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HANS ERNST
Die Wildreuterin
ROMAN Lizenzausgabe mit Genehmigung des Rosenheimer Verlagshauses Rosenheim, C. 1966 R...
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HANS ERNST
Die Wildreuterin
ROMAN Lizenzausgabe mit Genehmigung des Rosenheimer Verlagshauses Rosenheim, C. 1966 Rosenheimer Verlagshaus Alfred Lörg, Rosenheim Schutzumschlag: Heinrich Mavr Gesamtherstellung: Wiener Verlag
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Der Herbsttag lag mit vollem Glanz über Berg und Tal. Am Himmel zogen sanfte weiße Wolken dahin und sahen sich ganz verloren an in dem unendlichen Blau. Bussarde zogen ihre Kreise, und Marienfäden schwammen durch die Luft. Hoch droben am Rain der großen Hangwiese saß im Schatten des dort beginnenden Waldes ein sechzehnjähriges Mädchen. Vor ihr weidete die große Rinderherde des Ramschederbauern von Krießlach, die sie zu hüten hatte. Das schmale Gesicht mit den großen dunklen Augen, die etwas Schwermütiges ausströmten, wirkte noch kindlich und unfertig. Ihre Zöpfe, goldfarbig wie ein Weizenfeld in der Mittagsglut, hingen ihr beidseitig über die schmalen Schultern herunter. Ganz unbeweglich saß sie da, hatte die Geißelschnur um die aufgezogenen Knie geschlungen und sah auf das Dorf hinunter, dessen Schindeldächer nur spärlich aus dem Laub der vielen Obstbäume herauslugten, die schon in bunten Herbstfarben leuchteten. Hinter dem Dorf zog sich die weiße Landstraße in vielen Windungen dahin, berührte einmal ganz nahe den Gutshof Wildreut auf der anderen Höhe über dem Dorf und verlor sich dann weiter hinten in einem Buchenwald. In dem Hemd von ungebleichtem Leinen und dem kurzen wollenen Rock sah das Mädchen ein bißchen wild aus. Zwischen den Zehen lag Staub, grauer, ganz gewöhnlicher Straßenstaub. Auffallend an ihr waren nur die schönen, schlanken Hände, an deren Innenflächen sich freilich von der harten Arbeit Schrunden und Risse zeigten. Ja, beim Ramscheder wurde diesem Mädchen nichts geschenkt. Sie hieß mit dem Vornamen Helene. Aber niemand nannte sie so. Man rief sie kurz Leni oder noch härter: Lenn. Sie war ein Waisenkind und war einmal von durchreisenden Komödiespielern zurückgelassen worden. Sehr zum Ärger der Gemeinde Krießlach, die das Kind bald dahin und bald dortig schubste, bis es dann mit zwölf Jahren, weniger aus Barmherzigkeit, sondern mehr aus Berechnung, der Ramschederbauer auf seinen Hof 3
nahm. Für den Bauern hatte sich das gelohnt, denn er bekam im Monat zwanzig Mark von der Fürsorge und spannte die Kleine recht tüchtig in die Arbeit ein, die Sonne stand schon etwas schräg. Die Fichten warfen ihre Schatten ziemlich weit über die Hangwiese, als Helene weit drüben bei der Landstraße eine Staubwolke aufsteigen sah. Es dauerte aber noch eine Weile, bis sie erkannte, was da daherzog. Voraus wurde von zwei Braunen ein grellbemalter Wohnwagen gezogen, an den noch ein kleiner Plachenwagen angehängt war. Dann folgten nochmals drei Wohnwagen, und hinter allem hob sich wie eine Rauchsäule der Staub der Landstraße auf. Immer näher kamen die Gespanne an das Dorf heran. Im Dorf hörte man das Klappern der Pferdehufe und das Rattern der Räder bis zum Waldrand herüber. Dann verstummte es. Die Gespanne schienen vor dem Gasthof »Zur Post« gehalten zu haben. Helene dachte an einen Zirkus, wie sie zuweilen durch das Land zogen, in den Dörfern eine Vorstellung gaben und am anderen Tag weiterzogen, Nomaden der Landstraße, hinter denen sich wieder der Staub aufhob und hinter denen hergeschimpft wurde, weil da ein Huhn abging oder dort vielleicht ein Sack voll Hafer. Vom Kirchturm schlug es die vierte Nachmittagsstunde. Der Wind wehte kühler von den Bergen herab, und die weißen Wölkchen bekamen an ihren westlichen Rändern schon rötlichen Glanz, als Helene plötzlich zusammenschreckte, weil sie hinter sich ein Geräusch gehört hatte. Im gleichen Augenblick schon warf sich ein schlaksiger Bursche neben sie ins Gras und griff nach ihr. Das war Franz Bergmann, der junge Praktikant vom Gutshof Wildreut. In seinem sommersprossigen Gesicht funkelten die begehrlichen Augen und dann der Ärger, weil sich das Mädchen mit einem leisen Schrei zur Seite warf und ihm entwischen wollte. Aber er war schneller und auch viel kräftiger. Seine Hände hielten sie eisern fest. »Stell dich doch nicht so an, du dumme Gans«, zischte er. 4
»Geh weg, mir graust vor dir!« »Das hast du grad nötig! Wer bist du denn schon?« »Weniger als niemand«, stöhnte sie. »Na also, sei doch gescheit!« Wieder wollte er nach ihr greifen, als er plötzlich vom Wald herunter Stimmen vernahm. Es waren ein paar Holzknechte, die ihre arbeitsreiche Woche beendet hatten und übers Wochenende vom Berg herunterkamen. Mit einem schnellen Sprung verschwand Bergmann in den Stauden. Später dann, als die Holzknechte schon vorüber waren, sah sie ihn nochmals kurz drunten über die Bachbrücke gehen und dann über den jenseitigen Hang hinaufeilen, auf Gut Wildreut zu, über dessen weite Gebäude sich schon das Gold der sinkenden Sonne ergoß. Dieses mächtige Gut mit seinen Wiesen, Feldern und Wäldern gehörte Baron von Haff, dem die Frau vor einigen Jahren gestorben war und dessen beide Söhne sich in der Welt herumtrieben. Der alte Mann, den man zuweilen, schlohweiß im Haar, über die Felder reiten sah, bewirtschaftete das Gut so recht und schlecht und offenbar unter der Devise : Für mich langt es, und nach mir die Sintflut. Etwas abseits von den Gutsgebäuden lag zwischen alten Eichenbäumen eine weiße Villa mit einem etwas niedrigeren Seitenflügel, an dem fast das ganze Jahr über die Läden geschlossen waren. Nur einmal, im Spätherbst zur Treibjagd, herrschte auch dort reges Leben. Für Helene war dieser Herrschaftssitz da droben eine verzauberte Welt, das Unerreichbare für ihr armseliges Leben. Sie durfte nur ihre Träume daran verschwenden und eine blühende Märchenwelt daraus fabulieren. Auf diesem Gut nun war Franz Bergmann Volontär oder Praktikant, wie man ihn nannte. Er stellte den Mädchen des Dorfes nach und benahm sich geradeso, als sei er der Herr da oben auf Wildreut, der alles unter seinen Willen zwingen könnte. Es war heute nicht das erstemal, daß er Helene so brüsk überfallen hatte, und einmal trug er über drei Wochen hin, deutlich sichtbar, die 5
Spuren ihrer Fingernägel in seinem Gesicht. Aber vielleicht reizte ihn gerade ihre Ablehnung so, wo er doch dachte, daß sie so etwas wie Freiwild wäre. Ein hinterlassener Komödiantenbalg, der sich gar nicht so zimperlich anzustellen brauchte. Auf dem Kirchturm schlug es jetzt die fünfte Stunde. Die Schatten waren noch länger und die Luft kühler geworden. Auf der anderen Seite drüben sah man jetzt die Gespanne von den Feldern auf den Gutshof zurückkehren. Vereinzelt sah man auch den grauen Rauch eines Kartoffelfeuers aufsteigen. Helene stand jetzt auf, lockte ihre Kühe zusammen, um sie heimzutreiben. Es war eine stattliche Herde, die da nun über den Hang und dann durchs Dorf zog. Die Rinder wußten den Weg zum Ramschederhof von selber, und Helene brauchte bloß hintendreinzugehen. Im Hof des Gasthofes »Zur Post« waren die Wohnwagen zu einer Wagenburg aufgefahren. Neugierig spähte Helene hinüber und sah dabei, daß es sich nicht um einen Zirkus handelte, sondern um eine Theatertruppe Kollmann. Der Name stand groß und grell auf der Seitenwand der Wagen. Im Weitergehen sah sie dann beim Schneeberger einen jungen Mann, der mit Reißnägeln ein Plakat an das Scheunentor heftete. Helene blieb stehen und las, daß morgen, am Sonntagnachmittag um drei Uhr »Genoveva« und am Abend um acht Uhr das Trauerspiel »Kabale und Liebe« gespielt würde, wozu die hochverehrte Einwohnerschaft von Krießlach herzlichst eingeladen sei. Der junge Mann war etwas salopp gekleidet, hatte langes Haar und eine breite Seidenschleife um den Hemdkragen geschlungen. Er hatte das Plakat jetzt befestigt und drehte sich um. Seine Augenbrauen zogen sich hoch, sein Mund lächelte. »Donnerwetter!« sagte er staunend. »Gibt es hier mehr so blühende Geschöpfe?« Helene wurde brennend rot. Dieser junge Mann war offenbar Schauspieler, für ihre Begriffe ein begnadeter Mensch. Aber er 6
hatte sich nicht gescheut, das Wort an sie zu richten, an sie, die kleine bedeutungslose Kuhmagd, die mit nackten Füßen im Staub der Straße stand und die Welt um sich vergessen zu haben schien. Ein blühendes Geschöpf hatte er sie genannt. Und jetzt sagte er freundlich: »Kommt das kleine Fräulein morgen auch in die Vorstellung?« »Ich hab ja kein Geld«, seufzte Helene. Der junge Mann machte zuerst ein mitleidiges, dann ein gönnerhaftes Gesicht, sah Helene mit einem tiefen Blick, von ganz unten herauf an und sprach mit Pathos: »Darüber ließe sich reden. Ein paar Freikarten hab ich immer zur Hand. Ich werde eine davon an der Kasse hinterlegen. Du mußt mir nur deinen Namen sagen, schönes Kind.« »Helene«, flüsterte sie. Er verbeugte sich galant und nannte seinen Namen. Horst Eckmann hieß er. Plötzlich fuhr Helene erschrocken herum. Die Herde war inzwischen weitergetrottet, und die ersten Kühe hatten schon den Hof erreicht. Sie begann zu laufen. Der Ramscheder stand bereits unter der Haustüre und polterte grob: »Mußt du Maulaffen feilhalten, du Dotschen, du damischer, und die Küh allein heimlaufen lassen! Das werd ich dir noch austreiben.« Aber merkwürdig. Das tat heute gar nicht mehr so weh. Sie fühlte sich wie von einer unsichtbaren Hand herausgehoben aus allem Schimpf und allem Staub. »Schönes Kind« hatte sie der junge Mann genannt und: »Blühendes Geschöpf...« Sie sprang über den Hof und verschwand im Stall. Ein paar Stunden später dann, als sie in der großen Stube beim Abendessen saßen, sagte der Ramscheder so beiläufig: »Daß ihr mir heut alle Türen gut zusperrt! Ist ja schon wieder einmal so ein Komödiantengesindel im Dorf.« Helene hätte aufschreien mögen vor Empörung. Aber was hätte ihr das bedeutet, es hätte ihr höchstens wieder einmal eine schal7
lende Ohrfeige eingetragen. Nur eine von den Mägden streichelte mitleidfühlend ihren Arm. Der Bauer aber stand vor dem Spiegel und band sich eine Krawatte um den Hemdkragen, denn es war Samstag, und er ging noch zum Bier wie jeden Samstag, wo er dann auch gleich das Sonntagsfleisch mit heimnahm. Der Ramscheder war ein großer, breitschultriger Mann, ziemlich korpulent, mit einem feisten, glattrasierten Gesicht. Die grauen, mitleidslosen Augen verschwanden fast hinter dicken Tränensäcken, sein braunes, kurzgeschnittenes Haar war in die Stirne hereingekämmt. Er hatte die Krawatte jetzt gebunden und knöpfte die Weste mit den Silberknöpfen ein. Dann hob er den massigen Schädel und sah über die Schar derer, die um den großen Ecktisch saßen. Das waren drei Knechte, zwei Mägde, die Bäuerin und seine siebenjährige Tochter Klara. »’s Fleisch wie immer?« fragte er knapp. Die Bäuerin, klein und mager und schon recht grau an den Schläfen, nickte. »Bloß das Rindfleisch nicht mehr so fett wie letztes Mal.« »Für dich nehm ich dann vom Brustkern, das ist wenigstens um zwanzig Pfennig teuerer«, antwortete er spöttisch. Seine Stimme war auffallend hell und wirkte unsympathisch in Anbetracht seiner Körpergröße. Dann schlüpfte er in die Joppe und setzte den Hut auf. »Also nicht vergessen: Heute besonders gut absperren, wegen der Komödianten.« Thomas, der Oberknecht, hob den Kopf. »Bei uns wird jeden Tag abgesperrt.« Um den Mund des Bauern zuckte es, aber er verschluckte, was er sagen wollte. Ein guter Knecht war um diese Zeit nicht mehr so leicht aufzutreiben. Als der Ramscheder die Stubentüre hinter sich geschlossen hatte, schob sich die Klara aus der Bank und rannte ihm nach. Draußen im Flur erwischte sie ihn und hing sich an sein Hosenbein. 8
»Vater, darf ich der Lenn heute wieder eine runterhaun?« Der Riese sah auf das schmächtige Ding, das seine Tochter war, abwägend herunter. Dieses kleine schwarzhaarige Dirndl war sein Einundalles. Ihr konnte er keinen Wunsch abschlagen, auch diesen Wunsch nicht. Er drückte sie an sich. »Das mußt aber in Zukunft schlauer anpacken. Da mußt sie so lang ärgern und reizen, bis sie zuerst zuhaut. Dann zahlst es ihr aber anständig zurück.« Die Kleine nickte ganz begeistert. »Ich speib sie an, dann wird s’ narrisch!« Der Bauer nickte und trat aus der Haustüre. »Heut hat sie sich sowieso ein paar verdient. Läßt der Dotschen die Küh allein heimlaufen und stellt sich vor so einen Zigeuner hin.« »Das zahl ich ihr heim!« kicherte die Kleine und huschte in die Küche, spie der Helene, ohne dabei etwas zu sagen, ins Gesicht und wollte schon weiterspeien, als sie von der Bäuerin hart am Arm gepackt wurde. Die Klara stampfte und schrie und schlug um sich. »Der Vater hat’s mir erlaubt.« »Dem Vater könnt auch was Gescheiteres einfallen«, sagte die Bäuerin und brachte die Strampelnde hinaus. Ja, die Bäuerin nahm Helene manchmal in ihren Schutz, obwohl ihr in diesem Hause neben dem polternden, mächtigen Mann keine allzu große Macht gegeben war. Jedenfalls war sie gerecht, und Helene dankte ihr diese Gerechtigkeit mit Treue und Fleiß. Heute aber empfand sie die Demütigung durch Klara gar nicht so schmerzhaft wie sonst. Irgend etwas Frohes hatte sie ergriffen, und sie wußte, daß sie morgen in diese Theatervorstellung gehen würde, und wenn sie sich aus dem Haus stehlen müßte. Lange fand sie in dieser Nacht keinen Schlaf. Sie lag hellwach in der Kammer, die sie mit der anderen Magd, der Ursula, teilen mußte. Wenn sie von ihrem Bett aus durch das kleine Fenster sah, konnte sie die Sterne blitzen sehen. Sie hörte das feine Geigenlied 9
des Windes, hörte den Bach plaudern und den Brunnen plätschern. Alles schien ihr auf einmal viel vertrauter zu sein, und sie wußte, was sie in dieser Nacht so selig fühlte, bei Tag konnte es nicht ihr Besitz werden. Immer wieder mußte sie an die Wohnwagen denken im Garten des Postwirts. Und sie mußte an den jungen Mann denken, der die Plakate angebracht und sich ihr als Horst Eckmann vorgestellt hatte. Und je mehr sie sich mit dieser verzauberten Welt der Wohnwagen befaßte, desto unruhiger wurde sie, und sie mußte denken, daß auch sie vielleicht einmal in so einem Wohnwagen gelebt hatte. Freilich wußte sie das nicht mehr. Sie konnte sich auch an ihre Eltern nicht mehr erinnern. Sie war aus dem Nest gefallen, wie ein kleiner Vogel, und die Spur in jene Theaterwelt hatte sich verloren. Jetzt aber stand ganz mächtig etwas in ihr auf, ein Verlangen, eine Sehnsucht und der Glaube, daß auch in ihr Theaterblut war, ein verborgenes Talent vielleicht, das nur geweckt und ins Licht gehoben werden müßte. Sie hörte die Stundenschläge der Kirchenuhr, und es hatte längst Mitternacht geschlagen, als sie endlich einschlief. Aber ein paar Stunden später wurde sie bereits wieder aus der Tiefe des Schlafes durch das schrille Bimmeln des Weckers geweckt. Das war um vier Uhr in der Früh. Gähnend und schlaftrunken rekelte sich die Ursula aus ihrem Bett und sagte verdrossen: »Lenerl, auf geht’s wieder!« Ja, das war Helenes Tag. Um vier Uhr aufstehen und in den Stall gehen. Hernach, weil ja heute Sonntag war, mußte sie in die Kirche gehen, anschließend in die Sonntagsschule, heim zum Essen, hernach Christenlehre und dann wieder Kühe hüten bis zum Abend. Das war ihr Leben, von dem der Ramscheder sagte, daß sie Gott dafür danken müsse, vor allem dafür, daß er sie in sein Haus genommen habe und seine Hand schützend über sie hielte. Mit schönem Hall läuteten die Glocken von Krießlach zum Hochamt, als Helene schnellen Schrittes durch das Dorf ging, weil sie schon wieder einmal höchste Zeit hatte. Feiertagsstill lagen 10
die Höfe beiderseits der Straße. Nur beim Angerer stand die Stalltüre weit offen, und ein Knecht lehnte faul unter der Tür, rauchte eine Zigarette und schaute zu dem glasblanken Himmel auf, der sich wie ein Baldachin über den Bergen spannte. Beim Loferer, dem einzigen Kolonialwarengeschäft im Ort, war der eiserne Rolladen heruntergelassen, und hinter den Pflanzgartenzäunen blühten die Astern noch in üppiger Pracht. Heute trug Helene ein dunkles Gewand von bäuerlichem Schnitt. Es hing ihr etwas locker um den mageren Körper, kein Prunkstück gerade, das Werk einer alten Störnäherin, die zweimal im Jahr auf den Ramschederhof kam, um für die Mannsleute Hemden, für die Frauen Spenzer und Röcke zu nähen. Bei der Lenn ging das nicht so genau, für sie wurde meist aus Altem etwas Neues fabriziert, aus einem alten Mantel der Bäuerin zum Beispiel ein Sonntagsgewand. Beim Postgarten verhielt sie den Schritt. Die Theaterwagen standen geduckt unter den alten Kastanienbäumen. Zuweilen fiel so eine braunschillernde Kugel aus dem Laub und klopfte auf das Dach der Wagen. Bei einem stieg Rauch aus einem dünnen Eisenrohr. Wahrscheinlich wurde da drinnen Kaffee gekocht. Helene hätte viel darum gegeben, nur einen Blick hineinwerfen zu dürfen. Aber es rührte sich nichts, keine Hand ward sichtbar, die ihr zugewinkt hätte. An einer Schnur, die von einem Wagen zum anderen gespannt war, hingen Kinderwindeln. Ein schwarzgescheckter Kater strich um die Wagen herum, und der Hund vom Postwirt lag schläfrig in der Sonne. Aber nirgends ward der junge Mann von gestern abend sichtbar, daß sie ihn nochmals hätte fragen können, ob er das ernst gemeint habe mit den Freikarten. Dafür stand Franz Bergmann, der Praktikant, beim eisernen Tor an der Friedhofsmauer, zog verwundert die Augenbrauen hoch und flüsterte: »Donnerwetter, du hast dich ja heute ganz hübsch rausgemacht! Bist du nachmittags wieder am Waldrand droben?« 11
»Nein, heute nicht«, log Helene und huschte schnell an ihm vorbei. Aus der Kirche tönte bereits Orgelklang, und der Pfarrer schritt soeben mit den Ministranten aus der Sakristei zum Altar. Heute war Helene mit wenig Andacht dabei. Immerzu mußte sie an die Wohnwagen im Posthof denken und an den jungen Mann mit der versprochenen Freikarte. Und weiterhin mußte sie über sich selber nachdenken und an ihr Leben, das der Ramscheder mit scheinheiliger Biedermannsmaske in seine Hände genommen hatte, und der immer so tat, als hätte er damit ein Werk der Barmherzigkeit vollbracht. Wie ganz anders wäre ihr Leben verlaufen, wenn ihre Eltern nicht verstorben wären. Sie hatte ihre Eltern nie gekannt, sie wußte nur, daß beide tot waren, und dem Ramscheder hatte es immer eine teuflische Freude bereitet, ihr das Bild der Eltern in den schwärzesten Farben auszumalen. Sie waren fahrende Leute, Komödiantengesindel, Zigeuner. Merkwürdig, daß ihr all das heute durch den Kopf ging. Nur weil da plötzlich in Krießlach eine Theatergesellschaft aufgekreuzt war. Nach der Kirche, als Helene zaghaft am Posthof vorbeischlich, war schon mehr zu sehen. Zwar konnte sie auch nur zwischen den Köpfen der vielen Neugierigen vorbeilugen, die am Zaun des Wirtshausgartens standen. Aber sie sah nun die Fenster an den Wagen weit geöffnet, auf der Treppe des einen Wagens saß eine Frau mit großen, runden Ohrringen und schälte Kartoffeln. Aus einem Fenster sah ein hübsches schwarzhaariges Mädchen, die Ofenrohre rauchten, der Herr Direktor ging hemdsärmlig, eine Virginia im Mundwinkel, die Front der Wagenburg auf und ab, und auf einen Husch sah sie auch den jungen Mann von gestern abend auftauchen. Im Hintergrund sangen ein paar Kinderstimmen, und ein paar Männer trugen Theaterrequisiten über den Hof in den Saal hinauf. Im Nebenzimmer des Postgasthofes war so eine Art Vorverkauf eingerichtet. Man bekam dafür die Karte um zwanzig Pfennig billiger. Aber Helene hatte selbst dieses wenige Geld nicht, doch sie war fest entschlossen, am Abend die Vorstellung zu besuchen, 12
und wenn sie sich hineinstehlen müßte! Irgendwie würde es schon gehen. Beim Mittagessen wurde von nichts anderem gesprochen als von dem Theater. Der Ramscheder sagte zwar »Schmiere«, gab aber seiner Tochter Klara bereitwillig Geld für den Besuch der Nachmittagsvorstellung. Die Monika wagte schüchtern einzuwerfen, daß sie für die Helene gerne die Kühe am Nachmittag hüten werde, damit das Mädel auch in die Vorstellung gehen könnte, aber der Ramscheder wehrte brüsk ab. »Die soll nur ihre Küh hüten, sonst wachsen ihr bloß Flausen in den Kopf.« Nun erst beschloß Helene endgültig, sich am Abend aus dem Haus zu stehlen, um sich »Kabale und Liebe« anzusehen. Der Nachmittag war noch schöner als der gestrige. Nicht eine einzige Wolke schwamm im Blau des Himmels, und die Luft stand fast still über den träumenden Tannen. Sie sah von ihrer Höhe aus, wie die Menschen in den Postwirtsgarten hasteten und dann über die Seitenstiege hinauf im Saal verschwanden. Nach zwei Stunden kamen sie wieder. Die Vorstellung schien zu Ende zu sein. Noch zwei Stunden mußte Helene hier heroben ausharren, zu Nichtstun verurteilt und doch nicht zugänglich dem Frieden, der rings um sie herrschte. Nur einmal zogen ein paar Rehe aus dem Dickicht, äugten mit blitzenden Lichtern umher und zogen dann äsend mitten unter die weidenden Kühe hinein. Ganz zutraulich waren sie, als wüßten sie, daß ihnen von diesen Kreaturen nichts geschehen würde und auch von der Hirtin nicht, die mit ihren Gedanken weit, ganz weit weg war. Auf einmal sah sie im Glanz der schönen Sonne einen Menschen auf der Feldstraße daherwandern. Jetzt bog er ab und schritt quer über den Hang herauf auf den Wald zu. Wenn er die Richtung beibehielt, mußte er direkt auf Helene stoßen. Eine merkwürdige Unrast erfaßte sie auf einmal, denn sie erkannte den jungen Mann wieder, der gestern die Plakate angebracht 13
hatte. Horst Eckmann hieß er doch wohl. Merkwürdig, daß sie sich den Namen so gut gemerkt hatte. Innigst hoffte sie, daß er die Richtung beibehalten möge, und als er trotzdem nach rechts auswich, hob sie die Hand und winkte. Jawohl, die schüchterne, allem Leben so fernab stehende Helene hob die Hand und winkte, bis er es merkte. Zuerst blieb er verdutzt stehen, dann schwenkte er ab und ging auf sie zu. Langsam dämmerte auch in ihm das Erkennen wieder. Wie ein junger Fürst hob er theatralisch das Haupt, neigte es dann und legte dabei die Hand aufs Herz. »Kann ich meinen Augen trauen? Die kleine Hirtin von gestern?« Das Lenerl schluckte nur, hatte ganz große Augen und brachte keinen Ton heraus. Wie schön seine Stimme klang, wie eine Melodie, und ganz warm und gütig. Da nahm sie allen Mut zusammen und flüsterte: »Du hast mir doch eine Freikarte versprochen.« »Hab ich? Ja, das kann sein.« Er griff in seine Jackentasche, die einen schwarzen Samtkragen hatte. »Da hab ich noch eine, dritter Platz allerdings nur mehr. Aber« – er hielt die Karte mit zwei Fingern hoch, so wie man einem Hunderl ein Zuckerstückchen hinhält – »was krieg ich dafür?« Errötend gestand Helene. »Ich hab ja nichts.« »Doch, doch. Du hast mehr zu verschenken, als du vielleicht weißt. Einen süßen roten Mund zum Beispiel.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte zag. »Den kann ich doch nicht herschenken. Der ist ja angewachsen.« Horst Eckmann lächelte gerührt. Er war kein Don Juan im eigentlichen Sinne, ein kleiner Schwärmer nur, der mit Pathos redete. »Welch göttliche Unschuld! Du brauchst mir doch deine Lippen nicht zu schenken, nur leihen zu einem Kuß.« »Das kann ich doch nicht.« »Nichts erlernt man so leicht, wie das. Und weil es mir darauf nicht ankommt, ich will es dich gerne lehren. Aber damit du nicht 14
gleich erschrickst«, er deutete mit dem Finger an seine Wange. »Bitte sehr, nur ganz leicht zunächst.« Träumerisch rauschte der Wald in einem Windhauch. In den Zweigen hörte man ein paar Meisen. Es war eine herrliche Stunde. Mit tiefem Glanz in den Augen sah Helene den jungen Menschen an, an dem alles so fein und ausgeglichen war, keine Gier in den Augen, kein Zucken um die Mundwinkel, nur ein leises Bitten in seinem Blick. Schnell neigte Helene sich vor, küßte ihn ebenso schnell auf die angedeutete Stelle und zog sich errötend zurück. Feierlich überreichte er ihr daraufhin die Karte. »Hier nimm und freue dich! Aber du mußt nach der Vorstellung ein wenig warten. Mußt mir doch sagen, wie es dir gefallen hat.« Helene neigte den Kopf. Ihr kam das vor wie ein Befehl, dem sie gehorchen mußte. Sie saßen recht still nebeneinander, und einmal streichelte Helene sogar ganz zaghaft über seine Hand. Sie bat ihn, noch ein wenig bei ihr zu bleiben. In seiner Nähe, das fühlte sie, brauchte sie keine Angst zu haben. Und wenn jetzt Franz Bergmann auftauchte, hätte sie einen Beschützer. Die Schatten begannen schon zu wachsen. Doch durch die Lücken der Fichtenwipfel sah der Himmel mit hundert blauen Augen auf sie nieder. Die Herdenglocken läuteten mit dem sinkenden Abend etwas lauter. Ihr Echo warf sich in die träumende Stille des Waldes und kam daraus zurück. Endlich war es soweit, daß Helene die Herde heimtreiben durfte. Sie ließ sich während des ganzen Abends nichts anmerken, stand immer noch in ihrem Stallgewand da, als die anderen schon fortgingen ins Theater. Erst dann rannte sie in die Kammer hinauf, riß die ärmlichen Fetzen herunter, zog das Beste an, was sie hatte, und verließ heimlich durch die hintere Stalltüre den Hof. Die Dunkelheit, die um diese Zeit um acht Uhr schon herrschte, verschlang sie rasch. Ungesehen kam sie auch in den Postsaal, zeigte einer dicken Frau an der Kasse ihre Freikarte und nahm dann auf der hintersten Bank Platz. Gleich darauf läutete schon eine Glo15
cke, die Lichter im Saal gingen aus, und langsam rollte der Vorhang von unten nach oben hoch. Mit leuchtenden Augen saß sie da und getraute sich kaum zu atmen. In erregter Spannung verfolgte sie den Vorgang auf der Bühne, und als dann Ferdinand auftrat, erkannte sie in ihm den jungen Burschen wieder, der am Nachmittag bei ihr gesessen und dem sie es zu verdanken hatte, daß sie jetzt dieses Wunder erleben durfte. Täuschte sie sich, oder war es wirklich so, daß er jetzt den Blick von seiner Partnerin weg ins Dunkel des Zuschauerraumes richtete, als suchte er sie und wollte nur für sie die Worte sprechen: »Ich will mich zwischen dich und das Schicksal werfen, empfangen für dich jede Wunde – empfangen für dich jeden Tropfen aus dem Becher der Freude – und dir ihn bringen in der Schale der Liebe – daß nur die Liebe die letzte Hand an die Seelen legt -« Niemals hatte sie solche Worte vernommen. Sie erschauerte und dachte, wie dunkel und schwingend seine Stimme sei. Ganz anders als am Nachmittag. Und auf einmal war ihr, als spiele der junge Mensch in seiner schimmernden Uniform überhaupt nur für sie. Alles nur mehr für sie, das kleine Hirtenmädchen mit der armseligen Kindheit. Für sie war das nicht mehr Theater, sondern gelebtes Leben, und als Ferdinand in seinem Irrglauben an Luises Liebe das Gift in die Limonade warf, da schrie sie erschrocken auf: »Tu’s nicht, tu’s nicht!« Als dann der Vorhang zum letztenmal sich senkte, da konnte Helene keine Hand zum Beifall rühren. Zu erschüttert war sie. Sie merkte kaum, daß die Menschen den Saal verließen, ganz still, zitternd und mit Tränen saß sie in ihrem verborgenen Winkel und konnte sich nicht rühren.
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Plötzlich stand der junge Mann vor ihr. Er war bereits abgeschminkt, hatte seine Lockenpracht und die Uniform abgelegt und lächelte ein bißchen. »Es ist schön, daß du auf mich gewartet hast«, sagte er zu ihr. Langsam hob Helene die nassen Augen zu ihm auf. »Ich hab es doch versprochen.« »Ja, und was man verspricht, muß man halten.« Er faßte sie bei der Hand. »Komm, Mädchen, die Nacht draußen ist so schön. Ich darf dich doch heimbegleiten. Sag, habe ich dir gefallen?« Sie nickte lebhaft. »Wenn ich doch bloß mit euch kommen könnte.« »Mit uns kommen? Stell dir das nur nicht so einfach vor. Was möchtest du denn bei uns?« »Auch so spielen wie ihr.« Horst Eckmann lachte und griff ihr unters Kinn. »Das hat schon manche versucht und hat nicht durchgehalten.« »Ja, aber bei mir müßte es im Blut liegen. Meine Eltern waren auch vom Theater.« Horst Eckmann war plötzlich interessiert. »Wie haben denn die geheißen?« »Stay.« In diesem Augenblick erschien Direktor Kollmann unter der Saaltüre, weil er Stimmen gehört hatte. »Stay? Hab ich nicht soeben den Namen Stay gehört?« Er kam näher, und seine breite Stirn überzog sich mit Falten. »Was tust du mit dem kleinen Mädchen hier?« fragte er mit grollender Stimme. »Wie oft hab ich dir schon gesagt -« »Die Kleine hier behauptet, ihre Eltern hätten so geheißen.« Der Hüne kam näher. Die Falten auf seiner Stirne waren schon wieder verweht. »Stay? Ich kannte die Stays.« »Meine Eltern. Aber sie sind schon gestorben.« »Ja, das ist mir bekannt. Sie hatten eine Tochter. Aber du wirst doch nicht behaupten -« 17
»Sie haben mich hier zurückgelassen.« »Aber nicht mutwillig. Nein, nein, mein Kind, ich habe deine Eltern gut gekannt. Die bittere Not hat sie dazu gezwungen, und bald darauf sind sie dann gestorben. Dein Vater mitten unter der Vorstellung auf der Bühne. Fiel um wie ein Baum und war tot. Aber wie kommst du denn hierher?« Helene deutete schüchtern auf Horst Eckmann. »Der Herr war so liebenswürdig und hat mir eine Freikarte -« »Ja, ja, das ist so seine Masche, die kenn ich schon.« Der Direktor wandte das gewaltige Haupt zurück. »Aber da bleibt dir der Schnabel sauber. Die Kleine ist tabu für dich.« »Die Kleine möchte mit uns ziehen«, warf Eckmann schüchtern ein. »Soo? Bist du denn hier in Krießlach?« »Ja, beim Ramscheder.« Eine Weile war Schweigen, dann wandte sich der Direktor wieder an seinen Mimen. »Wir könnten natürlich schon Nachwuchs brauchen.« »Ach, bitte, nehmen Sie mich doch mit«, bettelte Helene. »So einfach geht das nicht, wie du meinst. Aber ich werde morgen einmal zu deinem Bauern gehen, und dann wollen wir weitersehen. Nun aber geht das kleine Fräulein heim und schläft sich ordentlich aus. – Nein, Horst, du bleibst hier, sie wird den Weg schon allein finden, nicht wahr?« Gehorsam schlich Helene zur Saaltüre hinaus und heimzu. Der Hof lag schon ganz dunkel, obwohl der Bauer wohl noch nicht daheim war, weil die Haustüre noch nicht abgesperrt war. Aber es wäre Helene auch gleich gewesen, wenn man ihren verbotenen Ausflug bemerkt hätte, denn seit heute abend war sie wie verwandelt, ganz furchtlos und nur von dem ungeheuren Gedanken erfaßt, daß sie hier herauskommen und mit den Komödianten fortziehen dürfte. Ja, sie gab sich sogar dem Gedanken hin, daß der Ramscheder froh sein könnte, sie loszuwerden.
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So wenig kannte sie den Mann. Aber darüber schlief sie ein. Nur einmal schrie sie im Traum ganz laut auf und wollte die »Luise« warnen, das Gift zu trinken. Doch dann neigte sich »Ferdinand« über ihren Mund und schloß ihn mit einem Kuß. Am nächsten Morgen erschien Direktor Karl Kollmann tatsächlich auf dem Ramschederhof und fragte nach dem Bauern. Er trug heute, weil das Wetter über Nacht umgeschlagen war und ein kalter Wind von den Bergen herunterwehte, einen dicken schwarzen Havelock und einen breitrandigen dunklen Hut, unter dem die graue Künstlermähne hervorstach. Der Ramscheder saß gerade bei der Brotzeit und musterte den fremden Gast mit mißtrauischen Blicken. So halb und halb schien er ihn plötzlich zu erkennen und fragte mit kauenden Backen: »Bist du nicht der alte Spitzbub von gestern abend, der Wurm?« Direktor Kollmann verneigte sich und zog den weiten Schlapphut. »Gestatten Sie, Direktor Kollmann. Ich komme wegen Fräulein Stay.« Ein verwunderliches Staunen in den Augen, und Spott in der Stimme, fragte der Ramscheder: »Wegen der Helene? Was willst denn von der?« »Wollen Sie mir nicht wenigstens Platz anbieten?« Der Bauer schnitt ein Stück von seinem Rauchfleisch ab und deutete dann mit der Messerspitze auf die Bank. »Hock dich nur hin. Also, was willst von der Lenn?« »Ich habe ihre Eltern gut gekannt, und ich weiß nicht, ob es Ihnen recht weh tun würde, wenn ich sie in meine Truppe aufnähme.« »Ah, da schau her! Und sonst bist gesund?« »Was wollen Sie denn? Ein Komödiantenkind wird doch nie im Leben eine richtige Bauernmagd.« »Das mag durchaus stimmen. Aber es kommt ganz darauf an, wie man so einen Komödiantenfratz aufzieht. Und ich hab sie richtig
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aufgezogen. Zugegeben, bis jetzt nützt sie mir zwar noch nicht recht viel -« »Na also«, unterbrach ihn der Direktor hurtig. »Wenn sie Ihnen doch nicht viel nützt, dann lassen Sie sie ruhig mit mir gehen. Es steckt Theaterblut in ihr, und ich könnte mir vorstellen, daß sie sich in meiner Welt viel glücklicher fühlt als in der Ihren.« Der Ramscheder wischte jetzt sein Messer an der ledernen Bundhose ab, schob es ein und stieß den Brotwecken von sich. Dann lehnte er sich weit zurück und schloß die Augen zu einem kleinen Spalt. »Das könnte dir so passen! Die Lenn bleibt bei mir! Oder glaubst du denn, ich bin so dumm, zieh den Fratz aus dem Dreck heraus, und wenn es so weit wäre, daß man sie brauchen kann zur Arbeit, dann braucht bloß so einer wie du daherkommen und sagen, die nehm ich mit. Schnecken und Buttersoß!« »Wollen Sie denn die Lenn, oder wie sie heißt, nicht selber entscheiden lassen?« »Die hat noch gar nichts zu entscheiden! Da mußt schon warten, bis sie mündig ist.« »Sind Sie vielleicht der Vormund?« »Freilich!« »Aber es gibt doch auch noch das Vormundschaftsgericht. Ich glaube nicht, daß man so ein Geschöpf mit Gewalt halten kann, wenn sie nicht will.« »Möchtest dich vielleicht gar an das Vormundschaftsgericht wenden?« »Ja, das will ich. Und in einer Woche sage ich Ihnen, was ich ausgerichtet habe.« Direktor Kollmann stand auf und griff nach seinem Hut. Der Ramscheder erhob sich ebenfalls. »Du, ich rat dir im guten, sei nicht so aufdringlich! Du redest daher, wie ein Blinder von der Farb. Ich sag dir, die Sache ist für heut und allemal abgetan, und ich will nichts mehr hören davon! Und wenn du mir noch mal ins Haus kommst, laß ich dich nauswerfen!« 20
Direktor Kollmann lächelte milde und doch unendlich überlegen. »Ich gehe schon von selbst, Sie ungehobelter Bauernmensch ! Mir scheint, ich habe da in ein Wespennest hineingestochen. Aber verlassen Sie sich darauf, wenn es der Wunsch des Mädchens ist, mit uns zu kommen, ich werde sie von hier wegbringen, und wenn Sie sich aufhängen!« Noch bevor der Ramscheder zu einem Wutschrei ansetzen konnte, war Direktor Kollmann draußen. Tief atmend sog er die frische Morgenluft ein. Dann stülpte er den Hut auf das wallende Haar. In diesem Augenblick sah er Helene mit zwei schweren Milchkübeln von der Straße auf den Hof zukommen. Die Kübel enthielten die von der Molkerei zurückgelieferte Magermilch und wogen so schwer, daß es die Schultern des Mädchens tief nach unten zog. Eine leichte Röte huschte über ihr schmales Gesicht, als sie den Mann erkannte. Sie stellte die Milchkübel nieder und sah erwartungsvoll in das etwas gerötete Gesicht des schweren Mannes. »Waren Sie beim Ramscheder?« fragte sie zaghaft. Er nickte und meinte: »Ein unguter Patron! Bei dem wirst du nicht viel zu lachen haben?« Helene senkte den Kopf. »Überhaupt nichts.« Nun griff Direktor Kollmann nach einem der Kübel und stöhnte. »Du meine Güte! Der wiegt aber doch bald einen Zentner! Und das läßt er dich schleppen? Jetzt brauchst du mir bloß noch zu sagen, daß er dich auch schon einmal geschlagen hat?« »Einmal bloß, meinen Sie?« Herrn Kollmann schoß wieder das Blut in die Stirne. »Das hätte ich mir eigentlich denken können. Jetzt nehme ich keine Rücksicht mehr. Du mußt mir nur sagen, Mädel, ob es dein ernster Wille ist, daß du zur Bühne und mit uns ziehen möchtest.« Dem Mädchen kamen schon wieder die Tränen. »Das wäre die glücklichste Stunde meines Lebens.«
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»Dann laß mich nur machen. Moment noch! Wie ist denn euer Pfarrer hier? Kann man mit ihm reden?« Helene deutete scheu mit dem Kinn über die Straße hinüber. »Das da drüben ist der Pfarrhof. Der Herr Pfarrer steht gerade im Garten.« »Komm morgen abend wieder in die Vorstellung. Nein, du brauchst keine Freikarte, komm nur ungeniert gleich in die Garderobe.« Mit weiten Schritten ging er davon. Der weite Havelock bauschte sich im Winde. Den Kopf hatte er weit zurückgelegt, als möchte er die Luft von oben her trinken. Er ging auf den Pfarrhof zu, trat an den Zaun und zog seinen Hut. »Schönen guten Morgen, Herr Pfarrer. Dürfte ich Sie einen Augenblick sprechen?« Pfarrer Schröcker, ein noch verhältnismäßig junger Mensch mit gewinnenden Zügen, trat an den Zaun und reichte ihm die Hand. »Ah, der Herr Direktor, Inspizient und Hauptdarsteller in einer Person! Ich war angenehm überrascht gestern abend von Ihrer Aufführung. Ehrlich gesagt, ich hatte ein wenig Angst, wie sie mit den wenigen Leuten Schillers Trauerspiel besetzen könnten. Aber wie gesagt, ich war überrascht.« Kollmann lächelte geschmeichelt. »Sie machen mich glücklich, Herr Pfarrer. Manchmal kommt gerade aus den Pfarrhöfen der heftigste Widerstand gegen uns.« »Aber ich bitte Sie, warum denn! Sie haben was Gutes zu bieten, und wer das kann, darf die Stirne hochtragen. Allerdings, es gibt auch andere Truppen solcher Art, und da muß man dann doch die nötige Vorsicht walten lassen.« »Ich weiß, Herr Pfarrer. Aber mein Unternehmen -« »Steht künstlerisch schon ziemlich hoch über dem sogenannten Schmierentheater. Geben Sie noch mehr Vorstellungen hier?« »Noch drei, wenn ich mir erlauben darf.« Der Pfarrer sah zu den Bergen hinauf. Der Himmel hatte sich nun fast ganz überzogen. Die Wälder standen ganz schwarz, es sah 22
nach Regen aus. »Und was führt sie zu mir?« fragte er dann. »Aber kommen Sie, wir gehen hinein. Der Wind wird immer stärker, es wird bald regnen.« Voranschreitend führte Pfarrer Schröcker seinen Gast in sein Studierzimmer. Helene hatte die Milchkübel entleert, gereinigt und auf die Hausbank gestülpt. Dann griff sie nach der Mistgabel, um den Misthaufen säuberlich anzurichten, als der Ramscheder aus dem Haus trat. »Geh einmal her!« schrie er. »Was fällt dir denn ein? Du möchtest fort von uns?« Helene stand ganz starr, auf die Mistgabel gelehnt. Sie zuckte nur mit den Schultern. »Grad war der schniegelhaarige Komödiant da und hat mir’s gesagt. Da bleibt dir aber der Schnabel sauber ! Jetzt, wo du schön langsam für was nutz wirst! Schlag dir das nur aus dem Kopf! Du bleibst da und arbeitest zuerst einmal das ab, was ich die ganzen Jahre an dich hingefüttert hab.« Helene stieß die Gabel in den Haufen und reckte sich ein wenig. »Aber ich taug doch nicht zu einer Bauernmagd. Das hast du mir doch oft genug gesagt, wie blöd ich mich in allem anstelle.« »Das kommt bloß daher, weil ich bisher so nachsichtig in allem mit dir war. Aber von heute an pfeift ein anderer Wind!« Er drehte sich um, besann sich aber nochmals : »Was ich dir noch sagen will: Untersteh dich ja nicht und geh zu dem Theatergesindel hinüber ! Wenn ich was erfahr, schlag ich dich windelweich!« Da erwachte in dem Mädchen ein heißer Trotz und sie schrie ihm ins Gesicht: »Das kannst du mir nicht verbieten! Und daß du es weißt, ich war gestern im Theater. Und ich werde morgen wieder gehen. Du hast kein Recht, mich daran zu hindern und mich wie eine Gefangene zu behandeln.«
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Einen Augenblick sah der Bauer sie verdutzt an, dann schwollen ihm die Adern an den Schläfen und sein Gesicht färbte sich dunkelrot vor Zorn. Suchend ging sein Blick umher, dann entdeckte er einen Haselnußstecken, der an der Hausbank lehnte. Er griff nach ihm und forderte: »Dir werd ich die Aufsässigkeit austreiben!« Er trat ein paar Schritte vor, faßte nach ihr und zerrte sie vom Mistbrett herunter. Und da ergab sich Helene, wie immer, ergeben ihrem Schicksal. Unbarmherzig sausten die Schläge des Haselnußsteckens auf ihren schmächtigen Körper herunter. Er zerrte das Mädchen an den Zöpfen, stieß sie vor sich her, schleuderte sie in den Schuppen, schlug das Tor zu und schob den Riegel vor. Erschüttert und zugleich bebend vor Zorn griff Pfarrer Schröcker nach dem Arm seines Gastes und zog ihn vom Fenster weg. »Haben Sie das gesehen?« »Leider, leider. Und ich fürchte, daß dies nicht das erstemal war.« Der Pfarrer griff nach seinem Hut. »Dem werde ich aber jetzt die Meinung sagen. Warten Sie im Gasthof auf mich, ich werde Ihnen dann sagen, was ich ausgerichtet habe. Nach dem, was ich jetzt gesehen habe, ist es meine Pflicht, Ordnung zu schaffen. Vielleicht kann ich Sie in Ihrem Entschluß, Helene mitzunehmen, jetzt besser unterstützen.« Vom Pfarrhof weg schritt er über die Straße und den kleinen Hügel hinauf. Die breite Schärpe seiner Soutane flatterte im Wind. Den Hut gleich im Flur auf die Bank werfend, trat er zorngerötet in die Stube. Der Ramscheder zündete sich gerade einen Stumpen an, wie ein zufriedener Mensch am Abend, wenn er sein ehrliches Tagwerk vollbracht hat. Gleichgültig schielte er über das verglimmende Zündholz nach der Tür. »Sie, Herr Pfarrer? Heut geht’s mit dem Besuch gar nicht aus. Zuvor war der Schmierenkomödiant da und jetzt Sie. Was gibt’s?«
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»Das fragen Sie noch, Ramscheder? Ich habe von drüben beobachtet, wie sie das Mädel geschlagen haben! Schämen Sie sich nicht, Ramscheder?« Der Bauer stieß den Rauch seiner Zigarre gegen die Decke. »Schämen? Wenn man einen Menschen erziehen will, daß er fürs Leben was taugt, dann braucht er hin und wieder ein paar Ohrfeigen.« »Ja, aber das, was ich soeben mit angesehen habe, das war zuviel! Das ist Sadismus, Ramscheder, und geht weit über die Grenzen, die Sie als Vormund zu respektieren haben.« »Ah, da schau her! Wollen Sie mir Vorschriften machen?« »Ja, das will ich und werde ich ! Mein Vorgänger ist, scheint mir, zu nachsichtig gewesen, oder er hat sich von Ihrer Scheinheiligkeit übers Ohr hauen lassen!« »Ihr Vorgänger, der hochwürdige Herr Hanitter, ja, das war ein Pfarrer! Von dem könnten Sie viel lernen. Predigen können Sie zwar besser, aber das liegt am Zug der Zeit. Die jungen Pfarrer haben ein besseres Mundwerk, aber sonst -« »Reden Sie nicht um den Brei herum. Was ich mit eigenen Augen gesehen habe, das können Sie nicht abschwächen. Dieser Herr Direktor Kollmann war vorhin bei Ihnen. Er war auch bei mir. Sie wissen, was er will, und ich werde ihn dabei nach allen Kräften unterstützen.« »Aha! Der Kerl hat Sie so aufgehetzt! Sagen Sie nur gleich, daß Sie auch zum Vormundschaftsgericht gehen wollen.« »Worauf Sie sich verlassen können!« Ohne Gruß verließ der Pfarrer die Stube und ging über den Hof und schob den Riegel zurück. Helene kauerte wimmernd in einer Ecke. Der ganze Körper wies blutige Striemen auf. Voller Erbarmen griff der Pfarrer nach ihr und zog sie hoch. »Komm, Helene. Sei ruhig. Das hat jetzt ein Ende.« Verzweifelt klammerte sich Helene an die helfenden Hände und schluchzte. »Am liebsten möcht ich sterben, Herr Pfarrer.«
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»Ja freilich, sonst nichts mehr! So ein junges Geschöpf! Das ganze Leben liegt noch vor dir.« »Was für ein Leben denn?« »Es liegt in Gottes Hand und an deinem eigenen Willen, aus diesem Leben etwas Ordentliches zu machen.« Er nahm sie mit sich ins Pfarrhaus, ließ den Arzt holen, der die Mißhandlung bestätigte. Dann schickte er seine Schwester zum Ramschederhof hinüber, um die wenigen Sachen zu holen, die Helenes Besitztum waren. Der Aussage des Pfarrers und der Bestätigung des Arztes hatte es der Ramscheder zu verdanken, daß ihm das Vormundschaftsgericht mit sofortiger Wirkung die Vormundschaft entzog und er Helene Stay freigeben mußte. Eine Woche später bereits zog Helene mit der Wanderbühne Kollmann fort. Der Abschied war ihr recht leicht geworden. Sie ließ ja niemanden zurück, den sie liebte. Nur des Pfarrers gedachte sie in einer kindlichen Verehrung und gelobte ihm in die Hand, daß sie niemals vom geraden Weg abweichen und immer auf Sauberkeit und Ordnung in ihrem weiteren Leben sehen wolle. Jahre später. In der Stille des Morgens war nichts zu hören als das schnelle Hufgeklapper zweier leichter Kutschenpferde, die in rascher Fahrt eine etwas altmodische Kutsche mit zurückgeschlagenem Lederdach dahinzogen. Die schmale Straße zog sich in vielen Windungen durch das langgestreckte Tal. Links und rechts bauten sich die hohen Berge über frühlingsgrünen Wäldern auf. Im Fond des Wagens saß, die Hände im Schoß verschlungen, eine Frau und schaute mit großen Augen auf das Wunder von Licht und Schatten, das über den Bergen spielte. Diese Frau – oder war es noch ein Mädchen – schien müde zu sein, müde vielleicht von einer weiten Reise oder müde vom Leben. Ihr Gesicht war
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schmal und ebenmäßig, nur um den Mund waren ein paar harte Züge, die von Leiden zeugten, die vergessen sein mochten. Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein. Die Gegend war ihr nicht ganz fremd. In Gedanken grüßte sie diesen Berg und jenen dort, sie sah sich wieder als Kind über die Wiesenhänge tollen, und der Bach, der sich geschäftig neben der Straße tal-auswärts drängte, hatte noch immer das silberhelle Wasser wie damals. Jetzt faßte sie den Sonnenschirm und berührte damit die Schulter des Kutschers. Es war bei der letzten Wegbiegung vor dem Dorf. »Halten Sie, ich möchte von hier aus zu Fuß weitergehen.« Der Fuhrmann machte verwunderte Augen, sprang aber flink vom Bock, um der Frau den Schlag zu öffnen. »Ich danke Ihnen... wie ist Ihr Name?« »Sepp Harlacher.« »Wie lange sind Sie schon auf dem Gutshof Wildreut?« »Zu Lichtmeß werden es sechs Jahre!« »Nun, dann hoffe ich auf weitere sechs Jahre guter Zusammenarbeit.« Der biedere Alte rührte verlegen die Schultern. »An mir soll’s net liegen«, meinte er und maß die zierliche Gestalt der neuen Herrin mit abwägenden Blicken. »An mir bestimmt auch nicht«, antwortete die Frau und sprang aus der Kutsche. »Die beiden Koffer sollen einstweilen ins Wohnzimmer geschafft werden.« Helene sah dem Gefährt nach, bis es um die Biegung verschwand. Dann betrat sie den kleinen Fußweg, der über einen Hügel zum Dorf Krießlach führte. Bei jedem Schritt, den sie vorwärts tat, glaubte sie, etwas Schweres hinter sich zu lassen. Da lag schon das Dorf vor ihr, in einem Kranz von blühenden Bäumen eingebettet. Nur die vergoldete Spitze des Kirchturms ragte heraus und funkelte in der Sonne. Etwas abseits lag der große Gutshof Wildreut. Von alten Bäumen verdeckt lag das Gutshaus, ein wuchtiges Gebäude aus Quadersteinen gefügt, mit einer brei-
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ten Freitreppe und gepflasterter Terrasse aus Untersberger Platten. Wie oft hatte Helene in längst vergessenen Nächten davon geträumt, einmal dieses Haus, diesen Gutshof betreten zu können, in dem stolzen Bewußtsein, daß er ihr Eigentum war. Die Jahre hatten ihr gegeben, was das Schicksal einem Menschen nur geben kann an Erfolg und Niederlagen, an Höhen und Tiefen, an menschlichem Glück und Leid. Seit etwa einem Jahr war sie Besitzerin dieses Gutes Wildreut geworden. Erst jetzt aber war es ihr möglich, herzukommen. Verträge bei Film und Bühne hatten sie so lange festgehalten. Ihr Bühnenname Marga Rogger war den Menschen ein Begriff geworden, und Tausende und aber Tausende hatten ihr zugejubelt. Nun war das alles vorbei. Es lag hinter ihr wie ein Traum, aus dem sie einmal, klein und unbedeutend, emporgestiegen war. Nicht mehr daran denken, nur mehr dem Zukünftigen leben und zunächst einmal ausruhen von dem Schweren, das sie erlitten hatte. Ach, wenn man nur das Vergangene so leicht überwinden könnte! Da waren die Jahre des Wanderlebens bei der kleinen Bühne, die eines Tages zusammenbrach. Da waren der Kampf und das Ringen um den Platz bei einer größeren Bühne. Not und Hunger waren da, bis sich eines Tages doch der Erfolg einstellte. Dieser Erfolg war aber gleich so eindeutig, daß er durch nichts mehr weggeleugnet werden konnte. Sie hatte nach den Sternen greifen wollen und war nun selber so ein gleißnerisches Licht am Himmel der Kunst geworden. In diese Zeit fiel auch ihre Liebe zu dem Pianisten Petri. An diesen eigenwilligen Menschen verlor sie ihr Herz rettungslos, und sie glaubte an ein ewiges Glück und an eine Ergänzung ihrer künstlerischen Ideale, denn Petri war eine Größe in seinem Fach. Seine Konzerte waren stets überfüllt, er war der Liebling eines auserwählten Publikums.
