1.
Xenon, der Fischer und Jäger, lag schon seit Stunden auf der Lauer. Unten, in der kleinen Bucht, schaukelte sein Bo...
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1.
Xenon, der Fischer und Jäger, lag schon seit Stunden auf der Lauer. Unten, in der kleinen Bucht, schaukelte sein Boot, mit dem er zu der namenlosen, kleinen Insel gekommen war. Den ganzen Tag und die halbe Nacht war er unterwegs gewesen, aber er hatte die Richtung nicht verloren Xenon wußte sich nach den Sternen zu richten. Die Felldecke, mit der er sich zu schützen versuchte, war naß und klamm. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, und es war kalt und feucht. Draußen auf dem Meer, nach Westen zu, tanzten weiße Schaumkronen. Im Nordwesten stand eine dunkle Wolkenbank über dem Horizont. Das bedeutete Sturm. Xenon verfluchte seinen Entschluß, zu der namenlosen Insel gekommen zu sein, denn wenn sich das Wetter tatsächlich veränderte, saß er hier fest, ein oder zwei Tagesreisen von seiner größeren Heimatinsel entfernt, die dem Festland vorgelagert war. Im Mond des Hirsches gab es nur selten Stürme, aber wenn sich der Wettergott dazu entschloß, den Menschen Wind zu schicken, dann konnte es sehr gut ein Orkan werden. Xenons Schiff war klein, drei Manneslängen maß es
vielleicht. Genauso hoch war auch der Mast, an dem das Segel nun festgebunden wartete, zur Rückreise vom Wind aufgebläht zu werden. Mit viel Geschick hatte Xenons Vater das Boot selbst gebaut und dabei nicht versäumt, einen besonders schweren Kiel aus Metall an der Unterseite anzubringen. Kentern konnte das Boot nicht, wohl aber sinken, wenn es voll Wasser schlug. Er fröstelte, als die Sonne hinter ihm über den Felsenklippen aufging. Die Felsklippen glühten auf, als die ersten Strahlen sie berührten, aber es blieb noch immer kalt. Vielleicht hätte Xenon Holz gesammelt und Feuer angezündet, aber der Schein der Flammen würde seine Beute verscheuchen. Und ohne Beute wollte er nicht heimkehren. Er hatte den Mund reichlich voll genommen, als sie vor fünf Tagen abends am Lagerfeuer im Hafen saßen und sich gegenseitig ihre Erlebnisse berichteten. An diesem Abend kreiste der Weinkrug unermüdlich und wurde immer wieder neu angefüllt. Sie hatten auch allen Grund dazu, denn wenige Tage zuvor war ein Schiff gestrandet, dessen Ladung aus kostbaren Gewürzen und besten Weinen bestand, die von den Wellen an den Strand gespült wurden. Viele der Amphoren waren nicht zerbrochen und lagen im weichen, feuchten Sand.
Das Schiff selbst war auf die Klippen gelaufen, die vor der Insel tückisch unter dem Wasser auf ihr Opfer warteten. Vielleicht war es sogar ein Piratenschiff von der Schlangeninsel gewesen, aber das würde niemand mehr erfahren, denn es gab keine Überlebenden. Alle waren in der dunklen Nacht ertrunken. Und dann, als die Männer trunken waren, hatte einer von ihnen behauptet, schon einmal einen Fischmenschen erlegt zu haben. Er war ausgelacht worden, denn die Fischmenschen waren nur eine Sage. Noch nie hatte jemand einen Fischmenschen mit eigenen Augen gesehen, wenn auch viel über sie berichtet wurde. In die Zange genommen, erklärte der Mann, er sei zu der Insel ohne Namen gefahren, weit im Westen, zwei oder drei Bootstage bei ungünstigem Wind, weil dort die Fischmenschen lebten. Und dort sei vor seinen Augen eine ganze Herde von ihnen aus dem Wasser gestiegen, um Fleisch zu jagen. Es gäbe wilde Ziegen dort, und auch Kaninchen, behauptete der Fischer, den alle für einen Lügner hielten. Xenon lauschte andächtig, denn auch er hatte schon von den sagenhaften Fischmenschen gehört, aber nie so richtig an sie geglaubt. Und nun erzählte ein Mann seines Dorfes, er habe schon einen getötet. »Ich lag in einer Felsspalte und konnte sie genau sehen. Sie haben Schwimmhäute zwischen Fingern und
Zehen, und sie sind fast nackt. Bewaffnet waren sie auch, mit Speeren und Lanzen, während ich nur eine Keule bei mir hatte. So mußte ich warten, bis einer von ihnen so unvorsichtig war sich meinem Versteck zu nähern.« »Und dann?« lallte einer der Betrunkenen. »Dann habe ich ihn erschlagen.« Xenon hatte gefragt: »Wenn du ihn erschlagen hast, warum hast du ihn dann nicht als Beweis mitgebracht? Niemand würde sich so etwas entgehen lassen. Wer soll dir deine Geschichte glauben?« »Du bist ein Dummkopf«, hatte der Fischer erwidert. »Wie soll ich den erschlagenen Fischmenschen mitbringen, wenn sie selbst ihn kurz darauf fanden und ich froh sein konnte, nicht von ihnen entdeckt und getötet zu werden? Sie nahmen die Leiche und stiegen zurück ins Meer, aus dem sie gekommen waren. Aber glaubt mir, die Geschichte ist wahr.« Man hatte vor Vergnügen gejohlt und weitergetrunken, bis die Frauen kamen und ihre Männer ins Bett zerrten. Xenon hatte keine derartigen Probleme, denn er besaß weder Weib noch Kinder. Einsam lebte er in seiner Hütte, aber er war ein guter Fischer und Jäger. Der Bericht von den Fischmenschen ließ ihm keine
Ruhe mehr. Schon am anderen Tag ließ er sich von dem Mann, der die Geschichte aufgebracht hatte, die namenlose Insel beschreiben und die Lage der geschützten Felsbuchten erklären. Sein Interesse blieb nicht unbeachtet. Und so kam es, daß er zwei Tage später sein Boot mit Lebensmitteln, Trinkwasser und einigen Werkzeugen ausrüstete und vor aller Augen in See stach. Er hatte versprochen, einen erlegten Fischmenschen mitzubringen. Und nun hockte er über den Klippen und wartete. Der Wind hatte schon ein wenig aufgefrischt, aber allmählich wurde es wärmer. Unten in der Bucht schaukelte das Boot immer stärker, aber es lag sicher vertäut zwischen den Felsen im tiefen Wasser. Rechts und links waren weitere Buchten. Xenon überprüfte den Köcher mit den Pfeilen. Die Spitzen bestanden aus scharfen Fischgräten, die tiefe Wunden rissen. Er verließ sich lieber auf seinen Bogen als auf einen Speer oder auf eine primitive Keule. Er wollte aus der Entfernung töten, denn er war nicht gerade ein Held. In einer der Buchten kräuselte sich plötzlich das Wasser. Nur eine schmale Einfahrt trennte es vom offenen Meer, deshalb war das Wasser so ruhig und fast unbewegt. Aber nun waren auf einmal Wellen vorhanden, die sich kreisförmig nach allen Seiten verbreiteten und gegen die Ufer schlugen.
Was konnte die Wellen verursacht haben? Xenon legte den Bogen und die Pfeile griffbereit neben sich und beugte sich dann weiter vor, um besser sehen zu können. Die Sonne war inzwischen weitergestiegen, aber ihre Strahlen konnten die Buchten an der Westseite der Insel, die steil und felsig war, noch nicht erreichen. Ein Delphin! Enttäuscht rutschte Xenon in sein Versteck zurück. Natürlich war auch ein Delphin eine willkommene Beute, aber heute wollte er einen größeren Fang machen. Er wollte einen Fischmenschen erlegen, nicht mehr und nicht weniger. Sie sollten ihn im Dorf bewundern und seinen Mut anerkennen. Was nützte es, als guter Fischer und Jäger zu gelten, wenn man nur Delphine, wilde Ziegen und Kaninchen erlegte? Die jungen Frauen sahen einen nicht einmal an deswegen. Trotzdem beobachtete er den Delphin, nur nicht mehr so angespannt wie vorher. Der große Fisch, mehr als eine Mannslänge messend, zog seine Kreise in der Bucht. Es sah ganz so aus, als suche er etwas. Oder er paßte auf etwas auf, das Xenon nicht sehen konnte, weil es unter der Wasseroberfläche verborgen lag. Einmal sprang er sogar hoch in die Luft und drehte sich um sich selbst, ehe er wieder zurückfiel. Xenon duckte sich noch tiefer, obwohl es ihm egal
sein konnte, ob ein Fisch ihn jetzt sah oder nicht. Immerhin tauchte der Delphin weg und blieb verschwunden. Xenons Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. In der Bucht beruhigte sich das Wasser wieder. Alles war so ruhig und still wie vorher. Der Delphin mußte davongezogen sein. Oder etwa nicht? Xenon beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können. Seine Geduld wurde belohnt. Wieder kräuselte sich das Wasser, aber diesmal war es nicht der Delphin, der die erneute Unruhe verursachte. Mindestens zwei Dutzend große Fische durchbrachen die Oberfläche und erzeugten durch ihre schnellen Bewegungen einen solchen Wirbel, daß Xenon nicht mehr in der Lage war, Einzelheiten zu erkennen. Erst als einer der Fische zum Land schwamm – und aus dem Wasser kam, erkannte er die Wahrheit. Der Fisch war kein Fisch, sondern ein Mensch. Er war etwa dreiviertel Mannslänge groß und nackt. Seine Haut war bleich, wie seine Haare, die ihm bis zur Schulter herabfielen. Mehr konnte Xenon auch nicht sehen, denn die Entfernung war zu groß. Aber er zweifelte keine Sekunde mehr an dem Bericht des betrunkenen Fischers und wußte, daß die Fischmenschen keine bloße Sage waren. Nur mußte es
sich bei den von ihm beobachteten um junge Fischmenschen handeln, denn die erwachsenen waren größer. Sie spielten. An der schmalen Einfahrt des natürlichen Hafenbeckens tauchten ein halbes Dutzend Delphine auf. Ihre Formation ließ darauf schließen, daß sie die Bucht gegen das offene Meer abgrenzten. Zum ersten Mal kam Xenon der phantastische Gedanke, die Delphine könnten mit den Fischmenschen eine Art Vertrag geschlossen haben. Er verwarf ihn sofort wieder. Immerhin sah er verwundert zu, wie die jungen Gestalten sich im Wasser tummelten, auf die flachen Felsen kletterten und wieder in das feuchte Element zurücksprangen. Sie waren durchaus unbekümmert und arglos. Das Boot in der Nebenbucht schienen sie nicht entdeckt zu haben, sonst müßten sie wissen, daß jemand auf der Insel war. Xenon widerstand der Versuchung, eins der jungen Wesen mit dem Pfeil zu erlegen. Wenn schon, dann wollte er auch ganz sichergehen. Vielleicht brauchte er die Jungen nicht zu fürchten, wohl aber die Alten. Und niemand wußte, wie lange sie sich außerhalb des Wassers aufhalten konnten. Erst recht wußte niemand, wie gefährlich sie sein konnten.
Natürlich gab es auch darüber Geschichten, von denen man nicht wußte, ob man sie ernst nehmen sollte oder nicht. Fischer erzählten, ihre Boote seien von Fischmenschen gekapert und ausgeraubt worden. Außerdem stand fest, daß die besten Fischgründe nach dem ersten Auftauchen der Wassermenschen plötzlich unergiebig wurden. Also waren sie zumindest schädlich. Xenon tat nur ein gutes Werk, wenn er sie tötete. Alles, was fremd war, mußte getötet werden – so dachte Xenon, denn er war ein Mensch. Aber wie? In seinem Eifer, die jungen Fischmenschen zu beobachten, war er unvorsichtig gewesen. Er hatte sich zu weit aus seiner Deckung hervorgewagt. Plötzlich hörte er ein helles Zirpen und Pfeifen, und von einer Sekunde zur anderen verschwanden die seltsamen Wesen unter der Wasseroberfläche. Die Delphine hingegen blieben. Sie schwammen Kreise in der Bucht, und dann tauchte einer nach dem anderen unter und kehrte nicht mehr zurück. Xenon nahm Bogen und Pfeile und machte sich an den Abstieg. Die ganze Insel war kahl, die Vegetation nur spärlich. Sie reichte nur für die paar wilden Ziegen und Kaninchen, die auf ihr lebten. Dann gab es noch die
dornigen Büsche mit den roten Früchten, die bitter schmeckten, aber den Durst löschten. Sonst wuchs nichts. Die Felsen waren teils glatt, teils zerklüftet. An einigen Stellen gab es natürliche Zisternen, in denen sich das Regenwasser sammelte. Die Fischer erzählten, daß sie schon manchem Schiffbrüchigen das Leben gerettet hatten. Eine solche Zisterne fand Xenon beim Abstieg. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, denn Wasser war selten auf den Inseln. Vorsichtig legte er Bogen und Köcher auf einen flachen Stein und kletterte in den engen Schacht, um zum Wasserspiegel zu gelangen. Der lag mindestens drei Mannslängen unter ihm. Er trank durstig und hastig. Der Anblick der sagenhaften Fischmenschen hatte ihn stark erregt – und unvorsichtig gemacht. Er unterschätzte sie, weil er sie nicht für intelligente Lebewesen hielt. Für ihn waren sie Tiere, die es zu erlegen galt. Außerdem waren sie schädlich, wie jedermann wußte. Und hinzu kam, daß er geprahlt hatte. Ohne einen toten Fischmenschen würde er nicht zurückkehren, hatte er verkündet. Er wollte sein Wort halten. Als er keinen Schluck mehr herunterbringen konnte, begann er wieder an den Wänden der Zisterne emporzuklettern. Er sah nach oben und konnte den
Himmel sehen, und gegen die Helligkeit gewährte er die Schatten, die sich bewegten und deren fahle Gesichter zu ihm herabsahen. Der Atem stockte ihm, und er blieb auf einem winzigen Felsvorsprung stehen. Er war waffenlos. Sein Bogen lag am oberen Rand der Zisterne. Er hatte nur sein kurzes Messer, das er zum Ausnehmen der erbeuteten Fische benutzte. Als Waffe war es nutzlos. Eine melodisch klingende Stimme sagte, kaum verständlich und in einem fremden Dialekt: »Komm herauf, wir tun dir nichts.« Sie können sprechen! dachte Xenon erleichtert und entsetzt zugleich. Sie verstehen unsere Sprache! Das ist doch nicht möglich! Aber er kletterte weiter. Als er den Rand des Brunnens erreichte, halfen ihm zwei der fremdartigen Geschöpfe, festen Fuß zu fassen. Abseits sah Xenon seinen Bogen neben dem gefüllten Köcher liegen. Sie standen um ihn herum, mindestens zwei Dutzend halbnackter Gestalten, nur mit Lendenschürzen bekleidet, die aus Fischhaut hergestellt waren. »Was suchst du hier?« Wieder dieser unbekannte Dialekt, den Xenon jedoch halbwegs verstand. Man sprach ihn in den Ländern des Westens, dort, wo die Welt zu Ende war. »Ich bin ein Fischer von der großen Insel im Osten«,
sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel. »Der Wind trieb mich hierher.« »Der Wind«, sagte der Fischmann, »kommt aus der anderen Richtung. Du lügst.« Sie trugen keine Waffen, wie Xenon sehen konnte. Wenn er an seinen Bogen herankam, konnte es ihm vielleicht gelingen, einige von ihnen zu töten und dann zu fliehen. Er mußte es versuchen, ehe sie ihn umbrachten. »Ich lüge nicht. Gestern kam der Wind von Osten. Ich war froh, diese Insel zu erreichen. Wer seid ihr?« Die Frage war berechtigt, denn sie sahen zwar aus wie Menschen, aber sie waren keine. Sie waren überdurchschnittlich groß, schlank und feingliedrig. Zwischen Fingern und Zehen waren die Ansätze von Schwimmhäuten zu erkennen. Die Brustkörbe waren ungewöhnlich umfangreich und ließen auf große Lungen schließen. Die Haare waren fast weiß und hingen herab bis zu den Schultern. Sie stachen kaum von der blassen Haut ab. Die Ohren waren nur sehr klein und kaum als solche zu erkennen. Dicht dahinter konnte Xenon schmale Schlitze erkennen. Sie erinnerten ihn an die Kiemen der Fische. Jetzt, an der Luft, waren sie geschlossen. Sonst unterschieden sie sich nicht von gewöhnlichen Menschen. »Wir sind das Volk der Tainu, und wir sind
friedfertig. Die Menschen jagen und töten uns, weil wir fremd für sie sind. Auch du bist auf der Suche nach uns, um uns zu töten, deine Waffen beweisen es. Es sind nicht die gewöhnlichen Waffen der Fischer. Was haben wir dir getan?« Xenons Mut kehrte allmählich zurück. Die Fischmenschen schienen in der Tat harmlos und damit dumm zu sein. Er hatte erwartet, von ihnen sofort getötet zu werden, und nun sprachen sie mit ihm. Vielleicht kam er noch einmal mit heiler Haut davon. Aber er konnte nicht nach Hause zurückkehren, ohne sein Versprechen eingelöst zu haben. »Ich wollte keinen von euch töten. Ich wollte mich nur überzeugen, ob es euch gibt. Es gibt viele Geschichten, aber niemand glaubt an sie. Ich wollte es genau wissen, darum kam ich hierher. Kann ich nun gehen?« »Du kannst gehen und deinem Volk berichten, daß wir in Frieden leben wollen. Nimm deine Waffen.« Sie öffneten den Kreis und gaben den Weg frei. Xenon war viel zu überrascht, um ihnen zu danken. Mit wenigen Schritten war er bei seinem Bogen, nahm ihn auf und hing sich den Köcher mit den Pfeilen um. Nur einen einzigen Blick warf er noch zurück, dann hastete er davon. Er wagte den offenen Angriff nicht, auch wenn die Fischmenschen unbewaffnet waren.
Sein Plan war, ein Stück von der Insel fortzufahren und dann, wenn es dunkel geworden war, zurückzukehren. Diesmal würde er in einer anderen Bucht ankern und sich abermals auf die Lauer legen. Bei seinem Boot angelangt, sah er zurück. Von den Fischmenschen, die ihn bei dem Brunnen überrascht hatten, war nichts zu sehen. Die Insel war so verlassen wie vorher. Sie schien unbewohnt zu sein. Aber er hörte das Plätschern von Wasser. Es mußte aus der anderen Bucht kommen, die von der seinen nur durch ein hohes Riff getrennt war. Spielten dort noch die Jungen der Fischmenschen? Er löste die Verankerung des Bootes und ließ es frei in der Bucht treiben, nur noch ein einziges Tau verband es mit dem Ufer, so daß er es leicht heranziehen konnte. Und wenn ihm sein Vorhaben gelang, mußte das sehr schnell geschehen. Einmal im Boot, konnten ihm die Fischmenschen nicht mehr viel anhaben, dafür würden schon Pfeil und Bogen sorgen. Er kletterte an den Felsen hoch, die beide Buchten trennten. Vorsichtig kroch er bis zum höchsten Rand vor, bis er, nur von einigen Büschen in der Sicht ein wenig behindert, das andere Hafenbecken sehen konnte. Seine Vermutung erwies sich als richtig. Sieben oder acht junge Fischmenschen tollten in dem glasklaren Wasser und zeigten ihre erstaunlichen
Kunst im Tauchen. Xenon konnte ihre weißen Körper tief in den Fluten versinken sehen, bis hinab zum Grund, wo sie länger blieben, als es je ein Mensch ausgehalten hätte. Sie schienen unter Wasser zu atmen, aber Xenon war sich nicht sicher. Er hätte leicht einen oder zwei von ihnen aus seinem Versteck töten können, aber dann wäre er ohne Beweis nach Hause zurückgekehrt. An der engsten Stelle zur Bucht standen wieder die Delphine. Es schien wahrhaftig so zu sein, daß sie auf die spielenden Fischmenschenkinder aufpaßten. In diesen Gewässern gab es gefährliche Raubfische. Die Delphine störten Xenon nur wenig. Er hatte schon genug von ihnen gefangen und ihr wohlschmeckendes Fleisch verkauft. Sie waren harmlos, darum hatte er auch keine Angst vor ihnen. Vorsichtig zog er sich zurück. Er hatte seinen ursprünglichen Plan geändert. Hastig zog er sein Schiff ans Ufer, sprang hinein und löste die Halteleine. Der Wind war stärker geworden, und die Wolkenwand zog nun südwärts. Mit einem Orkan war nicht mehr zu rechnen, und wenn, dann würde er an ihm vorbeiziehen. Er legte die Segel bereit, so daß er sie schnell und ohne Umstände aufziehen konnte. Dann nahm er das Ruder und steuerte das Boot aus der Bucht. Dicht am Ufer bleibend, verließ er sie. Die Wellen gingen bereits
recht hoch, und es war schwer, das Schiff in der Gewalt zu behalten. Immer wieder drohten die Wogen, es gegen die Felsen zu schleudern, was seinen Untergang bewirkt hätte. Aber dann wurde das Wasser wieder ruhiger. Xenon hatte die Einfahrt zur Nachbarbucht erreicht. Noch einige Ruderschläge, und er wurde mit den Dünungswellen regelrecht hineingeschoben. Die Delphine tauchten sofort unter. Er griff nach dem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. Drei junge Fischmenschen waren an der Oberfläche. Sie hatten das Boot noch nicht gesehen und waren arglos. Vielleicht verließen sie sich auf die Delphine, oder sie glaubten einfach nicht an eine Gefahr. Xenon zielte sorgfältig, ehe er den Pfeil von der Sehne schnellen ließ. Er traf sein Ziel mit tödlicher Sicherheit, und noch ehe das getötete Junge in die Tiefe sinken konnte, war er mit dem Boot heran und zog seine Beute über Bord. Hastig sah er sich nach einem zweiten Opfer um, aber die anderen Fischmenschen waren getaucht. Er nahm das Ruder und begann mit aller Kraft zu paddeln, um aus der Bucht herauszukommen. Als er hundert Manneslängen vom felsigen Ufer entfernt war, zog er das Segel auf. Mit einem Satz war er dann beim Ruder, um das Boot richtig in den Wind
zu legen. Es nahm sofort Fahrt auf und schoß davon, zuerst nach Norden, und dann, als er das Kap umrundet hatte, mit doppelter Geschwindigkeit nach Osten. Die Wogen gingen hoch. Brecher über Brecher schlug gegen die niedrigen Aufbauten und begannen, das Schiff mit Wasser zu füllen. Xenon befestigte das Ruder und begann zu schöpfen. Wenn das Boot vollief, war er verloren. Er blickte zurück. Die namenlose Insel verschwand immer wieder hinter den hohen Wellenbergen, die ihn langsam einholten und unter ihm hinwegrollten. Er lenkte ein wenig mehr in südöstliche Richtung. Die Brecher hörten fast ganz auf. Auf den riesigen und langen Wogen ritt er seiner Heimatinsel entgegen, dessen höchste Bergspitze er manchmal als winzigen Punkt am Horizont erkennen konnte. Der Himmel im Osten war wolkenlos und blau. Dann sah er plötzlich die Delphine. Ihre Rückenflossen durchschnitten die Wasseroberfläche wie scharfe Messer. Sie bildeten eine Formation und begannen, das Boot regelrecht einzukreisen. Xenon befestigte das Ruder wieder und griff nach Pfeil und Bogen. Wenn die Fische die Verbündeten der Wassermenschen waren, durfte er sie nicht zu nahe herankommen lassen. Aber sein Boot war
zu schwer, um von ihnen umgeworfen werden zu können. Es fiel Xenon nicht leicht, alle Seiten gleichzeitig im Auge zu behalten. Die Delphine aber waren überall. Manchmal sprangen sie in die Höhe, als wollten sie sehen, was er in seinem Boot hatte. Links schlug etwas gegen die Bordwand, und als er hinüberrutschte, um nach der Ursache zu sehen, schwangen sich auf der rechten Seite zwei kräftige Fischmänner über den Holzrand und fielen ins Boot. Sie waren sofort wieder auf den Beinen und entrissen Xenon den Bogen, um ihn ins Meer zu werfen. Xenon war so überrascht, daß er sich nicht rühren konnte. Fassungslos setzte er sich auf die Ruderbank, den Pfeil noch in der Hand. Vor ihm lag der tote Fischmensch. Seine Füße berührten ihn fast. »Du hast ein Kind ermordet«, sagte der eine der Wassermänner. »Dafür wirst auch du sterben müssen!« Er griff mit starker Hand nach dem vor Angst zitternden Xenon, während der andere ihm den Pfeil abnahm und über Bord warf. Der Köcher folgte unmittelbar danach. Inzwischen waren drei weitere Fischmenschen an Bord geklettert. Ohne ein Wort zu sagen, nahmen sie den Leichnam des Jungen und stiegen ins Wasser zurück. Es war wie ein Spuk, als sie lautlos in die Tiefe sanken.
