Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie
Lord Darcy, dem überaus scharfsinni...
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Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie
Lord Darcy, dem überaus scharfsinnigen und gewandten Oberinspektor Seiner Königlichen Hoheit, Richard von der Normandie, steht Sean Mitglied O'Lochlainn, Hexenmeister und der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft sowie Oberster Gerichtshexer desselben Dienstherren, mit allen seinen Künsten zur Seite. Diese, zuweilen auch mal etwas knirschende Zusammenarbeit bewährt sich in zehn spannenden Fällen. ISBN: 3404201272 Lübbe, Berg.-Gladb. Erscheinungsdatum: Januar 1996 Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier Titelillustration: James Warhola
Inhalt Inhalt.........................................................................................2
Band 01 Komplott der Zauberer ..............................................3
Band 02 Im Auge des Betrachters.......................................305
Band 03 Eine Frage der Identität.........................................357
Band 04 Der gefärbte Lord ..................................................432
Band 05 Eine Frage der Vorstellungskraft ..........................498
Band 06 Eine Sache der Schwerkraft .................................516
Band 07 Die Ipswich-Phiole.................................................573
Band 08 Die sechzehn Schlüssel........................................644
Band 09 Der Napoli-Expreß.................................................701
Band 10 Bitteres Ende .........................................................805
Band 01 Komplott der Zauberer
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Teil l Commander Lord Ashley, Spezialagent Seiner Majestät Reichsmarine-Nachrichtenkorps, stand in der Tür eines billigen Mietzimmers in einer von der unteren Mittelklasse bewohnten Gegend der Stadt, in der Nähe der Reichsmarinedocks von Cherbourg. Die Tür war offen, und auf dem Fußboden lag ein Mann mit einem langen Messer mit schwerem Griff in der Brust. Seine Lordschaft blickte von der Leiche hoch und betrachtete das Zimmer. Es war sehr klein; er schätzte es auf acht mal zehn Fuß, und die Decke begann knappe sechs Zoll über seinem Kopf. An der rechten Wand befand sich ein niedriges Bett. Es war gemacht, aber die Falten auf der billigen blaue n Bettdecke verrieten, daß jemand darauf gesessen hatte - wahrscheinlich der Tote selbst. Ein billiger Holztisch stand in der hinteren linken Ecke, daneben befand sich ein Holzstuhl. Ein uralter, klobig aussehender Liegestuhl - wahrscheinlich gebraucht gekauft stand an der linken Wand, nahe bei der Tür. Am Fußende des Bettes stand ein zweiter, ähnlicher Holzstuhl: das war die gesamte Möblierung. An den grüngestrichenen Wänden hingen keine Bilder, wie es denn überhaupt keinerlei überflüssigen Zierat im Zimmer gab. Der Mann, der hier lebte, hatte dem Raum wahrlich nicht seinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Lord Ashley blickte wieder auf die Leiche herab. Dann schloß er vorsichtig die Tür hinter sich, schritt über den Toten hinweg und sah ihn sich genau an. Er hob eine Hand hoch und fühlte nach dem Puls. Es war nichts zu spüren. Georges Barbour war wirklich tot. Seine Lordschaft trat einen Schritt zurück und betrachtete nachdenklich die Leiche. In Seiner Lordschaft Gürteltaschen befanden sich einhundert go ldene Sovereigns, Geld, das dem -4
Sonderfonds entnommen worden war, um Edelmann Georges Barbour für seine Dienste für den Marinenachrichtendienst zu entlohnen. Doch Edelmann Georges, so dachte My Lord Commander, würde dem Sonderfonds nicht länger zur Last fallen. My Lord Commander stieg über den Körper hinweg und blickte auf die Papiere, die auf dem Holztisch in der Ecke lagen. Nichts Wichtiges dabei. Nichts, was diesen Mann mit dem Nachrichtenkorps der Reichsmarine in Verbindung bringen würde. Dennoch sammelte er die Papiere ein und steckte sie in seine Jackentasche. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß sie Informationen, dechiffriert oder in Geheimtinte, enthalten könnten. Der kleine Schrank in der rechten Ecke des Raumes, nahe bei der Tür, enthielt nur einen Satz Kleidung zum Wechseln, genau solch einen billigen Anzug wie derjenige, den der Tote trug. Nichts in den Taschen, nichts im Futter. In den beiden Schubladen des Schranks fanden sich nur Unterwäsche, Socken und andere persönliche Gebrauchsgegenstände. Wieder betrachtete er die Leiche. Dieser Vorfall mußte natürlich sofort My Lord Admiral gemeldet werden, doch gab es gewisse Dinge, die die lokalen Behörden besser nicht finden sollten. Im Raum war nichts zu entdecken. Da Barbour erst am Tage zuvor das Zimmer bezogen hatte, war es höchst unwahrscheinlich, daß er in solch kurzer Zeit ein Geheimversteck angelegt haben konnte, das der gründlichen Suche von My Lord Commander entgangen wäre. Er durchsuchte den Raum noch einmal, aber ohne Erfolg. Auch die Untersuchung des Körpers ergab nichts. Offenbar hatte Barbour also alle Informationen, die er gehabt haben konnte, bereits an Zett weitergeleitet. Sehr gut.
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Lord Ashley sah sich noch einmal im Zimmer um, um sicherzugehen, daß ihm nichts entgangen war. Dann verließ er den Raum und ging die enge, schwach beleuchtete Treppe hinunter. Sein Gang war forsch, fast eilig. Die Concierge, die in ihrer Kammer neben der Eingangstür saß, war eine ziemlich verschrumpelte kleine Frau, die allerdings noch sehr wache Augen besaß. Sie blickte den großen, aristokratischen Commander mit einem Lächeln an, das ebensosehr glänzte wie ihre Augen. »Aye, Sir? Was kann ich für Euch tun?« »Ich habe recht traurige Botschaft für Euch, Edelfrau«, sagte My Lord ruhig. »Einer Eurer Mieter ist tot. Wir werden sofort einen Wachmann rufen müssen.« »Tot? Wer denn? Ihr meint doch nicht etwa Edelmann Georges, edler Sir?« »Eben diesen«, sagte Seine Lordschaft. Er hatte der Concierge wenige Minuten zuvor mitgeteilt, daß er Barbour besuchen wolle. »Hat er ungefähr in der letzten halben Stunde irgendwelchen Besuch empfangen?« Die Leiche, so sagte sich My Lord Commander, war noch warm, das Blut noch nicht geronnen. Barbour konnte auf keinen Fall länger als eine halbe Stunde tot gewesen sein. »Besuch?« Die alte Frau blinzelte, offenbar um ihre Gedanken zu sammeln. »Außer Euch, Sir, habe ich keinen Besucher gesehen. Ach ja! Es mag sein, daß ich ihn vielleicht gar nicht sehen konnte. Ich war ein paar Minuten fort, nur wenige Minuten. Ich ging in das Geschäft vo n Edelmann Fentner, dem Tabakhändler, um ein wenig Schnupftabak, allwo die einzige Art Tabak ist, dem ich fröne.« Commander Lord Ashley sah sie scharf an. »Wann genau seid Ihr gegangen, und wann seid Ihr zurückgekehrt, Edelfrau? Es mag von größter Bedeutung sein, die genaue Zeit zu wissen.«
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»Nun... nun... kurz bevor Ihr kamt war's, edler Sir«, sagte die alte Frau recht nervös. »Als ich wiederkehrte, da hörte ich die Glocke von St. Denys die Dreiviertelstunde schlagen.« Lord Ashley sah auf seine Uhr. Es war eine Minute nach elf. »Der Mann muß gewartet haben, bis er Euch gehen sah. Dann kam er herauf und ging wieder, bevor Ihr wiederkamt. Wie lange wart Ihr fort?« »Nur so lange wie es braucht, zur Ecke zu gehen und zurück, Sir. Ich liebe es nicht, tagsüber lange fernzubleiben, wenn die Tür nicht abgeschlossen ist.« Sie hielt inne und runzelte nachdenklich die Stirn. »Wer war's denn, allwo hochgegangen und zurückgekehrt sein soll, Sir?« »Wer immer es gewesen sein mag«, sagte My Lord Commander, »er stach Euren Mieter Georges Barbour, stach ihm mitten ins Herz. Er wurde ermordet, Edelfrau, und darum müssen wir unverzüglich einen Wachmann rufen.« Die arme Frau war jetzt völlig erschüttert, und Lord Ashley begriff, daß sie wohl kaum von Nutzen sein würde, wenn die Wachmänner kamen. Er war froh, daß er sie nach möglichen Besuchern gefragt hatte, bevor er erwähnt hatte, daß es sich bei dem Tod um einen Mord gehandelt hatte. Andernfalls wäre ihr die wertvolle Aussage gewiß entfallen. »Setzt Euch, Edelfrau«, sagte er in freundlichem Ton. »Sammelt Euch, es gibt nichts zu befürchten. Ich werde mich um die Wachmänner kümmern.« Während sie in ihrem überpolsterten Sessel förmlich zusammenbrach, ging Lord Ashley auf die Außentür zu und öffnete sie. Er hörte die schrillen Stimmen von spielenden Jungen draußen. Aufgrund seiner jahrelangen Marineausbildung war es für My Lord Commander ein leichtes, den Bengel auszumachen, der offenbar der Anführer der kleinen Gruppe war. »He, mein Junge!« rief er ihm zu. »Du, Junge, mit der grünen Mütze! Willst du dir einen Sechser verdienen?« -7
Der Junge blickte auf, und ein Lächeln überzog seine etwas schmutzigen Züge. »O ja, My Lord!« sagte er und riß die ziemlich verblichene Mütze von seinem Kopf. »Sehr gern, My Lord!« Er wußte gar nicht, ob der Mann, der ihn angesprochen hatte, tatsächlich ein Lord war oder nicht, doch war es auf jeden Fall ein Gentleman, und einen Gentleman sprach man immer mit ›My Lord‹ an, wenn es etwas zu verdienen gab. Die anderen Jungen wurden plötzlich still, offenbar in der Hoffnung, daß sie vielleicht auch ein wenig Geld bekommen würden von diesem anscheinend begüterten Gentleman. »Nun gut denn«, sagte Lord Ashley forsch. »Hier ist ein Zwölfer. Wenn du binnen fünf Minuten mit einem Wachmann hierher zurückkehrst, werde ich dir noch einen geben.« »Einen... einen Wachmann, My Lord?« Es war offensichtlich, daß er sich keinen Grund denken konnte, warum ein geistig gesunder Mensch einem Wachmann näher als tausend Yards sein wollte. »Jawohl, einen Wachmann«, sagte Lord Ashley mit einem feinen Lächeln. »Sage ihm, daß Lord Ashley, ein Offizier des Königs, seinen sofortigen Beistand wünscht, und dann führe ihn hierher. Hast du verstanden?« »Jawohl, My Lord Ashley! Ein Offizier des Königs, My Lord! Jawohl!« »Sehr gut, mein Junge. Und nun zu euch anderen. Hier habt ihr jeder einen Zwölfer. Wenn ihr auch in fünf Minuten mit einem Wachmann zurückkehrt, bekommt ihr ebenfalls einen weiteren Zwölfer. Und wer zuerst zurückkommt, bekommt noch zusätzlich einen Sechser. Nun lauft los, ab mit euc h!« Sie liefen wie der Wind. An diesem Nachmittag trafen sich um halb drei in einem komfortablen, klubähnlichen Raum im Hauptquartiergebäude der Admiralität Seiner Majestät Reichsmarinestützpunkt Cherbourg drei Männer. -8
Commander Lord Ashley saß groß, aufrecht und entspannt, sein leicht gewelltes braunes Haar war glatt gebürstet, seine Uniform war makellos. Erst zwanzig Minuten zuvor hatte er die Uniform angezogen, nachdem ihm der Lord Admiral mitgeteilt hatte, daß dies zwar nicht unbedingt ein förmliches Treffen war, Zivilkleidung aber weniger sei als die königsblaue und goldene Uniform eines vollen Commanders. Lord Ashley sah nicht besonders gut aus; sein eckiges Gesicht war dafür vielleicht ein wenig zu rauh und verwittert. Doch verehrten die Frauen ihn, und Männer bewunderten das Gefühl von Entschlossenheit, das seine Gesichtszüge vermittelten. Seine Augen waren grau- grün und braungefleckt, und hatten den Ausdruck eines Seemanns - so als blicke Lord Ashley stets auf irgendeinen fernen Horizont, um Sturmzeichen zu entdecken. Lord Admiral Edwy Brencourts Augen hatten den gleichen Ausdruck, doch war er etwa fünfundzwanzig Jahre älter als Lord Ashley, obwohl sein Haar auch mit zweiundfünfzig Jahren nur an den Schläfen leicht ergraut war. Seine Uniform, ebenso königsblau wie die des Commanders, war ein wenig mehr verknittert, da er sie bereits seit dem Morgen trug, doch wurde dies zum Teil durch die zusätzlichen Goldstreifen wettgemacht, die seine Manschetten und Schulterklappen glitzernd verzierten. Verglichen mit all diesem Glanz erschien die schwarzsilberne Uniform des Obersten Waffenmeisters Henri Vert, Chief der Wachmannsbehörden von Cherbourg, eher einfach und schmucklos, obwohl sie meistens als recht imposant galt. Chief Henri war ein zäh aussehender Fünfziger von schwerem Körperbau, der das Aussehen und das Betragen eines etwas verfetteten Kämpfers hatte. Chief Henri sprach als erster. »My Lords, hinter diesem Mord muß mehr stecken, als es zunächst den Anschein hat. Zumindest mehr, als ich dahinter erkennen kann.« Er sprach das Anglo-Französische mit einer peinlichen Genauigkeit aus, die verriet, daß es nicht seine Muttersprache -9
war. Er hatte viele Jahre darauf verwendet, den Akzent des einheimischen patois loszuwerden, der seine niedrige Herkunft verriet, doch war ihm sein Bemühen, korrekt zu sprechen, immer noch anzumerken. Er blickte My Lord Admiral an. »Wer war dieser George Barbour, Euer Lordschaft?« My Lord Admiral nahm die Brandykaraffe von dem flachen Tisch, um den die drei saßen, und schenkte sorgfältig drei Gläser ein, bevor er antwortete. »Chief Henri, Ihr versteht, daß dieser Fall durch die Tatsache verkompliziert wird, daß er den Marinegeheimdienst berührt. Nichts von dem, was in diesem Raum gesprochen wird, darf nach außen dringen.« »Selbstverständlich nicht, My Lord«, sagte Chief Henri. Er wußte sehr gut, daß dieser Teil der Admiralitätsbüros durch mächtige und teure Zauber sorgfältig geschützt war. Seiner Majestät Streitkräfte hatten einen Sonderetat, um sich die Dienste der mächtigsten Experten auf diesem Gebiet zu sichern. Magier, die einen hohen Rang in der Hexergilde innehatten. Diese Zauber waren viel kräftiger als die üblichen kommerziellen Zaubereien, die einem in Hotels und Privatwohnungen das Alleinsein und Ungestörtsein garantierten. Solch eine Taktik war wegen der internationalen Lage notwendig. Das letzte halbe Jahrhundert über hatten die Könige von Polen einen bemerkenswerten Ehrgeiz gezeigt. Im Jahre 1914 hatte König Sigismund III damit begonnen, eine Serie von Annexionen durchzuführen, die Stück um Stück den russischen Staaten Gebiet entrissen, so daß er bald das ganze Territorium zwischen Minsk und Kiew beherrschte. Solange Polen gegen Osten strebte, hatte das AngloFranzösische Reich dagegen nichts einzuwenden. Das Herrschaftsgebiet des Reichs hatte sich in der Neuen Welt rapide ausgedehnt, und Asien schien damals noch sehr fern zu sein.
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Doch Sigismunds Sohn, König Casimir IX, hatte Probleme mit seinem Quasi-Reich. Er wagte es nicht, weiter nach Osten vorzudringen. Die russischen Staaten hatten in den frühen dreißiger Jahren einen losen Bund errichtet, und der König von Polen beendete seinen Vormarsch. Sollten sich die Russen jemals tatsächlich vereinen, so wären sie ein ernstzunehmender Feind. Nun blickte Casimir IX nach Westen auf die deutschen Staaten, die so lange ein Puffer zwischen Polen und den anglo französischen Grenzen gewesen waren. Aufgrund der Politik des Tauziehens zwischen Polen und dem Reich hatten die Deutschländer ihre eigene Unabhängigkeit bewahren können. Wollten Casimirs Truppen beispielsweise in Bayern einmarschieren, so würde Prinz Reinhard VI das Reich um Hilfe bitten, die er auch prompt erhalten würde, wollte jedoch andererseits King John IV auch nur einen einzigen Sovereign Steuer in Bayern eintreiben, so rief Seine Hoheit von Bayern ebenso lauthals um polnische Hilfe. Da seine ehrgeizigen Pläne augenblicklich nicht verwirklicht werden konnten, versuchte Casimir statt dessen, so gut er konnte, das Anglo-Französische Reich zu zerbrechen, es bis zur Hilflosigkeit zu schwächen, bevor er versuchen konnte, die Deutschländer mit Waffengewalt zu erobern. Das war jedoch kein leichtes Unterfangen. Seit der Zeit von Henry II im zwölften Jahrhundert war das Reich zu einer wachsenden, funktionierenden, dynamischen Kraft geworden. Henrys Sohn, Richard Löwenherz, hatte das Reich zwar in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft vernachlässigt, doch hatte ihn seine knappe Rettung vor dem Tode bei der Belagerung von Chaluz grundlegend verändert. Die lange, fiebrige Infektion, vo n einem Armbrustbolzen verursacht, hatte in ihm einen Persönlichkeitswandel bewirkt. So regierte Richard I in den folgenden zwanzig Jahren geschickt und weise. Sein Neffe Arthur war drei Jahre nach dem Tod des verbannten -1 1
Prinzen John 1219 zum König gekrönt worden und setzte die Politik seines Vaters sogar noch erfolgreicher fort. Er war als ›Der Gute König Arthur‹ in die Geschichte eingegangen und wurde im Volksbewußtsein sehr häufig mit dem früheren König Artus im sechsten Jahrhundert gleichgesetzt. Seitdem hatte die Dynastie der Plantagenets, mit Diplomatie wenn möglich, mit dem Schwert wenn nötig, ein Reich aufgebaut, das jetzt schon fast zweimal so lange bestand wie das Römische Reich, ohne irgendwelche Zeichen des Verfalls zu zeigen. Casimir IX konnte sein Heer nicht einsetzen, und seine Marine war im Baltikum eingeschlossen. Keine polnische Flotte konnte die Nordsee passieren, ohne Schwierigkeiten entweder mit der Reichsmarine oder mit der Marine der skandinavischen Verbündeten des Reichs zu bekommen. Die Nordsee und das westliche Baltikum standen unter reichs-skandinavischer Oberhoheit. Polnische Handelsschiffe durften sie nur passieren, nachdem sie nach Waffen untersucht worden waren. Im Jahre 1939 hatte König Casimir versucht, diese Blockade zu durchb rechen; dafür war ihm seine Flotte aus dem Wasser gefegt worden. Nochmals würde er das kaum versuchen. Statt dessen war König Casimir zu einer anderen Form der Kriegsführung übergegangen - Sabotage, heimtückische Formen des Terrorismus, Wirtschaftskrisen, die durch ränkereiche und hinterrücks ins Gefecht geführte Methoden bewirkt wurden, sowie tausend andere Arten der subtilen Unterwanderung. Bisher hatte er keinen wirklichen Schaden anrichten können, seine Vorstöße hatten sich als bloße Nadelstiche erwiesen. Doch war es nur die Wachsamkeit des Reichs und der Offiziere des Königs gewesen, die seine Versuche bisher zum Scheitern brachte. Admiral Brencourt verschloß die Brandykaraffe sorgfältig, bevor er weitersprach. -1 2
»Ich fürchte, ich muß mich bei Euch entschuldigen, Chief Henri. Meinen Anweisungen folgend, hat Commander Lord Ashley dem zivilen Wachsergeanten, der ihn heute morgen verhörte, einige Informationen vorenthalten. Das geschah natürlich aus Sicherheitsgründen. Ich habe ihn jedoch autorisiert, Euch die ganze Geschichte zu erzählen. My Lord, ich darf bitten...« Lord Ashley nippte an seinem Brandy. Chief Henri wartete respektvoll darauf, daß er zu sprechen anfangen würde. Er wußte, daß einige Fakten immer noch ausgelassen würden, daß Lord Ashley Instruktionen erhalten hatte, welche Details er preisgeben und welche er verheimlichen solle. Dennoch würde die Geschichte wesentlich detaillierter werden, als er sie bisher kennengelernt hatte. Lord Ashley senkte sein Glas und stellte es ab. »Gestern morgen«, begann er, »Montag, den 24. Oktober, erhielt ich ein versiegeltes Spezialpaket aus dem Büro des Lord Hochadmirals in London. Meine Befehle lauteten, daß ich das Paket heute morgen Admiral Brencourt aushändigen sollte. Ich fuhr mit der Bahn von London nach Do ver und gelangte mit einem Sonderkurierboot der Marine über den Kanal nach Cherbourg. Als ich ankam, war es fast Mitternacht.« Er hielt inne und sah Chief Henri offen ins Gesicht. »Ich möchte darauf hinweisen, daß ich My Lord Admiral das Paket sofort ausge händigt hätte, wenn meine Befehle auf ›Sehr Eilig‹ gelautet hätten; egal wie spät es geworden wäre. Doch sollte ich ihm das Paket erst heute morgen überreichen. Ich gebe Euch mein Wort, daß ich das Paket nicht aus den Augen gelassen habe, und daß es in der Zeit zwischen meiner Inempfangnahme und dem Erhalt des Pakets durch My Lord Admiral nicht geöffnet worden ist.« »Das kann ich bestätigen«, sagte Admiral Brencourt. »Wie Ihr wißt, Chief Henri, verhängen die Hexer unserer Admiralität -1 3
Schutzzauber über die Umschläge und Siegel solcher Pakete. Es sind dies Zauber, die zwar nicht unbedingt verhindern, daß diese Pakete durch Unbefugte geöffnet werden können, die aber gewährleisten, daß dies nicht unbemerkt geschehen kann.« »Ich verstehe, My Lord«, sagte der Oberste Waffenmeister. »Euer Hexer hat das Paket also überprüft.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Genau«, sagte der Admiral. »Fahrt fort, Commander!« »Danke, My Lord«, sagte Lord Ashley. Dann wandte er sich an Chief Henri. »Ich verbrachte die letzte Nacht im Hotel Queen Jeanne. Heute morgen um neun händigte ich My Lord Admiral das Paket aus.« Er sah den Admiral an und wartete. »Ich öffnete das Paket«, sagte Admiral Brencourt sofort. »Das meiste von dem, was es enthielt, hat mit diesem Fall nichts zu tun. Es war jedoch auch eine Anweisung enthalten, die ich Lord Ashley übergeben sollte. Darin wurde ihm aufgetragen, eine bestimmte Geldsumme einem gewissen Georges Barbour zu überbringen. Das war das erste Mal, daß sowohl Lord Ashley als auch ich von Georges Barbour erfuhren.« Er blickte wieder Lord Ashley an und forderte ihn auf, fortzufahren. »Meinen Befehlen zufolge«, sagte Lord Ashley, »sollte ich das Geld sofort zu Barbour bringen, der scheinbar ein Doppelagent war. Offiziell arbeitete er für Seine Slavische Majestät Casimir von Polen, in Wirklichkeit jedoch für den Marinegeheimdienst der Reichsmarine. Das Geld sollte zwischen fünfzehn Minuten vor elf und fünfzehn Minuten nach elf überreicht werden. Ich kam an den angegebenen Ort, sprach mit der Concierge, ging nach oben und fand die Tür angelehnt. Ich klopfte, und die Tür öffnete sich weiter. Auf dem Boden liegend sah ich Georges Barbour. Ein Messer steckte in seinem Herzen.« -1 4
Er hielt ein und spreizte die Hände. »Ich war von dieser Entwicklung natürlich überrascht, aber ich mußte meine Pflicht erfüllen. Ich nahm seine persönlichen Papiere, die auf dem Pult lagen, an mich und durchsuchte den Raum. Die Papiere wurden dem Admiral übergeben.« »Ihr müßt verstehen, Chief Henri«, sagte Admiral Brencourt, »daß die Möglichkeit bestand, daß sich in einigen dieser Papiere geheime oder verschlüsselte Botschaften befanden. Das war jedoch nicht der Fall, und die Papiere werden Euch ausgehändigt werden. Lord Ashley wird Euch beschreiben, welches Stück wo im Raum gelegen hat.« Chief Henri sah den Commander an. »Würdet Ihr möglicherweise so freundlich sein, einen schriftlichen Bericht einzureichen mit einer Skizze, wo die Papiere und so weiter gelegen haben?« Er war zwar ziemlich verärgert über die anmaßende Art und Weise, mit der die Marine das Beweismaterial eines Mordfalls behandelte, aber er wußte auch, daß er nichts daran ändern konnte. »Es wird mir eine Freude sein, einen solchen Bericht vorzubereiten«, sagte Lord Ashley. »Danke, Euer Lordschaft. Eine Frage: Waren die Papiere auf irgendeine Weise in Unordnung gebracht worden, verstreut vielleicht?« Der Commander runzelte beim Nachdenken leicht die Stirn. »Nicht verstreut, nein. Das heißt, sie schienen nicht willkürlich in der Gegend verteilt worden zu sein. Aber sie befanden sich nicht alle auf einem Stapel. Ich würde sagen, daß sie... eh... säuberlich in Unordnung gebracht worden waren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Als ob Barbour sie durchsucht hätte.« »Oder als ob jemand anderes sie durchsucht hätte«, sagte der Chief nachdenklich. -1 5
»Ja, das ist natürlich möglich«, stimmte der Commander zu. »Doch hätte der Mörder Zeit dafür gehabt, Barbours Papiere zu durchsuchen?« »Angenommen«, sagte der Chief langsam, »es gab ein einzelnes Papier, oder einen Satz davon, hinter dem der Mörder her war. Und ferner angenommen, daß er genug darüber wußte, um diese Papiere sofort zu erkennen. Dann hätte er doch allenfalls ein paar Sekunden gebraucht, um sie zu finden, nicht wahr?« Der Commander und der Admiral sahen einander an. »Ja«, sagte der Commander nach einem Augenblick, »das könnte sein.« »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, um was für Papiere es sich dabei gehandelt haben könnte?« fragte Chief Henri mit verräterischem Desinteresse. »Nein«, sagte My Lord Admiral mit Bestimmtheit. »Und ich gebe Euch mein Wort, daß ich nichts verberge. Unser Büro hatte noch nicht einmal von Barbours Existenz gewußt. Wir haben keinerlei Ahnung, was er eigentlich tat oder mit welcher Art Papiere er zu tun hatte. Dies war das erste Mal, daß wir von ihm erfuhren, und aus London haben wir nichts weiteres erfahren. Bisher weiß London ja noch nicht einmal, daß er tot ist. Eines Tages mag irgendein Hexer eine Möglichkeit finden, TeleklangLinien über den Kanal zu bekommen, doch bis dahin müssen wir uns auf Kurierbotschaften verlassen.« »Ich verstehe«, sagte Chief Henri und rieb sich etwas nervös die Hände. »Ich gehe davon aus, daß Euer Lordschaften Verständnis dafür haben, daß ich meine Pflichten erfüllen muß. Es ist ein Mord begangen worden. Er muß aufgeklärt werden. Ich bin dazu verpflichtet, alles zu unternehmen, den Mörder zu ermitteln und ihn der Justiz zu überstellen. Es gibt gewisse Maßnahmen, die ich von Gesetzes wegen einleiten muß.«
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»Das ist uns völlig klar, Chief Henri«, sagte der Lord Admiral. Der Chief trank seinen Brandyrest aus. »Zur gleichen Zeit haben wir auch nicht vor, die Marine in irgendeiner Weise zu behindern. Ebensowenig wollen wir selbstverständlich Informationen der Öffentlichkeit preisgeben, die den Feinden unseres Landes von Nutzen sein könnten.« »Selbstverständlich«, stimmte der Lord Admiral zu. »Aber dieser Fall ist schwierig«, fuhr Chief Henri fort. »Wir wissen dank der Aussage der Concierge auf zehn Minuten genau, wann der Mord verübt wurde. Wir wissen, daß Barbour die Nacht in diesem Raum verbracht hat, diesen Morgen um ungefähr fünf Minuten vor zehn fortging und um ungefähr zwanzig nach zehn wiederkehrte. Alle anderen Bewohner hatten das Haus viel früher verlassen, da sie berufstätig sind. Im Gebäude befand sich niemand außer Barbour und der Concierge. Aber in diesem Fall gibt es fast keine Spuren. Wir kennen Barbour nicht. Wir wissen nicht, wen er gekannt haben könnte, mit wem er sich getroffen haben mag oder mit wem er zu tun hatte. Wir haben keinerlei Ahnung, wer das recht gewöhnliche Messer besessen haben könnte, mit dem er ermordet wurde. Wenn man bei all dem auch noch die internationalen Verwicklungen dieser Angelegenheit berücksichtigt, dann muß ich zugeben, daß mir dieser Fall zu hoch ist. Das Gesetz ist in diesem Fall sehr eindeutig: Ich bin gezwungen, die Untersuchungsbehörde Seiner Königlichen Hoheit in Rouen zu benachrichtigen.« Admiral Brencourt nickte. »Das ist völlig klar. Selbstverständlich wäre jeder aus Seiner Hoheit Behörden von Nutzen. Können wir Euch noch auf irgendeine andere Weise behilflich sein?« »Möglicherweise schon, My Lord Admiral. Vermutlich weiß man in London mehr über diesen Barbour. Wenn es kein Bruch -1 7
der Sicherheitsbestimmungen sein sollte, würde ich gern so viel wie möglich über ihn erfahren. Ich hätte gerne mehr Informationen aus London.« »Ich werde gerne sehen, was sich machen läßt, Chief Henri«, sagte der Lord Admiral. »Lord Ashley kehrt binnen Stundenfrist nach England zurück. Selbstverständlich muß das Büro des Lord Oberadmirals sofort über diese Entwicklung unterrichtet werden. Ich werde einen Brief schreiben, der um die von Euch gewünschten Informationen bittet.« Unwillkürlich grinste Chief Henri. »Potztausend! Lord Darcy irrt sich nie!« »Darcy?« My Lord Admiral hob die Augenbrauen. »Ich weiß nicht... Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Chefinspektor Seiner Hoheit. Er löste doch letztes Jahr den Fall hier in Cherbourg, nicht wahr? Die Angelegenheit um den ›Atlantischen Fluch‹.« Chief Henri hüstelte verhalten. »Ich kann das bestätigen, My Lord Admiral. Einzelheiten darf ich allerdings nicht preisgeben.« »Natürlich, selbstverständlich. Aber warum sagt Ihr, daß er sich nie irrt?« »Nun«, sagte Chief Henri unerschüttert, »ich habe es jedenfalls noch nie erlebt, daß er sich geirrt hätte. Als ich in Rouen vorsprach, um seiner Lordschaft den Mord zu melden, sagte er mir, daß er nicht sofort kommen könne, und daß er statt dessen seinen Stellvertreter, Sir Eliot Meredith, herschicken werde, um die Angelegenheit zu leiten, bis er selber käme. Er meinte auch, daß Ihr praktisch sofort einen Kurier nach London schicken würdet, und er fragte mich, ob ich nicht vielleicht die Güte haben würde, wie er sich ausdrückte, My Lord Admiral darum zu fragen, ob der Kurier vielleicht eine besondere Nachricht für ihn überbringen könne.«
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Lord Admiral Brencourt lachte vergnügt in sich hinein. »Ein scharfsinniger Herr, Lord Darcy, das muß man ihm lassen. Wie lautet die Botschaft?« »Lord Darcys oberster Gerichtshexer, Master Sean O Lochlainn, nimmt soeben an einem Kongreß im Royal Steward Arms in London teil. Er hätte gern, daß Ihr ihm die Nachricht zukommen laßt, daß er in die Normandie zurückkehren soll und sich sobald wie möglich in Cherbourg einfinden möchte.« »Selbstverständlich«, sagte der Lord Admiral freundlich. »Wenn Ihr den Brief schreiben wollt, Lord Ashley wird ihn bei seiner Ankunft abgeben. Das Royal Steward ist nicht weit von den Admiralitätsbüros entfernt.« »Danke«, sagte Chief Henri. »Das Postpaket wird Cherbourg nicht vor heute abend verlassen, und der Brief würde nicht vor dem späten morgigen Nachmittag zugestellt werden. So kann man eine Menge Zeit sparen. Könnte ich wohl Schreibstift und Papier haben?« »Aber bitte, bedient Euch!« Chief Henri tauchte den Schreibstift des Admirals ins Tintenfaß und begann zu schreiben. Sean O Lochlainn, Hexenmeister, Mitglied der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft und Oberster Gerichtshexer Seiner Königlichen Hoheit Richard, Herzog der Normandie, war entsetzlich wütend und versuchte, es sich möglichst nicht anmerken zu lassen. Daß dieser Versuch sehr erfolgreich war, lag fast ausschließlich an seinem jahrelangen Training als Justizbeamter. Wäre seinem irischen Blut freie Bahn gelassen worden, so wäre es zweifellos übergekocht. Doch ein Hexer muß vor allen Dingen Kontrolle über seine eigenen Gefühle besitzen. Er war auf niemand anderen wütend, am wenigstens auf sich selbst. Er war wütend auf das Schicksal, -1 9
auf den Zufall - recht armselige Zielscheiben für die eigene Wut, wenn man ihr freien Lauf gestattete. Folglich kanalisierte Master Sean seine Wut und erlaubte ihr, sich als angenehmes Lächeln und als angenehmes Benehmen zu äußern. Doch hielt ihn das nicht davon ab, über den Aufsatz nachzudenken, den er sechs Monate lang vorbereitet hatte, nur um dann damit konfrontiert zu werden, daß ihm jemand zuvorgekommen war. So dachte er mehr darüber nach als über das, was Seine Lordschaft der Bischof von Winchester gerade sagte. Seine Augen wanderten über die Menge in der Hauptausstellungshalle, während die Stimme des Bischofs - der ein ausgezeichneter Thaumaturge und Heiler, aber auch ein entsetzlicher Langeweiler war - in seinem rechten Ohr so weit dröhnte, daß er gerade genug Aufmerksamkeit für die bischöflichen Ausführungen aufbrachte, um »Jawohl, My Lord« oder »In der Tat, My Lord« zu murmeln, wann immer dies angezeigt sein mochte. Die meisten Männer und Frauen in der Halle trugen die den Hexern und Hexen angemessene hellblaue Kleidung, doch waren unter ihnen auch viele Flecken von kirchlichem Schwarz und einige von bischöflichem Purpur zu erblicken. In der einen gegenüberliegenden Ecke unterhielten sich vier bärtige Heiler in Rabbinerkleidung mit dem Erzbischof von York, dessen flauschiges weißes Haar eine Wolke um seine purpurne Schädelkappe zu bilden schien. In der Nähe der Tür stand ein etwas verloren wirkender Marineoffizier, ein Commander, in voller Ausgehuniform, mit goldenen Litzen und einem dünnen, schmalschneidigen Paradesäbel mit vergoldetem Griff. Master Sean überlegte kurz, warum wohl ein Marineoffizier hier sei; um ein Referat zu halten oder als Gast? Seine Aufmerksamkeit wanderte hin zum botanischen Teil der Ausstellung. Er meinte, den Rücken des Mannes -2 0
wiederzuerkennen, der vor einer Reihe eingetopfter Kräuter stand. »Ich frage mich, was der hier will!« murmelte er unwillkürlich. »Hm?« sagte der Bischof von Winchester. »Wer?« »Oh! Ich bitte um Verzeihung. Ich dachte, ich habe einen Kollegen meines Meisters, Lord Darcy, erkannt, aber ich bin mir nicht sicher, denn er wendet mir den Rücken zu.« »Wo denn?« fragte My Lord der Bischof und drehte seinen Kopf herum. »Da drüben, bei den botanischen Ausstellungsstücken. Ist das nicht Lord Bontriomphe, Chefinspektor von London? Er sieht fast so aus.« »Ja, ich glaube auch. Der Marquis von London züchtet seltene und exotische Kräuter, wie Sie vielleicht wissen. Sehr wahrscheinlich hat er Bontriomphe hierher geschickt, um sich die Ausstellungsstücke anzusehen. My Lord der Marquis verläßt seinen Palast nur selten, wißt Ihr! Ach je! Wie spät es schon ist! Es ist ja schon nach neun! Ich wuß te ja gar nicht, daß es schon so spät ist! Um zehn muß ich eine Ansprache halten, und ich habe doch Pater Quinn, meinem Heiler, versprochen, ihn vorher kurz aufzusuchen. Ihr müßt mich entschuldigen, Master Sean!« »Aber natürlich, My Lord. Es war mir eine Freude!« Master Sean nahm die ausgestreckte Hand und verneigte sich, den Ring küssend. »In der Tat, Master Sean, es war sehr aufschlußreich. Guten Tag!« »Guten Tag, My Lord!« Heiler, heile dich selbst, dachte Master Sean trocken. Dieser Satz war auch noch gültig, nachdem die Heiler sich nicht mehr länger auf die ›Medizin‹ und ›Physik‹ verließen, um ihre Patienten zu kurieren. -2 1
Als jenes brillante Genie, St. Hilary Robert, im vierzehnten Jahrhundert die Gesetze der Magie ausgearbeitet hatte, konnten ›Blutegelsetzer‹ und ›Mediziner‹ vom Kirchturm des kleinen englischen Klosters Walsingham, wo St. Hilary lebte, ihre eigenen Totenglocken vernehmen. Nicht jeder konnte diese Gesetze anwenden -, nur wer das Talent dazu hatte. Doch war die Zeremonie des ›Auflegens der Hände‹ von jener Zeit an ebenso zuverlässig geworden, wie sie vorher zufällig gewesen war. Aber es war natürlich immer noch leichter, den Splitter im Auge des Nächsten zu sehen, ohne den Balken im eigenen Auge wahrzunehmen. Davon abgesehen war My Lord vo n Winchester ein sehr alter Mann, und die beiden Beschwerden, die nach wie vor nicht heilbar waren, waren das Alter und der Tod. Master Sean blickte wieder auf die botanischen Ausstellungsstücke. Doch Lord Bontriomphe war verschwunden, während der Bischof sich verabschiedet hatte, und so sehr er sich bemühte, der kleine dicke irische Hexer konnte den Chefinspektor von London nirgendwo in der Menge erkennen. Der Dreijährliche Kongreß der Heiler und Hexer war eine Veranstaltung, auf die sich Master Sean jedesmal wieder gefreut hatte, doch dieses Mal war ihm die Freude recht schlimm versauert worden. Daß ein Aufsatz, für den man drei Jahre der Forschung und sechs Monate des Schreibens geopfert hat, plötzlich von der Arbeit eines anderen vorweggenommen wird, ist nicht eben eine Erfahrung, die zu übermäßiger Freude verleitet. Aber da kann man wohl nichts machen, dachte Sean O Lochlainn. Außerdem war Sir James Zwinge genauso bestürzt darüber gewesen wie er selber. »Ah! Guten Morgen, Master Sean! Ihr habt doch wohl gut geschlafen, wie ich hoffe?« Die forsche, recht trockene Stimme kam von Master Seans Linken. Er drehte sich schnell um und machte eine mittlere Verbeugung. »Guten Morgen, Großmeister«, sagte er -2 2
freundlich. »Ich habe ausreichend gut geschlafen, ich danke Ihnen. Und Ihr selbst?« Master Sean hatte nicht gut geschlafen, und der Großmeister wußte nicht nur, daß dem so war, er wußte auch warum. Doch nicht einmal Master Sean O Lochlainn wollte sich mit Sir Lyon Gandolphus Grey, K.G.L., M.S., Th.D., F.R.T.S., Großmeister der Alten Überlieferten und Hochehrwürdigen Gilde der Hexer anlegen. »Genauso gut wie Ihr«, sagte Sir Lyon. »Aber in meinem Alter darf man nicht erwarten, daß man noch gut schläft. Ich möchte Euch einen vielversprechenden jungen Mann vorstellen.« Der Großmeister war eine imposante Figur, hochaufgeschossen, schlank, ja fast abgemagert, und doch mit einer Aura der körperlichen und geistigen Kraft umgeben. Sein Haar war silbriggrau, ebenso der recht lange Bart, den er zu tragen beliebte. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten einen stechenden Blick, seine Nase war dünn und gradlinig, seine Augenbrauen traten buschig hervor. Master Jean hatte den Großmeister viel zu oft gesehen, um sein Aussehen noch sonderlich zu beachten. Statt dessen zoge n den kleinen, rundlichen irischen Hexer die Züge des jungen Mannes an, der neben Sir Lyon stand. Der Mann war mittelgroß, größer als Master Sean, aber längst nicht so groß wie Sir Lyon Grey. Die Ärmel seines blauen Anzugs waren mit Weiß versetzt, der den Mann als einen Wanderhexer von einem Master unterschied. Besonders sein Gesicht zog Master Seans Aufmerksamkeit auf sich. Die Haut war von einem dunklen Rotbraun, die Nase breit und wohlgeformt, während die fast schwarzen Pupillen seiner Augen von den schweren Lidern beinahe verborgen wurden. Sein Mund lächelte freundlich und war recht breit.
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»Master Sean«, sagte Sir Lyon, »ich möchte Euch Wanderhexer Lord John Quetzal vorstellen, den vierten Sohn seiner Hochwohlgeboren dem Herzog von Mechicoe.« »Es ist mir eine Freude, Euer Lordschaft kennenzulernen«, sagte Master Sean mit einer kleinen Verbeugung. Lord John Quetzals Verbeugung war wesentlich tiefer, wie es sich für einen Wanderhexer gegenüber einem Master gehörte. »Ich habe mich sehr auf dieses Treffen gefreut, Master«, sagte er in fast fehlerfreiem Anglo-Französisch. Master Sean konnte nur den allerleisesten Akzent aus dem Herzogtum Mechicoe wahrnehmen, das zu den südlichsten Herzogtümern Neu-Englands gehörte, nicht weit von dem Isthmus entfernt, der die Verbindung zum Kontinent von NeuFrankreich herstellte. Doch war von einem Abkommen der Moqtessuma-Familie ein solcher einheimischer Akzent ja auch zu erwarten. »Lord John Quetzal hat sich dazu entschlossen«, sagte Sir Lyon, »Gerichtshexerei zu studieren, und ich glaube, daß er auf diesem Gebiet hervorragende Leistungen erbringen wird. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muß mich mit dem Programmkomitee treffen und die Tagesordnungspunkte überprüfen.« So fand sich Master Sean mit Wanderhexer Lord John Quetzal alleingelassen. Er gönnte ihm sein freundlichstes irisches Lächeln und sagte: »Nun, Euer Lordschaft, ich merke, daß Ihr nicht nur recht intelligent seid, sondern auch ein enormes Talent habt.« Der junge Mechicaner sah ihn mit erschrockener Bewunderung an. »So etwas könnt Ihr durchs bloße Ansehen merken?« fragte er mit unterdrückter Stimme.
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Master Seans Lächeln wurde breiter. »Nein, das habe ich geschlußfolgert.« Jetzt sollte Lord Darcy mich hören, dachte er. »Geschlußfolgert? Wie das?« »Aber ich bitte Euch«, sagte Master Sean mit einem amüsierten Glucksen, »die Einführung, die Ihr von Großmeister Sir Lyon erhalten habt, genügt mir, das zu erkennen. Er nennt Euch ›einen vielversprechenden jungen Mann‹. Er sagte: ›Ich glaube, daß er ausgezeichnet abschneiden wird‹ Ach je, so würde Sir Lyon doch nicht einmal den König persönlich vorstellen, der ja auch keinerlei nennenswertes Talent besitzt. Wenn Ihr den Großmeister beeindruckt habt, dann kommt Ihr allerdings mit den besten Referenzen. Außerdem schlußfolgere ich, daß Ihr nicht die Sorte Junge seid, die sich Lob zu Kopf steigen lassen - sonst hätte der Großmeister sich nicht in Eurer Gegenwart so geäußert.« Master Sean spürte, daß unter der glatten Mahagonihaut des jungen Mannes eine Verlegenheitsröte emporstieg. Deshalb wechselte er schnell das Thema. »Worauf habt Ihr Euch denn bis jetzt spezialisiert?« Lord Quetzal schluckte. »Nun... eh... Schwarze Magie.« Master Sean starrte ihn schockiert an. Er hätte nicht erstaunter sein können, wenn ihm ein Heiler oder Chirurgeon gesagt hätte, daß er sich darauf spezialisiert habe, Leute zu vergiften. Der junge Mechicaner sah für einige Sekunden noch verlegener aus, doch faßte er sich schnell wieder. »Ich meine nicht, daß ich sie praktiziere, um Himmels willen!« Er schaute sich um, als befürchte er, belauscht worden zu sein. Als er festgestellt hatte, daß dies nicht der Fall gewesen war, wandte er sich wieder Master Sean zu. »Ich meine damit nicht, daß ich sie praktiziere«, sagte er leiser, »ich habe sie studiert, um sie abwehren zu können. -2 5
Ich weiß nicht, ob Ihr in Europa viel davon habt, aber... nun ja, in Mechicoe ist es anders. Selbst nach vierhundert Jahren gibt es bei uns immer noch Gläubige der Alten Religion, besonders den Kult des Huitsilopochtli, des Alten Kriegsgotts. Das gibt es zwar nicht in den Städten, auch nicht einmal in den meisten Ackerbaugebieten, dafür aber in den Bergen und Dschungeln.« »Ich verstehe. Was für ein Gott war denn dieser Hutzdingsbums?« fragte Master Sean. »Huitsilopochtli. Eine Art von Gott, wie man ihn sehr häufig bei barbarischen Völkern findet, besonders bei den kriegerischen. Strenge Disziplin, extreme Askese, freiwillige Opfer und Ritualopferungen, das erwartete er von seinen Gläubigen. Eine typisch satanische Übertreibung der Tugenden der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams. Opferungen das bedeutet, lebenden Menschen das Herz herauszuschneiden. Huitsilopochtli war ein ekelhafter, blutiger Teufel.« »Menschenopfer, oder zumindest Ansichten, die Menschenopfer befürworten, kennen wir bei uns aber auch«, wandte Master Sean ein. Lord John Quetzal nickte. »Ich weiß, worauf Ihr anspielt. Die sogenannte Alte Gesellschaft vom Heiligen Albion. Ihre Rädelsführer sind, glaube ich, im Mai 1965 aufgeflogen, wenn ich mich richtig erinnere, oder jedenfalls im frühen Juni.« »Aye«, sagte Master Sean, »und damit sind wir längst noch nicht alle davon los. Schwarze Magie gibt es hier auch wesentlich häufiger, als Ihr zu glauben scheint. Man hat der Öffentlichkeit nichts davon gesagt, aber als Wanderhexer der Gilde habt Ihr vielleicht von dem Fall von Lord Duncan von Duncan gelesen, der im Jahre 1963 vorkam?« »O ja! Ich habe Euren Bericht darüber im Journal gelesen. Das war im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Tod des Comte D'Evereux. Ich wäre gerne dabei gewesen, als Lord
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Darcy diesen Fall löste!« In seinen Obsidianaugen glitzerte ein Licht. »Was hat Euer Interesse an Gerichtshexerei mit Schwarzer Magie zu tun?« fragte der irische Hexer. »Nun, wie ich schon sagte, gibt es in den entfernteren Landesteilen des Herzogtums ziemlich viel HuitsilopochtliVerehrung. Im tiefen Süden ist es sogar noch schlimmer. Mein edler Cousin, der Herzog von Eucatanne, wird ständig von ihr bedroht. Wenn es nur ländlicher Aberglaube wäre, wäre es ja nicht weiter schlimm, aber viele von ihnen haben echtes Talent. Die Gebildeteren unter ihnen haben Mittel und Wege gefunden, die Gesetze der Magie im Dienste der Riten und Zeremonien des Huitsilopochtli anzuwenden. Dies geschieht stets zu bösen Zwecken. Es ist die übelste Form Schwarzer Magie, und ich will versuchen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, sie auszuradieren. Sie beschränken ihr Tun nicht auf die abgelegenen Orte, wo ihre Tempel versteckt sind; ihre Agenten kommen in die Dörfer und terrorisieren die Bauern, in den Städten versuchen sie sogar, die lokalen Regierungen zu stürzen. So etwas muß unterbunden werden, und ich werde dafür sorgen, daß es auch tatsächlich unterbunden wird!« »Ein schwieriges Vorhaben - und ein lobenswertes dazu. Habt Ihr...« »Ah, Master Sean!« sagte eine ölige Stimme zur Linken, hinter Lord Quetzal. Master Sean hatte Master Ewen MacAlister kommen sehen und vergeblich gehofft, daß Master Ewen ihn nicht sehen würde. Er hatte auch so schon genügend Sorgen. »Master Ewen«, sagte Master Sean mit einem gequälten Lächeln. Noch bevor er Lord John Quetzal vorstellen konnte, begann Master Ewen, der den Wanderhexer völlig unbeachtet ließ, zu sprechen.
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»Habe gehört, daß Ihr eine kleine Auseinandersetzung mit Sir James hattet, Sean, eh? Gestern, he, he.« »Keine Auseinandersetzung. Wir...« »Ach, ich meine doch keinen Streit. Aber worüber habt Ihr Euch eigentlich gestritten? Keiner weiß das.« »Wahrscheinlich, weil es keinen etwas angeht«, schnappte Master Sean. »Natürlich nicht, he, he, natürlich nicht. Trotzdem, es muß ja heiß hergegangen sein, sonst hätte der Großmeister ja wohl nicht eingegriffen.« »Er hat überhaupt nicht ›eingegriffen‹, wie Ihr das auszudrücken beliebt«, zischte Master Sean zwischen zusammengebissenen Zähnen, die von einem falschen Lächeln umkränzt wurden. »Er hat lediglich in unserer Diskussion vermittelt.« »Ja. He, he. Natürlich.« Der schlaksige, sandfarbenhaarige Schotte zeigte beim Lächeln die Zähne. »Aber ich kann es Euch nicht verdenken, daß Ihr böse auf Sir James seid. Manchmal kann er ziemlich steif sein. Schneidend, meine ich. Scharfzüngig, sozusagen, das ist er.« »Recht scharfzüngig«, sagte Lord John Quetzal zustimmend. »Das habe ich schon am eigenen Leibe zu spüren bekommen.« Master Ewen MacAlister drehte sich um und betrachtete den jungen Mechicaner, als habe er ihn zum ersten Mal erblickt. »Es ist ungebührlich«, sagte er eisig, »daß ein Wanderhexer die Unterhaltung zweier Master unterbricht. Ebenso ungebührlich ist es, daß er einen Master kritisiert. Davon abgesehen, wäre es auf jeden Fall angezeigt, nicht den Obergerichtshexer von London zu kritisieren.« Lord John Quetzals Gesicht versteinerte. Er machte eine höfliche Verbeugung. -2 8
»Ich bitte um Verzeihung, Master. Ich habe einen Fehler gemacht. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt. Masters, ich habe noch eine Verabredung. Ich hoffe Euch einmal wiederzusehen, Master Sean.« »Aber gern! Wie wär's mit dem Mittagessen? Ich hätte da ein paar Dinge, über die ich mich mit Euch unterhalten möchte.« »Ausgezeichnet. Wann?« »Punkt zwölf, im Speisezimmer.« »Ich werde dort sein, Master Sean. Guten Tag Master Sean, Master Ewen.« Er drehte sich um und ging mit stolzem, ein wenig steifem Gang davon. »Guten Tag, Euer Lordschaft«, rief Master Sean hinter ihm her. Master Ewen stutzte. »Habt Ihr ›Euer Lordschaft‹ gesagt? Wer ist denn der Junge?« »Lord John Quetzal«, sagte Master Sean mit einem boshaften Lächeln, »ist der Sohn Seiner Hochwohlgeborenen Netsualco yotl, Herzog von Mechicoe.« Master Ewen wurde sichtbar bleich. »O weh«, sagte er leise, »ich ho ffe, er ist nicht beleidigt.« »Euer schmeichelhaftes Betragen wird Euch noch bei vielen hohen Stellen Freunde gewinnen, Master Ewen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe auch noch eine Verabredung.« Er ging fort und ließ Master Ewen zurück, der dem mechicanischen Jungen nachblickte und nervös auf seiner Unterlippe herumbiß. Master Ewens Snobismus, so dachte Sean, würde ihn daran hindern, überhaupt irgendwie weiterzukommen, egal was für ein guter Magier er auch sein mochte. Ein Master hatte alles Recht, einen Wanderhexer zusammenzustauchen, aber nur wegen -2 9
wichtiger Dinge, nicht wegen solcher Trivialitäten. Auf der anderen Seite sollte man auch nicht gerade sofort Puddingknie bekommen, nachdem man von diesem Recht Gebrauch gemacht hatte, nur weil der Zusammengestauchte vielleicht eine einflußreiche Verwandtschaft hatte. Master Sean beschloß, daß er etwas brauchte, um den schlechten Geschmack aus seinem Mund fortzuspülen. Er sah auf seine Armbanduhr. Neun Uhr zweiundzwanzig. Er hatte noch genug Ze it für ein kühles, schaumiges Bier bis zu seiner Verabredung. Er steuerte auf die private Saloonbar zu, die für die Kongreßmitglieder und ihre Gäste reserviert worden war. Fünf Minuten später, nachdem sein runder irischer Bauch ein Pint guten englischen Bieres in Sicherheit gebracht hatte, stieg er die Treppen zum Obergeschoß hoch. Dann schritt er durch die Halle auf den Raum zu, der Master Sir James Zwinge, Obergerichtshexer von London, zugewiesen worden war. Punkt halb zehn klopfte Sean an die Tür. Es kam keine Antwort aber er meinte zu hören, wie sich drinnen jemand bewegte, und klopfte lauter an. Diesmal erhielt er eine Antwort aber keine, wie er sie sich hätte träumen lassen. Der Schrei war krächzend und zitternd, doch konnte man die Worte deutlich genug verstehen. »Master Sean! Hilfe!« Dann folgte ein anders Geräusch, das Master Sean sofort als das Fallen eines Körpers oder eines schweren Gegenstands erkannte. Sean ergriff den Türknopf und drehte, doch ohne Erfolg. Die Tür war fest verschlossen. Im ganzen Gang gingen die Türen auf. Punkt drei Minuten nach sieben stieg an diesem Abend Lord Darcy, Oberinspektor Seiner Königlichen Hoheit, Richard von der Normandie, aus einer Mietdroschke, die vor dem überwältigenden Stadthaus von My Lord dem Marquis von London angehalten hatte. -3 0
Er trug einen großen Koffer, in seinen Augen war ein zielgerichtetes Schimmern zu erkennen. Der Türsoldat, der die hellgelbe Uniform der Persönlichen Garde des Marquis trug, fragte ihn nach seinem Begehren, worauf Lord Darcy mit ruhiger, beherrschter Stimme ihm mitteilte, daß My Lord Marquis ihn, Lord Darcy, aus Rouen zurückerwarte. Der Wachsoldat betrachtete den großen, recht gutaussehenden Mann mit dem mageren Gesicht und dem glatten braunen Haar und wunderte sich. Trotz seines Namens und der Stadt, die er angegeben hatte, sprach dieser Gentleman ein AngloFranzösisch mit ausgesprochen englischem Akzent. Dann erblickte der Wachsoldat das kalte Glitzern in den Augen und beschloß, daß es wohl ratsam sei, besser erst bei Lord Bontriomphe rückzufragen, bevor er weitere Fragen stellte. Es dauerte keine Minute, da war Lord Bontriomphe an der Tür und bat Lord Darcy herein. »Darcy! Wir haben nicht mit Euch gerechnet«, sagte er mit freundlichem Lächeln. »Nicht?« fragte Lord Darcy mit einem Lächeln von stählerner Härte. »Soll ich etwa annehmen, daß Ihr damit gerechnet habt, daß ich die Nachricht von My Lord dem Marquis erhalte, um mich danach erst einmal auf eine Pilgerreise nach Rom zu begeben?« Lord Bontriomphe bemerkte die beherrschte Verärgerung. »Wir dachten, daß Ihr uns von Dover per Teleklang angerufen hättet. Wir hätten Euch am Bahnhof mit einer Droschke abgeholt.« »My Lord Marquis hat nicht geruht anzudeuten«, sagte Lord Darcy kühl, »daß er für irgendwelche Ausgaben aufkommen wolle. So na hm ich an, daß solche Ausgaben aus meiner eigenen Tasche bestritten werden sollten. Nachdem ich die Kosten für eine Teleklang-Botschaft mit denen für eine Droschke verglich, entschied ich mich für letztere.« -3 1
»Aha, ja, ich verstehe. Aber kommt doch weiter mit zum Büro. Ich glaube My Lord Marquis wartet bereits auf uns.« Er führte Lord Darcy den Gang hinunter, öffnete eine Tür und trat zurück, um Lord Darcy einzulassen. Das Büro war nicht überwältigend, aber es war geräumig und gut eingerichtet. Es gab einige bequem aussehende Stühle und einen großen, mit teurem roten Moorenleder bezogenen Stuhl. Auf einem geschnitzten Ständer ruhte ein großer Weltglobus, an den Wänden hingen zwei oder drei Gemälde, darunter stand ein Paar großer Schreibtische. Hinter einem vo n diesen saß My Lord der Marquis de London. Man konnte den Marquis nur überwältigend nennen. Er war außerordentlich korpulent, doch sein schweres Gesicht hatte eine bemerkenswerte Ausdrucksschärfe, während sein Blick nachdenklich und nach innen gekehrt wirkte. Und trotz seines Gewichts von gut zwei Stein hatte er die Ausstrahlung einer Festigkeit, die ihm eine regelrechte Herrscherkraft verlieh. »Guten Abend, My Lord«, sagte er, ohne aufzustehen, aber eine breite, fette Hand ausstreckend, die an den Schwanz einer Robbe erinnerte. »My Lord Marquis«, sagte Lord Darcy, indem er die Hand schüttelte und wieder losließ. Bevor der Marquis noch irgend etwas sagen konnte, legte Lord Darcy eine Handfläche fest auf den Schreibtisch, beugte sich vor, um auf den Lord herabzublicken und sagte: »Also jetzt mal im Ernst: Wieviel davon ist bloßes Gewäsch?« »Ihr wollt mich verhöhnen«, sagte der Marquis mit schwerer Stimme. »Setzt Euch, wenn Ihr die Güte dazu habt; ich möchte mir nicht den Hals ausrenken, um Euch anblicken zu können.« Lord Darcy setzte sich auf den roten Lederstuhl, ohne den Blick von dem Marquis abzuwenden. »Gar nichts davon ist Gewäsch«, sagte der Marquis. »Ich muß zwar zugeben, daß ich noch nicht alle Einzelheiten kenne, aber -3 2
ich glaube, ich kenne genug, um meine Entscheidung zu rechtfertigen. Hättet Ihr vielleicht die Güte, Euch Lord Bontriomphes Bericht anzuhören?« »Ich hätte«, sagte Lord Darcy. Er blickte zu dem zweiten Schreibtisch hinüber, hinter den Lord Bontriomphe sich gesetzt hatte. Er war ein nicht allzu großer, recht gutaussehender, kantiger Mann, der stets gut gekleidet war und eine Ausstrahlung von Kompetenz um sich verbreitete. »Bontriomphe, Ihr mögt berichten«, sagte der Marquis. »Alles?« »Alles. Wortwörtlich, wie die Unterhaltung war.« Lord Bontriomphe lehnte sich zurück und schloß einen Moment die Augen. Lord Darcy stellte sich darauf ein, genau zuzuhören. Bontriomphe hatte zwei Eigenschaften, die ihn für den Marquis von London unschätzbar machten, nämlich eine große erzählerische Begabung und ein bildreiches Gedächtnis. Bontriomphe öffnete die Augen und sah Darcy an. »Auf Befehl von My Lord besuchte ich den Hexer- und Heiler-Kongreß, um mir die botanischen Ausstellungsstücke zu betrachten. My Lord war besonders an der ausgestellten Polnischen Te ufelswurz, die er...« Der Marquis schnaubte. »Pah! Das hat nichts mit dem Mord zu tun.« »Ich habe nicht gesagt, daß dies der Fall wäre. Wo war ich? Ach ja, die er nicht von Samen züchten konnte, sondern nur von Ablegern. Er wollte wissen, wie man die Samenzüchtungen behandelt hatte. Kurz nach neun ging ich ins Royal Steward. Es war vollgestopft mit Hexern jeder Größe und Beschreibung. Es waren genug Kirchenleute da, um eine ganze Kirche -3 3
auszufüllen, vom Altar bis zum Eingang. An der Tür mußte ich ein paar Wachen davon überzeugen, daß ich kein neugieriger Tourist war, der sich nur die Prominenz anschauen wollte. Jedenfalls gelangte ich gegen zehn nach neun zu den botanischen Ausstellungsstücken. Ich sah mir die Polnische Teufelswurz genau an, sie schien recht gesund zu sprießen. Dann sah ich mir noch das andere Zeug an und notierte mir einige Raritäten, aber das ist für Euch wohl kaum von großem Interesse, also lasse ich es aus. Dann schaute ich mir die anderen Ausstellungsgegenstände an, um vielleicht etwas Interessantes zu sehen. Ich traf niemanden, den ich kannte, worüber ich auch recht froh war, denn schließlich war ich nicht zum Plaudern hergekommen. Das heißt, ich habe vor zwanzig nach neun keinen Bekannten getroffen. Dann klopfte mir plötzlich Commander Lord Ashley von hinten auf die Schulter. Ich drehte mich um, und da stand er in voller Marineausgehuniform und sah so unglücklich aus wie ein Marineoffizier auf einem Hexerkongreß. ›Bontriomphe‹, sagte er, ›wie gut, Euch wiederzusehen. ‹ ›Schön, Euch zu sehen‹, sagte ich, ›und wie geht es der Reichsmarine? Seid Ihr ein Spezialist für Hexerei geworden?‹ Das war natürlich ein Witz, Tony hat nicht das geringste Talent. Er hat das, was man ›eine wechselhafte und diffuse seherische Fähigkeit ‹ nennt, die ihm scho n aus mancher Klemme herausgeholfen hat, und mit der er übrigens auch am Spieltisch viel anzufangen versteht. Doch ansonsten versteht er soviel von Magie wie ein Vogel Strauß von Eisbergen. Er lachte ein wenig. ›Das habe ich weder jetzt noch später vor‹, sagte er. ›Ich bin in Marineangelegenheiten hier. Ich suche einen Eurer Freunde und weiß nicht, wie er aussieht.‹ ›Wen sucht Ihr denn? ‹ fragte ich.
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›Master Sean O Lochlainn. Ich habe am Empfang nach seiner Zimmernummer gefragt, aber er ist nicht da.‹ ›Wenn er hier sein sollte‹, sagte ich, ›dann habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen. Allerdings habe ich ihn ja auch nicht gesucht.‹ Ich blickte um mich herum, doch konnte ich ihn nicht erspähen. Aber ich sah ein anderes mir bekanntes Gesicht. ›Wenn irgend jemand weiß, wo Master Sean ist‹, sagte ich, ›dann ist das Großmeister Sir Lyon Frey. Kommt mit.‹ Sir Lyon stand an einer der Türen und unterhielt sich mit einem Mann, der die Tracht eines flämischen Ordens trug. Der Mönch hatte sich gerade verabschiedet, als Lord Ashley und ich auf Sir Lyon zugingen. ›Guten Morgen, Sir Lyon‹, sagte ich. ›Ihr kennt Commander Ashley?‹ ›Guten Morgen, Lord Bontriomphe‹, sagte der alte Hexer. ›Ja, Commander Ashley und ich kennen uns. Wie kann ich behilflich sein?‹ ›Ich muß Master Sean O Lochlainn eine Nachricht überbringen, Sir Lyon‹, sagte Ashley. ›Wißt Ihr vielleicht, wo er gerade weilt?‹ Der Großmeister wollte antworten, doch kam er nicht mehr dazu. Ein dürrer kleiner Magier mit einer spitzen Nase und ziemlich glubschigen blauen Augen platzte plötzlich durch die nächste Tür, wobei seine Hände umherflatterten wie betrunkene Motten, die seinen Kopf mit einer Kerzenflamme verwechselt hatten. Er blickte sich eilig um, erspähte Sir Lyon und steuerte schnurstracks auf uns zu, wobei seine Hände immer noch flatterten. ›Großmeister! Großmeister! Ich muß Euch sprechen, sofort!‹ sagte er mit leiser, aber aufgeregter Stimme.
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›Beruhigt Euch, Master Netly‹, sagte der Großmeister. »Was gibt es denn?« Master Netly bemerkte Lord Ashley und mich und sagte: ›Es ist... eh... vertraulich, Großmeister.‹ Der Großmeister beugte sich ein bißchen vor und neigte Master Netly sein Ohr zu; dieser war einen guten Fuß kürzer als Sir Lyon und stand deshalb auf den Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern. Ich konnte kein einziges Wort verstehen, aber ich sah, wie Sir Lyons Augen immer weiter wurden, je länger der hagere, kleine Magier auf ihn einredete. Dann blickte er mich voll an. Als er wieder aufrechtstand, blickte er mich immer noch an. Glaubt mir, wenn Euch Großmeister Sir Lyon Gandolphus Grey mit seinen Augen fixiert, dann habt Ihr ein plötzliches Verlangen, Euer Gewissen zu befragen, was Ihr für besonders abscheuliche Sünden in der letzten Zeit begangen haben könntet. Glücklicherweise war mein Gewissen einigermaßen rein. ›Würden die Herrschaften mir bitte folgen?‹ fragte er und wandte seinen Blick Lord Ashley zu. ›Etwas von Wichtigkeit ist geschehen. Wenn Ihr bitte mitkommen wollt...‹ Er drehte sich um und schritt durch die Tür hinaus. Ashley und ich folgten ihm. Sobald wir den Ausstellungsraum verlassen hatten und durch den Flur schritten, fragte ich: ›Was ist wohl los, Sir Lyon? ‹ ›Ich weiß es selbst noch nicht genau. Scheinbar ist Master Sir James Zwinge etwas zugestoßen. Wir können von Glück sagen, daß Ihr, ein Beamter der Königlichen Justiz, zur Hand seid.‹ Darauf sagte Lord Ashley: ›Verzeihung, Sir Lyon, aber die Nachricht für Master Sean ist sehr wichtig und dringend.‹ ›Das ist mir bewußt‹, sagte der alte Knabe ziemlich pikiert. ›Master Sean befindet sich bereits am Ort des Geschehens. Deshalb habe ich Euch auch gebeten, mir zu folgen. ‹ -3 6
›Ich verstehe. Ich bitte um Verzeihung, Sir Lyon.‹ Wir folgten ihm die Treppe hoch und durchschritten den oberen Flur, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Netly trapste hinter uns her, seine Hände flatterten immer noch in der Gegend herum. Vor Zwinges Raum standen drei Männer und eine Frau. Zwei der Männer trugen die hellblaue Kleidung der Hexer, ebenso die Frau. Der dritte aber trug einfache Händlerkleidung. Einer der Hexer war Master Sean. Der zweite war ein großer junger Mann, der die weißen Streifen eines Wanderhexers trug, seinem Aussehen nach zu urteilen, war es ein Mechicaner. Die Hexe war eine der schönsten Honigblondinen, die ich jemals in einem Hotelflur kennengelernt habe. Sie hatte einen vollbusigen, weitschultrigen Körper mit weitausholenden Hüften und einer schmalen Taille und tiefdunklen blauen Augen. Sie war nur wenige Zoll kleiner als ich und hatte außerdem...« »Pfui...« Zum zweitenmal unterbrach der Marquis vo n London Lord Bontriomphes Bericht. »Es sei Euch zwar unbenommen, der Schönheit der Frauen zu huldigen, aber dies ist nicht der rechte Ort und Zeitpunkt dazu, schon gar nicht für Übertreibungen. Im übrigen kennt Lord Darcy Mary, die Herzoginwitwe von Cumberland, bereits.« »Entschuldigung«, sagte Lord Bontriomphe. »Der dritte stellte sich als Edelmann Lewis Bolmer heraus, der Leiter des Royal Steward Arms. Er ist ungefähr ein Zoll größer als Master Sean und sieht so aus, als habe er viel zu schnell ungefähr fünfzig Pfund abgenommen. Seine Kinnladen und sein ganzes Gesicht sind faltig, so daß er ziemlich schwabbelig und hager aussieht, als wäre er aus lauter Schlappohren zusammengenäht worden. Er sah sowohl besorgt als auch verängstigt aus. Sobald ich mich selbst vorgestellt hatte, fragte ich, was geschehen sei. Master Sean sagte: ›Ich hatte um halb zehn eine Verabredung mit Sir James. Ich klopfte an die Tür und bekam keine Antwort. -3 7
Ich klopfte erneut. Da hörte ich einen Schrei und ein Geräusch, als fiele ein schwerer Körper auf den Boden. Seitdem ist nichts mehr geschehen, die Tür ist verschlossen, und wir kommen nicht hinein.‹ Ich sah Edelmann Lewis an. ›Habt Ihr den Schlüssel?‹ ›Ja, Euer Lordschaft‹, sagte er nickend und schlenkerte mit Kinnlade und Hängebacken. ›Ich brachte ihn sofort mit, als Master Netly mich benachrichtigt hatte. Aber der Schlüssel will das Schloß nicht öffnen, der Bolzen bewegt sich nicht, der Schlüssel klemmt. Wahrscheinlich ein Zauber darauf.‹ ›Es ist ein persönlicher Schloßzauber‹, sagte Master Sean. ›Ich vermute, daß nur der Schlüssel von Sir James das Schloß öffnen kann. Aber ich fürchte, daß er schwer verwundet sein könnte, wir müssen die Tür einrennen.‹ Wenn Ihr schon jemals im Royal Steward wart, so wißt Ihr vielleicht, wie dick die Türen dort sind. Alles gute alte Wertarbeit, das Gebäude ist im siebzehnten Jahrhundert gebaut worden. ›Könnt Ihr den Zauber beseitigen, Sean?« fragte ich. ›Natürlich kann ich das‹, sagte er, ›aber das braucht seine Zeit. Wenn ich Glück habe und das geis tige Muster sofort erfasse, dann schaffe ich es in einer halben Stunde. Wenn ich kein Glück habe, dann dauert es vielleicht zwei oder drei Stunden. Das ist kein gewöhnlicher kommerzieller Gebrauchszauber, das ist vielmehr ein persönlicher Zauber, den Sir James selbst angebracht hat.‹ Ich kniete mich hin und linste durch das Schlüsselloch. Ich konnte nur die gegenüberliegende Wand sehen. Das Schlüsselloch ist zwar groß genug, aber die Tür ist so dick, daß man wie durch einen Tunnel schaut. Das sind Zweizolltüren dort. Ich stand wieder auf und sagte zu Edelmann Lewis: ›Holt eine Axt. Wir müssen die Tür durchhauen.‹ -3 8
Während er fort war, stellte ich ein paar Fragen. › Was geschah unmittelbar, nachdem Ihr den Schrei gehört habt, Sean? ‹ ›Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts‹, sagte er. ›Dann kamen meine Kollegen hier aus ihren Zimmern.‹ ›Welche Zimmer?‹ ›Netly Dales Zimmer grenzt links an das von Sir James, und Lord John Quetzal hat das Zimmer zur rechten, wenn ich nicht irre.‹ Netly faltete seine Hände zusammen, damit sie nicht so flatterten, und nickte. ›Ganz richtig. Absolut richtig. ‹ Lord John Quetzal nickte nur zustimmend. ›Lord John Quetzal‹, sagte ich. Der Name war mir bekannt. ›Ihr seid der vierte Sohn Seiner Hochwohlgeboren De Mechicoe, wenn ich nicht irre?‹ Der verbeugte sich. ›Eben dieser, Euer Lordschaft.‹ Dann sah ich die blonde Erscheinung an. Zu dieser Zeit wußte ich noch nicht, wer sie war, aber sie trug das De-CumberlandWappen in Gänze auf ihrer rechten Brust, anstatt nur die Krone auf ihrer Schulter zu tragen, also nahm ich an...« Lord Bontriomphe unterbrach seinen Vortrag weil er wieder einen Schnauber von De London hörte. »Ja, My Lord?« »Es ist wohl kaum vonnöten, uns zu informieren, welche naheliegenden Schlußfolgerungen Ihr gezogen habt«, sagte der Marquis mit starkem Sarkasmus. »Darcy will Tatsachen hören und nicht die ziemlich kindischen Vorgänge, mittels derer Ihr zu ihrer Kenntnis gelangt seid.« »My Lord, ich beuge mich beschämt«, sagte Lord Bontriomphe. »Auf jeden Fall habe ich die Dame richtig identifiziert.« ›Wo ist Euer Zimmer, Euer Gnaden? ‹ fragte ich sie. -3 9
›Am anderen Ende des Halleneingangs ‹, sagte sie, mit dem Finger weisend. Die Halleneingänge im Royal Steward sind acht Fuß breit. Ihr Zimmer befand sich genau gegenüber dem von Zwinge. ›Ich danke Euch‹, sagte ich. ›Nun...‹ Ich sah die anderen an. ›Warum seid Ihr alle aus Euren Zimmern gekommen? Was hat Euch aufgeschreckt?‹ Sie berichteten alle dasselbe: der Schrei. Niemand hatte Sean klopfen hören, dazu sind die Türen dort zu dick. Ich weiß das, ich habe es später selbst ausprobiert. Man kann ein Türklopfen an einer anderen Tür nur dann hören, wenn man genau horcht. Dieser Schrei muß ein höllischer Lärm gewesen sein. Der einzige, der zu der Zeit das Fallen des Körpers hören konnte, war Master Sean. Die anderen hatten ihre Türen noch nicht geöffnet. Ich konnte nicht feststellen, wer von ihnen als erster heraustrat, sie wußten es selbst nicht mehr. Offensichtlich war die Lage in diesem Augenblick viel zu verwirrt. Als der Hoteldirektor, Edelmann Lewis, mit der Axt zurückkehrte, blickte ich auf meine Uhr. Es war dreiundzwanzig vor zehn. Seitdem Master Sean an die Tür geklopft hatte, waren ungefähr sieben Minuten vergangen. Ich benutzte die Axt selbst. Alle traten sicherheitshalber von der Tür zurück. Ich schlug ein recht großes Loch in die Mitte der Tür, ohne den Rahmen und das Schloß zu beschädigen. Ich ließ alle anderen draußen und zwängte mich durch das Loch. Es war ein gewöhnliches Zimmer, zwölf mal fünfzehn, mit Bad. Am anderen Ende des Raums befanden sich zwei Fenster. Beide waren verbolzt und mit Jalousien verschlossen, doch waren die Jalousien so eingestellt, daß sie das Tageslicht hineinließen. Die Glasfenster waren verschlossen und unversehrt. Der Körper unseres Obersten Gericht shexers lag fast genau in der Mitte des Zimmers, etwas über sechs Fuß von der Tür -4 0
entfernt. Er lag auf der linken Seite, in einer frischen Blutlache; sein Rock war so sehr voller Blut, daß ich zunächst Schwierigkeiten hatte zu erkennen, was nun genau geschehen war. Da sah ich, daß sein Rock aufgeschlitzt war, über dem Herzen, auf der linken Seite. Ich öffnete das Kleidungsstück und sah, daß die Brust an dieser Stelle eine senkrechte Stichwunde aufwies. Ein paar Fuß davon entfernt lag, am Rande der Blutlache, ein Messer. Es war eigentlich ein Dolch mit schwerem Griff, mit Onyxheft und einer Klinge aus reinem Silber. Ich habe solche Dolche schon öfter gesehen, Lord Darcy, und Ihr wohl auch. Ein Hexerdolch, der bei bestimmten Beschwörungen dazu benutzt wird, psychische Bindungen zu durchschneiden und so weiter. Aber die Dinger können auch körperlich schneiden, nicht nur geistig. Ungefähr auf halber Entfernung zwischen Körper und Tür lag ein Schlüssel. Es war ein schwerer Messingschlüssel, wie der, mit dem der Hoteldirektor versucht hatte, die Tür zu öffnen. Ich markierte die Stelle mit einem eigenen Schlüssel und versuchte mich mit dem gefundenen Schlüssel am Türschloß. Er funktionierte, er bewegte den Bolzen, was kein anderer Schlüssel vermochte. Es war tatsächlich Sir James' eigener Schlüssel. Ich durchsuchte den Körper. Nicht viel zu finden: sein eigener Schlüsselring; zwei Sovereigns in Gold, drei silberne Sovereigns, ein wenig Kleingeld; ein Notizbuch voller magischer Symbole und Formeln, die ich nicht verstehe; ein gewöhnliches kleines Taschenmesser; eine Brieftasche, die sein Diplom als Meisterhexer enthielt; seine Lizenz, Magie ausüben zu dürfen, unterschrieben vom Bischof von London; sein Berufsausweis als Oberster Gerichtshexer; ein Ausweis, der ihn als Mitglied der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft auswies, sowie noch verschiedene Schriftstücke. Ihr könnt Euch alles ansehen, Darcy; My Lord Marquis hat alle Gegenstände in einem Umschlag im Wandsafe aufbewahrt. Er besaß noch drei andere Anzüge, die alle mit leeren Taschen im Schrank hingen. -4 1
Auf dem Schreibtisch lagen einige Papiere, alle mit thaumaturgischen Symbolen beschrieben; einige andere ähnliche Papiere lagen im Papierkorb. Ich habe sie dort gelassen, wo sie sich schon befanden. Dann war da noch als einziger weiterer Gegenstand sein Reisesack, der mit Symbolen verziert war, die Art Reisesack eben, wie ihn jeder Hexer benutzt. Ich habe nicht versucht, ihn zu öffnen oder mitzunehmen. Es ist schließlich nicht ratsam, in persönlichen Besitzgegenständen eines Magiers herumzukramen, auch wenn der Magier schon tot sein sollte. Das Wichtigste ist, daß sich in dem Raum niemand außer dem Toten aufhielt. Ich habe das Zimmer gründlich durchsucht. Es gab keine Versteckmöglichkeiten. Ich sah unter dem Bett nach, im Schrank und im Badezimmer. Darüber hinaus konnte niemand den Raum durch die Tür verlassen haben. Sie war durch den einzigen Schlüssel verschlossen worden, mit dem man sie auch öffnen konnte, und dieser Schlüssel lag drinnen im Raum. Außerdem waren binnen Sekunden nach dem Schrei vier Leute im Flur; drei von ihnen haben die Tür bis zu meiner Ankunft nicht aus den Augen gelassen. Die Fenster waren von innen verschlossen. Das Glas und das Lattenwerk waren unversehrt. Die Fenster öffnen sich auf einen kleinen Patio, der zum Speisetrakt gehört. Es saßen dort draußen insgesamt zwölf Personen, alles Hexer, beim Frühstück. Niemand von ihnen hatte irgend etwas gesehen, obwohl ihre Aufmerksamkeit durch den Schrei auf das Fenster gelenkt worden war. Davon abgesehen ist die Wand sehr steil, etwa dreißig Fuß hoch, ohne Halt und Stützen für Hände und Füße. Als Fluchtweg ausgeschlossen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß irgend jemand den Raum betreten oder verlassen hat. Als ich den Raum durchsucht hatte, erschien der Oberste Wachtmeister mit zweien seiner Männer. Ihr seid Chief Hennely Crayme sicherlich schon begegnet, ein großer stämmiger Kerl mit kantigem Gesicht? Ja? Gut. Ich sagte ihm also, daß er die -4 2
Angelegenheit übernehmen solle, daß er einen Bewahrungszauber über die Leiche verhängen lassen solle, und daß nichts angerührt werden dürfe. Dann ging ich zurück in die Halle, trommelte alle Leute dort zusammen, und ließ sie alle sich in einem der leerstehenden Räume am Ende der Halle versammeln. Der Hoteldirektor gab mir den Schlüssel, und ich gab ihm die Anweisung, sich wieder um seine normalen Geschäfte zu kümmern. Commander Lord Ashley war ein wenig ungeduldig. Er hatte seine Nachricht schon überreicht, und mußte sich im Büro des Lord Admiral zurückmelden. Ich ließ ihn gehen. Sir Lyon, Master Sean, Master Netly, Wanderhexer Lord John Quetzal und die Herzoginwitwe von Cumberland sahen alle sehr erschreckt von dem aus, was sie durch die Tür gesehen hatten. Sie waren alle recht schweigsam. ›Sir Lyon‹, sagte ich, ›dieser Raum wurde abgeschlossen und versiegelt. Sir James wurde zu einem Zeitpunkt erdolcht, als sich niemand sonst im Raum aufhielt. Was meint Ihr dazu?‹ Er strich einige Male über seinen Bart und sagte dann: ›Ich verstehe Eure Frage. Ja, auf den ersten Blick würde ich sagen, daß er durch Schwarze Magie getötet wurde. Aber das ist nur eine Vermutung, die sich auf die körperlich wahrnehmbaren Tatsachen stützt. Ich nehme zwar an, daß Ihr es nicht selbst wahrnehmen könnt, aber dieses Hotel ist zur Zeit nicht nur mit den gewöhnlichen kommerziellen Zaubern ausgerüstet, um unbefugten Gebrauch des Hellsehtalents zu unterbinden. Bevor der Kongreß anfing, ist eine Spezialistengruppe von sechs Hexern das ganze Gebäude durchgegangen, die diese Zauber verstärkten und andere hinzufügten. Diese Zauber verhindern zwar nicht das Sehen in die Zukunft, da es unmöglich ist, einen Bann in die Zukunft auszusenden; aber sie verhindern es, daß jemand mit seinen hellseherischen Fähigkeiten in das Zimmer eines anderen hineinblicken kann, und sie machen es auch sehr schwer, wahrzunehmen oder zu -4 3
verstehen, was im Geist eines anderen vor sich geht. Bevor ich mit Bestimmtheit sagen kann, daß Sir James durch einen Akt Schwarzer Magie getötet wurde, möchte ich die ganze Angelegenheit noch gründ licher untersucht haben.‹ ›Eine solche Untersuchung wird stattfinden‹, sagte ich ihm. ›Dann zur nächsten Frage: Wer hatte einen Grund, ihn zu ermorden? Hatte irgend jemand Streit mit ihm?‹ Glaubt mir, Lord Darcy, alle Augen richteten sich auf Master Sean. Außer seinen eigenen, natürlich. Also fragte ich ihn natürlich, was für ein Streit das gewesen sei. ›Es war kein Streit‹, sagte er bestimmt. ›Beide, Sir James und ich, waren wir wütend, aber nicht aufeinander.‹ ›Auf wen wart Ihr denn dann wütend?‹ ›Auf nie manden. Wir hatten beide über einen bestimmten thaumaturgischen Effekt gearbeitet und hatten fast identische Spruchformeln entdeckt, die diesen Effekt bewirken konnten. Das ist in der Geschichte der Magie schon öfter passiert. Wir haben uns vielleicht gege nseitig angeknurrt und angekläfft, aber wir waren eigentlich nur auf diesen dummen Zufall wütend.‹ ›Wie kam denn diese, eh, Diskussion zustande?« fragte ich ihn. ›Eine zufällige Unterhaltung im Komiteeraum. Wir kamen miteinander ins Gespräch, und das Thema kam auf. Wir verglichen unsere Aufzeichnungen und... na ja, da kam's dann heraus. Worüber wir uns wirklich uneins waren, das war die Frage, wer seine Untersuchungen als erster einreichen solle. Also baten wir Sir Lyon darum, für uns die Entscheidung zu fällen. ‹ Ich sah Sir Lyon an. Er nickte. ›Das stimmt. Ich entschied, daß es für sie beide das beste sei, wenn sie die Studie gemeinsam herausgeben würden, unter zwei
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Namen mit einer ausführlichen Erklärung, daß die Arbeit von beiden unabhängig voneinander geleistet worden war.‹ ›Sagt doch bitte, Sir Lyon‹, sagte ich, ›diese Studie, diese Papiere also, wären das ausschließlich thaumaturgische Gleichungen?‹ ›Aber nein! Das wären lange Ausführungen über den Effekt. Natürlich gäbe es darin auch Gleichungen, aber der Text wäre eigentlich in Anglo-Französisch. Es gäbe verständlicherweise viele Fachwörter, Berufsjargon, wenn Ihr so wollt, aber...‹ ›Wo befindet sich denn dann die Studie von Sir James?‹ fragte ich. ›Im Raum ist sie nicht.‹ ›Ich habe sie ‹, sagte Sean. ›Es wurde ausgemacht, daß ich eine erste Zusammenfassung der beiden Studien schreiben sollte. Dann wollten wir die Sache heute morgen um neun Uhr dreißig noch einmal besprechen und eine zweite Fassung schreiben. ‹ ›Wann habt Ihr Sir James zum letzten Mal gesehen? ‹ fragte ich. ›Gestern abend gegen zehn‹, erklärte Sean. ›Ich ging mit ihm in sein Zimmer, damit er mir sein Manuskript geben konnte. Soweit ich weiß war dies das letzte, was von ihm gesehen wurde. Er wollte noch ein wenig weiterarbeiten und mochte bis halb zehn nicht gestört werden. ‹ ›Hätte er für seine andere Arbeit vielleicht einen Dolch gebraucht?‹ ›Einen Dolch?‹ fragte er erstaunt. ›Ihr wißt schon, einen von diesen großen Silberdolchen mit schwarzem Griff.‹ ›Ach so, Ihr meint einen Kontaktzerschneider. Das glaube ich nicht. Er sagte, er wolle etwas Schreibarbeit erledigen, weiter nichts. Keine wirklichen Experimente. Aber das wäre natürlich durchaus möglich. ‹ -4 5
Ich fragte ihn: ›Master Sean, hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich mir einmal das Manuskrip t von Sir James anschaue?‹ Ich glaube, daß das sein irisches Temperament zum Zünden gebracht hat. ›Ich wüßte nicht, was das mit der Angelegenheit zu tun haben könnte‹, sagte er ziemlich schnippisch. ›Ich habe drei Jahre lang an der Sache gearbeitet. Es war schon schlimm genug, daß Sir James dasselbe getan hat, aber ich werde diese Ergebnisse nicht herausrücken, bis ich bereit bin, sie selbst vorzustellen! ‹ Darauf sprach Großmeister Sir Lyon. ›Ich kann nicht darauf bestehen, daß Ihr dem Chefinspektor diese Manuskripte zeigt, Master Sean; ich kann Euch nicht befehlen, den Vorgang preiszugeben. Aber ich habe das Gefühl, daß das Thema der Untersuchungen etwas mit dem Fall zu tun haben könnte.‹ Master Sean öffnete seinen Mund und schloß ihn wieder. Nach einer Sekunde oder so sagte er: ›Nun ja, das steht sowieso auf dem Programm. Meine Studie sollte lauten ›Eine Methode zur Ermöglichung chirurgischer Eingriffe in unzugänglichen Organen‹. Sir James betitelte seine Arbeit ›Die chirurgische Inzision innerer Organe ohne Durchbrechung der Bauchdecke‹.‹ Da quiekte Master Netly auf. ›Ihr meint eine Methode, eine Klinge in einem geschlossenen Raum zu führen? Erstaunlich! ‹ Dann wich er einige Schritte von Master Sean zurück und sagte: ›Das meinte er also, als er schrie!‹ Ich hörte zum ersten Mal, daß Master Sir James etwas Bestimmtes gerufen hatte. Die Worte hatten gelautet, darüber waren sich alle einig: ›Master Sean! Hilfe!‹‹ Der Marquis von London hatte während des ganzen Berichts mit geschlossenen Augen dagesessen, ohne jedoch zu schlafen.
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»Befriedigend«, sagte er. Dann öffnete er die Augen und blickte Lord Darcy an. »Jetzt«, rumpelte er, »versteht Ihr wohl auch warum ich mich dazu veranlaßt fühlte, Master Sean O Lochlainn wegen Mordverdachts verhaften zu lassen.« Lord Darcy sah My Lord Marquis lange und tief in die Augen. Dieser erwiderte seinen festen Blick voller Ruhe. Schließlich sagte Lord Darcy: »Ich verstehe. Haltet Ihr denn das Beweismaterial für ausreichend?« »O nein, auf keinen Fall«, sagte der Marquis und streichelte mit schwerer Hand die Luft. »Beim gegenwärtigen Beweisstand habe ich keine große Lust, die Sache vor das Oberste Gericht zu bringen. Wenn ich genügend Beweismaterial hätte, dann wäre Master Sean schon wegen vorsätzlichen Mordes angezeigt worden, nicht nur wegen Mordverdachts.« »Ich verstehe«, wiederholte Lord Darcy mit eisighöflicher Stimme. »Darf ich annehmen, daß von mir erwartet wird, das notwendige Beweismaterial zu beschaffen?« Der Marquis von London hob seine wuchtigen Schultern etwa einen Viertelzoll hoch und ließ sie wieder sinken. »Das berührt mich nicht weiter. Da ich jedoch mit der Tatsache vertraut bin, daß Ihr an diesem Fall ein persönliches Interesse habt, dürft Ihr selbstverständlich auf volle Kooperation mit diesem Büro in allen Nachforschungen rechnen, die Ihr in diesem Falle durchzuführen belieben solltet.« »Ahh! Daher weht der Wind also!« sagte Lord Darcy. »Nun gut. Ich werde Eure Gastfreundschaft und Eure Kooperation annehmen. Werdet Ihr Master Sean so lange auf Ehrenwort freilassen, bis Ihr das notwendige Beweismaterial zusammen habt?« My Lord Marquis runzelte die Stirn und schien zum ersten Mal unangenehm berührt zu sein. »Ihr wißt genausogut wie ich, daß ein wegen eines Kapitalverbrechens Angeklagter nicht auf -4 7
Ehrenwort entlassen werden darf. So verlangt es das Gesetz; ich habe nicht die Befugnis, das Gesetz des Königs zu mißachten.« »Selbstverständlich«, murmelte Lord Darcy. »Selbstverständlich. Ich nehme aber doch an, daß es mir gestattet ist, Master Sean zu sprechen?« »Aber natürlich! Er befindet sich im Tower, und ich habe Anweisung gegeben, daß er es bequem haben soll. Ihr könnt ihn jederzeit sprechen.« Lord Darcy stand auf. »Meinen Dank, My Lords. Dann begebe ich mich am besten gleich ans Werk. Habe ich Eure Erlaubnis, mich zu entfernen?« »Ihr habt meine Erlaubnis, My Lord. Lord Bontriomphe wird Euch zur Tür geleiten.« Der Marquis von London stand unbeholfen auf und verließ den Raum, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Lord Darcy sprach Lord Bontriomphe an, als sie beide bereits an der Eingangstür standen. »My Lord Marquis belieben Spiele zu spielen, Bontriomphe.« »Hm- m- m. Ja. Ja, das tut er.« Bontriomphe hielt inne. »Ich bin sicher, daß Ihr damit zurechtkommen werdet, Darcy.« »Das glaube ich auch. Laßt Euch durch nichts überraschen.« »Bestimmt nicht. Guten Abend, My Lord.« »Guten Abend. Ich werde Euch am Morgen aufsuchen.« In seinem bequemen Raum in jener alten Festung, die als Tower of London bekannt war, war Master Sean O Lochlainn nicht länger wütend - nicht einmal auf das Schicksal. Was ihn im Augenblick erfüllte, das war ein Gefühl entschlossener Geduld. Er wußte, daß Lord Darcy kommen würde und daß seine Haft eher eine Scheinhaft war. Als ihm am Nachmittag die Anklage wegen Mordverdachts vorgelesen -4 8
worden war, war er etwas böse gewesen, daß man es ihm nicht gestattet hatte, seinen symbolverzierten Reisesack mitzunehmen. Einen Hexer einzusperren, war schon schwierig genug; ihm sein Handwerkszeug zu belassen, wäre allerdings eine ziemliche Dummheit gewesen. Doch irrten sich die To wer-Aufseher, wenn sie meinten, daß ein Hexer ohne sein Werkzeug hilflos wäre. Sie hatten einen Zauberbann außer acht gelassen, den Master Sean schon vor langer Zeit über seinen Reisesack verhängt hatte. Die Auswirkungen dieses Banns lassen sich einfach ge nug beschreiben: Das Handwerkzeug eines Hexers kann nicht lange gegen seinen willen von ihm ferngehalten werden. Also passierte folgendes: Der Reisesack sollte in Master Seans Zimmer im Royal Steward Arms verbleiben, bis über Master Seans endgültigen Verbleib entschieden worden war. So lautete der Befehl des Obersten Wachtmeisters, als er Master Sean festnahm. Dieser hatte sich höflicherweise der Gewalt des Gesetzes unterstellt und dem Obersten Wachtmeister seinen Zimmerschlüssel überreicht. Aber auf dem Tü rschloß von Master Seans Zimmer lag kein Zauber wie beim verstorbenen Master Sir James. Als um ein Uhr also eine Hotelbedienstete ihren Reinigungsrundgang machte, hatte sie auch einen Schlüssel zu Master Seans Zimmer dabei, der auch wirklich funktionierte. Bridget Courville betrat natürlich jeden Raum nach dem nächsten. Als sie Master Seans Zimmer betrat, sah sie sich darin um. »Alles aufgeräumt«, sprach sie zu sich selber. »Ungemachtes Bett, aber das ist ja immer so. Ja, diese Hexer sind recht ordentliche Leute! Keine Flaschen, kein Müll verstreut. Keine großen Trinker, glaube ich. Was ein Hexer ja auch nicht sein darf.« Sie machte das Bett, legte frische Handtücher aus, füllte die Seifenschale mit neuer Seife und erledigte all die Kleinigkeiten, die zu ihren Aufgaben gehörten. Selbstverständlich bemerkte sie auch den symbolverzierten Reisesack. Während dieses Kongresses befand sich in fast jedem Zimmer ein solcher Sack. Aber sie beachtete den Sack nicht -4 9
bewußt. Ihr Unterbewußtsein aber flüsterte ihr zu, daß der Reisesack ›hier nichts zu suchen‹ habe. Es läßt sich guten Gewissens sagen, daß Bridget Courville wirklich nicht über das nachdachte, was sie gerade tat, als sie den Sack aufhob und in die Halle stellte, bevor sie das Zimmer abschloß und das nächste betrat. Um ein Uhr fünfzehn erblickte ein Dienstjunge, der die Gäste mit Getränken und Speisen zu versorgen hatte, den Sack in der Halle, der dort etwas deplaziert wirkte. Ohne darüber nachzudenken, nahm er ihn an sich und brachte ihn nach unten. Er legte ihn auf den Gepäckständer neben dem Haupteingang und vergaß ihn bald darauf. Hennely Grayme, Oberster Wachtmeister der City of London, verließ um fünf Minuten vor zwei das Hotel, nachdem er alles Erforderliche am Tatort protokolliert hatte. Am Eingang blieb er stehen und erblickte den Reisesack auf dem Ständer. Er las die Anfangsbuchstaben S.O.L. auf dem Griff und hob den Sack wie automatisch auf und nahm ihn mit. Als er im Tower vorbeischaute, wechselte er einige Worte mit dem Oberaufseher und ließ den Sack stehen, ohne ihn zu erwähnen. Bis fünfzehn Minuten vor drei blieb der Reisesack unbemerkt im Vorzimmer des Oberaufsehers stehen. Während dieser Zeit kamen viele Leute in das Vorzimmer und verließen es wieder, ohne den Sack wahrzunehmen. Keiner von ihnen ging in die richtige Richtung. Um zwei Uhr fünfundvierzig erblickte Master Seans Zellenaufseher den Reisesack. Nachdem er dem Oberaufseher Meldung gemacht hatte, nahm er beim Hinausgehen den Sack mit und trug ihn die Wendeltreppe zu Master Seans Zelle hoch. Er schloß die Zellentür auf und klopfte höflich an. »Master Sean, ich bin es, Aufseher Linsy.« »Herein, mein Junge, hereinspaziert!« sagte Master Sean jovial. Die Tür ging auf. Als Master Sean den Reisesack in der Hand des Aufsehers erblickte, mußte er ein Lächeln unterdrücken »Was kann ich für Euch tun, Aufseher?« -5 0
»Ich wollte mich erkundigen, was Ihr wohl zum Abendessen zu speisen wünscht, Master«, sagte Aufseher Linsy unterwürfig. Gedankenverloren setzte er den Reisesack im Zimmer ab. »Ach, mein guter Aufseher, das ist mir unwichtig«, sagte Master Sean. »Was immer der Oberaufseher bestimmen mag.« Aufseher Linsy lächelte. »Nett von Euch, Master.« Dann senkte er die Stimme. »Keiner von uns, wo dran glauben täte, daß Ihr es wart, Master Sean. Unsereiner weiß doch, daß ein Hexer niemanden umbringen tut. Nicht so, meine ich, nicht mit Schwarzer Magie.« »Danke für das Vertrauen, mein Junge«, sagte Master Sean wohlwollend. »Ich darf Euch versichern, daß es nicht unangebracht ist. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muß über einiges nachdenken.« »Selbstverständlich, Master Sean, selbstverständlich!« Und Aufseher Linsy schloß die Tür, betätigte sorgfältig den Schlüssel und ging weiter seinen Geschäften nach. Lord Darcys Fahrt vom Palace du Marquis zum Tower of London war nicht sonderlich ereignisreich. Die Droschke klapperte die Mark Lane hinaus, schwenkte und fuhr den Tower Hill hinunter. Am Tor von Water Lane hielt sie an. Lord Darcy stieg aus. Ein schwerer, weißlicher Nebel zog mit seinen Schwaden durch die Stäbe des hohen Eisenzauns und blieb an den Schatten der gotischen Gewölbe hängen. Von der Themse kamen, nur schwach zu hören, Glockenlaute von Schiffen herüber, die sich durch das nebelbeladene Wasser schoben. Die Luft war schal, und ein leiser Geruch von Meeresfäule zog die Wand entlang, die eine der Festungsmauern ausmachte. Lord Darcy rümpfte die Nase und schritt über die steinerne Brücke, die vom Middle Tower zu einem weiteren Turm führte. Dieser Turm war größer und von schwarzgrauer Farbe, die von vereinzelten weißen Wandsteinen unterbrochen wurde. Er schritt durch einen weiteren Torbogen, ging einen kurzen, geraden -5 1
Weg entlang und bog schließlich nach rechts ab, um St. Thomas' Tower zu betreten. Binnen weniger Minuten öffnete der Aufseher das Schloß von Master Seans Zelle. »Ruft mich, wenn Ihr wieder fort wollt, My Lord«, sagte er. Er ging hinaus und schloß die Tür von außen ab. »Nun, Master Sean«, sagte Lord Darcy mit einem humorvollen Blinken im Auge, »ich nehme doch an, daß Ihr diese idyllische Erholung von Euren anstrengenden Tätigkeiten gebührend genießt, eh?« »Hm- m- m, ja und nein, My Lord«, sagte der kleine dicke Hexer. Er winkte mit der Hand in Richtung eines einfachen kleinen Tisches, auf dem sein Reisesack lag. »Ich kann nicht behaupten, daß es mir sonderlich gefällt, eingesperrt zu sein, aber so habe ich doch Gelegenheit bekommen, herumzuexperimentieren und nachzudenken.« »Ach ja? Und worüber?« »Darüber, wie man in verschlossene Räume eindringt und sie wieder verläßt, My Lord.« »Und zu welchem Ergebnis seid Ihr gekommen, mein guter Sean?« fragte Lord Darcy. »Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß das Sicherheitssystem hier zwar gut ist, aber doch nicht gut genug. Um mich gefangenzuhalten, meine ich. Den Zauber auf diesem Schloß habe ich in ze hn Minuten geknackt.« Er hob einen kleinen, blitzenden Messingstab hoch und zwirbelte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Natürlich habe ich alles wieder versiegelt, My Lord. Es gibt schließlich keinen Grund, den Aufseher zu beunruhigen, der ganz in Ordnung ist.« »Ich sehe, daß Ihr Euren Zubehörsack schnell genug zurückbekommen habt. Na ja, man kann ja auch nicht von einem gewöhnlichen Gefängnismagier erwarten, daß er es mit -5 2
jemandem von Euren Fähigkeiten aufnimmt, Meisterhexer. Nun setzt Euch bitte und berichtet mir ausführlich, wie es dazu kommen konnte, daß Ihr in einem der ältesten Wahrzeichen von London eingekerkert wurdet. Laßt keine Einzelheiten aus.« Lord Darcy unterbrach Master Sean nicht, während dieser seine Geschichte erzählte. Er hatte schon seit Jahren mit dem kleinen Hexer zusammengearbeitet und wußte, daß Seans Gedächtnis zuverlässig und genau arbeitete. »Und dann«, beendete Master Sean seinen Bericht, »brachte mich Lord Bontriomphe hierher, unter, wie ich zugeben muß, ehrlichen Entschuldigungen seinerseits. Ich kann es allerdings überhaupt nicht begreifen, warum mich der Marquis hat einsperren lassen. Ein Mann mit seinen Fähigkeiten müßte doch eigentlich sehen können, daß ich nichts mit dem Tod von Sir James zu tun gehabt habe.« Lord Darcy zupfte etwas Tabak aus einem ledernen Beutel und stopfte ihn mit dem Daumen in den goldverzierten Porzellankopf seiner Lieblingspfeife. »Natürlich weiß er, daß Ihr unschuldig seid, mein lieber Sean«, sagte er. »My Lord Marquis ist sowohl ein Geizhals wie auch ein Faulpelz. Bontriomphe ist ein ausgezeichneter Untersuchungsbeamter, doch fehlt es ihm an der Deduktionsfähigkeit in ihrer höchsten Form. My Lord Marquis aber vermag es, aufs brillanteste zu kombinieren und Schlüsse zu ziehen, aber er ist sowohl körperlich als auch geistig recht träge. Er verläßt sein Heim nur sehr selten und niemals kriminalistischer Untersuchungen wegen. Muß er es doch tun, so bringt er es fertig, die verzwicktesten und kompliziertesten Rätsel zu lösen, ohne mehr zur Hand zu haben als Lord Bontriomphes mündliche Berichterstattung. Sein Denkvermögen ist - brillant.« Lord Darcy zündete seine Pfeife an, und hüllte sich in eine Wolke wohlduftenden Rauches. -5 3
»Wenn Ihr so etwas sagt«, sagte Master Sean, »dann ist das ein ziemlich großes Kompliment.« »Ganz und gar nicht. Es ist eine bloße Feststellung von Tatsachen. Vielleicht liegt es ja im Blut, wir sind immerhin Cousins, wie Ihr wißt.« Master Sean nickte. »Wenigstens fließt die Faulheit nicht in Eurem Blut, My Lord. Aber warum sollte er mich einsperren, wenn er faul ist?« »Faul und geizig, mein guter Sean«, berichtigte Lord Darcy den Hexer. »Beides ist dabei wichtig. Er hat bereits erkannt, daß dieser Fall viel zu kompliziert ist, um ihn den etwas dürftigen Fähigkeiten von Lord Bontriomphe anzuvertrauen.« Lord Darcy lächelte und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ihr habt gerade davon gesprochen, daß ich Seiner Lordschaft Scharfsinnigkeit ein Kompliment gemacht habe. Wenn dem so sein sollte, dann hat er, auf seine Weise, mir dasselbe Kompliment gemacht. Er ist ausgesprochen faul und sucht deshalb jemanden, der die Arbeit für ihn erledigt, und zwar jemanden, der fähig genug ist, das Problem mit der gleichen Leichtigkeit zu lösen wie er selbst, wenn er sich nur damit befassen würde. Er hat mich aus gewählt, und es schmeichelt mir, daß er wohl niemanden sonst dafür bestimmt hätte.« »Das erklärt aber noch nicht, warum er mich eingesperrt hat«, sagte Master Sean. »Er könnte Euch doch einfach um Hilfe bitten!« Lord Darcy seufzte. »Ihr habt schon wieder seinen Geiz vergessen, guter Sean. Würde er Seine Königliche Hoheit von der Normandie darum bitten, ihm für eine Weile meine Dienste zur Verfügung zu stellen, dann müßte er mein Gehalt aus seiner eigenen Börse bezahlen. Aber weil er Euch eingesperrt hat, ha t er mich meines meistgeschätzten Helfers beraubt. Er weiß, daß ich Euch nicht eine Sekunde länger in Gefangenschaft dulden werde als nötig. Er weiß, daß ich also selbst um Urlaub bitten -5 4
muß, um den Fall auf eigene Kosten zu lösen. So spart er eine hübsche Menge Geld.« »Erpressung!« sagte Master Sean. »›Erpressung‹ ist vielleicht ein etwas zu hartes Wort«, sagte Lord Darcy nachdenklich, »aber ich muß zugeben, daß es wohl kein treffenderes dafür gibt. Aber diese Angelegenheit wird noch zu ihrer Zeit erledigt werden. Jetzt müssen wir uns zunächst einmal um den Tod von Sir James kümmern. Also, wie war das mit dem Schloß an der Tür von Sir James' Zimmer?« Master Sean lehnte sich im Stuhl zurück. »Nun, My Lord, wie Ihr wißt, sind die meisten kommerziellen Zauber recht einfach konstruiert, besonders solche, bei denen man mehr als einen Schlüssel benutzen muß, wie das ja in Hotels der Fall ist.« Lord Darcy nickte geduldig. Master Sean O Lochlainn hatte die etwas schulmeisterliche Angewohnheit, seine Erklärungen so abzufassen, als gelte es, Zauberlehrlinge aufzuklären. Das war allerdings kaum verwunderlich, denn der kleine dicke Hexer hatte früher tatsächlich in einer der Schulen der Hexengilde unterrichtet und hatte auch zwei Lehrbücher und einige Abhandlungen über das Thema verfaßt. Lord Darcy hatte es sich schon lange angewöhnt, genau zuzuhören, auch dann, wenn er Teile des Vertrags bereits kannte; denn immer gab es etwas Neues zu lernen, das man später vielleicht einmal verwenden konnte. Lord Darcy besaß nicht das angeborene Talent, das es erst ermöglicht, die Gesetze der Magie direkt anzuwenden, aber man wußte ja nie, ob nicht irgendein esoterisches Informationsstückchen auch einem Kriminalinspektor einmal von Nutzen sein konnte. »Ein durchschnittlicher kommerzieller Zauber arbeitet nach dem Gesetz der Übertragung, so daß jeder Schlüssel, der das Schloß berührt, während der Zauber verhängt wird, dieses Schloß öffnen und verriegeln kann«, fuhr Master Sean fort. »Aber das bedeutet natürlich auch, daß der Zauber -5 5
vergleichsweise abgeschwächt wird. Ein normaler Nachschlüssel würde zwar nicht funktionieren, aber jeder gute Lehrling der Hexergilde könnte den Zauber brechen, wenn er einen solchen Nachschlüssel besäße. Ein Master aber könnte ihn sogar ohne Schlüssel in ein bis zwei Minuten brechen. Der persönliche Zauber eines Masters aber operiert mit dem Gesetz der Relevanz, um den gesamten Schlüssel- und-SchloßMechanismus als Einheit zusammenzubinden, also: ein Schloß, ein Schlüssel. Der Zauber wird verhängt, während sich der Schlüssel im Schloß befindet, so daß die Bindung den Schlüssel als Teil des Schlosses umfaßt, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lord. Kein anderer Schlüssel kann dann für das betreffende Schloß verwendet werden, auch wenn er dem eigentlichen Schlüssel gleicht wie ein Ei dem anderen.« »Und das Schloß von Master Sir James hatte also einen solchen Zauber, eh?« fragte Lord Darcy. »So ist es, My Lord.« »Könnte ein Master-Hexer den Zauber beseitigt haben?« Master Sean nickte. »Aye, das hätte er gekonnt, in etwa einer halben Stunde. Aber bedenkt bitte, was das bedeutet hätte, My Lord. Der Unbekannte hätte mindestens eine halbe Stunde lang im Gang stehen müssen, um das notwendige Ritual durchzuführen, möglicherweise sogar länger. Jeder, der vorbeigekommen wäre, hätte es bemerken müssen. Auf jeden Fall hätte Master Sir James es bemerkt, sofern er sich im Zimmer aufhielt. Aber nehmen wir einmal an, daß es so gewesen wäre. Nun öffnet der Unbekannte die Tür mit einem gewöhnlichen Nachschlüssel, geht hinein und tötet Sir James. So weit so gut. Danach kommt er aus dem Zimmer und verhängt einen weiteren Zauber über Schloß und Schlüssel, wobei der Schlüssel ja im Schloß stecken muß. Dazu braucht er eine weitere halbe Stunde. Und dann...« Master Sean erhob den Zeigefinger mit einer -5 6
theatralischen Geste. »Und dann - muß er den Schlüssel wieder in das Zimmer zurückbefordern!« Master Sean spreizte die Hände, mit den Handflächen nach oben. »Ich muß zu bedenken geben, das so etwas nicht möglich ist, My Lord. Nicht einmal für einen Magier.« Lord Darcy zog nachdenklich an seiner Pfeife, dann sagte er: »Ist es nicht theoretisch möglich, einen Gegenstand von einem Punkt im Raum an einen anderen Punkt zu befördern, ohne den Zwischenraum tatsächlich zu durchqueren?« »Theoretisch?« Master Sean lächelte schief. »O ja, My Lord. Theoretisch ist die Transmutation der Metalle theoretisch auch möglich. Aber niemand hat das bisher geschafft. Wenn irgend jemand die notwendigen Riten und Zeremonien entdecken würde, dann wäre das der größte wissenschaftliche Durchbruch des Zwanzigsten Jahrhunderts. So etwas könnte man nicht geheimhalten. Beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist das einfach unmöglich, My Lord. Und sollte es tatsächlich durchführbar sein, My Lord, dann würde man das bestimmt nicht für solche triviale Dinge anwenden, wie einen großen Messingschlüssel ein paar Fuß weit zu bewegen.« »Nun gut«, sagte Seine Lordschaft, »das können wir also ausschließen.« »Das Problem besteht darin«, sagte Master Sean, »daß all diese Zauber, die einen abschirmen sollen, um das Privatleben zu sichern, es so schwierig machen, seine Aufgabe zu erfüllen. Wenn es die nicht gäbe, dann wäre Euer Beruf recht einfach.« »Mein lieber Sean«, sagte Lord Darcy lächelnd, »wenn es diese Zauber zur Absicherung des Ungestörtseins nicht in jedem Hotel, Privathaus, Bürogebäude und in allen öffentlichen Gebäuden jeder Art gäbe, dann wäre mein Beruf nicht einfach, es gäbe ihn überhaupt nicht. Obwohl das Hellsehtalent sicherlich nützlich ist, führt sein Mißbrauch natürlich zu solch starker Beeinträchtigung des Privatlebens, daß wir uns davor schützen -5 7
müssen. Stellt Euch doch einmal vor, was ein Hellseher alles anrichten könnte, wenn es diese Schutzzauber nicht gäbe! Zwar könnte die Polizei jeden Fall sofort einem Hellseher unterbreiten, der ihn sofort aufklären würde; andererseits könnte aber auch jede korrupte Regierung Hellseher einsetzen, um jeden beliebigen Bürger zu bespitzeln. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten der Erpressung! Nein, wir müssen dankbar dafür sein, daß uns die modernen Schutzzauber davor bewahren, auch wenn es dadurch notwendig wird, Verbrechen auf der materiellen Ebene aufzuklären. Und auch so werde ich nie herbeigerufen, wenn auf dem Land irgend etwas passiert. Wenn jemand auf einem Feld oder im Wald ermordet wird, dann kann ein Wanderhexer für den örtlichen Wachtmeister den Fall mit Leichtigkeit aufklären, so wie er auch vermißte Kinder und entlaufene Haustiere wiederfindet. Meine Fähigkeit, Tatsachen aufgrund materiellen und thaumaturgischen Beweismaterials herauszufinden, wird vielmehr in den Großstädten, Kleinstädten und Dörfern in Anspruch genommen. Meine Aufgabe ist es, Methode, Motiv und Tatverlauf aufzuklären.« Er zog ein kleines silbernes Werkzeug mit Elfenbeingriff aus der Tasche und begann, die Asche in seiner Pfeife niederzudrücken. »Methode, Motiv und Tatverlauf«, wiederholte er nachdenklich. »Im Augenblick haben wir keine Kandidaten für die ersten beiden Fragen; was den Tatverlauf beziehungsweise die Tatgelegenheit angeht aber, haben wir viel zu viele davon.« Er steckte den Pfeifenstopfer wieder in die Tasche und nahm die Pfeife erneut in den Mund. »Normalerweise, wenn ein Fall scheinbar mit Magie zu tun hat, mein lieber Sean«, fuhr er fort, »dann kommt es vor allem darauf an, den in Frage kommend en Magier ausfindig zu machen. Ihr werdet Euch an das hochinteressante Benehmen des Lord Duncan auf Schloß D'Evereux erinnern, an die seltsamen Gewohnheiten des einarmigen Kesselflickers auf dem MichaeliFest, an den polnischen Hexer, der im Fall des Atlantischen -5 8
Fluchs eine Rolle spielte, an den fehlenden Magier in der Erpressungsaffäre von Canterbury sowie natürlich auch an die merkwürdige Affäre um Lady Overleighs Massivgoldnachttopf. In allen diesen Fällen war es immer ein einziger Hexer, der darin verwickelt war. Aber was liegt hier dagegen vor?« Lord Darcy wies mit seiner Pfeife in die ungefähre Richtung des Royal Steward Hotels. »Hier haben wir fast die Hälfte aller amtlich zugelassenen Hexer des Reichs versammelt. Darunter befinden sich ungefähr fünfundsiebzig oder achtzig Prozent der mächtigsten Magier der Erde! Wir haben es mit einer Gruppe, ja mit einer Menschenmenge von Verdächtigen zu tun, von denen jeder die Fähigkeit besitzt, gegen Master Sir James Zwinge Schwarze Magie anzuwenden, und von dene n jeder auch die Möglichkeit hatte, dies zu tun.« Nachdenklich massierte Master Sean seine runde irische Nase mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum irgendeiner von ihnen es getan haben sollte, My Lord. Jedes Mitglied der Gilde weiß doch, wie gefährlich das ist! ›Der Geisteszustand, der für den Gebrauch des Talents zum Zwecke der Schwarzen Hexerei notwendig ist, ist auch ein Geisteszustand, der denjenigen, der davon Gebrauch macht, unweigerlich zerstören wird.‹ Das ist ein Zitat aus einem der Grundlehrbücher, My Lord, und jedes grimoire sagt in etwa dasselbe. Wie könnte ein Hexer denn so dumm sein?« »Warum werden denn manche Chirurgi von Opiumdestillaten abhängig?« fragte Lord Darcy. »Ich weiß, My Lord, ich weiß«, sagte Master Sean mit etwas müder Stimme. »Ein Akt Schwarzer Magie wirkt allein nicht verheerend; er bewirkt in vielen Fällen nicht einmal einen nachweisbaren geistigen oder moralischen Wandel bei demjenigen, der ihn durchführt. Aber das entscheidende Wort dabei ist eben ›nachweisbar‹, und zwar deswegen, weil der moralische Verfall bereits eingesetzt haben muß, bevor ein -5 9
Mensch, der das Talent hat, überhaupt daran denken würde, Schwarze Magie zu praktizieren.« Obwohl es schon öfter vorgekommen war und auch noch öfter vorkommen würde, konnte sich kein Mitglied der Gilde mit dem Gedanken anfreunden, daß irgendein anderes Mitglied einen Mißbrauch seiner Kunst begehen könnte, der die Schwarze Magie bedingte. Nicht, daß sie sich davor fürchteten, sich damit auseinandersetzen zu müssen, o nein! Sie mußten sich damit auseinandersetzen, und das taten sie auch, mit entsprechender Strenge. Lord Darcy wußte genau, was einem Mitglied der Gilde widerfuhr, das schuldig befunden wurde, sein Talent zu bösen Zwecken mißbraucht zu haben. Zerstörung! Der böse Hexer, von seinem eigenen Gewissen überführt, überführt auch von einer wahren Jury seiner wahren Gleichgestellten, überführt und verurteilt von denjenigen, die seine Motive und Gründe wirklich verstehen konnten, die mit ihm sympathisieren konnten - dieser Hexer wurde dazu verurteilt, sein Talent... genommen zu bekommen... ausradiert zu bekommen... zerstört zu bekommen. Ein Exekutionskomitee wurde benannt, das aus einer Gruppe von Hexern bestand, die groß und mächtig genug waren, die Talent-Kraft des Schuldigen zu besiegen. Und wenn sie fertig waren, dann hatte der Verurteilte nichts verloren außer seinem Talent. Sein Wissen, sein Gedächtnis, seine Moral, seine geistige Gesundheit - alles blieb ihm erhalten. Aber seine Fähigkeit, Magie ausüben zu können, war verschwunden, ohne jemals wiederzukehren. »In der Zwischenzeit«, sagte Lord Darcy, »haben wir ja auch noch eigene Sorgen. Commander Ashley hat Euch meine Nachricht übermittelt?« »In der Tat, My Lord, das hat er getan.« »Ich bin untröstlich, Euch vom Kongreß wegholen zu müssen, mein guter Sean. Ich weiß, was Euch der Kongreß bedeutet. Aber das ist kein gewöhnlicher Mord, er berührt die Sicherheit des Reichs.« -6 0
»Ich weiß, My Lord«, sagte Master Sean, »Dienst ist Dienst.« Aber in seiner Stimme klang auch Trauer mit. »Ich hätte ja wirklich gern meine Arbeit vorgetragen, aber sie wird ja im Journal veröffentlicht werden, das ist ja genauso gut.« »Hm«, sagte Lord Darcy. »Wann solltet Ihr denn den Vortrag halten?« »Am Sonnabend, My Lord. Master Sir James und ich wollten ja unsere Arbeiten miteinander verbinden und sie zusammen vorstellen, aber das geht jetzt natürlich nicht mehr. Sie werden also getrennt veröffentlicht werden müssen.« »Sonnabend, ja?« sagte Lord Darcy. »Nun, wenn wir bis morgen nachmittag nach Cherbourg zurückgekehrt sein könnten, dann könnten wir die meiste Arbeit wohl innerhalb von vierundzwanzig Stunden erledigen, sagen wir also bis Freitag nachmittag. Ihr könntet das Abendboot nehmen und rechtzeitig wieder hie r sein, um Eure Arbeit und die von Master Sir James vorzustellen.« Master Seans Gesicht erhellte sich. »Das ist sehr edel von Euch, My Lord! Aber Ihr müßt mich vorher aus dieser hübschen Zelle befreien, damit wir die Angelegenheit erledigen können!« »Hah!« Lord Darcy sprang plötzlich auf. »Mein lieber Master Sean, das Problem hat sich, glaube ich, schon aufgelöst - obwohl es vielleicht ein wenig Zeit braucht, die, äh, richtigen Dinge in die Wege zu leiten. Und nun wünsche ich Euch gute Nacht, wir sehen uns morgen wieder.« Im Hof unterhalb der hohen Befestigungsmauern, die den Tower of London umgaben, wurde der Nebel immer dichter, und hinter dem Water Lane Tor schien sich die Welt in undurchdringliche Watte verwandelt zu haben. Die Gaslaternen im Hof und über dem Tor schienen ihr Licht ins Nichts auszustrahlen. -6 1
»Habt Ihr kein Fahrzeug, das auf Euch wartet, Euer Lordschaft?« fragte der Aufseher vom Dienst, der zusammen mit Lord Darcy auf der Treppe stand. »Nein«, gab Lord Darcy zu, »ich habe eine Mietdroschke genommen. Ich muß gestehen, daß ich nicht auf den Wetterbericht geachtet habe. Wie lange wird der Nebel noch andauern?« »Dem Oberhexer des Wetterbüros zufolge, Euer Lordschaft, wird er sich nicht vor fünf nach fünf am Morgen auflösen. Er wird sich in einen leichten Nieselregen verwandeln, und um zwölf nach sechs wird es sich wieder aufklären.« »Na ja, ich kann jedenfalls nicht bis zum Sonnenaufgang hier stehenbleiben«, sagte Lord Darcy mißmutig. »Ich werde den Mann am Tor eine Mietdroschke für Euch herbeip feifen lassen, Euer Lordschaft, es ist ja noch recht früh. Ihr könnt ja im äußeren...« Er hörte auf zu reden. Irgendwo aus dem Nebel, der Water Lane erstickte, kam das Geräusch von klappernden Hufen und rollenden Rädern und wurde immer lauter. »Das könnte eine Mietdroschke sein, Euer Lordschaft!« Mit befehlender Vorgesetztenstimme bellte er: »Aufseher Jason? Gebt dieser Droschke ein Signal!« »Jawohl, Sergeant!« ertönte eine vom Nebel gedämpfte Stimme vom Tor her, der sofort das schrille Biep! Biep! Biep! einer Droschkenpfeife folgte. »Ich fürchte, wir werden enttäuscht werden, Sergeant«, sagte Lord Darcy. »Eure Ohren sollten Euch sagen, daß das nahende Gefährt ein Zweispänner ist. Folglich handelt es sich um eine private Stadtkutsche und nicht um eine öffentliche Mietdroschke. Es gibt keinen einzigen Mietkutscher in ganz London, der so verschwenderisch wäre, zwei Pferde zu benutzen, wenn es ein einziges auch tut.« -6 2
Der Sergeant-Aufseher horchte auf das Geräusch. »Hm. Habt wohl recht, Euer Lordschaft. Klingt wo hl doch wie ein Zweispänner, wenn man genauer hinhört. Aber trotzdem...« »Es sind zwei gut trainierte Pferde«, sagte Seine Lordschaft. »Sie laufen fast im Gleichschritt. Aber da nun einmal zwei Hufe das Straßenpflaster nicht im selben Augenblick berühren können, gibt es einen kleinen Hall, den das geübte Ohr mühelos erkennen kann.« Das Biepen der Pfeife hatte aufgehört. Offenbar hatte der Aufseher gemerkt, daß es sich bei dem nahenden Gefährt nicht um eine Mietdroschke handelte. Dennoch konnte man hören, wie die Kutsche ihre Fahrt verlangsamte und vor dem Tor zum halten kam. Einen Augenblick später knallten die Zügel, und die Pferde setzten sich wieder in Bewegung. Die Kutsche machte eine Wendung und fuhr durch das Tor hindurch. Plötzlich kam sie aus dem Nebel hervor, als ob sie sich mit einem Mal aus diesem selbst gebildet und verfestigt hätte. Immer noch umrißhaft im matten Licht der Gaslaternen wahrnehmbar, kam sie einige Yards entfernt am Bordstein zum Stehen. Dann rief eine Stimme recht deutlich aus dem Gefährt: »Lord Darcy! Seid Ihr es?« Es war ganz klar eine weibliche Stimme, die Lord Darcy auch bekannt vorkam, doch wegen des dämpfenden Nebels und der Klangverzerrung des Kutscheninneren konnte er sie nicht sofort erkennen. Er wußte, daß seine eigenen Zü ge aus der Entfernung recht deutlich zu erkennen waren, da er unmittelbar unter einer Gaslaterne stand. »My Lady, Ihr habt mir voraus, daß Ihr mich erkennt«, sagte er. Er hörte ein leises Lachen. »Wollt Ihr etwa sagen, daß Ihr keine Wappenschilder mehr lesen könnt?« -6 3
Lord Darcy hatte bereits bemerkt, daß die Tür des Gefährts mit einem Wappenschild geschmückt war, doch war es unmöglich, bei dieser Beleuchtung Einzelheiten auszumachen. Dies war jedoch nicht mehr nötig, denn mittlerweile hatte er die Stimme wiedererkannt. »Selbst das blitzende Wappen von Cumberland kann in dieser Londoner Erbsensuppe bis zur Unkenntlichkeit gedämpft werden, My Lady«, sagte Lord Darcy, während er auf das Gefährt zuschritt. »Euer Gnaden sollte nicht nur die übliche Beleuchtung und Nebellampen führen, wenn Ihr Wert darauf legt, daß Euer Wappen in einer solchen Nacht erkannt wird.« Er konnte sie jetzt deutlich sehen. Das schöne Gesicht und die Wolke goldenen Haares wurden nur schwach vom Schatten und vom Nebel gedämpft. »Ich bin allein«, sagte sie sehr sanft. »Hallo, Mary«, sagte Lord Darcy ebenso sanft. »Was zum Teufel machst du hier?« »Ich bin gekommen, um dich abzuholen, was denn sonst«, sagte Mary, Herzoginwitwe von Cumberland. »Du hast deine Mietdroschke fortgeschickt, weil du nicht an den kommenden Nebel gedacht hast, jetzt bist du also festgenagelt. Auf dieser Seite von St. Paul's kann man keine Droschke mehr bekommen. Steig ein, mein Lieber, und laß uns dieses traurige Gefängnis verlassen.« Lord Darcy wandte sich dem Sergeant-Aufseher zu, der immer noch unter der Gaslaterne stand. »Ich danke Euch für eure Bemühungen, Sergeant. Ich brauche keine Mietdroschke mehr. Ihre Hoheit hat mir freundlicherweise angeboten, mich mitzunehmen.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft. Gute Nacht, Euer Lordschaft. Gute Nacht, Euer Gnaden.« -6 4
Sie wünschten ihm ebenfalls eine gute Nacht. Darcy stieg in die Kutsche, Ihre Hoheit gab dem Kutscher ein Zeichen, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Die Herzogin ließ die Blenden herab und drehte die Lampe an der Decke des Kutscheninneren höher, so daß sich die beiden Passagiere besser erkennen konnten. »Du siehst gut aus, mein Lieber«, sagte sie. »Und du bist so schön wie immer«, antwortete Lord Darcy. In seinen Augen glitzerte ein spöttisches Licht, das Ihre Hoheit von Cumberland nicht ganz begreifen konnte. »Und wo willst du nun hin?« fragte sie und versuchte, diesem Blick mit ihren eigenen, erstaunlich dunkelblauen Augen zu begegnen. »Wohin du nur magst, meine Süße. Wir können ja für eine Weile einfach durch London fahren, so lange wie du dazu brauchst, mir die wichtige Information zu geben, die sich auf den Mord an Master Sir James Zwinge heute morgen bezieht.« Ihre Augen weiteten sich. Einen Augenblick lang sagte sie gar nichts. Dann: »Verdammt! Woher weißt du das?« »Das habe ich geschlußfolgert.« »Quatsch!« »Aber nein! Du hast doch einen scharfsinnigen Verstand, meine Liebe. Du solltest doch meine Gedankengänge nachvollziehen können.« Wiederum herrschte Schweigen, dieses Mal fast eine ganze Minute lang, während Mary De Cumberland Lord Darcy ohne mit den Lidern zu blinzeln ins Gesicht sah, wobei ihr Gehirn im Eiltempo arbeitete. Dann schüttelte sie abrupt den Kopf. »Du hast irgendeine Information, die ich nicht habe.« »Das glaube ich nicht. Außer, daß ich vielleic ht besser weiß, wie dein Gehirn arbeitet, als du. Meine Liebe, du hast die köstliche Angewohnheit, einem Mann das Gefühl zu vermitteln, -6 5
daß er dir fürchterlich wichtig ist - selbst wenn du dafür ein paar kleine Lügen erzählen mußt.« Sie lächelte. »Du bist mir wichtig, Liebling. Außerdem sind kleine Lügen in der Diplomatie und im guten Benehmen recht nützlich und notwendig, daran ist schließlich nichts Schlimmes. Und was, bitte schön, hat das mit deinen angeblichen Schlußfolgerungen zu tun?« »Meine Liebe, das war unter deinem Niveau. Du weißt, daß ich niemals behaupte, irgendwelche geistigen Fähigkeiten zu besitzen, wenn es nicht stimmt.« Seine Stimme klang scharf. Sie lächelte reumütig und berührte seinen Arm mit einer Hand. »Ich weiß. Entschuldigung. Bitte erkläre es doch!« Lord Darcy lächelte wieder. Er legte seine Hand auf die ihre. »Entschuldigung angenommen. Die Erklärung? Ganz einfach, wie folgt: Du hast behauptet, daß du mich am Tower abholen wolltest. Nun weiß ich aber, daß außer mir selbst, den Aufsehern vom Tower, Master Sean und zwei anderen Leuten niemand wußte, wo ich mich befand, es sei denn, er hätte es mit thaumaturgischen Mitteln herausgefunden. Keiner sonst wußte überhaupt, daß ich gerade in London war. Du bist eine Hexe, das ist wahr, aber nur im Rang einer Wanderhexe, und wir wissen beide, daß deine präkognitiven Fähigkeiten nur durchschnittlich sind. Du hättest vielleicht folgern können, daß ich sofort herbeigeeilt bin, sobald ich von Master Seans Festnahme gehört hatte, aber du konntest unmöglich wissen, wann ich genau den Tower verlassen würde. Ergo war deine Ankunft ein Zufall. Als du jedoch mit deiner Kutsche auf das Tor zukamst, hast du den Aufseher gehört, wie er nach einer Droschke pfiff. Deshalb hättest du jedoch nicht anhalten lassen; du bist angehalten, um dich dem Aufseher gegenüber auszuweisen, damit du in den Hof einfahren konntest. Dein Ziel muß also der Tower selbst gewesen sein, sonst hättest du das -6 6
Pfeifen nicht beachtet und wärst vorbeigefahren. Dann kamst du in den Hof. Du hast mich erblickt, und schon der Tonfall deiner Stimme zeigte mir, daß du mich nicht dort erwartet hast. Deine Kombinationsgabe ist überdurchschnittlich hoch, aber es brauchte nicht gerade einen Gehirnriesen, um zu folgern, daß ich es war der wohl die Mietdroschke benötigte. Du weißt, daß ich normalerweise nicht fahrlässig bin; also war dir klar, daß ich erst vor kurzem in London eingetroffen war und die Nebelvorhersage im Courier nicht gelesen haben konnte, folglich auch meine Mietdroschke entlassen hatte. Deshalb hast du diese schmeichelhafte und völlig erlogene kleine Geschichte erzählt, nämlich, daß du mich abholen wolltest.« Ihr Lachen war sanft und kehlig. »Es war keine Lüge, die dich täuschen sollte.« »Ich weiß. Du wolltest, daß ich vor Erstaunen den Mund aufsperre und sage: ›Oh! Woher wußtest du denn, daß ich hier bin? Bist du etwa eine Seherin geworden?‹ Dann hättest du gelächelt und weise dreingeschaut und gesagt: ›Ach weißt du, ich habe so meine Methoden! ‹« Sie lachte erneut. »Ihr kennt mich einfach zu gut, My Lord! Aber was hat all das damit zu tun, daß du wußtest, daß ich Informationen über den Tod von Master Sir James habe?« »Kommen wir auf den Zufall zurück, der dich zum Tower gebracht hat«, sagte Lord Darcy. »Wenn du nicht meinetwegen gekommen bist, warum dann? Es mußte wichtig sein, sonst wärst du nicht in einer solch nebligen Nacht ausgefahren. Und doch bittest du mich sofort, nachdem du mich erblickt hast, einzusteigen und fährst mit mir weg. Was immer du auch im Tower wolltest, kannst du also mit mir erledigen, nicht wahr? Offenbar bist du also gekommen, um Master Sean etwas mitzuteilen, aber nichts rein persönliches. Ergo - » Er lächelte und ließ die Folgerung ungesagt.
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»Eines Tages«, sagte die Herzoginwitwe von Cumberland, »werde ich es ge lernt haben, nicht zu versuchen, dich in deinem eigenen Spiel zu schlagen.« »Aber nicht allzubald, hoffe ich doch!« sagte Lord Darcy. »Nur wenige Leute beiderlei Geschlechts geben sich die Mühe, ihren Intellekt anzustrengen. Es ist recht erfrischend, eine Frau zu kennen, die das tut.« »O weh!« Sie gab ihrer Stimme einen Klang von gespielter Trauer. »Er liebt mich nur wegen meines Intellekts!« »Mens sana in corpore sano, meine Liebe! Aber kommen wir auf die Information zurück, die du für mich hast.« »Nun gut«, sagte sie, plötzlich sehr nachdenklich dreinblickend. »Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat oder nicht, aber ich will es dir sagen, dann kannst du das selbst entscheiden.« Lord Darcy nickte. »Nur zu.« »Es war etwas, was ich gesehen und gehört habe«, sagte Mary De Cumberland. »Heute morgen um sieben vor acht, ich habe mir die Zeit so gut gemerkt, weil ich um viertel nach acht eine Verabredung zum Frühstück hatte, habe ich mein Hotelzimmer verlassen.« Sie hörte auf zu reden und sah ihm gerade in die Augen. »Ich habe das Zimmer direkt gegenüber dem von Master Sir James, am anderen Ende der Halle. Wußtest du das?« »Ja.« »Sehr gut. Ich öffnete also die Tür. Ich hörte eine Stimme durch die gegenüberliegende Tür dringen. Wie du weißt, sind die Türen im Ro yal Steward sehr dick, eine gewöhnliche Unterhaltung hätte man nicht hören können. Aber es war die Stimme einer Frau, nicht sehr hoch, aber recht laut und recht durchdringend. Was sie sagte, war sehr deutlich zu hören. Sie sagte...« -6 8
»Warte!« Lord Darcy hob eine Hand und unterbrach sie. »Kannst du die Worte genau wiedergeben, Mary?« »Ja, das kann ich«, sagte die Herzogin mit Bestimmtheit. »Sie sagte: ›Bei Gott, Sir James! Ihr verurteilt ihn zum Tode! Ich warne Euch! Wenn er stirbt, sterbt Ihr auch!‹« Ein Schweigen trat ein, das nur vom Klappern der Hufe und vom sanften Gleiten pneumatischer Reifen auf der Straße durchbrochen wurde. »Und die Betonung war genau die gleiche, wie du sie jetzt wiedergegeben hast? Sie klang tatsächlich sowohl wütend als auch ängstlich?« »Eher wütend als ängstlich, aber es war mit Sicherheit auch Angst dabei.« »Sehr gut. Was dann?« »Dann war ein sehr schwaches Geräusch zu hören, als ob jemand in einem etwas normaleren Tonfall redete. Es war kaum zu hören und schon gar nicht zu verstehen oder zu erkennen.« »Könnte das Sir James gewesen sein?« »Das ist möglich. Es könnte aber auch irgend jemand anders gewesen sein. Zu der Zeit nahm ich natürlich an, daß es tatsächlich Sir James war, aber es hätte auch irgend jemand anders sein können, wie gesagt.« »Oder auch niemand?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein. Nein, außer ihr befand sich noch jemand im Zimmer.« »Woher weißt du das?« »Weil in dem Moment die Tür aufflog und das Mädchen herausstürmte. Sie knallte die Tür hinter sich zu und ging die Halle entlang, ohne mich überhaupt wahrzunehmen - das heißt, wenn sie es doch getan hat, hat sie es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Dann schob jemand, wer immer es nun auch gewesen sein mag, den Schlüssel ins Schloß und verriegelte die Tür. Natürlich hatte ich nicht vorgehabt, Zeugin einer solchen
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Szene zu werden. Ich beachtete die Angelegenheit nicht weiter und ging nach unten zum Frühstück.« »Wer war das Mädchen?« fragte Lord Darcy. »Soweit ich weiß, habe ich sie noch nie gesehen«, sagte die Herzogin, »und es war auf jeden Fall ein Mädchen, das man nicht so schnell vergißt. Sie ist recht winzig von Gestalt, keine fünf Fuß groß, aber von vollkommener Form, eine wahrhaft schöne Erscheinung. Ihr Haar ist rabenschwarz und ziemlich lang, es war hinten mit einem Silberring zusammengebunden, so wirkte es wie eine Art Pferdeschwanz. Ihr Gesicht war ebenso schön wie der Rest, mit elfengleichen Augen und einem recht sinnlichen Mund. Sie trug das Kostüm eines Lehrlings, blau mit einem weißen Band am Ärmel, und das ist etwas merkwürdig, denn Lehrlinge dürfen nur mit besonderer Einladung am Kongreß teilnehmen, wie du weißt, und solche Einladungen sind sehr selten.« »Es ist noch merkwürdiger«, sagte Lord Darcy nachdenklich, »daß ein Lehrling in einem solchen Ton mit einem Meister der Kunst redet.« »Ja, das stimmt«, sagte Ihre Hoheit. »Aber, wie ich schon sagte, ich dachte mir zu der Zeit nichts weiter dabei. Aber nachdem Master Sean festgenommen wurde, fiel mir der Vorfall wieder ein. Den Rest des Morgens und den ganzen Nachmittag über habe ich versucht, so viel wie möglich über sie herauszufinden.« »Und doch erschien es dir nicht wichtig genug, es entweder Lord Bontriomphe oder dem Obersten Wachtmeister zu erzählen?« fragte Lord Darcy ruhig. »Wichtig? Natürlich dachte ich, daß es wichtig wäre. Das meine ich immer noch. Aber - es den Wachmännern erzählen? Wozu, mein Lieber? Zum einen hatte ich keine echte Information, denn da kannte ich noch nicht einmal ihren Namen. Zweitens geschah das ganze eineinhalb Stunden, bevor der -7 0
Mord tatsächlich stattfand. Drittens, wenn ich entweder Bontriomphe oder Chief Hennely davon berichtet hätte, dann hätten sie die ganze Angelegenheit nur dadurch verpfuscht, daß sie sie festgenommen hätten, und sie hätten genausowenig gegen sie in der Hand gehabt wie gegen Master Sean.« »Und viertens«, fügte Lord Darcy hinzu, »hältst du dich für eine Detektivin. Aber weiter, was hast du herausgefunden?« »Nicht viel«, gab sie zu. »Ihren Namen fand ich recht schnell im Teilnehmerregister des Kongresses. Es war einfach, sie war der einzige weibliche Lehrling, der dort aufgeführt war. Der Name lautet Tia Einzig.« »Einzig?« Lord Darcy hob eine Augenbraue. »Auf jeden Fall deutschstämmig. Möglicherweise preußisch, was sie natürlich zu einer polnischen Untertanin machen würde.« »Der Name mag preußisch sein, sie selbst aber nicht«, sagte Ihre Hoheit. »Sie ist, oder vielmehr sie war eine Untertanin Seiner Slavischen Majestät. Sie kommt aus einem kleinen Ort östlich der Donau, ein paar hundert Meilen von der Adriaküste entfernt, eine von diesen Kleinstädten, deren Namen sechzehn Buchstaben enthält, wovon nur drei Vokale sind. K-D-J-Airgendwas. 1961 ging sie ins Großherzogtum Venetien und lebte ungefähr ein Jahr lang in Belluno. Dann hielt sie sich einige Monate in Milano auf, schließlich in Torino. 1963 kam sie nach Frankreich und lebte in Grenoble. Das alles kam letztes Jahr raus, als Raymond ihr Fall vorgelegt wurde.« »Raymond?« »Seine Hoheit, der Herzog von Dauphine«, erklärte Mary De Cumberland. »Ein Aus lieferungsgesuch mußte natürlich von ihm persönlich bearbeitet werden.« »Natürlich.« Das sardonische Glitzern war wieder in Lord Darcys Augen zurückgekehrt, die nun gefährlich funkelten. »Mary.« »Ja?« -7 1
»Ich nehme zurück, was ich darüber gesagt habe, daß du eine Frau seist, die ihren Intellekt gebraucht. Der rationale Geist sortiert seine Daten und berichtet sie in einer logischen Reihenfolge. Ich höre zum ersten Male etwas von einem Auslieferungsgesuch.« »Oh.« Sie blinkte ihn mit ihrem Lächeln an. »Es tut mir leid, mein Lieber, ich...« Er unterbrach sie. »Darf ich zunächst einmal fragen, woher du diese Informationen hast? Du bist doch bestimmt nicht heute nachmittag bei deinem alten Freund Dauphine reingeplatzt und hast ihn gebeten, dich doch freundlicherweise einmal in die Gerichtsberichte des Herzogtums Dauphine blicken zu lassen.« »Woher weißt du, daß er ein alter Freund ist?« fragte die Herzogin. »Ich kann mich nicht daran erinnern, es dir jemals erzählt zu haben.« »Hast du auch nicht. Du bist keine Frau, die mit den Namen ihrer einflußreichen Bekannten hausieren geht. Genausowenig würdest du allerdings auch einen Reichsgouverneur beim Vornamen nennen, wenn ihr nicht eng miteinander befreundet wärt. Aber das spielt ja jetzt wirklich keine Rolle. Ich wiederhole: Woher hast du diese Informationen über Tia Einzig?« »Father Dominique. Der Hochwürdige Father Dominique ap Tewdwr, O.S.B., der der Sensitive Beauftragte der kirchlichen Kommission war, die vom Erzbischof eingesetzt wurde, um die Persönlichkeit der Tia Einzig zu durchleuchten. Seine Hoheit der Herzog bat um diese Kommission, damit die Vorwürfe untersucht würden, die gegen sie in Belluno, Milano und Torino erhoben wurden, die Anklagen, die zu dem Auslieferungsgesuch führten. Sie sollte am Ort vor Gericht gestellt werden.« »Was waren das für Anklagen?« »In allen drei Fällen dieselben. Ausübung von Hexerei ohne amtliche Zulassung und...« -7 2
»Und?« »Und Schwarze Magie.«
Teil 2 Carlyle House befindet sich schon im Besitz der Herzöge von Cumberland, seit es erbaut wurde, obwohl man häufig und fälschlich annimmt, daß es zum Erbe des Marquisats von Carlisle gehört; dies beruht jedoch auf einer Verwechslung durch diejenigen, die nicht wissen, daß sich diese Namen zwar ähnlich aussprechen, aber unterschiedlich geschrieben werden. Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, ehemalige Herzogingemahlin, geborene Lady Mary De Beaufort, war die zweite Ehefrau des verwitweten Herzogs von Cumberland gewesen. Als sie heirateten, war der Herzog bereits in seinen Sechzigern, Mary Anfang zwanzig. Doch hatte niemand daran wie an eine Heirat zwischen Mai und Dezember gedacht, nicht einmal der Sohn des Herzogs aus erster Ehe. Obwohl der alte Herzog nur entfernt mit der Königlichen Familie verwandt war, besaß er die für die Plantagenets typische Vitalität, das gute Aussehen und die Langlebigkeit. Sein goldblondes Haar war mit den Jahren bleicher geworden, und sein Gesicht zeigte auch schon die tiefen Furchen des Alters, doch trotzdem war er immer noch jedem zwanzig Jahre jüngeren Mann ebenbürtig, und er sah auch so aus und benahm sich nicht anders. Doch selbst ein starker und kräftiger Mann kann einmal einen Reitunfall haben, und Seine verstorbene Hoheit war darin keine Ausnahme. Mary, die ihren Mann nicht nur wegen seiner jugendlichen Vitalität, sondern auch wegen seiner reifen Weisheit geliebt hatte, war eine Witwe, bevor sie dreißig geworden war. Ihr Stiefsohn Edwin, der nach dem Tode seines -7 3
Vaters, nach Bestätigung durch Seine Majestät zum gegenwärtigen Herzog von Cumberland gemacht wurde, war ein ziemlich langweiliger Mensch. Als Reichsgouverneur war er äußerst kompetent, doch fehlte ihm der Plantagenet-Funken, wie ihn sein Vater immerhin gehabt hatte, sehr verdünnt zwar, aber doch wahrnehmbar. Er mochte seine Stiefmutter, die nur sechs Monate jünger als er war, aber er verstand sie nicht. Ihre Lebendigkeit, ihre Geistesgegenwart und Schnelligkeit im Denken und vor allem ihr Talent waren ihm fremd. Man hatte sich arrangiert. De Cumberland übernahm das Herzogtum und verblieb in Carlisle; seine Stiefmutter bekam Carlyle House auf Lebenszeit. Das war alles, was Seine Hoheit für eine Stiefmutter tun konnte, die er zwar liebte, aber nicht im geringsten verstand. Als Lord Darcy und die Herzogin durch die Haupteingangstür von Carlyle House schritten, murmelte der Seneschall, der ihnen die Tür aufhielt, »Guten Abend, Euer Gnaden, Euer Lordschaft«, und schloß die Tür schnell wieder hinter ihnen, um die grauen Nebelfinger zurückzuhalten, die so aussahen, als wollten sie in die hell erleuchtete Halle hineingreifen. »Guten Abend, Geffri«, sagte Ihre Hoheit und drehte sich, damit ihr der Seneschall aus dem Mantel helfen konnte. »Wo sind denn alle?« »My Lords die Bischöfe von Winchester und Carlisle haben sich zurückgezogen, Euer Gnaden. Die Benediktinerpatres sind in St. Paul's, um mit dem Kapitel die Verspergesänge zu singen. Sie waren so freundlich, mir Nachricht zukommen zu lassen, daß sie wegen des Nebels die Nacht im Kapitelhaus ihrer Brüder verbringen werden. Sir Lyon Grey wird heute nacht in seinem Zimmer im Royal Steward bleiben. Master Sean O Lochlainn hat eine Nachricht überbringen lassen, daß er zeitweilig verhindert sei.« »Verhindert!« Die Herzogin lachte. »Das will ich meinen! Er wird die Nacht im Tower of London verbringen, Geffri.« -7 4
»Das wurde mir auch gesagt, Euer Gnaden«, sagte der unerschütterliche Seneschall. »Sir Thomas Leseaux«, fuhr er fort, während er Lord Darcys Mantel nahm, »ist im Salon. My Lord John Quetzal befindet sich oben und legt gerade seine Abendgarderobe an, er müßte bald wieder herunterkommen. Die Auswahl warmer Gerichte, die Euer Gnaden zu bestellen beliebten, wurde aufs Büffet gestellt.« »Ich danke Euch, Geffri. Oh... Ich habe die Kutsche zum Place du Marquis geschickt, um Lord Darcys Gepäck zu holen. Wir wollen mal sehen... wo können wir My Lord unterbringen?« »Ich würde die Liliensuite vorschlagen, Euer Gnaden. Sie liegt neben der Rosensuite und besitzt eine Verbindungstür, was von Nutzen sein kann, wenn Master Seans Sachen dorthin verlegt werden, sofern Euer Lordschaft dies recht und bequem sein sollte.« »Ausgezeichnet, Geffri«, sagte Lord Darcy. »Wenn mein Gepäck nach oben gebracht worden ist, dann gebt mir doch bitte Bescheid, ja? Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich zu erfrischen, seit ich angekommen bin.« »Ich werde dafür Sorge tragen, daß Euer Lordschaft sofort verständigt werden.« »Sehr gut. Danke, Geffri.« »Es ist mir eine Freude, Euer Lordschaft.« »Komm, My Lord«, sagte die Herzogin und nahm seinen Arm, »wir gehen hinein und werden mit Sir Thomas einen Drink nehmen, um die Nebelkälte aus unseren Knochen zu vertreiben.« Während die beiden auf den Salon zuschritten, fragte Lord Darcy: »Wer sind denn deine Benediktinergäste?« »Der ältere ist ein Father Quinn aus dem Norden Irlands.« »Father Quinn?« sagte Lord Darcy und überlegte. »Ich glaube, ich kenne ihn nicht. Wer ist denn der andere?« -7 5
»Ein Father Patrick von Cherbourg«, sagte Ihre Hoheit. »Ein bemerkenswerter Sensitiver und Heiler. Du solltest ihn kennenlernen.« »Father Patrick und ich sind uns schon begegnet«, sagte Lord Darcy, »und ich muß deiner Einschätzung zustimmen. Es wird mir eine Freude sein, ihn wiederzusehen.« Sie betraten den großen, hohen Raum, der sowohl als Salon wie auch als Speisezimmer diente. Am anderen Ende saß ein großer, magerer Mann mit bleic hen Gesichtszügen und hellbraunem Haar, das gerade nach hinten gekämmt war und eine breite, hohe Stirn freigab. Er saß in einem großen Sessel, streckte die Beine aus, um sich die Füße am prasselnden Kaminfeuer zu wärmen, und hielt ein teilweise gefülltes Glas in der Hand. Als er seine Gastgeberin und Lord Darcy erblickte, stand er auf. »Guten Abend, Euer Gnaden. Lord Darcy! Wie schön, Euch wiederzusehen!« Sein gewinnendes Lächeln schien seine blaugrauen Augen funkeln zu lassen. Lord Darcy nahm die ausgestreckte Hand und sagte: »Wir schön, Euch wiederzusehen, Sir Thomas! Ihr seht immer noch genauso gesund und kräftig aus wie stets.« »Für einen Gelehrten jedenfalls, meint Ihr doch wohl«, sagte Sir Thomas mit einem Kichern. »Hier, darf ich so frei sein, Euch einen Schluck von dem exzellenten Brandy unserer liebenswürdigen Gastgeberin anzubieten?« »Das dürft Ihr in der Tat«, sagte die Herzogin lächelnd. »Ich fühle mich, als säße der Nebel noch in jedem Rückenwirbel.« Sir Thomas schritt auf das Büfett zu und zog mit mageren, gelenkigen Fingern den Stöpsel aus der Brandy-Karaffe. Während er die klare rotbraune Flüssigkeit in zwei dünnwandige Brandy-Schwenker goß, sagte er: »Ich war mir ziemlich sicher, daß Ihr herkommen würdet, sobald Ihr von Master Seans -7 6
Verhaftung erfahren hättet, aber daß es so schnell gehen würde, das habe ich nicht erwartet.« Lord Darcys Lächeln war ein wenig ironisch. »My Lord De London war so gütig, mit einen Sonderbotschafter über den Kanal zu schicken, um mir die Nachricht mitteilen zu lassen. So konnte ich mich beeilen und gute Bahn- und Bootsverbindungen bekommen.« Sir Thomas verteilte die Brandys. »Habt Ihr vor, diesen Mordfall mit Eurem scharfen Verstand aufzuklären, um Master Sean zu entlasten?« Lord Darcy lachte. »Weit gefehlt! My Lord Marquis sähe das zwar recht gern, aber ich werde ihn enttäuschen. Der Fall ist natürlich interessant, aber ich habe meine Aufgabe in der Normandie. Unter uns gesagt - und ich bitte darum, es bis übermorgen nicht lautwerden zu lassen - , ich habe vor, Master Sean freizubekommen, indem ich meinem Cousin De London ein kleines Dilemma beschere. Deswegen habe ich Fakten gesammelt, um ihn zu zwingen, Master Sean freizulassen. Dann werden wir beide in die Normandie zurückkehren.« Mary De Cumberland sah ihn mit einem Ausdruck an, der sowohl Überraschung als auch Verletzung offenbarte. »Du kehrst zurück und nimmst Master Sean mit? So bald schon? Darf er nicht einmal bis zum Ende des Kongresses hierbleiben?« »Ich fürchte nein«, sagte Lord Darcy. Er verriet etwas Reue und Schuldgefühl. »Wir haben einen eigenen Mord aufzuklären, Sean und ich. Ich darf keine Einzelheiten preisgeben, und ich muß außerdem zugeben, daß der Fall weder so aufsehenerregend noch so... äh... berüchtigt ist wie dieser hier, aber Dienst bleibt Dienst. Aber wenn sich die Angelegenheit schnell erledigen läßt, kann er natürlich vor Ende der Woche zurück sein.« »Aber was ist mit seinem Vortrag?« beharrte die Herzogin. -7 7
»Wenn es irgend möglich ist«, versprach Lord Darcy, »dann sorge ich dafür, daß er Sams tag zurück ist, um seinen Vortrag halten zu können. Schließlich ist das ein Teil seiner Pflichten als Hexer.« «Und Ihr schiebt den Fall wieder Lord Bontriomphe zurück, eh?« fragte Sir Thomas. »Das brauche ich gar nicht«, sagte Lord Darcy leise lachend, »denn ich habe ihn ja gar nicht erst angenommen. Es ist sein Fall, und ich wünsche ihm viel Glück damit. Er und der Marquis sind durchaus in der Lage, ihn zu lösen, da besteht kein Grund zur Sorge.« »Ohne die Hilfe eines Gerichtshexers?« fragte Sir Thomas. »Sie werden schon zurechtkommen«, sagte Lord Darcy. »Der selige Sir James Zwinge war nicht der einzige fähige Gerichtshexer in London. Außerdem ist es ja wohl offensichtlich, daß My Lord Marquis scheinbar keinen Wert auf die Hilfe eines Gerichtshexers legt. Sobald der zweitbeste ermordet wurde, hat er den besten einsperren lassen. Das ist nicht gerade das Tun eines Mannes, der unbedingt erstklassige thaumaturgische Beratung haben will.« Während die anderen leise lachten, nippte Lord Darcy an seinem Brandy. Am anderen Ende des Raumes ging eine Tür auf. »Guten Abend, Euer Gnaden, guten Abend, Gentlemen«, sagte eine warme, dunkle Stimme. »Ich bitte vielmals um Verzeihung. Habe ich Euch unterbrochen?« Lord Darcy hatte sich auch umgedreht. Der Neuankömmling war ein gutaussehender, junger Mann in Scharlach- und goldfarbener Abendgarderobe; seine Gesichtszüge verrieten den Mechicaner. Dies war also Lord John Quetzal du Montessuma De Mechicoe. -7 8
»Aber mitnichten, My Lord«, sagte die Herzogin, »wir haben Euch erwartet. Tretet ein und erlaubt mir, Euch meinen neuen Gast vorzustellen.« Die Vorstellung geschah in aller Form, und Lord John Quetzals Augen leuchteten auf, als er Lord Darcys Namen hörte. »Es ist mir eine große Freude, Euch kennenzulernen, My Lord«, sagte er, »obwohl ich natürlich die Umstände bedauere, die Euch hierher führen. Ich glaube nicht einen Augenblick daran, daß Master Sean schuldig sein sollte.« »Danke, My Lord«, antwortete Lord Darcy. »Und ich danke Euch auch im Namen von Master Sean.« Dann fügte er glatt hinzu: »Es war mir überhaupt nicht klar, daß Master Seans Unschuld so durchsichtig ist, daß sie nach solch kurzer Bekanntschaft so überzeugend wirkt.« Der Mechicaner sah recht verlegen aus. »Nun, das ist es nicht gerade. Durchsichtig? Nein, ich würde nicht sagen, daß Master Sean in irgendeiner Form durchsichtig ist. Es ist... äh - « Er stockte verwirrt. »My Lord John Quetzals Bescheidenheit gereicht ihm zur Ehre«, warf die Herzogin sanft ein. »Er besitzt das Talent in einem Ausmaß, wie es selbst bei Hexern selten vorkommt. Er ist ein Hexen-Riecher.« »Ach, tatsächlich?« Lord Darcy betrachtete den jungen Mann mit vermehrtem Interesse. »Ich muß gestehen, daß ich noch niemals einem Hexer mit dieser Fähigkeit begegnet bin. Ihr könnt also einen Schwarzmagier auch auf große Entfernung ausmachen?« Lord John Quetzal nickte. »Jawohl, My Lord.« Er blickte so verlegen drein wie ein halbwüchsiger Junge, dem eine schöne Frau gesagt hat, daß er gut aussehe.
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Sir Thomas kicherte. »Natürlich mußte er sofort merken, daß Master Sean nichts mit Schwarzer Magie zu tun hat, Lord Darcy. Einem Hexen-Riecher muß so etwas ja sofort auffallen.« Er richtete sein Lächeln auf Lord John Quetzal. »Wenn wir einmal etwas freie Zeit haben, würde ich gerne mit Euch über die Theorie reden und hören, wie es mit den praktischen Ergebnissen aussieht.« »Das... das wäre mir eine Ehre und eine Freude, Sir Thomas«, sagte der junge Adlige. Seine Stimme klang ehrfurchtsvoll. »Aber... aber symbolologische Theorie ist nicht eben meine Stärke. Mathematik ist eher meine Schwäche.« Sir Thomas lachte. »Keine Bange, My Lord. Ich verspreche Euch, Euch nicht mit Analogieformeln einzudecken. Um Gottes Willen, das wäre ja Arbeit! Wenn ich mich nicht gerade in meiner Bibliothek befinde, vermeide ich schwere Gedankenarbeit, so gut ich nur kann!« Das war nicht wahr, wie Lord Darcy wußte; Sir Thomas wollte den jungen Mann nur beruhigen. Obwohl er den Rang eines Doktors der Thaumaturgie innehatte, war Sir Thomas Leseaux kein praktizierender Hexer. Er hatte nicht viel vom Talent in sich. Er war ein theoretischer Thaumaturge, der mit den höheren und esoterischeren Formen der subjektiven Algebra arbeitete und es anderen überließ, seine Theorien in der Praxis zu überprüfen. Sein scharfer Verstand war fähig, symbolologische Beziehungen zu erfassen, die ein gewöhnlicher Hexer nur vage erahnen konnte. Es gab nur wenige Doktoren der Thaumaturgie, die dazu in der Lage waren, seine abstrusen und komplizierten Symbolanalogien bis in die letzten Schlußfolgerungen zu begreifen; die wenigsten Meister konnten mehr als die anfänglichen Analogien und Ähnlichkeiten verstehen, meistens gaben sie danach schnell auf. Sir Thomas wußte sehr wohl, daß ein bloßer Wanderhexer seinen mathematischen Höhenflügen nicht zu folgen vermochte. -8 0
Andererseits genoß er es aber auch, sich mit praktizierenden Magiern über die Kunst zu unterhalten. »Darf ich Euch eine Frage stellen, My Lord?« fragte Lord Darcy nachdenklich. »Obwohl ich nicht offiziell mit der Aufklärung des Mordes an Sir James Zwinge betraut bin, besitzt ein Mann meines Berufs ein gewisses Maß an professioneller Neugierde. Ich möchte Euch also eine eher berufliche Frage stellen und - « er lächelte, »wenn es Euch beliebt, könnt Ihr mir ja eine Rechnung über geleistete Dienste zuschicken, wenn Ihr sie beantwortet.« Lord John Quetzal erwiderte das Lächeln. »Wenn die Frage verlangt, daß ich einen Zauber invoziere, dann werde ich Euch ganz gewiß eine Rechnung zuschicken, natürlich zum Normaltarif eines Wanderhexers. Es nicht zu tun hieße, mich mit der Gilde anlegen zu müssen. Aber wenn Ihr nur einen fachmännischen Rat benötigt, dann stehe ich Euch gern zu Diensten.« »Dann überlasse ich es Euch«, sagte Lord Darcy. »Die Frage lautet: Habt Ihr unter den Mitgliedern des Kongresses einen Schwarzmagier entdeckt?« Plötzlich trat ein Schweigen ein, das so wirkte, als sei die Zeit einen Augenblick stehengeblieben. Sowohl Sir Thomas als auch die Herzogin hielten den Atem an und warteten auf die Antwort des jungen mechicanischen Adligen. Doch Lord John Quetzal zögerte nur kurz. Als er sprach, war seine Stimme fest und klar. »My Lord, es ist mein Anliegen, unter der Aufsicht eines Masters Justizhexerei zu studieren. Ich habe im Rahmen meiner Ausbildung auch Gesetzesvollstreckung und Kriminalaufklärung studiert. Darf ich Eure Frage mit einer eigenen erwidern?« »Aber gewiß doch«, versicherte Lord Darcy. Bevor er fortfuhr, preßte Lord John Quetzal gedankenschwer seine Lippen fest zusammen. Dann sagte er: »Nehmen wir -8 1
einmal an, daß Ihr durch den Gebrauch Eurer Fähigkeiten wüßtet, daß ein bestimmter Mensch ein Verbrecher ist, daß er ein bestimmtes Verbrechen begangen hat. Nehmen wir aber weiterhin an, daß es, von Eurem eigenen Wissen abgesehen, keinerlei Beweise dafür gibt. Meine Gegenfrage lautet: Würdet Ihr ihn anzeigen?« »Nein«, sagte Lord Darcy, ohne zu zögern. »Ihr habt Euren Standpunkt gut klargemacht. Es ist unsinnig, jemanden anzuzeigen, ohne Beweise zu haben. Aber wenn man den Ermittlungsbehörden einen Hinweis gibt, nur damit sie das fehlende Beweismaterial vielleicht leichter finden, das ist doch wohl nicht dasselbe wie eine Anzeige?« »Vielleicht nicht«, sagte der junge Hexer langsam. »Ich werde gewiß über Eure Worte als Ratschlag nachdenken. Aber im Augenblick habe ich das Gefühl, daß mein Wort allein nicht einmal eine n solchen Schritt rechtfertigen würde.« »Das bleibt natürlich Eure Entscheidung«, sagte Lord Darcy ruhig. »Aber beachtet bitte den Umstand, daß, wenn es allgemein bekannt ist, daß Ihr das Talent eines Hexen-Riechers habt, und daß, wenn dies beispielsweise jemandem bekannt ist, dessen nacktes Leben vielleicht von Eurem Schweigen abhängt daß Ihr dann also vorsichtig sein solltet, um nicht für immer zum Schweigen gebracht zu werden.« Bevor Lord John Quetzal antworten konnte, wurde die Tür zur Halle geöffnet, und Geffri erschien. »Ich bitte Euer Gnaden, mein Eintreten zu verzeihen, aber ich hatte den Auftrag, Seiner Lordschaft Bescheid zu geben, sobald Seiner Lordschaft Gepäck in die Liliensuite gebracht worden ist.« »O ja, danke, Geffri«, sagte Lord Darcy. »Ich glaube, ich werde auch meine Abendgarderobe anlegen«, sagte Ihre Hoheit. »Gentlemen, Ihr entschuldigt mich? Und laßt -8 2
Euch durch mein Fehlen nicht vom Abendessen abhalten. Ich bitte, sich am Büfett zu bedienen.« Fünfzehn Minuten später fühlte sich Lord Darcy, gebadet und frisch rasiert, wesentlich menschlicher als die Stunden zuvor. Er warf einen letzten Blick in den Standspiegel an der Schlafzimmerwand der Liliensuite. Er rückte die silbernen Rüschen an Hals und Armgelenken zurecht, schnippte einen fast mikroskopisch kleinen Staubfleck von der Korallenseide seines Rocks und stellte fest, daß er bereit war, sich der Gesellschaft in besserer Laune zu stellen als der, in der er sie verlassen hatte. Unten stand die Tür zum Salon offen, und Lord Darcy konnte Sir Thomas Leseaux' Stimme vernehmen. »Die Tatsache, daß Sir James tot ist, bleibt bestehen.« »Hätte es nicht Selbstmord sein können, Sir Thomas?« fragte Lord John Quetzal. »Oder ein Unfall?« Es blieb einfach nicht aus, dachte Lord Darcy. Große und brillante Männer und Frauen, deren Unterhaltung gewöhnlich um Meinungen, Ideen, Weltanschauungen, Kunst und so weiter kreiste, vermieden normalerweise jeglichen Klatsch oder Sportnachrichten oder auch Verbrechen als Konversationsthemen. Aber wenn man ihnen einen Mord vorsetzte keinen gewöhnlichen Tod in einem Kneipenhandgemenge, keinen Raubmord, kein Töten aus schäbiger Eifersucht, nicht mal einen noch schäbigeren Sexualmord, sondern einen unerklärlichen Tod unter geheimnisvollen Umständen - wenn man ihnen ein hübsches, deftiges Mordrätsel vorsetzte, dann konnten sie über nichts anderes mehr reden! Es war keine halbe Stunde her gewesen, da hatte Sir Thomas Leseaux gesagt, daß er sich mit Lord John Quetzal über die Theorie der Magie unterhalten wolle, besonders über das HexenRiechen; jetzt aber sagte er: »Unfall? Selbstmord? Das weiß ich
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natürlich nicht, aber die Behörden scheinen ja wohl von einem Mordfall auszugehen.« »Aber warum? Ich meine, was für einen Grund sollte irgend jemand haben, Master Sir James Zwinge umzubringen? Was ist das Motiv?« »Eine sehr gute Frage«, sagte Lord Darcy, als er den Salon betrat. Nur die beiden Männer waren anwesend. Offensichtlich war die Herzogin noch nicht mit dem Umkleiden fertig. »Als reine Gedankenübung habe ich auch schon darüber nachgedacht. Aber ich will niemanden unterbrechen. Unterhaltet Euch ruhig weiter, Gentlemen, während ich mich um die Leckereien auf dem Büfett kümmere!« »Lord John Quetzal«, sagte Sir Thomas, »scheint Schwierigkeiten zu haben, ein Motiv für den Mord zu finden.« Lord Darcy betrachtete die Reihe Kupferschalen. Unter jeder einzelnen flackerte ein helles Alkoholflämmchen. Er hob den Deckel der ersten Schüssel. »Ah, Schinken!« sagte er. »Sehr gut, Sir Thomas. Wie steht es mit dem Motiv? Wer könnte ein Interesse daran haben, ihn tot zu wissen?« Er legte eine Scheibe Schinken auf seinen Teller und deckte die nächste Schüssel ab. Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich kenne niemanden«, sagte er langsam. »Er konnte ja manchmal etwas bissig sein, aber er hätte nie jemandem wehgetan, glaube ich.« Darcy löffelte etwas heiße Kirschsauce auf seinen Schinken. »Ihr wißt von keinen Morddrohungen? Kein Streit mit irgend jemandem?« »Ihr meint abgesehen von seinem sogenannten Streit mit Master Sean? Doch, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein, daß es da so etwas gab. Master Ewen MacAlister sagte vor ungefähr einem Monat ein paar recht bittere Dinge über ihn. -8 4
Master Ewen hatte einen Antrag gestellt, bei den Marineforschungsbehörden angenommen zu werden, und Sir James, der wohl einige Beziehungen zur Marineforschung hatte, hatte davon abgeraten, Master Ewen einzustellen.« »Ein Rachemotiv also?« Lord Darcy goß sich eine gute Portion roten Bordeaux ein und setzte sich mit seinem Tablett auf einen Stuhl, von dem aus er beiden ins Gesicht blicken konnte. »Ich habe zwar nie selbst das Vergnügen gehabt, Master Ewen kennenzulernen, aber wenn ich dem Glauben schenken darf, was mir Master Sean erzählt, dürfte dieses Vergnügen auch höchst zweifelhafter Natur sein. Ist er ein Mann, der aus Rache morden würde?« «Ich... weiß... nicht«, erklärte Sir Thomas langsam. »Ich kann mir zwar vorstellen, daß er jemanden töten würde, um sich selbst zu schützen, aber ich zweifle daran, daß er es tun würde, nachdem ihm der andere bereits Schaden zugefügt hat.« Lord Darcy beschloß, am nächsten Morgen Lord Bontriomphe davon zu erzählen. Es könnte seinen Untersuchungen möglicherweise dienen. »Noch jemand?« fragte Darcy, während er auf seinen Teller herabblickte. »Nein«, sagte Sir Thomas nach einem Augenblick des Nachdenkens, »niemand, von dem ich wüßte, My Lord.« »Kennt Ihr eine Demoiselle Tia Einzig?« fragte Darcy genauso ruhig wie zuvor. Sir Thomas verlor sein Lächeln. Einige Sekunden verstrichen, bis er sagte: »Ich kenne sie, jawohl, My Lord. Warum?« »Es sieht so aus, als klage man sie der Schwarzen Magie an, und es sieht auch so aus, als sei Sir James durch Schwarze Magie ums Leben gekommen.« Sir Thomas' normalerweise recht bleiche Gesichtszüge verdunkelten sich. »Ich bitte Euch, My Lord! Wollt Ihr sie damit des Mordes an Sir James anklagen?« -8 5
»Anklagen? Ganz und gar nicht, Sir Thomas. Ich möchte nur auf einen möglichen Zusammenhang hinweisen.« »Nun, das ist ausgeschlossen! Völlig ausgeschlossen, versteht Ihr? Tia ist genausowenig eine Schwarzmagierin, wie Ihr es seid. Ich dulde es nicht, daß Ihr solche Andeutungen macht, hört Ihr?« »Bitte beruhigt Euch doch, Sir Thomas«, sagte Darcy sanft. »Immer mit der Ruhe! Beherrscht Eure Gefühle! Erzählt Euch selbst einen Witz oder so etwas - oder denkt an eine erfrische nde Formel, ja?« Die dunkle Gesichtsfarbe verschwand zwar, doch vermochte es Sir Thomas nicht, mit einem Lächeln zu reagieren. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, My Lord. Ich... ich weiß kaum, was ich sagen soll. Ich bin... ich bin nicht mehr ich selbst. Es ist ein... ein etwas heikles Thema, My Lord.« »Schwamm drüber, Sir Thomas. Ich wollte Euch nicht inkommodieren, aber ich bin auch nicht beleidigt. Ein Mord ist immer ein etwas delikates Thema, besonders wenn einem die Sache so nahe gehen kann, wie es jetzt eben wohl der Fall war. Vielleicht sollten wir das Gesprächsthema wechseln.« »Aber nein, bitte! Nicht meinetwegen, ich bitte Euch! « »Mein lieber Sir Thomas, ich bestehe darauf! Den ganzen Abend schon wollte ich Lord John Quetzal Fragen über Mechicoe stellen, und Ihr habt mir den allerbesten Vorwand dafür geliefert, es nun zu tun. Mord ist mein Geschäft, aber wenn ich nicht damit beauftragt bin, einen bestimmten Fall aufzuklären, dann verliert die Sache an Reiz. Also - My Lord, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt, so ging das erste anglo-französische Schiff, es waren wohl mehrere, nicht wahr? im Jahre 1569 vor der Küste Mechicoes vor Anker. Die Expeditionsmitglieder waren die ersten Europäer, mit denen Eure Vorfahren in Kontakt gerieten. Was war denn eigentlich
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der Grund für die geradezu abergläubische Ehrfurcht, mit der man den Europäern damals begegnete?« »Ach, My Lord, das ist eine recht interessante Angelegenheit« sagte der junge Mann voller Eifer. »Dazu muß ich zunächst etwas über die Legende oder den Mythos von Quetzalcoatl erzählen...« Die ersten Minuten des Gesprächs waren zwar noch von einer etwas gequälten Atmosphäre gekennzeichnet, aber der Erzähleifer des jungen Mechicaners war so echt und ungekünstelt, daß sowohl Lord Darcy als auch Sir Thomas bald völlig von dem Thema gefangengenommen wurden. Die Unterhaltung war noch voll im Gange, als die Herzoginwitwe eintrat, und alle vier diskutierten noch eine volle Stunde lang die Geschichte Mechicoes. Lord Darcy kam sehr spät ins Bett und schlief erst noch viel später ein. Lord Darcys Vorhaben, die Finger von dem Fall Zwinge zu lassen und dem Marquis von London statt dessen zu erlauben - oder, richtiger, ihn dazu zu zwingen - seine eigenen Fähigkeiten in diesem Fall unter Beweis zu stellen, stand absolut fest. Er hatte nicht vor, darin verwickelt zu werden, und wenn das bedeutete, daß er seine eigene angeborene Neugier zügeln mußte, so wollte er die Zügel eben recht eng halten. Es war ein Glück, daß er nicht dazu gezwungen wurde, denn seine Neugierde war in der Lage, einen recht beachtlichen eigenwilligen Druck zu entwickeln. Aber jeder Vorsatz, egal wie fest er auch sein mag, kann durch veränderte Umstände umgewandelt, verneint, zunichte gemacht werden; die Umstände aber sollten sich am nächsten Morgen sehr drastisch ändern. An diesem Morgen lag Lord Darcy schläfrig im Bett, noch im Halbschlaf, mit umherwandernden Gedanken. Da klopfte es leise an seiner Schlafzimmertür. »Ja?« sagte er, ohne die Augen zu öffnen.
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»Euer Kaffee, My Lord, wie Ihr angeordnet habt«, sagte eine leise Stimme. »Stellt ihn im Wohnzimmer ab«, sagte Lord Darcy schläfrig. »Ich stehe gleich auf.« Aber das tat er nicht. Er glitt wieder hinüber in das Land des Schlafes. Er hörte nicht, wie sich die Schlafzimmertür öffnete; er hörte nicht die leisen Schritte, die den dicken Teppich überquerten, der zwischen der Tür und seinem Bett lag. Plötzlich berührte jemand seine Schulter. Abrupt öffnete er die Augen und war sofort wach. »Mary!« Die Herzoginwitwe verneigte sich. »Zu Diensten, My Lord. Soll ich Euer Lordschaft den Kaffee reichen?« Lord Darcy setzte sich auf. »Prima! Eine Herzogin als Serviermädchen! Wunderbar! Jawohl, jawohl, bringt sofort den Kaffee herbei! Aber ein bißchen plötzlich, Euer Gnaden!« Er lachte still in sich hinein, als die Herzogin das Zimmer wieder verließ. »Ach, und ehe ich's vergesse«, rief er ihr nach, »seid doch so gut und gebt My Lord Marquis Bescheid, daß er meine Stiefel putzen soll!« Sie kehrte lächelnd wieder und schob einen Teewagen vor sich her, auf dem sich eine silberne Kaffeekanne, ein Löffel und eine einzelne Kaffeetasse mit Untertasse befanden. »Eure Stiefel sind bereits geputzt, My Lord«, sagte sie in immer noch unterwürfigem Ton. »Ich nahm mir die Freiheit heraus, My Lord, Euer Lordschaft Kleidung bürsten und bügeln zu lassen. Sie wurde im Wohnzimmer in den Kleiderschrank gehängt.« Sie goß ihm seinen Kaffee ein. »Ach ja?« sagte Lord Darcy und langte nach seiner Tasse. »Das hat wohl alles ein Bischof erledigt, nehme ich an?« »My Lord Bischof«, sagte die Herzogin, »war leider in einer anderen, wichtigeren Angelegenheit verhindert. Doch ist seine -8 8
Majestät der König bereit, Euer Lordschaft bei Ihrer morgendlichen Rundfahrt zu assistieren.« Lord Darcy hielt plötzlich inne. Die Tasse hatte noch nicht seine Lippen berührt. Kleine Scherze waren ja völlig in Ordnung, doch gab es auch gewisse Grenzen. Man machte keine Witze über Seine Hoheit den König. Aber in diesem Augenblick erkannte Lord Darcy, daß er wohl doch noch nicht ganz wach gewesen war, wie er gedacht hatte. Er nahm einen Schluck Kaffee und setzte die Tasse erst wieder ab, bevor er sprach. »Wer ist denn Seiner Majestät Bote?« fragte er ruhig. »Er wartet draußen in der Halle. Soll ich ihn hereinführen?« »Ja. Das heißt, Moment! Wie spät ist es denn überhaupt?« »Gerade sieben.« »Bitte ihn, ein oder zwei Minuten zu warten. Ich ziehe mich erst an. Bring mir meine Kleider!« Sieben Minuten und ein paar Sekunden später öffnete Lord Darcy in voller, ihm angemessener Morgentracht die Tür seines Wohnzimmers. Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, war nirgendwo zu erblicken. Ein kurzer, magerer, melancholisch dreinblickender Mann saß auf einem der Stühle. Als er Lord Darcy erblickte, stand er höflich auf, den eckigen Kutscherhut in den Händen. »Lord Darcy?« «Ebendie ser. Und Ihr?« Der kleine Mann nahm ein silbernes Abzeichen aus seinem Hut, in welches das königliche Wappen eingraviert war. An seiner Spitze war ein polierter, aber nicht facettierter Stein eingelassen, der wie ein viertelzoll langes Stück durchsichtiges graues Glas aussah. »Bote des Königs, My Lord«, sagte der Mann. Er schob seinen Daumen vor und berührte den Stein. Der Stein hörte sofort auf, ein Klumpen stumpfen, grauen Glases zu -8 9
sein. Er strahlte im Licht wie ein Rubin. Es gab keinen Zweifel: Der Stein war magisch mit einem Mann verbunden worden, und zwar nur mit einem einzigen Mann allein - mit dem Mann nämlich, dessen Berührung ihn rot aufleuchten lassen konnte. Ein königliches Abzeichen konnte natürlich gestohlen werden, aber kein Dieb konnte dem grauen schäbigen Stein den roten Glanz verleihen. Der geniale Sir Edward Eimer, Th.D., hatte vor mehr als dreißig Jahren diesen Zauber entwickelt, und niemand hatte es bisher geschafft, ihn aufzulösen. Es war der perfekte Ausweis für Persönliche Agenten Seiner Meistgefürchteten und Souveränen Majestät John IV. Der selige Sir Edward war Großmeister der Hexergilde gewesen, und man war sich allgemein darüber einig, daß er als Hexer sogar noch über Sir Lyon Gandolphus Grey gestanden hatte. »Gut«, sagte Lord Darcy. Er fragte den Mann nicht nach seinem Namen; ein Bote des Königs blieb immer anonym. »Und die Botschaft?« Der Bote verneigte sich. »Ihr sollt mich begleiten, My Lord. Auf Wunsch Seiner Majestät.« »Ich verstehe. Gibt es irgendwelche Einwände dagegen, daß ich bewaffnet komme?« Ein breites Lächeln überzog das Gesicht des Königlichen Boten. »Wenn ich so sagen darf, My Lord, das wäre sogar ausgesprochen nützlich und angebracht. Seine Majestät gab mir eine weitere Botschaft, die ich nur übermitteln sollte, falls Euer Lordschaft diese Frage zu stellen belieben sollten. Eine Botschaft, die mit den eigenen Worten Seiner Majestät übermittelt werden soll, My Lord. Ihr erlaubt?« »Fahrt fort«, sagte Lord Darcy. Der Bote schloß die Augen und konzentrierte sich einen Auge nblick lang. Als er sprach, war seine Stimme kultiviert und klar; es war nichts vom Akzent des Londoners der unteren Mittelklasse darin. Auch die Stimmlage -9 0
und die Intonation hat sich verändert. Es war die Stimme des Königs. »Mein lieber Darcy! Als wir uns das letzte Mal trafen, kamt ihr bewaffnet. Ich erwarte von einem Mann Eures Kalibers nicht, daß Ihr das nächste Mal darauf verzichtet. Die Angelegenheit ist äußerst dringend. Kommt, so schnell es möglich ist.« Lord Darcy unterdrückte ein Verlangen, sich zu verneigen und zu sagen: »Sofort, Sire.« Der Bote war schließlich nur ein Werkzeug. Er war völlig vertrauenswürdig, sonst würde er nicht das silberne Abzeichen tragen; auch seine gewöhnlichen Botschaften mußten befolgt werden. Doch wenn er eine Botschaft in Seiner Majestät eigener Stimme überbrachte, dann wußte selbst er, der Bote, nicht, was er sagte. Wenn er sich selbst den Schlüsselzauber zumurmelte, dann wurde die Botschaft in der Königlichen Stimme vermittelt. Der Bote konnte sich weder vor noch nach Übermittlung der Botschaft daran erinnern. Er hatte sich willentlich der Aufzeichnung dieser Botschaft gefügt, und er fügte sich auch willentlich ihrer Übermittlung und Auslöschung. Kein Hexer der Welt konnte ihm die Botschaft nach ihrer Übermittlung entreißen, denn sie existierte nicht mehr in seinem Geiste. Man konnte sie natürlich vor der Übermittlung in Erfahrung bringen, aber nicht von einem Königlichen Boten. Jeder Versuch, einem Königlichen Boten eine solche Botschaft zu entreißen, endete, wenn es unbefugt geschah, mit dem sofortigen Tod des Boten, etwas, was dem Boten durchaus klar war, und was er auch als Teil seines Dienstes an König und Reich voll in Kauf nahm. Einen Augenblick später öffnete der Bote des Königs die Augen und sagte: »Alles in Ordnung, Euer Lordschaft?« »Ausgezeichnet, guter Mann. Seid Ihr ein guter Kutscher?« »Der beste in ganz London, My Lord, auch wenn ich es selbst sage, was sich natürlich nicht schickt!« -9 1
»Exzellent! Wir müssen sofort aufbrechen!« Während der Fahrt dachte Lord Darcy über die Worte des Königs nach. Als er den Boten befragt hatte, ob er bewaffnet oder unbewaffnet kommen sollte, war das eine Frage gewesen, wie sie jeder Beamte Seiner Majestät Justiz gestellt haben könnte. Lord Darcy hatte keinerlei Ahnung gehabt, daß ihn der Bote tatsächlich in Seiner Majestät Gegenwart führen würde; er hatte die Frage nach der Bewaffnung ausschließlich im Interesse seiner amtlichen Pflichten gestellt. Und nun fand er sich, als Ergebnis einer einfachen, harmlosen Frage, unter der Handvoll Männer, die als einzige das Recht hatten, in Seiner Majestät Gegenwart Waffen tragen zu dürfen. Üblicherweise durften nur die Großen Lords der Regierung in der Königlichen Gegenwart Waffen tragen, und auch diese nur Schwerter. So weit er wußte, war Lord Darcy die einzige Person in der Geschichte, der es gestattet war - was so gut wie ein Befehl war - vor Seiner Majestät mit einer Pistole zu erscheinen. Es war eine außergewöhnliche, eine einzigartige Ehre, und Lord Darcy war sich voll darüber im klaren. Doch lenkten ihn diese Gedanken nicht sehr lange ab; im Augenblick war es viel wichtiger, warum ihm der König diese Botschaft hatte zukommen lassen. Warum sollte sich Seine Majestät für einen Mord interessieren, der, obwohl manches an ihm etwas merkwürdig anmuten mochte, schließlich doch nur gewöhnlicher Art war? Oberflächlich betrachtet schien er zumindest nichts mit Staatsangelegenheiten zu tun zu haben. Aber... Plötzlich schlug sich Lord Darcy mit der Handfläche an die Stirn. »Narr!« sagte er in scharfem Ton zu sich selbst. »Blödmann! Schwachsinniger! Idiot! Cherbourg natürlich!« Das kam davon, dachte er bei sich, wenn er es zuließ, seine Gefühle von Master Seans Bitten ablenken zu lassen, anstatt sie voll unter Kontrolle zu haben, um das Problem zu lösen. Sobald sich ein kompetentes Hirn damit befaßte, war die ganze Angelegenheit -9 2
sonnenklar. So war Lord Darcy nunmehr auch nicht im mindesten erstaunt, daß er, nachdem die Kutsche durch die Tore von Westminster Palace gefahren war und von den Wachen, die sie sofort erkannten, durchgewunken worden war, einen MarineOffizier erblickte, der in der Uniform eines Commanders im Hof auf ihn wartete. Es hätte ihn vielmehr gewundert, wenn er nicht dort gewesen wäre. Der Commander öffnete die Kutschentür und sagte, nachdem Lord Darcy ausgestiegen war: »Lord Darcy? Ich bin Commander Lord Ashley und stehe zu Euren Diensten, My Lord.« »Ganz meinerseits, My Lord«, sagte Lord Darcy. »Eure Gegenwart hier bestätigt meinen Verdacht.« »Verdacht?« Der Commander sah bestürzt aus. »Daß man davon ausgeht, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Mord eines gewissen Georges Barbour in Cherbourg vor zwei Tagen und dem gestrigen Mord von Master Sir James Zwinge im Royal Steward gibt. Wenigstens vermutet der Marinesicherheitsdienst einen solchen Zusammenhang.« »Wir sind uns sehr sicher, daß es da einen Zusammenhang gibt«, sagte Lord Ashley. »Würdet Ihr mir bitte hier entlang folgen? Es ist ein sofortiges Treffen in Queen Anettes Empfangssalon anberaumt worden. Durch die Tür, dann durch die Halle zur Treppe - aber vielleicht nehme ich mir zuviel Freiheiten heraus, My Lord? Seid Ihr mit dem Inneren des Palastes vertraut?« »My Lord, ich habe mir eine Aufgabe gestellt, nämlich die Grundrisse der großen Paläste und Schlösser des Empire zu studieren. Queen Anettes Empfangssalon befindet sich genau über der Kapelle von St. Edward dem Bekennenden. In diesem Salon wurde im Jahre 1891 der Vertrag von Kepenhavn revidiert und unterzeichnet, die Kapelle wurde im Jahre 1633 während der Regentschaft von Edward VII konsekriert. Der Weg führt -9 3
also die Treppe hoch, dann nach links, durch die Halle, durch die Gaskogner-Tür, dann rechts, die fünfte Tür auf der rechten Seite, leicht dadurch zu erkennen, daß sie immer noch das goldene und vielfarbene Wappen der Anette von Flandern trägt, der Gemahlin von Harold II.« Lord Darcy bedachte Lord Ashley mit einem breiten Lächeln. »Aber um Eure Frage so zu beantworten, wie Ihr sie gemeint habt: Nein, ich bin noch nie in Westminster Palace gewesen.« Der Commander erwiderte sein Lächeln. »Ich auch nicht.« Er lachte still vor sich hin. »Wenn ich es mal so ausdrücken darf: Ich bin ein wenig verwirrt davon, plötzlich eine solch dünne, hohe Luft zu atmen. Zwei Männer, die ich niemals zuvor gesehen habe, werden plötzlich umgelegt - etwas, was in der Geheimdienstarbeit leider nur zu oft geschieht - , und plötzlich wird das, was zunächst wie ein Routinemord ausgesehen hat, zu einer Staatsaffäre.« Er sprach etwas leiser. »Seine Majestät wird dem Treffen persönlich beiwohnen.« Sie schritten die Treppe hoch und bogen nach links, auf die Gaskogner-Tür zu. »Habt Ihr eine Theorie?« fragte Lord Darcy. »Wer sie umgebracht hat? Polnische Agenten natürlich«, sagte der Commander. »Aber wenn Ihr mit Eurer Frage meint, ob ich eine Vermutung habe, wer diese Agenten sein könnten nein, die habe ich nicht. Wißt Ihr, es könnte eigentlich irgend jemand sein. Ein kleiner Krämer oder Händler oder etwas Ähnliches. Irgendeinem ganz gewöhnlichen Mann wird eines Tages von seinen polnischen Vorgesetzten gesagt: ›Begib dich dort-und-dort- hin, dort wirst du den-und-den vorfinden. Töte ihn!‹ Das tut er, und eine Stunde später geht er bereits wieder seinen gewöhnlichen Geschäften nach. Keine Verbindung -9 4
zwischen ihm und dem Ermordeten, kein Motiv, das den Mörder mit seinem Opfer zu verbinden scheint. Nicht die geringste Spur.« Sie gingen durch die Tür und wendeten sich nach rechts. »Ich nehme an«, sagte Lord Darcy lächelnd, »daß Euer Pessimismus nicht vom gesamten Marinegeheimdienst geteilt wird?« »Nun, ich glaube leider«, sagte der Commander in einem etwas defensiven Ton, »daß das wohl doch der Fall ist. Wenn man die Mörder finden kann - um so besser. Aber das ist dann eher eine Begleiterscheinung der eigentlichen Arbeit, versteht Ihr?« »Also nimmt die Marine an, daß etwas viel Gefährlicheres als die beiden Morde im Gange ist?« Die beiden Männer hielten vor der Tür mit dem goldenen und vielfarbenen Wappen, das den Empfangssalon der Queen Anette kennzeichnete. »Ja, das nehmen wir an. Der König ist wegen der Angelege nheit äußerst konsterniert. Er wird Euch alle weiteren notwendigen Informationen geben.« Lord Ashley öffnete die verzierte Tür, und die beiden Männer traten ein. Lord Darcy erkannte die drei Männer an dem langen Tisch sofort, obwohl er nur einem von ihnen zuvor einmal begegnet war. Lord Bontriomphe sah so gelöst und umgänglich aus wie immer. Der aufrechte, silberbärtige Mann mit den stechenden Augen und der beeindruckenden Hakennase konnte nur Sir Lyon Grey sein, obwohl er gewöhnliche Morgenkleidung trug und nicht das formelle Blaßblau und Silber des Meisterhexers. Der dritte Mann besaß ein sehr bemerkenswertes und hervorstechendes Gesicht. Er schien Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig zu sein, obwohl sein dunkles, lockiges, leicht unordentliches Haar nur wenige dünne graue Strähnen aufwies, -9 5
die man außerdem nur bei näherem Hinsehen bemerken konnte. Seine Stirn war steil und uneben; sie verlieh dem Kopf ein etwas gemeißelt wirkendes Aussehen. Seine Augen saßen tief unter dicken, buschigen Augenbrauen und besaßen schwere Lider, seine Nase war zwar auch so groß wie die von Sir Lyon, doch während dessen Nase dünn und fast messerscharf war, wirkte sie dagegen, als ob sie mindestens einmal gebrochen worden und ohne Zuhilfenahme eines Heilers verheilt war: breit und leicht verdreht. Sein Mund war breit und hatte gerade Lippen, und der Schnäuzer darüber war dicht und buschig, die Haare gingen an den Enden auseinander und strebten einzeln in die Höhe wie die Schnurrbarthaare einer Katze. Sein Kinnbart war voll, aber ziemlich kurz gestutzt und ebenso drahtig und kraus wie sein Kopfhaar, der Schnäuzer und die Augenbrauen. Auf den ersten Blick konnte man den Eindruck gewinnen, daß dieser Mann durch abweisende Skrupellosigkeit und mitleidloses Durchsetzungsvermögen gekennzeichnet war; erst bei näherem Hinsehen wurde offenbar, daß diese Eigenschaften durch Weisheit und Humor abgemildert wurden. Es war das Gesicht eines Mannes mit enormen inneren Kräften, der diese weise und richtig anzuwenden verstand. Lord Darcy hatte diesen Mann schon beschrieben bekommen. Seine Uniform in Königsblau, die schwer mit Gold besetzt war, offenbarte ihn schließlich als Peter de Valera ap Smith, Lord Hochadmiral der Reichsmarine, Commander der Vereinigten Flotten, Ritter und Kommandeur des Ordens vom Goldenen Leoparden und Stabschef der Marinekriegsführung. Hinter dem Lord Hochadmiral stand ein vierter, etwa gleichaltriger Mann, dessen Haar allerdings schon recht grau war und dessen Gesichtszüge derart durchschnittlich waren, daß sie im Vergleich zur Bedeutungslosigkeit verblaßten. Lord Darcy erkannte ihn nicht, aber seine Uniform wies ihn als Marinekapitän aus, was darauf hinwies, daß er wohl mit dem Marinegeheimdienst zu tun hatte. Als Commander Lord Ashley -9 6
die üblichen Vorstellungen durchführte, fand sich Lord Darcy in seinen Vermutungen bestätigt, auch was den letzten Mann anging; es war Captain Percy Smollett, Chef des Marinegeheimdienstes (Abteilung Europa). Lord Darcy bemerkte, daß von den drei Marinern nur der Lord Hochadmiral sein Paradeschwert trug; er allein war von den dreien dazu berechtigt, damit vor den König zu treten. Plötzlich fühlte Lord Darcy sehr deutlich die Pistole an seiner rechten Hüfte, auch wenn diese durch sein Morgenjackett verborgen wurde. Nachdem die Vorstellungen gerade beendet waren, wurde plötzlich die Tür geöffnet, und ein Mann in der Livree eines Majordomus des Königlichen Haushalts trat ein. »My Lords und Gentlemen«, sagte er mit fester Stimme. »Seine Majestät der König!« Die sechs Männer sprangen auf. Als der König eintrat, verneigten sie sich, anstatt niederzuknien. Dies war eine hübsche Feinheit der Etikette, die oft mißverstanden wurde. Seine Majestät trug die Uniform des Oberbefehlshabers der Reichsmarine. Hätte er vollen Ornat getragen, oder auch nur gewöhnliche Straßenkleidung, so wäre ein Niederknien angebracht gewesen; doch in militärischer Uniform war er in der Rolle eines Offiziers - des allerhöchsten aller Offiziere zwar, doch immerhin eines Offiziers, und kein Offizier wurde mit Niederknien begrüßt. »My Lords und Gentlemen, bitte sich zu setzen«, sagte Seine Majestät. John IV, von Gottes Gnaden König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Wächter des Glaubens et cetera, war das vollkommenste Modell eines Plantage net-Königs. Groß, breitschultrig, blauäugig und stattlich blond, war John of England ein direkter Nachkomme von Henry II, dem ersten König der Plantagenet-Linie, denn er -9 7
war der Sohn von Henrys Enkel King Arthur. Wie sein Vorfahr zeigte auch King John IV all die Kraft, Fähigkeit und Weisheit, die für die älteste in Europa herrschende Familie so charakteristisch war. Lediglich körperlich ähnelte er den Mitgliedern des wilden, labilen, verschwendungssüchtigen Seitenzweigs der Familie (der mittlerweile glücklicherweise ausgestorben war), der von dem jüngsten Sohn von Henry II abstammte, dem unglückseligen Johann Ohneland, der drei Jahre vor dem Tod von König Richard Löwenherz im Jahre 1219 im Exil gestorben war. Der König nahm am Kopfende des Tisches Platz. Zu seiner Linken saßen in der angemessenen Rangfolge der Lord Hochadmiral, Captain Smollett und Lord Bontriomphe. Zur rechten Hand saßen Sir Lyon, Commander Lord Ashley und Lord Darcy. »My Lords und Gentlemen, ich glaube, wir alle wissen, warum wir hier versammelt sind, doch damit wir die Tatsachen noch einmal in richtiger Reihenfolge hören, möchte ich My Lord Hochadmiral bitten zu erklären, womit wir es zu tun haben. My Lord, habt die Güte!« »Sehr wohl, Sire.« My Lord Admirals Stimme war ein leicht rauher Bariton, der sich so anhörte, als solle er lieber Befehle vom Kommandodeck brüllen, als in leisem Ton eine ruhige Unterhaltung in Westminster Palace zu führen. Er blickte mit seinem durchdringenden Seemannsblick um sich in die Runde. »Es geht um eine Waffe«, sagte er abrupt, »ich nenne es jedenfalls eine Waffe. Sir Lyon tut das nicht. Aber ich bin ja nur ein Mariner, kein Hexer. Wir wissen ja alle, daß die Hexerei ihre Grenzen hat, eh? Deshalb kann Magie auch nicht zu Kriegszwecken gebraucht werden; wenn ein Hexer ein feindliches Schiff zerstören will, dann muß er Schwarze Magie anwenden, und kein Hexer im Besitz seiner geistigen Kräfte würde das tun wollen. Außerdem ist Schwarze Magie auch nicht sonderlich -9 8
effektiv. '39 versuchte die polnische Marine damit zu arbeiten, und unsere Gegenzauber machten die ganze Sache schnell zunichte. Wir haben sie mit unseren Kanonen vom Wasser gefegt, während sie versuchten, ihre Zauber zu aktivieren. Aber wie ich höre, soll das ja gar keine Schwarze Magie sein.« Er sah den Großmeister an. »Es ist wohl besser, wenn Ihr jetzt etwas dazu sagt, Sir Lyon.« »Aber ja, My Lord«, sagte der Meisterhexer. »Vielleicht sollte ich damit beginnen, Euch klarzumachen, daß man leider nicht so messerscharf zwischen dem, was wir ›Weiße‹ und dem, was wir ›Schwarze‹ Magie nennen, trennen kann, wie die meisten Leute annehmen. Wir sagen zum Beispiel, daß die Kunst des Heilens Weiße Magie sei, während der Gebrauch von Flüchen, um Krankheit oder Tod zu bewirken, Schwarze Magie ist. Aber man könnte ja zum Beispiel fragen, ob es Weiße Magie sei, einem verrückten Massenmörder sein gebrochenes Bein zu kurieren, damit er wieder hinausgehen kann und noch mehr Leute umbringt. Oder, umgekehrt betrachtet: ist es Schwarze Magie, ihn zu verfluchen, so daß er stirbt und nie mehr tötet? Nun ja, in beiden Fällen muß man wohl Ja sagen. Man kann das nämlich durch die symbolologischen Gleichungen und die Mathematik der Theorie der Ethik beweisen. Ich will Euch nicht mit den Analogiegleichungen selbst langweilen, es mag genügen, daß die Theorie der Ethik in solchen Extremfällen recht klar ist. Dies wird in dem Merksatz zusammengefaßt, den jeder Zauberlehrling im ersten Jahr auswendig lernt: Schwarze Magie ist eine Sache des Symbolismus und des Vorhabens.« Sir Lyon lächelte und drehte die rechte Handfläche nach oben, wie um etwas zuzugeben. »Das gilt natürlich auch genauso für Weiße Magie - aber wir müssen ja vor der Schwarzen Magie warnen.« »Sehr einsichtig«, sagte Captain Smollett. »Ich will nicht weiter darauf eingehen«, sagte Sir Lyon, »außer noch zu erwähnen, daß die Theorie der Ethik es zuläßt, -9 9
sich in die Handlungen eines anderen einzumischen, wenn dieser Zerstörung im Sinn hat. Als Ergebnis davon haben wir die... eh... ›Waffe‹ entwickelt, die My Lord der Hochadmiral erwähnt hat.« Sir Lyon blickte wieder in die Runde und sah jeden einzelnen mit seinen tiefliegenden glänzenden Augen an. Dann beugte er sich vor, griff unter den Tisch und stellte einen Gegenstand auf die Tischplatte, damit ihn alle sehen konnten. »Dies ist sie, My Lords und Gentlemen.« Es war ein sehr merkwürdig aussehender Gegenstand. Der größte Teil bestand aus einem Messingzylinder von acht Zoll Durchmesser und achtzehn Zoll Höhe. Dieser Zylinder ruhte auf einem kurzen Dreifuß, der ihn vier Zoll in horizontaler Lage über der Tischplatte hielt. Am einen Ende waren zwei Griffe befestigt, mit deren Hilfe man den Zylinder auf ein beliebiges Ziel richten konnte. Am anderen Ende trat ein weiterer, kleinerer Zylinder von etwa drei Zoll Durchmesser und zehn Zoll Lä nge hervor. Sein Ende war ausgeweitet und hatte einen Durchmesser von sechs Zoll, so daß es wie eine glockenartige Mündung aussah. Lord Bontriomphe lächelte. »Das ist aber eine sehr seltsam geformte Kanone, Sir Lyon.« Der Grand Master lachte trocken. »Euer Lordschaft sieht natürlich, daß es keine Kanone und kein Gewehr ist - aber der Vergleich ist recht treffend. Ich kann ihre Wirkung hier nicht vormachen, aber eine Erklärung, wie das ganze funktioniert...« »Einen Augenblick, Sir Lyon.« Die Stimme des Königs unterbrach ihn elegant. »Sire?« Die Augenbrauen des Hexengroßmeisters hoben sich. Er hatte nicht erwartet, daß Seine Majestät ihn an diesem Punkt unterbrechen würde.
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»Läßt sich das Gerät gegen einen einzelnen Mann anwenden?« fragte Seine Majestät. »Selbstverständlich, Sire«, sagte Sir Lyon. »Aber Euer Majestät müssen verstehen, daß es nur eine bestimmte Art von Handlung verhindert, und wir haben hier nicht die Möglichkeit, es...« »Geduldet Euch, Sir Hexer«, sagte der König. »Ich glaube, wir haben doch die Möglichkeiten, die Ihr erwähnt. Könntet Ihr Lord Darcy als Euer Ziel verwenden?« »Das könnte ich, Sire«, sagte Sir Lyon, in dessen Augen ein Verstehen aufzuleuchten begann. »Ausgezeichnet.« Der König blickte Lord Darcy an. »Wäret Ihr bereit, Euch für ein Experiment zur Verfügung zu stellen, My Lord?« »Euer Majestät brauchen nur zu befehlen«, sagte Lord Darcy. »Sehr gut.« Seine Majestät streckte die rechte Hand aus. »Würdet Ihr so gut sein, mir die Pistole zu geben, die Ihr an Eurer rechten Hüfte tragt, My Lord?« Ein Blitzstrahl schien jeden der anderen Anwesenden getroffen zu haben. Ihre Köpfe drehten sich abrupt herum, alle Augen starrten voll entsetzter Überraschung auf Lord Darcy. Der Lord Hochadmiral ergriff das Heft seines schmalklingigen Marineparadeschwerts und zog es einen halben Zoll aus der Scheide. Der Schock war offensichtlich. Wie konnte es jemand wagen, mit einer Pistole bewaffnet vor Seine Königliche Majestät zu treten? »Beruhigt Euch, My Lord Admiral!« sagte der König. »My Lord von Darcy kommt auf Unseren Befehl bewaffnet. Lord Darcy, Eure Pistole!« Kühl beging Lord Darcy eine Handlung, die jedem rechtschaffen Denkendem im gesamten Reich den Magen -1 0 1
umgedreht hätte. Er zog eine Pistole in der Gegenwart Seiner Gefürchteten und Souveränen Majestät dem König! Dann stand er auf, lehnte sich über den Tisch und reichte die Pistole mit dem Griff nach vorn dem König. »Zu Befehl, Majestät«, sagte er ruhig. »Ich danke Euch, My Lord. Ah! Eine ausgezeichnete Waffe! Ich fand immer, daß die.40er MacGregor die beste Faustfeuerwaffe ist, die es gibt. Seid Ihr bereit, Sir Lyon?« Sir Lyon Grey hatte das Vorhaben des Königs offenbar inzwischen erraten. Er lächelte und drehte das glänzende Gerät herum, so daß die Glockenmündung genau auf Lord Darcy gerichtet war. »Ich bin bereit, Sire«, sagte er. Der König hatte mittlerweile die MacGregor entladen und alle Patronen vom Kaliber.40 auf den Tisch ausgelegt, während ihm fünf Augenpaare fasziniert dabei zusahen. »My Lord«, sagte der König aufblickend, »ich bitte Euch, nicht darauf zu achten, was Sir Lyon tut.« »Ich verstehe, Sire«, sagte Lord Darcy. »Ausgezeichnet, My Lord.« Die Augen seiner Majestät blickten suchend auf die gegenüberliegende Wand. »Hm, hm, ja! My Lord, ich bitte, Eure geschätzte Aufmerksamkeit auf jenes bemalte Fenster dort drüben zu richten, besonders auf die Szene, wo König Artus die Pergamentrolle hält, ein Symbol für die Errichtung des Hochehrwürdigen und Alten Ordens von der Tafelrunde.« Lord Darcy blickte auf das Fenster. »Ich sehe, was Euer Majestät meinen«, sagte er. »Gut. Dieses Fenster, My Lord, ist ein unschätzbares Kunstwerk, und dennoch kann ich es nicht leiden.« Lord Darcy blickte wieder den König an. Seine Majestät gab der ungeladenen Pistole einen Stoß, so daß sie über die polierte -1 0 2
Tischplatte rutschte und vor Lord Darcy liegen blieb. Dann schnippte er mit einem Finger, so daß eine einzelne Patrone neben die Pistole glitt. »Ich wiederhole, My Lord«, sagte der König, »daß ich dieses Fenster nicht leiden kann. Würdet Ihr mir den Gefallen tun und eine Kugel da durchschießen?« »Wie Ihr befehlt, Sir«, sagte Lord Darcy. Hätte er nicht gewußt, daß es sich um ein wissenschaftliches Experiment handelte, so wäre die darauffolgende Szene für Lord Darcy zu einer Quelle maßloser Beschämung geworden. Hinterher war er froh und dankbar, daß ihn niemand durch Kichern oder Lachen zu einer unbedachten Handlung verleitet hatte, die wohl noch beschämender gewesen wäre. Die Aufgabe war sehr einfach: die Pistole aufheben und laden, den Verschluß schließen, zielen und dann feuern. Lord Darcy griff mit der Rechten nach der Pistole, mit seiner linken Hand nach der Patrone. Irgendwie erwischte er die Pistole verkehrt herum, so daß ihn plötzlich die Mündung anstarrte. Zur gleichen Zeit entglitt seinen Fingern die Patrone und rollte über die Tischplatte fort. Er griff danach und wiederum entwischte sie ihm. Wütend klatschte er mit der Handfläche darauf und hatte sie endlich. Plötzlich war ein Klappern zu hören: während er seine Aufmerksamkeit auf die Patrone gerichtet hatte, war ihm die Pistole aus der Hand gefallen. Er biß die Zähne zusammen und griff fest mit der Linken um die Patrone. Dann atmete er tief durch und ergriff die Pistole mit der Rechten. Gut. Nun mußte der Verschluß geöffnet werden. Sein rechter Daumen fand den Hebel und schob ihn vor, doch entglitt die Waffe in diesem Augenblick seinen anderen Fingern und hing plötzlich am Abzughebelbügel von seinem Zeigefinger herab. Er versuchte, die Pistole hochzuschwingen, um den Griff umfassen zu können, aber nun rutschte sie von seinem Zeigefinger herunter und fiel mit lautem Knall wieder auf die Tischplatte.
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Lord Darcy atmete wiederum tief und beherrscht durch. Dann griff er mit ruhiger Hand ganz entspannt nach der Waffe und hob sie auf. Dieses Mal benutzte er den linken Daumen, um den Verschlußhebel zu betätigen; dabei fiel ihm die Patrone aus der Hand. Die nächsten paar Minuten waren ein Alptraum. Die Patrone entglitt immer wieder seinem Griff, und wenn er sie schließlich doch erwischt hatte, weigerte sie sich, in die Patronenkammer zu rutschen. Und wenn ihm dies endlich doch gerade zu gelingen schien, ließ er unweigerlich wieder die Pistole fallen. Mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Kiefernmuskeln gelang es ihm schließlich nach zahllosen Fehlschlägen doch, die Patrone endlich in die Kammer einzuführen und den Verschluß wieder zurückschnellen zu lassen. Sein Gefühl der Erleichterung war so groß, daß ihm prompt wieder die Pistole aus der Hand fiel. Wütend griff er nach der Waffe, zielte grob in die geplante Richtung und - Die Waffe ging mit einem Knall los, und zwar viel früher, als er es vorgehabt hatte. König Artus und seine Pergamentrolle blieben völlig unversehrt, während das Geschoß die zwei Fuß entfernte Steinwand streifte und quer nach oben abprallte, wo es sich in einem eichenen Deckenbalken vergrub. Nach einem endlos wirkenden Schweigen sagte Sir Lyon Gandolphus Grey ruhig: »Ausgezeichnet! Majestät, in all unseren Versuchen ist es bisher noch nie jemandem gelungen, die Pistole zu laden oder gar beinahe das Ziel zu treffen. Es ist ein Glück zu wissen, daß es nicht viele derart superdisziplinierte Gemüter gibt - besonders in den Reihen der Polnischen Marine.« Seine Majestät schnippte die übrigen sechs Patronen über die Tischplatte. »Ladet wieder Eure Waffe und steckt sie wieder ein, My Lord. Bitte verzeiht etwaige... äh... Inkommoditäten, die Euch durch dieses Experiment eventuell auferlegt wurden.« »Aber nein, Sire! Es war eine höchst lehrreiche Erfahrung.« -1 0 4
Er nahm die sechs Patronen und lud erneut die MacGregor mit der ruhigen Sicherheit eines Könners. Obwohl die Glockenmündung des Metallgeräts immer noch auf ihn zeigte, umgriffen Sir Lyons Hände die Griffe nicht mehr. »Ich gratuliere Euch, My Lord«, sagte der König. »Alle hier Anwesenden, mit Ausnahme von Lord Bontriomphe und Euch selbst, haben dieses Gerät schon erlebt. Wie Sir Lyon bereits sagte, seid Ihr der Erste, dem es bisher gelang, unter seinem Einfluß eine Waffe zu laden.« Er blickte Sir Lyon an. »Habt Ihr noch irgend etwas hinzuzufügen, Sir Hexer?« »Nichts, Sire... außer wenn es noch Fragen gibt.« Lord Bontriomphe hob die Hand. »Eine Frage, Sir Lyon.« »Aber gewiß, My Lord.« Lord Bontriomphe deutete auf das Gerät. »Kann dieser Apparat von jedem bedient werden, von jedem Laien, meine ich, oder benötigt man einen Hexer dazu?« Sir Lyon lächelte. »Glücklicherweise kann das Gerät nur von jemandem bedient werden, der ein geschultes Talent besitzt. Es muß jedoch kein Master sein, ein Lehrling im dritten Jahr könnte damit schon umgehen.« »Dann liegt also, Sir Lyon«, sagte Lord Darcy, Lord Bontriomphe unterbrechend, »das Geheimnis seines Funktionierens in zwei verschiedenen Bereichen, nicht wahr?« »My Lord«, sagte Sir Lyon nach einer kurzen Pause, »Euer Mangel an Zaubertalent ist ein großer Verlust für die Gilde. Wie Ihr richtig gefolgert habt, besteht der Zauber aus zwei Teilen. Der erste und wichtigste ist in diesen... äh... Apparat eingebaut. Der darin befindliche Symbolismus ist von allergrößter Wichtigkeit. Innerhalb dieses Messingzylinders befinden sich die Invariablen, das, was wir die ›Hardware‹ des Zaubers nennen. Aber allein ist sie völlig nutzlos. Das Gerät kann nur -1 0 5
von einem Hexer benutzt werden, der die richtigen verbalen Formeln dazu beherrscht. Diese Formeln nennen wir die ›Software‹ des Zaubers, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lord.« Lord Bontriomphe nickte grinsend. »Ihr habt Euch die Beantwortung meiner nächsten Frage geteilt, My Lords.« »Ich glaube, daß nun der Lord Hochadmiral weiterreden sollte«, sagte Sir Lyon. »Ich glaube, wir begreifen wohl alle«, sagte der Lord Hochadmiral, ohne zu warten, bis sich Sir Lyon wieder gesetzt hatte, »was dieses Gerät mit feindlichen Schiffen anrichten kann, wenn es sich in der Hand eines Hexers befindet, der damit umzugehen weiß. Es hält den Feind nicht davon ab, sein Schiff weiterhin zu steuern - das wäre wohl Schwarze Magie, wie ich höre - aber jeder Versuch, ihre Kanonen zu laden und abzufeuern, wäre für die feindlichen Soldaten zum Scheitern verurteilt. Wir haben gesehen, was passiert, wenn ein Mann so etwas versucht. Man stelle sich einmal vor, wie das aussehen muß, wenn eine ganze Gruppe von Leuten dabei wäre! Es wäre das Chaos: nicht nur, daß jeder vor sich hinfummelt, er gerät auch noch allen anderen dabei in die Quere. Wie ich sagte Chaos. Mit diesem Gerät, My Lords und Gentlemen, kann die Reichsmarine die Königlich Slavische Marine solange im Baltikum eingekesselt halten wie nötig. Vorausgesetzt natürlich, daß wir es haben und sie nicht! Und da liegt die Crux der ganzen Angelegenheit, Gentlemen. Das Geheimnis dieses Geräts darf nicht in polnische Hände fallen.« Der König hatte begonnen, seine Pfeife zu stopfen; Lord Darcy, der Lord Hochadmiral und Captain Smollett hatten ebenfalls sofort nach ihren Rauchutensilien gegriffen. Aber Lord Darcy beobachtete dabei Captain Smollett. Er hätte fast aufs
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Wort genau voraussagen können, was der Lord Hochadmiral als nächstes sagen würde. »Wir sehen uns also«, sagte My Lord der Hochadmiral, »mit einem Problem der Spionage konfrontiert. Captain Smollett, bitte die Einze lheiten.« »Aye aye, My Lord.« Der Chef des Marinegeheimdienstes zog eine Minute lang bedächtig an seiner Pfeife. Dann sagte er: »Problem recht simpel, My Lords. Lösung schwieriger, es ist versucht worden, das Geheimnis an die Polen zu verkaufen, ja? Das ging so: Wir hatten einen Doppelagenten in Cherbourg, Name war Barbour, Georges Barbour. Kein Anglo-Franzose, übrigens, Pole. Hat uns aber verdammt gute Dienste geleistet. Absolut zuverlässig.« Smollett nahm die Pfeife aus dem Mund und stach mit dem Holm gestikulierend in der Luft herum. »Vor ein paar Wochen bekam Barbour einen anonymen Brief, daß das Geheimnis zu verkaufen wäre. Beschreibung des Äußeren und der Wirkung recht genau, versteht Ihr, My Lords? Gut. Barbour kontaktierte seinen Vorgesetzten - ein Mann, den er nur unter dem Kodenamen ›Zett‹ kannte - und bat um Instruktionen. Zett kam zu mir, ich ging zu My Lord dem Hochadmiral. Zusammen haben wir drei eine Falle gebaut.« »Bitte um Verzeihung, Captain Smollett«, sagte Lord Darcy. »Aber ja, My Lord!« »Niemand wußte von dieser Falle außer Ihr selbst, My Lord der Hochadmiral und Zett?« »Niemand, My Lord«, sagte Captain Smollett emphatisch. Absolut niemand.« »Ich danke Euch. Verzeiht die Unterbrechung.« »Aber gewiß, My Lord. Auf jeden Fall.«
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Er zog erneut an seiner Pfeife. »Auf jeden Fall bauten wir diese Falle. Barbour sollte den Kontakt aufnehmen. Preis für Einzelheiten erfragen - fünftausend Goldsovereigns.« Und das war es wohl auch wert, dachte Lord Darcy bei sich. Ein Goldsovereign war fünfzig Silbersovereigns wert, und ein ›Zwölfer‹, also ein Zwölftel eines Silbersovereigns mußte bezahlt werden, wollte man in einer Gastwirtschaft einen Kaffee trinken. Für eine viertel Million Silbersovereigns konnte man eine enorme Menge Kaffee kaufen... »Die Verhandlungen brauchten Zeit«, fuhr Captain Smollett fort. »Barbour durfte nicht allzu interessiert wirken. Sah' sonst verdächtig aus, eh? Ja. Tja, auf jeden Fall gingen die Verhandlungen weiter. Barbour, müßt Ihr wissen, arbeitete nicht über den Geheimdienst in Cherbourg sondern direkt durch Zett. Mußte sich in acht nehmen, ja? Keine auffälligen Kontakte zu uns, klar? Wurde ja dauernd von polnischen Agenten überwacht.« Captain Smollett lachte kurz, scharf und bellend. »Während wir natürlich die Polen überwachten. Teuflische Sache, das. Konnten nicht wagen, Barbours Tarnung zu durchbrechen, klar? Zu wertvoll der Mann, verdammt wertvoll. Während der Verhandlungen kam der Mann, der das Geheimnis verkaufen wollte, zweimal zu Barbour, um mit ihm zu reden. Barbour hat ihn beschrieben. Schwarzes Haar, schwarzer Schnäuzer und Bart, gerade Nase, ziemlich groß. Trug blaugetönte Brille, sprach mit einer rauhen, flüsternden Stimme in provencalischem Akzent. Ziemlich groß. Angezogen wie ein Mitglied der gehobenen Händlerklasse.« Lord Darcys Blick traf den von Lord Bontriomphe, und die beiden Untersuchungsbeamten tauschten ein Grinsen aus. Jeder von ihnen wußte bereits genug, um Captain Smolletts nächste Bemerkung nicht mehr zu benötigen.
