Nr. 375
Die Zeitpanne Der kosmische Kundschafter im alten Rom von H. G. Ewers
Pthor, der Kontinent des Schreckens, ha...
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Nr. 375
Die Zeitpanne Der kosmische Kundschafter im alten Rom von H. G. Ewers
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Brangeln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrückten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Während Atlan sich aus der Dimensionsschleppe den Weg zurück erkämpft und zur FESTUNG gelangt, wo er die Odinssöhne als Herren über Pthor ablöst, blenden wir um zu den weiteren Erlebnissen Algonkin-Yattas, des kosmischen Kundschafters, der zusammen mit Anlytha, seiner Gefährtin, Atlans Spuren durch Zeit und Raum verfolgt. Im Zuge dieser Verfolgung passiert eines Tages DIE ZEITPANNE …
Die Zeitpanne
3
Die Hautpersonen des Romans: Algonkin-Yatta - Der kosmische Kundschafter auf Atlans Spuren. Anlytha - Algonkins exotische Gefährtin. Dorstellarain - Der Clanoc macht Karriere im alten Rom. Marcus Aurelius - Römischer Imperator.
1. Das Objekt tauchte so plötzlich vor dem Kundschafterschiff auf, daß weder Algonkin-Yatta noch die Psiotronik rechtzeitig reagieren konnten. Ja, der Kundschafter von Ruoryc war nicht einmal in der Lage, zu erkennen, um was für ein Objekt es sich handelte. Anlythas vogelhaftes Kreischen erfüllte die Zentrale des Kundschafterschiffs, während es mit dem Bauch über etwas schrammte und während das Licht erlosch, weil die Psiotronik alle verfügbare Energie zur negativen Beschleunigung verwendete. Algonkin-Yatta blieb reglos vor den Kontrollen sitzen. Er wußte, daß er in Notsituationen wie dieser zur Untätigkeit verurteilt war. Er war sich klar darüber, daß, wenn überhaupt, nur die Psiotronik etwas zur Rettung des Kundschafterschiffs und damit auch zu seiner eigenen Rettung und zur Rettung seiner Begleiterin tun konnte. Diesmal aber schien sogar der ungeheuer leistungsfähige Ableger von MYOTEX machtlos gegen die Gewalten zu sein, die durch die Kollision entfesselt worden waren. Ein Schlag vermittelte Algonkin-Yatta den Eindruck, ein Gleiter würde mit voller Geschwindigkeit gegen seinen Hinterkopf prallen, so daß er sich für tot hielt, als sein Bewußtsein ihm entglitt. Aus dem gleichen Grund rührte er sich auch nicht, als er nach unbestimmter Zeit den Eindruck hatte, als erwachte er aus einer längeren Bewußtlosigkeit. Da er glaubte, daß sein Schädel zertrümmert worden sei, mußte er annehmen, daß es sein körperloses Bewußtsein war, das nach seinem Tode weiterlebte. Ein Schlag gegen sein Nasenbein und das
von seinem Bewußtsein registrierte reflektorische Hochrucken seiner Arme zerstörten die Illusion. Seine Hände bekamen etwas zu fassen, das unzweifelhaft ein Stiefel war, in dem ein Fuß steckte – ein weiblicher Fuß, denn der Stiefel war zu klein für einen erwachsenen Mann. »Anlytha!« Mit bebenden Fingern zog er den für seine Körperkräfte federleichten Körper ganz zu sich heran und tastete Gesicht und Hinterkopf vorsichtig ab. Sein Herz blieb sekundenlang stehen, als er keine Verletzung feststellte. Er wagte nicht zu hoffen, daß Anlytha nichts Ernsthaftes zugestoßen sei. Doch dann regte sich seine Begleiterin. Es war nur ein schwaches Zucken, das über ihren Körper lief, dann hielt sie ganz still, aber nur, um im nächsten Augenblick wild um sich zu schlagen. Algonkin-Yatta spürte die Tritte und Schläge nicht. Er lachte, glücklich darüber, daß seine Begleiterin so offenkundig quicklebendig war. Es dauerte nicht lange, bis Anlytha ihn an seinem Lachen erkannte und ihre sinnlose Gegenwehr einstellte. Nach einem empörten Schnaufer sagte sie: »Ich weiß nicht, was es zu lachen gibt, Algonkin. Du hast mir schließlich einen Schrecken eingejagt. Zuerst dachte ich, ein Ungeheuer hielte mich in seinen Pranken gefangen. Warum läßt du mich eigentlich nicht los?« Der Kundschafter lockerte seinen Griff etwas, hielt Anlytha aber weiterhin fest. »Wir befinden uns im Zustand der Schwerelosigkeit«, erklärte er. »Jede abrupte Bewegung könnte dich davonfliegen und gegen eine Wand der Zentrale prallen lassen.«
4 Er runzelte die Stirn, denn in seinem Bewußtsein tauchte die Frage auf, ob Anlytha und er sich überhaupt in der Zentrale des Kundschafterschiffs befanden. Sie schwebten in absoluter Dunkelheit, so daß sich diese Frage nicht durch optische Beobachtung beantworten ließ. Er griff nach der Handlampe, die für gewöhnlich in einer Magnethalterung seines Gürtels hing. Sie war nicht dort. »Ich habe eine Lampe«, sagte Anlytha. Sie mußte seine Bewegung gespürt und richtig gedeutet haben. Aber ihre Stimme hatte eigentümlich flach geklungen. Demnach zweifelte auch Anlytha daran, daß sie sich in der Zentrale des Kundschafterschiffs befanden. »Schalte sie ein, bitte!« sagte Algonkin-Yatta. Der Lichtkegel wirkte nach der langen absoluten Dunkelheit wie der Blitz einer Explosion. Unwillkürlich kniff Algonkin-Yatta die Augen zusammen, dann blickte er dem weißen Kegel nach und musterte die Flächen, über die er wanderte und die sein Licht unterschiedlich reflektierten. Die Ahnung wurde zur Gewißheit. Sie befanden sich nicht in der Zentrale des Kundschafterschiffs, sondern in einem quaderförmigen großen Raum mit polierten Wänden aus Stahlplastik oder schwarzem Fels, mit zahlreichen unterschiedlichen Nischen und zahlreichen eingelassenen Symbolen oder Figuren aus verschiedenen Edelmetallen und großen Kristallen. Algonkin-Yatta blickte zu Anlytha und sah im Widerschein des Lichts, daß der kleine weiße Federkamm seiner Begleiterin sich hochgestellt hatte. »Wo sind wir?« flüsterte sie beklommen. »Und wo ist das Schiff?« »Das sind nur zwei von vielen Fragen, die sich uns stellen«, erwiderte der Kundschafter. »Ich bin schon sehr gespannt auf die Antworten, die wir finden werden.« »Willst du etwa …?« kreischte Anlytha entsetzt, verstummte und fuhr dann leise fort: »… etwa in diesem unbekannten Ge-
H. G. Ewers spensterschloß herumirren? Ich fühle, daß unsere Umgebung von den schwarzen Schatten unheimlicher Wesenheiten wimmelt!« »Gegen Schatten hilft Licht«, entgegnete der Kundschafter. »Außerdem, willst du etwa darauf verzichten, in den kostbaren Geschmeiden und anderen Kleinodien zu wühlen, die es hier haufenweise geben wird?« Anlythas Hände fuhren unwillkürlich an den breiten schwarzen Gürtel, der ihre silberfarbene Raumkombination in Taillenhöhe umspannte. Die zahlreichen daran befindlichen Taschen waren leer, doch das gierige Funkeln in Anlythas Augen verriet, daß sie entschlossen war, diesen Zustand baldmöglichst zu ändern. »Worauf warten wir noch, Algonkin?« stieß sie hervor.
* Algonkin-Yatta ließ sich von Anlytha die stabförmige Lampe geben. Systematisch suchte er mit Hilfe des Lichtkegels die Stellen in den Wänden ab, die er bei der ersten Betrachtung als denkbare Positionen von verborgenen Türen oder Schotten eingestuft hatte. Nach einiger Zeit vermerkte er ärgerlich, daß seine Konzentration zu wünschen übrig ließ. Zu viele verschiedene Gedanken beschäftigten ihn. Er fragte sich, auf welche Art und Weise Anlytha und er von dem Kundschafterschiff getrennt worden waren, er fragte sich, warum weder er noch Anlytha bei der Kollision mit dem unbekannten Objekt verletzt worden waren, obwohl er doch einen Schlag verspürt hatte, der nur von einem harten Aufprall herrühren konnte – und er fragte sich, ob er nicht doch tot sei und die vermeintlichen Wahrnehmungen und Aktivitäten nur Resultate seines vom Körper gelösten Geistes seien. Ein Tritt gegen das linke Schienbein riß ihn aus seinem Grübeln. »Was ist los mit dir?« fragte Anlytha. »Schläfst du mit offenen Augen?«
Die Zeitpanne Algonkin-Yatta seufzte abgrundtief, dann sagte er: »Ich habe nachgedacht.« »Wozu hat dein Schiff eine Psiotronik, die viel besser nachdenken kann als jedes organische Lebewesen?« fragte Anlytha vorwurfsvoll. Der Kundschafter musterte die Stelle seines rechten Unterarms, an dem bei Exkursionen sein Kommandogerät befestigt zu sein pflegte. Bei dieser Exkursion fehlte es. Allerdings war sie auch nicht geplant gewesen. »Hast du dir den Kopf angeschlagen, Algonkin?« erkundigte sich Anlytha verwundert. »Warum benutzt du nicht dieses Ding oberhalb deiner Hirnanhangdrüse?« Der Kundschafter konzentrierte sich auf den bimolekularen Auslöser des mikrominiaturisierten Duplikats seines Kommandoarmbands. Es vermochte psionische Impulse aufzufangen und in die normalen Hirnimpulse von Mathonern umzuwandeln – und umgekehrt. Dadurch stellte es das ideale Kommunikationsorgan mit jeder Psiotronik dar. Nur war die Leistungsfähigkeit eben begrenzt. Deshalb wunderte sich Algonkin-Yatta nicht übermäßig, als keine Verbindung mit der Psiotronik seines Kundschafterschiffs zustande kam. »Offenbar ist das Schiff zu weit entfernt«, erklärte er seiner Begleiterin. »Wir werden uns also bewegen müssen, wenn ich der Psiotronik meine Probleme unterbreiten will.« Ohne weitere Worte klemmte er sich Anlytha unter den linken Arm, aktivierte sein Flugaggregat und steuerte eine zirka zwei mal vier Meter, große, halbmetertiefe Nische an, an deren Rückwand er ungefähr dreißig punktförmige Stellen entdeckt hatte, die das Licht von Anlythas Lampe reflektierten. Und wieder verfiel er ins Grübeln. Aber diesmal ließ er nur die Ereignisse an seinem geistigen Auge vorüberziehen, die ihn und seine Begleiterin schließlich in diese Lage getrieben hatten.
5 Durch puren Zufall hatte er vor langer Zeit auf dem Planeten Perpandron von einem Sterbenden einiges über einen Arkoniden gehört, der als Kristallprinz von Arkon für sein Recht kämpfte, das Amt des Imperators über das Große Imperium zu übernehmen, dadurch den Usurpator Orbanaschol zu stürzen und seinem Volk die ersehnte Freiheit zu geben. Was Algonkin-Yatta über das Verhalten des Arkoniden Atlan erfuhr, machte diesen mutigen und ritterlichen Mann in den Augen des Kundschafters zu einem strahlenden Helden des Kosmos – und Algonkin-Yatta faßte den Entschluß, von seinem vorgegebenen Kundschafterkurs abzuweichen und nicht eher wieder auf ihn zurückzukehren, bis er Atlan gefunden und mit ihm gesprochen hatte. In der Praxis hatte sich die Suche nach Atlan dann als erheblich schwieriger herausgestellt, als Algonkin-Yatta ursprünglich annahm. Der Kundschafter und seine Begleiterin waren in zahlreiche, oft lebensgefährliche Abenteuer verwickelt worden. Einige Male hatte ihre Suche sie relativ dicht an Atlan herangebracht, aber jedesmal waren sie durch Verkettungen unglücklicher Zufälle zu spät gekommen. Sie hatten dabei alle möglichen Intelligenzen, zahlreiche kosmische Zivilisationen, deren Vermächtnisse und viele Rätsel und Geheimnisse kennengelernt. Irgendwann kam der Kundschafter unter mysteriösen Umständen in den Besitz der Zeitkapsel, die zuvor großes Unheil über Welten und Völker gebracht hatte. Algonkin-Yatta bereitete dem unheilvollen Einfluß ein Ende, benutzte die Zeitkapsel für die weitere Suche nach Atlan und traf eines Tages mit Loggy zusammen, dem ehemaligen Kontrollelement eines Zeitauges. Loggy schloß Freundschaft mit AlgonkinYatta und half ihm bei seinen Exkursionen durch die Zeit. Bei einer dieser Exkursionen geriet die Zeitkapsel in den temporären Wirbel eines unheimlichen Objekts und wurde dorthin geschleudert, woher dieses Objekt
6 gekommen war – in eine andere Zeit und zu einem Planeten, den seine Bewohner Erde oder auch Terra nannten. Es kam zu einem Unfall. Der Kundschafter geriet bewußtlos in die Gewalt der Terraner, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn sich nicht eine verbrecherische Organisation seiner Zeitkapsel bemächtigt und ihn selbst entführt hätte. Glücklicherweise befand sich Loggy unentdeckt in der Zeitkapsel und steuerte sie in die Zeit zurück, in der Anlytha mit dem Kundschafterschiff wartete. Als Anlytha von dem unglaublichen Vorfall erfuhr, stufte sie die Menschheit pauschal als Schurkengesellschaft ein und begab sich heimlich auf die Erde und in die Zeit, in der Algonkin-Yatta dort gefangengehalten wurde. Es gelang ihr anfangs, die Solare Abwehr und die Mutanten der Erde zu täuschen. Glücklicherweise blieb das nicht so, denn als Anlytha das Nest der Verbrecher im Alleingang ausheben wollte, war ihr die Solare Abwehr dicht genug auf den Fersen, um im letzten Augenblick als rettender Engel einzugreifen. Algonkin-Yatta und Anlytha lernten anschließend die angenehme Seite der Menschheit kennen. Sie schlossen Freundschaft mit Perry Rhodan und erfuhren von Atlantis und davon, daß Atlan verschollen war, seitdem er nach Atlantis aufgebrochen war. Und sie erfuhren, daß das unheimliche Objekt, in dessen Wirbel die Zeitkapsel geraten war, nichts anderes als das Neue Atlantis gewesen war und daß dieses Neue Atlantis mit unbekanntem Ziel verschwunden war, ohne daß jemand auf der Erde etwas über Atlans Schicksal ahnte. Mit Hilfe von Messungen, die Algonkin-Yatta dort vornahm, wo das Neue Atlantis aufgetaucht und wieder verschwunden war, ließen sich die Gesetzmäßigkeiten ermitteln, nach denen das Neue Atlantis sich zwischen den Dimensionen fortbewegte. Algonkin-Yatta und Anlytha verabschiedeten sich von Perry Rhodan und ihren an-
H. G. Ewers deren terranischen Freunden und folgten mit dem Kundschafterschiff der Spur von Atlantis. Der Kundschafter gelangte in die Galaxis Wolcion und erfuhr nach Abenteuern mit fremden Intelligenzen, daß das Neue Atlantis vermutlich auf einem Planeten namens Loors gestrandet sei. Eine langwierige Suche begann, ein Wettlauf mit der Zeit in doppelter Bedeutung. Aber dank der Zähigkeit und dem kosmonautischen Können Algonkin-Yattas wurde Loors schließlich doch gefunden. Allerdings waren in der Zwischenzeit auf dem Neuen Atlantis Entwicklungen eingetreten, die zum Gewaltstart des unheimlichen Objekts geführt hatten. Als der Kundschafter über Loors auftauchte, zeugte nur noch eine große häßliche Narbe in der Oberfläche des Planeten davon, daß darauf einmal das gigantische Gewicht eines Inselkontinents gedrückt hatte. Und bei seinen Messungen mußte Algonkin-Yatta feststellen, daß das Neue Atlantis sich nicht mehr nach den alten Gesetzmäßigkeiten zwischen den Dimensionen bewegte. Das bedeutete eine zusätzliche Erschwerung der Suche nach Atlantis – und der Suche nach Atlan. Aber der Kundschafter von Ruoryc verzagte nicht. Er war davon überzeugt, daß Atlan lebte und auf dem Neuen Atlantis einen tapferen Kampf gegen die Mächte der Finsternis führte. Abermals setzte er die Suche fort – und bei seinem geduldigen Kreuzen zwischen den Dimensionen war das Kundschafterschiff mit einem rätselhaften Etwas kollidiert, in dem unheimliche und vielleicht unbegreifliche Kräfte wirkten. Algonkin-Yatta spürte, wie die Neugier in ihm wuchs. Natürlich würde er die Suche nach Atlan fortsetzen, aber zuvor mußte er das Geheimnis des rätselhaften Objekts lösen.
*
Die Zeitpanne »Ich kann keine Tür sehen, Algonkin«, maulte Anlytha und starrte in die finstere Nische. »Du darfst hier keine Tür in unserem Sinn erwarten, Anlytha«, erwiderte der Kundschafter. »Sieh her!« Er richtete den Lichtkegel der Lampe in die Nische und ließ ihn langsam kreisen. »Siehst du die Reflexionen?« fragte er. »Sie sind kaum zu sehen – und noch weniger kannst du sehen, was das Licht reflektiert. Deshalb nehme ich an, daß es sich um winzige Öffnungen von Informationskanälen handelt, die entweder im subatomaren Bereich oder in einer anderen Dimension existieren und auf einen bestimmten Photonenkode ansprechen.« »Photonenkode!« stieß Anlytha verächtlich hervor. »Das sagt mir viel, Algonkin. Vor allem aber sagt es mir, daß wir einen solchen Kode niemals knacken können.« »Knacken!« wiederholte Algonkin-Yatta. »Was für eine Verunstaltung der Sprache! Gib mir die Halskette, die du Frekson gestohlen hast, Anlytha!« »Ich – Frekson gestohlen!« kreischte Anlytha empört. »Ich habe es gesehen, obwohl du damals glaubtest, niemand hätte es bemerkt«, erwiderte der Kundschafter. »Aber ich habe es gesehen.« »Frekson hatte die Kette selber erst gestohlen«, erklärte Anlytha trotzig. Sie öffnete das Oberteil ihrer Raumkombination, und im Lichtschein der Lampe funkelten und glitzerten die geschliffenen Edelsteine eines zweifingerbreiten Halsbands, das Anlytha trug. »Aber was sollte ein Drache mit diesem Geschmeide anfangen? Was willst du überhaupt damit anfangen, Algonkin?« Algonkin-Yattas blauschwarzes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Wenn dieses Kollier dich so verblendete, daß du es stehlen mußtest, dann vermag es möglicherweise auch die Informationskanäle des unbekannten Türwächters zu blenden«, erklärte er. »Nimm das Kollier ab und halte es hoch! Ja! Noch ein Stück dort hinüber, et-
7 was tiefer – so!« Er war neben die Nische geschwebt und richtete den Lichtkegel der Handlampe in einem bestimmten Winkel auf das Kollier. Als er traf, schienen die Edelsteine zu explodieren. Algonkin-Yatta schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, daß die Rückwand der Nische verschwunden war. An ihrer Stelle schimmerte das Quadrat einer in einem schwachbeleuchteten Gang führenden Öffnung. »Phantastisch!« entfuhr es dem Kundschafter. Er steckte die Lampe in eine Tasche seiner Raumkombination, ergriff die Hand Anlythas und zog seine Begleiterin hinter sich her in den Gang hinein.