Xenon wollte aufspringen, aber er wurde festgehalten. »Hör unser Urteil!« sagte der Sprecher von vorhin. »Du bist zu uns gekommen, um uns zu töten – und du hast auch einen von uns getötet. Dafür werden wir dich mit uns nehmen, hinab bis zum Grund des Meeres. Dort sollst du leben, wenn du nicht ertrinkst.« Xenon wehrte sich mit verzweifelter Kraft, als sie ihn ergriffen und zum Rand des Bootes schleppten, aber es nützte ihm nichts. Überall im Wasser sah er die Köpfe der Fischmenschen, die seiner Hinrichtung zuschauten. Wenn noch ein kleiner Funke Hoffnung in ihm gewesen war, so erlosch er jäh. Gegen diese Übermacht hätte er nicht ankämpfen können, selbst wenn er bewaffnet gewesen wäre. Er holte noch einmal tief Luft, als sie ihn über Bord stießen. Er sank eine Manneslänge in die Tiefe, dann brachte ihn die Kraft seiner Arme wieder an die Oberfläche. Ehe er richtig atmen konnte, waren sie an seinen Beinen und zogen ihn hinab in das unendliche Blau des nassen Himmels. Er öffnete die Augen und konnte sie sehen. Sie umschwammen ihn mit grazilen Bewegungen, so als tanzten sie. Zwei von ihnen waren an seinen Beinen und zogen ihn immer tiefer. Als seine Lungen zu bersten drohten, ließ er die Luft aus.
Und dann atmete er tief ein, bis seine Lungen mit Wasser gefüllt waren. Für einen winzigen Augenblick war ihm so, als könne er wirklich im Wasser atmen, aber dann kreisten rote Ringe vor seinen Augen, und er verlor das Bewußtsein. Sein letzter Gedanke war: so also ist es, wenn man ertrinkt ... Sie ließen ihn los und schwammen davon. Auf der großen Insel aber warteten die Fischer vergeblich auf Xenons Rückkehr. Einige Tage später fanden herumstreifende Jäger sein Boot. Es war auf den flachen Strand einer Bucht gespült worden, aber Xenon war nicht in ihm. Dafür fanden sie ein Stück Fischhaut, das ungewöhnlich glatt war und eine dreieckige Form besaß. Sie nahmen es mit ins Dorf und zeigten es herum. Der Mann, der damals am Lagerfeuer die Geschichte von den Fischmenschen erzählt hatte, rief: »Ich habe es euch doch gesagt, aber ihr wolltet mir nicht glauben! Die Wassermenschen tragen es, sie kleiden sich damit. Xenon ist von ihnen ermordet worden. Sie sind Bestien und gehören ausgerottet.« Und zum ersten Mal in ihrem Leben begannen die Fischer wirklich an die Geschichte von den sagenhaften Fischmenschen zu glauben. Das Mädchen mochte siebzehn Sommer alt sein und
war alles andere als eine Schönheit. Obwohl klein von Statur, wirkte sie ihrer Dürre wegen hochaufgeschossen. Ihr etwas spitzes Gesicht erinnerte an das einer Maus, und so hatte sie sich auch daran gewöhnt, von den meisten ihrer Freunde so genannt zu werden. Die »Maus« Yina besaß ein außergewöhnliches Talent: Sie konnte Gedanken lesen. Dem neuen König des myranischen Reiches, Dragon, hatte Yinas Gabe schon oft geholfen, und so war es auch kein Wunder, daß das Mädchen im Königspalast wohnte und ein eigenes Gemach besaß. Sie hätte wirklich allen Grund gehabt, glücklich und zufrieden zu sein, denn sie gehörte zu Dragons Gefolge und besten Freunden. Sie hatte alles, was sie sich wünschen konnte, und Sorgen hätten ihr fremd sein müssen. Aber es waren auch nicht Sorgen, die Yina bedrückten. Es war etwas ganz anderes, das sie bis vor kurzem noch nicht gekannt hatte. Es begann mit einem flüchtigen Gedanken, dann schien sich das Herz zusammenkrampfen zu wollen. Alles wurde schwer, unsagbar schwer, das Leben schien unerträglich zu werden und die ganze Welt unbeschreiblich häßlich und leer. Das alles geschah öfter als nur einmal am Tag, aber am schlimmsten waren die einsamen Nächte, wenn sie
in ihrem Bett unter den kostbaren Decken lag und den Schlaf herbeiwünschte, der lange nicht kommen wollte. Sie hielt die Augen geschlossen und sah Bodo vor sich, den jungen Jäger, der nach dem Sieg über die »Horden der Nacht« wieder in das Land der Wolfsmenschen zurückgekehrt war. Immer wieder fragte sie sich, ob die Schuld an diesem Entschluß nicht bei ihr selbst lag. Als er ihr seine Liebe zeigen wollte, hatte sie ihn aus jungfräulicher Scheu zurückgewiesen, obwohl auch sie ihn liebte, wie sie noch nie einen Menschen geliebt hatte. Und dann war er davongegangen, und vielleicht würde sie ihn niemals mehr wiedersehen. Der Gedanke raubte ihr den Schlaf, und wenn er endlich kam, quälten sie schreckliche Träume. Sie sah Bodo, von Wölfen gerissen, tot am Boden liegen. Heute war es besonders schlimm gewesen. Müde und unausgeschlafen hatte sie den Tag damit verbracht, durch die Säle und Gänge des Palastes zu schleichen und den Menschen aus dem Weg zu gehen. Die Zwillinge Kim und Kano, vierzehnjährige Knaben und Gedankenleser wie sie selbst, hatten sie aufgespürt und geneckt. Sie kannten ihren Kummer und hatten kein Mitleid mit ihr. Schließlich hatte sie sich in ihr Gemach geflüchtet, um allein zu sein. Dumpf brütete sie vor sich hin und wünschte, bald
zu sterben. Das Leben schien jeden Sinn verloren zu haben, wenn sie niemanden fand, mit dem sie sich aussprechen konnte. Einen Augenblick dachte sie daran, sich Dragon zu offenbaren, aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Der neue König von Myra hatte selbst genug Sorgen. Er wollte seinem Reich eine neue und liberale Rechtsordnung geben, damit das Volk nach der Herrschaft der Tyrannen aufatmen und frei leben konnte. Das Heer wurde bis auf fünftausend Mann entlassen. Davon kampierten viertausend unter der Führung Parthos außerhalb der Stadt. Tausend Urgoriten, Dragons Leibwache, sicherten den Palast und Myra. Nein, Dragon konnte sie mit ihren Sorgen nicht belästigen. Vielleicht täte es ihr gut, für ein paar Tage einsam zu sein und niemanden zu sehen. Der einzige Ort, der für ein solches Vorhaben in Frage kam, war die Küste des Meeres, nicht weit von Myra entfernt. Dort gab es nur vereinzelte Fischerdörfer, die sie meiden konnte. Außerdem würde sie dank ihrer Gabe immer rechtzeitig vor der Annäherung von Menschen gewarnt. Ja, das Meer war genau das Richtige für sie. Sie würde auf den Klippen sitzen und Trost in der Unendlichkeit des Ozeans finden. Die Wellen würden
ihr Grüße von Bodo bringen, und wenn der Wind sich drehte, konnte sie die Grüße zu ihm zurückschicken. Die Bucht der großen Steine ... Es war eine einsame Gegend, unfruchtbar und kahl. Darum gab es dort auch keine Ansiedlungen, obwohl die Bucht ein guter Hafen gewesen wäre. Sie lag nach Südwesten und war gegen die Nordwinde durch riesige Felsbrocken geschützt, die ein richtiges Kap bildeten. Als ihr die Bucht der großen Steine einfiel, atmete sie erleichtert auf. Sie würde den Weg finden. Einen ganzen Tag würde sie wandern müssen, um den Platz zu erreichen. Als es bereits dunkelte, huschte sie aus ihrem Zimmer und schlich in die Vorratskammer des Palastes. Hastig stopfte sie zwei verschlossene Krüge mit leichtem Wein, Brot, getrocknetes Fleisch und einige Früchte in den mitgebrachten Sack und kehrte in ihr Gemach zurück. Sie mußte noch warten, bis die Palastwachen müde und unaufmerksam geworden waren, ehe sie sich auf den Weg machte. Niemand sollte sie sehen. Wieder kam ihr das Gedankenlesen zu Hilfe. Vor wenigen Tagen erst hatte sie durch die Gedanken eines alten Palastbediensteten, der schon zu König Zogors Zeiten hier war, von der Existenz eines geheimen Ganges erfahren. Er führte vom Palast aus
unter der Stadt her bis in die Nähe der Küste. Da um diese späte Stunde alle Stadttore bereits geschlossen waren, blieb ihr ohnehin keine andere Wahl, als den Geheimgang zu benutzen. Angezogen saß sie auf ihrem Bett und verspürte zum ersten Mal seit Wochen Erleichterung. Der Gedanke, bald mit sich und der Einsamkeit der Natur allein sein zu dürfen, machte sie beinahe glücklich. Gegen Mitternacht packte sie ihr Bündel, nachdem sie sich eine wärmende Decke übergeworfen hatte, und verließ ihr Zimmer. Im Palast schlief schon alles, nur die Wachen standen gegen die Wände gelehnt und dösten vor sich hin. Es fiel Yina leicht, ihnen auszuweichen. Der Gang begann in der Bibliothek. Wenn sie den alten Mann richtig verstanden hatte, mußte das dritte Regal zur Seite geschoben werden, nachdem man vorher eine unauffällige Sperre gelöst hatte. Ohne Zwischenfall gelangte sie endlich in die Bibliothek. Die Fackel im Tonkrug brannte noch, aber sie würde bald verlöschen. Yina nahm sie und ging zum dritten Regal, um die Sperre zu suchen. Tastend glitten ihre Finger über das polierte Holz, bis sie endlich gegen ein kleines Hindernis stießen. Das mußte die Sperre sein. Vorsichtig drückte sie dagegen, und als nichts geschah, druckte sie fester. Der Riegel rutschte ein
wenig zur Seite und stieß gegen einen Vorsprung. Yina stellte die Fackel in den Tonkrug zurück und legte ihr Bündel auf den Tisch, um nun beide Hände frei zu haben. Dann stemmte sie sich mit aller Kraft gegen das Regal, bis es sich zu bewegen begann. Einige der darin befindlichen Schriftrollen kippten um, eine fiel sogar auf den Boden, aber Yina kümmerte sich nicht darum. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem dunklen Spalt, der sich immer mehr vergrößerte, bis er breit genug war, sie durchzulassen. Aufatmend trat sie zurück, nahm ihr Bündel und die Fackel und zwängte sich an dem Regal vorbei in den finsteren Gang. Dann schloß sie den Eingang wieder, und erst jetzt fiel ihr ein, daß sie ja nicht wußte, wie man ihn von innen her wieder öffnen konnte. Der Schreck über die Unterlassungssünde fuhr ihr so in die Knochen, daß ihre Beine zitterten und sie sich setzen mußte. Die Fackel in ihrer Hand schwankte hin und her. Der Boden war kalt und feucht. Von der Decke fielen vereinzelt Wassertropfen, platschten in sumpfige Pfützen oder spritzten von Steinen ab. Yina erschrak, als ihr die Fackel einfiel. Wenn sie erlosch, würde es dunkel um sie sein. Sie hatte nichts bei sich, mit dem sie Feuer oder Licht machen konnte. Hastig erhob sie sich, um ihren Weg fortzusetzen. In der einen Hand hielt sie das Bündel, in der anderen die
Fackel. Solange es noch möglich war, wollte sie die Ausmaße des Ganges studieren, um sich später auch in der Finsternis zurechtfinden zu können. Er war etwa anderthalb Manneslängen hoch und eine halbe breit. Wenn sie die Arme ausstreckte, konnte sie die Wände berühren. Das würde eine große Hilfe sein, wenn es dunkel wurde. Der Boden war naß. Immer wieder wich sie den Pfützen aus, aber die Feuchtigkeit drang bereits durch ihre Schuhe. Sie fror erbärmlich und begann bereits, ihren Entschluß zu bereuen, aber dann dachte sie an die Einsamkeit der Bucht und an ihr gedankliches Zusammensein mit dem fernen Geliebten. Vielleicht war es ihr sogar möglich, seine Gedanken aufzuspüren. Die Hoffnung gab ihr die Kraft, weiterzugehen, außerdem fiel ihr noch rechtzeitig ein, daß sie ja gar nicht zurückkonnte, weil sie nicht wußte, wie die Geheimtür von innen geöffnet wurde. Es mußte Yinas Schätzung nach kurz vor Sonnenaufgang sein, als die Fackel endgültig erlosch. Damit verschwand auch der letzte Rest von Wärme. Sie befestigte mit klammen Fingern den Beutel am Gürtel ihres Gewandes, um die Hände frei zu haben, damit sie beiderseits die Wände abtasten konnte. Ohne eine Pause zu machen, ging sie weiter. Der Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Eine lange Zeit war es stets fast unmerklich bergab
gegangen, aber nun war es Yina, als müsse sie ebenso unmerklich nach oben steigen. Immer noch war der Boden glitschig, aber das Schlimmste war vorbei. Am tiefsten Punkt des Ganges hatte sie fast knöcheltief durch Wasser waten müssen, jetzt aber wurde es allmählich trockener. Dafür wurde die Decke niedriger. Bald mußte sie sich gebückt weitertasten. Auch enger wurde der Gang, und bald war er so schmal, daß sie die Wände mit den Schultern allein spüren konnte. Sie bekam Angst, daß der Gang im Nichts endete und sie vor einer undurchdringlichen Wand stehen würde. Dann mußte sie umkehren und versuchen, gedanklichen Kontakt mit den Zwillingen aufzunehmen, damit sie aus der tödlichen Falle befreit wurde. Sie betete, daß die Götter ihr diese Blamage ersparten. Tapfer ging sie weiter. Plötzlich schlugen ihr Zweige ins Gesicht. Ruckartig blieb sie stehen, denn Zweige und Pflanzen konnte es hier unten nicht geben. Unten? Sie war seit einer guten Stunde nur bergan gestiegen. Wie tief befand sie sich noch unter der Oberfläche? Wo war sie überhaupt? Sie zögerte, aber dann streifte sie die Zweige beiseite und ging weiter, dem dämmerigen Punkt entgegen,
der dicht vor ihr durch das Dunkel schimmerte. Der Punkt wurde immer größer, bis er sich als Ausgang einer Höhle entpuppte, die an einem steilen Berghang lag. Erschöpft sank sie auf dem kleinen Plateau nieder und sah sich um. Der Berg – sie kannte ihn – erhob sich mitten in der Ebene, die zum Meer führte. Sie hatte ihm niemals besondere Beachtung geschenkt, wenn sie ihn sah. Und niemand würde an seinem Hang den Ausgang des geheimen Ganges vermuten, der vom Palast hierher führte. Sie sah hinab in die Tiefe. Der Abhang war steil und glatt. Er lag über der Ebene, durch die eine Karawanenstraße führte. Etwa fünfzig Manneslängen, schätzte Yina, würde sie klettern müssen, ehe sie den sicheren Grund erreichte. Ehe sie mit dem Abstieg begann, stärkte sie sich durch ein Stück Fleisch, etwas Brot und einen Schluck Wein. Besonders der ungewohnte Wein gab ihr neuen Mut. Sie hatte es ja schon halb geschafft. Der Weg zur Küste des Meeres, das sie bereits vor sich in der Dämmerung schimmern sah, war ein Kinderspiel gegen das, was sie hinter sich hatte. Sie brauchte nur noch die Karawanenstraße zu kreuzen, dann war sie in Sicherheit. Abermals befestigte sie den Beutel am Gürtel, um
die Hände frei zu haben. Ihre tastenden Füße fanden immer wieder einen Halt, als sie in die Tiefe kletterte, und fast schien es ihr, als hätten einst geschickte Hände winzige Stufen in die Felswand gemeißelt. Endlich erreichte sie die Ebene. Als sie zurückblickte, sah sie nur die aufsteigende Wand, aber keine Stufen. Nur ein Verrückter wäre auf den Gedanken gekommen, dort oben könne es eine Höhle geben. Obwohl sie müde und erschöpft war, hielt sie sich nicht länger auf. Noch bevor es richtig hell wurde, hatte sie die Straße überquert und wanderte durch mannshohes Gras und sumpfige Schilfwälder. Die Küste war nicht mehr fern, und als die Sonne am höchsten stand, hörte sie die Brandung des Meeres. Zwischen diesem Punkt und der Bucht der großen Steine gab es keine Ansiedlung mehr. Sie würde keinem Menschen begegnen, höchstens einem Fischer oder einem einsamen Jäger. Auf ihre Fragen würde sie schon zu antworten wissen, denn sie konnte ihre Fragen schon vorher in ihren Gedanken lesen. Als sie das Meer erreichte, stand die Sonne nur noch eine Handbreit über dem Horizont. Sie wollte die Bucht noch vor Anbruch der Nacht erreichen, also wanderte sie weiter, obwohl ihre Beine sie kaum noch zu tragen vermochten. Die bleierne Müdigkeit drohte sie zu überwältigen, und die Versuchung, sich einfach
zwischen die Felsen in den Sand zu legen, wurde immer größer. Aber sie ging weiter. Endlich, es war bereits finster geworden, stand sie auf dem schmalen Kap, das sie noch von der ersehnten Bucht trennte. Erleichtert blickte sie hinab in das phosphoreszierende Wasser, das an den Nachthimmel mit seinen vielen tausend Sternen erinnerte. Sonst konnte sie nichts sehen, denn der Mond schien nicht. Sie änderte ihren Entschluß, auf dem Kap zu bleiben. Sie wollte die unmittelbare Nähe des Wassers spüren und riechen. Sie wollte die Sterne über sich sehen und mit ihren Gedanken Bodo suchen, der vielleicht gerade jetzt in diesem Augenblick an seinem Lagerfeuer saß oder mit den wilden Wölfen kämpfte. Sie tastete sich durch das Gestrüpp, bis sie den Sand unter den Schuhsohlen fühlte. Dann erst, wenige Mannslängen vom Wasser entfernt, sank sie zu Boden. Der Sand war noch warm und trocken. Die Flutlinie war weit genug entfernt. Hungrig aß sie von den Vorräten, dann trank sie den Wein. Sie trank mehr, als sie gewohnt war, aber sie war glücklich, ihr Ziel erreicht zu haben. Im Palast würde man sie vielleicht vermißt haben, vielleicht aber auch nicht. Man war es gewohnt, daß sie in letzter Zeit gern allein war. Später lag sie auf der Decke lang ausgestreckt und
sah hinauf in das Gewimmel der Sterne. Es war warm, und die Luft war voller Gerüche. Morgen würde sie versuchen, Kontakt mit den Zwillingen aufzunehmen, damit sie Dragon unterrichten konnten. Die Freunde sollten sich keine Sorgen um sie machen. Bodo! Warum hatte sie nur seine Liebe zurückgewiesen? War es wirklich nur die Angst vor dem ersten Erlebnis gewesen, oder konnte es andere Gründe für ihre Handlungsweise geben? Einmal würde es doch geschehen müssen, und was nun, wenn es ein anderer als Bodo war? Nein, das würde sie nicht ertragen können. Sie hatte schon zu viele Frauen gesehen, die vergewaltigt worden waren. Vielleicht war auch das der Grund für ihre Weigerung in jener Nacht, da Bodo ihr seine Liebe zeigen wollte. Und nun war sie allein, ganz allein. Nur die Sehnsucht war bei ihr. Als sie sich konzentrierte, waren viele Gedanken in ihrem Gehirn. Aber die von Bodo fehlten. Vielleicht schlief er noch, oder er war tot. Oder sie konnte sie einfach nicht finden. Die Müdigkeit ergriff immer mehr von ihr Besitz. Die Wellen plätscherten in ewig gleichbleibendem Rhythmus gegen die nahen Klippen der Bucht. Das Geräusch schläferte Yina noch mehr ein, als es die
Müdigkeit und Erschöpfung bereits taten. Sie schloß die Augen und streckte sich. Zur Vorsicht nahm sie die zweite Decke und kroch darunter. Nach Mitternacht würde es kühl werden. Noch einmal suchten ihre sehnsüchtigen Gedanken Bodo, aber sie fanden ihn nicht. Dann, endlich, schlief sie ein. Sie wußte, daß sie allein war. Aber als sie im Morgengrauen erwachte, war sie nicht mehr allein.
2.
Die Schwarze Wellenreiterin gehörte zu den schnellsten Seglern der Bruderschaft des Großen Meeres, einer gut organisierten Piratenbande, deren Oberhaupt – und das wußten nur wenige Eingeweihte, der König der Schlangeninsel selbst war. König Jellis, Erster Kapitän der Bruderschaft, bezog seine Einkünfte in erster Linie durch Piraterie. Er schreckte auch nicht davor zurück, seine Leute an friedlichen Küsten landen zu lassen und Städte und Märkte auszurauben. Er hatte die Schwarze Wellenreiterin mit dem Auftrag in See stechen lassen, die Lage im Königreich
Myra nach dem Umsturz zu erkunden. Er hoffte, daß das geschwächte Reich ein lohnendes Objekt für einen großangelegten Überfall sein könnte. Mit dem Auftrag hatte er seinen besten Mann betraut: Kapitän Jaggar von der Totenküste. Jaggar war ein dunkelhäutiger und listenreicher Piratenkapitän, aber niemand hätte ihm nachsagen können, daß er falsch oder hinterhältig wäre. Nördlich von Myra hatte Jaggar drei Männer an Land setzen lassen. Es war mit ihnen verabredet worden, daß sie nach einem halben Mond wieder abgeholt werden sollten. Und das war heute geschehen. Da die Nacht bereits angebrochen war, umschiffte die Wellenreiterin noch einige gefährliche Kaps und ging in einer weiten Bucht vor Anker. Am anderen Morgen wollte Jaggar die Heimreise zur Schlangeninsel antreten. Sie fanden einen guten Ankerplatz in tiefem Wasser. Die Küste war steil und felsig. Riesige Steinblöcke rahmten die Bucht wie einen Hafen ein. Jaggar fühlte sich hier absolut vor jedem Angriff sicher. Er ließ die drei Männer zu sich kommen und fragte sie aus. Was er zu hören bekam, erfreute ihn nicht sehr. »Und seid ihr sicher, daß alles wahr ist, was ihr gehört habt?«
Der Anführer der Spione beteuerte: »Wir haben viele Leute gefragt, und sie bestätigten alle, daß der neue König ein wahrer Held sei. Er hat eine Armee von mehr als fünftausend Kriegern. Es wäre schwer, sie zu besiegen.« »König Jellis wird über die Nachricht nicht gerade erfreut sein.« »Hätten wir euch belügen sollen, Kapitän?« Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Jaggar die Beherrschung verlieren, aber dann lächelte er nur milde. »Natürlich nicht, du hast richtig gehandelt, und es ist ja auch nicht eure Schuld, wenn sich die Lage zu unseren Ungunsten verändert hat. König Jellis, unser Erster Kapitän, muß sich damit abfinden. Es gibt noch andere Küsten, an denen wir reichliche Beute machen können. Ich danke euch, ihr könnt euch zur Ruhe legen. Wir werden eine friedliche Nacht verbringen.« Damit behielt er recht. Obwohl ständig zwei Männer Wache hielten, bemerkten sie nichts. Am Strand bewegte sich nichts, die weite Bucht blieb wie ausgestorben. Wenn wirklich jemand die Spione verfolgt hatte, so mußte er ihre Spur verloren haben. Es war eine klare Nacht, in der die Sterne wie blanke Diamanten funkelten. Als sie verblaßten und der Morgen graute, war der Strand besser zu erkennen. Einer der beiden Männer, die Wache hielten, legte die
flache Hand vor die Augen. Angestrengt sah er zum Ufer hinüber, das kaum fünfzig Manneslängen entfernt war. Er schüttelte den Kopf. »Siehst du auch etwas?« fragte er seinen Gefährten. Der schaute ebenfalls in die Richtung, dann nickte er. »Dort liegt jemand im Sand«, sagte er dann befremdet. »Wir sollten es dem Kapitän melden.« »Bleib hier, ich gehe und wecke ihn.« »Paß auf, daß er dich dafür nicht auspeitschen läßt«, warnte der Zurückbleibende gutmütig. Kapitän Jaggar war durchaus nicht erfreut, als er geweckt wurde. Als er jedoch erfuhr, daß am Strand ein Mensch lag und schlief, wurde er überraschend schnell munter. »Nimm drei Männer und rudere zum Strand. Nehmt den Kerl gefangen und bringt ihn zu mir. Ich muß wissen, was er dort tut. Kein vernünftiger Mensch legt sich nachts in den kühlen Sand, um zu schlafen. Es kann sich nur um einen Spion handeln, der unser Schiff gesehen hat. Aber dann frage ich mich, warum er so unvorsichtig ist ... Na, wir werden es bald wissen.« Das Ruderboot näherte sich vorsichtig dem schmalen Sandstreifen. Es war die einzige Stelle, an der man gefahrlos landen konnte. Der Kiel knirschte, als er den Boden berührte, aber der Schläfer wachte nicht auf. Ruhig und reglos lag er unter der Decke, als sei er tot.