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»Ganz offensichtlich eine Verkleidung«, sagte Captain Smollett. »Eine Frage, Captain«, sagte Lord Bontriomphe. »Ja, My Lord?« »Dieser Kerl hat Barbour zweimal getroffen. Da Ihr ja wohl von diesen Treffen vorher wußtet, warum habt Ihr ihn dann nicht ergriffen, als er kam?« »Konnten wir nicht, My Lord«, sagte Captain Smollett mit Bestimmtheit. »Nicht, ohne Barbours Tarnung zu entlarven. Zu viele polnische Agenten in Cherbourg, die ein Auge auf Barbour hatten. Die wußten, daß Barbour mit diesem Kerl Verhandlungen führte - er nannte sich selbst übrigens Edelmann Fitzjean. Jeder Versuch, Fitzjean festzunehmen, hätte bedeutet, daß wir Barbour auch festnehmen müßten, ja? Wenn nicht, dann hätten die polnischen Agenten gewußt, daß wir über Barbour Bescheid wußten. Vielleicht nicht, daß er ein Doppelagent war, aber daß wir von ihm wußten, ja? Hätte seine Tarnung gesprengt. Wäre wertlos geworden für Seine Slavische Majestät. Konnten wir uns nicht erlauben, seht Ihr?« »Ihr hättet ihn doch nach den Treffen beschatten lassen können«, meinte Lord Bontriomphe. »Haben wir auch«, erwiderte der Captain nicht ohne eine gewisse Schärfe. »Natürlich. Beide Male.« Captain Smollett verzog gequält das Gesicht. »Muß leider zugeben, daß der Mann unseren Agenten jedesmal entkommen ist.« Er atmete tief durch. »Unser Edelmann Fitzjean ist offenbar kein Amateur, My Lords.« Er warf seinen Blick in die Runde. »Verdammt schlauer Bursche. Weiß nicht, ob er merkte, daß er verfolgt wurde oder nicht. Aber vermutlich rechnete er damit, von polnischen Agenten beschattet zu werden, auch wenn er wohl nicht an -1 0 9
Agenten des Reichs dachte. Brachte es beide Male fertig zu entkommen, und ich, My Lords, frage deswegen nicht um Verzeihung!« Captain Smollett hielt inne, um tief durchzuatmen, und der Lord Hochadmiral nutzte die Pause, um zu seiner Majestät zu sagen: »Mit Eurer Erlaubnis, Sire, will ich mich hinter Captain Smollett stellen. Kein Agent und keine Gruppe von Agenten kann einem Verdächtigen sehr lange folgen, wenn dieser weiß, daß er beschattet wird und das Abschütteln von Verfolgern gelernt hat.« »Das ist mir klar«, sagte King John ruhig. »Bitte fahrt fort, Captain Smollett!« »Jawohl, Sire«, sagte der Captain. Er räusperte sich. »Wie ich schon sagte, ist es uns nicht gelungen, My Lords, diesen sogenannten Fitzjean zu verfolgen. Aber Barbour hatte mit unserer Unterstützung bereits Speck in die Falle eingelegt. Versteht Ihr, er stimmte zu, er sagte Fitzjean, daß seine Information fünftausend Goldsovereigns wert wäre; er sagte ihm, daß Seiner Slavischen Majestät Regierung bereit sei, den Preis zu za hlen. Vorausgesetzt...« Captain Smollett stach wieder mit seiner Pfeife in die Luft und räusperte sich. »Vorausgesetzt... ähem... daß er Barbour den Beweis erbringen konnte, daß er tatsächlich Zugang zu diesem Geheimnis hätte.« Captain Smollett nahm die Pfeife wieder in den Mund und blickte in die Runde. »Ihr versteht, My Lords? Fitzjean wollte keine Einzelheiten preisgeben, ohne Bargeld in der Tasche zu haben. Aber woher sollten polnische Agenten wissen, daß die Information soviel wert war? Eh?« Captain Smollett hob seinen Zeigefinger. »Das war's, My Lords, was unser Doppelagent Barbour Fitzjean erzählte. Nicht die Wahrheit, natürlich! Barbour mußte den polnischen Agenten auch etwas Plausibles erzählen. Sagte ihnen, daß er Kontakt mit einem Reichsmarineoffizier aufgenommen hätte, der ihm Pläne -1 1 0
für Flotteneinsätze der Schiffe des Reichs und Skandinaviens in der Nordsee verkaufen wollte. Der Preis war, das sagte Barbour jedenfalls seinen polnischen Vorgesetzten, zweihundert Sovereigns.« Captain Smollett machte mit den Händen eine Geste der Abscheu. »Mehr hätten sie sowieso nicht gezahlt, ist ja klar, Pläne können sich ja blitzschnell ändern. Scheinbar stimmten die Polen zu. Wollten aber nicht zahlen, bevor sie nicht Informationen in den Händen hielten. Auf der anderen Seite verlangte Fitzjean einhundert Sovereigns als Geste, daß es Barbour ernst meinte. Wir stimmten zu. Barbour sollte so tun, als käme das Geld aus Polen. Sagte, daß er Fitzjean einhundert Sovereigns geben würde, sobald sich dieser qualifiziert auswies, und daß er die übrigen viertausendneunhundert dann auch besorgen und aushändigen würde, sobald er die Einzelheiten über die Sache erhalten hatte. Problem war, daß Fitzjean sich terminlich nicht festlegen wollte. Klug von ihm, nicht? Hielt Barbour bei der Stange, nicht? Versteht Ihr, My Lords?« »Ich verstehe«, sagte Lord Bontriomphe. »Dieser Fitzjean sollte also für fünftausend Goldsovereigns seine Identität preisgeben, das war die Falle. Richtig? Hat er aber nicht getan, oder? Das heißt, Eure Organisation hat niemals die hundert Sovereigns ausbezahlt, nicht wahr?« »Nein, My Lord« sagte Captain Smollett. »Die hundert Sovereigns wurden nie ausbezahlt.« Er blickte Lord Ashley an. »Commander, erklärt das bitte!« Commander Ashley nickte. »Aye, Sir!« Er blickte erst Lord Darcy, dann Lord Bontriomphe an.
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»Ich sollte ihm gestern morgen das Geld bringen. Als ich ankam, war er tot. Man hatte ihn offensichtlich wenige Minuten zuvor erstochen.« Er fuhr fort, die Vorgänge zu erklären, und erwähnte auch das Gespräch mit Chief Henri und Lord Admiral Brencourt. Lord Bontriomphe schwieg und schaute den Lord Hochadmiral nachdem Lord Ashley seine Erzählung beendet hatte. Der Lord Hochadmiral räusperte sich dröhnend. »Ähem! Tja, My Lords, die Verbindung! Es war so: Sir James Zwinge, Geisterhexer und Oberster Gerichtshexer der Stadt London, war gleichzeitig auch der Chef unserer Spionageabwehr - unter dem Kodenamen ›Zett‹.« »Und nun«, sagte Lord Darcy eine Stunde später, »bin ich bereit, eine Verhaftung in der Mordaffäre um Master Sir James Zwinge vorzunehmen.« My Lord der Marquis von London saß bewegungslos hinter seinem Schreibtisch. Nur ein leises Senkender Augenlider verriet, daß er gehört hatte, was der Chefinspektor der Normandie gesagt hatte. Lord Darcy und Lord Bontriomphe waren sofort, nachdem Seine Majestät das Treffen beendet hatte, in De Londons Büro geeilt. Der letzte Befehl des Königs hatte gelautet: »Dann sind wir uns also einig, My Lords. Unsere zivilen Untersuchungsbeamten werden diesen Morden nachgehen, als bestünden nicht die geringsten Beziehungen zur Marine, als ob sie lediglich einen gewöhnlichen Mörder suchten. Was die Öffentlichkeit angeht, so darf nicht der geringste Zusammenhang zwischen dem Mord an Barbour und dem an Sir James hergestellt werden. In der Zwischenzeit bemüht sich der Marinegeheimdienst darum, Barbours andere Kontakte aufzudecken und seine Berichte an ›Zett‹ genauestens zu studieren und ebenso ›Zetts‹ eigene Berichte in London. In diesen Akten könnten sich mehr -1 1 2
Hinweise finden, als wir bisher angenommen haben. Und schließlich müssen wir alle dafür Sorge tragen, daß die Geheimagenten Seiner Slavischen Majestät mindestens genauso sehr im Dunkeln umhertappen wie wir.« Einen Augenblick lang hatte Lord Darcy angenommen, daß das letzte Stückchen beißenden Sarkasmus Seiner Majestät den Lord Hochadmiral Peter de Valera ap Smith wütend gemacht hätte. Dann merkte er, daß der erstickte Gesichtsausdruck des Lords Hochadmiral von einem tapferen und erfolgreichen Versuch herrührte, ein Lachen zu unterdrücken. Beim Himmel, dachte Lord Darcy, ich muß diesen alten Piraten doch wirklich einmal besser kennenlernen! Als Lord Darcy und Lord Bontriomphe eingetreten waren, hatte der Marquis von London ein Buch, in dem er gelesen hatte, beiseite gelegt und »Guten Morgen, My Lords«, gepoltert, wobei er seinen Kopf vielleicht ein achtel Zoll verneigte. »Hier ist ein Brief für Euch, Lord Darcy«, sagte er und schob mit einem fetten Zeigefinger einen weißen Umschlag über die Tischplatte. »Wurde heute morgen per Sonderkurier überbracht.« »Danke«, hatte Lord Darcy höflich gemurmelt. Er hatte das Siegel aufgebrochen und war die drei eng beschriebenen Seiten durchgegangen. Schließlich hatte er sie wieder zusammengefaltet und hatte den Brief lächelnd beiseite gelegt. »Ein höchst aufschlußreicher Brief. Er stammt - wie Ihr zweifellos am Siegel erkannt habt - von Sir Eliot Meredith, meinem Stellvertretenden Chefinspektor. Und nun bin ich bereit, eine Verhaftung in der Mordaffäre um Master Sir James Zwinge vorzunehmen.« »Tatsächlich?« fragte My Lord der Marquis. »Ihr habt den Fall gelöst? Ohne das Beweismaterial persönlich zu überprüfen? Ohne Zeugen zu befragen? Wie außerordentlich scharfsinnig selbst für Euch, mein lieber Cousin!« -1 1 3
»Ihr seid wohl kaum der rechte Mann, Mangel an persönlichem Untersuchungseinsatz zu bemäkeln«, bemerkte Lord Darcy freundlich. »Was Zeugen angeht, so ist weiteres Befragen unnötig. Die Information liegt vor, wir müssen sie nur untersuchen.« Der Marquis legte die Handflächen flach auf die Tischplatte, atmete eine gute halbe Gallone Luft ein und ließ sie langsam wieder durch die Nase entweichen. »In Ordnung. Schießt los!« »Die Lösung ist derart einfach, daß man sie leicht übersehen kann, vor allem, was die Identität des Mörders angeht. Man überlege: Ein Mann wird in einem verriegelten und versiegelten Raum umgebracht - in einem Hotel voller Magier. Natürlich denken wir alle sofort an Schwarze Magie. Ist ja auch offensichtlich. Allerdings ein bißchen zu offensichtlich. Denn es ist genau das, was wir glaub en sollen.« »Wie geschah denn dann der Mord tatsächlich?« fragte der Marquis, der sich für die Sache zu erwärmen schien. »Zwinge wurde vor den Augen all der Zeugen erstochen, die dort waren, um bezeugen zu können, daß der Raum verriegelt und versiegelt war«, sagte Lord Darcy ruhig. My Lord der Marquis schloß die Augen. »Verstehe. Daher weht der Wind also!« Er öffnete wieder die Augen und sah Lord Bontriomphe an, der seinen Blick fest und ungerührt erwiderte. »Fahrt fort, Lord Darcy«, sagte der Marquis. »Ich möchte es gern alles hören.« »Wie Ihr schon gefolgert habt, lieber Cousin«, fuhr Lord Darcy fort, »konnte nur Lord Bontriomphe den Mord begangen haben. Er war es, der die Tür erbrach. Er war der erste, der ins Zimmer kam. Er befahl den anderen, draußen zu bleiben. Dann beugte er sich über den bewußtlosen Körper von Sir James und senkte das Messer in Sir James' Herz, wobei er seine Bewegungen mit seinem vorgebeugten Körper verbergen konnte.« -1 1 4
»Woher konnte er wissen, daß Sir James bewußtlos sein würde? Warum stieß Sir James einen Schrei aus? Welches Motiv hatte Lord Bontriomphe?« Die drei Fragen wurden kühl, ja fast gefühllos ausgesprochen. »Ich nehme an, das Ihr dafür Erklärungen habt?« »Natürlich. Es gibt zahlreiche Pflanzen und Drogen in der materia medica des erfahrenen Kräuterkenners, die Bewußtlosigkeit und Koma bewirken können. Bontriomphe, der wußte, daß Sir James vorhatte, sich gestern morgen in seinem Hotelzimmer einzuschließen, schaffte es, dem Hexer eine solche Droge in den Kaffee zu schmuggeln - für einen Experten eine Kleinigkeit. Danach brauchte er bloß zu warten. Irgendwann würde man Sir James schon vermissen. Man würde sich wundern, warum er die eine oder andere Verabredung nicht einhielt, man würde an seine Tür klopfen und herausfinden, daß sie abgeschlossen war. Schließlich würde jemand den Leiter des Hotels bitten, nach dem rechten zu sehen. Wenn dieser dann feststellte, daß er die Tür nicht öffnen konnte, würde er schon um amtliche Hilfe bitten. Und glücklicherweise befand sich ausgerechnet Lord Bontriomphe, Chefinspektor von My Lord dem Marquis von London, an Ort und Stelle. Er läßt eine Axt herbeischaffen und...« Lord Darcy drehte eine Handfläche nach oben, als wollte er dem Marquis den ganzen Fall auf einem Servierteller darbieten. »Weiter.« Die Stimme des Marquis hatte jetzt einen gefährlichen Unterton. »Der Schrei ist schnell erklärt. Sir James befand sich nicht völlig im Koma. Er hörte Master Sean anklopfen. Nun hatte Sean zu dieser Zeit eine Verabredung mit Sir James, und dieser wußte, wer da anklopfte. Vom Klopfen aufgeweckt rief er: ›Master Sean! Hilfe!‹ und brach dann wieder bewußtlos zusammen. Natürlich konnte Bontriomphe nicht wissen, daß das passieren würde, aber es war ein großes Glück für ihn, obwohl -1 1 5
es völlig überflüssig war. Hätte es keinen Schrei gegeben, so hätte Master Sean auch so gemerkt, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und hätte die Hotelleitung verständigt. Der Rest wäre dann genauso abgelaufen wie geplant.« Lord Darcy verschränkte die Arme, ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und betrachtete den finster dreinblickenden De London schräg von unten. »Das Motiv ist recht eindeutig. Eifersucht.« »Pah!« explodierte der Marquis. »Jetzt habe ich Euch! Bis jetzt wart Ihr ja recht gewitzt. Aber jetzt zeigt es sich, daß Euer Geist wohl doch nicht so gut funktioniert. Eine Frau? Pfui! Lord Bontriomphe mag sich ja manchmal wie ein Narr aufführen, aber nicht, was Frauen angeht. Ich will zwar nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Frau, die er nicht bekommen könnte, wenn er wollte, noch geboren werden muß, aber ich möchte doch sagen, daß sein Stolz ein solcher ist, daß er keine Frau begehren würde, die ihn nicht haben wollte, oder die ihn wegen eines anderen fallen lassen würde! Wegen einer solchen Frau würde er noch nicht einmal mit den Fingern schnippen, geschweige denn einen Mord begehen.« »Zugegeben«, sagte Lord Darcy freundlich. »Ich habe ja auch nichts von einer Frau gesagt. Und ich habe auch nicht von seiner Eifersucht gesprochen.« »Von wessen Eifersucht denn?« »Von Eurer.« »Hah! Das ist ja lächerlich!« »Ganz und gar nicht. Mein Lieber, Euer Botanikerhobby ist eine der größten Leidenschaften Eures Lebens. Ihr seid ein anerkannter Experte auf dem Gebiet und stolz darauf. Zwinge war auch ein Pflanzenkundler, aber Euch konnte er nicht das Wasser reichen. Aber trotzdem, wenn Ihr irgendeinen Rivalen auf diesem Gebiet hattet, dann war es Master Sir James Zwinge. -1 1 6
Vor kurzem war es ihm gelungen, Polnische Teufelswurz vom Samen zu kultivieren und nicht von Ablegern, wie das gewöhnlich der Fall ist. Euch ist das bisher noch nicht gelungen. Folglich habt Ihr Euch pikiert an Lord Bontriomphe gewandt. Aus Loyalität hat er dann dafür gesorgt, daß Euer Rivale von der Bildfläche verschwand. Und da habt Ihr es, My Lord: Methode, Motiv und Gelegenheit. Quod erat demonstrandum.« My Lord Marquis drehte abrupt den Kopf, und starrte wütend Lord Bontriomphe an. »Steckt Ihr mit ihm bei dieser dämlichen Idiotie etwa unter einer Decke?« Lord Bontriomphe schüttelte den Kopf langsam und sagte »Nein, My Lord. Aber es sieht so aus, als säßen wir ganz hübsch in der Patsche, nicht wahr?« »Dämlack!« schnaubte der Marquis. Er sah aufs neue Lord Darcy an. »Also gut. Ich weiß genausogut wie Ihr, wenn man mich an der Nase herumführen will. Ich bereue es, Master Sean eingesperrt zu haben, das war leichtfertig. Und Ihr wißt genau, daß ich lieber selbst in den Tower ginge, als längere Zeit auf die Dienste von Lord Bontriomphe verzichten zu müssen. Außerhalb dieses Gebäudes bedeutet er für mich Augen und Ohren. Ich werde sofort eine Freilassungsanordnung für Master Sean unterzeichnen. Da Ihr vom König mit diesem Fall beauftragt worden seid, werdet Ihr ja wohl auch aus dem Etat des Königs entlohnt?« »Ab heute, ja«, sagte Lord Darcy. »Aber da ist noch die kleine Angele genheit von gestern zu klären, inklusive Reisekosten für eine Kanalüberquerung, Bahnfahrkarte und Droschkengebühr.« »In Ordnung«, knurrte der Marquis. Er unterschrieb eine Entlassungsurkunde und versiegelte sie mit flüssigem Siegelwachs. Schließlich drückte er mit der Petschaft des Marquisats von London das Wachs ein und erhob sich wortlos. -1 1 7
»Lord Bontriomphe, gebt meinem Cousin, was ihm zusteht. Nehmt es aus dem Wandsafe. Ich gehe in die Pflanzenzimmer.« Fest schlug er die Tür zu. Lord Bontriomphe sah Lord Darcy an. »Sagt mal, Ihr glaubt doch wohl nicht wirklich, daß...« »Pf! Werdet doch nicht albern! Ich weiß ganz genau, daß jedes Wort Eures Berichts genau stimmte. Und der Marquis weiß auch, daß ich das weiß.« In solchen Dingen irrte sich Lord Darcy nie, so auch hier nicht. »Gehen wir in den Tower«, sagte Lord Darcy. Lord Bontriomphe nahm eine Pistole aus seinem Schreibtisch. »Eine Sekunde noch, My Lord. Ich gehe nie hinaus, um einen Mordfall zu lösen, ohne selbst bewaffnet zu sein. Übrigens, meint Ihr nicht auch, daß es das beste wäre, wenn wir im Royal Steward ein provisorisches Hauptquartier errichteten? So könnten wir untereinander in Verbindung bleiben, vor allem auch mit Chief Hennelys zivilen Untersuchungsbeamten.« »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Lord Darcy. »Und da wir schon bei zivilen Untersuchungsbeamten sind: Habt Ihr von jedem der gestern Beteiligten eine Erklärung beigebracht?« »So viele wie nur möglich, My Lord. Natürlich konnten wir nicht jeden erreichen, aber ich glaube, daß die uns mittlerweile vorliegenden Berichte recht vollständig sind.« »Gut, dann nehmt sie doch bitte mit, ja? Ich würde sie gerne auf dem Weg zum Tower durchsehen. Seid Ihr fertig?« »Fertig, My Lord.« »Na gut«, sagte Lord Darcy. »Dann wollen wir Master Sean aus seiner mißlichen Lage befreien.« Während die Londoner Amtskutsche durch die Straßen in Richtung des Royal Steward Arms fuhr, lehnte sich Meisterhexer Sean O Lochlainn in seinem Sitz zurück und
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drückte seinen symbolverzierten Reisesack fest an seinen runden Bauch. »Ah, My Lords«, sagte er zu den beiden Männern, die ihm gegenüber saßen, »es ist schon eine Erleichterung, wieder frei zu ein. Vierundzwanzig Stunden im Tower zu verbringen ist nicht das, was ich mir unter einer angenehmen Beschäftigung vorstelle, das könnt Ihr mir glauben. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, in einem bequemen Zimmer eine Weile lang allein zu sein - jeder Hexer, der nicht mindestens einmal im Jahr für eine Woche Besinnungsexerzitien macht, wird schon bald merken, wie seine Kräfte nachlassen. Nein, aber wenn es Arbeit zu erledigen gilt...« Er unterbrach sich selbst. »My Lords, Ihr habt mich doch nicht etwa aus dem Tower dadurch befreit, daß Ihr diesen Fall gelöst habt, oder?« Lord Darcy lachte. »Keine Bange, mein guter Sean. Ihr habt noch nichts verpaßt.« »Seine Lordschaft«, sagte Lord Bontriomphe, »hat Euch durch einfache, aber wirkungsvolle Erpressung befreit.« »Gegen Erpressung, bitte«, berichtigte ihn Lord Darcy. »Ich habe De London lediglich gezeigt, daß Lord Bontriomphe aufgrund des gleiche n fadenscheinigen Beweismaterials verhaftet werden könnte wie Ihr.« »Moment mal«, wandte Sean ein, »so fadenscheinig war das Beweismaterial ja wohl in beiden Fällen nicht. Es hätte genügt, in beiden Fällen, um jemanden zum Zwecke der Befragung zu verhaften.« »Gewiß«, stimmte Lord Darcy zu. »Aber My Lord Marquis hatte nicht die geringste Absicht, Master Sean zu befragen. Er klebte lieber am Buchstaben des Gesetzes, anstatt seinem Geist gerecht zu werden. Es ist alles eine Sache von Familienrivalitäten. Der Marquis und ich besitzen beide ähnliche, wenn auch nicht dieselben Fähigkeiten. Das führt zu -1 1 9
einem freundschaftlichen aber mitunter etwas gefühlsgeladenen Antagonismus. Er hätte es nicht gewagt, irgendeinen gewöhnlichen Untertan seiner Majestät aufgrund eines solchen Beweismaterials einzusperren, wenn er nicht ehrlich davon überzeugt gewesen wäre, den Schuldigen gefunden zu haben. Ich will noch weiter gehen: Er hätte nicht einmal an eine solche Tat gedacht!« »Es freut, daß Ihr das sagt«, meinte Lord Bontriomphe, »denn es stimmt genau. Aber ab und zu geht diese Familienrivalität ein wenig zu weit. Normalerweise halte ich mich ja da heraus, aber...« »Erlaubt mir, Euch zu berichtigen«, unterbrach ihn Lord Darcy lächelnd. »Normalerweise haltet Ihr Euch überhaupt nicht da heraus. Im Gegenteil, Ihr seid My Lord Marquis mit felsenfester Treue verbunden und stellt Euch folglich stets auf seine Seite, was mich dazu zwingt, Euch beide ausstechen zu müssen - ein ziemlich schwieriges Unterfangen, wie ich zugeben muß. Aber dieses Mal wart Ihr der Ansicht, daß es ein wenig zu weit ging, Master Sean einzusperren, nur um mir eins auszuwischen. Aber es ist mir völlig klar, daß die Dinge ganz anders liegen würden, wenn beispielsweise ich in den Tower gemußt hätte.« Lord Bontriomphe blickte verträumt an die Decke der Kutsche. »Also das ist mal ein Gedanke«, sagte er fast schwärmerisch. »Denkt nur nicht zu sehr darüber nach, My Lord«, meinte Master Sean mit einem sanft drohenden Unterton. »Nur nicht zu sehr, nur nicht zu sehr!« Lord Bontriomphe senkte abrupt den Kopf und wollte etwas sagen, doch gingen seine Worte verloren, da die Kutsche plötzlich langsamer fuhr und der Kutscher die Klapptür im Dach öffnete und rief: »Das Royal Steward, My Lords.«
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Eine halbe Stunde später öffnete der Lakai die Tür, und die drei Männer stiegen aus. Lord Bontriomphe drückte ihm still einige große Münzen in die Hand. »Wartet auf uns, Barney. Sorgt dafür, daß die Kutsche und die Pferde versorgt sind, dann können Denys und Ihr im Pub dort drüben warten. Es wird wohl etwas länger dauern, also trinkt ein paar Bier und entspannt Euch. Ich werde Euch rufen lassen, wenn wir Euch brauchen.« »Sehr wohl, My Lord«, sagte Edelmann Barney. »Ich danke Euch.« Dann folgte Lord Bontriomphe Lord Darcy und Master Sean ins Royal Steward. Lord Darcy stand im Foyer und blickte durch die Glastüren auf die Menge in der Lobby. »Wo ist Master Sean?« fragte Lord Bontriomphe. »Dort drinnen, ich habe ihn vorgeschickt. Wie Ihr unschwer feststellen könnt, sind dort mindestens ein Dutzend Gratulanten und vermutlich mindestens zwei weitere Dutzend Neugierige, die alle Master Sean umringen, um ihm zu gratulieren und ihm zu sagen, daß sie die ganze Zeit schon gewußt hatten, daß er unschuldig sei, und die ihn jetzt wegen Informationen über den Mord an Sir James Zwinge ausquetschen möchten. Während sie dieserart abgelenkt sind, My Lord, werden wir beide unbemerkt eintreten und uns direkt ins Mordzimmer begeben. Kommt!« Sie konnten unbemerkt eintreten. Heute war Tag der Offenen Tür beim Hexerkongreß, und die Vorhalle wimmelte von Besuchern, die die Ausstellung und die Hexer selbst beäugen wollten. An einem der Ausstellungsstände war ein Wanderhexer dabei, zwei großäugigen Kindern und ihrem Vater ein Spielzeug zu erklären. Es bestand aus einem sechs Zoll langen Stab mit einer weißen Spitze, fünf verschiedenfarbigen Kügelchen und einem ein Fuß langen Brett mit sechs Löchern, von denen fünf mit farbigen Ringen markiert waren, die den Farben der Kugeln glichen, während das sechste weiß umringt war. -1 2 1
»Ihr seht also«, sagte der Wanderhexer, »daß die Bälle nicht in den richtigen Löchern sind, die Farben stimmen nicht miteinander überein. Bei diesem Spiel müßt Ihr versuchen, die Bälle in die richtigen Löcher zu bekommen, versteht Ihr? Dabei gilt die Regel, daß Ihr nur einen Ball auf einmal bewegen dürft, nämlich so.« Er richtete den Stab auf das Brett, das mehrere Fuß entfernt war. Einer der Bälle schwebte glatt über das Brett und fiel in das freie Loch. Dann bewegte sich ein weiterer Ball in das passende Loch. Der Vorgang wurde so lange wiederholt, bis sich alle Bälle im richtigen Loch befanden. »Seht Ihr? Also, jetzt bringe ich die Bälle wieder durcheinander und Ihr versucht's mal, ja? Komm Junge, fang du mal an. Einfach den Stab mit der weißen Spitze nach vorn auf das Brett richten und an den Ball denken, den du bewegen willst; wenn er dann schwebt, denkst du an das Loch, in das er fallen soll. So - genau, ganz richtig. Jetzt...« Lord Darcy wußte, daß dies mehr als ein bloßes Spielzeug war. Mit dem Zauber, der jetzt auf dem Gerät lag, konnte jeder damit Erfolge erzielen. Aber der Zauber war so eingerichtet, daß er nach einigen Monaten schwächer werden würde, um schließlich ganz zu verschwinden. Bis dahin hätten die meisten Kinder wohl sowieso jede Lust an diesem Spiel verloren. Aber wenn eines der seltenen Kinder mit dem Talent daran geriet, so verlor es gewöhnlicherweise das Interesse daran nicht. Es würde sogar ein Gefühl für den Zauber gewinnen, unterstützt durch das einfache Ritual und die Zeremonie des Spiels selbst. Wenn dies eintrat, so konnte das Kind den Trick auch noch ein Jahr später vollbringen, obwohl keiner seiner Kameraden ohne Talent dies noch vermochte. Der ursprüngliche Zauber war verblaßt und war durch die einfache Version des Kindes ersetzt worden. Zu dem Spiel gehörte ein Begleitheft, das Eltern darauf hinwies und sie bat, das Kind näher untersuchen zu lassen, wenn es das Spiel erfolgreich verlängern konnte. -1 2 2
An einem anderen Stand verteilte ein Priester, im kirchlichen Schwarz mit weißen Rüschen an Kragen und Manschetten, Broschüren, in denen das neue Gebäude der Königlichen Thaumaturgischen Laboratorien in Oxford vorgestellt wurde, das sich noch im Bau befand. Das Ausstellungsstück bestand aus einem maßstabsgetreuen Modell des vollendeten Gebäudes. Mitten in ihrem Weg erblickten die beiden Männer einen ganz gewöhnlich aussehenden Türrahmen. In seiner Mitte schwebte ein Illusionsschild, das aus durchsichtigen blauen Buchstaben bestand, die den Satz bildeten: BITTE DURCHGEHEN. Als sie durchgegangen waren, verschwand das Illusionsschild, und sie fühlten, wie ihre Kleidung von einer Art Wind angesaugt wurde. Auf der anderen Seite erschien ein weiteres Illusionsschild. DANKE Wenn Ihr nun Eure Kleidung begutachtet, so werdet Ihr feststellen, daß jeder kleinste Staubfleck daraus verschwunden ist. Dieses Modell ist ein Prototyp, der sich noch in der Entwicklung befindet. Eines Tages wird man in keinem Haushalt mehr darauf verzichten wollen. WELLS & SONS THAUMATURGISCHE HAUSHALTSGERÄTE »Ganz nett, das«, sagte Lord Bontriomphe. »Schaut mal, sogar unsere Stiefel glänzen!« Sie schritten durch das zweite Illusionsschild, und es löste sich hinter ihnen auf. »Ganz nützlich«, stimmte Lord Darcy zu, »aber völlig verfehlt. Sean erzählte mir, daß sie auf dem letzten Kongreß schon einmal dasselbe vorgeführt haben. Eine ganz gute Reklame für die Firma, ja, aber kaum anzunehmen, daß es sich durchsetzt. Viel zu teuer, denn der Zauber muß mindestens einmal die Woche von einem Meisterhexer erneuert werden. Bei der Menschenmenge hier können sie froh sein, wenn es einen Tag durchgehend funktioniert.« -1 2 3
»Hm. Wie dieses ›London aus der Luft sehen‹-Gerät, das sie vor ein paar Jahren einmal hatten«, erklärte Bontriomphe. »Erinnert Ihr Euch daran?« »Ich habe darüber gelesen, aber ich kann mich an keine Einzelheiten erinnern«, erwiderte Lord Darcy. »Es sah ganz eindrucksvoll aus. Da war eine Kristallkugel von etwa zehn Zoll Durchmesser, schätze ich. Sie stand auf einem Ständer, und man blickte von oben hinein. Man bekam das me rkwürdige Gefühl, aus einer großen Höhe herabzublicken, von einem Punkt aus, der sich direkt über der Admiral Buckingham Hall befand, wo auch die Ausstellung stattfand. Man konnte richtig sehen, wie Leute umhergingen, wie Kutschen durch die Straßen fuhren, als ob man auf einem Kirchturm stünde und hinabblickte. Ein paar hundert Fuß über dem Gebäude befand sich ein magischer Spiegel, der die ganze Szene in die Kugel projizierte, auf parapsychische Weise.« »Ich verstehe. Was wurde denn aus dem Ding? Ich habe nie wieder davon gehört«, sagte Lord Darcy. »Na ja, das Kriegsministerium war sofort daran interessiert. Ihr könnt Euch ja vorstellen, was für eine Feindaufklärung damit möglich wäre, wenn ein magischer Spiegel hoch über den feindlichen Linien aufgehängt werden könnte. Jedenfalls arbeiten die Thaumaturgen des Kriegsministeriums immer noch daran, aber es ist nichts daraus geworden. Erstens braucht man drei Masters, die das Gerät bedienen; einer muß den Spiegel zum Schweben bringen, einer muß ihn in Gang halten, und ein weiterer muß das Empfangskristall aufgeladen halten. Außerdem muß man sie dafür besonders ausbilden, und zwar als Team. Und obendrein müssen sich die Hexer, die den Spiegel bedienen, in Sichtweite des Spiegels aufhalten, und die Fläche des Spie gels muß sich senkrecht zu einem bestimmten Radius der Kristallkugel befinden. Fragt mich bitte nicht warum, ich bin kein Hexer und verstehe nichts von Theorie. Auf jeden -1 2 4
Fall kann man das Ding noch nicht für Langstreckenübertragungen benutzen.« Sie verließen die Halle und stiegen die Treppe hinauf. »Bis jetzt haben wir ja«, erklärte Lord Darcy, »außer dem Flaggentelegraphen und dem Heliotelegraphen, die beide Türme in einer Sichtlinie benötigen, nur den Teleklang als sinnvolles Kommunikationsmedium über große Entfernungen hinweg. Und die mathematischen Thaumaturgen haben bisher immer noch keine zufriedenstellende Theorie vorweisen können, um sein Funktionieren zu erklären. Ah! Ich sehe, daß Eure Wachmänner auf Posten sind!« Sie waren oben angekommen. Vor dem Mordzimmer standen zwei schwarzgekleidete Wachmänner. »Guten Morgen, Jeffers und Dubois«, grüßte Lord Bontriomphe, als sie auf die Tür zuschritten. Die Wachmänner salutierten. »Guten Morgen, My Lord«, erwiderte der Ältere den Gruß. »Alles in Ordnung? Keine Vorkommnisse?« »Nichts, My Lord. Ruhig wie ein Grab.« »Jeffers«, sagte Lord Bontriomphe lächelnd, »mit einer solchen Geistreichigkeit werdet Ihr entweder schnellstens zum Wachtmeister befördert werden oder Euer ganzes Leben Fußpatrouille laufen.« »Mein Ehrgeiz ist bescheiden, My Lord«, antwortete Jeffers, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich möchte nur WachSergeant werden. Dazu brauche ich nur einen halben Kopf.« »Fußpatrouille«, sagte Lord Darcy traurig. »Für ewig und immer.« Er betrachtete die Tür zum Mordzimmer. »Ich stelle fest, daß man das Loch in der Tür abgedeckt hat.«
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»Ja, My Lord«, bestätigte Jeffers. »Man hat dieses Brett einfach über das Loch gehängt. Ansonsten ist die Tür nicht angerührt worden. My Lords wollen hineinschauen?« Er nahm einen großen schweren Messingschlüssel aus seiner Gürteltasche. »Ihr könnt die Tür öffnen, aber Großmeister Sir Lyon hat einen Zauber über den Raum selbst gelegt, My Lords.« Lord Darcy nahm den Schlüssel, führte ihn in das Schloß ein, drehte ihn und öffnete die Tür. Lord Bontriomphe und er mußten an der Schwelle innehalten. Es war keine greifbare Barriere zu sehen, und doch war eine vorhanden. Lord Darcy merkte, daß er keinerlei Lust dazu verspürte, den Raum zu betreten, im Gegenteil: Der Gedanke daran war ihm ausgesprochen unangenehm. In diesem Raum gab es nichts, das ihn interessieren könnte, oder was ihn dazu bewegen könnte, einzutreten. Es war ein Tabu, ein verbotener Ort. Von außen hineinzublicken war sowohl notwendig wie auch wünschenswert, hineinzugehen war weder das eine noch das andere. Lord Darcy überflog den Raum mit seinem Blick. Master Sir James Zwinge lag immer noch an der Stelle, wo er hingefallen war, und sah so aus, als sei er nur wenige Minuten zuvor gestorben; das lag an dem Konservierungszauber, den man über die Leiche verhängt hatte. Die Fußschritte in der Halle ließen Lord Darcy sich umdrehen. Er sah Master Sean nahen. »Tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe, My Lord«, sagte er. Er hielt vor der Türschwelle an. »Na, was gibt's denn hier? Hm! Und von einem Master verhängt, wette ich! Würde ziemlich lange dauern, den zu sprengen.« Er sah durch die Tür. »Großmeister Sir Lyon hat ihn selbst verhängt«, sagte Lord Darcy. »Dann werde ich ihn mal suchen, um ihn wieder fortzunehmen«, sagte Master Sean. »Hab' keine Lust, meine Zeit selbst damit zu verschwenden.« -1 2 6
»Entschuldigt, Meisterhexer«, sagte Wachmann Jeffers unterwürfig, »seid Ihr etwa Master Sean O Lochlainn?« »Der bin ich.« Der Wachmann zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche. »Der Großmeister hat mir befohlen«, sagte er, »Euch dies zu überreichen, Master Sean.« Master Sean setzte seinen symbolverzierten Reisesack ab, nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn, entnahm ihm ein einzelnes Blatt Papier und las es aufmerksam durch. »Aha!« sagte er, und sein rundes irisches Gesicht glänzte. »Ich verstehe! Genial! Den muß ich mir merken!« Er sah Lord Darcy an und grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Sir Lyon hat mir den Schlüssel gegeben. Er hat mich heute morgen hier erwartet. Wenn Ihr mich nun für ein paar Minuten entschuldigen wollt...« Der dicke kleine irische Hexer kniete nieder und öffnete seinen Reisesack. Er fischte darin herum und zog einen Stab aus Gold und Ebenholz hervor, eine kleine Messingschale, einen eisernen Ständer mit Sechszollbeinen, zwei silberne Fläschchen und einen merkwürdig konstruierten Flintsteinfeuerzünder. Die anderen traten respektvoll zurück. Man stört keinen Magier bei der Arbeit. Master Sean stellte den Ständer genau vor der offenen Tür auf den Boden und setzte die kleine Messingschale darauf. Dann entnahm er seinem Reisesack ein paar Klumpen Holzkohle. Zwei Minuten später glühte die Kohle rot. Dann fügte er aus jedem der beiden Fläschchen eine große Prise verschiedener Pulver hinzu. Sofort stieg eine dichte Säule duftenden blaugrauen Rauchs von der Messingschale empor. Mit seinem Stab zeichnete Master Sean eine Reihe von Symbolen in die Luft und murmelte etwas, das die anderen nicht verstehen konnten. Dann faltete er auf eine sehr komplizierte und sorgfältige Weise den Brief von Sir Lyon Grey zusammen. Als das Papier richtig zusammengefaltet war, warf er es in das -1 2 7
Räuchergefäß. Während es in Flammen aufging, zog er erneut Symbole in die Luft und murmelte weitere Formeln. »So«, sagte er anschließend, »jetzt könnt Ihr eintreten, My Lords.« Die beiden Inspektoren traten ein. Ihre Abneigung gegen ein Betreten des Zimmers war völlig verschwunden. Master Sean entnahm seinem Reisesack einen kleinen Bronzedeckel und setzte ihn fest auf die Öffnung des Räuchergefäßes. »Laßt es einfach da stehen, Jungs«, sagte er zu den Wachmännern. »Es wird in ein paar Minuten abkühlen. Paßt auf, daß Ihr es nicht umstoßt.« Dann gesellte er sich zu Lord Darcy und Lord Bontriomphe im Mordzimmer. Lord Darcy verschloß die Tür und betrachtete sie. Von innen war der Schaden, den Lord Bontriomphes Axthiebe angerichtet hatten, klar zu sehen. Ansonsten war nichts Ungewöhnliches an der Tür festzustellen. Eine kurze, aber gründliche Untersuchung der Türen und Fenster überzeugte Lord Darcy davon, daß Lord Bontriomphe völlig recht gehabt hatte, als er sagte, daß der Raum versiegelt gewesen war. Es gab keine Geheimtüren, keine Fallklappen, und die Fenster waren fest verschlossen. Nur unter Schwierigkeiten gelang es Lord Darcy, den Verschlußbolzen eines der Fenster zurückzuziehen und es zu öffnen. Er blickte hinaus und sah eine steile, dreißig Fuß hohe Wand draußen. Das Fenster öffnete sich auf einen Hof hinaus, wo sich einige Tische und Stühle befanden, ein Teil des Speisetrakts des Royal Steward Hotels. An manchen der Tische saßen Leute. Fünf Hexer, drei Priester und ein Bischof hatten das knarrende Fenster gehört und blickten zu ihm hoch. Lord Darcy drehte seinen Kopf und blickte nach oben. Die Fenster des nächsten Stockwerks befanden sich zehn Fuß über ihm. Lord Darcy zog den Kopf wieder ein und schloß das -1 2 8
Fenster. »Hier ist niemand hinausgekommen«, sagte er mit Überzeugung. »Ein gewöhnlicher Mensch hätte dazu ein Seil benötigt. Und selbst dann hätte er entweder dreißig Fuß hinunterrutschen oder Stück für Stück zehn Fuß hinaufklettern müssen.« »Ein gewöhnlicher Mensch«, betonte Lord Bontriomphe. »Aber für einen Meisterhexer wäre Levitation nicht allzu schwierig gewesen.« »Was meint Ihr dazu, Master Sean?« fragte Lord Darcy. »Es wäre möglich«, gab Master Sean zu. »Außerdem hätte man die Verschlußbolzen mit Magie auch von außen verriegeln können«, sagte Lord Bontriomphe. »Ja, das könnte auch sein«, stimmte Master Sean zu. Lord Bontriomphe sah Lord Darcy erwartungsvoll an. »Nun gut«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Dann wollen wir diese Theorie einmal, wie die Geometer wohl sagen würden, durch eine reductio ad absurdum überprüfen. Stellen wir uns doch die Szene vor. Was passiert also?« Er zeigte auf den Körper. »Sir James wird erdolcht. Unser Hexer-Mörder, wenn Ihr diesen Ausdruck verzeihen wollt, geht zum Fenster. Er öffnet es, tritt aufs Sims und tritt hinaus in die balkenlose Luft. Er stützt sich durch Levitation. Dann schließt er das Fenster und beginnt, einen Zauber zu verhängen, der die Verschlußbolzen wieder an ihren Pla tz befördert. Als er damit fertig ist, gleitet er fort, nach oben oder nach unten, das ist zunächst einmal unerheblich.« Er sah Master Sean an. »Wie lange würde so etwas dauern?« »Mindestens fünf oder sechs Minuten. Wenn er es überhaupt schaffen könnte. Le vitation bewirkt eine enorme psychische Ermüdung, der Zauber kann nur wenige Minuten aufrechterhalten werden. Außerdem verlangt Ihr von ihm, daß er noch einen zweiten Zauber verhängt, während er den ersten -1 2 9
wirksam halten muß. Ein Zauber wie der, der sich eben auf diesem Raum befand, ist das, was wir einen statischen Zauber nennen, versteht Ihr? Er bewirkt einen Zustand, ja? Aber Levitation und die Bewegung von Verschlußbolzen sind kinetische Zauber, man muß sie in Bewegung halten. Um zwei kinetische Zauber zur gleichen Zeit aufrechtzuerhalten, bedarf es einer enormen Konzentration, Kraft und Präzision. Ich selbst würde lange zögern, ehe ich versuchte, einen Fensterschließzauber in dreißig Fuß Höhe ohne doppelten Boden zu verhängen. Auf jeden Fall würde ich es niemals wagen, wenn ich in Eile und abgelenkt wäre.« »Und selbst wenn man es könnte, würde es fünf oder sechs Minuten dauern«, sagte Lord Darcy. »Bontriomphe, würdet Ihr wohl bitte einmal das andere Fenster öffnen, wir haben es noch nicht damit versucht.« Der Lord Inspektor zog den Bolzen zurück und drückte das Fenster auf. Es knarrte laut. »Was seht Ihr dort draußen?« fragte Lord Darcy. »Ungefähr neun Paar Augen, die mich anstarren«, sagte Lord Bontriomphe. »Genau. Beide Fenster machen einen ziemlichen Lärm, wenn man sie öffnet. Man hört das Geräusch unten im Hof recht gut. Gestern morgen war Sir James' Schrei durch das Fenster hindurch klar zu vernehmen, aber selbst wenn er das nicht gewesen wäre, selbst wenn Sir James überhaupt nicht geschrien hätte, als er ermordet wurde, hätte der Mörder niemals unbemerkt durch dieses Fenster fliehen können, und schon gar nicht fünf Minuten dort draußen herumschweben können.« Lord Bontriomphe zog das Fenster wieder zu und fragte den kleinen irischen Hexer: »Was, wenn er unsichtbar gewesen wäre?« »Der Tarnhelm-Effekt?« fragte Master Sean. Er kicherte. »My Lord, egal, was Laien glauben mögen, der Tarnhelm- Effekt ist -1 3 0
außerordentlich schwierig zu bewerkstelligen. Außerdem ist ›Unsichtbarkeit‹ ein Laienausdruck. Zauber, die den TarnhelmEffekt verwenden, sind sehr ähnlich strukturiert wie der Abwehrzauber, dem Ihr an der Schwelle zu diesem Raum begegnet seid. Wenn ein Hexer einen solchen Zauber um sich herum aufbauen würde, so würdet Ihr es einfach vermeiden, ihn direkt anzuschauen. Ihr würdet es selbst nicht unbedingt merken, Eure Augen würden die ganze Zeit von ihm fortsehen. Er könnte mitten in einer Menschenmenge stehen, und keiner könnte nachher beschwören, daß er dort gewesen ist, weil ihn niemand anders als vielleicht aus dem Augenwinkel heraus gesehen hätte, wenn Ihr versteht, was ich meine. Selbst wenn er allein wäre, würdet Ihr ihn niemals sehen, weil Ihr ihn gar nicht erst anschauen würdet. Ihr würdet unbewußt annehmen, daß das, was Ihr im Augenwinkel wahrnehmt, ein Schrank oder ein Schirmständer oder eine Standgarderobe oder eine Stehlampe wäre - alles, was unter den gegebenen Umständen das Wahrscheinlichste wäre. Euer Geist würde ihn wegerklären als etwas, das dort sein müßte, als Teil des gewöhnlichen Hintergrunds. Aber er wäre nicht wirklich unsichtbar. Ihr könntet ihn beispielsweise in einem Spiegel sehen oder in einer reflektierenden Fläche, weil der Zauber Euch nicht davon abhalten würde, in den Spiegel zu blicken.« »Er könnte doch aber auch einen Vermeidungszauber auf den Spiegel legen, oder nicht?« fragte Lord Bontriomphe. »Das wäre doch ein statischer Zauber, nehme ich an.« »Gewiß«, sagte Master Sean. »Er könnte einen solchen Zauber auf jede reflektierende Fläche im ganzen Gebäude legen. Aber man muß ja schließlich irgendwohin schauen können, und selbst ein Laie würde unter solchen Umständen mißtrauisch werden. Außerdem wäre es für jeden mit einem nur halbwegs ausgebildeten Talent sofort wahrnehmbar. Und selbst wenn wir annehmen, daß er sich vor dem Fenster unsichtbar machen würde, wißt Ihr, was das bedeuten würde? Jetzt müßte er mit -1 3 1
drei verschiedenen Zaubern herumjonglieren: Er levitiert, er macht sich unsichtbar, und er verschließt das Fenster von innen. Nein, My Lord, das haut einfach nicht hin, es ist einfach nicht menschenmöglich.« Lord Darcy ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. »Das wäre also erledigt. Unser Mörder hat den Raum also nicht durch das Fenster verlassen, weder mit gewöhnlichen, noch mit thaumaturgischen Mitteln. Also müßten wir... »Eine n Moment mal!« rief Lord Bontriomphe, und seine Augen weiteten sich. Er zeigte mit dem Finger auf Master Sean. »Schaut einmal, angenommen es passierte so: Der Mörder ersticht Master Sir James. Sein Opfer schreit. Der Mörder weiß, daß Ihr draußen vor der Tür seid. Er weiß, daß er nicht durch die Tür hinaus kann. Die Fenster scheiden, wie wir ja jetzt wissen, auch aus. Was soll er tun? Er benutzt den Tarnhelm- Effekt. Als ich mit der Axt hier hineinstoße, sehe ich ihn nicht. Für mich ist der Raum leer, nimmt man die Leiche aus. Ich könnte ihn doch nicht sehen, oder? Als die Tür dann offen ist, geht er ganz frech hinaus, ohne wahrgenommen zu werden.« Master Sean schüttelte den Kopf. »Ihr würdet ihn nicht sehen, das ist richtig. Aber ich hätte ihn gesehen, und Master Sir Lyon ebenso. Wir sahen beide durch das Loch in der Tür, und durch dieses Loch kann man den gesamten Raum überblicken, sogar das Bad, wenn die Tür offensteht.« Lord Bontriomphe blickte durch die offene Tür ins Badezimmer. »Nein, das kann man nicht. Schaut doch einmal selbst! Angenommen, er läge in der Badewanne, dann könnte man ihn von hier aus nicht sehen.« »Das ist wahr. Aber ich kann mich genau daran erinnern, daß Ihr in die Wanne hineingeblickt habt. Das wäre beim TarnhelmEffekt nicht möglich gewesen.«
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Lord Bontriomphe runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, das habe ich. Hm! Nun gut, dann scheidet das aus. Er war nicht im Zimmer, und er hat das Zimmer nicht verlassen.« Er sah Lord Darcy an. »Was bleibt dann noch übrig?« »Das wissen wir leider noch nicht, mein Lieber! Wir brauchen noch mehr Daten.« Er schritt hinüber zur Leiche und kniete nieder, wobei er darauf achtete, alles so zu belassen, wie es war. Master Sir James Zwinge war ein kurzer, magerer Mann mit spärlichem grauen Haar und einem kleinen grauen Bart gewesen. Er trug einen ordentlichen, relativ teuren Männeranzug anstelle der förmlichen Hexerkleidung, die ihm zustand. Wie Bontriomphe gesagt hatte, war es schwierig, die Einstichwunde auf den ersten Blick zu erkennen. Die Wunde war klein, kaum einen Zoll lang, und klaffte kaum auseinander. Zudem wurde sie von dem Blut verdeckt, das den Vorderteil der Kleidung des Magiers befleckte. Daneben lag ein Messer mit silberner Klinge und schwarzem Griff in einer Blutpfütze; seine blinkende Schneide war mit Blut bespritzt. »Dieses Blut...« Lord Darcy deutete darauf. »Seid Ihr Euch völlig sicher, daß es frisch war, als Ihr in den Raum eingebrochen seid, Bontriomphe?« »Absolut sicher«, sagte Bontriomphe. »Es war hellrot und noch flüssig. Die Wunde selbst blutete auch noch ein wenig. Ich bin zwar zugegebenermaßen kein Chirurgus, aber wenn es um solche Dinge geht, bin ich alles andere als ein Amateur. Als ich den Körper das erste Mal sah, war er allenfalls ein paar Minuten tot.« Lord Darcy nickte. »In der Tat. Das Blut zeigt selbst jetzt unter dem Konservierungszauber noch eine gewisse Frische.« Er zeigte auf den Schlüssel, der wenige Fuß vom Körper entfernt auf dem Boden lag. »Ist das Euer Schlüssel, My Lord?«
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Lord Bontriomphe nickte. »Ja, ich habe ihn dort hingelegt, um die Stelle zu markieren, als ich Sir James' Schlüssel aufhob.« »Liegt er immer noch am gleichen Platz.« »Ja.« Lord Darcy maß den Abstand zwischen dem Körper und der Tür mit den Augen. »Viereinhalb Fuß«, murmelte er. Er stand auf. »Gebt mir den Schlüssel von Sir James. Danke. Man kann ja mal einen Versuch machen.« »Einen Versuch, My Lord?« Master Seans Gesicht hellte sich auf. »Keinen thaumaturgischen, mein guter Sean. Das kommt auch noch zu seiner Zeit.« Er schritt zur Tür und öffnete sie. Ohne die beiden salutierenden Wachmänner zu beachten, blickte er auf den Boden. »Master Sean, würdet Ihr wohl so gut sein, diese Räucherschale zu entfernen?« Master Sean beugte sich und legte die Hand an die Schale. »Sie ist noch ein wenig warm. Ich werde sie auf den Tisch stellen.« Er hob das Gestell auf und trug es ins Zimmer. »Ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt«, sagte Lord Bontriomphe.« Ihr habt doch wohl den Spalt zwischen Tür und Boden bemerkt?« fragte Lord Darcy. »Es ist möglich, daß der Mörder Sir James einfach erstach, hinaustrat, die Tür hinter sich zuschlug und abschloß und den Schlüssel wieder unter der Tür hindurchschob, nicht wahr?« Master Sean riß die Augen auf. »Während ich draußen vor der Tür stehe?« rief er erstaunt. »Aber das ist doch unmöglich, My Lord!« »Wenn wir erst einmal das Unmögliche ausgeschlossen haben«, sagte Lord Darcy ruhig, »dann können wir uns auf das lediglich Unwahrscheinliche konzentrieren.«
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Er kniete nieder und betrachtete den Boden unter der Tür. »Wie Ihr bemerkt, ist der Spalt etwas größer, als es von innen den Anschein hat. Der Teppich reicht nicht bis unter die Tür. Master Sean, seid so gut, die Tür zu schließen, bitte.« Der Hexer schloß die Tür und wartete geduldig auf der anderen Seite. Lord Darcy legte den schweren Messingschlüssel auf den Boden und versuchte, ihn unter der Tür durchzuschieben. »Das dachte ich mir, daß es nicht geht«, murmelte er. »Der Schlüssel ist viel zu groß und dick. Man kann ihn drunterschieben...« Er rüttelte an dem Schlüssel. »Aber er verklemmt sich. Und der dicke Teppich drinnen würde ihn sowieso aufhalten.« Er zog den Schlüssel wieder hervor. »Öffnet die Tür wieder, Master Sean!« Die Tür schwang nach innen auf. »Man bemerke«, fuhr Lord Darcy fort, »was für Spuren der Versuch, den Schlüssel unter der Tür durchzuschieben, im Holz hinterläßt. Es wäre unmöglich, den Versuch zu machen, ohne Spuren zu hinterlassen. Schon gar nicht...« Er unterbrach sich selbst. »Was ist denn das?« fragte er, und lehnte sich vor, um einen Fleck im Teppich genauer betrachten zu können. »Was ist was?« fragte Lord Bontriomphe. Lord Darcy beachtete ihn nicht. Er blickte auf einen Fleck im Teppich, der sich nahe dem rechten Türpfosten befand, abseits der Scharniere und ungefähr acht Zoll vom Teppichrand selbst entfernt. »Darf ich einmal Eure Lupe haben, Master Sean?« sagte Lord Darcy, ohne aufzublicken. »Aber gewiß doch«, sagte Master Sean und ging an den Tisch, wo er seinem symbolverzierten Reisesack eine große Lupe mit Knochengriff entnahm, die er Lord Darcy reichte.
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»Was ist denn?« fragte er wieder Lord Bontriomphe. Er kniete sich nieder, um genauer hinzublicken. Lord Darcy betrachtete den Fleck, ohne zu antworten. Master Sean sah, daß der Fleck die Form eines Halbkreises besaß, wobei die Gerade parallel zur Tür lief, und die Kurve sich in den Raum hineindehnte. Der Fleck war nur ungefähr so groß wie ein männlicher Daumennagel. »Ist das Blut?« fragte Master Sean. »Schwer zu sagen, auf diesem dunkelgrünen Teppich«, sagte Lord Darcy. »Könnte Blut sein, könnte aber auch irgendeine andere dunkle Flüssigkeit sein. Jedenfalls ist es eingedrungen, aber nicht ganz bis zum Boden durchgesickert. Interessant.« »Darf ich?« Lord Bontriomphe bat mit der Hand um die Lupe. »Selbstverständlich«, sagte Darcy und reichte sie ihm. Während der Inspektor von London den Fleck untersuchte, sagte Lord Darcy zu Master Sean: »Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr einen Ähnlichkeitstest mit dem Fleck vornehmen würdet. Ich möchte wissen, ob es Blut ist, und wenn dies der Fall sein sollte, ob es das Blut von Sir James ist.« Nachdenklich kniff er die Augen etwas zusammen. »Und wenn Ihr schon dabei seid, dann überprüft doch auch bitte den Blutfleck um den Körper. Ich möchte ganz sicher sein, daß das alles wirklich das Blut von Sir James ist.« »Sehr wohl, My Lord. Wünscht Ihr außer den üblichen Tests noch irgendwelche anderen?« »Ja. Erstens: War tatsächlich irgend jemand in diesem Raum, als Sir James Zwinge starb? Zweitens: Wenn dieser Raum irgendwie mit Schwarzer Magie angegriffen wurde, welcherart war dann diese Schwarze Magie?« »Ich werde alles versuchen, Euch zufriedenzustellen, My Lord«, sagte Master Sean zweifelnd, »aber es wird nicht eben leicht sein.« -1 3 6
Lord Bontriomphe stand wieder auf und gab Master Sean die Lupe zurück. »Was soll denn daran so schwierig sein?« fragte er. »Ich weiß zwar, daß diese Tests nicht eben Routinearbeit sind, aber ich habe sogar schon Wanderhexer gesehen, die sie durchführten.« »Mein lieber Bontriomphe«, sagte Lord Darcy, »bedenkt doch einmal die Umstände! Wenn dieser Mord von einem Magier verübt wurde, wie wir annehmen, dann war es ein Meistermagier. Da er wissen mußte, daß dieses Hotel voll von anderen Meistermagiern ist, mußte er alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen durchführen, die seine Spur und seine Identität vertuschen konnten. Vorsichtsmaßnahmen also, an die ein gewöhnlicher Verbrecher gar nicht zu denken vermag, geschweige denn, sie auszuführen. Da Master Sir James gestern früh ermordet wurde, ist es wahrscheinlich, daß der Mörder die ganze vorhergehende Nacht zur Verfügung gehabt hat, um seine Zauber zu verhängen. Können wir also von Master Sean erwarten, in ein paar Minuten aufzudecken, wofür ein anderer eine ganze Nacht zur Verfügung gehabt hat?« Er griff in eine Jackentasche und zog einen Umschlag hervor, den ihm De London einige Zeit zuvor gegeben hatte. »Außerdem habe ich weitere Beweise, daß der Mörder, oder auch die Mörder dazu in der Lage sind, ihre Spuren zu verwischen. Der heutige Morgenbericht meines Oberassistenten Sir Eliot Meredith handelt davon, was er bisher über den Mord an Georges Barbour in Cherbourg herausgefunden hat. Er enthält zwei einander scheinbar völlig widersprechende Informationen.« Er sah Master Sean an. »Mein guter Sean, würdet Ihr mir Eure berufliche Meinung über den Wanderhexer geben, der Gerichtshexer bei Chief Henri ist?«
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»Edelmann Juseppy?« Master Sean spitzte den Mund und sagte: »Kompetent, würde ich sagen, sehr kompetent. Er ist natürlich kein Master, aber...« »Hieltet Ihr ihn für fähig, die beiden Tests durcheinanderzubringen, um die ich Euch gerade gebeten habe?« »Wir können alle einmal einen Fehler machen, My Lord. Aber... nein. Normalerweise würde ich sagen, daß die Aussagen von Edelmann Juseppy sehr zuverlässig sind.« »Normalerweise ganz genau! Aber, wenn er es mit den Tricks eines Masters zu tun hätte?« Master Sean zuckte mit den Schultern. »Dann wäre es bestimmt möglich, daß seine Ergebnisse falsch wären. Edelmann Juseppy hat einfach nicht solch ein Format.« »Dann könnte das die widersprüchlichen Informationen erklären«, meinte Lord Darcy. »Ich zögere zwar zu sagen, daß dies der Fall ist, aber es wäre immerhin möglich.« »Gut, gut«, sagte Lord Bontriomphe ungeduldig, »was sind denn das für widersprüchliche Informationen?« »Dem Bericht von Edelmann Juseppy zufolge, befand sich niemand im Raum, als Georges Barbour getötet wurde. Außerdem war er schon mehrere Stunden allein in dem Raum gewesen.« »Nun gut«, sagte Lord Bontriomphe, »aber worin besteht denn der Widerspruch?« »Der zweite Test«, sagte Lord Darcy langsam, »ist der Widerspruch. Edelmann Juseppy kam zu dem Ergebnis, daß keine Schwarze Magie nachgewiesen werden konnte, ja, daß überhaupt keinerlei Zauberei im Spiel war.« Master Sean O Lochlainn seufzte. »Well, My Lord, ich werde die Tests durchführen. Allerdings möchte ich einen weiteren Hexer zur Unterstützung rufen. Auf diese Weise...« -1 3 8
»Nein!« unterbrach ihn Lord Darcy heftig. »Auf gar keinen Fall! Ab nun seid Ihr, Master Sean, der einzige Hexer der Welt, dem ich uneingeschränkt vertrauen kann.« Der kleine irische Hexer wandte sich um, atmete tief durch und blickte Lord Darcy in die Augen. »My Lord«, sagte er mit leiser, feierlicher Stimme, »in aller Demut möchte ich darauf hinweisen, daß ich, während Ihr wahrscheinlich das beste kombinatorische Hirn der Erde besitzt, immer noch ein Meisterhexer bin.« Er hielt kurz inne und fuhr fort: »Wir arbeiten schon sehr lange zusammen, My Lord. Ich habe die Hexerei dazu verwendet, Beweismaterial zu bekommen, und Ihr habt aus diesem Material einen Zusammenhang erschlossen. Ihr könnt das eine nicht, My Lord, und ich nicht das andere. Bisher hat es eine schweigende Übereinkunft zwischen Euch und mir gegeben, My Lord, daß ich nicht versuche, Euer Handwerk zu betreiben und Ihr dafür nicht das meine. Ist diese Übereinkunft nicht mehr gültig?« Lord Darcy war einen Augenblick still und sammelte seine Gedanken. Dann sagte er in einer überraschend ähnlich leisen Stimme: »Master Sean, ich möchte aufrichtig um Verzeihung bitten. In meinem Gebiet bin ich ein Experte. Ihr seid ein Experte, was Hexerei und Hexer angeht. So soll es sein. Die Übereinkunft ist sehr wohl noch gültig, und das wird sich, glaube ich, auch niemals ändern.« Er stockte einen Augenblick lang, nahm einen tiefen Atemzug und sagte in einem normaleren Ton: »Selbstverständlich, Master Sean. Ihr mögt Euch jederlei Rat einholen!« Während des Augenblicks der Spannung zwischen den beiden Freunden hatte sich Lord Bontriomphe abgewendet, war zu der Leiche geschritten und hatte seinen Blick auf sie geheftet, ohne sie wirklich zu sehen.
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»Well, My Lord...« Master Seans Stimme verriet nur schwach seine peinliche Berührtheit. Er räusperte sich und begann aufs neue. »Well, My Lord, an Beratung habe ich eigentlich nicht gedacht. Was ich brauche, das ist ein fähiger Gehilfe. Mit Eurer Erlaubnis möchte ich Lord John Quetzal darum bitten, mir behilflich zu sein. Er ist nur ein Wanderhexer, aber er möchte einmal Justizhexer werden, und die Erfahrung wird ihm nützen.« »Aber natürlich, Master Sean, eine ausgezeichnete Wahl, möchte ich sagen. Nun laßt mal sehe n...« Er blickte wieder auf die Leiche. »Ich werde das Beweismaterial so wenig wie möglich bewegen. Diese Zeremonialdolche werden doch alle nach dem gleichen Muster hergestellt, oder?« »Jawohl, My Lord. Jeder Hexer muß sich seinen eigenen Dolch anfertigen, aber nach allergenauesten Vorschriften. Das ist etwas, was ein Zauberlehrling von Anfang an lernt, sein eigenes Gerät herzustellen. In diesem Beruf kann man das Gerät eines anderen nicht gebrauchen, ebensowenig wie das eines gewöhnlichen Handwerkers. Nur wenn man sie selbst herstellt, sind sie mit einem selbst verbunden. Sie müssen allgemein gleich sein und individuell verschieden.« »Das dachte ich mir. Erlaubt Ihr mir, Euren eigenen Dolch zu untersuchen, um nicht den von Master James berühren zu müssen?« »Aber natürlich.« Er nahm seinen Dolch aus dem Reisesack und reichte ihn Lord Darcy. »Schneidet Euch nicht, die Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser.« Lord Darcy zog den Dolch mit dem Onyxgriff aus seiner Weichlederscheide. Die glitzernde Klinge bildete ein genaues gleichschenkliges Dreieck, fünf Zoll vom Heft zur Klingenspitze und zwei Zoll Heftbreite. Lord Darcy drehte den Dolch und betrachtete die flache Seite des Knaufs. »Das ist Euer
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Monogramm und Symbol. Ich nehme an, daß das Messer von Sir James ge nauso gezeichnet ist?« »Jawohl, My Lord.« »Würdet Ihr so gut sein, den Dolch zu betrachten und festzustellen, ob es tatsächlich der von Sir James ist?« »Oh, das habe ich gleich als erstes getan. Ich habe den Dolch schon viele Male gesehen, es ist ganz bestimmt der von Sir James.« »Ausgezeichnet. Das erklärt, warum er sich hier befindet.« Er schob die tödlich aussehende Klinge wieder in ihre Scheide und gab sie dem kleinen Hexer wieder. »Die Klinge besteht aus reinem Silber, nicht wahr?« fragte Lord Bontriomphe. »Reines Silber, My Lord.« »Sagt mir: Wie könnt Ihr ein solch weiches Material rasiermesserscharf bekommen?« Master Sean lächelte. »Nun ja, ich gebe zu, daß es ziemlich schwierig ist, die Klinge überhaupt zu schärfen. Sie muß mit einem weichen Kalbsleder und mit Juweliersrouge abgerieben werden. Aber der Dolch wird nur symbolisch als Messer verwendet, versteht Ihr? Wir schneiden ja nie wirklich etwas damit, und so brauchen wir nicht nachzuschleifen. »Aber wenn Ihr sowieso nichts damit schneidet«, fragte Lord Bontriomphe, »warum schärft Ihr ihn dann überhaupt?« Master Sean sah den Londoner Inspektor ziemlich gequält an. »My Lord«, sagte er mit unendlicher Geduld, »dies ist ein Symbol für ein scharfes Messer. Ich habe auch ein leicht anderes mit stumpfem Ende; es ist ein Symbol für ein stumpfes Messer. Euer Lordschaft müssen begreifen, daß das beste Symbol für einen bestimmten Gegenstand meistens der Gegenstand selbst ist.«
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Lord Bontriomphe grinste und drehte die Handflächen nach außen. »Entschuldigung, Master Sean, Entschuldigung. Aber erteilt mir nun bitte bloß keine Lektion in Symboltheorie für Fortgeschrittene. Ich konnte noch nie etwas damit anfangen.« »Wollt ihr Euch sonst noch irgend etwas anschauen?« fragte Lord Darcy lebhaft. »Wenn nicht, dann schlage ich vor, daß wir uns davonmachen und Master Sean seinen Geschäften überlassen. Wir werden den Wachen an der Tür sagen, daß Ihr nicht gestört werden dürft, Master Sean. Wenn Ihr fertig seid, dann gebt dem Oberwachtmeister Hennely Grayme bitte Bescheid, daß sofort eine Autopsie des Körpers durchgeführt werden soll. Und ich wäre sehr erfreut, wenn Ihr persönlich mit ins Leichenschauhaus gehen würdet und den Chirurgus selbst überwacht.« »In Ordnung, ich werde mich darum kümmern. Ich werde den Bericht sofort als möglich an das Büro von My Lord Marquis schicken.« »Ausgezeichnet. Kommt, Bontriomphe, wir haben noch viel zu tun.« Während Lord Bontriomphe den Wachmännern vor Sir James Zwinges Zimmer Anweisungen erteilte, durchschritt Lord Darcy die Halle, blieb vor der dem Raum gegenüberliegenden Tür stehen und klopfte fest an. »Sind Euer Gnaden in Dezenz?« Drinnen war das Geräusch hastiger Bewegung zu hören, dann flog die Tür auf. »My Lord, Ihr habt mich erschreckt!« sagte die Herzoginwitwe von Cumberland und schenkte Lord Darcy ein strahlendes Lächeln. Lord Darcy senkte die Stimme so weit, daß ihn weder Lord Bontriomphe noch die Wachmänner verstehen konnten. »Es gibt ein altes Sprichwort, das besagt, daß Leute, die an Schlüssellöchern lauschen, oft erschreckende Dinge zu hören bekommen.«
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In gewöhnlicher Lautstärke fuhr er dann fort: »Ich möchte Euer Gnaden einen Augenblick allein sprechen, wenn das gestattet ist.« »Selbstverständlich, My Lord.« Sie trat zurück, und er schloß beim Eintreten die Tür hinter sich. »Was ist los?« fragte sie. »Ein paar kurze Fragen, Mary. Ich brauche deine Hilfe.« »Ich dachte, daß du nach Cherbourg zurückkehren wolltest, sobald Master Sean aus dem Tower entlassen würde.« »Die Lage hat sich verändert«, unterbrach er sie. »Bontriomphe und ic h arbeiten jetzt gemeinsam an dem Fall. Aber das ist jetzt erst einmal unwichtig. Als du mir gestern von Demoiselle Tia erzählt hast, hast du vergessen, mir von ihrer Beziehung zu Sir Thomas Leseaux zu berichten.« Die Augen Ihrer Hoheit weiteten sich. »Aber - abgesehen davon, daß er zu der Gruppe von Leuten gehörte, die ihre Aufnahme als Zauberlehrling in die Gilde beantragt haben, weiß ich von keiner Beziehung. Warum?« Lord Darcys Gesicht verdunkelte sich nachdenklich. »Wenn ich nicht sehr irre, geht die Beziehung noch viel weiter und tiefer. Sir Thomas liebt dieses Mädchen - jedenfalls glaubt er das. Er hat auch Angst davor, daß sie in irgendwelche kriminelle, illegale Dinge verwickelt sein könnte - und er hat Angst, sich diese Möglichkeit selbst einzugestehen.« »Kriminell? Meinst du Schwarze Magie oder...« Sie zögerte. »Oder den tatsächlichen Mord an Sir James?« »Ich weiß es nicht. Es könnte sowohl das eine als auch das andere sein, oder gar beides - oder etwas gänzlich anderes. Aber es interessiert mich eigentlich weniger, was Sir Thomas glaubt, als was dieses Mädchen getan hat und noch tut, was im Zusammenhang mit dem Mord steht. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, daß sie erfährt, daß sie unter Verdacht steht. Deshalb möchte ich sie auch lieber nicht selbst verhören. Bis jetzt hat sie -1 4 3
nur die Routinebefragung der Wachmänner durchlaufen und weiß nichts davon, daß sie gesehen wurde, wie sie das Zimmer von Sir James verließ. Und das soll sie vorläufig auch nicht erfahren.« »Du willst also, daß ich sie ausfrage?« sagte die Herzogin mit glänzenden Augen. »Genau. Ich kenne dich, Mary; du wirst sowieso herumschnüffeln, und es wäre mir lieber, wenn die Arbeit aller Schnüffler in diesem Fall einigermaßen koordiniert bleibt. Also wird dein Auftrag sein, Demoiselle Tia zu übernehmen. Befrage sie, aber nicht zu auffällig. Versuche es indirekt und feinfühlig. Lerne sie besser kennen, versuche, ihr Vertrauen zu gewinnen, wenn es möglich ist. Es wäre wohl nichts Verdächtiges dabei, wenn ihr beide den Mord besprecht. Ich nehme an, daß das ganze Hotel darüber redet?« Sie lachte auf. »Darüber redet? Hast du nicht die psychologische Spannung hier bemerkt?« »Etwas, ja, aber offenbar nicht so sehr wie du.« »Sie ist jedenfalls vorhanden. In den letzten vierundzwanzig Stunden sind genügend Amulette aufgeladen, Zauber und Gegenzauber verhängt worden, um die ganze Phalanx der Höllenlegionen abzuhalten.« Ihr Lächeln wich einem ernsteren Gesichtsausdruck. »Sie reden hier nicht nur darüber, sie tun auch etwas. Die Gilde ist wesentlich beunruhigter, als das nach außen hin den Anschein haben mag. Es läuft ein Schwarzer Hexer herum, der stark genug ist, Sir James Zwinge zu töten; das kann schon jeden Master aufregen. Was meinst du, was das erst für einen Eindruck auf die Wanderhexer macht? Wir müssen ihn einfach finden - und doch haben die Abwehrzauber in diesem Hotel jede mögliche Spur des Bösen verwischt, die doch wie Sumpfnebel über diesem Ort hängen müßte. Wir sind alle völlig durcheinander.« -1 4 4
»Das wundert mich nicht«, sagte Lord Darcy. »Aber das gibt dir wenigstens die Möglichkeit, jederzeit das Thema anzuschneiden, ohne in Verdacht zu geraten.« »Das ist wahr. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, den wir berücksichtigen müssen. Es wird sich bald überall herumgesprochen haben, wenn das nicht schon geschehen sein sollte, daß du diesen Fall bearbeitest, und es ist gewiß kein Geheimnis, daß wir beide befreundet sind. Wenn die Demoiselle Tia das wissen sollte, wird sie versuchen, mich nach Informationen auszuquetschen.« »Laß sie es ruhig versuchen, meine Liebe. Stell fest, was für Informationen sie haben will. Wenn sie nur ganz gewöhnliche Fragen stellt, dann sagt uns das schon etwas. Stellt sie aber Fragen, die ein bißchen zu drängend und unpassend sind, dann sagt uns das etwas anderes. Aber erzähl ihr nichts, was nicht sowieso schon jeder weiß. Sag ihr, daß ich sehr zurückhaltend bin, daß ich ein Langweiler bin - irgend etwas, solange du damit klarmachen kannst, daß ich dir nichts erzähle. Und halte sie genau im Auge, wenn du das tun kannst, ohne allzu auffällig zu wirken. Wirst du das für mich tun, Mary?« »Ich werde mein Bestes versuchen, My Lord.« »Ausgezeichnet. Lord Bontriomphe und ich werden unser vorläufiges Hauptquartier hier im Hotel aufschlagen. Es wird sich immer ein Wachsergeant dort im Dienst befinden. Wenn du irgendeine Nachricht für mich hast, dann laß sie ihn wissen oder gib ihm einen versiegelten Umschlag mit meinem Namen.« »Verstanden«, sagte Ihre Hoheit. »Ich nehme den Auftrag an. Schnüffel du mal auf deiner Linie weiter, ich tue es auf meiner.« Lord Bontriomphe wartete geduldig in der Halle. »Wohin jetzt?« fragte er. »Nach unten, um mit dem Generaldirektor Edelmann Lewie zu sprechen«, sagte Lord Darcy. »Wir können uns ja ruhig um unser vorläufiges Hauptquartier kümmern.« -1 4 5
Sie schritten die Halle entlang. »Habt Ihr drei gute Wachsergeanten, die Ihr entbehren könnt, so daß wir eine vierundzwanzigstündige Besetzung haben können?« »Kein Problem«, sagte Lord Bontriomphe. »Zivil oder uniformiert?« »Auf jeden Fall uniformiert. Es wird sowieso jeder wissen, daß sie Wachmänner sind, und uniformierte Wachmänner lenken die Aufmerksamkeit von etwaigen Zivilen ab, die wir vielleicht noch einsetzen.« »In Ordnung. Ich werde Chief Hennely Instruktionen geben.« Unten am Schalter bat Lord Darcy darum, mit Edelmann Lewie Bolmer sprechen zu können. Der Hotelangestellte kehrte sofort zurück und sagte: »Edelmann Lewie bittet anzufragen, ob Euer Lordschaften die Güte haben würden, mir nach hinten in sein Büro zu folgen.« Die beiden Inspektoren folgten dem Angestellten. Lewie Bolmer stand auf, um sie zu begrüßen. Der Generaldirektor sah sehr abgemagert aus. Er hatte große Tränensäcke unter den Augen, und seine Haut war dunkel und faltig. Sein Lächeln wirkte zwar echt, aber auch genauso müde wie sein ganzes Wesen. »Guten Tag, Euer Lordschaften«, sagte er. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Lord Bontriomphe stellte Lord Darcy vor, und beide erklärten ihm, daß sie ein vorläufiges Hauptquartier benötigten. »Ich glaube... ja, wir haben genau das, was Euer Lordschaften brauchen«, sagte der Direktor nach kurzem Nachdenken. »Ich kann Euch im Büro des Nachtdirektors einquartieren. Er kann sich das Büro mit dem Nachmittagsdirektor teilen, wenn er überhaupt... äh, wenn er zurückkommt. Ich werde seine Sachen aus dem Schreibtisch nehmen lassen und... äh... ins andere Büro -1 4 6
bringen lassen. Das Büro ist eigentlich recht groß, nur wenig kleiner als dieses. Würde das ausreichen?« »Wir würden es uns gern einmal anschauen, wenn das gestattet ist«, sagte Lord Darcy. »Aber selbstverständlich. Wenn Euer Lordschaften mir folgen wollen...« Er führte sie zu einem Gang, der von der Empfangshalle in den hinteren Gebäudeteil führte, direkt vom Empfangsschalter ausgehend. Nur wenige Yards von der Empfangshalle entfernt, führten zwei Türen nach rechts, hinten im Gang befanden sich weitere Türen auf beiden Seiten. »Die erste Tür ist die vom Büro des Nachmittagsdirektors«, erklärte er. Er öffnete die zweite Tür und machte eine einladende Bewegung in den Raum, der etwa fünfzehn mal fünfzehn Fuß groß war. »An dieses Büro habe ich gedacht.« »Gefällt mir«, sagte Lord Bontriomphe. »Was meint Ihr, Darcy?« »Ausgezeichnet, würde ich sagen.« Er blickte den Flur entlang. »Wohin führt dieser Flur, Edelmann Lewie?« »Dort hinten sind die Räumlichkeiten für das Hotelpersonal. Zimmermannsräume, Möbelreparaturwerkstätten, Wäscherei, Hausmeisterei und so weiter. Die Tür am anderen Ende ist der Hintereingang. Sie führt auf die Potsmoke Alley, die eine Verlängerung der Upper Swandham Lane ist.« »Kann man sie von außen öffnen?« »Nur mit einem Schlüssel. Es befindet sich ein Nachtschloß daran. Jeder kann durch die Tür hinausgehen, aber um hineinzukommen, braucht man einen Schlüssel.« »Ich habe eine Idee«, sagte Lord Bontriomphe. »Wir können dort einen Wachma nn postieren, der darauf achtet, daß nur autorisierte Personen hineingelangen. Dann schließen wir die Tür auf. Auf diese Weise können die Wachmänner kommen und -1 4 7
gehen, ohne durch Eure Empfangshalle zu stampfen und Eure Gäste stören zu müssen. Wärt Ihr damit einverstanden?« »Selbstverständlich, Euer Lordschaft.« »Gut. Ich werde einen Wachsergeanten herschicken, um das Büro zu übernehmen.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft. Ich werde den Schreibtisch leerräumen lassen. Gibt es sonst noch etwas?« »Ja«, sagte Lord Darcy. »Eine andere Sache noch. Gestern stand das Hotel doch nur den Mitgliedern des Heiler- und Hexerkongresses offen, nicht wahr?« »Und ihren Gästen, ja. Es wurde nur eingelassen, wer hier zu tun hatte. Die Türsteher hatten genaueste Anweisungen erhalten.« »Ich verstehe. Hat man eine Liste geführt?« »Aber ja! An der Tür wird immer eine Liste geführt. Heute natürlich nicht, denn es ist ja Tag der Offenen Tür, aber wenn der Kongreß geschlossen ist, immer.« »Ich würde diese Liste gerne einmal einsehen, wenn Ihr erlaubt«, sagte Lord Darcy. »Selbstverständlich, Euer Lordschaft. Gehen wir in mein Büro zurück? Ich werde Euch sofort die Liste bringen.« Kurze Zeit darauf blickten die drei Männer durch das in Leinen gebundene Gästeregister, das offen auf Bolmers Schreibtisch lag. »Dies ist die Seite für Mittwoch«, sagte Lewie Bolmer. »Von Mitternacht bis Mitternacht.« Lord Darcy und Lord Bontriomphe blickten die Liste durch. Es gab vier Spalten: Ankunftszeit, Name, Besuchsgrund, Zeit des Fortgangs. Es gab nicht viele Eintragungen. Die erste war um halb sieben, als ein Mann des Königlichen Postdienstes die Post gebracht hatte; er war um 6.35 Uhr wieder gegangen. Um zwölf -1 4 8
Minuten vor neun war Commander Ashley angekommen und hatte als Besuchsgrund angegeben: »Amtliche Nachr icht für Meisterhexer Sean O Lochlainn.« Er war um 9.55 Uhr gegangen. Zwei Minuten nach neun war Lord Bontriomphe gekommen, »in persönlicher Angelegenheit des Marquis von London«. Die Zeit seines Fortgehens war nicht vermerkt. Der nächste Eintrag war von 9.51 Uhr. Er besagte nur: »Wachmann Chief Hennely Grayme und vier Wachmänner. Im Auftrag des Königs.« »Nicht sehr aufschlußreich«, sagte Lord Bontriomphe. »Aber das habe ich auch nicht erwartet.« Lord Darcy grinste. »Was für einen Eintrag habt Ihr denn erwartet? ›9.20 Uhr: Meisterhexer Luzifer S. Beelzebub. Grund des Besuchs: Master Sir James Zwinge zu ermorden. Zeit des Fortgehens: 9.31 Uhr ‹ vielleicht?« »Das wäre sehr nützlich gewesen«, gab Lord Bontriomphe zu. »Ich stelle fest, daß weder für Euch noch für die Wachmänner die Zeit des Fortgehens eingetragen wurde.« Er sah Edelmann Lewie an. »Warum?« Der Hoteldirektor war gerade dabei, ein Gähnen zu unterdrücken. »Eh? Wie bitte, Euer Lordschaft? Die Abgangszeit? Well, es kamen so viele Wachmänner herein und gingen wieder, daß ich die Türsteher anwies, jeden Königlichen Kriminalbeamten frei kommen und gehen zu lassen.« Abermals unterdrückte er ein Gähnen. »Entschuldigt mich. Schlafmangel. Der Nachtdirektor, der normalerweise die Schicht von Mitternacht bis neun Uhr morgens übernimmt, ist letzte Nacht nicht aufgetaucht, da mußte ich für ihn einspringen.« »Völlig in Ordnung«, sagte Lord Darcy, der immer noch ins Register blickte. Für den Nachmittag gab es mehr Einträge, hauptsächlich Besuche von Geschäftsleuten und Händlern, die -1 4 9
entweder Hexerei in ihren Geschäften anwandten oder sich der Dienste von Hexern bedienten. Eine Eintragung aber machte ihn stutzig. »Was ist das denn?« fragte er und zeigte mit dem Finger darauf. Lord Bontriomphe las sie laut vor: »›14.54 Uhr: Commander Lord Ashley; amtliche Geschäfte mit Direktor Bolmer.‹ Kein Eintrag für das Fortgehen.« »Wah-... well, Euer Lordschaften, es kamen und gingen einige Marineleute. In offiziellem Auftrag.« »Offizieller Auftrag? Warum wollten sie denn mit Euch reden?« »Nicht mit mir. Mit... mit Paul Nichols, meinem Nachtdirektor.« »Worüber?« »Ich... ich bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, Euer Lordschaft. Strikte Anweisung der Admiralität.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy mit harter Stimme. »Danke, Edelmann Lewie. Der Wachsergeant wird später kommen, um das Büro zu übernehmen. Kommt, Bontriomphe.« Er drehte sich um und schritt aus dem Zimmer. Lord Bontriomphe folgte ihm auf den Fersen. Sie waren bereits in der zweiten Hälfte der Empfangshalle und zwängten sich durch die übervölkerte Ausstellung, bevor Lord Bontriomphe sprach. »Sehe ich Blut in Euren Augen?« »Das könnt Ihr verdammt noch einmal sagen!« schnappte Lord Darcy. »Wie weit ist es von hier zum Admiralitätsbüro?« »Zu Fuß zehn Minuten. Wenn wir die Kutsche nehmen, sind es drei.« »Dann nehmen wir auf jeden Fall die Kutsche«, sagte Lord Darcy. -1 5 0
Barney, der Lakai, stand neben der Kutsche, die nahe dem Eingang des Royal Steward am Pflasterrand stand. »Barney«, rief Lord Bontriomphe, »wo ist Denys?« »Immer noch im Pub, My Lord«, rief der Lakai zurück. »Alles fertig machen zur Abfahrt, ich werde ihn holen«, rief Lord Bontriomphe und rannte über die Straße ins Pub, aus dem er dreißig Sekunden später mit dem Kutscher wieder hervorstürmte. »Zum Admiralitätsbüro!« befahl Lord Bontriomphe, während Denys seinen Kutscherschemel bestieg. »So schnell wie Ihr könnt!« Er stieg neben Darcy ein. »Smollett hält uns also im Dunkeln«, sagte er, während die Kutsche mit einem Ruck nach vorne sprang. »Jedenfalls weiß er etwas, das wir nicht wissen, so viel ist sicher«, sagte Lord Darcy. »Man darf nicht vergessen, daß dieser Befehl, nichts zu verraten, Bolmer gestern gegeben wurde, bevor uns der König auftrug, den Fall gemeinsam zu lösen.« »Das ist richtig«, sagte Lord Darcy, »aber wenn man bedenkt, daß die Marine völlig aufgeregt über einen Mann ist, der plötzlich vermißt wird, und wenn man ferner berücksichtigt, daß Edelmann Lewie Bolmer durch sein Verhalten zeigt, daß er davon überzeugt ist, daß sein Nachtdirektor nicht mehr zurückkommen wird, dann ist es doch wohl mehr als seltsam, daß weder Smollett noch Ashley heute morgen etwas davon erwähnt haben.« »Mehr als seltsam«, stimmte Lord Bontriomphe zu. »Das meinte ich ja: Smollett hält uns im dunkeln. Wollt Ihr ihn festhalten, während ich ihm ins Auge steche, oder machen wir es umgekehrt?«
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»Weder noch«, sagte Lord Darcy. »Wir nehmen jeder einen Arm und biegen ihn kräftig nach hinten.«
Teil 3 Keine vier Minuten später stiegen die beiden Männer die Treppen des Admiralitätsbüros hoch und gelangten durch die weiten Türen in ein großes Wartezimmer, das fast so groß wie ein Hotelempfangssaal war. Sie steuerten gerade auf den Informationsschalter zu, als Lord Darcy eine ihm bekannte Person wahrnahm. »Da ist ja unser Täubchen«, murmelte er zu Lord Bontriomphe und rief laut: »Ah, Commander Ashley!« Lord Ashley drehte sich um, erkannte sie und lächelte freundlich. »Guten Tag, My Lords. Kann ich Euch behilflich sein?« »Das will ich doch hoffen!« sagte Lord Darcy. Lord Ashleys Lächeln verschwand. »Was ist denn los? Ist irgend etwas passiert?« »Das weiß ich nicht. Das möchte ich ja von Euch erfahren! Warum interessiert sich die Marine so sehr für einen gewissen Paul Nichols, den Nachtdirektor vom Royal Steward?« Lord Ashley zuckte etwas zusammen. »Hat Euch das Captain Smollett nicht gesagt?« »Klar hat er das gesagt«, sagte Lord Bontriomphe. »Alles hat er uns gesagt. Aber wir haben alles wieder vergessen. Deswegen sind wir jetzt hier und stellen Fragen.«
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Commander Ashley beachtete den Sarkasmus des Inspektors von London nicht. In seinen Seemannsaugen war ein etwas beunruhigter Ausdruck. Abrupt entschied er sich. »Diese Information muß Euch Captain Smollett selbst geben. Ich werde Euch in sein Büro führen. Darf ich ihm melden, daß Ihr gekommen seid, um die Sache direkt von ihm selbst erklärt zu bekommen?« »Aha«, sagte Lord Darcy mit einem trockenen Lächeln, »Captain Smollett zieht es offenbar vor, daß seine Subalternen Schweigen bewahren, eh?« Lord Ashley lächelte schief. »Ich habe meine Befehle. Und sie haben ihren guten Grund. Schließlich hat der Marinegeheimdienst nicht die Angewohnheit, seine Informationen in alle Welt hinauszuposaunen.« »Das ist mir bekannt«, sagte Lord Darcy, »und ich verlange auch nicht, daß der Marinegeheimdienst seine Gewohnheiten ändert. Dennoch waren, meine ich, Seiner Majestät Befehle in diesem Punkt unmißverständlich.« »Ich bin sicher, daß der Captain das bloß übersehen hat. Diese Affäre hat das gesamte Geheimdienstkorps in Aufruhr versetzt, und Captain Smollett und sein Stab haben, wie ich Euch heute morgen bereits sagte, wenig Hoffnung, daß man die Mörder finden wird.« »Und haben vermutlich auch kein allzu großes Interesse daran«, sagte Lord Darcy. »So weit würde ich nicht gehen, My Lord; es ist bloß, daß wir meinen, daß es nicht unsere Aufgabe ist, gedungene polnische Attentäter zu jagen. Dafür sind wir nicht ausgerüstet. Unsere Aufgabe besteht in dem unmöglichen Auftrag, alles Erdenkliche über König Casimirs Marine herauszufinden und zu verhindern, daß er irgend etwas über uns herausfindet. Ihr seid dazu -1 5 3
ausgebildet und ausgerüstet, Mörder zu fangen, und wir überlassen Euch, wie ich finde zu Recht, diese Aufgabe.« »Ohne die dazugehörigen Informationen können wir nicht arbeiten«, sagte Lord Darcy, »und die wollen wir uns jetzt holen.« »Well, ich weiß nicht, ob diese Information dazugehört oder nicht, aber kommt bitte mit, ich bringe Euch zu Captain Smollett.« In seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes saß im Vorzimmer ein mittelalter Subaltern-Offizier hinter einem Schreibtisch und blickte Commander Ashley an, ohne die beiden Zivilisten auch nur eines Blickes zu würdigen. »Ja, My Lord Commander?« fragte er. »Teilt bitte Captain Smollett mit, daß Lord Darcy und Lord Bontriomphe ihn zu sprechen wünschen. Er wird Bescheid wissen, worum es geht.« »Aye, My Lord.« Er stand auf, betrat das Büro und kam etwa eine Minute später wieder heraus. »Komplimente des Captains, My Lords. Er möchte Euch alle drei sofort in seinem Büro sprechen.« Es gibt drei Arten, so etwas zu machen, dachte Lord Darcy bei sich, die richtige Art, die falsche Art und die Marineart. Als sie eintraten, stand Captain Smollett hinter seinem Schreibtisch, eine Pfeife fest im Mund und sagte forsch: »Tach, My Lords. Nicht erwartet, Euch so schnell wiederzusehen. Nehme an, daß Ihr Informationen für mich habt.« »Ich hatte eigentlich eher gehofft, daß Ihr Informationen für uns hättet, Captain«, sagte Lord Darcy. Smollett hob die Augenbrauen.
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»Eh? Nicht viel, fürchte ich«, sagte er durch die Zähne. »Nichts Neues seit heute morgen. Deswegen hoffte ich ja, daß Ihr Informationen habt.« »Ich will keine neuen Informationen, Captain Smollett. Inzwischen kann das ganze schon ziemlich veraltet sein. Gestern nachmittag ist Euer Agent Lord Ashley um 14.54 Uhr ins Royal Steward Hotel zurückgekehrt. Danach kamen und gingen zahlreiche andere Eurer Agenten. Der Generaldirektor, Edelmann Lewie Bolmer, hat uns mitgeteilt, daß er strikte Anweisungen der Marine erhalten hat, im Namen des Königs niemandem Informationen weiterzugeben; das schließt offenbar auch befugte Königliche Kriminalbeamte ein, die mit Sondervollmachten arbeiten, mittels derer sie ebenfalls im Namen des Königs handeln und reden dürfen. Ich hätte ihn dazu zwingen können, uns die Information zu geben, aber er handelte in gutem Willen und hatte schon genug eigene Sorgen. Ich meinte, daß Ihr uns alle Informationen geben könnt und noch einiges darüber Hinausgehende. Wir trafen My Lord Commander unten, aber er steht zweifellos ebenfalls unter dem Befehl, also bin ich lieber gleich zu Euch gekommen, um meine Zeit nicht zu verschwenden. So viel wissen wir: Edelmann Paul Nichols, der Nachtdirektor, ist letzte Mitternacht nicht zum Dienst erschienen. Dies ist offenbar von Wichtigkeit; und doch haben Eure Agenten bereits neun Stunden zuvor nach ihm gefragt. Was wir wissen wollen, ist, warum. Ich werde Euch nicht fragen, warum uns diese Information heute morgen vorenthalten wurde; ich werde lediglich darum fragen, diese Information sofort zu bekommen.« Captain Smollett war einige Sekunden lang still und blickte mit kalten grauen Augen Lord Darcy gerade ins Gesicht. »Hm«, sagte er schließlich. »Das habe ich wohl verdient. Hätte es heute morgen erwähnen sollen. Gebe ich zu. Die Sache ist nur, das fällt eigentlich gar nicht in unseren -1 5 5
Kompetenzbereich, jedenfalls normalerweise nicht. Wir suchen Nichols zwar überall, aber er hat nichts getan, was wir ihm nachweisen könnten.« »Was hat er denn vermutlich getan?« »Etwas gestohlen«, sagte Captain Smollett. »Das Problem ist, daß wir nicht einmal beweisen können, daß die Sache, die er gestohlen haben soll, jemals existiert hat. Und wenn sie existierte, wüßten wir nicht, wie wertvoll oder wertlos sie eigentlich ist.« »Sehr mysteriös«, sagte Lord Bontriomphe. »Für mich jedenfalls. Hat die Sache vielleic ht auch irgendeinen Anfang?« »Hm, hm. Tschuldigung, wollte nicht mysteriös erscheinen. Eh, setzt Euch doch! Brandy ist da drüben auf dem Tisch. Commander, schenkt Brandy ein! Setzt Euch, macht es Euch bequem! Ziemlich lange Geschichte, das.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, griff nach einem Stapel Ordner und entnahm einem von ihnen einen Umschlag. »So sieht's aus: Zwinge war vielbeschäftigter Mann. Mußte auf tausend Sachen achten. Schon die Arbeit eines Obersten Gerichtshexers der Stadt London reicht aus, um einen Mann voll auszulasten.« Er sah Lord Bontriomphe an. »Hand aufs Herz, My Lord: Habt Ihr jemals vermutet, daß er für den Marinegeheimdienst arbeitet?« »Nie«, gab Bontriomphe zu, »obwohl er wirklich hart genug arbeitete. Er war dauernd beschäftigt und gehörte zu der Sorte Leute, für die mehr als fünf Stunden Schlaf pro Nacht ein Zeichen von Müßiggang sind. Sagt mir, Captain, wußte My Lord Marquis davon?« »Es wurde ihm nie mitgeteilt«, sagte Captain Smollett. »Zwinge sagte zwar, daß er vermute, daß My Lord de London
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von seiner Marinetätigkeit wisse, aber er hat es jedenfalls nie erwähnt.« »Das würde er auch nicht tun«, sagte Lord Bontriomphe. »Nein, natürlich nicht. Jedenfalls hatte Sir Zwinge viele Eisen im Feuer. Passiert noch mehr in Europa als nur diese Angelegenheit hier, kann ich beschwören! Trotzdem war es ihm wichtig, auf diesen Heiler- und Hexerkongreß zu gehen. Meinte, daß es dumm aussehen würde, wenn er das nicht täte, wo er schon in London war und so. Aber natürlich hat er auch dort noch weitergearbeitet.« »Deshalb hat er zweifellos den Zauber auf sein Türschloß gelegt«, sagte Lord Darcy. »Zweifellos, zweifellos«, stimmte Captain Smollett zu. »Jedenfalls hat er mir gestern morgen diesen Brief per Boten aus dem Hotel überbringen lassen.« »Er reichte Lord Darcy den Umschlag. »Wie Ihr sehen könnt, wurde er um 7.45 Uhr abgestempelt.« Lord Darcy betrachtete die Aufschrift, die an Captain Smollett gerichtet und mit dem Vermerk ›Persönlich‹ versehen war. Er öffnete den Briefumschlag und entna hm ihm ein einzelnes Blatt Papier. »Das ist kodiert«, sagte Lord Darcy. »Natürlich«, sagte Captain Smollett. Er nahm ein weiteres Blatt von dem Stapel und gab es Lord Darcy. »Hier ist die Dechiffrierung«, sagte er. Lord Darcy las den Text laut vor: »Sir: Ich befinde mich im Besitz eines besonderen Pakets für Euch, das hochwichtige Informationen enthält und das ich soeben erhalten habe. Im Augenblick ist es für mich unmöglich, das Hotel zu verlassen, und ich will die Nachricht keinem gewöhnlichen Boten anvertrauen. Folglich habe ich den Umschlag mit einem Siegel darauf dem Hoteldirektor, Edelmann Paul Nichols, gegeben. Er -1 5 7
hat ihn in den Hotelsafe gebracht und hat Anweisungen, ihn Eurem Kurier zu überreichen.« Unterzeichnet war der Brief mit einem einzelnen Buchstaben: ›Z‹. Lord Darcy reichte die Papiere zurück. »Ich verstehe, Captain. Fahrt bitte fort.« »Wie ich schon sagte, kam die Botschaft um 7.45 Uhr an. Sie wurde mir mit der Morgenpost auf den Schreibtisch gelegt. Nun bin ich erst wenige Minuten vor zehn hier ins Büro gekommen. Hatte keine Zeit gehabt, meine Post auch nur anzuschauen, da kam schon Commander Ashley herein und brachte mir die Botschaft aus Cherbourg, daß Barbour ermordet worden war, was ja schon schlimm genug war, und daß außerdem Master Sir James nur eine halbe Stunde zuvor erdolcht worden war. Da Ihr bereits wißt, wie wichtig uns die ganze Angelegenheit ist, werdet Ihr verstehen, daß ich in den nächsten Stunden ein sehr beschäftigter Mann war. Hab' meine Post erst gegen zwei Uhr, nein, später, durchsehen können. Als ich den Brief dekodiert hatte, schickte ich Ashley hier rüber, um das Paket zu holen.« Er sah den Commander an. »Besser, wenn Ihr jetzt fortfahrt, Commander. Bin sicher, Lord Darcy hat seine Information am liebsten aus erster Hand.« »Aye, Sir.« Er wandte sich Darcy zu. »Ich ging sofort ins Hotel und fragte nach Edelmann Lewie und sagte ihm, daß Sir James einen an Captain Smollett adressierten Umschlag im Hotelsafe aufbewahrt hatte, der der Marine übergeben werden sollte. Er sagte, daß er nichts davon wisse. Da sagte ich ihm, daß Edelmann Paul den Umschlag in Empfang genommen hatte. Er teilte mir mit, daß Edelmann Paul nichts davon erwähnt habe, als er um neun seinen Dienst verließ, aber er war bereit, den Safe zu öffnen und den Ums chlag auszuhändigen. Ich stand -1 5 8
dabei, als er den Safe öffnete. Es ist ein kleiner Safe, und es war nicht viel drin, auf jeden Fall kein Umschlag, der an Captain Smollett adressiert wäre. Es gab auch keine Spur davon. Bolmer beteuerte, daß er den Safe an diesem Morgen nicht geöffnet habe, und die beiden Angestellten im Empfang bestätigten das. Bolmer und seine beiden Hilfsdirektoren sind die einzigen, die die Kombination kennen, und der Sicherheitszauber gestattet es bloß dem jeweiligen diensthabenden Direktor, während seiner Schicht, und zwar nur dann, den Safe zu öffnen; also kann ihn der Nachmittagsdirektor nur von 15.00 Uhr bis Mitternacht und der Nachtdirektor nur von Mitternacht bis 9.00 Uhr morgens öffnen.« Lord Darcy nickte. »Das weist natürlich sehr stark auf Edelmann Paul hin. Nur er konnte also das Paket entwendet haben.« »Ganz mein Denken«, sagte Commander Lord Ashley. »Natürlich bestand ich darauf, sofort mit Edelmann Paul Nichols sprechen zu können, und fragte nach seiner Privatadresse. Es stellt sich heraus, daß er im Hotel wohnte, er hat ein Zimmer im Obergeschoß. Bolmer nahm mich mit nach oben und klopfte an Nichols' Tür, ohne jedoch Antwort zu erhalten. Bolmer öffnete die Tür mit einem Nachschlüssel, und wir traten ein. Nichols war nicht da. Sein Bett war gemacht und sah keineswegs so aus, als habe jemand darin geschlafen. Bolmer sagte, daß dies seltsam wäre, denn normalerweise geht Nichols etwas essen, nachdem er von der Schicht kommt, und kehrt dann ins Hotel zurück, um bis sechs Uhr zu schlafen.« »Hat Nichols den Hotelservice in Anspruch genommen?« Der Commander nickte. »Ja, das. hat er. Nichols ging recht häufig abends aus, und das Zimmermädchen hatte Anweisung, das Zimmer zwischen 19.30 und 20.30 Uhr aufzuräumen. Ich durchsuchte den Raum und -1 5 9
seine Sachen. Er schien nichts gepackt zu haben. Sein Koffer stand leer im Schrank, und Bolmer sagte, daß es seines Wissens der einzige Koffer war, den Nichols besaß.« »Das ist der Vorteil, wenn man in der Spionageabwehr arbeitet«, sagte Lord Bontriomphe seufzend. »Wenn ein Kriminalbeamter Seiner Majestät ein Zimmer ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht, dann hat er hinterher einige Schwierigkeiten, sein Vorgehen dem Richter plausibel zu machen.« »Na ja«, erwiderte Ashley, »richtig durchsucht habe ich den Raum nicht, ich habe mich eher umgesehen.« »Er ist also nicht dagewesen und hat sein Bett auch seit dem letzten Abend nicht mehr benutzt?« »Genau. Ich befragte das Hotelpersonal. Niemand hatte ihn von seinem Frühstück, das heißt, für ihn war es wahrscheinlich das Abendessen, zurückkommen sehen, also wies ich Bolmer an, nichts zu sagen, aber uns zu benachrichtigen, sobald Nichols zurückkehren sollte. Dann kam ich wieder hierher und erstattete Captain Smollett Bericht.« »Suchen ihn seitdem«, berichtete der Captain. »Haben Männer ins Hotel geschickt, die auf ihn warten sollten, wenn er um Mitternacht kommen sollte. Tauchte aber nicht auf. Immer noch keine Spur von ihm.« »Ihr vermutet also, daß zwischen dem Verschwinden des Pakets und dem von Nichols ein Zusammenhang besteht«, stellte Lord Darcy fest. »Darin stimme ich Euch zu. Der Inhalt des Pakets wäre doch wohl kodiert gewesen, nicht wahr, Captain?« »Ganz gewiß. Und nicht der gewöhnliche Kode. Außerdem benutzte Zwinge immer Tinte und Papier mit einem ganz bestimmten Zauber. Wenn ein Unbefugter das Siegel zerbrechen sollte, dann würde die Schrift verschwinden, bevor er das Papier aus dem Umschlag genommen hätte.« -1 6 0
»Folglich hat Nichols wohl auch nicht das Paket aus dem Safe genommen, alles durchgelesen und festgestellt, daß es wertvolles Material ist.« »Bestimmt nicht«, stimmte Captain Smollett zu. »Außerdem war Sir James kein Narr. Hätte es niemals Nichols gegeben, wenn er ihm nicht vertraut hätte. Da der Umschlag einen Schutzzauber hatte, müßte man ihn einem Zauberer geben, der mächtig genug ist, um den Zauber von Master Sir James Zwinge zu brechen, erst dann kann man ihn lesen.« »Habt Ihr irgendeine Vermutung, was für eine Information sich in dem Umschlag hätte befinden können, Captain Smollett?« »Keine, nicht die geringste. Kann nicht so furchtbar dringend gewesen sein, ich meine, nichts, was sofortiges Handeln erfordert hätte, sonst hätte Zwinge die Nachricht trotz allem noch selbst überbracht. Aber sie war wohl wichtig genug, damit die Agenten von König Casimir deswegen gemordet haben.« »Wie, glaubt Ihr, hängt denn dieser Mord mit dem in Cherbourg zusammen? Und mit der neuen Geheimwaffe der Marine?« Der Captain verzog mißmutig das Gesicht und zog einige Sekunden lang an seiner Pfeife. »Begeben wir uns jetzt auf wackeligen Boden? Offensichtlich ist Barbour als Doppelagent entlarvt worden, sonst hätte man ihn nicht umgebracht.« »Darin stimme ich mit Euch überein«, versicherte Lord Darcy. »Gut. Aber damit bleiben uns immer noch eine Menge Spekulationen über Fitzjean und über das Wissen der Polen um den Konfusionsprojektor übrig. Wenn sie, wie wir hoffen, nichts über das Gerät wissen, dann wissen sie auch nichts über Fitzjean, mit Ausnahme der spärlichen Fehlinformationen, die Barbour an sie weitergeleitet hat. Als sie entdeckten, daß er ein Doppelagent war, haben sie ihn einfach umgebracht und -1 6 1
Fitzjean nicht beachtet. Informationsmaterial über Flottenbewegungen ist es nicht wert, sich dafür ein Bein auszureißen. Fürchte nur, daß es zuviel des Optimismus wäre, anzunehmen, daß die polnische Regierung überhaupt nichts vom Konfusionsprojektor weiß. Viel wahrscheinlicher, daß sie mit großem Aufwand versuchen, herauszufinden, was es damit auf sich hat und wie das Gerät funktioniert. Was wiederum darauf hinweisen würde, daß sie nichts von Fitzjean wissen. Hätten sie etwas von ihm gewußt, so hätten sie Barbour nicht umgebracht, bevor sie nicht Fitzjean sicher hatten - was natürlich der Fall sein kann. Oder sie können im Besitz des Geheimnisses sein und sich einen Teufel um Fitzjean scheren. Und schließlich besteht die Möglichkeit, daß Fitzjean selbst ein polnischer Agent war, der Barbour überprüfen sollte. Als sie merkten, daß sich Barbours Berichte ganz wesentlich von dem unterschieden, was ihm wirklich angeboten wurde, da war sein Todesurteil besiegelt.« Captain Smollett spreizte die Hände. »Sind aber bloße Annahmen, geben nichts her. Wichtig ist jetzt, Paul Nichols ausfindig zu machen. Hätte ich Euch schon vorher mitgeteilt, aber wie gesagt, wir haben nichts gegen Nichols in der Hand. Können nicht einmal beweisen, daß der Umschlag wirklich existiert hat. Hätten die Sache also nicht an Seiner Majestät Kriminalbeamte übergeben können, nicht wahr?« »Mein lieber Captain, Ihr solltet auch mal etwas anderes als Admiralitätsrecht stud ieren. Wenn jemand von einem Tatort flieht, dann hat man genug in der Hand, einen Haftbefehl zu erwirken, um den Mann befragen zu können. Die erste Frage, die sich jeder Inspektor jetzt stellen würde, lautet: Wo würde er hingehen? In die Polnische Botschaft?« Smollett schüttelte den Kopf. »Nein. Wird rund um die Uhr bewacht, wer dort ein- und ausgeht.«
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»Genau, das weiß ich. Und die Polen wissen es auch. Aber das Ortshauptquartier des polnischen Spionagerings befindet sich doch in der Stadt. Wo denn?« »Wüßte ich auch gern«, sagte der Captain. »Gäbe ich einen halben Jahreslohn für. Wir haben Grund anzunehmen, daß es in London mindestens drei verschiedene Ringe gibt, von denen keiner den anderen kennt, oder jedenfalls nur einzelne. Natürlich kennen wir einige der Agenten, beschatten sie. Jeder bekannte Agent in London ist während der letzten achtzehn Stunden beobachtet worden. Bisher kein Ergebnis. Aber was wir nicht wissen ist, wo sich das jeweilige Hauptquartier befindet. Geb's nicht gern zu, muß aber. Kein Hinweis, keine Spur, nichts.« »Dann kann man Nichols nur finden, indem man London nach ihm durchkämmt«, meinte Lord Darcy. »Und das heißt Fußarbeit. Während Ihre Männer ihn im Verborgenen suchen, können Lord Bontriomphe und die Wachmänner von London ihn offiziell wegen Verdunkelungsgefahr suchen.« Bontriomphe nickte. »Wir können das Netz in einer Stunde ausgelegt haben. Wenn wir irgend etwas finden, werde ich Euch sofort benachrichtigen, Captain.« »Sehr gut, My Lord.« »Dann fange ich wohl besser sofort damit an«, meinte Bontriomphe und stand auf. »Je schneller, desto besser. Wenn Ihr mir irgend etwas mitteilen oder mich sprechen wollt, Captain, dann schickt einen Boten ins Royal Steward. Dort befindet sich jetzt unser Hauptquartier. Es wird sich immer ein Sergeant vom Dienst dort aufhalten, und ich kehre regelmäßig dorthin zurück.« »Ausgezeichnet. Ich danke Euch, My Lord.« »Bis bald, Gentlemen. Guten Tag.«
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Lord Bontriomphe schritt durch die Tür und machte den Eindruck, als sei er überglücklich, endlich etwas zu tun zu haben. »Was mich betrifft, Captain«, sagte Lord Darcy, »so möchte ich Euch um Euer Verständnis in einer etwas heiklen Angelegenheit bitten.« »Was könnte das denn sein?« »Ich möchte gerne Zutritt zu Euren Geheimakten, und zwar zu den Briefen von Barbour, die Fitzjean und den Konfusionsprojektor betreffen.« »My Lord«, sagte Captain Smollett mit frostigem Lächeln, »jeder Geheimdienst hütet seine Akten eifersüchtig wie seinen Augapfel, und unser Korps bildet da keine Ausnahme. Bis jetzt wurden diese Akten unter dem Vermerkt ›Streng Geheim‹ geführt. Barbours Rolle als Doppelagent war nur den Spitzen der Admiralität bekannt. Aber Ihr habt mich schon einmal gerügt, weil ich Euch Informationen vorenthalten habe. Kommt nicht wieder vor. Werde die betreffenden Akten herbringen lassen, so daß Ihr sie mit Commander Ashley durchgehen könnt. Und darf ich um Euer Verständnis bitten?« »Aber gewiß, Captain. Worum geht es?« »Mit Eurer Erlaubnis möchte ich Commander Lord Ashley zum Verbindungsoffizier zwischen den zivilen Untersuchungsbehörden und der Marine machen. Um genauer zu sein, zwischen Euch und mir. Er kennt die Marine, er versteht etwas von Geheimdiensttätigkeit und auch etwas von Kriminalistik. Er gehörte zur Marinepolizei, bevor er in diese Abteilung versetzt wurde. Seine Befehle sollen besagen, daß er Euch in jeder erdenklichen Weise unterstützt. Seid Ihr einverstanden, My Lord?« »Aber natürlich, Captain, eine ausgezeichnete Idee!« »Sehr gut. Also, Commander, so lauten Eure Befehle.«
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»Aye, aye, Captain.« Er lächelte Lord Darcy an. »Ich werde versuchen, so wenig wie möglich als Fußangel zu wirken, My Lord.« »Das wäre also erledigt«, sagte Captain Smollett und stand auf. »Dann gehe ich jetzt die Akten holen.« Master Sean O Lochlainn stand neben der geschlossene n Tür des Mordzimmers und besah sich den ganzen Raum. Dann wandte er sich an Wanderhexer Lord John Quetzal, der neben ihm stand. »Versteht Ihr also, wovor wir uns hüten müssen? Wir können den Konservierungszauber noch nicht von der Leiche nehmen, also müssen wir aufpassen, daß keiner der Zauber, mit denen wir im Zimmer arbeiten, in ihn eingreift. Verstanden? « Lord John Quetzal nickte. »Jawohl, Master, ich glaube schon.« Master Sean lächelte ihn an. »Das glaube ich auch, mein Junge! Bei den Bluttests habt Ihr hervorragend mitgearbeitet. Übrigens, glaubt Ihr, daß Ihr sie das nächste Mal auch allein durchführen könntet?« Lord John Quetzal blickte den kleinen Hexer von der Seite an. »Die Bluttests? Jawohl, Meisterhexer, das könnte ich«, sagte er fest. »Gut, gut!« Master Sean nickte zufrieden. »Aber was jetzt kommt«, sagte er und hob einen warnenden Zeigefinger, »ist ein wenig schwieriger. Wir haben es hier mit einem psychischen Schock zu tun. Wenn ein Mensch verletzt wird oder wenn er stirbt, gibt es zwar immer einen psychischen Schock, außer wenn er im Schlaf stirbt. Aber hier geht es um Gewalt.« »Ich verstehe«, sagte Lord John Quetzal.
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»In Ordnung. Also, Ihr werdet mein Rauchfaßträger sein. Die Zutaten liegen auf dem Tisch. Ich bitte Euch nur, das Räuchergefäß vorzubereiten, da Ihr es ja auch bedienen sollt.« »Sehr wohl«, sagte der junge Mechicaner, in dessen Stimme ein leises Unbehagen mitschwang. Auf dem Tisch nahe der Tür lagen die Zutaten und Gerätschaften, die Master Sean ausgebreitet hatte. Sie bestanden aus einem Messingtopf mit einem perforierten Deckel; wenn man die Teile zusammensetzte, dann schwang der Topf an drei Ketten von drei Fuß Länge herab. Lord John Quetzal nahm einige Werkzeuge aus seinem eigenen Reisesack. Unter der strengen Beobachtung des scharfen Auges und Ohrs von Master Sean begann der junge Hexer, die Zutaten für das Räuchergefäß zuzubereiten. Nachdem er den Messingtopf auf einen Eisenständer gestellt hatte, entzündete er einige Holzkohleklumpen, die auf dem Boden des Topfs lagen. Dann entnahm er der Batterie von Fläschchen und Behältern, die auf dem Tisch aufgereiht waren, verschiedene Zutaten und tat sie in seine eigene goldene Mischschale, wobei er einen kleinen goldenen Löffel verwendete. Dabei nahm er seinen bleistiftgroßen Stab und sprach über jede Zutat einen Zauber, bevor er sie mit den anderen vermengte und zu einer Mischung verrührte. Da gab es Frankinzens und Süßbalsam, Samonyl und Griechenheu, Kurkuma und Artuskraut, Sandel- und Zedernholz, Asant und Kimyon sowie vier weitere, weniger bekannte, aber noch viel stärkere Zutaten - alle in einer festgelegten Reihenfolge hinzugefügt, alle mit einem besonderen Zauber imprägniert. Als er mit dem Mischen fertig war und den letzten Zauber gesprochen hatte, hob der Wanderhexer den Kopf und blickte den kleinen dicken Master an. Sean O Lochlainn nickte beifällig. -1 6 6
»Gut gemacht, sehr gut gemacht.« Er lächelte. »Ich werde Euch nun nicht fragen, was Ihr da gemacht habt. Ich habe die Angewohnheit, davon auszugehen, daß ein Lernender nicht alles weiß, daß ihm Wissen fehlt. Da ich selbst auch ein Lernender bin, weiß ich auch, wieviel Wissen mir noch fehlt. Und außerdem wird Euch Lord Darcy bestätigen können, daß ich gerne doziere! Der Zauber, den wir jetzt gleich durchführen werden, ist ein dynamischer Zauber, der durch einen dynamischen Zauber abgehalten werden muß. Das bedeutet, daß Ihr, weil der Körper geschützt bleiben muß, während ich arbeite, den Raum beräuchern müßt. Wenn Ihr also diese Mischung in die Räucherschale gegeben habt, dann entsteht ein Rauch, der aus vielen verschiedenen kleinen Partikeln besteht. Wegen des Zaubers, den Ihr über sie verhängt habt, werden diese Teilchen die Tendenz haben, sich auf bestimmte Art und Weise auf Wänden und Möbeln dieses Zimmer festzusetzen. Sie formen dann sogenannte HologrammMuster auf den Flächen, mit denen sie in Berührung kommen. Jedes einzelne Rauchteilchen wird je nach Art der psychischen Einflüsse, die sich auf der Fläche widerspiegeln, ein bestimmtes Muster bilden. Und indem wir alle diese Muster verstehen, können wir die Art psychischer Eindrücke rekonstruieren.« Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und blickte mit breitem irischen Lächeln zu dem jungen großen Mechicaner hoch. »Ah, mein Junge, Ihr seid der rechte Schüler, wie ihn jeder Lehrer sich wünscht. Ihr hört zu, wenn der alte Meister was sagt, und Ihr langweilt Euch auch nicht, wenn Ihr schon längst Bekanntes hört, weil Ihr etwas dazulernen wollt.« Wiederum verfärbte sich John Quetzals dunkle Haut fast unmerklich.
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»Ja, Master Sean«, sagte er vorsichtig, »ich habe MusterTheorie studiert.« »Aye, Muster-Theorie habt Ihr studiert! Aber Ihr seid weise genug zuzugeben, daß Ihr nur die Theorie kennt, nicht die Praxis.« Er nickte befriedigt. »Aus Euch wird noch mal ein ausgezeichneter Gerichtshexer, mein Junge. Ein wirklich ausgezeichneter Gerichtshexer!« Dann verzog sich sein Lächeln ein wenig. »Das heißt, Ihr habt die richtige Einstellung, mein Junge. Jetzt wollen wir einmal sehen, ob Ihr auch die richtige Technik habt!« Er betrachtete erneut die Wände. »Wenn Ihr es richtig anfangt, Lord John Quetzal, dann wird es auf diesen Wänden Muster aus Rauchteilchen geben, jedes verschieden, je nach Zauber auf den Teilchen und dem Eindruck auf der Haftfläche. Die Hologramm- Muster werden durch die Kombination dieser Einzelmuster bestimmt. Niemand ohne das Talent wird irgend etwas anderes sehen können als leicht schmutzige Wände, wenn überhaupt. Ihr und ich aber werden die Muster erkennen, und ich werde Euch beizubringen versuchen, wie man sie deuten kann.« Er wandte sich wieder um. »Fertig, mein Junge?« »Ich bin fertig, Master.« »Nun gut, dann mal los!« Master Sean nahm zwei Stäbe aus seinem symbolverzierten Reisesack und ging damit zu der Leiche, die gleich neben dem Schreibtisch lag. »Ich bin fertig. Fangt an! Und paßt auf Eure Zauber auf!« Der junge Mechicaner blies vorsichtig auf die glühenden Holzkohleklumpen im Räuchergefäß, und als sie rötlich-orange aufflackerten, schüttete er die duftenden Zutaten aus der goldenen Mischschüssel in das Gefäß, wobei er einen -1 6 8
besonderen Zauberspruch aufsagte. Sofort entwickelte sich eine Wolke aus dichtem weißen Rauch und stieg an die Decke. John Quetzal legte schnell den perforierten Deckel auf das Gefäß und verklammerte ihn am Verschluß. Dann nahm er die Ketten in die Hand und hob damit das Räuchergefäß hoch. Mit der Linken hielt er das Kettenende, mit der rechten Hand hielt er die Ketten ungefähr in der Mitte, so daß das Gefäß frei schwingen konnte. Er schritt auf die nächste Wand zu und gab dem Gefäß einen leichten Schwung, so daß es einen weiten Bogen beschrieb und der Rauch auf die Wand zuschwebte. Schritt für Schritt ging er so die Wand entlang, während sich seine Lippen im Takt bewegten und der Rauch die Wände hochstieg und den Raum mit einem zähen, schweren Duft durchzog. Während sein Gehilfe räucherte, stand der Meisterhexer über der Leiche, in jeder Hand einen langen Kristallstab, unbeweglich und mit weit ausgebreiteten Armen, um den psychischen Schirm zu bilden, der die Leiche vor dem magischen Ritual schützen sollte, das Lord John Quetzal gerade durchführte. Obwohl er unbeweglich stand, sah seine Haltung nicht angestrengt aus. Eine Aura der Kraft umgab den irischen Hexer, der plötzlich irgendwie größer wirkte - und voller Härte. Das Gaslicht glitzerte und flackerte, als es sich in den Kristallstäben brach, und warf blitzende Regenbogen ins Zimmer. Der Rauch aus dem Räuchergefäß vermied den Ort, den Master Sean schützte. Zwar stieg er in dichten Ballen hoch und verteilte sich im Raum, doch schien ihn eine unsichtbare Kraft von der Leiche und von Master Sean fernzuhalten. Dreimal umschritt der junge Hexer den Raum, und mit Ausnahme des geschützten Bereichs wurde die Luft schimmernd blau vom Rauch. Dann kehrte er an den Tisch zurück, stellte den heißen Topf auf seinen Eisenständer, entfernte den perforierten Deckel und setzte statt dessen eine feste Kappe auf das Gefäß, -1 6 9
die den Rauch abhielt und die Kohlen erstickte. Immer noch war die Haltung von Master Sean unverändert. Aus seinem eigenen Reisesack zog der Mechicaner einen silbernen Stab, der an einem Ende eine Verdickung aufwies. Er hielt ihn am anderen Ende in die Luft und zog abwechselnd Symbole in die Luft vor jeder Wand. Dabei bewegte sich der Rauchnebel noch stärker auf die Wände zu, und die Luft wurde wieder klarer. Nach einer kurzen Pause sagte Lord John Quetzal sanft: »Es ist beendet, Master.« Master Sean blickte sich im Zimmer um, senkte die Arme und schritt wieder auf seinen Reisesack zu, um die beiden Kristallstäbe wieder hineinzutun. Dann blickte er abermals im Raum umher. »Gute Arbeit, mein Junge«, sagte er, »wirklich saubere Arbeit! Nun! Könnt Ihr mir sagen, was hier passiert ist?« Lord John Quetzal schaute in die angegebene Richtung. Obwohl beide Hexer ihre Augen benutzen, nahmen sie doch nicht mit ihren Augen wahr, was sie sahen. Für einen Menschen ohne das Talent waren die psychischen Muster nicht zu erkennen. Für jemanden, der das Talent besaß, waren sie deutlich wahrzunehmen. Aber obwohl Lord John Quetzal die Muster wahrnehmen konnte, mangelte es ihm doch an Ausbildung, sie zu deuten. Master Sean spürte sein Zögern. »Nur Mut, Junge«, sagte er. »Verlaßt Euch auf Eure Ahnungen. Ratet mal! es ist die einzige Art und Weise, wie Ihr Eure Wahrnehmungsfähigkeit überprüfen könnt und so von der Vermutung zur Sicherheit schreiten könnt.« »Well«, sagte Lord John Quetzal unsicher, »es sieht so aus, als ob...« Er unterbrach sich selbst und sagte dann: »Aber das ist ja absurd! So kann das doch nicht gehen!« Master Sean stöhnte. »Junge, Junge, Ihr verderbt Euch noch die Intuition! Ihr versucht, logisch zu interpretieren, bevor Ihr Euer Faktenmaterial subjektiv verinnerlicht habt. Ich frage Euch -1 7 0
noch einmal: Was habt Ihr für einen Eindruck, was in diesem Raum geschehen ist?« Lord Quetzal sah noch einmal genauer hin und drehte sich auch um sich selbst, um den ganzen Raum zu betrachten. Dann sagte er vorsichtig: »Außer Sir James war niemand in diesem Raum...« Er zögerte. »Richtig, absolut richtig«, sagte Master Sean. »Weiter! Ihr habt noch nicht gesagt, was Euch daran paradox erscheint.« Lord John sagte leicht verwirrt: »Master, mir scheint es, daß Sir James Zwinge zweimal getötet wurde. Dazwischen lagen mehrere Minuten, vielleicht sogar eine halbe Stunde.« Master Sean lächelte und nickte. »Fast habt Ihr's, mein Junge! Ich glaube, die Autopsie wird das bestätigen. Aber Ihr habt nicht die volle Bedeutung von all dem hier«, er schwenkte den Arm, um das Zimmer anzudeuten, »untersucht. Schaut Euch einmal an, was die Muster anzeigen. Es gibt da zwei starke Muster, die zeitlich aufeinanderliegen. Während unser verstorbener Kollege in diesem Zimmer war, gab es zwei aufeinanderfolgende psychische Schocks, die, wie Ihr schon festgestellt habt, mit einem Zeitunterschied von etwa einer halben Stunde auftraten. Der erste geschah, als er getötet wurde, der zweite als er starb.« Sir Thomas Leseaux und die Herzoginwitwe von Cumberland traten durch die Schwingtüren des Royal Steward Hotels. Lady De Cumberland atmete tief durch und hielt inne. »Probleme, Euer Gnaden?« »Mein Gott, was für eine Menschenmenge!« sagte die Herzoginwitwe und zeigte auf die wimmelnden Besucher in der Empfangshalle. »Ich habe fast das Gefühl, als würden sie die ganze frische Luft von London aufbrauchen!« -1 7 1
Im Ballsaal war es vergleichsweise entspannend und friedlich. Der Saal war zwar fast genauso groß wie die Halle, doch befanden sich hier, durch Bannzauber abgeschirmt, nur ein Zehntel so viele Leute. Und anstelle der bunten Kleidungsvielfalt in der Empfangshalle gab es hier nur wenige, prägnante Farbtöne. Das helle Blau der Hexer überwog, doch war auch viel Schwarz von priesterlichen Heilern zu sehen, bischöfliches Purpur und die dunkle Kleidung vereinzelter jüdischer Heiler, die sich kaum von der priesterlichen Tracht unterschied; ferner zeigten vereinzelte Hakime, Heiler aus den verschiedenen islamischen Ländern, grellere Farben und sorgten damit für Abwechslung und Bewegung. »Den Tag der Offenen Tür müssen wir einfach ertragen, Euer Gnaden«, meinte Sir Thomas. »Das Volk hat ein Recht darauf zu wissen, was in der Gilde geschieht. Und die Gilde hat die Pflicht, das Volk darüber aufzuklären.« Mary richtete ihre strahlenden Augen auf Sir Thomas. »Mein lieber Sir Thomas, es gibt viele Dinge, die der Mensch tun muß, die unbedingt notwendig sind. Das heißt aber nicht, daß sie deswegen allzu angenehm sein müssen. Aber jetzt: Wo ist diese zauberhafte Kreatur?« »Einen Augenblick, Euer Gnaden, ich sehe mal nach.« Sir Thomas, der zwei Zoll größer war als der Durchschnittsmann, blickte durch den Ballsaal. »Ah, da ist sie ja! Kommt, Euer Gnaden.« Die Herzoginwitwe folgte Sir Thomas durch den Saal. Die Demoiselle Tia wurde von einer Gruppe junger, gutaussehender Wanderhexer umringt. Mary De Cumberland lächelte in sich hinein. Es war eindeutig, daß die jungen Wanderhexer mit dem schönen Zauberlehrlingsmädchen nicht eben über Kunst diskutierten. Ihr Lehrlingskleid war einfach hellblau und eigentlich nicht dazu geschneidert, verführerisch zu wirken, aber an Demoiselle Tia... -1 7 2
Und dann bemerkte die Herzoginwitwe etwas, was ihr zuvor entgangen war: Die Demoiselle Tia trug ein Wappen, das sie als Zauberlehrling seiner Hoheit Charles, des Erzbischofs von York, auswies. Dieses Mal erschien ihr die Demoiselle Tia etwas größer zu sein als bei der ersten Begegnung. Dann sah sie den Grund dafür. Tia trug Schuhe, wie sie im südlichen Teil der polnischen Hegemonie in Mode gekommen waren, ohne sich bisher in den Modezentren sowohl Polens als auch des anglo französischen Reichs durchgesetzt zu haben. Es waren gewöhnliche Slipper, nur daß die Zehen vorne zusammengestaucht wurden und die Hacken auf den Absätzen ruhten, die ungefähr zweieinhalb Zoll hoch waren und nach unten spitz zusammenliefen. Mein Gott, dachte Mary, wie kann eine Frau solche Schuhe tragen, ohne ihre Füße zu ruinieren? War es vielleicht eine psychologische Macke, fragte sie sich, weil Tia ein solch winziges Mädchen von nicht einmal fünf Fuß Größe war? Wollte sie nur einfach größer wirken? Nein, dachte Mary, dafür wirkt sie zu selbstsicher. Sie trug sie wohl nur, weil sie sich an diese Mode gewöhnt hatte. Es war eine Art Landestracht, nichts weiter. »Entschuldigt«, sagte Sir Thomas Leseaux, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte, die sich um Tia geschart hatte. Jeder der Wanderhexer warf ihm drei Blicke zu. Beim ersten Blick sahen sie, daß er nicht das Blau des Hexers trug. Ein Laie etwa? Der zweite Blick offenbarte ihnen die Streifen, die er an der linken Brust trug und die ihn als einen Doktor der Thaumaturgie und ein Mitglied der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft auswiesen. Der dritte Blick schließlich zeigte ihnen, daß er die Gesichtszüge eines brillanten theoretischen Hexers trug, dessen Bild jedem Zauberlehrling bereits nach einer Woche vertraut war. Ehrfürchtig wichen sie von Tia zurück. Tia blickte auf, und Mary De Cumberland sah, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie Sir Thomas Leseaux erblickte. -1 7 3
Soso! dachte Mary, also erwidert Tia die Gefühle von Sir Thomas! Sie erinnerte sich daran, wie Lord Darcy gesagt hatte: »Sir Thomas liebt dieses Mädchen oder glaubt jedenfalls, daß er das tut.« Aber Lord Darcy war kein Sensitiver. Da Mary aber, wenn auch nur in geringem Umfang, eine Sensititve war, gab es für sie keine Zweifel, um welcherart Gefühle es sich da zwischen den beiden handelte. Bevor Sir Thomas den Mund aufmachen konnte, verbeugte sich Demoiselle Tia und sagte: »Guten Tag, Sir Thomas.« »Guten Tag, Tia. Es tut mir leid, Euren Hofstaat aufgelöst zu haben. Euer Gnaden«, fuhr er fort, »darf ich Euch die Demoiselle Tia vorstellen. Tia, dies ist Mary, Herzogin von Cumberland.« Tia machte einen Hofknicks. »Es ist mir eine Ehre, Euer Gnaden kennenlernen zu dürfen.« Dann blickte Sir Thomas auf seine Uhr und rief: »Um Gottes Willen! Die Königliche Thaumaturgische Gesellschaft trifft sich jetzt.« Er lächelte die beiden Damen an. »Ich hoffe, daß Ihr mir vergeben könnt. Wir sehen uns später wieder.« Das Lächeln, das um die Lippen von Mary De Cumberland spielte, galt nur zum Teil der Demoiselle Tia. Teilweise beglückwünschte sie sich damit auch selbst. Lord Darcy, so dachte sie bei sich, würde ihre Zeitplanung loben. Indem sie sich vorher genau vergewissert hatte, wann die K.T.G. tagen würde, hatte sie sowohl eine Vorstellung durch Sir Thomas als auch sein sofortiges Verschwinden erreichen können. »Tia«, sagte sie, »habt Ihr unser englisches Bier schon probiert? Oder unsere französischen Weine?« Die Augen des Mädchens funkelten. »Die Weine schon, Euer Gnaden. Englisches Bier? Nein.« Sie zögerte. »Ich habe gehört, daß es dem deutschen Bier ebenbürtig sein soll.« -1 7 4
Ihre Hoheit rümpfte die Nase. »Meine liebe Tia, das ist, als wollte man sagen, daß Burgunder dem Essig ebenbürtig sei.« Sie grinste. »Kommt, laßt uns dieses ernste Konklave verlassen, und ich werde Euch mit dem englischen Bier bekanntmachen.« Das Schwertzimmer des Royal Steward war, wie auch die Empfangshalle, vollgepfropft mit Leuten. Die Herzoginwitwe von Cumberland hob den geeisten Zinnkrug. »Tia, meine Liebe«, sagte sie, »es gibt viele Getränke auf der Welt. Es gibt Weine für Feinschmecker, es gibt Whiskys und Brandy für Männer, Liköre für Frauen, Milch und Limonade für Kinder - aber beim gemütlichen, unterhaltsamen Trinken gibt es nichts, das es mit ehrlichem englischen Bier aufnehmen könnte.« Tia hob ihren Krug und stieß mit Mary an. »Euer Gnaden«, sagte sie, »mit einer solchen Vorstellung soll das englische Bier bei mir alle Chancen haben.« Sie trank und leerte den halben Krug. Dann sah sie Mary mit funkelnden Augen an. »Es ist wirklich gut, Euer Gnaden!« »Besser als unsere französischen Weine?« fragte Mary und setzte ihren eigenen halbleeren Krug ab. Tia lachte. »Im Augenblick schon, Euer Gnaden. Ich war sehr durstig.« Mary lächelte zurück. »Ganz recht, meine Liebe. Wein ist für den Gaumen, Bier ist für den Durst.« Tia trank erneut aus ihrem Krug. »Wißt Ihr, Euer Gnaden, dort wo ich herkomme, würde es als äußerst vermessen gelten, wenn ein Mädchen meiner Herkunft sich in der Gegenwart einer Herzogin auch nur setzte, -1 7 5
geschweige denn neben ihr zu sitzen und mit ihr Bier zu trinken.« »Unsinn!« sagte Mary De Cumberland. »Ich bin auch nicht vom Hochadel, und somit stehe ich nicht über Euch.« Tia schüttelte leise lachend den Kopf. »Es würde keinen Unterschied machen, Euer Gnaden. Jeder mit einem Titel gilt als unendlich über mir stehend, jedenfalls in der Provinz Banat, die das einzige ist, was ich von Polen kenne. Wenn ich also den Titel ›Herzogin‹ höre, zucke ich immer unwillkürlich zusammen.« »Das habe ich bemerkt«, sagte Mary, »und ich möchte Euch den Hinweis geben, daß jeder, der einen höheren Grad der Hexerei erlangen möchte, mit Symbolen besser umzugehen verstehen muß.« »Ich werde es versuchen«, versprach das Mädchen. »Ich bin sicher, daß es Euch auch gelingen wird«, sagte Mary. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Sagt mir doch, wo habt Ihr denn Anglo-Französisch gelernt? Ihr sprecht es ja ausgezeichnet.« »Mein Akzent ist fürchterlich!« wandte Tia ein. »Aber gar nicht! Wenn Ihr einmal hören wollt, was man einer armen Sprache alles antun kann, dann braucht Ihr nur auf manche unserer einheimischen Londoner zu achten. Wer immer es Euch beigebracht hat, war sehr erfolgreich dabei.« »Mein Onkel Neapeler, der Bruder meines Vater, hat es mir beigebracht«, sagte Tia. »Er ist Händler und hat einen Teil seiner Jugend im anglo- französischen Empire verbracht. Und Sir Thomas hat mir auch schon viel beigebracht, indem er mich beim Sprechen korrigiert hat und mir die angemessenen Verhaltensweisen, so wie sie hier üblich sind, erklärte.«
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Die Herzogin nickte und lächelte Tia an. »Da wir gerade bei Sir Thomas sind - ich hoffe, daß Ihr Euch nicht vor seinem Titel fürchtet.« In Tias Augen kehrte der Glanz zurück. »Mich fürchten vor Sir Thomas? Aber nein, Euer Gnaden! Er war so gut zu mir. Viel mehr, als ich es verdient habe, fürchte ich. Aber eigentlich waren alle so gut zu mir, seit ich hier angekommen bin. Jeder. Nirgends findet man eine solche Freundlichkeit, ja Güte, wie im Reich Seiner Majestät King Johns.« »Nicht einmal in Italien?« fragte die Herzoginwitwe beiläufig. Tias Miene verfinsterte sich. »In Italien wollte man mich aufhängen.« »Aufhängen? Aber warum denn, um alles in der Welt?« Nach einem kurzen Schweigen sagte das Mädchen: »Es ist wohl kaum ein Geheimnis, daß ich der Schwarzen Magie angeklagt worden bin.« Die Herzogin nickte ernst und sagte: »Ja, das ist mir bekannt. Fahrt fort!« »Euer Gnaden, ich konnte noch nie dabeistehen und zusehen, wie Menschen leiden. Es liegt vielleicht daran, daß ich meine Eltern sterben sah, als ich noch sehr jung war, sie starben wenige Monate nacheinander. Ich wollte so gern, daß sie weiterleben, und es gab nichts, was ich hätte unternehmen können. Ich war völlig hilflos ihnen gegenüber. Euer Gnaden, alle Kinder spüren einmal dieses Gefühl entsetzlicher Hilflosigkeit, aber das eine Mal war es etwas sehr Besonders.« Eine dunkle Schwermut lag in ihren Augen. Mary De Cumberland sagte nichts, doch war Ihr Mitgefühl leicht zu bemerken. »Onkel Neapeler hat mich großgezogen, ein gütiger und wunderbarer Mann. Er besitzt auch das Heilertalent, wißt Ihr, aber er hat keine Ausbildung. Er hatte keine Gelegenheit, es zu -1 7 7
trainieren. Vielleicht hätte er niemals gemerkt, daß er es überhaupt hat, wenn er nicht im Angevin- Empire gelebt hätte, wo man solche Dinge aufspürt. Er stellte fest, daß ich es auch habe, und brachte mir alles bei, was er wußte, was wenig genug war. In den Slavischen Staaten wird das Recht eines Menschen, ein Heiler werden zu dürfen, nach seinen politischen Beziehungen und seinem Zahlungsvermögen bemessen. Und das Recht, einen ausgebildeten Heiler in Anspruch zu nehmen, wird nach den gleichen Gesichtspunk ten vergeben. Onkel Neapeler ist, nein war, ein Händler, ein harter Geschäftsmann. Aber er war nie reich, außer vielleicht im Vergleich mit den Dorfbewohnern, und er war politisch suspekt, weil er so lange im Herrschaftsgebiet des anglo- französichen Reichs gelebt hat. Er gebrauchte sein Talent, so unausgebildet es auch war, um den Dorfbewohnern und Bauern zu helfen, wenn sie krank waren. Sie wußten alle, daß er ihnen immer helfen würde, egal, wer sie auch seien, und deshalb liebten sie ihn. In dieser Tradition hat er mich erzogen, Euer Gnaden.« Sie hörte auf zu sprechen, preßte die Lippen kurz zusammen, nahm dann einen Schluck Bier und sprach weiter. »Dann geschah etwas. Die Beamten des Grafen...« Wieder hielt sie inne. »Darüber möchte ich nicht reden«, erklärte sie schließlich. »Ich, ich konnte fliehen. Nach Italien. Und da gab es auch kranke Leute, Leute, die Hilfe brauchten. Ich half ihnen, und sie beherbergten mich, gaben mir zu essen und zu trinken. Ich hatte kein Geld, um meinen Unterhalt bestreiten zu können. Ich hatte nichts mehr, nachdem... aber lassen wir das. Die Armen halfen mir für die Hilfe, die ich ihnen zukommen ließ. Und den Kindern. Aber die nichts davon verstanden, die nannten es Schwarze Magie. Zuerst in Belluno. Dann in Milano. Dann in Torino. Jedesmal verbreitete sich das Gerücht, ich würde Schwarze Magie praktizieren. -1 7 8
Ich hatte geglaubt, daß ich irgendeine Stelle würde finden können, vielleicht als Zofenlehrling, da es ein ehrbarer Beruf ist. Und jedesmal mußte ich weiterziehen. Schließlich mußte ich auch aus Italien fliehen. Ich überquerte die Grenzen des Reichs und gelangte nach Grenoble. Ich dachte, daß ich nun in Sicherheit wäre. Aber der Großherzog von Piemonte hatte Nachricht vorangeschickt, und so wurde ich in Grenoble von den Wachmännern festgenommen. Ich hatte Angst. Ich hatte kein Reichsgesetz gebrochen, aber die Piemonteser verlangten meine Auslieferung. Ich wurde My Lord, dem Marquis von Grenoble vorgeführt, der mich anhörte und meinen Fall dem Gerichtshof Seiner Hoheit dem Herzog von Dauphine übergab. Ich dachte, daß sie mich sofort ausliefern würden, sobald sie von der piemonteser Anklage vernommen hätten. Warum sollten sie einen Niemand wie mich anhören?« »So läuft das nicht ab unter der Königlichen Gerichtsbarkeit«, sagte die Herzoginwitwe. »Ich weiß«, sagte Tia, »das habe ich dann auch erfahren. Ich wurde einer kirchlichen Sonderkommission übergeben, die mich überprüfen sollte.« Sie nahm einen Zug aus dem Bierkrug und sah Mary gerade ins Gesicht. »Sie haben mich freigesproche n«, sagte sie. »Ich hatte Magie ausgeübt, ohne eine Lizenz zu haben, das war wahr. Aber sie sagten, daß dies kein Auslieferungsgrund sei. Und die Sensitiven in der Kommission bestätigten, daß ich bei meinen Heilungen keine Schwarze Magie angewandt hatte. Sie warnten mich jedoch davor, im Reich Magie ohne Lizenz zu praktizieren. Father Dominique, der Vorsitzende der Kommission, sagte mir, daß ein Talent wie das meinige ausgebildet werden müßte. Er stellte mich Sir Thomas vor, der in einem Seminar für Meisterhexer in Grenoble eine Vorlesungsreihe abhielt. Sir Thomas brachte mich nach England und stellte mich Seiner Hoheit dem Erzbischof von York vor. -1 7 9
Kennt Ihr den Erzbischof, Euer Gnaden? Er ist ein Heiliger, ein vollkommener Heiliger.« »Ich bin sicher, daß es ihm recht peinlich wäre, Euch so reden zu hören«, sagte die Herzoginwitwe lächelnd. »Aber unter uns gesagt, bin ich Eurer Meinung. Er ist ein erstaunlicher Sensitiver. Und offensichtlich«, sagte sie und wies auf das erzbischöfliche Wappen auf Tias Schulter, »hat Seine Hoheit zugestimmt. Sehr zugestimmt, möchte ich sagen.« Tia nickte. »Ja. Durch die Fürsprache Seiner Hoheit wurde ich als Lehrling in der Gilde zugelassen.« Mary de Cumberland spürte die Aura düsterer Vorahnungen, die um das Mädchen schwebte. »Well«, sagte sie voller Wärme, »nun, da Eure Zukunft gesichert ist, habt Ihr ja keinen Grund zur Furcht mehr.« »Nein«, sagte Tia mit einem kleinen Lächeln. »Nein. Kein Grund zur Furcht mehr.« Aber es war Leere in ihren Augen, und die dunkle Schwermut darin verschwand nicht. In diesem Augenblick erschien der Kellner und hüstelte höflich. »Verzeihung, Euer Gnaden.« Dann sah er Tia an. »Verzeihung, Demoiselle. Seid Ihr der Zauberlehrling Tia... äh... Einzig?« Er sprach das g eine Spur zu hart aus. Tia lächelte ihn an. »Ja, das bin ich. Was gibt es?« »Nun, Demoiselle, an der Theke steht ein Mann, der Euch gerne sprechen möchte. Er sagt, daß Ihr ihn kennen würdet.« »Tatsächlich?« Tia drehte sich nicht um, um hinzuschauen. Sie hob eine Augenbraue. »Welcher?« Der Kellner drehte sich ebenfalls nicht um. Er sprach mit leiser Stimme. »Der Mann an der Bar, Demoiselle, auf dem dritten Hocker von rechts; der Händler in der malvenfarbenen Jacke.« -1 8 0
Beiläufig wandte Tia einen Blick auf die Bar. Die Herzoginwitwe tat das gleiche. Sie sah den dunklen Mann mit buschigen Augenbrauen, einem schweren, herabhängenden Schnäuzer und tiefliegenden Augen, die umherschwirrten wie die eines Spions. Er trug eine Jacke im seltsamen ›Douglas-Stil‹, was darauf hinwies, daß er wohl von der Isle of Man kommen mußte, denn nur dort trug man diese Art von Jacken. Sie hörte Tia nach Luft schnappen. »Ich... ich werde mit ihm reden. Euer Gnaden, wollt Ihr mich bitte entschuldigen?« »Aber natürlich, meine Liebe. Ober, würdet Ihr bitte unsere Krüge wieder füllen?« Mary beobachtete Tia, wie diese durch den Raum schritt. Sie konnte das Gesicht des Fremden sehen und ebenso Tias Rücken, doch war es in dem Gefühlsbrei, der sich durch den ganzen Raum zog, unmöglich, Tias Gefühle zu erspüren. Sie konnte die Worte des Fremden nicht hören, aber sie sah, daß sein Gesicht beim Sprechen unbewegt blieb und auch seine Lippen sich kaum bewegten. Die ganze Unterhaltung dauerte keine zwei Minuten. Dann verneigte sich der Fremde vor Tia und verließ das Schwertzimmer. Tia blieb etwa dreißig Sekunden stehen, drehte sich um und setzte sich wieder zu Mary an den Tisch. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine Art grimmiger Freude ab. »Entschuldigt mich, Euer Gnaden«, sagte sie. »Es war ein alter Freund. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen.« Sie hob ihren Bierkrug und sagte plötzlich: »Verzeiht, Euer Gnaden, wie spät ist es denn?« Mary blickte auf ihre Armbanduhr und sagte »Zwölf nach sechs.« »O je!« sagte Tia. »Sir Thomas hat mir doch ausdrücklich eingeschärft, daß ich nach sechs Abendgarderobe tragen soll!« Mary lachte auf. »Natürlich hat er recht! Wir hätten uns beide schon früher umziehen müssen.« -1 8 1
Tia beugte sich vor. »Euer Gnaden«, sagte sie vertraulich, »ich muß etwas gestehen. Ich bin die Mode des Reichs nicht gewöhnt. Sir Thomas war so gütig, mir einige Abendkleider zu kaufen, und es gibt da ein besonderes, das ich bisher noch niemals angezogen habe. Ich würde es gern heute abend tragen, aber...« sie sprach plötzlich noch leiser, »ich weiß nicht, wie man das Ding richtig trägt. Hätten euer Gnaden vielleicht die Güte, mit mir hochzukommen und mir dabei behilflich zu sein?« »Aber gewiß doch, meine Liebe«, sagte Mary lachend, »aber unter einer Bedingung.« »Das wäre, Euer Gnaden?« »Das Kleid, das ich gewöhnlicherweise trage, verlangt ein ganzes Bataillon Zofen, damit man es anbekommt. Glaubt Ihr, daß Ihr ein Bataillon ersetzen könntet?« Diese Behauptung war unwahr, denn die Herzogin war durchaus in der Lage, ohne Zofe auszukommen, aber Lord Darcy hatte sie darum gebeten, das Mädchen zu beobachten, und obwohl Mary mittlerweile an der Notwendigkeit dieser Anordnung zweifelte, wollte sie ihr doch gehorchen. »Ich kann es versuchen, Euer Gnaden«, sagte Tia lächelnd. »Mein Zimmer ist im zweiten Stock.« Tia öffnete die Tür und wollte eintreten, doch hielt sie plötzlich inne und hob einen Umschlag auf, der direkt hinter der Türschwelle im Zimmer lag. »Entschuldigt mich, Euer Gnaden«, erklärte sie, »das Kleid, von dem ich sprach, hängt in dem Schrank dort drüben. Ich wüßte gern Euer Gnaden Meinung dazu.« Mary ging zum Schrank, öffnete ihn und betrachtete die Kleiderreihe, doch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie Tias Stimme hinter sich. Sie konnte zwar die Worte des kurzen Ausrufs nicht verstehen, fühlte aber den Ärger, der darin zu stecken schien. Sie drehte sich langsam um und fragte: »Was gibt es denn für Probleme?« -1 8 2
»Probleme?« Die Augen des Mädchens verbreiteten Blitz und Feuer um sich. Sie knüllte den Umschlag zusammen und warf ihn mit einer wütenden Gebärde in den Papierkorb. »Keine Probleme, euer Gnaden, es ist nichts.« Ihr Lächeln war gekünstelt. Sie schritt an den Schrank und betrachtete das Kleid. Sie starrte darauf, ohne etwas zu sagen. Mary von Cumberland trat einen Schritt zurück. »Es ist ein hübsches Kleid, Tia«, sagte sie ruhig. »Ihr werdet wunderbar darin aussehen.« Mit einer blitzartigen Bewegung langte sie nach dem Papierkorb, ergriff das Papier, das Tia fortgeworfen hatte, und schob es in die Tasche. »Ja«, sagte sie, »ein außerordentlich hübsches Kleid.« Sie spürte das Zögern und die Verwirrung des Mädchen. Irgend etwas in der Nachricht hatte sie aufgeregt, hatte ihre Pläne umgeworfen, und nun dachte sie darüber nach, was sie als nächstes tun sollte. Tia wandte sich um. Auf ihrem Gesicht war ein schmerzvoller Ausdruck zu erkennen. »Euer Gnaden, ich... ich fühle mich nicht wohl. Ich möchte mich ein paar Minuten hinlegen.« Einen Augenblick lang dachte Mary daran, ihre Dienste als Heilerin anzubieten, aber dann erkannte sie, daß dies die Verwirrung nur noch größer machen würde. Tia hatte keine Kopfschmerzen. Sie wollte ganz einfach nur ihren Gast loswerden. Mary konnte nichts dagegen tun. »Aber natürlich, meine Liebe«, sagte sie. »Ich verstehe. Wir sehen uns später wieder«, fuhr sie fort und lächelte, weil sie soeben die Worte von Sir Thomas wiederholt hatte. »Guten Abend!« Sie schritt hinaus in die Halle und hörte, wie die Tür hinter ihr geschlossen wurde. Was nun? dachte sie. Es gab keine Möglichkeit, sich Tia aufzudrängen, ohne Verdacht zu erregen. -1 8 3
Was jetzt? Sie schritt die Treppe hinunter. Auf halber Höhe zog sie das Papier aus der Tasche und betrachtete die Schrift. Die Nachricht war in einer Sprache abgefaßt, die Mary nicht verstand. Alles, was unmißverständlich zu erkennen war, war eine Zahl: 7.00. Lord Darcy lehnte sich in dem harten, geraden Stuhl zurück, der für das Mobiliar der Admiralität offenbar typisch war, und streckte seine Rückenmuskeln. »Ah-h-h- h-h«, atmete er hörbar aus. Er fühlte sich so, als wenn jede Zelle seines Körpers von Erschöpfung befallen wäre Dann lehnte er sich wieder vor, schloß den Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag, und sah Lord Ashley an, der ihm gegenübersaß. »Sagt uns nicht viel, was, My Lord?« Lord Ashley schüttelte den Kopf. »Nein, My Lord. Der geheimnisvolle Fitzjean bleibt so geheimnisvoll wie vorher.« Lord Darcy schob den Ordner fort. »Einverstanden.« Er klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Von Barbour haben wir keinen Hinweis bekommen, wer Fitzjean ist oder sein könnte. Der Admiralitätsstab in Cherbourg wußte nicht einmal etwas von Barbour. Wenn nicht irgend etwas Unvermutetes auftaucht, werden wir von dieser Seite her an keine weiteren Informationen über Fitzjean herankommen.« »Seht Ihr an dieser Seite irgendwelche Hinweise?« »Well«, sagte Lord Darcy und zeigte auf den Aktenstapel, »schaut Euch doch das Material an! Scheinbar wissen nur drei Männer, wie man einen Konfusionsprojektor baut und bedient: Sir Lyon Grey, Sir Thomas Leseaux und der verstorbene Sir James Zwinge. Es ist natürlich möglich, daß man Ihnen diese Informationen entwendet hat, aber gehen wir zunächst einmal -1 8 4
von der ersten Möglichkeit aus, die sich anbietet: Hätte es einer von ihnen sein können?« Das Gesicht des Commanders verzog sich zu einem Grübeln. »Schwer, sich vorzustellen, daß solche angesehenen und vertrauenswürdigen Männer das Reich verraten könnten.« »In der Tat«, meinte Lord Darcy. »Es ist schwer, sich vorzustellen, warum überhaupt irgendein hochstehender Beamter dergleichen tun sollte. Aber so etwas ist schon vorgekommen, und wir müssen die Möglichkeit mit in Betracht ziehen. Zum Beispiel Sir Thomas? Er hat die Theorie und das mathematische Modell für das Gerät erarbeitet. Oder Sir Lyon, oder Sir James? Sie haben bei der Entwicklung der thaumaturgischen Steuerungstechnik zusammengearbeitet, die das Gerät aus einer Idee zu einer Wirklichkeit werden ließ. Wenn Ihr Euch einen der drei aussuchen müßtet, wen würdet Ihr nehmen, My Lord?« »Well«, erklärte der Commander nach einer kurzen Denkpause, »zunächst einmal würde ich Sir Thomas ausschließen. Da die Grundentdeckung von ihm stammt, wäre es wesentlich leichter gewesen, das ganze sofort an Seine Slavische Majestät zu verkaufen, wenn er das Geld so dringend brauchte.« »Einverstanden«, sagte Lord Darcy tonlos. »Sir Lyon«, fuhr Commander Ashley fort, »hat genug eigenes Vermögen. Ich will zwar nicht behaupten, daß ihm eine Viertelmillion Silbersovereigns nichts bedeuten würden, aber es scheint wenig wahrscheinlich, daß es einen Mann seiner Stellung dazu verführen würde, Hochverrat zu begehen.« »Einverstand en«, wiederholte Lord Darcy. »Sir James?« fragte Lord Ashley und machte eine Pause. »Ich weiß nicht. Auf jeden Fall war er kein reicher Mann.« Er blickte weitere zwanzig Sekunden lang an die Zimmerdecke, senkte dann den Kopf und sah Lord Darcy an. -1 8 5
»Ich weiß nicht, wie gut er ist, aber wir können ihn ja mal durchsprechen.« »Nur zu«, ermunterte ihn Lord Darcy. »Ich bin für jeden Lichtschimmer dankbar, den Ihr auf diesen Fall werfen könnt.« »Also gut; nehmen wir einmal an, daß Zwinge und Barbour unter einer Decke stecken. Um sich selbst zu schützen, würden sie natürlich den mysteriösen Fitzjean erfinden müssen. Niemand hat jemals Fitzjean und Barbour zusammen gesehen. Unsere Agenten haben gesehen, wie er Barbours Haus betrat und wie er es wieder verließ. Er kam aus dem Nichts und verschwand wieder im Nichts. Was wäre einfacher für Barbour, als diesen Fitzjean selbst zu spielen? Schließlich hatte er ja auch tatsächlich Kontakte zu polnischen Agenten.« »Barbour war nicht der einzige Kontakt, den Zwinge hatte«, warf Lord Darcy ein. »Warum hat er dann keinen anderen genommen und das Geheimnis ohne diese ganze Schauspielerei verkauft?« Der Commander legte die Hand mit der Fläche nach oben auf den Tisch. »Was wäre denn dann passiert? Sobald die Königliche Polnische Marine davon gewußt und das Gerät besessen hätte, hätten wir davon erfahren. Wir hätten gewußt, daß einer dieser drei Männer das Geheimnis verkauft hat. Unser erster Verdacht wäre natürlich auf Zwinge gefallen, weil er der einzige von den dreien war, von dem es bekannt war, daß er Kontakt zu polnischen Agenten hatte. Schließlich kann nicht jeder gewöhnliche Mensch mit solch einem Geheimnis sagen: ›Gut, ich glaube, ich gehe mal nach draußen und verhökere das ganze an einen polnischen Agenten! So leicht findet man keine polnischen Agenten.« »Das ist richtig«, meinte Lord Darcy nachdenklich. »Es ist schwierig, etwas zu verkaufen, wenn man nicht weiß, wie man den Käufer erreichen soll. Fahrt bitte fort.« -1 8 6
»Also gut. Um den Verdacht von sich abzulenken, setzte er dieses kleine Theaterstück in Szene. Jeder sucht nach dem mysteriösen Fitzjean, für den eine Falle ausgelegt wird. In der Zwischenzeit verhandelt Barbour mit den Polen und erzählt ihnen die gleiche Geschichte über Fitzjean.« »Wie sollte das Stück denn dann enden?« fragte Lord Darcy. »Das müssen wir einmal überlegen. Das Geheimnis wird den Polen ausgehändigt. Die Polen zahlen Barbour aus. Ich kann mir vorstellen, daß Zwinge einen Vorwand gefunden hat, zu der Zeit am Ort zu sein. Ich bezweifle, daß er Barbour die fünftausend Goldsovereigns anvertraut hätte. Die Falle für Fitzjean schlägt natürlich fehl, da es keinen Fitzjean gibt. Und nachdem wir gemerkt haben, daß die polnische Marine den Konfusionssprojektor hat, lautet Zwinges Entschuldigung: ›Fitzjean muß Barbour plötzlich mißtraut haben und hat das Geheimnis woanders verkauft. Zwinge könnte vorgehabt haben, Barbour auszuzahlen, das Geld mit ihm zu teilen oder ihn zu töten, das können wir nicht feststellen.« »Interessant«, sagte Lord Darcy. »Solch ein Plan wäre sicherlich nicht unmöglich gewesen, man hätte ihn entwerfen können. Aber wenn dem so gewesen sein sollte, dann ist er doch fehlgeschlagen. Warum glaubt Ihr, ist dies der Fall?« »Ich persönlich glaube«, sagte der Commander, »daß die Polen herausbekamen, daß Barbour für Zett arbeitet, und daß Zett Sir James Zwinge war. Sollte dies halbwegs der Wahrheit entsprechen, dann läßt meine Vermutung zwei Möglichkeiten offen. Erstens: Die Polen kamen zu der Überzeugung, daß die ganze Angelegenheit mit dem Konfusionsprojektor ein bloßer Versuch von Barbour und Sir James war, irgend jemanden aus irgendeinem Grund aufs Eis zu führen, und entschlossen sich dazu, beide zu eliminieren.
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Oder zweitens: Die Polen glaubten, daß Sir James tatsächlich ein Verräter war, der mit ihnen zu verhandeln bereit war. Sie haben sich gedacht, daß Sir James die Unterlagen irgendwo aufbewahren würde, wo sie für ihn leicht zugänglich waren. Während also die eine Gruppe in Cherbourg mit Barbour verhandelt, wird Zwinge von einer anderen in London überwacht. In Cherbourg einigt man sich auf das Geschäft, Barbour schickt eine Nachricht an Zwinge. Dieser weiß nicht, daß er beschattet wird, und besorgt die Pläne, um sie Barbour schicken zu können. Aber die Polen wissen jetzt, wo die Papiere sind. Sie geben Anweisung nach Cherbourg, daß Barbour beiseitegeschafft werden soll, und töten Zwinge hier, wobei sie die Unterlagen in die Hände bekommen und auf diese Weise fünftausend Goldsovereigns sparen.« »Ich muß zugeben«, sagte Lord Darcy langsam, »daß mein Unwissen über die Gepflogenheiten internationaler Geheimdienste ein Hindernis gewesen ist. Auf diese Theorie wäre ich niemals von alleine gekommen! Was war denn dann mit den technischen Fragen bei dem Mord an Sir James? Wie haben die Polen ihn denn umgebracht?« Commander Lord Ashley zuckte vielsagend mit der Schulter. »Da habt Ihr mich natürlich auf dem linken Fuß, My Lord. Von Schwarzer Magie verstehe ich eigentlich überhaupt nichts, und trotz allem, was Captain Smollett über mich sagte, habe ich auch keinerlei Erfahrungen in Mordsachen.« Lord Darcy lachte auf. »Na, das ist wenigstens ehrlich. Ich hoffe, daß Euch diese Untersuchungen zeigen werden, wie wir armen Zivilisten solche Dinge angehen. Wie spät ist es eigentlich?« Er schaute auf seine Armbanduhr und rief: »Ach du lieber Gott! Es ist schon nach sechs! Ich dachte, die Admiralität würde um sechs schließen?«
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Der Commander grinste. »Ich möchte wetten, daß Captain Smollett Anweisungen gegeben hat, uns nicht zu stören.« »Natürlich«, bestätigte Lord Darcy. »Also gut. Packen wir die Akten wieder weg und gehen ins Hotel zurück. Ich möchte Sir Lyon Grey ein paar Fragen stellen, wenn ich ihn irgendwo erwischen kann. Und außerdem möchte ich gerne mit dem Erzbischof von York sprechen. Wir müssen etwas über ein Mädchen namens Tia Einzig herausbekommen.« »Tia Einzig?« Lord Ashley schaute verwundert drein. Er hatte den Namen noch nie gehört. »Ich sage Euch, was ich Weniges über sie weiß, während wir ins Hotel zurückkehren. Stellt uns die Admiralität eine Kutsche?« »Ich fürchte, daß die Kutschen der Admiralität alle um sechs eingeschlossen werden«, erklärte der Commander. »Wir werden wohl eine Mietdroschke nehmen müssen, sofern wir eine finden.« »Wenn nicht, dann können wir auch gehen«, meinte Lord Darcy. »Wir müssen ja nicht gerade durch die halbe Stadt laufen.« Wenige Minuten später schritten die beiden Männer durch die dunklen Flure des Admiralitätsgebäudes. In der Eingangshalle wurden sie von einem Subalternoffizier hinausgelassen. »Schrecklich neblige Nacht, My Lords«, sagte er. »Wünschen eine gute Fahrt. Captain Smollett hat Anordnung gegeben, daß man eine Kutsche für Euch bereithält.« »Gott sei gedankt für kleine Gaben«, sagte Lord Darcy. So bestiegen sie die Kutsche. Die Hinfahrt dauerte diesmal länger als zuvor am Nachmittag. Die meisten der Besucher waren des Nebels wegen nach Hause gegangen. Die Empfangshalle lag fast völlig verlassen. Ein Mann im Gewand eines Meisterhexers stand vor Ausstellungsstücken. Lord Darcy -1 8 9
und Lord Ashley gingen auf ihn zu, und Lord Darcy tippte ihm von hinten auf die Schulter. »Entschuldigung, Meisterhexer«, sagte er förmlich, »ich bin Lord Darcy, Sonderinspektor im Auftrag Seiner Majestät des Königs, und ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir mitteilen würdet, wo ich Sir Lyon Gandolphus Grey finden kann.« Der Meisterhexer drehte sich mit einem unterwürfigkriechenden Lächeln um. »Ah, Lord Darcy«, sagte er. »Es ist mir ein Vergnügen, Euer Lordschaft kennenzulernen. Ich bin Master Ewen MacAlister. Mein guter Freund Master Sean O Lochlainn hat mir viel von Euch erzählt.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht unvermittelt. »Es tut mir außerordentlich leid, My Lord, Euch mitteilen zu müssen, daß Großmeister Sir Lyon im Augenblick verhindert ist. Er wohnt einer Sitzung der Sonderexekutivkommission des Vorstands der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft bei. Kann ich Euer Lordschaft noch auf andere Weise zu Diensten sein?« Lord Darcy verkniff es sich, daß er bisher noch überhaupt nichts getan hatte, um Ihren Lordschaften von Diensten zu sein. »Ach, das ist aber schade! Aber macht nichts! Sagt mir, nimmt Seine Hoheit der Erzbischof von York auch an dieser Sitzung teil?« »Nein, Euer Lordschaft, Seine Hoheit ist nicht Mitglied der Exekutivkommission. Seine kirchlichen Bürden sind viel zu groß, als daß er auch noch dieses Amt wahrnehmen könnte. Ich habe Seine Hoheit übrigens vor wenigen Augenblicken gesehen. Er nimmt seinen Tee im Restaurant, im Schildzimmer, Euer Lordschaft.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ja, das war erst vor wenigen Minuten, Euer Lordschaft. Seine Hoheit müßte noch -1 9 0
dort sein. Kann ich Euer Lordschaften noch auf andere Weise zu Diensten sein?« Bevor einer von ihnen etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, den üblen Verbrecher zu finden, der diesen infamen, heimtückischen Mord an« plötzlich sah er ausgesprochen traurig aus - »unserem guten Freund Master Sir James begangen hat? Eine verdammungswürdige Sache, das! Wird Euer Lordschaft eine Verhaftung vornehmen?« »Wir werden unser Bestes versuchen, Master«, sagte Lord Darcy forsch und fröhlich. »Wir danken Euch für die Auskunft, Master Ewen, und nochmals vielen Dank!« Lord Ashley und er schritten auf das Restaurant zu und ließen Master Ewen mit leerem Gesichtsausdruck zurück. »Master Ewen MacAlister, eh?« sagte Lord Ashley. »Öliger kleiner Fiesling, nicht wahr?« »Ich hätte ihn schon durch Master Seans Beschreibung erkannt, er hätte sich gar nicht vorzustellen brauchen«, sagte Lord Darcy. »Gibt es irgendeine Möglichkeit«, sagte Lord Ashley nachdenklich, »daß Master Ewen in den Mord verwickelt ist?« Lord Darcy machte zwei weitere Schritte, bevor er antwortete. »Ich will ehrlich zu Euch sein«, sagte er dann. »Obwohl ich keinen Beweis habe, habe ich das Gefühl, daß Master Ewen MacAlister einer der Hauptdrahtzieher in dem Geheimnis ist, das den Tod von Sir James umgibt.« Lord Ashley sah erstaunt aus. »Ihr habt ja gar keine Anstalten gemacht, ihn weiter zu befragen.« »Ich habe die Erklärung gelesen, die er gestern vor Lord Bontriomphe abgegeben hat. Er hat sich den ganzen Morgen auf seinem Zimmer aufgehalten, bis zehn oder fünfzehn Minuten -1 9 1
nach neun. Er weiß die Zeit nicht genau. Danach war er unten im Empfangssaal. Master Sean bestätigt einen Teil seiner Erklärung. Das Interessante daran ist jedoch, daß sich Master Ewens Zimmer genau über dem Zimmer befindet, in dem Sir James ermordet wurde.« »Das gibt zu denken«, sagte Ashley, während sie durch die Tür des Schildzimmers schritten. Sie spähten durch das von Gaslampen hellerleuchtete Restaurant und erblickten einen älteren Mann im Bischofspurpur, der allein an einem Tisch saß und an seinem Tee nippte. Lord Darcy sagte: »Das ist, glaube ich, Seine Hoheit von York.« Sie schritten auf den Tisch zu. Der Erzbischof schien in Gedanken versunken zu sein. Auf dem Tisch lag ein Notizbuch, in das er Symbole eintrug. »Bitte, diese Störung zu verzeihen, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy höflich. »Ich würde Eure Meditationen nicht von allein stören, aber ich komme im Auftrag des Königs.« Der alte Mann blickte lächelnd auf, und der Schein der Gaslampen ließ sein weißes Haar um die Schädelkappe wie einen Heiligenschein erstrahlen. Ohne sich zu erheben, reichte er Lord Darcy die Hand. »Ihr stört mich nicht, My Lord«, sagte er sanft. »Meine Zeit sei Eure Zeit. Ihr seid doch Lord Darcy von Rouen, glaube ich?« »Das bin ich, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy, »und dies ist Commander Lord Ashley vom Geheimdienst Seiner Majestät Reichsmarine.« »Sehr gut«, sagte der weise alte Sensitive. »Setzt Euch, My Lords! Danke! Ihr kommt vermutlich, um über die Probleme zu reden, die der Tod von Sir James Zwinge aufgeworfen hat.« »Das tun wir, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy und setzte sich zurecht. -1 9 2
Seine Hoheit von York faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich stehe zu Euren Diensten. Alles, was Licht in diese Angelegenheit bringen könnte...« »Euer Gnaden sind zu gütig«, sagte Lord Darcy. »Wie Ihr wißt, besitze ich nicht das Talent, und deshalb gibt es vielleicht Hinweise, die Ihr geben könntet, die ich nicht von allein bekommen kann.« »Sehr wahrscheinlich. Was denn zum Beispiel?« »Soweit ich unterrichtet bin, wäre es sehr schwierig für einen Hexer, ein Schwarzmagisches Ritual hier durchzuführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem wurde jeder der Hexer vorher auf seine Rechtschaffenheit überprüft, und jeder von ihnen besitzt eine Lizenz seines Diözesenbischofs, die dies bestätigt.« »Und Eure Frage lautet wohl«, sagte der Erzbischof, »wie wir eine solche Person übersehen konnten?« »Genau.« »Nun gut, ich will versuchen, es zu erklären. Fangen wir mit der Lizenz, Magie ausüben zu dürfen, an. Diese Lizenz wird vergeben, wenn ein Hexer seine Lehrzeit beendet hat und nach den Statuten der Gilde qualifiziert ist, seine Kunst auszuüben. Alle drei Jahre wird er aufs neue geprüft, und wenn er die Prüfungen besteht, wird die Lizenz verlängert. Das wißt Ihr vielleicht?« Lord Darcy nickte. »Jawohl, Euer Gnaden.« »Nun gut«, sagte der Erzbischof, »aber wodurch würde ein Hexer sich disqualifizieren können? Was könnte die Kirche daran hindern, seine Lizenz zu erneuern? Nun, es gibt viele Möglichkeiten, aber die wichtigste wäre zweifellos das Praktizieren von Schwarzer Magie. Leider ist es aber für die allermeisten Sensitiven nicht möglich, festzustellen, ob jemand Schwarze Magie ausgeübt hat, solange es sich um kleinere Zauber handelt, wenn der angerichtete Schaden nicht allzu groß -1 9 3
ist, wenn der Hexer noch nicht zu sehr von der Schwarzen Magie korrumpiert wurde. Könnt Ihr mir folgen?« »Ich glaube schon«, sagte Lord Darcy. »Dann werdet Ihr auch begreifen«, fuhr der Erzbischof fort und hob einen Finger, »wie es passieren kann, daß jemand einige Jahre Schwarze Magie praktizieren kann, bevor es seinen Geist derart verändert hat, daß das Prüfungskollegium es auch nachweisen kann. Ein Kapitalverbrechen wie beispielsweise Mord würde natürlich von der Sonderkommission sofort bemerkt werden. Der verdächtige Hexer müßte einige Tests durchlaufen, die er automatisch verfehlen müßte, wenn er seine Kunst dazu mißbraucht hätte, ein solch schändliches Verbrechen wie einen Mord zu begehen.« Er drehte die Handfläche nach oben. »Aber Ihr werdet begreifen, daß es unmöglich wäre, jeden Hexer hier einer solchen Untersuchung zu unterziehen. Die Gilde muß annehmen, daß ein Hexer auf dem rechten Pfad ist, bis es genug Material gibt, das das Gegenteil beweist.« »Das verstehe ich völlig«, sagte Lord Darcy. »Aber ich weiß auch, daß Ihr einer der feinfühligsten Sensitiven der Welt seid und einer der mächtigsten Heiler der Christenheit.« Er sah dem Erzbischof direkt in die Augen. »Ich kannte Lord Seiger von Yorkshire.« Trauer spiegelte sich in den Augen Seiner Hoheit, als er sagte: »Ach ja, der arme Seiger! Eine gequälte Seele... Ich tat, was ich konnte für ihn, und doch wußte ich... ja, ich wußte es... daß er trotz allem nicht lange leben würde.« »Euer Gnaden erkannten ihn als psychopathischen Mörder«, sagte Lord Darcy. »Wenn wir einen solchen Mörder in unserer Mitte haben sollten, wäre er dann nicht ebenso leicht zu erkennen wie Lord Seiger?«
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Die kummervollen Augen des Erzbischofs wandten sich erst Lord Darcy und dann Lord Ashley zu. »My Lords«, sagte er bedächtig, »man kann das Gebiet der Magie nicht so leicht in ›reines Weiß‹ und tödliches Schwarz« einteilen. Auch Menschenseelen kann man nicht so leicht beurteilen. Lord Seiger war ein Extremfall und konnte als solcher erkannt und isoliert werden, auch wenn seine Behandlung schwierig war. Aber man kann nicht einfach sagen: ›Dieser Mann ist des Mordes fähig‹ und ›dieser Mann hat getötet‹ und ihn deswegen schon aus der Gesellschaft ausschließen. Denn diese Züge sind ja nicht unbedingt böse. Die Fähigkeit zum Töten ist eine Eigenschaft, die für das Überleben des menschlichen »Tieres notwendig ist. Sie per Dekret abzuschaffen, käme einer Entmenschlichung gleich. Als Sensitiver nehme ich beispielsweise wahr, daß Ihr beide dazu fähig seid zu töten; außerdem sehe ich, daß Ihr beide auch schon Menschen getötet habt. Aber das sagt mir noch nicht, ob dieses Töten gerechtfertigt war oder nicht. Wir Sensitiven sind keine Engel, My Lords, wir maßen uns nicht Gottesge walt an. Nur wenn es eine wahrhaftige und tiefverwurzelte böse Absicht gibt, wird diese so offensichtlich, daß man sie sofort aufspüren kann. Bei Euch spüre ich zum Beispiel keine solche Absicht.« Nach einer Schweigepause sagte Lord Darcy schließlich: »Ich verstehe, glaube ich. Aber ich gehe doch wohl nicht fehl in der Annahme, daß, wenn jeder Hexer hier einem Rechtschaffenheitstest unterzogen würde, jeder, der einen Mord mit den Mitteln Schwarzer Magie begangen hätte, durch solche Tests entlarvt werden könnte?« »Aber gewiß doch«, sagte der Erzbischof, »das ist völlig richtig. Ihr könnt versichert sein, daß diese Tests auch durchgeführt werden, wenn die weltlichen Behörden den Unhold nicht finden sollten. Aber bisher«, fuhr er fort und hob bestätigend den Ze igefinger, »bisher haben weder die Kirche -1 9 5
noch die Gilde irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß Schwarze Magie im Spiel ist. Deshalb halten wir uns auch zurück.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Mit Verlaub, Euer Gnaden, eine weitere Frage. Was wißt Ihr über eine gewisse Demoiselle Tia Einzig?« »Demoiselle Tia?« Der heilige alte Mann lachte still in sich hinein. »Ah, My Lord, da habt Ihr aber jemanden, den Ihr sofort ausschließen könnt, wenn Euer Verdacht auf sie gefallen sein sollte. Sie wurde in den letzten paar Monaten zweimal von einem Prüfungsausschuß überprüft, der aus ausnahmslos kompetenten Mitgliedern bestand. Sie hat niemals in ihrem Leben Schwarze Magie ausgeübt.« »Ich bin nicht Eurer Meinung, daß sie dies von jedem Verdacht entbinden müßte«, sagte Lord Darcy. »Man kann ja wohl in einen Mord verwickelt sein, ohne zuvor Schwarze Magie praktiziert zu haben. Oder irre ich da?« Der Erzbischof blickte nachdenklich drein. »Hm, ja, natürlich habt Ihr recht. Das wäre möglich, ja... es wäre möglich, daß Demoiselle Tia ein Verbrechen begangen hätte, und solange es nicht das der Schwarzen Magie war, hätten wir es auch nicht feststellen können.« Er lächelte. »Ich versichere Euch, daß sie keiner Fliege etwas zuleide tun würde.« Plötzlich wurde seine Aufmerksamk eit von Mary De Cumberland abgelenkt, die auf den Tisch zukam, und ihr Bestes tat, um ihre Aufregung zu verbergen. »Euer Gnaden«, begann sie. Sie machte einen schnellen Hof knicks und blickte Lord Darcy an. »Ich...« Sie unterbrach sich und blickte Lord Ashley und den Erzbischof an. Dann fragte sie Lord Darcy: »Kann ich reden?« »Über den Auftrag?« fragte Lord Darcy. -1 9 6
»Ja.«
»Wir haben gerade über Tia gesprochen. Was gibt es Neues?«
»Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden«, sagte der Erzbischof.
»Ich möchte gern alles hören, was Ihr über Tia zu berichten habt.« Mit leiser Stimme berichtete Mary De Cumberland, was geschehen war. »Ich habe Euch überall gesucht«, sagte sie schließlich. »Ich bin ins Büro gegangen. Der Wachsergeant sagte, daß er Euch nicht gesehen habe. Ich bin rein zufällig hier hereingekommen.« Lord Darcy streckte die Hand aus. »Ich muß das Papier sehen!« schnappte er. Sie reichte es ihm. »Deshalb wollte ich dich auch so schnell finden«, sagte sie. »Alles, was ich lesen kann, sind die Zahlen.« »Es ist in Polnisch geschrieben«, sagte Lord Darcy. »›Im Hound and Hare um sieben Uhr ‹«, übersetzte er. »Keine Unterschrift.« Er sah auf seine Uhr. »Drei Minuten vor sieben! Wo zum Teufel ist denn dieses Hound and Hare?« »Das ist ein Pub auf der Upper Swandham Lane«, erklärte Lord Ashley. »Wir könnten es gerade noch schaffen.« Lord Darcy wendete sich Mary zu. »Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet, Mary. Ich habe jetzt keine Zeit, mich ausführlich zu bedanken. Ich muß dich in der Gesellschaft des Erzbischofs lassen. Euer Gnaden müssen uns entschuldigen. Kommt, Ashley. Wo ist denn das Hound and Hare nun genau?« Sie verließen eilig das Schildzimmer und schritten in die Empfangshalle. Lord Ashley zeigte nach rechts. »Der Gang dort drüben geht auf die Potsmoke Alley hinaus. Wenn wir dann rechts abbiegen, sind wir auf der Upper Swandham Lane. Etwa anderthalb Minuten zu gehen.« -1 9 7
Sie eilten durch den Gang, an dessen Ende ein Wachmann stand. »Ich bin Lord Darcy«, fauchte der Inspektor. »Sagt Lord Bontriomphe, daß wir ins Hound and Hare gehen und so schnell wir möglich zurückkommen werden.« In der Potsmoke Alley umhüllte der Nebel die Männer. »Dort entlang«, sagte Ashley. Sie bogen rechts ab und tasteten sich zur Abbiegung in die Upper Swandham Lane vor. Dort gab es einzelne Gaslaternen, die im Nebel schwach schimmerten, doch war es dennoch unmöglich, weiter als ein paar Fuß zu blicken. Als er und Ashley aus der Potsmoke Alley herauskamen, hörte Lord Darcy ein fernes Klick!... Klick! Klick!, das sich durch den Nebel zur Rechten näherte. Es klang wie jemand mit eisenbeschlagenen Sohlen. Zur Linken konnte er zwei Paar Lederstiefel hören, das eine Paar recht nahebei, das andere weiter die Straße hoch. Weiter oben auf der Upper Swandham Lane war ein Zweispänner zu hören, der sich klappernd entfernte. »Ich glaube, da vorne ist es«, sagte Lord Ashley. »Ja, genau, das ist es.« Das Wirtshausschild zeigte einen blauen Jagdhund, der einen blauen Hasen jagte. »Also gut, gehen wir hinein«, sagte Lord Darcy. »Laßt Eure Kapuze auf und Euren Umhang verschlossen. Niemand sollte Eure Marineuniform sehen. Dann können wir als ganz gewöhnliche Kaufleute durchgehen.« »In Ordnung«, sagte Ashley, »ich hoffe nur, daß wir das Mädchen auch erkennen. Kennt Ihr sie?« »Ich glaube schon, daß ich sie erkennen werde. Die Beschreibung Ihrer Hoheit war sehr ausführlich, und es kann nicht allzu viele Mädchen ihrer Größe in London geben. «
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Er öffnete die Tür. Zu Lord Darcys Linken erstreckte sich entlang der Wand eine Theke. Zu seiner Rechten befanden sich abgeteilte Enklaven. Am Ende des Raums standen einige Tische zwischen der Theke und den Parzellen. An einem der Tische saßen Männer beim Kartenspiel, während von dem Dartbrett an der Wand dumpfe Geräusche herüberklangen, als die vom Gastwirt, dessen Wurfkraft wesentlich ausgeprägter war als sein Zielvermögen, geworfenen Pfeile in der Wand steckenblieben. Darcy und Ashley besetzten schnell einen freien Platz an der Theke. Trotz der zahlreichen Gäste war das Pub nicht überfüllt. »Irgend jemand zu sehen, den wir kennen?« murmelte Lord Ashley. »Von hier aus nicht«, sagte Lord Darcy. »Sie könnte in einer der Parzellen sein. Aber vielleicht ist sie auch noch nicht gekommen.« »Ich glaube, das zweitere war richtig«, sagte Ashley. »Schaut doch einmal in den Spiegel hinter der Theke!« Im Spiegel war die Eingangstür gut zu erkennen, und Lord Darcy erkannte mühelos die winzige Figur und das schöne Gesicht von Tia Einzig. »Das ist sie«, sagte er. Tia blickte sich nicht um. Sie ging direkt auf das Ende des Raums zu, als wüßte sie genau, wo sie die Person treffen würde, mit der sie verabredet war. Sie verschwand in der letzten Parzelle, nahe dem Hinterausgang. »Ich überlege mir gerade, ob in der Enklave schon jemand sitzt oder ob sie auf den Betreffenden wartet«, sagte Lord Darcy. »Schlendern wir doch nach hinten und schauen nach!« schlug Lord Ashley vor. »Gut, aber nicht zu nahe daran vorbeigehen! Ich will nicht, daß sie unsere Gesichter sehen.«
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»Wir könnten dem Dartspiel zuschauen«, schlug Lord Ashley vor, »das wäre doch interessant.« »In Ordnung«, meinte Lord Darcy. Sie bewegten sich langsam ans Ende der Theke. In der Parzelle saß jemand, Tia Einzig direkt gegenüber. Offenbar war es ein Mann, aber seine Kapuze verdeckte sein Gesicht, das er nach unten gewendet hielt. Lord Darcy sagte: »Gehen wir an den Tisch dort drüben. Ich möchte versuchen, ihrer Unterhaltung zuzuhören. Aber bewegt Euch vorsichtig. Haltet Euer Gesicht möglichst unauffällig verdeckt.« Vom Tisch aus, der etwas vor der Enklave im Raum stand, konnten sie den vermummten Mann überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Er kehrte ihnen den Rücken zu und sprach so leise, daß man seine Stimme zwar hören, aber nicht verstehen konnte. Tia aber saß ihnen gegenüber und, wie Mary De Cumberland Lord Darcy am Abend zuvor bereits mitgeteilt hatte, sie besaß eine Stimme, die selbst dann noch mächtig wirkte, wenn sie leise sprach. Einige Sekunden lang vernahmen sie nur das leise Murmeln des Mannes, dann sagte Tia: »Wenn Ihr ihn nicht tot haben wolltet, warum habt Ihr ihn dann umgebracht?« Ihr Gesichtsausdruck war hart, eisig und mit einer Wutschicht unterlegt. Abermaliges Murmeln, dann wieder Tia: »Ihr habt herausbekommen, daß Zett der vielgefürchtete Kopf des Geheimdienstes der Reichsmarine, Master Sir James Zwinge war, und jetzt wollt Ihr mir weismachen, daß der Geheimdienst von König Casimir ihn nicht umbringen wollte!« Wütende Worte des Vermummten. »Ich rede so, wie es mir paßt«, sagte Tia. »Ihr solltet lieber etwas mehr Höflichkeit und Anstand bewahren!«
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Eine Weile lang sagte sie überhaupt nicht s und lauschte dem Murmeln des Mannes mit einem Ausdruck kalter Wut in ihrem schönen Gesicht. Dann umgürtete sie ihre Lippen mit einem eisigen Lächeln. »Nein, das werde ich nicht«, sagte sie. »Ich werde ihn nicht fragen. Weder für Euch noch für Polen noch für König Casimirs ganze verdammte Armee!« Ein kurzer Einwurf des Vermummten. »Nein, verdammt noch einmal, auch für ihn nicht. Und wißt Ihr auch warum? Weil ich jetzt weiß, daß Ihr mich belogen habt! Weil ich weiß, daß er jetzt vor den Folterkammern des polnischen Geheimdienstes sicher ist!« Der Vermummte sagte wieder etwas. »Sein Todesurteil unterschreiben?« Sie lachte schrill, ohne Humor in der Stimme. »O nein! Ihr habt mich lange genug belästigt! Ihr habt versucht, mich dazu zu zwingen, ein Land zu verraten, das mich gut behandelt hat, und einen Mann, der mich liebt. Ich habe in Angst und Schrecken vor Euch gelebt, aber jetzt nicht mehr! O ja, ich werde ein Todesurteil unterschreiben, Eures nämlich! Ich werde die ganze Sache auffliegen lassen. Ich werde den Reichsbehörden alles erzählen, was ich weiß, und ich hoffe, daß sie Euch aufhängen werden. Ihr hinterhältiges, widerliches kleines...« Sie hielt inne und stutzte. »Was?« Lord Darcy, der Tia die ganze Zeit beobachtet hatte, sah, wie sich ihr kalter Gesic htsausdruck veränderte: war er zuerst steinig gewesen, so wurde er jetzt plötzlich hölzern. Schließlich wurde ihr Gesicht völlig leer und ausdruckslos. Der Commander packte plötzlich Darcys Handgelenk. »Aufgepaßt!« zischte er, »sie werden durch die Hintertür hinausgehen!«
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Lord Darcy lächelte in sich hinein. Lord Bontriomphe hatte erzählt, daß Ashley ab und an präkognitive Gedankenblitze hatte, und dies war ein Beispiel dafür. Bei einem untrainierten und unausgebildeten Talent geschah dies vor allem in Augenblicken höchster Angespanntheit. Wie Ashley vorausgesagt hatte, erhob sich Tia gleichzeitig mit dem Mann, der den Beobachtenden immer noch den Rücken zukehrte. Die beiden schritten durch die wenige Fuß entfernte Hintertür. Darcy und der Commander sprangen auf und eilten auf die Tür zu. Dann hielt Lord Darcy, die Hand auf dem Türknauf, an. »Worauf wartet Ihr?« fragte Ashley. »Ich möchte, daß sie genug Vorsprung bekommen, damit sie das Licht nicht bemerken, wenn ich die Tür öffne«, sagte Darcy. »Aber in diesem Nebel werden wir ihre Spur verlieren!« »Nicht mit ihren hochhackigen Schuhen. Die hört man zehn Yards weit.« Er öffnete die Tür einen Spalt breit. »Hört Ihr's? Sie gehen nach rechts. Welche Straße ist das?« »Das müßte die Old Barnegat Road sein«, sagte Lord Ashley. »Also gut, gehen wir«, sagte Darcy, und die beiden schritten in den dichten Nebel hinaus. Das regelmäßige Klicken von Tias Absätzen war immer noch gut zu hören. »Holen wir ein wenig auf«, sagte Darcy, während sie durch die Dunkelheit schritten. »Wenn wir uns vorsichtig bewegen, werden sie unsere Schritte nicht hören, weil die des Mädchens sie übertönen.« Schweigend folgten sie den Schritten. Dann sagte Lord Ashley leise: »Ich habe ja nicht viel von der Unterhaltung im Pub verstanden, aber ich muß wahrscheinlich froh sein, daß ich überhaupt etwas mitbekommen habe.« »Wieso?«
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»Ich hatte erwartet, daß sie polnisch reden würden. Wir wissen, daß Tia Einzig polnisch spricht, und die Nachricht scheint darauf hinzuweisen, daß der Mann es auch tut.« »Im Gegenteil«, sagte Lord Darcy, »dafür waren zu viele Schreibfehler in dem kurzen Text. Er kann wohl etwas polnisch, aber wohl kaum genug, um es längere Zeit zu sprechen. Aber das sagt uns einiges über ihn.« »Was denn wohl, My Lord?« »Daß er ein aufgeblasener Angeber ist und daß er mehr theatralischen Geschmack hat, als ihm guttut. Er hätte mühelos eine Nachricht auf anglofranzösisch schreiben können. Warum hat er das nicht getan?« »Vermutlich, weil er wollte, daß nicht jeder die Nachricht verstehen könnte.« »Genau, und Ihr seid in die gleiche Falle gegangen wie er. Nur jemand, der eine Sprache nicht beherrscht, kommt auf den Gedanken, daß man sie als eine Art von Geheimschrift benutzen kann. Denkt Ihr an anglofranzösich als eine Möglichkeit, Eure Gedanken vor anderen zu verbergen?« »Kaum«, sagte Lord Darcy leise, »würde nur ein aufgeblasener Angeber versuchen, mit seinen außerordentlich dürftigen Sprachkenntnissen vor jemandem anzugeben, dessen Muttersprache es ist.« An der Ecke, die vor ihnen lag, bog das Klicken von Tias Absätzen wiederum nach rechts ab. »Wo sind wir jetzt?« fragte Lord Darcy. »Wenn ich meine Orientierung nicht verloren haben sollte, müßten wir soeben an Great Harlow House vorbeigekommen sein; das würde bedeuten, daß sie in die Thames Street eingebogen sind und sich in südlicher Richtung weiterbewegen.«
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Zum ersten Mal wünschte sich Lord Darcy, mehr über die Geographie von London zu wissen. »Habt Ihr irgendeine Vermutung, wo sie hingehen?« »Well«, sagte Ashley, »wenn wir geradeaus weitergehen, kämen wir an St. Martin's Church vorbei und würden schnurstracks auf den Westminster Palace zusteuern.« »Jetzt erzählt mir bloß nicht, daß sie den König aufsuchen wollen«, sagte Darcy. »Ich glaube, daß ich Euch das nicht abnehmen würde.« »Moment, sie biegen nach links ab. Das wäre in Richtung Somerset Bridge«, sagte Lord Ashley. »Sie überqueren den Fluß. Am besten bleiben wir jetzt ein Stück zurück, die Brücke ist beleuchtet.« »Ich glaube nicht«, sagte Lord Darcy, »wir werden es einfach riskieren.« »Wie lange wollen sie noch weitergehen?« murmelte Lord Ashley. »Machen sie etwa einen gemütlichen Abendspaziergang nach Croydon, oder was ist los?« Die Lampen auf der Brücke waren kein Hindernis, denn ihr Licht schien nicht weit, da der Nebel direkt über der Themse noch stärker war. Sie gingen in einem gleichmäßigen Schritt weiter. Plötzlich hörte das Klicken mitten auf der Brücke auf. Die beiden Männer blieben instinktiv stehen. Dann hörten sie einen einzelnen Satz, gedämpft, aber klar zu verstehen: »Und jetzt aufs Geländer steigen.« »Um Gottes willen!« sagte Darcy. »Los!« Die beiden Männer begannen zu laufen. Vorsicht war jetzt nicht angebracht. Plötzlich war der Vermummte durch den Nebelschleier zu erkennen. Er stand neben einer Gaslaterne. Tia Einzig war nicht zu sehen. Vom Fluß tönte ein gedämpftes Platschen herauf. Als er die Fußschritte vernahm, drehte sich der Vermummte um, wobei sein Gesicht immer noch vom Schatten -2 0 4
der Kapuze verdeckt wurde. Einen Augenblick blieb er wie vom Blitz getroffen stehen und schien zu überlegen, ob er davonlaufen sollte oder nicht. Dann merkte er, daß seine Verfolger schon zu nahe waren. Er fuhr mit der Hand unter seinen Umhang und zog ein Kurzschwert hervor. Seine nadelgleiche Schneide glänzte im nebligen Licht. In der Reichsmarine ausgebildet, reagierte Commander Lord Ashley instinktiv. Sein eigenes Schwert glitt aus der Scheide und stand angriffsbereit, bevor der Vermummte noch eine Bewegung machen konnte. »Kümmert Euch um ihn!« rief Lord Darcy. »Ich hole das Mädchen!« Er lief bereits über die Brücke an die flußabwärts gewandte Seite und warf seinen Umhang ab, bevor er auf die Balustrade kletterte. Einen kurzen Augenblick blieb er dort stehen und sprang dann mit einem geraden Sprung in die undurchdringliche Schwärze unter ihm. Commander Lord Ashley sah nicht, wie Lord Darcy von der Brücke sprang. Er hatte die vermummte Gestalt nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen. Er fühlte sich seiner selbst sicher. Die Art und Weise, wie der andere sein Schwert gezogen hatte, zeigte ihm daß er es mit einem Amateur zu tun hatte. Als sein Gegner plötzlich auf ihn zukam, spürte er auf einmal Furcht. Das Schwert des anderen schien zu flackern und bei der Bewegung zu verschwinden! Nur durch Geistesgegenwart und reines Glück gelang es ihm, dem Stoß auszuweichen und mit seiner eigenen Klinge zu parieren. Immer noch konnten seine Augen nicht die schmale tödliche Stahlklinge erblicken; es war, als weigerten sie sich, das Schwert des Gegners zu fixieren, es direkt anzusehen. In den nächsten Sekunden geriet er fast in Panik, als er den gegnerischen Stößen immer knapper entging und seine eigenen Stöße mit Leichtigkeit von einer Klinge pariert wurden, die er -2 0 5
nicht sehen konnte. Wo immer er auch hinblickte, die Klinge war immer woanders, kam gerade und schnell auf ihn zu und verpaßte Stöße, die jeder für sich absolut tödlich gewesen wären, wenn es ihm nicht jedesmal gelungen wäre, sie mit seinem eigenen Schwert abzuwehren. Seine eigenen Stöße und Hiebe aber wurden stets flach abgeschmettert, während seine Augen sich weigerten, genauer hinzuschauen. Es war ihm klar, daß dies Hexerei war. Es war allzu offensichtlich, daß er es mit der verzauberten Klinge eines Killers zu tun hatte. Da aber trat des Commanders eigenes, ungeschultes Talent zum Vorschein. Es war ein Talent, das selbst in der Hexergilde nur selten zu finden war, die Fähigkeit nämlich, eine sehr kurze Zeit in die Zukunft blicken zu können, meistens nur wenige Sekunden lang, ganz selten aber sogar einige Minuten. Die Gilde konnte die meisten Leute mit diesem Talent ausbilden. Daraus wurden dann die Hexer, die das Wetter und Erdbeben vorhersagen konnte, sowie alle, die Naturereignisse vorhersahen, die nicht von menschlichem Tun abhängig waren. Aber bislang war es nicht einmal den allerbesten thaumaturgischen Wissenschaftlern gelungen, die besonderen Fähigkeiten des Commanders zu schulen. Denn diese Fähigkeit war die seltenste von allen - nämlich die Taten von Menschen vorherzusehen. Und da die symmetrischen Gesetze der Thaumaturgie noch nicht gänzlich erforscht waren, konnte man dieses Talent noch nicht im gleichen Umfang bis zur genauen Zuverlässigkeit ausbilden, wie dies bei den anderen Talenten der Fall war. Der Commander hatte ab und an Vorahnungen, doch wußte er nie, wann diese Vorahnungen auftreten würden und wie lange er sie aufrechterhalten konnte. Aber wie jeder intelligente Mensch auch war der Commander dazu fähig, aufgrund dieser Vorahnungen zu handeln. Plötzlich erkannte er, daß er instinktiv gewußt hatte, wo die verzauberte Klinge sein würde. Auch wenn der Schwarzmagier, der versuchte, ihn umzubringen, ein geschultes Talent auf seiner -2 0 6
Seite hatte, war er dennoch außerstande, es mit Commander Ashleys Vorahnungen aufzunehmen. Nachdem er das erkannt hatte, suchten Lord Ashleys Augen nicht länger die Klinge des Gegners. Statt dessen beobachtete er den Körper des anderen. Er bewegte sich von einer Stellung in die andere, aber Ashley hätte es auch mit geschlossenen Augen wahrnehmen können. Eine kurze Weile lang tat Ashley nichts anderes, als die Angriffe des Gegners abzuwehren. Aber er war nicht mehr auf dem Rückzug. Er gewann Raum und zwang den anderen Schritt um Schritt zurück. Nun standen sie wieder unmittelbar unter der Gaslaterne. Lord Ashley bemerkte, daß der Gegner an Selbstvertrauen verlor. Seine Hiebe und Stöße wurden unsicherer. Jetzt herrschte Panik und Furcht auf der anderen Seite. Mit kühler Überlegung legte sich Lord Ashley seinen Plan zurecht. Er wollte diesen Mann nicht töten; dieser Hexer und Spion sollte verhaftet, verurteilt und gehe nkt werden wegen des Mordes an Sir James Zwinge, ob er ihn nun selbst begangen oder ihn nur angeordnet hatte. Lord Ashley hegte keinerlei Zweifel über die Schuldigkeit des Schwarzen Hexers, aber es wäre töricht gewesen, ihn zu töten und das Königliche Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Er wußte jetzt, daß es leicht sein würde, seinen Gegner lebendig zu bekommen. Es brauchte lediglich zwei schnelle Bewegungen: einen Stoß zwischen Ellenbogen und Handgelenk, um den anderen zu entwaffnen und dann einen schnellen Schlag auf die Schläfe mit der flachen Klinge, um ihn ohnmächtig zu schlagen. Lord Ashley machte zwei weitere Finten, um den Gegner in die richtige Stellung zu bekommen. Der Hexer wich zurück, als würde er einen Befehl ausführen, was er ja in gewisser Weise auch tat - den Befehl von Commander Ashleys blitzschneller Klinge. Die Gaslaterne befand sich nun hinter Lord Ashleys Rücken, und zum ersten Mal fiel das Licht voll auf das Gesicht unter der Kapuze. Lord Ashley lächelte grimmig, als er die Gesichtszüge wiedererkannte. Diesen Mann zu verhaften würde eine wahre -2 0 7
Freude sein! Dann war es soweit, Ashley machte seinen Ausfall und stieß auf den jetzt ungeschützten Unterarm des Hexers zu. In diesem Augenblick spürte er, wie ihn sein Talent im Stich zu lassen begann. Er war zu selbstsicher geworden, und die geistige Anspannung, die den Fluß genauer Vorahnungen am Fließen gehalten hatte, sank unter die kritische Marke. Er rutschte mit dem linken Fuß auf dem feuchten Pflaster der Brücke aus. Sein Versuch, das Gleichgewicht zu halten, schlug fehl, und er konnte den Tod förmlich spüren. Aber er hatte dem Gegner bereits eine solche Todesangst eingejagt, daß dieser die Gelegenheit, Ashley zu töten, gar nicht als solche wahrnahm. Er merkte statt dessen nur, daß das tödliche Marineschwert ihn nicht mehr bedrohte. Sein Umhang wirbelte umher, als er sich abwandte und fortlief. Der Nebel verschluckte ihn, als habe es ihn nie gegeben. Lord Ashley verhinderte mit knapper Mühe, daß er aufs Gesicht fiel, indem er sich mit dem ausgestreckten linken Arm abstützte. Dann war er wieder auf den Beinen, und ein stechender Schmerz fuhr ihm durch den rechten Fußknöchel. Er hörte, wie der feindliche Hexer fortlief, aber er wußte, daß er ihn niemals mit einem verstauchten Knöchel einhole n könnte. Er stützte sich am Brückengeländer ab und ließ das Lachen endlich heraus, das nun schon lange in ihm gekeimt hatte, seit er dieses verkrampfte ängstliche Gesicht gesehen hatte. Im Grunde lachte er sich selbst aus. Wenn man sich nur vorstellte, daß er ein paar Sekunden lang tatsächlich Todesangst vor diesem miesen kleinen Wurm Master Ewen MacAlister gehabt hatte! Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis das Lachen nachließ. Dann machte er einen tiefen Atemzug und zog die kalte neblige Luft ein, während er mit dem Handrücken den Schweiß von seiner Stirn wischte. Geschickt schob er sein Schwert wieder in die Scheide. Es war zu schade, daß ein glitschiges Straßenpflaster ihn daran gehindert hatte, Master Ewen zu fangen, aber jetzt wußte man wenigstens, wer der Schwarze Magier war, und Lord Darcy konnte - Lord Darcy! Die -2 0 8
Aufregung verschwand aus seinem Hirn, und er humpelte über die Brücke an die andere, flußabgewandte Seite. Schwarz wie Pech war es dort unten. Er konnte nichts erkennen. »Darcy!« Die Stimme des Commanders hallte über das Wasser, aber der dichte Nebel, der über dem Fluß brütete, schien den Klang bald aufzusaugen. Keine Antwort. Er rief zwei weitere Male, ohne eine Antwort zu erhalten. Dann hörte er plötzlich Schritte, die sich von rechts nahten, und fuhr mit der Hand an den Schwertgriff. Kam MacAlister zurück? Das konnte doch nicht sein! Und doch... Dieser verdammte Nebel! Er fühlte sich, als stehe er in einer eigenen kleinen Welt, deren Grenzen aus einer Wattewand bestanden, die nur wenige Fuß entfernt begann, während draußen unsichtbare Wesen umhergeisterten, die nichts als entkörperlichte Fußschritte waren. Dann sah er ein freundliches Licht, und aus der Watte trat eine Gestalt, die eine Druckgaslaterne trug. Lord Ashley kannte den großen schweren Mann nicht, aber seine Uniform wies ihn als einen Londoner Wachmann und somit als Freund aus. Der Wachmann verlangsamte seinen Schritt, blieb kurz stehen und legte die Hand an den Griff seines eigenen Kurzdegens. »Darf ich fragen, was hier vorgeht, Sir?« fragte er höflich, doch seine Stimme verriet Vorsicht. Lord Ashley nahm langsam die Hand von seinem Schwert, der Wachmann aber ließ seine am Schwertgriff. »Ich habe Geräusche auf der Brücke wahrgenommen, Sir«, sagte er hölzern. »Ein Geräusch von klirrenden Klingen, so klang es, Sir. Dann lief jemand von der Brücke herunter und an mir vorbei. Und gerade eben...« Er hielt inne. »Wart Ihr das, der gerufen hat, Sir?« Es dämmerte Lord Ashley plötzlich, wie verboten er aussehen mußte. In seinem langen schwarzen Marineumhang und unter -2 0 9
der hochgezogenen Kapuze war sein Gesicht genauso unsichtbar, wie es das von Master MacAlister gewesen war. Er zog die Kapuze zurück und schob den Umhang über die Schultern zurück, damit der Wachmann seine Uniform sehen konnte. »Ich bin Commander Lord Ashley«, sagte er. »Ja, Wachmann, es gab hier Ärger. Der Mann, den Ihr habt laufen hören, ist ein Verbrecher, der wegen Mordes gesucht wird.« »Mord, Euer Lordschaft?« fragte der Wachmann erstaunt. »Wer war es denn?« »Ich fürchte, er hat mir seinen Namen nicht mitgeteilt«, sagte Lord Ashley. Diese Behauptung war durchaus wahr, und Lord Ashley wollte Darcy von MacAlister erzählen, bevor irgend jemand anders davon erfahren durfte. »Es geht darum, daß er kurze Zeit zuvor ein junges Mädchen von der Brücke gestoßen hat. Mein Begleiter ist ihr nachgesprungen.« »Ihr nachgesprungen? Ziemlich unklug, bei solcher Nacht. Haben wir wahrscheinlich gleich zwei Leute verloren, Euer Lordschaft.« »Das ist möglich«, gab Lord Ashley zu. »Ich habe nach ihm gerufen, und er hat nicht geantwortet. Aber er ist ein sehr kräftiger Mann, und obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, daß er das Mädchen gefunden hat, ist es doch sehr wahrscheinlich, daß er sich ans Ufer gerettet hat.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft, dann suchen wir sofort nach den beiden.« Er zog seine Pfeife hervor und blies eine Reihe schriller hoher Töne in die suppige Luft - der ›Hilfepfiff‹ der Königlichen Wachmänner. Ein oder zwei Sekunden später vernahmen sie von beiden Seiten des Flusses die Antwortpfiffe weiterer Wachmänner. Wenige Sekunden später wiederholte der -2 1 0
Wachmann die Pfiffe, um den Herbeieilenden einen Orientierungspunkt zu geben. »Wird gleich Verstärkung kommen«, versicherte er fröhlich. »Bis dahin können wir sowieso nichts unternehmen.« Er zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Also, wenn Ihr so gut sein würdet, Euren Namen zu wiederholen, Euer Lordschaft. Und die Namen der anderen.« Der Commander wiederholte seinen eigenen Namen und sagte dann: »Der Name des Mädchens lautet Tia Einzig.« Er buchstabierte den Namen und fuhr fort: »Sie ist eine wichtige Zeugin in einem Mordfall, deshalb wollte der Mörder sie aus dem Weg schaffen. Der Mann, der ihr nachgesprungen ist, ist Lord Darcy, der...« »Lord Darcy, sagt Ihr?« Der Wachmann hob plötzlich den Kopf. »Der berühmte Inspektor aus Rouen?« »Genau der«, sagte Lord Ashley. »Derselbe Lord Darcy«, beharrte der Wachmann, der scheinbar hundertprozentig sicher sein wollte, daß es sich um den richtigen Mann handelte, »der aus der Normandie gekommen ist, um Lord Bontriomphe zu helfen, den Mord im Royal Steward Hotel aufzuklären?« »Genau der«, sagte Lord Ashley mißmutig. »Und der ist einfach in den Fluß gesprungen?« »Ja, das ist er, wie ich es gesagt habe. Er ist in den Fluß gesprungen. Er wollte das Mädchen retten. Inzwischen hat er genug Zeit gehabt, um bis Nordland zu schwimmen. Wenn wir noch ein bißchen warten, kommt er bestimmt bald zurück.« Der Wachmann sah ihn pikiert an. »Kein Grund, ungeduldig zu werden, Euer Lordschaft. Wir werden so schnell wir möglich zur Tat schreiten.« Er gab noch einen dritten und schließlich einen vierten Notpfiff. -2 1 1
Dann hörte man Hufeklappern, und der entfernte Klang schwoll zu einem Donner an, als das Pferd auf die Brücke galoppierte. Sie sahen, wie sich ein Licht näherte, und der Wachmann gab Lichtsignale mit seiner Laterne. »Da kommt der Sergeant, Euer Lordschaft.« Der berittene Sergeant stand plötzlich vor ihnen und zog sanft die Zügel an, während der Wachmann salutierte. »Was gibt es, Wachmann Arthur?« »Dieser Gentleman hier ist Commander Lord Ashley von der Reichsmarine, Sergeant.« Er blickte auf seine Aufzeichnungen und gab einen kurzen, präzisen Bericht über die Vorfälle. Inzwischen konnte man das Geräusch von Stiefeln und von Hufen hören, die sich von beiden Seiten der Brücke näherten. »Gut, My Lord Commander, wir werden uns darum kümmern«, sagte der Sergeant. »Wahrscheinlich ist er zum rechten Ufer geschwommen, weil es näher ist, aber wir suchen beide Seiten ab. Arthur, Ihr geht zur Station der Flußpatrouille in der Thames Street und sagt ihnen, daß sie ihre Boote aussetzen und den anderen Stationen flußabwärts eine Nachricht zukommen lassen sollen. Wir müssen von hier bis Chelsea alles abdecken.« »Sofort, Sergeant.« Wachmann Arthur verschwand im Nebel. »Darf ich um einen Gefallen bitten, Sergeant?« fragte Lord Ashley. »Was soll es sein, Euer Lordschaft?« »Schickt einen Reiter ins Royal Steward Hotel, wenn das möglich ist. Laßt ihn dort dem Wachsergeanten alles berichten. Außerdem wartet dort eine Kutsche der Admiralität auf mich. Laßt Euren Mann dem Subalternoffizier ausrichten, daß Commander Lord Ashley die Kutsche in die Thames Street an die Somerset Bridge gebracht haben will. Ich werde davon -2 1 2
ausgehen, daß Lord Darcy versucht, das rechte Ufer zu erreichen, und werde Euren Leuten bei der Suche helfen.« »Sehr wohl, My Lord Commander. Ich schicke sofort einen Boten los.« Mary De Cumberland schritt durch die fast gänzlich leere Empfangshalle des Royal Steward und versuchte mühevoll, ihre nervöse Ungeduld zu zügeln. Sie hatte das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen, aber sie wußte nicht was. Sie hätte gern mit jemandem geredet, aber es war niemand da. Sir Lyon und Sir Thomas waren immer noch in der Sitzung mit den höchstrangigen Hexern des Reichs. Master Sean war im Leichenscha uhaus und assistierte bei der Autopsie von Sir James Zwinge. Lord Bontriomphe, so hatte der Wachsergeant vom Dienst ihr mitgeteilt, durchstöberte gerade die Stadt nach einem Mann namens Paul Nichols. Und Lord Darcy befand sich in einer Kneipe und beschattete Tia Einzig. Womit die Herzogin allein und untätig war. Sie ging in das vorläufige Hauptquartier. »Gibt es etwas Neues, Sergeant Peter?« »Nicht das geringste, Euer Gnaden«, sagte der Wachsergeant vom Dienst und erhob sich. »Lord Bontriomphe ist noch nicht zurück und Lord Darcy auch nicht.« »Ihr scheint Euch genauso zu langweilen wie ich, Sergeant. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich setze?« »Es wäre mir eine Ehre, Euer Gnaden. Bitte, nehmt diesen Stuhl. Nicht allzu bequem, fürchte ich allerdings. Sie haben ihrem Nachtdirektor nicht gerade das allerbeste Mobiliar zur Verfügung gestellt.« Sie wurden von einem anderen Wachsergeanten unterbrochen, der plötzlich durch die Tür kam. Er grüßte die Herzogin mit einem knappen Kopfnicken und sagte: »Abend, Madam«, und wandte sich an Sergeant Peter. »Seid Ihr hier zuständig, Sergeant?« -2 1 3
»Bis Lord Bontriomphe oder Lord Darcy zurückkehren, ja. Ich bin Sergeant Peter O Sechnaill.« »Sergeant Micheal Coeur-Terre, Flußbezirk. Möglicherweise wird Lord Darcy nicht zurückkehren. Ein Mädchen namens Tia Einzig wurde von der Somerset Bridge gestoßen, und Lord Darcy ist ihr nachgesprungen. Man sucht sie jetzt bis Chelsea mit Patrouillenbooten, aber ich glaube selbst nicht daran, daß sie noch eine Chance haben. Ein Commander namens Lord Ashley bat uns, hier Bericht zu erstatten. Er sagte, daß Lord Bontriomphe die Information brauchen kann.« Sergeant Peter nickte. »Jawohl, ich werde Seiner Lordschaft Meldung machen, sobald er kommt. Noch etwas?« »Ja. Wißt Ihr, wo hier eine Admiralitätskutsche wartet? Ein Subalternoffizier namens Hosquins ist für sie zuständig. Commander Lord Ashley wünscht, daß die Kutsche sofort in die Thames Street zur Somerset Bridge gebracht wird. Er will Transport für Lord Darcy, wenn sie ihn finden, obwohl ich glaube, daß es mit Seiner Lordschaft wohl zu Ende sein dürfte.« Mary De Cumberland war bereits aufgestanden. Nun sagte sie mit äußerst ruhiger Stimme: »Er ist nicht tot. Ich würde es wissen, wenn er tot wäre.« »Verzeihung, Madam?« sagte Sergeant Michael. »Nichts, Sergeant«, sagte sie ruhig. »In der Thames Street an der Somerset Bridge, habt Ihr gesagt? Ich weiß, wo sich die Admiralitätskutsche befindet, ich werde Subalternoffizier Hosquins verständigen.« Sergeant Michael bemerkte zum ersten Mal das Wappen der Cumberlands auf Marys Kleid. Gleichzeitig sagte Sergeant Peter: »Ihre Hoheit arbeitet mit an dem Fall.« »Das ist... das ist sehr freundlich von Euch, Euer Gnaden«, sagte Sergeant Michael. -2 1 4
»Aber nicht doch!« sagte Mary und verließ eilig das Zimmer. Sie lief durch die Empfangshalle vor die Eingangstür. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich die Admiralitätskutsche befand, aber dies war nicht die Zeit, sich über Kleinigkeiten auszuregen. Es dauerte nicht lange, bis sie sie gefunden hatte. Die Kutsche stand in Richtung St. Sithin's Street, einen halben Block entfernt. Man konnte das Admiralitätswappen mühelos erkennen. Der Kutscher und der Lakai saßen oben auf dem Kutschbock, in Decken eingehüllt, und schmauchten ruhig an ihren Pfeifen. »Subalternoffizier Hosquins?« fragte Mary und verlieh ihrer Stimme einen gewichtigen Klang. »Ich bin die Herzogin von Cumberland. Lord Ashley hat befohlen, daß die Kutsche sofort in der Thames Street an der Somerset Bridge vorfahren soll. Ich werde mitkommen.« Bevor der Lakai auch nur absteigen konnte, war Mary bereits in die Kutsche eingestiegen. Subalternoffizier Hosquins öffnete die Dachluke und blickte sie an. »Aber Euer Gnaden«, wollte er anfangen. »Lord Ashley«, sagte die Herzogin kühl, »hat sofort befohlen. Es handelt sich um einen Notfall. Verdammt noch einmal, fahrt jetzt endlich los, Mann!« Subalternoffizier Hosquins zuckte zusammen. »Jawohl, Euer Gnaden«, sagte er. Er schloß die Dachluke, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
Teil 4 Als Lord Darcy in das eis ige Wasser der Themse tauchte, verspürte er einen Kälteschub, der ihn einen Moment lang fast -2 1 5
zu lähmen drohte, bis er sich gefangen hatte und wieder hochtauchte, wobei er sich die Jacke vom Leib riß. Sein Kopf stieß aus dem Wasser heraus, er nahm einen tie fen Atemzug und tauchte wieder unter, um seine Stiefel auszuziehen. Und die ganze Zeit sagte Lord Darcy sich, daß er ein Narr sei, ein dämlicher, trotteliger Narr. Das Mädchen hatte sich ohne Gegenwehr von der Brücke stoßen lassen und war ohne den geringsten Schrei hinuntergefallen. Was gab es für eine Chance, sie hier in einer Welt des dunklen und feuchtes Todes wiederzufinden, mehr als hundert Yards vom nächsten Ufer entfernt? Ein schweres Gefühl an seiner Hüfte erinnerte ihn an etwas anderes. Er hätte seine Pistole ziehen können, aber niemals hätte er auf einen Mann geschossen, der nur mit einem Schwert bewaffnet war, und die Zeit, die dafür notwendig gewesen wäre, dem Mann die Waffe zu entreißen und ihn Ashley zu übergeben, hätten den Verlust wertvoller Sekunden bedeutet. Seine Chancen, das Mädchen jetzt noch zu finden, waren klein; im anderen Fall wären sie unendlich viel kleiner gewesen. Wenigstens hätte er die Pistole ziehen und auf die Brücke werfen können, wie seinen Umhang. Ihr zusätzliches Gewicht war jetzt nur ein Hindernis. Bedauernd zog er die Waffe aus ihrem Holster und übergab sie für immer den schlammigen Tiefen des mächtigen Flusses. Er tauchte wieder auf und blickte sich um. Es war heller, als er erwartet hatte. Die Lichter der Brücke waren schwach zu erkennen. »Tia!« rief er. »Tia Einzig! Wo seid Ihr? Könnt Ihr mich hören?« Sie hätte flußabwärts treiben müssen, unter der Somerset Bridge hindurch, aber wie tief wohl unter der Wasseroberfläche? Und dann hörte er ein Geräusch. Es gab einen sanften, prustenden, weinerlichen Ton und ein schwaches Platschen. -2 1 6
»Tia Einzig!« rief er wieder. »Sagt irgend etwas! Wo seid Ihr?« Er erhielt keine Antwort. Statt dessen war der gleiche schwache Ton zu hören. Er kam von flußaufwärts, zwischen ihm und der Brücke. Sein Sprint über die Brücke und sein weiter Sprung hatten ihn flußabwärts von ihr ins Wasser kommen lassen, so wie er es vorgehabt hatte. Lord Darcy schwamm auf den Ton zu. Seine kräftigen Arme kämpften gegen den Strom der Themse an. Der Ton kam näher, eine Art mähendes Schluchzen, kaum menschlich zu nennen. Und dann berührte er sie. Sie strampelte wohl, aber nicht sehr stark, sondern eben genug, um mit dem Kopf über Wasser bleiben zu können. Er legte seinen linken Arm um sie und hielt sich und sie mit mächtigen Ruderbewegungen seines rechten Arms über Wasser. Ihr Strampeln hörte auf. Ihr Umhang war schon fortgetrieben worden. Der schluchzende Ton hörte auf, und ihr Körper entspannte sich völlig. Sie atmete regelmäßiger, während er versuchte, ihr Gesicht über Wasser zu halten, und auf das rechte Ufer zu schwamm, wobei er sie hinter sich her zog. Wo war eigentlich das verdammte Ufer? Wie lange braucht man, um gute hundert Yards Wasser zu durchqueren? Er fühlte sich, als hätte er schon stundenlang im Wasser schwimmen müssen, und die Schultermuskeln rechts spürten langsam die zusätzliche Belastung. Vorsichtig trat er das Wasser, um Tias Gesicht hochzuhalten, und wechselte den Arm. Stunden schienen vergangen zu sein, und immer noch war nichts als Schwärze um ihn herum zu sehen. Die Lichter der Brücke waren schon längst verblaßt, und die Lichter des Flußufers sofern dieser Fluß überhaupt ein Ufer hatte! - waren noch nicht sichtbar. Hatte er die Orientierung verloren? Schwamm er jetzt flußabwärts statt quer? Er konnte es nicht feststellen, sein Körper bewegte sich mit dem Wasser, und es gab keine sichtbaren äußeren Anhaltspunkte. -2 1 7
Als er schließlich in einer endlos wirkenden Serie von Schwimmbewegungen wieder ausholte, stieß er plötzlich auf etwas Hartes, so daß ein stechender Schmerz durch seine Hand fuhr. Wieder tastete er sich vor, diesmal jedoch vorsichtiger. Es war eine Steinplatte, die zu einer Treppe gehörte, die ins Wasser führte. Er hob den Körper des Mädchens auf die Stufen und kletterte dann selbst aus dem Wasser. Soweit er das beurteilen konnte, ging es ihr einigermaßen gut; sie atmete noch. Plötzlich wurde ihm klar, daß er viel zu erschöpft war, um allein die Treppen zur Uferbefestigung hochzusteigen, ganz zu schweigen davon, Tia hochzutragen. Aber er konnte sie auch nicht einfach auf den kalten Steinen liegenlassen. Er hob sie hoch und hielt sie in seinen Armen, wobei er versuchte, ihren Körper mit seinem zu wärmen. Dann saß er lange einfach da - bewegungslos, kalt und naß, und sein Geist war fast so leer wie die unendliche Dunkelheit, die sie umgab. Nach einer unendlich lang wirkenden Zeit der geistigen und körperlichen Taubheit bewirkten leichte Verwandlungen in seiner Umgebung, daß Lord Darcys ermüdeter Geist wieder zu arbeiten begann. Was war das? Etwas zu seiner Linken. Er drehte den Kopf, um besser sehen zu können. Nichts; nur ein Lichtschimmer, der sich in weiter Entfernung befand und auf und ab bewegte, sich näherte und wieder entfernte. Er wurde schließlich immer größer; nein, nicht nur ein Licht, zwei waren dort zu sehen... drei... Dann rief eine Stimme: »Hallooo... Lord Darcy! Könnt Ihr uns hören, My Lord?« Lord Darcys Bewußtsein erwachte abrupt. Der Nebel mußte sich etwas aufgeklärt haben, dachte er sich. An der Stimme konnte er erkennen, daß die Suchenden noch entfernt waren, aber die Lichter waren mittlerweile klar zu sehen. »Hallooo«, rief er mit einer Stimme, die sogar seinen eigenen Ohren matt erschien. Er versuchte es wieder. »Hallooo!« -2 1 8
»Wer ist da?« rief eine Stimme.
