Manfred Weinland
Die verpuppte Kolonie Bad Earth Band 17
ZAUBERMOND VERLAG
Nach der Vernichtung der Negaperle ist i...
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Manfred Weinland
Die verpuppte Kolonie Bad Earth Band 17
ZAUBERMOND VERLAG
Nach der Vernichtung der Negaperle ist in der Milchstraße und den angrenzenden Galaxien dem Anschein nach Ruhe eingekehrt. Auch an Bord der RUBIKON ist die Entspannung der Lage spürbar. Doch dann fängt die Crew einen alarmierenden Hilferuf auf, der den Auftakt zu einem Abenteuer von unabsehbarer Tragweite bildet. Das uralte riesige Raumschiff auf dem »verpuppten« Planeten weist die Spur zu einem Geheimnis, das endlich Licht ins Dunkel um die Motive eines bislang undurchschaubaren Gegners bringen könnte. Doch wieder tauchen X-Schiffe auf, die offenbar verhindern wollen, dass genau dieses Geheimnis gelüftet wird …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Sie erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Schon im Leerraum zwischen
den Galaxien kommt es zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac und den Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, wird Scobee über ein Wurmloch in die heimatliche Milchstraße geschleust, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusam-
men und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Die RUBIKON aber kehrt in die Milchstraße, ins Angksystem zurück und informiert die Bractonen über ihre besorgniserregende Entdeckung. Eine Expedition ins galaktische Zentrum bringt es dann an den Tag: Der kosmische Bereich, in dem die Menschen siedeln, steht vor dem Kollaps, vielleicht das ganze bekannte Universum. Den verwaisten Platz der von Kargor mobil gemachten CHARDHIN-Station hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes hat eine Negaperle eingenommen. Im Heimatkontinuum der ERBAUER scheint man beschlossen zu haben, das EXPERIMENT (unser Universum!) rigoros zu beenden. Nur unter Einsatz fast alter vorrätigen Tridentischen Kugeln gelingt es schließlich, die Negaperle zu eliminieren und eine neue »gesunde« CHARDHIN-Station im Milchstraßen-Black-Hole zu installieren. Die Gefahr scheint gebannt, doch wieder einmal haben auch die Treymor von sich reden gemacht. Bis zum letzten Moment versuch-
ten sie, die Negaperle zu schützen. Ihre Motive sind mysteriöser denn je …
Prolog Im Dorf der Angks verging kein Tag ohne Überraschungen. Jelto liebte diese kleine, fast autarke Welt innerhalb der RUBIKON, seit Aylea ihn zum ersten Mal mit zu ihren Freunden genommen hatte. Der grünäugige Mann mit der natürlichen Affinität für alles Pflanzliche war normalerweise kein sehr geselliger Charakter; nicht jedenfalls, wenn es um die Gesellschaft mit anderen Menschen ging. In seinem Garten, umgeben von den schillerndsten Gewächsen, erfreute er sich sehr wohl an deren faszinierenden und stimulierenden »Stimmen«. Sie, die einzelnen Gattungen der Flora, die er an Bord zum Leben und viele zu voller Blüte erweckt hatte, waren sein Ersatz für eigene biologische Kinder. Mit ihnen stand er in permanenter Zwiesprache, in unablässigem geistigen Austausch … den kein Außenstehender auch nur ansatzweise zu verstehen vermochte. Obwohl – einer vielleicht, aber der besuchte Jelto nicht sehr oft: Algorian, der Telepath. Jelto war sich nicht sicher, ob sein aoriischer Freund der Versuchung, in seinen Gedanken zu espern, immer zu hundert Prozent widerstehen konnte. Bei manchen Zusammenkünften hatte der Pflanzenhüter durchaus das Gefühl gehabt, dass der Freund, während er sich mit ihm unterhielt, auch in die tiefer gelegenen Schichten seines Bewusstseins getastet hatte – aus keinem verwerflichen Motiv heraus, sondern vermutlich aus der natürlichsten Charaktereigenschaft intelligenter Geschöpfe überhaupt heraus: einer unstillbaren, brennenden Neugier auf alles, was fremd und in gewisser Weise unverständlich blieb. Wie Jelto eben. Er war ein Mensch, natürlich, aber darüber hinaus besaß er auch ein sehr exotisches Flair, denn sein »grüner Daumen«, seine spezielle Begabung, sich in jedwede Vegetation hineinversetzen zu können, war nicht natürlichen Ursprungs. Dafür war er gezüchtet worden, als psionisch begabter Klon auf der Erde … lange bevor diese sich in
eine gespenstische »Hohlwelt« verwandelt hatte. Jelto seufzte. Die Erinnerung an ihren zurückliegenden Besuch im irdischen Sonnensystem barg viel Schmerz für ihn. Alles dort hatte sich verändert. Es gab kaum noch einen Wiedererkennungsfaktor für einstige Bewohner dieses Planeten. Für Jelto eine psychische Zerreißprobe, wobei er sich gleichzeitig bewusst war, dass es für John, Scobee und Jarvis noch um einiges niederschmetternder gewesen sein musste. Denn für diese drei hatte sich das Bild der Erde seit ihrem Aufbruch ins Weltall bereits zum zweiten Mal radikal gewandelt. Im Jahr 2041 hatte eine Zeitmanipulation sie um zweihundert Jahre in die Zukunft verschlagen. Die Keelon-Master hatten zu diesem Zeitpunkt – als Jelto vermeintlich friedlich in seinen Wäldern um das Getto lebte – bereits eine Erde ganz nach ihrem Gusto geformt, nur mehr bewohnt von rund 150 Millionen Menschen, die zugleich die Crème de la crème darstellten, was ihre genetische Qualität betraf. Eine dieser 150 Millionen war Aylea, die jedoch ausgestoßen und ins Getto deportiert worden war, wo sie später denselben Mann traf, der auch Jelto aus seinem Scheuklappendasein herausgerissen hatte: John Cloud, ihr Freund und Commander. Seither waren sie fast unablässig zusammen. Nicht immer auf engstem Raum, aber meistens an Bord desselben Fabelschiffs, der RUBIKON. Und dieses Schiff hatte unlängst einen Quantensprung vollzogen – nicht etwa, weil es mit neuer Technik ausgestattet worden war, sondern … mit einer neuen, abenteuerlichen Besatzung beschenkt wurde. Von den Bractonen. Mehrere tausend Menschen irdischen Ursprungs, aber im Angksystem der ERBAUER groß geworden, waren als neue Crewmitglieder willkommen geheißen worden. Und nach einem Verwirrspiel, das die Bractonen, jene Schmetterlingswesen aus einem anderen Kontinuum, bewusst initiiert hatten, war die Neucrew nun auch voll in den Schiffsalltag integriert, ungeachtet ihrer fast magischen Fähigkeit, bei Bedarf buchstäblich mit der RUBIKON zu verschmelzen und sie mit ihren Paragaben zu unterstützen.
Aylea hatte also Freundschaft mit den Angks geschlossen, mit allen, aber mit einem ungefähr gleichaltrigen Mädchen namens Winoa im Besonderen. Das Spaßige daran war, dass Jelto Winoa schon vor Aylea gekannt hatte, weil sie ihn öfter in seinem hydroponischen Garten besuchte. Dass die beiden zusammengefunden hatte, freute ihn sehr. Vorher hatte Aylea keinen Gleichaltrigen gehabt, mit dem sie ganz normale Teenagerprobleme hätte besprechen können. Scobee bemühte sich zwar nach Kräften, die Rolle der mütterlichen Freundin auszufüllen, aber selbst zwischen ihnen lag fast eine ganze Generation – von dem kulturellen Unterschied einmal ganz abgesehen. Eigentlich waren fast alle »Altmitglieder« der Besatzung Vertreter einer ganz eigenen Mentalität, oft sogar Angehörige völlig unterschiedlicher Spezies: Cy, der Aurige, Jiim und Yael, die beiden Nargen, Algorian, der Aorii (der den Verlust seines Hassbruders Rofasch immer noch nicht völlig verschmerzt hatte) und die sehr – sehr! – gegensätzlichen Menschen John Cloud, Scobee, Jarvis, Aylea und … … ich. Jelto seufzte. »Und ihr seid euch sicher?«, fragte er, um seine Gedanken wieder auf das Wesentliche zu fokussieren, den Grund, weshalb er ins Dorf der Angks gekommen war. Es war eine denkwürdige Zusammenkunft auf dem »Marktplatz« des holografisch aufgepeppten Mannschaftsquartiers. Viele waren persönlich gekommen, aber Jelto wusste, dass auch etliche seinen Besuch in ihren Häusern verfolgten, via Liveschaltung, die Sesha ermöglichte. Er hatte das Rampenlicht immer gescheut, und auch jetzt fühlte er sich unter den Blicken Hunderter eher unbehaglich. Rotak, der ehemalige Lebenspartner von Johns neuer Freundin Assur, trat vor; er hatte sich in den letzten Tagen zum Sprecher der Angks gemausert und war allgemein anerkannt. Jelto mochte die zurückhaltende Art des hageren Mannes, der ungefähr in seinem Alter war, rechnete man den Angkkalender auf irdischen Standard um. Rotak und Assur waren die Eltern von Winoa … und so schloss sich der Kreis bekannter Gesichter wieder. Jelto lächelte, und Rotak
erwiderte dieses Lächeln freundlich. Aber es war unwahrscheinlich, dass er die richtigen Schlüsse zog, warum ihr Besucher schmunzelte. »Völlig sicher, teurer Freund. Es ist unser inniger Wunsch, Schein gegen Wirklichkeit einzutauschen, Schritt für Schritt und wo immer es machbar ist. Der Commander ist informiert, er hat seine Einwilligung gegeben. Nichts spräche dagegen, hat er gesagt. Und auch wir wüssten keinen logischen Grund, ein Verbot auszusprechen. Es schadet niemandem, im Gegenteil. Und wenn Ihr, verehrter Jelto euch darum kümmert, kann es auch zu keinen ungewollten Auswüchsen kommen. Es wäre eine anspruchsvolle Aufgabe – meint Ihr nicht auch?« Anfangs hatte der Florenhüter geglaubt, die Angks, allen voran Rotak, wollten ihn mit ihrem »teurer Freund«, »verehrter Jelto«, »Vertrauter des Grüns« und dergleichen Anreden mehr verspotten, gutmütig zwar, aber nichtsdestotrotz auf den Arm nehmen – inzwischen wusste er, dass es absolut ernst gemeint war und den Respekt ausdrückte, den die Angks dem Aurenträger entgegenbrachten. Damit umgehen konnte er nach wie vor nur schwer, aber es war auch nicht so, dass es tiefes Missfallen bei ihm auslöste, im Gegenteil. Ein wenig Ehrerbietung konnte nicht schaden und schmeichelte dem Ego jedes Geschöpfs. Jelto bildete da keine Ausnahme. »Doch. Doch … sicher. Dessen bin ich mir sicher. Ich weiß nur nicht, ob ich … nun, ob ich euren Vorstellungen gerecht werden kann. Das, was ich bei meinen verschiedenen Besuchen hier fand, wirkt alles, wenngleich unecht, so doch sehr harmonisch. Ihr habt, auf eure Art, ein Händchen für stimmige Accessoires. Ich weiß, dass ihr eng mit der KI zusammengearbeitet habt, um diese Harmonie in eurem Dorf zu erzielen. Wenn ich mit der Aussaat und dem Neuarrangement von echten Gewächsen beginne, wird es einige Zeit brauchen, bis sich das Bild, das ich in meinem Geiste vom Endergebnis habe, auch für euch sichtbar sein wird.« »Wir verlangen und erwarten keine Wunder«, versicherte Rotak ernst und bittend zugleich. »Wir kommen von Welten, auf denen echte Pflanzen unsere Sinne erfreuten, und es wäre eine Bereicherung, die uns in allen Lebensbereichen inspirieren würde, wenn wir
dieses Privileg auch hier an Bord erlangen könnten. Häuser sind Häuser, eine Sonne ist eine Sonne, ob nun künstlich oder nicht. Es macht keinen Unterschied für uns, nach oben zu blicken und ein echtes Gestirn zu sehen oder die holografische Nachbildung, die Sesha uns schenkte. Bei Pflanzen – Bäumen, Sträuchern, Gräsern, Blumen – ist das anders. Wenn wir uns umschauen, sehen wir, was bislang möglich war: die fast perfekte Illusion. Aber dieses ›fast‹ kommt von Woche zu Woche, die wir damit konfrontiert werden, stärker zum Tragen. Wir können Euren Garten besuchen, Ehrwürdiger, ihr seid so freundlich, es uns zu gestatten, und dort finden sich Gelegenheiten, Bäume zu berühren, Blumen zu beschnuppern. Aber genau das möchten wir in unserer unmittelbaren Umgebung, dort, wo wir ein- und ausgehen. Ein Bewuchs, ähnlich wie in Eurem Garten, nur integriert in unser Dorf … das wäre die Krönung dessen, was uns das Leben auf der RUBIKON angenehm und leicht machen würde. Wir wissen, dass wir das nicht fordern können. Aber wir bitten darum, und wir wünschen es uns. Ihr seid nicht gezwungen, es uns zu gewähren. Vielleicht gibt es gute Gründe, es uns zu versagen. Möglich, dass manche Pflanzen es nicht vertragen, wenn –« »Nein, nein!« Jelto wiegelte ab. Er konnte nicht umhin, insgeheim über die Begeisterungsfähigkeit für und Freude der Angks an Gewächsen zu lächeln. Ihr Enthusiasmus euphorisierte auch ihn. Und längst hatte er alle Bedenken abgestreift. Er hatte nur noch einmal aus ihrem Mund hören wollen, dass sie verstanden, worauf sie sich einließen. »Geduld in dieser Angelegenheit ist das A und O«, sagte er. »Wenn ihr dazu bereit seid, will ich es gerne in Angriff nehmen: Ich habe bereits damit begonnen, erste Entwürfe auszuarbeiten. Ich kann sie mit euch absprechen und –« Jetzt war es an Rotak, ihn zu unterbrechen. »Nein, bitte. Wir vertrauen Euch blind, Teuerster. Und wir sind uns einig: Überrascht uns. Komponiert Euer Werk und lasst uns über das Ergebnis staunen … und sei es erst in Monaten … Jahren …« Jelto blinzelte berührt. »Jahre wird es nicht dauern. Monate vielleicht schon. Aber ich gehe eher von … Wochen aus. Ihr könnt euch
da ganz auf meine Gabe verlassen. In freier Natur, außerhalb meiner Sinnessphäre, würde es gerade bei manchem Baum sicherlich auch Jahre dauern, bis er das Gesicht präsentieren könnte, das nötig ist, um die Harmonie des Ganzen herzustellen. Doch wir bekommen das schneller hin, mit demselben Ergebnis. Wenn ihr wirklich volles Vertrauen in meine Fähigkeiten und Kreativität habt, nun … dann sollten wir jetzt aufhören, darüber zu theoretisieren und … die praktische Umsetzung angehen.« »Habt Dank im Namen aller!« Jelto nickte Rotak verlegen zu. In der umstehenden Menge entdeckte er Ayleas Gesicht, die ihm mit funkelnden Augen zulächelte. Er nickte kurz in ihre Richtung, wurde noch unsicherer und bahnte sich dann den Weg durch die Menge, die ihm bereitwillig Platz machte. Von allen Seiten drangen freundliche, ermunternde Rufe auf ihn ein und folgten ihm, bis er durch das Schott trat, das ihn in einen Korridor der RUBIKON brachte, in dem sichtbar wurde, dass er sich eben nicht auf einer Planetenoberfläche nahe eines dort erbauten Dorfes befand, sondern in einem gewaltigen Raumschiff, in dem es nun schon zwei Nischen mit vorgetäuschten Umwelten gab: Neben dem Angkdorf war da ja auch noch Jiims und Yaels Pseudokalser. Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung, das er aus der Tatsache zog, endlich wieder eine anspruchsvolle und alle Facetten seines Könnens fordernde Aufgabe zu haben, kehrte Jelto in seinen Garten zurück, wo er damit beginnen wollte, seine Grobkonzeption zu verfeinern. Erst als er sich in sein Gewächshaus begab, in dem auch alle Voraussetzungen technischer Natur existierten, um die Planung voranzutreiben, merkte er, dass ihm jemand gefolgt war. So plötzlich, dass er unweigerlich zusammenfuhr und erschrak, stand plötzlich einer der Angks neben ihm. »Wer –« »Es … es tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich … nun, ich beobachte dich schon länger, wenn du durch das Dorf gehst. Und …«
Jelto hatte sich wieder gefasst. »… und du warst auch schon einige Male hier, hast um Pflanzen für dein Quartier gebeten, die ich dir gab – ich erinnere mich. Ich erinnere mich gut an dich. Du hättest dich nicht anschleichen müssen. Ich gebe dir gern noch mehr. Wie dir nicht entgangen sein dürfte, freue ich mich über jeden, der Blumen und andere Gewächse zu schätzen weiß. Wie war noch gleich dein Name?« »Sooks.« »Nun gut, Sooks, ich bin beschäftigt, aber sag, was du willst, was du noch brauchst, und wir werden es für dich besorgen.« Der Angk, der zu Jelto getreten war, hatte das, was man ein Allerweltsgesicht nannte: Man sah ihn, fand ihn auf Anhieb sympathisch, es gab nichts, wo der Blick »aneckte« … und sobald er außer Sichtweite geraten war, hörte man auf, über ihn nachzudenken, vergaß man ihn. Er war von unauffälliger Statur und Kleidung, seine Wesensart war weder angriffslustig noch in anderer Weise anstrengend, aber er hinterließ auch nichts, was einen danach verlangen ließ, ihn wiederzutreffen, nichts, was einen seine Nähe oder gar Freundschaft suchen ließ. Jedenfalls verspürte Jelto nichts dergleichen. Er hatte keine Aversion gegen den Angk, aber augenblicklich wollte er ihn einfach nur schnellstmöglich wieder los werden. Sooks starrte verlegen zu Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. »Was ist?«, fragte Jelto merklich ungehaltener, obwohl ihm die Art und Weise, wie Sooks mit ihm sprach, grundsätzlich besser gefiel als der fast unterwürfige Ton, den Rotak verwendete. Aber vielleicht geziemte sich das als Wortführer der Angks, wer mochte es wissen? »Ich …« »Ja?« »… habe dich belogen.« Jelto zog die Stirn kraus. »Und das heißt?« »Ich brauche die Pflanzen nicht, um meine Wohnung zu verschönern.« »Sondern? Brauchst du überhaupt Pflanzen? Oder hast du gar
nichts für sie übrig?« Ohne es selbst zu merken, wurde Jeltos Tonfall schlagartig kühler, fast bedrohlich. Sooks duckte sich leicht. Jelto versuchte sein Alter zu schätzen, aber es fiel ihm schwer. Die Züge waren ausgereift, und doch beherrschte immer wieder ein Ausdruck das Mienenspiel des Mannes, der eher zu einem verschüchterten, introvertierten Kind gepasst hätte. »Was hast du mit den Gewächsen getan, die ich dir gab?« Jelto setzte eine Pause und fuhr dann fort: »Weggeschmissen?« »Nein!« Sooks' Augen weiteten sich, als er aufblickte und Jelto mit geradezu schmerzlicher Aufrichtigkeit anstarrte. »Schon gut, beruhige dich. Ich glaube dir. Aber warum kommst du? Nur um mir zu sagen, dass du mich … angeschwindelt hast? Warum bist du all die Male davor gekommen, wenn es nicht um die Pflanzen ging?« »Es … es ging ja um sie. Nur …« »Nur?« »Nur brauchte ich sie nicht für den Zweck, den ich vorgab. Es ging nicht um Dekoration.« »Sondern?« »Ich … ich experimentiere.« In Jelto zog sich etwas zusammen. Das Wort Experiment verhieß erfahrungsgemäß selten etwas Gutes. Und im ersten Moment klang es aus Sooks Mund automatisch wie die Beichte: Ich habe sie gequält! Jelto machte einen Schritt auf Sooks zu. Aus seiner Haut brach plötzlich Licht. Seine Aura entflammte; ein sichereres Zeichen seiner Erregung konnte es kaum geben. »Bitte! Nicht! Ich habe ihnen nichts getan – zumindest glaube ich es nicht!« »Glauben«, grollte Jelto, einmal in Fahrt gekommen, »heißt nicht wissen!« »Zugegeben …« Sooks wich vor ihm zurück, bis er in der offenen Tür des Gewächshauses stand. Dort hielt er inne. »Du hast allen Grund, sauer zu sein, Jelto, allen Grund. Aber vielleicht …« Jelto stemmte die Fäuste in die Hüften. »Red schon. Was ist ›viel-
leicht‹?« Sooks sammelte offenbar allen Mut. »Vielleicht willst du ja wissen, was für Experimente ich betreibe? Offen gestanden, hatte ich das gehofft.« »Warum?« »Weil ich …« Sooks gab sich einen erkennbaren Ruck. »Weil ich nicht weiterkomme. Es ist zu wenig. Die Kapazität reicht nicht aus. Ich stecke in einer Sackgasse, aus der ich ohne Hilfe … deine Hilfe … nicht mehr herauskomme.« »Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Es war Sooks' Ernst. Unübersehbar. »Es ist von großer Bedeutung. Für mich zumindest.« »Und ich habe was damit zu tun? Warum wendest du dich nicht an die Schiffsführung?« »Dazu ist es zu früh. Ich kann noch keine Erfolge vorweisen, nur …« »Nur?« »Meine Überzeugung.« »Aha.« Jelto räusperte sich. »Hört sich wirklich überzeugend an. Aber noch mal: Wende dich –« »Es geht um Pflanzen. Ich brauche Pflanzen, um mein Experiment zu führen. An wen also sollte ich mich wenden, wenn nicht an dich? Du bist der Herr über alle Gewächse an Bord.« »So würde ich es nicht bezeichnen.« »Ist aber de facto so, oder?« Ein kleiner rebellischer Zug blitzte kurz in Sooks' Mimik auf. »Bitte. Es kostet dich nicht viel Zeit, es dir wenigstens einmal anzusehen. Danach kannst du immer noch entscheiden, ob du mich unterstützt oder nicht. Das hier …« Er meinte die Planungsarbeiten für die Dorfbegrünung. »… läuft dir nicht weg. Und wir werden es verschmerzen, wenn du einen Tag später beginnst oder fertig wirst.« »Sagt wer?« »Sagt Sooks.« Jelto musterte ihn nachdenklich. Dann entschied er kategorisch: »Ein für alle Mal: Nein.«
1. Ich muss verrückt sein, mich darauf einzulassen … Vollkommen übergeschnappt! Normalerweise bedeutete für Jelto ein Nein auch ein solches. Aber irgendwie, er wusste selbst nicht, wie, hatte er sich schließlich doch von Sooks umstimmen lassen. Ob er PSI-Fähigkeiten besitzt und eingesetzt hat, um mich weich zu klopfen? Möglich war bei den Angks alles. Andererseits tippte Jelto eher auf seine natürliche Gutmütigkeit, die ihn schon oft in die Bredouille gebracht hatte. Nein, nein sagen zu können, gehörte nicht gerade zu seinen hervorstechendsten Merkmalen. Über Türtransmitter erreichten sie das Dorf schnell. Obwohl dies nur auf Einbildung beruhen konnte, erschien Jelto die Luft hier frischer als in anderen Sektoren des Schiffes – von seinem Garten einmal abgesehen. Wahrscheinlich lag es an dem Idyll, das die Holoprojektoren vorgaukelten. Eingeschossige Häuser inmitten einer sonnengefluteten Landschaft. Wind. Wärme. Es gab alles, was das Herz eines Menschen begehrte – bis auf die echte Flora, die Jelto auf Bitten der Neucrew in die Holokulisse integrieren sollte. Wann immer Jelto mit holografischen Täuschungen konfrontiert wurde, fragte er sich, wie gesichert es eigentlich war, dass seine eigene Wahrnehmung »stimmte«. Wer garantierte ihm, dass er nicht auch nur der überbordenden Fantasie und der unbegreiflichen Technik einer übergeordneten Instanz entsprang? Alles, dieses ganze vermeintliche Universum, das auf Bractonen-Mist gewachsen sein sollte, mochte letztlich das Produkt einer allumfassenden Täuschung seiner, Jeltos, Sinne sein. Aber wer sollte so viel Aufwand betreiben für einen wie mich? Mit diesem Gedanken tröstete sich Jelto in aller Regel. Und enthob sich der Notwendigkeit, seinen Verdacht weiterzuverfolgen und möglicherweise Indizien zu finden, die ihn noch erhärteten. Denn das wollte er ja gar nicht. Er wollte kein Täuschungsopfer sein, und
der Kosmos, der ihn umgab, durfte gerne die Wirklichkeit sein – wie immer man Wirklichkeit auch definieren wollte. Er seufzte. »Was ist?«, fragte Sooks. »Wir sind gleich da. Bereust du es schon?« »Ich habe es bereits in dem Moment bereut, als ich mich von dir mitschleifen ließ«, erwiderte Jelto schroffer als beabsichtigt. Sooks schwieg eingeschüchtert. »Tut mir leid.« Jelto konnte nicht anders. »Schon gut. Ich versteh dich. Wenn alle kämen und dich mit ihren Problemen belagerten …« Kurz darauf erreichten sie das Haus, in dem Sooks Quartier bezogen hatte. Von außen betrachtet war es ein wenig enttäuschend. Während die umliegenden Gebäude liebevoll dekoriert und mit allerlei architektonischen Schnörkeln versehen worden waren, strotzte Sooks' Heim geradezu vor Pragmatismus. Wände, die vorgaben, aus grauem Stein zu sein, ein Dach aus Schieferplatten, mehrere Fenster und eine Tür – das war schon alles. »Nett«, sagte Jelto. Sooks schien es gar nicht zu hören. Wie aufgeregt er war, zeigte sich, als er mit zitternder Hand auf den Sensor drückte, der die Tür aufgleiten ließ. Sein Gesicht war jetzt leicht gerötet, und sein Atem ging so schnell, als wären sie das letzte Stück gerannt. »Erschrick nicht … Nein, ich will damit nicht sagen, dass dich etwas Erschreckendes erwartet – aber es … nun, es dürfte ein ungewohnter Anblick für dich sein …« Jelto überlegte kurz, ob er kurz davor stand, sich in ernsthafte Gefahr für Leib und Leben zu begeben. Das Dorf der Angks war nicht ohne, es hielt manches Mysterium bereit, immer noch. Und er wusste nicht, ob es Untersuchungen gab, wie es um den Geisteszustand jedes einzelnen Neucrewmitglieds bestellt war. Was, wenn Sooks nicht nur ein wenig kauzig war, sondern tatsächlich … verrückt? Paranoid, schizoid … die Palette der Möglichkeiten war riesig. »Ich erschrecke nicht so leicht.« »Dann ist es ja gut.« Sooks lud ihn mit einer Handbewegung ein,
das Haus als Erster zu betreten. Jelto schüttelte den Kopf. »Nach dir.« Gleichzeitig tat er etwas, das Sooks bemerken musste – aber es war ihm egal. Ein klein wenig auf Nummer sicher gehen wollte er doch. Er aktivierte seine Aura und tastete mit seinen speziellen Sinnen, die auf die mentalen Impulse von Pflanzen geeicht waren, ins Innere des Gebäudes. Sooks zuckte derweil die Achseln und trat über die Schwelle. Jelto schloss kurz die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Und erhielt Kontakt. Aber es waren die normalen Schwingungen einiger weniger Gewächse, die sich offenbar im Inneren des Gebäudes befanden und denen es nicht besser oder schlechter ging, als es in einem abgeschlossenen Raum zu erwarten gewesen wäre. Jelto öffnete die Augen, seufzte noch einmal und folgte dann Sooks in dessen Quartier – das völlig vereinnahmt wurde von den Ingredienzien seines Experiments.
»Ist das Staunen oder Entsetzen?« Die Stimme des Tüftlers riss Jelto aus seinem faszinierten Starren. »Ich weiß es nicht – vielleicht erklärst du mir, was ich sehe – danach entscheide ich.« Er lächelte zaghaft, den Blick hin- und herschwenkend, über lebendiges wie totes Inventar, von dem nichts den Eindruck erweckte, als gehörte es in eine normale Unterkunft. Vor Jelto breitete sich die bizarre Welt eines Labors aus. Jeder Quadratmeter freien Raumes wurde genutzt, um Teile jenes Konstrukts unterzubringen, in das Sooks die drei, vier Gewächse integriert hatte, die er von Jelto erhalten hatte und die als Zimmerpflanzen gelten konnten. Es waren immergrüne Sträucher, einige mit bunten, beerenartigen Früchten versehen, bei denen es nicht angeraten war, sie zu essen. Reine Ziergewächse, von Planeten, die die RUBIKON irgendwann auf ihren Reisen besucht und von denen Jelto sich Samen oder Jungpflanzen hatte mitbringen lassen. »Wenn die Frage gestattet ist: Wo wohnst du? Ich sehe nirgends auch nur einen Sessel oder ein Bett.«
Sooks lächelte verlegen. »Ich bin nicht anspruchsvoll, es findet sich immer ein Plätzchen. Notfalls unter freiem Himmel, na ja, es ist kein echter Himmel, du weißt ja. Außerdem ist das hier nur vorübergehend. Es uferte immer mehr aus, ohne jedoch, dass ich die Leistung ausreichend steigern konnte. Ich bin an einem Punkt angelangt, wo es ohne fremde Hilfe – deine Hilfe, Jelto – nicht mehr weitergeht.« »Das wäre ein Segen – für dich. Erklär mir dieses Brimborium. Was sind das für Gerätschaften – Rechner? –, die du mit den Pflanzen verbunden hast?« Sooks hatte Sensoren an die Blätter der Gewächse geklebt, wie sie früher, wenn Jelto sich nicht stark irrte, Verwendung gefunden hatten, um EEGs oder EKGs bei Menschen zu schreiben. Was für einen Zweck ihnen Sooks in diesem Fall beimaß, war nach wie vor unerfindlich. »Überwachst du die Schwingungen der Pflanzen? Ihre … ›Gedanken‹?« »Nicht direkt.« Schon vor langer Zeit hatte es auf der Erde und einer Zeit, die Jelto selbst nicht erlebt hatte, aber aus Erzählungen von John, Scobee und Jarvis kannte, Versuche mit Pflanzen gegeben, bei denen deren elektrische Aura fototechnisch sichtbar gemacht worden war. Darüber hinaus war versucht worden, eine Kommunikation zwischen Mensch und Pflanze auf Basis dieser elektrischen Felder aufzubauen. Nichts davon war von messbarem Erfolg gekrönt worden. Aber prinzipiell hatten diese Bemühungen durchaus Ähnlichkeit mit dem, was Jelto intuitiv beherrschte: Er konnte sich in die Schwingungen der Gewächse einklinken, sie entschlüsseln und seine eigenen Gedanken in für sie verständliche Impulse umwandeln. »Was dann?« »Ich … Lach mich nicht aus, bitte.« In diesem Moment sah Sooks aus wie ein von seiner Umwelt verkanntes Genie, das verzweifelt um Akzeptanz und Anerkennung kämpfte, aber keinen Hoffnungsschimmer am Horizont sah. »Ich lache niemanden aus. Versuch, es mir begreiflich zu machen. Vielleicht bin ich ja begeistert. Und danach sagst du mir endlich, woraus genau meine Hilfe bei diesem … Projekt bestehen soll!«
»Ich arbeite …« Sooks schluckte. Er war anders als jeder andere Angkgeborene, dem Jelto bis dato begegnet war. Die anderen strotzten vor Selbstbewusstsein, Sooks hingegen war voller Unsicherheit. »Ich arbeite an einer neuartigen … Ortungsmethode.« Jelto sah ihn an. »Bei der du … Pflanzen brauchst?« Sooks druckste weiter herum. »Vielleicht ist Ortungsmethode der falsche Ausdruck. Ich horche … nun, ich horche ins All hinaus.« »Wozu?«, fragte Jelto geduldig. »Was willst du da draußen hören? Es gibt bereits verlässliche Systeme zur Nah- und Fernortung. Außerdem haben wir etwas, das sich Funk nennt. Wir können damit über lichtjahrweite Abgründe kommunizieren.« »Ja, ja, ich weiß.« Sooks atmete hörbar durch. Offenbar gewann die Begeisterung für seine Idee allmählich die Oberhand über seine Selbstzweifel. »Aber damit empfangen wir doch nur Signale von Leben, wie wir es bereits zuhauf kennen. Mit meiner Methode könnte man das finden, was uns sonst permanent entgeht: Signale von anderem Leben.« »Du meinst … Pflanzenzivilisationen?« »Grob ausgedrückt: ja.« Sooks nickte. »Die es definitiv gibt. Cy ist das beste Beispiel für intelligente Pflanzen.« »Cy«, widersprach Jelto, »ist eine ganz eigene Geschichte. Er und seine Mitaurigen wurden vor langer Zeit von den Jay'nac gezüchtet, weil diese einen Weg suchten, organisches Leben besser verstehen zu lernen. Und sie entwickelten keine eigene Technologie. Sie hatten das, was die Jay'nac ihnen gaben.« »Es ist nur ein Beispiel. Da draußen in den Weiten der Milchstraße müssen Spezies beheimatet sein, die anders sind als wir Menschen und anders als die Anorganischen, ich meine damit: Sie haben keine Körper aus Fleisch und Blut, sondern aus pflanzlichem Material. Daran glaube ich, davon kann mich niemand abbringen!« »Was sagten denn die Tavner, eure Lehrer auf den Angkwelten, zu dieser Theorie? Immerhin jonglieren sie mit bractonischem Wissen.« Sooks Miene verfinsterte sich. Er kniff die Lippen zusammen. Seine Kiefer mahlten, seine Wangenmuskulatur trat sichtbar unter den Wangen hervor.
»Sie waren offenbar wenig … aufgeschlossen?« Sooks nickte. »Aber ich war damals auch noch nicht so weit, sie mit einem klaren Theorem überzeugen zu können.« »Heute könntest du das?« Sooks nickte, und das Feuer, das dabei in seine Augen trat, ließ Jelto erneut einlenken. »Dann lass mal hören. Und vergiss nicht, mir zu sagen, was du nun genau von mir willst. Keine Ausflüchte! Die volle Wahrheit, sonst war's das!« »Danke.« »Danke mir erst, wenn du weißt, was ich über dich und dein Vorhaben denke. Und ich warne dich gleich: Meine Meinung darüber könnte sehr ernüchternd für dich sein, denn ich weigere mich strikt, meine Kinder für unsinnige und sinnlose Experimente herzugeben. Jedes einzelne Gewächs steht mir näher als du übergeschnappter Kerl – hast du das verstanden?« Sooks nickte eifrig und offenbar weit davon entfernt, beleidigt zu sein. Jelto legte sich schon einmal die Worte zurecht, mit denen er den Angk in die Schranken weisen wollte. Aber zu seiner Verblüffung …
»Du hast was getan?« »Ich habe ihm meinen Garten zur Verfügung gestellt.« »Das kann jetzt nicht dein Ernst sein.« »Absolut.« »Aber das klingt völlig verrückt!« »Im ersten Moment dachte ich das auch.« »Und im zweiten? Bist du da auch total übergeschnappt?« Jarvis konnte sich gar nicht beruhigen. Jelto überlegte, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, den Freund in sein gemeinsames Projekt mit Sooks einzuweihen. »Er es geschafft, mich mit seiner Idee anzustecken, ja. Sie ist faszinierend. Ich war anfangs so skeptisch wie du, vielleicht noch mehr. Aber die Vorstellung, dass er recht haben könnte … und du musst die Technologie sehen, die er von der Angkwelt, auf der er auf-
wuchs, mit an Bord brachte, in die Foronentechnik integrierte …« »Wenn John davon erfährt, wird er diesen Sooks und diesen Jelto von Bord schmeißen!« »Der Commander weiß davon. Ich habe mit ihm gesprochen – aber auch Sooks tat das schon. Vor mir. Das Projekt ist autorisiert von höchster Stelle – auch wenn ich glaube, dass John vielleicht nur Mitleid mit Sooks hatte. Du musst ihn kennenlernen. Er hat so eine Art, den Beschützerinstinkt zu wecken, wie es sonst nur kleine Kinder können.« »Für mich klingt das alles so hanebüchen, als wäre er ein kleines Kind.« »Er ist nur ungeheuer fantasievoll. Und darüber hinaus ein genialer Geist, der es spielerisch versteht, das Potenzial von Pflanzen mit dem bractonischer Technik zu verbinden. Herausgekommen ist dabei eine einzigartige Symbiose. Du würdest staunen, wenn du siehst, was er vollbracht hat, seit er aus seinem Häuschen im Dorf umgezogen ist in –« »– deinen hydroponischen Garten.« Jelto nickte. »Er wird ihn ruinieren. So, wie du es mir beschreibst, hat es bereits alles ruiniert. Ich hätte nie geglaubt, dass du dich zu so etwas hergeben würdest, auf einen solchen Scharlatan hereinfällst!« »Du tust ihm unrecht, wirklich.« Aber Jarvis hatte ihm bereits den Rücken gekehrt und sich den Gang hinunter, wo sie sich zufällig begegnet waren, in Bewegung gesetzt. Jelto sah ihm eine Zeitlang unentschlossen nach. Dann zuckte er die Schultern und schlug die Richtung ein, die ihn zu seinem grünen Reich an Bord der RUBIKON führte. Sooks erwartete ihn schon mit den Worten: »Fertig. Die Vernetzung ist abgeschlossen. Von meiner Seite her können wir sofort starten. – Ich wollte damit bis zu deiner Rückkehr warten, Jelto, weil ich es nur dir zu verdanken habe, dass ich überhaupt so weit kommen konnte. Bist du bereit für den ersten ernsthaften Feldversuch?« Jelto war immer noch wie erschlagen von dem Bild, das sein Gar-
ten abgab, seit Sooks tätig geworden war. »Ob ich bereit bin? Natürlich! Ich brenne ebenso wie du darauf, mein Ohr an den Puls all der verborgenen Zivilisationen zu legen, die herkömmliche Instrumente ignorieren, weil sie nicht dazu geschaffen sind, ihr Echo aufzufangen. Wohin müssen wir? Von wo aus startest du die … Anlage?« »Da bin ich flexibel. Gern von hier aus, wenn du willst.« Jelto schürzte die Lippen. Dann nickte er. Sooks justierte an einem Armbandgerät, das er trug, und augenblicklich bildete sich vor ihm eine virtuelle Konsole, über deren Sensorik er auf das Geschaffene zugreifen konnte. »Wir befinden uns im Unterlichtflug?«, vergewisserte sich Jelto. »Ich habe es mir gerade noch einmal von der Zentrale bestätigen lassen«, antwortete Sooks. »Anders würde die Antenne nicht funktionieren.« Die Antenne, das war die gesamte Außenfläche des Schiffes. Sesha hatte den Komplex hydroponischer Garten damit verknüpft. Auch dies mit ausdrücklicher Billigung des Commanders. »Dann – los …« Sooks legte einen immateriellen Hebel um. Der vernetzte Garten ging auf Empfang.
2. »Eine weise Entscheidung«, sagte Jarvis. »Was? Mir die Sache mal vor Ort anschauen zu wollen?« »Auch. Aber ich meinte, mich mitzunehmen.« Jarvis zwinkerte John Cloud zu. Kein Fremder, der Zeuge des Zwiegesprächs geworden wäre, hätte bezweifelt, zwei Menschen ohne Handicap vor sich zu haben. Denn Jarvis' Handikap wurde seit geraumer Zeit von einem Blender – Jarvis nannte es so – aus dem Fundus der ERBAUER kaschiert. Das kristallschuppenartige Element, ein Geschenk Kargors, ermöglichte es dem ehemaligen Gen-Tec, den das Schicksal in die Nanorüstung eines früheres Foronen-Oberhaupts gebannt hatte, sich seiner Umgebung wieder in der Maske eines lebendigen Wesens zu präsentieren, vorzugsweise täuschte sie dabei jenes Aussehen vor, das Jarvis zu Lebzeiten tatsächlich gehabt hatte. Aber mittlerweile war es ihm auch möglich, beliebige andere Geschöpfe zu imitieren – mitunter keine unpraktische Sache, insbesondere, wenn Einsätze es verlangten, sich unauffällig unter Extraterrestrier zu mischen. Momentan trug Jarvis allerdings wieder seine ureigene, »originale« Optik zur Schau. »Was wäre ich ohne dich?«, seufzte Cloud. »Aufgeschmissen?« »Total.« »So weit muss es nicht kommen. Ich helfe stets gern, das weißt du doch.« Cloud nickte. Vor ihnen tauchte der Zugang auf, zu dem sie wollten. Aber der Versuch, das Schott zu öffnen, scheiterte im ersten Versuch. »Sesha?« »Ja, Commander?«, kam es aus dem Off. »Was geht hier vor? Warum verweigerst du mir den Zutritt zum
hydroponischen Garten?« »Das tue ich nicht. Jelto hat eine Sicherung aktiviert, die es zufälligen Besuchern versagen soll, in nächster Zeit zu stören.« »Zu stören«, echote Cloud. »Das gilt natürlich nicht für den Commander.« »Wie schön. Wärst du dann bitte so freundlich …?« Summend fuhr das Schott in die Wand. Cloud blickte in die parkähnliche Anlage, die sich dahinter auftat, und über seine Lippen kam ein Stöhnen. »Das … das gibt es doch nicht!« »Ich habe gewarnt. Etwas in dieser Art war zu befürchten …« Jarvis schlüpfte hinter Cloud, den es wie an einem unsichtbaren Seil über die Schwelle zog, in den riesigen Raum, dessen Bewuchs jede planetare Umgebung in seiner Vielfalt in den Schatten stellte. Nur dass es beim Bewuchs allein nicht geblieben war. »Das … ist das Werk von diesem … Sooks?«, fragte Cloud. »Ich wüsste nicht, wer sonst auf die Idee gekommen sein sollte – Jelto bestimmt nicht.« Fassungslos starrte Cloud auf die metallisch schimmernden Spinnweben, die sich von Baum zu Baum, Strauch zu Strauch und Blume zu Blume spannten. Es sah aus, als hätte eine robotische Spinne in akribischer Besessenheit jede einzelne Pflanze innerhalb des Gartens mit ihren Fäden überzogen. Aber so, dass es tatsächlich noch möglich war, sich zwischen einzelnen Bereichen hindurchzubewegen. »Wäre es nicht so bizarr, könnte es als Kunstwerk durchgehen«, murmelte Cloud. »Aber so hat es eher Ähnlichkeit mit einer heimtückischen Krankheit, die sämtliche Pflanzen befallen hat … Jelto?« Die Stimme des Florenhüters kam von irgendwo halblinks. »Hier, Commander – wir sind hier. Moment – ich komme!« Cloud und Jarvis übten sich in Geduld. Nach einer Weile tauchte Jelto winkend auf. Entweder ignorierte er den Unmut der beiden Besucher, oder er bemerkte ihn tatsächlich nicht. »Sie kommen gerade recht, Sir. Wir haben einen ersten Erfolg zu verbuchen.« »Erfolg?«, echote Cloud. »Das System empfängt ein Signal – genau das wollten wir doch:
Spuren außerirdischer pflanzlicher Zivilisationen finden, die mit herkömmlichen Methoden niemals bemerkt würden …« »Sie haben damit …« Cloud machte eine ausholende Geste. »… die Sendung einer pflanzlichen Intelligenz aufgefangen?« »Wir sind erst in Stufe eins der Entdeckung, eine Bestätigung steht noch aus. Aber Sesha ist bereits involviert. Sie wird uns in Kürze sagen können, ob wir einem natürlichen Phänomen auf den Leim gegangen sind, oder ob tatsächlich –« »Jelto?« Die Stimme aus der Ferne war, obwohl gedämpft, schrill. »Wer ist das? Dieser …?« »Sooks«, half Jarvis aus. »Ist er das, Jelto?« Der Florenhüter nickte. »Seien Sie rücksichtsvoll. Er ist sehr sensibel. Bitte.« »Ich dachte, ich wäre sensibel«, knurrte Jarvis. Darüber konnte nicht einmal Cloud lachen. »Wir werden ihm schon nicht den Kopf abreißen.« Er blickte auf das Gespinst von Metallfäden, die in einer Weise funkelten, wie er es noch nicht gesehen hatte. »Was ist das? Von wem stammt es?« »Sooks hat es aus dem Angksystem mit an Bord gebracht. Unter anderem«, sagte Jelto. »Bractonische Technologie. Sie ermöglicht es uns, die Kraftfelder jeder einzelnen Pflanze, die damit in Berührung kommt, zu bündeln und wirkt als Gesamtreservoir wie ein gigantischer Empfänger, der über die Antenne – das Schiff – die Umgebung abtastet.« »Wie groß ist die Reichweite?« »Das haben wir noch nicht erforscht. Wir stehen erst ganz am Anfang.« »Und es schadet Ihren Pflänzchen nicht?« Jelto verneinte im Brustton der Überzeugung. »Das würde ich niemals zulassen, das wissen Sie.« Cloud nickte. Dann ließ er sich von Jelto zu Sooks führen, der völlig in seiner Aufgabe aufzugehen schien und die Neuankömmlinge erst bemerkte, als Cloud ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Ihr Bericht, Mister Sooks?« Sooks erbleichte.
Sesha erbarmte sich. »Analyse des Eingangssignals abgeschlossen. Definitiv künstlicher Natur. Unbekannte Frequenz außerhalb sämtlicher Bänder, die unsere bordeigenen Radioempfänger abdecken. Aufgrund der reibungslos verlaufenen Übermittlung über das bractonische Geflecht war jedoch eine eindeutige Identifizierung möglich. An der Übersetzung wird noch gearbeitet. Die Berechnung wird noch ein paar Minuten in Anspruch nehmen. Sicher bestimmt werden konnte bereits die Quelle des Signals.« »Ach«, machte Cloud. »Und wo liegt sie?« »Rund dreihundertzweiundfünfzig Lichtjahre von unserer gegenwärtigen Position entfernt.« »Na, das ist ja ein Katzensprung«, spottete Jarvis. »Ein Sternensystem?«, fragte Cloud. »Sonne der M-Klasse«, bestätigte Sesha. »Wie Sol«, kommentierte Jarvis. »Na, dann warten wir mal die sogenannte ›Übersetzung‹ ab«, sagte Cloud. »Vielleicht entpuppt sich alles doch noch als großer Irrtum …« Aber dem war nicht so. Seshas allgemein verständlich gemachte Version des empfangenen Signals schlug ein wie eine Bombe. »Es ist nur noch bruchstückhaft erhalten, entweder wurde der Sender beschädigt, oder es durchläuft auf seinem Weg hierher Störfelder, die es korrumpierten. Dennoch, die sinngemäße Übersetzung lautet: Rettet uns. Wer immer uns hört in den Weiten des All, habt ein Einsehen, habt Erbarmen, gedenkt der Schwachen, die dem Bösen anheim fallen, ohne Schuld auf sich geladen zu haben und nun bar jeder Hoffnung sind. Rettet uns. Rettet unsere Heimat, unsere Seelen vor dem schrecklichen Verheerer, der da ist gefallen vom Himmel. Rettet uns. Wir sind ohne Falsch und ohne Arg. Wir sterben, bevor wir dem Himmel zurückgeben konnten, was er uns schenkte. Es ist furchtbar. Unsere Sporen treiben mutlos im Wind. Gebt uns unsere Zukunft zurück. Erstickt uns nicht in den Fäden des Terrors. Sie sind überall. Wir siechen dahin. Rettet uns. Habt Erbarmen mit den Wiederkeimern. Habt Erbarmen mit dem Leben, das seine Heimat verliert. Wir wehren uns, aber es ist vergebens. Sie sind überall.
