unter der Kontrolle einer fremden Macht, und die konnte nur Tabitha heißen. Yvonne rief nach ihr. Glenda reagierte nicht. Erst beim zweiten Ruf blieb sie stehen, horchte zur offenen Tür hin. »Kannst du mal kommen, Glenda?« »Ja, Moment.« Glenda hatte leise gesprochen. Sie fühlte sich momentan nicht in der Lage, eine laute Antwort zu geben. Als sie den Wohnraum betrat, da saß Yvonne auf einem Sessel. Vor sich auf den Tisch hatte sie einen Karton gestellt. Sie war dabei, dunkelrote Kerzen auszupacken und sie neben den Karton zu legen. Nur einen flüchtigen Blick gönnte sie der eintretenden Frau. »Ich denke, daß Sie auch einige Kerzen mit auf den Friedhof nehmen sollten, Glenda.« »Das hatte sie verlangt, nicht!« »So ist es.« »Wie viele Kerzen wollen Sie denn mitnehmen?«
»Zumindest zwei.« Yvonne schaute hoch, und erst jetzt fiel ihr Glendas Veränderung auf. »Himmel, was ist mit Ihnen?« »Was soll mit mir sein?« Yvonne Terry stand langsam auf. »Sie sehen so blaß aus. So unnatürlich bleich.« »Tatsächlich?« »Ja, wirklich. Als hätten Sie etwas Schreckliches gesehen, mit dem Sie nicht fertig geworden sind.« »Seltsam, Yvonne, ob bewußt oder nicht, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich habe etwas gesehen, und zwar in Ihrem Schlafzimmer.« Yvonne deutete mit dem Zeigefinger auf sich selbst. »In meinem Schlafzimmer? Wirklich?« »Wenn ich es sage.« »Aber da ist nichts.« »Denken Sie an den Spiegel.« »Klar, der ist da.« »Und er sieht auf seiner Oberfläche aus, als wäre er vereist. Er ist einfach nur grau, Yvonne. Ich wollte mich darin betrachten, es gelang mir kaum. Glauben Sie mir.« Yvonne Terry ließ ihre Zunge über die trockenen Lippen gleiten. »Tja, da kann ich Ihnen auch nicht helfen, denke ich. Der Spiegel war immer normal«, ihr Blick nahm eine gewisse Starrheit an. »Sollte etwa die Frau damit zu tun gehabt haben?« »Tabitha, meinen Sie?« »Wen sonst?« »Das kann durchaus sein.« Glenda hob die Schultern. »Mir ist auch ein ungewöhnlicher Geruch aufgefallen, den ich einfach nicht deuten kann oder auch nicht will.« »Wie ungewöhnlich denn?« Glenda hob die Augenbrauen. »Das will ich Ihnen sagen. Es roch wie auf einem Friedhof.« »Nein!« »Doch, ich lüge Sie nicht an. Und ich war auch froh, daß Sie mich gerufen haben, denn beinahe wäre ich in den Bann dieser ungewöhnlichen Erscheinung geraten.« Yvonne Terry faßte unwillkürlich dorthin, wo sich die Druckstellen rot an ihrem Hals abzeichneten. Auch sie erinnerte sich, dann aber gab sie sich einen Ruck und nickte Glenda zu. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir gemeinsam in das Schlafzimmer gehen?« »Nein. Allein deshalb nicht, weil Sie ja ein besonderes Verhältnis zu Ihrer Chefin hatten.« Yvonne mußte lachen. »Verhältnis ist gut. Okay, ich war ihre Vertraute, aber…«
»Lassen Sie uns gehen.« »Wie Sie meinen.« Diesmal ließ Glenda Yvonne vorgehen, die sich zusammenreißen mußte. Im Flur waren die beiden Frauen wieder nebeneinander und schraken zusammen, als sie plötzlich ein Platzen und Splittern hörten, das an ihre Ohren drang. Noch vor der Schlafzimmertür blieben sie stehen. »Das war der Spiegel«, wisperte Glenda. »Mein Gott, ich habe Angst.« Yvonne umklammerte den Arm der neuen Freundin. »Warten Sie, ich werde nachschauen.« »Ja, aber…« Glenda war schon vorgegangen. Sie ging noch einen Schritt – und stand auf der Schwelle des Schlafzimmers. Das Entsetzen ließ sie vereisen. Was sie da zu sehen bekam, war nicht nur unerklärlich, es war auch ungeheuerlich. Den Spiegel gab es nicht mehr, er lag auf dem Boden. Nur mehr der Rahmen hing an der Wand. Und selbst im Wirrwarr der zahlreichen Scherben spiegelte sich das wieder, was aus dem Rahmen hervorkroch. Ein dicker, feuchter Nebel, als wäre die Wand nicht mehr vorhanden, um dem Wetter draußen freie Bahn zu geben. Nur war das nicht alles. Innerhalb der kalten Wolken drehten sich die Schlieren und Bahnen zusammen, daß sie Figuren und Gesichter bildeten, die wie Geister in der grauen Brühe schwammen. Auch Yvonne Terry hatte das Ziel erreicht. Sie stand dicht hinter Glenda, als sie flüsterte: »Das sind… du lieber Himmel, das sind die Totengeister!« *** Ob sie damit recht hatte, wußte Glenda Perkins nicht. Zumindest war es sehr ungewöhnlich, was sie hier sahen, und auch irgendwo nicht erklärbar für sie. Die Geister der Toten… Sahen sie tatsächlich so aus? Glenda kriegte eine Gänsehaut als sie darüber nachdachte. Sie spürte auch, daß ihre Hände feucht geworden waren, und sie wünschte sich plötzlich, daß John Sinclair in der Nähe gewesen wäre, denn er hätte dieses Phänomen sicherlich ergründen können. Sie aber stand da und wußte nicht, was sie mit dieser unheimlichen Erscheinung anfangen sollte. Yvonne war nicht mehr in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Sie schwieg, und sie atmete nur heftig. Unverwandt besah sie sich den Rahmen und die geisterhaft bleiche Masse des Nebels. Dabei wunderte sie sich auch, wie schnell der erste Schock vorbei war und sie wieder
normal denken konnte. Jetzt konzentrierte sie sich auf den Nebel, und sie glaubte auch, etwas zu erkennen. Da war im Prinzip nichts Fremdes mehr. Man mußte nur genau hinschauen, um es sehen zu können, und man mußte seine Erfahrungen haben, die ihr schließlich nicht fremd waren. Dieser Nebel hatte einen Mittelpunkt, um den sich alles drehte. Das Zentrum war nicht leicht erkennbar, man mußte schon eine Fachfrau sein, aber das war sie ja. Sie sah eine Gestalt. Obwohl Geistwesen kein Geschlecht aufwiesen, war es bei dieser Entdeckung anders. Für Yvonne war diese Gestalt eine Frau, und zwar eine, die sie kannte. Tabitha Leroi! Diesmal als Geist, nicht mehr als Mensch, einfach schrecklich und gestaltlos. Sie stand und bewegte sich trotzdem. Alles an ihr steckte voller Unruhe. Sie geisterte auf dem Fleck, um sie herum verschwamm alles in einergrauen Brühe, nur sie war besser zu sehen und auch ihr Gesicht, das Yvonne nicht losließ. Sie mußte einfach zu ihr und setzte sich mit zitternden Schritten in Bewegung. Der Blick war starr nach vorn gerichtet. Sie wollte Tabitha lächelnd begrüßen, und auch Glenda Perkins griff nicht ein, um Yvonne aufzuhalten. Instinktiv wußte sie, daß sie abwarten mußte, denn sie konnte sich vorstellen, daß dieser unheimliche Totengeist eine Botschaft mitbrachte. Yvonne hatte den Nebelfleck erreicht. Sie blieb stehen. Ihr Rücken zuckte, als sie die Arme anhob und auch die Hände ausstreckte, um nach Tabitha zu fassen. Die Fingerspitzen glitten an die Außenhaut des Nebels heran – und sie zuckten zurück, als sie die eisige Kälte spürten, die über die Kuppen hinwegglitt. Hier trafen zwei Welten aufeinander. Die reale, sichtbare und die normalerweise unsichtbare, aber es gab keinen Konsens zwischen ihnen. Die eine wollte die andere abstoßen, obgleich sich Yvonne vorkam, als sollte sie von Tabitha eingefangen werden. Auch wenn Glenda es gewollt hätte, in diesen Augenblicken hätte sie sich nicht vom Fleck rühren können. Alles war anders geworden. Sie kam sich vor, als wäre sie aus der Realität herausgezogen worden, was nicht der Fall war. Sie begriff es selbst nicht und schaffte es nicht einmal, darüber nachzudenken, weil ihr einfach die Logik fehlte. Yvonne Terry sprach mit ihrer toten Chefin. Das konnte Glenda nur sehen, nicht hören, weshalb aber hätte Yvonne sonst den Mund bewegen sollen? Glenda konzentrierte sich dann auf das Geistwesen. Sie wußte nicht, wie Tabitha früher einmal ausgesehen hatte, jetzt war sie ihr als Geist erschienen und erinnerte sie an ein Wesen, das in die Länge und
gleichzeitig in die Breite gezogen worden war, als hätten Hände von allen Seiten daran gezupft. Es schwamm im Nebel. Es hatte Arme, die sich wenn sie nach vorn gestreckt wurden, in Tentakel verwandelten, wobei die Finger zudem zu langen, schleimigen Tentakeln wurden, die hinein ins volle Leben griffen, denn auch Yvonne wurde von ihnen berührt und erfaßt, ohne daß sie es allerdings zu merken schien. Sie gab sich diesen Dingen einfach hin, ließ alles auf sich zukommen. Sie wartete ab, sie sprach lautlos, sie empfing Botschaften und die langen, tentakelartigen Arme umschlangen sie immer wieder. Sie streichelten ihren Kopf, den Hals, um anschließend den Körper entlang in die Tiefe zu fahren, als wollten sie die gesamte Gestalt nachmodellieren. Es war für sie wunderbar, denn auf ihr Gesicht hatte sich ein glückliches Lächeln gelegt. Plötzlich riß der Bann. Glenda spürte, wie ein Strom durch ihren Körper lief, der sie zwang, sich zu bewegen. Wohin? Ob sie es gewollt hatte oder nicht, jedenfalls ging sie auf die Gestalt und auf Yvonne zu, die sich um Glenda nicht kümmerte. Erst als sie von ihr berührt wurde, zuckte sie zusammen – und fuhr auf der Stelle herum. Glenda war überrascht von diesem wirbelnden Kreis. Sie bekam einen Stoß, mit dem sie ebenfalls nicht gerechnet hatte, wurde zurückgeschleudert und hatte Glück, daß sie nicht auf den Boden prallte, sondern auf das Bett, das unter ihr nachfederte. Glenda zog die Beine an, sie drehte sich auf dem Bett, um sich auf der anderen Seite wieder abzurollen, und dabei hörte sie ein schlimmes Geräusch. Jemand knurrte wie ein Raubtier! Nur war es kein Tier, wie Glenda sah, als sie sich neben dem Bett wieder erhob. Es war Yvonne Terry. Sie hatte sich gedreht und kam aus dem Nebel hervor, als wäre sie selbst ein Geist. Schaurig sah sie aus, die Augen weit geöffnet, den Mund verzerrt, so daß ihr Gesicht eine einzige Grimasse bildete. Ein schauriges Etwas, mehr zu vergleichen mit der Fratze eines Tieres, und sie sah aus, als wollte sie zuschnappen. Glenda Perkins sah sich nicht als einen heurigen Hasen an. Sie wußte genau, wie das Spiel gelaufen war. Yvonne war nicht mehr sie selbst, sie stand unter dem Einfluß ihrer toten Chefin, und wenn Glenda das verzerrte Gesicht mit den kalten, bösen Augen sah, dann mußte sie sich eingestehen, daß so und nicht anders eine Mörderin aussah. Ja, Yvonne wollte töten! Glenda wich zurück.