Lord Darcy mußte trotz seiner Erschöpfung schmunzeln.
»Lord Darcy hier«, rief er. »Habt Ihr nach mir gerufen?« Dann brüllte jemand: »Wir haben ihn! Hier ist er!« Eine Pfeife ertönte, und Lord Darcy merkte, wie er zu zittern begann. Reaktion, dachte er und versuchte, seine Zähne am Klappern zu hindern. Ich fühle mich schwach wie ein Baby. Seine Muskeln fühlten sich an, als seien sie von der Kälte zu Pudding gemacht worden; der einzige warme Fleck am Körper war sein Brustkasten, an den er Tia gedrückt hatte. Sie atmete noch, ruhig und regelmäßig. Aber sie lag schlaff in seinen Armen, völlig entspannt, und zitterte noch nicht einmal. Das ist schön, dachte Lord Darcy, jetzt zittere ich für beide. Die Lichter vermehrten sich, das Gepfeife wurde wiederholt, und überall war Fußtrappeln zu hören. Lord Darcy wunderte sich: Es schien, als hätten sie die ganze Armee alarmiert. Da stand schon ein Wachmann mit seiner Laterne über ihm und sagte: »Alles in Ordnung, Lord Darcy?« »Ganz in Ordnung, nur etwas unterkühlt!« »Um Himmels willen, My Lord, Ihr habt das Mädchen ja!« Er rief zur Uferbefestigung hoch: »Er hat das Mädchen!« Aber Lord Darcy hörte kaum seine Worte. Das Licht der Laterne fiel direkt auf Tias Gesicht, und ihre Augen waren weit geöffnet. Ohne zu sehen, blickten sie leer ins Nichts. Man hätte meinen können, daß sie tot wäre, aber Tote atmen nicht. Nun war er von zahlreichen Männern umringt. »Mehr Licht für Seine Lordschaft!« »Ich helfe Euch aufzustehen, Euer Lordschaft.« Dann: »Darcy! Dem Himmel sei Dank! Und das Mädchen ist auch dabei! Es ist das reinste Wunder!«
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»Hallo, Ashley«, rief Darcy. »Danke, daß Ihr die Truppen mobilisiert habt!« Lord Ashley grinste. »Hier ist Euer Umhang. Ihr solltet nicht dauernd Eure Sachen auf Brücken herumliegen lassen.« Dann legte er seinen eigenen Umhang ab, um ihn um Tia zu hüllen. Er nahm sie aus Darcys Armen und hob sie hoch. Vorsichtig trug er sie langsam die Treppe hoch. Lord Darcy wickelte sich fest in seinen Umhang, doch hörte er nicht auf zu zittern. »Wir müssen Euch an einen warmen Ort bringen, My Lord, sonst holt Ihr Euch den Tod«, sagte ein Wachmann. Lord Darcy begann mühsam die Treppe hochzusteigen. Dann rief eine Stimme von oben: »Habt Ihr ihn gefunden?« »Wir haben beide gefunden, Euer Gnaden«, sagte ein Wachmann. Darcy sagte: »Mary! Was treibst du denn hier?« »Wie ich schon letzten Abend sagte: Ich bin genommen, um Euch abzuholen, Euer Lordschaft.« »Diesmal«, sagte Lord Darcy, »glaube ich dir sogar.« Als er oben ankam, sah er, wie Lord Ashley Tia in den Armen hielt. Zahlreiche Wachmänner umringten die beiden mit Laternen, und Mary, die jetzt nicht die Herzogin, sondern ganz die ausgebildete Krankenschwester war, betrachtete das Mädchen und betastete sie mit ihren Sensitivenfingern. »Wie geht es ihr?« fragte Lord Darcy. »Was hat sie?« »Du zitterst«, sagte Mary, ohne aufzublicken. »In der Kutsche gibt es Brandy, hol dir welchen.« Sie sah Lord Ashley an. »Bringt sie in die Kutsche. Wir fahren sie sofort nach Carlyle House. Father Patrique ist dort. Eine bessere Behandlung könnte sie in keinem Krankenhaus bekommen.« -2 2 0
Zwei ordentliche Schlucke Brandy hatten Lord Darcys Nerven inzwischen beruhigt. »Was ist mit ihr?« fragte er erneut. »Kälteschock natürlich,« sagte sie. »Möglicherweise innere Verletzungen, aber nichts Ernstes. Aber sie steht unter einem Zauber, den ich nicht brechen kann. Wir müssen sie so schnell wie möglich zu Father Patrique bringen.« Sie legten das Mädchen behutsam auf einer Kutschenbank aus. »Wird sie durchkommen?« fragte Lord Ashley. »Ich glaube schon«, meinte die Herzogin. Dann sagte Lord Ashley: »Lord Darcy, kann ich Euch einen Augenblick sprechen?« »Aber gewiß, was ist denn?« Sie schritten außer Hörweite der anderen. »Der Mann auf der Brücke«, begann Lord Ashley. »Ach ja«, sagte Lord Darcy. »Ich hätte nach ihm fragen sollen. Ich sehe, daß Ihr unverletzt seid. Ich hoffe, daß Ihr ihn nicht habt töten müssen?« »Nein, ich muß leider gestehen, daß ich ihn nicht einmal festsetzen konnte. Ich bin auf dem Pflaster ausgerutscht, und er konnte entkommen.« »Habt Ihr ihn erkannt?« »Ja. Es war unser öliger Freund Master Ewen MacAlister.« Lord Darcy nickte. »Ich hatte bemerkt, daß mir seine Stimme 'irgendwie bekannt vorkam, als er Tia befahl, auf das Geländer zu steigen. Er hatte sie unter einem Zauber, wie Ihre Hoheit ja soeben festgestellt hat.«
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»Das war nicht die einzige Schwarze Magie, die das kleine Schwein benutzt hat«, sagte Lord Ashley und erzählte Lord Darcy von dem verzauberten Schwert. »Dann braucht Ihr Euch nicht zu entschuldigen, daß Ihr ihn habt entkommen lassen«, sagte Darcy. »Ich bin froh, daß Ihr noch lebt!« »Ich auch«, sagte Lord Ashley. »Ich meine, daß die Kutsche zu klein für uns alle ist, wenn Tia eine ganze Bank für sich in Anspruch nehmen muß. Und außerdem wird man mich heute abend ohnehin nicht mehr brauchen. Fahrt ihr zwei also los.« Er ging zurück. »Subalternoffizier Hosquins«, rief er, »Ihre Hoheit und Seine Lordschaft fahren nach Carlyle House. Ein Wachmann wird mir eine Mietdroschke besorgen.« »Sehr wohl, My Lord Commander«, antwortete Hosquins. »Danke«, sagte Lord Darcy. »Würdet Ihr mir einen Gefallen tun? Würdet Ihr bitte ins Royal Steward fahren und Lord Bontriomphe alles berichten? Wenn Master Ewen weiß, daß Ihr ihn erkannt habt, wird er sich natürlich nicht mehr im Hotel blicken lassen. Sagt Lord Bontriomphe, daß er Sir Lyon Bescheid geben soll. In Ordnung?« »Selbstverständlich. Ich fahre sofort dort hin. Gute Nacht, My Lord, gute Nacht Euer Gnaden«, sagte er. Lord Darcy öffnete die Kutschentür. »Nach Carlyle House, Hosquins«, sagte er und stieg ein. Erst mehr als eine Stunde später fühlte sich Lord Darcy wieder auf dem Damm. Ein heißes Bad hatte dabei geholfen, den Geruch der Themse und die Kälte in den Gliedern zu vertreiben. Eine kurze Sitzung mit Father Patrique hatte alle Gefahren einer Erkältung gebannt. Mary De Cumberland und Father Patrique hatten beide darauf bestanden, daß er sich ins Bett legen solle, und so fand er sich in seidener Nachtwäsche -2 2 2
wieder, vier oder fünf Kissen im Rücken aufgetürmt, einen schweren Schal um die Schultern und zahlreiche warme Decken um die Beine gewickelt, an seinen Füßen eine Wärmeflasche und im Bauch zwei Teller kräftige Brühe. Die Tür öffnete sich, und Mary De Cumberland kam mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem ein dampfender Krug stand. »Wie geht es?« fragte sie. »Eigentlich ganz in Ordnung. Wie geht es Tia?« »Father Patrique sagt, daß sie wieder zu sich kommen wird. Er hat sie schlafen gelegt. Er meint, daß sie vor morgen mit niemandem reden sollte.« Sie setzte den Krug ab. »Hier, das ist für dich.« »Was ist das?« fragte Lord Darcy und blickte den Krug mißtrauisch an. »Medizin. Gut für dich.« »Was ist denn da drin?« »Wenn du es unbedingt wissen willst: Brandy, Portwein, Honig, heißes Wasser und einige Kräuter, die Father Patrique verschrieben hat.« »Hmph!« machte Lord Darcy. »Bis auf das letztere klang es ja erst ganz gut.« Er nippte an der Flüssigkeit. »Nicht schlecht«, gab er zu. »Fühlst du dich kräftig genug, Besuch zu empfangen?« fragte sie. »Nein«, sagte er. »Ich liege auf dem Sterbebett, mein Atem ist flach, mein Puls ist schwach und hört bald auf. Wer will mich denn sprechen?« »Nun, Sir Thomas wollte dich sehen. Er möchte dir nur dafür danken, daß du Tia das Leben gerettet hast, aber der arme Mann sieht so aus, als würde gleich selbst zusammenbrechen, also -2 2 3
habe ich ihm gesagt, daß er dir auch morgen noch gratulieren kann. Lord John Quetzal sagte, daß er ebenfalls bis morgen warten könne, um dich zu sprechen. Aber Sir Lyon ist vor wenigen Minuten eingetroffen, und ich würde doch vorschlagen, daß du mit ihm sprichst.« »Und wo, darf ich fragen, ist Master Sean?« »Ich zweifle nicht daran, daß er gekommen wäre, wenn ihm jemand mitgeteilt hätte, daß du ein erfrischendes Bad in der Themse nehmen wolltest. Er ist immer noch im Leichenschauhaus.« »Armer Kerl«, bedauerte Darcy. »er hat einen langen Tag gehabt.« »Und was hast du gemacht? Konversation vielleicht?« Lord Darcy beachtete ihren Einwurf nicht. »Ich nehme an, daß er sich auf alle erdenklichen Weisen vergewissert, ob Drogen oder Gifte verabreicht wurden«, sagte er gedankenverloren. »Ich habe zwar starke Zweifel, daß dies der Fall ist, aber wenn Sean fertig ist, haben wir wenigstens Gewißheit.« »Das ist richtig«, sagte Ihre Hoheit. »Wirst du nun Sir Lyon empfangen?« »Aber ja, aber ja. Führe ihn bitte herein.« Die Herzoginwitwe von Cumberland ging hinaus und kehrte kurz danach in Begleitung von Sir Lyon Gandolphus Grey wieder. »Ich höre, daß Ihr ein ganz schön gefährliches Abenteuer hinter Euch habt, My Lord«, sagte er ernst. »Alles Routine für einen Königlichen Untersuchungsbeamten, Sir Lyon. Setzt Euch!« »Ich danke Euch«, sagte Sir Lyon. Dann, als die Herzogin den Raum verlassen wollte: »Bitte, Euer Gnaden, würdet Ihr die Güte haben, hierzubleiben? Das -2 2 4
hier geht jedes Mitglied der Gilde an, nicht nur die Königlichen Untersuchungsbeamten.« »Sehr wohl, Großmeister.« Sir Lyon blickte wieder Lord Darcy an. »Commander Lord Ashley hat mir mitgeteilt, daß er Master Ewen MacAlister wiedererkannt hat. Er und Lord Bontriomphe haben alle Wachmänner der Stadt angewiesen, auf ihn zu achten, wenn er auftauchen sollte. Und ich habe jeden verfügbaren Meisterhexer in London ausgeschickt, um die Wachmänner zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, daß er nicht wieder entkommen kann.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. »Lord Ashleys Aussage allein wäre allerdings nicht ausreichend, um Master Ewen vor den Sonderuntersuchungsausschuß der Gilde zu bringen.« Aber sie reichte, um uns zu ermöglichen, sofort alles Beweismaterial sicherzustellen.« »Ach ja?« fragte Lord Darcy interessiert. »Natürlich habt Ihr dieses Beweismaterial gefunden?« Sir Lyon nickte mit ernster Miene. »Ja, das haben wir. Ihr wißt vielleicht, daß ein Hexer einen Schutzzauber über seinen Reisesack verhängt?« »Selbstverständlich.« »Nun, mit einem Durchsuchungsbefehl, den Lord Bontriomphe beschafft hatte, sind wir in Master Ewens Zimmer eingedrungen. Auch er hatte einen eigenen Schutzzauber auf sein Türschloß gelegt, aber wir haben ihn nach fünfzehn Minuten unschädlich machen können. Dann haben wir den Schutzzauber auf seinem Reisesack gesprengt. Das Beweismaterial war dort: eine Flasche mit Friedhofserde, zwei mumifizierte Fledermäuse, zwei Menschenknochen, Schießpulver, das Schwefel enthielt, und allerlei andere Dinge, -2 2 5
die kein Hexer in seinem Besitz führen darf, ohne eine besondere Forschungserlaubnis der Gilde und eine Sonderbefugnis der Kirche zu haben.« Lord Darcy nickte. »Außerdem«, sagte Sir Lyon, »haben wir Father Patriques Aussage, daß Ewen einen Zauber auf Tia Einzig gelegt hat. Dieses Beweismaterial genügt, um ihn der Schwarzen Magie zu überführen. Ob man genug Beweismaterial zusammenbekommt, um ihn auch seiner anderen Verbrechen zu überführen, das ist natürlich eine ganz andere Frage, My Lord. Aber Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß die Gilde alles in ihren Möglichkeiten Stehende unternehmen wird, damit Ihr dieses Beweismaterial bekommt. Ihr müßt es nur sagen, My Lord.« »Ich danke Euch, Sir Lyon. Eine Frage, nur um meine Neugierde zu befriedigen. Lord Ashley hat Euch doch von dem Schwertspiel auf der Brücke erzählt?« »Das hat er.« »Gehe ich recht in der Annahme, daß der Zauber, den Master Ewen auf seine eigene Klinge gelegt hat, eine Spielart des Tarnhelm-Effekts ist?« »Das ist völlig richtig«, sagte Sir Lyon mit einem etwas verwunderten Lächeln. »Es ist sehr scharfsinnig von Euch gewesen, das aus Lord Ashleys bloßen Beschreibungen zu erkennen.« »Aber gar nicht«, sagte Lord Darcy abwehrend. »Es ist nur so, daß Master Sean ein ausgezeichneter Lehrmeister ist.« »Das ist mehr als scharfsinnig, Großmeister«, sagte die Herzogin. »Ich finde es beunruhigend! Ich weiß natürlich, was man unter dem Tarnhelm- Effekt versteht, da ich bei meinem Studium darauf gestoßen bin, aber seine Anwendungsbereiche und seine Theorie verstehe ich nicht.«
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»Ihr solltet es nicht beunruhigend, sondern beglückend finden«, sagte Sir Lyon mit Bestimmtheit. »Ein großes Problem in dieser Welt besteht darin, daß so wenige Laien sich für die Wissenschaft interessieren. Wenn mehr Leute so wären wie Lord Darcy, dann könnten wir neunundneunzig Prozent der abergläubischen Vorurteile ausräumen, von denen neunundneunzig Prozent aller Leute heute noch befallen sind.« Er lächelte. »Ich weiß, daß Ihr zu scherzen beliebtet, aber es steht uns allen an, Laien weiterzubilden und aufzuklären, wann immer möglich. Es liegt nur an Unwissenheit und Aberglauben, daß Hexenmagier, Zauberer und andere Unbefugte operieren können. Es liegt nur am Aberglauben, daß so viele Leute meinen, daß man Schwarze Magie nur mit Schwarzer Magie wirkungsvoll begegnen kann, daß man das Übel nur durch ein anderes Übel zu zerstören vermag. Nur an Unwissenheit und Aberglauben liegt es, daß Scharlatane und Quacksalber, die nicht die geringste Spur des Talents besitzen, ihre wertlosen Amulette und Talismane verkaufen können.« Er seufzte, und Lord Darcy schien es, als sei er plötzlich etwas gealtert und erschöpft. »Natürlich wird eine solche Ausbildung und Erziehung nicht die Master Ewens dieser Welt abschaffen können. Die moderne Wissenschaft hat uns den Vorteil gegeben, daß wir, im Gegensatz zu früheren Zeiten, unsere Regierungen, unsere Kirche und unsere Gerichte besser von Korruption freihalten können. Aber nicht einmal die Wissenschaft ist unfehlbar. Es gibt immer noch seltsame Gedankengänge und Züge im menschlichen Geist, die wir erst bemerken können, wenn es zu spät ist, und Master Ewen ist ein vollendetes Beispiel dafür, daß wir in diesem Punkt versagt haben.« »Sir Lyon«, sagte Darcy, »ich glaube, daß Master Ewen noch mehr ist. In unserer eigenen Geschichte und sogar in einigen heutigen Ländern gibt es Organisationen, die versuchen, die -2 2 7
Missetaten ihrer eigenen Mitglieder zu verheimlichen oder zu beschönigen. Es gab eine Zeit, da blickten Kirche, Regierung und Gerichte großzügig über Untaten hinweg, die ein Priester, ein Gouverneur oder ein Richter begangen hatte, ans tatt öffentlich zuzugeben, daß sie nicht unfehlbar waren. Jede Gruppe, die für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nimmt, muß sehr vorsichtig sein, damit sie keine Fehler macht, und alle Fehler, die ja unweigerlich auftreten, müssen also geheimgehalten oder wegerklärt werden durch Lügen, Ausreden und Entstellungen. Und das bewirkt schließlich den Zusammenbruch des ganzen Gebäudes. Jeder, der heute im Reich Macht besitzt, sei sie geistlicher Art, weltlicher oder thaumaturgischer Art, besitzt das volle Vertrauen des kleinen Mannes, der keine Macht hat, und zwar genau deswegen, weil dieser weiß, daß wir unser Bestes tun, die vereinzelten Master Ewens zu entlarven und ihnen das Handwerk zu legen, anstelle sie zu verstecken und so zu tun, als gäbe es sie nicht. So wird Master Ewen selbst zu einer Verkörperung des Scheiterns, das man in einen Erfolg ummünzen kann.« »Gewiß«, sagte Sir Lyon, »aber es ist dennoch sehr unangenehm, wenn es einmal vorkommt. Das letzte Mal war im Jahre 1939, als Sir Edward Eimer Großmeister war. Ich war damals in der Untersuchungskommission und wünschte mir, daß ich so etwas in meinem Leben nicht noch einmal erleiden müßte. Aber wir werden tun, was getan werden muß.« Er stand auf. »Kann ich noch etwas für Euch tun?« »Ich glaube nicht, Sir Lyon, jedenfalls nicht im Augenblick. Ich danke Euch für Eure Mitteilungen. Ach ja, doch, noch eine Sache. Könntet Ihr wohl die Hexer, die nach ihm suchen, damit beauftragen, daß ich sofort informiert werde, sollte man Master Ewen noch heute nacht aufspüren, egal, wie spät es sein mag. Ich möchte ihm einige Fragen stellen.« »Ich habe solche Anweisungen bereits für mich gegeben. Ich werde dafür Sorge tragen«, sagte Sir Lyon, »daß Ihr -2 2 8
benachrichtigt werdet. Gute Nacht, My Lord. Gute Nacht, Euer Gnaden. Falls ich benötigt werden sollte, ich befinde mich in meinem Zimmer.« Als der alte Hexer mit dem silbernen Bart fortgegangen war, sagte die Herzoginwitwe: »Nun, ich hoffe ja, daß sie ihn erst morgen früh fangen, du mußt dich ordentlich ausschlafen. Aber wenigstens is t diese abscheuliche Angelegenheit bald ausgestanden.« »Da sei mal nicht zu optimistisch«, sagte Lord Darcy. »Es sind noch viel zu viele Fragen offen. Wie du gesagt hast, Master Ewen haben sie noch nicht, und auch Paul Nichols hat es fertiggebracht, sich schon seit über sechsunddreißig Stunden zu verstecken. Wir wissen immer noch nicht, was bei Master Seans Herkulesarbeit herausgekommen ist. Es ist noch lange kein Licht in Sicht.« Er blickte in seinen leeren Krug. »Kann ich noch so einen haben? Aber diesmal ohne die guten Zutaten des Fathers, wenn's möglich ist.« »Aber gern.« Doch als sie zurückkehrte, war Lord Darcy schon fest eingeschlafen, und so wurde ihr eigener Nachttrunk daraus. »Ich hoffe, Euer Lordschaft Wohlbefinden haben sich gebessert.« Der immer freundliche Geffri stellte die Kaffeekanne und die Tasse auf den Nachtschrank. »Mir geht es wieder gut, Geffri, danke«, sagte Lord Darcy. »Ah, der Kaffee riecht ja köstlich! Selbst gebraut, vermute ich? Carlyle House ist der einzige Ort im ganzen Reich, sieht man von meinem eigenen Zuhause ab, wo man seinen Morgenkaffee genau richtig temperiert und bis zur Vollkommenheit gebraut bekommt.« -2 2 9
»Es ist mir eine außerordentliche Freude, dergleichen zu hören, My Lord«, sagte Geffri und schenkte Kaffee ein. »Ich war übrigens so frei, den heutigen Courier mitzubringen, My Lord. Es gibt jedoch eine Nachricht, die Euer Lordschaft möglicherweise noch vor der Lektüre der Zeitung lesen möchte.« Er holte einen Umschlag hervor, auf dem Lord Darcy sofort Master Seans eigenes Siegel erkannte. »Master Sean«, sagte Geffri, »kam spät letzte Nacht hier an, nachdem sich Eure Lordschaft bereits zurückgezogen hatten. Er bat darum, daß ich Euch diese Botschaft sofort nach Eurem Erwachen überreiche.« Lord Darcy nahm den Umschlag. Es war offensichtlich der Bericht, den der rundliche irische Hexer über seine thaumaturgischen Untersuchungen und seine Autopsie an Sir James Zwinge verfaßt hatte. Lord Darcy sah auf die Uhr. »Danke, Geffri. Würdet Ihr bitte Master Sean in fünfundvierzig Minuten wecken und ihm ausrichten, daß ich gern mit ihm hier um zehn Uhr frühstücken möchte?« »Sehr wohl, My Lord.« Geffri verschwand. Als die Stunde um war, hatte Lord Darcy sowohl den Bericht von Master Sean als auch den Courier gelesen und wartete auf das Klopfen an der Tür, das pünktlich um zehn Uhr erfolgte. Lord Darcy war angezogen, und das warme Frühstück für zwei Personen stand auf dem Tisch im Wohnzimmer. »Kommt herein, mein guter Sean«, sagte Lord Darcy. »Die Eier mit Speck warten schon.« Der Hexer trat lächelnd ein, aber Lord Darcy sah sofort, daß das Lächeln ein wenig gequält wirkte. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er freundlich. »Ihr habt meinen Bericht gelesen?« -2 3 0
Er setzte sich an den Tisch. »Das habe ich«, sagte Lord Darcy, »und ich sehe darin keinen Grund, trüb aus der Wäsche zu schauen. Wir reden nach dem Frühstück darüber. Habt Ihr schon den Courier von heute morgen gelesen?« »Nein, My Lord, das habe ich nicht.« Master Sean begann die Eier mit Speck zu bearbeiten. »Irgend etwas Interessantes?« »Nichts besonderes«, sagte Lord Darcy. »Von ein paar schmeichelhaften Bemerkungen über mich und ein paar noch schmeichelhafteren Bemerkungen über Euch einmal abgesehen. Ihr könnt es gerne lesen. Das einzige Wertvolle ist eigentlich die Nachricht, daß es heute nacht keinen Nebel geben wird.« Die nächste Viertelstunde verstrich in Stille. Der sonst so gesprächige Master Sean schien wenig zu sagen zu haben. Schließlich schob Lord Darcy etwas ärgerlich seinen Teller beiseite und sagte: »Alle Höflichkeiten einmal beiseite, Master Sean: Ihr seid nicht eben in Hochform, wie mir scheint. Wenn es irgend etwas geben sollte, was ich wissen muß und was nicht in Eurem Bericht steht, dann möchte ich es gern hören.« Master Sean lächelte ihn über den Rad der Kaffeetasse an. »Aber nein, es steht alles drin. Ich habe dem nichts zuzufügen. Ich will Euch nicht beunruhigen. Wahrscheinlich bin ich nur ein wenig müde!« Lord Darcy runzelte die Stirn, griff nach dem säuberlich geschriebenen Bericht und schlug ihn auf. »Also gut. Ich habe die eine oder andere Frage nur zur Klärung der Sache. Erstens die Wunde betreffend.« »Ja, My Lord?« »Eurem Bericht zufolge ist die Klinge senkrecht in den Körper eingetreten, zwischen der dritten oder vierten Rippe, so daß die Wunde etwa fünf Zoll tief ist. Sie durchstieß die Wand -2 3 1
der Lungenschlagader und schlitzte auch das Herz selbst an, so daß diese Wunde einwandfrei als die Todesursache gelten darf.« »Ohne jeglichen Zweifel, My Lord.« »Nun gut.« Er stand auf. »Wenn Ihr so gut sein würdet, Master Sean, diesen Löffel zu nehmen und so zu tun, als sei es ein Dolch? Ja, so! Nun seid bitte so freundlich, mich in genau demselben Winkel zu erstechen, wie es nötig wäre, um eine Wunde wie die von Sir James zu erzeugen.« Master Sean hielt den Löffelstiel fest und hob den Löffel hoch über den Kopf; dann zog er ihn langsam in einem weiten Bogen herunter und berührte Lord Darcys Brust. »Sehr gut, Master Sean, ich danke Euch. Wenn man die Wunde verlängerte, würde sie wohl bis in die Eigenweide reichen, nicht wahr?« »Well, My Lord, wenn ein Geschoß in diesem Winkel eingefallen wäre, so wäre es am Steiß wieder herausgetreten.« Lord Darcy nickte und blickte wieder in den Bericht. »Master Sean, wenn Ihr einen Menschen erstechen wolltet, wie würdet Ihr dabei verfahren?« Master Sean drehte den Löffel in seiner Hand so, daß sein Daumen auf das dicke Ende zeigte. Er bewegte die Hand vorwärts und berührte Lord Darcy. »So natürlich, My Lord.« »Ganz genau«, stimmte Lord Darcy zu. »Nach dem Autopsiebefund, den uns Sir Eliot gestern aus Cherbourg geschickt hat, wurde Edelmann Georges Barbour auf eben diese gekonnte Art erstochen, die Ihr gerade vorgemacht habt. Und doch wurde Sir James auf eine Weise erstochen, wie sie kein erfahrener Messerstecher benutzen würde.« -2 3 2
»Das ist wahr, My Lord. Niemand, der mit einem Dolch umzugehen weiß, würde auf diese Weise von oben nach unten stechen.« »Warum sollte derselbe Mann auf zwei so unterschiedliche Arten zustechen?« »Wenn es derselbe Mann war, My Lord!« »Also gut, nehmen wir einmal an, daß es zwei verschiedene Täter waren. Selbst dann war der Stich, der Sir James das |Leben kostete, nicht eben fachgerecht, oder? Hätte ein Berufskiller auf diese Weise zugestochen?« Master Sean lachte leise. »Na ja, wenn ich ihn einstellen müßte, hätte er keine Chance, My Lord.« »Schön gesagt«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Habt Ihr übrigens das Messer genau untersucht?« »Den Kontaktzerschneider von Sir James? Ja.« »Ich auch, als der Dolch noch auf dem Boden neben der Leiche lag. Ich möchte Euch an den besonderen Zustand des Dolchs erinnern.« Master Sean runzelte die Stirn. »Aber der Dolch war doch überhaupt nicht in einem besonderen Zustand!« »Eben. Das war der besondere Zustand.« Während Master Sean darüber nachdachte, fuhr Lord Darcy fort: »Aber erst einmal zu etwas anderem.« Er setzte sich wieder und blätterte eine Seite in dem Bericht um. »Ihr schreibt hier, daß Sir James zwischen 9.25 und 9.35 Uhr gestorben ist.« »Der chirurgischen und thaumaturgischen Untersuchung zufolge, ja. Da ich ihn selbst hörte, wie er um genau halb neun,
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plus minus ein paar Minuten - den Schrei ausstieß, kann, ich sagen, daß Sir James zwischen 9.30 und 9.35 Uhr starb.« »Gut«, sagte Lord Darcy. »Aber die Stichwunde erhielt er ungefähr fünf Minuten vor neun. Wenn ich nicht irre, zeigen die psychischen Muster sowohl die Zeit des Stichs und die des, Todes an. Und der Todesstoß stieß zwar durch die Wand der Lungenschlagader, aber öffnete das Blutgefäß nicht richtig. Ein dünnes Stück der Wand war noch intakt. Doch die Wunde war schwer genug, um ihn in einen Schock verfallen zu lassen. Er wurde also zu dieser Zeit tödlich verwundet.« »Well, My Lord«, sagte Master Sean. »Es kann sein, daß die Wunde gar nicht tödlich gewesen wäre. Es ist durchaus denkbar, daß ein guter Heiler, wenn er rechtzeitig eingetroffen wäre, sein Leben hätte retten können.« »Weil die Lungenschlagader noch halbwegs intakt war?« »Genau. Wenn diese Arterie zu der Zeit voll durchgeschnitten worden wäre, dann wäre Sir James tot gewesen, bevor er den Boden berühren konnte.« Lord Darcy nickte. »Ich verstehe. Aber die Wand der Arterie ist nicht voll durchschnitten worden, teilweise zwar, aber nicht völlig. Nachdem er dann etwa eine halbe Stunde auf dem Boden gelegen hatte, hörte er Euch klopfen, wodurch sein Schock nachließ. Er versuchte, sich hochzuziehen. Dazu griff er auf seinen Schreibtisch, auf dem unter anderem sein Schlüssel lag. Offensichtlich war sein Ruf ein Schrei um Hilfe, und er wollte seinen Schlüssel holen, um Euch die Tür zu öffnen. Diese Anstrengung bewirkte, daß die Wand der Schlagader endgültig riß. Sein Blut sprudelte auf den Boden, er ließ den Schlüssel fallen und starb. Seht Ihr das auch so, Master Sean?« Master Sean nickte. »So scheint es zu sein, My Lord.« -2 3 4
»Ich stimme dem voll und ganz zu, Master Sean.« Lord Darcy blätterte in dem Bericht. »Also keine Drogen und kein Gift, ja?« »Ausgenommen, es ist eine unbekannte Substanz. Ich habe alle relevanten Tests durchgeführt.« »Und sowohl Gehirn als auch Schädeldecke waren völlig unversehrt... keine Schrammen... kein Bruch, hm.« Er fand eine andere Stelle im Bericht. »Jetzt kommen wir zum thaumaturgischen Teil. Euren Tests zufolge war alles Blut, das sich im Zimmer befand, das von Sir James?« »Jawohl, My Lord.« »Und woraus bestand jener merkwürdige, halbmondförmige Fleck na he der Tür?« »Auf jeden Fall auch aus seinem Blut.« Lord Darcy nickte. »Wie ich vermutet habe. Den thaumaturgischen Tests zufolge befand sich niemand im Zimmer, als Sir James erstochen wurde. Das deckt sich mit der Information, die wir über Barbours Tod in Cherbourg haben.« Er lächelte. »Master Sean, ich bin mir darüber im klaren, daß Ihr nur wissenschaftlich beweisbare Tatsachen in einem solchen Bericht erwähnen könnt, aber habt Ihr irgendeinen Vorschlag, irgendeine Vermutung, die mir weiterhelfen könnte?« »Ich versuch's mal, My Lord«, sagte Master Sean zögernd. »Wie ich Euch gestern schon sagte, müßte ich eigentlich die Tat eines Schwarzen Zauberers nachweisen können. Wir Ihr wißt, ist der ankh ein fast unfehlbares Instrument für den Nachweis von Bösem.« Er atmete tief durch.
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»Und da wir jetzt über Master Ewen MacAlister Bescheid wissen, werden seine Taten wohl leicht aufzuspüren sein.« Dann zeigte Master Sean auf das Papier, das vor Lord Darcy lag. »Aber ich will nicht und kann nicht zurücknehmen, was ich dort geschrieben habe.« Nochmals atmete er tief durch. »My Lord, ich kann keine einzige Spur von Magie, weder von Weißer noch von Schwarzer, im Zusammenhang mit dem Mord an Sir James Zwinge entdecken. Es gab keinerlei...« Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. »Ja«, rief Lord Darcy mit leiser Ungeduld in der Stimme, »wer ist denn da?« »Father Patrique«, sagte eine Stimme vor der Tür. Lord Darcys Ungeduld verschwand. »Ah ja, kommt nur herein, Hochwürden.« Die Tür ging auf, und ein großer, recht blasser Mann in Benediktinerkleidung trat ein. »Guten Morgen, My Lord; guten Morgen, Master Sean«, sagte er lächelnd. »Ich sehe, daß Ihr wieder auf dem Damm seid, My Lord.« »Wen wundert das, bei Eurer guten Behandlung, Hochwürden! Was kann ich für Euch tun?« »Ich glaube, daß Ihr etwas für mich tun könnt und dabei gleichzeitig selbst etwas davon haben werdet, wenn ich das mal so sagen darf.« »Auf welche Weise, Father?« Der Priester machte ein ernstes Gesicht. »Normalerweise«, sagte er vorsichtig, »darf ich nicht über die Beichte eines reuigen Sünders sprechen. Aber in diesem Fall hat mich die beichtende Person ausdrücklich beauftragt, mit Euch zu reden.« -2 3 6
»Die Demoiselle Tia, nehme ich an«, sagte Lord Darcy. »Natürlich. Sie hat ihre Geschichte zweimal erzählt, einmal mir und einmal Sir Thomas Leseaux.« Er blickte Master Sean an, der ernst mit dem Kopf nickte. »Ah, Ihr versteht, was ich meine, Meisterhexer.« »Aber gewiß, Hochwürden. Die klassische Dreiheit: einmal der Kirche, einmal dem Geliebten und einmal«, er zeigte mit respektvoller Geste auch Lord Darcy, »und einmal den weltlichen Behörden.« »Genau«, sagte der Priester. »Es wird die Heilung beschließen.« Er blickte Lord Darcy an, der bereits aufgestanden war. »Ich werde Euch keine weiteren Einzelheiten erzählen, My Lord; es ist am besten, wenn Ihr sie selbst erzählt bekommt. Aber sie weiß genau, daß Ihr es wart, der ihr letzte Nacht das Leben gerettet hat, und Ihr müßt verstehen, daß Ihr dies nicht herunterspielen solltet.« »Ich verstehe, Hochwürden. Darf ich zuvor noch ein paar Fragen stellen?« »Aber gewiß, solange sie nicht das Beichtgeheimnis berühren.« »Sie beziehen sich lediglich auf den Zauber, der gestern abend auf sie gelegt wurde. Erinnert sie sich in irgendeiner Weise an das, was passierte, nachdem Master Ewen sie verzaubert hat?« Father Patrique schüttelte den Kopf. »Nein, das tut sie nicht. Sie wird es Euch erklären.« »Ja, aber was mich beschäftigt, Hochwürden, das ist die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der der Zauber verhängt wurde. Ich habe es selbst beobachtet. Erst war sie völlig im Besitz ihrer geistigen Kräfte, und dann wurde sie von einem Augenblick zum anderen zu einem willenlosen Automaten, der -2 3 7
alles tat, was Master Ewen verlangte. Ich wußte nicht, daß Hexer solch eine Macht über andere haben können.« »Um Gottes willen nein!« sagte Master Sean. »Aber gar nicht, My Lord! Nicht einmal der mächtigste Schwarze Zauberer kann einem anderen den Willen nehmen, indem er einfach mit der Hand wedelt!« »Nicht einmal Satan kann ohne gründliche Vorbereitungen Besitz von einer Menschenseele ergreifen, My Lord«, sagte Father Patrique. »Damit der Zauber so wirkungsvoll sein konnte, muß Master Ewen eine Menge vorbereitende Zauber durchgeführt haben.« »Ich meinte, mich zu entsinnen«, sagte Lord Darcy, »daß auf der letzten Dreijahresversammlung ein Straßenräuber am letzten Kongreßabend den Fehler beging, einen Meisterhexer auf der Straße anzugreifen. Kurz darauf berichtete der Hexer dem Wachmann, was geschehen war. Er selbst war unverletzt, aber der Straßenräuber war vom Hals abwärts gelähmt. Ich gebe zu, daß es ein geniales Stück Arbeit war. Der Zauber war so beschaffen, daß er nicht beseitigt werden konnte, bevor der Verbrecher ein volles Geständnis abgelegt hatte. Auf diese Weise brauchte der Hexer nicht einmal vor Gericht auszusagen, den dieser Zauber muß in Sekundenschnelle durchgeführt worden sein.« »Das ist eine etwas andere Sache, My Lord«, sagte Father Patrique. »Wenn, wie in diesem Fall, das Böse angreift, dann kann es zurückgespielt werden, um auf diese Weise den Angreifer zu lähmen. Jeder Meisterhexer kann diese Selbstverteidigungstechnik anwenden. Aber um einem Menschen, der einem nichts Böses will, einen Zauber anzuhexen, bedarf der Zauberer seiner eigenen Kräfte. Er kann nicht die körperliche Kraft des Angreifers zu Hilfe nehmen, da er ja nicht angreifen wird. Deshalb benötigen seine Zauber wesentlich mehr Zeit und Vorbereitung, um wirkungsvoll werden zu können.« -2 3 8
»Ich verstehe. Danke, Father Patrique!« sagte Lord Darcy. »Das klärt die Sache auf. Gehen wir also, um die junge Dame zu besuchen.« »Mit Verlaub«, sagte Master Sean, »werde ich zurück ins Royal Steward gehen. Ziemlich wahrscheinlich, daß Lord Bontriomphe meinen Bericht lesen will.« Lord Darcy lächelte. »Und auch ziemlich wahrscheinlich, daß Ihr wieder auf den Kongreß wollt, eh?« Master Sean grinste zurück. »Well, My Lord, ja, das möchte ich wohl.« »In Ordnung. Ich komme nachher dort vorbei.« Vor der Gardeniensuite, in der Tia Einzig untergebracht worden war, stand Sir Thomas Leseaux und sagte: »Guten Morgen, My Lord. Ich... ich möchte Euch für das danken, was Ihr gestern nacht vollbracht habt, aber mir fehlen die Worte.« »Mein Sir Thomas, ich habe nichts getan, was Ihr an gleicher Stelle nicht auch getan hättet. Und es gibt auch keinen Grund, so besorgt dreinzublicken!« »Besorgt?« Sir Thomas quälte sich selbst ein Lächeln ab. »Habe ich besorgt geschaut?« »Aber ja, Sir Thomas. Warum auch nicht? Ihr habt Tias Geschichte gehört und habt nun Angst, daß ich sie wegen Spionage verhaften werde.« Sir Thomas zuckte zusammen und sagte nichts. »Na, na, na!« sagte Lord Darcy. »Allzu schlimm kann sie das Reich nicht verraten haben, sonst wärt Ihr genauso um ihre Verhaftung bemüht wie jeder andere. Ihr seid nicht der Mann, den Liebe blind macht. Außerdem gibt es dazu genaueste Königliche Gesetze. Ah, gut, Sir Thomas, jetzt sieht Euer Lächeln schon echter aus! Gentlemen, wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet.«
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Er öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Lord Darcy schritt durch das Wohnzimmer der Suite auf das Schlafzimmer zu, als er eine Stimme hörte: »My Lord Darcy? Seid Ihr es?« Lord Darcy ging an die Schlafzimmertür. »Jawohl, Demoiselle, ich bin Lord Darcy.« Sie lag, bis an die Schultern in wärmende Decken eingehüllt, im Bett. Sie lächelte, als sie ihn erblickte. »Ihr seht sehr gut aus, My Lord. Das freut mich. Ich möchte mein Leben nicht unbedingt einem häßlichen Mann verdanken müssen.« »Meine liebe Tia, solange eine Schönheit wie die Eure gerettet wurde, ist die Schönheit des Retters ohne Belang!« Er setzte sich in einen Sessel neben dem Bett. »Ich werde nicht danach fragen, wieso Ihr gerade dann dort wart, wo man Euch so dringend benötigte, My Lord«, sagte sie leise. »Ich möchte lediglich wiederholen, daß ich mich freue, daß Ihr hier seid.« »Ganz meinerseits, Demoiselle. Aber die Frage ist ja auch vielmehr weniger, warum ich dort auf der Brücke war, sondern warum Ihr Euch dort aufgehalten habt. Erzählt mir doch von Master Ewen MacAlister!« Einen Augenblick lang waren ihre Lippen fest und grimmig zusammengepreßt, dann begann sie wieder zu lächeln. »Das ist eine längere Geschichte; ich werde bei meinem Zuhause in Banat beginnen müssen.« Sie erzählte ihm auch das, was sie schon Mary De Cumberland erzählt hatte, wobei sie diesmal ein paar Ergänzungen hinzufügte. Ihr Onkel Neapeler war wegen Praktizierens seiner Heilkunst von einem Geschäftsrivalen denunziert worden, und da er politisch ohnehin als suspekt galt, wurden beide von der Geheimpolizei König Casimirs IX gesucht. Sie sollten in ihrem Haus verhaftet werden, doch Neapeler Einzig war auf so etwas gut vorbereitet gewesen; sein -2 4 0
mächtiges, wenn auch ungeschultes Talent hatte ihn rechtzeitig gewarnt. Mit wenigen Minuten Vorsprung vor der gefürchteten Geheimpolizei waren sie in Richtung italienische Grenze geflücht et. Doch die Geheimpolizei hatte sich auch ihrer Hexer bedient, so daß die beiden fast in eine Falle gelaufen wären, die man nur wenige hundert Yards vor der Grenze angelegt hatte. Neapeler hatte seiner Nichte befohlen, weiterzulaufen, während er den Geheimpolizisten die Stirn bot. Das war das letzte Mal, daß sie ihn gesehen hatte. Den Rest der Geschichte kannte Lord Darcy bereits. »Ich dachte, daß ich in Sicherheit wäre, als Sir Thomas mich hier nach England gebracht hatte«, sagte sie, »da kam Master Ewen, um mit mir zu sprechen. Damals wußte ich noch nicht, wer er war, und er sagte mir auch seinen Namen nicht. Aber er erzählte mir, daß man Onkel Neapeler festgenommen und in ein Gefängnis der Polnischen Geheimpolizei geworfen hätte. Er sagte, daß man ihn gut behandele, aber daß sein weiteres Wohlergehen ausschließlich von meiner Mitarbeit abhinge. Master Ewen sagte mir, daß Sir Thomas das Geheimnis einer Waffe kannte, die für die Anglo-Französische Reichsmarine entwickelt worden war. Er wußte nicht, um welche Art von Waffe es sich handelte, aber irgendwie hatte der Polnische Geheimdienst herausbekommen, daß es sie gab und daß Sir Thomas darüber höchst wertvolle Informationen besaß. Da er wüßte, daß Sir Thomas mir vertraute, forderte er mich dazu auf, ihm die Informationen zu beschaffen. Er drohte damit, daß man Onkel Neapeler foltern und sogar umbringen würde, wenn ich nicht täte, was er von mir verlangte!« Sie hob den Kopf und blickte Lord Darcy gerade und fest in die Augen. »Aber das habe ich nicht getan. Ihr müßt mir glauben, daß ich es nicht getan habe. Sir Thomas wird es Euch bestätigen, daß ich ihn nie, niemals über irgendwelche Geheimprojekte befragt habe, an denen er vielleicht arbeitete.«
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Lord Darcy dachte an das Gesicht von Sir Thomas, wie er es zuletzt gesehen hatte, und sagte: »Ich glaube Euch, Demoiselle. Fahrt fort.« »Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihnen nichts mitteilen, und Sir Thomas wollte ich auch nicht verraten. Ich erzählte ihnen, daß ich dabei wäre, es zu versuchen. Ich sagte, daß ich mir erst sein Vertrauen erwerben müßte. Ich erzählte ihnen...« Sie unterbrach sich für einen Augenblick und biß sich auf ihre Lippe. »Ich erzählte Master Ewen alles, was ich wußte und konnte, um meinen Onkel am Leben zu erhalten.« »Aber natürlich«, sagte Lord Darcy sanft. »Das kann Euch keiner verübeln.« »Und dann kam der Kongreß«, sagte sie. »MacAlister befahl mir, daran teilzunehmen, anwesend zu sein. Ich wies ihn darauf hin, daß ich, obwohl ich Mitglied der Gilde war, als Zauberlehrling norma lerweise keinen Zutritt zum Kongreß hätte. Aber er sagte, daß ich ja über Sir Thomas und Seine Hoheit den Erzbischof genug Beziehungen hätte, und wenn ich nicht mein Bestes täte, dann würde er dafür Sorge tragen, daß man mir für jeden Kongreßtag, an dem ich fehlen würde, einen Finger meines Onkels schicken würde. Ich mußte etwas unternehmen, Lord Darcy, versteht Ihr das?« »Das verstehe ich«, sagte Lord Darcy. »Ewen MacAlister«, fuhr sie fort, »hatte mich ausdrücklich davor gewarnt, in die Nähe von Master Sir James Zwinge zu geraten. Er sagte, daß Sir James ein hoher Spionageabwehrmann sei, daß er der Chef der europäischen Abteilung des Reichsgeheimdienstes sei. Also dachte ich, daß mir Sir James vielleicht helfen könne. Mittwoch morgen suchte ich ihn in seinem Zimmer auf. Ich traf ihn, als er gerade die Empfangshalle verließ, und fragte ihn, ob ich vielleicht mit ihm
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reden dürfe. Ich sagte ihm, daß ich wichtige Informationen für ihn hätte.« Sie lächelte leise. »Er war recht gruffig, aber schließlich bat er mich, ihm in sein Zimmer zu folgen. Ich erzählte ihm alles, über meinen Onkel, über Master Ewen, alles. Und er saß einfach nur da! Ich sagte, daß die Agenten des Reichs doch sicherlich meinen Onkel aus einem polnischen Gefängnis befreien könnten. Er sagte, daß er nichts von Spionagearbeit verstehe, daß er lediglich ein Justizhexer sei, der für den Marquis von London arbeite. Er sagte, daß er keinerlei Möglichkeit sehe, meinen Onkel aus einem polnischen Gefängnis zu befreien, genauer gesagt, aus überhaupt keinem Gefängnis. Ich war wütend. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm alles sagte, aber auf jeden Fall war es - bösartig. Ich verließ sein Zimmer, und er verschloß die Tür hinter mir. Ich war vermutlich die letzte, die Master Sir James lebend gesehen hat.« Dann sagte sie schnell: »Das heißt natürlich, abgesehen von seinem Mörder.« »Demoiselle Tia«, sagte Lord Darcy so sanft wie möglich, »ich muß Euch jetzt etwas anvertrauen, und Ihr dürft es niemandem sagen, bis ich es Euch gestatte.« »Aber natürlich, My Lord.« »Es ist Folgendes. Ich glaube, daß Ihr die letzte Person wart, die Master Sir James lebend gesehen hat. Das Beweismaterial, das mir bisher vorliegt, legt das nahe. Aber ich möchte auch, daß Ihr wißt, daß ich Euch in keiner Weise für seinen Tod verantwortlich halte.« »Danke, My Lord«, sagte sie, und ihre Augen standen plötzlich voller Tränen. Lord Darcy ergriff ihre Hand. »Kommt, meine Liebe, jetzt ist nicht die beste Zeit zum Weinen.« Trotz ihrer Tränen lächelte sie jetzt. »Ihr seid sehr gütig, My Lord.« -2 4 3
»O nein, Tia, ich bin überhaupt nicht gütig. Ich bin grausam und hinterhältig und habe immer Hintergedanken.« Sie lachte. »Das haben die meisten Männer.« »Ganz so habe ich es nicht gemeint«, erwiderte Lord Darcy trocken. »Was ich damit sagen wollte, war, daß ich noch eine Frage habe.« Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort und lächelte wieder verschmitzt. »Also keine Hintergedanken. Wie schade!« Dann wurde sie wieder ernst. »Welche Frage denn?« »Warum hat sich Master Ewen dazu entschlossen, Euch zu töten?« Lord Darcy war sich ganz sicher, daß er die Antwort bereits wußte, doch wollte er dem Mädchen nicht erklären, wie er dazu gekommen war. Jetzt hatte sie den gleichen kalten, rachsüchtigen Ausdruck im Lächeln wie am Abend zuvor. Weil ich die Wahrhe it herausbekommen habe«, sagte sie. »Gestern abend trat ein Freund meines Onkels, ein gewisser Edelmann Colin MacDavid, ein Bewohner der Insel Man, auf mich zu. Ich kannte ihn schon, als ich noch ein kleines Mädchen war. Edelmann Colin hat mir die Wahrheit erzählt. Mein Onkel war aus der Falle damals entkommen. Edelmann Colin half ihm bei der Flucht, und seither arbeitet mein Onkel mit ihm zusammen auf der Insel Man. Er dachte, ich wäre tot, bis er meinen Namen im Londoner Courier in der Liste der Kongreßteilnehmer erblickte. Da schickte er Edelmann Colin her, um mich ausfindig zu machen. Edelmann Colin erzählte mir die Wahrheit. Aber Edelmann Colin erklärte mir auch, daß mein Onkel bei seiner Flucht Beweismaterial zurückgelassen hatte, das darauf hinwies, daß er getötet worden sei. Das tat er, um mich zu schützen. Die ganze Zeit über hatte Master Ewen das Leben meines Onkels als Faustpfand benutzt, dabei dachten sowohl er als auch der polnische Geheimdienst, daß er tot sei. -2 4 4
Könnt Ihr Euch da noch wundern, daß ich wütend wurde, als ich davon erfuhr?« »Nein«, sagte er, »das kann ich wohl nicht. Das war gestern abend?« »Ja«, sagte sie. »Dann erhielt ich eine Nachricht von Master Ewen, der mir befahl, ihn in einem Pub namens Hound and Hare zu treffen. Kennt Ihr es?« »Ich weiß, wo es sich befindet«, sagte Lord Darcy. »Fahrt fort.« »Ich habe wohl die Beherrschung verloren«, sagte sie. »Ich habe wohl die falschen Dinge gesagt, genau wie bei dem armen Sir James.« Ihre Augen wurden hart. »Aber es tut mir nicht leid, was ich Master Ewen gesagt habe! Ich sagte ihm, was ich von ihm hielt, und daß ich alles den Reichsbehörden melden würde. Ich sagte ihm, daß ich ihn aufgehängt sehen wollte, ich...« Sie hielt plötzlich ein und runzelte die Stirn. »Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Er hob, glaube ich, die Hand und zog ein Symbol in die Luft, und dann... und dann... kann ich mich an nichts mehr erinnern. Bis ich heute morgen aufwachte und Father Patrique erblickte.« - Sie ergriff plötzlich Lord Darcys Rechte. »Ich weiß, daß ich nicht recht getan habe, My Lord. Werde ich nun... muß ich nun vors Gericht?« Lord Darcy lächelte und stand auf. »Ich glaube schon, meine Liebe. Ihr werdet unsere wichtigste Zeugin gegen Master Ewen MacAlister sein. Ich kann Euch versprechen, daß Ihr in keiner anderen Funktion vor Gericht müßt.« Immer noch hielt sie seine Hand. Sie führte sie plötzlich an ihren Mund und küßte sie. »Danke, My Lord«, sagte sie. »Ich bin es, der Euch danken muß«, erwiderte Lord Darcy mit einer Verbeugung. »Wenn ich Euch nochmals von Diensten sein kann, Demoiselle, so braucht Ihr nur darum zu fragen.« -2 4 5
Er verließ die Gardeniensuite. Inzwischen standen draußen in der Halle nicht nur die beiden Männer, ein Dritter war hinzugekommen.« Wie geht es Ihr?« fragte Fathe r Patrique. »Ganz gut, glaube ich.« Dann sah er den uniformierten Wachmann an. »Sergeant Peter hat Nachricht für Euch«, sagte Father Patrique, »aber ich habe es nicht gestattet, daß Ihr unterbrochen werdet. Wenn ich mich nun entschuldigen dürfte, ich will mich um meine Patientin kümmern.« Die Tür der Gardeniensuite schloß sich hinter ihm. Lord Darcy lächelte Sir Thomas an. »Alles in Ordnung, mein Freund. Kein Grund zur Besorgnis, für beide von Euch nicht.« Dann wandte er sich an den Wachsergeanten. »Ihr habt Nachricht für mich, Sergeant?« »Jawohl, My Lord. Lord Bontriomphe sagte, daß es sehr wichtig sei. Wir haben Edelmann Paul Nichols gefunden.« »Ach ja? Wo habt Ihr ihn denn ausfindig gemacht? Hat er eine Erklärung für sein Verhalten abgegeben?« »Ich fürchte, nein«, sagte Sergeant Peter. »Man hat ihn in einem Zimmermannsraum des Hotels gefunden. Und er war tot, My Lord, mausetot.« Sergeant Peter hatte ihm erklärt, wo der Raum zu finden war, und so schritt Lord Darcy zielstrebig durch die Empfangshalle des Hotels. Der Raum war aber auch an den beiden Wachmännern zu erkennen, die davor Wache standen. Der Raum lag ungefähr auf halber Strecke zwischen Darcys und Bontriomphes Hauptquartier und der Hintertür. Es war ein Arbeitsraum für Möbelreparaturen. Es gab dort Arbeitsbänke, die um die Wände herum führten, und halbfertige Möbel, die -2 4 6
umherstanden. Am Ende des Zimmers war eine offene Tür, hinter der sich Dunkelheit befand. Neben der Tür standen Lord Bontriomphe und Master Sean O Lochlainn. Als Lord Darcy auf sie zuschritt, drehten sie sich um. »Hallo, Darcy«, rief Lord Bontriomphe. »Wir haben noch einen.« Er zeigte auf die offene Tür, die, wie Lord Darcy bemerkte, in eine kleine Abstellkammer führte, die mit beschädigtem Mobiliar, Holzstücken und so weiter angefüllt war. Hinter der Tür lag, gleich vorne, ein Mann. Es war kein angenehmer Anblick. Die Zunge hing heraus, und das Gesicht war schwarz angelaufen. Um den Hals hing ein verknotetes Seil, das sich tief ins Fleisch eingeschnitten hatte. Lord Darcy sah Lord Bo ntriomphe an: »Was ist denn geschehen?« Lord Bontriomphe wandte den Blick nicht von der Leiche ab. »Ich glaube, ich gehe mal nach draußen und haue mir den Schädel an die Wand. Seit gestern nachmittag habe ich diesen Mann gesucht. Ich habe London nach ihm durchkämmt. Ich habe jedem Hotelangestellten jede Frage gestellt, an die ich nur denken konnte.« Er sah Lord Darcy an. »Schließlich kam ich auf den lächerlich scheinenden Gedanken, daß Edelmann Paul Nichols das Hotel niemals verlassen hatte.« Er lächelte Lord Darcy ziemlich schief an. »Und dann öffnete ein Hotelangestellter, der für Möbelreparaturen zuständig ist, diese Tür. Er brauchte ein Stück Holz und fand das da. Er lief schreiend heraus. Zum Glück waren Master Sean und ich gerade im Büro, so daß wir sofort herbeieilten.« »Es ist ganz gewiß Paul Nichols?« »O ja, ohne Zweifel.« Lord Darcy sah Master Sean an. -2 4 7
»Keine Ruhe für die Müden, eh, Master Sean? Was meint Ihr dazu?« Master Sean seufzte. »Nun ja. Was Genaueres weiß ich erst, wenn der Chirurgus die Autopsie vorgenommen hat. Aber meiner Meinung nach ist der Mann schon mindestens achtundvierzig Stunden tot. An der rechten Schläfe hat er eine Schürfwunde, man kann sie wegen des geronnenen Blutes kaum erkennen; sie deutet darauf hin, daß er ohnmächtig geschlagen wurde, bevor man ihn umbrachte. Man hat ihn auf die rechte Kopfseite geschlagen und ihn dann mit einem Strick erwürgt.« »Achtundvierzig Stunden«, sagte Lord Darcy nachdenklich. Er sah auf seine Uhr. »Das wäre ja, plusminus eine Stunde, ungefähr die Zeit gewesen, als auch Master Sir James getötet wurde. Interessant.« »Da ist noch etwas, das Ihr vielleicht noch interessant finden werdet, My Lord«, sagte Master Sean. Er kniete nieder und zeigte auf ein paar kleine blaue Stücke, die vorne auf dem Hemd der Leiche lagen. »Was glaubt Ihr wohl, was das ist?« Lord Darcy kniete nieder und sah näher hin. »Siegelwachs«, |sagte er leise. »Blaues Siegelwachs.« Master Sean nickte. »Das scheint es mir auch zu sein.« Lord Darcy stand auf. »Es tut mir furchtbar leid, Sean, aber ich muß Euch schon wieder mit derselben grauslichen Arbeit beauftragen. Ich muß wissen, wann er gestorben ist, und...« Master Sean stand auch auf. »Und etwas über diese Stücke blauen Siegelwachses, eh, My Lord?« »Genau.« »Nun«, sagte Lord Bontriomphe, »wenigstens wissen wir diesmal, wer es gewesen ist.« »Ja, ich weiß, wer ihn umgebracht hat«, sagte Lord Darcy. »Was ich nicht verstehe ist, warum!« -2 4 8
»Ihr meint das Motiv?« fragte Lord Bontriomphe. »Ach was, das Motiv kenne ich. Was ich wissen möchte, das ist sozusagen das Motiv hinter dem Motiv, wenn Ihr mir folgen könnt.« Lord Bontriomphe konnte ihm allerdings nicht folgen. Eine halbe Stunde gründlichster Untersuchungen ergab nichts von Interesse. Der Mord an Paul Nichols schien ebenso einfach gewesen zu sein, wie es der an Sir James schwierig gewesen war. Keine verriegelte Tür, kein Hinweis auf Schwarze Magie, keine Frage hinsichtlich der Art des Tötens. Als er alles untersucht hatte, war sich Lord Darcy sicher, daß er den Mordablauf einigermaßen gena u rekonstruieren konnte. Man hatte Paul Nichols in den Zimmermannsraum gelockt, hatte ihn ohnmächtig geschlagen und ihn erwürgt. Dann hatte man ihn in die Abstellkammer geworfen. Was danach geschehen war, war nicht ganz klar, aber Lord Darcy hatte das Gefü hl, daß es an der Grundannahme nichts wesentlich ändern würde. Befriedigt überließ Lord Darcy Lord Bontriomphe und Master Sean den Rest der Untersuchung. »Was jetzt?« dachte er. Er entschied sich dafür, den Palast des Marquis aufzusuchen und sich eine neue Pistole zu besorgen. Er hatte Lord Bontriomphe erzählt, daß er seine eigene Pistole in die Themse hatte werfen müssen, und Bontriomphe hatte gesagt: »Ich habe noch eine Heron 36er in meinem Schreibtisch. Ihr könnt sie benutzen, wenn Ihr wollt. Es ist eine gute Waffe.« Lord Darcy kam zu der Überzeugung, daß ihm ein guter kräftiger Drink vorher guttun würde. Er ging ins Schwertzimmer und bestellte einen Brandy mit Soda. Im Hotel war die angespannte Atmosphäre immer noch zu spüren; offensichtlich hatte man den Kongreß unterbrochen. Von allen Hexern, die er heute morgen gesehen hatte, hatte außer Master Sean niemand die silbernen Streifen eines Masters getragen. Am Ende der Theke sah Lord Darcy ein bekanntes -2 4 9
Gesicht. Er stand auf und ging auf den Mann zu, der sich gerade eine Finte guten englischen Bieres zu Gemüte führte. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er. »Ich hatte gedacht, daß Ihr Euch draußen auf der Jagd befindet.« Wanderhexer Lord John Quetzal blickte ein wenig erschreckt hoch. »Lord Darcy! Ich wollte mit Euch sprechen.« Sein Lächeln wirkte ein wenig traurig. »Man hat mich nicht darum gebeten, an der Suche nach Master Ewen teilzunehmen«, sagte er. »Man befürchtet wohl, daß es ein Wanderhexer nicht mit einem Master aufnehmen kann.« »Und Ihr glaubt, daß Ihr es doch könntet?« »Nein!« rief Lord John Quetzal aufgeregt. »Darum geht es doch überhaupt nicht! Master Ewen mag ein mächtigerer Hexer sein als ich, das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich brauche mich ja gar nicht gegen ihn zu behaupten. Wenn er Magie anwendet, wenn man ihn eingekreist hat, dann kann ihn ein anderer, mächtigerer Hexer übernehmen. Es geht vielmehr darum, daß ich ihn finden kann. Ich kann herausfinden, wo er sich aufhält. Aber es hört ja niemand auf einen Wanderhexer!« Lord Darcy sah ihn an. »Damit ich nichts falsch verstehe«, sagte er vorsichtig. »Ihr denkt, daß Ihr herausbekommen könntet, wo Master Ewen sich gerade versteckt hält?« »Das denke ich nicht nur, das weiß ich! Als Ihr die Demoiselle Tia letzte Nacht hereinbrachtet, da stank sie sieben Meilen gegen den Wind nach schwarzer Magie.« Er sah aus, als wollte er sich entschuldigen. »Ich meine natürlich keinen richtigen Geruch, versteht Ihr, nicht so, wie man Tabakgeruch wahrnehmen kann, oder...« er wedelte mit der Hand in die Richtung von Lord Darcys Glas, »... oder Brandy und so.«
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»Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Es ist lediglich ein Vergleich eines geistigen Vorgangs mit dem Sinnesorgan, dem er am nächsten kommt. Deswegen nennt man Leute Eures Talents wohl auch Hexen-Riecher, nicht wahr?« »Genau, My Lord, so ist es. Und jeder Akt Schwarzer Magie hat seine eigene ›Duftnote‹, einen Gestank, der den Hexer verrät, der ihn begangen hat. Ihr habt mich Mittwochabend gefragt, ob ich jemanden verdächtige, und ich habe mich geweigert, Euch darauf Antwort zu geben. Aber es war Master Ewen. Ich konnte schon zu der Zeit den Makel an ihm wahrnehmen. Aber mit einem Beispiel seiner Vorgehensweise an der Hand könnte ich ihn aufspüren, egal, wo er sich in London versteckt hält.« Er lächelte ziemlich verlegen. »Ich saß gerade hier und überlegte mir, ob ich es nicht auf eigene Faust versuchen sollte.« »Ihr konntet den Gestank Schwarzer Magie an der Demoiselle Tia wahrnehmen«, sagte Lord Darcy. »Woher wußtet Ihr denn, daß sie die Schwarze Kunst nicht selbst ausgeübt hatte?« »My Lord«, sagte Lord John Quetzal, »es ist ein großer Unterschied zwischen einem schmutzigen Finger und einem schmutzigen Fingerabdruck.« Eine volle Minute lang blickte Lord Darcy schweigend in sein Glas. Dann leerte er es in zwei Züge n. »My Lord John Quetzal«, sagte er forsch. »Lord Bontriomphe und seine Wachmänner suchen Master Ewen. Sir Lyon und die Meisterhexer seiner Gilde ebenfalls. Ebenso Commander Lord Ashley und der Marinegeheimdienst. Und wißt Ihr was?« »Nein, My Lord«, sagte Lord John Quetzal und stellte seinen leeren Bierkrug ab, »was denn?« »Ihr und ich werden sie alle in den Schatten stellen! Kommt mit mir. Wir brauchen eine Mietdroschke. Erst zum Palace du Marquis und dann, My Lord, immer Eurer Nase nach.« -2 5 1
Es dauerte Stunden. In einem kleinen Pub nördlich des Flusses saß Wanderhexer Lord John Quetzal und starrte mit leerem Gesichtsausdruck in einen Bierkrug, den er nicht zu leeren gedachte. »Ich glaube, ich habe ihn, My Lord«, sagte er mit ausdruckloser Stimme. »Ich glaube, ich habe ihn.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. Er wagte nicht weiterzusprechen. Die ganze Zeit über hatte er auf der Karte Punkte markiert und war dem jungen Mechicaner gefolgt, der dem Schwarzen Zauberer immer näherrückte. »Es ist schwieriger, als ich dachte«, sagte Lord John Quetzal. Lord Darcy nickte grimmig. Hexen-Riechen war zwar nicht dasselbe wie Hellsehen, doch hatten die privaten Schutzzauber Londons die Wahrnehmungen des jungen Mechicaners naturgemäß getrübt. »Schwierig, ja«, sagte er, »aber ebenso sicher und gewiß.« Seine Lordschaft erkannte, daß der junge Wanderhexer seine Begabung noch nicht vollkommen hatte ausbilden und schulen können. Das würde sich erst mit wachsender Praxis und Erfahrung ergeben. »Gehen wir die Sache von Anfang an durch. Sagt mir, welche Hinweise und Fährten Ihr wahrgenommen habt.« »Jawohl, My Lord«, sagte der junge Mechicaner. »Er ist umringt von Helfershelfern - Master Ewen, meine ich. Aber sie werden nicht ihr Leben für ihn riskieren.« »Eine außerordentlich starke psychische Spannung umgibt ihn«, fuhr Lord John Quetzal fort, »aber das hat nichts mit ihm selbst zu tun. Sie wissen nicht, daß es ihn überhaupt gibt.« »Ich verstehe, My Lord«, sagte Lord Darcy. »Eurer Beschreibung zufolge scheint es, daß er überwiegend von nichttalentierten Menschen umgeben ist, die versuchen, das Talent zu gebrauchen.«
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Er breitete die Stadtkarte von London auf dem Tisch aus. »Jetzt wollen wir einmal sehen, ob wir es finden.« Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte. »Von hier« - er zog mit dem Finger einen Strich - »in diese Richtung, wie?« »Ja, My Lord«, sagte Lord John Quetzal. »Dann von hier«, zeigte Lord Darcy, »nach hier ja?« »Ja.« Lord John Quetzal wußte die Richtung und die Länge, aber mehr konnte er nicht sagen. Immer wieder war Lord Darcy mit ihm dieselbe Routinearbeit durchgegangen, so daß sie jetzt schon monoton und langweilig wirkte. Und trotzdem kam jedesmal etwas Neues zum Vorschein. Schließlich konnte Lord Darcy einen Kreis auf die Stadtkarte von London malen und mit der Bleistiftspitze darauf zeigen. »Er befindet sich irgendwo in diesem Gebiet. Es gibt keine andere Antwort.« Dann legte er dem jungen Wanderhexer die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, daß Ihr müde seid. Müdigkeit ist der übliche Zustand eines Königlichen Inspektors.« Lord John Quetzal streckte seine Rückenmuskeln und blickte plötzlich auf. »Ich weiß. Aber das da«, sagte er, und zeigte auf den Bleistiftkreis, »ist ein ziemlich großes Gebiet. Ich dachte, ich könnte ihn genauer, exakter lokalisieren.« Er atmete seufzend. »Und jetzt muß ich feststellen, daß...« »Na, na!« sagte Lord Darcy. »Ihr gebt zu schnell auf! Wir wissen, wo er ist; Ihr wißt lediglich nicht, wie nahe wir ihm sind. Wir wissen das grobe Gebiet, aber nicht, wie seine Umgebung genau aussieht.« »Aber eben da kann ich nicht weiterhelfen«, sagte Lord John Quetzal mit stumpfer Stimme. -2 5 3
»Ich glaube doch«, sagte Lord Darcy. »Ich möchte Euch bitten, Euch auf die Symbole zu konzentrieren, die Master Ewen umgeben, nicht auf seine materielle Umgebung, sondern auf seine symbolische Umgebung.« Dann begann Lord Darcy wieder zu warten. Plötzlich blickte Lord John Quetzal hoch. »Ich habe eine Eingebung... ein Wappen, My Lord: Silber im Schrägkreuz, fünf Rauten in rot... silber im Pfahl, drei dreiblättrige Kleeblätter in schwarz, das unterste umgekehrt.« Lord Darcy machte Notizen und legte vorsichtig die Hand auf den Tisch. »Noch eins bitte, My Lord, nur noch eins.« »Silber«, sagte Lord John Quetzal mit abwesendem Blick, »ein rotes Herz.« Lord Darcy lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Atemzug und sagte: »Wir haben es, My Lord, wir haben es. Dank Eurer Hilfe. Kommt, wir müssen zurück nach Carlyle House.« Eine halbe Stunde später betrachtet Ihre Hoheit Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, dieselbe Karte. »Ja, ja natürlich«, sagte sie. Sie blickte den jungen Mechicaner an. »Natürlich, Silber im Schrägbalken, fünf Rauten in rot.« Sie sah Lord Darcy an. »Karo fünf.« »Genau«, sagte Lord Darcy. »Und das zweite ist die Kreuz Drei. Und das dritte das Herz As.« »Völlig richtig«, sagte Lord Darcy. »Bezweifelst du jetzt noch, daß er sich dort versteckt?« Sie blickte auf die Karte. »Nein, natürlich nicht. Natürlich ist er dort.« Sie sah beide an. »Weiter seid Ihr nicht gegangen, My Lords?« »War das noch nötig?« fragte Lord Darcy. »My Lord du Moqtessuma hat mir versichert, daß er es merken muß, wenn -2 5 4
Master Ewen sein Versteck verlassen sollte. Nicht wahr, My Lord?« »Das stimmt. Das heißt«, fuhr er fort, »ich kann nicht für seine späteren Bewegungen bürgen, aber wenn er sich sehr weit von hier entfernen sollte, dann würde ich es merken.« »Eine Sache habe ich nicht verstanden«, sagte Ihre Hoheit. »Warum nämlich My Lord Quetzal nicht sofort die Symbolik erkannt hat.« Sie blickte den jungen mechicanischen Adligen lächelnd an. »Damit will ich keineswegs Eure Fähigkeiten schmälern. Ihr habt die Symbole ja visualisiert, und dennoch habt Ihr sie in die Sprache der Heraldik übersetzt und nicht in die des Kartenspiels. Sicherlich könntet Ihr das erklären, aber mit Eurer Erlaubnis würde mich zunächst einmal interessieren, wieso Lord Darcy es dann wußte.« »Ich wußte etwas, was du nicht wissen konntest«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Vorletzten Abend sprachen wir über Mechicoe. Und während du beim Umziehen warst, unterhielten wir uns über Glücksspiel und Gesellscha ftsspiele in Mechicoe. Ich bemerkte, daß Lord John Quetzal nicht einmal Spielkarten ahnte, woraus ich schloß, daß man sie dort nicht viel verwendet.« »In Mechicoe«, sagte Lord John Quetzal, »wird ein Kartenspiel normalerweise als ein Wahrsagemittel angesehen, das von Zauberern und Schwarzmagiern ohne Lizenz benutzt wird. Ich kenne das Kartenspiel nicht als Glücksspiel, obwohl ich natürlich davon gehört habe, daß man es als solches gebrauchen kann.« »Natürlich«, sagte Lord Darcy. »Deshalb habt Ihr auch die Symbolik, die Ihr geschaut habt, in die Sprache der Heraldik übersetzt, mit der Ihr vertraut seid. Und Eure Beschreibung ist völlig eindeutig.« -2 5 5
Er blickte die Herzogin an. »Und deshalb sind wir zu dir gekommen. Wenn irgend jemand die Spielklubs von London kennt, dann bist du es ja wohl.« Sie blickte wieder in die Karte. »Ja«, sagte sie. »In der Gegend gibt es solch einen Klub. Er muß hier sein, der Manzana de Oro.« »Ah«, sagte Lord Darcy. »Der Goldene Apfel, eh? Was weißt du darüber?« »Er gehört einem Mohren aus Granada.« »Tatsächlich? Beschreibe ihn bitte.« »Ach, er ist ein absolut faszinierendes Wesen«, sagte Ihre Hoheit. »Er ist groß, so groß wie du, und sieht teuflisch gut aus. Er hat dunkle Haut, fast schwarz, blitzende Augen und einen Spitzbart. Er kleidet sich in prunkvolle Gewänder, trägt einen gewaltigen Smaragd am linken Ringfinger und einen riesigen Rubin, vielleicht ist es auch ein Spinell, im Turban. An der Hüfte trägt er einen juwelenbesetzten Dolch persischer Herkunft, der wahrscheinlich allein schon ein Vermögen wert ist. Soweit ich weiß, ist er ein fürchterlicher Halunke, aber sein Benehmen und Auftreten ist fraglos das eines Gentleman. Er nennt sich Sidi al-Nasir.« Lord Darcy lehnte sich zurück und lachte lauthals. »Darf ich fragen«, sagte die Herzogin beißend, »was daran wohl so lustig sein mag, My Lord?« »Meine Abbitte«, sagte Lord Darcy und unterdrückte ein Lachen. »Ich wollte nicht lustig sein. Du mußt es unserem maurischen Freund anlasten. ›Sidi al-Nasir‹, ganz bestimmt! Wie wunderbar! Ich glaube, ich werde diesen Gentleman mögen.« »Wäre es vielleicht zuviel gefragt«, sagte die Herzogin freundlich, »wenn man uns auch in den Witz einweihen würde?« -2 5 6
»Es geht um die glückliche Wahl von Name und Titel«, sagte Lord Darcy. »Grob übersetzt bedeutet Sidi al-Nasir soviel wie My Lord der Gewinner. Wie köstlich er es fertiggebracht hat, die Spieler der Oberschichten Londons darüber aufzuklären, daß die Bank immer wieder gewinnt. Ja ja, ich glaube, ich werde My Lord al-Nasir mögen!« Er blickte die Herzogin an. »Hast du Zutritt zu seinem Klub?« »Das weißt du doch«, sagte sie. »Sonst hättest du es doch nicht erwähnt.« »Stimmt«, sagte Lord Darcy unverblümt. »Aber da du nun von unserer kleinen Falle weißt, will ich dir nicht das weitere Vergnügen mißgönnen, uns dabei zu helfen, unser Opfer ordentlich auszuheben.« Er blickte Lord John Quetzal an. »My Lord, das Opfer ist gestellt. Jetzt müssen wir nur noch die Falle entwerfen.« Lord John Quetzal nickte lächelnd. »In der Tat, My Lord. O ja, in der Tat. Also, um anzufangen...« Die Nacht war klar, und jeder Stern funkelte wie ein Edelstein auf dem schwarzen Samt des Himmels. Eine prunkvolle Kutsche mit dem Wappen der Cumberland fuhr vor dem Manzana de Oro vor. Wer dort als erstes ausstieg, war niemand anders als Ihre Hoheit, die Herzoginwitwe von Cumberland. Ein großer, schlanker, gutaussehender Mann in makelloser Abendgarderobe folgte ihr. Der dritte Fahrgast war ebenso groß, ein dunkler Mann, der das Wappen des Herzogshauses Moqtessuma trug. Alle drei verneigten sich tief, als der vierte Fahrgast ausstieg. Seine Hochwohlgeboren der Prinz von Vladistov war ein kleiner, etwas rundlicher Gentleman, der einen dunklen, buschigen Bart trug und im rechten Auge ein Monokel eingeklemmt hatte. Schweigend entstieg er würdevoll der Kutsche und erwiderte die Verneigungen seiner Begleiter mit einem herablassenden Kopfnicken. Ihre Hoheit von Cumberland -2 5 7
nickte den Portiers zu, die in Habt-acht-Stellung Spalier standen, dann betraten die vier den Manzana de Oro. An der Innentür sagte der Begleiter Ihrer Hoheit zum Majordomus: »Meldet My Lord al-Nasir Ihre Hoheit Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, Lord John Quetzal du Moqtessuma de Mechicoe; Seine Durchlaucht Jean, Prinz von Vladistov, und mich selbst, den Lord of Arcy.« Der Majordomus machte eine tiefe Verbeugung und sagte: »Seine Lordschaft wird sofort benachrichtigt.« Dann blickte er auf die Herzoginwitwe. »Mit Verlaub... Euer Gnaden bürgen für diesen Gentleman?« »Aber natürlich, Edelmann Abdul«, sagte Ihre Hoheit befehlend, und die vier schritten über die Schwelle. Lord Darcy blieb ein wenig zurück und wisperte Lord John Quetzal zu. »Ist er hier?« »Er ist hier«, sagte Lord John Quetzal. »Ich kann ihn jetzt auf zehn Fuß genau lokalisieren.« »Gut. Immer lächeln und mir nachfolgen. Aber wenn er sich entfernen sollte, gebt sofort Bescheid.« Sie folgten Ihrer Hoheit und dem prächtig gekleideten Prinz von Vladistov ins Innere des Hauses. Der Vorraum war groß, etwa dreißig mal zwanzig Fuß, und gab auf keine Weise zu erkennen, daß es sich beim Manzana de Oro um einen Spielklub handelte. Die Einrichtung war maurisch und für Lord Darcy, der Südspanien, Nordafrika und Arabien bereist hatte, viel zu maurisch. Die Einrichtung und das Dekor waren nicht die eines Gesellschaftsklubs islamischer Länder, sondern die eines Harems. Die Wände waren mit Goldstoffen behängt oder sahen wenigstens so aus. Die Eingangsbögen waren mit Koranzitaten bestickt - ja, bestickt war das richtige Wort, die zwar wegen ihrer arabischen Schrift recht dekorativ wirkten, aber völlig zusammenhanglos wirkten. In den Boden waren maurische Kacheln eingelassen worden, und um die Wände herum standen -2 5 8
exotische Pflanzen in Messingkübeln, geschmackvoll angeordnet. Mitten im Raum befand sich ein Springbrunnen, dessen Fontänen vor sich hinspielten und das Wasser in phantastischen, sie nie wiederholenden Mustern fließen ließen. Der Springbrunnen war mit Lichtern bestückt, die ihre Farben ständig veränderten. Im Raum standen wohlangezogene Leute herum und tauschten Komplimente aus. Ihre Ho heit drehte sich um und lächelte. »Begeben wir uns in die Spielsäle, edle Sirs?« Der Prinz von Vladistov blickte Lord Darcy an. Lord Darcy sagte: »Aber gewiß, Euer Gnaden.« Sie zeigte auf eine der Seitentüren und sagte: »Wenn Ihr mir folgen wollt.« Dann gingen sie durch die rechte Tür. Der Spielsaal war noch farbenprächtiger als der Vorraum. Die Wandbehänge waren aus purpur und rot besticktem Goldstoff, der mit Darstellungen aus der islamischen Mythologie verziert war. Aber all dies bildete nur den blassen Hintergrund für die orientalische Pracht des Raumes selbst und die glitzernde Abendtracht der Leute, die an den Spieltischen standen und vor dem Hintergrund fast funkelten. Eine Anzahl scharfäugiger Männer bewegte sich unauffällig durch die Reihen und beobachtete das Spiel. Lord Darcy wußte, daß es sich bei ihnen um Wanderhexer handelte, die gedungen worden waren, um jeden, der ein geschultes Talent zum Gewinnen einsetzen wollte, ausfindig zu machen. Ihre Aufgabe war es nicht, solche Magie zu verhindern, sondern nur, sie zu melden und den Missetäter hinauszuwerfen. Der Prinz von Vladistov lächelte Lord Darcy fröhlich an und sagte sehr leise: »Spürt Master Ewen jetzt auch genau, My Lord, aufgrund von Lord John Quetzals Hilfe. Jetzt haben wir ihn aber! Er ist im Raum rechts, gleich hinter dem Bogen mit dem purpurnen Gekrakel.« -2 5 9
Lord Darcy verneigte sich. »Euer Hochwohlgeboren sind außerordentlich scharfsinnig«, sagte er. »Aber wo zum Teufel ist Sidi al-Nasir?« Es war eine rhetorische Frage, auf die er keine Antwort erwartete. Mary De Cumberland hatte ihm versichert, daß alNasir unweigerlich Mitglieder des Adels zu begrüßen pflegte, wenn sie in seinen Klub kamen, aber nun war der Mohr weit und breit nicht zu sehen. Der Prinz von Vladistov beantwortete Lord Darcys rhetorische Frage. »Er scheint in seinem Büro zu sein. Wir sind uns zwar nicht völlig sicher, Lord John Quetzal und ich, aber wir sind uns einig, daß er dort zu sein scheint.« Lord Darcy nickte. »Gut, machen wir es so.« Er lächelte die Herzoginwitwe von Cumberland an und sagte sehr leise zu ihr: »Euer Gnaden, ich stelle fest, daß der Gentleman, der uns an der Tür empfangen hat, uns gefolgt ist.« Sie blickte sich nicht um. »Edelmann Abdul? Ja. Inzwischen wundert er sich wahrscheinlich, warum wir noch nicht an die Spieltische getreten sind.« »Eine gute Frage, von seinem Standpunkt aus betrachtet. Wir werden das ausnutzen. Geh zu ihm und frage ihn, wo Sidi alNasir ist. Bestehe darauf, den Sidi zu sprechen. Schließlich hast du einen allerhöchsten Gast mitgebracht, den Prinzen der fernen russischen Prinzipalität von Vladistov, und du siehst nicht ein, warum el Sidi ihn nicht so empfängt, wie es ihm zusteht. Trage ruhig schön dick auf. Aber sorge dafür, daß er uns den Rücken zuwendet.« Sie nickte und schritt durch den Raum auf el Sidis Diener zu, während die drei anderen sich um die Tür scharten, auf die sie es abgesehen hatten. Sobald die Herzogin Abdul abgelenkt hatte, flüsterte Lord Darcy: »Also los, rein!« -2 6 0
Lord John Quetzal drehte sich um und beobachtete die Menge genau. Lord Darcy und der Prinz von Vladistov schritten auf die Tür zu. »Kein Zauber drauf«, sagte der kurze runde Mann mit dem Bart. »Zu viele Leute, die hinein- und herausgehen.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy, griff nach der Tür und öffnete sie. Blitzschnell verschwanden die beiden dahinter und verschlossen die Tür hinter sich. Sidi al-Nasir sah genauso aus, wie ihn die Herzogin beschrieben hatte. Als er die beiden Fremden ins Zimmer treten sah, griff er nach einer Schublade und hielt ein. Sein schwarzes Auge blickte in die ebenso schwarze Mündung der.36er Heron, die ihn anstarrte. Dann hob er das Gesicht und sah den Mann an, der die Waffe trug. »Mit Euer Erlaubnis, My Lord«, sagte er kühl, »werde ich meine leere Hand auf den Schreibtisch legen.« »Das schlage ich auch vor«, sagte Lord Darcy. Er blickte auf den Mann, der Sidi al-Nasir gegenübersaß. »Guten Abend, My Lord. Ich stelle fest, daß Ihr schon vor mir hier seid.« Commander Lord Ashley lächelte ruhig. »Es war unvermeidlich«, sagte er in einem kühlen »beherrschten Ton. »Es freut mich, Euch zu sehen.« Er blickte auf Sidi al-Nasir. »My Lord al-Nasir hat mir soeben vorgeschlagen«, sagte er, »daß ich in den Dienst der Polnischen Regierung eintreten solle.« Lord Darcy sah den dunkelhäutigen Mann an. »Das habt Ihr also, My Lord der Sieger?« Sidi al-Nasir spreizte die Hand auf der Schreibtischplatte. »So versteht Ihr denn das Arabische, edelster Herr?« sagte er auf arabisch.
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»Obwohl meine Zunge in der Sprache aller Sprachen vielleicht nicht so beflügelt ist wie die Eure«, sagte Lord Darcy ebenfalls in arabisch, »so reicht mein weniges Wissen um die Sprache des Propheten wohl für die meisten Unterhaltungen aus.« Sidi al-Nasirs feine Lippen lächelten. »Widerspruch ist nicht mein Sinn, Edelster«, sagte er. »Doch davon einmal abgesehen, daß Eure Aussprache einen Lehrer verrät, der ein Untertan des Shah- in-Shah war, ist Eure Beherrschung des Sprache des Qu'ran außerordentlich flüssig.« Lord Darcy gestattete sich ein Halblächeln. »Es ist wahr, daß mein verehrter Le hrer der edlen Sprache des Propheten des Islam vom Hofe des Gottes auf Erden, des Shah von Persien kam, aber - wollt Ihr vielleicht, daß ich in der heruntergekommenen Weise rede, wie man sie in Nordwestafrika und Südspanien hören muß?« Lord Darcys plötzlicher Wechsel der Aussprache ließ Sidi alNasir zusammenzucken. Dann hob er die Augenbrauen und weitete sein Lächeln noch mehr aus. »Ah, Weisester aller Weisen, Euer Wissen verrät Euch. Nur wenige Männer des Frankenreichs beherrschen solcherart die Zunge aller Zungen. So seid Ihr denn der wohlbekannte Sidi von Arcy: Es ist mir in der Tat eine Freude, Euer Lordschaft kennenzulernen.« »Ich hoffe«, sagte Lord Darcy, »daß die Ereignisse, bezeugen werden, daß es eine Freude war, Euch kennenzulernen, My Lord. Sollen wir anglo- französisch reden?« »Aber gewiß doch«, sagte Sidi al-Nasir. Er sah Lord Ashley an. »Also war alles eine Falle?« Lord Ashley nickte. »Alles eine Falle, mein lieber al-Nasir.« »Eine dürftige Falle«, sagte Sidi al-Nasir lächelnd. »Miserabel geplant und miserabel durchgeführt.« Er lachte still in sich hinein. »Ich brauche nicht einmal die Wahrheit zu leugnen.« -2 6 2
»Well«, sagte Lord Darcy, »das werden wir ja sehen. Was ist denn die Wahrheit?« Sidi al-Nasirs Lächeln verschwand nicht. Er blickte lediglich Commander Lord Ashley an. Lord Ashley erwiderte seinen Blick kurz und lächelte dann Lord Darcy an. »Tut mir leid, Euch das angetan zu haben. Wußte nicht, daß Ihr herkommen würdet. Wir haben schon lange vermutet, daß der Manzana de Oro das Hauptquartier eines polnischen Spionagerings ist. Um Beweismaterial zu bekommen, habe ich hier Schulden von...« Er blickte Sidi al-Nasir an. Der Mohr lächelte auch noch, während er seufzte. »Von zirka einhundertundfünfzig Goldsovereigns, My Lord. Mehr, als Ihr in einem Jahr verdient.« Lord Ashley nickte ruhig. »Genau. Und heute abend habt Ihr mir zwei Möglichkeiten angeboten. Entweder würdet Ihr meine Schulden der Admiralität melden, dann wäre ich, wie Ihr annahmt, ruiniert; oder ich würde ein Spion Seiner Slavischen Majestät werden.« Sidi al-Nasirs Lächeln weitete sich noch mehr. »Deswegen habe ich ja gesagt, daß die Falle recht miserabel war, My Lord Commander. Ich bestreite, daß ich Euch ein solches Angebot gemacht habe, und Ihr habt keine Zeugen, um es zu beweisen.« Lord Darcy, der die Pistole immer noch auf den Mohren gerichtet hielt, lächelte. »My Lord al-Nasir, ich möchte behaupten, daß ich absolut sicher bin, daß Ihr soeben My Lord dem Commander ein solches Angebot gemacht habt.« Sidi al-Nasir zeigte seine weißen Zähne. »Ah, My Lord, Ihr mögt Euch gerne sicher sein.« Er lachte. »Vielleicht bin ich mir sogar auch sicher, eh? Und Lord Ashley ist sich natürlich auch sicher. Aber«, sagte er und spreizte die Hände, »sind das Beweise? Käme man damit vor Gericht durch?« Plötzlich blickte er sehr traurig vor sich hin. »Ach ja, Ihr könntet mich -2 6 3
natürlich deportieren. Das Beweismaterial von Lord Ashley mag dafür vielleicht ausreichen. Es gibt zweifellos genügend Verdachtsmomente, um mich in mein heimatliches Spanien zurückzuschicken. Ich muß das Manzana de Oro schließen. Wie schade, den Nebel und die Kälte Londons mit der Wärme, den Farben, der Schönheit Granadas vertauschen zu müssen...« Dann lächelte er Lord Darcy wieder an. »Aber ich fürchte, daß Ihr mich nicht einkerkern könnt.« »Was das angeht«, sagte Lord Darcy, »so habt Ihr vielleicht recht. Aber wir werden sehen.« »Ist es wirklich notwendig, daß Ihr die Mündung dieser Waffe auf mich richten müßt, My Lord?« sagte Sidi al-Nasir. »Ich finde das nicht eben eines Gentlemans würdig.« »Natürlich, My Lord«, sagte Lord Darcy und bewegte die Waffe um kein winziges Jota. »Wenn Ihr die Güte hättet, nicht nur die Pistole, nein! nein!... die ganze Schublade eures Schreibtisches zu entfernen. Es könnten ja mehrere Waffen darin sein.« Sidi al-Nasir zog vorsichtig die Schublade hervor und legte sie auf den Schreibtisch. »Nur eine, My Lord, und ich würde nicht im Traum daran denken, sie in Eurer Gegenwart anzufassen.« Lord Darcy blickte auf die Waffe, die den ganzen Schubladeninhalt ausmachte. »Ah«, sagte er, »eine.39er Toledo. Eine sehr gute Waffe, My Lord. Ich werde dafür Sorge tragen, daß sie Euch zurückgegeben wird, sofern das Gesetz dies gestattet.« Als Sidi al-Nasir des Gesichtsausdrucks von Lord Darcy gewahr wurde, flackerte sein Obsidianauge einen Augenblick unruhig. In dem Augenblick erkannte er, daß Lord Darcys Wissen mehr umspannte als nur einen Spionageverdacht. Der Sidi merkte, daß diese Falle wohl gefährlicher war, als er zunächst angenommen hatte.
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»Es ist möglich«, sagte er in verbindlichem Ton, »daß die Verluste von Lord Ashley von einem Meisterhexer verursacht wurden, den ich mittlerweile aus meinen Diensten entlassen habe. Bis vor kurzem waren die Gewinne des Commanders beachtlich hoch. Der Meisterhexer, von dem ich sprach, mag beschlossen gehabt haben, dies ein wenig zu korrigieren. Sollte dies der Fall sein, so bin ich natürlich nicht selbst verantwortlich...« »Ah«, sagte Lord Darcy. »Also wurde Commander Lord Ashleys leichte hellseherische Fähigkeit von Master Ewen bezwungen.« Ohne den Blick von Sidi al-Nasir abzuwenden, sagte er zu Lord Ashley: »Was habt Ihr normalerweise gespielt, Lord Ashley?« »Rouge-et-Or«, sagte der Commander. »Ich verstehe. Dann wäre Hellsichtigkeit in einem solchen Spiel wenig nutzbringend, wenn ein Meisterhexer gegen einen arbeitet. Wenn Ihr auf irgendeine bestimmte Nummer setzt, dann sorgt der Meisterhexer dafür, daß die kleine Elfenbeinkugel fast nie in den richtigen Schlitz fällt, selbst wenn er aus einem anderen Zimmer heraus arbeitet.« Er blickte Sidi al-Nasir direkt in die Augen. »Ein gezielter Plan also. Ihr habt versucht, den Commander in Euren Dienst zu pressen, indem Euer Hexer ihn beim Spiel verlieren ließ.« »Wir hatten etwas derartiges erwartet«, sagte Lord Ashley fröhlich, »deshalb haben wir uns dann dazu entschlossen, abzuwarten, was Sidi al-Nasir dann wohl unternimmt.« Der Sidi al-Nasir zuckte mit den Schultern und behielt die Hände immer noch auf der Tischplatte. »Was immer auch geschehen sein mag«, sagte er, »ich versichere Euch, daß dieser Hexer nicht länger in meinem Dienst steht. Meine Informationen drängen mir allerdings die Vermutung auf, daß Ihr ihn wohl sehr gerne lokalisieren wollt. Es ist möglich, daß ich Euch dabei von Diensten sein kann. Ich könnte Euch mitteilen, wo sich Master -2 6 5
Ewen befindet. Wir sind schließlich alle vernünftige Leute, nicht wahr?« »Ich fürchte, Eure Information ist überflüssig«, fing Lord Darcy an. In diesem Augenblick wurde die Bürotür aufgestoßen, und Lord John Quetzal stürmte herein. »Aufgepaßt! Er entfernt sich! Er weiß, daß er verraten wird!« Noch während er sprach, schwang die hintere Tür auf, und Master Ewen MacAlister kam herausgerannt. Er lief auf die Tür zu, die für ihn die Freiheit bedeutete. Zwischen ihm und der Tür stand nur Lord John Quetzal. Der Schwarzmagier machte eine Handbewegung in Richtung des jungen Mechicaners. Lord John Quetzal warf die Hand hoch, um den Zauber anzuwehren, doch reichten seine Wanderhexerfähigkeiten nicht aus, um es mit einem Master aufzunehmen. Sein eigener Schutzzauber milderte den Zauber ab, konnte ihn jedoch nicht völlig unschädlich machen. Er schwankte und ging in die Knie. Er fiel nicht um, aber seine Augen wurden glasig, und er verblieb unbeweglich in seiner Stellung. Doch sein Augenblick des Widerstand, so kurz er auch angedauert hatte, genügte, um Master Ewens Flucht zu bremsen. Der falsche Prinz von Vladistov trat bereits in Aktion. Master Sean O Lochlainn riß sich den falschen Bart vom Gesicht und ließ sein Monokel zu Boden fallen. Lord Darcy bewegte sich nicht. Er brauchte jedes bißchen seiner Selbstbeherrschung, um die Pistole auf Sidi al-Nasir gerichtet zu halten. Der Mohr blieb auch bewegungslos und blickte nicht einmal von der Mündung der Pistole fort. Der Schwarze Hexer wirbelte herum, um Master Sean ins Gesicht blicken zu können, und zeichnete mit grimmiger Miene ein kompliziertes Symbol in dessen Richtung. Lord Darcy und jeder der anderen Anwesenden fühlte den Schub dieses hastig durchgeführten Zaubers. Master Ewen hatte die Zeit im Versteck offenbar dazu benutzt, vorbereitende Zauber durchzuführen, die ihn zur rechten Zeit schützen sollten. Eine halbe Sekunde lang schien -2 6 6
Master Sean, gegen den der Zauber sich richtete, einzufrieren. Aber dann hatte er sich auch schon gewappnet, weil er sich bei seiner Vorbereitung im Gegensatz zu seinem Gegner darüber im klaren sein konnte, mit wem er es zu tun haben würde. Master Seans Hand beschrieb ein Symbol in der Luft. Master Ewen zuckte zusammen, biß die Zähne aufeinander und zog einen langen weißen Stab aus seinem Gewand. Niemand sonst im Raum konnte sich bewegen, nicht einmal Lord Darcy. Sie blieben teilweise in ihren Stellungen, weil sie von der psychischen Spannung im Raum gebannt waren, teilweise aber auch, weil sie sehen wollten, wie das Duell der beiden Meisterhe xer ausgehen würde; der Hauptgrund aber waren die ungezielten Abstrahlungen der Zauber selbst, die sie unbeweglich machten. Außer Master Sean erkannte niemand den weißen Stab, den Master Ewen gezogen hatte. Master Sean aber wußte, daß er aus einem menschlichen Schenkelknochen gemacht worden war, und sofort hatte er einen Gegenzauber parat. Der Schenkelknochenstab wurde nach vorne gestoßen, und auf Master Ewens Lippen spielte ein übelwollendes Lächeln. Die Wirkung der Abstrahlung erstreckte sich über die unmittelbare Umgebung hinaus. In den Spielräumen draußen schienen die Spieler einen Augenblick lang zu Eis zu erstarren. Dann begannen die risikofreudigsten unter ihnen aus keinem erkennbaren Grund die waghalsigsten Einsätze zu tätigen. Ein Junge aus einer bekannten, äußerst begüterten Familie setzte fünfzig Goldsovereigns auf eine Position, die ihm selbst im Falle eines Gewinns allenfalls einen einzigen Silbersovereign gebracht hätte. In al-Nasirs Büro aber zuckte Lord John Quetzal plötzlich die Augen und wandte sein Gesicht ab, Lord Ashley begann, seinen Degen zu ziehen, und Sidi al-Nasir selbst stand schwankend von seinem Schreibtisch auf. Lord Darcys Hände zitterten, während er die Pistole immer noch auf den Sidi gerichtet hielt, ohne jedoch zu feuern. Doch Master Sean war es gelungen, selbst diesen Zauber abzumildern und unschädlich zu -2 6 7
machen, der ihn dazu bringen sollte, irgendeine unbedachte Handlung zu begehen. Mit fester Entschlossenheit schritt er auf Master Ewen zu, und als er sprach, war seine Stimme kalt und hart. »Im Namen der Gilde, Master Ewen - gebt auf Sonst bin ich nicht verantwortlich für das, was dann geschehen wird.« Master Ewens Antwort bestand aus drei wütenden, schmutzigen Schimpfwörtern. Wiederum fuhr der gebleichte Schenkelknochenstab nach vorn, und wiederum widerstand Master Ewen dem Anprall des Zaubers. Ohne Stab, ohne irgend etwas in der Hand, das ihn schützen konnte, hatte Master Sean den entscheidenden Schritt unternommen. Doch nicht den allerletzten, denn Master Ewen wiederholte seine Handlung. Er trat vor und stach wiederum mit dem kalkweißen Stab nach vorne. Er schritt nochmals vor. Ein weiterer Stoß. Ein weitere Schritt. Ein weiterer Stoß. Ein weiterer Schritt. Master Sean schritt zur Seite und behielt Master Ewen fest im Auge. Die Stöße des Schwarzen Zauberers zielten nicht mehr auf Master Sean, sondern auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Master Sean atmete tief durch. »Ich fange ihn wohl besser ein, bevor er gegen die Wand rennt.« Lord Darcy zielte mit seiner Pistole immer noch auf Sidi alNasir. »Was ist los mit ihm?« fragte er. »Er ist in einem Zeitkreis gefangen, My Lord. Ich habe seine Gedankenvorgänge verknotet. So denkt er die ganze Zeit im Kreis, immer wieder. Das wird er so lange tun, bis ich ihn davon befreie.«
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Trotz Master Ewens offensichtlich thaumaturgischer Gesten merkte jeder im Raum, daß der Abstrahlungseffekt verschwunden war. Was auch immer in Master Ewens Geist vorgehen mochte, es hatte keinerlei magische Auswirkung mehr. »Wie geht es Lord John Quetzal?« fragte Lord Darcy. »Sobald ich ihn von dem Betäubungszauber befreit habe, wird er wieder in Ordnung sein.« »Saubere Arbeit, Master Sean«, sagte Lord Darcy. »My Lord Ashley«, sagte er zu dem Marinecommander, »würdet Ihr so gut sein, an das nächste Fenster zu treten und um Hilfe zu rufen? Dieses Gebäude ist von den Wachmännern Londons umstellt.« Sir Frederique Bruleur, der Seneschall des Palace du Marquis, brachte drei Tassen Kaffee in De Londons Büro. Die erste Tasse stellte er mitten auf den Schreibtisch vo n My Lord Marquis, die zweite mitten auf den Schreibtisch von Lord Bontriomphe und die dritte an die Kante von Lord Bontriomphes Schreibtisch, neben dem Lord Darcy saß. Dann zog er sich schweigend zurück. My Lord Marquis nippte an seiner Tasse und starrte Lord Darcy böse an. »Ihr besteht auf dieser Gegenüberstellung, My Lord Cousin?« »Könnt Ihr eine andere Methode vorschlagen, wie wir an das Beweismaterial gelangen können, das wir brauchen?« fragte Lord Darcy ungerührt. Er hatte die Angelegenheit schon früher mit My Lord Marquis besprechen wollen, doch hatte dieser darauf bestanden, erst nach dem Essen darüber zu reden. Der Marquis nippte erneut an seinem Kaffee. »Nein, ich glaube nicht«, sagte er. Er sah Lord Bontriomphe an. »Ihr habt Master Ewen jetzt hinter Gitter gesperrt. Ich hoffe doch, daß er nicht entkommen kann?«
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»Er wird von drei Meisterhexern bewacht«, sagte Lord Bontriomphe. »Master Sean hat einen Zauber auf ihn gelegt, der ihn in völligem Stupor hält, bis wir ihn wieder davon befreien. Was wollt Ihr mehr?« Der Marquis von London schnaubte. »Ich will mir sicher sein, daß er nicht entkommen kann, was denn sonst?« Er blickte auf die Wanduhr. »Es ist jetzt drei Stunden her, daß Ihr die Verhaftungen im Manzana de Oro durchgeführt habt. Wenn sich Master Ewen noch immer in seiner Zelle befindet, dann will ich konzedieren, daß Ihr ihn gut bewacht haltet. Aber zum Thema: Was wißt Ihr bisher?« Lord Bontriomphe antwortete. »Master Ewen gibt fast alles zu. Er weiß, daß wir ihn wegen Spionage belangen können, wegen Schwarzer Magie, wegen thaumaturgischer Körperverletzung und versuchten Mordes an Demoiselle Tia Einzig. Das alles gibt er zu, aber weigert sich, einen Mord zu gestehen. Bis Master Sean ihn unter einen Beruhigungszauber setzte, redete er sich die Lippen wund; er gab alles zu, nur nichts, was seinen Kopf in die Schlinge gebracht hätte.« »Pah! Natürlich will er nur seine armselige Haut retten! Also gut. Was ist passiert? Ich habe Eure Berichte und die von Lord Darcy. Die Schlußfolgerungen sind offensicht lich. Was meint Ihr?« Er blickte Lord Bontriomphe voll in die Augen. Lord Bontriomphe zuckte die Schultern. »Ich bin nicht das Hausgenie hier. Ich werde Euch sagen, was Chief Hennely glaubt. Ich werde Euch von seiner Theorie erzählen, egal wie richtig oder falsch sie sein mag. Allerdings glaube ich nicht, daß sie in allen Einzelheiten stimmt. Jedenfalls hat Chief Hennely die Sache mit Lord Ashley beredet und mit Captain Smollett, also gebe ich Euch deren Theorien wieder, was immer sie taugen oder nicht taugen mögen. -2 7 0
Zunächst einmal brauchen wir uns wegen des Mordes in Cherbourg keine Gedanken zu machen. Er wurde von einem polnischen Agenten verübt, weil die Polen herausbekommen hatten, daß Barbour ein Doppelagent war. Und unsere Chancen, den Mörder noch zu fangen, sind denkbar gering. Der Mord an Sir James steht auf einem anderen Blatt. Da wissen wir, wer der Mörder ist und welche Waffe er benutzt hat. Wir wissen, daß Demoiselle Tia erpreßt wurde, daß Master Ewen damit gedroht hatte, ihren Onkel ermorden zu lassen, wenn sie seinen Befehlen nicht gehorchte. Sie gehorchte aber nicht und erzählte alles Sir James Zwinge. Natürlich mußte Master MacAlister Sir James aus dem Weg räumen, auch wenn das bedeutet, daß er damit den Kopf des europäischen Geheimdienstnetzes fällte und die Polen die ganze Arbeit, seinen Nachfolger zu identifizieren, wieder von vorne anfangen mußten. Was das wie angeht, so war der halbmondförmige Blutfleck, den Lord Darcy mir zeigte, der wichtigste Hinweis. Das ist doch einleuchtend, nehme ich an? Es war der Abdruck eines Absatzes. Und es gab nur ein Paar Schuhe im Hotel, das einen solchen Abdruck hinterlassen konnte - die hochhackigen Schuhe von Tia Einzig. Sehen wir uns das Beweismaterial an. Aus Meister Seans Bericht wissen wir, daß Sir James nicht um 9.30 Uhr erstochen wurde, als er nämlich schrie, sondern bereits gegen neun, eine halbe Stunde früher also. Die Wunde führte nicht sofort zum Tod.« Er blickte wieder Lord Darcy an. »Sir James lag ungefähr eine halbe Stunde bewußtlos auf dem Boden. Als er Master Seans Klopfen hörte, kam er lange genug aus seinem Koma, um nach Master Sean zu rufen und um zu versuchen, aufzustehen. Doch diese letzte Anstrengung gab ihm den Rest. Er fiel hin und starb. Stimmt Ihr dem zu?« »Ganz gewiß«, sagte Lord Darcy. »Anders kann es nicht geschehen sein. Das zeigen die Untersuchungen. Aber Ihr müßt immer noch eine Erklärung dafür finden, wie er in einem verschlossenen Raum erstochen werden konnte.« -2 7 1
»Es tut mir zwar leid, das sagen zu müssen«, sagte Lord Bontriomphe, »Aber Master Seans Aussage scheint mir ein wenig fehlerhaft zu sein. Da ein anderer Meisterhexer an der Arbeit war, ist es wohl nicht verwunderlich, wenn das Beweismaterial durcheinandergebracht wird. Folgendes muß geschehen sein: Master Ewen, der die Demoiselle Tia aus dem Weg schaffen mußte, entschloß sich, gleichzeitig Master Sir James unschädlich zu machen. Er verzauberte sie. Sie verschaffte sich Zutritt zu Master Sir James' Zimmer, erstach ihn in einem günstigen Augenblick und verließ das Zimmer, wobei ihr Absatz den bewußten Abdruck hinterließ.« Lord Bontriomphe lehnte sich zurück. »Wäre nicht dieser Abdruck da, ich würde wohl annehmen, daß Master Ewen Master Sir James mit einem Zauber verhexte, so daß sich dieser selbst das Leben nahm. Aber nicht einmal unter einem solch starken Zauber würde ihm das völlig gelingen, einen Menschen zum Selbstmord zu bewegen, auch nicht mit Magie.« Er blickte Lord Darcy an. »Wie Ihr ja am Beispiel von Demoiselle Tia selbst erfahren konntet, My Lord. Obwohl sie unter dem Zwang stand, von der Brücke springen zu müssen, versuchte sie dennoch, sich über Wasser zu halten.« »Das ist richtig«, sagte Lord Darcy, »fahrt ruhig fort.« »Wenn, wie gesagt, nicht dieser Abdruck wäre. Es wäre zwar immer noch möglich, aber den Abdruck muß mir dann erst einmal jemand erklären. Also ist die Demoiselle Tia wohl nicht wirklich des Mordes an Master Sir James schuldig, aber sie hat ihn vermutlich verübt, wobei Master Ewen nach ihrem Weggang von oben das Zimmer mittels eines Zaubers verschloß.« Der Marquis von London schnaubte laut und wollte etwas sagen, doch Lord Darcy wehrte ab. »Bitte, My Lord Cousin, ich halte es für unabdingbar, daß wir Lord Bontriomphes Theorie zu Ende hören. Fahrt bitte fort, My Lord.« -2 7 2
Lord Bontriomphe sah ihn mürrisch an. »Also gut; Ihr beiden Genies habt wieder alles im Griff. Ich mache ja nur die Fußarbeit, ich habe niemals behauptet, daß dies nicht der Fall wäre. Aber - wenn Euch diese Theorien nicht gefallen, hier habt Ihr eine andere. Wir haben Master Sean aufgrund der etwas wackeligen Beweislast verhaftet, daß sowohl er wie auch Sir James an einer Prozedur gearbeitet hatten, wie man mit thaumaturgischen Mitteln ein Messer handhaben kann. Angenommen, daß es auf diese Weise geschah? Wer hätte es tun können?« Er spreizte die Hände. »Ich möchte nicht sagen, daß es Sir James war, obwohl das möglich gewesen wäre. Aber wenn wir annehmen sollten, daß er auf diese umständliche Art Selbstmord begehen wollte, dann wäre das wohl geradezu lächerlich. Ebenso lächerlich wäre es, von einem Unfall auszugehen. Oder denkt Euch ein anderes Eigenschaftswort dafür aus, My Lord, ich will mich nicht darüber streiten. Wir wissen, daß Master Sean es nicht getan hat, weil er mindestens eine dreiviertel Stunde dazu benötigt hätte und weil, wie Großmeister Sir Lyon sagt, höchstens eine einzige Wand zwischen dem Hexer und seinem Opfer sein darf, so daß er über eine halbe Stunde lang draußen in der Halle einen komplizierten Zauber hätte durchführen müssen, ohne entdeckt zu werden.« Er wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Lassen wir Master Sean also ruhig aus dem Spiel.« »Wie nett von Euch!« murmelte Lord Darcy. »Wer bleibt übrig? Niemand, den wir kennen. Aber hätte Master Ewen nicht auch auf diese Methode kommen können? Denn wenn zwei Meisterhexer so etwas unabhängig voneinander entdecken können, warum sollte es nicht auch einem Dritten gelingen? Vielleicht hat er das Rezept ja auch gestohlen, ich weiß es nicht. Aber ist es nicht möglich, daß Master Ewen die Waffe in Master Sir James' Brust hexte?« -2 7 3
Lord Darcy wollte etwas sagen, doch diesmal war es der Marquis von London, der unterbrach. »Großer Gott!« sagte er grollend. »Und ich habe diesen Mann auch noch ausgebildet!« Er wandte sich an Lord Bontriomphe. »Und würdet Ihr dann vielleicht die Güte haben, zu erklären, was mit der Waffe geschah? Wo ist sie denn hin verschwunden?« Lord Bontriomphe zuckte verlegen zusammen und antwortete nicht. Statt dessen sah er Lord Darcy an. »Ihr seht wohl ein, daß die Wunde, die im Autopsiebericht beschrieben wurde«, sagte Lord Darcy ruhig, »nicht von einem Dolch verursacht werden konnte, dessen Klinge ein gleichschenkliges Dreieck bildet? Was aber viel wichtiger ist: Ein Dolch aus reinem Silber ist zwar härter als reines Gold, aber auch weicher als reines Blei. Wenn der Dolch eine solche Wunde verursacht hätte, dann hätte das Spuren in der Klinge hinterlassen müssen. Die Waffe war aber immer noch rasiermesserscharf. Folglich wurde Master Sir James nicht mit seinem eigenen Dolch erstochen; ebenso folglich befand sich die Tatwaffe nicht im Tatzimmer.« Lord Bontriomphe starrte Lord Darcy eine sehr lange Sekunde an und drehte sein Gesicht dem Marquis von London zu. »Gut, gut. Wie ich schon sagte, ich mag diese beiden Hypothesen auch nicht, weil sie den Abdruck nicht erklären; und jetzt erklären sie nicht einmal den fehlenden Dolch. Also bleibe ich bei meiner ursprünglichen Theorie und verändere sie nur geringfügig: Tia brachte ihr eigenes Messer mit und nahm es wieder fort.« Der Marquis von London geruhte nicht einmal, von seinem Schreibtisch aufzublicken. »Höchst unzufriedenstellend, My Lord«, sagte er, »höchst unzufriedenstellend.« Dann sah er Lord Bontriomphe an. »Und -2 7 4
Ihr wollt also die Demoiselle Tia anklagen? Ha! Aufgrund welcher Beweise denn?« »Nun ja, aufgrund ihres Abdrucks«, sagte Lord Bontriomphe und lehnte sich vor. »Es war schließlich Master Sir James' Blut, nicht wahr? Und wie sollte sie es an ihren Absatz bekommen, wenn Master Sir James nicht zuvor den halben Fußboden vollgeblutet hätte?« Der Marquis von London blickte gequält an die Zimmerdecke. »Wäre ich kleineren Gemüts«, sagte er umständlich, »so wäre dies mehr, als ich verkraften könnte. Eure Folgerungen wären ja völlig korrekt, Bontriomphe - wenn das Demoiselle Tias Abdruck wäre. Aber das ist er natürlich nicht.« »Wessen denn?« sagte Bontriomphe pikiert. My Lord der Marquis schloß die Augen und sagte, offenbar zu Lord Darcy: »Ich will nicht länger darüber reden. Es wird mir völlig genügen, wenn ich die heutige Abendbesprechung leiten darf, für die wir übrigens Genehmigung von höchster Stelle erhalten haben. Ich werde wiederkommen, wenn unsere Gäste eingetroffen sind.« Er erhob sich und schritt auf die Tür zu, doch drehte er sich plötzlich um. »Würdet Ihr in der Zwischenzeit die Güte besitzen, Lord Bontriomphe sein Hirngespinst von Tias Schuhabdruck zu vertreiben?« Dann war er verschwunden. Lord Bontriomphe atmete tief durch und schien den Atem gute drei Minuten angehalten zu haben, bevor er etwas sagte. »Also gut«, sagte er schließlich, »ich habe ja gesagt, daß ich nicht das Genie hier im Lande bin. Offenbar habt Ihr in diesem Fall eine ganze Menge mehr wahrgenommen als ich. Wir werden tun, was My Lord von London vorschlug. Wir werden sie alle hier hochholen und mit ihnen reden.« Dann schlug er auf seine Schreibtischplatte. »Aber beim Himmel! Eine Sache will ich aber wirklich wissen. Warum sagt Ihr, daß der Schuhabdruck nicht von Demoiselle Tia war?« -2 7 5
»Weil, mein lieber Bontriomphe«, sagte Lord Darcy langsam, »dieser Schuhabdruck gar kein Schuhabdruck war.« Er schwieg eine Weile. »Wenn es einer gewesen wäre, dann hätte das Gewicht des Körpers das Blut tief in die Teppichfibern gedrückt. Aber Ihr werdet zugeben, daß dies nicht der Fall war, oder? Daß das Blut nur die Spitzen der Teppichhaare getränkt hat und nicht bis zum Boden durchgesickert ist?« Lord Bontriomphe schloß die Augen und sah innerlich die Szene vor sich. Dann sagte er: »Also gut, dann habe ich mich also geirrt. Der Blutfleck war kein Schuhabdruck. Wo habe ich mich denn dann in die Irre führen lassen?« »Darin«, erklärte Lord Darcy, »daß Ihr vermutetet, daß es ein Blutfleck war.« Lord Bontriomphes Stirnrunzeln vertiefte sich. »Jetzt erzählt mir bloß nicht, daß es kein Blutfleck war!« »Nicht genau«, sagte Lord Darcy. »Es war nur ein halber Blutfleck.« An diesem Abend befanden sich neun Gäste im Büro von My Lord dem Marquis von London. Sir Frederique Bruleur hatte acht der gelben Stühle hereingetragen. Lord Bontriomphe und der Marquis saßen an ihren Schreibtischen. Lord Darcy saß links von Bontriomphes Schreibtisch in dem roten Sessel, so daß er die anderen sehen konnte. Von links nach rechts sah er in der ersten Reihe Großmeister Sir Lyon Gandolphus Grey, Mary von Cumberland, Captain Percy Smollett und Commander Lord Ashley. In der zweiten Reihe saßen Sir Thomas Leseaux, Lord John Quetzal, Father Patrique und Master Sean O Lochlainn. Hinter ihnen stand Chief Hennely Grayme, der Sir Frederique mitgeteilt hatte, daß er lieber stehen wolle. Sir Frederique hatte Getränke serviert und hatte sich dann zurückgezo gen. My Lord der Marquis von London musterte die Anwesenden der Reihe nach und begann: »My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen.« -2 7 6
Noch einmal schweifte sein Blick in die Runde. »Ich will nicht sagen, daß es sehr freundlich von Euch war, hierherzukommen. Ihr seid nicht per Einladung hierher gekommen, sondern per Dekret. Nichtsdestoweniger seid Ihr alle, mit einer Ausnahme, lediglich als Zeugen geladen worden, um bei der Wahrheitsfindung dienlich zu sein, und mit einer Ausnahme bitte ich Euch, Euch alle als meine Gäste zu betrachten.« Er machte eine kurze Pause und atmete einmal tief durch. »Es ist meine Pflicht, Euch darauf hinzuweisen, daß Ihr die Euch gestellten Fragen zu beantworten habt. Nicht nur etwa, weil ich, als Lord von London, Euch um Eure Mitarbeit gebeten hätte, sondern weil Ihr hier auf Befehl Seiner Meist Gefürchteten Majestät, Unseres Königs herzitiert wurdet. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Neun Köpfe antworteten mit einem Nicken. »Es ist dies also«, fuhr My Lord Marquis fort, »ein Untersuchungsgericht, wobei ich selbst als Richter der Königlichen Justiz fungiere. Lord Bontriomphe ist in seiner Funktion als Königlicher Gerichtsbeamter anwesend. Das mag zwar ungewöhnlich erscheinen, ist jedoch in vollem Einklang mit dem Gesetz. Habe ich auch das klar ausgedrückt?« Wiederum nickten alle. »Sehr gut. Ich brauche es wohl kaum zu erwähnen, obwohl ich durch das Gesetz dazu verpflichtet bin, daß alles, was Ihr hier aussagt, von Lord Bontriomphe protokolliert wird und gegen Euch verwendet werden kann. Hochwürden Father Patrique, O.B.S., ist hier in seiner Eigenschaft als amicus curia, als beglaubigter Sensitiver der Heiligen Mutter Kirche. Als offizieller Wachsergeant ist der Oberwachtmeister von London, Chief Hennely Grayme, anwesend. Die Krone wird vertreten durch Lord Darcy, zur Zeit Rouen, Chefinspektor Seiner Königlichen Hoheit Prinz Richard, Herzog der -2 7 7
Normandie. Obwohl dieses Gericht ein Vorschlagsrecht hat, kann jeder, der hier angeklagt werden sollte, Berufung bei jedem Gericht einlegen, das Seine Meist Gefürchtete und Souveräne Majestät der König zu berufen beliebt, wobei ein Verteidiger eigener Wahl bemüht werden darf.« My Lord Marquis räusperte sich. »Ist all das verstanden worden? Ich bitte um hörbare Antwort.« Ein bunter Chor von Stimmen sagte: »Jawohl, My Lord.« »Also gut.« Er erhob seinen schweren Körper, und alle standen auf. »Würdet Ihr bitte den Eid abnehmen, Hochwürdiger Father.« Als jedem der Eid abgenommen worden war, setzte sich My Lord der Marquis mit wohligem Ächzen wieder hin. »Bevor wir nun fortfahren: Gibt es noch irgendwelche Fragen?« Er sah, daß dies nicht der Fall war, hob den Kopf um ein Zoll in die Höhe und sah Lord Darcy an. »My Lord Kronanwalt, bitte beginnt.« Lord Darcy erhob sich aus seinem Lederstuhl, verneigte sich vor dem Gericht und sagte: »Ich danke Euch, Euer Ehren. Darf ich während der Beweisaufnahme sitzen?« »Das dürft Ihr. Nehmt Platz.« »Ich danke Euch, My Lord.« Lord Darcy setzte sich wieder. Er blickte jeden einzelnen nach dem anderen an und sagte: »Wir haben es hier mit einem Fall von Hochverrat und Mord zu tun. Obwohl ich weiß, daß die meisten von Euch mit den Fakten vertraut sind, muß ich von Gesetzes wegen annehmen, daß dies nicht der Fall ist. Also muß ich diese Akten der Reihe nach behandeln. Die Beweise für meine einleitende Darstellung werde ich im Anschluß daran vorbringen. Vor drei Tagen wurde kurz vor elf Uhr morgens, am -2 7 8
Dienstag, dem 25. Oktober Anno Domini Eintausendneunhundertundsechsundsechzig, ein Mann namens George Barbour in einer billigen Pension in Cherbourg erstochen. Edelmann George war, wie die dem Gericht noch vorzulegenden Unterlagen beweisen, ein Doppelagent, der also vorgab, für den Geheimdienst Seiner Slawischen Majestät König Casimir IX zu arbeiten, tatsächlich aber im Sold unseres Reichsmarine-Nachrichtenkorps stand; soweit das Beweismaterial Aussagen darüber zu machen imstande ist, stand er dem Reich loyal gegenüber. Captain Smollett, würdet Ihr das bezeugen?« »Jawohl, My Lord Kronanwalt.« »Kurz nachdem er ermordet wurde«, fuhr Lord Darcy fort, »meldete Commander Lord Ashley vom ReichsmarineNachrichtenkorps den Wachbehörden von Cherbourg den Fund der Leiche von Edelmann Barbour. Er meldete ferner, daß er den Auftrag gehabt hatte, Edelmann Georges einhundert Goldsovereigns zu überreichen, weil dieser Doppelagent diese Summe einem gewissen Edelmann Fitzjean zahlen mußte.« Stück für Stück schilderte Lord Darcy den Anwesenden den Fall, wobei er keine Einzelheit ausließ, mit Ausnahme der genauen Funktion des Konfusionsprojektors, den er als ›hochwichtige, streng geheime Marinesache ‹ beschrieb. Er schilderte die Entdeckung des Mordes an Sir James Zwinge, den Angriff auf die Demoiselle Tia, den Kampf auf der Brücke, die Aussage von Demoiselle Tia, die Entdeckung der Leiche von Edelmann Paul Nichols und die Suche und Festnahme von Master Ewen MacAlister. »Die Fragen, vor die sich das Gerecht gestellt sieht«, sagte Lord Darcy, »lauten: Wer hat diese drei Männer getötet? Und warum? Es ist die Überzeugung der Krone, daß es eine einzige Person ist, die für alle drei Tode verantwortlich ist.«
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Er blickte in die Runde und versuchte, den Ausdruck auf den Gesichtern zu deuten. Keiner verriet Schuldbewußtsein, nicht einmal das Gesicht der Person, von der Lord Darcy wußte, daß sie schuldig war. »Ich sehe, daß Ihr eine Frage habt, Captain Smollett. Stellt bitte diese Frage. Nein, bleibt ruhig sitzen.« Captain Smollett räusperte sich. »My Lord.« Wiederum räusperte er sich. »Da wir den Schuldigen bereits unter Arrest haben, darf ich fragen, wozu diese Befragung dienen soll?« »Weil wir den Schuldigen eben noch nicht unter Arrest haben, Captain. Egal, was er sonst noch für Verbrechen begangen haben mag, eines Mordes ist Master Ewen nicht schuldig, schon gar nicht eines dreifachen.« Captain Smollett sagte »Hmph!« und schwieg. »My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen, Ihr habt vor Euch das ganze relevante Beweismaterial. Es ist jetzt meine Aufgabe als Anwalt der Krone, diese Tatsachen zu einer sinnvollen Verknüpfung zu führen. Legen wir zunächst einmal die Theorie beiseite, daß Master Ewen MacAlister mehr als nur entfernt mit den Morden zu tun gehabt hat. Es ist richtig, daß er ein Agent Seiner Slavischen Majestät war, der mit dem Besitzer des Manzana de Oro zusammenarbeitete, dem Sidi al-Nasir. Die Beweise dafür können später vorge legt werden; gehen wir zunächst einmal von der Richtigkeit dieser Feststellungen aus.« Er wandte sich an Captain Smollett. »Captain.« »Ja, My Lord?« »Ich möchte eine hypothetische Frage stellen, die aus Gründen der Sicherheit hypothetisch bleiben soll. Wenn Euch die Identität des polnischen Geheimdienstchefs für Frankreich und die Britischen Inseln bekannt wäre... ich sage ausdrücklich wäre, würdet Ihr ihn ermorden lassen?« Captain Smolletts Augen verschmälerten sich. »Nein, My Lord, niemals.« -2 8 0
»Warum nicht, Captain?« »Wäre dumm, My Lord, einfach dumm. Jawohl. Solange wir wissen, wer es ist... eh... wenn wir wüßten, wer es ist, solange wäre es ein viel größerer Vorteil für uns, wenn wir ihn beobachten könnten; um dafür Sorge zu tragen, daß er die Informationen bekommt, die wir ihm geben wollen, anstatt der Information, die er haben will. Damit würden wir auch leichter an die anderen polnischen Agenten herankommen. Ist viel leichter, den Körper zu beobachten, wenn man den Kopf erkannt hat, My Lord.« »Würdet Ihr dann auch sagen, daß es sehr dumm vom polnischen Geheimdienst gewesen wäre, Sir James Zwinge zu ermorden?« »Sehr, sehr dumm, My Lord. Keine gute Geheimdiensttaktik. Überhaupt nicht.« »Auch nicht, wenn Master Sir James herausbekommen hätte, daß Master Ewen für die Polen arbeitet?« »Hm, hm! Wahrscheinlich auch dann nicht. Wäre viel klüger gewesen, Master Ewen abzuziehen, ihm eine neue Identität an einem anderen Posten zu geben.« »Danke, Captain Smollett. »Also! Wie Ihr alle gemerkt habt, ist es fraglich, daß Master Ewen diesen Mord mittels Schwarzer Magie hätte begehen können, ohne dabei aufzufallen. Ich behaupte, My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen, daß er es nicht konnte. Father Patrique.« Er sah den Benediktiner an. »Ihr habt Master Ewen nach seiner Verhaftung untersucht. Sagt mir doch bitte, ob Master Ewens Talent so stark, so mächtig und so wirkungsvoll ist wie das von Master Sean O Lochlainn?« »My Lord Kronanwalt«, sagte Father Patrique und verneigte sich auch vor dem Gericht, »... ich möchte meinen, daß me ine Aussage, obschon ausreichend, sicher nicht die kompetenteste ist. Um Eure Frage zu beantworten, My Lord, möchte ich sagen, daß Master Ewens Talent viel schwächer als das von Master -2 8 1
Sean ist. Aber ich möchte doch darauf hinweisen dürfen, daß dies nicht das beste Beweismaterial ist. Bedenkt vielleicht lieber die relative Mühelosigkeit, mit der Master Sean Master Ewen im Krieg der Willen im Manzana de Oro besiegte. Bedenkt, wie einfach es war, in Master Ewens Raum einzudringen und seinen Reisesack zu öffnen.« »Gut«, sagte Lord Darcy. »Also frage ich Euch: Würdet Ihr bezeugen, daß Master Seans Talent wesentlich machtvoller ist als das von Master Ewen?« »Das bezeuge ich, My Lord.« Lord Darcy sah Großmeister Sir Lyon Gandolphus Grey an. »Könnt Ihr dem noch etwas hinzufügen, Großmeister?« Sir Lyon nickte. »Mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich Commander Lord Ashley eine Frage stellen dürfen.« »Stattgegeben«, dröhnte De London. »My Lord Commander«, sagte Sir Lyon. »Ihr habt den Untersuchungsbeamten den Gebrauch des Tarnhelm-Effekts beschrieben, den Master Ewen auf seinem Kurzschwert liegen hatte. Würdet Ihr vielleicht...« »Einen Augenblick«, sagte Lord Darcy. »ich möchte, daß My Lord Commander direkt aussagt. Bitte, Lord Ashley.« »Selbstverständlich, My Lord.« Lord Darcy blickte Sir Lyon an. »Ihr wollt eine Beschreibung des Kampfes auf der Somerset Bridge, Sir Lyon?« »Ja bitte, My Lord.« Lord Ashley beschrieb genauestens den Schwertkampf. »My Lord Commander«, sagte Sir Lyon dann, »was für ein Schwert trug Master Ewen denn?«
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»Ein Kurzschwert, Großmeister. Ein Schwert mit einer dreieckigen Griffkreuzung, kantenlos, ungefähr zweieinhalb Fuß lang, mit sehr scharfer Spitze.« Sir Lyon nickte. »Ihr habt es gesehen. Als er es dann benutzte, verschwand es da?« »Es verschwand nicht richtig, Sir Lyon, es... es flackerte, es ist schwer zu beschreiben. Ich konnte es einfach nicht im Auge behalten. Aber ich wußte immer, daß es da war.« »Danke, Commander«, sagte Sir Lyon. »Wenn das Gericht es gestattet, will ich nun aussagen. Ein wirklich mächtiger Hexer, wie Master Sir James und Master Sean Lochlainn...« »Oder Ihr selbst?« fragte Lord Darcy plötzlich. Sir Lyon lächelte. »... oder ich selbst, wenn Ihr darauf bestehen wollt, My Lord Kronanwalt. Jeder mächtige Hexer hätte sein Schwert so unsichtbar machen können, daß man es überhaupt nicht wahrgenommen hätte.« »Danke«, sagte Lord Darcy. »Ich möchte dem Gericht folgende Frage stellen: Ist es möglich, daß ein Mann von solch beschränktem Talent wie Master Ewen, auch wenn dieser den Grad eines Masters inne hat, ein Schwarzmagisches Ritual durchführen kann, ohne daß weder Master Sean O Lochlainn noch die gemeinsamen Talente anderer Master der Gilde dies entdecken konnten?« »Völlig unmöglich«, sagte Sir Lyon. Lord Darcy blickte sich um und sah den Benediktiner an. »Was meint Ihr, Hochwürden?« »Ich stimme mit Großmeister Sir Lyon Grey völlig überein, My Lord«, sagte Father Patrique ruhig. Lord Darcy wandte sich an den Marquis von London. »Wird es vonnöten sein, My Lord, dem Hohen Gericht die Aussagen von Master Sean O Lochlainn vorzulegen, die besagen, daß er -2 8 3
im Mordfall Zwinge keinen Gebrauch Schwarzer Magie feststellen konnte?« »Ihr mögt fortfahren, My Lord. Sollten diese Beweise vonnöten sein, so wird Master Sean um eine Aussage gebeten werden.« »Danke, My Lord.« Lord Darcys Blick schweifte wieder in die Runde. »Wir haben also den Beweis vor uns, daß Master Sir James Zwinge durch gewöhnliche Anwendung körperlicher Gewalt ums Leben gekommen ist. Bei seiner Ermordung war keine Schwarze Magie mit im Spiel, und doch besagt das Beweismaterial, daß er sich allein in seinem Zimmer aufhielt, als er gegen neun Uhr erstochen wurde und eine halbe Stunde später starb. Wie kann das sein? Ich möchte darauf hinweisen, daß wir viel zu leicht geneigt sind, eine magische Erklärung zu akzeptieren, wo eine einfache physische Erklärung es auch tun würde.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, doch bevor er fortfahren konnte, hob Sir Thomas Leseaux seine Hand. »Wenn ich darauf hinweisen darf, My Lord, so möchte ich feststellen, daß jede Erklärungstheorie, die thaumaturgische Mittel einschließt, mathematisch unmöglich ist. Aber andererseits kann ich mir nicht vorstellen, wie jemand mitten in einem abgeschlossenen Raum umgebracht werden kann.« »Deswegen muß ich die Vermutung der Krone erklären«, sagte Lord Darcy. »Obwohl alle Beweise, das möchte ich doch hier wiederholen, vor Euch liegen. Was wir bisher übersehen haben, das ist die Tatsache, daß man nicht in einem Raum mit jemandem sein muß, um ihn umbringen zu können. In Edelmann Georges Barbours Zimmer befand sich niemand anders, als er erstochen wurde, das ist wahr; andererseits fiel er aber so nahe bei der Tür zu Boden, daß es durchaus möglich gewesen ist, daß ihn jemand erdolcht hat, der in der Halle vor dem Zimmer stand.« -2 8 4
»Ich weiß nicht«, sagte Commander Lord Ashley, »das mag zwar noch für den Fall Barbour gelten, aber bei Master Sir James war das ja wohl nicht der Fall.« »Aber doch!« sagte Lord Darcy. »Mit dem richtigen Werkzeug kann Master Sir James auch von der Halle aus erstochen worden sein.« »Aber - durch eine verriegelte Tür hindurch?« fragte Lord John Quetzal. »Warum nicht?« fragte Lord Darcy. »Verriegelte Türen sind nicht undurchdringbar. Die Türen im Royal Steward sind sehr alt, mehrere hundert Jahre alt sogar. Schaut Euch doch nur die riesigen Schlüssel an, die man zum Öffnen und Verschließen braucht! Und dann die ebenso riesigen Schlüssellöcher! Obwohl die Tür zum Zimmer von Master Sir James abgeschlossen war, war das Schlüsselloch doch groß genug, um eine einzöllige Klinge durchzulassen.« Lord Darcy sah Master Sean O Lochlainn an. »Ihr habt eine Frage, Master Sean?« »In der Tat, My Lord. Ich stimme Euch zu, daß die Klinge, mit der Master Sir James ermordet wurde, durch das Schlüsselloch eingeführt wurde. Auf Euren Vorschlag hin habe ich das Schlüsselloch ausgeschabt und Spuren von Master James' Blut darin gefunden. Aber wenn Euer Lordschaft gestatten«, sagte er lächelnd, »dann möchte ich gerne einmal vorführen, wie ein Mann durch ein Schlüsselloch hindurch erstochen werden kann, um eine solche Wunde zu erhalten, wie das bei dem Ermordeten der Fall war.« »Dem stimme ich zu«, sagte Lord Darcy. »Zunächst muß ich die Aufmerksamkeit des Gerichts auf den merkwürdigen Blutfleck nahe der Tür lenken. Im schriftliche n Bericht wird dieser Fleck detailliert beschrieben.« My Lord der Marquis nickte. »Das ist richtig. Fahrt fort, My Lord Kronanwalt.« -2 8 5
Lord Darcy drehte sich Lord Bontriomphe zu. »Würdet Ihr Sir Frederic darum bitten, die Tür hereinzubringen?« Lord Bontriomphe griff hinter sich und zog an einer Klingelstrippe. Die Hintertür öffnete sich, und Sir Frederic trug mit einem Helfer zusammen eine schwere Eichentür in den Raum. Sie stellten die Tür zwischen den Schreibtisch des Marquis und die anderen Anwesenden und stützten sie aufrecht ab. »Diese Vorführung ist notwendig«, sagte Lord Darcy. »Die Tür ähnelt der von Sir James' Zimmer haargenau. Sie wurde bei einem anderen Zimmer im Royal Steward abmontiert. Können alle beide Seiten der Tür sehen? Gut. Master Sean, würdet Ihr jetzt bitte einmal die Rolle Eures verstorbenen Kollegen spielen?« »Sehr wohl, My Lord.« »Ausgezeichnet. Ihr stellt Euch also bitte auf diese Seite der Tür, so daß sich Türgriff und Schlüsselloch zu Eurer Linken befinden, so ja, sehr gut! Ich werde die Rolle des Mörders übernehmen.« Er hob ein Blatt Papier von Lord Bontriomphes Schreibtisch auf. »Jetzt wollen wir einmal sehen. Lord Ashley, darf ich einmal Euren Degen haben?« Wortlos zog Commander Ashley seinen schmalen Marinedegen aus der Scheide und überreichte ihn Lord Darcy. »Ich danke Euch, Commander. ihr habt uns während dieser ganzen Untersuchung sehr geholfen. So, Master Sean, haltet Euch bereit, das kleine Theaterstück fängt an. Ihr müßt jetzt alle davon ausgehen, daß die Handlung zwar so abgelaufen ist, wie ich sie jetzt vorführen werde, daß aber die Worte, die gesprochen werden, nicht genau den Ablauf wiedergeben. Es mag da kleinere Abweichungen gegeben haben.« Lord Darcy schritt auf eine Seite der Tür zu, hinter der Master Sean stand und wartete. Er klopfte an. -2 8 6
»Wer ist dort?« fragte Master Sean. »Sonderkurier der Admiralität«, sagte Lord Darcy mit hoher, verstellter Stimme. »Ihr solltet doch den Umschlag unten abholen«, sagte Master Sean. »Ich weiß, Sir James«, sagte Lord Darcy, »aber es handelt sich um eine Sonderbotschaft von Captain Smollett.« »Also gut«, sagte Master Sean, »dann schiebt sie unter der Tür durch.« »Ich darf sie Euch aber nur eigenhändig übergeben«, sagte Lord Darcy und streckte die Spitze der Klinge in das Schlüsselloch. »Schiebt sie einfach unten durch, und ich nehme sie entgegen«, sagte Master Sean, »auf diese Weise habt Ihr dann Euren Auftrag erfüllt.« »Sehr wohl, Sir James«, sagte Lord Darcy. Er kniete nieder und schob das Papier teilweise unter der Tür durch, wobei er die Degenspitze immer noch im Schlüsselloch beließ. Master Sean beugte sich an der anderen Seite vor, um das Papier aufzuheben. In diesem Augenblick stieß Lord Darcy den Degen durch das Schlüsselloch. Als die Degenspitze die Brust von Master Sean berührte, war ein metallenes Kratzen zu vernehmen. Sofort zog Lord Darcy den Degen zurück. Master Sean keuchte sehr realistisch, schwankte ein paar Schritte rückwärts und fiel plumpsend zu Boden. Lord Darcy zog das Papier wieder unter der Tür hervor und stand auf. »Master Sean«, sagte er, »hat das Glück, ein ausgezeichnetes Kettenhemd zu tragen, was bei Master Sir James leider nicht der Fall war. Ihr habt also gesehen, was geschah. Als er sich vorbeugte, stieß der Degen vor und traf ihn. Ein einziger Blutstropfen fiel, zur Hälfte auf den Teppich, zur anderen Hälfte -2 8 7
auf die angebliche Botschaft. Die Degenklinge selbst verhinderte den Blutfluß solange, bis sie zurückgezogen wurde und Sir James zurücktorkelte. Er fiel im Schock zusammen. Seine Wunde war zwar tief, aber noch nicht unbedingt lebensgefährlich, da die Klinge keins der wichtigen Blutgefäße durchstoßen hatte und auch die Lunge noch intakt war. Er blutete, aber nicht sehr stark. Er lag dort ungefähr eine halbe Stunde lang. Aber die Klinge hatte trotzdem die Lungenschlagader angeschnitten, so daß sie nur noch von einer dünnen Membran intakt gehalten wurde. Um halb zehn klopfte Master Sean, der eine Verabredung mit Sir James hatte, an die Tür. Das Klopfen weckte Master Sir James aus seinem Stupor. Er mußte gewußt haben, daß eine gewisse Zeit verstrichen war und daß es Master Sean war, der an die Tür klopfte. Er zog sich am Schreibtisch hoch, auf dem der Türschlüssel und sein silberner Kontaktzerschneider lagen. Er rief Master Sean um Hilfe. Diese verstärkte Anstrengung aber war zuviel für die dünne Membrane. Das Blutgefäß platzte, er fiel erneut zu Boden, und riß dabei Schlüssel und Dolch mit sich. Er starb innerhalb weniger Sekunden.« Master Sean stand auf und staubte seine Magierrobe sorgfältig ab. Sir Frederique und sein Gehilfe trugen die Tür wieder fort. »Mit Verlaub«, sagte Master Sean, »der Winkel, in dem My Lord Darcy zugestochen hat, würde die Art der Wunde von Master Sir James zweifelsfrei erklären.« Lord Darcy legte den Degen sorgfältig auf Lord Bontriomp hes Schreibtisch. »Ihr habt also gesehen«, sagte er, »wie Master James ermordet wurde und wie er starb. Nun zu den Ereignissen selbst. Wir müssen uns wieder mit dem geheimnisvollen Edelmann Fitzjean beschäftigen. An diesem Dienstagmorgen fand er heraus, daß Edelmann Georges ein Doppelagent war. Er mußte ihn töten. Er klopfte an Georges' Zimmertür, Edelmann George -2 8 8
öffnete, Fitzjean stach zu und ermordete ihn. Es gab natürlich keinen Hinweis darauf, daß irgend jemand in Georges' Zimmer gewesen war, weil dies eben nicht der Fall war. Fitzjean stand während der Tat vor der Tür. Barbour hatte Fitzjeans Identität bereits zuvor erraten und hatte an diesem Morgen einen Brief an Zett geschickt - an Sir James Zwinge also. Um sein Inkognito wahren zu können, kam Fitzjean hierher nach London. Er konnte eine Botschaft abfangen, die, so glaubte er, seine Identität der Admiralität preisgab. Er dachte, daß es Barbours Brief an die Admiralität sei. Sofort ging er hoch zu Sir James' Zimmer und bewegte diesen mit der schon vorgeführten Finte dazu, sich vor dem Schlüsselloch niederzubeugen. Das Ergebnis haben wir schon gesehen. Ihr wißt also alle schon, wer der Mörder ist. Aber glücklicherweise haben wir noch mehr Beweise. Er hatte nicht damit gerechnet, daß er einen Fehler gemacht haben könnte. Er war davon ausgegangen, daß ein Brief, den Barbour am Morgen des Dienstags, am 25. Oktober also, abgeschickt hatte, früh am Mittwoch morgen, also am 26., ankommen würde. Er nahm ferner an, daß Barbour diesen Brief ins Royal Steward geschickt hatte und daß dieser Brief in dem Umschlag enthalten sei, den Sir James an die Admiralität adressiert hatte. Aber er erkannte nicht, daß Barbour vielleicht überhaupt nicht gewußt hatte, daß Sir James sich im Royal Steward aufhielt, ja, daß es sogar viel wahrscheinlicher war, daß er den Brief an den Palace du Marquise geschickt hatte.« Er stand auf und schritt auf den Schreibtisch des Marquis zu. »Darf ich einmal den Umschlag haben, Euer Ehren?« Wortlos reichte ihm der Marquis von London einen blaßblaue n Umschlag. Lord Darcy betrachtete ihn. »Der Poststempel zeigt Cherbourg, Dienstag, den 25. Oktober; angekommen ist der Brief am Mittwoch, dem 26. Oktober, und zwar morgens. Er ist an Sir James Zwinge adressiert.« -2 8 9
Er wandte sich wieder der Gruppe zu und bemerkte mit Genugtuung, daß Chief Hennely sich genau hinter einen der Anwesenden gestellt hatte. »Diese Botschaften und Meldungen hatten eine Eigenart«, fuhr er fort. »Master Sir James hatte seinen Agenten besonderes Papier und Spezialtinte ausgehändigt, ein besonderes blaues Siegelwachs und eine besondere Petschaft. Diese waren magisch präpariert worden, so daß das Papier, wenn es nicht entweder von Master Sir James oder Captain Smollett geöffnet wurde, nur eine leere Fläche zeigte. Stimmt das, Captain Smollett?« »Jawohl, My Lord.« Lord Darcy sah wieder auf den Umschlag in seiner Hand. »Deswegen ist der Umschlag auch bisher nicht geöffnet worden. Nur Ihr könnt ihn öffnen, Captain, und wir haben Grund zur Annahme, daß er Euch die Identität des sogenannten Edelmanns Fitzjean, des Mörders von Sir James, offenbaren wird. Würdet Ihr ihn nun bitte öffnen?« Der Marineoffizier nahm den Umschlag und brach das Siegel auf; dann entnahm er ihm ein Blatt Papier. »An Sir James adressiert«, sagte er. »Barbours Handschrift. Erkenne sie.« Er las nicht den ganzen Brief. Als er ihn zur Hälfte gelesen hatte, wandte er den Kopf nach links und rief: »Ihr!« mit schockierter, wütender Stimme. Commander Lord Ashley sprang auf und griff mit der rechten Hand an seine Seite. Da bemerkte er plötzlich, daß sein Degen auf Lord Bontriomphes Schreibtisch lag. In gleichem Augenblick bemerkte er auch, daß sich etwas in seinen Rücken bohrte. Oberwachtmann Chief Hennely hielt die Pistole fest und sagte: »Keine Gegenwehr, My Lord. Ihr habt schon ge nug gemordet.« -2 9 0
Ashley öffnete den Mund, schloß ihn wieder und schluckte. Seine Augen bekamen einen glasigen Ausdruck, als ob er in die Ferne sehen würde. »My Lords«, sagte er mit heiserer Stimme, »Ihr habt mich. Es tut mir leid, daß ich überhaupt jemanden umbringen mußte, aber Ihr hättet mich für einen Verräter gehalten, wenn ich es nicht getan hätte. Ich... ich brauchte das Geld, versteht Ihr... aber ich hätte niemals das Reich verraten. Ich kenne das Geheimnis nicht.« Er unterbrach sich und legte die linke Hand über die Augen. »Ich wußte, daß Barbour ein polnischer Agent war. Ich wußte nicht, daß er ein Doppelagent war. Ich dachte, daß ich etwas Geld aus ihm herausziehen könnte. Aber ich... ich hätte niemals meinen König verraten. Ich dachte nur, daß man das vermuten würde, nachdem all das passiert war.« Er nahm die Hand von den Augen. »My Lords«, fuhr er fort, »ich möchte...« seine Stimme zitterte beim Sprechen, und er versuchte mühsam, sie zu beherrschen, »ich möchte bei Father Patrique beichten. Danach will ich vor dem Hohen Gericht mein Geständnis ablegen.« Der Marquis von London nickte Lord Darcy zu. Dieser erwiderte sein Nicken. »Ihr habt die Erlaubnis der Krone, My Lord«, sagte Lord Darcy, »aber ich muß Euch bitten, Eure Degenscheide und Euer Jackett zurückzulassen.« Wortlos entledigte sich Commander Lord Ashley seiner Scheide und seines Jacketts. »Chief Hennely«, sagte der Marquis von London, »ich beauftrage Euch hiermit, diesen Mann aufgrund seines Geständnisses festzunehmen. Führt ihn in den Vorraum, wo er bei dem Hochwürdigen Father die Beichte ablegen kann. Ihr werdet dabei die entsprechenden Gesetze beachten.« -2 9 1
»Jawohl, My Lord«, sagte Chief Hennely und die drei verließen den Raum. »Und nun, My Lord Kronanwalt«, sagte der Marquis, »würdet Ihr bitte dem Gericht und den anwesenden Zeugen die ganze Geschichte berichten.« Lord Darcy verneigte sich. »Sehr wohl, My Lord. Ich verdächtigte Lord Ashley zum ersten Mal, als ich festgestellt hatte, daß er um 8.48 Uhr am Mittwoch das Hotel betreten hatte, um Master Sean, wie er sagte, eine Botschaft zu überbringen. Dennoch hatte er bis 9.25 Uhr keinen Versuch unternommen, Master Sean ausfindig zu machen; dann sprach er mit Lord Bontriomphe darüber. Aber das sind noch Nebensächlichkeiten. Folgendes geschah. Wie er uns bereits gesagt hat, brauchte Ashley Geld. Ich werde gleich erklären, warum dem so war. Er versuchte, ein Geheimnis zu verkaufen, das er gar nicht besaß und von dem er zudem nicht beweisen konnte, daß er es besaß. Schließlich mußte er sogar von Georges Barbour einhundert Goldsovereigns annehmen, nur um sich selbst auszuweisen. Als er am Montag in der Nacht in Cherbourg ankam, ging er zu Barbour, um sich auszuweisen. Es wurde ihm gesagt, daß er am nächsten Morgen bezahlt werden würde. Am folgenden Morgen erhielt er den Auftrag, Edelmann Georges die einhundert Goldsovereigns zu überbringen. In diesem Augenblick überfiel ihn Panik. Keine Panik, wie Ihr und ich sie normalerweise kennen, sondern kalte, ängstliche Panik, denn so arbeitet sein Gehirn. Er wußte, daß Barbour ihn erkennen würde, wenn er ihm selbst das Geld überbringen würde. Außerdem war ihm klar geworden, daß sein Plan gescheitert war, denn Barbour war ein Doppelagent. Also ging er zu Barbour hoch und erstach ihn mit einem billigen Messer, das er zu diesem Zweck gekauft hatte. Dann meldete er den Mord, wobei es sich als für ihn günstiger Umstand erwies, daß die Concierge kurz vor seiner Ankunft für wenige Minuten nicht im Haus gewesen war. Er erfuhr aber -2 9 2
auch zur gleichen Zeit, daß Barbour eine Botschaft, in der er ihn entlarvte, an Zett abgesandt hatte. Er mußte diese Nachricht also abfangen, damit die Admiralität nicht davon erfuhr.« Lord Darcy tat einen tiefen Atemzug. »Auf gewisse Weise könnte man sogar sagen, daß ich ihm geholfen habe. Zu dieser Zeit wußte ich noch nicht, daß Ashley ein Mörder war. Also bat ich darum, daß er Master Sean eine Botschaft überbringen möge. Das setzte ihn in die Lage, ins Royal Steward zu gelangen. Die Post aus Cherbourg wurde am Mittwochmorgen um 6.30 Uhr im Royal Steward abgegeben. Master Sir James nahm seine Post um 7.00 Uhr in Empfang. Nachdem er die erhaltene Nachricht entschlüsselt hatte, ging er zum Empfangsschalter und bat einen Mann, dem er vertraute, nämlich Edelmann Paul Nichols, einem Kurier der Admiralität einen Umschlag zu überreichen. Zur gleichen Zeit schickte er einen Hotelpagen mit einer Botschaft zu Captain Smollett, damit dieser die Nachricht abholen ließ. Sir James kehrte auf sein Zimmer zurück, wobei ihm die Demoiselle Tia folgte. Sie gerieten miteinander in einen Streit, von dem Ihr schon gehört habt. Nachdem Tia fort war, verschloß Master Sir James zum letzten Mal seine Tür. Um 8.48 traf Lord Ashley ein, der angeblich Master Sean suchte. Er ging an den Empfangsschalter und fragte nach Master Sean. Aber Paul Nichols nahm sofort an, daß er der Kurier der Admiralität sei. Das läßt sich natürlich nicht beweisen, aber es paßt nahtlos ins Bild. Nichols muß ungefähr folgendes gesagt haben, noch bevor Ashley nach Master Sean fragte: ›Ach, Commander, Ihr seid wohl der Kurier, der das Päckchen von Master Sir James zur Admiralität bringen soll? ‹ Was sollte Lord Ashley tun? Er sagte: ›Ja‹ und nahm das Päckchen. Die Zimmernummer von Sir James stand auf dem Umschlag, und Lord Ashley begab sich sofort dorthin. Dann geschah wohl in etwa das, was wir schon vorgeführt haben. Ich möchte«, sagte er gestikulierend, »auf etwas hinweisen. Mörder haben oft, viel öfter als wir glauben, großes Glück. Es ist -2 9 3
durchaus möglich, daß es einer ganz gewöhnlichen Person durch schieres Glück möglich gewesen wäre, Sir James so umzubringen, wie es tatsächlich geschah. Aber so operierte Commander Ashley nicht. Der Commander hat einen Vorteil. In Augenblicken gefühlsmäßiger Erregung besitzt er die Fähigkeit, für eine kurze Weile in die Zukunft zu blicken. Ich möchte Eure Aufmerksamkeit nochmals auf das Schlüsselloch lenken. Die Tür ist sehr dick. Obwohl das Schlüsselloch groß genug ist, einen Marinedegen durchzulassen, erlaubt es der Waffe keinen allzugroßen Spielraum. Man kann mit der Klinge nicht zielen, man kann sie nur gerade durch das Loch stoßen. Selbst nachdem er Sir James in die für den Mord notwendige Stellung gelockt hatte, waren die Chancen, daß sein Vorhaben Erfolg haben würde, ziemlich gering. Man denke an die verschiedenen Stellungen, aus denen heraus man ein Stück Papier unter einer Tür hervorziehen kann. Die Stellung von Sir James war die wahrscheinlichste von allen, aber würde sich ein gewöhnlicher Mörder auf so etwas verlassen? Normalerweise nicht. Dies war also eine der Spuren, die meine Aufmerksamkeit auf Commander Lord Ashley lenkten. Weil er unter gefühlsmäßigem Druck stand, erlaubte es ihm seine Prophezeiungsgabe, ohne jeglichen Zweifel genau zu wissen, wie Sir James stehen würde und was er tun mußte, um ihn töten zu können. Sir James ließ Commander Lord Ashley nicht ins Zimmer, er schloß auch nicht die Tür für ihn auf. Also mußte Ashley ihn auf die einzige noch mögliche Weise töten. Und sein schwaches, aber vorhandenes magisches Talent ermöglichte es ihm, dies zu tun. Der Degen wurde durch das Schlüsselloch gestoßen, in einer geraden Linie. Ein einziger Tropfen Blut fiel zu Boden, halb auf den Teppich, halb auf den Umschlag. Ich glaube, daß es da keine Zweifel geben kann. Lord Ashley steckte den Umschlag wieder ein und seinen Degen auch. Deswegen bat ich
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ihn auch darum, sowohl seine Degenscheide als auch sein Jackett hierzulassen.« Er zeigte auf den Stuhl, auf dem Lord Ashley seine Sachen abgelegt hatte. Master Sean hatte sie bereits untersucht. »Ich habt recht, My Lord«, sagte er, »in seiner Jackentasche befindet sich ein Blutfleck, und ich zweifle nicht daran, daß sich auch in der Degenscheide einer finden wird.« »Das glaube ich auch«, stimmte ihm Lord Darcy zu. »Aber ich will fortfahren. In diesem Augenblick wurde Lord Ashley klar, daß ein Mann - und zwar ein Mann allein - wußte, daß er das Päckchen abgeholt hatte. Ich weiß nicht genau, wie Paul Nichols starb, aber ich möchte dennoch dem Hohen Gericht folgende Vermutung unterbreiten: Gegen 9.00 Uhr betrat Commander Lord Ashley wieder die Empfangshalle und sah Paul Nichols, der gerade seinen Dienst beendet hatte. Er folgte ihm in den Gang hinter dem Empfangsschalter und verwickelte Paul Nichols in irgendeine Geschichte. Es gelang ihm, ihn in den Zimmermannsraum zu locken. Ein schneller Schlag auf den Schädel und eine Kordel um den Hals«, Lord Darcy schnippte mit den Fingern, »und schon war Edelmann Paul Nichols als Zeuge unschädlich gemacht. Ich glaube, daß ihn dann aufs neue Panik befiel. Er stand in dem Abstellraum über der Leiche und wollte sehen, was in dem Päckchen war. Er riß es auf und verstreute ein wenig von dem Siegelwachs über den Körper von Edelmann Paul. Natürlich konnte er nichts lesen, denn das Papier war völlig leer. Ich vermute, daß er die Seiten später verbrannt hat. Aber er mußte noch meine Nachricht Master Sean überbringen. In der Empfangshalle traf er Lord Bontriomphe, was dann geschah, wissen wir alle. Ich möchte jedoch noch erwähnen, daß er gegen 9.10 Uhr wieder in die Empfangshalle trat. Der Grund dafü r, daß er erst zehn Minuten später mit Lord Bontriomphe sprach, kann darin gelegen haben, daß er es nicht wagte, mit einem der Hexer zu sprechen, weil er fürchten mußte, daß ihn seine Aufgeregtheit verraten könnte.« -2 9 5
Captain Smollett hob die Hand. »Eine Frage, wenn's gestattet ist, My Lord.« Er sah ungewöhnlich grau und fahl aus. Für einen Geheimdienstchef ist es keine leichte Sache, herausfinden zu müssen, daß einer seiner treuesten Mitarbeiter sich plötzlich als Verräter entpuppt hat. »Aber gern, Captain.« »Ich glaube, ich verstehe, was Commander Ashley getan hat und auch wie er es getan hat. Aber warum?« »Das hat mich bis vor wenigen Stunden auch noch beschäftigt, Captain. Sein Motiv war das Geld. Ein Gespräch, das ich gestern in der Admiralität mit ihm fü hrte, verriet mir, daß er bei Hochverrat immer nur an finanzielle Motive denken konnte. Jedes Motiv, das er möglichen anderen Verdächtigen unterstellte, hatte mit Geld zu tun. Aber bevor ich ihn im Manzana de Oro erlebt hatte, war mir noch nicht klar geworden, was das Motiv hinter dem Motiv war. Ich verstand nicht, warum er das Geld so nötig brauchte. Master Ewen MacAlister hat ein volles Geständnis abgelegt. Da dies hier nur ein Untersuchungsgericht ist, kann ich Euch mitteilen, was er sagte, ohne ihn als Zeugen bemühen zu müssen.« Er lächelte. »Ich fürchte, daß Master Ewen im Augenblick für eine Zeugenaussage nicht sonderlich geeignet ist.« Er legte die Fingerspitzen aufeinander, und blickte auf seine Stiefelspitzen hinab. »Master Ewen MacAlister, der im Sold der polnischen Regierung stand, arbeitete mit dem Sidi al-Nasir zusammen, um Commander Lord Ashley als Agenten für die polnische Sache zu gewinnen, was durch Erpressung geschehen sollte. Wenn sich das Rad dreht, wenn die Karte umgedreht wird, wenn die Würfel fallen, dann steht jeder Spieler unter einem Gefühlsdruck. Deswegen spielt der Spieler ja überhaupt, wegen der Spannung. Lord Ashleys Vorteil bestand darin, daß er in solchen Augenblicken die Spielergebnisse vorhersehen konnte. -2 9 6
Aber natürlich nicht immer, so groß war die Spannung auch nicht. Aber so hatte er doch einen gewissen Spielvorteil, so daß er oft gewann, wenn er spielte, zwar nicht immer, und auch keine spektakulären Summen, aber doch regelmäßig. Diese seltene Gabe kann aber nicht von einem Hexer entdeckt werden, der in einem Spielklub arbeitet. Nicht einmal ein Meisterhexer kann sie aufspüren. Ist das richtig, Sir Thomas?« Der Thaumaturgie-Professor nickte. »Das ist richtig, My Lord. Dieses besondere Talent hängt einerseits mit der Zeit zusammen und ist auf der anderen Seite passiver Art, weil beobachtend. Folglich läßt es sich nicht von außen beobachten. Im Gegensatz zum Hellseher, dessen Talent es gestattet, durch den Raum zu blicken und vereinzelt auch in die Vergangenheit, läßt sich das präkognitive Talent, das mit der Zukunft arbeitet, weder vorhersagen noch schulen oder kontrollieren.« Sir Thomas Leseaux zuckte leicht die Schultern. »Vielleicht wird eines Tages ein Mathematiker, der größer ist als ich, das Problem der Zeitasymmetrie lösen. Aber bis dahin...« Er ließ den Satz unvollendet. »Danke, Sir Thomas«, sagte Lord Darcy. »Es ist jedoch unter gewissen Bedingungen für einen Hexer möglich, diese Fähigkeit zu unterbinden. Master Ewen MacAlister beeinflußte die Spiele im Manzana de Oro immer dann, und nur dann, wenn Lord Ashley seinen Einsatz machte. Der Commander begann zu verlieren. In kürzester Zeit war er, fast ohne es zu merken, schwerverschuldet. Und deswegen tat er dann, was hier geschildert wurde.« Lord Darcy lächelte. »Darauf hat Master Ewen übrigens ausdrücklich hingewiesen, nachdem ihm auf der Sommerset Bridge klargeworden war, daß er es mit einem Mann zu tun hatte, der seine Handlungen vorhersehen konnte. My Lord Commander konnte seine Verbrechen nur wegen seines -2 9 7
unerhörten Glücks begehen. Er hat seine Aktionen nie geplant, sondern ist dabei immer seinen Eingebungen gefolgt. Und durch eine ebenso unerhörte Pechsträhne wurde er verraten. Er kann sich in Gefahr jederzeit bewähren, aber die Lüge, die er mir in Sidi al-Nasirs Büro erzählte, war doch zu dick aufgetragen. Als ich Euch gestern fragte, Captain, ob Ihr wüßtet, wo der polnische Spionagering sein Hauptquartier hatte, da habt Ihr mir versichert, daß Ihr nicht die geringste Ahnung hättet. In Sidi alNasirs Büro aber gab der Commander Lord Ashley völlig gelassen zu, daß er dem Sidi einhundertundfünfzig Goldsovereigns schuldete, was selbst für einen Commander in Seiner Majestät Reichsmarine eine recht stattliche Summe ist. Er behauptete, daß dies eine Falle des Marinegeheimdienstes gewesen sei, um Sidi al-Nasir zu enttarnen. Deswegen sprach ich auch davon, daß der Commander Lord Ashley plötzlich eine gewaltige Pechsträhne hatte. Tatsächlich hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt, daß Sidi al-Nasir im Dienst der polnischen Regierung stand. Er hatte sich im Manzana de Oro hoch verschuldet, und der Sidi hatte ihm angedroht, Euch davon zu informieren, Captain Smollett. Was hättet Ihr in diesem Fall eigentlich mit dem Commander getan? Ihn entlassen?« »Kaum«, sagte Smollett. »Ich hätte ihn natürlich versetzen lassen. Ein Mann, der spielt, hat im Geheimdienst nichts zu suchen. Nicht, daß ich persönlich etwas gegen das Spielen hätte, My Lord. Aber man sollte nur mit dem spielen, was man hat, nicht mit der Hoffnung auf spätere Gewinne.« »Eben«, sagte Lord Darcy. »Das verstehe ich. Aber er wäre doch aufgefallen, nicht wahr? Er wäre dann wohl kaum befördert worden, oder?« »Kaum noch, My Lord? Überhaupt nicht. Ich kann niemanden zum Captain machen, der so etwas auf dem Kerbholz hat.« Lord Darcy nickte. »Natürlich nicht. Und das wußte Ashley auch. Er mußte den Sidi ausbezahlen. Deswegen hat er diesen Plan ausgekocht, aus einem polnischen Agenten Geld -2 9 8
herauszulocken. Wie seine Hoheit der Erzbischof von York mir gestern schon sagte, in diesem Mann steckt kein böser Wille. Er ist lediglich verzweifelt. Wir können ihm, glaube ich abnehmen, daß er König und Vaterland nicht verraten hätte. Hätte Sidi al-Nasir dem Commander ein Angebot vor ein oder zwei Wochen gemacht, so wäre all dies nicht passiert. Dann hätte Lord Ashley dieselbe Lüge erzählt, die er mir erzählt hat, mit dem Unterschied, daß er sie Euch mitgeteilt hätte, Captain Smollett. Was hättet Ihr wohl gesagt, wenn Euch der Commander vor, sagen wir einer Woche, erzählt hätte, daß er sich absichtlich hoch verschuldet hätte, um dem polnischen Spionagering das Handwerk zu legen? Daß man ihm den Vorschlag gemacht hätte, ein Doppelagent zu werden, und daß er nun sozusagen ein Tripelagent werden sollte? Seid ehrlich, Captain, was hättet Ihr wohl gesagt?« Captain Smollett blickte nach unten und sprach erst nach einer langen, angespannten Pause. Seine Augen drückten Schmerz aus. »Ich muß wohl zugeben, daß ich in diesem Fall Commander Ashleys Geschichte geglaubt hätte. Ich hätte ihn vermutlich zur Beförderung vorgeschlagen.« In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Father Patrique trat ein. Commander Ashley folgte ihm mit fahlem Gesicht, die Hände in Handschellen. Hinter ihm ging Chief Hennely, der seine Pistole eingesteckt hatte, aber die Hand am Halfter behielt. »Euer Ehren«, sagte der Priester ernst, »es ist meine Pflicht, um die Aufmerksamkeit des Gerichts zu bitten.« »Das Gericht erkennt Hochwürden Father Patrique als amicus curia an«, dröhnte der Marquis. »Euer Ehren«, sagte der Father, »My Lord Ashley, ein Commander der Reichsmarine Unserer Meist Gefürchteten und Souveränen Majestät dem König, wünscht aus freien Stücken,
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vor dem Hohen Gericht eine Erklärung und ein Geständnis abzulegen.« Der Marquis De London warf einen Blick auf Lord Bontriomphe, der alles protokollierte, und sah dann Lord Ashley an. »Ihr dürft beginnen«, sagte er. Vierzig Minuten später überschlug Lord Bontriomphe seine Kurzschriftprotokolle und nickte nachdenklich. »Das wäre wohl alles«, sagte er. Commander Ashley wurde abgeführt, um von einer Wachmännereskorte unter Führung von Chief Hennely in den Tower gebracht zu werden. Das Untersuchungsgericht, war offiziell aufgehoben worden. My Lord der Marquis blickte im Zimmer umher und sah dann Lord Darcy an. »Bis auf wenige Einze lheiten habt Ihr alles sehr genau geschildert. Zufriedenstellend. Ich möchte fast sagen: äußerst zufriedenstellend.« Er blickte in die Runde. »Hat noch irgend jemand Fragen?« »Ich habe eine Frage«, sagte Sir Lyon Gandolphus und blickte Lord Darcy an. »Mit Verlaub, My Lord. Ich wüßte gern, woher Ihr Eure Gewißheit genommen habt, daß es zwischen Master Ewen MacAlister und Commander Lord Ashley keinen Zusammenhang gab.« Lord Darcy lächelte. »Ich konnte »mir natürlich nicht absolut sicher sein, Sir Lyon. Aber es schien mir am wahrscheinlichsten zu sein. Master Ewen tat sein Bestes, um zu versuchen, Demoiselle Tia aus Sir Thomas Leseaux das Geheimnis entlocken zu lassen. Hätte er sich so sehr bemüht, wenn er gewußt hätte, daß Lord Ashley das Geheimnis verkaufen wollte? Beziehungsweise angab, es verkaufen zu wollen? Das wäre doch viel einfacher gewesen, als zu versuchen, ein stures Mädchen dazu zu bewegen, alles zu verraten, was sie liebte.« -3 0 0
»Aber woher wußtet Ihr denn, daß sie keine wirkliche Spionin war?« fragte Sir Thomas. »Dafür gab es mehrere Gründe«, sagte Lord Darcy. »Natürlich hatten die kirchlichen Ausschüsse zweimal ihre Integrität bestätigt, aber es gab auch andere Hinweise. Sie war zu Sir James gegangen und hatte mit ihm einen Streit angefangen. So benimmt sich ja wohl kaum ein Spion. Ein Spion beziehungsweise eine Spionin wäre sofort hinausgegangen und hätte nicht angefangen, mit ihm zu diskutieren. Eine gut geschulte Spionin wirft, auch keine Botschaft eines anderen Kollegen in den Papierkorb, wie es Demoiselle Tia getan hat. Außerdem zeigte das, was nach der Unterhaltung im Hound and Hare geschah - auch wenn es vielleicht möglich gewesen wäre, daß diese Unterhaltung nur für mich in Szene gesetzt wurde - , daß sie wohl kaum eine Spionin war. Sie hatte, was der Versuch, sie zu beseitigen, beweist, wohl tatsächlich vorgehabt, alles den Königlichen Behörden mitzuteilen.« Die Herzoginwitwe von Cumberland sagte: »Ist das nicht Ironie, daß, während alle Wachmänner Londons und die halbe Reichsmarine versucht haben, die Identität dieses Mannes herauszufinden, alles in diesem Brief dort stand.« Lord Darcy hob den blauen Umschlag von Lord Bontriomphes Schreibtisch. Er hielt ihn hoch. »Das hier? Ich fürchte, dieser Brief hätte uns nicht sehr viel genützt.« »Wieso das denn nun nicht?« fragte die Herzoginwitwe erstaunt. »Wegen der Schutzzauber?« »Nein, nicht deswegen«, sagte Lord Darcy. »Wegen der Tatsache, daß dieser Brief erst seit ungefähr einer Stunde überhaupt existiert. Obwohl die Handschrift eine ganz passable Nachahmung von der des Edelmanns Barbour ist, habe ich das hier selbst geschrieben. Gestern nachmittag hatte ich ja genügend Zeit, Barbours Handschrift im Admiralitätsbüro zu -3 0 1
studieren. Nein, ich mußte Ashley zu einem Geständnis bewegen. Wir hatten nur wenige wirkliche Beweise. Ich wußte, was er getan hatte und auch wie. Aber das waren Schlußfolgerungen. Natürlich sind da noch die Blutflecken an Jackett und Degenscheide, aber wir konnten uns nicht darauf verlassen, daß sie noch dort sein würden. Wir brauchten einfach mehr. Also entstand dieser Brief. Schließlich konnte Ashley sich ja nicht sicher sein, daß die Information von Barbour ins Hotel geschickt wurde. Da ich wußte, daß er »das Päckchen bei der erstbesten Gelegenheit geöffnet hatte, wußte ich auch, daß er nichts darin hatte finden können. Er konnte sich also nicht sicher sein, daß er die richtigen Papiere entwendet hatte. Der Brief war eine notwendige Finte, glaube ich, und wenn Ihr Euch zurückerinnert, Captain Smollett, dann werdet Ihr feststellen, daß ich nicht ein einziges Mal behauptet habe, daß er von Barbour stammte.« »Das habt Ihr nicht«, sagte Captain Smollett, »das habt Ihr wirklich nicht.« »Well, My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen«, sagte der Marquis De London, »das war ein recht anstrengender Abend. Ich glaube, wir erholen uns jetzt am besten, indem wir ein paar Stunden schlafen.« Die acht Gäste verließen geschlossen den Palace du Marquis. Mit Ausnahme von Captain Smollett begaben sie sich alle nach Carlyle House. Lord Darcy wußte, daß noch ein weiterer Gast anwesend gewesen war, der zurückbleiben würde, bis alle gegangen waren. Hinter der Vandenbosch-Kopie in My Lord Marquis' Büro befand sich eine verschiebbare Holzplatte, hinter der sich wiederum ein Alkoven verbarg. Wenn die Holzplatte aufgeschoben wurde, konnte man durch das Gemälde blicken und alles im Raum hören. Nur der Marquis, Lord Bontriomphe und Lord Darcy hatten gewußt, daß sich jemand während der offiziellen Untersuchung in diesem Alkoven aufgehalten hatte. -3 0 2
Erst zwei Monate später nach der Verhaftung des Mörders hörte Lord Darcy wieder etwas von dem verborgenen Beobachter. Ein Königlicher Bote lieferte ein Paket in Lord Darcys Residenz ab. In dem Paket befand sich ein Schreiben: My Lord Darcy: Wiederum stehen Wir in Eurer Schuld wegen der vortrefflichen Dienste, die Ihr Uns zum Schutze Unseres Herrschaftsgebietes geleistet habt. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß Ihr leider die wertvolle.40er MacGregor verloren habt, die Ihr uns freundlicherweise in Westminster für die Vorführung zur Verfügung gestellt habt. Da Wir der Meinung sind, daß jede solche Waffe, die in Unserer Gegenwart getragen wird, auch Unser Geschenk sein sollte, senden Wir Euch dieses Paket. Wir möchten Euch jedoch darauf hinweisen, daß es sich keineswegs um eine rein zeremonielle Waffe handelt, sondern daß Ihr sie im Verlauf Eurer Arbeit benutzen sollt. Sollten Wir in Erfahrung bringen, daß diese Waffe bei Euch zu Hause in einem goldenen Rahmen an der Wand hängt oder Ihr ähnlichen Unfug damit begehen solltet, dann werden Wir Euch Persönlich aufsuchen, um sie Euch wieder fortzunehmen.
In der Schachtel lag die wohl beste Arbeit MacGregors: eine handgearbeitete Handwaffe vom Kaliber.40. Die Gold- und Emaillebeschichtung daran war ebenso schön, wie die Waffe tödlich war. Zu beiden Seiten des Griffs war Lord Darcys persönliches Wappen in den Emaillelack eingebrannt: Ein -3 0 3
Hermelin auf rotem Querbalken, ein schreitender Löwe in Gold, den Betrachter ansehend. In der goldenen Ziselierung, die den Schild umrahmte, befanden sich die Löwen von England und die Lilien von Frankreich. Ende.
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Band 02 Im Auge des Betrachters
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Sir Pierre Morlaix, Chevalier des Anglo-Französischen Reichs, Ritter vom Goldenen Leoparden und Privatsekretär Seiner Lordschaft, dem Grafen D'Evreux, blickte auf die Uhr. Drei Minuten vor sieben, Wie immer hatte das Angelus um sechs geläutet, wie immer war My Lord D'Evreux davon wach geworden. Jedenfalls konnte sich Sir Pierre nicht daran erinnern, daß My Lord niemals nicht zum Angelus wach geworden wäre. Er entsann sich, daß der Sakristan es einmal versäumt hatte, die Glocke zu lauten - da war der Graf eine Woche lang unbeschreiblich wütend gewesen. Nur die Einflußnahme von Vater Bright, der vom Bischof persönlich unterstützt werden mußte, hatte den Sakristan davor bewahrt, eine Runde in den Verliesen von Schloß D'Evreux absitzen zu müssen. Sir Pierre schritt in den Flur und sah mit geschultem Blick, daß sich alles in bester Ordnung befand: Diese alten Schlösser ließen sich nur schwer in Schuß halten, und My Lord der Graf ließ peinlich genau darauf achten, daß sich kein Salpeter in den Ritzen zwischen den Steinen der Wände ablagerte. Es war ganz gut, daß alles in Ordnung war, denn die Nacht zuvor hatte My Lord der Graf ordentlich gefeiert, und nach solchen Abenden war er meistens ziemlich schlecht gelaunt. Er wachte zwar jeden Morgen zum Angelus auf, aber dann war er keineswegs immer schon nüchtern. Sir Pierre kam vor einer schweren, polierten Eichentür zum Stehen, zückte einen Schlüssel aus dem Bund an seinem Gürtel und schloß auf. Dann trat er in den Aufzug, und die Tür schloß sich automatisch hinter ihm. Er drückte auf den Schalter und wartete geduldig, bis er vier Stockwerke hoch befördert worden war, wo sich die Zimmerflucht des Grafen befand. Inzwischen würde My Lord der Graf sich gewaschen, rasiert und angekleidet haben. Auch den Wachmacher, ein halbes Wasserglas voll Brandy aus der Champagne, würde er schon ausgetrunken haben. Frühstücken vor acht würde er nicht. -3 0 6
Der Aufzug hatte sein Ziel erreicht. Sir Pie rre stieg aus und schritt auf die Tür am anderen Ende des Ganges zu. Punkt sieben Uhr klopfte er forsch an die große Zimmertür, die das Wappen des Hauses D'Evreux trug. Zum erstenmal seit siebzehn Jahren erhielt er keine Antwort. Eine volle Minute wartete Sir Pierre auf den brummigen Befehl, einzutreten, ohne seinen Ohren zu trauen. Dann klopfte er, beinahe schüchtern, aufs neue. Immer noch keine Antwort. Sir Pierre wappnete sich innerlich bereits auf die Wuttiraden, die ihn erwarteten, sollte er sich geirrt haben, und öffnete die Tür, als habe er die Stimme des Grafen vernommen. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er, wie er es seit siebzehn Jahren immer getan hatte. Aber der Raum war leer, und er erhielt keine Antwort. Er blickte sich um. »My Lord?« Nichts. Kein Ton. Die Schlafzimmertür stand offen. Sir Pierre ging darauf zu und blickte hinein. Sofort sah er, warum My Lord der Graf D'Evreux nicht geantwortet hatte und warum er nie wieder ›Herein‹ rufen würde. My Lord der Graf lag flach auf dem Rücken, die Arme weit ausgestreckt; seine Augen starrten an die Decke. Er trug noch seine goldene und scharlachfarbene Abendgarderobe. Doch der große Fleck vorne auf seinem Jackett hatte eine andere Schattierung als der Rest des Stoffs, und mitten in dem Fleck befand sich ein Einschußloch. Sir Pierre blickte ihn lange an, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Dann stieg er über ihn, kniete nieder und berührte eine -3 0 7
Hand des Grafen mit seinem eigenen Handrücken. Die Hand war kalt, der Graf war schon seit Stunden tot. »Ich wußte es, daß Euch irgendeiner früher oder später umlegen würde, My Lord«, sagte Sir Pierre fast traurig. Dann stand er auf und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken. Er schloß die Tür zur Zimmerflucht ab, steckte den Schlüssel ein und fuhr mit dem Aufzug nach unten.
Mary Lady Duncan starrte aus dem Fenster ins Licht der Morgensonne und überlegte, was sie nun tun sollte. Die Glocken des Angelus hatten sie aus einem unruhigen Schlaf im Sessel geweckt, und sie wußte, daß man von ihr als Gast auf Schloß D'Evreux erwarten würde, diesen Morgen wieder zur Messe zu erscheinen. Aber wie konnte sie? Wie konnte sie dem Heiligen Altar gegenübertreten, ganz zu schweigen vom Empfangen des Heiligen Sakraments? Aber es würde sehr auffallen, wenn sie heute morgen nicht erschiene, nachdem sie sich doch vorgenommen hatte, während der ersten vier Tage ihres Besuchs jeden Morgen mit Lady Alice zur Messe zu gehen. Sie wandte sich um und blickte auf die verriegelte Schlafzimmertür. Ihn würde man nicht erwarten. Laird Duncan nahm seinen Rollstuhl als Vorwand, aber sie glaubte, daß er, nachdem er sich zum Zeitvertreib der Schwarzen Magie verschrieben hatte, regelrechte Angst vor Kirchen haben müßte. Wenn sie ihn doch nur nicht angelogen hätte! Aber wie hätte sie die Wahrheit sagen können? Das wäre noch schlimmer gewesen, wesentlich schlimmer. Und jetzt hatte er sich wegen dieser Lüge im Schlafzimmer eingeschlossen und tat Gott weiß was!
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Wenn er doch nur herauskäme! Wenn er doch nur aufhören würde mit dem, was er gerade tun mochte, oder es nach all diesen langen Stunden doch endlich zu Ende brächte! Dann könnten sie unter einem Vorwand D'Evreux verlassen, Frankreich den Rücken kehren, den Kanal überqueren und nach Schottland zurückfahren, wo sie in Sicherheit waren! Sie blickte wieder hinaus. Letzte Nacht hatte sie ihn gehaßt, aber jetzt hatte es aufgehört. Nur die Angst fand noch Platz in ihrem Herzen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schalt sich eine Närrin. Nach dieser langen Nacht gab es keine Tränen mehr, die sie hätte weinen können. Plötzlich hörte sie, wie die Tür hinter ihr aufgeschlossen wurde. Laird Duncan von Duncan stieß die Tür auf und rollte sich ins Zimmer, eine Wolke übelriechenden Dunstes hinter sich herziehend. Lady Duncan starrte ihn an. Er sah älter aus als letzte Nacht, hagerer und mitgenommen, und in seinen Augen entdeckte sie einen Ausdruck, der ihr nicht gefiel. Einen Augenblick lang sagte er nichts. Dann leckte er sich kurz die Lippen mit der Zungenspitze. Als er sprach, klang seine Stimme benommen. »Es gibt nichts mehr zu befürchten«, sagte er. »Überhaupt nichts mehr zu befürchten.«
Der Hochwürdige Vater James Valois Bright, Vikar der Kapelle von Saint-Esprit, zählte die mehreren hundert Bewohner von Schloß D'Evreux zu seiner Gemeinde. So stand er der größten Gemeinde der Grafschaft vor, wenn man den Bischof und das Kapitel der Kathedrale nicht mitzählte. Aber das beruhigte ihn keineswegs. Für eine Gemeinde dieser Größe war der Besuch der Messen erbärmlich mager, besonders unter der -3 0 9
Woche. Die Sonntagsmessen wurden natürlich gut besucht; Graf D'Evreux erschien schließlich jeden Sonntag pünktlich um neun und zählte die Anwesenden. Aber wochentags erschien er nie, und seine Laxheit hatte auch auf die unteren Chargen abgefärbt. Der große Trost war Lady Alice D'Evreux. Sie war ein einfaches, schlichtes Mädchen, fast zwanzig Jahre jünger als ihr Bruder, der Graf, und das blanke Gegenteil von ihm. Wenn er tobte, verhielt sie sich ruhig, wenn er sich aufspielte, benahm sie sich bescheiden, statt zu trinken wie er, befleißigte sie sich der Mäßigung. Und außerdem war sie keusch, während er... Vater Bright unterbrach seinen eigenen Gedankengang. Er hatte nicht das Recht, darüber ein Urteil zu fällen. Schließlich war er nicht der Beichtvater des Grafen, das war der Bischof. Außerdem sollte er sich seinen Gebeten widmen. Erstaunt bemerkte er, daß er sein Ornat angelegt hatte und daß seine Lippen dabei waren, die Worte des Gebets zu sprechen, das er beim Anlegen aufzusagen hatte. Gewöhnung, dachte er, kann die Fähigkeit zur Kontemplation zerstören. Er blickte in der Sakristei umher. Sein Meßdiener, der junge Sohn des Grafen von Saint Brieuc, den man hierher geschickt hatte, um seine Erziehung als Gentleman zu vervollkommnen, damit er eines Tages Königlicher Gouverneur einer der wichtigsten Grafschaften der Bretagne werden könnte, war ihm beim Ankleiden behilflich. Die Uhr zeigte 07.11. Nach einem kurzen Stoßgebet öffnete Vater Bright die Augen aufs neue und griff eben nach seiner Kasel, als die Sakristeitür geöffnet wurde und Sir Pierre eintrat. »Ich muß Euch sprechen, Vater«, sagte er leise und fügte mit einem Seitenblick auf den jungen De Saint-Brieuc hinzu: »Allein.«
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Da er wußte, daß Sir Pierre ihn nicht ohne Grund auf solch unerhörte Weise bei seinen Messevorbereitungen stören würde, nickte er und trat mit ihm in den Gang hinaus, der zum Altar führte. »Was gibt es, Pierre?«
»My Lord, der Graf, ist tot. Ermordet.«
Nach dem ersten Schreck kam Vater Bright die Erkenntnis,
daß die Neuigkeit nicht ganz unerwartet gekommen war. Irgendwie hatte er immer insgeheim geahnt, daß der Graf eines gewaltsamen Todes sterben würde, noch bevor er durch sein Lotterleben seine Gesundheit ruiniert hatte. »Erzählt mir davon«, sagte er gefaßt.
Sir Pierre erzählte ihm genau, was er getan und gesehen hatte.
»Dann schloß ich die Tür ab und kam sofort hierher.«
»Wer hat noch einen Schlüssel zur Zimmerflucht des
Grafen?« »Nur My Lord selbst«, antwortete Sir Pierre, »jedenfalls soweit ich das weiß.« »Wo ist sein Schlüssel?« »Er hängt noch auf dem Schlüsselring an seinem Gürtel, das ist mir aufgefallen.« »Sehr gut. Wir lassen die Tür verschlossen. Ihr seid sicher, daß der Leichnam schon kalt war?« »Kalt und wächsern, Vater.« »Dann ist er schon einige Stunden tot.« »Man wird Lady Alice verständigen müssen«, sagte Sir Pierre. Vater Bright nickte. »Stimmt. Man wird der Gräfin D'Evreux mitteilen müssen, daß sie nun die Herrin des Grafensitzes ist.« Der kurze Ausdruck von Verwirrung auf dem Gesicht von Sir Pierre sagte ihm, daß sich dieser über die Folgen des -3 1 1
Geschehens noch nicht völlig klar geworden sein konnte. »Ich werde es ihr sagen, Pierre. Sie müßte mittlerweile in ihrem Kirchstuhl sein. Tretet einfach in die Kirche und teilt ihr leise mit, daß ich sie zu sprechen wünsche, nichts weiter.« »Ich verstehe, Vater«, sagte Sir Pierre.
Es befanden sich ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Menschen in der Kirche, die meisten von ihnen Frauen, aber Lady Alice war nicht darunter. Sir Pierre ging unauffällig den Gang entlang und schritt hinaus in die Kirchenvorhalle. Dort stand sie und richtete soeben ihr Schleiertuch, als sei sie eben erst von draußen eingetreten. Plötzlich war Sir Pierre sehr froh, daß nicht er es sein mußte, der ihr die Nachricht zu übermitteln hatte. Wie immer sah sie etwas traurig aus, ohne ein Lächeln in ihrem schlichten Gesicht. Die gerade Nase und das eckige Kinn, die ihrem Bruder ein Aussehen aggressiver Männlichkeit verliehen hatte, ließen sie nur sehr ernst und beinahe geschlechtslos erscheinen, obwohl sie eine sehr gute Figur hatte. »My Lady«, sagte Sir Pierre und schritt auf sie zu, »der Hochwürdige Vater würde Euch gerne noch vor der Messe sprechen. Er wartet an der Sakristeitür.« Sie umklammerte ihren Rosenkranz und atmete erschreckt auf. »Oh! Sir Pierre! Es tut mir leid, Ihr habt mich erschreckt, ich habe Euch gar nicht kommen sehen.« »Bitte um Verzeihung, My Lady.« »Schon gut, ich war mit meinen Gedanken woanders. Führt Ihr mich bitte zu dem guten Vater?« Vater Bright hörte ihre Schritte, noch bevor er Lady Alice sah. Er war etwas nervös, denn es war schon eine Minute über die Zeit. Die Messe hätte genau um 07.15 Uhr beginnen sollen. -3 1 2
Die neue Gräfin D'Evreux nahm die Nachricht genauso gefaßt auf, wie er es erwartete hatte. Nach einer kurzen Weile bekreuzigte sie sich und sagte: »Möge seine Seele in Frieden ruhen! Ich lege alles in Eure Hände, Vater, Sir Pierre. Was sollen wir jetzt tun?« »Pierre muß sofort per Teleklang Seine Hoheit in Rouen verständigen. Ich werde den Tod Eures Bruders ansagen und um Gebete für seine Seele bitten, aber ich werde wohl nichts über die Todesumstände zu sagen brauchen. Wir brauchen die Aufregung und die Gerüchte nicht auch noch künstlich zu schüren.« »Gut«, sagte die Gräfin. »Kommt, Sir Pierre; ich werde mit meinem Cousin, dem Herzog, persönlich reden.« »Sehr wohl, My Lady.« Vater Bright wandte sich ab und ging daran, eine Messe für die Seelen der dahingegangenen Gemeindemitglieder zu lesen in der Hoffnung, daß sich die Seele des Grafen auch darunter befinden möge. Die Uhr zeigte 07.17.
Seine Königliche Hoheit, der Herzog der Normandie überflog das Dienstschreiben, das sein Sekretär soeben für ihn getippt hatte. Es war adressiert an Serenissimo Domino Nostro Johanni Quarte, Dei Gratia, Angliae, Franciae, Scotiae, Novae Angliae et Novae Franciae, Rex, Imperator, Fidei Defensor... »Unserem Durchlauchtesten Herrn, John IV, von Gottes Gnaden König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Verteidiger des Glaubens...« Es war eine Routineangelegenheit, eine einfache Benachrichtigung seines Bruder, des Königs, «daß Seiner Majestät höchst gehorsamer Diener, Edouard, Graf von Evreux, aus dem Leben geschieden sei, mit der Bitte, daß Seine Majestät -3 1 3
die rechtmäßige Erbfolge von Alice, Gräfin von Evreux bestätigen möge. Seine Hoheit nickte und kritzelte seine Unterschrift unter das Schreiben: Ricardus Dux Normaniae. Dann schrieb er auf ein anderes Papier: »Lieber John, darf ich den Vorschlag machen, daß du die Sache vorläufig diskret behandelst? Edouard war ein Wüstling und ein echter Stinker, und ich bin mir sicher, daß er nur bekommen hat, was er verdient; aber wir wissen nicht, wer ihn umgebracht hat. Trotz allen gegenteiligen Beweismaterials könnte es sogar Alice gewesen sein, die abgedrückt hat. Sobald wir mehr wissen, lasse ich dich informieren. Liebevoll, Dein Bruder und Diener, Richard.« Er steckte beide Papiere in einen Umschlag und versiegelte ihn. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er per Telekla ng mit dem König hätte sprechen können, aber bisher hatte noch niemand herausgefunden, wie man die Drähte über den Kanal spannen könnte. Geistesabwesend blickte er auf den versiegelten Umschlag. Seine gutaussehenden Gesichtszüge, von blondem Haar umrahmt, wirkten nachdenklich. Das Haus der Plantagenets herrschte schon seit acht Jahrhunderten, und das Blut von Henry D'Anjou floß nur noch dünn in seinen Adern, doch war die normannische Komponente noch genauso stark wie ehedem, da sie über die Jahrhunderte durch norwegische und dänische Prinzessinnen immer wieder aufgefrischt worden war. Richards Mutter, Queen Helga, Gattin des seligen Charles III, sprach nur wenige Brocken Anglo-Französisch, und die auch noch mit starkem nordischen Akzent. Trotzdem hatten weder Richards Sprache noch sein Benehmen und Auftreten etwas Skandinavisches. Er war nicht nur ein Mitglied der ältesten und am längsten herrschenden Familie Europas, sondern er trug auch noch einen Namen, der -3 1 4
selbst in dieser hervorragenden Familie als besonders ruhmreich galt. Sieben Könige des Reichs hatten diesen Namen getragen, und die meisten von ihnen waren gute Herrscher gewesen, wenn auch vielleicht nicht immer ›gute‹ Menschen in dem Sinne, wie alte Jungfern davon sprechen mochten. Selbst der alte Richard I, der es in seinen ersten vierzig Lebensjahren ganz schön wild getrieben hatte, war schließlich zur Ruhe gekommen und war ein prächtiger König geworden, zwanzig Jahre lang. Die lange und schmerzhafte Genesung von seiner schweren Verwundung bei der Belagerung von Chaluz hatte ihn zum besseren gewandelt. Auch Richard hatte eine Chance, eventuell einmal als König seinem Namen Ehre zu machen, auch wenn es vorerst wahrscheinlicher war, daß das Parlament, das von Gesetzes wegen einen Plantagenet nach dem eventuellen Tod des jetzigen Herrschers wählen mußte, den beiden Söhnen des Königs, dem Prinzen von Britannien und dem Herzog von Lancaster, den Vorzug geben würde. In der Zwischenzeit würde er als Herzog der Normandie die Fahne hochhalten. Ein Mord war geschehen, folglich mußte auch Recht geschehen. Der Graf von Evreux war für seine strenge aber gerechte Rechtsprechung ebenso bekannt gewesen wie für seine Lasterhaftigkeit. Und so wie seine Vergnügungen ohne Maßhalten gewesen waren, so war seine Gerechtigkeit auch ohne Gnade gewesen. Wer immer ihn getötet haben mochte, würde sowohl Gerechtigkeit als auch Gnade finden, jedenfalls soweit dies in Richards Möglichkeit stand. Wenn er es auch nicht so ausdrückte, so war Richard doch der Ansicht, daß eine entehr te Frau oder ein gehörnter Ehemann den tödlichen Schuß abgegeben hatte. Folglich fand er sich geneigt, an Gnade zu denken, bevor er überhaupt wirklich etwas über den Fall wußte. Richard warf den Umschlag in den Sonderkuriersack, der an diesem Abend noch den Kanal überqueren würde, und drehte -3 1 5
sich dann in seinem Stuhl um, um den mageren Mann in mittleren Jahren anzublicken, der am anderen Ende des Raums an einem Schreibtisch saß und arbeitete. »My Lord Marquis«, sagte er nachdenklich. »Jawohl, Euer Hoheit?« fragte der Marquis von Rouen und blickte auf. »Wie wahr sind die Geschichten, die man über den verstorbenen Grafen hört?« »Wie wahr, Euer Hoheit?« fragte der Marquis stirnrunzelnd. »Es fällt mir schwer, einen Prozentsatz festzusetzen. Wenn jemand erst einmal in einen solchen Ruf geraten ist, dann übersteigt die Zahl seiner angeblichen Sünden sehr bald die seiner tatsächlichen Missetaten. Viele von den Geschichten sind zweifellos wahr, andere wiederum wahrscheinlich nur teilweise. Auf der anderen Seite ist es sehr wahrscheinlich, daß wir sehr viele noch gar nicht gehört haben dürften. Es ist jedenfalls absolut sicher, daß er sieben nicht-eheliche Söhne anerkannt hat, und ich schätze, daß er dabei einige Töchter übergangen haben dürfte. Alles Kinder, wohlgemerkt, von unverheirateten Müttern. Seine Ehebrüche lassen sich wohl wesentlich schwerer nachweisen, aber ich glaube, Euer Hoheit können es als gesichert gelten lassen, daß solche Eskapaden alles andere als selten gewesen sein dürften.« Er räusperte sich. »Wenn Euer Hoheit nach dem Täter über das Motiv suchen sollten, dann fürchte ich, daß es viel zu viele Personen mit einem Motiv gibt.« »Verstehe«, sagte der Herzog. »Well, dann warten wir einmal, mit welcher Information Lord Darcy aufwarten wird.« Er blickte auf die Uhr. »Sie müßten inzwischen dort angekommen sein.«
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»My Lady«, sagte Sir Pierre sanft, »die Inspektoren des Herzogs sind eingetroffen.« My Lady Alice, Gräfin D'Evreux, saß in einem Goldbrokatstuhl des kleinen Empfangszimmers abseits der Großen Halle. Mit ernstem Gesicht stand Vater Bright neben ihr. Vor den strahlenden Farben der Zimmerwände wirkten die beiden Männer wie Tintenflecke. Vater Bright trug sein kirchliches Schwarz, das nur durch makellos weiße Spitzenmanschetten und einem ebensolchen Kragen gemildert wurde. Die Gräfin trug ein Kleid aus schwarzem Samt ohne jeden Schmuck. »Führt sie herein, Sir Pierre«, sagte die Gräfin ruhig. Sir Pierre öffnete die Tür, und die drei Männer traten ein. Einer von ihnen war wie ein Adliger gekleidet, die beiden anderen trugen die Livree des Herzogs. Der Adlige verbeugte sich. »Ich bin Lord Darcy, Chef Inspektor Seiner Herzoglichen Hoheit, und stehe zu Euren Diensten, My Lady.« Er war groß, braunhaarig und hatte ein recht gut aussehendes hageres Gesicht. Er sprach das AngloFranzösische mit einem eindeutig englischen Akzent. »Sehr angenehm, Lord Darcy«, sagte die Gräfin. »Dies ist unser Vikar, Vater Bright.« »Zu Diensten, Hochwürden.« Dann stellte er die beiden Männer in seiner Begleitung vor. Der erste war ein gelehrt aussehender, grauhaariger Mann mit einem goldumrandeten Kneifer, Dr. Pateley, Chirurgus. Der zweite, ein rundlicher, lächelnder Mann mit rotem Gesicht war Master Sean O Lochlainn, Hexer. Sobald Master Sean vorgestellt worden war, zo g er ein kleines, in Leder gebundenes Heft hervor und reichte es dem Priester. »Meine Lizenz, Hochwürdiger Vater.« Vater Bright besah sich das Heft. Es war die übliche Lizenz, unterschrieben und besiegelt vom Erzbischof von Rouen. Das -3 1 7
Gesetz war in diesen Angelegenheiten sehr strikt; kein Hexer durfte ohne Genehmigung der Kirche praktizieren, und eine Lizenz wurde nur nach einer genauen Überprüfung der Rechtschaffenheit des Hexers verliehen. »Völlig in Ordnung, Master Sean«, sagte der Priester. Lord Darcy hatte sein Notizheft gezückt. »Es mag zwar unangenehm sein, aber wir müssen ein paar Dinge überprüfen.« Er blickte auf den Block, dann sah er Sir Pierre an. »Ihr habt also den Leichnam entdeckt?« »Das ist richtig, Euer Lordschaft.« »Wie lange ist das her?« Sir Pierre sah auf seine Armbanduhr. Es war 09.55 Uhr. »Vor nicht ganz drei Stunden, Euer Lordschaft.« »Wann genau?« »Punkt sieben Uhr habe ich an die Tür geklopft, und ungefähr ein oder zwei Minuten später bin ich eingetreten, sagen wir also um 07.01 oder 07.02.« »Woher wißt Ihr das so genau?« »My Lord, der Graf«, sagte Sir Pierre ziemlich steif, »bestand auf peinlichster Pünktlichkeit. Ich habe mir angewöhnt, regelmäßig auf die Uhr zu blicken.« »Ich verstehe. Sehr gut. Und was habt Ihr dann getan?« Sir Pierre beschrieb es ihm. »Die Tür zu seiner Zimmerflucht war also nicht abgeschlossen?« »Nein, Sir.« »Ihr habt auch nicht damit gerechnet, daß sie abgeschlossen sein könnte?« »Nein, Sir. Das ist in siebzehn Jahren niemals der Fall gewesen.« Lord Darcy hob eine Augenbraue. »Niemals?« -3 1 8
»Nicht um sieben Uhr, Euer Lordschaft. My Lord der Graf stand immer um Punkt sechs Uhr auf und schloß die Tür vor sieben Uhr auf.« »Nachts hat er sie also abgeschlossen?« »Jawohl, Sir.« Lord Darcy dachte kurz nach und machte sich eine Notiz, ohne das Thema jedoch noch einmal anzuschneiden. »Als Ihr gegangen seid, habt Ihr die Tür abgeschlossen?« »Das ist richtig, Euer Lordschaft.« »Und seitdem ist sie verschlossen geblieben?« Sir Pierre zögerte und sah Vater Bright an. Der Priester sagte: »Um 08.15 Uhr sind Pierre und ich ins Zimmer gegangen. Ich wollte die Leiche sehen. Wir haben nichts angerührt und sind um 08.20 wieder gegangen.« Master Sean O Lochlainn sah beunruhigt aus. »Eh... entschuldigt, Hochwürden. Ihr habt ihm doch wohl nicht die Letzte Ölung verabreicht?« »Nein«, sagte Vater Bright. »Ich dachte mir, daß es besser wäre, damit zu warten, bis die Behörden die... eh... den Tatort besichtigt hätten. Ich wollte die Beweisaufnahme nicht behindern.« »Sehr richtig«, murmelte Lord Darcy. »Kein Segen, hoffe ich, Hochwürden?« beharrte Master Sean. »Kein Exorzismus oder...« »Nichts dergleichen«, erwiderte Vater Bright ein wenig pikiert. »Ich glaube, ich habe mich bekreuzigt, als ich die Leiche sah, aber sonst nichts.« »Euch bekreuzigt, Sir, sonst nichts?« »Nein.«
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»Na, dann ist ja alles in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich so bohren muß, aber jegliche Rückstände des Bösen, die noch vorhanden sein mögen, sind ein sehr wichtiges Indiz und sollten nicht beseitigt werden, bevor sie untersucht wurden, Ihr versteht?« »Rückstände des Bösen!« fragte die Gräfin schockiert.