2. Kaum befand sich Algonkin-Yatta in dem Gang, als er am liebsten wieder umgekehrt wäre, denn er spürte nicht nur, wie die Schwerkraft zurückkehrte, sondern außerdem, wie sich ringsum alles auf bedrohliche Weise veränderte. Aber die Reaktion des Kundschafters kam zu spät. Als Algonkin-Yatta herumfuhr, gab es hinter ihm und Anlytha keinen Gang mehr und keine Öffnung. Algonkin-Yatta glaubte zu schwanken. Seine Begleiterin seufzte und sank in Ohnmacht. Er nahm sie auf die Arme und kämpfte mit aller Energie gegen das Schwindelgefühl an. Wände, Decke und Boden verformten sich unablässig unter allen möglichen optischen und akustischen Effekten. Einmal glaubte der Kundschafter in einer viele tausend Meter tiefen Felsschlucht zu stehen, dann wieder schien er auf einer von aufgewühlter See umtosten Klippe zu liegen. Als er schon befürchtete, die Orientierung gänzlich zu verlieren, stabilisierte sich die Umgebung. Sie wurde nicht wieder zu einem Gang, sondern zu einem aus gläsernen Wänden, Treppen und Podesten bestehenden Saal, der zu einem Glaspalast zu gehören
8 schien. Algonkin-Yatta blieb breitbeinig stehen, Anlytha noch immer auf seinen Armen. Langsam drehte er sich einmal um sich selbst. Dabei musterte er die veränderte Umgebung sehr genau. Er vermochte aber nichts Verdächtiges zu entdecken. Unterdessen war Anlytha wieder zu sich gekommen. »Algonkin?« fragte sie. »Kein Anzeichen von Gefahr«, beantwortete der Kundschafter die unausgesprochene Frage. »Dann laß mich herunter!« forderte seine Begleiterin. Langsam stellte Algonkin-Yatta sie auf die Füße. Dabei überlegte er zum wiederholten Mal, ob es ihm jemals gelingen würde, mehr über Anlythas Herkunft zu erfahren, als er bisher wußte. Vor seinem schicksalhaften Abstecher nach Perpandron hatte er irgendwo zwischen den Sternen ein havariertes Kleinraumschiff gefunden. Als er es durchsuchte, entdeckte er darin die bewußtlose Pilotin. Sie wußte allerdings nur noch, daß sie Anlytha hieß. Alles andere, auch ihre Herkunft, hatte sie entweder infolge eines Schocks oder einer Gehirnerschütterung vergessen. Inzwischen wußte er auf Grund entsprechender Erfahrungen ein wenig mehr. So beispielsweise, daß Anlytha psionische Fähigkeiten besaß, mit denen sie anderen Wesen etwas vorgaukeln konnte. Außerdem hatte sie bei ihrem »Agenteneinsatz« auf Terra bewiesen, daß sie Kenntnisse und Fertigkeiten besaß, wie sie eigentlich nur bei einer ausgebildeten Neurologin und Neurochirurgin vorhanden sein konnten. Aber obwohl Anlytha das entsprechende Wissen und Können praktisch angewandt hatte, vermochte sie sich noch immer nicht daran zu erinnern, welche berufliche Laufbahn – außer der einer Raumpilotin, die aber sicher nur das Produkt einer Sekundärausbildung war – hinter ihr gelegen hatte, bevor der Unfall im Weltraum ihr das Gedächtnis raubte. »Was ist das dort?« fragte Anlytha und deutete auf einen Punkt der Glashalle, der
H. G. Ewers sich zur Rechten des Kundschafters an einer Wand in zirka neun Metern Höhe befand. Algonkin-Yatta schaute in die angegebene Richtung und sah ein blauweißes Glitzern über dem oberen Ende einer Wendeltreppe, wo mehrere gläserne Wände, die aber infolge von Lichtreflexionen nicht vollständig durchsichtig waren, anscheinend ineinander verschachtelt standen. Da die Helligkeit gleichblieb und auch keine bewegliche Lichtquelle auszumachen war, konnte das Glitzern eigentlich nur zustande kommen, indem ein besonders stark reflektierender Gegenstand sich hin und her drehte. Zuerst wollte der Kundschafter seine Begleiterin auffordern, stehenzubleiben, während er die Wendeltreppe hinaufstieg und die Ursache des Glitzerns erforschte. Aber dann erinnerte er sich an die Verwandlung der Umgebung und hielt es für sicherer, sich nicht von Anlytha zu trennen. Er zog Anlytha also an der Hand hinter sich her, die Wendeltreppe hinauf – und blieb verblüfft stehen, als er einen Gegenstand sah, der in dieser zweifellos technisch hochwertigen Umgebung funktionell nichts zu suchen hatte. Es handelte sich um ein kurzes zweischneidiges Schwert mit edelsteinverziertem Griff, das sich langsam hin und her drehte, wodurch seine scharfgeschliffene und auf Hochglanz polierte Klinge im wechselnd einfallenden Licht blinkte. Das Seltsamste aber war, daß das Schwert scheinbar frei in der Luft schwebte. Anlytha löste sich von Algonkin-Yattas Hand und huschte zu der Waffe. Ihre rechte Hand schloß sich zielstrebig um den Schwertgriff. Mit entschlossenem Ruck zog sie – und schwebte im nächsten Augenblick mit hoher Geschwindigkeit und völlig lautlos nach oben, gezogen von dem Schwert, das offenbar an einer unsichtbaren Leine befestigt war. Der Kundschafter begriff sofort, daß das Schwert praktisch die Funktion eines Köders erfüllte und daß Anlytha in die Falle eines
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Wesens geraten war, dessen weitere Absichten Anlaß zur Sorge gaben. Algonkin-Yatta aktivierte sein Flugaggregat, schaltete es hoch und jagte seiner Begleiterin nach, bevor sie einen Schreckensschrei ausstoßen konnte. Als er sie eingeholt hatte, sah er, daß sie vergeblich versuchte, die Hand vom Schwertgriff zu lösen. Kurzentschlossen packte er den Schwertgriff ebenfalls, wenn auch über Anlythas Hand. Im selben Moment fühlte er die saugende Kraft, die durch die Lücken zwischen ihren schmalen Fingern hindurch auf seine Hand einwirkte. Plötzlich rutschten Anlythas Finger ab – und Algonkin-Yatta mußte blitzschnell mit der freien linken Hand zupacken, damit seine Begleiterin nicht abstürzte. In ihrer Verwirrung hätte sie vermutlich nicht daran gedacht, ihr Flugaggregat einzuschalten. Der Kundschafter zog Anlytha dicht an sich, als er über sich die reflektierende Oberfläche fester Materie bewirkte und erkannte, daß das kreisrunde Loch darin nicht viel größer war als der Leibesumfang eines Mathoners. Ein Glück, daß Anlytha so klein und zart ist! dachte er, während er mit seiner Begleiterin durch das Loch gerissen wurde. Im nächsten Moment waren sie beide hindurch, wurden ein Stück nach vorn gezogen – und dann stand Algonkin-Yatta leicht schwankend auf einer Art gläserner, stellenweise mit Gold bedampfter Plattform und blickte neugierig auf die schemenhafte Erscheinung, die wenige Schritte vor ihm stand oder schwebte.
* Die äußere Form der Erscheinung war eindeutig humanoid, aber es handelte sich weder um einen Mathoner noch um einen Menschen oder Arkoniden, sondern um eine völlig andere Wesenheit. Algonkin-Yatta bemerkte, daß das Schwert sich noch immer in seiner Hand befand, obwohl der unwiderstehliche Zug auf-
gehört hatte. Er wog es prüfend und fand, daß es ausgezeichnet in der Hand lag und eine zwar primitive, aber recht wirksame Waffe war. Der Kundschafter lächelte, drehte das Schwert blitzschnell um, so daß er seine Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und streckte es der rätselhaften Erscheinung entgegen. »Ich brauche es nicht«, erklärte er. »Und es gehört anscheinend Ihnen.« Er verneigte sich. »Mein Name ist Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc.« Die Erscheinung bewegte sich. Sie zog das Schwert an sich heran, ohne die Hände auszustrecken – und nahm das Schwert in sich auf. Dabei ließ sich erkennen, daß sich unter der kalt leuchtenden Haut nur ein fließendes milchiges Leuchten befand. Anlytha streckte die Hand hilflos nach dem Schwert aus, und als es in dem milchigen Leuchten seine Konturen verlor, seufzte sie schwer. »Der Edelstein war bestimmt wertvoll, Algonkin. Du hättest ihn herausbrechen sollen, bevor du das Schwert zurückgabst.« »Unsinn!« erwiderte Algonkin-Yatta. Prüfend betrachtete er die rätselhafte Erscheinung, und allmählich dämmerte ihm, daß die Konturen eines humanoiden Lebewesens, die er sah, nichts mit der Erscheinungsform der fremden Wesenheit zu tun hatten, sondern wahrscheinlich nur präsentiert wurden, um nicht gar zu fremdartig zu wirken. Die Erscheinung bewegte sich wieder, aber auf eine nie gesehene Art und Weise. Zu spät begriff Algonkin-Yatta, daß das Fremde sich ausdehnte. Bevor er reagieren konnte, befanden Anlytha und er sich bereits im Innern der Erscheinung, deren »Außenhülle« anscheinend mit rasender Geschwindigkeit nach allen Seiten davoneilte. Und im nächsten Augenblick hörte und sah der Kundschafter überhaupt nichts mehr. Dafür hatte er das Gefühl, als ob etwas Unsichtbares sich in seinen Geist drängte, alle Informationen abgraste, die in seinen Hirnzellen gespeichert waren und ihn anschlie-
10 ßend wieder verließ. Eine unbestimmbare Zeitspanne danach war ihm, als explodierte die unablässig expandierende Erscheinung und als entleerte sie ihren Inhalt ins Nichts außerhalb des Universums. Für grauenhafte Sekunden hatte er das Gefühl, als stürzten die Atome seines Körpers in sich zusammen und anschließend aufeinander zu, so daß er unweigerlich zusammenschrumpfen mußte, bis er praktisch im subatomaren Mikrokosmos versank. Er, der sich so leicht nicht erschüttern ließ, wagte es nicht, den vermuteten Tatsachen ins Auge zu sehen. Als er zu fühlen glaubte, daß der Schrumpfungsprozeß zum Stillstand gekommen war, hockte er sich nieder und barg den Kopf zwischen den Knien. Er wollte nicht sehen, wie winzig er im Vergleich zu durchschnittlichen Molekülen, Bakterien und Viren geworden war. Ein heller Ausruf ließ ihn zusammenzucken. »Da ist es ja!« Anlythas Stimme. »Was ist da?« flüsterte er verwirrt und hob unwillkürlich den Kopf und öffnete die Augen. Schräg vor sich sah er Anlytha knien und sich über das blitzende Schwert beugen, das doch im Innern der rätselhaften Erscheinung verschwunden gewesen war. Und ringsum ragten gläserne Wände und Treppen auf, deren Dimensionen sich relativ zu Algonkin-Yatta und Anlytha nicht verändert hatten. »Wir sind nicht geschrumpft!« stieß er unendlich erleichtert hervor. Hoffentlich nicht! wisperte es in seinem Gehirn. Es muß jedenfalls einen schwerwiegenden Grund haben, daß ich dich bisher nicht erreichen konnte, Kundschafter. Die Psiotronik! »Was machst du für ein dummes Gesicht?« erkundigte sich Anlytha. »Die Psiotronik hat sich gemeldet!« erklärte Algonkin-Yatta freudig erregt. »Hallo, Psiotronik, kannst du mir deine Position relativ zum Schiff angeben?« Er hätte die Frage nicht auszusprechen brauchen, da die Kommandoschaltung in seinem Gehirn auch
H. G. Ewers auf die bloßen Gedanken ansprach, aber er wollte, daß Anlytha wenigstens seinen Teil der Kommunikation mitbekam. Ich versuche es. Pause. Was ist das? Die Entfernung zwischen uns beträgt nur knapp dreißig Meter. Die Ortung hätte euch längst erfassen müssen. »Was?« entfuhr es Algonkin-Yatta. »Hat die Ortung des Schiffes uns jetzt immer noch nicht erfaßt?« Nein, ich habe die Entfernungsbestimmung mit einer Direktanpeilung deines Kommandogeräts vorgenommen, Kundschafter. Komisch, sonst fühle ich mich auch als Schiff, aber jetzt … Algonkin-Yatta hatte sich intensiv auf die einfallenden Impulse der Psiotronik konzentriert. Sobald er in der Lage war, die Richtung zu bestimmen, aus der die Impulse kamen, setzte er sich in Bewegung. Er achtete nicht darauf, daß Anlytha hinter ihm empört zeterte, weil er sie einfach stehenließ. Gleich einem Traumwandler schritt der Kundschafter über gläserne Brücken, die sich, nur doppelt fußbreit, über düsterrot glühenden Abgründen spannten. Sein Gesicht war jedoch alles andere als abwesend. Er arbeitete intensiv; nur konzentrierte er sich auf die Einhaltung der Richtung, aus der die psionischen Impulse kamen. Wenig später stand er dort, wo sich auch sein Kundschafterschiff befand. Und es befand sich dort, auch wenn er es nicht sehen konnte. Ein Mathoner vermochte ebensowenig wie ein Mensch Dinge mit seinen bloßen Augen zu sehen, die kleiner waren als ein Staubkorn.
* Du bist hier, Kundschafter! übermittelte die Psiotronik. Demnach ist unser Schiff geschrumpft. Zum erstenmal, seit sich Algonkin-Yatta in dem seltsamen Objekt befand, mit dem sein Kundschafterschiff kollidiert war, verspürte er eisige Furcht. Denn ohne sein Schiff war er kein Kundschafter – und ohne
Die Zeitpanne sinnvolle Funktion war er ein Nichts. Dennoch konnte er nicht umhin, der Psiotronik zu widersprechen. »Mein Schiff, nicht unser Schiff!« Er streckte eine Hand schräg nach hinten aus, als er die leichtfüßigen Schritte Anlythas hörte. »Halt!« Doch seine Begleiterin konnte nicht mehr abbremsen. Sie prallte gegen seine Hand, strauchelte und ließ mit einer Verwünschung das Schwert los, das dicht an Algonkin-Yatta vorbeiflog und im nächsten Moment für den Bruchteil einer Sekunde hell aufleuchtete. Dann fiel es zu Boden. Der Kundschafter ahnte, daß die Klinge mit seinem Raumschiff kollidiert war. Das erklärte allerdings nicht, warum sie aufgeleuchtet hatte, denn die Kollision von zwei etwa atomgroßen Objekten … Algonkin-Yattas Gedanken setzten für einen Moment aus, dann kamen sie verstärkt wieder. »Das Schiff mag nicht größer sein als ein Atom, aber seine Masse muß die gleiche geblieben sein wie vorher. Aber wie kann es sich dann in der Schwere halten? Es hätte doch längst ungehindert zum Schwerkraftzentrum dieses scheinbar gläsernen Objekts stürzen müssen.« »Dein Schiff – nicht größer als ein Atom?« flüsterte Anlytha mit blassen Lippen, die sich clownhaft gegen ihre fliederfarbene Haut abhoben. »Algonkin-Yatta, bedeutet das, daß wir niemals wieder von hier wegkommen?« Der Kundschafter hatte inzwischen weitergedacht und die Tatsachen mit anderen Ereignissen in diesem rätselhaften Objekt kombiniert, deshalb schüttelte er den Kopf. »Mein Schiff ist nicht infolge eines Naturereignisses geschrumpft, Anlytha«, gab er zu bedenken, »sondern infolge von Manipulationen, die von der Wesenheit durchgeführt werden, die uns aufgenommen hat.« Anlytha blickte ihn verblüfft an, dann tippte sie sich an die Stirn, eine Geste, die sie den Erdenmenschen abgesehen hatte. »Wesenheit! Du spinnst ja, Algonkin! Wir
11 befinden uns in einer Art Glaspalast. Und seit wann ist ein Bauwerk eine Wesenheit?« »Wenn es sich tatsächlich um ein Bauwerk handeln würde, dann hätte die Kollision es und uns vernichtet«, erklärte Algonkin-Yatta. »Da das nicht geschah, muß es sich bei unserem ›Gastgeber‹ um ein hochintelligentes Wesen handeln, das mit ndimensionalen Energien so spielerisch leicht umgeht wie du mit den Kostbarkeiten anderer Leute.« »Du sprichst von einer Kunst, die ich ausübe!« protestierte Anlytha. »Die spielerische Manipulierung eines großen energetischen Spektrums und anderer Wesen und Dinge ist auch eine Kunst«, entgegnete der Kundschafter. »Aber zu welchem Zweck …?« begann Anlytha und brach abrupt ab, als ihr ein Licht aufging. »Diese … diese Wesenheit ist auch so eine Art Kundschafter!« »Genauso ist es!« sagte Algonkin-Yatta. »Nur ist sie das Produkt einer Evolution, die wir uns noch nicht vorstellen können – und es dürfte uns, was seine Möglichkeiten der Manipulierung der Umwelt angeht, ebenso hoch überlegen sein wie mein Kundschafterschiff den Bakterien auf der trostlosen Oberfläche eines Planeten, dessen höchste Lebensform so etwas wie Flechten sind.« »Und dieser Kundschafter hat uns aufgefangen, von deinem Schiff getrennt und unser Verhalten studiert.« »Und uns getestet«, fügte Algonkin-Yatta hinzu. »Ich hoffe nur, er definiert uns nicht etwa als biologischen Abfall anstatt als intelligentes Leben. Das dürfte darauf ankommen, wie viele Erfahrungen er als Kundschafter gemacht hat. Vergiß nicht: Was er ist, vermögen wir uns nicht vorzustellen. Wir haben ihn nur durch die Auswirkungen seiner den unseren weit überlegenen Kräfte als intelligent erkannt. Umgekehrt war das aber nicht möglich.« »Aber wenn er intelligenter ist als wir …«, sagte Anlytha. »Er muß nicht intelligenter sein. Ein Vogel ist wahrscheinlich nicht intelligenter als
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ein Hominide; dennoch kann er fliegen und ist dem Hominiden in dieser Hinsicht überlegen.« Algonkin-Yatta wählte diese Aussage nicht zufällig. Er hatte Sekunden vorher wieder gespürt, wie etwas seine Gedankenwelt sondierte und bis in die tiefsten Tiefen seines Unterbewußtseins vorstieß. Schadenfroh, aber nicht bösartig, stellte sich der Kundschafter die Verblüffung eines sich grenzenlos überlegen fühlenden Wesens vor, das in den Gedanken der seiner Ansicht nach nicht intelligenten Wesen Zweifel an der eigenen, seiner Intelligenz erkannte. Seine Schadenfreude erlosch, als er erneut den vernichtend erscheinenden Schlag gegen seinen Schädel verspürte – aber einen Sekundenbruchteil vorher spürte er verblüfft und beschämt, daß die fremde Wesenheit ihn wegen seiner Emotionen bemitleidete.