Noch hatte die andere keine Waffe, doch ihr unsteter Blick konnte durchaus bedeuten, daß sie genau danach suchte. Etwas knirschte. Es war eine der Spiegelscherben, als Yvonne hineingetreten war. Sie blieb auf der Stelle stehen. Dabei wirkte sie für einen Moment verunsichert, bis ein böses Lächeln ihren Mund umspielte, ein Beweis dafür, daß sie eine Idee bekommen hatte. Mit einer ruckartigen Bewegung und mit vorgestrecktem Arm bückte sie sich. Die Hand war gespannt, die Finger waren ausgestreckt, und sie bekam einen ersten Kontakt mit einer Scherbe. Sie hatte Glück gehabt, denn was sie da aufhob, sah aus wie ein Messer. Vorn spitz zulaufend, am Ende breit. Wieder stieß sie ein wütendes Geräusch aus, dann richtete sie sich langsam in die Höhe und hielt die Scherbe mit beiden Händen fest. Die Spitze zeigte über das Bett hinweg auf Glenda, die dafür jedoch keinen Blick hatte, denn sie schaute mehr auf die rote Flüssigkeit, die aus den Seiten hervorsickerte, und sich zwischen Haut und Spiegelscherbe gedrückt hatte. Ihr eigenes Blut, was Yvonne allerdings nichts ausmachte, denn Schmerzen spürte sie nicht mehr. Sie wollte nur an ihr Ziel gelangen, und dies auf einem möglichst kurzen Weg. Das Ziel hieß Glenda. Yvonne ging nicht erst um das Bett herum, es hätte Zeit gekostet, sie stieg einfach hinauf. Das Blut rann noch immer aus den Schnittstellen, es nahm den Weg nach unten und fiel in Tropfen dem Bett entgegen, auf dem es ein tupfenartiges Muster hinterließ. Immer wenn sie einen Fuß aufsetzte, sank er tiefer ein, aber die Matratze federte sofort wieder zurück, und Yvonne setzte ihren Weg stampfend fort. Glenda überlegte, was sie tun sollte. Heiß wie Fieberströme zuckten die Gedanken durch ihren Kopf. Sie konnte sich dieser Person stellen und kämpfen, dann aber lief sie in Gefahr, selbst verletzt oder gar getötet zu werden. Deshalb hatte sie sich einen anderen Weg ausgesucht. Sie wich zurück, denn die Schlafzimmertür lag nicht weit entfernt. Leider ihr schräg gegenüber, so mußte sie laufen oder springen, um sie zu erreichen. Das merkte auch Yvonne! Ihr Gesicht verzog sich noch stärker, und plötzlich kreischte sie los. »Bleib stehen, verdammt!« Glenda dachte gar nicht daran, über den Teppich huschte sie weg. Rechts nahm sie die Bewegung ihrer Feindin wahr, die die Hand mit derScherbe zum Schlag geschwungen hatte. Glenda war zu weit entfernt, um getroffen zu werden. Allerdings lösten sich einige Blutstropfen, die auf sie zuwirbelten und gegen ihren Körper klatschten.
Dann hatte Glenda den Flur erreicht. Sie tauchte in dieses enge Gebilde hinein, prallte, weil es eben so schmal war, gegen die Wand, drehte sich sofort und sah bereits Yvonnes Schatten in dem offenen Rechteck. Sie kam ihr nach. Sie wollte töten, und sie mußte mit einer Hand über ihr Gesicht gefahren sein, denn es war an der linken Wange blutverschmiert. Ihr Kreischen erreichte Glendas Ohren, als sie durch den Flur auf die Garderobe zuhetzte, weil dort ihr Mantel hing, den sie bei der Flucht nicht vergessen wollte. Sie riß ihn ab. Der Aufhänger wurde zerfetzt, aber sie hatte ihn. Doch Yvonne Terry war nah. Ein Schrei – und Sprung! Glenda sah beides rechtzeitig, weil sie herumgewirbelt war. Sie sah auch die verdammte Scherbe, die auf sie zielte und sie irgendwo in der Körpermitte erwischt hätte. Deshalb tat Glenda das einzig Richtige in die Lage. Sie schleuderte Yvonne den Mantel entgegen, der die nach unten fallende Hand voll erwischte und natürlich auch die Scherbe. Die Scherbe schnitt den Stoff auf und verhedderte sich gleichzeitig. Yvonne Terry schrie vor Wut auf, weil sie mit dem Kleidungsstück zu kämpfen hatte. Sie ging dabei zurück. Es würde noch einige Sekunden dauern, bis sie sich davon befreit hatte. Glenda stürmte aus der Wohnung. Sie sprang in den Flur, überlegte, ob sie noch den Lift nehmen sollte, entschied sich anders und rannte die Treppe hinab. Sie hatte nicht gesehen, in welcher Etage sich der Aufzug befand. Wenn er oben in der vierten stand, hatte es Yvonne leichter, dann würde sie unten stehen und Glenda erwarten, doch dieses Risiko mußte die Fliehende eingehen. Sie hatte erlebt, wie gefährlich die Geistheilerin auch noch als Tote war. Dank ihrer Kräfte war es ihr gelungen, sich über zahlreiche Hindernisse hinwegzusetzen. Sie hatte die Grenzen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits fließend gemacht, sie konnte von den Toten zurückkehren. Wahrscheinlich war sie nur deshalb so freudig in den Tod gegangen. Es war alles geplant gewesen. Glenda Perkins jagte die Etagen hinunter. Sie hoffte, daß sie nicht stolperte, deshalb war sie trotz allem vorsichtig und hielt sich am Geländer fest. Die beigegrün gestrichene Wand huschte an ihr vorbei. Hin und wieder sah sie ein Fenster, doch wichtig war allein ihre Flucht, und daß sie schneller war als Yvonne. Mit einem letzten Sprung nahm sie drei Stufen und landete mit beiden Beinen sicher im Flur. Noch ein kurzer Rutscher, dann hatte sie sich gefangen.
Keine Yvonne in der Nähe. Sie hörte die Frau aus der Höhe. Ein gezischter böser Fluch hallte durch das Treppenhaus in die Tiefe. Yvonne sprach vom Tod und davon, daß sie Glenda vernichten würde. Die riskierte es und stellte sich trotz der Drohungen dicht an den Treppenschacht, um nach oben zu schauen. Sie zwinkerte, als etwas Kleines, Schwarzes von oben herab durch den Schacht auf sie zufiel. Blitzschnell drehte sie das Gesicht zur Seite und hatte Glück, nicht getroffen zu werden. Der Blutstropfen verfehlte sie und klatschte mit einem häßlich klingenden Geräusch auf den Stein des Flurbodens. Es reichte Glenda aus. Sie wollte weg. Diesmal waren die beiden Frauen nicht mit der U-Bahn gefahren, sondern hatten Yvonnes Kleinwagen genommen. Zu ihm besaß Glenda nicht den Schlüssel, und sie mußte ihren Weg zu Fuß fortsetzen. Nebel und Gerüche vermischten sich. Alles stank irgendwie. Die Bäume verschwammen zu fließenden Gespenstern, die Hausfassaden traten zurück, als wollten sie vor dem Nebel weichen, und die Scheiben der Fenster waren so gut wie nicht zu sehen. Glenda Perkins wußte nur eines. Sie mußte so schnell wie möglich verschwinden und ebenfalls so schnell wie möglich John Sinclair erreichen. Alles andere war zweitrangig. So rannte sie die Straße hinab auf der Suche nach einer Telefonzelle. Daß sich etwas anbahnte, stand für sie fest. Yvonnes Verwandlung war erst der Anfang gewesen… *** Suko und ich hatten erst gar nicht lange diskutieren brauchen, wir waren einer Meinung gewesen. Je früher wir bei unserem Ziel eintrafen, um so besser. Allerdings gab es bei uns noch das Gebot der Fairneß unserem Chef gegenüber. Wir wollten nicht einfach verschwinden, ohne ihn eingeweiht zu haben. Wenn es jemand gab, für den Sir James Powell immer Zeit hatte, dann waren wir es. Er unterbrach ein Telefongespräch mit einem hohen Polizeioffizier und bot uns Plätze an. »Etwas ist durchgesickert«, sagte er. »Was denn?« Er lächelte Suko an. »Ich hörte von Glenda, daß es da eine tote Geistheilerin gibt, die gewisse Schwierigkeiten macht.« »Das stimmt«, bestätigte ich. »Inwiefern?«
»Genau wissen wir es nicht«, sagte Suko. »Wie es jetzt aussieht, scheint sie über ihren Tod hinaus noch einen gefährlichen Einfluß zu besitzen.« Sir James hob seine Augenbrauen so weit, daß sie über den Rand der Brille hinwegstanden. »Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie eine besondere Beerdigung.« Wir stimmten ihm zu. »Und nun?« »Hat sie wohl den größten Teil ihrer Patienten wieder auf dem Friedhof an ihr Grab bestellt«, sagte Suko. »Das ist in der Tat ungewöhnlich. Rechnen Sie damit, daß Sie von den Toten zurückkehrt und Sie die Person als Zombie erleben können? Befürchten Sie das?« »Auch«, gab ich zu. »Was sonst noch, John?« »Das will ich Ihnen sagen, Sir. Es geht uns auch darum, daß sie es möglicherweise schafft, all ihre Besucher in den Bann zu ziehen und für ihre Pläne einzuspannen.« »Von denen Sie aber nicht wissen, wie sie aussehen?« »Nein.« Sir James räusperte sich und überlegte dann. »Es wären möglicherweise ziemlich viele Gegner, nehme ich mal an.« »In der Tat, Sir.« »Könnte es dann sein, daß Sie Unterstützung brauchen? Müßte der Friedhof abgeriegelt werden?« Ich wiegte den Kopf. »Wenn ich ehrlich sein soll, das wäre nicht schlecht.« »Aber auch nicht ideal.« Sir James lächelte. »Nein. Suko und ich sind der Meinung, daß wir es allein versuchen sollten. Zudem hätten wir in Sarah Goldwyn und auch in Jane Collins eine gewisse Unterstützung.« »Oh – die beiden sind auch dort?« »In der Tat. Lady Sarah hat die Tote gekannt. Sie hat sie aus reiner Neugierde einmal besucht.« Sir James lächelte. »Sieh an, das hätte ich nicht gedacht, aber sprechen Sie weiter.« »Nun ja, Sir«, sagte Suko. »Wir werden allein fahren, und es könnte sein, daß wir Hilfe brauchen. Wären Sie dann bereit, uns die Unterstützung zu schicken?« »Das versteht sich. Sicher. Sie wissen ja, wo und wie Sie mich erreichen können.« »Danke.« Der Superintendent dachte nach. »Wann soll dieses Treffen denn stattfinden?« »Bei Anbruch der Dämmerung, nehme ich an.«
Er lächelte. »Wie ich Sie kenne, wollen Sie beide jetzt losfahren.« »Natürlich.« »Okay, dann viel Glück.« »Werden wir haben, Sir«, sagte ich beim Aufstehen. »Geistheilerinnen fehlen uns noch in der Sammlung. Besonders dann, wenn sie sich selbst in böse Geister verwandeln.« »Das denke ich auch.« Wenige Minuten später saßen wir im Rover und waren auf dem Weg zum Hammersmith Cementery. Der Londoner Verkehr staute sich wie der Dunst in der Stadt. Es war eigentlich Blödsinn, mit dem Wagen zu fahren, nur wer konnte schon wissen, ob wir ihn noch brauchten? Zwischendurch unterhielten wir uns über den Fall und kamen natürlich auf Glenda zu sprechen, wobei Suko den Kopf wiegte und sich fragte, ob wir da richtig gehandelt hatten. »Wieso? Was stört dich?« »Ich weiß es nicht.« »Dein Gefühl?« Ich bekam die Antwort erst, als ich vor einer Ampel hielt und wir beide auf das Heck eines Tanklasters schauten. »Ja, es ist mein Gefühl, wenn ich ehrlich sein soll. Es kann sein, daß wir Glenda zuviel zugemutet haben, denke ich.« »Was folgerst du daraus?« Er hob die Schultern. »Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Es läuft alles nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob wir Yvonne Terry trauen können. Sie war schließlich so etwas wie eine Vertraute der Toten und könnte von ihr in gewisse Dinge eingeweiht worden sein.« Ich sprach dagegen. »Nein, den Eindruck hat sie bei Ihrem Besuch nicht gemacht.« »Bist du völlig sicher?« »Himmel, man kann keinem Menschen hinter die Stirn schauen. Ich spreche da nur von Erfahrungswerten.« »Eben, und das reicht mir nicht.« »Lassen wir uns überraschen, wenn beide auf dem Friedhof erscheinen.« Suko deutete in den Dunst, der an Dichte zugenommen hatte, allerdings auch, weil wir uns nahe des Flusses befanden. »Hoffentlich sehen wir sie dann auch.« »Dort ist die Brühe dünner, denke ich.« »Hoffentlich.« Ich hatte mit meiner Prognose recht, denn als wir uns von der Themse entfernten, wurde die Luft besser. Auch die Verkehrsdichte löste sich auf, und es dauerte nicht mehr lange, bis wir den Friedhof gefunden hatten und dort hinrollten, wo sich der
Haupteingang befand. Im dünnen Dunst sahen wir, daß nicht weit von einem Blumenladen entfernt einige Fahrzeuge auf dem Parkplatz standen. Die beiden großen Flügel des Tores standen weit offen. Sie wirkten auf mich wie der Eingang zum Jenseits, und auch Suko schaute ziemlich skeptisch hin. Er fragte: »Denkst du das gleiche wie ich?« »Schon möglich.« »Dann auf in die Totenwelt!« Ich hatte den Schlüssel hervorgezogen und wollte gerade die Tür öffnen, als sich das Telefon meldete. »Nimm du ab«, sagte Suko. Er war schon halb draußen, tauchte aber wieder in den Rover zurück, als er hörte, daß ich Glendas Namen aussprach. Gespannt schaute er mich an. »Was sagst du?« rief ich. Ihre Stimme klang hektisch. Auch hatte sie Mühe, richtig zu atmen. »John, es ist einfach furchtbar, aber wir haben uns geirrt. Yvonne ist… ich glaube nicht, daß sie es schon vorher war, aber sie wollte mich umbringen, und das kam daher, weil sie einen plötzlichen Kontakt mit der Toten bekam, den auch ich erlebte.« Da sich ihre Stimme überschlug und ich nur die Hälfte verstanden hatte, bat ich sie darum, doch etwas normaler zu sprechen und erst einmal tief Luft zu holen. Sie folgte meinem Rat, und so erfuhren der mithörende Suko und ich, was Glenda in der Wohnung erlebt hatte. Unsere Gesichter versteinerten dabei. Suko nickte mir zu, als wollte er damit andeuten: Ich habe es schon immer gewußt, und ich preßte meine Lippen zusammen, daß sie einen Strich bildeten. »Und wo hältst du dich jetzt auf?« fragte ich. »Natürlich nicht mehr bei ihr. Ich stehe in einer Telefonzelle, die weit genug entfernt liegt.« »Das ist gut.« »Sie wird zum Friedhof kommen, John.« »Das hoffe ich doch.« »Sieh dich vor. Ich hatte das Gefühl, einer irren Killerin in die Augen zu schauen. Sie ist voll und ganz vom Geist der Toten besessen, und sie wird keine Rücksicht kennen.« »Danke für den Tip.« Glenda druckste herum. Ich ahnte, was sie fragen wollte und kam ihr deshalb zuvor. »Nein, Mädchen, auf keinen Fall. Du fährst nach Hause und gibst Sir James Bescheid.« »Seid ihr denn schon da?« »Ja, wir befinden uns bereits am Friedhof.« »Hm – gut, mache ich. Gebt aber auf euch acht. Außerdem habe ich Angst davor, daß mit allen Menschen das geschieht, was mit Yvonne Terry passiert ist.«
»Ja, das befürchte ich ebenfalls, aber keine Sorge, Glenda, deshalb sind wir ja da.« »Okay, see you…« Ich legte auf. Suko schaute mich ernst an. »Allmählich kommen wir der Sache näher. Mir scheint, daß die Lage allmählich aus den Fugen gerät – oder?« »Dann biegen wir sie wieder hin.« Ich stieß die Wagentür auf verließ den Rover. Der Nebel umhüllte mich wie ein feuchtes Tuch. Ich schloß das Fahrzeug ab, schaute dabei nicht zum Friedhof hin und sah deshalb die beiden weißen Glotzaugen eines heranfahrenden Autos. Das waren wieder Gäste, die zum Grab der Toten wollten. Suko und ich warteten noch, bis die Leute ausgestiegen waren. Zu dritt waren sie gekommen, Frau, Mann und Kind. Sie hielten ihre Tochter an der Hand, die nur mit Mühe gehen konnte und dabei das rechte Bein nachzog. Wir sagten nichts, doch als sie an uns vorbeigingen, bekamen wir Fetzen ihres Gesprächs mit. »Du bist es ihr schuldig, Judy, daß wir zu ihrem Grab gehen. Wäre sie nicht gewesen, hättest du nie mehrlaufen können. So kannst du dich noch bewegen.« »Ja, Mummy.« Suko und ich schauten uns an. »Ist sie ein Engel oder ein Teufel gewesen?« fragte mein Freund. Ich hob die Schultern. »Wahrscheinlich beides. Es kam halt immer auf die Situation an.« »Dann werden wir sie jetzt möglicherweise als Teufel erleben«, sagte Suko. »Oder als Geist.« Wir schauten der Familie nach. Das Kind lief zwischen Mutter und Vater, beide hielten es fest. Allein konnte es kaum laufen, und als die Familie das Friedhofstor passiert hatte, da nahm der Vater seine Tochter auf den Arm. Ich stand da und schluckte. Dieses Bild war mir durch und durch gegangen. Gleichzeitig kam mir ein anderer Gedanke. Wenn alle ehemaligen Patienten dieses Verhältnis zu der Geistheilerin hatten, sah es für uns böse aus. Sie würden Feinde der Tabitha Leroi kaum akzeptieren. »Und jetzt?« fragte Suko. »Sehen wir uns auf dem Friedhof mal um.« Er grinste breit. »Ich liebe Friedhöfe…« *** »Du bist nicht begeistert, wie?« fragte Lady Sarah, die neben Jane saß und zuschaute, wie die Detektivin lenkte.