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Sie hatten sich verlobt und wollten heiraten. Vielleicht war das alles ein wenig überstürzt gegangen, vielleicht kannte sich Petri selbst noch zu wenig. Er war voller Widersprüche und voller Launen und sehr von sich eingenommen. Treue war für ihn etwas wie ein böhmisches Dorf. Als Helene ihn einmal mit einer anderen überraschte, kam es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen ihnen. Sie hatte keine Szene machen wollen, aber ein Wort gab das andere, bis Petri, besinnungslos vor Jähzorn, die Hand hob und sie ins Gesicht schlug. Sie gingen auseinander. Es war vorbei... Helene fühlte, daß sie hier wieder gesunden könne. Es war ganz still um diese Vormittagsstunde im Dorf. Die Leute waren auf den Feldern, nur aus der Schmiede tönte klingender Hammerschlag. Beim Hirschwirt nahm Helene im schattigen Garten Platz und bestellte sich ein Glas Milch. Der Wirt stand unter der Tür, rauchte seine Pfeife und gab den Auftrag durch das Küchenfenster weiter. Dann machte er eine Bemerkung über den schönen Tag und fragte, ob die Dame schon von weit her komme. Nein, er kannte Helene nicht mehr. Vor vielen Jahren hatte er ihr manchen Leckerbissen zugesteckt, als sie noch ein kleines Mädchen war und die Kühe des Ramschederbauern hütete. Da kam von der Straße her ein schlanker junger Mann in der Tracht eines Bergjägers und trat zum Wirt unter die Tür. Alle Kleidungsstücke an ihm waren abgetragen. Nur die Büchse auf seinem Rücken war blank, und die Läufe funkelten in der Sonne. Ein Frühlingsmensch, dachte Helene. Und ohne daß sie es wollte, verglich sie ihn mit Petri. Das war ein Unterschied wie Licht und Schatten. Das Gesicht des Jägers hatte gewinnende Züge, und seine Bewegungen waren von einer lebhaften Geschmeidigkeit. Alles an ihm redete mit, während er dem Wirt erzählte, daß er vom Berg runter sei, um sich der neuen Herrin vorzustellen. »Ich glaub, die ist heut noch gar net kommen, weil ich den Harlacher vorhin allein heimfahren hab sehen«, meinte der Wirt. »Net kommen? Ja, wie lang bleibt denn die eigentlich noch aus?« 29
»Du wirst es abwarten können«, lachte der Wirt. »Dir kann’s ja gleich sein, ob eine Herrschaft da ist oder net, du bist ja dein eigener Herr da droben in der Jagdhütten.« »Schon, aber man möchte endlich einmal wissen, wem man dient. Neugierig bin ich ja, was das für ein Weibsstück sein wird. Wahrscheinlich so eine alte vertrocknete Jungfrau, die sich selber nicht mag. Von der Jagd wird sie natürlich gar nichts verstehen.« »Hat sie denn keinen Mann?« Der Jäger schüttelte den Kopf. »Soviel ich weiß, hat sie keinen.« Der Jäger kniff plötzlich die Augen zusammen und schaute auf das gegenüberliegende Gehöft des Ramscheder, als gäbe es dort für ihn etwas Besonderes zu sehen. Dann sprach er weiter: »Es ist ja eine Sund und Schand, daß eine Frau das Gut gekauft hat. Na ja, mir kann es gleich sein. Wenn sie mir nichts dreinredet in meiner Jagd, dann ist es mir gleich.« Er verstummte und ließ seine Augen über Helene hinschweifen. Dann fragte er den Wirt etwas leiser: »Ist das schon ein Sommergast bei dir?« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Lassen sich diesmal Zeit, die Sommergäste. Ist zu wenig Geld unter den Leuten. Immer lausiger werden die Zeiten«, jammerte der Wirt mit bekümmerter Miene, die dem Jäger ein Lachen entlockte. »Pfeif dir doch nichts ums Geld, das Geld pfeift sich um uns auch nichts.« »Recht hast schon. Aber verachten braucht man das Geld auch nicht. Wenn du einmal eine erwischst mit recht viel Geld, wird es dir auch net zuwider sein. Ich weiß überhaupt net, was du für ein Kerl bist. Das halbe Dorf ist vernarrt in dich, und du schaust keine an.« »Weißt, Wirt, ich hab zuwenig Zeit für so was.« »Geh, laß dich auslachen! Aber ich weiß schon, die sollen halt zu dir kommen, gell?« »Das ging mir grad noch ab! Mir ist’s lieber, wenn ich die ganze Woche niemanden seh.« 30
»Na, jetzt sei einmal ganz ehrlich, Rupp«, der Wirt stieß den anderen verschmitzt lächelnd mit den Ellenbogen, »wenn doch einmal ein junges Mädel naufkäm zu dir in deine Hütten, der tätest du gewiß net die Tür vor der Nasen zuschlagen!« »Ein junges Mädl? Zu mir? Da könnte man ja schließlich ein Auge zudrücken. Aber ich glaube, die für mich bestimmt ist, die gibt es noch nicht.« Lachend trat der Jäger wieder auf die Straße und pfiff seinem Hund, der mit großen Sprüngen durch die blühende Wiese kam, wo er eine ergebnislose Jagd nach Mäusen gehalten hatte. Mit freudigem Gekläff sprang der braunhaarige Dackel an seinem Herrn hoch, bis dieser sich bückte und ihn streichelte: »Na, freilich! Du bist ja mein Guter, du!« »Wie ist’s, Rupp!« schrie der Wirt dem Davoneilenden nach, »am Sonntag über acht Tag hab ich Maitanz. Kommst auch ein bissel?« »Kann schon sein!« rief der Jäger über die Schulter zurück. Dann verschwand die hohe Gestalt hinter der blühenden Weißdornhecke. Nur der klappernde Schritt seiner Nagelschuhe war zu hören. Schließlich verstummte auch der, denn Rupert Hiller schlug einen Wiesenpfad ein, der sich gegen den Wald hinschlängelte. Eine Weile später nahm der Wirt Helene gegenüber Platz und fragte sie, ob sie von Tegernsee komme. Helene besann sich kurz und nickte dann: »Ja, von Tegernsee.« Sie bestellte sich Brot, Schinken und ein Gläschen Terlaner. Dann steuerte sie auf ihr Ziel los. »Sagen Sie mir einmal, Herr Wirt, wer war denn der Jäger, mit dem Sie vorhin sprachen?« Der Wirt deutete mit der Pfeifenspitze nach Wildreut hinüber. »Auf das Gut gehört er. Der letzte Besitzer hat ihn als Jäger für seine umfangreiche Jagd angestellt. Jetzt fragt sich bloß, ob die neue Besitzerin ihn übernimmt oder ob sie sich entschließt, die Jagd an die Gemeinde zu verpachten.«
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»In diesem Fall würde dann der junge Mann entlassen werden?« erkundigte sich Helene. »Wär schade um den Rupp«, erklärte der Wirt schnell. »Er hat sich allweil soviel Müh gegeben bei der Jagd. Na, vielleicht behält sie die Jagd doch. Bei so einem Jäger braucht sie gar nicht soviel davon verstehen.« »Wenn es aber eine ist, die von Land- und Forstwirtschaft nichts versteht?« »Au weh, dann ist’s gefehlt, net bloß um die Jagd, sondern um das ganze Gut.« »Wieso? Ist denn nicht ein tüchtiger Verwalter in Wildreut?« »Tüchtig?« der Wirt lachte auf. »Der Bergmann ist bloß tüchtig, wo’s in seine Taschen geht. Der hat den vorigen Besitzer schon übers Ohr gehauen, und er wird es jetzt nicht viel anders machen, noch dazu, wo es eine Frau ist. Und gar, wenn einer den Ramscheder zum Freund hat, da weiß man schon, wieviel es geschlagen hat. Die Dienstboten auf Wildreut, die müssen tanzen, wie der Herr Verwalter pfeift. Bloß der Rupp net. Vor dem hat er ein bissel Achtung, weil der ihm allweil auf die Finger schaut. Ich wünsch mir bloß, daß die Frau einmal zu mir käm und ich ihr reinen Wein einschenken könnt.« Um Helenes Lippen spielte ein Lächeln. Dann fragte sie nach der Schuldigkeit, bezahlte und reichte dem Wirt die Hand. »Ich danke Ihnen, mein lieber Herr Hammerer. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie mich gelegentlich einmal besuchen würden in Wildreut. Wir dürften uns übrigens schon kennen?« Allmählich ging dem Wirt ein Licht auf. Er wurde sehr verlegen. »Sie werden doch net -?« »Doch, doch!« ergänzte Helene erheitert. »Ich bin Helene Stay, die neue Besitzerin von Wildreut. Und ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie mich ein wenig aufgeklärt haben ! Auf Wiedersehen!« Verblüfft schaute Bartholomäus Hammerer der Davoneilenden nach und machte sich seine Gedanken dabei. 32
»Au weh, da seh ich schwarz! Die ist dem Bergmann net gewachsen! Und der andere Bazi erst, der Ramscheder! Der wird dem Frauerl recht schön tun und ihr dabei ein Stückl um das andere um ein Spottgeld abjagen. Ja, natürlich, was versteht auch so ein Frauenzimmer von der Bauernwirtschaft!« Kopfschüttelnd trug Hammerer das Geschirr in die Küche, um diese Neuigkeit seiner Frau zu übermitteln. »Stay?« fragte die. »Du – es wird doch net ’s Lenerl gewesen sein, die einmal beim Ramscheder war?« »Ach woher denn, meinst du, ich hätt das Lenerl nimmer gekannt?« Helene ging unterdessen langsam durch das Dorf und mußte denken: Also ist dieser Bergmann immer noch auf dem Gut. Jetzt kann ich ihm seine Gemeinheiten von damals heimzahlen. An jene Zeit zurückdenkend, schritt Helene weiter, erwiderte freundlich den Gruß eines schwarzhaarigen Mädels, das mit einem Rechen über der Schulter daherkam. Wer war das Mädel? Helene meinte, sie zu kennen. Jetzt stand auch die Schwarzhaarige still und sah sich um. Dann ging sie wieder hastig weiter und steuerte auf den Ramschederhof zu. Ach, die Klara ist es, sagte sie sich verwundert. Schau, wie das Mädel sich gemacht hat! Wieviel Schläge habe ich ihretwegen aushalten müssen. Aber ich trage ihr nichts mehr nach, denn sie war ja damals noch ein Kind. Im Wirtshaus zur Post sah Helene im Vorbeigehen zwei Männer sitzen, anscheinend in ein wichtiges Gespräch vertieft. Sofort erkannte sie die beiden. Es waren der Ramscheder und Bergmann. Die beiden bemerkten sie vorerst gar nicht. Erst als Helene schon vorüber war, sah der Ramscheder auf und stieß den anderen in die Seite. »Du, schau hin, die geht auf Wildreut zu.« Bergmann fuhr mit dem Gesicht herum. 33
»Ob’s die neue Herrin ist? Teufel! Die kann ja einen netten Begriff von ihrem Verwalter kriegen, wenn sie mich am hellichten Tag im Wirtshaus sitzen sieht.« »Schneid ihr den Weg ab«, riet der Ramscheder. »Wenn du dich ein wenig beeilst, bist du vor ihr da.« »Hast recht, Ramscheder. Es macht gleich einen guten Eindruck, wenn sie mich bei der Arbeit sieht.« Mit flinken Sprüngen lief Bergmann auf einem Umweg dem Gutshof zu. Sinnend stand Helene nach etwa einer halben Stunde endlich vor dem schmucken Wohnhaus, das etwas abseits von den Gutsgebäuden lag. Von dem doppelten rundbogigen Eichentor mit den schweren, schmiedeeisernen Beschlägen stand der eine Flügel weit offen. Aus dem Innern vernahm man erregte Stimmen. Helene konnte den Wortlaut zwar nicht genau verstehen, aber sie stutzte unwillkürlich. Die Männerstimme war ihr bekannt, jene verhaßte, etwas krähende Stimme, die sie in böser Erinnerung hatte. Aber das konnte doch wohl nicht sein, denn den Mann, dem diese Stimme zugehörte, den hatte sie doch vorhin noch im Postwirtsgarten sitzen sehen. Und doch war es Franz Bergmann, der sich hier inzwischen zum Verwalter emporgemausert hatte. Helene hatte dies gewußt und hatte sich schon monatelang darauf gefreut, diesem Menschen gegenüberzutreten. Sie wollte soeben eintreten, als Bergmann herauskam. Die Sommersprossen in seinem Gesicht waren immer noch da, die kleinen, begehrlichen Augen, der etwas schiefe hämische Mund. Bergmann stutzte, und Helene sah deutlich das Erschrecken, das über seine verlebten Züge glitt. Dann riß er sich zusammen, geheuchelte Freude glomm in seinen Augen auf. Dann stellte er sich vor: »Verwalter Bergmann. Franz Bergmann, wenn es beliebt.«
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Scharf ruhten ihre Augen auf seinem Gesicht. Nun war der Augenblick gekommen, jener Augenblick, den sie sich so oft ersehnt hatte. Jetzt konnte sie ihm ihre Macht fühlen lassen, ihm alles heimzahlen, was er ihr früher einmal angetan. Doch sie beherrschte sich zunächst. »Ich bin die neue Besitzerin von Wildreut und hoffe, daß man mit Ihnen auskommen kann. Zunächst wenigstens einmal.« Bergmann wechselte die Farbe. Das war gerade kein freundlicher Empfang. Das Kalte in ihrem Blick war ihm eine Warnung und machte ihn immer unsicherer, je länger er sie ansah. Wo hatte er dieses Gesicht bloß schon einmal gesehen? Aber ehe er in seiner Erinnerung das Rechte finden konnte, sprach die Frau schon weiter: »In einer Stunde möchte ich das Gut besichtigen. Und am Abend möchte ich dann mit sämtlichen Angestellten des Betriebes sprechen. Veranlassen Sie das. Die Wirtschaftsbücher sehen wir dann in den nächsten Tagen durch. Auf Wiedersehen, Herr Bergmann.« Helene schritt ins Haus. Bergmann aber starrte ihr mit gefurchter Stirn nach. In seiner Erinnerung zuckte es immer noch nicht auf. In jedem Fall – die neue Besitzerin hatte er sich ganz anders vorgestellt. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und wollte ihn auch nicht mehr verlassen. Auf einmal zuckte etwas aus seiner Erinnerung auf, kurz und schnell, wie ein Flammenzeichen am nächtlichen Horizont. Dann schüttelte er den Kopf. Nein, das wäre zu absurd ! Wie ihm nur so etwas einfallen konnte! Und doch, und doch, er kam nicht mehr ganz los von dieser Vorstellung und ging etwas bedrückt durch die kurze Birkenallee zu den Gutsgebäuden hinüber. Helene war inzwischen durch die im bäuerlichen Stil gehaltene Diele gegangen. Dann öffnete sie im Hintergrund eine Türe. Ein großer, mit alten Biedermeiermöbeln ausgestatteter Raum tat sich auf. Durch die hohen Fenster fiel bereits das Sonnenlicht und schenkte allen Dingen einen freundlichen Schimmer. Dann erst 35
entdeckte sie das Mädchen, das bei einem der Fenster die Blumenstöcke geordnet hatte und nun etwas hilflos und verlegen auf die fremde Frau schaute. Auf den ersten Blick gewahrte Helene das Verstörte im Blick des Mädchens, das eigentlich recht hübsch war. Nur ihre Augen waren traurig, und wahrscheinlich hatte sie gerade vorher geweint. Helene ging auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Guten Tag. Wer bist du?« Das Mädchen wurde feuerrot, dann hingen ihre Augen in scheuer Ängstlichkeit an der neuen Herrin. »Ich heiße Brigitte«, sagte sie dann. »Na schön. Hast du hier für Ordnung zu sorgen?« Helene blickte sich kritisch um. Dann nickte sie. »Dann siehst du hier gut auf Ordnung. Möchtest du mich jetzt nicht auch in die anderen Räume führen?« Sie gingen durch die Flucht der Zimmer, und Helene war überrascht, wie sauber alles war. Nirgends konnte sie Staub oder eine sonstige Unordnung erblicken. Zuletzt ließ sie sich noch zu den beiden Giebelstübchen hinaufführen, zu denen eine schmale Treppe führte. »Wer wohnt denn hier?« fragte sie erstaunt, als sie den einen, mit Jagdutensilien ausgestatteten Raum sah. »Hier haust der Jäger Rupp, wenn er gerade einmal von seinen Bergen runterkommt.« »Ach so, der Jäger. Warum wohnt der nicht drüben im Gesindehaus?« Brigitte zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Der Rupp hat schon immer hier heroben gewohnt, auch beim alten Besitzer. Aber wenn die gnädige Frau meint, ich kann seine Sachen ins Gesindehaus hinübertragen.« »Nein, das auf gar keinen Fall. Das soll so bleiben, wie es bisher war. Und jetzt zeig mir dein Zimmer noch.« »Das ist nicht hier, sondern drüben im Gesindehaus. Hier rüber komm ich bloß abends zum Saubermachen.« 36
Helene sah ein wenig mitleidig auf das magere Geschöpf und erinnerte sich unwillkürlich an ihre eigene Jugend. »Hat das vielleicht der Herr Verwalter so angeordnet?« Brigitte nickte und schien allmählich etwas mehr Mut zu bekommen. »Bis jetzt ist das immer so gehalten worden.« »Dann wird es von heute an anders. Du wirst jetzt ständig hier im Haus bleiben. Hol deine Sachen nur gleich herüber. Noch eine Frage: Wie alt bist du eigentlich?« »Am fünfzehnten Mai werde ich zwanzig.« Auch ein Frühlingskind, dachte Helene versonnen und ging langsam wieder hinunter. Im Seitenflügel roch es ein wenig nach Moder. Vorhänge und Fensterläden waren hier dicht geschlossen. »Nun aber gleich einmal alle Fenster auf«, schaffte Helene an und zog die Vorhänge zurück. In breiten Wogen strömte das Sonnenlicht herein und man sah die Staubfäden tanzen. »Wie lange ist denn hier schon nicht mehr gelüftet worden?« Brigitte zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber morgen hätte ich es tun sollen. Die Frau ist einen Tag zu früh gekommen.« »Oder um Jahre zu spät«, flüsterte Helene vor sich hin und sah zu einem der großen Fenster hinaus in den Park, in dem neben alten Eichen auch Ulmen und Pappeln standen. Der Wind rauschte leise in den Kronen, und irgendwo hörte man einen Bach murmeln. »Ach, Brigitte, sieh doch einmal nach, wo mein Gepäck geblieben ist.« Es stand bereits in der Diele. Brigitte schleppte die schweren Koffer in das große Schlafzimmer, das sie an diesem Tag gestöbert hatte. Helene zog sich um und betrachtete sich vor dem Spiegel. Indem straffsitzenden Dirndlkleid aus schwerer Seide sah sie wie verwandelt aus. Ganz kritisch betrachtete sie ihr Gesicht, aus dem alle düsteren Sorgenfalten verschwunden waren. In ihren Augen
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war ein stolzes Leuchten, und es war ihr, als strömte eine ungeheure Kraft in sie, ein Gefühl des Reichtums und Geborgenseins. Sie trat an eins der Fenster und sah, wie Brigitte auf einem Schubkarren eine Holztruhe herüberschob, die wahrscheinlich ihre Habseligkeiten barg. Einmal war ich noch ärmer dran, dachte sie, ich brachte damals all meinen Besitztum in einer Pappschachtel unter. Eine halbe Stunde später verließ sie das Haus und wanderte bergwärts, mit stillen Augen die klare Schönheit des sinkenden Abends bewundernd, bis der schattige Wald sie aufnahm. Wie still dieser Hochwald war, wie unendlich groß in seiner Ruhe. Kaum, daß ein Lufthauch die Wipfel bewegte. Und dort, wo man durch eine Lücke sehen konnte, brannte der Himmel in feuriger Glut. Sie fand ein stilles Plätzchen im Moos, verschränkte die Hände um die Knie und träumte hinein in die wundersame Stille. In vielen Stürmen erprobt, stiegen die grauen Stämme wie Tempelsäulen in die Höhe. Alle kleineren Gewächse waren verdorrt im Schatten dieser Großen. Langsam glitt der Blick der einsamen Träumerin in die Tiefe hinunter. Vom Gold der untergehenden Sonne gebadet, lag das Kirchdorf da. Irgendwo ratterte ein Fuhrwerk, ein Hund bellte endlos, und ganz fern sah man einen Schäfer mit seiner Herde über eine Kar hinziehen. Dort drüben lag schon alles im Schatten. Auch die Wiese, auf der sie einmal die Kühe gehütet hatte. Wie lange war das schon her? Wenn Helene alles so bedachte, dann meinte sie, ein Jahrhundert könnte schon dazwischen liegen, und doch lagen nur zwölf Jahre dazwischen. Aber es waren so stark erfüllte Jahre, Jahre mit soviel aufeinandergedrängten Schicksalen, daß jedes doppelt und dreifach zählen könnte. Ein großer Krieg war über die Welt gegangen und hatte sie verändert. Nur dieser Wald hier war gleich geblieben und das stille Dorf da drunten mit seinen Höfen und dem schlanken Kirchturm dazwi38
schen. Wahrscheinlich würden auf dem kleinen Friedhof nun manche Menschen schlafen, die sie einmal gekannt hatte. So wie Direktor Kollmann und seine Frau gestorben waren. Horst Eckmann, der Komödiant, dem sie es eigentlich zu verdanken hatte, daß sie jemals aus Krießlach fortgekommen war, war gleich zu Anfang des Krieges gefallen. Damals war ihr gewesen, als hätte sie einen Bruder verloren. Und so manch anderen, der irgendwie bestimmend in ihr Leben getreten war, hatte das Schlachtfeld behalten. Auch Edmund Rainer, den großen Schauspieler, mit dem sie im Thaliatheater die ersten großen Triumphe gefeiert hatte, war aus Rußland nicht zurückgekehrt. Alles liebe, gute Menschen, die eine Wegstrecke mit ihr gegangen waren. Sie bewahrte ihnen ein stilles Erinnern, und sie kamen jetzt in dieser stillen Stunde zu ihr als Gast. Sie traten zwischen den Zweigen hervor, still und verträumt der schmale Horst Eckmann, stolzen Schrittes und kühnen Blickes Edmund Rainer, herrisch und fordernd Alex Petri. Zwischen ihre Brauen schob sich eine tiefe Falte. Das letzte Bild zerstörte das stille Träumen und Schauen. Schatten standen auf und verdrängten alles Licht. Im Dorf begann eine Glocke zu läuten. Aber es war noch nicht der Abendsegen, vielmehr der Glockenruf zur Maiandacht. Als Helene einmal aufschaute, war alles Licht über den Fichtenwipfeln schon erloschen. Es war, als hätte sich schon ein grauer Schleier darübergezogen. Sie wollte auf die Uhr sehen und merkte, daß sie vergessen hatte, sie anzulegen. Plötzlich verspürte sie auch einen riesigen Hunger, und sie machte sich auf den Heimweg. Sechs Knechte, darunter ein Siebzigjähriger mit struppigem Vollbart, und vier Mägde erwarteten in der großen Gesindestube die neue Herrin. Sie hatten sich alle in Sonntagsstaat geworfen und eine sichtliche Spannung lag auf ihren Gesichtern. Harlacher, der
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die Frau bereits gesprochen hatte, mußte immer wieder erzählen, welchen Eindruck er von ihr hatte. »Die Hauptsache ist«, meinte Schorsch, ein frischer braungebrannter Bursche, »daß Bergmann jetzt nicht mehr so viel zu sagen hat.« Ferdl, der rothaarige Stallbub, grinste und sagte rachelüstern: »Den Bergmann tät ich am liebsten acht Tag in den Saustall einsperren und bei jeder Futterzeit eine Tracht Prügel geben.« Alle lachten über Ferdls Wunsch, nur Tommerl, der Siebzigjährige, schwieg und kaute versonnen an seiner Pfeifenspitze. Da öffnete sich die Türe, und Bergmann betrat die Stube. Niemand rührte sich. Bergmann stand an der Tür und wartete. Und da niemand ein Wort sprach, ließ er ein verwundertes »Na« hören. Er wußte tatsächlich nichts mit der augenblicklichen Lage anzufangen. Diese offene Feindschaft hatte er nicht erwartet. Sofort merkte er, daß ein anderes Lüftchen zu wehen begann. In dieser Minute fielen ihm alle unsauberen Machenschaften ein, die er sich den Dienstboten gegenüber hatte zuschulden kommen lassen. Unter anderem hatte er ihnen eigenmächtig den Lohn gekürzt und das Geld für sich verwendet. Wenn das die Frau erfuhr, dann war er geliefert, da galt es schnell noch vorzubeugen, und deshalb zwang er sich trotz seiner Wut zu einigen freundlichen Worten. »Ich habe mit der Frau schon vereinbart, daß euch der Lohn erhöht wird. Ich habe mich sehr für euch ins Zeug gelegt, das dürft ihr mir glauben.« Das stimmte die Leute ein wenig freundlicher gegen den Schikanierer. Nur der alte Tommerl nahm seinen Pfeifenstengel aus dem Mund und meinte mit den Augen zwinkernd: »So? Hast du’s ihr gesagt?« In demselben Augenblick betrat Helene die Stube. In dem geblümten Dirndlkleid sah sie besonders gut aus. Sie reichte jedem die Hand und hatte für jeden ein freundliches Wort, so daß sie sich im Nu alle Herzen gewann.
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»Na, Väterchen, wie alt seid Ihr denn schon?« wandte sie sich scherzend an Tommerl. Staunend über diese freundliche Anrede hob der Alte seine klugen Augen zu der Fragerin auf. »Siebzig Sommer hab ich schon auf dem Buckel, siebzig Sommer!« »Arbeiten Sie denn noch in diesem Alter?« Sie wandte ihr Gesicht schnell dem Verwalter zu. »Der Mann soll von heute ab seinen Lebensabend in Ruhe genießen. Ich wünsche nicht, daß er zur Arbeit herangezogen wird, Herr Verwalter.« »Ganz, wie die gnädige Frau befehlen«, antwortete dieser, die Freundlichkeit selber. »So hoffe ich«, wandte sie sich an die Leute, »daß wir gut zusammen auskommen werden und daß ihr mir, wie meinem Vorgänger, die Treue halten werdet. Hat jemand von euch etwas auf dem Herzen, so wende er sich ungeniert und vertrauensvoll an mich. Ich werde immer für euch zu sprechen sein und, wenn es in meiner Möglichkeit liegt, auch gerne helfen. Wünschen Sie etwas, Harlacher?« wandte sie sich an diesen, als sie sah, daß er den Mund öffnete. Harlacher nickte, fand aber nicht die rechten Worte, weil ihn Bergmann mit stechenden Blicken fixierte. Helene kam ihm zu Hilfe und sagte: »Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, Harlacher, bin ich bei mir drüben zu sprechen.« Mit einem freundlichen Gruß verließ Helene die Gesindestube. Sie besichtigte Ställe und Wirtschaftsgebäude. Wie eine gutdressierte Dogge stolzierte der Verwalter neben ihr her und bemühte sich, die Herrin auf alles aufmerksam zu machen, was nach seinem Dafürhalten einer Verbesserung bedürfe. Welche Verbesserungen das wären, fragte Helene. Nun, zum Beispiel die Anschaffung neuzeitlicher Maschinen. Man könnte dabei einiges Personal einsparen und mit der Hälfte der Löhne auskommen. Bergmann sprach wie geschmiert. Man merkte, daß er sich alles vorher schon zurechtgelegt hatte, um die Herrin gleich bei der ersten Gelegenheit damit zu überrumpeln. 41
Helene betrachtete ihn von der Seite. Ihre Antwort klang ziemlich kalt und abweisend, als sie sagte: »Maschinen, ja. Aber sonst wünsche ich vorerst nicht, daß etwas geändert wird. Es soll so bleiben, wie es war. Wohlgemerkt, vorerst! Allerdings, dieses Mädel, diese Brigitte, bleibt von jetzt an ständig bei mir drüben.« Bei dem Wort Brigitte zuckte Bergmann ein wenig zusammen. Doch er hatte sich gleich wieder in der Gewalt und öffnete dienstbeflissen die breite Stalltüre. Helene war entzückt, als sie die zwei langen Reihen sauber gepflegtes Simmertaler Vieh sah. Ein froher Glanz kam in ihre Augen, ein Blick, der sich zu freuen schien an allem, was sich hier bot. Und das alles ist mein, dachte sie. Alles mein Eigentum, und alles aus eigener Kraft. Meine Kinder werden es einmal schöner haben. Da stockten plötzlich ihre Gedanken. Mit müder Hand strich sie sich über die Stirn. Hastig trat sie wieder hinaus. Über die Schulter zurück fragte sie : »Was ich noch sagen wollte, warum hat sich denn eigentlich der Jäger nicht eingefunden?« »Der Jäger?« schmunzelte Bergmann ironisch. »Der Herr Jäger beliebt grundsätzlich nur nach seinem eigenen Willen zu handeln. Ich habe es ihm gestern sagen lassen, aber wer es nicht der Mühe wert findet zu kommen, ist natürlich der Herr Jäger.« Wenn Bergmann geglaubt hatte, Helene dadurch zu erzürnen, so sah er sich ganz gründlich getäuscht, denn die Frau ließ nur ein kurzes Lachen hören und sagte erst nach einer Weile: »Eigentlich hat er ja recht. Er hat sicher viel Arbeit da droben und würde nur die Zeit vergeuden.« Dann wandte sie sich dem Haus zu und sagte Bergmann, er möchte sich erst in ein paar Tagen mit den Wirtschaftsbüchern bei ihr einfinden. Langsam schritten sie über den Hof zum Wohnhaus hinüber. Auf dem Weg dorthin lag ein weiß-blau gestrichener Baumstamm. »Was soll das bedeuten?« fragte sie stehenbleibend. Bergmann beeilte sich, seinen Mißmut über die Volksnarretei loszulassen. 42
»Es ist ein Maibaum, wie sie in dieser Gegend, einem alten Brauch gemäß, aufgestellt werden.« »Ach ja«, erinnerte sie sich. »Ich finde diesen Brauch sehr schön. Die alten Sitten sind doch immer die schönsten, finden Sie nicht auch, Herr Bergmann?« »Gewiß, gewiß«, erwiderte Bergmann voller Eifer. »Aber für diesen Zweck hätte es ein schwächerer Baum auch getan. Ich habe mich über des Jägers Eigenmächtigkeit sehr geärgert.« »Aber warum denn?« Helene lächelte, wandte sich brüsk von ihm ab und ging rasch ins Haus. Bergmann sah der schlanken Gestalt nach, wie sie im Dunkel des Flures untertauchte und hatte dabei das Gefühl, als ob sich ein Gewitter über ihm zusammenziehe. Wenn ich nur Gewißheit hätte, wer sie ist, dachte er wieder. Er wandte sich um und ging langsam ein Stück über den Gutshof hinaus. Seine Gedanken gingen weit in die Vergangenheit zurück. Ein schmales, blasses Mädchengesicht tauchte vor ihm auf. Fünfzehnjährig war sie damals, und er hörte wieder ihre bettelnde Stimme, er möchte sie doch in Ruhe lassen. Wenn es dieses Mädchen ist, dachte er, dann habe ich hier bald ausgespielt. Schließlich verwarf er diesen Gedanken wieder. Wie käme auch ein Mädchen, das damals dem Ramscheder die Kühe hütete, dazu, Herrin von Wildreut zu werden? Das ist sicher nur eine Ähnlichkeit mit jener anderen. Aber Gewißheit wollte er sich verschaffen. Er mußte es herausbringen, wer sie wirklich war und sich dann mit seinem Freund, dem Ramscheder, über alles genauestens unterreden. Ein bißchen mysteriös war es beim Verkauf des Gutes schon zugegangen. Die beiden Söhne des Barons von Haff waren gefallen, er selber bald nach dem Kriege gestorben. Eine Erbgemeinschaft hatte das Gut dann verkauft. Ihn selbst, den Verwalter Bergmann, hatte man dabei kaum zu Rate gezogen. Das war alles über einen Rechtsanwalt gegangen. Eine Zeitlang hatte dann Bergmann so43
gar mit dem Gedanken gespielt, das Feld zu räumen und anderswo unterzutauchen, bis er dann erfahren hatte, daß eine Frau den umfangreichen Besitz erworben hatte. Und er hätte nicht der abgefeimte, mit allen Wassern gewaschene Franz Bergmann sein müssen, wenn er nicht gleich wieder eine neue Rechnung aufgestellt hätte. Volontär war er einmal hier gewesen, Praktikant und schließlich Verwalter. Er wußte hier in allem Bescheid, und die Frau war auf ihn angewiesen, besonders wenn sie, wie er hoffte, von der Landwirtschaft nicht viel verstand. Und wenn er es richtig anpackte – nun, er war doch ein Kerl, gut gewachsen und, was die Frauen betraf, kein Laie. O ja, er hatte sich bereits großen und kühnen Gedanken hingegeben, und darum hatte es heute wie eine kalte Dusche auf ihn gewirkt, daß sie ihn so kalt und von oben herab gemustert hatte. Nein, es war ihm jetzt nicht mehr so zuversichtlich zumute und nicht mehr so wohl ums Herz. Irgend etwas Drohendes stand da im Hintergrund und wartete, daß es auf ihn zukam. Da hieß es auf der Hut zu sein, und er wollte sich schon abschirmen, nach jeder Richtung hin. Helene stand am Fenster ihres Zimmers und blickte sinnend in die Weite. Dunkel und schwer legte sich der Abend über die blühende Welt. Vom Dorf herüber klang der Abendsegen und ließ die Burschen, die drüben am Maibaum herumbastelten, in ihrer Arbeit innehalten. Da klopfte es an der Tür. Auf ihr »Herein« betrat der Stallbub das Zimmer und überbrachte ihr ein Schreiben, das ihrer Unterschrift bedurfte. Helene betrachtete das Formular- es war eine ganz belanglose Sache – und fragte dann den Buben: »Wer schickt dich denn eigentlich?« »Der Verwalter!« Helene sann ein Weilchen nach, dann unterschrieb sie mit ihrem Bühnennamen Marga Rogger. 44
Bergmann sollte sich vorerst noch in Sicherheit wähnen. Als Ferdl gegangen war, trat Helene wieder ans Fenster. Da sah sie, wie Bergmann drüben schon wartete und dem Buben das Schreiben förmlich aus der Hand riß. Jetzt wußte sie es bestimmt, Bergmann hatte sie erkannt. Deswegen hatte er den Buben mit dem belanglosen Schreiben zu ihr herübergeschickt, um durch die Unterschrift ihren Namen zu erfahren. Ein Weilchen später hörte sie tappende Schritte die Stiege heraufkommen. Es war Harlacher. Helene trat in das Zimmer zurück und schaltete das Licht ein. Harlacher war unter der Tür stehengeblieben, etwas zaghaft und unschlüssig, ob er eintreten dürfe. Doch die Herrin winkte und deutete auf einen Stuhl. »Kommen Sie nur, Harlacher. Sie werden doch nicht unter der Tür mit mir verhandeln wollen? Also, bitte, nehmen Sie Platz, und sagen Sie mir, was Sie zu mir führt.« Sie schenkte ihm ein Gläschen Likör ein. »Sprechen Sie sich ganz ruhig aus.« »Es ist ja eigentlich net schön, wenn ich gleich am ersten Tag mit einer Klage zu Ihnen komme. Nehmen Sie es mir nicht übel, Frau?« »Aber nicht im geringsten«, antwortete Helene. »Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt. Ich vermute allerdings schon, daß Ihre Klage mit dem Verwalter Bergmann zusammenhängt.« Überrascht hob Harlacher den Kopf. »Haben Sie das auch schon bemerkt, daß mit dem nicht alles in Ordnung ist?« »Ich habe das Gefühl, daß er es nicht ehrlich meint. Aber nur zu Ihnen gesagt, Harlacher.« »Natürlich! Auf mich können Sie sich verlassen. Wir sind jetzt alle schon jahrelang auf dem Gut, und seit es verkauft ist, sehe ich, daß es allweil mehr abwärtsgeht damit. Es tut mir leid, Frau, daß ich es sagen muß, aber es ist dem Bergmann seine Schuld. Und drum hab ich mir eben gedacht, wann die Frau nichts dagegen hätte, daß ich mich ein bissel um das Gut kümmern würde, es wäre manches abzuwenden. Es mag ja vielleicht sein, daß es jetzt 45
besser wird mit ihm, aber bisher war es so, daß er oft tagelang im Wirthaus gesessen hat.« Helene reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, Harlacher, daß Sie mir gleich am Anfang reinen Wein eingeschenkt haben. Selbstverständlich bin ich gerne damit einverstanden, wenn Sie sich in die Leitung des Gutsbetriebes einschalten. Eine Frage habe ich noch: Was bekommen Sie eigentlich an Lohn?« Harlacher nannte die Summe und fügte gleich hinzu, daß der Verwalter bereits erwähnt habe, ab nächsten Sonntag wieder mehr bezahlen zu wollen. »Das heißt, wenn es Ihnen schwerfällt, Frau, dann lassen wir es halt so wie bisher.« »Nein! Ich brauche nicht zu knausern. Wer arbeitet, soll auch anständig bezahlt werden!« »Jetzt kenn ich mich überhaupt nimmer aus. Vor Monaten hat es geheißen, die neue Besitzerin könnte die hohen Löhne nimmer zahlen.« Helene lächelte verständnislos. »Das muß wohl ein Irrtum sein.« »Aber Sie haben das doch dem Verwalter geschrieben?« »Ich? Nein, ich wußte ja gar nicht, wer hier Verwalter ist, weil alles Geschäftliche beim Kauf des Gutes mein Rechtsbeistand getätigt hat. Hat man denn tatsächlich den Lohn gekürzt?« »Freilich! Jedem um drei Mark die Woche.« »Das ist doch allerhand!« empörte sich Helene, und eine zornige Röte überflog ihr Gesicht. »Ich habe gute Lust und nehme mir den Burschen heute noch vor. Von morgen ab hat er aufgehört, mein Verwalter zu sein. Leute solchen Schlages kann ich nicht brauchen!« Erregt durchschritt sie das Zimmer. »Mir scheint, es war höchste Zeit, daß ich gekommen bin. Ein Glück für ihn, daß mich meine Verträge so lange festgehalten haben, sonst wären seine Machenschaften schon längst zu Ende gewesen.« »Ja, ja«, nickte Harlacher und fuhr sich mit gespreizten Fingern über das struppige Haar. »Ist gut, daß Sie da sind jetzt, Frau.« Dann ging er. In der Stube unten schlug die Kuckucksuhr die
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zehnte Stunde. Helene löschte das Licht aus und ging hinüber in ihr Schlafzimmer. Dort trat sie ans offene Fenster. Sie mußte zurückdenken an eine Mondnacht vor vielen Jahren, am Michigan. Damals war ihr Herz voll von Glückseligkeit, so sinnverwirrend war das Liebeswerben Alex Petris gewesen. Sie schloß die Augen. Und alles war Lüge! Gequält wandte sie sich vom Fenster ab. Doch plötzlich war ihr, als klinge ein feines Geräusch durch die Nacht. Sie lauschte, aber es war nichts mehr zu hören. Jetzt wieder das eigentümliche Knistern, so ähnlich, wie wenn sich ein Bohrer in ein Holz frißt. Helene glaubte, drüben am Gutshof einen Schatten zu gewahren, der sich am Maibaum zu schaffen machte. Und komisch, dieser Schatten hatte eine Ähnlichkeit mit der Figur des Verwalters Bergmann. Das Geräusch verstummte jetzt, und der Schatten verschwand plötzlich hinter dem Wagenschuppen. Es vergingen drei oder vier Minuten. Plötzlich zerriß ein furchtbarer Knall die nächtliche Stille. Im Gesindehaus erhellten sich die Fenster. Stimmen wurden laut, und Helene sah die Leute aus der Tür stürzen. Da warf sie sich hastig einen Mantel über die Schultern und ging hinüber. Ratlos standen die Leute um den zerrissenen Maibaum. Eine ruchlose Bubenhand hatte die mühselige Arbeit vieler Abende in die Luft gesprengt. Helene trat unter die Leute und sagte mit lächelndem Gleichmut: »Laßt den Kopf nicht hängen. Morgen früh holt ihr euch einen anderen Baum aus meinem Wald.« Da kam Bergmann um die Ecke gestürmt, nur in Hemd und Hose, wie ein aus tiefem Schlaf Erwachter. »Donnerwetter!« schrie er schon von weitem, »so ein Spektakel! Nicht einmal seine Nachtruhe hat man!« Dann besichtigte er mit
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gut gespielter Entrüstung den Schaden und sagte knirschend: »So eine Gemeinheit.« »Ja, so eine Gemeinheit«, kicherte Tommerl und spuckte aus, dem Verwalter knapp vor die Füße. »Pfui Teufel! So eine Gemeinheit!« Niemand wußte eigentlich, wie der Alte es meinte. Nur Helene verstand ihn. Jetzt erst gewahrte Bergmann die Herrin. »Ah«, wisperte er erstaunt. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie jetzt erst bemerkt.« »Um so länger bemerkte ich Sie schon, Herr Verwalter!« Dieses »länger« betonte Helene mit schneidender Schärfe. Bergmann zuckte ein klein wenig zusammen. Aber schon lächelte er wieder und meinte mit bekümmerter Miene: »Schad ums Vergnügen! So eine Maifeier ist immer ein Ereignis.« »Komödiant!« zischte Helene. Laut aber sagte sie: »Die Feier findet übermorgen doch statt – den Übeltätern zum Trotz. Gute Nacht, Leute.« Langsam schritt sie dem Haus zu. Sie merkte gar nicht, daß Tommerl an ihrer Seite war. Erst unter der Gartentür wurde sie ihn gewahr. »Ach, Sie sind es, Tommerl? Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Wünschen Sie etwas?« Der Alte lächelte. »Geh, du junges Frauerl. Was mußt denn Sie sagen zu mir? Hast es doch früher auch net gesagt, wenn du mir zugeschaut hast droben im Bergwald beim Kohlenbrennen. Weißt du’s nimmer? Geh, tu dich doch net verstellen, meine Augen, die trügen mich nicht, wenn sie auch schon alt sind.« Helene war überrascht. »Zugeschaut – beim Kohlenbrennen?« fragte sie langsam. Und plötzlich wußte sie es. Ganz deutlich konnte sie sich jetzt erinnern an das graue Männlein, dem sie als Kind so oft zugesehen und das ihr so wunderliche Geschichten erzählt hatte von Almgeistern und Berghexen. Wie manchmal über eine düstere Landschaft ein Sonnenleuchten geht, so hell
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glitt das Lächeln der Freude über Helenes Gesicht. Herzlich streckte sie dem Alten beide Hände hin. »Jetzt kenne ich dich wieder. Ja, du bist es, mein guter, alter Tommerl, der mir so manche Freude in meine einsame Kindheit brachte! Sag, wie kommst du denn eigentlich nach Wildreut? Konntest du dich denn von deinem Wald trennen? Hast du mich denn gleich wiedererkannt, Tommerl?« »Gleich auf den ersten Blick, wie du hereingekommen bist bei der Stubentür, hab ich dich wieder kennt.« Sie faßte den Alten am Ärmel. »Geh, komm doch noch ein wenig mit mir herauf, Tommerl. Erzähle mir, wie es dir immer ergangen ist, und...« »Na, na!« unterbrach sie der Alte, sich sanft losmachend. »Heut nimmer, ein andermal.« »Aber gelt, Tommerl – du behältst das Geheimnis um meine Person vorerst noch für dich. Ich muß erst noch ein paar Abrechnungen halten, dann sollen sie es wissen, wer ich bin.« »Ich sag nix«, erwiderte Tommerl. »Und gelt, tu nur gut abrechnen mit den gewissen Leuten. Gute Nacht!« »Gute Nacht, Tommerl!« Helene sah dem Greis nach, wie er durch den Mondschein dahintrippelte und dann im Gesindehaus verschwand. Es ist doch sonderbar, dachte Helene, als sie dann in ihrem Zimmer stand, niemand hat mich erkannt als der alte Mann. Draußen war die Nacht etwas heller geworden. Der Mond war über die Berge hochgestiegen und überschüttete das Land mit seinem Silber. Die Bäume standen still in ihrer Blütenpracht, und ganz traumverloren kam der Ruf eines Nachtvogels vom Bergwald herunter. Als Helene sich endlich anschickte, schlafen zu gehen, überkam sie zum erstenmal im Leben das Gefühl des Reichtums und der Würde. Glanz und Ruhm hatte sie kennengelernt, und Geld hatte sie in Mengen verdient, aber dieses wunderbare Gefühl des Zu49
friedenseins, das hatte sie bisher nicht gekannt. Zum erstenmal schlief sie in ihrem eigenen Haus. Wieder hatte sich ein Traum ihrer Kindheit erfüllt, und es kam ihr alles wieder in den Sinn, mit welch sehnsüchtigen Augen sie oft und oft auf dieses Wildreut herübergesehen hatte, zu jener Zeit, in der sie nur ein einziges Paar Schuhe gehabt, in denen sie zur kalten Winterszeit erbärmlich gefroren hatte. Und sie dachte daran, wie unter der glühenden Sonne zur Erntezeit ihre Lippen rissig wurden vor Durst und ihr die Hartherzigkeit des Ramscheder den labenden Trunk verweigerte, wenn sie ihm nicht schnell genug gearbeitet hatte. Sie war eben der letzte Dreck gewesen, der Endpunkt in der Reihe der Mägde und Knechte. Die Zeit hatte sich allerdings auch hier geändert. Man brauchte nicht mehr soviel Knechte und Mägde. Maschinen ersetzten sie, und Helene nahm sich vor, in den nächsten Tagen einmal genau Bilanz zu ziehen, Unnützes abzuschaffen und den Betrieb zu modernisieren. Die Leute sollten gleich erkennen, daß hier keine weltfremde Herrin eingezogen war, sondern ein Menschenkind, das von allem Glanz des Lebens wieder heimgefunden hatte zu den Wurzeln der Kraft und zum Boden, dem sie schon einmal gedient hatte. Als sie ihr Schlafzimmer betrat, fand sie das Bett frisch überzogen. Die Wäsche duftete nach Sonne und Wind, das Deckbett war zurückgeschlagen und auf der Kommode stand ein Wecker. Sie dachte flüchtig nach, dann stellte sie ihn auf drei Uhr früh. Die Nacht war also nicht mehr recht lang, sie fiel auch sofort in einen erquickenden Schlaf, und als sie dann erwachte, verblaßten bereits die ersten Sterne am Firmament. Für Helene hatte das Bergsteigen in der morgendlichen Dämmerung einen seltsamen Reiz. Eine Stunde mochte sie schon gestiegen sein, als der erste Glanz der Sonne in breiten Wellen über den Wald dahinflutete. Oben
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auf der freien Kuppe angelangt, blieb sie stehen und schaute in den erwachenden Morgen. Unten in der Tiefe sah sie Wildreut liegen und weiter rechts davon das Dorf. Nun verlor sich der Weg, und Helene wanderte ziellos weiter. Irgendwo muß ich schon herauskommen, dachte sie. Aber erst nach zwei Stunden lichtete sich der Wald, und eine kleine Fläche lag vor ihr. Ein wenig rechts davon eine Hütte, die verlassen schien, denn die Fensterläden waren dicht verschlossen, und auch sonst deutete nichts darauf hin, daß sie bewohnt wäre. Freilich, als sie ein Weilchen später an der verschlossenen Tür rüttelte, begann dahinter ein Hund Lärm zu schlagen. Ach schau, es wohnt also doch jemand hier, dachte Helene und schritt auf eine Bank zu, die an der Hüttenwand stand. Ganz still saß sie und ließ den Morgenwind mit ihren Haaren an den Schläfen spielen. Ab und zu strich sie eines der lockeren Härchen hinters Ohr. Ganz versunken war sie, ganz hingegeben wunschlosen Gedanken. Sie wußte nicht, daß sie schon geraume Zeit beobachtet wurde. Unweit der Hütte stand bereits eine ganze Weile Rupert Hiller zwischen den mannshohen Fichten und beobachtete den sonderbaren Besuch. Für Minuten schoß es ihm durch den Kopf, ob es vielleicht die neue Besitzerin von Wildreut sein könnte. Ebenso schnell verwarf er aber diesen Gedanken wieder. Wie käme die schon zu so früher Stunde hier herauf? Und überhaupt- eine Gutsbesitzerin stellte er sich jedenfalls anders vor. Unbedingt älter, mit Hängebacken, schmalen Lippen und kalten, harten Augen. Ganz sicherlich aber müßte sie graue Haare haben. Wie ein junges Mädchen sieht sie aus, dachte er. Oder ist es vielleicht schon eine Frau? Denn etwas Wissendes, fast etwas Lebensmüdes sprach aus dem schmalen Gesicht, dem nur der Glanz der Morgensonne frische Farbe verlieh.