Sie benutzen uns als – – – Hier endet die Sendung und beginnt von Neuem. In einer Endlosschleife.« »Ich frage es ungern«, sagte Cloud, tief berührt von dem Gehörten, dem selbst in Seshas ›Lesung‹ eine schreckliche Tragik anhaftete. »Aber entspricht das soeben Gehörte tatsächlich dem Sinn und Inhalt dessen, was dieses seltsame Netzwerk …« Er zeigte um sich. »… aufgefangen hat?« »Dafür verbürge ich mich. Soll ich sämtliche Erfahrungswerte, Algorithmen und Parameter auflisten, die zu einer Dechiffrierung herangezogen wurden?« »Bewahre!«, stöhnte Jarvis. »Nein, danke«, reagierte Cloud beherrschter. »Ich glaube dir. Aber um was für eine Art von Signal handelt es sich? Ist es überlichtschnell?« Die KI verneinte. »Nein?« »Seine Ausbreitungsgeschwindigkeit liegt sogar knapp unter der eines Lichtstrahls.« Das überraschte Cloud. »Dann … war das Signal also mehr als dreihundertfünfzig Jahre unterwegs, bis wir es aufschnappten. Angesichts der Dringlichkeit, die aus ihm spricht, dürfte sich demnach zwischenzeitlich jede Hilfsmaßnahme erledigt haben. Entweder wurden die … wie nannten sie sich? Wiederkeimer? … inzwischen vernichtet, oder sie schafften es aus eigener Kraft, sich ihrer Angreifer zu erwehren.« »Dazu kommt«, ergänzte Jarvis, »dass aus der Sendung keinerlei verwertbarer Hinweis über die Natur der Aggressoren hervorgeht.« Cloud nickte. »Traurig, aber letztlich nicht zu ändern. Der Kosmos ist grausam zu seinen Bewohnern – nicht unablässig, aber immer mal wieder. Auch die Menschen und andere uns bekannte Spezies können davon ein Lied singen.« »Kein Lied, bitte«, frotzelte Jarvis. Cloud ignorierte ihn, registrierte aber Sooks' Stirnrunzeln, der die Marotten des Freundes noch nicht kannte. »Wenn ihr wollt«, wandte er sich an den Angk und Jelto, »könnt ihr euer ›Projekt‹ fortset-
zen. Es hat keinen störenden Einfluss auf den Schiffsbetrieb, wie mir Sesha mehrfach versicherte … Daran hat sich doch nichts geändert, Sesha?« »Nichts, Commander.« »Nun, dann bleibt es dabei. Lauscht weiter in die Tiefen des Alls. Vielleicht empfangt ihr ja noch andere Signale, die sich an den RUBIKON-Sensoren vorbeimogeln. Ich bin gespannt.« »Wirklich?«, fragte Jarvis, als sie den hydroponischen Garten bereits wieder verlassen hatten und Richtung Zentrale unterwegs waren. »Was ›wirklich‹?« »Bist du wirklich gespannt?« »Natürlich«, bekräftigte Cloud im Brustton der Überzeugung. »Aber jetzt entschuldige mich, geh ruhig ohne mich weiter. Ich komme später nach. Jetzt habe ich noch eine andere Verabredung.« »Assur?«, fragte Jarvis. »Assur«, lächelte John und wechselte in einen Gang, der jenen kreuzte, den sie gerade entlangkamen. Jarvis ging geradeaus weiter und zwang sich dazu, dem Neid, der in ihm rumorte, nicht zu viel Raum zu lassen. Eines Tages würde auch er wieder lieben können – daran musste er einfach glauben. Sonst konnte er ja gleich in die nächstbeste Sonne transitieren.
3. Scobee »hatte die Brücke«. Man konnte auch sagen: Sie hielt die Stellung in der Bordzentrale. Auf dem üblichen von sieben kreisförmig auf dem Kommandopodest angeordneten Sarkophagsitzen, die allesamt zur Mitte hin ausgerichtet waren, wo sich eine zwei Meter durchmessende Holosäule bis zur Decke hinauf spannte. Darin abgebildet beziehungsweise wiedergegeben wurde nicht nur das die RUBIKON umgebende All, sondern auch alle relevanten Daten zum Bordbetrieb, angefangen bei der Auslastung der von Dunkler Materie gespeisten Energieerzeuger, bis hin zur aktuellen Position und Geschwindigkeit. Die Umweltbedingungen an Bord entsprachen dabei ebenso der Norm wie alles, was die maschinelle Funktion der einzelnen Aggregate anging. Das Rochenraumschiff foronischer Bauart, vor langer, langer Zeit aus der Ewigen Stätte des Aquakubus geborgen und dann peu à peu tatsächlich in den Besitz der heutigen Besatzung übergegangen, durchstreifte die Weiten des Orionarms der Milchstraße. Weitab vom Angksystem und in respektvoller Distanz zum galaktischen Zentrum, wo nicht nur das Schwerkraftmonstrum lauerte, das seit Äonen Sonnenmasse um Sonnenmasse verschlang, sondern wo auch der Ankerplatz der neuen CHARDHIN-Perle lag, die dafür sorgen sollte, dass es künftig zu keinem weiteren Schwund von kosmischen Bereichen kommen würde, wie er in der Großen Magellanschen Wolke passiert war. Die dortige Region sollte außerdem »repariert« werden, damit das Neue Reich der Foronen nicht schon im Keim erstickt wurde. Siroona regierte es jetzt, da Sobek nur noch ein klingender Name in der wechselreichen Geschichte dieses Volkes war, ohne das … … wir heute nicht mehr wären, dachte Scobee. So grausam und lebensverachtend die Hohen Sieben des foroni-
schen Septemvirats, ausnahmslos Tyrannen, auch agiert haben mochten, als sie noch mit Machtfülle ausgestattet, aber heimatlos gewesen waren, so sicher war sich Scobee doch, dass sie und die anderen Gefährten jene hochbrisante Zeit, als sie bloße Gejagte auf der für sie fremden galaktischen Bühne waren, nicht hätten überstehen können, wenn da nicht jenes uralte foronische Artefakt gewesen wäre, in dem sie heute noch durchs All reisten. Die RUBIKON. Nach wie vor verkörperte sie den Traum eines Schiffes. Auch wenn es eindeutig größere und stärkere Konstruktionen gab – sie brauchte nur an die goldenen Schiffe denken. Oder gar eine mobil gemachte Tridentische Kugel … Aber die RUBIKON war bei aller Macht, die sie in sich vereinte, immer »bodenständig« geblieben; zumindest nach dem Gefühl der Kernbesatzung, die mit ihr durch manche auf den ersten Blick ausweglose Situation gegangen war. Und selbst heute, nach dem Ritterschlag durch die ERBAUER, die sie mit Modifizierungen aus ihrer Hightech-Schmiede geadelt hatten, war diese Empfindung geblieben. Die RUBIKON wird immer »unser« Schiff sein. Wenn es sie nicht mehr gibt, gibt es uns auch nicht mehr, dachte Scobee. Und sie tat dies fern allen Pathos. Es war ihr heiliger Ernst. Dieses Wunderwerk einer Hochtechnik barg noch Geheimnisse, die auf Foronen oder Bractonen zurückgehen mochten; letztlich war der Initiator zweitrangig, was zählte war die Qualität eines Rätsels. Und last but not least gab es da ja auch noch die Artefakte, die höchstwahrscheinlich seinerzeit Boreguir während seines kurzen Aufenthalts auf dem Schiff versteckt hatte. »Was ist eigentlich aus ihnen geworden?«, murmelte Scobee, mehr zu sich selbst. Dann, entschieden lauter und energischer: »Sesha?« »Ich höre.« »Was ist aus den Artefakten geworden, die Jelto vor längerer Zeit in seinem Garten fand? Du weißt schon: Wir nahmen an, dass sie auf Boreguir zurückgehen. Dass er sie damals aus der Marsstation mitbrachte. Du hattest den Auftrag, dich um sie zu kümmern, weil wir sie letztlich als Gefahr für das Schiff einstuften. Hast du sie … entsorgt?«
»Das habe ich.« Scobee spürte ein leises Bedauern. »Schade. Ich hätte gern mehr über sie erfahren. Sicher bargen sie spannende Details.« »Ich habe sie seither nicht wieder angerührt. Es gab Dringlicheres zu tun. Aber wenn es gewünscht wird …« »Ich dachte, du hättest sie beseitigt?«, fiel Scobee der KI ins Wort. »Entsorgt.« »Entsorgt im Sinne von: so behandelt, dass sich niemand mehr Sorgen um sie machen muss«, stellte Sesha richtig. »Von Beseitigen war nicht die Rede.« »Haarspalterin!« »Ich fürchte, ich –« »Ich weiß, du fürchtest, du ›verstehst‹ nicht. Diese deine Taktik ist altbekannt.« »Gegen die Unterstellung einer vorsätzlichen Verschleierung verwahre ich mich auf das Entschiedenste! Meine Loyalität dürfte außer Frage –« »Vergiss es! Deine Loyalität stand mehrfach auf dem Prüfstand. Zumindest deine Loyalität uns gegenüber. Ich erinnere nur an deinen jüngsten Fahnenwechsel, als du dich wieder komplett Sobeks Autorität unterworfen hattest.« »Das geschah nicht freiwillig. Eine überlegene Technologie zwang mich zum Gehorsam.« »Ich will es mal glauben.« Scobee lächelte entspannt. »Die technischen Mätzchen, die Sobek aus der Anomalie mitbrachte … Hm. Sie existieren nicht mehr, seit sie von den Kräften gestreift wurden, die Teile der Großen Magellanschen Wolke negierten. Als gäbe es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden … Gewalten.« »Darüber wurde bereits lange und ausgiebig debattiert und spekuliert«, erinnerte Sesha. »Ohne befriedigendes Ergebnis«, nickte Scobee. »Aber zurück zu den Artefakten. Wo hältst du sie unter Verschluss?« Die KI nannte das entsprechende Depot. »Gut zu wissen. Danke. Vielleicht kümmere ich mich demnächst mal darum. In einer ruhigen Stunde.«
»Ist diese Stunde unruhig?«, fragte Sesha betont arglos. »Nein. Es fiel mir nur gerade ein. Lust, mich jetzt darum zu kümmern, habe ich nicht.« »Lust«, echote die KI. »Ein Begriff, der in letzter Zeit häufiger an Bord fällt.« »So?« Scobee fürchte Stirn. Ihre Tattoos, die die Augenbrauen ersetzten, rückten enger zusammen. »In welchem …« Sie räusperte sich. »… Zusammenhang denn?« »Das«, blockte die KI souverän ab, »fällt, glaube ich, unter Intimsphäre.« »Biest!«, zischte Scobee. »Wo ist eigentlich John?« Sie sah sich in der Zentrale um. Aber momentan befanden sich hier nur wenige Crewmitglieder, überwiegend Angks, die das Angebot der Schiffsführung wahrnahmen, sich mit den technischen Einrichtungen vertraut zu machen. Betreut wurden sie dabei jeweils von einem Angehörigen der Stammbesatzung, in diesem Fall Algorian. »Er wollte mit Jarvis bei Jelto nach dem Rechten schauen. Ist er immer noch dort?« »Das«, erwiderte Sesha prompt, »fällt in die gleiche Kategorie. Gegenwärtig jedenfalls.« »Intimsphäre?« »Korrekt.« Die Falte über Scobees Nasenwurzel wurde noch steiler. Für die ominöse Aussage der KI gab es nur eine denkbare Erklärung. Ihr Verdacht bestätigte sich wenig später, als Jarvis in die Zentrale trat. »Wo hast du John gelassen?« »Der hat noch ein Rendezvous.« »Okay … Wird es lange dauern?« »Warum fragst du? Gibt es Probleme?« »Im weitesten Sinne … ja.« »Und welche?« »Die Disziplin«, erklärte Scobee in einem Tonfall, der bewusst offen ließ, ob sie es ernst meinte oder scherzte. »Seit diese Frau in Johns Leben herumspukt, vernachlässigt er meines Erachtens seine
Pflichten.« »Du meinst, er sieht nicht mehr alles ganz so verknöchert – für mich ein eindeutiger Fortschritt.« »Ja, weil du selbst Disziplin hasst wie die Pest!« Jarvis' Maske grinste. Und dann tat er etwas, was Scobee ihm ernsthaft übel nahm. Nicht nur, dass er seine Stimmfarbe veränderte, sie hörbar ins Feminine abdriften ließ, nein, er modellierte auch sekundenlang seine Physiognomie komplett um. Heraus kamen die klaren Züge einer attraktiven Frau. Assur. »Damit kannst du mich nicht ärgern.« »Das«, behauptete Jarvis, »weiß ich besser.« Er verwandelte sich wieder zurück und streckte ihr die Hand entgegen. »Friede?« Sie zuckte die Achseln. »Sag mir lieber, was bei Jelto herausgekommen ist. Ging es nicht um diesen Angk, der ein besonderes Experiment gestartet hat?« »Ich dachte schon, du fragst überhaupt nicht mehr. Junge, Junge, das ist ein Ding …« Und dann begann er zu berichten.
Gegenwärtig hatten sie – Assur und er – mehr Zeit füreinander als in der hektischen Phase, die davon geprägt gewesen war, dem Problem Negaperle die Stirn zu bieten. Glücklicherweise hatten sie es letztlich geschafft, den schwarzen Zwilling einer CHARDHIN-Perle im Milchstraßenzentrum zu neutralisieren und durch eine der letzten Tridentischen Kugeln zu ersetzen, die die Bractonen derzeit noch auf Lager hatten. Cloud versuchte es zu vermeiden, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn sie mit ihrer Rettungsmission gescheitert wären. Und es hatte auf Messers Schneide gestanden. Insbesondere als sich auch noch die Treymor ins Spiel gebracht hatten und eine ganze Flotte um das Super Black Hole massiert hatten, offenkundig mit dem alleinigen Zweck, die sich etablierende Negaperle zu schützen. Eine neue Waffe der RUBIKON hatte es letztlich geschafft, diesen Gegner vom Schwarzen Loch wegzulocken und den Weg für die
eintreffende Armada aus Tridentischen Kugeln frei zu machen: die Ghost-Projektoren. Ein Prinzip, das jenem ähnelte, mit dem die Satoga ihre Kriegsschiffe auszurüsten vermochten. Bei den Satoga und ihren Magnetschiffen hatte es sogar funktioniert, dass die generierten »Geisterschiffe« ihrerseits über Kampf- und Feuerkraft verfügten. Die RUBIKON hatte da durchaus kleinere Brötchen gebacken – auch wenn sie riesig gewesen waren. Ihre neuen Generatoren hatten vorgetäuscht, dass sich das Rochenschiff inmitten der Armada aus Tridentischen Kugeln bewegte – die aber nur Projektionen waren. Beim Versuch, die CHARDHINPerlen zu vernichten, hatten sich die X-Schiffe vom Black Hole weglocken lassen. Gerade lange genug, um die echten Tridentischen Kugeln durchbrechen und hinter den Ereignishorizont gelangen zu lassen. Warum die X-Schiffe ihnen dorthin nicht gefolgt waren, war bis dato nicht eindeutig beantwortet worden. Es wurde spekuliert, dass ihnen die dafür nötige Technik fehlte – aber daran wollte Cloud irgendwie nicht glauben. Die Treymor hatten sie inzwischen mehr als einmal überrascht. Damals im Butterfly-System, als sie Darnoks Versteck erstaunlich nahe gekommen waren, trotz dessen Manipulation des milchstraßeninternen Zeitflusses. Später im Leerraum bei der RUDIMENT-Station, wo Scobee die Gloridenbesatzung eines goldenen Schiffes hatte zurücklassen müssen. Und nun quasi vor der Haustür eines der größten technischen Wunder dieses Universums, einer von unzähligen CHARDHIN-Perlen, mit denen die Bractonen vor Milliarden Jahren den Kosmos – diesen Kosmos – generiert und »gezündet« hatten. »Hast du es schon bereut?«, fragte die Angkgeborene, in die Cloud sich kurzerhand und ehe er wusste, wie ihm geschah, verliebt hatte. »Das mit uns beiden?« »Das mit uns beiden.« Sie nickte und schmiegte die Wange an seinen Hals. Der Ort ihres Treffens lag im Dorf. In jenem Haus, das sich Assur nach wie vor mit Rotak teilte. Obwohl Rotak nicht mehr ihr Lebenspartner war. Dafür aber immer noch der Vater ihrer gemeinsamen Tochter Winoa.
Kompliziert? Bewahre!, dachte Cloud. Gegen das, was hinter uns liegt, nehme ich so etwas als wohltuende Bereicherung meiner viel zu reich bemessenen Freizeit. Er lächelte über seine Selbstironie. »Was gibt's da zu grinsen? Belächelst du mich etwa? Ich verlange, dass man mich ernst nimmt!« Sie hob ihren Kopf von ihm weg. Feuer sprühte in ihren Augen. Wie er das liebte. Ihr Temperament. Sie war immer noch schwer durchschaubar. Und auch dafür galt: Er liebte dieses Prickeln des Rätselhaften. Wenn es nach ihm ging, brauchte es nie aufzuhören. Sie war etwas ganz Besonderes. Eine Angk. Nachkomme von Menschen, die vor noch nicht allzu langer Zeit auf diesem Schiff gelebt hatten: Sarah Cuthbert, Prosper Mérimée und seine Bande … wobei Bande liebevoll gemeint war. Cloud trauerte den verlorenen Freunden immer noch nach. In gewisser Weise hatte Kargor sie, als er sie entführte und ins Angksystem verschleppte, getötet – zumindest aus Sicht der »Hinterbliebenen«. Denn der Bractone hatte sie weit in der Vergangenheit im Ersten Reich der ERBAUER ausgesetzt. So weit in der Vergangenheit, dass sie sich, als die RUBIKON das Angksystem erstmals besuchte, zu Millionen über die sechs bewohnbaren Planeten des Siebenweltensystems ausgebreitet hatten. Hervorgegangen aus ein paar Menschen, hatten sie sich auf ungeheuerliche Weise vermehrt. Es musste ein Inzestproblem gegeben haben – aber die ERBAUER hatten offenbar auch dafür eine Lösung gefunden. Und eigentlich war die Urzelle dieser neuen Menschheit bereits genetisch beschädigt gewesen, denn mit Ausnahme von Sarah hatten sämtliche Personen um Prosper, er eingeschlossen, im kritischen Gebiet des ehemaligen Peking gelebt. Und das hatte bleibende Folgen für sie gehabt. Im Grunde waren sie alle Freaks gewesen, Abnormitäten, die in einem Kuriositätenkabinett aufgetreten waren. Dass aus ihnen die heutigen Angks hervorgegangen waren, glich einem Wunder.
Insbesondere, was Assur anging. Cloud war überzeugt, nie eine Frau getroffen zu haben, die ihn mehr angezogen hatte. Für Assur schien der Begriff feminin erst erfunden worden zu sein. Sei froh, dass niemand mitkriegt, was für überschwängliche Gedanken du wälzt! »Dich ernst nehmen? Nichts leichter als das!« Er richtete sich auf und küsste sie. Sie ging sofort darauf ein. Ihre Zärtlichkeiten waren so innig und unendlich vertraut, als würden sie sich schon Jahre kennen. »Commander!«, mimte sie Empörung, als sie sich von ihm löste. »Sie vergessen sich.« »Was gäbe es Schöneres?« Er lachte. Der Türsummer schlug an. Clouds gute Laune verflog schneller, als er es eben noch für möglich gehalten hätte. Und mit ihr verpuffte die erotische Stimmung. »Wenn das Rotak ist …« »Das würde er nie tun.« »Heißt das, er weiß, dass ich hier bin?« Sie zuckte die Achseln. »Wäre das schlimm?« »Es wäre … komisch.« Sie glitt aus dem Bett, fischte sich das Kleid, das sie vorhin abgelegt hatte, vom Boden auf und streifte es mit einer zugleich anmutigen und ungemein routinierten Bewegung wieder über, sodass sie zwar mit leicht verwuscheltem Haar, aber ansonsten höchst seriös vor das Tableau neben der Tür trat und es aktivierte. Auf dem Display erschien ein Männergesicht – aber es gehörte nicht Rotak. »Ja?«, hörte Cloud Assur sagen. »Entschuldige die Störung, aber man sagte mir, ich könnte hier … den Commander finden.« Obwohl Cloud ihm erst einmal begegnet war, erkannte er die Stimme sofort wieder. Das Konterfei hingegen war auf die Entfernung nicht wirklich aussagekräftig. »Sooks?«, schnappte er ungläubig. Assur drehte sich halb zu ihm um. »Du kennst den Mann?«
Cloud nickte. Schüttelte den Kopf. Nickte dann wieder. »Kennen ist zu viel gesagt, oder, Mister Sooks?« »Ich weiß, ich ziehe mir Ihren Zorn zu, Commander. Aber –« »Sie wissen es, aha. Dann muss ich also von Vorsatz ausgehen. Mildernde Umstände bringt das nicht gerade …« »Kann ich Sie sprechen?« »Jetzt?« Assur entfernte sich von der Tür, ließ das Display aber aktiviert. Sie legte sich im Kleid zurück zu Cloud aufs Bett. »Er sieht verzweifelt aus«, sagte sie leise. »Geh schon. Er hat ein Problem. Das spürt man. Es wäre nicht deine Art, ihn hängen zu lassen.« »So gut kennst du meine Art?« »Frauen sagen so etwas, damit Männer sich so benehmen, wie sie möchten, dass sie sind.« Er starrte sie an. Beinahe sprachlos. »Das hättest du mir jetzt vielleicht nicht verraten sollen.« »Dir kann ich es ruhig offenbaren. Weil du ohnehin schon genauso bist, wie ich mir einen Mann erträume.« Darauf hätte er einiges erwidern können. Aber er wollte nicht. Stattdessen nickte er und dachte: Gut beobachtet. Mit dir könnte ich alt werden.
»Ich hoffe für Sie, es ist wichtig, Mister Sooks.« Der Angk nickte. Sie hatten sich ins Dorfzentrum begeben. Am Brunnen hatten sie sich hingesetzt; es war der bevorzugte Treffpunkt. Sie waren nicht die Einzigen, die hierher kamen, um zu reden oder einfach nur den fast echten, fast perfekten Tag zu genießen, den die Holoprojektoren erschufen. »Mehr als das.« »Und worum geht es? Wieder Ihr … Projekt? Dieses … Pflanzenradioteleskop – oder wie man es nennen mag?« »Eher um den Fund.« »Das Signal, das Sesha dechiffrierte?« Sooks nickte angespannt. Er knetete seine Hände, und Cloud
nahm an, dass sie schweißnass waren. Die offenkundige Aufgeregtheit des Mannes hatte beinahe etwas Rührendes. »Ich bitte Sie, ihm nachzugehen, Sir.« Cloud atmete überrascht aus. »Ich dachte, das wäre geklärt. Es ist über dreihundertfünfzig Jahre alt. Dort, wo es herkommt, ist entweder alles in Butter – oder das uralte Gesetz hat ein weiteres Opfer gefordert.« »Uraltes Gesetz?« »Fressen und gefressen werden.« Sooks schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, das kaufe ich Ihnen nicht ab, Commander. So kalt berechnend sind Sie nicht.« »Sagt wer?« »Sagt jeder, der Sie kennt.« »Und wen von denen, die mich kennen, kennen Sie, Mister Sooks?« »Das tut jetzt nichts zur Sache.« »Vielleicht doch. Also? Meinen Sie Jelto?« »Beispielsweise.« »Sind Sie mit ihm befreundet?« »Das wäre zu viel gesagt. Ich glaube, anfangs habe ich ihn ebenso genervt, wie ich Sie jetzt nerve.« »Und mittlerweile?« »Kommen wir miteinander aus.« »Na, das ist doch schön. Und noch schöner wäre es, wenn wir beide auch miteinander auskämen, oder?« »Durchaus, Sir. Das liegt an Ihnen, Sir.« »Soll heißen?« »Lassen Sie Kurs setzen auf den Zielstern. Ich bitte Sie. Vielleicht kämpfen diese Wesen seit über dreihundertfünfzig Jahren gegen den Untergang. Kämpfen ohne Unterlass gegen einen furchtbaren Feind, der ihre Heimat überfallen hat! Ich kenne mittlerweile die Geschichte der Erde – Ihre Geschichte, Sir. Auch sie wurde überfallen. Nur hatten die Menschen nach der Keelon-Master-Invasion keinen Außenstehenden, der ihnen zu Hilfe eilte. Sie wären dankbar dafür gewesen, oder?«
Cloud schloss kurz die Augen, weil die Erinnerungen ihn zu übermannen drohten. »Wahrscheinlich«, räumte er ein. Und nach einer Pause: »Okay, Mister Sooks, Sie haben Glück, dass wir uns gegenwärtig ohnehin eher unterfordert durchs All bewegen. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder etwas Farbe und Abwechslung in unseren Alltag zu bringen.« »Heißt das …?« Cloud nickte. »Das heißt es. – Sesha?« »Commander?« Es war, als würden sich die Luftmoleküle direkt neben Clouds Ohren in winzige, aber kristallklar klingende Lautsprecher verwandeln. »Du hast die Koordinaten des Sterns, aus dessen Richtung wir die … Pflanzenbotschaft auffingen?« »Bestätigung.« »Wir nehmen Kurs darauf.« »Wann?« »Sofort. Informiere bitte Scobee, Jarvis und alle anderen über meine Entscheidung. Alle außer Assur. Das übernehme ich selbst.« »In dieser Reihenfolge?« Cloud überlegte, ob das einer von Seshas Versuchen war, trockenen Humor zu entwickeln. »Ich schlage gleichzeitig vor – dazu bist du doch in der Lage?« Sooks verfolgte den Dialog mit einigem Befremden, kommentierte ihn aber nicht. Als sie sich voneinander verabschiedeten, fragte der Angk: »Wie lange werden wir bis zum Ziel brauchen?« »Nicht lange«, sagte Cloud. »Wir transitieren. Sie sind übrigens herzlich eingeladen, die Ankunft in der Zentrale mitzuverfolgen. Immerhin ist es Ihr Ding, Mister Sooks. Ihre … Rettungsmission.« »Ist das Ihr Ernst, Commander?« Sooks' Augen leuchteten wie bei einem Kind bei der Weihnachtsbescherung. »Bringen Sie Jelto mit, falls er will. Wir treffen uns in einer halben Stunde auf dem Kommandostand.« Sooks nickte geistesabwesend. Er saß noch auf dem Brunnenrand und schien sein Glück nicht fassen zu können, als Cloud längst den
Weg zu Assurs Haus eingeschlagen hatte, um sie persönlich zu informieren.
4. »Der zweite Planet. Seine Entfernung zur Sonne entspricht ungefähr der unserer Erde zu Sol«, sagte Scobee, die mit keinem Wort auf Clouds privaten Abstecher eingegangen war. »In der Lebenszone also«, sagte Jarvis. Er hatte Sooks freundlich begrüßt und ausnahmsweise auf jede Flapsigkeit verzichtet – was Cloud beinahe wieder misstrauisch machte. Er hoffte, dass der Freund nichts ausheckte, um den Angk auf den Arm zu nehmen oder bloßzustellen. Irgendwie hatte er Sympathien für den jungen Mann entwickelt. In Jeltos Garten war er ihm selbst noch skeptisch gegenübergetreten. Aber das Gespräch im Dorf hatte sie einander näher gebracht. Mochte das Projekt des Mannes noch so skurril sein, hatte es andererseits doch auch durchaus genialische Züge. Außerdem durfte man nicht vergessen, welchen Background Sooks vorzuweisen hatte: Er war ein Angkstämmiger. Er war durch die Schule der Tavner, der von den Bractonen beauftragten Lehrer, gegangen. Wahrscheinlich besaß er immenses Wissen. Wissen, das teilweise Clouds eigenes oder das der meisten Altcrewmitglieder weit übertraf – auch wenn es in anderer Weise wiederum eingeschränkt war. Denn die Angks lebten in gewisser Weise isoliert vom übrigen Kosmos. Sie waren nicht in das politische oder gesellschaftliche Geschehen innerhalb der Milchstraße integriert. Von den machtpolitischen Vorgängen jenseits der Nonzone, die das Angksystem unsichtbar und unmessbar umgab, hatten sie wenig bis gar keine Ahnung. Gehabt. Für die an Bord gekommenen Angks hatte sich das zwischenzeitlich grundlegend geändert. Sie waren wissbegierig ohne Ende, was die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Völkern der Milchstraße oder darüber hinaus – Andromeda, die Magellanschen Wolken … – anging. Cloud streifte Sooks mit einem Blick. Er hatte ihn aufgefordert, in
einem der Kommandositze Platz zu nehmen, was sonst nur dem engsten Kreis gestattet war. Aber Jelto war nicht erschienen, weil er sich permanent um die ›Versuchsanordnung‹ kümmern wollte, und so hatte Sooks dessen Sitz eingenommen. Kein anderer wäre frei gewesen, denn auch für Cy, Algorian und Jiim schien es neben Scobee, Jarvis und Cloud selbst eine willkommene Abwechslung vom momentan eher drögen Bordalltag zu sein, in ein fremdes Sonnensystem vorzustoßen, von dem vor langer Zeit ein Notruf abgestrahlt wurde. »Wie ich sehe, hat das System insgesamt achtzehn Umläufer.« Sooks zeigte auf die Holosäule. »Das ist gewaltig, oder?« »Respektabel auf jeden Fall«, erwiderte Jiim, der auf Cloud den Eindruck machte, als trage er schon wieder eine Sorgenlast mit sich herum. Seit Yaels Geburt kam das öfter vor. Jiims Spross bereitete deshalb so viel Kopfzerbrechen, weil er definitiv kein normaler Jungnarge war. Das Nabiss, das mit Jiims Gefieder unlösbar verwachsen schien, mochte dazu beigetragen haben, dass Yael mit einem goldenen Federflaum zur Welt gekommen war. Und es mochte auch mit daran schuld sein, dass Yael über außerordentliche, bislang kaum erforschte Kräfte verfügte. Zu den wahrscheinlich noch harmlosesten gehörte dabei, dass er in der Lage war, einen »imaginären Freund« zu erschaffen, der aus seiner Vorstellung erwuchs, aber – zumindest wenn Yael das wollte – durchaus greifbar war. Eine materielle Projektion sozusagen – besser erklärt und erforscht hatte es bislang noch niemand. Aber Yael konnte Charly nach fast überallhin schicken, kraft seiner Gedanken, und sich durch die Sinne der Projektion vor Ort umsehen und – hören, als wäre er selbst dort. Jüngst hatte das nicht ganz so funktioniert, wie Yael und auch Cloud es sich erhofften. Sie hatten ihn der RUBIKON voraus ins Angksystem geschickt, um den Bractonen ihre Ankunft anzukündigen. Dabei war er in die Nonzone verschlagen worden – eine Schutzvorrichtung der Bractonen, die das Erste Reich vor »metaphysischen«, wie sie es ausdrückten, und anderen »übergeordneten« Attacken schützte. Angeblich war alles, was von der Nonzone aufgesogen wurde,
dazu verdammt, für immer in ihr zu bleiben. Nicht einmal die ERBAUER selbst hatten Zugriff dorthin. Und doch … Cloud stockte kurz in seiner Rekapitulation, die ihn bei Jiims Betrachtung überkam. Und doch war es Charly offenbar gelungen, wieder zu Yael zurückzukehren. Zumindest war das der letzte Kenntnisstand, den Cloud hatte. »Wir werden sehen«, sagte er. »Sooks hat zusammen mit Jelto den Empfang ihres außerordentlichen Systems noch einmal neu kalibriert. Demnach kommt nur der zweite Planet als Quelle der Signale infrage, die im Übrigen nach wie vor gesendet werden. Und das …« Sein Blick suchte und fand den des Angks. »… ist sicher kein beruhigendes Zeichen. Ich fürchte, wir finden genau das Szenario vor, was uns ursprünglich davon abhielt, überhaupt hierher kommen zu wollen.« »Eine vernichtete Zivilisation?«, fragte Sooks. Cloud nickte. »Es tut mir leid.« »Mir tut es um all diese armen Wesen leid!« Unerwartet schrill kam die Stimme Cys zwischen dem Geäst seines Körpers hervor. »Wenn sie wirklich pflanzlich waren, sind wir im weitesten Sinne miteinander verwandt. Ich hätte sie gerne … kennengelernt.« »Noch ist nicht aller Tage Abend«, versuchte Jarvis ihn zu beruhigen. Ob Cy mit der Redensart etwas anfangen konnte, war fraglich. Aber das aufgeklungene Rascheln seiner Blätter beruhigte sich wieder. »Entfernung?«, fragte Cloud. Sesha blendete die Daten ein. »Drei Millionen Kilometer. Wir fliegen mit nur noch einem Zehntel Lichtgeschwindigkeit, fallend. In zwei, drei Minuten wissen wir mehr. Orbit um den Planeten einschlagen.« »Haben wir schon einen Namen für die Zielwelt?«, fragte Algorian. Der spindeldürre Aorii zwinkerte, als müsste er Tränen wegblinzeln. Sein Gesicht war grüner als sonst. »Wenn nicht, schlage ich Rof vor.« »Rof?«, hakte Jarvis nach.
»Sei nicht so pietätlos«, zischte Scobee. Es war klar, dass Algorian sich den Namen als Reminiszenz an seinen verlorenen Hassbruder erbat. »Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte«, entschied Cloud, bevor zwischen Scobee und Jarvis noch ein Streit entflammen konnte, der die Situation weiter belastet hätte. Wir sind schon ein klasse Haufen, dachte Cloud. Drei Minuten später schwenkte die RUBIKON mit noch deutlich gefallener Geschwindigkeit in den Orbit um Rof ein. Der Planet, um den sie zu kreisen begann, sah von oben aus wie eine gespenstisch tote und verlassene Welt, obwohl er alle Bedingungen erfüllte, die ein Paradies hätte erschaffen müssen. Es gab ausgedehnte Meere und riesige Landflächen. Die Pole waren vereist, aber ansonsten herrschte überwiegend ein gemäßigtes Klima, in manchen Breiten sogar tropisches und subtropisches. »Sonden ausschwärmen lassen«, entschied Cloud. »Damit beschleunigen wir die Erstellung eines aussagekräftigen Gesamtüberblicks. Sesha?« »Bereits veranlasst. Sonden sind unterwegs. Bilder fließen in die Holografie …« In atemberaubender Abfolge blitzten in den nächsten Minuten Bilder aus allen Bereichen des Planeten vor den staunenden Betrachtern auf. Deren Staunen rasch in Entsetzen und Betroffenheit überging, denn … »Der ganze Planet ist tot. Energetisch und zivilisatorisch«, meldete Scobee mit Blick auf die Anzeigen. »Dafür haben wir jede Menge böse Strahlung. Die Menge reicht überall aus, um Lebewesen, die uns ähneln, binnen kürzester Zeit so stark zu kontaminieren, dass selbst ausgeklügelte Therapien sie nicht mehr heilen und vor einem qualvollen Tod bewahren könnten.« »Ein Atomkrieg«, tippte Jarvis. »Hier muss eine nukleare Auseinandersetzung von globalem Ausmaß stattgefunden haben.« Und schon tauchten die ersten Ruinen auf, die ihm recht zu geben schienen – aber nur auf den ersten Blick …
Jarvis materialisierte. Sein Kunstkörper aus unzähligen Nanopartikeln* trat aus dem übergeordneten Raum und war da. Es sah aus wie eine Teleportation, aber vom Prinzip her war diese Art des Transports mehr der Transition eines Raumschiffs verwandt. Im Gegensatz zu einem solchen benötigte Jarvis für seinen Übertritt in ein anderes Kontinuum keine bestimmte Geschwindigkeit. Er transitierte quasi aus dem Stand. Enorme Energien waren dafür vonnöten. Woher er sie genau bezog, war ihm auch nach x-maligem Verwenden dieser Fortbewegungsmethode nicht klarer geworden. Auf der RUBIKON wurde dafür keiner der Meiler »angezapft«, so viel zumindest schien sicher, denn Jarvis vermochte auch fernab des Raumschiffs auf diese Weise zu »springen«. Möglicherweise gab es dennoch Zapfvorrichtungen in seinem Nanokörper, die dem Kosmos jenen Stoff entzogen, den auch die RUBIKON als nie versiegenden Kraftquell benutzte: Dunkle Materie oder Energie. Wobei das mit dem »nie versiegen« so eine Sache war. Jarvis erinnerte sich noch gut, dass sie auf einem ihrer vielen Wege auch schon einmal einer Spezies begegnet waren, der es gelungen war, die Umgebung ihres Hoheitsgebiets von Dunkler Materie leer zu fischen. Damals war die RUBIKON zeitweilig gestrandet – weil sie den für sie unabdingbaren Stoff nicht mehr aus dem umgebenden All hatte herausfiltern können. Hier und jetzt auf Rof stand dies nicht zu befürchten. Ein bleigrauer Himmel wölbte sich über der seltsamen Stadt, die zu untersuchen der Commander ihm aufgetragen hatte. Sie hätten es über die Sonden tun können, doch Jarvis war flexibler einsetzbar – und überdies das einzige Mannschaftsmitglied, dem die hohe Radioaktivität in der Atmosphäre und auf der Oberfläche nichts anzuhaben vermochte. Ich bin Iron Man, dachte er flapsig. Die Strahlung war zudem unsichtbar, nur ihre Folgen waren allenthalben zu erkennen. Die Stadt, in die er gekommen war, gehörte zu den größten Ge*jedes einzelne eine mikroskopisch kleine Maschine für sich
bäudeansammlungen, die die RUBIKON aus dem Orbit hatte ermitteln können. Pilzartige Bauten, so weit das Auge reichte. Hunderte von Meter reichten manche hoch in die Lüfte. Der »Schirm« dieser Pilze war dabei ungefähr dreimal so groß im Durchmesser wie der Stiel, der wiederum dreimal so lang war wie die aufgepfropften Segmente dick. Um was für ein Baumaterial es sich handelte, hatte man aus dem Orbit nicht feststellen können. Nicht jedenfalls, ohne eine Sonde damit zu beauftragen, eine Probe zu nehmen und damit an Bord zurückzukehren. Jarvis war auch in dieser Hinsicht flexibler. Und er hatte Augen … nicht im Kopf, sondern über die gesamte Oberfläche seines künstlichen Körpers verteilt. Diese Augen ließen sich nicht täuschen. Organisch, dachte der ehemalige GenTec. Die Pilzwolkenkratzer sind aus organischem Material, vielleicht sogar natürlich gewachsen und nur für die Zwecke der Bewohner hergerichtet … Die Bewohner waren nirgends zu sehen, auch keine Spur von ihnen, kein Bildnis nach Art eines Denkmals oder dergleichen, wie es auf der Erde zu allen Zeiten beliebt gewesen war. »Jarvis?« »Ich höre, John. Der Empfang ist gut. Die Interferenzen, die wir von der RUBIKON aus feststellen, fallen kaum ins Gewicht.« »Wie ist die Lage da unten?« »Ruhig«, erwiderte Jarvis. »Wenig Verkehr. Genau genommen … gar keiner.« »Das wussten wir schon, oder? Gibt es auch Neues zu berichten?« Jarvis erzählte von seiner Beobachtung, und dass er spekulierte, es mit organisch gewachsenen Bauten zu tun zu haben. »Also wahrscheinlich abgestorben nach all der Zeit«, sagte John. »Der Zustand der meisten lässt das befürchten. Zusammenstürze, wohin ich blicke. Die wenigen immer noch aufragenden Pilze scheinen hingegen … na ja, ich muss näher ran, das klingt selbst für mich etwas zu aberwitzig.« »Was meinst du?« »Sie sehen aus, als wären sie immer noch am Leben. Als gäbe es
noch intakte Strukturen … die wiederum alles andere als intakt sind.« »Das nächste Mal schicke ich ein paar Spinnenbots runter. Die funken wahrscheinlich halb so viel in Rätseln wie du, mein Freund.« »Ist einfach schwer auszudrücken. Warte … ich schicke euch Bilder …« Jarvis zoomte einen der nicht eingefallenen Pilzbauten optisch heran und übermittelte die Aufnahme an die RUBIKON. »Seht ihr das?« »Was sind das für Verdickungen? Sieht aus wie …« »Geschwulste«, stimmte Jarvis zu. »Krebsgeschwulste. Sie bedecken den Pilz komplett, von oben bis unten. Bei seinen eingestürzten ›Kollegen‹ ist davon nichts zu sehen. Deren Wandung ist, obwohl teilweise zerstört, völlig glatt. Zuerst dachte ich, es wäre eine Art Putz, aber hätten ihn dann nicht alle?« »Wie viele scheinbar intakte, aber von den Tumoren befallene Bauten siehst du in deiner Nähe?« »In meiner unmittelbaren … nur einen.« »Dann sieh ihn dir doch mal von ganz nah an – möglichst sogar von innen, falls du das Risiko als beherrschbar erachtest. Vielleicht erhalten wir auf diese Weise doch noch ein paar Informationen auf die einstigen Bewohner. Die Außenansicht der Stadt lässt darauf keinen Rückschluss zu.« »Okay. Die Idee ist gut. Ich melde mich wieder, sobald ich drinnen bin und Neuigkeiten habe.« »Schweig nicht zu lange. Wenn ich zehn Minuten lang am Stück nichts von dir höre, beginne ich mir Sorgen zu machen. Im äußersten Fall müsste ich dann doch noch ein paar Spinnen runterschicken. Oder gleich persönlich nach dem Rechten sehen.« »Du bist mir immer willkommen, Chef. Andererseits möchte ich dich nicht verlieren.« »Wir dich auch nicht, Jarvis. Also nicht zu übermütig werden. Vorsicht ist die Mutter der –« »Stopp!«, bremste ihn Jarvis. »Das war eine andere Zeit. Wer weiß heute noch, was eine Porzellankiste ist?«
»Wichtiger ist ohnehin, dass du dich mit Pilzen auskennst. Denk dran: Es gibt genieß- und ungenießbare und …« »… absolut tödliche? Ich will sie ja nicht essen. Und jetzt genug. Die Arbeit ruft. Ich melde mich, wie versprochen. Wäre doch gelacht, wenn ich für Mister Sooks nicht herausbekäme, wie die Typen, die sich diesen salbungsvollen Hilferuf ausdachten, ausgesehen haben. Vielleicht hatten sie Ähnlichkeit mit ihren Häusern … Konnte inzwischen eigentlich herausgefunden werden, wo sich die Sendestation befindet, die den Ruf ausstrahlt?« »Das ist irritierend.« »Was ist irritierend?« »Nun, es hat den Anschein, als würde das Signal von sämtlichen über den Planeten verteilten Städten, die wir fanden, gemeinschaftlich erzeugt und abgestrahlt.«
Der Pilz hatte keine erkennbare Tür. Jarvis erwog eine neuerliche Transition, um ins Innere zu gelangen. Aber ein Gefühl ließ ihn zögern. Er war ein Draufgänger, immer gewesen und erst recht in diesem schier unzerstörbaren Körper geworden. Dennoch … »John?« »Probleme?« »Ich finde keinen Zugang.« »Du könntest einen Zugang schaffen.« »Mit Waffengewalt?« »Spricht etwas dagegen?« »Nur dass es organisch wirkt – und immer noch lebendig. Ich könnte mich auch zuerst bei den eindeutig abgestorbenen, zusammengestürzten Komplexen umsehen.« »Wenn du das für ratsam hältst – du entscheidest. Du bist vor Ort.« »Danke, Chef.« Jarvis entfernte sich von dem weitgehend unversehrt wirkenden Pilz und wandte sich den Trümmern eines in der Nähe kollabierten zu. Seine Teile lagen über weite Bereiche verstreut oder hatten sich
mit denen anderer zerstörter Bauten vermengt. Genau ließ es sich nicht mehr rekonstruieren. Jarvis erkannte Hohlräume, aber nichts darin. Entweder waren die Ruinen geplündert worden, oder es hatte sich beim Inventar um ein Material gehandelt, das sich im Laufe der Jahrhunderte rückstandslos zersetzt hatte. Merkwürdig war, dass die Räume oft den gesamten Durchmesser eines Stielfragments einnahmen und weder nach oben noch nach unten Begrenzungen – Böden, Decken – aufwiesen. Ich muss in einen der erhaltenen Pilze, dachte Jarvis. Sonst komme ich nicht weiter. Aber immer noch sträubte sich alles in ihm, das eigentlich logische Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er erstattete John neuerlich Bericht. Und der fragte: »Du willst es riskieren?« »Wenn ich zurückkehre, ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, werde ich mir das ewig vorhalten.« »Es gibt eine Alternative. Ich schicke dir eine Sonde. Du brennst ein Loch in die Außenschale, und wir schicken sie als Erstes hinein. Anhand der Bilder entscheiden wir dann, ob du nachrückst oder es besser nicht riskierst.« »Wenn ich es beschieße, wird es verletzt«, erwiderte Jarvis, der sich durchaus bewusst war, dass er in der Vergangenheit selten Skrupel dieser Art an den Tag gelegt hatte. Aber hier war alles anders … »Es scheint lebendig, vergiss das nicht. Wenn ich hinein transitiere, ist die Gefahr, ihm ungewollt zu schaden, am geringsten.« »Diese Rücksichtnahme bezahlst du mit einem erhöhten Risiko, ich hoffe, das ist dir klar.« »Ist es. Aber ich bin jetzt hier, und ich will Antworten. Ich will wissen, wie die verschwundenen Bewohner von Rof aussahen. Was für eine Kultur sie hatten. Und wer ihnen das angetan hat, was wir heute an Strahlenwerten vorgefunden haben.« »Ob du auf all das die Antworten in dem Pilz findest, ist fraglich.« »Aber den Versuch ist es wert.« »Deine Entscheidung.«
»Die ist gefallen. Bis nachher.« Jarvis zögerte nicht länger. Er sprang.