Die Angesprochene hob die Schultern. »Was heißt begeistert? Ich weiß es nicht. Meine Beziehung zu dieser Person ist nicht besonders eng gewesen, Sarah.« »Meine auch nicht!« erklärte die Horror-Oma fast trotzig. »Trotzdem möchte ich einfach hin.« »Nur ihretwegen?« »Nicht ganz, Jane. Ich bin auch neugierig. Eines laß dir gesagt sein. Sie war eine außergewöhnliche Person, das habe ich sofort gespürt. Von ihr ging etwas aus, sie strahlte etwas ab, das ich nicht in Worte fassen kann. Jedenfalls war es ungewöhnlich.« »Nicht unheimlich?« Jane mußte halten, um in die Querstraße einbiegen zu können, die zum Friedhof führte. »Nun ja, eine gute Frage. Ich weiß nicht so recht, was ich darauf sagen soll. Möglicherweise wäre sie dir ungewöhnlich vorgekommen, du wärst skeptisch gewesen. Dank deiner latenten alten Hexenkräfte hättest du gespürt, daß sie anders ist, daß sie sich auf Dinge verläßt, die einem normalen Menschen suspekt sind – und so weiter…« Jane mußte lachen. »Hör auf«, sagte sie und startete. »Wir werden ja sehen, wie die Menschen reagieren.« »Traurig.« »Warum?« Lady Sarah hob die Schultern. »Sie alle haben der Frau viel zu verdanken. Sie hat sich um Kinder ebenso gekümmert wie um Frauen und Männer, das weiß ich.« »Und sie ist dabei steinreich geworden, wie?« »Das wiederum weiß ich nicht, Jane. Es hat bei ihr keine festen Honorare gegeben, soviel ist mir auch bekannt. Jeder konnte geben, was er wollte. Der eine viel, der andere weniger. Denk daran, was du zu zahlen hast, wenn du einen Arzt privat konsultierst. Da mußt du schon tief in die Tasche greifen.« »Stimmt.« Das Gespräch zwischen den beiden Frauen schlief ein. Zudem näherten sie sich immer mehr ihrem Ziel, und sie sahen bereits den schwachen Schatten der Friedhofsmauer und die Kronen der kahlen Bäume. »Sind wir da?« fragte Jane, als die Scheinwerfer gegen abgestellte Wagen streiften. »Ja, an der rechten Seite befindet sich der Eingang.« »Okay.« Sarah Goldwyn schwieg. Sie schaute zu, wie Jane nach einem Parkplatz suchte. Die Horror-Oma empfand es als schade, daß Jane nicht so direkt auf ihrer Seite stand. Möglicherweise war es auch besser, wenn einer zumindest einen klaren Blick behielt.
Sie stoppte. Die Scheinwerfer glotzten noch für einen Moment gegen kahles Gestrüpp vor der Mauer, dann verloschen sie, und die anbrechende Dämmerung sowie der immer noch vorhandene Dunst hüllte beide ein, als sie ausstiegen. Sie schauten sich um. Das Tor stand offen, und sie sahen auch, daß sie nicht die einzigen waren, denn jenseits des Tores, schon auf dem Friedhofsgelände, hatten sich einige Besucher zusammengefunden und unterhielten sich flüsternd. »Die Kerzen hast du?« fragte Jane. »Ja, sie stecken in meiner rechten Manteltasche. Auch für dich habe ich zwei mitgenommen.« Die Detektivin winkte ab. »Das wäre nicht nötig gewesen. Ich werde ihr nicht heimleuchten.« »Es ist nur ein Symbol der Verbundenheit.« »Ich kenne sie doch nicht, Sarah.« »Nun ja, du hast recht. Wenn du nicht willst, macht es auch nichts. Jedenfalls freue ich mich darüber, daß du trotzdem an meiner Seite geblieben bist.« Jane, die größer war, lächelte zu ihr herab. »Glaubst du denn, ich hätte dich den Weg allein gehenlassen?« »Das nicht.« Sie ließen sich Zeit, denn noch würde die Lichterkette nicht beginnen. Sie sollte nicht über das gesamte Gelände des Friedhofs reichen, sondern sich in einem gewissen Umkreis um das Grab herum formieren und das Licht in den Nebel dringen lassen, damit sein Schein auch das Grab erreichte. An der Reihe der parkenden Fahrzeuge gingen sie entlang, und es war Jane, die mit ihren Blicken die abgestellten Wagen streifte und deshalb auch den dunkelgrünen Rover entdeckte. Sie stoppte. Lady Sarahs Arm rutschte aus Janes Ellbogenbeuge. »Was ist denn?« Die Detektivin deutete auf das Heck des Fahrzeugs. »Kennst du diesen Wagen?« »Ja, ein Rover.« »Und weiter?« »Moment mal, das ist… ja, jetzt habe ich es. Das ist doch John Sinclairs Rover. Ich sehe es am Nummernschild.« »Sehr richtig«, sagte Jane langsam. »Das ist Johns Dienstfahrzeug. Zumindest ist er auch hier, und das wird wohl seinen Grund haben, liebe Sarah.« Die Horror-Oma trat einen Schritt zurück. »Meine Güte, warum sagst du das so komisch.« »Findest du?« »Ja, so aggressiv.«
Jane hob die Schultern. »Vielleicht habe ich doch etwas gegen die Geistheilerin.« »Warte doch erst mal ab.« Jane blieb hart. »Und ich bin es anscheinend nicht allein, sonst wäre John nicht hier.« »Wir alle können uns irren.« »Abwarten.« Sarah Goldwyn schüttelte den Kopf. »Dein Ton gefällt mir gar nicht. Ich komme mir vor, als hätte ich etwas Schlimmes getan. Sei doch mal objektiv.« Jane starrte für einen Moment ins Leere. Dann lächelte sie. »Okay, ich denke, du hast recht. Lassen wir alles an uns herankommen. Vielleicht habe ich zu empfindlich reagiert, aber ich spüre einfach, daß hier etwas nicht stimmt. Sie ist nicht gut, sie ist gefährlich. Diese Geistheilerin ist eine Teufelin. Hast du vorhin nicht meine Hexenkräfte angesprochen, Sarah, die noch vorhanden sind?« »Ja.« »Und die warnen mich.« »Wie denn?« Jane schaute zu dem offenen Tor. Immer mehr Wagen rollten auf den Parkplatz. »Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen, es ist einfach das Gefühl, das Kribbeln in mir. Ich muß mich damit abfinden.« »Das meine ich auch.« Lady Sarah drehte sich um und deutete auf das offene Tor. »Kommst du?« »Sicher. Auf Tabitha bin ich sehr gespannt…« *** Das waren auch Suko und ich. Zwar kannten wir den Friedhof nicht, aber aus Yvonne Terrys Berichten wußten wir, wo wir ungefähr das Grab der Geistheilerin zu suchen hatten. Es lag nicht auf dem normalen Feld, sondern ziemlich abseits, angeblich sogar auf einem für die Tote angeschütteten Hügel, was uns zugute kam. Weniger zugute kam uns der Nebel. Besonders dort, wo die alten Gräber lagen und von den Kronen der Bäume überschattet wurden, hingen die Schwaden wie Leim fest. Sie schienen zwischen den Ästen und Zweigen zu kleben, als wären sie mit dem Holz verbunden. Daß auf einem Friedhof Totenstille herrschen kann, erlebten wir ebenfalls. Es war sehr ruhig, und wir kamen uns vor wie die einzigen Besucher, was wir in diesem Bereich wohl auch waren, denn der größte Teil der Menschen war hinter uns geblieben. Wahrscheinlich würden sie gemeinsam das Grab besuchen. Dann kamen sie als Schlange oder als Pulk.
Es herrschte eine Atmosphäre, die von geheimnisvollen Geistern beherrscht wurde. Kein Laut war zu hören, wir gingen über den weichen Boden, nur ab und zu schabten Blätter übereinander, wenn sie von unseren Füßen hochgehoben wurden. Bedrückende Stille, in der die Grabsteine wie traurige Menschen wirkten, die sich nicht mehr rühren konnten. Sie standen da, um die Toten zu bewachen. Aus taktischen Gründen hatten wir uns am Rand der alten Gräberfelder gehalten. Rechts davon lag freies Gelände, über das hin und wieder unsere Blicke streiften, wobei wir nicht viel sehen konnten, denn auch dort hingen die Nebelwände fest. Suko deutete dorthin. »Da muß es liegen. Ich denke, wir schauen uns die Wiese mal an.« Als wir das Gelände betreten hatten und noch gar nicht lange unterwegs waren, da sahen wir auf dieser leicht ansteigenden Wiesenfläche einen dunklen Punkt, der durchaus das Grab sein konnte. Es war mehr ein Fleck, aber Suko dachte ebenso wie ich, denn er deutete dorthin. »Das kann es sein, John.« »Das wird es auch.« Da hörten wir Schritte. Wir schauten beide nach links. Eine Gestalt hatte sich aus der Deckung der Büsche gelöst und kam auf uns zu. Es war ein Mann, der mit beiden Händen winkte und noch ziemlich jung war, das sahen wir, als er schweratmend neben uns stoppte. »Sie wollen zu ihr?« »Was meinen Sie?« »Zu dieser… dieser Frau…« »Ja«, sagte ich. Der Mann wollte zurückweichen und beide Arme heben. Er überlegte es sich und blieb stehen. Dafür weiteten sich seine Augen, als hätte er etwas Furchtbares gesehen. »Um Himmels willen, nein, das dürfen Sie nicht, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Ich war da, ich habe es gesehen, es war einfach grauenhaft.« »Was war grauenhaft?« »Das Grab.« »Oder war etwas mit der Toten?« fragte Suko. Der junge Mann zuckte zusammen. »Ich weiß es nicht, ich kann es nicht genau sagen.« »Wie heißen Sie eigentlich?« fragte ich. »Wieso laufen Sie hier über den Friedhof?« »Mark Freeman ist mein Name. Ich bin Aushilfsgärtner, eigentlich Student, aber ich helfe hier mit.« Er berichtete uns mit hektischer Stimme, was er erlebt hatte.