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Wenn er jetzt plötzlich heraustrat aus seiner Deckung, mußte sie unbedingt erschrecken. Deshalb pirschte er sich lautlos zurück und kam dann ein Weilchen später von der höher gelegenen Waldschneise her. Helene hörte schnelle Schritte und stand auf. Ein leichtes Rot flog über ihr Gesicht hin. Vor ihr stand der Jäger und bot ihr lachend einen »Guten Morgen« ! »Guten Morgen«, erwiderte sie etwas befangen. Wo habe ich denn diese Augen schon gesehen, dachte sich Rupp, während er den Hüttenschlüssel aus der Tasche zog. Dann fragte er: »Hat sich das Fräulein vielleicht verirrt?« »Ich? – Ja, gewiß ! Ich wollte nur einmal einen Sonnenaufgang in der Höhe erleben.« »Da müssen Sie aber den Bettzipfel schon früh ausgelassen haben.« »Ja, um drei Uhr habe ich mich auf den Weg gemacht, aber es hat mich nicht gereut. Ein Morgen in solcher Höhe ist herrlich.« Rupp hatte unterdessen die Hüttentüre aufgesperrt und schon surrte der Dackel heraus und sprang seinem Herrn mit freudigem Gekläff um die Waden, bis er Helene gewahrte. Da stellte er sein Kläffen ein. Er ließ sich – was er sonst von niemand als von seinem Herrn litt – von dieser weißen Hand streicheln. »Schau einer so ein Luderviech an«, lachte Rupp. »Von keinem Menschen läßt er sich sonst anrühren. Freilich, Sie haben schon eine ganz feine Hand. Da ließe sogar ich mich streicheln.« Lachend trat er in die Hütte, stieß die Fensterläden auf und kam erst nach einer Weile wieder zum Vorschein. Offenbar wußte er mit diesem unverhofften Besuch nicht viel anzufangen! Wahrscheinlich, dachte er, wird sie Hunger haben. Aber er konnte ihr nichts weiter anbieten als kalte Milch und etwas Butter und Brot. Sie selber schien gar nichts bei sich zu haben, denn außer einem Lodenumhang sah er nichts neben ihr auf der Bank liegen. »Wenn ich mir erlauben darf, die Dame zu einem kargen Jägerfrühstück einzuladen?« sagte er. 52
Helene wollte ablehnen, aber es lag etwas Bittendes in seiner Stimme, daß sie es nicht übers Herz brachte, ihm einen Korb zu geben. So sagte sie denn: »Wenn ich nicht fürchten muß, daß Ihre Speisekammer gar zu sehr darunter leidet, dann gerne.« An ihm vorbei schritt sie in das Innere der Hütte. »So, jetzt machen Sie sich’s nur bequem einstweilen.« Er deutete dabei auf seinen Strohsack und auf den einzigen hölzernen Stuhl. Sie konnte sich die Sitzgelegenheit aussuchen. Dann öffnete er eine Falltüre, stieg in den Keller hinunter und brachte etwas Butter, Brot und Milch herbei. Und wie sie sich so gegenübersaßen, da mußte er wieder denken: Wo habe ich denn bloß dieses Gesicht schon gesehen? Dabei war ihm zumute, als hätte sich die ganze Hütte verwandelt, als sei alles viel heller und freundlicher geworden durch die Gegenwart. »Haben wir uns denn nicht schon irgendwo einmal gesehen?« fragte er dann. Sie lächelte. »Vielleicht!« sagte sie. »Standen Sie nicht vor ein paar Tagen einmal beim Hirschwirt unten?« »Richtig, ja!« Er sah sie wieder an. »Jetzt weiß ich es. Haben Sie nicht im Garten gesessen?« Helene nickte und trank den Rest ihrer Milch aus. »So gut wie das hat mir schon lange nichts mehr geschmeckt. Sind Sie eigentlich immer ganz allein hier oben? Und kommen Sie nie hinunter ins Dorf?« »Höchst selten. Die Woche war ich bloß einmal unten, weil es geheißen hat, die neue Besitzerin von Wildreut käme. Aber dann hat mir der Wirt erzählt, daß er den Harlacher mit der leeren Kutsche hat heimfahren sehen.« »Und meinen Sie, daß sie in der Zwischenzeit nicht gekommen ist, die neue Besitzerin?« »Ich weiß es nicht, auf alle Fälle bleibe ich jetzt einmal so lange oben, bis sie mich holen läßt. Schließlich
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habe ich ja nicht so viel Zeit, um alle Tage da hinunterzulaufen und zu schauen, ob die Gnädige da ist.« »Natürlich, das verstehe ich vollkommen.« Helene lächelte ein wenig. »Dann wissen Sie auch gar nicht, wer sie ist und wie sie ausschaut?« Der Jäger biß herzhaft in sein Butterbrot. »Keine Ahnung, aber ich kann mir schon denken wie sie ausschaut. Wie sie halt alle ausschauen, diese alten Möbelstücke. Im übrigen kann es mir gleich sein. Die Hauptsache ist, wenn sie mir meine Ruhe läßt hier oben.« »Sind Sie gerne hier?« »Ja, gern ! Ich wüßte nicht, was mir lieber wäre nach alldem, was hinter mir liegt.« »Schweres?« »Haben wir denn nicht alle Schweres hinter uns? Jeder auf seine Art. Was mich betrifft, so habe ich so ziemlich alles zurücklassen müssen.« Er schaute mit zusammengezogenen Brauen durchs Fenster hinaus. »Aber was erzähle ich Ihnen da. Mir geht nichts ab. Ich habe Glück gehabt, anderen geht es viel schlechter. Aber nun langen Sie doch zu, schmeckt es Ihnen nicht?« »Doch, sehr sogar.« Sie wischte ein paar Brotkrumen vom Tisch und sah ihn an. Er wich ihrem Blick nicht aus. Und als er langsam seine Hand über den Tisch herschob und die ihre umschloß, hatte sie nicht den Mut, es ihm zu wehren. Das schien dem Dackel nicht ganz geheuer zu sein. Zuerst schaute er sich das Spiel mit schief gehaltenem Kopf an, dann bellte er. Helene zog ihre Hand zurück und lächelte. »Er ist eifersüchtig.« Rupp tätschelte den Hund und meinte gutmütig: »Dummes Hexle, da brauchst du doch nicht gleich eifersüchtig zu sein.« »Vielleicht hat er nur eine Eigenschaft seines Herrn angenommen?« scherzte Helene und stand auf. Auch er erhob sich.
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»Ich habe niemand, auf den ich eifersüchtig sein müßte. Aber auch dann – Eifersucht ist immer etwas Dummes. Finden Sie nicht?« »Ich weiß nicht!« »Ich meine, wenn man zu einem Menschen gehört, dann muß das Vertrauen zueinander groß sein, daß Mißtrauen, die Wurzel der Eifersucht, gar nicht auftreten kann. »Sie sprechen aus Erfahrung?« Sie strich sich über die Stirne, wie um quälende Gedanken zu verscheuchen. »Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Und – behüt Sie Gott.« »Wollen wir nicht lieber sagen – auf Wiedersehen?« »Ich weiß es nicht. Sie sagten ja vorhin, daß Sie nicht alle Augenblicke ins Tal hinunterlaufen könnten.« »Das gilt aber doch nicht für Sie. Damit habe ich ja die alte Schachtel gemeint, die neue Besitzerin von Wildreut, die schon seit einer halben Ewigkeit kommen soll und doch nicht kommt.« »Ach so? Na, vielleicht komme ich wieder einmal vorbei bei Ihnen, wenn ich Ihnen nicht zuviel Zeit wegnehme.« »Zeit ist das einzige, was ich im Überfluß habe, wenigstens für Sie«, lachte er. Da entzog sie ihm ihre Hand und ging schnell hinaus. Von der Türschwelle aus sah er ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwand. Ihm war zumute, als sei soeben etwas Helles aus seinem Leben gegangen. Ich glaube gar, ich bin verliebt. Das ginge mir gerade noch ab, aber sauber ist sie, bildsauber. Da fiel sein Blick auf den Lodenmantel, den sie auf der Bank hatte liegen lassen. Das war ja ein wunderbarer Zufall. Nun mußte sie wiederkommen. Oder nein! Man konnte ihr nachlaufen. »Hallo!« Helene blieb stehen und schaute zurück. Da sah sie ihn den Steig herunterspringen. Lachend stand er dann vor ihr. »Sie haben Ihren Mantel vergessen.« »Ja, danke.« Sie hing den Mantel über den Arm. »Danke vielmals«, fügte sie noch hinzu und erschrak nun doch ein wenig, 55
denn der Jäger faßte sie plötzlich an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Sie haben mir nicht einmal Ihren Namen gesagt.« »Ist das so wichtig?« »Ich muß doch wissen, wie ich Sie nennen soll. Was mich betrifft, ich heiße Rupert Hiller.« Einen Augenblick flog eine Röte über ihr Gesicht. Ihr war, als dürfe sie diesen Menschen nicht länger anlügen. Aber dann tat sie es doch, indem sie ihn wissen ließ, daß sie Marga Rogger heiße. »Marga...«, sprach er langsam nach. »Ein schöner Name und leicht zu merken.« »Aber auch leicht zu vergessen!« Er schüttelte den Kopf und zog sie noch näher an sich. »Es ist merkwürdig. Sie sind nach langer Zeit der erste Mensch, zu dem ich Vertrauen habe. Ich möchte Sie recht bald wiedersehen. Vielleicht am Sonntag, da ist Maitanz im Ort. Sind Sie noch so lange dort?« »Vielleicht! Vielleicht auch länger. Das kann man gar nicht wissen.« »Und wenn ich Sie bitten würde, noch recht lange zu bleiben? Sehen Sie, ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, wer Sie sind, ich weiß nur eines, daß Sie mir in meiner Einsamkeit wie ein tröstendes Licht erschienen sind. Vielleicht werden Sie denken: ein bissel schnell hat es ihn gepackt. Ich verstehe es selber nicht, wie das so plötzlich über mich kommen konnte. Und ich bin jetzt so froh, daß ich Ihnen das sagen durfte. Sind Sie nicht böse, aber ich mußte es sagen.« Helene stand mit geneigtem Kopf. »Nein, ich bin Ihnen nicht böse. Warum denn auch?« Sie wehrte sich nun nicht mehr. Es war, als überkomme sie eine gänzliche Willenlosigkeit. Sie spürte seinen Kuß auf ihrem Mund. Da machte der Hund aller Zärtlichkeit ein Ende. Er kam mit wilden Sätzen gesprungen und gab ein paar Laute von sich.
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Langsam löste sie ihre Hände aus den seinen. »Nun laß mich gehen, Rupert. Wir werden uns ja bald wiedersehen.« Damit wandte sie sich rasch ab und sprang davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Kopfschüttelnd sah ihr Rupp nach. Dann wandte sich sein ganzer Zorn gegen den Dackel. »Hundsvieh! Noch einmal misch dich drein, dann gibt’s aber was!« Treuherzig blinzelte Hexle zu ihm auf und ließ das kirschrote Zünglein über die scharfen Zähne hängen. Kurz darauf stiegen sie beide wieder den Weg zurück zur Hütte. Helene blieb erst stehen, als sie aus dem Schatten des Waldes trat. »Es ist merkwürdig«, sagte sie leise vor sich hin, »sehr merkwürdig...« Da erschrak sie, denn unmittelbar neben ihr tauchte Bergmann aus dem Wald auf. Er schien sie gesucht zu haben. »Endlich finde ich Sie, gnädige Frau. Wo in aller Welt sind Sie gewesen? Ich habe Sie überall gesucht.« Helene maß ihn mit einem gelangweilten Blick. »Mich gesucht? Wie kamen Sie darauf?« »Ich wollte Sie heute früh in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Der Harlacher mischt sich in meine Sachen hinein und tat so, als ob -« »Ich habe gestern mit Harlacher darüber gesprochen, er ist ganz in seinem Recht«, sagte Helene und ging weiter. Verbissen folgte ihr Bergmann. Erst nach einer Weile sagte er: »Herr Ramscheder wartet bereits seit einer Stunde auf Sie.« »Ach?« Helene zog die Brauen hoch. »Was will er denn?« »Herr Ramscheder stand mit Ihrem Vorgänger auf gutem Fuß und möchte nun auch Ihnen seine Aufwartung machen.« »Sehr nett von ihm. Nur finde ich, daß er damit ein wenig früh daran ist. Wie spät ist es eigentlich schon?« Bergmann zog beflissen seine Uhr. »Es ist gleich neun Uhr.« 57
»Danke! Aber nun lassen Sie mich bitte allein. Es könnten nur unliebsame Schlüsse daraus gezogen werden, wenn man uns zusammen aus dem Wald kommen sieht.« In Bergmanns Augen sprühte der Zorn. »Ich wüßte wirklich nicht, welche Schlüsse man ziehen könnte, wenn Herrin und Verwalter einen Rundgang über die Felder machen.« »Einerlei«, erwiderte sie ruhig. »Ich möchte allein sein. Auf Wiedersehen bis in einer Stunde.« Helene schritt an ihm vorbei und sah nicht den haßerfüllten Blick, den er hinter ihr herschickte. Bevor sie auf das Wohngebäude zuschritt, ging sie zu den Gutshäusern hin und sagte dort dem Jungknecht Schorsch: »In einer Stunde kommst du zu mir herüber. Es ist möglich, daß ich dich brauche.« Sie nickte ihm freundlich zu und ging zum Wohnhaus hinüber. Der Ramscheder erhob sich von der Hausbank und machte eine Verrenkung mit seinem massigen Oberkörper, die einer Verbeugung ähnlich sah. Wer hätte sich das träumen lassen, daß der stolze Ramscheder ein Buckerl machen würde vor einer Frau, die in ihren Mädchenjahren einmal bei ihm gedient hatte. Aber das wußte er nicht – noch nicht. Wie die Zeiten sich ändern, dachte sich Helene. Sonderbar, daß er mich nicht kennt. Der Ramscheder sprach etwas von guter Nachbarschaft und blinzelte dabei listig zu Helene auf, die ihn fast um einen Kopf überragte. »Sehr nett von Ihnen, daß sie mich heute schon beehren, Herr Ramscheder«, sagte sie mit erzwungener Heiterkeit. Der Ramscheder setzte sich, da sie ihn nicht einlud ins Haus zu treten, wieder auf die Bank, lehnte den Kopf an die Mauer und drehte die Daumen. In ruhiger Haltung stand Helene vor ihm und guckte hinauf zu den Bergen. Es interessierte sie nur ganz oberflächlich, was der Ramscheder ihr zu sagen hatte über die Fruchtbarkeit des Bodens und über das schöne Wetter. Allmählich aber kam er vom blauen Himmel auf andere Dinge zu sprechen. Am 58
meisten fiel es ihr dabei auf, daß er den Verwalter Bergmann als ehrlich und zuverlässig pries. »Es ist gut für ihn, wenn sich diese beiden Eigenschaften bei ihm beweisen«, sagte Helene nach einer Weile. »Im übrigen bin ich es gewöhnt, um jedem Mißtrauen vorzubeugen, jedem meiner Angestellten auf die Finger zu sehen.« »Ganz recht«, bestätigte der Ramscheder. »Ganz recht so, man kann heutzutag keinem Menschen mehr trauen. Obwohl – für den Bergmann, da lege ich meine Hand ins Feuer. Da können Sie froh sein, Frau, daß Sie den haben. Der schaut auf alles, als ob es sein eigener Besitz wäre.« »Ich hatte leider noch keine Möglichkeit, mich von seinen Qualitäten zu überzeugen«, meinte Helene abweisend. Der Ramscheder machte eine kleine Pause und kam dann mit verschleierten Andeutungen auf die Jagd zu sprechen, und daß die einen viel größeren Nutzen für die Frau brächte, wenn sie diese verpachten würde. Aha, dachte Helene! Dahinaus will er! »Was für einen Nutzen zum Beispiel?« fragte sie, nun doch etwas neugierig geworden. »Fürs erste brauchten Sie keinen eigenen Jäger mehr und -« »Ach, darum geht es?« unterbrach ihn Helene spöttisch. »Wem ist denn der Jäger im Weg?« »Nein, nein«, wehrte sich der Ramscheder entrüstet. »Sie fassen es ganz falsch auf, Frau. So hab ich das nicht gemeint.« »Möglich. Aber schlagen Sie sich das ruhig aus dem Kopf. Da wird nichts daraus. Ich denke gar nicht daran, da etwas zu ändern. Was sich mein Vorgänger leisten konnte, kann ich auch.« Im Gesicht des Bauern verzog sich kein Muskel. Nur die Augen kniff er ein klein wenig zusammen. »Aber warum denn gar so hitzig, Frau, das ist net gut, wenn man gleich so einen harten Kopf aufsetzt. Einen guten Rat soll man net von der Hand weisen. Man weiß nie, wie man einander brauchen kann.«
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»Für einen guten Rat bin ich immer dankbar. Und wenn Sie Wildschaden gehabt haben, so sagen Sie es ruhig.« »Na ja, ohne Schaden geht es da nicht leicht ab.« »Ist er ersetzt worden?« »Zum Teil, ja.« »Soweit die Forderungen nicht übertrieben sind, werde selbstverständlich auch ich für den Schaden aufkommen. Gibt es sonst noch etwas von Bedeutung?« Ramscheder hatte einen Besuch machen wollen, einen Antrittsbesuch sozusagen, weil er trotz aller Unhöflichkeit, wenn es die Umstände erforderten, ein höflicher Mann sein wollte. Aber es sah nicht ganz so aus, als ob dies von Seiten dieser Frau gebührend geschätzt würde. Er verzog schmollend die Lippen und drehte die Daumen noch heftiger. Dann stand er auf. »Ja, dann geh ich halt wieder«, meinte er und verabschiedete sich mit der überschwenglichen Versicherung seiner treuen Nachbarschaft. »Warte nur, du hochnäsiges Luder«, brummte er für sich hin. »Du wirst es schon noch lernen, wie man mit dem Ramscheder umgeht.« Helene trat nun ins Haus, und gleich darauf erschien Brigitte mit dem Frühstück. »Nein, trag es nur wieder hinaus. Ich habe schon gefrühstückt«, sagte Helene und mußte dabei unwillkürlich lächeln. »Schon gefrühstückt?« fragte Brigitte erstaunt. »Ja – wo denn?« Da trat Helene an das Mädchen heran und zupfte sie gutmütig am Ohrläppchen. »Man darf nicht so neugierig sein, kleines Mädel. Aber glaub es nur, ich habe schon gefrühstückt. Was ich noch sagen wollte, wie steht es denn bei dir mit den Kochkenntnissen?« »Schlecht, Frau«, gestand Brigitte verschämt. »Ich habe es nirgends lernen können.« »Ja, ja, ich weiß schon, wie das ist«, nickte Helene. »Kaum aus der Schule, heißt es ran an die schwere Arbeit. Na ja, vielleicht schicke ich dich gelegentlich einmal ein paar Monate fort zum 60
Kochenlernen. Ja, ja, ist schon gut, nur nicht gleich weinen. Und nun bring mir die Post.« Es waren nur zwei Karten eingelaufen. Helene griff zuerst nach der einen, die amerikanische Marken trug. Sie lautete: »Liebwerte Kollegin! Sende Dir vor meiner Rückkehr nach Deutschland die besten Grüße in der Hoffnung, daß ich Dich dann in Bremen antreffe. Unser letzter gemeinsamer Film >Wetterleuchten!< ist ein großer Erfolg geworden. Alles Nähere mündlich. Mit herzlichen Grüßen Dein Luck von Hagen.« »Armer Luck!« flüsterte Helene vor sich hin. »Immer noch wie ein Primaner verliebt bis über die Ohren. Es wird ihn ein wenig schmerzen, daß ich so spurlos aus seinem Leben verschwinde .« Eigentlich war es ein wenig undankbar von ihr. Luck war ihr damals, als Petris Treubruch sie beinahe um den Verstand brachte, wirklich Halt und Stütze gewesen. Sein natürliches, sonniges Wesen half ihr über alle schweren Gedanken hinweg. Sie war ihm sehr gut, aber Liebe, wie er sie verdient hätte, die hatte sie ihm nicht geben können. Helene griff nach der zweiten Karte, die eigentlich an die Gutsverwaltung Wildreut gerichtet war. Schon bei den ersten Sätzen stutzte sie und las dann ein zweites Mal: »Wir machen Sie höflich darauf aufmerksam, daß der am 4. 4. abgeschlossene Kaufvertrag für uns weiterhin Rechtskraft besitzt, auch wenn wir im Augenblick nicht in der Lage sind, das Holz abtransportieren zu lassen. Es wäre uns deshalb erwünscht, wenn Sie sich gelegentlich in dieser Sache mit uns in Verbindung setzen würden. Hochachtungsvoll Gebr. Berthold.« Empört sprang Helene auf. Wie kam Bergmann dazu, am 4. 4. noch einen Holzverkauf abzuschließen, nachdem das Gut bereits seit einem halben Jahr in ihren Besitz übergegangen war? Weshalb hat er davon nie eine Silbe erwähnt? Na, da bin ich ja jetzt neugierig, wie er sich da wieder herausreden wird.
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Es klopfte und Schorsch stand wartend unter der Tür. Helene führte ihn in einen Raum, der eine Verbindungstür hatte mit dem Zimmer, in dem sie mit Bergmann abrechnen wollte. »Von diesem Guckloch aus kannst du alles beobachten«, erklärte sie ihm. »Wenn du siehst, daß ich Hilfe brauche, hoffe ich, daß ich mich auf deine starken Arme verlassen kann.« Schorsch grinste und krempelte sich die Ärmel hoch. Er dachte sich’s schon, daß die Frau den Bergmann gemeint hatte. »Grad mucksen soll er sich, der -« Lächelnd klopfte Helene dem kampflüsternen Jüngling auf die Schultern. »Na, mach’s gut, Schorsch. Dort auf dem Tisch liegen Zigaretten, damit kannst du dir inzwischen die Zeit vertreiben.« Zehn Minuten später erschien Bergmann und wurde von Helene ins Wohnzimmer geführt. Nach einer halben Stunde klappte Helene das Wirtschaftsbuch zu, lehnte sich in dem Sessel zurück und nahm den Verwalter scharf ins Gebet. »Die Einnahmen decken sich mit den Ausgaben«, sagte sie kühl und gelassen. »Aber nun erklären Sie mir, wo das Geld hingekommen ist, das Sie dem Personal abgezogen haben?« Bergmann wechselte die Farbe und erklärte unsicher: »Ich habe es für dringende Ausbesserungen in den Ställen gebraucht.« »Warum sind dann diese Ausgaben in den Büchern nicht aufgeführt? Und warum verzeichnen Sie in den Büchern trotzdem den vollen Lohn für das Personal?« »Zweifeln Sie vielleicht, daß ich diese Ausbesserungen...« »Danach habe ich jetzt nicht gefragt«, unterbrach ihn die Frau. »Habe ich denn keinen Grund, an Ihren Angaben zu zweifeln? Erstens haben Sie dafür keine Belege, und zweitens bin ich über die persönlichen Anschaffungen sehr überrascht.« »Was ich mit meinem Gehalt mache, geht niemand etwas an«, brauste Bergmann auf. »Nein, das nicht«, erwiderte Helene scharf. »Aber von Ihrem Gehalt hätten Sie sich nicht das Haus im Ort kaufen können und 62
auch nicht den Wagen, der in der Remise steht. Das ging wahrscheinlich auf Kosten der Arbeiter. Und das ist eine gemeine Schufterei!« Aufbrausend schlug Bergmann mit der Faust auf den Tisch. »Ich möchte bitten, in einem anderen Ton mit mir zu sprechen!« »Mit Menschen Ihres Schlages pflege ich grundsätzlich nicht anders zu sprechen. Das Geld wird den Leuten nachbezahlt, darauf können Sie Gift nehmen. Und zwar auf Ihre Kosten, wenn Sie nicht haben wollen, daß sich die Behörden damit beschäftigen.« Daraufhin warf sie ihm die Karte der Holzfirma hin. »Nun erklären Sie mir, wie sich das zusammenreimt? « Bergmann warf nur einen Blick auf den Firmenstempel und wurde blaß. Da sprach Helene schon weiter: »Was ordnungsgemäß an Nutzholz geschlagen worden ist, das ersehe ich aus den Wirtschaftsbüchern. Was soll aber diese private Abmachung mit dem Sägewerk Berthold?« Ein Gedanke durchzuckte sie plötzlich. War vielleicht auch der Jäger in dieses schmutzige Geschäft verwickelt? »Ist denn für den Holzeinschlag nicht der Jäger zuständig? Ich glaubte doch vorhin irgendwo seine Unterschrift gelesen zu haben.« »Gewiß, ja, das ist immer auch mit dem Jäger besprochen worden.« »Auch die Abmachung mit der Firma Berthold?« »Nein, das nicht, aber – wie soll ich denn das gleich erklären -« »Gar nicht! Es genügt mir bereits. Der Verkauf wird selbstverständlich rückgängig gemacht. Wie Sie sich dabei aus der Schlinge ziehen, ist Ihre Sache. Im übrigen werden Sie wohl begreifen, daß ich für Ihre weiteren Dienste keine Verwendung mehr habe.« Bergmann sprang mit aschfahlem Gesicht auf. »Soll ich das vielleicht als Kündigung auffassen?« Helene lachte ihm kalt ins Gesicht. »Ich glaube, ich habe deutlich genug gesprochen, und Ihre Entrüstung ist hier ganz fehl am Platze, Herr Bergmann.« »Ist das ihr letztes Wort?« 63
»Ja, mein letztes. Oder halt, eines habe ich Ihnen noch zu sagen.« Helene trat dicht vor ihn hin. »Nach dieser Stunde habe ich mich gesehnt, seit vielen, vielen Jahren. Ich heiße nämlich nicht Marga Rogger, sondern Helene Stay. Ich glaube, an diesen Namen können Sie sich besser erinnern, wenn Sie mich nicht schon früher erkannt haben. Nun sind wir quitt, Herr Bergmann. So wie ich damals wehrlos in ihrer Hand war, sind Sie jetzt in der meinen. Und nun gehen Sie. Dort ist die Tür bitte!« Zischend schrie Bergmann: »Ja, ich gehe, aber Sie werden noch an mich denken!« Mit käsigem Gesicht taumelte er aus dem Zimmer. Er merkte gar nicht, daß Schorsch es war, der ihm die Tür öffnete. Gegen die vierte Nachmittagsstunde wurde der Maibaum ins Dorf hinübergeschafft. Von ihrem Fenster aus konnte Helene beobachten, wie der Koloß langsam aufgerichtet wurde. Nach einer Weile sah sie den Harlacher allein die Straße daherkommen. »Warum bleiben Sie denn nicht drüben bei den andern?« rief ihm Helene vom Fenster aus zu. »Geht net, Frau, geht net. Sollen nur die andern lustig sein. Für mich schickt’s sich jetzt nimmer als Verwalter.« Ein froher Glanz lag in Harlachers Augen, den Helene an Bergmanns Stelle beordert hatte. Mit klappernden Schritten ging er weiter. Sinnend sah ihm Helene nach, und ein befreiender Atemzug hob ihre Brust. Sie wußte, daß sie sich auf diesen Menschen verlassen durfte, denn Harlacher wußte das in ihn gesetzte Vertrauen zu schätzen. Etwas später verließ Helene das Haus, um ins Dorf zu gehen. Sie wollte den jungen Leuten gerne eine Freude machen und zur Feier des Tages ein Faß Bier stiften. In der Sonne wanderte sie auf dem schmalen Fußweg dahin. Plötzlich hörte sie hinter sich schreiende Stimmen, und als sie zurückblickte, sah sie im Gutshof zwei ringende Männer.
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So schnell ihre Füße sie trugen, rannte sie zurück. Doch noch ehe sie den Hof erreichte, sah sie Bergmann mit jagenden Sätzen dem Wald zurennen. Mit keuchender Brust und zerfetztem Hemd lehnte Harlacher an der Stalltür und hielt sich den linken Arm, an dem Blut herunterrann. »Um Gottes willen, Harlacher«, rief Helene. »Was hat es denn da gegeben? Sie bluten doch!« Harlacher lächelte mit bleichen Lippen. »So ein Lump, so ein gemeiner!« »Kommen Sie, ich will Ihnen den Arm verbinden.« Sie schritt ihm voraus in die Gesindestube und verband ihm die Wunde am Arm. »Haben Sie Schmerzen?« »Ach woher denn. So ein Ritzer schadet mir nix, das ist bloß ein kleiner Aderlaß. Freilich, vermeint war mir’s anders. Eine Sekunde später, und das Messer hätte mir in der Brust gesessen!« Und dann erzählte Harlacher, wie alles gekommen war. Drüben im Dorf habe er schon keine rechte Ruhe mehr besessen. Er habe so eine Ahnung gehabt, als führe der Bergmann etwas im Schilde. Und richtig, als er den Stall betreten, habe Bergmann gerade den Pferden Futter vorschütten wollen. Und das sei ihm sofort verdächtig gewesen, denn erstens hätte der Bergmann nach seiner Entlassung im Stall nichts mehr zu suchen gehabt, und zweitens hatte er sich sonst auch nie um die Rösser gekümmert. »Was machst denn du da ? hab ich ihn gefragt. Da ist er ganz weiß geworden im Gesicht und hat vor Schreck das Schaffel fallen lassen. Hast das Futter vergiftet? hab ich geschrien. Da hatte er mir frech und spöttisch ins Gesicht gelacht. Ich weiß net, ob er noch lebend aus dem Stall gekommen wäre, wenn er mir net mein Messer aus der Tasche gerissen hätte.« Harlacher lächelte ein wenig und setzte hinzu: »Da hat sich’s wieder bewiesen, daß der Mensch einen Schutzengel hat.« Helene nickte, dann stand sie rasch auf.