»Ortung!«, meldete Sesha. »Welcher Art?« Cloud war sofort alarmiert. »Bezieht es sich auf Jarvis' gegenwärtige Position? Die Stadt?« »Negativ. Eine der Spähersonden hat in der südpolaren Region von Rof eine Entdeckung gemacht.« »Präzisiere das. Gibt es Bilder?« »Werden soeben eingespielt …« In der Holosäule bildete sich ein zusätzliches Fenstersegment. Die Aufnahme zeigte eine froststarrende Landschaft. Eis und Schnee, soweit das Auge blickte … bis zu dem Moment, als die Sonde und ihr Kameraauge einen Schwenk vollzogen. Und plötzlich war es da. Ein Raunen ging durch die Sitzenden auf ihren Kommandoplätzen. Sooks stöhnte am lautesten. »Das … das ist …« »Wir werden sehen, was es ist«, wiegelte Cloud ab, obwohl das Objekt auch ihn ins Staunen brachte. Was war das, das da wie ein Keil ins Eis gerammt steil zum Himmel aufragte. Blauviolett schimmerte es, wenn die Sonden Echtfarben übermittelte. Und ein Keil war es nicht wirklich, allenfalls war es als solcher benutzt und zweckentfremdet worden. Seine wahre Form war – »Eis Diskus«, murmelte Scobee, aber klar vernehmlich. »Ein innen offener Diskus …« »Gibt es Daten?«, fragte Cloud. Die Entdeckung ließ ihn, wie die anderen auch, Jarvis kurzzeitig vergessen. »Abmessungen?« Als sie eingeblendet wurden, ging ein erneutes »Ah« und »Oh« durch die Runde. »Vierzehn Kilometer Durchmesser bei einer maximalen Dicke von drei Komma neun Kilometern?«, fragte Cloud noch einmal an die KI adressiert nach. »Kein Messfehler?« »Darauf deutet nichts hin, Commander.« »Dann … dann ist das ein echter Gigant«, stammelte Sooks. »Ist
das ein Raumschiff? Ein abgestürztes? Oder einfach nur ein gewaltiges Bauwerk oder Denkmal?« »Ist das Objekt in den Verbund integriert, der das Sammelsignal erzeugt, das wir auffangen?«, fragte Cloud. »Sesha?« »Negativ. Dieser Gigant … schweigt.« »Die Machart unterscheidet sich auch völlig von den Pilzbauten«, wies Algorian hin. »Ich erkenne keinerlei Übereinstimmung.« »Nun, es ist nicht organisch, aber –« Cloud wurde von einem Schrei unterbrochen, der aus der immer noch offenen Funkverbindung zu Jarvis drang. »John? Hört ihr mich? Es ist … schrecklich. Was habe ich nur getan? Hört ihr mich? Sagt mir, was ich getan habe! Alles vibriert. Ich … Es ist nicht das, was es schien. Es war ein schrecklicher Irrtum. Ich hätte nie …« Die Verbindung wurde unterbrochen. Ob von Jarvis selbst oder einer Störquelle, ließ sich nicht sagen. »Sesha!« »Commander?« »Den Pilz, in dem Jarvis verschwunden ist. Großaufnahme!« Der Befehl wurde sofort umgesetzt. In der Holosäule bildeten sich neue Strukturen. Das Sondenbild wies Interferenzen auf. Wahrscheinlich störten die Strahlungsbedingungen auf der Oberfläche den Bildtransfer. Dennoch war klar ersichtlich, dass der wolkenkratzerhohe Bau zu wanken begonnen hatte, aus sich heraus erzitterte. »Wie eine sich krümmende Kreatur«, äußerte Jiim. Sein Nabiss veränderte sich beim Anblick des Geschehens, wie keiner der Gefährten – erst recht nicht Sooks – es jemals gesehen hatte: Die mit dem Körper des Nargen verschmolzene Rüstung schien sich seit einer kleinen Ewigkeit erstmals wieder vom Gefieder zu lösen – aber nur ansatzweise. Das Gold des Materials, aus dem sie bestand, nahm eine fast flüssige Konsistenz an, aus der heraus … plötzlich pilzartige Formen hervorquollen. »Jiim!« Scobee sprang auf, als müsste sie dem Nargen zu Hilfe eilen. Der wiegelte mit Gesten ab, die zugleich aufforderten: »Bleib, wo du bist. Es ist in Ordnung, keine Gefahr. Ich weiß nicht, was es
ist, aber ich glaube nicht, dass es irgendjemandem schadet …« Doch, genau das drückte seine Körpersprache aus. Aber Scobee ließ sich davon kaum zurückhalten. Cloud sah sich genötigt, einzuschreiten. »Setz dich«, forderte er Scobee auf. »Aber –« »Es ahmt die Pilzbauten nach – mehr nicht.« »Woher willst du das wissen?« Er wusste es nicht. Er hoffte, dass dem so war. »Das Nabiss reagiert auf die Bilder, weil Jiim darauf reagiert. Emotional. Ist es so, Jiim?« Der Narge verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht. Könnte aber sein. Kümmert euch nicht darum. Wenn ihr euch bedroht fühlt, verlasse ich die Zentrale. Sesha kann Sicherheitsmaßnahmen einleiten, um –« »Das kann sie auch hier. Sesha? Empfehlung?« »Individuelle Abschirmung. Erwünscht?« »Erwünscht«, schnappte Cloud. Ein kaum wahrnehmbares Energiefeld legte sich um Jiim und seinen Sitz. Die Aktivitäten der Rüstung blieben davon unbeeinflusst. Unablässig formte das Gold des Nabiss neue Pilzauswüchse, die nach ein paar Sekunden wieder in sich zusammensanken und sich an anderer Stelle wieder neu ausbildeten. Cloud lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Holosäule zurück. Auf den Pilz, den sie in Großaufnahme eingefangen hatte. Und in dem Jarvis steckte – seit geraumer Zeit. Cloud konsultierte die Chronometereinblendung. Erst eine Minute? Erst eine Minute war vergangen seit Jarvis letzter Meldung, die abrupt abbrach? »Scan!«, befahl er. »Die Sonde, die diese Bilder liefert, soll das Gebäude scannen. Warum haben wir das nicht schon früher getan?« »Weil die Sonde dazu leider nicht in der Lage ist«, antwortete die KI. »Wie bitte? Es sind Sonden. Sie muss doch mit Instrumenten ausgerüstet sein, die –« »Sie ist mit den erforderlichen Instrumenten ausgerüstet. Aber sie
versagten – und sie versagen immer noch, wenn es darum geht, die Bauten regelrecht zu röntgen.« »Hatte ich das überhört?« »Niemand hat mich danach gefragt.« »Dann tue ich es jetzt: Warum versagen sie?« »Unbekannt. Die Schichten des Objekts sind undurchdringlich.« »Und Jarvis? Er scheint doch drinnen zu sein. Konnte sie also durchdringen … Oder steckt er etwa deshalb im Schlamassel, weil er nicht so hineinkam, wie er es wollte?« »Unbekannt.« »Noch ein einziges ›Unbekannt‹, und ich verfrachte dich eigenhändig in eine Sonde und schieße sie Jarvis hinterher. Dann kannst du ihm erklären, warum du ihn nicht rechtzeitig vor möglichen Problemen bei einer Transition gewarnt hast.« »Technisch nicht machbar. Ich bin viel zu komplex für die Datenspeicher einer Sonde …« »Hört auf!« Scobee riss der Geduldsfaden. »Jarvis klang nicht besorgt um sich, sondern um den Pilz – so habe ich ihn jedenfalls verstanden.« Jetzt, wo sie es sagte, musste Cloud zugeben, dass auch er diesen Eindruck gewonnen hatte – ursprünglich. Aber dann war Jiim dazwischengekommen, sein Nabiss, und nun … »Das Gebäude gebärdet sich immer wahnsinniger.« Algorians Stimme überschlug sich fast. »Gleich stürzt es ein.« Jeder, der die Bilder sah, musste dies glauben. Auch Cloud. »Jarvis? Jarvis, hörst du mich? Wie können wir dir helfen? Steckst du fest?« Zu seiner Überraschung meldete sich Jarvis in einer Weise, die keiner mehr erwartet hatte. Während unten auf dem Planeten der gigantische Pilz, in den Jarvis vorgedrungen war, in diesem Moment auseinanderbrach und seine Trümmer über eine riesige Fläche verstreute, materialisierte am Fuß des Kommandopodests eine Gestalt, die erkennbar um ihre Form rang. »Jarvis!«
Alle sprangen auf und eilten ihm entgegen. Cloud erreichte ihn hinter Scobee und legte dem Freund die Hände auf die Schultern. Die Maske aus bractonischer Hightech-Schminke flackerte. Einmal war der roboterartige Nanokörper zu sehen, dann wieder Jarvis, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte. »Alles in Ordnung?« Jarvis – der Roboter – Jarvis … schüttelte den Kopf. »Nichts ist in Ordnung. Ich hab's vermasselt. Total vermasselt.« Mit hängenden Schultern stand er vor den Freunden. »Was vermasselt?«, verlangte Scobee zu wissen. »Habt ihr's immer noch nicht begriffen?« Er schien in jedes einzelne Gesicht zu blicken, das ihn umgab. Dann seufzte er: »Nein, habt ihr nicht. Wie auch. Aber ich … ich hab's erlebt. Was glaubt ihr, wie ich mich fühle, nachdem ich gerade einen der Bewohner umgebracht habe, einen dieser … Wiederkeimer?« »Du hast sie getroffen?« Cloud sah ihn verblüfft an. »Es gibt Überlebende?« »In gewisser Weise.« Jarvis schüttelte die Hand des Freundes ab. »Kapiert es endlich: Die Pilzbauten sind keine … Bauten. Es sind diejenigen, die uns den Notruf schickten. Die Pilze sind – oder waren – die intelligenten Bewohner des Planeten. Die meisten sind offenbar ausgerottet worden oder an den Folgen der Strahlung gestorben. Aber manche siechen noch dahin. Als ich in den Körper des von mir ausgesuchten Pilzes sprang, muss ich ein lebenswichtiges Organ … oder was auch immer … verletzt haben. Das gab ihm den Rest …!« »Oder«, warf Cy mit raschelnder Anteilnahme ein, »erlöste ihn endlich von seinen ungeheuerlichen Qualen.«
5. Rof war mehr denn je zu einer Welt der ungelösten Fragen geworden. Fragen, die der RUBIKON-Besatzung auf der Seele brannten, denn irgendetwas an dem Planeten machte Angst, weckte Befürchtungen, dass es sich anderswo wiederholen könnte – zumindest solange nicht bekannt war, was die globale Katastrophe letztlich ausgelöst hatte. »Der Schlüssel liegt in dem Wrack, das wir gefunden haben. Am Südpol«, prophezeite Scobee bei der Lagebesprechung, die Jarvis' Rückkehr folgte. »Du hältst es also für ein Raumschiff, das irgendwann, vielleicht im Zuge der Ereignisse vor rund dreihundertfünfzig Jahren, abstürzte?« Cloud sah sie forschend an. »Du nicht?« »Angesichts der sonst absolut technologiefreien Welt, so weit wir sie bisher überblicken, jedenfalls, spricht vieles dafür – doch. Doch, ich denke auch, dass es ein Raumschiff ist. Aber die Bauart ist unbekannt. Und wie es im Inneren beschaffen ist … nun, das gilt es erst noch herauszufinden.« »Also nehmen wir es unter die Lupe?« »Natürlich. Es wäre fahrlässig, es zu ignorieren. Zumal …« »Zumal?« »… wir nicht garantieren können, dass es tatsächlich ist, was es scheint.« »Ein Wrack?« Er nickte. »Ich werde zwei Außenteams zusammenstellen. Jarvis, fühlst du dich schon wieder imstande, rauszugehen?« Er blickte den Freund an, der sich in menschlicher Manier in den Kommandositz gesetzt hatte. »Ich weiß nicht, wie stark dich dein Erlebnis traumatisiert oder zumindest mitgenommen hat …« Jarvis schüttelte den Kopf. Sein Erscheinungsbild hatte sich wieder
stabilisiert. Er wirkte wie ein angeschlagener Boxer. Gleichzeitig strahlte er aber auch die Entschlossenheit aus, die einen wahren Kämpfer auszeichnete: nicht aufstecken zu wollen, sondern sich am besten gleich in die nächste Ringrunde zu stürzen. »Ich bin okay. Was soll ich tun?« In diesem Moment betrat Jelto die Zentrale. Cloud winkte ihm zu. Der Pflanzenhüter kam näher. »Mister Sooks, wären Sie so freundlich …?« Clouds Geste war unmissverständlich. »Ich habe Jelto gerufen, weil er ein wichtiger Bestandteil meines Vorhabens ist. Jelto … bist du über den Stand der Dinge informiert?« Jelto verneinte. Sooks stand auf und machte bereitwillig Platz auf dem von ihm belegten Kommandositz, auf den Jelto das ältere Anrecht hatte. Jelto nickte ihm zu, und Sooks nahm Position hinter ihm ein. Seine Wangen waren gerötet. Und spätestens seine Augen verrieten, wie sehr er es genoss, an dieser Besprechung teilnehmen zu dürfen. »Scob – wärst du so nett?« Scobee nickte und fasste für Jelto kurz zusammen, was sie auf dem Planeten entdeckt hatten. Sie schloss mit den Worten: »Jarvis ist überzeugt, dass diese riesigen Pilze, die wir zunächst für Gebäude aus einem organischen Baustoff hielten, in Wahrheit die intelligenten Bewohner von Rof sind. Oder ihre gebeutelten Nachfahren, die seit Jahrhunderten an den Folgen eines furchtbaren Nuklearschlags zu knabbern haben.« Jelto, der sich offenbar die ganze Zeit in seinem Garten befunden und dem von Sooks initiierten Projekt gewidmet hatte, wirkte betroffen. Sein Blick suchte Bilder in der Holosäule, die Scobees Zusammenfassung stützten. Er fand sie schnell. »Gab es Bemühungen, mit ihnen in Kontakt zu treten?«, fragte er mit belegter Stimme. »Noch nicht. Aber ich habe es vor«, ergriff Cloud das Wort. »Von hier oben aus mit Sooks' Hilfe … Sie helfen uns doch, Mister Sooks?« Der Angk zeigte seine Verblüffung, nickte dann aber eifrig, und
jetzt begannen seine Wangen regelrecht zu glühen. »Und dann noch parallel von der Planetenoberfläche aus. Dazu brauche ich dich, Jelto. Du müsstest mit einem Shuttle und einem kleinen Team runter und es auf deine Weise versuchen.« »Kontakt mit ihnen herzustellen?« Cloud nickte. Jelto zögerte nicht eine Sekunde. »Wann geht es los? Wer begleitet mich?« »Nach Beendigung dieser Besprechung«, sagte Cloud. »Und es werden dich sechs bewaffnete Mannschaftsangehörige zur Absicherung begleiten, schwer bewaffnet. Niemand aus dem inneren Kreis. Du hast das Kommando.« »So gefährlich schätzt du einen Besuch dort unten ein?« »Ich will nichts riskieren. Jarvis' erster Erkundungsversuch könnte einigen Staub aufgewirbelt haben …« »Du meinst, sie sind uns jetzt feindselig gesinnt?« »Ich hoffe es nicht, denn das sind wir nicht.« Dabei beließ es Jelto vorerst. »Das zweite Außenteam wird von dir angeführt, Scob.« Sie nickte erfreut. »Südpol?« »Südpol. Jarvis begleitet dich. Jarvis?« »Stets bereit …« Etwas unglaubwürdiger als sonst kam der Spruch über seine Pseudolippen. »Wer noch?« »Algorian. Ein Dreierteam.« »Und wir nehmen auch ein Shuttle?« Die Vorfreude, endlich mal wieder in den Einsatz gehen zu dürfen, war Scobee anzumerken. »Nein. Ihr springt beide mit Jarvis. Falls seine Batterien das hergeben …« »Ich strotze vor Energie!« Das war wohl gelogen. Zumindest, was seine Psyche anging, aber Cloud hatte nicht vor, ihn zu demotivieren. »Außerdem sind das beide nur halbe Portionen.« Er grinste. »Sprücheklopfer.« Cloud löste die Versammlung auf, und die eingeteilten Personen begannen mit den Vorbereitungen auf ihre Missionen. »Nun zu uns, Mister Sooks. Trauen Sie sich zu, Ihre Ge-
rätschaft im hydroponischen Garten mit Seshas Hilfe so zu modifizieren, dass sie nicht länger nur empfängt, sondern auch …« »… sendet?« Sooks sprühte vor Einsatzfreude. »Aber ja! Geben Sie mir eine Stunde, Commander.« »Ich gebe Ihnen so viel Zeit, wie Sie brauchen – eine Stunde wäre natürlich perfekt. Wichtiger als das Feilschen um ein paar Minuten ist mir aber, dass es funktioniert …«
Jiim war enttäuscht. Aber er sagte es nicht. Sein Nabiss hatte sich wieder beruhigt, aber er selbst betrachtete das Verhalten der Ganfrüstung als Zeichen dafür, dass er ebenfalls am Rof-Einsatz hätte teilnehmen sollen. Zum ersten Mal seit Langem kehrte er regelrecht niedergeschlagen nach Pseudokalser zurück. Mit Betreten des Stücks Heimat, das Sesha ihnen ermöglichte, umschwirrten ihn augenblicklich weitere Nargen – aber von ihnen war keiner echt. Auch Chex nicht, der alte Freund, den Jiim in einer solchen Gemütsverfassung wie jetzt noch tausendmal mehr vermisste als ohnehin schon. Aber der wahre Chex war vor Jahrzehntausenden gestorben. Er war dem mutierten Zeitfluss innerhalb der Milchstraße zum Opfer gefallen. Sein Leben hatte er gelebt, aber für jemanden, der sich außerhalb der Milchstraße befunden hatte, war es verpufft wie eine Streichholzflamme. Nein, den realen Chex würde ihm nichts und niemand mehr zurückgeben, wenngleich auch der falsche ihm eine oft bessere Gesellschaft war als mancher Lebendige sonst an Bord. »Lust auf eine Partie Federn raten?«, überfiel Chex ihn, kaum dass er die Baumsiedlung am Schrund betrat. Chex war etwas kleiner und fülliger als Jiim, aber das hatte Jiim nie gestört – ebenso wenig wie Chex selbst, der jetzt ein ganzes Büschel alter Federn hochhielt, deren Kielenden markiert waren. Ein beliebtes Spiel auf Kalser – die Menge wurde geteilt, und nacheinander mussten beide Spieler so viele Federn wie möglich den Mitnargen zuordnen, aus deren Gefieder sie stammten; wer am Ende die meisten Treffer hatte, war der
Gewinner –, aber momentan verspürte Jiim nicht den Hauch von Lust, sich damit die Zeit zu vertreiben. Obwohl es ihn abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht hätte. Aber wollte er das? Nein. Ich will mich ärgern! Warum soll ich so tun, als wäre alles in Ordnung? Flügelrauschend schwang sich aus der über ihm liegenden Baumkrone jemand zu ihm herab. Es war Yael, der übermütig neben ihm landete und es sogar schaffte, das von Sesha erstellte Programm zu veranlassen, Chex die Federn aus der Hand zu wehen. Chex fluchte und rannte seinem Spiel hinterher. Yael lachte. »Wahrscheinlich sollte ich ihm helfen. Ich war mal wieder ein ganz Böser.« Er blinzelte herausfordernd. Dann aber bemerkte er, dass sein Orham gar nicht aufgelegt war, ihn zu maßregeln. »Was ist? Du siehst aus, als wäre dir eine leibhaftige Fangassel über den Weg gelaufen.« Jiim zögerte. »Ich glaube nicht, dass es dich interessiert …« »Das kannst du erst wissen, wenn du damit herausgerückt bist.« Yael sah sich um. »Ich hab gerade nicht so viel vor. Wenn du also eine starke Schulter brauchst, um –« »Das meinte ich. Du nimmst mich jetzt schon auf den Flügel. Es macht wenig Sinn …« Yael trat vor und legte eine Schwinge halb um ihn. Es war eine vertraute Geste, so hatte Jiim, als Yael noch kleiner war, seinen Spross oft umschlungen, um ihm das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. »Red schon. Ich merke doch, dass dich etwas quält. Wir reden viel zu wenig miteinander. Komm. Lass uns eine Runde drehen.« Er zeigte nach oben. »Und dann setzen wir uns irgendwohin und quatschen.« »Ernsthaft?« Jiim betrachtete seinen Sprössling mit vorsichtiger Dankbarkeit. »Ernsthaft.« »Dann komm …« Jiim entfaltete seine Flügel und schwang sich in die Lüfte. Yael gab ihm einen kleinen Vorsprung, dann startete auch er. Mit wenigen
Flügelschlägen hatte er seinen Orham eingeholt, und gemeinsam entfernten sie sich vom Dorf am Schrund. Die Dimensatoren der RUBIKON verhinderten, dass er Himmel irgendwo eine Grenze hatte, gegen die sie stoßen und sich möglicherweise verletzen konnten. Der Flug ließ Zentnerlasten von Jiim abfallen, und er merkte, wie sein Ärger schon der bloßen Gesellschaft Yaels wegen mehr und mehr verpuffte.
Die Transition in Teleportermanier brachte sie in nächste Nähe des diskusförmigen Monuments, das seit unbestimmter Zeit aus dem ewigen Eis von Rof ragte. Anders als über das Hologramm kam im Angesicht des realen Objekts von der ersten Sekunde an so etwas wie Ehrfurcht auf – zumindest in Scobee. Bei Jarvis und Algorian, ihren beiden Begleitern, war sie sich nicht so sicher. Am wenigsten bei Jarvis, der das Wort Ehrfurcht normalerweise nicht in seinem Wortschatz führte. Und Algorian … nun, Algorian gab selten preis, was ihn bewegte. Von seiner Wesensart her war er jemand, dem die Devotheit quasi in die Wiege gelegt worden war. Aorii verbrachten im Normalfall ihr Leben in einer sonderbaren Symbiose mit ihren Brüdern und Schwestern. Der Erstgeborene hatte dabei das Sagen, und der Zweitling ordnete sich dem unter. So war es auch bei Algorian gewesen, bis das Schicksal ihn von seinem Hassbruder – auch das ein traditioneller Titel aus der Begriffswelt der Aorii – trennte. Rofasch war nicht nur von seiner körperlichen Statur her, sondern auch, was die parapsychische Potenz anging, seinem im Vergleich dazu fast mickrigen Zweitling haushoch überlegen gewesen. Und dennoch war Rofasch gestorben, und Algorian lebte noch immer. Aber sowohl die gemeinsamen mit als auch die getrennten Jahre von seinem Hassbruder hatten ihn geprägt. Glücklicherweise entwickelte er sich in der Gemeinschaft der RUBIKON-Crew dauerhaft zu seinem Besten und war nicht in ein tiefes Loch aus Depression gefallen, was Scobee anfangs befürchtet hatte. Nein, wenn jemand ab und zu zur Schwermut neigte, dann schon eher der Typ mit der großen Klappe neben ihr: Jarvis.
Allerdings war dies mehr als nachvollziehbar. Sie hätte nicht mit ihm tauschen mögen. Im Grunde war er ein chronischer Patient, der nur noch mittels Maschinen am Leben erhalten werden konnte – Maschinen, die zu seinem Glück seine Mobilität nicht einschränkten oder gar verhinderten, sondern im Gegenteil noch steigerten. Dennoch blieb er von ihnen abhängig, und schlimmer noch als jeder Patient existierte bei ihm vom originalen Jarvis nurmehr das Bewusstsein. Kein Tropfen originales Blut, kein noch so winziger Fetzen Haut, nicht einmal ein Fingernagel oder Haar entsprach mehr demjenigen, mit dem Scobee und John einst von der Mondbasis aus zum Mars aufgebrochen waren. Wenn sie nur daran dachte und sich vorzustellen versuchte, wie Jarvis sich in seinem Kerker aus Nanomaterie fühlen musste, wurde ihr ganz anders. Und deshalb – nur deshalb! – tolerierte sie seine manchmal auch dumpfen Parolen oder seinen oft grenzwertigen Humor, mit dem er letztlich nur zu kompensieren versuchte, was ihn unentwegt in den Wahnsinn treiben wollte. So schätzte Scobee es jedenfalls ein. Aber reden, nein, reden wollte Jarvis mit ihr darüber nicht. John vertraute er sich manchmal an, aber ihr … Bewahre! Alter Chauvi!, konnte sie da nur denken. Aber nicht jetzt. Nicht hier. Umweht von einer Kälte, die selbst im Schutz ihrer Anzüge, die für Weltraumeinsätze ausgelegt waren, fühlbar war. Minus 66 Grad Celsius, wenn die Anzeige des Armbandthermometers nicht trog. Jarvis trotzte den Unbilden der Natur als Einziger scheinbar unbeeindruckt. Sein Erscheinungsbild entsprach ganz und gar dem, wie er meistens auf der RUBIKON herumlief. Freizeitkluft, T-Shirt mit Halbärmel. Fehlte nur noch die kurze Hose und ein paar Strandlatschen, befand Scobee, der es mitunter schwer fiel, den Irrwitz des Hightech-Make-ups, das Jarvis zur Schau trug, für sich selbst zu verarbeiten. Über Helmfunk verständigten sie sich – zwei von ihnen zumindest. Auch hier nahm Jarvis eine Sonderrolle ein. Er hatte körpereigene Empfangs- und Sendemöglichkeiten.
»Wie ist der Empfang?«, fragte Scobee hinauf zur RUBIKON. »Tadellos«, befand Cy, der die Stellung hielt, während John sich mit Sooks in Jeltos Garten begeben hatte, um sich dort um eine Kontaktaufnahme mit den Rof-Bewohnern via Pflanzennetzwerk zu bemühen. »Gut. Jarvis macht jetzt, wie besprochen, einen Probesprung ins Innere des Diskus. Wenn er unbeschadet und unbehelligt hineingelangt, kehrt er zurück und holt uns ab. Zu dritt werden wir versuchen, dem Objekt wenigstens ein paar seiner Geheimnisse zu entlocken.« »Verstanden. Bis später.« Cy beendete das Gespräch. »Jarvis?« »Bin bereit.« »Dann los.« Die Konturen des leger gekleideten Mannes mit den pfiffig nach oben gestellten, streichholzkurzen Haaren verblassten. Sekunden, nachdem sie ganz verschwunden waren, kehrte er jedoch fast an derselben Stelle wieder zurück, füllte die Fußstapfen im Schnee aus und verkündete großspurig: »Das wird leicht. Nicht das kleinste Anzeichen von Leben oder Aktivität an Bord. Wir können uns wahrscheinlich völlig unbehelligt umsehen.« Scobee hielt nicht viel von solchen Prognosen. Aber es war Jarvis. Sinnlos, ihn bekehren zu wollen. Sie griff nach der stahlharten Hand des Freundes, und auf der anderen Seite tat es ihr Algorian gleich. Ein leichter Entzerrungsschmerz begleitete den Wechsel der Umgebung. Stahlblaue Dunkelheit empfing sie.
Das Shuttle landete in einer anderen vermeintlichen Stadt, und als es sich geöffnet hatte, entstiegen ihm ein halbes Dutzend schwerbewaffnete Angks, denen wenig später Jelto folgte. Jelto war unbewaffnet, trug aber wie das zu seiner Sicherheit abgestellte Team einen Raumanzug, der ihn vor den Gefahren einer nuklear verseuchten Umwelt schützen sollte.
In Absprache mit seiner Eskorte näherte er sich jenem Pilzriesen, den die Vorauswahl schon von der RUBIKON aus als vielversprechendes Exemplar ausgesucht hatte. Die Vorstellung, in Wahrheit vor einem lebenden Organismus, einer gigantischen Pflanze zu stehen, versetzte Jelto in einen Zustand fast euphorischer Faszination. Das letzte Mal, dass ihn ein Gewächs vergleichbar beeindruckt hatte, war bei den Vakuumpflanzen der Hohlwelt gewesen, die Erde und Mond umschlossen und an der Innenseite der Oortschale gediehen. Hier auf Rof waren es völlig andere Grundvoraussetzungen, aber die Erregung, die Jelto gepackt hatte, war vergleichbar. Er hatte keine spezielle Taktik. Er ging vor, wie er es bei jeder anderen pflanzlichen Gattung getan hätte, ob sie nun handspannenoder wolkenkratzergroß war. Nach einem kurzen Fußmarsch und Schwerkraftbedingungen, die in etwa dem Erdwert entsprachen, erreichte er den Stiel des Pilzes. Die Angks, die ihm Rückendeckung gegen was auch immer gaben, blieben ein paar Schritte hinter ihm zurück. Drei von sechs hatten ihre Strahlgewehre in Anschlag gebracht und suchten die Umgebung durch ihre Visiere auf Anzeichen von Gefahr ab. Die anderen drei sondierten mithilfe von Geräten, die sie mitgebracht hatten; ihre Gewehre hingen an Riemen über den Schultern. Jelto trat vor, bis er nur noch die Hände hätte ausstrecken müssen, um die Außenwand des Stiels zu berühren. Statt aber dies zu tun, schloss er die Augen und … ließ seine Aura aufflammen. Das Licht durchdrang den Anzugstoff mühelos, und ebenso mühelos auch die von Geschwüren überwucherte Oberfläche des Pilzes. Das Licht, das Jeltos PSI-Gabe entfachte, war der Katalysator. Der Rest geschah fast wie von selbst. Der Wiederkeimer gab die Rolle des stummen Beobachters auf. Genau vor Jelto bildete sich ein lamellenartiger Vorhang, aus dem etwas wie Atem hervorströmte, über den Pflanzenhüter hinwegstrich. Die Eskorte erstarrte. Dann verfiel sie in Hektik. »Aufpassen! Jelto, auf-«
Jelto ignorierte die Rufe. Narren, dachte er. Stört mich jetzt nicht. Seine Augen waren immer noch geschlossen. Er »sah« und »hörte« mit anderen Sinnen. Immer tiefer sank das Licht in den Pilz ein. Die Bewaffneten wurden von Sekunde zu Sekunde nervöser. Falls die erste Aktion tatsächlich ein Ausatmen des Riesengewächses gewesen war, so folgte wenig später das Atemholen. Jelto wurde auf den Pilz zugesogen … … und verschwand mit einem unterdrückten Aufschrei im Innern des Giganten. Hinter ihm schlossen sich die Lamellen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nach einer Schrecksekunde brachten auch die letzten Angks ihre Blastergewehre in Anschlag. Allein der Besonnenheit des Teamleiters war es zu verdanken, dass kein sonnenheißer Plasmastrahl die Abstrahlpole verließ. »Waffen runter! Wenn wir schießen, gefährden wir den Hüter!« Widerwillig senkten sich die Läufe. »RUBIKON? Bitte kommen! RUBIKON …« »Wir hören.« »Wir haben ein Problem …«
Die für die frühe kalserianische Bauweise typische Pyramide wirkte von außen riesig, aber als sich Jiim von Yael hineinführen ließ, war sie drinnen genauso eingerichtet und ausgeschmückt wie ihr Baumhaus am Schrund und sah aus, als bestünde sie nur aus diesem einzigen Raum. »Wann hast du das gemacht?«, fragte Jiim, als er sich in seinem Lieblingsgeschirr niederließ, dessen Halterung von der Decke baumelte. »Erst kürzlich. Ich wollte einen Ort, an den ich gehen kann, wenn wir uns mal wieder …« Er räusperte sich. »Streiten?«, war Jiim ihm behilflich. Sein Ton war warm und herzlich. »Ja«, bestätigte Yael, »streiten, Orham. Das kommt ja hin und wie-
der vor …« »Viel zu oft, wenn du mich fragst.« Yael sah ihn merkwürdig an. Dann ließ er sich in dem anderen Geschirr nieder und sagte: »Der Flug hat gut getan. Dir auch?« »Sehr. Wir sollten das viel öfter tun. Ich meine, wenn wir mal nicht streiten …« Jiim keckerte. »Du bist ganz anders, wenn du nicht meinst, mich ständig wegen irgendetwas belehren zu müssen.« »Gut ›anders‹ oder schlecht ›anders‹?« »Gut natürlich.« »Ich werd versuchen, es mir zu merken.« »Schaffst du ja doch nicht.« »Du hast recht.« »Im Großen und Ganzen bist du ja schon in Ordnung.« »Oh. Danke. Du auch.« Yael grinste. Doch dann wurde er ernst. Als ihm dies bewusst zu werden schien, lenkte er sich ab, indem er noch einmal auf sein »Rückzugsgebiet« hier zu sprechen kam. »Es war einfach«, sagte er. »Wie immer half mir Sesha dabei – wie hätte ich es auch sonst so perfekt hinbekommen sollen? Die KI erfüllte mir meinen Wunsch, unser Zuhause am Schrund als Mastervorlage zu betrachten und davon hier eine Kopie einzurichten. Außen Pyramide, innen …« Jiim unterbrach ihn. »Verstehe. War jedenfalls eine gute Idee. Hätte ich eigentlich auch drauf kommen können, denn …« »Ja?« »Mir fehlt auch manchmal so ein Nest, in das ich abhauen kann, wenn mir alles zu stressig wird. Mit dir – oder auch sonst.« »Du meinst wie heute. Was ist denn genau passiert?« Jiim erzählte ihm von seiner enttäuschten Hoffnung, endlich einmal wieder einem Außenteam zugewiesen zu werden. Trotz seiner jungen Jahre verstand Yael seinen Elter auf Anhieb. »Sprich mit John«, riet er. »Nein, das kann ich nicht.«
»Warum? Er ist doch unser Freund. Mit ihm kann man reden. Das wissen du und ich.« »Du hattest wegen Charly mit ihm zu tun – ja, ich erinnere mich. Erst kürzlich. Als er verschwand. Aber er ist wieder da – niemand weiß, wie du das geschafft hast …« Jiim verstummte. »Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Yael druckste herum. »Nein, nein.« »Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. In dem Moment, als ich Charly erwähnte … Ist er etwa wieder verschwunden?« Yael zuckte zusammen, und sein Gesicht schien alle Farbe zu verlieren. Erst nach Sekunden begriff Jiim, dass sein Spross nicht wegen seiner Frage erschrocken war, sondern an ihm vorbeistarrte auf etwas … jemanden … Er drehte den Kopf und sah Charly, der mittlerweile wie ein waschechter Narge aussah. Nach und nach hatte er sich vom Menschen zu einem solchen umverwandelt. Die Erklärung dafür mochte sein, dass Yael von klein auf fast nur von flügellosen Menschen umgeben gewesen war und deshalb seine Fantasie nach deren Vorbild ausgestattet hatte. Aber das war weder für Jiim noch für Yael eine Neuigkeit und erklärte keinesfalls den Schrecken, der sich jetzt bei Charlys Anblick auf Yaels Zügen widerspiegelte. Jiim löste sich aus seinem Geschirr und trat neben Yael, der weiter in seiner Vorrichtung schaukelte. »Charly.« »Jiim.« Täuschte er sich, oder klang die Stimme des »imaginären Freundes« seines Sprösslings rauer, hohler, als er sie in Erinnerung hatte? »Lange nicht gesehen … Aber ich glaube, du störst gerade. Wir hatten …« Er lächelte Yael zu. »… ein Elter-Junges-Gespräch. Das möchten wir gern fortsetzen. Ihr seht euch sicher später …« Charly schwieg. Er stand nur da und starrte, machte aber keinerlei Anstalten, der Aufforderung zu folgen, wieder zu verschwinden. »Ich sagte –« »Schon gut, Orham. Lass ihn. Ich … ich wollte ohnehin bald mit
dir darüber sprechen.« »Worüber?« »Über ihn.« »Was ist mit ihm?« »Viel. Zu viel.« »Was heißt das?« »Ich glaube, dass er nicht mehr der ist, der er war, bevor die Nonzone ihn verschluckte. Er kam zurück, ja, das dachte ich zuerst auch und freute mich unglaublich. Doch dann … verriet er mir etwas über die Natur der Nonzone, das offenbar nicht einmal die Bractonen wissen. Und nicht nur das: Er verhält sich auch ganz anders als früher. Er war immer lustig und brachte mich zum Lachen. Jetzt …« »Ja?« »… lehrt er mich oft das Fürchten.« Jiim wusste nicht genau, was er darauf erwidern sollte. Aber als das Schweigen zu belastend wurde, schlug er vor: »Ich werde mit John sprechen … ja, auch über meine Sache, aber in erster Linie deinet- und … seinetwegen.« Er nickte zu Charly hin. »Wenn du Angst vor ihm hast, findet sich ein Weg, ihn …« »Ich will ihn nicht los werden!« »Nein?« Yael verneinte glaubhaft. »Was dann? Du fürchtest ihn, hast du gesagt. Er habe sich verändert, hast du gesagt. Und du kennst durch ihn ein Geheimnis der Nonzone, das dir offenbar auch einen Schrecken einjagt … jedenfalls hast du eben gezittert, als du davon sprachst.« »Trotzdem darf er nicht weggeschickt werden.« »Wer sagt das?« »Er sagt das.« Yaels Blick flackerte, haftete aber unverändert an Charly. Zum ersten Mal schauderte auch Jiim. »Und dieses Geheimnis der Nonzone … darf ich es auch erfahren?«, fragte er. »Vielleicht kann ich dann besser beurteilen –« »Die Ganf«, stieß Yael so leidenschaftlich hervor, als könne er es nicht länger ertragen, sein Wissen zurückhalten zu müssen. »Charly
sagt: Dort leben die Ganf, die Kalser vor langer, langer Zeit verließen. Und nicht ich habe es geschafft, ihn zurück zu mir zu holen, Sie … haben ihn geschickt.« »Geschickt«, echote Jiim wie betäubt. »Ja. Er soll hier irgendetwas für sie tun … oder vorbereiten … Ich habe solche Angst, dass es etwas ist, das uns allen schaden könnte – aber Charly sagt, wenn wir es dem Commander verraten, wird genau das eintreten. Dann müsse er uns bestrafen.« »Damit«, keuchte Jiim, »kommt er nicht durch. Er hat eines vergessen: Wir werden hier wie überall an Bord gehört. Sesha hat alles mitgehört, und sie wird John unverzüglich darüber in Kenntnis setzen, denn dies ist eine Bedrohung der Schiffssicherheit, und sie wird nicht zulassen, dass –« Yael schüttelte bitter den Kopf. »Sesha hört uns nicht. Charly verhindert es – frag mich nicht, wie.« Jiim trat dem vermeintlichen Nargen einen Schritt entgegen, ohne dass Charly die geringste Reaktion zeigte. »Sesha? Sesha!« Aber die KI schwieg. »Sie hört dich nicht, warum glaubst du deinem Filius nicht?« Charlys Stimme dröhnte so laut und bedrohlich in Jiims Gehörgängen, dass er meinte, sie müsse überall auf der RUBIKON zu hören sein. Aber offenbar hatte er Charly unterschätzt. Er hörte auf zu rufen und machte stattdessen einen Schritt auf Charly zu. »Wer bist du? Sag es mir. Sag mir, wer du bist und ob du wirklich den Ganf begegnet bist … Ob du einen Beweis für deine Behauptung hast.« Zu seiner völligen Verblüffung – und Bestürzung – ging Charly darauf ein … und erbrachte ihn. Den Beweis. Der Jiim und Yael fast um den Verstand brachte, so ungeheuer … groß war er.
Sie hingen in der Luft und wären gestürzt. Aber Jarvis hatte sein AGrav-Feld aktiviert und brachte sie sicher zu Boden. »Wir haben Glück, dass an Bord offenbar eines immer noch funktioniert: die schiffseigene Schwerkraft«, sagte er. »Ihr Ausfall würde uns die Durchsuchung erschweren. So aber …« Sie standen auf einem Boden, umgeben von Dunkelheit, die nicht einmal Scobees Infrarotsichtweise, auf die sie umschaltete, aufzulösen vermochte. Erst als Jarvis Scheinwerfer an seinem Körper aktivierte, hellten die Bahnen die Umgebung weitflächig auf. »Sehe ich das richtig«, fragte Algorian, »wir stehen im NeunzigGrad-Winkel auf dem senkrechten Boden des Diskus, aber dessen eigene Schwerkraft liegt bei etwa einem Gravo und suggeriert uns, senkrecht zu stehen?« »Ich weiß nicht, ob das die perfekte Beschreibung ist, aber ich habe immerhin verstanden, was du sagen willst«, lästerte Jarvis. »Du auch, Scobee?« Sie nickte. »Ich komme mir vor wie in einer stählernen Kathedrale. Wie weit ist es von Decke zu Boden? Wie groß ist dieser Raum insgesamt?« »Die Länge und Breite betragen jeweils zweihundert Meter, die Höhe liegt bei gut fünfzig«, antwortete Jarvis prompt, der auf seine Technosinne zurückgriff. »Aber das hier ist nur ein Raum, ein Segment des Ganzen. Bei einer maximalen Dicke von fast vier Kilometern, kannst du dir die Anzahl möglicher Decks leicht ausrechnen. Und wie viele Fußballfelder gehen wohl noch in einen Diskus, selbst wenn innen ein bedeutendes Stück offen ist, von vierzehn Kilometern Durchmesser auf nur eine Ebene?« »Das hier ist nie und nimmer auf dem Mist der ›Pilze‹ gewachsen! Es entspricht einer Leistung, zu der diese Wesen niemals imstande gewesen wären«, sagte Scobee. »Wie auch? Mit welchen Extremitäten hätten sie das überhaupt bauen sollen? Nein, sie sind nicht die Urheber. Sonst hätten wir über den Planeten verteilt noch andere Spuren entdeckt, die aus vergleichbaren Relikten bestünden. Es gibt nur eine logische Erklärung: Das hier gehört oder gehörte den Aggressoren, mit denen die intelligenten Pflanzen dieser Welt es vor
geschätzten dreihundertfünfzig Jahren zu tun bekamen!« »Aber wo sind sie geblieben? Die Aggressoren, meine ich«, sagte Jarvis. »Und warum ist es so verdammt leer hier?« Seine Scheinwerferbahnen schwenkten mal hierhin, mal dorthin, ohne auf mehr zu treffen als nackte Wände, nackte Decke oder nackten Boden. »Wo sie geblieben sind? Wer weiß«, überlegte Scobee laut. »Aber wenn es so viele Räume gibt, wie du gerade überschlägig aufgezählt hast, kann es von ihnen noch mächtig viele geben. Und genau darauf sollten wir uns einstellen. – Algorian?« »Ja?« Der Aorii wirkte keine Spur ängstlich, im Gegenteil. Der Einsatz schien ihm gut zu tun. Vielleicht brauchte er die Verantwortung und den Nervenkitzel, um sich gegen die Gedanken behaupten zu können, die sich bei ihm allzu oft um die Vergangenheit drehten. »Kannst du etwas espern? Von Jarvis und mir abgesehen.« Der Aorii konzentrierte sich sichtbar, obwohl Scobee davon ausging, dass er sich sofort nach ihrer Wiederverstofflichung mit seinen Parasinnen orientiert hatte. Algorian war kein Anfänger, er wusste, worauf es ankam. Ein seltsamer Laut entrang sich seiner Brust. »Zuerst«, sagte er, »wollte ich sagen: ›Nein, hier ist nichts. Überhaupt nichts, was sich mit meiner Gabe feststellen lässt.‹ Aber das wäre nicht richtig. Nicht ganz.« »Was heißt das?«, fragte Scobee angespannt. Dank der Scheinwerfer, die Jarvis aktiviert hatte, fiel es ihren Augen inzwischen leicht, selbst in abseits gelegene Winkel, die sich dem direkten Anleuchten entzogen, blicken zu können. Und hätte sie dies nicht aus eigenem Vermögen geschafft, wäre ihr das Visier ihres Schutzhelms zu Hilfe gekommen. Erstaunlich war und blieb jedoch, dass vor dem Scheinwerfereinsatz nicht das geringste verwertbare Restlicht vorhanden gewesen war. Blind wie ein Maulwurf hatte sie in die sonderbare Finsternis gestarrt. »Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich könnte es ausdrücken. Da … ist etwas. Aber es schwebt über allem, scheint von überallher zugleich zu kommen, ohne jedoch genug Kraft zu besitzen, sich mir verständlich zu machen.«
»Gedanken? Gedanken fremder Wesen?« »Nicht einmal das vermag ich zu sagen. Gedanken setzen Denken voraus. Das hier ist viel unausgegorener. Geist. Aber schwach. Fast wie bei einem Ungeborenen. Einem Ungeborenen, das sich im allerersten Stadium seiner Entwicklung befindet …« Er seufzte schwer, machte eine verzweifelte Bewegung mit dem Kopf. »Aber ich rede Unsinn. Vielleicht bin ich nur hypersensibilisiert und höre das Hintergrundrauschen meiner eigenen Bewusstseinswelt …« »Gibt es das?« Jarvis wirkte verblüfft. Algorian schwieg. »Wie verfahren wir weiter?«, fragte Jarvis daraufhin. Er hielt sie immer noch an den Händen. Oder sie ihn. Eine Frage der Betrachtungsweise. Scobee löste ihre Finger demonstrativ aus seiner Hand. »Planlos durch dieses Objekt springen, birgt zu viele Gefahren. Wir könnten sonst wo landen, wo uns auch ein sofortiger Notsprung nicht mehr retten würde, weil er zu spät käme. Es gibt aktive Energieerzeuger, darauf deutet die künstliche Schwerkraft hin. Und in einem solchen zu rematerialisieren empfiehlt sich selbst bei eisiger Umgebungskälte nicht … Apropos: Meine Anzeige geht von einer Temperatur von knapp drei Grad Celsius hier drinnen aus. Die Luftzusammensetzung entspricht dabei nicht …« »… der Atmosphärenzusammensetzung des Planeten«, vollendet Jarvis für sie. »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.« Scobee nickte ihm zu. »Das nächste Mal, wenn dir etwas ›auffällt‹, darfst du es ruhig sagen, bevor es von mir oder Algorian bestätigt wird.« »Wird gemacht, Captain!« Jarvis salutierte grinsend. Algorian rollte mit den Augen. Sie setzten den Weg fort auf einen Bereich der gegenüberliegenden Wand zu, der wie ein Türschott aussah. Sogar den dazugehörigen manuellen Öffnungsmechanismus fanden sie. Scobee nickte Jarvis zu – und der legte den Hebel um. Mit einem kaum hörbaren Geräusch rollte das Schott zur Seite. Da-
hinter wartete Taghelle mit einem Stich ins Bläuliche. Und das Erste, was Jarvis meldete, als es ihm auffiel, war: »Achtung, Temperaturunterschied! Minus zweiundfünfzig Grad herrschen hier … das ist fast Außenwert. Außerdem entspricht die Luftzusammensetzung hier absolut der des Planeten …« »Kein Wunder«, sagte Algorian und zeigte in die Richtung, in die er blickte … und in die ein Teil von Jarvis ebenfalls längst geschaut hatte. Aber vielleicht hatte er dem Aorii ein kleines Erfolgserlebnis gönnen wollen. In mehr als hundert Metern Entfernung klaffte ein gewaltiges Leck in der Wand. Es maß mindestens dreißig mal dreißig Meter und war definitiv die Ursache für die hohe Umgebungskälte und die Luft, die anders zusammengemixt war als noch im Nebenraum, der sich jetzt aber ebenfalls in seinen Werten veränderte. »Was hier zu viel gelüftet wurde, hat man nebenan offenbar die letzten Jahrhunderte vergessen«, seufzte Jarvis. »Aber leer ist es hier genauso. Na ja, bis auf die Eis- und Schneeverwehungen jedenfalls, die dem Ganzen einen etwas interessanteren Anstrich verleihen.«
Das Aurenlicht schenkte Vertrauen. Das Licht linderte Qual. Heilen konnte es nicht. ›Wer bist du?‹ ›Wer seid ihr?‹ Ihre beider Sprache war universal. Und so offenbarten sie sich ihm. Dem entsetzt Staunenden …
»Ich wäre dann soweit.« Cloud musterte Sooks mit unverhohlenem Respekt. »Sicher?« »Fragen Sie die KI, Sir.« »Ich heiße John.« »Fragen Sie die KI, John. Sir.«
Cloud lächelte. »Sesha?« »Ich verwende dieselben Algorithmen wie bei der Dechiffrierung, um diesmal zu chiffrieren. Für die Funktionstüchtigkeit der Sendeeinheit kann ich mich nicht verbürgen. Die dabei zum Einsatz kommende Technik beziehungsweise der Verbund aus bractonischer Hightech und den pflanzeneigenen Energiefeldern hat ihre Feuertaufe hinsichtlich ihrer Empfangsfähigkeit bewiesen. Wie es mit dem Absetzen von Nachrichten aussieht, muss die Praxis zeigen. Fakt ist, dass Sooks eine Wechselschaltung eingebaut und aktiviert hat, die fortan nach Belieben senden und empfangen soll …« »Sie hören es, Mister Sooks, Sesha behält sich ein gesundes Maß an Skepsis vor, ist Ihrer Arbeit aber grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber eingestellt.« »Nur Sooks, bitte, John, Sir. Es ist weder Vor- noch Nachname, sondern alles, was ich habe.« Er lächelte scheu. »Einverstanden … Sooks. Dann erkläre ich jetzt, was die Anlage …« Er schaute in den Garten, der von einem Gespinst aus Drähten überspannt war. »… an den Planeten Rof übertragen soll. – Sesha, du übersetzt.« Die KI bestätigte. Und Cloud begann: »An die letzten noch lebenden Wiederkeimer …« Sesha unterbrach ihn. »Ich bekomme gerade Meldung, dass es zu einem Zwischenfall auf Rof gekommen ist.« Cloud schaltete innerlich sofort auf die neuen Gegebenheiten um. »Genauer!«, verlangte er, während Sooks neben ihm zusammengezuckt war und mit offenem Mund auf nähere Informationen wartete. »Die Gruppe Jelto«, sagte die KI. »Sie meldet einen Verlust.« »Wen?« »Jelto.«
Es brach aus Charly hervor – anders war es nicht zu beschreiben. Und Jiim … erstarrte vor Ehrfurcht.