* Als Algonkin-Yatta diesmal aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, überraschte es ihn nicht, daß er sich in seinem Pilotensessel in der Steuerzentrale des Kundschafterschiffs wiederfand. Was ihn überraschte, war das kurze zweischneidige Schwert mit edelsteinverziertem Griff, das vor ihm auf dem Hauptschaltpult lag. Es sah genauso aus wie das Schwert, das er bei dem anderen Kundschafter in der Hand gehalten hatte. Ein schmerzliches Stöhnen ließ ihn nach rechts schauen. Er sah, daß Anlytha eigentümlich verrenkt in den Anschnallgurten ihres Sessels hing und sich offenbar unter starken Schmerzen wand. Sofort verließ der Kundschafter seinen Platz und eilte zu seiner Begleiterin. »Was hast du, Anlytha?« fragte er besorgt. »Wie kann ich dir helfen, Vogelkönigin?« Für eine Sekunde vielleicht erstarrte Anlytha, während sie den Kundschafter verblüfft ansah, dann verdrehte sie die Augen, zuckte und flüsterte:
»Mein Koffer! Geheimfach im Griff! Tabletten! Gelbe Schachtel! Zwei Tabletten in Wasser auflösen und mir geben!« Als Algonkin-Yatta bereits im Schiffskorridor auf dem Weg zur Wohnzelle war, von der aus man in Anlythas Kabine kam, fiel ihm erst ein, daß er nicht einen einzigen Blick auf die Kontrollschirme der Zentrale geworfen hatte und deshalb nicht wußte, ob sich das Kundschafterschiff im freien Raum oder sonstwo befand. Aber er kehrte deswegen nicht um. Anlytha befand sich in Not. Da gab es gar keine andere Wahl. Er mußte alles tun, um ihr zu helfen. Als das Schott der kugelförmigen Wohnzelle sich vor dem Kundschafter öffnete, sprang er hinein, ohne daran zu denken, daß darin, wie meist, eine künstliche Schwerkraft von drei Gravos herrschte, im Unterschied zu den sonstigen Bereichen des Schiffes, in die Anlytha kam – und es hatte sich herausgestellt, daß sich Anlytha bei einer Schwerkraft von anderthalb Gravos am wohlsten fühlte. Obwohl Algonkin-Yattas Heimatwelt eine Schwerkraft von 4,52 Gravos besaß und drei Gravos für den Kundschafter deshalb keine spürbare Belastung darstellten, bewirkte der Unterschied doch, daß er hart auf den Boden gerissen wurde. Aber im nächsten Augenblick hatte Algonkin-Yatta sich wieder gefangen. Er schnellte sich hoch, sprang ungefähr sieben Meter weit und hielt sich an dem flachen Griff neben dem Schott zu Anlythas Kabine fest. Das Schott öffnete sich automatisch für ihn. Der Kundschafter schwang sich hinein und schwebte bei der darin herrschenden Schwerkraft von nur anderthalb Gravos beinahe. Er entdeckte den Hartplastikkoffer, den Anlytha von dem terranischen Arzt Orwell Hynes geschenkt bekommen hatte, unter ihrem Pneumobett. Rasch zog er ihn hervor, öffnete ihn, wobei er versehentlich das Schloß zerriß, und verwünschte sich selbst, als ihm einfiel, daß er ihn gar nicht zu öff-
Die Zeitpanne nen brauchte. Er widmete sich der Untersuchung des breiten und dicken Tragegriffs. Da er sich mit allen möglichen Techniken auskannte, hatte er den Öffnungsmechanismus des Geheimfachs schnell gefunden. Fünf dünne weiße Schachteln fielen ihm entgegen, als er es öffnete. Und eine gelbe Schachtel! Algonkin-Yatta zog die Schachtel auf, sah zwei Reihen weißer Tabletten darin, nickte zufrieden und schob sie wieder zu. Danach hastete er in die Zentrale zurück. Er befand sich bereits auf halbem Wege zum Getränkeautomaten, als ihm auffiel, daß Anlytha ganz still in ihrem Sessel saß. Er erschrak, denn er fürchtete das Schlimmste. Auf leisen Sohlen kehrte er um und näherte sich seiner Begleiterin. »Bleib stehen!« sagte Anlytha scharf. Algonkin-Yatta gehorchte. Verwundert versuchte er, etwas mehr von Anlytha zu sehen, was aber nicht möglich war, da sie mit dem Rücken zu ihm saß. »Warum soll ich stehenbleiben?« fragte er. »Und was ist mit deinen Tabletten?« »Ich brauche keine Tabletten!« antwortete Anlytha trotzig. »Dagegen habe ich keine Medizin. Bleib ja stehen und sieh mich nicht an, Algonkin!« »Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß ich gegen deine Wünsche verstoße«, erklärte der Kundschafter. Zum erstenmal nach dem Abenteuer mit dem anderen Kundschafter sah er sich die Kontrollschirme genau an. Er stellte beruhigt fest, daß das Kundschafterschiff sich offenkundig im freien Raum befand und anscheinend einwandfrei funktionierte. Sein Blick fiel auf das Schwert, und er stutzte. Von dem großen Edelstein ging eine schwache pulsierende Helligkeit aus, die vorher nicht dagewesen war. »Du hast recht mit deiner Vermutung, Algonkin«, sagte Anlytha zerknirscht. »Ich habe versucht, den Edelstein herauszubrechen. Wozu soll ein so kostbarer Edelstein an einer Mordwaffe sein. Außerdem würde ich
13 ihn durch ein ebenso großes Stück geschliffenes Glas ersetzt haben.« Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts dergleichen vermutet, Anlytha«, erwiderte er. »Ach, ja!« entfuhr es Anlytha. »Wer nicht lügen kann, der kann allerdings nicht darauf kommen, daß er unter vorgetäuschtem Grund weggeschickt wird, damit jemand ihm etwas wegnehmen kann. Es tut mir ehrlich leid, daß ich dich getäuscht habe, Algonkin.« »Nicht so wichtig!« sagte Algonkin-Yatta. »Du kannst eben nicht anders. Aber was ist mit dir geschehen? Hat das Schwert dich verletzt?« »Oh!« stieß Anlytha hervor und schluchzte, dann drehte sie sich abrupt mitsamt ihrem Sessel um. Der Kundschafter stellte fest, daß ihr fliederfarbenes »Porzellangesicht« voller dicker roter Pickel war, die es furchtbar entstellten. Aber er ließ sich nichts anmerken, um Anlythas Kummer nicht noch zu vergrößern. »So schlimm ist es gar nicht«, erklärte er fest. »Du kannst ja doch lügen!« stellte Anlytha fest und zwitscherte triumphierend. »Für dich kann ich alles«, sagte der Kundschafter, zufrieden darüber, daß es ihm gelungen war, seine Begleiterin wenigstens vorübergehend aufzuheitern. Er begab sich zu seinem Platz, setzte sich und nickte der Kontrollwand der Psiotronik zu. »Wie ist das werte Befinden?« erkundigte er sich. Auf der Kontrollwand zuckten farbige Lichtpunkte, dann erschienen auf einem anderen Schirm Schrift- und Zahlensymbole. »Alles in Ordnung?« stellte Algonkin-Yatta verwundert fest. »Überhaupt keine Schäden? Weißt du, ich habe schon befürchtet, Anlytha und ich hätten nicht das Schiff im alten Zustand zurückbekommen, sondern wären mikrominiaturisiert und in das winzige Schiff transportiert worden.« »Das hätte aber nichts genützt, denn die
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energetischen Prozesse der Triebwerke und so weiter benötigen zum Funktionieren eine bestimmte räumliche Mindestausdehnung, einen bestimmten Ereignisraum sozusagen«, erklärte die Psiotronik – diesmal akustisch. »Bin ich aber froh, daß wir wieder normal sind!« rief Anlytha. »Hoffentlich ist dieser verflixte Kerl von der Konkurrenz auf Nimmerwiedersehen verschwunden.« »Du meinst den anderen Kundschafter«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Leider ist er wirklich verschwunden, obwohl ich mich gern mit ihm unterhalten hätte.« »Ich nicht«, sagte Anlytha, und ihr weißer Federkamm sträubte sich. »Das mit dem Schwert werde ich ihm niemals verzeihen.« »Du hast also den Ausschlag bekommen, nachdem du versuchtest, das Schwert anzufassen«, sagte Algonkin-Yatta nachdenklich. Er streckte die Hand aus und umfaßte entschlossen den Schwertgriff. »Kannst du an mir etwas feststellen, Anlytha?« Anlytha beobachtete ihn eine Weile, dann kreischte sie einmal kurz auf und schimpfte: »Ja, ein selbstgefälliges Grinsen, du Unhold!« Algonkin-Yatta seufzte resigniert, denn er ahnte, daß sich Anlythas miserable Laune erst bessern würde, wenn ihre Pickel verschwunden waren. Es würde während dieser unbekannten Zeitspanne ratsam sein, sich möglichst auf kein Gespräch mit Anlytha einzulassen. Er nahm Schaltungen vor, während er mittels des in sein Gehirn gepflanzten Kommandogeräts unhörbar kommunizierte. Nach einiger Zeit fragte Anlytha scharf: »Was treibst du da eigentlich, Algonkin-Yatta! Wohin soll das alles führen?« »Zu Atlan, hoffe ich«, antwortete der Kundschafter.
3. Nachdem offenkundig geworden war, daß das Kundschafterschiff sich zwischen zwei Galaxien befand, stellte Algonkin-Yatta mit Hilfe der Psiotronik komplizierte Messun-
gen und Berechnungen an. Erst danach vermochte er zu sagen, welche Galaxis Wolcion war. Vorher hatte er es deshalb nicht sagen können, weil beide Galaxien sich glichen wie eineiige Zwillinge und weil das Kundschafterschiff unbeweglich im Raum schwebte, so daß nicht festzustellen war, aus welcher Richtung es gekommen war. »Der ›große Bruder‹ hat uns anscheinend ein Stück seines Weges mitgenommen«, stellte Anlytha fest, als Algonkin-Yatta ihr vom Ergebnis seiner Berechnungen berichtet hatte. Sie hatte ihre Pickel mit allen möglichen kosmetischen Mitteln behandelt, aber noch keinen Erfolg erzielt; deshalb trug sie einen Gesichtsschleier, den sie aus einem terranischen Museum hatte mitgehen lassen. »Ich habe den Eindruck, daß er keinen Moment lang angehalten hat wegen uns«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Er hat uns aufgefischt, ohne seine Geschwindigkeit herabzusetzen, und hat mit uns gespielt, während er seinen Flug fortsetzte – und als er wußte, was er wissen wollte, hat er uns wieder freigelassen.« Anlytha sagte etwas dazu, aber Algonkin-Yatta hörte ihr nicht zu, denn seine Nase fing ein Geruchssignal auf, das ihn in hochgradige Erregung versetzte. Das auf der Erde und später auf Loors mit den an beiden Orten ermittelten Meßwerten justierte Spürgerät hatte zum erstenmal positiv reagiert. Eine Serie der für Atlantis typischen modifizierten Tachyonengruppen stiegen – gleich Luftblasen im Wasser – aus der Tiefe der Zeit herauf an die Relativ-Oberfläche, auf der das Kundschafterschiff »schwamm«! Das allerdings hatte dem Kundschafter nicht die Geruchssignale übermittelt, sondern der Bildschirm der Psiotronik mit seinen für Unbefugte sinnverwirrenden Lichtblitzen und anderen Zeichen. »Wann?« fragte Anlytha. Erst durch diese Frage wurde es dem Kundschafter wieder bewußt, daß seine geheimnisvolle Begleiterin mit den Funktionen des Schiffes und seinen Informationsmög-
Die Zeitpanne lichkeiten fast ebenso vertraut war wie er. »Nur ein paar Jahre zurück«, antwortete Algonkin-Yatta. »Jedenfalls kommen die Tachyonen von dann. Ob sich Atlantis noch auf der gleichen Zeitebene befindet, kann ich nur mit Hilfe der Zeitkapsel feststellen.« »Mit der Zeitkapsel!« zeterte Anlytha. »Und mich willst du wieder einmal allein zurücklassen! Das könnte dir so passen! Ich komme diesmal mit!« »Von mir aus kannst du mitkommen«, erklärte der Kundschafter. »Aber soviel ich weiß, kennt man auf Atlantis keine Gesichtsschleier. Da wir nicht auffallen dürfen, müßtest du dort den Schleier ablegen. Für mich bist du natürlich auch mit dem bißchen Ausschlag schön, aber ich weiß nicht, wie die Leute auf Atlantis das beurteilen werden …!« »Ich kümmere mich nicht um die Meinung anderer Leute!« gab Anlytha zurück. Der Kundschafter sah, wie ihre Augen sich verdunkelten. Deshalb wußte er, daß er sich weitere Argumente sparen konnte. Als er sich anschickte, seine Ausrüstung zu überprüfen, kam denn auch die erwartete Reaktion Anlythas. »Wir sollten das Schiff nicht allein lassen, Algonkin«, sagte sie. »Vielleicht könnte Loggy diesmal die Wache übernehmen. Was meinst du?« Algonkin-Yatta machte ein bedenkliches Gesicht. »Eine Zeitreise ohne Loggy ist beschwerlicher und gefährlicher als eine mit dem genialen Zeitnavigator, aber wenn du meinst …« »Oh, nein!« rief Anlytha. »Entschuldige bitte, daß ich egoistisch dachte. Selbstverständlich darf ich weder dich noch den Erfolg deiner Mission gefährden. Algonkin, unter diesen Umständen bringe ich gern das Opfer, auf meine Teilnahme an der Suche nach Atlantis zu verzichten.« »Dieses Opfer kann ich nicht annehmen«, entgegnete der Kundschafter. »Lieber irre ich ein paar Jahre länger herum, als daß ich dich um das Vergnügen bringe, auf Atlantis
15 an einem Schönheitswettbewerb teilzunehmen.« Eine Weile schauten Anlythas Augen den Kundschafter fragend an, dann stieß Anlytha ein gellendes Kreischen aus. Als sie damit aufgehört hatte, holte sie tief Luft und schrie: »Du bist ein gemeiner Schuft! Mich so hereinzulegen! Und ich dachte, du könntest nicht lügen!« »Ich habe ja nicht gelogen«, erwiderte Algonkin-Yattas Stimme über die Bordverbindung. »Ich habe nur eine Möglichkeit erwogen.« »Ha!« machte Anlytha, dann bemerkte sie, daß der Kundschafter nicht mehr in der Zentrale war. »Wo bist du?« »Unterwegs zur Zeitkapsel«, antwortete der Kundschafter. »Du kannst natürlich immer noch mitkommen, aber es könnte ja sein, daß du auf Atlantis deinen Schleier tatsächlich ablegen mußt. Und was wäre dann?« »Die Atlanter würden einen schlechten Eindruck von dir bekommen, wenn du mit einer häßlichen Begleiterin kämst«, sagte Anlytha. »Also muß ich schon dir zuliebe im Schiff bleiben. Allerdings nur dann, wenn du mir versprichst, die Zeitkapsel bis auf den letzten Kubikzentimeter mit Kunstgegenständen von Atlantis vollzupacken.« »Und womit bezahle ich das alles?« wollte Algonkin-Yatta wissen. »Bezahlen?« echote Anlytha. »Seit wann bezahlt man für Dinge, die man sich nur zu nehmen braucht!« »Na, schön, ich will es versuchen«, versprach der Kundschafter. »Hüte du das Schiff gut – und weiche allen Gefahren aus, Anlytha! Ich möchte dich gesund wiedersehen, wenn ich zurückfinde.«
* Loggy tauchte wieder einmal als schemenhaftes humanoides Lebewesen von zirka anderthalb Metern Größe auf, verschwand wieder und kehrte halbtransparent zurück.