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»Kommen Sie, wir wollen uns überzeugen, ob sich Ihre Vermutung bewahrheitet.« Dann knieten sie drüben am Futtergang und untersuchten das am Boden verschüttete Häcksel. Harlacher nahm eine Handvoll und hielt es gegen das Fenster. Und da entdeckte er, daß das ganze Futter mit kleinen Schuhnägeln vermischt war. Helene faßte nach Harlachers Hand. »Ich danke Ihnen und bitte Sie herzlich, mir auch weiterhin beizustehen in dem Kampf, den Bergmann mit solch unsauberen Mitteln gegen mich führt. Ich weiß es wohl, daß ich ihn mir durch die Entlassung zum Todfeind gemacht habe.« Dann verließ sie den Stall und machte sich zum zweiten Male auf den Weg ins Dorf. Das Erscheinen der jungen Wildreuterin erregte im Dorf beträchtliches Aufsehen. In der kurzen Zeitspanne von Mittag bis zum Abend mußte es sich schon überall herumgesprochen haben, wer sie eigentlich war. Da und dort grüßten Leute, da und dort blieb sie flüchtig an einem Gartenzaun stehen und wechselte mit den Leuten freundliche Worte. Leutselig plauderte sie mit dem jungen Volk, das sich um den Maibaum versammelt hatte. Dabei fiel ihr auch das schwarzhaarige Mädchen auf, das ihr beim ersten Gang durch das Dorf begegnet war. Helene zuckte ein wenig zusammen unter dem herausfordernden Blick, mit dem Klara sie musterte. Dann reckte sie sich und erwiderte den Blick. Da drehte die Klara das Gesicht zur Seite und grub die Zähne in die vollen roten Lippen. Eine Zeitlang schaute Helene dem Treiben unter dem Maibaum zu. Dann wurde sie vom Ramscheder angerufen, der mit dem Kastenhofer im Wirtsgarten saß. Mit Widerwillen nahm Helene die Einladung der beiden an. Ramscheder begann sofort: »Grad haben wir von Ihnen geredet. Also – ich sag Ihnen – ich war einfach platt, einfach platt war ich, wie ich gehört hab, daß 66
Sie das Lenerl sind. Man möcht net glauben, wie sich der Mensch verändern kann. Ich hätt Sie wirklich nimmer gekannt. Mei, wer denkt denn auch da dran, daß Sie nach so viel Jahren zu uns herfinden könnten.« »Ja, und dann gleich als Gutsbesitzerin, net wahr?« sagte Helene etwas spitz. Ramscheder tat, als ob er das überhört hätte, und fuhr fort: »Wenn ich dran denk, was für ein kleines Zwackerl Sie gewesen sind, wie Sie auf meinen Hof gekommen sind, ohne nix, grad ein einziges Kleiderl ham Sie gehabt. Und wie Sie dann fort sind mit den Herrschaften vom Theater. Mei, hab ich mir oft denkt, wie wird’s ihr gehen, dem armen Lenerl.« O du scheinheiliger Pharisäer, dachte Helene. Und laut sagte sie: »Mir ist es gut gegangen da draußen in der Welt.« »Das kann ich mir denken, sonst hätten Sie net Wildreut kaufen können. Freilich, fleißig und sparsam sind Sie ja als Madel schon immer gewesen, das muß man ihnen lassen.« Der Wirt räusperte sich vernehmlich und dachte sich wohl dasselbe wie die Helene. Dann stand er auf. Kaum hatte sich der Wirt entfernt, fragte der Ramscheder: »Den Bergmann haben Sie entlassen, hab ich gehört?« »Ja, allerdings«, antwortete Helene. »Da haben Sie einen großen Bock geschossen«, erklärte der Kastenhofer mit bedeutsamem Kopfschütteln. »Ich hatte jedenfalls meine zwingenden Gründe zu diesem Schritt. Vermutlich werde ich ohne ihn besserfahren.« In der Dämmerung, die schnell hereingebrochen war, konnte Helene den raschen Blick nicht mehr sehen, den die beiden Männer wechselten. Sie merkte nur, daß den beiden die Entlassung nicht ganz gelegen kam. Nach einer Weile erhob sich Helene, um unter dem Vorwand, es werde ihr zu kühl, ins Gastzimmer zu gehen, als ein zerlumpter junger Mensch an den Tisch kam. »Bist schon wieder da?« zischte der Kastenhofer. 67
Der Fremde stand stumm mit fahlem Gesicht. »Gebt mir doch Arbeit«, sagte er dann mit matter Stimme. »Arbeit?« lachte Ramscheder höhnisch. »Einem Zuchthäusler Arbeit geben? Geh doch hin, wo dich niemand kennt, da wirst schon wo unterkommen.« Ein hartes Lachen kam aus dem Munde des Fremden. »Zuchthäusler«, lallte er. »Überall krieg ich das Wort zu hören. Aber keiner fragt mich, was mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Besonders dir, Kastenhofer, tät es gar net schlecht anstehen, wenn du mir ein bissel unter die Arm greifen würdest, daß ich wieder in ein richtiges Leben zurückfinden kann.« »Ich? Was hätt denn ich mit dir zu schaffen?« fragte der Bauer ein wenig kleinlaut. Dabei lief ein seltsames Zucken über sein Fuchsgesicht. »Übrigens hab ich dir erst vor drei Wochen fünf Mark gegeben, und jetzt bist du schon wieder da.« »Fünf Mark!« Wieder lachte der Bursche, so hart und kalt, daß Helene ein Grauen überkam. Dann sah sie, wie der Fremde sich reckte, wie er förmlich aus der Dämmerung herauswuchs und mit federndem Schritt vor den Kastenhofer hintrat. »Fünf Mark für fünf Jahre Zuchthaus! Ein schöner Ausgleich! Fünf Mark für mein verpfuschtes Leben? Wenn ich gewußt hätte, daß das nicht mehr wert ist, dann wär’s wohl gescheiter gewesen, ich hätt geredet damals. Meinst du, daß dich das nicht mehr gekostet hätte als fünf Mark?« »Geh, Flori!« stotterte Kastenhofer aufspringend. »Was redest du denn da für einen Unsinn! Die Leute müssen ja wirklich glauben, es wär was dran. Ich mein, das Einsperren hat dich ein bissel um den Verstand gebracht.« Mit hartem Lachen schüttelte Flori Kastenhofers Hand von seiner Schulter ab. »Na, ich hab noch nie so klar gedacht wie jetzt. Aber du brauchst keine Angst haben, daß ich jetzt noch rede, jetzt hilft’s mir nimmer viel. Ich will’s halt noch mal probieren und schauen, ob ich draußen im Unterland, wo mich niemand kennt, als Knecht un68
terkommen kann. Denn ich sehe es ja, wie du jedesmal zitterst, wenn du mich siehst. Mich aber packt das Grausen, wenn ich dich anschauen muß, und es könnte leicht sein, daß ich mich einmal vergessen würde.« Dann wandte er sich plötzlich ab und taumelte auf die Straße hinaus. Aus dem Dunkel der Nacht klang noch eine Weile sein müder, schleppender Schritt, dann verlor er sich. Helene war seltsam berührt von dem eben Gehörten. Schon wollte sie dem Fremden nacheilen, wollte ihm sagen, daß sie ihm unter Umständen helfen würde, als sie von der Wirtin ins Nebenzimmer gerufen wurde, wo man für sie das bestellte Abendbrot hergerichtet hatte. Draußen im Garten aber sagte der Kastenhofer: »Mir tut er leid, der arme Teufel.« »Wenn er dir leid tut, brauchst du ihn bloß wieder als deinen Knecht einstellen«, antwortete Ramscheder spottend. »Was tu ich denn mit einem Knecht? Sind ja meine Kinder schon groß, und weiß die kaum zu füttern. Im übrigen hast du’s gar net nötig, über mich zu spotten. Darfst mir gar net viel machen, dann mag ich nimmer.« »Und du darfst net viel machen, dann kündige ich dir die Hypothek.« Ramscheder dämpfte plötzlich seine Stimme: »Daß du es weißt, diese Woche brauche ich unbedingt noch Wildbret. In letzter Zeit bist du ein bissel langsam gewesen. Es täte mir leid, wenn ich dich erinnern müßt, daß die Zinsen schon längst fällig sind.« Ramscheder stand auf und stampfte ohne Gruß davon. Kastenhofer starrte ihm nach und ballte die Faust. »Blutsauger, elendiger.« Dann trank er sein Bier aus und machte sich auf den Heimweg. Sein Hof lag etwas außerhalb des Dorfes auf dem Weg nach Wildreut. Und obwohl es nicht gar zu weit dorthin war, brauchte der Bauer fast eine ganze Stunde. Immer wieder blieb er stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirne und sah zu den Sternen hinauf, als erwarte er von ihnen Trost und Hilfe. 69
Er verfluchte den Tag, an dem er sich dem Ramscheder ausgeliefert hatte, als die große Not zu ihm gekommen war und die Maulund Klauenseuche ihn des ganzen Viehbestandes beraubte. Dann war seine Frau lang krank gewesen, Arzt und Krankenhaus hatten viel Geld verschlungen. Damals war der Ramscheder wie ein Engel der Barmherzigkeit bei ihm aufgetaucht und hatte ihm ein Darlehen förmlich aufgedrängt. »Nimm das Geld nur«, hatte er gedrängt. »Mit dem Zurückzahlen pressiert es überhaupt net. Und wenn du die Zinsen einmal nicht gleich aufbringst, was liegt schon dran, wenn du für mich einmal einen Hirsch schießt, wo du sie doch vor deinem Stubenfenster auf und ab spazieren siehst.« Jawohl, er hatte es ein paarmal getan. Aber immer marschierten ja die Hirsche auch nicht am Stubenfenster vorbei. Er mußte ihnen schon nachsteigen, in den Bergwald hinauf, zu den Almen und zu den grauen Felsen. Und nachdem es ein paarmal recht leicht gegangen war, hatte es den Kastenhofer wie ein Rausch erfaßt. Er konnte dem Ramscheder auch gar nicht genug bringen, der das Wildbret zu hohem Preis veräußerte. Dann hatte er auch seinen Knecht, den Gerstäcker Florian, mitgenommen, bis dann das Unglück mit dem Förster Rainer geschehen war und der Florian für ihn ins Gefängnis gegangen war. Jetzt war der Gerstäcker wieder heraußen. Die Begegnung heute mit dem Entlassenen hatte ihn tief erschüttert und erschreckt zugleich. Endlich beruhigte er sich etwas, nahm sich vor, morgen mit dem Gerstäcker in aller Ruhe zu reden, und ging dann auf sein Haus zu, das ruhig und verschwiegen unter dem Sternenhimmel lag. Draußen auf der Wiese, neben dem Fußweg, kauerte Florian Gerstäcker und blickte mit irrem Blick gegen den Wald hin. Bild um Bild stieg vor seinen Augen auf, besonders jene Bilder der Gefahr und der Angst, wenn der Kastenhofer ihn zum Wildern mitgenommen hatte.
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Er sah den Förster wieder liegen, tot und starr. Und er erlebte es nochmals nach, wie sie ihn am anderen Morgen abführten. Er hätte nur zu reden brauchen, aber der andere, mit dem er in Not und Gefahr verbunden war, hatte Weib und Kind. Stillschweigend hatte er sich abführen lassen. Er konnte nicht so viel verlieren wie der Kastenhofer, der ihm hoch und heilig geschworen, ihn nicht im Stich zu lassen, wenn er die Zeit abgesessen hatte. Fünf Jahre hatte das Urteil gelautet. Doch war er durch eine Amnestie nach drei Jahren entlassen worden. Die drei Jahre aber hatten genügt, vieles in ihm zu zerstören. Von fern her hörte er das Lachen der tanzlustigen Jugend. Es war ihm dabei zumute, als müßte er seinen Schmerz in die Nacht hineinschreien. Da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Florian fuhr herum und starrte die schlanke Frau mit verschwommenen Augen an. »Was wollen Sie von mir?« kam es erschreckt aus seinem Mund. »Helfen will ich Ihnen«, sagte Helene ganz ruhig. »Helfen?« fragte er zweifelnd. »Mir helfen? Einem Zuchthäusler? Packt Sie denn nicht das Grausen, wenn Sie das Wort hören?« »Kommen Sie!« befahl Helene kurz und schritt ihm auf dem schmalen Weg voran. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Dann sagte Helene: »Ich will nicht fragen, weshalb Sie eingesperrt waren. Ich will Ihnen nur helfen, weil ich fühle, daß Ihnen von den Menschen Unrecht geschah und – daß Sie nicht schlecht sind. Es liegt nur an Ihnen, ob Sie wollen.« »Ob ich will?« flüsterte er und griff nach ihrer Hand. »Wie soll ich Ihnen danken, Frau?« »Schon gut«, wehrte Helene ab. »Ich werde Ihnen morgen alles näher erklären. Und nun kommen Sie, ich will sehen, ob ich noch irgend etwas zu essen für Sie finde.«
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Hernach wies sie ihm eine Kammer zu und klopfte dann im Vorbeigehen an Brigittes Türe. »Schläfst du schon, Brigitte?« »Ja, gute Nacht, Frau!« kam es von drinnen zurück. Helene ging in ihr Zimmer, öffnete das Klavier und schlug ein paar Akkorde an. Suchend glitten die Hände über die Tasten. Aber dann spielte sie sich allen Kummer vom Herzen. Als die letzten Akkorde verhallt waren, stand Helene auf, um die Vorhänge zuzuziehen. Da zuckte sie plötzlich zurück, diesmal war es keine Täuschung. Ganz deutlich hatte sie einen Menschen gesehen, den sie zu kennen glaubte. Blitzschnell löschte sie das Licht aus und schlich im Dunkeln wieder zurück. Es war kein Zweifel mehr, der da unten stand, das war Bergmann. Und immer wieder spähte er zu Helenes Fenster herauf, dann bückte er sich, nahm etwas vom Boden auf und schlich am Gartenzaun entlang. Gleich darauf klirrte eine Scheibe und – Helene traute ihren Augen kaum – das Fenster wurde geöffnet. Ein Schatten schwang sich über die Brüstung und ließ sich an dem Spalier abwärts gleiten. Ein heißer Zorn wallte in Helene auf. War denn so etwas möglich? Brigitte, mit den unschuldigen Kinderaugen, steckte mit dem Bergmann unter einer Decke? »Wie man sich in den Menschen täuschen kann«, murmelte sie. Lange noch grübelte sie darüber nach, bis ihr endlich ermattet die Augen zufielen. Brigitte an der Hand, ging Franz Bergmann, der gewesene Verwalter von Wildreut, rasch durch den dunklen Bergwald aufwärts. Aufschnaufend wollte das Mädchen einmal stehenbleiben. Doch brutal zerrte er sie weiter. »Wir sind gleich oben«, drängte Bergmann. »Es ist aber doch net nötig, daß du mich mitten in der Nacht da heraufbringst.«
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»Red nicht lang und tu das, was ich will. Du mußt doch wissen, wo du mir die Lebensmittel hinbringen sollst. Und gnade dir Gott, wenn ich nicht alle zwei Tage einen Korb geliefert bekomme, oder daß es dir gar einfällt, deiner hochnäsigen Gnädigen davon was zu erzählen. Und wie ich schon gesagt habe, am nächsten Ersten kündigst du und kommst zu mir herauf.« »Was wird die Frau bloß sagen?« jammerte Brigitte. Bergmann wurde grob. »Tu mich nicht ärgern mit deinem Gewinsel, du weißt, daß ich das nicht leiden kann.« Wieder gingen sie schweigend weiter, bis sie nach einer Viertelstunde vor den dunklen Umrissen einer Hütte standen. »Hoffentlich hast du dir den Weg gemerkt«, sagte Bergmann. »Denk also daran, daß ich dich in der Hand habe, wenn du etwa vergessen möchtest, daß du mich mit Lebensmitteln versorgen mußt, bis ich wieder eine Stellung habe. Was du also erwischen kannst, Fleisch, Eier, Butter, das bringst du mir jede dritte Nacht da herauf und stellst es unter die Bank. Verstanden?« »Ich kann aber doch nicht stehlen!« schrie Brigitte auf. »Das ist keine Sünde, wenn man beiseite räumt, was andere im Überfluß haben. Oder erbarmt dich die Hergelaufene da?« »Sie ist aber so gut zu mir, die Frau«, schluchzte das Mädchen. Und plötzlich jäh auffahrend, umklammerte sie mit beiden Fäusten seinen Ärmel und schrie ihm anklagend ins Gesicht: »Du bist schuld! An allem bist du schuld! Erst hast du mich elend gemacht, und jetzt soll ich auch noch stehlen für dich! Aber ich will nicht!« Wütend schüttelte er ihre Hände ab. »Wie du willst. Dann kannst du aber gleich morgen deinen Leuten sagen, daß ich mein Geld will, das sie mir schulden.« Aufschluchzend schlug Brigitte die Hände vors Gesicht und rannte hinaus in die Nacht. Keuchend hastete sie hinunter durch den finsteren Wald. Manchmal lehnte sie sich erschöpft an einen Baum, lauschte, ob
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er ihr folgte, und rannte, aufgeschreckt durch gespenstige Geräusche, weiter. Endlich lichtete sich der Wald. Bleiches Mondlicht lag über den Wiesen, und wie Schemen standen die Mauern des Gutshofes. Aufatmend legte sie den Rest des Weges zurück. Aus verworrenem Traum erwachend, hörte Helene ein seltsames Geräusch an der Hauswand. Hastig sprang sie aus dem Bett und trat an das Fenster, und da sah sie, wie Brigitte sich bemühte, am Spalier hochzuklettern, um in ihre Kammer zu gelangen. Da konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, und sie rief das Mädchen an: »Laß diesen Unfug, Brigitte! Ich werde dich hereinlassen.« Sie warf einen Hausmantel über und ging hinunter, öffnete die Haustür, ging dem Mädchen voran in die große Stube und drehte das Licht an. Mit verstörtem Blick sah Brigitte auf die hohe Gestalt, sah die scharfe Falte des Unwillens auf der Stirn und kroch schüchtern in sich zusammen. »Wo warst du, Brigitte?« Voll schneidender Schärfe war die Stimme der Frau. Schweigen. »Ich will wissen, wo du warst! Immer tiefer wurde die Falte auf Helenes Stirne. Und als wieder keine Antwort kam, sprach sie weiter: »Hör, du weißt, daß ich diesen Bergmann mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt habe. Und trotzdem triffst du dich mit ihm. Wenn er auch hundertmal dein Geliebter ist, so ändert das gar nichts an der Sachlage, denn die Art, wie du dich aus dem Haus schleichst, betrachte ich als verwerflich. Ich dulde es auf gar keinen Fall, daß Bergmann noch mal in die Nähe des Hauses kommt. Danach richte dich, oder ich müßte dich, so leid es mir täte, ebenfalls fortschicken. So, und leg dich schlafen.« Helene schritt zur Tür. Doch ein Laut, der sich wie Schluchzen anhörte, ließ sie aufhorchen und zu dem Mädchen zurückgehen.
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Brigitte stand an die Mauer gelehnt, kreidebleich, mit zuckenden Lippen, und streckte ihr wortlos die Hände entgegen. »Du hast mich gezwungen, so hart zu sprechen. Aber weh tun wollte ich dir nicht.« Helene fühlte, wie sich plötzlich zwei Arme um ihre Knie klammerten, und hörte eine schluchzende Stimme betteln: »Net fortschicken – bitt schön – nur net fortschicken!« Helene drückte das zitternde Mädchen an sich. »Nein, Gittli, ich schick dich nicht fort. Ich war wohl ein wenig voreilig in meinem Urteil. Man soll niemand ungehört verdammen. Leg dich nur schlafen jetzt, und morgen kannst du mir dein Herz ausschütten.« »Nein, net morgen! Heute noch! Und alles will ich sagen.« »Gut, dann rede alles herunter, was dich quält.« Helene sah die Glut, die bei den ersten Worten in das blasse Gesicht gekommen war, und fragte: »Ist es dir lieber, wenn ich das Licht ausschalte? Du sprichst dann vielleicht leichter.« Ganz dunkel wurde es allerdings nicht, denn das Mondlicht fiel durch das Fenster. Und in diesem Zwielicht schüttete das Gittli der Herrin ihr Herz aus. Vor ein paar Jahren hatte ein stürzender Baum den Vater erschlagen. Die Mutter kam bald darauf immer mehr in Not, die bereits bestehenden Schulden wuchsen ins Endlose, und eines Tages war es so weit, daß das kleine Häuschen mit den paar Ziegen versteigert werden sollte. Brigitte wollte helfen. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr arbeitete sie schon auf Wildreut. Was sie erspart hatte, gab sie der Mutter. Aber es reichte bei weitem nicht, und der schwarze Tag rückte immer näher. Die Mutter fiel sichtlich in sich zusammen, denn sie wußte nicht, wo sie mit den drei kleinen Kindern unterkommen sollte. Auf diesen Tag hatte Bergmann gewartet. Er streckte Brigitte ein Darlehen vor, unter der Bedingung, daß sie ihm ein Schäferstündchen gewährte. Nie zuvor war Brigitte in einen sol-
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chen Zwiespalt geraten. Ihr Herz stand in brennender Not. Aber sie wollte helfen, der Mutter und ihren kleinen Geschwistern. Und sie half... Ganz still war es in der Stube geworden, nachdem Brigitte ihre Erzählungen geendet hatte. Erschüttert von dem Gehörten, zog Helene das betrogene Mädchen an ihre Brust. »Armes Gittli«, sagte sie mit verschleierter Stimme. »Liebes kleines Mädel ! Verzeih mir, daß ich dir so böse Worte gab. Aber eines sage mir noch: wie hast du das alles ertragen können?« »Oft hab ich freilich gemeint, ich müßte sterben vor Qual. Aber meiner Mutter zulieb hab ich es auf mich genommen.« Fester umschlossen die Arme der Herrin den jungen Körper, dann nahm sie Brigittes Kopf in die Hände und sprach mit weicher Stimme auf sie ein: »Beruhige dich nur, Kind, das hat jetzt alles ein Ende für dich und auch für deine Mutter. Ich werde die Schulden gleich morgen tilgen. Und wegen Bergmann, da mach dir nur keine Sorgen mehr. Ich werde schon Mittel und Wege finden, daß du deine Ruhe vor ihm bekommst. Und jetzt – schlaf aber wirklich.« Leise ging Helene in ihr Zimmer. Drei Tage waren vergangen. Drei endlos lange Tage. So dünkte es wenigstens dem Jäger Rupert Hiller. Regungslos, die Zigarette zwischen den Fingern, saß er vor seiner Hütte und hing seinen Gedanken nach. Stille ringsum, nur einmal hörte man von fern her den Pfiff eines Murmeltieres. Wie hatte es das Leben wieder fertigbringen können, daß er nun hinter einer Frau herseufzte, von der er weiter nichts wußte, als daß sie Marga hieß. Vielleicht war sogar das eine Lüge. Seit Tagen rannte er in den Bergen umher, Unruhe im Blut. Diese Begegnung hatte ihn aus der Bahn geworfen. Wie friedsam und zurückgezogen hatte er in den letzten zwei Jahren gelebt. Nun war alles wieder aufgewühlt in ihm. Die Ruhe war dahin, die Ru76
he, die er sich so schwer errungen hatte nach den ruhelosen Jahren des Krieges. Und nun war diese Marga in sein Leben getreten, und alles war seitdem anders. Heiß erwachte in ihm plötzlich der Wunsch, ins Dorf hinunterzugehen und sie zu suchen. Doch plötzlich erschrak er. Wie, wenn diese Frau schon einem anderen gehörte? Er wußte ja gar nichts von ihr. Da sprang plötzlich der Hund mit knurrendem Laut an ihm vorüber gegen den Steig hin. Dort gab er Standlaut und sprang um die Wanderin herum, die soeben aus dem Wald kam. Rupert gab es einen Riß. Er konnte es kaum glauben. »Marga!« Voll Freude sprang er ihr entgegen. Dann preßte er ihre Hände und sah ihr beglückt in die Augen. »Hast du denn gefühlt, wie ich mich nach dir gesehnt habe?« Dann hielten sie sich umschlungen. Diesmal schickte sich sogar Hexle drein. Vielleicht sah er ein, daß doch alles nichts mehr half mit den beiden. Und wenn sein Herr schon ins Verderben rennen wollte, er jedenfalls hatte ihn rechtzeitig davor behüten wollen. Sie saßen eng umschlungen auf der Hüttenbank. »Sag mir doch noch mal, daß du mir gut bist«, sagte er. »Ja, ich hab dich lieb! Wäre ich denn sonst schon wieder gekommen? Ich mußte es einfach tun. Denkst du aber auch deswegen nicht schlecht von mir?« »Ich denke gar nichts, Marga, ich fühle nur deine Nähe und daß alles so friedsam ist in mir, so unendlich gut.« Er legte seine Wange an ihr Haar und schwieg. »So sollte es immer bleiben«, sagte Helene nach einer Weile. »Immer so sitzen bei dir und immer so wunschlos glücklich sein.« »Kann es denn nicht immer so bleiben?« fragte er, sich schnell aufrichtend. »Doch – wenn du es willst.« »Wenn ich will ? Was könnte ich mir denn lieber wünschen? Das Leben hier im Wald und Berg ist mir lieb geworden, aber ich
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könnte es deinetwegen aufgeben, eine andere lohnendere Beschäftigung suchen, die es mir ermöglichen würde...« Da unterbrach sie ihn lachend, nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn auf den Mund. »Nein, ich könnte dich mir gar nicht anders vorstellen. Bleib du nur schön das, was du bist.« Lachend zog er sie an sich. »Dann bleib ich halt der Jäger von Wildreut. Viel ist freilich nicht verdient dabei. Aber die alte Schachtel drunten muß mich eben dann aufbessern. Die piesacke ich dann schon so lange, bis sie es einsieht, daß man zu zweit mehr braucht als einer allein. Freilich wie eine Gräfin wirst du’s nicht haben bei mir. Aber glücklich will ich dich machen, so recht glücklich und zufrieden.« Die Dämmerung senkte sich über das Tal. »Morgen muß ich auf alle Fälle hinunter«, sagte Rupp. »Gestern hat mir nämlich ein Holzknecht erzählt, daß die neue Besitzerin jetzt angekommen sei. Bei dieser Gelegenheit werde ich sie dann gleich fragen wegen einer Gehaltsaufbesserung. Hoffentlich kann man mit ihr reden und ist es nicht so eine geizige Gurgel, die zwei jungen Menschen ein bissel Glück mißgönnt.« Eine verräterische Glut war bei diesen Worten Helene in die Wangen gefahren, und stockend meinte sie: »Hoffentlich hat sie Verständnis. Ich glaube sicher, daß sie dir helfen wird.« »Ich werde es ihr schon richtig beibringen. Denn weißt du, wenn man heiraten will, muß man weiter denken als nur von in der Früh bis zum Abend.« »Ich stelle keine großen Ansprüche, Rupp. Und – du weißt ja noch gar nicht, ob ich nicht selbst ein wenig vermögend bin.« »Daran hab ich merkwürdigerweise noch gar nicht gedacht.« Nun war der Augenblick gekommen, daß sie reden mußte. Sie konnte ihn nicht mehr länger zum Narren halten. »Willst du es wissen, Rupp?« »Nein, ich will gar nichts wissen«, sagte er schnell. »Es ist mir ganz gleich, ich nehm dich auch so, wie du vor mir sitzt.« 78
Da fand sie wieder nicht die Kraft zu einer Erklärung. Allmählich wurde es dunkel. »Nun muß ich aber wieder heimgehen«, sagte Helene schließlich. »Ich begleite dich hinunter«, sagte er und trieb den Hund, der geschäftig um sie herumschwänzelte, in die Hütte zurück. »Nix da«, hörte ihn Helene drinnen mit dem Hund sprechen. »Heute kann ich dich nicht brauchen. Da legst dich hin und tust mir das Haus schön hüten, bis ich wiederkomme, verstanden!« Jetzt kam er heraus, sperrte die Türe ab und versteckte den Schlüssel unter der Bank. »Mit der Hexe wirst du deine Freude noch erleben. Du glaubst gar nicht, wie anhänglich das Viecherl ist.« Lachend hing sich Helene in seinen Arm, und sie schritten hinein in den Wald. Wo zwischen den Wipfellücken das Mondlicht durchfiel, sah man immer die Fortsetzung des Weges. Erst unten, als sie wieder aus dem Wald kamen, blieben sie betroffen stehen. Wie in ein Silberlicht getaucht lag die Landschaft da. Die Mauern des Gutshofes glänzten schneeweiß über die Wiesen her. Da fuhr ein Stern leuchtend über den Horizont hin, der Funken eines Sternes nur. »Hast du dir nichts gewünscht?« fragte er. »Doch, Rupert.« Er wollte es wissen. »Wie neugierig ihr Männer doch seid«, lächelte sie. »Dich habe ich mir gewünscht, nichts weiter als dich. Aber das ist sehr viel.« Sein Gesicht war ganz nachdenklich geworden. Auf ihr Drängen, was er denn jetzt habe, meinte er, sie plötzlich hart an den Schultern fassend : »Du, das darf nicht enden, hörst du, Marga, nie zu Ende gehen.« »Es bleibt, mein Lieber, denn – ich bin dir ja von Herzen gut, und ich werde dich nie betrügen.« »Und nicht belügen?« forschte er unerbittlich. »Warum quälst du mich denn?« »Tat ich das? Verzeih, das wollte ich nicht.«
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»Nein, ich weiß, du kannst mir sowenig weh tun, wie ich dir. Darum glaube ich auch, das alles gut wird mit uns beiden. Aber nun: Gute Nacht!« Noch ehe er sie daran hindern konnte, hatte sie sich von ihm losgemacht und rannte über die mondbeschienene Wiese hin. Erst weit draußen blieb sie nochmals stehen und sah zurück. Den Arm hob er grüßend, dann drehte er sich um und schritt gegen den Wald hin. Währenddessen ging Helene auf den Gutshof zu. »Er wird es mir doch verzeihen«, sagte sie zu sich selber, »daß ich ihn belogen habe, aber es war doch nur eine Notlüge, er muß doch begreifen, daß ich Gewißheit darüber haben will, ob er mich um meiner selbst willen liebt oder ob er auch nur ein Glücksjäger ist wie jener andere.« Erschrocken verstummte sie in ihrem Selbstgespräch, denn eine lange schwarze Gestalt stand wie aus dem Boden gewachsen vor ihr. Nur mühsam konnte der Mann den Wolfshund an seiner Seite zurückhalten. Es war Florian Gerstäcker, der Nachtwächter von Wildreut. Als er die Herrin erkannte, gab er achtungsvoll grüßend den Weg frei und murmelte eine Entschuldigung. »Nein«, sagte Helene, »es war ganz recht so. Halten Sie nur jeden an, der sich nach neun Uhr hier sehen läßt.« Florian Gerstäcker ging bis zum Haus an ihrer Seite, wartete, bis der Schlüssel herumgedreht wurde, und setzte dann seinen Rundgang um das Gut wieder fort, bis der Morgen dämmerte. Die Kirchenglocken läuteten zum sonntäglichen Hochamt. Auf allen Wegen sah man die Kirchgänger dem Dorf zuwandeln. Um diese leuchtende Vormittagsstunde saß Helene am Klavier und spielte. Ihre Wangen waren von einer zarten Röte übergössen. Ein fröhlicher Glanz stand in ihren Augen. Da vernahm sie ein Pochen an der Tür. Ohne das Spiel zu unterbrechen, rief sie: »Herein!« Brigitte trat ein und blieb unter der Tür stehen. Verwundert betrachtete Helene das Mädchen. Kaum mehr zu erkennen war Gitt80
li in ihrem schmucken Kleid. Dann unterbrach sie das Spiel, stand auf und schob das Mädchen zur Tür hinaus. »Du mußt gehen, Gittli, sonst kommst du zu spät.« Eine merkwürdige Unruhe war plötzlich in ihr. Kaum hörte sie die Tür ins Schloß fallen, ging sie durch das Zimmer. Vom Fenster aus konnte man das Dorf und die Straße überblicken, von der er kommen mußte. Noch war nichts zu sehen von ihm. Nur verspätete Kirchgänger sah sie hastig ins Dorf eilen. Immer heftiger wurde in Helene die Unruhe. Sie nahm das Glas von der Wand und blickte in die Richtung des Dorfes. Wieder nichts. Nur im Garten, der sich vom Ramschederhof bis zur Straße hinzog, sah sie zwischen den blühenden Fliederbüschen etwas Weißes schimmern. Helene konnte nicht erkennen, was es war, interessierte sich auch nicht weiter dafür, sondern dachte immer nur das eine: Warum kommt Rupert nicht? Von Brigitte wußte sie, daß der Jäger sonst gewöhnlich vor dem Kirchgang einzutreffen pflegte. Da – jetzt sah sie auf der Straße etwas Braunes, das sich beim näheren Betrachten als Hexle entpuppte, die ihrem Herrn voraussprang. Gleich darauf wurde auch die Gestalt des Jägers sichtbar. Mit leichtem Gang schritt er an den Höfen vorüber. Plötzlich verhielt er den Schritt. Helene sah, wie sich das Weiße, das sie vorhin gesehen hatte, durch die Fliederbüsche zwängte und sich vor den Jäger hinstellte. Der Feldstecher in Helenes Händen begann plötzlich zu zittern. Sie konnte erkennen, wie die Ramscheder Klara dem Jäger mit koketten Bewegungen einen blühenden Zweig unter die Nase hielt, sah auch, wie er danach haschte und ihn auf seinen Hut steckte. Die Frau am Fenster dachte gewiß nicht kleinlich, und doch spürte sie etwas Bitteres in sich aufsteigen. Sie erinnerte sich auch gleichzeitig an das feindselige Benehmen der Klara ihr gegenüber. Und warum wartete sie auf ihn? Wußte sie genau, wann er
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kommen mußte? Was war es gar so Wichtiges, was sie ihm zu erzählen hatte? Helene konnte es nicht mehr länger mit ansehen. Langsam ließ sie die Hände mit dem Glas sinken und trat vom Fenster zurück. Doch eine Weile später trieb es sie wieder hin. Da kam Rupert bereits auf das Haus zu. Sie sah, wie er den Flieder vom Hut nahm und ihn mit verächtlicher Gebärde fortschleuderte. Eine unsagbare Freude zuckte in Helene auf. Und doch stürzte eine unerklärliche Angst auf sie ein, und sie mußte sich erst sammeln, ehe sie ihm entgegentreten konnte. Mit klopfendem Herzenstand sie inmitten des Zimmers und hörte ihn mit festem Schritt die Stiege heraufkommen. Er ging an ihrer Tür vorbei und stieg in das obere Stockwerk hinauf in sein Stübchen. Droben hängte Rupert Rucksack und Gewehr an das Zapfbrett und hob schnuppernd die Nase. War denn da jemand in seinem Stübchen gewesen, außer der Brigitte, die immer saubermachte? Merkwürdig, dieser Parfümgeruch, dieser bestimmte Parfümgeruch. Wo hatte er den schon wahrgenommen? Da sah er ein blondes Haar, das sich in den Blumenstöcken verfangen hatte. Kopfschüttelnd sah er sich im Zimmer um. »Da muß doch jemand hiergewesen sein?« sprach er ganz laut vor sich hin. Dann löste er das Haar aus dem Blattgewirr und wickelte es spielend um den Finger. Dabei sah er zum Fenster hinaus, sah auf dem Gartenweg unten den Fliederzweig liegen, den er weggeworfen hatte, und lachte über die Klara, die es nun schon seit Wochen auf ihn abgesehen hatte. Da kehrten die Leute bereits vom Hochamt heim. Allen voran glaubte er Gittli zu erkennen. Als sie auf das Haus zukam, rief er ihr vom Fenster aus zu, sie möchte zu ihm heraufkommen. Verwundert betrachtete er sie, als sie so schmuck und sauber vor ihm stand. »Ja, Gittli, was ist denn mit dir passiert? Du schaust ja grad aus wie der Frühling selber.« »Gelt, da schaust, Herr Hiller.«
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»Da schau ich freilich«, lachte er. Es wirkte immer erheiternd auf ihn, wenn sie Herr zu ihm sagte und ihn dabei duzte. »Gelt, da schaust«, wiederholte sie. »Und weißt, wer mir das alles gegeben hat?« »Keine Ahnung. Wer denn?« »Die Frau.« »Ach.« »Ja, die Frau«, nickte Brigitte lebhaft. »Alles, was du an mir siehst, habe ich von der Frau.« »Alles doch nicht«, neckte der Jäger. »Dein liebes Gesicht zum Beispiel hast du schon immer gehabt.« »Aber... Herr Hiller«, schmollte das Gittli und wurde rot. »Na, na, Gittli! Von mir darfst du dir die kleine Schmeichelei schon gefallen lassen. Aber nun sag, wie ist sie denn eigentlich?« »Die Frau meinst du?« Gittli zog die Tür hinter sich zu und flüsterte vertrauensvoll: »Die muß man mögen, ob man will oder nicht. Der reinste Engel ist sie, sag ich dir.« »Mit oder ohne Flügel?« »Geh, mit dir kann man heut gar net reden.« Im selben Augenblick tönte es von unten herauf: »Gittli!« Wie ein Wiesel lief das Mädel zur Tür hinaus. Rupp aber war beim Klang dieser Stimme zusammengefahren. Doch ehe er sich etwas zusammenreimen konnte, sprang etwas die Treppe herauf, die Tür wurde geöffnet und – Gittli steckte den Kopf herein. »Her Hiller, du sollst sofort zur Frau runterkommen.« »Ja, ich komme sofort!« Er ging hinunter, klopfte an, und da keine Antwort kam, drückte er die Klinke nieder. Dämmerung herrschte im Raum, denn die Vorhänge waren noch zugezogen. In diesem Zwielicht fand sich Rupert nicht gleich zurecht. Aber dann öffnete sich eine Nebentür. Heller Sonnenschein flutete in den Raum, und Rupp sah eine Frau in der Tür stehen. Ruhig und gelassen kam Helene auf ihn zu, stand nun vor ihm und sah ihm in die Augen. Ganz unbeweglich, wie eine Steinfi83
gur, stand er. Nur seine Brauen bewegten sich, immer schärfer zogen sie sich zusammen. Helene schien dieses Schweigen als drückendes Unbehagen zu empfinden. Sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Hast du denn gar keinen Gruß für mich, Rupert?« Kalt und fremd klang seine Stimme: »Darf ich zunächst um Aufklärung bitten?« »Willst du nicht vorher Platz nehmen, Rupert?« »Nein, danke ! Ich will erst wissen, warum du – Verzeihung – warum Sie mir in diesem Hause begegnen.« Lächelnd strich sie ein paar lockere Härchen hinters Ohr. »Ich pflege alle Gäste in meinem Hause zu empfangen.« »Dann sind Sie also die neue Besitzerin von Wildreut?« Sie wurde blaß bis in die Lippen. »Gewiß – Rupert – aber -« »Mein Name ist Hiller!« fuhr er auf. Und sich zur Ruhe zwingend, fügte er hinzu: »Ich bitte alles Geschehene als vergessen zu betrachten, gnädige Frau.« »Aber warum denn?« »Das können Sie noch fragen? Ich glaube, Sie dürften mich so gut kennen, daß ich mir für eine Tändelei zu gut bin. Hätten Sie mir gleich bei der ersten Begegnung gesagt, wer Sie sind, ich hätte mich besser im Zaum gehalten.« »Aber du hast mich doch lieb?« flüsterte Helene kaum hörbar. »Ach, sprechen wir doch jetzt nicht von Liebe. Um das geht es ja gar nicht mehr.« »Sondern?« »Bitte, unterlassen Sie diese Scherze. Ich denke, es genügt, was mein Herz bis jetzt erlitt. Dieser Schlag«, er lächelte bitter, »wird zu überwinden sein. Ich habe mehr überwunden. Und nun bitte ich Sie, mir meine Entlassungspapiere herzurichten.« »Nein!« schrie Helene auf. Unwillkürlich mußte sie nach einem Halt greifen. »Das ist doch alles ganz anders, als du es siehst.« Sie setzte sich in einen der Polsterstühle und vergrub das Gesicht in den Händen. 84
Ganz unbeweglich stand der Jäger und starrte mitleidlos auf die zuckenden Schultern. Nicht das leiseste Erbarmen spürte er in sich. Im Gegenteil, er hatte das Empfinden, sie benehme sich wie ein eigensinniges Kind, dem man ein Spielzeug weggenommen hatte. Verächtlich stieß er hervor: »Komödiantin!« Helene zuckte zusammen und starrte ihn mit weiten Augen an. Ihr Mund stand vor Schreck halb offen. Dann stand sie langsam auf und trat vor ihn hin. Ruhig und beherrscht sprach sie: »Durch dieses Wort, durch dieses eine Wort, hast du mir mehr weh getan als mit jeder anderen Beschuldigung. Du kennst mich zu wenig, um mich so hart zu beurteilen. Daß ich dir über mich nicht gleich die Wahrheit sagte, ist der einzige Fehler, den ich begangen habe. Ich hatte zuerst noch keine Veranlassung dazu und dann – wollte ich um meiner selbst willen geliebt werden. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Und daß ich gestern abend wieder zu dir auf die Hütte ging, da tat ich es, weil mein Herz mich zu dir trieb. Ob du nun das glauben willst oder nicht, ich kann es nicht ändern.« Sie unterbrach sich. »Du hast mich um deine Entlassung gebeten, gut – dann geh. Ich kann und will dich nicht halten. Wen es schwerer trifft, mich oder dich, darüber zu streiten wäre zwecklos, aber vielleicht kommt die Stunde einmal, in der du einsehen wirst, wie unrecht du mir getan hast.« Sie stand nun am Fenster und zog die Vorhänge zurück. Helles Sonnenlicht umflutete ihre Gestalt. Tief erschüttert betrachtete er die feingeschwungenen Linien ihres Gesichtes, das selbst im Schmerz von einer berückenden Schönheit war. Beschämend marterte ihn plötzlich das Bewußtsein, daß er ihr unrecht getan habe. Schon stand er hinter ihr. »Verzeihen Sie mir, gnädige Frau. Ich sehe ein, daß ich zu hart in meinem Urteil, und erkenne jetzt, daß Ihr Gefühl für mich doch mehr ist als die Laune einer verliebten Stunde, und deshalb – will ich still aus Ihrem Leben gehen.« Mit einem Ruck wandte sie ihm ihr Gesicht zu. 85
»Warum? Du mußt mir doch den Grund sagen können, warum du fort willst. Du gibst vor, daß du mich liebst, und willst fort? Ich begreife das einfach nicht.« »Aber das ist doch nicht so schwer zu begreifen, Marga.« »Helene mußt du mich nennen.« Überrascht schaute er sie an. »Also auch der Name war falsch?« Er lächelte ein wenig. »Also gut. Begreife, Helene! Was soll meine Liebe dir geben können?« »Das hast du mir doch so schön gesagt, als ich bei dir oben war.« »Siehst du denn nicht die Kluft, die uns trennt?« »Nein! Ich sehe keine Kluft, nur Brücken.« »Und wenn ich bleibe – wenn die Glut, die mich erfüllt, auch dich berauscht, was dann?« Da lachte sie ihn an, so strahlend und hell, daß ihm das Herz weich wurde vor Freude und Glückseligkeit. »Dann machst du es halt zur Wirklichkeit, was du vor Tagen oben in der Hütte gesagt hast, und nimmst mich für Zeit und Ewigkeit.« In ihren Armen zerstoben seine letzten Bedenken. Und niemand, auch der Hund nicht, war da, um sie zu stören. »Vor einer Stunde hatte ich immer noch Angst«, gestand sie dann. »Und sie war nicht unbegründet, diese Angst. Du hast es mir wirklich nicht leichtgemacht.« »Und ich kann es immer noch nicht fassen, daß es Wirklichkeit sein soll. Aber jetzt will ich mich umkleiden, und der Tag soll uns ganz allein gehören.« Als er nach einer Viertelstunde wieder herunterkam, war der Mittagstisch schon gedeckt. Während des Essens erzählte ihm Helene, was sich in der kurzen Zeit auf Wildreut geändert hatte. Auch des Ramscheders Besuch erwähnte sie. Rupert hörte staunend zu und schüttelte immer wieder den Kopf. Aber am meisten wunderte er sich darüber, daß sie sich des Bergmann so schnell entledigt hatte. Kannte er ihn doch als einen gerissenen Burschen, dem nicht so leicht beizukommen war. Wenn da nur nichts nachkam. 86
Rupp machte sich seine eigenen Gedanken darüber, verschwieg sie aber Helene, weil er sie nicht beunruhigen wollte. Er war aufgestanden und ans Fenster getreten. Helene lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn. »Heute ist Maitanz im Dorf«, kam es nach einer Weile vom Fenster her. »Früher habe ich auch gerne getanzt«, sagte sie, ohne ihre Betrachtungen zu unterbrechen. »Ich sollte eigentlich heute der Ramscheder Klara ihr Tänzer sein.« »Hat sie dir das gesagt – heute früh?« Rupp wandte den Kopf und sah sie an. »Heute früh? Ja, allerdings. Woher weißt du das?« »Ich habe euch zugesehen vom Fenster aus.« Sie deutete lächelnd auf das Zeissglas. »Aber wie ist es denn? Willst du ihrer Einladung nicht nachkommen?« »Närrchen, du«, sagte er lachend, zog sie vom Stuhl hoch und trat mit ihr zum Fenster. »Schau, wie herrlich es draußen ist. Wollen wir nicht ins Freie? Oder wenn du lieber zum Tanzen willst?« »Nein, nicht tanzen, Rupert. Wir wollen lieber durch den Frühling wandern. Warte nur ein wenig, ich will mir bloß meinen Hut holen.« Lachend wie ein übermütiges Kind sprang sie davon. Feiertagsstimmung lag über der Landschaft. Wohin man auch schauen mochte, alles war Schönheit und sprießendes Leben. Durch dieses blühende Wunder gingen langsam Arm in Arm der Jäger Rupert Hiller und die Frau von Wildreut. Mit keinem Wort störten sie die Stille. Kurz vor dem Dorf wichen sie von der Straße ab und wanderten dem Hochwald zu. Da erst sagte Helene, versonnen ins Weite schauend: »An so einem Blütentag müßte sich das Herz himmelweit öffnen, um all das Große und Schöne aufnehmen zu können.« Auf einer Bank nahmen sie Platz. »Ja«, meinte Rupert. »Es wäre für manchen gut, wenn er sich losmachen könnte von der Hast des Alltags. Wie viele Bitterkei87
ten und Häßlichkeiten müßten versinken in dem herrlichen Schöpfungswunder dieses Bergfrühlings.« »Bergfrühling!« sagte Helene ganz leise. »Es ist ein sonderbarer Zauber um diesen Frühling in der Heimat. Man erkennt ihn erst, wenn man in der Ferne gewesen. Man sehnt sich danach, wenn man fern ist, in der Zeit des Blühens...« »Erzähl mir von deinem Leben«, bat Rupp. »Ach«, meinte sie, »wenn ich nur wüßte, wo beginnen. Mein Leben ist so dramatisch verlaufen, daß ich eigentlich gar nicht weiß, was besonders erwähnenswert wäre. Zunächst muß ich dir aber nun doch wohl einmal sagen, daß ich bereits einmal verlobt war.« Verblüfft sah er sie einen Augenblick an. Dann nickte er. »Ich begreife das durchaus. Eine Frau wie du muß ja jedem gefallen. Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn du nicht willst.« »Doch, Rupert, du sollst alles wissen. Er hieß Alex Petri und war ein talentierter Künstler, aber leichtfertig. Doch das alles liegt ja nun weit hinter mir. Ich erfuhr nur zufällig, daß er zu einem Spelunkengeiger herabgesunken ist. Eigentlich schade um ihn, denn er war ein Genie. Die Enttäuschung mit ihm hat sich tief in mein Leben eingeschrieben. Darum bin ich von der Bühne abgegangen, wollte mich ganz von der Außenwelt abschließen und nur mehr einsam für mich allein leben. – Sie stört dich doch nicht, Rupert – meine Vergangenheit?« »Nein, Vergangenes stört mich nicht. Maßgebend allein ist für mich nur das Zukünftige. Und auch du sollst und mußt immer nur denken, daß dies alles hinter dir liegt wie ein böser Traum. Und wenn du einsam sein wolltest, dann vergiß nie, daß ich es war, der dir diese Einsamkeit störte.« »Du warst es nicht, denn – ich suchte dich doch.« Sie wandte schnell den Kopf. »Hast du nichts gehört, Rupert?« »Nein! War da etwas?« »Ich weiß nicht. Aber ich habe mich wohl getäuscht.«
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Nein, Helene hatte sich nicht getäuscht. Aber sie sah nicht, wie sich die Ramscheder Klara davonschlich. Die Klara hatte die beiden von ihrem Hof aus gesehen, wie sie über die Wiese gingen, und war ihnen heimlich gefolgt. Unweit hatte sie in den Büschen gestanden und hatte sie beobachtet. Nun, als sie wieder auf der anderen Seite des Jungholzes in die Lichtung hinaustrat, blieb sie stehen und ballte zornig die Fäuste. Das sollte er ihr büßen, der hochnäsige Kerl, der es verschmähte, ihr Tänzer zu sein! Gerade heute hatte sie so fest damit gerechnet, denn sie wollte dem Hofwimmer Max zeigen, daß ihr an ihm überhaupt nichts liege, wenn es auch in den väterlichen Plänen anders festgelegt und besprochen worden war. Nun blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als mit dem Hofwimmer Max zum Tanz zu gehen. Sicher würden die beiden am Abend kommen. Dann wollte sie dem Jäger schon zeigen, daß sie auf ihn gar nicht angewiesen war. Dies beruhigte sie nun wieder etwas, und die zwei scharfen Falten von den Nasenwinkeln zum Mund verschwanden wieder. Nur die Augen funkelten noch zornig. Dieses hergelaufene Frauenzimmer hätte ruhig bleiben können, wo sie war! Die Suppe wollte sie der Wildreuterin schon versalzen. Wenn die meinte, sie dürfte bloß herkommen und das nehmen, was schon so halb und halb ihr gehörte, dann konnte man ja dafür sorgen, daß man es im Dorf überall erführe, was hinter ihrem schönen Gesicht steckte. Die Fäuste schüttelnd, trat sie den Heimweg an. Das unruhige Flimmern in ihren Augen kannte man auf dem Ramschederhof zur Genüge. Die Dienstboten gingen ihr dann gern aus dem Weg. Heute nahm sogar der Ramscheder seinen Hut und drückte sich wortlos davon. Auf dem Weg zum Hirschwirt begegnete dem Ramscheder der Hofwimmer Max, ein Bauernsohn von einem außerhalb der Gemeinde liegenden Einödhof. Er war ein Bursche von hünenhafter Gestalt, der überall wegen seiner Fäuste gefürchtet war. 89
»Ist die Klara daheim?« fragte er den Ramscheder. »Ja, aber Glück wirst heut net viel haben bei ihr.« »Ich möchte sie zum Maitanz abholen«, meinte der Bursche. »Probieren kannst du es ja. Ob sie mitgeht, das ist eine zweite Frage.« Keck rückte der Hofwimmer Max seinen grünen Plüschhut mit dem Gamsbart aufs linke Ohr und schritt dem Hofe zu. Klara sah ihn schon von weitem kommen, und ihr Zorn verwandelte sich blitzschnell in Genugtuung. Das – ja, das war der Richtige, mit dem konnte man sich schon sehen lassen. Da trat er auch schon in die Stube und rückte lächelnd den Hut aus der Stirn. »Na, wie ist es, Klara? Zum Maitanz tät ich dich gern abholen!« Es lag durchaus nichts Bittendes in dieser Stimme. Hart und grob klang sie und paßte ganz zu dem Äußeren. Klara schürzte ein wenig die Lippen und sagte gelangweilt: »Eigentlich hab ich gar keine rechte Lust...« »Ist mir auch Wurscht«, sagte der Max seelenruhig. »Geh ich halt woandershin. Zehne kann ich haben für eine.« Er wandte sich zum Gehen. »So wart doch ein bissel«, stotterte die Klara erschrocken. »Setz dich doch nieder, bis – ich mich zurechtgemacht habe.« »Also, dann kommst du doch mit?« »Freilich! Meinst, ich tät dir einen Korb geben?« Er lächelte geschmeichelt, während Klara sich an seine Seite schlängelte. »Laßt dich so gar nimmer sehen bei uns«, sagte sie schmollend. »Warum? Tut’s dir leid?« »No ja, gleichgültig bist mir net«, fuhr es ihr heraus. »Hast du denn das noch net gemerkt?« »Na, da hab ich noch gar nix gemerkt!« Er sah sie fest an und schlang dann plötzlich mit einer linkischen Bewegung den Arm um ihre Hüfte. »Ein sauberes Weibsbild bist schon!« Er hätte sie küssen können jetzt, so verlockend hielt sie ihm die Lippen hin. Aber er tat es nicht. Als er sie so im Arm hielt, über90
legte er in seinem praktischen Bauernsinn das Nützliche einer eventuellen Verbindung mit Klara. Der Hof war unter Brüdern etwas wert. Und sich hier hereinsetzen können als Bauer, war immerhin ein verlockendes Ziel. So ein lederner Kerl, dachte die Klara und wand sich aus seinen Armen, um sich herzurichten. »Kannst dich unterdessen im Stall umschaun«, sagte sie im Hinausgehen. Max wischte sich mit dem Rockärmel über die Stirn. Es war ihm ordentlich warm geworden. »Die kann einem warm machen«, schmunzelte er vor sich hin und stapfte in den Stall hinaus. Dort unterzog er alles einer eingehenden Musterung und bemerkte dabei verschiedene Mängel, die in der mustergültigen Wirtschaft des Hofwimmerhofes nicht vorkamen. »Wenn’s was wird mit uns zwei, dann richte ich mir schon alles nach meinem Geschmack«, sagte er vor sich hin. Als er nach einer Viertelstunde vom Stall herüberkam, war die Klara immer noch nicht fertig. Er schaute auf seine Uhr und meinte nachdenklich. »Teifi, Teifi, braucht so ein Weibsbild lang, bis die sich anzieht. Da zieh ja ich mich dreimal an in der Zeit.« Da hörte er sie schon über die Treppe herunterspringen, und gleich darauf stand die Klara unter der Tür, schmuck und sauber in der Tracht des Tales. »So, Max, jetzt können wir gehen!« »Ah, da schau her«, staunte der Max. »Nobel hast dich hergerichtet. Da kann dir keine mehr das Wasser reichen.« So plump diese Schmeichelei auch war, die Klara wurde doch rot dabei. Auf der Straße guckte Klara den baumlangen Max immer wieder von der Seite an. Wenn er nur net gar so ein hölzerner Kerl war, dachte sie. Sonst war er nämlich gar nicht so übel. Na ja, ich werd ihm schon noch Schliff beibringen. Aber dann mußte sie wieder an den Jäger denken und ärgerte sich maßlos. Erst als sie das Wirtshaus betraten, zeigte sie ihr Lächeln wieder. 91
Der Max drückte seinen Hut noch ein bissel schiefer aufs Ohr, als er mit seiner hübschen Begleiterin den Saal betrat. Und die Klara ließ die Augen umherschweifen, ob nicht vielleicht gar eine unter den Mädchen wäre, die besseren Stoff oder schwereren Schmuck tragen könnte. Diese Sorge erwies sich als völlig unbegründet. Max hatte also ganz recht gehabt – es konnte ihr keine das Wasser reichen. Um diese Zeit gingen Helene und Rupp wieder auf das Gut zurück. Auf einmal blieb Rupp stehen und horchte in den Wald zurück. Ein Schuß war gefallen. Diesen scharfen Knall hörte er heute zum ersten Male. Da mußte ein Neuling am Werk sein. Er machte sich von Helene los. »Wo willst du denn jetzt auf einmal hin?« »Nur schnell einmal ins Dorf zurück. Geh du nur einstweilen nach Hause, ich komme bald nach.« Bei den ersten Häusern verlangsamte er den Schritt. Da sah er am Scheunentor eines Gehöftes einen Buben stehen. Er winkte ihn heran und fragte: »Ist dein Vater daheim, Wiggerl?« Das Bürschl schüttelte verneinend den Kopf. Rupp ließ ihn stehen und ging auf das Wirtshaus zu. Im Flur erwischte er den Wirt und zog ihn beiseite. »Ist der Kastenhofer bei dir?« »Der Kastenhofer? Ja, drinnen sitzt er in der Gaststube.« Durch das Schenkfenster überzeugte sich Rupp dann selber. Richtig, der Kastenhofer, der Ramscheder und der alte Hofwimmer saßen dort am runden Ofentisch. Sein Verdacht gegen den Kastenhofer war also diesmal unbegründet. Es war ein anderer am Werk. Aber wer? Rupp machte noch einen Sprung in den Saal hinauf und überflog unter der Tür stehend das bunte Gewimmel der Tanzenden. Als er schon wieder gehen wollte, wurde er etwas unsanft angerempelt. Er trat zur Seite und sah dabei in Klaras funkelnde Augen.