»Es tut mir leid, My Lady, aber...«
»Regt Euch nicht auf, meine Tochter«, unterbrach Vater
Bright den Hexer. »Diese Männer erfüllen nur ihre Pflicht.« »Natürlich, ich verstehe. Es ist nur so...« Sie zitterte. Lord Darcy warf Master Sean einen warnenden Blick zu und fragte höflich. »Haben My Lady den Verstorbenen gesehen?« »Nein«, antwortete sie, »das will ich aber, wenn Ihr es verlangt.« »Wir werden sehen«, sagte Lord Darcy. »Vielleicht ist es ja nicht nötig. Können wir uns den Tatort ansehen?« »Selbstverständlich«, sagte die Gräfin. »Sir Pierre, ich darf Euch bitten?« »Sehr wohl, My Lady.« Während Sir Pierre die Wappentür aufschloß, fragte Lo rd Darcy: »Wer schläft noch auf dieser Etage?« »Niemand, Euer Lordschaft. Die ganze Etage ist... war für My Lord den Grafen reserviert.« »Gibt es noch einen anderen Aufgang, außer dem Aufzug?« Sir Pierre zeigte auf eine Tür am anderen Ende der Halle. »Die führt zur Treppe, aber sie wird stets verschlossen gehalten. Wie Ihr sehen könnt, ist ein schwerer Riegel davor. Sie wird nie benutzt, nur um manchmal schwere Möbel hinein- oder herauszutragen oder etwas ähnliches.« »Es gibt also gar keinen anderen Weg?«
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Sir Pierre zögerte. »Nun, doch, Euer Lordschaft. Ich zeige ihn Euch.« »Eine Geheimtreppe?« »Jawohl, Euer Lordschaft.« »Gut, wir werden sie uns ansehen, nachdem wir die Leiche untersucht haben.« Die Leiche lag im Schlafzimmer, so wie Sir Pierre und Vater Bright sie verlassen hatten. »Wenn ich bitten darf, Dr. Pateley«, sagte Seine Lordschaft. Lord Darcy kniete neben der Leiche nieder und sah aufmerksam zu, während Dr. Pateley auf der anderen Seite niederkniete und das Gesicht des Toten betrachtete. Denn berührte der Chirurgus eine Hand der Leiche und versuchte, den Arm zu bewegen. »Die Starre ist eingetreten, sogar in den Fingern. Einzelnes Geschoßloch. Ziemlich kleines Kaliber,.28er oder.34er, würde ich sagen; läßt sich mit Gewißheit erst sagen, nachdem ich das Geschoß entfernt habe. Scheint aber genau durchs Herz geschlagen zu sein. Pulververbrennungen sind schwer zu bestimmen, das Blut ist in den Stoff gesickert und getrocknet. Immerhin, diese Flecken... hm, ja... hm.« Lord Darcy besah sich alles aufmerksam, dann fiel ihm ein goldenes Schimmern auf. Er erhob sich und lugte unter das Himmelbett. Eine Münze? Nein. Er hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn. Ein Knopf. Gold, mit feiner Arabeskenarbeit graviert, in der Mitte ein einzelner Diamant gefaßt. Wie lang hatte er dort schon gelegen? Woher stammte er? Jedenfalls nicht von der Garderobe des Grafen, die hatte andere Knöpfe, kleiner, mit eingraviertem Wappen. Hatte ein Mann oder eine Frau ihn verloren? Das ließ sich jetzt noch nicht sagen.
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Darcy wandte sich an Pierre. »Wann ist dieser Raum das letzte Mal saubergemacht worden?« »Gestern abend, Euer Lordschaft. My Lord war immer sehr eigen in dieser Hinsicht, der Raum mußte jeden Abend zu Dinnerzeit gereinigt werden.« »Dann muß er nach dem Dinner unter das Bett gerollt sein. Erkennt Ihr das hier? Das Design ist ungewöhnlich.« Der Privatsekretär sah den Knopf in Lord Darcys Hand genau an, ohne ihn zu berühren. »Ich... ich zögere, es zu sagen. Es sieht aus, als ob... aber ich bin mir nicht sicher...« »Aber, aber, Chevalier! Wo könntet Ihr den denn gesehen haben? Oder einen ähnlichen?« Lord Darcys Stimme hatte einen scharfen Unterton. »Ich versuche nicht, etwas zu verbergen, Euer Lordschaft«, sagte Sir Pierre mit gleicher Schärfe. »Ich sagte, daß ich mir nicht sicher sei. Das bin ich immer noch nicht, aber es läßt sich leicht überprüfen. Wenn Euer Lordschaft gestatten...« Er wandte sich Dr. Pateley zu. »Darf ich um My Lords Schlüssel bitten, Doktor?« Da Lord Darcy nickte, gab der Chirurgus ihm die Schlüssel vom Gürtel des toten Grafen. Der Privatsekretär wählte einen kleinen Goldschlüssel und sagte: »Das ist der richtige. Wollt Ihr mir bitte folgen, Euer Lordschaft?« Lord Darcy folgte ihm durchs Zimmer an eine Wand, deren Behänge noch aus dem sechzehnten Jahrhundert zu stammen schienen. Sir Pierre griff dahinter und zog an einer Kordel. Der gesamte Vorhang schob sich wie auf einer Schiene zur Seite und offenbarte eine scheinbar ganz gewöhnliche Eichentäfelung. Sir Pierre aber steckte den Schlüssel in ein unauffälliges Loch und drehte ihn herum. Das heißt, er versuchte es.
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»Das ist aber merkwürdig«, sagte Sir Pierre. »Es ist ja gar nicht abgeschlossen!« Er zog den Schlüssel wieder heraus und drückte auf die Eichentafel, wobei er sie beiseite schob. Dahinter befand sich ein Wandschrank voller Frauenkleider in allen möglichen Stilrichtungen und Moden. Lord Darcy stieß einen fast geräuschlosen Pfiff aus. »Die blaue Robe, Euer Lordschaft, das ist die richtige«, sagte Sir Pierre. Lord Darcy nahm sie vom Bügel herunter. Die gleichen Knöpfe. Und einer fehlte, war abgerissen worden! »Master Sean!« rief er, ohne sich umzudrehen. Master Sean trat in seinem schweren, fast wälzenden Gang dazu. In seiner Hand hielt er einen seltsamen Gegenstand aus Bronze, den Sir Pierre nicht erkannte. Der Hexer war dabei, vor sich hinzubrummen. »Böses, das ist hier, fürwahr, fürwahr, überall schwingt es. Ja, My Lord?« »Überprüft dieses Kleid und den Knopf, wenn Ihr an der Reihe seid. Ich möchte wissen, wann die beiden voneinander getrennt wurden.« »Jawohl, My Lord.« Er nahm die Robe über den Arm und steckte den Knopf in seine Gürteltasche. »Eins kann ich Euch sagen, My Lord. Rückstände des Bösen, die haben wir hier, und zwar nicht zu knapp!« Er hielt den Gegenstand aus Bronze hoch. »Hat einen festen Hintergrund, etwas, was schon jahrelang hier hereingesickert ist. Aber damit nicht genug, da ist auch eine höllische Menge auf einmal draufgekommen, hat es überlagert. Sehr frisch und sehr kräftig.« »Das wundert mich nicht, schließlich ist hier letzte Nacht ein Mord geschehen, oder heute früh.«
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»Hm, hm, ja ja, My Lord, der Tod ist auch dabei, aber da ist noch etwas anderes. Etwas, was ich nicht genau ausmachen kann.« »Das bekommt Ihr alles dadurch heraus, daß Ihr dieses Bronzekreuz hochhaltet?« fragte Sir Pierre interessiert. Master Sean sah ihn auf eine freundliche Weise brummig an. »'s ist nicht ganz ein Kreuz, Sir. Man nennt es crux ansata. Die alten Ägypter nannten es ankh. Bemerkt bitteschön die Schlaufe anstelle des kurzen geraden Stücks, wie es das gewöhnliche Kreuz hat. Wenn man nun ein richtiges Kreuz aufladen würde, durchsegnen eben, dann würde es das Böse vertreiben. Der ankh reagiert auf Böses nur mit Schwingungen, wegen der Schlaufe oben, die einen kurzgeschlossenen Kreislauf bewirkt. Und er wurde auch nicht durch einen Segen aufgeladen, sondern durch einen anderen... eh... Zauber.« »Master Sean, wir sollen hier einen Mord aufklären«, sagte Lord Darcy. Der Hexer erkannte sofort die Bedeutung seines Tonfalls und nickte schnell. »Jawohl, My Lord.« Und er wälzte sich wieder davon. »Gut, wo ist jetzt die Geheimtreppe?« »Hier entlang, Euer Lordschaft.« Sir Pierre führte Lord Darcy zu einer Wand, die mit der äußeren Wand einen rechten Winkel bildete, und schob einen weiteren Wandvorhang beiseite. »Meine Güte«, brummte Lord Darcy, »hat er denn hinter allem was versteckt?« Aber er sagte es nicht so laut, daß der Privatsekretär es hören konnte.
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Diesmal sahen sie eine solide scheinende Steinwand vor sich. Aber Sir Pierre drückte auf einen kleinen Stein, und ein Teil der Wand schwang zurück. Dahinter war eine Treppe zu sehen. »Aha, ich verstehe«, sagte Darcy. »Dies ist die alte Wendeltreppe, die sich im Hauptturm befindet. Unten befinden sich zwei Türen, die eine führt in den Hof, die andere ist eine Hintertür nach draußen, aber die wurde schon im sechzehnten Jahrhundert zugemauert, also kann man nur über den Hof nach draußen.« »Euer Lordschaft kennen Schloß D'Evreux also?« fragte Sir Pierre erstaunt. »Nur die Pläne, die sich in den Königliche Archiven befinden. Aber ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht...« Darcy hielt inne. »Oho, was ist denn das dort?« Es lag ungefähr einen Fuß von der Geheimtür entfernt am Boden, zum Teil noch von dem Gobelin verdeckt, den Sir Pierre zurückgezogen hatte. Darcy beugte sich vor und zog den Rest des Vorhanges beiseite. »Well! eine.28er Taschenpistole, zweischüssig. Vergoldet, fein graviert, Perlmuttgriff, ein richtiges Schmuckstück!« Er hob die Waffe auf und betrachtete sie. »Ein Schuß abgefeuert!« Er zeigte Sir Pierre die Pistole. »Schon mal irgendwo gesehen?« Der Privatsekretär besah sie sich genau und schüttelte dann den Kopf. »Nicht daß ich wüßte, Euer Lordschaft. Jedenfalls ist es keine von den Waffen des Grafen.« »Seid Ihr sicher?« »Völlig sicher, Euer Lordschaft. Ich kann Euch die Waffensammlung zeigen, wenn Ihr wünscht. My Lord der Graf mochte keine solch kleinen Waffen, er zog größere Kaliber vor.
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Nie hätte er eine Waffe behalten, die für ihn nur ein Spielzeug gewesen wäre.« »Gut, wir werden der Sache nachgehen müssen.« Er rief Master Sean und gab ihm die Pistole. »Und haltet die Augen offen, Master Sean! Bisher hat sich alles, was in diesem Fall von Interesse sein könnte, mit Ausnahme des seligen Grafen selbst, hinter Gobelins, unter Betten und so weiter verborgen. Kontrolliert alles! Sir Pierre und ich werden uns diese Treppe anschauen.« Die Wendeltreppe war düster, aber durch die Schießscharten in den Wänden kam ausreichend Licht hinein. Sie machte vier Drehungen im Hauptturm, bevor sie im Erdgeschoß endete. Lord Darcy besah sich alles sehr aufmerksam und blieb auf dem Geschoß unmittelbar unter der Zimmerflucht des Grafen plötzlich stehen. »Hier war einmal eine Tür«, sagte er und deutete auf einen rechteckigen Teil der Innenwand. »Ja, Euer Lordschaft. Früher gab es in jedem Geschoß eine Öffnung, aber man hat sie alle versiegelt. Es ist alles sehr massiv, wie Ihr selbst feststellen könnt.« »Wo würden sie denn hinführen, wenn sie offen wären?« »Zu den grafschaftliche n Büros. Mein eigenes Büro, die Büros der Sekretäre, dazu die Gendarmeriebüros im ersten Stock. Darunter befinden sich die Kerker. My Lord der Graf war der einzige, der den Hauptturm bewohnte. Der Rest des Haushalts lebt über der Großen Halle.« »Und Gäste?« »Werden meistens im Ostflügel untergebracht. Wir haben nur zwei Hausgäste zur Zeit. Laird und Lady Duncan sind seit vier Tagen hier.« »Ich verstehe.« Sie schritten noch vier Stufen hinunter, dann fragte Lord Darcy leise: »Sagt mir, Sir Pierre, wart Ihr in alle Geschäfte des Grafen eingeweiht?« -3 2 6
Sir Pierre antwortete erst nach vier weiteren Stufen. »Ich verstehe, was Euer Lordschaft meinen«, sagte er. Zwei weitere Stufen. »Nein, das war ich nicht. Ich wußte, daß My Lord der Graf, eh... Beziehungen zum anderen Geschlecht unterhielt. Aber...« Er hielt inne, und trotz der Dunkelheit konnte Lord Darcy sehen, wie sich seine Lippen versteiften. »Aber«, fuhr er langsam fort, »ich habe My Lord nie eine beschafft, wenn Ihr das wissen wollt. Ich bin kein Zuhälter und bin es auch nie gewesen.« »Ich hatte in keiner Weise vor, so etwas anzudeuten, guter Chevalier«, sagte Lord Darcy in aufrichtigem Ton. »Ganz und gar nicht! Aber es gibt doch wohl einen Unterschied zwischen Handlangerdiensten und Mitwissern.« »Oh. Ja, ja natürlich. Nun ja, man kann natürlich nicht siebzehn Jahre lang Privatsekretär eines Gentleman wie des Grafen bleiben, ohne Kenntnis davon zu erlangen, was, eh, was so alles vorgeht, das stimmt. Ja. Ja. Hm!«
Lord Darcy lächelte vor sich hin. Erst jetzt war Sir Pierre klar geworden, wieviel er eigentlich tatsächlich gewußt hatte. Aus Loyalität gegenüber dem Grafen hatte er siebzehn Jahre lang seine Augen buchstäblich verschlossen gehalten. »Es ist mir klar«, fuhr Lord Darcy elegant einlenkend fort, »daß ein Gentleman niemals eine Dame oder den Ruf eines anderen Gentleman kompromittieren würde, ohne einen guten Grund dafür zu haben. Aber... fragen wir einmal so: Wir wissen, daß er nicht sehr diskret war. War er denn auch wählerisch?« »Wenn Euer Lordschaft damit meinen, ob er sich auf Damen von Adel beschränkte, dann kann ich sagen, daß dies nicht der Fall gewesen ist. Solltet Ihr damit fragen, ob er sich -3 2 7
ausschließlich mit dem schwachen Geschlecht beschäftigte, so kann ich nur sagen, daß dies, soweit ich weiß, der Fall war.« »Ich verstehe. Das erklärt den Schrank voller Kleider.« »Euer Lordschaft meinen?« »Ich meine, daß er, wenn ein Mädchen oder eine Frau niedrigen Standes... zu Besuch kam, genügend Kleidung für sie vorrätig hatte.« »Sehr wahrsche inlich, Euer Lordschaft. Er achtete peinlich genau auf Kleidung. Konnte keine Frau leiden, die unordentlich oder ärmlich gekleidet war.« »Auf welche Weise?« »Nun, ich erinnere mich beispielsweise daran, daß er einmal ein sehr hübsches Bauernmädchen sah, von dem er sehr angetan war. Sie war natürlich sehr einfach gekleidet, aber ordentlich und gepflegt. My Lord sagte: ›Da habt Ihr ein Mädel, das weiß, wie man sich anzuziehen hat. Steckt sie in anständige Kleider, und sie könnte als Prinzessin durchgehen‹. Aber ein Mädchen, das vielleicht ein hübsches Gesicht und eine gute Figur hatte, konnte ihn nicht beeindrucken, wenn sie ihre Kleidung nicht anmutig auszurichten verstand.« »Wenn man die Kleidung in dem Schrank bedenkt, dann scheint der verstorbene Graf einen ausgezeichneten Geschmack gehabt zu haben.« Sir Pierre dachte darüber nach. »Hm! Nun ja, My Lord, das würde ich nicht ganz so ausdrücken. Er wußte eigentlich nur, wie Kleidung zu tragen sei, aber er war nicht fähig, sie selbst auszusuchen, von Kleiderschnitten und so weiter verstand er nichts.« »Wie hat er denn dann die ganzen Kleider im Wandschrank sammeln können?« fragte Lord Darcy verblüfft. Sir Pierre lachte leise in sich hinein. »Sehr einfach, Euer Lordschaft! Er wußte, daß Lady Alice einen guten Geschmack -3 2 8
hatte, also ordnete er heimlich an, daß jedes Stück, das Lady Alice anfertigen ließ, kopiert werden sollte. Natürlich mit kleinen Änderungen. Ich bin sicher, daß die Lady nicht sehr erfreut wäre, wenn sie es erführe.« »Nein, das glaube ich auch«, stimmte Darcy nachdenklich zu. »Hier ist die Tür zum Hof«, erklärte Sir Pierre. »Ich bezweifle, daß sie in den letzten Jahren jemals bei hellem Tageslicht geöffnet worden ist.« Er nahm einen Schlüssel vom Bund des Grafen und öffnete das Schloß. Die Tür schwang auf und offenbarte auf ihrer Außenfläche ein großes, daran befestigtes Kruzifix. Lord Darcy bekreuzigte sich. »Guter Gott, was ist das denn?« Er blickte in einen kleinen Schrein, der vom Hof abgemauert war und zehn Fuß von ihrer Öffnung entfernt einen einzigen kleinen Eingang aufwies. Im Raum standen vier kleine Betschemel. »Wenn ich eine Erklärung geben soll, Euer Lordschaft...« fing Sir Pierre an. »Nicht nötig«, sagte Lord Darcy mit harter Stimme. »Es ist ziemlich offensichtlich. My Lord der Graf war recht einfallsreich. Dies ist ein verhältnismäßig neuer Schrein, vier Wände und ein Kruzifix, an die Schloßwand angebaut. Jeder konnte Tag und Nacht hierher kommen, um zu beten, niemand würde dabei auffallen.« Er schritt in den kleinen Raum und drehte sich um, um die Tür zu betrachten. »Und wenn die Tür geschlossen ist, dann weist nichts darauf hin, daß sich hinter dem Kruzifix eine Öffnung befindet. Wenn eine Frau hier hereinkam, dann nahm man an, daß sie beten wollte. Aber wenn sie von dieser Tür wußte...« Er beendete den Satz nicht. »Ja, Euer Lordschaft«, sagte Sir Pierre. »Ich habe es nicht gebilligt, aber es stand mir nicht zu, es zu mißbilligen.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy, machte einen Schritt rückwärts und sah sich um. »Also konnte jeder, der sich -3 2 9
innerhalb der Schloßmauern befand, von hier in die Gemächer des Grafen gelangen.« »Ja, Euer Lordschaft.« »Nun gut. Begeben wir uns wieder nach oben.«
In dem kleinen Büro, das man Lord Darcy und seinem Stab für die Dauer der Untersuchungen zugewiesen hatte, beobachteten drei Männer, wie ein vierter ihnen etwas vorführte. An einem Tisch in der Mitte des Raums stand Master Sean O Lochlainn und hielt einen feingravierten Arabeskenknopf mit einem in der Mitte eingefaßten Diamanten hoch. Er sah die anderen drei an. »Nun, My Lord, Hochwürden und Kollege Doktor, ich bitte um Eure Aufmerksamkeit für diesen Knopf.« Dr. Pateley lächelte, während Vater Bright ernst dreinblickte. Lord Darcy war lediglich damit beschäftigt, aus den südlichen Golfkolonien Neuenglands importierten Tabak in eine Porzellanpfeife aus deutscher Manufaktur zu stopfen. Er gönnte Master Sean die Möglichkeit, sich ein wenig aufzuspielen; gute Hexer waren schwer zu finden. »Würdet Ihr bitte die Robe halten, Dr. Pateley? Danke. Jetzt ein wenig zurücktreten, so, danke, ja. Jetzt lege ich den Knopf auf den Tisch, gut zehn Fuß von der Robe entfernt.« Er murmelte leise ein paar Formeln und stäubte ein wenig Pulver auf den Knopf, strich mit den Händen ein paarmal darüber und blickte Vater Bright an. »Hochwürden?« Vater Bright hob feierlich die rechte Hand und sagte, während er das Zeichen des Kreuzes machte: »Herr unser Gott, möge diese Vorführung in vollem Einklang mit der Wahrheit sein und möge der Leibhaftige uns, die wir hier als Zeugen anwesend
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sind, nicht in die Irre führen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.« »Amen«, sagten die anderen drei im Chor. Master Sean bekreuzigte sich und murmelte etwas vor sich hin. Der Knopf sprang vom Tisch hoch und heftete sich mit großer Gewalt so fest an das Kleidungsstück, als sei er von einem Schneidermeister daran befestigt worden. »Ha!« sagte Master Sean. »Wie ich's mir gedacht habe!« Er gönnte den drei Männern ein breites Lächeln. »Die beiden gehörten mit absoluter Sicherheit zusammen!« Lord Darcy sah gelangweilt aus. »Zeit?« fragte er. »Einen Augenblick noch, My Lord«, sagte Master Sean. »Einen Augenblick.« Während die anderen zusahen, führte er einige weitere Beschwörungen durch, obwohl keine von ihnen so spektakulär wie die erste war. Schließlich sagte Master Sean: »Sie wurden ungefähr um 11.30 Uhr gestern abend voneinander getrennt, My Lord. Aber ich möchte mich nur darauf festlegen, daß es zwischen elf und Mitternacht gewesen sein muß. Die Schnelligkeit, mit der der Knopf zurückgesprungen ist, deutet darauf hin, daß er sehr heftig abgerissen worden ist.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. »Jetzt das Projektil, bitte.« »Jawohl, My Lord. Das funktioniert etwas anders.« Er entnahm seinem symbolverzierten Reisesack einige weitere Utensilien. »Das Gesetz der Ansteckung, edle Sirs, ist eine recht verzwickte Angelegenheit. Wenn man nicht weiß, wie man es zu handhaben hat, dann kann es einen leicht das Leben kosten. Damals in Cork hatten wir in der Gilde einen Zauberlehrling, der einmal ein guter Hexer hätte werden können. Er hatte das Talent; leider, so muß man hinzufügen, konnte er aber nicht vernünftig damit umgehen. Nach dem Gesetz der Ansteckung haben zwei Gegenstände, die jemals miteinander in Verbindung gestanden haben, eine gemeinsame Affinität, die sich direkt -3 3 1
proportional zu dem Produkt der Relevanz des Kontakts zueinander und der Zeitdauer des Kontakts verhält, aber umgekehrt proportional zu der Zeitdauer der Trennung voneinander.« Er lächelte den Priester an. »Das gilt natürlich nicht in gleichem Ausmaß für Heiligenreliquien, Hochwürdiger Sir; da kommt noch ein anderer Faktor hinzu, wie Ihr wißt.« Während er sprach, klemmte der Hexer die kleine Handfeuerwaffe vorsichtig in einen gepolsterten Schraubstock, so daß ihr Lauf parallel zur Tischplatte lag. »Jedenfalls beschloß dieser Zauberlehrling auf eigene Faust, die Küchenschaben im Haus zu beseitigen, was eigentlich ziemlich einfach ist, wenn man weiß, wie man es zu machen hat. Also sammelte er aus allen möglichen Ecken und Ritzen des Hauses Staub, der natürlich die Ausscheidungen des Ungeziefers enthielt. Diesen Staub kochte er unter Beachtung der angemessenen Beschwörungen. Es funktionierte wunderbar, die Küchenschaben bekamen alle Fieber und starben weg. Leider hatte der ungeschickte Junge keine sorgfältige Labortechnik zur Verfügung, so daß drei seiner Schweißtropfen in die Brühe fielen, während er über dem dampfenden Kessel mit seinem Werkzeug hantierte, so daß ihn das Fieber dahinraffte wie eine Schabe.« In der Zwischenzeit hatte er das Geschoß, das Dr. Pateley aus dem Leichnam entfernt hatte, auf einen kleinen Block in gleicher Höhe und Linie mit der Pistolenmündung aufgestellt. »So«, sagte er leise. Dann wiederholte er die Beschwörungen und das Bestäuben, das er schon bei dem Knopf angewandt hatte. Als er die letzte Silbe gesprochen hatte, verschwand die Kugel mit einem Ping! im Pistolenlauf. Die Waffe zitterte ein wenig in ihrem Schraubstock. »Aha!« sagte Master Sean. »Keine Frage, nicht wahr? Das ist die Todeswaffe, My Lord. Ja. Etwa die gleiche Zeit wie das -3 3 2
Abreißen des Knopfs. Nur wenige Sekunden später, nicht mehr. Ergibt schon ein Bild, nicht, My Lord? Seine Lordschaft der Graf reißt einem Mädchen einen Knopf vom Kleid, sie zieht die Knarre und steckt ihm ein Loch.« Lord Darcys Miene verzog sich. »Keine voreiligen Schlüsse, mein guter Sean! Es gibt keinerlei Beweise dafür, daß er von einer Frau ermordet wurde.« »Würde ein Mann denn diese Robe tragen, My Lord?« »Möglicherweise«, sagte Lord Darcy. »Aber wer sagt denn, daß irgend jemand sie anhatte, als der Knopf abgerissen wurde?« »Oh!« Master Sean verfiel in Schweigen. Mit einem kleinen Metallstab entfernte er wieder das Projektil aus der Pistolenkammer. »Vater Bright«, sagte Lord Darcy, »wird die Gräfin heute nachmittag ihren Tee nehmen?« Der Priester sah plötzlich aus, als habe er ein schlechtes Gewissen. »Guter Himmel! Ihr habt ja alle überhaupt noch nichts gegessen! Ich werde dafür Sorge tragen, daß man Euch sofort etwas hochbringt, Lord Darcy. Bei diesem ganzen Durcheinander...« Lord Darcy hob eine Hand. »Entschuldigung, Vater, aber das meinte ich nicht. Ich bin sicher, daß Master Sean und Dr. Pateley gerne eine Kleinigkeit zu sich nehmen würden, aber ich kann bis zum Tee warten. Woran ich dachte, war die Frage, ob die Gräfin wohl ihre Gäste zum Tee bitten würde. Kennt sie Laird und Lady Duncan gut genug, um auf ihre Kondolenz an einem solchen Nachmittag Wert zu legen?« Vater Brights Augenlider verengten sich fast unmerklich. »Es könnte sicherlich eingerichtet werden, Lord Darcy. Werdet Ihr anwesend sein?«
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»Ja, aber vielleicht komme ich ein bißchen zu spät. Doch bei einem nichtformellen Tee wird das wohl kaum etwas ausmachen.« Der Priester blickte auf seine Armbanduhr. »Sagen wir um vier?« »Ja, das wäre gut.« Vater Bright nickte wortlos und verließ den Raum.
Dr. Pateley polierte seinen Kneifer mit einem Seidentaschentuch. »Wie lange wird Euer Zauber den Leichnam konserviert halten, Master Sean?« »So lange wie nötig. Bis der Fall ge löst ist oder wir genug Material haben, um den Fall lösen zu können. Ihr wißt ja, ein Heiliger bin ich nicht, um einen Leichnam jahrelang intakt zu behalten, braucht man schon eine gehörige Motivation.« Sir Pierre blickte auf die Robe, an der der Knopf noch immer festhaftete. »Master Sean, ich verstehe nichts von Magie«, sagte er, »aber könntet Ihr nicht ebenso leicht herausbekommen, wer die Robe getragen hat, wie Ihr festgestellt habt, daß der Knopf zur Robe gehört?« Master Sean wackelte mit dem Knopf. »Nein, Sir, es ist nicht magisch relevant. Das Kleid als ganzes, mit allem drum und dran, das ist eine relevante Einheit; dazu gehört auch die Schneiderin oder derjenige, der den Stoff gewoben hat. Aber eine Person, die ein Kleidungsstück trägt, hat kaum eine magische Beziehung dazu, von wenigen Ausnahmefällen abgesehen.« »Das verstehe ich nicht ganz, fürchte ich.« Master Sean erklärte ihm, daß ein Kleidungsstück und sein Besitzer nur dann eine magisch relevante Beziehung zueinander
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hätten, wenn das Stück schon lange getragen wurde und auch dann immer nur von derselben Person. »Wenn wir dagegen diese Pistole hier nehmen«, fuhr Master Sean geduldig fort, »dann ist es doch klar, daß sie allenfalls mechanische Abnutzungserscheinungen haben kann. Der Pistole ist es völlig gleichgültig, von wem sie abgefeuert wird. Nicht so der Kugel - sie hat eine magisch relevante Beziehung zu ihrer Pistole. Das muß man alles mitbedenken, Sir Pierre.« »Ich verstehe«, sagte der Chevalier. »Höchst interessant.« Dann wandte er sich an Lord Darcy. »Benötigen Euer Lordschaft noch meine Dienste?« Lord Darcy winkte ab. »Im Moment nicht, Sir Pierre. Es ist mir klar, daß Ihr noch andere Dinge zu tun habt.« »Danke, Euer Lordschaft. Solltet Ihr mich noch einmal benötigen, so findet Ihr mich in meinem Büro.« Sobald Sir Pierre die Tür hinter sich zugezogen hatte, reckte Lord Darcy dem Meisterhexer die Hand entgegen. »Master Sean, die Waffe.« Master Sean reichte sie ihm. »Schon mal eine ähnliche gesehen, Master Sean?« »Nicht genau die gleiche, My Lord.« »Bitte, bitte, Sean! Nicht zu vorsichtig sein! Ich bin kein Hexer, aber ich brauche nichts von den Gesetzen der Ähnlichkeit zu verstehen, um eine ganz offensichtliche Ähnlichkeit bemerken zu können.« »Edinburgh«, sagte Meister Sean knapp. »Genau. Schottische Arbeit. Die Goldarbeit, das Schloß - alles urschottisch. Wie Ihr gesagt habt: Edinburgh.« Dr. Pateley setzte seinen Kneifer wieder auf und besah sich die Pistole in Lord Darcys Hand. »Könnte es keine italienische Waffe sein, My Lo rd? Oder eine maurische? Im maurischen Spanien arbeitet man ähnlich.« -3 3 5
»Kein maurischer Waffenschmied würde den Griff mit einer Jagdszene schmücken«, sagte Lord Darcy kurz, »und die Italiener hätten wohl kaum Heidekraut und Disteln im Feld abgebildet.« »Aber das FdM, das in den Lauf eingraviert ist...« »Ferrari de Milano«, sagte Lord Darcy, »ganz genau. Aber der Lauf ist viel neuer als der Rest, genau wie die Geschoßkammern. Diese Pistole ist schon ziemlich alt, ich schätze, zirka fünfzig Jahre. Schloß und Kolben sind noch in allerbester Verfassung, was darauf hindeutet, daß die Waffe gut gepflegt worden ist. Aber häufiger Gebrauch oder vielleicht ein Unfall, haben den Besitzer möglicherweise dazu veranlaßt, einen neuen Lauf einbauen zu lassen. Er wurde vo n Ferrari ersetzt.« »Ich verstehe«, meine Dr. Pateley ein wenig eingeschüchtert. »Wenn wir das Schloß öffnen... Master Sean, gebt mir doch bitte einmal Euren kleinen Schraubenzieher, danke! Wenn wir das Schloß öffnen, dann werden wir den Names eines der besten Waffenschmiede vorfinden, die es vor einem halben Jahrhundert gegeben hat, ein Name, der bis heute noch nicht vergessen worden ist - Hamish Graw von Edinburgh. Ah, hier, ja. Seht Ihr?« Sie sahen es alle. Zufrieden schraubte Lord Darcy das Schloß wieder zu. »Männer, jetzt haben wir die Waffe plaziert. Wir wissen auch, daß ein Laird Duncan of Duncan hier im Schloß zu Gast ist. Der Duncan of Duncan höchstpersönlich. Ein schottischer Laird, der vor fünfzehn Jahren Seiner Majestät Gesandter am Hof des Großherzogtums Milano gewesen ist. Mir scheint, daß es doch sehr seltsam wäre, wenn es zwischen Laird Duncan und dieser Waffe keine Verbindung gäbe, na?«
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»Kommt, Master Sean, kommt schon!« sagte Lord Darcy ziemlich ungeduldig. »Wir haben nicht allzuviel Zeit!« »Geduld, My Lord, Geduld«, sagte der kleine Hexer ruhig. »Kann diese Dinge nicht überstürzen.« Er machte sich an einer Reisetruhe zu schaffen, die in dem Gästezimmer stand, das zur Zeit von Laird und Lady Duncan bewohnt wurde. »Gar nicht so einfach, mit einem Zylinderschloß - ah!« Das Schloß sprang auf. Lord Darcy hob behutsam den Deckel. »Vorsicht, My Lord!« rief Master Sean leise. »Er hat einen , Zauber auf dem Ding, laßt mich das machen!« Im Inneren der Truhe befand sich ein zweiter, dünnerer Deckel, der scheinbar von einem einfachen Bolzen gehalten wurde. Als Master Sean mit seinem Zauberstab, einem fünf Fuß langen Stock aus Corthainn-Holz, an den Deckel rührte, geschah nichts. Auch als er den Bolzen damit berührte, erzeugte er damit keine Reaktion. Er sah sich im Zimmer um und hob einen steinernen Türstopper auf, den er auf den Innenrand der Truhe legte. Dann schob er seine Hand in die Truhe, als ob er den Innendeckel hochheben wolle. Mit einem heftigen Knall fiel der Außendeckel plötzlich auf den Stein herab. Lord Darcy massierte sanft sein rechtes Armgelenk, als fühle er, wo ihn der Deckel hätte treffen sollen. »Soll also fremde Hände einklemmen? Eh?« »Oder Köpfe, My Lord. Übrigens nicht sonderlich wirkungsvoll, wenn man weiß, was man beachten muß. Es gibt bessere Zauber, eine Truhe zu schützen. Aber jetzt werden wir uns einmal anschauen, was Seine Lordschaft unbedingt so sehr bewacht wissen wollte.« Er öffnete beide Truhendeckel. »Alles klar, My Lord. Oh! Schaut Euch das an!« -3 3 7
Lord Darcy hatte es bereits erblickt. Beide schauten sie stumm auf die Gegenstände in der Truhe. Master Seans geschäftige Finger wickelten ein Utensil nach dem anderen aus seiner Papierumhüllung. »Ein menschlicher Schädel«, sagte er. »Flaschen mit Friedhofserde. Hm! Auf dieser steht: Jungfrauenblut. Oh! Eine Teufelspfote!« Es war eine mumifizierte menschliche Hand, steif und trocken, die Haut braun, die Finger teilweise gekrümmt, als hielten sie einen unsichtbaren Ball von ungefähr drei Zoll Durchmesser fest. Auf jeder einzelnen Fingerspitze befand sich ein Kerzenstummel. Wenn man die Hand auf ihren Rücken legte, konnte sie als Kerzenleuchter dienen. »Das besiegelt die Angelegenheit so ziemlich, eh, Master Sean?« sagte Lord Darcy. »In der Tat, My Lord. Auf jeden Fall können wir ihn wegen des Besitzes dieser Gegenstände belangen. Schwarze Magie ist eine Sache des Symbolismus und des Vorhabens. Der Vorsatz allein reicht.« »Also gut. Ich will eine vollständige Liste aller Gegenstände in dieser Truhe haben. Und legt sie wieder genauso hinein, wie Ihr sie vorgefunden habt.« Nachdenklich zupfte er sich am Ohrläppchen. »Laird Duncan hat also das Talent, eh? Interessant!« »Aye, My Lord. Aber nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedenkt, daß es in der Familie liegt.« Master Sean begann, einen Vortrag über die Genealogie der Familie Duncan zu halten. Unterdessen strich Lord Darcy im Raum umher wie ein Kater, der eine Maus gewittert hat. »Es bringt mich jedesmal zum Kochen, wenn jemand das Talent mißbraucht«, schloß Master Sean seine Rede.
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»Wenn wir ihm nicht das Handwerk legen, wird Laird Duncan sich noch selbst irgendwann ordentlich verbrennen«, meinte Lord Darcy geistesabwesend. »Aye, My Lord«, sagte Master Sean. »Der Geisteszustand, der für das Ausüben Schwarzer Magie notwendig ist, ist solcherart, daß er den Schwarzmagier schließlich selbst vernichtet. Aber wenn er etwas von seinem Fach versteht, dann werden eine Menge anderer Leute zuerst dran glauben, bevor es ihn selbst erwischt.« Lord Darcy öffnete ein Schmuckkästchen auf der Kommode. Der übliche Reiseschmuck - in ausreichender Menge, aber nicht allzuviel. »Wenn sich ein Mensch dem Haß und der Rachsucht verschreibt«, dozierte Master Sean im Hintergrund weiter, »dann gräbt er sich schließlich sein eigenes Grab. Und wenn er gerne zusieht, wie andere leiden oder ihnen auch noch selbst gerne Leiden zufügt, dann ist sein Verstand sowieso schon benebelt, und der Mißbrauch des Talents macht die ganze Sache dann noch schlimmer.« Schließlich fand Lord Darcy, was er suchte, in einer Schublade, versteckt unter säuberlich gefalteter Wäsche. Er mußte nicht erst den Hexer um Rat fragen, um zu erkennen, daß es das Pistolenhalfter der Mordwaffe war, aus wunderschönem Florentiner Leder gearbeitet und mit Goldverzierungen geschmückt.
Vater Bright hatte das Gefühl, als sei er schon stundenlang auf einem Seil spazierengegangen. Laird und Lady Duncan hatten sich die ganze Zeit mit leiser, unterdrückter Stimme unterhalten, die ihre innere Nervosität verriet, und es wurde ihm klar, daß es mit der Gräfin und ihm nicht anders gewesen war. Zwar hatten die Duncans feierlich kondoliert, und die Gräfin hatte ebenso -3 3 9
gefaßt dafür gedankt, doch Vater Bright wußte sehr genau, daß niemand im Raum das Ableben des Grafen bedauerte. Laird Duncan saß in seinem Rollstuhl; sein scharfgeschnittenes Gesicht trug einen Ausdruck, der freundlich und verbindlich wirken sollte, obwohl man ihm ansah, daß ihn ein großer Kummer bedrückte. Vater Bright bemerkte es, aber er wußte, daß er selbst den gleichen Ausdruck hatte. Niemand im Raum konnte irgendeinen der anderen täuschen, aber zuzugeben, was man dachte, wäre eine barbarische Verletzung der Etikette gewesen. Doch im Gesicht des Lairds spiegelte sich ein innerer Aufruhr, den Vater Brights priesterlicher Instinkt nur als - nun ja, böse deuten konnte. Lady Duncan war die meiste Zeit sehr schweigsam. Seit sie vor fünfzehn Minuten mit ihrem Mann zum Tee hinuntergekommen war, hatte sie kaum ein Dutzend Worte gesprochen. Ihr Gesicht wirkte maskenhaft, aber es spiegelte den gleichen inneren Aufruhr, die gleiche Besorgnis wider wie das des Lairds. Doch das feine Gespür des Priesters sagte ihm, daß es sich bei ihr nur um einfache, nackte Angst handelte. Seinen scharfen Augen war es nicht entgangen, daß sie eine Spur zuviel Schminke aufgetragen hatte; fast, aber eben nur fast, wäre es ihr gelungen, die kleine Schramme auf ihrer rechten Wange zu verdecken. My Lady die Gräfin D'Evreux war unglücklich und traurig, aber sie offenbarte weder Angst noch Böses. Sie lächelte hö flich und sprach sehr ruhig. Vater Bright wäre jede Wette eingegangen, daß nicht einer der vier Gesprächsteilnehmer sich später auch an nur ein einziges Wort der Unterhaltung würde erinnern können. Vater Bright hoffte, daß sich Lord Darcy beeilen würde. Keinem der Gäste war mitgeteilt worden, daß sich der herzogliche Inspektor im Schloß befand, und der Priester sah dem Zusammentreffen etwas bang entgegen. Man hatte den -3 4 0
Duncans nicht erzählt, daß der Graf durch einen Mord seinen Tod gefunden hatte, aber er war sich sicher, daß sie es wußten. Vater Bright sah Lord Darcy durch die Tür am anderen Ende der Halle eintreten. Er entschuldigte sich mit einer gemurmelten Floskel, stand auf und ging auf Lord Darcy zu. »Habt Ihr gefunden, wonach Ihr gesucht habt, Lord Darcy?« fragte er ihn leise in der Halle. »Ja«, sagte Lord Darcy. »Ich fürchte, daß wir Lord Duncan festnehmen müssen.« »Mord?« »Möglich. Da bin ich mir noch nicht sicher. Angeklagt wird er wegen Schwarzer Magie werden. Er hatte alle Utensilien in einer Truhe in seinem Zimmer. Master Sean berichtet, daß in dem Zimmer gestern nacht ein Ritual durchgeführt worden ist. Aber das liegt natürlich außerhalb meines Bereichs. Als Vertreter der Kirche seid Ihr es, der ihn festnehmen muß.« Er hielt inne. »Ihr scheint nicht überrascht zu sein, Hochwürden.« »Nein, das bin ich auch nicht«, gab Vater Bright zu. »Ich habe es gefühlt. Ihr und Master Sean werdet mir aber erst eine eidliche Aussage geben müssen, bevor ich handeln kann.« »Ich verstehe. Könnt Ihr mir einen Gefallen tun?« »Wenn ich das kann?« »Holt My Lady, die Gräfin, unter irgendeinem Vorwand aus dem Zimmer. Laßt mich mit ihren Gästen allein. Ich möchte My Lady nicht mehr aufregen als unbedingt nötig.« »Ich denke, daß das gehen wird. Sollen wir zusammen eintreten?« »Warum nicht? Aber erwähnt nicht, warum ich hier bin. Sie sollen annehmen, daß ich irgendein anderer Gast bin.« »In Ordnung.«
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Alle drei Anwesenden blickten auf, als Vater Bright mit Lord Darcy eintrat. Man wurde einander vorgestellt. Lord Darcy bat seine Gastgeberin höflich um Verzeihung für seine Verspätung. Vater Bright bemerkte, daß Lord Darcy dasselbe traurige Lächeln aufgesetzt hatte wie die anderen. Lord Darcy bediente sich am Büffet und ließ sich von der Gräfin eine große Tasse heißen Tee einschenken. Er erwähnte den Tod des Grafen nicht. Statt dessen lenkte er das Gespräch auf die wilde Schönheit Schottlands und auf die ausgezeichneten Möglichkeiten, dort auf die Rebhuhnjagd zu gehen. Vater Bright war unterdessen noch einmal hinausgegangen und erneut zurückgekehrt. Er wandte sich sofort an die Gräfin und sprach in einem leisen, aber deutlich vernehmbaren Ton mit ihr. »My Lady, Sir Pierre Morlaix teilt mir soeben mit, daß es einige Angelegenheiten gibt, die Eure sofortige Aufmerksamkeit erfordern. Es dauert nur wenige Augenblicke.« My Lady die Gräfin zögerte nicht, sondern entschuldigte sich bei ihren Gästen. »Bitte, laßt Euch nicht stören. Ich werde wohl nicht lange bleiben.« Lord Darcy wußte, daß der Priester nicht lügen würde, und fragte sich, was dieser wohl mit Sir Pierre vereinbart haben mochte. Nicht, daß es ihm wichtig wäre, solange die Gräfin nur mindestens zehn Minuten lang fortblieb. Das unterbrochene Gespräch wandte sich wieder den Rebhühnern zu. »Seit meinem Unfall bin ich nicht mehr auf die Jagd gegangen«, sagte Laird Duncan, »aber früher hatte ich sehr viel Freude daran. Ich lade immer noch jährlich einige Freunde zu mir zum Jagen, wenn es Saison ist.« »Welche Waffe zieht Ihr denn bei der Rebhuhnjagd vor?« fragte Lord Darcy. -3 4 2
»Eine einzöllige mit modifizierter Würgebohrung«, sagte der Schotte. »Ich besitze zwei Stück davon, exzellente Waffe!« »Schottisches Fabrikat?« »Nein, nein, englisch. Euren Londoner Waffenschmieden macht bei Schrotflinten niemand so schnell etwas vor.« »Ach, ich hatte gedacht, daß Euer Lordschaft vielleicht alle Eure Waffen in Schottland anfertigen ließen.« Während er sprach, zog er vorsichtig die kleine Pistole aus der Rocktasche und legte sie auf den Tisch. Nach einem plötzlichen Schweigen fragte Laird Duncan wütend: »Was soll das denn? Wo habt Ihr sie her?« Lord Darcy blickte Lady Duncan an, die plötzlich bleich geworden war. »Vielleicht«, sagte er kühl, »kann uns Lady Duncan darüber Auskunft geben.« Sie schüttelte den Kopf und rang nach Luft. Die Worte schienen ihr zu fehlen. »Nein, nein«, sagte sie schließlich, »ich weiß nichts. Nichts.« Aber Laird Duncan sah sie merkwürdig an. »Ihr leugnet nicht, daß es Eure Waffe ist, My Lord?« fragte Lord Darcy. »Oder die Eurer Gattin, wie auch immer?« »Woher habt Ihr sie?« Laird Duncans Stimme hatte einen gefährlichen Unterton, und Lord Darcy sah, wie sich die Muskeln seines früher einmal sehr kräftigen Körpers anspannten. »Aus dem Schlafzimmer des verstorbenen Grafen D'Evreux.« »Und was hatte sie dort zu suchen?« Die Frage schien ebenso an Lady Duncan wie an Lord Darcy gerichtet zu sein. »Unter anderem hat sie dem Grafen D'Evreux ins Herz geschossen.« Lady Duncan fiel ohnmächtig nach vorne, wobei sie ihre Teetasse umwarf. Laird Duncan griff nach der Waffe, doch Lord Darcy kam ihm zuvor. »Nein, nein, My Lord«, sagte er sanft. -3 4 3
»Dies ist ein Beweisstück in einem Mordfall. Wir dürfen keinen Unfug mit Königlichem Beweismaterial treiben!« Auf das, was nun folge, war er nicht gefaßt. Laird Duncan rief etwas Obszönes in schottischem Gälisch, legte Hände und Arme auf die Lehnen seines Rollstuhls, gab sich einen Schub und schoß auf Lord Darcy zu, indem er ihn mit beiden Händen am Hals zu packen versuchte. Es wäre ihm beinahe gelungen, doch ließen ihn seine matten Beine im Stich. So fiel er vornüber auf den schweren Eichentisch, die Hände immer noch nach dem überraschten Engländer ausgestreckt. Sein Kinn schlug hart auf der Tischfläche auf, dann rutschte er herunter, wobei er die Tischdecke mitsamt dem Porzellan und dem Tafelsilber mit sich zog. Schließlich kam er am Boden zu liegen und bewegte sich nicht, ebenso wie seine Frau. Lord Darcy sprang auf und betrachtete die beiden ohnmächtigen Figuren vor sich. Er hoffte nur, daß er jetzt nicht zu sehr wie König Macbeth aussah. »Ich glaube nicht, daß sie einen bleibenden Schaden zurückbehalten werden«, sagte Dr. Pateley eine Stunde später. »Lady Duncan hat natürlich einen Schock erlitten, aber Vater Bright hat sie schon bald wieder zur Besinnung gebracht. Sie is t eine fromme Frau, glaube ich, auch wenn sie sündig sein mag.« »Und Laird Duncan?« fragte Lord Darcy. »Da sieht die Sache schon anders aus. Ich fürchte, daß sein Rückenleiden etwas abbekommen hat, und der Schlag auf das Kinn hat ihm auch nicht eben gut getan. Ich weiß nicht, ob Vater Bright ihm helfen kann. Heilen erfordert die Mitarbeit des Patienten. Ich habe alles für ihn getan, was in meiner Möglichkeit stand, aber ich bin nur ein Chirurgus, kein Heiler. Vater Bright hat als Heiler allerdings einen recht guten Ruf, und -3 4 4
es kann durchaus sein, daß er Seiner Lordschaft zu helfen vermag.« Master Sean schüttelte zweifelnd den Kopf. »Seine Hochwürden hat das Talent, da gibt es keinen Zweifel, aber jetzt hat er es mit einem Mann zu tun, der es auch hat, mit einem Mann, dessen Geist letzten Endes auf Selbstzerstörung aus ist.« »Na ja, das geht mich nichts weiter an«, sagte Dr. Pateley. »Ich bin nur ein Techniker. Das Heilen überlasse ich der Kirche, da gehört es hin.« »Master Sean«, sagte Lord Darcy, »hier ist immer noch etwas unklar. Wir brauchen mehr Beweismaterial. Was ist mit den Augen?« Master Sean blinzelte. »Ihr meint den Bildtest, My Lord?« »Ja.« »Der wird vom Gericht nicht anerkannt werden, My Lord«, sagte der Hexer. »Das ist mir klar«, sagte Lord Darcy frostig. »Augentest?« fragte Dr. Pateley. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz...« »Er wird nicht oft angewandt«, sagte Master Sean. »Es handelt sich um eine psychische Erscheinung, die manchmal im Augenblick des Todes stattfindet, besonders bei einem gewaltsamen Tod. Die gewaltige Belastung bewirkt eine Art von geistigem Rückstoß, wenn Ihr versteht, was ich meine. Das führt dazu, daß das Bild, das der Sterbende zuletzt vor Augen hatte, wieder auf die Netzhaut zurückprojiziert wird. Mit den richt igen Zaubern kann man es wieder sichtbar machen. Aber selbst unter den allerbesten Bedingungen ist es eine sehr schwierige Sache, und meistens sind die Bedingungen katastrophal schlecht. Erstens geschieht es nicht immer, zum Beispiel wenn der Betreffende den Angriff erwartet. Im Duell oder unter Bedrohung durch eine Waffe kann sich das Opfer vorher auf die -3 4 5
Situation einstellen. Außerdem muß der Tod praktisch sofort eintreten, sonst geht der Effekt verloren. Und wenn das Opfer die Augen geschlossen hält, dann tritt der Effekt natürlich auch nicht ein.« »Die Augen des Grafen waren offen«, sagte Dr. Pateley. »Sie waren noch offen, als ich ihn vorfand. Wie lange hält sich das Bild nach dem Tod?« »Solange, bis sich die Zellen der Netzhaut auflösen. Selten länger als vierundzwanzig Stunden, meistens wesentlich kürzer.« »Es ist noch keine vierundzwanzig Stunden her«, sagte Lord Darcy, »und es ist durchaus wahrscheinlich, daß der Graf völlig überrascht wurde.« »Ich muß zugeben, daß die Bedingungen recht günstig zu sein scheinen, My Lord«, sagte Master Sean nachdenklich. »Ich will es versuchen, aber macht Euch nicht zu große Hoffungen.« »Das werde ich schon nicht tun. Versucht Euer Bestes, Master Sean. Wenn es irgendeinen praktizierenden Hexer gibt, der das machen kann, dann seid Ihr es.« »Danke, My Lord. Ich werde mich sofort daranbegeben«, sagte Master Sean mit kaum verhohlenem Stolz. Zwei Stunden später schritt Lord Darcy durch die Große Halle. Master Sean, der ihm mit seinem Großen Stab aus Caorthainn-Holz und seinem Reisesack folgte, hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Darcy hatte Vater Bright und die Gräfin D'Evreux gebeten, sich mit ihm in einem der kleineren Gästezimmer zu treffen, doch kam die Gräfin allein auf ihn zu. »My Lord Darcy«, fragte sie mit besorgtem Ausdruck in ihrem schlichten Gesicht, »stimmt es, daß Ihr Laird und Lady Duncan wegen dieses Mordes verdächtigt? Denn wenn dem so sein sollte, dann muß ich...« -3 4 6
»Nicht mehr, My Lady«, unterbrach Lord Darcy sie schnell. »Ich glaube, nun beweisen zu können, daß keiner der beiden an diesem Mord Schuld trägt. Allerdings wird die Anklage gegen Laird Duncan wegen Schwarzer Magie aufrechterhalten werden müssen.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Aber...« »Bitte, My Lady«, unterbracht Lord Darcy sie erneut, »laßt mich Euch alles erklären. Kommt.« Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, traten sie in das Zimmer, in dem Vater Bright schon auf sie wartete. »Bitte«, sagte Lord Darcy, »nehmt doch Platz! Es wird nicht lange dauern. My Lady, darf Master Sean wohl den Tisch dort drüben benutzen?« »Aber gewiß doch, My Lord«, sagte die Gräfin leise, »aber gewiß doch.« Nur zögernd setzten die beiden sich und sahen zu, wie Master Sean O Lochlainn mit seinen Vorbereitungen begann. Als Lord Darcy sprach, richteten sie ihre Augen auf ihn. »Eine solche Untersuchung durchzuführen«, begann er, »ist nicht so einfach. Die meisten Mordfälle können durch jeden Oberwachtmeister gelöst werden, da sie nichts Geheimnisvolles an sich haben. Aber kraft Königlichen Gesetzen muß ein Herzoglicher Inspektor hinzugezogen werden, wenn der Fall unlösbar erscheint oder Mitglieder des Adels betrifft. Deshalb wart Ihr auch völlig im Recht, Seine Hoheit den Herzog sofort zu verständigen, nachdem der Mord entdeckt wurde.« Er lehnte sich zurück. »Und es war von Anfang an klar, daß der verstorbene Graf ermordet wurde.« Vater Bright wollte etwas sagen, doch ließ ihn Lord Darcy nicht dazu kommen. »Unter ›Mord‹, Hochwürden, verstehe ich, daß er keines natürlichen Todes gestorben ist. Vielleicht sollte ich besser von Totschlag sprechen. Nun gut, die Frage lautete also, wer für diesen Totschlag verantwortlich war. Wie Ihr -3 4 7
wißt... My Lady werden verzeihen, wenn ich etwas direkt bin... wie Ihr also wißt, war der selige Graf ein ziemlicher Schürzenjäger. Nein, ich will es drastischer ausdrücken, er war ein Satyr, ein Wüstling, ein Mann, der von Sexualität besessen war. Wenn ein solcher Mann seiner Leidenschaft frönt - was der selige Graf mit Sicherheit tat - , gibt es meistens nur eine Art von Ende. Wenn er nicht gerade eine sehr einnehmende Persönlichkeit ist - und das war der Graf wohl nicht - , dann wird ihn eines Tages irgend jemand genug hassen, um ihn umzubringen. Ein solcher Mann hinterläßt immer eine endlose Reihe verletzter Frauen und verletzter Männer. Eine dieser Personen kann ihn umbringen. Eine dieser Personen hat es getan. Aber wir müssen herausbekommen, wer diese Person war und inwieweit sie schuldig war. Das ist meine Aufgabe. Aber nun zu den Tatsachen. Wir wissen, daß Edouard eine Geheimtreppe besaß, die direkt in seine Gemächer führte. Allzu geheim war die Sache allerdings nicht. Es gab zahlreiche Frauen - adlige und niederen Standes - , die davon wußten und auch, wie man die Treppe benutzt. Wenn Edouard die untere Tür nicht abschloß, dann konnte jeder hereinkommen. In seinem Schlafzimmer hatte er ein weiteres Schloß, so daß nur eintreten konnte, wer gebeten war, auch wenn sie, oder er, die Treppe hinauf gelangt war. Er war also geschützt. Aber jetzt zu den Ereignissen der letzten Nacht. Ich habe Beweise und auch die Aussagen von Laird und Lady Duncan. Wie ich die Geständnisse bekam, will ich gleich erklären. Erstens: Lady Duncan hatte letzte Nacht ein Stelldichein mit dem Grafen D'Evreux. Sie stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer hoch. Sie trug eine kleine Pistole mit sich. Sie hatte ein Verhältnis mit Edouard gehabt, und er hatte sie schließlich zurückgewiesen. Sie war wütend, aber sie suchte ihn auf. Als sie ankam, war er betrunken, in einer seiner Launen, die Ihr beide zu Genüge kennt. Sie bettelte darum, wieder seine Geliebte werden zu dürfen. Er lehnte ab. Lady Duncan zufolge sagte er: ›Ich will -3 4 8
dich nicht. Du bist es nicht wert, im gleichen Raum wie sie zu sein!‹ Diese Betonung stammt von Lady Duncan, nicht von mir. Wütend zog sie die Pistole, die Pistole, die ihn tötete.« Die Gräfin rang nach Luft. »Aber Mary konnte gar nicht...« »Bitte!« Mit einem Knall hieb Lord Darcy mit der Hand auf die Tischfläche. »My Lady, Ihr werdet mir gefälligst zuhören!« Vater Bright wandte sich an sie und sagte: »Bitte, meine Tochter, wartet.« »Verzeihung, My Lady«, lenkte Lord Darcy ein. »Ich wollte soeben erklären, wieso Lady Duncan Euren Bruder nicht umbringen konnte. Da ist zunächst einmal die Sache mit dem Kleid. Wir sind sicher, daß die Robe, die wir in Edouards Wandschrank gefunden haben, von der Person getragen wurde, die ihn umbrachte. Und diese Robe konnte Lady Duncan unmöglich passen, dazu ist sie viel zu... eh... kräftig gebaut. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt, und aus Gründen, die ich später erklären werde, glaube ich ihr. Als sie die Waffe auf Euren Bruder richtete, hatte sie keinerlei Absicht, ihn zu töten. Euer Bruder wußte das. Er holte aus und verpaßte ihr eine Ohrfeige. Sie ließ die Pistole fallen, und er komplimentierte sie recht unsanft die Treppe hinunter. Er warf sie ganz schlicht hinaus. Hysterisch rannte Lady Duncan zu ihrem Mann. Und als sie von ihm einigermaßen beruhigt worden war, erkannte sie, daß sie ihm unmöglich alles erzählen konnte. Sie wußte, daß Laird Duncan ein gewalttätiger, aufbrausender Mensch war, genau wie Edouard. Also erzählte sie ihm eine Lüge. Sie erzählte ihm, daß Edouard sie bestellt habe, um ihr ›etwas Wichtiges‹ zu sagen. Es sei um Laird Duncans Sicherheit gegangen. Sie behauptete, daß ihr der Graf gesagt habe, daß er davon wisse, daß Laird Duncan Schwarze Magie betreibe und daß er ihn bei der Kirche anzeigen wolle, wenn sie ihm nicht zu Willen sei. Daraufhin habe sie sich gewehrt und sei davongelaufen. Das war natürlich ein richtiger Lügenteppich. Aber Laird Dunc an glaubte jedes Wort davon. Sein Ichbewußtsein war so ausgeprägt, daß es ihm gar nicht in -3 4 9
den Sinn kam, daß sie ihm hätte untreu werden können, obwohl er seit fünf Jahren gelähmt war.« »Woher könnt Ihr wissen, daß Lady Duncan die Wahrheit gesagt hat?« fragte Vater Bright vorsichtig. »Abgesehen von der Robe, die Edouard stets nur für Frauen niederen Standes bereithielt, nicht für Adlige, haben wir noch die Aussage von Laird Duncan. Also - Zweitens: Laird Duncan konnte den Mord nicht körperlich verübt haben. Wie sollte ein Mann, der an den Rollstuhl gefesselt war, die Treppe hochkommen? Das halte ich für unmöglich. Die Möglichkeit, daß er alles nur vorgetäuscht hat und all die Jahre lang seine Beine sehr wohl gebrauchen kann, wurde vor drei Stunden widerlegt, als er sich selbst bei dem Versuch verletzte, mich zu erwürgen. Seine Beine können ihn nicht einmal einen Schritt weit tragen, geschweige denn die ganze Treppe hoch.« Lord Darcy faltete befriedigt die Hände. »Dann bleibt noch die Möglichkeit«, sagte Vater Bright, »daß Laird Duncan den Grafen D'Evreux auf magische Weise umgebracht hat.« Lord Darcy nickte. »Das ist in der Tat möglich, Hochwürdiger Sir, wie wir beide wissen. Aber nicht in diesem Fall. Master Sean hat mir versichert, und Ihr werdet das zweifellos unterstreichen, daß ein Mensch, der durch Schwarze Magie getötet wird, durch inneres Organversagen ums Leben kommt, aber nicht durch eine Kugel im Herzen. Tatsächlich bewegt der Schwarzmagier nämlich sein Opfer dazu, sich selbst zu töten, auf psyc hosomatische Weise. Er stirbt durch das, was man in der Fachsprache Psychische Induktion nennt. Master Sean hat mich belehrt, daß die verbreitetste und gröbste Methode die sogenannte Phantombild-Methode ist. Sie besteht darin, ein Abbild, meistens, aber nicht immer, aus Wachs herzustellen und mit Hilfe des Gesetzes der Ähnlichkeit den Tod herbeizuführen. Man wendet auch das Gesetz der Ansteckung an, da man -3 5 0
meistens Fingernägel, Haare, Speichel oder Blutstropfen des Opfers in das Wachsbild gibt. Ist es nicht so, Vater?« Der Priester nickte. »Ja, das stimmt. Und im Gegensatz zu dem, was manche ketzerische Materialisten behaupten, ist es auch nicht unbedingt nötig, daß das Opfer davon in Kenntnis versetzt wird, obwohl das die Sache manchmal erleichtert.« »Gena u«, sagte Lord Darcy. »Aber es ist wohlbekannt, daß ein fähiger Magier - ob ›weiß‹ oder ›schwarz‹ - auch Gegenstände bewegen kann. Würdet Ihr My Lady vielleicht erklären, warum ihr Bruder nicht auf eine solche Weise getötet werden konnte?« Vater Bright wandte sich an die Gräfin. »Es fehlt die magische Relevanz. In diesem Fall muß das Geschoß entweder in Beziehung zum Herzen oder zur Pistole gestanden haben. Um mit einer Geschwindigkeit zu fliegen, die es ihr erlaubt hätte, in die Haut einzudringen, hätte ihre Affinität zum Herzen wesentlich stärker sein müssen als die zur Waffe. Aber der Test, den Master Sean durchgeführt hat, zeigte, daß dies nicht der Fall war. Folglich muß man schließen, daß die Kugel mit physikalischen Mitteln bewegt wurde, nicht mit ma gischen.« »Was hat Laird Duncan denn dann getan?« fragte die Gräfin. »Drittens!« sagte Lord Darcy. »Da er glaubte, was Lady Duncan ihm erzählt hatte, beschloß er voller Wut, Euren Bruder umzubringen. Er verwendete einen Induktionszauber. Aber dieser erwies sich als Bumerang und hätte ihn fast umgebracht. Wenn man zum Beispiel Öl auf ein Feuer gibt, dann wird dieses, in Verbindung mit Luft, größer werden. Wenn wir aber Asche hinzugefügt, dann erlischt es. Wenn man, auf ähnliche Weise, ein lebendes Wesen angreift, dann stirbt es. Aber wenn man ein totes Wesen angreift, dann prallt die Energie zurück und schadet dem Angreifer selbst. Theoretisch könnten wir Laird Duncan wegen versuchten Mordes anklagen, denn es besteht kein Zweifel daran, daß er Euren Bruder töten wollte, My Lady. Aber -3 5 1
zu diesem Zeitpunkt war Euer Bruder bereits tot! Der darauffolgende Rückschlag magischer Energie schlug Laird Duncan für mehrere Stunden bewußtlos, während Lady Duncan besorgt und ängstlich wartete. Als Laird Duncan wieder aufwachte, war ihm klar, was geschehen war. Er wußte, daß Euer Bruder bereits tot war, als er den Zauber verhängte. Also nahm er an, daß Lady Duncan ihn getötet habe. Andererseits wußte Lady Duncan genau, daß sie Edouard lebend verlassen hatte. Also dachte sie, daß ihn die Schwarze Magie ihres Mannes ins Jenseits befördert habe.« »Jeder versuchte, den anderen zu decken«, sagte Vater Bright. »Folglich ist keiner von beiden durch und durch böse. Vielleicht können wir also doch noch etwas für Laird Duncan tun.« »Davon verstehe ich nichts, Vater«, sagte Lord Darcy. »Die Kunst des Heilens obliegt der Kirche, nicht mir.« Amüsiert bemerkte er, daß er soeben die Worte Dr. Pateleys wiedergegeben hatte. »Was Laird Duncan nicht wußte«, fuhr er schnell fort, »das war, daß Lady Duncan eine Pistole in Edouards Zimmer mitgenommen hatte. Das warf natürlich ein etwas anderes Licht auf ihren Besuch in der Nacht, versteht Ihr? Deswegen griff er mich auch tätlich an, nicht, weil ich ihn oder seine Frau des Mordes bezichtigte, sondern weil ich das Verhalten seiner Frau in Frage gestellt hatte.« Er wandte sich Master Sean zu, der an dem Tisch arbeitete. »Fertig, Master Sean?« »Aye, My Lord. Jetzt muß ich nur noch die Leinwand aufstellen und die Lampe im Projektor anstellen.« »Dann nur zu!« Er blickte Vater Bright und die Gräfin an. »Master Sean hat da ein höchst interessantes Lichtbild, das ich Euch gerne vorführen möchte.«
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»Die beste Entwicklung, die mir je gelungen ist, wenn ich das mal so ausdrücken darf, My Lord«, sagte der Hexer. »Dann fangt an!« Master Sean öffnete den Verschluß des Projektors, und ein Bild sprang auf den Schirm. Vater Bright und die Gräfin taten beide einen heftigen Atemzug. Es war eine Frau. Sie trug die Robe, die im Wandschrank des Grafen gehangen hatte. Ein Knopf war abgerissen worden und die Robe stand offen. Ihre rechte Hand wurde fast völlig von einer dichten Rauchwolke verdeckt. Offensichtlich hatte sie soeben die Pistole auf den Betrachter abgefeuert. Aber das war es nicht, was ihnen den Atem verschlagen hatte. Das Mädchen war schön, herrlich, unglaublich, hinreißend schön. Es war keine sanfte Schönheit, nichts Blumengleiches oder Friedliches war darin. Es war eine Schönheit, wie sie auf einen Mann nur eine einzige Wirkung haben konnte. Sie war die körperlich begehrenswerteste Frau, die man sich vorstellen konnte. Retro me, Sathanas, dachte Vater Bright mit schiefem Blick. Sie ist ja fast unanständig schön! »Hat einer von Euch diese Frau schon einmal gesehen? Dachte ich mir, daß nicht«, sagte Lord Darcy. »Laird und Lady Duncan auch nicht. Sir Pierre ebensowenig. Wer ist sie? Wir wissen es nicht. Aber wir können ein paar Schlußfolgerungen ziehen. Sie muß zu einer Verabredung in das Schlafzimmer des Grafen gekommen sein. Ganz offensichtlich ist dies die Frau, die Edouard Lady Duncan gegenüber erwähnt hat. Es ist fast sicher, daß sie von niedrigem Stand ist, sonst würde sie nicht diese Robe tragen. Sie muß sich im Schlafzimmer umgezogen haben. Dann hatten die beiden Streit, wir wissen nicht worüber. Der Graf hatte offenbar zuvor Lady Duncan die Pistole abgenommen und sie achtlos auf dem Tisch liegenlassen, den -3 5 3
Ihr hinter dem Mädchen erkennen könnt. Sie griff danach und erschoß ihn. Dann zog sie sich wieder um, hing die Robe in den Wandschrank und lief davon. Niemand sah sie kommen und gehen. Tja, ich glaube, wir werden sie finden, jetzt, da wir wissen, wie sie aussieht. Auf jeden Fall«, schloß Lord Darcy, »ist die Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit aufgeklärt. Das werde ich nun Seiner Hoheit beric hten.« Richard, Herzog von der Normandie, schenkte zwei Gläser edlen Brandys ein. Lächelnd reichte er Lord Darcy das Getränk. »Sehr gut gemacht, My Lord! Sehr gut!« »Es freut mich, Euer Hoheit zufrieden zu sehen«, sagte Lord Darcy. »Aber wie wart Ihr Euch so sicher, daß es niemand von außen war? Jeder hätte doch das Schloß durch das Haupttor betreten können, es stand doch immer offen.« »Das ist richtig, Hoheit. Aber die untere Tür zur Treppe war immer verschlossen. Graf D'Evreux schloß sie ab, nachdem er Lady Duncan hinausgeworfen hatte. Man kann diese Tür nicht von außen auf schließen, und sie war völlig unversehrt. Niemand konnte hindurchgegangen sein, nachdem Lady Duncan sie passiert hatte. Der einzige Weg nach draußen war durch die andere Tür, und die war offen.« »Ich verstehe«, sagte Herzog Richard. »Ich frage mich, warum sie überhaupt dorthin gegangen ist.« »Wahrscheinlich weil er sie darum gebeten hat. Jede andere Frau hätte gewußt, was sie zu erwarten hätte, wenn sie sich auf eine Einladung des Grafen einließ.« »Nein«, sagte der Herzog mit dunkler Miene. »Vom eigenen Bruder hätte man das allerdings nicht erwarten können. Sie hatte völlig recht, ihn zu erschießen.« »Genau, Euer Hoheit. Und wäre sie nicht die Erbfolgerin gewesen, so hätte sie wahrscheinlich sofort gestanden. Ich hatte -3 5 4
ja meine liebe Mühe, sie davon abzuhalten, ein Geständnis abzulegen, als sie hörte, daß ich die Duncans verdächtigte. Aber sie wußte, daß es notwendig war, um ihren Ruf und den ihres Bruders zu wahren. Nicht als Privatpersonen, sondern als Graf und Gräfin, als Regierungsbeamte Seiner Kaiserlichen Hoheit des Königs. Wenn ein Mann als Grobian und Wüstling bekannt ist, dann ist das eine Sache. Aber wenn er bei dem Versuch erschossen wird, seine eigene Schwester zu vergewaltigen, das ist dann doch etwas anderes. Sie war völlig im Recht, die Sache vertuschen zu wollen. Und sie wird so lange schweigen, bis jemand anders des Verbrechens bezichtigt wird.« »Was natürlich nicht geschehen wird«, sagte Herzog Richard und nippte an seinem Brandy. »Sie wird eine gute Gräfin sein. Sie besitzt Urteilsvermögen und bewahrt auch unter großer Belastung die Ruhe, wie sie bewiesen hat. Nachdem sie ihren Bruder erschossen hatte, hätte sie in Panik ausbrechen können, aber das hat sie nicht getan. Wie viele Frauen hätten daran gedacht, einfach die zerrissene Robe abzulegen und das Duplikat aus dem Wandschrank anzuziehen?« »Sehr wenige«, stimmte Lord Darcy zu. »Deswegen habe ich auch nicht erwähnt, daß ich wußte, daß der Schrank des Grafen Dup likate ihrer Kleider enthielt. Übrigens, Euer Hoheit, wenn irgendein guter Heiliger, wie etwa Vater Bright, davon gewußt hätte, dann wäre ihm klar geworden, daß der Graf auf seine Schwester fixiert war. Alle anderen Frauen waren für ihn nur eine Ersatzbefr iedigung.« »Ja, natürlich. Und keine konnte es mit ihr aufnehmen.« Er setzte das Glas ab. »Ich werde meinem Bruder, dem König, die neue Gräfin wärmstens ans Herz legen. Nichts davon darf schriftlich niedergelegt werden, das versteht sich von allein. Ihr wißt es, ich weiß es und der König muß es wissen. Sonst darf niemand davon erfahren.« -3 5 5
»Einer weiß noch davon«, sagte Lord Darcy.
»Wer denn?« Der Herzog sah ihn erschreckt an.
»Vater Bright.«
Herzog Richard sah beruhigt aus. »Natürlich. Er wird ihr doch
wohl nicht sagen, daß wir davon wissen, oder?« »Ich glaube, auf Vater Brights Diskretion kann man sich verlassen.«
Im Dämmerlicht des Beichtstuhls kniete Alice, Gräfin D'Evreux nieder und lauschte der Stimme von Vater Bright. »Ich werde dir keine Buße auferlegen, mein Kind, denn du hast keine Sünde begangen, jedenfalls was den Tod deines Bruders angeht. Wegen deiner anderen Sünden sollst du das dritte Kapitel von ›Die Seele und Die Welt‹ von St. James Huntington lesen und auswendig lernen.« Er begann mit der Absolution, aber die Gräfin sagte: »Eine Sache verstehe ich nicht. Das Bild. Das war nicht ich. Ich habe noch nie ein solch wunderschönes Mädchen in meinem ganzen Leben gesehen. Und ich sehe doch so hausbacken aus! Ich verstehe das nicht.« »Hättest du genauer hingesehen, mein Kind, so hättest du bemerkt, daß das Bild dir durchaus geähnelt hat, es war eben nur sehr verklärt. Wenn eine subjektive Realität objektiv wird, dann kommt es unweigerlich zu Verzerrungen. Deswegen kann so etwas auch vor Gericht nicht als Beweis gelten.« Er hielt inne. »Um es in anderen Worten zu sagen, mein Kind: Die Schönheit findet sich im Auge des Betrachters.« Ende -3 5 6
Band 03 Eine Frage der Identität
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Die beiden Wachmänner gingen die Rue King John II nahe der Wasserfront von Cherbourg, etwa hundert Yard südlich der See, entlang. In diesem Distrikt liefen die Königlichen Ordnungshüter immer paarweise Streife, die eine Hand am Schlagstock, die andere am Griff des Kurzschwerts. Der gewöhnliche Bürger niederen Standes war zwar in der Regel kein Schwertkämpfer, doch waren Seeleute andererseits auch keine gewöhnlichen Bürger niederen Standes. Gegen einen mit einem Entermesser bewaffneten Mann hatte man mit einem einfachen Schlagstock keinen guten Stand. Der eisige Nordseewind pfiff den Wachmännern in ihre Umhänge, und das Licht der gläsernen Gaslaternen glomm gelblich und warf seltsame Schatten. Die Straßen waren ziemlich leer, die meisten Menschen hielten sich in Bistros auf, wo man sich an Kohlenfeuern äußerlich wärmen konnte, während Flaschen mit feurigem Inhalt für die innere Wärme sorgten. Vor neun Tagen, am Vorabend der Beschneidung, waren ganze Menschenmengen auf den Straßen zu sehen gewesen, aber nun war der zwölfte Weihnachtstag vorüber und das Jahr des Herrn 1964 schon zwei Wochen alt. Das Geld war knapp geworden, und nur wenige konnte es sich noch erlauben, die Kneipen zu frequentieren. Der größere der beiden Beamten blieb stehen und zeigte nach vorn. »Ey, Robert! Old Jean hat sein Licht nicht an!« »Hm! Das dritte Mal seit Weihnachten. Will ihm nicht so gern eine Vorladung verpassen.« »Aye! Gehen wir rein und machen ihm die Hölle heiß« »Aye«, sagte der kürzere der beiden, »aber wir werden ihm eine Vorladung versprechen, wenn es nochmals vorkommt, und das Versprechen werden wir auch einhalten, Jack!« Das Schild über der Tür zeigte, verwittert wie es war, einen blauen Delphin. Das war die Schänke ›Zum Blauen Delphin‹. Wachmann Robert schob die Tür auf und sah sich argwöhnisch um. An dem langen Tisch links saßen vier Männer, und Old Jean unterhielt sich eben mit einem fünften an der Theke. Als -3 5 8
die Wachmänner eintraten, blickten sie hoch. Dann fuhren die Männer am Tisch in ihrer Unterhaltung fort. Der fünfte versenkte seinen Blick in sein Glas, der Wirt setzte ein gewinnendes Lächeln auf und ging um die Theke auf die beiden Wachmänner zu. »'n Abend, Wachmänner!« sagte er süßlich lächelnd. »Was zum Aufwärmen gefällig?« Aber er wusste, dass sie nicht zum Vergnügen hier waren. Robert hatte bereits sein Protokollheft gezückt und den Bleistift angeleckt. »Jean, wir haben Euch schon zweimal verwarnt«, sagte er eisig. »Das Gesetz befiehlt, daß jeder Betrieb eine normierte Gaslaterne betreiben muß, die von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang brennen muß. Das wißt Ihr auch!« »Vielleicht hat der Wind...« versuchte der Wirt sich herauszureden. »Der Wind, heh? Ich werde mit Euch nach draußen gehen und nachschauen, ob der Wind vielleicht auch den Gashahn zugedreht hat, heh?« Old Jean schluckte. »Vielleicht habe ich's vergessen. Mein Gedächtnis...« »Vielleicht wird Euer Gedächtnis ein wenig aufgefrischt werden, wenn Ihr es am nächsten Gerichtstag My Lord dem Marquis erklären müßt, eh?« »Nein, nein, bitte nicht, Wachmann! Die Geldbuße würde mich ruinieren!« Wachmann Robert tat so, als wollte er mit dem Schreiben anfangen. »Gut, ich werde schreiben, daß es ein erster Verstoß war, dann wird die Geldbuße nur halb so hoch sein.« Old Jean schloß hilflos die Augen. »Bitte, Wachmann! Es kommt nicht wieder vor. Es ist ja nur, daß ich mich so sehr an Paul gewöhnt hatte, er hat ja alles getan,
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die ganze schwere Arbeit. Ich hab' niemanden mehr hier, der mir hilft!« »Paul Sarto ist nun schon seit zwei Wochen fort«, sagte Robert. »Dies ist schon das dritte Mal, daß Ihr mir dieselbe Ausrede auftischen wollt.« »Wachmann«, sagte der Alte ehrlich bemüht, »ich werd's nicht wieder vergessen, ich versprech's!« Robert schloß das Protokollheft. »Also gut, ich habe Euer Wort? Dann habt Ihr auch mein Wort, daß es das nächste Mal kein Pardon mehr geben wird. Ihr bekommt dann sofort die Vorladung, ist das klar?« »Alles klar, Wachmann! Ja, ja natürlich. Vielen Dank auch, ich werd's nicht vergessen!« »Das will ich auch hoffen! Zündet sie jetzt an!« Old Jean trippelte die Treppe hoch und war nach wenigen Minuten wieder zurück. »Jetzt brennt sie, Wachmann.« »Wunderbar! Ich hoffe, daß sie auch anbleibt, bis Sonnenaufgang. Gute Nacht, Jean!« »Vielleicht eine Kleinigkeit...?« »Nein, Jean, ein anderes Mal. Kommt, Jack!« Die Wachmänner verließen das Lokal. »Frage mich, warum Paul abgehauen ist«, meinte Jack, als sie wieder auf der Straße standen. »Er hat gut verdient und war viel zu dumm, um irgendwo eine Stelle zu finden.« Robert zuckte mit den Schultern. »Wißt ja, wie's ist. Werftratten kommen und gehen eben. Ein Mann mit einem kräftigen Kreuz und einem weichen Kopf findet immer ein Bistro, das sich um ihn kümmert. Er wird sich schon durchschlagen.«
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Als sie an der Ecke ankamen, wo der Quai Sainte Marie nach Süden abbog, sagte Robert: »Da ist aber einer froh!« »Zu fröhlich, wenn man mich fragt«, sagte Jack. Ein Mann torkelte den Quai Sainte Marie auf sie zu, stützte sich gelegentlich kraftlos an Häuserwänden ab und tastete sich dann langsam die Mauern entlang, immer kurz davor zu stürzen. Er trug keine Kopfbedeckung, und als der Wind in seinen Umhang fuhr, sahen die Wachmänner erstaunt, daß er darunter nackt war. »Blind, betrunken und halb erfroren«, sagte Jack. »Es ist wohl besser, wir buchten ihn ein!« Doch dazu kam es nicht mehr. Als sie auf ihn zugingen, stolperte der Mann ein letztes Mal. Er fiel auf die Knie, starrte sie mit blinden Augen an, fiel auf die Seite und blieb mit offenen, unbeweglichen Augen liegen. Robert kniete nieder. »Los, die Pfeife! Ich glaube er ist tot!« Jack zog die Pfeife hervor und sandte einen schrillen Ton in die eisige Luft. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Robert leise. »Es ist Paul! Riecht nicht, als wäre er betrunken. Ich glaube... o Gott!« Er hatte versucht, den Kopf des Gestürzten hochzuheben, und sah, daß seine Handfläche mit Blut bedeckt war. »Ist ganz weich«, sagte er, »die ganze Schädeldecke eingeschlagen!« In der Ferne hörten sie Hufgeklapper, als ein berittener Wachsergeant auf das Pfeifen herangaloppierte. Lord Darcy, groß, mit hageren Gesichtszügen und gutaussehend, öffnete die Tür, die das Wappen der Normandie trug. »Euer Hoheit haben mich rufen lassen?« Im Raum befanden sich drei Männer. Der jüngste von ihnen, der große blonde Richard, Herzog der Normandie und Bruder
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Seiner Kaiserlichen Majestät John IV, drehte sich um, »Ah, Lord Darcy! Kommt herein!« Er wies mit ausladender Gebärde auf den fülligen Mann, der das bischöfliche Purpur trug. »My Lord Bischof, darf ich Euch meinen Chefinspektor vorstellen, Lord Darcy. Lord Darcy, dies ist Seine Lordschaft der Bischof von Guernsey und Sark.« »Es ist mir ein Vergnügen, Lord Darcy«, sagte der Bischof und streckte die rechte Hand aus. Lord Darcy nahm die Hand, verneigte sich und küßte den Ring. »My Lord Bischof!« Dann wandte er sich um und blickte auf den dritten Anwesenden, den mageren, grauhaarigen Marquis von Rouen. »My Lord Marquis!« Schließlich sah er wieder den Herzog an. Der Herzog der Normandie runzelte die Stirn. Es scheint, daß es da ein Problem mit My Lord dem Marquis von Cherbourg gibt. Wie Ihr wißt, ist My Lord der Bischof der ältere Bruder des Marquis. Vielleicht fahrt Ihr besser selbst fort, My Lord Bischof, damit Lord Darcy die Information aus erster Hand bekommt.« »Sehr wohl, Euer Hoheit.« Der Bischof spielte nervös mit seinem Brustkreuz. Nachdem sich alle gesetzt hatten, begann er zu erzählen. »Mein Bruder, der Marquis«, fuhr er nach einem tiefen Atemzug fort, »wird vermißt.« Lord Darcy hob eine Augenbraue. Wenn sonst ein Gouverneur Seiner Majestät vermißt wurde, dann war das ganze Reich, von Duncans by End in Schottland bis zur südlichsten Spitze der Gascoigne in Aufruhr, dann wurde es von der deutschen Grenze im Osten bis über den Atlantik nach Neuengland und Neufrankreich benachrichtigt. Wenn nun My Lord der Bischof von Guernsey und Sark die Angelegenheit nicht an die große Glocke hängen wollte, dann gab es wohl einen triftigen Grund dafür! -3 6 2
»Seid Ihr meinem Bruder schon mal begegnet, Lord Darcy?« fragte der Bischof. »Nur sehr kurz, My Lord. Vor ungefähr einem Jahr. Ich kenne ihn kaum.« »Ich verstehe.« Nachdem er wieder eine Weile nervös mit seinem Brustkreuz herumhantiert hatte, erzählte er endlich, was vorgefallen war. Vor drei Tagen, am zehnten Januar, hatte Elaine, Marquise de Cherbourg, die Schwägerin des Bischofs, einen Diener per Boot mit einer Botschaft nach St. Peter Port, dem Sitz der Kathedrale der Diözese von Guernsey und Sark, geschickt. Die versiegelte Botschaft, die er dem Bischof überreichte, enthielt die Mitteilung, daß sein Bruder, der Marquis, seit dem Abend des Achten vermißt wurde. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte My Lord der Marquis My Lady der Marquise keine Mitteilung davon gemacht, daß er das Schloß zu verlassen gedenke. Er hatte sogar angedeutet, daß er sich zur Ruhe begeben wolle, nachdem er einige Regierungsgeschäfte erledigt hatte. Niemand hatte ihn gesehen, nachdem er sein Studierzimmer betreten hatte. My Lady von Cherbourg hatte ihn erst am nächsten Morgen vermißt, als sie feststellte, daß er nicht in seinem Bett geschlafen hatte. »Das war also Dienstagmorgen, am Neunten, My Lord?« fragte Lord Darcy. »Das ist richtig, My Lord«, sagte der Bischof. »Darf ich fragen, warum ich erst jetzt verständigt wurde?« My Lord der Bischof wurde noch nervöser. »Nun, My Lord... seht Ihr... nun, äh, My Lady Elaine glaubt, daß... eh... daß seine Lordschaft... daß mein Bruder... eh... vielleicht... möglicherweise nicht ganz richtig im Kopf ist...« Aha! dachte Lord Darcy. Jetzt ist es heraus! My Lord von Cherbourg hat einen Dachschaden! Jedenfalls glaubt seine Lady das! »Was hat er denn für ein Verhalten an den Tag ge legt?« fragte Lord Darcy sanft. -3 6 3
»My Lord von Cherbourg hatte seinen ersten Anfall am Abend des St. Stephanstages, am 26. Dezember 1963. Sein Gesicht hatte plötzlich einen Ausdruck völliger Idiotie angenommen. Er hatte unzusammenhängende Worte gestammelt, völlig unverständlich, und schien nicht mehr zu wissen, wo er war - ja, er schien sich auch ziemlich vor seiner ganzen Umgebung zu fürchten.« »Ist er in irgendeiner Form gewalttätig geworden?« »Nein, ganz im Gegenteil. Er war äußerst gefügig und ließ sich mühelos leiten. Lady Elaine rief sofort einen Heiler herbei, Vater Patrique, weil sie dachte, es handele sich um einen Anfall von Apoplexie. Doch als Vater Patrique eintraf, war alles schon vorbei, und er konnte nichts feststellen. Mein Bruder sagte lediglich, daß ihm etwas schwindelig gewesen sei. Seitdem hatte er aber drei weitere Anfälle, immer abends, am zweiten, am fünften und am siebten dieses Monats. Und jetzt ist er verschwunden.« »Und Ihr glaubt also, My Lord Bischof, daß seine Lordschaft wieder einen solchen Anfall hat und irgendwo herumirrt... eh... non compos mentis, wie man so sagt?« »Genau das befürchte ich.« »Ich möchte, daß Ihr der Sache auf den Grund geht, Lord Darcy«, sagte Seine Hoheit. »Seid so diskret wie möglich, wir wünschen keinen Skandal. Wenn My Lord Cherbourg geistig erkrankt sein sollte, dann wird man ihm die nötige Behandlung angedeihen lassen, das versteht sich. Aber vorher müssen wir ihn erst einmal gefunden haben.« Der Herzog blickte auf die Wanduhr. »In einundvierzig Minuten fährt ein Zug nach Cherbourg. Ihr werde My Lord den Bischof begleiten.« Lord Darcy stand auf. »Dann habe ich gerade noch genug Zeit zum Packen, Euer Hoheit.« Er verneigte sich vor dem Bischof. »Zu Diensten, My Lord.« -3 6 4
Er wandte sich um und schritt zur Tür hinaus. Anstatt sich jedoch sofort in seine Wohnung zu begeben, wartete er vor der Tür, da er einen Blick des Herzogs aufgefangen hatte. Er hörte Stimmen im Raum. »My Lord Marquis«, sagte der Herzog, »würdet Ihr bitte dafür Sorge tragen, daß My Lord Bischof sich erfrischen kann? Wenn Euer Lordschaft mich entschuldigen wollen, ich habe wichtige Angelegenheiten zu erledigen. Mein Bruder der König muß sofort verständigt werden.« »Selbstverständlich, Euer Hoheit, selbstverständlich.« »Ich werde eine Kutsche für Euch und Lord Darcy bereitstellen lassen. Vor Eurer Abfahrt sehen wir uns noch einmal, My Lord. Und nun entschuldigt mich.« Er trat aus dem Raum, sah Lord Darcy warten und winkte ihn in einen anderen Raum. Lord Darcy folgte ihm. Der Herzog zog die Tür zu und sagte mit leiser Stimme: »Die Sache scheint noch schlimmer zu sein, als es zunächst aussieht, Lord Darcy. De Cherbourg arbeitete mit einem von Seiner Majestät persönlichen Agenten zusammen und versuchte, einem Ring polnischer agents provocateurs in Cherbourg auf die Spur zu kommen. Wenn er tatsächlich einen Nervenzusammenbruch bekommen haben sollte und sie ihn in ihrer Gewalt haben, dann ist der Teufel los.« Lord Darcy wußte, wie ernst die Lage war. Im letzten halben Jahrhundert hatten die polnischen Könige einen beachtlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt. Nachdem sie soviel russisches Gebiet annektiert hatten, wie es ihnen möglich war - bis Minsk im Norden und Kiew im Süden - , versuchten sie nun, nach Westen an die Grenzen des Reichs vorzudringen. Seit Jahrhunderten waren die Deutschländer eine Pufferzone zwischen dem mächtigen Königreich Polen und dem noch mächtigeren Anglo-Französischen Reich gewesen. Als Teile des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs schuldeten sie zwar -3 6 5
theoretisch dem Kaiser Treue, doch hatte seit Jahrhunderten kein anglofranzösischer Kaiser den Versuch unternommen, diese Treue zu erzwingen. Tatsächlich bewahrten sich die Deutschländer ihre eigene Unabhängigkeit wegen des andauernden Tauziehens zwischen Polen und dem Reich, indem sie den einen gegen den anderen ausspielten. Auch King John hatte keinerlei Ambitionen, die Deutschländer seinem Reich einzuverleiben. Eine solch aggressive Politik war nicht mehr modern, es gab genug Gebiete in der Neuen Welt, auch wenn es den Reichstruppen sicherlich ein leichtes gewesen wäre, in der Lombardei oder in Nordspanien einzumarschieren. Heutzutage war es undenkbar geworden, friedliche Nachbarstaaten einfach anzugreifen. Solange die Polen ihre Expansion nach Osten richteten, hatte das Reich das widerspruchslos geduldet. Aber diese Ausdehnung war nun zum Stehen gekommen, und König Casimir hatte schon genug Probleme mit den Russen, die er sich unterworfen hatte. Um sein Quasi-Reich zusammenzuhalten, war er ständig auf Bedrohung von außen angewiesen, aber er konnte es sich nicht erlauben, weiter nach Rußland vorzustoßen. Die russischen Staaten hatten einen losen Bund gegründet, und in der letzten Generation war der polnische König, Sigismund III, dazu gezwungen worden, nachzugeben. Sollten sich die Russen tatsächlich einmal richtig verbünden, dann wären sie ein nicht zu unterschätzender Gegner. So blieben die Deutschländer im Westen und Roumeleia im Süden übrig. An Roumeleia war Casimir nicht interessiert, aber die Deutschländer hatten es ihm angetan. Der Reichtum des Anglo-Französischen Reichs lag in der Neuen Welt. Der Import von Baumwolle, Tabak und Zucker, ganz zu schweigen von dem Gold, das man auf dem südlichen Kontinent gefunden hatte, bildete das Rückgrat der beständig wachsenden Reichswirtschaft. Die Untertanen des Königs hatten einen hohen Lebensstandard und waren zufrieden. Aber wenn es zu einer längeren Seeblockade kommen sollte, dann würde es ernsten Ärger geben. Gegen die Reichsmarine -3 6 6
hatte die polnische Marine keine Chance. Sie beherrschte die gesamte Nordsee in Verbindung mit ihren skandinavischen Verbündeten. Kein polnisches Schiff kam ohne peinlichste Waffenkontrolle durch diese Sperrzone, die nur dem friedlichen Handel offenstand. Im Jahre '39 hatte Casimir den Versuch gemacht, mit seiner im Baltikum eingeschlossenen Flotte einen Durchbruch zu erzwingen. Man hatte ihm seine Schiffe einfach vom Wasser gefegt. Das würde er so bald nicht wieder versuchen. Aber es war ihm gelungen, ein paar spanische und sizilianische Schiffe zu kaufen und für Kaperfahrten auszurüsten, die allerdings nicht viel mehr als Nadelstiche waren. Wenn man sie aufbrachte, wurden sie wie gewöhnliche Piratenschiffe behandelt: Entweder versenkte man sie kurzerhand, oder man konfiszierte sie und hängte ihre Besatzungen auf, und die Reichsregierung machte sich nicht einmal die Mühe, bei der polnischen Regierung deswegen zu protestieren. Aber offensichtlich hatte König Casimir noch eine weitere Karte im königlichen Ärmel. Sowohl die Lords der Admiralität als auch die zivilen Seelords waren nervös geworden. Es kam immer häufiger vor, daß Schiffe, die die Reichshäfen - Le Havre, Cherbourg, Liverpool, London verließen, plötzlich verschwanden. Man hörte einfach nie mehr etwas von ihnen. Sie kamen nicht in Neuengland an, und es waren bald mehr, als sich durch schlechtes Wetter und Piraterie erklären ließen. Das war schon übel genug, aber in letzter Zeit hatten immer mehr Gerüchte die Runde gemacht, daß der mittlere Atlantik unsicher geworden sei, daß es sehr gefährlich sei, ihn zu beschaffen. Ein rechter Seemann ließ sich, sofern er ein tüchtiges Schiff besaß, nicht von schlechtem Wetter erschüttern, aber die Bedrohung durch böse Geister und Schwarze Magie war eine ganz andere Sache. So sehr sie sich auch anstrengten, es gelang den wissenschaftlich Denkenden nicht, tiefverwurzelten Aberglauben zu beseitigen. Es genügte nicht, auf die engen Grenzen und Möglichkeiten moderner -3 6 7
wissenschaftlicher Hexerei hinzuweisen - neunundneunzig Prozent aller Menschen ließen nicht von ihrem Aberglauben ab, nicht einmal in einer solch fortgeschrittenen Zivilisation wie der des Anglo-Französischen Reichs. Wie sollte man ihnen klarmachen, daß nur ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt dazu fähig war, Hexerei zu betreiben? Daß all die Zauberformeln in den offiziellen Grimoires nutzlos waren, wenn einer nicht auch das Talent besaß? Daß man selbst dann, wenn man es hatte, jahrelanger Ausbildung bedurfte, um es effizient, vorhersehbar und machtvoll anwenden zu können? Man hatte es den Leuten immer wieder gesagt, aber im Grunde ihres Herzens glaubten sie es nicht. Nicht einmal jeder zehnte, der angeblich den Bösen Blick haben sollte, besaß ihn tatsächlich, und doch wurden Hexer und Priester andauernd um Gegenmittel gebeten. Und Gott allein mochte wissen, wie viele Leute mit völlig nutzlosen Amuletten und Talismanen durch die Gegend liefen, die von Quacksalbern und Scharlatanen hergestellt worden waren, die überhaupt nicht die Fähigkeit besaßen, wirkungsvolle Zauber zu verhängen. Man lief lieber zu einer unheilvollen und geheimnistuerisch wirkenden Hexe als zu einem seriösen kirchlichen Priester oder zu einem ausgebildeten, diplomierten Hexer. Tief im Herzen glaubte man, daß das Böse mächtiger sei als das Gute. Niemand mochte wirklich glauben, was alle wissenschaftlichen Untersuchungen glasklar bewiesen hatten: daß nämlich die Schwarze Magie im Endeffekt dem Schwarzmagier wesentlich mehr schadete als seinen Opfern. Deswegen war es auch nicht schwierig, das Gerücht in Umlauf zu setzen, daß etwas Böses im Atlantik herrschte, was wiederum dazu führte, daß sich immer mehr Seeleute davor grauten, auf einem Schiff anzuheuern, das Richtung Neuengland fuhr. Und die Reichsregierung war sich sicher, daß diese Geschichte von König Casimirs IX Agenten in die Welt gesetzt worden war. Es galt, zwei Dinge zu tun: Erstens mußte das Verschwinden der Schiffe aufhören, und zweitens mußte den Gerüchten Einhalt -3 6 8
geboten werden. Und daran hatte My Lord der Marquis gearbeitet, als er plötzlich verschwunden war. Die Frage nach einer möglichen Beteiligung polnischer Agenten war deswegen von hochrangiger Wichtigkeit. »Ihr werdet so bald wie möglich mit dem Agenten Seiner Majestät Kontakt aufnehmen«, sagte Herzog Richard. »Und da vielleicht Schwarze Magie mit im Spiel sein könnte, nehmt Ihr auch Master Sean mit, aber inkognito, damit, wer immer dahinter stecken mag, nicht durch das Erscheinen eines Hexers plötzlich gewarnt wird und in Deckung geht. Schließlich soll de Cherbourgs Leben nicht aufs Spiel gesetzt werden.« »Ich werde so vorsichtig operieren wie möglich, Euer Hoheit«, versprach Lord Darcy. Bevor er Rouen verlassen hatte, hatte der Bischof Schloß Cherbourg per Teleklang benachrichtigen lassen, so daß sie in Cherbourg von einer modernen Kutsche mit pneumatischen Reifen und aufgehängter Federung empfangen wurden. An den Türen befand sich das Wappen von Cherbourg, gezogen wurde das Gefährt von zwei grauen Schimmeln. Die Lakaien öffneten den Verschlag, und der Bischof stieg ein, gefolgt von Lord Darcy und einem kurzen, rundlichen Mann, der die Kleidung eines Privatsekretärs trug. Lord Darcys Gepäck wurde auf den Gepäckträger verstaut, aber der ›Privatsekretär‹ rückte seine kleine Ledertasche nicht heraus. Master Sean O Lochlainn, Hexer seines Zeichens, hatte nicht die Absicht, sich von seinen magischen Gerätschaften zu trennen. Er hatte schon genug gemurrt, weil er seinen sympolverzierten Reisesack nicht mitnehmen durfte, und hatte eine gute halbe Stunde damit verbracht, Schutzzauber über die schwarze Ledertasche zu verhängen, auf der Lo rd Darcy bestanden hatte. Lord Darcy und der Bischof hatten sich darauf geeinigt, in der Öffentlichkeit jedes Gespräch über ihre Aufgabe zu vermeiden. Master Sean hatte im Zug ruhig dabeigesessen und einigermaßen erfolgreich versucht, wie ein Diener auszusehen. Als sie in der Kutsche saßen, kam das Gespräch vollends zum -3 6 9
Stillstand. Der Bischof und Master Sean lehnten sich in den Sitzen zurück, während Lord Darcy aus dem Fenster aufmerksam die Fahrtroute beobachtete, da er sich in Cherbourg weniger gut auskannte, als ihm lieb war. Als sie die Wasserfront entlang fuhren, fiel ihm auf, daß viel zu viele Schiffe in den Docks lagen. Auf den Pieren lagen Unmengen von Gütern herum, aber es waren nur wenige Arbeiter zu sehen. Besatzungen vom ›Atlantischen Fluch‹ abgeschreckt, dachte Lord Darcy. Er betrachtete die herumlungernden Männer, die sich zwar leise, aber offensichtlich wütend zu unterhalten schienen. Offensichtlich Seeleute; freiwillig arbeitslos und doch beschämt wegen ihrer eigenen Ängste. Versuchen wahrscheinlich, Arbeit als Hafenarbeiter zu finden und werden von der Hafenarbeitergilde davon ausgeschlossen. Weil aufgrund mangelnder Schiffsbesatzungen immer weniger Schiffe beladen wurden, mußte die Hafenarbeitergilde restriktiv reagieren, was sonst nicht der Fall war. Auch die Hafenarbeiter fanden schließlich immer weniger Arbeit. Diese Arbeitslosigkeit war auch eine zusätzliche Belastung für die Privatschatulle des Marquis von Cherbourg, da von diesem erwartet wurde, daß er seine Männer und ihre Familien in Zeiten der Not unterstützte, so wollte es uraltes Recht. Noch war die Belastung nicht zu groß, da der Marquis unter dem gleichen Recht sich seinerseits an den Herzog der Normandie wenden konnte, während sich Seine Hoheit wiederum an Seine Kaiserliche Majestät John IV, König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Verteidiger des Glaubens et cetera wenden konnte. Und die Mittel der kaiserlichen Privatschatulle flössen aus dem ganzen Reich zusammen. Aber wenn sich die Sache ausweiten sollte, dann war über kurz oder lang die ganze Volkswirtschaft des Reichs in Gefahr. Immerhin war nicht alle Aktivität an den Docks erlahmt. Abgesehen von Schiffen, die ins Mittelmeer und nach Afrika fuhren, gab es immer noch einige Schiffe, die Besatzungen für -3 7 0
die Atlantikroute gefunden hatten. Ein großes Schiff, die Stolz von Calais, war ein wahrer Tummelplatz von Menschen, die mit dem Beladen beschäftigt waren. Als sie näher heranfuhren, konnte Lord Darcy erkennen, wie eine ganze Ladung Weinfässer an Bord gehievt wurde. Jedes Faß trug die Inschrift: Ordwin Vayne, Winzer, und -ein eingebranntes Hexersymbol, das darauf hinwies, daß man den Wein mit einem Zauber versehen hatte, damit er nicht vorzeitig sauer wurde. Lord Darcy wußte, daß der größte Teil des Weins für die Seeleute selbst war, die einen Anspruch auf die einer Flasche entsprechende Menge pro Arbeitstag hatten; außerdem waren die Weine der Neuen Welt so gut, daß es sich nicht lohnte, Wein aus Europa zu importieren. Offenbar hatte es der ›Atlantische Fluch‹ noch nicht fertiggebracht, allen Seeleuten des Reichs Angst und Schrecken einzujagen. Wir werden schon durchkommen, dachte Lord Darcy. Trotz allem, was der König von Polen versucht, wir werden es schaffen. Das haben wir bisher immer getan. Auch wenn Reiche nicht ewig Bestand haben konnten, so war dieses Reich immerhin schon doppelt so alt wie das alte römische. All die Ereignisse der langen Geschichte des Imperiums hatten es bisher nicht vermocht, das Reich zu zerstören. Im Gegenteil: Es war stabiler denn je, trotz aller Bedrohungen, solange jeder Bürger seine Pflicht erfüllte. Und Lord Darcys Pflicht bestand in diesem Augenblick also nicht nur einfach in der Aufgabe, herauszufinden, was mit dem Marquis von Cherbourg geschehen war, es ging vielmehr um wesentlich weitreichendere Dinge. My Lady Elaine, Marquise De Cherbourg, stand in ihrem Salon über der Großen Halle und blickte starr aus dem Fenster auf den eisigen Ärmelkanal, dessen Wellen hypnotisch schäumten. Doch sie war mit anderen Dingen beschäftigt. Wo bist du, Hugh? dachte sie. Komm zu mir zurück, Hugh. Ich brauche dich. Nie habe ich gewußt, wie sehr ich dich brauche. Die tosenden Wellen gaben keine Antwort. Dann hörte sie, wie sich die Tür hinter ihr öffnete. Hastig drehte sie sich um. -3 7 1
»Ja?« »My Lady haben geschellt?« Es war Sir Gwiliam, der Seneschall. My Lady Elaine versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. »Oh«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Oh, ja natürlich.« Sie winkte mit der Hand auf den Getränketisch, auf dem eine Karaffe mit Portwein, eine Karaffe mit Xerez und eine dritte, leere Karaffe stand. »Brandy. Der Brandy ist nicht aufgefüllt worden. Bringt mir etwas von dem Saint Coeurlandt Michele '46.« »Den Saint Coeurlandt Michele '46, My Lady?« Sir Gwiliam zuckte etwas zusammen. »Aber My Lord De Cherbourg würde nicht...« Sie sah ihm ins Gesicht. »My Lord von Cherbourg würde seine Gattin in einer solchen Zeit wohl kaum seinen besten Brandy aus der Champagne verweigern, Sieur Gwiliam!« fauchte sie und sprach den Titel nach dem Akzent von Cherbourg und nicht nach dem Hoch-Anglo-Französischen aus, womit sie ihrer Aussage eine zusätzliche Schärfe verlieh. »Soll ich ihn mir selber holen?« Sir Gwiliams Gesicht wurde etwas bleicher, aber sein Ausdruck blieb unverändert. »Nein, My Lady. Euer Wunsch ist mein Befehl.« »Gut, Sir Gwiliam, ich danke Euch.« Sie drehte sich wieder zum Fenster. Hinter ihr schloß sich die Tür. Dann drehte sie sich wieder um und schritt auf den Getränketisch zu, wo sie das Glas betrachtete, das sie vor wenigen Minuten geleert hatte. Leer, dachte sie. Wie mein Leben. Kann ich es jemals wieder auffüllen? Sie hob die Xerez-Karaffe und schenkte sich mit übertriebener Vorsicht ein. Brandy war besser, aber bis Sir Gwiliam ihn gebracht hatte, gab es nur die Süßweine. Sie überlegte flüchtig, warum sie auf den besten Brandy aus Hughs -3 7 2
Keller bestanden hatte. Es wäre nicht nötig gewesen. Jeder andere Brandy hätte es auch getan, sogar der Aqua Sancta '60, ein ziemlich übler Fusel. Sie wußte, daß ihre Geschmacksnerven mittlerweile völlig betäubt waren, so daß sie ohnehin keinen Unterschied mehr herausschmecken konnte. Aber wo war denn der Brandy? Irgendwo. Ach ja, Sir Gwiliam. Wütend und ohne nachzudenken zog sie immer wieder an der Klingelkordel. Sie klingelte noch, als sich die Tür öffnete. »Ja, My Lady?« Sie drehte sich wütend um und erstarrte plötzlich. Lord Seiger jagte ihr Angst ein, das war schon immer so gewesen. »Ich habe nach Sir Gwiliam geläutet, My Lord«, sagte sie mit soviel Fassung, wie sie nur aufbringen konnte. Lord Seiger war ein großer Mann, der, seinen Vorfahren entsprechend, eine eisige nordische Kälte an sich hatte. Sein Haar war fast silberblond und seine Augen waren so blau wie Eisberge. Die Marquise konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals lächeln gesehen zu haben. Sein wohlgeschnittenes Gesicht blieb immer ruhig und ausdruckslos. Mit einem kleinen Schauer wurde ihr klar, daß sie sich vor Lord Seigers Lächeln wohl noch mehr fürchten würde als vor seinem gewöhnlichen Gesichtsausdruck. »Ich habe nach Sir Gwiliam geläutet«, wiederholte sie. »In der Tat, My Lady«, sagte Lord Seiger, »aber da Sir Gwiliam nicht zu kommen schien, empfand ich es als meine Pflicht, nachzusehen. Ihr habt vor wenigen Minuten nach ihm geläutet, nun läutet Ihr schon wieder. Kann ich zu Diensten sein?« »Nein... nein...« Was sollte sie sagen? Er trat in den Raum und schloß die Tür hinter sich. Sogar aus fünfundzwanzig Fuß Entfernung meinte Lady Elaine seine Kälte zu spüren. Sie konnte nichts tun, als er auf sie zuschritt. Die Stimme versagte ihr. Er war groß und kalt und blond und gutaussehend - und hatte soviel sexuelle Ausstrahlung wie eine Kröte. Weniger -3 7 3
sogar, denn eine Kröte zieht ja wohl wenigstens andere Kröten an und war wenigstens ein lebendes Wesen. My Lady fühlte sich von diesem Mann jedenfalls nicht angezogen. Er schien auch kaum etwas Lebendiges zu sein. Wie ein Schlachtschiff steuerte er auf sie zu - zwanzig Fuß - fünfzehn... Sie rang nach Luft und zeigte auf den Getränketisch. »Würdet Ihr mir bitte ein Glas Xerez einschenken, My Lord... ein... Glas Xerez?« Das Schlachtschiff schien vom Kurs abgekommen zu sein, dachte sie. Es steuerte einen Winkel von dreißig Grad von ihr ab, auf den Tisch zu. »Xerez, My Lady? Sehr wohl, es wird mir eine Freude sein.« Mit sicherer Hand leerte er die Karaffe in ein Glas. »Es ist weniger als ein Glasvoll, My Lady«, sagte er und blickte sie mit ausdrucklosen blauen Augen an. »Würden My Lady vielleicht Portwein vorziehen?« »Nein... nein, nur den Xerez, My Lord, nur den Xerez.« Sie schluckte. »Möchtet Ihr vielleicht auch etwas?« »Ich trinke nicht, My Lady.« Er reichte ihr das halbvolle Glas. Sie konnte es ihm nun abnehmen und war dabei erstaunt, daß seine Finger ebenso warm zu sein schienen wie die jedes anderen Menschen. »Meinen My Lady, daß es wirklich nötig ist, so viel zu trinken?« fragte Lord Seiger. »Schon seit vier Tagen...« My Ladys Hand zitterte, aber sie konnte nur sagen: »Meine Nerven, My Lord. Meine Nerven.« Sie reichte ihm das leere Glas zurück. Da sie nicht mehr verlangt hatte, behielt Lord Seiger das Glas in der Hand und sah sie an. »Ich bin hier, um Euch zu beschützen, My Lady. Das ist meine Pflicht. Nur Eure Feinde haben etwas von mir zu befürchten.« -3 7 4
Irgendwie wußte sie, daß es stimmte, was er da sagte, aber... »Bitte. Ein Glas Portwein, My Lord.« »Sehr wohl, My Lady.« Er war dabei, ihr Glas neu aufzufüllen, als die Tür geöffnet wurde und Sir Gwiliam mit einer Flasche Brandy eintrat. »My Lady, My Lord, die Kutsche ist angekommen.« Lord Seiger blickte ihn ausdruckslos an, dann sah er zu My Lady Elaine hin. »Die Inspektoren des Herzogs, My Lady. Sollen wir sie hier empfangen?« »Ja. Ja, My Lord, natürlich. Ja.« Ihr Blick blieb auf die Brandyflasche geheftet. Das Treffen zwischen Lord Darcy und My Lady Elaine war kurz und bedeutungslos. Lord Darcy hatte zwar nichts gegen Brandygeruch einzuwenden, aber er bevorzugte ihn doch frisch und nicht aus zweiter Hand. Ihre Schilderung der Ereignisse vor dem Verschwinden des Marquis unterschied sich nicht wesentlich von der des Bischofs. Lord Seiger, der als Sekretär des Marquis fungierte, wußte von nichts. Er hatte keinen der sogenannten Anfälle selbst miterlebt. My Lady, die Marquise, entschuldigte sich schließlich, indem sie vorgab, Kopfschmerzen zu haben. Lord Darcy bemerkte, daß die Flasche mit ihr verschwand. »My Lord Seiger«, sagte er, »es scheint, daß My Lady unpäßlich ist. Wer führt denn dann augenblicklich die Geschäfte des Schlosses weiter?« »Sir Gwiliam de Bracy, der Seneschall, beaufsichtigt die Dienstboten und den Haushalt. Die Wachen werden von Captain Sir Androu Duglasse befehligt. Ich selbst bin nicht der Privatsekretär von My Lord Marquis, ich helfe ihm lediglich beim Katalogisieren einiger Bücher.« »Ich verstehe. Nun gut. Ich möchte mit Sir Gwiliam und Sir Androu sprechen.« Lord Seiger erhob sich und zog an der Klingelstrippe. -3 7 5
»Sir Gwiliam wird in Kürze hier sein«, sagte er. »Ich werde Sir Androu selbst holen.« Er verneigte sich. »Wenn Euer Lordschaft mich entschuldigen wollen!« Als er gegangen war, sagte Lord Darcy: »Ein imposanter Mann. Wahrscheinlich auch gefährlich, schätze ich, je nach Umständen.« »Scheint ganz in Ordnung zu sein«, sagte My Lord Bischof. »Ein wenig zurückhaltend... äh... steif, könnte man wohl sagen. Nicht viel Sinn für Humor, aber Sinn für Humor ist schließlich auch nicht alles.« Er räusperte sich und fuhr fort. »Ich muß mich für das Benehmen meiner Schwägerin entschuldigen. Sie ist einfach überlastet. Ihr werdet mich bei Euren Verhören nicht benötigen, nehme ich an, und ich sollte mich wirklich um sie kümmern.« »Selbstverständlich, My Lord, ich habe vollstes Verständnis«, sagte Lord Darcy höflich. My Lord Bischof hatte kaum den Raum verlassen, da öffnete sich die Tür schon wieder, und Sir Gwiliam trat ein. »Euer Lordschaft haben geläutet?« »Bitte Platz zu nehmen, Sir Gwiliam«, sagte Lord Darcy und zeigte mit einladender Gebärde auf einen Stuhl. »Wie Ihr wißt, sind wir hier, um wegen des Verschwindens von My Lord de Cherbourg Nachforschungen anzustellen. Dies ist mein Diener Sean, der mich dabei unterstützt. Alles, war Ihr hier sagt, wird vertraulich behandelt!« »Es wird mir eine Freude sein, von Diensten sein zu können«, sagte Sir Gwiliam und setzte sich. »Es ist mir bewußt«, fing Lord Darcy an, »daß Ihr alles, was Ihr wißt, bereits My Lord dem Bischof erzählt habt, aber trotzdem muß ich Euch bitten, mir alles noch einmal zu
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berichten, so ermüdend das auch sein mag. Wenn Ihr die Güte hättet, am Anfang anzufangen, Sir Gwiliam...« Zum dritten Mal hörten Lord Darcy und Master Sean sich die Erzählung an. Wiederum stellten sie fest, daß sie sich nur in der Perspektive des Erzählenden, nicht aber inhaltlich von den anderen Darstellungen unterschied. Aber dieser eine Unterschied war wichtig. Wie My Lord Bischof, so erzählte auch Sir Gwiliam seine Geschichte, als sei er nicht persönlich darin verwickelt. »Habt Ihr jemals einen dieser Anfälle miterlebt?« fragte Lord Darcy schließlich. Sir Gwiliam zuckte unmerklich zusammen. »Ah... nein. Nein, Euer Lordschaft, das habe ich nicht. Aber die Dienstboten haben sie mir ausführlich geschildert.« »Ich verstehe. Was war nun in der Nacht des Verschwindens los? Wann habt Ihr My Lord Marquis zuletzt gesehen?« »Ziemlich früh am Abend, Euer Lordschaft. Mit der Erlaubnis von My Lord Marquis bin ich gegen fünf Uhr in die Stadt gegangen, um den Abend beim Kartenspiel zu verbringen. Wir haben recht lange gespielt, bis zwei oder halb drei am Morgen. Mein Gastgeber, Master Ordwin Vayne, ein wohlbekannter städtischer Weinhändler, bestand natürlich darauf, daß ich über Nacht bleiben solle. Das war nicht weiter ungewöhnlich, denn die Tore des Schlosses werden nachts um zehn geschlossen, und es ist immer ziemlich umständlich, sie von den Wachen öffnen zu lassen. Also kehrte ich am Morgen um zehn Uhr ins Schloß zurück. Als ich kam, teilte mir My Lady mit, daß My Lord Marquis verschwunden sei.« Lord Darcy nickte. Sir Gwiliams Aussage stimmte mit der von Lady Elaine überein. Kurz nachdem Sir Gwiliam gegangen war, hatte sie sich wegen einer leichten Erkältung zurückgezogen. Sie war die Letzte gewesen, die den Marquis von Cher-bourg gesehen hatte.
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»Danke, Sir Seneschall«, sagte Lord Darcy. »Später möchte ich noch mit den Dienstboten sprechen. Es gibt...« Er wurde unterbrochen, als Lord Seiger eintrat, gefolgt von einem großen, schwergebauten Mann mit Schnurrbart und dunklen Haaren, der einen finsteren Gesichtsausdruck trug. Während sich Sir Gwiliam erhob, sagte Lord Darcy: »Ich danke Euch für Eure Hilfe, Sir Gwiliam. Das wäre dann vorläufig alles.« »Danke, Euer Lordschaft. Stehe stets zu Diensten.« Als der Seneschall gegangen war, stellte Lord Seiger den Schnurrbärtigen vor. »My Lord, dies ist Sir Androu Duglasse, Captain der Leibwache von My Lord dem Marquis. Captain, dies ist Lord Darcy, Chefinspektor Seiner Herzoglichen Hoheit.« Der finstere Mann verne igte sich. »Stehe zu Eurer Verfügung, M'Lord.« »Danke. Setzt Euch, Captain.« Lord Seiger entfernte sich wieder. »Hoffe, daß ich Euer Lordschaft behilflich sein kann«, sagte der Captain. »Das könnt Ihr bestimmt«, meinte Lord Darcy. »Wenn ich nicht irre, dann hat niemand gesehen, wie My Lord Marquis das Schloß verlassen hat. Ich vermute, daß Ihr die Wachen bereits befragt habt.« »Hab' ich, M'Lord. Wir wußten nicht, das M'Lord Marquis vermißt wurde, bis M'Lady mir das mitteilte. Ich hab' sofort die Männer befragt, die an diesem Abend und in der Nacht Wache hatten. Der einzige, der das Schloß nach fünf verlassen hat, war Sir Gwiliam, um zwo nach fünf, so steht's im Buch.« »Und der Geheimgang?« fragte Lord Darcy, der mit den Bauplänen fast aller Schlösser und Bur gen des Reichs vertraut war. Der Captain nickte. -3 7 8
»Es gibt einen, ja. Wurde früher benutzt, während Belagerungen. Heute ist er verriegelt.« »Auch bewacht?« Captain Sir Androu lachte leise. »Jawohl, M'Lord. Der unbeliebteste Wachposten von allen! Der Tunnel endet in der Kanalisation, versteht Ihr? Ist ein Posten für solche, die gegen irgendwelche Wachvorschriften verstoßen haben. Bringt sie wieder zu sich, ein paar Nächte dort unten in dem Gestank zwischen den Ratten zu verbringen, um eine Eisentür zu bewache n, die jahrelang nicht mehr geöffnet worden ist und die man von außen nicht mal mit einer Bombe aufbekommen würde. Ganz zu schweigen von innen. Das Ding ist völlig eingerostet. Wir laufen dort in unregelmäßigen Abständen Patrouille, um zu überprüfen, ob der Mann seine Pflicht tut oder nicht.« »Ich verstehe. Und das Schloß habt Ihr auch gründlich durchsucht?« »Ja. Ich hatte befürchtet, daß er einen von seinen Anfällen gehabt hatte und irgendwo liegengeblieben war. Wir haben alles abgesucht. Haben ihn nirgends finden können, Euer Lordschaft. Nirgends. Er muß irgendwie rausgekommen sein.« »Nun gut, dann müssen wir...« Lord Darcy wurde von einem Türklopfen unterbrochen. Master Sean öffnete, seiner Rolle treu, die Tür. »Ja, Euer Lordschaft?« Lord Seiger stand an der Tür. »Würdet Ihr Lord Darcy bitte mitteilen, daß Henri Vert, Oberster Waffenmeister von Cherbourg, um eine Unterredung bittet?« Einen Augenblick lang war Lord Darcy irritiert. Wie hatte der Oberste Waffenmeister wissen können, daß er hier war? Dann wußte er die Antwort. »Bittet ihn herein, Sean«, sagte Lord Darcy. Chief Henri war ein schwergebauter, zäher Frühfünfziger, der den Eindruck machte, als sei er ein ausdauernder Kämpfer. Er verneigte sich. -3 7 9
»Lord Darcy. Darf ich Euer Lordschaft unter vier Augen sprechen?« Er sprach das Anglo-Französisch mit einer peinlichen Genauigkeit aus, die verriet, daß es nicht seine Muttersprache war. Er hatte sein bestes getan, um seinen patoisAkzent loszuwerden, aber man merkte ihm seine Angestrengtheit an. »Aber gewiß, Chief Henri. Captain würdet Ihr uns bitte entschuldigen? Wir werden später noch miteinander reden können.« »Selbstverständlich, Euer Lordschaft.« »Es tut mir außerordentlich leid, Euch stören zu müssen«, sagte Chief Henry, nachdem die drei allein waren, »aber Seine Königliche Hoheit hat ausdrücklich darauf bestanden.« »Das habe ich schon vermutet, Chief Henry. Setzt Euch doch bitte. Also - was ist los?« »Nun, Euer Lordschaft«, sagte er und blickte auf Master Sean. »Seine Hoheit hat mich per Teleklang unterwiesen, nur mit Euch allein zu reden.« Dann blickte er genauer hin und rief voller Erstaunen: »Potzdonner! Master Sean O Lochlainn! In der Livree habe ich Euch überhaupt nicht erkannt!« Der Hexer grinste. »Bin ein guter Kammerdiener, eh, Henri?« »Das kann man wohl sagen! Also, kann ich frei sprechen?« »Aber sicher«, sagte Lord Darcy. »Fahrt fort!« »Also gut.« Der Chief lehnte sich vor und sprach mit leiser Stimme. »Als diese Sache ruchbar wurde, da mußte ich gleich an Euch denken. Ich muß zugeben, daß die Angelegenheit meine Fähigkeiten übersteigt. Am achten liefen zwei meiner Männer nachts im Wasserfrontdistrikt Streife. An der Ecke der Rue King John II und dem Quai Sainte Marie sahen sie, wie ein Mann zu Boden stürzte. Er trug nichts als einen Umhang, und wenn Euer
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Lordschaft sich erinnern sollte, das war eine verdammt kalte Nacht! Als sie bei ihm ankamen, war er schon tot.« Lord Darcy Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Woran ist er gestorben?« »Schädelbruch, Euer Lordschaft. Irgend jemand hat ihm die rechte Schädelseite zertrümmert. Ist ein Wunder, daß er überhaupt noch laufen konnte.« »Ich verstehe. Fahrt fort.« »Also, man brachte ihn ins Leichenschauhaus. Meine Männer identifizierten ihn beide als einen gewissen Paul Sarto, ein Mann, der in den Bistros gegen geringes Entgelt arbeitet. Der Besitzer des Bistros, in dem er zuletzt gearbeitet hatte, erkannte ihn auch wieder. Es sieht so aus, als ob dieser Sarto nicht so ganz richtig im Kopf gewesen ist, und daß er gewillt war, jede körperliche Arbeit zu leisten, wenn man ihm nur Unterkunft, Verpflegung und ein kleines Taschengeld gab. Brauchte jemand, der sich ein bißchen um ihn kümmerte.« »Hm! Wir müssen seiner Spur nachgehen und herausfinden, warum sein Baron nicht für ihn gesorgt hat«, meinte Lord Darcy. »Fahrt fort.« »Nun, Euer Lordschaft, es steckt mehr dahinter. Ich bin der Sache zunächst nicht weiter nachgegangen, ein gewöhnlicher Tod an der Wasserfront, na ja...« Er spreizte die Hände. »Mein Hexer und mein Chirurgus untersuchten die Leiche, machten die üblichen Tests. Er wurde mit einem eckigen Stück Eichenholz getötet, möglicherweise ein Maßholz oder etwas Ähnliches. Der Schlag war ungefähr zehn Minuten, bevor meine Wachmänner ihn fanden, erfolgt. Mein Chirurgus meint, daß nur ein Mann von ungewöhnlicher Zähigkeit so lange durchhalten konnte, ganz abgesehen davon, daß er noch fähig war zu laufen.« -3 8 1
»Entschuldigt, Henri«, unterbrach Master Sean ihn. »Hat Euer Hexer den Fitz-Gibbon-Test für post mortem Aktivierung durchgeführt?« »Selbstverständ lich. War der erste Test, den er machte, das Naheliegende bei der Wunde! Nein, man hatte den Körper nicht nach seinem Tod reaktiviert, damit er vom Tatort weggehen würde. Er ist tatsächlich erst gestorben, als die Wachmänner ihn fanden.« »Wollte nur mal na chfragen«, meinte Master Sean. »Nun ja, man hätte die Sache trotzdem als ein gewöhnliches Wasserfronthandgemenge abtun können, aber es gab da noch ein paar merkwürdige Einzelheiten. Der Umhang, den er trug, war von aristokratischem Schnitt, nicht der eines Nichtadligen. Teures Material, teure Schneiderarbeit. Außerdem hatte er vor kurzem noch gebadet und, wie es scheint, recht häufig. Seine Finger- und Zehnägel waren sorgfältig geschnitten und gepflegt.« Lord Darcy blickte ihn interessiert an. »Nicht eben das, was man bei einem schwerarbeitenden Nichtadligen erwarten würde, eh?« »Genau, My Lord. Als ich dann heute morgen die Berichte gelesen habe, bin ich der Sache nachgegangen.« Er beugte sich vor, und seine Stimme wurde noch leiser und rauher. »Ich brauchte nur einmal hinsehen, My Lord, dann mußte ich sofort Rouen anrufen. My Lord, es ist der Marquis von Cherbourg persönlich!« Auf einem geliehenen Pferd ritt Lord Darcy durch die kalte Winternacht. Sein Umhang flatterte hinter ihm her. Der Frost sah schlimmer aus, als er war, denn vom Meer her hatte eine wärmere Brise eingesetzt, die matschigen Schneeregen mit sich führte, die Temperatur war nur wenig unter dem Gefrierpunkt. Lord Darcy hatte schon Schlimmeres durchgestanden, aber die klamme Feuchtigkeit fuhr ihm doch in die Knochen. Er hatte das -3 8 2
Pferd von Chief Henri ausgeliehen, ein brauchbarer Polizeiklepper, dem die gepflasterten Straßen von Cherbourg nichts ausmachten. Die Szene, die sich im Leichenschauhaus abgespielt hatte, war sehr merkwürdig gewesen, dachte Lord Darcy. Er, Sean und Henri hatten zugeschaut, während der Aufseher die Leiche hervorgerollt hatte. Sofort hatte Lord Darcy verstanden, wieso der Oberste Waffenmeister so aufgeregt war. Er selbst war Hugh von Cherbourg nur einmal begegnet und konnte ihn wohl kaum mit Sicherheit identifizieren, aber wenn die Leiche vielleicht auch nicht so aussehen mochte wie der lebendige Marquis, so sah ihr Gesicht zumindest so aus wie der tote. Man hatte die beiden Wachmänner noch einmal getrennt befragt, und beide hatten sie ausgesagt, daß es sich bei dem Toten um Paul Sarto handeln müsse, auch wenn er so gepflegt aussah, wie es Paul nie getan hatte. Das alles war nicht weiter verwunderlich. Die Wachmänner hatten den Marquis nur selten zu Gesicht bekommen, und auch das wahrscheinlich nur bei offiziellen Feierlichkeiten, bei denen er Festkleidung getragen hatte. Man konnte kaum von ihnen erwarten, daß sie einen herumirrenden, halbnackten Mann als ihren Lehnsherren wiedererkennen sollten. Wenn sie diesen Mann zudem automatisch mit dem ihnen bekannten Paul Sarto in Verbindung brachten, dann konnten sie einfach nicht darauf kommen, daß es sich um den Marquis handelte. Auf der anderen Seite kannte Henri Vert, Oberster Waffenmeister der Stadt Cherbourg, My Lord Marquis sehr gut und hatte seinerseits nie von einem Paul Sarto gehört und war ihm auch nie zuvor begegnet. Master Sean war zu der Ansicht gekommen, daß noch weitere Tests an der Leiche vorgenommen werden könnten. Chief Henris Hexer, der lediglich den Rang eines Wanderhexers in der Hexergilde innehatte, erklärte ihm alle Tests, die er durchgeführt hatte, und versuchte, den Meisterhexer mit seinem eigenen Wissen und Können zu beeindrucken.
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»Die Tatwaffe bestand aus einem relativ langen Stück Eichenholz, Master. Den Ergebnissen des Kaplan-SheinwoldTests zufolge kommt ein kurzer Knüppel nicht in Frage. Auf der anderen Seite konnte ich merkwürdigerweise keinerlei Spuren des Bösen oder einer bösen Absicht nachweisen, und...« »Weshalb wir auch weitere Tests durchführen werden, mein Junge«, sagte Master Sean. »Wir haben nicht genug Informationen.« »Jawohl, Master«, sagte der Wanderhexer gedemütigt. Lord Darcy gelangte zu der Überzeugung, daß der Täter, wenn er den Schlag von vorne ausgeführt haben sollte, entweder Linkshänder sein mußte oder eine mörderische Rückhand schlagen konnte. Was recht wenig besagte, wie er zugeben mußte. So überließ er Master Sean die weitere Arbeit in dem kalten, klammen Leichenschauhaus und borgte sich Chief Henris Pferd, um seinen eigenen Untersuchungen nachzugehen. Obwohl er Cherbourg nicht besonders gut kannte, besaß Lord Darcy die Fähigkeit, sich mühelos eine Karte oder einen Stadtplan einzuprägen und sich in der Außenwelt damit zurechtzufinden, selbst wenn die Karte kleinere Fehler hatte. Er bog mit seinem Pferd um eine Ecke und sah eine Gaslaterne mit blauem Glasschild vor sich: ein Zeichen dafür, daß er sich vor einem Außenposten der Wachmannschaft von Cherbourg befand. Vor dem Gebäude stand ein Wachmann in Paradehaltung. Sobald er sah, daß er von einem berittenen Adligen angeblickt wurde, salutierte er und sagte: »Jawohl, My Lord! Kann ich Euer Lordschaft behilflich sein?« »Jawohl, Wachmann, das könnt Ihr«, sagte Lord Darcy und sprang aus dem Sattel. Er übergab dem Wachmann die Zügel. »Dieses Pferd gehört Chief Henry im Hauptquartier.« Er zeigte seine Urkunde mit dem herzoglichen Wappen vor. »Ich bin Lord Darcy, Chefinspektor Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs. Kümmert Euch um das Pferd. Ich habe hier -3 8 4
in der Gegend zu tun und hole das Tier nachher wieder ab. Ich möchte mit Eurem Wachsergeanten sprechen.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft. Der Sergeant ist im Gebäude, My Lord.« Nachdem er mit dem Sergeanten gesprochen hatte, begab Lord Darcy sich wieder hinaus in die eisige Nacht. Er mußte noch einige Blocks bis zu seinem Ziel gehen, aber es wäre unklug gewesen, in dieser Gegend beritten aufzutauchen. Er schritt zwei Blocks durch die schmutzigen Straßen, blickte sich um, um sicher zu sein, daß niemand ihm folgte, und verschwand in einer Seitengasse, wo er sofort seinen Umhang abnahm und wendete. Anstelle des Seidenfutters, wie es ein gewöhnlicher Adliger zu tragen pflegte, oder des Pelzes, den man bei sehr kalter Witterung darunter trug, war sein Umhang auf der Innenseite braun: ein schäbiges, abgetragenes Braun voller Flicken. Er zog einen zerknitterten Schlapphut aus der Tasche, wie ihn Bürger niederen Standes zu tragen pflegten, zerzauste sich das Haar sorgfältig und setzte ihn auf. Seine Stiefel sahen ohnehin sehr unauffällig aus und waren zudem schon schlammbedeckt. Ausgezeichnet! Anstatt wie sonst mit militärischer Geradheit zu gehen, krümmte er den Rücken, zündete sich eine billige Zigarre an und schlenderte dann in dieser laxen Haltung auf sein Ziel zu. »Aye?« Die schlampig aussehende Mittfünzigerin blinzelte durch das Guckfenster in der Tür. »Und was gibt's wohl, um diese Nachtzeit!« Lord Darcy gönnte ihr sein freundlichstes Lächeln und antwortete im gleichen patois, wie sie es sprach: »'tschuldigung, Hausherrin, aber ich such' meinen Bruder Vincent Coude. Mag ihn zwar nicht belästigen, zu dieser Uhrzeit, ja, aber...« Wie erwartet unterbrach sie ihn. »Lassen keinen rein nicht, nach Sonnenuntergang, wenn er nicht bei uns bekannt ist!« -3 8 5
»Wie's sich gehört, Hausherrin«, sagte Lord Darcy und nickte höflich. »Aber ich bin sicher, mein Bruder Vincent wird mich ausweisen. Sagt ihm nur, sein Bruder Richard war' hier, eh?« Sie schüttelte den Kopf. »Ist nicht da. Ist schon seit Mittwoch nicht mehr hiergewesen. Die Magd macht jeden Tag das Zimmer, und seit Mittwoch ist er nicht dagewesen.« Mittwoch! dachte Lord Darcy. Mittwoch der achte! Die Nacht, in der der Marquis verschwunden ist! Die Nacht, als man nur wenige Blocks von hier entfernt die Leiche gefunden hat! Lord Darcy zog eine Silbermünze hervor und zeigte sie ihr. »Könnt Ihr wohl mal nachsehen? Kann ja sein, er ist heut' wiedergekommen. Kann ja sein, er schläft oben.« Sie nahm die Münze und lächelte. »Gern, ja, sehr gern. Könnt recht haben, mag sein, er ist zurückgekommen. Bin gleich zurück.« Aber sie ließ die Tür verschlossen und verriegelte auch die Luke. Lord Darcy machte sich nichts daraus. Er horchte auf ihre Schritte: die Treppe hoch, die Halle entlang, Klopfen, noch ein Klopfen. Lord Darcy rannte schnell rechts ums Haus und blickte hoch. In einem Fenster sah er Laternengeflacker. Die Hausherrin hatte die Tür aufgeschlossen und sah nach, ob ihr Mieter wirklich nicht da war. Er lief zurück und stand wartend vor der Tür, als sie zurückkehrte. Sie öffnete die Luke und sagte traurig: »Ist nicht da, Ric hard.« Lord Darcy gab ihr einen weiteren Sechser, »'s ist gut, Hausherrin. Sagt ihm nur, daß ich hier war. Nehme an, er ist geschäftlich unterwegs.« Er hielt inne. »Wann wird seine Miete fällig?«
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Sie blickte ihn mit plötzlich verengten Augenschlitzen an und überlegte, ob es möglich wäre, eine weitere Wochenmiete zu erschwindeln. Dann sah sie seinen kalten Blick und entschied sich dagegen. »Hat bis zum vierundzwanzigsten bezahlt«, sagte sie zögernd. »Aber wenn er bis dann nicht zurück ist, dann hol' ich sein Zeug raus und such mir einen anderen Mieter.« »Natürlich«, stimmte Lord Darcy ihr zu. »Aber er kommt zurück. Sagt ihm, daß ich hier war. Nichts Dringendes. Komme in ein oder zwei Tagen wieder.« Sie lächelte. »In Ordnung. Kommt möglichst bei Tage, wenn's möglich ist, Freund Richard. Dank' auch schön!« »Selbst bedankt«, entgegnete Lord Darcy. »Gute Nacht und Sicherheit wünsch' ich Euch.« Er drehte sich um und schritt fort. Er ging einen halben Block weit und verschwand wieder in einer Seitengasse. Sir James le Lein, Agent Seiner Majestät Geheimdienst, war also seit dem achten nicht mehr gesehen worden! Dieser seltsame Abend des achten wurde immer geheimnisvoller und unheimlicher! Er wußte sehr wohl, daß er die Frau hätte bestechen können, um ihn in Sir James Zimmer zu lassen, aber die dafür erforderliche Summe hätte nur Verdacht erregt. Es gab eine bessere Möglichkeit. Um diese Möglichkeit auszukundschaften, benötigte er gute zwanzig Minuten, aber schließlich befand er sich auf dem Dach des zweistöckigen Hauses, in dem Sir James unter dem Namen Vincent Coude zur Miete gewohnt hatte. Das Haus war zwar alt, aber solide gebaut. Lord Darcy kletterte vorsichtig mit dem Kopf nach unten das Schrägdach hinunter, bis er sich oberhalb des Zimmers befand, in dem er das Laternenlicht gesehen hatte. Das Fenster war leer und dunkel, aber die Außenjalousien standen zum Glück offen. Die Frage war nur, ob das Fenster verriegelt war oder nicht. Er hielt sich -3 8 7
an der Regenrinne fest und schob sich vorsichtig bis an den Dachrand vor. Dann langte er mit dem Arm nach dem Fenster, um zu prüfen, ob er es erreichen konnte. Es ging, knapp zwar, aber immerhin! Vorsichtig schob er das Fenster mit den Fingerspitzen auf. Die Flügel hingen, wie meistens bei solchen alten Gebäuden, an zwei einfachen Scharnieren, die nach innen öffneten. Die Regenrinne schien sehr stabil zu sein. Er hielt sich fest, während er sich herumdrehte, dann schwang er mit den Füßen durch die Luft in die Fensteröffnung, ließ los und landete im Zimmer. Einen Augenblick lang hielt er still, um sicherzugehen, daß ihn keiner gehört habe. Doch der dumpfe Aufprall war scheinbar in den Geräuschen, die durch die anderen Hausbewohner zu dieser vergleichsweise frühen Nachtzeit verursacht wurden, untergegangen. Schließlich stand er auf und zog einen Spezialgegenstand aus der Tasche seines Umhangs. Es war eine unglaubliche Apparatur, ein Staatsgeheimnis Seiner Majestät Regierung. Sie wurde von einem Paar Zinckupfer-Doubletten angetrieben, der einzigen bekannten Quelle solcher magischer Energie, die einen Stahldraht zum Glühen brachten. Der dünne Draht glühte weißlodernd und war fast so hell wie eine gewöhnliche Gaslaterne. Das Geheimnis bestand in der besonderen Behandlung des Drahts. Normalerweise würde er mit einem weißblauen Blitz verbrennen. Doch wenn man ihn mit einem bestimmten Zauber imprägnierte, glomm er anstatt zu schmelzen. Der Draht befand sich in der Mitte eines Parabolspiegels, und wenn Lord Darcy einen einfachen Knopf betätigte, dann hatte er eine Lichtquelle zur Verfügung, die jeder gewöhnlichen Handlaterne weit überlegen war. Es war ein persönliches Gerät, denn der magische Schmelzschutz funktionierte nur, wenn Lord Darcy selbst den Lichtwerfer bediente. Er drückte auf den Knopf und untersuchte Sir James le Leins Zimmer. Es war nichts von Interesse zu finden, aber Sir James würde schon dafür gesorgt haben, daß dieser Eindruck -3 8 8
entstehen mußte, schon weil die Hausherrin einen Schlüssel zu dem Raum besaß. Nichts wies darauf hin, daß der Mieter dieses Zimmers etwas anderes war als ein gewöhnlicher Arbeiter. Lord Darcy stellte den Lichtwerfer aus und überlegte eine Weile. Sir James befand sich auf einer gefährlichen Mission im Dienste Seiner Kaiserlichen Majestät John IV. Es gab mit Sicherheit irgendwelche Berichte, Akten und so weiter, aber wo? Hatte Sir James das Faktenmaterial lediglich in seinem Kopf gespeichert? Das war zwar möglich, doch glaubte Lord Darcy nicht daran. Sir James hatte mit Lord Cherbourg zusammengearbeitet. Beide waren sie am achten in der Nacht verschwunden. Es bestand zwar die Möglichkeit, daß dies Zufall sei, doch war das mehr als unwahrscheinlich. Noch blieben zuviele Dinge unerklärt. Lord Darcy hatte zwar drei mögliche Hypothesen aufgestellt, die die bisherigen Fakten erklärten, aber endgültig befriedigte ihn keine davon. Da fiel sein Blick auf den Umriß des Blumentopfs, der auf dem Fenstersims stand. Hätte er in der Mitte gestanden, so hätte Lord Darcy ihn bei seinem Einstieg mit Sicherheit zerschmettert, aber er stand auf einer Seite des Bretts. Er ging auf das Fenster zu und beäugte den Topf vorsichtig in der Dunkelheit. Warum, so fragte er sich, züchtet ein Agent des Königs Usambaraveilchen? Er hob den Blumentopf auf, hielt ihn vom Fenster fort und beleuchtete ihn mit seinem Lichtwerfer. Nichts Ungewöhnliches. Mit einem grimmigen Lächeln stopfte Lord Darcy den Topf mitsamt seinen Inhalt in eine seiner geräumigen Umhangtaschen. Dann öffnete er das Fenster, kletterte übers Sims, ließ sich an den Fingerspitzen herabhängen und sprang die restlichen zehn Fuß hinab. Fünf Minuten später hatte er sein Pferd wieder und ritt eilig in Richtung Schloß Cherbourg. Am Dienstagmorgen, dem 14. Januar, läuteten Lord Darcy und Master Sean am Haupteingang des düsteren Gebäudes des Benediktinerklosters von Cherbourg. Sie wurden ins Wartezimmer geführt und ließen Vater. Patrique von ihrer Ankunft benachrichtigen. Der Mönch mußte erst die -3 8 9
Erlaubnis des Lord Abts einholen, bevor er mit Außenstehenden sprach, aber das war eine reine Formsache. Wenige Minuten später öffnete sich die Tür, und ein großer, ziemlich bleicher Mann im Benediktinerhabit trat herein. Er lächelte freundlich, während er durch den Raum schritt, und streckte die Hand aus. »Lord Darcy, ich bin Vater Patrique. Zu Diensten, My Lord.« »Ich habe zu dienen, Euer Gnaden. Dies ist mein Diener Sean.« Der Priester drehte sich Sean zu, stockte und lächelte plötzlich humorvoll. »Master Sean, das ist ja wohl nicht Eure Kleidung, die Ihr da tragt. Ein Hexer kann sich nicht einfach unkenntlich machen, indem er Dienstbotenkleidung anzieht!« Master Sean erwiderte das Lächeln. »Ich hatte nicht gehofft, mich vor einem Sensitiven Eures Ordens verbergen zu können. Ehrwürdiger Sir.« Lord Darcy lächelte ebenfalls. Er freute sich, daß er es bei Vater Patrique mit einem Sensitiven zu tun hatte. Der Benediktinerorden war berühmt dafür, dieses besondere Talent bei seinen Mitgliedern zu fördern und auszubilden, und er war stolz darauf, daß sein Gründer, der Heilige Benedikt, schon im frühen sechsten Jahrhundert dieses Talent in ausgeprägter Form besessen hatte, lange bevor die Gesetze der Magie formuliert und wissenschaftlich untersucht worden waren. Für einen solchen Sensitiven war es möglich, jede Verkleidung zu durchschauen, wenn sie nicht mit einem völligen Persönlichkeitswandel einherging. Er konnte einen Menschen in toto erfassen; solche Seher waren kaum zu überschätzende Heiler, besonders in Fällen dämonischer Besessenheit und anderer Geisteskrankheiten. »Nun, wie kann ich Euer Lordschaft helfen?« fragte der Benediktiner freundlich. -3 9 0
Lord Darcy zeigte ihm seine Beglaubigungen als Chefinspektor von Herzog Richard. »Ganz genau«, meinte der Mönch. »Angesichts der Tatsache, daß My Lord Marquis vermißt wird, habe ich keinerlei Zweifel.« Lord Darcy lächelte trocken. »Die Mauern eines Klosters sind wohl doch nicht völlig undurchlässig, wie, Vater?« Vater Patrique lachte still in sich hinein. »Wir sind völlig offen für den Blick Gottes und für die Gerüchte der Menschen. Nehmt doch bitte Platz, hier sind wir ganz ungestört.« »Danke, Vater«, sagte Lord Darcy und setzte sich. »Wenn ich richtig unterrichtet bin, so hat man Euch seit dem letzten Weihnachtsfest mehrere Male gerufen, damit Ihr My Lord von Cherbourg behandelt. My Lady von Cherbourg und My Lord der Bischof von Guernsey und Sark haben mir von diesen Anfällen berichtet, dies ist übrigens der Grund, warum man die ganze Sache im Augenblick zu vertuschen versucht, aber ich wüßte doch gern Eure Meinung als Heiler dazu.« Der Mönch zuckte mit den Schultern und spreizte ein wenig die Hände. »Ich würde Euch gern alles erzählen, was ich weiß, My Lord, aber ich fürchte, ich weiß fast nichts. Die Anfälle dauerten jedes mal nur wenige Minuten lang und waren stets vorüber, als ich eintraf, um mich um My Lord Marquis zu kümmern. Er war immer schon wieder normal, wenn auch vielleicht ein wenig verwirrt. Er sagte mir, daß er sich nicht an das erinnern könne, wovon My Lady mir erzählt hatte. Er verlor lediglich das Bewußtsein und wurde wieder wach, ein bißchen verwirrt und schwindlig.« »Und Eure Diagnose, Vater?« fragte Lord Darcy.
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Der Benediktiner runzelte die Stirn. »Es gibt mehrere mögliche Diagnosen, My Lord. Angesichts der mir bekannten Symptome und aus dem zu schließen, was mir My Lord erzählte, scheint alles auf eine milde Form von Epilepsie hinzudeuten, vom Typus petit mal, also ›kleine Krankheit‹. Im Gegensatz zum gängigen Aberglauben handelt es sich bei der Epilepsie ja nicht um eine Form von dämonischer Besessenheit, sondern um ein organisches Leiden, über das wir noch sehr wenig wissen. Beim Typus grand mal verliert der Kranke während seiner Krampfanfälle die Gewalt über seine Muskeln, es kommt zu Zuckungen und so weiter. Aber die ›kleine Krankheit« bewirkt lediglich einen kurzen Bewußtseinsverlust, manchmal so kurz, daß der Kranke selbst ihn gar nicht richtig wahrnimmt. Es kommt nicht zum Kollaps oder zu Spasmen, nur zu einer Art von Stupor.« »Aber Ihr seid Euch nicht sicher?« »Nein. Wenn My Lady die Marquise die Wahrheit erzählt und ich wüßte nicht, warum sie das nicht tun sollte - , dann war sein Verhalten während der... nun ja, nennen wir es Anfälle, ausgesprochen atypisch. Beim Typus petit mal starrt das Opfer ins Leere, sprechunfähig und nicht wachzurütteln. Aber My Lady zufolge verhielt My Lord sich nicht so. Er schien verwirrt zu sein, durche inander und außerordentlich dumm, aber auf jeden Fall nicht ohne Bewußtsein.« »Also habt Ihr noch andere Diagnosen in Erwägung gezogen?« fragte Lord Darcy gespannt. Vater Patrique nickte nachdenklich. »Ja. Immer davon ausgehend, daß My Lady die Marquise die Wahrheit gesagt hat, dann gibt es noch andere Möglichkeiten. Aber keine von ihnen deckt alles lückenlos ab, genausowenig wie die erste.« »Was denn, zum Beispiel?« »Zum Beispiel ein Angriff durch parapsychische Induktion.« Master Sean nickte, aber sein Blick drückte doch Zweifel aus. -3 9 2
»So eine Art Wachspuppen-Geschichte«, meinte Lord Darcy. Vater Patrique nickte. »Genau, My Lord, obwohl es, wie Ihr sicherlich wißt, bessere Methoden gibt.« »Natürlich«, sagte Lord Darcy brüsk. Er wußte, daß theoretisch die Simulacrum-Methode die beste Methode überhaupt war. Nichts war mächtiger als eine genaue Abbildung, das besagten die Gesetze der Ähnlichkeit. Die Größe der Abbildung war unwichtig, aber es kam auf die Details an, bis hin zu den inneren Organen. Aber die Konstruktion einer Wachsabbildung brachte Probleme mit sich, von denen das der künstlerischen Fähigkeiten noch das kleinste war. Viele Fragen führten ins Ungewisse. So war beispielsweise Bienenwachs dafür geeigneter als Steinwachs, weil es sich dabei um ein tierisches Produkt handelte, wodurch die Ähnlichkeit vergrößert wurde. Aber warum wurde die Kraft verstärkt, wenn man Ammoniaksalz hinzugab? Die Zauberer sagten einfach, daß Ammoniaksalz, Salpeter und einige wenige andere mineralische Substanzen die Ähnlichkeit eben auf eine unerforschte Weise vergrößerten; damit ließ sie es aber auch schon bewenden, was letzlich auch verständlich war, denn schließlich hatten Hexer wichtigere Dinge zu tun als sich mit der Mineralogie herumzuplagen. »Das Problem besteht darin«, sagte Vater Patrique, »daß die parapsychische Induktionsmethode fast immer mit körperlichen Schmerzen oder Krankheiten verbunden ist, Erkrankung der inneren Organe, Herzbeschwerden oder sonstige Drüsenprobleme. Aber es gibt hier keine Spur solcher Faktoren, wenn man nicht die Gehirnerkrankung als Drüsenstörung werten will, und selbst dann müßten dabei Schmerzen auftreten.« »Also lehnt Ihr diese Diagnose auch ab?« fragte Lord Darcy. Vater Patrique schüttelte den Kopf.
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»Ich verwerfe keine dieser Diagnosen«, sagte er mit Bestimmtheit. »Ich habe noch lange nicht genug Faktenmaterial.« »Ihr habt also noch andere Theorien.« »In der Tat, My Lord. Echte dämonische Besessenheit.« Lord Darcy hob die Augenbrauen. »Das glaubt Ihr doch wohl nicht ernsthaft, Hochwürden?« »Nein«, sagte Vater Patrique offen, »das tue ich auch nicht. Als Sensitiver habe ich natürlich ein gewisses Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten. Wenn mehr als eine Persönlichkeit in My Lord Marquis Körper gewesen sein sollte, dann hätte ich... äh, diese... äh... andere Persönlichkeit bestimmt wahrgenommen.« Lord Darcys Blick blieb auf den Benediktiner geheftet. »Davon bin ich ausgegangen, Hochwürden«, sagte er. »Ihr hättet es doch auf jeden Fall merken müssen, nicht wahr?« »Da bin ich mir völlig sicher, My Lord«, sagte Vater Patrique mit Entschiedenheit. »Wenn My Lord von Cherbourg von einer weiteren ›Persönlichkeit‹ besessen gewesen wäre, dann hätte ich das festgestellt. Versteht Ihr, Lord Darcy? In einem einzigen menschlichen Gehirn können sich verschiedene Persönlichkeiten verstecken. Die im Augenblick dominante Persönlichkeit läßt den Beobachter nicht bemerken, daß noch weitere Persönlichkeiten vorhanden sind. Aber die... die alter egos können sich nicht vor einem echten Sensitiven verbergen.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Als ich ihn untersuchte, befand sich nur eine Persönlichkeit im... in der Person... im Gehirn des Marquis von Cherbourg. Und das war der Marquis selbst.« »Hm«, machte Lord Darcy nachdenklich. »Und was ist mit Drogen?« Der benediktinische Heiler lächelte.
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»Ja, natürlich, es gibt auch Drogen, die die Persönlichkeit verändern können. Alkohol, zum Beispiel, aber auch andere. Manche wirken nur kurz, manche erst, nachdem man sie oft eingenommen hat. Absinth, beispielsweise, der sich in vielen Spirituosen findet: nur in kleinen Mengen natürlich, und wenn man sich mit solchen Spirituosen betrinkt, dann kann man ihre Wirkung kaum von der des gewöhnlichen Alkohols unterscheiden. Aber wenn man sie regelmäßig zu sich nimmt, dann tritt irgendwann eine Persönlichkeitsveränderung ein.« Lord Darcy nickte gedankenverloren und blickte seinen Hexer an. »Master Sean, die Phiole, bitte.« Der rundliche irische Hexer fischte eine kleine verkorkte Glasphiole von einem Zoll Länge und etwa einem halben Zo ll Durchmesser aus der Tasche. Er reichte sie dem Priester, der sie neugierig begutachtete. Sie war mit einer dunklen, bernsteinfarbigen Flüssigkeit gefüllt, in der sich kleine Stücke einer Substanz befanden, die fast wie Tabak aussahen und die fast ein Drittel des Gefäßes ausfüllten. »Was ist das?« fragte Vater Patrique. Master Swan runzelte die Stirn. »Das weiß ich selbst auch nicht so genau, Hochwürden. Ich habe die Phiole überprüft, um festzustellen, ob ein Zauber über sie verhängt worden ist. Das war nicht der Fall. Also zog ich den Korken heraus und roch daran. Riecht wie Brandy, mit einer leichten geruchlichen Überlagerung, die man nicht spezifizieren kann. Natürlich konnte ich es nicht untersuchen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was es ist. Ohne ein Standardmuster konnte ich keine Ähnlichkeitsanalyse durchführen. Gut, ich habe also die Sache mit dem Brandy überprüft, und es stellte sich heraus, daß es sich tatsächlich um Brandy handelt. Aber ich kann die kleinen Stückchen nicht bestimmen. Seine Lordschaft meint, daß es sich vielleicht um irgendeine Droge handeln könne, und da ein Heiler ja meistens -3 9 5
eine Menge materia medica besitzt, dachte ich, daß wir das Zeug mit Eurer Hilfe vielleicht identifizieren könnten.« »Selbstverständlich«, stimmte der Priester ihm zu. »Da habe ich gleich ein paar Möglichkeiten im Kopf, die wir überprüfen können. Die Tatsache, daß man die Substanz in Brandy eingelegt hat, deutet darauf hin, daß sie entweder schnell verderblich ist oder daß die gewünschte Essenz in Brand y löslich ist. Das läßt mehrere Erklärungen zu.« Er blickte Lord Darcy an. »Darf ich fragen, woher Ihr sie habt, My Lord?« Lord Darcy lächelte. »Sie war in einem Blumentopf vergraben.« Vater Patrique merkte, daß er nicht mehr erfahren würde, und zuckte mit den Schultern. »Nun gut, My Lord. Master Sean und ich werden versuchen herauszufinden, was für eine geheimnisvolle Substanz das wohl sein mag.« »Ich danke Euch, Vater«, sagte Lord Darcy und erhob sich von seinem Stuhl. »Ach ja, noch etwas. Was wißt Ihr über Lord Seiger?« »Sehr wenig. Seine Lordschaft stammt aus Yorkshire... aus North Riding, wenn ich nicht irre. In den letzten Monaten hat er mit My Lord von Cherbourg zusammengearbeitet, es hatte irgend etwas mit Büchern zu tun. Seine Familie kenne ich nicht, wenn Ihr das meint.« »Nicht direkt«, sagte Lord Darcy. »Seid Ihr sein Beichtvater, Vater? Oder habt Ihr ihn als Heiler betreut?« »Nein, weder noch. Warum?« »Weil ich Euch dann eine Frage stellen darf, die seine Seele betrifft. Was ist er für ein Mensch? Was ist das Seltsame, das ich an ihm spüre? Warum fürchtet sich My Lady die Marquise so sehr vor ihm, obwohl sein Verhalten doch makellos ist?« -3 9 6
Die Augen des Priesters weiteten sich. »Hm, ja. Also gut, als Sensitiver weiß ich natürlich einiges über Lord Seiger. Er leidet an einer schweren seelischen Krankheit. Wie es zu so etwas kommt, das wissen wir nicht so recht, jedenfalls fehlt ihm das, was man das ›Gewissen‹ nennt. Vielleicht, das ist jedenfalls die Erklärung der Theologen, wurde ein solcher Mensch noch vor der Geburt, also bevor er durch die Heilige Taufe davor geschützt werden konnte, vom Teufel angegriffen, denn wir können nicht glauben, daß Gott einen Menschen ohne Gewissen erschafft. Jedenfalls ist Lord Seiger ein solcher Mensch, er kann nicht zw ischen Gut und Böse unterscheiden, so wie wir es verstehen. Ein solcher Mensch handelt immer nur nach den Gegebenheiten des Augenblicks. Manches, was wir vielleicht als unerhört oder sogar als ekelerregend empfinden mögen, kann ihm vielleicht Freude machen. Lord Seiger ist also im Grunde ein psychopathischer Killer.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte Lord Darcy. Dann fügte er trocken hinzu: »Ich nehme doch an, daß er unter Kontrolle steht?« »Aber natürlich, selbstverständlich doch!« sagte der Priester beinahe entsetzt, daß man etwas anderes annehmen könnte. »Man kann einen solchen Menschen natürlich nicht verdammen, denn es ist nicht seine Schuld, daß er so ist, aber auf der anderen Seite kann man ihn auch nicht einfach auf die Gesellschaft loslassen.« Er blickte Master Sean an. »Ihr kennt vielleicht die Geas-Theorie, Master Sean?« »Ein wenig«, stimmte ihm Master Sean zu. »Nicht mein Arbeitsfeld, natürlich, aber ich habe mich ein bißchen damit beschäftigt. Die Symbolmanipulation ist ein bißchen zu hoch für mich, muß ich gestehen. Viel tiefer bin ich nie in die Psychische Algebra eingedrungen.« -3 9 7
»Natürlich. Nun, Lord Darcy, um es mit den Worten eines Laien auszudrücken, so handelt es sich darum, daß man über einen solchen Menschen einen mächtigen Zauber verhängt, einen sogenannten geas, der ihn dazu zwingt, niemandem Schaden zuzufügen. Natürlich können wir seine Freiheit nicht allzu stark einschränken, denn es wäre sündig, wollte man ihm seinen freien Willen nehmen. Zum Beispiel wird seine Sexualität nicht weiter davon berührt, aber er kann keine Gewalt anwenden.« »Dazu muß man doch wohl sehr viel von Hexerei verstehen, nicht wahr?« fragte Lord Darcy. »O ja! Kein Heiler würde sich an so etwas wagen, bevor er nicht seinen Doktor der Thaumaturgie gemacht hat und eine Weile lang unter einem Experten seine Kenntnisse erweitert hat. Und es gibt nur sehr wenige Doktoren der Thaumaturgie. Da Lord Seiger aus Yorkshire stammt, vermute ich, daß Seine Gnade der Erzbischof von York die Operation durchgeführt hat, der ein außerordentlich frommer und kraftvoller Heiler ist. Ich selbst würde gar nicht daran denken, eine solche Arbeit zu wagen.« »Ihr könnt aber doch wohl merken, ob eine solche Operation vorgenommen wurde oder nicht?« Vater Patrique lächelte. »Genauso leicht wie ein Chirurgus feststellen kann, ob eine Blinddarmoperation durchgeführt wurde oder nicht.« »Kann man einen geas beseitigen? Auch teilweise?« »Selbstverständlich, wenn man ebenso bewandert und kraftvoll ist. Aber das könnte ich auch feststellen. In Lord Seigers Fall ist das nicht geschehen.« »Könnt Ihr sagen, welche Kanäle der freien Entscheidung offengelassen wurden?«
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»Nein, das hängt von dem genauen geas ab, das läßt sich nur durch extensive Untersuchungen feststellen.« »Dann wißt Ihr also nicht, in welchem Fall sein geas ihm erlauben würde zu töten? Wie zum Beispiel im Falle der Selbstverteidigung?« »Nein«, gab der Priester zu. »Aber das wäre ein seltener Fall, daß man das so pauschal zuließe. Denn was für den einen eine bloße harmlose Beschimpfung sein mag, mag für einen solchen Patienten ein Grund zur Blutrache sein, das darf man ihm also nicht einfach überlassen, das würde kein Heiler verantworten können, und schon gar nicht im Fall von Lord Seiger.« »Dann meint Ihr also, daß er harmlos ist?« Der Priester zögerte nur kurz. »Ja, doch, das glaube ich. Ich glaube nicht, daß er eine solche gesellschaftsfeindliche Tat begehen könnte. Der Heiler hat natürlich auch dafür gesorgt, daß Lord Seiger vor den meisten seiner Mitmenschen geschützt ist. Sein Verhalten ist tadellos, er kann niemanden beleidigen und ist wohl auch unfähig, sich selbst zu verteidigen, außer in Situationen größter Anspannung und unmittelbarer Bedrohung für seinen eigenen Leib. Ich habe einmal gesehen, wie er mit My Lord dem Marquis ein Übungsfe chten durchgeführt hat. Lord Seiger ist ein ausgezeichneter Fechter, viel besser als der Marquis. Der Marquis konnte nicht einen einzigen Treffer landen, dazu war Lord Seigers Verteidigung viel zu gut. Aber andererseits konnte Lord Seiger auch keinen Treffer beim Marquis verbuchen, er kann sich eben nur verteidigen!« Lord Darcy nickte, ohne etwas zu sagen. Er wußte, daß man, um rein defensiv fechten zu können, eine ungeheure Selbstbeherrschung aufbringen mußte, die die wenigsten Menschen besaßen. »Ihr versteht wohl, warum ich glaube, daß man ihm vertrauen kann«, fuhr der Priester fort.
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»Ich verstehe, Vater. Ich danke Euch für Eure Information. Ich versichere Euch, daß sie vertraulich behandelt werden wird.« Eine Stunde später saß Lord Darcy im Gästerraum und zog genüßlich an seiner bayerischen Pfeife, als Master Sean eintrat. »My Lord«, sagte der rundliche kleine Justizhexer lächelnd, »wir haben es!« »Gut«, sagte Lord Darcy und deutete auf eine Stuhl. »Was ist es denn?« Master Sean setzte sich. »Zum Glück hatte Hochwürden ein Muster in seiner Sammlung. Wir haben es als einen Pilz identifiziert, den man Teufelthron nennt. Der Pilz wird getrocknet, zermahlen und in Brandy oder Spiritus gelegt. Dann gießt man die Flüssigkeit ab und wirft die zermahlenen Stückchen fort oder legt sie ein zweites Mal ein. In großen Dosen eingenommen führt die Flüssigkeit zu Wahnsinn, Krämpfen und schließlich zum Tod. In kleinen Mengen zeigen sich am Anfang lediglich leichte Beschwingtheit und ein milder Rausch. Aber die Wirkung akkumuliert sich, wenn man die Flüssigkeit regelmäßig zu sich nimmt. Zunächst kommt es zu Halluzinationen, dann zu Verfolgungswahn und schließlich zu Gewalttätigkeit.« Lord Darcys Augenschlitze verengten sich. »Das paßt. Ich danke Euch! Jetzt gibt es ein weiteres Problem: ich brauche eine definitive Identifikation des Leichnams. My Lord Bischof ist sich nicht sicher, ob es sich um seinen Bruder handelt. Das mag Wunschdenken sein. My Lady die Marquise weigert sich entschieden, den Leichnam überhaupt anzusehen, weil sie meint, es könne einfach nicht ihr Mann sein. Das ist auf jeden Fall Wunschdenken. Aber ich brauche Sicherheit. Könnt Ihr einen Test durchführen?« »Ich kann Blut aus dem Herzen der Leiche nehmen und es mit dem des Bischofs vergleichen, My Lord.« -4 0 0
»Gut, Master Sean. Ihr habt mich noch nie im Stich gelassen. Ich gehe davon aus, daß Ihr es auch nie tun werdet. Bringt mir diese Information.« »Jawohl, My Lord, ich werde danach streben, Eure Zufriedenheit zu erlangen.« Master Sean verließ den Raum mit einem Ausdruck von Entschiedenheit und Stolz im Gesicht. Lord Darcy rauchte seine Pfeife leer und begab sich dann ins Büro von Captain Androu Duglasse. Der Captain blickte Lord Darcy auf seine Frage hin ziemlich verärgert an. »Ich hab' doch das Schloß gründlich durchsucht, M'Lord. Wir haben überall nachgeschaut.« »Bitte, Captain!« sagte Lord Darcy milde, »ich will ja gar nicht Eure Fähigkeiten in Frage stellen, aber ich wette, daß es Stellen gibt, an denen Ihr nicht gesucht habt, weil Ihr einfach davon ausgegange n seid, daß Lord Cherbourg keinerlei Grund haben könnte, sich dort aufzuhalten.« »Zum Beispiel?« fragte Captain Sir Androu mit säuerlicher Miene. »Zum Beispiel der Geheimgang.« Der Captain sah ihn verblüfft an. »Oh!« Er blickte nachdenklich vor sich hin. »Aber Eure Lordschaft, Ihr glaubt doch wohl nicht...« »Ich weiß es nicht, darum geht es. My Lord besaß doch die Schlüssel zum gesamten Schloß, oder nicht?« »Mit Ausnahme der Klosterschlüssel, ja. Die hat My Lord Abt in Verwahrung.« »Natürlich. Ich glaube, wir können das Kloster ruhig vernachlässigen. Wo habt Ihr sonst noch nicht nachgesehen?« »Well...« Der Captain zögerte nachdenklich. »Mit der Schatzkammer, dem Weinkeller und dem Gefrierhaus haben wir uns allerdings nicht abgegeben. Ich besitze nicht die Schlüssel dazu, und Sir Gwiliam hätte mir schon Bescheid gegeben, wenn irgend etwas nicht in Ordnung gewesen wäre.« -4 0 1
»Sir Gwiliam hat die Schlüssel, sagt Ihr? Dann müssen wir Sir Gwiliam suchen!« Sie fanden ihn im Weinkeller, wohin ihn der Lord Seiger geschickt hatte, um My Lady Elaine eine weitere Flasche Brandy zu besorgen. Lord Darcy folgte Captain Sir Androu die steinerne Wendeltreppe in die Kellergewölbe hinab. »Sind zum größten Teil Lagerräume«, sagte der Captain und wedelte mit der Hand umher. »Haben wir alles sorgfältig abgesucht. Hier entlang zum Weinkeller, M'Lord.« Die schwere Eichentür zum Weinkeller stand leicht angelehnt. Sir Gwiliam, der offensichtlich ihre Schritte gehört hatte, öffnete sie weiter und streckte den Kopf heraus. »Wer ist da? Ach so! Guten Tag, Euer Lordschaft. Guten Tag, Captain. Kann ich Euch zu Diensten sein?« »Ich danke Euch, Sir Gwiliam«, sagte Lord Darcy. »Wir kommen teils dienstlich, teils zum Vergnügen. Ich habe bemerkt, daß My Lord der Marquis einen äußerst gepflegten Weinkeller unterhält. Er hat die besten Weine, und der Brandy ist ganz außergewöhnlich. Saint Coeurlandt Michele '46 läßt sich nicht mehr leicht auftreiben, heutzutage.« »In der Tat, My Lord«, sagte Sir Gwiliam traurig. »Ich fürchte, das hier sind die letzten beiden Kisten, die es überhaupt noch gibt. Ich habe jetzt die schmerzvolle Pflicht, eine davon zu öffnen.« Er seufzte und deutete auf den Tisch, auf dem eine halbgeöffnete Holzkiste stand. Lord Darcy überzeugte sich mit einem Blick, daß sich nur Brandy in den Flaschen befand und daß die Bleisiegel alle unversehrt waren. »Laßt euch nicht stören, Sir Gwiliam«, sagte er. »Dürfen wir uns ein wenig umschauen?«
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»Aber gewiß, Euer Lordschaft! Es ist mir eine Freude.« Er nahm sein Brecheisen wieder auf und begab sich an die Kiste. Lord Darcy überprüfte mit geübtem Blick den Weinbestand. Die Siegel waren alle intakt, und er hatte auch gar nicht angenommen, daß jemand versuchen würde, Drogen oder Gift in die Flaschen zu schmuggeln. My Lady Elaine war schließlich nicht die einzige Trinkerin, und Vergiftung en gros wäre doch zu auffällig. »Hat seine Lordschaft die Weine ausgesucht oder Ihr, Sir Gwiliam?« fragte Lord Darcy und zeigte auf die Flaschenreihen. »Es ist mein Stolz sagen zu dürfen, daß seine Lordschaft so gütig war, stets mir die Auswahl der Weine und Spirituosen anzuvertrauen.« »Mein Kompliment für Euch beide«, sagte Lord Darcy. »Euch für Euren exzellenten Geschmack und Seiner Lordschaft dafür, diese Begabung in Euch erkannt zu haben.« Er hielt inne. »Aber wir haben dringende Geschäfte zu erledigen.« »Wie kann ich Euch behilflich sein, Euer Lordschaft?« Er schüttelte den Staub von den Händen und blickte mit einer Mischung aus Stolz und Trauer auf die Flaschen des Saint Coeurlandt Michele '46. Im Jahre 1846 gebrannt und dreißig Jahre in Holzfässern gealtert, bevor er in Flaschen abgefüllt wurde, galt er als der wohl beste Brandy, den es jemals gegeben hatte. Lord Darcy erklärte ihm kurz, daß es noch einige Stellen gäbe, wo Captain Sir Androu noch nicht hatte suchen können. »Es ist immerhin möglich, daß er einen Herzanfall bekommen hat und irgendwo zu Boden gefallen ist.« Sir Gwiliam blickte ihn entsetzt an. »So daß er womöglich dort noch liegt? Um Gottes Willen! Kommt, Euer Lordschaft, hier entlang! Im Gefrierraum bin ich -4 0 3
schon gewesen, der Küchenchef übrigens auch, aber in der Schatzkammer hat noch niemand nachgesehen!« Sie liefen zur Schatzkammer. Ihre Tür war aus schwerem Stahl, die Wände bestanden aus Stein und Beton von mehreren Fuß Dicke. »Gut, daß der Captain hier ist, My Lord«, keuchte der Seneschall. »Man braucht zwei verschiedene Schlüssel, um die Kammer zu öffnen. Ich besitze einen davon, der Captain hat den anderen. Captain?« »Ja, Sir Gwiliam, ja, ich habe meinen dabei.« Lord Darcy beobachtete gespannt den komplizierten Vorgang des Aufschließens, bei dem jeder der beiden, vom anderen durch eine Sichtblende getrennt, seinen Schlüssel in ein bestimmtes von vier möglichen Schlüssellöchern stecken mußte, das nur ihm selbst bekannt war. Steckte er den Schlüssel ins falsche Loch, dann wurde die Alarmanlage ausgelöst. »Fertig, Captain?« fragte Sir Gwiliam. »Fertig.« »Dann los!« Die beiden Männer drehten jeder gleichzeitig ihren Schlüssel im Schloß herum. Die sechs Fuß dicke Tür schwang auf. Es gab viel Bemerkenswertes in der Kammer zu sehen: Gegenstände aus Gold und Silber; die Krönungsjuwelen des Marquis und der Marquise; die großen Staatsroben, mit Gold- und Silberfäden bestickt und mit Edelsteinen besetzt und manches mehr. Doch nirgendwo befand sich ein menschlicher Körper, weder tot noch lebendig, und es gab auch nicht das geringste Anzeichen dafür, daß hier jemals einer gewesen sein sollte. »Well!« sagte Sir Gwiliam aufatmend. »Da bin ich aber froh!« »Ihr habt mich sehr erschreckt, Euer Lordschaft!« In seiner Stimme schwang ein leiser Vorwurf mit. »Ich bin ebenso froh wie Ihr, daß wir hier nichts gefunden haben! Und jetzt zum Gefrierraum!« -4 0 4
Der Gefrierraum war offen; ein Koch war gerade dabei, einen Braten abzuhängen. Sir Gwiliam erklärte, daß er jeden Morgen den Gefrierraum aufschloß und die Aufsicht darüber dem Küchenchef übergab. Am Abend schloß er ihn wieder ab. Lord Darcy durchsuchte den eisigen Raum ohne Erfolg. »Jetzt werden wir uns den Geheimgang anschauen«, sagte er schließlich. »Habt Ihr den Schlüssel, Sir Gwiliam?« »Ja... ja, gewiß doch! Aber er ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden! Seit Jahrzehnten! Jedenfalls nicht, solange ich hier bin!« »Ich habe auch einen Schlüssel, M'Lord«, sagte der Captain. »Ich habe bloß nie daran gedacht, dort auch zu suchen. Was sollte er dort schon machen?« »Ja, was nur? Aber trotzdem müssen wir nachsehen!« Von weitem war das Läuten einer Glocke zu hören. »O weh!« sagte Sir Gwiliam. »My Ladys Brandy! Ich hatte es schon vergessen! Sir Androu hat einen Schlüssel zum Geheimgang, My Lord; würdet Ihr mich entschuldigen?« »Gewiß, Sir Gwiliam. Danke für Eure Hilfe.« »Es war mir eine Freude, My Lord.« Er eilte fort. »Habt Ihr wirklich damit gerechnet, My Lord Marquis hier zu finden, M'Lord?« fragte Sir Androu. »Nicht im Weinkeller oder im Gefrierraum«, antwortete Lord Darcy. »Aber die Schatzkammer schien mir doch eine Möglichkeit zu sein. Ich wollte lediglich sehen, ob sich Anzeichen dafür finden lassen, daß er dort gewesen ist. Ich muß gestehen, daß nichts darauf hinzuweisen scheint.« Der Eingang zum Geheimgang war hinter einem schäbigen unbenutzen Schrank verborgen, der sich jedoch auf seinen Scharnieren reibungslos beiseitedrehen ließ. Und als der Captain -4 0 5
einen stumpfen, patinaüberzogenen Schlüssel hervorzog und ihn ins Schlüsselloch steckte, da ging das Schloß mühelos auf. Der Captain sah seinen wie durch Magie plötzlich blankgeriebenen Schlüssel an. »Hm! Beim Satan!« sagte er erstaunt. Die Tür schwang auf, und dahinter zeigte sich ein Gang von sechs Fuß Breite und acht Fuß Höhe. Sein hinterer Teil verschwand in der Finsternis. »Einen Augenblick, M'Lord«, sagte der Captain. »Ich hole eine Lampe.« Er ging ein Stück zurück und hob eine Öllampe aus ihrer Wandklammer. Sie schritten den Gang entlang. Auf beiden Seiten schimmerte der Salpeter mit weißen Glitzern. Der Captain deutete auf den Boden. »Hier ist jemand vor kurzem entlanggegangen.« »Ich hatte schon den verwischten Staub und die zertretenen Salpeterkristalle bemerkt«, sagte Lord Darcy. »Ich stimme Euch zu.« »Wer hat denn dann den Gang benutzt? Eure Lordschaft?« »Ich bin sicher, daß My Lord der Marquis dazugehörte. Seine... äh... Genossen waren auch hier.« »Aber warum? Und wie? Es konnte doch keiner hinaus, ohne von meiner Wache bemerkt zu werden.« »Ich fürchte, da habt Ihr recht, Captain«, sagte Lord Darcy. »Aber das heißt ja noch nicht, daß der Wachsoldat es Euch auch melden würde, wenn er von seinem Lehnsherren den Befehl bekommen hat, es nicht zu tun... eh?« Sir Androu stockte plötzlich und blickte Lord Darcy an. »Gott im Himmel! Und ich dachte...!« Er unterbrach sich selbst. »Was dachtet Ihr? Schnell, Mann!« »Eu'r Lordschaft, 's gibt einen neuen Mann in meiner Wachmannschaft, seit zwei Monaten. Kam auf Empfehlung Seiner Lordschaft. Dann gab mir M'Lord Bescheid, daß sich -4 0 6
dieser Mann unkorrekt verhalten habe, und ließ ihn hier die Kanalisationswache schieben. Seitdem war der Mann jede Nacht hier auf diesem Posten.« »Natürlich!« sagte Lord Darcy und lächelte triumphierend. »Er sorgte also dafür, daß einer seiner eigene n Leute hier den Posten besetzt hielt! Kommt, Captain, ich muß diesen Mann sofort sprechen.« »Ich... ich fürchte, das wird kaum möglich sein, M'Lord. Der Mann ist bekannt dafür, daß er ein Deserteur ist. Ist letzte Nacht von seinem Posten verschwunden. Wurde seitdem nicht wieder gesehen.« Lord Darcy erwiderte nichts. Er nahm die Laterne des Captains, kniete sich nieder und untersuchte die Fußspuren. »Hätte genauer hinsehen müssen«, murmelte er. »Ha! Zwei Männer, die etwas Schweres trugen, von einem Dritten gefolgt.« Er stand wieder auf. »Das verändert die Sachlage erheblich. Wir müssen sofort handeln! Kommt schnell!« Er drehte sich um und eilte zurück. »Aber was ist mit dem Rest des Geheimgangs?« »Brauchen wir nicht mehr durchsuchen«, sagte Lord Darcy. »Ich versichere Euch, daß augenblicklich außer uns niemand in diesem Gang ist.« Lord Darcy, in einen langen Umhang eingehüllt, stand im Schatten des schmuddeligen Lagerschuppens einen Block von der Stelle entfernt, wo die Esprit de Mer, ein Schiff mit Fahrtziel Danzig, angedockt lag. Neben ihm stand ebenfalls in einen langen dunklen Seemannsumhang gehüllt Lord Seiger, der sein blondes Haar unter einer Wollmütze verborgen hielt. »Da ist sie«, flüsterte Lord Darcy. -4 0 7
»Es ist das einzige Schiff, das von Cherbourg aus in die Nordsee ausläuft. Das Büro in Rouen hat bestätigt, daß es einem gewissen Kapitän Olsen verkauft wurde, einem angeblichen Nordländer; ich möchte aber wetten, daß er entweder ein Pole ist oder im polnischen Dienst steht. Das Schiff hat immer noch eine Reichslizenz und führt die Reichsflagge. Es ist natürlich unbewaffnet, aber recht schnell für ein gewöhnliches Handesschiff.« »Und Ihr glaubt, daß wir das nötige Beweismaterial an Bord finden werden?« fragte Lord Seiger. »Ich bin mir ziemlich sicher. Entweder hier oder im Lagerschuppen, und der Mann wäre reichlich dumm, es dort herumliegen zu lassen, besonders, wo er es an Bord der Esprit de Mer fortbringen kann.« Es war nicht ganz einfach gewesen, Lord Seiger davon zu überzeugen, daß dieser Überfall nö tig war. Aber nachdem Lord Darcy ihm berichtet hatte, was man bereits alles wußte, und nachdem die Sache per Teleklang von Rouen abgesegnet worden war, war Lord Seiger sowohl dazu bereit als auch regelrecht Feuer und Flamme, etwas zu unternehmen. Nur in seinen Augen konnte man seine unterdrückte Aufregung bemerken. Man hatte noch andere Befehle erteilen müssen. Captain Sir Androu Duglasse hatte Schloß Cherbourg abgeriegelt, niemand, absolut niemand durfte das Gebäude verlassen, aus welchem Grund auch immer. Die Wachen waren verdoppelt worden. Nicht einmal My Lord Bischof, My Lord Abt oder My Lady Marquise durften das Schloß verlassen. Dieser Befehl kam nicht von Lord Darcy, sondern von Seiner Königlichen Hoheit dem Herzog der Normandie höchstpersönlich. Lord Darcy blickte auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit, My Lord«, sagte er. »Gehen wir an Bord.« Die beiden Männer schritten über die Pier, ohne sich Mühe zu geben, nicht gesehen zu werden. An dem Tor, das zu der Pier selbst führte, standen zwei Seeleute auf Wache. Als sie die beiden vermummten Gestalten auf sich zukommen sahen, -4 0 8
schritten sie ein wenig von dem Tor weg, die Hände an ihren Kurzschwertern. Lord Seiger und Lord Darcy schritten bis auf eine Entfernung von etwa fünfzehn Fuß auf sie zu, dann blieben sie stehen. »Was habt Ihr hier zu suchen?« fragte einer der Seeleute. Lord Darcy antwortete mit leiser, kalter Stimme. »Redet nicht so zu mir, wenn Euch eure Zunge lieb ist!« sagte er in ausgezeichnetem Polnisch. »Ich wünsche, Euren Kapitän zu sprechen.« Der Matrose sah ihn entgeistert an, offenbar verstand er die fremde Sprache nicht, aber der andere wurde sichtbar blasser. »Laß mich das machen«, flüsterte er dem anderen auf AngloFranzösisch zu. Dann sagte er auf Polnisch: »Vergebung, Herr. Mein Kamerad hie r versteht kein Polnisch. Was wünscht Ihr, Herr?« Lord Darcy atmete spürbar indigniert durch. »Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt! Wir wünschen, mit Kapitän Olsen zu sprechen.« »Nun, Herr, er hat befohlen, niemanden zu ihm zu lassen, Herr. Strenge r Befehl, Herr.« Keiner der beiden bemerkte, daß sie hinter ihrem Rücken das Tor unbewacht gelassen hatten. Aus dem Schiff, das sich im Schütze der Dunkelheit leise an die Pier bewegt hatte, kletterten vier Soldaten der Leibwache des Marquis jetzt lautlos auf die Pier. Weder Lord Darcy noch Lord Seiger blickten in ihre Richtung. »Strenger Befehl?« Lord Darcys Stimme klang wütend. »Ich möchte doch wohl meinen, daß sich Eure Befehle nicht auf den Kronprinzen Sigismund persönlich beziehen, oder?« Wie verabredet zog Lord Seiger die Mütze vom Kopf und offenbarte seinen blonden Schöpf. Es war äußerst unwahrscheinlich, daß einer der beiden Seeleute Kronprinz -4 0 9
Sigismund jemals persönlich gesehen hatte, und selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, dann bestimmt nur in voller Staatstracht. Aber sie hatten mit Sicherheit davon gehört, daß der polnische Prinz blond und gutaussehend war, und das reichte Lord Darcy vollauf. Tatsächlich ähnelte Lord Seiger dem Polen überhaupt nicht, er war sogar noch einen Kopf größer als dieser. Während die beiden Seeleute einen Augenblick verblüfft dastanden, schlangen sich auch schon Arme von hinten um sie, und ein paar Stunden lang hörten sie auf, sich noch Sorgen über Kronprinzen und Ähnliches zu machen. Sie wurden an die Seite hinter einen Haufen Ballast gerollt. »Alles bereit?« flüsterte Lord Darcy einem der Wachleute zu. »Jawohl, My Lord.« »Gut. Bewacht das Tor. Lord Seiger, weiter geht's!« »Bin schon da, My Lord«, flüsterte Lord Seiger. In einiger Entfernung, hinter dem Lagerschuppen, stand eine schwerbewaffnete Kompanie der Wachmänner von Cherbourg und hörte dem Obersten Waffenmeister Chief Henri Vert zu, der seine Befehle erteilte. »Also gut. An Eure Plätze! Jede Tür versiegeln. Jeden festnehmen, der versucht zu fliehen!« Die Wachmänner verschwanden in der Dunkelheit. Sechs Wachsergeanten und Master Sean O Lochlainn, seines Zeichens Hexer, blieben bei Chief Henri zurück. »In Ordnung, Sean«, sagte Chief Henri. »Fangt an!« »Leuchtet mir mit Eurer Laterne, Henri«, sagt er Master Sean, der sich niedergekniet hatte, um die Tür zu begutachten. Er stellte seinen schwarzen Koffer auf den Boden, lehnte leise seinen magischen Stab aus Corthainn-Holz an die Schuppenwand.
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»Hoho!« sagte er kurze Zeit später. »Ein einfaches Schloß, aber mit einem schweren Riegel auf der anderen Seite. Braucht ein bißchen Anstrengung, aber nicht viel Zeit.« Er öffnete seinen Koffer und holte zwei Glasfläschchen voller Pulver und einen dünnen Stab aus Lorbeerholz hervor. Die Wachmänner blickten stumm zu, während der Hexer seine Formeln sprach und kleine Pulverwolken in das Schlüsselloch pustete. Dann nahm Master Sean den Lorbeerholzstab und drehte ihn entgegen dem Uhrzeigersinn langsam um das Schloß. Ein leises klick! zeigte, daß das Schloß aufgesprungen war. Dann zog er mit dem Stab einen Fuß oberhalb des Schlosses einen Strich. Sofort konnte man hören, wie sich der Riegel auf der anderen Seite der Tür zurückzog. Mit kaum hörbarem Seufzen öffnete sich die Tür. Master Sean trat zur Seite und ließ die Wachmänner vor. In der Zwischenzeit zog er einen kleinen Gegenstand aus der Tasche und überprüfte ihn nochmals. Es war ein kleiner Glaszylinder von zwei Zoll Durchmesser und einem halben Zoll Höhe, zur Hälfte mit Flüssigkeit gefüllt. Auf der Flüssigkeit ruhte ein winziger Eichenholzsplitter, den man kaum hätte sehen können, wäre in den Glasdeckel des Fläschchens nicht ein Vergrößerungsglas eingeschliffen gewesen. Das Ganze sah aus wie ein Taschenkompaß, was es auf gewisse Weise ja auch war. Der winzige Holzsplitter stammte aus dem Schädel der Leiche im Leichenschauhaus, und dank Master Seans thaumaturgischer Behandlung zeigte er nun mit unfehlbarer Sicherheit auf das Holzstück, aus dem er entstammte. Master Sean nickte befriedigt. Wie Lord Darcy angenommen hatte, befand sich die Waffe tatsächlich immer noch im Lagerschuppen. Er blickte nach oben und sah die erleuchteten Fensterscheiben. Nicht nur die Waffe, die Verschwörer schienen, zumindest teilweise, ebenfalls noch im Schuppen zu sein. Mit grimmigen Lächeln folgte er den Wachmännern, in der einen Hand den Stab aus Corthainn-Holz fest umklammernd, in
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der anderen den Koffer. Lord Darcy stand mit Lord Seiger auf einem der Unterdecks der Esprit de Mer und sah sich um. »So weit so gut«, sagte er leise. »Die Piraterie hat auch ihre Vorteile, My Lord.« »In der Tat, My Lord«, antwortete Lord Seiger ebenso leise. Captain Sir Androu kam leise eine nahegelegene Leiter hinabgestiegen. »So weit so gut, M'Lords«, sagte auch er. »Wir haben die Besatzung. Schlafen wie die Murmeltiere.« »Die ganze Mannschaft?« fragte Lord Darcy. »Na ja, M'Lord, alle, die wir finden konnten, 's sind noch einige an Land, kommen nicht vor Morgengrauen zurück. Sonst wäre das Schiff ja wohl auch schon viel früher ausgelaufen. Können ja wohl auch nicht mehr von Bord aus gewarnt werden, wie?« »Das habe ich gehofft«, stimmte Lord Darcy ihm zu. »Aber wir wissen trotzdem nicht genau, wie viele noch an Bord sind. Wie steht's mit der Brücke?« »Der Zweite Offizier hatte Dienst, M'Lord. Wir haben ihn.« »Kapitänskabine?« »Leer, M'Lord.« »Kabine des Ersten Offiziers?« »Auch leer, M'Lord. Könnten beide an Land sein.« »Möglich.« Lord Darcy wußte, daß die Möglichkeit bestand, daß sowohl der Kapitän als auch der Erste Offizier sich noch im Lagerschuppen aufhielten. Dann würden sie Chief Henri ins Netz laufen. »Also gut. Gehen wir weiter nach unten. Wir haben immer noch nicht, was wir suchen.« Und es wird einen teuflischen internationalen Krach geben, wenn wir es nicht finden, dachte Lord Darcy. Die Regierung Seiner Slavischen Majestät wird alle möglichen Schadenersatzforderungen stellen, und Lady Darcys kleiner -4 1 2
Junge wird sich plötzlich im Dschungel von Neu-Frankreich bei der Eingeborenenbekämpfung wiederfinden! Als Lord Seiger und er fünf oder sechs Minuten später schließlich fanden, was sie gesucht hatten, atmete er erleichtert auf. Auf dem Deck direkt über dem Laderaum befanden sich vier mit Eisenstäben verriegelte Zellen, die sich paarweise gegenüberstanden, nur durch einen schmalen Gang getrennt. Der Gang wurde von zwei Bootsmännern bewacht. Lord Dary blickte von oben durch die Luke und sah die beiden dort unten stehen. Seine Vorsicht machte sich bezahlt: Keiner der Bootsmänner nahm ihn wahr. Sie standen an die Wände gelehnt und unterhielten sich leise miteinander. Es gab zwar keine Möglichkeit, sich an sie heranzuschleichen, aber andererseits hielten sie keine Waffen bereit und hatten keine Fluchtmöglichkeit. Sollte er auf Verstärkung warten? fragte sich Lord Darcy. Aber Sir Androu hatte im Augenblick selbst alle Hände voll zu tun, und Lord Seiger würde ihm kaum eine Hilfe sein, denn er war ja völlig unfähig zu irgendeiner Art von Gewaltausübung. Er erhob sich leise und flüsterte Lord Seiger zu: »Sie haben Entermesser. Könnt Ihr einen von Ihnen übernehmen, wenn es Schwierigkeiten geben sollte?« Lord Seiger nickte und sagte nichts. »Wartet hier«, sagte Lord Darcy, »und kommt nicht eher die Leiter herunter, bis ich rufe.« »Sehr wohl, My Lord.« Lord Darcy stieg leise die Leiter zum darüberliegenden Deck hoch. Dann stieg er mit deutlich vernehmbarem Schritt wieder hinab. Er pfiff sogar leise, aber hörbar, eine alte polnische Volksweise, die er zufällig kannte. Dann stieg er die nächste Leiter hinunter, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Unter seinem Umhang hielt er seine Pistole verborgen. Seine Finte war ein voller Erfolg. Die Bootsmänner hörten ihn kommen und nahmen an, daß es jemand sein müsse, der befugt war, sich hier aufzuhalten. Sie hörten auf zu reden und stellten sich in Halbachtstellung auf, die Hände, aus rein -4 1 3
förmlichen Gründen, am Griff ihrer Entermesser. Sie sahen zuerst seine Stiefel, dann die Beine, dann den unteren Teil seines Körpers. Noch immer schöpften sie keinen Verdacht. Ein Feind würde doch wohl versuchen, sie zu überrumpeln, oder? Ja. Und das tat er auch. Plötzlich sprang Lord Darcy die Leiter herunter und richtete aus der Hocke heraus seine Waffe auf die beiden Polen. »Wenn sich einer bewegt«, sagte er ruhig, »dann puste ich ihm das Gehirn aus dem Schädel. Hände weg von den Entermessern und keine weitere Bewegung. Schön. Und jetzt umdrehen. Gaaaanz langsam!« Die beiden Männer gehorchten wortlos. Lord Darcys Handkante verteilte zwei schnelle Nackenschläge, und schon fielen sie bewußtlos zu Boden. »Kommt herunter, My Lord«, sagte Lord Darcy. »Kein Fechtkampf mehr nötig.« Lord Seiger stieg schweigend die Leiter herab, seinen Degen hatte er noch in der Scheide. Auf jeder Seite des Ganges befanden sich zwei Zellentüren. Die Zellen dienten eigentlich dazu, Seeleute oder Passagiere aufzunehmen, die auf hoher See eines Verbrechens für schuldig befunden worden waren. In der ersten Zelle rechts schien Licht, dessen Schein durch den schmalen Fensterschlitz fiel. Lord Darcy und Lord Seiger blickten hinein. »Danach habe ich gesucht«, sagte Lord Darcy leise. Im Inneren der Ze lle sah man einen Mann, der an seine Pritsche festgebunden war. Sein Gesicht glich dem des Leichnams im Leichenschauhaus aufs Haar. »Seid Ihr sicher, daß es der Marquis von Cherbourg ist?« fragte Lord Seiger. »Ich kann nicht glauben, daß es drei Männer geben sollte, die sich so sehr ähneln«, erwiderte Lord Darcy trocken. -4 1 4
»Zwei genügen mir völlig. Da Master Sean ohne jeglichen Zweifel festgestellt hat, daß die Leiche im Leichenschauhaus nicht mit dem Bischof von Guernsey und Sark verwandt ist, muß dies einfach der Marquis sein. Das Problem besteht jetzt darin, die Zelle aufzubekommen.« »Werd' ich Tür öffnen, bittscheen!« Beim Klang der Stimme hinter ihrem Rücken erstarrten Lord Seiger und Lord Darcy plötzlich zu Eissäulen. »Um zu zitieren Euch, Lord Darcy: ›Wenn sich einer bewegt, werd' ich ihm pusten Gehirn aus Schädel!‹« sagte die Stimme. »Laßt Pistole fallen, Lord Darcy!« Er war in eine Falle gelaufen. Irgend jemand hatte in der gegenüberliegenden Zelle auf sie gelauert. Eine saubere Falle! Nun gut, jetzt war die Frage, wie sie da wieder hinauskommen sollten. »Ihr beide, geht, bittscheen, nach links«, sagte die Stimme. »Weg von Zelle. Ja, iss gut. Fein! Ladislas, öffne Türe!« Es waren zwei Männer, beide mit Pistolen bewaffnet. Der kleinere, dunklere der beiden trat vor und öffnete die Zelle neben derjenigen, in der sich der Marquis befand. »Beide hinein!« sagte der größere der beiden. Lord Seiger und Lord Darcy blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen. »Händchen scheen hochhalten in Luft, so, ja! Nun bittscheen zuzuhören, sehr genau. Glaubt ihr, Ihr habt Schiff gekapert. Stimmt sich sogar auf gewisse Weise. Aber nich' endgiltig nich' nein. Hab' ich Euch, hab' ich Marquis. Werdet Ihr befehlen Eure Männer zu verlassen Schiff, sonst ich werde Euch töten, ja, einer nach anderen, ja? Wenn ich hänge, ich sterbe nich' allein, ja? Verstehen?« Lord Darcy begriff. »Ihr wollt Eure Mannschaft zurück, was, Kapitän Olsen? Und wie wollt Ihr an der Reichsmarine vorbeikommen?« -4 1 5
»Auf gleichen Weg, wie ich werde kommen aus Hafen von Cherbourg, Lord Darcy«, sagte der Kapitän freundlich. »Werde ich versprechen, Gefangene freizulassen, wenn wir angekommen sind in Danzig. Was sollen wir mit Euch sonst noch anfangen, jetzt?« Nur uns als Geiseln benutzen, dachte Lord Darcy. Es war klar, was geschehen war. Irgend jemand hatte Kapitän Olsen ein Signal gegeben, daß man sein Schiff gekapert hatte. Vielleicht ein Signal von der Kommandobrücke aus, von wo genau war jetzt nicht mehr wichtig. Kapitän Olsen hatte nicht mit Eindringlingen gerechnet, aber als sie da waren, hatte er eine saubere Falle gebaut. Er hatte gewußt, was sie suchten. Lord Darcy wußte, daß die polnischen Agenten bis jetzt vorgehabt hatten, den bewußtlosen Marquis nach Danzig zu entführen. Dort würde man ihn einer Behandlung durch einen Hexer unterziehen und ihn nach Cherbourg zurückschicken - scheinbar guter Gesundheit, tatsächlich aber als Marionette polnischer Agenten. Man würde sein Verschwinden mit seinen ›Anfällen‹ erklären, die dann aufgehört hätten. Aber nun, da Kapitän Olsen wußte, daß sein Plan aufgeflogen war, hatte er keine weitere Verwendung mehr für den Marquis, genausowenig wie für Lord Darcy und Lord Seiger. Außer eben, sie als Geiseln zu benutzen, um in Sicherheit nach Danzig zurückzukehren. »Was wollt Ihr, Kapitän Olsen?« fragte Lord Darcy. »Ganz einfach das: Ihr befehlt Euren Soldaten hinunterzukommen hierher, wir schließen sie ein. Wenn wir bereit sind, abzusegeln, alle gehen an Land außer Ihr, Lord Seiger und Marquis. Eure Männer werden erzählen Behörden in Cherbourg, was passiert, und wir werden segeln nach Danzig ohne Probleme. Dort wir lassen Euch frei und Ihr kehrt zurück ins Reich. Ich gebe mein Wort.« Lord Darcy wußte, daß der Kapitän es ehrlich meinte. Aber würde er auch die Reaktionen der polnischen Behören in Danzig -4 1 6
beeinflussen können? Oder etwa die von König Casimir IX? Nein, bestimmt nicht. Aber so wie sie jetzt in der Falle saßen... Da hörten sie plötzlich aus der vierten Zelle eine heisere Stimme erschallen: »Seiger? Seiger!« Lord Seigers Augen weiteten sich. »Ja?« Kapitän Olsen und der Erste Offizier Ladislas bewegten sich nicht. Lächelnd meinte der Kapitän: »Ah ja! Habe ich vergessen Euren, ach so tapferen Sir James le Lein. Iss sich auch wunder scheene Geisel!« Die heisere Stimme sagte: »Es sind Verräter, sie verraten den König, Seiger. Hört Ihr mich?« »Ich höre Euch, Sir James«, sagte Lord Seiger. »Vernichtet sie!« rief die heisere Stimme. Kapitän Olsen lachte auf. »Müßt Ihr geben endlich Ruhe, le Lein. Habt Ihr alles...« Aber er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Lord Darcy traute seinen Augen nicht, als er sah, wie Lord Seigers rechte Hand gegen die Pistole des Kapitäns schlug, während seine linke den Degen aus der Scheide hervorzog und gegen den Ersten Offizier ausholte. Der Erste Offizier hatte Lord Darcy in Schach gehalten. Als er Lord Seigers Bewegung sah, schnellte er mit seiner Pistole herum und drückte auf ihn ab. Das Geschoß schlug in die Seite des Adligen Yorkshireman ein, während Kapitän Olsen zur Seite sprang, um seine eigene Waffe auszurichten. Doch da war Lord Darcy schon am Handeln. Mit einem Sprung schoß er auf den Ersten Offizier zu, als soeben Lord Seigers Klinge eine tiefe Wunde in dessen Brust schlug. Von Lord Darcys Anprall erschüttert, wurde der Pole in den Gang zurückgestoßen. Danach hatte Lord Darcy zu viel zu tun, um jede Bewegung Lord Seigers beobachten zu können. Ladislas, dem seine tiefe Wunde nicht viel auzumachen schien, -4 1 7
kämpfte mit eisernen Muskeln. Darcy kannte seine eigene Stärke, aber er wußte auch, wie stark der andere war..Er umklammerte das Handgelenk des Polen, um zu verhindern, daß er seine Pistole in Anschlag bringen konnte, dann schoß er mit dem Kopf an das Kinn des Gegners. Die Pistole wurde fortgeschleudert, als beide Männer zu Boden gingen. Lord Darcys Rechte landete äußerst unsanft und tückisch auf der Gurgel des Polen, der sofort zusammenbrach. Er richtete sich auf und zog den Bewußtlosen am Kragen halb hoch. Da blitzte eine stählerne Zunge an seiner Schulter vorbei, fuhr in Ladislas Kehle und schlitzte sie seitwärts auf. Das Blut sprudelte wie eine Fontäne über Lord Darcys Arm, als der Erste Offizier starb. Es dauerte einen Augenblick, bis Lord Darcy klar wurde, daß der Kampf beendet war. Er drehte sich um. Neben ihm stand Lord Seiger mit blutiger Klinge. Kapitän Olsen lag rücklings auf dem Deck und blutete aus drei Wunden, zwei in der Brust, die dritte, wie die des Ersten Offiziers, in der Kehle. »Ich hatte ihn doch«, sagte Lord Darcy trocken. »Es war nicht nötig, ihm den Hals durchzuschneiden.« »Ich hatte meine Befehle, My Lord«, sagte Lord Seiger, während ihm das Blut aus der Seite troff. Die Glocke der Benediktinerabtei schlug Mitternacht, als Lord Darcy frisch gebadet und in Abendgarderobe vor dem Kamin im Empfangszimmer über der Großen Halle stand und sich lächelnd an den jungen Mann neben ihm wandte. »Euer Hoheit meinte?« Richard, Herzog von der Normandie erwiderte das Lächeln. »Nicht einmal eine Königliche Hoheit kann eine solche Glocke übertönen, wie?« Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst. »Ich sagte, daß wir ganz hübsch aufgeräumt haben. Dun-kerque, Calais, Boulogne... bis hinunter nach Hendaye. Mittlerweile werden die englischen Wachmänner dabei sein, sie in London, Liverpool -4 1 8
und so weiter überall festzunehmen. Wenn der Morgen graut, wird auch Irland gesäubert sein. Ihr habt ausgezeichnet gearbeitet, My Lord, und Ihr dürft gewiß sein, daß mein Bruder der König davon auch erfahren wird.« »Danke, Euer Hoheit, aber ich habe doch wirklich nur...« Plötzlich ging die Tür auf, und Lord Seiger trat ein. Als er Herzog Richard sah, blieb er stehen. Der Herzog reagierte sofort. »Ihr braucht Euch nicht zu verneigen, My Lord. Man hat mir von Eurer Verwundung berichtet.« Dennoch verneigte Lord Seiger sich leicht. »Euer Hoheit sind zu gütig. Aber die Wunde ist nicht sehr groß, und Vater Patrique hat seine heilenden Hände bereits daraufgelegt. Es tut nicht nennenswert weh, Euer Hoheit.« »Es freut mich, das zu vernehmen.« Der Herzog blickte Lord Darcy an. »Übrigens... Ich bin neugierig darauf zu erfahren, was Euch dazu bewegte, anzunehmen, daß Lord Seiger ein Agent des Königs ist. Ich wußte es ja selbst nicht, bis mir mein Bruder, der König, davon Mitteilung machte.« »Ich muß gestehen, daß ich mir nicht sicher war, Bis Euer Hoheit meine Vermutung per Teleklang bestätigen ließen. Jedenfalls erschien es mir seltsam, daß de Cherbourg einen Mann von Lord Seigers... äh, besonderem Talent als einfachen Bibliothekar anstellen sollte. Zudem war ja Lady Elaines Einstellung dazu... äh, ich bitte um Verze ihung, My Lord, aber...« »Völlig in Ordnung«, sagte Lord Seiger unbewegt. »Es ist mir bewußt, daß viele Frauen meine Anwesenheit nicht sonderlich schätzen, wenn ich auch nicht wirklich weiß warum.« »Wer kann Frauen schon verstehen?« sagte Lord Darcy diplomatisch. »Euer Verhalten und Auftreten sind jedenfalls -4 1 9
makellos. Dennoch schätzte My Lady Marquise, wie Ihr es ausgedrückt habt, Eure Anwesenheit nicht sonderlich. Das wird sie ihrem Ehegatten doch wohl auch mitgeteilt haben, oder?« »Ich nehme es an«, erwiderte Lord Seiger. »Nun 'gut«, meinte Lord Darcy. »Hätte My Lord Marquis, der doch für seine Liebe gegenüber seiner Frau weitbekannt ist, einen Bibliothekar beschäftigt, der seiner Frau Furcht und Schrecken einjagte? Normalerweise doch wohl nicht! Folglich hatte Lord Seigers Anwesenheit einen tieferen Sinn - wenn er den Marquis nicht erpreßte. Ich entschloß mich dazu, vom ersteren auszugehen.« Er erwähnte nicht, daß Vater Patriques Mitteilungen darauf hingewiesen hatten, daß Lord Seiger gar nicht fähig gewesen wäre, jemanden zu erpressen. »Für mich bestand das Problem darin, daß ich nicht genau wußte, wer eigentlich für wen arbeitete. Wir wußten lediglich, daß Sir James sich als gewöhnlicher Arbeiter gab, und daß er mit My Lord Marquis zusammenarbeitete. Aber bevor Euer Hoheit sich mit Seiner Majestät in Verbindung gesetzt hatte, wußten wir nichts weiter. Ich tappte so lange im dunkeln, bis mir klar wurde, daß Lord Seiger...« Er unterbrach sich, als die Tür geöffnet wurde. Von außen hörte man Master Seans Stimme: »Nach Euch, My Lady, My Lord, Sir Gwiliam.« Die Marquise von Cherbourg trat mit ausdruckslosem Gesicht in den Raum, gefolgt von My Lord Bischof, Sir Gwiliam und Master Sean O Lochlainn. Lady Elaine schritt sofort auf den Herzog zu und machte einen knappen Hofknicks. »Eure Anwesenheit ist uns eine große Ehre, Euer Hoheit.« Sie war völlig nüchtern. »Die Ehre liegt ganz bei mir, My Lady«, antwortete der Herzog. -4 2 0
»Ich habe meinen Mann gesehen. Er lebt, wie ich es ja auch immer gewußt habe. Aber er hat den Verstand verloren. Vater Patrique meint, daß er niemals wieder gesund werden wird. Ich muß erfahren, was vorgefallen ist.« »Das müßt Ihr Lord Darcy fragen, My Lady«, sagte der Herzog sanft. »Ich möchte selbst auch die ganze Geschichte hören.« Die Tür öffnete sich wieder, und Sir Androu Duglasse trat ein. »Guten Morgen, Euer Hoheit«, sagte er mit einer tiefen Verneigung. »Guten Morgen, M'Lady, Eure Lordschaften, Sir Gwiliam, Master Sean.« Er blickte Lady Elaine an. »Ich hab' die Nachricht von Vater Patrique erfahren, M'Lady. Ich bin Soldat und kein Mann, der elegant zu reden versteht, M'Lady. Ich kann Euch gar nicht sagen, was für eine Trauer ich empfinde.« »Ich danke Euch, Sir Captain«, sagte My Lady. »Ich meine, Ihr habt es sehr schön ausgedrückt.« Sie wandte sich wieder Lord Darcy zu. »Euer Lordschaft...« »Wie Ihr befiehlt, My Lady«, sagte Lord Darcy. »Äh... Captain, ich meine, daß das, was wir hier besprechen werden, niemanden außer uns etwas angeht. Würdet Ihr bitte die Tür bewachen? Erklärt jedem, der eintreten möchte, daß hier ein Privatgespräch im Gange ist, ja? Ich danke Euch. Dann kann ich ja anfangen.« Er lehnte sich entspannt gegen die Kaminwand und blickte in die Runde. »Um einmal beim Anfang zu beginnen: Wir hatten es mit einer teuflischen Verschwörung zu tun, nicht nur gegen einen einzelnen, sondern gegen das gesamte Reich: Der -4 2 1
›Atlantische Fluch‹. Schiffe, die von den Reichshäfen aus in die Neue Welt ausliefen, kehrten nie mehr zurück. Die Schiffahrt auf dieser Route ließ empfindlich nach, nicht nur wegen der verschwundenen Schiffe, sondern weil die Angst die Seeleute davon abhielt, auf transatlantischen Schiffen anzuheuern. Sie fürchteten sich vor Magie, obwohl die Sache nichts mit reiner Magie zu tun hatte, wie ich noch zeigen werde. My Lord der Marquis arbeitete mit Sir James le Lein zusammen daran, die Ursachen des ›Atlantischen Fluchs* aufzuklären. Sir James gehörte zu einer großen Gruppe von Königlichen Agenten, die unter direktem Befehl Seiner Majestät standen. Seine Majestät hatte völlig richtig gefolgert, daß es sich um ein polnisches Komplott handeln müsse, dessen Ziel darin bestand, die Wirtschaft des Reichs zu sabotieren. Das Komplott war eine teuflische Einfachheit. Man verwendete eine Droge, die man aus einem bestimmten Pilz gewann, der in Alkohol eingelegt wurde, dazu, die Schiffsbesatzung zum Wahnsinn zu treiben. Sir James, My Lord Marquis und die anderen Agenten versuchten fieberhaft, Indizien zu sammeln. Da My Lord Marquis nicht wollte, daß jemand anders davon erfahren sollte, benutzte er den alten Geheimgang des Schlosses, um sich mit Sir James zu treffen. Sie James hatte eine Probe der Droge beschaffen können, nachdem er festgestellt hatte, wer der Rädelsführer der polnischen Agenten war. Er erstattete My Lord Marquis Bericht und begab sich dann zu dem Lagerschuppen, wo sich das Hauptquartier der Polen befand. Das war am Abend des achten Januar, am Mittwoch. Was dort geschah, weiß ich von Sir James selbst. Er gelangte in den zweiten Stock des Lagerschuppens, wo er Stimmen hörte. Er blickte durch das Schlüsselloch der Tür, hinter der die Stimmen zu hören waren, und bekam einen gewaltigen Schrecken. Es befanden sich drei Männer im Raum, ein Hexer, der Chef der Agenten und ein dritter, der nackt auf dem Bett lag. Der Hexer war dabei, über diesen dritten Mann einen Zauber zu verhängen, und ein Blick überzeugte Sir James -4 2 2
davon, daß es sich bei dem Opfer nur um den Marquis handeln könne!« Nervös fragte Lady Elaine: »Hatte man ihn mit der Droge vergiftet, My Lord? Hat er dadurch den Verstand verloren?« »Dieser Mann war nicht Euer Ehegatte, My Lady«, sagte Lord Darcy sanft. »Er war ein Doppelgänger, ein einfacher Arbeiter im Sold dieser Verschwörer. Das konnte Sir James natürlich nicht wissen. Als er den Marquis in Gefahr sah, handelte er sofort. Er stürmte mit der Waffe in der Hand ins Zimmer und verlangte die sofortige Freilassung des Mannes, den er für den Marquis hielt. Er sagte ihm, daß er aufstehen solle. Als er merkte, daß der Mann hypnotisiert war, legte er ihm seinen eigenen Umhang um die Schultern und schritt rückwärts mit ihm zusammen aus dem Raum. Aber es befand sich noch ein weiterer Mann im Lagerschuppen. Sir James hat ihn nie gesehen. Als er aus der Tür heraustrat, wurde er von ihm von hinten niedergeschlagen. Er ließ wie betäubt die Waffe fallen. Der Hexer und der Rädelsführer sprangen ihn an. Sir James wehrte sich, ging aber bald zu Boden. In der Zwischenzeit bekam es der Mann, den Sir James hatte retten wollen, mit der Angst und machte sich davon. In der Dunkelheit taumelte er die Eichenholztreppe hinab und schlug sich an der untersten Stufe den Schädel auf. Verwundet, benebelt und sterbend, wollte er an den einzigen Ort in Cherbourg fliehen, der ihm so etwas Ähnliches wie ein Zuhause bedeutete, ein Bistro namens ›Zum Blauen Delphin‹, nur wenige Blocks enfernt. Fast hätte er es sogar geschafft. Er starb unter den Augen der Wachmänner, einen Block davor.« »Wollten sie diesen Doppelgänger irgendwie gegen meinen Bruder vertauschen?« fragte der Bischof. »In gewisser Weise ja, My Lord, aber darauf komme ich noch zu sprechen.
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Als ich hier ankam«, fuhr Lord Darcy fort, »wußte ich von all dem nichts. Mir war lediglich bekannt, daß man My Lord Cherbourg vermißte und daß er mit den Agenten Seiner Majestät zusammengearbeitet hatte. Dann fand ma n eine Leiche, die man zögernd als den Marquis identifizierte, jedoch ohne sich sicher zu sein. Wenn dies nun der Marquis war, wer hatte ihn dann umgebracht? Wenn er es nicht war, worin bestand dann der Zusammenhang? Ich wollte also Sir James aufsuchen und stellte fest, daß er ebenfalls am Mittwochabend verschwunden war. Was hatte das wiederum damit zu tun? Der nächste Fingerzeig war die Droge. Wie war es möglich, sie an Bord eines Schiffes zu schmuggeln und dafür zu sorgen, daß jeder Seemann täglich ein wenig davon zu sich nahm? Man hätte den Geschmack und Geruch des Brandys im Essen oder im Wasser bemerkt. Folglich hatte man also die Weinrationen vergiftet. Und das wiederum war nur dem Weinhändler möglich, der regelmäßig Schiff um Schiff belieferte. Bei der Überprüfung der Seefahrtsregister stellte es sich heraus, daß in den letzten fünf Jahren eine Weinfirma nach der anderen von neuen Winzern und Händlern aufgekauft worden war. Von den Polen unterstützt, konnte sie alle ihre Konkurrenten unterbieten. Sie stellten guten Wein her und verkauften ihn weit unter Preis. Also bekamen sie Kontrakte. Sie versuchten nicht, jedes Schiff zu vergiften, nur die Schiffe, die auf der Transatlantikroute fuhren - gerade genügend, um Angst und Gerüchte auszulösen, ohne den Verdacht auf sich selbst zu lenken. Dann war da noch die Frage, was mit dem Marquis geschehen war. Er hatte das Schloß in jener Nacht nicht verlassen, und doch war er verschwunden. Aber wie? Und warum? Es gab vier Orte, die der Captain nicht durchsucht hatte. Der Gefrierraum schied meiner Meinung nach aus, als ich feststellte, daß dort den ganzen Tag über Leute ein und ausgingen. In die Schatzkammer hatte er auch nicht gehen können, weil es einem einzelnen Mann unmöglich gewesen wäre, gleichzeitig beide Schlösser auf zuschließen, und das -4 2 4
mußte man dazu. Sir Gwiliam war andauernd im Weinkeller gewesen. Und dann gab es Hinweise darauf, daß der Geheimgang auch seine Besucher gehabt hatte.« »Warum hätte er sich an einem von diesen Orten aufhalten sollen, My Lord?« fragte Sir Gwiliam. »Hätte er das Schloß nicht durch den Geheimgang verlassen können?« »Sehr unwahrscheinlich. Der Wachtposten im Geheimgang war ein Königlicher Agent. Wenn der Marquis in jener Nacht durch den Geheimgang das Schloß verlassen hätte, dann hätte er das sofort gemeldet. Nicht Captain Sir Androu, aber Lord Seiger. Das hat er nicht getan. Folglich hat der Marquis in dieser Nacht das Schloß nicht verlassen.« »Was ist denn dann sonst mit ihm geschehen?« fragte Sir Gwiliam. »Das bringt uns zu dem Doppelgänger Paul Sarto zurück«, sagte Lord Darcy. »Master Sean, würdet Ihr bitte etwas dazu sagen.« »Well, My Lady und edle Sirs«, sagte der kleine Hexer. »My Lord Darcy folgerte in diesem Fall, daß Magie mit im Spiel gewesen war. Dieser polnische Hexer - übrigens ein ziemlicher Teufel, muß ich sagen; als ich ihn im Lagerschuppen erwischte, versuchte er, mir ein paar Zauber anzuhexen, aber das war alles Humbug. Nachdem ich ihm eine gute Portion bester irischer Hexerei verpaßt hatte, wurde er plötzlich za hm wie ein Lamm.« »Fahrt fort, Master Sean«, sagte Lord Darcy trocken. »'tschuldigung, My Lord. Jedenfalls hat dieser polnische Hexer gesehen, daß Paul Sarto ein phantastischer Doppelgänger von My Lord Marquis war, und beschloß, ihn dazu zu verwenden, My Lord Marquis zu beeinflussen - das Gesetz der Ähnlichkeit, versteht Ihr? Ihr kennt doch diese Methode, wie man Nadeln in -4 2 5
Wachspuppen steckt, ja? Ziemlich plump, aber doch sehr wirkungsvoll, wenn die Ähnlichkeit nur groß genug ist. Und was könnte einem Mann mehr ähneln als sein Doppelgänger?« »Ihr meint also, daß sie diesen armen Menschen als eine Art Wachspuppe benutzt haben?« fragte die Marquise mit Entsetzen in der Stimme. »So ungefähr, My Lady. Damit die Zauber wirken können, ist es allerdings wichtig, daß der Doppelgänger selbst nicht sonderlich viel im Kopf hat. Na ja, das war hier ja auch der Fall. Also warben sie ihn von seiner alten Arbeitsstelle ab und nahmen ihn in die Mangel. Sie badeten ihn und ließen ihn teure Kleidung tragen und übernahmen langsam aber sicher die Kontrolle über seinen Geist. Sie sagten ihm, daß er tatsächlich der Marquis sei. Nachdem die Ähnlichkeit auf diese Weise hergestellt worden war, hofften sie, daß sie nun auch den Marquis selbst beeinflussen könnten.« My Lady Elaine starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Und das hat die Anfälle bewirkt?« »Ganz genau, My Lady. Wenn My Lord Marquis einmal müde und abgespannt war, dann konnten sie ihn für eine kurze Weile beeinflussen. Eine widerliche Sache, zu der sich kein normaler Hexer herablassen würde, aber sie funktioniert.« »Aber was haben sie denn dann mit meinem Mann gemacht?« fragte My Lady von Cherbourg. »Nun, My Lady«, sagte Master Sean, »was glaubt Ihr wohl, was passiert, wenn der Doppelgänger, die quasi-Wachspuppe von My Lord Marquis, sich den Schädel einschlägt, und zwar so sehr, daß der Tod eintritt? Der Schock war für Seine Lordschaft derart stark, daß es ihn fast umgebracht hätte. Nein, es hätte ihn tatsächlich umgebracht, wenn man die Ähnlichkeit noch exakter aufgebaut hätte. Er verlor das Bewußtsein, My Lady.« Lord Darcy fuhr in seinem Bericht fort.