Vielleicht war er das sogar? Die vier Männer hielten ihre Waffen bereit, als sie auf die Gestalt zuschlichen. Sie erreichten den leichtsinnigen Schläfer, und während drei der Männer ihre langen Dolche erhoben, um sofort zustechen zu können, zog der vierte vorsichtig die Decke zurück. Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er das Mädchen erblickte. Schön war es nicht, aber jung. Die Piraten ließen verblüfft ihre Dolche sinken. Alles hatten sie vermutet, nur kein Mädchen, das noch ein halbes Kind war. Aber auch Mädchen waren eine begehrte Beute für die Bruderschaft des Großen Meeres. »Na schön, dann wollen wir sie mal aufwecken«, flüsterte der Anführer der vier Piraten, stellte sich über die wertvolle Beute und bückte sich langsam ... Yina erschrak fast zu Tode, als etwas gegen ihre Beine stieß. Sie öffnete die Augen und starrte in das breit grinsende Gesicht eines bärtigen Mannes, der über ihr stand und sich zu ihr hinabbeugte. Unwillkürlich wollte sie aufspringen, aber die Beine des Unheimlichen hatten sie eingezwängt. Nur den Oberkörper konnte sie ein wenig aufrichten, das war alles.
»Hübsch langsam, schönes Kind«, sagte der Fremde spöttisch in einem Dialekt, den Yina schon gehört hatte. »Wo hast du denn deinen Liebsten gelassen? Man schläft doch nicht allein am Strand.« Bodo! durchzuckte es Yina. Wenn doch nur Bodo hier wäre! Er würde ihr helfen und sie aus den Klauen dieses Unmenschen befreien. Sie hatte in den Gedanken der vier Männer schon längst gelesen, daß sie Piraten waren und daß sie vorhatten, sie aufs Schiff zu bringen. Ins Land der Schlangen würde man sie verschleppen, zu König Jellis, der junge Mädchen liebte und hohe Belohnungen für gefangene Sklaven zahlte. »Ich bin aber allein!« erwiderte sie trotzig. »Fein, dann komm mit, damit wir dich unserem Kapitän vorstellen können. Aber versuche nicht zu fliehen, das würde dir schlecht bekommen. Steh langsam auf. Deine Sachen kannst du mitnehmen.« Einen Augenblick lang dachte Yina daran, ihnen zu verraten, wer sie war und sie vor der Verfolgung durch König Dragon zu warnen, aber dann besann sie sich rechtzeitig, daß sie keinen größeren Fehler machen könnte. Für die Piraten würde die Beute dadurch nur noch wertvoller werden. Und auf keinen Fall durfte einer von ihnen erfahren, daß sie ihre Gedanken lesen konnte. Vorsichtig erhob sie sich, nahm Decken und Beutel und sah den bärtigen Piraten an.
»Ich bin bereit, aber versprecht mir, daß mir niemand ein Leid zufügt.« Der Pirat grinste abermals. »Ein Leid? Was verstehst du darunter? Es gibt Dinge, die der eine als Leid und der andere als Freude bezeichnet. Wenn du das meinst, dann sei beruhigt. Du stehst unter dem Schutz unseres Kapitäns, den Mann von der Totenküste.« Sie wußte, daß er nur bedingt die Wahrheit sprach. Sie ließ sich von den Männern in die Mitte nehmen, und dann erst sah sie auch das Schiff. Die schwarzen Segel stachen scharf gegen den immer heller werdenden Himmel ab. Der schmale Bug verriet Schnelligkeit und ein sicheres Gleiten durch hohe Wellen. An der Reling standen die Piraten und johlten, als sie das Mädchen sahen. Yina stieg ins Boot und setzte sich auf eine der Ruderbänke. Sie wußte, daß jeder Fluchtversuch sinnlos geworden war. Sie mußte sich darauf verlassen, daß die Piraten Rücksicht auf ihre Jugend nahmen – oder daß sie ihnen zu häßlich war. Nach wenigen Ruderschlägen erreichten sie das Schiff. Eine Strickleiter hing an der Bordwand. Der Bärtige nickte Yina zu. »Hinauf mit dir!« befahl er rauh. »Ich bleibe dicht hinter dir, damit du weich fällst.« Gröhlendes Gelächter belohnte ihn für seinen
vermeintlichen Scherz. Er kümmerte sich nicht darum, sondern kletterte hinter Yina die Strickleiter hoch, nachdem er ihr die Decken abgenommen hatte. Allerdings achtete er mehr auf die Röcke des Mädchens, die ihr nur bis zum Knie reichten, als auf alles andere. »Sie ist gut gebaut!« rief er den wartenden Piraten zu, die ihn offensichtlich um seine Vorrangstellung beneideten und mit entsprechenden Fragen oder Hinweisen keineswegs sparten. Yina hatte sich noch nie in ihrem Leben so erniedrigt gefühlt, aber schließlich war sie lange genug in Begleitung des Heeres durch die Lande gezogen. Sie kannte die Männer zur Genüge, aber dies hier waren keine Soldaten, sondern Piraten. Kräftige Arme streckten sich ihr entgegen und zogen sie über die Reling. Sie schlug die Augen nieder, als sie die Blicke bemerkte, mit denen man sie musterte. Dann wurde sie rot im Gesicht, denn sie las in den Gedanken der Piraten. Der Mann, der sie gefangengenommen hatte, sprang an Bord und scheuchte seine Gefährten fort. »Geht aus dem Weg, ihr tollen Hunde, sie gehört dem Kapitän, oder wollt ihr, daß ich euch das Fell über die Ohren ziehe? Los, macht Platz!« Er warf ihnen Yinas Decken zu. »Nehmt vorerst das, sie riechen noch nach ihr ...«
Er stieß Yina vor sich her und hielt sie fest, als sie an den Kajütniedergang gelangten. Die Treppe war schmal und steil. »Ich gehe vor«, sagte er und zwängte sich an ihr vorbei. »Du weißt ja – damit du weich fällst.« Es war ihr inzwischen egal, was er tat, wenn er sie nur nicht dabei berührte. Fast fühlte sie Erleichterung, wenn sie daran dachte, bald vor dem Kapitän zu stehen, denn die Piraten schienen vor ihm Respekt zu haben. Vielleicht war er nicht so grausam, wie sie annehmen mußte. Seine Gedanken hatte sie in dem mentalen Chaos noch nicht finden können. Der Bärtige klopfte gegen die Tür am Ende des Ganges und stieß sie auf. Er schob seine Gefangene vor sich her in den Raum. »Es ist ein Mädchen«, sagte er, obwohl Jaggar das auch selbst sehen konnte. »Wie gefällt dir das?« Jaggar saß hinter einem schweren Tisch am Kopfende der großen und fürstlich ausgestatteten Kabine. An den Wänden hingen Waffen aller Art, aber auch kostbare Teppiche und Schmuckgegenstände. Auf dem Tisch lagen Schriftrollen und ein Messer, dessen Griff mit Perlen geschmückt war. Daneben stand ein Krug Wein und ein Becher. »Wer ist sie?« fragte Jaggar und betrachtete sie von oben bis unten. »Sie sieht im Gesicht aus wie eine Maus.«
Yina zuckte zusammen. Wenn schon ein Fremder die Ähnlichkeit feststellte, mußte schon etwas an dem Vergleich wahr sein. »Aber sie hat eine gute Figur«, bestätigte der Bärtige. »Das ist nicht unwichtig.« »Hm«, knurrte Jaggar, halb belustigt. »Ich will nicht hoffen, daß du die Regeln vergessen hast. Also, wer ist sie?« »Das weiß ich nicht, du mußt sie fragen.« Jaggar gab ihm einen Wink. »Laß mich mit ihr allein, ich will nicht gestört werden.« »Natürlich nicht, Kapitän«, grinste der Bärtige und verschwand. Jaggar stand auf, kam auf sie zu und ging an ihr vorbei, um den Riegel vorzuschieben. Dann setzte er sich wieder und sah sie an. »Komm etwas näher. Wie heißt du?« »Yina.« »So, Yina? Seltsamer Name. Und warum hast du allein am Strand geschlafen? Wer hat dich dorthin geschickt?« »Niemand, ich wollte nur allein sein.« »Wo wohnst du?« Sie las in seinen Gedanken, daß er keine Ahnung hatte. »Im nächsten Dorf. Meine Eltern sind Fischer, arme
Leute. Ich helfe ihnen bei der Arbeit, bis mich ein Mann heiraten will.« Er glaubte ihr. Aber schon kam die nächste Frage: »Was ist mit diesem neuen König, Dragon heißt er wohl? Du mußt mir die Wahrheit sagen, sonst geht es dir schlecht, hörst du? Was ist mit ihm? Ist er wirklich ein so großer Held, wie mir berichtet wurde?« »Man hat dir die Wahrheit gesagt. Er ist ein Held und sehr tapfer. Sein Heer ist gut gerüstet und auf jeden Angriff vorbereitet.« Obwohl Jaggar eine ähnliche Antwort erwartet hatte, war er sichtbar enttäuscht und unzufrieden. Wahrscheinlich hätte er seinem Ersten Kapitän lieber eine andere Botschaft überbracht. »Wer sagt dir, daß jemand einen Angriff auf Myra plant?« »Seid ihr nicht Piraten?« »Nun, so würde ich es nicht gerade nennen. Wir sind Untertanen des König Jellis, des Beherrschers der Schlangeninsel.« Yina schwieg. Sie hielt es für besser, ihm jetzt nicht zu sagen, daß zwischen den Piraten und Jellis‘ Untertanen kein Unterschied bestand. »Zieh deinen Rock etwas höher«. sagte Jaggar plötzlich. »Ich möchte wissen, ob mein Bootsmann recht hat.« Sie zögerte, aber als sie bemerkte, daß sich sein Blick
verfinsterte, gehorchte sie. Sie zog den Rock bis über die Knie hoch. »Weiter!« befahl Jaggar und betrachtete wohlgefällig ihre Beine. »Sei nicht so zimperlich, ich tu dir nichts.« Widerstrebend gehorchte sie und war froh, der Nacht wegen doppeltes Unterzeug angezogen zu haben. So kam sie sich nicht so nackt vor, obwohl sie den Rock so weit emporhob, wie es ging. Er grunzte befriedigt. »Na schön. Der Kerl scheint recht zu haben. Ich werde es mir noch überlegen, ob ich dich behalte oder auf dem Sklavenmarkt verkaufe. Bis dahin geschieht dir nichts. Auch vor meinen Männern bist du sicher. Ich werde dich in einer Zelle einsperren lassen. Den Schlüssel behalte ich. Sobald wir auf See sind, werde ich mich um dich kümmern.« Er schlug mit einem Stock, der an seinen Sessel gelehnt hatte, gegen die Tür, nachdem er den Riegel zurückgeschoben hatte. Der Bärtige erschien sofort, als habe er nur auf das Zeichen gewartet. »Bring sie in die Zelle im Achterschiff und sperr gut ab. Den Schlüssel bekomme ich. Gib ihr noch Wasser und Brot. Wer sie belästigt, baumelt am Mast. Alles klar, Bootsmann?« Yina warf Jaggar einen dankbaren Blick zu. Dann folgte sie dem Bärtigen. Noch während er sie einsperrte, hörte sie das Geräusch der Ankerketten.
Das Schiff verließ die Bucht und ging auf Westkurs. Yina fühlte sich für den Augenblick sicher und versuchte, sich auf Kim und Kano zu konzentrieren. Es mußte ihr jetzt gelingen, einen Gedankenkontakt herzustellen, sonst war sie verloren. Von der Schlangeninsel konnte sie niemand mehr zurückholen – außer vielleicht Bodo. Aber Bodo war im fernen Land der Wolfsmenschen. Es war sehr schwierig, die vielen Gedanken der Mannschaft, die auf sie einströmten, zu ignorieren. Auch aus der Stadt Myra selbst empfing sie die Gedanken der Bürger, und langsam und behutsam tastete sie sich zum Palast vor. Dann hatte sie Kano! Der eine der Zwillinge hatte den Palast verlassen, dessen dicke Mauern die Gedanken stark abschwächten. Er wanderte durch den Park und überlegte, wem er heute einen Streich spielen könnte. Flüchtig dachte er dabei auch an Yina, die er in ihrem Gemach vermutete. Man hatte sie also noch nicht vermißt. Kano! dachte Yina angestrengt. Verstehst du mich? Kannst du meine Gedanken lesen? Ich muß dir etwas Wichtiges mitteilen! Gib mir Antwort, Kano! Kano! Aber Kano hatte einen der Palastwächter entdeckt, der ihm den Rücken zuwandte und die Mauer
beobachtete. Der war das richtige Opfer für ihn. Vorsichtig schlich er sich noch ein Stück näher an ihn heran und versteckte sich in den Büschen. Dann nahm er einen Stein und warf ihn so geschickt, daß er den Wächter an der Schulter traf. Yina, die alles durch Kanos Augen verfolgen konnte, verzweifelte bald, weil der Zwilling sie nicht hörte. Kano! Nun hör doch endlich! Hier ist Yina! Ich bin in großer Gefahr! Der Palastwächter zuckte erschrocken zusammen und wirbelte herum, das Schwert zum Streich erhoben. Aber er sah niemanden. Langsam schritt er auf die Büsche zu, in denen Kano verborgen war. Nun wurde dem Jüngling doch angst und bange, als er das blanke Schwert sah. Reumutig stand er auf und zeigte sich dem Wächter, der verblüfft das Schwert sinken ließ, als er Kano erkannte. »Was machst du denn hier?« fragte er. Kano grinste. »Kim sucht mich, und da habe ich mich versteckt.« Der Wächter schien nicht gerade mit besonderen Geistesgaben ausgestattet zu sein, denn er fragte harmlos: »Hast du keinen Fremden im Park gesehen? Mir war eben, als habe jemand einen Stein nach mir geworfen.« »Das kann nur Kim gewesen sein«. erwiderte Kano schnell.
»Na fein, Kano, dann ist er ja in der Nähe, und du wirst ihn leicht finden. Und wenn du ihn gefunden hast, dann sage ihm, daß ich König Dragon über den Vorfall Meldung erstatten werde, wenn er sich noch einmal wiederholt. Man darf die Palastwachen nicht von ihren Pflichten ablenken. Hast du das verstanden! « »Ja«, murmelte Kano kleinlaut. Jetzt hielt Yina die Gelegenheit wieder für günstig. Kano! Ich brauche den Kontakt mit dir, ich bin in Gefahr: So antworte doch endlich! Kano! Diesmal klappte es. Kano spürte das flüsternde Drängen in seinem Gehirn und wußte sofort, daß nur Kim oder Yina ihn rufen konnte. Er zog sich von dem Palastwächter zurück, um ungestört zu sein. Mitten zwischen den Büschen setzte er sich auf den steinigen und warmen Boden und dachte angestrengt zurück. Bist du es, Kim? Aber es war nicht Kim, der ihm antwortete: Hier ist Yina, du Dummkopf! Piraten haben mich verschleppt und nehmen mich mit zur Schlangeninsel. Der Kapitän des Schiffes heißt Jaggar, und bis jetzt haben sie mir noch nichts getan. Bitte Dragon, daß er mir hilft. Kano holte tief Luft, ehe er sich vergewisserte: Träumst du mal wieder schlecht, Yina? Bist du denn nicht in deinem ‚Zimmer‘?
Ich bin in einer Schiffskabine eingesperrt, und durch die kleine Luke kann ich nur noch die höchsten Gipfel unserer Berge erkennen. Aber auch sie werden bald ins Wasser tauchen, und dann kann ich dir nicht mehr sagen, wo ich bin. Noch aber könnt ihr mich finden. Bitte Dragon, mich zu befreien. Kano zweifelte noch etwas: Maus, ich beginne dir zu glauben. Aber vorher werde ich in deiner Kammer nachsehen, ob das nicht wieder einer deiner verrückten Streiche ist. Oft genug bin ich darauf hereingefallen. Yina wollte heftig reagieren, aber dann entsann sie sich, daß Kano recht hatte. Sie hatten schon oft genug ihre dummen Scherze getrieben. Gut, dann überzeuge dich, aber dann geh sofort zu Dragon. Ich werde mich mit ihm unterhalten – mit deiner Hilfe. Beeile dich, wir haben nicht mehr viel Zeit. Kano stand auf und schlenderte durch den Park zurück zum Palast. Ohne sich besonders zu beeilen, ging er zum Gemach der Gedankenleserin und fand das Zimmer leer. Natürlich konnte sie sich noch immer versteckt haben, aber dann entsann er sich der Dringlichkeit ihrer Gedankenimpulse. Aus ihnen hatte ehrliche Angst gesprochen, soweit er das beurteilen konnte. Also auf zu Dragon, der für ihn so etwas wie ein
Onkel war. »Na, glaubst du mir nun endlich? fragte Yina ihn. Ja, schon gut, ich glaube dir. Ich gehe jetzt zu Dragon. Die Unterhaltung zwischen Dragon und Yina fand über Kano statt und war nur sehr kurz. »Was ist geschehen, Maus?« Sie zögerte, aber dann blieb sie bei der Wahrheit. »Ich wollte zwei oder drei Tage mit mir allein sein, darum ging ich zur Küste, zur Bucht der Großen Steine. Morgens überraschten mich die Piraten im Schlaf und schleppten mich auf ihr Schiff. Sie hatten den Auftrag zu spionieren. Sie wissen nun, daß ein Überfall auf Myra sinnlos ist.« »Dann sollte man sie entkommen lassen, Maus. Aber natürlich werden wir dich vorher befreien. Ich werde drei schnelle Schiffe nachschicken. Beschreibe mir die Berge, wie du sie siehst, dann weiß ich, wo sich das Schiff etwa befindet. Schwarze Segel, sagst du?« »Schwarz, und darüber die Flagge des Königs der Schlangeninsel.« Sie beschrieb die drei verbliebenen Bergspitzen. Dragon schätzte den Winkel auf einer Karte ab, ehe er einem Boten den Auftrag gab, zum Hafen zu eilen und den Kapitänen dreier Schiffe den Befehl zum Auslaufen zu überbringen. Jedem von ihnen gab er
eine entsprechende Botschaft mit, außerdem sollte Kano mitfahren und Kontakt mit Yina halten. Die drei Schiffe liefen aus und bekamen günstigen Wind in die Segel, aber sie waren naturlich nicht so schnell wie die Wellenreiterin. Es war ihnen nicht möglich, den Piraten einzuholen, der inzwischen voll auf Südkurs gegangen war und nicht zu kreuzen brauchte. Trotzdem gaben die Kapitäne noch nicht auf. Kano stand in Kontakt mit Yina. Das Schiff ist sehr schnell. Die Bugwelle reicht fast zur Luke meiner Kabine, Kano. Es ist, als ob wir flögen. Dann werden wir dich nie einholen können, Maus. Versucht es wenigstens, sonst bin ich verloren. Wer soll dir schon etwas tun wollen? So schön bist du nun auch wieder nicht. Du bist widerlich, Kano. Ich bin nur ehrlich! Aber sei beruhigt, ich werde alles versuchen, dich zu retten, schon um Bodo einen Gefallen zu tun. Kleiner Giftzwerg! Warte nur, Maus! Kim und ich werden dir die Haare lang ziehen, wenn wir dich befreit haben. Ja, wenn! dachte Yina bei sich und blieb mit Kano in Kontakt, um die gutgemeinte Rettungsaktion weiter verfolgen zu können. Aber wenn sie die hochgehende Bugwelle sah, verlor sie die letzte Hoffnung, daß die Aktion noch gelingen könnte. Immerhin befand sie sich
in der Zelle in relativer Sicherheit, denn sie stand unter dem Schutz des Kapitäns, über dessen Pläne es allerdings kaum einen Zweifel gab. Selbst dann, wenn er die Absicht hatte, sie auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen, würde er nicht auf das Vergnügen verzichten wollen, sie erst einmal für sich zu haben. Vielleicht würde sogar der bärtige Bootsmann noch Ansprüche anmelden, denn schließlich war er es ja gewesen, der sie entdeckt und gefangengenommen hatte. Sie schauderte zusammen, wenn sie daran dachte. Ich sehe nur noch den mittleren Berg, dachte sie zu Kano. Ich sehe noch alle drei, also sind wir noch weit von dir entfernt. Wir holen nicht auf. Der Kapitän will aufgeben. Das darf er nicht! Dragon wird ihn bestrafen. Weil er etwas Sinnloses unterläßt, Maus? Ich glaube nicht, daß er das tun wird. Aber ich werde versuchen, ihn umzustimmen. Es könnte ja auch sein, daß Jaggar den Kurs wechselt und wir ihm den Weg abschneiden. Du mußt es uns nur rechtzeitig mitteilen. Wie soll ich wissen, ob er den Kurs wechselt? Ich habe keine Ahnung von der Seefahrt. Kannst du gut sehen? Dann achte auf die Segel. Wenn sich ihre Stellung ändert, teile es mir mit. Ich kann nur das Meer sehen, nicht die Segel.
Doch, wenn sie umschwenken, wirst du sie sehen können. Dann achte auf den Lauf der großen Meereswellen. An ihnen kannst du eine Kursänderung feststellen. Wie laufen sie jetzt? Schräg auf uns zu, von Nordwesten, der Sonne nach zu urteilen. Gut, dann laß sie nicht aus den Augen. Yina blieb ununterbrochen an der Luke stehen, aber die Wellen kamen immer von Nordwesten. In Wirklichkeit kamen sie natürlich nicht schräg auf das Schiff zu, sondern wurden von ihm überholt. Dadurch entstand der falsche Eindruck, sie kämen auf das Schiff zu. Aber das änderte nichts daran, daß die Schwarze Wellenreiterin ihren bisherigen Südkurs unverändert beibehielt. Der mittlere Gipfel sank unter den Horizont, und damit versank auch Yinas letzte Hoffnung, sie könne doch noch gerettet werden. Aber erst dann, als es nach vielen Stunden wieder zu dunkeln begann, erhielt sie die Gewißheit, daß sie verloren war, wenn sie es nicht verstand, sich selber zu helfen. Kano teilte ihr mit: Der Kapitän hat sich endgültig zur Umkehr entschlossen, obwohl ich Kontakt mit dir halte. Er fürchtet Dragons Zorn nicht, weil er davon überzeugt ist, ihn von der Richtigkeit seiner Handlungsweise
überzeugen zu können. Maus, nun bist du auf dich allein angewiesen, ich kann nichts mehr für dich tun. Das Schiff der Piraten ist zu schnell für uns. Yina antwortete: Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich werde mir selbst zu helfen wissen. Auf Wiedersehen, Kano. Grüße Dragon. Abends, wenn die Sonne untergeht, suche Kontakt mit mir. Jeden Abend, hörst du, Maus? Vielleicht können wir etwas für dich tun. Gut, ich werde es nicht vergessen. Aber Schluß jetzt. Jemand ist vor der Kabinentür ... Damit brach der Kontakt vorerst ab. Die drei Schiffe Dragons wendeten und fuhren schräg gegen den Wind nach Myra zurück.
3.
In ihrer eigenen Sprache nannten sich die Fischmenschen: die Tainu. Issola war achtzehn Jahre alt und die Tochter der gegenwärtigen Tainula Ismena, der Mutter des gesamten Stammes, der auf und unter der namenlosen Insel lebte, die dem Fischer und Jäger Xeno zum Verderben geworden war.