16 »Wir haben es fast geschafft, Algonkin«, sagte er auf Interkosmo. »Die modifizierten Tachyonengruppen lassen sich ausgezeichnet zurückverfolgen.« Algonkin-Yatta stöhnte, als eine heiße Welle purer Erregung ihn durchflutete. Seine Finger zitterten. Das Jagdfieber hatte ihn mit aller Kraft gepackt – und noch stärker fieberte er der ersehnten Begegnung mit Atlan entgegen. »Vielleicht kann ich den großen Arkoniden aus einer gefährlichen Lage befreien!« flüsterte er. »Dann wird er mir die Hand reichen und sagen: ›Ich danke Ihnen, Algonkin-Yatta.‹« Loggys Hände fuhren zielsicher an den zahllosen verschlungenen Linien im Innenraum der Zeitkapsel entlang. Dadurch wurden Impulse ausgelöst, die auf eine dem Kundschafter unbekannte Weise eine Steuerung durch jenes überaus komplizierte Etwas erlaubten, das »Zeit« genannt wurde. Trotz seines relativ geringen Verständnisses dieser Steuerungsvorgänge konnte auch Algonkin-Yatta die Zeitkapsel navigieren. Loggy beherrschte diese Kunst aber noch besser, denn er war Teil eines sogenannten Zeitauges gewesen, bevor er auf seiner Odyssee der tausend Verwandlungen mit Algonkin-Yatta zusammentraf und sein Partner wurde. An der Innenwandung der Kapsel blitzten zahllose goldfarbene Lichtpunkte auf, mehrere dumpf hallende Schläge dröhnten, und die Bildschirme der Außenbeobachtung ließen den bislang undurchdringlichen nebelhaften Schleier sich aufhellen. »Du solltest deine Erwartungen nicht zu hoch stecken, Algonkin«, sagte Loggy. »Vielleicht erleben wir eine Enttäuschung.« »Ach, was!« entgegnete der Kundschafter hitzig. »Die Modifikation der Tachyonenimpulse stimmt, also werden wir demnächst Atlantis erreichen.« »Mich stört nur, daß die Tachyonenimpulse sich nicht verändern, wenn wir in der Zeit anhalten«, sagte Loggy. »Wenn unser Ziel sich durch Raum und Zeit fortbewegt, müß-
H. G. Ewers ten sie sich in solchen Fällen abschwächen.« »Dann hat Atlantis eben angehalten!« erklärte Algonkin-Yatta. Loggy konnte es nicht mehr hören, denn er hatte sich bereits wieder »aufgelöst« und befand sich entweder eine Nanosekunde in der relativen Vergangenheit oder in der relativen Zukunft. Der Kundschafter musterte mit ruhigem Blick die goldfarbenen Lichtpunkte. Niemand hätte ihm angesehen, wie sehr es in ihm brodelte. Viele Jahre seiner eigenen Zeit und viele Tausende von Jahren zwischen den verschiedenen Zeitebenen war er ruhelos hinter einem Arkoniden hergejagt, den er noch nie persönlich gesehen hatte und den er dennoch so gut kannte wie seinen treuen Freund. Endlich lag das Ziel in erreichbarer Nähe! Die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen; der Schleier rings um die Kapsel lichtete sich stärker und verschwand schließlich ganz. Leicht vornübergeneigt starrte Algonkin-Yatta angestrengt auf die Bildschirme der Außenbeobachtung. Er sah, daß die Zeitkapsel dicht über einem kleinen See schwebte, der mitten in einer Landschaft aus nackten schwarzen Hügeln und anderen Seen bestand. Das lückenlose Weiß eines eigenartigen Himmels verbreitete genug Helligkeit, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Linkerhand entdeckte Algonkin-Yatta in etwa zehn Kilometern Entfernung eine Ansammlung von Gebilden, die eindeutig künstlicher Herkunft waren. Wahrscheinlich handelte es sich um Zweckbauten. Ihre Silhouetten hoben sich merkwürdig zerbrechlich gegen den Hintergrund ab. Der Kundschafter zögerte nicht. Er schaltete die Raumsteuerung der Kapsel ein und nahm Kurs auf die Ansammlung von Bauwerken. Seine Erregung war noch nicht abgeklungen, aber er fühlte, daß sich etwas in ihm zu verkrampfen drohte. Er wehrte sich verzweifelt gegen dieses Gefühl, aber es ließ sich nicht vertreiben,
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sondern breitete sich gleich einem lähmenden Gift weiter in ihm aus. »Laß mich nicht vergebens gekommen sein!« sagte er inbrünstig. »Zu wem sprichst du, Algonkin-Yatta?« fragte die Psiotronik. »Was?« sagte der Kundschafter verblüfft. »Oh, ich glaube, ich dachte dabei an Atlan. Ich weiß, so etwas ist irrational, aber im Gegensatz zu dir habe ich Emotionen – und Emotionen verführen manchmal zu irrationalen Handlungen.« »Es tut mir leid für dich, Algonkin«, erwiderte die Psiotronik.
* Algonkin-Yatta hatte noch nicht die Hälfte der Entfernung zu den Bauwerken zurückgelegt, als er erkannte, daß es sich um Ruinen handelte. Atlantis soll sehr alt sein! sagte er sich. Also ist es nur natürlich, daß es darauf auch verfallene Städte und andere verfallene Anlagen gibt! Er merkte aber bald, daß er sich aus Verzweiflung an diese Gedanken klammerte. In Wirklichkeit ahnte er, daß sich seine Hoffnungen hier nicht erfüllen würden. Der Kundschafter bog einen Kilometer vom Rand der Stadt ab und schlug einen großen Kreis ein, der ihn in einigermaßen sicherer Entfernung einmal um die Ansammlung von Bauwerken bringen sollte. Als er irgendwo weit entfernt zwei Gestalten über einen Hügel laufen sah, die riesigen Laufvögeln ähnelten, war er versucht, ihnen nachzufliegen. Er vermochte diesen Impuls jedoch wieder zu unterdrücken und zu der Vorgehensweise eines Kundschafters von Ruoryc zurückzukehren. Aus einem Kilometer Entfernung sahen die Ruinen der Bauwerke düster und bedrückend aus. Eine steife Brise wehte und erzeugte in den Fensteröffnungen, Rissen, Vorsprüngen und Erkern der Ruinen seltsam klagende Töne, die kalte Schauer über den Rücken des Kundschafters jagten.
Am schlimmsten aber dünkte es Algonkin-Yatta, daß sich kein einziges Lebewesen in den Ruinen zeigte. Alles war tot und steril – und doch mußten hier einmal intelligente Lebewesen gewohnt haben. Nach der Umkreisung der Stadt steuerte Algonkin-Yatta die Zeitkapsel mitten zwischen die Ruinen, dann öffnete er die Schleuse, stellte sich in die Öffnung und richtete seinen Impulsdetektor auf die Wandungen der düstergrauen Bauten. Kurz darauf starrte er entsetzt auf die Anzeigen. Sie wiesen eindeutig aus, daß die Ruinen aus einem Material gebaut worden waren, das man auf von Menschen bewohnten Welten unlegierten Stahl nannte. Unlegierte Stähle aber pflegten bei Zufuhr von Feuchtigkeit und Sauerstoff recht schnell zu rosten, wenn man sie nicht regelmäßig mit Kunststoff besprühte oder anderweitig schützte. Billige Schutzschichten hielten nicht lange, teurere etwas länger. Die Schutzbeschichtung der Ruinen aber bestand aus dem billigsten Plastikmaterial. Dennoch bildete sie überall dort, wo keine Schäden durch äußere Einwirkungen vorhanden waren, eine geschlossene Schicht und wo sie aufgerissen oder sonstwie beschädigt war, ließ sich nur spärlicher Ansatz von Rost erkennen. Folglich mußten die jetzigen Ruinen noch vor wenigen Wochen intakte Bauwerke gewesen sein! Das wiederum bedeutete, daß sich hier vor nicht langer Zeit entweder heftige Kämpfe abgespielt oder Naturkatastrophen ereignet haben mußten, die vielleicht ganz Atlantis verwüstet hatten. Der Wind wurde stärker und entwickelte sich innerhalb weniger Minuten zu einem Sturm, der aus den Ruinen die reinsten Orgelpfeifen machte. Die Zeitkapsel wurde von besonders starken Böen bedenklich gegen die Ruinen abgedrängt. Algonkin-Yatta verließ die Ruinenansammlung und steuerte aufs freie Land hinaus. Langsam ließ er die Kapsel in eine tiefe
18 Schlucht sinken, deren Ränder verrieten, daß hier noch vor kurzer Zeit mächtige Wassermassen mit großer Geschwindigkeit hindurchgeschossen waren. Also eine Naturkatastrophe! dachte er – und ihm fiel ein, daß die Terraner ihm erzählt hatten, vor dem Auftauchen des Neuen Atlantis wären auf der Erde Gerüchte umgelaufen, die besagt hatten, daß das Neue Atlantis auch eine neue Sintflut bringen würde. Konnte es sein, daß das Neue Atlantis auch hier, wo immer das war, eine Sintflut hervorgerufen hatte? Zum erstenmal wurde es Algonkin-Yatta klar, daß er überhaupt nicht wußte, ob er sich auf einem gewöhnlichen Planeten befand, auf dem das Neue Atlantis aufgepfropft worden war oder ob das Neue Atlantis für sich allein im Raum trieb. Er musterte die Ortungsanzeigen, schüttelte den Kopf und akzeptierte dann die Tatsache, daß sie verrückt spielten. Sie zeigten Werte an, die einfach unglaublich waren und sich zudem noch gegenseitig widersprachen. Eine Weile versuchte Algonkin-Yatta, sich einen Reim darauf zu machen, dann gab er es auf. »Jetzt brauchte ich die Psiotronik!« stellte er fest. »Das kann nicht Atlantis sein«, sagte die Stimme Loggys. Im nächsten Moment tauchte die Gestalt Loggys halb durchsichtig und scheinbar von wallendem grauen Rauch erfüllt, über dem Steuerpult auf. »Aber sicher ist das Atlantis!« widersprach der Kundschafter und deutete auf die Anzeigen des Spürgeräts. »Das sind genau die gleichen modifizierten Tachyonenimpulse, die das Neue Atlantis als Reststrahlung sowohl auf der Erde als auch auf Loors zurückließ – und sie kommen von dem Himmelskörper, über dem wir schweben.« »Es herrscht keine Identität, sondern nur Analogie«, entgegnete das seltsame Wesen. »Ich spüre es, obwohl ich nicht sagen könnte, woran du es erkennen kannst.« Der Kundschafter dachte darüber nach,
H. G. Ewers dann sagte er: »Ich kann nur Fakten anerkennen, die meßbar sind. Vielleicht erhalte ich Klarheit über die Natur dieses Himmelskörpers, wenn ich uns ein paar Jahre in die Vergangenheit versetze.« Fragend sah er in Loggys Richtung; aber sein Partner war schon wieder verschwunden. Algonkin-Yatta konzentrierte sich auf die Zeitversetzung, die auf jeden Fall exakt bestimmt werden mußte, wenn er anschließend auf die gleiche Zeitebene zurückkehren wollte, auf der er sich befand. Danach fuhr er mit der rechten Hand langsam über die farbigen Linien, die die Innenfläche der Kapsel bedeckten und eine Art Schaltmuster darstellten, mit der eine kontrollierte Zeitversetzung möglich wurde. Wieder blitzten die bekannten goldfarbenen Lichtpunkte auf, dröhnten die dumpf hallenden Gongschläge. Erwartungsvoll schaute Algonkin-Yatta auf die Bildschirme der Außenbeobachtung. Doch die nebelartigen Schleier, die sonst eine Bewegung über die Zeitspur ankündigten und begleiteten, blieben aus. Statt dessen erloschen die goldfarbenen Lichtpunkte. Dort, wo sie geleuchtet hatten, blinkten grüne Lichter, dann erloschen auch sie. Auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung hatte sich nichts verändert. Erschüttert setzte sich der Kundschafter. »Es ist nicht Atlantis«, stellte er fest. »Es ist ein Analogkörper, der zwar die gleiche Masse besitzt wie Atlantis, aber in eine dimensional übergeordnete Strukturblase gehüllt ist, die einen Kontakt mit dem normalen Kontinuum verhindert und auch keine Zeitversetzung in ihrem Innern zuläßt.« Und das bedeutet, daß ich für unbestimmte Zeit zum Gefangenen dieses Analogkörpers geworden bin! fügte er in Gedanken hinzu.
4.
Die Zeitpanne Die schemenhafte Erscheinung Loggys schwebte aus der Mini-Psiotronik der Zeitkapsel und nahm über dem Boden der Kapsel feste Formen an. »Hast du es geschafft?« erkundigte sich Algonkin-Yatta, während er die Zeitkapsel dicht über die Oberfläche eines Schlammsees steuerte, aus dem zahlreiche kalkweiße Bergspitzen gleich den Zahnruinen eines toten Ungeheuers ragten. »Was meinst du damit?« fragte Loggy. »Du sagtest mir einmal, daß du eines Tages immun werden würdest gegen den Zwang, immer wieder in andere Zeitebenen verschoben zu werden«, antwortete der Kundschafter. »Ach, so«, meinte Loggy. »Das habe ich leider noch nicht geschafft, aber in der Nähe des Analogkörpers werde ich diesem Zwang wahrscheinlich nicht mehr erliegen. Ich bin also daran interessiert, daß wir möglichst lange hierbleiben. Dennoch frage ich dich, wonach du suchst.« »Nach Zeugen von Aktivitäten intelligenter Lebensformen«, erklärte Algonkin-Yatta. »Wenn dieser Analogkörper etwas mit Atlantis zu tun hat, dann finde ich vielleicht Anzeichen dafür, daß Atlan auf Atlantis war und wohin Atlantis verschwunden ist.« »Dorstellarain!« sagte Loggy scheinbar zusammenhanglos. Der Kundschafter blickte seinen Partner verblüfft an und hätte dabei die Kapsel beinahe gegen einen Felsgipfel gesteuert. Im letzten Augenblick konnte er sie nach rechts ziehen. Dadurch geriet ein allmählich ansteigender Felsrücken in sein Blickfeld. »Was war das?« fragte er. »Ich weiß es nicht, Algonkin«, erwiderte Loggy verwirrt. »Ich sprach den Namen aus, bevor es mir bewußt wurde. Es muß mir eingegeben worden sein.« »Magie«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Du sprichst natürlich stärker auf Magie an, weil du selbst die Fähigkeit besitzt, magische Prozesse zu schalten. Dorstellarain ist demnach der Name einer Person, die uns eventuell weiterhelfen kann.«
19 Nachdenklich blickte er über die Schlammassen des Sees. »Die Sintflut muß fürchterlich gewütet haben. Sie kann nur von jemandem überlebt worden sein, der entweder über ausreichende technische Hilfsmittel verfügte oder sich aber zu der Zeit auf einer Erhöhung aufhielt, die über dem höchsten Wasserstand lag.« Sein Blick wurde von dem Schlammsee abgelenkt und gleichsam mit magischer Kraft auf den Felsrücken rechterhand gelenkt. Er wanderte ihn hinauf bis dorthin, wo er sich in dichten Wolken verlor. »Sein höchster Punkt dürfte oberhalb der Linie des höchsten Wasserstands liegen«, meinte er und steuerte die Zeitkapsel auf den Felsrücken zu. »Was für ein Zufall, daß der Felsrücken in dem Augenblick in Sicht kam, als du den Namen Dorstellarain erwähntest!« »Magische Kräfte lenken die Geschicke des Lebendigen und des Nichtlebendigen innerhalb des Bannkreises der Dimensionsschleppe«, sagte Loggy monoton. Der Kundschafter sah, daß sein Partner die Augen geschlossen hatte und begriff, daß etwas Unbegreifliches ihn als Medium benutzte, um ihm, dem Kundschafter, Informationen zukommen zu lassen. Um den Analogkörper schien eine magische Sphäre zu liegen, die auf rätselhafte Weise eine Art Eigenleben entwickelte. Stöhnend öffnete Loggy die Augen. »Was habe ich gesagt?« fragte er unsicher. »Du sagtest, der Analogkörper sei eine Dimensionsschleppe«, antwortete AlgonkinYatta. »Aber was ist eine Dimensionsschleppe? Eine hinterher geschleppte Dimension oder etwas, das durch eine andere Dimension geschleppt wird – und zwar von einem ziehenden Objekt, das eventuell durch normale Dimensionen oder durch unbekannte Dimensionen reist.« »Atlantis!« rief Loggy. »Atlantis ist der Schlepper, der den Analogkörper in einer anderen Dimension als er selbst hinter sich her zieht – oder gezogen hat!« Der Kundschafter steuerte die Kapsel in
20 die Wolken hinein und zog sie vorsichtshalber in steilerem Winkel als zuvor höher. Er wollte nicht leichtfertig gegen eine Felswand prallen. Nach einiger Zeit ließ die Zeitkapsel die Wolkenschicht hinter sich zurück. Auf den Bildschirmen war voraus eine weite Hochebene zu erkennen, im Hintergrund von einem nackten Bergmassiv begrenzt und mit einem See, dessen kreisrunde Form auf eine vulkanische Entstehungsgeschichte schließen ließ. Die grünen Ufer des Sees und das sich im Winde wiegende Schilf verrieten eindeutig, daß hier keine Sintflut gewütet hatte. Und ein aus unterschiedlichen Brettern zusammengenageltes zeltförmiges Bauwerk bewies, daß mindestens ein intelligentes Lebewesen die Sintflut überlebt hatte. Ohne Scheu steuerte Algonkin-Yatta die Zeitkapsel neben die Hütte, verankerte sie mit einem Kraftfeld dicht über dem Boden und stieg aus. Niemand war zu sehen, aber ein paar von Fliegen bedeckte Geflügelknochen verrieten, daß jemand vor nicht allzu langer Zeit eine Mahlzeit gehalten hatte. »Dorstellarain!« rief Algonkin-Yatta. Jemand murmelte etwas Unverständliches. Da die Laute aus dem Innern der Hütte gekommen waren, ging der Kundschafter zu ihr und bückte sich, um das Halbdunkel darin zu mustern. Eine von Pelzen größtenteils verhüllte Gestalt regte sich, stieß Laute einer unbekannten Sprache aus und kroch schließlich ins Freie. Algonkin-Yatta sah, daß es sich bei dem Fremden um einen Humanoiden männlichen Geschlechts handelte, denn das Wesen trug einen Stoppelbart. Er war ein wahrer Hüne und überragte den Kundschafter um mindestens sechzig Zentimeter, maß also zirka 2,20 Meter. Aber außer dem verblichenen »Besitzer« der Geflügelknochen schien er seit mindestens einer Woche nicht einen Bissen zwischen die Zähne bekommen zu haben. Sein Gesicht war tief eingefallen,
H. G. Ewers und das, was Algonkin-Yatta von seinem Körper zu sehen bekam, sah nicht besser aus. Langsam richtete Dorstellarain sich auf und musterte den Kundschafter aus getrübten dunkelblauen Augen. Nach einigen Minuten wurde sein stumpfer Blick jedoch hell und verriet die Intelligenz, die hinter den Augen steckte. Die Art, wie Dorstellarain auf ihn herabsah, verriet Algonkin-Yatta rechtzeitig, was er plante. Als der Hüne sich auf den Kundschafter stürzte, wich er nicht aus, sondern tat einen Schritt nach vorn, bückte sich und richtete sich im nächsten Augenblick mit der Kraft eines hochschnellenden Astes wieder auf. Dorstellarain gab einen dumpfen Laut von sich und flog einige Meter durch die Luft. Unmittelbar vor der Zeitkapsel landete er unsanft auf dem Gesicht. Der Kundschafter wartete, bis er sich wieder aufgerappelt hatte, dann öffnete er einen Konzentratriegel, brach ein Stück ab, das in seinem Nährwert und Wirkstoffgehalt einer vollwertigen Mahlzeit entsprach und hielt es Dorstellarain auf der ausgestreckten Hand hin. Als der Abgemergelte den Bissen nur mißtrauisch anstarrte, biß Algonkin-Yatta ein Stück ab und aß es selbst. An Dorstellarains Augen war zu sehen, wie die Gier über das Mißtrauen siegte. Er griff nach dem Konzentrat, wich ein paar Schritte zurück und aß es dort hastig, dabei ständig den Kundschafter beobachtend. Als Dorstellarain seine Mahlzeit beendet hatte, wirkte er wie verwandelt. Er lächelte Algonkin-Yatta freundlich an und bedeutete ihm durch Gesten, daß er seinen Angriff auf ihn bedauerte. Der Kundschafter lächelte zurück und sagte: »Sprechen wir nicht mehr davon, Dorstellarain, sondern fangen wir mit dem Sprachkursus an. Mein Name ist Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc …«
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* Es dauerte vier Stunden, bis eine differenzierte Form der Kommunikation zwischen Algonkin-Yatta und Dorstellarain möglich war. Das lag nicht etwa an einer Unzulänglichkeit von Algonkins Übersetzungsgeräten, sondern daran, daß der Hüne gleich am Anfang positiv auf das Wort Atlantis reagierte. Aus diesem Grund entschloß sich der Kundschafter, unverzüglich die auf Atlantis gebräuchliche Sprache zu erlernen, denn er war sicher, daß er demnächst Atlantis betreten und dort die Suche nach Atlan wieder aufnehmen würde. Von Dorstellarain erfuhr Algonkin-Yatta später, daß Atlantis eigentlich Pthor hieß (und die auf Pthor gebräuchliche Sprache Pthora genannt wurde). Aber in erster Linie interessierte sich der Kundschafter dafür, ob Dorstellarain jemals etwas von Atlan gehört und eventuell erfahren hatte, wo der Arkonide sich befand. »Atlan?« fragte Dorstellarain und kratzte sich in seinem verdreckten rostroten Haar. »Was willst du von Atlan?« »Du weißt also, wer Atlan ist«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Ich will weiter nichts, als ihn persönlich kennenlernen – und vielleicht gestattet er mir, ihm zu helfen.« »Du kennst ihn nicht, Kundschafter?« fragte Dorstellarain. »Ich kenne ihn sogar sehr gut, denn ich bin seit Jahren auf seiner Spur und habe mit zahlreichen Intelligenzen gesprochen, die ihn persönlich kannten. Und das ist es, was ich will: ihn endlich persönlich kennenlernen und ihm die Hand drücken.« »Dann brauchst du ihm nur nach Pthor zu folgen«, meinte Dorstellarain trocken. »Er ist nämlich mit einem gewissen Grizzard und einer idiotischen Brandstifterin nach Pthor gegangen, um es unter seine Kontrolle zu bekommen.« »Dann ist er wahrscheinlich inzwischen schon König von Atlantis!« meinte der Kundschafter erfreut. »Wie komme ich nach
Pthor, mein Freund?« »Überhaupt nicht«, antwortete Dorstellarain. »Pthor hat die Verbindung zu seiner Dimensionsschleppe gekappt und ist mit unbekanntem Ziel gestartet. Die Trennung ist auch der Grund dafür, warum die Schleppe von Beben geschüttelt und von einer großen Flut aus Schmelzwasser ersäuft wurde – und warum wir beide hier verhungern werden, falls du kein Zauberer bist.« Algonkin-Yatta hatte das Gefühl, aus großer Höhe abzustürzen. Eben noch war die Freude über Atlans Erfolg rauschartig über ihn gekommen – und nun entnahm er Dorstellarains Worten, daß Atlans Pläne offenbar fehlgeschlagen waren, denn andernfalls hätte der Arkonide es niemals zugelassen, daß die Dimensionsschleppe verwüstet wurde. »Die Vorräte, die du in deinem komischen Fahrzeug hast, werden nämlich nicht ewig reichen«, fuhr Dorstellarain fort. »Und an diesem Ort, an dem die Flut nicht alles Leben getötet hat, gibt es außer ein paar Schwimmvögeln, Insekten, Schlangen und absterbenden Schneepilzen nichts Eßbares.« Er deutete auf seine kümmerliche Bretterhütte. »Auf dem Boden meiner Hütte wurde ich hier angeschwemmt, die übrigen Bretter fand ich, als die Flut zurückgegangen war. Aber ich vermochte nichts zu retten, was sich als Jagdinstrument gebrauchen ließe. Der Schwimmvogel, dessen Knochen hier herumliegen, war krank und konnte nicht mehr fliegen, sonst hätte ich ihn nicht mit einem Stein totwerfen können. Die Schneepilze, die es hier gibt, verfaulen allmählich, weil die Temperatur sich erhöht hat.« Dorstellarain spie auf den Boden: »Was immer mit Pthor geschieht, es wird uns nichts nützen, denn wenn wir nicht verschmachten, werden wir früher oder später zusammen mit der Dimensionsschleppe in die Schwarze Galaxis zurückgeholt, aus der Pthor angeblich stammt. Wenn wir dann noch leben, werden die Mächte der Schwarzen Galaxis uns als ihre Sklaven halten.