Ein Ganf, geisterte es durch sein Hirn. Aber … Er packte Yael am Arm, grober als beabsichtigt, und schüttelte ihn. »Das … machst du, oder? Gib es zu – du willst mich –« Er verstummte, weil er das Entsetzen auf Yaels Zügen sah. Nein, das war nichts, was ein Junges seinem Elter antat, um ihn zu foppen. Und es war offenbar viel mehr als alles, womit Yael gerechnet hatte. »Entschuldige …« Jiim ließ Yael los. Aber sofort hielt nun der sich an ihm fest. Mehr und mehr Masse füllte das »Baumhaus« innerhalb der Pyramide. Das riesige, an ein Schneckenhaus erinnernde Gehäuse auf dem Rücken des eigentlichen Ganf hatte nicht genug Platz. Es würde zersplittern und möglicherweise seinen Träger töten … Auch diese Vorstellung erschütterte Jiim. Gemeinsam mit Yael wich er zum Ausgang zurück. Eine dröhnende und dennoch sanfte Stimme hielt ihn auf. »Bleibt!« Sie hielten inne, ohne es eigentlich zu wollen. Aber der Ruf war keine Bitte gewesen, sondern ein Befehl. Einer, dem zu widerstehen sie nicht in der Lage waren. Jiim hatte das Gefühl, von seinem Nabiss zerquetscht zu werden. Es zog sich zusammen, legte sich wie ein stählernes, viel zu enges Band um seinen Körper. »Dies ist der erste Kontakt – weitere werden folgen. Unsere Ruhe wurde für immer gestört. Nun können wir nicht länger schweigen. Ein neues Zeitalter bricht an. Seid ihr bereit?« Jiims Kehle war knochentrocken. Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er wusste nicht einmal, ob die Frage an ihn gerichtet oder ernst gemeint war. Seine letzte Begegnung mit einem Ganf – seine einzige überhaupt jemals zuvor – hatte unter völlig anderen Vorzeichen stattgefunden. Jener übrig gebliebene Bewohner der Toten Stadt auf Kalser hatte ihm zum Abschied sogar ein Geschenk gemacht – die goldene Rüstung, die Jiim seither trug. Und die ich nicht mehr ablegen kann – tolles Geschenk! Er verfluchte seine Gedanken, denn er fürchtete, dass sie dem
Ganf nicht verborgen blieben. »Ich … wir …«, stammelte er. Das Wesen schien noch weiter aus Charly herauszutreten, von dem kaum noch etwas zu sehen war, doch ebenso plötzlich, wie der Prozess begonnen hatte, kehrte er sich auch wieder um. Der Ganf zog sich in den Körper des Pseudonargen zurück, und schließlich stand nur noch er da. Charly. Aber jener wortkarge, Düsternis um sich verbreitende Charly, den Yael in dieser Form kaum noch Freund nennen würde. »Sprecht mit niemandem darüber. Mit niemandem«, sagte das Ding, das weder Narge noch sonst ein Geschöpf aus Fleisch und Blut war. »Es sei denn, ihr wollt alle dafür büßen lassen. Die Zeit ist noch nicht reif. Aber sie wird kommen. SIE werden kommen …« Damit verschwand Charly.
Cloud hatte die Experimentalanordnung in Sooks alleinige Obhut übergeben. Sesha wusste, welche Botschaft sie permanent zum Planeten hin abstrahlen sollte. Dazu wurde seine Anwesenheit nicht benötigt. Den Spruch via »Pflanzenradio« hatte er modifiziert, nachdem ihm Jeltos Verschwinden bekannt geworden war. Unverhohlen schwang nun bei allem Verständnis für Siechtum und Schicksal der Planetenbewohner auch eine Drohung darin mit: »Gebt unseren Artgenossen frei, sonst vollenden wir, was die Anderen nicht schafften.« Die Wiederkeimer würden wissen, wen er meinte. Aber noch auf dem Weg zurück in die Zentrale fragte er sich, ob er ihnen nicht auf den Leim gegangen war. Ob sie mit Jeltos Entführung (oder Ermordung) nicht genau diese Reaktion hatten provozieren wollen: Wahrscheinlich war das, was sie führten, längst kein Leben mehr. Und möglicherweise schafften sie es aus eigenem Antrieb nur nicht, ihr Siechtum durch kollektiven Selbstmord zu beenden. Aber der Gedanke, dass sie ihre Vernichtung provozieren wollten, war auch nichts weiter als neuerliche Spekulation. Dafür gab es keinen stichhaltigen Beweis.
Die Sorge um Jelto war fast unerträglich geworden, als Cloud die Zentrale stürmte … und sich in eben diesem Moment Scobee aus der Südpolregion von Rof meldete. Cloud hörte, wie Cy ihr sagte: »Moment, da kommt John. Ich übergebe an ihn …« Raschelnd erklärte er Cloud, was der schon wusste: »Scobee. Sie wollte gerade einen Lagebericht geben.« »Später«, kanzelte Cloud ihn und sie ab. »Erst muss ich mich um Jelto kümmern.« »Jelto?« Besorgnis auch in Scobees Stimme aus dem Funk. »Später«, wiederholte Cloud. »Falls das, was du mir sagen willst, warten kann – vertagen wir es. Ich melde mich bei dir, falls du nicht auch noch in Probleme gerätst. Okay?« »Okay.« Cloud hatte sich in der Zwischenzeit in seinen Sitz sinken lassen. »Sesha?« »Noch keine Reaktion der Städte«, erriet sie offenbar seine Frage. Mit Städten meinte sie die Pilzkolonien. »Ihr sendet permanent?« »Permanent, aber auch die Empfangsphase greift sofort, wenn eine Reaktion erfolgt.« »Aber es erfolgt keine …« »Exakt.« Manchmal wünschte er sich etwas mehr Sensibilität von Seiten der KI. Ihr kühler Gehorsam strapazierte sein angegriffenes Nervenkostüm noch mehr. Nach zehn Minuten, in denen Jeltos Schicksal ungewisser denn je war, entschied Cloud mit einem Ton, der alle, die ihn hörten und wussten, wie ihr Commander normalerweise klang, zusammenschrecken ließ: »In Ordnung, sie wollen es nicht anders. Ich gehe davon aus, dass die noch einigermaßen intakten Pilze untereinander in irgendeiner Weise kommunizieren können oder miteinander verbunden sind. Anders lässt sich der gemeinsame Notruf, den wir empfangen nicht er-« Sesha sagte: »Der Notruf endete vor vier Sekunden.« Cloud fasste sich schnell. »Du meinst, er endete gerade, als ich ihn erwähnte?«
»Korrekt.« »Komischer Zufall.« »Korrekt.« Cloud fluchte innerlich, nach außen blieb er die personifizierte Selbstbeherrschung. »Gut. Das ist wenigstens eine Reaktion. Geben wir ihnen also noch ein wenig mehr Zeit … Scobee, wenn die Lage es erlaubt, kannst du jetzt deinen Lagebericht abgeben.« Scobee schwieg. Cloud stellten sich die Nackenhärchen auf. »Nicht auch das noch«, stöhnte er. Erst ihr Lachen machte ihm klar, dass sie sich lediglich für seine Abfuhr von vorhin »gerächt« hatte. »Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt, alter Mann …?« »Dafür gibt's nach deiner Rückkehr Dauerarrest!« »Keine Chance. Dann meutere ich. Willst du jetzt hören, was wir entdeckt haben – oder wartest du lieber, bis wir zurück sind und wir alles bei einer Tasse Tee bereden können?« »Mir ist nicht nach Tee. Du hast ja mitgekriegt, dass Jelto vermisst wird.« »Du hast recht. Also: Es scheint tatsächlich ein Raumschiff zu sein. Aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn wir durch sind.« »Du willst es komplett inspizieren?« »Deshalb kamen wir doch.« »Himmel, da stand Jelto auch noch nicht auf der Missed-in-actionListe!« »Falls es dich beruhigt: Der Diskus hat sicher nichts mit den Pilzen zu tun – herkunftstechnisch, meine ich.« Er nickte. Davon war er ausgegangen, wenngleich die Bestätigung noch ausgestanden hatte. »Okay«, entschied er. »Macht ihr am Südpol weiter, wir tun es hier. Falls die Pflanzenintelligenz auf Rof nicht bald spürbar einlenkt, werde ich das angedrohte Exempel statuieren.«
»Wir müssen es Guma Tschonk sagen. Wir müssen. Wenn wir
schweigen, gefährden wir das ganze Schiff …« »Du hast ihn aber doch gehört. Ich nehme seine Drohung ernst – du nicht?« Wie gern hätte Jiim ›nein‹ geantwortet. Aber es wäre gelogen gewesen. Charly – und mehr noch der Ganf, der aus ihm hervorgetreten war – hatten sehr glaubwürdig geklungen. Sehr von dem überzeugt, was sie sagten. Aber genau das war es ja: Jiim hätte liebend gern an ein Hirngespinst geglaubt. Stattdessen war er sicher, dass diese Begegnung stattgefunden hatte – hier in Yaels Kopie des Baumhauses. »Ich muss darüber nachdenken, vielleicht darüber schlafen … Das Risiko ist enorm. Wenn wir schweigen, gefährden wir das Schiff, die Crew. Aber wenn wir nicht schweigen …« »… gefährden wir sie vielleicht noch viel mehr«, sprach Yael aus, was er selbst zögerte, in Worte zu fassen. Etwas knirschte. »Was war das?«, fragte Yael ängstlich. Seine Augen durchsuchten den Raum, als fürchte er, er könne noch im Nachhinein einstürzen. Etwas knirschte erneut. Erst jetzt merkte Jiim, dass das Geräusch von ihm kam. Von … seinem Nabiss, dem goldenen, mit ihm verwachsenen Panzer, der – »Es … es löst sich!«, rief Yael, der dergleichen noch nie zuvor beobachtet hatte – und auch für Jiim lag es lange Zeit zurück, dass er sich der Rüstung hatte vollständig entledigen können. Ein Ziehen durchlief seinen Körper. Es war, als würden feine Drähte aus unzähligen Stellen seiner Haut herausgezogen – oder als rupfe man ihn bei lebendigem Leib. Mit zwiespältigen Gefühlen sah er an sich herab, sah zu, wie das Nabiss immer mehr aus ihm heraustrat und sich von ihm löste. Kurz darauf polterte es zu Boden. Es war fast noch verwirrender als ihre Begegnung mit dem Ganf gerade. Und irgendwie … schmerzlich über den realen, körperlichen Schmerz hinaus. »Orham!«
Yael wirkte erschüttert. Er wusste, wie eng und unlösbar sein Elter über all die Zeit mit dem Nabiss verbunden gewesen war. Und nun war es einfach von ihm abgefallen … »Ob der Ganf damit zu tun hat? Sein Erscheinen?« Yael sah ihn groß an, wartete auf eine Antwort. Jiim hob die Rüstung auf. Sie widersetzte sich ihm nicht. Langsam, ohne auf Yaels fragende Blicke zu reagieren, streifte er sie in der traditionellen Abfolge über, die er noch auf Kalser gelernt hatte – eine kleine Ewigkeit lag das zurück. Schließlich umgab sie ihn wieder und … schmiegte sich in ihn hinein. Ganz wie gewohnt. Er erschrak. Und bereute, sie wieder angelegt zu haben. Was für eine Chance hatte er gerade vertan? Was für ein Narr war er – Nein. Er hielt inne. Er spürte die Veränderung, die sonst niemand bemerken konnte. »Orham …« Fast flehend trat Yael auf ihn zu. »Sprich mit mir. Was ist?« Zitternd legte er die Hand auf die Stelle, die er früher oft berührt hatte, um sich zum Schlafen der Rüstung zu entledigen. Sie reagierte sofort. Wieder der Schmerz, als würde etwas aus Jiim herausgezogen werden … kürzer und erträglicher als beim letzten Mal … und schon hielt er die einzelnen Bestandteile in der Hand, konnte damit tun, was ihm beliebte, sie wieder miteinander verbinden und schließen oder … irgendwo ablegen. Danke, dachte er. Und war bereit zu glauben, dass ihre Begegnung mit dem, was Charly aus der Nonzone mitgebracht hatte, von ihnen bislang völlig fehlinterpretiert worden war. Der Ganf hatte nicht gedroht. Er hatte etwas versprochen. Und das war ein gewaltiger Unterschied, eine Aussage, mit der er leben konnte. Die Wiederkehr der Altehrwürdigen seines Volkes … eines Tages … irgendwann … Ja, damit konnte er gut leben.
Und auch Yael würde lernen, dass man Ganf nicht fürchtete. Er jedenfalls war auf dem besten Weg, dies zu glauben und zu akzeptieren …
6. Jarvis trug sie mit seinen Antigravkräften durch ein kreisrundes Loch in der Decke von zwanzig Metern Durchmesser auf die nächste Ebene. Ob das Loch einen Lift markierte, fanden sie nicht heraus. Aber es war das x-te Mal, dass sie auf diese Weise das Deck des entdeckten Raumschiffs wechselten. Und jedes Mal wiederholte sich die Enttäuschung: leer. Dieses gigantische Relikt einer fremden raumfahrenden Spezies war leer. Seine kathedralengroßen Räume waren sämtlich verlassen, ob ausgeräumt oder nie mit Inventar versehen, ließ sich zweifelsfrei nicht mehr feststellen. Allerdings gab es keine der für den Fall einer Demontage von Gerätschaften zu erwartenden Überbleibsel und Spuren: Verankerungen, umrissartige Verfärbungen … Halt! So ganz stimmt das nicht, dachte Scobee. In einigen Räumen hatten sie eine seltsame Patina gefunden, an Boden und Wänden, nie an der Decke. Feine Verkrustungen. Bemerkenswerterweise ausschließlich in Räumen, die noch hermetisch von der Umwelt des Planeten Rof abgeschottet waren, also keine Lecks aufwiesen. Jarvis hatte mehrere Proben gezogen, aber nur oberflächlich analysieren können. Erst mit den Geräten an Bord der RUBIKON würden sie vielleicht mehr darüber erfahren, als dass es organische Rückstände waren. »Es scheint nicht abgeschossen worden zu sein«, sagte Scobee, »wie ich zuerst vermutete, als ich das enorme Loch in der Außenhülle sah. Die Art der Zerstörung weist auf eine Explosion im Schiff hin. Raketen- oder Strahlenbeschuss hätte andere Auswirkungen.« »Was die Sache aber nur noch mysteriöser macht, oder?«, merkte Jarvis an. »Absolut.« Sie öffneten ein neues Schott, das zur Seite rollte. Dahinter war es weder vollkommen dunkel noch richtig hell. Schwach phosphores-
zierende und lumineszierende Teilchen und Fäden verteilten sich über den Raum. »Was ist das?« Scobee trat vorsichtig ein. Jarvis und Algorian folgten, wobei der Aorii die größte Scheu zeigte. Langsam bewegten sie sich voran. Unter ihren Stiefelsohlen knirschte es. Etwas streifte am Visier von Scobees Helm vorbei, blieb haften und riss ab, sodass es wie ein Sprung im Glas über das transparente Material ging. Scobee blieb stehen. »Sieht aus wie … Spinnweben.« »Oder die Reste von Gespinsten. Kokons«, warf Jarvis ein. »Proben nehmen?« »Natürlich.« Während Jarvis damit begann, fiel Scobee Algorians Starre auf. Der Aorii beteiligte sich weder an ihren Gesprächen noch hatte er sich weiter in den Raum bewegt. Er stand einfach regungslos da. Seine Augen waren geschlossen. »Algorian?« Er hob die Lider. »Ja?« »Ist etwas mit dir?« »Mit mir?« Er machte eine Geste der Verneinung. »Höchstens mit …« Er zeigte um sich. »… dem hier.« »Was ist damit?« »Es ist jetzt stärker geworden. Dieses … Hintergrundrauschen, das ich anfangs erwähnte.« »Stärker geworden, seit wir diesen Raum betraten?« »Ja.« »Dann ist die Quelle hier irgendwo?« »Möglicherweise. Ich kann sie immer noch nicht zweifelsfrei orten. Allerdings macht es den Eindruck, als wäre alles hier die Quelle. Diese … Rückstände … Keine Ahnung, was es ist, und es denkt auch nicht selbständig, aber ihm haftet irgendetwas an, was mit Denken zu tun hat. Oder hatte. Die schwach leuchtenden Fäden und Staubteilchen … sie scheinen Geist in sich aufgesogen, gespeichert zu haben … Aber unausgegorenen, kaum entwickelten Geist. Nichts, was auf hohe Intelligenz schließen ließe …« Algorian machte eine ver-
zweifelte Geste. »Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären soll. Etwas Derartiges habe ich noch nie geespert – allenfalls bei sehr niederen Lebensformen, die eine Vorstufe von Geist besaßen …« Er verstummte. »Ein fast leeres Raumschiff dieser Größe. Absurd«, murmelte Scobee. »Bislang sind alle Versuche, eine Art Schaltzentrale zu erreichen, gescheitert.« »Abbruch?«, fragte Jarvis. »Noch nicht. Setzen wir uns ein Limit von noch einer Stunde. Danach kehren wir zur RUBIKON zurück. – Hoffentlich klärt sich das mit Jelto bald auf – zum Guten.«
»Okay«, sagte Cloud. »Sie wollen es nicht anders. Sesha? Du hast das von mir angewiesene Ziel im Visier?« »Bestätigung.« »Laserkanone bereit?« »Bereit.« Der Laser war eines der konventionelleren Offensivwaffen der RUBIKON – aber auf ein organisches Ziel ausjustiert und abgefeuert, gab es keine Versagerquote. Cloud ließ seine Kommunikation mit der KI synchron über die Versuchsanordnung im hydroponischen Garten nach Rof übertragen. Die dortige Pflanzenintelligenz sollte jederzeit über den Status informiert sein – um selbst im letzten Moment noch die Möglichkeit zu haben, die Vernichtungsorgie aufzuhalten. Doch sie ließ auch diese Chance verstreichen. »Feuer!«, befahl Cloud mit einer Stimme, die schlagartig heiser wurde. Über die Holosäule konnte er verfolgen, wie der mannsdicke Strahl die RUBIKON verließ und etliche hundert Kilometer tiefer, an der Oberfläche des Planeten, mit einer Streuwirkung von gut zwanzig Meter im Durchmesser auf einen der Pilze traf, die noch Leben in sich zu haben schienen. Aber dieses strahlenmutierte Leben endete im selben Augenblick,
da die gleißende Energie auf das pflanzliche Gewebe traf. Die sonnenheiße Bahn brannte nicht einfach nur ein Loch in den Pilzkopf, nein sie sprengte ihn. Der Riese platzte auseinander wie eine überreife Frucht, die von einem Geschoss zerschmettert wurde. Nach allen Seiten stoben die Fragmente, und obwohl der Vorgang von keinem Geräusch, keinem Schrei begleitet wurde – keinem jedenfalls, der den Orbit erreichte –, zerriss es Cloud schier das Herz. Er wusste, was er tat. Er tötete. Er versuchte, die Pflanzenmacht dort unten mit einem Gewaltakt zu beeindrucken, um sie so vielleicht doch noch zur Vernunft zu bringen. Dabei wusste er nicht einmal, ob Jelto überhaupt noch am Leben war. Und noch weniger wusste er, ob die Pilzwesen seine Kommunikationsversuche wirklich verstanden. So, wie er sich jetzt verhielt, hatte er nie sein wollen. Cloud fühlte eine nie gekannte Scham. Einem Notsignal waren sie hierher gefolgt, und jetzt säten sie Tod und Vernichtung unter Geschöpfen, die offenbar ohnehin zum Untergang verdammt waren. Irgendjemand hatte die Horrorstrahlung freigesetzt, die das Gros der einstigen Pflanzenzivilisation offenbar längst umgebracht hatte. Und die Pilzwesen, die noch existierten, waren von Krankheit befallen, hatten schwerste Schädigungen ihrer Gene hinnehmen müssen und würden ebenfalls absterben. Vielleicht würde es noch Folgegenerationen geben, zwei, drei … möglicherweise mehr. Aber sie alle würden das Erbe eines grausamen Überfalls in sich tragen und weitergeben. Und von Saat zu Saat würden die genetischen Defekte schlimmer und dramatischer ausfallen. Und nach und nach würde Rof sein ursprüngliches Gesicht verlieren. In ein paar Jahrhunderten würden Raumfahrer egal welcher Spezies, die vorbeischauten, hier nichts mehr finden, was auf die Wiederkeimer hinwies. Eine Kultur verschwand, so nachhaltig, dass es weder Zeugnisse noch Geschöpfe geben würde, die davon erzählten. »Mit Feuer fortfahren«, sagte Cloud. »Die Position des Pilzes, in dem Jelto steckt, ist bekannt. Ihn weiträumig umgehen. Ansonsten aber großflächig zerstören. Notfalls mähen wir die ganze Kolonie von Pilzwesen nieder, auch die, die längst abgestorben sind, und
lassen nur noch den einen stehen, der –« »Reaktion«, meldete Sesha in diesem Augenblick. Für ein paar Atemzüge wusste Cloud nicht, was die KI damit meinte. Zu sehr stand er unter dem Eindruck der eigenen Tat. Dann aber dämmerte es ihm. »Feuer einstellen«, sagte er. »Vorerst jedenfalls. – Was für eine ›Reaktion‹?« Sesha stellte die eingehende Nachricht durch. Sie bestand zunächst aus einem einzigen Wort, gefolgt von einer Pause. »NNNNEEEEEEEEEEEEEIIIIIIIINNNN!!!« … Und plötzlich: »John … Sesha … hört ihr mich? Ihr müsst sofort das Feuer einstellen! Das ist ein Missverständnis! Ihr kämpft gegen die Falschen. Sie haben mir nichts getan. Ich … es ist unfassbar, was hier geschah … Aber mir geht es gut. Im Gegensatz zu ihnen … Die Wiederkeimer wurden systematisch ausgerottet. Was wir noch fanden, ist weniger als ein Millionstel dessen, was Rof einst überzog … Ich bin es, Jelto! Ich hoffe, ihr hört und versteht mich … Stellt sofort das Feuer ein. Sie sind nicht böse, nicht aggressiv. Aber … dem Irrsinn nahe. Und wer wäre das nicht an ihrer Stelle …«
Das nächste Schott. Der nächste Raum. Noch gewaltiger in seinen Ausmaßen als alle Räume davor – und im Gegensatz zu denen nicht … leer. Ganz und gar nicht, im Gegenteil. Er war voller Maschinenblöcke, Aggregate … »Kannst du damit etwas anfangen?«, wandte sich Scobee nach der ersten Verblüffung an Jarvis. »Die Bauart erinnert an bractonische Technik – nur ein, zwei Level darunter.« »Was soll ich mir denn darunter jetzt wieder vorstellen?« »Du wolltest meine Meinung hören.« »Das hier stammt nicht von Bractonen.« »Behauptete ich ja auch gar nicht. Obwohl wir auch das nicht
wirklich wissen und ausschließen können.« Sie nickte. Er hatte recht, natürlich hatte er das. Sie konnte sich nicht anmaßen, eine wirkliche Kennerin der ERBAUER und ihrer Historie zu sein. Bei allem, was sie je über diese Geschöpfe aus einem übergeordneten Kontinuum erfahren hatten, waren sie auf deren eigene Aussagen angewiesen gewesen. Die Frage war: Konnte man dem rückhaltlos vertrauen? Oder gab es »dunkle Flecken« auf ihrer angeblich so weißen Weste, die sie bislang erfolgreich verheimlicht hatten? Die Diskusform des Schiffes, in dem sie sich befanden, sprach nicht gegen die ERBAUER-Theorie. Niemand konnte garantieren, dass die Bractonen seit Ewigkeiten der von ihnen offenbar preferierten Kugelbauform treu geblieben waren und niemals von ihr abwichen. Menschen waren jedenfalls nicht so gestrickt, auch andere Spezies, die Scobee inzwischen kennengelernt hatte, wichen hier und da von Mustern ab, die man zunächst als »typisch« für sie angesehen hatte. »Was tust du da?«, fragte Algorian, als Scobee sich bückte und ein etuikleines Ding auf den Boden legte. Sie aktivierte die Selbsthaftung, und erstaunlicherweise sprach diese auf die unbekannte Metalllegierung an, aus der der Diskus gefertigt war. »Ich hinterlasse einen Marker.« »Wozu?« »Dass wir diesen … Maschinenraum jederzeit wiederfinden.« »Wozu?«, wiederholte Algorian. »Ich will wissen, was diese Aggregate für eine Funktion haben. Du nicht?« »Doch, aber –« »Wir haben, obwohl Jarvis durchaus simple Scans selbst durchführen kann, mit ›körpereigenen Mitteln‹ sozusagen, nicht die Zeit und das Instrumentarium, um hier auf die Schnelle eine verlässliche Analyse des Bestands durchführen können. Aber dabei will ich es nicht bewenden lassen. Wer weiß, wann sich jemals wieder die Chance bietet, ein Schiff dieser Bauart zu untersuchen …« »Du willst wiederkommen? Wann?«
»Ich sagte nicht, dass ich persönlich wiederkommen will. Aber diejenigen, die wir schicken, müssen unsere Odyssee ja nicht unbedingt noch einmal durchlaufen, bevor sie irgendwann mal hier landen. In einem Raum mit Inhalt.« Sie lächelte hinter ihrem Visier. »So, und jetzt weiter. Wir haben noch ein paar Minuten von der Frist, die wir uns setzten.« »Typisch Scobee«, grinste Jarvis. »Ich bin froh, wenn wir das Schiff wieder verlassen«, gestand Algorian ein. »So schlimm?«, fragte Scobee mitfühlend. »Immer noch dieses … Rauschen in deinem Kopf?« »Es hat nie aufgehört, wird mal stärker, mal schwächer. Hier bei den Maschinen ist es gut erträglich. Aber dort, wo wir diese krustigen Überreste fanden … oder in dem Raum mit den spinnfadenartigen Spuren … war es mehr als beklemmend. Mehr als belastend …« »Das kann ich leider nicht nachempfinden. Du bist der Telepath, Algorian. Wenn du sagst, es ist nicht mehr auszuhalten, müssen wir –« »Nein, nein. Ein paar Minuten ertrage ich schon noch. Trotzdem: Ich werde froh sein, wieder von ›normalen‹ mentalen Geräuschen umgeben zu sein.« »Dann weiter.« Sie durchquerten noch mehrere Räume und gelangten auf noch eine weitere Ebene. In einem Bereich, der die bislang größten Dimensionen aufwies, stießen sie plötzlich und auch mehr als unerwartet auf … einen weiteren Diskus. Er sah fast identisch aus wie der »Große«, nur dass sein Durchmesser gerade mal fünfhundert Meter betrug, seine maximale Dicke nicht ganz hundertfünfzig. Er lag schief da, und im Näherkommen entdeckten sie, dass er – auch wie sein riesiges Ebenbild – mehrere Lecks in der Außenhülle hatte. Auch hier hatten Kräfte von innen nach außen gewirkt. »Ein Hangar. Wir befinden uns in einem Hangar, der Platz für mindestens drei Beiboote dieser Größe bot«, brach Jarvis die Stille. Sie gingen auf die innen offene Scheibe zu. Scobee deponierte einen weiteren Marker und erklärte dann: »So, das war's. Wir keh-
ren zurück.« »Du willst nicht rein?« »Was sollte das bringen?« »Erkenntnisse? Wertvolle Erkenntnisse?«, sagte Jarvis. »Das Ding ist beträchtlich kleiner und somit auch schneller zu inspizieren. Ich denke, die Zentrale, die wir hier im Mutterschiff vergeblich suchten und in der sich sicher wertvolle Daten befinden, die Licht ins Dunkel von Herkunft und Zweck des Schiffes brächten, ist da drin wesentlich leichter zu finden. Und sicher verfügen auch Beiboote über Datenbanken. Es wäre ein erster Schritt. Wir kämen nicht mit völlig leeren Händen auf die RUBIKON zurück.« »Wir kommen nicht mit leeren Händen. Wir haben wertvolle Vorarbeit geleistet. Die Feinarbeit können andere leisten. Und damit meine ich auch die Bergung möglicher Datenschätze. Unser Glück ist, dass der Diskus offenbar keinerlei Abwehrmechanismen hat – jedenfalls keine, die noch auf Eindringlinge ansprechen. Es wird kein Problem sein, wiederzukehren und die Ernte, die wir vorbereitet haben, einzubringen.« Jarvis schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Das gefällt mir nicht. Wer sagt, dass nicht längst im Hintergrund ein Programm läuft, das deinen ganzen schönen Plan zunichte macht?« »Eine Selbstvernichtungssequenz?« »Zum Beispiel.« »Wäre es dir denn lieber, noch hier zu sein, wenn sie greift? Falls es sie gibt und falls wir sie ausgelöst haben. Eben! Mir auch nicht. Algorian?« Der Aorii verneinte energisch. »Aber die, die nach uns kommen, stehen vor demselben Problem!« Jarvis ließ nicht locker. »Ihr Verlust wird zu verschmerzen sein.« »Wie bitte?« Endlich begriff er. »Verstehe. Na, von mir aus. Patschehändchen!« Sie folgten der eigenwilligen Aufforderung. Anhand ihrer Anzuganzeigen überprüfte Scobee noch einmal die Funktionsfähigkeit der beiden aktivierten und deponierten Marker.
»Okay, wir können.« Unhörbar für sie und Algorian forderte Jarvis ein Peilsignal von der RUBIKON an, um über deren exakte Position informiert zu sein. Hinter ihnen blieb das ins Eis von Rof gerammte Diskusschiff wie ein bizarres Mahnmal zurück. Und nicht einmal Scobee wusste, ob ihre ganze schöne Theorie der Praxis standhalten würde – ob die Situation es zuließ, dass sie dem Objekt noch einmal einen ausgiebigen Besuch abstatteten. Schon kurz bevor sie sprangen, waren ihre Gedanken bei Jelto. Von der neuesten Entwicklung, ihn betreffend, wurde sie auf der RUBIKON ebenso überrascht wie kurz zuvor John Cloud und der Rest der Crew …
7. »Jelto?« Cloud sprach über den Pflanzenverbund mit Rof. »Jelto, wenn du das wirklich bist … antworte!« »Ich … höre. Und ja: Ich bin es. Stellt die Verwüstungen ein. Die Wiederkeimer sind keine Gefahr. Ich befinde mich in einem von ihnen – ein uraltes Exemplar, von Strahlung halb zerfressen und geistig angegriffen. Aber mein Licht vermochte zu ihm durchzudringen, meine Aura. Ich habe es geschafft, bereits verödete Partien seines Denkzentrums zu regenerieren. Ich bin nicht sein Gefangener. Ich stelle mich als Vermittler zur Verfügung. Sie … sie stehen untereinander in Verbindung. Aber alle, die noch Leben in sich tragen, befinden sich in einem ähnlich traurigen Zustand wie jener, der mich in sich holte. Es wird mir nicht möglich sein, sie nachhaltig zu heilen. Zu Schreckliches wurde ihnen angetan. Ich kenne selbst erst Bruchstücke. Aber momentan …« Eine Pause. »Ja? Was ist momentan?« »Momentan bereiten sie eine Erklärung vor.« »Was meinst du damit?« »Ich weiß es selbst nicht so genau. Der Wiederkeimer, mit dem ich verbunden bin, nannte es so. Danach werde vieles für uns klarer sein. Er stirbt. Ich habe getan, was ich konnte, aber er und die Seinen treiben dem unabänderlichen Tod entgegen. In ein paar Jahren oder Jahrzehnten wird kein einziger ›Pilz‹ mehr von Leben durchzogen sein. Rof wird sein Gesicht völlig verändern. Das, was den Wiederkeimern widerfuhr, ist ein eiskalter Genozid.« »Wer«, fragte Cloud mit rauer Stimme, »hat ihnen das angetan?« »Ich weiß es nicht. Aber wahrscheinlich wird die Erklärung auch darauf Antwort geben.« »Was zur Hölle meint er mit dieser verdammten ›Erklärung‹?«,
dröhnte eine Stimme durch die Zentrale der RUBIKON. Cloud drehte sich danach um und sah Jarvis, der an einer Hand Algorian und an der anderen Scobee hielt. Doch sie lösten bereits den körperlichen Kontakt zu ihm. »Ihr seid zurück …« Mehr mechanisch kamen die Worte über Clouds Lippen. Er winkte ihnen zu. Zuvor hatte er den begonnenen Beschuss gegen Rofs Oberfläche gestoppt. Scobee bedeutete ihm, sich später um sie zu kümmern. Sie hatte sofort realisiert, dass er in einem wichtigen Entscheidungsprozess steckte. »Commander?« Wieder Jelto. »Ich habe den Beschuss eingestellt. Vorerst jedenfalls. Aber ob es dabei bleibt, hängt vom weiteren Verhalten der Pilzwesen ab. Möglicherweise auch vom Inhalt ihrer … Erklärung.« »Danke, Commander.« Cloud wollte Jelto auffordern, sich schnellstmöglich aus dem Wiederkeimer herauszubegeben, was vertrauensbildender sein könnte als jede Erklärung, aber in diesem Moment geschah es. Sesha meldete eine enorme Kraftentfaltung und Aktivität auf Rofs Oberfläche. Sämtliche um den Planeten verteilten Pilzbauten, die noch nicht abgestorben waren, begannen in einem gespenstischen Rotton zu leuchten. »Sie führen etwas im Schilde«, warnte Jarvis. »Möglicherweise zwangen sie Jelto, uns ihre Friedensliebe zu beteuern, um genug Zeit für einen Gegenschlag zu gewinnen …« Die Befürchtung war nicht von der Hand zu weisen. »Schilde aufbauen«, wies Cloud die KI an. Die Schilde standen, als sich das Düsterrot der Pilze urplötzlich um den ganzen Planeten zu spannen begann … und dann wie ein blutenden Lichtfinger in den Orbit griff, über die RUBIKON hinwegbrandete. Im nächsten Moment verlor die Besatzung ihr Schiff.
»Wo sind wir? Was ist passiert?«
Cloud wünschte, er hätte es gewusst. Er befand sich nicht länger auf der RUBIKON. Er stand auf dem Grund und Boden eines Planeten – fremder Luft, fremden Mikroben und fremder Strahlung schutzlos ausgesetzt. Er befand sich auf … Rof. Die Pilzwälder waren unverkennbar. Ja, Wälder. Auf einer Berganhöhe standen sie mit freiem Blick hinab auf die schier endlose Ebene. Eine Ebene, in der sich Wiederkeimer an Wiederkeimer reihte, so weit das Auge reichte. Nichts regte sich, alles wirkte starr, wie eingefroren oder fotografiert. Wären nicht die eigenen Leute gewesen, der Eindruck, lediglich auf ein dreidimensionales Bild zu starren, hätte sich zur Gewissheit verfestigt. Aber Cloud und die restliche Crew der RUBIKON bewegten sich in der Kulisse. Die einen erschrocken, die anderen staunend – mit vielen emotionalen Zwischentönen. Wo war die RUBIKON? Und warum … waren sie hier? »Es ist nicht echt«, murmelte Scobee. Aylea kam angerannt, Hand in Hand mit ihrer neuen Freundin Winoa. »Was ist passiert?«, rief sie. »Commander …?« »Es ist nicht echt«, pflichtete auch Jarvis bei. »Ich weiß nicht, was es ist oder warum wir es erleben.« Das war Algorian. »Esperst du ihre Gedanken?« Er bejahte. »Tausendfach.« »Ich war gerade unterwegs«, verkündete Jiim, der herangeflogen gekommen war und sich neben Cloud niedergelassen hatte, »mit Yael, als es passierte.« Irgendwie wirkte er verschlossener, befangener als sonst, obwohl er fragte: »Wo sind wir?« »Vermutlich auf Rof«, sagte Cloud. »Dem realen Rof?«, fragte Jiim. Assur kam heran. »John …« Er machte eine beschwichtigende Geste. Hinter Assur fiel ihm ein sonderbares Ding auf, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es wirkte unscharf. Eine Art schemenhafter … Klumpen. Auch die anderen wurden jetzt darauf aufmerksam.
»Was … ist das?« Der Klumpen schwebte näher. Wie eine verwaschene Wolke. »Ich bin es«, sagte er. »Sesha.« Cloud starrte das Ding fassungslos an. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass er nirgends auch nur einen Sternling gesehen hatte. Nur menschliche Neucrewmitglieder. Und die Altbesatzung, bis auf Jelto … Verrückt, dachte er. Das ist nicht real. Kann nicht real sein. Wir befinden uns nicht wirklich auf – Über den Wäldern entstand Bewegung. Vom Himmel her. »Ein Raumschiff!« Es war tatsächlich eins. Ein diskusförmiges Raumschiff, in dessen Zentrum ein kreisrundes Loch klaffte, kein Schaden, sondern gewollt, und dessen Hülle in Blauviolett funkelte. »Es ist kleiner als das, das am Südpol eingegraben liegt«, urteilte Jarvis, der möglicherweise seine speziellen Sinne zu Rate zog, aber auch schon vom bloßen Augenschein her ließ sich im Niederkommen sagen, dass dieses Gebilde niemals größer als einen Kilometer im Durchmesser war, höchstens einen halben. »Es entspricht dem Typus, den wir in dem Wrack fanden.« »Ein Beiboot?« Cloud ließ den Blick nicht von dem Diskus ab, der von keinem erkennbaren Antrieb bewegt wurde. Vielleicht Antigrav. Jedenfalls sank er … immer tiefer, bis seine Unterseite fast die Gipfel der höchsten Pilzwesen berührte. Dann hielt er inne, fügte sich fast harmonisch in das kulissenhaft starre Bild ein. »Ich glaube, ich weiß, was geschieht«, seufzte Cloud. »Warum wir ›hier‹ sind. Und was gleich passieren wird.« »Ich auch«, flüsterte Scobee in leicht ersticktem Ton, der verriet, dass sie es tatsächlich ahnte. Auch viele andere mochten das – eigentlich war es offensichtlich. Und dann bewahrheitete sich ihre Ahnung auch schon. Der Diskus nahm Fahrt auf … und begann etwas abzuregnen, dessen Beschaffenheit aus der Ferne nicht bestimmbar war. Aber ob fest oder flüssig, es traf die Köpfe der Pilze, und es war unglaublich weit ge-
streut. »Es … kommt direkt auf uns zu!« Das war Winoas fast panischer Einwurf. »Ganz ruhig«, redete Aylea auf ihre Freundin ein. »Es kann uns nichts anhaben. Es sieht nur so real aus …« Ihrer Tonlage war zu entnehmen, dass sie das zumindest hoffte. »Da hinten … links!« Jarvis wies mit dem Arm in die Richtung, die er meinte. »Ganz am Horizont …« Cloud entdeckte, was er meinte. »Ein weiterer Diskus … Wahrscheinlich sehen wir nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was sich zeitgleich gerade rund um Rof ereignet.« »Und was tun diese Schiffe? Woher kommen sie?« Plötzlich, wie um die Frage, die irgendeiner der Angks gestellt hatte, zu beantworten, veränderte sich die Umgebung. Es war, als würde jemand die Geschwindigkeit, mit der sich Einzelbilder zu einem laufenden Film verbanden, erhöhen. Radikal erhöhen … Verrückterweise blieben Cloud und seine Leute davon verschont. Sie standen am Berghang und sahen, wie die Diskusse ihr Werk vollendeten, nach und nach jeden Punkt der Pikkolonie mit dem, was sie abwarfen, bestrichen. In rasendem Tempo eilten sie über den Himmel – und dann verschwanden sie zurück in den Himmel, aus dem sie gekommen waren. »Sie haben die Wiederkeimer vergiftet, oder?«, hauchte Aylea. »Mit irgendetwas vergiftet.« »Das erklärt nicht die Strahlung, die heutzutage auf Rof tobt«, erwiderte Cloud. »Was immer wir gerade beobachtet haben, ich glaube nicht, dass es etwas mit atomarer Verseuchung zu tun hatte.« »Was dann?«, fragte Scobee. Aber da begannen die Bilder bereits wieder für sich zu sprechen. Für einen Moment hatte Cloud weggeschaut und sich auf Scobee und andere Gefährten konzentriert. Als er nun wieder den Blick über die Ebene schweifen ließ … traute er kaum seinen Augen. Ringsum klangen ungläubige Kommentare auf. »Da sprießt etwas – über den Pilzen!« »Etwas deckt sie zu … wie mit einem fadenscheinigen Tuch …«
»Ein Gespinst! Etwas breitet sich gespinstartige über sie aus wie …« »… wie ein Kokon!« Immer mehr Ausrufe umwehten Clouds Ohren. Er selbst traf seine eigene Einschätzung, die weitestgehend mit der seiner Leute übereinstimmte. »Offenbar säten die Diskusse etwas aus, dessen Saat nun … aufgeht …« Kopfschüttelnd und die Tragik ahnend, die hinter diesem Vorgang steckte, wandte er sich an Jarvis. »Ich weiß, dass wir vermutlich einer gesteuerten Massenhalluzination erliegen, aber … kannst du Details erkennen? Mit deinen Sinnen?« Jarvis verneinte. Aber in diesem Augenblick schienen die umsponnenen Pilzwälder heranzuzoomen und – Cloud begriff seinen Irrtum. Nicht das Bild war vergrößert – sondern sie waren hineinversetzt worden. Plötzlich standen sie irgendwo zwischen wolkenkratzerhohen Wiederkeimern. In bedrückender Düsternis. Nur spärlich drang Licht zwischen den einzelnen Fäden des Daches hindurch, das sich über den Pilzköpfen gebildet hatte. Mancherorts hingen Fäden bis zum Erdboden herab. Cloud ging auf einen von ihnen zu, und Jarvis und andere folgten ihm. »Was ist das? Woraus besteht es?« Jarvis streckte die Hand danach aus und betastete es. Er war so sehr Bestandteil der Illusion, dass es ihm gelang. »Organisch«, sagte er. Und dann: »Haltet mich für verrückt aber …« Er griff in seine Brust, holte die zur Faust geballte Hand wieder hervor und öffnete sie. Seltsame krustige Teilchen lagen darin. »… es erinnert mich stark an die Probe, die ich von Rof heraufbrachte. Aus dem sonst fast leeren Riesenschiff. Dieser frische Faden hier … daumendick … ähnelt in seiner strukturellen Zusammensetzung diesem von Zeit und Umwelteinflüssen zersetzten Zeug …« »Dann befand sich Ähnliches an Bord des abgestürzten Schiffes?« Jarvis nickte. »Hilft uns das weiter?« »Vorläufig nicht, aber –«
Wieder ein Szenenwechsel. Erneut der Berghang … Waren die Diskusse vorhin noch in gespenstischer Lautlosigkeit erschienen, so senkte sich der Riese, der nun durch die Wolken brach, mit einem ohrenbetäubenden Getöse herab. »Das ist es!« »Was?« »Das Mutterschiff – das wir nur noch als Wrack vorfanden! Das jetzt irgendwo am Südpol liegt …« Jarvis schien überzeugt von dem, was er rief. Und Cloud teilte seine Meinung. Falls … »Falls es nicht viele dieser Riesen gab. Damals. Als Rof überfallen wurde …« Er war jetzt felsenfest überzeugt, einer Art Zeitschau beizuwohnen. Initiiert von den noch lebenden Wiederkeimern, in deren Gewalt sich Jelto nach wie vor befand – auch wenn der Pflanzenhüter offenbar glaubte, die Lage im Griff zu haben. Cloud hatte selten so sehr an Jeltos Einschätzungsvermögen gezweifelt wie in dieser Situation. Auch der um ein Vielfaches gewaltigere Diskus senkte sich tiefer und tiefer zwischen gequälten Luftmassen herab. Aber anders als sein kleines Ebenbild hielt er nicht dicht über den Pilzkappen inne. Cloud zuckte zusammen, als sich das in Tonnen gar nicht mehr ausdrückbare Gewicht des Giganten auf die Wiederkeimer unter ihm senkten und sie splitternd nach allen Seiten spritzen ließ. Sie wurden buchstäblich zermatscht. Auch das Gespinst riss über die gesamte Fläche des niedergehenden Diskus – aber davon ließ dieser sich weder abhalten noch beeindrucken. Offenbar war Kollateralschaden einkalkuliert. An den Diskusrändern entstand wuselnde Bewegung. »Die Besatzung hat das Schiff verlassen.« Cloud wusste nicht, wer von den Angks dies sagte. Und noch weniger wusste er, ob es zutraf. Auch er sah nur dieses Gewusel, keine Details, bis … Zooooooomm! … sie mitten unter ihnen standen.