In der Runde der Seemütter, dem sogenannten Talatta, genoß Ismena höchstes Ansehen, abgesehen von der Tatsache, daß sie nun für ein volles Jahr die Regierungsgeschäfte zu führen hatte. Die Regierung war die Angelegenheit der Frauen. Sie war für alle kommunalen Probleme zuständig, auch für die Erziehung der weiblichen Kinder. Weitere zehn erfahrene Seemutter standen ihr mit Rat und Tat hilfreich zur Seite. Diese schwere Verantwortung hatten die weiblichen Tainu dem Umstand zu verdanken, daß sie ausnahmslos Gedanken lesen konnten, während die Männer diese Gabe nicht besaßen. Diese offensichtliche Überlegenheit wurde jedoch von den Frauen nicht ausgenutzt. Die Männer waren für den Kampf da, für die Jagd und das Handwerk, sie besorgten den Fischfang und waren für den Schutz des Stammes verantwortlich. Völlig gleichberechtigt lebten sie mit den Frauen zusammen, und in Eheangelegenheiten kam es sogar vor, daß sie dominierten. Außerdem erzogen sie die Söhne. Obwohl die feinfühlige Issola die Bestrafung des Mörders Xeno als gerecht empfand, entfernte sie sich angewidert von der Gruppe ihrer Artgenossen, als der Fremde ertränkt wurde. Sie schwamm nach Osten, der Großen Insel entgegen. Sie wollte mit sich allein sein, denn ihre
eigene Mutter war es gewesen, die das Todesurteil über den Fremden gesprochen hatte. Sie waren böse, die Landmenschen, von Natur aus. Sie töteten die Tainu, wo immer sie sie fanden. Die Tainu aber wollten nichts anderes als in Frieden leben – auf einer für sie dunklen Welt, die nicht ihre Heimat war. Hier draußen war das Meer tief und unheimlich, aber Issola verspürte keine Angst. Das Wasser war ihr vertrautes Element, mehr jedenfalls als das kalte, stürmische, trockene und ungewohnte Land. Nur wenn die Sonne schien, konnte sie sich dort wohl fühlen, aber die kalte Nacht bedeutete Krankheit oder gar den Tod. Heiße Trockenheit war jedoch genauso gefährlich. Sie ließ sich nur dann ertragen, wenn Wasser vorhanden war, in dem man sich abkühlen konnte. Das Meer jedoch war ihr eigentliches Lebenselement. Bis zu einer Stunde konnte Issola tauchen, ehe sie wieder Luft einatmen mußte. Die ein wenig verkümmerten Kiemen reichten nicht mehr ganz aus, den gesamten Luftvorrat aus dem Wasser zu filtern. Die Weilen gingen hoch, als sie an die Oberfläche kam. Keine Küste war mehr in Sicht, weder im Westen hinter ihr noch vor ihr im Osten. Schwarze Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und ließen die Welt dunkel und unfreundlich erscheinen. Sie holte Luft und ließ sich wieder nach unten
sinken, wo es still und ruhig war. Hier merkte man nichts mehr vom Sturm, der die Oberwelt heimsuchte und viele Schiffe der Menschen versinken ließ. Issola überquerte ein Riff, dessen oberster Gipfel nur zwanzig Meter unter der Meeresoberfläche lag. Es war so, als könne sie fliegen, frei von jeder Erdenschwere und dem eigenen Gewicht. Das Wasser war das natürliche Element aller Wesen, die sich nicht an die Fesseln der Schwerkraft gewöhnen wollten. Sie entdeckte märchenhafte Grotten voller nahrhafter Pflanzen und Tiere. Fischschwärme stoben zur Seite, wenn sie mitten durch sie hindurchschwamm. Wenn oben die Sonne schien, war es hier viel heller, aber auch das trübe Dämmerlicht genügte, sie ein Paradies entdecken zu lassen. Sie begann die Hinrichtung zu vergessen, derentwegen sie davongeschwommen war. Auf der Ostseite fiel das Riff steil in die unbekannte Tiefe, aber Issola folgte dem zerklüfteten Hang, bis es so dunkel geworden war, daß sie kaum noch etwas erkennen konnte. Mutter, dachte sie intensiv. Vielleicht kannst du meine Gedanken hören. Wenn ja, dann bitte ich dich, mir nicht böse zu sein, weil ich geflohen bin. Ich hasse den Tod, auch den Tod meiner Feinde. Ich werde zu ihnen schwimmen und versuchen, mit ihnen zu reden. Es ist gut, daß du mich ihre Sprache gelehrt hast,
vielleicht wird es uns eines Tages allen nützen. Ich will ihnen sagen, daß wir in Frieden leben wollen, im Wasser, nicht auf ihrem Land. Verzeih mir, Mutter ... Issola erhielt keine Antwort. Ihre Mutter Ismena, die Tainula, hörte sie nicht. Trotzdem schwamm sie unbeirrt weiter nach Osten, unter sich den scheinbar bodenlosen Abgrund, der zwischen den Inseln und dem Festland lauerte. Der Graben zog sich ungefähr von Norden nach Süden, und selbst Issola hatte es noch nicht gewagt, bis zu seinem Grund hinabzutauchen. Nach einer Stunde wurde die Atemluft knapp, und sie mußte wieder hoch zur Oberfläche, die sie zugleich haßte und liebte. Zu ihrem Erstaunen mußte sie feststellen, daß eine starke Strömung, vielleicht eine Folge des Sturmes, sie weiter nach Osten geführt hatte, als sie zuerst vermutete. Die Große Insel lag bereits hinter ihr im Westen, und sie trieb weiter auf das nicht mehr ferne Festland zu. Dort, so wußte sie, wohnten mehr Menschen als auf den Eilanden des Engen Meeres. Aber sie wollte ja zu den Menschen, sie wollte ja mit ihnen reden und versuchen, ihrem Volk den Frieden zu bringen. Die ständige Verfolgung durch die Menschen mußte aufhören, wenn der Stamm der Tainu nicht aussterben wollte. Es gab nur noch zweitausendvierhundert von ihnen.
Sie schwamm die ganze Nacht durch, und als sie einmal wieder auftauchte, sah sie weit vor sich die felsigen Klippen der Küste steil in den roten Morgenhimmel hinaufragen. Nun kamen ihr doch die ersten Zweifel. Wie überhaupt sollte sie mit den Menschen sprechen, ehe sie von ihnen getötet wurde? Schon einmal hatte es eine Tainula versucht, aber sie war nie zurückgekehrt. Später fand man ihre Leiche im Meer treibend. In ihrem Rücken stack noch der Pfeil eines Jägers. Issola beschloß, sich die Sache noch einmal gut zu überlegen. Ohne Schwimmbewegungen ließ sie sich auf die Küste zutreiben, wobei sie feststellte, daß der Sturm nachgelassen hatte. Sie mußte eine ruhige Bucht finden, wo sie an Land gehen konnte. Sie sah kein einziges Schiff in den immer noch hochgehenden Wogen des abflauenden Sturms, aber darüber konnte sie nur froh sein. Schiffe bedeuteten Fischer, und diese waren die schlimmsten Feinde der Tainu. Vielleicht waren die Menschen auf dem Festland anders. Vom Meer aus war es schwer, die verborgenen Buchten zwischen den Felsen zu entdecken. Die Küste sah überall gleich aus. Wie eine Wand, die ständig wuchs, wirkten die Klippen, gegen die eine gischtende
Brandung anstürmte. Issola wußte, wie gefährlich diese Brandung auch für sie sein konnte, aber sie ließ sich entschlossen weitertreiben. Wenn es hier überhaupt eine Bucht gab, so fand sie diese auch. Das Wasser war noch immer sehr tief, stellte sie beim Abtauchen fest. Es würde besser sein, möglichst weit unter der Oberfläche zu bleiben, damit sie nicht in die Brandung geriet. Vielleicht gab es einen Unterwassertunnel, der unter den Klippen hindurchführte. Wenig später sah sie unter sich Grund. Der Hang kam steil nach oben, flachte aber dann in zehn Metern Tiefe jäh ab. Issola konnte die Sonne über sich sehen. Sie war höhergestiegen und hatte die letzten Wolken vertrieben. Jede Einzelheit des Meeresbodens war nun wieder deutlich zu erkennen. Dann stieg der Boden weiter an, nicht sehr stark, dafür jedoch felsig und voller Klippen. Sie begann, nach der Lücke zu suchen, und tauchte auf. Bereits die erste Woge warf sie gegen den unvermuteten Felsen, ehe sie etwas dagegen tun konnte. Das scharfe Gestein ritzte die Haut ihres Beines auf. Das Wasser färbte sich blutigrot. Noch bevor sie tauchen konnte, war die nächste Woge heran, ergriff sie mit Riesenkräften und hob sie dabei halb aus dem
Wasser. Sie sah die Klippe auf sich zu rasen und streckte abwehrend beide Arme aus, um den Aufprall abzumildern. Sie verspürte einen furchtbaren Schmerz, als ihr Kopf gegen den Felsen schlug, und verlor sofort das Bewußtsein. Sie besaß jedoch noch genügend Geistesgegenwart, vorher tief Luft zu holen. Ihr letzter Blick galt der ruhigen Bucht, die hinter den Klippen lag, aber das Schiff mit den schwarzen Segeln, dessen Anker gerade eingezogen wurde, sah sie nicht mehr. »Da schwimmt etwas im Wasser«, sagte einer der Piraten und deutete in Richtung der Brandung. »Direkt bei der Ausfahrt.« Die Männer, die neben ihm an der Reling standen, blickten angestrengt in die angegebene Richtung. Einer knurrte: »Wird ein toter Fischer sein, den können wir auch nicht mehr lebendig machen. Wir können froh sein, daß wir unsere Leute rechtzeitig an Bord holen konnten, ehe der Sturm noch schlimmer wurde.« »Wir müssen es dem Kapitän sagen«, meinte der erstere pflichtbewußt. Jaggar überwachte das Auslaufen aus dem natürlichem Hafen und war im ersten Augenblick recht
ungehalten, als er dabei gestört wurde. »Was sollen wir mit einer Leiche?« fuhr er den Piraten an, der ihm die Mitteilung überbrachte. »Niemand lebt mehr, der in der Brandung treibt.« Aber dann packte ihn doch die Neugier, und er folgte dem Mann zum Vorderdeck. Das Wasser in der Bucht war ruhig und klar. Man konnte bis hinab zum Grund sehen. Jaggar schirmte die Augen gegen die regenbogenfarbenen Brecher ab, die hinter dem treibenden Körper gegen die Klippen klatschten. Er beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können, dann sagte er: »Das ist kein Fischer, das ist überhaupt kein Mann. Es ist ein Mädchen, dazu noch unbekleidet. Los, ihr faulen Hunde, holt sie an Bord. Vielleicht ist noch ein bißchen Leben in ihr, dann haben wir wenigstens was davon ...« Drei Piraten warfen ein Netz in die Fluten. Da der Wind noch von den Uferfelsen abgehalten wurde, trieb die Schwarze Wellenreiterin nur langsam auf die Ausfahrt der Bucht zu. Die Segel hingen schlaff am Mast. Jaggar sah interessiert zu, wie die Männer den Fund an Bord zogen und auf die Planken legten. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein Mädchen – aber kein gewöhnliches Mädchen.
»Ein Fischmensch!« stieß er hervor und kniete dann neben Issola nieder, um sein Ohr gegen die zarte Brust zu legen. »Und sie ist auch nicht tot, nur bewußtlos. He, laß deine schmutzigen Finger von ihr! Wir werden sie heil zur Schlangeninsel bringen, und ich ich wette, wir erhalten eine gute Prämie dafür. Ein lebendiges Fischmädchen – das hat noch keiner vor uns geschafft.« »Wir sollten sie töten, sie sind böse und Dämonen«, sagte einer der Piraten abergläubisch. Jaggar fuhr ihn an: »Halt den Mund. Dummkopf! Sie bringt viel Geld. Für einen toten Fischmenschen zahlt der Erste Kapitän keinen einzigen Krug Wein. Für ein lebendiges Fischmädchen aber ...« »Der Kapitän hat recht«, knurrte einer der Männer, die neugierig auf den schlanken Körper herabsahen, »Wir werden eine fürstliche Belohnung erhalten. Sie wird im Krokodilteich um ihr Leben kämpfen müssen. So etwas hat die Schlangeninsel noch nicht gesehen.« »Richtig!« Jaggar erhob sich wieder. »Bringt sie in die Kajüte neben der Gefängniszelle und stellt eine Wache davor. Sobald sie zu sich kommt, möchte ich geholt werden. Ich will versuchen, mit ihr zu reden.« »Wird gemacht, Kapitän«, knurrten die Piraten und schleppten Issola in die Kajüte. Die offenen Luken waren zu klein, um sie entkommen zu lassen, aber wenigstens war es nicht so stickig in dem kleinen
Raum. Sie legten das Mädchen auf das Bett – und gingen. Ihre Angst vor Jaggar war zu groß, als daß sie es gewagt hätten, seine Befehle nicht zu befolgen. Jaggar hatte inzwischen genug damit zu tun, das Schiff aus der Bucht zu dirigieren. Kaum geriet es in die Brandungswellen, setzte auch der Wind ein und füllte die Segel. Das Schiff ging auf Kurs und passierte die enge Ausfahrt. Rechts und links ragten die gefährlichen Klippen aus den Wogen, und dann hatten sie es geschafft. Einmal im offenen Wasser, war die Schwarze Wellenreiterin frei und manövrierfähig. Sie legte sich schräg und nahm Geschwindigkeit auf. Jaggar übergab dem Steuermann das Ruder und befahl ihm, in südlicher Richtung in der Nähe der Küste zu bleiben. Dann begab er sich zu seiner Gefangenen. Issola stöhnte und wälzte sich unruhig auf dem Bett hin und her. Es sah ganz so aus, als erlange sie allmählich das Bewußtsein zurück. Jaggar zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er tat nichts, um dem Mädchen zu helfen, und er hätte auch gar nicht gewußt, was er tun sollte. Niemand wußte, was ein Fischmensch brauchte und was gefährlich für ihn war. Konnten sie überhaupt auf dem Land leben? Ihre Augenlider zitterten, blieben aber noch geschlossen.
Eigentlich ist sie ganz hübsch, dachte Jaggar, und so sehr unterscheidet sie sich auch nicht von unseren eigenen Mädchen. Aber sie hat Kiemen, und zwischen den Fingern und Zehen sind Schwimmhäute. Jellis wird mit mir zufrieden sein, wenn ihn auch die Nachrichten über Myra vielleicht nicht so sehr erfreuen werden. Sie schlug die Augen auf und blickte ihn verständnislos an. »Verstehst du unsere Sprache?« fragte er mit rauher Stimme. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie nickte. Ihre Stimme klang fremdartig und ein wenig ängstlich: »Ja, ich verstehe sie. Wer bist du? Wo bin ich?« »Ich fischte dich aus dem Meer, du mußt gegen die Klippen geschleudert worden sein. Ich bin Jaggar, der Kapitän dieses Schiffes, und ich nehme dich mit zur Schlangeninsel. Eigentlich sollte ich dich gleich hier töten lassen.« Sie sah ihn mit ihren großen Augen verständnislos an. »Töten? Warum? Was habe ich euch getan?« »Eh ... nichts, aber du bist ein Fischmensch. Deshalb.« »Ist das Grund genug, jemanden umzubringen?« Jaggar wirkte ein wenig ratlos. Er war ein rauher Bursche, ein Pirat, manchmal auch ein Mörder. Aber er
tat es für seinen König und die Bruderschaft. Was er auch tat, es war Gesetz. Und nun fragte ihn dieses gefangene Fischmädchen, ob es richtig sei, sie zu töten. »Ihr seid Räuber, das weiß doch jedermann. Ihr fangt uns Menschen die Fische weg. Harmlose Fischer zieht ihr unter Wasser, bis sie ertrinken. Wir wehren uns nur, wenn wir euch töten.« »Und warum lebe ich noch?« Jaggar grinste, aber es wirkte nicht lustig. »Ich bringe dich unserem König als Geschenk mit, denn einen lebenden Fischmenschen haben wir noch nie gefangen. Außerdem bist du ein Mädchen. Sicherlich möchte König Jellis wissen, ob die Mädchen der Fischmenschen soviel Freude spenden können wie unsere eigenen Mädchen.« Er betrachtete sie von oben bis unten. »Ich bin überzeugt, daß dem so ist.« »Ich verstehe dich nicht«, gab sie zu. Er schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht? Du bist doch kein Kind mehr, wie ich sehe.« »Meine Mutter ist zugleich die Mutter des Stammes der Tainu.« »Fleißige Mutter«, erkannte Jaggar spöttisch an. Er zuckte die Achseln. »Na, vielleicht habe ich dich auch falsch verstanden.« Sie sah ihn ratlos an. »Wird man mich später töten?«
Er nickte. »Ganz bestimmt wird man das. Ich nehme an, man wird dich in den großen Kampfteich werfen. Unsere Gefangenen enden sehr oft dort. Sie haben jedoch eine Chance, sonst wäre das Ganze ja sinnlos. Wer drei Krokodile tötet, ist frei. Aber ich kann dir versichern, es ist noch nie jemandem gelungen. Vielleicht hast du mehr Glück.« »Krokodile?« Sie kannte keine Krokodile, und Jaggar beschrieb ihr die Tiere ausführlich. Er schloß: »Sie sind ewig hungrig, und wenn wir keine Gefangenen mehr haben, opfern wir ihnen einen alten Sklaven, der zur Arbeit nicht mehr taugt.« Sie wandte sich voller Ekel ab. »Ihr Landmenschen seid grausam und blutrünstig. Und ich hatte gehofft, daß es einmal Frieden zwischen euch und uns geben könnte. Deshalb kam ich zu euch.« »Ich fürchte, da bist du bei mir an der falschen Adresse. Vielleicht hätte dieser neue König von Myra mehr Verständnis für dich, er ist ein Held, aber ein Weichling. Man sagt, er hätte sogar Sklaven freigelassen.« Sie blickte ihn fragend an. »Wie heißt dieser neue König, und wo ist Myra?« »Dragon ist sein Name. Ihm müssen böse Geister zur Seite stehen, sonst hätte er niemals seine Gegner
besiegen können. Und Myra ist das Land, an dessen Küste wir jetzt vorbeifahren.« »Ja, vielleicht hätte ich besser Dragon begegnen sollen«, murmelte Issola resignierend. »Du scheinst grausam und ungerecht zu sein.« Jaggar tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Das würde ich nicht noch einmal sagen, sonst verzichte ich auf die mir zustehende Belohnung. Was soll ich dir zu essen bringen lassen!« »Ich habe keinen Hunger.« »Den wirst du schon bekommen. Wir fangen dir ein paar Fische.« »Ich brauche Wasser. Das Leben auf dem Land ist anstrengend für mich.« »Ich lasse dir einen Eimer voll bringen.« Er stand auf und ging zur Tür. »Versuche nicht zu fliehen. Hier auf dem Gang steht ein starker Bursche, dem ich erlaubt habe, mit dir zu machen, was er will – sobald du dein Gefängnis verläßt. Bleibst du aber in der Kajüte, bist du sicher. Hast du mich verstanden?« Sie nickte wortlos und drehte sich auf die andere Seite. Jaggar ging hinaus und schloß die Tür. Er gab dem Wächter einige Anweisungen und befahl ihm, aufmerksam zu sein. Inzwischen sollte die Gefängniszelle hergerichtet werden. Den ganzen Tag über fuhr die Wellenreiterin nach
Süden, immer in Sichtweite der Küste. Dann begann es zu dunkeln, und man hatte noch immer keinen geeigneten Ankerplatz gefunden. Jaggar kannte die Bucht der Großen Steine. Er wollte sie noch vor Mitternacht erreichen. Von dort aus erst wollte er endgültig die Heimreise antreten. Er konnte noch nicht ahnen, daß er am anderen Tag eine zweite Gefangene machen würde. Erst als die drei Schiffe abdrehten und die Verfolgung aufgaben, kam Yina das Aussichtslose ihrer Lage voll zu Bewußtsein. Sie warf sich auf das primitive Lager, nachdem die Schritte des Mannes vor der Tür verklungen waren. Wahrscheinlich war es nur einer der Piraten gewesen, der sich davon überzeugt hatte, daß die Tür noch verschlossen war. Ganz ruhig lag sie da und versuchte, Jaggars Gedanken zu finden, um mehr über seine wahren Absichten zu erfahren. Mehrmals hörte sie die Gedanken anderer Piraten, und zu ihrem Schrecken befaßten sich viele dieser Gedanken mit ihr. Auch Jaggar beschäftigte sich mit ihr, aber in einer anderen Art und Weise. Er überlegte, wie seine Gefangene ihm den größten Vorteil bringen könnte. Zugleich jedoch dachte er noch an eine zweite Gefangene, die wertvoller war. Yinas Neugierde war erwacht.
Eine zweite Gefangene? Wer konnte das sein? Und dann fing sie fremde Gedanken auf, aber sie begriff nicht – ... Mutter, Ismena, verzeih mir, ich habe es gut gemeint. Aber die Menschen des Landes haben mich gefangen und entführen mich. Ich bin auf einem Schiff mit schwarzen Segeln, und wir fahren nach Süden, der Mittagssonne entgegen. Ich soll sterben. Wenn du mich hörst, dann antworte. Bitte, Mutter, antworte ... Die Menschen des Landes ... Yina war nicht hübsch, aber sie war klüger als die meisten Mädchen ihres Alters. Sie verstand zu denken und zu kombinieren. Wenn die Gefangene von den Menschen des Landes sprach, mußte sie selbst etwas anderes sein. Ein Mensch des Wassers? Sie lauschte weiter. Es kam keine Antwort, aber ein zweiter Notruf der Unbekannten, mit der sich Yina sofort verbunden fühlte. Es war ihr klar, daß die andere Gefangene ebenfalls eine Gedankenleserin sein mußte, sonst hätte sie niemals diesen Notruf aussenden können. Und ihre Mutter war ebenfalls eine Gedankenleserin. Die Fischmenschen ...! Waren sie intelligent? Konnten sie sogar die Gedanken lesen? Yina schloß die Augen und versuchte, sich auf die unbekannte Gefangene zu konzentrieren. Jagger und
seine finsteren Pläne waren für den Augenblick vergessen. Tochter von Ismena, kannst du mich hören? Dann antworte mir! Ich empfange deine Gedanken und deinen Hilferuf, aber ich bin selbst eine Gefangene auf diesem Schiff. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen. Antworte, wenn du mich verstehst. Und dann, fast wider Erwarten, erhielt sie die Botschaft: Ich höre dich. Wer bist du? Ich bin Yina. Die Piraten haben mich gefangen und wollen mich als Sklavin verkaufen. Sie sind böse, sehr böse. Wir müssen versuchen, ihnen zu entkommen. Wollen wir einander vertrauen? Aber wer bist du, daß du Gedanken hören kannst? Alle weiblichen Tainu können Gedanken hören. Den Namen hatte Yina noch nie zuvor gehört, und als sie fragte, erfuhr sie, daß sich die Fischmenschen so nannten. Damit wurde ihr erster Verdacht bestätigt. In ihr waren keine Vorurteile, und selbst von der Natur benachteiligt, verspürte sie sofort eine große Sympathie für Issola, die ebenfalls einer verfolgten Minderheit angehörte. Wie müssen versuchen, daß man uns zusammen in einem Raum einsperrt. Dann finden wir bestimmt eine Gelegenheit, gemeinsam zu fliehen. Ich bin eine schlechte Schwimmerin gegen dich, aber im Wasser
kannst du mir helfen. Ich meinerseits werde versuchen, den Kapitän bei guter Laune zu halten. Ich glaube, es gibt gewisse Dinge, die ihm gefallen würden, und ein scheinbar williges Mädchen ist auch einem Piratenkapitän lieber als eine widerspenstige Sklavin. Issola, selbst ebenfalls unerfahren in diesen Dingen, gab ihr recht. Sie fügte hinzu: Die Piraten wissen nichts von meinen Lebensbedingungen. Es ist heiß in meinem Gefängnis, wenn auch zum Aushalten. Wenn es bei dir kühler ist, wird man mich zu dir bringen, wenn ich Erschöpfung vortäusche. Mein Gefängnis ist nicht verschlossen, deines aber doch. Es ist sicherer, also wird man mich zu dir bringen. Das sah Yina sofort ein. Sie versprach, in Kontakt zu bleiben. Sie selbst stand auf und klopfte gegen die Tür. Wenig später wurde sie geöffnet. Ein Matrose sah sie lüstern an. »Was ist, mein Schatz? Möchtest du Gesellschaft haben?« »Wenn der Kapitän es erlaubt – du kannst ihn ja mal fragen.« »Verfluchte Katze!« zischte er wütend. Sie achtete nicht darauf. »Ich habe Hunger und Durst, und dann möchte ich mit dem Kapitän sprechen.« Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen, aber dann
tat er es doch nicht. »Gut, du Biest, ich werde dafür sorgen, daß man dir etwas bringt. Aber freu dich nicht zu früh. Wir werden schon unseren Spaß mit dir haben, wenn es soweit ist.« »Vergiß nicht, dem Kapitän meine Bitte auszurichten.« Der Mann verschwand. Rasselnd schloß sich die Tür. Das Schloß schnappte zu. Yina legte sich wieder aufs Bett und wartete. Die erhoffte Wende kam, als Issola das Bewußtsein verlor.
4.
Der Wächter vor der Tür hörte das qualvolle Stöhnen der Gefangenen und warf einen hastigen Blick in die Kabine. Das Fischmädchen wälzte sich auf ihrem Lager hin und her, als habe es unerträgliche Schmerzen. Der Pirat wußte nur zu genau, welchen Wert die Gefangene besaß, aber nur lebendig. Er schloß die Tür wieder und rannte den Gang entlang, bis er auf einen anderen Matrosen stieß. »Los, lauf zum Kapitän und sage ihm, daß die Gefangene stirbt. Beeile dich ...« Dann kehrte er auf seinen Posten zurück.