22 Aber ich werde mich lieber in diesen See stürzen und darin den Tod suchen, als es soweit kommen zu lassen.« »Das wäre ein Fehler«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Atlan würde so etwas bestimmt nicht tun, sondern versuchen, die Mächte der Schwarzen Galaxis zu besiegen.« »Ich bin nicht Atlan«, erklärte Dorstellarain dumpf. »Niemand kann sein wie Atlan!« rief der Kundschafter aus. »Aber auch ein Kundschafter von Ruoryc gibt niemals auf. Dorstellarain, wenn du willst, werden wir gemeinsam um unsere Freiheit kämpfen und versuchen, Pthor und damit Atlan zu erreichen.« Er unterbrach sich, als an der Oberfläche der Zeitkapsel in kurzen Abständen grüne Lichter aufflammten. Warnsignale! Mit wenigen Schritten hatte der Kundschafter die Kapsel erreicht. Er sprang hinein und überflog die Kontrollen. »Was ist los, Algonkin-Yatta?« fragte Dorstellarain und steckte neugierig den Kopf in die Röhrenschleuse, die in den Innenraum der Kapsel führte. »Anscheinend hat die Dimensionsschleppe Fahrt aufgenommen und schickt sich an, auf Überlichtgeschwindigkeit zu beschleunigen«, antwortete der Kundschafter. »Oh, ihr Götter des Regenflusses!« rief Dorstellarain verzweifelt. »Helft mir! Ich habe euch schließlich immer Opfer gebracht, als ich noch Pirat war.« »Wovor fürchtest du dich?« fragte Algonkin-Yatta. Dorstellarain wandte ihm sein vor Entsetzen entstelltes Gesicht zu. »Begreifst du denn nicht!« rief er. »Man holt die Dimensionsschleppe heim in die Schwarze Galaxis! Das bedeutet, daß wir lebend in die Klauen der Dunklen Mächte fallen.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Algonkin-Yatta. »Ich werde dich einfach mitnehmen. Sobald die Dimensionsschleppe die Lichtgeschwindigkeit überschreitet und sich
H. G. Ewers durch ein anders strukturiertes Kontinuum bewegt als jetzt, dürfte ihre Strukturblase den Kontakt mit der Umgebung nicht mehr verhindern. Dann verlassen wir diesen Analogkörper – und außerhalb seines Einflußbereichs gehen wir durch die Zeit zu meinem Kundschafterschiff, das uns im Raum dorthin bringen wird, von wo aus wir in der Zeit Atlantis erreichen.« Dorstellarains Gesicht hellte sich auf. »Bist du sicher, daß du das schaffst, Kundschafter?« »Wir werden sehen«, erwiderte AlgonkinYatta. »Steig ein!«
* Als die Kontrollen anzeigten, daß sich die unsichtbar um die Dimensionsschleppe schließende Strukturblase auflöste beziehungsweise in dem Kontinuum aufging, durch das die Schleppe mit Überlichtgeschwindigkeit raste, fuhren Algonkin-Yattas Finger über die Zeitschaltlinien der Kapsel. Gespannt beobachtete er die goldfarbenen Lichtpunkte, die daraufhin an der Innenwandung aufblitzten – und er lauschte den dumpfen Gongschlägen. Vor sich sah er außerdem Dorstellarains Gesicht, das von einer Mischung aus Grauen und Hoffnung gezeichnet war. Als sich auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung die für Zeitverschiebungen typischen Schleier zeigten, atmete der Kundschafter auf. Zu früh! Hinter den Schleiern tauchten nicht die bekannten Schemen auf; statt dessen wurde es finster. Und in der Finsternis bildeten sich grell leuchtende Schnüre oder Schlangen. Algonkin-Yatta vermochte nichts Genaues zu erkennen. Er schloß geblendet die Augen, dann suchten seine Hände nach einem Halt, als die Zeitkapsel in heftige Schwingungen versetzt wurde. Er hatte das Gefühl, als wäre die Kapsel zu einem Tennisball für imaginäre Giganten geworden, die sich mit
Die Zeitpanne Schmetterschlägen gegenseitig auszutricksen versuchten. Von überall zugleich kamen die gellenden Entsetzensschreie eines ehemaligen Piraten von Pthor, dessen Nerven unter dieser letzten Anspannung gerissen waren. Algonkin-Yatta schloß die Augen und preßte die Handflächen gegen seine Ohren. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, ebbten die Schwingungen ab. Dorstellarain verstummte – und kurz darauf verriet ein dumpfer Aufprall, daß der Pthorer bewußtlos zusammengebrochen war. Algonkin-Yatta nahm die Hände von den Ohren, öffnete die Augen und würgte eine aufsteigende Übelkeit hinunter. Mit aller Willenskraft konzentrierte er sich darauf, seine Lage zu überschauen. Die goldfarbenen Lichtblitze an den Wänden waren erloschen, und auch die Gongschläge waren verstummt. Die Kontrollen zeigten an, daß die Kapsel in eine strukturell stabile Lage glitt – und auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung waren der Bergsee und die Bretterhütte Dorstellarains zu sehen. Aus den Kontrollen kroch ein matt zuckendes Flämmchen und flüsterte kaum hörbar: »Wir kommen nicht weg, Algonkin. Die Kapsel ist temporär auf die Schleppe fixiert.« Der Kundschafter wischte sich über die Augen. »Loggy?« fragte er unsicher und besorgt. »Ja!« flüsterte das Flämmchen. »Es ist noch nicht schlimm. Der Versuch hat nur meine sechsdimensionale Aufladung geschwächt.« »Aber bei einem zweiten Versuch würde es schlimm für dich werden«, sagte Algonkin-Yatta. »Ich verstehe.« »Nimm keine Rücksicht auf mich!« sagte Loggy. Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Das wäre ja noch schöner, Freund und Partner. Selbstverständlich stelle ich die Versuche ein. Aber ich denke, daß ich eine
23 andere Möglichkeit finde, uns von der Dimensionsschleppe zu lösen – egal ob zeitlich oder räumlich.« Dorstellarain regte sich. »Gynsaal!« flüsterte er. »Was meint er?« wandte Algonkin-Yatta sich an Loggy. Doch das seltsame verwandlungsfähige Wesen war schon wieder verschwunden. Dorstellarain wälzte sich auf den Rücken, verdrehte die Augen und sagte geistesabwesend: »Der Außenwelt zu zürnen, wäre töricht; sie kümmert sich nicht darum.« Algonkin-Yatta seufzte, dann erinnerte er sich an die Flasche Calvados, die er von dem reichlichen Vorrat, den der Barde Juan Pincenez ihm und Anlytha geschenkt hatte, in der Zeitkapsel verstaut hatte. Er öffnete sie, goß einen Trinkbecher voll, hob Dorstellarains Kopf an und setzte ihm den Becher an die Lippen. »Trink!« befahl er. Dorstellarain gehorchte mechanisch und leerte den Becher in einem einzigen durstigen Zug. Danach holte er tief und geräuschvoll Luft, riß die Augen weit auf und fragte: »Woher kommt dieser göttliche Nektar?« »Von einem Planeten namens Erde«, antwortete der Kundschafter. »Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Mich interessiert, was du mit dem Wort ›Gynsaal‹ gemeint hast.« »Gynsaal?« fragte Dorstellarain. »Habe ich das gesagt? Dann muß ich es unabsichtlich gesagt haben. Es ist nur der Name der einstigen Zentrale, von der aus die Dimensionsschleppe beherrscht wurde, bevor die Katastrophe alles zerstörte.« Algonkin-Yatta dachte über diese Antwort nach, dann meinte er: »Vielleicht ist nicht alles zerstört. Jedenfalls kann es nicht schaden, wenn wir uns dort umsehen. Kannst du mir den Weg zeigen, Dorjan?« »Dorjan?« fragte Dorstellarain verwundert. »Dorjan oder Dorian; such dir einen Namen aus!« erklärte Algonkin-Yatta. »Dein
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vollständiger Name ist mir zu lang. Du darfst mich dafür Algonkin nennen.« »Einverstanden«, erwiderte Dorstellarain. »Nenne mich Dorjan, Algonkin! Hm, ich denke, ich könnte mich an den Weg nach Gynsaal erinnern, wenn ich noch einen Becher dieses Gedächtnisauffrischers trinke.« »Einen Becher opfere ich noch, aber nicht mehr«, sagte der Kundschafter.
* Anderthalb Stunden später schwebte die Zeitkapsel über einer Trümmerwüste, die zu zwei Dritteln unter angeschwemmtem Schlamm und Sand begraben lag. »Wenn ich nicht wüßte, daß das Gynsaal ist, ich würde es bezweifeln. Das hat keine Ähnlichkeit mehr mit der Zentrale, wie ich sie kennengelernt habe.« Ratlos starrte Dorstellarain auf die Schirme. Algonkin-Yatta blickte von seinen Kontrollen hoch und sagte: »Die Instrumente der Kapsel messen drei Stellen an, die sich von ihrer toten Umgebung durch energetische Aktivität großer Bandbreite abheben.« Er steuerte einen Punkt der Alptraumlandschaft an, an dem verdrehte Metallkonstruktionen aus meterhohem Schlamm ragten. »Viereinhalb Meter unter dem Schlamm arbeitet etwas, das die Zeitschaltung beeinflußt«, stellte er fest. »Paß auf!« Algonkin-Yatta erhob sich und fuhr mit den Fingern eine der Linien an der Innenwand entlang. Nichts geschah. »Ich sehe nichts«, meinte Dorstellarain. »Das meine ich ja«, erwiderte der Kundschafter. »Die fremde Energie löscht anscheinend jede Zeitschaltung in dem Augenblick, in dem sie vorgenommen wird.« »Es handelt sich um magische Energie, die von außerhalb ankommt, hier modifiziert wird und anscheinend dafür sorgt, daß die Dimensionsschleppe mit allem, was sich darauf befindet, in die Schwarze Galaxis geholt wird«, erklärte Loggy, der wieder in humanoider, wenn auch zwergenhafter Gestalt
erschienen war. »Was ist das?« erwiderte Dorstellarain und musterte die Erscheinung mit finsterem Blick. »Mein Freund und Partner Loggy«, sagte Algonkin-Yatta. »Und woher ist er gekommen?« fragte Dorstellarain. »Er pendelt laufend zwischen den Zeiten«, erklärte der Kundschafter. »Aber nicht für immer«, stellte Loggy fest. »Warum zerstörst du die Anlage nicht einfach, Algonkin?« »Du denkst auch, daß danach eine Flucht von der Schleppe möglich sein wird?« fragte Algonkin-Yatta. »Ich bin sicher«, antwortete Loggy. »Dann werden wir alle drei Anlagen zerstören, die hier in Gynsaal noch arbeiten«, erklärte der Kundschafter. »Aber ich möchte nach ihrer Zerstörung sofort verschwinden, wenn das überhaupt möglich ist, denn ich rechne damit, daß die Herren der Schwarzen Galaxis sehr hart reagieren, wenn ihre magische Verbindung zur Dimensionsschleppe zerrissen wird.« »Aha, du überlegst, wohin wir verschwinden sollen!« rief Loggy. »Ist das nicht egal?« Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Nein, denn ohne fremde Hilfe werden wir wahrscheinlich die Spur von Atlantis und damit auch von Atlan nicht wieder aufnehmen können. Und ich weiß auch schon, wer uns helfen wird.« »Wer?« fragte Dorstellarain. »Perry Rhodan«, sagte Loggy. »Perry Rhodan und die besten Wissenschaftler der Erde«, erklärte Algonkin-Yatta. »Perry als Freund Atlans wird alles tun, um mir bei der Suche nach ihm zu helfen.« »Die Erde ist ein Planet?« fragte Dorstellarain. Als Algonkin-Yatta bejahte, sagte er freudig erregt: »Das ist gut, denn ich wollte schon immer einen echten Planeten kennenlernen, der noch nicht von Atlantis verdorben wurde. Gibt es auf der Erde Meere und Schiffahrt darauf?«
Die Zeitpanne »Sicher«, antwortete der Kundschafter. »Dann werde ich mir ein gutes Schiff kapern und mir eine Mannschaft suchen, mit der ich die Meere unsicher und uns reich machen kann!« brüllte Dorstellarain. »Wenn du gern ausgelacht wirst, dann versuche es!« sagte Algonkin-Yatta. »Die Erde ist die Zentralwelt eines großen Sternenreichs. Was meinst du, welche Chancen der ehemalige Pirat von Pthor hätte, seine Laufbahn auf der Erde fortzusetzen!« »Hm!« brummte Dorstellarain verlegen. »Aber ich möchte nicht untätig irgendwo herumsitzen.« »Du brauchst nur auf der Dimensionsschleppe zu bleiben«, meinte Loggy. »Dann würden die Herren der Schwarzen Galaxis schon dafür sorgen, daß du dich bewegst.« »Als wir zuletzt auf der Erde waren, schrieb man dort den Februar des Jahres 2649«, überlegte der Kundschafter laut. »Vor diesem Termin möchte ich nicht ankommen, denn dann müßte ich Perry Rhodan erst umständlich erklären, woher wir kommen und daß wir später noch einmal gekommen werden waren …« »Hä?« unterbrach Dorstellarain ihn begriffsstutzig. »Das Vokabular des Zeitreisenden ist für Normale verwirrend«, meinte der Kundschafter. »Manchmal komme ich selbst durcheinander. Aber, halten wir uns nicht damit auf! Ich denke, wenn wir etwa Mitte Oktober des Jahres 2649, also rund acht Monate nach unserem ersten Besuch ankommen, dürfte es keine Verwirrung geben.« Er führte mit Hilfe der Mini-Psiotronik, einem Ableger der Psiotronik des Kundschafterschiffs, einige Berechnungen durch. Anschließend stellte er drei handliche Sprengsätze auf einen gemeinsamen Explosionszeitpunkt ein. Da die Zeitkapsel weder mit Strahlwaffen noch mit Abwurf- oder Abschußvorrichtungen ausgestattet war, mußte der Kundschafter die Sprengsätze aus der offenen Schleuse auf die Stellen in der Schlammschicht werfen, unter der sich die energetisch aktiven
25 Anlagen befanden. Als das erledigt war, steuerte Algonkin-Yatta die Zeitkapsel auf eine Höhe von drei Kilometern und wartete dort. Die überlichtschnell arbeitenden Instrumente der Kapsel zeigten die drei gleichzeitigen Explosionen an, bevor die Besatzung sie sehen konnte. Ohne zu zögern, fuhr der Kundschafter die Zeitschaltlinien entlang und erzeugte das Schaltmuster, das er mit Hilfe der MiniPsiotronik errechnet und sich eingeprägt hatte, damit es im entscheidenden Augenblick keine Verzögerung gab. Und plötzlich schien das Universum zu bersten. Algonkin-Yatta sah flammendrote Risse auf den Bildschirmen – und einen Herzschlag später nachtdunkle Schwärze, aus der sich nach kurzer Zeit zwei Feuerspiralen schälten: die beiden Galaxien, zwischen denen sich die Zeitkapsel befand. Von der Dimensionsschleppe aber war keine Spur mehr zu sehen. Sie trieb in einer anderen Zeitphase und würde noch in Tausenden von Jahren ziellos dahintreiben, wenn es den magischen Kräften der Schwarzen Galaxis nicht gelang, sie wieder einzufangen und zurückzuholen. Dafür hing etwas anderes düster und kompakt ganz in der Nähe der Kapsel im Raum: ein ovales Raumschiff mit grünlich schimmernder glasähnlicher Außenhülle von dreiundsechzig Metern Länge, einem Maximumdurchmesser von neununddreißig Metern und verschiedenen Ausbuchtungen, deren Zweck von Fremden nicht so leicht erkennbar war. Das Kundschafterschiff! Dorstellarain starrte lange auf den Bildschirm, der das Schiff des Kundschafters von Ruoryc zeigte, dann fragte er: »Kann es denn auch durch die Zeit reisen, Algonkin?« »Nein«, antwortete der Kundschafter mit hintergründigem Lächeln. »Wie kommt es dann hierher?« wollte der ehemalige Pirat wissen. »Wir sind doch durch die Zeit gereist, um zu einem be-
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stimmten Termin auf dem Planeten Erde anzukommen, oder? Wieso finden wir das Kundschafterschiff dann in derselben Zeit?« »Das ist mein Geheimnis«, erklärte Algonkin-Yatta. »Aber ich will dir einen Denkanstoß geben: Alles existiert in jedem Augenblick.« Dorstellarain blickte ihn verwirrt an, aber der Kundschafter ließ sich davon nicht beirren. Er schaltete das Funkgerät ein und sagte: »Algonkin an Anlytha! Wir möchten einschleusen.« Eine ganze Weile war nur leises Knistern und Rauschen zu hören, dann sagte eine zarte Stimme nach einer Folge zwitschernder Töne: »Na, endlich! Ich bin schon uralt geworden beim Warten auf dich. Hoffentlich bleibst du mal ein paar Jahre in der gleichen Zeitphase wie ich.« »Später, Anlytha«, erwiderte Algonkin-Yatta ungeduldig. »Zuerst müssen wir zur Erde fliegen und …« »Zur Erde!« jubelte Anlytha. »Zur Welt der milliardenfachen Kostbarkeiten!« Der Kundschafter seufzte. »Ich wollte, du würdest dir bei deinen Diebereien einmal die Finger einklemmen.« »Das wird nicht geschehen, Algonkin!« erwiderte Anlytha. »Warum schleust du nicht endlich ein?« Ihr Gesicht erschien auf einem Bildschirm – und es hatte keinen Ausschlag!