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»Oh -«, sagte er, ein Lächeln verbeißend. »Hoffentlich amüsierst du dich gut?« »O ja, recht gut sogar«, zischte sie ihn an. »Freut mich«, sagte Rupp und stieg die Treppe wieder hinunter. Unten im Gang stieß er mit dem Kastenhofer zusammen. Kaum merklich flog ein Zucken um dessen Mundwinkel. Aber ganz freundlich sagte er: »So, Jäger, bist auch ein wenig beim Maitanz?« »Ein bißchen hab ich nachgeschaut, ja. Weißt, Kastenhofer, als Jäger interessiert man sich halt dafür, ob gewisse Leut daheim sind.« Wieder das Zucken um die Augenwinkel des Bauern. »So, so«, sagte er kurz und tat ein paar hastige Züge an seiner Zigarre. Dann nach einer Weile: »Sind denn die gewissen Leut daheim?« »Im Dorf ist er wenigstens.« »Ah? Einer ist es bloß?« »Seit heut sind es zwei, auf die ich ein besonderes Augenmerk haben muß«, antwortete Rupp trocken und ließ den Bauern stehen. Der lächelte ihm spöttisch nach und ging seinem Hof zu. Dort überfiel ihn gleich sein kleiner Bub mit der Neuigkeit: »Der Jäger war da, Vater, und hat nach dir gefragt.« Der Kastenhofer strich seinem Sprößling über den Lockenkopf und sagte : »Wenn dich der Jäger fragt, ob ich daheim bin, dann mußt immer ja sagen. Merk dir das, Wiggerl.« Der Ludwig merkte sich das sehr wohl, denn als der Jäger ihn nach ein paar Wochen wieder einmal fragte, sagte er prompt: »Der Vater hat gesagt, ich soll alleweil ja sagen, wenn du mich fragst.« Im Dorf aber ging der Maitanz ungehindert weiter, und im Laufe des Abends erwies sich der Hofwimmer Max doch nicht ganz so ledern, wie es zuerst den Anschein hatte. Nach ländlichen Begriffen entpuppte er sich sogar als feuriger Liebhaber. Der Klara, die 93
seine plumpen Zärtlichkeiten mit verheißungsvollem Lächeln quittierte, schien es wenigstens so. Als es Abend wurde und sich immer mehr Tanzlustige einfanden, empfand der Max die Notwendigkeit, draußen im versteckten Gartenhäusel mit der Klara allein zu sein. »Weißt«, sagte er mit bekümmerter Miene, »da drin hat’s eine schlechte Luft, und ich mein, es ist gescheiter, wenn wir im Gartenhäusl noch eine Flasche Wein trinken.« »Nein, trinken darf ich heut nix mehr«, antwortete Klara. Allein wollte sie schon sein mit ihm, nur trinken wollte sie nichts mehr, weil ihr der Kopf schon ein wenig summte von dem reichlich genossenen Wein. »Ah, geh weiter«, lachte der Max. »So ein Tröpferl Wein wird dir doch net schaden. Weißt – es ist bloß, daß wir auf unser Glück anstoßen können. Du Schnackerl, du sauberes!« Er legte dabei den Arm so zutraulich um das Mädel, als ob er mit ihr bereits schon von der Kanzel verkündet wäre. Dies schien allerdings nicht mehr in weiter Ferne zu liegen. Drunten in der Stube waren sich der alte Hofwimmer und der Ramscheder bereits einig. Es kam also nur mehr auf den Max an, die Klara einzuspinnen. Ihre weinselige Stimmung kam ihm dabei sehr zu Nutzen. In seinem nüchternen Sinn kam ihm zwar die Sache ein bißchen teuer vor. Deshalb hatte er der Kellnerin beim Heruntergehen ins Ohr geflüstert: »Die letzten drei Flaschen und was wir jetzt noch verzehren, das schreibst du meinem Vater auf die Rechnung.« Als er dann im Gartenhäusel die Gläser füllte, zog er die Klara noch enger an sich. »Du, das ist ein Süßer, den mußt du trinken. Weißt, unser Glück, das muß schwimmen.« »Recht hast«, lispelte die Klara. »Ein trockenes Glück hat net viel Wert. Aber ich mein, dir steigt der Wein schon in den Kopf.« »Der Wein? Na!« Er lachte etwas unsicher. »Du steigst mir in den Kopf, Klara.« »Du Narrischer!« 94
»Warum soll das net möglich sein?« »Jetzt auf einmal? Bis jetzt hast du dich doch nie um mich gekümmert!« »Gerngehabt hab ich dich aber schon lang.« »Warum hast denn nix gesagt? Hast Angst gehabt?« Max mußte schlucken, als wenn er eine Gräte im Hals hätte. »Das grad net«, sagte er stockend. »Ich hab mir halt denkt, wenn du für mich bestimmt bist, dann kommst du mir net aus.« »Du bist wirklich gut«, lachte Klara. »Wenn ich wollen hätt, wär ich dir schon zehnmal ausgekommen. Es war bloß noch nie der Richtige.« »So, so«, stotterte er. »Meinst – daß dann ich der Richtige war?« Soweit es die Dunkelheit zuließ, blickte ihm Klara in die Augen. »Uneben bist grad net«, meinte sie nach einigem Betrachten. »Du wärst grad der richtige Bauer für den Ramschederhof.« »Meinst? Dann könnten ja wir zwei es packen?« stammelte er. »Es fragt sich halt bloß noch, ob auch dein Vater einverstanden ist.« Klara schürzte verächtlich die Lippen. »Das braucht gar keine Frage. Was ich haben will, das tut der Vater. Das ist noch immer so gewesen am Ramschederhof -« Und muß auch so bleiben, wollte sie noch sagen. Aber das verschluckte sie lieber. Daß alles geschehen mußte, wie sie es haben wollte, das war eine Tatsache, vor die der Max ganz einfach gestellt wurde und mit der er sich abfinden mußte. Vorderhand war es ihr darum zu tun, daß der Max so schnell wie möglich auf den Hof als Bauer kam. Der andere sollte nur nicht glauben, daß sie auf ihn angewiesen wäre. Sie drängte sich fester gegen ihn. »Weil du es gar so gut meinst – ich bin ja sonst keine von den Freigebigen – aber geh her, sollst auch was haben.« Sie schlang ihm die Arme um den Nacken und preßte ihre Lippen auf die seinen. Dabei zitterte der bärenstarke Mensch, so fremd kam ihm das vor. 95
Etwas später wanderten sie durch die schöne Mondnacht. Plötzlich standen sie vor einem weißen Haus, aus dem die Klänge eines Klaviers durch die offenen Fenster drangen. Das machte der Klara einen Strich durch ihre Rechnung. Mißmutig packte sie den Max am Ärmel und wollte ihn fortziehen. Aber er hatte keine rechte Lust, diese Musik gefiel ihm, und er sagte: »Bleib doch stehen und horch. Ich kann’s zwar net recht unterscheiden, ob’s ein Rheinländer oder ein Schottischer ist, auf alle Fälle, mir gefällt’s.« Klara bemerkte plötzlich an einem Fenster eine Gestalt und ärgerte sich. »Gehst jetzt mit oder net?« sagte Klara. »Na ja, gehn wir halt, wann du meinst.« Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann hing sich Klara an seinen Arm und sagte: »Weißt, mit der Wildreuterin steh ich mich net recht gut. Wär mir zuwider, wenn’s heißen tat, ich hätte auf ihre Musik gehört. Die bildet sich gleich was drauf ein. Das verstehst du doch, net wahr, Max?« »Ja, ja, Schatzl!« »Siehst«, sprach sie weiter, »wenn du mich allweil so gut verstehst, dann kommen wir zwei ganz gut aus.« Gerade als Klara ihn umhalsen wollte, sahen sie ein Paar des Weges daherkommen. Sie gingen aneinander vorüber. Dabei blickte Klara rasch in das Gesicht des Mannes, der ihr mit kaltem Blick begegnete. »Ah, da schau«, sagte sie gehässig. »Der Florian Gerstäcker und die Brigitte. Des is ja sauber!« Die beiden hörten das nicht mehr. Sie wanderten still nebeneinander weiter und sahen sich ab und zu in die Augen. Dann standen sie vor dem Haus und hörten ebenfalls die Klänge des Klaviers. Ganz still standen sie voreinander, bis Gerstäcker ihre Hand in die seine nahm. »Gute Nacht, Gittli«, sagte er leise. 96
»Gute Nacht«, hauchte sie. Als Florian eine Viertelstunde später seinen Rundgang machte, stand das Gittli immer noch am Gartenzaun neben dem blühenden Fliederstrauch. »Ach du – ich hab geglaubt, du schläfst schon lang.« Gittli antwortete nicht, zog einen Fliederbusch herab und verbarg ihr Gesicht darin und sprang schnell ins Haus. Woche um Woche verging. Rupert kam jetzt jeden Sonntag vom Berg herunter, und doch glaubte Helene, es läge eine halbe Ewigkeit dazwischen. Nur die Arbeit half ihr über die Sehnsucht hinweg. Und Arbeit gab es genug. Harlacher war wohl ein guter Arbeiter auf Wiese und Feld, er ordnete alles mit Bedacht und großer Gewissenhaftigkeit. Die Leute arbeiteten gerne unter ihm, zumal er, im Gegensatz zu Bergmann, überall fleißig mithalf. Mit dem Schreiben allerdings stand er auf schlechtem Fuß, so daß notgedrungen Helene die Führung der Wirtschaftsbücher übernehmen mußte. Schon lange wollte Helene, daß Rupert sie einmal auf die Jagd mitnehme. Aber er redete ihr das immer wieder aus und meinte, daß sie sich das bloß nicht als Vergnügen vorstellen solle. Aber als sie dann sagte: »Ich glaube fast, du hast da irgendein kleines Mädchen droben bei dir, weil du mich nie mitnehmen willst«, da ging er endlich lachend auf den Spaß ein und versprach ihr, sie am Montag mitzunehmen. Es war noch dunkle Nacht, als sie durch den Bergwald stiegen. Als sie die Höhe erreichten, begann es langsam zu tagen. Ein Weilchen schauten sie der aufgehenden Sonne zu. Tief unten lag das Tal, in dem noch die Frühnebel lagen. Es wurde ein herrlicher Tag in Sonne und Licht. Sie wanderten, kehrten in Almhütten ein und ruhten im Almrosenfeld. Helene merkte erst, wie müde sie geworden war, als sie am späten Nachmittag zur Jagdhütte zurückkehrten. Kaum daß sie sich auf 97
dem Strohsack ein wenig hingestreckt hatte, fielen ihr schon die Augen zu. Sie hörte nicht mehr das drohende Rauschen, das durch die Baumkronen ging. Durch die Hitze des Tages hatte sich ein Gewitter zusammengebraut. Helene wachte vom ersten Donnerschlag auf. Erschrocken sah sie sich um und lächelte dann, als sie feststellte, daß sie ja nicht allein war. Nein, Rupp war bei ihr. Er stand am Fenster und sah in den Regen hinaus. »Wie mit Kübeln schüttet es«, sagte er und drehte sich um. »Da wird es einen Haken haben mit dem Heimkommen. So wie es ausschaut, kann es Stunden dauern.« »Das macht nichts, ich bin gerne hier«, meinte sie. Dann saßen sie Hand in Hand am warmen Ofen und sahen zum Fenster hinaus. Stunde um Stunde rauschte der Regen. Einmal zuckte ganz grell ein Blitz vor dem Fenster nieder. Als sich Helene erschrocken an den Jäger klammerte, meinte er lächelnd, daß noch nie ein Blitz in einen Jägerstrohsack eingeschlagen habe. Aber draußen stieg eine Rauchsäule hoch. Der Blitz hatte in einen dürren Baum geschlagen. Der Brandgeruch drang bis zur Hütte herein. Es war ihr so wohl und geborgen zumute. Die Augen fielen ihr wieder zu. Fern und immer ferner klang ihr seine Stimme, dann hörte sie nichts mehr. Es war bereits ganz dunkel geworden. Rupp zündete die Hängelampe an, suchte nach etwas Eßbarem und hob auf einmal lauschend den Kopf. Es war ihm, als habe er vor der Hütte einen schlurfenden Schritt vernommen. Mit einem Sprung war er bei der Tür. »Jemand da?« Nichts rührte sich. Ich lasse mich fressen, wenn da nicht jemand gewesen ist, sagte sich Rupp. Nichts bedauerte er in diesem Augenblick mehr, als daß er seinen treuen Hund unten in Wildreut gelassen hatte. Eine ganze Weile stand er und horchte in die Nacht hinein, aber nichts mehr war zu vernehmen. Frisch und erquickend war die 98
Luft nach dem Gewitter geworden. Weit in der Ferne hörte man es noch grollen, während sich schon wieder ein sternklarer Himmel über den Bergen spannte. Der Jäger kehrte in die Hütte zurück, schraubte den Docht der Lampe ein wenig nieder und begann in einem Buch zu lesen, das er schon fast ein halbes Jahr auf dem Sims liegen hatte. Da – es war schon gegen Mitternacht – schrak er auf. Ein Schuß war gefallen. Ruperts Blick glitt über die Schlafende hin. Nein, sie hatte nichts gehört. Schnell schlüpfte er in seine Schuhe, nahm das Gewehr und schlich sich leise hinaus. Er sperrte die Hütte von außen ab und ging in die vom Vollmond erhellte Nacht hinein. Schon wollte er wieder umkehren, weil er an die Grenze seines Jagdgebietes kam, da gewahrte er einen Schatten, der sich vom Latschenhang auf den Steig zu bewegte. Heiß schoß ihm das Blut in die Stirn. Ah – da schau her, der Bergmann. Rasch entschlossen hob er seine Büchse. »Halt! Oder es kracht!« »Im gleichen Augenblick bereute er seine Voreiligkeit. Er hätte den andern noch näher kommen lassen sollen. So sprang dieser mit einem Satz hinter einige Felsbrocken und lief fort. Nur eine Sekunde stand Rupp unschlüssig, dann jagte er über den Latschenhang hinauf und auf der anderen Seite hinunter. Er schnitt dem Flüchtigen auf diese Weise den Weg ab. Bestürzt wollte sich Bergmann bei dem unerwarteten Anblick zurückwenden. Da war ihm der Jäger schon an der Gurgel. Ein heftiges Ringen begann. Rupp mußte alle Kraft anwenden, um den Griff zu verhindern, mit dem Bergmann immer wieder nach seinem Messer greifen wollte. Beide hörten nicht den jagenden Schritt, der herankam. Plötzlich erhielt Rupp von hinten her einen Schlag über den Kopf und brach zusammen. Kastenhofer, der mit der Beute bereits unterwegs ins Tal gewesen war, hatte den Ruf gehört und war gerade noch zur rechten Zeit
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gekommen, um Bergmann aus den Fäusten des Jägers zu befreien. Das Mondlicht verschwamm schon im Schimmer des neuen Morgens, als der Jäger aus seiner Ohnmacht erwachte. Zunächst fand er sich gar nicht zurecht, und nur allmählich kam es ihm zu Bewußtsein, was geschehen war. Er tastete nach dem Kopf und fühlte das Blut, das an seinen Haaren klebte. Mühsam richtete er sich auf und nahm das Gewehr an sich. Jetzt mußte er zu allem Unglück noch lächeln. »Teufel, das hätte schlimm ausgehen können. Wenn ich nur wüßte, wer der zweite war.« Er tastete seinen Körper ab, versuchte ein paar Schritte und atmete befreit auf. Langsam ging es halt noch, aber nach einer Stunde war er doch wieder bei der Jagdhütte angelangt. Helene schlief immer noch, aber sie mußte inzwischen wach gewesen sein, weil das Buch nicht mehr auf dem Tisch, sondern bei ihr auf dem Stuhl lag. Ganz leise sperrte er auf, holte sich Seife und Handtuch und wusch sich dann am Brunnen draußen die Hände. Der Schlag mußte mit aller Wucht geführt worden sein, denn ein fingerbreiter Riß lief quer über seinen Hinterkopf. Er überlegte gerade noch, was er Helene sagen sollte, da stand sie plötzlich hinter ihm. »Um Gottes willen, was ist denn passiert?« »Er lächelte. »Oh, nichts von Bedeutung. Ich habe – mich nur angestoßen.« »Nein, Rupert, du verschweigst mir etwas. Ich bin doch in der Nacht aufgewacht und merkte, daß du Hals über Kopf davongestürzt sein mußtest, weil du sogar das Licht hast brennen lassen.« Da erzählte er ihr, was sich abgespielt hatte, lachte über ihre Angst und meinte dann: »Der hat bald ausgewildert, der Bergmann. Komm, zieh deine Schuhe an, ich gehe mit dir ins Tal hinunter.«
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»Ja«, sagte sie gehorsam. »Aber ein andermal sperrst du mich nicht wieder ein.« »Ein andermal bleibt mein Mädchen schön unten und schläft in ihrem weichen Daunenbett.« »Es gefällt mir aber hier besser. Am liebsten möchte ich gleich für immer hier bleiben.« »Später dann, Mädchen, später. Es liegt bei dir, wenn du für ganz bei mir bleiben willst.« So leicht, wie er es auf die Schulter nahm, konnte sich Helene allerdings nicht mit der Sache abfinden. Der Schreck war doch tiefer in sie hineingefahren, als sie sich’s anmerken ließ. Und hier, das fühlte sie, mußte sie schon ein bißchen resoluter sein, als es sonst ihre Art war, und sie setzte durch, daß er sich zunächst einmal die Wunde von ihr ordentlich säubern und verpflastern ließ. Das Säubern mit selber angesetztem Salmiakgeist brannte zwar fürchterlich, aber Rupert biß tapfer die Zähne zusammen und erzählte ihr, daß das ja noch gar nichts sei gegen das, was er im Krieg an Wunden gesehen habe. »Da war Krieg«, unterbrach sie ihn. »Aber das, was hier geschehen ist, das ist eine Gemeinheit. Da muß ich ja dauernd in Angst um dich leben.« »Angst brauchst du überhaupt keine zu haben, mein Kind. Ich war bloß zu wenig vorsichtig, das war alles.« »Nimm diesen Bergmann nicht zu leicht, Rupert. Vielleicht war es sogar ein Fehler, daß ich ihn fristlos entlassen habe.« »Sonst nichts mehr? Sei bloß froh, daß du dir diese Laus aus dem Pelz geschüttelt hast. Jetzt hab ich ihn in der Hand, jetzt kommt er mir nicht mehr aus.« »Was willst du tun, Rupert?« »Anzeigen natürlich. Oder willst du ihn noch schonen?« »Nein, du mußt schon tun, was du für richtig hältst, Rupert.« »Natürlich, aber letzten Endes mußt auch du damit einverstanden sein, denn schließlich gehört ja die Jagd dir.« 101
»Wenn ich nur die Angst losbrächte.« »Ich habe dir schon gesagt, daß du keine Angst zu haben brauchst. In Zukunft werde ich schon besser auf der Hut sein, du. Aber es ist schön, zu wissen, daß sich jemand um mich ängstigt. Und jetzt komm, Mädchen, sonst geht mir der Lump noch durch die Lappen, bevor man ihn schnappen kann. Er griff nach der Büchse, hing sich das Fernglas um und faßte Helene bei der Hand. Der Tag war nun vollends erwacht. Frisch wehte der Wind von den Bergen. Von überall hörte man die Herdenglocken läuten, und der Gesang der Vögel erfüllte den Wald, vom niederen Gestrüpp bis zu den wiegenden Wipfeln hinauf. Drunten im Tal herrschte reges Leben. Die Heuernte hatte eingesetzt, und überall war geschäftiges Leben auf den Wiesen. Die Mähmaschinen ratterten, auf den Hangwiesen standen die Mäher, und flinke Mädchenhände wendeten das Heu. Soeben gingen Helene und Rupp an einer Wiese des Ramscheder vorbei. Der Bauer saß am Rain und schaute seinen Leuten bei der Arbeit zu. Beim Anblick der beiden kniff er die Augen zusammen und erwiderte mürrisch den gebotenen Gruß. Während Helene langsam weiterging, blieb Rupp vor dem Bauern stehen. »Heuer kannst du zufrieden sein mit dem Heu«, meinte er. »Ich glaub, du bist von uns beiden der Zufriedenere«, antwortete der Bauer und wies mit dem Kinn nach Helene hin. »Wann gibt es denn Hochzeit bei euch?« »Eilt noch gar nicht«, spottete nun der Jäger. »Aber ich hab gehört, daß du schon bald in den Austrag gehen möchtest.« »Ich? Wer sagt denn das?« fragte der Ramscheder gereizt. »Mir pressiert es noch gar nicht. Zuerst möchte ich übrigens mit der Wildreuterin noch ein Geschäft machen. Der Vertrag, den ich mit dem Bergmann abgeschlossen habe, der wird keine Gültigkeit mehr haben. Was meinst du?«
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»Ich bin der gleichen Ansicht. Der Bergmann hat gar kein Recht gehabt, hier die Wiese zu verpachten. Ich glaube kaum, daß die Wildreuterin die Wiese verpachtet haben will.« »Könntest ja ein gutes Wort einlegen bei ihr, Rupp! Ich brauche die Wiese notwendig.« »Ich kann es ja einmal versuchen. Ob ich Glück hab dabei, das weiß ich nicht.« »Du und kein Glück haben«, lachte der Bauer. »Du hast schon ein Sauglück, das kann man wohl sagen.« Rupp wandte sich zum Gehen. »Sei nicht zu fleißig«, rief er noch. »Ich reiß mir keinen Haxen aus«, grinste der Ramscheder. Dann sah er dem Davoneilenden nach. Der Mensch hatte mehr Glück als Verstand! Er räkelte sich im Gras und blinzelte mißmutig über die Wiese hin, auf der seine Leute arbeiteten. Nach einer Weile kam die Klara herangeschlendert und fragte : »Was hat er denn wollen?« »Ah nix! Bloß vom Wetter haben wir geredet.« »Weißt es schon, Vater? Sie – die ganz Feine – die ganze Nacht war sie bei ihm in der Jagdhütte droben!« »Man soll sich net in anderer Leute ihre Sachen dreinmischen«, meinte der Bauer. »Ein jeder hat vor seiner eigenen Tür zu kehren. Meinst net auch, Klara?« Die Klara fuhr zornig auf. »Meint der Vater vielleicht mich? Das möchte ich mir aber schönstens verbitten. Ich bin ein ehrbares Mädchen und nicht eine solche, wie die ist.« »Ach geh, wer sagt denn, daß ich dich gemeint hab?« fragte der Bauer belustigt. »Grad so im allgemeinen hab ich geredet.« »Meinst du vielleicht, ich merk nicht, daß du vor der Person katzbuckelst?« »Was redest du denn da für einen Unsinn. Da war ich der letzte, der ihr schöntut. Leugnen läßt es sich aber jedenfalls net, daß sie es zu was gebracht hat. Du setzt dich halt einmal in das Meinige hinein, aber sie hat es selber geschafft.« 103
»Es fragt sich halt grad, wie sie zu dem gekommen ist. Mit dem Theaterspielen allein wird sie sich’s net verdient haben. Ich weiß schon Bescheid in solchen Sachen.« Die Klara schulterte mit einer hastigen Bewegung den Rechen und ging davon. Es war, wenigstens für diesen Augenblick, das beste für sie. Die Sonne stieg immer höher. Als die Elfuhrglocke läutete, sah man auf der Landstraße den Gendarm in nördliche Richtung davonwandern, und wenn man genau hinsah, dann sah es gerade aus, als ob er einen Menschen an seiner Seite führte. Wenn den beiden jemand begegnete, schlug Bergmann die Augen nieder, und er war herzlich froh, als sie aus der dörflichen Gemarkung kamen, wo ihn niemand mehr kannte. In verbissenem Trotz starrte er vor sich hin. Wenn nur diesen Jäger der Teufel holen würde! Und doch war sein Haß gegen ihn nicht so groß wie gegen die Wildreuterin. Sie allein war an allem schuld. Wäre sie nicht gekommen, dann wäre er noch Verwalter auf dem Gut, und es wäre alles noch in schönster Ordnung – in seinem Sinne wenigstens. Der Jäger aber war, nachdem man Bergmann festgenommen hatte, zum Kastenhofer gegangen und hatte ihm direkt auf den Kopf zugesagt: »Du warst heut nacht nicht daheim, Kastenhofer!« Der wandte kaum den Kopf und sagte grob: »Frag meine Alte, die kann dir’s sagen, ob ich daheim war.« »Mit deiner Frau verhandle ich nicht, Kastenhofer. Auch würde sie mir schon aus Angst die Wahrheit nicht sagen. Aber dir will ich jetzt etwas sagen, Bauer. Bisher hab ich auf dein Weib und deine Kinder immer Rücksicht genommen. Von heute an nicht mehr.« »Kannst du mir das beweisen?« fragte der Bauer unsicher. »Wenn ich heute nacht auch hinten Augen gehabt hätte, dann könnte ich dir schon sagen, wer dem Bergmann zu Hilfe gekom-
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men ist. Aber laß es dir gesagt sein, von heute an geht es Aug um Aug.« Ohne Gruß verließ der Jäger die Stube. Mit funkelnden Augen sah ihm der Kastenhofer nach. »Das hat man davon, wenn man zu wenig hinhaut. Der Kerl muß einen Schädel aus Eisen haben. Ein anderer war kaum mehr aufgestanden. Aber den Bergmann soll der Teufel holen, wenn er mich verrät.« Der Bauer hatte plötzlich alle Sicherheit verloren. Da half für heute alles nichts mehr, als ein wenig über den Durst zu trinken. Er stülpte den Hut auf und stapfte zum Wirt hinüber, wo der dicke Ramscheder ihn bereits erwartete. Am Abend spazierte Pfarrer Schröcker zum Gutshof hinüber. Er traf Helene im Gartenhäusel, beim Abendbrot sitzend. In den Jahren war er ein bißchen beleibter geworden und an den Schläfen silbergrau. Helene erschrak ein wenig. Aber ein Blick in das gutmütige Gesicht des Mannes gab ihr ihre Ruhe wieder zurück. Der Pfarrer lachte freundlich und zog grüßend seinen weiten Schlapphut. »Grüß Gott, meine liebe Wildreuterin! Ist es erlaubt, daß ich mich ein bissel zu Ihnen setze?« »Natürlich, Herr Pfarrer. Aber wollen wir nicht doch lieber ins Haus gehen?« »O nein, warum denn solche Umstände? Bleiben Sie nur sitzen, ich bleibe nicht lange.« Er nahm ihr gegenüber Platz. »Essen Sie nur ruhig weiter, vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren.« »Ich weiß nicht, ob ich mir erlauben darf?« Helene schob ihm eine Platte mit Wurst und Schinken hin. Sie war sich ein wenig unsicher, ob sie den Pfarrer zum Essen einladen dürfte. Der aber sagte mit ungezwungener Herzlichkeit: »Sehen Sie, das gefällt mir an Ihnen. Den Schinken muß ich leider ablehnen – aber ein bissel von der Streichwurst, wenn Sie mir geben wollen?« »Aber gern.« 105
Während nun Helene einige Brote zurechtmachte, fragte er: »Und wie gefällt’s Ihnen hier, Lenerl?« »Oh, gut, sehr gut!« »Wissen Sie, ich sag gleich Lenerl, weil ich Sie doch schon gekannt hab als kleines Dirndl – und ich hab Sie immer in guter Erinnerung gehabt.« »Das gleiche darf ich auch sagen, Hochwürden. Ich bin Ihnen heute noch zu tiefem Dank verpflichtet, daß Sie mir damals geholfen haben.« »Das hab ich gern getan, und ich freue mich wirklich, daß Sie es draußen in der Welt so weit gebracht haben.« Er griff nach einem der Brote. »Vergelt’s Gott, Lenerl!« »Darf ich Ihnen ein Glas Wein dazu bringen?« fragte Helene. »Ich danke schön, heute nicht. Ein andermal dann – vielleicht – vielleicht bei Ihrer Hochzeit?« Er sagte das flink und lauernd über den Tisch herüber. »Oder habe ich da unrecht gehört?« »Ich weiß nicht, wieweit Sie darüber unterrichtet sind«, antwortete Helene errötend. »Ich vermute allerdings, daß Sie von dem üblichen Dorfklatsch gehört haben, und glaube nun, Ihren Besuch deuten zu können.« »Meinen Sie?« fragte er und betrachtete sie mit forschenden Augen. »Im vornherein gesagt: Auf den Klatsch gebe ich nichts. Ich habe mir gesagt, da gehst du gleich selber zu ihr hin. So viel Vertrauen wird sie schon zu mir haben. Schauen Sie, mit mir, da können Sie reden, wie Ihnen der Schna – Verzeihung – Mund wollte ich sagen, gewachsen ist. Also – wann darf ich euch verkünden?« »Wir haben noch keinen bestimmten Zeitpunkt festgesetzt, Herr Pfarrer. Aber wahrscheinlich gleich nach der Ernte.« »Na, schauen Sie! Das ist grad die richtige Zeit. Denn wissen Sie, gar zu lang warten, das hat auch keinen Wert.« Er machte eine bezeichnende Bewegung mit der Hand und begann wieder zu essen.
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»Wissen Sie«, begann er nach einer Weile wieder, »je kürzer der Brautstand, um so weniger fallen die sündigen Gedanken über die Menschen her. Ich weiß nicht, ob Sie mich richtig verstehen. Vielleicht sind meine Worte auch unnütz am Platze. In meinen Jahren hab ich so viel gelernt und gesehen, daß ich einen Menschen schon taxieren kann.« Inzwischen war es draußen bereits dunkel geworden. »Jetzt ist es richtig Nacht geworden«, sagte der Pfarrer und stand auf. Helene begleitete ihn bis zur Gartentür. Dort reichte er ihr die Hand. »Gute Nacht! Vergelt’s Gott, für alles!« Längst schon war seine hohe Gestalt in der Nacht verschwunden, und immer noch stand Helene am Gartenzaun, die Arme über der Brust verschlungen, und blickte über das Dorf hinweg in die Ferne. Gegen Mitternacht, als Florian sich ein wenig ausrastend unter die einsame Fichte gestreckt hatte, begann der Hund zu knurren. Gerstäcker schnellte in die Höhe, ließ den Hund von der Leine und sprang hinter ihm her. Da schlug plötzlich in dem Streuschuppen eine gelbe Lohe empor. Im Schein der Flammen sah Gerstäcker einen Menschen fortspringen. Doch der Hund war ihm schon auf den Fersen. Ein gellender Schrei hallte durch die Nacht – dann krachte ein Schuß. Ein Schmerzensgeheul, ein Röcheln, dann wieder Stille. Gerstäcker hatte nicht Zeit, sich um den Hund zu kümmern. Es galt vor allem Lärm zu schlagen und die Leute zu wecken. Und während sie in fiebernder Hast aus ihren Kammern stürzten, zog Gerstäcker den kleinen Spritzwagen aus dem Wagenschuppen und riß den Hydranten auf. Ein Glück, daß die Nacht windstill war, sonst hätte das Feuer zweifellos auf die Gutsgebäude übergegriffen. So konnte es mit den zur Verfügung stehenden Löschgeräten auf seinen Herd beschränkt werden.
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Als Helene an die Brandstätte kam, taumelte Gerstäcker ihr entgegen. »Ich kann nix dafür, Frau! Ganz gewiß, ich kann nix dafür.« »Ich weiß, beruhige dich nur. Der Schaden ist ja nicht so groß.« »Er muß sich am Abend schon eingeschlichen haben«, vermutete Gerstäcker. »Wer?« »Ich weiß nicht! Wie das Feuer aufgeschlagen hat, ist einer davongerannt. Der Tyras hat ihn gefaßt, aber dann ist ein Schuß gefallen, und wahrscheinlich wird er den Hund erschossen haben.« »Komm!« sagte Helene. »Wir wollen nach ihm sehen.« Und sie fanden ihn. In den scharfen Zähnen hing noch ein Fetzen Tuch. Vom Dorf herüber wimmerte jetzt die Feuerglocke, und die Spritze kam angerasselt. Aber sie brauchte nicht mehr einzugreifen. Der Streuschuppen war schon in sich zusammengestürzt und das Feuer eingedämmt. Vermutungen wurden ausgetauscht. Gittli hörte einen Bauern sagen: »Der Bergmann ist aus dem Kreisgefängnis ausgebrochen.« Gittli stürzte zu Gerstäcker hin. »Jetzt kann ich mir denken, wer es gewesen ist, und ich weiß auch, wo er zu finden ist. Komm mit, Flori, ich zeige dir den Weg.« Gleich darauf rannten beide in die Nacht hinein. Noch in der Nacht waren die Landjäger mit einem Spürhund ausgezogen. Als sie nach der verborgenen Rudholzerhütte kamen, hatte Flori Gerstäcker den Bergmann schon dingfest gemacht. An die Brandstätte geführt, gab er ohne weiteres zu, den Brand gelegt zu haben. Höhnisch lachend meinte er: »Wegen dem Streuschuppen allein war es nicht der Mühe wert, daß ich mir die Arbeit gemacht habe.« Helene kam soeben vom Haus herüber, als man ihn endgültig abführte. Mit zynischem Lachen schritt er an ihr vorbei. Langsam ging Helene dann zu den drei Fichtenbäumen hinüber, wo Gerstäcker soeben seinen Hund begraben hatte. 108
»Lieber wär mir was passiert, als daß mein guter Tyras hin ist.« »Versündige dich nicht«, sagte Helene ernst. »Der Hund ist wieder zu ersetzen.« »Ich auch«, beharrte er eigensinnig. »Mir weint auch niemand nach.« »Na«, Helene lächelte, »da muß ich das Gittli einmal fragen.« Sie wandte sich ab und ging zum Bach hinüber, wo Tommerl soeben die sechste Forelle ins Gras schleuderte. Als Helene ein paar Stunden später auf ihr Haus zuging, fand sie dort den Ramscheder vor, der wegen der Streuwiese gekommen war. Helene gab ihm zur Antwort: »Nein, Ramscheder, da können wir kein Geschäft machen. Ich kann die Streuwiese auf keinen Fall mehr hergeben.« »Sie hat aber doch gar nicht soviel Wert für Sie.« »Wenn sie keinen Wert hat, dann mache ich sie eben wertvoll. Gleich in den nächsten Wochen beginnen die Vorarbeiten. Ich lasse die ganze Bachwiese und das sumpfige Gelände um den Mühlgraben kultivieren.« »Meinen Sie, daß dabei was herausschaut?« »Für mich vielleicht nicht. Muß denn auch bei allem, was man beginnt, gleich etwas herausschauen? Jedenfalls habe ich meine eigenen Pläne. Auf Wiedersehn, Ramscheder.« An ihm vorbei schritt sie ins Haus. »Die ist ja net recht im Kopf«, brummte der Bauer hinter ihr her und trollte sich davon. Aber Helene wußte genau, was sie wollte. Das erste war schon einmal gewesen, daß sie sich wieder einen Wagen zulegte, einen blaugrauen Sportwagen, nachdem sie früher eine schwere Limousine gefahren hatte. Dann wollte sie nächste Woche mit dem Harlacher die derzeit stattfindende landwirtschaftliche Ausstellung in München besuchen, um sich das Neueste auf dem Gebiet der Maschinen anzusehen und zu erwerben. Gott sei Dank brauchte sie mit dem Geld nicht zu knausern. Notfalls könnte sie den schwe109
ren Mähdrescher, mit dem sie liebäugelte, auch an die Nachbarn ausleihen. Durch die Technisierung des Betriebes brauchte sie natürlich nicht mehr soviel Leute und könnte welche davon ausstellen. Aber gerade das wollte sie nicht und war schließlich darauf gekommen, die wässerigen Streuwiesen zu kultivieren und daraus wertvolles Land zu schaffen. Ach ja, sie war zutiefst bewegt und durchdrungen von dem Gedanken, sie fühlte sich wie auf Wolken gehoben, in dem Bewußtsein, Großes zu schaffen. Schön langsam hatte es ja schon begonnen, daß die Bauern des Tales mit Anerkennung und Ehrfurcht den Namen der jungen Gutsfrau in den Mund nahmen und daß ihnen der Spott schon vergangen war. Sie war von einem ungeheuren Schwung erfüllt, von einer stürmischen Kraft, und bis ins Innerste erfüllt von einem freudigen Schaffensdrang. Zwar wollte sie es sich noch nicht ganz eingestehen, aber es war schon so, daß ihr die neue Liebe diese Kraft schenkte. Wie von einem Wunder war sie davon erfaßt worden, ein neuer Glaube hatte sich in ihr Herz gesenkt, obwohl in dieser Liebe alles ganz anders war, viel behutsamer, viel stiller, nicht mehr so flammengleich in der Empfindung, sondern mehr ein beglückendes Suchen nach Wärme und Geborgenheit. Ja, das war so eigentümlich an dem Mann Rupert Hiller. Der große, starke Mensch, an dem alles federte vor Kraft, in seinem Werben um ihre Liebe war er demütig. Alles an ihm war so sauber und klar, und gerade daraus schöpfte sie ihren wunderbaren Glauben an ein neues Glück. Ein klarblauer Augustmorgen lag über Berg und Tal, als Helene über die abgemähten Wiesen gegen den Bergwald hinschlenderte. Sie tat dies in letzter Zeit öfter, weil Rupp oft am Mooskogel zu treffen war, wo er einen breiten Holzschlag zu beaufsichtigen hatte. In diesem Wald hatte sich der Borkenkäfer eingenistet, und es blieb nichts anderes übrig, als diesem gefährlichen Feind der Wälder energisch zu Leibe zu rücken. Plötzlich hörte sie sich an110
gerufen, und als sie aufschaute, sah sie die Ramscheder Klara aus dem Wald treten. Helene erschrak beinahe vor ihrem höhnisch funkelnden Blick und schaute unwillkürlich zur Höhe hinauf, von wo das Schlagen und Hämmern heruntertönte. Ja, in letzter Zeit hatte die Klara wieder begonnen, sich dem Jäger in den Weg zu stellen, sooft es sich gerade schickte. Sie war geradezu von einem brennenden Ehrgeiz besessen, ihn der Gutsfrau von Wildreut abspenstig zu machen. Von den plumpen Zärtlichkeiten des Hofwimmer Max war sie schon übersättigt. Was war denn dieser Zweitbauernsohn, der sich mit bäuerlicher Bedachtsamkeit in das warme Nest, das der Ramschederhof zweifellos war, setzen wollte! Gegen den Jäger Rupp war er nur ein Schatten – ein Nichts. So war sie auch heute wieder bei dem Jäger am Mooskogel gewesen. Sie kam gerade von oben und war von Zorn und Wut erfüllt, weil ihr der Jäger unmißverständlich zu verstehen gegeben hatte, daß ihm ihre Aufdringlichkeit allmählich zuwider würde. Ihre ganze Wut richtete sich daher jetzt gegen Helene. Vorerst war allerdings ihr Gruß noch von zuckersüßer Freundlichkeit. Helene dankte ganz überrascht für den freundlich gebotenen Gruß und setzte noch hinzu: »Auch schon unterwegs?« »Jawohl«, antwortete die Klara. »Sonst hat er ja so wenig Zeit, mein Rupp, höchstens am frühen Morgen oder am späten Abend kann man ihn treffen.« Helene sah betroffen in das schöne Gesicht. Aber ihre Stimme klang trotzdem noch ruhig und beherrscht. »Ich verstehe Sie nicht recht.« »Dann muß ich halt deutlicher werden«, meinte die Klara mit unverschämter Offenheit. »Ich weiß schon, daß Sie sich was einbilden. Aber da täuschen Sie sich nur nicht. Ich habe viel ältere Rechte an den Rupp. Und wenn Sie meinen, Sie brauchen bloß herzukommen und mir wegnehmen, was mir schon lange gehört, dann lassen wir es grad einmal drauf ankommen.«
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»Wegnehmen? Ich Ihnen wegnehmen?« fragte Helene mit zuckendem Mund. Ein böses Lächeln glomm in Klaras Augen auf. Befriedigt stellte sie fest, wie ihre Worte getroffen hatten. Aber es war ihr noch nicht genug. »Ja, mir wegnehmen. Bevor Sie gekommen sind, waren wir ein Herz und eine Seele. Und da tauchen Sie plötzlich auf von wer weiß woher, machen ihm Ihre Augen und fangen ihn ein.« »Ist das wirklich wahr, was Sie da alles sagen?« »Ja, sag nur gleich, daß ich lüg!« Helene hörte wohl, daß sie plötzlich geduzt wurde, nahm das aber nicht weiter übel. Aber sie fühlte, die Klara war ihr feindlich gesinnt, und darum konnte sie sich zu keiner Vertraulichkeit aufschwingen. Da sprach die Klara schon wieder weiter. »Ich glaube, du bist so dumm und meinst, der Rupp macht sich recht viel aus dir. Das Gut wird er halt heiraten wollen, dein Geld, sonst nix! Er hat mir ja selber gesagt: An so einer, da liegt mir gar nix. Wer weiß, was die schon alles hinter sich hat. Ich nehm sie halt, weil sie eine gute Partie ist.« Nicht weinen, nur dieser da nicht zeigen, wie sehr ihre Worte Wirkung gehabt haben. Helene zwang sich zum Sprechen. Spröde klang ihre Stimme: »Es ist gut! Nun weiß ich, woran ich bin. Mit einem Menschen, der mich betrügt, will ich nichts mehr zu schaffen haben.« Hocherhobenen Hauptes ging sie an der Klara vorüber. Je tiefer sie in den Wald hineinkam, desto müder und schleppender wurde ihr Schritt. Dabei weinte sie lautlos vor sich hin. Wie hatte sie sich in Rupp nur so irren können? Merkwürdigerweise waren alle Zweifel in ihr zerstoben, daß die Klara vielleicht gelogen haben könnte. Nein, sie glaubte ihr aufs Wort. Zwischen den Wurzeln einer mächtigen Fichte kauerte sie sich nieder und preßte die Hände an die hämmernden Schläfen. Sie wußte nicht, wie sie mit dieser grausamen Enttäuschung fertig werden würde. Nur eines wußte sie, sie durfte ihn jetzt und in 112
nächster Zeit nicht sprechen. Aber wie zum Hohn auf ihren eben gefaßten Vorsatz, kam jetzt der Jäger den Wald herunter. Er pfiff fröhlich ein Lied vor sich hin und hatte den Hut so verwegen aufs Haar gestülpt, wie einer, dem sich all seine Wünsche erfüllt haben. Im ersten Schrecken wollte sie sich hinter einem Baum verbergen. Aber er hatte sie schon bemerkt. Hell und fröhlich klang ihr sein Lachen entgegen. Dann stand er vor ihr und nestelte einen Buschen Almrosen von seinem Hut. Lachend reichte er ihn ihr hin. »Schau her, Helene. Eine Blüte schöner als die andere. Ich habe sie für dich gesucht.« Keine Antwort. Nur ein Blick aus starren Augen. Ein wenig erschrocken ließ er die Hand mit den Blumen sinken. »Was hast du, Helene?« Keine Antwort. Er trat einen Schritt vor. »Was ist denn los?« Da lachte sie auf, hell und schneidend. »Es wäre berechtigter, wenn ich dich fragen würde, was los ist!« Sein Gesicht umschattete sich. »Ich verstehe das nicht, Helene.« »Um so besser verstehe ich es.« Sie hatte sich jetzt ganz in der Gewalt. Wenn jemand das Spiel verlieren sollte, dann sollte nicht sie, sondern er es sein. An seinen Augen vorbeisehend, sagte sie langsam und deutlich: »Es gibt in dieser Angelegenheit nicht viel zu sagen. Es genügt, daß ich dich durchschaut habe. Ich weiß heute, wofür du mich gehalten hast und – und wünsche keine Begegnung mehr. So viel Feingefühl wirst du hoffentlich noch haben, mir eine weitere Erklärung zu ersparen.« Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, wandte sie sich brüsk von ihm ab und begann den Wald hinunterzulaufen.