Wir waren zunächst skeptisch. Trotz seiner Furcht sprach Freeman überzeugend. Immer wieder schielte er dabei zum Grab der Geistheilerin hin. »Und Sie haben dort tatsächlich eine Leiche gesehen?« fragte Suko. »Ja, ja, verdammt. Sogar an der Oberfläche. Wenn Sie hingehen sollten, ich betone sollten, dann werden Sie feststellen, daß die Oberfläche nicht so ist, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Die ist einfach anders, sie ist aufgerauht.« Er wühlte mit seinen Händen im Dunst und wollte uns zeigen, was er meinte. »Zuerst dachte ich, daß dort jemand gearbeitet hätte, dann aber schaute ich mir das Grab genauer an und entdeckte, daß die Erde von unten aufgewühlt worden ist.« »Die Frau könnte also versucht haben, aus dem Grab zu steigen«, sagte Suko. »Ja, so ist es.« »Als Zombie?« Er nickte und schüttelte daraufhin den Kopf. »Nein, denn so etwas gibt es doch nicht – oder?« Hechelnd hatte er die Frage gestellt, dann winkte er wieder ab. »Sie können machen, was Sie wollen, ich habe Sie jedenfalls gewarnt.« »Was wollen Sie denn jetzt tun?« »Verschwinden, endgültig.« »Werden Sie die anderen auch warnen?« »Welche anderen?« Suko lachte. »Die zahlreichen Besucher, die schon eingetroffen sind oder diejenigen, die noch eintreffen werden. Heute ist so etwas wie eine Wallfahrt angesagt.« »Zu ihr?« keuchte Freeman. »Das denken wir.« »Ohne mich«, sagte er hastig und schlug ein Kreuzzeichen. »Mir ist es hier nicht geheuer. Dieser Friedhof ist nicht mehr normal. Hier spukt es, hier tanzt der Teufel über das Grab…« Es waren seine letzten Worte, denn er drehte sich auf der Stelle herum und rannte wie von Furien gehetzt davon. Nichts wollte er mehr mit uns zu tun haben, ich sah, wie skeptisch Suko zum Hügel hinschaute. »Da können wir uns ja auf etwas gefaßt machen«, sagte mein Freund. »Das meine ich auch.« Für uns war klar, daß wir uns das Grab aus der Nähe anschauen mußten. Besonders jetzt, wo wir noch die Chance dazu hatten, denn noch hielten sich die Menschen zurück. »Dann mal los«, sagte Suko und machte den Anfang… *** Sie hätte vor Wut schreien können, aber sie hielt sich zurück und hoffte darauf, daß alles gut werden würde, besonders deshalb, weil Tabitha
sich aus der Ferne und dank ihrer kaum beschreiblichen Kräfte bei ihr meldete. Yvonne hatte die Wohnung verlassen und zuvor Glendas Mantel übergestreift. Natürlich war die Person verschwunden, und vor der Haustür schaute sich Yvonne wütend um. Zwar sah sie einige Passanten, die aber bewegten sich wie Geister durch den Dunst. Zudem traf keiner Anstalten, zu ihrem Haus einzuschwenken. Es ging allein um dieses Weib! Yvonne senkte den Kopf. Sie starrte auf ihre blutigen Hände und auch auf die verschmierte Spiegelscherbe, die sie noch festhielt. Ihre einzige Waffe, die sie freiwillig nicht aus der Hand geben würde, das stand schon mal fest. Das nächste Ziel war ihr Auto. Alles andere mußte sie vergessen. Jetzt ging es einzig und allein darum, so schnell wie möglich zu ihr zu gelangen und sie zu schützen. Niemand sollte ihr ein Leid antun, wer es trotzdem versuchte, würde schneller tot sein, als ihm lieb war. Yvonne Terry schloß den Wagen auf, und an vielen Stellen blieben die Abdrücke ihrer blutigen Hände zurück. Wenig später auch innen, als sie sich gesetzt hatte. Sie startete. Das Gesicht zeigte noch immer eine Fratze. Yvonne spürte ein Gefühl in sich, wie sie es noch nie gekannt hatte. Während der Fahrt erinnerte sie sich wieder an die Zeit, als ihre Chefin noch lebte. Beide hatten sehr gut zusammengearbeitet, und Yvonne war wirklich so etwas wie eine Vertraute gewesen. Nun fielen ihr auch wieder die Worte ein, die Tabitha des öfteren zu ihr gesagt hatte. »Du wirst noch an mich denken, auch wenn ich tot bin. Darauf kannst du dich verlassen.« Ja, sie hatte an Tabitha gedacht. Mehr als ihr lieb gewesen war, zumindest zu Beginn, als die verstorbene Geistheilerin ihr die schrecklichen Alpträume geschickt hatte. Da hatte sie nicht gewußt, wie sie in ihrer Angst hätte reagieren sollen. Hätte sie nur gewartet, denn nun war das alte Verhältnis zwischen ihr und Tabitha wieder hergestellt. Das Vertrauen stand wieder fest wie eine Mauer, und sie würde einen Teufel tun, es noch einmal zu mißbrauchen. Nein, das auf keinen Fall. So fuhr sie durch den Dunst. Trotz ihrer Nervosität bewegte sie sich sicher im Londoner Verkehr. Zwar rutschte so mancher Fluch über ihre Lippen, aber sie kam einigermaßen gut voran und lag auch noch günstig in der Zeit. Das würde ein Fest werden! Ein Totenfest, wie es London nie zuvor erlebt hatte. All die Menschen, die der Verstorbenen huldigten, die sich noch einmal an ihrem Grab
versammelten und gar nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Sie rechneten ja nicht damit, wie gut Tabitha war, wie außergewöhnlich, daß es für sie keine Grenzen gab, denn sonst hätte sie nie heilen können. Das würde ein Erwachen werden, wenn all die Patienten Tabitha noch einmal erlebten. Herrlich und furchtbar zugleich. Yvonne kicherte schrill, als sie daran dachte. Sie war in Schweiß gebadet, es machte ihr nichts aus. Wichtig war allein, daß sie vorankam, und das würde sie auch. Der Friedhof! Sie sah ihn bereits, und sie rollte wenig später auch auf den Parkplatz, wo sie abrupt bremsen mußte, denn vor ihr stand ein Fahrzeug leider quer. Der Platz war bereits voll, Yvonne fluchte, setzte weder zurück noch zur Seite, sondern ließ ihn stehen. Raus und weg! Seltsame Stimmen umgaben sie. Es hörte sich an, als wären Geister dabei, sich untereinander zu verständigen. Dabei waren es nur die Stimmen der Besucher, die im Nebel so verändert klangen, als kämen sie aus einer anderen Welt. Die Spiegelscherbe hatte sie mitgenommen. Noch neben dem Wagen stehend wickelte sie ein Taschentuch um die Scherbe und auch um ihre Hände. Das Brennen an den Händen spürte sie doch. Während des Vorgangs schaute sie nach vorn und bekam mit, wie sich der Nebel Stück und Stück erhellte und auflöste. Immer dann, wenn der Docht einer neuen Kerze brannte. Für Yvonne war es ein wunderbares Bild. Sie mußte daran denken, daß diese Leute alle gekommen waren, um der großen Tabitha zu huldigen, und das war einfach wundervoll. Lächelnd ging sie weiter. Nein, sie brauchte nicht dorthin, wo sich die anderen befanden. Sie würde direkt zum Grab gehen und ihre Chefin dort erwarten. So wie sie Tabitha schon im Spiegel gesehen hatte, so würde sie ihr auch auf dem nebligen Friedhof erscheinen. Als Geist, so herrlich, auch strahlend, eben über all den normalen Dingen stehend. Ja, das war gut. Sie entfernte sich von den anderen, weil sie einen anderen Weg zum Grab nehmen wollte. Ihre Waffe aber hielt sie fest… *** Niemand hatte uns daran gehindert, auf das Grab zuzugehen. Es waren nur wenige Schritte gewesen, bis wir am oberen Rand des flachen Hügels standen und auf das niederschauten, das uns bereits von Mark Freeman erklärt worden war. Die aufgewühlte Erde.
Beide hielten wir für einen Moment den Atem an, um ihn dann zischend wieder auszustoßen. »Sag was«, forderte ich Suko auf. »Sieht nicht gut aus, Alter.« »Sondern?« »Erinnere dich an Zombie-Gräber. Erkennst du hier einen Unterschied zu denen?« »Im Prinzip nicht.« »Es kann also heißen, daß unsere unbekannte Freundin das Grab verlassen hat.« Ich hob die Schultern. »Sicher.« »Und wie wollen wir das genau feststellen?« »Durch einen Test.« Suko fragte nicht, was ich vorhatte, denn er konnte es sich leicht denken. Vielleicht war es mit meinem Kreuz möglich, das Grab magisch zu entseuchen. Um mir Platz zu schaffen, trat er nach rechts weg und stellte sich an der Breitseite des Grabes auf. Er beobachtete mich dabei, und ich griff bereits nach dem Kreuz, als von Suko ein »Moment mal!« herüberwehte. »Was ist denn?« »Augenblick.« Mein Freund beugte sich vor und ließ seinen Blick über die rechteckige Grabfläche wandern. »Verdammt noch mal, da ist doch was…« »Interessant?« »Etwas Helles!« »Genauer!« Um das zu sehen, ging er in die Hocke. Dunstfahnen trieben zwischen uns dahin. Sie waren kühl wie Tücher und lautlos wie Geister. Überhaupt schien dieses Grab in einer fremden bedrückenden Welt zu liegen, fernab von allen Menschen. Der Inspektor streckte seine Hand aus. Die Fingerkuppen fuhren über die Graberde hinweg, als sollte diese von ihnen gestreichelt werden. Suko zog dabei die Stirn kraus, und plötzlich kam seine Hand unerwartet zur Ruhe. »Hier ist was, John!« »Und was?« »Das Weiße, Harte.« Er senkte seine Stimme. »Ich habe es zuerst nicht glauben wollen, aber jetzt fühle ich es. Das ist, verdammt noch mal, John, das sind Finger!« »Bist du sicher?« Auch ich hatte mich gebückt, bekam von Suko keine akustische Antwort mehr, denn er zeigte mir, was er gesehen hatte, und ich bekam große Augen. Suko zog tatsächlich eine Hand aus der weichen Erde! Es war eine starre Hand, eben eine tote Hand, die Hand einer Leiche. Er hielt sie fest, hatte den Kopf gedreht und schaute zu mir.
Ich sah ihm in die Augen und entdeckte auch sein leichtes Kopfschütteln. »Das ist keine Frauenhand, John…« »Wem gehört sie dann?« »Jedenfalls ist der Mann tot.« »Wir buddeln ihn aus.« Das war uns auch noch nicht passiert, daß wir auf einem einsamen und nebelverhangenen Friedhof mit bloßen Händen eine Leiche aus der weichen Graberde buddelten. Suko hielt sich in der Nähe des Kopfes auf. Er hatte ihn auch bald freigeschaufelt, und ich hörte seine leise Stimme. »Da, schau ihn dir an.« Er strich noch einige Male über das Gesicht, um die Haut vom Lehm zu befreien. Ich sah hin, und ich schluckte. Nein, den Mann kannte ich nicht. Aber der Ausdruck in seinem Gesicht war trotz allem noch zu erkennen. Wir sahen beide, daß er vor seinem Tod schreckliche Angst gehabt haben mußte. »Mein Gott«, sagte Suko nur, »was muß dieser Mensch durchgemacht haben.« »Stimmt, aber durch wen?« »Tabitha?« »Kann sein. Dann ist sie ihm als Zombie erschienen und aus dem Grab gestiegen.« »Sie wird ihn getötet haben.« »Frage. Holen wir ihn heraus?« »Ja, das ist Menschenpflicht, und…« »Still!« Ich hielt den Mund, denn ich kannte Sukos Tonfall. Irgend etwas war da nicht geheuer. Er hatte seine Hände flach auf die Graberde gelegt, und er atmete nur mehr durch die Nase. »Hier stimmt etwas nicht, Alter.« »Was denn?« »Ich habe das Gefühl, als würde der Boden vibrieren!« »Was?« »Ja, da tut sich was, denke ich.« Ich schaute nach links, und meine Antwort lautete ähnlich. »Und da tut sich auch etwas.« Suko hatte das Rumoren aus dem Grabinnern vergessen, denn was wir beide sahen, war beeindruckend und erinnerte an eine Filmaufführung der geisterhaften Art. Die Besucher kamen. Sie hatten sich formiert. Einige bildeten eine breite Reihe, andere wiederum näherten sich der Grabstätte als Prozession. Ein jeder hielt eine Kerze in der Hand, deren Flammen dank der Windstille auch beim Gehen nicht verloschen.