5. Das Kundschafterschiff kam nach langem Überlichtflug innerhalb eines dunklen Gasnebels zum relativen Stillstand. Dorstellarain blickte nacheinander auf alle Bildschirme der Außenbeobachtung, dann fragte er enttäuscht: »Ist die Erde so klein, daß man sie mit dem bloßen Auge nicht sehen kann?« Der Kundschafter lachte. »In diesem Nebel gibt es keinen Planeten. Es soll uns auch nur als Versteck für das
Kundschafterschiff dienen. Wir aber werden mit der Zeitkapsel die letzte Etappe des Zeitphasenwechsels bis zum Oktober 2649 bewältigen.« »Ich dachte, wir wären schon in der richtigen Zeit«, sagte Dorstellarain verwundert. »Verwirrend sind die Geheimnisse von Zeit und Raum«, sagte Algonkin-Yatta und nahm die entscheidenden Schaltungen vor. Aber noch während er die letzten Linien entlangfuhr, sah er, wie der Anfang des Musters aufleuchtete – und wie die leuchtende Linie von denen abwich, die er berührt hatte. »Algonkin!« kreischte Anlytha. Draußen legte sich ein undurchdringlicher Schleier um die Kapsel, verbarg sie vor der Außenwelt und verbarg die Außenwelt vor den organischen und elektronischen Augen der Kapselinsassen. Die gewohnten goldfarbenen Lichtpunkte glommen an der Innenwandung auf. Dumpf hallende Schläge ertönten. Es war alles wie immer, nur hatten die Schaltlinien dem Steuermann nicht gehorcht. Die Konsequenzen waren dem Kundschafter klar. Dennoch versuchte er nicht, das Verhängnis durch erneutes Nachziehen der richtigen Linien vielleicht abzuwenden, denn jeder Eingriff konnte eventuell die Fehlleistung der Kapsel noch vergrößern. Nur Loggy konnte vielleicht noch helfen. Aber er war nicht mehr da und erschien auch dann nicht, als Algonkin-Yatta nach ihm rief. Sekunden später hätte auch er nichts mehr ändern können, denn es gab einen heftigen Knall, die Lichtpunkte erloschen schlagartig, und aus einem Riß der Innenwandung drang gelblicher Rauch. Algonkin-Yatta und Dorstellarain versuchten hustend, die Glut auszutreten, die sich ihren Blicken entzog, aber als Ursache des Rauches vorhanden sein mußte. Es gelang ihnen nicht. Immer dichter wurde der Rauch in der Innenzelle. »Wir müssen hinaus!« schrie Anlytha verzweifelt. »Sonst verbrennen wir!«
Die Zeitpanne »Helme schließen!« erwiderte der Kundschafter. Er und Anlytha schlossen die Druckhelme ihrer Raumkombination. Dorstellarain starrte mit tränenden Augen um sich. »Willst du mich ersticken lassen!« schrie er den Kundschafter an. »Ich muß landen!« gab Algonkin-Yatta zurück. Er sah, daß Dorstellarain sich aus Verzweiflung auf ihn stürzen wollte und betäubte ihn mit einer Kopfnuß. »Tut mir leid, aber ich kann nicht landen, wenn du mich dauernd anzugreifen versuchst«, sagte er. »Wo willst du eigentlich landen?« fragte Anlytha. »Ich denke, in der Nebelwolke gibt es keinen Planeten.« »Ich hatte die Raumsteuerung der Kapsel programmiert und gleichzeitig mit der Zeitsteuerung eingeschaltet«, gab Algonkin-Yatta zurück, während er die Automatik ausschaltete und die Manuellbedienung aktivierte. »Wenn sie nicht auch verrückt gespielt hat, müßten wir dicht über der Erdoberfläche sein.« Endlich gelang es ihm, den Rauch von einem Bildschirm fortzuwedeln, so daß er wenigstens sehen konnte, was sich unter der Kapsel befand. »Wir sind doch noch ziemlich hoch«, erklärte er. »Durch eine dünne hohe Wolkenschicht erkenne ich ein Meer, in das eine stiefelförmige Halbinsel ragt. Ich gehe einfach senkrecht hinab, damit wir nicht noch von einem voreiligen Knopfdrucksoldaten abgeschossen werden. Halte dich fest, Anlytha!« Die Zeitkapsel raste mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit durch die Wolkenschicht. Algonkin-Yatta fürchtete nicht wirklich den Übereifer eines Angehörigen der terranischen Raumverteidigungsorganisation, denn er wußte, daß die Menschen nicht mehr auf alles schossen, was sie nicht kannten. Was er fürchtete, war die zufällige Kollision mit einem startenden oder landenden Raumschiff oder Stratojet. Doch alles ging gut. In dreitausend Metern Höhe öffnete Algonkin-Yatta die
27 Schleuse der Kapsel, so daß der Rauch entweichen konnte. Allerdings verstärkte die Zufuhr frischer Luft die Rauchentwicklung weiter. »Wir müssen im Wasser landen«, sagte Algonkin-Yatta über Helmfunk zu Anlytha. »Anders können wir den Brand nicht löschen.« Er fing den Sturz der Kapsel ab und ließ sie langsam über eine paradiesisch anmutende Landschaft mit Weinbergen, Obstgärten und vereinzelten schmucken Gebäuden gleiten. Der frische Luftzug ließ Dorstellarain erwachen. Hustend stemmte er sich hoch und wankte zur Schleusenöffnung, um mehr frische Luft zu bekommen. Die Kapsel überflog die Küstenlinie und sank, eingehüllt in eine Rauchwolke und dadurch selbst nicht sichtbar, gemächlich auf das leichtbewegte Wasser eines Meeres herab. Von der Schleusenöffnung kam ein Freudenschrei, dann hörte der Kundschafter Dorstellarain rufen: »Und ich werde doch wieder Pirat mit eigenem Schiff, ja sogar mit einer eigenen Flotte, denn nichts ist leichter, als ein solches Schiff zu erobern!« Algonkin-Yatta setzte die Kapsel sanft auf die Wasseroberfläche, dann ging er Dorstellarain nach und musterte das Schiff, das in zirka tausend Metern Entfernung einen Hafen ansteuerte. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Seeschiffen, die der Kundschafter bei seinem ersten Besuch der Erde gesehen hatte. Dieses Schiff war zirka vierzig Meter lang, aus Holz gearbeitet und hatte eine Ruderreihe, zwei Masten und viereckige Segel. Die Segel waren allerdings eingerollt. Das Schiff wurde ausschließlich von vierundvierzig Ruderern mit Hilfe hölzerner Riemen vorangetrieben. Im Bug, der in einen gekrümmten Schiffsschnabel auslief, war eine Enterbrücke untergebracht. »Ich wollte, ich würde die terranische Geschichte besser kennen«, sagte der Kund-
28 schafter. »Dann wüßte ich vielleicht, welcher Zeit dieser Schiffstyp zugerechnet werden kann.« »Das interessiert mich weniger als die Frage, warum die Kapsel sinkt«, entgegnete Dorstellarain. Erschrocken bemerkte Algonkin-Yatta, daß sie Kapsel sich teilweise mit Wasser gefüllt hatte und noch weiter füllte und dabei allmählich tiefer sank. Anlytha und ihm würde das zwar nichts ausmachen, aber Dorstellarain konnte sich unter Wasser nicht helfen und würde ertrinken. »Ich schließe die Schleuse«, sagte er und kehrte um. In der Innenzelle angelangt, sah er, daß das Wasser die Glut gelöscht hatte. »Wenigstens das hat geklappt«, meinte er. »Dorjan, wo bist du?« Aber Dorstellarain antwortete nicht. Notgedrungen watete der Kundschafter durch hüfthohes Wasser zur offenen Schleuse zurück, um Dorstellarain zu holen. Aber der Pthorer hatte wohl kein Vertrauen mehr zur Kapsel gehabt. Algonkin-Yatta sah ihn in zirka zweihundert Metern Entfernung kraftvoll zum Hafenbecken schwimmen. Da er ihm vorerst nicht helfen konnte, ging er in die Innenzelle zurück, verschloß die Schleuse per Fernsteuerung und projizierte einen Feldanker, mit dem er die Kapsel zum Grund des an dieser Stelle zwanzig Meter tiefen Wassers zog. »Was tun wir jetzt?« fragte Anlytha, nachdem sie beide ihre Helme zurückgeklappt hatten. »Abwarten!« antwortete Algonkin-Yatta. »Dorjan kommt wieder.« »Bist du sicher?« erwiderte Anlytha. »Er hat die Mentalität eines Piraten«, erklärte der Kundschafter. »Folglich wird er es nicht über sich bringen, einen solchen Schatz wie die Kapsel mit ihrem wertvollen Inhalt – der dem Besitzer eine haushohe Überlegenheit gegenüber jedem Erdmenschen dieser Zeit verschafft – ihrem Schicksal zu überlassen. Er wird kommen, um entweder unsere Unterstützung zu erhalten oder
H. G. Ewers um die Kapsel, falls wir ertrunken sind, auszurauben.« »Und willst du zulassen, daß er zum Schrecken der terranischen Meere wird?« fragte Anlytha empört. »Ein wenig kann man ihn schon steuern«, meinte Algonkin-Yatta. »Das wäre mir zu unsicher«, entgegnete Anlytha. »Ich denke, es ist sicherer, wenn ich demnächst eine Naherkundung durchführe. Zu dem Hafen dort drüben gehört auch eine Stadt, und der Seehandel wird viele Kostbarkeiten aus allen Teilen der Erde zu ihr gebracht haben.« »Die du natürlich stehlen willst«, ergänzte der Kundschafter. »Aber das kommt nicht in Frage. Solange wir die Verhältnisse auf Terra nicht genau kennen, ist es zu gefährlich für dich, mitten unter Menschen zu gehen, die dich sofort als Fremde erkennen.« »Das werden sie nicht – und du weißt es«, gab Anlytha zurück. »Aber vielleicht wirst du geraubt. Ich habe einmal gehört, daß in primitiven Gesellschaften Frauenraub üblich ist – und ich weiß nicht, wie appetitlich dir ein schmutziger, nach Schweiß stinkender, mit den Fingern essender Wilder als dein Herr und Gemahl wäre.« »Du kannst einem aber auch den besten Spaß verderben, Algonkin!« sagte Anlytha schmollend.
* Dorstellarain hütete sich davor, einem der Schiffe und Boote zu nahe zu kommen. Während seiner Zeit als Pirat war für ihn jeder Hilflose ein willkommener Sklave gewesen, und er befürchtete, daß es hier genauso sein könnte. An der äußeren Mole des Hafens ging er an Land. Zuerst kroch er zwischen zwei Felsblöcke, die vor der Mauer aus dem seichten Wasser ragten. Dort drehte er die Lederstiefel um, die er sich während des Schwimmens unter den schmalen Ledergürtel des Schurzes gesteckt hatte, der ihm als
Die Zeitpanne Unterwäsche diente. Seine Pelzkleidung hatte er noch in der Schleuse der Zeitkapsel abgestreift und ins Wasser geworfen. Sie hätte ihn, nachdem sie sich voll Wasser gesaugt hatte, nur herabgezogen. Die weiße Pelzkappe trug er allerdings noch. Der Pthorer spürte bald die Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Allerdings wußte er auch, daß er, der keine Sonnenbestrahlung mehr gewohnt war, sehr schnell einen schmerzhaften Sonnenbrand bekommen würde, wenn er sich längere Zeit den Sonnenstrahlen aussetzte. Ächzend und stöhnend kroch er in die nassen Stiefel, zog sich auf die Mole und schaute sich um. Das sechseckige, ins Festland eingegrabene Hafenbecken mit den schützenden Molen, den Laderampen, Schiffshaltepfählen, Zeughäusern, Lagerräumen und dem qualmenden Leuchtturm entlockte ihm einen bewundernden Pfiff. Auch die Schiffe darin nötigten ihm Bewunderung ab. Sie waren keineswegs überwiegend so klein wie das Schiff, das er während der Landung der Kapsel gesehen hatte. Es gab große Schiffe mit zwei bis fünf Reihen von Ruderern übereinander, Lastschiffe unter bunten Segeln und wendige Kriegsschiffe mit Sturmböcken und Laufgängen an den Bordwänden. Auf den Kais und zwischen den Gebäuden sah Dorstellarain Transportkarren und Planwagen und ein Gewimmel von Terranern, die Wagen lenkten, Lasten schleppten, Arbeiten beaufsichtigten und feilschten. Der Pthorer rieb sich die Hände, als etwa fünfzig Bewaffnete im Gleichschritt zur Anlegestelle eines Kriegsschiffs marschierten. Die Sonnenstrahlen funkelten auf ihren Metallhelmen, den Metallscheiben auf dem Brustteil ihrer ledernen Panzer und den eisernen Schildbuckeln. Angeführt wurden die Soldaten von einem athletischen Offizier mit großem Helmbusch, Kinn- und Lippenbart, narbigem Gesicht und Reliefscheiben aus poliertem Metall auf dem maßgearbeiteten Lederpanzer, die wahrscheinlich Auszeichnungen darstellten.