Sonderbaren Maschinen, keinen Lebewesen, die damit beschäftigt waren, aus den Schiffsschleusen heraus in die Umgebung auszuschwärmen. Doch dann – unversehens – geriet die Bewegung ins Stocken. Offenbar geschah etwas Unvorhergesehenes – etwas für die Invasoren Überraschendes. Blutrotes Glühen erfüllte mit einem Mal die Düsternis der Umgebung. Die Pilzgewächse hatten zu leuchten begonnen – fast so wie kurz vor dem Beginn dieser … Vorführung (was das das richtige Wort dafür?). Urplötzlich kehrten die Maschinen – klobige, rechteckige Kästen, die wie futuristische Truppentransporter aussahen – zum Diskus zurück und schwebten durch die Schleusentore ins Innere. Die Schotte schlossen sich … und der Diskus begann sich mit dem bereits bekannten Getöse und Vibrieren in die Höhe zu schrauben. Doch allzu weit kam er nicht. Der Zoom zeigte, was passierte. In der Beschleunigung platzten plötzlich verschiedene Bereich der Außenhülle auf. Von innen heraus, als wären dort Sprengsätze von immenser Durchschlagskraft gezündet worden. Gleichzeitig veränderte sich die Färbung der unbekannten Stahllegierung. Aus Blauviolett wurde … dunkles Rot, als wäre der Diskus von geronnenem Blut überzogen. Die Fahrt geriet ins Schlingern. Dennoch beschleunigte das Raumschiff weiter. Doch statt senkrecht in den Himmel zu steigen, vollführte es jetzt eine elliptische Bewegung und begann auf den Horizont zuzuhalten. Cloud ahnte auch jetzt, was geschehen würde. »Achtung«, sagte er. »Gleich werden wir –« Da waren sie schon. An einem anderen Ort des Planeten, wo Weiß vorherrschte. Wo es nichts anderes als dieses Weiß zu geben schien, bis … … sich der Himmel spaltete. Vom Horizont her schien sich ein dunkler Riss durch das Himmelsgewölbe zu graben, und heran rauschte, schlingerte, taumelte … ein immer unkontrollierterer Diskus, der sich geschossgleich näherte und schließlich steilem Winkel
direkt vor Cloud und seiner Mannschaft ins Eis des Pols bohrte. Die Erschütterung ließ Wolken von Schnee aufwirbeln. Für kurze Zeit schwand jede Sicht. Aber keiner der Beobachter wurde davon in Mitleidenschaft gezogen, ebenso wenig wie von der eisigen Kälte. Als sich das Gestöber legte, ragte der Diskus so aus dem Boden, wie Scobee, Jarvis und Algorian ihn bei ihrem Einsatz vorgefunden hatten … Jahrhunderte später allerdings. Aber etwas war anders, unterschied sich völlig von ihren Eindrücken, die erst wenige Stunden zurücklagen. Denn aus dem gefallenen Riesen lösten sich plötzlich Gebilde, die hinauf zum Himmel strebten. Ausschwärmten. Die Beiboote, mit denen alles begonnen hatte. Aber sie flohen und verschwanden nicht einfach, sondern … Wooaaasssscccchhhhh! Eine unheimliche Reise um den Planeten begann. Tag- und Nachtseite wechselten mehrfach. Cloud und seine Crew, wurden visuell Zeuge, wie … … sie kamen. Rache übten. Tod und Vernichtung säten. Furchtbare Waffen eröffneten das Feuer aus den Diskussen, an manchen Stellen riss die Kruste des Planeten auf. Und an einigen Punkten Rofs wurden immense Vorkommen eines … Gases freigesetzt, das seit Urzeit unter der Rinde gelagert haben mochte. Fontänen- und explosionsartig befreite es sich aus seiner Fessel. Und die Winde trugen es um die ganze Welt … Immer wieder wurden diese Ausbrüche gezeigt. Die Schwaden, die sich bildeten und bald über die Pilzkolonien hinwegfegten, wo sie … im Zeitraffer deutlich gemacht … schreckliche Wunden und Narben hinterließen. Die Diskusse aber zogen ab. Der Himmel verschlang sie. Nur was sie in Gang gesetzt hatten, blieb, war nicht mehr ungeschehen zu machen. Die Welt der Wiederkeimer verfiel in ein heimtückisches, elendes, Jahrhunderte andauerndes Sterben … »Das Gas«, flüsterte Cloud, »es war das Gas. Die Diskusse setzten es frei. Vielleicht wussten sie bis zu dem Moment, da sie es aus den
Tiefen des Planeten befreiten nicht einmal, dass es da war. Aber als sie es erkannten – erkannten, welches grausige Potenzial für eine noch schrecklichere Rache darin steckte –, zogen sie selbst ab und überließen die Fortsetzung des Tötens der Natur. Der natürlichen Radioaktivität, die dem Gas anhaftete und die sich in immer stärkerer Konzentration um Rof verteilte, die Pilzwesen sterben oder erkranken ließ …« Scobee hatte ihm schweigend zugehört. Jetzt sagte sie: »Du könntest recht haben. Sesha?« Wie selbstverständlich schloss sie die KI, die als formloser Klumpen zwischen ihnen schwebte, in die Diskussion mit ein. »Es würde alle bisherigen Beobachtungen erklären.« Cloud kämpfte gegen einen leichten Schwindel an. »Danke«, presste er dann zwischen den Zähnen hervor. Ob er den Adressaten erreichte, wusste er nicht. Aber sie waren wieder »zuhause« – an Bord der RUBIKON. Und aus der mit dem »Pflanzenfunk« gekoppelten Bordkommunikation drang Jeltos unverkennbares sonores Organ: »Wenn ihr mich jetzt abholen würdet? Ich kann hier nichts mehr tun. Aber ich habe euch eine … Bitte von ihnen zu übermitteln …«
8. Drei Tage später ließen sie das Rof-System hinter sich zurück – nachdem die RUBIKON ihr ultimatives Mittel eingesetzt hatte: die K-Waffe. Den Kontinuumverletzer! Aus nächster Nähe hatte er das Raumzeitgefüge aufgerissen, und sie hatten zugesehen, wie der Planet der Wiederkeimer von dem Spalt verschlungen worden war. Die freigesetzten Kräfte hatten die Welt innerhalb einer einzigen Sekunde in seine kleinsten Bestandteile zerfetzt. Cloud saß wie paralysiert in seinem geschlossenen Sarkophagsitz. Er hatte der kollektiven Bitte – dem Flehen – der Wiederkeimer entsprochen, aber er fühlte sich nicht wie ein Erlöser, sondern wie ein feiger Mörder. Damit würde er fertig werden müssen. Er hatte sich entschieden, dem von Jelto übermittelten Gesuch der Pflanzenzivilisation stattzugeben. Dass es offenbar vom Kollektiv aller Wiederkeimer, die zum Ende hin noch von Leben durchströmt waren, verabschiedet worden war, hatte letztlich den Ausschlag dafür gegeben, ihm zu entsprechen. Aber es gab auch kritische Stimmen, die keine Befürworter dieser Entscheidung waren, an ihrer Spitze … Cy. Nach der Zerstörung des zweiten von insgesamt achtzehn Umläufern der M-Klasse-Sonne rief Cloud die Umgebungskoordinaten über eine 50-Lichtjahre-Distanz auf und steuerte die RUBIKON in eine Transition, die über rund 36 Lichtjahre führte und abseits eines Sonnensystems endete. Weg. Zuerst einmal nur weg … Er wartete noch minutenlang, bis er das Sarkophaggehäuse öffnete. Nur noch Jelto erwartete ihn auf dem Kommandopodest.
»John …« »Willst du mir auch Vorwürfe machen?« Er schüttelte den Kopf. »Erinnere dich, ich war der Überbringer der Bittstellung, die den Freitod aller noch existierenden, aber unrettbar verseuchten Wiederkeimer zum Inhalt hatte.« »Das heißt nicht automatisch, dass du damit einverstanden warst. Vorhin, als ich das Ersuchen diskutierte, hast du dich einer Stellungnahme enthalten.« »Ich wusste nicht, dass es so missdeutbar war.« »Also … keine Vorhaltungen?« »Nein. Es war die gewünschte Erlösung für sie. Selbst konnten sie sie nicht herbeiführen.« »Aber sie hatten die Mittel dazu. Ich meine … du weißt, worauf ich anspiele …« »Ihre besonderen geistigen Kräfte, die den Invasoren zum Verhängnis wurden?« Jelto nickte. »Es war ihnen nicht möglich, sie gegen sich selbst zu richten.« »Warum nicht?« »Es war ihnen nicht möglich.« Jelto zuckte die Achseln. »Sie hatten ein hochreligiöse Gesellschaft, nicht unbedingt mit irdischen Glaubensströmungen vergleichbar, aber letztlich hinderte sie dieses Verständnis von Leben und seinem Wert daran, Hand an sich selbst zu legen.« »Damit, andere um den Tod zu bitten, hatten sie keine Probleme?« Jelto sah ihn seltsam an. »Doch. O doch. Sie haben sich die Entscheidung nicht leicht gemacht.« »Du warst eng mit ihnen verbunden?« »Enger als jemals zuvor mit irgendeiner Pflanze.« »Sie hätten auch die RUBIKON zerstören können, oder? Ich meine, wenn sie es gewollt hätten. Warum haben sie nicht?« »Sie sind friedliebende Geschöpfe. Gewesen.« Er seufzte, seine Stimme war noch dunkler als sonst vor Trauer. »Sie warteten erst ab. Und nachdem sie mit mir in Kontakt getreten waren, wussten sie, dass wir ihnen nichts Böses wollten, dass wir ihren uralten Hilferuf aufgefangen hatten. Kritisch wurde es noch einmal, als Jarvis
einen von ihnen unwillentlich tötete und später, als du –« »Ich weiß, als ich dich mit Gewalt freipressen wollte.« »Ein schlechtes Argument – in ihren Augen.« »Das verstehe ich. Allerdings wusste ich ja auch nicht, ob sie dich nicht längst massakriert hatten.« Er lächelte schwach. »Ja, im ersten Moment dachte ich auch, mein letztes Stündlein hätte geschlagen – als der Stiel des Pilzes sich öffnete und …« Jelto führte es nicht näher aus. »Es ist traurig, dass eine solche Zivilisation nun für alle Zeiten ausgelöscht ist.« »Was hast du über die Invasoren erfahren? Wie sahen sie aus?« Jelto zuckte die Achseln. »Da muss ich passen. Die Wiederkeimer erfuhren es auch nie.« Aus dem Off sagte Sesha: »Es ist so weit. Die Auswertung ist abgeschlossen. Möchtest du das Ergebnis hören, Commander?« Jelto sah Cloud fragend an. »Du weißt, was geschah, nachdem wir dich von Rof abgeholt hatten? Ich schickte eine ganze Armee von Spinnenbots hinab zur Oberfläche, in das Wrack am Südpol.« Jelto nickte verstehend. Davon hatte er nach seiner Rückkehr Kenntnis erhalten. »Die Bots durchschwärmten das gesamte Schiff, insbesondere die beiden Orte, an denen Scobee Marker hinterlassen hatte. Zwei volle Tage blieben sie in dem Diskus, ehe ich sie zurückbeorderte. Kurz darauf löste ich das Versprechen ein, das ich den Wiederkeimern als Antwort auf ihre Bitte gegeben hatte. Anschließend verließen wir den Sektor Rof. Und nun …« »Nun liegen die Ergebnisse der Datenauswertung vor«, erklärte Sesha. »Es waren immense Mengen, die die Bots an Bord brachten. Aber im Grunde fokussiert sich alles auf zwei, drei wichtige Resultate.« »Lass hören. Jelto ist sicher auch gespannt. Oder, Jelto?« Der Pflanzenhüter nickte. »Natürlich. Danach gehe ich erst einmal wieder in meinen Garten – bevor Sooks ihn endgültig für sich mit Beschlag belegt.«
Cloud schmunzelte. »Also, Sesha?« »Kernerkenntnis eins ist: Der Diskus, den wir als Mutterschiff bezeichnen, verfügt über keinen Antrieb, der ihm eine höhere Geschwindigkeit als die des Lichts ermöglichte.« Cloud war schon bei dieser ersten Eröffnung verblüfft. »Sicher?« »Restlos.« »Dann weiter.« »Kernerkenntnis zwei: Das einzige noch an Bord befindliche sogenannte ›Beiboot‹ verfügte definitiv über einen hochleistungsfähigen Überlichtantrieb.« Ungläubig hielt Clou dem entgegen: »Logischer wäre es anders herum, oder? Ein überlichtschnelles Trägerschiff, das über Beiboote mit geringerem Aktionsradius verfügt …« »Wir reden hier nicht von Logik, sondern von gesicherten Beweisen.« »Wie gesichert?« »Es sind Fakten.« »Dann muss ich es wohl glauben …« »Es wäre unprofessionell, sich dem zu verschließen.« »Und das bin ich ja nicht.« »Eben, Commander.« »Gibt es noch eine ›Kernerkenntnis drei‹?« »Die gibt es. Und sie betrifft die von Jarvis und später den Bots sichergestellten Proben einer fraglos organischen Substanz an Bord des Diskus.« »Du hast ihre Herkunft ermitteln können.« »Leider nur bedingt, denn –« »Was heißt nur bedingt? Ich dachte immer, so was wäre für dich ein Klacks.« »Unter normalen Umständen … ja.« »Das heißt?« »Die Rückstände wurden kontaminiert. So extrem, dass die genetische Analyse nur noch sehr eingeschränkt möglich war und letztlich … zu keinem Resultat mehr führte.« »Kontaminiert … heißt in diesem Fall wohl verstrahlt?«
Die KI verneinte. »Keine Strahlung. Eine Form von Gift, dessen Rückstände aber auch mit nichts übereinstimmen, was sich in meinen Datenbeständen befindet.« »Du willst sagen, sie haben das selbst getan? Das, was sich in ihren Schiffsräumen befand, wurde von ihnen vergiftet, beseitigt, was auch immer, und zwar in einer Weise, die verhindert, Rückschlüsse auf die einstige Beschaffenheit zu ziehen?« »Genauso ist es, Commander.«
»Ein Mutterschiff, das kein Überlichttriebwerk besitzt, seine Beiboote aber wohl?«, fragte Assur einige Zeit später, als sie sich trafen. »Merkwürdig, ich weiß. Aber möglicherweise haben die Fliehenden das entsprechende Antriebssystem auch nur zerstört oder ausgebaut, bevor sie flohen.« »Und warum dann nicht auch im Beiboot?« »Das im Beiboot dürfte ›Standard‹ sein, nichts Besonderes, das andere Spezies interessiert – das Haupttriebwerk hingegen könnte der letzte Schrei ihrer Hochtechnik sein.« »Das klingt jetzt aber schon etwas …« »Weit hergeholt?« Sie nickte. Er küsste sie. Ihre Lippen waren ihm immer noch ein wenig fremd, was den Reiz aber keinesfalls schmälerte. »Du hast ja recht. Im Grunde ergibt es keinen Sinn. Jedenfalls keinen, den wir mit dem erlangten begrenzten Wissen nachvollziehen können. Aber sicher hat es einen. Und die Welt der Wiederkeimer wurde auch nicht ohne Grund überfallen. Die riesigen leeren Räume an Bord des Diskus …« »Sieht aus, als hätten sie den Planeten ausrauben wollen. Ressourcenausbeutung? Bodenvorkommen …« »Vielleicht die Pilze selbst«, sagte Cloud. »Aber wir werden es vielleicht nie erfahren.« Sie zog ihn enger an sich. »Jedenfalls schön, dass du Zeit gefunden hast, dich mit mir zu treffen.« Er lächelte. »Das finde ich auch. Es ist schön, dich im Arm zu ha-
ben.« »Besonders ohne Kleider.« Sie zwinkerte ihm zu. »Besonders ohne –« Ein Alarmton signalisierte, dass es Zeit wurde, Assur zu verlassen. »Nenn mir einen triftigen Grund für die Sirene, Sesha!«, verlangte Cloud wenig erfreut. »Ist eine Raumschlacht in relativer Nähe ein triftiger Grund?« Cloud seufzte. »Bin schon unterwegs.« Assur schmollte. »Immerhin hast du nicht gesagt: Ich komme …«
»X-Schiffe!«, keuchte Scobee, die wie Cloud auch unverzüglich den Weg in die Zentrale gefunden hatte. »Himmel, sind diese Käfer denn überall?« Cloud verstand ihren emotionalen Ausbruch. Die Treymor waren zur Plage geworden – längst. Erst in Zentrumsnähe der heimatlichen Milchstraße auf sie getroffen, schienen sie mittlerweile an allen Brennpunkten aufzutauchen … und oft auch dort, wo niemand mit ihnen rechnen konnte: zuletzt bei der »neuen« Hohlwelterde, im Leerraum bei einer RUDIMENT-Station und um das Super Black Hole im Kern der Galaxie. »Die Treymor haben ein dunkles Geheimnis. Wenn wir uns nicht bald ihrer annehmen und es enträtseln, kann es ein böses Erwachen geben«, sagte Jarvis. »Das ist doch schon nicht mehr feierlich. Ein Raumgefecht und –« »– und jetzt bekriegen sie sich auch schon untereinander«, nickte Cloud, der die Analyse der Detailortung studierte, die in die Holosäule eingespielt wurde. »Falls es noch keiner gemerkt hat: Das sind alles X-Schiffe. Treymor kämpfen gegen Treymor – hatten wir das schon mal?« »Nein, Premiere«, sagte Scobee. »Aber eine, an der ich Gefallen finden könnte.« »Du klingst fast, als könntest du sie nicht ausstehen«, spöttelte Jarvis. »Ach? Merkt man das?« Sie mühte sich noch nicht einmal ein Lä-
cheln ab. Sie meinte es todernst. »X-Schiffe …« Cloud löste den Blick von der eingeblendeten Schrift. »So weit weg von zuhaus …« Das Zuhause der Treymor lag, wenn nicht alles Makulatur war, was sie in der Vergangenheit verstanden zu haben glaubten oder interpretiert hatten, in der Nähe des galaktischen Zentrums. Dort hatten sie Welten wie Saskana annektiert und ein »vergessenes« Imperium etabliert – mit eben der speziellen Gabe der Saskanen. Doch damit schienen sie sich nicht mehr zu begnügen. Expansion war angesagt. Zumindest waren sie daran gegangen, auch fernere Bereiche der Milchstraße zu erkunden und ihnen hier und da ihren Stempel aufzudrücken. Eine Antwort darauf, warum sie ausgerechnet über der Erde aufgetaucht waren und die Oortschale unter Beschuss genommen hatten, stand bis dato aus. Ebenso, warum sie Gloriden aus dem goldenen Schiff bei der RUDIMENT-Station entführt und verschleppt hatten. »Ich mache ungern auf Besserwisser«, sagte Jarvis, »aber ist das nicht eigenartig, dass sich die Kampfhandlungen nicht großzügiger verteilen?« »Was meinst du damit?«, fragte Scobee. »Nun, Sesha kann es bestimmt mit ein paar Ortungsdaten unterfüttern, aber für mich sieht es so aus, als bekämpfte sich hier lediglich ein einziges Außenseiterschiff mit dem ganzen Rest von mindestens … wartet, wie viel sind das … ein Dutzend? Nicht alle feuern, aber in der Ortung befinden sich mindestens zwölf X-Schiffe, die das besagte entweder beharken oder sich neutral verhalten, überhaupt nicht feuern …« »Wir gehen näher heran«, entschied Cloud. »Sesha? Fahrt aufnehmen. Überlicht, aber keine Transition. Und maximale Energie in den Tarnschirm.«
9. Die RUBIKON fiel in den Unterlichtmodus zurück, als der Kampfherd noch wenige hunderttausend Kilometer entfernt war. Sofort wurde deutlich, dass Jarvis' Eindruck nicht getrogen hatte: Hier bekämpfte sich ein X-Schiff mit einer x-fachen Übermacht, und von dem georteten Dutzend waren die Hälfte Wracks, die sich nicht mehr am Gefecht beteiligten. Ob die teilzerstörten Schiffe der zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Partei angehörten und das eine noch den kläglichen Rest des Widerstands verkörperte, oder ob die Wracks zur scheinbar überlegenen Fraktion zählten, ließ sich zunächst nicht feststellen. Allerdings dauerte es auch nicht lange, bis sich ein klarer Trend abzeichnete. Denn das einsame X-Schiff hielt selbst dem Beschuss aus den Kanonen der sechsfachen Übermacht stand. Sein Schutzschirm schluckte und absorbierte Treffer um Treffer, während bei dem halben Dutzend, das die Übermacht mit trug, sich plötzlich eines aus dem Kampfgeschehen ausklinkte, weil … es offenbar eigene Schäden hatte hinnehmen müssen. So schwere Schäden, dass es ums nackte Überleben kämpfte, aber keine Kapazitäten mehr abzweigen konnte, um sich am Beschuss des Außenseiters zu beteiligen. In seiner Hülle waren Risse entstanden, die auf Explosionen im Inneren schließen ließen. Sesha holte die betroffene Einheit in Großaufnahme heran und glich das Bild dann mit den übrigen treibenden Wracks ab. »Sie alle weisen ähnliche Schäden auf«, sagte Jarvis. »Komisch nur, das man keine Gegenwehr bei dem Unterlegenen erkennen kann und konnte. Oder hat jemand einen Schuss gesehen, der ins Schwarze traf?« Weder Cloud noch ein anderer auf dem Kommandopodest hatte das. Und auch Sesha musste verneinen. »Scheint sich ganz und gar auf seine Defensivstärke zu verlassen«,
murmelte Scobee. »Was aber nicht erklärt, dass …«, setzte Cloud an, stockte und zeigte nach vorne. »Da! Da ist es schon wieder passiert. Nur noch vier zu eins …« Ein weiteres jener Schiffe, die den Outsider mit Sammelbeschuss eindeckten, stellte sein Feuer ein. Die sichtbaren Symptome waren wiederum identisch wie bei den anderen Wracks: Zerstörungen, die ihren Ursprung im Innern des X-Raumers zu haben schienen. »Ist ja fast wie bei den Wiederkeimern. Als diese ihr PSI-Kraft gegen den Diskus richteten …«, sagte Jarvis. »Ich glaube nicht, dass es hier vergleichbare Gründe hat«, sagte Cloud. »Die Pilzwesen waren ein Phänomen, eine seltene Laune der Natur – ich denke, darüber sind wir uns einig. Was die X-Schiffe angeht … Ich habe gar nichts dagegen, wenn sie sich untereinander uneins geworden sind. Vielleicht ist eine Art Bürgerkrieg unter ihnen ausgebrochen, und sie dezimieren sich neuerdings gegenseitig.« Sie kreuzten in sicherem Abstand zum Kampfgeschehen, zumindest, wenn man normale Maßstäbe anlegte. Aber als das Kräfteverhältnis plötzlich nur noch drei zu eins stand, vergrößerte Cloud den Abstand sicherheitshalber. Irgendetwas stimmte nicht. Das nur vermeintlich unter-, in Wahrheit aber offenbar überlegene X-Schiff hatte immer noch keinen erkennbaren Schuss abgefeuert. Dennoch tat es irgendetwas, das die Gegnerschaft ausschaltete und gegen das sie kein Mittel hatte. Als nur noch zwei der ursprünglich sechs feuernden X-Schiffe übrig waren, sah es endgültig nach einem ungleichen Scharmützel aus – allerdings ungleich in Bezug auf die unwiderstehlichen Mittel, die das Solo-Schiff aufbot. »Es schlachtet sie nach und nach ab. Sie feuern, aber sie schaffen es nicht, den Schild zu durchbrechen. Gleich ist es vorbei …« Jarvis kommentierte fast emotionslos. Wahrscheinlich ging ihm der Tod von Treymor tatsächlich nicht nahe. Und auch Cloud ertappte sich dabei, dass er vorrangig Erleichterung verspürte. Egal, warum das eine X-Schiff die anderen aufs Korn nahm – das zählbare Resultat waren ein Dutzend weniger potenzieller Gegner.
Mit den Treymor war nicht zu reden, geschweige denn zu verhandeln – so seine Erfahrung der Vergangenheit. Möglicherweise brauchten sie Dämpfer wie diesen, um vielleicht doch irgendwann zu der Einsicht zu gelangen, dass Expansion nicht alles war. Wie einst die Erinjij, dachte Cloud, dem es schwer fiel, jene, die vom Rest der Galaxie als »Pest der Sterne« bezeichnet worden waren, auch als Menschen zu sehen. Für ihn waren sie fremd wie Extraterrestrier, und es gab nur wenige Ausnahmen, die diese Regel bestätigten: Jelto … Aylea … Sie beide waren, streng genommen, auch Erinjij, geboren auf der Erde zu Zeiten des Schattenschirms und der Keelon-Master-Herrschaft. »Achtung, Aufmarsch!« Das war Sesha. Die KI schlug Alarm. »Veränderung der Situation. Neuankommende Schiffe aus sechs Uhr …« »Oha, Verstärkung«, schnarrte Jarvis. »Das sind fünfzig oder mehr neue X-Schiffe! Bin gespannt, zu welcher Fraktion sie gehören …« Darauf glaubte Cloud bereits die Antwort zu kennen. Der einsame Streiter brauchte keine Hilfe. Er war ohnehin am Gewinnen. Und sofort mit abgeschlossener Orientierung des Pulks, der aus dem Hyperraum gebrochen war, eröffnete dieser das Feuer auf den Outsider, der endlich eine Reaktion zeigte – dahingehend nämlich, dass er beschleunigte. Offenbar versuchte er zu fliehen, denn … gegen diese Übermacht hatte auch er keine Chance. Zu viele Treffer gleichzeitig strapazierten die Kapazität seines fantastischen Schutzschirms. Und schon wenige Minuten nach Eintreffen der Verstärkung brach der Schild unter dem konzentrierten Dauerbeschuss zusammen. Augenblicklich stellten die Schiffe das Feuer ein. Und zwar so genau getimt, dass tatsächlich kein Schuss bis zur Hülle des X-Raumers durchkam, nachdem der Schild aufgehört hatte zu existieren. »Absolute Präzisionsarbeit – da will jemand das Schiff beziehungs-
weise seine Besatzung lebend in die Hände bekommen«, interpretierte Cloud das Verhalten der Sieger. Die wiederum schienen ihn Lügen strafen zu wollen. Denn plötzlich brandete doch eine Welle gegen das seines Schutzes entblößte Schiff, breitgefächert und von eitrig gelber Farbe … »Lähmstrahlen«, meldete Sesha. »Die Treymor feuern mit Paralyseenergie.« Cloud konnte sich denken, warum. »Irgendetwas müssen sie fürchten – aber zugleich auch so sehr begehren, dass sie dem XSchiff nicht den finalen Treffer verpassen.« »Wahrscheinlich wollen sie das, was ihre Schiffe nach und nach dezimierte, in ihre Gewalt bekommen«, warf Scobee ein. »Wahrscheinlich eine Waffe, über die sie selbst nicht verfügen, die sie aber gerne haben möchten.« »Dann werden sie den Raumer jetzt aufbringen.« Das war Jarvis. Der Paralysebeschuss wurde eingestellt. »Da, sie setzen ein Prisenkommando in Bewegung, das –« Beiboote der X-Schiffe lösten sich aus ihren Hangars und wurden durch Strukturlücken in den Schutzschirmen geschleust. Danach begannen sie dem eingekesselten Outsider entgegenzutreiben. Doch bevor sie ihn erreichten, verging dieser in einer sonnengrellen Explosion. Sekundenlang hielten alle in der Zentrale der RUBIKON den Atem an. Schließlich aber kommentierte Cloud: »Offenbar kamen die Lähmstrahlen zu spät. Die Besatzung muss noch lange genug ihre Agilität bewahrt haben, um eine Selbstzerstörungsschaltung auszulösen. Zumindest ist das die wahrscheinlichste Erklärung.« Scobee und Jarvis nickten zustimmend. Die X-Schiffe waren vom Explosionsdruck auseinandergetrieben, aber dank weiter aktiviert gebliebener Schutzschilde war nicht eines von ihnen ernsthaft beschädigt worden. Von dem anderen, das die enorme Gegenwehr geleistet hatte, waren nur noch glühende Trümmer übrig, die aber rasch im Weltraum erkalteten.
»Da – sie scannen die Überreste …« Auch Cloud sah, was Jarvis beschrieb. Minutenlang kreuzten die Siegerschiffe um den Ort der Vernichtung. Dann nahmen sie Fahrt auf und steuerten die Einheiten an, die vor dem Eintreffen der Verstärkung manövrier- und kampfunfähig geworden waren. Offenbar bargen sie die dortigen Besatzungen. Als dies abgeschlossen war, nahmen sie die Wracks so lange unter Feuer, bis auch sie nur noch Trümmer waren, die niemandem, der auf sie stieß, noch von Nutzen sein konnten. Anschließend gingen die X-Schiffe in die Transition. »Sesha?« »Ja, Commander?« »Kannst du den Wiedereintrittsort des Pulks feststellen?« »Bereits geschehen.« Die KI nannte die ermittelten Koordinaten. »Behalte das Gebiet im Auge. Falls sie nur einen Etappenstopp einlegten und gleich noch einmal transitieren.« »Verstanden.« »Was hast du vor? Ihnen folgen?«, fragte Scobee unruhig. »Später. Zuerst sehen wir uns an, ob sie vielleicht etwas übersehen haben …«
Die Trümmer des mutmaßlichen Rebellenschiffs trieben stumm durchs All, fernab jeder Sonne und jedes Planeten. Warum die beiden Parteien ausgerechnet bei diesen Koordinaten aufeinander getroffen waren, ließ sich nicht einmal erahnen. Zufall? Oder hatten die zahlenmäßig Überlegenen dem Outsider hier aufgelauert, weil sie dessen Gewohnheiten und Etappenstopps kannten? Oder, dachte Cloud, der stets bereit war, auch die aberwitzigste Variante mit in sein Kalkül einzubeziehen, hat der Outsider der Übermacht aufgelauert? Akribisch genau ließ er die von der Explosion weit verstreuten Fragmente scannen, in immer neuen Durchläufen, mit immer höherer Leistungsstufe. »Warum glaubst du, hier noch etwas zu finden? Wenn es etwas
gäbe, hätten die Treymor dies doch als Erste entdeckt und eventuell geborgen.« Scobee besaß viele Tugenden, Geduld zählte dabei jedoch eindeutig zu den schwächer ausgeprägten. »Vielleicht gaben sie einfach nur zu schnell auf?« Cloud lächelte herausfordernd, den Blick kurz von der Holosäule zu Scobee hin verschoben, die ihn ärgerlich erwiderte. »Ich wette, dass wir nichts finden«, sagte sie angefressen. »Du bist in letzter Zeit so negativ. Wo ist denn meine gute alte Scob geblieben, die sonst immer mich und die anderen mitriss?« »Du bist mir in letzter Zeit eindeutig zu sehr auf rosa Wolke getrimmt.« »Du redest von Assur?« »Ich rede von rosa Wolken.« Obwohl Cloud wusste, dass er vermutlich kein glückliches Händchen mit der Wahl seines Themas haben würde, ließ er nicht locker. »Du bist anders geworden, seit …« »Seit was? Und: Definiere anders.« »Du weißt schon, was ich meine. Seit ich mit Assur zusammengekommen bin. Seitdem bist du verändert, mir gegenüber zumindest. Immer eine Idee streitsüchtiger als früher. Immer mit schlecht verborgenem Groll hinter den Augen …« »Bilde dir nur keine Schwachheiten ein.« Sie starrte angestrengt vor sich in die Holowiedergabe des Trümmerfeldes. »Ich dachte, zwischen uns sei alles klar. Besprochen. Und wir seien uns einig.« »Natürlich. So ist es doch auch. Wir sind uns einig. Wir hatten mal was miteinander, aber das hat irgendwie nicht so gezündet wie zwischen dir und dieser … Assur. Folgerichtig haben wir es beendet und uns auf reine Freundschaft konzentriert.« Sie sah ihn kurz an, und Kühle legte sich über ihr schmales, ausdrucksstarkes Gesicht, das ihn ausgerechnet in diesem Moment mehr anzog als all die Monate davor. Falls sie ihm etwas vormachte, tat sie es perfekt. In diesem Moment kaufte er ihr ab, dass ihre Spitzzüngigkeit, die sie ihm gegenüber zuweilen an den Tag legte, tatsächlich nicht das Geringste mit seiner Liaison zu tun hatte. Und die Folge davon, dass er ihr
Glauben schenkte, war, dass er sich selbst wie ein Trottel fühlte – weil er ihr indirekt Eifersucht unterstellt hatte. »Wo liegt dein Problem? Läuft es nicht zwischen dir und dieser … Assur? Willst du dich bei mir ausheulen?« Cloud schüttelte den Kopf. »Es steckt alles noch in den Anfängen. Aber es läuft prächtig.« »Na also. Dann genieße es, so wie ich meine kleinen Affären genieße. Wir sind erwachsene Menschen. Du und ich können damit umgehen. Unsere Freundschaft wird darunter niemals leiden. Wenn ich momentan etwas angepisst wirken sollte, dann bist garantiert nicht du der Grund, mein Lieber. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht und wie du damit zurecht kommst, aber bei mir gibt es nun mal zwischendurch immer Phasen, in denen ich wie ein Hund darunter leide, die Erde verloren zu haben. Sie war ein Ankerpunkt, auch wenn ich dort bittere Zeiten durchlebte. Allein zu wissen oder auch nur hoffen zu können, dass sie noch da war, sich um die gute alte Sonne drehte, gab mir Trost und Ansporn, wenn's mal gerade eher bescheiden lief. Und diese Zeiten hatten wir zur Genüge, oder, John? Aber selbst als wir verzweifelt nach dem Solsystem suchten, nicht wussten, wo im Dschungel der Milliarden Sterne unserer Galaxie es sich versteckte, war da immer die Zuversicht, es irgendwann wieder zu finden. Was ja auch geschah. Wir fanden es in Master-Hand. Unter der Knute dieser verdammten Keelon, die mit Zeit und Lebewesen jonglierten, wie es ihnen beliebte … Na und? Immerhin: Die Erde war noch da. Nicht mehr ganz so, wie wir sie verlassen hatten, aber doch im Groben noch erkennbar.« »Sie ist immer noch da«, warf er ein, weil er begriffen hatte, wohin ihre Ausführungen gingen. »Selbst der Mond ist noch ›da‹. Irgendwie.« Sie nickte. »Irgendwie. Das ist es. Genau das. Unser letzter Besuch und die Tatsachen, die wir dabei hinnehmen mussten, nagt unablässig in mir. Seither habe ich das Gefühl, dass ›meine‹ Erde eben nicht mehr ›da‹ ist. Das, was Cronenberg aus ihr gemacht hat, dieses verdammte Scheusal, ist doch nur noch –« Er unterbrach sie, weil er spürte, dass ihr das Aufwühlen der Erin-
nerungen mehr schadete als gut tat. Vor allem Cronenberg war nach wie vor ein rotes Tuch – oder ein dunkler Fleck in ihrer Vergangenheit. Diese Mann hatte sie geknechtet. Mental und körperlich missbraucht. Und Jahrzehntausende hatten nicht genügt, ihn loszuwerden, seinen Schatten abzuschütteln und die Bilder des Schreckens, die sie mit ihm verband, für immer zu begraben. Cronenberg war nicht nur der Diktator der Neuen Erde, er war auch Scobees persönlicher Fluch. Cloud wusste, dass er daran nichts ändern konnte. Aber er stand auf und stellte sich neben Scobees Sitz, die fragend zu ihm aufschaute und deren Augen noch größer wurden, als er sich zu ihr hinunterbeugte und sie umarmte. »Es tut mir leid«, sagte er leise und scherte sich nicht darum, ob andere in der Zentrale die Szene beobachteten. »Du weißt schon, was ich meine. Ich hänge an dir. Du bist mir wichtig. Daran wird sich niemals etwas ändern, selbst … selbst wenn du mir jetzt eine runterhaust.« Bislang hatte nur er sie umarmt, doch nach seinen Worten spürte er, wie sich ihre Anspannung löste und sie die Geste erwiderte. Aber sie sagte kein Wort. Nach einer Weile erhob er sich und kehrte zu seinem Sitz zurück. »Wir haben etwas«, meldete Sesha, als hätte sie genau diesen Moment abgewartet und vorher nicht stören wollen – was Cloud einen zwar wundervollen Gedanken fand, aber gleichzeitig auch als ziemlich unwahrscheinlich erachtete. »Ein Fund?«, fragte Scobee, die sich neben ihm gerade zurechtsetzte. »Einer?«, sagte die KI. »Es sind … Tausende. Moment, ich gebe das Scanergebnis in die Vergrößerung …«
»Nein! Unmöglich! Das ist völlig … unmöglich! Gerade sprachen wir noch davon. Von –« »– der guten alten und der schlechten neuen Erde.« Cloud nickte gedankenverloren. »Das taten wir, wir sprachen über diesen Mist-
kerl Cronenberg, der jetzt Teil eines einstigen Gigahirns ist und gar nicht daran denkt, ins Gras zu beißen. Und das hier …« Er starrte auf das von Sesha gelieferte Detailbild. »… geht auch auf sein Konto!« Kopfschüttelnd lehnte er sich in seinem Sitz zurück. »Sesha, benachrichtige Jarvis. Ich will, dass er kommt und sich das hier auch ansieht – mit uns zusammen. Wo steckt er gerade?« »Ich war nur kurz auf dem Klo.« Von schräg links näherte sich Jarvis im Eilschritt. Offenbar hatte er die Zentrale gerade betreten und Clouds Worte noch aufgeschnappt. »Was ist? Gibt es etwa doch noch Käfer da draußen, die die Vernichtung des Kahns überlebt haben?« Cloud wartete, bis Jarvis seinen üblichen Platz eingenommen hatte. Dann informierte er ihn über die Natur der Entdeckung. »Keine Treymor, Jarvis. Aber dennoch etwas, das wir kennen – seit unserem letzten Besuch des Solsystems. Du erinnerst dich an Cronenbergs … Elitesoldaten?« »Die Fraktalen?« Cloud nickte und zeigte auf die Vergrößerung dessen, was die RUBIKON-Sensoren draußen zwischen den Trümmern aufgespürt hatten. »Die Werte entsprechen exakt dem, was wir bezüglich fraktaler ›Splitter‹ wissen. Wir hatten ja das ›Vergnügen‹, sie untersuchen zu können.« »Erinnere mich nicht daran.« »Das lässt sich leider guten Gewissens nicht ignorieren.« »Verstehe. Scob? Du siehst so käsig um das Näschen herum aus. Was ist?« Cloud war einmal mehr bestürzt über das mangelnde Feingefühl des Freundes. Denn der wusste auch, was speziell Scobee mit Cronenberg und dem ganzen Drumherum verband. »Lass sie. Sie ist in Ordnung … Mehr als das.« Er fing ihren Blick auf, und es tat ihm gut, was sie ihm signalisierte. »Was schlagt ihr vor?« »Wie kannst du das überhaupt fragen? Bei den Pilzen warst du doch auch nicht zimperlich«, knurrte Jarvis. »Volle Breitseite auf
diese Biester! Du siehst doch, was der Scan besagt … Da! Sesha hat es noch einmal fein säuberlich in ihre KI-Sprache gepackt: Diese Fetzen, die draußen rumtreiben, beinhalten, auch wenn's kaum zu glauben ist, noch Leben. Wir müssen sie rösten, sonst stellen sie weiterhin eine Gefahr dar für jeden, der irgendwann zufällig auf die Spuren der Schlacht stößt. Wir –« »Du scheinst es ja ziemlich lässig zu nehmen, was hinter den fraktalen Splittern steht.« »Was meinst du?« »Die Schlacht. Die Auseinandersetzung, deren Zeuge wir wurden. Ein X-Schiff, das von anderen attackiert wurde … Wir glaubten, die Treymor seien sich uneins geworden. Wir dachten an unterschiedliche Parteien bei ihnen, die begonnen haben, mit Waffengewalt gegeneinander vorzugehen, vielleicht um die absolute Vorherrschaft streiten … Aber die Wahrheit ist noch viel monströser. Weil sie eine schreckliche Vision heraufbeschwört.« »Jetzt hör aber auf. Klar, hab ich kapiert, womit wir es zu tun haben: Das ist eine Sensation, aber eine von der übelsten Sorte!« »Ein X-Schiff, das offenbar gar nicht mit Treymor besetzt war, sondern mit Fraktalen«, sagte Scobee dunkel. »Ich erinnere mich, dass die Treymor den Hohlmantel um das Erde-Mond-Konstrukt angriffen. Cronenberg muss es gelungen sein, sich in den Besitz zumindest eines ihrer Schiffe zu bringen – wenngleich ich nicht glaube, dass es nur eins war.« »Aber selbst wenn ihm das gelungen wäre. Die Treymor zu attackieren und zu vernichten, mag ja noch glaubhaft sein. Wahrscheinlich haben sie sich völlig verschätzt. Wobei wir immer noch nicht wissen, wie sie überhaupt an die Koordinaten kamen und warum ausgerechnet die Hohlwelt sie interessierte … Aber davon abgesehen: Cronenberg mag in den Besitz eroberter X-Schiffe gekommen sein – das beantwortet aber noch lange nicht, wie es ihm in dieser kurzen Zeit gelungen ist, sie beherrschen zu lernen. Das … und nur das … macht mir Angst. Und was, wenn Cronenberg nicht nur geenterte X-Schiffe navigieren gelernt hat, sondern …« Er verstummte. Sah in die Gesichter der Freunde. »Ihr
wisst, was ich meine, oder?« »Das hältst du für denkbar?« Scobee war bestürzt wie selten zuvor. »Es war schon immer besser, vom Schlimmsten auszugehen, wenn man eine Lage analysiert. Und ja: Ich halte es für möglich. Weil Cronenberg über Geisteskapazitäten verfügt, die wir uns gar nicht vorstellen können oder wollen, und weil wir bei unserem Kurzbesuch nur einen Bruchteil dessen sahen, was er sich aufgebaut hat.« »Du meinst, er hat damit begonnen …«, setzte Jarvis an. »… seine eigenen Schiffe zu bauen«, vollendete Cloud für ihn. »Nach exaktem Vorbild der erbeuteten … ja. Ja, genau das fürchte ich. Und solange wir uns nicht vom Gegenteil überzeugen konnten, sollten wir lieber genau davon auch ausgehen. Aber …« Er nickte hin zur Holosäule. »… darüber lässt sich womöglich Klarheit erlangen, ohne dem Solsystem einen Besuch abstatten zu müssen.« »Die fraktalen Splitter?« Jarvis schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst!« »Sesha?« »Commander?« »Du erinnerst dich an das Verfahren, mit dem wir seinerzeit den Fraktalen dingfest machten und die Schiffssicherheit garantierten?« »Natürlich.« »Ich will, dass du es noch strenger auf alle Eventualitäten hin abklopfst und dann, jeden verdammten Fetzen, den du ortest und in dem noch ein Funke Leben steckt, an Bord holst.«
10. »Du weißt, dass es Kämpfer sind – von Cronenberg gezüchtete Superkämpfer. Deshalb halte ich es für unverantwortlich, Überreste von ihnen –« »Deine Meinung bleibt dir unbenommen. Ich habe sie zur Kenntnis genommen. Aber meine Entscheidung entspringt einer RisikoNutzen-Abwägung. Und ich bin optimistisch, dass es sich lohnen könnte, einen Fraktalen wiederzubeleben, wiederherzustellen. Wir bekämen einen unschätzbaren Inforrnations-Input.« »Aber auf die Gefahr hin, dass der Typ außer Kontrolle gerät!« »Das werden wir ausschließen. Sesha, wie gut sind deine Maßnahmen?« »Unter Zugrundelegung aller bisherigen Erfahrungen mit den Fraktalen – zu einhundert Prozent sicher.« »Siehst du?«, wandte sich Cloud an Jarvis. »Du malst völlig umsonst schwarz.« »Ich erinnere dich daran, wenn es so weit ist, dass auch du erkennst, wie viel von Seshas diesbezüglichen Prognosen zu halten ist. Die KI gibt sich doch nie eine Blöße.« »Das ist eine Unterstellung«, seufzte Scobee. »Bist du jetzt ihre Anwältin?« »Nein, aber im Gegensatz zu dir, versuche ich objektiv zu sein. John hat recht: Das ist eine Chance, die wir uns nur bei ganz begründetem Verdacht, ihre Risiken nicht unter Kontrolle halten zu können, entgehen lassen dürfen. Die Fraktalen stellen eine so weitreichende Bedrohung des galaktischen Friedens dar, dass wir jede Gelegenheit, sie besser studieren zu können, nutzen müssen. Zumal jetzt noch das Problem der dazu gewonnenen interstellaren Mobilität hinzugekommen ist. Wenn Cronenberg, diese Ratte, dieses Potenzial weiter ausbaut – und wer zweifelt daran, dass er es versuchen wird? – stehen den Milchstraßenvölkern harte Zeiten bevor.