Jaggar studierte die Seekarten und sah ungehalten auf, als der Mann ohne Ankündigung in seine Kabine kam und den Auftrag des Wächters erfüllte. »Stirbt, sagst du?« »Sie scheint Schmerzen zu haben.« »Gut, ich sehe nach.« Jaggar schob den Wächter beiseite und betrat Issolas Kabine. Er ging zum Bett und sah auf die Gefangene hinab. Ihr Gesicht war noch blasser als vorher. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie stöhnte. »Na, was ist mit dir? Hast du Durst oder Hunger?« Issola wälzte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Sie blickte angstvoll in Jaggars braungebranntes Gesicht, in dem so etwas wie ehrliche Besorgnis zu lesen war. Natürlich galt diese Besorgnis weniger der Gefangenen selbst als vielmehr dem eventuellen Verlust, den er durch ihren Tod erleiden würde. »Heiß, trocken – mir ist schlecht.« »Ich werde dich in den Raum nebenan bringen lassen, da ist es kühler. Außerdem kann er verschlossen werden. Allerdings wirst du dann nicht mehr allein sein. Vertrage dich mit der anderen Gefangenen, ich brauche euch beide gesund und lebendig.« »Wenn es nur kühler dort ist ...!« Jaggar nickte und ging zur Tür, um dem Wächter
den Befehl zu geben, die Gefängniszelle zu öffnen. Er selbst nahm dann Issola in seine kräftigen Arme und hob sie hoch. Ein merkwürdiges Gefühl durchrieselte ihn, als er den schmächtigen Körper des Mädchens an seiner Brust spürte, und für eine Sekunde tat sie ihm leid, denn er wußte, was ihr bevorstand, wenn er sie lebendig zur Schlangeninsel brachte. Er trug sie das kurze Stück über den Korridor und betrat Yinas Zelle. »Ich bringe dir Gesellschaft – ein Fischmädchen. Kümmere dich um sie, sie scheint krank zu sein. Vielleicht findest du auch heraus, was sie hat. Gib mir dann Bescheid. Ich will sie gesund.« Yina schauspielerte nicht schlecht. Verwundert hockte sie auf einem Stuhl neben dem Lager und starrte Issola staunend an. Dann sagte sie: »Ein Fischmensch! Wo habt ihr sie gefangen?« »Das spielt keine Rolle. Tu, was ich dir befohlen habe, es kann nur gut für dich sein.« Behutsam legte er Issola auf das Bett, betrachtete sie eine Weile und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Ich komme bald vorbei, und dann möchte ich wissen, was wir für sie tun können.« Die Tür schloß sich knarrend. Yina wartete, bis die Schritte des Kapitäns verklungen waren, dann zog sie den Stuhl näher ans
Bett und beugte sich über Issola. »Sprichst du meine Sprache?« »Ja, aber wir können auch denken, dann hört uns niemand.« »Wir sind sicher, wenn wir nicht zu laut sprechen. Was ist, bist du wirklich krank?« »Sehr wohl fühle ich mich nicht. Es war heiß in meiner Kabine. Meine Haut ist ausgetrocknet. Ich brauche Wasser viel Wasser, damit ich schwimmen kann. Aber frischer Fisch würde auch genügen. Wenn ich das kühle, nasse Fleisch auf der Haut spüre, wird mir besser werden.« »Fisch? Das verstehe ich nicht.« »Es ist ganz einfach. Fischfleisch besteht zum größten Teil aus Wasser, es trocknet nicht so schnell aus und hält länger an, als würde ich mich mit Wasser überschütten. Aber ich glaube nicht, daß die Piraten meinen merkwürdigen Wunsch erfüllen werden, der nur der erste Schritt zur Rettung ist.« »Das laß meine Sorge sein, Issola.« »Wer bist du eigentlich? Hast du schon mal etwas von einem König Dragon gehört? Der Pirat erzählte mir von ihm und behauptete, er sei ein Schwächling, weil er Menschenleben schone.« »Dragon ...!« In Yinas Augen kam ein fast schwärmerischer Ausdruck. »Er ist der beste Mensch, den ich kenne. Ich gehöre zu seinem Gefolge. Leider
scheiterte der Befreiungsversuch, weil die Schiffe, die uns verfolgten, nicht schnell genug waren.« »So kennst du Dragon also ... Glaubst du, daß er unserem Volk helfen würde und könnte?« »Wie meinst du das?« Jssola berichtete ihr von den ständigen Verfolgungen durch die Menschen. Sie schilderte die Geschehnisse seit ihrer unerlaubten Entfernung vom Stamm und erklärte ihr ihre Absichten. Sie schien davon überzeugt zu sein, daß man mit den Menschen ein Abkommen schließen könne, das beiden Seiten den Frieden sichere. Yina schüttelte voller Zweifel den Kopf. »Die Menschen sind sehr wandelbar, und man weiß nie, was sie im nächsten Augenblick tun werden, aber vielleicht kann Dragon ein Gesetz erlassen, das die Verfolgung deines Stammes unter Strafe stellt. Wenn ich jemals wieder frei sein werde, spreche ich mit ihm.« »Wir werden beide frei sein. Aber unternehmen wir den ersten Schritt. Yina. Besorge mir frische Fische.« Yina nickte und ging zur Tür. Sie klopfte gegen das halbmorsche Holz und trat zurück, als sie Schritte hörte. Es war Jaggar selbst. »Nun, wie geht es ihr? Habt ihr miteinander sprechen können?« »Sie versteht mich«, bestätigte Yina. »Und sie hat
einen merkwürdigen Wunsch geäußert. Eigentlich würde sie nur dann schnell wieder gesund, wenn man sie ins Meer würfe, aber sie wäre auch mit einem Korb frisch gefangener Fische zufrieden. Man müßte ihren ganzen Körper damit bedecken, damit die Trockenheit verschwindet und die Wunden heilen.« »Fische? Verrückt!« Yina versuchte, es ihm zu erklären. Der mißtrauische Jaggar überdachte das Gehörte eine Weile und sah wohl ein, daß Fische keinen Schaden anrichten konnten. Schließlich versprach er, die Fische besorgen zu lassen. »Wir werden einfach ein Netz hinter dem Schiff herschleppen. In einer Stunde können wir mit dem Fang die ganze Kabine anfüllen. Bis dahin muß sich das Fischmädchen mit einem Eimer Wasser begnügen.« Ohne ein weiteres Wort ging er. Als sich die Tür geschlossen hatte, drückte Issola Yinas Hand. »Danke, Yina. Du hast mir sehr geholfen. Nun wollen wir uns den zweiten Schritt überlegen.« »Mir ist da auch schon eine Idee gekommen, Issola. Der Kapitän selbst hat sie mir gegeben. Man hat dich mit einem Netz gefangen, und eben sprach er wieder von einem Netz. Jaggar muß also davon überzeugt sein, daß du niemals aus einem Netz entkommen kannst. Wenn ich ihn dazu überreden kann, dich
später, wenn es dir besser geht, mit einem Netz ins Wasser zu lassen ...« »Ich kann nicht aus einem Netz entkommen, denn ich habe kein Messer, mit dem ich es zerschneiden könnte ...« »Du wirst dann nicht allem sein«, versprach Yina. »Ich komme mit.« »Wie willst du das machen?« »Ich weiß noch nicht. Wir haben noch viel Zeit zum Überlegen.« Sie sah Issola forschend an. »Du hast mir von den Delphinen berichtet und sie deine Wasserbrüder genannt. Kannst du dich mit ihnen verständigen und sie herbeiholen?« »Sie sind keine Gedankenleser, wenn es auch mir manchmal gelingt, ihre Gedanken zu hören. Aber ich verstehe sie nicht immer. Doch ich weiß, daß sie unserem Schiff folgen. Wahrscheinlich wurde mein Hilferuf doch aufgefangen, und das Talatta, die Runde der Seemütter, hat entsprechende Hilfsmaßnahmen eingeleitet.« »Sehr gut. Die Delphine würden dir also helfen?« »Sie sind meine Wasserbrüder – natürlich.« »Dann können wir jetzt nichts anderes tun, als abwarten, bis man die Fische bringt. Bis dahin wird es dunkel sein. Morgen sehen wir dann weiter. Jetzt ruhe dich aus, ich halte Wache.«
Kein Tainu wußte, was vor mehr als zweitausend Sommer geschehen war, nur die alten Sagen berichteten in unklarer Form von den rätselhaften Ereignissen. Als Atlantis vor zweitausend Sommern unterging, kam es zu schweren Erschütterungen des Dimensionsgefüges zwischen den zeitlich nebeneinander existierenden Parallelwelten. Es entstanden Dimensionsrisse, die für begrenzte Zeit und manchmal auch in regelmäßigen Abständen das Überwechseln von einer Welt zur anderen ermöglichten. Dieses Wechseln geschah dann zumeist unfreiwillig. Das Volk der Tainu wußte nichts von diesen Dimensionsrissen, aber die Überlieferung berichtete in abgewandelter Form von ihnen. So hatten sie einst, vor undenklichen Zeiten, auf einer paradiesischen Wasserwelt gelebt, die sie Taa nannten. Die Grottenstadt Agaia war ihre wahre Heimat gewesen. Sie lag in dem warmen, flachen Meer der Welt Taa – eine der vielen Inseln, die aus den Fluten ragten. Hier waren die Urmütter und die Urväter glücklich gewesen. Sie hatten keine Feinde besessen und im Überfluß gelebt. Bis eines Tages die Katastrophe über sie hereinbrach. Eine riesige Flutwelle überschwemmte alle Inseln,
zertrümmerte die Wohnhöhlen unter Wasser und tötete fast alle Tainu. Lediglich etwas mehr als tausend Männer und Frauen entgingen diesem Geschick, weil sie sich zu dieser Zeit schwimmend im offenen Meer aufhielten. Ein gewaltiger Strudel packte sie und zog sie in die Tiefe – aber sie ertranken nicht. Denn nach einer Stunde fanden sie sich auf einer ihr unbekannten Welt wieder. Das Wasser war tief und dunkel, nicht so warm und sonnendurchflutet wie auf Taa. Aber es war Wasser. Und es gab eine riesige Insel, wie die Tainu sie noch nie zuvor gesehen hatten. Sie nannten sie die Große Felseninsel, und da es viele geschützte Buchten und Unterwassergrotten gab, wählten sie sie als neue Heimat. Doch dann begegneten sie den Landbewohnern, den Herren der neuen Heimat. Obwohl sie sich ihnen friedlich näherten, wurden sie von ihnen verfolgt und erbarmungslos gejagt. Selbst auf dem Meer waren sie nicht mehr sicher, denn dort schleppten die Fischer große Netze hinter ihren Booten her, um die Fischmenschen zu fangen und zu töten. Die damalige Stammesmutter schlug vor, weiter nach Süden zu ziehen, wo man einige unbewohnte kleinere Vulkaninseln entdeckt hatte, die einer größeren Insel vorgelagert waren, die man später die Vogelinsel nannte.
Taa – das war die Welt des Hellen Wassers, aber Aotaa, von den Landbewohnern Erde genannt, war die Welt des Dunklen Wassers. Viele hundert Sommer blieben sie auf den unbewohnten Inseln und lebten in den Grotten der zerklüfteten Küsten. Selten nur kamen Fischer, die nichts von ihrer Existenz ahnten, wenn sie sich auch die schlimmsten Schauermärchen über die Wassermenschen erzählten. Inzwischen, so wurde weiter in der Überlieferung berichtet, war das Volk der Tainu wieder größer geworden. Sechstausend von ihnen hatten auf der Erde eine neue Heimat gefunden, und sie lebten friedlich in den klaren Fluten der Vulkaninseln. Dann wurden sie abermals entdeckt und beschlossen, weiterzuziehen. Doch bevor es dazu kommen konnte, brach abermals eine unerwartete Katastrophe über den unglücklichen Stamm herein. Der bislang ruhige Vulkan der größten Insel brach aus und vernichtete die Grottenstädte. Nur jene Tainu, die gerade im freien Meer waren, überlebten. Unter ihnen befand sich die Stammesmutter. Sie gab den Befehl, der Sonne entgegenzuziehen, und von den 2800 Überlebenden verloren während der Wanderschaft, die fast einen Sommer dauert, weitere vierhundert ihr Leben. Dann erreichten sie die namenlose Insel.
Viertausend Delphine hatten den Zug begleitet und beschützt. Die namenlose Insel war unbewohnt, aber auch hierher kamen die Fischer, und unerbittlich jagten sie die Tainu, die sich kaum noch an der Oberfläche des Meeres sehen lassen konnten, Aber im Osten war das Festland. Wohin sollte man noch fliehen? Also blieben sie. Eines Tages mußte es Frieden zwischen ihnen, den Kinder des Hellen Wassers, und den Bewohnern des Landes geben – das war ihre einzige Hoffnung. Mehrmals war es den Tainu gelungen, einen einsamen Fischer zu fangen und mit ihm zu sprechen. So erfuhren sie, daß es die Angst allein war, die ihr Leben bedrohte. Die Menschen hielten sie für Dämonen und Fischräuber. Sie töteten aus Furcht und Aberglauben. Hinzu kamen die phantastischen Berichte über die »Weltentore«, die es im Meer oder an den Küsten geben sollte. Sie wurden in Zusammenhang mit den Fischmenschen gebracht. Aber niemand wußte, was ein Weltentor eigentlich war. Es wurde nur erzählt, daß in ihnen Menschen spurlos verschwunden und niemals wieder aufgetaucht waren. Auch daran sollten die Fischmenschen nicht unschuldig sein. Die gefangenen Fischer wurden anfangs immer wieder freigelassen, aber wenn sie ihre Geschichte
daheim erzählten, glaubten ihnen die Menschen nicht. Man hielt sie für Aufschneider und lachte sie aus. Die Tainu waren und blieben böse Dämonen, die vernichtet werden mußten. Nun schlugen die Tainu zurück. Sie nahmen Fischer, die Jagd auf sie machten, gefangen und verurteilten sie. Manche wurden auf einsamen Inseln einfach ausgesetzt aber jene, die einen Tainu getötet hatten, wurden ertränkt. Dadurch wurde nichts besser. Keiner wußte einen Rat. Bis zu jenem Tag, an dem Issola aufbrach, um mit den Menschen zu sprechen. Denn sie hatte Yina gefunden. Zwei Männer brachten den Korb mit den Fischen, stellten ihn mitten in die Zelle und verschwanden wieder. Jaggar schloß die Tür. »Du kannst in den Fischen baden«, sagte er spöttisch zu Issola. »Aber ich sehe mir das an.« »Können wir ein Messer haben?« fragte Yina. Er betrachtete sie mißtrauisch. »Du wirst doch nicht auf dumme Gedanken kommen, he?« »Hast du Angst vor mir?« Er zuckte die Schultern und zog den Dolch aus dem Gürtel.
»Du scheinst dich ja gut mit Fischmenschen und ihren Gewohnheiten auszukennen, Mädchen.« Er gab ihr den Dolch. »Du wirst eine gute Sklavin abgeben.« Yina schuppte die Fische ab und gab sie Issola, die sie sorgfältig so auf ihren Körper legte, daß alles von ihnen bedeckt wurde. Dann lag sie ganz ruhig, als sei sie eingeschlafen. »Und was soll der Unsinn?« erkundigte sich Jaggar, als Yina ihm den Dolch zurückreichte. »Die Fische spenden nicht nur Feuchtigkeit, sondern sie heilen auch die Wunden. Du wirst sehen, Issola wird bald wieder ganz gesund sein. Allerdings wäre richtiges Meerwasser besser. Ihre Haut trocknet sonst allmählich aus. Wenn wir ein Bassin auf dem Schiff hatten.« »Die ist kein Luxussegler!« fuhr Jaggar sie wütend an. »Ich weiß, ihr seid nur Piraten«, erwiderte sie kühl. Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen, ließ sie jedoch wieder sinken. »Eine schlagfertige Antwort«, erkannte er an. »Aber sei das nächste Mal vorsichtiger mit deinen Bemerkungen.« Er schwieg eine Weile, betrachtete die ruhig daliegende Issola und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder Yina zu. Draußen dunkelte es bereits. »Wir sollten sie ein wenig allein lassen. Komm mit in meine Kabine, ich habe mit dir zu sprechen.«
Er wartete keine Antwort ab. An der Tür blieb er stehen, bis Yina ihm folgte. Das Mädchen ahnte, daß ihr nun eine Entscheidung bevorstand. Von ihrem Verhalten hing nun alles ab. Jaggar verschloß die Zellentür, vor der kein Posten stand. Er verschloß auch die Tür seiner Kabine, nachdem Yina eingetreten war. »Setz dich dorthin«, befahl er und deutete auf sein Bett. Er ging zum Schrank und holte einen Krug mit Wein. Zusammen mit zwei Bechern stellte er ihn auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl dahinter. »Ich habe mich bisher noch nicht entschließen können, ob ich dich behalten oder verkaufen soll. Was wäre dir lieber?« »Werde ich denn gefragt?« Er grinste breit. »Ein wenig schon, die Entscheidung liegt an deinem Verhalten. Hast du schon einen Mann gehabt?« »Ich bin noch jung, erst siebzehn Sommer alt. Nein.« Er schmunzelte befriedigt. »Dann bist du mehr wert, als die andern, die ich bisher verkaufen konnte. Trotzdem möchte ich dich behalten. Du bist nicht schön, aber dafür besitzt du Verstand. Außerdem ...« Sie wußte, was er dachte und wollte. Er wollte sie haben, und zwar jetzt. Selbst dann, wenn er danach keinen so hohen Preis mehr erzielte.
»Ich kenne die Gefühle der Männer nicht«, sagte sie vorsichtig. »Ich weiß auch nicht, was für einen Mann schöner ist: Wenn er sich einfach nimmt, was er haben will, oder wenn er freiwillig das bekommt, was er gern haben möchte.« Er überlegte, dann erfaßte er den Sinn dessen, was sie meinte. »Freiwillig? Du würdest dich mir freiwillig hingeben?« Sie erwiderte: »Vielleicht würde ich es wirklich tun, aber nicht schon heute. Du müßtest mir ein wenig Zeit lassen. Es kommt alles so plötzlich und überraschend. Selbst wenn du ein Piratenkapitän bist, bist du doch ein Mann. Ich glaube schon, daß ich dich möchte. Es war schon immer mein Wunsch, das erste Mal nicht dazu gezwungen zu werden.« Er nickte und schenkte ein. »Ich verstehe dich, und mir wäre es auch lieber. Komm, trink mit mir.« »Ich bin keinen Wein gewöhnt.« »Lüge nicht, in deinem Gepäck war Wein.« »Er galt nur der Stärkung. Aber ich habe betrunkene Männer gesehen. Sie sind widerlich. Ich möchte dich nie so sehen.« Nun lachte Jaggar laut auf. »Das wirst du nicht so schnell erleben, ich bin
einiges gewöhnt.« Er stand auf und setzte sich neben sie. Dann gab er ihr einen Becher. »Keine Angst, ich will dich nicht betrunken machen. Und vielleicht höre ich wirklich auf dich und nehme dich nicht mit Gewalt, wie es mir zustände. Es ist einiges wahr an dem, was du gesagt hast. Selbst erfahrene Frauen wissen das oft nicht. Ja, wahrscheinlich werde ich dich doch behalten.« Sie nippte an dem Wein. Er war sauer und warm. Das Licht der Öllampe flackerte und erleuchtete kaum den Raum. Jaggar lehnte sich zurück und legte den Arm um sie. »Aber ein wenig kennenlernen sollten wir uns schon jetzt, kleine Yina.« Und er dachte: Ich werde sie schon soweit bringen – heute noch! Und laut fügte er hinzu: »Du beginnst mir wirklich zu gefallen.« Yina trank ihm zu, wie sie es bei den Soldaten Dragons gesehen hatte. »Du auch, Kapitän Jaggar. Aber das ändert meinen Entschluß auch nicht. Ich möchte nachdenken, und ich werde dir sagen, wann ich bereit bin. Ich verspreche dir, daß du es nicht bereuen wirst.« Zimperliche Ziege, dachte Jaggar, ohne zu ahnen, daß sie seine Gedanken lesen konnte. Trink erst mal, dann sehen wir weiter. »Du meinst, du wirst dann alles tun, was ich von dir verlange?«
»Ja, das verspreche ich dir.« Beim zweiten Glas wurden Jaggars Gedanken konkreter. Yina wurde klar, daß er sich nicht mehr lange beherrschen würde, obwohl er sich sehr zurückhaltend benahm. Es wurde Zeit, daß sie mit ihrem Vorschlag herausrückte, ehe es zu spät dazu war. »Weißt du, dieses Fischmädchen ist doch sehr wertvoll für dich. Du willst, daß sie gesund wird, nicht wahr?« »Natürlich will ich das. Sie bringt eine gute Belohnung. Aber lassen wir das jetzt. Ich möchte ...« »Aber sie wird sterben, trotz der Fische, das hat sie mir verraten. Und sie will auch lieber sterben als den Krokodilen geopfert werden.« Jaggar stellte den leergetrunkenen Becher auf den Boden vor dem Bett zurück. »Was sagst du da? Sie will sterben? Und die Fische helfen nicht, behauptest du?« »Sie bringen ein wenig Feuchtigkeit, aber sie heilen nicht die Wunden. Nur das vorbeiströmende Meerwasser könnte die Wunden schließen und heilen. Aber wie sollte das möglich sein? Man kann sie nicht einfach ins Wasser werfen, dann würde sie entkommen.« Er nickte und betrachtete sie forschend. Er vermutete eine List. »Man könnte sie festbinden.«
»Sicher, das wäre eine Möglichkeit, aber zu riskant.« »Warum?« »Wenn ein großer Raubfisch kommt, ist sie verloren.« »Richtig, daran habe ich nicht gedacht. Was schlägst du vor?« »Ich habe keinen Vorschlag«, erklärte sie scheinheilig, denn sie hatte den seinen längst aus seinen Gedanken lesen können. »Soll sie doch sterben, wenn sie es will.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Netz! Wir werden sie in ein Netz legen, das sorgfältig verschlossen werden muß, dann schleppen wir sie hinter dem Schiff her. Sie hat dann Wasser genug. Wie lange kann sie es ohne Luft aushalten?« »Eine Stunde etwa. Das würde sicher genügen. Und du meinst, daß ein Netz sicher genug ist?« »Bestimmt.« Wieder sah er sie an. »Du versuchst mir zu helfen. Warum das?« Sie lehnte sich gegen ihn. »Das sagte ich dir doch schon: Ich will nicht, daß du mich mit Gewalt nimmst, sondern erst dann, wenn ich dazu bereit bin. Das kann schon morgen sein ...« Er begann zu überlegen, ob es nicht doch besser sei, noch einen Tag zu warten. Dann stieß er sie sanft zurück. »Vielleicht hast du recht, Yina. Komm, gehen wir zu
dem Fischmädchen und sehen nach ihr. Ob sie es bis morgen aushält? Es ist schon dunkel.« »Ich weiß es nicht. Fragen wir sie.« Yina atmete auf, als sie draußen auf dem Gang waren und Jaggar die Tür zum Gefängnis aufsperrte. Issola lag nun auf dem Bauch, der Rücken war mit Fischen bedeckt. Sie atmete ruhig, als schliefe sie. Jaggar hielt die Lampe so, daß er sie genau betrachten konnte. Yina erschrak, als sie seine Gedanken las. Dieser Piratenkapitän war anscheinend unersättlich, was Frauen anbetraf. Das Fischmädchen reizte ihn. Nur der Gedanke daran, was sie ihm heil und gesund einbringen konnte, hielt ihn von seinem Vorhaben ab. »Achte auf sie, Yina.« befahl er mit rauher Stimme. »Morgen werden wir sehen, wie es ihr geht. Vielleicht machen wir es wirklich so, wie wir es besprochen haben. Und was dich angeht, so werde ich mir ebenfalls morgen deine Antwort holen.« Die Tür schloß sich. Yina atmete erleichtert auf und setzte sich auf den Bettrand. Issola sagte, ohne sich umzudrehen: »Ich habe eure Unterhaltung verfolgt. Du bist klug und gut, Yina. Ich vertraue dir. Morgen werden wir fliehen.« »Du wirst im Netz sein ...«
»Damit werden wir zusammen fertig.« »Wie soll ich dir folgen können? Ich werde in der Kabine bleiben müssen und ...« »Nein, Jaggar wird dich mit an Deck nehmen, wenn du ihm klarzumachen verstehst, daß es besser so ist. Du mußt dann versuchen, das Seil zu zerschneiden, mit dem das Netz am Schiff befestigt ist, und dann springst du hinter mir her. Halte dich am Netz fest, wenn wir versinken. Kannst du tauchen?« »Nur ein wenig. Ich weiß nicht, wie lange ich die Luft anhalten kann.« »Die Wasserbrüder sind in der Nähe. Sie wissen, was sie zu tun haben. Ich kann mit ihnen sprechen, sobald ich in ihrer Nähe und unter Wasser bin.« Sie seufzte. »Morgen sind wir frei, das verspreche ich dir.« »Wenn du doch nur recht hättest ...!« Die beiden Mädchen ruhten nebeneinander auf dem breiten Bett. Das Schiff lag nur wenig schräg vor dem Wind und schwankte kaum. »Gute Nacht, Yina«, flüsterte Issola. »Gute Nacht, meine Freundin«, erwiderte Yina, und zum ersten Mal seit ihrem Abschied von Bodo fühlte sie sich wieder glücklich.
5.
Die Tainula, Issolas Mutter Ismena, hatte einen der Notrufe ihrer Tochter zwar aufgefangen, aber es war ihr unmöglich gewesen, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Immerhin wußte sie, was geschehen war. Sie berief die Runde der Seemütter ein und berichtete. Dann fragte sie: »Was können wir tun? Issola geriet in die Hände der Landmenschen, und wenn wir ihr nicht helfen, wird man sie töten. Das Schiff, das sie entführt, fährt der Mittagssonne entgegen. Dort gibt es eine große Insel, die sie Schlangeninsel nennen. Einmal dort, ist es zu spat für einen Befreiungsversuch. Wir müssen sofort handeln.« Sie saßen um einen runden Tisch in einer nur dämmerig erleuchteten Halle, deren Wände und Decken aus nacktem Felsen bestanden. Der einzige Zugang lag unter Wasser. Trotzdem war die Luft in der Grotte frisch und gut. Einige schmale Risse in der Decke stellten die Verbindung zur Oberfläche der Insel her. »Wir schicken die Wasserbrüder hinterher«, schlug eine der Frauen vor. »Wenn es Issola gelingt, über Bord zu springen, ist sie gerettet.« »Wie soll sie ins Wasser springen können, wenn sie gefangen ist?« erkundigte sich Ismena voller Bitterkeit. »Das ist kein guter Rat.«
»Dann sollen unsere Männer hinter dem Schiff herschwimmen«, schlug eine andere vor. »Sie sind zu langsam«, lehnte Ismena ab. »Sie können das schnelle Schiff niemals einholen. Die Wasserbrüder aber können es.« Die Situation war ausweglos. In dem kleinen Hafenbecken der Grotte kräuselte sich das Wasser. Der Kopf eines Tainu-Mannes wurde sichtbar. Er schwamm zum Ufer und blieb dort stehen. »Darf ich näher kommen?« fragte er fast unterwürfig, denn die Männer hatten nichts mit den Regierungsgeschäften zu tun und es war ihnen verboten, die Halle des Talatta zu betreten »Ich habe wichtige Nachrichten.« »Komm her!« forderte Ismena ihn auf. Sie wartete, bis der Mann sich auf den feuchten Fels gesetzt hatte. »Was ist? Du weißt, wir sind einer wichtigen Angelegenheit wegen zusammengekommen, und we ...« »Meine Nachricht hat damit zu tun«, unterbrach sie der Mann. »Die Wasserbrüder erfuhren von dem Unglück, das Issola heimsuchte. Jemand muß es ihnen mitgeteilt haben. Jedenfalls sind hundert von ihnen nach Süden geschwommen, um das Schiff mit den schwarzen Segeln zu verfolgen.« Ismena lehnte sich zurück und sah ihre Ratgeberinnen an.