29 »Das wäre etwas für mich!« flüsterte Dorstellarain begeistert. »Ich würde es sicher bald zum Heerführer bringen.« Er verwarf die Idee, einen der Soldaten von seiner Truppe wegzulocken, ihn bewußtlos zu schlagen und in seine Rolle und Kleidung zu schlüpfen. Man würde ihn bei der Truppe sofort als Fremden erkennen. Außerdem beherrschte er die Sprache nicht. Zwar hatte er von Algonkin-Yatta und Anlytha ein paar Brocken Interkosmo gelernt, aber die Wörter, die hin und wieder bis zu ihm schallten, waren zweifellos kein Interkosmo. Sicher verwendete man auf der Erde dieser Zeit ein präkosmisches Terranisch. Unangenehmes Brennen auf den Schultern erinnerten ihn daran, daß er schleunigst Kleidung brauchte. Er sah sich dort um, wo nicht so viele Menschen waren und entdeckte dabei einen hageren Mann, der in eine beige Stoffbahn eingehüllt war und scheinbar ziellos in Richtung des künstlich angelegten Kanals schlenderte, der den Hafen offenbar mit einer größeren Stadt verband. Der Pthorer eilte ihm so unauffällig wie möglich nach. Er wunderte sich zuerst darüber, daß die zahlreichen Menschen ihm kaum Beachtung schenkten, bis er merkte, daß sie sich in Statur, Hautfarbe und sogar in ihren Sprachen vielfach voneinander unterschieden. Dorstellarain grübelte darüber nach, ob sich auf der Erde vielleicht früher die Kolonisten zahlreicher ferner Planeten ein Stelldichein gegeben hatten, was die Unterschiede erklären mochte. In dem Fall müßten Erinnerungen an jene Zeit überliefert worden sein. Als er nur noch wenige Meter hinter seinem auserwählten Opfer war, schaute er sich aufmerksam um. Er wollte unnötiges Aufsehen vermeiden. Als er sicher war, daß niemand zu ihm und seinem Opfer sah, schnellte er auf es zu und schlug ihm die Faust hinter das rechte Ohr. Ohne einen Laut sackte der Mann zusammen. Dorstellarain schleppte ihn hinter ein Gebüsch, wickelte ihn aus seiner Kleidung
30 und zog sie an, was gar nicht so einfach war. In einer Ledertasche, die der Mann an einer Schnur unter seiner Kleidung trug, fand der Pthorer verschiedene Münzen aus zwei verschiedenen Metallen. Er hängte sich die Schnur mit dem Beutel um den Hals. Eigentlich hatte er noch das Schuhwerk mit dem Fremden tauschen wollen, aber da er seine nassen Stiefel nicht mehr ausziehen konnte, ließ er es sein. Außerdem glich das Schuhwerk des Fremden dem seinen. Es handelte sich um bis zur Wade reichende Stiefel mit senkrechten Öffnungen, die mit Lederriemen geschlossen waren. Als er noch einmal zurückblickte, sah er, daß man ihn von einem Schiff auf dem Kanal aus beobachtete. Plötzlich ertönten Kommandos. Die Ruderer leiteten eine Wendung ein, während sich am Bug mehrere Soldaten aufstellten. Dorstellarain machte, daß er fortkam. Er zweifelte nicht an der Entschlossenheit der Soldaten, ihn ihre Speere und Schwerter kosten zu lassen. Aber die Flucht erwies sich als schwierig. Das Kleidungsstück war einfach viel zu lang, so daß der Pthorer sich immer wieder mit den Füßen darin verfing. Anscheinend war es eine besondere Kunst, dieses Kleidungsstück sachgerecht anzulegen. Bald hörte Dorstellarain die Schreie von Verfolgern hinter sich näherkommen. Dadurch wurden auch andere Menschen aufmerksam, und der Pthorer zwang sich zu einem gemächlichen, würdevollen Gang und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wenn er auf den Rand seines Kleidungsstücks getreten war. Die ganze Zeit über sah er sich nach einem Versteck um, denn ihm war klar, daß die Verfolger ihn bald eingeholt haben würden, auch wenn sie noch nicht wußten, in welche Richtung er sich gewandt hatte. Als er einen freien Platz erreichte und in der Menschenmenge darauf untertauchen wollte, hörte er von der gegenüberliegenden Seite scharfe Kommandos. Er reckte sich. Da er größer war als alle
H. G. Ewers Menschen – jedenfalls in diesem Hafen – konnte er die Menge einigermaßen überschauen. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Anscheinend war einer seiner Verfolger zu den Soldaten geeilt, die zuvor in den Hafen einmarschiert waren, und hatte sie über den Überfall informiert. Jedenfalls ließ der Offizier seine Leute eine Kette bilden und gegen den Platz vorrücken. Der Pthorer machte kehrt und tauchte in einer von älteren Häusern flankierten Gasse unter. Er wunderte sich, daß ihm kein Mensch begegnete, aber erst, als er am Ende der Gasse vor einer hohen glatten Mauer stand, wurde ihm klar, daß es hier keinen Durchgangsverkehr gab, weil es sich um eine Sackgasse handelte. Und er hatte sich selbst darin gefangen! Dorstellarain überlegte, ob es sinnvoll sei, wieder umzukehren und die Gasse zu verlassen, als er sah, daß die Soldaten sich aus der Menge auf den Platz schoben und daß vier von ihnen sich anschickten, in die Gasse einzudringen. Er drückte sich in den Schatten eines gemauerten Tores und dachte darüber nach, ob er versuchen sollte, durch die Häuser oder über die Dächer zu entkommen. Aber dabei würde er zweifellos solches Aufsehen erregen, daß die Soldaten eine gezielte Jagd auf ihn veranstalten konnten. Plötzlich knarrte etwas neben ihm. Dorstellarain fuhr herum und sah gerade noch den auf ihn herabsausenden Knüppel. Dann löschte ein Blitz sein Bewußtsein aus.
* Als er erwachte, wollte er auffahren, aber etwas hinderte ihn daran, etwas, das bei jeder Bewegung klirrte. Dorstellarain vermochte nichts zu sehen, denn der Raum, in dem er sich befand, war dunkel. Immerhin konnte er feststellen, daß er auf kühlem Boden aus festgestampftem Lehm saß und daß seine Handgelenke mit Ketten an einen Eisenring gefesselt waren, der sich in einem Mauerwerk hinter ihm be-
Die Zeitpanne fand. Die geraubte Kleidung und die Münzen hatte man ihm abgenommen. An dem Schmerz in seinem Hinterkopf erkannte er, daß er wahrscheinlich eine Beule davongetragen hatte. Ansonsten bemerkte er jedoch keine Verletzung. Er fragte sich, welche Strafe ihn für den Raubüberfall erwartete. Kurz darauf hörte er von vorn Schritte. Sie kamen offenbar eine Kellertreppe herab, verhielten unten, dann knarrte eine Tür. Licht aus einer primitiven Öllampe fiel in den Kellerraum. Hinter dem Licht erkannte Dorstellarain undeutlich die Gesichtszüge eines dunkelhäutigen Mannes. Aber die Stimme, die wenig später erklang, kam nicht aus dem Mund dieses Mannes. Es war außerdem die Stimme einer Frau – und wenig später kam sie an dem Dunkelhäutigen vorbei nach vorn, so daß der Pthorer sie sehen konnte. Allerdings sah er nur ihre Gestalt, nicht aber das Gesicht, denn das wurde von einer bronzenen Maske verborgen. Die Gestalt war die eines reifen Weibes und trug ein langes hemdartiges Gewand und darüber eine mit Purpurstreifen verzierte Stola. Die Kopfbedeckung bestand in einem viereckigen Tuch aus blauem, mit Fransen verzierten Stoff. Die Füße steckten in Ledersandalen – und die Fußnägel waren vergoldet. Der Pthorer erwiderte ruhig den Blick, der ihn durch die Augenschlitze der Bronzemaske hindurch traf. Er lauschte den Worten, die der Mann und die Frau wechselten. Nach einiger Zeit wußte er, daß der Mann, der übrigens enorme Muskelpakete besaß, Quintus hieß. Quintus sprach die Frau mit »Domina« an, aber Dorstellarain kam das eher wie ein Titel denn wie ein Name vor. Als die Frau eine Frage an ihn richtete, antwortete er mit der Begrüßungsformel auf Interkosmo, wie Algonkin-Yatta sie ihm beigebracht hatte. Quintus stellte die Lampe ab, trat neben Dorstellarain und versetzte ihm eine Ohrfeige, die dem Pthorer beinahe das Bewußtsein raubte.
31 Durch das Rauschen des Blutes in seinem Kopf hörte er Quintus zornig fluchen, dann sagte die Frau etwas, das ihn schweigen ließ. Abermals stellte sie ihm eine Frage – und abermals antwortete der Pthorer mit der Interkosmo-Begrüßungsformel. Quintus kam abermals auf ihn zu, aber diesmal war Dorstellarain gewarnt. Anscheinend hatte Quintus nie etwas vom KnieSeitwärts-Schlag gehört, denn er wollte sich wieder neben den Gefangenen stellen. Dorstellarain legte alle seine Kraft in den Schlag und traf Quintus' Schienbein so hart, daß es krachte und der Mann quer durch den Keller gefegt wurde. Er brüllte vor Schmerz, aber Sekunden später richtete er den Oberkörper auf und holte mit einem Dolch zum Wurf aus. Ein Befehl der Frau zwang ihn, seine Mordabsicht zurückzustellen. Die Frau redete auf ihn ein, dann trat sie bis auf drei Schritt an den Gefangenen heran, musterte ihn noch genauer und fing dann an, ihm die Grundkenntnisse ihrer Sprache beizubringen. Nach einigen Stunden mußte Quintus, der sich soweit erholt hatte, daß er mit schmerzverzerrtem Gesicht umherhumpeln konnte, etwas holen, das die Domina Capsa nannte. Es handelte sich um eine Art großer zylindrischer Dose aus Holz, in der sich Papierrollen befanden, die um Holz- und Knochenstäbe gewickelt waren. Die Domina nahm eine der Rollen und wickelte sie ein Stück auf. Dorstellarain sah farbige Abbildungen von Gegenständen, Menschen und Tieren. Anhand der Abbildungen lehrte die Domina ihm die Namen der entsprechenden Dinge, aber auch die wichtigsten Regeln der Grammatik. Der Pthorer lernte relativ schnell. Bald wußte er, daß die Menschen in dieser Gegend der Erde sich Römer nannten, daß das Römische Imperium – angeblich – den größten Teil der Welt beherrschte, daß es von einem Mann namens Marcus Aurelius regiert wurde und daß die Domina ihn für einen Spion aus Germanien hielt.
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Er verzichtete darauf, ihr klarmachen zu wollen, daß er in einer Zeitkapsel auf der Erde gelandet sei. Die Domina schien nicht einmal zu ahnen, daß die Erde rund war und daß die Sterne, die man nachts sah, Sonnen waren wie die Sonne, die die Erde beschien. Er ließ sie bei ihrem Glauben, er sei ein Spion aus Germanien und suggerierte ihr zusätzlich ein, daß er in seiner Heimat ein Königssohn sei. Sie glaubte ihm. Inzwischen hatte der Pthorer begriffen, daß er sich nicht in offiziellem Gewahrsam befand, sondern der Gefangene der Domina war, die mit seiner Hilfe nicht nur ihre Wißbegier stillen, sondern ihn offenkundig zu einem noch unbekannten Zweck verwenden wollte. Als sie ihn nach seinem Namen fragte, erinnerte er sich an Algonkin-Yattas Kurzfassung und gab sich als Dorjan aus. Weil er aber begriffen hatte, daß jeder römische Bürger drei Namen besaß, fügte er zu seinem »Vornamen« den »Geschlechtsnamen« Pthoricus und den »Beinamen« Clanocis hinzu. Ihren eigenen Namen verriet sie dagegen nicht, auch wollte sie ihm nicht sagen, wozu sie ihn gefangenhielt. Als sie ging, sagte sie, daß sie erst in drei Tagen wiederkäme, und er würde es nicht bereuen, wenn er sich in der Zwischenzeit gut führte. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte und Dorstellarain die Domina und Quintus die Kellertreppe hinaufgehen hörte, schloß der Pthorer die Augen und überlegte, wie er aus seinem Kerker fliehen könnte, denn er hatte keine Lust, noch viel länger untätig herumzusitzen.
* Er war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als Quintus zurückkehrte. Seine Absicht stand ihm im Gesicht geschrieben, aber auch ohne das hätte Dorstellarain sie erraten, denn Quintus trug eine mehrschweifige Lederpeitsche mit sich, deren Schnüre mit
Knoten versehen waren. Der Pthorer starrte in das hämisch grinsende Gesicht und sagte verächtlich: »Ein feiger Wurm vergreift sich eigentlich nur an Aas, denn Aas kann sich nicht rächen, wie ich mich an dir rächen werde!« Quintus Gesicht verzerrte sich im Haß. Er holte aus und schlug zu. Die Peitschenschnüre bissen schmerzhaft in Dorstellarains linke Körperseite und Schulter; ihre Knoten rissen Fleisch heraus. Der Pthorer mußte die Zähne aufeinander pressen, um nicht vor Schmerz zu schreien wie ein wildes Tier. Nach einer Weile wunderte er sich darüber, daß Quintus nicht weiter auf ihn einschlug. Als er den Kopf hob, sah er Unsicherheit in Quintus' Blick. Sofort fühlte er sich ihm überlegen und rief: »Wenn du mich im ehrlichen Zweikampf besiegst, werde ich mich unterwerfen. Verweigerst du mir aber den Zweikampf, so wird dich irgendwann ein Dolch von hinten durchbohren, oder vergifteter Wein wird dir das Gedärm zerfressen.« Er lachte höhnisch. »Aber da du ein Feigling bist, ziehst du den Tod aus dem Hinterhalt einem ehrlichen Kampf vor.« In Quintus' Augen flackerte Wut. »Ich bin stärker als du!« stieß er hervor. »Nicht einmal zwei Burschen von deiner Sorte könnten mich im Kampf besiegen.« »Mein Tritt warf dich in den Staub!« entgegnete Dorstellarain. »Nur, weil ich unvorsichtig war«, erklärte Quintus. »Nein, weil du dumm und schwach bist!« höhnte der Pthorer. »Du bist überhaupt kein Mann, sondern ein fettes Weib!« Quintus erstarrte förmlich, dann drang ein dumpfes Grollen aus seiner Kehle. Er warf die Peitsche zu Boden, drehte sich um und jagte die Kellertreppe hinauf. Als er zurückkehrte, hielt er ein Netz in der rechten Hand, das er über Dorstellarain warf. Anschließend befreite er ihn von seinen Fesseln, dann zog er ihm blitzschnell das Netz ab, rannte zur offenen Tür und warf von dort
Die Zeitpanne aus ein Krummschwert und einen kleinen Rundschild in den Keller. Er selbst hielt im nächsten Moment die gleichen Waffen in der Hand. Aber zusätzlich trug er einen Metallhelm, der mit einem Kinnriemen befestigt war. »Stirb, Dorjan!« schrie er. Dorstellarain parierte den ersten Schlag, versuchte aber keinen Gegenangriff, sondern wich vor jedem Ausfall seines Gegners zurück, aber immer nur so weit, wie unbedingt nötig war. Er verhielt sich nicht so, weil er feige gewesen wäre, sondern weil er gewillt war, den vielleicht einzigen Vorteil seinem Gegner gegenüber ausgiebig zu nutzen: den Vorteil der Kaltblütigkeit, der sich durch Quintus' Raserei noch vergrößerte. Einige Male kam der Pthorer dabei in große Bedrängnis, vor allem wegen der Enge des Kellerraums, und ein paarmal fügte ihm Quintus Verletzungen zu, die aber jede für sich unbedeutend waren. Viel mehr durften es aber nicht werden, wußte Dorstellarain, sonst würde ihn der Blutverlust so schwächen, daß er ein leichtes Opfer für seinen Gegner sein mußte. Als er merkte, daß Quintus langsamer wurde, wußte er, daß seine Zeit bald gekommen war. Wie erwartet, nahm Quintus alle seine Kräfte noch einmal zusammen, als ihm klar wurde, daß seine Siegeschancen mit länger andauerndem Kampf immer mehr sinken würden. Wieder einmal kam Dorstellarain in große Bedrängnis. Diesmal mußte er alle Tricks und einen Teil seiner Kraftreserven aufwenden, um den wütenden Schwertstreichen des Gegners zu entgehen. Den nächsten Angriff Quintus' stoppte er stehend, was seinen Gegner nach all den Ausweichmanövern des Gefangenen so verblüffte, daß er seinerseits zurückwich. Er merkte nicht, daß Dorjan ihn absichtlich an eine bestimmte Stelle manövriert hatte, an die Stelle nämlich, an der die Peitsche lag. Als Quintus auf die Peitsche trat, zückte sein das Hindernis spürender Fuß in einer Reflexbewegung zurück. Das Gehirn regi-
33 strierte die Reflexbewegung den Bruchteil einer Sekunde später, wurde abgelenkt und irritiert. Dorstellarain nutzte seine Siegeschance so kaltblütig, wie er gekämpft hatte. Erst als Quintus tot zu seinen Füßen lag, wurde er von seinen Gefühlen überwältigt. Er sank schweißüberströmt und zitternd zu Boden. Doch er hockte nicht lange dort, denn in seinem Gehirn reifte als Ergebnis der bisherigen Erlebnisse auf der Erde ein Plan, wie er nicht nur bald reich, sondern auch so berühmt werden konnte, daß Marcus Aurelius ihn zum Kommandeur seiner Leibgarde machen würde. »Dorjan Pthoricus Clanocis« hatte nichts anderes vor, als ins nahe Rom zu gehen und sich in einer der beiden Kasernen der Via Labicana zu melden, um als Gladiator für die Arena verpflichtet zu werden. Wie es dort zuging, wußte er von der Domina – und er wußte auch, daß er nach dem ersten Sieg wieder frei sein und mit Edelsteinen, goldenem Geschmeide und Geld überhäuft werden würde. Er wußte nur nicht, daß der Sieger die Freiheit nicht zwangsläufig erhielt, sondern nur dann, wenn er die besondere Gunst des Publikums gewonnen hatte.
6. Algonkin-Yatta und Anlytha gingen in der zweiten Nacht nach ihrer Ankunft auf der Erde an Land. Sie verwendeten dafür ihre Flugaggregate, flogen damit den Tiber vom Mündungsdelta an aufwärts bis nach Rom und landeten vor dem Titusbogen auf der Velia. Der Kundschafter hatte Zeit genug gehabt, die Erkundungsexpedition so gründlich vorzubereiten, wie das mit den bescheidenen Mitteln, die sich in einer Zeitkapsel verstauen ließen, möglich gewesen war. Bescheiden waren seine Mittel allerdings nur vom Standpunkt des qualifizierten Kundschafters aus, der dazu ausgebildet war, alles perfekt zu organisieren.