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»Der Marquis fiel zu Boden. Er blieb bis letzte Nacht im Schloß, dann holten ihn die polnischen Agenten. Sie töteten den Wachtposten, kamen durch den Geheimgang, nachdem sie die Leiche beseitigt hatten, und brachten den Marquis aufs Schiff. Als Captain Sir Androu mir berichtete, daß der Wachtposten ›desertiert‹ sei, da wußte ich sofort, was geschehen war. Ich wußte, daß My Lord Marquis sich entweder im Lagerschuppen des Weinhändlers oder an Bord eines Schiffs befand, das nach Polen auslaufen würde. Unsere beiden Razzien haben gezeigt, daß ich recht hatte.« »Wollt Ihr damit etwa sagen, daß My Lord die ganze Zeit in dem eiskalten Geheimgang gelegen hat?« fragte Sir Gwiliam. »Wie entsetzlich!« Lord Darcy blickte ihn lange an. »Nein. Nicht die ganze Zeit, Sir Gwiliam. Niemand hätte wissen können, wo er sich befand, am allerwenigsten die polnischen Agenten. Man hat ihn in den Geheimgang gebracht, nachdem man ihn am nächsten Morgen gefunden hatte, nämlich im Weinkeller.« »Das ist doch absurd!« brauste Sir Gwiliam auf. »Ich hätte ihn doch sehen müssen!« »Das hättet Ihr ganz gewiß«, stimmte Lord Darcy ihm zu. »Und das habt Ihr auch ganz gewiß. Es muß ein ziemlicher Schock gewesen sein, nach dem Handgemenge im Lagerschuppen zurückzukehren und My Lord Marquis im Weinkeller auf dem Boden liegend zu finden. Sobald mir klar war, daß Ihr der Schuldige wart, wußte ich auch, daß Ihr Euren Dienstherrn verraten habt. Ihr habt mir erzählt, daß Ihr am Abend mit Ordwin Vayne Karten gespielt habt; dadurch wußte ich, bei welchem Händler wir die Razzia machen mußten.« Sir Gwiliams Gesicht war blaß, als er sagte: »Ich habe meinem Herrn jahrelang treu gedient. Ich zeihe Euch der Lüge, My Lord!« -4 2 7
»Ach ja?« In Lord Darcys Augen spielte ein kaltes Glitzern. »Irgend jemand mußte Ordwin Vayne verraten, wo sich der Marquis befand, irgend jemand, der es natürlich selbst wissen mußte. Nur der Marquis, Captain Androu und Ihr besaßen einen Schlüssel zum Geheimgang. Ich habe den Schlüssel des Captains gesehen, er war stumpf und verkrustet, als ich ihn benutzte. Das Öffnen des Schlosses hinterließ helle Kratzer darauf. Er hatte ihn also lange nicht mehr benutzt. Nur Ihr hattet einen Schlüssel, mit dessen Hilfe Ordwin Vayne und seine Männer in den Geheimgang gelangen konnten.« »Pah! Das ist unlogisch! Wenn My Lord Marquis bewußtlos war, dann hätte ihm jemand den Schlüssel abnehmen können!« »Nicht, wenn er sich im Geheimgang befand. Warum sollte irgend jemand dort hinein gehen? Die Tür zum Gang war abgeschlossen, also selbst wenn er dort gewesen sein sollte, hätte man einen Schlüssel gebraucht, um ihn zu finden. Es gab keinerlei Grund, den Geheimgang aufzuschließen, bis Ihr einen Ort brauchtet, um den bewußtlosen Marquis zu verstecken!« »Warum sollte er in den Weinkeller hinabgehen?« fauchte Sir Gwiliam ihn an. »Und warum sollte er sich dort einschließen?« »Er ging in den Weinkeller, um sich ein paar Flaschen anzusehen, die Ihr dort unten hattet. Sir James' Bericht hatte ihn mißtrauisch gemacht. Lagerschuppen am Kai und Weinhandlungen werden immer genauestens überprüft und manchmal durchsucht. Ordwin Vayne wollte nicht, daß Untersuchungsbeamte merken sollten, daß er Pilze in Brandy einlegen ließ. Also lagerte man die Flasche n hier - am sichersten Ort in ganz Cherbourg. Wer sollte schon Verdacht schöpfen? Der Marquis betrat nie den Weinkeller. Aber schließlich wurde er eben doch mißtrauisch und ging hinunter. Er verschloß die Tür, weil er ungestört sein wollte. Nur Ihr hättet hineingelangen können, und auch dann hätte er Euch vorher gehört, wenn Ihr den Schlüssel ins Schloß gesteckt hättet. In dieser Zeit fiel der -4 2 8
verhexte Paul zu Boden und schlug sich den Schädel an der Treppe auf. Paul starb, und der Marquis verlor das Bewußtsein. Als ich gestern ankam, da mußtet Ihr das Beweismaterial bereits aus dem Weg schaffen. Also kamen die polnischen Agenten und beseitigten die Flaschen und den Marquis. Solltet Ihr nach weiteren Beweisen verlangen, so darf ich Euch mitteilen, daß wir die Droge an Bord des Schiffs gefunden haben, in alte Brandyflaschen abgefüllt. Die Flaschen hatten das Etikett des Saint Coeurlandt Michele '46! Wer sonst in Cherbourg hatte wohl Zugang zu diesen Flaschen, wenn nicht Ihr?« Sir Gwiliam machte einen Schritt rückwärts. »Lüge! Alles Lüge!« »O nein!« bellte eine Stimme neben der Tür. »Wahrheit! Alles Wahrheit!« Lord Darcy hatte gesehen, wie Captain Sir Androu leise die Tür geöffnet hatte, um drei weitere Männer einzulassen, aber er war der einzige gewesen, der es gemerkt hatte. Als sie die Stimme hörten, drehten sich die anderen um. Bleich im Gesicht, aber dennoch kräftig aussehend, saß dort Hugh, Marquis von Cherbourg, in einem Rollstuhl. Hinter ihm standen zu beiden Seiten Sir James le Lein und Vater Patrique. »Was Lord Darcy da gesagt hat, stimmt bis aufs iTüpfelchen«, sagte My Lord Marquis eisig. Sir Gwiliam rang nach Luft und sah My Lady Elaine an. »Ihr habt doch gesagt, daß er den Verstand verloren habe!« »Ein kluge Lüge - um einen Verräter zu überführen«, sagte sie frostig. »Sir Gwiliam de Bracy«, sagte Sir James, »im Namen des Königs klage ich Euch des Hochverrats an!« Da geschahen fast gleichzeitig zwei Dinge. Sir Gwiliam griff nach seiner Tasche, aber Lord Seiger hatte schon seinen Degen gezückt. Als Sir Gwiliam seine Pistole hervorgerissen hatte, war seine Halsschlagader bereits durchschnitten. Er konnte sich nur -4 2 9
noch kurz umdrehen und einen einzigen Schuß abfeuern, bevor er zu Boden sank. Lord Seiger stand einfach, wo er war, und blickte mit einem seltsamen Lächeln auf Sir Gwiliam herab. Eine Schrecksekunde lang rührte sich niemand. Dann stürzte Vater Patrique zu dem Seneschall, aber er kam bereits zu spät. Er konnte nichts ausrichten. Dann schritt die Marquise auf Lord Seiger zu und ergriff seine freie Hand. »My Lord, andere mögen Euch dafür vielleicht verurteilen, ich tue es jedenfalls nicht. Dieses Ungeheuer hat mitgeholfen, daß Hunderte unschuldiger Männer den Wahnsinn und schließlich sogar den Tod fanden. Mit meinem geliebten Hugh hätte er fast das gleiche getan. Ich meine, daß sein Tod eher viel zu milde war. Ich werfe Euch nichts vor, My Lord. Ich danke Euch.« »Ich danke Euch, My Lady. Aber ich habe nur meine Pflicht getan.« Seine Stimme klang seltsam belegt. »Ich hatte meine Befehle, My Lady.« Dann sank er zu Boden. Lord Darcy und Vater Patrique erkannten plötzlich, daß Sir Gwiliams Geschoß Lord Seiger getroffen haben mußte, obwohl er es sich nicht hatte anmerken lassen. Lord Seiger hatte kein Gewissen besessen, aber er konnte nicht von alleine töten, nicht einmal in Selbstverteidigung. Sir James hatte für ihn die Entscheidung gefällt. Lord Seiger war ein Königlicher Agent gewesen, der ohne mit der Wimper zu zucken töten konnte, wenn er den Befehl dazu von Sir James bekam. Nur Sir James konnte dies entscheiden. Sir James starrte immer noch auf den gestürzten Lord Seiger herab, als er sagte: »Aber... wie konnte er nur? Ich habe es ihm doch nicht befohlen!« »Doch, das habt Ihr«, entgegnete Lord Darcy müde. »An Bord. Ihr habt ihm befohlen, die Verräter zu vernichten. Als Ihr Sir Gwiliam einen Verräter genannt habt, da handelte er. Er -4 3 0
hatte den Degen schon zur Hälfte gezückt, bevor Sir Gwiliam nach seiner Waffe griff. Er hätte ihn kaltblütig getötet, auch wenn der Seneschall keine Bewegung gemacht hätte. Er war wie eine Gaslaterne, Sir James. Ihr habt ihn aufgedreht, aber vergessen, ihn wieder abzustellen.« Richard, Herzog von der Normandie, blickte auf den Gefallenen herab. Lord Seigers Gesicht hatte sich auf seltsame Weise fast überhaupt nicht verändert, es war lediglich vielleicht noch ausdrucksloser als sonst. »Wie geht es ihm, Hochwürden?« fragte der Herzog. »Er ist tot, Euer Hoheit.« »Möge der Herr seiner Seele gnädig sein«, sagte Herzog Richard. Acht Männer und eine Frau bekreuzigten sich schweigend. Ende.
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Band 04 Der gefärbte Lord
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Als Walter Gotobed, Kunsttischlermeister Seiner Gnade des Herzogs von Kent, die Tür zu seiner Werkstatt aufschloß, da lagen Schmerz und Stolz in seiner Seele miteinander in Wettstreit. Beide waren sie eher geistigen Ursprungs. Denn trotz seiner guten neunzig Jahre, die er schon zählte, war Master Walter mit einer eisernen Gesundheit gesegnet. Seine Hand konnte noch mühelos gerade Striche ziehen, und wenn er seinen Kneifer auf die lange schmale Nase geklemmt hatte, dann konnte er immer noch ohne jeden Fehler von der Vitrine bis zur Zigarrenkiste so ziemlich alles entwerfen und skizzieren. Am nächsten Dreifaltigkeitstag, Sonntag, dem vierundzwanzigsten Mai im Jahre des Herrn 1964, würde er sein fünfzigjähriges Jubiläum feiern - solange war es schon her, daß er zum Herzoglichen Kunsttischlermeister bestallt worden war. Er diente nun schon seinem zweiten Herzog, der erste war im Jahre 1927 gestorben, und er würde wohl auch noch einen dritten Herzog erleben; denn obwohl die Herzöge von Kent für ihre Langlebigkeit bekannt waren, lebt ein Mann, der mit edlen Hölzern arbeitet und die Kraft und die Zeitlosigkeit der riesigen Bäume, aus denen sie stammen, einatmet, immer noch länger. Die Werkstatt roch nach den verschiedensten Hölzern, Zeder, Pinie, Apfel - und die frühe Morgensonne polierte mit ihren Strahlen all die Schränke, Tische, Stühle und Sekretäre, die hier herumstanden, die meisten noch halbfertig. Dies war Master Walters Welt, in der er lebte und arbeitete. Master Walter wurde von drei Männern gefolgt: Geselle Henry Lavender und die beiden Lehrlinge Tom Wilderspin und Harry Venable. Zielstrebig gingen sie auf ein Objekt aus polierter Eiche zu, das majestätisch in einer Ecke auf einer Bank ruhte. Master Walter blieb zwei Schritte davon entfernt stehen und fragte: »Na, Henry, ist das was?« Geselle Henry, der zwar noch keine vierzig Jahre zählte, aber doch schon ganz die Ausstrahlung eines Fachmanns besaß,
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sagte: »Sehr schön, Master Walter, sehr, sehr schön.« Das war ehrliche Bewunderung, keine Schmeichelei. »Ich glaube, Ihre Gnade die Herzogin wird zufrieden sein, eh?« fragte der Alte. »Mehr als zufrieden, Master.« »Hm! Es liegt doch schon wieder ein wenig Staub drauf seit gestern abend. He, Tom, nimm einen , Lappen und etwas Zitronenöl und polier es noch mal!« Während Tom gehorsam den Lappen holen ging, fuhr der Geselle fort: »Seine Gnade der Herzog wird Eure Arbeit zu würdigen wissen, Master! Es ist eine der schönsten Arbeiten, die Ihr je für sie angefertigt habt.« »Aye! Und das müßt Ihr Euch merken, Henry, und auch ihr Jungen: Nicht die wunderbaren Schnitzereien machen ein Holz schön, das Holz ist selbst schön! Hab' nichts gegen Schnitzereien, wo sie hingehören, beileibe nicht! Aber die Schönheit, sie liegt im Holz selbst. Etwas so Einfaches wie das hier, das zeigt doch das Holz so, wie es ist - nämlich als eine Schöpfung Gottes! Alles, was wir tun können, das ist, diese Schönheit herauszubringen. Her mit dem Lappen, Junge, den Rest mache ich selbst!« Beim Polieren dozierte Master Walter weiter. »Saubere arbeit, darauf kommt es an, Jungs! Alles solide ineinandergefügt, die Maserung beachtet, geschmirgelt, nahtlos geschraubt und geleimt - das macht eine gute Arbeit aus. Aber der Entwurf, ah, der macht daraus ein Kunstwerk! Also gut jetzt, Tom! Du nimmst das vordere Ende, Harry, du faßt hinten an. Wir müssen zwar eine Treppe damit hoch, aber ihr seid ja beides kräftige Jungen, und allzu schwer ist's auch nicht. Außerdem braucht ein guter Tischlermeister starke Muskeln, und das Üben wird euch guttun.«
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Die Lehrlinge gehorchten. Sie hatten das Stück schon öfter getragen und wußten genau, vieviel es wog. Sie setzten an. Doch das Stück bewegte sich kaum von der Stelle. »He, was ist los?« rief Master Walter. »Ihr hättet es ja beinahe fallengelassen!« »Es ist so schwer, Master«, sagte Tom. »Da muß etwas drinsein.« »Was drin sein? Wie sollte denn da etwas reinkommen?« Master Walter hob den Deckel hoch und ließ ihn beinahe wieder fallen. »Guter Gott! Was ist das denn?« Verblüfft starrten die vier ins Innere. »Ein Toter«, sagte Geselle Henry schließlich. Das war offensichtlich. Diese Leiche war bestimmt eine Leiche. Die Augenlider waren eingesunken und die Haut wächsern. Der Mann war absolut vollständig tot. Master Walter fand seine Stimme wieder. Der Schreck war einer neuen Wut gewichen. »Aber was macht der hier drin! Er hat hier nichts zu suchen! Absolut nichts zu suchen!« »Nehme an, daß es wohl nicht seine eigene Schuld ist, Master Walter«, warf Geselle Henry ein. »Hat sich wohl kaum selbst hineingelegt.« »Nein«, sagte Master Walter und fand seine Selbstbeherrschung wieder. »Nein, natürlich nicht. Aber was für ein seltsamer Ort, um eine Leiche zu finden!« Lehrling Tom hatte alle Mühe, ein Kichern zu unterdrücken. Wo wäre eine Leiche schließlich besser aufgehoben als in einem Sarg? Jeder hart arbeitende Mensch, und mag er seinen Beruf auch noch so sehr lieben, genießt seinen Urlaub, und Lord Darcy war da keine Ausnahme. Er fühlte sich sehr wohl in seiner Tätigkeit als Chefinspektor Seiner Königlichen Hoheit Prinz Richard, -4 3 5
Herzog von der Normandie, aber es war schön, wieder einmal in England, in der eigentlichen Heimat sozusagen, zu sein. Obwohl England und Frankreich nunmehr seit achthundert Jahren ein einziges Land waren, unterschieden sie sich doch in vielem voneinander. Er stand auf der einen Seite des Ballraums und beobachtete die Menge beim Tanzen. Er nippte an seinem Whisky und dachte bei sich, daß diese Art Vergnügen immer nach zwei Wochen jeglichen Reiz für ihn verloren hatte, während seine eigentliche Arbeit fünfzig Wochen brauchte, um ihm ein wenig auf den Wecker zu gehen. Dennoch war es schön, sich einmal ausspannen zu können. Lord Dartmoor war wirklich in Ordnung, ein ausgezeichneter Schachspieler, der auch ab und an eine gute Geschichte zum Besten zu geben verstand. Lady Dartmoor wiederum hatte eine äußerst glückliche Hand bei der Auswahl und Zusammenstellung ihrer Gäste, sei es nun zum Dinner oder zum Ball. Aber man konnte schließlich nicht immer auf Schloß Dartmoor bleiben, und die Lo ndoner Gesellschaft war letzten Endes auch nicht halb so bedeutsam, wie man in der Provinz gern glauben mochte. Lord Darcy ertappte sich bei dem Gedanken, daß es gar nicht so übel sein würde, am zweiundzwanzigsten Mai nach Rouen zurückzukehren. »Lord Darcy, ich bitte um Vergebung, aber es ist etwas passiert.« Lord Darcy wandte sich der Frauenstimme zu und lächelte. »Ach ja?« »Würdet Ihr mir bitte folgen?« »Gewiß, My Lady.« Er folgte ihr und sah an ihrer Nervosität und Verspanntheit, daß es sich um etwas Auß ergewöhnliches handeln mußte. An der Tür zur Bibliothek blieb sie stehen und sagte: »My Lord, es ist ein... Gentleman da, der Euch zu sprechen wünscht. In der Bibliothek.« -4 3 6
»Ein Gentleman? Wer ist es denn, My Lady?« »Ich... ich bin nicht befugt, seinen Name n zu nennen. Er wird sich Euch selbst vorstellen.« »Ich verstehe.« Lord Darcy legte unauffällig seinen Arm in den Rücken und zog eine kleine Pistole aus ihrem versteckten Halfter. Das hier roch zwar nicht ausgesprochen nach einer Falle, aber es gab keinen Grund, unvorsichtig zu sein. Lady Dartmoor öffnete die Tür. »Lord Darcy, S... Sir.« »Führt ihn herein, My Lady«, sagte eine Stimme im Raum. Mit gezückter, aber versteckter Pistole trat Lord Darcy ein. Er hörte, wie die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Der Mann stand mit dem Rücken zur Tür und blickte durch das Fenster auf die erleuchteten Straßen Londons hinab. »Lord Darcy«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »wenn Ihr der Mann seid, als den man Euch mir geschildert hat, dann seid Ihr gefährlich nahe daran, das Verbrechen des Hochverrats zu begehen.« Aber Lord Darcy hatte nach einem Blick auf diesen Rücken seine Pistole wieder eingesteckt und kniete nieder. »Wie Euer Majestät wissen, würde ich lieber sterben, als Hochverrat zu begehen.« Der Mann drehte sich um, und zum ersten Mal in seinem Leben sah sich Lord Darcy Seiner Kaiserlichen Majestät John IV, König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland, Neufrankreich, Verteidiger des Glaubens et cetera gegenüber. Er sah seinem Bruder, Richard von der Normandie, sehr ähnlich - groß, blond und gut aussehend wie alle Plantagenets. Aber er war zehn Jahre älter als Herzog Richard, und man konnte den Unterschied bemerken. Der König war nur wenige Jahre jünger als Lord Darcy, aber die Falten in seinem Gesicht ließen ihn älter scheinen.
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»Erhebt Euch, My Lord«, sagte Seine Majestät. Er lächelte. »Ihr hattet doch eine Pistole in der Hand, oder nicht?« »In der Tat, Majestät«, sagte Lord Darcy und erhob sich. »Bitte um Vergebung, Sire.« »Aber nicht doch! Das habe ich von einem Mann mit Euren Fähigkeiten doch erwartet. Setzt Euch bitte. Wir werden nicht gestört, dafür sorgt My Lady Dartmoor. Danke. Lord Darcy, wir haben da ein Problem.« Darcy setzte sich, und der König nahm sich einen Stuhl ihm gegenüber. »Einen Augenblick lang wollen wir den Rangunterschied vergessen, My Lord«, sagte der König. »Unterbrecht mich bitte nicht, bis ich Euch alle Fakten aufgereiht habe. Dann könnt Ihr Fragen stellen, soviel Ihr wollt.« »Jawohl, Sire.« »Also gut. Ich habe einen Auftrag für Euch, My Lord. Ich weiß, daß Ihr gerade auf Urlaub seid, und es tut mir leid, Euch jetzt stören zu müssen, aber diese Sache ist sehr wichtig. Ihr kennt die Aktivitäten der Heiligen Gesellschaft vom Alten Albion, nicht wahr.« Es war keine wirkliche Frage, sondern eine Feststellung. Lord Darcy und jeder andere königliche Beamte wußte von der Gesellschaft von Albion. Es war mehr als ein gewöhnlicher Geheimbund; es handelte sich um eine heidnische Sekte, die die christliche Kirche ablehnte. Man sagte ihr nach, daß sie sich mit Schwarzer Magie abgebe, daß ihre Mitglieder eine Art Naturverehrung betrieben und daß sie sich von den alten Druiden aus vorrömischer Zeit ableiteten. Nachdem man sie eine Weile im letzten Jahrhundert geduldet hatte, war die Gesellschaft schließlich verboten worden. Man erzählte sich, daß diese Gesellschaft während all der Jahrhunderte des Christentums immer im Verborgenen gewirkt habe, bis sie im leichtbeschwingten liberalen neunzehnten Jahrhundert aus der -4 3 8
Versenkung emporgekommen war. Anderen Berichten zufolge waren all die Behauptungen der Gesellschaft über ihre lange Ahnenreihe und ihr ehrwüdiges Alter falsch; tatsächlich sei sie in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von dem exzentrischen und vielleicht auch ein wenig verrückten Sir Edward Finneley gegründet worden. Wahrscheinlich stimmten beide Versionen zum Teil. Man hatte sie wegen ihrer lautstarken Propaganda für Menschenopfer verboten. Sie hatten die kirchliche Lehre von der allgemeinen Erlösung durch den Tod Christi abgeworfen und behaupteten, daß in Zeiten nationaler Not der König selbst geopfert werden müsse. Zwar waren sie ursprünglich davon ausgegangen, daß das Opfer willentlich und freudig sterben müsse, daß also Attentate und Morde völlig nutzlos seien; doch hatte sich das durch die verschärfte Lage zwischen dem Reich und dem Königreich Polen geändert. Dies waren Zeiten nationaler Not, behauptete die Gesellschaft, und der König müsse sterben, ob er wolle oder nicht. Die Untersuchungen hatten ergeben, daß ein nicht geringer Teil dieser Gedanken von den Agenten König Casimirs IX von Polen selbst in die Gesellschaft eingeschmuggelt worden war. »Ich bezweifle«, sagte der König, »daß die Gesellschaft wirklich eine ernsthafte Bedrohung der Reichsregierung darstellt. Aber ich als König bin natürlich genauso jedem Fanatiker ausgeliefert wie jeder andere meiner Bürger auch. Ich halte mich nicht für unersetzbar; wenn das Wohl meines Volkes von mir verlangte, daß ich sterben müsse, dann würde ich mich noch heute aufs Schafott begeben. Aber wie die Dinge stehen, scheint es mir ein ganz guter Gedanke zu sein, noch ein wenig weiterzuleben. Meine eigenen Agenten haben die Gesellschaft mit Erfolg infiltriert. Bisher haben sie berichtet, daß es keinerlei wirklich organisierten Versuch gibt, mich aus dem Weg zu schaffen. Aber jetzt ist etwas Neues geschehen. Heute morgen um kurz vor sieben Uhr ist Seine Gnaden, der Herzog von Kent, gestorben. Es traf uns nicht unerwartet. Er war zwar erst -4 3 9
zweiundsechzig Jahre alt, aber in letzter Zeit sah es mit seiner Gesundheit nicht sonderlich gut aus, besonders in den vergangenen drei Wochen. Man rief die allerbesten Heiler herbei, aber die Ehrwürdigen Patres sagten alle, daß die Kirche nichts unternehmen könne, wenn ein Mann sich einmal entschlossen habe, zu sterben. Um punkt sieben Uhr heute morgen betrat der Herzogliche Kunsttischlermeister seine Werkstatt, um den Sarg zu holen, der für Seine Gnaden angefertigt worden war. Er stellte fest, daß bereits jemand im Sarg lag, und zwar die Leiche von Lord Camberton, Oberster Ermittlungsrichter des Herzogtums Kent. Er war erstochen worden - und man hatte seinen Körper blau gefärbt!« Lord Darcys Augen verengten sich. »Es ist nicht bekannt«, fuhr der König fort, »wie lange Lord Camberton schon tot ist. Es ist möglich, daß man einen Konservierungszauber über ihn verhängt hat. Er wurde zuletzt vor drei Wochen in Kent gesehen, als er eine Urlaubsreise nach Schottland antrat. Wir wissen noch nicht, ob er jemals dort angekommen ist, aber ich werde wohl bald Genaueres über Teleklang erfahren. Das ist es, was ich weiß. Irgendwelche Fragen, Lord Darcy?« »Keine, Sire.« Es war kein Sinn darin, dem König Fragen zu stellen, die man in Canterbury besser beantworten konnte. »Mein Bruder Richard hat Euch sehr empfohlen, besonders nach der Sache um den ›Atlantischen Fluch‹ letzten Januar. Ich schätze seine Meinung und bestalle Euch darum als Sonderinspektor am Hof.« Er reichte Lord Darcy ein Dokument, das er aus der Tasche gezogen hatte. »Ich bin inkognito hierhergekommen«, fuhr er fort, »weil niemand erfahren soll, daß ich mich persönlich für die Sache interessiere. Offiziell ist es eine Entscheidung des Lord Chancellor, reine Routinesache. Ich wünsche, daß Ihr nach Canterbury reist und feststellt, wer Lord Camberton umgebracht hat und warum. Ich habe keine weiteren Fakten zu Hand. Ich wünsche, daß Ihr sie mir beschafft.« -4 4 0
»Ich fühle mich geehrt, Sire«, sagte Lord Darcy. »Euer Wunsch sei mein Befehl.« »Gut. Ich habe dafür gesorgt, daß Ihr im Palast des Erzbischofs residieren könnt; das scheint mir diplomatischer, als Euch bei der Herzoglichen Familie unterzubringen. Seine Gnade der Erzbischof weiß, daß ich mich für den Fall interessiere; ebenso Sir Thomas Leseaux, sonst niemand.« Lord Darcy hob eine Augenbraue. »Sir Thomas Leseaux, Sire? Der Thaumaturgietheoretiker?« Der König lächelte mit offenkundiger Freude darüber, Lord Darcy überrascht zu haben. »Derselbe, My Lord. Ein Mitglied der Gesellschaft von Albion - und mein Agent.« »Ausgezeichnet, Sire«, sagte Lord Darcy bewundernd. »Man hätte kaum geglaubt, daß ein solch berühmter Wissenschaftler auch nur eines von beiden wäre.« »Dem stimme ich zu. Noch irgendwelche weiteren Fragen?« »Nein. Aber ich habe ein Bitte, Sire. Sir Thomas ist meines Wissens kein praktizierender Hexer...« »Richtig«, sagte der König. »Er ist ein reiner Theoretiker. Er befaßt sich augenblicklich mit etwas, das er subjektive Kongruenz nennt, was immer das auch sein mag. Er arbeitet nur mit der Symbologie der Subjektiven Algebra und überläßt es anderen, seine Theorien in der Praxis auszuprobieren.« Lord Darcy nickte. »Genau, Sire. Man könnte ihn wohl kaum als einen Experten in der Justizhexerei bezeichnen. Ich hätte gern die Unterstützung von Master Sean O Lochlainn; wir arbeiten gut zusammen. Augenblicklich befindet er sich in Rouen. Darf ich ihn nach Canterbury kommen lassen?« Das Lächeln Seiner Majestät wurde noch breiter. »Ich freue mich, sagen zu dürfen, daß ich Eurem Wunsch schon zuvorgekommen bin. Ich lasse Master Sean soeben per
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Sonderkurier kommen, er dürfte morgen in Canterbury eintreffen.« »Sire«, sagte Lord Darcy, »solange die Reichskrone ein Haupt wie das Eure schmückt, wird das Reich nicht untergehen.« »Wohl gesprochen, My Lord. Wir danken Euch.« Mit diesen Worten zeigte der Monarch, daß sie nun nicht länger von Mann zu Mann sprachen, sondern von Herrscher zu Untertan. »Wir geben Euch carte blanche, My Lord, aber von nun an darf es keinerlei Kontakt mehr zu Uns geben, es sei denn, es ist absolut notwendig. Wenn Ihr Euren Auftrag beendet habt, wünschen Wir einen vollständigen Bericht von Euch, schriftlich und nur für Unsere Augen bestimmt. Ansonsten wird Seine Gnade der Erzbischof Euch in allem unterstützen.« »Sehr wohl, Euer Majestät.« »Ihr dürft Euch entfernen, Lord Darcy. In einer Stunde fährt der Zug nach Canterbury.« »Mit Euer Majestät Erlaubnis.« Lord Darcy machte einen Kniefall. Als er sich erhoben hatte, war der König bereits wieder ans Fenster getreten und kehrte ihm den Rücken zu, so daß er nicht rückwärts den Raum verlassen mußte. Lord Darcy drehte sich um und ging auf die Tür zu. Als er den Türgriff herunterdrücken wollte, hörte er nochmals die königliche Stimme. »Und noch eins, Lord Darcy.« Lord Darcy drehte sich um, aber der König wandte ihm immer noch den Rücken zu. »Sire?« »Paßt auf Euch auf. Ich will nicht, daß Ihr Euer Leben verliert. Ich brauche Männer wie Euch.« »Jawohl, Sire.« »Viel Glück, Darcy.« »Danke, Sire.« Lord Darcy verließ den Raum. -4 4 2
Als die Glocken zum dritten Mal schlugen, merkte Lord Darcy endlich, daß man zum Angelus läutete. Das bedeutete, daß er knappe fünf Stunden geschlafen hatte. Hastig sagte er das Gebet auf und bekreuzigte sich. Dann wollte er sich wieder auf die Seite legen, um bis neun Uhr weiterzuschlafen. Aber das gelang ihm natürlich nicht. Man gewöhnt sich an alles, dachte er verschlafen und mürrisch, sogar an riesige tönende Glocken. Aber das gewaltige Ungeheuer aus Bronze im Glockenstuhl der Kathedrale von Canterbury befand sich nur hundert Yard von seinem Zimmer entfernt und ließ die Wände wackeln. Schließlich stand er auf, zog sich seine Pantoffeln an und zog an der Klingelstrippe. Er war gerade dabei, den Gürtel seines roten seidenen Morgenmantels festzuziehen, als ein junger Mönch die Tür öffnete. »Jawohl, My Lord?« »Nur eine Kanne Kaffee und ein bißchen Sahne dazu, Bruder.« »Sehr wohl, My Lord«, sagte der Novize. Als Lord Darcy mit dem Duschen und der Rasur fertig war, wartete die Kanne bereits dampfend auf ihn. »Sonst noch etwas, My Lord?« »Nein, Bruder, das genügt. Ich danke Euch.« »Es war mir ein Vergnügen, My Lord.« Der Novize entfernte sich. Lord Darcy setzte sich und nippte an seinem Kaffee. Er dachte über das nach, was er wußte. Seine Gnaden der Erzbischof hatte ihm auch nicht mehr sagen können als der König. Per Teleklang hatte Lord Darcy Kontakt mit Sir Angus MacReady, Chefinspektor Seiner Lordschaft des Marquis von Edinburgh, aufgenommen. Lord Camberton war tatsächlich in Schottland eingetroffen, aber nicht zum Urlaub. Er hatte Sir -4 4 3
Angus zwar nicht gesagt, was er vorhatte, aber auf jeden Fall arbeitete er an etwas. Sir Angus hatte versprochen zu versuchen festzustellen, was es wohl gewesen sein konnte. Er würde Lord Darcy persönlich informieren. Ob Lord Cambertons Ermittlungen in Schottland irgend etwas mit seinen Tod zu tun hatten, das war die Frage. Die Heilige Gesellschaft vom Alten Albion hatte nur eine kleine Gefolgschaft in Schottland, und es war äußerst unwahrscheinlich, daß der Mord dort geschehen war; dazu wäre das Risiko viel zu groß gewesen, eine Leiche von Schottland nach Canterbury zu transportieren. Ganz ausschließen konnte man es zwar nicht, aber fürs erste wollte Lord Darcy einmal davon ausgehen, daß der Tatort näher an Canterbury lag. Die Untersuchungen der Leiche hatten ergeben, daß Lord Camberton nicht dort ermordet worden war, wo man ihn gefunden hatte. Die tiefe Stichwunde hatte stark geblutet, aber im herzoglichen Sarg befand sich keine Blutspur. Dennoch würde Darcy wohl die Werkstatt des Tischlermeisters aufsuchen müssen, denn er überzeugte sich immer lieber an Ort und Stelle vom Stand der Dinge. Es hatte keinen Zweck, die Leiche zu untersuchen, bevor Master Sean angekommen war. Diese Sache mit der blauen Farbe roch auf jeden Fall nach Thaumaturgie. Also würde er im Schloß des Herzogs ein paar Fragen stellen. Aber zunächst einmal war Frühstück angezeigt. Master Walter Gotobed verneigte sich und grüßte den Gentleman, der zur Tür eintrat. »Ja, Sir? Was kann ich für Euch tun?« »Ihr seid Walter Gotobed, Kunsttischlermeister?« fragte Lord Darcy. »Zu Diensten, Sir.«
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»Ich bin Lord Darcy, Sonderinspektor Seiner Majestät Hof. Ich würde mich gerne einmal kurz mit Euch unterhalten, Master Walter.« »Ah, ja. Selbstverständlich, Euer Lordschaft.« Trauer spiegelte sich in den Augen des alten Mannes. »Wegen Lord Camberton, nehme ich an. Würdet Ihr mir bitte hier entlang folgen, Euer Lordschaft? Ja. Der arme Lord Camberton, einfach ermordet, schrecklich, das. Hier ist mein Büro, Euer Lordschaft, da sind wir ungestört. Bitte Platz zu nehmen, Euer Lordschaft. Ja, den Stuhl dort. Oh, einen Augenblick, ich wische erst noch das Sägemehl fort. Kommt überall drauf, das Sägemehl, My Lord. Nun, wie kann ich Euch helfen?« »Man hat Lord Cambertons Leiche hier in Eurer Werkstatt gefunden, Master Walter?« »Ach ja, Euer Lordschaft, und eine schreckliche Sache war das, wenn ich mal so sagen darf. Eine schreckliche Sache! Haben ihn im Sarg von Seiner Gnade gefunden. Die Heiler sagten, daß für Seine Gnaden nicht mehr viel Hoffnung bestünde, und Ihre Gnaden die Herzogin bat mich, ihm doch einen besonders schönen Sarg zu zimmern, was ich natürlich tat, und heute morgen lag Lord Camberton da, wo er nicht reingehörte. Ganz blau war er, Euer Lordschaft, überall blau. Deswegen haben wir ihn auch zuerst überhaupt nicht erkannt.« »Bestimmt kein schöner Anblick«, sagte Lord Darcy. »Sagt mir, was vorgefallen ist.« Master Walter erzählte es ihm minuziös. »Ihr habt keinerlei Vorstellung davon, wie er hierhergekommen ist?« fragte Lord Darcy, als der Monolog zu Ende war. »Keine, Euer Lordschaft, keine. Chief Bertram hat uns das auch gefragt. ›Wie ist er hierhergekommen?‹ Aber wir wußten es alle nicht. Die Fenster und Türen waren alle verriegelt und verschlossen. Die einzigen, die einen Schlüssel besitzen, das bin -4 4 5
ich und mein Geselle, Henry Lavender, und wir sind beide letzte Nacht nicht hier gewesen. Chief Bertram glaubte zunächst, daß die Lehrlinge sich vielleicht einen Schabernack ausgedacht hatten und ihn hereingelegt hatten; das war, bevor Chief Bertram wußte, wer es war, er dachte wohl, daß sie ihn vielleicht aus der Anatomie gestohlen hatten oder so ähnlich. Aber die Jungen schwören, daß sie von nichts wissen, und ich glaube ihnen. Euer Lordschaft. Sie sind gute Jungs, My Lord, und würden mir nicht so übel mitspielen, My Lord. Was ich auch Chief Bertram gesagt habe.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Eine reine Routinefrage: Wo wart Ihr und Geselle Henry und die Lehrlinge denn am Sonntagabend?« Master Walter deutete mit dem Daumen an die Decke. »Ich und die Jungs waren oben, My Lord. Da wohne ich, und die Lehrlinge haben auch ihr Zimmer dort. Edelfrau Bailey kommt tagsüber und erledigt das Saubermachen und die Mahlzeiten. Meine Frau ist nun schon achtzehn Jahre tot, Gott segne sie.« Er bekreuzigte sich unauffällig. »Dann könnt Ihr also von oben in die Werkstatt?« Master Walter zeigte auf die Wand seines Büros. »Die Leiter dort führt nach oben in mein Schlafzimmer, Euer Lordschaft, Ihr könnt die Falltür sehen. Aber sie ist jetzt schon gute zehn Jahre nicht mehr benutzt worden. Meine Beine sind auch nicht mehr das, was sie früher einmal waren, und Leitern behagen mir nicht mehr sonderlich. Wir benutzen alle die Treppe auf der Außenseite des Gebäudes.« »Hätte jemand die Leiter benutzen können, ohne daß Ihr es gemerkt hättet, Master Walter?« Der Alte schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Euer Lordschaft, das hätte ich hören müssen, wenn ich oben gewesen wäre; und unten hätte ich das sehen müssen. Außerdem hätten sie mein Bett von der Falltür heben müssen; bin ein leichter -4 4 6
Schläfer, My Lord; 's ist ja auch kein Wunder, wenn man über neunzig ist, Euer Lordschaft.« »Und als Ihr gestern früh hineinkamt, da waren alle Bolzen und Riegel an ihrem Platz?« »Ja, Euer Lordschaft, das waren sie. Alle abgeschlossen.« »Geselle Henry hatte den zweiten Schlüssel, sagt Ihr. Wo war er denn?« »Zu Hause, Euer Lordschaft. Henry ist verheiratet, hat eine wunderhübsche Frau, eine geborene Tolliver, eine von Ben Tollivers Töchtern. Das ist Master Ben, der Bäcker. Henry und seine Frau wohnen außerhalb der Stadtmauern, Euer Lordschaft, und die Wachen hätten ihn kommen sehen müssen, was er aber auch nicht getan hat, wie er und seine Frau schwören, und ich glaube ihnen. Und Henry hätte genausowenig Grund dazu wie die Jungen.« »Habt Ihr Schutzzauber auf Euren Schlössern und Riegeln?« fragte Lord Darcy. »Ja, Euer Lordschaft, das haben wir. Kostet zwar fünf Souvereigns im Jahr, sie aufrechtzuerhalten, aber ich möchte sie nicht missen.« »Ein Hexer mit Lizenz, nehme ich an? Keiner von diesen Heckenhexern und Kräuterfrauen?« Der alte Mann sah ihn schockiert an. »Aber nein, Euer Lordschaft! Ich doch nicht! Halte mich stets ans Gesetz, Euer Lordschaft! Master Timothy hat seine Lizenz, o ja! Und außerdem taugt das andere Zeugs, von dem Ihr sprecht, nicht viel.« »Ist ja völlig in Ordnung, Master Walter«, sagte Lord Darcy beruhigend. »Ihr müßt verstehen, daß es meine Pflicht ist, solche Fragen zu stellen. Es war also alles abgeschlossen?« »Ja, Euer Lordschaft, das war es. Ja, wenn Seine Gnaden nicht in der Nacht gestorben wäre, dann hätte Lord Camberton -4 4 7
bis heute morgen hier liegen können. Es war ja schließlich Feiertag.« »Feiertag? Am achtzehnten Mai?« fragte Lord Darcy erstaunt. »Nur in Canterbury, Euer Lordschaft. Besonderer Dankestag. An diesem Tag wurde im Jahre 1589 - es kann auch '98 gewesen sein, das weiß ich nicht mehr so genau - eine Gruppe von Attentätern von einem Verräter ins Schloß geschmuggelt, fünf an der Zahl. Wollten den Herzog und seine Familie ermorden. Aber das Komplott wurde verraten, und man nahm die Attentäter fest. Aufgehängt hat man sie, gerade hier vorne im Hof. Seitdem ist dieser Tag ein Dankestag. Es werden besondere Messen in der Kapelle gelesen und in der Kathedrale auch; dann tritt die Leibwache des Herzogs in voller Montur an, und das Schloß wird symbolisch untersucht, schließlich werden fünf Strohpuppen im Hof gehenkt. Sehr farbenprächtig das alles, Euer Lordschaft!« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Lord Darcy. »Ist denn gestern alles planmäßig abgelaufen?« »Nein, Euer Lordschaft, ist es nicht. Der Captain der Leibwache meinte, daß es wo hl nicht sehr passend wäre, da doch die herzogliche Familie Trauer trug, und My Lord Erzbischof war auch der Meinung, es wäre nicht sehr taktvoll, die Rettung eines Herzogs zu feiern, der nun schon vierhundert Jahre tot ist, wenn der jetzige Herzog gerade gestorben ist und noch nicht einmal im Grab liegt. Statt dessen ist die Leibwache angetreten und hat fünf Schweigeminuten lang dem toten Herzog die Ehre erwiesen.« »Natürlich, das war wohl auch angebrachter«, stimmte Lord Darcy ihm zu. »Dann wärt Ihr also gewöhnlicherweise erst heute morgen in Eure Werkstatt gekommen, wenn der Herzog nicht gestorben wäre. Wann habt Ihr die Werkstatt denn zuletzt abgeschlossen, bevor Ihr sie gestern wieder aufgeschlossen habt?« -4 4 8
»Samstagabend, Euer Lordschaft. Das heißt, ich habe sie nicht abgeschlossen, das hat Henry getan. Ich war ein wenig müde und bin nach oben gegangen. Gewöhnlicherweise schließt Henry abends alles ab.« »War der Sarg dann noch leer?« »Auf jeden Fall, Euer Lordschaft. Dieser Sarg war mein ganzer Stolz. Ich wollte mir sicher sein, daß kein Sägemehl mehr auf der Seidenfütterung war.« »Ich verstehe. Und wann wurde die Werkstatt am Samstagabend abgeschlossen?« »Da fragt Ihr besser Geselle Henry, Euer Lordschaft. Henry!« Henry erschien prompt. Nachdem sie einander vorgestellt worden waren, stellte Lord Darcy die Frage erneut. »Um halb neun, My Lord. War noch hell draußen. Hab' die Lehrlinge nach draußen geschickt und alles abgeschlossen und verriegelt.« »Und am Sonntag ist niemand hier gewesen?« »Nein, Euer Lordschaft«, sagte Master Walter. »Keine Menschenseele, Euer Lordschaft«, sagte Henry Lavender. »Eine Seele vielleicht nicht«, meinte Lord Darcy trocken, »aber ein Körper.« Als der rundliche kleine Hexer in der Livree des Herzogs von der Normandie mit seinem symbolverzierten Reisesack aus dem Zug stieg, rief Lord Darcy ihm zu: »Master Sean! Hierher!« »Ah, da seid Ihr ja, My Lord! Schön, Euch wiederzusehen! Schönen Urlaub gehabt, wie ich hoffe? War ja nicht sehr viel, wenn man so sagen darf.« »Ach, um ehrlich zu sein, Master Sean, hatte ich gerade begonnen, mich ein wenig zu langweilen. Ich glaube, dieser Fall -4 4 9
ist genau das Richtige, um uns die Spinnweben aus dem Hirn zu fegen. Kommt, ich habe eine Droschke draußen.« In der Kutsche brachte Lord Darcy den Hexer auf den neuesten Stand der Ermittlungen. Mit Ausnahme der Tatsache, daß der König sich selbst eingeschaltet hatte, berichtete er ihm alles detailgetreu. »Ich habe die Schlösser in der Werkstatt selbst überprüft«, beendete er seinen Bericht. »Die Hintertür hat einen einfachen Riegel, den man von außen allenfalls magisch öffnen kann. Das gleiche gilt für die Fenster. Nur die Vordertür hat ein richtiges Schloß. Ich möchte, daß ihr die Zauber überprüft; ich habe das Gefühl, daß die Leute die Wahrheit sagen, daß sie wirklich alles abgeschlossen haben und daß keiner von ihnen etwas mit dem Mord zu tun hat.« »Wißt Ihr, wie der Hexer heißt, der die Zauber über das Schloß und die Verriegelungen verhängt hat, My Lord?« »Master Timothy Videau.« »Aye. Werde ihn im Verzeichnis nachschlagen.« Master Sean sah nachdenklich aus. »Ich nehme doch nicht an, daß der Tod des Herzogs etwas Verdächtiges an sich hat, oder?« »Ihr wißt doch, daß mir grundsätzlich jeder Tod verdächtig ist, der in einem Zusammenhang mit einem Mord steht, mein guter Sean. Aber zunächst wollen wir uns Lord Cambertons Leichnam anschauen. Er wird in der Leichenhalle des Hauptquartiers der Wachmänner aufgebahrt.« »Könnten wir vielleicht vorher bei einem Apothekarius vorbeifahren, My Lord? Ich möchte noch etwas besorgen.« »Aber gewiß doch!« Lord Darcy gab dem Kutscher einen Befehl, und das Gefährt hielt vor einer Apotheke. Master Sean ging hinein und erschien kurz darauf wieder mit einem Topf, der mit getrockneten Blättern gefüllt war. Sie hatten die Form von Pfeilspitzen. -4 5 0
»Druidenmagie, eh?« fragte Lord Darcy. Master Sean war verblüfft, dann grinste er. »Hätte mich ja eigentlich langsam an Euch gewöhnen müssen, My Lord. Woher wißt Ihr das?« »Eine blau gefärbte Leiche erinnert mich an die Sitte der alten Briten, sich blau zu färben, bevor sie in die Schlacht gingen. Wenn Ihr dann in eine Apotheke geht und Euch pfeilförmige Blätter der Färberwaidpflanze besorgt, dann gehe ich davon aus, daß Ihr in etwa an das gleiche gedacht habt wie ich. Ihr wollt die Blätter für eine Ähnlichkeitsanalyse verwenden.« »Stimmt, My Lord.« Wenige Minuten später hielt die Kutsche vor dem Hauptquartier der Wachmannschaft, und die beiden begaben sich in die Leichenhalle. Ein Wächter stand dabei, während sie die Leiche untersuchten. »Hat man ihn so gefunden, My Lord? Nackt?« fragte Master Sean. »Soweit ich weiß, ja«, antwortete Lord Darcy. Master Sean öffnete seinen symbolverzierten Reisesack und suchte das notwendige Zubehör zusammen. Plötzlich trat Bertram Lightly, Oberster Waffenmeister der Stadt Canterbury, ein. Er störte Master Sean nicht, denn man unterbricht einen Hexer nicht bei der Arbeit. Chief Bertram war ein rundgesichtiger Mann mit rosa Hautfarbe, dessen Gesichtsausdruck an einen jovialen Frosch erinnerte. »Man sagte mir, daß Ihr hier seid, Euer Lordschaft«, sagte er leise. »Kann ich Euch behilflich sein?« »Im Augenblick nicht, Chief Bertram, aber ich bezweifle nicht, daß ich Eure Hilfe noch brauchen werde, bevor diese Angelegenheit erledigt ist.«
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»Entschuldigt«, sagte Master Sean, ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken. »Aber habt Ihr die Leiche von einem Chirurgus untersuchen lassen, Chief Bertram?« »Ja, das haben wir, Meisterhexer. Wollt Ihr ihn sprechen?« »Nein, das ist im Augenblick nicht notwendig. Sagt mir nur bitte kurz, was er festgestellt hat.« »Well, Dr. Dell ist der Auffassung, daß Seine Lordschaft zwischen achtundvierzig und zweiundsiebzig Stunden tot ist; natürlich zuzüglich irgendwelcher Konservierungszauber, das kann man natürlich nicht sagen. Starb an einer Stichwunde im Rücken. Ein langes Messer oder ein kurzer Degenstich. Genau unterhalb des linken Schulterblatts, zwischen den Rippen hindurch ins Herz. Er muß binnen weniger Sekunden tot gewesen sein.« »Hat er auch etwas zum Bluten gesagt?« »Ja. Er sagte, daß die Wund e sehr stark geblutet haben muß. Äußerst stark.« »Aye, würde ich auch meinen. Schaut hier, My Lord.« Lord Darcy trat näher. »Es lag tatsächlich ein Konservierungszauber über der Leiche. Hat jetzt nachgelassen. Der Leichnam wurde gewaschen, nachdem das Blut geronnen war, und nach dem Waschen hat man ihn gefärbt. Die Wunde ist sauber und selbst gefärbt, wie Ihr sehen könnt. Jetzt wollen wir einmal feststellen, ob es sich tatsächlich um Färberwaid handelt.« »Färberwaid?« fragte Chief Bertram. »Aye, Färberwaid«, erwiderte Master Sean. »Das Gesetz der Ähnlichkeit erlaubt uns, das festzustellen. Seht Ihr, die Farbe auf der Leiche kann die gleiche Farbe sein wie die in diesen Blättern hier. Wenn das der Fall ist, bekommen wir eine Reaktion. Das ganze fällt genaugenommen unter das Gesetz der Metonymie -
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eine Wirkung ähnlich ihrer Ursache, ein Symbol dem Gegenstand, den es symbolisiert und so weiter.« Dann murmelte er etwas Unverständliches und rieb mit dem Daumen an einem Blatt. »Werden sehen«, sagte er leise, »werden sehen.« Er legte das Blatt auf den Unterleib der Leiche und hob es sofort wieder auf. Die eine Seite des Blatts hatte sich blau gefärbt, während die Haut des Leichnams an dieser Stelle plötzlich weiß geworden war - ein weißer Fleck in der Form des Pfeilblatts. »Färberwaid«, sagte Master Sean ruhig. »Mit Sicherheit Färberwaid.« Master Sean packte seine Geräte wieder ein. Eine halbe Stunde hatte genügt, um alle Untersuchungen durchzuführen. Er wischte sich den Staub von den Händen. »Können wir gehen, My Lord?« Lord Darcy nickte, und die beiden schritten auf die Tür der Leichenhalle zu, als sie dort einen kleinen Mittfünfziger mit grauen Haaren, einer Hakennase und einem mageren Gesicht stehen sahen. Zu seinen Füßen lag ein symbolverzierter Reisesack, wie ihn auch Master Sean besaß. »Guten Tag, Kollege«, sagte er mit hoher Stimme. »Ich bin Master Timothy Videau.« Er verneigte sich. »Guten Tag, Euer Lordschaft. Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, aber es interessiert mich, Euch zuzusehen. Justizhexerei hat mich schon immer fasziniert, obwohl es nicht mein Tätigkeitsfeld ist.« »Ich bin Sean O Lochlainn«, sagte der rundliche kleine Ire. »Das ist mein Chef, Lord Darcy.« »Ja, ja, das hat mir Chief Bertram bereits gesagt. Ist es nicht schrecklich? Daß Lord Camberton so ermordet wurde, meine ich?« Er ging neben den beiden her auf die Straße hinaus. -4 5 3
»Ich nehme an, daß Ihr eine Menge Ähnlichkeitsananlysen durchführt, Master Sean? Ist eine Technik, mit der ich überhaupt nicht vertraut bin. Schutzzauber, Vermeidungszauber, Reparaturen, das sind meine Aufgaben. Nicht so aufregend wie Eure Arbeit, aber es gefällt mir. Erfüllt einen, das zu tun. Aber es interessiert mich doch, was meine Kollegen so machen.« »Dann seid Ihr also hergekommen, um Master Sean bei der Arbeit zu beobachten, Master Timothy?« fragte Lord Darcy tonlos. »Aber nein, Euer Lordschaft. Chief Bertram hat mich kommen lassen.« Er blickte Master Sean an und lachte kurz auf. »Das wird Euch gefallen, Master Sean. Er wollte wissen, was es kosten würde, einen Preservator für die Kantine der Wachmannschaft zu kaufen.« Master Sean lachte auch. »Ich nehme an, als Ihr es ihm gesagt habt, hat er sich dazu entschlossen, beim guten alten Gefrierraum zu bleiben! Dann seid Ihr also der örtliche Verkaufsleiter?« »Ja. Aber es ist nicht sonderlich rentabel, fürchte ich. Bisher habe ich nur einen verkauft und werde wohl so bald keinen weiteren verkaufen können. Viel zu teuer. Ich bekomme eine kleine Provision, aber das eigentliche Geld steckt in der Wartung. Man muß den Zauber alle sechs Monate erneuern.« Master Sean lächelte gewinnend. »Klingt interessant. Der Zauber muß ja eine interessante Struktur haben.« Master Timothy erwiderte das Lächeln. »Ja, hochinteressant. Ich würde ja gerne mal mit Euch darüber fachsimpeln, aber leider hat Master Simon das ganze, mit einem Geheimhaltesiegel versehen.« »Das hatte ich befürchtet«, sagte Master Sean seufzend.
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»Wäre es sehr aufdringlich, wenn ich mal fragte, worüber Ihr Euch da gerade unterhaltet?« fragte Lord Darcy. »Oh, entschuldigt, My Lo rd«, beeilte sich Master Sean zu antworten. »Einfaches Fachsimpeln. Master Simon in London hat ein neues Prinzip entwickelt, mit dem man Nahrungsmittel haltbarer machen kann. Anstatt jedes einzelne Stück separat mit einem Frischhaltezauber zu versehen, wie das die Winzer und Weinhändler zum Beispiel tun, hat er einen großen Behälter konstruiert und mit einem solchen Zauber versehen. Wenn man nun Nahrungsmittel dort hineintut, dann bleiben sie frisch, ohne daß man sie einzeln behandeln muß. Das heißt technisch, daß es keinen Gegenstand verzaubert, sondern einen Raum. Aber das ganze ist noch ziemlich teuer.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. Master Sean hörte den Unterton heraus und sagte: »Well, Master Timothy, keine Zeit zum Fachsimpeln, fürchte ich... wollte Euer Lordschaft, daß ich mir die Schlösser und 'Verriegelungen mal anschaue? Wäre doch ganz gut, falls Master Timothy vielleicht eine Stunde entbehren könnte?« »Schlösser?« fragte Master Timothy. Master Sean erklärte es ihm. »Ach so, ja natürlich, Master Sean! Es wird mir eine Freude sein, Euch zu helfen.« »Ausgezeichnet«, meinte Lord Darcy. »Sobald Ihr fertig seid, kommt Ihr bitte in den Palast des Lord Erzbischofs. Und danke für Eure Unterstützung, Master Timothy.« »Es ist mir ein Vergnügen, Euer Lordschaft.« Seine Gnade der Erzbischof stellte Lord Darcy einen großen, hageren Mann mit bleichem Gesicht und hellbraunem Haar vor. Er hatte eine hohe Stirn und lächelte Lord Darcy mit graublauen Augen an. -4 5 5
»Lord Darcy«, sagte der Erzbischof, »darf ich Euch Sir Thomas Lesaux vorstellen?« »Es ist mir eine Freude, Euer Lordschaft kennenzulernen«, sagte Sir Thomas. »Ganz meinerseits«, erwiderte Lord Darcy. »Ich habe Euer populäres Werk › Symbolismus, Mathematik und Magie‹ mit großem Interesse gelesen. Ich fürchte, Eure Spezialstudien sind allerdings ein wenig zu hoch für mich.« »Zu gütig, My Lord.« »Dann werde ich Euch allein lassen, Gentlemen«, sagte der Erzbischof. »Ich habe noch zu tun.« »Gewiß, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. Als der Erzbischof gegangen war, bot Lord Darcy Sir Thomas einen Stuhl an. »Ich hoffe doch, daß niemand von diesem Treffen weiß?« »Wenn es nach mir geht, nicht«, sagte Sir Thomas. Er lächelte und meinte trocken: »Abgesehen davon, daß man mir die Kehle durchschneiden würde, wäre es um meine Nützlichkeit als Königlicher Agent schlecht bestellt, wenn jemand erführe, daß ich mich mit einem Inspektor des Königs treffe. Ich bin durch den Tunnel gekommen, der von der Krypta in den Palastkeller führt.« »Man hätte Euch in der Kirche sehen können.« »Das wäre nicht weiter schlimm. Seitdem die Gesellschaft verboten ist, sollen wir sogar dafür Sorge tragen, nicht aufzufallen. Es wäre wenig sinnvoll, die Kirche zu meiden, selbst wenn wir nicht ans Christentum glauben. Im übrigen besteht da wohl kaum ein Unterschied, ob man nun so tut, als sei man Heide und in schäbigen kleinen Veranstaltungen eines Haufens von Fanatikern die christliche Religion verhöhnt, oder ob man so tut, als sei man Christ, um seine wahren Aktivitäten
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zu verbergen. Der einzige Unterschied besteht darin, auf welcher Seite des Gesetzes man steht.« »Ich hätte gedacht«, meinte Lord Darcy, »daß der Unterschied darin bestünde, ob man für oder gegen König und Vaterland ist.« »Nein, nein!« Sir Thomas schüttelte vehement den Kopf. »Da irrt Ihr Euc h, My Lord. Die Heilige Gesellschaft vom Alten Albion ist genauso ehrlich für König und Vaterland wie Ihr oder ich.« Lord Darcy zog seine Porzellanpfeife hervor und begann, sie zu stopfen. »Erklärt Euch, Sir Thomas. Ich bin begierig. Einzelheiten über die Gesellschaft zu hören, sowohl theoretische als auch praktische.« »Dann also zuerst zur Theorie, My Lord. Die Mitglieder der Gesellschaft glauben, daß diese Inseln eine Große Bestimmung haben, nämlich der Welt und der Menschheit Frieden und Zufriedenheit zu bescheren. Um das zu tun, müssen wir zu den Praktiken der Ureinwohner dieser Insel zurückkehren, den keltischen Völkern, die hier vor der Invasion Cäsars im Jahre 55 vor Christus lebten.« »Waren denn die Kelten tatsächlich die Ureinwohner dieser Inseln?« fragte Lord Darcy. »My Lord, habt Geduld mit mir«, sagte Sir Thomas langsam. »Ich versuche, Euch wiederzugeben, was die Gesellschaft glaubt. Wenn man menschliches Handeln beurteilen will, dann muß man berücksichtigen, was diese Menschen glauben, nicht unbedingt das, was wahr sein mag.« Lord Darcy zündete seine Pfeife an und nickte. »Verzeiht mir. Fahrt fort.« »Danke, My Lord. Diese Gebräuche gründen auf einer pantheistischen Theologie. Gott ist nicht nur eine Dreiheit, sondern eine Unendlichkeit. Sie sagen, daß die christliche Sehweise zwar richtig, aber auch zu beschränkt ist. Gott ist eins -4 5 7
- richtig. Aber er ist mehr als Drei- in-Eins, er ist Unendlich- inEins. Sie meinen, daß der christliche Glaube an die Dreiernatur Gottes genauso richtig und falsch ist wie der Satz: ›Es gibt drei Sandkörner am Strand von Englands« Er spreizte die Hände. »Die Welt ist voll von Geistern Bäumen, Felsen, Tiere, Gegenstände aller Art - alle voll des... na ja, sagen wir einmal des Geistes. Jeder Geist hat seine eigene Intelligenz, oft eine solche, wie wir sie nicht verstehen können, aber nichtsdestoweniger eine echte Intelligenz. Jeder Geist ist ein Individuum, und läßt sich irgendwo in dem Spektrum zwischen ›gut‹ und ›böse‹ einordnen. Manche sind mächtiger als andere; manche, wie zum Beispiel die Dryaden, sind an einen bestimmten Stoff gebunden so wie der Mensch an seinen Körper. Andere wiederum sind ›freie Geister‹, das, was wir normalerweise Gespenster, Dämonen und Engel nennen würden. Manche, oder eigentlich die meisten, lassen sich durch wiederum andere Geister beherrschen. Man kann sie beschwören, bestechen und bedrohen. Nun kannten die alten Briten das Geheimnis des Umgangs mit diesen Geistern. Das gleiche gilt für die Bruderschaft der Druiden, dem inneren Kreis der Gesellschaft. Jedenfalls sagen sie das den Mitgliedern niedrigeren Ranges. Die meisten von ihnen haben Das Blut, wie sie es nennen, das heißt, sie stammen aus Schottland, Irland, Wales, Britannien, den Orkney-Inseln, von der Isle of Man und so weiter. Reine Kelten - jedenfalls geben sie das vor. Aber manchmal lassen sie auch solche angelsächsischen, normannischen oder fränkischen Ursprungs hinein; andere haben keine Chance. Ihr dürft nicht denken, daß sie gegen das Vaterland wären, My Lord. Das stimmt keineswegs. Schließlich sei es uns bestimmt, eines Tages die ganze Welt zu beherrschen. Der König der britischen Inseln wird eines Tages Herrscher über ein Reich sein, das den ganzen Erdball umfassen soll. Und der König selbst? Er ist der Schutz, der Zauberschild, der Gegenzauber, der verhindert, daß die Horden ›böser‹ Geister die -4 5 8
Macht an sich reißen und alle ins Unglück stürzen. Der König besänftigt die Stürme, verhindert Erdbeben, hält Seuchen ab und beschützt seine Untertanen vor jeglicher Unbill. Für König und Vaterland, My Lord, ja, aber in einem etwas anderen Sinn, als wir so etwas meinen würden.« »Interessant«, sagte Lord Darcy nachdenklich. »Wie erklären sie es sich denn, daß Britannien dann doch ab und an von Stürmen und Frosteinbrüchen heimgesucht wird?« »Nun, das ist Seine Majestät schuld«, erwiderte Sir Thomas. »Wenn sich der Souverän nicht rechtens verhält, mit anderen Worten: wenn er nicht den alten Glauben annimmt und die druidischen Regeln befolgt, dann kann das Böse die Verteidigungslinien durchbreche n.« »Ich verstehe. Und eine dieser Regeln lautet, daß Seine Majestät damit einverstanden sein muß, daß man ihm das Leben nimmt, wann immer die Gesellschaft das für richtig halten mag?« »Das ist nicht ganz fair ausgedrückt, My Lord.«, antwortete Sir Thomas. »Nicht ›wann immer sie das für richtig halten mag‹, sondern nur in Zeiten der Gefahr. Oder jedes siebte Jahr, was immer zuerst eintreten mag.« »Wie steht es mit anderen Opfern?« Sir Thomas runzelte die Stirn. »Soweit ich weiß, hat es bisher keine Menschenopfer gegeben. Aber bei jedem Treffen wird ein Tier geopfert. Was für eins, das hängt von der Jahreszeit und vom Anlaß des Treffens ab.« »Alles durch und durch illegal«, sagte Lord Darcy. »Ganz richtig. Meine Berichte befinden sich alle in den Akten Seiner Gnade des Erzbischofs. Sobald wir alles Beweismaterial zusammenhaben, können wir den ganzen Laden endlich ausheben. Ihre verderblichen Lehren sind schon weit genug gediehen.« -4 5 9
»Ihr sprecht mit Heftigkeit, Sir Thomas.« »Ja, das tue ich, My Lord. Der Aberglaube ist die Ursache für sehr viel Verwirrung bei den Menschen niederen Standes. Sie sehen, was Hexer alles vermögen, und kommen auf alle möglichen absurden Gedanken, weil sie Aberglauben mit Wissenschaft verwechseln. Hexerei beruht auf Wissenschaft, My Lord, aber der Aberglaube führt dazu, daß wir alle möglichen Heckenmagier, Schwarzmagier und Kräuterhexen haben. Ein Mensch wird krank und geht zu einer Hexe anstatt zu einem richtigen Heiler. Die Hexe legt ihm schimmliges Brot auf die Wunde, murmelt ein paar sinnlose Worte und bewirkt in der Regel fast gar nichts, wenn sich der Zustand des Patienten nicht sogar verschlimmert. Nein, diesen Aberglauben müssen wir endlich mit Stumpf und Stiel ausrotten!« »Ich zweifle nicht daran, daß es notwendig ist, die ganze Gesellschaft auszuheben, Sir Thomas«, sagte Lord Darcy, »aber ich kann kaum so lange warten, bis Ihr die Netze einholt. Ich muß den Mörder von Lord Camberton finden.« »Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgegrübelt.« »Worüber?« »Über den Färberwaid. Es war doch wohl Färberwaid?« »Ja.« »Dann deutet es auf die Gesellschaft hin. Im Inneren Kreis gibt ein einige, die das Talent haben; zwar nur kläglich ausgebildet und mißbraucht, aber dennoch ist es vorhanden. Es gibt nichts Kläglicheres in der Welt, als mitansehen zu müssen, wie das Talent mißbraucht wird. Kriminell ist das!« Lord Darcy verstand diese Erregung. Sir Thomas war ein reiner Theoretiker, er selbst hatte das Talent nicht. Er entwarf die Theorien, andere machten die Laborarbeit für ihn. Er schlug Experimente vor, andere führten sie durch. Und doch wünschte sich Sir Thomas sehnlichst, daß er das Talent haben möge. Mitanzusehen, wie andere etwas mißbrauchen, was er selbst -4 6 0
nicht besaß, aber gern gehabt hätte, mußte sehr schmerzvoll für ihn sein. »Leider kann ich Euch nicht den geringsten Hinweis geben«, fuhr Sir Thomas fort. »Ich weiß von keiner Verschwörung, Lord Camberton umzubringen. Ich wüßte auch keinen Grund, weshalb die Gesellschaft ihn töten sollte. Was natürlich nicht heißt, daß es keinen solchen Grund geben muß.« »Er hat also keine Ermittlungen über die Gesellschaft angestellt?« »Nicht, daß ich wüßte. Natürlich besteht die Möglichkeit, daß er vielleicht die Aktivitäten eines bestimmten Mitglieds der Gesellschaft untersucht haben mag.« Lord Darcy betrachtete nachdenklich seine dampfende Pfeife. »Und dieser hypothetische Jemand hat dann die Gesellschaft dazu benutzt, die Gefahr von sich abzuwenden?« »Möglich wäre das schon«, meinte Sir Thomas. »Wenn dem so gewesen sein sollte, dann muß es jemand sein, der einen hohen Grad im Inneren Kreis innehält. Und selbst dann glaube ich kaum, daß sie wegen einer Privatsache einen Mord inszenieren würden.« »Es muß ja nicht unbedingt eine Privatsache gewesen sein«, sagte Lord Darcy. »Nehmen wir einmal an, daß Lord Camberton in dieser Stadt einen polnischen Agenten ausfindig gemacht hat und daß dieser Agent ein Mitglied der Gesellschaft ist.« »Möglich wäre das schon«, wiederholte Sir Thomas. »Dann würden er und andere polnische Agenten Lord Camberton beseitigen. Aber das bringt uns auch nicht weiter. Ich habe nach monatelanger Arbeit noch immer keine Beweise dafür, daß irgendein Mitglied des Inneren Kreises polnischer Agent ist. Und außerdem konnte ich von den sieben Mitgliedern drei bisher überhaupt noch nicht identifizieren.« »Sie bleiben im Verborgenen?« -4 6 1
»Auf gewisse Weise, ja. Bei den Versammlungen tragen die Mitglieder weiße Roben mit Halbkapuzen, ähnlich der Mönchskleidung. Die Mitglieder des Inneren Kreises tragen volle Kapuzen, die das ganze Gesicht bedecken und nur Augenschlitze haben. Niemand weiß, wer sie sind. Ich habe vier von ihnen definitiv identifiziert, und bei einem fünften bin ich mir ziemlich sicher.« »Warum sagt Ihr dann, daß Ihr mindestens drei noch nicht identifiziert habt?« Sir Thomas lächelte. »Sie sind sehr raffiniert, My Lord. Es erscheinen immer sieben, aber es gibt noch mehr. Wahrscheinlich sogar ein ganzes Dutzend. Sie wechseln sich so ab, daß man sich nie sicher ist, wer nun gerade anwesend ist.« »Also erscheinen niemals alle Mitglieder auf einmal«, sagte Lord Darcy. »Genau, My Lord.« »Wo finden die Versammlungen statt?« »In den Wäldern, My Lord. Es gibt hier in der Gegend mehrere völlig sichere Haine. Es werden Wachen aufgestellt, die Alarm schlagen, falls sich Wachmänner nähern sollten. Und sonst würde kein Mensch, der bei Sinnen ist, etwas verraten, denn sie haben alle entsetzliche Angst vor der Gesellschaft.« »Warum sind es immer sieben?« Sir Thomas lachte. »Wiederum Aberglauben, My Lord. Es soll eine magische Zahl sein. Dabei könnte ihnen jeder Zauberlehrling sagen, daß lediglich die Zahl fünf universale symbolische Bedeutung hat.« »Das habe ich auch gehört«, meinte Lord Darcy. »Die unbelebte Natur vermeidet die Fünfheit.« »Ganz genau, My Lord. Es gibt keine fünfseitigen Kristalle. Selbst der Duodecaeder, ein Körper mit zwölf fünfseitigen Flächen kommt nicht in der Natur vor. Ich will Euch nicht mit -4 6 2
Formeln langweilen, aber wenn meine jüngsten Erkenntnisse richtig sind, dann können die Grundbausteine des stofflichen Universums nicht in Fünfer-Aggregaten auftreten. Solch ein Universum müßte binnen Sekunden zusammenbrechen.« »Ich verstehe, Aber belebte Materie...?« »Lebewesen weisen die Fünfheit auf. Der Seestern, manche Blumen, Finger und Zehen des Menschen. Fünf ist eine mächtige Zahl, wenn man damit arbeiten will, My Lord, was man auch am Gebrauch des Pentagramms oder des Pentakels in der Thaumaturgie sieht. Die Sechs ist auch nützlich; das Wort ›hex‹ stammt von ›Hexagramm‹, wie im Siegel Salomons, des Davidsterns. Aber das liegt daran, daß die Sechs in der Natur oft auftritt, sowohl bei unbelebter Materie als auch bei Lebewesen. Schneeflocken, zum Beispiel, oder Honigwaben. Sie ist nicht so mächtig wie die Fünf, aber sie hat ihren praktischen Wert. Die Sieben dagegen ist fast wertlos. Daß sie in der Johannesapokalypse vorkommt, hat einen symbolischen Grund, den man...« Er unterbrach sich selbst mit einem Lächeln. »Verzeiht, My Lord, wenn ich ins Dozieren gerate. Ist so eine Angewohnheit.« »Aber nicht doch, es interessiert mich sehr wohl«, sagte Lord Darcy. »Aber die Frage, die mich bewegt, ist folgende: Ist Lord Camberton das Opfer eines Ritualmordes geworden?« »Ich... weiß nicht... so recht«, sagte Sir Thomas langsam und nachdenklich.« Es ist natürlich möglich. Aber das würde bedeuten, daß Lord Camberton selbst ein Mitglied des Inneren Kreises war.« »Warum?« »Er hätte freiwillig sterben müssen, sonst wäre das Opfer sinnlos gewesen. Zugegeben, es hat Versuche gegeben, von polnischen Agenten gesteuert, beim König eine Ausnahme zu machen. Aber das hat sich nicht gut durchsetzen können. Die meisten dieser Leute sind irregeleitete Fanatiker, My Lord, aber -4 6 3
sie sind ernsthaft. Man kann einen solchen Glaubenssatz nicht einfach aus der Welt schaffen oder ändern, wie König Casimir sich das einzubilden scheint. Er scheint zu meinen, daß man mit Leichtigkeit etwas durch und durch Nicht-Druidisches in einen Druiden-Orden einführen kann. Seine Slavische Majestät ist bestimmt kein Narr, aber in manchen Dingen scheint er Scheuklappen zu tragen.« »Es wäre also möglich«, fragte Lord Darcy, »daß Lord Camberton tatsächlich Mitglied des Inneren Kreises gewesen ist?« »Ich glaube es nicht, My Lord, aber es wäre möglich, ja. Vielleicht würden Euch meine schriftlichen Berichte von Nutzen sein, sie liegen beim Erzbischof.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Sir Thomas«, sagte Lord Darcy und erhob sich. »Ich brauche eine Liste aller bekannten und eine Liste mutmaßlicher Mitglieder.« »Bitte hier entlang, Euer Lordschaft. Ihre Gnaden und Sir Andrew lassen bitten«, sagte der Lakai. Lord Darcy folgte ihm durch die lange Halle. Er hatte den Herzog, seine Gemahlin und seinen Sohn schon bei Gesellschaften kennengelernt, nicht jedoch die Tochter, Lady Anne und den Bruder der Herzogin, Sir Andrew CampbellMacDonald. De Kent war ein gütlicher aber asketischer, etwas humorloser Mann gewesen, der zwar eine strikte Moral vertrat, aber weder unbeugsam noch gnadenlos gewesen war. Er war im ganzen Reich geachtet, besonders während der Zeit seiner Regentschaft. Margaret, Herzogin von Kent, war etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann. Sie war die einzige Tochter des verstorbenen Sir Austin Campbell-MacDonald. Mit ihrem Witz, ihrer Intelligenz und Schlagfertigkeit war sie zwanzig Jahre lang die Seele und der Feuerfunken des eher ruhigen herzo glichen Haushalts gewesen. Sie liebte fröhliche Feste, gute Weine und -4 6 4
gutes Essen. Sie tanzte und ging reiten und war eines der wenigen Mitglieder der Wardens, des berühmten Londoner Spielklubs. Dennoch hatte es niemals auch nur den geringsten Skandal um sie gegeben, denn sie hatte alles vermieden, was dem guten Ruf ihrer Familie hätte schaden können. Sie hatten zwei Kinder: Lord Quentin, neunzehn Jahre alt, war der Erbe; die sechzehn Jahre alte Lady Anne ging noch zur Schule, sollte aber, wie Lord Darcy ge hört hatte, schon eine sehr schöne junge Lady sein. Beide hatten die Lebhaftigkeit ihrer Mutter geerbt, waren aber wohlerzogen. Der Bruder der Herzogin, Sir Andrew, hatte den Ruf, ein lebenslustiger, charmanter und witziger Mann zu sein, der fast fünfundzwanzig Jahre in Neuengland verbracht hatte. Jetzt, im Alter von fast sechzig Jahren, lebte er schon seit fünf Jahren wieder in England. Die Herzoginwitwe saß in einem Brokatstuhl. Sie war eine hübsche Frau mit einer Figur, die durch das Alter gereift, aber nicht plump geworden war; ihr volles kastanienfarbenes Haar zeigte keine Spur von Grau. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, daß sie in letzter Zeit viel zu leiden gehabt hatte, aber ihre Augen waren klar und offen.. Ihr Sohn, Lord Quentin, stand neben ihr, groß und schlank gewachsen. Als Thronerbe stand ihm bereits das Recht zu, sich mit ›Euer Gnaden‹ und ›My Lord Herzog‹ titulieren zu lassen, doch durfte er die Regierungsgeschäfte erst übernehmen, nachdem der König das bestätigt hatte. Lord Darcy verneigte sich, »Euer Gnaden, Sir Andrew, es schmerzt mich, daß wir uns unter solchen Umständen wiedersehen müssen. Wie Ihr wißt, gehörte ich schon lange zu den Verehrern des seligen Herzogs.« »Ihr seid sehr gütig, My Lord«, sagte die Herzoginwitwe. »Es schmerzt mich ferner, daß ich in offiziellem Auftrag hierherkommen muß, nicht nur um zu kondolieren.« Lord Quentin räusperte sich. »Es sind keine Entschuldigungen vonnöten, My Lord. Wir wissen von Eurem Auftrag.« -4 6 5
»Danke, Euer Gnaden. Dann möchte ich zunächst fragen, wann einer von Euch Lord Camberton zuletzt lebend gesehen hat.« »Vor ungefähr drei Wochen«, sagte Lord Quentin. »In der zweiten Aprilhälfte. Er ist auf Urlaub nach Schottland gereist.« Die Herzoginwitwe nickte. »Es war an einem Samstag. Das muß am fünfundzwanzigsten gewesen sein.« »Das ist richtig«, stimmte der junge Herzog ihr zu. »Am fünfundzwanzigsten April. Keiner von uns hat ihn danach noch einmal gesehen. Jedenfalls nicht lebend. Ich habe dem Obersten Waffenmeister gegenüber den Leichnam identifiziert.« »Ich verstehe. Wißt Ihr vielleicht einen Grund, warum man Lord Camberton ermordet hat?« Lord Quentin zuckte leicht zusammen. Bevor er antworten konnte, meinte die Herzoginwitwe: »Selbstverständlich nicht, My Lord. Lord Camberton war ein edler, wunderbarer Mensch.« Lord Quentin sagte: »Natürlich war er das. Ich wüßte keinen Grund, weshalb ihm irgend jemand nach dem Leben hätte trachten wollen.« »Wenn ich dazu etwas sagen darf, My Lord«, warf Sir Andrew ein, »Lord Camberton hat, wie ich glaube, manchen Übeltäter der königlichen Justiz zugeführt. Ich habe gehört, daß er mehr als einmal bei solcher Gelegenheit bedroht wurde, von Leuten, die seinetwegen ins Gefängnis wandern mußten. Ist es nicht denkbar, daß einer von ihnen seine Drohungen wahrgemacht hat?« »Durchaus denkbar«, stimmte ihm Lord Darcy zu. »Das mag sehr wohl die Erklärung sein. Aber ich muß natürlich alle Möglichkeiten untersuchen.« »Ihr wollt doch wohl nicht andeuten, My Lord«, sagte die Herzoginwitwe eisig, »daß ein Mitglied des Hauses Kent in dieses schändliche Verbrechen verwickelt sein könnte?« -4 6 6
»Euer Gnaden, es ist nicht meine Aufgabe, irgend etwas anzudeuten«, erwiderte Lord Darcy. »Meine Pflicht ist es, Tatsachen aufzudecken. Wenn man alle Tatsachen ans Licht gebracht hat, dann ist es nicht nötig, mit Andeutungen oder Vermutungen zu operieren. Die Wahrheit zeigt von alleine immer in die richtige Richtung.« »Natürlich«, sagte die Herzogin leise. »Ihr müßt mir verzeihen, My Lord, ich bin ein wenig überanstrengt.« »Verzeiht mir, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy sanft. »Es war nicht meine Absicht, Euch unnötig zu belasten in dieser Zeit. Ich glaube, ich habe keine weiteren Fragen. Gehen wir also davon aus, daß der offizielle Teil beendet ist. Kann ich Euch persönlich helfen?« Sie schloß wieder die Augen. »Im Augenblick nicht, My Lord, aber Euer Angebot ist sehr gütig. Quentin?« »Im Augenblick nicht«, wiederholte Lord Quentin. »Sollten wir Eure Hilfe benötigen, My Lord, so werden wir es Euch gern mitteilen.« »Dann werde ich mich mit Eurer Erlaubnis entfernen. Bitte nochmals um Verzeihung.« Als Lord Darcy durch den Gang auf die Halle zuschritt, trat ihm plötzlich ein junges Mädchen aus einem Türeingang entgegen. Er erkannte sie sofort, die Ähnlichkeit mit Ihrer Mutter war nicht zu übersehen. »Lord Darcy?« fragte sie mit klarer Stimme. »Ich bin Lady Anne.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Lord Darcy lächelte und verneigte sich. Heutzutage galt es zwar als ein bißchen altmodisch, einer Dame die Hand zu küssen, aber Lady Anne fühlte sich mit sechzehn offenbar schon erwachsen und wollte es deutlich machen. Aber als er die Hand nahm, erkannte er, daß dies nicht der Grund gewesen war. Er drückte den Handrücken an den Mund und nahm geschickt und -4 6 7
unauffällig das Papier entgegen, das sie verborgen gehalten hatte. »Es tut mir leid, daß ich Euch nicht willkommen heißen konnte, My Lord, aber ich war unpäßlich. Ein furchtbarer Kopfschmerz.« »Aber gewiß doch, My Lady. Ich hoffe, daß es Euch bald besser geht.« »Danke, My Lord. Bis dann...« Und sie schritt an ihm vorbei. Lord Darcy ging weiter, ohne sich umzudrehen, aber er wußte, daß einer der drei, die er soeben verlassen hatte, die Tür geöffnet und das Zusammentreffen beobachtet hatte. Erst nachdem er die Tore des herzoglichen Palastes hinter sich gelassen hatte, blickte er auf den Zettel. My Lord, ich muß Euch sprechen. Um sechs in der Kathedrale, am Schrein des heiligen Thomas. Bitte! Unterschrieben war mit ›Anne von Kent‹. Um fünf Uhr dreißig saß Lord Darcy in seinen Räumen im erzbischöflichen Palast und hörte sich Master Seans Bericht an. »Master Timothy und ich haben die Schlösser und Verriegelungen überprüft, My Lord. Gute Zauber, muß ich sagen, saubere Arbeit. Natürlich hätte ich jeden davon sprengen können, aber dazu muß man schon etwas von der Materie verstehen. Nic hts, was ein gewöhnlicher Dieb oder ein Amateurhexer fertigbrächte. Sind auch alle nicht gebrochen worden. Das heißt natürlich nicht, daß man nicht dran herumgefummelt hat. Es wäre ja auch möglich, daß ein Hexer sie geöffnet und wieder verschlossen hat, ohne eine Spur zu hinterlassen, aber das müßte schon ein echter Könner gewesen sein.« »Aha.« Lord Darcy blickte nachdenklich drein. »Habt Ihr im Gildenregister nachgesehen, Sean?«
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Master Sean lächelte. »Als allererstes, My Lord. Dem Register zufolge gibt es in ganz Canterbury nur einen Mann, der das könnte - außer mir selbst natürlich.« »Diese Ausnahme gilt natürlich stets!« sagte Lord Darcy lächelnd. »Einer nur? Das ist dann wohl...« »Genau My Lord. Master Timothy selbst.« Lord Darcy nickte befriedigt und klopfte seine Pfeife vorsichtig aus. »Sehr gut. Wir sehen uns später wieder, Master Sean. Ich muß noch ein paar Nachforschungen erledigen. Ich brauche weitere Tatsachen.« »Wo wollt Ihr die denn suchen gehen, My Lord?« »In der Kirche, Master Sean, in der Kirche.« Master Sean blickte ihm verblüfft nach. Was hatte er denn damit gemeint? »Vielleicht«, murmelte Master Sean halb scherzhaft, »wird er den Allmächtigen bitten, ihm zu sagen, wer es war.« Die Kathedrale war fast leer. Zwei Frauen beteten am Schrein des heiligen Thomas Beckett, und an den anderen Schreinen waren ein paar andere Gläubige. Trotz der hellen Abendsonne war die Kirche fast dunkel. Der heilige Thomas war immer noch sehr beliebt. Als er sich dem Schrein näherte, sah Lord Darcy, daß Lady Anne eine der Betenden war. Er blieb in einigen Yard Entfernung stehen und wartete. Als das Mädchen sein Gebet beendet hatte, stand es auf, drehte sich um und sah Lord Darcy. Sie kam sofort auf ihn zu. »Danke, daß Ihr gekommen seid, My Lord«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, daß ich mich mit Euch auf diese Weise treffen muß, aber die Familie meinte, es sei besser, wenn ich nicht mit Euch rede, weil sie glauben, ich sei ein dummes Mädchen, das einen Helden verehrt. Aber das stimmt gar nicht, obwohl ich wirklich glaube, daß Ihr wunderbar seid!« Sie blickte ihn mit -4 6 9
offenen grauen Augen an. »Seht Ihr, My Lord, ich weiß alles über Euch. Lady Yvonne ist eine Schulkameradin von mir. Sie sagt, daß Ihr der beste Inspektor im ganzen Reich seid!« »Ich versuche es«, sagte Lord Darcy. Er hatte nur wenige Worte mit Yvonne, der Tochter des Marquis von Rouen, gewechselt, aber das hatte scheinbar genügt, eine Schulmädchenverehrung auszulösen, die, wie er gerade merkte, offenbar ansteckend zu sein schien. »Ich glaube, je eher Ihr den Mord an Lord Camberton aufklärt, um so besser, nicht wahr?« sagte Lady Anne. »Ich habe zum heiligen Thomas gebetet, damit er Euch helfen möge. Er müßte ja etwas von Morden verstehen, nicht wahr? Schließlich ist er selbst ermordet worden.« »Ja, das glaube ich auch, My Lady«, gab Lord Darcy zu. »Meint Ihr denn, daß ich des Eingreifens von St. Thomas bedürfen werde, um diesen Fall aufzuklären?« Lady Anne schien zunächst verblüfft zu sein, dann sah sie die Ironie in seinen Augen. Sie lächelte. »Ich glaube nicht, My Lord, aber man sollte sich nie zu sicher sein. Außerdem wird Euch der heilige Thomas nur helfen, wenn Ihr es wirklich nötig habt.« »Ich erröte, My Lady«, sagte Lord Darcy und tat nichts dergleichen. »Ich darf Euch versichern, daß zwischen dem heiligen Thomas und mir keinerlei berufliche Eifersucht herrscht. Da ich im Auftrag der Gerechtigkeit stehe, kommt mir der Himmel oft zu Hilfe, ob ich darum bitte oder nicht.« Plötzlich blickte sie ihn ernst an. »Greift der Himmel denn nie in Eure Arbeit ein? Ich meine, im Auftrag der Göttlichen Barmherzigkeit?« »Manchmal vielleicht«, gab Lord Darcy nüchtern zu. »Aber das wurde ich nicht unbedingt Eingreifen nennen. Ich würde es eher mit ›Erleuchtung durch Mitgefühl‹ bezeichnen, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lady.« -4 7 0
Sie nickte. »Ich glaube schon. Es freut mich, daß Ihr das sagt, My Lord.« Plötzlich blinzelte in Lord Darcy der Gedanke auf, daß sie einen Verdacht haben könnte; daß sie jemanden verdächtigte, von dem sie hoffte, daß man ihn nicht bestrafen würde. Aber mußte das wirklich stimmen? Konnte es nicht nur ihr eigenes Mitgefühl sein, das ihr einen Streich spielte? Abwarten, dachte Lord Darcy vorsichtig, immer abwarten! »Der Grund, weshalb ich mit Euch reden möchte, My Lord«, sagte Lady Anne leise, »ist der, daß ich glaube, eine Spur gefunden zu haben.« »Ach ja, My Lady? Erzählt mir davon.« »Na ja, eigentlich sogar zwei Spuren«, sagte sie mit einem verschwörerischen Flüstern. »Das erste ist etwas, was ich gesehen habe. Ich habe Lord Camberton in der Nacht des elften gesehen, letzten Montag, als er aus Schottland zurückgekehrt war.« »Oho, das ist ja äußerst interessant!« flüsterte Lord Darcy. »Wo und wann denn, My Lady?« »Im Schloß, zu Hause. Es war schon sehr spät, fast Mitternacht, denn kurz danach schlugen die Glocken. Ich konnte nicht schlafen. Vater war so krank, und ich...« Sie hielt mit Gewalt die Tränen zurück. »Ich sorgte mich und konnte nicht schlafen. Ich sah aus dem Fenster, mein Zimmer ist im ersten Stock, und sah, wie er durch den Seiteneingang kam. Neben dem Eingang brennt die ganze Nacht über eine Gaslaterne, und ich konnte sein Gesicht gut erkennen.« »Wißt Ihr, was er danach gemacht hat?« »Nein, My Lord. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich blieb in meinen Räumen und ging schließlich schlafen.« »Habt Ihr Lord Camberton danach noch einmal lebend gesehen?« -4 7 1
»Nein, My Lord. Tot übrigens auch nicht, wenn wir schon dabei sind. Ist er wirklich blau gefärbt worden?« »Ja, My Lady, das war er.« Er machte eine kurze Pause und fragte dann: »Was war denn die andere Spur, My Lady?« »Nun ja, ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, das will ich Euch überlassen. Als Lord Camberton letzten Montag nach Hause kam, da trug er einen grünen Umhang gefaltet über den Arm. Es fiel mir auf, weil er einen blauen Umhang anhatte, und ich fragte mich, was er wohl mit zwei Umhängen machte.« Lord Darcys Augenschlitze verengten sich fast unmerklich. »Und...?« »Und gestern... nun ja, ich fühlte mich nicht wohl, versteht Ihr, My Lord? Mein Vater und ich standen einander sehr nah, und...« Wieder mußte sie mit ihren Tränen kämpfen. »Jedenfalls ging ich einfach durch die Hallen. Ich wollte eine Weile allein sein. Ich war im Westflügel. Er wird eigentlich nur für Gäste benutzt, und im Augenblick ist niemand dort. Da roch ich Rauch - ein seltsamer Geruch, nicht wie Holz oder Kohle. Irgend jemand hatte ein Feuer im Kamin angemacht, was ich seltsam fand, denn es war doch eigentlich recht mild und sonnig gestern. Aus der Asche stieg noch der Rauch auf, als ob man sie geschürt hätte. Der Rauch roch nach verbranntem Tuch, was ich noch merkwürdiger fand. Also habe ich ein wenig darin herumgestochert und das hier gefunden.« Sie zog es aus ihre Handtasche und hielt es Lord Darcy hin. »Ich glaube, My Lord, daß einer der Dienstboten im Schloß etwas über den Mord an Lord Camberton weiß!« Zwischen den Fingern hielt sie ein grünes Stück Stoff, das an den Seiten angekohlt war. Mit einer großen Schachtel unterm Arm und einem breiten Lächeln auf seinem irischen Gesicht trat Master Sean O'Lochlainn in Lord Darcys Zimmer. »Hab's aufgetrieben, My -4 7 2
Lord!« sagte er triumphierend. »Einer der Tuchmacher hatte einen ganzen Ballen. Ist sogar fast dieselbe Farbe.« »Funktioniert das denn?« fragte Lord Darcy. »Aye, My Lord. Wird ein bißchen dauern, aber das schaffen wir schon. Übrigens habe ich im Hospital mit dem Heiler gesprochen, der die Autopsie an Seiner Gnade dem verstorbenen Herzog vorgenommen hat. Der ehrwürdige Vater und der Chirurgus sind sich beide einig: Seine Gnade ist eines natürlichen Todes gestorben. Keine Spur von Gift.« »Ausgezeichnet! Das paßt viel besser in meine Hypothesen.« Er deutete auf die Schachtel, die Master Sean auf dem Tisch abgestellt hatte. »Schauen wir uns das Gefussel einmal an.« Master Sean öffnete die Schachtel, »Das ist es, My Lord. Nichts als Fussel aus feinzerrupftem Flachsleinen, genau der gleiche Stoff wie das Stück Tuch.« Er blickte sich um und fand, was er suchte. »Aha! Ihr habt das»Rotationsfaß besorgt!« »Ja. My Lord Erzbischof war so freundlich, es von einem seiner Böttcher anfertigen zu lassen.« Es war ein kleines Faß von wenigen Gallonen Fassungsvermögen mit einer Kurbel an einem Ende. Es war in einem Rahmen eingespannt, so daß man mittels der Kurbel das ganze Faß drehen konnte. An der anderen Seite befand sich ein fester Deckel. Master Sean entnahm seinem symbolverzierten Reisesack einige Utensilien. »Nun, My Lord, das wird ein Weilchen dauern. Nicht gerade die einfachste Sache von der Welt. Master Timothy ist stolz darauf, daß er ein zerrissenes Stück Stoff so zusammenfügen kann, daß man keine Naht mehr sieht, aber das ist das reinste Kinderspiel gegen das, was wir hier machen wollen. Er brauchte nur das Gesetz der Relevanz anzuwenden, denn schließlich haben die beiden Teile eines zerrissenen Tuchs eine solche Relevanz zueinander, daß es fast von alleine geht. Aber diese -4 7 3
Fussel hier haben keinerlei Relevanz zu dem Stück Stoff, versteht Ihr? Da müssen wir also das Gesetz der Synechdokie anwenden, das da besagt, daß das Teil dem Ganzen entspricht und umgekehrt. Dann mal los. Ist alles trocken?« Für Lord Darcy war es immer wieder ein Vergnügen, Master Sean bei der Arbeit zu beobachten und sich seine minuziösen Beschreibungen jedes einzelnen Schritts anzuhören. Vieles hatte er zwar schon oft erlebt, aber es gab doch immer wieder etwas Neues zu lernen. Nicht, daß er es praktisch verwenden konnte, denn er besaß weder das Talent noch die Veranlagung zur Hexerei. Aber bei seiner Arbeit konnte er jede Information gebrauchen. »Nun habt Ihr sicherlich schon einmal gesehen, wie ein Stück Ambra oder Bernstein kleine Fussel oder Papierfetzen annimmt, wenn man es vorher mit einem Stück Wolle gerieben hat«, fuhr Master Sean fort. »Das hier ist so etwas Ähnliches, aber man muß die Kraft strukturieren und konzentrieren. Darin liegt die Schwierigkeit. So My Lord, jetzt brauche ich eine Weile absolute Stille!« Master Sean brauchte über eine Stunde, bis er mit seinen Vorbereitungen fertig war. Er stäubte verschiedene Pulver über Stoff und Flocken, murmelte Beschwörungen und zeichnete Symbole in die Luft. Lord Darcy saß die ganze Zeit still dabei. Es ist gefährlich, einen Hexer bei seiner Arbeit zu stören. Schließlich leerte Master Sean die Schachtel mit den Flocken in das Faß und legte das Stück Stoff ebenfalls hinein. Dann verkrampfte er den Deckel und murmelte weitere Beschwörungen. Endlich sagte er: »Jetzt kommt der ermüdende Teil, My Lord. Das sind schon ziemlich feine Fusseln, aber trotzdem wird das Faß gute eineinhalb Stunden gedreht werden müssen. Es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit, My Lord. Die zerrissenen Enden des Stoffs werden versuchen, eine Faser anzuziehen, die derjenigen am meisten gleicht, die sich dort zuvor befunden hat. -4 7 4
Dann geht die Suche nach der nächsten los und so weiter. Nun ist es eine Regel, daß die Dinge einander um so ähnlicher werden, je mehr man sie zerteilt. Wenn man eine reine Substanz, sagen wir ein Salz, in seine allerkleinsten Partikel zerlegen würde, dann wären diese alle miteinander identisch. Es geht also darum, daß wir, wenn ich beispielsweise kleine Fäden statt Flusen genommen hätte, ganze Tonnen von dem Zeug gebraucht hätten. Das würde dann auch noch tagelang dauern. Na ja, ich will Euch nicht mit Einzelheiten langweilen. Jedenfalls wird das hier eine Weile dauern, also...« Lord Darcy lächelte und hob die Hand. »Geduld, mein lieber Sean. Ich bin Euch schon zuvorgekommen.« Er zog an der Klingelstrippe. Es klopfte und als Lord Darcy »Herein« sagte, trat ein schüchterner Novize ein. »Bruder Daniel, wenn ich nicht irre?« fragte Seine Lordschaft. »J-jawohl, My Lord.« »Bruder Daniel, dies ist Master Sean. Master Sean, der Novizenmeister hat mir mitgeteilt, daß Bruder Daniel sich ein paar kleine Verstöße gegen die Ordensregeln hat zuschulden kommen lassen. Seine Strafe soll aus ein paar Stunden monotoner Arbeit bestehen. Ich lasse Bruder Daniel also in Eurer Obhut und werde in etwa zwei Stunden wiederkommen. Reicht das?« »Völlig, My Lord.« Lord Darcy kehrte in Begleitung von Sir Thomas Lesaux wieder. Sie entließen Bruder Daniel, und Lord Darcy fragte: »Alles bereit, Master Sean?« »Alles klar. Schauen wir es uns einmal an, My Lord.« Gespannt sahen Lord Darcy und Sir Thomas zu, wie Master Sean sich Handschuhe anzog und das Faß öffnete. »Darf nicht feucht werden«, erklärte er. »Und nicht mit Metall in Berührung -4 7 5
kommen, sonst fällt alles auseinander. So jetzt... kommmmm... ja... langsam...« Was er aus dem Faß herauszog, das war nicht länger ein wilder Haufen von Flusen, sondern es hatte Form und Struktur bekommen. Es war eine lange Robe aus grünem Leinen, mit einer Gesicht skapuze, die als Öffnung nur zwei Augenschlitze trug. Vorsichtig legte der Hexer die wiederhergestellte Robe auf den Tisch. Lord Darcy und Sir Thomas betrachteten sie, ohne sie jedoch anzufassen. »Kein Zweifel«, meinte Sir Thomas. »Das ursprüngliche Stück entstammt also einer Robe des Inneren Kreises der Gesellschaft von Albion.« Dann blickte er den Hexer an. »Ein sauberes Stück Arbeit, Master Sean. Ich glaube, ich habe noch nie eine bessere Rekonstruktion gesehen. Meistens fallen sie auseinander, wenn man sie hochhebt. Wie stark ist es?« »Ungefähr so stark wie feinstes Zellstoffpapier, Sir. Zum Glück hatten wir in letzter Zeit recht trockenes Wetter. Bei feuchtem Wetter...« Er lächelte. »Na ja, dann ist es eben wie feuchtes Zellstoffpapier.« »Schön formuliert, Master Sean«, sagte Sir Thomas lächelnd. »Dance, Sir Thomas.« Master Sean holte ein Maßband hervor und begann damit, das Gewand abzumessen und die Maße zu notieren. Als er damit fertig war, fragte er: »Brauchen wir es noch, My Lord?« »Ich glaube nicht. Es ist kein Beweisstück und würde sowieso zerfallen, bevor wir es in den Gerichtssaal gebracht hätten.« »Ganz genau, My Lord.« Vorsichtig hob er die Kapuze des Gewands in die Schachtel und hielt das Stoff stück fest. Dann berührte er den Rest mit seinem silbernen Stab. Mit verblüffender Schnelligkeit zerfiel das ganze Gewand auf der Stelle, so daß nur noch ein Haufen winziger Flocken übrigblieb. Master Sean hielt das Stoffstück hoch und sagte: »Das werde ich zu den Akten legen, My Lord.« -4 7 6
Drei Tage später merkte Lord Darcy, wie er ungeduldig wurde. Er schrieb weiter an dem ersten Berichtsentwurf für den König und überflog, was er bisher geschrieben hatte. Es gefiel ihm nicht. Es war nichts Neues aufgetaucht, kein Spur, kein Hinweis, gar nichts. Noch immer wartete er auf den Bericht von Sir Angus MacReady aus Edinburgh in der Hoffnung, daß dieser die Sache etwas beleuchten würde. Am Donnerstag hatte man in aller Feierlichkeit den verstorbenen Herzog begraben. Der halbe Adel des Reichs war zugegen gewesen, auc h seine Majestät. Lord Darcy hatte im Chorstuhl gesessen und die Gesichter der Anwesenden betrachtet, aber sie hatten ihm fast nichts gesagt. Sir Thomas Lesaux besaß Informationen, die besagten, daß entweder Lord Camberton selbst oder Sir Andrew CampbellMacDonald oder sogar beide sehr wahrscheinlich Mitglieder der Gesellschaft von Albion gewesen waren. Aber das besagte nicht viel. Möglicherweise waren sie sogar Agenten des Herzogs. »Wir stehen nach wie vor vor der Frage«, sagte er zu Master Sean, »wer Lord Camberton umgebracht hat und warum, genau wie schon am Montag. Wir besitzen eine Reihe von Fakten, aber es sind überwiegend noch unerklärte Fakten. Warum hat man Lord Camberton in den Sarg des Herzogs gelegt? Wann wurde er getötet? Wo hat man seine Leiche in der Zwischenzeit aufbewahrt? Warum trug er eine grüne Robe mit sich herum? War es die gleiche, die am Montag verbrannt wurde? Wenn das der Fall war, warum hat, wer immer es auch war, bis Montag gewartet, um sie zu verbrennen? Die Robe hätte sowohl Lord Camberton als auch Sir Andrew passen können. Auf jeden Fall keinem Mitglied des Hauses Kent; Lord Quentin ist der größte, und selbst für ihn war sie sechs Zoll zu lang, so daß er die ganze Zeit über den Saum hätte stolpern müssen. Ich bin sehr mißtrauisch, Master Sean. Die Richtung, in die das Beweismaterial zu deuten scheint, gefällt mir überhaupt nicht.« -4 7 7
»Das verstehe ich nicht ganz«, meinte Master Sean. »Paßt einmal auf! Ihr seid doch in der Stadt gewesen und habt die Gerüchte gehört und die Leitartikel im Canterbury Herald gelesen. Alle glauben, daß Lord Camberton von der Gesellschaft von Albion umgebracht wurde. Und was ist das Resultat? Überall wird der Ruf laut, etwas gegen diese Gesellschaft zu unternehmen. Die Mitglieder der Gesellschaft sind alle zu Tode geängstigt. Die meisten von ihnen sind eigentlich ziemlich harmlose Leute; es ist für sie ein schönes Gefühl, einem verbotenen Bund anzugehören, so wie kleine Jungen gern Äpfel klauen. Aber jetzt steht die ganze Christenheit gegen sie auf und will sie vernichtet wissen. Nicht nur hier, sondern in ganz England und auch in Schottland, Irland und Wales. Lord Camberton ist keinem Ritualopfermord erlegen, weder freiwillig noch unfreiwillig. Man hätte ihn anderswo verscharrt, wahrscheinlich im Wald. Er is t irgendwo innerhalb der Mauern von Canterbury umgebracht worden, und es war kein Opfertod, senden ein Mord. Wozu also der Färberwaid?« »Vielleicht als Konservierungszauber, My Lord«, sagte Master Sean. »Die alten Briten verstanden genug von Symbologie, um zu wissen, daß die Pfeilblätter des Färberwaids schützen können. Sie haben die Pflanze in der Schlacht benutzt. Was sie natürlich nicht wußten, das war, daß Schutzzauber so nicht funktionieren, sondern...« »Hättet Ihr etwa Färberwaid benutzt, um einen Leichnam länger haltbar zu machen?« unterbrach Lord Darcy ihn. »Nein, natürlich nicht. Es gibt viel bessere Methoden...« »Warum hat man dann Färberwaid verwendet?« »Ach so, jetzt verstehe ich, worauf Ihr hinauswollt, My Lord!« Plötzlich lächelte Master Sean übers ganze Gesicht. »Natürlich. Der Leichnam sollte gefunden werden. Und den Färberwaid hat man benutzt, um entweder die Schuld auf die Gesellschaft von Albion zu schieben, oder man hat sogar den -4 7 8
ganzen Mord nur inszeniert, um der Gesellschaft zu schaden, eh?« »Für beides gibt es gute Argumente, Master Sean, aber wir haben immer noch zu wenig Fakten! Wir brauchen Fakten, mein guter Sean, Fakten!« Aber noch immer war nichts geschehen. Lord Darcy tauchte die Feder in die Tinte und schrieb das auf. Die Tür ging auf und Master Sean trat mit einem Novizen ein, der ein Tablett mit dem leichten Mittagsmahl trug, um das Lord Darcy gebeten hatte. Lord Darcy schob die Papiere beiseite und zeigte dem Novizen, wo er das Tablett abstellen sollte. Master Sean reichte ihm einen Umschlag, »Per Sonderkurier, My Lord. Von Sir Angus MacReady in Edinburgh.« Gespannt griff Lord Darcy nach dem Umschlag. Was dann geschah, war niemandes Schuld. Drei Männer standen um den Tisch herum, jeder hatte zu tun. Der junge Novize wollte sein Tablett abstellen, während Master Sean Lord Darcy den Umschlag reichte. Er mußte sein Tablett beiseite bewegen und stieß dadurch das Tintenfaß um, das seine Flüssigkeit über Lord Darcys frischen Bericht ergoß. Einen Augenblick lang herrschte erstauntes Schweigen, das schließlich von den konfusen Entschuldigungsfloskeln des Novizen unterbrochen wurde. Lord Darcy atmete tief durch und sagte dem Jungen ruhig, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche, es sei ja nichts geschehen, schließlich sei es nicht seine Schuld gewesen und er, Lord Darcy, sei auch kein bißchen böse. Er dankte ihm für seine Dienste und schickte ihn fort. Als der Novize gegangen war, blickte Lord Darcy betrübt auf seinen beklecksten Bericht und dann auf den Umschlag, den ihm Master Sean gegeben hatte. »Mein guter Sean«, sagte er ruhig, »ich bin, wie Ihr wißt, kein nervöser oder reizbarer Mensch. Aber wenn dieser Umschlag hier keine Informationen enthalten sollte, die nützlich sind und uns weiterbringen, dann werde ich -4 7 9
mich, fürchte ich, auf den Teppich werfen, einen Wutanfall bekommen und Löcher hineinnagen!« »Ich könnte Euch gut verstehen, My Lord«, sagte Master Sean, der genau wußte, daß Seine Lordschaft niemals so etwas tun würde. »Setzt Euch dort in den Klappstuhl, My Lord, und laßt mich das Malheur hier beseitigen.« Lord Darcy setzte sich ans Fenster und begann, ein Sandwich zu essen und eine Tasse Kaffee zu trinken, während er den Bericht aus Edinburgh las. Obwohl Lord Camberton seine Aktivitäten in Schottland nicht eben an die große Glocke gehängt hatte, hatte er seine Ermittlungen auch nicht gerade im Geheimen durchgeführt. Er hatte bestimmte Leute aufgesucht, bestimmte Orte besucht, bestimmte Fragen gestellt und bestimmte Akten eingesehen. Sir Angus war seiner Spur gefolgt und hatte erfahren, was Lord Camberton erfahren hatte, ohne jedoch damit viel anfangen zu können. Unter anderem hatte Seine Lordschaft die öffentlichen Archive besucht und das kirchliche Eheschließungsregister eingesehen. Er hatte Nachforschungen über Margaret Campbell- MacDonald angestellt, die gegenwärtige Herzoginwitwe von Kent. Im Alter von neunzehn Jahren hatte sie im Jahre 1941 einen gewissen Chester Lowell geheiratet, einen Mann übelster Herkunft. Sein Vater war wegen Unterschlagungen im Gefängnis gewesen und schließlich unter mysteriösen Umständen ertrunken. Chesters jüngerer Bruder Ian war zweimal wegen illegaler Hexerei festgenommen worden, doch hatte man ihm jedesmal nichts nachweisen können; schließlich war er wegen Betrug in Verbindung mit illegaler Hexerei zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und im Jahre 1959 entlassen worden. Chester Lowell selbst war ein Spieler übelster Sorte, der beim Spiel betrog. Nach nur dreiwöchiger Ehe hatte Margeret Chester Lowell wieder verlassen und war nach Hause zurückgekehrt. Lowell schien das nicht sonderlich viel ausgemacht zu haben, jedenfalls hatte er keinen Versuch unternommen, sie wiederzubekommen. -4 8 0
Sechs Monate später war er nach Spanien geflüchtet; die Behörden in Schottland nahmen an, daß er mit dem Verschwinden von sechstausend Sovereigns aus einer Bank in Glasgow zu tun gehabt hatte, aber das Beweismaterial gegen ihn reichte nicht aus, um ihn durch den König von Aragonien ausliefern zu lassen. Im Jahre 1942 berichteten die Behörden von Aragonien, daß der ›Ingles‹ Chester Lowell bei einem Handgemenge beim Kartenspiel erschossen worden war. Die schottischen Behörden schickten einen Untersuchungsbeamten nach Saragossa, der den Leichnam identifizierte, und schlössen die Akte. Aha! dachte Lord Darcy. Margaret De Kent ist also doppelte Witwe! Aus ihrer Ehe mit Lowell waren keine Kinder hervorgegangen. Im Jahre 1944 war Margaret nach achtmonatiger Werbezeit Herzogin von Kent geworden. Sir Angus wußte nicht, ob der Herzog von ihrer früheren Ehe wußte oder nicht. Lord Camberton hatte auch das Leben von Sir Andrew Campbell-MacDonald erforscht. Bei ihm gab es keinerlei dunkle Flecken in der Vergangenheit. 1939 war er nach Neuengland gegangen und hatte in der Reichslegion dort gedient. Er war dreimal in Schlachten gegen die roten Ureinwohner ehrenhaft erwähnt worden und hatte die Armee im Rang eines Hauptmanns mit ausgezeichneten Zeugnissen verlassen. Im Jahre 1957 war das Dorf, in dem er lebte, von den roten Barbaren zerstört worden, und man hatte eine Zeitlang geglaubt, daß er getötet worden sei. 1959 kehrte er nach England zurück; er war fast mittellos, was auf die Zerstörung seines Besitzes zurückzuführen war, und der Herzog von Kent hatte ihm eine kleine Stellung und eine Rente bewilligt; die letzten fünf Jahre hatte er ausschließlich bei seiner Schwester und seinem Schwager gelebt. Lord Darcy legte nachdenklich den Bericht beiseite. Er sah nicht mehr so aus, als wollte er Löcher in Teppiche nagen. »Das einzige, was hier fehlt, ist der Magier«, sagte er vor sich hin. »Wo ist hier der Magier? Oder besser: Wer ist es? Der einzige -4 8 1
Hexer in Sichtweite hier ist Master Timothy Videau, und er scheint keine Verbindung zu Lord Camberton oder dem herzoglichen Palast zu haben. Sir Thomas vermutet, daß Sir Andrew ein Mitglied der Gesellschaft von Albion ist, aber das heißt noch nicht, daß er etwas von Hexerei versteht.« Außerdem würde Sir Andrew, wenn er tatsächlich ein Mitglied der Gesellschaft sein sollte, wohl kaum auf solche Weise die Aufmerksamkeit auf den Geheimbund lenken. »Hier ist Euer Bericht, My Lord«, sagte Master Sean. Wie aus einem Koma erwachend, erblickte Lord Darcy plötzlich den kleinen irischen Hexer. Halbbewußt hatte er wahrgenommen, daß dieser am Schreibtisch herumhantiert hatte, aber er hatte nicht weiter darauf geachtet. Ab gesehen davon, daß das Papier ein wenig feucht war, war nichts mehr von der Tinte zu sehen. Lord Darcys Handschrift war völlig unversehrt. Lord Darcy wußte, daß dies eine einfache Frage der Intentionsdifferenzierung war. Die Schrift war mit Absicht aufs Papier gesetzt worden, die Tinte war nur durch einen Unfall darauf gekommen, deshalb konnte man sie mit einem Beseitigungszauber voneinander leicht trennen. »Danke, mein guter Sean. Wie immer habt Ihr schnelle und saubere Arbeit geleistet.« »Wenn Ihr eine vo n diesen neuen unlöschbaren Tinten benutzt hättet, hätte es länger gedauert, My Lord«, meinte Master Sean bescheiden. »Ach ja?« sagte Lord Darcy zerstreut, als er die Papiere in seiner Hand betrachtete. »Aye, My Lord. Da wird ein Zauber über eine Tinte verhängt, der sie unlöschbar macht. Ist natürlich ganz praktisch für Dokumente, Bankschecks und so weiter, aber es ist eine teuflische Arbeit, sie wieder zu beseitigen, wenn man sie einmal verschüttet hat. Master Timothy hat mir erzählt, daß er vor ein paar Wochen gute zwei Stunden arbeiten mußte, bis er den -4 8 2
Fleck aus dem Teppich im Arbeitszimmer des Herzogs beseitigt hatte.« »Gewiß«, sagte Lord Darcy immer noch geistesabwesend. Dann schien er zur Eissäule zu erstarren. Schließlich drehte er sich Master Sean zu und fragte: »Hat Master Timothy erwähnt, wann das genau war?« »Nein, My Lord... hat er nicht.« Lord Darcy legte den Bericht beiseite und stand auf. »Kommt, Master Sean, wir müssen Master Timothy Videau ein paar wichtige Fragen stellen - sehr wichtige Fragen.« »Über Tinte, My Lord?« fragte Master Sean verwirrt. »Über Tinte, ja. Und über etwas, das so teuer ist, daß er bisher in ganz Canterbury nur ein Stück davon verkauft hat.« »So«, sagte Lord Darcy eine dreiviertel Stunde später, als er mit Master Sean durch das große Tor der Außenmauer von Canterbury schritt. »Jetzt wissen wir, daß die Arbeit am Nachmittag des elften Mai durchgeführt wurde. Jetzt brauchen wir nur noch ein oder zwei winzige Beweisstücke, und ich kann die Lücken in meiner Hypothese endlich schließen.« Sie steuerten schnurstracks auf die Werkstatt von Master Walter Gotobed zu. Geselle Henry Lavender teilte ihnen mit, daß Master Walter nicht anwesend sei. Er war mit dem jungen Tom Wilderspin mit der Karre unterwegs, um einen Tisch in der Stadt abzuliefern. »Das macht nichts, Edelmann Henry«, sagte Lord Darcy. »Vielleicht könnt Ihr uns auch helfen. Besitzt Ihr Zebraholz?« »Zebraholz, My Lord? Ja, ich glaube wir haben ein wenig. Wird nicht viel nach gefragt, My Lord, 's ist sehr teuer.« »Vielleicht hättet Ihr die Güte festzustellen, wieviel Ihr davon auf Lager habt? Es ist mir sehr wichtig.«
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»'türlich, Euer Lordschaft, selbstverständlich.« Der Geselle verschwand im hinteren Teil der Werkstatt. Sobald er fort war, sprang Lord Darcy zur Hintertür. Sie besaß lediglich einen einfachen Fallbolzen als Verschluß und konnte von außen nicht geöffnet werden. Lord Darcys Augen suchten umher, bis sie das passende Holzstück gefunden hatten. Er hob es auf und stemmte den Fallbolzen hoch, dann verkeilte er das Holzstück, so daß der Bolzen über den beiden Klammern hing, in denen er ruhte, wenn die Tür verschlossen war. Er entnahm seiner Tasche einen langen Bindfaden und machte damit eine Schlaufe um den Bolzen. Dann öffnete er die Tür, ging hinaus und zog beide Enden des Fadens unter der Tür durch. Schließlich schloß er die Tür. Im Raum sah Master Sean aufmerksam zu. Plötzlich spannte sich der Faden und riß das Holzstück aus seiner Verkeilung. Mit einem dumpfen Ton fiel der Bolzen in seine Klammern: die Tür war verriegelt. Sofort hob Master Sean den Bolzen wieder hoch und ließ Lord Darcy eintreten. Keiner der beiden Männer sagte etwas, aber jeder lächelte befriedigt. Wenige Minuten später kehrte Geselle Henry zurück. Offenbar hatte er das Geräusch des fallenden Bo lzen nicht gehört. »Haben nicht viel Zebraholz mehr, My Lord«, sagte er betrübt. »Nur Kleinzeug. Zwei Drei-Fuß-Stücke mal sechs mal drei Achtel. Wir müßten was in London oder Liverpool bestellen, My Lord.« Er legte das Holz auf eine Arbeitsbank. »Oh, das genügt völlig«, meinte Lord Darcy. »Ich dachte an einen Tabakbehälter. Eher funktional, einfach, aber elegant. Keine Schnitzereien; ich möchte, daß die Schönheit des Holzes herauskommt.« Henry Lavenders Augen begannen zu leuchten. »Aber ja, My Lord, ganz ge nau! Und an was für eine Form dachten Euer Lordschaft?« -4 8 4
»Das überlasse ich Euch und Master Walter. Das Gefäß sollte ungefähr zwei Pfund fassen.« Kurz darauf hatten sie sich über den Preis und den Liefertermin geeinigt. Dann: »Ach, übrigens, Edelmann Henry... Ich glaube, daß Euch Euer Gedächtnis einen Streich gespielt hat, als ich Euch letzten Dienstag befragt habe.« »My Lord?« Geselle Henry sah erschreckt, verwirrt und auch ein klein wenig verängstigt aus. »Ihr habt mir gesagt, daß Ihr am Samstagabend um halb neun alles hier abgeschlossen und verriegelt habt. Ihr vergaßt mir zu sagen, daß jemand bei Euch war. Ich behaupte, daß Euch ein Herr aufsuchte, und zwar kurz bevor Ihr die Werkstatt abgeschlossen habt; daß er Euch um etwas bat, was Ihr ihm geholt habt; daß er mit Euch zusammen durch die Haupttür hinausgegangen ist und dabeistand, wie Ihr die Tür abgeschlossen habt. Stimmt das, mein guter Henry?« »So wahr wie das Evangelium, My Lord«, sagte Henry mit ehrfürchtigem Staunen. »Wie habt Ihr das nur erfahren?« »Weil das die einzige Möglichkeit ist, wie es hat geschehen können.« »Genauso war's auch, My Lord. Es war Lord Quentin, My Lord. Das heißt, der neue Herzog; da war er noch Lord Quentin. Er bat mich um ein Stück Teakholz für einen Briefbeschwerer. Er wußte, daß wir ein poliertes Stück da hatten, also wollte er es kaufen, und ich verkaufte es ihm. Aber ich habe mir nichts Böses dabei gedacht, Euer Lordschaft.« »Ihr habt nichts Unrechtes getan, mein guter Henry - außer zu vergessen, mir das zu erzählen. Es hat keinerlei Bedeutung, aber Ihr hättet es mir doch erzählen müssen.« »Bitte ergebenst um Verzeihung, My Lord. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht.« »Natürlich nicht. Aber das nächste Mal, wenn Euch ein Königlicher Inspektor befragt, denkt daran. Dann könnte es nämlich vielleicht wichtig sein.« -4 8 5
»Ich werde daran denken, My Lord.« »Schön. Guten Tag, Edelmann Henry. Ich freue mich schon auf die Tabakdose.« Als sie draußen waren, fragte Master Sean: »Was hättet Ihr denn gemacht, wenn er kein Zebraholz gehabt hätte?« »Dann hätte ich nach Teak gefragt«, erwiderte Lord Darcy trocken. »Jetzt müssen wir dringend per Teleklang mit Schottland sprechen. Ich glaube, daß ich in vierundzwanzig Stunden meinen Schlußbericht schreiben kann.« Im Raum befanden sich sechs Le ute: Margaret, die Herzoginwitwe von Kent, Quentin, der Thronfolger, Sir Andrew Campbell-MacDonald, Lady Anne, Lord Darcy und Master Sean. »Wiederum muß ich um Verzeihung bitten, daß ich Euer Gnaden während Eurer Trauerzeit inkommodieren muß«, sagte Lord Darcy, »aber es geht darum, im Auftrag der Königlichen Justiz eine kleine Frage zu klären. Eine kleine Sache, in der es um einen vorsätzlichen Mord geht. Am elften Mai kehrte Lord Camberton heimlich aus Schottland zurück, nachdem er dort einige höchst interessante Informationen erhalten hatte, die man, wenn man es recht besah, durchaus zu Erpressungszwecken verwenden konnte. Lord Camberton wurde deswegen ermordet. Man verbarg seinen Leichnam bis Samstagnacht oder bis zum frühen Sonntagmorgen und legte ihn danach in den Sarg Seiner verstorbenen Gnade, des Herzogs. Die Informationen waren mehr als skandalös; wenn sie in die falschen Hände gerieten, konnten sie die ganze herzogliche Familie ruinieren. Sollte jemand den Beweis erbringen, daß der erste Ehemann der Herzogin noch lebte, dann hätte sie nicht länger einen Anspruch auf den Titel, sondern wäre immer noch Margaret Lowell aus Edinburgh - und ihre Kinder wären außerehelich und deshalb nicht in der Lage, irgendwelche Ansprüche auf die herzoglichen -4 8 6
Güter, Besitztümer und Befugnisse im Herzogtum Kent anzumelden. Aber bevor ich weiterspreche, möchte ich Euch einen Kollegen von mir vorstellen. Ruft ihn herein, Master Sean.« Der rundliche kleine Hexer öffnete die Tür, und ein langer Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und sandfarbenem Haar trat ein. »Ladies und Gentlemen«, sagte Lord Darcy. »Ich möchte Euch Zivilwachtmeister Alexander Glencannon vorstellen.« Der Wachtmeister verneigte sich. »Euer Gnaden. Lady Anne. Es ist mir eine Ehre!« Dann blickte er Sir Andrew an. »Einen guten Morgen entbiete ich Euch, Lowell.« Der Mann, der sich Sir Andrew nannte, lächelte nur. »Guten Morgen, Glencannon. Ich sitze also in der Falle.« »Wenn Ihr es so auszudrücken wünscht, Lowell.« »Ach, ich glaube nicht.« Mit einer plötzlichen Bewegung sprang der ehemalige ›Sir Andrew‹ hinter Lady Annes Stuhl. Er hatte die eine Hand noch im Jackett verborgen, preßte sie aber gegen das Mädchen. »Ich würde es mir zweimal überlegen, ehe ich mich auf ein Schießduell mit zwei Inspektoren Seiner Majestät einlassen würde, aber wenn einer von Euch eine falsche Bewegung macht, wird dieses Mädchen sterben. Ihr könnt mich ohnehin nur einmal hängen.« Er sprach mit der Geistesgegenwart eines Mannes, der gewohnt zu sein schien, es mit verzweifelten Situatione n aufzunehmen. »Lady Anne«, sagte Lord Darcy ruhig, »tut genau das, was er sagt, ganz genau! Und das gilt auch für die anderen.« Er war zwar irritiert, weil er die Reaktion Lowells nicht vorhergesehen hatte, aber er mußte nachdenken, und zwar schnell. Dabei wußte er noch nicht einmal genau, ob Lowell tatsächlich eine Pistole in -4 8 7
der Tasche hatte oder nicht. Aber zunächst blieb ihm nichts anderes übrig, als davon auszugehen. »Danke, My Lord«, sagte Lowell mit schiefem Lächeln. »Was dann?« fragte Lord Darcy. »Lady Anne und ich werden uns jetzt entfernen. Wir werden durch die Tür gehen, über den Hof und durch das Tor. Keiner verläßt den Raum, bevor vierundzwanzig Stunden abgelaufen sind. Bis dahin dürfte ich in Sicherheit sein. Wenn das der Fall ist, darf Lady Anne zurückkehren, unversehrt. Sollte aber irgendein Gezeter zu vernehmen sein... aber das wird ja wohl nicht geschehen, nicht wahr?« Sein schiefes Lächeln verbreiterte sich. »Und jetzt macht die Tür frei. Komm, Anne, du gehst jetzt mit deinem lieben Onkel auf eine nette kleine Reise!« Lady Anne stand auf und verließ mit Lowell, der die anderen nicht aus den Augen ließ, den Raum. Er schloß die Tür. »Ich möchte nicht hören, daß sich diese Tür öffnet, bevor ich fort bin«, rief er von außen. Dann hörte man, wie sich seine Schritte entfernten. Das Zimmer besaß noch eine zweite Tür. Lord Darcy sprang darauf zu. »Nein! Laßt ihn gehen!« »Er wird Anne töten, Idiot!« Lord Quentin und die Herzogin hatten zur gleichen Zeit gesprochen. Lord Darcy ignorierte sie. »Master Sean! Master Alexander! Sorgt dafür, daß diese Leute sich still verhalten und daß keiner den Raum verläßt, bevor ich zurück bin!« Dann war er fort! Lord Darcy kannte alle Ein- und Ausgänge von Schloß Canterbury. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Pläne aller großen Schlösser des Reiches zu studieren. Er lief den Gang hinunter und hastete eine Steintreppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, bis er auf den -4 8 8
Zinnen des Dachs angekommen war. Auf dem Dach japste er kurz nach Luft. Er blickte über die Zinnen hinweg nach unten. Sechzig Fuß tiefer sah er Lowell und Lady Anne, wie sie über den Hof schritten, langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatten kaum ein Viertel des Weges zurückgelegt. Lord Darcy stürmte auf die Außenwand zu. Die Wand hier war nur sechs Fuß breit. Die krenelierten Wände zu beiden Seiten gaben ihm genügend Sichtschutz. In Kriechstellung lief er zu dem Turm, der über dem Haupttor emporragte. Es war niemand dort, der ihn aufhalten konnte. Die Zinnen wurden nicht von Soldaten patrouilliert, denn es war schon Jahrhunderte her, daß das Schloß zum letzten Mal angegriffen worden war. Innerhalb des Torturms befand sich das riesige Fallgitter. Das Gitter war hochgezogen und durch Verschlüsse blockiert; um den Verschlußmechanismus zu stabilisieren, war ein Gegengewicht an einer eisernen Kette in einen Brunnen gesenkt worden. Lord Darcy wagte es nicht, über die Zinnen zu blicken, weil ihn sein Gegner beim zufälligen Hochblicken hätte sehen können. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Er ließ sich unter Lebensgefahr die Kette hinuntergleiten, die einem jahrhundertealten Brauch gemäß ständig eingefettet worden war, so daß er mehr als einmal beinahe den Halt verlor. Unten verschwand die Kette in einem ein Fuß breiten Loch, in dem sich das Gegengewicht befand. Lord Darcy spreizte die Beine und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Dann zog er vorsichtig die Holztür einen Spalt auf. Waren die beiden schon durch den Torbogen gegangen? Er würde Lowell von links erwischen; das war so gepla nt, denn der Verbrecher hatte die Pistole in der rechten Hand gehalten, weshalb Darcy auch nicht die rechte Kette benutzt hatte. Lowell würde... Da kamen sie beide an der Tür vorbei, Lady Anne zuerst, Lowell kurz dahinter. Lord Darcy sprang ihn von der Seite an und prallte mit seinem ganzen Gewicht in ihn hinein. -4 8 9
Lowell wurde zur Seite gestoßen, kurz bevor die Pistole loskrachte. Die beiden Männer rollten zu Boden und begannen, erbittert um den Besitz der Waffe zu ringen. Von allen Seiten stürmten Wachtposten herbei, doch sie kamen zu spät. Die Pistole hatte noch einen weiteren Schuß abgegeben. Einen Augenblick lagen beide bewegungslos am Boden. Dann erhob Lord Darcy sich langsam, die Pistole in der Hand. Lowell war noch bei Bewußtsein, doch wurde der rote Fleck an seiner linken Seite ständig größer. »Ich kriege dich noch, Darcy«, flüsterte er heiser. »Und wenn es das letzte ist, was ich tue!« Lord Darcy beachtete ihn nicht. Er wandte sich an die Wachmänner, die ihn umzingelt hatten, und sagte: »Ich bin Lord Darcy, Sonderinspektor des Königlichen Hofs. Dieser Mann steht wegen Mordes unter Arrest. Nehmt ihn in Gewahrsam und holt sofort einen Heiler.« Die Herzoginwitwe und Lord Quentin warteten immer noch, als Lord Darcy Lady Anne in den Palast zurückbrachte. Das Mädchen lief in die Arme seiner Mutter. »Oh, Mama! Mama! Lord Darcy hat mein Leben gerettet! Er ist wundervoll! Du hättest ihn sehen sollen!« Die Herzogin blickte Lord Darcy an. »Ich bin Euch dankbar, My Lord. Ihr habt das Leben meiner Tochter gerettet. Aber Ihr habt es auch ruiniert. Ihr habt uns alle ruiniert. Nein, laßt mich ausreden«, sagte sie, als Lord Darcy etwas erwidern wollte. »Es ist alles heraus, also kann ich ruhig eine Erklärung abgeben. Ja, ich dachte, daß mein erster Mann tot sei. Ihr könnt Euch vorstellen, was in mir vorgegangen ist, als er vor etwa fünf Jahren wieder auftauchte. Was sollte ich tun? Ich hatte keine Wahl. Also gab er sich als mein verstorbener Bruder Andrew aus. Niemand hier hatte ihn oder Andrew jemals gesehen, also -4 9 0
war alles in Ordnung. Nicht einmal mein Mann, der Herzog, wußte davon. Ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Chester verlangte nicht viel. Er versuchte nicht, mich leerzubluten, wie es andere Erpresser wohl getan hätten. Er gab sich damit zufrieden, eine kleine Stellung einzunehmen und eine bescheidene Rente zu bekommen, und er trat auch durchaus gepflegt in Erscheinung. Er...« Sie hielt plötzlich inne und sah ihren Sohn an, der bleich geworden war. »Es... es tut mir leid, Quentin. Ich weiß, wie du dich fühlen mußt, aber...« Lord Quentin unterbrach seine Mutter. »Soll das heißen, Mutter, daß Onkel An... daß es dieser Mann war, der Euch erpreßte?« »Aber ja!« »Und Vater wußte nichts davon? Vater wurde nicht erpreßt?« »Natürlich nicht! Wie sollte er das werden? Nie mand konnte wissen...« »Vielleicht«, warf Lord Darcy bedächtig ein, »erzählt Ihr Eurer Mutter, was Ihr wohl glaubt, was in der Nacht des elften Mai geschah.« »Ich hörte einen Streit«, sagte Lord Quentin, offenbar fast in Trance vor Erstaunen. »In Vaters Arbeitszimmer. Es schien ein Handgemenge zu geben, aber das konnte man durch die Tür nur schwer ausmachen. Ich klopfte an, aber da war alles still geworden. Ich trat ein. Vater lag bewußtlos auf dem Boden. Lord Camberton lag tot daneben - mit Vaters Brieföffner im Herzen.« »Und da habt Ihr in Lord Cambertons Händen Papiere gefunden, die den alten bösen Hausgeist der Familie beim Namen nannten, nicht wahr?« »Ja.«
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»Und während des Kampfs war das Tintenfaß umgekippt und hatte Lord Camberton befleckt, mit unlöschbarer Tinte.« »Ja, ja genau! Im ganzen Gesicht! Aber woher wißt Ihr das?« »Es gehört zu meinem Beruf, Dinge zu wissen«, sagte Lord Darcy. »Ich werde Euch den Rest erzählen. Ihr habt sofort geschlossen, daß Lord Camberton versucht habe, Euren Vater zu erpressen.« »Ja. Das Wort ›Erpressung‹ war auch gefallen, das hatte ich gehört.« »Also dachtet Ihr, daß Euer Vater Lord Camberton angegriffen hätte und dann wegen seines geschwächten Zustands das Bewußtsein verloren hätte. Ihr wußtet, daß Ihr irgend etwas unternehmen mußtet, um die Ehre der Familie zu retten und um Euren Vater die Seidenschnur zu ersparen. Also mußtet Ihr den Leichnam loswerden. Aber wohin damit? Dann habt Ihr an den Preservator gedacht, den Ihr gekauft hattet.« Lord Quentin nickte. »Ja, Vater hatte mir das Geld gegeben. Es sollte ein Geschenk für Mutter sein. Sie nimmt ganz gern ab und an eine Kleinigkeit tagsüber zu sich, und es erschien uns ganz nützlich, wenn sie einen Preservator in ihren Räumen hätte, damit sie das Essen nicht immer aus der Küche anzufordern brauchte.« »Ganz genau«, sagte Lord Darcy. »Also habt Ihr Lord Cambertons Leiche hineingetan. Lord Camberton wurde noch in Schottland geglaubt, und Euer Vater erlangte nie wieder ganz das Bewußtsein, so daß er nichts verraten konnte. Übrigens glaube ich, daß er es nie gewußt hat. Ich meine, daß er wahrscheinlich ohnmächtig wurde, als ihm Lord Camberton von dem Geheimnis berichtete. Lowell befand sich im Raum, weil er dem Herzog gegenübergestellt werden sollte. Als Seine Gnade ohnmächtig wurde, war Lord Camberton einen Augenblick lang abgelenkt. Lowell nahm den Brieföffner und erstach ihn. Er wußte, daß der Herzog nichts sagen würde, aber Camberton war -4 9 2
als Beamter Seiner Majestät schon von Eides wegen dazu verpflichtet, ihn festzunehmen. Übrigens war Lowell Mitglied der Heiligen Gesellschaft vom Alten Albion. Auch das hatte Camberton herausbekommen. Wahrscheinlich hatte Lowell irgendwo in der Stadt unter falschem Namen ein Zimmer gemietet, wo er sein Zubehör verbergen konnte. Camberton hat es aufgespürt und Lowells grüne Robe als Beweisstück mitgebracht. Wenn Lowell gesteht, dann werden wir sein Versteck wohl finden. Er verließ den Raum und nahm die Robe mit. Vielleicht hat er Euch klopfen gehört, Lord Quentin, vielleicht auch nicht. Ich bezweifle es, aber es tut eigentlich nichts zur Sache. Wie lange habt Ihr gebraucht, um den Raum zu säubern, Euer Gnaden?« »Ich... ich habe zuerst Vater ins Bett gebracht. Dann habe ich das Blut fortgewischt, aber die Tinte konnte ich nicht beseitigen. Ich brachte Lord Camberton in den Keller und bewahrte ihn im Preservator auf. Der Preservator wurde dort unten abgestellt, weil es eine Überraschung sein sollte, zu Mutters Geburtstag nächste Woche.« »Wie lange habt Ihr Euch im Raum aufgehalten?« »Vielleicht zwanzig Minuten.« »Wir wissen nicht, was Lowell in diesen zwanzig Minuten getan hat. Er muß ziemlich erstaunt gewesen sein, als er zurückkehrte und den Raum aufgeräumt und ordentlich vorfand, ohne jede Leiche.« »Das war er auch«, sagte Lord Quentin. »Ich rief Sir Bertram, unseren Seneschall, und Vater Joseph, den Heiler, und als er zurückkehrte, befanden wir uns alle in Vaters Zimmer. O ja, er sah sehr erstaunt aus! Aber ich dachte, es sei der Schreck, weil Vater plötzlich so krank war.« »Verständlich«, meinte Lord Darcy. »In der Zwischenzeit mußtet Ihr Euch etwas einfallen lassen, um die Leiche beiseite
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zu schaffen. Schließlich konnte sie nicht in alle Ewigkeiten im Preservator bleiben.« »Nein. Ich wollte sie aus dem Schloß hinausbringen, so daß man sie weit entfernt finden mochte.« »Aber da war die Sache mit dem blauen Tintenfleck«, sagte Lord Darcy. »Ihr konntet ihn nicht beseitigen. Ihr mußtet Master Timothy bemühen, um den Fleck aus dem Teppich zu entfernen, aber wenn man später die Leiche mit einem ähnliche n Fleck gefunden hätte, dann wäre Master Timothy wahrscheinlich mißtrauisch geworden. Also mußtet Ihr alles verdecken, und zwar wortwörtlich. Ihr habt den Leichnam mit Färberwaid eingefärbt.« »Ja. Ich dachte, daß man wahrscheinlich der Gesellschaft von Alb ion die Schuld geben würde und die Aufmerksamkeit auf diese Weise von uns abgelenkt würde.« »Genau. Und fast hätte es auch geklappt. Wenn man die Anwendung des Preservators und die des Färberwaids bedachte, dann sah alles ziemlich nach Hexerarbeit aus. Aber dann war am Montag ein Feiertag, an dem man symbolisch das ganze Schloß durchsuchen würde. Man hätte die Leiche gefunden.« »Ich konnte sie nicht vorher aus dem Weg schaffen«, sagte Lord Quentin. »Ich habe keine Erfahrung mit solchen Sachen. Ich wurde nervös, aber ich konnte sie nicht unbemerkt über den Schloßhof transportieren.« »Aber an diesem Tag mußtet Ihr sie verstecken. Also habt Ihr dafür gesorgt, daß Master Walters Werkstatt am Samstag abend offen blieb, und habt die Leiche in den Sarg gelegt, wie Ihr meintet, nur solange die Zeremonie andauern würde. Danach sollte sie fürs erste wieder in den Preservator. Leider starb Euer Vater am frühen Montagmorgen. Man fand die Leiche von Lord Camberton.« »Ganz genau, My Lord.« -4 9 4
»Lowell muß in Panik geraten sein, als er erfuhr, daß die Leiche mit Färberwaid behandelt worden war. Er wußte, daß er dadurch in Verdacht geraten mußte, besonders wenn irgend jemand wußte, daß er Mitglied der Gesellschaft von Albion war. Also verbrannte er an diesem Nachmittag seine Robe und hoffte damit, jeden Beweis zu vernichten, der ihn mit der Gesellschaft in Verbindung bringen konnte. Aber er war nicht gründlich genug.« Die Herzogin ergriff wieder das Wort. »Well, My Lord, Ihr habt den Mörder also gefunden. Und Ihr habt herausbekommen, was mein Sohn unternommen hat, um die Ehre der Familie zu retten. Aber schließlich war doch alles vergebens. Chester Lowell, mein erster Mann, lebt immer noch; meine Kinder sind außerehelich, und wir sind alle mittellos.« Wachtmeister Alexander Glencannon hüstelte leicht. »'tschuldigung, Euer Gnaden, aber's freut mich sagen zu dürfen, daß Ihr Euch irrt. Hab' diesen Dieb Lowell jahrelang gekannt. Ich war's auch, der damals nach Saragossa ist, um ihn zu identifizieren, 's war Lowell, o ja! Die Ähnlichkeit ist zwar groß, aber dieser hier, das ist sein jüngerer Bruder Ian Lowell, der '59 aus dem Gefängnis ist. War zwar kein Falschspieler, wie Chester, aber auch nicht ohne, o nein!« Die Herzogin konnte nur nach Luft ringen. »Es war nicht sonderlich schwierig, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Chester hatte bestimmt mit Ian über seine Ehe mit Euch berichtet, wahrscheinlich sogar intime Einzelheiten. Ihr habt ihn nur zwei Monate gekannt. Wie solltet Ihr da nach gut fünfundzwanzig Jahren den Unterschied merken? Vor allem, da Ihr ja gar nichts von Ian wußtet!« »Ist das wahr? Ist das wirklich wahr? Oh, dem Himmel sei Dank!« »Es ist wahr, Euer Gnaden. Ian hatte keinen Grund, Euch ausbluten zu wollen. Er wußte, daß er Euch damit nur zur -4 9 5
Verzweiflung hätte treiben könne n, bis Ihr ihn vielleicht sogar getötet hättet! Aber Geld hätte ihm auch nicht genügt. Was er brauchte, Euer Gnaden, das war ein Versteck. Ein Versteck in aller Öffentlichkeit, eine perfekte Tarnung. Er hält einen sehr hohen Rang in der Heiligen Gesellscha ft vom Alten Albion inne, eine sehr lukrative Stellung, muß ich hinzufügen, denn das Geld aus den Beiträgen wird ohne Rechenschaftsberichte verbraucht. Ich habe auch Grund zur Annahme, daß er im Sold Seiner Slavischen Majestät König Casimir von Polen steht, wenn auch vermutlich unter falschen Vorgaben, denn er müßte eigentlich wissen, daß es nicht so einfach ist, eine Religion umzukrempeln, wie das König Casimir wohl glaubt. Dennoch war er sich nicht zu schade, polnisches Gold anzunehmen und übertriebene Berichte zu verfassen. Und wer sollte schon auf den Verdacht kommen, daß Sir Andrew Campbell- MacDonald, ein Mann, dessen Lebenswerk als ehrenvoller Soldat und Gentleman nur Rühmliches aufzuweisen hat, ein polnischer Spion und ein führendes Mitglied der subversiven Gesellschaft von Albion war? Aber schließlich ist doch jemand darauf gekommen. Wir werden vielleicht niemals erfahren, warum Seine Gnade und Lord Camberton ihn plötzlich verdächtigten, obwohl Ian Lowell uns das wahrscheinlich sagen könnte. Aber ihr Verdacht hat schließlich Lowells Sturz bewirkt, auch wenn es beide das Leben gekostet hat.« An der Tür klopfte es. Lord Darcy machte auf und sah sich einem Priester im Benediktinerhabit gegenüber. »Ja, Hochwürden?« »Ich bin Vater Joseph. Seid Ihr Lord Darcy?« »Der bin ich, Hochwürden.« »Man hat mich gerufen, damit ich Euren Gefangenen behandele, My Lord. Es tut mir leid sagen zu müssen, daß ich nichts mehr für ihn tun konnte. Er ist an den Folgen einer Schußwunde gestorben, vor wenigen Minuten.« -4 9 6
Lord Darcy drehte sich um und blickte in die Runde. Es war alles vorbei. Der Skandal brauchte nun niemals an die Öffentlichkeit geraten. Warum sollte er auch, denn er hatte schließlich nie wirklich existiert. Bald würde Sir Thomas seine Arbeit beenden, und die Führer der Heiligen Gesellschaft vom Alten Albion würden vor Gericht gestellt werden. »Ich würde gerne mit der trauernden Familie ein paar Worte wechseln«, meinte Vater Joseph. »Nicht jetzt, bitte«, sagte die Herzoginwitwe. »Hochwürden, ich möchte gleich bei Euc h die Beichte ablegen. Könntet Ihr bitte draußen warten?« Der Priester spürte, daß etwas Seltsames in der Luft lag. »Aber gewiß, meine Tochter. Ich werde warten.« Er schloß die Tür. Die Herzogin würde alles beichten, wie Lord Darcy wußte, aber im Schutz des Beichtgeheimnisses war es sicher aufgehoben. Lord Quentin war es, der die Gefühle der Anwesenden zusammenfaßte. »Das wird eine Beerdigung«, sagte er kalt, »auf die ich mich freue. Wir danken Euch, My Lord.« »Das Vergnügen lag ganz auf meiner Seite, Euer Gnaden. Kommt, Master Sean, wir haben noch eine Kanalüberquerung vor uns.« Ende.
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Band 05 Eine Frage der Vorstellungskraft Der späte Nachmittag ist keine übliche Zeit für einen Selbstmord, aber eine andere Todesursache konnte man in Lord Arlens Fall kaum annehmen. Lord Arlen war der Besitzer und Unternehmensleiter eines der wichtigsten Verlage in der Normandie, Mayard House. Die Redaktionsbüros des Unternehmens beanspruchten ein ziemlich großes Gebäude in der Altstadt, unweit der Kathedrale von St. Quen. Am Vortag des Festes von Eduard dem Bekenner, Donnerstag, den 12. Oktober 1972, befand sich Lord Arlen in seinem Privatbüro und schlief fest. Er pflegte immer zu dieser Zeit seinen Mittagsschlaf zu halten, und seine Angestellten waren es gewohnt, sich dann leise zu bewegen und nur flüsternd miteinander zu reden, wenn sich ein Gespräch denn überhaupt nicht vermeiden ließ. Fast eine Stunde lang hatte niemand das Büro betreten oder verlassen. Um fünf nach vier hörten drei Redaktionsmitglieder Demoselle Barbara, Edelmann Wober und Edelmann Andray aus dem Büro ein dumpfes Geräusch sowie einige weitere merkwürdige Laute. Sie wußten, daß irgend etwas nicht stimmte, aber keiner von ihnen wagte es nachzusehen, aus Furcht, von Lord Arlens Zorn zerschmettert zu werden. Dreißig Sekunden später stürmte Sir Stefan Imbry in den Raum. »Was ist los?« bellte er. »Ich war in der Bibliothek und habe ein Geräusch gehört, als ob ein Stuhl umgefallen wäre. Und jetzt klingt es so, als ob My Lord Magenbeschwerden hätte.« Er blieb nicht stehen, wahrend er redete, sondern lief auf die Tür des Privatbüros zu. Einen Augenblick lang fühlten sich die Angestellten erleichtert. Nur Chefredakteur Sir Stefan würde es wagen, Lord Arlen zu stören. Er riß die Tür auf und blieb plötzlich stehen. -4 9 8
»Guter Gott!« sagte er mit erstickter Stimme. Und dann zu den Angestellten: »Schnell! Helft mir!« Lord Arlen hing an einem Strick, der an einem massiven Holzbalken befestigt worden war. Er zuckte noch. Unter ihm lag ein umgeworfener Stuhl. Als sie ihn abgenommen hatten, lebte er noch, aber sein Kehlkopf war zerdrückt, und er starb, bevor man einen Heiler herbeischaffen konnte. Lord Darcy, Chefinspektor Seiner Königlichen Hoheit Richard, Herzog von der Normandie, blickte auf den kleinen, eher armselig wirkenden Leichnam, der auf dem Bürosofa lag. Lord Arlen war ein kleiner Mann gewesen, von fünf Fuß vier Zoll Größe, und wog neun Stone. Im Tod sah er nicht mehr aus wie der fanatische und manchmal fast hysterische Antreiber voller Energie, als der er es zu einem der meist geachteten und gefürchteten Männer in seiner Branche gebracht hatte. Jetzt sah er fast aus wie ein Junge in der Pubertät. Dr. Pateley, der Chirurgus, hatte seine Untersuchung beendet und blickte zu Lord Darcy hoch. »Nach der Autopsie können Master Sean und ich Euch wohl Genaueres sagen, My Lord, aber ich würde sagen, daß er zwischen einer halben Stunde und fünfundvierzig Minuten tot ist. Das stimmt auch mit der Zeit überein, zu der Euer Büro benachrichtigt wurde, My Lord.« »In der Tat«, murmelte Lord Darcy. »Master Sean? Wie steht's?« Master Sean O Lochlainn, Oberster Gerichtshexer Seiner Hoheit, war mit seinem goldenen Stab beschäftigt. Es ist zwar nicht ratsam, einen Hexer bei der Arbeit zu stören, aber Lord Darcy spürte, daß Master Sean bereits fertig war und lediglich vor sich hin sinnierte. Er täuschte sich nicht. Master Sean drehte sich um und lächelte. »Nun, My Lord, ich habe zwar nicht genügend Zeit für eine komplette Analyse zur Verfügung gehabt, aber es ist eigentlich alles recht klar.« -4 9 9
Er spielte mit dem Stab. »Als er starb, befand sich niemand sonst im Raum und auch eine Stunde lang vorher nicht. Zeitpunkt des Todes war vierzehn nach vier, plusminus wenige Minuten. Der Zeitpunkt des psychischen Schocks durch das Erhängen war um fünf nach. Keine Beeinflussung durch Böses, kein Anzeichen für Schwarze Magie.« »Danke, mein guter Sean«, sagte Lord Darcy, der den Blick auf den Deckenbalken gerichtet hatte. »Wie immer sind Eure Ergebnisse von unschätzbarem Wert.« Seine Lordschaft wandte sich an den vierten im Raum, Wachtmeister Gwiliam De Lisles, einen großen, derb wirkenden Mann mit einem riesigen Schnäuzer. »Master Gwiliam«, sagte Lord Darcy, »könntet Ihr wohl eine Leiter herbringen lassen, damit ich an diesen Balken dort komme?« »Sofort, My Lord.« Als die Leiter stand, stieg Lord Darcy mit einer Lupe hoch, um sich den Balken anzusehen, der zehn Fuß vom Boden und zweieinhalb Fuß von der Decke entfernt hing. Der Strick, durch den Lord Arlen den Tod gefunden hatte, hing noch an seinem Platz, und Lord Darcy untersuchte ihn genau. Master Sean blickte hoch und fragte: »Darf ich erfahren, wonach Ihr sucht, My Lord?« »Wie Ihr seht«, sagte Lord Darcy, »verläuft der Strick über den Balken hier und ist dort drüben an dem Rohr befestigt, das unter dem Fenster hinter dem Schreibtisch verläuft. Es wäre ja möglich, daß Lord Arlen erwürgt wurde, daß man dann den Strick um seinen Nacken gelegt und ihn hochgezogen hat. In diesem Fall müßte man das aber an der Richtung der Fasern erkennen können, die durch den Zug sozusagen gegen den Strich gerieben worden wären. Aber es sieht nicht danach aus.« -5 0 0
Seufzend stieg er die Leiter herab. »Wäre denn dazu Zeit gewesen, My Lord?« fragte Master Gwiliam. »Wahrscheinlich nicht, Master Gwiliam, aber man muß ja alles überprüfen. Wenn es so gewesen wäre, dann hätten wir die Todeszeit neu bestimmen müssen.« Lord Darcy untersuchte das andere Ende des Stricks. Das Büro besaß nur ein einziges Fenster. Es befand sich hinter Lord Arlens Schreibtisch und ging in einen drei Fuß breiten Luftschacht hinaus, der kaum Licht spendete. Lord Arlen hatte das Halbdunkel vorgezogen und auch bei Tageslicht die üblichen Gaslaternen beansprucht. Sie brannten alle, aber mißtrauisch, wie Lord Darcy war, schnupperte er umher, um festzustellen, ob er Gasgeruch wahrnehmen konnte. Das war nicht der Fall. Das Gas hatte offenbar nichts damit zu tun. Das Fenster war ein gewöhnlicher Doppelhänger. Um Frischluft einzulassen, hatte man den oberen Rahmen ungefähr drei Zoll offen stehengelassen. Es war ein hohes schmales Fenster von neun Fuß Höhe. Der untere Rahmen war etwa acht Zoll hochgeschoben, und der Strick lief durch die Öffnung hindurch; er war an einem Außenrohr befestigt worden, das sich ungefähr sechs Zoll unterhalb des Simses befand. Von dort machte er eine Kurve zu dem Balken und fiel auf der anderen Seite herab. Die Untersuchung ergab, daß das Fenster nicht weiter geöffnet worden war als jetzt, das ließ sich am Lack erkennen, der die Rahmen an ihrem Platz fast versiegelt hatte. »Acht Zoll unten und drei Zoll oben«, sagte Lord Darcy nachdenklich. »Reicht wohl kaum aus für einen ausgewachsenen Mann, um dort hindurchzukriechen. Und davon abgesehen, gibt es nur einen Ausgang, die Tür.« Er blickte Master Sean an. »Keinen?« »Keinen, My Lord«, sagte der rundliche irische Hexer. -5 0 1
»Master Gwiliam und ich haben alles untersucht. Kein Geheimgang, keine geheime Schiebetüren. Nichts dergleichen.« Er stockte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Aber es ist auch keine Schwermut vorhanden.« »Keine Schwermut?« fragte Lord Darcy aufmerksam. »Bitte erklärt Euch, Master Sean.« »Nun, My Lord, in einem Raum, wo ein Selbstmord geschehen ist, gibt es immer ein Art von Schwermut, eine tiefe Depression, die in den Tapeten hängenzubleiben scheint. Aber das ist hier nicht der Fall.« »Ach?« Lord Darcy blickte sich erneut im Zimmer um. »Nun gut. Verhängt einen Konservierungszauber über die Leiche, Master Sean. Ich werde unterdessen die Zeugen befragen.« »Wie Ihr befehlt, My Lord.« Lord Darcy ging mit Master Gwiliam in die Bibliothek, wo fünf Leute, von zwei Wachmännern bewacht, warteten. Drei von ihnen gehörten zum Mitarbeiterstab: die braunhaarige Demoselle Barbara; der rundgesichtige, fast glatzköpfige Edelmann Wober; der schlaksige, kurzsichtige Edelmann Andray. Der vierte war Chefredakteur Sir Stefan Imbry, ein kräftiger Mann, der gute sechs Fuß vier zählte; der fünfte schließlich, ein bulliger Kraftprotz mit harten, markanten Gesichtszügen, war Lord Darcy unbekannt. Sir Stefan stand auf. »My Lord, darf ich fragen, warum man uns hier festhält? Ich habe eine Einladung zum Dinner, die ich wahrzunehmen wünsche, und diese Dame und die Herren möchten nach Hause. Warum schickt Seine Königliche Hoheit Euch überhaupt hierher, bei einer solchen Routineangelegenheit?« »Das schreibt das Gesetz vor«, sagte Lord Darcy, »das wißt Ihr selbst, Sir Stefan! Wenn ein Mitglied des Adels, auf welche Weise auch immer, eines gewaltsamen Todes stirbt, dann muß
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ich die Angelegenheit untersuchen. Und was die Frage angeht, warum Ihr hier seid: Ich bin Königlicher Ermittlungsrichter.« Sir Stefan war plötzlich sehr beeindruckt und beeilte sich zu sagen: »Aber natürlich, Euer Lordschaft. Ich habe ja auch nur der Information halber gefragt.« »Und nichts anderes tue ich auch«, sagte Lord Darcy sanft. »Ich sammle Informationen. Das ist meine Pflicht.« »Aber gewiß doch«, sagte Imbry etwas verlegen. »Bitte um Vergebung.« Er war es zwar gewohnt, seine Angestellten herumzuscheuchen, aber er wußte auch, wann er selbst zu gehorchen hatte. »Gut«, sagte Lord Darcy, »ich verstehe Eure Fragen. Aber nun zu den Informationen. Wer ist dieser Gentleman hier?« Sir Stefan stellte ihn vor. »My Lord Darcy, dies ist Edelmann Ernesto Norman, einer unserer besten Autoren. Edelmann Ernesto, dies ist Lord Darcy, Chgfinspektor Seiner Königlichen Hoheit.« Ernesto sah Lord Darcy mit funkelnden Augen an und verneigte sich leicht. »Eine Ehre, Euer Lordschaft.« »Ganz meinerseits«, antwortete Lord Darcy. »Ich habe einige Eurer Bücher gelesen. Wenn es Euch recht ist, möchte ich mich ein anderes Mal mit Euch darüber unterhalten.« »Es wird mir ein Vergnügen sein, Euer Lordschaft«, sagte Edelmann Ernesto und setzte sich wieder. Aber seine Stimme schien einen leicht gereizten Unterton verbergen zu wollen. Lord Darcy blickte sich im Zimmer um. Es war ein riesiger Raum, dessen Wände mit zehn Fuß hohen, wohlgefüllten Bücherregalen bestückt waren. Über den Regalen hingen Schwerter, Äxte und Schlagkeulen unterschiedlichster Art. Auf -5 0 3
den Regalen lagen zahlreiche Helme. Neben der Tür standen auf beiden Seiten Ritterrüstungen aus dem sechzehnten Jahrhundert, beide mit fünfzehn Fuß langen Kavallerielanzen bestückt. Die Fenstervorhänge waren aus schwerem dunkelgrünem Samt, die Gaslampen ziseliert und mit Gold beschichtet. Lord Darcy blickte Sir Stefan an. »Ich weiß, daß Ihr dies alles schon mehrere Male durchgegangen seid, aber ich muß Euch dennoch darum bitten, und zwar Euch alle, es noch einmal zu tun.« Wachtmeister Gwiliam hatte sein Notizbuch gezückt und führte Protokoll in Kurzschrift. Sir Stefan blickte grimmig drein und meinte: »Ich weiß ja wirklich nicht, warum Ihr soviel Aufhebens um einen Selbstmord macht, aber...« »Es war kein Selbstmord!» schnappte Demoselle Barbara. Bevor Sir Stefan sie zurechtweisen konnte, sagte Lord Darcy sanft: »Worauf gründet Eure Behauptung, Demoselle?« Die Tränen standen ihr in den Augen, und sie sah außerordentlich schön aus, als sie antwortete: »Nichts Faßbares. Nichts Konkretes, was ich beweisen könnte. Aber ich war, wie ja allgemein bekannt ist, jahrelang Lord Arlens Geliebte. Ich kenne ihn. Er hätte niemals Selbstmord verübt.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Besitzt Ihr das Talent, Demoselle?« »Ein wenig«, sagte sie gefaßt. »Ich bin geprüft worden und besitze das Talent in etwas mehr als durchschnittlichem Umfang, aber nicht sonderlich stark ausgeprägt.« »Ah ja«, sagte Lord Darcy. »Dann habt Ihr also keine Beweise für Eure Vermutung außer der Tatsache, daß Ihr Seine Lordschaft gekannt habt, und außer Eurer Intuition?« -5 0 4
»Keine, My Lord.« »Nun gut. Danke, Demoselle Barbara. Und nun könnt Ihr fortfahren, Sir Stefan.« Sir Stefan hatte sich wieder beruhigt, aber Lord Darcy bemerkte, daß Edelmann Ernesto der Demoselle einen Blick voll unterdrückten Hasses zugeworfen hatte. Eifersucht, dachte Lord Darcy. Schwere Eifersucht. Eine törichte Reaktion! Der Mann braucht einen Heiler. Sir Stefan begann aufs neue mit seinem Bericht. »Ungefähr um halb drei ...« Ungefähr um halb drei war Lord Arlen vom Lunch im Mayson du Shah zurückgekehrt und hatte einen bösen Blick von Demoselle Barbara geerntet, die es immer noch nicht begriffen hatte, daß es für einen Gentleman durchaus in Ordnung war, im Mayson du Shah seinen Lunch zu nehmen. Im Norden Englands aufgewachsen und ziemlich streng erzogen, bevorzugte sie eher die etwas solideren Clubs wie den York oder den Carlisle. »Wo ist Sir Stefan?« bellte er Edelmann Andray an. »Noch nicht vom Lunch zurück, My Lord.« »Gibt's sonst noch etwas?« »Edelmann Ernesto wartet in der Bibliothek auf Euch, My Lord.« »Ernsto Norman? Der kann warten. Ich gebe Euch Bescheid. Schickt Sir Stefan rein, sobald er da ist!« Lord Arlen war in sein Büro gepoltert. Um genau halb drei hatte er gebollert: »Barbara!« Sie hatte »Ja, My Lord!« gerufen und war, ihrer Aussage zufolge, in sein Büro geeilt. Er hatte hinter dem Schreibtisch gesessen. Es war ein beeindruckender Schreibtisch, sieben Fuß lang und drei Fuß breit. Lord Arlen sah enorm groß aus hinter seinem Schreibtisch, was ganz einfach daran lag, daß er seinen Stuhl um sechs Zoll erhöht hatte und außerdem einen sechs Zoll hohen Fußschemel unter dem -5 0 5
Schreibtisch versteckt hielt. Jeder, der nicht eben außergewöhnlich hochgewachsen war, mußte so zu Lord Arlen aufblicken. Die Demoselle Barbara war, so sagte sie, eingetreten und hatte respektvoll gefragt: »Euer Lordschaft haben gerufen?« Ohne von dem Manuskript aufzublicken, das er gerade las, hatte er gesagt: »Ja, meine Liebe, das habe ich. Schickt Ernesto herein.« »Jawohl, My Lord.« Dann hatte sie den wartenden Autor gerufen. Der war wütend aus der Bibliothek gestürmt und in Lord Arlens Büro gelaufen, ohne auch nur anzuklopfen; statt dessen hatte er die Tür laut hinter sich zugeschlagen. Normans Aussage war: »Ich wollte den kleinen Spinner erwürgen, My Lord! Oder ihm eine nach der anderen runterhauen! Was immer eben angebrachter sein mochte. Ich hatte gerade die Druckerfahnen meines neuesten Romans gelesen. Ein Ritter der Armeen. Der dämliche Philister hatte das ganze Werk einfach massakriert! Ich sagte ihm, daß ich mich weigern würde, es so veröffentlichen zu lassen. Er antwortete, daß er die Rechte gekauft hätte und daß ich gar nichts zu vermelden hätte. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel, wobei ich ziemlich schlecht abschnitt und schließlich einfach hinausgegangen bin.« Der Stab bezeugte, daß man heftige Stimmen gehört hatte, aber niemand hatte etwas verstehen können. Um fünfzehn Minuten vor drei hatte Edelmann Ernesto die Bürotür von außen zugeschlagen. Als Edelmann Ernesto aus dem Büro gestürmt war, war Sir Stefan soeben ins Vorzimmer getreten. Norman lief hinaus, und Sir Stefan fragte: »Was ist dem denn für eine Laus über die Leber gekrochen?« »Weiß nicht, Sir Stefan«, hatte Edelmann Wober geantwortet. »Seine Lordschaft verlangt, daß Ihr ihn sofort aufsucht, wenn Ihr eingetroffen seid.« -5 0 6
Sir Stefan sagte, daß er sofort in das Büro getreten sei, wo Lord Arlen gerade dabei war, Kaffee zu trinken, den ihm Edelmann Andray wenige Minuten zuvor gebracht hatte. »Es war nur ein kurzes Dienstgespräch, My Lord«, sagte Sir Stefan. »Es ging um das Format von drei Büchern, die wir veröffentlichen wollen. Eine bloße Routineangelegenheit, aber wenn Ihr Einzelheiten wissen möchtet...« »Später vielleicht. Fahrt bitte fort.« »Ich habe sein Büro um ein oder zwei Minuten nach drei verlassen. Er hält immer Mittags schlaf von drei bis vier. Ich ging in die Bildabteilung, um ein paar Illustrationen zu überprüfen, und begab mich dann in die Bibliothek, um dort einige Dinge wegen eines Buches über Magie nachzusehen, das wir im Frühjahr veröffentlichen wollten.« »Eine wissenschaftliche Arbeit?« fragte Lord Darcy. »Ja. Psychologistik, von Sir Thomas Lesaux, Th. D.« »Ah! Ausgezeichneter Mann! Master Sean wird begierig sein, ein Exemplar zu erhalten.« Sir Stefan nickte. »Es wird der Firma eine Freude sein, ihm zwei Exempla re zukommen zu lassen. Vielleicht...« Seine Augen leuchteten auf. »Vielleicht wäre Master Sean damit einverstanden, das Buch in der Rouen Times zu rezensieren?« »Möglicherweise, wenn Ihr es ihm richtig nahelegt«, murmelte Lord Darcy. Dann meinte er etwas forscher: »Ihr wart also in der Bibliothek, als Lord Arlen den Tod fand?« »Das war ich, My Lord.« »Darf ich dann einmal die Frage stellen, wie Ihr etwas davon mitbekommen habt?« Lord Darcy glaubte zwar, die Antwort zu wissen, aber er wollte sich sicher sein. »Ihr wart innerhalb weniger Minuten im Vorzimmer. Wie habt Ihr davon erfahren?«
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»Ich habe das Geräusch gehört, My Lord«, sagte Sir Stefan. Er zeigte auf ein Fenster an der Nordseite des Raums, das mit Samtvorhängen bedeckt war. Dabei stand er auf. »Dieses Fenster geht in den Luftschacht auf, My Lord.« Er zog die Vorhänge beiseite. »Wie Ihr sehen könnt.« Der Luftschacht war drei Fuß breit. Das Fenster zu Lord Arlens Büro befand sich drei Fuß von diesem entfernt. Dieses Fenster jedoch war nicht jahrelang in der gleichen Stellung festgestellt worden, denn die Rahmen ließen sich mühelos bewegen. Es war ebensoweit geöffnet wie das andere. »Master Sean?« fragte Lord Darcy, ohne die Stimme zu erheben. Das Gesicht des irischen Hexers zeigte sich auf der anderen Seite, als er durch die Vorhänge lugte. »Aye, My Lord?« »Alles in Ordnung?« »Alles in Butter, My Lord.« »Schön, dann macht ruhig weiter.« Lord Darcy zog die Vorhänge wieder vor und blickte die Anwesenden im flackernden Gaslicht an. »Sehr schön, Sir Stefan. Das erklärt es also. Eine weitere Frage.« »Ja, My Lord?« »Warum habt Ihr Lord Arlen, als Ihr ihn in seinem Büro aufgehängt saht, nicht vom Seil geschnitten? Ein einziger Schnitt mit dem Taschenmesser hätte doch genügt. Statt dessen habt Ihr den Knoten losgemacht. Warum?« Demoselle Barbara antwortete zuerst. »Wußtet Ihr das nicht, My Lord?« »Was, bitte?« »Lord Arlen hatte eine tödliche Angst vor scharfen Gegenständen. Es war eine Obsession. Er ist beispielsweise nie in die Bilderabteilung gegangen, weil man dort mit Rasierklingen und Schneidemessern arbeitet.« Lord Darcys Augenschlitze verengten sich. -5 0 8
»Aber er war doch glattrasiert!« »Glatt, ja«, sagte sie, »aber nicht rasiert. Er ließ sich vom Barbier die Haare mit heißem Wachs entfernen, was zwar schmerzhaft war, aber ihm immer noch mehr behagte. Er duldete es nicht, daß irgend jemand in seiner Gegenwart auch nur ein Messer dabei hatte. Wir haben alle gehorcht.« »Nicht einmal einen Brieföffner?« »Nicht einmal einen Brieföffner.« Sie zeigte auf die Waffensammlung über den Regalen. »Schaut Euch doch mal diese alten Waffen an. Nicht eine von ihnen ist scharf oder spitz. Beantwortet das Eure Frage, My Lord?« »Vollauf, Demoselle«, sagte Lord Darcy mit einer knappen Verbeugung. Großer Gott! dachte er. Sie scheinen alle ein bißchen verrückt zu sein, und ihr verstorbener Chef war der Verrückteste von allen! Es war sieben Uhr. Seit Lord Arlens Tod waren fast drei Stunden vergangen. Der Himmel draußen war dunkel und bewölkt, und die Luft trug einen Hauch herbstlicher Kälte mit sich. In Lord Arlens Büro verbreiteten die Gaslaternen und der Kamin eine sommerliche Wärme. Lord Arlens Leiche lag, mit einer Decke und einem Konservierungszauber bedeckt, still auf dem Sofa. Sean O Lochlainn, der Meisterhexer, beäugte das Ende des Todesstricks. Hinter ihm standen Lord Darcy, Dr. Pateley und Wachtmeiser Gwiliam und schwiegen respektvoll. Master Sean beugte sich vor und holte ein paar Utensilien aus seinem symbolverzierten Reisesack. Es war auch ein Ebenholzstab mit versilberter Spitze dabei. »'s ist nicht weiter schwierig, My Lord«, sagte Master Sean. »Der psychische Schock des plötzlichen Todes hat den Hanf recht stark verändert. Wir haben es hier mit dem Gesetz der Relevanz zu tun. Wissenschaftlich gesprochen, haben wir hier ein parapsychisches Kraftfeld, das, wenn wir ihm den richtigen
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Impuls verleihen, danach streben wird, seinen ursprünglichen Zustand wiederzuerlangen.« Dann zog er mit dem Stab komplizierte Figuren in die Luft und murmelte rituelle Beschwörungsformeln. Langsam bewegte sich der Strick. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, drehte er sich zu einem fast vollkommenen Kreis, verknotete sich und fiel dann plötzlich schlaff herab. »Da haben wir es, My Lord«, sagte Master Sean. »Interessant«, meinte Lord Darcy und sah sich die Schlinge und den Knoten an. »Ein einfacher Schleifknoten, kein Henkersknoten.« Ohne aufzublicken sagte er: »Master Gwiliam, würdet Ihr mir wohl bitte mal Euer Maßband leihen?« Master Gwiliam reichte es ihm. Lord Darcy maß den Abstand zwischen der Schlinge und dem Boden. Dann maß er den umgekippten Stuhl vom Stuhlbeinende bis zur Sitzfläche. Schließlich maß er auch die Leiche von Kopf bis Fuß ab. Dann sagte er: »Dr. Pateley, Ihr seid der Leichteste von uns, glaube ich. Was wiegt Ihr?« »Zehn Stone, My Lord«, sagte der Chirurgus. »Vielleicht ein oder zwei Pfund weniger.« »Ihr seid der Richtige, Doktor. Haltet Euch an dem Seil fest und hängt Euch mit Eurem ganzen Gewicht daran.« Dr. Peteley zuckte zusammen. »My Lord?« »Haltet Euc h oberhalb der Schlinge an dem Seil fest und hebt die Füße vom Boden hoch. So, ja.« Er nahm wieder Maß. »Weniger als ein Viertelzoll Dehnung. Das kann man vernachlässigen. Jetzt könnt Ihr loslassen, Doktor, danke.« Lord Darcy gab Wachtmeister Gwiliam sein Maßband zurück und blickte zu dem Balken hoch. »Reichlich dumm, so etwas zu machen«, murmelte er. -5 1 0
»Das stimmt, My Lord«, meinte Wachtmeister Gwiliam. »Ich meine auch immer, daß Selbstmord eine reichlich dumme Sache ist. Und, wie man so sagt, so endgültig!« »Ich rede nicht von Selbstmord, mein guter Wachtmeister, sondern von Mord. Und der ist genauso endgültig.« »Mord, My Lord?« fragte Master Sean mit hochgezogenen Augenbrauen. »Na ja, wenn Ihr meint! Bin nur froh, daß ich nicht ins Detektivgeschäft einzusteigen brauche!« »Aber das seid Ihr doch, mein guter Sean!« meinte Lord Darcy erstaunt. Master Sean schüttelte den Kopf und grinste. »Nein, My Lord. Ich bin ein Hexer. Ich bin ein Techniker, der Fakten ausgräbt, die man normalerweise nicht zu Gesicht bekommen würde. Aber alle Spuren in der Welt nützen einem überhaupt nichts, wenn man sie nicht zu einem zusammenhängenden Ganzen verbinden kann. Und das ist Euer Anteil am Talent, My Lord.« »Ich!« Lord Darcy sah noch erstaunter aus. »Ich habe kein Talent, Sean. Ich bin kein Thaumaturge!« »Aber, aber, My Lord! Ihr habt die Spur Talent, die alle großen Detektive der Weltgeschichte hatten; nämlich die Fähigkeit, von einer unbewiesenen Vermutung zu einem unvermeidlichen Schluß zu springen, ohne den Weg dazwischen zurückzulegen. Dann sucht Ihr nur noch nach Beweisen für Euren Schluß. Ihr wußtet schon vor zwei Stunden, daß es ein Mord war und wer ihn begangen hat.« »Aber natürlich! Das war doch ganz offensichtlich. Die Frage war nicht: ‚Wer hat es getan?’ sondern ‚Wie hat er es getan?’.« Seine Lordschaft lächelte. »Und das ist ja nun klar wie Kloßbrühe, oder?« »Wie seid Ihr Euch so sicher, daß es Mord war?« fragte Wachtmeister Gwiliam.
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»Nun ja, unsere Abmessunge haben gezeigt, daß Lord Arlens Füße siebzehn Zoll über dem Boden hingen. Das Sitzbrett des Stuhles befindet sich lediglich achtzehn Zoll über dem Boden. Er hätte also nur einen Zoll tief fallen können. Das hätte ihn zweifellos erwürgt, das ist klar. Aber Ihr habt die tiefen Kerben des Stricks in seinem Hals gesehen, und Dr. Pateley hat auch bestätigt, daß sein Kehlkopf zerquetscht war. Übrigens, Doktor, war sein Genick eigentlich gebrochen?« »Nein, My Lord, ausgerenkt, gedehnt sozusagen, aber nicht gebrochen«, antwortete der Chirurgus. »Es war ein leichter Mann«, fuhr Lord Darcy fort. »Ganze neun Stone schwer. Ein Fall von einem Zoll hätte das nicht bewirken können.« Er blickte Master Sean an. »Folglich ist es auch nicht auf diese Weise geschehen. Es war also alles eine Frage der Vorstellungskraft. Man brauc hte nur die Vergewisserung, daß es nicht anders geschehen konnte. Und nun können wir eine Verhaftung vornehmen.« Eine Viertelstunde später betraten Lord Darcy, Master Sean und Master Gwiliam die Bibliothek, wo vier Wachmänner die fünf Verdächtigen bewachten. Master Sean blieb mit seinem symbolverzierten Reisesack neben der Tür stehen. Sir Stefan Imbry legte sein Buch beiseite und fragte: »Wie lange wird das noch so weitergehen, Lord Darcy?« Er war sehr wütend. »Nur noch ein paar Minuten, Sir Stefan. Wir sind fast fertig.« Sir Stefan seufzte. »Gut. Der Coroner wird die Sache wohl untersuchen müssen, aber ich hoffe, daß die Jury zu dem Urteil kommen wird, daß es sich um einen ‚Selbstmord im Zustand geistiger Umnachtung’ handelt.« »Das hoffe ich nicht«, me inte Lord Darcy fröhlich. »Ich gehe davon aus, daß sie zu dem Urteil ‚vorsätzlicher Mord’ gelangen wird und daß sie den Fall an das Oberste Königliche Gericht -5 1 2
weitergeben wird, damit Sir Stefan Imbry dieses Verbrechens angeklagt werden kann.« Sir Stefan erbleichte. »Seid Ihr verrückt?« »Nur manchmal. Im Augenblick nicht.« Die Demoselle Barbara rang nach Luft und sagte: »Aber Sir Stefan befand sich doch nicht einmal in der Nähe des Büros zur Tatzeit!« »Aber doch, Demoselle, aber doch! Er war hier, in diesem Raum, kaum ein Dutzend Fuß von der Stelle entfernt, wo Lord Arlen aufgehängt wurde. Das Ganze war recht einfach. Er ging in das Büro und tat eine Droge in Lord Arlens Kaffee. Innerhalb weniger Minuten war Lord Arlen bewußtlos. Sir Stefan befestigte den Strick am Außenrohr, warf das andere Ende über den Balken und legte die Schlinge um den Hals des Opfers. Mit einem Schleifknoten.« »Aber der kleine Rotzlöffel ist doch erst eine Stunde später erhängt worden«, warf Edelmann Ernesto Normann ein. »Richtig. Laßt mich ausreden! Dann hob Sir Stefan den bewußtlosen Lord Arlen auf den Balken.« »Einen Augenblick, Euer Lordschaft!« unterbrach Edelmann Ernesto ihn erneut. »Ich will ja nicht behaupten, daß ich für Sir Stefan sonderlich viel übrig hätte, aber so groß er auch ist, hätte er niemals den Körper zehn Fuß hoch stemmen können. Und im Büro gab es keine Leiter.« »Eine scharfsinnige Beobachtung, Edelmann. Aber Ihr habt nicht berücksichtigt, daß es noch einen anderen Stuhl im Büro gab. Lord Arlens Schreibtisch ist vierundzwanzig Zoll hoch, entgegen den üblichen achtzehn.« »Weitere sechs Zoll?« Ernesto Normann schüttelte den Kopf. »Reicht trotzdem nicht aus. Er hätte noch mindestens sechs Zoll mehr gebraucht... ach ja! Der Fußschemel!«
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»Genau. Wenn man den auf den Stuhl stellt, dann reicht es. Ich könnte es fast selbst tun, und Sir Stefan ist größer als ich. Und neun Stone ist nicht sehr schwer für einen kräftigen Mann.« »Selbst wenn ich all das getan hätte«, meinte Sir Stefan mit beherrschter Stimme, »was habe ich denn danach angeblich gemacht?« »Aber guter Mann, Ihr habt natürlich das Büro verlassen, nachdem Ihr alles wieder an Ort und Stelle gestellt habt und den Gästestuhl leise hingelegt habt. Dann seid Ihr fortgegangen und habt all das getan, was Ihr uns schon erzählt habt, denn Ihr wußtet ja, daß niemand es wagen würde, Lord Arlen nach drei Uhr zu stören.« »Aber wir haben doch alle gehört, wie der Stuhl umgefallen ist!« sagte die Demoselle. »Nein. Ihr habt selbst ausgesagt, daß Ihr ein dumpfes Geräusch gehört habt. Sir Stefan hat Euch das eingeredet, als er sagte, es habe wie ein umkippender Stuhl geklungen. Das Geräusch, das Ihr gehört habt, war Lord Arlens Körper, der fast vier Fuß tief vom Balken fiel und dann mit den Strick gegen den Balken knallen ließ.« Demoselle Barbara erschauerte. »Eine Stunde habt Ihr gewartet, Sir Stefan, dann seid Ihr um vier Uhr...« Lord Darcy unterbrach sich, als er ein Zeichen von Master Sean bekam. »Ja, Master Sean?« »Diese hier, My Lord.« Er zeigte mit dem Daumen auf die Rüstung links von der Tür. »Das beendet die Untersuchungen«, sagte Lord Darcy mit einem harten Lächeln. »Ihr, Sir Stefan, habt diese fünfzehn Fuß lange Lanze genommen, die, wie jede andere Waffe hier auch, weder eine scharfe Kante noch eine Spitze hat, und habt damit Lord Arlens Körper vom Balken gestoßen. Dann habt Ihr sie zurückgestellt und seid ins Büro gelaufen. Ihr wußtet, daß es eine Zeitlang dauern würde, den Knoten zu öffnen, und daß Lord Arlen bis -5 1 4
dann schon tot sein würde. Aber die ganze Sache war unglaublich dumm. Ihr standet vor einem Dilemma, das die Fragen nach der Länge des Stricks betraf. Wenn er zu tief fallen würde, dann würde es sich das Genick brechen, und das wäre unglaubwürdig, bei einem Stuhl von achtzehn Zoll Höhe. Wenn der Strick aber zu kurz wäre, dann würde er höher hängen, als es die Höhe der Sitzfläche des Stuhl erlaubt hätte. Also habt Ihr Euch für den Mittelweg entschieden. Aber das Dumme war, daß Ihr nicht mit den Maßen zurechtkommen konntet.« Ende
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Band 06 Eine Sache der Schwerkraft Der Tod von My Lord Jillbert, Comte de la Vexin, war außerordentlich spektakulär. Seine Lordschaft lebte und arbeitete auf Schloß Gisors, das über der Stadt gleichen Namens steht, der Hauptstadt der Grafschaft Vexin im östlichen Teil des Herzogtums Normandie. Die Grundmauern der alten Festung standen schon seit dem elften Jahrhundert, wenngleich das Gebäude seitdem erweitert und teilweise neu erbaut worden war. De la Vexin hatte das gräfliche Herrschaftsamt im Jahre 1951 geerbt und hatte Vexin gut und weise regiert. Er besaß einen Sohn, eine Tochter und ein Hobby. Es war die Kombination dieser drei, die ihm den Tod brachte. Am Abend des 11. April 1974 stieg My Lord von Vexin, nachdem er die Gründonnerstagsmesse besucht hatte, die gewundene Treppe empor, die den Roten Turm hinaufführte, gefolgt von zwei vertrauenswürdigen Sergeanten der Gräflichen Leibwache - denen wiederum ein Viermanntrupp gemeiner Wachmänner folgte. Dies war die übliche Vorgehensweise, wenn My Lord Graf sich in sein Allerheiligstes im oberen Stockwerk des Roten Turms zu begeben pflegte. Wenn er dort hinaufstieg, in achtzig Meter Höhe oberhalb des mit Steinplatten ausgelegten Hofs, wünschte er keinerlei Störung bei seiner Passion. Eine Minute vor zehn betrat er seine Privatgemächer. Die Wachmänner blieben vor der Tür zurück. Seit zwanzig Jahren war er der einzige gewesen, dem es gestattet war, das oberste Zimmer des Roten Turms zu betreten. Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, legte er noch den schweren Balken vor. Danach gab es nur zwei Menschen, die ihn noch lebend wiedersahen, und auch diese nur für wenige Sekunden. -5 1 6
Auf der anderen Seite des breiten, gepflasterten Hofs stand, dem Roten Turm gegenüber, St. Martin's Hall, ein Neuanbau aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert, wovon sein ricardianischer Stil zeugte. Die großen gerahmten Fenster warfen ein warmes gelbes Licht auf den Außenhof; die Halle war in ihrem Inneren hell erleuchtet, und so würde es die ganze Nacht bleiben, denn am Sakramentsaltar der Ruhe der Damenkapelle wurden Vigilien abgehalten. Drinnen knisterte ein kleines Feuer in dem gewaltigen Kamin - gerade groß genug, um der angenehmen Frühlingsluft des Abends die leise Kühle zu nehmen. Auf dem Kaminsims ließ eine große Uhr ihr Pendel schwingen, während der Minutenzeiger sich unaufhaltsam auf die Zehn-Uhr-Marke zu bewegte. Lord Gisors, der einzige Sohn des de la Vexin, schenkte sich ein frisches Glas Xerez ein. Er war von mittlerer Größe, und sein etwas kantiges, nicht unattraktives Gesicht wirkte beinahe wie ein jüngeres Abbild des Antlitzes seines Vaters, doch besaß er die fast schwarzen Haare und dunkelbraunen Augen seiner Mutter, wogegen seinem Vater die Kombination braun und blau eignete. Er wandte sich von der Kredenz ab, die geöffnete Karaffe noch immer in der Hand. »Auch noch ein Gläschen, meine Liebe?« Das Mädchen, das vor ihm in dem großen bequemen Sessel vor dem Feuer saß, lächelte. »Ja bitte.« Mit der Rechten streckte sie ihr Glas vor, während sie sich mit der Linken das helle lange Haar aus der Stirn strich. Sie ist schön, dachte Seine Lordschaft. Lord Gisors füllte das Glas, dann schritt er mit der Karaffe zurück zur Kredenz. Als er den Glasstöpsel wieder in die Öffnung schob, begann er: »Du darfst nicht schlecht von My Lord Vater denken, Madelaine, auch wenn er gelegentlich ein wenig gereizt ist. Er...« -5 1 7
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß. Er denkt immer nur an die Grafschaft, nicht an den einzelnen Menschen.« Mit leise gefurchter Stirn kehrte Seine Lordschaft mit dem Glas zurück und nahm neben ihr in einem zweiten Sessel Platz. »Aber er denkt sehr wohl auch an den Einzelmenschen, meine Liebe. Er muß an jeden einzelnen Bewohner im Vexin denken genau wie ich selbst es auch tun muß, wenn ich das Grafschaftsamt einmal übernehme. Natürlich muß er in großen Zusammenhängen denken und die große Linie beachten, aber er macht sich durchaus auch Gedanken über den einzelnen.« Sie nippte an ihrem Weinglas, dann blickte sie mit ernsten grauen Augen zu ihm empor. »Schließt diese Sorge um den einzelnen dich auch ein? Oder mich? Er weiß, daß wir uns lieben, aber er verbietet unsere Heirat und besteht darauf, daß du Lady Evelynne de SaintBrieuc ehelichst - obwohl du sie ebensowenig liebst wie sie dich. Ist das nun die Sorge um den Einzelmenschen oder vielleicht eher der schlichte Wunsch, für dich eine politisch gute Partie zu finden?« Lord Gisors schloß die Augen und zügelte für eine Weile seine Zunge. Diese Auseinandersetzung hatten sie schon zahllose Male gehabt, daran war nichts Neues mehr. Er hatte ihr schon oft erklärt, daß My Lord der Graf eine Ehe zwar verbieten, aber keine erzwingen konnte. Gisors hatte sogar immer wieder ausgeführt, daß er sein Heiratsbegehren Seiner Königlichen Hoheit der Normandie vorbringen und, sollte er damit scheitern, sich sogar an Seine Kaiserliche Hoheit persönlich wenden könnte - doch daß er dies aus Respekt gegenüber seinem Vater nicht tun würde. Dieses »immer wieder« dröhnte ihm mittlerweile mit seiner ganzen Monotonie durch den Schädel. Natürlich hatte er seine eigenen Pläne, Madela ine ohne großes Drum und Dran einfach zu heiraten, nicht verlautbaren lassen. Es war durchaus wahrscheinlich, daß -5 1 8
sie selbst etwas gegen einen solchen Vorschlag haben würde. Er öffnete wieder die Augen. »Hab Geduld, Liebling. Ich kann dir versichern, daß er... »Daß er auf deine Linie einschwenken wird?« unterbrach sie ihn. »Niemals! Der Graf de la Vexin wird erst dann unserer Heirat zustimmen, wenn du selbst der Graf de la Vexin sein wirst! Dein Vater...« »Still!« sagte Lord Gisors mit befehlendem Unterton. »Meine Schwester.« Am gegenüberliegenden Ende des Saals war die Tür zur Damenkapelle aufgegangen und wieder geschlossen worden. Die Frau, die nun mit einem recht feierlichen Lächeln auf sie zukam, nahm mit sorgfältigen Bewegungen ihren Gebetsschleier ab, während sie über den breiten Teppich zum Kamin schritt. Sie nickte den beiden stumm zu und sagte: »Deine Stunde, My Lord Bruder. Von zehn bis elf, erinnerst du dich?« Lord Gisors trank seinen Wein aus und erhob sich lächelnd. »Selbstverständlich, My Lady Beverly. »Bleibet hier und wachet eine Stunde mit mir. ‹ Das Evangelium nach Matthäus.« Morgen war Karfreitag, der Tag der Kreuzigung; diese, die Vornacht, wurde symbolisch zusammen mit Unserem Heiland im Garten Gethsemane verbracht. Lord Gisors blickte auf die Uhr. Es war eine Sekunde vor zehn. »Vater, meine Stunde ist gekommen‹, Johannes...«, begann Gisors. Das Pendel schwang hinab. Die Uhr schlug zum ersten Mal. »Was, zum Teufel, war das?« gellte Lord Gisors. Draußen war ein entsetzlicher Schrei erschollen. Etwa eine Minute zuvor hatten zwei Milizmänner der Gräflichen Leibwache nahe der Mauer von St. Martin's Hall gestanden. Der eine stand auf seinem Posten, der andere war der Wachsergeant, der seinen Abendrundgang machte. Sie salutierten militärisch. -5 1 9
Der Wachmann machte Meldung, daß keine besonderen Vorkommnisse zu beobachten gewesen seien. Der Sergeant dankte ihm nach militärischer Art. Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: »Ist besser, im April Nachtwache zu schieben als im März, was, Jaime?« Wachmann Jaime erwiderte das Grinsen. »Wenigstens frier' ich mir dabei nicht die Nase ab, Sergeant Andray.« Er hob den Kopf, als er im Augenwinkel ein Licht aufleuchten sah. »Da kommt My Lord Graf.« Der Sergeant wandte ebenfalls den Blick. Er wußte, daß Jaime mit seiner Bemerkung nicht hatte sagen wollen, daß My Lord der Graf sich persönlich dem Posten näherte, sondern lediglich, daß Seine Lordschaft sein Privatgemach oben im Roten Turm aufsuchte. Das war etwas, woran sie gewöhnt waren. Der Graf besuchte seine private Werkkammer nur in unregelmäßigen Abständen, doch wenn er es tat, war sein Verhalten jedesmal vorhersehbar. Er kündigte den Leuten unten im Hof sein Kommen durch den Schein seiner flackernden Fackel an, die durch die Butzenscheiben seines Laborfensters zu erkennen war, wenn er sich ihm näherte. Dann, wenn er sich auf das Pult stellte, um das Gaslicht unmittelbar oberhalb des Oberbalkens zu entzünden, hob er die Fackel außer Sichtweite über das Fenster, so daß darunter nur ein Halbkreis aus Licht zu erkenne n war. Da änderte sich plötzlich und drastisch etwas an der Routine. Anstelle des warm schimmernden Gaslichts leuchtete mit einemmal ein merkwürdiges, bewegliches weißes Gleißen auf, das einen kurzen Augenblick hinter sich selbst durch das Zimmer herzujage n schien. Dann barst völlig unerwartet und mit gewaltiger Wucht die verbleite, facettierte Scheibe, und -5 2 0
Glassplitter schössen durch die Luft. Durch das zerschmetterte Fenster flog die zuckende, sich windende Gestalt von My Lord de la Vexin, und ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, als sie sich im achtzig Fuß tiefen Sturz auf den steingepflasterten Hof überschlug, wobei die kleine Fackel, die sie noch immer in einer Hand hielt, einen Funkenschweif wie ein Komet hinter sich herzog. Mit tödlicher Wucht trafen Graf und Hof aufeinander, und die darauffolgende Stille wurde nur von dem Klirren der Scherben unterbrochen, die noch immer von dem zerborstenen Fenster herabregneten. Um 0.44 Uhr in derselben Nacht stand Jaque Toile, Chief der Wachmannschaften der Stadt Gisors, mit zwei Wachsergeanten am Bahnhof und erwartete den einlaufenden Zug aus Rouen. Chief Jaques harte Augen musterten die Spätpassagiere, die aus den Abteilen der ersten Klasse stiegen. Es waren nur wenige, und der Chief entdeckte schnell das gesuchte Trio. »Gehen wir«, sagte er, »das sind sie.« Die drei Offiziere der Königlichen Friedenstruppe traten vor. Die drei Männer, auf die sie es abgesehen hatten, traten aus ihrem Abteil und warteten. Der erste war ein hochgewachsener, braunhaariger und attraktiver Mann von hagerer Statur in der Abendkleidung des Aristokraten; der zweite war kleiner und auf muskulöse Weise untersetzt und klobig, er trug das Arbeitsgewand eines Hexers; der dritte schließlich war ein etwas ältlicher, vertrocknet wirkender Mann mit grauem Haar, der einen Kneifer und die Abendkleidung eines Edelmanns trug. Er und der kleinere Mann trugen das eingestickte Wappen des Herzogs der Normandie an den Schultern. Chief Jaque trat zu dem aristokratisch wirkenden Herrn hinüber. »My Lord Darcy?« Lord Darcy, Oberermittlungsrichter Seiner Königlichen Hoheit, des Herzogs der Normandie, nickte. -5 2 1
»Der bin ich. Chief Jaque Toile, nehme ich an?« »Jawohl, My Lord.« »Meine Kollegen«, stellte Lord Darcy seine Begleiter vor. »Master Sean O Lochlainn, Oberster Gerichtshexer Seiner Königlichen Hoheit; Doktor James Pateley, Oberster Gerichtschirurg.« Der Chief der Wachmannschaftsbehörden nahm die Namen zur Kenntnis und sagte seinerseits: »Die Sergeanten Paul und Bertram, My Lord. Wir haben eine Dienstdroschke, die auf uns wartet, My Lord.« Vier Minuten später rollte die Droschke in Richtung Schloß Gisors. Ihre Spiralfederung und die pneumatischen Reifen sorgten trotz der unebenen Pflasterstraßen für eine bequeme Fahrt. Nach einem langen Schweigen erscholl Lord Darcys höfliche Stimme. »Ihr wirkt nachdenklich, mein lieber Chief.« »Wie bitte? Ach so, ja. Verzeihung, My Lord. Ich dachte nur nach.« »Das war mehr als offensichtlich. Darf ich vielleicht nach dem Gegenstand Eurer Überlegungen fragen?« »Mag solche Fälle nicht«, sagte Chief Jaque. »Bin ich nicht für ausgerüstet. Gespenster, Dämonen, schwarze Magie, dieses ganze Zeug. Ich bin kein Wissenschaftler, ich bin nur ein Sicherheitsbeamter.« Master Seans blaue Augen leuchteten interessiert auf. »Gespenster? Dämonen? Schwarze Magie?« »Einen Augenblick«, warf Lord Darcy ein. »Wir wollen doch lieber systematisch vorgehen. Alles, was man uns in Rouen mitteilte, war, daß de la Vexin bei einem Sturz zu Tode gekommen ist. Einzelheiten wurden uns über Teleklang nicht mitgeteilt. Was ist denn nun genau geschehen, Chief Jaque?« -5 2 2
Der Chief schilderte den Vorfall, wie er ihn aus den Berichten der beiden Wachmänner rekonstruiert hatte, die unmittelbar vor My Lord de la Vexins Tod Dienst getan hatten. »Tot war er jedenfalls zweifellos«, sagte der Chief. »Gebrochener Schädel, gebrochenes Genick. Wachsergeant Andray ließ eine ausziehbare Feuerleiter bringen. War die einzige Möglichkeit, in dieses Turmzimmer hinauf zu gelangen. Hat den Wachposten im Hof die Treppe hinaufgeschickt, um die beiden Männer, die vor Seiner Lordschaft Tür Wache standen, zu verständigen.« »Die wußten nichts davon?« fragte Lord Darcy. Chief Jaque schüttelte den Kopf. »Die Tür ist zu dick. Sogar zu dick, um sie jederzeit aufzubrechen. Braucht man eine Axt für. Deshalb ist Andray auch die Leiter emporgestiegen. Durchs Fenster und dann rein, um die Tür zu entriegeln. Inzwischen waren die Türwachen alarmiert. Und ab da wird die Sache komisch.« »Ach ja?« murmelte Lord Darcy. »Inwiefern komisch?« »Niemand im Zimmer. Ergibt einfach keinen Sinn.« Master Sean strich sich nachdenklich mit dem Daumen über das Kinn. »Wenn dem so war, Chief Jaque, dann hat ihn wohl auch keiner durchs Fenster gestoßen, eh? Könnte es sein, daß es bloß ein Unfall war? Vielleicht ist er ja ausgerutscht, als er die Gaslampe anzünden wollte, und ist vom Pult aus durchs Fenster in den Tod gestürzt?« Der Chief schüttelte den Kopf. »Ziemlich unwahrscheinlich, Hexenmeister. Die Leiche lag achtzehn Fuß von der Wand entfernt. Die Glassplitter sogar noch weiter.« Wieder schüttelte er den Kopf.
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»Der ist nicht einfach nur gestürzt. Unmöglich. Gestoßen hat man ihn.« Dr. Pateley nahm seinen Kneifer von der dünnen Nasenbrücke und musterte ihn, während er ihn mit einem feinen Leinentaschentuch polierte. »Vielleicht ist er auch gesprungen?« fragte er mit seiner typischen schüchternen Stimme. Chief Jaque musterte ihn scharf. »Gesprungen? Meint Ihr etwa Selbstmord?« »Nicht unbedingt«, erwiderte der Chirurg. Er blickte zu Lord Darcy auf. »Es kann viele Gründe geben, weshalb ein Mann springen könnte - eh, My Lord?« Lord Darcy unterdrückte ein Lächeln. »In der Tat, Doktor. Sehr scharfsinnig von Euch.« Er sah Chief Jaque an. »Könnte er gesprungen sein, Chief?« »Möglich. Ergibt aber keinen Sinn. Man begeht keinen Selbstmord, indem man durch eine geschlossene Scheibe springt. Ein Selbstmörder, der springen will, macht erst einmal das Fenster auf. Der hüpft nicht einfach durch eine Glasscheibe.« »Darauf wollte ich gar nicht hinaus«, meinte Dr. Pateley und setzte behutsam wieder seinen Kneifer auf. »Was, wenn er vor irgend etwas fliehen wollte?« Die Augen des Chiefs weiteten sich. »Wußte ich's doch! Dämonen!« Fünfundzwanzig Minuten später sagte Master Sean: »Nun, My Lord, was immer My Lord de la Vexin umgebracht haben mag, Chief Jaques ›Dämonen‹ waren es jedenfalls nicht, und auch keine andere Form von psychischen Elementalen.« Dr. Pateley legte die Stirn in Falten. »Keine andere Form von was?« -5 2 4
»Elementale, mein lieber Doktor. Eine psychische Projektion, die von den vier Aggregatzuständen der Materie symbolisiert wird: feste Materie, Flüssigkeit, Gas und Plasma. Oder Erde, Wasser, Luft und Feuer, wie man es früher nannte.« Master Sean stand zusammen mit Lord Darcy und dem Chirurgen in dem Turmzimmer, aus dem der verblichene Graf mit solcher Wucht geschleudert worden war. Master Sean hatte den Raum mit halbgeschlossenen Augen durchschritten, in der Rechten sein goldenes Henkelkreuz, und hatte alles untersucht. Die anderen hatten schweigend zugesehen, denn es gilt als unklug, einen Magier bei seinem Werk zu stören. Dann hatte der rundliche irische Hexer sein Urteil abgegeben. Lord Darcy hatte allerdings keine Zeit verschwendet, während er Master Sean zusah; er hatte das Vorgehen des Hexers zu oft beobachtet, um davon noch fasziniert zu sein. Statt dessen hatte er mit seinen scharfen grauen Augen sorgfältig den Raum gemustert. Es war ein ziemlich großes Zimmer, das den gesamten oberen Teil des Turms aus dem vierzehnten Jahrhundert einnahm, wenn man von dem kleinen Treppenabsatz einmal absah. Dieser Treppenabsatz war durch eine dicke, gepolsterte Tür aus Walnußholz vom Raum getrennt. Nachdem er dies festgestellt hatte, machte sich Lord Darcy daran, das übrige Zimmer einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Der Raum war etwa zwanzig Fuß breit und ebenso lang, denn der Turm war im alten normannischen Stil erbaut worden. Es gab nur ein Fenster. Die übrigen Wände waren mit Regalen und Schränken bedeckt. Entlang der Westwand verlief in drei Fuß Abstand vom Fußboden ein Wandbrett von etwa zweiunddreißig Zoll Tiefe. Es diente offensichtlich als Werkbank; denn es war übersät mit zahlreichen Glasbehältern, merkwürdig geformten Stücken Holz und Metall, ein paar Waagen und anderem -5 2 5
Zubehör. Auf den darüber befindlichen Brettern standen Reihen von Flaschen und Kruken, alle säuberlich beschriftet, die Flüssigkeiten, Pulver und Kristalle verschiedenster Art enthielten. An der Südmauer, von dem zerborstenen Fenster flankiert, standen zwei Regalelemente voller Bücher. Die halbe Ostmauer war ebenfalls mit Büchern bedeckt, die andere Hälfte mit Schränken. Auch an der Nordmauer waren Regale und Schränke zu sehen. Wegen der leisen Brise, die eiskalt durch die zerbrochene Scheibe wehte, tänzelte und flackerte die Gasflamme in dem darüber hängenden Wandleuchter umher, warf gespenstische Schatten durchs Zimmer und brachte die Glasbehälter mit glitzernden Lichtstrahlen zum Funkeln. Das Schreibpult des Grafen stand unmittelbar unter dem großen Fenster und schloß genau mit dem Sims ab. Lord Darcy trat darauf zu, beugte sich vor und spähte durch das zerstörte Fenster nach unten. Dort hatte man keinerlei ungewöhnliche Indizien gefunden. My Lord der Graf war allen Anzeichen zufolge an einem Genick- und Schädelbasisbruch gestorben, wenngleich die Autopsie vielleicht noch weitere Informationen würde liefern können. Die Durchsuchung des Leichnams hatte ebenfalls nichts von Bedeutung ergeben - nur daß Lord Darcy jetzt den Schlüssel zu dem allerheiligsten Privatzimmer des Grafen in der Tasche trug. Unten im Hof waren Chief Jaque und seine Männer gerade dabei, den Leichnam vorsichtig aus einem glitzernden Feld von Glasscherben zu heben und ihn in die Spezialkutsche des örtlichen Chirurgen zu befördern. Am Morgen würden Master Sean und Dr. Pateley dann die Autopsie durchführen. Lord Darcy lehnte sich wieder zurück und blickte zu der Gasflamme über dem Fenster hinauf. Der Comte de la Vexin war wie üblich mit seiner Fackel in die Kammer getreten. War wie üblich auf sein Pult gestiegen. Hatte wie üblich das Gas angedreht. Hatte wie üblich das Gas entzündet. Und dann... Und dann was? -5 2 6
»Ziemlich gespenstisch sieht das hier aus, eh, My Lord?« fragte Master Sean. Seine Lordschaft drehte sich zu ihm um, kehrte dem Fenster den Rücken zu. »Zumindest düster, mein lieber Sean. Gibt es hier eigentlich keine anderen Gasdüsen? Ach ja, doch, ich sehe sie schon. Zwei Stück auf jeder der anderen Wände. Anscheinend hat man die Rohre verlängert, als die Regale eingebaut wurden.« Er holte sein Pfeifenfeuerzug hervor. »Mal sehen, ob wir nicht etwas mehr Lic ht auf die Sache werfen können.« Er schritt vorsichtig durch den Raum und entzündete die anderen sechs Lampen. Sogar in ihren Glaszylindern flackerten sie noch; nun war der Raum zwar heller geworden, doch die Schatten tänzelten immer noch umher. »Aha! Und noch ein altmodischer Ölleuchter«, sagte Lord Darcy, emporblickend. Es handelte sich um eine Messingkugel von etwa fünfzehn Zoll Durchmesser, mit einem Ring am Unterteil und auf der oberen Seite einem Docht mit einem Glaszylinder, die von einem Kettennetz herabhing. Das daran befindliche Zugsystem gestattete es, die Lampe zum Auffüllen herabzulassen und zu entzünden. Doch nicht einmal auf Zehenspitzen konnte Lord Darcy den Ring erreichen. Er warf einen schnellen Blick durch den Raum, dann schritt er zur Tür zurück und öffnete sie. »Korporal, gibt es hier einen Haken, um die Öllampe dort herunterzuziehen? « »Das weiß ich wirklich nicht, My Lord«, sagte der Wachkorporal. »Seine Lordschaft hat sie nie benutzt, die Lampe, meine ich. Ist nie benutzt worden, solange ich mich zurückerinnern kann. Bezweifle sogar, daß da überhaupt noch Öl drin ist, My Lord.« -5 2 7
»Ich verstehe. Danke.«
Er schloß wieder die Tür.
»Schön, soweit also zum Thema zusätzliche Beleuchtung.
Hmmm. Dr. Pateley, Ihr habt den Leichnam gemessen. Wie groß war My Lord Graf?« »Fünf Fuß sechs, My Lord.« »Aha, das erklärt es also.« »Erklärt was, My Lord?« »In diesem Zimmer gibt es sieben Gasdüsen. Sechs davon befinden sich etwa siebeneinhalb Fuß über dem Boden. Die siebte, dort über dem Fenster, hängt neun Fuß über dem Boden. Warum hat er gewohnheitsmäßig diese als erste entzündet? Weil sie nur sechseinhalb Fuß über der Pultplatte hängt und er sie erreichen konnte.« »Wie ist er denn dann an die anderen gekommen, wenn er mehr Licht brauchte?« fragte Dr. Patele y und rückte seinen Kneifer zurecht. Master Sean grinste, sagte jedoch nichts. Lord Darcy seufzte. »Mein lieber Chirurg, ich glaube, Ihr seht Euch wohl nie etwas anderes an als menschliche Körper, kranke, sterbende oder tote, wie? Was seht Ihr denn dort drüben stehen?« Er zeigte in die Nordostecke des Raums. Dr. Pateley drehte sich um. »Oh. Eine Leiter.« Er sah etwas verlegen aus. »Ach so, natürlich. Gewiß doch.« »Wäre die nicht dagewesen«, sagte Lord Darcy, »dann hätte ich mich wirklich sehr gewundert. Wie hätte er sonst seine Bücher benutzen sollen und...« Er verstummte, den Blick noch immer auf die Leiter geheftet.