Wegen des Nebels waren die Beteiligten kaum zu sehen. Die Lichter schwebten ihnen voran. Es sah für uns so aus, als würden sie durch die Luft schaukeln, ohne irgendeinen Halt zu haben. Nur ab und zu wurden die Gestalten von einem weichen Lichtreflex getroffen. Ansonsten aber bewegten sich die Menschen schweigend durch den Dunst. Sie setzten ihre Schritte vorsichtig, und sie sprachen nicht. So kamen sie uns vor wie ein Heer von Toten, die ihren Gräbern entstiegen waren. »Es ist kaum zu fassen!« flüsterte Suko. »Ausgerechnet jetzt kommen sie hier an.« »Damit haben wir rechnen müssen.« »Klar. Was machen wir mit dem Toten?« »Wir sollten ihn trotzdem befreien.« »Denkst du, das schreckt die Jünger ab?« »Ich weiß nicht.« Suko hatte sich wieder zur Graboberfläche runtergebeugt, während ich die Masse der Lichter im Auge behielt. Ich sah keine Gesichter, nur eben die dünnen Schatten, und die wiederum wirkten, als wären sie in den Dunst hineingepinselt worden. Ich wunderte mich darüber, daß Suko mich nicht um Hilfe bat. Als ich zu ihm schaute, hatte sich seine Haltung noch immer nicht verändert. »Was hast du denn?« »Mir gefällt das Grab nicht.« Die lockere Antwort verschluckte ich und sagte statt dessen: »Das muß einen Grund haben.« »Sicher.« »Der wäre?« »Da unten tut sich etwas, John. Da kannst du sagen, was du willst. Irgendwas ist nicht in Ordnung.« Er stand mit einer ruckartigen Bewegung auf. »Mir kommt das Ding hier vor wie eine Totenfalle. Du hast nicht gekniet, aber ich spürte, als ich die Oberfläche berührte, daß hier Kräfte existieren, die mich praktisch in das Grab hineinziehen wollten. Und das gefällt mir gar nicht.« »Der Tote?« »Der sicherlich nicht.« »Dann sie?« Suko nickte. »Diese Tabitha wird uns auch im Tod noch Schwierigkeiten bereiten. Was ist mit den Leuten?« »Sie stehen.« Suko wollte sich davon selbst überzeugen und schaute an mir vorbei. Auch er sah nichts anderes als ich. Die Menschen waren zur Ruhe gekommen. Lichter, wohin wir schauten. Dunstig und blaß, passende Totenleuchten für diese Umgebung.
»Ich weiß nicht genau, auf was oder wen sie warten, John, aber ich könnte mir vorstellen, daß sich ihre große Meisterin bald zeigen wird. Die sind nicht grundlos hergeholt worden.« »Rechnest du mit einem Zombie?« »Nicht unbedingt. Es könnte ja sein, daß wir den Begriff Geistheilerin wörtlich zu nehmen haben. Plötzlich erscheint sie als feinstoffliches Wesen. Ich finde, daß es besser wäre, wenn wir sie stoppen. Du hast das Kreuz, John.« »Ja, ich weiß.« Es war ein guter Vorschlag, und ich hätte es eigentlich schon längst einsetzen sollen, aber die neue Situation hatte mich einfach zu stark abgelenkt. Jetzt war es zu spät. Plötzlich veränderte sich die Lage. Die Erde brach auf. Ich hörte noch Sukos Fluch, sah ihn fallen, dann traf es auch mich. Ich rutschte nach hinten, warf meine Arme dabei in die Höhe und sah im Fallen, daß sich nicht nur das Grab geöffnet hatte, sondern aus der Erde etwas in die Höhe geschleudert wurde, das innerhalb der Wolke aus Staub und Dreck nicht sofort zu erkennen war. Es war ein Toter! Ein Mann, der aus dem Grab hervorkatapultiert wurde. Für einen kurzen Moment schwebte er über dem Rechteck. Es sah so aus, als wollteer in der Luft stehenbleiben, dann sackte er wieder nach unten und fiel hinein in die hochgewirbelten Reste, doch das sah ich nicht mehr, denn ebenso wie Suko rutschte ich den feuchten Hang hinab, wo ich mich noch überschlug. Ich ärgerte mich darüber, daß wir so überrascht worden waren. Auf mich herab regnete der Dreck, und ich glaubte auch, ein scharfes Lachen zu hören. Ich bremste den Rutsch selbst, kam auf die Knie und schaute wieder hoch. Der Tote rollte mir entgegen. Er überschlug sich mehrmals dabei. Arme und Beine hämmerten mit dumpfen Schlägen gegen den weichen Grasboden. Ich stoppte ihn, indem ich einen Arm ausstreckte, und all die Menschen hinter mir taten nichts, um mich zu stoppen. Abwarten… Es mußte sich einfach etwas tun. Tabitha hatte mit diesem Vorspiel bewiesen, wie stark sie war. Als nächstes würde sie erscheinen und sich ihren Freunden zeigen. Darauf lauerte ich. Sie kam nicht. Keine Geräusche hinter mir. Ich dachte jetzt in abgehackten Sätzen, ich stand auf dem Sprung, ich rechnete mit allen Möglichkeiten, doch es blieb still. Bis auf das Keuchen. Als ich es hörte, wurde ich abgelenkt, denn ich sah, daß auch Suko schräg gegenüber aufgestanden war. Das Keuchen blieb…
Der Nebel veränderte es, ich stellte zudem nicht fest, aus welcher Richtung es kam. Aber es war da, es näherte sich, und es schob sich flach über den Boden, verdeckt und geschützt durch den wabernden Nebel. Als ich vorging, löste sich die Gestalt. Etwas blitzte in ihrer Hand. Eine Spiegelscherbe, und die Spitze zielte auf meinen Rücken! *** Auch Lady Sarah Goldwyn hielt die beiden brennenden Kerzen in den Händen. Zusammen mit Jane hatte sie sich weit nach vorn gemogelt, so daß sie praktisch in der ersten Reihe stand und nun abwartete, wie es weiterging. »Ist das nicht stimmungsvoll?« hauchte sie, ganz unter dem Eindruck dieser ungewöhnlichen Szenerie stehend. Jane schwieg. »Warum sagst du nichts?« »Weihnachten gefällt mir besser, Sarah.« »Du mußt es so nehmen, wie es ist, Jane. Das hier ist auch etwas Besonderes. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich dafür begeistern kann, aber das ist nun mal so.« Jane hielt den Mund. Sie gönnte Sarah Goldwyn ihren Spaß. Allerdings wunderte sie sich darüber, daß sich die Horror-Oma von diesem Bild, zu dem sie ja auch einen Teil beitrug, dermaßen gefangennehmen ließ. Sie hatte den Überblick verloren, besonders den Sinn für die Realitäten. Jane mußte zugeben, daß dieses Bild nur auf dem nebligen Friedhof schon außergewöhnlich war, doch niemals hätte sie sich so davon einnehmen lasen, wie es Sarah Goldwyn getan hatte. Wahrscheinlich auch deshalb nicht, weil es ihr nicht vergönnt gewesen war, diese Tabitha Leroi kennenzulernen. Jane kannte sie nur aus Erzählungen, und sie hatte bei Sarah Goldwyn einen starken Eindruck hinterlassen, obwohl die Horror-Oma die Geistheilerin nicht als Patientin besucht hatte. Sarah Goldwyn stand rechts neben Jane. Sie trug einen langen Wintermantel und einen Hut auf dem Kopf, der wie eine Kreissäge aussah, die sich jetzt bewegte, als Sarah in eine bestimmte Richtung nickte. »Da befindet sich das Grab.« Es brannten zwar zahlreiche Lichter, dennoch war nicht viel von diesem Grab zu sehen. Jane konnte den kleinen Hügel mehr ahnen, so schwach nur zeichnete er sich ab. Auch über ihn floß der Nebel hinweg. Es war wie ein Dampf, der von einer Maschine produziert wurde, die praktisch unerschöpfliche Reserven besaß. »Was meinst du damit?« »Dort liegt sie begraben.«
»Na und?« »Himmel, das ist…« »Ich meine, was wollen wir alle hier? Noch einmal, es muß einen Grund gegeben haben, daß all den Patienten eine Nachricht zukam, sich heute hier zu treffen. Bisher sah ich nichts, nur eben die Menschen, das Grab, den Friedhof, aber…« »Sie wird sich irgendwann bemerkbar machen, Jane. Davon bin ich überzeugt.« Beide sprachen leise, damit sie die Andacht der Nachbarn nicht störten. »Wie denn?« »Das müssen wir ihr überlassen.« »Da fällt mir nur der Begriff Zombie ein.« Sarah schwieg. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls so gedacht, aber es nicht auszusprechen gewagt. Am Grab tat sich etwas. Zwar war in dieser beklemmenden Nebellandschaft kaum etwas zu erkennen, aber Jane sah doch die beiden Gestalten, die sich dem Ziel näherten. Nein, im Nebel war es eine Täuschung gewesen. Sie hatten das Grab bereits erreicht, bewegten sich auch dort. Es kam ihr vor, als hätte sich die eine Gestalt hingekniet. Leider nahmen ihr die Finsternis und der Dunst die Sicht. Jane wußte auch nicht, wie sie gerade auf die Namen ihrer Freunde Suko und John kam, plötzlich aber standen die beiden auch bildlich vor ihr, und sie holte tief Luft. Das merkte auch Sarah. »Was hast du?« Innerhalb kürzester Zeit hatte die Detektivin einen Entschluß gefaßt, den sie allerdings mit der Horror-Oma noch absprechen wollte. Sie beugte sich dem Ohr der älteren Frau entgegen. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dich allein lasse?« »Du willst weg?« Sarah hatte Jane falsch verstanden. »Nein und ja. Ich möchte nur näher an das Grab heran.« »Warum?« »Ich möchte es mir einfach ansehen.« »Aber die anderen warten doch auch hier.« »Ich bin aber nicht die anderen. Ich habe den Eindruck, daß es wichtig sein kann.« »Du willst dabeisein, wenn sich Tabitha meldet, nicht?« Jane Collins gab darauf keine Antwort. Sie war nur ein wenig enttäuscht darüber, daß Sarah so dachte. »Meinetwegen auch das«, flüsterte sie. »Jedenfalls weiß ich, wo ich dich finden kann, vorausgesetzt, du bleibst hier stehen.« »Wenn möglich schon.« »Gut, dann bis gleich.« Bevor die Horror-Oma sie noch zurückhalten konnte, war Jane bereits verschwunden. Nach drei Schritten schon war sie nicht mehr zu sehen
und zu einem Teil der dunstigen Umgebung geworden. Sie fühlte sich von ihr verschluckt, und sie hatte das Gefühl, von den Nebelschwaden wie Leibwächter begleitet zu werden. Niemand kümmerte sich um sie, als sie den Weg zum Grab hin einschlug. Sie ging nicht den direkten Weg, denn Jane wollte so wenig wie möglich gesehen werden und schlug deshalb einen Bogen. Leider gab es auf diesem Teil des Friedhofs keine Deckung. Weder Buschwerk, Bäume, noch Gestrüpp bildeten Verstecke. Jane duckte sich. Der Boden war weich und glatt. Die Lichtflecken der Kerzen blieben zurück. Sie schimmerten jetzt rechts von ihr, sie aber hatte den Eindruck, in eine noch dickere Suppe hineingeraten zu sein, denn wo sie herging gab es kein Licht, das den Nebel auch nur eine Handbreit durchsichtiger gemacht hätte. Sie hielt ihren Blick auf das Grab gerichtet. Jetzt war es überhaupt nicht mehr zu sehen, weil dicke Wände vorbeiflossen und ihr einen Großteil der Sicht nahmen. Sie blieb stehen. Stille umgab sie. Auch dort, wo die Menschen mit den brennenden Kerzen standen, war nichts zu hören. Und doch erreichte ein Geräusch ihre Ohren. So genau wußte sie es nicht, es war auch nicht einfach, es zu identifizieren. Sie glaubte aber, ein Schleifen oder tappende Schritte nicht weit von ihr entfernt gehört zu haben. Kam da jemand? Hatten möglicherweise andere Menschen die gleichen Ideen gehabt wie sie? Jane wartete ab. Sie wußte nicht, in welche Richtung sie schauen sollte. Alles war von dieser fließenden Watte eingehüllt worden. Ein dichtes, graues Netz, in dem nicht der geringste Lichtfunke schimmerte, und mehr als einmal strich ein Frösteln über ihren Rücken. Wer kam? Jane war schon versucht, ihr Ohr auf den feuchten Boden zu legen, als sie den Kopf wie zufällig nach links drehte und dort in dem Nebel einen Schatten erkannte. Da kam jemand. Und dieser Schatten bewegte sich auf zwei Beinen. Zudem ging die Gestalt geduckt, als könnte sie inmitten der Wolken Deckung finden. Wollte er zu Jane? Die Detektivin wußte es nicht. Sie ging davon aus, daß sie noch nicht gesehen worden war, und sie legte sich flach auf den Boden, den Blick nach links und leicht in die Höhe gerichtet. Sie hörte das Keuchen, die tappenden Schritte und auch das leise Knurren der Person. Und sie erkannte, daß es sich bei dem Schatten um
eine Frau handelte, die etwas in ihren Händen trug, das Jane nicht identifizieren konnte, aber die Frau befand sich auf dem Weg zum Grab. Wenn sie so weiterging, mußte sie es einfach erreichen. Sie kam von der linken Seite und hatte noch einen größeren Bogen geschlagen als Jane, wahrscheinlieh wollte sie auf keinen Fall entdeckt werden, und auch die Totenlichter interessierten sie nicht. Jane hörte sie knurren, und sie empfand das Geräusch mehr als ungewöhnlich, wenn nicht sogar gefährlich. Sie drehte langsam den Kopf. Die Gestalt befand sich mit ihr auf gleicher Höhe. Sie schaute weder nach rechts noch nach links, ihr ging es einzig und allein darum, das Grab zu erreichen. Und dort passierte etwas. Jane sah es deshalb, weil sie genau in diesem Moment den Kopf gedreht hatte. Das Grab bildete plötzlich eine Wolke. Es sah aus, als wäre es in die Luft geflogen, so etwas wie eine Mischung aus Pilz und Oval stand über der Fläche. Dort hinein, fielen förmlich die taumelnden Gestalten, die dann das Übergewicht bekamen und zurückprallten. Der Nebel nahm Jane die weitere Sicht, aber sie hörte den wütenden Laut der anderen Frau. Die startete plötzlich. Sie hatte alles vergessen, was sie zuvor noch ausgezeichnet hatte. Es war ihr egal, ob sie entdeckt wurde oder nicht, aber ihre Arme schnellten vor, und dann sah Jane für einen Moment das Funkeln. Sie dachte an die Klinge eines Messers, doch dafür war die Fläche eigentlich zu breit. Also mußte es ein anderer Gegenstand sein, der jedoch die gleiche Funktion wie ein Messer hatte. Die Frau rannte über das Feld. Einem Instinkt folgend nahm Jane die Verfolgung auf. Da sich die andere nicht umschaute, war es leicht, ihr auf den Fersen zu bleiben. Jane holte sofort auf, und während sie lief, damit immer näher an das Grab herankam, um so besser konnte sie sehen. Sie wußte plötzlich, daß die Frau vor ihr etwas Bestimmtes vorhatte. Nicht weit vom Grab der Geistheilerin entfernt, saß auf dem Boden ein Schatten. Er war ein Mensch, eine andere stand nicht weit von ihm entfernt an der anderen Seite des Grabs. Sie sah auch noch eine leblose Gestalt auf dem Boden liegen, und das alles nahm Jane praktisch im Laufen auf, ohne sich darum zu kümmern, denn wichtig allein war die Frau vor ihr, die ein bestimmtes Ziel hatte. Sie wollte an den Mann heran. Und sie wollte ihn töten!