Die alten Erinjij waren gegen diese Menschheit ein Klacks!« »Genau das ist der Punkt«, stimmte Cloud zu. »Wir hätten die Bractonen um Unterstützung bitten können – gegen Treymor und gegen Cronenbergs Bande«, sagte Jarvis. »Warum haben wir eigentlich nicht?« »Weil die Bractonen keine Kriege für uns führen sollen – und wahrscheinlich auch nicht würden«, erwiderte Cloud. »Aber speziell die Treymor müssten sie doch selbst interessieren. Spätestens seit deren Bemühen, die Zerschlagung der Negaperle zu verhindern.« »Wer sagt, dass sie nicht bereits an ihnen dran sind?« »Das glaube ich nicht.« »Ach, und warum?« »Ich habe das Gefühl, dass all die Jahrmilliarden, die dieses Volk auf dem Buckel hat, die ERBAUER meine ich, ihm eher geschadet als genutzt haben. Für mich sind sie zu Zauderern geworden. Einzig Kargor …« »… der dir ja schon immer ans Herz gewachsen war«, lachte Scobee. »Einzig Kargor«, ließ sich Jarvis nicht beirren, »hat noch Mumm in den Knochen. Immerhin hat er ein Wagnis auf sich genommen, das locker in seinem Untergang geendet sein kann.« »Möglicherweise existiert er wirklich nicht mehr«, sagte Cloud. »Portas hat ihn nicht mehr hergegeben, seit er mit der Tridentischen Kugel dorthin aufbrach – er und unzählige andere Individuen seines Volkes, die bereit waren, das Wagnis mit ihm zusammen einzugehen. Ich hoffe, eines Tages noch einmal von ihm zu hören. Und wünsche ihm … ihnen, dass sie den Weg zurück nach Hause gefunden haben.« Scobee wiegte skeptisch den Kopf. »Ob wir uns das wirklich wünschen sollten, weiß ich nicht.« »Warum?« »Weil … nun ja, die Negaperle wurde sicher nicht grundlos im Milchstraßen-Black-Hole etabliert. Die Bractonen glauben, von der anderen Seite aus. Ihrem Urkontinuum, wohin ja auch Kargor zu-
rückstrebte. Aber wenn dort zwischenzeitlich die Entscheidung getroffen wurde und man bereits handfeste Maßnahmen einleitete – Stichwort Negaperle –, ist es fraglich, ob Kargors Rückkehr dorthin zu einer Entspannung der Gefahrenlage für unser Universum beitrüge.« »Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Cloud. »Kargor wäre der größte Fürsprecher für jenen Teil seines Volkes, der hier zurückgeblieben ist, im Angksystem. Demzufolge würde er alles dafür tun, die Verantwortlichen ›drüben‹ davon zu überzeugen, dass sie das sogenannte EXPERIMENT weiterlaufen lassen – es schadet denen auf der anderen Seite ja nicht.« »Weder das eine noch das andere ist bewiesen, oder?«, hielt Scobee unbeirrt dagegen. »Weder du noch ich wissen, ob Kargor wirklich der große Fürsprecher ist und wenn ja, ob sein Wort überhaupt Gehör fände. Selbst wenn der Zeitablauf drüben ein anderer ist, wäre auch für die Urbractonen sicherlich immens viel Zeit verstrichen, seit Kargor und die Seinen von ihnen abgekapselt wurden. Die Gegebenheiten können sich radikal verändert haben. Auch die Ziele. Und letztlich wissen wir auch keineswegs, ob das EXPERIMENT der anderen Seite nicht eben doch schadet. – Wir wissen eigentlich gar nichts darüber, und das ist ein verdammt dünnes Eis, auf das ich nicht setzen möchte.« »Es steht ja momentan auch nicht zur Debatte.« »Über kurz oder lang werden wir damit wieder konfrontiert werden, darauf –« »– wettest du?« Cloud grinste breit. »Worum haben wir eigentlich vorhin gewettet? Du weißt schon, als du der Ansicht warst, dass in den Trümmern des X-Raumers nicht das Geringste von Nutzen zu finden sei.« »Ob die Splitter von Nutzen sind, muss sich ja erst noch zeigen.« »Ausflüchte! Also, wie war der Wetteinsatz?« »Such's dir aus.« »Hey, was für ein unmoralisches Angebot«, rief Jarvis dazwischen. »Also, ich wüsste … aber um mich geht es ja leider nicht. Und du bist gebunden. Schade, John, wirklich schade …«
»Manchmal kannst du eine unglaubliche Nervensäge sein, hat dir das schon mal jemand gesagt?« »Niemals!«, behauptete Jarvis im Brustton der Überzeugung. »Eines Tages wirst du für deine Lügen in der Hölle schmoren«, war Scobees Reaktion darauf. »Und was die verlorene Wette angeht: Ich werde mit Assur zusammen einen Kaffee trinken. Wahlweise auch Tee. Ich finde das ein großes Opfer von mir – und zugleich den finalen Beweis, dass ich sie dir nicht neide.« »Äh …« Cloud sah sie verdutzt an, rang um Worte. »Jetzt weißt du nicht, ob du dir das wünschen sollst, nicht wahr? Aber da musst du durch, denn ich meine es ernst. Und ich schiebe es auch nicht auf die lange Bank. Es wird sicher interessant, mit der Frau deines Herzens zu plaudern. Vielleicht hat sie ja die ein oder andere Frage an mich …«
Die RUBIKON nahm Fahrt auf in Richtung der Koordinaten, zu denen sich die X-Schiffe der Treymor abgesetzt hatten. Cloud wollte ihnen folgen – aber nicht via Transition, von der er fürchtete, sie könnte abseits der kaschierenden Energieentfaltungen eines Raumgefechts von den Treymor ebenso angemessen werden, wie es der RUBIKON umgekehrt gelungen war. Nein, das Rochenschiff nutzte seine zweite Möglichkeit des überlichtschnellen Reisens – die bislang einzigartig schien, wenn man der Antriebe bekannter Spezies gedachte, mit denen man Kontakt bekommen hatte. Die Schwingen des Rochens bewegten sich und »ritten« dabei auf den unsichtbaren Wellen des kosmischen Ozeans. Das dabei erreichte Tempo war ein X-faches des Lichtes, und das Besondere daran, dass die RUBIKON das bekannte Universum dabei nicht verließ. Sie brach »lediglich« die sonst und für alle anderen herrschenden Naturgesetze … Wie genau ihr das gelang, hatte weder Sesha ihnen bislang plausibel machen können noch irgendein anderer kluger Kopf an Bord oder anderswo. Die Bractonen mochten es wissen, aber statt es zu erklären, hatten sie lieber noch weitere Rätsel hinzugefügt: die
Angks, die mit ihren metaphysischen Kräften dem Schiff weitere »Extras« beisteuerten. Cloud hatte kein Problem damit, nicht jedes Funktionsprinzip der RUBIKON zu durchschauen. Er hatte auch in seinem früheren Leben, das noch sehr viel simpler gestrickt war, bedenkenlos Geräte benutzt, die er nicht bis ins Kleinste hätte nachbauen können. Es war ihm nicht wichtig, alles zu wissen. Aber es war hilfreich, alles, was da war, gegebenenfalls auch benutzen zu können … Sehr pragmatisch, Herr Astronaut! Er lächelte. Weil er genau das immer geblieben war: der Astronaut, der sich damals für die Marsmission beworben hatte. Ein Kindskopf par excellence, aber zugleich von dem unstillbaren Verlangen beseelt, mal »da oben« vorbeizuschauen und bei der Gelegenheit möglichst Gewissheit über das bis dato ungewisse Schicksal seines Vaters, Nathan Cloud, zu erlangen … All das war ihm gelungen – auf die eine oder andere Weise. Und auf manche Erkenntnis hätte er im Nachhinein vielleicht gerne verzichtet. Andererseits … gehörten auch die weniger ruhmreichen Kapitel zu seinem Leben. Nein, er war zufrieden und mit sich im Reinen. Verdammt, er fühlte sich prächtig. Sicher trug Assur dazu bei. Aber auch die Freunde, die er um sich geschart hatte. Und nicht zuletzt auch die Entspannung der Situation nach der erfolgreichen Etablierung einer Tridentischen Kugel anstelle des negierenden schwarzen Dings, das zeitweilig für Auflösungserscheinungen im Kosmos gesorgt hatte. Auch die Magellanschen Wolken waren jetzt wieder sicher. Der Neuordnung des foronischen Reiches durch Siroona stand nichts Unüberwindbares mehr im Wege … Ja, es lief gut zurzeit. Er hoffte, dass es noch ein Weilchen so bleiben würde. Einzig die Tragödie der Wiederkeimer … und was er für sie hatte tun müssen … lag als kleiner Schatten über dem überwiegend Positiven. Er wünschte, er hätte etwas anderes für die Pilzwesen tun können
als jene nicht mehr rückgängig zu machende »Lösung«, zu der es letztlich gekommen war …
»Das sind sie?« »Ja.« »Sie sind in natura viel größer, als ich annahm.« »Was hattest du denn angenommen?« »Ich weiß nicht. Kleiner eben.« »Mir ist diese Größe lieber. Man kann mehr damit anfangen.« »Sind aber auch potenziell gefährlicher als kleine – oder?« Scobee lächelte oberlehrerhaft. »Du bist ein Schwätzer, Jarvis, kann das sein?« »Nur wenn ich mit dir zusammen bin. Du löst mir eben die Zunge. Du inspirierst mich zu ungeahnten Eingebungen. Du bist so etwas wie meine Muse …« »Schwätzer, sagte ich doch.« »Jetzt müsste ich beleidigt sein. Eingeschnappt. Oder?« »Ich hatte es zumindest gehofft, ja.« Er schüttelte feixend den Kopf. »Ich weiß ja, dass du es nicht so meinst. Ist halt deine Art, mir zu zeigen, wie sehr du mich magst.« »Regelrecht vernarrt bin ich in dich.« Er strahlte. »Wie kann ich dir helfen?« Er nickte zu der energetischen Absperrung hin, hinter der Sesha alle geforderten Vorbereitungen getroffen hatte. »Indem du einfach mal zur Abwechslung die Klappe hältst und dich zurückhältst. Ich mach das schon ganz allein. Bin ein großes Mädchen. John scheint das jedenfalls zu glauben, sonst hätte er nicht mir die Leitung des Versuchs übertragen, sondern dir.« »Mir hat er über- beziehungsweise aufgetragen, auf dich aufzupassen, Chefin.« »Davon hat er mir nichts gesagt. Und ich wüsste auch nicht, wie du auf mich aufpassen könntest. Alles Erforderliche hat Sesha längst in die Wege geleitet. Hier bin ich sicher wie in Abrahams Schoß.« »Kenn ich nicht. Wer ist das?«, grunzte Jarvis so überzeugend,
dass sie es ihm fast abgenommen hätte. »Tu's endlich: Halt die Klappe. Und lass mich machen. Wir werden sehen, was und ob überhaupt etwas dabei herauskommt.« »Sehen jedenfalls nicht sehr lebendig aus. Könnte ja auch sein, dass Sesha sich irrte und die Treymor es richtig einschätzten. Vielleicht sind die Brocken so tot, toter geht nicht, und sie haben sie deshalb liegen lassen.« »Treiben. Wenn schon, dann treiben lassen. Wir sprechen vom Weltall – da lässt man nichts liegen.« »Oberoberlehrerhaft – sag ich doch. Und 'ne Zicke dazu.« »Nimm das zurück, oder –« »Kommt ihr voran?« Johns Stimme aus der Bordsprechanlage. »Aber ja. Und mein Aufpasser ist mir dabei eine große Hilfe, ich danke dir auch schön, Commander.« »Aufpasser?« »Jarvis, der alte Nervtöter.« »Ich wusste gar nicht, dass er bei dir ist.« Scobee ballte die Fäuste und drehte sich langsam zu Jarvis um. Aber dort, wo er eben noch gestanden hatte, war nichts mehr. »Auch gut. Wahrscheinlich transitiert.« Scobee öffnete die Fäuste und wandte sich der Versuchsanordnung zu. »Na, dann wollen wir mal …«
Er war immer noch da. Nur unsichtbar. Die Sache gefiel ihm nicht. Überhaupt nicht. Das hatte er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Um so mehr fuchste ihn, dass der Commander seine Warnungen in den Wind schlug. Fraktale – damit war nicht zu spaßen. John hätte das wissen müssen. Aber das wusste er sicherlich auch. Er schien nur vergessen zu haben, wie unberechenbar sie waren. Nein, die Sache gefiel ihm nicht. Und noch weniger gefiel ihm, dass Scobee die Untersuchung persönlich vornehmen wollte … und
sich damit höchstpersönlich in Gefahr brachte. Ich werd auf dich aufpassen, Mädchen, dachte Jarvis. Ich möchte dich noch ein bisschen länger um mich haben. Glaub mir, sterben ist kein Vergnügen. Frag mich, keiner weiß darüber besser Bescheid als ich. Mit Argusaugen wachte er über jeden von Scobees Schritten.
11. »Wie viele Fragmente sind es insgesamt?« »Siebenunddreißig«, antwortete Sesha. »Und du hast 37 ›Einzelgefängnisse‹ errichtet?« »Du siehst es auf der Holografik, die ich für dich aufbereitet habe.« Scobee nickte. Linker Hand, etwas versetzt, flirrte das angesprochene Hologramm in der Luft, während unter ihr das Feld für ihren Versuch bereitet war. Sie stand auf einer Galerie mit nabelhoher Brüstung und überblickte einen saalgroßen Raum, der in exakt siebenunddreißig Parzellen unterteilt war, eine jede würfelförmig und gut sichtbar, weil die Energiewände grünlich eingefärbt waren, ohne dabei ihre Transparenz merklich einzubüßen. Hinzu kam, dass das Raumlicht leicht heruntergedimmt worden war. Optimale Bedingungen, gestand sich Scobee ein. Dennoch hatte sie ein dumpfes Gefühl von Unbehagen. Jarvis hatte vor seinem Verschwinden durchaus den Finger in die Wunde gelegt: Was sie vorhatte und was von John genehmigt, ja sogar initiiert worden war, barg mehr Unwägbarkeiten in sich, als sie hatte zugeben wollen. Viel zu wenig war bislang über die Fraktalen bekannt, und offenbar waren sie stark genug, dass sie selbst die Treymor über der Hohlwelterde hatten überraschen können. Verdammt stark also, dachte sie. Ich werde es mir jede Mikrosekunde vor Augen halten, damit ich nicht leichtsinnig werde. Rein optisch gaben die Fragmente nicht viel her. Sie sahen nicht aus wie Leichenstücke, sondern eher wie anthrazitfarbene Klumpen unterschiedlicher Masse. Von Finger- bis Unterarmgröße, aber nicht wie Finger oder Unterarme aussehend. Es war Gewebe, eindeutig – organisches Gewebe. Und nach der Vernichtung des X-Schiffes hatte es eine Zeitlang im All getrieben, hätte demnach, als die RUBIKON es herausfischte, schockgefrostet
sein müssen. War es aber nicht. Die Eigentemperatur betrug mehrere Grad plus, als wir es einfingen. Verrückt … Siebenunddreißig Fragmente. Wie viele Fraktale mochten dafür ihr Leben gelassen haben? Scobee machte sich nichts vor. Die bei der Explosion des Raumers frei gewordenen Gewalten hatten das Gros der Besatzung verbrannt, ohne auch nur die klitzekleinste Spur zu hinterlassen. Was sie hier vor sich sah, waren die Überreste von »Glückspilzen«, die sich zum Zeitpunkt der Zerstörung an vom Explosionsherd weit entfernten Stellen des Schiffes befunden hatten. Deshalb hatte es sie nicht zerstäubt, sondern lediglich zerrissen. Gestorben waren sie trotzdem – in konventioneller Betrachtungsweise. Als Individuen gestorben – aber als immer noch von Leben erfüllter Organismus existierten sie weiter. »Messbare Vitalimpulse«, hatte Sesha noch einmal versichert, bevor sie die Funde an Bord nahm und unter Quarantäne stellte. Es waren Fraktale. Menschen wie Scobee oder John oder … wer auch immer … hätten Kräfte, wie sie im Zuge und in der Folge der Explosion frei geworden waren, niemals auf diese Weise überstanden. Ihre verstümmelten Leichenteile wären ebenso tot gewesen wie der Mann oder die Frau, zu denen sie sich einmal zusammengesetzt hatten. Nein, Fraktale waren anders. Gruseliger. Scobee schauderte, ließ es aber nicht nach außen dringen. »Wir beginnen«, signalisierte sie Sesha. Die KI würde für sie alle Anweisungen in die Tat umsetzen. »John? Bist du zugeschaltet?« Cloud bestätigte. »Sei vorsichtig.« »Was denkst du denn?« Sie lächelte grimmig. »Okay. Sesha?« Sie zog einen Laserpointer aus ihrem Instrumentengürtel und markierte damit zwei Gewebeklumpen, die sich in aneinander angrenzenden Parzellen befanden. Verhältnismäßig kleine Brocken, der eine faust-, der andere gerade mal daumengroß. »Energiewand zwischen den beiden Parzellen deaktivieren.«
Die grünliche Barriere an exakt der genannten Nahtstelle erlosch. Schon rein optisch lagen nun beide Klumpen in ein und derselben »Zelle«, die nun doppelt so groß war wie die umliegenden. »Traktorstrahl. Beide erfassen.« »Erfasst«, sagte die KI. »Zusammenführen. Laaaangsam.« Beide Gewebeteile setzten sich in Bewegung, schwebten aufeinander zu. Berührten und verformten sich unter dem leichten Druck, den der Traktorstrahl auf sie ausübte. Sonst geschah nichts. Enttäuscht wandte sich Scobee an Cloud. »Es funktioniert nicht. Ich dachte, sie würden –« Weiter kam sie nicht. Weil sich bei und an den Klumpen etwas tat. »Offenbar brauchen sie einige Zeit zur Zündung der Fusion«, sagte Cloud. »Ganz ruhig. Sesha? Noch einmal die Abschirmung überprüfen. Es darf keine Lücke geben.« »Dicht«, sagte die KI, während … … die beiden Gewebeklumpen wie von bläulichen Blitzen umwabert wurden und übergangslos … zu einem einzigen, größeren verschmolzen. Es sah aus, als würden zwei Quecksilberkugeln solange aneinander reiben, bis sie ineinander übergingen und zu einer einzigen zusammenwuchsen. »Mit Zeitlupenaufnahme überblenden!«, ordnete Scobee an. Sesha lieferte die geforderte Aufzeichnung. In der verlangsamten Darstellung war mehr erkennbar als mit dem bloßen Auge. Im Moment der Verschmelzung schienen sich beide Brocken in Myriaden winziger Teilchen aufzuspalten, die ineinander strömten und sich dann wieder zu einem festen Verbund formten. »Kann ich eine Hochvergrößerung aus jedem der beiden Partikelströme haben, bevor sie sich vereinten?«, fragte Scobee. Die KI lieferte prompt. »Da!« Scobee konnte ihre Erregung kaum mehr bezähmen. »Noch einmal Detailvergrößerungen von jeweils nur einem Partikel pro
Ausgangsklumpen!« Sesha justierte ihre projizierten Linsen, und dann hatte Scobee, was sie wollte. Zwei Großaufnahmen, die jeweils eine Person zeigten. Einen nackten Mann und eine nackte Frau. Fraktale. Die Eigenart dieser Cronenbergschen Schöpfung bestand darin, dass sich ihre Körper aus zellgroßen Elementen zusammensetzten, von denen ein jedes genauso aussah wie der komplette Körper insgesamt. Und hier, anhand der Teilchen, war zu erkennen, wie die Fraktalen, von denen die geborgenen Teile stammten, zu Lebzeiten ausgesehen hatten. Jetzt waren sie zu einem neuen, größeren Klumpen verschmolzen, und Scobee brannte darauf, herauszufinden, was für Auswirkungen dies auf die winzigen Darsteller hatte, die jetzt wieder unsichtbar geworden waren. Lediglich ein größerer Gewebebrocken lag jetzt in der Doppelparzelle. »Ich fahre fort – falls du keine Einwände hast«, wandte sich Scobee an John. »Nein, nein, mach nur – solange Sesha die festgelegten Sicherheitsvorkehrungen einhält und überwacht …« »Okay, dann zum nächsten Schub. Sesha? Du siehst die neue Markierung? Wiederum eine benachbarte Zelle. Objekt etwa unterarmgroß. Führe es mit dem gerade Entstandenen zusammen. Dabei Hochvergrößerung und Zeitlupenwiedergabe wie beim ersten Mal folgen lassen …« Ohne Zwischenfall wurden die beiden Teile vereint. Die bläulichen Entladungen, die die Verschmelzung begleiteten, schienen mit einem mehr an Masse auch erkennbar stärker auszufallen. Zu Scobees und wohl auch Clouds Überraschung sahen die kurz sichtbar werdenden winzigen Personen, die vorher Mann und Frau dargestellt hatten, auf Seiten des bereits zuvor fusionierten Klumpens nun plötzlich völlig verändert aus. Wie … wie Missbildungen: zwei Köpfe, aber nur ein Körper, der noch dazu monströs aufgebläht wirkte. Geschlechtsmerkmale waren überhaupt nicht mehr zu
erkennen. Scobee stöhnte leise auf. Der neu hinzu geführte Klumpen setzte sich aus den Miniaturabbildungen eines Mannes zusammen, der keine Ähnlichkeit mit Mann Nummer eins aus einem der beiden anderen Klumpen hatte. Die Verschmelzung erschuf ein einziges Objekt mit der Masse aus allen drei bislang beteiligten Klumpen. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir fortfahren sollen. Wir hatten gehofft, dass es uns gelingt, einen Fraktalen entstehen lassen, um ihn einem Verhör unterziehen zu können. Das hätte aber wohl nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn wir Teile, die ursprünglich schon zusammengehörten wieder zusammenführen könnten. Sonst entsteht hier nur ein schrecklicher Homunkulus, mit dem wir nicht viel anfangen können. Lass uns eine Methode austüfteln, mit der wir vor der Fusion sehen können, aus welchem Fraktalen sich der jeweilige Klumpen einmal im Verbund mit anderen zusammensetzte. Wenn wir von einem Bestimmten genügend Teile aus den Geborgenen herausfinden können, reicht das möglicherweise, um einen so weit stabilen Körper entstehen zu lassen, dass wir mit ihm in Kontakt treten und ihn befragen können. Alles andere … scheint mir aussichtslos.« »Du hast recht. Brechen wir diesen Versuch ab und … He! Was geht da vor?« Scobees Aufmerksamkeit war kurz auf das Gespräch mit Cloud konzentriert gewesen. Doch dessen Ausruf ließ sie augenblicklich begreifen, was ihn zu diesem alarmierten Ton veranlasste. Der neu entstandene Klumpen (was für ein schreckliches Wort) war in Bewegung geraten. Und im Unterschied zu vorher bewegte ihn nicht mehr der Traktorstrahl, sondern die Zuckungen, die ihn schüttelten, kamen ganz aus ihm selbst, aus eigenem Antrieb. »Ich hatte es befürchtet«, murmelte Scobee. »Was?«, fragte Cloud erregt. »Dass sie einander wieder abstoßen. Dass es nicht von Bestand sein kann, solange nicht die zueinander gehörige Materie wiederver-
eint wird.« »Sie meinen, wie in früheren Zeiten implantierte Organe von Patienten abgestoßen wurden, die nicht hundertprozentig die Voraussetzungen erbrachten, um sie annehmen zu können?« »In etwa so, ja …« Gebannt starrte Scobee auf den sich immer rasender gebärdenden Gewebeklumpen, der jetzt an einen Wurm erinnerte, den ein kleiner Junge auf eine Nadel gespießt hatte. Nein, viel ärger: Als wäre besagtem Wurm noch eine hochwirksames Stimulans injiziert worden. Er krümmte sich und zuckte und rutschte hin und her, als hätte sich in seinem Inneren eine Maschine in Gang gesetzt, die ihn mit Stromstößen hin- und herschleuderte. »Himmel, da! Siehst du das, Scob? Nachbarparzelle!« Sie sah es. Sie hatte es offenbar in exakt derselben Sekunde bemerkt wie Cloud. Aber – »Sesha?« »Scobee?« »Bist du das? Hast du den Traktorstrahl auf die Nachbarparzelle gerichtet?« »Negativ.« »Dann …« »… macht es das von ganz allein«, vollendete Cloud für sie. »Verdammt, ich gebe der alten Unke Jarvis ungern recht, aber vielleicht habe ich wirklich unterschätzt, was wir uns an Bord holten … Das Ding bewegt sich von allein. Da, der kleine Klumpen. Er …« Er klatschte gegen die grüne Energieabschirmung, die ihn vom zweifach fusionierten Klumpen trennte, als hätte ihn eine unsichtbare Hand mit Wucht dagegen geworfen. Anschließend rutschte er wie an einer Glasfläche nach unten zu Boden. Aber kaum war er dort angelangt, bäumte er sich wieder auf und versuchte, die Barriere erneut zu durchdringen. Mühsam glitt er an der Wand hoch … rutschte wieder ab … kletterte hoch … »Er versucht offenbar, sich ebenfalls mit dem größeren Klumpen zu vereinen«, sagte Cloud heiser. Scobee hatte bereits den nächsten Kandidaten aufs Korn genommen. Diesmal sogar einen Klumpen, der vier Parzellen weiter unter-
gebracht war und bislang völlig regungslos gewesen war. Nun rührte er sich plötzlich. Und vollführte dieselben aussichtslosen Bemühungen, zu dem fusionierten Klumpen zu gelangen, wie der andere. Und dann … regten sich nach und nach sämtliche Fragmente, die aus den Trümmern des X-Raumers gefischt worden waren. Binnen einer Minute verwandelte sich die Parzellenlandschaft in ein Tollhaus. Der Einzige, der – noch – völlig ruhig dalag, war der Batzen, der sich aus mittlerweile drei Teilen zusammensetzte. Aber er schien auf die anderen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben. »Soll ich eingreifen, Commander?«, meldete sich die KI. Die einzige Antwort, die John angesichts des Tohuwabohus geben konnte, lautete: ja. Spätestens jetzt war klar, dass sie einem Irrtum verfallen waren, als sie meinten, diese Überreste von Fraktalen für ihre Zwecke manipulieren zu können. Das Gegenteil war der Fall: Die Reste taten, was sie wollten. »John, wir brechen ab. Es ist besser, wenn wir sie augenblicklich eli-« Cloud schien immer noch hin- und hergerissen zu sein. »Ich bin mir nicht sicher. Wir können nach neuen Ansätzen suchen und sie zunächst mit Paralysestrahlen bestreichen, um später … Himmel, ja, ich geb's zu, ich bin auch ratlos. Wenn du meinst, es ist besser, sie zu beseitigen, werde ich Sesha –« In diesem Moment passierte es. Der erste Klumpen brach durch. Scobee hatte die Bewegung nur aus dem Augenwinkel gesehen, ganz am Rand des Parzellenfeldes. Aber als sie ihren Blick hinschwenkte, entdeckte sie die leere Parzelle. Neben einer, in der ein Klumpen von so beachtlicher Größe lag, wie er ihr vorher gar nicht aufgefallen war. Aber die Trennwand aus grün flimmernder Energie zwischen den betreffenden Parzellen stand unverändert … »Sesha! Hast du das auch bemerkt?« Sie schilderte ihre Randbeobachtung. »Kannst du es bestätigen?« »Bestätigung. Parzellenwechsel ist dokumentiert.« »Das ist nicht dein Ernst«, brüllte Cloud. »Du hast uns tausendmal versichert, alles unter Kontrolle zu haben. Was sind das für Abschir-
mungen, wenn simple Gewebeklumpen sie so mir nichts, dir nichts durchbrechen können??« »Die Art und Weise des Wechsels ist nicht nachvollziehbar oder erklärbar«, erwiderte die KI. »Ich bestätige nur den Fakt.« »Du musst dort weg! Hörst du, Scob, raus! Verschwinde da! Sesha? Scobees Abzug abwarten und dann den gesamten Bereich mit absolut letaler Strahlung fluten – entsprechende Sicherheitsvorkehrungen für angrenzende Bereiche!« »Verstanden.« Scobee hatte auch begriffen, was John von ihr erwartete. Sie setzte sich in Bewegung. Richtung Trennschott, das hinaus auf den Gang führte. Zehn Schritte. Nicht die Welt. Und doch … Sie musste sich nach rechts wenden, und während sie das tat, ploppte es links von ihr jenseits der Balustrade in einem fort, so als entwickele sich Popcorn in einem geschlossenen Topf. Sie musste einfach hinsehen, konnte nicht anders. Aber was sie sah, würde sie in ihre Träume verfolgen, daran gab es nicht den leisesten Zweifel. Durch sämtliche Energiebarrieren hindurch und über sie hinweg, flogen in diesem Moment von allen Seiten Gewebeklumpen auf den fusionierten zu, der sich ungefähr in der Mitte der Anordnung befand. Im Moment des Kontakts mit ihm … verschmolzen sie damit und ließen ihn anschwellen, wachsen, einer nach dem anderen, bis von den anfänglichen siebenunddreißig nur noch einer übrig war. Aber riesengroß. Groß wie ein … Ein Elefant! Der Vergleich drängte sich Scobee regelrecht auf. Nur dass es ein wahrer Monsterelefant war, der bis auf Masse und Größe keinerlei Ähnlichkeit mit einem solchen hatte. Es war einfach nur eine … Masse. Eine bebende Masse, aus der sich nur zögerlich eine Form herausbildete. Aber dieses Zögerliche war vielleicht auch nur Taktik. Sollte verwirren und in Sicherheit wiegen, denn … … plötzlich machte das Ding einen Satz. Über die flirrenden Felder hinweg und durch die Balustrade hindurch, die wie Streichhölzer zerbrach.
Drei Schritte hinter Scobee klatschte sie auf den Steg, hing aber noch halb im Parzellenfeld, weil die Masse zurückrutschte, als wäre sie noch nicht in der Lage, ihre Bewegungen so zu koordinieren, wie sie es eigentlich wollte. Scobee wurde sich mit Grauen bewusst, dass sie von dem Ding dachte, als besäße es einen es leitenden Verstand. Und mit noch mehr Grauen wurde ihr klar, dass sie das Türschott, so nah es ihr zunächst auch erschienen war, nicht mehr gegen den Willen des Monstrums erreichen würde. Und schon gar nicht würde sie sich daraus flüchten können. Eine solche Eskalation der Lage hätte sie nicht erwartet. Und nun … … musste sie dafür büßen. Das Scheusal stieß sich vom Boden ab und katapultierte sich auf sie zu.
Clouds Faust hämmerte auf den Manuellverschluss seines Sarkophags. Das Gehäuse wucherte über ihn hinweg. Schnittstellen verbanden sich mit seinem Gehirn. Er wurde das Schiff. Weil er keine andere Möglichkeit mehr zum eigenen rechtzeitigen Eingreifen sah. Sesha schien völlig überfordert von der Situation. Er war es auch. Aber er handelte trotzdem. Instinktiv. Sein Geist durchdrang die Nervenstränge der RUBIKON. Gedankenschnell war er dort, wo Scobee um ihr Leben kämpfte gegen – – gegen den Fraktalen, den er, Cloud, zu verantworten hatte. Schlechter Kommandant. Beschissen schlechter Kommandant … Aber Selbstzerfleischung brachte ihn nicht weiter. Mit den Sinnen des Schiffes, die normalerweise der KI vorbehalten waren, sah er das Monstrum. Und anders als Sesha, die offenbar keinen Hebel fand, den sie bei
dem Fraktalen-Mix ansetzen konnte, wurde Cloud immerhin initiativ. Er errichtete in Sekundenschnelle eine Wand zwischen Scobee und dem Ding – keine energetische, sondern eine materielle. Ein auf der RUBIKON übliches Verfahren zur Veränderung von Räumlichkeiten … hier wurde es als letzte Rettung vor einem tollwütigen Ungeheuer eingesetzt. Das Ding prallte dagegen, statt auf Scobee zu landen. Aber dann … war auch dieses Hindernis passé. Es zersprang klirrend wie Glas. Als hätte eine unsichtbare Kraft den Stahl verspröden lassen, sodass er unter dem geringsten Druck zerborsten war … Scobee war inzwischen beim Schott, hatte den Aufschub genutzt. Das Schott glitt auf. Doch schon wieder sprang das Biest. Und Cloud, der aus allen Richtungen zugleich auf das Drama starrte, wusste, dass Scobee es diesmal nicht schaffen würde. Auch weitere Hindernisse würden zu spät kommen, weil … das Biest im Sprung nun seinerseits zersplitterte und sich nicht mehr als Ganzes, sondern als Schwarm aus einer Unzahl von mikroskopisch kleinen Abbildern auf die Flüchtende warf. Ein Schwarm, der jedes Hindernis umgehen konnte und überall eine Lücke finden würde, um – Dass in diesem Moment doch noch Rettung nahte, war nicht Clouds Verdienst. Es war ihm egal. Es war Scobee nicht egal. Sie sah den Schemen neben sich auftauchen und glaubte zuerst, ein Ausläufer des Biests habe bereits zu ihr aufgeschlossen. Dann erkannte sie ihren Irrtum. Und warf sich in die Arme des Freundes, der mit ihr verschwand. Der fraktale Schwarm schoss ins Leere.
Der Sarkophagdeckel blieb geschlossen. Weil das Problem noch nicht beseitigt war, auch wenn Scobee gerade auf dem Kommandopodest materialisierte – umschlungen von Jarvis, der sie sofort freigab. Cloud fragte nicht, woher der Freund gekommen und woher er
um die Gefahr gewusst hatte. Er hatte es gewusst und die entscheidende Karte ausgespielt. »Danke«, hörte Cloud Scobee sagen – hörte es mit den Ohren des Schiffes, wie sonst Sesha ihre Sprache auffing. Er selbst verweilte nur kurz bei den beiden. Dann war er wieder dort, wo der Fraktale war … oder hätte sein sollen. Wo ist er, Sesha? Wo versteckt er sich? Ich weiß nicht. Fast kläglich kam die schlechteste aller Antworten. Wie kann das sein? Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Wir müssen ihn ausfindig machen und ausschalten, bevor er Schaden anrichtet. Er ist in der Lage, das Schiff zu vernichten! Ich weiß um die Gefahr. Aber er hat sich einfach aufgelöst. Sie sandte ihm Bilder der Szene, die sie aufgezeichnet hatte. Darauf war zu sehen, wie die fraktalen Splitter sich nicht wieder zu einem Gesamtwerk zusammenfanden, sondern rasend schnell verblassten. Du glaubst, es ist vergangen? Existiert nicht mehr? Was wir erlebten, war ein letztes Aufräumen – als seine Energie verbraucht war, schied es dahin. Spurlos? Weder für diese noch für eine andere These gibt es stichhaltige Indizien. Ich kann nur konstatieren: Das Geschöpf ist weg. Ich nehme nichts mehr von ihm wahr. Aber nichts verschwindet spurlos. Und deshalb widerspricht dies der These, es sei tatsächlich weg. Möglicherweise hat es nur eine Möglichkeit gefunden, sich unserem Zugriff zu entziehen. Das wäre schlecht. Ganz schlecht. Sesha schwieg. Dann: Befehle, Commander? Natürlich, du Scherzkeks: Weitersuchen! Ununterbrochen weiter nach ihm … oder seinen Spuren fahnden! Und ein besonderes Augenmerk auf alle möglichen Veränderungen an Bord, die nicht der Norm des Bordalltags entsprechen! Du darfst dir keine Schwäche mehr erlauben. Den Kredit hast du bereits restlos aufgebraucht … Du weißt schon, wovon ich rede. Negativ, Commander. Bitte um Erklärung. Bete, dass wir das Ding finden. Sonst ziehe ich dein Kondensat eigenhändig aus jeder Pore des Schiffes und trete ihm in den Arsch, dass es aus der nächstbesten Schleuse fliegt! Ich brauche eine KI, auf die ich mich verlassen kann! Davon bist du momentan wieder weiter entfernt denn je. – Und
denk immer dran: Ich habe dich gesehen, dein wahres Gesicht. In der Vision der Wiederkeimer. Du bist auch nichts anderes als – Commander! Befolge meine Befehle. Spür das Biest auf, das uns durch die Lappen gegangen ist. Damit kannst du mich versöhnen. Momentan bin ich einfach nur angefressen. Hölle! Uns kann jeden Moment das Schiff um die Ohren fliegen … Nur über meine Leiche, Commander. Von nichts anderem spreche ich die ganze Zeit, verdammt!
Der Fraktale blieb verschwunden. »Das bricht uns das Genick«, unkte Jarvis. »Danke, dass du auf Scob aufgepasst hast«, sagte Cloud. »Ich mag ja manchmal eine Nervensäge sein – aber ich liebe euch. Ich würde immer alles in meiner Macht Stehende tun, um euch vor Schaden zu bewahren …« Er stockte. »Ihr würdet dasselbe für mich tun. Oder? Wenn ihr so stark wärt wie ich, meine ich.« Scobee legte die Stirn in Falten. Cloud ebenfalls. Offenbar mussten sie scharf nachdenken. Und lange … »Armleuchter!« Die Falten glätteten sich, als eine Etage tiefer die Münder zu breitestem Grinsen verzogen würden. »He! War nur Spaß, Dicker«, lachte Scobee. »Natürlich würden wir dasselbe für dich tun, jederzeit. John?« »Jederzeit.« Er nickte und lachte ebenfalls. Jarvis war beruhigt. Aber dann war auch schon wieder genug mit Flachs. Die Gefahr war immens. Der freie Fraktale – eine Art Frankenstein, »zusammengenäht« aus insgesamt siebenunddreißig Leichenteilen – mochte in diesem Augenblick in eines der neuralgischen Zentren des Schiffes vorstoßen und dort den Grundstock für die Vernichtung der RUBIKON legen. Eine extrem bedrückende Vorstellung, die sich bei nichts, was die Crew tat, aus deren Gehirnen verbannen ließ.
Mittlerweile waren alle informiert, auch die Angks. Cloud erhoffte sich von ihnen tatkräftige Unterstützung. Er hatte sich zuerst mit Assur besprochen und anschließend, auf ihr Anraten, mit Rotak als dem Sprecher der Angks. Rotak hatte sich in nichts anmerken lassen, dass er irgendwelche Vorbehalte gegen Cloud hatte, weil der jetzt mit seiner Expartnerin zusammen war. Er hatte die vorbehaltlose Unterstützung der Angks bei der Jagd nach dem Fraktalen zugesagt. Ob sich dies in zählbaren Erfolgen niederschlagen würde, blieb abzuwarten. Die Angks waren keine Zauberer. Aber sie können noch tief ergehend mit dem Schiff verschmelzen als ich. Anders … Vielleicht konnten sie zumindest den entscheidenden Hinweis auf den Aufenthaltsort des Monstrums geben. So es überhaupt noch existierte und es nicht doch das Zeitliche gesegnet hatte. Eine Hoffnung, zu der Clouds Gedanken immer dann zurückfanden, wenn er ob des Drucks, der plötzlich auf ihm lastete, schier zerbrechen wollte. Er hatte die RUBIKON in diese Lage gebracht, er ganz allein! Um so bemerkenswerter, dass keiner der Crew ihn das bei ihren Begegnungen und Gesprächen spüren ließ. Es gab keine Vorwürfe, nur Betroffenheit. In solchen Momenten wurde deutlich, was für eine eingeschworene Gemeinschaft sie geworden waren, selbst die noch nicht allzu lange an Bord befindlichen Angks. Es machte Cloud stolz, dazuzugehören. Aber es minderte nicht die Selbstvorwürfe. »Okay. Wir werden die Suche nach dem Fraktalen noch intensivieren. Aber wir werden nicht nur noch nach ihm suchen. Ihr wisst, wohin wir unterwegs sind. Laut Sesha erreichen wir die Zielkoordinaten in Kürze. Der Ort, zu dem die Treymor-Schiffe transitierten. Was immer uns dort erwartet – auch das wird unsere volle Aufmerksamkeit erfordern.« »Heißt das, wir müssen zweimal Vollgas geben?«, spöttelte Jarvis. »Warten wir ab, was wir vor Ort finden.«
»Käfer, dachte ich.« »Klugscheißer«, seufzte Scobee. »Danke. Das habe ich jetzt gebraucht. All das Dankgefasel ist mir auf Dauer echt zu viel. Willkommen in der Normalität!« Sie quittierten seine Äußerung mit Kopfschütteln. Und er genoss es.
12. »Zielkoordinaten erreicht. Äußere Grenze des Systems. Tarnung aktiviert.« »Danke, Sesha. Fahrt drosseln.« Cloud starrte auf das größte Fenster, das sich in der Holosäule gebildet hatte und eine schematische Darstellung des Sonnensystems zeigte, zu dem die Treymor-Fährte sie geführt hatte. »Erkläre die einzelnen Objekte, die du eingeblendet hast. Die Sonne ist klar. Was ist mit den Planeten? Sieben, wenn ich richtig zähle …« »Sieben Umläufer«, bestätigte die KI. »Davon verfügen alle, mit Ausnahme der sonnennächsten Welt, die auch die kleinste des Systems ist, über eigene Trabanten. Nummer zwei ist immer noch zu nah an ihrem Muttergestirn, darauf herrscht ein Temperaturmittel von über vierhundert Grad Celsius. Nummer drei ist eine marskleine Ödwelt, dünne Atmosphäre, wahrscheinlich nur mit einfachen Mikroben durchsetzt. Aber Nummer vier weist dafür alle Voraussetzungen für Leben nach unserem Standard auf. Nummer vier besitzt zudem zwei Trabanten, die ein Kuriosum aufweisen.« Cloud suchte den vierten Umläufer im Hologramm und stutzte. »Ich sehe mehr als zwei Markierungen für Monde. Die Welt ist regelrecht umschwärmt von Leuchtpunkten – was bedeuten sie?« »Es bleibt dabei«, erwiderte Sesha. »Zwei Monde. Wobei sie beide den Planeten umlaufen und als Kuriosum ein Mond, der kleinere, noch den anderen. Was die anderen Markierungen angeht … es ist richtig. Es gibt sie in rauen Mengen. Es sind, soweit sich das auf die Entfernung sagen lässt, Schiffe. Raumschiffe. Jedenfalls deuten die Ortungsmuster ganz klar darauf hin.« »Die Treymor«, sagte Cloud. »Keine wirkliche Überraschung. Nur die hohe Zahl überrascht. Sie kesseln den vierten Planeten regelrecht ein. Er scheint von einiger Bedeutung für sie zu sein.« »Dem kann ich nur zustimmen.«
»Und der Rest des Systems?« »Relativ uninteressant, soweit sich das von hier aus überblicken lässt. Noch drei Gasriesen, von denen allenfalls die größeren Monde interessant sein könnten. Aber dort, wie auch sonst, mit Ausnahme der Gegend um Umlaufet vier, herrscht keinerlei Raumschiffverkehr.« Cloud nickte. »Vorsichtige Annäherung. Ich will wissen, was die Käfer da treiben. Vielleicht eine Welt, die sie kolonisiert haben. Eine Versorgungsbasis … was auch immer. Näher ran!«
»Seht euch das an!« Jarvis war aufgesprungen und machte fast einen Satz in die Holosäule hinein, um die anderen auf etwas aufmerksam zu machen, was sie ohnehin schon bemerkt hatten. »Diskusse – wie auf der Wiederkeimer-Welt! Und nicht einer, das sind mindestens sechs! Was sage ich? Neun … ein Dutzend.« Cloud versuchte sich nicht von Jarvis polternder Art mitreißen zu lassen, sondern kühlen Kopf zu bewahren. »Sesha? Daten zu den Diskussen einblenden. Handelt es sich um denselben Größentyp, wie wir ihn auf Rof fanden?« »Identisch«, meldete die KI und leitete die dazugehörigen Daten in die Holosäule. »Ihr Abstand zu Planet vier entspricht ungefähr achthundert Kilometer, während die X-Schiffe eine sehr viel größere Distanz dazu halten, offenbar sowohl die Diskusse als auch den Planeten selbst abschirmen.« »Und zwischen den Diskussen und der Welt herrscht ein reges Kommen und Gehen, wenn ich das richtig sehe«, warf Jarvis ein, der sich wieder etwas beruhigt und gesetzt hatte. »Das ist ja wie auf einem orientalischen Basar!« Cloud warf ihm einen Blick zu. Wie lange war das her? Dass es das gegeben hatte: Basare. Den Orient generell. Versunken im Strudel der Zeiten … »Wir ziehen uns in den Ortungsschatten der Sonne zurück«, entschied er. »Lagebesprechung. Sesha: Observierung des vierten Planeten und sämtlicher Aktivitäten in seinem Umfeld fortsetzen …
nein: intensivieren. Ich will alles dazu wissen. Kompaktreport jede Viertelstunde!« »Sonden ausschleusen?« Cloud verneinte. »Die Entdeckungsgefahr ist zu groß. Wir haben hier ein Hornissennest gefunden, und wir wären verrückt, hineinzustechen. Gegen diese Übermacht haben wir keine Chance. Ich bin sicher, dass man auf Systemeindringlinge vorbereitet ist und ihnen alles entgegenwerfen würde, was die Treymor zu bieten haben.« »Aber aus der Entfernung, in die du dich zurückziehen willst, werden wir keine Wunder an Informationen zu erwarten haben«, gab Scobee zu bedenken. »Das werden wir alles in Ruhe erörtern«, erwiderte er. »Wir sollten nichts übers Knie brechen. Aber wahrscheinlich werden wir eine Sonde ausschicken, die uns vielleicht keine Wunder, aber doch wenigstens ein Füllhorn voller Daten liefert, wenn wir es schlau genug anstellen. Offenbar sind wir hier auf etwas von immenser Bedeutung gestoßen – sowohl für die Treymor, als auch für uns.« »Das sehe ich ähnlich«, sagte Scobee. Die RUBIKON entfernte sich unter Volltarnung vom Ort des Geschehens und zog sich in die Photosphäre der Systemsonne zurück.
Sooks sah Jelto aus großen Augen an. »Das … ist nicht dein Ernst …« »Was denkst du denn? Dass es bleibt?« »Zumindest, bis wir –« »Was? Weitere Botschaften ferner Pflanzenzivilisationen aufschnappen?« »Dafür ist es doch gedacht, ja!« »Wir haben lange genug ›gelauscht‹, um sagen zu können, dass da nichts mehr ist. Es waren die Wiederkeimer, eine extrem seltene, wenn nicht einzigartige Lebensform, die sich tatsächlich einer Kommunikation bedienten, die von diesem Apparat …« Jelto zeigte auf die bizarren Gespinste, in die sein Garten gewoben war und die ihn unangenehm an die Fäden auf Rof während der Invasion erinnerten,
die ihnen die letzten Wiederkeimer geschickt hatten. »… wahrgenommen werden kann. Seither herrscht Schweigen. Die Signale der Pilzwesen werden noch lange durchs All ziehen – aber bis hierhin, wo wir jetzt sind, sind sie noch nicht vorgedrungen. Sie sind langsamer als das Licht, das wissen wir inzwischen. Welchen Sinn sollte es machen, das Experiment weiterzuführen?« »Welchen Sinn?« Sooks schien es immer noch nicht glauben zu wollen, wie ernst es Jelto mit seiner Entscheidung war, die Versuchsanordnung zurückzubauen. Komplett und restlos. »Aber … irgendwann werden wir wieder auf Signale stoßen. Die nicht von Rof stammen. Wir werden vielleicht eine blühende Pflanzenzivilisation finden. Das wäre doch eine kleine Einschränkung wert – ich weiß, dass du es so siehst. Wir haben deinen Garten ein klein wenig verändert. Aber nicht zum Schaden deiner Schützlinge. Sie haben keinerlei Nachteil –« »Ich habe Nachteile. Das genügt.« »Ich verstehe nicht.« »Sooks …« Jelto stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du bist ein netter Kerl. Aber auch unglaublich anstrengend. Als Angk magst du es gewohnt sein, vielleicht sogar genießen, dich ganz und gar in den Dienst einer Sache zu stellen. Aber ich bin anders gestrickt. Ich habe den Garten nicht erschaffen, hege und pflege ihn, weil es mir genügt, dass er da ist und ›funktioniert‹. Ich habe ihn, weil ich das, was er ausstrahlt, was meine Sinne beflügelt, brauche wie andere die Luft zum Atmen! Und seit das hier …« Seine Augen streiften kurz über einen Bruchteil des installierten Netzwerks. »… meine Augen beleidigt, ist der Genuss, den ich anstrebe, komplett flöten gegangen. Meine Kinder mögen keinen direkten Schaden dadurch erleiden – aber sie erfahren auch keinen Nutzen von dem Projekt. Den hast nur du. Weil du deinen Genuss aus der Tüftelei und solchen Erfindungen ziehst. Wenn ich dir dieses Spielzeug wegnehme, leidest du. Aber für mich ist der Garten kein Spielzeug. Er lebt. Ich lebe darin. Und deshalb, auch wenn du es nicht verstehen willst, kann ich nicht länger dulden, dass mein Zuhause in einen bloßen Apparat umfunktioniert wird. Ende der Durchsage und basta!«
Sooks sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Vielleicht überlegst du es dir noch mal …« Jelto schüttelte den Kopf. »Aber ich helfe dir bei der Beseitigung jedes einzelnen verfluchten Drahts. So bin ich wenigstens sicher, dass meinen Kindern nicht doch noch ein Schaden erwächst.« »Du warst genauso begeistert davon wie ich!« »Stell dir einfach vor, jemand bricht bei dir daheim ein und gestaltet dein Zuhause völlig anders als du es magst. Wie lange würdest du still halten, auch wenn derjenige dich anfangs von der Idee dahinter überzeugen konnte?« Sooks trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Für einen Moment wirkte er einsichtig, nachdenklich. Doch dann sagte er flehend: »Überleg's dir noch mal, ja? Ich komme in einer Stunde noch mal vorbei, und wenn du dann immer noch –« »In einer Stunde«, erwiderte Jelto, »ist der Spuk hier bereits vorbei. Wir können es gemeinsam tun, oder ich tu's allein, nur mithilfe von Bots, die Sesha mir zur Verfügung stellt … Also?« Sooks hielt die Tränen zurück. Jelto zwang sich dazu, sich nicht davon erweichen zu lassen. Er wollte seine alte Lebensqualität zurück. Und er wollte nicht ständig an das Schicksal der Wiederkeimer erinnert werden. Rof wäre niemals von der K-Waffe vernichtet worden, wenn der Pflanzenfunk die RUBIKON nicht dorthin geführt hätte. Die Zivilisation der Pilzwesen war etwas so Großes und Fantastisches gewesen, dass Jelto nicht wusste, wie er mit dem Verlust, den er wie einen persönlichen empfand, jemals fertig werden sollte. Aber sollte er das Sooks erklären? Niemand, der nicht war wie er selbst, würde je verstehen können, was ihm der Tod auch nur einer Pflanze bedeutete. Hier war es eine ganze Welt gewesen, um die er trauerte. »Wenn du wirklich nicht mehr abzubringen bist von deiner Entscheidung …« »Akzeptiere es.« Er legte die Hand auf Sooks Schulter. »Aber komm mich hin und wieder besuchen. Vielleicht kannst du mir bei dem anderen Projekt helfen, das auch nicht ganz unwichtig für euer
Wohlbehagen ist, das der Angks an Bord … Du weißt schon.« »Die Realbegrünung des Dorfes?« Jelto nickte. Sooks fasste sich. Ein Ruck durchlief ihn, und er nickte, schluckte den letzte Kloß, der ihm im Hals steckte, hinunter. »Keine schlechte Idee. Ich habe da auch schon ganz konkrete Vorstellungen. Du wirst staunen …« Jelto hatte ein gemachtes Angebot selten so schnell bereut wie in diesem Augenblick. »Du bist unverbesserlich, Sooks. Unverbesserlich!« Sooks blinzelte. »Du meinst – perfekt?«
»Die Sonde kehrt zurück …« »Einschleusen!« Ein paar Sekunden später: »Eingeschleust. Datentransfer beginnt … Datentransfer vollzogen.« »Geraffte Bildfolge in die Holosäule!« Cloud nickte seinen Gefährten zu, die mit ihm über die weitere Vorgehensweise konferierten. Seit sechs Stunden umlief die RUBIKON die fremde Sonne in deren protuberanzenumtobter Gashülle; die Schiffs Sicherheit war durch permanent aktivierte Schilde gewährleistet. Gleichzeitig schluckte der Stern jede Emission der RUBIKON beziehungsweise übertünchte sie mit seinem eigenen Energieaufkommen. Die Sonde hatte Cloud vor fünf Stunden auf den Weg zum vierten Planeten geschickt. Mit einem klar umrissenen Spionageauftrag und ausgestattet mit geballter Tarntechnologie. Offenbar hatte sie ihre Mission unbehelligt erfüllen können. Und nun gab sie ihre Ausbeute an Bildern preis, ab und zu kommentiert von Sesha … »Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre. Temperaturmittel bei etwa zwanzig Grad Celsius. Kleine Ozeane, gewaltige Landmassen. Drei Kontinentalstreifen umlaufen den Planeten um die Äquatorialebene, von Ost nach West und West nach Ost und zusätzlich von Nord nach Süd und Süd nach Nord. Dadurch entstehen acht gleich große
Meeresbecken. Die Landverteilung ist ebenso augenfällig austariert, dass wir kaum von einer natürlichen Landschaftsformung ausgehen können.« Gebannt starrten die Gefährten auf das Bild einer Welt, wie sie sie noch nicht gesehen hatten. Die Land- und Meerverteilung war tatsächlich so gleichmäßig, wie mit der Schnur geplant – bildlich gesprochen. Die Treymor, so sie hinter dieser Kreation steckten, hatten natürlich auf moderneres Gerät zurückgegriffen. Die Aufteilung des Planeten hatte die Sonde schon im Anflug aufgenommen, nun vermittelten die Bilder ihr Eindringen in die Atmosphäre. »Der im Programm verankerte Mindestabstand der Sonde von fünfzig Kilometer zur Oberfläche wurde über die gesamte Dauer der Mission eingehalten. Da sie zu Eigeninitiative aufgefordert war, folgte sie nach Erreichen der Zielhöhe den genannten Kontinentalstreifen, und zwar jeder der drei umlaufenden Landmassen einmal komplett, um sich dann am Knotenpunkt der nächsten zuzuwenden. Auf diese Weise wurde die gesamte Landfläche des Planeten grob kartographiert, die Meeresoberfläche war von geringerer Priorität. Es gab keine einzige Station oder Schiffe, die dem Spion auffielen. Alles Augenmerk der Treymor scheint den Landmassen zu gelten, die perfekt durchgeplant scheinen und überwiegend Spuren von Urbanisierung aufweisen. Wir erkennen auf den Bildern Kuppelstädte der Treymor, Fabrikationsanlagen sowie riesige, überdachte Komplexe, deren Sinn und Zweck nicht ermittelt werden konnte. In den Fabrikationsanlagen entstehen zum Teil jedoch ganz offensichtlich …« Das Bild zoomte heran. »… jene gewaltigen Diskusraumschiffe, von denen wir zwölf vollendet im planetennahen Umfeld sehen.« »Ein Werftplanet demnach«, sagte Jarvis. »Wenn wir ihn zerstören, fügen wir den Treymor mehr als nur einen Nadelstich zu.« »Wenn wir ihn zerstören, werden wir wahrscheinlich zum meistgejagten Wild der Galaxie«, gab Scobee zu bedenken.