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»Hmmm. Interessant.« Er schritt zu der Leiter hinüber, prüfte sie und kletterte auf ihr die Wand empor. Er beugte den Kopf zurück, um sorgfältig die Zimmerdecke zu inspizieren. »Aha. Das war der alte Wachturm.« Er drückte zunächst mit einer Hand, dann mit beiden gegen die Decke. Ein zweieinhalb Fuß großes Paneel schwang sich über ihm auf protestierenden Scharnieren zurück. Lord Darcy kletterte hinauf und hievte sich durch die Dachluke. Er blickte sich auf dem Turmdach um, das von Zinnen umrahmt wurde. Schließlich kam er wieder zurück und schloß die Luke hinter sich. »Dort oben gibt es anscheinend nichts zu sehen, aber ich muß mir die Sache erst mal bei Tageslicht genauer anschauen.« Dann schritt er ohne ein weiteres Wort durch den Raum und begutachtete alles sehr gründlich, ohne jedoch etwas zu berühren. Er blickte zur Decke empor. »Schwere Messinghaken«, murmelte er. »Wozu? Ach ja, natürlich! Um verschiedene Apparaturen daran aufzuhängen. Sehr gut.« Fast hatte er bereits den ganzen Raum untersucht, als er schließlich auf etwas stieß, das sein Interesse wirklich fesselte. Er stand gerade neben der Tür, die Augen suchend auf den Boden gerichtet, als er plötzlich sagte: »Aha! Und was ist das wohl?« Er kniete nieder, betrachtete den Gegenstand sorgfältig und hob ihn schließlich mit Daumen und Zeigefinger auf. »Sieht aus«, sagte Master Sean, »wie ein Vierzollstück eines halbzolldicken Baumwollseils, My Lord. Und sehr schmutzig obendrein.« Seine Lordschaft lächelte trocken. »Genau das scheint der Fall zu sein, mein guter Sean. Interessant.« -5 2 9
Er musterte es genauer. »Ich wäre Euch sehr verbunden, My Lord«, sagte Master Sean etwas steif und förmlich, »wenn Ihr mir erklären würdet, was daran so interessant sein soll.« »Es ist Euch bereits aufgefallen, mein guter Sean«, sagte Lord Darcy, »wie makellos sauber dieses Labor ist. Hier ist sorgfältig Staub gewischt worden, und alles ist säuberlich geputzt. Alles scheint an seinem Platz zu liegen, nirgendwo liegt Papier herum, und es ist kein unordentlicher Fleck zu sehen. Der ganze Raum ist so sauber und blitzblank wie der Säbel eines Kavallerieoffiziers.« Er wies mit einer ausladenden Gebärde auf das Zimmer. »Das stimmt, My Lord, aber...«, fing Master Sean an. »Dann möchte ich aber gerne wissen«, fuhr Seine Lordschaft fort, »was ein Stück schmutziges Seil auf dem Boden zu suchen hat?« »Ich weiß es nicht, My Lord.« Master Sean war nun ehrlich verwirrt. »Was hat das zu bedeuten?« Lord Darcys Lächeln wurde immer breiter. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Master Sean. Aber ich hege nicht den geringsten Zweifel daran, daß es eine Bedeutung haben muß. Um dies herauszufinden, bedarf es allerdings noch weiterer Informationen.« Die nächste knappe Viertelstunde verging, ohne daß Lord Darcys Inspektion zu neuen Ergebnissen geführt hätte. »Also gut«, sagte er, »dann erledigen wir den Rest morgen, wenn die Lichtverhältnisse besser sind. Gehen wir jetzt hinunter und besprechen wir die Sache mit den Betroffenen. Ich fürchte allerdings, daß wir heute nicht sehr viel Schlaf bekommen werden.« Master Sean räusperte sieh entschuldigend. »My Lord, da der gute Chirurg und ich nicht dafür qualifiziert sind, -5 3 0
Zeugenbefragungen durchzuführen, sollten wir unsere Zeit wohl besser dazu nutzen, uns an die Autopsie zu machen. Eh?« »Eh? Ach so, ja, gewiß doch, wenn Ihr wünscht. Ja, natürlich.« Das kommt davon, dachte Lord Darcy, wenn man glaubt, daß andere, und seien es auch die engsten Gefährten, dieselben Interessen haben wie man selbst. Feierlich schlug die Uhr auf der Kredenz in St. Martin's Hall die Viertelstunde. Es war fünfzehn Minuten nach zwei am Karfreitagmorgen, dem 12. April 1974. Der Hochwürdige Father Villiers stand neben dem Kamin und blickte zu Lord Darcy empor. Er war nicht sehr groß - ungefähr fünf Fuß sechs , aber sein sehniger, kompakter Körper war von einer Aura der Kraft umgeben. Seine Bewegungen waren schnell und präzise, wirkten aber nie abgehackt oder nervös. Es eignete ihm eine gelassene Wachsamkeit, die auch von spiritueller Kraft kündete. Er war, schätzte Lord Darcy, in den Vierzigern, wobei Haupt und Schnurrbarthaare nur einen ganz leisen Grauschimmer aufwiesen. Die feinen Charakterzüge in seinem ansprechenden Gesicht zeugten von Stärke, Güte und Humor. Doch im Augenblick lächelte er nicht: Ein Gefühl der Tragik verdunkelte seinen Blick. »Sie sind alle in der Kapelle, My Lord«, sagte er gerade in seinem forschen, angenehmen und leisen Tenor. »Lord Gisors, Lady Beverley, die Demoiselle Madelaine und Sir Roderique MacKenzie.« »Wer sind diese letzten beiden, Hochwürden?« fragte Lord Darcy. »Sir Roderique ist Hauptmann der Gräflichen Leibwache. Die Demoiselle Madelaine ist seine Tochter.« »Ich werde sie nicht stören, Hochwürdiger Father«, sagte Lord Darcy. »In dieser Nacht vor dem Sakramentsaltar unseres Heilands Trost zu suchen, ist das allerheiligste Recht eines jeden -5 3 1
Christen, und man darf es nur in äußersten Notfällen beschneiden.« »Ist Mord Eurer Meinung nach kein äußerster Notfall?« »Vor seiner Durchführung durchaus, Hochwürden. Doch danach nicht mehr. Was läßt Euch glauben, daß es ein Mord war, Ehrwürdiger Vater?« Der Priester lächelte schwach. »Selbstmord war es jedenfalls nicht. Ich habe noch, kurz bevor er zum Roten Tur m hinüber ging, mit ihm gesprochen. Als Sensitiver hätte ich jeden Selbstmordgedanken sofort und mühelos aufgefangen. Und ein Unfall kann es auch kaum sein. Denn wenn er lediglich das Gleichgewicht verloren hätte, um durch das Fenster zu stürzen, wäre er am Fuß der Mauer aufgeprallt und nicht achtzehn oder zwanzig Fuß davon entfernt.« »Achtzehn«, murmelte Lord Darcy. »Ergo - Mord!« sagte Vater Villiers. »Dem stimme ich zu, Ehrwürdiger Vater«, sagte Lord Darcy. »Es wurde auch die Theorie vorgebracht, daß My Lord Graf eine Art Erscheinung wahrgenommen hat, die ihn derartig erschreckte, daß er lieber durch ein geschlossenes Fenster gesprungen ist, als sich ihr zu stellen. Was haltet Ihr davon?« »Das war wohl Chief Jaque.« Der Priester schüttelte den Kopf. »Kaum. Seine verblichene Lordschaft hätte eine wirkliche parapsychische Erscheinung nicht einmal andeutungsweise erahnt, und eine falsche, irgendeine Gaukelei, hätte ihn weder genarrt noch erschreckt.« »Er hätte eine echte Erscheinung nicht wahrnehmen können?« Vater Villiers schüttelte erneut den Kopf. »Er war ein Musterbeispiel jener wahrhaft seltenen Gattung, den parapsychisch Blinden.«
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Seit der Zeit, da der heilige Hilary von Walsingham im späten dreizehnten Jahrhundert seine Analogiegleichungen der Magischen Gesetze formuliert hatte, waren die wissenschaftlichen Hexer auch der Überzeugung gewesen, daß diese Gesetze nicht von jedermann angewandt werden konnten. Manche Menschen besaßen eben das Talent, und andere nicht. Man konnte ebensowenig erwarten, daß jeder ein Hexer oder Heiler oder Sensitiver werden konnte, wie man es bei den Berufen des Musikers, des Bildhauers oder des Chirurgen hat. Doch die Unfähigkeit, Geige zu spielen, bedeutet noch nicht, daß man auch unfähig war, das Geigenspiel eines anderen zu genießen - oder eben auch nicht zu genießen. Man mußte kein Musiker sein, um zu erkennen, daß es so etwas wie Musik gab. Es sei denn, man war ohne musikalisches Gehör. Mit einer anderen Analogie beschrieben: Es gibt nur wenige sehr wenige - Menschen, die völlig farbenblind sind. Diese sind nicht nur leicht behindert wie jene, die nicht zwischen Rot und Grün unterscheiden können, sie sehen vielmehr alles ausschließlich in Grautönen. Für sie ist die Welt völlig farblos. Für einen solchen Menschen ist es nur schwer verständlich, wieso drei völlig identische Gegenstände vom selben Grauton von einem anderen als »rot«, »blau« und »grün« unterschieden werden können. Dem absolut farbenblinden Menschen erscheinen solche Worte als sinnlos, weil er über kein entsprechendes Bezugssystem verfügt. »Seine verstorbene Lordschaft«, fuhr der Priester fort, »verspürte in jungen Jahren das Bedürfnis, das Priesteramt anzustreben. Er hätte seine Herrschaftsnachfolge in der Grafschaft an seinen jüngeren Bruder abgetreten. Doch das ging natürlich nicht. Ein untalentierter, parapsychisch blinder Mensch nützt der Kirche ebensowenig wie ein Farbenblinder der Künstlergilde.« Natürlich hatte dies den verstorbenen de la Vexin nicht daran gehindert, dachte Lord Darcy, eine herrschaftliche Position in -5 3 3
der Regierung Seiner Kaiserlichen Majestät anzutreten. Denn um eine Grafschaft zu regieren, bedurfte es keines magischen Talents. Seit mehr als achthundert Jahren, seit der Zeit von Heinrich II, hatte das Anglo-Französische Reich sich behaupten und ausdehnen können. Heinrichs Sohn Richard, der im Jahre 1199 knapp dem Tod durch einen Armbrustbolzen entgangen war, hatte das Reich mit fester Hand regiert und erweitert. Nach seinem Tode im Jahre 1219 hatte sein Neffe Arthur das Königreich noch weiter gestärkt. Die Große Reform im späten fünfzehnten Jahrhundert unter Richard dem Großen hatte dem Reich eine solide Arbeitsgrundlage verschafft, indem mit Hilfe der Parawissenschaft eine Gesellschaft aufgebaut worden war, die sich seit fast einem halben Jahrtausend als zugleich stabil, fortschrittlich und entwicklungsfähig erwiesen hatte. »Wo ist My Lords jüngerer Bruder?« fragte Lord Darcy. »Kapitän Lord Louis dient bei der Neuengland-Flotte«, erwiderte Vater Villiers. »Im Augenblick ist er in Port Holy Cross an der Küste von Mechicoe stationiert, glaube ich.« Na, das schließt ihn jedenfalls schon mal als Verdächtigen aus, dachte sich Lord Darcy. Laut sagte er: »Sagt mir doch bitte eins, Ehrwürdiger Vater, wißt Ihr irgend etwas über das Labor, das seine verstorbene Lordschaft oben im Roten Turm unterhielt?« »Ein Labor ist es also? Nein, davon wußte ich nichts. Er ist regelmäßig dort hinaufgegangen, ja, aber ich hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, was er dort tat. Ich glaubte, es handele sich um irgendein harmloses Steckenpferd. War das falsch gedacht?« »Vielleicht war es wirklich nur ein harmloses Hobby«, gab Lord Darcy zu. »Zumindest habe ich keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Seid Ihr nie in dem Raum gewesen?« -5 3 4
»Nein, nie. Und soweit ich weiß, war auch sonst niemand jemals dort, mit Ausnahme des Grafen. Warum?« »Weil es«, meinte Lord Darcy nachdenklich, »ein sehr seltsames Labor ist. Und doch gibt es keinen Zweifel daran, daß es sich dabei tatsächlich um eine Art wissenschaftliches Forschungslabor handelt.« Father Villiers berührte das Kreuz, das an seiner Brust hing. »Seltsam? Inwiefern?« Dann ließ er die Hand sinken und lachte leise. »Nein. Keine schwarze Magie, natürlich nicht. Er hat überhaupt nicht an irgendeine Magie geglaubt, weder an schwarze, an weiße, purpurne, grüne, rote oder an regenbogen farbene. Er war Materialist.« »Ach ja?« »Ein Auswuchs seiner Blindheit für alles Paranormale, Ihr versteht«, erklärte der Priester. »Er wollte Priester werden. Er wurde abgewiesen. Folglich lehnte er seinerseits ab, was die Ursache für seine Ablehnung gewesen ist. Er weigerte sich, an irgend etwas zu glauben, dessen Existenz ihm nicht von seinen eigenen Sinnesorganen bestätigt wurde. Er wollte die Grundprämisse des Materialismus beweisen: ›Alle Erscheinungen im Weltall lassen sich als Ergebnis des Aufeinanderwirkens nichtlebender Kräfte mit nichtlebender Materie erklären.‹« »Ja«, sagte Lord Darcy. »Eine Philosophie, die ich als Lebewesen nur schwer verstehen kann, ganz zu schweigen davon, daß ich sie nicht annehmen kann. Das ist also der Zweck seines Labors gewesen - mit wissenschaftlichen Methoden den Materialismus zu beweisen.« »So scheint es wohl, My Lord«, sagte Father Villiers. »Natürlich habe ich das Labor seiner verstorbenen Lordschaft nicht selbst gesehen, aber...« »Wer denn?« fragte Lord Darcy. Der Priester schüttelte den Kopf. -5 3 5
»Soweit ich weiß, niemand, den ich kenne. Niemand.« Lord Darcy blickte auf die Uhr. »Ist außer der Familie sonst noch jemand in der Kapelle, Ehrwürdiger Vater?« »Einige Le ute. Es gibt einen Außeneingang, durch den alle, die innerhalb der Festungsmauern leben, direkt vom Hof hineingelangen können. Und dann sind da noch vier Schwestern aus dem Konvent.« »Dann könnte ich also unbemerkt hineingelangen, um mir eine Stunde der Andacht vor dem Heiligen Sakrament am Altar der Ruhe zu gönnen?« »Selbstverständlich, My Lord. Die ganze Zeit kommen dort Menschen hinein und verlassen die Kapelle auch wieder. Ich würde jedoch empfehlen, den öffentlichen Eingang zu nehmen, denn wenn Ihr durch den Familieneingang einträtet, würde man Euch bestimmt bemerken.« »Vielen Dank, Hochwürden. Zu welcher Stunde werdet Ihr die Karfreitagsmesse der Seligen lesen?« »Der Gottesdienst beginnt um acht Uhr.« »Und wie komme ich zu diesem Außeneingang? Wahrsche inlich durch diese Tür dort und dann nach links, nicht wahr?« »Ganz genau, My Lord.« Drei Minuten später kniete Lord Darcy im hinteren Trakt der Kapelle mit dem Gesicht zu dem prachtvoll mit Blumen geschmückten Sakramentsaltar, die Augen auf das verhüllte Ziborium gerichtet, das in seiner Mitte stand. Eineinviertel Stunden darauf lag er friedlich schlummernd in dem Zimmer, welches ihm vom Seneschall zugewiesen worden war. Nach dem abrupten liturgischen Schluß der Karfreitagsmesse der Seligen kurz nach zehn Uhr morgens standen Lord Darcy und Master Sean wartend draußen vor dem Familieneingang zur -5 3 6
Kapelle. Dr. Pateley hatte sich sofort entschuldigen lassen; er hatte sich erboten, einem der örtlichen Leute dabei zu helfen, den Leichnam des Grafen für die Beerdigung vorzubereiten. »Wir wollen alles wieder so herrichten, wie es vorher war, My Lord«, lauteten seine Worte. Darcy und der stämmige kleine irische Hexer hatten sich einen Platz im hinteren Teil der Kapelle ausgesucht und das Gotteshaus vor der Familie des Verstorbenen verlassen, die sich in ihrem reservierten Gestühl im vorderen Teil der Kapelle versammelt hatte. »Ich vertraue darauf«, murmelte Seine Lordschaft sehr leise, »daß der Allmächtige einen besonderen Ort der Bestrafung für Menschen vorbereitet hat, die während der Karwoche einen Mord begehen.« »Aye, My Lord, ich weiß, was Ihr meint«, flüsterte Master Sean. »Ich selbst genieße auch die Dreistundenpredigt am Kar Freitag - vor allem, wenn es sich dabei um einen wirklich guten Prediger handelt, was man sich ja von Father Villiers erzählt. Aber der Dienst geht bekanntlich vor.« Er hielt inne und fuhr schließlich in ebenso leisem Ton fort: »Meint Ihr, daß Ihr den Fall schon bald werdet lösen können?« »Noch vor Ende des Tages, schätze ich.« Master Sean sah ihn verblüfft an. »Dann wißt Ihr also, wer es getan hat?« Er achtete darauf, weiterhin leise zu sprechen. »Wer es getan hat? Natürlich, das ist doch ziemlich offensichtlich. Aber ich brauche mehr Informationen darüber, warum und wie es geschah.« Master Sean blinzelte. »Aber Ihr habt doch noch überhaupt niemanden verhört, My Lord.«
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»Das war auch nicht nötig. Doch der Fall ist noch nicht gänzlich abgeschlossen.« Master Sean schüttelte leise lachend den Kopf. »Das ist Euer Hauch von einem Talent, My Lord.« »Wißt Ihr, mein guter Sean, fast habt Ihr mich davon überzeugt, daß ich tatsächlich eine Spur Talent habe. Wie habt Ihr es noch ausgedrückt?« »Wie alle großen Detektive, My Lord, besitzt Ihr die Fähigkeit, von einer unbewiesenen Annahme zu einer vorzeitigen Schlußfolgerung zu springen, ohne den Raum dazwischen zu durchqueren. Danach kehrt Ihr dann zurück und füllt ihn aus.« Wieder machte er eine Payse. »Na schön, wer war es denn...« »Psst! Da kommen sie!« Drei Personen waren aus der Kapelle gekommen: Lord Gisors, Lady Beverly und die Demoiselle Madelaine MacKenzie. Master Seans Lippen bewegten sich kaum, und seine Stimme war fast unhörbar, als er sagte: »Frage mich, wo der Rest des MacKenzie-Clans hingegangen ist, My Lord.« »Danach werden wir fragen.« Sie wußten beide, daß Hauptmann Sir Roderique und sein Sohn, Sergeant Andray, zusammen mit den anderen im Kirchstuhl der Familie gesessen hatten. Die drei kamen den Saal entlang auf den großen Kamin von St. Martin's Hall zu, wo Lord Darcy und Master Sean sie inzwischen erwarteten. Lord Darcy trat vor und verbeugte sich. »My Lord de la Vexin.« Der junge Mann sah ihn erschrocken an. »Nein. Das ist mein Va.,.« -5 3 8
Er brach ab. Es war das erste Mal, daß ihn jemand als »Lord de la Vexin« angesprochen hatte. Natürlich war es nur eine Ehrenbezeugung; er würde erst dann wirklich Graf de la Vexin sein, wenn der König seinen Titel bestätigt hatte. Lord Darcy bemerkte die Verwirrtheit des jungen Mannes und fuhr fort: »Ich bin Lord Darcy, My Lord. Dies ist Master Sean. Wir wissen die Einladung zum Frühstück zu schätzen, welche uns von Eurem Seneschall übermittelt wurde.« Der neue Lord de la Vexin hatte inzwischen seine Fassung wiedergewonnen. »Ach ja, freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, My Lord. Dies ist meine Schwester, Lady Beverly, und dies ist die Demoiselle Madelaine. Kommt, das Frühstück sollte gleich fertig sein.« Er ging selbst voran. Das Frühstück war köstlich, aber nicht übermäßig üppig. Es wurden exquisit pochierte Quinelles de poisson gereicht; Oeufs boucher; heiße Croissants; Milch und Kaffee. Wenige Minuten vor dem Frühstück erschienen auch Hauptmann Roderique und Sergeant Andray. Father Villiers folgte ihnen beinahe auf dem Fuß. Während des Frühstücks tauschte man lediglich Artigkeiten aus, so daß Lord Darcy Gelegenheit hatte, die anderen zu beobachten, ohne dabei aufdringlich zu wirken. De la Vexin wirkte noch immer benommen, ja, wie geistesabwesend, ein Zustand, aus dem ihn die Konversation nur teilweise herauszureißen vermochte. Die Demoiselle Madelaine, eine schöne, blonde Frau, hatte ein recht förmliches Gebaren, doch ihre Augen wiesen ein helles, erwartungsvolles Schimmern auf, das Lord Darcy nicht sonderlich behagte. Lady Beverly, die etwa zehn Jahre älter sein mochte als ihr Bruder, sah aus, als sei sie schon als Witwe geboren - oder als Nonne im Kloster. Sie war ruhig, sprach leise und hielt sich sehr im Hintergrund, doch dahinter wiederum -5 3 9
spürte Lord Darcy eine Festigkeit und Intelligenz, die sich gewissermaßen in Lauerstellung zu befinden schien. Hauptmann Sir Roderique MacKenzie war vielleicht ein Zoll größer als Lord Darcy - ein hagerer Mann von aufrechter, breitschultriger Haltung mit einem dichten hellbraunen Bart und Schnauzer und der für die Frankoschotten typischen einsilbigen Sprechweise. Sein Sohn wies eine große Ähnlichkeit mit ihm auf, doch war er glattrasiert, und sein Haar war etwas heller, wenngleich nicht ganz so blond wie das seiner Schwester Madelaine. Beiden war eine Ausstrahlung eigen, die weder gänzlich militärisch noch polizeimäßig war, aber von beidem etwas besaß. Sie waren Wachmänner und zeigten dies auch offen. Father Villiers wirkte zerstreut, was Lord Darcy gut verstehen konnte. Der symbolische Tod Jesu Christi und der tatsächliche Tod des Lord de la Vexin waren zu eng miteina nder verbunden, als daß es dem guten Priester keine spirituellen Probleme hätte machen können. Priester zu sein, war kein leichtes Leben. Nach dem Frühstück wurde ein Fruchtkompott aus spanischen Orangen serviert, dem weiterer Kaffee folgte. Der Sohn des verblichenen Grafen räusperte sich. »My Lords, Ladies und Gentlemen«, begann er. Er machte eine kurze Pause und schluckte schwer. »Einige von Euch haben mich als ›de la Vexin‹ angeredet. Bis diese Angelegenheit geklärt ist, würde ich es jedoch vorziehen, meinen bisherigen Titel Gisors beizubehalten. Äh - wenn Ihr nichts dagegen haben solltet.« Erneute Pause. Er blickte Lord Darcy an. »Ihr seid gekommen, um uns zu verhören, My Lord?« Lord Darcy sah völlig unschuldig drein. »Eigentlich nicht, Lord Gisors. Doch wenn Euch danach sein sollte, den Tod Seiner Lordschaft zu besprechen, könnte dies vielleicht dabei helfen, etwas Licht in die geheimnisvollen Umstände zu werfen, die ihn umgeben. Ich weiß, daß niemand -5 4 0
der Anwesenden zugegen war, als der... hm, der Vorfall stattfand. Ich suche nicht nach Alibis. Aber hat jemand vielleicht selbst irgendwelche Vorschläge zu machen? Wie ist der verblichene Graf de la Vexin gestorben?« Wie ein unheimlicher Nebel senkte sich das Schweigen über die Runde, schwer und dumpf. Jeder blickte den anderen an in der Hoffnung, er würde als erster das Wort ergreifen, doch niemand sagte etwas. »Nun«, meinte Lord Darcy nach einer Weile, »dann gehen wir das Problem doch mal von einer anderen Warte aus an. Sergeant Andray, von allen Anwesenden hier seid Ihr anscheinend der einzige Augenzeuge gewesen. Welchen Eindruck hattet Ihr vom Gang der Ereignisse? « Der Sergeant zuckte leise zusammen, richtete sich in seinem Stuhl etwas auf und räusperte sich nervös. »Nun, Euer Lordschaft, wenige Minuten vor zehn standen Wachmann Jaime und ich...« »Nein, nein, Sergeant«, unterbrach Lord Darcy ihn sanft, »da ich die Meldung gelesen habe, die Ihr und Jaime dem Chief Jaque gemacht habt, weiß ich recht genau, was Ihr gesehen habt. Was mich jedoch interessiert, das ist Eure Theorie darüber, was wohl die Ursache für das sein mag, was Ihr gesehen habt.« Nach kurzer Pause sagte Sergeant Andray: »Für mich sah es so aus, als sei er durch das Fenster gesprungen, Euer Lordschaft. Aber ich habe nicht die leiseste Erklärung dafür, warum er so etwas hätte tun sollen.« »Ihr habt also nichts gesehen, was ihn vielleicht zu diesem Sprung getrieben haben könnte?« Sergeant Andray furchte die Stirn. »Diese Lichtkugel war das einzige. Jaime und ich haben sie in unserem Bericht erwähnt.«
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»Ja. ›Eine Kugel aus gelblich-weißem Licht schien einige Sekunden lang durch den ganzen Raum zu tänzeln, dann fiel sie zu Boden und verschwand.‹ So habt Ihr es doch formuliert, nicht wahr?« »Ich hätte eigentlich formulieren müssen: ›stürzte dem Boden entgegen‹, Euer Lordschaft. Denn aus meinem Blickwinkel konnte ich gar nicht erkennen, ob sie wirklich auf dem Boden auf traf oder nicht.« »Sehr gut, Sergeant! Ich habe mich schon gefragt, ob Ihr diesen kleinen Widerspruch wohl noch berichtigen würdet, und das habt Ihr zu meiner Zufriedenheit nun getan.« Lord Darcy überlegte einen Augenblick. »Schön. Ihr seid also zu dem gestürzten Körper hinübergeeilt und habt Euch davon überzeugt, daß Seine Lordschaft tot war. Habt Ihr ihn dabei berührt?« »Nur sein Handgelenk, um festzustellen, ob er noch einen Pulsschlag hatte. Doch er hatte keinen, und der Winkel, in dem sein Kopf abgeknickt war...« Er brach ab. »Ich verstehe. Inzwischen hattet Ihr Wachmann Jaime nach dem Feuerwehrwagen geschickt. Als er zurückkam, seid Ihr mit Hilfe der ausziehbaren Leiter emporgeklettert und habt die Zimmertür von innen geöffnet, um die anderen Wachmänner einzulassen. War das Gaslicht da noch an?« »Nein. Es muß ausgeblasen worden sein. Ich habe das Gas abgestellt und bin dann zur Tür hinüber gegangen, um sie zu öffnen. Das Licht der Hoflaternen war hell genug, um sich zurechtzufinden.« »Und Ihr habt nichts Außergewöhnliches entdecken können?« »Nichts und niemanden, Euer Lordschaft«, erwiderte der Sergeant mit Bestimmtheit. »Und die anderen Wachmänner ebensowenig.« -5 4 2
»Das scheint mir eine sehr eindeutige Aussage zu sein. Habt Ihr denn den Raum durchsucht?« »Nicht richtig, nein. Wir haben uns umgesehen, um mit Hilfe unserer Handfackeln nachzusehen, ob sich dort irgend jemand aufhielt. Aber in diesem Zimmer gibt es keine Verstecke. Wir hatten die Schutzmannschaften gerufen, und als sie kamen, haben sie den Raum einer etwas gründlicheren Untersuchung unterzogen, doch ohne Erfolg.« »Also gut. Als ich ankam, brannte das Gaslicht über dem Fenster. Wer hat es angezündet?« »Der Chief der Wachmannschaft, Jaque Toile, Euer Lordschaft.« »Ich verstehe. Danke, Sergeant.« Lord Darcy musterte die anderen Anwesenden, einen nach dem anderen. Ihr Schweigen schien nicht enden zu wollen. »Lady Beverly, habt Ihr etwas zu dieser Besprechung beizutragen?« Lady Beverly blickte Father Villiers mit gelassenem Ausdruck an. Der Priester sah sie geradeheraus an. »Ich rate Euch zu sprechen, mein Kind. Wir müssen dieser Angelegenheit auf den Grund gehen.« Ich verstehe, dachte Lord Darcy. Es geht um etwas, das im Beichtstuhl besprochen wurde. Der Ehrwürdige Vater darf zwar nicht darüber sprechen - aber er kann ihr raten, es zu tun. Lady Beverly richtete ihren Blick wieder auf Lord Darcy. »Ihr wollt eine Theorie hören, My Lord? Nun gut.« Eine entsetzliche Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit. »Seine verstorbene Lordschaft, mein Vater, ist von Gott für seinen Unglauben bestraft worden. Father Villiers hat mir zwar gesagt, daß dem nicht so sein kann, aber...« Sie schloß die Augen. »- ich fürchte sehr, daß es doch der Fall ist.« -5 4 3
»Wie dies, My Lady?« fragte Lord Darcy sanft. »Er war ein Materialist. Er war blind für parapsychische Dinge. Er hat geleugnet, daß andere die von Gott gesandte Gnade des Sehens und des Talents besitzen. Er hat behauptet, daß das alles Betrug sei, alles Mumpitz. Er war allen Gefühlen gegenüber völlig verschlossen.« Nun blickte sie Lord Darcy nicht mehr an, sondern starrte durch ihn hindurch, als hätte sie die Augen auf irgendeinen fernen Horizont gerichtet. »Er war kein böser Mensch«, fuhr sie fort, ohne ihren Blick von der Ferne abzuwenden, »aber ein sündiger.« Plötzlich geriet ihr Blick ins Flackern, und sie sah direkt in Lord Darcys graue Augen. »Wißt Ihr, daß er eine Heirat zwischen meinem Bruder und der Demoiselle Madelaine untersagt hat, weil er die Liebe zwischen diesen beiden nicht erkannte? Er wollte, daß Gisors Evelynne de Saint-Brieuc ehelicht.« Darcys Augen richteten sich sofort auf Lord Gisors und Madelaine MacKenzie. »Nein, das wußte ich nicht. Wie viele andere wußten denn noch davon?« Nun ergriff Hauptmann Sir Roderique das Wort. »Wir alle, My Lord. Er machte keinen Hehl daraus. Der Graf hat es verboten, und ich habe es auch verboten. Wenn ich auch rein rechtlich gesehen bei meiner Tochter gar keine Handhabe dazu hatte.« »Aber warum hat er...« Lady Beverly schnitt Lord Darcys Frage abrupt ab. »Die Politik, My Lord. Und weil er unfähig war, wahre Liebe als solche zu erkennen. Deshalb hat ihn Gott für seinen Starrsinn bestraft. Würdet Ihr mich vielleicht entschuldigen, My Lord? Ich möchte die Dreistundenpredigt hören.« -5 4 4
Schnell fügte Father Villiers hinzu: »Würdet Ihr uns beide entschuldigen, My Lord?« »Aber gewiß doch, Hochwürden und Lady Beverly«, erwiderte Lord Darcy und erhob sich. Schweigend sah er ihnen nach, wie sie den Raum verließen. Eine halbe Stunde nach Mittag. Lord Darcy und Master Sean standen im Hof unterhalb des Roten Turms und blickten auf ein Meer von Glasscherben hinab, die von einem Kordon von Wach- und Schutzposten umgeben waren. »Nun, mein guter Sean, was haltet Ihr von unserer Frühstückskonversation?« »Faszinierend, My Lord«, erwiderte der Hexer. »Ich glaube, ich beginne zu begreifen, worauf Ihr hinauswollt. Lady Beverly ist nicht ganz klar im Kopf, nicht wahr?« »Sagen wir lieber, daß sie ein paar ziemlich merkwürdige Vorstellungen von Gott hat«, meinte Lord Darcy. »Seid Ihr bereit für dieses Experiment, Master Sean?« »Das bin ich, My Lord.« »Braucht Ihr nicht einen zweiten Mann für diese Art von Unternehmung?« Master Sean nickte. »Natürlich, My Lord. Chief Jaque bringt den Wanderhexer Emile mit, das ist der Gerichtshexer der Grafschaft. Ich habe ihn gestern abend kennengelernt; er ist ein guter Mann, der eines Tages auch mal Meister werden wird. Eigentlich sind die Zauber sehr einfach, My Lord. Nach dem Gesetz der Kontinuität gehört jeder Teil einer Struktur auch nach seiner Abtrennung noch immer zur Gesamtstruktur. Wir können ihn in den letzten Zustand zurückversetzen, als er noch Bestandteil eines zusammenhängenden Ganzen war - und zwar vollständig, wenn es erforderlich sein sollte, aber Ihr wollt ihn ja nur bis an den -5 4 5
Punkt nach dem Zerbrechen, aber vor dem Auseinanderstieben zurückgebracht haben. Die Wiederherstellung selbst ist nicht weiter schwierig. Schwierig ist es vielmehr, die Sache danach aufrechtzuerhalten. Deshalb brauche ich überhaupt einen zweiten Mann.« »Ich werde meine Messungen und Beobachtungen so schnell durchführen wie möglich«, versprach Lord Darcy. »Ah, da sind sie ja!« Master Sean folgte dem Blick Seiner Lordschaft zum Haupttor des Hofs. Dann sagte er mit großem Ernst: »Tatsächlich. Der eine trägt die schwarz-silberne Uniform eines Chiefs der Wachmannschaft, der andere die Arbeitskleidung eines Wanderhexers. Woraus ich schließe, daß es sich bei ihnen nicht um einen Trupp Kaiserlicher Marinesoldaten handelt.« »Sehr scharfsinnig von Euch, mein guter Sean. Macht weiter so, dann werdet Ihr am selben Tag zum Meisterdetektiv werden, wenn ich es bis zum Meisterhexer geschafft habe. Chief Jaque und ich werden nun hinauf ins Turmzimmer gehen, während Ihr und Wanderhexer Emile hier unten wirkt. Nur zu.« Lord Darcy schritt mühsam die acht Treppen empor, an zahlreichen Arbeitszimmern vorbeikommend, und wünschte sich, daß er doch nur im Schloß von Evreux wäre, wo der verstorbene Bruder der Gräfin D'Evreux einen dampfgetriebenen Aufzug hatte einbauen lassen. Kein Dummkopf, der Mann, dachte Lord Darcy. Oben auf dem Treppenabsatz gingen ein Schutz- und ein Wachmann sofort in Habachtstellung, als Seine Lordschaft erschien. Er nickte ihnen zu. »Guten Tag.« Mit Daumen und Zeigefinger betastete er zuerst seine linke und dann die rechte Westentasche. -5 4 6
»Ist das Zimmer abgeschlossen?« fragte er.
Der Schutzmann überprüfte die Tür.
»Jawohl, Euer Lordschaft.«
»Ich habe anscheinend den Schlüssel verlegt. Gibt es
vielleicht noch einen zweiten?« »Es gibt noch ein Doppel davon, Euer Lordschaft«, erwiderte der Wachmann, »aber der ist in Hauptmann Sir Roderiques Büro eingeschlossen. Ich kann ihn für Euch holen, wenn Ihr wünscht. Es ist nur zwei Treppen tiefer.« »Nein, es ist doch nicht nötig.« Lord Darcy holte den Schlüssel aus seiner rechten Westentasche hervor. »Ich habe ihn wiedergefunden. Aber dennoch vielen Dank, Wachmann. Chief Jaque wird in wenigen Minuten oben sein.« Er sperrte die Tür auf, öffnete sie, trat ein und schloß sie wieder hinter sich. Etwa drei Minuten später öffnete Chief Jaque die Tür und fragte: »Sucht Ihr etwas, My Lord?« Lord Darcy kauerte auf den Knien und durchsuchte eine Kommode, wobei er ihren Inhalt teils beiseiteschob, teils hervorholte. »Ja, mein lieber Chief, ich suche nach dem Beweisstück, mit dem wir einen Mörder hängen können. Ich dachte erst, es müßte sich in einem der Schränke befinden, aber die enthalten nichts als Glas. So kam ich darauf, daß es hier sein - ah!« Er zog den Kopf aus der Schublade und richtete sich, immer noch auf den Knien, auf. In der Hand hielt er ein sechs Fuß langes Stück gewöhnliches Baumwollseil. »Ein bißchen dünn, um jemanden damit zu hängen«, meinte Chief Jaque skeptisch. »Für diesen Mörder wird es genügen«, versetzte Lord Darcy und stand auf. Er musterte das Seil eindringlich. »Wenn es nur...« -5 4 7
Da wurde er von einem Hallo-Ruf im Hof unterbrochen. Er schritt zu dem zerborstenen Fenster hinüber und blickte hinunter. »Ja, Master Sean?« rief er. »Wir können anfangen, My Lord«, rief der rundliche kleine irische Hexer ihm zu. »Bitte zurücktreten.« Im Hof standen Schutz- und Wachmänner mit dem Gesicht nach außen in einem großen Kreis um die Fensterscherben. Wanderhexer Emile, ein kleiner, magerer Mann mit einem Pariser Akzent, hatte die Stelle sorgfältig mit hellblauer Kreide drei Zoll hinter den Stiefelabsätzen der Wachposten abgezirkelt. »Es ist, daß ich fertig bin«, sagte er in seinem gräßlichen Patois. »Ausgezeichnet«, erwiderte Master Sean. »Dann baut das Feld auf und haltet es aufrecht. Ich werde Euch alle Kraft geben, die ich habe.« »Aber ja, Meister.« Er öffnete seinen mit Symbolen verzierten Reisesack, der dem von Master Sean zwar ähnelte, sich in seinen Einzelheiten aber davon deutlich unterschied, und holte zwei spiegelglatt polierte silbrige Stäbe hervor, die derartig reich mit Symbolen ziseliert waren, daß sie im Licht der frühen Nachmittagssonne nur so glitzerten. »Für den Cattell- Effekt ist es notwendig, daß es ist das Silber, nicht?« »So ist es«, stimmte Master Sean ihm zu. »Ihr werdet Euch um die statischen Zauber kümmern, während ich mich mit den kinetischen befasse. Seid Ihr bereit?« »Ich bin bereit«, sagte Wanderhexer Emile. »Fahrt fort.« Er stellte sich unmittelbar innerhalb des blauen Kreisekreises auf, mit dem Gesicht zum Roten Turm, und hielt die Stäbe im -5 4 8
Winkel von neunzig Grad zu einem V empor. Master Sean entnahm seinem eigenen Reisesack einen Einbläser und füllte ihn mit einem vorabgemischten Pulver. Dann bewegte er sich vorsichtig im Kreis und blies Pulverwolken hervor, die sich sanft auf den Hofboden senkten und auch die allerkleinste Scherbe mit mindestens einem Pulverkorn bedeckten. Nachdem er den ganzen Kreis abgeschritten hatte, stellte sich Master Sean vor dem Wanderhexer Emile auf. Er steckte den Einbläser wieder in seinen Reisesack und zog dafür einen nur achtzehn Zoll kurzen Stab aus fahlem, gelbem Kristall hervor, mit dem er in der Luft ein Symbol zog. Der Cattell-Effekt begann sich zu manifestieren. Zunächst gerieten die Fensterscherben nur sehr langsam in Bewegung, doch das änderte sich bald. Wie ein umgekehrter Wasserfall im Zeitlupentempo erhoben und sammelten sie sich, eine Myriade funkelnder Scherben, die emporstiegen und in einer glitzernden Glasfontäne dem leeren Fensterrahmen im Gemäuer, achtzig Fuß über dem Boden, entgegenströmten. Ein leises Klirren begleitete die Bewegung, als vereinzelte Scherben auf dem Weg empor ebenso gegeneinander stießen, wie sie es auf dem Weg in die Tiefe getan hatten. Nur die überragende Disziplin der Schutz- und Wachmänner sorgte dafür, daß sie ihre Neugier zügeln konnten und sich nicht umdrehten, um zuzuschauen. Immer höher stiegen die Glassplitter und -Scherben, wie scharfkantige, spitze Regentropfen, die dem Himmel entgegenstürzten. Als sie an der leeren Öffnung angelangt waren, verbanden sie sich zueinander zu einem Fenster - das jedoch nicht ganz ein richtiges Fenster war, denn es wölbte sich stark nach außen. Oben im Zimmer des verstorbenen Grafen sah Lord Darcy mit an, wie die fliegenden Fragmente an die Stelle zurückkehrten, an der sie sich einst befunden hatten. Als die Stasis erreicht war, blickte er den Chief der Wachmannschaft an. -5 4 9
»Kommt, mein guter Jaque, wir sollten unsere Hexer nicht mehr belasten als unbedingt notwendig.« Er schritt zu dem Fenster hinüber, gefolgt von dem Chief. Das facettierte Fenster war weder ein Scherbenhaufen noch ein vollständiges Ganzes. Es wölbte sich auf seltsame Weise nach außen, und jedes Glasstück berührte dabei seinen Nachbarn fast, doch ohne eng mit ihm abzuschließen. Die Verbleiung zwischen den einzelnen Facetten war geweitet und auswärts verbogen, als wäre das ganze Fenster vom Aufprall einer gigantischen Faust getroffen worden und hätte gerade noch im letzten Augenblick aufgehört, sic h auszudehnen. »Ich bin mir nicht ganz sicher, daß ich das wirklich verstehe«, meinte Chief Jaque. »So sah das Fenster einen Sekundenbruchteil später aus, nachdem Seine Lordschaft, der verstorbene Graf, dagegengestoßen war. In diesem Augenblick wurde es nach außen gedrückt und zerschmettert, doch die Scherben waren noch nicht auseinandergestoben. Ich möchte Euch vor allem auf den Mittelteil des Fensters aufmerksam machen.« Der Chief der Wachmannschaft betrachtete alles mit scharfen Augen. »Verstehe, was Ihr meint. Wie eine Gußform. Da ist das Kinn... der Brustkorb... der Bauch... die Knie.« »Ganz genau. Und nun versucht doch mal, eine Körperhaltung anzunehmen, die einen solchen Abdruck hervorbringen würde«, sagte Lord Darcy. Der Chief grinste. »Nicht nötig. Ist doch offensichtlich. Die Unterschenkel zurückgebogen. Der Kopf so weit zurückgelegt, daß das Kinn als erstes auftreffen mußte. Ebenso Brustkorb und Bauch.« Seine Augen verengten sich.
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»Ist nicht hinausgesprungen, ist nicht hinausgefallen. Ist von hinten gestoßen worden, und zwar mit Gewalt.« »Genau so war es. Ausgezeichnet, Chief Jaque. Und nun wollen wir so schnell und so genau wie möglich unsere Messungen durchführen«, sagte Lord Darcy, »wobei wir allerdings darauf achten müssen, daß wir dieses unstabile Gebilde nicht berühren. Sonst zerschneiden wir uns wahrscheinlich die Hände, wenn das ganze Ding zusammenbricht.« Die Szene unten im Hof war zur Reglosigkeit erstarrt. Schutz und Wachmänner standen in Paradehaltung, während die beiden Hexer wie Statuen dastanden, Augen und Geist auf das darüber befindliche Fenster gerichtet, präzise und selbstsicher die Stäbe haltend. So verging Minute um Minute, und langsam wurde die Anstrengung spürbar. Schließlich erscholl Lord Darcys Stimme: »Jederzeit, wann es Euc h beliebt, Master Sean.« Ohne sich zu bewegen, sagte Master Sean in scharfem Ton: »Sergeant! Bringt Eure Männer in Sicherheitsabstand. Bewegung!« Der Schutzsergeant bellte seine Befehle, und Schutz- und Wachmänner wichen schnellstens zum Haupttor zurück. Dann drehten sie sich um, um zuzusehen. Die Magier ließen ihren Halt fahren. Die mächtigen Kräfte, mit denen sie die Glasscherben an Ort und Stelle gehalten hatten, ließen nach, und die Schwerkraft übernahm erneut die Kontrolle. Nun setzte eine Lawine, ein Wasserfall funkelnder Scherben ein. Mit gewaltigem Klirren und Getöse glitten und stürzten sie die Steinmauer hinab, um am Fuß des Roten Turms zu einem Haufen zusammenzusinken. Die Vorführung war zwar nicht ganz so spektakulär wie die Wiederzusammensetzung des Fensters, doch den Schutz- und Wachmännern genügte es vollauf. Einige Minuten später kämpfte sich Master Sean die Treppen hinauf und betrat das Labor des verstorbenen Grafen. -5 5 1
»Ah, Master Sean!« sagte Lord Darcy. »Wo ist denn Wanderhexer Emile?« Der irische Hexer lächelte etwas wehmütig. »Er ist nach Hause gegangen, My Lord. Das war anstrengende Arbeit, und er ist nicht so gut dafür ausgebildet wie ich.« »Ich nehme doch an, daß Ihr ihm mein Kompliment ausgesprochen habt? Ihr beide habt wirklich außerordentliche Arbeit geleistet.« »Danke, My Lord. Ich habe Wanderhexer Emile mein eigenes Kompliment ausgesprochen und ihn des Euren versichert. Habt Ihr erreicht, was Ihr wolltet, My Lord?« »Das habe ich, das habe ich. Nun bleibt nur noch eine einzige Sache zu erledigen. Eine sehr simple Überprüfung, aber ich glaube, daß sie äußerst erhellend sein dürfte. Zunächst einmal möchte ich Eure Aufmerksamkeit auf die beiden Fünf-GallonenGlasballons richten, die Chief Jaque und ich soeben in einer der unteren Schubladen entdeckt haben.« Die beiden Glasballons standen inzwischen nebeneinander auf der Arbeitsplatte. Ihre Etiketten waren zu erkennen. Auf der einen Flasche, die kaum einen halben Zoll mit einer blassen gelblichen Flüssigkeit gefüllt war, stand die Bezeichnung Konzentrierter Flüchtiger Salpetergeist. Auf der anderen, die halbvoll mit einer klaren, ölig aussehenden Flüssigkeit war, standen die Worte Konzentriertes Vitriol-Öl. »Ich nehme an, daß Ihr schon vorher wußtet, daß Ihr sie hier finden würdet, My Lord?« fragte Master Sean. »Gewußt habe ich es nicht, ich habe es lediglich vermutet. Aber daß sie hier sind, bestärkt mich in meiner Theorie. Sagen sie Euch etwas?« Master Sean zuckte die Schultern. »Ich weiß wohl, was sie enthalten, My Lord, aber ich bin kein Spezialist der Khemischen Künste.« -5 5 2
»Das bin ich auch nicht.« Lord Darcy holte seine Pfeife hervor und füllte sie mit Tabak, den er mit dem Daumen in den Kopf drückte. »Aber ein Königlicher Justizoffizier sollte doch belesen genug sein, um von allem ein bißchen Ahnung zu haben, jedenfalls theoretisch. Wißt Ihr, was passiert, wenn man eine Mischung aus diesen beiden Substanzen in gewöhnliche Baumwolle gibt?« »Nein... das heißt, einen Augenblick mal...« Master Sean legte die Stirn in Falten und schüttelte schließlich den Kopf. »Irgendwo habe ich mal darüber gelesen, aber... nein, die Einzelheiten fallen mir nicht mehr ein.« »Dann erhält man Schießbaumwolle«, sagte Lord Darcy. Chief Jaque hüstelte leise. »Hm, und was bewirkt das wiederum, My Lord?« »Das kann ich Euch, glaube ich, vorführen«, sagte Seine Lordschaft mit einem recht geheimnisvollen Lächeln. Lord Darcy holte das vier Zoll lange Stück geschwärzten Seils aus seiner Brieftasche, das er am Abend zuvor neben der Zimmertür gefunden hatte. Dann nahm er das sechs Fuß lange Stück sauberen Seils auf, das er eine halbe Stunde vorher entdeckt hatte, und schnitt mit seinem scharfen Taschenmesser an beiden Enden jeweils ein kleines Stück ab. Diese Stücke legte er in etwa achtzehn Zoll Entfernung voneinander auf dem Labortisch aus. »Chief Jaque, nehmt bitte diese langen Stücke und legt sie auf das Pult, und zwar ein gutes Stück von hier entfernt. Ich möchte ungern gleich mein gesamtes Beweismaterial verlieren! Danke. Und nun schaut her.« Er entzündete jedes der beiden Stücke mit seinem Pfeifenanzünder. Sie brachen plötzlich mit einem gewaltigen Zischen in eine gelbweiße Stichflamme aus - und waren auch -5 5 3
schon spurlos verschwunden. Gelassen zündete Lord Darcy nun seine Pfeife an. Masters Seans Augen leuchteten auf. »Ahaaa!« Chief Jaque sagte: »Der Dämon!« »Ganz genau, mein geschätzter Chief. Und nun müssen wir uns hinabbegeben und mit dem Rest der Dramatis personae sprechen.« Während sie die Treppe hinabstiegen, fragte Master Sean: »Aber warum war das kleine Stück mit Schmutz bedeckt, My Lord?« »Nicht mit Schmutz, mein guter Sean, sondern mit Lampenruß.« »Mit Lampenruß? Aber wozu?« »Natürlich, um es unsichtbar zu machen.« »Ihr haltet gar nicht die Dreistundenpredigt, Hochwürden?« fragte Lord Darcy mit hochgezogener Augenbraue. »Nein, My Lord«, erwiderte Father Villiers. »Ich bin doch ein bißchen zu erregt dazu. Außerdem dachte ich, daß meine Anwesenheit hier vielleicht benötigt werden könnte. Father Dubois aus dem Kloster war so freundlich, mich zu vertreten.« Kurz nach Mittag waren Wolken aufgezogen, um die helle Morgensonne zu verdecken, und nun umhüllte eine feuchte Kälte das Schloß. Zwar wurde sie von dem Kaminfeuer in St. Martin's Hall abgehalten, doch schien den zehn Menschen, die dort auf Sofas und Stühlen um den Kamin saßen, eine ganz andere Art von Kälte in dem riesigen Saal vorzuherrschen. Die drei MacKenzies, Vater, Sohn und Tochter, saßen gemeinsam auf einem Sofa und sagten nichts, während ihre Augen unruhig umherhuschten, aber immer wieder zu Lord Darcy zurückfanden. Lady Beverly saß allein neben dem Feuer und musterte ebenso unruhig die Flammen, ohne sie wirklich -5 5 4
wahrzunehmen. Master Sean und Dr. Pateley befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kaminfeuers und unterhielten sich sehr leise. Chief Jaque stand in bärbeißiger Haltung vor dem Butzenglasfenster und behielt den ganzen Raum im Blick, ohne es sich anmerken zu lassen. Auf dem Kaminsims schwang das Pendel der großen Uhr mit gedämpftem Klacken seine Bahn. Lord Gisors erhob sich aus seinem Sessel und kam zu der Kredenz herüber, wo Lord Darcy und Father Villiers gerade miteinander sprachen. »Verzeihung, My Lord Darcy, Verzeihung, Father.« Er hielt inne und räusperte sich leise, um schließlich den Priester anzublicken. »Wir sind alle ein wenig nervös, Hochwürden. Ich weiß ja, daß wir Karfreitag haben, aber wäre es wirklich unrecht, zu... äh, fragen, ob jemand vielleicht ein Glas Xerez haben möchte?« »Natürlich nicht, mein Sohn. Wir alle leiden heute mit Unserem Heiland und werden möglicherweise noch viel mehr leiden müssen, aber ich glaube nicht, daß er etwas dagegen hätte, wenn wir uns eine steife Dosis medizinischer Beruhigung genehmigten. Unser Heiland selbst hat es allerdings bestimmt nicht getan. Dem Evangelium des Heiligen Johannes zufolge sagte er: ›Mich dürstet‹, worauf man ihm einen in Wein getränkten Schwamm reichte. Nachdem er diesen empfangen hatte, sagte er: ›Es ist vollbrachte« Father Villiers brach ab. »Und gab seinen Geist auf«, zitierte Lord Gisors düster. »Das stimmt«, erwiderte der Priester mit fester Stimme. »Aber am Ostermorgen war sein Geist zurückgekehrt, und der einzige unter den Gläubigen, der jenes Wochenende nicht überlebt hat, war Judas. Ich selbst hätte ganz gerne einen Brandy.« Nur Lady Beverly und Chief Jaque schlugen eine Erfrischung ab - wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Als jeder sein -5 5 5
Glas etwa zur Hälfte geleert hatte, schlenderte Lord Darcy zum Kamin hinüber und blickte den Anwesenden ins Gesicht. »Wir haben es mit einem verzwickten Problem zu tun. Wir müssen zeigen, auf welche Weise der verblichene Graf de la Vexin den Tod gefunden hat. Wenn Ihr alle dabei mithelft, wird uns das wohl gelingen, meine ich. Zunächst einmal müssen wir mit der Vorstellung aufräumen, daß wir es dabei mit Schwarzer Magie zu tun haben. Master Sean?« Der Ire ließ den Xerez erst seine Zunge umspülen, bevor er ihn hinunterschluckte und antwortete: »My Lords, Ladys und Gentlemen, nachdem ich sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen durchgeführt habe, um die Situation zu klären, bin ich bereit, vor dem Gerichtshof Seiner Majestät zu erklären, daß Seine Lordschaft der Graf jedenfalls nicht durch Magie ums Leben gekommen ist, weder durch schwarze noch durch weiße. Keiner hat ihn mit Magie getötet.« Plötzlich blitzten Lady Beverlys Augen auf. »Keine menschliche Instanz, wollt Ihr doch wohl sagen?« Ihre Stimme war leise und angespannt. »Aye, My Lady«, stimmte Master Sean ihr zu. »Aber wie steht es dann mit der Strafe Gottes? Oder dem bösen Werk des Satans?« Schweigen hing zum Greifen in der Luft. Nach einer kurzen Pause sagte Master Sean: »Ich glaube, die Antwort darauf überlasse ich lieber dem Hochwürdigen Father.« Father Villiers verschränkte die Finger. »Mein Kind, Gott straft den Sündigen auf vielerlei Weise meistens durch das Fegefeuer des gequälten Gewissens, oder, wenn das Gewissen nur schwach ist, durch die Reaktion der Mitmenschen des Sünders auf sein übles Tun. In der Hoffnung, daß der Sünder den Tod finden möge, bevor er Gelegenheit zur -5 5 6
Reue gehabt hat, wird der Teufel auch verschiedene Mittel anwenden, um ihn in die Selbstvernichtung zu treiben. Aber man kann einen solchen Akt nicht sowohl Gott als auch dem Satan zuschreiben. Darüber hinaus gibt es keinerlei Beweis dafür, daß Euer verblichener Vater ein solch großer Sünder gewesen ist, daß Gott zu einer derart drakonischen Strafe gegriffen hätte. Und ebensowenig gibt es Beweise dafür, daß der Teufel hätte fürchten müssen, daß Seine Lordschaft in absehbarer Zeit die läßlichen Sünden bereuen würde, die er begangen haben mag. Auf jeden Fall entledigen sich weder Gott noch Teufel eines Menschen dadurch, daß sie ihn beim Genick und beim Hosenboden packen, um ihn aus dem Fenster zu werfen! Hinrichtung durch Fenstersturz ist ein typisch menschlicher Akt, mein Kind.« Lady Beverly neigte den Kopf und sagte nichts. Nach kurzem Schweigen ergriff Lord Darcy das Wort. »My Lord Gisors, angenommen, Euer Vater ist durch rein physische Mittel getötet worden, könntet Ihr dann vielleicht einmal einen Vorschlag machen, auf welche Weise dies hätte geschehen können?« Lord Gisors, der gerade an der Kredenz stand und sich einen zweiten Drink einschenkte, drehte sich langsam um. »Ja, Lord Darcy, das kann ich wohl«, sagte er nachdenklich. Lord Darcy hob erneut die linke Augenbraue. »Ach, tatsächlich? Dann seid doch bitte so gütig, Euch zu erklären, My Lord.« Lord Gisors hob den rechten Zeigefinger. »Mein Vater wurde durch die Fensteröffnung gestoßen. Korrekt?« Seine Stimme bebte etwas. »Korrekt«, pflichtete Lord Darcy ihm bei. »Dann muß ihn ja wohl irgend jemand auch hinausgestoßen haben, nicht wahr? Ich weiß zwar nicht, wer, und ich weiß auch -5 5 7
nicht, wie. Aber dazu muß doch wohl jemand im Raum gewesen sein, nicht wahr?« Er nahm einen weiteren Schluck und fuhr mit etwas gelassenerer Stimme fort. »Betrachten wir die Sache doch mal auf folgende Weise. Irgend jemand hat im Raum auf ihn gewartet. Mein Vater trat ein, schritt auf das Fenster zu, bestieg das Pult, und da ist der Betreffende, wer immer es gewesen sein mag, von hinten auf ihn zugelaufen und hat ihn hinausgestoßen. Ich weiß nicht, wer, ich weiß nicht, wie, aber so muß es geschehen sein! Ihr seid der Oberermittlungsrichter des Herzogs. Ihr müßt herausfinden, was geschehen ist und wer es getan hat. Aber versucht bitte nicht, es einem von uns anzuhängen, My Lord, denn als die Sache passiert ist, da war keiner von uns auch nur in der Nähe des betreffenden Zimmers!« Er leerte sein Glas mit einem Zug und schenkte sich wieder ein. Lord Darcy sprach mit ruhiger Stimme. »Angenommen, Eure Hypothese stimmt, My Lord, wie ist der Mörder dann ins Zimmer und wieder hinausgelangt?« Ohne Lord Gisors' Antwort abzuwarten, blickte Lord Darcy Sir Roderique an. »Habt Ihr irgendeinen Vorschlag, Sir Roderique?« Der alte Wachmann zog eine Grimasse. »Ich weiß es nicht. Das Labor war immer verschlossen und wurde stets bewacht, wenn sich Seine Lordschaft darin befand. Wenn Lord Jillbert nicht dort war, wurde es allerdings nicht sonderlich gesichert. Er ist nicht sehr oft dort gewesen, höchstens ein- oder zweimal in der Woche. Den Rest der Zeit wurde der Raum nicht weiter bewacht. Jeder, der einen Schlüssel hatte, hätte hineingelangen können. Es wäre möglich, daß irgend jemand My Lord de la Vexin den Schlüssel gestohlen hat und ein Doppel anfertigen ließ.« -5 5 8
»Höchst unwahrscheinlich«, erwiderte Lord Darcy. »Seine Lordschaft duldete niemanden in diesem Raum außer sich selbst. Andererseits, mein guter Hauptmann, besitzt Ihr einen Zweitschlüssel.« Sir Roderiques Gesicht schien purpurn anzulaufen. Er schoß in die Höhe und blickte auf Lord Darcy hinunter. »Wollt Ihr mich etwa des Mordes beschuldigen?« Darcy hob eine Hand, die Handfläche nach außen gekehrt. »Noch nicht, mein lieber Hauptmann. Vielleicht sogar nie. Wir wollen unser Gespräch doch nicht durch Gefühlsaufwallungen bestimmen lassen!« Der Wachhauptmann nahm mit langsamen Bewegungen wieder Platz, ohne den Blick von Lord Darcys Gesicht zu lösen. »Ich kann Euch versichern, My Lord«, sagte der Hauptmann, »daß von dem Schlüssel, der sich in meinem Besitz befindet, niemals ein Abdruck gemacht worden ist und daß der Schlüssel sich stets in meinem Besitz befunden hat.« »Das glaube ich Euch, Hauptmann. Ich habe auch nie behauptet, daß von Eurem Schlüssel ein Abdruck gemacht wurde. Aber stellen wir doch einmal eine Hypothese auf. Gehen wir doch einmal davon aus«, fuhr Lord Darcy fort, »daß der Mörder tatsächlich einen Zweitschlüssel besaß. Nun gut. Was ist dann passiert?« Er blickte Sergeant Andray an. »Teilt uns doch bitte einmal Eure Meinung dazu mit, Sergeant.« Andray furchte die Stirn, als sei er durch die Konzentration auf ein Problem leicht überfordert. Verunsicherung schien seine männlichen Züge zu überlagern. »Na ja... äh... nun, My Lord, das ist... ich meine... na ja, wenn ich der Mörder gewesen wäre...«
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Er fuhr sich wieder mit der Zunge über die Lippen und starrte in sein Weinglas. »Nun ja, My Lord, angenommen, es befand sich wirklich jemand im Raum, der auf My Lord Graf wartete. Hmmmm. Seine Lordschaft kommt herein und steigt auf das Pult. Dann hätte der Mörder hervorkommen und ihn hinausstürzen können. Ja. anders hätte es sich nicht zutragen können, nicht wahr?« »Wie ist er dann danach wieder aus dem Zimmer gekommen, Sergeant? Ihr habt uns berichtet, daß sich niemand im Zimmer befand, als Ihr durch das Fenster gestiegen seid, und daß die Wachen vor der Tür auch niemanden entdeckt haben, nachdem Ihr sie eingelassen habt. Der Raum wurde doch die ganze Zeit bewacht, nicht wahr?« »Jawohl, My Lord, das wurde er.« »Wie ist der Mörder dann entkommen?« Der Sergeant blinzelte. »Nun, My Lord, der einzige andere Ausgang ist die Falltür im Dach. Vielleicht hat er diesen Weg genommen.« Lord Darcy schüttelte bedächtig den Kopf. »Unmöglich. Ich habe mir das Dach heute morgen gründlich angesehen. Es war nicht die geringste Spur davon zu erkennen, daß sich in letzter Zeit irgend jemand dort oben aufgehalten hat. Und wie hätte er auch wieder herunterkommen sollen? Der ganze Turm war von Wachleuten umstellt, die jeden sofort erblickt hätten, der versucht hätte, sich die neunzig Fuß an einem Seil herabzuhangeln, und anders wäre das kaum gegangen. Auf jeden Fall hätte man ihn gesehen. Und die Treppe hätte er wohl auch kaum herabkommen können, denn im Gebäude wimmelte es nur so von Wachmännern.« Seine Lordschaft kehrte seinen Blick plötzlich in eine andere Richtung. »Habt Ihr irgendeinen Vorschlag, Demoiselle Madelaine?« -5 6 0
Sie blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an. »Nein, My Lord. Ich verstehe nichts von solchen Dingen. Mir erscheint es immer noch wie Magie.« Erneutes Schweigen. Nun, das genügt wohl fürs erste, dachte Lord Darcy. Kommen wir zur Endphase. »Hat sonst noch irgend jemand einen Vorschlag?« Anscheinend war das nicht der Fall. »Also gut, vielleicht wollt Ihr ja einmal meine Theorie hören, wie der Mörder - übrigens ein höchst irdischer, menschlicher Mörder - in das Zimmer und wieder heraus gelangt ist, ohne gesehen zu werden. Doch anstatt es Euch nur zu erzählen, will ich es lieber gleich demonstrieren. Gehen wir doch einmal ins Allerheiligste des verstorbenen Grafen. Darf ich bitten?« Die Anwesenden empfanden eine seltsame Mischung aus Zurückhaltung und Neugier, die sich ihrer bemächtigte, doch sie erhoben sich ohne jedes Murren und folgten Lord Darcy über den Hof zum Roten Turm und dort die lange Treppe empor ins Labor des Verstorbenen. »So«, sagte Lord Darcy, nachdem alle dort eingetroffen waren. »Jetzt möchte ich, daß Ihr meinen Weisungen genauestens Folge leistet. Sonst könnte jemand dabei zu Schaden kommen. Ich bedauere, daß es in diesem Raum keine Sitzgelegenheit gibt - My Lord de la Vexin zog es offenbar vor, im Stehen zu arbeiten, so daß Ihr leider stehen müßt. Seid so gut, Euch vor der Ostmauer aufzustellen. So, genau. Besten Dank.« Er nahm den fünf Zoll langen Schlüssel aus seiner Westentasche und schritt zur Tür, um sie abzuschließen. »Die Tür war abgeschlossen. So.« Ein Klicken. »Und verriegelt. So.« -5 6 1
Ein dumpfes Poltern. Er steckte den Schlüssel wieder ein und drehte sich zu den anderen um. »Schön. So sah es ungefähr aus, als Lord de la Vexin sich zum letzten Mal in seinem Labor eingeschlossen hatte. Bis auf das zerschmetterte Fenster, natürlich.« Er zeigte auf die Öffnung, die nun kahl war, wenn man von vereinzelten Glasscherben und Bleistegen absah. Lord Darcy blickte sich im ganzen Raum um, von Seite zu Seite und von oben nach unten. »Nein, es stimmt doch noch nicht alles, nicht wahr? Na schön, das läßt sich ändern. Zunächst einmal müssen wir diese unbenutzte Öllampe herunterholen. Die Leiter dort drüben ist zwei Fuß zu kurz, um an einen zehn Fuß hohen Balken zu kommen. Eine gründliche Untersuchung hat ergeben, daß der Haken an dem langen Stiel, mit dem man eine solche Lampe herabzuziehen pflegt, nirgendwo im Zimmer zu finden ist. O weh, was machen wir denn da?« Die meisten der Anwesenden blickten Lord Darcy an, als habe er plötzlich den Verstand verloren, doch Master Sean lächelte in sich hinein. Er wußte, daß Seiner Lordschaft Herumgestümpere einen bestimmten Zweck verfolgte. »Ah! Was haben wir denn hier?« Lord Darcy musterte den Messingschlüssel in seiner Hand, als erblickte er ihn zum ersten Mal. »Hmmm, hmmm, der Schlüsselbart müßte eigentlich einen ausgezeichneten Haken abgeben. Mal sehen.« Er stellte sich unmittelbar unter die Messingkugel, machte einen Satz in die Höhe und verhakte den Schlüssel säuberlich mit dem Messingring. Dann zog er die große La mpe zu sich herab.
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»Was ist denn das? Die kommt aber leicht und mühelos herunter! Sie balanciert das Gegengewicht recht hübsch aus. Ob sie wohl vielleicht doch nicht leer ist?« Er nahm den Glaszylinder ab und stellte ihn auf die Arbeitsplatte an der Ostmauer. Dann kehrte er zur Lampe zurück und entfernte den Dochthalter. »Das darf doch nicht wahr sein! Die Lampe ist bis zum Rand voll mit Brennstoff!« Er schraubte den Dochthalter wieder ein und zog die Lampe so weit hinab, wie es der Kettenzug gestattete. Nun hing sie nur einen knappen Zoll über dem Boden. Lord Darcy packte die Kette fest mit beiden Händen und zog daran. Die Lampe hob sich vom Boden, doch die Kette über seinen Händen wurde schlaff und bewegte sich nicht in die Höhe. »Aha! Das Sperrwerk funktioniert ausgezeichnet. Das Gegengewicht kann die Lampe nicht emporziehen, solange man nicht die Kette ein kleines Stückchen hinabzieht und sie danach losläßt. Ausgezeichnet.« Er ließ die Lampe wieder herab. »Nun kommt der schwierige Teil. Die Lampe ist nämlich ziemlich schwer.« Lord Darcy lächelte. »Aber dafür können wir zum Glück die Leiter benutzen.« Er brachte die Leiter zu der verschlossenen und verriegelten Tür und stützte sie oberhalb des Rahmens gegen die Wand ab. Dann sahen seine Zuschauer in verblüfftem Schweigen zu, wie er die schwere Lampe aufnahm, sie zur Leiter trug, diese emporstieg und die Kette in einen der Gerätehaken einhakte, die der Graf an zahlreichen Stellen in die Decke eingelassen hatte. »So«, sagte er, als er die Leiter hinunterstieg.
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Er begutachtete das Ergebnis seines Tuns. Die Lampenkette spannte sich nun beinahe horizontal von ihrem Trägerbalken bis zu dem schweren Deckenhaken über der Tür. »Ihr werdet bemerkt haben«, sagte Seine Lordschaft, »daß der Trägerbalken der Lampe sich nic ht genau in der Mitte des Raums befindet. Er verläuft zwei Fuß näher am Fenster als an der Tür. Die Mitte des Balkens ist elf Fuß von der Tür, aber nur neun Fuß vom Fenster entfernt.« »Wovon redet Ihr denn da bloß?« platzte es plötzlich aus Lady Beverly hervor. »Was hat all das denn damit zu tun, daß...« »Ich darf doch sehr bitten, My Lady!« unterbrach Lord Darcy sie in scharfem Ton. Dann, etwas ruhiger: »Bitte zügelt Euch ein wenig. Es wird schon alles klar und deutlich werden, wenn ich erst einmal zum Ende gekommen bin.« »Gütiger Gott, dachte er bei sich, eigentlich sollte es doch inzwischen selbst dem Allerdümmsten klar sein... Doch laut sagte er: »Wir sind noch nicht fertig. Master Sean, das Seil!« Wortlos öffnete Master Sean O Lochlainn seinen großen symbolverzierten Reisesack und holte ein zusammengerolltes Seil hervor, das er Lord Darcy reichte. »Das hier ist ein ganz gewöhnliches Baumwollseil«, sagte Seine Lordschaft. »Aber es ist nicht ganz lang genug. Das andere Stück Seil, wenn Ihr so gut sein wollt, Master Sean.« Der Hexer überreichte ihm ein weiteres Stück Seil, das nur einen Fuß lang war, dem anderen Seil dafür jedoch aufs Haar glich. Mit einem Fischersteek verknüpfte Lord Darcy die beiden Seile. Dann kletterte er auf das Pult des verstorbenen Grafen und band ein Seilende an einem weiteren Haken über der Gaslaterne -5 6 4
fest - das Ende mit dem angeknüpften Verlängerungsstück. Nun drehte er sich um und warf das Seil quer durch den Raum, so daß es am Fuß der Leiter zum Liegen kam. Er kehrte zu der Leiter zurück, wobei er das lose Seilende festhielt. Sorgfältig befestigte er das Seil am Kettenglied direkt oberhalb der Lampe, nahm die Kette vom Haken und schlang das Seil über den Haken, so daß es nun das Gewicht der Lampe trug. Lord Darcy stieg die Leiter herab und zeigte auf die Konstruktion. »Wie Ihr seht, wird die Lampe nun ausschließlich von dem Seil gehalten, das am Haken über der Gaslaterne oberhalb des Fensters befestigt ist. Von dort spannt es sich durch den Raum und schlingt sich um den Haken über der Tür, um das Gewicht zu halten.« Nun hatten alle begriffen, worum es ging, und eine gewisse Spannung machte sich im Raum breit. »Ich sagte gerade«, fuhr Lord Darcy fort, »daß das Seil, welches ich benutzt habe, aus gewöhnlicher Baumwolle besteht. Das stimmt auch, bis auf das letzte, hinzugefügte fußlange Stück, das über der Gaslaterne befestigt ist. Dieses Stück besteht nicht aus gewöhnlicher Baumwolle, sondern aus einer besonders behandelten Baumwollart, der sogenannten Schießbaumwolle. Sie verbrennt ext rem schnell. Die ursprüngliche Todesfalle hat ein Seil benutzt, das ausschließlich aus Schießbaumwolle bestand, aber davon war nicht mehr genug erhalten, als daß ich es für diese Vorführung hätte benutzen können. Es wird Euch auffallen, daß das Ende, das die Lampe hält, nach der Verknotung einige Zoll zu lang ist. Die Person, die diese Falle errichtet hat, hat das überstehende Stück fein säuberlich abgeschnitten und hat dann vergessen, es vom Boden wieder aufzuheben und mitzunehmen. Na ja, wir begehen alle mal Fehler, nicht wahr?« Lord Darcy baute sich theatralisch mitten im Zimmer auf.
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»Ich möchte, daß Ihr Euch alle einmal vorstellt, wie es hier im Zimmer letzte Nacht ausgesehen hat. Es war finster - jedenfalls fast. Die einzige Beleuchtung rührt von den Ho flaternen her, deren Schimmer hier einfällt.« Er nahm eine unangezündete Fackel von der Arbeitsbank, die nur wenige Fuß von ihm entfernt war, dann schritt er zur Tür. »My Lord Graf ist eben erst eingetreten. Er hat die Tür geschlossen, versperrt und verriegelt. Er hält eine Fackel in der Hand.« Lord Darcy entzündete die Fackel mit seinem Pfeifenfeuerzeug. »Nun schreitet er durch den Raum, um die Gaslaterne über dem Fenster zu entzünden, wie er es immer zu tun pflegt.« Lord Darcy tat, was er mit Worten beschrieb. »Er steigt auf sein Pult. Er dreht den Gashahn auf. Er hält die Fackel empor, um das Gas zu entzünden.« Das Gasventil ließ eine mehrere Zoll hohe Stichflamme emporschießen, die auch das getränkte Seil ergriff. Das Seil brach zischend in Feuer aus. Lo rd Darcy sprang beiseite und berührte in einiger Entfernung vom Schreibtisch den Boden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums verlor die schwere Lampe plötzlich ihren Halt. Wie ein blutrünstiger fliegender Moloch schwang sie sich träge und wuchtig an ihrer Kette in einem Bogen durch den Raum. Mit ihrem Messingring streifte sie den Boden, dann schwang sie wieder empor und hätte - was alle erkennen konnten - die Fensterscheibe eingeschlagen, wenn sie noch vorhanden gewesen wäre. Dann schwang sie wieder zurück. Die Anwesenden beobachteten, wie das Lampenpendel hin und her schwang und das Baumwollseil hinter sich her zog. Das getränkte Seilstück war schon längst in Flammen aufgegangen. Lord Darcy stand im östlichen Teil des Raums, während das Pendel die Luft zwischen ihm und den anderen durchschnitt. -5 6 6
»So seht Ihr denn, wie der verstorbene Graf de la Vexin den Tod fand. Der Bogen dieser Lampe hätte ihn direkt unterhalb des Schulterblatts getroffen. Natürlich hat sie wahrscheinlich nicht ganz so lange hin und her geschwungen wie jetzt, weil der Zusammenprall mit dem Körper des Grafen sie erheblich gebremst haben dürfte.« Er schritt zu der Kette hinüber und zwang das Pendel zum Stillstand. Fasziniert musterten sie das tödliche Gewicht, das nun nur noch träge einen Kreisbogen von zwei Zoll Länge beschrieb. Der junge Lord Gisors hob abrupt den Kopf und blickte Lord Darcy geradewegs ins Auge. »Mein Vater hätte das weiße Seil doch mit Sicherheit bemerkt, Darcy.« »Nicht, wenn es mit Lampenruß geschwärzt war - und ebendies war der Fall.« Lord Gisors' Augen verengten sich. »Ach so, na schön. Das war's also, eh? Hinterher hat die Lampe also dort gehangen und beinahe den Boden berührt. Dann - würdet Ihr dann vielleicht die Güte haben, zu erklären, wie sie dann wieder nach oben gekommen ist, wo sie hingehört?« »Aber gewiß doch«, sagte Lord Darcy. Er schritt zu der Lampe hinüber, entfernte das Seil, zog sanft an der Kette, um das Sperrwerk zu lösen, und zog die Lampe empor. Nachdem er sie mit ausgestrecktem Arm losgelassen hatte, glitt sie reibungslos an ihre gewohnte Stelle zurück. »So«, sagte Lord Darcy sanft. »Natürlich wurde der Glaszylinder zuvor wieder befestigt. Und das Seil brauchte ja nicht mehr entfernt zu werden, weil es gänzlich verbrannt war.« Bevor ein anderer etwas sagen konnte, ergriff Father Villiers das Wort.
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»Einen Augenblick, My Lord. Wenn das ein anderer getan haben sollte, dann muß er im Raum gewesen sein - und zwar nur wenige Sekunden nach dem Tod. Aber es gibt hier keinen anderen Ein- oder Ausgang mit Ausnahme dieser Tür, die bewacht wurde, und die Dachluke, von der Ihr selbst gesagt habt, daß sie nicht benutzt wurde. Es gibt hier keinen anderen Weg, das Zimmer zu betreten oder zu verlassen.« Lord Darcy lächelte. »Oh, aber den gibt es sehr wohl, Ehrwürdiger Vater!« Der Priester blickte ihn verständnislos an. »Nämlich denselben Weg, den My Lord de la Vexin gegangen ist«, sagte Lord Darcy leise. Jetzt haben sie es doch bestimmt begriffen, dachte Lord Darcy. Er brach das Schweigen, indem er sagte: »Die Lampe hing unten. Es war niemand im Raum. Dann ist jemand über die Feuerleiter hineingestiegen, hat die Lampe wieder an Ort und Stelle gezogen und...« »Chief Jaque!« rief Lord Darcy. Doch er kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Sergeant Andray hatte eine versteckte Handfeuerwaffe gezogen. Chief Jaque zog seine eigene Waffe einen Augenblick zu spät. Plötzlich erscholl der ohrenbetäubende Knall einer großkalibrigen Pistole in dem verschlossenen Raum, und Chief Jaque sackte zusammen, eine Kugel im Körper. Lord Darcy griff gerade nach seiner eigenen Waffe, die an seiner Hüfte hing, doch bevor er sie gezückt hatte, war Hauptmann Sir Roderique bereits auf seinen Sohn zugesprungen. »Du Narr! Du...« Seine Stimme klang verzweifelt. Er packte den Sergeanten am Handgelenk und riß es empor. Da krachte es ein zweites Mal mit ohrenbetäubendem Lärm. Sir Roderique taumelte zurück; das Geschoß war unter seinem Kinn eingedrungen und hatte ihm die -5 6 8
Schädelplatte fortgerissen. Sergeant Andray stieß einen Schrei aus. Dann wirbelte er herum, sprang auf das Pult und stürzte sich, immer noch schreiend, aus dem Fenster. Der Schrei hallte knapp zwei Sekunden lang, bis das Pflaster des Hofes den Sergeanten für immer zum Schweigen brachte. Die Feierlichkeiten des Karsamstags waren beendet, die Osterzeit war offiziell angebrochen. Noch immer erklangen die Glocken im Kirchturm der Kathedrale von St. Ouen in der Stadt Rouen, der Hauptstadt des Herzogtums Normandie. Seine Königliche Hoheit Richard, Herzog der Normandie, lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte über die Flammen des gemütlichen Kaminfeuers hinweg seinen Übermittlungsrichter an. Beide hielten sie wärmende Gläser mit bestem Weinbrand aus der Champagne in den Händen. Seine Hoheit hatte soeben die Lektüre von Lord Darcys Bericht beendet. »Ich verstehe, My Lord«, sagte der Herzog. »Nachdem die Todesfalle aufgebaut und ausgelöst worden war - nachdem der verstorbene de la Vexin durchs Fenster in den Tod geschleudert wurde -, ist Sergeant Andray allein die Löschleiter hinaufgestiegen, hat die Lampe wieder in Position gebracht und danach erst die verriegelte Tür geöffnet, um die anderen Wachmänner einzulassen. Der Fuchs, der sich unter den Hunden versteckt.« »Ganz genau, Euer Hoheit. Und Euer Hoheit erkennen auch das Motiv.« Seine Hoheit der Herzog, der jüngere Bruder Seiner Kaiserlichen Majestät König John IV, war blond, blauäugig und von ansprechendem Aussehen, wie alle Plantagenets, doch in diesem Augenblick verunzierte ein leises Stirnrunzeln sein Gesicht. »Das Motiv war von Anfang an offensichtlich, My Lord«, sagte er. »Ich begreife, daß Sergeant Andray sich My Lord de la Vexins entledigen wollte, um den Weg für eine Heirat -5 6 9
freizumachen, die seiner Schwester zum Vorteil gereichen würde - wie natürlich auch der gesamten Familie. Aber Euer schriftlicher Bericht ist unvollständig.« Er klopfte auf den Stapel Papier in seiner Hand. »Ich fürchte, Euer Hoheit«, sagte Lord Darcy vorsichtig, »der Bericht wird auf alle Zeiten unvollständig bleiben müssen.« Prinz Richard lehnte sich zurück und seufzte. »Nun gut, Darcy. Dann erzählt es mir mündlich. Inoffiziell, wie üblich.« »Wie Euer Hoheit befehlen«, sagte Lord Darcy und schenkte sich noch einmal ein. »Der Mord muß dem jungen Andray angelastet werden. Jetzt, da sowohl er als auch sein Vater tot sind, kann ich bei der vorliegenden Beweislage nicht weitergehen. Chief Jaque, der sich von seiner Schulterschußwunde schon bald erholt haben wird, verfügt über nicht mehr Beweise als ich. Hauptmann Sir Roderique wird mit militärischen Ehren beigesetzt werden, da es Augenzeugen dafür gibt, die beschwören können und werden, daß er seinen Sohn daran hindern wollte, mich zu erschießen. Wenn wir jetzt weitergehende Hypothesen publik machen, würden wir damit nur eine Diskussion provozieren, die sich nie befriedigend beenden ließe. Doch es war nicht Sergeant Andray, der die Falle aufgestellt hat. Nur Hauptmann Sir Roderique besaß den Schlüssel zu dem verschlossenen Labor. Er war der einzige, der die Todesfalle aufbauen konnte, durch die der Graf den Tod fand.« »Warum«, fragte der Prinz, »hat er dann versucht, seinen Sohn von seiner Tat abzuhalten?« »Weil er glaubte, Euer Hoheit«, erwiderte Lord Darcy, »daß ich nicht genügend Beweismittel in der Hand hätte, um eine Verurteilung zu bewirken. Er hat versucht, den jungen Andray daran zu hindern, sich selbst bloßzustellen, indem er die ganze Sache verriet. Andray ist in Panik geraten. Darauf hatte ich auch -5 7 0
gehofft, allerdings nicht, das will ich zugeben, daß es solche Ausmaße annehmen würde. Er tötete seinen Vater, der den Plan geschmiedet hatte, und als er sah, was er angerichtet hatte, geriet er in eine Selbstmörderhysterie, durch die er schließlich auch den Tod fand. Das bedauere ich zutiefst, Euer Hoheit.« »Das ist nicht Eure Schuld, Darcy. Was ist mit der Demoiselle Madelaine?« Lord Darcy nippte an seinem Weinbrand. »Die war natürlich die treibende Kraft im Hintergrund. Sie hat die ganze Sache ins Rollen gebracht - aber natürlich sehr raffiniert und subtil. Das läßt sich nicht beweisen. Doch Lord Gisors hat sie inzwischen durchschaut. Er wird die Dame ehelichen, die sein Vater ihm völlig zu Recht zugedacht hatte.« »Ich verstehe«, sagte der Prinz. »Ihr habt ihm also die Wahrheit gesagt?« »Ich habe mit ihm gesprochen, Euer Hoheit«, gab Lord Darcy zur Antwort. »Doch er wußte die Wahrheit bereits.« »Damit ist die Angelegenheit erledigt.« Seine Hoheit richtete sich im Sessel auf. »Und nun zu den Notizbüchern, die Ihr mitgebracht habt. Was haben die zu bedeuten?« »Es sind die wissenschaftlich- materialistischen Versuchsaufzeichnungen des verstorbenen Grafen, die er in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat, Euer Hoheit. Sie stellen zwei Jahrzehnte sorgfältiger Forschung dar.« »Also wirklich, Darcy! Untersuchungen des Materialismus? Wozu soll denn so etwas gut sein?« »Euer Hoheit, die Gesetze der Magie lehren uns, wie der Geist des Menschen das materielle Universum beeinflussen kann. Doch das Universum ist weitaus größer und enthält mehr, als der Geist des Menschen jemals erfassen und umfassen kann. Es mag sein, daß es der Geist Go ttes ist, welcher die Planeten -5 7 1
und Sonnen ihre Bahnen ziehen läßt, doch wenn dem so ist, dann verfügt er über Gesetze, welche er befolgt.« Lord Darcy leerte sein Weinbrandglas. »Es gibt noch andere Dinge im Universum als den Geist des Menschen, Euer Hoheit, und es gibt Gesetze, welche über sie herrschen. Eines Tages könnten diese Notizbücher von unschätzbarem Wert sein.« Ende
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Band 07 Die Ipswich-Phiole Der von zwei Pferden gezogene Brougham rollte in forschem Tempo in westlicher Richtung nach Cherbourg die Old Shore Road entlang, wenige Meilen von dem Dorf St. Matthee entfernt. Der Kutscher, ein untersetzter, bulliger Mann mit einem schläfrigen Lächeln, hatte sich eng in seinen grauen Fahrtumhang gehüllt und die Kapuze über den Kopf gezogen, über die er zusätzlich einen Schlapphut mit breiter Krempe gedeckt hatte. Selbst im Juni konnte die Küste der Normandie am frühen Morgen recht kühl sein, vor allem dann, wenn eine steife Brise wehte. »Halte hier an, Danglars«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Dies scheint mir die rechte Stelle für einen Strandspaziergang zu sein.« »Jojo, Mistress.« Er zügelte die Pferde und brachte den Brougham zu einem sanften Halt. »Seid Ihr sicher, daß es hier nicht gefährlich ist, Mistress Jizelle?« fragte er und blickte nach rechts, wo sich der Ärmelkanal nach Norden gen England erstreckte. »Es ist doch Ebbe, nicht wahr?« fragte sie fröhlich. Danglars sah auf seine Armbanduhr. »Jojo. Fängt gerade an.« »Na schön, dann warte hier auf mich. Entweder komme ich hierher zurück, oder ich gehe vielleicht auch ein Stückchen weiter, dann werde ich dir von vorne auf dem Weg ein Zeichen geben.« »Jo, Mistress.« Sie nickte knapp, dann schritt sie auf den Strand zu. Sie war eine hochgewachsene, nicht unattraktive Frau, die anscheinend in den mittleren Jahren war. Ihr silbergraues Haar war eine Spur kürzer geschnitten, als es üblich war, doch wunderschön frisiert. Sie trug die typische Kleidung einer anglo- französischen Frau der gehobenen Mittelklasse, -5 7 3
doch war diese eher von britischem als normannischem Stil; glänzend polierte kniehohe Stiefel; ein schottischer Wollrock, dessen Saum den oberen Stiefelrand knapp bedeckte; eine dazu passende Jacke und ein weicher Pullover aus weißer Wolle, der sie von der Hüfte bis zum Kinn bedeckte. Sie trug keinen Hut und besaß die forsche, keinen Unfug duldende Haltung einer Vernunftbetonten Frau, die sehr wohl wußte, wer und was sie war und die in diesem Punkt keinerlei Fisimatenten zu dulden bereit war. Mistress Jizelle de Ville entdeckte einen Weg, der zum Strand hinabführte. An dieser Stelle gab es eine niedrige Klippe, die stellenweise fünfzehn, stellenweise auch zwanzig Fuß hoch war. Diese trennte den oberen Teil der Dünung vom eigentlichen Strand, doch gab es einige Bahnen und ausgewaschene Partien, wo man ohne große Schwierigkeiten hinabsteigen konnte. Die Klippe selbst stellte eine Flutmarke dar, doch stieg das Wasser des Meeres nur bei Sturm so hoch empor. Meistens blieb die Flut fünfzehn Fuß unterhalb des oberen Klippenrands. Der Zwischenraum war mit weiche m, trockenem Sand bedeckt, auf dem das Gehen mühsam war. Mistress Jizelle überquerte den trockenen Sand, bis sie feuchteren und festeren Boden erreicht hatte, dann schritt sie in Richtung Westen weiter. Es war ein schöner Morgen, trotz der leisen Kühle; eben jene Art von Morgen, wie man ihn sich für einen strammen, gesunden Spaziergang an einem schönen Strand aussuchen mochte. Mistress Jizelle war eine Frau, die körperliche Betätigung und ausgedehnte Spaziergänge liebte, und ganz besonders genoß sie schöne Landschaften. Zu ihrer Rechten ließ der sausende Wind das Wasser der Ebbe in weißen Katzenpfoten gischten und trug den »Meeresgeruch« herbei einen Duft, den man nie auf offenem Meer wahrnahm, weil er sich aus dem Aroma von Seegetier zusammensetzte, das sich in den Prielen und den seichten Küstengewässern aufhielt, sowie aus dem leisen Verwesungsgeruch der toten und sterbenden Lebewesen und Dinge, die durch den rhythmischen Wechsel -5 7 4
von Ebbe und Flut umspült wurden. Über ihr stießen die dahintreibenden Möwen ihre klagenden, beinahe katzenhaften Schreie aus, während sie Jagd auf das reiche Futter machten, welches See und Küste ihnen bescherten. Erst nachdem sie an die hundert englische Yards weit gegangen war, bemerkte Mistress Jizelle de Ville etwas Ungewöhnliches. Als sie es tat, blieb sie stehen und musterte es sorgfältig. Links vor ihr, ungefähr acht oder neun Yards vom Fuß der Klippe entfernt, lag ein Mann im trockenen Sand, an die zwanzig Fuß oberhalb der Hochflutmarke. Sie verharrte einen Augenblick, dann schritt sie vorsichtig und bedächtig auf den Mann zu. Er trug alles andere als Badekleidung, sondern vielmehr den Abendanzug eines Gentleman. Sie trat an den Rand des feuchten Sandstreifens und blieb erneut stehen, um den Mann genau zu mustern. Dann bemerkte sie etwas, das ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Danglars saß gelassen auf seinem Kutscherbock und rauchte seine Tonpfeife, als er die drei Männer herannahen sah. Er beäugte sie sorgfältig, wie sie sich dem Brougham näherten: zwei junge Männer und ein älterer, alle in der Kleidung typischer normannischer Bauern. Der älteste winkte mit der Hand und sagte etwas, das Danglars im Rauschen der Wellen und des Windes nicht verstand. Als sie auf Hörweite herangekommen waren, sagte der Ältere: »Allo! Irgendwelschen Ärga hia?« Danglars schüttelte den Kopf. »Nö.« Der Bauer ignorierte die Antwort. »Ich un' meine Jungs haben dich hia oben stehenbleiben sehen, da dacht'n wia, daß wia vielleich' helfen könn'. Heiße Champtier. Samel Champtier. Das hia sin' meine beiden Jungs, Evrit un' Lorin. Wenn de irgendwelsche Hilfe brauchs', werd'n
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wia tun, was wia könn'.« Danglars nickte bedächtig, dann nahm er die Pfeife aus dem Mund. »Nett von dir, Freisass Samel. Besten Dank auch. Aber ich hab' keine Probleme, nönö. Die Mistress wollte nur 'n Stück den Strand entlanglauf'n. Die mag das. Sind bald wieder unterwegs.« Samel räusperte sich. »Habt ia schon die Nachtfast gebroch'n, du un' deine Miss-Lady? Meine Frau macht gerade Frühstück fertig. Soll'n wia euch was rüberbring'?« Danglars zog wieder an seiner Pfeife und seufzte. Normannische Bauern waren nette, freundliche Menschen, aber manchmal übertrieben sie es auch. »Hab'n die Fast schon gebrochen, Freisass Samel. Besten Dank auch. Sobald die Mistress zurückkommt, geht's wieder weiter. Aber noch mal: schön' Dank.« »Dann also Caffe«, entschied Samel. Er wandte sich an seinen ältesten Sohn. »Evrit! Geh und sag deina Mama, daß 'se dia'n Krug Caffe un' zwei Becher mitgeb'n soll. Urt' beeil dich gefälligst!« Evrit jagte davon wie von der Tarantel gestochen. Danglars verdrehte die Augen gen Himmel. Mistress Jizelle schluckte und sah erneut auf den toten Mann. Er hielt eine Pistole in der Rechten, und seine rechte Schläfe wies ein häßliches Loch auf. Der Sand, auf dem sein Kopf ruhte, war völlig blutdurchtränkt. Und es bestand auch nicht der geringste Zweifel daran, daß der Mann tot war. Sie hob die Augen und blickte den Strand entlang, während sie sich ziemlich benommen mit den Handflächen über den Rock strich. Dann straffte sie ihre Schultern, machte kehrt und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, parallel zu ihren eigenen Fußspuren. Außer ihr befand sich niemand sonst am Strand. Danglars war im Gespräch mit drei Männern, und er schien sich dadurch nicht aus seiner Ruhe bringen zu lassen. Entschlossen -5 7 6
schritt sie weiter. Erst als sie fünfzehn Fuß von dem Brougham entfernt war, ließ Danglars sich dazu herab, sie zu bemerken. Er zupfte an seiner Stirnlocke und lächelte sein schläfriges Lächeln. »Gruß, Mistress, Gruß! 'n netten Spaziergang gemacht?« Er hielt einen Caffebecher in der Hand und zeigte mit der anderen auf die drei Männer. »Freisass Samel und seine Söhne, Mistress, vom Nachbarhof. Haben 'n Pott Caffe gebracht.« Auch die drei Bauern zupften an ihren Stirnlocken. »Das weiß ich zu schätzen«, erwiderte sie. »Sehr sogar. Aber ich fürchte, wir haben es mit einem Notfall zu tun, der Vorrang hat. Kommt mit, und zwar alle!« Danglars Augen weiteten sich, »'n Notfall, Mistress?« »Das habe ich doch gesagt, oder etwa nicht? Und jetzt kommt alle mit, und ich zeige euch, was ich meine.« »Aber, Mistress...«, fing Danglars an. »Folgt mir!« befahl sie barsch. Danglars stieg von seiner Kutsche. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich den anderen anzuschließen. Mistress Jizelle führte sie über das spärliche Gras zum Rand der Klippe, von wo aus man auf den Toten hinabblicken konnte. »Und nun schaut mal dort unten hin. Da liegt ein toter Mann. Ich glaube, er ist erschossen worden. Ich bin zwar mit solchen Dingen nicht sonderlich vertraut, aber so hat es für mich jedenfalls den Anschein.« Die vier knieten nieder und spähten zu dem Leichnam hinab. Nach kurzem Schweigen sagte Samel in etwas förmlichem Ton: »Da habt ia recht, Mistress. Tot isser.« »Wer ist das, Freisass?« fragte sie. Samel erhob sich bedächtig und staubte sich mit schwieligen Händen die Hose ab. »Weiß nich' so recht, Mistress.« Er blickte seine beiden Söhne an, die immer noch fasziniert in die Tiefe starrten. »Wer kann das sein, Jungs?« -5 7 7
Sie erhoben sich ebenfalls und klopften sich die Hosen aus, wie es ihr Vater getan hatte. Evrit, der ältere, antwortete: »Weiß nich', Papa. Is' nich' von hia.« Er stieß seinem jüngeren Bruder einen Ellenbogen in die Rippen. »Lorin?« Lorin schüttelte den Kopf und blickte dabei seinen Vater an. »Na, das ist jetzt auch nicht so wichtig«, entschied Mistress Jizelle. »In solchen Fällen gilt es, den Reichsgesetzen zu folgen, und das müssen wir nun tun. Danglars, nimm den Brougham und kehre zurück nach...« »Aber Mistress Jizelle!« unterbrach Danglars sie. »Ich kann doch nicht...« »Du mußt genau das tun, was ich dir sage, Danglars«, versetzte sie mit Entschiedenheit. »Das ist von größter Wichtigkeit. Kehre zurück nach St. Matthee und benachrichtige den Rektor. Dann fährst du weiter nach Caen und benachrichtigst die Schutzmänner. Freisass Samel und seine Jungen werden hier zusammen mit mir warten und dafür sorgen, daß niemand etwas anrührt. Hast du mich verstanden?« »Jojo, Mistress. Vollkomm'.« Und er machte sich auf den Weg. Sie drehte sich zu Samel um. »Freisass, kannst du etwas Zeit entbehren? Ich weiß wohl, daß du viel zu tun hast, aber ich möchte nicht gern hier allein bleiben.« Samel lächelte. »Die Morgenarbeit is' schon erledigt, Mistress. Mein ältester, Orval, kann sich ruhig 'n paar Stunden allein drum kümman. Nur keine Soage.« Er blickte den jüngsten der beiden Söhne an. »Lorin, geh un' erzähl deina Mama und dei'm Bruda, was passiat ist', aba niemand sons'. Un' sag ihnen, sie soll'n kei'm was davon erzähl'n, hast du gehöat?« Lorin nickte und rannte davon. »Un' bring was zu futtern mit!« brüllte Evrit ihm hinterher. Samel blickte besorgt drein. »Mistress?« »Ja, Freisass Samel?« »Iss Euch nich's Komisches an dem Mann da unt'n aufge-' fall'n?« -5 7 8
»Etwas Komisches?« Sie hob eine Augenbraue. »Ja, Mistress.« Er zeigte in die Tiefe. »Rund um ihm is' Sand. Ganz glatt. Keine Fußspuren, nur Eure, un' auch die kommen nich' an ihn heran. Er is' frisch gestorben, aba - wie isser dahingekomm'?« Fünf Tage später saß Sir James le Lien, Spezialagent im Geheimdienst Seiner Majestät, in einem bequemen Sessel in dem studierzimmerähnlichen Büro von Lord Darcy, Oberermittlungsrichter Seiner Königlichen Hoheit Herzog Richard von der Normandie. »Und ich weiß immer noch nicht, wo die Ipswich-Phiole ist, Darcy«, sagte er gerade verärgert. »Und die wissen es auch nicht.« Durch das geöffnete Fenster drang der Lärm des Straßenverkehrs in den sechsten Stock empor: das leise Rauschen von Gummireifen auf dem Pflaster, Hufgetrappel, die Schritte und Stimmen von tausend Passanten und die Zehntausende anderer kleiner Geräusche, die das Lied der Stadt prägten. Lord Darcy lehnte sich hinter seinem Schreibtisch im Sessel zurück und hob eine Hand. »Immer mit der Ruhe, Sir James, sonst überschlagt Ihr Euch ja noch. Ich vermute, daß Ihr mit ‚die’ die Serka meint - den polnischen Geheimdienst. Aber was ist das überhaupt für eine Phiole?« »Das kann ich Euch aus zwei Gründen nicht sagen. Erstens, weil Ihr es nicht zu wissen braucht, und zweitens, weil das für mich ebenso gilt, so daß ich es Euch selbst dann nicht verraten könnte, wenn ich wollte. Rein äußerlich handelt es sich um einen goldenen Zylinder von der Größe Eures Daumens, der auf einer Seite einen goldenen Stopfen aufweist, der wiederum mit weichem Gold versiegelt ist. Davon abgesehen kenne ich nur seinen Kodenamen: die Ipswich-Phiole.« Sean O Lochlainn, der Meisterhexer, der in einem weiteren Sessel ruhte, die Hände -5 7 9
über dem Bauch zusammengefaltet, die Augen halb geschlossen und die Ohren weit aufgesperrt, sagte: »Würde einen guten Penny dafür hergeben, um zu erfahren, wer für diesen Kodenamen verantwortlich ist. Und dann würde ich ihn wegen Inkompetenz feuern lassen.« »Wie bitte?« fragte Sir James. »Warum denn das?« Master Sean öffnete die Augen. »Wenn die Polen nic ht wissen sollten, daß sich das Ipswich-Labor in Suffolk unter Master Sir Greer Davidson mit geheimer Magieerforschung befaßt, dann sind sie derart unglaublich dämlich, daß wir uns ihretwegen überhaupt keine Sorgen zu machen brauchten. Bei einem Namen wie Ipswich-Phiole muß die Serka der Sache ja einfach nachgehen, wenn sie davon erfährt.« »Vielleicht ist es ja nur ein Köder, mit dem sie von etwas anderem abgelenkt werden sollen«, warf Lord Darcy ein. »Vielleicht«, gab Master Sean zu, »aber in diesem Fall wäre es ein ziemlich teurer Köder, My Lord. Was Sir James soeben beschrieben hat, ist ein aurastabilisierter magischer Schutzschirm. Was würdet Ihr in einen solchen Behälter tun? Irgendein khemisches Gebräu wie Sprengstoff oder Gift? Oder eine Geheimbotschaft? Das wäre sogar der Gipfel der Inkompetenz, so als würde man seine Einkaufsliste in Gold auf Pergament schreiben. Eine eklatante Verschwendung.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. Er blickte Sir James an. »Wieso glaubt Ihr, daß die Serka sie nicht bereits in ihrem Besitz hat?« »Wenn dem so wäre«, versetzte Sir James, »dann wären sie schon längst damit verschwunden. Und das sind sie nicht, im Gegenteil - es wimmelt nur so von ihnen. Es muß dort mindestens ein Dutzend Agenten geben.« »Ich gehe doch wohl nicht fehl in der Annahme, daß es dort vor Euren eigenen Männern ebenfalls wimmelt?« -5 8 0
»Wir versuchen, sie zu beschatten«, erwiderte Sir James. »Dann wissen sie wohl auch, daß Ihr die Phiole ebensowenig besitzt.« »Vermutlich.« Lord Darcy seufzte und machte sich daran, seine mit Silber verzierte Porzellanpfeife zu stopfen. »Ihr sagt, der Tote sei Noel Standish.« Er klopfte mit dem Pfeifenholm auf einen Papierstapel. »Die hier sagen, daß der Mann als ein gewisser Bourke identifiziert wurde. Ihr sagt, es sei Mord gewesen. Die hier sagen, daß Seiner Majestät Untersuchungsbericht bereit war, es für Selbstmord zu erklären, bis Ihr genügend Druck ausgeübt habt, um einen entsprechenden Beschluß auszusetzen. James, ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, daß ich benutzt werden soll. Ich möchte einmal darauf hinweisen, daß ich Oberermittlungsrichter des Herzogs der Normandie bin, und nicht - ich wiederhole: nicht! Geheimagent in Seiner Majestät Geheimdienst.« »Es ist ein Verbrechen geschehen«, wandte Sir James ein, »und es ist Eure Pflicht, ihm nachzugehen.« Gelassen zog Lord Darcy so lange an seiner Pfeife, bis der Tabak richtig brannte. »James, James.« Sein hageres, anziehendes Gesicht blieb völlig unbewegt, als er eine dichte Rauchschwade ausstieß. »Ihr wißt doch ganz genau, daß ich nicht dazu verpflichtet bin, jeden Mord und Totschlag im Herzogtum zu untersuchen. Weder Standish noch Bourke war ein Mitglied der Aristokratie. Ich muß diesen Fall nicht untersuchen, es sei denn, ich erhalte direkten Befehl, entweder von Seiner Hoheit dem Herzog oder von Seiner Majestät dem König. Kommt schon, James überzeugt mich doch lieber!« Master Sean lächelte zwar nicht, doch kostete es ihn einige Anstrengung, das Gesicht nicht zu verziehen. Der stämmige kleine irische Hexer wußte nur zu gut, daß Seine Lordschaft bluffte. Lord Darcy konnte einem solchen Fall ebensowenig den Rücken kehren wie eine Biene den Kleeblüten. Doch Sir James -5 8 1
wußte das nicht. Er wußte wohl, daß er den Fall seinen Vorgesetzten vortragen konnte, um schließlich einen Befehl des Königs zu erwirken - doch er wußte auch, daß die ganze Angelegenheit bis dahin wahrscheinlich schon vorüber sein würde. »Was wollt Ihr, Darcy?« fragte der Agent des Königs. »Information«, sagte Seine Lordschaft knapp. »Ihr wollt, daß ich mich nach St. Matthee begebe, um dort für Ablenkung zu sorgen, während Ihr und Eure Männer Eurer Arbeit nachgeht. Schön. Aber ich gebe mich nicht mit der Rolle des Hanswurst zufrieden. Ich will, verdammt noch einmal, wissen, was hier gespielt wird. Ich will die ganze Geschichte haben.« Sir James dachte zehn bis fünfzehn Sekunden darüber nach, dann sagte er: »Also gut, My Lord. Dann will ich Euch alles unverblümt erzählen.« Seit Jahrhunderten hatten die Könige von Polen ihre Reichsgrenzen nach dem Prinzip von Ebbe und Flut ausgedehnt, vornehmlich in Richtung Osten und Süden. Im Süden waren sie von der Osmanlis gebremst worden. Im Osten hatten sie sich mit der Annektierung der Ukraine in den frühen dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts den letzten Bissen einverleibt. König Casimir IX hatte 1937 im Alter von zwanzig Jahren den Thron bestiegen und sein Land zwei Jahre später in einen höchst erfolglosen Krieg gegen das Reich und seine skandinavischen Verbündeten gestürzt. Eine weitere Expansion nach Osten war ausgeschlossen, weil dies wahrscheinlich einen Zusammenschluß der russischen Staaten provoziert hätte. Polen war nun im wortwörtlichen Sinne von Feinden umgeben, die es haßten, und von Nachbarn, die es fürchteten. Casimir hätte sich erst einmal einige Jahre Zeit nehmen sollen, um eine Konsolidierung und Aussöhnung herbeizuführen, doch es war nur zu deutlich, daß die Erinnerung an seinen Vater und sein -5 8 2
Traumbild von sich selbst als Eroberer zu mächtig waren. Weil er genau wußte, daß jeder Versuch, mit seinen Armeen in den deutschen Pufferstaaten einzumarschieren, die seine eigene Westgrenze von der Ostgrenze des Anglo-Französischen Reichs trennten, beim gegenwärtigen Stand der Dinge der reine Selbstmord gewesen wäre, entschied sich Casimir dazu, seine stärkste nichtmilitärische Waffe ins Gefecht zu führen: die Serka. Dieser Spitzname war einem Ausdruck entlehnt, der soviel bedeutete wie »der rechte Arm des Königs«. Aus finanziellen Gründen wurde sie im Etat des Ministeriums für Sicherheitsfragen geführt, so daß der Anschein erweckt wurde, als sei sie eine Abteilung der königlichen Regierung. Doch dem war nicht so. Nicht einer Seiner Majestät Minister oder Berater wußte davon oder verfügte über die Vollmacht, ihre Operationen zu kontrollieren oder zu steuern. Sie bestand aus fanatisch ergebenen Männern und Frauen, die ihren Treueeid dem König persönlich und nicht der Regierung geleistet hatten. Die Serka war nur dem König höchstpersönlich verantwortlich. Sie setzte sich aus zwei Hauptabteilungen zusammen: aus der Geheimpolizei, die für die innere Sicherheit zuständig war, und aus dem Geheimdienst, der sich mit ausländischen Problemen und Aktionen befaßte. Doch war diese Trennung alles andere als eindeutig und scharf. So konnte ein Agent mal der einen, mal der anderen Abteilung unterstellt werden. Die Serka war derzeit wahrscheinlich das mächtigste und skrupelloseste Regierungsinstrument auf der ganzen Welt. Ihre Agenten, von denen sehr viele Hexer mit magischem Talent waren, waren in allen Ländern Europas tätig, am stärksten im AngloFranzösischen Reich. Nun war es freilich eine historische Tatsache, daß die Plantagenet-Könige es nicht gerne sahen, wenn ihr Reich durch fremde Könige angegriffen wurde. Seit acht Jahrhunderten hatten sie solche Invasions versuche erfolgreich abzuwehren verstanden. Es gab ein Sprichwort in Europa: »Wer sich von einem Plantagenet etwas borgt, kann es -5 8 3
ohne Zins zurückzahlen. Wer einen Plantagenet aber bestiehlt, dem werden die Wucherzinsen das Genick brechen.« Der gegenwärtige Herrscher, Seine Majestät John IV, von Gottes Gnaden König von England, Irland, Schottland und Frankreich; Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation; Oberster Häuptling des Moqtessumid Klans; Sohn der Sonne; Graf von Anjou und Maine; Prinzdonator des Souveränen Ordens des heiligen Johannes zu Jerusalem; Souverän des Höchst Ehrwürdigen Ordens von der Tafelrunde, des Ordens vom Leoparden, des Ordens von der Lilie, des Ordens von den Drei Kronen und des Ordens vom heiligen Andreas; Herrscher und Beschützer der Westlichen Kontinente von Neuengland und Neufrankreich; Verteidiger des Glaubens, bildete darin keine Ausnahme. Anders als seine mittelalterlichen Vorgänger hegte König John jedoch keinerlei Verlangen, die Reichsbesitzungen in Europa zu erweitern. Der letzte Plantagenet, der das Reich in Europa erweitert hatte, war Harold I gewesen, der im Jahre 1420 den ursprünglichen Vertrag von Kobnhavn unterzeichnet hatte. Über ein Jahrhundert lang blieben die Grenzen des Reichs so gut wie eingefroren, bis die Entdeckung der Kontinente der westlichen Hemisphäre unter der Regentschaft von John III den anglo-französischen Forschern eine völlig neue Welt eröffnete. John IV dachte nicht mehr an eine Expansion in Europa, doch verabscheute er zutiefst die Invasion seines Reichs durch polnische Agenten der Serka. Aus diesem Grund hatte der Diebstahl einer kleinen goldenen Phiole aus dem Ipswich-Labor auch sofort eine Reaktion des Königs und Seiner Majestät Geheimdienst provoziert. »Wer sie nun eigentlich gestohlen hat, ist unerheblich«, erklärte Sir James. »Das war lediglich ein gerissener Kunde, der Gelegenheit hatte, die Phiole an sich zu reißen. Es ist unwichtig, wie ihm dies genau gelang, aber Ihr könnt versichert sein, daß dieses Loch inzwischen gründlich gestopft worden ist. Der -5 8 4
Mann hat eine Gelegenheit der Bereicherung erkannt und zugegriffen. Er war kein polnischer Agent, aber er wußte, wo er einen finden konnte, und so wurde man sich handelseinig.« »Wieviel Zeit hatte er für die Verhandlungen, nachdem die Phiole gestohlen wurde?« wollte Lord Darcy wissen. »Drei Tage, My Lord. Sir Greer hat den Diebstahl zwei Stunden, nachdem er durchgeführt worden war, bemerkt und uns sofort Meldung gemacht. Es war völlig offensichtlich, wer die Phiole entwendet hatte, aber wir brauchten drei Tage, um ihn aufzuspüren. Wie gesagt - ein gerissener Kunde. Als wir ihn dann fanden, hatte er das Geschäft bereits abgewickelt und sein Geld erhalten. Wir sind nur eine knappe halbe Stunde zu spät gekommen. Ein Agent der Serka hatte die Phiole gerade in Empfang genommen und war mit ihr verschwunden. Zum Glück war der Dieb auch wirklich nur ein Dieb - ein Dieb eben, und kein echter Serka-Agent. Als wir ihn erwischt hatten, hat er uns ohne Umschweife alles verraten, was er wußte. Das, und auch andere Informationen, die wir erhielten, ließ uns zu dem Schluß gelangen, daß sich unser Jagdziel in einem Zug nach Portsmouth befand. Wir haben Noel Standish zwar noch per Teleklang im Büro von Portsmouth erreichen können, aber...« Die Pläne der Menschen decken sich nicht unbedingt mit denen des Universums. Ein dreiminütiger Verkehrsstau - und Noel Standish mußte mit ansehen, wie das Schiff nach Cherbourg nur vierzig Fuß von ihm entfernt in Richtung Kanal entschwand. Zwei Stunden später stand er an Bord der S.K.M.S. Pfeil und starrte gen Süden in die Dunkelheit hinaus, dem Rauschen des Kanalwassers lauschend, wie es gegen die Hülle des schnellen 'Kutters schwappte. Standishs Laune war nicht die beste. Zum einen hatte die Teleklangnachricht ihn eben erreicht, als er mit Freunden im Bellefontaine essen gehen wollte, und er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich umzuziehen. Er kam sich fürchterlich albern vor, wie er nun im Abendanzug auf dem -5 8 5
Deck eines Marinekutters stand. Zum anderen hatte es über eine Stunde gedauert, den Kommandierenden Admiral der Marinedocks von Portsmouth davon zu überzeugen, daß die Freigabe des Kutters von oberster Dringlichkeitsstufe sei - und auch dies war nur gelungen, nachdem er eine Teleklangverbindung mit London hatte herstellen lassen. Die ganze betrübliche Situation wies nur einen einzigen Lichtblick auf: Standish hatte sein Opfer in festem paranormalem Spürgriff. Er hatte bereits eine Beschreibung aus London erhalten: Junger Mann, Anfang bis Mitte Zwanzig. Fünf Fuß, neun Zoll groß. Schlank, aber mit ausgeprägter Muskelbildung. Dickes, dunkelbraunes Haar. Glattrasiert. Braune Augen. Wohlgeformte Augenbrauen. Gesicht attraktiv, beinahe hübsch. Gut gekleidet. Konservatives dunkelgrünes Jackett, braunrote Weste, goldbraune Hose. Trägt einen dunkelolivfarbenen Attachekoffer. Außerdem hatte er sein Opfer deutlich an Bord der Kanalfähre erkennen können, als diese den Hafen von Portsmouth verlassen und Kurs auf Cherbourg genommen hatte. Standish besaß einen gewissen Hauch des Talents. Er selbst bezeichnete seine recht spezialisierte Fähigkeit als »Versteckspiel«, wobei er selbst sowohl das Verstecken als auch die Suche übernahm. Wenn er einen Menschen erst einmal mit seinem magischen Spürsinn »gepackt« hatte, konnte er ihn überallhin verfolgen. Darüber hinaus wurde Standish für seine Opfer geistig unsichtbar; nicht einmal ein Meisterhexer hätte ihn bemerken können, solange Standish darauf achtete, auch optisch unsichtbar zu bleiben. Doch hatte sein Spürsinn auch einen begrenzten Radius von einigen Meilen, und der Mann mit der dunkelbraunen Weste befand sich, das wußte Standish, hart am Rande dieser Grenze. Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter. »Entschuldigt, mein Herr...« Standish wirbelte nervös herum. »Was? Was?«
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Der junge Offizier hob die Augenbrauen, von der überplötzlichen Reaktion ein wenig überrascht. Dieser Standish schien ein reines Nervenbündel zu sein. »Verzeihung, mein Herr, aber der Kapitän wünscht mit Euch zu sprechen. Folgt mir bitte.« Oberstleutnant zur See Malloix, der die S.K.M.S. Pfeil kommandierte, erwartete Standish in seiner königsblauen Uniform, in jeder Hand ein Glas Weinbrand. Er reichte Standish eines der Gläser, während sich der jüngere Offizier leise zurückzog. »Kommt herein, Standish. Nehmt Platz und entspannt Euch. Seitdem wir abgelegt haben, steht Ihr schon da und starrt gen Steuerbord, und das ist nicht gut. Dadurch kommen wir auch nicht schneller ans Ziel, nicht wahr?« Standish nahm das Glas entgegen und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß, Käpt'n. Danke.« Er nippte an dem Getränk. »Aber dennoch - meint Ihr, daß wir es schaffen werden?« Der Kapitän legte die Stirn in Falten, setzte sich und winkte Standish in einen Sessel, während er sagte: »Schwer zu sagen, um ehrlich zu sein. Wir fahren zwar mit voller Kraft, aber Meer und Wind verhalten sich nicht immer so, wie wir es gerne hätten. Wir können nicht das geringste dagegen unternehmen, also solltet Ihr tief durchatmen und abwarten, was passiert, eh?« »Recht habt Ihr, Käpt'n.« Er nippte erneut an dem Weinbrand. »Wie gut ist unsere Ortung?« Oberstleutnant zur See Malloix tätschelte mit einer Hand die Luft. »Keine Bange. Leutnant Seamus Mac Lean, unser Navigator, besitzt den Rang eines Wanderhexers in der Hexergilde, und diese Art von Aufgabe zählt zu seinen Spezialitäten. Das Paketboot befindet sich zwei Strich steuerbord, und bei unserer jetzigen Geschwindigkeit hat es -5 8 7
einen Vorsprung von einundvierzig Minuten. Das war die gute Nachricht.« »Und die schlechte?« Achselzuckend erwiderte Malloix: »Windumschwung. Wir haben seit fünfzehn Minuten kein Stück aufholen können. Nehmt's nicht so tragisch. Schenkt Euch doch noch einen Brandy ein.« Standish nahm es nicht tragisch und trank auch noch etwas Weinbrand, doch es nützte ihm nichts. Die Pfeil traf, allen Bemühungen zum Trotz, eine Minute zu spät in Cherbourg ein. Dennoch war Edelmann Puce-Weskit keine hundert englische Yards entfernt, als Standish die Gangway der Pfeil hinabstürmte, und als er mit Hilfe seines unfehlbaren inneren Kompasses mit forschem Schritt die Verfolgung aufnahm, verringerte sich der Abstand zusehends. Er hoffte, daß PuceWeskit die Phiole noch immer bei sich trug. Tat er es nicht, hatte er sie an Bord des Schiffs an einen Unbekannten weitergegeben, dann war alles umsonst gewesen. Dann würde das Ding noch vor Ende des Monats in Krakowa sein. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken. Er konnte nichts anderes tun, als seinem Opfer zu folgen, bis er Gelegenheit fand, dem Mann aufzulauern, ihn niederzuschlagen und zu durchsuchen. Er hatte dem Kapitän der Pfeil bereits einen Brief überreicht, der sobald wie möglich an einer bestimmten Adresse auf der Rue Queen Brigid abgeliefert werden sollte. In diesem Brief erklärte er dem für das Bureau Cherbourg zuständigen Agenten, was geschehen war. Es gab keine andere Möglichkeit, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und er durfte es nicht riskieren, PuceWeskit aus den Augen zu lassen. Er konnte nicht einmal ein Treffen vereinbaren, weil er nicht wußte, wohin sein Opfer ihn führen würde. Und wenn man schon einmal dringend einen Wachmann brauchte, war natürlich keiner da. Zwanzig Minuten später bog Puce-Weskit in die Rue Queen Brigid ein. Der wird doch wohl nicht ausgerechnet ins Geheimdienstbureau wollen! -5 8 8
dachte Standish. Mein lieber Puce-Weskit, Ihr beliebt wohl zu scherzen! Doch diese Sorge erwies sich als grundlos. Ein Dutzend Plätze vor dem Geheimdienstbureau bog Edelmann Puce-Weskit in eine andere Straße und begab sich in ein Caffehaus namens »Aden«. Dort legte er eine Pause ein. Standish war ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite gefolgt, weil dies die Gefahr seiner Enttarnung verringerte. Er huschte zwischen dem frühmorgendlichen Verkehr über die Rue Queen Brigid, dem Aden entgegen, wobei er beinahe mit einem Brauereipferd zusammengestoßen wäre, das einen Karren voller Bierfässer zog. Puce-Weskit befand sich vierzig Fuß von ihm entfernt, im hinteren Teil des Caffehauses. Ob er dort die Phiole einem Komplizen übergab? Standish überlegte gerade, was er tun sollte, als ihm die Entsche idung abgenommen wurde. Plötzlich strafften sich seine Muskeln, als sein Opfer sich mit einemmal mit großer Geschwindigkeit in südlicher Richtung in Bewegung setzte. Er rannte ins Aden hinein - und erkannte, welchen Fehler er begangen hatte. Die hintere Wand des Saals war nur dreißig Fuß entfernt. Puce-Weskit war durch die Hintertür getreten und hatte dann hinter dem Aden gestanden! Standish rannte durch den großen Raum und durch die Hintertür. Davor befand sich eine schmale Seitenstraße, doch der Mann, der dort, nur wenige Fuß entfernt, vor ihm stand, war mit Sicherheit nicht der Gesuchte. »Schnell!« rief Standish keuchend. »Der Mann in der rot-braunen Weste! Wo ist er hingegangen?« Der Mann wirkte etwas verblüfft. »Äh... ich... äh... ich weiß es nicht, mein Herr. Sobald sein Pferd gebracht wurde...« »Sein Pferd? Woher hat er denn ein Pferd?« »Oh, das hat er vor drei oder vier Tagen beim Besitzer in Pflege gegeben. Vor vier Tagen genau. Hat im voraus bezahlt. Er hat nach seinem Pferd verlangt und ist davongeritten. Wohin, das weiß ich auch nicht.« -5 8 9
»Wo kann ich hier ein Pferd mieten?« bellte Standish.
»Der Besitzer...«
»Führt mich sofort zu ihm!«
»Und das«, sagte Sir James le Lien, »war die letzte Spur, die
wir hatten, bis er sich zwei Tage später in Caen meldete. Nicht einmal das wüßten wir, wenn einer unserer Männer an diesem Morgen nicht zufällig gerade im Aden gefrühstückt hätte. Er hat Standish natürlich erkannt, aber aus naheliegenden Gründen keinen Kontakt mit ihm aufgenommen.« Lord Darcy nickte. »Und einen Tag später wird er am Morgen in der Nähe von St. Matthee tot aufgefunden. Irgendwelche Theorien, was er in diesen beiden Tagen angestellt haben könnte?« »Das dürfte einigermaßen klar sein. Der Besitzer des Aden hat uns erzählt, daß unser Verfolgungsziel - nennen wir ihn Bourke seine Satteltaschen mit Proviant in Konservierungszauberhüllen vollgepackt hatte, genug für einen drei-, vielleicht sogar viertägigen Ausritt. Kennt Ihr die Alte Küstenstraße, die von Cherbourg aus in südöstlicher Richtung zur Vire führt, den Fluß überquert und sich dann westlich über den Orne zieht, bis sie in Windungen nach Harfleur führt?« »Natürlich«, sagte Lord Darcy. »Gut, dann wißt Ihr auch, daß die Gegend dort sehr ländlich ist, hauptsächlich Äcker mit wenigen, verstreuten Dörfern und ohne Teleklangverbindungen. Wir nehmen an, daß Bourke diese Straße genommen hat und daß Standish ihm gefolgt ist. Wir vermuten, daß Bourke nach Caen wollte.« Master Sean hob eine Augenbraue. »Warum hat er dann nicht den Zug genommen? Das wäre doch viel bequemer und schneller gewesen, Sir James.« Sir James lächelte. »Das schon, aber nicht sicherer. Das Problem bei öffentlichen Transportmitteln ist, daß man auf ihnen im Prinzip gefangen ist. Wenn jemand auf der Flucht ist, will er soviel Handlungsfreiheit wie möglich haben. Ist man erst -5 9 0
einmal an Bord eines öffentlichen Verkehrsmittels, so ist man auch ziemlich eingeschränkt und dazu gezwungen, an Bord zu bleiben, bis es anhält, und darauf hat man selbst keinen Einfluß.« »Aye, das le uchtet ein«, sagte Master Sean. Er sah nachdenklich drein. »Dieser paranormale Griff, den Ihr da erwähnt habt - seid Ihr sicher, daß Standish ihn auf Bourke angewandt hat?« »Natürlich sind wir uns nicht absolut sicher«, gab Sir James zu. »Aber gewiß ist, daß er dieses Talent besaß. Ein Komitee von Meistern Eurer eigenen Gilde hat ihn überprüft. Ob er es nun in dieser Situation tatsächlich eingesetzt hat oder nicht, kann ich nur vermuten, aber ich glaube doch, daß die Annahme, daß er es getan hat, ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit hat.« Lord Darcy beobachtete sorgfältig eine Pfeifenrauchschwade, die zur Decke emporstieg, und sagte nichts. »Darin stimme ich Euch zu«, sagte Master Sean. »Ich bezweifle ja gar nicht, daß er es getan hat, und ich will auch nicht behaupten, daß er es nicht hätte tun sollen. De mortuis non disputandum est. Ich frage mich nur, ob er auch damit umgehen konnte.« »Wie meint Ihr das?« fragte Sir James. »Nun, nehmen wir einmal an, daß ein Mann sich völlig durchsichtig machen kann - mit anderen Worten, unsichtbare Der arme Kerl müßte doch ziemlich vorsichtig sein, nicht wahr? Auf weichem Boden oder im Schnee hinterläßt er Fußspuren, in einer Menschenmenge wird er Leute anstoßen. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es wäre, wenn Ihr einen solchen Mann ergreifen würdet? Da habt Ihr einen Armvoll Luft, die sich fleischig anfühlt, nach Schweiß riecht, sich aufgeregt anhört und salzig schmecken würde, wenn Euch der Sinn danach stehen sollte, dieses Experiment zu versuchen. Ihr werdet doch wohl zugeben, daß ein solches Subjekt höchst verdächtig wäre?« -5 9 1
»Hm, ja, natürlich«, gab Sir James zu, »aber...« »Sir James«, fuhr Master Sean fort, »Ihr habt ja keine Vorstellung, wie auffällig eine unsichtbare Person unter den falschen Umständen sein kann. Da steht der Mann nun, fürs Auge sichtbar, anzufassen, hörbar und so weiter - aber es ist niemand da! Ich will auf eines hinaus, Sir James. Auf die Frage, wie kompetent Noel Standish seine Fähigkeit zu handhaben imstande war.« Sir James sperrte den Mund kurz auf, schloß ihn wieder und runzelte die Stirn. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Wenn Ihr die Sache so darstellt, Master Sean, dann muß ich zugeben, daß ich es nicht weiß. Aber er hat sie zwölf Jahre lang erfolgreich angewendet.« »Und hat einmal einen Fehler gemacht«, versetzte Master Sean. »Und zwar einen tödlichen.« »Nun mal langsam, Master Sean«, warf Lord Darcy plötzlich ein. »Wir haben keinerlei Beweis dafür, daß er auf diese Weise umgekommen ist. Daß er sich hat umbringen lassen, ist eine nackte Tatsache. Aber daß es auf diese Weise zustande kam, ist blanke Vermutung. Wir wollen uns doch nicht auf unbegründete Vermutungen einlassen.« »Aye, My Lord. Verzeihung.« Lord Darcy richtete seine grauen Augen auf Sir James. »Dann bin ich also doch nicht nur eingeschaltet worden, um ein Ablenkungsmanöver zu veranstalten, eh?« Sir James blickte ihn verständnislos an. »Wie bitte, My Lord?« »Ich meine«, sagte Seine Lordschaft geduldig, »daß Ihr tatsächlich wollt, daß ich herausfinde, wer Noel Standish getötet hat?« »Selbstverständlich! Habe ich das nicht klargemacht?«
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»Nicht sonderlich.« Lord Darcy nahm die Akte wieder auf. »Dann wollen wir mal ein paar Dinge klären. Wieso wurde der Leichnam als Bourke identifiziert, und wo ist der wirkliche Bourke? Oder wer immer es gewesen sein mag.« »Der Mann, den Standish verfolgte, hat sich im Gasthof zur Grünen Möwe unter diesem Namen angemeldet«, erklärte Sir James. »In England hat er denselben Namen verwendet. Er glich Standish sehr, was Körpergröße, Gewicht und Haarfarbe anging. Er ist in jener Nacht verschwunden, aber wir haben seitdem nicht mehr die geringste Spur von ihm entdecken können.« Lord Darcy nickte nachdenklich. »Das paßt ins Bild. Ein junger Gentlemen trifft in einem Dorfgasthof ein. Am nächsten Morgen wird der Leichnam eines jungen Gentleman gefunden. Da nur ein junger Gentleman gesehen wurde, muß es sich um selbigen handeln. Einen völlig Fremden zu identifizieren, ist auch sonst ziemlich schwierig.« »Genau. Aus diesem Grund habe ich auch an meiner eigenen Identifizierung festgehalten.«. »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Und wie kommt es nun, daß Ihr an jenem Abend ausgerechnet in St. Matthee wart?« »Nun, sobald Standish sich einigermaßen sicher war, daß der Gesuchte sich im Gasthof einquartiert hatte, ist er nach Caen geritten und hat eine Nachricht an mein Büro hier in Rouen geschickt. Ich habe sofort den nächsten Zug genommen, aber als ich dort eintraf, waren beide schon verschwunden.« »Ja.« Lord Darcy seufzte. »Na ja, ich schätze, wir sollten uns wohl am besten mal dorthin begeben. Ich muß Seine Königliche Hoheit darum bitten, mir den Auftrag dazu zu erteilen, deshalb solltet Ihr mit mir kommen und Herzog Richard die ganze Sache noch einmal erklären.« Sir James machte ein gequältes Gesicht.
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»Wahrscheinlich habt Ihr recht. Wir sollten sehen, daß wir so schnell wie möglich dorthin gelangen, sonst wird die ganze Situation völlig untragbar. Übermorgen beginnt dort unten das alberne Mittsommerfest, und es tauchen schon dort die ersten Fremden auf.« Lord Darcy schloß die Augen. »Genau das fehlt uns noch: Komplikationen!« Master Sean erhob sich und schritt zur Tür. »Ich werde Ciardi sagen, er soll unsere Sachen packen, My Lord. Sieht mir nach einem längeren Aufenthalt aus.« Das kleine Dorf St. Matthee war damit beschäftigt, sein Aussehen zu verändern. Das eigentliche Kirchfest sollte auf einem riesigen Feld außerhalb der Dorfgrenzen stattfinden, und die Zelte begannen sich schon auf der Weide zu sammeln. Natürlich gab es im Dorf keine Bleibe für die Festbesucher. Der Gasthof zur Grünen Möwe hätte nicht einmal den hundertsten Teil von ihnen beherbergen können. Doch hatte man auf einem weiteren Anger eine ganz respektable Zeltstadt errichtet, und es waren auch genügend Parkplätze für Pferdewagen und Ähnliches geschaffen worden. Im Dorf hatte man die Geschäfte mit bunten Flaggen geschmückt, und die Kaufleute waren emsig dabei, die Preise heraufzusetzen. Beide Wirtshäuser hatten schon seit Wochen zusätzliche Lebensmittel eingekauft. Neun Tage lang würde das Dorf nun von hektisch-geschäftigen Fremden wimmeln, die die Bewohner aus ihrer Ruhe aufstörten und eine seltsame Erregung auslösten. Dann würden sie wieder verschwinden und ganze Äcker voll häßlicher Abfälle und Truhen voll hübschen Bargelds zurücklassen. Bis dahin würden alle eine herrliche Zeit verbringen. Lord Darcy lenkte sein Pferd im Trab die River Road von Caen entlang und traf am Mittag jenes hellen Sonnentags in St. Matthee ein, in Reitkleidern, wie sie ein wohlhabender Händler wohl getragen hätte. Er kam zwar nicht strenggenommen inkognito, aber er wollte auch keine -5 9 4
Aufmerksamkeit erregen. Gelassen bahnte er sich einen Weg durch die bereits wachsenden Menschenmassen auf die riesige alte Kirche zu, die dem heiligen Matthäus geweiht war und von der das Dorf seinen Namen hatte. Er lenkte sein Reittier zu dem Dorfplatz, wo die Pfosten aufgestellt waren. Dort band er das Pferd an und schritt zur Kirche hinüber. Der Hochwürdige Father Arthur Lyon, Rektor der Kirche von St. Matthee und ipso facto Rektor des Sprengeis von St. Matthee war ein breitschultriger Mann in den Fünfzigern, der die Sechs-FußMarke noch um gute zwei Zoll überragte. Sein kahler Schädel war von silbrigem Haar umrahmt, und sein kompetent wirkendes, sympathisches Gesicht lächelte meistens. Er saß in seinem Büro hinter dem Schreibtisch. Plötzlich klopfte es an seine Bürotür. Eine Frau in den mittleren Jahren trat hastig ein und sagte: »Tut mia ja leid, Euch zu stöan, Fadder, aber hia is'n Load Darcy, der Euch seh'n will.« »Dann bittet ihn herein, Edelfrau Anna.« Lord Darcy trat in Father Arthurs Büro und sah, daß der Priester ihn bereits mit ausgestreckter Hand erwartete. »Ist schon ein Weilchen her, My Lord«, sagte er mit breitem Lächeln. »Schön, Euch einmal wiederzusehen.« »Ganz meinerseits. Wie geht es Euch, alter Freund?« »Nicht schlecht. Bitte, nehmt doch Platz! Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten?« »Nein, jetzt bitte nicht, Father.« Er setzte sich in den angebotenen Sessel. »Wie ich höre, habt Ihr ein kleines Problem.« Father Arthur lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ach so, ja. Der sogenannte Selbstmord. Bourke.« Er gluckste. »Hatte mir schon gedacht, daß früher oder später jemand von oben vorbeikommen würde.« -5 9 5
»Warum sprecht Ihr vom ‚sogenannten Selbstmord’ Father?« »Weil ich die Menschen kenne, My Lord. Wenn ein Mann darauf aus ist, sich zu erschießen, dann spaziert er dafür nicht erst an einen einsamen Strand. Wenn er überhaupt zum Strand geht, dann allenfalls, um sich zu ertränken. Um ins Meer zu spazieren. Ich will ja gar nicht behaupten, daß sich noch nie jemand am Meer erschossen hätte, aber das ist derartig selten, daß ich schon Verdacht schöpfen muß.« »Der Meinung bin ich auch«, meinte Lord Darcy. Er kannte Arthur Lyon scho n seit einigen Jahren, und er wußte, daß der Mann ein absolut treuer Diener seines Gottes und seines Königs war. Er hatte eine ungewöhnliche Karriere hinter sich. Im Krieg von '39 war er im Achtzehnten Infanterieregiment bis zum Hauptfeldwebel aufgestiegen. Danach war er Königlicher Friedensoffizier geworden und als Chief der Wachmannschaft in Pension gegangen, bevor er seiner Berufung zum Priester folgte. Er hatte sich nicht nur als hochkarätiger Priester bewiesen, sondern auch als Mensch mit einem gewaltigen Heilertalent, und so war er ehrenhalber in den Orden vom hl. Lukas aufgenommen worden. »Alter Freund«, sagte Lord Darcy, »ich brauche Eure Hilfe. Was ich Euch jetzt erzähle, ist streng vertraulich. Ich muß Euch bitten, nichts davon ohne offizielle Genehmigung preiszugeben.« Father Arthur nahm die Hände vom Hinterkopf und lehnte sich mit blitzenden Augen vor. »Sozusagen wie ein Beichtgeheimnis, My Lord. Fahrt fort.« Lord Darcy brauchte über eine halbe Stunde dazu, dem guten Priester die ganze Geschic hte zu erzählen, soweit er selbst damit vertraut war. Father Arthur hatte sich wieder mit hinter dem Kopf verschränkten Händen in seinem Schreibtischsessel zurückgelehnt und lächelte die Decke an wie ein Seraph.
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»Ach ja, My Lord. Absolut faszinierend. Ich erinnere mich noch sehr gut an Freitag, den sechsten Juni. In der Tat, äußerst gut sogar.« Lord Darcy schloß das rechte Auge und hob die linke Braue in die Höhe. »Ich vermute, daß Ihr die Absicht hegt, mir zu verraten, welches Ereignis die Erinnerung an diesen Tag derart heftig in Euer Gedächtnis eingebrannt hat?« »Aber gewiß doch, My Lord. Ich genoß es nur gerade, selbst kombiniert zu haben. Wenn ich Euch meine Geschichte erzählt habe, werdet Ihr wahrscheinlich zur selben Schlußfolgerung gelangen.« Er wandte den Blick von der Zimmerdecke und nahm die Arme wieder zurück. »Man könnte sagen, daß es am späten Donnerstagabend anfing. Da ich in der Nacht zuvor aufgrund eines Krankenbesuchs die meiste Zeit nicht zum Schlafen gekommen war, bin ich am Donnerstagabend schon recht früh zu Bett gegangen. Und so bin ich natürlich schon kurz vor Mitternacht wieder aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Ich beschloß, die Zeit wenigstens zu nutzen und beschäftigte mich eine Weile mit Papierkram, um schließlich in die Kirche zu gehen und am Altar die Morgenmesse zu zelebrieren. Danach wollte ich im Kirchhof spazierengehen: Das tue ich oft, es läßt sich dort sehr angenehm meditieren. In jener Nacht schien kein Mond«, fuhr der Priester fort, »aber der Himmel war wolkenfrei und klar. Es war ungefähr zwei Stunden vor Morgenanbruch. Natürlich war es recht dunkel, doch ich kenne die Grabsteine dort inzwischen ganz gut. Ich war etwa eine Viertelstunde dort, als die Sterne erloschen.« Eine volle Sekunde lang wirkte Lord Darcy wie versteinert. »Als die Sterne was?« »Als die Sterne erloschen«, wiederholte Father Arthur. »Einen Augenblick waren sie noch alle da, in ihren vertrauten -5 9 7
Konstellationen - ich betrachtete gerade das Sternbild des Schwans - , und im nächsten war der Himmel plötzlich völlig schwarz. Der ganze Himmel. Auf einmal.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Na ja, ich habe es jedenfalls nicht verstanden«, sagte der Priester mit blitzendem Lächeln. »Es war so finster wie die Höllengrube. Ich muß zugeben, daß ich ein paar Sekunden beinahe in Panik geraten wäre. Ist ein ziemlich gespenstisches Gefühl, wenn die Sterne plötzlich ausgehen.« »Kann ich mir denken«, murmelte Lord Darcy. »Aber als Sensitiver«, fuhr der Priester fort, »wußte ich, daß keine Gefahr drohte, und etwa eine Minute später hatte ich mich wieder gefangen. Ich hätte in die Kirche zurückgehen können, aber ich beschloß, lieber noch ein Weilchen zu warten, um zu sehen, was noch geschehen würde. Ich weiß nicht genau, wie lange ich dort gestanden habe. Es kam mir wie eine Stunde vor, aber wahrscheinlich waren es keine fünfzehn Minuten. Dann leuchteten die Sterne wieder auf, genauso, wie sie verschwunden waren - alle auf einmal, am ganzen Himmel, zur selben Zeit.« »Kein Verblassen?« fragte Lord Darcy. »Kein langsames Aufleuchten?« »Nichts, My Lord. Zack - aus. Zack - an.« »Also kein Meeresnebel.« »Unmöglich. So schnell ist kein Nebel.« Lord Darcy richtete den Blick auf eine ein Fuß hohe Statue des hl. Matthäus, die in einer Wandnische stand. Er starrte den Apostel an, ohne ihn wahrzunehmen. Nach einer Minute des Schweigens sagte Lord Darcy: »Ich habe Master Sean in Caen zurückgelassen, um die Leiche zu überprüfen. Er sollte eigentlich in einer Stunde hier eintreffen. Ich werde zwar mit ihm darüber sprechen, aber...« Er verstummte wieder. Father Arthur nickte. -5 9 8
»Unsere Spekulation bedarf mit Sicherheit der Bestätigung, My Lord, aber ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. So, und wie kann ich Euch außerdem noch dienen?« »Ach so, das, ja richtig.« Lord Darcy grinste. »Eure Offenbarung der erloschenen Gestirne hat mich beinahe vergessen lassen, weshalb ich Euch überhaupt reden wollte. Ich hätte es gern, Father, wenn Ihr mit den Leuten sprechen würdet, die am Fünften am Nachmittag und am späten Abend in der Grünen Möwe waren. Ich bin fremd hier und würde ihnen wahrscheinlich nicht sehr viel entlocken können - jedenfalls mit Sicherheit nicht annähernd so viel wie Ihr. Ich möchte alles über das Kommen und Gehen erfahren. Einem alten Wachmann wie Euch brauche ich ja wohl nicht zu erklären, wonach Ihr Ausschau halten sollt, nicht wahr? Würdet Ihr das für mich tun?« Father Arthur erwiderte sein Lächeln. »Mit Vergnügen, My Lord.« »Und da ist noch etwas. Könntet Ihr Master Sean und mich für ein paar Tage bei Euch unterbringen? Leider ist im Gasthof kein Zimmer mehr frei.« Father Arthurs donnerndes Gelächter schien den ganzen Glockenturm erschüttern zu wollen. Master Sean O Lochlainn hatte schon immer etwas für Maultiere übrig gehabt. »Das Maultier«, pflegte er gerne zu sagen, »ist klüger als das Pferd, genau wie der Rabe klüger als der Falke ist. Weder ein Rabe noch ein Maultier wird sich einfach ins Kampfgetümmel stürzen, nur weil ein Mensch ihm das befehlen mag.« Und so kam es, daß der Hexer in schlichtes Braun gekleidet und auf einem reichlich abgenutzten Sattel sitzend, auf dem Rücken eines prächtigen Maultiers nach St. Matthee geritten kam. Er wirkte recht zufrieden mit sich selbst. Die Flußstraße war stark befahren; die halbe Einwohnerschaft -5 9 9
des Herzogt ums schien auf das kleine Küstendorf St. Matthee zuzustreben. Deshalb war Master Sean auch sehr überrascht, als ihm plötzlich jemand entgegenkam, doch diese Überraschung legte sich bald, als er in dem Reiter Lord Darcy erkannte. »Ihr wollt doch wohl nicht zurück nach Caen, My Lord?« fragte er, als Lord Darcy auf Hörweite herangekommen war. »Ganz und gar nicht, mein guter Sean. Ich bin gekommen, um Euch zu treffen. Nehmen wir die westliche Abkürzung, die führt uns am Dorf vorbei und bringt uns zur Alten Küstenstraße, in die Nähe der Stelle, wo man die Leiche gefunden hat.« Er ließ sein Pferd wenden und trabte neben Master Seans Maultier weiter. So ritten sie in forschem Tempo auf die Alte Küstenstraße zu. »Na«, fragte Lord Darcy, »was habt Ihr in Caen herausbekommen?« »Widersprüchliches Beweismaterial, My Lord, sehr widersprüchliches Beweismaterial. Zumindest was die Selbstmordtheorie betrifft. Am Klippenrand gab es Spuren, die darauf hinwiesen, daß er die Klippe herabgestürzt ist oder in die Tiefe gestürzt wurde. Aber man hat ihn fünfundzwanzig Fuß von der Klippe entfernt gefunden. Er hatte zwei gebrochene Rippen und ein recht schlimm verstauchtes rechtes Handgelenk, ganz zu schweigen von einigen schweren Prellungen. Die sind ihm alle einige Stunden vor seinem Tod zugefügt worden.« Lord Darcy stieß ein eher bitteres Lachen aus. »Was zwei Möglichkeiten beinhaltet. Primus: Edelmann Standish steht am Klippenrand, schießt sich in den Kopf, stürzt in die Tiefe in den Sand, kriecht fünfundzwanzig Fuß weiter und braucht schließlich mehrere Stunden, um an einer Wunde zu sterben, die ganz offensichtlich sofortige tödliche Wirkung hätte haben müssen. Oder, secundus: Er stürzt von der Klippe, schleppt sich fünfundzwanzig Fuß weiter, legt ein paar Stunden die Hände in den Schoß und entschließt sich endlich, sich zu erschießen. Die zweite Hypothese ist, finde ich, nur einen Hauch -6 0 0
wahrscheinlicher als die erste. Daß sein rechtes Handgelenk auch noch stark verstaucht war, setzt dem Ganzen die Krone auf. Kein Selbstmord; ne in, Selbstmord kommt nicht in Frage.« Lord Darcy grinste. »Was nur noch Unfall oder Mord übrig läßt. Welche Hypothese zieht Ihr persönlich vor, mein guter Sean?« Master Sean legte die Stirn in tiefe Falten, als befände er sich in der Gewalt der schlimmsten Qualen, welche die Konzentration aufzubieten hatte. Dann hellte sich sein Gesicht auf, als habe er eine plötzliche Erleuchtung gehabt. »Ich habe es, My Lord! Er ist aus Versehen ermordet worden!« Lord Darcy lachte. »Ausgezeichnet! Na schön, nachdem wir das endlich geklärt hätten, gibt es noch weiteres Beweismaterial, von dem ich Euch noch nicht informiert habe.« Er berichtete Master Sean von Father Arthurs ungewöhnlichem Erlebnis mit den erloschenen Sternen. Als er geendet hatte, ritten die beiden eine kurze Zeit schweigend nebeneinander her, bis Master Sean schließlich leise sagte: »Das ist es also!« Oben auf der Straße stand ein Wachmann am Fundort der Leiche, und ein zweiter saß am Boden. Als Lord Darcy und Master Sean näherkamen, erhob sich auch der zweite. Die beiden Reiter stiegen ab und führten ihre Reittiere zu den beiden Wachmännern hinüber. »Es tut mir leid, Gentlemen«, sagte der erste Wachmann mit einer gewissen Autorität in der Stimme, »aber dieses Gebiet ist abgesperrt und nicht allgemein zugänglich, und zwar auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs der Normandie.« »Sehr schön, das freut mich zu hören«, meinte Lord Darcy und holte seinen Ausweis hervor. »Ich bin Lord Darcy. Das hier ist Meisterhexer Sean O Lochlainn.« -6 0 1
»Jawohl, My Lord«, erwiderte der Wachmann. »Tut mir leid, daß ich Euch nicht sofort erkannt habe.« »Macht nichts. Hier hat man also die Leiche gefunden?« »Jawohl, My Lord. Direkt unterhalb der Klippe dort drüben. Wollt Ihr Euch die Stelle einmal anschauen, My Lord?« »Das möchte ich in der Tat, danke.« Vor den respekterfüllten Augen der beiden Wachmänner untersuchte Lord Darcy minutiös den Klippenrand. Master Sean begleitete ihn und versuchte, alles aufzunehmen, was Seine Lordschaft bemerkte. »Alles schon eine Woche alt«, murmelte Lord Darcy verbittert. »Schaut Euch mal das Gras dort an. Vor einer Woche hätte ich Euch noch genau sagen können, wie viele Leute es aufgewühlt haben. Heute kann ich nur noch feststellen, daß es mehr als zwei waren. Ich vermute, daß es wohl keine Methode gibt, den alten Zustand zu rekonstruieren, mein guter Sean?« »Nein, My Lord. Ich bin zwar Magier, aber kein Wundermacher.« »Das habe ich mir schon gedacht. Seht mal, die Kante dieser Klippe. Gestürzt ist er, das ist sicher. Aber hat man ihn gestoßen? Oder hinabgeworfen? Läßt sich nicht feststellen. Dafür haben Wind und Wetter zu gute Arbeit geleistet. Um meinen Cousin de London zu zitieren: ‚Pfui’« »Jawohl, My Lord.« »Na schön, dann gehen wir mal zum Strand hinunter und schauen uns die Sache von unten an.« Um nach unten zu gelangen, mußten sie etwa fünfzig Yards die Klippe hinabsteigen, bis sie eine steil abfallende Mulde erreichten, die sie hinunterklettern konnten, um schließlich zu der Stelle zurückzukehren, an der Standish gestorben war. Eine angenehme Brise wehte vom Land aufs Meer und führte den Duft wachsender Feldfrüchte mit. Ein Dutzend Yards entfernt -6 0 2
zankten sich drei Möwen lärmend um die Überreste irgendwelchen verendeten Seegetiers. Lord Darcy war immer noch unguter, verbitterter Laune. »Nichts, verdammt noch einmal! Absolut nichts! Alle Fußspuren schon längst weggespült oder vom Winde verweht. Verdammt, verdammt, verdammt! Wir haben nichts als die Aussagen von Augenzeugen, und die sind notorisch unzuverlässig.« » Dann glaubt Ihr ihnen also nicht, My Lord?« fragte Master Sean. Lord Darcy schwieg mehrere Sekunden, um dann mit etwas ruhigerer Stimme zu sagen: »Doch. Merkwürdigerweise glaube ich ihnen trotz allem. Ich glaube, daß die Aussage dieser Bauern absolut präzise ist. Sie haben gesehen, was sie gesehen haben, und was sie gesehen haben, haben sie auch berichtet. Aber sie haben nicht alles gesehen... sie können gar nicht alles gesehen haben!« Einer der Wachmänner oben auf der Klippe rief: »Da ist die Stelle, genau dort drüben, My Lord. Neben dem abgeplatteten Felsen.« Er zeigte mit dem Finger darauf. Doch Lord Darcy würdigte die Stelle nicht eines Blicks. Als der Wachmann ihn ansprach, hatte er den Kopf gehoben, um zu ihm emporzublicken, und nun blieb sein Blick auf etwas an der Klippe geheftet, das sich etwa zwei Fuß unterhalb der Stiefelspitzen des Wachmanns befand. Master Sean folgte dem Blick Seiner Lordschaft und entdeckte sofort, was Lord Darcys Aufmerksamkeit fesselte. »Sieht so aus, als hätte jemand dort seine Initia len eingegraben, My Lord.« »Tatsächlich. Wie lest Ihr das denn?« »Sieht mir aus wie S... S... O. Wen kennen wir denn, der die Initialen SSO trägt?« -6 0 3
»Niemanden, der bisher mit dem Fall zu tun zu haben scheint. Die Buchstaben könnten schon vor einer ganzen Weile dort eingemeißelt worden sein. Aber...« »Aye, My Lord«, meinte Master Sean. »Ich verstehe, was Ihr meint. Ich werde sie einer Zeitüberprüfung unterziehen. Soll ich sie konservieren?« »Nur, wenn sie nicht älter als eine Woche sind. Ach, übrigens: Hatte Standish eigentlich ein Messer dabei, als man ihn gefunden hat?« »Nicht, daß ich wüßte, My Lord. In den Berichten stand jedenfalls nichts davon.« »Hmmmm.« Lord Darcy machte sich daran, das ganze Gebiet zu durchstreifen, was Master Sean vor allem an einen Leoparden auf der Suche nach einer Abendmahlzeit erinnerte. Endlich blieb er am Fuß der Klippe stehen, unmittelbar unterhalb der Stelle, wo die Glyphen in die Lehmwand eingegraben worden waren. Er kniete nieder und begann zu graben. »Irgendwo muß es doch sein«, murmelte er. »Darf ich fragen, wonach Ihr sucht, My Lord?« »Ein Stück Stahl, mein lieber Sean, ein Stück Stahl.« Master Sean setzte seinen Reisesack im Sand ab und öffnete ihn. Dann holte er einen dünnen, dunklen metallblauen Stab hervor. Im selben Augenblick sagte Lord Darcy: »Aha!« Den Stab noch immer in der Hand haltend, fragte Master Sean: »Was ist los, My Lord?« »Seht selbst«, erwiderte Lord Darcy, stand auf und zeigte dem Hexer einen Gegenstand, der auf seiner Handfläche lag. »Seht und betrachtet es, alter Knabe: ein Männertaschenmesser.« Master Sean lächelte breit.
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»Aye. Ich nehme an, Ihr möchtet, daß ich einen Beziehungstest durchführe, My Lord? Zwischen Gravierung,' Messer und Leichnam?« »Aber natürlich. Nein, legt den Stab noch nicht beiseite. Das ist doch Euer Metalldetektor, nicht wahr?« »Aye, My Lord. Der ist magisch auf alles Metallische geeicht.« »Gut. Legt das Messer mal für die spätere Untersuchung beiseite, dann gehen wir zu der Stelle hinüber, wo man die Leiche gefunden hat. Mal sehen, ob wir nicht noch mehr ausgraben.« Der Meisterhexer zeigte mit dem Stab in der Rechten auf den Sand und schritt mit fast völlig geschlossenen Augen auf und ab, die Linke mit gespreizten Fingern hoch über den Kopf gehoben. Jedesmal, wenn er stehenblieb, grub Lord Darcy im weichen Sand nach und förderte Metallstücke hervor: einen rostigen Nagel, eine korrodierte Gürtelschnalle aus Messing, einen kupfernen Zwölfer, einen bronzenen Farthing und sogar eine Halbpfundmünze aus Silber. Alle Gegenstände trugen deutliche Anzeichen, daß sie sich schon seit langem an dieser Stelle befanden. Während sie arbeiteten, sahen die beiden Wachmänner oben auf der Klippe zu, ohne ein Wort zu sagen. Es ist unklug, einen Magier bei der Arbeit zu stören. Lord Darcy interessierte sich nur für eines der Fundstücke: einen kleinen Bleiklumpen. Er steckte ihn in seine Westentasche und fuhr mit dem Graben fort. Endlich, Master Sean hatte inzwischen ein Stück von acht mal zwölf Fuß untersucht, sagte der Hexer: »Das war's, My Lord.« Lord Darcy erhob sich, klopfte sich den Sand von Händen und Hose und musterte die Altmetallsammlung, die er auf dem großen, abgeplatteten Felsen ausgelegt hatte. »Schade, daß wir keinen Sechser gefunden habe. Dann wären wir schon einen ganzen Solidus weiter. Gold ist auch keins dabei.« -6 0 5
Master Sean lachte leise. »Es wäre wohl zuviel verlangt, hier eine komplette Sammlung der Reichsmünzen zu erwarten, My Lord.« »Da habt Ihr wohl recht. Aber hier - « Er holte den kleinen Bleiklumpen aus der Westentasche. »... ist das, was ich zu finden erwartet hatte. Wenn ich mich nicht sehr irre, stammt diese Kugel aus der.36er Heron, die der verstorbene Standish mit sich führte, und es ist das Geschoß, das seinen Schädel durchschlagen hat. Hier, überprüft es doch bitte mal, seid so nett, mein guter Sean.« Master Sean deponierte das Geschoß in einer der magisch sorgfältig abgeschirmten Taschen seines voluminösen Reisesacks, und die beiden Männer machten sich wieder auf den Rückweg, den Sand entlang und den Abhang zum Klippenrand empor. Master Sean legte sich bäuchlings auf den Rand der Klippe und spähte in die Tiefe. Nachdem er die Gravierung im sandigen Lehm der Klippenwand eine Minute inspiziert hatte, stand er auf, nahm einige Gegenstände aus seinem Reisesack und legte sich wieder hin, um sich an die Arbeit zu machen. Ein einfacher Kohäsionszauber genügte, um sicherzustellen, daß der Lehm nicht zerbröselte. Dann begann er mit geschickten Fingern, den Ziegel aus gehärtetem Lehm herauszuschneiden, den der Zauber umschloß. In der Zwischenzeit hatte Lord Darcy den älteren der beiden Wachmänner beiseitegenommen und ihm eine Frage gestellt. »Nein, My Lord, wir haben keine Schwierigkeiten gehabt«, sagte der Wachmann. »Seitdem der Leichnam entdeckt wurde, haben wir hier drei achtstündige Wachschichten eingelegt, und es ist kaum jemand vorbeigekommen. Die Leute von hier sind schlau genug, die kommen sowieso erst her, wenn die ganze Sache aufgeklärt ist und der Priester die Stelle geweiht hat. Natürlich war da noch die Sache von heute morgen.« »Heute morgen?« Lord Darcy hob eine Augenbraue. »Ja, My Lord.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Kurz nachdem wir -6 0 6
unseren Dienst angetreten haben. Vor knapp sechs Stunden - um acht Uhr zwölf.« »Und was ist da genau passiert?« fragte Seine Lordschaft mit scheinbar unendlicher Geduld. »Na ja, da sind diese beiden Leute den Strand entlanggekommen, aus östlicher Richtung. War'n Zigeuner. Heut morgen ist eine ganze Sippe von ihnen in St. Matthee eingetroffen, auf dem Kirchfestgelände. Diese beiden - 'n Mann und 'ne Frau, ja - kamen Arm in Arm hier lang. Dan - das ist Wachmann Danel da drüben - hat ihnen ein Signal gegeben, sie sollten nicht näher kommen, aber die haben nur gewunken und gelächelt und sind immer weitergegangen. Also ist Dan schnell zum Strand 'runter und hat sie aufgehalten. Sie haben so getan, als könnten sie kein Anglo-Französisch, Ihr wißt ja, wie diese Zigeuner sind. Aber Dan hat ihnen klargemacht, daß sie nicht weitergehen dürfen, da sind sie abgehauen. Haben keinen Ärger gemacht.« »Dann sind sie also ohne Streit wieder weggegangen, eh?« »Jawohl, My Lord, das sind sie.« »Na ja, dann ist ja nichts Schlimmes passiert. Weitermachen, Wachmann.« »Jawohl, My Lord.« Master Sean kam mit einem Klumpen thaumaturgisch gehärtetem Lehm in seinem ohnehin schon prall gefüllten symbolverzierten Reisesack vom Rand der Klippe zurück. »Noch etwas, My Lord?« »Ich glaube nicht. Gehen wir irgendwo zu Mittag essen.« In einem der Zelte in der Nähe des Festplatzes öffnete ein Agent der Serka, der Operationschef dieses Unternehmens, gerade etwas, das von außen wie ein angeschlagener, zerbeulter, abgenutzter alter Lederkoffer aussah. Sein Inneres war neu und -6 0 7
in bestem Zustand, und der Inhalt glich auf verblüffende Weise dem, was Master Sean in seinem symbolverzierten Reisesack mitzuführen pflegte. Er holte zwei kleine, kaum sechs Zoll große Stäbe aus rubinrotem Kristall hervor, die mit seltsam abgesetzten Spiralringen aus Silberdraht versehen waren, welche sich genau fünfmal um den Rubinkern wanden. Die beiden Stäbe glichen einander wie Spiegelbilder: Eine der Spiralen war rechts-, die andere linkswendig. Zudem holte er zwei kleine Glasflakons hervor, von denen einer eine weiße, grobgekörnte Substanz enthielt, der andere dagegen eine bernsteingelbe Masse aus feinem Granulat. Ihnen folgten ein merkwürdig geschmiedeter goldener Kerzenhalter von vier Zoll Höhe, eine zolldicke Kerze und ein kleines Räuchergefäß. Wie jeder fähige Hexer besaß auch der Operationschef Hände, die zwar kräftig waren, aber doch auch feine Arbeiten durchführen konnten. Gerade steckte er die Bienenwachskerze in den Halter, als jemand draußen an der geschlossenen Eingangsklappe des Zelts kratzte. Der Operationschef versteinerte. »Ja?« »Eins-drei-sieben kommt«, flüsterte eine Stimme. Der Operationschef entspannte sich wieder. »Gut, schickt ihn zu mir.« Sekunden später öffnete sich die Zeltklappe flatternd, und ein zweiter Agent der Serka kam geduckt hereingehuscht. Er musterte die thaumaturgischen Gerätschaften auf dem Tisch, während er auf einem Schemel Platz nahm. »Soweit ist es also schon gekommen, eh?« fragte er. »Ich bin mir noch nicht sicher«, erwiderte der Operationschef. »Es könnte sein. Ich wünsche es mir nicht. Ich habe keine Lust, mich mit Master Sean O Lochlainn messen zu müssen. Einen Mann von seinem Können und seiner Kraft sollte man lieber meiden, wenn er auf der anderen Seite kämpft.« »Verzeihung, Operationschef, aber seid Ihr Euch wirklich sicher, daß der Mann, den Ihr heute morgen auf dem Maultier erblickt habt, tatsächlich Master Sean war?« -6 0 8
»Völlig sicher. Ich habe seine Vorlesungen an der Universität Buda-Pest oft besucht, als ich dort zwischen achtundsechzig und siebzig im Grundstudium war. Damals arbeitete er an seinem ThD-Abschluß in Theoretik und Analogmathematik. Sein König hat das Stipendium aus seiner Privatschatulle finanziert, aber er hat sein Einkommen ein wenig aufgebessert, indem er Vorlesungen für das Grundstudium abhielt.« »Würde er Euch wiedererkennen?« »Höchst unwahrscheinlich. Wer achtet an einer großen Universität schon auf junge Semester?« Der Operationschef winkte ungeduldig ab. »Kommen wir lieber zu Eurem Bericht.« »Jawohl, Operationschef«, sagte Agent 137 diensteifrig. »Ich bin dem Mann auf dem Maultier gefolgt, ganz wie Ihr es befohlen hattet. Er hat sich mit einem anderen Mann getroffen, der ihm zu Pferd aus dem Dorf entgegenkam. Dieser Mann war hochgewachsen, hager, aber muskulös, mit anziehenden Gesichtszügen, die ziemlich englisch aussehen. Er war wie ein Händler gekleidet, aber ic h hatte den Verdacht...» Der Operationschef nickte. »Natürlich, Lord Darcy. Fahrt fort.« »Ihr habt gesagt, daß sie sich an den Ort des Todes begeben würden, und als sie die linke Abzweigung nahmen, war ich mir dessen sicher. Ich brach die Verfolgung ab und galoppierte zum Dorf, wo Nummer 202 mit dem Boot wartete. Wir hatten einen steifen Westwind, so daß wir noch vor ihnen die Bucht erreichten. Dort sind wir etwa zweihundert Yards vor der Küste vor Anker gegangen. Nummer 202 hat geangelt, während ich das Ufer mit dem Feldstecher beobachtete. Sie sprachen eine Weile mit den Wachmännern oben auf der Klippe, dann sind sie zum Strand hinuntergegangen. Einer der Wachmänner zeigte auf die Stelle, wo der Leichnam gelegen hatte. Lord Darcy sprach dann noch eine Weile mit ihm, dann ist er umhergegangen und -6 0 9
hat sich alles angeschaut. Er ging hinüber zum Fuß der Klippe und begann zu graben. Er hat auch etwas gefunden, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Master Sean tat es in seinen Sack und ist dann etwa zehn Minuten lang die Stelle abgeschritten, wo die Leiche gewesen war. Dabei hat er einen von diesen langen, schwarzblauen Metallstäben benutzt - Ihr wißt schon...« »Ein Metalldetektor«, sagte der Operationschef. »Ja. Fahrt fort.« »Jawohl. Lord Darcy hat jedesmal nachgegraben, wenn Master Sean auf eine Stelle zeigte. Hat eine unglaubliche Menge Zeug aus dem Boden geholt. Jedenfalls hat er irgend etwas 'gefunden, was ihn interessierte. Ich weiß nicht, was, konnte es auch nicht erkennen. Aber er hat es in die Tasche gesteckt und später dem Hexer überreicht.« »Ich weiß, was es war«, sagte der Operationschef mit harter Stimme. »War das das einzige, was ihn interessiert hat?« »Ja, soweit ich das erkennen konnte.« »Und was geschah dann?« Agent 137 zuckte mit den Schultern. »Dann sind sie wieder nach oben gestiegen. Darcy hat mit einem der Wachmänner gesprochen. Der andere hat dem Hexer zugesehen, wie er ein Loch in die Klippenwand gegraben hat.« Der Operationschef furchte die Stirn. »Was hat er gegraben? Ein Loch?« »Ja, genau. Hat flach auf dem Bauch gelegen, ein paar Fuß über den Klippenrand gegriffen und etwas ausgegraben. Was es war, konnte ich nicht sehen, aber es hat ein Loch von doppelter Faustgröße hinterlassen - vielleicht auch ein Stück größer.« »Verdammt! Warum habt Ihr nicht genauer hingesehen?«
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Die Gesichtszüge des Agenten verhärteten sich. »Es war sehr schwer, Genaues zu erkennen, Operationschef. Wenn wir näher als zweihundert Yards herangekommen wären, hätten wir ihre Aufmerksamkeit erregt. Habt Ihr schon einmal versucht, mit einem Sechser-Feldstecher von einem auf und ab schaukelnden Boot aus eine Scharfeinstellung zu erreichen?« »Regt Euch ab, ich bin ja nicht auf Euch wütend. Ihr habt gute Arbeit geleistet. Ich wünschte nur, wir hätten bessere Informationen erhalten.« Der Operationschef sah nachdenklich drein. »Das sagt uns etwas. Den Strand können wir jetzt vergessen. Befehlt den Leuten, sie sollen sich von dort fernhalten. Sie sollen auf keinen Fall mehr dorthin gehen. Die Phiole ist nicht mehr da, sofern sie es jemals wirklich war. Wenn Master Sean sie nicht gefunden hat, dann war sie auch nicht da. Wenn er sie aber doch gefunden haben sollte, dann ist sie jetzt weg, und er und Lord Darcy wissen, wo sie ist. Und das ist ein Problem, über das ic h nachdenken muß. Geht jetzt und laßt mir Zeit zum Überlegen.« Agent 137 verließ das Zelt. Das öffentliche Gastzimmer im Gasthof zur Grünen Möwe war so überfüllt, daß es wie ein Londoner Eisenbahnabteil in der Stoßzeit aussah. Inmitten des Tohuwabohu wanderten Wein und Bier in einer Richtung über die Theke, während Kupfer und Silber die entgegengesetzte Richtung nahmen, was alle diesseits und jenseits des Tresens glücklich machte. In der Club-Bar im Nebenzimmer war es etwas ruhiger, doch war der Lärm aus dem öffentlichen Gastzimmer nicht zu überhören. Hier bediente der Gastwirt die Gäste persönlich, und er kam seinen beruflichen Pflichten mit Stolz und Eifer nach. Außerdem waren hier die Trinkgelder größer, und die Arbeit war auch leichter.
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»Wünscht Ihr noch was?« fragte er, als er die beiden Bierkrüge auf den Tisch stellte. »Vielleicht 'n Happen zu knabbern oder so?« »Nein, jetzt nicht, Edelmann Dreyque«, sagte Father Arthur. »Das genügt fürs erste.« »Schön, schön, Vadder. Dank auch un' Prost.« Lautlos zog er sich zurück. Lord Darcy nahm einen tiefen Zug und seufzte. »Ein kühles Bier an einem Mittsommerabend ist doch etwas herrlich Erfrischendes. Die Grüne Möwe hat wirklich einen gepflegten Keller. Und das Essen ist auch gut. Master Sean und ich haben es heute nachmittag gekostet.« »Wo ist Master Sean denn jetzt?« fragte der Priester. »In den Räumen, die Ihr uns im Pfarrhaus zur Verfügung gestellt habt, mitten zwischen seinen Geräten. Er führt gerade einige Labortests an Beweisstücken durch, die wir ausgegraben haben.« Er senkte die Stimme. »Habt Ihr herausbekommen, was sich in der fraglichen Nacht zugetragen hat?« »Weitgehend«, erwiderte Father Arthur ebenso leise. »Ein paar Dinge sind zwar noch unklar, aber ich glaube, daß wir die meisten Lücken schon selbst füllen können.« Der von Standish Gesuchte war am Fünften am späten Nachmittag in der Grünen Möwe angekommen und hatte sich als »Richard Bourke« ausgegeben. Er hatte nur einen Attachekoffer mit sich geführt, doch da er außerdem noch ein Pferd mit Sattel und Satteltaschen dabei gehabt hatte, war dies dem Wirt als hinreichende Sicherheit gegen etwaige Zechprellerei erschienen. Der Gasthof verfügte nur über sechs Fremdenzimmer, die sich alle in der oberen Etage des zweistöckigen Gebäudes befanden. Zwei davon waren bereits belegt gewesen. Um zehn nach zwei war dann jener Danglars hereingekommen und hatte sich und seine Herrin, die Mistress Jizelle de Ville, angemeldet. -6 1 2
»Bourke«, sagte Father Arthur, »kam um viertel nach fünf. An diesem Abend gab es keine weiteren Gäste. Und es hat auch niemand einen jungen Mann in Abendkleidung gesehen.« Er hielt inne und lächelte freudig. »Allerdings...« »Aha! Ich wußte doch, daß ich mich auf Euch verlassen kann, mein guter Arthur! Was war es?« Der gute Hochwürdige Father lächelte noch immer wie ein Seraph, hob einen Zeigefinger und sagte: »Der Fall des geheimnisvollen Küstermantels.« »Ihr fasziniert mich. Bitte erklärt Euch.« »Mein Küster«, sagte Father Arthur, »hat einen alten Mantel, der ursprünglich aus zwei gebrauchten Pferdedecken zusammengenäht worden war, so daß er selbst im Neuzustand nicht gerade ein Muster an modischer Schönheit darstellte. Aber immerhin ist er wirklich sehr warm. Im Sommer hängt er ihn im Stall hinter der Kirche auf. Er behauptet, das würde die Motten abhalten - der Geruch, meine ich. Am Morgen des sechsten Juni brachte einer der Männer, die hier im Gasthof arbeiten, den Mantel in die Kirche und fragte meinen Küster, ob es seiner sei, was auch der Fall war. Wollt Ihr vielleicht einfach nur mal ganz wild raten, wo man ihn gefunden hat?« fragte Father Arthur. »Geht das Zimmer, in dem sich Bourke einquartiert hat, nach vorne oder nach hinten hinaus?« »Nach hinten.« »Dann hat man ihn auf dem Kopfsteinpflaster hinter dem Gebäude gefunden.« Noch breiter grinsend und lächelnd klatschte Father Arthur einmal kurz in die Hände. »Exakt, My Lord!« Lord Darcy erwiderte das Lächeln. »Rekonstruieren wir mal. Bourke ist also vor halb sechs auf sein Zimmer gegangen. Richtig?«
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»Richtig. Eine der Mägde hat ihn aufs Zimmer geführt, hat ihn eingelassen und ihm den Schlüssel gegeben.« »Ist er danach noch einmal gesehen worden?« »Nur einmal. Er hat eine leichte Mahlzeit bestellt, und die wurde ihm gegen sechs aufs Zimmer gebracht. Das war das letzte Mal.« »War jemand von den anderen Gästen zu dieser Zeit im Haus?« »Nein. Der Diener Danglars war gegen halb fünf aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Es hat zwar niemand gesehen, wie Mistress Jizelle hinausging, aber die Kammerzofe, die die Betten gewendet hat, sagt, daß beide Zimmer gegen sechs Uhr leer waren. Zu dieser Zeit war Bourke noch da.« »Hmm.«. Lord Darcy starrte in die Tiefen seines Biers hinein. Nach einer halben Minute sagte er: »Ehrwürdiger Vater, hat man in diesem Gasthof tatsächlich einen Fremden in einem alten Pferdedeckenmantel gesehen, oder spekulieren wir jetzt nur in substanzlosen, nebligen Gefilden?«. Father Arthurs Mundwinkel verzogen sich zu einer kleinen Grimasse. »Völlig substanzlos ist die Sache nicht, My Lord, aber auch nicht eben hieb- und stichfest. Das Mädchen, das an diesem Abend an der Theke Dienst tat, sagt, daß sie sich an ein paar Fremde erinnern kann, die hereinkamen, aber an mehr auch nicht. Sie ist nicht sonderlich helle.« Lord Darcy lachte leise. »Na schön. Gehen wir also mal davon aus, daß Standish tatsächlich in einem gestohlenen - und ungemütlich warmen - Mantel hier hereingekommen ist. wie ist es dazu gekommen, und was geschah danach?« Father Arthur entzündete seine alte Briar und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Bierkrug.
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»Hm, mal sehen. Standish trifft also eine Stunde nach Bourke im Dorf ein, vielleicht auch etwas später. Aber er kommt nicht direkt hier herein, sondern geht hinten um die Kirche. Warum? Doch nicht, um den Mantel zu stehlen. Woher hätte er denn schon wissen sollen, daß der dort hing?« Er schmauchte zwei weitere Züge lang an seiner Pfeife, dann hellte sich sein Blick auf. »Aber natürlich! Um sein Pferd anzubinden. Er wollte nicht, daß man es auf dem offenen Platz sah, und er wußte, daß es im Stall der Kirche in Sicherheit sein würde.« Wieder zwei Züge an der Pfeife. »Hmm. Er sieht den Mantel an der Stallmauer hängen und erkennt, daß der als gute Verkleidung dienen kann, um seinen Abendanzug zu verdecken. Er nimmt den Mantel an sich und kommt hierher in den Gasthof. Er überzeugt sich davon, daß Bourke sich fest einquartiert hat, dann kehrt er zu seinem Pferd zurück, um auf ihm nach Caen zu jagen, von wo aus er Sir James benachrichtigen läßt. Dann kehrt er zur Grünen Möwe zurück. Er wartet, bis er sich unbemerkt nach oben in Bourkes Zimmer schleichen kann.« Der Priester hielt inne, furchte die Stirn und nahm einen kräftigen, gesunden Schluck aus dem Krug. »Irgendwann später ist er durch das Fenster in den Hof hinabgeklettert, wobei er den Mantel verloren hat.« Er schüttelte den Kopf. »Aber was ist in der Zeit passiert, nachdem er nach oben gegangen ist, bis er schließlich den Mantel hat fallenlassen? Und zwischen diesem Zeitpunkt und seinem Tod? Da habe ich nicht die leiseste Ahnung.« »Dafür habe ich gleich mehrere«, sagte Lord Darcy, »aber die sind alle sehr, sehr vage und unklar. Wir brauchen mehr Fakten. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen.« Er zählte sie an den Fingern ab. »Eins: Wo ist Bourke? Zwei: Wer hat Standish erschossen? Drei: Warum hat man ihn erschossen? Vier: Was ist -6 1 5
hier im Gasthof geschehen? Fünf: Was ist am Strand geschehen? Und schlußendlich: Wo ist die Ipswich-Phiole?« Father Arthur hob seinen Krug, leerte ihn mit einem gewaltigen Zug bis zur Neige, setzte ihn fest auf dem Tisch ab und sagte: »Das weiß ich nicht. Das weiß nur Gott allein.« Lord Darcy nickte. »In der Tat. Und eine seiner großartigsten Eigenschaften ist die, daß er einem immer eine Antwort gibt, wenn man ihm die richtige Frage auf die richtige Weise stellt.« »Habt Ihr vor, um diese Antworten zu beten, My Lord?« »Das auch, ja. Aber ich habe festgestellt, daß die beste Methode, Gott um eine Antwort in derlei Fragen zu bitten, darin besteht, hinauszugehen und sich seine Informationen selbst zu holen.« Father Arthur lächelte. »Dominus vobiscum.« »Et cum spiritu tuo«, erwiderte Lord Darcy. »Excavemus!« sagte der Priester. In seinem Zimmer im Pfarrhaus hatte Master Sean auf einem Tisch sorgfältig seine Gerätschaften aufgestellt. Die.36er Heron von Noel Standish befand sich fest in einem gepolsterten Schraubstock an einem Ende des Tischs montiert. Drei Fuß vor der Mündung lag das Projektil, das Lord Darcy im Sand ausgegraben hatte, auf einem kleinen Ständer, so daß es sich auf genau gleicher Höhe wie die Mündung befand. Gerade überzeugte er sich mit Hilfe bestimmter Instrumente davon, daß die Projektilachse genau auf der Seelenachse der Heron lag, als ein rhythmisches, kodiertes Klopfzeichen an der Tür ertönte. Der Hexer schritt durch den Raum, entriegelte die Tür und sagte: »Kommt herein, My Lord.« »Ich hoffe, ich habe nichts unterbrochen?« fragte Lord Darcy. »Überhaupt nicht, My Lord.« Master Sean sperrte die Tür wieder sorgfältig ab und verriegelte sie aufs neue. »Ich war -6 1 6
gerade mit den Vorbereitungen für den Ballistiktest beschäftigt. Die Vergleichs- und Sympathietests haben bereits ergeben, daß Standish mit diesem Projektil erschossen wurde. Jetzt geht es nur noch darum, ob es aus seiner eigenen Waffe stammt. Habt Ihr weitere Indizien ausfindig machen können?« »Keine«, gestand Lord Darcy. »Ich habe mir die Fremdenzimmer in der Grünen Möwe genauer ansehen können. Nichts. Absolut nichts. Ich habe zwar ein paar Ideen, aber keinerlei Beweise.« Dann zeigte er auf die Faustfeuerwaffe. »Fahrt doch bitte mit Eurer Arbeit fort. Es macht mir nichts aus, ein wenig zu warten.« »Es dauert auch nur ein Minütchen«, sagte Master Sean entschuldigend. Er schritt zum Tisch zurück und setzte seine Vorbereitungen fort, während Lord Darcy schweigend zusah. Seine Lordscha ft war mit dem Prinzip, um das es ging, wohlvertraut, denn er hatte den Test schon zahllose Male miterlebt. Er erinnerte sich an eine Vorlesung, die Master Sean einmal über das Thema gehalten hatte. »Ihr müßt verstehen«, hatte der Hexer gesagt, »daß das Prinzip der Relevanz hier von größter Wichtigkeit ist. Die meisten Abnutzungserscheinungen einer Waffe sind rein mechanischer Art. Es spielt keine Rolle, wer den Abzug betätigt, müßt Ihr verstehen, denn die Erosion durch die Gase in der Patronenkammer und die Abschürfung durch das den Lauf durchjagende Projektil bleibt dieselbe. Für die Waffe hat es keine Relevanz, wer den Abzug betätigt hat oder worauf sie gerichtet war. Aber für das Geschoß ist es relevant, aus welcher Waffe es abgefeuert wurde und was es getroffen hat. All dies läßt sich mit den richtigen Zaubern bestimmen.« Obwohl er ihn schon zahllose Male miterlebt hatte, genoß es Lord Darcy immer wieder, dem Test zuzusehen, denn wenn er erfolgreich war, verlief er auch stets recht spektakulär. Master Sean streute etwas magisch vorbehandeltes Pulver auf Geschoß und Pistole. -6 1 7
Dann hob er den Stab und murmelte leise eine Beschwörung vor sich hin. Kaum hatte er die letzte Silbe ausgesprochen, als plötzlich ein Geräusch erklang wie von einer scharf angeschlagenen Glocke: das Projektil war verschwunden. Die.36er Heron erzitterte in ihrer Schraubzwinge. Master Sean atmete erleichtert aus. »Wie eine heimkehrende Brieftaube, My Lord. Waffe und Geschoß gehören zusammen.« »Ich habe mich schon oft gefragt, warum die Kugel das tut«, meinte Lord Darcy. Master Sean kicherte leise. »Nennen wir es einen induzierten Zurück-in-den-Mutterleib-Komplex, My Lord. Wolltet Ihr etwas Bestimmtes?« »Ein paar Sachen.« Lord Darcy schritt zu seinem Koffer hinüber, öffnete ihn und holte ein Halfter hervor, in dem eine Pistole steckte. Es war eine präzisionsgefertigte MacGregor vom Kaliber.40 - eine schwere Kampfwaffe. Während er die MacGregor selbst überprüfte, sagte er: »Das ist das eine. Das andere ist eine Frage. Wie lange vor dem Fund der Leiche ist Standish gestorben?« Master Sean rieb sich mit einem dicken Finger die Nase. »Nun, der Untersuchungshexer in Caen, ein recht kompetenter Wanderhexer, hat den Zeitpunkt des Todes auf maximal fünfzehn Minuten vor der Entdeckung der Leiche terminiert. Meine eigenen Tests ergaben einen Maximalwert von fünfundzwanzig Minuten, aber nicht einmal der beste aller Konservierungszauber kann nach einer Woche sämtliche Unschärfen rückgängig machen.« Lord Darcy steckte die MacGregor in das maßgeschneiderte Halfter und rückte seine Jacke zurecht, um sie zu bedecken. »Mit anderen Worten, es gibt immer eine gewisse Unschärfe. Aber die Schürfwunden und Frakturen wurden ihm vor dem Tod zugefügt?« »Mit Sicherheit, My Lord. Etwa drei Stunden vorher, plus/minus eben diese fünfzehn Minuten.« -6 1 8
»Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Interessant. Hochinteressant.« Er blickte in den Wandspiegel und rückte seine Krawatte zurecht. »Habt Ihr noch etwas zu tun?« »Ich muß nur noch das Messer untersuchen«, erwiderte Master Sean. Lord Darcy wandte sich von dem Spiegel ab. »Könnt Ihr mich mit einem Peiler ausrüsten? Ich will ein bißchen durchs Dorf schlendern und möglicherweise auch zum Festplatz hinaus. Ich erwarte zwar keine Gefahr, aber ich möchte auch nicht unbedingt verschollen gehen.« »Sehr wohl, My Lord«, sagte der Hexer resignierend. Er öffnete seinen symbolverzierten Reisesack und entnahm ihm eine kleine Holzschachtel. Sie enthielt kleine Holzstäbe, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit einzölligen Zahnstochern aufwiesen, nur daß sie von gleichmäßiger zylindrischer Form und nicht zugespitzt waren und aus Esche anstatt aus Kiefer bestanden. Er suchte einen davon aus und verstaute die Schachtel wieder in dem Reisesack. Dann reichte er Lord Darcy den kleinen Zylinder. Der nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Nun entnahm der Meisterhexer einen Tropfen duftenden Öls aus einem goldenen Ölbehälter und träufelte ihn auf seinen rechten Daumen, um den Eschensplitter damit von Lord Darcys Daumen bis zum gegenüberliegenden Ende einzureiben. Schließlich packte er dieses Ende selbst mit Daumen und Zeigefinger der Rechten. Eine schnelle, knappe Drehung der Handgelenke, und der Eschensplitter zerbarst. Doch geistig und symbolisch waren beide Hälften noch immer Teile eines unzerstörten Ganzen. Solange jeder der beiden Männer seine Hälfte bei sich trug, waren sie miteinander auf magische Weise verbunden. »Ich danke Euch, mein guter Sean«, sagte Lord Darcy. »Und nun werde ich mich ins Nachtleben dieser Metropole stürzen.«
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Mit diesen Worten war er auch schon verschwunden, und Master Sean machte sich wieder an die Arbeit. Als Lord Darcy durch das Tor des Kirchhofs schritt, war die Sonne ein fetter, zerquetscht wirkender orangerötlicher Ellipsoid am Himmel, der säuberlich auf dem Horizont ruhte. In wenigen Minuten würde sie verschwunden sein. Die langen Schatten des Kirchturms griffen über das Dorf hinweg nach den Feldern. Die Flaggen und Fahnen und Wimpel des festlich geschmückten Dorfs hatten alle einen leichten Rotton. Das Wetter war den ganzen Tag schön und trocken gewesen, und so würde es auch bleiben, wie die Wahrsager im Wetteramt verkündet hatten. Es würde eine angenehme Nacht werden. »Bitte, My Lord... seid Ihr Lord Darcy?« Lord Darcy hatte die Frau aus der Kirche kommen sehen, doch da der Marktplatz voller Menschen war, hatte er sie nicht weiter beachtet. Nun blickte er sie aufmerksam an und war angenehm überrascht. Sie war das hübscheste Geschöpf, das er seit langem erblickt hatte. »Der bin ich, Demoiselle«, sagte er lächelnd. »Aber ich fürchte, Ihr kennt mich besser als ich Euch.« Ihr eigenes Lächeln war schüchtern, beinahe ängstlich. »Ich heiße Sharolta.« Ihr Name, ihr leichter Akzent und ihre Kleidung - sie alle wiesen sie als Zigeunerin aus. Ihr langes weiches, dunkles Haar und ihre dunklen Augen, ihre wohlgeformte Nase und ihre vollen, beinahe allzu vollkommenen Lippen und ihre üppigen Formen, die von dem Zigeunerkleid noch betont wurden, wiesen sie dagegen als Schönheit aus. »Kann ich Euch behilflich sein, Demoiselle Sharolta?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich verlange nichts von Euch. Aber vielleicht kann ich Euch ja helfen.« Ihr Lächeln schien leise ins Wanken zu geraten. »Können wir irgendwohin gehen, um uns zu unterhalten?« »Wohin denn zum Beispiel?« fragte Lord Darcy vorsichtig. -6 2 0
»Wohin Ihr wollt, My Lord. Irgendwohin, solange wir ungestört sind.« Dann berichtigte sie sich: »Ich meine natürlich nicht in diesem Sinne ungestört. Ich meine, wo wir reden können. Ihr versteht schon.« »Natürlic h. Es ist noch nicht Zeit für die Vesper. Ich schlage vor, wir gehen in die Kirche.« »Ja, das wäre gut, ja.« Sie lächelte wieder. »Da waren nicht viel Leute drin. Das müßte gut sein.« Das Innere der Matthäuskirche war dunkel, aber alles andere als düster. Die flackernden Kerzengruppen vor den Statuen und Tafelbildern wirkten wie kleine zwinkernde, grellbunte Sternenhaufen. Lord Darcy und die Demoiselle Sharolta setzten sich in eine der hinteren Bänke. Die meisten der etwa ein Dutzend Leute in der Kirche befanden sich weiter vorne in Altarnähe und beteten. Es war niemand in Hörweite der Stelle, die Lord Darcy ausgewählt hatte. Lord Darcy wartete wortlos darauf, daß das Mädchen das Schweigen brach. Zigeuner wurden immer stumm, wenn sie unter Druck standen; schuf man ihnen ein Vakuum, das es zu füllen galt, so sprudelten die Worte in eifriger Eloquenz nur so aus ihnen hervor. »Ihr seid der große Lord Darcy, der große Detektiv«, begann sie plötzlich. »Ihr untersucht den Tod des armen Edelmanns Standish, den man vor einer Woche am Strand tot aufgefunden hat. Stimmt das so?« Lord Darcy nickte stumm. »Nun, dann muß etwas faul sein am Tod dieses Mannes, sonst wärt Ihr nicht gekommen. Und deshalb muß ich Euch berichten, was ich weiß. Vor einer Woche kamen fünf Männer zu unserer Sippe. Sie sagten, sie seien von der Sippe Chanro - das Schwert - , die aus der Gegend von Buda-Pest stammt. Ihr Anführer, der sich Suv nennt - die Nadel - , bat unseren Häuptling um Schutz und Bleibe, wie es ihr Recht ist, und die wurden ihnen auch gewährt. Aber sie verhalten sich untereinander sehr geheimnisvoll und -6 2 1
zurückhaltend. Damit Ihr mich nicht mißversteht - sie benehmen sich sehr gut, sie sind nicht irgendwie unfreundlich oder roh oder so. Aber es ist etwas... wie soll ich es ausdrücken... etwas Verkehrtes an ihnen. Zum Beispiel heute morgen, davon muß ich Euch erzählen. Der Mann, der sich Suv nennt, wollte, daß ich mit ihm am Strand spazierengehe. Ich wollte das nicht, denn ich finde ihn nicht anziehend - versteht Ihr?« Wieder nickte Seine Lordschaft. »Selbstverständlich.« »Aber er meinte, daß er nichts dergleichen im Sinne hätte. Er sagte, er wollte am Meer Spazierengehen, aber nicht allein. Er wollte mir die Küstenlandschaft zeigen, mir die Vögel, die Tiere in den Prielen und die Pflanzen erklären. Das interessierte mich, und da ich glaubte, daß nichts Schlimmes dabei sei, kam ich mit. Er hielt auch Wort. Er versuchte nicht, mit mir Liebe zu machen. Eine Weile lang war es recht nett. Er zeigte mir die Priele und welche verschiedenen Lebewesen darin hausen. In einem war sogar eine Qualle.« Sie hob den Blick von den Händen und legte die Stirn in Falten. »Dann«, fuhr sie fort, »kamen wir zu der kleinen Bucht, wo man die Leiche gefunden hatte. Ich wollte umkehren, aber er sagte nein, er wollte sie sich anschauen. Ich sagte, daß ich da nicht mitmachen wollte, und drehte mich um. Da drohte er mir, er würde mir den Arm brechen, wenn ich nicht mitkäme. Also kam ich mit.« Sie schien unter ihrem hellen Kleid zu zittern. »Als der Wachmann erschien, ging er immer weiter und tat so, als verstünde er kein Anglo-Französisch. Dann sahen wir, daß es zwei waren, Wachmänner, meine ich, also sind wir umgekehrt und zurückgegangen. Suv war schrecklich wütend.« Sie brach ab und verstummte. »Meine Liebe«, fragte er sanft, »warum richtet sich eine Zigeunerin mit einer solchen Geschichte an die Obrigkeit? Kümmern sich die Zigeuner denn nicht selbst um die Ihren?« -6 2 2
»Doch, My Lord. Aber diese Männer sind keine Roma.« »Ach nein?« »Ihr Zelt steht neben dem meinen. Ich habe gehört, wie sie sich unterhielten, wenn sie sich unbelauscht glaubten. Ich verstehe ihre Sprache nicht sehr gut, aber ich erkenne sie, wenn ich sie höre. Sie sprachen Burgdeutsch miteinander.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy leise und nickte nachdenklich. Das brandenburgische Deutsch war die Hofsprache Polens, was die ganze Sache plötzlich sehr interessant machte. »Meint Ihr, Demoiselle«, fragte er, »daß Ihr mir diesen Suv mal zeigen könntet?« Sie blickte ihn mit ihren großen, wunderbaren Augen an und lächelte. »Da bin ich mir ganz sicher, My Lord. Kommt, hüllt Euch in Euren Umhang, dann gehen wir durchs Dorf.« Draußen vor der Kirche wurde die Dunkelheit nur durch die vorgeschriebenen Gaslaternen der verschiedenen Geschäfte gemildert - und durch den Viertelmond, der wie ein halbgeschlossenes Auge am Himmel hing. Im tieferen Dunkel des Kirchenvorsprungs nahm Lord Darcy zu seiner eigenen Überraschung das Mädchen plötzlich in die Arme und küßte sie, wobei er ihre wärmste Unterstützung fand. So verstrichen einige wortlose Minuten, bevor sie auf die Straße hinausschritten. Master Sean erwachte unruhig, als die Glocken zum Sechs-UhrAngelus läuteten. Eine kurze geistige Konzentration auf seine Hälfte des Peilers verriet ihm, daß Lord Darcy nicht in Gefahr war. Aber wäre er das gewesen, wäre Master Sean ohnehin sofort von allein erwacht. Doch als Master Sean um sieben nach unten zur Messe ging, hatte er immer noch das gleiche seltsame Gefühl. Bei der Fürbitte an den hl. Basilius den Großen hatte er Konzentrationsschwierigkeiten, und das änderte sich nicht bis zum Sanctus. Nach der Messe begab er sich in Father Arthurs kleines Gesellschaftszimmer in der Pfarrei, wo er zum Frühstück -6 2 3
eingeladen worden war. Zu seinem gelinden Erstaunen fand er dort nicht nur den Priester vor, sondern auch Sir James le Lien. »Guten Morgen, Master Sean«, sagte Sir James ruhig. »Habt Ihr die Phiole inzwischen gefunden?« Der Hexer schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte.« Sir James knabberte an einem Butterbiskuit und nippte heißen schwarzen Kaffee. Trotz seiner gelassenen Miene war es für Master Sean deutlich, daß er beunruhigt war. »Ich fürchte«, sagte Sir James schließlich gedehnt, »man hat uns reingelegt.« »Inwiefern?« fragte Father Arthur. »Nun, entweder hat die Serka die Phiole, oder sie glauben, daß wir sie inzwischen in Sicherheit gebracht haben. Jedenfalls scheinen sie die ganze Sache abgeblasen zu haben.« Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Kurz nach Mitternacht ist jeder uns bekannte Serka-Agent unseren Männern entwischt und verschwunden. Sie sind einfach wie vom Erdboden verschluckt, und wir haben seit acht Stunden nicht einen von ihnen mehr aufspüren können. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich einige von ihnen nach Süden begeben haben, in Richtung Caen; andere nach Westen, auf Cherbourg zu, und wiederum andere nach Osten, Richtung Harfleur.« Master Sean runzelte die Stirn. »Und Ihr glaubt...« »Ich glaube, daß sie die Ipswich-Phiole gefunden haben und daß einer von ihnen sie gerade nach Krakowa bringt. Oder zumindest über die polnische Grenze. Ich bin sofort nach Caen geritten und habe mehr Teleklanggespräche geführt als je zuvor in meinem Leben in solch kurzer Zeit. Wir haben die Netze jetzt ausgeworfen und können nur noch hoffen, daß wir den Mann mit der Phiole ergreifen werden. Wenn nicht...« Er schloß die Augen. »Wenn nicht, dann könnte es sein, daß uns ein Landangriff der Armeen Seiner Slavischen Majestät -6 2 4
droht, und zwar durch einen oder mehrere der deutschen Staaten. Dann möge Gott uns helfen.« Nach einer entsetzlich lang wirkenden Pause fragte Master Sean: »Sir James, ist es auch nur im geringsten wahrscheinlich, daß Noel Standish die versiegelte Phiole mit einem Messer bearbeitet haben könnte?« »Das weiß ich nicht. Warum fragt Ihr?« »Wir haben in der Nähe vom Leichenfundort ein Messer entdeckt. Meine Untersuchungen haben ergeben, daß sich Goldspuren an der Schneide befinden.« »Darf ich es mal sehen?« fragte Sir James. »Selbstverständlich, ich hole es eben. Entschuldigt mich eine Minute.« Er ve rließ den Gesellschaftsraum und schritt den ziemlich schmalen Flur des Pfarrhauses entlang. Aus der nahen Kirche ertönte das sanfte Läuten einer kleinen Glocke. Die Acht-Uhr-Messe begann gerade. Master Sean öffnete die Tür zu seinem Zimmer...... und blieb wie versteinert stehen, starrte volle fünfzehn Sekunden lang in den Raum und erfaßte ihn mit den Augen und seinen anderen Sinnesorganen. Dann brüllte er, ohne sich zu rühren: »Sir James! Father Arthur! Kommt her! Schnell!« Die beiden Männer kamen herbeigerannt und blieben an der Tür stehen. »Was ist los?« bellte Sir James. »Irgend jemand«, sagte Master Sean mit zornigem Grollen, »hat hier'n Zimmerchen durchstöbert! Und so was läßt den Iren in mir verdammt wütich wer'n!« Master Seans irischer Akzent hing stark von seiner Stimmung ab. Wenn er ruhig einen Vortrag hielt oder diskutierte, war davon fast nichts zu bemerken. Doch wenn er sich aufregte... Er trat ins Zimmer, um den Tisch genauer zu betrachten, den er für seine thaumaturgischen Analysen verwendet hatte. Mitten auf der Tischplatte lag ein Haufen zerbröselter Lehm. -6 2 5
»Die haben mein Beweismaterial vernichtet! Schaut Euch das an!« Master Sean zeigte auf den Lehm. »Und was ist das, wenn ich fragen darf?« Master Sean berichtete von den Buchstaben, die sie in der Klippenwand entdeckt hatten, und er erzählte auch, wie er den Lehmklumpen herausgestochen hatte, um ihn zu untersuchen. »Und mit diesem Messer sind die Buchstaben hineingeritzt worden.« Er zeigte darauf, es lag ebenfalls auf dem nahen Tisch. »Ich hab' das Ding noch nicht auf Zusammenhänge mit Standishs Leiche untersuchen können.« »Ist das das Messer mit den Goldspuren an der Klinge?« fragte Sir James. »Ja.« »Na, das ist mit Sicherheit das Messer von Standish. Ich habe es oft selbst gesehen. Ich könnte Euch sogar erklären, wo diese tiefe Kerbe im Elfenbeingriff herrührt.« Er blickte nachdenklich drein. »S... S... O...« Einen Augenblick später schüttelte er den Kopf. »Sagt mir nichts. Habe auch keine Ahnung, was es für Standish bedeutet haben könnte.« »Nun«, sagte der stämmige irische Hexer, »Standish muß sich oben auf der Klippe befunden haben, als er es eingeritzt hat. Was für ihn richtigherum war, muß für jemanden, der unten steht, auf dem Kopf stehen. Wie war's denn mit OSS?« Sir James dachte erneut nach, um schließlich einmal mehr den Kopf zu schütteln. »Immer noch nichts, Master Sean. Father« »Nein, mir sagt es leider auch nichts«, gestand Father Arthur kopfschüttelnd. Sir James sagte: »Hier hat mit Sicherheit ein Agent der Serka herumspioniert. Aber warum? Und wie konnte er hier eindringen, ohne daß Ihr es bemerkt habt?« -6 2 6
Master Sean schnitt eine zornige Grimasse. »Für einen Hexer ist das völlig klar. Erstens: Wer immer das getan hat, muß selbst ein fähiger Hexer sein, sonst hätte er nie den Vermeidungszauber durchbrechen können, der nur auf mich und Seine Lordschaft geeicht ist. Zweitens: Er hat sich genau den richtigen Augenblick ausgesucht - als ich die Messe besuchte und mich auf andere Dinge konzentrieren mußte, so daß ich nicht bemerken konnte, was er vorhatte. Wenn ich selbst es getan hätte, hätte ich mir den Zeitpunkt ausgesucht, als die Glocken zum Sanctum geläutet wurden. Und danach - kein Problem mehr.« Er sah finster drein. »Ich hab' einfach nicht damit gerechnet, das ist alles.« »Ich wünschte, ich hätte mir diese Lehmritzung einmal anschauen können«, sagte Sir James. »Na ja, immerhin könnt Ihr Euch den Abdruck ansehen, wenn sie den nicht auch...« Master Sean zog eine Schreibtischschublade auf. »Nein, haben sie nicht.« Er ho lte eine dicke Gipsplatte hervor. »Die hier habe ich mit schnell trocknendem Gips hergestellt. Natürlich ist der Abdruck spiegelverkehrt, aber Ihr könnt ihn Euch ja in dem Spiegel dort drüben anschauen.« Sir James nahm dem Hexer die Gipsplatte ab, behielt den Blick aber immer noch auf den Lehmhaufen geheftet. »Meint Ihr, daß Standish die Ipswich-Phiole vielleicht in diesem Lehm vergraben haben könnte, um sie vor einer Entdeckung zu bewahren?« Master Seans Augen weiteten sich. »Großer Himmel! Das könnte sein! Wenn sie von einem aurastabilisierten magischen Schutzschirm umgeben ist, hätte ich sie überhaupt nicht wahrnehmen können!« Sir James stöhnte. »Das beantwortet zumindest die Frage nach dem Warum, nicht wahr?« -6 2 7
»Sieht so aus«, murmelte Father Arthur. N iedergeschlagen hielt Sir James die Gipsplatte vor den Spiegel über dem Frisiertisch. »SSO. Nein, einen Augenblick mal.« Er drehte die Platte um, und sein hageres Gesicht wurde bleich. »Nein! Nein! O Gott!« sagte er leise. »Nein, bitte nicht! Nein!« »Was ist denn?« fragte der Priester. »Bedeutet OSS etwas Bestimmtes?« »Nicht OSS«, sagte Sir James noch leiser. »055. Nummer 055 der Serka. Olga Polovski, die schönste und gefährlichste Frau Europas.« In diesem Augenblick erlosch die Sonne. Der Hochwürdige Father Mac Kennalty hatte sich gerade den Gläubigen zugewandt und sie aufgefordert, ihre Herzen empor zum Herrn zu richten, auf daß sie auf rechte Weise am Heiligen Altaropfer teilnehmen mochten - als plötzlich eine Wolke die Sonne zu verfinstern schien und das Licht zum Erlöschen brachte, das durch die bemalten Kirchenfenster einfiel. Sogar die Altarkerzen schienen plötzlich matter zu leuchten. Er bemerkte es kaum, denn dergleichen war nichts sonderlich Ungewöhnliches. Ohne innezuhalten, forderte er die Gemeinde dazu auf, Gott dem Herrn zu danken, und setzte die Messe fort. Einen Augenblick lang standen die drei Männer schweigend in der völligen Finsternis des Zimmers da. »Na, damit wäre die Sache wohl klar«, sagte Sir James' Stimme im Dunkeln. Es war auffällig, wie wenig überrascht er wirkte - und auch von Panik war nicht die leiseste Spur zu bemerken. »Ihr habt Seine Lordschaft also angelogen«, sagte Master Sean. -6 2 8
»Ja, das hat er tatsächlich«, sagte Father Arthur. »Was meint Ihr damit?« fragte Sir James gereizt. »Ihr habt gesagt«, verwies ihn Master Sean, und seine Stimme klang mehr als ätzend, »daß Ihr nicht wüßtet, welche Funktion die Ipswich-Phiole hat.« »Wie kommt Ihr denn darauf, daß ich es doch weiß?« »Zum einen hat Euch diese Verfinsterung nicht überrascht. Und zum anderen müßt Ihr es gewußt haben, weil Noel Standish es auch wußte.« »Ich hatte meine Befehle«, sagte Sir James le Lien in hartem Ton. »Darum geht es jetzt nicht. Das verdammte Ding ist gerade im Einsatz. Ich - « »Hört mal!« unterbrach ihn Father Arthur scharf. »Hört mal!« Alle drei hörten den lieblichen Dreiklang der Sanctus-Glocke in der Finsternis. Heilig... heilig... heilig... Herr Gott Sabaoth... »Was...?« fragte Sir James mit leiser Stimme. »Begreift Ihr denn nicht?« fragte Father Arthur. »Das Unterdrückungsfeld reicht nicht bis zur Kirche. Father Mac Kennalty könnte die Messe zwar auch in der Finsternis weiterführen, aus dem Gedächtnis. Aber die Kirchgänger würden das wahrscheinlich nicht tun. Jedenfalls klingen sie alles andere als aufgeregt.« »Ihr habt recht, Father«, meinte Master Sean. »Das verrät uns etwas über den Wirkungskreis, nicht wahr? Mal sehen, ob wir uns hier heraustasten können, zur Kirche. Möglicherweise steckt Seine Lordschaft in Schwierigkeiten.« »Folgt mir«, erwiderte der Priester. »Diese Kirche kenne ich wie meine Westentasche. Faßt meine Hand an und folgt mir.« Vorsichtig schritten die drei Männer aus der Finsternis dem Licht entgegen. Sie steuerten noch immer die Treppe an, als die Sonne plötzlich wieder aufleuchtete. Lord Darcy kam in den Stallhof hinter der Matthäuskirche geritten, wo ihn vier Männer -6 2 9
erwarteten. Der Küster nahm ihm das Pferd ab, als er abstieg, und führte es in den Stall. Die anderen drei sahen ihn nur erwartungsvoll an. »Ich könnte eine Tasse Kaffee gebrauchen, mit einem ordentlichen Schuß Weinbrand und einem großen Teller Spiegeleier mit Schinken, falls so etwas gerade zur Hand sein sollte«, sagte Lord Darcy mit einem ziemlich verträumten Lächeln. »Wenn nicht, trinke ich einfach nur den Kaffee mit dem Brandy.« »Was ist passiert?« platzte es aus Sir James heraus. Lord Darcy tätschelte abwehrend die Luft. »Alles zu seiner Zeit, mein guter James, alles zu seiner Zeit. Es ist jedenfalls alles in Ordnung, das kann ich Euch versichern.« »Ich glaube, ein solches Frühstück läßt sich einrichten«, meinte Father Arthur lächelnd. »Kommt nur.« Kaffee und Brandy folgten sofort, von Father Arthur in einem großen Becher serviert. »Spiegeleier und Schinken kommen gleich«, sagte der Priester. »Vortrefflich! Ihr seid wirklich ein vollkommener Gastgeber, Father.« Lord Darcy nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher, dann fischte er mit Daumen und Zeigefinger in seiner Westentasche. »Ach, übrigens, Sir James, hier ist Euer kleines Spielzeug.« Er hielt eine kleine goldene Röhre hoch. Sir James nahm sie entgegen und musterte sie, während Master Sean sie mit einer finsteren Grimasse anstarrte, daß es fast den Anschein hatte, als würde er schielen. »Das Siegel ist aufgebrochen worden«, sagte Sir James. »Ja. Von Eurem Mann, von Standish also. Ich schlage vor, daß Ihr die Phiole Master Sean gebt, damit er sie aufs neue versiegelt, bis Ihr sie nach Ipswich zurückgebracht habt.« Sir James reichte Master Sean die Phiole. -6 3 0
»Wie habt Ihr sie ihnen denn wieder abgenommen?« fragte der Agent des Königs. »Überhaupt nicht.« Lord Darcy lehnte sich in seinem geräumigen Sessel zurück. »Wenn Ihr etwas Geduld habt, will ich alles erklären. Gestern abend hat mich eine junge Frau angesprochen...« Seine Lordschaft wiederholte wortwörtlich das ganze Gespräch und berichtete von ihrem Gesichtsausdruck und ihren Gesten während der Unterhaltung in der Kirche. »Und dann seid Ihr mit ihr gegangen?« fragte Sir James ungläubig. »Aber gewiß doch. Aus zwei guten Gründen. Primus: Ich mußte fe ststellen, was hinter ihrer Geschichte steckte. Secundus: Ich hatte mich verliebt.« Sir James starrte ihn fassungslos mit aufgesperrtem Mund an. Master Sean nahm einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck an. Father Arthur richtete die Augen gen Himmel. Sir James war der erste, der sich erholte und das Wort ergriff. »Verliebt?« Es klang fast wie ein Krächzen. Lord Darcy nickte gelassen. »Verliebt. Schrecklich verliebt. Wahnsinnig verliebt. Leidenschaftlich.« Sir James sprang wie von der Tarantel gestochen auf. »Seid Ihr verrückt, Darcy? Wißt Ihr denn nicht, daß diese Frau eine Agentin der Serka ist?« »Eben dies habe ich vermutet. Setzt Euch, James. Derlei Ausbrüche geziemen sich nicht.« Sir James setzte sich mit langsamen Bewegungen wieder in seinen Sessel. »Und nun paßt mal auf«, fuhr Lord Darcy fort. »Natürlich wußte ich, daß sie eine Spionin ist. Wenn Ihr genau zugehört hättet, als ich ihre Worte wiedergab, wäre Euch aufgefallen, daß sie sagte, ich würde den Tod von Standish untersuchen. Und dabei weiß doch jeder hier, daß die Leiche als Bourke identifiziert wurde. Offensichtlich hatte sie Standish erkannt und kannte auch seinen Namen.« -6 3 1
»Standish hat sie auch erkannt«, warf Sir James ein. »Geheimagentin Nummer 055, von der Serka. Wirklicher Name: Olga Polo vski.« »Olga«, sagte Lord Darcy und ließ das Wort auf der Zunge zergehen. »Das ist aber wirklich ein hübscher Name, findet Ihr nicht auch?« »Entzückend. Absolut bezaubernd. Und obwohl sie eine polnische Agentin ist, liebt Ihr dieses Mädchen?« »Das habe ich nicht gesagt, Sir James«, erwiderte Lord Darcy. »Ich habe nicht gesagt, daß ich sie liebe, sondern ich habe gesagt, daß ich mich verliebt hatte. Zwischen Lieben und Verliebtsein gibt es einen feinen Unterschied, und ich habe genug Erfahrung, um beide Zustände voneinander zu unterscheiden. Ihr Wort ‚bezaubernd’ trifft die Sache übrigens ziemlich genau. Das Gefühl war künstlich erzeugt worden. Die Frau ist eine Zauberin.« Plötzlich schnippte Master Sean mit den Fingern. »Also daher kenne ich den Namen! Olga Polovski! Vor sechs Jahren hat sie ihr Grundstudium an der Universität Buda-Pest absolviert. Eine gute Studentin, hoch talentiert. Kein Wunder, daß Ihr Euch in sie ‚verliebt’ habt!« Sir James' Augen verengten sich. »Ich verstehe. Es ging also darum, aus Euch Informationen herauszupressen. War sie damit erfolgreich?« »In gewisser Weise«, meinte Lord Darcy leise lachend. »Ich habe gesungen wie eine Nachtigall. Ja, wirklich, Darcys Lügenkantaten, forte e claro gesungen, könnten einmal zu einem der meistge fertigten Musikwerke des zwanzigsten Jahrhunderts werden. Verzeiht mir, ich bin etwas euphorisch.« »My Lord haben seine Bettgeschichten nun offenbart«, meinte Sir James leicht verärgert. »Und was war nun das Ergebnis dieses Baritonsolos?« -6 3 2
»Genaugenommen war es ein Duett. Wir haben uns mit Versikeln und Antwortstrophen abgewechselt. Das Thema meines Liedes lautete ganz schlicht, daß ich nur ein Kriminalinspektor bin und weiter nichts. Daß ich nicht die geringste Vorstellung hätte, was Seiner Majestät Reichsgeheimdienst vorhaben mochte. Daß der Geheimdienst aus irgendeinem Grund sehr daran interessiert sei, diesen Mörder zu fangen, und daß aus eben diesem Grund einige seiner Agenten hier herumhingen, um mich zu unterstützen. Daß sie aber in Wirklichkeit eher ein Klotz am Bein als eine echte Hilfe seien.« Er hielt inne, um einen weiteren Schluck Kaffee zu sich zu nehmen, dann fuhr er fort. »Ach ja, und noch etwas - daß sie Verstärkung aus England anfordern müßten, weil vor vier Tagen vier schwerbewaffnete Männer mit einem Marinekutter nach London abgefahren seien.« Sir James' Miene hellte sich nach kurzem Stirnrunzeln wieder auf. »Ah, ja! Ihr habt also angedeutet, daß wir die Phiole bereits gefunden und wieder nach England in Sicherheit gebracht hätten.« »Ganz genau. Und da sie von diesem ach so geheimen Unternehmen noch nichts gehört hatte, war sie auch überzeugt davon, daß es kein bloßer Bluff meinerseits sein konnte. Das Resultat war, daß sie die ganze Mission abblies. Um Mitternacht hat sie sich für einen Augenblick entschuldigt und mit jemandem gesprochen - ich vermute, daß es der zweite Mann war, der vielgeschmähte Suv. Ihre Männer machten sich in drei der vier Windrichtungen aus dem Staub.« »Und sie selbst nicht?« »Natürlich nicht. Warum sollte sie auc h meinen Verdacht erregen? Es war doch viel klüger, mich unter Aufsicht zu behalten, während ihre Männer sich verzogen. Ich habe sie kurz nach Morgengrauen verlassen und - «
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»Ihr wart von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen bei ihr? Warum habt Ihr denn so lange gebraucht?« Lord Darcy sah gequält drein. »Mein lieber James, Ihr glaubt doch wohl selbst nicht, daß ich Ihr diese ganze Fehlinformation innerhalb einer halben Stunde hätte geben können, ohne daß sie Verdacht geschöpft hätte, oder? Ich mußte mir alles von ihr scheibchenweise entlocken lassen. Ich mußte dafür sorgen, daß sie mir wiederum ihrerseits mehr Informationen gab, als sie ursprünglich vorgehabt hatte, damit sie von mir die ganze Geschichte bekam. Und natürlich mußte sie ja auch sehr behutsam taktieren, damit ich nicht meinerseits mißtrauisch wurde. Es war ein höchst delikater und zeitraubender Handel, das könnt Ihr mir getrost glauben.« Sir James tat sein Bestes, um nicht anzüglich die Mundwinkel zu verziehen. »Das kann ich mir gut vorstellen.« Father Arthur blickte aus dem Fenster und sog feierlich an seiner Pfeife, als befände er sich in tiefster Meditation - und als könnte er nichts von alledem hören. Ziemlich hastig warf Master Sean ein: »Dann wart Ihr es also, der den Lehmziegel zerstört hat, den ich aus der Klippenwand gegraben habe, My Lord.« »Ja, das war ich. Es tut mir leid, daß ich Euch nichts mehr davon sagen konnte, aber Ihr wart in der Kirche, und ich hatte es etwas eilig. Versteht Ihr, es gab ja nur zwei mögliche Orte, wo sich die Phiole befinden konnte. Deshalb habe ich an der unwahrscheinlichsten Stelle als erstes nachgesehen, nämlich in dem Lehmklumpen. Standish hätte die Phiole immerhin theoretisch dort verstecken können, aber das hielt ich für unwahrscheinlich. Trotzdem mußte ich für alle Fälle nachsehen. Aber sie war wirklich nicht dort. Also holte ich mein Pferd und ritt zu der Stelle hinaus, wo man die Leiche gefunden hatte. Versteht Ihr, Standish mußte die Phiole dabeigehabt haben, denn er hat sie geöffnet, um seinen Verfolgern zu entkommen. Ich vermute, daß Master Sean wahrscheinlich weiß, nach welchem -6 3 4
Prinzip das Ding funktioniert. Ich weiß jedenfalls nur, daß es jeden im Umkreis von etwa eineinhalb Meilen blind macht.« Master Sean räusperte sich. »Es ist etwas Ähnliches wie bei der sogenannten hysterischen Blindheit. Die Augen bleiben dann völlig in Ordnung, nicht wahr, aber der Geist blockiert die Sehzentren im Gehirn. Die Phiole enthält einen geladenen Stab, der mit dem Verschluß verbunden ist. Wenn man sie öffnet und den Stab freilegt, wird alles schwarz. Das ist auch der Grund für das aurastabilisierte magische Feld, welches die Phiole selbst bildet.« »Für den, der die Phiole in der Hand hält, wird aber nicht alles schwarz«, sagte Lord Darcy. »Farblos-grau, das schon, aber sehen kann man dann immer noch.« »Das ist der eingebaute Sicherheitszauber im Verschluß«, erklärte der kleine irische Hexer. »Na schön, aber wo war denn das vermaledeite Ding nun tatsächlich?« wollte Sir James wissen. »Im Sand vergraben, beinahe direkt unter dem großen Felsen, wo man den Leichnam gefunden hat. Ich mußte nur ein bißchen graben, bis ich sie gefunden hatte.« Lord Darcy sah ernst drein. »Ich fürchte, meine analytischen Kräfte lassen mich langsam im Stich. Sonst hätten Master Sean und ich sie schon gestern gefunden. Aber ich habe mich ausschließlich auf seinen Metalldetektor verlassen, um sie zu finden. Und dabei hat Master Sean mir doch ausdrücklich erklärt, daß ein Psychoschild alles geistig unsichtbar macht. Natürlich meinte er eigentlich Standish damit, aber ich hätte begreifen müssen, daß dieselbe Logik selbstverständlich auch für die Ipswich-Phiole gilt.« »Wenn Ihr mir gesagt hättet, wonach Ihr sucht, My Lord...«, sagte Master Sean sanft.