Mit beiden Händen hielt sie den Gegenstand fest, sie hob jetzt ihre Arme, lief noch zwei Schritte und war dann so nahe heran, daß sie zustoßen konnte. Der Mann am Boden drehte sich. John? War es John? Der Nebel war zu dicht, um es hundertprozentig feststellen zu können. Wer immer auch dort hockte, er befand sich in höchster Gefahr, denn die Frau wollte ihn killen. Jane Colins stieß sich ab. Nur mit einem verzweifelten Sprung konnte sie das Schlimmste verhindern… *** Der Nebel hatte mich irgendwie taub gemacht und meine Reaktionen auf ein Minimum beschränkt. Deshalb hörte ich die Gefahr möglicherweise zu spät, dann aber kreiselte ich herum. Ein Körper fiel auf mich zu. Verschwommen sah ich das Gesicht, aber sehr klar diesen messerartigen Gegenstand, der auf mich zielte. Da war noch ein zweiter Schatten. Und er packte zu. Die Gestalt hatte sich in der Luft befunden. Ich hörte den Schrei einer Frau, und die zweite Frau, die mit dem Messer, stockte mitten in der Bewegung, als sie gepackt und zurückgezerrt wurde. Das spitze Ding raste zwar nach unten, doch es traf nicht mich, sondern fuhr mit einem dumpfen Laut in den weichen Boden, wo es zunächst einmal stecken blieb. Ich schnellte zur Seite und bekam mit, wie die zweite Frau plötzlich wieder auf die Beine kam. »Jane!« rief ich. »Okay, John, okay, es ist alles okay, du hast es überstanden. Sie hat dich nicht erwischt.« Von der anderen Seite lief Suko herbei. Jane ging ebenfalls auf die andere Frau zu und blieb neben ihr stehen. Sie schaute nach unten. Dann war Suko da. »Verdammt, was ist passiert?« »Da wollte mich jemand umbringen«, sagte ich und deutete auf die fremde Frau. Sie lag auf dem Bauch, ihre Hände zuckten, und sie wollte wieder nach der im Boden steckenden Waffe greifen. Diesmal hatten wir sie erkannt. Es war eine Spiegelscherbe, und als ich mich bückte, da zuckte ich zurück. »Himmel, das ist Yvonne Terry!« Auch Suko war baff. »Und die wollte dich killen?« »Ja.« »Verstehe ich nicht.«
Yvonne lag noch immer auf dem Bauch. Ich bückte mich und drehte sie herum. Mit einem Ohr bekam ich mit, daß Jane und Suko über sie sprachen. Selbst im Nebel sah ich das verzerrte Gesicht der jungen Frau, und mir entging auch nicht das Blut, das überall an ihren Händen klebte, sogar als makabre Schminke auf dem Gesicht zu sehen war, so daß ich davon ausgehen mußte, daß sie sich an ihrer Waffe selbst verletzt hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich?« flüsterte ich. »Verdammt, was haben Sie getan?« Sie bewegte die Lippen, nur drangen keine vernünftigen Worte aus ihrem Mund. Sie schleuderte mir eine geflüsterte Haßtirade entgegen und zuckte zusammen, als sie das Splittern hörte, das entstand, als Suko die Scherbe zerbrach. Plötzlich redete sie normal, wenn auch gefangen in ihrer Welt, die ihr von einer Toten diktiert worden war. Davon ging ich jedenfalls aus. »Ihr werdet sie nicht stoppen können, verdammt noch mal. Nein, ihr werdet es nicht schaffen.« »Tabitha?« fragte ich. »Ja, denn sie kehrt zurück!« Suko und ich widersprachen ihr nicht. Uns hing noch immer der ungewöhnliche Grab-Crash nach. Wer es schaffte, einen Toten aus der Erde in die Höhe zu schleudern, dem traute ich auch andere Gemeinheiten zu. Durch den Nebel klang Janes erstaunter Kommentar. »Deshalb also sind sie alle gekommen. Jetzt fange ich an zu begreifen. Sie wollen zuschauen, wie ihre große Meisterin aus dem Grab klettert. Das ist ein Hammer.« »Wo steckt Sarah? Oder bist du allein gekommen?« »Nein, John. Sie wartet bei den anderen. Sie ist komisch. Diese Tabitha muß sie ungemein fasziniert haben.« »Kann ich mir denken.« Jane drehte sich und schaute zum Grab. »Habt ihr sie denn schon gesehen?« »Nein, noch nicht. Sie schaffte es nur, einen Toten aus dem Grab zu schleudern. Wenn ich daran denke, kann ich mir nur an den Kopf fassen. Das ist Irrsinn.« »Kennt ihr ihn?« »Nein, nie gesehen. Aber wir wurden gewarnt, ein Student hat uns…« Ich winkte ab, weil es in diesem Fall uninteressant war. »Jedenfalls müssen wir Tabitha stoppen.« Auch Yvonne hatte mich gehört. Sie lag noch immer zwischen uns und kicherte. »Ihr wollt sie stoppen? Ihr wollt tatsächlich die Königin stoppen?« »Ja!«
»Sie ist besser als ihr. Sie ist unwahrscheinlich gut. Sie ist die absolute…« »Schon gut, das wissen wir. Aber sie liegt im Grab, nicht wahr?« »Ja!« »Und weiter?« »Nichts weiter. Sie hat den heutigen Abend auserwählt, um ihren Freunden zu zeigen, daß es möglich ist, den Tod zu besiegen. Ihr werdet es sehen, sie ist nicht zu stoppen.« Das heftige Lachen wurde vom Nebel verschluckt, und es verstummte so plötzlich, wie es aufgeklungen war. Das hatte seinen Grund. Am Grab geschah etwas! Innerhalb kürzester Zeit erschien dort eine grelle Lichtquelle, und dieses Licht konnte selbst nicht vom dichten Nebel verschluckt werden, obwohl die Schwaden durch den Schein wallten. Mit einer ruckartigen Bewegung war auch Yvonne auf die Füße gekommen. Da ich dicht neben ihr stand, konnte ich sehen, wie sich ihr Gesicht veränderte. Der Schein, der aus dem Grab stieg, spiegelte sich in etwa auf ihrem Gesicht wider. Es war ein wunderbares Leuchten, auf ihren Lippen lag ein glückliches Lächeln. »Sie ist da!« flüsterte Yvonne. »Ja, sie ist wunderbar, denn sie hat ihr Versprechen eingelöst. Jetzt kann uns nichts mehr passieren. Sie wird uns allen zeigen, daß wir vor dem Tod keine Angst mehr zu haben brauchen, es ist so wunderschön, ihr zuzusehen. Sie wird…«, ihre Stimme brach ab, denn Tränen erschienen in ihren Augen. Auch die anderen Menschen hatten die Veränderung am Grab der Geistheilerin mitbekommen. Als wir uns drehten, hörten wir ihre Stimmen, die sich zu einem einzigen Ruf vereinigten. Ein Schrei, der all ihre Hoffnungen ausdrückte, die ihnen die Geistheilerin einmal eingeimpft hatte. »TABITHA!« Und die >Tote< enttäuschte ihre Anhänger nicht… *** Auch wir waren fasziniert, als wir erlebten, welch einen ungewöhnlichen Auftritt sie hatte. Hure oder Heilige? Keiner von uns wußte es. Sie konnte auch ein Engel sein, ebenso ein Teufel, denn sie umgab sich mit dem matten Glanz der Himmelswesen, und beinahe dachte ich daran, daß hier tatsächlich eine Heilige die Auferstehung erlebte.
Das Grab lag in einer Lichtinsel, die sich einzig und allein auf diesen Umriß konzentrierte. Sie war an den Rändern schwächer als in der Mitte, aber genau dort, wo das Licht so stark war, da hatte Tabitha ihren Platz. Seltsamerweise blendete uns die Helligkeit nicht. Das lag nicht nur allein an den Dunstschwaden, die träge durch die helle Insel zogen, aber so von ihr verschluckt wurden, daß sie praktisch nicht mehr vorhanden waren. War Tabitha ein Geist? War sie ein Mensch? Oder war sie vielleicht ein Zombie? Sie konnte alles und nichts sein, jedenfalls war sie eine Erscheinung, die ihre feuchte Erde verlassen hatte und jetzt wie eine Königin darüber hinwegschwebte. Dort stand sie und schaute nach vorn. Sie war wunderbar anzusehen. Das Licht zeichnete noch ihre Konturen nach. Lichtreflexe entstanden. Eigentlich sah sie so aus, wie sie auch als Mensch ausgesehen hatte. Nur trug sie ein weißes Totengewand. Das dunkle Haar fiel bis auf ihre Schultern, und es umrahmte ihr Gesicht wie ein Rahmen das Gemälde. Sie war wunderschön, sie lächelte. Ich versuchte, mich auf ihre Augen zu konzentrieren. Nein, dort entdeckte ich kein Leben. Sie waren kalt, auch böse? Ich erkannte dies nicht, wartete aber ab, was sich noch ereignen würde, denn Tabitha war bestimmt nicht nur gekommen, um auf ihrem Grab zu stehen. Sie würde irgendwie mit ihren Getreuen in Kontakt treten wollen, und darauf war ich gespannt. »Damit hätte ich nicht gerechnet«, sagte Jane leise. »Verdammt, ich habe es für Spinnerei gehalten.« »Ist es aber nicht.« »Tabitha, Tabitha«, flüsterte Yvonne mit erstickter Stimme. »Ich wußte, daß du mich nicht allein lassen würdest. Ich habe deine Botschaften verstanden und alle anderen auch.« Wir waren gespannt, ob sie spürte, welch ein Vertrauen ihr die Jünger entgegenbrachten, und wir warteten darauf, daß sie endlich in einen Kontakt mit ihnen trat. Das tat sie auch, und sie verunsicherte uns dabei noch mehr, denn sie redete mit einer sehr schwachen Stimme, die schon der eines Geistes würdig war. Es war auch gleichzeitig eine neutrale Stimme. Sie paßte weder zu einem Mann noch zu einer Frau. Sie war neutral und eines Geistes irgendwo würdig. Zwar wehte sie dünn durch den Nebel, aber ich war davon überzeugt, daß jeder auf dem Friedhof sie hören konnte. Zirpend und gleichzeitig schrill, sowie hoch und dünn wehte sie durch den Nebel an jedes Ohr. »Ich freue mich, daß ihr so zahlreich erschienen seid. Ich wußte, daß ihr
kommen würdet. Ich wußte, daß ich mich auf euch verlassen kann. Wie oft haben wir davon gesprochen, daß der Tod nicht das Ende ist! Er bedeutet für mich einen neuen Anfang, und diesen Anfang will ich auch auf euch übertragen, die ihr mir euer Vertrauen geschenkt habt. Es ist so wunderbar gewesen, so herrlich, und ich möchte jeden einzelnen von euch am liebsten in die Arme schließen.« Suko schüttelte den Kopf. »Spinnt die? Ist die verrückt?« »Nein, das glaube ich kaum.« »Was soll das, John?« »Wir werden es sehen.« »Du könntest hingehen und ihr dein Kreuz vor die Nase halten. Mich würde interessieren, was dann geschieht?« »Das wirst du bestimmt bald.« »John hat recht«, sagte Jane. »Wir sollten wirklich abwarten, was sie tatsächlich will.« »Okay, ich füge mich.« Yvonne Terry war unruhig geworden. Jane Collins hatte sich um die Frau gekümmert und hielt sie fest. Immer wieder versuchte Yvonne, sich loszureißen, so daß sich Jane gezwungen sah, sie in den Polizeigriff zu nehmen, und Yvonne beugte sich stöhnend nach vorn. »Das wirst du büßen, du Schlampe, du…« Wir hörten gar nicht hin, außerdem erstickte ihre Stimme, und wir konzentrierten uns wieder auf Tabitha Leroi. Sie schaute gegen die zahlreichen Lichter im Nebel. »Ihr habt mich gehört, ihr seht mich, aber es fehlt euch noch der richtige Glaube, das spüre ich bereits.« Sie hob die Arme wie eine Königin, die den Beifall ihres Volkes dämpfen will. Nur klatschte hier niemand. All ihre Vertrauten standen in der bedrückenden Stille und wurden von dichten Nebelschwaden lautlos umwabert. »Mir fehlt er nicht. Mir fehlt der Glaube nicht!« keuchte Yvonne und mußte sich von Jane anhören, daß sie nicht gemeint war. Es ging um die große Masse, und dabei spielte es keine Rolle, wer aus ihr hervortrat, denn nichts anderes wollte Tabitha, wie uns ihre nächsten Worte klarmachten. »Euch fehlt der Glaube, was ich verstehen kann, aber ich bin es wirklich, die über dem eigenen Grab schwebt und dem Tod die kalte Schulter gezeigt hat. Deshalb möchte ich einen Mutigen aus eurer Mitte bitten, herzukommen, damit er sich selbst überzeugen kann, daß ich es tatsächlich bin, daß ich existiere. Kommt her, faßt mich an, probiert mich aus. Wer wagt es, den Anfang zu machen?« Ja, wer würde es wagen? Wir schauten zurück.