»Schreckt uns das neuerdings?«, erwiderte Jarvis. »Mich schon.« »Mich auch.« Cloud wartete weitere Informationen ab, die die Sonde ausgeschüttet hatte. Dann beendeten sie die Einspielung. »Irgendetwas sagt mir, dass der Planet mehr ist als nur ein simpler … oder auch aufwändig umgestalteter, wie man es sehen will … Werftplanet.« »Was könnte dieses Mehr deiner Meinung nach sein?«, fragte Scobee. »Das will ich herausfinden. Ich weiß nur noch nicht genau, wo ich den Hebel ansetzen soll.« In diesem Augenblick meldete Sesha: »Einer der Diskusse nimmt soeben Fahrt auf.« »Zeigen!«, verlangte Cloud. In der Holosäule erschien das Ergebnis der Ortungssensoren. Es war von Störungen durchsetzt, die auf die Sonnenaktivität zurückgingen, aber insgesamt gab es keinen Zweifel am Ergebnis: Ein Diskus hatte Kurs auf die Grenzen des Sternensystems genommen. »Im Schneckentempo«, wie Jarvis nicht müde wurde zu betonen. »Das entspricht unsere Entdeckung auf Rof. Aber kann es wirklich sein, dass die Treymor unterlichtschnelle Raumschiffgiganten bauen? Wozu, wenn ich mal fragen darf? Sie müssten doch völlig bescheuert –« »Jarvis!« »Ich weiß, meine Ausdrucksweise. Ich feile daran. Aber manchmal gehen halt die Gäule mit mir durch.« Cloud starrte nachdenklich auf den Diskus, der minutenlang Fahrt aufnahm, schwerfällig wie ein primitiver Lastenkahn, und nach Erreichen von knapp 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit dieses Tempo offenbar nicht weiter steigern wollte, sondern zur dauerhaften Reisegeschwindigkeit erkoren hatte. »Kursvektor bestimmen!«, forderte Cloud die KI auf. »Ermittelt.« »Was liegt auf dem Weg?« »Ein Stern in siebenundsiebzig Lichtjahren Distanz.«
»Das ist das nächstgelegenste Ziel?« Sesha bejahte. Stirnrunzelnd dachte Cloud darüber nach. »Sie werden verdammt lange unterwegs sein dorthin. Gut für das Ziel, aber warum tun sich die Treymor das an?« »Vorschlag«, meldete sich Jarvis. »Ich höre.« »Der Diskus. Er bringt mich auf eine Idee. Ein Abstecher zum Werft-oder-was-auch-immer-Planeten wäre wohl riskanter als diesem Ding einen Besuch abzustatten.« »Du meinst den Diskus, der dabei ist, das System zu verlassen?« »Genau den meine ich.« »Und was soll das bringen?«, warf Scobee ein. »Nun, nebenbei könnten wir herausfinden, wie so ein Ding innen ausgestattet ist, wenn es nicht gerade als leckes Wrack auf einem Planeten, halb eingegraben im Eis vor sich hin rottet.« »Und sonst?« »Wenn er eine Besatzung hat, eine Treymorbesatzung, und davon dürfen wir doch wohl ausgehen, könnte man sich den einen oder anderen Käfer vorknöpfen und auf diese Weise aus erster Hand sämtliche Informationen erlangen, nach denen es uns dürstet!« »Wie einfach das klingt.« Scobees Sarkasmus war unüberhörbar. »Ich melde mich freiwillig für diese Exkursion!« »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«, fragte Cloud, während er Jarvis' Vorschlag durchaus abwog. »Weiß ich nicht? Weil ich der geborene Draufgänger und Held bin?« »Wahrscheinlich deshalb.« »Ich würde nicht alleine gehen wollen.« »Und an wen speziell denkst du dabei?« Jarvis sagte es ihm. »Jiim?«, fragte Cloud erstaunt. »Algorian verstehe ich ja, aber Jiim … Ich habe diesbezüglich Skrupel, seit Yael auf der Welt ist, das gebe ich offen zu. Wenn ihm etwas zustieße, wäre der Junge –« »Das Junge«, verbesserte ihn Jarvis. »Nargen sind zweigeschlecht-
lich. Sie zeugen und bringen ihre Jungen in Personalunion zur Welt. Praktisch, wenn du mich fragst. Sehr, sehr praktisch. Könnte sich manche Spezies eine Scheibe von abschneiden.« »Du bist ein Idiot, Jarvis!«, fauchte Scobee. »Aber der Idiot hat dir vor nicht allzu langer Zeit das Leben gerettet. Draufgänger eben. Held, sag ich doch.« Er grinste in einer Weise, wie nur er es ohne bleibenden Schaden davonzutragen tun konnte. »Nun, Commander, was sagst du zu meinem Vorschlag?« »Ich frage noch einmal: Warum ausgerechnet Jiim?« »Weil er beim letzten Einsatz ziemlich traurig aus der Wäsche geschaut hat, weil er – mal wieder – unberücksichtigt blieb. Mir ist das aufgefallen. Ich bin da sensibel.« »Ich werde es mir überlegen.«
13. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Nur ohne Wasser. »Autsch!«, kreischte Algorian, als er mit dem Knie gegen eine Strebe stieß, die ausgerechnet dort aus dem Decksboden ragte, wo er materialisiert war und reflexartig einen Schritt nach vorne machen wollte. Die Strebe war dagegen – und verfügte offenbar über die klar besseren Argumente. Im ersten Anlauf jedenfalls. »Geht's wieder?«, fragte Jiim anteilnehmend. »Ich werd's schon überleben«, erwiderte Algorian. »Und wenn nicht, räche mich bitte. Du musst mir versprechen, sie zu demolieren und es ihr heimzuzahlen.« Er zeigte feixend auf die Stahlverbindung. Etwas Seltsames geschah: Sie verformte sich und brach entzwei. Irgendwo unter ihnen ächzte es. Algorian starrte Jiim erschüttert an. »Wie … hast du das gemacht?« »Ich? Ich habe nichts gemacht. Ich weiß auch nicht … Jarvis?« Ihr Begleiter, der sie überhaupt erst an Bord des Diskus versetzt hatte, tippte sich an die Stirn. »Ihr spinnt. Beide. Jetzt soll ich es wohl wieder gewesen sein – fragt sich nur, wie? Habe ich eine Waffe abgefeuert, oder was?« »Ich bin mit dem Arsenal der Möglichkeiten deines Körpers nicht bis in Kleinste vertraut«, erwiderte Algorian. »Aber vielleicht hast du eine Art Pressorstrahl eingesetzt, der die Strebe –« »Und wovon träumst du nachts?«, schnitt ihm Jarvis das Wort ab. »Pressorstrahl. Irgendwo hab ich davon mal gelesen. Gab's da nicht mal eine Sciencefiction-Serie, die zu meiner Geburtszeit in die dreiundsechzigste Buchauflage ging?« Er schüttelte den Kopf. »Das fängt ja prima an. Reißt euch am Riemen, verdammt. Und fangt nicht jetzt schon an, den Sündenbock für ein mögliches Scheitern
unserer Mission zu suchen. Ich war's nicht, und damit basta! Vielleicht einfach marode … altersschwach.« »Wir sollten vorsichtig sein«, seufzte Algorian. »Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Möglicherweise sind wir bereits entdeckt …« Niemand konnte das ausschließen, obwohl Jiims innere Stimme ihm sagte, dass dem nicht so war. Nein, noch hatte niemand Notiz von ihrem Eindringen genommen. »Wo sind wir überhaupt?« »Dort, wohin wir wollten«, gab Jarvis missgelaunt zurück. »Das ist einer der Räume, die wir auf dem Diskus von Rof untersucht und deren Lage und Ausprägung ich abgespeichert hatte. Er schien mir am Unverfänglichsten, weil er einer jener Orte war, die absolut frei von organischem Rückstand waren. Ich wollte nicht beim ersten Schritt in die Fremde gleich wieder mit irgendeinem Monster konfrontiert werden.« »Wie auf der RUBIKON«, nickte Algorian. »Vielleicht hätte ich dort bleiben sollen. Bei der Jagd nach dem Fraktalen könnte ich von Nutzen sein. Hier …« »Hier erst recht«, behauptete Jarvis. »Hey, eigentlich hatte ich erwartet, dass ihr euch bei mir bedankt. Nicht jeder darf den Luxus auskosten, die RUBIKON hin und wieder zu verlassen.« »Danke, mein Bedarf ist seit Rof erst mal gedeckt«, zeigte sich Algorian wenig geneigt, seiner Erwartung zu entsprechen. »Und du?« Jiim griente säuerlich. Was sollte er antworten. Eigentlich war der Einsatz genau das, was er sich wünschte – oder gewünscht hatte. Aber seit dem Zwischenfall mit Charly – beziehungsweise dem Ganf in ihm – war ihm nur noch flau in der Magengegend. Yael hatte ihn gedrängt, das Angebot anzunehmen. Aber irgendwie kam es ihm eher so vor, als wollte sein Sprössling, dass er aufhörte, über das Erlebte unablässig nachzugrübeln. »Ich weiß nicht genau, ob ich Yael allein –« »Pah! Was bist du für ein Weichling geworden? Früher warst du regelrecht verwegen. Erinnerst du dich nicht? Dein Junges kommt auch mal ohne dich aus. Zur Not hat er diese komische Type, du
weißt schon …« »Charly.« »Genau!« Wie hätte Jarvis ahnen sollen, dass genau das das Problem war? »Hier ist es verdammt düster«, sagte Jiim. »Etwas mehr Licht wäre nicht schlecht.« Er hatte kaum ausgesprochen, als die Decke entflammte. Woraus genau die Beleuchtung bestand, interessierte niemanden. Das abermalige Zusammenfallen eines geäußerten Wunsches mit der fast an Hexerei grenzenden Erfüllung schon. »Äh, mach das noch mal.« »Was?«, reagierte Jiim verdutzt auf Jarvis' Aufforderung. »Dir was wünschen.« »Hört endlich auf. Verhalten wir uns dem Ernst der Aufgabe angemessen. Jeden Moment kann …« Algorian stöhnte. »… ein Treymor auftauchen und Alarm schlagen. Ich spüre sie ganz in der Nähe. Und dazu noch das, was ich schon auf Rof esperte, nur ungleich dominanter.« »Diesen dumpfen intelligenzlosen Geist?«, fragte Jarvis. Algorian bejahte. »Wo?« »Ich kann keine Richtung bestimmen. Marschieren wir einfach los. Ich warne, sobald sich jemand nähert.« »Vergesst nicht«, sagte Jarvis. »Wir sind hier, um uns einen von ihnen zu schnappen. Also werden wir ihnen nur dann aus dem Weg gehen, wenn sie in Massen auftreten. Ein oder zwei – das wäre optimal.« Jiim hatte nicht vor, das Glück – oder wie immer man es nennen sollte – herauszufordern. Deshalb verzichtete er darauf, seinen Wunsch zu formulieren. Sie verließen den Raum und traten, als die Luft rein schien, nacheinander hinaus auf den Gang. Licht, Temperatur und Atmosphärenzusammensetzung an Bord des Diskus entsprachen beinahe dem Ideal von Nargen und Aorii. Und Jarvis kam ohnehin in jeder Umgebung zurecht. Vorsichtig pirschten sie sich durch den Korridor. Gesprochen wur-
de nur das Nötigste und selbst dann im Flüsterton. Irgendwann hörten sie seltsame Klänge und Schritte. Und dann kam ein Treymor, wie sie noch keinen gesehen hatten.
Er trug gazeartiges, metallisch schimmerndes Türkis. Es umfloss seinen Körper wie fallendes Wasser, gehalten von einem Ring um die Stelle, wo der Schädelbereich in den Rumpf überging. Ein Schädel, aus dem Fühler ragten. Auffallend groß und schlank war der Treymor, mindestens zwei Meter fünfzig in der Länge, dabei so grazil, beinahe zerbrechlich, als entstamme er einem ganz anderen Volk als jenem, das die RUBIKON-Crew bei anderen Gelegenheiten kennengelernt hatte. Jarvis, Jiim und Algorian hielten sich in einer Nische verborgen, die so weit abseits lag, dass der Vorbeigehende nicht auf sie aufmerksam wurde. Zumal er völlig in sich versunken wirkte. Regelrecht vergeistigt. Jarvis ergriff ohne zögern die Initiative. Ihr Ausflug war nicht auf lange Dauer ausgerichtet. Rein, Informationsklau … und wieder raus!, lautete die Devise. Die gedachte er zu erfüllen. Er scannte den Treymor unauffällig und fütterte dann Kargors Schuppe mit den gewonnenen Daten, die er lediglich in kleinen Details variierte und veränderte. Dann trat er aus der Nische heraus und eilte dem echten Treymor hinterher, der gerade durch eine sich öffnende Luke in einen Raum trat. Jarvis beschleunigte … und schlüpfte gerade noch mit hinein, bevor sich die Luke wieder schloss. Was Jarvis versäumt hatte, war, den seltsamen Klangteppich zu imitieren, den die gazeartige Kleidung des Käferwesens ausstrahlte. Vielleicht war das der Fehler. Jedenfalls reagierte der Treymor augenblicklich, als er ihn bemerkte, wandte ihm Fühler und »Gesicht« zu … und zückte blitzschnell eine stabförmige Waffe, die er ohne Warnung abfeuerte. Jarvis wurde spätestens da klar, dass seine Maske miserabel aus-
gefallen sein musste; woran genau die leichte Durchschaubarkeit lag, wusste er nicht und wollte er auch nicht wissen. Etwas zerplatzte an der Außenfläche seines Nanokörpers. Die Schockwelle hätte jedes Wesen aus Fleisch und Blut auf der Stelle getötet. Jarvis wankte nicht einmal. Zum ersten Mal zeigte der Treymor so etwas wie Verblüffung. Der ihn umgebende Klangteppich erstarb. Stattdessen löste sich ein schriller Laut aus seinem Körper. Wie in Panik feuerte er den Stab abermals ab, riss dabei eines seiner Gliedmaßen vor den Mund und schnarrte etwas in ein winziges Gerät, das daran befestigt war. Verdammt, dachte Jarvis. Der Bursche schlägt Alarm. Er fackelte nicht lange, hob seinerseits den Arm, aus dem sich ein Abstrahlpol herausbildete, und warf ein von Sesha vorbereitetes Netz über den türkis gekleideten Treymor. Das Netz entfaltete sich und legte sich hauteng um den Chitinkörper. Auf einen von Jarvis abgegebenen Impuls hin verströmte es ein Nervengas, das durch die Chitinoberfläche absorbiert wurde und den Treymor augenblicklich kalt stellte. Es macht dich gefügig, mein Lieber. Ich hoffe, die Rezeptur ist einem wie dir angemessen. Du scheinst mir bei allem filigranen Feingeist, den dein Äußeres vorgaukelt, ziemlich zäh zu sein. Aber auf das Nervengas, das angeblich nur auf Insektoiden mit hohem Chitinanteil wirkte, schien Verlass zu sein. Die Reaktion des Treymor übertraf sogar noch Jarvis' Erwartung. Schnell betätigte er den Öffnungsmechanismus der Luke, so wie er es sich bei dem Treymor abgeschaut hatte, und ließ die Freunde herein. Sie warfen dem starr am Boden liegenden Käferwesen unbehagliche Blicke zu. »Ist er bei Bewusstsein?«, fragte Jarvis. »Eindeutig. Ich lese in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch. Und in seinen Gefühlen. Er ist völlig durch den Wind«, sagte Algorian. »Er hat panische Angst.« »Klar. Er wollte mich gerade killen. Demzufolge erwartet er dasselbe von mir«, knurrte Jarvis. »Offen gestanden würde ich mich auch liebend gern revanchieren …«
»Er hat keine Angst um sich«, sagte Algorian. »Eben sagtest du noch –« »Er fürchtet um etwas, das hinter der nächsten Tür liegt.« Algorian zeigte auf ein weiteres Schott. Sie befanden sich in einer Art Schleusenkammer, nicht größer als vier auf vier Meter und dreieinhalb hoch. Fast quaderförmig. »Siehst du«, grinste Jarvis, der die offenbar ohnehin miese Treymor-Adaption aufgab und sich wieder wie gewohnt präsentierte. »Hat sich schon gelohnt, dass du mitgekommen bist. Du wirst noch mehr aus ihm herausholen, sobald ich mit der Befragung beginne.« »Wir sollten uns beeilen«, drängte Jiim. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sind hier nicht sicher. Möglicherweise werden wir längst beobachtet und studiert.« »Dann hätte man uns schon überwältigt«, widersprach Jarvis. »Nein, so zurückhaltend sind die Käferjungs nicht. Algorian?« »Ja?« »Wir nehmen den Burschen mit durch die Tür dort …« Er zeigte auf die Luke, auf die der Aorii ihn kurz zuvor aufmerksam gemacht hatte. »Falls dahinter wirklich etwas von Bedeutung für die Treymor liegt, sollten wir es uns unbedingt ansehen, bevor wir wieder verschwinden. Was sagen seine Gedanken darüber? Bedeutet es eine Gefahr? Soll ich die Lage checken, bevor ihr nachkommt?« Er schüttelte den Kopf. »Aber das glaube ich nicht. Der Bursche war dorthin unterwegs, und er trägt keinen sichtbaren Schutz, nur diese modische Verirrung …« »Nichts deutet auf eine Gefahr hin«, sagte Algorian. »Es ist schwierig, die Gedanken eines Treymor zu lesen. Nach einer Weile fällt es leichter, doch es bleibt schwammig. Sie denken sehr viel abstrakter als wir. Aber eine Gefahr … nein, eine Gefahr lauert wohl nicht hinter der Tür. Es ist eher so, als würde er an einen Schatz denken. An etwas von unersetzlichem Wert für ihn. Für sein Volk.« »Du machst mich neugierig, Bruder«, sagte Jarvis. Er bückte sich nach dem völlig eingeschnürten Aorii, der zu keiner Regung mehr fähig war, und legte ihn sich über die Schulter, als hätte er überhaupt kein Gewicht. Zusammen mit Jiim und Algorian eilte er zur
zweiten Luke und öffnete sie. Dann schlüpften sie in die Schatzkammer der Treymor – wo sie ihr blaues Wunder erlebten.
Blau. Türkis. Violett. Die riesige Kammer war voller Farben. Und plötzlich glaubte Jarvis die Wahl des Treymor zu verstehen, den er geschultert trug – türkis war auch dessen dominierende Gewandfarbe. Und der Stahl des Diskus, innen wie außen, hatte einen blauvioletten Glanz. Die Farben in der Kammer hafteten Gebilden an, die Algorian aufstöhnen ließen – zumindest interpretierte Jarvis es so –, und auch Jiims Bewegungen, während er den Blick über die Tausenden, vielleicht Millionen wie Perlen an Gespinstfäden aufgereihten Bläschen betrachtete, von denen keines mehr als Faustgröße hatte. Seifenblasenartige Kugeln aus filmartiger Flüssigkeit, unter denen sich nicht regte, aber dafür im Ansatz erkennbar war. Wie winzige Embryonen »stapelten« sich unter der Decke, in einer Höhe beginnend, dass einer wie der gefangene, ungewöhnlich lange Treymor gerade noch aufrecht darunter gehen konnte, ohne sich ducken zu müssen. Jarvis brauchte nur Sekunden, um zu realisieren, wo sie waren – und was das über ihnen war. Ein Himmel aus Eiern wölbte sich über ihm und seinen Begleitern! »Ein riesiges Gelege, wahrscheinlich Treymor«, konstatierte Jiim. Seine sonst so beherrscht hinter dem Rücken gefalteten Flügel zuckten zwei-, dreimal, als wollte er sich hinauf erheben. Aber es waren nur unkontrollierte Reaktionen, die der Narge schnell wieder abstellte. »Wahrscheinlich. Ich wüsste auch nicht, um wessen Brut sie sonst so ein Gewese machen sollten«, erwiderte Jarvis. »Algorian?« »Das sind sie«, sagte der spindeldürre Aorii. »Wer?« »Die Urheber dieses ›dumpfen‹ Hintergrundrauschens, von dem ich schon auf Rof einen Hauch empfing. Hier ist es stärker, aber im-
mer noch … seltsam.« »Weil es Ungeborene sind?«, fragte Jarvis, den irritierte, wie vollkommen erstarrt die winzigen, noch nicht voll entwickelten Wesen (künftige Treymor?) in ihren blasenartigen Eiern ruhten. Wie … tot beinahe. Algorian machte eine Geste der Verneinung, der er eine weitere folgen ließ, die nach Jarvis' Erfahrung ausdrückte, dass er es verdammt noch mal einfach auch nicht definitiv sagen konnte. »Es ist, als würde der rudimentäre Denkfluss eines noch sehr unausgereiften Geistes von etwas gehemmt. Von etwas zum Erliegen gebracht … Ich weiß, das klingt nicht, als könnten wir daraus Schlüsse ziehen, die uns weiterbringen. Es tut mir leid.« »Kein Problem. Immerhin haben wir ja noch unseren kleinen Fremdenführer hier. Moment …« Er ließ das Paket von der Schulter gleiten. Für seine Verhältnisse beinahe sanft. »Konzentriere dich auf ihn.« »Die Angst dominiert sein Denken. Wir müssen ihm konkrete Fragen stellen, sonst werde ich nichts Verwertbares aus ihm herauslesen können.« »Das habe ich vor. Ich bin ein Spezialist für konkrete Fragen.« Algorian erwiderte nichts. Unbeachtet von seinen Begleitern war Jiim zwischenzeitlich etwas tiefer in den Raum getreten. Dabei musste er mit einer Flügelspitze, die seinen eigentlichen Körper hoch überragte, an einen Gespinstfaden gekommen sein, denn … »Vorsicht, Jarvis! Etwas ist mit ihm passiert!« Algorian war aufmerksam geworden und zeigte nun auf Jiim. »Jiim?« Jarvis trat auf ihn zu. »Was ist? Hast du etwas entdeckt, das dich zur Salzsäule erstarren lässt? Jiim?« Der Narge stand da wie erstarrt. Nein – er war erstarrt. Jarvis blieb vor ihm stehen. Musterte ihn von oben bis unten. Und entdeckte die Stelle, wo der Flügel förmlich an einem der Fäden klebte. »Espere ihn«, forderte Jarvis den Aorii auf.
Ohne Fragen zu stellen, kam der Telepath der Aufforderung nach. »Woher wusstest du das? Es ist … wie bei den Eiern. Er scheint plötzlich mitten in einem Gedanken hängen geblieben zu sein!« »Es scheint an den Fäden zu liegen.« Jarvis zeigte auf die endlosen Ketten von eiertragenden Gespinstfäden. »Sie sind offenbar organisch, aber ihnen haftet etwas an, das Einfluss auf alles nimmt, was damit in Kontakt kommt. Auf alles ebenfalls Organische jedenfalls.« »Dann«, sagte Algorian, »musst du ihn retten.« Jarvis wusste, was er damit meinte. Dennoch zögerte er sekundenlang. Die Aussicht, gleich ebenfalls so dazustehen, festgehakt in einem beliebigen Gedanken zum Zeitpunkt der Berührung, war alles andere als verführerisch. Und dass diese Gefahr bestand, daran zweifelte er keinen Moment. Wahrscheinlich war es wie bei jemandem, der jemanden retten wollte, der an einer blanken Stromleitung hing – zum Zitteraal wurde auch, wer mit bloßen Händen zu helfen versuchte … »Habe ich plötzlich Sehprobleme, oder hat sich Jiims Rüstung verändert?«, fragte Algorian, noch während er darauf wartete, dass Jarvis die geforderte Reaktion zeigte. Tatsächlich. Das Nabiss war nicht mehr golden, sondern hatte einen unübersehbaren Touch ins Türkisfarbene bekommen. Höchste Zeit! Jarvis motivierte sich ein letztes Mal und riskierte es dann. Er war nicht mehr organisch, wenngleich er immer noch ein Bewusstsein, Geist, besaß. Wie würde er also auf die Kraft reagieren, der Jiim auf den Leim gegangen war? Gleich werde ich 's wissen. Er wischte mit dem Bein gegen Jiims Kniekehlen. Brachte ihn zu Fall. Der Narge löste sich mit einem kaum hörbaren schmatzenden Geräusch. Und noch bevor er auf dem Boden aufschlug, war Jarvis zur Stelle und fing ihn auf. Jiim sah ihn entgeistert an. »Warum stellst du mir ein Bein?«
Er hatte keine Erinnerung an die Phase, als er geistig weggetreten, quasi »am seidenen Faden« gehangen hatte. Allmählich kehrte der Goldton seiner Rüstung zurück. Kopfschüttelnd löste sich Jiim aus Jarvis stützenden Armen. »Danke – auch wenn ich nichts davon mitbekommen habe.« »Du musst künftig besser aufpassen. Nicht mal mit einer Federspitze an das Zeug stoßen, bitte. Auch wenn ich dich natürlich jederzeit wieder abpflücken würde …« Jiim blickte zu der Stelle, die ihm Algorian wies. Und wie der Aorii und kurz darauf Jarvis, staunte auch er, als er sah, dass der Faden an der Stelle, wo Jiim angehaftet hatte, seine ursprüngliche Färbung eingebüßt hatte und nun golden leuchtete. Gold, das schwach auf die Eierblasen in nächster Nähe übergriff. »Ein umgekehrter Effekt wie wir ihn bei deiner Rüstung beobachten konnten. Wahrscheinlich klingt es ebenso schnell wieder ab wie sich das Nabiss wieder zurückfärbt …« Noch während Jarvis laut spekulierte … fiel eines der golden schimmernden Eier herunter … und zerplatzte am Boden. Glasklare Flüssigkeit spritzte heraus, und der Fötus rutschte zur Hälfte aus dem Hautbeutel. Anders als noch im Ei, begann er hilflos zu zucken. Algorian eilte heran. Kreidebleich. Hilflos blieb er vor dem Fötus stehen, dessen Bewegungen erlahmten und schließlich ganz aufhörten. »Im Sterben befreite er sich von der Fessel, die seinen Geist knebelte …« Jarvis war betroffen, obwohl es wahrscheinlich eine Treymorlarve war, eine von zigtausend, die gerade ihr Leben ausgehaucht hatte. »Wir haben Zeit verloren«, sagte er. »Kümmern wir uns lieber um unseren Freund hier. Wenn wir entdeckt werden, müssen wir ihn mitnehmen – und das würde ich ungern, nur im äußersten Notfall. Ein Feind an Bord der RUBIKON genügt mir fürs Erste.« Dass er den Fraktalen meinte, stand außer Frage. Er hoffte, dass die Crew ihn mittlerweile gestellt und unschädlich gemacht hatte – aber genau das würden auch die Treymor an Bord des Diskus versuchen, sobald sie merkten, dass ungebetene Besucher zu ihnen ge-
kommen waren. Algorian und Jiim pflichteten ihm bei. »Ist er immer noch bei Bewusstsein?« Algorian bestätigte dies. »Dann beginne ich jetzt mit meinen Fragen.« Er brauchte nicht Luft zu holen, aber er setzte eine gezielte Pause, bevor er sich zu dem gefangenen Treymor hinunterbeugte, seine Finger in das Netz krallte, das ihn umschnürte, und hoch zu seinem vorgetäuschten Gesicht zerrte. In das Idiom der Käferartigen verfallend, schnarrte er: »Wie heißt du? Dein Name, Unwürdiger!«
Es war die Sprache, die ein Treymor verstand. Sowohl die Worte, als auch die Drohgebärden, deren sich Jarvis bediente. Davon war der ehemalige GenTec überzeugt. Und schon der erste Versuch schaffte es, die Hysterie, in die der Gefangene bislang versunken war, zu durchbrechen. Er antwortete nicht. Aber Algorian tat es. »Xol.« »Gut, Xol. Schön, dich kennenzulernen. Du hast Angst. Und die ist berechtigt. Aber möglicherweise lasse ich dich davonkommen, wenn du dich schlau anstellst. – Du weißt, was ich mit schlau meine?« »Wenn das deine konkreten Fragen sind«, sagte Algorian in ungeduldigem Ton, »muss ich dich enttäuschen. Du verwirrst ihn nur wieder. Eben war alles klar. Sprich knapp und präzise.« »Tu ich doch immer.« Jarvis grinste, ehe er wieder ins Idiom der Treymor verfiel. Zwischen ihm und dem Gefangenen klatschte ein weiteres Ei zu Boden; auch dieser Fötus starb mit letzten Zuckungen. Der Gefangene schien es bemerkt zu haben, denn für mindestens eine Minute war er völlig hysterisch. Algorian signalisierte, als er endlich wieder aufnahmefähig schien. »Du bist ein Treymor – auch wenn du ungewöhnlich aussiehst, oder?«
Algorian nickte ihm in menschlicher Manier zu. »Okay. Und was für eine Funktion hast du an Bord?« »Er nennt sich Allvator …« »In ihrer Sprache so etwas wie ein … Heger«, sagte Jarvis. »Er kümmert sich offenbar um die Brut der Treymor. Dazu sind besondere Fähigkeiten vonnöten, über die er und die Übrigen seiner Kaste verfügen. Allvatoren unterscheiden sich offenbar durch ihre Langlebigkeit von den normalen Treymor.« »Parapsychische Fähigkeiten?« Algorian zögerte. »Was ich sehe, deutet auf uralte Lehren hin, nach denen die Eierpflege vonstatten geht. Aber ganz ohne eine gewisse PSI-Begabung scheint dies auch nicht zu funktionieren. Die Bilder in seinem Kopf sind nicht immer eindeutig interpretierbar.« »Wie heißt der Planet, dessen System ihr gerade verlasst?« »Kallawang«, sagte Algorian. »Er nennt ihn Kallawang.« »Die Diskusse werden dort gebaut. Was befindet sich dort noch?« »Die Brut. Offenbar werden auch die Eier von Kallawang herauf zu den Diskussen verbracht – wo sie in die Hand der Allvatoren übergehen und von ihnen … Moment, stell ihm konkret die Frage nach der Behandlung, die die Eier an Bord erfahren.« Jarvis folgte der Anweisung. »Ah … jetzt wird es klarer. Die Eier sind schon einige Zeit befruchtet, wenn sie auf ein Diskusschiff gelangen. Die Föten darin haben ein gewisses Reifestadium erlangt, befinden sich aber dennoch erst am Anfang einer langen Entwicklung.« »Ist das alles?« »Nein. Ich sehe gerade den eigentlichen Sinn der Gespinste, an denen die Eier von den Hegern … aufgezogen werden.« »Wie Perlen auf einer Schnur.« »Exakt. Nur dass die ›Schnur‹ in diesem Fall nicht rein organisch zu sein scheint, wie wir annahmen, sondern …« »Sondern?« »Mit der Hochtechnik des Schiffes verwoben sind. Und diese liefert offenbar Stasisenergie, die jedem einzelnen Ei zugeführt wird, um es … um es haltbar zu machen für den langen Flug.«
»Für den langen Flug«, echote Jarvis. »Okay, konkrete Frage an meinen Treymorfreund …« Er verfiel wieder in dessen Idiom. »Besitzt euer Schiff tatsächlich keinen Überlichtantrieb?« »Er bestätigt das.« An den Treymor gewandt, hakte Jarvis sofort nach: »Aber … warum? Ihr reist einem Ziel entgegen, das ihr bei eurem Tempo in frühestens etwa neunzig Jahren erreicht. Kein vernünftiges Wesen tut so etwas. Ihr habt die Technologie zum Überlichtflug, zur Transition … Warum nutzt ihr sie nicht.« »Die Beiboote verfügen darüber«, sagte Algorian. »Wie wir ja schon wussten. Damit werden die Allvatoren einst nach Kallawang zurückkehren. Dafür stehen die Boote bereit. Und um möglichen Widerstand zu brechen – am Zielort. Irgendwann, kurz bevor auch der Diskus das anvisierte System erreicht, werden sie ausgeschleust und die Allvatoren dürfen sich, wenn nötig, in ihrer zweiten Profession beweisen.« »Und die wäre?« »Krieger.« Jarvis spürte eine langsam anschwellende Wut in sich, und er hoffte, sie im Zaum halten zu können. »Espere, warum der Hauptdiskus Unterlicht fliegt. Das ist doch die Kardinalfrage. Das Unlogischste von allem.« Algorian schloss die Augen, und nach einer Weile sagte er: »Im Gegenteil. Für die Treymor ist das die entscheidendste Komponente in ihrem ganzen Plan – dem Plan der Vermehrung und Ausweitung ihres Reiches. Offenbar gibt es über die Milchstraße verteilt weitere Planeten wie Kallawang. Kombinierte Brut- und Werftwelten. Aber gerade die Brut ist der Knackpunkt. Offenbar gab es in der Vergangenheit schreckliche Entgleisungen, was ihre Aufzuckt anging, nachdem sie via Transition zu Zielplaneten verbracht worden waren. Die Eier beziehungsweise das, was sie beinhalten, sind extrem anfällig für die Energien des Hyperraums. Eine einzige Transition genügte offenbar, um ganze Brutgelege zu verderben – alles, was sich an Bord eines Schiffes befand. Eine effektive Abschirmung wurde nie entwickelt. Daraufhin ging man dazu über, die Brut mit kon-
ventioneller Reisegeschwindigkeit zu befördern – was sie natürlich auch niemals überstehen würde, ohne lange vor Erreichen des Ziels zu schlüpfen. Doch hier greifen die Stasisfäden, über deren störungsfreie Funktion die Allvatoren ebenso zu wachen haben, wie über die Brut selbst.« »Du meinst, die Föten werden in künstliche Stasis versetzt, damit sie den jahrzehntelangen Flug überstehen, ohne dem Hyperraum ausgesetzt zu werden, weil dessen Einfluss sie töten oder Mutationen hervorbringen würde?« »Genau das.« »Was für ein Aufwand. Aber offenbar finden die Treymor ihn angemessen.« Jarvis winkte die Gefährten zu sich. »Wir verschwinden.« »Und er?« Algorian zögerte. Darüber hatte Jarvis sich auch schon Gedanken gemacht. »Ich töte keinen Wehrlosen«, sagte er. »Ich justiere das Netz so, dass es sich in wenigen Minuten auflöst. Dann sind wir längst verschwunden. Wenn er Alarm schlägt, schadet es weder uns noch der RUBIKON. Sie werden vermutlich das Schiff auf den Kopf stellen, um nach uns –« »Da bin ich mir gar nicht so sicher«, unterbrach ihn Algorian. »Wie meinst du das?« »Ich war gerade ziemlich lange und ziemlich intensiv in seinem Kopf.« Er zeigte auf den Allvator. »Wenn mich nicht alles täuscht und wenn ich seine Mentalität auch nur annähernd durchschaut habe, wird er keinen Alarm schlagen, sondern die Sache auf sich beruhen lassen. Er empfindet sich als Versager, weil er sich von uns überrumpeln ließ. Dazu kommt die Sorge um die Brut, die offenbar Schaden nahm.« Sein Blick ging hinauf zu der goldenen Fadenstrecke, von der zwischenzeitlich weitere Eier abgefallen waren. Sie war nicht länger als anderthalb Meter und schien sich nicht mehr erweitert zu haben. »Man würde es ihm anlasten, und das will er keinesfalls. Offenbar stehen hohe Strafen auf Brutverluste, ob er sie nun eigenhändig verschuldet oder durch sein Verhalten nur dazu beigetragen hat … Nein, sobald er sich wieder bewegen kann, wird er
womöglich selbst initiativ, insofern, dass er die schadhaften Eier entfernt und auch den Faden, der gelitten hat, ausbessert, ersetzt … Was weiß ich?« »Es soll nicht unser Problem sein«, sagte Jarvis. »Nein.« Algorian trat an seine Rechte, Jiim hatte sich bereits links von ihm positioniert, akribisch darauf bedacht, nicht mehr gegen einen Teil des Gespinstes zu stoßen. Mit einem letzten Blick auf den Gefangenen setzte Jarvis den Impuls an die Fessel ab, die diese veranlassen würde, sich in fünf Minuten zu lösen. Dann sprangen sie zurück zur RUBIKON.
14. Cloud rekapitulierte noch einmal in Gedanken das gerade von Jarvis und Algorian Berichtete. Jiim hatte sich entschuldigen lassen; er wolle nach Yael sehen, hatte er gesagt und sich nach Pseudokalser zurückgezogen. Nicht nur Cloud fand, dass sein nargischer Freund sich seltsam verhielt! »Das war schon auf dem Diskus so«, erinnerte sich Jarvis, darauf angesprochen. Er erzählte von den Vorkommnissen dort, zwei, die mit »Wünschen« zu tun hatten, und eines, von dem Jiim kurzzeitig lahm gelegt worden war. »Er verhält sich tatsächlich etwas eigenartig«, wiederholte Cloud noch einmal seinen Eindruck. »Ich erinnere mich, dass du mir schon ein schlechtes Gewissen machen wolltest, weil ich Jiim in letzter Zeit von Außeneinsätzen fern halte. Aber offen gestanden hatte ich nicht den Eindruck, als hätte er ihn wirklich genossen oder als hätte er im Vorfeld danach gefiebert. Auf mich wirkte er eher wie jemand, der froh ist, wieder in seinen vertrauten vier Wänden zu sein.« Jarvis unternahm gar nicht erst den Versuch, sich zu rechtfertigen. »Ich kann nur sagen: Das empfinde ich genauso. Nur war es anders, als wir uns Rof zuwandten. In der Zwischenzeit muss etwas passiert sein, vielleicht wieder mal Stress mit seinem Sprössling. Zwischen den beiden fliegen doch ständig die Fetzen. Ein Grund mehr, warum ich mir ernsthaft überlege, ob ich auch irgendwann Nachwuchs in die Welt setzen soll.« Er genoss die verdutzten Blicke, die er dafür erntete. »Ja, ich weiß, guter Joke …« »Was machen wir mit dem Riesendiskus voller Treymor-Eier?«, fragte Scobee, offenbar bemüht, zum Kern des eigentlichen Problems zurückzukommen. »Ich bin für ein rigoroses Vorgehen.« »Vernichten?«, fragte Cloud. »Was sonst?« Er nickte. »Dann müssten wir allerdings auch gegen die noch im
Orbit befindlichen Diskusraumer und eigentlich auch gegen den Planeten selbst vorgehen. Und da es laut Außenteam etliche solcher Welten über die Milchstraße verteilt gibt, müssten wir, um die Expansionsbestrebungen der Treymor einzudämmen, auch gegen die anderen vorgehen. Ich fürchte nur, dabei würden wir uns übernehmen. Die Treymor sind alles andere als wehrlos. Und wenn sie erst spitz kriegen, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind, werden sie alles daran setzen, uns auszuschalten. Wollen wir das?« »Was wäre die Alternative? Still halten und zusehen, wie sie eine Welt nach der anderen überrollen?« Er schüttelte den Kopf. »Es macht sicher Sinn, die Bractonen über unsere Entdeckung zu informieren.« »Das sollten wir auf jeden Fall tun«, pflichtete ihm Scobee bei. »Also lassen wir den Diskus ziehen, in dem sich Jarvis, Algorian und Jiim umsahen?« Wieder schüttelte Cloud den Kopf. »Nur, wenn wir uns überzeugt haben, dass sie nicht wieder drauf und dran sind, eine fremde Kultur platt zu machen. Wir werden vorausfliegen und uns ihr Ziel, das sie erst in beinahe hundert Jahren erreichen, jetzt schon mal ansehen. Sollte es sich um eine jungfräuliche Welt ohne eigenes intelligentes Leben handeln … nun, dann besprechen wir uns über das generelle Problem mit den Bractonen – ohne selbst zunächst die Aufmerksamkeit der Treymor mehr als nötig auf uns zu ziehen. Sollte die Zielwelt allerdings Heimat einer erhaltenswerten Spezies sein …« »… ballern wir den Diskus weg«, rief Jarvis hoffnungsfroh. »In einem solchen Fall lasse ich mit mir darüber reden«, versprach Cloud. »Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es nicht besser wäre, das Wurzel an der Übel zu packen.« »Ist Treymor vernichten nicht, das Übel an der Wurzel packen?«, fragte Jarvis leutselig. »Darunter stelle ich mir eher vor, dass wir uns den Treymor so widmen sollten, dass wir sie verstehen lernen. Wir wollen ja keinen Milchstraßenbrand, keinen Krieg, wie unsere Heimatgalaxie ihn nicht einmal zu Zeiten des Konflikts zwischen CLARON und den
Jay'nac erlebt hat.« »Was machen wir zuerst? Die Bractonen informieren oder dem Diskus vorausfliegen?«, fragte Scobee. Cloud entschied sich für Ersteres. Auch, weil er sich von den Bractonen Abhilfe für ein anderes Problem erhoffte, das ihm unter den Nägeln brannte. Es ging um den Fraktalen, von dem immer noch unklar war, ob er sich auf der RUBIKON versteckt hielt … oder ob er längst aufgehört hatte zu existieren. »Kurs Angkwelten«, wies er Sesha an. »Transition!« Noch ahnte er nicht, dass ihn am Rematerialisationspunkt eine böse Überraschung erwarte.