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Der Jäger schaute ihr nach. »Ach so!« sagte er vor sich hin. »Die Primadonna hat Launen. Sie hat sich’s anders überlegt. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan und kann gehen. Ein heißer Zorn übermannte ihn. Er machte einen großen Bogen um den Holzschlag, weil er jetzt niemanden sehen konnte. In diesem Augenblick haßte er alles, auch Helene und die Blumen in seiner Hand. Mit jähem Schwung warf er den Strauß von sich. Mochten sie vermodern und verdorren. Als er seine Jagdhütte aufsperrte, wurde ihm der Ernst der Situation bewußt. In den nächsten Tagen wird sie ihm vielleicht durch Boten einen höflich gehaltenen Kündigungsbrief heraufschicken. Natürlich wird dieses dicke Ende jetzt kommen. Die Primadonna wünscht ja keine Erklärung. Das sagte doch alles. Helene hastete quer über die Wiesen nach Wildreut. Hier schloß sie sich ein und wollte niemanden sehen. Stumm starrte sie vor sich hin und merkte kaum, daß es Nacht wurde. Als sie einmal aufsah, war es dunkel um sie. Sie warf einen Mantel über die Schultern und verließ das Haus. Unten am Gartentürchen sah sie, wie zwei Menschen hastig auseinanderfuhren. Einer, der so aussah wie der Gerstäcker, verschwand im Dunkeln, und das Gittli wollte lautlos zur Haustür hineinhuschen. Helene wandte sich um. »Komm einmal her, Mädel, kannst du mir sagen, wo alles hingekommen ist?« Verständnislos starrte das Gittli zu ihr auf. »Ist Ihnen was gestohlen worden?« »Gestohlen?« fragte Helene und lachte eigentümlich dabei. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe bloß das verloren, was des Haltens nicht wert war.« »Ja, wie kommt denn das?« Gittli wußte sich keinen rechten Reim zu machen aus diesen verwirrten Worten und meinte daher: »Gestern, da waren Sie doch noch so lustig.« 114
»Gestern, ja, aber über Nacht hat sich viel geändert.« Sie ging zur Straße hin. »Wo rennen Sie denn hin, Frau? Es ist doch stockdunkle Nacht!« »Laß mich nur, Gittli! Der Mond muß ja bald kommen.« Gittli wollte ihr nachspringen und sie zurückhalten. Aber Helene wehrte ab: »Laß nur, Mädel! Ich komme schon wieder.« Lange stand Gittli regungslos auf der gleichen Stelle. »Mir scheint, die hat’s aber erwischt. Wenn ich ihr nur helfen könnte!« Plötzlich lief sie an der Hausfront entlang. »Pst – pst! Bist du noch da, Flori? Geh, komm schnell her.« Sie brauchte ihm gar nichts zu erzählen. Er war in der Nähe geblieben und hatte alles angehört und sich seine Gedanken darüber gemacht. »Wenn ich ihr nur helfen könnte!« meinte Gittli. »Wart einmal«, sagte Florian nach kurzem Nachdenken. »Mir fällt da grad was ein. Heute früh hab ich die Ramscheder Klara aus dem Wald herauskommen sehen. Ich laß mich hängen, wenn die net im Spiel ist bei der ganzen Sache. Hetzen kann die ja.« Gittli schüttelte die Fäuste. »Der tät ich’s aber sagen.« »Meinst du, daß ich den Rupp morgen aufsuchen soll?« »Du, das mach ich«, sagte Gittli eifrig. »Mir sagt er es bestimmt!« »Ja, geh du, Schatzl«, meinte der Flori. »Du bringst vielleicht eher was raus von ihm. Mir gegenüber ist er heut noch mißtrauisch. Ich nehm es ihm auch nicht übel.« »Mußt du immer von dem reden! Ich jedenfalls vertrau dir, Flori. Und die Frau doch auch. Drum müssen wir ihr helfen.« Die Tage vergingen in endloser Langweile. Helene glaubte, es wären Jahre vergangen, seit sie in Zorn und Verachtung von Rupert gegangen war. Von Gittli wußte sie, daß er Abbitte von ihr verlangte. Mit Beben und Angst sah sie daher dem Sonntag entgegen. Von Gittli hatte sie sich auch belehren lassen, daß man der Klara nicht trauen 115
dürfte. Die Klara habe schon manches Liebespaar auseinandergebracht, auf eine Lüge mehr oder weniger komme es ihr dabei nicht an. Und was sie, die Gittli, beträfe, lege sie die Hand für den Rupp ins Feuer. »Da gib aber acht, daß du dir die Hand dabei nicht verbrennst«, meinte Helene. »Warum legst du dich denn für ihn so ins Zeug?« »Weil der Rupp unschuldig ist.« »Ach, sieh mal an! Wie weißt denn du das so genau?« »Weil ich oben war am Mooskogel.« Helene fuhr mit dem Gesicht herum. »Du warst -? Wann denn?« »Gestern in der Frühe«, gestand das Gittli schüchtern. »Seien Sie mir nicht bös, Frau, aber ich hab Ihren Jammer nimmer mit anschauen können. Und der Florian hat auch gesagt, ich soll zum Rupp gehen.« Helene konnte ihre Aufregung kaum mehr verbergen. »Was hat er denn gesagt?« »Er hat gesagt, daß er ganz und gar nix weiß, warum die Frau ihn so abgekanzelt hat, und die Frau müßte ihm das schon abbitten.« »Abbitten«, flüsterte Helene vor sich hin, und war auch schon in ihrem Innern dazu bereit, aber sie fand einfach nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Endlich wurde es Sonntag. In der Nacht hatte es zu regnen begonnen, und als es zu grauen anfing, rauschte der Regen noch unvermindert. Die Berge waren in Nebelwolken gehüllt, und es sah ganz so aus, als ob sich ein Landregen entwickeln wollte. Helene warf den Regenmantel über und ging in die Frühmesse. Das war ein guter Gedanke, denn mit einem Male verlor sie allen Zweifel, als sie neben der Kirchentür den weißen Zettel las: »Zum heiligen Sakrament der Ehe haben sich versprochen der Jüngling Maximilian Hofwimmer und die Jungfrau Klara Koller, Ramschedertochter von hier.« Sie mußte ein zweites Mal lesen, um diese Nachricht in der ganzen Tragweite zu begreifen. 116
Sie wußte hernach gar nicht, wie sie heimgekommen war. Im Garten schnitt sie einen Strauß dunkler Rosen und stellte ihn auf den Frühstückstisch und – wartete. Ach, dieses Warten. Immer wieder trat sie ans Fenster oder hinaus auf den Balkon, weil man da noch eine bessere Sicht hatte. In diesem Augenblick läutete im Büro das Telefon. Es war Rupert, der von irgendwoher anrief. Helene fühlte, wie ihr Herz bis zum Halse herauf schlug. »Ich wollte nur fragen, ob der Einschlag am Mooskogel noch weiter ausgedehnt werden soll. Die Hauptgefahr ist zwar gebannt, aber -« Da fragt er nun mich. Das weiß doch ich nicht, dachte sie. Laut sagte sie: »Mach das so, wie du denkst.« »Gut, dann lasse ich noch einen Querstreifen bis zum Jochgraben schlagen.« »Ich weiß doch nicht, wo dieser Jochgraben liegt.« »Ach so, Entschuldigung. Und sonst? Hat man sonst noch irgendwelche Befehle?« Helene schluckte ein paarmal heftig. Das Weinen stand ihr nahe. »Ja – das heißt – es geht dir doch gut, Rupert?« Lachte er etwa am anderen Ende? Es war so ein komisches Geräusch. »Ja, danke, es geht mir gut. Hoffe dasselbe von dir.« »Ich dachte – du kämst doch heute?« »Ja, das habe ich auch gedacht, aber – leider so wenig Zeit.« Pause. Nur ein leises Summen in der Muschel. »Du, Rupert, ich finde, daß wir ziemlich eklig zueinander sind.« »Findest du? Aber du hast recht. Du bist ziemlich eklig zu mir gewesen.« »Könntest du dir nicht denken, daß ich wieder gut sein möchte?« »Ach, wie reizend von dir.« Du sollst nicht spotten, Rupert, nicht so eigensinnig sein.« »Bin ich das wirklich? Dann bitte ich vielmals um Verzeihung.«
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Das klang nun wirklich wie Spott. Aber Helene fühlte sich nicht beleidigt. Nein, sie war sogar froh, daß er diesen leichten Ton fand. Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Von wo aus rufst du denn eigentlich an?« »Vom Wirtshaus an der Mur.« »Ist das weit weg?« »Ja, ziemlich weit.« »Willst du denn heute wirklich nicht kommen, Rupp?« »Nein, es tut mir wirklich von Herzen leid...« »Ich kann dich nicht verstehen. Was hast du gesagt?« »Ich habe gesagt, daß ich nicht kommen kann.« »Es wird dir leid tun, Rupert. Ich habe Rosen im Garten gepflückt, und es sollte überhaupt recht nett werden, wenn wir Versöhnung feiern.« »Die Almrosen, die ich für dich gepflückt hatte, leuchteten auch so rot wie deine Rosen, aber, du wolltest sie ja nicht haben.« »Ja, aber du sollst das vergessen, Rupert. Wir wollen doch wieder gut werden, oder nicht?« »Hm, das ist ein Kapitel für sich. Ich muß mir das zuerst noch einmal gründlich überlegen.« »Wenn du heute nicht kommst, Rupp, verreise ich morgen.« »Pst, kleine Kinder drohen, aber nicht so eine große Dame wie du.« »Ich verreise aber – weil – weil ich mich zerstreuen muß.« »Wie bitte? Was mußt du?« »Zerstreuen muß ich mich.« »So, so!« Und nach einer Weile: »Na ja, dann wünsche ich recht viel Vergnügen.« »Danke«, wollte Helene erwidern. Aber sie sagte es nicht und grub die Zähne in die Lippen. Nach einer Weile fragte Rupp: »Bist du noch dort, Helene?« »Ja!« »Na, dann alles Gute.« »Danke vielmals, Rupert.« Es klang gepreßt.
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Das Gespräch war beendet. Helene seufzte und legte den Hörer in die Gabel zurück. Schmunzelnd stellte es Rupert am anderen Ende fest. So, das war nun die Strafe. Helene hätte Vertrauen zu ihm haben müssen. Er wollte sie heute noch ein wenig zappeln lassen und dafür morgen einen freien Tag nehmen. Am nächsten Tag kehrte Rupp mit einem Buschen Almenrausch von der Pirsch zurück. Heute wollte er Helene entschädigen. Als er gegen Mittag durch das Dorf ging, sah er die Klara im Pflanzgarten des Ramschederhofes hantieren. Nach kurzem Besinnen trat er zu ihr in den Garten. »Du, Klara, mit dir hab ich noch ein Wort zu reden.« Herausfordernd sah sie ihn an. »Was könnten denn wir zwei noch zu reden haben?« »Das wirst du jetzt gleich hören. Laß es dir in Zukunft nicht mehr einfallen, Zwietracht zwischen mich und die Frau da drüben zu bringen.« »Frau? Daß ich nicht lach! Die hat ja bei uns schon einmal als Magd gearbeitet.« »Ist das vielleicht eine Schande?« »Das kann man auffassen, wie man will. Aber sie hat jetzt schon Ruhe vor mir. Wegen der mag ich mich nicht mehr ärgern.« »Das wäre auch zwecklos, und – es bringt dir auch keinen Nutzen.« Klara wollte gereizt erwidern. Doch im selben Augenblick sah sie ein graublaues Auto um die Wegbiegung kommen. Hinter dem Steuer saß, ein wenig vorgeneigt, Helene. Sofort erfaßte Klara die Lage. Jetzt konnte sie ihm einen Denkzettel geben. Rupp konnte das Auto nicht sehen, weil er mit dem Rücken gegen die Hecke stand. Ganz nah schlängelte sich die Klara an ihn heran. Ihre eine Hand stahl sich in die seine, die andere legte sie vertrauensvoll auf seine Schulter. »Du darfst es mir wirklich net übelnehmen, Rupp – schau, ich hab dich halt gerngehabt. Es tut mir recht leid, wenn ich dich verärgert hab. Aber du wirst mir doch verzeihen können?« 119
Überrascht sah er sie an. »Aber gern, Klara, wenn dir ernst damit ist.« Das Auto kam langsam näher. Die Klara wurde immer sanfter, immer zutraulicher schmiegte sie sich an ihn. Und als er einen Schritt zurückweichen wollte, hielt sie ihn fest. »Schau, Rupp, ich war halt ein bissel arg verliebt in dich. Und da bin ich halt eifersüchtig gewesen auf die Wildreuterin. Es hat mir recht weh getan.« Ihr Köpfchen sank an seine Brust. Jetzt fuhr das Auto vorüber, und plötzlich kreischten die Bremsen, der Wagen stand. Rupert sah flüchtig über die Schulter und sah direkt in Helenes Augen. Mit einem Ruck schob er die Klara weg und sprang auf die Straße hinaus. In seinem Innern längst bereit, das kleine Zerwürfnis zu vergessen, trat er an den Wagenschlag heran. Es fiel ihm sofort auf, wie blaß ihr Gesicht heute war. »Helene!« Nur ein sonderbares Lachen ward ihm zur Antwort. »Helene, sei doch nicht kindisch.« »O nein, ich begreife alles ausgezeichnet.« Wieder das fremde Lachen. Dann fuhr sie in einem schnellen Tempo davon. Wie zu Stein erstarrt sah Rupp dem entschwindenden Wagen nach, hinter dem eine graue Staubwolke aufwirbelte. Da kam über die Hecke her ein spöttisches Lachen. Sein Gesicht fuhr herum. Er sah die Klara gerade noch in der Haustür verschwinden. Auf einmal wußte er, daß sie die Szene absichtlich herbeigeführt hatte, um ihn vor Helene bloßzustellen. Zu Hause fragte er das Gittli: »Weißt du, wo die Frau hingefahren ist?« »Nach München ist sie, weil sie sich verstreuen muß, hat sie gesagt.« »Zerstreuen heißt es«, verbesserte er mit grimmigem Lachen. Dann ging er in sein Zimmer hinauf. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er da, fühlte sich vereinsamt und wie aus allen Himmeln gerissen. Mit einem Mal wurde ihm 120
klar, welch abgefeimtes Spiel die Ramscheder Klara getrieben hatte. Sie hatte alles genau berechnet, und es war ihr zunächst auch gelungen. Aber hätte Helene nicht mehr Vertrauen zu ihm haben müssen? Durfte sie einfach davonfahren, ohne ihn anzuhören? Gerecht sein, Rupert Hiller, raunte ihm eine innere Stimme zu. Immer gerecht sein. Wahrscheinlich hättest du es im umgekehrten Falle nicht anders gemacht. Gerade du, der du sowieso so empfindlich bist in diesen Dingen. Dann kam er doch wieder ins Grübeln und sagte sich, was er sich schon hundertmal gesagt hatte. Was war er denn schon gegen sie? Krieg und Gefangenschaft hatten ihn aus der Bahn geschleudert, hatten ihm die Eltern geraubt und sein Studium der Forstwirtschaft unterbrochen. Wie eine Gnade war es ihm erschienen, daß hier die Stelle eines Jägers frei geworden war, nachdem man den Förster erschossen hatte. Bis nächstes Jahr, so hatte er gerechnet, würde er den Posten noch behalten, bis dahin hatte er sich soviel erspart, daß er sein Studium wieder aufnehmen und beenden konnte. Aber da war nun diese Frau in sein Leben getreten. Die erste Frau, der er wirklich ein echtes und tiefes Gefühl entgegenbringen konnte. Wie ein Frühlingssturm hatte ihn diese Liebe erfaßt und nicht mehr losgelassen. Schmerzlich empfand er in diesem Augenblick wieder die Sehnsucht nach ihr, und am liebsten wäre er ihr sofort nachgeeilt. Wenn er nur gewußt hätte, wo er sie finden könnte. In München hatte Helene in einem Hotel Wohnung genommen. Mit dem Zerstreuen war es allerdings nicht recht weit her. Immer mußte sie an Rupert denken. Es war ein reiner Irrsinn, aber sie konnte dagegen nicht an. Eines Nachmittags saß sie in einem Konzertcafe und sah, den Kopf in die Hand gestützt, auf die Straße hinaus. Draußen flutete das geschäftige Leben. Trambahnen klingelten, Lastwagen polterten vorüber. Plötzlich erschrak sie. Vor dem Fenster stand ein 121
junger Mann und lachte sie an. Helene verzog keine Miene, obwohl sie ihn sofort erkannte. Es war Luck von Hagen, der Partner ihres letzten Films. Sie wandte den Kopf und sah geflissentlich in die Dämmerung des Raumes, wo im Hintergrund die Musiker soeben ihre Instrumente stimmten. Eigentlich war es Dummheit, daß sie sich vor dem netten Jungen verleugnen wollte. So wie sie ihn kannte, ließ er sich nicht abschütteln. Da stand er auch schon vor ihr. »Verzeihung, aber kennen wir uns nicht?« Helene reichte ihm lächelnd die Hand. »Aber natürlich, Luck, bitte nimm Platz. Ich freue mich herzlich, dich wieder einmal zu sehen.« »Na, den Anschein hatte es gerade nicht«, meinte er. »Aber trotzdem: Gesegnet sei die Stunde, die dich mir wiedergab.« Luck von Hagen hörte sich gerne in hochtrabenden Worten sprechen. Sogleich waren sie in eine lebhafte Unterhaltung vertieft. Erinnerungen wurden ausgetauscht und wieder aufgefrischt. »Dann stimmt es also, daß du dir da irgendwo im Gebirge einen Bauernhof gekauft hast?« fragte Luck von Hagen. Als sie es ihm bestätigte, meinte er: »Jammerschade, daß ich nur ein paar Tage hier bin. Ich hätte mir das Ding zu gerne einmal angesehen. Als Junge war ich oft in Ferien bei einem Onkel, der auch so eine Klitsche da droben bei Magdeburg hatte. Allerdings größeren Umfangs und mit eigener Jagd, aber, um auf das Thema zurückzukommen, es ist doch jammerschade, daß du vom Film weggegangen bist.« »Warum schade? Es warteten so viele auf den freien Platz.« »Es hat ihn aber keine so richtig ausfüllen können, Marga.« »Das sagst nur du, Luck. Und ich weiß auch, warum du es sagst.« Er wurde ein wenig verlegen und drehte seinen großen Siegelring. »Weißt du es wirklich noch?« fragte er schüchtern. »Ich vergesse nichts«, sagte Helene kurz und bestimmt. Dann hingen sie beide ihren Gedanken nach. 122
Komisch, dachte Helene, daß es wieder Luck von Hagen ist, der mir in meiner Verlassenheit in den Weg kommt. Damals hatte er sie abgelenkt von einer krankhaften Melancholie. Nur ihm hatte sie es zu verdanken, daß ihr letzter Film so ein großer Erfolg geworden war. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er war immer noch derselbe frische Junge mit den etwas weichlichen Gesichtszügen. »Bist du länger hier? Wir könnten dann morgen ein wenig bummeln, sofern du über deine Zeit nicht schon anders verfügt hast.« »Nein, ich bin nur auf der Durchreise«, log sie. »Ein paar Tage möchte ich mich hier aufhalten, und es ist sehr nett von dir, daß du mir Gesellschaft leisten willst.« »Selbstverständlich will ich das. Im übrigen weißt du doch, daß ich alles für dich tun würde.« »Immer noch? Trotz allem?« »Wie meinst du das, Marga?« »Ach, nur so. Du hast inzwischen ein bißchen flott gelebt, Luck.« Er nickte sinnend vor sich hin. »Du bist so schnell aus meinem Leben gegangen, Marga. Wenn ich mit mir fertig werden wollte, mußte ich eben flotter leben.« Wie hübsch er sich doch zu entschuldigen weiß, dachte Helene. Am anderen Tag sahen sie sich in einem Kino ihren letzten gemeinsamen Film »Wetterleuchten« an. Ganz in sich versunken, beobachtete Helene ihr Spiel und lauschte ihrer eigenen Sprache. Sie meinte, heute würde sie diese oder jene Szene anders spielen, weniger theatralisch, natürlicher, überzeugender. Aber da kam die Szene, die ihre eigene Erwartung übertraf. Es war eine Nachtaufnahme am Meeresstrand mit Luck von Hagen, in der sie zu sagen hatte: »Was weißt du vom Leben? Du bist so jung noch – siehst nur Lachen und Sonnenschein! Und wenn du dein junges Leben an meines ketten willst, so müßtest du gleich mir durch alle Tiefen, durch alle dunklen Abgründe schreiten.«
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Leise schwebend, mit einem Ton vollkommener Natürlichkeit, begann der Satz. Dann fing die Stimme an zu zittern und schwoll schließlich zu kraftvoller Stärke an. »Einfach unübertrefflich bist du da«, flüsterte Luck von Hagen neben ihr. »Ganz die große Marga Rogger.« »Es war damals mein eigenes Leben, was ich da spielte.« »Damals begann ich dich zu lieben, Marga. Du wirst es nicht mehr wissen!« »Doch, Luck, ich weiß es noch. Aber du warst ja noch so jung.« »Heute bin ich älter, Marga.« Fast mitleidig sah sie ihn an. »Sprich nicht mehr davon, Luck. Es ist heute alles noch viel zweckloser als damals.« Rasch entzog sie ihm ihre Hand und lehnte sich zurück. Im Laufe der nächsten zwei Tage entpuppte sich Luck wieder als der angenehme Gesellschafter, als den Helene ihn einst kennengelernt hatte. Taktvoll vermied er, das Vergangene nochmals zu berühren oder seine Verliebtheit zu zeigen. Seine lustige, ungebundene Art erweckte in Helene eine heitere Fröhlichkeit, und wenn sie auch unentwegt an Rupert Hiller, ihren Jäger, denken mußte, so war dieses Denken nicht mehr von jener schmerzlichen Bitterkeit getragen. Sie war ein zweites Mal enttäuscht worden. Anscheinend war es ihre Bestimmung, immer wieder enttäuscht zu werden. Am Nachmittag des zweiten Tages ging sie mit Luck von Hagen durch den Englischen Garten. Arm in Arm gingen sie dahin, wie zwei fröhliche Kinder. Da trat ihnen unvermittelt, aus einem Seitenweg kommend eine hohe, schlanke Gestalt in den Weg. Über Helenes Gesicht ergoß sich eine Blutwelle. Sie öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen. Doch um die Lippen des Jägers Rupert Hiller zuckte ein so verachtendes Lächeln, daß ihr das Wort auf den Lippen erstarb. Dann warf Rupp ihr einen prüfenden Blick zu, lüftete den Hut und ging weiter. 124
Helene konnte sich kaum mehr auf den Füßen halten, so schwer war ihr der Schock in alle Glieder gefahren. Schwer hing sie an Hagens Arm, als er sie zu einer Bank führte. Dann – sie wußte es selber nicht, wie es kam, lag sie schluchzend an seiner Brust. Mit keinem Wort drang Hagen in sie, aber nach einer halben Stunde wußte er ihr ganzes Weh. »Na, den Herrn muß man eben aufklären«, tröstete Luck und wollte sofort aufbrechen, um Rupp vielleicht am Bahnhof noch zu erreichen. Aber Helene wollte davon nichts wissen. Rupp würde es nie glauben, daß sie mit Luck von Hagen nichts gemein hatte. Sie zermarterte sich vielmehr den Kopf darüber, wie es möglich war, daß der Jäger ihr hier begegnen konnte. War er ihr vielleicht nachgefahren? Sie wußte ja nicht, daß Rupp in der Sache Bergmann eine Vorladung vom Gericht erhalten hatte und deshalb in die Stadt gekommen war. Die noch freie Zeit bis zum Abgang des Zuges wollte er zu einem kleinen Spaziergang in den Englischen Garten benützen, nicht ahnend, daß der Zufall ihn mit Helene und einem fremden Mann zusammenführen könnte. Wie dieser Gedanke in seinem Innern brannte. Alles in ihm war in Wallung. Das also war ihre Zerstreuung, derer sie so dringend bedurfte. Er war ein Narr gewesen, daß er ihr jemals ein Wort geglaubt hatte. Auf alle Fälle war sein Bleiben auf Wildreut jetzt unmöglich geworden. Diesen Monat wollte er seine Pflicht noch tun und dann fortgehen – und nie mehr wiederkommen. Rupp war froh, als endlich sein Zug abging. Er hatte nun geradezu Angst vor einer nochmaligen Begegnung. Es war schon dunkel, als Rupp sich dem Gutshof näherte. Am Gartenzaun standen plaudernd das Gittli und der Gerstäcker. Rupp bemerkte sie gar nicht und schritt stumm an ihnen vorüber. Kurze Zeit darauf verließ er mit Rucksack und Büchse das Haus und stieg zur Jagdhütte hinauf. »Was er nur hat?« sagte Gittli. »Kommt, sagt kein Sterbenswort – und geht wieder.«
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»Ja, ja«, sagte Florian kurz. Dann sah er wieder in die sinkenden Schatten des Abends. Scheu guckte das Gittli zu ihm auf. Aber auch sie sprach jetzt nichts mehr. Fledermäuse flatterten vorbei, der Wind fuhr von den Bergen herab. Dann kam der Mond, und die Berge bekamen in dieser Stille einen fast geisterhaften Anblick. Plötzlich wandte sich Gerstäcker und faßte das Gittli an beiden Händen. »Sag – Gittli...« Das »Gittli« kam eine Weile später, nun hallte es noch zögernd nach. Gittli erschauerte. »Was soll ich sagen?« »Ob du mir glaubst, daß ich unschuldig gesessen habe?« Sie atmete tief. Ein wundersames, ungewohntes Gefühl wallte in ihr auf. Willenlos gab sie dem Druck seiner Arme nach und blickte ihm in die Augen. »Ja, Flori, ich glaube dir«, sagte sie leise. »Dafür dank ich dir, Gittli! Mögen die anderen sagen, was sie wollen! Eines tröstet mich jetzt und das ist dein Glaube an mich. Jetzt trau ich mich auch zu sagen, was mir schon lange auf dem Herzen brennt und was du doch schon längst gemerkt haben mußt, Gittli -« Das, was er ihr sagen wollte, das lag in diesem trunkenen Jubelschrei, mit dem er das Gittli in seine Arme riß. »Du Mädel, du liebes! Nun wird alles gut, und ich hab schon gemeint, alles, was Glück heißt, wäre für mich unerreichbar!« »Ich habe dich doch schon lange gerngehabt«, flüsterte sie unter glücklichem Lachen. Sie küßte ihn auf den Mund, dann lachte sie wieder und sagte mit dem Ton einer sorgenden Mutter: »Aber jetzt mach, Flori, daß du weiterkommst! Du tust ja sonst deinen Dienst versäumen.« Schon sprang sie durch den Garten auf das Haus zu. Bei der Tür blieb sie stehen und hob die Hand.
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»Gute Nacht!« rief sie mit schwankender Stimme, als wären ihr die Tränen nahe. Dann schlug die Tür hinter ihr zu, ein Riegel wurde vorgeschoben und der Schlüssel umgedreht. Gerstäcker begann seinen Rundgang. Es wurde ihm heute gar nicht langweilig. Frohe Gedanken wanderten mit ihm den stillen Weg. Rupp stand in Gedanken versunken vor seiner Hütte. Plötzlich hob er lauschend den Kopf. Hatten nicht soeben Schritte auf dem Steig geklungen? Sofort waren die Gedanken an Helene in alle Winde zerflattert. Die Büchse fest umklammert, stand er mit vorgeneigtem Kopf und lauschte. Nichts war mehr zu hören. War es doch nur ein Tier gewesen, das sein Versteck verließ, um zur Äsung zu ziehen? Unschlüssig ging Rupp ein Stück von der Hütte weg, kehrte aber dann wieder um und legte sich angekleidet auf das Bett. Er schlief nicht und fühlte sich so einsam und verlassen wie noch nie. Da zerriß plötzlich, kurz vor Mitternacht, ein scharfer Knall die nächtliche Stille. Schon stand der Jäger draußen und lauschte auf das Echo, das langsam verrollte. Dann sprang er mit entsichertem Gewehr fort. Immer wieder verhielt er lauschend den Schritt. Es war geradeso, als ob sich aus diesem oder jenem Gebüsch etwas aufheben und sich über ihn stürzen wollte. Aufatmend blieb er wieder stehen und horchte. Wie schnell und laut sein Herz schlug! Verschwommen hörte man von einer nahen Alm her die Glocken der Rinder läuten. Hell und fröhlich bimmelte die Schelle eines Kälbchens dazwischen. Rupp glaubte, daß er sich in der Richtung geirrt habe und wollte schon kehrtmachen, als er links in den Latschen sich etwas bewegen sah. Lautlos ließ er sich zu Boden gleiten und verhielt sich ganz regungslos. Sein scharfes Ohr hatte ihn nicht getäuscht. Dort vorne sah er im Zwielicht des Mondes einen dunklen Körper am Boden kauern, der mit einer blitzenden Klinge an etwas herumhantierte.
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War der Jäger an einen Stein gestoßen, oder war sein Atem so laut gewesen, daß der andere ihn gehört hatte? Der Wildschütz hob den Kopf und starrte den Jäger an. Rupert riß das Gewehr an die Wange. »Ergib dich, Kastenhofer oder -« Blitzschnell neigte der andere sich zur Seite und riß sein Gewehr hoch. Zwei Schüsse krachten. Rupp spürte einen brennenden Schmerz in der rechten Schulter. Er sah noch, wie der Kastenhofer in den Latschen zusammenbrach, dann schwanden ihm die Sinne. Die ersten Sonnenstrahlen huschten über die Bergspitzen, suchten die Tropfen im Gras und glitten wärmend über das Latschenfeld hin. Morgenglocken klangen über den Wald. Rupp erwachte aus seiner Ohnmacht. Alle Kraft zusammennehmend, wälzte er sich zu Kastenhofer hinüber. Die Steine ringsum waren voll Blut. Kastenhofers Augen waren geschlossen. Feines Blutgerinnsel sickerte aus den Mundwinkeln. Rupp horchte am Herzen des scheinbar Leblosen. Ganz leise schlug es noch da drinnen, ein ganz müder, schwacher Schlag war es, so, als ob es diesem kleinen Pumpwerk da drinnen Mühe machte, über den Zeitraum von Sekunden hinwegzukommen. Jetzt öffnete der Kastenhofer die Augen. Ganz langsam glitten die Augen des Sterbenden umher und blieben am Gesicht des Jägers haften. Ein müdes Lächeln... »Jetzt – bin ich dir halt doch in die Hände gelaufen – Jäger. Recht geschieht mir – du hast mich gewarnt – aber ich hab net anders können. Muß net glauben, Jäger – es war nur deine Pflicht. Da glaubt der Mensch immer – er könnt seinem Schicksal auskommen. Net wahr ist’s – einmal kommt für jeden der Tag und die Stund – wo es ihn packt und niederzwingt - Grüß mir mein Weib – und – meine Kinder. Und der Florian - der war an allem unschuldig. Ich bin’s gewesen damals -ich...« 128
Rupp wollte den Sterbenden stützen, damit er leichter spreche. Doch da überfiel ihn wieder die eigene Schwäche. Bewußtlos brach er neben dem Kastenhofer zusammen. Ein paar Stunden später fand eine Sennerin die Schwerverletzten und holte Leute zusammen. Auf Bahren aus Baumzweigen trug man die beiden ins Dorf. Dem Kastenhofer war nicht mehr zu helfen. Auf halbem Weg streckte er sich, und sein Gesicht wurde wächsern. Rupp hatte einen sehr gefährlichen Schuß und mußte sofort nach Tegernsee zur Operation gebracht werden. Gleich außerhalb des Dorfes begegnete dem Sanitätswagen das blaugraue Sportkabriolett der Wildreuterin. Kurz darauf hielt sie ihren Wagen an und fragte den Harlacher, der ihr mit dem Fuhrwerk entgegenkam, ob er wisse, wen man hier wegtransportiert habe. Harlacher wußte selber noch nichts und schüttelte den Kopf. Daheim angelangt, merkte Helene gleich an den verstörten Gesichtern, daß etwas vorgefallen war. Von Gittli erfuhr sie das Unglück. Sofort setzte sie sich wieder in ihren Wagen und fuhr in einem höllischen Tempo nach Tegernsee. Stockfinstere Nacht. Helene stand an der Kaimauer und blickte über den dunklen See hinaus. Leise schlugen die Wellen gegen die Betonwand, und einmal quietschte eine Wildente im Schilf. Es hörte sich an wie das Weinen eines heimwehkranken Kindes. Von der Klosterkirche zu Tegernsee schlug es die Mitternachtsstunde. Seufzend fuhr sich die einsame Frau über die Stirn. »Die dritte Nacht schon, und immer weiß ich noch nicht, ob er weiterleben wird«, murmelte sie. Helene hatte in der Nähe des Krankenhauses Wohnung genommen und wartete in banger Sorge darauf, von Rupert gerufen zu werden. 129
Ein Liebespaar drängte sich mit Geflüster an ihr vorüber und verlor sich im Dunkeln. Helene sah ihnen mit schmerzlichem Lächeln nach, dann lenkte sie ihren Schritt heimwärts. Am Krankenhaus blieb sie stehen und starrte zu den zwei matterleuchteten Fenstern hinauf. »Rupert! Rupert! Du darfst nicht sterben!« entringt es sich ihrer Brust. Dann geht sie still ihren Weg weiter. Wieder vergehen einige Tage. Endlich darf der vom Wundfieber befreite Rupp ihren Besuch empfangen. Aber er kennt sie nicht – er will sie nicht kennen. Er kann nicht vergessen, was sie ihm angetan hat. Ein wundersamer Septembertag. Rupert durfte das erstemal aufstehen. Er trug den linken Arm in der Schlinge und wanderte langsam durch den großen Garten, in dem die letzten Rosen des Jahres blühten. Altweibersommer flimmerte in den Lüften, verhängte sich in Busch und Bäumen, die ringsum in der leuchtenden Farbenpracht des Herbstes standen. Die Berge schienen durchsichtig wie Glas. Rupert hatte keinen Blick für die flammende Schönheit ringsum. Sein Herz war müde und schwer, sein Leben lag gleich einer ausgebrannten Schale. Wo wäre der Sinn seines Lebens noch zu finden, da ihn die Frau, der er das reinste und tiefste Gefühl gläubig entgegengebracht, enttäuscht und auf die Seite geworfen hatte wie einen Stein, der am Wege lag. Da nahte ein Schritt auf dem bekiesten Weg. Im nächsten Augenblick stand Helene vor ihm. Angstvoll ruhten ihre tiefen, dunklen Augen auf seinem Gesicht. Doch sein Blick blieb kalt und abweisend. »Hast du irgendeinen Wunsch, Rupert?« In ihrer Stimme klang tiefe Demut. »Ja, ich habe einen Wunsch!« »Sag es bitte, ich will alles für dich tun.« »Dann geh, und – komm nie wieder!« Helene zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und starrte hilflos in seine Augen. 130
»Warum tust du mir so weh?« stieß sie aufschluchzend hervor. »Du hast mir mehr weh getan.« Er weidete sich förmlich an ihrer Qual. Aber es dünkte ihn nur ein Bruchteil dessen, was er empfunden, als er sie in München Arm in Arm mit dem anderen gesehen hatte. »Warum kommst du eigentlich immer allein?« fuhr er mit schneidender Schärfe fort. »Ganz sicher wartet der andere irgendwo draußen. Du hättest ihn aber ruhig mitnehmen dürfen, ich möchte mir nämlich meinen Nachfolger gerne genauer ansehen.« Sie sah ihn verständnislos an. Ihre Gedanken gingen zurück zu den ersten Frühlingstagen. Wie war damals alles so ganz anders als heute. Das alles war vorbei, ausgelöscht durch seine harten Worte. Ihm aber war es immer noch nicht genug. Er fragte weiter: »Wie oft beliebt eigentlich ihr Komödiantinnen eure Liebhaber zu wechseln? Trifft auf jeden Monat einer? Dann darf ich mich immerhin glücklich schätzen, weil du mir deine Gunst gnädig einen ganzen Sommer lang geschenkt hast.« Das war zuviel. Mit einem unterdrückten Schrei wandte sie sich ab und hastete fort. Rupert sah ihr nach. Zwischen seiner Stirne stand eine tiefe Falte. Er sah, wie sie ihren Wagen bestieg und davonfuhr. Am nächsten Tag bekam Rupert zwei Schreiben. Das erste war die Antwort auf ein Stellungsgesuch von ihm. Es wurde ihm mitgeteilt, daß er bereits am ersten Oktober die Stelle als Jagdgehilfe in einer Berchtesgadener Privatjagd antreten könnte, sofern er gesundheitlich dazu bis dahin in der Lage wäre. Das Angebot war ohne Zweifel günstig, es bedeutete eine Verbesserung seiner Existenz. Rupert steckte den Brief zufrieden in den Umschlag zurück. Das Leben ging also weiter, sein weiteres Fortkommen war gesichert, und was das andere betraf? Es war doch immer noch so gewesen, daß die Zeit die Wunden heilt. 131
Der zweite Brief stammte von Helene. Einen Augenblick war er versucht, ihn ungeöffnet zurückgehen zu lassen. Aber dann öffnete er ihn doch. Sie schrieb: »Rupert! Du hast mir sehr weh getan, und es ist besser, unsere Wege gehen auseinander. Deine Vorwürfe – mag auch der Schein gegen mich sein – sind völlig unbegründet. Da du den Glauben an mich verloren hast, finde ich nicht mehr den Mut, dir eine Erklärung zu unterbreiten. Eines aber solltest du nie vergessen: Ich habe dich über alles geliebt. Denke später manchmal, wenn es geht, in gütigem Verstehen an mich und unser Frühlingsmärchen, das nun zu Ende ist. Helene.« Lange stand Rupert mit dem Brief in der Hand. Dann zerriß er ihn in kleine Fetzen und warf sie nacheinander ins Wasser. Wie welke Blätter wurden sie von den Wellen weggetragen. An einem regengrauen Oktobertag ging Rupert von Tegernsee nach Wildreut. Er war nun wieder ganz hergestellt und wollte am nächsten Tag ins Berchtesgadener Land reisen, um dort seine neue Stellung anzutreten. Der Weg nach Wildreut war ihm mehr als peinlich. Aber es mußte sein. Schon lag das Dorf vor ihm. Den Gutshof konnte er des Nebels wegen nicht sehen. Der erste Mensch, der ihm begegnete, war der Hofwimmer Max, der neue Ramschederbauer. Er hielt sein Fuhrwerk an und grüßte den Jäger. »Auch wieder hiesig?« Rupp nickte und fragte: »Du bist schon verheiratet, wie ich sehe?« »Jawohl, vor drei Wochen harn mir’s gepackt.« »Wie gefällt dir’s denn im Hafen der Ehe?« »Net schlecht! Die Klara hat zwar Mucken, aber die treib ich ihr schon noch aus, so nach und nach. Wie stehts denn bei dir? Rührt sich da schon was und darf ich bald Nachbar sagen?« »Nachbar? Wieso? – Ach so, ja. Bald, Max, bald wird’s soweit sein.« Rupp lächelte sonderbar und schritt seines Weges weiter. 132
Je näher er dem Gutshof kam, desto heftiger begann sein Herz zu klopfen. Was würden die nächsten Minuten wohl bringen? Ungesehen betrat er das Haus, hörte hinter einer Tür eine Schreibmaschine klappern, klopfte an und trat ein. Helene hörte ihn nicht und schrieb weiter. Rupert machte einen Schritt vorwärts. Da sprang mit warnendem Knurren eine große, gelb und weiß gefleckte Dogge auf, die zu Helenes Füßen gelegen hatte. Dadurch wurde die Wildreuterin aufmerksam. Sie erblickte Rupert und wurde blaß. Sie griff nach dem Halsband des Hundes und brachte ihn in das anstoßende Zimmer. Als sie wieder zurückkam, hatte sie sich einigermaßen gefaßt und war ganz ruhig. »Guten Tag, Herr Hiller!« Rupert zuckte beim Klang dieser Stimme unwillkürlich zusammen und dachte schaudernd, wie das Leben es dahin hatte bringen können, daß zwei Menschen vom vertraulichen Du zum förmlichen Sie zurückfinden mußten. »Guten Tag!« sagte er dann. Helene bot ihm einen Stuhl an. »Danke«, antwortete er. »Das, was noch zu sagen ist, kann auch im Stehen erledigt werden. Ich möchte um – meine Papiere bitten.« Ihre Augen suchten die seinen. Rupp mußte seinen Blick zur Seite wenden. Eine qualvolle Stille entstand. Er biß sich auf die Lippen und sagte dann, sich aufraffend: »Ich packe jetzt meine Sachen, dann muß ich noch zur Jagdhütte hinauf. Gegen Abend werde ich zurück sein. Vielleicht haben Sie noch die Liebenswürdigkeit, meine Sachen zum Hirschwirt hinüberschaffen zu lassen.« »Gedenkst du – gedenken Sie abzureisen?« fragte sie zitternd. »Ja! Morgen früh. Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen jede Stunde, die ich noch in Ihrem Hause zu weilen gezwungen bin, peinlich sein muß.«
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Helene wandte sich ab – mußte sich abwenden. Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen, kaum, daß sie sie halten konnte, bis Rupp das Zimmer verlassen hatte. Nun war alles zu Ende – der Traum vom Glück war ausgeträumt. Im stillen hatte sie immer noch gehofft, daß alles gut werden könnte. Aber Rupert war unversöhnlich. Und sie konnte sich ihm doch nicht mehr aufdrängen, als sie es bisher schon getan hatte. Ach, es ist doch immer so im Leben, daß gerade die Menschen, die sich lieben, sich gegenseitig am meisten quälen. Später wurde Helene ruhiger. Mir ist eben kein Glück beschieden, sagte sie sich. Langsam ging sie aus dem Zimmer und – ohne daß sie es recht wollte – in Ruperts Stübchen hinauf. Dort standen die Schranktüren weit offen und der große Koffer fertig gepackt mitten im Zimmer. Da gewahrte sie, daß der Koffer nicht abgeschlossen war. Schon kniete sie am Boden und wühlte drin. Eigentlich wußte sie ja nicht, was sie suchte, ein kleines Andenken vielleicht, irgendeinen kleinen Beweis dafür, daß er sie doch einmal geliebt habe. So restlos gab sie sich der Beschäftigung des Suchens hin, daß sie ganz die Schritte überhörte, die über die Stiege heraufkamen. Rupert stand in der Tür. Ganz lautlos stand er da und sah ihr zu, wie sie eine Schatulle herausnahm, in den Briefschaften wühlte, etwas herausnahm und in den Falten ihres Kleidausschnittes verbarg. Ein maßloser Zorn stieg in ihm auf. Was hatte sie in seinem Eigentum zu wühlen? Was suchte sie? Fahndete sie nach Liebesbriefen, die sie in seinem Besitz wähnte? Mit zwei Schritten trat er vor sie hin. »Verzeihung, wenn ich Sie störe!« Mit einem leisen Schrei sprang sie auf. In ihrem Gesicht brannte eine grenzenlose Scham. In dem seinen aber stand nichts als Kälte und Verachtung.