Die Lichter schwebten im Dunst. Allerdings nicht mehr so ruhig. Einige schwankten, zitterten, es mochte daran liegen, daß auch ihre Träger nicht mehr so starr stehenblieben und zittrig geworden waren. Sie hatten die Aufforderung verstanden, und eigentlich hätte jemand gehen müssen. Vielleicht auch zwei oder drei, doch in den Reihen rührte sich nichts. Sicherlich aus guten Gründen. Mochten sie von den Heilkräften auch noch so überzeugt gewesen sein, was sie hier allerdings erlebten, reichte weit über ihr Begreifen hinaus. Damit kamen sie nicht zurecht, das war einfach zuviel für sie. Wir warteten ebenfalls ab. Die Sekunden vergingen. »Sollen wir gehen?« fragte Suko. Ich nickte. »Keine schlechte Idee. Es sei denn, jemand kommt noch und will zu ihr.« »Da geht einer…« Jane hatte es gesagt, sie zeigte auch schräg nach vorn, und wir schauten ebenfalls hin. In der Tat löste sich eine Person aus der Gruppe. Sie hatte an der Seite gestanden, und wie alle anderen trug auch sie zwei brennenden Kerzen in den Händen. Von Tabitha Leroi war sie noch nicht entdeckt worden, sonst hätte sie nicht ihre nächste Frage gestellt. »Nun? Will denn keiner zu mir kommen? Will es niemand?« »Doch!« Eine Frauenstimme antwortete. »Ich komme zu dir, Tabitha!« Wir schraken zusammen, denn gesprochen hatte Lady Sarah Goldwyn… *** Jane Collins stöhnte auf. »John, das können wir nicht zulassen. Sarah darf nicht…« »Warum nicht? Sie ist hierhergekommen. Sie ist so gut wie alle anderen auch.« »Aber sie wird getötet!« »Bleib ruhig, Jane. Laß sie gehen. Ich denke nicht, daß Tabitha sie umbringen wird.« »Was sonst?« »Sie soll den Test machen!« »Okay, ich warte. Aber wenn etwas passiert, dann… dann werde ich…« Sie sagte nicht, was sie tun wollte, doch ihr Gesichtsausdruck sagte genug. Er zeigte ein düsteres Versprechen… ***
Die Horror-Oma hatte erst abgewartet, ob sich eine andere Person meldete, doch das war nicht der Fall. Eigentlich hätten die Besucher mit gewissen unerklärlichen Vorgängen rechnen müssen, wenn sie schon um diese Zeit an einen derartigen Ort bestellt worden waren, doch die Rückkehr der Geistheilerin hatte sie alle überrascht. Das hatte Sarah ihren Gesprächen entnommen, die sie nur flüsternd führten, wobei sie auch öfter mit sich selbst gesprochen hatten. Die Furcht war wie ein böser Druck, der alle umklammert hielt und keinen ausgeschlossen hatte. Das Warten auf eine Antwort gestaltete sich selbst für Sarah zu einer Qual, denn niemand traute sich, der Geistheilerin eine Erwiderung zu geben. Bis sie ihre Starre überwandt. Die Horror-Oma löste sich aus dem äußeren Kreis der Wartenden und erklärte mit fester Stimme, daß sie es war, die Tabitha dieser Probe unterziehen wollte. »Ja, das ist gut, das ist wunderbar!« hörte sie nach einer Weile die Antwort, da aber befand sich Sarah Goldwyn bereits auf dem Weg zu dieser Person. Als die Menschen und die Lichter hinter ihr zurückgeblieben waren, überkam sie schon das Zittern. Plötzlich dachte sie daran, daß sie sich möglicherweise zuviel vorgenommen hatte, denn auf dem freien Feld und inmitten des lautlos dahintreibenden Nebels kam sie sich plötzlich so einsam und verloren vor. Es war keine direkte Angst, die sie umklammert hielt, doch ihr Herz klopfte schon schneller, und sie zog einige Male den Kopf ein, als sie zu schnell ging und dabei nach vorn rutschte. Etwas drückte gegen ihren Magen, sie lauschte den eigenen Schritten, ging sehr langsam, weil sie nicht wollte, daß die Flammen erloschen, die ab und zu sehr klein wurden, dann wieder hochloderten und sich in ihre Richtung hinbeugten, so daß Wärme über ihr Gesicht streifte. Tabitha wartete. Sarah fragte sich, ob sie es gut gemacht hatte. Sie hätte eventuell doch warten sollen, nun gab es kein Zurück mehr. Es wäre lächerlich gewesen, hätte sie den Rückzieher jetzt versucht. Also weitergehen. Und sie schritt dahin. Langsam, schleichend und auch schleifend, den Kopf so erhoben, daß sie die Lichtgestalt auf dem Grab sah. Die Helligkeit umschmeichelte einen ebenfalls hellen Körper und natürlich ein strahlendes Gesicht, das so wunderschön aussah und selbst Lady Sarah beeindruckte. Sie hatte nicht zu Tabithas Patientinnen gehört. Sie hatte einfach nur wissen wollen, welche Kräfte in dieser Frau steckten, von der immer wieder gesprochen und über die so viel geschrieben wurde. Deshalb war sie zu ihr gegangen und hatte sich von ihrem Flair einfangen lassen. Zwei Stunden hatten beide Frauen damals miteinander gesprochen. Viel
war für Lady Sarah dabei herausgekommen. Sie hatte von einer anderen Welt erfahren, wo es den Begriff Krankheiten nicht gab. Und wenn, dann auf die normalen Menschen projiziert, wobei diese dann aus dem Jenseits die heilenden Kräfte erwarteten. Es war wunderbar… Plötzlich fühlte sich Lady Sarah wieder besser. Die Erinnerung an das Gespräch zwischen den beiden hatte dafür gesorgt. Sie konnte es kaum erwarten, Tabitha gegenüberzustehen, und sie war auch froh, als sie den Beginn des flachen Hügels erreichte. Tabitha stand oben. Sie erwartete Lady Sarah mit ausgestreckten Armen, den Kopf hielt sie leicht gesenkt, und die Horror-Oma schaute in das Licht. Sie hatte etwas Mühe, die rutschige Strecke hochzuschreiten. »Komm zu mir. Komm als erste. Es ist nicht mehr weit, das weißt du genau…« Tabithas Stimme spornte sie an. »Ich… ich… bin auch gleich da…« »Ja, das ist gut.« Sarah ging weiter. Den Oberkörper hatte sie nach vorn gedrückt, das Lächeln auf ihrem Gesicht blieb. Sie atmete mit offenem Mund und schaute zu, wie sich der kondensierte Atem mit den weichen Nebelschwaden vermischten. Auch sie sorgten dafür, daß die Konturen dieser Person ebenfalls an den Seiten zerflossen. Es war einfach alles so leicht, so wenig bedrückend. Lady Sarah hatte das Gefühl, mit jedem Schritt, den sie tat, ein Stück ihres eigenen Lebens hinter sich zu lassen, und sie merkte nicht mal, in welch einen Bann sie bereits geraten war. Sie wollte zu Tabitha! Noch ein Schritt trennte sie. Lady Sarah warf beide Kerzen weg, sie brauchte die Lichter nicht mehr, denn nun stand das große, das helle, das strahlende Licht zum Greifen nahe vor ihr. »Da bist du ja…« Die ersten Worte, die erste Berührung! Sarah Goldwyn hatte das Gefühl, einen Schlag bekommen zu haben, als sich Tabithas Hände auf die ihren legten. Sie waren so weich, so zärtlich, wenn auch eisig kalt… »Komm zu mir, meine Liebe. Du bist doch Sarah, nicht?« »Ja.« »Sarah, die zu mir kam, um mich zu prüfen. Hast du mich geprüft, meine Liebe?« Die Horror-Oma richtete sich vor ihr auf. Sie stand auf dem Grab, ohne eigentlich zu merken, wo sie direkt war. »Ja, ich habe dich geprüft, Tabitha.« »Und?« »Du bist etwas Besonderes.«
In den Augen der Frau entstand ein gleißendes Funkeln. »Nein, du hast Unrecht. Ich bin nicht nur etwas Besonderes, ich bin göttlich, verstehst du? Göttergleich…« »Ja…« »Magst du das?« Sarah nickte. »Willst du es auch werden?« Mißtrauen schoß in Sarah hoch, fiel aber sofort wieder zusammen, als sich der Händedruck verstärkte. »Wie ist das möglich?« »Du mußt mir nur folgen.« Die Horror-Oma hatte eine Gänsehaut bekommen. »Ich will aber wissen, wer du wirklich bist. Wieso ist es möglich, daß du es allein durch die Kraft deiner Hände schaffst, die Menschen zu heilen? Das möchte ich gerne wissen.« »Weil ich Freunde habe.« »Ach…« »Ja, in der jenseitigen Welt, aus der ich komme. Dort sitzen die Geister und schauen auf diese Welt. Sie haben mir die Ratschläge gegeben, wie ich die Menschen zu heilen habe, weil ich es gut mit ihnen meine. Und als die Zeit reif war, da habe ich mich in ihre Hand begeben, denn sie dachten sich etwas sehr Interessantes aus. Sie wollten mit den Menschen spielen, sie wollten sie zu sich holen. Wer sich einmal dazu entschlossen hat, der kann es nur gut haben, denn sie haben hier die Totenfalle aufgebaut. Sie holen dich als Lebendige in ihre Welt, die du auch verlassen kannst, wenn du willst. So haben sie es bei mir getan. In gewisser Weise war ich tot, doch nicht für sie, denn sie haben mich getötet. Ich habe mich selbst in die Totenfalle begeben. So töteten sie mich auf ihre Art und Weise, denn sie ließen mich in einem Zwischenstadium, damit ich in der Lage bin, von einer Welt in die andere zu wechseln. Ich kann mal hier sein, mal dort. Und ich bin zu ihrem Boten geworden, denn was sie mit mir gemacht haben, das erprobe ich nun an euch. Ich werde euch allen die Chance geben, von einer Welt in die andere zu können, und mit dir mache ich den Anfang. Nur einen habe ich getötet, diesen William Todd, der gekommen war, um auf mein Grab zu spucken, aber ihr alle seid meine Freunde, ihr seid die Auserwählten für die Geistwelt, damit ihr von ihnen lernen könnt und sie von euch. Gefällt dir das?« »Ja, es gefällt mir.« »Dann sind wir uns einig?« »Ich soll also den Anfang machen?« Tabitha nickte. »Einer muß es tun. Ich freue mich, daß du den Mut gefunden hast. Schau nach unten, dort siehst du mein Grab. Es hat mich nicht halten können. Ich habe die Erde aufgewühlt und bin wieder zurückgekehrt. Das gleiche wird auch mit dir geschehen, doch zuvor mußt du einsinken und meinen Weg gehen.«
In die Todesfalle, dachte Sarah! Genau dieser Gedanke sorgte dafür, daß ein Teil des Bannes riß. Plötzlich stellte sie sich vor, wie es war, wenn sie in die Erde eindrang, die wohl keinen Widerstand entgegensetzte, die ihren Körper umschlang, dann ihren Kopf. Jede Lücke füllte sie aus und raubte ihr somit den Atem. Sie würde ersticken! Sarah schauderte zusammen. Und der Griff der Geistheilerin verstärkte sich, denn Tabitha hatte gespürt, daß ihr Opfer innerlich schwankte. »Was ist mit dir?« »Laß mich gehen!« »Nein, Sarah, nein! Du bist die erste, und du mußt es den anderen vormachen, verstehst du?« »Was denn?« »Hineinzugleiten in die andere Welt. Einfach wegzutauchen, und dann wirst du ihnen zeigen, wie man aus der Welt der Geister als strahlende Gestalt zurückkehrt.« »Aber erst muß ich sterben, nicht?« »Nein, nicht richtig. Es ist ein besonderer Tod, nicht mehr. Du wirst ihn erleben, du wirst auch glücklich und so fühlen wie ich, wenn du zurückkehrst.« Innerhalb von Sekunden war der Zauber verschwunden. Plötzlich wußte Sarah Bescheid. Es war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Alles lief verkehrt, sie wollte einfach nicht. Nur keinen Tod, auch wenn er angeblich nicht richtig war. Sie bekam Angst! Dieses Gefühl überspülte sie wie eine Woge, und als sie ihren Blick anhob, um in das Gesicht der Erscheinung zu schauen, da sah sie etwas in den Augen funkeln, das ihre Furcht noch verstärkte und sie in eine wahre Panik umwandelte. Es war eine metallisch glänzende Geisterfratze, die auf sie niederschaute. Sie wollte töten! »Laß mich!« schrie Sarah. »Nein!« Die Horror-Oma gab nicht auf, doch sie kam nicht mehr dazu, einen Hilferuf auszusenden. Etwas drückte gegen sie, etwas zog auch von unten. Die Graberde schien sie verschlingen zu wollen. *** Wir hatten die gesamte Zeit über wie auf heißen Kohlen inmitten der Schwaden gestanden, zwar etwas gesehen, aber auch erleben müssen,