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Lord Darcy lachte leise und freudlos. »Obwohl wir nun schon jahrelang zusammenarbeiten, mein guter Sean, neigen wir doch immer noch dazu, einander zu überschätzen. Ich hatte geglaubt, daß Ihr bereits kombiniert hättet, wonach wir suchten, obwohl Ihr doch gar kein Detektiv seid. Und Ihr seid davon ausgegangen, daß ich etwas von geistigen Schutzschildern verstünde, obwohl ich kein Thaumaturg bin.« »Ich begreife noch immer nicht völlig, wie nun alles abgelaufen ist«, warf Father Arthur ein. »Könntet Ihr uns das nicht mal erläutern? Was hatte Standish überhaupt am Strand zu suchen?« »Nun ja, betrachten wir einmal die Nacht vor seinem Tod. Er hatte den geheimnisvollen Bourke verfolgt. Als Bourke sich dauerhaft in der Grünen Möwe einquartiert hatte, ist Standish nach Caen geritten, hat Sir James per Teleklang benachrichtigt und ist zurückgekehrt. Dann hat er sich den Mantel des Küsters ausgeliehen und ist in den Gasthof hinübergegangen. Als sich die Möglichkeit dazu ergab, ist er schnell die Treppe emporgehuscht und in Bourkes Zimmer eingedrungen, vermutlich, um die Phiole an sich zu bringen. Nun dürfen wir allerdings nicht vergessen, daß all dies nur Vermutung ist. Ich kann nichts davon beweisen, und ich wüßte auch nicht, wie man es je beweisen könnte. Ich habe nicht sämtliche Beweise, die ich dafür benötigen würde, und ich kann sie mir auch nicht beschaffen. Aber alles, was ich weiß, weist unweigerlich auf diese Schlußfolgerung hin. Master Sean behauptet, daß ich einen Anflug Talent habe - nämlich die Fähigkeit, von unbewiesenen Annahmen zu vorzeitigen Schlüssen zu springen. Dem mag so sein. Jedenfalls weiß ich, was geschehen ist. Also gut. Standish begab sich in Bourkes Zimmer, um ihn festzunehmen. Er wußte genau, daß Bourke im Raum war, weil er in geistigem Kontakt zu ihm stand. Doch als er ins Zimmer eindrang, wurde er plötzlich mit einer Frau konfrontiert - mit einer Frau, die er kannte. Die Frau war von dieser Begegnung ebenso überrascht -6 3 6
wie Standish. Ich weiß nicht, wer von beiden sich von seiner Überraschung als erster erholte, aber ich hege den starken Verdacht, daß es die Frau war. Nummer 055 ist reichlich geistesgegenwärtig, das könnt Ihr mir glauben. Doch Standish war der Stärkere. In den folgenden Sekunden mußte er zwar einige Prellungen und Schürfwunden einstecken, aber es gelang ihm dennoch, sie bewußtlos zu schlagen. Ich habe die Schürfwunde an ihrem Hals gestern nacht gesehen. Er durchsuchte den Raum und entdeckte die Phiole. Leider hatte der Lärm des Handgemenges zwei, möglicherweise auch drei ihrer Mitagenten alarmiert. Deshalb mußte er durchs Fenster fliehen, wobei er den Mantel verlor. Die Männer folgten ihm. Er lief zum Strand und...« »Moment mal«, unterbrach ihn Sir James. »Wollt Ihr etwa damit sagen, daß Bourke in Wirklichkeit Olga Polovski war? Verkleidet?« »Aber sicher. Sie ist eine ausgezeichnete Schauspielerin. Es ging ursprünglich darum, Bourke völlig von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Sie wußte, daß der Geheimdienst ihr auf der Fährte war, und sie wollte keine Spuren zurücklassen. Aber sie war sich im unklaren darüber, daß Standish ihr bereits derart dicht auf den Fersen war, weil er ja geistig unsichtbar war. Deshalb war sie auch so schockiert, als er in ihr Zimmer kam. Auf jeden Fall ist er zum Strand gelaufen. Zu dieser Nachtzeit gab es keinen anderen Ort, an den er hätte fliehen können, mit Ausnahme der Kirche, doch dort hätte man ihn schnell in die Enge gedrängt. Ich muß zugeben, daß ich nicht sehr präzise schildern kann, was während der Flucht genau geschah, aber wir müssen berücksichtigen, daß er zwei Tage lang ohne große Ruhepausen geritten war, und die Hiebe, die er von Olga hatte einstecken müssen, hatten ihn auch etwas geschwächt. Endlich fand er sich jedenfalls am Rande der Klippe wieder, und die Agenten der Serka umzingelten ihn. Ihr erinnert Euch, daß es eine mondlose Nacht war und daß ihm -6 3 7
zum Sehen nur das Sternenlicht zur Verfügung stand. Aber von den polnischen Agenten hatte mindestens einer eine Laterne dabei. Standish saß am Klippenrand in der Falle, er konnte nicht erkennen, wie tief die Klippe nach unten abfiel oder was ihn unten erwartete. Also lag er flach am Boden und rührte sich nicht, doch die anderen kamen immer näher. Er beschloß, sich der Phiole zu entledigen. Es war immer noch besser, sie zu verlieren, als sie in die Hände von König Casimir fallen zu lassen. Er holte sein Messer hervor und grub das ‚055’ in die Klippenwand, um die Stelle zu markieren und um sicherzugehen, daß andere es wahrnehmen würden, falls man ihn umbringen sollte. Ich bin überzeugt davon, daß er vorhatte, ein Loch zu graben, um die Phiole an Ort und Stelle zu verstecken. Ich glaube nicht, daß er zu diesem Zeitpunkt noch sehr klar denken konnte. Die Serka-Agenten kamen immer näher, und es wurde zusehends ungemütlich. Jeden Augenblick mußten sie ihn entdecken. Also brach er das Siegel der Phiole und öffnete sie. Daraufhin: völlige Finsternis. Da er seine Verfolger, wenn auch nur sehr undeutlich, erkennen konnte, diese ihn aber nicht, beschloß er, den Versuch zu wagen, sich an ihnen vorbeizuschleichen, um ins Dorf zurückzukehren. Wenn er einen Zeitgewinn verbuchen konnte, würde er vielleicht ein Versteck ausfindig machen können. Er stand auf. Aber als er sich umdrehte, trat er daneben und stürzte zwanzig Fuß in die Tiefe, wo er auf dem Sand aufprallte.« Lord Darcy machte eine Pause. Father Arthur musterte ihn nachdenklich und fragte: »Er hatte doch eine Waffe dabei. Warum hat er sie nicht benutzt?« »Weil die anderen ebenfalls bewaffnet und außerdem in der Überzahl waren. Er wollte seine Stellung nicht durch sein Mündungsfeuer preisgeben, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ«, erklärte Lord Darcy. »Aber fahren wir fort. Der Sturz war es, wodurch er sich die Rippen brach und das Handgelenk verstauchte. Es ist auch ziemlich wahrscheinlich, daß er für ein -6 3 8
paar Minuten die Besinnung verloren hat. Als er wieder zu sich kam, muß ihm klargeworden sein, daß er doch einen etwas größeren Vorteil hatte, als er zunächst geglaubt hatte. Die SerkaAgenten konnten nämlich das Mündungsfeuer seiner Pistole nicht erkennen. Schwerverwundet erwartete er sie.« »Bewundernswert«, meinte Father Arthur. »Es ist geradezu unglaublich, daß er beim Sturz beide Teile der Phiole nicht verloren hat. Er muß sie mit größter Verbissenheit festgehalten haben.« »Das sähe Standish ähnlich«, sagte Sir James grimmig. »Fahrt fort, My Lord.« »Nun, die Jungs von der Serka müssen sich das gleiche gedacht haben. Sie konnten nicht wissen, wie sehr er verletzt war, und sie wußten auch nicht genau, wo er sich befand. Also haben sie sich zurückgezogen. Langsam natürlich, weil sie sich ja im Finstern vortasten mußten, aber als sie wieder auf der Old Shore Road waren, ging es schon besser. Inzwischen war Standish wieder der Ohnmacht nahe. Er mußte die Phiole immer noch verstecken, deshalb hat er sie im Sand vergraben, wo ich sie dann später gefunden habe.« »My Lord«, sagte Master Sean, »ich weiß immer noch nicht, wer Standish umgebracht hat und aus welchem Grund.« »Ach so, das, ja. Aber das war doch von Anfang an völlig offensichtlich. Nicht wahr, Father Arthur?« Der gute Father starrte Lord Darcy fassungslos an. »Verzeihung, My Lord, aber für mich nicht.« Lord Darcy wandte den Kopf. »Sir James?« »Nein.« »Ach, herrje. Na schön, dann muß ich wohl ein Stückchen zurückgehen. Also: Die Demoiselle Olga mußte, um ihre Spur zu verdecken, ‚Bourke’ beseitigen. Aber wenn ‚Bourke’ sich -6 3 9
plötzlich in Nichts auflösen und ein anderer ebenso plötzlich aus dem Nichts wieder auftauchen sollte, dann hätte selbst ein Vollidiot den Verdacht gehegt, daß die beiden ein und derselbe waren. Also mußte sie für eine Tarnung sorgen. Jemand anders, der in keiner Weise mit ‚Bourke’ in Verbindung gebracht wurde, mußte in der Grünen Möwe auftauchen, und zwar bevor ‚Bourke’ dort erschien! Was geschieht also? Ein Kutscher namens Danglars erscheint, ein Diener, der sich und seine Herrin, Mistress Jizelle de Ville, ins Gästebuch einträgt. (Danglars und Suv waren übrigens mit großer Sicherheit ein und derselbe.) Aber wer bekommt Mistress Jizelle zu Gesicht? Niemand! Bis zum nächsten Morgen ist sie nichts als ein Name im Gästebuch! Es war ursprünglich geplant gewesen, daß Mistress Jizelle am Abend auftauchen sollte, dann Bourke noch einmal, und so weiter. Es sollte klar und deutlich werden, daß beide Personen nicht miteinander in Verbindung standen. Dadurch, daß Standish eintraf und sich in das Bild drängte, geriet alles durcheinander, aber es funktionierte dennoch halbwegs. Es muß Mistress Jizelle gewesen sein, die ihn tötete. Schaut Euch mal das Beweismaterial an! Standish ist - berichtigt mich bitte, falls ich mich irren sollte, Master Sean - plus/minus fünfzehn Minuten, bevor beziehungsweise nachdem man ihn gefunden hatte, gestorben.« Master Sean nickte. »Natürlich«, fuhr Seine Lordschaft fort, »gehen wir bei der Zeitangabe immer von einem aus. Wie sollte ein Mensch auch getötet werden, nachdem man ihn gefunden hat?. Aber es war niemand sonst da, der ihn hätte umbringen können! Ein Bauer und seine beiden Söhne hielten sich nahe genug an der Straße auf, um jeden zu bemerken, der dort entlangkam, es sei denn, er wäre über den Strand gegangen. Aber im feuchten Sand waren keinerlei Fußspuren zu sehen - außer denen der ‚Mistress Jizelle’! Stellt es Euch vielleicht folgendermaßen vor: Nummer 055, die immer noch etwas benommen ist und eine Halswunde hat, erfährt von ihren zurückkehrenden Leuten, daß sie Standish -6 4 0
verloren haben. Aber sie ist klug genug, um zu begreifen, was geschehen sein mußte. Sobald es geht, legt sie ihre ‚Mistress Jizelle’-Maske an und läßt sich von ihrem Leutnant zu dem fraglichen Strandabschnitt fahren. Dort klettert sie die Klippe hinab, um nachzusehen, und entdeckt Standish. Standish ist mittlerweile wieder zu sich gekommen. Er öffnet die Augen und erblickt Olga Polovski. Er hält die Pistole noch immer in der Hand, versucht, sie auf sie zu richten. Sie springt ihn an, um ihr Leben fürchtend. Ein Handgemenge, der Schuß löst sich Finis.« »Hätten die Bauern den Schuß nicht hören müssen?« fragte Master Sean. »Auf diese Entfernung bei starkem Wind, gischtendem Meer und einer schallschluckenden Klippe dazwischen - nein, da wäre es sehr schwer gewesen, einen Pistolenschuß wahrzunehmen. Außerdem wurde der Schall dadurch gedämpft, daß sich die Mündung direkt an Standishs Schläfe befand. Nein, der war nicht zu hören.« »Warum endeten ihre Fußspuren dann fünf Ellen vor dem Körper?« wollte Sir James wissen. »Im trockenen Sand waren keine Abdrücke zu sehen.« »Teilweise, weil sie ihre Fußspuren verwischt hat, teilweise aufgrund des Windes, der heftig genug blies, um sie zu verwehen. Sie war benommen und in Sorge, aber sie hat sich doch noch die Zeit genommen, um nach der Phiole zu suchen. Natürlich wollte sie keine Spuren dieser Suche zurücklassen. Sie ist zurückgekehrt, um sich mit Danglars-Suv zu beraten. Als sie die Bauern sah, blieb ihr nichts anderes mehr übrig als der Bluff. Was ihr auch, wie ich sagen muß, wunderbar gelungen ist.« »In der Tat.« Sir James le Lien sah gleichzeitig kühl und grimmig aus. »Wo ist sie jetzt?« »Inzwischen wird sie sich ein Pferd genommen haben und fortgeritten sein.« -6 4 1
»Wahrscheinlich im Damensattel.« Seine Stimme war ebenso kalt wie sein Gesichtsausdruck. »Ihr habt sie also laufen lassen. Warum habt Ihr sie nicht festgenommen?« »Aufgrund welcher Beweise? Sir James, seid doch bitte kein Narr! Wessen wolltet Ihr sie denn anklagen? Könntet Ihr vor Seiner Majestät Oberstem Gerichtshof wirklich beschwören, daß ‚Mistress Jizelle’ in Wirklichkeit Olga Polovski war? Wenn ich versucht hätte, sie zu verhaften, dann läge ich jetzt als Leiche in dem Zigeunerlager, und wenn ich noch soviel Beweise gehabt hätte. Aber da ich die nicht hatte und immer noch nicht habe, wäre das zwecklos gewesen. Ich möchte diesen Fall bestimmt nicht als zufriedenstellend gelöst bezeichnen, o nein! Aber Ihr habt die Phiole wieder, und die wolltet Ihr ja auch. Ich fürchte, der Tod von Noel Standish muß wohl auf das Konto ‚Ergebnis von Feindeinwirkung im Krieg’ gebucht werden. Es war kein Mord ersten Grades, es war, wie Master Sean es gestern ausdrückte, ein Mordunfall.« »Aber - « Lord Darcy lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. »Gebt's auf, Sir James. Ihr werdet sie schon irgendwann fangen.« Und dann begann er ganz leise zu schnarchen. »Verdammt noch einmal!« sagte Sir James. »Da habe ich mir die ganze Nacht die Hacken abgelaufen, und alles ohne Erfolg. Und er verbringt die Nacht im Bett mit der schönsten Frau Europas und bekommt dafür alle Ergebnisse in den Schoß gelegt!« »So etwas hängt immer von der Vorgehensweise ab«, meinte Master Sean. Er öffnete seinen symbolverzierten Reisesack und holte einen großen schweren Wälzer hervor. »Natürlich, natürlich, aber ja doch!« sagte Sir James verbittert.
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»Manche arbeiten eben in der Vertikalen und andere in der Horizontalen.« Father Arthur Lyon starrte weiterhin durch das Fenster hinaus, nichts hörend, was er nicht hören wollte. »Was seht Ihr denn da nach, in Eurem Grimoire?« fragte er Master Sean nach einer Weile. »Zauber, Liebes - , Beseitigung von«, erwiderte Master Sean gelassen. Ende
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Band 08 Die sechzehn Schlüssel
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»Marineabkommen mit Roumeleia sind ja schön und gut«, sagte Lord Sefton mit einem überlegenen Lächeln auf seinem runden, jovialen Gesicht, »aber sagt mir doch, Euer Hoheit, erscheint es Euer Hoheit nicht als äußerst komisch, daß ein Grieche in Konstantinopel im kaiserlichen Purpur der Cäsaren auf einem goldenen Thron sitzt und vorgibt, vor dem Angesicht Gottes der Vertreter des Senats und des Volkes von Rom zu sein? »Nein, My Lord, das erscheint mir keineswegs komisch«, erwiderte Prinz Richard, Herzog der Normandie, während er sich etwas Brandy nachschenkte. »Ich halte es sogar für noch komischer, daß ein französisierter Wikingerbarbar auf dem uralten Thron von Britannien sitzen und genau dasselbe für sich beanspruchen soll. Aber das ist eben der Lauf der Politik, nicht wahr?« Das ohnehin schon blumig wirkende Gesicht von Lord Sefton spielte plötzlich ins Schlagflußartige. Schon wollte er den Prinzen mit einer Bemerkung wie »Potztausend, Sire! Wie könnt Ihr es wagen? Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?« zurechtweisen. Doch dann, als er anscheinend erkannte, wofür sich Richard von der Normandie tatsächlich hielt, wurde er bleich und ertränkte seine Verwirrung in einem hastig heruntergespülten randvollen Glas Oporto. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches war der Lord Hochadmiral in schallendes Gelächter ausgebrochen. Dann sagte er, immer noch prustend: »Der einzige Unterschied besteht darin, daß das Volk der Stadt Rom mit John von England einverstanden ist, aber nicht mit Kyril von Byzanz. Und das schon seit ungefähr siebenhundert Jahren oder so. War nicht König Henry III der erste Heilige Römische Kaiser, Euer Hoheit?«
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Richard wußte, daß der Lord Hochadmiral Lord Sefton Gelegenheit geben wollte, sich von seinem Schock wieder zu erholen. »Das stimmt«, erwiderte er. »Wurde 1280 gewählt. Aber König Henry wurde er erst '83, als John II starb. Mal sehen... die nächsten vier Könige wurden zu Kaisern gewählt, und dann, nach dem Ersten Baltischen Krieg von 1420, unter der Regentschaft von Harold I, wurde die Kaiserkrone zum Erbgut der anglo- französischen Könige und der Plantagenets erklärt. Insofern war Richard der Große der erste, der Amt und Titel geerbt hat.« »Nun ja«, meinte Lord Sefton, der anscheinend seine Fassung wiedergewonnen hatte, »wahrscheinlich ist es wirklich nicht wichtig, wie Kyril sich selbst zu bezeichnen beliebt. Ich meine ist doch wahr, nicht? Solange er im Mittelmeerraum bei seinen Leisten bleibt. Und da wir schon dabei sind: Ich schätze, mit den Osmanlis werden wir in der Sache auch noch irgendwie eine Übereinkunft erzielen müssen.« »O ja. Wir brauchen auf jeden Fall ein Abkommen mit dem Sultan.« Nicht zum ersten Mal an diesem Abend fragte sich Richard, was zum Teufel in seinen Bruder den König gefahren war, als er Lord Sefton zum Außenminister ernannt hatte. Der Mann war nicht eben eine Geistesgröße, ziemlich schwer von Begriff, und besaß eine provinzielle Überheblichkeit gegenüber allem, dem er den Makel des »Ausländischen« anhaften konnte. Nun, was immer der König für Gründe gehabt haben mochte, mit Sicherheit waren es gute gewesen. Sollte mehr hinter diesem Mann stecken, als es oberflächlich betrachtet den Anschein hatte, so verspürte der Königliche Herzog kein Verlangen, darüber auch nur Vermutungen anzustellen. Wenn John gewollt hätte, daß er es erführe, hätte er es ihm schon mitgeteilt. Und wenn nicht... na ja, das fiel in den Zuständigkeitsbereich Seiner Gefürchteten und Souveränen Majestät des Königs. -6 4 6
Peter de Valera ap Smith dagegen, der Lord Hochadmiral der Reichsmarine, Kommandant der Vereinigten Flotten, Ritter und Kommandeur des Ordens vom Goldenen Leoparden und Chef des Operativen Marineoberkommandos, stellte eine berechenbare Größe dar. Er war ein Mann in den mittleren Jahren, mit dunklem, lockigem Haar, das leise Grauspuren aufwies. Seine Stirn war hoch und wuchtig, die Augen tiefliegend unter schweren Lidern und dichten, buschigen Brauen, die Nase groß, breit und etwas verbogen, als wäre sie einmal gebrochen und ohne Zuhilfenahme eines Heilers verheilt. Der Schnurrbart über seinem breiten, geraden Mund war ebenfalls dicht und buschig und breitete sich zu beiden Seiten aus wie der einer Katze. Der Bart war voll, aber kurz gestutzt und so drahtig und gekräuselt wie sein Oberlippenbart. Selbst wenn er in gedämpftem Ton sprach, klang es immer noch so, als würde sein sonorer Bariton von irgendeinem Achterdeck herab Befehle brüllen. Wenn man dem Lord Hochadmiral zum ersten Mal begegnete, gewann man den Eindruck, daß er von rücksichtsloser Skrupellosigkeit und gnadenloser Zielstrebigkeit gekennzeichnet war. Es bedurfte einiger Zeit, um festzustellen, daß diese Eigenschaften durch Weisheit und Humor gemildert wurden. Er war ein Mann mit gewaltiger innerer Kraft und der Fähigkeit, sie zu beherrschen und weise und sinnvoll einzusetzen. Die drei Männer saßen um einen runden Tisch in einem gepflegten Gesellschaftszimmer und warteten auf die Rückkehr eines vierten Mannes. Es war einer jener warmen Spätfrühlingstage, da die Luft jede Bewegung scheute und alles andere es ihr gleichtat. Es war keineswegs drückend heiß - nur eben warm genug, um irritierend zu wirken und Anfälle akuter Frühjahrsmüdigkeit auszulösen.
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Dennoch hatten die vier Männer den ganzen Tag hart gearbeitet, und so entspannten sie sich nun, am späten Abend, bei Getränken und Zigarren. Zumindest drei von ihnen. »Wo zum Teufel ist Vauxhall?« fragte Lord Sefton. »Braucht aber verdammt lange, um dieses Lederetui zu holen.« Prinz Richard sah auf seine Armbanduhr. »Er läßt sich anscheinend wirklich viel Zeit..My Lord, wärt Ihr vielleicht so gut, einmal nachzusehen, was ihn aufhalten mag? Es'ist eigentlich nicht Lord Vauxhalls Art, Leute warten zu lassen.« »Selbstverständlich, Euer Hoheit.« Lord Sefton erhob sich und verließ das Zimmer. »Einen Augenblick lang dachte ich«, sagte der Lord Hochadmiral grinsend, »Ihr würdet sagen, daß es nicht Lord Vauxhalls Art sei, sich wie ein Luftikus zu benehmen, und da hätte ich Euch gefragt, wie Ihr das gemeint habt.« Herzog Richard lachte. »Kein Kommentar.« Einige Minuten später kehrte Lord Sefton mit besorgtem Gesichtsausdruck zurück. »Ich kann ihn nicht finden, Euer Hoheit«, sagte er. »Habe überall nach ihm gesucht. Der Bursche scheint vom Erdboden verschwunden zu sein.« »Überall?« »Bibliothek, Arbeitszimmer und so weiter. Bin nach oben gegangen und habe in seinem Schlafzimmer und im Bad nachgesehen. Habe natürlich nicht das ganze Haus durchsucht. Könnte auch in der Küche sein und sich einen Happen zu essen holen oder so. Vielleicht sollten wir die Dienstboten in Bewegung setzen?« »Jetzt noch nicht, würde ich sagen«, sagte der Lord Hochadmiral. Er blickte gerade durch das Westfenster. »Würden Euer Hoheit einmal kurz hierherkommen?« Herzog Richard schritt zum Fenster hinüber, gefolgt von Lord Sefton. -6 4 8
Lord Peter zeigte durch das Fenster. »Ist das nicht Lord Vauxhalls Sommerhäuschen, direkt hinter der kleinen Baumgruppe dort?« »Ja, so nennt er es«, erwiderte Seine Hoheit. »Sieht aus, als hätte man dort sämtliche Lichter angemacht. Seltsam.« Er runzelte die Stirn. »Lord Sefton, Ihr bleibt hier und wartet für den Fall, daß Lord Vauxhall zurückkehren sollte. Der Admiral und ich werden einmal dorthin spazieren und nachsehen, was sich da tut.« Das »Sommerhäuschen« war eine Viertelmeile vom Hauptgebäude des Vauxhallschen Anwesens entfernt. Die beiden Männer nahmen einen gepflasterten Weg, der über ein sanft abfallendes Rasenstück und die Baumgruppe führte. Auf halber Himmelshöhe hing ein buckliger Mond und schielte mißmutig auf die unter ihm liegende Welt, wobei er ein gespenstisches silbernes Licht über die Landschaft warf und zwischen den Baumscha tten ein unheimliches Glitzern hervorrief. »Es sind wirklich alle Lichter an«, meinte Lord Peter, als sie sich dem kleinen Haus näherten. »Alle Vorhänge beiseite gezogen. Sieht aus, als würde dort ein Fest gefeiert, aber dafür ist es viel zu still.« »Keine Bange«, sagte der Herzog, »wenn das eines von Vaux halls Festen gewesen wäre, hätten wir es schon längst vernommen.« Er schritt die vier Stufen vor dem Haupteingang empor und klopfte laut gegen die Tür. »Vauxhall! Lord Vauxhall! Ich in es! Der Herzog!« »Gebt es auf, Hoheit«, sagte der Admiral. »Es nützt Euch nichts. Schaut mal dort.«
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Der Lord Hochadmiral stand etwas abseits und blickte durch eines der Fenster links vom Eingang. »Ihr scheint mir aber eine ganze Menge durch Fenster zu entdecken, Lord Peter«, grollte Prinz Richard. Doch als er selbst durch die Scheibe sah, wußte er nichts mehr zu sagen. Sein Gesicht versteinerte, und einen Augenblick glaubte der Lord Hochadmiral, das anziehende Gesicht des berühmten Marmorstandbilds von Robert, Prinz von Britannien, vor sich zu sehen, der im Jahre 1708 so tragisch jung gestorben war. Lord Vauxhall lag auf dem Rücken vor dem Kamin und starrte mit toten, blicklosen Augen zur Decke empor. In der ausgestreckten Rechten hielt er eine schwere MMP vom Kaliber.44, die Dienstpistole des Reiches. Nach einer entsetzlich langen Pause sprach Prinz Richard. Seine Stimme, wiewohl vollkommen ruhig, hatte einen merkwürdig distanzierten Unterton. »Ich sehe zwar den Leib, aber seid Ihr sicher, daß er es ist? Wo ist der Lord Vauxha ll, dessen großartiges Aussehen die großen Damen bei Hof in halb Europa in Entzückung versetzt hat?« »Doch, das ist er«, sagte der Lord Hochadmiral grimmig. »Ich kannte seinen Vater, als ich noch ein Junge war.« Denn das Gesicht des Leichnams war das eines uralten Mannes. Lord Vauxhall war in weniger als einer Stunde um ein halbes Jahrhundert gealtert. Lord Darcy, Justizoffizier des Königs und Oberermittlungsrichter Seiner Königlichen Hoheit Richard von der Normandie, saß in seinem Wohnzimmer in einem bequemen Sessel. Er trug einen seiner Lieblingshausmäntel - den aus roter Seide - , rauchte seine Lieblingspfeife - die große Meerschaum mit dem geraden Holm - und las seine Lieblingszeitung - den London Courier. Draußen vor dem halbgeöffneten Fenster -6 5 0
brachte die leise Brise die schwachen Geräusche einer Stadt heran, die sich aufs Zubettgehen vorbereitet hatte - die leisen, undefinierbaren Geräusche der Straßen Rouens. In der Ferne rollte, von sechs Pferden gezogen, ein später Nachtomnibus über das Pflaster. Lord Darcy griff nach dem Gutenachttrunk, den Ciardi ihm zubereitet hatte, und nahm einen tiefen Schluck von dem kühlen Getränk. Er wußte nur ungefähr, welche Zutaten Ciardi dafür verwendete - Rum, das war ihm klar, und Limonensaft und spanischer Orangenblütenhonig, doch es waren auch noch andere mit irn Spiel. Er hatte nie danach gefragt. Sollte Ciardi doch seine kleinen Geheimnisse haben! Der Mann war ein viel zu guter Diener, als daß es sich gelohnt hätte, ihn durch exzessive Neugier aus der Fassung zu bringen. Hmmmmm. Ob das vielleicht eine winzige Spur Anis war? Oder war es vielleicht... Draußen erklang Hufgetrappel, das immer lauter wurde und ihn aus seinen Gedanken riß. Er hatte es schon seit einigen Sekunden nahen gehört, erkannte er, doch nun schien es, als strebten die Pferde auf das Haus zu. Wären es nur ein oder zwei gewesen, die langsam vor sich hin trabten, hätte er sie nicht weiter beachtet, doch es waren mindestens sieben, und sie liefen ziemlich schnell. O je, was für ein Lärm, dachte er. Man könnte fast meinen, daß eine Schwadron Kavallerie vorbeireiten würde. Er war hin und her gerissen zwischen seiner angeborenen Neugier, die von ihm verlangte, aufzustehen und nachzusehen, wer diese späten Nachtreiter wohl sein mochten, und dem Gefühl der Wohligkeit und Entspanntheit, das es ihm als schreckliche Anstrengung erscheinen ließ, sich aus seinem Sessel zu erheben und ans Fenster zu treten. Eindeutig schien die Bequemlichkeit gerade den Sieg davongetragen zu haben - als die Pferde plötzlich direkt vor dem Haus zum Halten kamen. -6 5 1
Da war Lord Darcy auch schon aufgesprungen und zum Fenster gelaufen - so schnell, wie es nur menschenmöglich war. Als der nie aus der Ruhe zu bringende Ciardi eintraf, war Seine Lordschaft bereits im Begriff, sich anzukleiden. »My Lord...«, begann Ciardi. »Ja, Ciardi, ich weiß. Es war tatsächlich eine Abteilung Kavalleristen.« »Jawohl, My Lord. Oberstleutnant Edouin Danvers, Kommandeur Seiner Herzoglichen Hoheit 18. Schwerem Dragonerleibregiment, entbietet Euch seinen Gruß. Er bat mich, Euch dies zu überreichen.« Er gab Lord Darcy einen Umschlag. »Er sagte, er wolle warten.« Lord Darcy riß den Umschlag auf und las die kurze Nachricht. »Ciardi, weckt Master Sean. Danach weckt Ihr auch Gabriel und sagt ihm, er soll den leichten Wagen bereitmachen. Master Sean und ich werden Oberstleutnant Danvers zum Anwesen von Lord Vauxhall begleiten - das liegt fünf Meilen vor der Stadt, an der Flußstraße in Richtung Paris. Ich weiß nicht, wie lange wir dort bleiben werden, deshalb nehme ich meinen Reisekoffer mit. Wenn wir noch etwas anderes brauchen sollen, werde ich Nachricht geben. Habt Ihr dem Oberstleutnant etwas zu trinken angeboten?« »Jawohl, My Lord. Er nahm etwas Ouiskie und Wasser, und ich habe ihm die Karaffe aufs Büffet gestellt. Wünschen Euer Lordschaft noch etwas?« »Im Augenblick nicht. Ich werde hinuntergehen und mit dem Oberstleutnant sprechen.« Oberstleutnant Danvers war ein hagerer Mann von mittlerer Größe mit einem kurzgestutzten Militärschnurrbart und braungebranntem Gesicht. Er wirkte wachsam und forsch und trug eine saubere, frisch gestärkte Felduniform. Als der -6 5 2
hochgewachsene, gutaussehende Lord in das Empfangszimmer im Parterre trat, drehte er sich um. »'n Abend, Lord Darcy. Habe Euch wohl aus dem Bett geholt, wie? Tut mir el id. Befehle, Ihr versteht. Trinkt einen Schluck Ouiskie, wird Euch auf Trab bringen.« »Nein danke, Oberstleutnant. Ich stelle fest, daß Ciardi fürsorglicherweise das Kaffeeservice vorbereitet hat. Sobald das Wasser heiß ist, werde ich eine Kanne kochen.« »Trinke nie Kaffee nach der Mittagszeit, My Lord. Ist aber ein wunderbares Zeug, wenn man's am Morgen trinkt. Wirklich wunderbares Zeug.« »Gewiß. Also hört mal, Danvers, was zum Teufel hat all das zu bedeuten?« »Verdammt will ich sein, wenn ich das wüßte, My Lord.« Oberstleutnant Danvers wirkte ehrlich überrascht. »Hatte eigentlich erwartet, daß Ihr mir das sagen könntet! Dachte, daß Seine Hoheit es in dem Schreiben erläutert hätte, das ich mitgebracht habe. Hat Seine Hoheit nicht? Hm. Na ja, habe lediglich Weisung erhalten, Euch und Master Sean und Dr. Pateley und Chief Donal Brennan und einen Wanderhexer namens Torquin Scoll sowie einen Trupp von fünfzig Reitern beizubringen.« Er drehte sich wieder zu dem Büffet um, füllte sein Glas mit Ouiskie und Wasser auf und fuhr fort: »Ich bin gekommen, um Euch und Master Sean zu holen und habe Rittmeister Broun sowie Oberrittmeister Delgardie nach den anderen geschickt. Sie werden unterwegs zu uns stoßen.« »Einen Augenblick mal«, warf Lord Darcy ein. »Da fehlen mir ein paar Einzelheiten. Ihr wart also nicht mit Seiner Hoheit auf Lord Vauxhalls Anwesen?« »O nein, durchaus nicht.« Er schüttelte seinen massigen Schädel. »Ich war zu Hause, als Sir Ramsey auf meinen Hof -6 5 3
geprescht kam, als wäre die ganze Hunnenkavallerie hinter ihm her, um die Schreiben Seiner Hoheit zu überbringen. Ist nicht geblieben, hat nur gesagt, daß er zurück müsse.« Der Kupferkessel über der Gasflamme sprudelte inzwischen fröhlich. Lord Darcy goß kochendes Wasser in den Silbertrichter mit dem frisch gemahlenen Kaffee und sah zu, wie die dunkle Flüssigkeit durch den Filter tropfte. »Irgend jemand ist verletzt oder tot«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Oberstleutnant Danvers, »und möglicherwiese hat ein Verbrechen stattgefunden. Das würde die Einbeziehung von Master Sean und Dr. Pateley erklären, wie auch meine. Und die von Chief Donal. Aber wozu fünfzig Reiter? Und warum braucht er gleich zwei Magier?« »Das ist eine gute Frage, My Lord«, sagte eine Stimme im Türrahmen. »Wozu braucht Seine Gnaden zwei Magier? Und wer ist denn überhaupt der zweite?« Die kurze, rundlich-gedrungene Gestalt in der Robe eines Hexers war Master Sean O Lochlainn, Oberster Gerichtshexer des Herzogtums Normandie. Bevor Lord Darcy antworten konnte ergriff der Oberstleutnant das Wort. »Aha! 'n Abend, Master Sean! Habe Euch wohl aus dem Bett geholt, wie?« »Ich fürchte, das habt Ihr, Oberstleutnant Danvers.« Master Sean unterdrückte ein Gähnen. »Tut mir schrecklich leid. Aber hier - ich mache mir gerade einen kleinen Ouiskie mit Schuß. Laßt mich auch einen für Euch mischen. Ist das Beste um diese Tageszeit.« »Nein danke, Obersleutnant, ich werde mir etwas von dem Kaffee genehmigen, den Seine Lordschaft da gerade braut. Was für ein anderer Magier, My Lord?« »Wanderhexer Torquin Scoll, wie der Oberstleutnant meldet.« -6 5 4
»Oh. Der Schlosser. Guter Mann, auf seinem Gebiet. Ist ein absoluter Schloßfanatiker. Liebt Schlösser wie sonst etwas, My Lord. Könnte nicht mal einen kleinen Konservierungszauber über eine Pflaume verhängen, könnte er nic ht, nein - aber wenn man ihm irgendein noch so schlichtes Vorhängeschloß reicht, dann bringt er es in fünf Minuten dazu, die Reichshymne in vierstimmigem Choral zu singen.« »Interessant«, sagte Lord Darcy und reichte Master Sean eine Tasse Kaffee. »Ermöglicht alle erdenklichen Spekulationen. Viel zu viele, wenn man's genau nimmt. Vorläufig müssen wir uns einfach...« Der große, hagere, silberhaarige Ciardi trat ein und unterbrach ihn. »Euer Wagen ist bereit, Euer Lordschaft. Ich habe mir die Freiheit erlaubt, Euch einen Korb mit Proviant und Erfrischungen zurechtzumachen, für alle Fälle. Euer Reisekoffer befindet sich im Gepäckabteil. Wie Eurer auch, Master Sean, zusammen mit Eurem Reisesack mit den Instrumenten.« »Danke, Ciardi«, sagte Master Sean. Abgesehen natürlich von Lord Darcy selbst war Ciardi der einzige Mensch auf der Welt, dem Master Sean es zutraute, richtig mit dem symbolverzierten Reisesack umzugehen, der die Instrumente und Werkzeuge seines Berufs enthielt. »Ausgezeichnet, Ciardi«, sagte Lord Darcy. »Sollen wir unseren Kaffee austrinken und uns auf den Weg machen, Gentlemen?« Der Oberstleutnant kippte seinen Drink hinunter. »Ich rufe meine Männer zusammen, My Lord.« Als die Kavalkade einige Zeit später durch die Tore des Vauxhallschen Anwesens ritt, bemerkte Lord Darcy: »Ehrlich gesagt vermisse ich die Fahnen und Banner, die Kapelle und die jubelnden Menschenmassen.« -6 5 5
Master Sean, der ihm in der Kutsche gegenübersaß, hob die Augenbrauen. »Wie bitte, My Lord?« »Nun, mein guter Sean, wenn wir schon eine Parade abhalten, sollten wir es auch gleich richtig tun, meine ich. Die Leibwache sollte in vollem Wichs erscheinen, samt Säbeln, und nicht in Felduniform mit Seitengewehren. Die Dutzend Wachmänner sollten volle Montur tragen. Und vor allem sollten wir uns in einem ruhigen, würdevollen Tempo bewegen, zur Mittagszeit, und nicht mitten in der Nacht herumgaloppieren, als wollten wir aus dem Land fliehen. Nein, nein, für eine Parade bleibt da doch noch einiges zu wünschen übrig.« Master Sean grinste. »Wie Euer Cousin de London sagen würde, My Lord: ›höchst unbefriedigend‹« »Ganz genau. Holla! Wir halten ja!« Lord Darcy steckte den Kopf aus dem Fenster und blickte zur Spitze der Reitergruppe. »Es ist Seine Hoheit. Er spricht mit Oberstleutnant Danvers und gestikuliert umher, als wollte er die ganze Landschaft vereinnahmen. Was zum Teufel ist nur los? Kommt, Master Sean.« Lord Darcy öffnete die Kutschentür und kletterte ins Freie, von dem rundlichen kleinen irischen Hexer gefolgt. Er machte sich nicht die Mühe, Gabriel irgendwelche Anweisungen zu geben. Der erfahrene Pferdeknecht würde schon selbst wissen, was zu tun war. Der Hauptfeldwebel neben Oberstleutnant Danvers nahm eine kleine Pfeife aus der Tasche und gab das Signal Offiziere sammeln!, gefolgt von Unteroffiziere - sammeln! Oberstleutnant und Hauptfeldwebel trabten zu Pferd auf ein breites Wiesenstück zu, wo sich sieben andere Dragoner vor ihnen aufbauten.
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»An diese Nacht wird sich die Truppe erinnern, egal, was noch folgen mag«, meinte Lord Darcy mit leisem Lachen, als er mit Master Sean auf Seine Königliche Hoheit zuschritt. Der Herzog sprach gerade mit dem Chief der Wachmannschaften, Donal Brennan. »Wieso das, My Lord?« »Sie sind kopflastig«, erwiderte Seine Lordschaft. »Wir haben zwei Schwadronen dabei. Dort draußen sind zwei Leutnants als Schwadronskommandeure und ein Rittmeister als Truppenkommandant, was ja noch ganz in Ordnung ist. Dann sind da noch zwei Schwadronsergeanten und der Truppenoberfeldwebel. Das ist auch noch gut. Doch darüber hinaus sind da noch der Regimentskommandeur, der Stellvertretende Kommandeur und der Regimentsfeldwebel, der die ganze Zeit in der Gegend herumlaufen wird, um dafür zu sorgen, daß etwas getan wird, während er gleichzeitig versuchen wird, niemandem außer dem Truppenhauptmann Befehle zu erteilen. Der Hauptfeldwebel kann nicht einmal das tun, also wird er versuchen, seinem Vorgesetzten nicht zu sagen, was er tun soll. O ja, das wird ein wahres Vergnügen werden.« Er lachte wieder. »Hier, wo die Gaslaternen an der Auffahrt massig Licht spenden, wird es noch gehen, aber wartet mal ab, wenn die die Wälder durchkämmen müssen, mit nichts als einem Dreiviertelmond am Himmel!« Master Sean furchte die Stirn. »Warum sollten sie denn die Wälder durchkämmen, My Lord?« »Auf der Suche nach irgend etwas oder irgend jemandem. Ihr habt doch bestimmt auch gemerkt, daß jeder der Gemeinen eine Suchlaterne an der Satteltasche hat. Nein, Oberstleutnant Edouin Danvers hat mir nicht alles verraten, was er wußte, aber das macht nichts, wir werden es ja gleich von Seiner Hoheit persönlich erfahren.« -6 5 7
Prinz Richard hatte inzwischen Lord Darcy und Master Sean bemerkt. »Ah, da seid Ihr ja, My Lord! Tut mir leid, daß ich Euch und Master Sean zu dieser Nachtzeit aus dem Bett reißen lassen mußte, aber es ließ sich nicht ändern. Wo ist Edelmann Torquin?« »Hier, Euer Hoheit«, sagte eine weiche Baritonstimme irgendwo hinter und unter Lord Darcy. Seine Lordschaft drehte sich nach ihr um. Der Mann trug die Arbeitskleidung eines Wanderhexers. Er war nicht älter als zweiundfünfzig und gebaut wie ein Ringer. Er war kein Zwerg, sondern einfach nur klein - wenngleich sein Kopf im Verhältnis zum restlichen Körper etwas zu groß geraten schien. Er besaß ein angenehm häßliches Gesicht, was in Lord Darcy den Verdacht aufkeimen ließ, daß er nebenbei auch Boxsport betrieb, und große, warmherzig dreinblickende braune Augen. Wie Master Sean trug auch er einen symbolverzierten Reisesack in der Linken. Man stellte sich einander vor, einschließlich Donal Brennan, dem grimmig dreinblickenden Chief der Wachmannschaften von Rouen. »Gehen wir zur Sommerhütte hinüber, während ich Euch allen erkläre, was hinter diesem ganzen Tohuwabohu steckt«, sagte der Herzog. Er berichtete ihnen mit knappen, aber präzisen Worten alles, was vorgefa llen war. Das einzige, was er nicht erläuterte, war der Inhalt der ›wichtigen Papiere‹, die Lord Vauxhall mit sich führte, als man ihn zuletzt lebend gesehen hatte. Auch den Leichnam beschrieb er ihnen nicht, den würden sie schon früh genug zu sehen bekommen. »Ihr versteht«, schloß er seine Ausführungen, »daß es von größter Wichtigkeit ist, daß wir diese Papiere wiederfinden.« »Dann glaubt Ihr also, daß sie sich in dem Attachekoffer befinden, Euer Hoheit?« fragte Lord Darcy. -6 5 8
»Da bin ich mir ziemlich sicher. Vauxhall hat die Papiere mitgenommen, um sie dort hineinzutun. Er hatte ihn auf seinem Schreibtisch liegenlassen, und wir konnten ihn nirgendwo finden.« Lord Darcy nickte. »Ja. Der naheliegendste Schluß ist der, daß die Papiere in jener Ledermappe sind. Ich neige dazu, Euer Hoheit zuzustimmen.« »Deshalb habe ich auch Regimentstruppen herbeordert«, sagte der Herzog. »Ich wünsche, daß dieses Gelände gründlich durchsucht wird, und für derartige Aufgaben sind Kavalleristen ausgebildet. Außerdem wollte ich nicht allzu viele Wachmänner aus der Stadt abziehen. Ein Dutzend reicht vollauf, um die Gebäude zu durchsuchen, und dafür sind die wiederum ausgebildet.« Chief Donal nickte, von der Klugheit des Herzogs offensichtlich beeindruckt. Die fünf Männer hörten Fußgetrappel hinter sich und drehten sich danach um. Ein Mann mit einer großen schwarzen Ledertasche kam im silbrigen Mondlicht den grasbewachsenen Abhang hinabgelaufen. »Das ist Dr. Pateley«, sagte Master Sean. »Entschuldigt die Verspätung, Gentlemen«, schnaufte der grauhaarige Chirurg. »Verzeihung, Hoheit. Eine unvermeidbare Verzögerung.« Er blieb stehen, um Luft zu schöpfen und seinen Kneifer zurechtzurücken, der sich verrückt hatte. »Wo ist die Leiche?« »Dort gehen wir gerade hin, Doktor«, erwiderte Prinz Richard. »Kommt bitte.« Die Männer folgten ihm. -6 5 9
»Schwester Elizabeth mußte nach mir rufen«, erzählte Dr. Pateley Master Sean mit leiser Stimme. »Sie ist Hebamme und Heilerin vom Lukasorden. Einige unerwartete Komplikationen nach der Abnabelung. Nichts Ernstes, nur ein paar Stiche. Dem Baby geht es gut.« »Schön zu wissen«, murmelte Master Sean. Vor ihnen fiel das Licht durch die Fenster von Lord Vauxhalls Sommerhaus. Neben der Tür stand ein bärtiger Mann in königsblauer Marineuniform, die üppig mit Gold verziert war. Lord Darcy erkannte ihn sofort. Nachdem man sich vorgestellt hatte, packte Lord Darcy den Lord Hochadmiral am Arm und fragte leise: »Peter, alter Pirat, wie geht es Euch?« »Gar nicht schlecht, Darcy. Bin zwar nicht eben erbaut von dieser Sache hier, aber ansonsten ist alles in Ordnung. Und Euch?« »Genau das gleiche, glücklicherweise. Gehen wir hinein und schauen wir uns die Überreste an?« »Ihr könnt sie Euch schon mal durchs Fenster anschauen, bis der Schloßmann die Tür aufbekommen hat«, sagte Lord Peter. Lord Darcy blickte sich schnell zu Prinz Richard um. »Soll das heißen, daß noch niemand im Haus war?« »Nein, My Lord«, erwiderte der Herzog. »Ich hielt es für das Beste, bis Ihr hier das Kommando übernehmt.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. Er blickte den gelassen wirkenden Herzog forschend an. Prinz Richard wußte, was er tat; das wußten die Plantagenets immer. Doch wenn man die Papiere im Haus finden sollte, nachdem er immerhin die Kavallerie alarmiert hatte, würde Richard ziemlich dumm dastehen. Das war ein Risiko, welches er eingehen mußte. Sollten die Papiere jedoch nicht im Haus sein, könnte jede Stunde Verzögerung eine Katastrophe bedeuten. -6 6 0
Lord Darcy blickte wieder zum Fenster. Die Fenster waren von der modernen ›Bildfenster‹-Art, lediglich mit schmalen Querblenden an Kopf- und Fußende, um für Belüftung zu sorgen - doch zu klein, um einen Menschen hindurchzulassen. Ohne Schlüssel hineinzugelangen, würde verlangen, daß man sehr viel Glas zerschlug. Nun verstand Lord Darcy die Entscheidung des Prinzen. »Also gut, Euer Hoheit, dann wollen wir an die Arbeit gehen. Ich nehme an, daß Wanderhexer Torquin diese Schlösser entwickelt und verzaubert hat, sonst hättet Ihr sie wohl von Master Sean aufschließen lassen.« Der Herzog nickte. »So ist es, My Lord.« Master Sean sagte: »Dann ist es gut, daß Euer Hoheit ihn hat kommen lassen. Ich selbst würde nur höchst ungern versuchen, einen der Schließzauber von Edelmann Torquin in weniger als einer Stunde zu entschlüsseln...« »Nichts für ungut, Master«, warf der Wanderhexer ein, »aber würdet Ihr vielleicht die Wette eingehen, daß Ihr es auch nicht in eineinhalb Stunden schaffen könnt?« »... jedenfalls nicht ohne den Schlüssel«, fuhr Master Sean fort. »Mit dem Schlüssel dagegen...« »Ich gebe Euch den Schlüssel und zwei Stunden Zeit und wette dennoch einen Goldsovereign dagegen.« »Ich werde nicht wetten«, erwiderte Master Sean entschieden. »Ihr besitzt mehr von meinen Goldsovereigns, als ich noch an Euch verlieren möchte. Nein, nein, Eure Lektionen sind mir zu teuer.« »Würden die Herren vielleicht ein anderes Mal fachsimpeln?« sagte Lord Darcy. »Im Augenblick möchte ich nur, daß diese Tür dort aufgeschlossen wird.« »Jawohl, My Lord.«
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Edelmann Torquin öffnete seinen Reisesack und kniete sich nieder, um das Schloß mit verengten Augen zu mustern. Im Mondlicht sah er sehr gnomenhaft aus. Er entnahm dem Sack eine kleine Lampe und machte sich ans Werk. Lord Darcy schritt zum Fenster und sah hinein. »Wie lange, habt Ihr gesagt, ist er schon tot, Euer Hoheit?« »Keine drei Stunden«, gab der Herzog zur Antwort. »Er sah schon schlimm genug aus, als wir ihn entdeckten. Aber jetzt...« Er wandte den Kopf ab. »Wenn es das ist, was ich befürchte«, sagte Master Sean leise, »dann sollte ich wohl möglichst schnell hineingehen, um einen Konservierungszauber zu verhängen.« Nun hörten sie Hufgetrappel, das sich über die Wiesen näherte. Oberstleutnant Danvers kam in schnellem Trab herbei und sprang mit müheloser Bewegung aus dem Sattel. In der Ferne konnte Lord Darcy durch die Bäume flackernde Suchlaternen erkennen, die sich wie große, träge Glühwürmchen voranbewegten. »Euer Hoheit.« Der Oberstleutnant salutierte. Der Prinz war schließlich der Ehrenoberst des 18. Regiments, und Oberstleutnant Danvers war in Uniform. »Ich habe das Gelände umstellt und die restlichen Männer zur Suche abkommandiert, wie befohlen. Hauptmann Delgardie wird mir hier sofort Meldung machen, sobald wir etwas gefunden haben sollten.« »Sehr gut, Oberstleutnant.« »Äh... Euer Hoheit.« Plötzlich wirkte Danvers recht selbstunsic her. »Lord Sefton... äh... entbietet Euch seine Grüße und wünscht zu wissen, wann Euer Hoheit vorhaben, mit dem Verhör der Gefangenen zu beginnen?« »Gefangene?« fragte der Lord Hochadmiral. »Was soll das heißen? Welche Gefangenen?« -6 6 2
»Seine Lordschaft meint die Dienstboten«, erwiderte Prinz Richard mit erzwungener Gelassenheit. »Es sind keine Gefangenen. Ich habe sie lediglich gebeten, hierzubleiben, bis die Angelegenheit aufgeklärt ist. Ich habe sie in Lord Seftons Obhut gelassen. Wenn diese Papiere nicht gefunden werden...« Er hielt inne und furchte leise die Stirn. »Chief Donal...« Da unterbrach ihn die Stimme des Wanderhexers Torquin. »Das war's, My Lords und Gentlemen.« Die Haupteingangstür des Hauses schwang auf. »Es geht keiner hinein, bevor Master Sean fertig ist«, sagte Lord Darcy knapp. Master Sean trat ins Innere des Gebäudes, um den Spezialzauber zu verhängen, der die Zersetzung des Leichnams aufhalten würde. Die anderen ließen ihn ebenso allein gewähren, wie sie es zuvor schon beim Edelmann Torquin getan hatten. Nur ein Narr stört einen Magier bei der Ausübung seiner Kunst. Es ging sehr schnell. Dann betraten die anderen sechs Männer das Zimmer. Der Tod hat etwas an sich, das alle Menschen fasziniert, und das gilt auch für das Entsetzen, das noch viel faszinierender ist. Das Ding, das dort vor dem kalten Kamin lag, hell erleuchtet von den abgeschirmten Gaslaternen in den Wandnischen, verkörperte beides. Der große Kamin war von prachtvollem Marmor eingerahmt, weiß mit rosa und goldenen Flecken, und der riesige Spiegel darüber reflektierte die Wände des Zimmers, die mit glatten Brokattapeten bedeckt waren, welche ihrerseits das rosa und goldene Motiv widerspiegelten. Die mit Brokatstoff bezogenen Polstermöbel taten das gleiche. Es war ein helles, luftiges und schönes Zimmer, das die Beleidigung nicht verdient hatte, die dort auf dem fahlen, eierschalenfarbigen Teppich lag. Die Luft war dick von Gestank. -6 6 3
Der Lord Hochadmiral öffnete die oberen und unteren Querblenden. Niemand kam auf den Gedanken, die Tür zu schließen. »Hier, Euer Hoheit, nehmt Platz!« Als er Oberstleutnant Danvers' Stimme hörte, wandte sich Lord Darcy von dem Ding am Boden ab. Prinz Richard war grauweiß geworden, und er schluckte mehrmals schwer, während der Oberstleutnant ihn in einen der großen, weichen Sessel drückte. »Es geht schon«, brachte der Herzog hervor. »Es... es ist ziemlich warm hier drin.« »Ah, ja, das ist es«, stimmte Danvers ihm zu. »Wo hat Vaux-hall seine Getränke aufbewahrt? Das müßte doch... aha!« Er hatte ein hüfthohes Schränkchen an der Westmauer geöffnet. »Da haben wir es ja! Ein steifer Drink wird Euch schon wieder aufrichten, Euer Hoheit. Was darf es denn sein, Ouiskie oder Brandy?« »Brandy, bitte.« »Hier, Euer Hoheit. Glaube, ich werde mir selbst einen kleinen Ouiskie genehmigen. Schockierender Anblick. Absolut schockierend.« Als Lord Darcy sah, daß der Herzog wohlversorgt war, kniete er zusammen mit Master Sean und Dr. Pateley neben der Leiche nieder. »Was immer ihn auch getötet haben mag«, murmelte Seine Lordschaft, »auf jeden Fall war es keine Kugel aus diesem Ding hier.« Er löste die schwere.44er MMP aus der rechten Hand der Leiche. Der Lord Hochadmiral stand hinter Dr. Pateley und blickte ihm über die Schulter. -6 6 4
»Nein. Eine Morley Militärpistole hinterläßt ziemlich große, leicht erkennbare Löcher.« Lord Darcy wußte, daß Lord Peter nicht zynisch sein wollte er war eben nur grob. Er reichte die Pistole dem Lord Hochadmiral. »Meint Ihr, daß mit der geschossen wurde?« Der Marineoffizier entlud die Handfeuerwaffe mit kräftigen, geübten Händen, zerlegte sie feldmäßig und setzte sie wieder zusammen. »Jedenfalls nicht vor kurzem.« »Dachte ich mir. Hm, hm, was ist denn das hier?« Lord Darcy hatte inzwischen die Kleidung des verblichenen Lord Vauxhall durchsucht und ein kleines Lederetui entdeckt. Als er es öffnete, erblickte er eine Reihe von Schlüsseln, die einander alle stark glichen, von l bis 16 durchnumeriert waren und säuberlich und in ordentlicher Reihe so im Etui befestigt waren, daß sie frei schwingen konnten. »Sehr hübsch. Wofür die wohl sind? Er hat noch einen anderen Satz verschieden großer Schlüssel an einem Ring. Also muß dieser Satz hier etwas Besonderes sein.« »O ja, das ist es auch, My Lord«, sagte Wanderhexer Torquin Scoll. »Habe diesen Satz Schlüssel speziell für Seine Lordschaft angefertigt, habe ich. Seine Lordschaft war ein Mann von erlesenem Geschmack, war er.« Plötzlich überzog ein breites Grinsen das Gesicht des kleinen Mannes. »Soll heißen, Euer Lordschaft, daß er sich ebensosehr an Schlössern erfreuen konnte wie ich, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Das Grinsen verschwand. »Ich werde ihn vermissen. Haben uns immer gern über Schlösser unterhalten. Und mit ihnen
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gearbeitet. War sehr Klug, wußte viel und hatte geschickte Hände. Ja, ich werde ihn sehr vermissen.« »Davon bin ich überzeugt.« Lord Darcy musterte die Schlüssel schweigend und blickte nach einer Weile auf, um zu fragen: »Wozu sind die, wenn ich fragen darf?« »Oh, das sind seine Hausschlüssel, Euer Lordschaft.« »Von diesem Haus? Alle?« Wieder kehrte das Grinsen auf das sympathisch häßliche Gesicht zurück. »Genau, Euer Lordschaft. Dieses Haus besitzt sechzehn Türen, und jede hat ein Schloß mit einem anderen Schlüssel und zwar beidseitig. Hier, ich zeig's Euch.« Er öffnete seinen symbolverzierten Reisesack und holte ein dickes Notizbuch aus losen Blättern hervor. Nach kurzer Suche entnahm er ihm ein Blatt Papier, markierte es mit einem kleinen Kreuz und reichte es Lord Darcy. »Da wären wir, Euer Lordschaft. Das ist eine Planskizze, die ich von diesem Haus angefertigt habe. Wir sind hier, im Empfangszimmer, wo ich das Kreuz gemacht habe, seht Ihr? Diese Schiebetüren führen in die Galerie, das Eßzimmer und die Bibliothek. Die kleine Tür dort drüben führt ins vordere Schlafzimmer. Alle Türen sind in Übereinstimmung mit den Schlüsseln numeriert.« »Was ist denn dieses völlig verglaste ›Grünzimmer‹ hier?« fragte Lord Darcy. »Das ist eine Art Gewächshaus, Euer Lordschaft. Lord Vauxhall hat dieses Haus zwar sein Sommerhäuschen genannt, aber er hat es auch im Winter benutzt, wenn er daheim war. Deshalb auch die Kamine. Einer hier, einer in der Bibliothek, einer im Eßzimmer und dann diese kleinen Eckkamine hier in den Schlafzimmern.« »Wie viele Schlüsselsätze gibt es?« -6 6 6
»Nur diesen einzigen, My Lord. Doch, der Gärtner besitzt Duplikate der Schlüssel drei und vier, damit er sich um die Pflanzen kümmern kann, aber das ist auch schon alles.« Lord Darcy bemerkte eine gewisse niedergedrückte Spannung im Raum. Prinz Richard starrte ausdruckslos auf ein halbvolles Glas Brandy. Oberstleutnant Danvers schenkte sich gerade ein, Lord Peter blickte aus dem Fenster, Chief Donal beobachtete Master Sean und Dr. Pately, die die Leiche untersuchten. Da begriff er, daß der erste Schock, der den Herzog heimgesucht hatte, inzwischen gewichen war, und er wußte auch, worauf Seine Hoheit wartete. Er hatte Lord Darcy die Sache übergeben, und nun versuchte er, geduldig zu bleiben. Lord Darcy schritt zu ihm hinüber. »Würden Euer Hoheit geruhen, den Rest des Hauses zu untersuchen?« fragte er leise. Prinz Richard blickte zu ihm empor und lächelte. »Ich dachte schon, Ihr würdet mich nie mehr fragen.« »Die Leiche kann mir nichts mehr verraten, bevor Master Sean und Dr. Pateley mir ihre Ergebnisse mitgeteilt haben. Ich kann keine Spur von eine m Kampf entdecken. Anscheinend ist er mit der Waffe in der Hand hier hereingekommen - und gestorben.« »Wozu wohl die Waffe, frage ich mich?« sagte Prinz Richard nachdenklich. »Ob er sich vor irgend etwas gefürchtet hat oder erschreckt wurde, was meint Ihr?« »Das wüßte ich auch gerne. Er trug kein Halfter, also muß er die Waffe irgendwoanders aufgenommen haben, nachdem er Euch verließ.« »Ja, er trug keinen Rock, so daß er eine solch große Waffe auch nicht am Leib hätte verstecken können. Oh. Entschuldigt mich einen Augenblick. Chief Donal?«
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»Jawohl, Euer Hoheit«, sagte der grimmig dreinblickende Chief der Wachmannschaften und wandte sich von dem Leichnam ab, um seinen Herzog anzusehen. »Wenn Ihr hier fertig seid, geht Ihr ins Hauptgebäude und übernehmt dort das Kommando. Beruhigt die Dienstboten und verratet ihnen nichts. Sie wissen nicht einmal, daß Ihr Herr tot ist. Sollte einer von ihnen es doch wissen, könnte das für uns aufschlußreich sein. Und ich wünsche auch keinerlei Verhöre irgendwelcher Art, bis Lord Darcy es anordnet.« »Ich bin bereits fertig, Euer Hoheit. Habe alles, was ich brauche. Ab nun ist Lord Darcy an der Reihe.« Er ließ ein Lächeln aufblitzen, das auf seinem Gesicht sehr unbequem wirkte. Das mußte es auch tatsächlich sein, denn es verschwand sofort wieder. »Fälle, in denen Schwarze Magie im Spiel ist, sind sowieso nicht meine Kragenweite. Die gefallen mir überhaupt nicht.« Dann verließ er ohne weiteres Zeremoniell den Raum. »Nun, mal sehen, ob wir diese Papiere entdecken können«, sagte Lord Darcy. »Eigentlich könnten wir gleich mit der Galerie anfangen.« »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mitkomme?« fragte der Lord Hochadmiral. »Aber natürlich nicht, My Lord«, erwiderte der Herzog. »Wie steht es mit Euch, Oberstleutnant? Wollt Ihr mit uns zusammen die Runde machen?« Danvers runzelte die Stirn und musterte sein beinahe leeres Glas. »Ich glaube nicht, wenn Euer Hoheit gestatten. Ich sollte besser bereit sein, falls Delgardie oder der Hauptfeldwebel kommen, um mir Meldung zu machen.« Die Schiebetüren waren abgeschlossen, und Lord Darcy steckte den Schlüssel Nummer fünf ins Schloß. Er ließ sich -6 6 8
leicht umdrehen - zu leicht, denn er drehte sich einmal im Kreis und rastete wieder ein. Eine Drehung in die umgekehrte Richtung erbrachte das gleiche Ergebnis. Der Bolzen verharrte unbeweglich an Ort und Stelle. »Verzeihung, My Lord«, sagte Torquin Scoll, »aber ich schätze, ich muß wohl mit Euch kommen. Der falsche Schlüssel dreht nicht einmal den Zylinder. Der richtige wohl, aber er löst den Bolzen nur, wenn auch der richtige Mann den Schlüssel bedient. Es wird ein bißchen umständlich, selbst für mich, denn diese Schlüssel sind auf Seine verstorbene Lordschaft geeicht.« Er nahm das Schlüsseletui, paßte die Nummer 5 wieder ein, schloß die Augen und drehte dann vorsichtig den Schlüssel um. Klick. »So, My Lords, Euer Hoheit.« Die vier Männer traten in die Galerie. »Besitzt Ihr denn keinen Satz von diesen Schlüsseln, der auf Euch selbst geeicht ist, Edelmann Torquin?« fragte Lord Darcy. »Habe ich in der Tat, My Lord. Habe sie erst letzte Woche benutzt, um die übliche Zauberwartung durchzuführen. Ich hätte sie ja mitgebracht, wenn ich gewußt hätte, worum es geht. Aber dieser Rittmeister... wie heißt er noch gleich? Broun. Wenn dieser Rittmeister Broun mir gesagt hätte, wohin es geht. Aber nein, er sagte nur, der Herzog will mich sprechen, also habe ich mein Pferd gesattelt und bin mitgekommen.« »Entschuldigt das bitte, Edelmann Torquin«, sagte Seine Hoheit. »Aber nein, aber nein, Euer Hoheit, ist ja nicht Eure Schuld. Das militärische Denken, wißt Ihr? Befehle empfangen, Befehle erteilen. Nur nichts erklären, Zivilisten gegenüber schon gar nicht. Ist ganz und gar nicht Eure Schuld, Hoheit.« Dann machte er eine ausladende Gebärde. »Wie gefällt Euch die Galerie, edle Herren?« »Faszinierend«, murmelte Lord Darcy. »Absolut faszinierend.« -6 6 9
Die Wand im Westen btstand fast völlig aus Glas - sie hatte sieben Fenster von sechs Fuß Breite, die nur durch schmale Säulen voneinander getrennt waren. Die schweren, bühnenhaften Vorhä nge, die sie eigentlich bedeckt hätten, waren bis zur Decke emporgezogen. Draußen in der Dunkelheit konnte man das gelegentliche Aufblitzen von Suchlaternen erkennen, das einzige Anzeichen dafür, daß die Dragoner an der Arbeit waren. Die östliche Wand war mit Gemälden bedeckt. Keines von ihnen war obszön, und es waren auch nicht alle erotisch, doch alle kündeten sie von Schönheit, Liebe und Romantik. »Die müssen ihn im Laufe der Jahre eine hübsche Stange Geld gekostet haben«, bemerkte der Lord Hochadmiral. »Schöne Arbeit, allesamt! Da! Das ist ja ein Van Gaughn! Habe sein Werk schon immer bewundert.« »Einige davon«, warf der Herzog ein, »wurden eigens im Auftrag Seiner Lordschaft angefertigt. Dieses hier, zum Beispiel.« »Das«, sagte Lord Peter mit der Sicherheit einer Autorität auf dem Gebiet, »ist ein Killgore-Spangler. Deren Stil erkenne ich überall.« »Das Modell erkenne ich auch«, bemerkte Lord Darcy mit leicht verträumter Stimme. »Dort ist sie noch einmal«, sagte der Lord Hochadmiral. Prinz Richard wirkte überrascht. »Dann kennt Ihr beide die Dona Isabella Marie Constanza Diaz y Carillo de la Barra?« Der Lord Hochadmiral brach in Gelächter aus. »O ja, Euer Hoheit, o ja! Haben sie auch trotz ihrer roten Perücke erkannt, eh, Darcy?« »In dieser Pose würde ich sie sogar mit einem Sack über dem Kopf erkennen.« Lord Darcy begann leise zu lachen. »Was ist denn daran so komisch?« fragte Prinz Richard mit mehr als nur leiser Irritiertheit in der Stimme. -6 7 0
»Euer Hoheit«, antwortete Lord Darcy, »diese Frau ist ebensowenig eine spanische Adlige wie das Pferd des Oberstleutnants. Das ist zufällig Olga Vasilovna Polovski, Agentin Nummer 055 der Serka, des polnischen Geheimdienstes. Sie ist die schönste und gefährlichste Frau Europas.« »Großer Gott!« Der Prinz sah schockiert aus. »Hat Vauxhall das gewußt?« »Das will ich hoffen«, sagte Lord Darcy. »Das will ich sehr hoffen.« »Oh, das wußte er schon«, sagte Lord Peter. »Er hat damals Sonderberichte für den Marinegeheimdienst geschrieben. Das macht die ganze Affäre ja auch so pikant.« »Kann ich mir gut vorstellen«, meinte Lord Darcy. Sie schritten weiter. Lord Darcy ließ seinen geübten Blick durch die lange Galerie schweifen. Mit einiger Mühe hätte man den zwei Zoll dicken Diplomatenkoffer vom Format elf mal fünfzehn in den Theatervorhängen verstecken können, die in anmutigen Bögen über den Fenstern hingen. Vielleicht gab es hinter einem der Gemälde auch eine geheime Nische. Doch im Augenblick würde er erst mal davon ausgehen, daß er irgendwo offen zu sehen war - jedenfalls ziemlich offen. Torquin der Schlosser war vorangegangen, um die Türen aufzusperren. Die drei Edelleute folgten ihm. Die nächste Tür führte in ein kleines, aber bequemes Schlafgemach. Die Tapete wies ein ähnliches Muster wie die des Empfangszimmers auf, doch herrschten hier Pastellblau und Gold vor. Die Polster der beiden Sessel und die Tagesdecke auf dem Doppelbett waren darauf abgestimmt. Doch war der Kamin nicht von prunkvollem Marmor eingerahmt. Statt dessen bestand er aus schlichtem Feldgestein, der von einer rauhen Grobheit war, die einen angenehmen Kontrast zu der strukturierten Glätte des restlichen Zimmers darstellte. -6 7 1
»Wie alt dieses Haus wohl ist?« fragte der Lord Hochadmiral nachlässig, während sie das Zimmer durchsuchten. »Nicht sehr alt, wenn wir es mit dem Hauptgebäude vergleichen«, meinte Lord Darcy. »Das ist spätrobertinisch 1700 oder zumindest um diese Zeit.« »Es ist praktisch brandneu«, warf Prinz Richard ein. »Vaux hall hat es selbst bauen lassen, das war 1727 oder '28. Seitdem ist es einige Male umdekoriert worden, wenn ich es richtig verstanden habe, aber es wurden keine grundlegenden Veränderungen vorgenommen. Es ist ganz hübsch, finde ich. Und die Bildergalerie hier ist auf jeden Fall weitaus anregender als die Galerie oben auf dem Hügel. Die se ganzen gräßlichen Vorfahren, die einen dort anstarren!« »Das müssen Euer Hoheit ja wissen«, murmelte Lord Darcy. »Ach Gott, ja, und ob! Habt Ihr mal das Porträt meines Ur-UrUrgroßvaters Gwiliam IV gesehen? Das große, das in Westminster hängt? Es wurde 1810 gemalt, knappe zwei Jahre vor seinem Tod. War ein ziemlich grimmig dreinblickender Knabe, mit achtzig. Nun, dieses Bild hat mir als Junge immer Angst und Schrecken eingejagt. Ich habe mich nicht mal in seine Nähe getraut. Die Augen blicken einen nicht genau an, versteht Ihr, aber man hat das Gefühl, daß der alte Mann sich nur eine Spur aufzurichten braucht, um einen geradewegs anzuschauen. Jedenfalls kam es mir immer so vor. Und ich hatte das Gefühl, daß er, wenn er mich jemals direkt anblicken sollte, sofort durchschauen würde, was für ein böser kleiner Junge ich doch war, und dann würde er aus seinem Rahmen springen, um mich auf der Stelle aufzufressen. Na ja, jedenfalls ist in diesem Kleiderschrank hier nichts zu finden.« »Und im Bad auch nicht«, sagte Lord Darcy. »Unter dem Bett ist es dunkel«, sagte der Lord Hochadmiral. »Leiht mir doch mal Euer Pfeifenfeuerzeug, Lord Darcy. Danke. Hmmmm. Nein, nichts.« -6 7 2
Er stand wieder auf und klopfte sich die Hosenbeine aus. Lord Darcy musterte gerade das Deckenfenster. »Sieht nicht so aus, als könnte man das öffnen.« Die beiden anderen folgten mit ihren Augen seinem Blick. »Nein«, sagte der Lord Hochadmiral. »Bis auf die schmale Blende auf der Leeseite.« »Ja«, erklärte der Herzog, »die wird mit dieser Kordel bedient, die dort an der Wand hängt. Sie verläuft über diesen Flaschenzug, seht Ihr?« »Ich vermute, daß alle Innenräume über Deckenfenster verfügen, Euer Hoheit?« fragte Lord Darcy. »O ja, My Lord. Selbst in der Bibliothek gibt es eins, wie Ihr noch sehen werdet. Sie hat keine Fenster, weil die Wände mit Bücherregalen bedeckt sind. Die einzige andere natürliche Lichtquelle sind die doppelten Glastüren, die in den Garten hinausführen.« Der Herzog ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Hm, die nächste Station ist dann wohl die Speisekammer.« Sie schritten in den Nordflügel der L-förmigen Galerie hinaus, gingen nach rechts und gelangten zur Speisekammertür, die sich auf leisen Druck sofort öffnete: Torquin war bereits vor ihnen dort gewesen. Tatsächlich handelte es sich bei dem Raum um eine winzige Küche. Lord Vauxhall pflegte in diesem Haus keine großen Dinerpartys abzuhalten. Wenn er hier etwas zu essen hatte haben wollen, hatte er es von den Dienstboten aus dem Hauptgebäude herbeischaffen lassen. »Nicht sehr groß«, sagte der Lord Hochadmiral, »aber jede Menge möglicher Verstecke.« Er öffnete den Aufwärmofen, konnte nichts entdecken, schloß ihn wieder und widmete sich als nächstes den Schränken.
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Lord Darcy stieg auf einen kleinen dreibeinigen Schemel und machte sich daran, die Regale zu untersuchen. »Euer Hoheit«, sagte er, »wäre es sehr unschicklich, wenn ich frage, worum es sich bei diesen ›wichtigen Papieren‹ genau handelt?« »Es sind die einzigen Kopien unseres neuen Marineabkommens mit Roumeleia, und zwar in drei Sprachen.« »Oho! Verstehe!« »Als Botschafter beim Basileus zu Konstantinopel war Lord Vauxhall entscheidend daran beteiligt, Kyril zur Annahme sämtlicher Bedingungen zu bewegen. Die Griechen kontrollieren schließlich den Bosporus und die Dardanellen, was wiederum bedeutete, daß sie das Schwarze Meer vom Mittelmeer abgeschnitten hatten. Casimir von Polen versucht immer noch, unsere Seeblockade der Nordsee und des Baltikums zu unterlaufen. Der Vertrag, den wir ihm nach dem Krieg von '39 aufgezwungen haben, verbietet es jedem bewaffneten polnischen Schiff, den Vierzehnten Meridian zu überqueren, während kein Reichsschiff in umgekehrter Richtung über den Zehnten Meridian hinaus fahren darf.« »Ist niemand hier außer uns und den Skandinaviern«, knurrte der Lo rd Hochadmiral. »Genau«, sagte Prinz Richard. »Und der Vertrag gestattet es ferner skandinavischen und Reichsschiffen, jedes polnische Schiff zwischen dem Achten und dem Vierzehnten Meridian auf Kontrabande - auf Waffen und Munition - zu durchsuchen und etwaige einschlägige Waren zu beschlagnahmen. Aber im Mittelmeer sieht die Sache anders aus. Den Griechen war es gar nicht lieb, was Polen während des Kriegs von '39 getan hat, und sie haben unseren Sieg dazu ausgenutzt, zu verbieten, daß bewaffnete Schiffe jeder Nation - mit Ausnahme Roumeleias natürlich - die See von Marmara befahren. Allerdings hatten sie nicht nur genügend Nerv, um in dieses Verbot auch eine Durchsuchungs- und Aufbringungsklausel einzufügen. Kaiser -6 7 4
Kyril ist nun bereit, das jetzt zu tun, vorausgesetzt, daß wir ihn im Mittelmeer unterstützen. Die Marine Roumeleias ist nicht stark genug, um das Schwarze, das Marmara-und auch noch das Mittelmeer zu patrouillieren, und außerdem machen sie sich immer noch Sorgen wegen der Osmanlis, ganz zu schweigen von Nordafrika. Dieser Vertrag regelt alle diese Fragen.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Darf ich fragen, Euer Hoheit, warum es plötzlich so wichtig geworden ist, daß König Casimirs Handelsschiffe durchsucht werden dürfen?« Das Kichern des Lord Hochadmirals klang sehr unangenehm. »Darf ich es ihm sagen, Euer Hoheit?« »Gewiß doch. Mein Bruder der König hat Lord Darcy schon weitaus wichtigere Staatsgeheimnisse anvertraut als dieses.« Das hatte der Lord Hochadmiral zwar gar nicht gemeint, doch ließ er es dabei bewenden. Er sagte: »Seine Slavische Majestät Casimir IX hat einen Plan ausgeheckt, mit dessen Hilfe er sich eine Flotte im Atlantik aufbauen will. Es ist ein hübscher Plan und er könnte sogar funktionieren. Es ist sogar möglich, daß er bereits funktioniert hat! Vielleicht haben wir von der Sache eine Spur später Wind bekommen, als es der Gemütlichkeit noch guttut.« »Drei Schiffe sind ja nun noch keine Flotte«, wandte der Herzog ein. »Drei Schiffe, von denen wir wissen, Euer Hoheit! Jedenfalls ist folgendes passiert: Vor ein paar Jahren hat Polen damit begonnen, seine Handelsflotte um einen neuen Schiffstyp zu erweitern - ein Schiffstyp, der ein kleines bißchen schneller und ein kleines bißchen solider gebaut ist. Angefangen hat das in der Bucht von Pommern. Sechs Monate darauf wurden sie auch im Schwarzen Meer gebaut - in Odessa. So verging die Zeit. Irgendwann - und den genauen Zeitpunkt konnten wir noch -6 7 5
nicht exakt bestimmen - begann dann die Gaukelei mit dem Bäumchen-wechsle-dich-Spiel.« »Hier scheinen die Papiere nicht zu sein«, unterbrach ihn der Herzog. »Sollen wir ins Grünzimmer gehen?« »Ja«, sagte Lord Darcy. »Sehen wir doch mal nach, ob Seeverträge auf Büschen wachsen.« Im Grünzimmer gab es keine Büsche. Wie die Galerie besaß auch dieser Raum zwei Außenwände, die praktisch völlig aus Glas bestanden. Überall wuchsen Grünzeug und Pflanzen aus Töpfen und Wannen - nichts Spektakuläres, aber bunt und angenehm. Sie setzten die Suche fort. »Gott sei Dank haben diese Rosen keine Dornen«, bemerkte der Lord Hochadmiral, als er Blattwerk und Blüten beiseite schob. »Wo waren wir gerade?« »Ihr wart gerade dabei, mit polnischen Handelsschiffen Bäumchen-wechsle-Dich zu spielen«, sagte Lord Darcy. »Ach ja. Ihr müßt also wissen, daß diese Schiffe alle gleich sind. Wir nennen sie die Mielic-Klasse. Die Mielic war das erste Schiff, das vom Stapel lief, und sie sind alle auf den Namen kleiner Städte getauft. Und man kann nicht eines von den anderen unterscheiden, außer durch ihre Beschriftung. Und so läuft das alles nun ab. Sagen wir mal, die Zamosc segelt von na, von Danzig ab. Sie hält am Marinekontrollpunkt Heisinger Hälsingborg, um durchsucht zu werden, eine Überprüfung, die sie mit wehenden Fahnen besteht.« »Ich hatte schon befürchtet, daß Ihr das sagen würdet«, murmelte Lord Darcy, während er unter eine lange Holzbank spähte. »Von dort aus«, fuhr Lord Peter unerbittlich fort, »fährt sie nach Antwerpen weiter. Diesmal wird sie von uns durchsucht. Sie ist sauber.« -6 7 6
»Und ihre Fahnen wehen immer noch«, ergänzte Lord Darcy. »Genau. So arbeitet sie sich nach Süden vor. Bordeaux, San Sebastian, La Corufia, Lisboa und schließlich durch die Straße von Gibraltar. Eine Weile lang betreibt sie Handel im Mittel meeraum. Schließlich fährt sie gen Osten weiter, durch die Dardanellen und den Bosporus ins Schwarze Meer, direkt nach Odessa. Eine Woche später - Aua! Diese Rose hat ja doch Dornen! Eine Woche später kehrt sie zurück. Die Zamosc kehrt durch den Bosporus, die Dardanellen, das Mittelmeer, die Straße von Gibraltar zurück und nimmt Kurs auf Süden, auf die afrikanische Küste. Ein paar Monate später ist die Zamosc wieder da und fährt mit einer Ladung Zebrahäuten oder ähnlichem nach Bordeaux. Dann geht es wieder nach Norden, schließlich auf Ostkurs und zurück nach Danzig, wobei sie wieder jede Inspektion mit absoluter Unschuld besteht.« »Nur daß der Name geändert wurde, um die Schuldigen zu schützen«, bemerkte Lord Darcy. »Da habt Ihr aber recht! Ich will Euch gar nicht fragen, woher Ihr das wußtet.« »Das war offensichtlich. Sagt mir eins: Hat die Mannschaft im Hafen Landausgang bekommen?« Der Lord Hochadmiral grinste durch seinen Bart. »Nicht sehr wahrscheinlich, wie? Nein, hat sie nicht. Und würde es Euch vielleicht sonderlich erstaunen, wenn Ihr erführt, daß der Schiffskörper eines Schiffs der Mielic-Klasse verblüffend genau dem eines leichten Kreuzers gleicht? Dachte ich es mir doch, daß es Euch nicht verblüfft.« Lord Darcy sagte: »Jetzt verstehe ich, was Ihr mit dem Gaukelspiel me int. Das bedeutet also, daß drei verschiedene Schiffe dabei mit im Spiel sind. Nummer eins - die Zamosc - ist ein echtes Handelschiff. Aber wenn sie in Odessa eingetroffen ist, wartet dort der Rumpf eines schwerbewaffneten leichten Kreuzers, auf dessen Bug und Heck fein säuberlich der Name -6 7 7
Zamosc gemalt ist. Dieses Schiff ist mit schweren Seegeschützen beladen, die auf irgendeiner Werft in Afrika montiert werden sollen. Wo?« »Wir glauben, in Abidjan.« »Die Ashanti, eh? Hm, hm. Na ja, jedenfalls fährt die zweite Zamosc mit denselben Offizieren, aber einer anderen Mann schaft mühelos an den Griechen vorbei, weil die sie nicht entern und durchsuchen dürfen. Sie fährt nach Abidjan weiter, wo die dritte Zamosc, ein echtes Handelsschiff, wartet. Wieder dieselben O ffiziere - und die dritte Besatzung. Zurück nach Danzig, so rein wie der Schnee des Pamir. Raffiniert. Und was geschieht mit der ursprünglichen Zamosc?« »Nun, bald danach kommt die Berdichev vorbeigerutscht. Brandneues Schiff. Steht in den Papieren.« »Und das ist dreimals geschehen?« »Sagen wir so: Wir wissen von drei Vorfällen dieser Art«, erwiderte der Lord Hochadmiral. »Wir haben noch nicht jedes dieser Schiffe überprüfen und ihren offiziellen Kurs verfolgen können, ganz zu schweigen von ihren inoffiziellen Umtrieben. Es geht jedenfalls darum, daß wir der Sache einen sofortigen Einhalt gebieten müssen.« »Es gibt Hinweise«, warf Prinz Richard ein, »daß noch in dieser Woche zwei weitere Schiffe dieser Klasse das Schwarze Meer verlassen werden. Sie beschleunigen ihre Operation, My Lord. Deshalb auch die ganze Sorge um diesen verdammten verschollenen Diplomatenkoffer. Der Vertrag wurde von Kyril bereits unterzeichnet, doch wird er sich erst dann daran halten, nachdem er das Reichssiegel und meine Unterschrift darunter gesehen hat. Es ist auch ein offizielles Begleitschreiben Seiner Majestät dabei, unterschrieben, gesiegelt und was alles dazu gehört. Wir haben diesen Weg gewählt, weil mein Bruder der König im Augenblick nicht in die Normandie kommen kann und weil es auch so schon genug zusätzliche Zeit kostet, das Ding -6 7 8
hin und her zu schicken, so daß es äußerst knapp wird. Zwei weitere - oder vielleicht sogar noch mehr von König Casimirs Schiffen, die die Blockade unterlaufen, könnten mehr Ärger bedeuten, als wir im Augenblick verkraften können. Der Napoliexpreß verläßt Calais in...«, er schob die Rüschen seiner Manschette zurück und blickte auf die Armbanduhr, »... fünf Stunden und einundzwanzig Minuten. Dieser Zug fährt nur zweimal pro Woche. Wenn wir den Vertrag in Paris an Bord bringen können, ist er in weniger als sechs- unddreißig Stunden in Brindisi. Von dort bis Athen dauert es mit dem Schiff noch weitere vierundzwanzig Stunden. Dort wird der Basileus darauf warten, und vierundzwanzig Stunden später wird die griechische Marine die Bestimmungen des Vertrags durchsetzen. Wenn wir die Dokumente nicht an Bord dieses Zugs bekommen, sind wir verloren.« »Ich glaube nicht, daß es wirklich so schlimm ist, Euer Hoheit«, sagte der Lord Hochadmiral. »Wir können sie immer noch nach...« Doch der Herzog schnitt ihm heftig das Wort ab. »Nun seid kein optimistischer Narr, My Lord! Wenn wir das Ding bis dahin nicht gefunden haben, bedeutet das, daß es irgendwie - und wie genau, weiß ich selbst nicht - in die Hände der Serka gelangt ist. Kyril hat Vauxhall gemocht und ihm vertraut. Sein Tod dürfte es uns sehr erschweren, den Vertrag aufs neue auszuhandeln. Kyril würde uns für Stümper halten, weil wir das Urexemplar verloren haben, und damit hätte er auch recht. Vermutlich würde er davor zurückscheuen, einen weiteren Vertrag zu unterzeichnen. Darüber hinaus würde Casimir davon erfahren und wahrscheinlich andere Schritte in die Wege leiten.« Erst jetzt begriff Lord Darcy vollends, wie nervös der Prinz tatsächlich war. Derlei Ausbrüche gehörten nicht zu seiner Art.
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»Ich glaube, in diesem Punkt braucht Ihr Euch keine übermäßigen Sorgen zu machen, Euer Hoheit«, sagte er ruhig. »Ich glaube, ich kann dafür garantieren, daß der Vertrag am Morgen auf dem Napoliexpreß sein wird.« Er wußte, daß er damit seinen Hals empfindlich weit vorstreckte und daß die Beilklinge sehr scharf war. Aber er hatte dieses gewisse Gefühl... Der Prinz atmete tief ein und hielt eine Sekunde die Luft an, bevor er sie langsam wieder ausstieß. »Ich bin sehr erleichtert, das zu hören, My Lord. Bisher habt Ihr Euch meines Wissens in derlei Dingen noch nie geirrt. Ich danke Euch.« Lord Darcy spürte ein gespenstisches Prickeln im Nacken. Das Beil war ein Stückchen realer geworden. »Nun, wo immer er auch sein mag«, sagte der Lord Hochadmiral, »hier zwischen dem Grünzeug ist er jedenfalls nicht. Schätze, als nächstes ist dann wohl die Bibliothek dran.« Sie schoben die Doppeltür beiseite und traten ein. Und blieben stehen. Der Raum war von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt. Und die waren voller Bücher. »Heilige Maria, steh uns bei!« sagte Prinz Richard ernst. »Jetzt müssen wir jedes Buch einzeln umdrehen!« »Einen Augenblick, Euer Hoheit. Ich will erst etwas überprüfen«, sagte Lord Darcy. Er schritt zu den Türen, die in das Vorderzimmer führten, und schob sie beiseite. Master Sean stand am Kamin und unterhielt sich leise mit Wanderhexer Torquin. Oberstleutnant Danvers nippte an einem Drink und starrte düster durch das Frontfenster. Von Dr. Pateley und der Leiche fehlte jede Spur. Als Lord Darcy die Türen öffnete, drehten sich drei Köpfe nach ihm um.
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»Ich sehe, daß die sterbliche Hülle beseitigt worden ist«, sagte Lord Darcy. »Jawohl, My Lord«, erwiderte Master Sean. »Der Leichenwagen ist gekommen. Der Doktor ist mitgefahren, um die Autopsie vorzubereiten. Ich habe sämtliche Tests durchgeführt, die zur Zeit möglich sind.« »Ausgezeichnet. Sagt mir, mein guter Sean, wie lange würdet Ihr wohl brauchen, eventuell mit der Unterstützung Eures Kollegen, alle hier wirksamen Privatsphärenschutzzauber zu beseitigen, damit ein gewöhnlicher Hellseher finden könnte, was wir suchen?« Master Sean blinzelte, dann blickte er Edelmann Torquin an. »Sind irgendwelche davon von Euch?« Torquin schüttelte den Kopf. »Tauge nicht viel zu solchen Arbeiten, Master. Meine Spezialität sind Schlösser. Ich weiß nicht, wer ihm diese Privatsphärenzauber erneuert hat.« Master Sean sah sich um und schien die Luft zu prüfen. »Die sind schon eine ganze Weile hier, My Lord. Fünfzig Jahre oder so - plusminus zehn Prozent. Sind stark, gut verstärkt. Und kompliziert sind sie auch. Saubere Könnerarbeit. Meisterstufe, würde ich sagen... oder eine Spezialist. Hmmmm.« Er griff in seinen symbolverzierten Reisesack und holte einen dünnen Silberstab hervor, an dessen Ende sich ein flacher fünfzackiger Stern befand, so daß er wie ein langer Nagel mit fünfzackigem Kopf aussah. Er schloß die Augen und drehte ihn langsam zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. »Manche der Grundzauber sind sogar noch älter. Dieses Haus ist neu, aber das Grundstück ist schon seit Jahrhunderten Privatbesitz. Dort, wo das Herrenhaus jetzt steht, war früher ein Schloß, das aber im fünfzehnten Jahrhundert abgerissen wurde. Damals gab es auch schon gute, solide Privatschutzzauber. Und die modernen Zauber bauen auf einer alten, sehr soliden Grundlage auf.« Er öffnete die Augen und verstaute den Stab -6 8 1
wieder in seinem Reisesack. »Neun Stunden, My Lord - wenn ich Glück habe.« Lord Darcy seufzte. »Vergeßt es. Vielen Dank, Master Sean.« Er schob die Türen wieder zu. »War immerhin eine hübsche Idee«, meinte der Lord Hochadmiral. »Machen wir uns an die Arbeit.« »Ich schlage vor«, sagte Lord Darcy, »daß wir uns die Bibliothek nur kurz anschauen und dann ins Eßzimmer und ins andere Schlafzimmer hinübergehen. Wenn wir dort nichts finden sollten, können wir immer noch hierher zurückkehren, aber ich käme mir ziemlich dämlich vor, wenn wir erst jedes Buch hier herausziehen würden, um die Dokumente dann doch im Bad des vorderen Schlafzimmers zu entdecken.« Eine kurze, schnelle Suche führte zu keinem Erfolg. »Dann also weiter ins Eßzimmer«, sagte Lord Darcy und öffnete die Schiebetür. »Hm! Was haben wir denn da?« Ein großer, leerer Tisch aus poliertem Walnußholz, groß genug für zehn Personen, stand längs im Raum. Am Südende, nahe der Tür zum Vorderzimmer, standen eine geöffnete Weinflasche und ein leeres Glas. Lord Darcy trat darauf zu und musterte sie sorgfältig. »Schwartzschloßkeller '69. Ein sehr guter Rheinwein. Ein Glas wurde entnommen, und die Flasche ist abscheulich warm. Am Glasboden sind noch immer ein oder zwei klebrige Tropfen zu sehen.« »Sein letzter Trunk«, sagte Prinz Richard. »Das glaube ich auch, ja. Lassen wir sie stehen. Wenn nötig, kann Master Sean sie später noch untersuc hen.« Im Eßzimmer entdeckten sie nichts. Das vordere Schlafzimmer glich dem hinteren sehr stark, nur daß die Tapete hier in Grün und Silber gehalten war. -6 8 2
»Beachtet bitte, wie die Schlafzimmer voneinander abgetrennt sind«, bemerkte Lord Peter. »Nur eine Trennwand, aber wenn man von einem ins andere will, muß man durch mindestens zwei andere Räume gehen. Vauxhall hatte einen sehr ausgeprägten und raffinierten Sinn für Psychologie.« »Deshalb ist er auch Diplomat geworden«, sagte der Herzog. Im Schlafzimmer war ebenfalls kein Diplomatenkoffer zu finden. »Zurück in die Bibliothek«, brummte der Lord Hochadmiral. Obwohl Master Sean, Edelmann Torquin und der Oberstleutnant ihnen halfen, brauchten sie dennoch fast eine volle Stunde, um die Bibliothek zu durchsuchen. Sie entdeckten alle möglichen Kleinigkeiten, doch nichts von Wichtigkeit und schon gar kein Seevertrag mit Roumeleia. »Nun, Euer Hoheit«, sagte der Oberstleutnant, »wenn er nicht im Haus ist, muß er wohl draußen sein, eh? Wartet nur ab, einer meiner Jungs wird ihn schon aufstöbern. Der alte Vauxhall hat ihn wahrscheinlich zwischen der Hütte und dem Herrenhaus fallen lassen. Dort habe ich meine besten Jungs eingeteilt. Aber es ist schon enttäuschend, das weiß ich auch. Wißt ihr was? Ich schlage vor, daß wir uns alle einen steifen Drink genehmigen. Nach dieser staubigen Arbeit wird uns das allen guttun. Na?« Mit Ausnahme der beiden Hexer waren alle endlich mal seiner Meinung. Schweigend standen sie da und hielten ihre Gläser fest oder starrten die Wände an, als es an der Vordertür klopfte und Lord Sefton, der Außenminister, eintraf. Er schwitzte stark, was seinem roten, schwammigen Gesicht einöliges Aussehen verlieh. »Ah, Euer Hoheit, My Lords, Gentlemen! Dachte ich es mir doch, daß ich Euch hier finden würde.« Er musterte die Männer mit schnellem Blick. Bis auf den Herzog und den Lord Hochadmiral kannte er niemanden der anderen, und Prinz Richard stellte sie ihm vor. -6 8 3
»Bin nur vorbeigekommen, um Euer Hoheit mitzuteilen, daß die Wachmänner das Haus jetzt durchsuc ht haben. Haben das verdammte Ding nicht gefunden, weshalb Chief Donal sie noch einmal von vorne anfangen läßt. Suchen nach geheimen Schiebetüren und ähnlichem. Ich dachte, vielleicht hättet Ihr den Vertrag hier im Haus gefunden.« »Leider nicht«, sagte Prinz Richard. Er sah Lord Darcy an. »Was haltet Ihr davon, My Lord? Sollen wir auch nach geheimen Schiebetüren suchen?« Lord Darcy schüttelte den Kopf. »Danach habe ich schon Ausschau gehalten. Tapezierte Wände wie diese bieten sich für der gleichen nicht gerade an. Man kann die Ritzen nicht verbergen. Und wo tatsächlich welche hätten sein können, da habe ich auch nachgesehen. Ich werde mir allerdings noch einmal die Galerie vornehmen und hinter den Bildern nachsehen. Wenn es hier irgendwelche Verstecke geben sollte, dann allenfalls dort.« »Nun denn, Lord Darcy«, sagte Lord Sefton wichtigtuerisch, »habt Ihr inzwischen herausbekommen, wer den Mord begangen hat?« »Gütiger Gott!« Oberstleutnant Danvers ließ beinahe sein Glas fallen. »Mord? Was denn für ein Mord?« Er riß den Kopf herum, um Lord Darcy anzublicken. »Von einem Mord habt Ihr gar nichts gesagt? Hat hier ein Mord stattgefunden? Wovon redet der Mann, zum Teufel?« »Ich weiß es selbst nicht so genau«, meinte Lord Darcy. »Bisher hat niemand etwas von einem Mord erwähnt. Wovon redet Ihr denn tatsächlich, Lord Sefton?« »Ja«, sagte Prinz Richard, »erklärt Euch bitte, My Lord!« Lord Sefton sperrte seinen wabbeligen Mund auf, schloß ihn wieder und öffnete ihn erneut. »A-a-a-aber Lord Vauxhall! Ich habe ihn doch durchs Fenster gesehen, als Ihr mich batet, hier -6 8 4
nachzusehen! Er lag doch da! Mit einer Pistole in der Hand! Sah aus wie eine ägyptische Mumie!« Er brach ab, schluckte schwer und fuhr schließlich in etwas ruhigerem Ton fort: »Oh. Dann war es also Selbstmord?« Lord Darcy sah zu dem Herzog hinüber. »Wißt Ihr, Euer Hoheit, das könnte vielleicht die Pistole erklären. Ich kann mir denken, daß er daran gedacht hat... bevor er starb.« »Ich glaube, Ihr habt recht«, erwiderte der Herzog ernst. »Vielleicht hat er gegla ubt, daß dies ein leichterer Ausweg wäre. Vielleicht wäre es das auch gewesen. Weniger... schmerzhaft.« Master Sean schüttelte den Kopf. »Das ist nicht schmerzhaft, Euer Hoheit. Nur geistig. Zuzusehen, wie man in Stücke zerfällt. Aber das Nervensystem bric ht ziemlich schnell zusammen. Gegen Ende setzt sehr bald Taubheit und Schmerzunempfindlichkeit ein.« Lord Sefton schien selbst im Begriff zu sein, in Stücke zu zerfallen. »A-a-aber wovon redet Ihr denn da? Chief Donal hat gesagt, daß Vauxhall durch Schwarze Magie getötet wurde! Warum nehmt Ihr das so gelassen hin? Warum?« »Mylord, bitte beruhigt Euch und nehmt Platz«, sagte Prinz Richard entschieden. »Ja, My Lord, setzt Euch«, sagte der Oberstleutnant. »Hier, ich bringe Euch ein Glas Brandy. Das wird Euch wieder aufrichten.« Mit zitternder Hand nahm Lord Sefton das dargebotene Glas entgegen. »Da verstehe ich nicht«, sagte er matt. »Vielleicht hätte Master Sean die Güte, es zu erklären«, sagte Seine Hoheit. Master Sean überlegte einige Sekunden lang, dann fragte er: »Für wie alt würdet Ihr Lord Vauxhall halten, My Lord?« »Drei... dreißig. Fünfunddreißig.«
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»Er war über siebzig«, sagte Master Sean. Sefton erwiderte nichts. Er sah nur aus wie vor den Kopf gestoßen. »Dank unserer modernen Heilmethoden«, fuhr Master Sean fort, »kann man durchaus das biblische Alter von dreimal zwanzig und zehn Jahre erwarten, wenn kein Unfall oder eine Gewalttat dem Leben ein vorzeitiges Ende bereiten. Weil sie eine gewaltige seelisch-geistige Last zu tragen haben, werden Könige nur selten sehr viel älter, aber ein Durchschnittsmensch kann mit einiger Zuversicht seinen hundertsten Geburtstag abwarten, und ein Vierteljahrhundert mehr ist auch alles andere als ungewöhnlich. Einen Mann von sechzig nennen wir einen ›Menschen in den mittleren Jahren‹, und das durchaus zu Recht. Aber Heiler und Hexer vollbringen keine Wunder. Wir alle müssen damit rechnen, auch zu altern, dagegen gibt es kein Mittel. Der Mensch wird langsamer, seine Reflexe sind nicht mehr, was sie früher einmal waren, er bekommt Falten und graue Haare und so weiter. Das wissen wir alle, und wir rechnen auch alle damit. Und bis vor ungefähr einem Jahrhundert genaugenommen liegt es noch ein Stück weiter zurück - ließ sich auch nichts dagegen unternehmen. Doch damals, im Jahre 1848, unter der früheren Regentschaft von Gwiliam V, entdeckten zwei Medizinalthaumaturgen unabhängig voneinander eine Methode, mit welcher man das Aussehen und die Spannkraft der Jugend bewahren konnte. Der eine war ein Westfale namens Reinhardt von Ho rst, der andere ein Mann aus Ulster, Duivid Shea. Im Prinzip haben sie eine Methode entwickelt, die den Körper gewissermaßen im Gleichgewicht hält. Ich will auf die thaumaturgische Fachterminologie verzichten und statt dessen nur erklären, daß dabei Katabolismus und Anabolismus des Körpers in einem solch vollkommenen Gleichgewicht gehalten werden, daß der eine den anderen stützt. Versteht Ihr, was ich meine?«
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Lord Sefton nickte und reichte Oberstleutnant Danvers sein leeres Glas, der es prompt zusammen mit seinem eigenen auffüllte. Lord Darcy hatte Master Sean schon öfter über dieses Thema dozieren hören, doch er genoß es, Master Sean zuzuhören, wenn der in pädagogische Stimmung geriet. Zum einen verlor er dabei fast völlig seinen irischen Akzent, und außerdem verstand er es, jedesmal einen neuen Aspekt eines Themas zu beleuchten, so oft er zuvor auch darüber schon gesprochen haben mochte. »Theoretisch klingt das wirklich wunderbar, nicht wahr, My Lord? Doch in der Praxis sieht es leider etwas anders aus. Nehmen wir nur mal die Haut, zum Beispiel. Die wird als einer der ersten Körperteile vom Alterungsprozeß heimgesucht. Deshalb kommen wir auch Falten und graue Haare. Die Haut büßt ihre jugendliche Elastizität und ihre Fähigkeit ein, das Haar mit Pigment zu versorgen. Das Herz dagegen ist eines der zähesten Organe, die wir besitzen. Das muß es auch sein, denn es arbeit Tag und Nacht, Jahr um Jahr, und ruht sich allenfalls zwischen zwei Schlägen ein kleines bißchen aus. Wenn ein Mensch einen Heiler regelmäßig aufsucht, dann wird die alte Klopfmaschine bis zum Schluß kräftig pochen. Sie kann sogar erst als allerletztes aufhören, nachdem der Rest des Körpers aufgegeben hat und de facto schon gestorben ist. Doch diese Behandlung, die ich erwähnt habe, verteilt den Abnutzungsprozeß gleichmäßig über den ganzen Körper. Um solche Dinge wie beispielsweise die rein kosmetische Funktion der Haut aufrechtzuerhalten, müssen alle, Herz, Leber, Funktionieren und so weiter etwas von ihrer Lebenserwartung auf geben. Endlich erreicht der Körper den Punkt, da jedes seiner Organe, ja sogar jede einzelne Zelle kurz vor dem Tod steht. Und wenn die dann sterben, geschieht alles auf einmal, mit schrecklicher Geschwindigkeit. Dann ist alles nur noch eine Frage von Minuten, niemals mehr als einer Stunde. Die Enzyme drehen durch. Das Bindegewebe löst sich auf, und die Abwehr -6 8 7
von Mikroorganismen bricht zusammen. Na ja, das Ergebnis habt Ihr ja gesehen. Lord Vauxhall hat sich einer solchen Behandlung unterzogen.« »Igittigitt!« machte Lord Sefton. »Das ist ja grausig!« »Was Lord Vauxhall tatsächlich getan hat«, fuhr Master Sean unbeirrt fort, »das war, fünfzig zusätzliche Jahre Leben gegen fünfzig zusätzliche Jahre Jugend einzutauschen. Wir alle, die wir ihn kannten, hatten das schon vermutet, und so kam es für uns nicht als Überraschung - lediglich als ein Schock.« »Großer Gott!« sagte Lord Sefton. »Ein Mann wie Vauxhall in Schwarze Magie verstrickt! Entsetzlich!« »Nun, was das anbetrifft«, meinte Master Sean, »so ist es einerseits welche, andererseits aber auch nicht. Schwarze Magie, meine ich. Es wird ja nicht in böser Absicht durchgeführt. Kein ethisch denkender Thaumaturge im Reich würde es tun, aber ich habe gehört, daß es in Teilen der islamischen Welt als durchaus guter Tausch gilt. Ein halbes Jahrhundert lang das Sexualleben eines Achtzehnjährigen zu führen, mag manchem als erstrebenswerte Sache erscheinen. Hängt wohl von der persönlichen Weltanschauung ab, würde ich sagen. Aber das Ende ist ziemlich unschön.« »Sagt mir doch mal eins, Master Sean«, warf Prinz Richard ein, »wie viele Behandlungen sind dazu erforderlich?« »Oh, man muß sich regelmäßig behandeln lassen, Euer Hoheit. In gewisser Weise ist es wie bei einer süchtig machenden Droge. Nach einer Weile können die Entziehungssymptome ziemlich schlimm werden. Schließlich ist ja, müßt Ihr verstehen, der ganze Körper geschwächt worden, und ohne die Unterstützung der zusätzlichen Zauber bricht er schnell zusammen. Und langsamer. Wenn Lord Vauxhall vor fünfundzwanzig Jähen aufgehört hätte, hätte er vielleicht noch ein Jahr überlebt. Aber es wäre ein ziemlich scheußliches Jahr geworden. Auf lange Sicht gibt es da nicht viel, was ein Hexer -6 8 8
tun kann. Ich habe davon gehört, daß es manchen Hexern passiert ist, daß ihre Patienten mitten in einer Behandlung zusammenbrachen und gestorben sind. Kann nicht behaupten, daß ich selbst darauf sehr erpicht wäre, muß ich sagen.« »Warum habe ich denn noch nie davon gehört?« fragte Lord Sefton. »Es wird nur selten durchgeführt«, sagte Master Sean. »Nur wenige Magier können es überhaupt tun, und noch weniger wären dazu bereit, es zu tun. Und es ist auch ein teuflisch schwieriges Unterfangen. Entsprechend hoch ist auch der Preis. Sehr hoch. Nur ein reicher Mann wie Lord Vauxhall kann sich dergleichen leisten. Und außerdem wird es auch nicht gerade an die große Glocke gehängt. Es wäre uns lieber, wenn nicht sehr viel darüber geredet würde, wenn Ihr mir folgen könnt, Lord Sefton.« »Ja, das kann ich in der Tat.« Der Außenminister leerte sein Glas und saß augenblinzelnd eine Weile schweigend da. Dann sagte er schließlich: »Armer Knabe. Schlechter Abgang.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Ist auch verdammt unpassend für uns, meine ich. Was, glaubt Ihr, hat er mit dem Abkommen gemacht?« Er blickte Lord Darcy an. Der hatte inzwischen mit dem Daumen Tabak in seine sogenannte ›Feld-Wald- und Wiesenbriar‹ gestopft und sie entzündet. Langsam blies er eine Rauchwolke aus und meinte: »Nun... dann wollen wir doch mal rekonstruieren, was er getan haben muß. Er hat den Tisch verlassen, wo My Lords sich berieten, um den ledernen Diplomatenkoffer zu holen, in den er die Papiere hineintun wollte. Während er fort war, erhielt er irgendein Zeichen, daß das Ende nahte. Was hätte das sein können, Master Sean?« »Wahrscheinlich Haarausfall, My Lord«, erwiderte der stämmige kleine irische Hexer. »Das ist meistens das erste
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Symptom. Dann die Haut um die Augen herum. Und ein plötzliches Gefühl der Mattigkeit und Schwäche.« »Dann können wir uns die Szene also ganz gut vorstellen«, fuhr Lord Darcy fort. »Ich weiß nicht, wie ich selbst reagieren würde, wenn ich plötzlich merkte, wie ich auf diese Weise dem Ende entgegengehe, aber Lord Vauxhall war ein ziemlich kühler Kopf, und er hat schon seit Jahren gewußt, wie das Ende aussehen würde. In gewisser Weise war er also darauf vorbereitet. Doch in dem Augenblick, da es soweit war, wurde alles andere unwichtig. Er wollte nicht, daß die anderen ihn dabei sahen, das hätte seiner Eitelkeit widersprochen. Seine größten Eroberungen machte Lord Vauxhall auf dem Gebiet der Diplomatie, doch viele seiner angenehmsten fanden hier im Haus statt. Er hatte es selbst erbaut und war stolz darauf und glücklich damit. Ich glaube, er wollte es ein letztes Mal sehen. Hier würde er in Frieden sterben können. Ich glaube, die Pistole befand sich in irgendeiner Schreibtischschublade oder so. Das können wir später noch im Herrenhaus überprüfen. Wichtig ist, daß wir uns überlegen, was er wohl mit dem Vertrag in seiner Lederhülle getan haben könnte. Ich vermute, daß er ihn völlig vergessen hatte. Er war da - er hielt ihn vielleicht unter dem linken Arm eingeklemmt oder in der linken Hand, und er hat ihn nicht einmal bemerkt. Wie ein Mann, der sich seine Brille auf dem Kopf geschoben hat und sie vergißt.« »Warum sprecht Ihr von seiner Linken, My Lord?« fragte Prinz Richard mit einem Stirnrunzeln. »Weil er selbst an seine rechte Hand dachte«, erwiderte Lord Darcy sanft. »Er hielt ja eine Handfeuerwaffe darin.« Der Herzog nickte stumm. »Irgendwann zwischen diesem Augenblick und seinem Tod hat er den Vertrag dann doch bemerkt - und ihn irgendwo abgelegt. Ich kann mir kaum vorstellen, daß er ihn ganz bewußt versteckt hat. Er fiel ihm plötzlich auf, schließlich war er ziemlich schwer, also hat er sich seiner entledigt. -6 9 0
Er kam herein, schenkte sich ein Glas Wein ein und...« Lord Darcy brach ab. »Der Wein«, sagte er nach einer Weile. »Was ist damit?« fragte Lord Peter. »War doch völlig in Ordnung, oder?« »Doch, doch. Aber er würde keinen Rheinwein warm trinken. Er würde ihn nicht lagern, wo er warm werden könnte. Gewiß, jetzt ist er warm, aber als er ihn öffnete, war er kalt. Das muß so gewesen sein.« Er wandte sich plötzlich von ihnen ab und blickte durch das Frontfenster auf die matt vom Mondlicht beschienene Szenerie hinaus. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen«, sagte er wie zu sich selbst. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er mit einer Flasche Wein, einer Pistole und einem Diplomatenkoffer diesen Hügel dort hinabgekommen ist. Selbst wenn er den Koffer im Herrenhaus zurückgelassen haben sollte, würde er dann etwa bis in den Keller hinabsteigen, um den Wein zu holen? Nein. Er muß ihn unterwegs aufgelesen haben - « Er drehte sich zu dem Prinzen um. »Habt Ihr vier am Abend Wein getrunken?« »Nein, My Lord«, sagte Prinz Richard. »Gewiß, auf dem Getränkebuffet standen Oporto und Xerez, aber nichts, was aus dem Weinkeller geholt worden wäre.« »Wo zum Teufel hatte er dann die Flasche Rheinwein her?« Plötzlich faßte sich Prinz Richard an den Kopf. »Das hatte ich ja ganz vergessen! Es gibt hier noch einen kleinen Keller, Kommt, ich zeige ihn Euch!« Sie folgten ihm durchs Eßzimmer zurück zur Speisekammer. Er schritt zu einer Wand hinüber und kniete sich auf dem Parkettboden nieder. Lord Darcy bemerkte ein kleines, fingergroßes Loch im Holzboden und verwünschte sich innerlich, daß er es nicht vorher entdeckt hatte. Der Herzog steckte den Finger in das Loch und hob das Holzstück auf. Darunter befand sich ein schwerer Stahlring, der flach auflag, bis Seine Hoheit ihn packte und im Aufstehen emporzog. Der -6 9 1
Ring war ein Griff, und schon schwang sich ein gut zweimal zwei Fuß großes Bodenstück auf Scharnieren in die Höhe und offenbarte eine Leiter, die nach unten in die Dunkelheit führte. Lord Darcy hatte bereits eine Kerze aus den Vorräten der Kammer entwendet, die er bei der ersten Durchsuchung bemerkt hatte, und entzündete sie nun mit seinem Pfeifenfeuerzeug, um dann, die Pfeife zwischen den Zähnen, in den kleinen Weinkeller hinabzusteigen. Als er unten angekommen war, hob er die Kerze und blickte sich um. »Nicht viel zu sehen«, sagte er eine Minute später. »Die meisten Regale sind leer. Ein paar gute Rote. Und, ach ja, sieben Flaschen '69er Schwartzschloßkeller und ein paar Dutzend vom '70er Jahrgang. Wollt Ihr hinunterkommen und mir bei der Suche helfen, Peter? Hier ist eine Kerze in einem Halter wahrscheinlich dieselbe, die Vauxhall benutzt hat. Sieht frisch aus.« Der Lord Hochadmiral kam die Treppe hinuntergestiefelt, als befände er sich auf einem Schiff. Die Männer über ihnen warteten mit einer geradezu stoisch zu nennenden Geduld. Nach einer schier endlosen Pause hörten sie: »Na, Darcy, das war's wohl.« »Ja. Nichts da. Verdammt, wo ist er bloß?« Die beiden Männer kamen völlig niedergeschlagen die Treppe empor. »Eine feine Spannungssteigerung mit anschließendem fürchterlichen Spannungsabfall«, meinte Lord Darcy. »Tut mir leid, Euer Hoheit.« Sie kehrten ins Vorderzimmer zurück. Dort schritt Oberstleutnant Danvers zunächst einmal zum Getränkeschrank, trank seinen Drink aus, nahm seine Dragoneroffiziersmütze, setzte sie auf und rückte sie schmuck zurecht, machte kehrt und salutierte Seiner Hoheit dem Herzog. »Mit Euer Hoheit Erlaubnis werde ich mich jetzt mal nach draußen begeben und das Gelände zwischen Hütte und -6 9 2
Herrschaftshaus absuchen. Ich werde langsam etwas nervös, wenn ich darauf warten muß, daß jemand anders das Paket findet.« »Aber gewiß, doch, Oberstleutnant. Laßt es mich sofort wissen, wenn Ihr es gefunden habt.« »Das werde ich, Euer Hoheit.« Mit forschem Schritt verschwand er durch die Tür. »Erstaunlicher Mann, der Oberstleutnant«, bemerkte der Herzog. »Guter Offizier«, meinte der Lord Hochadmiral. »Braucht Aktion. Wird er vielleicht auch bekommen, wenn wir diesen Vertrag nicht finden.« »Ich glaube, ich werde ihn begleiten«, sagte Lord Sefton. »Vie lleicht kann ich ihm behilflich sein. Hier kann ich mich ohnehin nicht nützlich machen. Mit Eurer Erlaubnis, Hoheit?« »Selbstverständlich, My Lord.« Er verließ den Raum und ließ Lord Darcy mit dem Prinzen, dem Lord Hochadmiral, Master Sean und Edelmann Torquin zurück. »Nun«, sagte Lord Darcy seufzend, »dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als hinter sämtlichen Bildern in der Galerie nachzusehen. Ich wünschte, ich wüßte, in welchen Zimmern Vauxhall tatsächlich gewesen ist.« »Oh, er war in sämtlichen Rä umen, My Lord«, warf Torquin ein. Lord Darcy blickte zu dem kleinwüchsigen Mann hinab. »Das war er?« »Aber ja. Hat das ganze Haus abgeschritten. Habe die Schlösser ja selbst erst vor kurzem gewartet, versteht Ihr, desIhalb konnte ich das vorhin feststellen, als ich sie öffnete. Seit der Wartung ist niemand außer ihm hier gewesen. Seltsame Sache, das - er ist durch jede Tür einmal hindurchgegangen. Nur -6 9 3
ein einziges Mal. Hat die Tür aufgeschlossen, ist hindurchgegangen und hat sie hinter sich wieder abgeschlo ssen. Außergewöhnlich. Wollte das Haus wohl tipptopp zurücklassen, eh?« Eine gewaltige Ruhe schien Lord Darcy zu befallen, als er erwiderte: »Ja. Sehr interessant. Darf ich den Grundriß noch einmal sehen?« »Selbstverständlich, My Lord.« Edelmann Torquin ho lte sein Notizbuch aus dem Reisesack, entnahm ihm das fragliche Blatt und reichte es ihm. Lord Darcy unterzog es einer sorgfältigen Untersuchung und reichte er mit knappen Dank zurück. Dann schlenderte er im Zimmer umher und starrte vor sich hin, als würde er etwas ansehen, was die anderen nicht erkennen konnten. Alles schwieg. Nach einigen Minuten blieb er stehen und blickte Prinz Richard an. »Ich nehme doch an, daß die Wasserleitungen in diesem Haus in funktionsfähigem Zustand sind, My Lord?« »Das würde ich glauben. Wie das Gas auch, wird alles von außen aus angestellt, und wenn die Diener hörten, daß er nach Hause kam, haben sie alles vorbereitet.« »Das ist gut. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Gentlemen?« Er öffnete die Tür an der Westseite des Kamins und schritt in das vordere Schlafzimmer, die Tür wieder hinter sich schließend. »Ist ein ganz Raffinierter, Seine Lordschaft, eh, Master?« fragte Torquin der Schlosser. »Wahrscheinlich der scharfsinnigste deduktive Denker auf der ganzen Welt«, meinte Master Sean. »Und möglicherweise auch der scharfsinnigste induktive Denker. Ich frage mich, was er in Eurem Grundriß gesehen hat? Irgend etwas hat er ganz bestimmt gesehen, dazu kenne ich ihn gut genug.« -6 9 4
»Schauen wir es uns doch mal an und sehen wir selbst nach«, schlug Prinz Richard vor. »Ich glaube, er besitzt dieselben Indizien wie wir. Wenn er irgendeine Antwort gefunden hat, müßten wir es eigentlich auch können.« »Wie mein Freund Torquin hier sagen würde: ›Wärt Ihr bereit, einen Goldsovereign darauf zu verwetten?‹« fragte Master Sean mit einem Grinsen. »Nein«, erwiderte Seine Königliche Hoheit. Die vier Männer musterten den Grundriß. Sie blickten ihn immer noch ergebnislos an, als Lord Darcy wenige Minuten später zurückkehrte. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte geradezu verzückt. »Ah, Euer Hoheit! Es wird Euch freuen zu erfahren, daß Eure Sorgen vorüber sind! Alles ist wieder in bester Ordnung! Ich prophezeie - « Theatralisch hob er einen Zeigefinger. »Ich prophezeie, daß sehr bald ein Mann, den Ihr eine Weile nicht gesehen habt, hier in diesem Haus erscheinen wird, aus der legendären Richtung der Hölle selbst emporsteigend, und mit sich führen wird, wonach Ihr sucht. Er und seine Heerscharen werden aus der Finsternis ans Licht streben. Ich habe gesprochen!« Der Herzog starrte ihn an. »Woher wißt Ihr das alles?« »Ah! Ich habe Stimmen gehört, wenngleich ich nicht die Sprechenden erkennen konnte«, erwiderte Lord Darcy geheimnisvoll. »Was ist los mit Euch, Darcy?« fragte der Prinz mißtrauisch. Lord Darcy spreizte die Arme und verneigte sich. »Ich bin wie das Wetter, Hoheit. Ist das Wetter forsch, bin auch ich forsch; ist das Wetter kühl, bin auch ich kühl; ist das Wetter brausend wie im Lenz, bin auch ich brausend wie im Lenz. Habt Ihr bemerkt, wie lind es heute abend draußen ist?«
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»Schon gut, My Lord. Ihr wißt irgend etwas. Was?« fragte der Lord Hochadmiral im Kommandobrückenton. »Das stimmt in der Tat«, sagte Lord Darcy und gewann etwas von seiner gewohnten Haltung zurück. »Seht Euch doch einmal sorgfältig den Grundriß an, bitte! Und erinnert Euch daran, daß Torquin der Schlosser unmißverständlich erklärt hat, daß Lord Vauxhall durch jede der sechzehn Türen in diesem Haus - die Badezimmertüren zählen wir nicht mit - geschritten ist, und zwar einmal - nur ein einziges Mal. Gebe ich die Tatsachen korrekt wieder, Torquin?« »Jawohl, My Lord, das tut Ihr.« »Dann führen die Tatsachen zu einer bestimmten Schlußfolgerung, die uns wiederum zu dem Ort führt, an dem sich der Vertrag am wahrscheinlichsten befinden dürfte. Versteht Ihr mich?« Eine Minute lang verstand ihn keiner. Dann sagte Lord Darcy leise: »Wie ist er ins Haus gekommen?« Torquin der Schlosser sah ihn erstaunt an. »Durch eine der Außentüren, natürlich. Er hatte ja sämtliche Schlüssel.« Doch aus Master Sean platzte es heraus: »Gütiger Himmel, ja, natürlich! Parität, My Lord. Parität!« »Genau, mein guter Sean! Parität!« sagte Lord Darcy. »Das begreife ich nicht«, sagte der Lord Hochadmiral ohne Umschweife. »Was ist denn das, ›Parität?‹« »Die Fähigkeit, Paare herzustellen, Euer Lordschaft«, erklärte Master Sean. »Mit anderen Worten: Ist eine Zahl gerade oder ungerade? Die Zahl der Außentüren dieses Hauses ist vier - also gerade. Wenn er durch alle diese Türen einmal geschritten ist, und zwar nur einmal - dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wo er zwischendurch war - dann muß er wieder aus dem Haus ins Freie getreten sein.«
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»Rein-raus-rein-raus«, sagte Prinz Richard. »Aber natürlich, so ist es! Aber wie ist er dann - « Er brach ab und musterte erneut das Papier. »Würdet Ihr mir mal ein leeres Blatt Papier und einen Bleistift geben?« fragte Lord Darcy abseits gewandt den Edelmann Torquin mit leiser Stimme. Der kleine Mann holte sie aus seinem Reisesack hervor. »Ist der Weg, den er gegangen ist, dabei wichtig?« fragte der Lord Hochadmiral. »Der Weg nicht, nein«, erwiderte Lord Darcy. Er hatte das Blatt Papier auf das Kaminsims gelegt und war emsig damit beschäftigt, schnell etwas zu skizzieren. »Es muß zehntausend verschiedene Möglichkeiten geben, wie er gegangen ist, auch wenn er jede Tür nur einmal durchschritten hat. Nein, der Weg ist nicht wichtig.« »Wieder die Parität«, bemerkte Master Sean. »Das gilt für jeden Raum mit einer geraden Anzahl von Türen. Ich begreife, worauf Seine Lordschaft hinaus will.« »Natürlic h tut Ihr das«, antwortete Lord Darcy. »Als ich erst einmal wußte, daß er durch keine der Außentüren hat eintreten können, wußte ich auch, daß es einen geheimen Eingang zu diesem Haus geben muß. Das paßt auch gut zu Vauxhalls romantischem Wesen. Und als ich sah, wo die Endpunkte seines Gangs durchs Haus lagen, wußte ich auch, wo ich nach einem verborgenen Eingang zu suchen hatte. Also habe ich mich entschuldigt und bin nachschauen gegangen. Ich wollte bei Euch keine falschen Hoffnungen wecken, also habe ich mich davon überzeugt, daß der Vertrag auch wirklich dort ist.« »Ihr habt gesagt, Ihr wolltet zur Toilette«, meinte der Lord Hochadmiral. »Das habe ich nicht. Ich habe mich lediglich nach den Wasserleitungen erkundigt. Diese Schlußfolgerung war Eure -6 9 7
eigene. Jedenfalls habe ich nachgesehen und Stimmen gehört, die aus- « Eine Stimme aus dem Hausinneren rief: »Hallooo! Ist da oben jemand?« »Folgt mir«, sagte Lord Darcy. »Das wird der Chief Donal mit guter Nachricht sein. Ich habe den Vertrag liegen lassen, damit er ihn findet.« Sie schritten durch das Eßzimmer in die Speisekammer. Chief Donal und zwei seiner Sergeanten kamen gerade aus dem kleinen Weinkeller geklettert. Der Chief der Wachmannschaften hielt einen schweren ledernen Diplomatenkoffer in den Händen, auf dem Gesicht ein breites Lächeln. »Wir haben ihn gefunden, Euer Hoheit! Bitte schön!« Noch nie hatte er weniger grimmig ausgesehen. Der Herzog nahm den Koffer in Empfang und untersuchte den Inhalt. »Das ist er tatsächlich, Chief Donal. Gratuliere. Und vielen Dank. Wo war er?« »Na ja, wir haben nach geheimen Schiebetüren gesucht, Euer Hoheit, weil die erste Durchsuchung im Haupthaus nichts ergeben hatte, und da haben wir diesen alten Gang hinter einem falschen Weinregal im Weinkeller entdeckt. Auf diesem Hügel stand vor Jahrhunderten mal ein altes Schloß, und das Herrenhaus ist auf seinem Fundament erbaut worden. Dieser Gang muß ein Fluchtweg für Belagerungszeiten gewesen sein. Er endete hier, wo damals Wald war. Lord Vauxhall muß dieses Haus absichtlich auf dem alten Tunnelausgang errichtet haben. Wir sind ihm gefolgt und hier herausgekommen. Der Koffer lag auf dem Boden, direkt hinter einem zweiten falschen Regal, das als Tür diente.« »Nun, nochmals vielen Dank, Chief Donal«, sagte der Prinz. »Ihr könnt Eure Männer jetzt abrufen. Wir haben gefunden, was wir wollten.« -6 9 8
Wieder kehrten sie ins Empfangszimmer zurück, und nachdem der Wachmann gegangen war, warf Prinz Richard Lord Darcy einen durchbohrenden, vorwurfsvollen Blick zu. ›»Ein Mann, den ich eine Weile nicht mehr gesehen habe‹«, zitierte er. »Wenigstens ein paar Stunden lang nicht«, entgegnete Lord Darcy in aller Seelenruhe. »Darf ich fragen, was auf dem Blatt Papier steht, das Ihr so eifrig bearbeitet habt?« »Gewiß, Euer Hoheit. Hier. Wie Ihr seht, ist dies nur einer der möglichen Wege, die Vauxhall genommen haben könnte. Es gibt Tausende von Möglichkeiten, aber jede von ihnen muß entweder in diesem Raum anfangen und in der Speisekammer enden oder umgekehrt. Das sind die beiden einzigen Räume mit einer geraden Anzahl von Türen. Da er in diesem Zimmer gestorben ist, muß er seinen Rundgang in der Speisekammer begonnen haben. Und der einzige andere Weg in diesen Raum muß der durch den Weinkeller gewesen sein.« »Ganz einfach, wenn man's weiß«, meinte der Herzog. »Es ist schon spät. Ich muß Oberstleutnant Danvers noch befehlen, seine Dragoner abzurufen. Löschen wir die Lichter aus und... wenn Ihr so gut wärt, die vier Außentüren zu verschließen, Wanderhexer Torquin.« »Und die Türen zum Grünzimmer, Euer Hoheit«, sagte der kleine Mann entschieden. »Denn Lord Vauxhall hätte bestimmt etwas dagegen, wenn irgendein Gärtner durchs Haus streunt.« »Natürlich.« Die Türen wurden verschlossen und die Lichter gelöscht. Als Lord Darcy den letzten Gashahn im Vorderzimmer schloß, blickte er noch einmal zu der Stelle vor dem Kamin hinüber, wo Lord Vauxhall gestorben war. »Obit surfeit vanitatis«, sagte er leise. Dann wurde es dunkel. Ende. -6 9 9
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Band 09 Der Napoli-Expreß
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Seine Königliche Hoheit Prinz Richard, Herzog der Normandie, saß im herzoglichen Palast zu Rouen auf seiner Bettkante. Gerade hatte er einen Stiefel ausgezogen und wollte eben mit dem zweiten das gleiche tun, als plötzlich an seiner Tür ein diskretes Klopfen zu vernehmen war. »Ja? Was ist?« Aus seiner Stimme waren sowohl Müdigkeit als auch Gereiztheit herauszuhören. »Sir Leonard, Euer Hoheit. Ich fürchte, es ist von Wichtigkeit.« Sir Leonard war der Privatsekretär des Herzogs und sein Faktotum. Wenn er sagte, daß irgend etwas wichtig sei, dann war es das auch mit Sicherheit. Dennoch... »Dann kommt herein, aber verdammt, Mann, es ist fünf Uhr morgens! Ich habe einen schweren Tag hinter mir und nicht geschlafen.« Sir Leonard wußte das alles schon, also ignorierte er es. Er trat durch die Tür und blieb stehen. »Unten ist ein Commander Dhuglas, Hoheit, mit einem Schreiben Seiner Majestät. Es trägt den Vermerk Sehr eilig.« »Oh. Na schön, dann zeigt es mir.« »Der Commander hat Weisung erhalten, es Euch nur höchstpersönlich auszuhändigen, Hoheit.« »Nichts als Arbeit«, knurrte Seine Hoheit ohne Gehässigkeit und zog seinen Stiefel wieder an. Als er unten in das Zimmer trat, wo ihn Commander Dhuglas erwartete, sah Prinz Richard nicht mehr müde und zerzaust aus. Er war jeder Zoll ein hochgewachsener blonder, attraktiver Plantage net, Mitglied einer stolzen Familie, die das AngloFranzösische Reich schon seit mehr als acht Jahrhunderten regierte. Commander Dhuglas, ein hagerer Mann mit ergrauendem Haar, verneigte sich beim Eintreten des Herzogs. »Euer Hoheit.« -7 0 2
»Guten Morgen, Commander. Wie ich höre, habt Ihr ein Schreiben von Seiner Majestät in Eurem Besitz?« »So ist es, Euer Hoheit.« Der Marineoffizier reichte ihm einen großen, mit einem verschnörkelten Siegel verschlossenen Umschlag. »Ich soll Eure Antwort abwarten, Euer Hoheit.« Seine Hoheit nahm den Brief entgegen und wies mit einer ausladenden Gebärde auf einen nahen Sessel. »Nehmt Platz, Commander, während ich nachsehe, worum es eigentlich geht.« Er setzte sich selbst in einen weiteren Sessel, brach das Siegel auf dem Umschlag und holte den Brief hervor. Der Briefkopf bestand aus einer Prägung des königlichen Wappens. Darunter standen die Worte:
Mein lieber Richard,
Es hat eine kleine Änderung des Plans gegeben.
Aufgrund unvorhergesehener Ereignisse hier bei uns
muß das Paket, das Ihr für den Export vorbereitet habt,
auf dem See- statt auf dem Landweg befördert werden.
Der Überbringer dieses Schreibens,
Commander Edwy Dhuglas, wird es zusammen
mit Eurem Kurier zu seiner Bestimmung an Bord des Schiffs
bringen, welches er befehligt, die Weißer Delphin.
Es ist das schnellste Schiff der Marine und wird
die Reise in recht guter Zeit hinter sich bringen.
Alles Gute,
Euer Euch liebender Bruder John
Prinz Richard starrte das Schreiben an. Das Paket, auf welches sich Seine Majestät bezog, war der frisch ausgehandelte und unterzeichnete Seevertrag zwischen Kyril, dem Kaiser zu -7 0 3
Konstantinopel, und König John. Wenn der Vertrag rechtzeitig nach Athen gebracht werden konnte, würde Kyril sofortige Maßnahmen ergreifen, die das Marmarameer für bestimmte polnische Handelsschiffe sperrte, die in Wirklichkeit getarnte leichte Kreuzer waren und von König Casimirs Marine in Odessa gebaut wurden. Wenn diese Schiffe nicht daran gehindert wurden, würde Casimir von Polen zum ersten Mal seit vierzig Jahren über Seestreitkräfte im Mittelmeer und im Atlantik verfügen. Das Abkommen mit den Skandinaviern Ende des Krieges von 1939 hatte die Polen daran gehindert, das Baltikum zu verlassen, doch das damalige Abkommen mit den Griechen besaß einige Schlupflöcher. Mit dem gegenwärtigen Abkommen wurden diese Löcher gestopft, doch würde Kyril erst dann die erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten, wenn er das unterzeichnete Exemplar in den Händen hielt. Im Augenblick befanden sich drei der getarnten Kreuzer im Schwarzen Meer. Hatten sie erst einmal die Dardanellen durchschifft, würde es zu spät sein. Man mußte sie noch im Marmarameer abfangen, und das bedeutete, daß der Vertragstext binnen weniger Tage in Athen eintreffen mußte. Es waren Pläne aufgestellt worden, Zeitpläne, die mathematisch genau berechnet worden waren, damit der Text mit aller gebotenen Eile ans Ziel gelangte. Und nun hatte Seine Majestät John IV, von Gottes Gnaden König von England, Irland, Schottland und Frankreich; Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation; Oberster Häuptling des Moqtessumid Klans; Sohn der Sonne; Graf von Anjou und Maine; Prinzdonator des Souveränen Ordens des heiligen Johannes zu Jerusalem; Souverän des Höchst Ehrwürdigen Ordens von der Tafelrunde, des Ordens vom Leoparden, des Ordens von der Lilie, des Ordens von den Drei Kronen und des Ordens vom heiligen Andreas; Herrscher und Beschützer der Westlichen Kontinente von Neuengland und Neufrankreich; Verteidiger des Glaubens, diese Pläne geändert. Dazu hatte er natürlich jedes Recht. Aber -7 0 4
. Prinz Richard sah auf seine Armbanduhr, dann musterte er Commander Dhuglas. »Ich fürchte, diese Nachricht meines Bruders des Königs kommt ein bißchen zu spät, Commander. Der Gegenstand, auf den er sich bezieht, müßte in fünf Minuten Paris mit dem Napoliexpreß verlassen.«
Die langen hellroten Waggons des Napoliexpreß schienen geradezu begierig darauf zu sein, sich in Bewegung zu setzen; fast schien es durch die beiden zehn Zoll breiten weißen Längsstreifen, als seien sie sogar bereits in Bewegung. Weit voraus auf dem Gleis, beinahe schon außerhalb des Bahnhofs Paris-Süd, stand dampfend und zischend die schwere Zugmaschine. Wie üblich war der Expreß beinahe voll beladen. Er fuhr die Strecke Paris-Napoli nur zweimal in der Woche, und me istens waren so viele Passagiere an Bord, wie er fassen konnte abgesehen von den Passagieren auf der Warteliste. Das Problem bei der Warteliste war, daß die Passagiere dann, wenn eine Reservierung in letzter Minute gestrichen wurde, der Reihe nach die angebotene Reiseklasse annehmen mußten, wenn sie sie nicht dem nächsten auf der Liste überlassen wollten. Die luxuriösesten Abteile des Napoliexpreß waren die acht Doppelabteile im letzten Waggon, dem Aussichtswagen, der vom Rest des Zuges durch den Speisewagen abgetrennt war. Alle sechzehn Plätze waren reserviert, doch drei der Reservierungen waren im letzten Augenblick widerrufen worden. Zwei davon wurden von Passagieren auf der Warteliste in Anspruch genommen, die sich etwas unwillig von der Differenz zu ihrem eigentlich eingeplanten Fahrpreis getrennt hatten. Der sechzehnte Platz blieb leer, weil ihn sich keiner der Wartenden finanziell erlauben konnte. -7 0 5
Die Passagiere strömten an Bord. Einer von ihnen, ein untersetzter und stämmiger, dunkelhaariger, gut gekleideter Ire mit einem symbolverzierten Reisesack in der einen Hand und einem Koffer in der anderen und mit Papieren, die ihn als Seamus Kilpadraeg, Meisterhexer, auswiesen, beobachtete die anderen, ohne daß es aufgefallen wäre. Der Passagier, der unmittelbar vor ihm in der Reihe stand, war ein breitschultriger Mann mit ergrautem Haar, der sich als Sir Stanley Galbraith vorstellte. Er stieg ein und blickte nicht zurück, als Master Seamus sich auswies, den Koffer abstellte, seinen Fahrschein abgab und den Passagierabschnitt wieder entgegennahm. Der Passagier hinter Master Seamus, der letzte in der Reihe, war ein großer, hagerer Herr mit braunem Haar und einem üppigen, buschigen braunen Bart. Master Seamus hatte ihn über den Bahnsteig auf den Zug zulaufen sehen. In einer Hand trug er einen Koffer und in der anderen einen Spazierstock mit Silberknauf. Er hinkte leicht. Der Hexer hörte, wie er dem Fahrkartenbeamten seinen Namen mit Edelmann John Peabody angab. Master Seamus wußte, daß das Hinken gespielt war und daß sich in dem Spazierstock ein Degen versteckte, doch sagte er nichts und blickte auch nicht zurück, als er den Koffer aufnahm, um in den Zug zu steigen. In dem kleinen Aufenthaltsraum am Ende des Waggons befanden sich bereits fünf oder sechs Passagie re. Die anderen waren wahrscheinlich in ihren Abteilen. Seiner Fahrkarte zufolge hatte man ihm das Abteil zwei zugewiesen, weiter vorne in Richtung Wagenanfang. Er ging darauf zu, den Koffer in der einen, den Reisesack in der anderen Hand und musterte noch einmal seine Fahrkarte: Nummer zwei, -7 0 6
oben. Das untere Bett war im Augenblick noch eine Tagessitzbank, und das obere war noch an die Wand geklappt und verriegelt. Doch unter dem unteren Bett befanden sich zwei Schließfächer, die mit oben und unten markiert waren. Im Schloß des oberen Fachs stak noch ein Schlüssel, während er beim unteren abgezogen worden war. Das konnte nur bedeuten, daß sein Kabinengefährte sein Gepäck bereits verstaut, abgeschlossen und den Schlüssel abgezogen hatte. Master Seamus legte sein Gepäck ebenfalls in das Fach und steckte den Schlüssel ein. Da er nichts Besseres vorhatte, begab er sich zurück in den Aufenthaltsraum. Der Mann mit dem buschigen Bart, der sich Peabody nannte, saß allein in einer Ecke und las den Pariser Standard. Der Hexer überflog ihn mit einem kurzen Blick, suchte sich selbst einen Sitzplatz und begutachtete mit lässigem Ausdruck die anderen Passagiere. Es schien ein bunter Haufen zu sein, manche groß, manche klein, manche in den mittleren Jahren, manche kaum über dreißig. Am jüngsten sah ein blonder, rosagesichtiger Bursche aus, der an der Bar stand, als warte er voller Ungeduld auf einen Drink, obgleich er doch wissen mußte, daß Alkohol erst eine ganze Weile nach Abfahrt des Zugs ausgeschenkt werden würde. Der Älteste schien ein weißhaariger Herr im Ornat eines Priesters zu sein. Er hatte einen kleinen weißen Schnurrbart und einen Kinnbart, mit glattrasierten Wangen. Er las still in seinem Brevier, eine Brille mit goldumrandeten Halbgläsern auf der Nase. Zwischen diesen beiden Extremen schien jedes Altersjahrzehnt vertreten zu sein. Es waren nur neun Menschen im Aufenthaltsraum, der Hexer eingeschlossen. Aus welchen Gründen auch immer blieben fünf weitere in ihren Abteilen. Der letzte Passagier hätte es beinahe nicht mehr geschafft. Er war ein dicklicher Mann - nicht wirklich fett, aber deutlich übergewichtig - , der schnaufend dazukam, als der Schaffner gerade die Abteiltür schließen wollte. Mit einer Hand umklammerte er den Griff seines Koffers, mit der anderen -7 0 7
seinen Hut. Sein sandfarbenes Haar war vom warmen Frühlingswind zerzaust worden. »Quinte«, keuchte er, »Jason Quinte.« Er gab seine Fahrkarte ab und erhielt seinen Passagierabschnitt. Der Schaffner sagte: »Freut mich, daß Ihr es noch geschafft habt, mein Herr. Das war's dann.« Und er schloß die Tür.
Zwei Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung. Nachdem sie fünf Minuten gefahren waren, kam ein Mann in einer schmucken rotblauen Uniform in den Waggon und bat alle, die sich in ihren Kabinen aufhielten, in den Aufenthaltsraum. »Der Waggonchef wird gleich kommen«, teilte er allen mit. Nach einer ganzen Weile erschien der Waggonchef. Er war ein Mann von mittlerer Größe mit einem streng aussehenden Schnauzer, und als er seinen Hut ablegte, offenbarte er eine gewaltige Glatze, die von schwarzem Haar umrahmt wurde. Seine rotblaue Uniform unterschied sich von der des anderen durch vier breite weiße Streifen an jedem Ärmel. »Gentlemen«, sagte er mit leichter Verbeugung, »ich bin Edmund Norton, Euer Waggonchef. Der Passagierdokumentation entnehme ich, daß Ihr nach Napoli durchfahrt. Der Fahrplan befindet sich auf kleinen gedruckten Kärtchen auf dem Inneren Eurer Abteiltüren, und außerdem hängt noch einer...«, er machte eine zeigende Geste, »... dort drüben hinter der Theke. Wir halten als erstes in Lyon, wo wir heute nachmittag um 12.15 Uhr ankommen und eine Stunde Aufenthalt haben werden. Der Bahnhof verfügt über ein ausgezeichnetes Restaurant, wo Ihr Euer Mittagessen einnehmen könnt. Marseille erreichen wir um 18.24 Uhr und fahren um 19.20 Uhr wieder weiter. Um neun Uhr abends wird im -7 0 8
Speisewagen eine leichte Abendmahlzeit serviert. Ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht werden wir die Grenze zwischen dem Herzogtum Provence und dem Herzogtum Ligurien überqueren. Dort hat der Zug zehn Minuten Aufenthalt, doch darum braucht Ihr Euch nicht zu kümmern, da dort niemand den Zug verlassen oder besteigen darf. Um 3.31 Uhr morgens erreichen wir Genua, wo wir um 4.30 Uhr wieder abfahren. Frühstück wird zwischen 8 und 9 Uhr serviert, und um 11.56 Uhr erreichen wir Rom. Rom verlassen wir um 13 Uhr, so daß Ihr eine Stunde Zeit für das Mittagessen habt. Um 15.26 Uhr treffen wir in Napoli ein. Die Gesamtreisedauer beträgt 34 Stunden und 14 Minuten. Heute morgen steht Euch der Speisewagen bereits um 6 Uhr zur Verfügung. Er befindet sich im nächsten Waggon Richtung Zuganfang. Edelmann Fred wird sich Eurer Bedürfnisse und Wünsche annehmen, doch dürft Ihr gerne jederzeit über mich verfügen.« Edelmann Fred machte eine knappe Verbeugung. »Ich muß daran erinnern, Gentlemen, daß das Rauchen in den Abteilen, im Gang und im Aufenthaltsraum nicht gestattet ist. Diejenigen von Euch, die zu rauchen wünschen, werden dies bitte auf der Aussichtsplattform am Heck des Wagens tun. Solltet Ihr irge ndwelche Fragen haben, werde ich sie jetzt mit Vergnügen beantworten.« Es gab keine Fragen. Der Waggonchef verneigte sich ein weiteres Mal. »Danke, Gentlemen. Ich hoffe, Ihr habt alle eine angenehme Reise.« Er setzte den Hut wieder auf, machte kehrt und ging. Im hinteren Teil des Speisewagens waren vier Tische für die Passagiere des Aussichtswagen reserviert. Meisterhexer Seamus Kilpadraeg betrat den Speisewagen früher als die anderen, und einer nach dem anderen nahmen drei weitere Passagiere an seinem Tisch Platz. Der hochgewachsene, stämmige Mann mit dem schütteren weißen Haar und dem weißen, kurz gestutzten Militärschnauzer stellte sich als erster vor. -7 0 9
»Martyn Boothroyd ist der Name. Sieht so aus, als würden wir ein Weilchen zusammen an Bord des Zugs sein, eh?« Er hatte seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Hexer gerichtet. »So sieht es wohl aus, Edelmann Martyn«, erwiderte der stämmige kleine irische Hexer freundlich. »Ich bin Seamus Kilpadraeg. Freut mich sehr, Euch kennenzulernen.« Der Mann mit dem kantigen Gesicht und der zwei Zoll langen Narbe auf der rechten Wange war Gavin Tailleur; der blonde Mann mit der großen Nase war Sidney Charpentier. Der Kellner kam, nahm die Bestellungen auf und verschwand wieder. Charpentier rieb mit dem Zeigefinger gegen seine imposante Nase. »Verzeiht mir, Edelmann Seamus«, sagte er mit tiefer, rumpelnder Stimme, »aber als Ihr an Bord kamt, habe ich da nicht den Reisesack eines Magiers bei Euch gesehen?« »Das habt Ihr, mein Herr«, antwortete der Hexer umgänglich. Charpentier grinste und zeigte seine kräftigen weißen Zähne. »Dachte ich mir's doch. Wanderhexer? Oder hätte ich Euch mit Master Seamus anreden sollen?« Der Ire erwiderte das Lächeln. »Master ist richtig, mein Herr. Sie sprachen recht laut, und die Passagiere an den anderen Tischen taten das gleiche, um sich im Schnaufen und Rattern des Napoliexpreß Gehör zu verschaffen, während der Zug südwärts gen Lyon fuhr. »Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Master Seamus«, sagte Charpentier. »Ich habe mich schon immer für das Gebiet der Magie interessiert. Manchmal wünschte ich, ich hätte mich ihm richtig gewidmet. Habe den Meistergrad allerdings nie geschafft. Mathe ist mir doch zu hoch.«
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»Ach, tatsächlich? Dann habt Ihr also auch etwas Talent?« fragte der Hexer. »Ein klein wenig. Ich habe eine Lizenz als Laienheiler.« Der Hexer nickte. Eine Laienheilerlizenz diente zur Verabreichung von Erster Hilfe oder zur Notfallmedizin oder auch zum Assistieren bei einem qualifizierten Heiler. Der grobgesichtige Tailleur klopfte mit dem rechten Zeigefinger auf die Narbe an seiner Wange und sagte mit ziemlich knarziger Stimme: »Das hier würde noch verdammt viel schlimmer aussehen, wenn der alte Sharpy hier nicht gewesen wäre.« Boothroyd sagte plötzlich: »Eine Frage wollte ich immer schon mal stellen - hoppla, da kommt ja das Frühstück!« Während der Kellner Teller mit warmen Speisen auf den Tisch stellte, fing Boothroyd erneut an: »Eine Frage, die ich schon immer mal stellen wollte: Mir ist aufgefallen, daß Heiler immer nur ihre Hände benutzen, während Hexer alle möglichen Gerätschaften verwenden - Stäbe, Amulette, Räuchergefäße, lauter solche Sachen eben. Warum eigentlich?« »Nun, mein Herr, zum einen, weil sie das Talent auf etwas andere Weise anwenden«, erwiderte der Hexer. »Ein Heiler unterstüzt einen Prozeß, der von Natur aus in die gewünschte Richtung läuft. Der Körper besitzt eine starke Neigung, gesund werden zu wollen. Außerdem will auch der Patient, daß er gesund wird, mit Ausnahme von extremen Abweichungen, deren sich der Heiler auf andere Weise annimmt.« »Mit anderen Worten«, sagte Charpentier, »der Heiler kann über die Kooperation von Körper und Geist des Patienten verfügen.« »Ganz genau«, stimmte der Hexer ihm bei. »Der Heiler schmiert sozusagen die Gleitkufen, wenn man es so ausdrucken l will.« -7 1 1
»Und wie unterscheidet sich das von der Arbeit des Hexer?« wollte Boothroyd wissen. »Nun, der Hexer arbeitet meistens mit unbelebter Materie. Da ist von Kooperation überhaupt nicht die Rede, wie Ihr wohl einsehen werdet, nicht wahr? Also muß er auch mit Werkzeugen arbeiten, die der Heiler überhaupt nicht braucht. Ich will es Euch mit einer Analogie veranschaulichen. Angenommen, Ihr habt zwei Freunde, von denen jeder rund zweihundert Pfund wiegt. Angenommen, die sind beide betrunken und möchten nach Hause gehen. Aber sie sind so betrunken, daß sie es allein nicht nach Hause schaffen. Ihr, der Ihr völlig nüchtern seid, könnt sie beide am Arm nehmen und zusammen nach Hause lotsen. Das mag ein bißchen mühsam sein, es kann sein, daß Ihr eine Menge Geschicklichkeit darauf verwenden müßt. Aber Ihr schafft es auch ohne fremde Hilfe, weil sie im großen und ganzen mit dabei helfen, denn sie wollen ja wirklich nach Hause. Aber angenommen, Ihr müßtet das gleiche Gewicht in Form von Sandsäcken befördern und Ihr wolltet, daß die auch zur selben Zeit an denselben Ort gelangen. Diese rund vierhundert Pfund Sand entbieten Euch keinerlei Kooperation, also müßt Ihr Euch eines Werkzeugs oder Hilfsmittels bedienen. Ihr habt eine ganze Menge Werkzeug, aber Ihr müßt das richtige auswählen, wenn Ihr die Arbeit erledigen wollt. In diesem Fall würdet Ihr also eine Schubkarre benutzen und keinen Schraubenzieher oder Hammer.« »Ach, ich verstehe«, sagte Boothroyd. »Dann würdet Ihr also sagen, daß die Arbeit eines Heiler leichter ist?” »Nicht leichter, nur anders. Manche Leute, die vierhundert Pfund Sand in einer Schubkarre in fünfzehn Minuten eine Meile weit schieben könnten, sind vielleicht nicht dazu in der Lage, zwei Betrunkene zu handhaben, ohne dabei körperliche Gewalt anzuwenden. Es ist eben alles eine Frage des Ansatzes, versteht Ihr?« -7 1 2
Master Seamus hatte beim Sprechen den Blick über die anderen Passagiere im hinteren Teil des Speisewagens schweifen lassen. Es waren nur vierzehn Männer beim Frühstück. Der grauhaarige Priester am Nachbartisch lauschte zwei reichlich geckenhaft aussehenden Männern, die ernst über Kirchenarchitektur sprachen. Die anderen konnte der Hexer nicht verstehen, weil der Lärm des fahrenden Zugs zu groß war. Es fehlte nur einer. Anscheinend hatte der Edelmann mit dem buschigen Bart, John Peabody, aufs Frühstück verzichtet. Das Sabaspiel begann früh. Ein imposanter Mann mit einer Habichtsnase und einem Vollbart, der völlig grau war, bis auf zwei dünne dunkelbraune Strähnen, die von den Mundwinkeln herabführten, kam zu Master Seamus herüber, der im Aufenthaltsraum saß. »Master Seamus, ich bin Gwiliam Hauser. Einige von uns wollen ein Spielchen wagen und dachten, daß Ihr uns vielleicht dabei Gesellschaft leisten möchtet.« »Ich danke Euc h für die Einladung, Edelmann Gwiliam«, erwiderte der Hexer, »aber ich fürchte, ich habe nicht viel von einem Glücksspieler an mir.« »Glücksspiel kann man das wohl kaum nennen, mein Herr. Nur ein Zwölftel pro Punkt. Nur ein kleines Freundschaftsspielchen, damit die Zeit schneller herumgeht.« »Nein, nein, nicht einmal ein Freundschaftsspielchen Saba. Aber ich danke Euch dennoch noch einmal.« Hausers Augen verengten sich. »Darf ich fragen, weshalb nicht?« »Aber gewiß, das dürft Ihr, mein Herr, und ich will es Euch auch verraten. Wenn ein Hexer sich auf ein Spiel Saba mit Leuten einläßt, die das Talent nicht haben, kann er immer nur verlieren.« »Und weshalb?« -7 1 3
»Weil, wenn er gewinnt, mein Herr, immer irgend jemand am Tisch ihn beschuldigen wird, sein Talent eingesetzt zu haben, um zu betrügen. Ihr solltet allerdings einmal ein Spiel Saba unter Hexern sehen, mein Herr! Das ist ein Schauspiel, auch wenn Ihr wahrscheinlich den größten Teil dessen, was dabei abläuft, wahrscheinlich nicht mitbekommen würdet.« Hausers Augenausdruck entspannte sich wieder, und irgendwo aus seinem schweren Bart ertönte ein Kichern. »Verstehe. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Boothroyd meinte, daß Ihr vielleicht mitspielen wollt, deshalb habe ich Euch gefragt. Ich werde ihm Eure Weisheit ausrichten.« Tatsächlich wäre es den meisten Leuten niemals eingefallen, einen Magier des Betrugs und schon gar nicht des Falschspielens zu zeihen. Doch jemand, der hoch verliert, wird, besonders wenn er etwas getrunken hat, gelegentlich Dinge sagen, die er später bereut. Hexer spielten nur selten mit nicht talentierten Menschen, wenn es nicht gerade sehr gute Freunde waren. Schließlich saßen Hauser, Boothroyd, Charpentier, der dickliche, beinahe zu spät gekommene Jason Quinte und einer der beiden Gecken - der große mit dem Bindfadenbärtchen auf der Oberlippe, der so aussah, als hätte man ihn mitsamt seinen Kleidern gebügelt - mit einem Blatt Karten und einer Runde Getränke an einem Ecktisch, und das Sabaspiel begann. Der Hexer beobachtete das Spiel eine Weile von seinem Sitzplatz am gegenüberliegenden Ende des Raumes aus, dann schlug er ein Exemplar des Journals der Königlichen thauma-turgischen Gesellschaft auf und begann darin zu lesen. Um Viertel nach acht beendete der irische Magier den Artikel über Die subjektive Algebra kinetischer Prozesse und legte das Journal nieder. Er war müde, da er nicht genug geschlafen hatte, und die wiegenden Bewegungen des Zugs machten es ihm schwer, die Augen auf die Druckzeilen gerichtet zu halten. Er schloß sie und massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. -7 1 4
»Entschuldigt mich, Master Seamus. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch Gesellschaft leiste?« Der Hexer öffnete die Augen und blickte auf. »Überhaupt nicht, nein. Bitte, nehmt Platz.« Der Mann hatte rotes Haar, eine Knollennase und schlaffe Gesichtshaut, die von den Knochen herabhing. Sein Lächeln war angenehm, und seine Augen sahen schläfrig aus. »Mein Name ist Zeisler, Master Seamus, Maurice Zeisler.« Er streckte die rechte Hand vor. In der Linken hielt er ein großes Glas mit Ouiskie und Wasser - wobei die Betonung deutlich auf dem Ouiskie zu liegen schien. Die beiden gaben einander die Hand, und Zeisler nahm links von dem Hexer Platz. Er zeigte auf den Tisch mit den Sabaspielern. »Verdammt dämliches Spiel, Saba. Muß man diese ganzen Karten behalten. Wenn man eine vergißt, einen Fehler macht - schon geht man mit mindestens einem Sovereign den Bach hinunter. Wenn man sie alle behält, das Glück auf der eigenen Seite hat und die anderen ausblufft, dann hat man vier Sovereigns Vorsprung. Ich habe nie Glück und verwechsle ständig die Karten. Vandepole kann das, immer. Also gebe ich ihnen lieber eine Runde aus und lasse sie allein spielen. Auf diese Weise verliere ich wesentlich weniger.« »Sehr weise«, murme lte der Hexer. »Darf ich Euch einen ausgeben?« »Nein danke, mein Herr. Ist ein bißchen früh für mich. Später vielleicht.« »Aber gewiß doch. Wird mir ein Vergnügen sein.« Er nahm einen ordentlichen Schluck aus seinem Glas und neigte sich dann vertrauensselig zu dem Hexer herüber. »Was ich aber wirklich gerne wüßte - schummelt Vandepole nun oder nicht? Das ist der elegant gekleidete Bursche mit dem
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Bindfadenbärtchen. Benutzt er das Talent, um die Verteilung der Karten zu beeinflussen?« Der Hexer würdigte den Sabatisch nicht eines Blickes. »Soll das heißen, mein Herr, daß Ihr mich in meiner Eigenschaft als Fachmann konsultieren wollt?« fragte er mit milder Stimme. Zeisler zuckte verunsichert mit den Augenlidern. »Na ja, ich...« »Denn wenn dem so sein sollte«, fuhr Master Seamus unerbittlich fort, »muß ich Euch darauf aufmerksam machen, daß die Meisterhonorare recht hoch sind. Ich würde Euch empfehlen, in einer solchen Sache einen Wanderhexer zu bemühen. Der wäre viel billiger als ich und würde Euch dieselbe Information geben.« »Oh. Hm. Na schön, danke. Das werde ich vielleicht tun. Danke.« Er nahm einen weiteren tiefen Zug. »Äh... etwas anderes: Kennt Ihr vielleicht einen Meisterhexer namens Sean O Lochlainn?« Der Hexer nickte bedächtig. »Ich bin ihm schon mal begegnet«, erwiderte er vorsichtig. »Ihr Glücklicher! Habe ihn selbst nie kennengelernt, aber eine Menge über ihn gehört. Ist ein Gerichtshexer, müßt Ihr wissen. Interessante Arbeit. Würde ihm gerne mal begegnen.« Während er mit dem Hexer sprach, schweifte sein Blick ab, und nun starrte er auf die französische Landschaft hinaus, die draußen an ihnen vorbeizog. »Dann interessiert Ihr Euch also für Magie?« fragte der Ire. Zeisler wandte ihm wieder den Blick zu. »Für Magie? O nein. Habe überhaupt kein Talent. Nein, mich interessiert die Verbrechensaufklärung, ja.« Er blinzelte und legte die Stirn in Falten, als versuchte er, sich an irgend etwas zu erinnern. Dann hellte sich sein Blick auf, und -7 1 6
er sagte: »Der Grund, weshalb ich Master Sean erwähne, ist der, daß ich den Mann kenne, für den er arbeitet, Lord Darcy, der Chefinspektor Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs der Normandie.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. Sein Atem roch kräftig nach Ouiskie. »Wart Ihr damals, vor ein paar Jahren, auf dem Kongreß der Heiler und Hexer in London? Als dieser Hexer namens Zwinge im Royal Steward Hotel ermordet wurde?« »Ja, da war ich«, antwortete der Hexer. »Ich kann mich noch gut daran erinnern. « »Kann ich mir vorstellen, ja. Na, ich gehörte damals zum Büro der Admiralität. Da habe ich Darcy kennengelernt.« Er zwinkerte feierlich mit einem Auge. »Habe ihm sogar geholfen, den Fall zu lösen, aber mehr darf ich darüber nicht sagen.« Sein Blick schweifte wieder aus dem Fenster. »Großartiger Detektiv. Absolutes Genie auf seinem Gebiet. Niemand konnte den Fall aufklären, aber er hat ihn fast im Handumdrehen gelöst. Absolutes Genie. Wünschte, ich hätte seinen Verstand.« Er leerte sein Glas. »Jawohl, mein Herr. Ich wünschte, ich hätte seinen Verstand.« Er musterte sein leeres Glas und erhob sich. »Zeit für eine neue Füllung. Wollt Ihr auch eine?« »Noch nicht. Später vielleicht.« »Bin gleich wieder da.« Zeisler steuerte die Bar an. Er kam nicht wieder. An der Theke kam er mit Fred ins Gespräch, der die Drinks mixte, und vergaß Master Seamus völlig, wofür der rundliche kleine irische Hexer äußerst dankbar war. Er bemerkte, daß John Peabody, der Mann mit dem vollen, buschigen Bart, am anderen Ende der langen Sitzbank saß und anscheinend noch immer in seiner Zeitung las, die seine Aufmerksamkeit derart zu fesseln schien, daß es der Gipfel schlechten Benehmens gewesen wäre, ihn anzusprechen. Doch der Hexer wußte, daß der Mann wenigstens -7 1 7
einen Teil seiner Aufmerksamkeit in Wirklichkeit auf den langen Gang gerichtet hielt, der vor ihnen an den Abteilen vorbeiführte. Master Seamus blickte wieder zu den Sabaspielern hinüber. Der geckenhaft gekleidete Mann mit dem Bindfadenbärtchen heimste gerade beachtliche Gewinne ein. Wenn Vandepole falsch spielte, dann tat er es zumindest ohne bewußte oder unbewußte Nutzung des Talents; das hätte der Hexer auf diese geringe Entfernung sonst mühelos feststellen können. Natürlich war es auch möglich, daß der Mann etwas hellseherisches Talent besaß, doch das war etwas, worüber die Wissenschaft der Magie bisher nur wenig Daten und überhaupt keine Theorie besaß. Eines Tages würde irgend jemand vielleicht das Problem der Zeitasymmetrie lösen, doch bislang war das nicht geschehen, und selbst die relativ neuen mathematischen Systeme der subjektiven Algebra boten keinerlei entsprechende Anhaltspunkte. Achselzuckend nahm der Hexer sein Journal wieder auf. Zum Teufel damit, schließlich ging es ihn ja nichts an.
»Lyon, Gentlemen!« hallte die Stimme des Edelmanns Fred durch den Aufenthaltsraum, das Getöse des Zugs erfolgreich übertönend. Noch fünfzehn Minuten bis Lyon! Die Bar schließt in fünf Minuten! Das Mittagessen wird im Bahnhofsrestaurant serviert, Abfahrt um Viertel nach eins! Es ist jetzt zwölf Uhr mittags!« Nun war Fred sich aller Aufmerksamkeit sicher, und er wiederholte sein Ansage. Es waren nicht alle im Aufenthaltsraum. Nachdem die Bar geschlossen wurde - Zeisler war es gelungen, innerhalb von fünf Minuten zwei weitere Drinks zu ordern - , schritt Fred nach vorn durch den Gang und klopfte an jede Abteiltür.
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»Noch zehn Minuten bis Lyon! Mittagessen im Bahnhofsrestaurant. Abfahrt nach Marseille um 13.15 Uhr.« Der stämmige kleine irische Hexer drehte sich auf seiner Sitzbank zur Seite, um durch das Zugfenster die Vororte von Lyon zu betrachten. Es war ein angenehmer Ort, dachte er. Das Rhonetal war berühmt für seinen Weinbau, doch nun wichen die Weinlauben immer dichter nebeneinander stehenden Hütten, und schließlich fuhr der Zug in die Stadt selbst ein. Die meisten Häuser waren alt, doch sauber und sehr gepflegt. Technisch gesehen gehörte die Grafschaft von Lyonnais zum Herzogtum Burgund, doch hielten ihre Bewohner sich nicht für Burgunder. Der Conte de Lyonnais stellte in ihren Augen eine weitaus größere Respektsperson dar als der Herzog von Burgund. Seine Gnade respektierte diese Empfindung und ließ My Lord Conte so viel freie Hand, wie es das Königliche Gesetz nur zuließ. Dem Aussehen der Landschaft zufolge schien My Lord Conte recht gute Arbeit zu leisten. »Verzeiht, Meisterhexer«, sagte eine sanfte, angenehme Stimme. Er wandte sich vom Fenster ab. Es war der ältere Mann in der priesterlichen Kleidung. »Was kann ich für Euch tun, Father?« »Gestattet mir, mich vorzustellen. Ich bin der Ehrwürdige Father Armand Brun. Ich habe bemerkt, daß Ihr hier allein sitzt, und wollte fragen, ob Ihr mir und einigen anderen Gentlemen vielleicht beim Mittagessen Gesellschaft leisten wollt?« »Master Seamus Kilpadraeg, zu Euren Diensten, Ehrwürden. Es wird mir ein Vergnügen sein, mit Euch zu Mittag zu essen. Anscheinend haben wir eine Stunde Zeit.« Die anderen Gentlemen standen neben der Bar und wurden von derselben ruhigen, glatten Stimme vorgestellt. Simon Lamar hatte schütteres dunkles Haar, durch das die Kopfhaut schimmerte, und ein längliches Gesicht mit Lippen, die eine
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schmale, dünne Linie bildeten. Seine Stimme klang flach, und er hatte einen leisen Yorkshire-Akzent, als er sagte: »Erfreut, Euch kennenzulernen, Master Seamus.« Arthur Mac Kays Akzent klang sowohl nach Oxford als auch nach Oxfordshire und war glatt und wohlmoduliert wie der eines Schauspielers. Er war der zweite geckenhaft gekleidete Mann seine Kleidung war makellos, als sei sie erst Sekunden zuvor gebügelt worden. Er besaß dichtes dunkles, leicht welliges Haar, leuchtendbraune Augen mit langen dunklen Wimpern und ein dazu passendes anmutiges Gesicht. Fast war er eine Spur zu hübsch. Valentine Herrick hatte flammendrotes Haar, ein äußerst zahniges Lächeln und einen Körper, der vor Kraft und Gesundheit nur so zu strotzen schien. Er schüttelte dem Hexer die Hand. »Kann's nicht mitansehen, wenn jemand allein essen muß, beim heil'gen Georg! Ohne Gesellschaft ist ein Essen einfach kein Essen, was?« »Nicht wirklich, nein«, stimmte der Hexer ihm zu. »Besonders in diesen Bahnhofsgaststätten«, meinte Lamar mit seiner ausdruckslosen Stimme. »Da hilft Gesellschaft, einen von dem faden Essen abzulenken.« Mac Kay lächelte wie ein Engel. »Ach, kommt! So schlimm ist es auch wieder nicht! Kommt nur mit, Ihr werdet schon sehen.« Das Herz von Lyon war ein recht bequem wirkendes Restaurant, knapp fünfzig Jahre alt, aber im Stil der Epoche des Königs Gwiliam IV gehalten, was ihm eine Atmosphäre der Stabilität vermittelte. Das Dekor spiegelte freilich eine leise Anspielung auf den Namen des Etablissements wider - der vermutlich aus eben diesem Grund gewählt worden war. Über der Tür stand, dreiviertellebensgroß, mit gespreizten Beinen, die Rechte auf den Knauf eines großen nackten Schwerts gelegt, dessen Spitze den Türbogen berührte, am linken Arm einen -7 2 0
Schild mit den Löwen von England als Emblem, die behelmte, mit einem Kettenpanzer gekleidete Gestalt von König Richard Löwenherz in mehrfarbigem Flachrelief. Auch das Innere des Restaurants war mit Rittern und Burgdamen der Zeit Richard I geschmückt. Das war durchaus passend. Wenngleich er die ersten zehn Jahre seiner Regentschaft mit dem edlen und heldenhaften, aber närrischen, teuren Dritten Kreuzzug verbracht hatte, war es ihm nach seiner beinahe tödlichen Verwundung während der Belagerung von Chaluz doch noch gelungen, ein wirklich guter Herrscher zu werden. Es gab Historiker, die behaupteten, daß heute ein Capet anstelle eines Plantagenets auf dem Thron des Anglo-Französischen Reichs sitzen würde, wenn Richard damals bei Chaluz gestorben wäre. Doch die Capets waren schon lange ausgestorben, wie auch der labile Seitenzweig der Plantagenets, die von dem exilierten Prinzen Johann, Richards jüngerem Bruder, abstammten. Richard und Arthur, sein Neffe, der ihm 1219 auf den Thron folgte, waren es gewesen, die die anglo-französische Nation in jenen schweren Zeiten zusammengehalten hatten, und es waren die Nachkommen Arthurs, die das Reich nun schon seit siebeneinhalb Jahrhunderten im Gleichgewicht hielten. Der alte Richard mochte seine Fehler gehabt haben, aber er war dennoch ein prachtvoller König gewesen. »Interessantes Motiv für eine Dekoration«, meinte Father Armand, als der Kellner die fünf Männer an einen Tisch führte. »Und sehr gut ausgeführt.« »Allerdings nicht stilecht«, kommentierte Lamar trocken. »Zu realistisch.« »Oh, das ist wohl wahr«, erwiderte Father Armand freundlich. »Überhaupt nicht im Stil des dreizehnten Jahrhunderts, nein.« Er nahm Platz, als der Kellner einen Stuhl für ihn zurückschob.
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»Das ist der mühsam detailgenaue Realismus des späten siebzehnten Jahrhunderts, was stilistisch wiederum sehr gut zum Rest des Interieurs paßt. Muß teuer gewesen sein. Es gibt heute nur noch wenige Künstler, die dergleichen Arbeit durchführen könnten oder wollten.« »Zugegeben, Father«, sagte Lamar. »Das Kunsthandwerk ist auch nicht mehr, was es mal war.« Father Armand zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren. »Nun schaut Euch doch mal dort oben Gwiliam den Marschall an - jedenfalls nehme ich an, daß er es ist; er trägt das Marschallsabzeichen auf seinem Überwurf. Ich wette, wenn Ihr auf einer Trittleiter hinaufsteigen und genauer nachsehen würdet, würdet Ihr sogar noch die winzigen Nieten in jedem Kettenglied seines Panzers erkennen.« Lamar hob einen Finger. »Und das ist auch nicht stilecht und der Epoche entsprechend.« Father Armand blickte ihn erstaunt an. »Nieten im Kettenpanzer sollen nicht dem dreizehnten Jahrhundert entsprechen? Aber mein Herr...« »Nein, nein«, unterbrach Lamar ihn. »Ich meinte den Überwurf mit dem Wappen. Derlei Abzeichen auf Panzerungen sind erst ungefähr ein Jahr hundert später eingeführt worden.« »Wißt Ihr«, sagte Arthur Mac Kay plötzlich, »ich habe mich schon immer gefragt, wie ich wohl in einem von diesen Dingern aussehen würde. Ziemlich imposant, wahrscheinlich.« Seine Schauspielerstimme stand in großem Kontrast zu Lamars flacher Aussprache. Valentine Herrick blickte ihn mit zahnigem Lächeln an. »He! Wäre das nicht großartig? Stellt Euch das mal vor! Mit einem solchen Breitschwert ins Schlachtgetümmel stürmen! Oder eine schöne Prinzessin retten! Oder einen Drachen töten! Oder einen böser Hexer!« Plötzlich brach er ab und errötete tatsächlich. »Oh, Verzeihung, Meisterhexer.« -7 2 2
»Das geht schon in Ordnung«, erwiderte Master Seamus milde. »Von mir aus könnt Ihr so viele böse Hexer niedermetzeln, wie Ihr wollt - solange Ihr bei Euer keine Fehler macht!« Das brachte alle zum Lachen, sogar Herrick selbst. Sie lasen die Speisekarte, wählten aus und bestellten ihr Essen. Das Essen, das, wie der Hexer fand, recht ordentlich war, kam sehr schnell. Father Armand sprach das Tischgebet, und danach wurde weiterhin belanglose Konversation betrieben. Lamar äußerte sich kaum zum Essen, doch der Wein war nicht nach seinem Geschmack. »Das ist ein '69er Delacey, knapp südlich von Givors angebaut. Kein schlechter Jahrgang für einen Rotwein, aber kein Vergleich zum '69er Monet aus einem wunderschönen kleinen Ort nur wenige Meilen südöstlich von Beaune.« Mac Kay hob sein Glas und schien sich mit ihm zu unterhalten. »Wißt Ihr, ich war schon immer der Meinung, daß der wahre Kenner eigentlich nur zu bedauern ist, weil er seinen Geschmack derartig verfeinert hat, daß er fast nichts mehr genießen kann. Ich glaube, das ist ein Corollarium von Acipensers Gesetz, vielleicht aber auch nur ein davon abgeleitetes Theorem.« Herrick sah ihn mit hellblauen Augen an. »Was? Keine Ahnung, wovon Ihr da redet, aber, beim heil'gen Georg, ich finde, der Wein ist verdammt gut!« Er unterstrich das Gesagte, indem er sein Glas mit einem Zug leerte und es aus der Karaffe aufs neue füllte. Als hätte er das Einschenken als Ruf verstanden, kam Maurice Zeisler nun prompt auf ihren Tisch zugeschritten. Er torkelte zwar nicht, doch sein Gehen und Sprechen wirkten derart beherrscht, daß es den Anschein hatte, als würde es ihm äußerste Konzentration abverlangen, beides richtig zu tun. Er -7 2 3
setzte sich nicht, sondern blieb stehen. »Hallo, Kameraden«, sagte er sehr bemüht, »habt Ihr schon gesehen, wer dort drüben in der Ecke sitzt?« Natürlich besaß der große Speisesaal vier Ecken, aber er zeigte leise mit einer Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. Es war der buschig bebärtete John Peabody, der allein am Tisch saß und aß, den Koffer neben seinem Stuhl auf dem Boden. »Was ist mit ihm?« fragte Lamar säuerlich. »Kennt Ihr ihn?« »Nein. Hat sich ziemlich abseits gehalten. Warum nur?« »Keine Ahnung. Kommt mir aber irgendwie bekannt vor. Als wenn ich ihn kenne. Kann ihn aber nicht richtig festnageln. Na ja.« Dann schlenderte er wieder davon, der Bar entgegen, von wo er auch gekommen war. »In diesem Zustand würde der nicht mal seine eigene Mutter wiedererkennen«, brummte Lamar. »Reicht mir doch mal bitte den Wein.«
Der Napoliexpreß überquerte die Rhone bei Lyon und fuhr in südwärtiger Richtung durch das Herzogtum Dauphine dem Flußtal folgend auf das Herzogtum Provence zu. In Avignon würde er sich dann in scharfem Winkel vom Fluß trennen, um nach Südosten in Richtung Marseille weiterzufahren, doch das würde nicht vor siebzehn Uhr geschehen. Der Napoliexpreß war kein richtiger Schnellzug, dafür war er zu lang und zu schwer. Doch machte er das wieder dadurch wett, daß er zwischen Paris und Napoli nur viermal stoppte. Genaugenommen waren es eigentlich fünf Male, wenn man die kurze Unterbrechung an der Grenze Provence-Ligurien mitzählte. Um die Alpenausläufer nicht überqueren zu müssen, fuhr der Zug nach Marseille, die Mittelmeerküste entlang, an Toulon, Cannes, Nizza und Monaco vorbei zur ligurischen Küste. Er fuhr eine Schlaufe um den Golf -7 2 4
von Genova bis zur Stadt Genova, um dann bis zum Tiber der Küste zu folgen, wo er eine kurze Ostbiegung fuhr, um den kleinen Abstecher nach Rom zu machen. Dort fuhr er über den Tiber, zurück in Richtung Meer, wobei er bis Napoli an der Küste blieb. Doch das würde erst morgen nachmittag sein. Bis dahin waren noch Hunderte von Meilen und zahlreiche Stunden zu überwinden. Master Seamus saß in einem der Sitze auf der Aussichtsplattform am Heck des Zugs und sah zu, wie das Rhonetal in der Ferne verschwand. Auf der halbkreisfömigen Aussichtsplattform standen vier Sitze, zwei zu jeder Seite der Tür, die in den Aufenthaltsraum führte. Die beiden auf der Steuerbordseite wurden von dem dicklichen Mann mit dem sandfarbenen Haar, der beinahe den Zug verpaßt hätte - Jason Quinte - sowie von dem blonden, rosagesichtigen jungen Mann eingenommen, dessen Namen der Hexer nic ht kannte. Beide rauchten Zigarren und sprachen mit Stimmen, die man im Rauschen des Windes und Rumpeln der Räder auf den Stahlgleisen zwar hören, aber nicht verstehen konnte. Master Seamus hatte sich in den äußeren der beiden freien Sitze gesetzt, und Father Armand, der tapfer versuchte, in den Windstößen, die ihn umsausten, seine Pfeife anzuzünden, hatte den anderen eingenommen. Als die Pfeife endlich richtig brannte, lehnte sich Father Armand zurück und entspannte sich. Die Tür glitt auf, und ein fünfter Mann trat heraus, mit dem Daumen Tabak in seine Pfeife, eine stummelige Briar, stopfend. Es war Sir Stanley Galbraith, der breitschultrige, muskulöse Mann mit dem ergrauten Haar, der vor dem Hexer den Zug bestiegen hatte. Er ignorierte die anderen und schritt zu dem hohen Geländer, das die Aussichtsplattform umgab, um in die Ferne hinauszublicken. Nachdem er die Pfeife zu seiner Zufriedenheit gestopft hatte, verstaute er seinen Tabaksbeutel und begann, seine Kleider nach etwas abzusuchen. Endlich
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drehte er sich mit gerunzelter Stirn um. Als er Father Armands Pfeife erblickte, glättete sich seine Stirn wieder. »Ah! Bitte um Verzeihung, Hochwürden, aber dürfte ich wohl mal kurz Euer Pfeifenfeuerzeug haben? Habe meins anscheinend im Abteil vergessen.« »Selbstverständlich.« Father Armand reichte ihm sein Feuerzeug, dessen sich Sir Stanley prompt bediente. Es gelang ihm in erstaunlich kurzer Zeit, seine Pfeife anzuzünden, dann gab er dem Priester das Gerät zurück. »Besten Dank. Mein Name ist übrigens Galbraith, Sir Stanley Galbraith.« »Father Armand Brun. Freut mich, Euch kennenzulernen, Sir Stanley. Das hier ist Meisterhexer Seamus Kilpadraeg.« »Sehr angenehm, Gentlemen, sehr angenehm.« Er zog kräftig an seiner Pfeife. »So! Jetzt wird sie weiterbrennen. Gut, daß es nicht regnet. Habe meine Schlechtwetterpfeife zu Hause gelassen.« »Wenn Ihr eine brauchen solltet, Sir Stanley, dann laßt es mich nur wissen.« Das war der dickliche Jason Quinte. Er und der rosagesichtige Jüngling hatten, als Sir Stanley erschienen war, aufgehört zu sprechen, um zu lauschen. Sir Stanleys Stimme war zwar nicht übermäßig laut, aber doch recht gut zu hören. »Ich habe zwei davon«, fuhr Quinte fort. »Die eine ist noch unbenutzt. Wird mir ein Vergnügen sein, sie Euch zu schenken, wenn Ihr sie haben wollt.« »Nein, nein. Vielen Dank, aber für die Strecke zwischen hier und Napoli ist kein schlechtes Wetter vorausgesagt worden.« Er blickte den Hexer an. »Das stimmt doch wohl, Master Seamus?«
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Der Hexer grinste. »So steht's im Bericht, Sir Stanley, aber ich selbst kann nicht viel dazu sagen. Wettermagie ist nicht mein Gebiet.« »Oh. Verzeihung. Ihr Burschen spezialisiert Euch wohl alle, wie? Was ist denn Eure Spezialität, wenn ich fragen darf?« »Ich lehre Justizhexerei.« »Ah, verstehe. Zweifellos ein interessantes Fach.« Er wandte seine Aufmerksamkeit einer Schwade Zigarrenrauch zu, die zu ihm herüberwehte. »Jamieson.« Der rosagesichtige Jüngling nahm die Zigarre aus dem Mund und machte ein wachsames Gesicht. »Sir Stanley?« »Was zum Teufel raucht Ihr da?« Jamieson blickte die Zigarre in seiner Hand an, als würde er sich fragen, woher das Ding stammte und wie es überhaupt hierhin gekommen war. »Eine Hashtpar, Sir.« »Persischer Tabak. Hab' ich mir gedacht.« Ein Lächeln überzog sein braungebranntes Gesicht. »Guter Perser ist sehr gut. Schlechter Perser - und das ist welcher - wird Euch wahrscheinlich die Lungen zum Faulen bringen, mein Junge. Diese Sorte dort wird mit irgendeiner Art Parfüm oder Weihrauch versetzt. Erinnert mich an ein Freudenhaus in Abadan.« Plötzlich setzte ein verlegenes Schweigen ein, als allen einfiel, daß ja ein Geistlicher anwesend war. »Schmeißt sie über Bord, Jaime«, sagte Quinte in etwas zu lautem Ton. »Hier, nehmt eine von meinen.« Jamieson musterte seine zu drei Vierteln aufgerauchte Zigarre und warf sie über das Geländer. »Nein danke, Jason. Ich war sowieso fertig damit. Dachte nur, ich könnte mal eine versuchen.« Er blickte mit ziemlich linkischem Grinsen zu Sir Stanley empor. »Sie waren recht teuer, Sir, da habe ich eben -7 2 7
eine gekauft. Nur um sie mal zu probieren, versteht Ihr? Aber Ihr habt recht - sie stinken wie das Innere eines... äh... daoistischen Tempels.« Sir Stanley lachte leise. »Manche der schlimmsten Angewohnheiten sind gleichzeitig auch die teuersten, mein Sohn. Aber das gilt auch für einige der besten.« »Was raucht Ihr denn, Sir Stanley?« fragte Father Armand ruhig. »Das hier? Eine Mischung aus Balik und Robertiner.« »Eine ähnliche Mischung bevorzuge auch ich. Ich finde, Balik ist der beste Türke. Ich rauche aber auc h zur Abwechslung noch eine andere Mischung: Balik und Coubaner.« Sir Stanley schüttelte bedächtig den Kopf. »Tabak aus dem Herzogtum Couba ist viel besser für Zigarren geeignet, Hochwürden. Das Herzogtum Robertia bringt den besseren Pfeifentabak hervor, meine ich. Aber ich will natürlich einräumen, daß das alles Geschmackssache ist.« »Couba habe ich nie gesehen«, warf Quinte ein, »aber dafür die Tabakfelder von Robertia. Weiß nicht, ob Ihr das Zeug mal habt wachsen sehen, Father?« Es war keine wirkliche Frage. »Erzählt mir davon«, erwiderte Father Armand. Robertia war ein Herzogtum an der Südküste des Nordkontinents der westlichen Hemisphäre, Neuengland, dessen Küste an den Golf von Mechicoe anrainte. Es war nach Robert II benannt worden, unter dessen Regentschaft es im frühen achtzehnten Jahrhundert gegründet worden war. »Es wächst ungefähr so hoch«, sagte Quinte und hielt die Hand etwa dreißig Zoll über den Boden der Plattform. »Große, breite Blätter. Ich weiß nicht, wie er gebeizt wird. Habe nur die Felder gesehen.« Möglicherweise wollte er noch etwas sagen, doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Aufenthaltsraum, und der -7 2 8
Waggonchef Edmund Norton trat heraus. Seine rotblaue Uniform leuchtete im Licht der Nachmittagssonne. »Schönen Nachmittag, Gentlemen«, sagte er lächelnd. »Hoffe, ich störe nicht?« »O nein«, erwiderte Sir Stanley, »überhaupt nicht. Haben nur ein wenig geplaudert.« »Ich hoffe, Gentlemen, daß Ihr die Reise bequem genug findet und genießt?« »Keinerlei Klagen, mein Herr. Eh, Father?« »O nein, überhaupt nicht, überhaupt nicht«, meinte Father Armand. »Bisher ist es eine höchst angenehme Reise. Ihr führt eine ausgezeichnete Bahn.« »Danke, Hochwürden.« Der Beamte räusperte sich. »Gentlemen, es ist Sitte, daß ich um diese Stunde alle meine besonderen Passagiere zu einem Drink einlade - ganz nach Ihrem Wunsch. Würdet Ihr mir Gesellschaft leisten?« Das war natürlich ein Angebot, das niemand ausschlagen konnte. Die fünf Passagiere folgten dem Waggonchef in den Aufenthaltsraum. »Eins muß man sagen«, murmelte Father Armand dem Hexer zu, »hier drin ist es auf jeden Fall ruhiger als draußen.« Der Waggonchef schritt ruhig zu dem Tisch hinüber, wo nach dem Mittagessen das Sabaspiel fortgesetzt worden war. Er hatte genau den richtigen Zeitpunkt getroffen. Vanderpole schaufelte mit einer Hand seinen Gewinn an sich, während er mit dem Zeigefinger der anderen über sein dünnes Bärtchen fuhr. Der Beamte sagte etwas, das der Hexer in dem Rumpeln des Zugs nicht verstehen konnte. Hier drin mochte es zwar leiser sein als draußen, aber keineswegs still. Dann schritt der Waggonchef Edmund zur Bar hinüber, wo Edelmann Fred wartete, drehte -7 2 9
sich zu den Passagieren um und sagte mit lauter Stimme: »Gentlemen, tretet vor und bestellt, wonach es Euer Herz begehrt. Fred, ich werde nachsehen und fragen, was die Herren am Sabatisch wünschen.« Wenige Minuten später saß der irische Hexer an der Theke und sah zu, wie der Schaum seines Biers durch das Schwanken des Waggons sanft im Glas hin und her geschaukelt wurde. Maurice Zeisler würde sich selbst verwünschen, dachte er. Der narbengesichtige Gavon Tailleur war zu seinem Abteil hinübergegangen, um ihm mitzuteilen, daß der Waggonchef eine Runde ausgab, doch er hatte ihn nicht aus seinem... äh... Schlaf reißen können. Master Seamus saß an einem Ende der Theke, nahe am Gang. Der Waggonchef kam zu ihm herüber und stellte sich ans Ende, nachdem er sich vergewissert hatte, daß jeder Passagier, der wollte, auch einen Drink bekommen hatte. »Ich nehme ein Bier, Fred«, sagte er zu dem Barkeeper. »Kommt sofort, Chef.« »Sehe, daß Ihr auch Biertrinker seid, Meisterhexer«, sagte Waggonchef Edmund, als Fred einen schäumenden "Krug vor ihn stellte. »Aye, Waggonchef, das bin ich. Wein ist ja gut zum Essen, und ein Brandy bei besonderen Gelegenheiten ist auch etwas Feines, aber wenn ich mal so nebenbei oder auch ernsthaft trinke, ziehe ich immer Bier vor.« »Wohl gesprochen. Mögt Ihr diese Marke hier?« »Sehr sogar«, erwiderte der Hexer. »Normannisch, nicht wahr?« »Ja. Im Herzogtum Normandie gibt es eine kleine Gegend, hoch oben im Hochland, wo die Orne, die Sarthe, die Eure, die Risle und die Mayenne ihren Ursprung haben. Dort gibt es das beste Wasser in ganz Frankreich. Es gibt auch gutes irisches Bier, und es gibt auch Leute, die englisches Bier bevorzugen, -7 3 0
aber ich finde das normannische Bier am besten, weshalb ich es auch immer für meinen Zug bestelle.« Master Seamus, der tatsächlich englisches Bier bevorzugte, wenngleich nur um ein weniges, sagte nur: »Es ist ein feines Getränk. Sehr fein, in der Tat.« Er hegte den Verdacht, daß die Präferenz des Waggonchefs möglicherweise auch eine Spur damit zu tun haben könnte, daß normannisches Bier in Paris billiger war als englisches. »Kommt Ihr gut mit Eurem Abteilgenossen zurecht?« fragte der Waggonchef. »Man hat mir noch nicht gesagt, wer mein Abteilgenosse ist«, erwiderte der Hexer. »Ach nein? Das tut mir aber leid. Es ist Father Armand Brun.« Um halb fünf an diesem Nachmittag döste Master Seamus Kilpadraeg auf der hinteren Sitzbank, in die Ecke gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und das Kinn beinahe auf das Brustbein gelegt. Da er nicht schnarchte, störte er niemanden. Father Armand war um Viertel nach drei in das Abteil Nummer zwei gegangen, und da er vermutete, daß der Gentleman müde war, hatte der Hexer beschlossen, ihm die Tagesliege zu überlassen. Zug und Sabaspiel fuhren immer noch fort. Jason Quinte war aus dem Spiel ausgeschieden, doch hatte der rothaarige Valentine Herrick seinen Platz eingenommen. Gavin Tailleur hatte Sidney Charpentier ersetzt, und nun saß Charpentier auf der vorderen Sitzbank und vergrub die Nase in ein Buch mit dem Titel Die Höllenmaschine, ein Abenteuerroman. Sir Stanley Galbraith und Arthur Mac Kay saßen mit einem Würfelbecher an der Theke und spielten um Drinks. Quinte und der junge Jamieson waren draußen auf der Aussichtsplattform und rauchten wieder Zigarren - diesmal vermutlich keine Hashtpars. -7 3 1
Zeisler schlief noch immer, und Lamar hatte sich anscheinend in sein eigenes Abteil zurückgezogen. In Avignon überquerte der Zug die Brücke, die über die Durance führte, und nahm, die Rhone hinter sich lassend, Kurs auf Marseille. Master Seamus wurde vom Klang der ausdruckslosen Stimme Simon Lamars geweckt, doch er öffnete weder die Augen, noch hob er den Kopf. »Sidney«, sagte Lamar zu Charpentier, »ich brauche Euer Talent als Heiler.« »Was ist denn los? Habt Ihr Kopfschmerzen?« »Ich meine nicht, daß ich es brauche, sondern Maurice. Er hat einen fürchterlichen Kater. Ich habe Fred um etwas Kaffee gebeten, aber ich hätte doch gerne Eure Hilfe. Er hat den ganzen Tag nichts gegessen und hat Kopfschmerzen.« »Na schön, dann komme ich mit. Wir müssen zusehen, daß wir in Marseille etwas zu essen in ihn hineinkriegen.« Er erhob sich und verschwand zusammen mit Lamar. Der Hexer döste wieder ein.
Als der Napoliexpreß an diesem Abend um vierundzwanzig Minuten nach sechs in Marseille einlief, hatte Master Seamus bereits entschieden, daß er nicht nur etwas zu essen nötig hatte, sondern zuvor auch etwas Bewegung. Er stieg aus dem Zug, schr itt durch den Bahnhof und trat auf die Straße hinaus. Ein forscher fünfzehnminütiger Spaziergang setzte seinen Kreislauf wieder in Gang und schärfte seinen Appetit. Die frische Luft des Herzogtums Provence, von der mediterranen Brise leicht gewürzt, war an sich bereits ein Appetitanreger. Das Restaurant Cannebiere - das sich nicht
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einmal in der Nähe der gleichnamigen Straße befand - war schon sehr voll, als er dort eintraf. Mit Entschuldigungen an beide Seiten setzte ihn der Kellner an einen Tisch mit einem Ehepaar in den mittleren Jahren namens Duprey. Da er seinen symbolverzierten Reisesack nicht mit sich trug, konnten sie nicht wissen, daß er ein Magier war, und er sah keine Veranlassung, sie darüber aufzuklären. Er bestellte die Spezialität des Hauses, die sich als köstlicher Weißfischtopf mit reichlichen Beigaben an Knoblauch herausstellte. Dazu gab es einen trockenen Weißen mit recht deutlichem Bukett. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, daß die Dupreys in Versailles ein kleines Lederwarengeschä ft besaßen. Sie hatten eifrig gespart, um sich die Reise nach Rom erlauben zu können, wo sie eine Woche verbringen würden. Das Geschäft würde solange von einem ihrer beiden Söhne geleitet, die übrigens beide mit charmanten Ehefrauen gesegnet waren, einer von ihnen hatte zwei Töchter, der andere einen Sohn und... Und so weiter. Der Hexer langweilte sich nicht. Er mochte Menschen, und die Dupreys waren ein sehr angenehmes Paar. Er brauchte nicht viel zu sagen, und sie stellten ihm auch keine Fragen. Zumindest nicht, bevor der Kaffee serviert wurde. Doch dann: »Sagt mir doch, Edelmann Seamus«, sagte der Mann, »weshalb müssen wir heute nacht eigentlich an der ligurischen Grenze haltmachen?« »Um die Frachtpapiere der Ladewaggons zu überprüfen, glaube ich«, erwiderte der Hexer. »Hat mit irgendeinem italienischen Einfuhrgesetz zu tun.« »Siehst du, John-Paul«, sagte die Frau, »es ist also genauso, wie ich es dir gesagt habe.«
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»Ja, schon, Martine, aber ich sehe das eigentlich nicht ein. Schließlich müssen wir an den Grenzen der Champagne, Burgunds, Dauphines oder der Provence ja auch nicht anhalten. Warum also in Ligurien?« Er wandte sich wieder dem Magier zu. »Sind wir nicht alle Teil ein und desselben Reichs?« »Nun, ja - und nein«, sagte Master Seamus nachdenklich. »Wie meint Ihr das, mein Herr?« fragte John-Paul, leicht verwirrt dreinblickend. »Nun, die Herzogtümer Italiens sind, wie die Herzogtümer Deutschlands übrigens auch, alle Teil des Heiligen Römischen Reichs, versteht Ihr, das im Jahre 862 nach Christus gegründet wurde, und König John IV ist der Kaiser. Aber sie sind eben nicht Teil dessen, was inoffiziell das Anglo-Französische Reich genannt wird, zu dem strenggenommen nur Frankreich, England, Schottland und Irland zählen.« »Aber wir haben doch alle denselben Kaiser, nicht wahr?« wandte Maurice ein. »Gewiß, aber Seine Majestät hat unterschiedliche Funktionen, müßt Ihr verstehen. Die italienischen Staaten haben ihr eigenes Parlament zu Rom, und ihre Gesetze unterscheiden sich in manchen Punkten von denen des Anglo-Französischen Reichs. Die Beschlüsse des Parlaments werden nicht unmittelbar vom Kaiser ratifiziert, sondern vom Kaiserlichen Vizekönig Prinz Roberte VII. Der Kaiser herrscht zwar in Italien, aber er regiert dort nicht, versteht Ihr?« »Ich... ich glaube ja«, sagte John-Paul zögernd. »Ist es mit den Deutschländern nicht das gleiche? Ich meine, die gehören doch auch zum Reich, nicht wahr?« »Es ist nicht ganz das gleiche. Die sind nicht so vereint wie die Herzogtümer Italiens. Manche ihrer Herrscher nennen sich Prinzen, und einige würden sich auch gerne den Titel König -7 3 4
zulegen, doch das ist durch das Konkordat von Magdeburg untersagt. Aber der Grundgedanke ist überall der gleiche, ja. Man könnte es so ausdrücken, daß wir alle verschiedene Staaten sind, aber mit denselben Zielen und unter demselben Kaiser. Wir alle wünschen uns individuelle Freiheit, Frieden, Wohlstand und ein glückliches Heim. Und der Kaiser stellt für uns das lebende Symbol all dieser Ziele dar.« Nach kurzer Pause sagte Martine: »Oh! Das ist aber sehr poetisch, Edelmann Seamus!« »Ich finde es trotzdem närrisch«, wandte John-Paul unbeirrt ein, »daß ein Zug an der Grenze zwischen zwei Reichsherzogtümern anhalten muß.« Master Seamus seufzte. »Dann solltet Ihr mal versuchen, die Polen zu besuche n - oder selbst die Magyaren«, sagte er. »Dort kann man bis zu zwei Stunden aufgehalten werden. Man braucht einen Paß. Der Zug wird durchsucht. Das Gepäck wird durchsucht. Möglicherweise werdet sogar Ihr selbst durchsucht. Und die Polen tun das sogar, wenn ihre eigenen Leute ihre eigenen Binnengrenzen überqueren.« »Also so was!« sagte Martine. »Da werde ich jedenfalls bestimmt nie hinreisen!« »Darüber brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen«, bemerkte John-Paul. »Möchtest du noch etwas Kaffee, meine Liebe?«
Master Seamus kehrte zum Zug zurück. Er fühlte sich sehr entspannt und war dankbar dafür, daß zwei ganz gewöhnliche Menschen ihn von seinen Sorgen abgelenkt hatten. Er sah sie nie wieder. -7 3 5
Um acht Uhr abends hatte der Napoliexpreß Marseille bereits fünfundzwanzig Meilen hinter sich gelassen und fuhr der ligurischen Grenze entgegen. Das Sabaspiel lief wieder auf Hochtouren, und Master Seamus hegte den Verdacht, daß einige der Unentwegten sich wahrscheinlich nie die Mühe gemacht hätten, etwas zu essen, wenn es da nicht das Reglement gegeben hätte, daß der Aufenthaltsraum während des Aufenthalts im Bahnhof geräumt werden mußte. Inzwischen wurden dem Meisterhexer die Augenlider wieder schwer. Da Father Armand in ein Gespräch mit zwei anderen Passagieren vertieft war, beschloß Master Seamus, daß er genausogut in sein Abteil gehen könne, um sich eine Runde auf der Tagesliege auszustrecken. Er schlief fast sofort ein. Die innere Uhr des Hexers verriet ihm, daß es zehn Minuten vor neun war, als es an der Tür klopfte. »Ja? Wer ist da?« »Fred, Sir. Zeit, das Bett zu machen, Sir.« Wach auf, es ist Schlafenszeit, dachte der Hexer grimmig, als er die Füße auf den Boden des Abteils stellte. »Aber gewiß doch, Fred. Kommt nur herein.« »Tut mir leid, aber ich muß die Betten machen, bevor ich um neun abgelöst werde, Sir. Der Nachtmann hat nämlich keinen Kabinenschlüssel, versteht Ihr?« »Sicher, ist schon in Ordnung. Habe ein kleines Nickerchen gemacht und fühle mich schon viel besser. Ich werde hinaus in den Aufenthaltsraum gehen und Euch Eurer Arbeit überlassen. Hier drin ist kaum Platz für uns beide.« »Das stimmt, Sir. Danke, Sir.« Hinter der Theke stand ein neuer Mann. Als der Hexer Platz nahm, stellte der Barkeeper das Glas ab, das er gerade polierte, und kam zu ihm herüber. »Darf ich Euch etwas bringen, Sir?« -7 3 6
»Das dürft Ihr sehr wohl, mein Junge. Ein Bier, wenn's genehm ist.« »Ein Bier. Jawohl, Sir.« Er nahm einen Halbliterkrug, füllte ihn und stellte ihn vor dem Hexer ab. Außer Master Seamus saß niemand an der Theke. Das Sabaspiel schien, wie die Sternbilder am Firmament, unverändert. Master Seamus spielte eine Weile mit der verrückten Idee, daß er in hundert Jahren die gleiche Reise machen würde und immer noch keine sonderliche Veränderung an diesem Sabaspiel feststellen würde. (Der junge Jamieson hatte Boothroyd abgelöst, aber Hauser, Tailleur, Herrick und Vandepole waren immer noch dabei.) Master Seamus trank mit langsamen Schlucken sein Bier und blickte sich im Aufenthaltsraum um. Sir Stanley Galbraith und Father Armand saßen auf der hinteren Sitzbank. Sie unterhielten sich nicht, sondern lasen Zeitung, die sie offensichtlich in Marseille erstanden hatten. Charpentier hatte Zeislers Kater anscheinend kuriert und ihn zum Essen bewegen können, denn die beiden saßen nun zusammen mit Boothroyd und Lamar an einen nahegelegenen Tisch und unterhielten sich leise. Zeisler trank Kaffee. Mac Kay, Quinte und Peabody waren nirgendwo zu sehen. Da kam Peabody mit seinem Spazierstock mit dem Silbergriff aus dem Gang gehinkt. Er bestellte einen Ouiskie mit Wasser und nahm ihn zur vorderen Sitzbank mit, wo er sich in seiner Rühr- mich- nicht-an-Haltung in die ebenfalls mitgebrachte Zeitung vertiefte. Der Hexer trank sein Bier aus und bestellte ein neues. Nach einigen Minuten kam Fred von seiner letzten Arbeit des Tages zurück und sagte zu dem Nachtschichtmann: »Jetzt gehört alles dir, Tonio. Übernimm du.« Worauf er auch prompt verschwand. -7 3 7
»Nein, nein, ich kann das schon holen, ich bin näher dran.« Das war Zeislers Stimme, die gerade noch laut genug sprach, daß der Hexer sie verstehen konnte. Sein Sitz stand der Theke am nächsten. Er erhob sich, die Kaffeetasse in der Hand, und brachte sie zur Bar hinüber. »Noch eine Tasse Kaffee, Tonio.« »Jawohl, Sir.« Zeisler lächelte und nickte Master Seamus zu, sagte jedoch nichts. Der Hexer erwiderte den Gruß. Und tat dann so, als würde er nicht bemerken, was Tonio machte: Der stellte die Tasse nämlich hinter der Theke ab, füllte ein gutes Maß Ouiskie hinein und goß dann aus der Karaffe, die auf einer kleinen Alkohollampe stand, mit Kaffee auf. Er tat es so, daß die Männer am Tisch unmöglich feststellen konnte, daß die Tasse auch noch etwas anderes außer Kaffee enthielt. Zeisler hatte ihm offensichtlich für diesen Taschenspielertrick ein recht gutes Trinkgeld gegeben, bevor Master Seamus eingetreten war. Der Hexer erlaubte sich innerlich ein trauriges Lachen. Boothroyd, Lamar und Charpentier glaubten, daß sie pflichtgetreu dafür sorgten, daß Zeisler nüchtern blieb, und doch kippte er sich vor ihren Augen einen nach dem anderen hinter die Binde. Na ja... Peabody legte die Zeitung nieder und ging, das Glas in der Hand, zur Theke hinüber. »Noch einen Ouiskie mit Wasser, bitte«, sagte er sehr leise. Er bekam das Gewünschte und kehrte zu seinem Platz und seiner Zeitung zurück. Tonio machte sich wieder daran, Gläser zu polieren. Master Seamus war schon eine ganze Weile mit seinem dritten Bier beschäftigt, als der Waggonchef erschien. Er schritt durch die Runde, nickte jedem zu, sprach mit allen, den Hexer eingeschlossen. Dann ging er weiter zur Aussichtsplattform, so daß Master Seamus schloß, daß sich Quinte und Mac Kay noch immer dort aufhielten. Waggonchef
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Edmund kehrte an die Theke zurück, nahm den Hut ab und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Fastglatze. »Warm, heute abend. Tonio, wie steht es mit Euren Vorräten?« »Für den Rest des Abends haben wir noch mehr als genug, Chef.« »Gut, gut. Aber ich habe gerade im Dienstraum nachgesehen, und es fehlen Handtücher. Diese Männer werden morgen früh baden wollen, und dafür fehlen uns einige. Lauft zur Vorratsabteilung und laßt Euch einen kompletten Satz aushändigen. Ich übernehme solange die Theke.« »Sofort, Chef.« Tonio eilte davon, ohne daß es jedoch so ausgesehen hätte. Der Waggonmeister setzte die Mütze nicht mehr auf und stellte sich hinter die Theke. Er polierte keine Gläser. »Noch ein Bier, Meisterhexer?« »Nein, danke, Waggonchef. Hab' mein Pensum für ein Weilchen. Schätze, ich werde mal meine Beine ein wenig strecken.« Er stieg von dem Barschemel und drehte sich zu der Aussichtsplattform um. »Wie steht es mit Euch, mein Herr?« rief der Waggonchef Peabody zu, der wenige Fuß entfernt auf der vorderen Sitzbank saß. Peabody nickte, erhob sich und brachte sein Glas herbei. Als Master Seamus an dem Tisch vorbeikam, an dem Zeisler und die anderen drei saßen, hörte er Zeisler sagen: »Wißt Ihr Burschen, wer dieser bärtige Kerl dort an der Theke ist? Ich weiß es nämlich!« »Morrie, würdet Ihr wohl die Klappe halten?« sagte Boothroyd kühl. Zeisler sagte nichts mehr.
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»Was ist denn da draußen los? Ein Kongreß?« fragte die Stimme des Kabinengenossen des Hexers aus der unteren Liege. Es war eine rhetorische Frage, weshalb der Meisterhexer sich auch nicht die Mühe machte, darauf zu antworten. Es ist nicht unbedingt die Lautstärke eines Geräusches oder auch nur sein unerwartetes Auftreten, was einen aufweckt. Es ist das unerwartete Geräusch, welches dies vollbringt. Und wenn ein Geräusch gar anfängt, interessant zu werden, fällt das erneute Einschlafen sehr schwer. Das Rumpeln und Donnern des Zugs, der sich auf Italien zubewegte, war sogar regelrecht einschläfernd, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Hätte es nur die anderen Geräusche übertönt, wäre alles in Ordnung gewesen. Doch das tat es nicht, es dämpfte sie lediglich ein bißchen. Der Hexer gehörte zu den letzten, die sich zur Ruhe begeben hatten. Außer ihm waren nur noch Boothroyd und Charpentier im Aufenthaltsraum gewesen, als er schließlich sein Abteil aufgesucht hatte. Die abgeschirmte Lampe war klein gestellt gewesen, und das leise Schnarchen aus der unteren Liege bewies ihm, daß sein Kabinengenosse bereits schlief. Er hatte sich fürs Bett zurechtgemacht und war hinaufgeklettert, nur um festzustellen, daß der andere seine Zeitung auf der Liege abgelegt hatte. Sie war so zusammengefaltet, daß einer der Artikel obenauf lag, doch im matten Licht konnte er nur die Worte erkennen: TRAUERGOTTESDIENST FÜR NICHOLAS JOURDAN FINDET IN NAPOLI STATT. Es war ein Nachruf. Er legte die Zeitung auf das nahe Bord und begann einzuschlafen. Dann hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde und sich Schritte den Gang entlang bewegten. Jemand, der auf die Toilette geht, dachte er schläfrig. Nein, denn die Schritte führten direkt an seinem eigenen Abteil vorbei zur Kabine eins.
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Er vernahm ein leises Klopfen. Verdammt spät, um noch Besuche zu machen, dachte er. Eigentlich war es ja gar nicht wirklich sehr spät - kurz nach zehn. Aber alle an Bord waren schon mindestens seit vier Uhr morgens auf, und manche sogar noch länger. Nun ja, das ging ihn nichts an. Aber dann waren auch noch andere Schritte zu hören, weiter den Gang entlang, und andere Türen, die sich öffneten und schlossen. Er versuchte zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Manchmal wurde es für ein oder zwei Minuten ruhig, dann ging es wieder los. Aus Kabine drei konnte er Stimmen hören, allerdings nur, weil er direkt neben der Trennwand lag. Es war nur das Geräusch selbst zu vernehmen, Worte konnte er nicht ausmachen. Da er ein neugieriger Mensch war, legte er ganz ungeniert das Ohr an die Wand, doch noch immer konnte er nichts verstehen. Er gab sich alle Mühe, um einzuschlafen, aber die störenden Zwischengeräusche ließen nicht nach. Schritte. Alle fünf Minuten oder so gingen sie nach Nummer eins oder kamen von dort zurück, und das waren natürlich die lautesten. Doch es waren auch noch andere zu hören, den Gang auf und den Gang ab. Er konnte wenig dagegen unternehmen. Er konnte es nicht einmal Lärm nennen, es war nur irritierend. So lag er da, döste kurz ein und wachte jedesmal wieder auf, sobald er etwas hörte, um erneut in jeder Ruhepause wegzudriften. Stunden schienen vergangen zu sein, als er entschied, doch endlich etwas zu unternehmen. Er konnte wenigstens aufstehen und nachsehen, was los war. Das war der Augenblick, da sein Kabinengenosse fragte: »Was ist denn da draußen los? Ein Kongreß?« Der Hexer erwiderte nichts, kletterte statt dessen die kurze Leiter hinunter und griff nach seinem Hausmantel. -7 4 1
»Ich spüre den Ruf der Natur«, sagte er abrupt. Dann ging er hinaus. Es war niemand im Gang. Langsam schritt er zur Toilette. Niemand erschien. Niemand steckte den Kopf aus irgendeiner Tür. Niemand öffnete die Tür auch nur um einen Spalt, um hinauszuspähen. Nichts. Auf der Toilette nahm er sich Zeit. Fünf Minuten. Zehn. Er ging zu seinem Abteil zurück. Seine Pantoffeln waren auf dem Boden kaum zu hören, und er hatte sorgfältig darauf geachtet, keinerlei Lärm zu machen. Sie konnten ihn nicht gehört haben. Er berichtete seinem Kabinengefährten, was er festgestellt hatte. »Na ja, was immer die auch gemacht haben mögen«, sagte der andere, »ich bin jetzt jedenfalls völlig wach. Ich glaube, ich rauche noch eine Pfeife, bevor ich mich wieder hinlege. Habt Ihr Lust, mir Gesellschaft zu leisten?« Als sie in den Aufenthaltsraum kamen, saß Tonio auf einem Hocker hinter der Theke. Er hob den Blick. »Guten Abend, Father. Guten Abend, Meisterhexer. Kann ich Euch helfen?« »Nein, wir möchten nur noch eine rauchen«, erwiderte der Hexer. »Schätze, Ihr habt einen ziemlich beschäftigten Abend gehabt, eh?« »Ich? O nein, Sir. Seit eineinhalb Stunden ist niemand mehr hier drin gewesen.« Die beiden Männer traten auf die Aussichtsplattform hinaus. Wenige Minuten später wurde ihr Gespräch von Tonio unterbrochen, der die Tür aufschob und fragte: »Seid Ihr sicher, daß ich nichts mehr für Euch tun kann, Gentlemen? Ich muß noch nach vorne in den Vorratswagen, um einige Sachen für morgen zu holen, aber ich möchte nicht, daß es Euch an irgend etwas fehlt.« »Nein, danke. Das genügt schon. Sobald der Father seine Pfeife zu Ende geraucht hat, gehen wir wieder ins Bett.« -7 4 2
Zwanzig Minuten später taten sie genau dies und schliefen sofort ein. Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht. Um 0.15 Uhr kehrte Tonio mit seiner ersten Ladung zurück. Tagsüber, wenn die Passagiere auf waren, war es gestattet, einen Handkarren für den Transport durch die langen Gänge des Zugs zu benutzen. Doch ein plötzlicher Ruck hätte den Karren leicht umwerfen und durch den dadurch entstehenden Lärm die Passagiere aufwecken können. Und außerdem gab es nachts viel weniger zu transportieren. Vorsichtig verstaute er die Sachen in den Schränken hinter der Theke und kehrte danach auf die Aussichtsplattform zurück, um nachzusehen, ob seine beiden Gentlemen noch dort waren. Das war nicht der Fall. Gut. Dann schliefen also alle. Wird auch Zeit, dachte er, als er wieder nach vorne durch den Zug ging, um die zweite und letzte Fuhre zu holen, Die Herren hatten sich ja wirklich ganz hübsch amüsiert, ständig von einem Abteil ins andere zu gehen. Obwohl sie natürlich nicht sehr laut gewesen waren. Tonio Bracelli war von Natur kein sonderlich neugieriger junger Mann, und wenn seine Gentlemen und Ladys ihm während der Nachtfahrt keine Probleme bereiteten, war er es durchaus zufrieden, sie ungestört gewähren zu lassen. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, und dreißig Minuten später lief er sanft in der Kontrollstation an der ligurischen Grenze ein. Der Halt war eigentlich nur eine Formsache. Die ligurischen Beamten mußten die Frachtpapiere des Rollguts in den vorderen Waggons überprüfen, aber es fanden keine Durchsuchungen oder gar Überprüfungen der Fracht selbst statt. Es war alles eher eine Frage der Buchhaltung. Tonio stellte zusammen, was er für den zweiten Gang zurück zur Theke benötigte, und unterhielt sich dann noch etwas mit dem Vorratswart, während der Zug hielt. Die Lokomotive bremste durchaus weich, doch der Start war immer etwas holprig, und Tonio verspürte keine Lust, gerade dann davon erwischt zu werden, wenn er vollbeladen durch den Gang ging. -7 4 3
Er wollte erst abwarten, bis der Zug an Geschwindigkeit gewonnen hatte. Um 0.50 Uhr traf er wieder im letzten Wagen ein, brachte seine Vorräte zur Bar und verstaute sie ebenso, wie er es beim ersten Mal getan hatte. Dann machte er sich daran, seine letzte Pflicht vor Anbruch des Morgens zu erfüllen: das Bad zu reinigen. Das war eine heikle Aufgabe. Nicht etwa, weil es eine schwere oder gar unangenehme Arbeit gewesen wären, sondern weil man dabei so höllisch leise sein mußte! Der Mann von der Tagschicht konnte dabei soviel herumpoltern, wie er wollte, doch wenn das während der Nachtschicht vorkam, könnte es sein, daß sich die edlen Herren in den Abteilen vier und fünf, neben dem Bad, darüber beschwerten. Er schritt zu dem Abteil mit den Putzutensilien unmittelbar vor Nummer eins, holte das Benötigte, kehrte zum Bad zurück und machte sich ans Werk. Als er fertig war, warf er noch einen letzten Blick um sich, um sicherzugehen, daß auch wirklich alles in Ordnung war. Alles sah aus, als sei es in bester Ordnung. Bis die allerletzte Überprüfung an der Reihe war. Er blickte zu Boden. Merkwürdig. Was waren denn das für rote Flecken? Er hatte gerade den Boden geputzt. Natürlich war der noch immer feucht, aber... Er trat beiseite und blickte wieder hinab. Die Flecken stammten von seinem rechten Stiefel. Er setzte sich auf den Abort und hob den rechten Fuß, um die Schuhsohle zu begutachten. Rote Flecken, die inzwischen schon fast verschwunden waren. Wo zum Teufel kamen die denn her?
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Wenngleich er nicht sehr neugierig war, war Tonio Bracelli doch immerhin sehr gewissenhaft. Nachdem er sich die Flecken vom Stiefel gewischt und sich davon überzeugt hatte, daß sich an dem anderen nicht auch noch welche befanden, wischte er den Boden sauber und ging hinaus, um die Ursache dieser Flecken aufzuspüren. Das Stichwort spüren traf den Nagel auf den Kopf: Im ganzen Gang hatte er auf dem braunen Boden Fußabdrücke des dunklen Zeugs, was immer es sein mochte, hinterlassen. Die dunkleren Spuren führten in Richtung Zuganfang, und er ging ihnen nach. Als er die Ursache endlich aufgespürt hatte, geriet er aus der Fassung. Unter der Tür der Kabine eins war eine große Pfütze hervorgesickert, die offensichtlich aus Blut bestand.
Der irische Hexer wurde durch ein Hämmern aus dem Schlaf gerissen, das beinahe wie eine Ohrfeige wirkte, und durch eine Stimme, die brüllte: »Sir! Sir! Öffnet die Tür! Sir! Seid Ihr in Ordnung, Sir?« Binnen zwei Sekunden waren beide Insassen des Abteils Nummer zwei auf den Beinen und standen an der Tür. Doch es war nicht ihre Tür, gegen die geklopft wurde, sondern die Tür zu ihrer Rechten - die der Kabine Nummer eins. Die beiden Männer griffen nach ihren Morgenmänteln und traten hinaus in den Gang. Tonio hämmerte mit den Fäusten auf die Abteiltür von Nummer eins ein und schrie - kreischte fast - aus Leibeskräften. Entlang des Gangs gingen weitere Abteiltüren auf. Ein Arm wurde vorgestreckt, und eine Hand packte Tonio an der Schulter. »Na, na, na, beruhigt Euch, mein Sohn! Was ist denn los?« Tonio keuchte plötzlich auf und blickte den Mann an, der ihm so fest die Hand auf die Schulter gelegt hatte. -7 4 5
»O Father! Schaut doch nur! Schaut Euch das mal an!« Er wich einen Schritt zurück und zeigte auf das Blut zu seinen Füßen. »Er gibt keine Antwort! Was soll ich tun, Father?« »Als erstes müßt Ihr den Waggonchef holen, mein Sohn. Ihr habt keinen Schlüssel zu dieser Tür, oder? Nein. Dann holt sofort den Waggonchef Edmund. Aber paßt auf - kein Lärm, kein Geschrei! Beunruhigt die Passagiere in den anderen Wagen nicht! Das hier geht nur den Waggonchef an. Habt Ihr mich verstanden?« »Jawohl, Father. Natürlich.« Seine Stimme klang schon viel ruhiger. »Schön. Dann lauft los, aber schnell!« Erst dann ließ die kräftige Hand den jungen Mann los. Tonio lief davon - schnell, aber offensichtlich inzwischen wieder Herr seiner selbst. »Und nun, Master Seamus, Sir Stanley, sollten wir darauf achten, daß hier kein unnötiger Menschenauflauf entsteht.« Sir Stanley, der nur eine halbe Sekunde nach dem Hexer und seinem Begleiter aus dem Abteil Nummer acht hervorgeschossen gekommen war, machte kehrt, um den Gang zu blockieren. Seine Stimme schien den ganzen Waggon auszufüllen: »Also schön jetzt, alles zurück! Ab, zurück in Eure Quartiere, Leute! Bewegung!« Eine halbe Minute später war der Gang bis auf die drei Männer leer. Dann fragte Sir Stanley: »Was ist hier vorgefallen, Father?« »Das weiß ich ebensowenig wie Ihr, Sir Stanley. Wir müssen auf den Waggonchef warten.« »Ich meine, wir sollten...« Doch was immer Sir Stanley meinen mochte, es wurde endgültig abgeschnitten durch das Auftauchen von Waggonchef Edmund, der aus dem vorne gelegenen Speisewagen
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herbeigelaufen kam, dicht gefolgt von Tonio, und fast dieselbe Frage stellte: »Was ist hier passiert?« Der Magier trat vor. »Das wissen wir nicht, Waggonchef, aber das hier sieht nach Blut aus, so daß ich vorschlage, daß Ihr dieses Abteil aufschließt.« »Natürlich, natürlich.« Der Waggonchef öffnete mit seinem Schlüssel das Schloß von Kabine Nummer eins. Auf der unteren Liege lag Edelmann John Peabody mit zertrümmertem Schädel, der über die Liegenkante herabhing, der Scheitel eine einzige Masse aus geronnenem Blut. Er war ganz offensichtlich tot. »Ich würde an Eurer Stelle nicht dort hineingehen, Waggonchef«, sagte der Hexer und blockierte Waggonchef Edmund mit ausgestrecktem Arm den Weg, als dieser gerade ins Abteil treten wollte. »Was? In meinem eigenen Zug? Warum nicht?« Er klang ziemlich verärgert. »Bitte um Verzeihung, Waggonchef, aber habt Ihr in Eurem Zug schon mal einen Mord gehabt?« »Nein, aber...« »Habt Ihr schon einmal mit Ermittlungen in Sachen Mord zu tun gehabt?« »Nein, aber...« »Nun, dann bitte ich nochmals um Verzeihung, Waggonchef, aber ich habe damit durchaus zu tun gehabt. Ich bin ein ausgebildeter Justizhexer. Es würde den Ermittlungsbeamten überhaupt nicht gefallen, wenn wir jetzt dort hineinstapfen und alle möglichen Spuren zerstören. Befindet sich ein Chirurg an Bord?« »Ja, der Zugchirurg, Dr. Vonner. Aber woher wollt Ihr wissen, daß es sich um Mord handelt?« -7 4 7
»Selbstmord ist es nicht«, sagte der Hexer. »Sein Kopf ist mehrfach mit diesem schweren Spazierstock mit dem Silberknauf eingeschlagen worden, der dort auf dem Boden liegt. Auf solche Weise bringt sich kein Mensch um, und ein Unfall kann es auch nicht gewesen sein. Schickt Tonio nach dem Chirurgen.« Dr. Vonner hatte, wie sich herausstellte, schon etwas Erfahrung mit Kriminalfällen, deshalb wußte er, was er zu tun hatte, und - was noch viel wichtiger war - was er nicht tun durfte. Nach der Untersuchung verkündete er, daß Peabody tot sei, und zwar wahrscheinlich seit mindestens einer Stunde. Danach sagte er, daß er, falls man ihn nicht mehr brauche, wieder zu Bett gehen wollte, worauf der Waggonchef ihn entließ. »Es dauert noch fast zwei Stunden, bis wir in Genova eintreffen«, sagte der Hexer. »Vorher können wir die Behörden nicht benachrichtigen. Aber das ist nicht weiter schlimm. Solange der Zug schnell fährt, kann niemand ihn verlassen, und ich kann einen Konservierungszauber über den Körper und einen Vermeidungszauber über das Abteil verhängen.« Eine Stimme hinter dem Hexer sagte: »Sollte ich dem armen Kerl nicht wenigstens die letzten Sakramente der Heiligen Mutter Kirche spenden?« Der Ire drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Nein, Father. Er ist schon mausetot, und das kann warten. Wenn bei diesem Mord irgendwelche Schwarze Magie im Spiel gewesen sein sollte, würde Eure Arbeit jede Spur davon verwischen und möglicherweise wertvolle Indizien beseitigen.« »Ich verstehe. Also gut. Soll ich Euch Euren Reisesack bringen?« »Wenn Ihr so gut wärt, Ehrwürdiger Father.« -7 4 8
Der Reisesack wurde herbeigeschafft, und der Hexer machte sich ans Werk. Der Konservierungszauber, für den der Hexer einen nachtschwarzen Stab benutzte, war schnell verhängt; nun würde der Leichnam bis zur Beendigung der amtlichen Untersuchung in Stasis verharren. Der Hexer notierte sorgfältig die Uhrzeit und führte dazu auch einen Uhrenvergleich mit dem Waggonchef durch. Der Vermeidungszauber war etwas komplizierter und verlangte nach dem Gebrauch eines Weihrauchbrenners und zweier Stäbe, doch als er beendet war, war der Raum so abgesichert, daß niemand ihn freiwillig betreten oder auch nur hineinschauen würde. »Ihr solltet die Abteiltür besser wieder abschließen, Waggonchef«, sagte der irische Hexer. Er sah auf den Boden. »Was diesen Fleck angeht, so ist Tonio schon hineingetreten, aber wir sollten lieber dafür sorgen, daß andere das nicht auch noch tun. Würdet Ihr so gut sein, den anderen zu sagen, daß sie sich von dieser Stelle fernhalten sollen, bis wir in Genova eingetroffen sind, Sir Stanley?« »Selbstverständlich, Meisterhexer.« »Danke schön. Ich werde jetzt meinen Reisesack wieder zurückbringen.« Der Hexer setzte seinen symbolverzierten Reisesack auf dem Boden ab, während sein Abteilgefährte hinter sich die Tür schloß.