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Er trat einen Schritt beiseite, um sie hinauszulassen. Dabei bog er seinen Körper weit zurück, um nicht mit ihr in Berührung zu kommen. Helene gewahrte es und zuckte zusammen. Einen kurzen Augenblick zögerte sie. Dann glitt sie vor ihm nieder und umklammerte seine Knie. »Vergib mir, daß ich dich bestohlen habe.« Mit hartem Griff zog er sie empor und drückte sie schonungslos gegen die Wand. »Was suchst du bei mir? Ist das andere noch nicht genug, was du mir angetan hast? Mußt du mir auch noch in meinen Sachen nachspüren? Ich habe mir in den letzten Wochen angewöhnt, nicht besser oder schlechter über dich zu denken, wie über andere Menschen. Für so schamlos aber hätte ich dich doch nicht gehalten, daß du mich auch noch bestehlen willst. Da merkt man es doch wieder, daß du nur – von Komödianten abstammst.« Ein Aufschrei tiefsten Schmerzes. Helene wollte aus dem Zimmer flüchten. Mit zitternden Fingern griff sie in ihr Kleid und legte, was sie darin verborgen hatte, in seine Hand. »Ich wollte... doch nur ein kleines Andenken an dich...« Er sah, daß es ein Lichtbild war. Mit einem Ruck schleuderte er es auf den Tisch. Dann wandte er sich zum Gehen. Helene umklammerte seinen Körper mit beiden Händen. »Rupert!« »Laß mich. Es ist zu spät.« Er strich sich mit einer müden Gebärde über die Augen, sah sie unsicher an und hatte plötzlich das Gefühl, ihr die ganze Zeit her Unrecht getan zu haben. Und als ob sie fühlte, was in ihm vorging, trat sie, von neuem Mut erfaßt, zu ihm hin. »Rupert! Muß denn das alles sein? Warum hast du mir so weh getan, so furchtbar weh? Und hast doch gesehen, wie ich gelitten habe, und hast dich meiner nicht erbarmt. Warum hattest du den Glauben an mich verloren? Glaubst du nicht, Rupert, daß du mir die ganze Zeit Unrecht getan hast? So viel Unrecht, daß ich glau135
be, es niemals vergessen und verwinden zu können? Vielleicht hätte auch ich mehr Vertrauen zu dir haben sollen! Aber das alles erkennt man immer erst, wenn es zu spät ist. Du aber hättest wissen müssen, wie sehr ich dich geliebt habe.« »Und doch mußte ich dich am Arm eines anderen sehen. Helene – das hättest du mir ersparen müssen!« »Willst du nicht zugeben, Rupert, daß ich es unbedingt mißdeuten mußte, wie ich dich und die Klara beisammen stehen sah?« Er fuhr auf. »Das war nur -« »Ich weiß das heute. Aber damals, als ich dich hinter dem Heckenzaun in der unzweideutigen Situation mit der andern sah -« Er lachte verächtlich. »Unzweideutig ist gut. Um so eindeutiger schien mir die Begegnung im Englischen Garten zu sein.« Ihn voll ansehend, sagte sie: »Das war ein ehemaliger Berufskollege von mir. Luck von Hagen heißt er. Ein lustiger, netter Junge – aber kein Kamerad fürs Leben. Daß ich ihn traf, war einer jener Zufälle, die im Leben zuweilen so merkwürdig zusammentreffen. Kannst du mir denn das nicht glauben?« Lange sah er sie an, schaute ihr in die Augen, als wollte er ihr bis auf den Grund ihrer Seele schauen. »Doch«, antwortete er wie beschämt. »Ich glaube dir! Diese Erschütterung kann doch keine Lüge sein.« »In mir war alles von Anfang an klar und rein. Ich habe gewußt, daß ich dich lieben muß und sollte mir diese Liebe nichts weiter als Schmerzen bringen.« Die Tränen liefen ihr dabei über die Wangen. In tiefer Erschütterung betrachtete er sie und zog dann ihre Hände vom Gesicht. »Vergib mir, Helene, und sei wieder gut! Ach, wenn du doch vergessen könntest, was ich dir angetan habe!« »Liebe vergißt alles, Rupert. Wir wollen auch gar nicht erst beginnen mit den törichten Fragen, denn damit kämen wir auf keinen grünen Zweig, und wir müßten uns höchsten nur voreinander
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schämen, weil es uns allen beiden am nötigen Vertrauen gefehlt hat.« »Du hast recht, Helene. Ich war ein Narr, an deiner Liebe zu zweifeln.« »Das ist es weniger, was mir so weh tut. Aber das andere, Rupert. Du darfst jenes Wort nie wieder gebrauchen.« »Ich sage es nie wieder, Helene.« Er spürte, wie sein Herz wieder leicht und frei wurde. Ihm war, als wälzte sich ein Stein von seiner Seele, und er erkannte auch, wie schwer er diese Frau hätte vergessen können. Er war ihr mehr verbunden, als er es jemals geahnt hatte. Zögernd streckte er die Hände nach ihr. Dann lagen sie sich in den Armen. »Aber nun komm bitte, Helene. Hinaus ins Freie, hinaus in die Sonne. Ich glaube, die Wände erdrücken mich sonst hier.« Drunten im Flur begegnete ihnen das Gittli. Das Mädel machte erstaunte Augen, als sie die beiden Arm in Arm daherkommen sah. »Bin ich froh«, stotterte sie. Helene tätschelte ihr die Wange. »Ja, Gittli, ich muß dich aber trotzdem enttäuschen, denn vorerst muß dein Florian noch oben bleiben in der Jagdhütte.« »Du hast den Gerstäcker -?« fragte Rupert erstaunt. »Natürlich! Wußtest du das nicht? Ich mußte doch irgend jemanden haben für die Jagd. Und er schien mir am besten dazu geeignet zu sein. Und wenn du einverstanden bist, dann soll er auch in Zukunft unser Jäger bleiben, denn ich will dich jetzt ganz für mich allein haben! Jetzt darf uns nichts mehr dazwischenkommen.« Lachend umschlang sie ihn, und jauchzend zog er sie hinaus ins Freie. »Komm, Liebste, wir wollen den Herbst noch ein wenig nützen.« »Und wollen wieder glauben und vertrauen, Rupert. Der Glaube schafft uns einen neuen Frühling.«
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Die Wälder leuchteten. Purpurrot und orangengelb flossen die Farben ineinander. Zwei Menschenkinder schritten in stillem Glück den schmalen Weg entlang. Ihre Gesichter waren verklärt. Ein Schein der Freude glitt darüber – wie die erste Morgenröte nach langer dunkler Nacht. »Es ist so wunderschön, dieses herbstliche Zur-Ruhe-Gehen der Natur«, sagte Helene. »Noch schöner aber ist es, Mensch zu sein und alles erleben zu dürfen, den Frühling, den Herbst und – die Liebe«, antwortete Rupert. Sie gingen denselben Weg wie an jenem Frühlingssonntag. Die Dämmerung wuchs schnell. Sterne flimmerten auf. Ganz still war es. Nur vom Bergwald herunter hörte man zuweilen den hohlen Schrei eines Raubvogels. Auf einer Bank sitzend, sprachen sie von ihrem wiedergefestigten Glück und der Zukunft. Da sahen sie plötzlich aus der Dämmerung zwei Menschen aus dem Wald herauskommen. Unweit von Rupert und Helene blieben sie stehen. »Jetzt mußt du mich allein lassen, net daß uns jemand sieht«, sagte eine weibliche Stimme. Rupert erkannte an der Sprache sofort die Klara. Der Mann in ihrer Begleitung war ihm unbekannt. Klara sprach weiter: »Also, morgen ist es nix. Da ist er daheim. Aber am Freitag fährt er zum Viehmarkt und wird erst spät heimkommen. Da kommst du dann, gelt?« Noch ein zärtliches Umschlingen der beiden, dann sprang die Klara davon und verschwand in der Dunkelheit. Ein wenig später schlenderte der zurückgelassene Liebhaber, ein lustiges Liedlein vor sich hinpfeifend, auf einem anderen Weg dem Dorf zu. »Nun könnte ich der Klara alles mit Zins und Zinseszins zurückzahlen, was sie uns angetan hat«, meinte Helene.
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»Laß nur«, antwortete Rupp. »Wir wollen nicht rachsüchtig sein. Was andere Menschen tun, soll uns nicht berühren. Nur vor uns selber müssen wir immer bestehen können. Und uns kann sie ja jetzt wirklich nicht mehr gefährlich werden.« Er stand auf, nahm sie bei den Händen und zog sie mit einem Ruck hoch. »Komm, Helene, nun wollen wir es aber gleich richtig machen und heute noch zum Pfarrer gehen, daß er uns am Sonntag gleich verkündigt.« »Ja, Rupp, wir wollen es beginnen, unser neues Leben«, sagte Helene froh bewegt. »Beginnen und – vollenden!« antwortete Rupp. Es klang ernst und feierlich. Im Dorf angekommen, blieb Rupp vor dem Anwesen des Kastenhofers stehen. »Geh einstweilen voraus, Helene. Ich komme gleich nach.« »Was willst du tun, Rupp?« »Ich will nach der Frau sehen. Du wirst begreifen, es ist meine Pflicht.« »Dann sag ihr, daß ich ihre Älteste gerne in meinen Dienst nehmen möchte.« Rupert betracht den Kastenhof. Die Kastenhoferin und zwei ältere Mädchen hoben bei seinem Eintritt in die Stube verwundert den Kopf. Rupp gab es einen Stich, als er das vergrämte Frauengesicht sah. »Meine Schuld«, fuhr es ihm durch den Sinn. Gleich darauf verwarf er den Gedanken wieder, es hätte auch umgekehrt sein können. »Ich hätt mit euch zu reden, Kastenhoferin. Wie geht es euch?« »Wie soll es uns gehen? Gut halt oder net?« »Ich sehe, ihr seid verbittert, und kann es verstehen. Aber wenn ihr Not leidet, ich bin bereit, euch zu helfen.« »Da ist nimmer viel zu helfen.« Rupp nahm auf der Bank, der Frau gegenüber, Platz. »Es tut mir leid, Kastenhoferin, obwohl es nicht meine Schuld ist, daß – ihr wißt es ja- es ging Auge um Auge damals. So gut, wie 139
ich heute vor euch stehe und euch helfen will, so gut könnte ich auch drüben auf dem Friedhof liegen.« »Was redest du soviel, Jäger? Es war deine Pflicht. Aber eines glaub mir, schlecht war er nicht, unser Vater. Er hat halt gewildert, weil -« Rupp schnitt ihr die Rede ab. »Ich weiß schon, die übliche Ausrede, es sei ihm eben im Blut gelegen und so weiter.« »Net wahr ist’s! Früher hat er nie ein Gewehr angerührt. Aber der Ramscheder, das war sein böser Dämon. Der hat ihn verführt. Und mein Mann, der hat net anders gekonnt! Glaub mir’s, Jäger. Oft, wenn er nachts net daheim war, bin ich mit den Kindern aufgewesen und hab gebetet, daß er wieder gesund und heil heimkommt. Es hat mir immer vor Augen gestanden, daß es einmal ein schlechtes Ende nimmt. Und dann war es auf einmal da, was ich schon lang gefürchtet hab. Der Bauer tot, und der Hof kommt immer weiter herunter. Wenn es so weitergeht, muß ich eines Tages mit den Kindern fortziehen. Wohin, das weiß ich freilich net.« Aufschluchzend warf die Frau den Kopf in die Arme. »Nehmt es nicht so schwer, Kastenhoferin. Ich hab doch gesagt, daß ich euch helfen will. Wieviel hat er denn noch zu kriegen, der Ramscheder?« »Zehntausend Mark sind’s noch.« »Gut. Ich werde heute noch mit dem Ramscheder sprechen. Und jetzt noch was. Wie wäre es denn, wenn ihr eure Älteste nach Wildreut in den Dienst geben würdet? Nur ins Haus, neben der Frau.« Noch ehe die Mutter antworten konnte, drängte sich das Mädchen heran. »Bitt schön, Mutter, laß mich! Die Frau ist doch so gut, wie man immer hört. Und ich kann mir dann auch was verdienen dabei und dir helfen.«
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»Ich muß ja froh sein, wenn mir jemand helfen will. Aber wie soll ich dir das alles danken, Jäger?« »Dadurch, daß ihr mir nichts nachtragt, daß ich es war, der den Kindern den Vater und euch den Mann genommen hat.« Rupp wandte sich dann an das Mädchen: »Also, Mädel, du kommst morgen hinüber nach Wildreut. Die Frau kann dann alles Nähere mit dir besprechen.« Hierauf reichte er jedem die Hand und schritt, von einer Zentnerlast befreit, auf die Straße. Nach kurzem Überlegen betrat er den Ramschederhof. Klara und ihr Mann, der Max, saßen in der großen Stube. »Ich möcht den Ramscheder sprechen«, sagte Rupp. »Meinen Mann oder den Vater?« fragte Klara aufstehend. »Den alten Ramscheder!« »Resl, führ den Jäger hinüber ins Austragshäusel!« befahl die Klara einer der Mägde. Hinter dem Mädel schritt Rupp über den Hof, ließ sich drüben über die steile Treppe des Austragshäusels hinaufführen und klopfte an die ihm gewiesene Tür. Er klopfte kurz und energisch an und trat ein. Der Ramscheder empfing ihn, im Lehnstuhl sitzend, mit blinzelnden Augen. »Hoho ! Da kommt ja ein ganz seltener Besuch. Was bringst Neues, Jäger? Hoffentlich was Gutes?« »Ich denk, daß es dich freuen wird«, antwortete Rupp. »Es war ja das erstemal, daß mich von dir was freuen tat. Aber laß hören, was du hast!« »Im Kastenhof war ich grad drüben!« Der Bauer machte die Augen klein und zog den Mund breit. »Hast nachgeschaut? Es steht dir auch ganz gut an.« »Es geht denen da drüben nicht zum besten, Ramscheder.« »Das läßt sich leicht denken, wenn der Ernährer fehlt.« »Das allein wäre es nicht, Ramscheder. Aber die Schulden drücken halt.« 141
»Geb ich schon zu. Die Schulden drücken heutzutage jeden.« »Dich aber bestimmt nicht, Ramscheder!« »Meinst? Was weißt denn du? Aber langsam weiß ich schon, was du willst.« »Um so besser. Dann brauchen wir ja gar nimmer lang um den Brei herumreden. Also, wie ist es? Willst du der armen Frau noch mal stunden?« Der Ramscheder hob entrüstet beide Hände hoch. »Geht net! Das geht mit dem besten Willen net.« »Du weißt aber ganz gut, daß sie nicht zahlen kann.« »Tut mir leid, ich brauch mein Geld!« »Kannst es ja doch nicht mitnehmen, du Geizkragen!« »Braucht’s auch gar net. Meinst du vielleicht, ich bin schon reif für die Gruben? Weil mich des Schlagerl gestreift hat? Naa – deswegen kann ich noch alt werden, hat mir der Doktor gesagt. Ich möcht mir mein Leben jetzt im Austrag erst noch schön machen, und ich seh gar net ein, warum ich mein Geld herschenken soll?« »Wer sagt denn vom Herschenken? Du bekommst ja deine Zinsen dafür!« »Wieviel denn gar? Vier Prozent? Woanders krieg ich zehn und zwölf.« Empört schlug Rupp mit der Faust auf den Tisch, daß die Medizinflaschen wackelten. »Du bist ein ganz erbärmlicher Halsabschneider!« »Und das muß ich mir von dir sagen lassen? Ausgerechnet von dir?« »Ich könnte dir noch mehr sagen! Du bist es ja, der den Kastenhofer auf dem Gewissen hat. Du hast ihn gedrängt, daß er hinausgeht und wildert. Und der arme Teufel hat es getan, nur um dir die Zinsen bezahlen zu können. Wenn es nach Recht ginge, müßte nicht er jetzt im kalten Grab liegen, sondern dich hätte man vor ein Gericht stellen müssen. Wie du alles mit deinem Gewissen
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abmachen kannst, das weiß ich nicht. Ich weiß bloß, daß sich der Erdboden schämen müßte, dich zu tragen.« »Raus jetzt!« »Ja, ich geh schon. Es tut mir leid, daß ich überhaupt hergegangen bin zu dir.« Ohne Gruß verließ Rupp den halsstarrigen Bauern. Daheim angekommen, sah ihm Helene gleich seine niedergedrückte Stimmung an und fragte ihn, ob die Stunde beim Kastenhofer für ihn so bitter gewesen sei. Er erzählte ihr alles, und Helene versprach ihm, der Kastenhoferin das Geld für den Ramscheder zinslos vorzustrecken. Etwa drei Wochen später fand in der Dorfkirche die Trauung Ruperts und Helenes statt. Des Pfarrers Rede war von warmer Herzlichkeit: »Ich aber sage euch, stellt über alle Liebe die Treue. Sie ist das edelste, verbindet und stärkt, wenn die Straßen des Lebens steil und steinig werden. Darum seid getreu!« Die Neuvermählten sahen sich verständnisvoll in die Augen – und es war, als lauschten sie auf einen fernen Klang. Das Leben beginnt – unser Leben! Sie fühlten es tief und wußten, daß sie es zwingen würden. Noch am selben Tage traten sie ihre Hochzeitsreise an. Das Gittli stand unter der Haustür und konnte kaum die Tränen zurückhalten. Da strich ihr Helene lächelnd über das Haar. »Laß nur gut sein, Gittli, ich weiß schon, warum du weinst. Aber gleich, wenn wir zurückkommen, rüsten wir auch zu deiner Hochzeit. Das kannst du deinem Florian einstweilen ausrichten.« Auf Wildreut trippelte bereits der kleine Stammhalter Karl Rupert mit unsicheren Schritten über den Hof, und seine Mutter mußte höllisch aufpassen, daß er nicht dorthin geriet, wo kleine Buben nichts zu suchen haben. Herbst war es wieder geworden, ein schöner, farbenfroher Herbst, wie ihn nur das Hochland kennt. In den sternenhellen Nächten hörte man den Brunftschrei der Hirsche vom Berg herunter, ein 143
urgewaltiges, dumpfes Röhren, das zornige Liebeswerben des Königs der Wälder. Es war kein Wunder, daß sich Rupert Hiller in solchen Nächten unruhig fühlte. Zuweilen stand er nachts auf und horchte am Fenster in die Nacht hinaus. Dann war ihm, als müßte er die Büchse nehmen und hinausrennen in die Nacht. Helene bemerkte es, und eines Tages sagte sie ihm lachend: »Nun geh doch schon, Rupert, ich sehe doch, wie unruhig du bist. Nein, mach dir nur keine Sorgen. Harlacher ist verläßlich, und die meiste Arbeit ist getan.« In der Morgenfrühe standen sie dann am Hoftor beisammen. Rupp, die blinkende Büchse auf dem Rücken, hielt die Hand seiner Frau. »Behüt dich Gott, Helene ! Gib mir auf den Buben gut acht. Morgen abend bin ich zurück.« »Behüt dich Gott, Rupert! Grüß mir das Gittli und den Florian recht schön.« »Ja, ja, werd es nicht vergessen.« Mit sanftem Druck zog er sie an sich und küßte sie, dann eilte er rasch davon. Im Dorf lag alles noch in tiefem Schlaf. Nur im Ramschederhof werkte schon einer, der junge Bauer. Unermüdlich war dieser Max und schuftete von früh bis spät, um seinen drückenden Kummer abzuschütteln, während die Klara recht vergnügt und unbekümmert in den Tag hinein lebte. Was machte es ihr aus, wenn des Mannes Sehnsucht nach einem Erben immer drängender wurde. Aus dem Ärmel konnte sie ja schließlich keinen Buben schütteln. Freilich wurden ihre Augen schmal vor Zorn, wenn sie die Wildreuterin so stolz in ihrem Mutterglück in der Ferne vorübergehen sah. Darum wurde sie launisch und ungeduldig, wenn ihr Mann von ihr immer nachdrücklicher das gleiche forderte. Mit einer wahren Lammsgeduld ertrug der Max ihre Launen, die für einen weniger gutmütigen Menschen kaum zu ertragen gewesen wären.
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Während Rupp den stillen Bergwald emporstieg, beschäftigten sich seine Gedanken mit den beiden. Wie war das bei ihm und Helene ganz anders! Da gab es keinen Mißklang in ihrer Ehe. Helene lebte ganz für ihn und den Buben. Es war ein Glück geworden, wie sie es sich beide nicht einmal erträumt hatten. Mittlerweise war es vollends Tag geworden. Rupp hatte nur mehr ein kurzes Stück zu gehen, dann hatte er das Jagdhaus erreicht. Dort herrschte bereits reges Leben. Gerstäcker saß schon am Brunnenrand und putzte das Gewehr. Als er Rupp gewahrte, sprang er auf und ging ihm entgegen. »Guten Morgen, Herr! Einen wunderschönen Zwölfender hab ich aufgespürt. Hab schon Angst gehabt, Sie kommen zu spät herauf. Er wechselt nämlich alle Tag zwischen fünf und sechs bei der großen Föhre.« Rupp sah auf die Uhr. »Da haben wir ja noch Zeit, Gerstäcker. Und wenn’s heute nicht sein kann, dann morgen früh ganz sicher.« Unter der Tür des Jagdhauses trat ihnen das Gittli entgegen. Es war nicht mehr das kleine, schüchterne Gittli, sondern ein junges vollerblühtes Weib, dem das Glück aus den Augen lachte. Es herrschte noch immer der alte vertrauliche Ton zwischen Rupp und Gittli. Nur scherzweise nannte er sie Frau Gerstäcker. Vor dem Hause deckte sie dann den Kaffeetisch, nicht ohne vorher Rupert an das Bett des kleinen Berti geführt zu haben. »Na, was sagst zu unserm Buben?« »Rupp, der der Taufpate des kleinen pausbäckigen Kerls war, sagte lachend: »Ganz dir sieht er gleich, wie aus dem Gesicht geschnitten!« Das Gittli war glücklich geworden mit ihrem Florian, der als festangestellter Jagdaufseher ein auskömmliches Gehalt bezog. Dazu war ihr Haus schmuck und sauber hergerichtet worden, und Gittli konnte im Sommer immer noch ein paar Zimmer an Touristen vermieten. 145
Gerstäcker wußte auch, wem er sein Glück zu verdanken hatte, und wäre für seine Herrschaft durch das Feuer gegangen. Zwei stunden später stiegen Rupert und Gerstäcker bergwärts. Drunten ging Helene, den Kleinen an der Hand, langsam am Wiesenrain dahin. Ohne daß sie es wollte, kam sie dabei in die Nähe des Kreuzackers, auf dem der junge Ramscheder pflügte. Er war doch ein anderer Kerl, der Max, als sein Vorgänger, der mißmutig daheim am Fenster seines Austragsstüberls saß und, mit aller Welt überworfen, griesgrämig auf die Dorfstraße hinunterblinzelte. Der Max hielt seine Pferde an und trat auf den Weg heraus. »Guten Morgen, Frau Nachbarin!« »Guten Morgen, Ramscheder! Wie geht’s?« Der junge Bauer schnaufte und sah an ihr vorbei in den klarblauen Herbsthimmel. »Ja mei«, seufzte er. »Wie soll es mir gehen? Die Menschen werden denken, ich hab mich in ein warmes Nest gesetzt und hab alles, was ich mir wünsch. Wenn es nur wahr wäre! So was braucht ich halt auch«, meinte er und streckte seine schwere Hand nach dem kleinen Karl Rupert aus. »Das wird schon noch kommen«, tröstete ihn Helene. »Wenn sie keins mag«, antwortete der Max tiefsinnig. »Als wenn einem da das Leben noch freuen könnt, ohne Kinder. Für was rackert man sich denn dann?« Helene gab keine Antwort. Sie wollte es dem Mann nicht noch schwerer machen. Man hörte ja so allerhand über die Klara. Sie sollte es mit der ehelichen Treue nicht ganz genau nehmen, und der Kurgast vom Vorjahr, der flotte Eduard Kriese aus dem Rheinland, hatte es beim Hirschwirt in einer weinseligen Stunde deutlich genug durchblicken lassen, daß er die Gunst der schönen Jungbäuerin reichlich genoß. Da aber der Max anscheinend ahnungslos war, konnte man ihn doch nicht darauf hinweisen, obwohl dies für Helene eine gute Gelegenheit gewesen wäre, der Klara manches heimzuzahlen. 146
Herzlich verabschiedete sie sich von dem jungen Ramscheder und ging langsam zum Bach hinüber und schaute dem alten Tommerl eine Weile beim Forellenfischen zu. Plötzlich hob sie mit gespanntem Ausdruck das Gesicht und starrte zum Gutshof hinüber. Von dort her ließ sich ein seltsam wehmütiger Geigenklang vernehmen. Ein Lied, das wachrüttelte, was schon seit Jahren in ihr versunken und tot war. Bei den Klängen mußte sie unwillkürlich an Alex Petri denken. Heut erschien es ihr geradezu rätselhaft, daß ein Alex Petri ihr einmal etwas hätte bedeuten können. Tommerl, der auch dem Spiel der Geige gelauscht hatte, meinte: »So viel Bettelmusikanten treiben sich jetzt herum, daß es eine Plage ist.« Als Helene etwas später, den Buben auf dem Arm tragend, auf ihr Wohnhaus zuging, gewahrte sie einen zerlumpten Menschen auf der Türschwelle sitzend, der einen Teller Suppe auf den Knien hielt. Es war der Bettelmusikant. Jetzt hob er müde den Kopf und sah Helene an. Plötzlich – ein jähes Erkennen auf beiden Seiten. Der Teller schlug klirrend auf die Steinfliesen, und Helene stieß unwillkürlich einen Schrei aus. »Alex Petri!« Helene stellte das Kind schnell zu Boden, weil sie die Kräfte schwinden fühlte. Ein lähmendes Schweigen herrschte. Helenes Gedanken gingen zurück bis zur Stunde, wo sie diesem Menschen zum letzten Male gegenübergestanden hatte. Sie sah ihn – im schwarzen Frackanzug, ein Bild männlicher Kraft und Schönheit. Und heute? Wie war es nur möglich, daß die Zeit einen Menschen zu einem solchen Wrack machen konnte? Jetzt öffnete Petri die Lippen. »Ein seltsames Wiedersehen, nicht wahr?« Helene rief nach Hanni, dem Mädchen, das sie vom Kastenhof zu sich genommen hatte, und übergab ihr den kleinen Karl Rupert. 147
Mittlerweile hatte sie sich vom ersten Schrecken etwas erholt. Trotzdem mußte sie sich anstrengen, um ihrer Stimme einen ruhigen Ton zu geben. »Du siehst nicht gerade vertrauenerweckend aus!« Er mußte den Blick vor ihren forschenden Augen senken. Dann murmelte er mit einer Stimme, die wie aus einem Grab zu kommen schien: »Mir ist das Schicksal nicht so gut gesinnt gewesen wie dir, oder ich habe es nicht verstanden, mit dem sogenannten Schicksal Bruderschaft zu trinken.« »Nein, Alex Petri! Du hast das Schicksal herausgefordert! Du wolltest doch frei sein von allen Ketten! Bist du nun frei?« Petris Gesicht, in das die Jahre tiefe Furchen gezogen hatten, verzerrte sich zu einer Fratze. »Ich sehe, du hast nichts vergessen. Ich ahnte auch nicht, daß dich der Zufall mir noch einmal in den Weg führen würde.« Sein Blick ging an ihr vorbei ins Weite. »O ja«, sagte er dann, »es war schön, dieses Hineinstürzen in den Taumel des Lebens. Ich kam nur etwas zu spät zur Besinnung. Ich war schon gänzlich leer geworden, als ich mein Abwärtsgleiten bemerkte. Der Sumpf des Lebens hat mich aufgesogen!« Helene antwortete scharf betonend: »Ich mußte auch durch den Sumpf des Lebens waten, Alex Petri! Aber ich bin rein daraus hervorgegangen. Heute bin ich meinem Schicksal dankbar, daß ich die Enttäuschung mit dir erleben durfte, denn sie hat mich zu einem anderen Leben hingeführt.« »Ja, ich sehe schon, daß es dir gut geht.« Er deutete mit der Hand über das Gut hin. »Das ist wohl alles dein? Du hast dich rausgemacht! Ich erinnere mich, daß du mir einmal erzählt hast, du hättest als Kind hier irgendwo die Kühe hüten müssen. Da sieht man wieder, wie seltsam es im Leben oft zugeht. Es ist doch eine geradezu merkwürdige Ironie, daß aus mir nun das geworden ist, was du einst warst.«
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»Nein, Alex! Du bist noch viel, viel tiefer gesunken. Du bist ein Säufer geworden.« »Wie du dich gleich so brutal ausdrückst, Lenchen. Allerdings – ehrlich bist du ja immer schon gewesen. Aber, was hat man denn sonst schon für einen Tröster auf der Welt? Wenn man trinkt, vergißt man.« »Und so redet ein Mensch, der es einmal recht hell haben und keinen Schatten um sich dulden wollte. Ich weiß zwar nicht, ob du dich noch erinnerst, wann und bei welcher Gelegenheit du mir dies gesagt hast.« »O ja! Ich weiß das noch ganz genau. Ich glaube, es war dies in einer zärtlichen Stunde.« Ohne auf diese Anspielung einzugehen, sprach Helene ruhig weiter: »Du hast dich aber in der Helle nicht wohl gefühlt und hast das Dunkel aufgesucht.« »Du hast recht. Und ich bin erstaunt, wie viele Menschen eigentlich im Dunkel wandern. Ich war nie allein dort. Und das merkwürdigste ist dabei, daß man nicht mehr so leicht herausfindet, selbst wenn man es will.« »Du hättest nie hineinzugehen brauchen, wenn...« »Ja, ja, schweig nur. Ich kann jetzt alles andere brauchen, nur keine Moralpredigt. Im übrigen bin ich erstaunt, wie spöttisch du deine Worte wählst. Das bin ich eigentlich gar nicht gewohnt von dir, denn du warst immer so verständig. Du mußt dir aber nicht denken, Lenchen, daß an mir etwas hängenbleibt, ich bin schon zu abgebrüht.« Petri trat einen Schritt näher und senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern: »Wenn du dich an alles noch so gut erinnerst, wirst du auch nicht vergessen haben, wie glücklich wir beide einmal waren. Und eingedenk dessen, wirst du mich doch nicht wie die andern, vor deren Fenstern ich spiele, mit ein paar roten Hellern abspeisen wollen?« »Schweig!« wies Helene ihn zur Rede. »Es ist ekelhaft, dich hier so reden zu hören.« Sie sah ihn dabei mit einem Blick an, vor dem er die Augen schließen mußte. 149
Erst nach einer Weile raffte er sich auf und sagte: »Du redest eine verdammt harte Sprache mit mir. Aber ich halte es dem Schmerz der Erinnerung zugute, der dich übermannt haben mag.« Helene lachte ihm ins Gesicht. »Wenn mir etwas schmerzlich ist, dann ist es nur deine Gegenwart. Aber du sollst nicht umsonst gekommen sein, ich meine, du sollst etwas mehr haben als ein paar rote Heller. Ich werde dir helfen, daß du ein anderes Leben beginnen kannst.« »Siehst du, das habe ich mir eigentlich gleich gedacht. Es kann eben kein Mensch aus seiner Haut heraus. Der eine muß helfen und heilen, der andere muß hassen und trinken, wie es sich eben gerade gibt.« Helene bedeutete ihm mit einem Neigen des Kopfes, daß er ihr ins Haus folgen möge. Im Büro, das sich Rupert eingerichtet hatte, hieß sie ihn warten. Dann ging sie zur Tür und lockte den Hund. Sofort kam die Dogge hereingesprungen und zeigte fletschend die Zähne. Auf ein Wort der Herrin ließ er sich nieder, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Petri lächelte und meinte: »Ich glaube, du fürchtest dich vor mir, weil du den Hund brauchst.« »Ich habe das so in der Gewohnheit, wenn mein Mann nicht zu Hause ist«, antwortete Helene gleichgültig und begann auf dem Schreibtisch zu kramen. In Petris Augen kam ein wunderliches Staunen. »Ach, sieh mal an. Du bist verheiratet. Richtig, jetzt sehe ich ja auch erst deinen Ehering. Tatsächlich, man hat geheiratet! Schade, wirklich schade, daß ich nicht die Ehre habe, den Herrn Gemahl begrüßen zu können. Und ich kann mir denken, daß du nicht viel Wert darauf legen wirst, mich mit ihm bekannt zu machen.«
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»Du irrst dich. Geheimnisse haben wir nicht voreinander. Ich würde mich nur schämen, ihm sagen zu müssen, daß ausgerechnet du es warst, der mir einmal etwas bedeutet hat. Und für meinen Mann müßte es ein entwürdigendes Gefühl sein, der Nachfolger eines solchen Subjekts zu sein.« In Petris Augen funkelte es. »Du bist grausam geworden.« »Ich vergelte nur Gleiches mit Gleichem.« Helene hatte inzwischen eine Adresse aufgeschrieben und reichte den Zettel Petri mit spitzen Fingern über den Schreibtisch hin. »Hier gebe ich dir eine Adresse. Wenn du noch einen Funken von Willen hast, wieder in geordnete Verhältnisse zu kommen, dann befolge meinen Rat. Dieser Herr – Professor Neckhalm – hat die besten Beziehungen zur Musikwelt und wird dich auf meine Empfehlung hin sicherlich irgendwo unterbringen.« Petri betrachtete die Adresse, ließ den Zettel dann auf den Schreibtisch fallen und sagte: »Ach, so meinst du? Das ist also deine Hilfe? Gestatte, daß ich sie mir anders vorgestellt habe. Was nützen mir die guten Beziehungen dieses Herrn. Und gar mit dieser Garderobe?« fügte er witzig hinzu und zeigte seine zerrissene Hose. »Du hast mich ja nicht ausreden lassen. Natürlich gebe ich dir so viel Geld, daß du dich anständig einkleiden kannst. Einstweilen gebe ich dir vierhundert Mark. Weitere sechshundert lasse ich dir nach München überweisen. Damit es aber keinen Irrtum gibt, will ich dir gleich sagen, daß es bei dieser einmaligen Hilfe bleibt. Ein zweites Mal will und kann ich nicht mehr. Ich wage annehmen zu dürfen, daß du noch so viel Ehre in dir hast, mich dann nicht mehr hier zu belästigen.« Gierig stürzte sich Petri auf die Geldscheine. »Tausend herzlichen Dank, liebes Lenchen. Ich hab ja gewußt, daß du mich nicht aufsitzen lassen wirst. Übrigens steht es auch in meinem Horoskop, daß mir wieder bessere Tage winken. Ich gebe ja sonst nicht viel auf derlei Unfug, aber einiges scheint hier 151
doch immer zu stimmen. Nun wird es mir nicht mehr schlecht gehen, da ich weiß, wo du zu finden bist.« Langsam stand Helene auf. Unnahbar, in kühler Beherrschtheit, stand sie vor ihm. »Das ist der zweite Irrtum, mein Herr! Ich habe dir doch gesagt, daß ich nur einmal helfe.« »Natürlich, ich verstehe. Der Herr Gemahl braucht nichts davon zu erfahren. Wenn es mir auch schwerfällt, dich nicht mehr persönlich aufzusuchen – denn offen gestanden, du gefällst mir heute besser denn je – werde ich mich künftig, wenn ich wieder in Druck bin, nur schriftlich an dich wenden. Wir werden uns also leider nicht mehr sehen, es sei denn, du bist nicht nett und läßt mich aufsitzen.« Eine dunkle Röte jagte über Helenes Stirn. »Nun ist es aber genug! Das, was ich für dich, in Anbetracht deiner augenblicklichen Lage, flüchtig fühlte, war ein kleiner Funken Mitleid. Nun ist auch das dahin. Ich bin nicht mehr das törichte, unerfahrene Ding von damals.« Sie streckte langsam die Hand aus und wies zur Tür. »Und nun geh! Es würde mir leid tun, wenn ich den Hund hier zu meinem Schutz bemühen müßte.« Petri sah ein, daß seine Macht zu Ende war. Mit hängenden Armen stand er da. Eine beklemmende Stille herrschte im Zimmer. Nur den Atem der beiden hörte man. Da schlug wie eine Erlösung die kleine Uhr am Schreibtisch mit melodischem Klang die zehnte Stunde. Da wandte sich Alex Petri mit einer stummen Verbeugung zum Gehen, weil er sah, wie die Dogge sich auf einen Wink der Herrin knurrend aufrichtete. Helene riß das Fenster auf, als wäre die Luft im Zimmer verpestet. So weit hatte es also kommen müssen, daß sie diesen Menschen mit dem Hund aus ihrer Nähe hetzen mußte. Mit ihrem stets wachen Instinkt ahnte sie, daß ihr von diesem Menschen her eine Gefahr drohte. Der Blick seiner Augen war so
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glanzlos, so unbarmherzig gewesen, daß sie jetzt noch erschauerte. Auf einmal stand der Entschluß bei ihr fest, Rupert alles zu erzählen. Merkwürdig, daß sie kurz zuvor noch gedacht hatte, ihm alles zu verheimlichen. Gleich, wenn er heimkam, wollte sie ihn unterrichten. Unterdessen schlenderte Petri frohgemut zum Dorf hinüber. Er lächelte zufrieden vor sich hin. Das Schicksal hatte es wieder einmal gut mit ihm gemeint. An diese Frau hatte er eigentlich nur mehr hin und wieder ganz flüchtig gedacht. Und nun war sie wieder in sein Blickfeld getreten und würde es auch weiterhin bleiben. Er griff in die Tasche und fühlte, ob er die Geldscheine noch habe. Nach seinen früheren Begriffen war es ja nur ein kleines Taschengeld. Im Augenblick aber war es viel für ihn, und er fühlte sich wie ein Krösus. Zunächst wollte er sich also einmal rasieren lassen und sich ein menschenwürdiges Aussehen verleihen. Ob es in diesem Kaff einen gutsitzenden Anzug geben wird? Er wollte also versuchen, in ein anderes Geleise zu kommen. Nur wollte er zuerst einmal seinen Durst löschen. Und da er in diesem Augenblick am Hirschwirtsgarten vorüberging, konnte er den freundlich einladenden Tischen nicht widerstehen. Die Kellnerin kam und sah ihn mißtrauisch an, als er eine Flache Wein bestellte. Petri deutete ihren Blick gleich richtig und zog die Geldscheine heraus. »Ja, ja, geh nur, mein süßes Kind, ich habe Geld, wie du siehst.« Wie lange war es schon her, daß er an einem so sauber gedeckten Tisch gesessen hatte! Er verspürte plötzlich Lust, ganz lukullisch zu speisen, so wie er es von früher her gewohnt war. Da betrat ein Jäger den Garten und ging an seinem Tisch vorbei, stutzte plötzlich und blieb stehen. Auch Petri sah aufmerksam in das Gesicht des Jägers.