daß es für Lady Sarah so gut wie unmöglich war, freizukommen, dazu war die andere Person zu mächtig. Sie hatten sich auch unterhalten, allerdings in sehr unterschiedlicher Lautstärke. Immer dann, wenn sie sich ereiferten, hatten wir die Sätze verstehen können und wußten nun Bescheid, um was es ging. Diese Tabitha Leroi hatte also einen Weg gefunden, um zwischen zwei Welten zu pendeln. Eine Tatsache, die unbegreiflich war, falls der Kontakt zur Geisterwelt nicht so intim war wie bei ihr. Und sie wollte Lady Sarah diese einmalige Chance ebenfalls gewähren, wobei die Horror-Oma zu Beginn nichts dagegen hatte, später aber schon einen Rückzieher machen wollte. Sie hatte die Rechnung ohne Tabitha Leroi gemacht. Und auch ohne uns. Denn genau in dem Augenblick, als Lady Sarah Goldwyn in die feuchte Erde einsank, starteten Suko und ich… Die Horror-Oma kam nicht mehr frei. Tausend Hände oder Tentakel hatten ihre Füße, ihre Beine umkrallt und wanderten höher, jedenfalls hatte sie das Gefühl, und sie versank immer tiefer in dem Grab. Es wollte sie verschlucken… Sarah schrie leise, sie wimmerte. Die Lichtgestalt mit dem bösen Gesicht vor ihr verwandelte sich unaufhörlich in einen Riesen,je tiefer Lady Sarah glitt. Sie wußte, daß Jane in der Nähe sein mußte, aber warum, zum Teufel, tat sie nichts. Warum griff sie nicht ein? Lady Sarah spürte die kalten Hände auf ihren Schultern. Von oben her schaute Tabitha auf sie herab. Sie roch nach Erde und Moder und schien von Elektrizität umgeben zu sein. Ihre Knie waren bereits nicht mehr zu sehen. Keiner der anderen Menschen kam, um sie zu retten. Alle vertrauten dieser furchtbaren Person und natürlich ihrer Totenfalle. »Du bist die zweite, du bist diejenige, die…« »Nein, ich will nicht!« schrie Sarah. »Sie wird es auch nicht tun!« Die Stimme hatte in Sarahs Ohren wie ein Trompetenstoß geklungen. Im ersten Augenblick glaubte sie an eine Halluzination, dann aber dachte sie klarer. Himmel, das war John Sinclair, der da gesprochen hatte, und sie hörte hinter sich die dumpfen Aufschläge der Tritte auf dem weichen Boden. Ein Zeichen, daß John nahe war. An der anderen Seite des Grabes erschien eine zweite Gestalt – Suko. Auch Tabitha Leroi hatte die Stimme gehört. Ein Wutschrei, der sich anhörte wie klirrendes Glas, drang aus ihrer Kehle. Hell und zirpend. In ihrem offenen Maul tanzten plötzlich Blitze, und einen Moment später drang ein tiefes Röhren aus der Kehle. Sie würde sich wehren! Plötzlich ließ sie Sarah los. Die Horror-Oma war zu schwach, um jubeln zu können. Es wäre auch kein Grund vorhanden gewesen, denn die
Kräfte des Grabes wollten sie nicht loslassen. Sie zerrten weiter an ihr, immer tiefer und tiefer rutschte sie. Beide Arme riß Sarah in die Höhe. Sie sprach den Namen des Geisterjägers verzweifelt aus. Sie fuchtelte mit den Händen, sie heulte auf, und da waren plötzlich die Hände, die sich unter ihre Achselhöhlen geschoben hatten. »Ruhig, ich ziehe dich hoch…« »Nein, du schaffst es nicht!« Das merkte ich selbst, denn das Grab war wie ein verfluchter Sog, stärker als ich. Suko kümmerte sich um die Gestalt Tabitha Leroi. Sie war noch immer umwoben von einem kalten Licht. Sie tanzte auf dem Grab, und Suko zog seine Dämonenpeitsche. Er schlug einmal den Kreis. Drei Riemen rutschten hervor. Noch während der Bewegung hatte er die Peitsche angehoben, um blitzschnell zuschlagen zu können. Aber Tabitha war schneller. Sie trat zu, und erwischte Suko genau auf dem falschen Fuß stehend. Er konnte sich nicht mehr halten, er kippte nach hinten, schlug die Arme in die Höhe und rutschte aus. Tabitha lachte, als er den Hang hinabsegelte. Jetzt hatte sie es nur mit einem Feind zu tun, mit mir. Und ich hielt Sarah fest. Dabei hatte ich gespürt, wie auch an meinen Füßen die Kraft des Grabes zerrte und ich nicht den Widerstand leisten konnte, um ihr zu entwischen. Verdammt, das lief nicht gut. »Laß mich los, John, pack sie!« Lady Sarah hatte den Ernst der Lage erkannt. Ich mußte es tun, deshalb löste ich meine Hände und holte das Kreuz aus meiner Tasche, das ich sicherheitshalber schon dort verstaut hatte. Tabitha glotzte mich an. Ja, in ihrem Gesicht waren es die Augen einer Toten und keiner Person mehr, die noch die Vorzüge des Lebens genoß. Ich sah sie, weil ich über Lady Sarah hinwegschaute, und etwas Kaltes umklammerte meine Fußknöchel wie glitschige Totenhände. Ich würde es ihnen zeigen! Plötzlich starrte Tabitha Leroi aus ihren kalten Totenaugen direkt gegen das Kreuz! Wirklich nur für die Dauer einer winzigen Sekunde. Die Zeitspanne reichte aus, um ihr klarzumachen, wer hier der Stärkere war. Sie heulte auf, sie wollte zurück, ich aber schleuderte meinen Körper vor, über Lady Sarah hinweg, um der Totengestalt mein Kreuz in den Leib oder gegen das Gesicht zu rammen. Sie riß die Hände hoch. Es gelang ihr dabei, mich abzuwehren, aber mein Kreuz hatte bereits ihre Haut berührt. Ich schrie die Formel nicht, als ich das bösartig
klingende Zischen hörte und mir der Geruch von verbranntem Fleisch gegen die Nase strömte. Sie schwankte. Ich stieß noch einmal zu, traf sie wieder, und plötzlich zuckte ein Blitz durch die Gestalt, der sie vom Kopf bis zu den Füßen einhüllte und an der Graberde nicht haltmachte, sondern in das Grab hineinschoß und es spaltete. Tabitha Leroi schrie. Daß sie die Kraft des Kreuzes nicht vertragen konnte, das wiederum hatte sie mir bewiesen, auf welcher Seite sie stand, und ich mußte es einfach in Worte fassen. »Keiner, außer einem, hat den Tod für uns überwunden, du verfluchter Unhold!« Sie hatte mich bestimmt nicht verstanden, ich sah es anhand ihrer Reaktion. Tabitha schlug wild um sich. Sie wollte das Grab verlassen, das aber schaffte sie nicht. Plötzlich wurde sie festgehalten, während ich spürte, wie sich der Druck an meinen Füßen lockerte und ich auch Lady Sarah wieder in die Höhe zerren konnte. Am anderen Ende erschien Suko. Diesmal schlug er mit der Dämonenpeitsche zu. Die drei Riemen umwickelten den Körper der Geistheilerin und rissen stinkende, tiefbraune Furchen in das Fleisch. Sie fiel hin. Suko war zurückgesprungen. Auch ich hatte Lady Sarah aus der unmittelbaren Zone gezerrt. Noch jemand stand neben uns, Jane Collins war gekommen. Das Licht allerdings existierte nicht mehr. Das Grab lag wieder in der Dunkelheit und wurde von einer Nebeldecke überzogen, so daß außer uns niemand sehen konnte, was hier wirklich vorging. Für Tabitha Leroi wurde dieses Grab zu einem verschlingenden Moloch. Sie hatte in dieser Welt versagt, und die andere, die Geisterwelt, rächte sich dafür. Sie kannte kein Pardon, denn sie zerrte die Person in die Tiefe. Tabitha lag auf dem Boden, gezeichnet durch die Berührungen des Kreuzes und die Schläge der Peitsche. Sie jammerte, sie heulte, aber ihre Laute klangen schon sehr bald erstickt, denn die feuchte Erde drang in dicken Klumpen durch den offenen Mund in ihren Rachen, so daß sie keine Luft mehr bekam. Eine für uns unerklärliche Kraft drehte ihren Kopf so zur Seite, daß die Halswirbel mit knackenden Geräuschen brachen. Ihr Gesicht wurde in den weichen Boden gepreßt, und die andere Kraft zerrte noch stärker an ihr. Sie holte sie zu sich in die feuchte Erde, als wäre das Grab der kleine Ausschnitt eines saugenden Moores. Zuletzt sahen wir noch ihren Rücken. Auch er verschwand. Ein Teil der Erde bewegte sich. Letzte Krümel, als wäre über die der Wind hinweggefahren, rollten in kleine Löcher.
Ich faßte Lady Sarah an der Hand. Jane tat das gleiche an der anderen Seite. »Es ist wohl besser, wenn wir gehen«, schlug die Detektivin vor. »Ja.« Die Horror-Oma nickte. »Gehen wir…« *** Wir fanden eine völlig erschöpfte, weinende und stöhnende Yvonne Terry vor, die in ihrer Verzweiflung ein Taschentuch um die Handwunden gewickelt hatte und uns anstarrte, als kämen wir aus einer anderen Welt. Ihre Augen jedoch schauten klar. Von Tabitha Lerois Geist war nichts mehr zurückgeblieben. »Wir werden Sie zu einem Arzt bringen«, sagte Suko beim Aufstehen. Lady Sarah aber starrte ins Leere. Sie dachte nach, dann hob sie die Schultern, wobei sie gleichzeitig den Kopf schüttelte. »Ich kann es nicht begreifen«, murmelte sie. »Was denn?« fragte ich. »Daß so etwas passiert ist und ich mich praktisch dazu hergegeben habe.« Sie preßte für einen Moment die Handballen gegen die Stirn. »Ich muß wie von Sinnen gewesen sein.« »Das passiert doch jedem von uns.« »Mein Gott, John, ja. Aber denk daran, wie alt ich bin. Halte dir das mal vor Augen.« Ich schaute Jane an. Sie blickte in mein Gesicht. Und plötzlich lachte sie laut auf. Sie konnte sich nicht mehr halten, es mußte einfach raus, und ich wußte, an was sie dachte. Sarah Goldwyn erkundigte sich bei mir, was denn mit Jane Collins los war. »Kann ich dir sagen. Sie dachte soeben an das Sprichwort: Alter schützt vor Torheit nicht.« »Ja, ja, ja«, gluckste Jane. »Nimms mir nicht übel, Sarah, daran dachte ich tatsächlich.« »Ihr habt ja recht«, brummte die Horror-Oma. Dann aber sagte sie das Gegenteil. »Ihr jungen Spunde, ihr – ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.« »Was denn?« »Das, John!« Bevor ich mich versah, hatte sie mir einen Kuß gegeben, und verdammt noch mal, selbst ich wurde dabei noch rot…
ENDE