Die Transition hatte die RUBIKON am Rande des Angksystems herauskommen lassen sollen. Und das tat sie auch. Cloud fragte sich, was geschehen wäre, wenn sie versucht hätten, mitten hinein zu springen. Allerdings fragte er sich das erst, nachdem sein Herz wieder begonnen hatte zu schlagen und die Fassungslosigkeit im Abklingen begriffen war. Vor ihnen, in Fahrtrichtung der RUBIKON, leuchtete das All in den schrecklichsten Farben, brodelten Kräfte, wie kein Besatzungsmitglied sie jemals gesehen hatte. Auch nicht die hier beheimateten Angks. Assur war sofort, nachdem sie davon erfahren hatte, in der Zentrale erschienen und hatte Clouds Nähe gesucht – um von ihm zu erfahren, was da draußen vorging. Wie alle anderen hatte sie Familie und Freunde auf den Angkwelten. »John … Was bedeutet das?« Er hatte sie in den Arm genommen und geantwortet: »Ich weiß es nicht. Ich wollte, ich wüsste es. Wir kamen, um die Bractonen um Hilfe zu bitten. Du weißt, wegen des Treymor-Problems. Damit konnte niemand rechnen. Es gab überhaupt keine Vorzeichen, als wir zuletzt hier waren. Das liegt erst wenige Wochen zurück. Alles
war friedlich, alles schien in bester Ordnung. Aber nun …« Nun leuchtete vor ihnen über eine gewaltige Fläche das All, als wäre das Angksystem von einer blitzdurchtobten Wolke eingehüllt worden. Weder das Zentralgestirn noch die sieben auf einer Umlaufbahn verteilten Angkwelten waren zu sehen. Nicht mit den Ortungssensoren der RUBIKON und auf rein optischem Weg schon gar nicht. »Es ist vernichtet, oder? Es existiert nicht mehr. Eine Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß …« Assurs Stimme hatte sich erst überschlagen, dann war sie immer leiser geworden. Cloud drückte sie fest an sich und strich ihr beruhigend über den Rücken. »Wir müssen nicht gleich das Schlimmste annehmen.« Er sagte es, obwohl er selbst genau das tat. Auch er war überwältigt von dem Anblick der brodelnden Wolke aus … ja, woraus bestand sie? Sesha hatte es bislang nicht feststellen können. Alles war in Bewegung, wie Rauch, von einem Feuer genährt, das irgendwo im Kern der Wolke loderte. Minutenlang herrschte Aufruhr im Angkdorf, wohin die Bilder übertragen wurden. Cloud musste zu den Crewmitgliedern sprechen und ihnen ans Herz legen, nicht, wie Assur, gleich mit dem Schlimmsten zu rechnen. Er versprach ihnen, die Lage zu eruieren. Sonde um Sonde wurde in das chaotische Brodeln geschickt. Sie verschwanden. Keine kehrte zurück, keine lieferte Datenmaterial, aus dem sich das Geringste über die Natur des Phänomens ableiten ließ. Der Versuch, die RUBIKON erst vorsichtig heranzusteuern und dann … hinein … hinein in die ersten schwächer ausgeprägten Randgebiete der Wolke … … endete fast im Fiasko. Im letzten Moment konnte Sesha einen Notsprung initiieren, der den Abstand zum Angksystem auf einen Lichtmonat erhöhte. Unmittelbar nach der Transition stürmte Jiim in die Zentrale. Er schien keinen anderen wahrzunehmen – wahrnehmen zu wollen – als Cloud. »Guma Tschonk, ich muss dich sprechen. Es geht um –«
»Du siehst, was hier los ist, Jiim, Freund! Zu jeder anderen Zeit gern, ich weiß, dass dich etwas beschäftigt. Aber gerade jetzt ist dafür kaum der rechte Moment. Spä-« Jiim hatte ihm ungeduldig zugehört. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Aber darum geht es, Guma Tschonk. Es geht um das Angksystem. Ich … ich habe einen Verdacht. Einen schlimmen Verdacht.« Das änderte alles. Cloud gab seine Abwehrhaltung auf. »Rede. Was meinst du mit schlimmem Verdacht?« »Diese Wolke … Ich glaube, sie hat mit …« »Rede!« »… mit der Nonzone zu tun, von der die Bractonen sprachen … Nein, das ist falsch ausgedrückt: Ich glaube, sie ist die Nonzone. Und …« »Und?« »… möglicherweise stecken die Ganf dahinter!«
Die Ganf. Cloud starrte Jiim an, als habe er den Verstand verloren. Jiim. Nicht er. »Wie kommst du bloß auf so eine absurde Idee?« Jiim erzählte es ihm. Erzählte von Charlys Veränderung seit seiner Rückkehr aus der Nonzone. Und von seiner Begegnung mit dem Ganf, der scheinbar in Charly steckte. »Sesha kann nichts von alledem bezeugen, habe ich das richtig verstanden?« Jiim bestätigte mit gequälter Miene. »Tut mir leid, aber ich muss erst darüber nachdenken. Ich kann dazu jetzt nichts sagen. Gar nichts. Himmel, Jiim, ich wünschte, du hättest mir dein Vertrauen ein bisschen früher geschenkt … Nein, das ist kein Vorwurf. Ich verstehe dich. Natürlich verstehe ich die Zwickmühle, in der du warst. Und ich glaube auch nicht, dass das hier zu verhindern gewesen wäre. Aber ob es wahrhaftig mit den Ganf zu tun hat …« Er zuckte die Achseln. Für einen Moment über-
kam ihn ein Schwindelgefühl. Die Bractonen auf Brachialexpansionskurs. Ein freier Fraktaler an Bord. Eine entartete Nonzone samt … Ganf, die angeblich darin hausten … Wo sollte all das enden? Wie sollten sie all das noch einmal auf die Reihe bekommen? Es war Assur, die erneut seine Nähe suchte und ihm ins Ohr flüsterte: »Wir müssen hier weg. Ich war in Kontakt mit den anderen Angks. Vorhin, während des Notsprungs. Du weißt, er dauerte nur eine Millisekunde … aber in dieser Zeit verschmolzen wir miteinander auf metaphysischer Ebene. Für uns reichte die Zeit. Sie reichte, um zu begreifen.« »Was zu begreifen?«, fragte Cloud rau. »Dass sie verloren ist.« Er sah sie an. »Die Heimat, die wir einmal hatten.«
15. Ein Schiff stand unter Schock. In erster Linie die angkstämmige Besatzung, aber auch die Altcrew konnte sich dem Entsetzen nicht verschließen, das Einzug gehalten hatte in die RUBIKON. Entsetzen und Ratlosigkeit. Das ERSTE REICH der ERBAUER beherbergte Milliarden Menschen, Bractonen, Tavner, Gloriden und Sternlinge. All das war entweder bereits inexistent geworden oder in höchster Gefahr. Wieso? Konnten wirklich die Ganf dahinterstecken, wie Jiim es angedeutet hatte? Cloud hatte Yael und seinen Orham zu sich bestellt. Den ebenfalls angeforderten Charly brachten sie nicht mit. Er widersetzte sich ganz offenkundig dem Wollen seines Schöpfers. Kein gutes Zeichen. Cloud nahm es hin, weil ihm keine andere Wahl blieb. Das Gespräch mit den beiden Nargen brachte keinen Zugewinn an Information. Mehr und mehr hatte Cloud das Gefühl, sich in einer Sackgasse zu befinden. Alles, was schief gehen konnte, ging in jüngster Zeit schief. Der Fraktale bereitete ihm die größte akute Sorge – die Verwandlung des Angksystems war im Vergleich dazu sicherlich folgenschwerer für das Universum – aber zugleich auch etwas so Urgewaltiges, dass es in letzter Konsequenz noch längst nicht in sein Begreifen gesickert war. Cloud besprach sich mit Assur, und sie erneuerte ihr Angebot, mit den anderen Angks auf »Monsterjagd« zu gehen. »Versprich dir nicht zu viel davon«, bremste sie im vorhinein jede Euphorie. »Wir sind keine Zauberer. Wir werden uns verbinden und das Schiff mit unseren Sinnen ausloten. Normalerweise müssten wir ein so abnormes Wesen wie den Fraktalen finden, zumindest Dinge, die auf sein Wirken schließen lassen. Aber wir müssen aufhören, ihn zu unterschätzen. Er ist keine Kreatur wie jene, auf die wir im Solsystem tra-
fen. Dieser hier ist die Bestienversion eines Fraktalen. Wahrscheinlich verfügt er weder über eine Persönlichkeit noch über ausgeprägte Intelligenz. Aber genau dieses Instinkthafte macht ihn noch gefährlicher. Wenn er seine Schritte nicht plant, nicht in eine Strategie einbindet, die ein bestimmtes Ziel verfolgt, tappen wir wesentlich mehr im Dunkeln, als wenn wir wüssten, was er vorhat – und ob er in diesem Zustand, dieser Zusammensetzung überhaupt etwas vorhat, um gegen das Schiff – ich spreche nicht von einzelnen Besatzungsmitgliedern – vorzugehen.« »Deine Überlegungen decken sich weitestgehend mit meinen eigenen. Aber ich muss zugeben, es aus deinem Mund zu hören, führt mir erst richtig vor Augen, wie gering unsere Chancen wahrscheinlich sind. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Kein Sensor vermag ihn zu erfassen. Das allein ist schon ein Ding der Unmöglichkeit … eigentlich. Ich meine, wie macht er das? Das, woraus er sich zusammensetzt, ist so unfassbar robust und widerstandsfähig, dabei aber auch so anpassungsfähig und wandelbar, dass es im Weltraum überleben kann. Und bis heute ist ungeklärt, wie es an Bord der XSchiffe gelangte, die die Hohlweltschale um die Erde angriffen. Es muss eine Parabegabung sein, ähnlich der Teleportation. Aber dazu kommt noch diese ›Aufsplitterung‹ bei Bedarf. Und das passgenaue wieder Zusammensetzen der einzelnen Partikel, von denen jedes schon so aussieht wie das fertige Ganze … Es ist der pure Aberwitz. Es passt zu Cronenberg, er ist genauso gestrickt, dass ihm Ideen zu Schöpfungen wie dieser kommen müssen. Aber wir alle wissen nicht, wie er es geschafft hat. Und wozu er sonst noch in der Lage ist, seit er über eine Hirnkapazität verfügt wie noch kein Mensch, wahrscheinlich überhaupt kein Geschöpf vor ihm …« »Du hast mir von ihm erzählt«, sagte Assur. »Diesem Cronenberg. Reuben Cronenberg, wenn ich nicht irre. Ihr stammt aus derselben Zeit. Er war … Berater der Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika … Ich staune immer wieder über all die Begriffe, mit denen du jonglierst, um dich wirfst. Und dann fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass du all das schon erlebt hast. Leibhaftig erlebt. Am Aberwitzigsten ist die Vorstellung, dass du Prosper kanntest. Pro-
sper und all die anderen Gründerväter und -mütter der Bevölkerungen unserer Heimatwelten.« Die Angkwelten. Er nickte. Es war Aberwitz. Es war Wahnsinn. Und wenn er anfing darüber nachzudenken, wo – und wann! – er schon überall gewesen war, überall seine Finger im Spiel hatte … dann schauderte ihn selbst. Sein einziger Trost in solchen Momenten war, dass er dieses Schicksal nicht allein schultern musste. Dass es noch andere gab wie ihn: Scobee. Jarvis … Er schmunzelte. Und Cronenberg. Sein Lächeln erlosch. In den folgenden Stunden fand er nicht einmal in Assurs Armen Entspannung. Und dann waren sie dort, wohin die Treymor erst noch wollten.
Siebenundzwanzig Welten, die eine einzige Sonne umliefen, und davon gleich drei innerhalb der Lebenszone, drei mit Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphären und alle drei … bewohnt. Von einer raumfahrenden Spezies, die sich offenbar von einem der Planeten aus ausgebreitet hatte. »Präinterstellares Stadium«, sagte Sesha. »Noch nicht über die Grenzen ihres Systems hinausgekommen. Aber immens rege innerhalb dieser Grenzen. Es herrscht Dauerverkehr zwischen den drei bewohnten Welten. Auch zu den anderen sind Fahrzeuge unterwegs oder kehren von dort zurück. Wasserstofffusionsantriebe und auf demselben Prinzip basierende Energieerzeuger auf den Planeten und Monden. Kaum Schadstoffausstoß. Riesige Vegetationszonen auf dem Weltentrio. Paradiesische Zustände für Lebewesen, die vergleichbare Bedürfnisse haben wie ein Mensch, Aorii, Narge oder Aurige.« Die KI vergaß keinen. »Hierher hat der Diskus mit der Treymor-Brut und den sie hegen-
den Allvatoren Kurs genommen. Wenn wir nichts unternehmen, wird all dies in hundert Jahren enden.« »Ja«, pflichtete Cloud Scobees Worten bei. »Dann werden sie aus dem Paradies vertrieben. Die böse Schlange sind in diesem Fall Käfer. Gierige, nimmersatte Käfer …« »Die Menschen der Erinjij-Phase hatten einiges mit ihnen gemeinsam …« »Aber getrieben von machthungrigen, nimmersatten Nichtmenschen«, erinnerte Cloud sie. »Keelon. Wie Darnok.« Darnok. Der Stachel saß immer noch tief: Wann immer er an den Freund von einst dachte, begrub er den Gedanken so schnell er konnte unter einem Wust von anderen. Er hatte es immer noch nicht geschafft, mit der Erkenntnis umzugehen, dass ein liebeswertes Geschöpf wie der Keelon, der sie einst in dieses andere Leben geführt und ihnen lange als Mentor zur Seite gestanden hatte, sich in seinem Charakter zum eiskalten Massenmörder hatte wandeln können. Darnok hatte eine Schuld auf sich geladen, wie vielleicht kein Individuum vor ihm. Die Rach- und Vergeltungssucht hatte ihn dazu getrieben. Es gab keine Entschuldigung. Aus. Vorbei. Es gab sie nicht. Und deshalb würde der Schlaf, in den sie ihn versetzt hatten, wahrscheinlich erst enden, wenn die RUBIKON einst aufhörte zu existieren. »Was ist?«, fragte Scobee mit ihrem untrüglichen Gefühl für seine Stimmungsschwankungen. »Nichts.« Ihr Blick verriet, dass sie ihm das nicht abkaufte. Aber sie respektierte, dass er nicht darüber sprechen wollte. Das tat sie immer. In diesem Moment fragte sich Cloud, warum es mit Scobee nie geklappt hatte. Warum nicht mehr aus ihnen beiden hatte werden können. Als Paar. Wahrscheinlich würde er eher den genetischen Kode des Universums entschlüsseln, als darauf je eine Antwort fin-
den. Im Schutze ihres Tarnfelds, das für eine Zivilisation dieser Evolutionsstufe nicht zu entlarven war, näherten sie sich jener der drei Welten, bei der alle Verkehrsfäden zusammenzulaufen schienen. Wahrscheinlich die ursprüngliche Heimat des Volkes, das so viel vollbracht hatte … und nicht ahnte, dass das und alles, was es in den nächsten hundert Jahren noch schaffen würde, auf der Kippe stand. Hopp oder top. Cloud hatte sich längst entschieden, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um sie vor den Treymor zu bewahren. Er wünschte, er hätte eine Antwort darauf gefunden, ob die Käferartigen unverzüglich einen Ersatz auf den Weg hierher bringen würden, wenn dem bereits auf Kurs gebrachten Diskus etwas zustieß. Die Mentalität, die Denkweise der Treymor war ihm immer noch zu wenig vertraut. »Du hast deine Entscheidung bereits getroffen«, erriet Scobee auch jetzt seine Gedanken und Gemütslage. »Und? Wäre das schlimm? Ihnen helfen zu wollen, meine ich?« »Ich weiß nicht, was unser Eingreifen bringt. Sie bräuchten eine dauerhafte Lösung, dauerhaften Schutz.« »Daran ist momentan nicht zu denken. Erst wieder, wenn wir mit den Bractonen sprechen können.« Sie betrachtete ihn lange. »John?« »Ja?« »Was hast du gedacht, als wir vor dem Gebilde kreuzten, von dem Jiim glaubt, es sei die entartete Nonzone? Ich meine: dein Bauchgefühl. Werden wir jemals wieder eine Angkwelt betreten? Und wird es dort noch sein wie zuletzt, als wir dort waren?« Er zögerte, schüttelte dann den Kopf. Unendlich müde fühlte er sich, während er es vermied, Scobee in die Augen zu sehen. »Ich wünsche es mir, aber es war das Fürchterlichste – nach der Negaperle vielleicht –, was ich je gesehen habe.« »Ja«, sagte sie. »So ging es mir auch. All die Menschen … sie lebten in solcher Eintracht mit den Schmetterlingswesen. Wenn wirklich
die Ganf dahinterstecken, dann …« »Dann sind die Ganf Monster.« Cloud nickte. »Schlimmere Ungeheuer als die Treymor. Viel schlimmere.« »Das wollte ich nur hören. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht kann ich ohne Hoffnung auf ein Happy End besser mit der Katastrophe umgehen. Manchmal ist es besser, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, anstatt sich in Wunschdenken zu flüchten.« »Wahrscheinlich.« Die RUBIKON schwenkte in einen Orbit um den dritten Planeten ein, der keinen Raumverkehr behinderte. Und dann begann das übliche Procedere. Detailerkundung der Oberfläche. Studium der dominierenden Spezies. Wieder eine pflanzliche Intelligenz, dachte Cloud wenig später, als die ersten Detailbilder und Daten eingingen. Das kann kein Zufall sein. Es ist fast so, als würden die Treymor gezielt nach solchen Zivilisationen Ausschau halten, weil … So entsetzlich die mögliche Erklärung dafür auch klang, so sehr drängte sie sich doch auf. … diese offenbar ideal für ihre Brut sind. Als Nährstofflieferant. Ihm lief es eiskalt über den Rücken.
»Ihr wolltet, dass ich komme …« Jelto trat in die Zentrale und durchmaß sie mit elastischen Schritten. »Ja«, empfing ihn Cloud. »Wir wollten, dass du dir das ansiehst.« Seine einladende Geste zeigte zu einem der freien Plätze im Kommandorund. »Nanu«, frotzelte Jarvis, »heute mal ganz ohne deinen zweiten Schatten unterwegs, Grüner?« Jelto wirkte entspannt, als er Platz nahm. »Du meinst sicher Sooks. Das ist eine längere Geschichte. Ich habe unser gemeinsames Projekt beendet. Er wird drüber hinwegkommen. Manchmal muss man Egoist sein. – Im Übrigen ist Grün das größte Kompliment, das du mir machen kannst, Grauer. Ich habe grüne Augen, trage grüne Klei-
dung und habe eine grüne Seele.« »Äh … ja.« Jarvis dachte offenbar über seinen neuen Spitznamen nach. Damit hatte er erst einmal zu tun. »Worum geht's?«, fragte der Pflanzenhüter. »Um die Leutchen hier.« Scobee zeigte in die Holosäule, das in mehrere Fenster unterteilt war. In einem war eine auffällige Gestalt in lebensgroßer Wiedergabe zu sehen. Jelto stieß einen überraschten Pfiff aus. »Wow.« »Ja, das war auch meine ungefähre erste Reaktion.« Cloud lächelte. »Und es gibt noch mehr als nur die Physis der Systembewohner, die dir gefallen wird.« Jeltos Augen ruhten immer noch auf der Gestalt in der Holosäule: nicht ganz zwei Meter groß, schlank, lindgrüne Haut … Haut im weitesten Sinne … mund-, nasen- und augenloses Gesicht, das dennoch fast menschliche Züge hatte, weil dort, wo sich Mund, Nase und Augen hätten befinden sollen reliefartige Einkerbungen beziehungsweise Wölbungen befanden, die eine Physiognomie andeuteten. Die Reliefs schienen in der »Mund«- und »Nasen«region aus gröberem Material zusammenzusetzen, während die »Augen« sehr viel filigraner wirkten. Als wüchsen dort mit winzigen roten Blüten besetzte Blätter. Die Blüten leuchteten intensiv, der gesamte Körper war stark gemasert, sodass sofort der Gedanke aufkam, diese Gestalt sei nur geschnitzt und gar nicht echt. »Vegane Wesen«, sagte Scobee. »Erstaunlicherweise humanoid. Keine Ahnung, was sich Mütterchen Natur dabei gedacht hat. Aber sie wirken ungemein …« »… ästhetisch«, murmelte Jelto verträumt. »O ja, das tun sie. Danke, dass ihr mir Bescheid gegeben habt.«
16. »Kann ich dich sprechen? Unter vier Augen, meine ich.« »Das wird schwer«, grinste Jarvis. »Du weißt, dass ich davon ein paar mehr habe.« »Du weißt, wie ich es meine.« »Das hindert mich aber nicht, Sprüche zu klopfen.« Jelto nickte. Er hatte Jarvis in der Zentrale beiseite genommen. Die Eindruck des Gesehenen wirkte immer noch in ihm nach. Er war selbst über die Anziehungskraft der Bilder erstaunt. Aber gleichzeitig wusste er, dass er seinem geheimen Sehnen nachgeben musste, sonst würde er es ewig bereuen. »Also, worum geht's, Grüner?« Er zwinkerte ihm zu. Mit den beiden Augen, mit denen er seine Umgebung nicht wirklich wahrnahm. Jelto wusste das, dennoch ließ er sich vom scheinbaren Äußeren des Freundes täuschen. »Ich will mit John sprechen.« »Worüber?« »Alle bisherigen Erkenntnisse über die hier beheimatete Spezies deuten darauf hin, dass wir es mit einer ungemein harmonischen Gesellschaft zu tun haben. Nirgends gibt es die geringsten Anzeichen von Gewalt oder Unterdrückung.« Jarvis nickte. »So sieht es aus. Sie behandeln ihre Lebensräume so pfleglich, wie wir es nur selten, wenn überhaupt einmal, erlebten. Sind richtige Musterintelligenzen.« »Und von ihrer Struktur her pflanzlich.« »Was dir natürlich gefällt.« »Ungemein. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …« Jeltos Augen strahlten wie selten. Als fokussiere sich alles Licht seiner Aura, das sonst den ganzen Körper umgab, in diesem Moment auf seine Pupillen. »Es ist wie eine Verlockung, der ich nur unter größter Qual auf
Dauer widerstehen könnte.« »Du willst runter?« Jarvis, wie er leibt und lebt, dachte Jelto. Statt lange um den heißen Brei herumzureden, bringt er es mal eben auf den Punkt. »Ja«, sagte er. »Ich will runter. Aber ich muss erst noch mit John sprechen. Wobei ich mir vorstellen kann, wie er argumentiert.« »Und wie?« »Wahrscheinlich wird er mir meinen Wunsch abschlagen, um die Einheimischen nicht auf uns aufmerksam zu machen. Es ist immer mit einem hohen Risiko behaftet, niedriger entwickelte Zivilisationen mit Abgesandten einer … ich nenne es jetzt mal so, du weißt, wie ich es meine … Hochkultur zusammenzuführen.« »Wenn ich zynisch wäre, würde ich jetzt sagen: Das passiert in spätestens hundert Jahren. Und dann mit einem gewaltigen Knall.« Jelto nickte betrübt. »Bleiben wir beim Heute«, sagte Jarvis. »Du musst dich ihnen ja nicht zu erkennen geben.« »Eben. Andererseits kann ich auch gleich auf dem Schiff bleiben, wenn ich auf dem Planeten darauf verzichten müsste, mich unter sie zu mischen.« Jarvis verstand wohl immer noch nicht, worauf er hinaus wollte. Nicht wirklich verwunderlich, wenn man bedachte, worum Jelto ihn bitten mochte … um auch John gegenüber ein schlagendes Argument auffahren zu können. »Das wird schwer«, sagte Jarvis. »Vielleicht kann dir Sesha etwas basteln, das dich unsichtbar macht. Dann könntest du dich –« »Du verstehst es nicht. Ich möchte unter sie. Mich … mit ihnen unterhalten. Sesha hat ihre Sprache entschlüsselt und auf den Neurochip in meinem Kopf übertragen. Ich beherrsche sie so flüssig wie ein Einheimischer. Jetzt fehlt nur noch …« »… die passende Maske.« Jelto nickte so heftig, dass Jarvis stutzen musste. »Nein …«, flüsterte er. »O nein, das ist nicht dein Ernst …« »Es ist eine Bitte, wie sie wahrscheinlich noch niemand an dich herangetragen hat. Ich weiß nicht einmal, ob sie realisierbar ist. Da-
für kenne ich mich zu wenig mit dem aus, was Kargor dir schenkte …« »Du hast zu viele Pollen eingeatmet, Grüner. Das ist dir schlecht bekommen. Du kannst doch nicht allen Ernstes von mir erwarten –« Jeltos Blick formulierte stumm ein Bitte, wie Jarvis es noch nicht erlebt hatte. Es erweichte ihn. Aber glücklich schien er darüber nicht zu sein. »Sprich erst einmal mit John. Wenn er einverstanden ist, können wir es zumindest mal versuchen und einen Probelauf hier auf der RUBIKON starten. Sollte der zur Zufriedenheit aller – und damit meine ich vorrangig mich; mich musst du damit überzeugen – ausfallen, will ich deiner Sehnsucht nicht im Weg stehen. Aber pass auf den Kristall auf wie auf deinen Augapfel! Ich hab mich dran gewöhnt. Und du weißt, dass ich für die Dauer deines Aufenthalts auf dem Planeten hier oben quasi nackt rumlaufe …«
»Unglaublich! Ich wusste nicht, dass es übertragbar ist. Ich dachte immer, es wäre speziell auf dich geeicht …« »Vielleicht hätte ich euch besser in dem Glauben lassen sollen«, brummte Jarvis. »Nachher kommt ihr noch alle angedackelt und wollt euch das Ding stundenweise ausleihen. Daraus könnte ich eine florierendes Geschäftsidee machen – wenn wir so etwas wie Geld auf der RUBIKON nötig hätten. Wie wär's, wollen wir demnächst eine Währung einführen?« Cloud schüttelte lächelnd den Kopf. Dann wandte er sich wieder dem pflanzlichen Humanoiden zu, der sie auf dem Schiff zu besuchen schien. »Geh noch einmal auf und ab, dreh dich um deine Achse …« Jelto gehorchte. Die Zentrale des Rochenschiffes wurde zum Catwalk. »Ich geb's ungern zu«, sagte Jarvis. »Aber er ist perfekt. Er hat sich sogar ihre Bewegungen abgeschaut.« Jelto in seiner Maske als Bewohner dieses Sonnensystems hielt inne. »Dann ist es also entschieden? Ich habe das Okay?«
»Von mir – ja«, seufzte Jarvis, der mit einem anthrazitfarbenen Metalliclook aufwartete, an den sich seine Freunde erst wieder gewöhnen mussten. »Dann will ich dem Glück nicht im Wege stehen«, sagte Cloud. »Aber du hältst dich an das verabredete Limit. Und funkst sofort SOS, falls irgendetwas schief läuft!« »Ein voller Planetentag. Von Mittag zu Mittag – wie besprochen«, bestätigte Jelto und wechselte unvermittelt ins Idiom der Hiesigen. »Farro gartuk!« »Und das heißt?« »Meine Sonne soll für euch scheinen – ein auf Vil gebräuchlicher Gruß.« »Vil?« »So nennen die Vilaner ihre Hauptwelt. Die beiden anderen heißen Keran und Harp.« »Jelto wird dich hinunterbringen«, sagte Cloud. »Ich würde lieber ein Shuttle nehmen.« »Das lässt sich einrichten. Die Vilaner sind nicht in der Lage, einen einfachen Tarnschirm zu durchschauen. Sesha wird alles vorbereiten. Du kannst starten, sobald du selbst dazu bereit bist.« »Ich starte sofort. Ich habe mir schon einen Landepunkt ausgesucht«, sagte der falsche Vilaner. Die Worte drangen aus der reliefartigen Vernarbung, die den Mund andeutete. »Das Lindgrün steht ihm gut«, sagte Scobee, als er die Zentrale verließ. Und Jarvis gönnte sich das vorerst letzte Worte in dieser Sache: »Da geht er hin, unser Sonnenschein …«
Er landete das Shuttle am Rande der kleinen Siedlung. Er hatte nach einer solchen gesucht, obwohl es durchaus beachtliche Metropolen über den Globus von Vil verteilt gab. Beim Aussteigen empfing ihn ein lauer Abend. Die Sonne stand noch eine Handbreit über dem Horizont, und die Bäume des kleinen Wäldchens, das das Shuttle von der Stadt trennte, warfen lange
Schatten. Das Fahrzeug tarnte sich selbsttätig. Wie schon im Anflug, passte sich die Oberfläche chamäleonartig der Umgebung an, ging dabei auch auf Licht- und Schattenwurf ein. Ohne die Zuhilfenahme von geeigneter Technik war das Shuttle nicht mehr auszumachen. Nur wer damit zusammenprallte, mochte sich neben einer Beule auch die Erkenntnis holen, dass hier etwas nicht stimmte. Doch diese Gefahr war gering. Jelto genoss kurz das Idyll, in das er getreten war. Es unterschied sich völlig von seinem Erlebnis auf Rof. Und dennoch … musste er wieder an die geschundenen Pilzwesen denken, deren Untergang schlussendlich zwar von der RUBIKON herbeigeführt worden war – die wirklich Schuldigen daran jedoch waren diejenigen, die auch dieses Idyll zu zerbrechen drohten. Sein Wissen, das dem der Einheimischen weit voraus war, quälte ihn. Er wünschte, er hätte es wenigstens für kurze Zeit in einen so fernen Winkel seines Gedächtnisses schieben können, dass er nicht ständig daran erinnert wurde. Kargors Kristall, so klein und geformt wie die Schuppe eines Fisches, leistete, was Jelto in dieser Vollendung niemals erwartet hätte. Als er seine Bitte an Jarvis herangetragen hatte, war er innerlich zuerst einmal von brüsker Ablehnung ausgegangen. Ablehnung von Jarvis, aber auch von dem Objekt aus bractonischer Fertigung, das in der Lage war, Jarvis ein beliebiges Aussehen zu verleihen und dabei in seiner vorgetäuschten Körpersprache auf jegliche Gemütsregung einzugehen vermochte. Wenn Jarvis innerlich lächelte, lächelte auch das Gesicht, das der Kristall erzeugte. Wenn Jarvis wütend wurde, ballte sein Körper die Hände zu Fäusten und versprühten seine Augen imaginäre Blitze. Und so weiter, und so fort. Gerade diese Perfektion hatte Jelto zu seinem forschen Wunsch verleitet. Aber er hatte niemals erwartet, dass es ihm gelingen würde, mit dem Kristall ebenso spielerisch leicht und selbstverständlich umzugehen, wie es Jarvis tat. Aber es war so.
Und nun wollte er davon profitieren. Wollte die Schatten Rofs endgültig mit einem positiven »Gegenerlebnis« vertreiben. Noch bevor er die ersten Häuser erreichte, die sich harmonisch zwischen Bäume und Büsche schmiegten, hörte er Stimmen. Sie schienen sich zu entfernen, doch automatisch lenkte Jelto seine Schritte in die betreffende Richtung, und rasch wurden sie wieder lauter. Zwei Vilaner. Jelto wusste nicht, ob es zwei Geschlechter bei dieser Spezies gab. Rein optisch gab es zwar Unterscheidungsmerkmale unter Einzelnen, aber keine, die auf ein bestimmtes Geschlecht, auf »Mann« oder »Frau« hindeuteten. Aber es gab Erwachsene und Kinder, zumindest, wenn man nach der Größe ging. Und dann waren es zwei Heranwachsende, die sich hier zwischen den Bäumen herumtrieben. Jelto ging davon aus, dass sie spielten. Möglichst »vilanertypisch« versuchte er sich den beiden zu nähern. Sie bemerkten ihn … und rannten ihm freudig entgegen. »Wie heißt du?« »Jel«, sagte Jelto. »Und ihr?« »Ich bin Ven Par Sin Zon – aber du kannst mich Ven nennen.« »Ven … hallo!« »Ich heiße Mol. Den Rest erspare ich dir. Ich bin kein solcher Angeber wie Ven.« Jelto formte ein Lächeln, wie nur Vilaner es konnten. »Freut mich. Was treibt ihr?« »Was schon. Üben …« Ven machte ein missmutiges Gesicht. Zumindest interpretierte Jelto es so. »Was übt ihr denn?« »Was sollen wir schon üben? Was alle in unserem Alter üben müssen«, sagte Mol. Täuschte sich Jelto, oder mischte sich Misstrauen in die Stimme des Halbwüchsigen? »Du bist komisch. Ich hab dich noch nie hier gesehen.« »Ich komme aus einer anderen Stadt.«
»Welcher?« »Auf der anderen Seite des Planeten. Ihr werdet sie nicht kennen.« »Siehst du?«, wandte sich Mol an seinen Freund. »Er ist komisch. Städte nicht kennen … Wir kennen alle Städte. Was redet er da? Komm, lass uns heimgehen. Vielleicht sollten wir die Panläufer informieren. Besser ist besser.« Er versuchte Ven mit sich zu ziehen, doch dieser widersetzte sich. »Quatsch. Der ist in Ordnung. Sieht doch freundlich aus.« »Was sind … Panläufer?«, fragte Jelto, obwohl er wusste, dass das seinen Stand nicht unbedingt verbessern würde. »Vielleicht ist er kelt«, sagte Ven. »Ich mag ihn. Wir sollten ihn mitnehmen.« »Mitnehmen? Du bist verrückt. Wenn er kelt ist, müssen wir die Panläufer erst recht verständigen. Sie tun ihm ja nichts. Sie bringen ihn nur zurück in den Garten. Zu den Heilbäumen.« Jelto gab sich einen Ruck. »Was bedeutet kelt?« Ven schien zu überlegen. Entweder grübelte er über Mols Worte oder das Verhalten Jeltos. Vielleicht auch über beides. Schließlich fasste er Jelto am Arm und zog ihn mit sich. Jelto leistete keinen Widerstand. Allerdings fragte er sich, was geschehen würde, wenn die Panläufer über die Mittel verfügten, ihn gegen seinen Willen festzuhalten. Er wollte John und den anderen keine Umstände machen. Aber für alle Fälle war er natürlich gerüstet, um sich gegebenenfalls selbst zu helfen. Und falls das nicht fruchtete, nun … »Du fühlst dich komisch an. So weich.« Ven sah zu ihm auf, während er Jelto Richtung Stadt lenkte. »Ja«, sagte er. »Wahrscheinlich bin ich schon ziemlich kelt. Aber du bist nett. Du wirst mir helfen – oder?« Mol hastete protestierend und vor sich hin brabbelnd hinter ihnen her. »Er ist böse auf mich«, sagte Jelto. »Mol ist ein Angsthase«, erwiderte Ven selbstbewusst. »Achte nicht auf ihn. Ich will mehr von dir erfahren. Sobald wir zuhause sind. Erzähl mir, wie es ist im Heilgarten.« Jelto schwante Übles. Was sollte er dem kleinen Vilaner erzählen?
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was all diese Begriffe bedeuteten. Schlechte Vorbereitung. Wie konntest du dir einbilden, hier mit ein bisschen Kosmetik und rudimentärer Begriffskenntnis zurechtzukommen? Den Rest des Weges zu Vens und Mols Zuhause war er ziemlich wortkarg.
Es überrollte ihn wie eine Woge. Die Gastfreundschaft der Vilaner war … unglaublich. Ven schilderte den Eltern – ja, es gab Vater und Mutter, auch wenn die Basis dieser Partnerschaft für Jelto so schnell nicht durchschaubar wurde –, wie er und Mol »Jel« kennengelernt hatten … und für keinen noch so winzigen Moment hatte Jelto das Empfinden, von ihnen mit Argwohn betrachtet zu werden. Der Einzige, der weiterhin etwas Distanz hielt, war Mol. Aber das mochte eigene Unsicherheit sein. Er war noch nicht so weit in seiner Entwicklung wie der um vieles gefestigtere Ven – oder seine Eltern. Sin und Arl strahlten ein inneres Gleichgewicht aus, wie Jelto es selten bei einem Geschöpf erlebt hatte. Mit offenen Armen wurde er empfangen und in das hübsche verwinkelte Haus gebeten, das inmitten anderer hübscher verwinkelter Häuser stand. Im Innern paarte sich Technik mit Natur, so harmonisch, wie es bei diesen Bewohnern kaum anders zu erwarten gewesen war. »Du bist fremd in der Stadt?«, fragte Sin. »Wann bist du angekommen? Du musst durstig sein.« »Ich habe gerade erst getrunken, danke«, wehrte Jelto ab. Sin war ebenso schlank wie ihr Partner Arl. Und auch wenn es äußerlich kaum Hinweise gab, so glaubte Jelto doch, etwas Feminines an ihr zu spüren. »Was willst du in Partak?« Das musste der Name der kleinen Stadt sein. »Nichts Bestimmtes. Ich sehe mich um. Ich reise. Reist ihr nicht gern?« Sie sahen ihn verwundert an mit ihren Reliefaugen. »Er ist wahrscheinlich kelt«, informierte Ven sie, als erklärte das al-
les. »Zumindest meint Mol das.« Ihre Freundlichkeit wuchs danach sogar noch. »Wir werden ihn gleich morgen früh zum Heilgarten bringen. Danach wird es ihm besser gehen«, fuhr Ven munter fort. Dem stimmten Sin und Arl zu, und Sin ergänzte: »Du bist unser Gast, natürlich. Wir richten dir ein Zimmer her.« »Er kann meins haben«, rief Ven und strahlte. »Ich schlaf heut Nacht bei dem Angsthasen.« Mol schubste ihn. Ven quietschte, und für eine Weile rangelten sie miteinander, ohne dass es den Anschein eines Spaßes verlor. Die Eltern griffen nicht ein, und selbst Mol schien seine Freude daran zu haben. Irgendwann beruhigten sie sich. »Willst du ein wenig in die Welt mit uns schauen?«, fragte Arl und zeigte auf einen Monitor, der sich in die Wohnwand einpasste. »Oder ist es dir zu anstrengend?« Jelto verneinte. »Gern. Sehr gern.« »Ich sehe in der Zwischenzeit nach Ool.« »Wer ist Ool?« »Unsere Großmutter«, sagte Ven. »Sie ist sehr krank. Sie wird bald sterben.« Jelto sah ihn betroffen an. »Das … tut mir leid.« Wie aus einem Mund fragten Ven, Mol, Arl und Sin: »Warum?«
Wenn er es richtig verstanden hatte, waren die Vilaner das beneidenswerteste Volk des Universums. Für sie war der Tod ein nicht nur selbstverständlicher Teil ihres Lebens, sondern auch noch willkommen. Nichts an ihm war kalt oder bedrohlich oder düster. Und ebenso wenig gingen die Menschen hier mit ihren Alten und Todkranken um, als wären sie eine Last. Jelto hatte darum gebeten, Sin zu Ool begleiten zu dürfen, und sie hatte keinen Moment gezögert. Er hatte sogar den Eindruck gehabt, sie wäre über sein Interesse und seine Anteilnahme erfreut. Und Ool war es auch.
»Besuch«, krächzte sie, unfähig, auch nur den Kopf zu heben. Doch sie sah und hörte alles, was gesprochen wurde. Während Sin sie versorgte, kam Jelto mit ihr ins Gespräch. Und irgendwann fragte er: »Warum wird dir nicht geholfen? Ven redet unablässig vom Heilgarten, in den er mich morgen früh bringen will. Dort könnte dir doch deine Qual vielleicht gelindert werden.« »Qual?«, fragte Ool. »Er ist kelt«, sagte Sin sanft. »Ach so.« Das Wort muss ich mir unbedingt merken und in den RUBIKON-Bordalltag einführen. Es erklärt und entschuldigt offenbar alles. Wie überaus praktisch … »Du hast keine Schmerzen?« »Natürlich habe ich Schmerzen.« »Na also. Man könnte –« »Sie sind willkommen. Was hast du gegen Schmerz, Jel? Ich wünsche dir, dass dir geholfen wird bei den Heilern. Sie sollen deinen Geist reinigen von all dem Ballast, den du mit dir herumträgst. Ich kann ihn fast greifen. Du bist zu bedauern, nicht ich.« Das gab ihm zu denken. Auch lange über den Besuch bei Ool hinaus. »Auch wünschte, ich könnte dir helfen. Aber so lange kannst du nicht warten. Du musst mit anderen vorlieb nehmen. Das wird sich finden. Du bist gut, ich spüre es. Sie werden sich deiner gerne annehmen.« Er verstand nicht, was sie damit meinte. Aber er fragte auch nicht nach. Als er am nächsten Morgen aufwachte, erschien Ven und begrüßte ihn mit den Worten: »Großmutter ist heute Nacht gestorben. Wir nehmen sie mit, wenn wir nachher zu den Bäumen gehen. – Hast du gut geschlafen?«
Vor dem Schlafengehen hatte Jelto noch ferngeschaut mit der Fami-
lie. Ein Potpourri von Nachrichten von allen drei Planeten, kreuz und quer durch Wirtschaft und Soziales. Jeder einzelne Filmausschnitt hatte das bestätigt, was die Familie im Kleinen ihm gerade vorlebte. Hatte er zunächst noch geglaubt, einen ausgesprochenen Glücksgriff mit den einzelnen Mitgliedern getan zu haben, so wurde ihm rasch klar, dass offenbar alle Vilaner so waren wie sie. Am Bezeichnendsten war wohl, dass auf Vil selbst Politiker so klangen und handelten, als meinten sie es ernst mit der Prämisse, ihre ganze Kraft in den Dienst ihres Volkes stellen zu wollen. Und jetzt der Heilgarten. Er lag mitten im Herzen von Partak. Ein Park, dachte Jelto zuerst, als er die Leiche der Großmutter zusammen mit der Familie in einem Handkarren dorthin schob. Doch rasch begriff er, dass der Park jener Heilort war, von dem alle sprachen. Stolze Bäume mit blätterreichen Kronen reckten sich in den Himmel, aber zwischen jedem war so viel Platz zum Nachbarn, dass die Sonne ungehindert ihr Licht und ihre Wärme bis zum Boden transportieren konnte. Schnell hatten sie einen Platz für Ool gefunden. Jelto sah, dass bereits ein Grab ausgehoben worden war. Offenbar hatte die Familie ihr Kommen und ihren Bedarf angekündigt. Zu sehen war außer ihnen in direkter Nähe niemand. Etwas weiter weg bewegten sich jedoch andere Vilaner, die mit sich selbst beschäftigt wirkten. Ool wurde in das Loch hinab gelassen. In dem Kleid, das sie schon gestern Abend im Bett getragen hatte. Die Kinder winkten ihr ausgelassen nach. Auch Sin und Arl zeigten keine Spur von Trauer. Gemeinsam füllten sie das Grab mit Erde. Es war nicht sehr tief, höchstens einen Meter weit ging es nach unten. Jelto war anderes gewohnt. »Habt ihr keine Angst, Tiere könnten …« Er sprach die Frage nicht zu Ende. »Entschuldigt. Es ist nicht so wichtig.« Als das Grab geschlossen war, bemerkte Jelto, dass es genau in einer Lücke zwischen den Bäumen lag, die vom allgemeinen Abstand der Bäume zueinander betrachtet eigentlich prädestiniert für einen
weiteren Baum gewesen wäre. Und als erahnte Ven seine Gedanken, sagte er fröhlich. »Sobald er zu sprießen begonnen hat, werde ich ihn jeden Tag gießen kommen.« »Wen?«, fragte Jelto. »Na, den Heilbaum, zu dem Großmutter wird. Eines Tages, wenn es uns einmal schlecht geht, werden wir herkommen und sie hilft uns. So wie dir gleich geholfen wird. Schade, dass Großmutters Baum noch so lange braucht … Komm. Ich such dir einen aus.« Er griff nach Jeltos Hand. »Wie weich …«, wunderte er sich erneut. Dann zog er ihn auch schon hinter sich her zu einem der mächtigsten Bäume des Parks.
»Spürst du es?«, fragte Ven. Die anderen Familienmitglieder hielten respektvollen Abstand. »O ja …« Die Lüge ging ihm leicht über das Relief seines Mundes. Obwohl … war da nicht tatsächlich etwas? »Gut. Ich wusste es. Dann wird es dir bald besser gehen.« Ihm wurde schwindelig. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er fiel. In seiner Benommenheit hörte er Schreie, und als er wieder klar sehen konnte, war nur noch Ven bei ihm. Die anderen waren weggelaufen – liefen noch weg, er sah sie zwischen den Bäumen verschwinden. Fast panisch. Und genauso starrte Ven ihn an, wenn Jelto die Züge des Jungen richtig deutete. »W-wer bist d-du?« Er rappelte sich auf. »Ich verstehe nicht …« Ven zeigte auf ihn. »Du siehst nicht aus … wie wir …« Jelto versetzte es einen Stich. Der Kristall! Er versagt … im blödesten Moment! »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Bitte. Ich kann dir alles erklären …« Verschwinde, statt es noch schlimmer zu machen! Der arme Junge … die armen Eltern …
»Eines Tages«, sagte er, »werdet ihr verstehen. Ich muss fremd auf dich wirken. Aber fremd ist nicht böse. Wenn nicht ihr, wer sollte das sonst begreifen?« »Wer bist du?« »Ich bin Jelto.« »Jelto? Woher kommst du und was willst du?« »Das darf ich dir nicht sagen – aber um euch zu schützen. Ich … ich muss jetzt gehen.« Er nickte auf die Art der Vilaner. »Ja. Bevor die Panläufer kommen. Geh. Schnell. Bitte …« Er sah sich unruhig um. »Damit du mir glaubst, dass ich dein Freund war, bin und bleibe – auch wenn wir uns wahrscheinlich nie mehr wiedersehen …« Er fasste den Jungen am Arm und zog ihn den Weg zurück zum Grab der Großmutter. »Was soll ich hier? Was willst du mir zeigen?« Jelto schwieg. Er bückte sich und presste die Hände auf das Erdreich über dem Leichnam. Dann aktivierte er seine Aura. Er glaubte verstanden zu haben, was mit Ool geschehen würde, auch wenn er nicht begriff, warum es so kommen sollte. Die Aura drang metertief in den Boden. Nur für Sekunden. Aber als Jelto aufhörte zu leuchten und sich erhob, war es tatsächlich da: Das erste zarte Grün, das aus Ool hervorgebrochen und zur Oberfläche gestiegen war. Hundertmal schneller als auf natürlichem Weg. Ven sah es nun auch. Er kam näher, drückte Jelto und blieb zurück, als dieser aus dem Park und aus der Stadt rannte. Er hoffte nicht, dass die Panläufer ihn fanden, bevor er das Shuttle erreichte. Auch wenn er nicht wusste, was sie darstellten … es war besser, ihnen aus dem Weg zu gehen. Er schaffte es. Das Shuttle startete unbehelligt und kehrte zur RUBIKON zurück.
»Ich beschwöre dich – lass uns den Diskus vernichten! Diese Zivilisation ist auf ihre Art noch einzigartiger als die auf Rof. Sie lebt in vollkommener Harmonie mit sich selbst, jedes einzelne Individuum tut das. Ich hatte Kontakt zu einer Familie und erfuhr durch sie einiges. Sie führten noch nie Krieg – noch niemals in ihrer ganzen bekannten Geschichte.« »Ich verstehe deine Begeisterung, Jelto. Aber gerade weil ich deine Einschätzung teile, dass sie einzigartig und erhaltenswert sind, sage ich nein zu deiner Bitte. Wenn wir den Diskus zerstören, der Kurs auf das System der Vilaner genommen hat, könnte es sein, dass wir damit genau das Gegenteil dessen bewirken, was uns am Herzen liegt: Was, wenn die Treymor sich die naheliegende Frage stellen, warum wir ausgerechnet den Diskus auswählten, der zu den Vilanern unterwegs war? Und was, wenn sie zu dem Schluss gelangen, dass wir in irgendeiner Beziehung zu diesen freundlichen Wesen stehen, und sei es auch nur, dass sie uns, was ja den Tatsachen entspricht, am Herzen liegen? Nur um uns zu treffen und zu demoralisieren, könnten sie ein Exempel statuieren, ihre Transitionsschiffe zu den Vilanern schicken und ihre Zivilisation dem Erdboden gleich machen – etwas, was ohne unser Eingreifen, erst in hundert Jahren geschähe. – Deshalb, mein Freund, und ich hoffe, du verstehst meine Beweggründe, muss ich ablehnen. Ich habe lange darüber nachgedacht, und das ist die Entscheidung, zu der ich gelangte. Sie lässt uns jeden erdenklichen Spielraum, zu einem späteren Zeitpunkt auf den Diskus zurückzukommen. Dann aber mit der vollen Unterstützung der Bractonen.« Jelto akzeptierte die Argumentation mehr widerwillig und zog sich, nachdem er Kargors Kristall an Jarvis zurückgegeben hatte, in seinen Garten zurück, wo er etwas aus der Tasche zog, das er sich von Vil mitgebracht hatte. Als er am Grab von Ool kniete und seine Aura zum Einsatz brachte und als etwas unter ihm zu sprießen begann, waren es, von Ven unbemerkt, anfangs zwei Schösslinge gewesen, deren Spitzen sich einen Weg ans Licht gebohrt hatten. Einen von ihnen hatte Jelto ausgezupft und in der Tasche ver-
schwinden lassen. Der zweite würde dadurch erfahrungsgemäß um so kräftiger wachsen und hoffentlich ein erstklassiger Heilbaum werden. Für den mitgebrachten wählte Jelto einen besonders schönen, zurückgezogenen Platz innerhalb des hydroponischen Gartens, in dem keine Spur mehr zu sehen war von Sooks' Spuk. Er behandelte den Schössling mit der gleichen Sorgfalt und ebenso hingebungsvoll wie jede andere Pflanze in seiner Obhut. Und während er ihn pflanzte, überlegte er bereits, wohin er ihn setzen sollte, sobald er die ideale Größe erreicht hatte, um seinen endgültigen Standort zu erhalten. Das Dorf der Angks, fand er, wäre perfekt dafür.
Epilog Es war immer noch da und keinen noch so kurzen Moment untätig. Es war nicht tot, wie alle an Bord hofften, nicht … verloschen. Stattdessen … veränderte es sich permanent. Beobachtete. Lernte. Und irgendwann kam der Moment, auf den es hingearbeitet hatte. Das fraktale Biest schlug zu. ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die
Jiim
Yael
Charly
Aylea
Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat. Jiims Junges, das einen rasanten Wachstumsprozess absolviert und dessen Gefieder überdies in der Farbe von Jiims Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlägt es kurzzeitig nach Portas im Angksystem, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er … anders ist, als sein Orham Jiim es je erwarten konnte … Ein rätselhaftes Geschöpf, das offenbar von Yael ins Leben gerufen wurde, wie genau, weiß noch niemand – eine Art »unsichtbarer Freund«, der jedoch durchaus physischer Natur ist. Er kann von anderen nur wahrgenommen werden, wenn Yael das will. Und nicht selten kommt er aufwieglerisch daher wie ein moderner »Karlsson vom Dach«. Er ist der geborene Anstifter … Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 12-jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennenlernte und ins sogenannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein
fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt.
Vorschau Die gestohlene Residenz von Marc Tannous Die Jagd auf den Fraktalen an Bord der RUBIKON hat begonnen. Er stellt eine unabsehbare Gefahr dar – und damit ist er leider nicht allein … Verblüffendes tut sich indes auf der Hohlwelterde. Reuben Cronenberg ist machtlos gegen den Feind von außen, der es auf eine ganz spezielle Beute abgesehen hat. Das Ziel der Diebe ist dabei nicht minder bizarr …