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In Rupert Hiller dämmerte etwas, wie eine ferne Erinnerung. Aber dann schüttelte er den Kopf. Das war ja wohl nicht gut möglich. Denjenigen, den er vermeinte zu erkennen, das war einmal ein flotter, sauberer Bursche gewesen. Dieser hier aber war nur ein heruntergekommenes Subjekt und hatte wohl nur in der hochfliehenden Stirn eine ganz kleine, entfernte Ähnlichkeit mit dem lustigen Windhund Alex Petri, der damals einmal in Reih und Glied neben ihm marschiert war. Schon wollte Rupert das Wirtshaus betreten, um den Wirt zu fragen, ob er Verwendung für einen geschossenen Hirsch hätte, da war Petri seinerseits mit seinen nachdenkenden Betrachtungen fertig geworden und wußte nun ganz eindeutig und klar, wo er diesen Jäger einzureihen hatte in den großen Kreis der Menschen, mit denen er in seinem Leben schon in Berührung gekommen war. Und er sagte ganz laut, ohne die geringste Angst, daß er sich irren könnte: »Ich sehe, du kennst mich nicht mehr, Hiller.« Rupert fuhr herum. »Also doch!« sagte er, immer noch nicht ganz sicher. »Bist du es denn wirklich, Alex?« Petri kicherte fröhlich, trank gierig einen Schluck Wein und sagte dann: »Manchmal meine ich zwar, ich wandle nur als mein eigener Schatten durch diese Welt. Es bedarf dann solcher Begegnungen, wie die jetzt mit dir, um zu wissen, daß ich es selber bin. Ja, Hiller, du hast recht. Ich bin schon der, den du meinst.« »Wahrhaftig, jetzt kenne ich dich wieder«, sagte Rupert und reichte dem andern die Hand. »Grüß dich, Alex. Nein, das ist wirklich eine große Überraschung. Ich habe nie mehr etwas von dir gehört, seit ich von euch abkommandiert worden bin.« »Du hast eben Glück gehabt damals, wie immer«, entgegnete Petri. »Zwei Wochen darauf sind von der ganzen Kompanie nur mehr acht Mann zurückgekommen. Darunter auch meine Wenigkeit, der Windhund, wie ihr mich immer genannt habt. Alle ande154
ren waren gefallen.« Petri sah den anderen von oben bis unten an, sah die abgeschabte, etwas fettig glänzende Lederhose, den etwas speckigen Filzhut mit der Reiherfeder und meinte bedauernd : »Dich, meine ich, hat das Leben auch ein wenig herumgewirbelt. Scheint dir auch nicht gerade zum besten zu gehen. Na, laß mal, will sehen, was ich für dich tun kann. Ich habe Geld, vielleicht kauf ich dir so eine Lederbuxe, wenn du willst. Da – sauf einmal. Wirst ja auch ganz selten einmal so einen Tropfen Wein erwischen.« Rupert lächelte ganz unmerklich vor sich hin, nahm aber dann doch das dargebotene Glas und tat einen kleinen Schluck. Dann sagte er: »Auf Rosen gebettet scheinst du mir auch nicht zu sein?« »Stimmt, mein Lieber, stimmt ganz auffallend. Ich bin hübsch heruntergekommen. Aber es hängt ja nicht immer alles auf eine Seite, das weißt du ja selber auch. Gerade im Augenblick bahnen sich wieder recht gute Beziehungen an. Ich hoffe, daß ich dir dann auch ein bißchen unter die Arme greifen kann. Kann mir ja denken, daß du als Jagdgehilfe auch keine großen Sprünge machen kannst.« »Du täuschst dich«, lächelte Rupert. »Mir geht es ausgezeichnet. Wenn hier einem geholfen werden muß, dann bist du es. Trink deinen Wein jetzt aus, ich habe nur schnell mit dem Wirt noch etwas zu verhandeln, und dann gehen wir.« Ein paar Minuten später kam Rupert bereits wieder aus dem Haus und sagte lachend: »So, nun komm, mein Windhund.« »Wohin wollen wir eigentlich?« fragte Petri. Rupert deutete mit einer weitausholenden Handbewegung über das Gut Wildreut hin. »Komm nur mit, du wirst es gleich sehen.« »Ach, dort bist du als Jäger angestellt?« »Ja, dort. Und ich habe es bis jetzt noch nicht bereut. Komm nur mit, wir werden schon ein Unterkommen für dich finden.« Einen 155
Augenblick zögerte Petri noch. Aber dann reizte ihn das Groteske der Situation. Er lächelte vor sich hin und schloß sich geduldig dem anderen an. Rupert konnte Helene nirgends finden. Er fragte das Mädchen, und es wurde ihm gesagt, daß die Frau vor einer Viertelstunde zum Forellenbach hinuntergegangen sei, wohl aber bald wieder zurück sein müßte, „weil sie den Tisch zu decken aufgetragen hatte. Rupert führte den Freund hinauf in sein ehemaliges Jägerstübchen, brachte ihm Rasierzeug, frische Wäsche und einen Anzug von sich und sagte lachend: »So, nun mach erst wieder einmal einen Menschen aus dir, und dann kommst du herunter.« Petri wurde etwas unsicher. »Erlaube mal, du – kann ich hier so ohne weiteres bleiben? Es wäre mir lieber, wenn du mir etwas Essen hinaufbringen wolltest.« »Kümmere dich darum nicht, und halte dich nur an mich.« Rupert zog die Tür hinter sich zu und sprang die Treppe hinunter. Kurz darauf kam auch Helene zurück. Sie war überrascht, daß Rupert schon so früh heimgekommen war. Wie schutzsuchend drängte sie sich an ihn, innerlich dazu bereit, ihm ihre Begegnung mit Petri während des Essens zu erzählen. »Ich habe Glück gehabt«, sagte Rupert, »und bin gleich auf einen guten Hirsch zu Schuß gekommen. Deshalb bin ich schon zurück. Übrigens soll ich dir recht viele Grüße bestellen von Gittli und dem Florian. Dann will ich dir noch verraten, daß ich großen Hunger mitgebracht habe.« Lachend hing sie sich an seinen Arm und zog ihn ins Wohnzimmer. Das Mädchen trug die Teller auf und Rupert sagte: »Du darfst noch ein Gedeck bringen, Hanni.« Und zu Helene gewandt fuhr er fort: »Denke dir, Helene, wen ich heute getroffen habe? Aber nein, das kannst du ja doch nicht erraten.« 156
Helene wollte antworten. Aber im selben Augenblick ging die Türe auf, und Alex Petri trat ein. Sein Äußeres hatte sich jetzt geändert. Er war frisch rasiert, trug frische Wäsche und einen dunklen Anzug. Aber sein Blick war noch der gleiche. In seinen Augen zuckte es flüchtig auf, als er Helene gewahrte. Er begriff sofort die ganze Situation. Rupert war also Helenes Mann geworden. Er gab sich einen Ruck und straffte sich, wollte sich gerade vorstellen, als Rupert aufstand und ihn bei der Hand nahm. »Lieber Alex, hier stelle ich dir meine Frau vor.« Und zu Helene gewandt: »Alex Petri ist ein Kriegskamerad von mir. Wir haben ihn immer Windhund genannt.« Alex trat auf Helene zu. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, als er sich über ihre Hand beugte und sagte: »Ich bin erfreut, gnädige Frau, Sie kennenzulernen!« Helene glaubte ihm ins Gesicht schlagen zu müssen. Ihr Blick flackerte auf, und es war ihr zumute, als breche der Boden unter ihren Füßen. Mit unmenschlicher Kraft riß sie sich hoch und sagte mit kühl betonter Freundlichkeit: »Bitte, Herr Petri, nehmen Sie Platz.« Während des Essens vermied es Petri, Helene ins Gesicht zu sehen, obwohl er angeregt und eifrig plauderte. Einmal unterbrach ihn Rupert und stellte die Frage an Helene: »Hättest du etwas dagegen, Liebes, wenn Alex vorübergehend bei uns bleibt?« Helenes Hände zitterten plötzlich so sehr, daß sie Messer und Gabel weglegen mußte. Dann hob sie die Augen. »Das Haus ist groß genug für Gäste. Ich hoffe nur, daß sich Herr Petri wohl fühlt bei uns.« »Oh, nur keine Bedenken, gnädige Frau. Ich fühle mich überall wohl«, erklärte Alex kaltblütig. Nach dem Essen nahm Rupert seinen Freund mit und zeigte ihm den Gutshof. Petri besah sich alles mit gleichgültigem Interesse. Seine Gedanken waren ganz woanders, und er war nun neugierig,
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wie das alles ausgehen würde. Schließlich konnte er sich denn doch nicht enthalten zu sagen: »Also, mein lieber Hiller, ich muß schon sagen, du hast ein Sauglück gehabt. Setzt dich einfach in so ein warmes Nest, und ich Trottel wollte dir eine neue Lederhose kaufen. Ich weiß nicht, ob ich indiskret bin, wenn ich frage, ob du glücklich bist?« »O ja, sehr sogar. Aber hör einmal zu, Alex. Ich will mich bemühen, dich wieder in geordnete Bahnen zu bringen. So wie ich dich heute mittag da drüben beim Wirt angetroffen habe, möchte ich dich nicht mehr sehen. Ich weiß ja nicht, die wievielte Flasche es bereits war, ich weiß nur, daß Alkohol den Menschen jeden Lebenswillen nehmen kann. Ich habe dich als einen anderen Kerl gekannt, und diesem anderen Kerl will ich helfen, weil ich nicht vergessen habe, daß du in schweren Stunden doch ein guter Kamerad gewesen bist. Du bist nicht der einzige, den der Krieg aus der Bahn geworfen hat. Du täuschst dich, mein Lieber. Wir alle haben wieder neu anfangen müssen. Auch ich war zuerst hier nur ein kleiner Jagdaufseher. Freilich, daß es sich so zum Guten gewendet hat, das war Glück. Also, reiß dich ein wenig zusammen – ich weiß, daß du kannst, wenn du willst. Meide den Alkohol und – ich weiß ja nicht, wie du jetzt eingestellt bist – laß auch die Weiber aus dem Spiel. Das war auch immer eine schwache Seite bei dir.« »Ja, ja, die Weiber und der Suff...«, trällerte Petri vor sich hin. »Ich bitte dich, Alex, meine Worte doch etwas zu beherzigen. Fühl dich wohl in meinem Haus und betrachte es wie eine Heimat, zu der du immer Zuflucht nehmen kannst, wenn es dir trotz allen Bemühens nicht möglich sein wird, in deinem Beruf wieder festen Fuß zu fassen.« »Ich danke dir dafür, Rupert!« Petri streckte dem Freund die Hand hin. »Ich danke dir und freue mich, weil ich sehe, daß du trotz allem der alte geblieben bist.« In diesem Augenblick war es ihm wirklich ernst. Langsam schlenderten sie dann über die Wiesen. 158
»Noch etwas will ich dir sagen, Alex. An dem kühlen Wesen meiner Frau darfst du dich nicht stoßen. Sie ist anfangs gegen jedermann abwartend und mißtrauisch. Man muß sich ihr Vertrauen erst erringen. Hat man es aber gewonnen, besitzt man es restlos. Na ja, du mußt sie erst noch besser kennenlernen.« Petri wurde es bei diesen Worten doch ein wenig unangenehm. Aber er konnte seine Ironie nicht ganz verbergen, als er antwortete: »Ich hoffe, daß ich vor den Augen deiner strengen Gemahlin noch Gnade finden werde.« »Daran zweifle ich nicht im mindesten. Du warst ja immer schon ein guter Gesellschafter und bei der Damenwelt stets der Mittelpunkt.« Das schmeichelte Petri, und er fühlte die Notwendigkeit, dem anderen etwas unter die Nase zu reiben, von einem kleinen, hübschen Mädel, bei deren Eltern sie einmal im Quartier gelegen hatten. Rupert mußte darüber hellauf lachen, als ihn Alex an diese längst vergessene Episode erinnerte. »Heute bin ich dir dankbar dafür, daß du mich ausgestochen hast bei ihr. Soviel ich mich noch erinnere, hat sie Alice geheißen. Bei Helene wäre dir das allerdings nicht gelungen.« »Oh, das klingt ja ganz siegesbewußt!« »Ich weiß, daß ich so reden darf, denn Helene liebt mich und ist treu wie Gold.« »Ich bin überzeugt, daß dies keiner besser zu schätzen weiß als du«, antwortete Petri. Am Sonntag fiel es Rupert ein, daß er am anderen Tag nach Miesbach zu einer Bauerntagung müßte. »Schade«, sagte er zu Alex. »Jetzt fällt unser geplanter Pirschgang ins Wasser. Wenn du aber Lust hast, kannst du auch allein hinaufgehen zur Jagdhütte, den Weg dorthin kannst du nicht verfehlen.«
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Gleich nach dem Mittagessen ging Alex vom Hof und schlug die Richtung gegen den Wald ein. Rupert fuhr den Wagen aus der Garage und machte sich fertig für die Fahrt nach Miesbach. Helene stand bei ihm und sah ihm zu, wie er den Zündschlüssel einsteckte und auf den Anlasser trat. »Ich würde schon sagen, du sollst mit mir fahren«, sagte Rupert. »Ich fürchte nur, daß dich so eine Versammlung herzlich langweilen wird.« »Da kannst du recht haben. Bis wann gedenkst du zurück zu sein?« »Sowie die Versammlung aus ist, fahre ich heim. Übrigens, weil es mir gerade einfällt – du bist immer so fremd und kühl gegen Alex. Hast du irgend etwas gegen ihn?« »Er ist mir nicht sympathisch«, antwortete Helene kurz, und sah ihn dabei nicht an. Warum ihr Petri unsympathisch war, das verschwieg sie leider. Später bereute sie es bitter, daß sie auch diese Stunde hatte vorübergehen lassen, ohne sich Rupert anzuvertrauen. »Also, mach’s gut«, sagte Rupert und fuhr aus dem Hof. Alex Petri war nur bis zum Waldrand gegangen. Dort suchte er sich einen schattigen Platz, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm einer Fichte, schlang die Arme um die aufgezogenen Knie und schaute auf Wildreut hinunter. Er sah, wie Rupert aus dem Hof fuhr, sah das blaugraue Auto in der Ferne verschwinden. Über sein Gesicht glitt ein Lächeln. Eine Weile blieb er noch so sitzen und sah zu den wiegenden Wipfeln auf. Dann schob sich seine Stirn in Falten. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Helene. Ihre Unnahbarkeit, ihre kühle Ablehnung brachte sein Blut in Wallung. Seine Eitelkeit wurde tief verletzt dadurch, daß diese Frau, in deren Leben er einmal so beherrschend stand, so kalt auf ihn heruntersah, als wäre er nur Luft für sie. Plötzlich sprang er auf und kam auf einem weiten Umweg nach Wildreut. Im Flur des Hauses blieb er stehen, denn von oben herab hörte er die Klänge eines Klaviers. 160
Da wurde in Petri der Künstler wach. Er hetzte die Treppe hinauf in sein Zimmer, nahm die Geige aus dem Kasten und trat leise bei Helene ein. Inmitten des Zimmers blieb er stehen, dann setzte er die Geige unters Kinn. Leise kamen die ersten Töne. Helene stutzte, aber sie spielte weiter. Eine unbestimmte Macht zwang sie, weiterzuspielen. Erst nach einer Weile ließ sie die Hände in den Schoß sinken. Petris heißes, leidenschaftliches Spiel strömte über sie hin. Sie fröstelte vor der wilden Glut des Mannes, der in sein Spiel schrankenlos hineinlegte, was ihn bewegte. Langsam wandte Helene den Kopf. Petri stand noch immer am gleichen Fleck und hielt seine Geige in den Händen. Seine Augen leuchteten übernatürlich groß in dem bleichen Gesicht. Seine Brust atmete schwer. Helene betrachtete ihn. Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Dann sagte sie: »Jetzt warst du wieder ein Stück deines früheren Ichs.« Er lachte hart auf. »Muß ich immer erst meine Geige sprechen lassen, um verstanden zu werden?« »Wie könnte man dich anders verstehen? In dir leben doch zwei Naturen: der große Künstler und der im Kern wertlose Mensch.« »Dann haben auch deine Gefühle damals nur ersterem gegolten?« »Nein! Zu jener Zeit war ich noch zu unerfahren, um das unterscheiden zu können. Aber warum ereifern wir uns in einem Gespräch, das doch zwecklos ist?« An ihm vorbei, wollte sie zur Tür hinaus. Da umklammerte er mit raschem Griff ihren Arm. »Du sollst hierbleiben! So kann das auf keinen Fall weitergehen! Ich habe mit dir zu reden!« »Ich wüßte nicht, was wir uns noch zu sagen hätten. Daß du dich von Rupert mit in dieses Haus nehmen ließest, war bereits der Gipfel der Geschmacklosigkeit.« 161
»Ach, laß doch diesen Unsinn. Ich will wissen, ob du ihn liebst?« Über ihr Gesicht flog eine Glut der Empörung. »Was berechtigt dich zu dieser Frage?« »Du sollst mir sagen, ob du ihn liebst?« Da wurde sie ganz ruhig, wuchs förmlich über ihn hinaus und sah ihm in seine Augen. »Ja, ich liebe ihn. Mehr als alles in der Welt.« »So! Und für mich hast du gar nichts mehr übrig?« »Doch! Verachtung!« Da schlug die Geige klirrend zu Boden. Ehe Helene sich’s versah, hatte er sie mit brutalem Griff an sich gerissen. »Ich will nicht hinter dem andern zurückstehen! Glaubst du, das imponiert mir, wenn du hier so eine Art Madonna spielst? Ich weiß Bescheid, ich kenn dich bis in deine letzte Regung hinein, kenne dich viel besser als – der andere, und wenn du dem andern Weib bist, dann sollst du mir Geliebte sein.« Helene schrie auf. Gleichzeitig hob sie die Faust und schlug blind und mit aller Wucht zwei-, dreimal in das verzerrte Gesicht vor sich. In ratlosem Entsetzen irrte Helene durch den Park und bereute es bitter, nicht mit Rupert gefahren zu sein. Dann wäre ihr diese dunkle Stunde erspart geblieben. Sie saß auf einem niederen Mauervorsprung und starrte mit tränenverschwommenem Blick zum Haus hinüber. Sie sah das Mädchen Hanni mit dem Büberl auf dem Arm über den Hof gehen. Die Dogge trottete wie ein treuer Wächter nebenher. Wie hatte sie auch nur so unvorsichtig sein können, den Hund in den Zwinger zu tun. Sonst hatte sie ihn immer um sich, und Petri wäre dann wahrscheinlich die Lust vergangen, sie anzufassen. Alles ringsum war voller Frieden, nur manchmal kam, vom Windhauch getrieben, das Tuckern der Traktoren von der großen Ackerbreite herüber. In Helenes Herzen jedoch war banger Aufruhr. Nun konnte und durfte sie nicht mehr länger schweigen.
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Rupert mußte die Wahrheit erfahren und Petri mußte aus dem Haus, selbst wenn sie ihn mit der Dogge forthetzen müßte. Ja, so weit war es nun gekommen. Und doch hatte ihr dieser Mensch einmal so viel bedeutet. Und doch, wenn sie ihr jetziges Glück bedachte, dann konnte das andere niemals Liebe gewesen sein. Sie war ganz einfach geblendet gewesen von Petris glänzender Erscheinung und zugleich berauscht von der hohen Meisterschaft, mit der er seine Geige beherrschte. Sie war ihm ganz einfach hörig gewesen. Leider mußte sie sich das heute eingestehen. Sie hatte sich ganz einfach seinem Willen unterordnen müssen. Unter seiner Anleitung, und weil er es einfach forderte, hatte sie Unterricht im Klavierspiel genommen. Weil sie von Natur aus musikalisch war, war ihr dies nicht allzu schwergefallen. Aber Petri war dabei so unduldsam und unerbittlich. Vielleicht war er damals selber überzeugt, daß sie ihn einmal bei seinen Konzerten auf dem Flügel begleiten könnte, bis sich sein Herz an der jungen Cellistin Gina Tschandora entflammte. Da hatte er ihr schonungslos mitgeteilt: »Du spielst für den Hausgebrauch ganz nett, aber was wirklich Kunst ist in der Musik, das wirst du nie begreifen.« Bald darauf hatte er sie verlassen. Die Ironie des Schicksals konnte doch manchmal recht grausam sein. Die Welt war so groß, und ausgerechnet in diesen vergessenen Winkel mußte es den haltlos gewordenen Musikanten Alex Petri verschlagen. Das Licht der Sonne wurde schon golden. Die Traktoren kehrten in den Hof zurück. Feierabendstimmung weitete sich aus. Helene hatte Angst, in die Villa zurückzukehren, und begab sich auf den Hof, hielt sich dort auf, bis es dunkelte, brachte dann den Buben ins Bett und ließ die Dogge nicht mehr von ihrer Seite. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Petri ließ sich nirgends sehen. Er saß drüben beim Wirt, und es war schon ziemlich spät, als sie ihn dann mit Rupert zurückkommen hörte.
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Sie waren beide ein bißchen angeheitert, wie es schien. Ihr Lachen drang bis zu ihrem Schlafzimmer herauf, und Helene wußte es auf einmal nicht mehr, wie sie es Rupert beibringen sollte, daß Petri abreisen müßte. Am anderen Morgen erschien Rupert ein bißchen schuldbewußt am Frühstückstisch, nachdem er bereits auf der großen Breite droben gewesen war, wo sie gestern den Weizen angebaut hatten. »Entschuldige bitte, Helene, daß wir heute nacht ein bißchen laut gewesen sind. Ich traf Alex beim Hirschwirt und —« »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Rupert«, sagte Helene ruhig und überlegte krampfhaft, wie sie beginnen sollte, bevor Petri herunterkam. »Dann haben wir daheim auch noch eine Flasche getrunken«, fuhr Rupert fort, »und sind halt dann ins Erzählen gekommen, von früher, weißt du.« Helene hob die Augen und sah ihn an. »Von früher?« fragte sie lauernd. »Ja, ich hab dir doch erzählt, daß wir im Krieg beisammen waren. War ein toller Hecht, der Alex, und immer hinter den Röcken her.« »Ja, das sieht man ihm an«, antwortete sie mit verhaltener Stimme. »Und weil wir gerade bei Petri sind, – lieber Rupert – ich muß mit dir reden.« »Aber nein, wozu denn, Liebes. Ich weiß, er liegt dir nicht, und es war vielleicht nicht richtig, daß ich ihn eingeladen habe, so lange zu bleiben. Aber tröste dich, in etwa vierzehn Tagen – ich will ihn nur noch zu einer kleineren Treibjagd mitnehmen, weil ich es ihm versprochen habe, dann reist er ab.« Helene strich ein paar Brote und überlegte. »Es ist nicht, daß er mir nicht liegt, wie du sagst. Aber wenn er in kurzem doch abreist -« »Ja, doch, wir sprachen gestern auch darüber.« In diesem Augenblick betrat Alex Petri den Raum. Helene betrachtete ihn flüchtig und mußte denken, daß er sich in der kurzen 164
Zeit eigentlich recht gut erholt hatte. Er sah braungebrannt aus, der Säuferglanz aus seinen Augen war gewichen, das Haar war sauber gescheitelt, seine Haut duftete nach Rasierwasser. Kaum merklich zuckte es über seine rechte Braue hin, als er Helenes Blick auf sich gerichtet sah. Sonst aber war er beherrscht bis in die Fingerspitzen hinein, so, als wäre er nicht erst gestern von dieser Frau ins Gesicht geschlagen worden. »Na, alter Schwerenöter? Ausgeschlafen?« fragte ihn Rupert. »Ganz prächtig«, versicherte Petri. Dann verbeugte er sich artig vor Helene, die schnell eine Tasse vollschenkte, um ihm nicht die Hand reichen zu müssen. »Ich höre gerade, daß Sie in vierzehn Tagen abreisen wollen?« Petri sah sie kurz an. »Wollen? Ich muß wohl, denn länger darf ich Ihre Gastfreundschaft nicht mehr in Anspruch nehmen. Übrigens – ich möchte mich noch entschuldigen wegen gestern.« Helene wußte nicht recht, ob er das lärmende Trinken bis Mitternacht oder seine andere Entgleisung meinte. Immerhin atmete sie hörbar auf und beschloß, auch weiterhin zu schweigen, um Rupert nicht zu beunruhigen. Daß er ihr nicht mehr nahetreten konnte, dagegen wollte sie sich schon absichern. Im Ramschederhof stand der junge Bauer am Fenster. Seine Stirn war umwölkt, sein Gesicht umschattet. Hinten im Ofenwinkel saß die Klara mit ihrem Romanbüchlein. Draußen auf der Straße tummelte sich die ansehnliche Schar der Nachbarskinder im fröhlichen Spiel. War das ein Kreischen, Jauchzen und Singen. Dem Mann am Fenster aber schnitt es tief ins Herz. Plötzlich riß er das Fenster auf und schrie hinaus: »Macht keinen solchen Lärm da draußen! Schaut, daß ihr weiterkommt!« Er knallte das Fenster wieder zu, daß die Scheiben klirrten. Langsam legte die Klara ihr Büchlein weg. Dann fragte sie gelangweilt: 165
»Was hast du denn jetzt auf einmal? Machst einen Lärm, daß man gleich erschrickt!« »Ist ja auch wahr! Immer vorm Fenster, da plärren sie. Ich kann keine Kinder sehen!« Lächelnd lehnte sich Klara wieder zurück und meinte schnippisch: »Na, da bin ich aber froh, daß wir keine Kinder haben. Die armen Würmer wären ja direkt zu bedauern bei uns.« Mit diesen Worten hatte die Ramschederin ihren Mann auf das empfindlichste getroffen. Wie von einer Viper gestochen fuhr er herum. »Das ist ja das, was mich so aus dem Häusel bringt! Andere, die nix haben als Not, die haben das, was ich mir samt meinem Geld net kaufen kann. Ich möcht bloß wissen, für wen ich schufte und rackere. Aber das sag ich dir – ein Kind muß jetzt her, und gehe es, wie’s mag!« »Ja, freilich! Du brauchst es ja bloß anschaffen«, erwiderte die Klara schnippisch. »Meinst, daß ich eins beim Ärmel rausschütteln kann?« »Hör auf mit deinem dummen Gerede!« Ganz langsam stand die Klara auf, klappte ihr Buch zu und sah ihn an. »Ja, wie redest du denn eigentlich mit mir? Das möcht ich mir schönstens verbitten!« »Weil’s wahr ist! Überall, wo du hinschaust, kommt was Kleines nach, bloß bei uns net!« »Als wenn da ich was dafür könnt! Mußt halt warten. Andere sind schon zehn und zwölf Jahre verheiratet gewesen, bis auf einmal eins gekommen ist.« Max war schon wieder ganz ruhig geworden und von Klaras Worten einigermaßen getröstet. Sie betrachtete ihn argwöhnisch. Eines wunderte sie. So wild hatte sie ihren Max noch nie gesehen. Da mußte sie ihm schon einen Dämpfer aufsetzen, daß er in Zukunft wußte, woran er war. Sie stellte sich schmollend und sagte mit langsamer Betonung: 166
»Das möcht ich dir schon sagen, Max. In Zukunft plärrst mich nimmer so an! Wir sind das schwache Geschlecht und müssen gebührend behandelt werden, hat mir einer einmal gesagt. Ich kann dir’s ja sagen, der Herr Kriese war es, der mir das gesagt hat. Und der versteht sich auf die Sachen, weil er studiert hat. Überhaupt darfst du net vergessen, daß du bloß reingeheiratet hast.« »No ja, ich hab’s ja auch net so gemeint«, antwortete er kleinlaut. »Wenn du einen Anstand hättest, dann tätest du mir das jetzt abbitten.« Da nahm der gutmütige Lapp die Klara wieder in die Arme und bettelte um ein liebes Wort. Daß sie seine Küsse nur widerwillig duldete, ahnte der Max nicht. Nach einer Weile schob sie ihn von sich fort. »Wie war’s denn, Max, wenn du wieder einmal ins Wirtshaus hinüber gingst?« Max schaute drein, als wenn er aus den Wolken gefallen wäre. Das war das erstemal in seiner Ehe, daß die Klara ihn dazu aufforderte. Sonst gestattete sie ihm dieses Vergnügen nur sehr selten. Unschlüssig sah er sie an. »Ja, ja«, munterte sie ihn noch zusätzlich auf. »Geh nur ein bissel unter die Leute, daß du andere Gedanken kriegst.« »Weißt, heut bliebe ich aber viel lieber bei dir daheim«, meinte er und wollte sie wieder an sich ziehen. Verdrossen schob sie ihn von sich. »Siehst du, so bist du. Wenn ich einmal was haben will, dann sagst du das Gegenteil.« »Na ja, wenn du unbedingt meinst, dann geh ich halt.« Er schlüpfte in seine Joppe, griff nach seinem Hut und verließ kurz darauf das Haus. Die Klara sah ihm vom Fenster aus nach und schürzte verächtlich die Lippen.
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»So ein großes Mannsbild und doch bloß ein Waschlappen, Alles, was ich will, das tut er. Und ich hätte gern immer einen gehabt, vor dem ich Respekt hätte haben können.« Da fiel ihr Rupert Hiller wieder ein, und ein zorniger Zug kam in ihr Gesicht. Diesem hochmütigen Kerl konnte sie es nie vergessen, daß er ihre Liebe, die sie ihm so bereitwillig dargeboten hatte, nicht hatte nehmen wollen. Kaum war der Max um die Ecke beim Kramer Leibl verschwunden, huschte Eduard Kriese, der sich schon eine Zeitlang hinter dem Bienenhaus verborgen gehalten hatte, ins Haus. Als Max beim Hirschwirt in die Stube trat, hoben sie verwundert die Köpfe. »Da kommt aber heut ein seltener Besuch«, staunte der Brunner von Wies. »Darfst dir auch eine Halbe kaufen?« spottete der Angerer. Max lächelte nur und schob sich in eine Lücke zwischen die anderen hinter dem großen runden Ofentisch. »Wart, heut laß ich ihn ein bissel steigen«, raunte der Angerer seinem Nachbarn zu. Er wartete nur noch, bis der junge Ramscheder sein Bier vor sich stehen hatte, bedächtig den Schaum vom Rand blies und trank. Dann begann er: »Wie lang hast denn Erlaubnis kriegt heut? Hast den Hausschlüssel mit?« Der Ramscheder stellte mit Nachdruck seinen Krug nieder und antwortete mit verblüffender Ruhe: »Was geht denn dich das an, du Fretter?« »Ah, da schau her! Fretter sagt er zu mir! Das is ja gut«, ereiferte sich der Spötter. »Freilich hat nicht jeder so ein Sauglück wie du, daß er sich in einen so großen Hof hineinsetzen kann. Aber recht hast ! Gegen dich bin ich nur ein Fretter. Bloß eines hab ich dir voraus, du Protzenbauer. Bei mir daheim rede ich, und bei dir redet dein Weib. Und was die für eine freche Goschen hat, das weiß man ja.« »Angerer!« Der Max runzelte die Brauen. »Was denn, Ramschederbauer?« 168
»Tu net so leicht reden, sonst schlag ich dich in den Erdboden.« Ganz langsam und ruhig nahm der Max die Hand hoch. Aber da war schon der Wirt zur Stelle und zog ihm den Arm nieder. »Geht, Leut, seid’s doch gescheit! Wer wird denn gleich zuschlagen, Ramscheder?« »Der braucht bloß net so dumm daherreden.« Der Max beruhigte sich im übrigen aber sofort wieder. Der Angerer bezahlte und verließ bald darauf die Wirtsstube. »Wart nur, das brock ich dir schon ein, du Protzenbauer«, sprach er vor sich hin, als er den Weg zum Ramschederhof einschlug. Der Angerer wußte schon, was er wollte und wie er den Max treffen konnte. Daß die Klara mit dem Kurgast, dem Herrn Kriese, ein Techtelmechtel hatte, war schon lange kein Geheimnis mehr. Nur der Max war ahnungslos. Der Angerer schlich sich von hinten an das Fenster heran, horchte und spähte hinein. Da sah er die Klara und den Herrn Kriese seelenvergnügt in der Stube sitzen. Auf dem weißgedeckten Tisch standen Kaffee und Kuchen und allerlei sonstige Leckerbissen. »So, das werd ich ihm jetzt zeigen, dem Max«, kicherte der Angerer und zog sich lautlos zurück. Der Max hatte sich, nachdem der Angerer gegangen war, mit dem Brunner und dem Wirt zu einem Tarock zusammengesetzt. Da kam nach einer Viertelstunde der Angerer wieder und nahm am Tisch Platz. Ein Weilchen sah er dem Spiel zu, dann stupste er den jungen Ramscheder vertraulich gegen die Schulter. »Mußt entschuldigen, Max, daß ich dich vorhin ein bissel dumm angeredet hat. Ich bin halt so ein Mensch, der gern spöttelt.« Ohne das Spiel zu unterbrechen, antwortete der Max: »Wenn sich’s andere gefallen lassen, ist es mir wurscht. Wenn du mich noch mal so dumm anredest, dann schlag ich dich untern Tisch.«
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»Bevor du mich anrührst, wäre es gescheit, du tätest erst einmal einen andern aufmischen. Oder weißt du vielleicht gar net -« Der Wirt gab dem Angerer unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein und warf ihm einen Blick zu, der sagen sollte: Halt doch den Mund! Aber der Max hatte den Blick aufgefangen und wurde stutzig. Er legte die Karten weg und fragte: »Was soll ich wissen?« »Geh weiter, spiel zu«, drängte der Brunner. »Was ich wissen soll!« schrie der Ramscheder. »Geh, sei doch gescheit, Max. Gib doch auf den sein Gerede nix«, versuchte der Wirt zu beschwichtigen. Der Angerer lächelte boshaft. »So laßt mich’s doch sagen, wenn er es unbedingt wissen möcht, daß sein Weib und der Kurgast Kriese...« Weiter kam er nicht. Max hatte ihn mit eisernem Griff an der Brust gefaßt und zog ihn halb über den Tisch herüber. »Was ist mit meinem Weib? Was ist mir ihr, möcht ich wissen!« »Narrischer Teufel«, kreischte der Angerer unter dem harten Griff. »Laß mich doch aus und geh heim, dann siehst du gleich selber, was los ist.« Max wurde so weiß im Gesicht, als hätte man ihm Kalk hineingeschüttet. Dann ließ er den anderen los und ging mit schwerem Schritt hinaus. Mit einem Male wußte er jetzt, warum die Klara ihn heute unbedingt hatte forthaben wollen. Aber wenn das wirklich auf Wahrheit beruhte, was der andere ihm eben so höhnisch unter die Nase gerieben hatte, dann wehe ihr! Schon stand er vor seinem Hof. Ein kurzes Besinnen, dann nahm er den Ochsenfiesel, der immer an der Stalltür hing, und schlich sich durch den Stall in das Haus. Zuerst horchte er ein wenig an der Stubentür, dann drückte er rasch die Klinke nieder und trat ein. Die Stube war leer. Aber Max sah den weißgedeckten Tisch, sah die vielen Leckerbissen und roch den Zigarettenrauch. 170
Zugleich hörte er aus dem Nebenraum zärtliches Geflüster. Also doch! Der Angerer hatte ihn nicht angelogen. Sein Gesicht verzerrte sich, die sonst so gutmütigen Augen loderten in grimmigem Zorn. Mit hartem Griff drückte er die Klinke vom Nebenraum nieder und trat über die Schwelle. Mit einem Schreckensschrei sprang die Klara hoch. Herr Kriese zwirbelte verlegen an seinem Bärtchen und stand der Situation recht hilflos gegenüber. Aber nicht lange, denn der Max machte kurzen Prozeß und schlug mit seinem Ochsenfiesel auf ihn ein. Er schlug, wohin er gerade traf, bis ihm die Klara in den Arm fiel und ihn anschrie: »Bist du denn verrückt geworden?« »Wart zuerst, bis ich mit dem fertig bin!« Der Max wollte seine Lektion noch fortsetzen, doch Herr Kriese war mit bewundernswerter Schnelligkeit davongekommen und stürzte ohne Rock und Hut zur Tür hinaus. Der Max holte tief Atem und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann trat er auf Klara zu. »So, Herzerl, jetzt kommst du dran.« Doch bevor er den ersten Schlag anbringen konnte, drehte sich die Klara um und wollte durch die Hintertür entwischen. Aber mit einem schnellen Griff hatte er sie beim Rockzipfel erwischt und zerrte sie zurück. »So laß mich doch aus!« zeterte die Klara. »Ja, wart nur, gleich laß ich dich aus!« lachte der Max höhnisch und maß ihr die ersten Hiebe über. Zuerst schrie die Klara jämmerlich auf, dann warf sie schnell zwischen dem zweiten und dritten Schlag die Frage ein: »Bist du denn von Gott verlassen?« »Nein, der liebe Gott hat mich net verlassen. Aber du hast mich verlassen! Dir treib ich deine Flausen schon noch aus, da paß auf.« Und er schlug weiterhin auf sie ein, bis sie händeringend bettelte, daß er aufhören solle. Max warf den Ochsenfiesel in die Ecke, ging zufrieden aus der Kammer und drehte den Schlüssel um. 171
»So«, sagte er durch die geschlossene Tür hindurch. »Da kannst du jetzt nachdenken drinnen, meinetwegen bis morgen früh. Und daß du es weißt, von heute an bin ich hell geworden. Mich führst du nimmer hinters Licht. Von heute an geschieht bei uns nur noch das, was ich haben will.« Dann nahm er sich aus dem Wandschränkchen eine Zigarre – was er sonst nur mit Klaras Erlaubnis hatte tun dürfen – und stapfte wieder zum Wirt hinüber. Bei seinem Eintreten sahen sie ihm alle gespannt ins Gesicht. So, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, setzte er sich wieder an seinen Platz und nahm die Karten auf. »Es werd doch nix passiert sein bei dir daheim?« fragte der Wirt besorgt. »Ich hab’s ihr schon richtig besorgt«, lächelte der Max. »Hoffentlich hilft’s was«, meinte der Angerer. »Ich glaub, daß es hilft. Wenn net, kann ich ja noch ein bissel nachhelfen.« Und es hatte geholfen. Von diesem Tag an hatte der Max das bravste Weib, das er sich nur denken konnte. Eduard Kriese aber reiste am anderen Tag mit dem ersten Frühzug ab und kehrte nie wieder in das schöne Tal zurück. Der Max blieb an jenem verheißungsvollen Tag, an dem ihm die Augen geöffnet worden waren, bis weit nach Mitternacht sitzen und hielt auch den Angerer noch zechfrei. »Du bist schuld, daß ich meiner Frau auf die Schliche gekommen bin, drum sauf nur, für dich reut mich heut gar nichts!« Als der Max heimkam hörte er die Klara hinter der Tür betteln, daß er sie herauslassen möchte. Einen Augenblick besann er sich, wollte den Schlüssel schon umdrehen, zog aber dann die Hand wieder zurück. »Bleib nur drin bis morgen früh. Da hast du dann schön Zeit zum Nachdenken. Gute Nacht, mei liab’s Weiberl.« An einem Abend stand drüben bei der Fichte im Garten des Gutshofes ein einsamer Mensch.
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Ruhelos stritten hinter der Stirn Alex Petris die Gedanken. So konnte es auf die Dauer nicht mehr weitergehen. Er befand sich jetzt in einem Zustand dauernder Spannungen. Eigentlich müßte ich gehen, dachte er manchmal. Ganz still müßte ich aus diesem fremden Paradies hinausgehen und dürfte nicht warten, bis ich daraus vertrieben werde. Die andere Stimme aber forderte ihn zum Bleiben auf und warf alle guten Vorsätze wieder über den Haufen. Es verletzte ihn tief, daß Helene ihn so vollständig ignorierte. Hatte er denn wirklich alle Macht über sie verloren? War ihm überhaupt keine Macht über Frauen mehr gegeben? Ganz zwangsläufig richtete sich sein Zorn gegen Rupert. Wäre er nicht hier, dann würde sich für ihn alles anders entwickelt haben. Das merkwürdige dabei war, daß ihm Helene noch nie so begehrenswert erschienen war wie jetzt. Einst hatte er in ihr ein unerfahrenes, blindgläubiges Geschöpf in den Armen gehalten. Jetzt hatte sich Helene zur vollen fraulichen Schönheit entwickelt. Wenn sie sich über ihr Kind beugte, leuchtete ihr Gesicht fast überirdisch schön vor Mutterglück. Auch wenn ihr Mann nach Hause kam, leuchteten ihre Augen. Nur für ihn hatte sie keinen Blick, kein gutes Wort. Von diesem Tage ab begann Petri mit der gleichen Glut Rupert zu hassen, mit der er sich aufs neue in Helene verliebte. Helene erschrak, wenn sie den flackernden Blick sah, mit dem er Rupert oft verfolgte. Auch Rupert fiel das veränderte Wesen Petris auf. Beim Mittagessen fragte er ihn einmal: »Fehlt dir etwas, Alex? Du siehst in letzter Zeit erbärmlich aus. Oder hast du Liebeskummer?« Das sollte humorvoll klingen. Aber Petri lachte darüber so verzerrt auf, daß Rupert und Helene sich verwundert ansahen. »Du scheinst in der Tat krank zu sein, Alex«, meinte Rupert bekümmert. »Das Faulenzerleben sagt dir wahrscheinlich nicht zu.
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Aber ich weiß schon, was ich machen muß, um dich aufzumuntern. Morgen gehst du mit mir zur Jagd.« Petri zuckte kaum merklich zusammen. Ein furchtbarer Gedanke war in ihm erwacht und ließ ihn nicht mehr los. »O ja, die Berge – die Luft wird mir sicher guttun«, sagte er langsam, während seine Gedanken weiterarbeiteten. Vor seinen Augen sah er einen schmalen Weg und eine schwindelnde Tiefe. Weiter dachte er nicht mehr. Mit Gewalt versuchte er, diese Gedanken zu verscheuchen. Aber nachts, als er sich ruhelos im Bett wälzte, da kamen sie wieder. Einer ist zuviel von uns beiden. Mag das Schicksal entscheiden, wem es gilt, mir oder ihm. Am anderen Vormittag brachen sie auf, um für acht Tage ins Gebirge zu gehen. Helene gab ihnen bis vor den Gutshof das Geleit. Sie führte den kleinen Karl Rupert an der Hand. Als sie dann von Rupert Abschied nahm, mußte sich Petri abwenden. Ihn küßt sie und für mich wird sie wieder weiter nichts übrig haben als ein hochmütiges Neigen des Kopfes. Aber ich werde sie schon noch zwingen. Ich werde herrschen über sie, die Stolze – die Herrschsüchtige. Rupp hob den Buben zu sich empor und küßte ihn. »Leb wohl, mein kleines Herzkindl, und folge brav der Mama!« Die beiden Männer schritten dann rasch aus und verschwanden nach einer Viertelstunde bereits im Bergwald. »Ich möchte dir von Herzen wünschen, Alex, daß du auch einmal so ein schönes Glück erleben dürftest«, sagte Rupp einmal. Alex Petri blieb darauf die Antwort schuldig. Am Abend desselben Tages standen Rupp, Petri und Florian Gerstäcker auf einem Berggipfel und genossen den schönen Rundblick. Vor ihnen eine gähnende Tiefe mit den geheimnisvollen Schatten der Dämmerung. Nur die Spitzen im weiten Umkreis leuchteten noch im letzten Sonnenlicht.
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Ruperts Gedanken gingen hinunter ins Tal, aus dem man die Abendglocken läuten hörte. Was seine Gedanken bewegte, sprach er aus. Ganz leise sagte er, wie unbewußt: »Jetzt wird Helene meinen kleinen Buben ins Bett bringen – dann wird sie sich ans Klavier setzen und spielen. Vielleicht die Klosterglocken- das spielt sie immer so schön. Kennst du dieses Stück?« Diese Frage war an Petri gerichtet. Dessen Gesicht war furchtbar entstellt. Seine Augen glänzten wie im Fieber, die Stimme klang hohl: »Dieser Abgrund hier gibt wohl keinen mehr lebend zurück?« Rupp drehte sich um und sah ihn erstaunt an. »Na, erlaube einmal, mein Lieber, das ist doch keine Antwort auf meine Frage! Und wie du ausschaust, Junge! Man möchte meinen, du hättest wahrhaftig die Absicht, dich hier hinunterzustürzen.« Petri lachte schrill auf. »Ich mich? Nein! Ich will leben! Ich möchte auch so glücklich werden, wie du es bist.« Er machte dabei mit der Schulter eine Bewegung gegen Rupert hin. Da trat Gerstäcker dazwischen. Wie ein Schraubstock umklammerte er Petris Arm. Petri lächelte sonderbar und sagte: »Was denn, was denn, was denkt ihr denn?« Er lächelte wieder. »Wollen wir nicht gehen?« Schweigsam legten die drei den Weg zur Jagdhütte zurück, wo das Gittli schon mit dem Abendbrot auf sie wartete. Für den anderen Morgen hatte man eine Frühpirsch anberaumt, und deshalb suchte man an diesem Abend beizeiten das Lager auf. Nur Gerstäcker stand sinnend vor der Hütte und machte sich seine Gedanken. Es ließ sich nicht abstreiten, daß dieser Fremde irgend etwas gegen Rupert im Schilde führte. Er nahm sich vor, die Augen besonders offenzuhalten. 175
Am Morgen aber war Petri so heiter und lustig, daß Gerstäcker seinen Verdacht wieder fallenließ. Langsam stiegen die drei empor, bis Rupp Alex an einem Platz aufstellte, wo das Wild durch mußte, wenn es Gerstäcker vom linken Höhenrücken heruntertrieb. Rupp wollte noch ein Stück höher steigen. Er reichte Alex die Hand. »Also, Weidmannsheil!« Petri lächelte wieder so sonderbar, als er den Gruß erwiderte. Die drei trennten sich wenige Minuten später voneinander. Gerstäcker stieg höher hinauf, trat dann ein wenig aus der Deckung heraus und sah wie zufällig zurück nach der Stelle, wo Petri stehen mußte. Doch er sah nichts mehr von ihm. Gerstäcker nahm das Glas an die Augen und suchte das Gelände ab. Vergeblich. Von Petri keine Spur. Mit mächtigen Sätzen rannte Gerstäcker zurück. Als er Petri nicht fand, beschloß er, Rupert nachzueilen und ihn von dem sonderbaren Benehmen seines Freundes Mitteilung zu machen. Um schnell zu ihm zu gelangen, durchquerte er ein Dickicht, um dann über das Geröllfeld schneller an Ruperts Platz zu kommen. Bevor er das Dickicht verließ, untersuchte er das Gelände nochmals mit dem Glas. Rechts von ihm eine steil aufsteigende Wand, mit einem schmalen Steig, links das Geröllfeld und Latschen. Von Rupert und Petri keine Spur. Schon wollte Gerstäcker das Glas wieder sinken lassen, da gewahrte er, daß sich hinter einem Felsblock etwas rührte. Bei näherem Betrachten sah er, wie sich ein Gewehrlauf hinter dem Felsstück hervorschob und sich in Richtung der Felswand richtete. Gerstäcker sah dorthin und erschrak bis ins Herz. Dort oben auf dem Steig kam ganz langsam Rupert Hiller. Gerstäcker schnellte vom Boden auf und hetzte mit rasenden Sprüngen auf Petri zu. Petri hätte die hastenden Schritte hören müssen, aber er hatte sich dermaßen in seinen Haß verbohrt, daß er nichts mehr sah und hörte. Nur den da oben, der mit ruhigen, sicheren Schritten über 176
den Steig heraufkam, den sah er. Petri nahm ihn scharf ins Visier, sein Finger krümmte sich, da wurde ihm das Gewehr hochgeschlagen. Krachend fuhr der Schuß in die Luft. Rupert, aufs höchste erschrocken, duckte sich unwillkürlich. Dann sah er unten auf dem Geröllfeld zwei ringende Menschen. Wenige Minuten später riß er Gerstäcker, der Petris Hals umklammert hatte, zurück. »Was soll das bedeuten, Flori?« Gerstäcker richtete keuchend sein aufgerissenes Hemd, dann schrie er: »Der Lump da – wegräumen hat er Sie wollen.« »Aber Flori, du träumst wohl«, lachte Rupp. Aber dieses Lachen erstarrte ihm auf den Lippen, als Petri emporschnellte und mit lauter Stimme schrie: »Nein, recht hat er ! Ich habe dich wegräumen wollen – weil ich – dich hasse!« Rupert trat betroffen einen Schritt zurück. Sein Gesicht verfärbte sich. »Du bist wohl nicht mehr bei Sinnen?« »O doch! In mir war es noch nie so klar wie jetzt! Schau mich nur nicht so entgeistert an! Ich hasse dich um Helenes willen ! Sie hat erst mir gehört, und du hast sie mir weggenommen.« Über Ruperts Antlitz flog ein Zittern. Mit einem stahlharten Griff packte er den andern an der Brust. »Und Helene? Liebt sie dich? Die Wahrheit sag mir!« »Nein, dich liebt sie – und deshalb hasse ich dich.« Rupert schleuderte Alex dröhnend zu Boden. »Das also ist der Dank, daß ich dich bei mir aufgenommen habe! Verworfener du!« Er wandte sich voll Abscheu ab und sagte zu Gerstäcker: »Geh einstweilen zur Hütte, Flori. Ich muß mit dem da noch ein Wort sprechen. Von allem aber, was vorgefallen ist, sage zu niemand ein Wort. Auch zu Gittli nicht. Das muß unter uns bleiben.« »Das ist ganz selbstverständlich, wenn Sie es von mir verlangen.« 177
Dann drehte Rupp sich um und ging zu Petri zurück, der sich inzwischen mühsam vom Boden aufgerappelt hatte. Das erste, was Rupp tat, war, daß er Petris Gewehr an sich nahm und die Patronen herausholte. Dann sah er ihn durchdringend an und sagte: »Nun hör zu, was ich dir zu sagen habe. Das, was du tun wolltest, soll jetzt nicht zur Debatte stehen. Das, was du wirklich getan hast, bleibt unter uns. Wir gehen heute abend zurück, und du wirst morgen früh abreisen, ohne daß Helene von der ganzen Sache etwas erfährt. Und nun etwas anderes : Wann war das, als Helene dir gehört haben soll?« Petri blickte verwirrt zu Boden. »Du brauchst mich nicht anzulügen. Ich kann die Wahrheit vertragen. Helene erzählte mir einmal, daß sie von jemand enttäuscht worden sei. Ich stelle nun die Frage an dich, ob du es warst?« »Ich glaube, daß ich es war«, gab Petri zerknirscht zu, hob dann schnell die Augen und fügte hinzu: »Das ist allerdings schon ziemlich lange her.« »Das interessiert mich nicht, wann es war, weil es der Vergangenheit angehört. Ich glaube aber nun doch, daß es besser ist, wenn du ihr nicht mehr begegnest, deshalb rate ich dir, Wildreut nicht mehr zu betreten. Am besten ist es, du begibst dich gleich von hier aus zur Bahn.« Am anderen Morgen war Petri verschwunden. »Er ist abgereist«, sagte Rupert. Dasselbe sagte er auch zu Helene am gleichen Abend. Doch diese fühlte sofort, daß zwischen ihrem Mann und Alex etwas vorgefallen sein mußte. So war ein Jahr vorübergegangen. Eines Tages erhielt Rupert einen Brief, der folgendermaßen lautete: »Lieber Rupert! Heute erst bin ich soweit, daß ich es wagen kann, an Dich zu schreiben, ohne dabei das Gefühl einer Beschämung haben zu müssen. Vor allem muß ich Dir danken für alles, was Du an mir getan hast. Auch mein Glück habe ich dir zu danken. Doch davon später. An Hand der beigelegten Zeitungsartikel 178
wirst Du sehen, daß ich mich selbst wieder gefunden und den Weg in die Konzertsäle wieder erobert habe. Mit dem von Dir mir so großzügigerweise zur Verfügung gestellten Kapital war das Beginnen leichter. Mit Schaudern kann ich heute nur mehr zurückdenken an meine unselige Verwirrung, die mich beinahe zum Mörder an Dir hätte werden lassen. Ich weiß nicht, ob ein anderer als Du so großzügig hätte handeln können. Doch wie die Zeit über alles Gras wachsen läßt, so hoffe ich, daß auch Du eines Tages vergessen haben wirst, was ich Dir habe antun wollen. Heute darf ich Dir nun auch mitteilen, daß ich einen treuen, verlässigen Kameraden gefunden habe. Wir werden demnächst heiraten. Ich glaube mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, daß auch mich so ein Glück erwartet, wie Du es gefunden hast. Außerdem bin ich heute bereits in der Lage, Dir einen Teil von dem geliehenen Geld zurückzuzahlen. Ich überweise es mit gleicher Post an Deine Bank. Ich weiß nicht, wie Du darüber denkst, aber ich würde Dir sehr gerne auch herzliche Grüße an Helene auftragen. Sage ihr, daß ich sie bitte, sie möchte mir nichts mehr nachtragen. Dich, mein guter Freund, grüße ich ganz besonders. Mit den besten Wünschen für das ganze Haus verbleibe ich Dein ewiger Schuldner Alex Petri.« Mit diesem Brief ging Rupert zu Helene, die mit dem Kind auf einer Bank hinter dem Gutsgebäude saß. Zunächst wußte er nicht recht, wie er es ihr beibringen sollte. Bisher war der Name Petri wie auf eine geheime Verabredung hin nie mehr zwischen ihnen gefallen. Helene hatte auch nie von Rupp erfahren, was sich da oben im Jagdrevier abgespielt hatte. Lange lag dieses Schweigen zwischen ihnen, wie eine drückende Last. Dann aber begriff Helene langsam, daß es im Leben Dinge gibt, die eben verschwiegen sein wollen für immer. Rupert nahm den Kleinen auf den Schoß, spielte eine Weile mit ihm und griff dann so ganz nebenbei in seine Tasche.
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»Ach, nun hätte ich es beinahe vergessen. Da ist heute ein Brief gekommen, von Alex Petri.« Er sah wohl, wie sie bei diesem Namen leicht zusammenzuckte. Aber dann nahm und las sie den Brief. Als Helene damit fertig war, holte sie tief Atem. Ganz langsam faltete sie ihre Hände im Schoß zusammen, geradeso, als ob sie beten wollte. Dann sah sie ihrem Mann in die Augen. Da legte er den Arm um ihre Schultern und erzählte ihr alles, was er geglaubt hatte, für ewig verschweigen zu müssen. Und als er geendet hatte, schlang sie die Arme um seinen Hals und hatte Tränen in den Augen. »Nun glaube ich, lieber Rupp, kommt nichts mehr zwischen uns.« Purpurn ging die Sonne unter und tauchte die Mauern des Gutshofes und die drei Menschen noch einmal in ihr mildes Licht. Als die Glocke im Dorf den Abendgruß zu läuten begann, standen sie auf, nahmen den kleinen Karl Rupert in ihre Mitte und schritten zusammen ins Haus. ENDE
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