»Also, das nenne ich in der Rolle bleiben, My Lord«, sagte Sean O Lochlainn, Oberster Gerichtshexer Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs der Normandie. »Wie? Ach so, Ihr meint wohl mein Angebot, die letzten Sakramente zu spenden?« Lord Darcy, Chefinspektor des Herzogs, lächelte. -7 4 9
»Das hätte jeder richtige Geistliche getan, und ich wußte doch, daß Ihr mir schon aus der Klemme helfen würdet.« Wenn er seine Rolle nicht mehr spielte, sah er trotz des tarnenden weißen Haars und seines Barts plötzlich viel jünger aus. »Na ja, ich habe getan, was ich konnte, My Lord. Nun können wir wohl nichts anderes tun, als abzuwarten, bis wir in Genova einlaufen, damit die italienischen Behörden die Sache klären.« Seine Lordschaft furchte die Stirn. »Ich fürchte, wir werden etwas mehr tun müssen, als abzuwarten, mein lieber Sean. Die Zeit ist kostbar. Wir müssen dieses Seeabkommen unbedingt rechtzeitig nach Athen bringen. Das bedeutet, daß wir heute abend bis zehn Uhr in Brindisi sein müssen. Was wiederum heißt, daß wir den Nahverkehrszug von Napoli nach Brindisi unbedingt bekommen müssen, und der fährt eine Viertelstunde später ab, nachdem der Napoliexpreß in den Bahnhof einläuft. Ich weiß zwar nicht, was die Behörden in Genova unternehmen werden, aber wenn man uns dort nicht aufhält, wird man es mit Sicherheit in Rom tun. Sie werden den Wagen abhängen und uns alle in Gewahrsam nehmen, bis sie den Fall tatsächlich gelöst haben. Selbst wenn wir uns an die richtigen Stellen wenden und nachweisen, wer wir in Wirklichkeit sind und in welcher Sache wir unterwegs sind, wird das trotzdem so viel Zeit verschlingen, daß wir den Zug verpassen.« Nun blickte Master Sean besorgt drein. »Und was wollen wir tun, wenn wir den Fall bis dahin nicht gelöst bekommen, was immer wir auch versuchen mögen?« Lord Darcy machte eine ausdruckslose Miene. »In diesem Fall bin ich gezwungen, Euch zu verlassen. Dann würde Father Armand Brun plötzlich verschwinden, sich den römischen Wachmännern entziehen und zu einem Flüchtigen werden - den man zweifellos des Mordes an einem gewissen -7 5 0
John Peabody zeihen wird. Ich müßte auf dem Untergrundwege nach Brindisi, was extrem schwierig wäre, weil die Italiener bei der Aufdeckung solcher Aktivitäten äußerst gewitzt sind.« »Ich würde schon bei euch bleiben, My Lord«, sagte Master Sean entschieden. Lord Darcy schüttelte den Kopf. »Nein. Was für einen schon schwierig wäre, wäre für zwei geradezu unmöglich, vor allem wenn bekannt würde, daß sie gemeinsam geflohen sind. Master Seamus Kilpadraeg ist ein echter Hexer mit echten Papieren des Herzogs der Normandie und schlußendlich des Königs selbst. Der Father Armand dagegen ist eine völlige Fälschung. Ihr könnt es durchstehen, ich nicht. Es sei denn, natürlich, daß ich unsere ganze Mission torpedieren würde.« »Dann, My Lord, müssen wir den Fall lösen«, erwiderte der Magier schlicht. »Womit fangen wir an?« Seine Lordschaft lächelte, seufzte und setzte sich auf die Kante des unteren Kabinenbetts. »So gefällt mir das schon besser, mein guter Sean. Wir fangen bei der Frage an, was wir alles über Peabody wissen. Wann habt Ihr ihn zum ersten Mal bemerkt?« »Als ich den Zug bestieg, My Lord. Ich sah den Spazierstock, den er bei sich hatte. Ein gewöhnlicher Spazierstock besitzt etwa zwei Zoll unterhalb des Knaufs einen dekorativen Silberring. Der Ring auf seinem Stock befand sich gute vier Zoll unterhalb des Knaufs, also die perfekte Länge für einen Degengriff. Direkt oberhalb des Rings befindet sich ein unauffälliger schwarzer Knopf, den man mit dem Daumen drückt, um den Griff von der Scheide zu lösen.« Lord Darcy nickte schweigend. Auch ihm war die Waffe aufgefallen. »Dann war da noch sein Hinken«, fuhr Master Sean fort.
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»Ein Mann, der wirklich hinkt, hinkt auch die ganze Zeit auf dieselbe Weise. Er übertreibt es nicht, während er langsam geht, um es dann fast völlig zu verlieren, wenn er es plötzlich sehr eilig hat.« »Aha! Das ist mir gar nicht aufgefallen!« gestand Seine Lordschaft. »Es ist schwierig, das Hinken eines Menschen zu beurteilen, wenn er sich in einem schaukelnden Zugwaggon bewegt, und das war die einzige Gelegenheit, wo ich ihn wahrnehmen konnte. Sehr gut! Und was habt Ihr daraus geschlußfolgert?« »Daß das Hinken ein Vorwand war, den Stock zu tragen.« »Und ich möchte wetten, daß Ihr recht habt. Daß er diesen Stock als Waffe benötigte oder zu benötigen glaubte und daß er es nicht gewohnt war, damit umzugehen.« Master Sean legte die Stirn in Falten. »Wie dies, My Lord?« »Sonst hätte er sein Hinken entweder vervollkommnet oder es überhaupt nicht erst vorgetäuscht.« Lord Darcy hielt inne. Dann: »Noch etwas?« »Nur daß er seinen kleinen Koffer zum Mittagessen mitgenommen und im Aufenthaltsraum immer auf der ersten Sitzbank Platz genommen hat, von wo aus er die Tür zu seinem Abteil stets im Auge behalten konnte«, berichtete Master Sean. »Ich glaube, er hatte Angst, daß ihm jemand seinen Koffer stehlen würde, My Lord.« »Oder etwas, das er darin aufbewahrte«, verbesserte ihn Lord Darcy. »Was hätte sein können, My Lord?« »Wenn wir das wüßten, mein lieber Sean, wären wir der Lösung dieses Problems ein gutes Stück näher, als wir es im Augenblick sind. Wir...« -7 5 2
Plötzlich brach er ab und legte den Finger auf die Lippen. Wieder waren Schritte im Gang zu hören. Diesmals waren sie nicht so laut wie vorher, weil die Männer anstelle von Stiefeln Pantoffeln trugen, doch war das Öffnen und Schließen der Türen deutlich zu hören. »Ich schätze, der Kongreß hat wieder begonnen«, sagte Lord Darcy leise. Er schritt zur Tür hinüber. Bis er sie vorsichtig geöffnet hatte, sah er auch schon wieder ganz wie der ältliche Geistliche aus, der zu sein er vorgab. Er gelang ihm, die Tür fast lautlos aufzusperren.
Sir Stanley stand, mit dem Gesicht zum Aufenthaltsraum gewandt, im Gang, Lord Darcy den Rücken zukehrend. Durch die Fenster vor ihm jagte die Landschaft Liguriens in der Dunkelheit vorüber. »Haltet Ihr Wache, Sir Stanley?« fragte Lord Darcy milde. Sir Stanley drehte sich um. »Wache? O nein, Father. Wir anderen wollen in den Aufenthaltsraum gehen, um diese Angelegenheit zu besprechen. Würdet Ihr und Master Sean Euch vielleicht zu uns gesellen?« »Gerne. Und Ihr, Meisterhexer?« Master Sean zwinkerte kurz und sagte nach kurzer Pause: »Aber gewiß doch, Father.« »Seid Ihr absolut sicher, daß es Mord war?« Gwiliam Hausers Stimme klang schroff. Master Sean O Lochlainn lehnte sich auf seiner Bank zurück und blickte Hauser mit verengten Augen an. »Absolut sicher? Nein, mein Herr. Könnt Ihr mir wohl mal verraten, mein Herr, wie ein Mann dazu kommt, daß ihm der gesamte Vorderkopf eingeschlagen wird, während er auf der unteren Liege liegt? Wenn nicht durch Mord? Dann kann ich meine Erklärung insofern revidieren, als ich behaupten kann, -7 5 3
mir einigermaßen sicher zu sein, daß es Mord war, weil die Vernunft dafür spricht.« Hauser strich sich durch seinen weißen Bart mit den dunklen Strähnen. »Ich verstehe. Ich danke Euch, Meisterhexer.« Mit scharfen Augen musterte er die anderen im Aufenthaltsraum. »Hat einer von Euch - irgendeiner von Euch - letzte Nacht irgend etwas Verdächtiges gesehen?« »Oder etwas Verdächtiges gehört!« fügte Lord Darcy hinzu. Hauser warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ja. Oder etwas gehört.« Die anderen sahen sich an. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schließlich lehnte sich der allzu gutaussehende Mac Kay in seinem Sessel an dem Tisch in der Nähe der Theke zurück und sagte: »Äh, Father, Ihr und der Meisterhexer hattet doch das Abteil neben dem von Peabody. Habt Ihr denn nichts gehört?« »Doch, das haben wir«, erwiderte Lord Darcy milde. »Wir haben sogar miteinander darüber gesprochen.« Nun richteten sich alle Augen auf ihn - mit Ausnahme von Master Sean, denn der Hexer beobachtete die anderen. »Ungefähr ab zwanzig nach zehn gestern abend«, fuhr Lord Darcy in derselben milden Stimme fort, »fand etwa eineinhalb Stunden lang draußen im Gang eine regelrechte Parade von Schritten statt, die den Gang auf und ab gingen. Es wurde viel gesprochen und viel und leise an Türen geklopft. An Peabodys Abteiltür wurde über ein dutzendmal geklopft. Davon abgesehen habe ich nichts Außergewöhnliches gehört.« Drei Sekunden lang herrscht Schweigen, bis Sir Stanley das Wort ergriff. »Wir sind nur auf und ab gegangen und haben uns unterhalten. Haben einander besucht, versteht Ihr?« -7 5 4
Zeisler war an der Theke und trank Kaffee. Master Sean hatte es diesmal zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, war sich aber sicher, daß Tonio die Tasse wieder gespickt hatte. »Das stimmt«, sagte Zeisler plötzlich. »Unterhalten. Ich konnte nicht schlafen. Hatte heute nachmittag ein Nickerchen gemacht. Hab' Leute besucht. Anscheinend konnte keiner richtig schlafen.« Boothroyd nickte. »Ich konnte auch nicht schlafen. Ist ein verdammt lauter Zug.« Nun meldeten sich auch die anderen zu Wort. Sie benutzten zwar unterschiedliche Formulierungen, doch die Aussagen waren die gleichen. »Und Peabody konnte auch nicht schlafen?« Lord Darcys Stimme klang gütig und höflich. »Nein, konnte er nicht«, erwiderte Sir Stanley knurrig. »Ich wußte gar nicht, daß einer von Euch den Gentleman kannte.« Lord Darcy sprach leise, seine Augen blickten milde drein, sein Gebaren war von Sanftheit geprägt. »Mir ist nämlich aufgefallen, daß keiner von Euch am Tag mit ihm ein Wort gewechselt hat.« »Ich habe ihn wiedererkannt«, sagte Zeisler. Der Ouiskie schien seine Gehirntätigkeit nicht sonderlich zu hemmen. »War'n Bursche, den ich mal kannte. Hab' seinen Namen nicht verstanden und ihn auch nicht gleich erkannt, von wegen dem Bart und so. Hat nämlich früher keinen Bart getragen, versteht Ihr? Also hab' ich ihn angesprochen, von wegen alte Bekanntschaft wieder auffrischen und so, Ihr wißt schon. War'n" bißchen zurückhaltend am Anfang, aber wir sind schon zurechtgekommen. Wollte auch mit den anderen Knaben sprechen, also...« -7 5 5
Er machte eine Handgeste und beendete den Satz nicht.
»Ich verstehe.«
Seine Lordschaft lächelte gütig.
»Wer von Euch hat ihn denn dann als letzter am Leben
gesehen?« Hauser sah zu Jason Quinte hinüber. »Wart Ihr das, Quinte?« »Ich? Nein, ich glaube das war Val.« »Nein, Mac hat noch nach mir mit ihm gesprochen.« »Aber nach mir ist Sharpy noch einmal hineingegangen, nicht wahr, Sharpy?« »Ja, aber ich dachte, Simon wäre noch...« Und so ging es immer weiter. Lord Darcy hörte mit einem traurigen, aber gütigen Gesichtsausdruck zu. Nach fünf Minuten war es offensichtlich, daß sie sich nicht darauf einigen konnten, wer Peabody als letzter am Leben gesehen hatte, und daß keiner zugeben wollte, es selbst gewesen zu sein. Schließlich erhob sich Gavin Tailleur von seinem Sitzplatz auf der hinteren Bank. Sein Gesicht wirkte blasser als sonst, wodurch die Narbe noch stärker hervortrat. »Ich weiß ja nicht, wie die anderen das sehen, aber für mich ist es offensichtlich, daß ich heute nacht wohl keinen Schlaf mehr bekommen werde. Ich bin es leid, in meiner Schlafkleidung herumzuwandem. Also gehe ich jetzt zurück in mein Abteil und ziehe mich an.« Valentine Herrick, dessen leuchtend rotes Haar ziemlich zerzaust aussah, sagte: »Na ja, ich würde schon ganz gerne noch ein bißchen schlafen, aber...« Mit einer Stimme, die immer noch sanft, aber doch auch bestimmt klang, sagte Lord Darcy: »Es spielt keine Rolle, was wir jetzt noch tun, denn nachdem wir in Genova eingelaufen sind, werden wir sowieso nicht schlafen, also könnten wir uns ruhig gleich darauf vorbereiten.« -7 5 6
Master Sean wollte mit Lord Darcy unter vier Augen sprechen. Zunächst einmal wollte er wissen, weshalb Seine Lordschaft es zugelassen hatte, daß alle Passagiere sich versammelten, um ihre Aussagen miteinander vergleichen zu können, wo es doch eigentlich richtiger gewesen wäre, sie allein und getrennt voneinander zu verhören. Gewiß, hier in Italien verfügte Lord Darcy über keinerlei Ermittlungsbefugnisse; gewiß auch, daß er die Rolle eines Geistlichen spielte, aber - verdammt! - er hätte doch irgend etwas unternehmen müssen! Aber nein, er saß einfach nur auf der vorderen Sitzbank und lächelte, beobachtete, lauschte und sagte wenig, während die anderen Passagiere herumsaßen und redeten oder tranken oder beides taten. Es wurde eine Menge Kaffee konsumiert, aber der Ouiskie, der Brandy, der Wein und das Bier wurden auch nicht gerade vernachlässigt. Master Sean und Lord Darcy hielten sich an Kaffee. Tonio schien das alles nichts auszumachen. Er mußte ohnehin die ganze Nacht aufbleiben, und so war es wenigstens nicht langweilig.
Kurz vor Genova kehrte der Waggonchef zurück. Er nahm den Hut ab und bat die Gentlemen um ihre Aufmerksamkeit. »Meine Herren, wir nähern uns Genova. Unter normalen Umständen könntet Ihr, solltet Ihr wach sein, den einstündigen 'Aufenthalt dazu nutzen, um das Bahnhofsrestaurant oder die Wirtschaft aufzusuchen, obwohl die meisten Passagiere während dieses Halts zu schlafen pflegen. Ich fürchte jedoch, daß ich diesmal darauf bestehen muß, daß Ihr alle an Bord bleibt, bis die Behörden eingetroffen sind. Die Türen werden erst bei ihrem Eintreffen geöffnet werden. Ich bedauere, Euch diese Umstände -7 5 7
machen zu müssen, aber es läßt sich nicht vermeiden, es ist meine Pflicht, dies zu tun.« Manche der Männer murrten leise vor sich hin, doch widersprach niemand offen seiner Anordnung. »Ich danke Euch, Gentlemen«, sagte der Waggonchef. »Ich werde mein Bestes tun, um dafür zu sorgen, daß die Beamten ihre Arbeit so schnell wie möglich erledigen.« Er setzte die Dienstmütze wieder auf und verschwand. »Technisch gesehen«, sagte Boothroyd, »sind wir damit wohl alle verhaftet.« »Nein«, widersprach Hauser knurrend, »wir werden lediglich zur Befragung festgehalten. Das ist nicht ganz dasselbe. Wir sind nur als Zeugen hier.« Einer von uns nicht, dachte Master Sean. Und er fragte sich, wie viele der anderen dasselbe denken mochten. Doch keiner sagte etwas.
Die genovesischen Wachmänner kamen erstaunlich schnell. Knappe fünfzehn Minuten, nachdem die Bremsen des Zugs ihr letztes zischendes Seufzen ausgestoßen hatten, erschienen ein Wachmeister, ein Wachsergeant und vier Wachmänner in Uniform. Dies war nur die Voruntersuchung. Die Personalien wurden festgestellt, und der Wachmeister protokollierte zusammen mit dem Sergeanten, der anscheinend der einzige der sieben war, der halbwegs fließend AngloFranzösisch sprach, die kurzen Aussagen der Anwesenden. Master Sean und Lord Darcy sprachen zwar beide auch Italienisch, verrieten dies jedoch nicht. Es gab schließlich keinen Grund, ungefragt Informationen preiszugeben.
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Während der Voruntersuchung stellten die beiden normannischen Justizoffiziere fest, wo jeder der zwölf anderen untergebracht war: Abteil Nr. 3 - Maurice Zeisler; Sidney Charpentier;
Abteil Nr. 4 - Martyn Boothroyd; Gavin Tailleur;
Abteil Nr. 5 - Simon Lamar; Arthur Mac Kay;
Abteil Nr. 6 - Valentine Herrick; Charles Jamieson;
Abteil Nr. 7 - Jason Quinte; Lyman Vanderpole;
Abteil Nr. 8 - Sir Stanley Galbraith; Gwiliam Hauser.
Im Abteil Nr. 2 reisten natürlich Armand Brun und Seamus
Kilpadraeg, während John Peabody allein in Nr. l gewesen war. Der uniformierte Wachmeister verneigte sich knapp und höflich vor Master Sean. Da er seinen Degen am Gürtel trug, nahm er die Mütze nicht ab. »Meisterhexer, ich glaube, Ihr wart es, der so freundlich war, den Vermeidungszauber und den Konservierungszauber über den Verblichenen zu verhängen?« »Aye, Wachmeister, das war ich.« »Dann muß ich Euch bitten, den Vermeidungszauber nun zu beseitigen, wenn es Euch genehm ist. Ich muß den Leichnam inspizieren, um festzustellen, daß der Tod auch wirklich eingetreten ist.« »Oh, gewiß doch, gewiß. Mein Reisesack steht in meinem Abteil. Dauert keine Minute.« » Als sie den Gang hinunterschritten, sah Master Sean den Waggonchef Edmund geduldig neben dem Abteil Nummer eins stehen, den Schlüssel in der Hand. Der Hexer wußte, welches Problem der Wachmann hatte. Man hatte ihm zwar einen Tod gemeldet, doch bisher hatte er keine wirklichen Beweise dafür zu sehen bekommen. Selbst wenn der Waggonchef die Kabine aufgeschlossen hätte, hätte der Zauber die beiden Männer davon -7 5 9
abgehalten, das Abteil zu betreten, ja, er hätte sie sogar daran gehindert, auch nur hineinzuschauen. Master Sean holte seinen symbolverzierten Reisesack aus dem Abteil Nummer zwei und sagte zu Waggonchef Edmund: »Schließt die Tür auf, Waggonchef - und dann macht mir ein wenig Platz, damit ich arbeiten kann.« Der Waggonchef schloß zwar auf, öffnete die Tür aber nicht. Zusammen mit dem Wachtmeister blieb er in gebührendem Abstand vor dem Abteil Nummer drei stehen. Master Sean stellte mit Befriedigung fest, daß am anderen Ende des Gangs ein Wachmann vor Nummer acht stand, mit dem Gesicht zum Aufenthaltsraum, und den Durchgang versperrte. Da er gegen seinen eigenen Vermeidungszauber immun war, blickte sich Master Sean im ganzen Abteil um. Alles war noch genauso, wie er es hinterlassen hatte. Er sah auf den Leichnam herab. Das Blut sah immer noch frisch aus, was darauf hinwies, daß der Konservierungszauber ordentlich verhängt worden war. Nicht daß der stämmige kleine irische Hexer jemals daran gezweifelt hätte, aber es war immer ratsam, derlei Dinge noch einmal zu überprüfen. Er musterte den Boden neben seinen Füßen. Das Blut, das in den Gang hinausgesickert war, war dunkel und eingetrocknet. Seit Tonio hineingetreten war, hatte es niemand mehr berührt, stellte er fest. Gut. Master Sean setzte seinen Reisesack vorsichtig auf den Boden und holt e einen kleinen Bronzebrenner auf einem Dreifuß hervor. Er legte drei Klumpen Weidenholzkohle hinein, stellte den Brenner im Türrahmen auf den Boden und entzündete vorsichtig die Holzkohle. Als sie rot glühte, nahm er eine Prise Pulver aus einem kleinen Glasfläschchen und sprenkelte es auf die Kohle. Eine duftende Rauchwolke stieg spiralförmig in die Höhe. Lautlos bewegte der Magier die Lippen. Dann nahm er ein weißes Papierquadrat von vier Zoll Kantenlänge aus seinem Sack und faltete es auf seltsame, sehr komplizierte Weise zusammen. Leise murmelnd warf er es auf die Kohlen, wo es in -7 6 0
einer orangefarbenen Stichflamme aufging und zu grauer Asche zerfiel. Einen Augenblick später entnahm er seinem Zubehör einen Bronzedeckel, den er auf dem Brenner befestigte, um die Kohle zu ersticken. Dann nahm er den Brenner an einem Fuß auf, stellte ihn beiseite, erhob sich und blickte den Wachmann an. »So, Wachmeister. Jetzt gehört das Abteil ganz Euch.« Er zeigte auf den Boden. »Paßt bitte auf den Blutfleck hier auf und auc h auf den Brenner, der ist nämlich noch heiß.« Der Wachtmeister trat ein, musterte die sterblichen Reste des John Peabody und berührte die Leiche am Handgelenk. Er trug etwas in ein Notizbuch ein. Dann kam er wieder aus der Kabine. »Schließt das Abteil wieder ab, Waggonchef. Jetzt kann ich berichten, daß ein als John Peabody identifizierter Mann tot ist und daß Grund zu der Annahme besteht, daß ein Kapitalverbrechen stattgefunden hat.« Der Waggonchef sah ihn überrascht an. »Ist das alles?« »Vorläufig«, erwiderte der Wachmann. »Schließt ab und gebt mir den Schlüssel.« Der Waggonchef verschloß das Abteil und sagte dabei: »Einen Zweitschlüssel kann ich Euch nicht geben. Wir haben keine, aus Sicherheitsgründen. Wenn ein Passagier einen Schlüssel verliert...«, er nahm den Schlüssel aus dem Schloß, »... bekommen wir entweder aus dem Büro in Paris oder in Napoli einen Ersatzschlüssel. Ich muß Euch also einen meiner Passepartouts geben. Und dafür möchte ich eine Empfangsbestätigung haben.« »Natürlich. Wie viele Passepartouts habt Ihr insgesamt?« »Für diesen Waggon? Zwei. Diesen hier und den einen, der vorne in meinem Büro eingeschlossen ist, für Notfälle.«
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»Dann sorgt dafür, daß er eingeschlossen bleibt. Dann ist dies hier also nur ein Passepartout für diesen Waggon, ja?« »Genau. Jeder Wagen hat einen separaten Satz von Schlössern. Was tut Ihr da, Meisterhexer?« Der Waggonchef sah ihn verwirrt an. Master Sean kniete vor der Tür, die Finger der rechten Hand auf das Schloß gelegt, die Augen geschlossen. »Ich überprüfe etwas.« Der Hexer erhob sich. »Ich habe Euren Schloßzauber auf meinem eigenen Abteilschloß bemerkt, als ich meinen Schlüssel zum erstenmal benutzt habe. Ein kommerzieller Zauber, aber sehr dicht und eng verzahnt. Kein Wunder, daß Ihr keine Duplikate an Bord lagert. Nicht einmal ein exaktes Duplikat würde hier funktionieren, wenn es nicht auf den Zauber geeicht ist. Darf ich den Passepartout mal sehen, Wachmeister? Danke. Hmmm. Ja. Nochmals, vielen Dank.« Er gab den Schlüssel zurück. »Was habt Ihr da gerade überprüft?« wollte der Waggonchef wissen. »Ich wollte nachsehen, ob jemand an dem Zauber herummanipuliert hat«, erklärte Master Sean. »Das ist nicht der Fall gewesen.« »Ich danke Euch, Meisterhexer«, sagte der Wachmeister und schrieb etwas in sein Notizbuch. »Und Euch ebenfalls, Waggonchef. Das war's fürs erste.« Zu dritt schritten sie in den Aufenthaltsraum zurück. Neben Lord Darcy, der immer noch die Rolle des Father Armand spielte, war ein Platz auf der Sitzbank frei, so daß Master Sean sich neben ihn setzte. »Wie läuft es, Father?« fragte er in leisem Unterhaltungston. In der relativen Stille des stehenden Bahnwaggons fiel es -7 6 2
leichter, leise zu sprechen, ohne den Anschein des Flüsterns zu erwecken. »Interessant«, murmelte Lord Darcy. »Natürlich habe ich nicht alles mitbekommen, aber ich habe ja auch nicht immer zugehört. Anscheinend sind sie jetzt fertig.«
In diesem Augenblick sagte einer der Wachmänner auf italienisch: »Wachmeister, der Präfekt kommt!« Master Sean wandte, wie der Wachmeister auch, den Kopf zum Fenster, um hinauszusehen. Dann wandte er ihn hastig wieder ab. »Jetzt ist die Birne geschält«, sagte er ganz leise zu Lord Darcy. »Schaut mal, wer da kommt.« »Das habe ich bereits. Ich kenne ihn nicht.« »Ich schon. Das ist Cesare Sarto. Und der kennt auch mich.« Die römische Polizeipräfektur kannte im ganzen Reich nicht ihresgleichen. Wie anderswo auch, besaß jedes Herzogtum seine eigene Wachmannschaftsorganisation, die innerhalb seiner Grenzen dem Gesetz zur Geltung verhalf. Die römische Präfektur war jedoch ein Organ des italienischen Parlaments, welches die Arbeit dieser Organisationen koordinieren sollte. Die Macht der Präfekten war beschränkt. Nicht einmal im Fürstentum Latinum, in dem sich Rom befand, besaßen sie Polizeibefugnisse, wenn sie nicht von den örtlichen Behörden ausdrücklich zu Hilfe gerufen worden waren, wenngleich eine Verhaftung nach dem Jedermann-Paragraphen weitaus mehr Gewicht hatte, wenn sie von einem Präfekten durchgeführt wurde, als wenn ein gewöhnlicher Bürger dies tat. Die Präfekten trugen keine Uniform. Ihr einziges offizielles Erkennungsmerkmal war eine Karte und ein kleines goldenes Wappen mit den Buchstaben SPQR über einem Flachrelief der -7 6 3
kapitolinischen Wölfin und der Seriennummer sowie dem Wort Polizeipräfektur darunter. Ihre Erfolgsstatistik aufgeklärter Fälle und gerichtlicher Überführungen war hoch, ihr Gewalteinsatz minimal. Diese Tatsachen sowie das stets höfliche Verhalten der Präfekten hatten dazu geführt, daß die Mitarbeiter der römischen Polizeipräfektur zu den ruhmreichsten und angesehensten Ermittlungsbeamten der Welt zählten. Im Gaslicht des Bahnsteigs stand Cesare Sarto wartend vor dem Wagen, als der Wachmeister herauskam und ihn begrüßte. Master Sean hielt das Gesicht abgewendet, doch Lord Darcy beobachtete alles aufs sorgfältigste. Sarto war ein Mann von mittlerer Größe, mit dunklem Haar und ebensolchen Augen sowie einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er war von durchschnittlicher Statur, hielt sich aber wie ein Athlet. Sein muskulöser Körper verfügte über Kraft und Schnelligkeit. Sein Gesicht war zwar nicht unbedingt attraktiv zu nennen, doch besaß es markante Züge, die von Charakterfestigkeit und Intelligenz zeugten. Wenige Minuten später betrat er den Waggon. Er trug einen Koffer in der einen Hand und ein Notizbuch in der anderen. Den Koffer stellte er auf dem Boden ab und musterte die vierzehn im Aufenthaltsraum versammelten Passagiere, die ihn erwartungsvoll und abwartend anblickten. Als sein Blick über Master Seans Gesicht schweifte, verrieten seine Augen nicht einmal durch leises Flackern, ob er ihn erkannt hatte. Dann sagte er: »Gentlemen, ich bin Cesare Sarto, Agent der römischen Polizeipräfektur. Der Chief der Wachmannschaften von Genova hat mich um die Übernahme dieses Falls gebeten zumindest so lange, bis wir in Rom eingetroffen sind.« Sein Anglo-Französisch war beinahe völlig akzentfrei. »Formal«, fuhr er fort, »gibt es nur eine Möglichkeit, die Angelegenheit zu behandeln. John Peabody wurde anscheinend ermordet, aber wir wissen noch nicht, ob das in der Provence oder in Ligurien -7 6 4
geschah, und bevor wir das tun, wissen wir auch nicht, wer die Rechtshoheit über diesen Fall besitzt. Im Augenblick müssen wir davon ausgehen, daß Peabody gestorben ist, nachdem dieser Zug die italienische Grenze überquert hat. Folglich wird der Zug auch bis Rom weiterfahren. Wenn wir bis dahin nicht genau festgestellt haben, was vorgefallen ist, wird man diesen Wagen abkoppeln und dort die Ermittlungen fortsetzen. Diejenigen unter Euch, die ohne jeden Zweifel von allem Verdacht befreit werden können, dürfen dann nach Napoli Weiterreisen. Die anderen werden, fürchte ich, in Gewahrsam bleiben müssen.« »Soll das heißen«, unterbrach Sir Stanley ihn, »daß Ihr einen von uns verdächtigt?« »Keinen von Euch persönlich, nein. Noch nicht. Aber Euch alle als Kollektiv, ja. Es muß doch wohl einleuchten, mein Herr, daß Peabody, da er in diesem Wagen ermordet wurde, auch das Opfer eines Reisenden aus diesem Wagen geworden ist. Darf ich Euch um Euren Namen bitten, mein Herr?« »Sir Stanley Galbraith«, erwiderte der grauhaarige Mann ziemlich barsch. Präfekt Casare blickte in sein Notizbuch. »Ah, ja. Danke, Sir Stanley.« Er sah in die Runde. '»Ich habe hier eine Liste Eurer Namen, wie sie der Wachmeister festgehalten hat. Damit ich Euc h einzeln besser kennenlerne, bitte ich darum, daß sich jeder mit Handzeichen meldet, wenn sein Name aufgerufen wird.« Als er die Namen aufrief, wurde es offensichtlich, daß er sich bei jedem Handzeichen Namen und Gesicht ein für alle Male einprägte. Als Seamus Kilpadraeg an die Reihe kam, musterte er den Hexer auf genau die gleiche Weise wie alle anderen, um danach zum nächsten Namen überzugehen. Nachdem er damit fertig war, sagte er: »Und nun, Gentlemen, muß ich Euch bitten, Eure Abteile aufzusuchen und dort zu bleiben, bis ich Euch rufen lasse. Die Abfahrt Richtung Rom erfolgt in...«, er blickte auf seine Armbanduhr, »,.. achtzehn Minuten. Ich danke Euch.« -7 6 5
Gehorsam kehrten Master Sean und Lord Darcy in ihre Kabine zurück. »Präfekt Cesare«, sagte Lord Darcy, »ist nicht nur hochintelligent, sondern auch von schneller Auffassungsgabe.« »Woraus folgert Ihr das, My Lord?« »Ihr habt gesagt, daß er Euch kennt, und doch hat er sich das nicht anmerken lassen. Es ist offensichtlich, daß er davon ausgeht, daß Ihr wohl einen guten Grund haben müßt, wenn Ihr unter einem falschen Namen reist. Und bei Eurer Stellung ist es ihm auch klar, daß dies ein legitimer Grund sein dürfte. Anstatt Euch öffentlich zu enttarnen, hat er sich entschlossen, abzuwarten, bis er mit Euch allein sprechen kann. Wenn er das tut, dann teilt ihm mit, daß Father Armand Euer Vertrauter und enger Freund ist. Verbürgt Euch für mich, aber gebt meine Identität nicht preis.« »Ich schätze, er wird in drei Minuten da sein.«
Da klopfte es an der Tür. Master Sean öffnete die Tür, und das Gesicht des Präfekten Cesare Sarto erschien in der Öffnung. »Kommt herein, Präfekt«, sagte der Hexer. »Wir haben Euch schon erwartet.« »Ach ja?« Sarto hob die Augenbraue. »Ich würde gerne mit Euch unter vier Augen sprechen, Master Seamus.« Master Sean flüsterte beinahe, als er sagte: »Tretet ein, Cesare. Father Armand weiß, wer ich bin.« Der Präfekt kam ins Abteil, und Master Sean schloß die Tür hinter ihm. »Sean O Lochlainn, zu Euren Diensten, Präfekt Cesare«, sagte er grinsend. -7 6 6
»Sean!« Der Präfekt packte ihn an beiden Schultern. »Es ist lange her! Ihr solltet öfter schreiben!« Dann wandte er sich an Lord Darcy. »Verzeiht, Padre, aber ich habe meinen Freund hier nicht mehr gesehen, seit wir vor fünf Jahren an der Universität Milano dasselbe Seminar besucht haben. Die Zulässigkeit gewisser mit magischen Mitteln beschaffter Beweismittel in der Kriminal Jurisprudenz war sein Thema.« »Das ist schon in Ordnung«, meinte Lord Darcy. »Ich freue mich für Euch beide.« Der Präfekt blickte einen Augenblick lang den weißhaarigen, graubärtigen Mann mit den gesenkten Schultern an, der ihn über goldgeränderte Halbgläser hinweg gütig anschaute. Dann wandte er sich wieder Master Sean zu. »Ihr sagt, daß Ihr den Padre kennt?« »Sehr gut, schon seit Jahren«, entgegnete Master Sean. »Alles, was Ihr mir sagt, könnt Ihr auch in Gegenwart von Father Armand sagen. Ihr könnt ihm ebensosehr vertrauen wie mir.« »Das hatte ich nicht gemeint...« Sarto unterbrach sich selbst und drehte sich zu Lord Darcy um. »Hochwürden, ich wollte damit keineswegs andeuten, daß man einem Mitglied der heiligen Geistlichkeit nicht vertrauen könne. Aber hier geht es um einen Mordfall, und die sind immer etwas heikel. Versteht Ihr etwas von Kriminologie?« »Ich habe oft mit Kriminellen zu tun gehabt und ihre Beichte hören müssen«, sagte Lord Darcy, ohne die Miene zu verziehen. »Ich glaube, ich kann durchaus behaupten, den kriminellen Verstand ein wenig zu begreifen.«
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Mit ebensolcher unbewegter Miene sagte Master Sean: »Ich darf wohl sagen, daß es eine ganze Reihe von Fällen gab, die Lord Darcy ohne die Hilfe dieses Mannes nicht gelöst hätte.« Der Präfekt entspannte sich. »So! Na, dann ist ja alles in Ordnung. Sean, geht es mich etwas an, weshalb Ihr unter falschem Namen reist?« »Ich erledige einen kleinen Botendienst für Prinz Richard. Das hat nicht das geringste mit John Peabody zu tun, so daß es Euch strenggenommen nichts angeht. Ich kann mir aber vorstellen, daß Seine Hoheit mir erlauben würde, es Euch anzuvertrauen, wenn Ihr es wissen müßtet und bevor es zu einem Prozeß käme.« »Na gut, dann lassen wir das erst einmal. Ich muß Euch auch noch andere Fragen stellen.« Die Befragung ergab, daß weder Master Sean noch Father Armand Peabody jemals zuvor gesehen oder von ihm gehört hatten, daß beide nicht ein Wort mit ihm gewechselt hatten und daß jeder von ihnen ein Alibi für die letzte Nacht besaß. Als er ihnen die Frage direkt stellte, gaben sie auch die feierliche Erklärung ab, daß keiner von ihnen Peabody getötet hatte. »Nun gut«, sagte der Präfekt schließlich. »Dann werde ich als Arbeitshypothese davon ausgehen, daß Ihr beide unschuldig seid. Nun habe ich ein kleines Problem, und ich möchte, daß Ihr mir dabei helft.« »Ihr meint doch den Mord, nicht wahr?« fragte Master Sean. »Gewissermaßen, ja. Seht Ihr, es ist so: Ich habe bisher noch nie einen Mordfall behandelt. Mein Gebiet sind Betrugs- und Unterschlagungsdelikte. Ich bin eigentlich ein Buchhalter und kein Wachmann im strengeren Sinne. Ich war nur zufällig in Genova, um einen anderen Fall abzuwickeln. Ich wollte ohnehin mit diesem Zug nach Rom fahren. Also hat man mir aus Rom per Teleklang Weisung gegeben, die Sache bis dahin zu übernehmen. Rom erwartet von mir nicht, daß ich den Fall löse. -7 6 8
Rom will mich nur als Aufpasser haben, der die Fäden in der Hand behält, bis die Experten den Fall übernehmen.« Er schwieg einen Augenblick, dann überzog ein blitzendes, schelmisches Grinsen sein Gesicht. »Aber sobald ich Euch erkannte, hatte ich einen Einfall. Mit Eurer Hilfe können wir den Fall vielleicht doch noch aufklären, bevor wir in Rom sind! Das würde sich gut auf meiner Erfolgsliste ausmachen, andererseits gäbe es keine Minuspunkte, wenn es nicht gelänge. Ich kann einfach nichts dabei verlieren, versteht Ihr? Der Chef der Mordkommission, Angelo Ratti, wird uns in Rom am Bahnsteig erwarten, und ich würde glatt ein halbes Jahreseinkommen dafür geben, wenn ich sein Gesicht sehen könnte, wenn ich ihm den Mörder beim Aussteigen fertig verpackt überreiche!« Master Sean traute seinen Ohren nicht. Dann fand er die Sprache wieder. »Ihr meint, wir sollten Euch dabei helfen, den Mörder ausfindig zu machen, bevor wir in Rom einlaufen?« »Genau.« »Ich finde, das ist eine prächtige Idee«, meinte Lord Darcy.
Der Napoliexpreß fuhr gen Rapello, auf dem Weg nach Rom. In einer knappen Stunde würde es dämmern. Um vier Minuten vor zwölf Uhr Mittag würde der Zug in Rom ankommen. Als erstes stand eine Durchsuchung des Leichnams und des Abteils, in dem er lag, auf dem Programm. Peabodys Koffer befand sich im Schließfach der unteren Liege, doch der Schlüssel steckte im Schloß, so daß es keine Schwierigkeiten machte, ihn hervorzuholen. Er enthielt nichts Ungewöhnliches nur Kleidung und Toilettenartikel. Peabody selbst hatte ebenfalls nichts Ungewöhnliches am Leib getragen - nur der Spazierstock mit dem versteckten Degen war etwas Besonderes. Er hatte etwas Wechselgeld bei sich, einen goldenen und zwei -7 6 9
silberne Sovereigns sowie fünf Goldsovereign-Noten. Es fanden sich auch einige Schlüssel, die wahrscheinlich zu ir gendwelchen Schlössern seines Heims oder seines Büros paßten. Eine Karte wies ihn als Commander a. D. John Wycliffe Peabody, Reichsmarine, aus. »Nichts von Interesse zu sehen«, bemerkte Präfekt Cesare. »Von Interesse ist eher, was nicht hier ist«, sagte Lord Darcy. Der Präfekt nickte. »Genau. Wo ist der Schlüssel zu seinem Abteil?« »Mir scheint«, meinte Lord Darcy, »daß der Mörder hereinkam, Peabody umgebracht hat, den Schlüssel entwendete und die Kabine abgeschlossen hat, damit die Leiche nicht so bald entdeckt wird.« »Das glaube ich auch«, sagte Cesare. »Dann könnte der Mörder den Schlüssel also immer noch bei sich tragen«, warf Master Sean ein. »Möglich.« Der Präfekt Cesare sah düster drein. »Aber wahrscheinlicher ist, daß er irgendwo zwischen hier und Provence auf oder neben den Bahnschienen liegt.« »Das wäre auf jeden Fall das Intelligenteste, was er damit hätte machen können«, meinte Lord Darcy. »Sollen wir trotzdem danach suchen?« »Noch nicht, meine ich. Wenn er ihn behalten hat, dann wird er ihn jetzt auch nicht wegwerfen. Und wenn nicht, dann finden wir ihn sowieso nicht.« Lord Darcy gefiel die Antwort des Präfekten. Hätte er hier das Sagen gehabt, er hätte dasselbe erwidert. Es war ziemlich irritierend, die Ermittlungen nicht selbst leiten zu können, doch wenigstens wußte Cesare Sarto, was er tat. »Der Mörder«, fuhr der Präfekt fort, »konnte nicht wissen, daß das Blut aus Peabodys zertrümmertem Schädel unter der -7 7 0
Tür in den Gang hinaussickern würde. Nehmen wir einmal an, das wäre nicht passiert. Wann hätte man den Leichnam dann entdeckt?« »Wahrscheinlich nicht vor zehn Uhr morgens«, erwiderte Master Sean mit Entschiedenheit. »Ich bin schon einmal in diesem Zug gefahren, wenn auch nicht mit derselben Besatzung. Der Mann von der Tagschicht, bei uns hier also Fred, kommt um neun. Er macht die Betten der Passagiere, die bereits auf sind, aber er weckt die anderen nicht vor zehn. Es hätte durchaus bis halb elf dauern können, bis man Peabody gefunden hätte.« »Verstehe«, meinte Präfekt Cesare. »Ich sehe zwar noch nicht, inwieweit uns das weiterbringt, aber wir wollen es immerhin im Auge behalten. Nun können wir natürlich die Leiche keiner Autopsie unterziehen, aber ich möchte doch ganz gerne etwas mehr über diese Hiebe und die. Tatwaffe erfahren.« »Ich glaube, damit kann ich dienen, Präfekt«, sagte Master Sean. Der Hexer untersuchte sorgfältig den Spazierstock mit seiner verborgenen Klinge. »Das hier werden wir als erstes überprüfen. Das geht am leichtesten und könnte uns Hinweise darauf geben, was wir uns als nächstes vornehmen sollten.« Er holte ein säuberlich zusammengefaltetes Wachstuch aus seinem Reisesack und breitete es über ein Tischchen. »Ist das erste Mal, daß ich so etwas in der Bahn mache«, brummte er, halb zu sich selbst. »Muß aufpassen, daß ich nicht das Gleichgewicht verliere.« Die beiden anderen erwiderten nichts. Er entnahm dem Sack eine dünne, leicht konkave Goldscheibe von drei Zoll Durchmesser, eine Pinzette, einen kleinen Einbläser und einen acht Zoll langen, metallisch aussehenden, blaugraue n Stab mit kristallenen Saphirspitzen. Mit der Pinzette -7 7 1
nahm er zwei Haare auf, eines von dem Leichnam, ein anderes von dem Silberknauf des Stocks. Er legte sie vorsichtig parallel zueinander mit eineinhalb Zoll Zwischenraum auf das Wachstuch. Dann berührte er jedes davon mit dem Stab und murmelte halblaut feierliche Spondeen der Kraft vor sich hin. Dann erhob er sich, weit zurückgebeugt und ohne zu atmen. Langsam, wie zwei winzige Holzpflöcke, die aufeinander zurollten, bewegten sich die Haare, immer noch parallel liegend, aufeinander zu. »Das ist tatsächlich sein Haar auf dem Knauf«, meinte Master Sean. »Und jetzt schauen wir uns mal das Blut an.« Das einzige Geräusch in der Kabine außer dem Rumpeln der Bahn war das kaum hörbare Kratzen des Schreibstifts, mit dem Sarto sich Notizen machte. Eine ähnliche Beschwörung, diesmal mit Hilfe des kleinen Goldtellers durchgeführt, führte bei dem Blut zum selben Ergebnis. »Jetzt wird es ein wenig komplizierter«, sagte Master Sean. »Da die Wunden sich zum überwiegenden Teil am Vorderkopf befinden, muß ich ihn umdrehen und flach auf den Rücken legen, Geht das?« Er blickte den Präfekten fragend an. »Natürlich«, erwiderte Präfekt Cesare. »Ich habe alle erforderlichen Aufzeichnungen und Skizzen über die Lage der Leiche, als sie gefunden wurde. Kommt, ich will Euch dabei helfen.« Es war nicht eben leicht, einen zweihundert Pfund schweren Leichnam in einem kleinen Abteil umzudrehen, doch wäre es noch schwieriger gewesen, hätte Master Seans Konservierungszauber nicht wenigstens die Leichenstarre verhindert. »So. So ist es gut, ja. Danke«, sagte der rundliche kleine Hexer. »Möchte einer von Euch die Wunden auch optisch -7 7 2
inspizieren?« Das wollten beide, und so wurde Master Seans starke Lupe herumgereicht. »Ordentlich zugeschlagen«, murmelte Sarto. »Gründliche Arbeit«, pflichtete Lord Darcy ihm bei. »Aber nicht effizient. Zwei oder drei dieser Hiebe hätten genügt, um ihn zu töten, und es müssen mindestens ein Dutzend gewesen sein. Merkwürdig.« »Und nun, meine Herren«, verkündete der Hexer, »wollen wir mal sehen, ob dieser Stock auch wirklich die Mordwaffe war.« Das war ein sehr wichtiger Test. Es war schon öfter vorgekommen, daß man Haare und Blut auf einen harmlosen Gegenstand praktiziert hatte. Die thaumaturgische Wissenschaft würde ihnen verraten, ob das diesmal auch der Fall gewesen war. Master Sean zerstäubte eine Wolke aus Pulver mit dem Einbläser über die Wunden und den Silberknauf des Stocks. Es war nur sehr wenig Pulver, und es war so fein, daß die überschüssige Menge wie Rauch davongepustet wurde. »Wen Ihr nun bitte diese Lampe dort kleiner drehen würdet.« Im trüben gelben Schein der gedämpften Wandlampe waren so gut wie keine Einzelheiten zu erkennen. Alles war von Schatten bedeckt. Nur die glitzernden Spitzen des schnell hin und her huschenden Stabs von Master Sean leuchteten in einem eigenen blauen Licht. Dann, völlig unverhofft, schienen Tausende winziger weißer Glühwürmchen über den oberen Teil des Gesichts des Toten zu tänzeln - wie auch über den Knauf des Spazierstocks. Zwischen Gesicht und Knauf waren dünne, glitzernde Fäden der winzigen Funken zu sehen. Einige Sekunden später ruckte Master Sean den Stab mit einer schnellen, schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk beiseite, und die winzigen Funken verschwanden. »Das war's. Macht das Licht bitte wieder an. Der Stock war mit Sicherheit die Mordwaffe.« -7 7 3
Präfekt Cesare Sarto nickte bedächtig. »Also gut. Was tun wir nun?« Er überlegte. »Was würde Lord Darcy wohl jetzt als nächstes tun?« Seine Lordschaft stand ein Stückchen links hinter dem Italiener, und als Master Sean die beiden anschaute, zog Darcy gerade mit dem Zeigefinger ein Fragezeichen in die Luft. »Nun, My Lords nächster Schritt«, sagte der Hexer, als hätte er es schon die ganze Zeit gewußt, »würde darin bestehen, die Verdächtigen erneut zu befragen. Und zwar diesmal etwas gründlicher.« Lord Darcy hob den Zeigefinger, und Master Sean fügte hinzu: »Natürlich immer nur einen auf einmal.« »Das klingt vernünftig«, meinte Sarto, »und ich kann Eure Gegenwart immer damit erklären, daß Ihr bei dieser Ermittlung als amtierender Gerichtshexer fungiert, während Ihr, Hochwürden, als Repräsentant der Heiligen Mutter Kirche ein amicus curiae seid. Ach, übrigens, Father, seid Ihr eigentlich ein Sensitiver?« »Nein, bedauerlicherweise nicht.« »Ein Jammer. Na schön, das brauchen wir ihnen ja nicht auf die Nase zu binden. Gut, was sollen wir für Fragen stellen? Gebt mir einen Fall von Verdacht auf Steuerhinterziehung, und ich kann Euch eine beeindruckende Liste von Fragen herunterrasseln, die man den Beteiligten stellen sollte, aber hier bin ich nicht gerade in meinem Element.« »Nun, was das anbelangt«, begann Lord Darcy... »Sie lügen«, sagte der Präfekt Cesare drei Stunden später knapp. »Alle und jeder, jeder einzelne von diesen Bastarden lügt.« »Und noch nicht einmal besonders geschickt«, fügte Master Sean hinzu.
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»Nun, dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben«, sagte Lord Darcy und nahm seine Aufzeichnungen auf.
Sie saßen am hinteren Tisch des Aufenthaltsraums; außer ihnen war niemand sonst im Wagen. Es war nicht schwierig, die Verdächtigen voneinander zu trennen. Der Waggonchef hatte den Speisewagen früh aufgeschlossen, und der Genoveser Wachmeister, den Sarto mitgebracht hatte, bewachte ihn. Man hatte die Männer einen nach dem anderen aus ihren Abteilen geholt und verhört. Damit hatten sie verhindert, daß sie sich mit den anderen besprachen, die noch nicht verhört worden waren. Tonio, der Mann von der Nachtschicht, wurde als erster vernommen. Danach wurde ihm befohlen, den Wagen zu verlassen und nicht wiederzukommen. Er hatte nichts dagegen, weil er genau wußte, daß an diesem Morgen ohnehin kein großer Umsatz und keine Trinkgelder zu erwarten waren. Der Waggonchef hatte im hinteren Teil des Speisewagens Kaffee servieren lassen, und Lord Darcy hatte den drei Ermittlern hinter der Bar ebenfalls eine Kanne gebraut. Um acht Uhr hatten die Stewards damit begonnen, im Speisewagen das Frühstück zu servieren. Inzwischen war es kurz vor neun. Noch knapp drei Stunden bis Rom. Lord Darcy ging soeben seine Mitschrift der Vernehmungsprotokolle durch, als der römische Präfekt fragte: »Erkennt Ihr, was an dieser Gruppe auffällt? Daß sie sich nämlich kennen?« »Na ja, einige von ihnen kennen sich«, warf Master Sean ein. »Nein, der Präfekt hat völlig recht«, widersprach Lord Darcy, ohne den Kopf zu heben. »Sie kennen einander alle - und zwar recht gut.«
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»Und doch«, fuhr Cesare Sarto fort, »sind sie anscheinend ängstlich darauf bedacht, uns das zu verheimlichen. Sie sind aus einem bestimmten Grund zusammengekommen, aber diesen Grund geben sie nicht preis.« »Master Sean«, sagte Lord Darcy, »offensichtlich habt Ihr nicht die Marseiller Zeitung gelesen, die ich gestern abend auf Eure Liege gelegt habe.« »Nein, Father. Ich war müde. Und da wir schon dabei sind das bin ich immer noch. Ihr meint den Nachruf?« »Ja, den meinte ich.« Lord Darcy sah Cesare Sarto an. »Vielleicht stand es auch in den Genoveser Zeitungen. Morgen soll in Napoli die Beisetzung eines gewissen Nicholas Jourdan stattfinden.« »Ich habe davon gehört«, erwiderte Präfekt Cesare. »Und meine Kollegen haben mir noch mehr erzählt, als in der Zeitung stand. Kapitän a. D. Nicholas Jourdan, Reichsmarine, soll angeblich an einer Lebensmittelvergiftung gestorben sein, aber es. gibt Hinweise, daß es sich dabei in Wirklichkeit um einen gut vorbereiteten Selbstmord handeln könnte. Wenn es tatsächlich Selbstmord war, haben die napolitanischen Behörden die Ermittlungen wahrscheinlich eingestellt. Wir gehen solchen Vorkommnissen nur ungern weiter nach, solange kein Verbrechen vorliegt, weil es hinterher meistens soviel Ärger wegen der Beerdigung gibt. Wie Ihr wohl selbst sehr gut wißt.« »Hm«, machte Lord Darcy. »Von diesem Selbstmordaspekt der Angelegenheit wußte ich nichts. Gibt es auch Hinweise, daß er unter Depressionen litt?« »Wie ich gehört habe, ja, aber es wurden keine Ursachen genannt. Vielleicht gesundheitliche Gründe.« »Ich weiß einen anderen guten Grund«, sagte Lord Darcy. »Oder zumindest einen möglichen anderen Grund.
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Vor ungefähr drei Jahren wurde Kapitän Jourdan pensioniert. Es war eine recht frühe Pensionierung, denn für einen Kapitän der Reichsmarine war er noch ziemlich jung. Damals war von gesundheitlichen Gründen die Rede. Tatsächlich wurde er vor die Wahl einer zwangsweisen Pensionierung oder eines recht unangenehmen Kriegsgerichts verfahren gestellt. Anscheinend hatte er eine recht stürmische Liebesaffäre mit einer jungen Sizilianerin aus Messina, die er in einer Etagenwohnung in Napoli aushielt. Normalerweise kümmert sich die Marine nic ht weiter um solche Dinge, aber es stellte sich heraus, daß diese junge Dame zufällig eine Agentin Seiner Slavischen Majestät Casimirs von Polen war.« »Aha! Da streckt also die Spionage ihr häßliches Haupt empor!« sagte der Präfekt. »Ganz genau. Damals befehligte Kapitän Jourdan die S.K.H.S. Bucht von Helgoland und war ein sehr beliebter Kommandant, sowohl bei seinen Offizieren als auch bei seinen Mannschaften. Offensichtlich hielt die Admiralität ebenfalls eine ganze Menge von ihm, sonst hätte man ihm wohl kaum eines der wichtigsten Schlachtschiffe anvertraut. Aber die Entdeckung, daß seine Geliebte eine Spionin war, warf ein etwas anderes Licht auf die Sache. Es stellte sich heraus, daß man ihm nicht nachweisen konnte, daß er davon gewußt, und ebensowenig, daß er ihr militärische Geheimnisse verraten hatte. Aber der Verdacht blieb nach wie vor an ihm hängen, und so stellte man ihn eben vor die besagte Wahl. Ein Kriegsgerichtsverfahren hätte seiner Marinekarriere natürlich den endgültigen Todesstoß versetzt. Man hätte ihn freigesprochen, und danach hätte man ihn auf irgendeine winzige kalte Insel vor der Südküste Neufrankreichs abkommandiert, wo er nichts zu tun gehabt hätte, als Pinguine zu zählen.
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Also entschied er sich natürlich für die Pensionierung. Wenn es, wie Ihr sagt, wirklich Selbstmord war, dann könnten diese drei Jahre der Ächtung dafür verantwortlich gewesen sein.« Der Präfekt Cesare Sarto nickte bedächtig. Er sah zufrieden aus. »Das hätte ich sehen müssen. Die Art, wie diese zwölf Männer sich verhalten, wie sie sich untereinander Ehrenbezeugungen erweisen... Das sind Offiziere von der Bucht von Helgoland! Und das muß Peabody natürlich auch gewesen sein.« »Das glaube ich auch, ja«, stimmte Lord Darcy ihm zu. »Das Problem ist«, sagte Sarto, »daß wir immer noch kein Motiv haben. Wir müssen einen von ihnen dazu bringen, aus zupacken. Ihr beide kennt sie besser als ich: Wen schlagt Ihr vor?«. Master Sean meinte: »Ich würde sagen, der junge Jamieson. Father?« »Ja, Master Sean, einverstanden. Er hat zugegeben, daß er noch einmal zurückgegangen ist, um mit Peabody zu sprechen, aber ich hatte das Gefühl, daß er das gar nicht wollte, daß er Peabody nicht mochte. Vielleicht könntet Ihr ihn etwas unter Druck setzen, mein lieber Präfekt.« So wurde der blonde, rosagesichtige junge Charles Jamieson zur erneuten Vernehmung zitiert. Nervös nahm er Platz. Für einen jungen Mann liegt es nahe, nervös zu werden, wenn ihm drei ältere Männer mit strengem Gesicht gegenübersitzen - ein Priester, ein mächtiger Hexer und ein Beamter der gefürchteten Polizeipräfektur von Rom. Noch schlimmer wird die Sache, wenn er auch noch in einen Mordfall verwickelt ist. Cesare Sarto sah grimmig aus, die Lippen bildeten eine schmale harte Linie, seine Augen wirkten kalt. Der Mann, nach -7 7 8
dem man ihn benannt hatte, Gaius Julius, mußte ähnlich ausgesehen haben, wenn er vor über zweitausend Jahren mit einem jungen Zenturio konfrontiert wurde, der etwas Schlimmes ausgefressen hatte. »Junger Mann, seid Ihr Euch eigentlich der Tatsache bewußt, daß die Behinderung der Ermittlungsarbeiten in einem Fall von Kapitalverbrechen durch unwahre Behauptungen nicht nur zivilrechtlich strafbar ist, sondern daß ich Euch auch noch vor das Kriegsgericht der Reichsmarine bringen kann, so daß man Euch möglicherweise unehrenhaft entläßt?« Jamiesons rosa Gesicht wurde beinahe kreidebleich vor Schreck. Er sperrte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort hervor. »Ich bin mir darüber im klaren«, fuhr der Präfekt gnadenlos fort, »daß einer oder mehrere Eurer Vorgesetzten dort draußen im Speisewagen Euch möglicherweise den Befehl gegeben haben mögen, zu tun, was Ihr getan habt, aber derlei Befehle sind illegitim und stellen selbst bereits einen kriegsgerichtsrelevanten Gesetzesverstoß dar.« Der junge Mann rang immer noch nach Worten, als der gütige alte Father Armand das Wort ergriff. »Na, na, Präfekt, wir wollen nicht zu hart mit dem armen Jungen umspringen. Ich bin sicher, daß er nun die Verwerflichkeit seines Verhaltens einsieht. Warum erzählt Ihr uns nicht einfach alles, mein Sohn? Ich bin überzeugt davon, daß der Präfekt von einer Strafverfolgung in voller Härte des Gesetzes absehen wird, wenn Ihr uns nun bei der Aufklärung behilflich seid.« Sarto nickte langsam, doch sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, als gebe er diesem Verzicht nur sehr ungern statt. »Schön, mein Sohn, fangen wir noch einmal von vorne an. Sagt uns Euren Namen und Dienstgrad, und dann erzählt uns, was Ihr und Eure Offizierskameraden letzte Nacht getan habt.« -7 7 9
Jamieson nahm wieder Gesichtsfarbe an. Er holte tief Luft. »Charles James Jamieson, Leutnant zur See der Reichsmarine, Königlich Britische Flotte, gegenwärtig Dritter Versorgungsoffizier an Bord Seiner Kaiserlichen Majestät Schiff Bucht von Helgoland, Sir! Äh, das heißt natürlich Father!« Um ein Haar hätte er salutiert. »Immer mit der Ruhe, mein Sohn. Ich bin kein Marineoffizier. Fahrt fort. Beginnt damit, wieso Ihr und die anderen Euch an Bord dieses Zugs befindet und nicht auf Eurem militärischen Posten.« »Nun, Sir, die Bucht ist gerade auf Trockendock, so daß wir alle mehr oder weniger Urlaub haben, obwohl wir uns in Portsmouth oder Umgebung aufhalten mußten. Da erfuhren wir vor einer Woche, daß unser alter Kapitän, der vor drei Jahren seinen Abschied genommen hat, gestorben ist und in Napoli beerdigt werden soll. Also haben wir uns zusammengetan und eine Gruppe zusammengestellt, die dort hinreisen sollte, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Das ist alles, wirklich, Father!« »Gehörte Commander Peabody zu Eurer Gruppe?« fragte der Präfekt in scharfem Ton. »Nein, Sir. Er hat kurz nach unserem Kapitän den Dienst quittiert. Bis gestern hatte keiner von uns ihn wiedergesehen, seit drei Jahren nicht.« »Ihr alter Kapitän war, glaube, der verstorbene Nicholas Jourdan?« fragte Sarto. »Jawohl, Sir.« »Warum habt Ihr Commander Peabody nicht gemocht« fauchte der Präfekt. Jamiesons Gesicht spielte plötzlich noch mehr ins Rosafarbene. »Gab keinen besonderen Grund, Sir. Ich habe ihn nicht gemocht, das stimmt schon, aber das war eben einfach so. Manche Leute passen eben nicht zusammen.« »Ihr habt ihn genug verabscheut, um ihn umzubringen«, sagte Präfekt Cesare geradeaus. -7 8 0
Es sah aus, als wäre Jamieson darauf vorbereitet gewesen. Er zuckte nicht einmal mit den Augenlidern. »Nein, Sir. Er war mir unsympathisch, ja. Aber ich habe ihn nicht getötet.« Es war, als hätte er die Antwort einstudiert. »Wer war es dann?« »Ich glaube, Sir, daß während der zehn Minuten, die wir an der italienischen Grenze hielten, eine unbekannte Person in den Zug gestiegen ist, den Commander umgebracht hat und danach wieder verschwunden ist.« Auch diese Antwort klang einstudiert. »Schön«, sagte der Präfekt. »Das genügt erst einmal. Kehrt in Eure Kabine zurück und haltet Euch dort bereit, bis Ihr wieder gerufen werdet.« Jamieson gehorchte. »Nun, was meint Ihr, Father?« fragte Cesare Sarto. »Dasselbe wie Ihr. Er hat uns zwar einen Teil der Wahrheit genannt, aber lügen tut er immer noch.« Lord Darcy überlegte. »Versuchen wie es doch mal mit einer anderen Taktik. Wir könnten...« Er brach ab. Ein Mann in einer rotblauen Uniform kam gerade den Gang entlang auf sie zu. Es war Edelmann Fred, der Mann von der Tagschicht. Vor ihrem Tisch blieb er stehen. »Bitte um Verzeihung, Gentlemen. Ich habe natürlich von den Ermittlungen gehört. Der Waggonchef hat mir aufgetragen, mich bei Euch zu melden, bevor ich meinen Dienst antrete.« Er sah etwas verunsichert aus. »Ich weiß nicht so recht, was ich unter diesen Umständen zu tun habe.« Bevor Sarto etwas erwidern konnte, fragte Lord Darcy: »Was würdet Ihr denn normalerweise tun?« »Mich um die Bar kümmern und die Betten machen.« »Nun, um die Bar braucht Ihr Euch jetzt noch nicht zu kümmern, aber die Betten könnt Ihr ruhig schon machen.« -7 8 1
Freds Miene hellte sich auf.
»Danke, Father, Präfekt.«
Er schritt in den Gang zurück.
»Ihr wolltet gerade etwas über eine neue Taktik sagen«,
erinnerte der Präfekt Lord Darcy. »Ach ja«, sagte Seine Lordschaft. Und erklärte es ihm. Die lange Pause seit seinem letzten Drink hatte nicht dazu beigetragen, Zeislers Aussehen zu verbessern. Er wirkte ausgemergelt und alt. Sidney Charpentier war zwar in besserer Verfassung, doch selbst er sah müde aus. Die beiden Männer saßen in freigebliebenen Sesseln am hinteren Tisch vor den drei Ermittlern. Master Sean sagte: »Edelmann Sidney Charpentier, Ihr habt mir, glaube ich, erzählt, daß Ihr ein lizensierter Laienheiler seid. Zeigt mir bitte Eure Lizenz.« Es war keine wirkliche Bitte, sondern ein Befehl: Ein Meister der Gilde sprach mit einem seiner Lehrlinge. Der andere reagierte zwar langsam, doch nicht zögerlich. »Gewiß doch, Master.« Charpentier holte die Karte hervor. Master Sean las sie sorgfältig durch. »Aha. Unterschrieben von My Lord de Bischof von Wexford. Ich kenne Seine Lordschaft recht gut. Ist Admiralitätskaplan der Reichsmarine. Welche n Dienstgrad habt Ihr inne, mein Herr?« Zeislers Augen blitzten in ihren Tränensäcken plötzlich beunruhigt auf, doch er sagte nichts. Charpentier erwiderte: »Oberleutnant zur See, Master Searryas.« Der Hexer sah Zeisler an. »Und Ihr?« Zeisler warf Charpentier einen wehmütigen Blick zu und lächelte schiefmäulig. »Keine Sorge, Sharpy. Der junge Jamie muß es ihnen gesagt haben. Ist nicht Eure Schuld.« Dann, zu Master Sean gewandt: »Korvettenkapitän Maurice Edwy Zeisler, zu Euren Diensten, Master Seamus.« -7 8 2
»Ganz meinerseits, Kapitän. Nun sollten wir erst einmal die Dienstgradfrage klären. Fangen wir mit Sir Stanley an.« Die Liste war beeindruckend: Kapitän zur See Sir Stanley Galbraith, Commander Gwiliam Hauser, Korvettenkapitän Martyn Boothroyd, Korvettenkapitän Gavin Tailleur, Korvettenkapitän Maurice Zeisler, Oberleutnant z. S. Sidney Charpentier, Oberleutnant z. S. Simon Lamar, Oberleutnant z. S. Arthur Mac Kay, Oberleutnant z. S. Jason Quinte, Leutnant z. S. Lyman Vanderpole, Leutnant z. S. Valentine Herrick, Leutnant z. S. Charles Jamieson »Ich gehe doch wohl recht in der Annahme«, sagte Lord Darcy und wählte seine Worte mit Bedacht, »daß es wahrscheinlich nicht sehr opportun gewesen wäre, Euch Herrschaften allen auf einmal Urlaub zu gewähren, wenn die Bucht von Helgoland nicht gerade im Trockendock liegen würde, eh?« Zeisler gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus Husten und Lachen darstellte. »Nicht sehr opportun, Father? Unmöglich!« »Dennoch«, fuhr Lord Darcy ruhig fort, »ist es doch wohl etwas ungewöhnlich, daß so viele von Euch zur selben Zeit das Schiff verlassen, nicht wahr? Was ist der Grund dafür?« »Kapitän Jourdan ist gestorben«, erwiderte Zeisler kühl. »Viele Menschen sterben«, warf Lord Darcy ein. »Was ist denn an seinem Tod so besonders?« Seine Stimme war genauso kalt wie die Zeislers. Charpentier öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Zeisler schnitt ihm das Wort ab. »Weil Kapitän Nicholas Jourdan einer der besten Marineoffiziere war, die es je gegeben hat.«
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Präfekt Cesare sagte: »Dann wolltet Ihr also zur Beisetzung Jourdans - eingeschlossen der verstorbene Commander Peabody?« »So ist es, Präfekt«, sagte Charpentier. »Aber Peabody gehörte eigentlich nicht zu unserer Gruppe. Wir waren ursprünglich sechzehn, denn wir wollten den Wagen für uns allein haben, versteht Ihr? Doch die anderen vier konnten nicht mitkommen, weil man ihnen im letzten Augenblick den Urlaub gestrichen hat. So haben Peabody, der gute Father und der Meisterhexer überhaupt einen Platz an Bord bekommen.« »Dann wußtet Ihr also nicht vorher, daß Peabody dabei sein würde?« »Überhaupt nicht. Wir hatten ihn alle seit drei Jahren nicht mehr gesehen«, gab Charpentier zur Antwort. »Hätte ihn fast nicht erkannt«, warf Zeisler ein. »Der Bart, müßt Ihr wissen. Den hatte er beim letzten Mal noch nicht. Aber ich habe seinen Degenstock wiedererkannt und mir daraufhin sein Gesicht genauer angesehen. Habe ihn dann tatsächlich wiedererkannt. Commander Hauser auch.« Er kicherte. »Na, das sah dem alten Hauser natürlich ähnlich!« »Warum?« wollte der Präfekt wissen. »Weil er Schiffssicherungsoffizier ist. Er war mal Peabodys unmittelbarer Vorgesetzter.« »Kommen wir noch einmal auf diesen Degenstock zurück«, sagte Lord Darcy. »Ihr habt gesagt, Ihr hättet ihn wiedererkannt. Hat das außer Euch noch jemand getan?« Zeisler sah Charpentier an. »Ihr vielleicht?« »Ich habe eigentlich nicht darauf geachtet, bis Ihr mich darauf hingewiesen habt. Natürlich wußten wir alle, daß er ihn besaß. Hat ihn vor vier, fünf Jahren in Lissabon gekauft. Aber ich hatte
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seit drei Jahren nicht mehr an den Stock - und auch nicht an Peabody - gedacht.« »Erzählt uns mehr über Peabody«, sagte Lord Darcy. »Was war er für ein Mensch?« Charpentier rieb sich mit einem dicken Zeigefinger die große Nase. »Anständig. Zuverlässig. Guter Offizier. Nicht wahr, Maury?« »O ja«, stimmte Zeisler ihm zu. »War auch 'n netter Kumpan zum Feiern. Ich erinnere mich, wie wir einmal in einer kleinen griechischen Wirtschaft in Alexandria in wenigen Stunden einen ganzen Liter Ouzo weggekippt haben, und als ein paar ägyptische Banditen uns danach auf der Straße überfallen wollten, hat er sie beide ordentlich verprügelt, während ich noch damit beschäftigt war, mich von ihrem ersten Ansturm zu erholen und aufzustehen. Damals konnte er wirklich noch etwas vertragen. Was da nur passiert sein mag?« »Wie meint Ihr das?« sagte Lord Darcy. »Na ja, gestern hat er doch nur ein paar Drinks gehabt, aber am Abend war er schon ziemlich daneben. Ist weggedriftet, noch während ich mit ihm sprach.« Auf dieses Stichwo rt reagierte der Präfekt prompt. »Dann wart Ihr es also, der ihn zuletzt gesehen hat?« Zeisler blinzelte. »Das weiß ich nicht. Ich meine, nach mir wäre noch mal jemand zu ihm gegangen, um nachzusehen, ob er in Ordnung war, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer es war.« Präfekt Cesare seufzte. »Also gut, Gentlemen. Danke. Kehrt in Eure Kabinen zurück. Ich werde Euch später noch einmal holen lassen.« »Eine Frage noch, wenn es gestattet ist«, sagte Lord Darcy in mildem Ton.
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»Kapitän Zeisler, Ihr habt gesagt, daß der verstorbene Peabody in der Schiffssicherungsabteilung gearbeitet hat. Er war, glaube ich, der Offizier, der Kapitän Jourdans... äh... Verbindung zu einer gewissen übelbeleumdeten jungen Frau aus Messina gemeldet hat, nicht wahr, womit er seine Karriere zerstörte?« Es war ein blinder Versuch, und das wußte Darcy auch, aber seine Intuition sagte ihm, daß er im Recht war. Zeisler kniff die Lippen zusammen. Er sagte nichts. »Kommt schon, Korvettenkapitän. Wir können es auch jederzeit in den Akten nachlesen, wißt Ihr?« »Ja«, sagte Zeisler nach kurzer Pause. »Es stimmt.« »Danke. Das genügt erst mal.«
Als sie gegangen waren, sackte Präfekt Cesare Sarto in seinem Sitz zusammen. »Na, sieht ganz so aus, als würde Präfekt Angelo Ratti doch noch zu der Ehre kommen, die Verhaftung selbst durchzuführen.« »Dann gebt Ihr diesen Fall schon jetzt als ungelöst auf?« wollte Lord Darcy wissen. »O nein, ganz und gar nicht. Der Fall ist schon gelöst, Hochwürden. Aber ich kann niemanden verhaften.« »Ich fürcht e, ich kann Euch nicht folgen, mein lieber Präfekt.« Die Augen des Italieners begannen recht sarkastisch zu funkeln. »Ach, dann seht Ihr die Lösung unseres Problems noch immer nicht? Ihr seht nicht, wie aus dem Commander Peabody der verstorbene Commander Peabody wurde?«
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»Ich bin nicht der leitende Ermittlungsbeamte«, wandte Lord Darcy ein. »Das seid Ihr. Was ist denn Eurer Meinung nach geschehen?« »Nun«, sagte Cesare ernst, »was haben wir denn hier? Wir haben zwölf Marineoffiziere, die zur Beerdigung eines beliebten verstorbenen Kapitäns reisen. Und einen dreizehnten - den Mann, der diesen Kapitän verraten und ihn in Ungnade und Schmach gestürzt hat. Einen Judas. Wir wissen, daß sie lügen, wenn sie behaupten, daß ihre Unterhaltung mit ihm völlig belanglos war. Sie hätten sich jederzeit tagsüber mit ihm unterhalten können, doch das hat keiner von ihnen getan. Sie haben bis zur Nacht gewartet. Dann ist jeder von ihnen, einer nach dem anderen, in seine Kabine gegangen, um ihn zu besuchen. Warum? Dafür wird uns kein Grund genannt. Angeblich nur, um sich nett zu unterhalten. Um diese Uhrzeit? Nachdem jeder von ihnen schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen war? Eine nette, belanglose Unterhaltung, daß ich nicht lache! Glaubt Ihr das etwa. Hochwürden?« Lord Darcy schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Das wissen wir beide besser. Jeder von ihnen hat gelogen - und lügt noch immer.« »Na schön. Weshalb lügen sie denn nun? Was wollen sie verbergen? Einen Mord natürlich!« »Aber wer von ihnen hat es denn getan?« fragte Master Sean. »Ja, seht Ihr das denn nicht?« Die Stimme des Präfekten war leise und angespannt. »Seht Ihr es wirklich nicht? Alle waren es!« »Was?« Master Sean starrte ihn fassungslos an. »Aber...« »Laßt ihn mal, Master Sean«, sagte Lord Darcy. »Ich glaube, ich sehe, worauf er hinauswill. Fahrt doch bitte fort, Präfekt Cesare.« -7 8 7
»Ah, Ihr versteht es also, Father!« sagte der Präfekt. »Diese Männer sehen darin wahrscheinlich überhaupt keinen Mord. Für sie war das eine Hinrichtung nach einem Schnellprozeß vor dem Standgericht. Einem von ihnen - wir wissen nicht, wer es war - ist es gelungen, Peabody dazu zu überreden, ihn in die Kabine zu lassen. Dann, als sich die Gelegenheit dazu anbot, hat er zugeschlagen. Peabody verlor das Bewußtsein. Danach ist jeder einzelne von ihnen hineingegangen und hat ebenfalls zugeschlagen. Ein Dutzend Männer, ein Dutzend Hiebe. Die Tat wurde vollbracht, aber nicht einer von ihnen hat es allein getan. Es war eine Hinrichtung durch ein Komitee - oder, eher, durch eine Jury. Sie behaupten, daß sie nicht wußten, daß Peabody mitreisen würde. Aber hat das auch Hand und Fuß? War er nur zufällig auf diesem Zug? Das hieße doch, den Begriff Zufall reichlich zu strapazieren, meine ich!« »Der Meinung bin ich auch«, meinte Lord Darcy ruhig. »Das war kein Zufall, was ihn in diesem Zug mitreisen ließ. Das ist höchst sorgfältig eingefädelt worden.« »Genau, genau! Versteht Ihr jetzt, Master Sean?« Dann verdüsterte sich Sartos Miene wieder. »Was geschehen ist, ist offensichtlich, aber wir haben keine konkreten Beweise. Dazu bleiben sie zu geschickt bei ihrer Geschichte. Wir brauchen Beweise, aber die haben wir nicht.« »Ich glaube kaum, daß Ihr auch nur aus einem einzigen von ihnen ein Geständnis herauspressen könnt«, sagte Lord Darcy. »Was meint Ihr, Master Sean?« »Nein«, erwiderte der Hexer. »Keine Chance.« »Was wir brauchen«, fuhr Lord Darcy fort, »das sind handfeste, greifbare Beweise. Und die finden wir nur im Abteil Nummer eins.« »Aber das haben wir doch schon durchsucht«, wandte der Präfekt ein. -7 8 8
»Dann laßt es uns noch einmal durchsuchen.« Diesmal durchsuchte Lord Darcy den Leichnam sehr sorgfältig, mit schlanken, kräftigen Fingern, die alles abtasteten und befühlten. Er prüfte das Futter des Jacketts und preßte an allen Stellen die Fingerspitzen zusammen, auf der Suche nach Klumpen oder knisterndem Papier. Nichts. Er nahm dem Toten den breiten Gürtel ab und durchsuchte diesen nach verborgenen Taschen. Nichts. Er überprüfte die Stiefelsohlen. Nichts. Schließlich zog er der Leiche die wadenhohen Stiefel selbst aus. Und holte mit einem befriedigten Murmeln einen Gegenstand aus einer flachen Innentasche des rechten Stiefels hervor. Es war ein flaches, leicht gewölbtes silbernes Abzeichen mit dem doppelköpfigen Reichsadler. Es war in etwas ge faßt, das wie ein stumpfes, durchsichtig- graues Stück Glas im Cabouchonschliff aussahen. Doch die drei Männer wußten, daß es, hätte der lebende Peabody es berührt, wie ein Feuerrubin aufgeleuchtet hätte. »Ein Bote des Königs«, sagte der Präfekt leise. Niemand anders hätte das Geschmeide durch seine Berührung zum Leuchten bringen können. Dieser Zauber, der schon in den dreißiger Jahren von Meisterhexer Sir Edward Eimer erfunden worden war, war niemals erfolgreich analysiert worden, und niemand wußte, welchem Hexer im Augenblick die Aufgabe zukam, dieses Geheimnis zu hüten und die königlichen Abzeichen herzustellen. Dieses Abzeichen würde nie wieder leuchten. »Das stimmt«, sagte Lord Darcy. »Jetzt wissen wir, was Commander Peabody gemacht hat, seit er den Marinedienst -7 8 9
quittierte. Und es erklärt auch, wieso er in einem solch frühen Alter ehrenvoll in den Ruhestand gehen konnte.« »Ob seine Schiffskameraden das wissen?« fragte Sarto. »Wahrscheinlich nicht«, meinte Lord Darcy. »Wer Bote des Königs ist, hängt das nicht an die große Glocke.« »Nein. Aber ich meine nicht, daß uns seine Identifikation sehr viel weiterbringt.« »Noch haben wir den Rest der Kabine nicht gründlich untersucht.« Zwanzig Minuten später sagte Präfekt Cesare Sarto: »Nichts. Absolut nichts. Und wir haben alles durchsucht. Was genau wollt Ihr eigentlich finden?« »Ich weiß es selbst nicht so recht«, gestand Lord Darcy, »aber ich weiß, daß es existiert. Gut, es könnte zusammen mit dem Abteilschlüssel auch auf den Bahngleisen geendet sein. Hmmm.« Mit scharfem Blick musterte er das Abteil. Dann hielt er inne und starrte auf die Stelle unmittelbar über der Liege, auf der der Leichnam lag. »Natürlich«, sagte er ganz leise, »das obere Bett.« Das obere Bett war gegen die Wand geklappt und fest eingerastet, was den Raum im Abteil vergrößerte, da Matratze und Bettwäsche keinen Platz wegnahmen. »Holt Fred«, sagte Lord Darcy. »Der hat einen Schlüssel.« Fred hatte in der Tat einen Schlüssel, und den hatte er die ganze Zeit auch benutzt. In den anderen Abteilen waren die Betten alle gemacht - die oberen fest hochgeklappt, und die unteren als Tagesliegen ausgerichtet. Er konnte zwar nicht verstehen, weshalb die Herren von ihm verlangten, daß er die obere Liege aufschloß, aber er widersprach nicht. Er griff -7 9 0
empor, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn und ließ die Pritsche in die Horizontale herunter, wobei er sich Mühe gab, die Augen von dem Ding abzuwenden, das auf der unteren Liege lag. »Aha! Was haben wir denn hier?« Lord Darcy klang erfreut, als er das große Lederetui aufnahm, das auf der oberen Liege ruhte. Dann wandte er sich an Fred. »Das war's erst einmal, Fred. Wir werden Euch rufen, wenn Ihr wieder abschließen sollt.« »Selbstverständlich, Father.« Er machte sich wieder an seine Routinearbeit. Erst nachdem er gegangen war, drehte Seine Lordschaft den Umschlag, der das Format siebzehn mal zwölf mal drei hatte, um. Er trug das königliche Siegel, in Gold gestempelt, unmittelbar unterhalb der Lasche. »Oh!« machte Master Sean. »Das ist ja mehr, als wir erwartet haben.« Er warf Lord Darcy einen Blick zu. »Oder habt Ihr einen Umschlag mit Diplomateninhalt erwartet, Father?« »Eigentlich nicht. Einen Umschlag oder ein Etui schon, denn königliche Boten befördern meistens Botschaften, und es war wahrscheinlich, daß es keine rein mündliche Nachricht sein würde. Aber dieses Etui ist schwer, es muß an die fünf oder sechs Pfund wiegen. Die Lasche ist aufgeschlossen und nicht wieder verschlossen worden. Ich wette, daß auf den Bahngleisen somit also zwei Schlüssel liegen.« Er öffnete das Etui, holte ein schweres Manuskript hervor und blätterte es durch. »Was ist das?« fragte Cesare Sarto. »Ein Abkommen. In Griechisch, Lateinisch und AngloFranzösisch. Zwischen Roumeleia und dem Reich.« Seine Stimme klang abgehackt. -7 9 1
Master Sean öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, schloß sie jedoch sofort wieder. Lord Darcy schob das Manuskript wieder in seine große Lederumhüllung und schloß die Lasche. »Das ist nicht für unsere Augen bestimmt, Gentlemen. Aber nun haben wir unseren Beweis. Ich kann Euch nun genau sagen, wie John Peabody starb, und ich kann es auch beweisen. Ihr könnt Eure Verhaftung schon sehr bald vornehmen, Präfekt.«
Als der Napoliexpreß in südöstlicher Richtung dahinrumpelte, an der Küste des Tyrrhenischen Meeres entlang, der Tibermündung entgegen, befanden sich siebzehn Männer im Aussichtswaggon. Außer den zwölf Marineoffizieren waren ferner anwesend: Präfekt Cesare Sarto, Master Sean, Lord Darcy sowie Fred, der Tagesdiensthabende, und Waggonchef Edmund. Letzteren hatte man dazugebeten, weil es schließlich um seinen Zug ging die und Sache folglich auch seiner Verantwortung oblag. Präfekt Sarto stand neben der verschlossenen Tür zur Aussichtsplattform im hinteren Teil des Waggons und musterte die sechzehn Augenpaare, die sich alle auf ihn gerichtet hatten. Wie ein Schauspieler auf der Bühne kannte der Präfekt nicht nur den Handlungshergang, sondern auch seine Einsätze und Pausen. Father Armand saß zu seiner Linken am Ende der Sitzbank. Fred stand hinter der Theke. Der Waggonchef saß am Gangende der Theke. Master Sean stand am Gangeingang. Die Marineleute saßen alle. Die Bühne war bereit. »Gentlemen«, fing der Präfekt an, »wir haben viele Stunden darauf verwandt zu versuchen, die Tatsachen zu sichten und zu gewichten, die sich um den Tod Eures ehemaligen Schiffskameraden Commander John Peabody rankten. O ja, Kapitän Sir Stanley, ich weiß, wer Ihr alle seid. Ihr und Eure Offizierskameraden haben mich zwar unentwegt angelogen -7 9 2
und die Wahrheit verschleiert, womit sie die Lösung dieses tödlichen Puzzlespiels hinausgezögert haben. Doch jetzt wissen wir es dennoch. Als erstes wissen wir, daß der verstorbene Commander ein offizieller Bote seiner Kaiserlichen Majestät John von England war. Zweitens wissen wir, daß er der Mann war, der seinen vorgesetzten Stellen einst meldete, was er über die Geliebte des verstorbenen Nicholas Jourdan wußte; Tatsachen, die er im Rahmen seiner Tätigkeit als Schiffssicherungsoffizier ans Licht des Tages hatte bringen können. Diese Tatsachen führten zur zwangsweisen Pensionierung Jourdans und, möglicherweise, schließlich auch zu seinem Tod.« Forschend betrachtete er ihre Gesichter. Sie verhielten sich alle abwartend, und in ihrem Ausdruck war ein feindseliger Unterton zu bemerken. »Drittens wissen wir, wie John Peabody getötet wurde, und wir wissen auch, von wem! Eure Verschleierungstaktik war erfolglos, Gentlemen. Soll ich Euch verraten, was letzte Nacht geschah?« Abwartend sahen sie ihn mit festem Blick an. »John Peabody war ein Mann, der enorm viel Alkohol vertrug, und doch hat er letzte Nacht die Besinnung verloren. Nicht wegen des Alkohols, sondern weil jemand ihm Drogen in einen seiner Drinks applizierte. Doch selbst diesen konnte er länger als erwartet widerstehen. Dann, als Peabody ohnmächtig geworden war, schlich sich ein Mann lautlos in Peabodys Abteil. Er hatte nicht vor, ihn umzubringen; er war nicht einmal bewaffnet. Er wollte vielmehr einige äußerst wichtige Papiere entwenden, die Peabody in seiner Eigenschaft als Bote des Königs bei sich führte. Aber es ging etwas schief. Peabody wachte aus seiner Betäubung auf, zumindest wurde er wach genug, um zu begreifen, was los war. Er griff nach -7 9 3
seinem Spazierstock mit dem silbernen Knauf. Doch der Eindringling packte den Stock als erster. Nun war Peabody ein kräftiger Mann und ein geschickter Kämpfer, sogar im betrunkenen Zustand, wie die meisten von Euch wissen. In dem einsetzenden Handgemenge benutzte der Eindringling den Stock als Hiebwaffe und schlug immer und immer wieder auf Peabody ein. Betäubt und zerschunden, wehrte sich der zähe, tapfere Mann bis zum Schluß. Keiner von beiden hat geschrien: Peabody nicht, weil es nicht seine Art war, um Hilfe zu rufen; der Eindringling nicht, weil er kein Aufsehen erregen wollte. Endlich forderten die Hiebe ihren Preis: Peabody brach mit eingeschlagenem Schädel zusammen. Er lag im Sterben. Der Eindringling horchte. Niemand war aufmerksam geworden. Er hatte noch Zeit. Er fand das schwere Diplomatenetui mit den wichtigen Dokumenten. Doch was sollte er damit tun? Er konnte nicht stehenbleiben und sie durchlesen, weil Tonio, der Nachtschichtmann, schon bald zurückkehren würde. Mitnehmen konnte er sie auch nicht, weil die Mappe viel zu groß war, als daß er sie am Leib hätte verstecken können, und wenn Tonio ihn damit gesehen hätte, hätte er das später gemeldet, nachdem er die Leiche gefunden hatte. Also versteckte er die Papiere in der oberen Liege von Peabodys Abteil, in der Absicht,, sie später an sich zu nehmen. Dann nahm er Peabodys Schlüssel, verschloß das Abteil, warf den Schlüssel aus dem Zug und machte sich davon. Er hoffte, daß er noch hinreichend Zeit haben würde, weil der Leichnam normalerweise erst jetzt, vor ungefähr einer Stunde, gefunden worden wäre. Aber wenn er auch im Sterben lag, war Peabody doch noch nicht tot. Schädelwunden bluten oft sehr heftig, und das war auch hier der Fall. Das Blut tropfte auf den Boden und sickerte unter der Tür durch. Tonio entdeckte das Blut - und den Rest kennt Ihr! Nein! Gentlemen, das war kein Rachemord, wie wir zuerst glaubten. Dieser Mord wurde von jemandem begangen, von -7 9 4
dem wir annehmen, daß er ein Agent der Serka, des polnischen Geheimdienstes ist - oder der zumindest in ihrem Sold steht.« Nun blickten sie nicht mehr auf Cesare Sarto, sondern sahen einander an. Sarto schüttelte den Kopf. »Nein, wieder falsch, meine Herren. Nur ein Mann besaß gestern nacht den Schlüssel zu der oberen Liege!« Er sah zur Bar hinüber.
»Waggonchef Edmund Norton«, sagte er kalt. »Ihr seid verhaftet!« Der Waggonchef war bereits aufgesprungen und drehte sich, um in den Gang hinauszulaufen. Wenn er die Tür erreichen und diese Männer einsperren könnte... Doch der stämmige kleine Master Sean O Lochlainn versperrte ihm den Weg. Norton war größer und kräftiger als der Hexer, doch hatte er nur Sekunden Zeit, was für einen Kampf nicht ausreichte. Plötzlich hatte er ein Messer mit einer Sechszollklinge gezückt und ließ es heimtückisch hervorschnellen. Master Seans Rechte machte eine einzige, komplizierte Geste. Norton versteinerte, für eine lange Sekunde völlig gelähmt. Dann sackte er wie ein rotblauer feuchter Mehlsack zu Boden. Master Sean riß ihm noch im Fall das Messer aus den leblosen Händen. »Wollte nicht, daß er auf das Messer stürzt und sich verletzt«, sagte er beinahe entschuldigend. »Wenn ich den Zauber von ihm nehme, kommt er schon wieder zu sich.« Die Marineleute waren ausnahmslos aufgesprungen und starrten Master Sean an. Commander Hauser befingerte seinen Bart. »Ich wußte gar nicht, daß ein Hexer so etwas kann«, sagte er mit eingeschüchterter, fast ängstlicher Stimme. -7 9 5
»Das geht auch nur, wenn ein Hexer angegriffen wird«, erklärte Master Sean. »Mein Zauber hat seine eigene geistige Kraft lediglich auf ihn zurückgeworfen. Hat seinem Nervensystem einen fürchterlichen Schock verpaßt, als der Fluß plötzlich gewaltsam umgelenkt wurde. Es ist etwas Ähnliches wie bei manchen Formen der unbewaffneten Selbstverteidigung, wo man die Kraft des Gegners gegen ihn selbst richtet. Wenn er einen nicht angreift, kann man nicht viel machen.« Der römische Präfekt schritt zu dem Waggonchef hinüber, holte ein Paar Handfesseln hervor und fesselte Nortons Handgelenke damit hinter seinem Rücken. »Fred, Ihr solltet jetzt besser den Stellvertretenden Waggonchef holen, der muß hier ab jetzt übernehmen. Und sagt dem Wachmeister, der am Ende des Gangs wartet, er soll hereinkommen. Ich will, daß er den Gefangenen jetzt übernimmt. Kapitän Sir Stanley, Korvettenkapitän Hauser, würde es Euch etwas ausmachen, wenn wir, bis wir in Rom sind, Euer Abteil benutzen? Danke. Dann helft mir bitte, ihn dorthin zu bringen.« Der Stellvertretende Waggonchef kam mit Fred zurück, und der Präfekt erklärte ihm die Sachlage. Er wirkte etwas benommen, übernahm dann aber durchaus kompetent die Aufgaben seines Vorgängers. Fred, der wieder hinter der Theke stand, wirkte immer noch schockiert. »Na, na, Fred«, sagte der Präfekt, »Ihr braucht etwas zu tun. Gebt jedem, der möchte, etwas zu trinken, und schenkt Euch selbst auch einen guten, steifen Schluck ein.« »Woher wußtet Ihr denn, daß nicht ich es war, der gestern abend diese obere Liege aufgeschlossen hat?« fragte Fred flüsternd. »Aus dem gleichen Grund, aus dem ich wußte, daß es niemand aus den anderen Waggons war«, erwiderte Cesare Sarto, ebenfalls flüsternd. »Der Speisewagen war abgeschlo ssen, -7 9 6
und Ihr habt keinen Schlüssel dazu. Tonio schon, aber der hatte keinen Schlüssel zu den Liegen. Nur der Waggonchef besitzt sämtliche Schlüssel dieses Waggons. Nun macht endlich diese Drinks.« Es galt, sechzehn Personen zu bedienen, und so machte sich Fred an die Arbeit. Boothroyd strich sich das weiße Haar glatt. »Wann hat der Waggonchef Peabodys Drink denn mit Drogen versetzt?« Master Sean nahm die Frage auf. »Gestern abend, nachdem wir Marseille verließen, als Norton Tonio wegschickte, um etwas zu besorgen. Er bat Tonio, ein paar Handtücher zu holen, doch wären die erst am Morgen gebraucht worden. Tonio hätte immer noch genügend Zeit gehabt, sie zu holen, nachdem wir alle schlafen gegangen waren. Aber Peabody trank gerade etwas, und Norton wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihn zu betäuben. Ich habe selbst gesehen, wie leicht es für einen Barkeeper sein kann, unbemerkt etwas in einen Drink zu schmuggeln.« Er vermied es, Zeisler dabei anzusehen. Sir Stanley räusperte sich. »Ihr habt gesagt, daß wir alle gelogen hätten, Präfekt, daß unsere Verschleierungsaktion erfolglos, war. Was meint Ihr damit?« Lord Darcy hatte Sarto bereits aufgetragen, den ganzen Ruhm für die Aufklärung des Falls auf sich zu nehmen, weil es für einen Geistlichen nicht geziemend sei, in derlei Dinge verwickelt zu werden. So war Cesare Sarto so klug, nicht zu erwähnen, wessen Schlußfolgerungen er nun referierte. »Ihr wißt ganz genau, was ich damit meine, Kapitän. Ihr und Eure Männer seid nicht einer nach dem anderen in Peabodys Abteil gegangen, um Euch mit ihm freundschaftlich zu unterhalten. Ihr wolltet ihm, jeder einzelne von euch, etwas Bestimmtes mitteilen, dem Mann, der Kapitän Jourdan beruflich das Genick gebrochen hat. Wollt Ihr mir nun verraten, was das war?« -7 9 7
»Sollten wir eigentlich, nicht wahr? Na schön. Wir waren uns ziemlich sicher, daß er uns mied, weil er glaubte, daß wir ihn hassen würden. Haben wir aber nicht. War schließlich nicht seine Schuld, nicht wahr? Hat nur seine Pflicht erfüllt, als er meldete, was er über diese Sizilianerin wußte. Hätte jeder von uns auch getan. Stimmt's Commander?« »Da habt Ihr aber verdammt recht«, brummte Commander Hauser. »Hätt' ich auch gemacht. Einige von uns älteren Offizieren haben den Kapitän von Anfang an gewarnt, daß sie nichts taugt, aber er wollte ja nicht hören. Wenn ihm irgend etwas das Herz gebrochen hat, dann nur die Tatsache, daß sie ihn zum Narren gehalten hat, da sollte man sich mal nichts vormachen.« Kapitän Sir Stanley nahm den Faden wieder auf. »Deshalb sind wir also einzeln zu ihm gegangen. Um ihm zu sagen, daß wir es ihm nicht nachtragen. Selbst Leutnant Jamieson, nicht wahr, mein Sohn?« »Aye, aye, Sir. Ich mochte ihn zwar nicht, aber nicht aus diesem Grund.« Der Präfekt nickte.»Ich glaube Euch. Aber genau da kam auch das Tarnungsmanöver ins Spiel. Denn jeder von Euch hat geglaubt, daß einer von Eurer Gruppe Peabody getötet hat!« Schweigen. Das Schweigen stummer Zustimmung. »Ich habe Euch beobachtet, habe Euch zugehört«, fuhr der Präfekt fort.»Jeder von Euch ist im Geiste alle elf anderen durchgegangen und gelangte jedesmal zu dem Urteil Unschuldig. Aber der nagende Zweifel blieb bestehen. Und Ihr habt befürchtet, daß ich in dem, was Peabody vor drei Jahren getan hat, ein hinreichendes Mordmotiv erblicken würde. Also habt Ihr mir nichts erzählt. Ich muß zugeben, daß ich zu einem gewissen Zeitpunkt aufgrund dieses ausweichenden Verhaltens, wegen dieser Lügen Euch alle im Verdacht hatte.« -7 9 8
»Beim heilg'n Georg! Wieso ist denn dann Euer Verdacht überhaupt auf Norton gefallen, Sir?« fragte Leutnant Valentine Herrick. »Weil mir gemeldet wurde, daß der Waggonchef schon eine halbe Minute später auftauchte, nachdem Tonio das Blut entdeckt hatte. Norton war seit drei Uhr morgens des Vortags auf den Beinen gewesen. Was hatte er also dann heute um ein Uhr morgens in voller Uniform hier zu suchen? Warum hatte er den Dienst nicht, wie üblich, an den Stellvertretenden Waggonchef übergeben? Als ich das hörte, wurde ich nachdenklich.« Leutnant Lyman Vanderpole fuhr sich mit dem Finger über sein Bindfadenbärtchen. »Aber bevor Ihr diese Mappe gefunden hattet, konntet Ihr Euch nicht sicher sein, nicht wahr, mein Herr?« »Nein, natürlich nicht. Aber wenn einer von Euch vorsätzlich an Bord gekommen wäre, um einen Mord zu begehen, dann hätte er doch wahrscheinlich seine eigene Waffe mitgebracht. Oder wenn er diesen Degenstock hätte benutzen wollen, hätte er doch wohl die Klinge benutzt, schließlich wußtet Ihr ja alle davon. Norton freilich nicht, versteht Ihr?« Oberleutnant Simon Lamar blickte Father Armand an. »Es wundert mich, Hochwürden, daß Ihr bei dem Handgemenge nebenan nicht wachgeworden seid.« »Das wäre ich auch sehr wahrscheinlich«, erwiderte Lord Darcy. »Auf diese Weise konnten wir auch den genauen Zeitpunkt bestimmen. Tonio hat gegen Mitternacht den Wagen verlassen, um nach vorne zu gehen. Um diese Zeit befanden Master Seamus und ich uns auf der hinteren Plattform. Ich rauchte eine Pfeife, und er leistete mir dabei Gesellschaft. Um zwanzig nach zwölf sind wir in unser Abteil zurückgekehrt. Norton wußte natürlich nicht, daß wir dort draußen waren, aber der Mord muß -7 9 9
während dieser zwanzig Minuten geschehen sein. Was wiederum bedeutet, daß der Mord stattfand, bevor wir die italienische Grenze überquerten, so daß Norton an das Herzogtum Provence ausgeliefert werden muß.« Fred begann die Drinks zu servieren, die er gemixt hatte, doch bevor irgend jemand einen Schluck nehmen konnte, sagte Kapitän Sir Stanley Galbraith: »Einen Augenblick bitte, Gentlemen. Ich möchte einen Trinkspruch darbieten. Vergeßt nicht, daß wir nach der Beerdigung in Napoli noch an einem zweiten Begräbnis werden teilnehmen müssen.« Als Fred das letzte Getränk serviert hatte, blieb er respektvoll abseits stehen, sein eigenes Glas in der Hand. Die anderen erhoben sich. »Gentlemen«, sagte der Kapitän. »Auf Commander John Wycliffe Peabody, der seine Pflicht tat, wie er sie verstand, und ehrenvoll im Dienste seines Königs starb.« Schweigend tranken sie auf das Ableben des Verstorbenen.
Um zwanzig nach eins hatte der Napoliexpreß Rom bereits zwölf Meilen hinter sich gelassen und befand sich auf dem letzten Reiseabschnitt Richtung Napoli. Lord Darcy und Master Sean waren in ihrem Abteil und ruhten sich nach einem ausgezeichneten Mittagessen aus. »My Lord«, sagte der Hexer, »seid Ihr sicher, daß es richtig war, diese Vertragskopien der Polizeipräfektur zur Weiterreichung an den Marinegeheimdienst zu überlassen?« »Das stellt nicht das geringste Risiko dar.« »Gut, aber wozu sollen wir unsere Exemplare dann nach Athen bringen?« »Mein guter Sean, das Zeug, das Peabody mit sich führte, war alles gefälscht. Ich habe es mir sehr sorgfältig angesehen. Eine -8 0 0
der Klauseln besagte zum Beispiel, daß ein gemeinsamer anglofranzösisch-griechischer Marinestützpunkt auf 29 Grad 51 Minuten Nord, 12 Grad 10 Minuten Ost errichtet werden soll.« »Was ist denn daran auszusetzen, My Lord?« »Nichts, nur daß das mitten in der Sahara liegt.« »Oh.« »Kyrils Unterschrift war gefälscht. Sie bestand aus lateinischen Buchstaben, obwohl der Basileus nur Griechisch liest und schreibt. Die griechischen und lateinischen Texte stimmten nicht miteinander überein, und mit der anglo französischen Fassung auch nicht. An einer Stelle im griechischen Text wird Konstantinopel als Hauptstadt Englands bezeichnet, während Paris darin die Hauptstadt Griechenlands sein soll. Ich könnte pausenlos so fortfahren. Das ganze Ding war nichts als ein Haufen Unsinn.« »Aber - warum das!« »Da kann man natürlich nur spekulieren. Ich vermute, es war ein Ablenkungsmanöver. Überlegt doch mal. Sechzehn Männer, die zu einer Beisetzung reisen, und in letzter Minute wird vieren von ihnen der Urlaub gestrichen. Warum? Ich wittere die Handschrift Seiner Majestät darin. Ich glaube, damit sollte sichergestellt werden, daß Peabody zusammen mit seinen Offizierskameraden an Bord gelangte. Es sollte wie ein Tarnmanöver aussehen, so als ob er ebenfalls zu Jourdans Beisetzung wollte. Ich nehme an, es ist folgendes geschehen: Seine Majestät hat erfahren, daß die Serka irgendwie Wind von unserem Seeabkommen mit Roumeleia bekommen hat. Aber sie wußten nicht, daß es von Prinz Richard als Stellvertreter in Rouen unterzeichnet wurde, so daß sie bereits in London Jagd darauf machten. Also hat Seine Majestät diesen absolut unsinnigen Pseudovertrag aufsetzen und von Peabody befördern lassen. Er war nur ein Köder.« »Hat Peabody davon gewußt?« fragte Master Sean. -8 0 1
»Sehr unwahrscheinlich. Wenn jemand weiß, daß es nur ein Ablenkungsmanöver ist, dann wird er auch dazu neigen, sich entsprechend zu verhalten, was das ganze Kartengebäude zum Einsturz bringt. Nein, das wußte er nicht. Hätte er sich wohl bis zum Tod gewehrt, um ein gefälschtes Dokument zu retten? Natürlich hat er als Offizier von Ehre das Etui, nachdem es erst einmal verschlossen worden war, nicht mehr geöffnet, so daß er seinen Inhalt nicht kannte.« »Aber My Lord! Wenn er nur ein Köder gewesen sein soll, wenn er die Agenten der Serka auf die falsche Spur locken sollte, während Ihr und ich den echten Text nach Athen bringen - warum hat man uns diesen Lockvogel dann praktisch in den Schoß geworfen!« »Ich glaube«, sagte Seine Lordschaft mit vorsichtig gewählten Worten, »daß wir irgendwo eine Verbindung verpaßt haben. Vielleicht hat man - nein, bestimmt hat man irgendwo noch ein anderes Transportmittel für uns bereitgehalten. Aber es muß irgend etwas schiefgelaufen sein. Dennoch wird alles zum Besten ausgehen, mein guter Sean. Ein Mord an Bord des Napoliexpreß wird mit Sicherheit Schlagzeilen machen, aber die Geschichte wird derart konfus erscheinen, daß die Serka die richtigen Zusammenhänge erst begreifen wird, wenn es schon zu spät ist.« »Es wäre noch konfuser geworden, wenn Cesare seine Verschwörungstheorie vorgebracht hätte«, meinte der Magier. »Auf seinem Gebiet ist er ein sehr guter Mann, aber er hat keine Menschenkenntnis.« »Sein Problem«, entgegnete Lord Darcy, »ist, daß er ein Meister des Papierkriegs ist. Auf dem Papier kann er eine Verschwörung auf zwanzig Meilen wittern. Aber Geschriebenes vermittelt eben nicht dieselben Nuancen wie das gesprochene Wort. Eine Verschwörung läßt sich leicht anzetteln, solange es nur um Schreibarbeit dabei geht, und um sie zu enttarnen, bedarf es eines Experten. Aber Ihr als Hexer und ich als -8 0 2
Kriminalinspektor wissen genau, daß eine Gruppe von Menschen eine Verschwörung nicht so lange aufrechterhalten kann.« »Aye, My Lord«, stimmte der rundliche kleine Ire ihm zu. »Ich bin froh, daß Ihr mich gebremst habt. Ich hätte Cesare beinahe ins Gesicht gesagt, daß seine Theorie närrisch war. Dieser Haufen hätte doch bereits alles schon verraten, noch bevor sie überhaupt fertig gewesen wären. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß Zeisler eine solche Sache für sich behalten könnte? Oder daß der junge Jamieson nicht zusammengebrochen wäre?« Lord Darcy schüttelte den Kopf. »Die Gruppe konnte ja nicht einmal die Tatsache erfolgreich verbergen, daß sie etwas so Harmloses getan hatten wie einem alten Kameraden zu versichern, daß sie nicht schlecht von ihm dachten. Noch lächerlicher ist die Vorstellung, daß eine derartige Gruppe, egal welcher Art, sich ausgerechnet einen Zug aussuchen würde, um einen Mord zu begehen, einen Tatort also, an dem sie für Stunden in der Falle sitzen würden. Diese Männer sind nicht dumm, es sind ausgebildete Marineoffiziere. Die hätten Peabody entweder in Paris umgebracht oder bis Napoli abgewartet. Dann hätten sie zwar immer noch nicht dichthalten können, aber sie hätten wahrscheinlich geglaubt, daß sie dann eine bessere Chance hätten.« »Aber trotz allem«, sagte Master Sean treu, »ist Cesare Sarto ein guter Ermittlungsbeamter.« »Dem muß ich zustimmen«, meinte Lord Darcy. »Er besitzt die Fähigkeit, selbst dann noch Antworten zu finden, wenn man es gar nicht haben will.« »Wie meint Ihr das, My Lord?« »Als er und Präfekt Angelo Norton abführten, gab er mir die Hand und bedankte sich. Ich habe die üblichen Floskeln vorgebracht. Ich sagte, daß ich hoffte, ihn einmal -8 0 3
wiederzusehen. Er hat den Kopf geschüttelt und gesagt: Ich fürchte, Father Armand werde ich wohl nie wiedersehen. Aber ich hoffe, eines Tages einmal Lord Darcy kennenzulernen« Master Sean nickte stumm. Der Zug fuhr weiter in Richtung Napoli. Ende
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Band 10
Bitteres Ende
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Master Sean O Lochlainn liebte die Stadt Paris nicht besonders. Das war ein überfüllter, lärmender Flußhafen, der sich eine gewaltige Größe anmaßte, die aber tatsächlich nur aus Erinnerungen an verflossenen Ruhm bestand. Gewiß, es ließ sich nicht leugnen, daß die Stadt früher einmal der Sitz der alten Könige von Frankreich gewesen war; ebensowenig ließ sich leugnen, daß der letzte der Karpetinger im Jahre 1215 von Richard Löwenherz getötet und daß seitdem siebeneinhalb Jahrhunderte verstrichen waren; doch wenn sie gekonnt hätten, hätten die Pariser beides abgestritten. Einer der wenigen Orte, wo sich Master Sean in dieser riesigen Stadt einigermaßen wohl fühlte, war hier, in der International Bar des Hotel Cosmopolitain. Er trug die gewöhnliche Reisekleidung des Gentleman, nicht das Blau mit den silbernen Streifen, das ihn als Meisterhexer gekennzeichnet hätte, und auch nicht die Insignien, an denen man ihn als Obersten Gerichtshexer seiner Königlichen Hoheit Richard, Herzog der Normandie, hätte erkennen können. Es war vier Uhr an einem angenehmen Oktoberabend, und in der Internationalen Bar wechselte gerade die Schicht, ein Barmann und zwei Kellner wurden von ihren Abendkollegen abgelöst. Das bedeutete, daß der Service für einige Augenblicke zum Erliegen kommen würde, doch das machte Master Sean nichts aus; er hatte immer noch ein gut halbes Pint Bier in seinem Krug, und der gedrungene kleine irische Magier war kein schneller Trinker. Es war nicht gerade das beste Bier auf der Welt; im Anglo-Französischen Reich brauten die Engländer das beste Bier und die Normannen das zweitbeste. Zwar gab es hier einige ausgezeichnete Weine, doch pflegte Master Sean Wein normalerweise nur zu Mahlzeiten zu trinken. Scharfen Getränken sprach er nur sehr selten zu. Bier war ihm am liebsten, und dieses Zeug hier war eigentlich nicht wirklich schlecht, es war nur nicht so gut, wie er es bevorzugte. Er seufzte und nahm einen weiteren beherzten Schluck. Er mußte -8 0 6
Zeit totschlagen, und er wußte keinen anderen Ort, wo er dies tun konnte. Um 6.05 Uhr abends würde er den Westzug nehmen, der die neunzig Meilen bis Rouen befuhr, so daß ihm noch zwei weitere Stunden des Nichtstuns blieben. Zu seinen Füßen lag der symbolverzierte Reisesack, der nicht nur die Werkzeuge seines Berufs enthielt, sondern heute auch das thaumaturgische Beweismaterial im Fall Zellerman-Blair, das von seinem Kollegen, dem Obersten Gerichtshexer Seiner Gnaden, des Herzogs von Isle, abzuholen er eigens nach Paris gekommen war. Jeder, der diesen Reisesack bemerkt hätte, hätte in Master Sean sofort den Hexer erkannt, aber das war nicht weiter schlimm; schließlich reiste er ja nicht inkognito. »Kann ich Ihnen noch mit eine m weiteren Bier dienen, mein Herr?« Master Sean hob den Blick von seinem fast leeren Krug und schob ihn mit einem Lächeln über die Theke. »Das könnt Ihr in der Tat«, erwiderte er dem Barmann. »Und könnte es vielleicht sein, daß ich den Zungenschlag der Grafschaft Meath in Eurer Stimme wiedererkenne?« Der Barmann betätigte die Zapfpumpe. »Das könnte in der Tat sein«, antwortete er und erwiderte das Lächeln. »Und Ihr stammt vielleicht aus der Gegend nördlich von Mayo?« »Da seid Ihr nahe dran«, sagte Master Sean. »Aus Sligo.« Im International waren nicht allzu viele Leute: sechs an der Bar, Master Sean nicht eingerechnet, und ein Dutzend weiterer Gäste, die in den Nischen und an den Tischen saßen. Es würde noch eine Stunde dauern, bis es hier richtig voll war. Der Barmann entschied, daß ihm wohl noch einige Minuten für ein freundliches Geplauder mit einem irischen Landsmann blieben. Er täuschte sich. Einer der Kellner kam hereingeeilt. »Murtaugh, komm her«, sagte er mit drängendem Unterton. »Da ist irgend etwas nicht in Ordnung.« Murtaugh runzelte die Stirn. »Was denn?« Der Kellner warf warnende Blicke um sich. »Komm schon.« -8 0 7
Der Barmann zuckte die Schultern, trat hinter dem Tresen hervor und folgte dem Kellner zu einer Nische an der gegenüberliegenden Ecke. Master Sean, der so neugierig war wie jeder andere Mensch auch, wenn nicht sogar eine Spur mehr, drehte sich auf seinem Barhocker um, um den beiden zuzusehen. Der Raum war nicht besonders hell erleuchtet, und die Nische lag teilweise im Dunkeln, doch die scharfen blauen Augen des Hexers konnten die meisten Einzelheiten ausmachen. In der Nische saß ein gutgekleideter Mann. Er war allein, lehnte gegen die Wand und hielt den Kopf vorgeneigt, als wäre er gänzlich in die Zeitung versunken, die in seinen auf dem Tis ch ruhenden Händen lag. Zu seiner Rechten stand ein Glas, das entweder gänzlich geleert war oder zumindest zum größten Teil; das ließ sich von Master Seans Position aus nicht genau feststellen. Der Mann bewegte sich nicht und sagte auch nichts, als der Barmann ihn ansprach. Der Barmann berührte ihn an der Hand, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Immer noch nichts. Master Seans gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß er sich aus dieser Sache heraushalten sollte. Das alles ging ihn nichts an. Er mußte seine n Zug noch bekommen. Er war... er war einfach von unersättlicher Neugier erfüllt. Die Sinnesorgane und Wahrnehmung eines Magiers sind höher entwickelt, besser ausgebildet und empfindlicher als die eines gewöhnlichen Menschen. Sonst wäre er kein Magier. Master Seans gesunder Menschenverstand riet ihm zwar dazu, sich aus der Sache herauszuhalten, seine anderen Sinne aber sagten ihm, daß dieser Mann tot sei und daß die Geschichte wahrscheinlich komplizierter war, als es den Anschein haben mochte. Noch bevor der Barmann und der Kellner irgend etwas in der Nische oder um sie herum durcheinanderbringen konnten, hatte Master Sean schon seinen Reisesack aufgenommen und war schnell und unauffällig zu der Nische hinübergegangen. Doch er mußte feststellen, daß er die Klugheit und die Geistesgegenwart seines irischen Landmannes unterschätzt hatte. -8 0 8
Der Barmann Murtaugh sagte gerade: »Nein, wir rühren ihn nicht an, John-Pierre. Geh du hinaus und hole einen Wachmann und einen Heiler. Ich bin mir ziemlich sicher, daß der Bur sche tot ist, aber bring trotzdem einen Heiler mit. Und nun beweg dich.« Als der Kellner sich davonmachte, erblickte Murtaugh Master Sean. »Bitte kehrt an den Tresen zurück, Sir«, sagte er. »Der alte Herr ist etwas unpäßlich, und ich habe schon nach einem Heiler geschickt.« Master Sean hatte bereits seinen Ausweis gezückt. »Ich verstehe. Ich glaube nicht, daß es sonst jemand bemerkt hat. Wir können zwar hier so lange herumstehen, bis John-Pierre zurückgekehrt ist, aber es würde Aufmerksamkeit erregen, wenn Ihr länger nicht auf dem Posten wäret. Ich dagegen kann mich hier sehr wohl aufbauen und so tun, als würde ich mich mit ihm unterhalten, dann wird niemand etwas merken. In der Zwischenzeit könnt Ihr hinter die Theke zurückkehren und sorgfältig darauf achten, ob sich irgend jemand im Raum am Geschehen in dieser Nische außergewöhnlich interessiert zeigt.« Murtaugh reichte Master Sean die Ausweispapiere zurück und entschied sich. »Ich halte die Augen offen, Meisterhexer.« Und er begab sich wieder auf seinen Posten. Die uniformierten Wachmänner waren eingetroffen, hatten ihre Voruntersuchungen durchgeführt und die Bar hermetisch abgeriegelt. Einige der Gäste reagierten zwar mit Empörung, ließen sich aber schon bald wieder beruhigen. Der Heiler, ein gewisser Bruder Paul, untersuchte den Leichnam und sagte schließlich nach einigen nachdenklichen Minuten: »Das könnte alles mögliche sein - ein Herzanfall, innere Blutungen, Drogen, Alkohol. Ich müßte erst von einem Chirurgus eine Autopsie durchführen lassen, bevor ich auch nur eine der möglichen Todesursachen beeiden könnte.«
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»Wie lange ist er wohl Eurer Meinung nach tot, Bruder Paul?« »Mindestens eine halbe Stunde, Master Sean. Vielleicht auch eine ganze. Sagen wir fünfundvierzig Minuten, dann kommen wir der Wahrheit wohl schon recht nahe. Merkwürdig, wie er einfach nur dagesessen ist, ohne umzufallen, nicht wahr?« Master Sean wünschte sich, daß er hier offiziell etwas zu sagen gehabt hätte; dann hätte es keine halbe Minute gedauert, und er hätte seine Instrumente ge zückt und einige Tatsachen gesichert. »Das ist ein alter Schuljungentrick«, erwiderte er auf die Bemerkung des Heilers. »Das habt Ihr bestimmt auch schon gemacht. Man merkt, daß man schläfrig wird, also stützt man sich am Pult so ab, damit man nicht vornübersackt - genau wie er es dort in der Ecke getan hat. Dann legt man die Unterarme auf die Pultplatte - in diesem Fall auf die Tischplatte - und legt den Lesestoff dazwischen, damit alles natürlich aussieht. Schließlich neigt man den Kopf vor. Wenn man alles richtig gemacht hat, kann man dabei voll einschlafen und dennoch so aussehen, als wäre man in Lektüre vertieft, es sei denn, jemand bemerkt, daß man die Seiten nicht umblättert. Oder man wird zufällig aus dem richtigen Winkel angeschaut, um festzustellen, daß man die Augen geschlossen hat.« »Das würde nahelegen, daß er die Schläfrigkeit kommen gespürt hat«, meinte Bruder Paul Master Sean nickte. »Es ist unwahrscheinlich, daß er so auf einen Herzanfall reagiert hätte. Wenn ein Mann sehr betrunken ist, besitzt er meistens nicht mehr genug Beherrschung oder Geistesgegenwart, um die Sache richtig durchzuführen. Ein Betrunkener legt den Kopf einfach nur auf die Unterarme und schläft ein. Wie steht es mit inneren Blutungen?« »Das ist eine Möglichkeit. Wenn die Blutung nicht zu stark war, hat er sich vielleicht schläfrig gefühlt und wollte ein Nickerchen machen«, stimmte Bruder Paul zu. »Natürlich hätten bestimmte Drogen den gleichen Effekt.« Um sie herum standen -8 1 0
Wachmänner und nahmen die Aussagen der Gäste in der Bar auf. In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür, und ein elegant gekleideter, recht gut aussehender Mann mit einem schmucken kleinen Schnurrbart trat ein, begleitet von einem weiteren Wachmann. Unmittelbar neben der Tür blieb er stehen und sagte: »Guten Abend, meine Herren. Ich habe die Ehre, der Zivile Wachsergeant Cougair Chasseur zu sein. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall. Wo ist der Leichnam?« »Hier entlang, Sergeant«, erwiderte einer der Wachmänner und führte den Neuankömmling zu Master Sean und Bruder Paul hinüber. Der Heiler war im Habit seines Ordens gekleidet, deshalb fragte Sergeant Cougair: »Ist es, daß Ihr der Heiler seid, der herbeigerufen wurde?« Der Heiler neigte leicht den Kopf. »Bruder Paul aus dem Hospital von St. Lukas-an-der-Seine.« »Sehr gut.« Der Sergeant musterte Master Sean. »Und Ihr, mein Herr?« Sorgfältig holte der gedrungene kleine irische Hexer seine Ausweispapiere hervor und dazu die besondere Karte, die vom örtlichen Obersten Gerichtshexer ausgestellt worden war. Sergeant Cougair begutachtete sie. Er lächelte. »Ah, ja. Ist es, daß Ihr mit Lord Darcy von Rouen zusammenarbeitet?« »Es ist«, erwiderte Master Sean. »Es ist, daß es mir eine große Freude ist, Euch kennenzulernen, mein Herr, in der Tat eine sehr große Freude!« Doch dann verschwand sein Lächeln, und er blickte etwas mißtrauisch drein. »Aber ist es nicht, daß Ihr Euch ein wenig außerhalb Eurer Jurisdiktion befindet?« »Das tue ich«, stimmte Master Sean zu. Die schreckliche Art, wie die Pariser das Anglo-Französisch zu verhunzen pflegten, stellte ihm stets die Nackenhaare auf, und die Manieren dieses Kerls waren auch keine große Hilfe. »Ich habe lediglich ein wenig Hilfestellung geleistet, bis Ihr kamt. Ansonsten habe ich -8 1 1
kein weiteres Interesse an diesem Fall.« Wenn er mit einem Pariser sprach, verschwand Master Seans irischer Akzent beinahe völlig. Die Miene des Sergeanten hellte sich wieder auf. »Natürlich. Aber natürlich. Nun sehen wir uns einmal an, wen wir hier haben.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Leiche. »Tot, ganz zweifellos. Woran ist er gestorben, Bruder Paul?« »Schwer zu sagen, Sergeant. Master Sean und ich sind uns darin einig, daß die beiden wahrscheinlichen Todesursachen entweder innere Blutungen sind - möglicherweise im Hirn, wahrscheinlicher im Unterleib - oder die Einnahme irgendeiner Droge.« »Droge? Ihr meint doch wohl Gift?« Bruder Paul zuckte die Schultern. »Ob eine Substanz als Droge oder als Gift wirkt, hängt sehr stark von der verabreichten Dosis ab, von der Art der Verabreic hung und von ihrer Absicht. Jede Droge kann ein Gift sein und wahrscheinlich auch umgekehrt.« »Es ist doch, daß es ihn umgebracht hat, ist es nicht?« »Wir von den heilenden Berufen, Sergeant, benutzen das Wort ›Gift‹ in technischem Sinne, so wie Ihr es mit dem Wort ›Mord‹ tut. Nicht jede Menschentötung ist ein Mord. Ein Tod, der durch irrtümliche Verabreichung einer Überdosis einer Droge bewirkt wurde, ist ebensowenig eine Vergiftung wie der Tod durch Unfall ein Mord ist.« »Ah, ich verstehe. Eine nette Unterscheidung«, meinte der Sergeant und blickte erleuchtet drein. »Und was ist dann mit Selbstmord?« »Wenn die Absicht freiwilliger Selbstmord gewesen sein sollte, dann war die Absicht der Tod. Das würde es zu einer Vergiftung machen.«
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»Höchst überzeugend. Also gut, nun; wenn wir annehmen, daß es sich in Ihrem technischen Sinne um eine Vergiftung handelt, ist es dann ein Mord oder ein Selbstmord?« »Nun, was das betrifft, Sergeant Cougair«, sagte Bruder Paul etwas barsch, »so obliegt das ja wohl Eurer Kompetenz und nicht meiner, dies zu entscheiden.« Master Sean hatte alledem mit eisernem Schweigen zugehört. Er interessierte sich nicht weiter für den Fall. Das hatte er doch schließlich selbst gesagt, nicht wahr? Doch Sergeant Cougair richtete sich nun an ihn. »Ist es, daß ich Euch eine technische Fragen stellen dürfte, Master Sean?« »Gewiß doch.« »Ist es denkbar oder möglich, daß der Verstorbene durch Schwarze Magie getötet wurde?« Eine sehr lange Sekunde lang war im Raum nichts mehr zu hören als das Murmeln der Gäste und der Wachmänner, die sie verhörten. Master Sean wußte, daß die Frage geladen war - doch womit? Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nicht möglich. Wenn Bruder Pauls Schätzung des Todeszeitpunkts stimmt - und ich neige zu seiner Auffassung - , dann habe ich mich im Raum befunden, als es geschah. Es gibt keine Möglichkeit, daß ein Akt todbringender Schwarzer Magie gegen den Verstorbenen hätte ausgeführt werden können, ohne daß ich dies bemerkt hätte.« »Ah. Das dachte ich mir auch«, erwiderte der Sergeant. »Ich dachte mir, daß Ihr es schon früher erwähnt hättet, hättet Ihr davon gewußt. Aber es war meine Pflicht zu fragen, Ihr versteht.« »Natürlich.« Dann wandte er sich an den Wachmann, der unauffällig danebenstand und alles in einem Notizbuch festhielt. »Ist es, daß der Leichnam durchsucht wurde?« »Aber nein, Sergeant. Wir haben erst Euer Eintreffen abgewartet?«
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»Dann werden wir es sofort nachholen. Nein. Wartet. Hat irgend jemand den Verblichenen schon identifiziert?« »Aber nein, Sergeant. Der Barmann und die beiden Kellner behaupten, daß sie ihn noch nie gesehen hätten. Und keiner der anderen Gäste will ihn erkannt haben.« »Die haben ihn auch gründlich betrachtet?« »Selbstverständlich, Sergeant. Wir haben sie vorbeidefilieren lassen, während Bruder Paul den Kopf hochhielt, damit sie ihn ansehen konnten.« »Und keiner kannte ihn. Unglaublich! Nun, an die Arbeit. Untersuchen wir ihn, um festzustellen, was wir feststellen können.« Doch bevor sie die Leiche aus der Nische heraustragen konnten, war ein uniformierter Wachsergeant eingetreten, hatte Sergeant Cougair erblickt und war herübergeeilt. »Auf ein Wort, Chasseur.« »Ja.« Die beiden schritten ein Stück beiseite und unterhielten sich etwa eine Minute lang mit gedämpfter Stimme. Nicht einmal Master Sean mit seinem scharfen Gehör konnte die Worte verstehen. Auf der Ebene der feinstofflichen Wahrnehmung bemerkte er beim Sergeanten Cougair lediglich Enttäuschung, Frustration und Gereiztheit. Der uniformierte Sergeant verschwand wieder, und Sergeant Cougair kehrte langsam, nachdenklich zu der Stelle zurück, wo Master Sean und die anderen auf ihn warteten. »Eine Katastrophe«, murmelte er. »Höchst unglücklich.« »Was gibt es denn für Schwierigkeiten?« wollte Master Sean wissen. »Ach! Eine ganze Familie wurde durch Gas ausgelöscht. Durch das Lampengas, Ihr versteht. Und es war eine sehr bedeutende Familie... nicht adlig, aber reich. Alle tot.« »In der Tat, eine Katastrophe«, pflichtete Master Sean ihm bei. »Was? Die Tode? Ganz gewiß. Aber das war nicht die Katastrophe, die ich meinte.« -8 1 4
»Ach nein?« Master Sean blinzelte. »Aber nein. Ich bezog mich auf die Tatsache, daß man im Todesfall der Familie Duval kriminelle Machenschaften vermutet, und nun hat man alle unsere thaumaturgischen Mitarbeiter auf diesen Fall angesetzt, um die Verursacher dieses abscheulichen Verbrechens ausfindig zu machen. Jetzt habe ich keinen einzigen Gerichtshexer mehr zur Verfügung, der mich bei meiner Arbeit unterstützen kann. Mein Fall, man schätzt ihn so unwichtig ein, daß es noch Stunden daue rn wird, bis ich auch nur einen Lehrling zur Verfügung gestellt bekomme. Welch eine Verzögerung! Mein Gott, die Verzögerung! Und bis dahin fault das wichtigste Beweisstück von allen langsam, aber sicher vor unseren Augen weg!« Master Sean sah auf die Uhr. Fünf nach fünf. Er seufzte. »Nun, was das angeht, mein lieber Sergeant, so werde ich einen Konservierungszauber über die Leiche verhängen, wenn Ihr wünscht. Das ist kein Problem.« Die Miene des Sergeanten hellte sich auf. »Beim blauen Firmament! Wie wunderbar! Ich werde Euer Angebot auf der Stelle annehmen!« »Sehr gut. Aber dann schafft die anderen Leute von hier fort. Ich will nicht von einem Haufen undisziplinierter Zivilisten angegafft werden, während ich meiner Arbeit nachgehe.« »Aber ich kann sie doch nicht fortlassen, Meisterhexer!« protestierte der Sergeant. »Es sind wichtige Zeugen!« »Ich habe auch nicht gesagt, daß Ihr sie laufenlassen sollt«, sagte Master Sean müde. »Ich glaube kaum, daß der große Ballsaal dieses Hotels schon so früh am Abend benut zt wird. Sucht den Hoteldirektor auf. Eure Männer können sie eine Weile dort bewachen.« »Hervorragend! Ich werde sofort dafür sorgen.« Schweigend standen die vier Männer in der hallenden Stille der im übrigen leeren Bar. Es waren der Zivile Wachsergeant Cougair Chasseur -8 1 5
und zwei seiner Wachmänner. Der vierte war Meisterhexer Sean O Lochlainn. Bruder Paul war mit einigem Bedauern zu seinen Pflichten im Krankenhaus zurückgekehrt; nachdem er festgestellt hatte, daß der Verstorbene in der Tat verstorben war, wurde er nicht mehr gebraucht. Die drei Wachmänner standen ein gutes Stück abseits, sagten kein Wort, bewegten sich nicht. Es ist unklug, einen Magier zu verärgern, während er gerade seine Kunst ausübt. Master Sean musterte die Leiche. Die Wachmänner hatten einige Tische zusammengeschoben und den Leichnam ehrfürchtig auf diesen behelfsmäßigen Katafalk gelegt. Sie hatten ihn vorsichtig entkleidet, und Master Sean hatte den unbekannten Verstorbenen noch viel vorsichtiger untersucht. Es war ein robuster Mann, den der Hexer auf Mitte Fünfzig schätzte. Der Körper wies an verschiedenen Stellen Narben auf. Fünf davon sahen aus wie Säbelwunden, die von einem Chirurgus sauber vernäht worden waren, bei den anderen handelte es sich um Narbenpaare an der Vorder- und Rückseite des Körpers, jedes Paar stammte offensichtlich von einer Kugel. Die übrigen waren Schrammen und kleinere Wunden, wie sie sich jeder erwachsene Mensch hatte zuziehen können. Master Sean markierte die Position jeder dieser Narben auf einer Reihe Spezia lkarten, die er stets in seinem symbolverzierten Reisesack mit sich führte. Grübchen, Warzen, Hautflecken, alles wurde sorgfältig und säuberlich notiert. Am ganzen Körper war nicht eine einzige frische Wunde zu erkennen. Für einen Konservierungszauber wäre keine dieser Vorbereitungen erforderlich gewesen. So etwas überließ man normalerweise der Autopsie. Doch Master Sean war neugierig. Wenn ein Mann einem praktisch unter der Nase an einer mysteriösen Todesursache wegstarb, hätte das wohl das Interesse selbst der unneugierigsten Menschen erweckt, und Master Sean war von seiner Natur und seiner Ausbildung her wißbegieriger als die meisten. Als die oberflächliche Untersuchung beendet war, holte Master Sean aus seinem -8 1 6
symbolverzierten Reisesack einen glatten, achtzehn Zoll langen Ebenholzstab von einem halben Zoll Durchmesser hervor. Der Stab war nicht von glänzendem Schwarz, es war nicht einmal ein stumpfes, mattes Schwarz. Es war vielmehr ein unergründliches Schwarz wie die endlose Nacht des Sternenhimmels. Es reflektierte nicht nur das Licht nicht, das auf den Stab fiel, es schien es vielmehr aufzusaugen, als würde es irgendwie danach greifen. Unter der präzisen Kontrolle von Master Seans rechter Hand begann der Stab ein kompliziertes Muster aus Symbolen um den toten Mann herum zu ziehen, eine Reihe nach der anderen. Die Zuschauer spürten es eher, als daß sie es sahen, wie sich im Körper und um ihn herum ein feinstoffliches Feld aufbaute, das jede Zelle des Leichnams bis zur äußersten Hautschicht ausfüllte und kaum eine halbe Haaresbreite über die Haut hinausragte. Der Leichnam veränderte sich nicht wahrnehmbar, als dieser achtzehn Zoll lange Stab seinen phantastischen Zauber vollführte, doch alle Anwesenden wußten, daß der Zauber bereits wirksam war. Als alles vorbei war, wurde der Ebenholzstab langsamer und kam zum Halten. Einen Augenblick später sagte Master Sean nüchtern: »So, jetzt wird er so lange halten, wie Ihr ihn braucht.« Und er steckte den Stab wieder weg. »Danke, Master Sean«, erwiderte Sergeant Cougair schlicht. Ohne jedes weitere Wort zog er ein paar Tischdecken von den anderen Tischen und bedeckte damit den Leichnam. »Ich habe das schon oft mitangesehen, Meisterhexer«, fuhr er schließlich fort, »doch noch nie geschah es so schnell oder so elegant. Mir ist es immer wie ein Wunder erschienen.« »Das ist es ganz und gar nicht«, erwiderte Master Sean etwas gereizt. »Ich bin Thaumaturge, kein Wunderwirker. Das ist alles nur eine Frage der angewandten Wissenschaft.«
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»Ist es, daß ich fragen darf, was dabei genau vor sich geht?« Sergeant Cougair wußte es zwar nicht, und er würde es auch nie merken, doch er hatte damit einen der wenigen wunden Punkte Master Seans berührt. Denn Master Sean O Lochlainn liebte es einfach, zu dozieren und Dinge zu erklären. »Also das ist eigentlich sehr einfach, Sergeant Cougair«, sagte er ausholend. »Wie Ihr wahrscheinlich wißt, besteht die Materie aus winzigen kleinen Partikeln, so klein, daß man sie nicht einmal unter dem stärksten Mikroskop sichtbar machen kann. Ja, man hat soga r geschätzt, daß auch nur eine einzige Unze davon an die siebzehn Millionenmillionenmillionenmillionen enthält. Diese Theorie der kleinen Teilchen wurde als erstes von dem griechischen Philosophen Demokrit vor ungefähr zweitausendvierhundert Jahren formuliert. Er nannte sie ›Atome‹, und wir tun es ihm zu Ehren gleich. Seine Hypothese wurde durch die thaumaturgische Theorie bestätigt, ebenso durch bestimmte Experimente, die von Männern durchgeführt wurden, welche in den Khemischen Künsten bewandert waren.« »Ich verstehe«, sagte der Sergeant und sah so aus, als täte er es tatsächlich. »Also schön. Diese Atome sind nun stets voll von Energie; sie vibrieren und summen herum, was ihre khemische Aktivität fördert.« »Ah!« meinte der Sergeant, und seine Augen leuchteten auf. »Ich verstehe! Ist es, daß Euer Zauber dieses... dieses ›Herumsummen‹ zum Stillstand bringt, wie Ihr es nennt?« »Gute Güte, nein!« fauchte Master Sean ihn fast an. »Wenn ich so etwas täte, dann würde der Körper auf der Stelle gefrieren und alles um ihn herum würde in Flammen aufgehen!« »Mein Gott.« Der Gedanke an eine solche Möglichkeit ernüchterte den Sergeanten sofort. »Fahrt doch bitte fort.« »Das tue ich auch. Nun paßt auf. Diese Atome reagieren miteinander, um Konglomerate zu bilden, und diese Konglomerate können ebenfalls miteinander reagieren, um -8 1 8
weitere Konglomerate zu bilden, und so weiter. Ihr müßt nämlich wissen, daß alles aus Konglomeraten von Atomen besteht. Sie reagieren miteinander, weil jedes Konglomerat einem Zustand entgegenstrebt, der es am wenigsten belastet.« »Ein äußerst natürliches Streben«, bemerkte Sergeant Cougair. »Ganz genau. Nun finden diese Prozesse in jedem lebenden Menschen unter Bedingungen statt, die von der Lebenskraft kontrolliert werden, so daß die Nahrung, die wir zu uns nehmen, und die Luft, die wir atmen, in die Energie und die Stoffe verwandelt werden, die wir benötigen. Diese Prozesse hören aber nicht auf, wenn die Lebenskraft entwichen ist; sie werden einfach nicht länger kontrolliert. Dann hat der Körper keine Resistenz mehr gegen Mikroorganismen und Pilze. Er verfault. Aber auch ohne Mikroorganismen oder Pilze setzen sich diese Aktivitäten unkontrolliert fort. Deshalb wird das Fleisch, das im Kühlhaus des Metzgers hängt, mit der Zeit immer zarter; es verdaut sich gewissermaßen selbst. Ein Konservierungszauber aber befriedigt diese Atomkonglomerate. Dann wollen sie ihre gegenwärtige Energiestufe beibehalten, sie wollen ihren Status quo zur Zeit der Verhängung des Zaubers aufrechthalten. Sie sind... gesättigt.« »Ist es, daß es die Mikroorganismen tötet?« fragte der Sergeant. »O ja. Unter derartigen Bedingungen können sie nicht überleben.« Sergeant Cougair erschauerte leicht. »Mich schaudert bei dem Gedanken«, sagte er und stellte dadurch eine Einheit zwischen Handeln und Sprechen her, »was es erst einem lebenden Menschen antun muß.« Master Sean grinste. »Gar nichts. Überhaupt nichts. Die Lebenskraft der meisten höherentwickelten Organismen widersteht dem Zauber mühelos. Wenn unser Herr dort auf dem Tisch einen Bandwurm besitzen sollte, kann ich Euch -8 1 9
versichern, daß der Wurm noch am Leben ist. Mag sein, daß er dabei ziemlich hungrig wird, aber ich kann Euch versichern, daß der Zauber ihn nicht umgebracht hat. Ihr müßt verstehen, daß dieser Zauber recht unstabil ist. Es ist ein statischer Zauber, der sich ohnehin mit der Zeit abschwächt, aber... nun, beispielsweise würde zuviel Hitze den Zauber entkräften. Dann wären die Konglomerate wieder unbefriedigt.« »So wie in den Tropen?« »So heiß wird es selten, nicht einmal in den Tropen. Aber sagen wir ein sehr heißes Bad... fast genug, um einen zu verbrühen... das würde schon genügen.« Abwehrend hob Sergeant Cougair die Hände. Seine Handflächen zeigten dabei nach außen. »Ich versichere Euch, Meisterhexer, daß ich nicht die Absicht hege, einen Leichnam heiß zu baden - oder sonst etwas.« Und dann, etwas forscher: »Laßt uns nun schauen, was wir in und an der Kleidung entdecken können.« Es war die übliche Sammlung von Schlüsseln, eine Pfeife, ein Tabakbeutel, Pfeifenanzünder, Münzen im Wert von eineinhalb Pfund, zweiundvierzig Pfund in Banknoten, ein Füllfederhalter und ein brandneues Notizbuch, das nur leere Seiten aufwies. In der Brieftasche befanden sich Karten und Papiere, die den Träger als Andray Vandermeer auswiesen, eine n Hauptmann a. D. der Reichslegion. Das erklärte wohl die Narben, dachte Master Sean. Seine gegenwärtige Wohnadresse war 117, Rue Queen Helga, Paris. Sofort wurde ein Wachmann dorthin geschickt, um sich umzusehen. »Wenn dort eine Ehefrau leben sollte, ein Kind oder andere Verwandte, so bringt Ihnen die Neuigkeit schonend bei. Ihr kennt seine Todesursache nicht. Es ist möglicherweise ein Herzanfall gewesen. Habt Ihr verstanden?« »Jawohl, Sergeant.« »Die endgültige Identifizierung kann warten, bis wir ihn ins Leichenschauhaus geschafft haben. Geht jetzt.« Der Wachmann -8 2 0
verschwand. »Und nun zu diesem kleinen Gegenstand hier«, fuhr der Sergeant fort. Er hielt eine mit einer Flüssigkeit gefüllte braune Acht-Unzen-Flasche aus Glas in der Hand. »Sie trägt ein Etikett von Veblin & Sohn, Pharmazeutische Krauter. Dem Etikett zufolge enthält sie ›Cinchonarindentinktur‹ - was kann das wohl sein?« »Eine alkoholische Lösung pflanzlicher Alkaloide einer bestimmten Baumart in Neufrankreich«, antwortete Master Sean prompt. »Ein Gift?« »Oder eine Droge«, entgegnete Master Sean. »Bedenkt, was Bruder Paul gesagt hat.« »Ja, gewiß. Vielleicht war es aber auch das, was ihn umgebracht hat. In diesem Falle wäre es ein Selbstmord, denn wir haben es in seiner Rocktasche gefunden.« »Das, was ihn umgebracht hat, entstammt nicht dieser Flasche«, widersprach Master Sean trocken. »Sie ist immer noch voll, und das Siegel des Stopfens ist ungebrochen.« »Wie? Oh. Ja, Ihr habt natürlich recht. Aber vielleicht gibt es auch noch eine zweite Flasche. Lewie, begebt Euch in den großen Ballsaal und sagt Armand, daß er alle Verdächtigen durchsuchen lassen soll. Kommt mit John-Jack zurück, damit wir die Bar hier durchsuchen können.« »Jawohl, Sergeant.« Der Wachmann ging fort, und nun war Master Sean mit Sergeant Cougair allein. »Sergeant«, sagte der gedrungene kleine irische Hexer vorsichtig, »ich würde es mir nicht anmaßen, Euch Vorschriften machen zu wollen, wie Ihr Eurem Beruf nachgehen sollt. Aber während die Durchsuchung läuft, könntet Ihr vielleicht mehr über diese Medizin erfahren, wenn Ihr Euch an den Apotheker wendetet, der das Rezept eingelöst, und an den Heiler, der es ausgestellt hat. Das Zeug wird zur Behandlung von Malaria eingenommen, eine der wenigen Krankheiten, die ein Heiler nicht ohne solche Hilfsmittel behandeln kann.« -8 2 1
»Das wird noch beizeiten geschehen, Master Sean«, antwortete der Sergeant. »Warum nicht jetzt? Die Firma Veblin & Sohn befindet sich doch direkt hier, auf der gegenüberliegenden Seite des Hotels.« Sergeant Cougair senkte ruckartig den Kopf und musterte noch einmal die Flasche in seiner Hand. »Tatsächlich! Aber ja! Ihr habt recht! Ich danke Euch, daß Ihr meine Aufmerksamkeit darauf gerichtet habt.« »Keine Ursache.« Master Sean sah auf seine Armbanduhr. »Und wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt, ich fürchte, ich muß mich verabschieden. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, verpasse ich noch meinen Zug.« Der Sergeant sah ihn erstaunt an. »Aber ganz gewiß werdet Ihr Euren Zug verpassen, Meisterhexer! Ihr seid ein wichtiger Zeuge und Verdächtiger in einem Mordfall. Ihr dürft die Stadt nicht verlassen.« »Ich?« Master Sean reagierte noch erstaunter als der Sergeant. »Ich?« »Gewiß. Es ist eine meiner Grundregeln, daß der Unverdächtigste die Tat am wahrscheinlichsten begangen hat. Außerdem brauche ich Euch für die Autopsie, um nämlich festzustellen, ob tatsächlich ein Mord stattgefunden hat.« Master Sean konnte ihn nur fassungslos ansehen. Angesichts einer solchen Situation fand er keine passenden Worte. Aus Gründen, die den Wissenden bekannt sind, ist es unklug, sich in die Angelegenheiten von Zauberern einzumischen, und als Master Sir Aubrey Burnes, Oberster Gerichtshexer Seiner Gnaden des Herzogs von Isle, erfuhr, was der Wachsergeant Cougair Chasseur getan hatte, erschien ihm dies ganz zweifellos als Einmischung. Master Sir Aubrey hatte nicht durch Master Sean davon erfahren. Dieser gedrungene kleine irische Hexer war durchaus fähig, für sich selbst zu sorgen; doch er hatte ein Teleklanggespräch mit Lord Darcy in Rouen führen müssen, um zu erklären, weshalb er seinen Zug verpaßt hatte, und dafür hatte -8 2 2
er die amtliche Teleklangleitung der Wachmänner benutzt. Und die Gerüchteküche arbeitete beinahe so gut wie der Teleklang. Daß Chasseur durchaus befugt gewesen war, Master Sean festzusetzen, war nicht weiter strittig; strittig hingegen war, ob er dieses Recht tatsächlich auch hätte ausüben sollen. Nachdem er zu dem Schluß gekommen war, daß es zum Teil seine eigene Schuld war, weil er seine Nase schließlich in Angelegenheiten gesteckt hatte, die ihn nichts angingen, und weil die Neugier ihn weiterhin plagte, entschied sich Master Sean, lieber gleich mit der Autopsie und der Ähnlichkeitsanalyse des Flascheninhalts und der Rückstände im Trinkglas fortzufahren. Natürlich führte er die eigentliche Operation nicht selbst durch; so etwas lag nicht in seiner Kompetenz. Das erledigte ein junger fleischiger Chirurgus aus der Gascogne, der zwar eher einem Metzgergesellen glich als einem Chirurgus, der aber geschickte und präzise Finger und einen scharfen Geist besaß. Um halb acht war der Leichnam wieder säuberlich vernäht und bereit, der Ehefrau übergeben zu werden - sofern diese ihn tatsächlich als Hauptmann a. D. Andray Vandermeer, R. L., identifizieren sollte. Der Wachmann, den man in die Rue Queen Helga geschickt hatte, meldete, daß er von einem Dienstboten erfahren hatte, daß Edelfrau Vandermeer einkaufen gegangen war und erst gegen acht zurückerwartet wurde. In der Zwischenzeit dachte Master Sean über das nach, was er bereits wußte. Der möglicherweise identifizierte Vandermeer war mit Sicherheit an einer Überdosis einer bisher noch nicht bestimmten Droge gestorben. Eine Ahnlichkeitsanalyse hatte ergeben, daß es dieselbe Droge war, die man in den Rückständen im Glas auf dem Tisch entdeckt hatte. Die Apothekenflasche enthielt genau das, was auf dem Etikett stand, und das war ganz gewiß nicht das Alkaloid, durch das Vandermeer den Tod gefunden hatte. Master Sean ging die Notizen durch, die er sich während der Autopsie gemacht hatte. Der Zustand seiner inneren Organe... die Leber... die Nieren... diese Quetschungen im Hirn...All das -8 2 3
erinnerte ihn entfernt an irgend etwas, aber er kam einfach nicht darauf. Jedenfalls hatte er noch nie einen Körper in einem solchen Zustand gesehen, dessen war er sich sicher. Nein, es mußte etwas anderes sein, wovon er gelesen oder das man ihm erzählt hatte. Aber was? Der stämmige junge Chirurgus erhob sich von seinem Schreibtisch an der anderen Seite des Zimmers und trat zu dem sitzenden Master Sean hinüber. Er hielt einen Stapel Papier in der Hand. »Hier ist mein Bericht, Meisterhexer«, sagte er höflich. »Wenn Ihr irgend etwas hinzufügen oder ändern wollt...« Er beendete den Satz nicht und reichte statt dessen dem Magier die Papiere. Master Sean studierte den Bericht sorgfältig, dann schüttelte er den Kopf. »Keine Änderungen, Doktor Ambro, und das einzige, was ich gerne hinzufügen würde, wäre der Name des Gifts. Doch das kann ich im Augenblick leider noch nicht.« Er lächelte den jungen Mann an. »Übrigens möchte ich Euch zu Eurer Geschicklichkeit mit dem Skalpell beglückwünschen. Ich habe noch nie eine sauberere Arbeit gesehen. Es gibt Pathologen, die glauben, daß jede beliebige Stümperarbeit genügt, nur weil der... äh... Patient tot ist.« »Nun, Master«, erwiderte der Chirurgus, »ich meine, wenn man es zuläßt, daß man mit Toten schlampig umgeht, wird man früher oder später auch mit den Lebenden schlampig umgehen. Das schafft schlechte Angewohnheiten. Ich selbst verdanke der Heilkunst sehr viel, und ich meine, daß ich als Techniker mein Bestes geben sollte, um diese Schuld auszugleichen. Ich wäre überhaupt nie Chirurgus geworden, wenn es nicht einen gewissen großen Heiler gegeben hätte.« »Ach? Wie meint Ihr das, Dr. Ambro?« Master Sean war neugierig. Dr. Ambro grinste. »Als Junge brannte mir nichts mehr auf den Nägeln, als einmal Chirurgus zu werden. Ich hielt es für ein nützliches und erfüllendes Handwerk. Doch dann -8 2 4
mußte ich feststellen, daß ich dafür nicht zugeschnitten war... das sollte jetzt kein Kalauer sein.« »Wirklich?« Master Sean hob eine Augenbraue. »Ihr schient mir doch eigentlich außerordentlich gut dafür geeignet zu sein.« Dr. Ambro lachte leise. »Ich konnte den Geruch nicht ausstehen. Ja ich konnte nicht einmal die Übungspräparate operieren. Frisches Blut verursachte mir Übelkeit. Noch schlimmer war es, den Unterleib zu öffnen. Und die Toten? Schweigen wir davon. Und es war wirklich der Geruch, nichts anderes. Ich konnte nicht einmal den Geruch eines rohes Steaks oder eines Schweineschnitzels vertragen.« »Ich verstehe«, sagte Master Sean. »Ein ungewöhnliches Phänomen, aber keineswegs einzigartig. Fahrt doch bitte fort.« »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen, Master. Ein hervorragender alter Heiler, Vater Debrett aus Pouillon, verhängte einen milden Zauber über mich. Jetzt finde ich den Geruch ganz angenehm - fast wie Rosen und Lilien, falls Ihr versteht, was ich meine.« »Bestimmt, bestimmt. Eine wohlbekannte Prozedur«, erwiderte der Hexer. »Nun, ich bin froh, daß sie durchgeführt wurde. Es wäre eine Schande gewesen, Euer Talent zu vergeuden.« »Habt Dank, Master Sean, habt recht vielen Dank.« An der Bürotür klopfte es, sie ging auf, und ein Glatzkopf mit lächelndem Gesicht und. buschigen schwarzen Augenbrauen spähte hinein. »Hallo, Kameraden. Darf ich eintreten?« fragte der Eindringling in einem angenehmen Bariton. »Mein lieber Sir Aubrey!« rief Master Sean. »Aber natürlich! Kommt nur herein!« Master Sir Aubrey Burnes, Oberster Gerichtshexer Seiner Gnaden von Isle, folgte der Aufforderung und trat ins Zimmer. Er ragte bis auf Haaresbeite sechs Fuß in die Höhe und war massiv gebaut, aber keineswegs dick. In den Jahren 1953 und '54 war er Ringerchampion der Universität -8 2 5
Oxford gewesen, und seitdem hatte er sich immer gut in Schuß gehalten. »Ich wußte ja nicht, ob jemand, der mit diesem Büro zu tun hat, hier noch willkommen geheißen werden würde«, sagte er. »Die ganze Sache tut mir fürchterlich leid, Master Sean.« »Ach, ach«, machte Master Sean. »Ist ja nicht Eure Schuld, lieber Kollege. Wie macht sich denn Euer Giftgasfall bisher?« »Die Duvals? Traurige Sache. Zwei Brüder und ihre Frauen, haben ein wenig gefeiert. Haben wohl auch ein wenig über den Durst getrunken, fürchte ich. Die beiden haben irgendwann ein Faß Bier aus dem Keller geholt und sind damit gegen eine Gasleitung geschlagen. Hat einen Riß bekommen. Die Dienstboten hatte man alle in den anderen Gebäudetrakt geschickt, man wollte allein sein, Ihr versteht. Nachdem ein großer Teil des Fasses leer war und dazu noch einige andere berauschende Getränke, war das Zimmer scho n voller Gas. Sie waren zu betrunken, um es noch zu bemerken. Als die Diener dann das Gas rochen und Alarm schlugen, war es zu spät. Wir bringen die Leichen gerade in die Autopsie, um die Beweisaufnahme anzuschließen. Dr. Ambro wird also noch mehr zu tun bekommen, aber es besteht kein Zweifel daran, was geschehen ist. Tod durch Fahrlässigkeit.« Er lächelte wieder. »Und wie geht es mit Eurem Fall?« Master Sean erzählte es ihm, dann fügte er hinzu: »Aber es wäre mir lieber, Ihr würdet nicht von meinem Fall sprechen. Den kann Euer Sergeant Cougair gern behalten.« »Dieses Prachtexemplar von einem Esel!« sagte Master Sir Aubrey und schnitt eine Grimasse. »Nun ja, was geschehen ist, ist eben geschehen. Da bliebt uns nichts anderes übrig, als festzustellen, wer es getan hat, und die Sache aufzuklären. Ich wünschte, Lord Varney wäre hier; unser Chefinspektor wäre der richtige Mann für so etwas. Leider liegt er im Krankenhaus, wie ich Euch heute ja schon erzählt habe.« -8 2 6
Master Sean nickte. »Wie geht es ihm übrigens?« »Den Umständen entsprechend. Er ist ein guter Inspektor, aber ich glaube kaum, daß ich einmal in seinem Alter noch bergsteigen werde.« »Nein, ich wohl auch nicht«, pflichtete Master Sean ihm bei. »Nicht einmal in meinem Alter. Die afrikanischen Elefanten mögen zwar mit Hannibal die Alpen überquert haben, aber irische Elefanten wie ich ziehen das Flachland vor.« Master Sir Aubrey gluckste. »Das gilt für die englischen Elefanten auch.« »Elefanten?« fragte eine Stimme an der Tür. »Was haben denn Elefanten mit diesem Fall zu tun?« Es war der Wachsergeant Cougair Chasseur. »Nicht das geringste, Sergeant«, erwiderte Master Sir Aubrey kühl. »Wir sprachen nicht über Euren Fall.« »Nein, im Gegenteil«, warf Master Sean geschmeidig ein. »Wir sprachen vielmehr über den Fall vor zwei Jahren, als dem Maharadscha von Rajastan zu Jodhpur der Elefant gestohlen wurde.« »Jemand hat einen Elefanten gestohlen?« fragte der Sergeant etwas überrascht. »Acht sogar«, antwortete Master Sean. »Acht weiße Elefanten.« »Mein Gott! Und wie hat man sie wiedergefunden?« »Das hat man eben nie getan«, sagte Master Sean ernst. »Sie sind einfach spurlos verschwunden.« »Das erscheint mir kaum möglich zu sein«, sagte Sergeant Cougair staunend. Dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen, und er sah erst Sir Aubrey und dann Master Sean an. »Für den analytischen Verstand liegt die Lösung klar auf der Hand. Die Elefanten wurden von einem Hexer gestohlen, darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
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»Ich wünschte«, sagte Master Sir Aubrey, »daß wir Euch den Fall hätten überlassen können.« »Aber gewiß doch«, pflichtete der Sergeant ihm bei. »Ich möchte meinen, daß ich sie mühelos wiedergefunden hätte. Elefanten sind doch ziemlich groß, nicht wahr? Die kann man nicht so leicht verstecken. Nun, es spielt auch keine Rolle, ich muß mich erst einmal um einen anderen Fall kümmern.« »Wie weit seid Ihr bisher?« wollte Master Sean wissen. »Ich werde Euch in der Tat alles erzählen«, antwortete der Sergeant. »Aber erst ist es vielleicht gestattet, daß ich um die Ergebnisse der Autopsie bitte? Ist es, daß es sich dabei tatsächlich um einen Fall von Vergiftung handelt?« »So ist es«, meinte Master Sean und teilte ihm die Ergebnisse seiner Bemühungen mit. Sergeant Cougair schnitt eine Grimasse. »Dann ist es in der Tat Mord. Man hat keine Flasche, keine Papiertüte und keine Schachtel gefunden, in der das Gift hätte aufbewahrt werden können. Es ist einfach erschienen wie durch...«, mit seinen Augenschlitzen warf er Master Sean einen verstohlenen Blick zu, »... wie durch Magie.« Er entspannte seinen Blick und sah auf seine Hände herab. »Es ist bedauerlich, daß wir nicht wissen, um welches Gift es sich handelt.« »Ich arbeite daran«, erwiderte Master Sean trocken. »Gewiß doch«, meinte der Sergeant freundlich. »Und nun will ich, wie versprochen, Euch erzählen, welche Fortschritte wir selbst gemacht haben. Bisher haben wir nicht das geringste Motiv feststellen können. Die zweiundzwanzig Gäste in dem Etablissement wurden wieder freigelassen, damit sie wieder ihren Geschäften nachgehen können oder um nach Hause zurückzukehren, doch haben wir ihnen verboten, die Stadt zu verlassen. Ich habe hier eine Liste der Namen, falls Ihr sie durchzulesen wünscht. Die beiden Kellner und den Barmann halten wir noch eine Weile fest, da es wahrscheinlicher ist, daß einer von ihnen das Getränk vergiftet hat. Zur Befragung festgenommen haben wir auch die beiden Kellner, die bis vier -8 2 8
Uhr Schichtdienst hatten. Den Barmann suchen wir noch; er ist Junggeselle und ist bisher noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Wir haben den Edelmann Jorj Veblin, den ›Sohn‹ von Veblin & Sohn, befragt, und er hat zu Protokoll gegeben, daß der Hauptmann Vandermeer seit drei Monaten jeden Dienstag mit einem Rezept des Ehrwürdigen Vaters Pierre St. Armand, Heiler, bei ihnen vorbeigekommen sei, um sich seine wöchentliche Medizin abzuholen. Wir haben mit Vater Pierre gesprochen, einem ehrwürdigen alten Herrn, der zu Protokoll gegeben hat, daß besagter Hauptmann Vandermeer tatsächlich unter Malaria litt, wie Ihr schon vermutet hattet. Er scheint sich diese Krankheit im Dienste der Reichslegion im Herzogtum Mechicoe zugezogen zu haben, das liegt auf dem nördlichen Kontinent der Neuen Welt, in Neuengland.« Master Sean seufzte. Niemand brauchte ihn darüber aufzuklären, daß Mechicoe in Neuengland lag, ebensowenig, daß Neuengland der nördliche Kontinent der westlichen Hemisphäre war. Als nächstes würde der Sergeant ihm wohl noch erklären, daß das Quadrat von sieben tatsächlich neunundvierzig sei. Ein kurzes Schweigen setzte ein, das schließlich von Master Sir Aubrey unterbrochen wurde. »Nun? Was noch?« Der Sergeant spreizte die Hände und zuckte die Schultern. »Höchst bedauerlich! Ich fürchte sehr, Meisterhexer, daß das alles ist, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten.« »Wem nützt sein Tod?« fragte Master Sean. »Soweit wir bisher wissen, nur seiner Frau. Den Unterlagen zufolge hat er keine Kinder. Doch befand sich zur fraglichen Zeit in der Bar keine Frau.« »Sie hätte sich verkleiden können«, schlug der irische Hexer vor. »Das ist möglich, aber wir haben eine Beschreibung von ihr. Sie ist jung... nicht einmal dreißig... mit sehr langem schwarzen Haar, sehr dunkler Haut und dunklen Augen. Es -8 2 9
heißt, sie sei sehr schön, mit einer schmalen Taille und einer üppigen Figur - einer sehr üppigen Figur. So etwas läßt sich nur schwer verbergen; es war ein warmer Tag, da konnte sie keinen Mantel anziehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Dennoch werden wir natürlich jede ihrer Bewegungen an diesem Nachmittag überprüfen. Es heißt, daß sie einkaufen sei. Sollte dem so sein, können wir feststellen, wo und zu welchen Zeiten das geschah, Ihr versteht.« »Vielleicht hat sie auch jemanden dafür bezahlt, es für sie zu tun«, warf Master Sean ein. »Auch das wiederum ist möglich, aber meiner Erfahrung nach vergiftet ein bezahlter Mörder sein Opfer nicht. Seine Waffen sind das Messer, die Keule, die Pistole. Oder, für die Raffinierteren, der Tod durch scheinbaren Unfall. Gift ist mehr das Werkzeug des Amateurs.« Master Sean mußte bei sich zugeben, daß Sergeant Cougair höchstwahrscheinlich ausnahmsweise einmal recht hatte. »Das Problem ist«, fuhr Sergeant Cougair fort, »daß jeder es hätte tun können. Man braucht einen Mann nur ein paar Sekunden abzulenken, schon ist sein Getränk vergiftet. Ich fürchte sehr, unsere einzige Hoffnung besteht darin, den Giftbehälter zu finden, nach dem wir gerade eifrig suchen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich gehe nun fort, um nach Cambray, dem fehlenden Barmann, zu suchen. Schließlich war er es, der das Getränk des Verstorbenen gemixt hat, und vielleicht hat er Informationen für uns. Gott sei mit Euch, meine Herren.« Und dann ging er. Master Sean starrte zwei volle Sekunden lang auf die Tür, die sich hinter dem Sergeanten geschlossen hatte, bevor er sagte: »Also wirklich! Cambray, der Barmann, vergiftet Vandermeer, beendet seinen Dienst, wirft den Giftbehälter in die Seine, nimmt den Zug um 4.22 Uhr nach Bordeaux und kann schon am Morgen in Spanien sein, von wo man ihn nicht ausliefern wird. Aber er könnte allenfalls dazu in der Lage sein, Informationen zu geben, während ich gleich ein Verdächtiger bin! Ich -8 3 0
bewundere seine analytischen Fähigkeiten um ihrer Tiefe und Komplexität willen. Kein Mann, der einfach nur intelligent ist, könnte derartige Schlüsse ziehen.« »Ich habe Euch doch schon gesagt, daß er ein Prachtexemplar von einem Esel ist«, meinte Master Sir Aubrey. In einem Punkt hatte Sergeant Cougair recht gehabt: Die Witwe des Hauptmanns war schön und besaß wirklich eine sehr üppige Figur. Dazu war sie kaum größer als fünf Fuß. Nein, dachte Master Sean, es war undenkbar, daß sie eine Bar hätte betreten können, ohne dort aufzufallen, egal, was sie dabei tragen mochte. Allerdings gab es da noch eine andere Möglichkeit. Besaß die Frau vielleicht das Talent? Sollte dem so sein, gäbe es mehrere Methoden, wie sie die Bar hätte betreten können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Den Tarnhelmeffekt beispielsweise. Der machte einen Menschen nicht, wie allgemein geglaubt wurde, unsichtbar; es handelte sich dabei vielmehr lediglich um eine spezialisierte Form des Vermeidungszaubers. Jeder, der den Tarnhelmeffekt nutzte, blieb unbemerkt, weil niemand in seine Richtung blickte; die anderen Menschen wichen ihm mit ihren Blicken aus und schauten überallhin, nur nicht dorthin, wo er sich gerade befand. Mary Vandermeer war mit drei anderen Leuten gekommen, um den Leichnam zu identifizieren: mit Humfrey, dem Kammerdiener des verstorbenen Hauptmanns; mit dem Apotheker Jorj Veblin; und mit dem Heiler Vater Pierre. Humfrey war ein alter Hausdiener der Vandermeers; er hatte einst das Kind mit großgezogen, das einmal Hauptmann Andray werden sollte. Sein altes Gesicht war von Sorgenfalten durchfurcht, als sei diese Aufgabe alles andere als leicht gewesen. Der Master Apotheker Jorj Veblin war ein kompetent wirkender Mann Anfang Dreißig mit ebenmäßigen, recht angenehmen Gesichtszügen und mausbraunem Haar, das er glatt -8 3 1
zurückgekämmt und etwas kürzer trug, als es im Augenblick Mode war. Vater Pierre sah, wie der Volksmund es auszudrücken pflegte, ›neunzig Jahre älter als Methusalem‹ aus. Er war größer als Master Sean, wirkte aber sehr dünn und zerbrechlich. Er hatte nur wenige Falten im Gesicht und lächelte gütig, doch die Haut spannte sich straff über seine Gesichtsknochen, und die wenigen verbliebenen weißen Haare auf seinem Schädel sahen im Gaslicht aus wie eine Aura. Nacheinander führte man sie einzeln in den Raum, wo der Tote aufgebahrt lag. Unabhängig voneinander identifizierten sie ihn als Andray Vandermeer. Dem alten Humfrey standen die Tränen in den Augen. »Schlimm, sehr schlimm. Der Hauptmann hätte noch viele gute Jahre erleben können.« Edelfrau Mary würgte und brachte nichts anderes hervor als: »Das ist er. Das ist Andray.« Master Jorj sah gleichzeitig grimmig und traurig aus. »Ja, das ist Hauptmann Andray. Armer Kerl.« Traurig schüttelte er den Kopf. Vater Pierre betrachtete den Leichnam lange und gründlich. »Ja, das ist der arme Andray«, sagte er schließlich. Dann wandte er sich an Master Sean. »Hat man ihm bereits die Sterbesakramente erteilt?« »Das hat man noch nicht getan, Vater«, antwortete der Hexer. »Und es gibt vom thaumaturgischen Standpunkt aus auch keinen Grund, weshalb er sie nicht erhalten sollte. Wir haben alles Beweismaterial, das wir brauchen.« So erteilte man Hauptmann Andray Vandermeer die Sterbesakramente der Heiligen Mutter Kirche. Seine Frau, der Kammerdiener, der Apotheker und zwei Wachmänner wohnten der Zeremonie bei. Master Sean und Master Sir Aubrey befanden sich im Nebenzimmer und bauten gerade eine subtile Falle auf. Das Wort ›subtil‹ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, doch trifft kein anderer die Sache. Von ihrem Aufbau her war sie ungefähr so subtil, als würde man sich von hinten an einen Menschen heranschleichen, der -8 3 2
Taubheit vorschützte, um ihm plötzlich ein lautes ›Buh!‹ ins Ohr zu brüllen. In der Praxis aber ging es um etwas, das nur jemand bemerken würde, der das Talent besaß. Der Zauber selbst war schlicht und harmlos. Wie Master Sean es Lord Darcy einmal erklärt hatte: »Stellt Euch einen Raum voller Leute vor, von denen jeder ein anderes Lärminstrument hat - eine Rassel, eine Trommel, ein Horn, ein zusammengeknülltes, knisterndes Papier, Zähne zum Zischeln, eben jedes nur erdenkliche ablenkende Geräusch. Was würdet Ihr da tun, wenn Ihr angestrengt nachdenken müßtet?« »Wahrscheinlich würde ich mir mit den Fingern die Ohren verstopfen, stelle ich mir vor«, hatte Lord Darcy erwidert. »Ganz genau, My Lord. Und es gibt nicht einen einzigen talentierten Menschen auf Erden, der nicht das feinstoffliche Gegenstück dazu hätte, wenn man diesen Ab lenkungszauber über ihn verhinge. Ein Mensch mit wenig oder keinem Talent läßt sich einfach ablenken und verliert geistig den Faden. Er merkt nicht im geringsten, daß die Sache von außen kam. Ein Mensch mit einem ordentlichen, aber ungeschulten Talent wird den Zauber zwar als solchen erkennen, wird aber nicht wissen, was er dagegen tun soll. Ein Mensch mit einem trainierten Talent dagegen wird ihn sofort abblocken.« »Kann man die Reaktion denn nicht vortäuschen?« hatte Seine Lordschaft gefragt. »Das kann ma n, My Lord, aber nur nachdem zuerst einmal abgeblockt wurde. Um sich eine Lüge auszudenken, eine falsche Reaktion, braucht man mindestens einen Sekundenbruchteil Ruhe. Und die bekommt man eben nicht, ohne die Blockade zu aktivieren. Ihr versteht.« »Und wie soll die von einem Hexer bemerkt werden, der selbst gerade diesen ganzen geistigen Lärm hervorbringt?« hatte Lord Darcy wissen wollen. »Gar nicht«, hatte Master Sean ihm erklärt. »Deshalb braucht man für diese Falle auch zwei. Einen, der Buh! sagt, und einen anderen, der feststellen muß, ob das Opfer zusammenzuckt.« -8 3 3
Diesmal würde Master Sir Aubrey den Schnellzauber durchführen, während Master Sean das Opfer beobachten würde. »Na, das hat uns aber überhaupt nichts eingebracht«, meinte Master Sir Aubrey eine halbe Stunde später. »Ich habe bei keinem der drei eine Reaktion beobachten können.« Vater Pierre hatten sie nicht überprüft; es stand außer Frage, daß ein Heiler das Talent hatte. »Master Jorj und Edelmann Humfrey haben nicht die Spur eines Talents«, ant wortete Master Sean. »Die junge Frau besitzt zwar eindeutig eine Spur davon, aber es ist undiszipliniert und ungeschult. Wenn dieser Mord mit Magie zu tun haben sollte, dann haben wir sie jedenfalls bisher nicht entdecken können, und den dazugehörigen Magier auch nicht.« Master Sir Aubrey blickte zur Wanduhr. »Fünfzehn vor neun. Inzwischen hättet Ihr eigentlich schon in Rouen sein sollen.« Master Sean runzelte die Stirn. »Statt dessen darf ich hier jetzt Däumchen drehen. Für mich gibt es hier nichts mehr zu tun. Außer nachzudenken. Ich wünschte, mir fiele wieder ein, woran mich dieses Gift erinnert...« »Da ist noch etwas, alter Freund«, sagte Master Sir Aubrey und fuhr sich mit einer Hand über seine Glatze, »wir haben oben ein Zimmer mit Bett und Bad für wichtige Besucher. Ihr seid ein Besucher und zudem der Oberste Gerichtshexer der Normandie. Folglich seid Ihr auch berechtigt, diesen Raum zu benutzen. Nach einer guten Dusche werdet Ihr Euch schon besser fühlen. Oder nehmt getrost ein Bad, wenn Ihr mögt.« »Mein lieber Sir Aubrey«, sagte Master Sean, und ein Lächeln umspielte seine Lippen, »da kommen wir miteinander ins Geschäft! Laßt uns das Zimmer mal besichtigen.« Der große Zauberer führte ihn eine Treppe hinauf, die in einen schmalen Gang im Obergeschoß mü ndete. Er nahm einen Schlüssel von seinem Schlüsselring und öffnete eine Tür. Das Zimmer war klein, aber bequem, wie eine Unterkunft in einem guten Landgasthaus. »Etwas Besseres könnte ich mir gar nicht wünschen«, bemerkte Master Sean. »Zum Glück habe ich -8 3 4
immer Unterwäsche zum Wechseln in meinem Reisesack.« Er legte seinen symbolverzierten Reisesack aufs Bett, öffnete ihn und wühlte darin, bis er die Unterwäsche gefunden hatte. »Und die Socken? Die Socken? Ah, da sind sie ja.« Master Sir Aubrey musterte derweil den Reisesack, wobei er nicht nur die Augen einsetzte. »Einen interessanten Abwehrzauber habt Ihr an Eurem Reisesack«, meinte er. »Ich glaube, solche Frequenzen und Texturen sind mir noch nie begegnet. Welchen Effekt hat er, wenn ich fragen darf? Die Lähmungskomponente erkenne ich zwar, aber... mh...« »Eine kleine Erfindung von mir«, erklärte Master Sean ein wenig selbstzufrieden. »Wenn irgend jemand außer mir ihn öffnet, schließt er ihn sofort wieder, um sich dann danebenzusetzen und nichts mehr zu tun. Dann befindet er sich nämlich in einer Lähmungshalbtrance, müßt Ihr wissen. Kommt jemand anders vorbei, bevor ich wieder da bin, beginnt der Mann, der meinen Reisesack zu öffnen versucht hat, auf und ab zu springen und zu kichern wie ein Affe. Das erregt Aufmerksamkeit. Jeder, der einen Burschen erblickt, der sich neben dem Reisesack eines Zauberers derartig aufführt, wird sofort merken, daß etwas nicht stimmt.« Master Sir Aubrey lachte. »Das gefällt mir! Ich werde Euch nicht um die Einzelheiten des Zaubers bitten; ich werde lieber versuchen, mir selbst einen zusammenzubasteln.« »Ich gebe sie Euch aber gern«, erbot sich Master Sean. »Nein, nein; es macht mehr Spaß, selbst dahinterzukommen.« »Wie Ihr meint. Also gut, dann werde ich mich jetzt ein wenig erfrischen und mich mit Euch vielleicht in einer halben Stunde treffen. Bekommen wir irgendwo einen Happen zu essen? Ich habe seit Mittag keinen Bissen mehr zu mir genommen.« »Mögt Ihr deutsche Küche?« »Mit deutschem Bier?« -8 3 5
»Mit deutschem Bier.«
»Das liebe ich.«
»Gut«, sagte Master Sir Aubrey, »ich kenne nämlich ein
hervorragendes Restaurant. Ich werde unten auf Euch warten. Hier ist der Schlüssel zum Zimmer. Euren Sack könnt Ihr hierlassen, wenn Ihr wollt. Schiebt ihn einfach unters Bett und verschließt die Tür. Ich werde Mitteilung machen, daß Ihr dieses Zimmer bewohnt, dann wird sich höchstens noch ein Narr trauen, Euch zu stören.« »In Ordnung«, willigte Master Sean ein. »Dann treffen wir uns... sagen wir um zwanzig nach neun.« Das Kölner Schnitzel bei Hochstetter war köstlich, und das westfälische Bier war kühl und würzig. Es war sogar so gut, daß die beiden Magier, nachdem sie das Kölner Schnitzel verputzt hatten, noch einen weiteren Krug bestellten. »Ahhh!« sagte Master Sean. »Das ist genau das, was ich gebraucht habe. Jetzt geht es mir so gut, daß ich nicht einmal mehr auf Sergeant Cougair böse bin.« »Da wir gerade von ihm reden«, warf Master Sir Aubrey ein, »während Ihr gebadet habt, ist der Sergeant ins Büro gekommen. Ich wollte Euch nicht vor dem Essen damit belästigen.« »Ach, ist es denn etwas, was mich belästigen würde?« fragte Master Sean. »Nicht besonders. Nur noch weitere Fakten. Ich wollte einfach nur nicht, daß Ihr versucht, die einzelnen Teile zusammenzufügen, bevor Ihr nicht ein kühles Bier in der Hand und genug Treibstoff im Bauch habt, um das Gehirn anzutreiben.« »Ich verstehe. Was war es denn?« »Er hat schließlich den Barmann gefunden, der um vier seine Schicht beendet hat. Der Bursche namens Cambray. Er kannte den Verstorbenen vom Sehen und vom Namen her. Anscheinend ist der Hauptmann jede Woche gekommen, hat ein paar Gläser -8 3 6
getrunken und ist wieder gegangen.« Master Sean nickte. »Verstehe. Er ist also jede Woche vorbeigekommen, um seine Medizin abzuholen, und hat sich dann noch vor dem Nachha usegehen in der Bar ein paar hinter die Binde gekippt.« »Ganz genau. Pünktlich wie ein Uhrwerk, so scheint es. Und jetzt kommt das Seltsame: Er hat immer dasselbe bestellt, was an sich ja nichts Ungewöhnliches ist, aber getrunken hat er einen mechicanische n Schnaps namens Popocotapetl. Er wird nicht viel verlangt und ist ziemlich teuer, da er von jenseits des Atlantiks importiert werden muß.« Master Sean nickte. »Ich habe ihn mal gekostet. Einer meiner ehemaligen Schüler, Master Lord John Quetzal, hat mir einmal ein paar Schlucke aus einer Flasche eingeschenkt, die ihm sein Vater, der Herzog von Mechicoe, geschickt hat. Das ist ein halbsüßer Branntwein, der, glaube ich, aus irgendeinem Kaktus hergestellt wird.« »Der hier war aber nicht halbsüß«, berichtigte Master Sir Aubrey. »Nicht?« »Nein. Sergeant Cougair hat die Flasche requiriert - übrigens die einzige in der Bar - und davon probiert, dieser Idiot. Er berichtet, daß der Tropfen an seiner Fingerspitze so bitter war wie Pottasche.« Plötzlich fielen Master Sean mehrere Dinge auf einmal ein. »Kojotenkraut!« bellte er. Der andere Hexer blinzelte. »Wie bitte?« »Kojotenkraut«, wiederholte der irische Hexer mit etwas ruhigerer Stimme. »Lord John Quetzal hat mir davon erzählt, als er bei mir Justizhexerei studierte. Tatsächlich ist es ein Alkaloid, das aus dem Kraut gewonnen wird. In Mechicoe wird es schon seit Jahrhunderten als Gift verwandt. Lord John Quetzal sagte, daß es keinerlei pharmazeutischen Nutzen habe. Ich bezweifle, ob wir überhaupt ein Muster von dem Zeug auftreiben könnten, -8 3 7
um damit eine Ähnlichkeitsanalyse durchzuführen. In Mechicoe hat man früher damit Ratten vergiftet, aber da es dort inzwischen ausgebildete Hexer gibt, die sich um die Rattenplagen kümmern können, hat man das Zeug verboten außer zu Forschungszwecken. Dann hat es also jemand in die Flasche Popocotapetl getan, wie?« »Ja, und das macht den ganzen Fall noch verrückter«, bestätigte Master Sir Aubrey. »Das hätte jederzeit vor dem Mord geschehen können - ja sogar vor Tagen. Und es hätte jeden umgebracht, der davon trank. Jeden, nicht nur Hauptmann Andray Vandermeer.« Master Sean sagte: »Vielleicht haben wir es mit einem Psychopathen zu tun. Möglicherweise will aber auch jemand den Ruf der International Bar des Hotel Cosmopolitain ruinieren. Da bekommt Euer Sergeant Cougair ja eine Menge zu tun.« »Oh, der Sergeant hat da seine eigenen Theorien«, erwiderte Master Sir Aubrey nüchtern. »Ihr müßt nämlich wissen, daß die Barmänner und Kellner sich darin einig sind, daß niemand außer ihnen selbst hinter die Theke gekommen ist, folglich muß derjenige, der das Gift in die Flasche gegeben hat, unsichtbar gewesen sein. Dem Sergeanten zufolge, meine ich. Und das bedeutet einen Hexer, und das wiederum bedeutet Euch.« »Mich!« Mit Mühe gelang es Master Sean, seine Stimme zu beherrschen. »Er nennt es ›die Theorie von unwahrscheinlichsten Verdächtigen‹« fuhr der hochgewachsene Magier fort. »Aber ich glaube, es geht um mehr. Dieser Fall verwirrt ihn wirklich. Er begreift nicht, was geschehen ist begreift nicht, wie der Trick ausgeführt wurde. Je mehr Informationen er bekommt, um so mysteriöser wird alles, und folglich wird er immer verwirrter. Ist eigentlich nicht wirklich sein Fall.«
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»Was ist denn dann überhaupt seine Art von Fall?« wollte Master Sean wissen. »Kindergartenrätsel vielleicht?« »Nein.« Master Sir Aubrey gluckste. »Nichts derartig Kompliziertes. Straßenüberfälle, Messerstechereien in Kneipen, Handgemenge, so etwas eben. Das im Zorn gezogene Messer, der plötzliche Schlag mit der Keule. Solche Sache n sind meistens ziemlich eindeutig. Aber das hier übersteigt seine geistigen Fähigkeiten, Und anstatt es zuzugeben, versucht er es eben mit Sturheit. Wenn Ihr nicht hier wärt, wäre er wahrscheinlich schon längst losgestürzt und hätte die Witwe als wahrsche inlichste Verdächtige festgenommen.« »Was hat denn meine Anwesenheit damit zu tun?« wollte Master Sean gereizt wissen. »Für ihn ist immer Zauberei im Spiel«, erklärte der englische Zaubererer, »wenn die Antwort nicht klar auf der Hand liegt. Und Ihr seid eben der Hexer. Er kann die Flasche mit dem Gift immer noch nicht finden und glaubt, daß Ihr sie irgendwie weggezaubert habt.« Mit größter Sorgfalt hob Master Sean seinen Steinkrug und leerte ihn langsam, ohne abzusetzen. Dann stellte er ihn wieder auf den Tisch. »Ich werde es nicht zulassen«, sagte er sehr ruhig, »daß dieser Blödmann mir die Verdauung verdirbt. Kehren wir zur Wachmannstation zurück und stellen wir fest, was es an neuen Entwicklunge n gegeben hat, wenn überhaupt.« Sie zahlten und schlenderten gemächlich die Viertelmeile zur Station der Wachmänner zurück, wobei sie sich über verschiedene Dinge unterhielten, die nichts mit dem Mordfall zu tun hatten. Als sie Master Sir Aubreys Büro betraten, war es fünf nach halb elf. Lord Darcy erwartete sie. Lord Darcy, Oberinspektor Seiner Königlichen Hoheit Richard, Herzog der Normandie, hob den Blick von dem Buch, in dem er gerade las, und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich nehme an, daß Ihr eine gute Mahlzeit hattet, meine Herren«, sagte er mit milder -8 3 9
Stimme. »My Lord!« Master Seans Stimme verriet Erstaunen. »Wann seid Ihr angekommen?« »Vor fünfzehn Minuten, mein lieber Sean«, erwiderte Lord Darcy mit einem etwas schiefen Lächeln. »Als Ihr mich informiert habt, daß die Pariser Behörden Euch festgenommen haben, habe ich den nächsten Zug nach Osten genommen. Wir müssen das Beweismaterial im Fall Zellerman-Blair morgen vor Gericht vorbringen. Wie geht es Euch, Master Sir Aubrey?« »Den Umständen entsprechend, My Lord. Und Euch?« »Gut, aber ich bin ungeduldig. Wen muß ich aufsuchen, damit Master Sean auf Ehrenwort entlassen wird?« »Der Richter Duprey arbeitet bis spät in die Nacht. Wenn er Master Seans Darstellung des Falls mit Sergeant Cougairs vergleicht, wird er Sean auf der Stelle freilassen. Aber Ihr werdet den Antrag stellen müssen; ich kann das natürlich nicht tun, weil ich mich damit gegen...« »Ich verstehe«, unterbrach Lord Darcy. »Und Master Sean kann es auch nicht ohne einen Vertreter. Also gut; wir werden diesen Cougair und Master Sean so schnell wie möglich vor den Richter bringen. Das Problem ist, daß niemand hier in der letzten Stunde Sergeant Cougair gesehen hat und daß auch niemand zu wissen scheint, wo er sich gerade aufhält. Natürlich wird er vor Gericht erscheinen müssen, um seine Fassung der Geschichte vorzubringen, sonst bekommt der Richter sie ja nicht zu hören.« »Oh, ich bin sicher, daß er irgendwo in der Nähe ist«, meinte Master Sir Aubrey. »Wartet nur ein Weilchen. Wann geht Euer Zug zurück nach Rouen?« »Um zwei Uhr fünf gibt es einen Bummelzug«, antwortete Lord Darcy. »Den müssen wir auf jeden Fall nehmen. Der Expreß fährt nicht vor fünf Uhr zwanzig, und da die Verhandlung um sechs Uhr stattfindet, ist das viel zu spät. Aber ich bin sicher, daß wir es schaffen werden. Wäre es zuviel -8 4 0
verlangt von mir, Euch um eine Erklärung für dieses ganze Durcheinander zu bitten?« »Aye«, sagte eine Stimme an der Tür. »Das ist 'ne Geschichte, die ich auch gern gehört hätte!« Der hochgewachsene, hagere, gut mit Muskeln bestückte Mann im Türrahmen sah zerknittert aus. Seine schwarzsilberne Uniform war zwar durchaus ordentlich, aber sein dichtes, schwarzes, lockiges Haar sah aus, als hätte es seit Wochen keine Bekanntschaft mehr mit einem Kamm gemacht. Das kantige, mit Grübchen verzierte Kinn war unrasiert und bla u, und seine tiefliegenden, stechenden blauen Augen wirkten unter ihren zottigen Brauen ziemlich blutunterlaufen. Alle drei erkannten sofort Darryl Mac Robert, Oberster Wachmann der Stadt Paris. Verblüfft begrüßten sie ihn: »Guten Abend, Chief Darryl.« Chief Darryl grinste, schüttelte aber den Kopf. »Nein, gut ist er nicht. Die letzte Nacht schlug ich mir wegen des Pembertonraubs um die Ohren; heute morgen kam ich nicht zum Schlafen wegen des Betrugsfalls Neinboller; am Nachmittag dann der Gastod der Duvals. Habe versucht, am Abend etwas zu schlafen, da muß ich feststellen, daß ein Routinetodesfall in einer Bar eine Lawine ausgelöst hat, als wären wir am Matterhorn. Nein, Kameraden, das ist kein guter Abend. Aber es ist gut, Euer Lordschaft einmal wiederzusehen.« »Ihr habt mein Mitgefühl«, antwortete Lord Darcy. »Nun, mein lieber Chief, dann kommt doch her und nehmt Platz. Master Sean, würdet Ihr vielleicht mit dem Anfang beginnen und die Sache bis zur Gegenwart erzählen?« »Das wird mir eine Freude sein, My Lord.« Die Erzählung nahm fast eine Dreiviertelstunde in Anspruch, doch als Master Sean fertig war, hatte er dafür auch jede kleinste Einzelheit, jede Nuance berichtet. Danach schmauchte Lord Darcy nachdenklich seine Pfeife.
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Chief Darryl blickte grimmig drein. »Sieht so aus«, sagte er, »als wäre ein Irrer auf die Stadt losgelassen worden.« Lord Darcy nahm den Pfeifenholm aus dem Mund. »Der Meinung bin ich nicht, Chief Darryl. Das war ein sorgfältig geplanter und ebenso sorgfältig ausgeführter Mord, der nur ein einziges Opfer zum Ziel hatte: Hauptmann Andray Vandermeer.« »Wißt Ihr dann auch, wer ihn begangen hat?« »Das zur Verfügung stehende Beweismaterial weist in eine Richtung. Wenn meine Theorie stimmen sollte, brauchen wir nur noch ein paar wenige Fakten, dann wird alles völlig klar sein.« »Dann holen wir sie uns doch, guter Mann! Ich kann den Schlaf gebrauchen!« »Nun, es steht mir ja wohl kaum zu, Sergeant Cougair darüber zu belehren, wie er seinen Fall zu lösen hat«, erwiderte Lord Darcy vorsichtig. »Von diesem Augenblick an übernehme ich den Fall persönlich«, verkündete Chief Darryl entschlossen. Er sah Master Sean an. »Und Ihr werdet Chasseur nicht erst vor den Richter zerren müssen. Er wird die Anklage fallen lassen.« »Ich fürchte allerdings«, warf Lord Darcy ein, »daß wir den Richter doch werden bemühen müssen. Wir brauchen nämlich zwei Durchsuchungsbefehle.« »Die besorge ich schon. Für welche Orte?« »Einen für die Wohnung des verblichenen Hauptmanns Andray und den zweiten für die Apotheke von Veblin & Sohn.« Chief Darryl machte sich Notizen in einem Block, den er aus seinem Uniformgürtel gezogen hatte. »Und wonach sollen wir dort suchen, Euer Lordschaft?« »Nach einer Flasche Popocotapetl, die nicht geöffnet wurde, und nach einer Flasche Gift, bei der das Gegenteil der Fall ist.«
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Chief Darryl murmelte beim Schreiben vor sich hin. »Branntwein bei Andray zu Hause, Gift in der Apotheke.« »Nein, nein!« entgegnete Seine Lordschaft scharf. »Zweifellos wird es bei Andray zu Hause einige Flaschen mit dem Schnaps geben, und Gift gibt es in jeder Apotheke zuhauf. Nein, es ist genau umgekehrt; Schnaps in der Apotheke, Gift bei Andray.« »Also schön, My Lord. Noch etwas?« »Stellt fest, wer der International Bar den Popocotapetl verkauft hat, und verhaftet ihn. Ich will den Mann haben, der den Schnaps geliefert hat, nicht den Händler, es sei denn, es ist ein und dieselbe Person.« »Aye, das geht in Ordnung. Noch etwas?« »Ja, noch eine Sache. Bringt mir Mary Vandermeer und Jorj Veblin. Sergeant Cougairs Theorie vom unwahrscheinlichsten Verdächtigen folgend müßt Ihr, befürchte ich, auch Vater Pierre mitbringen.« »Aber der hat doch bestimmt nichts mit diesem Mord zu tun, My Lord!« protestierte Master Sean erstaunt. »Ich versichere Euch, mein lieber Sean«, erwiderte Lord Darcy ernst, »daß dieser Mord ohne Vater Pierres Talent nie geschehen wäre - zumindest nicht auf diese Weise.« »Ich setze einige Männer darauf an«, sagte Chief Darryl zögernd. Mitternacht. Im thaumaturgischen Labor des Wachmannhauptreviers standen drei Männer. Chief Darryl stellte zwei Flaschen auf den Labortisch. »Da sind sie, genau, wie Ihr es gesagt habt, Euer Lordschaft. Einmal eine Flasche, die im Schlafzimmer der Edelfrau Mary Vandermeer im Schrank gefunden wurde. Dreiviertel leer.« Er stellte sie ab und nahm die andere auf, eine große Flasche, gefüllt mit einer goldgelben Flüssigkeit. »Und hier eine Flasche Popocotapetl, -8 4 3
das Siegel ist noch verschlossen.« Er stellte auch sie wieder ab. »Die Frau und Veblin sind in den Arrestzellen. Ihr wolltet Vater Pierre und den Branntweinhändler sprechen?« »Noch nicht sofort. Ich möchte erst sichergehen, daß das, was in der braunen Flasche ist, auch dasselbe ist, womit Vandermeer getötet wurde. Würdet Ihr bitte eine Ähnlichkeitsanalyse durchführen, Master Sean?« »Aye, My Lord, ich muß nur eben nach oben, um meinen Reisesack zu holen.« »Nicht nötig«, sagte Master Sir Aubrey, der gerade durch die Tür kam. In einer Hand hielt er Master Seans symbolverzierten Reisesack. »Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, ihn persönlich zu holen.« »Oh, ausgezeichnet. Danke. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, meine Herren, werde ich mich jetzt an die Arbeit machen.« Lord Darcy und Master Sir Aubrey folgten Chief Darryl aus dem Labor, schritten den Gang entlang und begaben sich ins Büro des Chiefs. »Nehmt Platz, meine edlen Herren«, sagte er und wies mit einer Gebärde auf zwei Sessel. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. »Wenn Ihr nichts dagegen habt, My Lord, würde ich doch gern erfahren, warum Ihr die Barmänner als Verdächtige ausgeschlossen habt.« »Weil die ganze Flasche vergiftet war«, erwiderte Lord Darcy prompt. »Wenn ein Barmann einen Kunden vergiften will, kann er das Zeug in ein einziges Getränk geben. Dann braucht er nicht gleich eine ganze Flasche guten Branntwein zu vergiften.« »Aber angenommen, er ist ein Verrückter, dem es gleichgültig ist, wen er umbringt?« wollte Master Sir Aubrey wissen. »Wenn er gleich eine ganze Reihe von Leuten töten will, wäre es doch wohl das Einfachste, gleich die ganze Flasche zu vergiften?« »Möglich. Aber in diesem Fall würde er eine Flasche Brandy oder Ouiskie vergiften, irgend etwas, das regelmäßig verlangt -8 4 4
wird, nicht so einen Branntwein, der nur selten getrunken wird und sehr teuer ist. Und ganz gewiß hätte er ein anderes Gift als Kojotenkrautextrakt verwendet. Nein, dieses Gift war für Vandermeer bestimmt und niemand anderen. Er war der einzige Gast, der Popocotapetl trank.« »Aber My Lord«, warf der Chief ein, »es hätte doch jeder ins International kommen können, um das Zeug zu bestellen. Es hätte ja auch ein Mechicaner vorbeikommen können.« »Das ist wahr«, räumte Lord Darcy ein, »doch der hätte sich wohl kaum daran vergiftet. Denkt doch einmal darüber nach: Einen halbsüßen Likör nippt man normalerweise, vor allem dann, wenn er sehr teuer ist. Man kippt ihn nicht einfach herunter, als wäre er ein billiger Apfelschnaps. Ein Schluck von dem Zeug, und der Gast hätte es wieder ausgespuckt und sich lauthals beim Barmann beschwert. Das ist eine sehr bittere Substanz.« Nun setzte eine Pause ein. Plötzlich fragte Master Sir Aubrey: »Warum hat denn dann Vandermeer das Zeug getrunken?« »Aha! Genau dieselbe Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte Lord Darcy. »Warum sollte...« Er wurde durch Master Sean unterbrochen, der gerade ins Zimmer trat. »Kein Zweifel, My Lord«, sagte er entschieden, »mit demselben Zeug wurde der Hauptmann umgebracht.« »Hervorragend. Wir machen Fortschritte. Chief Darryl, würdet Ihr einen Eurer Männer darum bitten, Vater Pierre hereinzuführen?« Eine Minute später wurde Vater Pierre mit einem gütigen, aber erstaunt wirkenden Gesichtsausdruck von einem uniformierten Wachmann hereingeführt. Chief Darryl sagte: »Es tut mir leid, Euch Unannehmlichkeiten machen zu müssen, Hochwürden, aber wir müssen hier 'n allergrausamstes Verbrechen aufklären.«
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»Oh, das ist schon in Ordnung, keine Sorge, Chief Darryl«, erwiderte der alte Priester. »Ich freue mich, wenn ich irgendwie von Nutzen sein kann.« Master Sean hörte zu seiner Freude, daß der Pariser Akzent des Priesters durch die Zeit, das Reisen und die Bildung etwas geglättet und weniger hart geworden war. »Also gut, Hochwürden. Ich danke Euch. Lord Darcy würde Euch gern ein paar Fragen stellen.« »Aber gewiß doch.« Vater Pierre richtete seine sanften Augen auf den Chefinspektor. »Worum geht es, My Lord?« »Ihr habt, glaube ich, den verstorbenen Hauptmann Andray gegen Malaria behandelt, Vater?« fragte Lord Darcy. »Ja, das habe ich, My Lord.« »Wißt Ihr, wo er sich diese Krankheit zugezogen hat?« »In Mechicoe, als er bei der Reichslegion diente.« »Und Ihr habt ihn mit einer Kräutermedizin behandelt?« »Ja, My Lord. Mit einer Chinchonatinktur. Das ist das Spezifikum gegen diese Krankheit.« »Wie habt Ihr ihn dazu gebracht, sie regelmäßig zu sich zu nehmen, Vater? Das ist doch eine recht bittere Droge, nicht war?« »Oh, ja. Sehr bitter.« Der Priester musterte erst Master Sean und dann Master Sir Aubrey. »Ihr Hexer seid gewiß mit dem Zauber vertraut. Dabei geht es darum, die Sinneswahrnehmung leicht zu verlagern.« »Ja«, erwiderte Master Sean. »Ich habe erst vor wenigen Stunden mit einem Mann gesprochen, dessen Geruchssinn leicht verändert wurde, damit ein bestimmter Geruch, der bei ihm sonst Übelkeit auszulösen pflegte, plötzlich angenehm riechen sollte.« »Genau.« Vater Pierre richtete seinen Blick wieder auf Lord Darcy. »Einen ähnlichen Zauber habe ich über den Hauptmann -8 4 6
verhängt, damit die Bitterkeit als Süße wahrgenommen wird. Ihr versteht. So konnte ein Löffel Tinktur, vermischt mit ein wenig Zitronensaft und Wasser, zu einem sehr angenehmen Getränk werden - jedenfalls für ihn.« »Galt das nur für die Tinktur oder für alles, was bitter schmeckte?« fragte Lord Darcy. »Alles, was bitter war, hätte ihm süß geschmeckt. Das ließ sich nicht umgehen. Ich habe ihn sogar davor gewarnt. Er sollte nichts als süß akzeptieren, es sei denn, daß er genau wußte, daß es tatsächlich süß war und Zucker oder Honig enthielt. Er war ein sehr sorgfältiger Mann, dieser Hauptmann Andray.« »Eine Lektion, die man in der Legion lernt«, murmelte Lord Darcy. »Recht vielen Dank, Vater. Ich denke, das genügt für heute. Ich danke Euch noch einmal.« Nachdem der Heiler gegangen war, musterte Lord Darcy die anderen. »Versteht Ihr? Von all den vielen Menschen, die möglicherweise in diese Bar gekommen und Popocotapetl bestellt hätten, war Hauptmann Andray Vandermeer der einzige, der das bittere Getränk zu sich genommen hätte, ohne sich im geringsten zu beschweren. Er wußte, daß der Branntwein süß sein sollte, und er bemerkte den Kojotenkrautextrakt nicht.« »Aber warum überhaupt ein solch bitteres Gift verwenden?« wollte Chief Darryl wissen. »Wäre es nicht viel einfacher gewesen, irgend etwas Genießbareres zu verwenden?« Lord Darcy schüttelte den Kopf. »Dieses Gift besitzt eine ganz wichtige Eigenschaft. Master Sean, Ihr habt erwähnt, daß es als Rattengift verwendet wurde. Weshalb?« »Weil es schmerzlos wirkt«, erklärte Master Sean. »Das Opfer schläft ganz ruhig ein, bevor es stirbt. Ratten sind ziemlich kluge Geschöpfe; wenn sie wissen, daß ein Köder vergiftet ist, meiden sie ihn, und das merken sie, sobald ein paar ihrer Freunde daran schmerzhaft verrecken. Aus irgendeinem Grund macht ihnen der bittere Geschmack nichts aus, wenn das -8 4 7
Zeug mit Kleie und einem guten Batzen Zuckerrohrsirup vermischt wird.« »Und wie ist das Gift überhaupt in die Flasche gekommen?« fragte der Chief. »Das hat mir auch ein paar Augenblicke lang Kopfzerbrechen gereitet«, gestand Lord Darcy. »Wie sollte eine nicht autorisierte Person hinter die Theke gelangen, eine Flasche mit teurem Branntwein vergiften und wieder davonspazieren, ohne bemerkt zu werden? Das International ist durchgehend geöffnet, ein Einbruch kommt also auch nicht in Frage. Offensichtlich mußte die Flasche also bereits vergiftet gewesen sein, als sie in die Bar gebracht wurde!« Er machte eine Pause, während sie das Gesagte verdauten, dann fuhr er fort: »Chief, würdet Ihr bitte den Branntweinhändler hereinbringen?« Der Mann, der die International Bar mit Getränken belieferte, war rundlich, besaß ein rotes Gesicht und hieß Baker. Er machte den Eindruck, als würde er sehr oft lächeln, wenn er sich nicht gerade in den Fängen des Gesetzes befand. »Master Sean«, flüsterte Lord Darcy dem Hexer zu, »würdet Ihr bitte diese Fla sche Popocotapetl holen gehen?« Master Sean nickte und verließ wortlos den Raum. Wieder übernahm Chief Darryl die Einleitung und übergab schließlich Lord Darcy das Wort. »Edelmann Baker«, begann Seine Lordschaft, »wie ich höre, beliefert Ihr das Hotel Cosmopolitain regelmäßig mit alkoholischen Getränken.« »Das tue ich, My Lord.« Baker sprach das Anglo-Französisch mit einem deutlichen englischen Akzent, genau wie Lord Darcy, doch war es bei ihm reine Londoner Mittelklasse. »Welche Etablissements beliefert Ihr noch außer der International Bar?« »Nun, My Lord, was die üblichen alkoholischen Getränke angeht, ist das das einzige.« »Ihr sprecht von üblichen alkoholischen Getränken. Mit welchen Alkoholika handelt Ihr denn noch?« -8 4 8
»Nun, da gibt es natürlich noch die hochprozentigen Sachen, die ich der Apotheke von Veblin & Sohn liefere. Daraus wird Medizin gemacht, müßt Ihr wissen. Und die beziehen bei mir auch speziellen Franzbranntwein.« »Das habe ich mir gedacht. Und nun denkt bitte einmal sorgfältig, sehr sorgfältig über meine nächste Frage nach, bevor Ihr antwortet. Hat irgend jemand bei Veblin & Sohn in den letzten Monaten etwas bestellt, was gänzlich aus der Reihe fiel?« »Darüber muß ich nicht erst lange nachdenken, Euer Lordschaft«, antwortete Baker selbstzufrieden. »Er hat... der junge Master Jorj, meine ich, hat ein Doppelpint von diesem mechicanischen Zeug bestellt, von diesem Poppi-Kotzi-Petzel. Sehr teures Zeug, das, Euer Lordschaft, und da wir in Paris der einzige Importeur sind, erinnere mich noch auch gut daran.« »Und wann war das?« fragte Lord Darcy. »Freitag vor vier Wochen.« »Und wann habt Ihr Veblin & Sohn das letzte Mal beliefert?« »Am letzten Freitag.« »Durch und durch zufriedenstellend«, murmelte Lord Darcy mit erfreutem Lächeln. »Und habt Ihr am selben Tag der International Bar auch eine Flasche Popocotapetl geliefert?« »Das habe ich getan, My Lord. Ich nehme an, daß man Euch das berichtet hat.« »Tatsächlich hat man das aber nicht getan. Ich habe nur Schlußfolgerungen gezogen. Ich werde nun eine weitere ziehen: daß Ihr die Firma Veblin & Sohn immer und ohne Ausnahme beliefert, bevor Ihr das International aufsucht.« »Ja, das ist so wahr wie das Evangelium, My Lord! Ich stelle meinen Lieferwagen immer hinter dem Hotel ab, und mein Gehilfe hält die Pferde fest, während ich die Auslieferung mit einem Handwagen durchführe. Vom Hintereingang aus gelangt -8 4 9
man als erstes zur Apotheke, deshalb beliefere ich die auch zuerst.« »Wobei Ihr immer Euren Handkarren mit hinein nehmt, nehme ich an?« »Aber natürlich, My Lord. Wenn ich den draußen im Gang lasse, fehlen mir hinterher wahrscheinlich ein oder zwei Flaschen.« »Und dann bringt Ihr die Ware in den hinteren Teil der Apotheke, wobei Ihr den Handkarren im Vorderraum stehen laßt?« »Das tue ich. Master Jorj paßt für mich auf ihn auf. Der würde selbst nichts stehlen und es auch nicht zulassen, daß ein anderer es täte.« »Das möchte ich gern glauben«, stimmte Lord Darcy ihm zu. »Und danach begebt Ihr Euch ins International und liefert dort die bestellte Ware ab?« »Das tue ich, My Lord.« Inzwischen war Master Sean mit der Flasche Popocotapetl zurückgekehrt. Lord Darcy streckte die Hand vor, und der kleine irische Hexer reichte ihm die Flasche. Lord Darcy stellte sie vor Baker auf den Tisch. »Ist das die Flasche, die Ihr Freitag vor vier Wochen Master Jorj Veblin verkauft habt?« Baker musterte die Flasche. »Na ja, das könnte ich nicht unbedingt beschwören, My Lord. Diese Flaschen sehen alle ziemlich gleich aus, und...« Plötzlich nahm er die Flasche wieder auf und musterte sie genauer. »Einen Augenblick, My Lord. Das ist nicht die Flasche, die ich ihm verkauft habe.« »Woher wißt Ihr das?« Baker zeigte auf ein paar kleine Zahlen auf dem Etikett. »Das Datum stimmt nicht, My Lord. Das hier ist aus einer Lieferung, die wir erst vor zwei Wochen aus Mechicoe bekommen haben.«
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»Das ist aber ein Glücksfall!« meinte Lord Darcy. »Master Sean, bringt bitte die Flasche herbei, die wir in der Bar gefunden haben.« Master Sean kehrte nach einer Minute mit der vergifteten Flasche zurück. Lord Darcy nahm sie entgegen und zeigte Baker das Etikett, ohne sie jedoch aus der Hand zu geben. »Und was ist mit dieser Flasche?« »Na ja, ich kann zwar nicht eindeutig behaupten, daß es die Flasche ist, die ich Master Jorj verkauft habe, aber sie hat zumindest das richtige Datum.« »Sehr gut. Ich danke Euch sehr für Eure Hilfe, Edelmann. Ihr könnt jetzt nach Hause zurückkehren.« Nachdem Baker gegangen war, nahm Lord Darcy seine Pfeife und seinen Anzünder auf und brachte den Tabak erst paffend zum Glimmen, bevor er weitersprach. »Und da habt Ihr es nun, meine Herren. Ich wage die Vermutung, Chief Darryl, daß eine genauere Untersuchung der Aktivitäten von Mary Vandermeer und Jorj Veblin in den letzten paar Monaten eine größere Intimität zwischen beiden zu Tage treten lassen wird, als man zuvor vermutet haben mag. Vandermeer war sehr viel älter als seine Frau, und es kann sein, daß sie sich seiner zugunsten eines jüngeren Mannes entledigen wollte - zugunsten Veblins, um genau zu sein. Wenn der Hauptmann so war wie die meisten Legionsoffiziere, hat er ihr sicherlich ein kleines, aber angenehmes Vermögen hinterlassen.« »Ich fürchte, ich verstehe die Sache immer noch nicht ganz«, meinte Master Sir Aubrey. »Was ist denn genau vorgefallen?« »Also gut. Vor einigen Jahren hat Hauptmann Andray seine jetzige Frau, genauer gesagt seine Witwe geheiratet, die von mechicanischer Herkunft war. Wahrscheinlich hat er sie drüben geheiratet. Jedenfalls hat er sie mit hierhergebracht, nachdem er den Dienst quittierte. Und sie hat eine Flasche Kojotenkraut extrakt mitgebracht. Wir wissen noch nicht genau, weshalb sie das ge tan hat; vielleicht hat sie schon damals seinen Mord geplant. Es obliegt den Untersuchungen Eurer Männer, Chief -8 5 1
Darryl, herauszubekommen, wie sie Veblin kennengelernt und wie die beiden ihren Plan geschmiedet haben, aber das ist reine Routine.« »Woher wißt Ihr, daß die beiden es waren?« »Wer hätte denn sonst wissen können, daß er unter einem Heilerzauber stand, der dafür sorgen würde, daß ihm bittere Dinge süß schmecken würden? Zweifellos hat er seiner Frau davon erzählt, und der Apotheker konnte es mit Sic herheit erraten. Jedenfalls gab sie Veblin das Gift. Sie kannte die Vorliebe des Hauptmanns für Popocotapetl und hat Veblin davon berichtet. Veblin hat daraufhin eine Flasche von dem Zeug gekauft, es mit Gift versehen und gewartet, bis Baker der Internatio nal Bar eine neue Flasche lieferte. Während Baker gerade den medizinischen Branntwein im Hinterzimmer ablieferte, tauschte Veblin die Flaschen miteinander aus, wodurch die Bar mit der vergifteten Flasche beliefert wurde. Danach brauchte er nur noch bis zum folgenden Dienstag zu warten... also bis heute...« Er sah auf seine Uhr. »Bis gestern«, berichtigte er sich, »da kam der Hauptmann nämlich herein, bestellte wie üblich sein Getränk, und das war es auch schon.« »Aber warum hat er nach dem Tausch die unversehrte Flasche behalten?« wollte Master Sean wissen. »Warum hat er sich ihrer nicht entledigt?« »Weil er wußte, daß die Ermittlungsbeamten irgendwann das Gift in der Flasche doch entdecken und die Importeure befragen würden. Die würden uns dann mitteilen, wie sie es ja auch getan haben, daß er eine Flasche geordert hatte. Er wollte sagen können: ›Ja, das habe ich getan, und ich habe sie sogar noch hier.‹ Er wußte nicht, daß die Branntweinimporteure ihre Ware beim Empfang mit einem Datum versehen.« »Mir scheint aber«, warf Chief Darryl ein, »daß ein Apotheker doch wohl genug anderes Gift zur Verfügung gehabt
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hätte, um ausgerechnet einen Spezialimport aus Mechicoe zu verwenden.« »Das ist ja gerade der Witz an der Sache«, erklärte Lord Darcy. »Hätte er eines der üblichen Medikamente verwendet, hätte jeder kompetente Justizhexer das entsprechende Gift identifizieren können, das hätte zur Folge gehabt, daß seine Chancen, unentdeckt zu bleiben, gesunken wären. Er hoffte darauf, daß es in ganz Europa keinen einzigen Menschen geben würde, der Kojotenkrautextrakt identifizieren könnte. Hat noch jemand weitere Fragen?« Chief Darryl dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das deckt so ziemlich alles ab, My Lord. Da wir jetzt wissen, wie es durchgeführt wurde und wer es getan hat, ist der Rest recht einfach.« Er sah zur Wanduhr empor. »Wo zum Teufel bleibt eigentlich Sergeant Cougair? Mit diesem lieben Mann habe ich noch 'n paar warme Worte zu wechseln.« »Oh, was das betrifft«, sagte Master Sir Aubrey wie beiläufig, »so habe ich ihn das letzte Mal oben im Gästezimmer gesehen.« Chief Darryl sprang auf. »Was zum Teufel tut er dort oben?« »Er sitzt. Er sitzt einfach nur da.« »Wachmann Stefan!« brüllte der Chief. Die Tür zum Gang Sing auf, und ein Wachmann steckte den Kopf ins Zimmer. »Jawohl, Chief?« »Geht sofort die Treppe hinaus und holt mir Sergeant Cougair Chasseur aus dem Gästezimmer.« »Jawohl, Chief!« Die Tür schloß sich. Master Sean sah Master Sir Aubrey an. Der hatte den Blick zur Decke gerichtet. Lord Darcy sah verwundert drein. Der Wachmann Stefan kehrte zurück. Die Zuckungen in seinem Gesicht machten deutlich, daß er versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. »Chief, es ist nicht zu verkennen, daß Sergeant Cougair seinem Verstand den Abschied gegeben hat. Wenn man ihn anspricht, hüpft er auf und ab und schnattert wie ein Affe.« -8 5 3
»Das tut er?« Chief Darryl ging hinüber zur Tür. »Das sehen wir uns doch einmal an. Kommt mir mir!« Eine halbe Minute später hallten laute Stimmen und Gelächter von oben durch das Treppenhaus. Master Sean seufzte und öffnete seinen Reisesack. Er holte einen kleinen, vierzölligen Stab aus Akazienholz hervor. »Ich gehe hinauf und löse den Zauber«, sagte er. »Ihr habt ihm nicht zufällig erzählt, daß sich die vergiftete Flasche in meinem Reisesack befand, Master Sir Aubrey?« »Natürlich nicht!« erwiderte der Hexer empört. »Ganz im Gegenteil. Ich habe ihm unter allen Umständen verboten, dort auch nur nachzusehen.« Master Sean verließ den Raum. Lord Darcy sagte nichts. Er mußte sich noch um den Fall ZellermanBlair kümmern und hegte keine Absicht, sich in die Angelegenheiten von Hexern einzumischen. ENDE
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