»Was jetzt? Was wollen sie tun, die Wasserbrüder? Selbst wenn sie das Schiff mit den schwarzen Segeln einholen, werden sie hilflos hinterherschwimmen, ohne etwas zu erreichen. Es kann ihnen höchstens passieren daß man Jagd auf sie macht – die Landmenschen sind grausam und unersättlich. Sie töten alles, was im Wasser lebt.« »Weil sie selbst auf dem Lande leben«, sagte eine der Seemutter weise. Ismena nickte zustimmend. »Issola wollte das ändern, nun ist sie verloren. Sie wird genauso sterben wie alle anderen, die es wagten, Kontakt mit den Landbewohnern aufzunehmen.« Sie sah den Mann an. »Hundert, sagst du?« »Hundert. Tainula.« Sie nickte langsam. »Nun gut, mehr können wir nicht tun. Vielleicht kann meine Tochter wirklich in einem günstigen Augenblick das Schiff verlassen, dann ist sie gerettet. Möglich auch, daß die vielen Delphine die gierigen Landbewohner von ihrer Gefangenen ablenken. Sie kann einfach über Bord springen und in die Tiefe sinken. Die Wasserbrüder werden sie heil zu uns zurückbringen.« Ihr Blick verfinsterte sich. »Ich habe gute Träume«, schalt sie sich selbst. »Viel zu gute Träume!« »Was wäre unser Leben ohne gute Träume«, sagte
eine der Seemütter wie zum Trost. »Und was wäre es ohne Hoffnung?« Ismena nickte ihr zu. »Du hast recht, meine Freundin. Wir werden Issola wiedersehen, daran will ich fest glauben.« Sie beendete die Sitzung, nachdem der Tainu wieder im Hafenbecken verschwunden war. Der Morgen graute. Und damit nahte für Yina und Issola die Entscheidung. Als Jaggar in die Gefängniszelle kam, lag das Fischmädchen ganz ruhig auf dem Rücken. Die inzwischen in der Hitze halbverfaulten Fische hatten die beiden Mädchen noch während der Nacht durch die kleine Luke geworfen. »Na, was ist mit ihr?« fragte Jaggar, fast ein wenig besorgt. »Sie ist sehr krank, aber die Fische haben ihr geholfen, die Nacht zu überleben. Nun fehlt ihr nur noch das Wasser. Sie ist ein Fischmensch, vergiß das nicht.« »Willst du mich lehren, was ich zu vergessen habe und was nicht?« fuhr der Pirat das Mädchen an. Dann wurde seine Stimme wieder besänftigender. »Ist ja schon gut, du hast recht. Wir sollten sie ins Wasser lassen. Schließlich ist es ihr Lebenselement. Und nur
gesund bringt sie einen guten Preis.« »Natürlich, nur gesund!« bestätigte Yina trocken. Er schien die Bemerkung überhört zu haben. »Eine Herde Delphine folgt unserem Schiff«, sagte er. »Man behauptet, sie seien gut Freund mit den Fischmenschen.« »Daran kann etwas Wahres sein«, gab Yina unbefangen zu. »Beide leben schließlich im Meer.« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Hast du Angst vor Delphinen?« Nun wurde Jaggar sichtlich ungehalten. »Werde nicht zu frech. Mausgesicht!« warnte er. »Sonst werde ich meine Pläne ändern, und das dürfte für dich nicht sehr erfreulich sein. Ich kann notfalls gut auf dich verzichten – ich meine, in der Art und Weise, wie wir es gestern besprachen. Was immer auch geschieht, ich werde dich besitzen. Es kommt auf dein Verhalten an, wie das geschieht. Merk dir das! Und nun weck sie auf! Ich habe die Segel reffen lassen, wir treiben nur noch mit dem Wind dahin. Meine Männer haben das Netz vorbereitet.« Yina sah ein, daß sie beinahe zu weit gegangen wäre. »Du willst es also wirklich tun?« erkundigte sie sich, scheinbar besorgt. »Und wenn sie nun doch flieht?« »Wie denn? Das Netz wird fest zugeknotet. Sie kann nicht heraus.«
»Und die Delphine?« »Die können keine Netze aufknoten.« Aber ich kann es, dachte Yina und beugte sich über Issola. Sie rüttelte das zarte Fischmädchen, das längst wach war, aber so tat, als läge sie in tiefem Erschöpfungsschlummer. Sie reckte sich und schlug die Augen auf. In ihnen stand Erschrecken, als sie Jaggar erkannte, aber dann lächelte sie plötzlich. »Du wirst mich nur tot besitzen«, flüsterte sie. »Bald werde ich sterben. Es dauert nicht mehr lange.« »Das könnte dir so passen!« fauchte Jaggar sie an. »Wenn du schon stirbst, dann im Kampfteich der Krokodile – und erst dann, wenn ich mein Vergnügen mit dir gehabt habe. Yina hat mir verraten, wie du zu retten bist. Das Netz ist bereit. Wir werden dich ins Meerwasser tauchen, wo du zu Hause bist. Los, steh endlich auf!« Issola kam mit den Beinen auf den Boden und erhob sich. »Ein Netz? Ich werde ertrinken, wenn ich länger als eine Stunde unter Wasser bin.« »Du wirst auf keinen Fall ertrinken Daran habe ich kein Interesse.« Jaggar grinste. »Ganz im Gegenteil, ich möchte dich gesund und munter. Schon meinetwillen.« In diesem Augenblick begann Yina ihn zu hassen. Auf Deck warteten bereits die Piraten. Jaggar hatte
Yina erlaubt, mitzukommen, als sie ihn darum bat. Nicht im Traum dachte er daran, daß sie über Bord springen würde. Einige der rauhen Gesellen hatten das Netz vorbereitet, in das Issola steigen sollte. Sie tat es mit offensichtlichem Mißbehagen. Da sie den Schurz aus Fischhaut verloren hatte, war sie völlig nackt. Die Piraten betrachteten sie mit Wohlgefallen, und Yina las ihre Gedanken. Sie schauderte zusammen. Aber auch Issola konnte die Gedanken der Piraten lesen. Noch während sie in das festgeknotete Netz kletterte, warf sie einen Blick in Richtung des Hecks. Sie sah die Flossen der Delphine, die dem Schiff unbeirrt folgten. Und sie dachte zu Yina: Das Seil, an dem das Netz befestigt ist, muß durchschnitten werden. Wenn dir das gelingt, sind wir gerettet. Springe einfach über Bord und versuche, das absinkende Netz zu erreichen. Oder schwimm den Delphinen entgegen, ich werde sie verständigen. Jaggar wird genug mit den Segeln zu tun haben. Bis er sie aufgezogen hat, sind wir weit genug entfernt. Außerdem muß er dann gegen den Wind kreuzen, was Zeit kostet. Wir bleiben in Kontakt. Yina erwiderte kurz: Keine Sorge, es wird gelingen.
Sie war nur deshalb so zuversichtlich, weil sie etwas gesehen hatte, das ihr neuen Mut gab. Das Netz war an einem Seil befestigt, das durch zwei Rollen lief. Daneben lag eine Axt. Auf Jaggars Geheiß hievten drei Piraten das Netz in die Höhe und schoben es über die niedrige Reling. Dann ließen sie los. Issola und das Netz sausten der Meeresoberfläche entgegen, platschten ins Wasser und versanken. Dann erst, als sich das Seil straffte, kam das Netz wieder an die Oberfläche, aber das Fischmädchen versuchte, unter Wasser zu bleiben. Yina las ihre Gedanken: Herrlich, das kühle Wasser: Es gibt neue Kraft, neues Leben! Wann kannst du mir folgen? Yina, ich will dich nicht zurücklassen! Du mußt mit mir kommen ... Yina stand neben Jaggar. Sie antwortete: Ich werde kommen. Zwei Mannslängen von mir entfernt hegt eine Axt. Ich werde das Seil kappen und über Bord springen. Aber noch steht Jaggar neben mir, und er paßt auf. Und vergiß nicht die anderen Piraten. Sie lassen mich nicht aus den Augen. Wir haben eine Stunde Zeit. Übersturze nichts! Gut. Aber sei vorbereitet! Ich warte auf dich. Jaggar sagte: »Hoffentlich ertrinkt sie nicht. Es wäre schade.«
Yina antwortete nicht. Fasziniert sah sie hinüber zu den Delphinen, mehr als zweihundert Mannslängen entfernt. Nur sie bemerkte, daß sich die großen Fische zu einer Formation ordneten und das Schiff einzuholen begannen. Die Wellenreiterin machte nur wenig Fahrt. Die Segel waren an den Masten festgebunden, nur am Fock blähte sich ein geringer Rest und hielt das Schiff notdürftig auf Kurs. Issola mußte bereits Kontakt zu ihren Wasserbrüdern aufgenommen haben, aber Yina konnte sich nicht darauf konzentrieren. Jaggar packte sie am Arm. »Komm, wir gehen in meine Kabine. Ich habe noch einiges mit dir zu besprechen.« Ich will sie jetzt haben, dachte er dabei, und Yina konnte seine Gedanken deutlich hören. Die Sekunde der Entscheidung war gekommen. Sie durfte nicht mehr länger warten. Die meisten Piraten standen an der Heckreling und starrten auf das nachschleifende Netz. Jaggars rechter Fuß war neben der auf dem Deck liegenden Axt, unmittelbar unter dem Seil, welches das Netz hielt. In seinen Gedanken war kein Argwohn, nur der feste Entschluß, endlich das Mädchen für sich zu gewinnen, ob mit oder ohne Gewalt. An Issola dachte er nicht mehr. Yina nahm ihren ganzen Mut und ihre ganze Kraft
zusammen, als sie handelte. Sie riß sich von Jaggar los und stieß ihn zur Seite, dann bückte sie sich, ergriff die Axt und schwang sie hoch. Als sie, mit der scharfen Schneide voran, das Seil mit einem Schlag kappte, hatte sich Jaggar von seiner Überraschung erholt. Mit einem wütenden Ruf, der die anderen Piraten alarmierte, stürzte er sich auf Yina. Sie warf die Axt den heraneilenden Piraten entgegen und hechtete mit einem Satz über die Reling, die kaum höher als ihre Brust war. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie in die Tiefe stürzte und das Wasser auf sich zukommen sah. Ergeben schloß sie die Augen und versuchte, mit den Beinen voran einzutauchen. Ganz gelang es ihr nicht, und sie verspürte einen scharfen Schmerz im Rücken, als sie aufschlug und sofort versank. Nur ihre Geistesgegenwart und hastige Schwimmbewegungen brachten sie rechtzeitig an die Oberfläche zurück. Das Heck des Seglers hatte sie bereits passiert, aber es gelang ihr trotzdem mit letzter Kraft, noch das Netz zu erreichen und sich daran festzuklammern. Es sank nur langsam in die Tiefe. Sie holte zum letzten Mal Luft, dann schlug das Wasser über ihr zusammen. Sie nahm Gedankenkontakt auf: Issola, ich halte es nicht mehr lange aus! Die Antwort kam sofort:
Nicht mehr lange, die Wasserbrüder kommen bereits. Stör mich jetzt nicht! Trotz ihrer Todesangst hörte Yina auch weiterhin die Gedanken des Fischmädchens, als es mit den Delphinen in einer zirpend klingenden Sprache redete. Sie verstand jedes Wort, obwohl ihr die seltsame Sprache absolut fremd war. »Kommt her, wir müssen zurück zur Oberfläche. Meine Freundin ertrinkt sonst. Sie gehört zu den Landmenschen, aber sie hat mir das Leben gerettet!« Die Antwort war verschwommen und nicht klar, aber Yina verstand ihren Sinn. Wir kommen, hieß es. Wir kommen sofort, Tochter der Tainula. Und sie kamen wirklich! Das Netz war gut zehn Mannslängen in die Tiefe gesunken, und als Yina die Augen öffnete, sah sie den milchigen Schimmer der Sonne schräg über sich – und dunkle Schatten, die aus allen Richtungen auf sie zugeschossen kamen. Die Lungen drohten ihr zu bersten, und in den Ohren war ein dumpfes Brausen. Langsam ließ sie die Luft aus. Die Delphine ergriffen mit ihren Mäulern das Netz und begannen daran zu ziehen. Langsam nur, unendlich langsam, zerrten sie es nach oben. Das Wasser wurde heller, durchsichtiger. Yina konnte weiter sehen und erkannte Issola, die frisch und munter in ihrem Netz zappelte. Ihre Gedanken
erreichten sie: Bald haben wir es geschafft, meine Freundin! Nur noch wenige Augenblicke, und du kannst wieder atmen. Und Jaggar? Sein Schiff! Er wird umkehren ... Bis dahin sind wir in Sicherheit, wir werden schneller sein als er. Viel schneller, du wirst sehen. Die Luft ...! Gleich sind wir oben, Yina! Die letzte Luft entwich ihren gequälten Lungen, als Yinas Kopf die Oberfläche des Wassers durchbrach. Sie atmete mehrmals tief durch, dann sah sie zurück zu dem schwarzen Segler. Er war gerade dabei zu wenden und die Segel herabzulassen. Der Wind begann sie zu füllen. »Schnell, hol mich aus dem Netz!« bat Issola dringend. »Hast du die Axt dabei?« »Ich konnte sie nicht mitnehmen.« »Dann versuche es mit den Händen, bitte.« Die Delphine umkreisten das Netz, während andere es hielten, damit es nicht wieder versank. Noch nie war Yina den großen Fischen so nahe gewesen, aber sie verspürte keine Furcht vor ihnen. Sie begann die Knoten zu lösen, aber ihre Finger waren klamm und steif. Der schwarze Segler ging auf Gegenkurs und kam schräg näher. Er konnte nicht direkt auf sie zusegeln, weil der Wind gegen ihn stand.
Er mußte kreuzen, und das kostete ihn Zeit. Zuviel Zeit. Yina löste drei Knoten, dann gelang es Issola durch die entstandene Lücke zu schlüpfen. Die Delphine ließen das Netz los, das langsam in die Tiefe sank und bald verschwand. Issola schwamm zu Yina und umarmte sie mit einer Innigkeit, die das Mädchen fast erschreckte. »Du hast mein Leben gerettet, ich danke dir. Mein Volk wird dich wie einen der Unsrigen empfangen und aufnehmen. Wie soll ich dir nur jemals danken?« Yina sah in Richtung des allmählich näher kommenden Schiffes. »Indem du mir hilfst, möglichst schnell diesem Jaggar zu entkommen. Er ist nicht schlecht, aber er ist ein Mann – und er will mich haben.« Issola lachte ein silberhelles Lachen. »Er will dich haben, dieser Narr? Er wollte auch mich haben, er will alle Mädchen haben, die ihm unter die Augen kommen. Aber er wird uns nicht kriegen, Yina! Die Wasserbrüder werden uns zu meinem Volk bringen.« Und wieder sprach sie in der zirpenden Sprache. Die Delphine formierten sich. Einige von ihnen tauchten in die Tiefe hinab, und als sie zurückkehrten, sah Yina zu ihrer Verblüffung, daß sie das Netz wieder mit hochbrachten.
»Wir müssen einige Stricke davon lösen, damit uns die Wasserbrüder ziehen können«, sagte Issola und begann sofort mit der Arbeit. Der schwarze Segler war noch einige hundert Mannslängen entfernt. »Sie kommen schnell näher«, warnte Yina besorgt. »Nicht schnell genug, sie müssen noch einmal, vielleicht sogar öfter, gegen den Wind kreuzen. Komm, hilf mir lieber.« Es gelang ihnen, zwei lange Seile loszuknüpfen. Das Netz sank wieder nach unten, aber die beiden Mädchen hielten die Seile fest, jedes eines von ihnen. Issola gab die Anweisungen, die Yina widerspruchslos befolgte. Sie knüpfte zwei Schlingen, die sie zwei Delphinen um den übergangslosen Hals legte. Issola tat dasselbe. Dann schlang sie das andere Ende des Seiles um ihren Körper und hielt sich mit den Händen fest. Issola gab das Kommando, und als die Schwarze Wellenreiterin nach der letzten Wende genau auf sie zusteuerte und nur noch fünfzig Mannslängen entfernt war, zogen die Delphine an. Yina glaubte noch, das wutverzerrte und enttäuschte Gesicht Jaggars zu sehen, als die Gischt ihr die Sicht nahm. Sie hätte nie in ihrem Leben geglaubt, daß Delphine so schnell schwimmen konnten. Das Wasser rechts und links raste an ihr vorbei, und der Segler, der sie noch
immer verfolgte, fiel hoffnungslos zurück, obwohl der auffrischende Wind die Segel voll aufblähte und der Bug steil in die Luft ragte. Yina spürte, daß sie den ständigen Zug am Körper und in den Armen nicht mehr lange aushalten konnte. Sie rief Issola, die dicht neben ihr war, zu: »Langsamer, ich bekomme kaum noch Luft. Die Arme sterben mir ab.« Issola drehte sich um und sah nach dem Segler, dessen Mastspitzen über die Wogen ragten. Der Rumpf war nur noch selten zu sehen. »Gut, wir haben es geschafft, sie holen uns nicht mehr ein.« Wieder zirpte sie und verständigte sich mit den Fischen, dann fuhr sie fort: »Wir werden es machen wie unsere Männer. Sie reiten auf den Wasserbrüdern. Mit dem Seil können wir uns auf ihren Rücken festbinden.« Die Delphine hielten an und bildeten einen schützenden Kreis um die beiden Mädchen. Zwei besonders kräftige Tiere boten sich als Transportmittel an. Yinas Finger waren fast noch klammer geworden, aber sie folgte Issolas Beispiel und knüpfte eine Art Zügel, der um den Kopf des Fisches gelegt wurde. Die Rückenflosse diente als Lehne und Halt. Issola lachte Yina zu. »Nun, was sagst du jetzt? Wir werden auf den
Wasserbrüdern über das Meer reiten, so schnell wie der Wind und von keiner Gefahr bedroht. Immer nach Norden, bis wir die große Insel sichten. Dann ist es nicht mehr weit bis zu meinem Volk und der namenlosen Insel.« »Warum bekam sie keinen Namen, Issola?« »Weil wir immer unsere Heimat verlassen mußten, wenn wir ihr einen Namen gaben. Darum gaben wir ihr keinen Namen.« Sie sprach wieder mit den Delphinen. Die Formation bildete sich, und dann begann der Ritt, den Yina nie in ihrem Leben vergessen sollte. Nun, da sie auf dem Rücken des Tieres saß, konnte sie weiter über das Meer sehen. Der schwarze Segler hatte während der Pause ein wenig aufgeholt, aber er war viele tausend Mannslängen entfernt und bildete keine Gefahr mehr. Ringsum war nichts als Wasser, kein Land war zu sehen. Die Sonne stand genau in ihrem Rücken und wärmte Yinas durchfrorenen Körper wieder auf. Issola schien schon mehr als einmal auf dem Rücken von Delphinen geritten zu sein. Sie hielt sich kaum fest und saß sicher im »Sattel«. Sie blieb stets dicht neben Yina, um sich hin und wieder mit ihr unterhalten zu können, obwohl das Brausen des vorbeirauschenden Wasser die Worte fast verschluckte. Die Mastspitzen des schwarzen Seglers
verschwanden unter dem Horizont. Obwohl es noch nicht Abend war, versuchte Yina, Kontakt mit Kano oder Kim aufzunehmen. Wieder meldete sich Kano. Gestern hast du es nicht versucht, dachte er vorwurfsvoll. Wir machen uns Sorgen um dich. Du lebst also noch? Issola konnte natürlich die Gedanken von Yina und Kano ebenfalls hören und nahm so an dem nur kurzen Gespräch teil. Die beiden Mädchen hatten vereinbart, ihr Geheimnis vorerst noch nicht preiszugeben. Zuerst mußte der Rat der Seemütter abgewartet werden. Politische Entscheidungen durften nicht ohne sie getroffen werden, schon gar nicht, nachdem Issolas erster Versuch gescheitert war. Ich lebe und bin wieder frei. Bald werde ich zurück sein. Frei? Wie ist das möglich? Unsere Schiffe konnten dich nicht einholen. Wer befreite dich? Oder haben dich die Piraten laufenlassen, weil du ihnen nicht schön genug warst? Ich habe mich selbst befreit. Und damit du es nur weißt: Der Kapitän der Piraten wollte mich zu seiner Frau machen. Haha! Aber sicher nur für ein paar Stunden! Ekel! Sie brach den Kontakt ab.
Issola sagte: »Er war aber nicht gerade freundlich zu dir. Er ist dein Freund?« »Einer meiner Freunde, und wir streiten uns immer. Es ist nicht böse gemeint. Aber nun weiß man im Palast wenigstens, daß ich nicht mehr in der Gewalt der Piraten bin. Sie wissen, daß ich eines Tages zu ihnen zurückkomme – und ich hoffe, dann werden sie eine Überraschung erleben.« »Dafür werden wir schon sorgen«, versprach Issola. »Ich hoffe nur, dein König Dragon ist so gut, wie du ihn mir geschildert hast.« »Er ist es, glaube mir. Doch bevor ich zu ihm gehe, muß ich dein Volk kennenlernen. Wie lange wird es dauern?« »Die Sonne wird einmal untergehen. Wenn sie morgen am höchsten steht, sichten wir unsere Insel.« »In der Nacht wird es kalt sein.« »Daran ist nichts zu ändern, aber wenn die Wasserbrüder langsamer schwimmen, werden wir nicht mehr naß. Mir macht es ja nichts aus, aber dir.« Sie kamen gut voran, dann wurde es dunkel. Wie angekündigt, verlangsamten die Fische ihr rasendes Tempo und zogen nur noch gemächlich und fast spielerisch dahin. Die Wogen hatten sich geglättet, und nur selten wurde Yina von einem Wasserspritzer getroffen. Das Kleid begann im Wind zu trocknen.
Die ersten Sterne wurden am wieder klaren Himmel sichtbar. Um Mitternacht wurde Yina so müde, daß sie sich kaum noch wachhalten konnte. Ununterbrochen unterhielt sie sich mit Issola, um nicht einzuschlafen. Sie wäre dann unweigerlich aus den Schlingen gerutscht und ins Wasser gefallen. Endlich hatte Issola ein Einsehen. »Wir werden ein wenig ruhen«, sagte sie und sprach dann mit den Delphinen. »Ich habe ihnen befohlen, eine richtige Plattform zu bilden und ganz eng nebeneinander zu schwimmen. Dann kannst du nicht herabfallen. Wenn die Sonne aufgeht, sind wir frisch und munter und können die Reise fortsetzen.« Yina war für die Pause dankbar, und als sie rings um sich herum die Rücken der treuen Delphine sah, entspannte sie sich und schloß die Augen. Es dauerte keine zehn Minuten, und sie war eingeschlafen. Morgens weckte sie Issola. »Yina, laß dir etwas einfallen – wir müssen fliehen!« sagte das Fischmädchen ruhig und ließ den ausgestreckten Arm kreisen. »Sie haben uns umzingelt.« Nun sah Yina es auch. Mindestens zwanzig Fischerboote hatten einen großen Kreis um sie herum gebildet, der ständig
kleiner wurde. Zwischen den Booten waren Hängenetze gespannt, die bis zu zwanzig Manneslängen in die Tiefe reichten. Es sah ganz so aus, als gäbe es nun kein Entkommen mehr.
6.
Dragon, der noch immer auf das Eintreffen von Amee, der Königin von Urgor, wartete, um die Hochzeit mit ihr zu feiern, sorgte sich um die kleine Gedankenleserin. Seitdem er von Kano erfahren hatte, was mit Yina geschehen war, und seitdem die drei ausgesandten Schiffe von ihrer erfolglosen Jagd auf den schwarzen Segler zurückgekehrt waren, war diese Sorge noch größer geworden. Er konnte sich vorstellen, welches Schicksal Yina bevorstand. Eines Tages, so wußte er, würde er sich um die Piraten der Schlangeninsel kümmern müssen, sonst würde es niemals Frieden für Myra geben. Entweder würde er ein Abkommen mit ihnen schließen, oder er würde Krieg mit ihnen führen.
Aber zuerst Yina! Vielleicht würde sie sich klug verhalten und so vorerst ihr Leben retten. Immerhin konnte sie die Gedanken ihrer Gegner lesen und war so von ihren Absichten stets unterrichtet. Danach konnte sie sich richten und entsprechend handeln. Trotzdem galt es zu überlegen, wie man sie befreien konnte. Einen Augenblick lang dachte er daran, sich selbst mit einer Schar von Getreuen einzuschiffen und unerkannt zur Schlangeninsel zu fahren, um dort Nachforschungen anzustellen, aber dann dachte er auch an die bevorstehende Ankunft Amees. Er zögerte. Und das war gut so. Er saß in seinem Gemach und verspürte wenig Lust, es in dieser trüben Stimmung zu verlassen. Die Lage in Myra hatte sich weitgehend beruhigt. Die Verträge mit den Amazonen waren abgeschlossen worden. Im Augenblick gab es nicht mehr viel zu tun. Es klopfte an der Tür. Dragon stand auf, um nachzusehen, denn es war bereits später Nachmittag. Zu dieser Zeit gab es keine Geschäfte mehr, wenigstens keine dringenden. Es war der Zwilling Kano. »Kann ich ‚reinkommen?« Dragon machte eine einladende Bewegung und schloß die Tür. Sie setzten sich. »Du hast noch immer keine Nachricht von Yina? Vielleicht ist sie tot.«
»Sie ist quicklebendig und frei – das hat sie mir eben mitgeteilt, aber mehr wollte sie auch nicht sagen. Sie meint, wir würden noch alles rechtzeitig erfahren.« »Hm«, machte Dragon verwundert. »Das klingt aber recht geheimnisvoll. Immerhin ist sie frei, das ist die Hauptsache.« Er wirkte sichtlich erleichtert. »Ich hatte mir große Sorgen um unsere Freundin gemacht.« »Das ist aber noch nicht alles.« Er beugte sich zu dem Jungen. »Noch nicht alles? Was gibt es denn sonst noch?« »Ihre Gedanken waren nicht allein, ich konnte noch andere auffangen und ein wenig hören. Jemand muß bei ihr sein – ein anderes Mädchen.« »Vielleicht auch eine Gefangene, mit der zusammen sie fliehen konnte.« »Sicherlich, aber ihre Gedanken waren merkwürdig, fast fremd.« »Was soll das heißen, fremd?« »Nun ... eben anders. Und noch eine Menge anderer Gedanken kamen hinzu, aber von denen verstand ich keinen einzigen. Sie waren wie Nebengeräusche in einem Saal. Jemand spricht, die anderen murmeln dazwischen.« »Ja, ich verstehe, was du meinst. Yina ist also nicht allein.« »Nein.« »Und hat sie dir gesagt, wo sie jetzt ist?«
»Nein.« Dragon überdachte das Gehörte, mußte aber zugeben, daß er nicht schlau daraus wurde. Wichtig für ihn war nur, daß Yina frei war. Die näheren Umstände ihrer Flucht würde er noch früh genug erfahren. Er verstand nur diese Geheimnistuerei nicht. »Na schön, dann versuche bald wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sage ihr, daß wir sie im Palast erwarten. Wir werden ihr einen prächtigen Empfang bereiten und ihre Befreiung gebührend feiern.« »Ich werde es ihr sagen.« Kano erhob sich. »Darf ich jetzt gehen? Ich suche Kim, der sich im Palast versteckt hat.« Dragon lächelte. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, wurde ich mal auf der Ostzinne nachsehen.« Kano stürmte aus dem Zimmer. »Wir sind verloren«, jammerte Yina und verlor alle Hoffnung. »Sie haben die vielen Delphine bemerkt und wollen sie einfangen. Sie werden auch uns schon gesehen haben.« »Sicher haben sie das. Um so wertvoller wird die Beute. Warte hier, ich werde versuchen, eine Lücke zwischen den Netzen zu finden. Die Delphine werden bei dir bleiben.« Ehe Yina antworten konnte, schlüpfte Issola aus den
Schlingen ihres Haltetaus und verschwand in dem dunklen Wasser. Ihr blasser Körper wurde nach wenigen Sekunden von der Tiefe verschluckt. Yina wartete und beobachtete die Fischerboote. Sie kannte die tiefen Schleppnetze aus eigener Erfahrung. Mehrere Boote ließen sie ins Wasser hinab, bildeten eine Linie und zogen das gemeinsame große Netz hinter sich her. In besonderen Fällen formten sie einen Kreis und fingen so alles, was sich darin befand – falls es nicht in größere Tiefen abtauchte. Aber Yina konnte keine zwanzig Mannslängen tief tauchen. Die Delphine wurden ebenfalls unruhig. Sie spürten die Gefahr, die sich ihnen unaufhaltsam näherte. Aber sie hatten von Issola einen Befehl erhalten, und sie befolgten ihn auch. Yina konnte nun auch die Männer in den Booten besser erkennen. Es waren Fischer von Myra, bärtige und harte Männer, die von dem lebten, was das Meer ihnen gab. Die Herde Delphine mußte für sie ein Vermögen bedeuten, auch wenn sie nur die Hälfte der Tiere erbeuteten und abschlachteten. Aber Delphine und auch Issola konnten tiefer tauchen, als die Netze im Wasser hingen. Yina drohte keine Gefahr, wenn sie gefangen wurde, aber man würde Fragen stellen. Aber ob Gefahr für sie oder nicht, Yina wollte das Volk der Tainu
kennenlernen. Sie hatte nun ebenfalls eine Mission, und sie würde diese Mission unter allen Umständen erfüllen. Issola tauchte urplötzlich wieder auf. Sie schwang auf den Rücken des nächsten Delphins. »Ich glaube, wir können es noch schaffen«, sagte sie ein wenig atemlos von der Anstrengung. »Für die Wasserbrüder und mich ergibt sich kein Problem, wohl aber für dich. Du wirst sehr lange die Luft anhalten müssen. Die Netze haben sich noch nicht völlig geschlossen, das geschieht erst dann, wenn die Boote näher zusammenrücken. Doch dann liegen die benachbarten Netze nur übereinander, man könnte mit einigem Geschick noch immer durchschlüpfen. Es ist aber besser, wir versuchen es jetzt sofort.« »Und wie?« »Du bleibst, wo du jetzt bist. Und halte dich nur gut an dem Tau fest, wenn der Wasserbruder taucht. Selbst dann, wenn du meinst, ersticken zu müssen, halte fest! Bleibe ganz ruhig, ich werde bei dir sein. Hinter den Booten tauchen wir kurz wieder auf, damit du Luft holen kannst, dann tauchen wir noch einmal, um der Reichweite der Speere zu entgehen. Danach sind wir außer Gefahr.« Yina hatte Angst, aber sie wollte sich keine Blöße geben. Fest klammerte sie sich an das Tau. Sie nickte und begann tief einzuatmen und die Lungen
vollzupumpen. Ich bin bereit, Issola! Das Fischmädchen nickte nur zurück und gab den Delphinen in deren Zirpsprache einen kurzen Befehl. Als das Wasser über Yinas Kopf zusammenschlug und die gesamte Herde wegtauchte, blieb ihr keine Zeit mehr zum Denken. Sie behielt die Augen offen, um sehen zu können, und weit vor sich in der blauen Unendlichkeit sah sie das Netz schimmern. Unter ihr war es dunkel, schwarz und tief. Das Anhalten der Luft fiel ihr leichter als das erste Mal, als sie mit Issola und dem Netz in der Tiefe versank. Ihre Angst begann sich zu verflüchtigen, als sie das Netz erreichten und sie immer noch genügend Luft in den Lungen hatte. Die Tiefe betrug etwa zehn Mannslängen, und über sich sah Yina die Schatten zweier Boote gegen den milchigen Himmel. Issola, die allein und ohne Delphin schwamm, glitt behende durch die noch immer breit klaffende Lücke zwischen den Fangnetzen; die Delphine folgten ihr. Dann waren sie alle durch. Nun begann sich bei Yina Atemnot bemerkbar zu machen, aber ihr Fisch tauchte noch immer nicht auf. Er erhöhte seine Geschwindigkeit, um die voraneilenden einzuholen. Hinter ihnen verschwand das Netz im Blau des Meeres.
Yina ließ die letzte Luft aus den Lungen und entsann sich Issolas Rat, nicht aufzugeben. Krampfhaft hielt sie sich fest. Das Wasser wurde allmählich heller. Jetzt tauchen wir auf, für wenige Sekunden. Einatmen! Yina antwortete nicht. Sie starrte nur auf die heller werdende Oberfläche und wartete, bis ihr Kopf aus dem Wasser kam. Hastig und fast verzweifelt pumpte sie die lebenspendende Luft in die Lungen. Die Boote waren noch ganz nah. Sie konnte die wütenden Rufe der Fischer hören, dann versank sie abermals in der Tiefe. Dicht unter der Oberfläche raste die Herde davon, und als sie wieder auftauchte, waren die Boote weit entfernt. Einige langschäftige Speere fielen ins Wasser. Das Heulen der enttäuschten Fischer war sogar bis hierher zu vernehmen. »Nun?« Issola kletterte wieder auf ihren Delphin und lachte. »Wie haben wir das gemacht?« »Ich bin froh!« erwiderte Yina nur. »Du hast dich tapfer gehalten«, lobte das Fischmädchen. »Du bist sehr mutig.« »Ich habe viel Angst gehabt.« »Nur die Mutigen und Tapferen kennen die Furcht, Yina. Wer sie nicht verspüren kann, der ist ein Dummkopf. Und wer die Gefahr nicht kennt, kann auch nicht mutig sein.«
Die Fischerboote blieben schnell zurück und verschwanden bald unter dem Horizont. Die Sonne stieg höher und begann abermals Yinas Kleid zu trocknen. Die Kälte wich aus den Gliedern und machte einer wohligen Wärme Platz. »Wie lange noch?« fragte sie. Issola deutete nach Norden. »Die höchste Spitze der großen Insel schwebt bereits über dem Wasser. Daneben kannst du die Berggipfel des Landes sehen, das du Myra genannt hast. Es dauert nicht mehr lange.« Zum ersten Mal kamen Yina Bedenken. Obwohl sie festes Vertrauen zu Yina hatte, fürchtete sie doch ein wenig die eigentlichen Fischmenschen, über die man sich so schreckliche Geschichten erzählte. Würde man ihr Glauben schenken und ihr vertrauen? Hatte Issolas Wort genügend Gewicht, sie vor dem Tode zu bewahren? Issola hatte ihre Gedanken gehört. »Du machst dir überflüssige Sorgen, meine Freundin. Du hast mir das Leben gerettet, und das genügt meinem Volk, dich ebenfalls als Freund anzuerkennen. Dir wird nichts geschehen, und sobald du es wünschst, werden wir dich zum Ufer deines Landes bringen.« »Ich will die Aufgabe, die du dir selbst gestellt hast, erfolgreich zu Ende führen – mit dir gemeinsam.«
»Das werden wir auch tun. Die Runde der Seemütter wird uns anhören, dann wird Ismena die Entscheidung fällen. Ich kenne meine Mutter. Sie wird uns helfen, denn niemand will den Frieden mehr als sie.« Das Wetter war noch besser geworden. Kein Wölkchen stand am Himmel, und der Wind war fast völlig eingeschlafen. Nur noch eine weitrollende Dünung zeugte von dem vergangenen Sturm. Sie kamen schnell voran. Yina behielt die Bergspitzen im Auge und sah sie allmählich größer werden. Dann tauchten die ersten Landstreifen auf, fielen rechts ab und machten der Küste der großen Insel Platz. Aber die Delphine ließen auch die Große Insel rechts liegen und zogen nordwestwärts weiter. Yina hatte schon von dem unbewohnten Eiland gehört, dem sich die Fischer nur ungern näherten, weil es dort die geheimnisvollen Fischmenschen geben sollte. Selten hatte sie jemand zu Gesicht bekommen. »Ich habe zum ersten Mal mit meiner Mutter sprechen können!« jubelte Issola plötzlich. »Du hast es nicht bemerkt, weil du zu sehr mit deinen eigenen Gedanken beschäftigt warst. Es wird alles zu unserem Empfang vorbereitet.« »So weiß man also schon ...?« »... daß du mit mir kommst? Natürlich weiß man es,
und es gibt niemanden, der sich nicht darüber freuen würde. Du bist der Beweis dafür, daß ich recht hatte, daß es Frieden mit den Landmenschen geben kann, wenn man nur will.« »Wenn beide Seiten wollen!« berichtigte Yina glücklich. »Natürlich – das ist immer die Voraussetzung«, gab Issola zu. Die namenlose Insel tauchte am Horizont auf. Zum letzten Mal setzten die ermüdeten Delphine ihre letzten Kraftreserven ein, um das Ziel schneller zu erreichen. Die felsigen Klippen stiegen steil aus der schwachen Brandung empor und verbargen die dahinterliegenden Buchten. Überall im Wasser vor der Insel war Bewegung zu erkennen. Schwarze oder auch weiße Punkte, die eine Wellenspur hinter sich herzogen. Es waren die Männer der Tainu, die der kleinen Flotte entgegenkamen, um sie zu begrüßen. Gedanken des Willkommens strömten auf Issola und Yina ein. Alle Tainu wußten bereits, was geschehen war. Sie hatten für alles gesorgt. Vom Meeresboden herauf war eine riesige Muschel geholt worden, deren eine Hälfte genug Platz bot, Yina und einen gehörigen Luftvorrat aufzunehmen. Ein kräftiger Tainu hielt sie, als sie unter die Muschel
tauchte und sofort wieder atmen konnte. Dann sank die Muschel langsam an den Felsen der Insel entlang in die Tiefe, bis sie auf der Höhe eines Grotteneingangs anlangten. Wenig später stand Yina in der Unterwasserhöhle auf trockenem Boden. Issola war ihr gefolgt und nahm ihre Hand. »Die Runde der Seemütter«, erklärte sie schlicht und deutete auf die elf Tainu, die sich von ihren Plätzen erhoben hatten und ihnen entgegenblickten. »Die erste dort ist Ismena, meine eigene Mutter.« Ismena schloß ihre gerettete Tochter zuerst in die Arme, dann wandte sie sich Yina zu und streckte ihr die Hände entgegen. »Willkommen bei uns, Yina«, sagte sie mit dunkler Stimme. »Du hast Issola gerettet, und sie hat dich gerettet. Ihr seid Freunde für das ganze Leben, und damit bist auch du der Freund der Tainu. Du darfst bleiben, so lange du willst. Es ist besser, wenn du alles über uns weißt, bevor du zu den Landmenschen zurückkehrst. Du bist unser Gast.« Yina bedankte sich mit wohlgesetzten Worten und begrüßte auch die anderen Seemütter. Dann berichtete Issola ausführlich und schloß mit den Worten: »Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich habe Kontakt mit einem Landmenschen hergestellt. Den Rest der Mission wird Yina übernehmen. Bald wird Friede zwischen uns
und den Bewohnern des Landes sein. Wir haben endgültig die neue Heimat gefunden.« »Wir alle hoffen, daß du recht hast«, entgegnete Ismena vorsichtig. Issola selbst brachte Yina in ihr Gemach, das für den Besuch vom Land extra hergerichtet worden war, damit es den besonderen Ansprüchen eines die Wärme und Trockenheit gewohnten Menschen entsprach. Yina hätte niemals geglaubt, daß eine Höhle, deren Eingang unter dem Wasserspiegel lag, so bequem und wohnlich sein könnte. Es war ein großer, trockener Raum, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Der Rauch zog senkrecht nach oben durch Felsspalten ab. So kam es also, daß die Fischer die Insel für einen halbtätigen Vulkan hielten und ihn nicht nur der Wassermenschen wegen fürchteten. An den Wänden aufgeschichtet, sah Yina noch mehr Holz, das trocken und zu handlichen Stücken verarbeitet auf seine Bestimmung wartete. Über dem Feuer hing ein Kessel mit brodelndem Wasser. Es stammte aus einer der zahlreichen Zisternen der Insel. Einige Gegenstände erregten die Aufmerksamkeit Yinas, nachdem Issola sie verlassen und ihr eine gute Nacht gewünscht hatte. Es waren Gegenstände aus Eisen, frisch geschmiedet und künstlerisch bearbeitet. Ihren Zweck konnte Yina nur erraten. Jedenfalls stand für sie fest, daß die Tainu Erze abbauen und diese
verarbeiten konnten. Sie legte sich auf das Lager aus Ziegenfell, das an der Innenwand aufgeschichtet worden war. Die Wärme des Feuers tat ihr gut, und es dauerte auch nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Diesmal wurde sie nicht von bösen Träumen heimgesucht. Das Feuer glimmte noch, als Issola kam, um sie zu wecken. »Sie greifen uns an«, stieß sie aufgeregt hervor. »Eine große Anzahl von Booten mit tiefhängenden Netzen liegen vor unseren Grotten, und Taucher versuchen, die Höhlen zu erreichen. Sie tragen lange Speere und Harpunen. Mehrere unserer Männer haben schon den Tod gefunden. Wir müssen fliehen ...« Yina begriff nur langsam, was Issola ihr mitzuteilen hatte. Sie hatte von ihrer triumphalen Rückkehr nach Myra geträumt und von dem Lob, das Dragon ihr zollte. Die Zwillinge hatten sich vor ihr verbeugen und sie um Vergebung für alle Streiche bitten müssen, die sie mit ihr angestellt hatten. Und nun kehrte die rauhe Wirklichkeit zu ihr zurück. »Fischer? Vom Festland?« »Vielleicht auch von der großen Insel, wir wissen es nicht. Jedenfalls gehören sie zu deinem Volk. Vielleicht
kannst du uns helfen.« Daran zweifelte Yina allerdings. Sie war nur ein kleines, unbedeutendes Mädchen. Kein Fischer würde auf sie hören. Man würde sie vielleicht sogar töten, weil sie mit den Fischmenschen gemeinsame Sache machte. Trotzdem sagte sie: »Ich kann es versuchen. Bring mich nach oben.« Unterwegs auf dem Pfad zum Grottenausgang, der unter der Oberfläche des Meeres versteckt lag, begegneten sie den Männern der Tainu. Alle trugen Waffen. Es wurde Yina klar, daß sie unter allen Umständen das bevorstehende Gemetzel verhindern mußte, das beiden Seiten eine hohe Anzahl von Verlusten bringen würde. Die Muschel lag bereit. Issola half ihrer Freundin darunter und sorgte mit kräftigen Schwimmstößen dafür, daß sie allmählich nach oben stiegen. Die in der Muschel befindliche Atemluft half dabei mit. Ein wenig abseits des eigentlichen Kampfplatzes erreichten sie die Meeresoberfläche. Yina sah die vielen Boote, die vor der Küste lagen und die Netze hielten. Pfeile schwirrten von ihnen zur Insel herüber, richteten aber keinen Schaden an. Es gelang Issola, die Muschel so umzudrehen, daß
sie wie ein kleines Boot wirkte. Es trug Yina, ohne zu versinken. »Sei vorsichtig!« warnte das Fischmädchen. »Es sind deine Leute, du solltest mit ihnen reden können. Ich kann dich leider nicht begleiten, denn man würde mich sofort töten. Wenn sie dir etwas antun wollen, spring ins Wasser, wir passen auf.« »Danke. Issola. Ich will alles versuchen, und wenn ich Dinge rede, die gegen euch gerichtet sind, so bedenke, daß ich es nur für euch tue. Vielleicht muß ich lügen, damit sie mich anhören.« »Wir vertrauen dir«, gab Issola zurück und versank in den Fluten. Yina aber begann mit den Händen zu paddeln und näherte sich den Fischerbooten, in denen die Männer sie bereits bemerkt hatten. Als Yina ihnen zuwinkte, ließen sie die bereitgehaltenen Waffen sinken und sahen ihr gespannt entgegen. Hilfreiche Arme zogen sie aus der Muschel, die kippte und versank. »Wen haben wir denn da?« wunderte sich ein älterer Fischer mit weißem Bart. »Das ist doch ein richtiges Mädchen, eine von uns?« Er wandte sich an Yina: »Hat diese verfluchte Brut von Fischmenschen dich gefangengenommen? Wir sind gerade dabei, sie auszurotten.« Yina setzte sich auf eine Ruderbank.
»Warum wollt ihr sie töten? Sie haben mich gut behandelt.« »Dämonen sind sie, böse Geister und Teufel! Für sie ist auf der Erde kein Platz.« »Aber doch im Wasser, in dem wir nicht leben können.« Der alte Fischer war für einen Augenblick sprachlos und überdachte das Gehörte, dann fragte er: »Du verteidigst sie noch, obwohl sie dich fingen und wir dich retteten?« Yina entschied sich, ihre Taktik zu ändern. In diesem Fall war die Wahrheit am besten. »Sie haben mich aus den Händen von Seeräubern befreit und würden mich ans Land gebracht haben, wenn ihr mit eurem Krieg nicht dazwischengekommen wäret. Nun schickten sie mich zu euch, um den Frieden anzubieten.« »Frieden zwischen uns und denen?« rief einer der anderen Fischer empört. »Sie haben viele von uns ermordet, und dafür sollen sie büßen. Jetzt wissen wir endlich, daß es sie wirklich gibt.« »Sie haben nur jene bestraft, die einige von ihnen töteten. Ich weiß es, denn sie haben es mir selbst berichtet.« »Sie haben gelogen.« »Nein, das haben sie nicht, ich weiß es. Sie sind friedlich, wenn man sie in Ruhe läßt.«
Der alte Fischer betrachtete sie voller Zweifel. »Woher willst du das alles wissen? Nur weil du eine gewisse Zeit bei ihnen warst?« »Ja. Und nun rufe deine Freunde zurück. Man wird euch nicht verfolgen – das ist die Botschaft, die ich zu überbringen habe.« Der alte Mann lachte. »Eine Botschaft hast du zu überbringen? Eine Gefangene überbringt eine Botschaft! Man hat dich dazu gezwungen, gib es nur ruhig zu.« »Nein, ich kam freiwillig, und ich werde auch wieder zu ihnen zurückkehren. Und noch etwas: Ihr wißt, daß unser neuer König Dragon heißt. Er ist mein Freund, und ich gehöre zu seinem Gefolge. Er will nicht, daß man weiterhin die Fischmenschen verfolgt.« »Dragon ...? Ja, wir hörten von ihm. Er soll viele Sklaven freigelassen und den Fischern Hilfe versprochen haben.« Er betrachtete sie genauer. »Du willst zu seinem Gefolge gehören?« »Ich gehöre dazu! Ich werde ihm von eurem Überfall berichten, und das wird sich nicht günstig für die Fischer an unserer Küste auswirken, glaube mir.« »Kleines Mädchen, du sprichst große Worte ...!« Er sah seine Kollegen an, fragend und um Rat bittend. Dann fuhr er fort: »Ich kann die anderen nicht zwingen, den Angriff zu beenden. Aber ich werde dafür sorgen, daß es vorerst der letzte sein wird.
Warten wir ab, wie die Schlacht ausgeht. Ich befürchte allerdings, schlecht für deine Freunde, die Fischmenschen. Wir haben uns gut vorbereitet.« Yina war längst freigelassen worden und konnte sich an Bord des Bootes bewegen, wie sie wollte. Ab und zu bemerkte sie im Wasser vor der Küste Bewegung oder einen Wirbel. Auch Blut stieg aus der Tiefe auf und verteilte sich an der Oberfläche. Einige Leichen trieben in der Brandung. »Dragon wird den Frieden zwischen uns und den Fischmenschen zum Gesetz machen«, sagte sie zu den Fischern. »Ihr könnt die Netze einziehen, sie nützen nichts. Die Tainu tauchen darunter hinweg, wenn sie es wünschen.« »Tainu?« »So nennen sie sich. Sie sind ein friedliches Volk.« Der alte Fischer schwieg. Nachdenklich sah er hinüber zu der unbewohnten und fast kahlen Insel, um deren Besitz seine besten Freunde nun das Leben ließen. »Laß dich doch von der da nicht einwickeln!« rief ihm einer der Männer zu und warf seine Harpune einem gerade auftauchenden Tainu in die Schulter. Entsetzt sah Yina zu, wie der Fischmensch sofort stark zu bluten begann und tauchte. Der Fischer zog das Seil mit der Harpune ein, er wollte seine Beute mit nach Hause nehmen.
Aber er hatte kein Glück. Ehe jemand es verhindern konnte, wurde er mit einem plötzlichen Ruck nach vorn gerissen, ließ das Seil zu spät los und verlor außerdem den Halt. Mit einem Aufschrei fiel er ins Meer. Sofort waren drei oder vier Tainu zur Stelle, die ihn unter Wasser zogen und mit ihm verschwanden, ehe einer der Fischer dem Unglücklichen helfen konnte. Der alte Mann, mit dem Yina gesprochen hatte, griff nach einem Wurfspeer. »Da hast du deine friedlichen Fischmenschen!« rief er ihr zu und beugte sich über den Bordrand, um nach einem lohnenden Ziel auszuspähen. »Sie morden kaltblütig ...« »Sie wehren sich nur«, gab Yina hoffnungslos zurück. »Seht ihr das denn nicht endlich mal ein? Sollen sie sich einfach abschlachten lassen, nur weil ihr sie für Dämonen haltet?« Der Alte drehte sich zu ihr um. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er sie mit seinem Speer durchbohren, aber dann gab er seinen Leuten einen Wink. »Werft sie über Bord, ich will sie nicht mehr sehen.« Widerstandslos ließ sich das Mädchen packen und zum Bordrand zerren. Sie hatte keine Ahnung, ob man ihr einige Speere nachschleudern würde oder nicht, auf jeden Fall holte sie tief Luft, als man ihr einen Stoß gab
und sie ins Wasser fiel. Sie ließ sich ohne Bewegung nach unten sinken und sah über sich den Schatten des Bootes weitergleiten. Zwei Tainu kamen herbei und packten ihre Arme. Dicht unter der Oberfläche dahinschwimmend, brachten sie Yina so weit vom Boot weg, daß ihr keine Gefahr mehr drohte, dann tauchten sie mit ihr auf. Ein dritter Tainu brachte die gesunkene Muschel, und wenig später stand Yina wieder im Grotteneingang. Issola empfing sie mit einer Umarmung. »Ich habe alles durch deine Gedanken verfolgen können. Du hast es versucht, aber sie hören nicht auf dich. Draußen geht der Kampf weiter. Aber die Fischer sind schlechte Taucher. Bisher ist es noch keinem gelungen, in unsere Grotten zu gelangen. Aber sie haben andere Pläne. Sie wissen nun, wo wir wohnen und daß unsere Höhlen auch von der Insel her anzugreifen sind. Einige Boote sind bereits gelandet, und die Männer gehen an Land. Sie werden die Luftspalten finden und von dort aus eindringen.« »Und was werdet ihr tun?« »Wir werden versuchen, sie daran zu hindern«, erwiderte Issola einfach. »Komm, ich bringe dich zu meiner Mutter. Sie möchte mit dir reden.« Diesmal nahmen sie einen anderen Weg als gestern, und zum ersten Mal konnte Yina die noch im Bau
befindliche eigentliche »Stadt« der Tainu sehen. Es war eine riesige Grotte. Das Land selbst, auf dem die ersten primitiven Holzhütten standen, umgab ein dunkles, ruhiges Wasserbecken, das zugleich den Eingang darstellte. Die Wände zu kleineren Nebengrotten waren durchbrochen worden, um mehr Platz zu schaffen. Nur Frauen waren zu sehen. Sie trugen Waffen herbei und legten sie an den Rand des Wasserbeckens. Ab und zu tauchte darin ein Mann auf, nahm sich, was er brauchte, und verschwand wieder. Ein gewundener Gang führte zu einer abgelegenen Wohngrotte, die ziemlich hoch über dem Wasserspiegel liegen mußte, denn es war warm und trocken in ihr. Ismena, die Stammesmutter der Tainu, erwartete die beiden Mädchen bereits. Sie bot ihnen einen Platz auf einem Fellager an. »Du hast viel für uns gewagt«, sagte sie nach der Begrüßung zu Yina. »In deiner Seele ist die Wahrheit, und Gedanken könnten niemals eine Lüge verbergen. Wir wissen, daß du es gut mit uns meinst. Sobald die Fischer in ihre Heimat zurückkehren, werden wir dich zur Küste von Myra bringen. Issola und ich werden dich begleiten.« »Ihr wollt mitkommen?« wunderte sich Yina erschrocken. »Man würde euch töten, denn noch ist
kein Friede geschlossen worden.« »Eigentlich hat es auch nie einen richtigen Krieg gegeben. Du hast doch einen Gedankenkontakt im Palast, wie Issola mir berichtete. Lasse durch ihn deinem König sagen, daß er uns erwarten soll, an der Küste, in einer Bucht, die ihm und dir bekannt ist.« Die Bucht der großen Steine, dachte Yina sofort. Natürlich, dort soll Dragon uns erwarten ... »Ja, ich kenne eine solche Bucht. In ihr fingen mich die Piraten, und Dragon kennt sie auch. Ich will noch heute versuchen, über Kano mit Dragon zu sprechen. Ich weiß, wie wichtig es ist.« »Ja, es ist wichtig«, bestätigte Ismena ernst. Auf der Insel entdeckten die Angreifer mehrere Bodenspalten, die ihnen groß genug erschienen. Die Mutigsten von ihnen zwängten sich hinein und kletterten in die darunter befindlichen Höhlen. Zu ihrer Überraschung fanden sie dort niemanden, nur verlassene Feuerstellen und einige notdürftige Lager aus Ziegenfell. Immer mehr Fischer kamen ihnen nach. Sie suchten nach einem Ausgang, der nicht unter Wasser lag, und nach Gängen, die zu den anderen Grotten führten. Aber dann mußten sie feststellen, daß es keine solchen Gänge gab. Als sie umkehren wollten, um ihr Glück woanders
zu suchen, hörten sie Schreie von oben aus der Erdspalte. Waffen klirrten, Männer fluchten und riefen um Hilfe. Dann wurde es plötzlich still. »Verdammt, sie haben uns in eine Falle gelockt!« sagte einer der Fischer wütend. »Nichts wie ’raus hier!« Doch dazu war es zu spät. Zuerst kam nur Sand und kleines Geröll von der Decke her auf sie herab, dann richtige Felsbrocken. Die größten von ihnen blieben in der Spalte, knapp zwei Mannslängen über dem Boden, stecken und verstopften ihn. Es wurde dunkler in der Grotte. Zwei Fischer halfen einem dritten, damit er die Decke erreichte. Das Poltern draußen hatte aufgehört. Die Tainu zogen sich ins Wasser zurück, nachdem sie sicher sein konnten, daß die Eingeschlossenen nicht entfliehen konnten. Die anderen Teilnehmer des Unternehmens saßen bereits wieder in ihren Booten und ruderten aus Leibeskräften, um sich möglichst schnell von der Insel zu entfernen. Sie wunderten sich, daß sie noch am Leben waren, obwohl eine große Übermacht der Fischmenschen sie überfallen hatte. Einer der Tainu überraschte Ismena die Erfolgsmeldung. »Es sind etwa zwanzig Landmenschen gefangen. Was soll mit ihnen geschehen?« Ismena sah Issola und Yina fragend an. »Sollen wir sie töten?« drängte der Tainu. »Sie haben
die Strafe verdient, denn viele unserer Männer mußten heute sterben.« »Das Morden muß endlich aufhören«, sagte Ismena nachdenklich. »Yina, was schlägst du vor? Sollen wir sie töten? Sollen wir sie festhalten, bis du mit König Dragon gesprochen hast? Oder sollen wir sie einfach jetzt freilassen, wenn sie uns versprechen, an ihre Küsten zurückzukehren?« Issola antwortete an Yinas Stelle: »Warum reden wir nicht mit den anderen Landmenschen in den Booten? Wir erzählen ihnen, daß wir Gefangene haben und sie freilassen, wenn sie alle abziehen und den Angriff einstellen. Damit zeigen wir ihnen unseren guten Willen.« »Der erzwungene Friede ist kein guter Friede«, gab Ismena zu bedenken. »Besser ein schlechter Friede als keiner, Mutter.« »Was meinst du, Yina?« Yina nickte Issola zu. »Wir können erst dann von hier fort nach Myra, wenn die Fischer abgezogen sind. Darum stimme ich Issolas Vorschlag zu. Ich selbst will versuchen, mit den Männern in den Booten zu sprechen.« »Ich lasse dich nicht noch einmal zu ihnen«, sagte Issola entschlossen. »Du wirst von der Insel aus mit ihnen reden, im Schutz unserer Männer. Sie haben alle Angreifer vom Land vertrieben, du bist sicher dort. Die
Felsen am Ufer bieten genügend Deckung gegen ihre Speere und Pfeile.« Ismena war einverstanden. Diesmal wählte Issola einen Ausgang, der nur eine Mannslänge unter dem Wasser einer stillen Bucht lag. Sie brauchten die Muschel nicht. Yina hielt nur wenige Sekunden die Luft an, dann schwamm sie neben Issola an der Oberfläche. Einige Tainu näherten sich von Land her. Issola rief ihnen einige Worte in der melodischen und vokalreichen Sprache der Tainu zu, dann kletterte sie über die Uferfelsen und half Yina, festen Fuß auf der Insel zu fassen. Sie folgten einem schmalen Pfad, bis sie die Boote vor der Küste sehen konnten. Die Männer in ihnen machten keinen sehr unternehmungslustigen Eindruck mehr. Yina entdeckte das Boot mit dem alten Fischer. Sie winkte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Einige Pfeile von den anderen Booten schwirrten harmlos vorbei. Die Entfernung war zu groß, aber sie reichte noch zur Verständigung aus. »He, ich bin‘s!« rief Yina, so laut sie konnte. »Ich muß euch etwas mitteilen!« »Verräterische Hexe!« brüllte jemand zurück, aber es war nicht der Alte. »Wir werden dich verbrennen, wenn wir dich erwischen.«
»Was hast du uns zu sagen?« rief der alte Fischer, und Yina konnte ihn nur verstehen, weil sie seine Gedanken hörte. »Wo sind unsere Männer geblieben?« »Gefangen. Es geht ihnen gut, und sie sind in Sicherheit. Die Tainu hätten sie alle töten können, aber wir werden sie freilassen, wenn ihr wegfahrt und nie mehr zurückkehrt. Das ist das Angebot der Fischmenschen. Wir erwarten eure Antwort.« »Wer beweist uns, daß du die Wahrheit sprichst?‘ » »Die Tat wird es beweisen. Zieht ab, und ihr könnt eure Männer mitnehmen. Laßt zwei leere Boote am Strand zurück. Sobald ihr weit genug entfernt seid, lassen die Tainu ihre Gefangenen frei. Ich verspreche es.« Es folgte eine Beratung der Fischer. Yina verfolgte sie aufmerksam durch Gedankenlesen. Der alte Mann hatte einen schweren Stand gegen seine Gefährten, aber er setzte sich durch – und er meinte es ehrlich. »Einverstanden!« rief er schließlich zur Insel herüber. »Wir bringen zwei Boote zum Strand und entfernen uns dann. Sobald die Gefangenen zu uns herauskommen, gehen wir auf Heimatkurs.« Wieder sprach er die Wahrheit. Issola gab den Tainu einige Anweisungen, dann sagte sie zu Yina: »Sie holen die Gefangenen aus der Höhle. Hoffentlich machen die keine Schwierigkeiten, denn sie
sind noch bewaffnet.« Aber alles ging gut. Die Tainu entfernten die blockierenden Felsen aus dem Erdspalt und ließen die Fischer einzeln herausklettern. Die Waffen blieben in der Grotte zurück. Sie warfen Issola und Yina erstaunte, wütende und fragende Blicke zu, aber als sie die beiden leeren Boote am Strand erblickten, begannen sie das Wunder zu begreifen. Sie rannten zum Strand, kletterten in die Boote und ruderten hastig davon, den anderen Booten nach, die draußen auf dem Meer auf sie warteten. Wenig später wurden die Segel gesetzt, und die kleine Flotte entfernte sich schnell in westlicher Richtung.
7.
Dragon sah auf, als Kano eintrat. »Hast du Nachricht von Yina? « »Eine Nachricht von Yina, ja.« Der Zwilling setzte sich. »Sie hat eine merkwürdige Bitte geäußert.« »Berichte!« »Du sollst dich morgen mittag zur Bucht der Großen Steine begeben und nur einige Vertraute mitbringen Dort sollst du Yina erwarten.«
»Bucht der Großen Steine? Ausgerechnet dort? Seltsam.« »Finde ich auch. Kennst du die Bucht?« »Natürlich kenne ich sie. Wenn wir reiten, brauchen wir erst morgen Vormittag aufzubrechen. Du kommst mit, Kim auch. Benachrichtige Partho, er soll uns begleiten. Sonst hat Yina nichts verlauten lassen?« »Nein, kein Wort. Hoffentlich ist das alles keine Falle.« Dragon lächelte. »Ich dachte immer, du könntest Gedanken lesen?« Kano zuckte die Schultern. »Kann ich auch, aber ich bin eben von Natur aus mißtrauisch.« Dragon blieb ein wenig nachdenklich in seinem Gemach zurück. An eine Falle glaubte er nicht, denn nur wenige Menschen kannten die Bucht der Großen Steine. Außerdem hätte Yina mit Sicherheit eine entsprechende Gedankenbotschaft geschickt. Wer hätte das schon kontrollieren sollen? Außer ihr, Kano und Kim gab es keinen Menschen, der noch Gedanken lesen konnte. Oder doch? Gegen Abend kam Partho, Dragons Oberbefehlshaber und Chef der Leibwachen. Er mochte die kleine »Maus« ebenfalls recht gern und war froh, daß sie den Piraten entkommen war.
»Ich werde die Reittiere bereitstellen lassen, Dragon. Ist es vielleicht nicht doch besser, wenn wir einige Krieger mitnehmen?« »Yina hat es ausdrücklich verboten.« »Die Maus hat doch nichts zu verbieten, Dragon.« »In diesem Fall müssen wir tun, worum sie bittet. Sie wird ihre Gründe haben.« »Die möchte ich aber gern kennenlernen.« »Da bist du nicht allein, mein Freund. Wir sehen uns morgen. Ich verlasse mich auf dich.« »Keine Sorge, es wird bestens für alles gesorgt.« Das ganze Unternehmen blieb geheim, auch darum hatte Yina gebeten, und als Dragon einige Stunden später im Bett lag und zu schlafen versuchte, gelang es ihm nicht. Immer wieder mußte er über das merkwürdige Verhalten Yinas nachdenken. Es dämmerte bereits, als er endlich einschlief. Auf dem Landwege, so rechnete sich Yina aus, wären es bis zur Bucht der Großen Steine vier Tagesmärsche gewesen, aber Issola versicherte ihr, daß sie nur wenige Stunden für die Strecke benötigen würden. Nach dem Abzug der Fischer wurde in einer Bucht ein kleines und ungewöhnlich leichtes Boot gefunden. Issola gab einigen Tainu Anweisung, es für die bevorstehende Reise vorzubereiten. Dann nahm sie Yina beiseite und hielt ihr die offene Hand hin, in der
ein kleiner Metallgegenstand lag. »Das ist eine Pfeife«, erklärte das Fischmädchen. »Mit ihm kannst du die Delphine herbeirufen. Sie hören den Ton auf große Entfernungen und kommen sofort. Solltest du jemals auf dem Meer in Not geraten, brauchst du nur hineinzublasen. Die Wasserbrüder, die ihr Menschen Delphine nennt, werden kommen.« Yina nahm die Pfeife und verbarg sie in ihrem Rock. »Danke, Issola. Es wird mir schwerfallen, von dir Abschied zu nehmen. Aber es muß wohl sein.« »Wir sehen uns bald wieder«, versprach Issola überzeugt. Die letzte Nacht brach an, aber noch lange bevor der Morgen graute, kamen Ismena und Issola, um die Gedankenleserin zu wecken. Sie brachten noch einige warme Ziegenfelle mit, einige Vorräte und Krüge mit frischem Wasser. Niemand begleitete sie, als sie zum Boot gingen, und jetzt erlebte Yina zum ersten Mal die Wirkung der Delphinpfeife. Issola blies hinein, und bereits Sekunden später erschienen drei der großen Fische und ließen sich willig die Zügel anlegen, die noch am Abend zuvor von den Tainu angefertigt worden waren. Die anderen Enden der Leinen wurden am Bug des Bootes befestigt. »Sie werden uns ziehen?« »Sehr schnell sogar, du wirst sehen«, sagte Issola. »Wenn du öfter an unser Ziel denkst, kann ich ihnen
stets die Richtung angeben. Ob dein König am vereinbarten Treffpunkt sein wird?« »Er wird dort sein. Kano sagte es mir.« Sie kletterten ins Boot, und dann mußte Yina sich festhalten, um nicht herauszufallen. Die Delphine zogen an. Die Bugwelle rauschte bis zum Bordrand empor, obwohl die See völlig ruhig und glatt war. Es wehte kaum ein Windhauch. Allmählich verblaßten die Sterne, und als Yina sich umdrehte, konnte sie die Insel schon nicht mehr sehen. Sie waren schneller als jedes Schiff auf dem Meer und jeder Reiter auf dem Land. In zwei Stunden legten sie leicht einen Tagesritt zurück. Als die Sonne aufgegangen war, hielt Issola die Delphine an und tauschte sie gegen andere aus. Dem Boot folgte eine ganze Herde von ihnen, und immer wieder kamen neue hinzu. Sie aßen und tranken von den mitgenommenen Vorräten. »Dort drüben siehst du bereits die Küste von Myra«, meinte Ismena. »Die Große Insel ist rechts von uns. Ich hoffe nur, daß uns niemand sieht. Der Anblick dürfte für Landmenschen recht ungewohnt sein.« Yina nutzte die Gelegenheit, Kontakt mit Kano aufzunehmen. »Du bist schon wach?« wunderte sie sich, als es endlich klappte.
»Wir reiten bald los, in drei Stunden, wo bist du?« »Auf dem Weg zur Bucht der Großen Steine.« »Das kann ich mir denken. Willst du mir nicht endlich verraten, was das alles bedeuten soll?« »Du wirst es früh genug erfahren!« »Maus!« »Ratte!« Es war wie üblich. Aber der Gedankenkontakt war so klar, als sprächen sie miteinander. Kim mischte sich ebenfalls noch ein: »Mäuschen, wir sehen uns bald wieder! Ich bin sicher, du reißt nicht so schnell wieder aus. Partho hat versprochen, dich zu versohlen.« »Der wird keine Zeit dazu haben«, prophezeite Yina belustigt. »Kommst du mit?« »Dragon, Partho, Kano und ich – die Elite des myrianischen Reiches.« Yina hatte »laut gedacht«, damit ihre beiden Begleiterinnen wenigstens die eine Seite verstehen konnten. Den Rest konnten sie sich zusammenreimen. Immerhin wußten sie nun, daß der König selbst unterwegs war, um mit ihnen zu reden. Erneut zogen die Delphine an. Sie erreichten die Bucht, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Partho, der sichernd vorangeritten war, winkte Dragon zu.
»Nichts zu sehen. Hier hat sich auch niemand versteckt. Alles leer und verlassen. Auch ein Schiff kann ich nicht sehen. Ich war oben auf den Klippen.« »Reiten wir hinab zum Sandstrand«, schlug Dragon vor. Dort angelangt, stiegen sie von den Pferden, die sofort im kargen Strandhafer zu weiden begannen. Sie setzten sich auf einer Düne in den warmen, trockenen Sand. »Dort drüben ist etwas im Wasser«, stellte Dragon plötzlich fest und beschattete die Augen, um besser sehen zu können. »Ich kann es nicht erkennen, aber ein Segler ist es nicht. Sieht mehr nach einem Boot aus, aber es hat keine Segel. Und seht ihr auch die weiße Bugwelle? Das ist unmöglich, kein Mann kann so schnell rudern.« Alle vier starrten in die angegebene Richtung, bis Partho sagte: »Ihr könnt ja ruhig behaupten, ich sei verrückt, und vielleicht würde ich es sogar selbst glauben, aber wenn mich nicht alles täuscht, kommt dort ein Boot, das von Fischen gezogen wird.« »Du bist verrückt!« entfuhr es Kim. »Kim!« warnte Dragon. Sonst sagte er nichts. Er hatte genug damit zu tun, das zu begreifen, was er nun sah. Partho war keineswegs verrückt oder einer
Sinnestäuschung zum Opfer gefallen. Von drei Delphinen gezogen und von einer riesigen Herde begleitet, bog das kleine Boot in die Einfahrt der Bucht ein und kam schnell näher. In dem Boot saßen drei Gestalten, von denen nun eine aufstand und der Gruppe am Strand zuwinkte. »Das ist Yina!« sagte Partho verblüfft. »Ich träume!« Dragon ging als erster zum Strand hinab, nachdem er seinen Begleitern einen Wink gegeben hatte. Er begann einiges zu begreifen, denn er hatte schon von den Fischmenschen gehört, ohne allerdings recht an sie glauben zu wollen. Nun verstand er auch Yinas Geheimnistuerei. Wenn es diese Fischmenschen wirklich gab, hatten sie allen Grund, Furcht vor den Menschen zu empfinden. Die Zügel wurden gelöst, die Delphine kehrten in tieferes Wasser zurück, wo sie sich mit den anderen formierten und warteten. Yina kam durch das seichte Wasser an Land gewatet. »Dragon, ich bin froh!« Sie drehte sich um. »Das sind Ismena und ihre Tochter Issola. Sie hat mich aus der Hand der Piraten befreit. Beide sind Fischmenschen – und meine Freunde.« Partho hatte sein Schwert gezogen und kam langsam näher. Die Zwillinge warteten noch ab. Dragon gab seinem Hauptmann einen Wink.
»Steck das Schwert ein, Partho. Wir haben Gäste, sehr willkommene Gäste.« Er verneigte sich vor den beiden Tainu. »Seid willkommen in Myra. Wollt ihr das Boot nicht verlassen?« Ismena stieg als erste aus, dicht gefolgt von Issola. Ihre Gesichter drückten noch immer Furcht aus, aber sie vertrauten Yina, die nun Partho und die Zwillinge begrüßte. Dragon führte die beiden Fischmenschen zur Düne und bat sie, Platz zu nehmen. Ehe er eine Frage stellte, ließ er Yina berichten. Sie hörten alle zu, ohne sie zu unterbrechen. Partho ließ die beiden Fischmenschen nicht aus den Augen, aber aus seinem Mißtrauen wurde allmählich Neugierde. Besonders Issola gefiel ihm gut. Er ahnte noch nicht, daß sie seine Gedanken lesen konnte, und als er es wenig später erfuhr, wurde er richtig verlegen. Yina schloß ihren Bericht: »Dragon, Ismena ist die Stammesmutter der Tainu und damit ihre Führerin. Sie ist zu dir gekommen, um den ewigen Frieden zwischen ihrem und unserem Volk zu erbitten. Kannst du ihr helfen?« Dragon überlegte keine Sekunde. »Der Friede zwischen dem Volk von Myra und dem Volk der Tainu wird zum Gesetz«, sagte er. »Niemals mehr wird ein Fischer einen Tainu töten, wenn er nicht selbst mit dem Tode bestraft werden will. Auch die
Delphine werden unter Schutz gestellt werden und dürfen nicht mehr gejagt werden. Ist es das, was du willst, Ismena?« Sie streckte ihm beide Handflächen entgegen, die er mit den seinen berührte. »Ja, es ist der Friede zwischen unseren Völkern, den die Tainu seit vielen Hunderten von Sonnen suchten. Es wird die Zeit kommen, in der die Landmenschen unserer Hilfe bedürfen, und wenn sie den jetzt und hier geschlossenen Frieden gehalten haben, werden wir ihnen die erhoffte Hilfe nicht versagen. Wir haben viele gemeinsame Feinde.« Dragon nickte. »Ihr habt mein Wort, Ismena und Issola, daß von nun an Friede zwischen uns herrschen wird. Und bald werden wir eure Abordnung offiziell in meinem Palast empfangen. Wir freuen uns darauf.« Kano und Kim hatten Holz gesammelt und ein Feuer angezündet. Das war alles, was sie im Augenblick tun konnten, aber sie hatten festgestellt, daß auch die beiden Fischmenschen Gedanken lesen konnten. Partho sah ununterbrochen Issola an, der seine heimlichen Gedanken allmählich peinlich wurden. Dragon bemerkte es und sagte trocken: »Partho, kannst du immer nur an das eine denken?« Der Hauptmann sah Dragon verblüfft an. »Seit wann kannst du Gedanken lesen?«
»Das ist nicht nötig, Partho, dein Gesichtsausdruck genügt.« Issola erhob sich lächelnd. »Er ist ein Mann, König Dragon, und ich bin, so glaube ich, nicht gerade häßlich. Zürnt ihm also nicht. Seine Gedanken sind ehrlich, das ist die Hauptsache. Lebt wohl – und vielen Dank für den Frieden, den ihr uns geben wollt.« Auch Ismena verabschiedete sich und stieg ins Boot. Issola pfiff die Delphine herbei, die sich willig einspannen ließen und das kleine Schiff aus der Bucht zogen. Yina, die bewegt Abschied von ihrer Freundin Issola genommen hatte, stand ein wenig abseits und winkte, bis die Tainu um das Kap bogen. Gesenkten Hauptes kehrte sie zu Dragon und den anderen zurück. »Nun bin ich wieder bei euch«, sagte sie einfach. Dragon schloß sie in die Arme. »Und du hast etwas Großes vollbracht, Maus. Du hast bewirkt, daß zwei Völker Frieden schlossen. Das werden wir dir nie vergessen. Ich werde das neue Gesetz noch heute ausarbeiten und morgen verbreiten lassen. Todesstrafe für jeden, der einen Tainu umbringt oder auch nur fängt. Die Delphine werden vom Fang ausgeschlossen werden. Für mich ist jeder ein Freund, der den Frieden will.«
Partho nahm Yina vor sich aufs Pferd, als sie aufbrachen. Etwas zögernd meinte er: »Sie ist sehr hübsch, deine neue Freundin. Sie würde mir schon gefallen.« Yina sagte mit ausdruckslosem Gesicht: »Sie hat schon einen Tainu für sich ausgewählt, Partho. Außerdem ist sie Gedankenleserin. Ich auch, daher weiß ich, was du gedacht hast, als du sie ständig anblicktest. Du solltest dich schämen.« Der Hauptmann war so verblüfft, daß er eine Stunde lang schwieg. ENDE Während die Tainu, bislang von allen Landbewohnern gnadenlos verfolgt und gejagt, im Schutze Myras endlich eine neue, relativ sichere Wohnstätte gefunden haben, entbrennt auf der Schlangeninsel, dem Reich König Jellis‘ und der Bruderschaft, ein Streit der Mächtigen und der Angriff gegen Myra wird vorbereitet. Mehr zu diesem Thema berichtet Hugh Walker im nächsten Dragon-Band. Der Roman trägt den Titel: DER SCHLANGENGOTT