34 Er trug keine Toga, da sie zu seiner untersetzten Statur und seiner blauschwarzen Hautfarbe nicht gepaßt hätte, sondern ein Pallium, eine Art breiter Stola, die die Schultern bedeckte, sich vorn auf der Brust kreuzte und mit einem Gürtel in der Taille zusammengehalten wurde. Darunter verbarg sich allerdings einiges von seiner modernen Ausrüstung, das kein Römer bei einer Durchsuchung entdecken konnte. Auch Anlytha hatte sich der herrschenden Mode entsprechend gekleidet. Die entsprechenden Informationen hatten der Kundschafter und seine Begleiterin sich mit Hilfe von winzigen Sonden besorgt, die ihnen auch in Zusammenarbeit mit der MiniPsiotronik die Kenntnisse der Landessprache, der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Zustände und alles andere beigebracht hatten, was sie in die Lage versetzte, die Rollen von waschechten Bürgern Roms aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus zu spielen. Das genaue Datum hatten sie beim besten Willen noch nicht ermitteln können. Anlytha hatte sich also hellbraun gefärbt und trug über einer bodenlangen Tunika die Stola und darüber wiederum die Palla, eine Art rechteckige Stola, die um den Körper gelegt wurde und auch den Kopf bedeckte, so daß niemand den weißen Haarschopf sehen konnte. Im Unterschied zu Algonkin-Yatta, der geschnürte Wadenstiefel trug, hatte Anlytha Sandalen angezogen. Es war auch kein Zufall, daß die beiden Wesen direkt nach Rom gekommen waren. Eine der Sonden hatte die letzte Phase des Kampfes zwischen Dorstellarain und Quintus übertragen und war dem Pthorer bis zu einem Pferdehändler gefolgt wo er sich für das von Quintus erbeutete Geld ein Pferd gekauft und dem Händler erzählt hatte, daß er im Kolosseum als Gladiator von sich reden machen würde. Die Mini-Psiotronik wertete die betreffenden Informationen aus und knüpfte Beziehungen mit den übrigen ermittelten Fakten. Dadurch kam sie zu dem theoretischen
H. G. Ewers Schluß, daß zwischen dem Raubüberfall auf einen berühmten Arzt, der vergeblichen Suche einer halben Hundertschaft Legionäre und einigen Seeleuten nach dem Täter, dem plötzlichen Verschwinden Dorstellarains und seine spätere Entdeckung im Kellerverlies eines Hauses, in dem man sich, den Funden in mehreren Räumen nach zu schließen, mit der »Herstellung« von Leichnamen beschäftigte, die man dann an Mediziner verkaufte, eine direkte Verbindung bestand. Kurz gesagt, es konnte eigentlich nur der Pthorer gewesen sein, der Galenus überfallen und seiner Kleider und seiner Barschaft beraubt hatte. Der Arzt hatte mehr Glück gehabt als Quintus, was nur darauf zurückgeführt werden konnte, daß Dorstellarain ihn absichtlich geschont hatte. Das wiederum war einer der Gründe, warum Algonkin-Yatta und Anlytha nicht tatenlos zusehen wollten, wie ihr Gefährte in der Arena abgeschlachtet wurde. Anlytha blickte hinüber zum Kolosseum, dessen helle Travertinblöcke im Schein des Mondes geisterhaft schimmerten. Sie erschauderte. »Ist dir kalt?« fragte Algonkin-Yatta besorgt. »Nein, ich habe nur an die Menschen gedacht, die sich in diesem Amphitheater gegenseitig ermorden. Wie kann man an solchen Metzeleien auch noch Gefallen finden?« »Ich fürchte, wenn ich gründlich darüber nachdächte, käme ich zu einem niederschmetternden Ergebnis«, erwiderte der Kundschafter. Er zog das kleine Kontrollgerät aus seinem Gewand, schaltete es ein und sah auf den Bildschirm, der eigentlich den Pthorer hätte zeigen müssen, da die betreffende Beobachtungssonde den Auftrag erhalten hatte, ihn nicht »aus den Augen« zu lassen. Aber der Bildschirm war dunkel. Nur an seinem unteren Rand glommen ein paar Symbole auf. Sie enthielten die Information, daß Dorstellarain sich nicht im Wahrnehmungsbereich der Sonde befand, und zwar
Die Zeitpanne deshalb, weil die Sonde sich in einem fest verschlossenem quadratischen Raum befand. »Was bedeutet das?« fragte Anlytha. »Es bedeutet, daß Dorstellarain die Beobachtungssonde überlistet und eingesperrt hat«, antwortete Algonkin-Yatta nachdenklich. »Und das wiederum würde bedeuten, daß er erheblich intelligenter ist, als ich bisher vermutete. Kurzum: Der Bursche hat sich verstellt und den etwas beschränkten Barbaren gespielt, um uns über seine wirklichen Qualitäten hinwegzutäuschen.« »Aber was sollte er sein, wenn nicht ein an Götter, Dämonen und Geister glaubender Barbar?« entgegnete Anlytha. »Er war doch nichts weiter als ein Regenfluß-Pirat auf Pthor.« »Jedenfalls eine Zeitlang«, meinte der Kundschafter. »Aber da spielte er möglicherweise nur eine Rolle. In ihm muß schon immer mehr gesteckt haben, als er sich anmerken ließ. Ich hätte selber darauf kommen sollen, als er uns berichtete, welche Abenteuer er und Atlan gemeinsam bestanden haben. Offenbar war er für Atlan eine echte große Hilfe – und das hätte mir verraten müssen, daß er intelligent, mutig und technisch versiert ist. Jedenfalls gehört schon eine Menge technisches Verständnis dazu, um eine Beobachtungssonde zu überlisten.« »Es wird hell«, flüsterte Anlytha. Algonkin-Yatta zuckte zusammen, als er mehrstimmiges lautes Gebrüll aus Richtung des Flavischen Amphitheaters hörte. Er sah im Schein des Morgenlichts, daß Anlytha den Mund zu einem Entsetzensschrei öffnete. Rasch legte er ihr eine Hand über den Mund und zog seine Gefährtin in die Deckung einer Säule des Titusbogens. Er hatte nämlich trotz des Gebrülls wilder Tiere in den Stallungen der Arena das monotone und bedrohliche Stampfen vieler im Gleichschritt marschierender Füße gehört. Als er um die Säule herumlugte, sah er eine Zenturie Legionäre mit ihren aus Lederstreifen hergestellten Panzern, den hellglänzenden Metallscheiben in Brusthöhe und den mit Kinnriemen befestigten Metallhel-
35 men, auf denen die Helmbüsche aus roten und schwarzen Federn im Marschtakt wippten. Ihre linken Arme trugen die rechteckigen gewölbten Schilde; an ihren rechten Seiten hingen in Scheiden aus Holz und Metall die kurzen zweischneidigen Schwerter iberischen Typs. In der rechten Hand hielt jeder Legionssoldat die wie einen Wurfspieß zu handhabende Lanze. Angeführt wurde die Zenturie von einem hochgewachsenen kräftigen Zenturio mit zahlreichen metallenen runden Auszeichnungen auf dem Lederpanzer und einem Langschwert an der Seite. Außerdem sah der Kundschafter noch einige Prinzipales (Unteroffiziere), von denen einer das Feldzeichen seiner Einheit trug. »Sind das Gladiatoren?« flüsterte Anlytha, die die Legionäre nicht sehen konnte, weil Algonkin-Yatta sie immer noch festhielt. »Nur eine Abteilung Soldaten«, antwortete Algonkin-Yatta. »Aber das scheint darauf hinzudeuten, daß heute morgen Hinrichtungen in der Arena stattfinden. Sie werden stets am frühen Morgen vollstreckt.« »Das müssen wir verhindern!« zischelte Anlytha ihm zu. »Wer weiß, vielleicht will man den Pthorer auch hinrichten! Und auch so dürfen wir das als Angehörige ethisch hochstehender Völker nicht zulassen!« »Wahrscheinlich sind wir Mathoner mit den Menschen verwandt, also werde ich mich nicht ethisch überlegen fühlen – und über dein Volk wissen wir nichts, außer, daß es dich hervorgebracht hat. Zudem gibt es einen Aspekt, der besonders bei Zeitreisen gilt: Niemand weiß im voraus, welche Folgen es für die Zukunft hat, wenn er einen zum Sterben bestimmten Menschen oder ein anderes intelligentes Lebewesen am Leben erhält – oder wenn er jemanden umbringt. Folglich dürfen wir uns nicht in die Angelegenheiten der Römer mischen. Bestenfalls dürfen wir Dorstellarain retten.« Vor einem der siebzig Eingangstore des Kolosseums hielt die Zenturie auf einen scharfen Befehl des Zenturios an. Die Le-
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gionäre marschierten auf der Stelle. Es klang wie dumpfer Trommelwirbel. Auf einen lauten Zuruf des Zenturios hin öffnete sich das Gitter des Tores. Zwei prunkvoll gekleidete hünenhafte Prätorianer befragten den Zenturio kurz, dann ließen sie ihn und seine Abteilung passieren. Hinter ihnen schloß sich das Tor wieder. »Prätorianer!« stieß Anlytha hervor, die sich aus Algonkin-Yattas Griff befreit und ebenfalls zu den Soldaten hinübergespäht hatte. »Das bedeutet, daß der Kaiser persönlich den Spielen beiwohnen wird!« »Das tut er doch immer«, erwiderte der Kundschafter verwundert. »Ach, so!« meinte Anlytha. »Na, ich bin jedenfalls neugierig auf ihn.« »Was tut ihr hier?« fragte eine männliche Stimme auf Lateinisch. Anlytha und Algonkin-Yatta wirbelten herum, wobei Anlytha sofort ihre Fähigkeit einsetzte, anderen Lebewesen etwas vorzumachen. Deshalb sahen die elf Prätorianer und ihr Offizier gar nicht erst ihr wirkliches Gesicht, sondern das Gesicht beziehungsweise den Kopf einer gelb-grün geschuppten Waran-Echse. Algonkin-Yatta hörte, wie die Römer überrascht und entsetzt die Luft einsogen. Er glaubte Anlytha und sich bereits gerettet, da wurde ihm durch die weiteren Ereignisse klargemacht, daß Soldaten, die sich für Angehörige einer Elite hielten, in ihrem Ehrgeiz jede Furcht besiegen konnten. »Ihr seid verhaftet!« verkündete der Offizier, und zu seinen Soldaten sagte er: »Packt das Gesindel!« »Nicht wehren!« konnte Algonkin-Yatta seiner Begleiterin gerade noch zuflüstern, dann fielen die Prätorianer über Anlytha und ihn her.
* Dorstellarain grinste, als er daran dachte, wie die Beobachtungssonde in dem Verlies, in das er sie gelockt hatte, umherschwebte und nach einem Ausweg suchte. Sie würde
keinen finden. Der Pthorer hoffte, daß Algonkin-Yatta und Anlytha noch einige Tage damit warten würden, selbst an Land zu gehen. Er konnte sich vorstellen, daß besonders der Kundschafter mit seinem Drang zum Perfektionismus erst genug Informationen über Land und Leute sammeln und verarbeiten würde, bevor er sich – maskiert selbstverständlich – unter die Eingeborenen mischte. Er traute ihm sicher nicht zu, daß er schon am zweiten Tag seines Aufenthalts auf der Erde in der Arena des Kolosseums als favorisierter Gladiator auftreten würde. Er hatte das allerdings auch nur fertiggebracht, weil er erstens mit seiner Größe von 2,20 Metern größer war als alle anderen Gladiatoren und weil er dem Aufseher der Gladiatorenschule in einem Kampf gegen drei erprobte Gladiatoren bewiesen hatte, daß er mutig, erfahren und von kaltblütigem Intellekt war. Selbstverständlich war der Probekampf nur mit langen Holzstangen ausgetragen worden, denn das Publikum würde am nächsten Tage vor Wut toben, wenn nicht alle Kämpfer, für oder gegen die es gewettet hatte, in der Arena auftraten. »Träumst du, Dorjan?« fragte Manius Cornelii Cethegi, der Aufseher der Schule und selbst ein kampferprobter ehemaliger Gladiator, der nach seiner dritten Freilassung den aktiven Dienst aufgegeben hatte. Der Pthorer lächelte kalt. »Ich träume von Kampf, Blut und Lorbeer«, antwortete er. »Vielleicht stirbst du heute unter meinem Schwert!« rief ein zernarbter hellhäutiger Gladiator, der nur den Namen Ammianus bekannt war. »Oder du unter meinem!« erwiderte Dorstellarain und lachte. Der Arenameister tauchte auf, rannte verstört hin und her und wurde schließlich von Manius am Arm festgehalten. »Hast du Flöhe in der Hose, Ascanius?« fragte Manius den gebürtigen Griechen. Ascanius rang die Hände. »Alles ist durcheinandergeworfen!« zeter-
Die Zeitpanne te er. »Da bringt mir doch dieser ehrgeizige Prätorianer Aulus zwei Gefangene und rät mir, sie in die heutigen Spiele einzubauen.« »Beruhige dich!« sagte Manius. »Wer eingebaut wird, bestimmst du, nicht wahr? Also kann dir Aulus keine Vorschriften machen.« Ascanius schüttelte den Kopf und strich sich über die fettig glänzende Glatze. »Normalerweise ist es so, aber die Gefangenen, vor allem die eine Gefangene – ich weiß nicht einmal, ob es ein weibliches Wesen ist, aber es trägt römische Frauenkleider – sind ausgesprochene Raritäten. Das vermutliche Weib hat den Kopf eines Drachen und Drachenklauen! Der Kaiser wird darauf bestehen, daß sie heute auftreten.« Dorstellarain, der aus Sorge um seine Freunde bereits die Luft angehalten hatte, atmete auf. Anlytha ließ sich nun wirklich nicht mit einem Drachen verwechseln. »Hat sie eine gespaltene Zunge?« fragte er. Ascanius nickte, streckte die eigene Zunge heraus und deutete mit einer Handbewegung an, daß die Gefangene eine dreimal längere Zunge besaß. »Und sie ist gespalten!« lispelte er, weil er vergaß, die Zunge zurückzuziehen. Hastig holte er das Versäumnis nach. »Gespalten und rot wie Stierblut.« Plötzlich musterte er Dorstellarain verwundert und zupfte dabei an seiner fleischigen Nase. »Wer ist das, Manius?« fragte er schließlich mit einem Seitenblick auf den Aufseher der Gladiatorenschule. »Das ist Dorjan Pthoricus Clanocis«, antwortete Manius. »Er bewies mir gestern, daß er reif für die Arena ist. Ich brachte ihn mit. Selbstverständlich hätte ich dich gefragt, ob du ihn einsetzen kannst. Du kennst mich ja.« Der beleibte Grieche nickte und schritt dabei um den Pthorer herum. Seine Augen schienen Dorstellarain förmlich zu sezieren. »Plebejische Familie?« schoß er eine Frage ab. Dorstellarain gab ein Grunzen von sich.
37 Er wußte natürlich noch lange nicht alles über die römische Gesellschaft, deshalb konnte er mit Ascanius' Frage nichts anfangen. »Er ist kein Römer«, stellte der Grieche fest. »Könnte ein Kelte sein. Aber selbst für einen Kelten ist er ungewöhnlich groß und kräftig – und er riecht so eigenartig.« Seine rechte Hand schnellte vor und umspannte Dorstellarains linken Oberarm. Sie preßte den Bizeps zusammen, und der Pthorer wunderte sich über die Kraft, die er dem fetten Griechen nicht zugetraut hätte. Blitzschnell winkelte er den Unterarm an. Sein Bizeps dehnte sich dabei so heftig aus, daß Ascanius Hand aufgerissen wurde. »Prächtig!« sagte der Arenameister. Er wandte sich an Manius. »Halte diesen Kerl zurück! Ich will sehen, ob ich ihn gegen die Drachenfrau und den schwarzhäutigen Magier kämpfen lassen kann.« »In Ordnung, Ascanius!« antwortete Manius Cornelii Cethegi. Der Grieche schlug ihm leicht gegen den Unterarm, dann ging er. In Dorstellarain aber regte sich plötzlich wieder die Sorge, die beiden Gefangenen könnten der Kundschafter und seine geheimnisvolle Begleiterin sein, denn wenn der Ausdruck »schwarzhäutiger Magier« auf ein Lebewesen zutraf, dann auf Algonkin-Yatta. »Fürchtest du dich vor Drachen, Dorjan?« fragte Manius. »Ich habe als Kind das Blut von Drachen getrunken!« erklärte der Pthorer verächtlich.
* Algonkin-Yatta schirmte Anlytha mit seinem Körper gegen die anderen Gefangenen ab, die teilweise noch nicht abgestumpft waren und versuchten, die Drachenfrau zu berühren. Einige der zum Tode ad bestias verurteilten Verbrecher machten unflätige Bemerkungen und versuchten, die Drachenfrau zu demütigen. Der Kundschafter verhielt sich rein defensiv. Er wußte, welches Schicksal den Verur-
38 teilten bevorstand und verzieh ihnen deshalb ihr Verhalten. Nur wenn jemand nach Anlytha griff, dann schlug er so fest zu, daß der Betreffende es nicht ein zweitesmal versuchen konnte. Als der Exerziermeister mit einigen Auspeitschern erschien, wurden die Verurteilten still und drückten sich an die Rückwand ihres Gefängnisses. Todesfurcht ließ sie dort erstarren, die schreckgeweiteten Augen auf den Exerziermeister gerichtet. Algonkin-Yatta mußte sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Er sagte sich immer wieder, daß es ihm nicht zustand, über die Menschen dieser Zeitepoche zu urteilen oder gar zu versuchen, sie an ihren bösen Taten zu hindern. Der Exerziermeister blieb vor der Gittertür stehen und wartete, bis ein Helfer sie geöffnet hatte. Danach las er die Namen der Verurteilten von einer Wachstafel ab. Die Auspeitscher übten den notwendigen Nachdruck aus – und schließlich trotteten alle Verbrecher durch den düsteren Korridor ihrem letzten Auftritt entgegen. Algonkin-Yatta und Anlytha waren nicht aufgerufen worden. Allerdings hatte man sie auch nicht verurteilt. Aber kaum war der Exerziermeister mit seinen Gehilfen abgezogen, als der Arenameister auftauchte und die beiden Gefangenen abschätzend musterte. Anlytha erwiderte seinen Blick – und im nächsten Augenblick veränderte sich Ascanius' Gesichtsausdruck und Haltung. Er lächelte, dann betrat er das Gefängnis und ging zu der Stelle, die von den Verbrechern am stärksten verschmutzt worden war. Er schien zu glauben, daß sich dort ein bequemes Lager sowie auserlesene Speisen und Getränke befanden, denn er schickte sich an, sich dort auszustrecken. »Anlytha!« sagte der Kundschafter scharf. »Nein!« Anlytha seufzte enttäuscht. Im nächsten Moment fiel die Beeinflussung von Ascanius ab. Angeekelt und entsetzt starrte er um sich, dann wich er zurück zur Gittertür.
H. G. Ewers »Fürchte dich nicht!« sagte Algonkin-Yatta. Zu seiner Überraschung bekreuzigte der Arenameister sich. Da das Zeichen des Kreuzes nur von Christen gemacht wurde, mußte Ascanius ein Anhänger der christlichen Lehre sein – und das als Arenameister im Flavischen Amphitheater, wo zahllose Christen hingerichtet worden waren und noch immer ab und zu hingerichtet wurden, obwohl der regierende Kaiser moralische Ansichten vertrat, die sich mit zahlreichen Ansichten der Christen deckten. »Dominus?« fragte Ascanius zaghaft. »Ich bin kein Mensch, aber auch kein Gott«, erklärte Algonkin-Yatta. »Niemand soll mich anbeten.« »Aber auch niemand soll uns zu kränken versuchen!« fiel Anlytha mit kreischendem Unterton ein. »Der Magier und die Drachenfrau!« flüsterte der Arenameister. »Ich werde doppelt bestraft werden, denn der Kaiser wird mich zu den Bestien schicken, wenn er euch nicht noch heute in der Arena kämpfen und sterben sieht. Er hat von euch gehört, und verzeiht es mir nicht, wenn ich euch ihm vorenthalte – und euer Fluch wird mich treffen, wenn ich euch gegen den keltischen Göttersohn antreten lasse.« »Uns wird auch ein Göttersohn nicht besiegen«, erwiderte der Kundschafter. Betrübt schüttelte der Grieche den Kopf. »Der, der sich den römischen Namen Dorjan Pthoricus Clanocis gegeben hat, aber kein Römer ist, könnte es schaffen.« »Der Pthorer!« entfuhr es Anlytha. Ascanius bekreuzigte sich schon wieder. Seine Finger zitterten heftig dabei. »Kennt ihr den keltischen Göttersohn?« fragte er furchtsam. »Oder ist er ein Höllensohn, den ihr …?« Seine Haltung straffte sich. »Ihr seid Ausgeburten der Hölle wie er!« schrie er furchtsam und zürnend zugleich. »Höllenbrut: die Hexe, der Teufel und der Magier!« Schlagartig verwandelten sich seine Miene und seine Haltung abermals.
Die Zeitpanne
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»Ihr habt mich geprüft, Juno, Gattin des Jupiter«, sagte er stockend. »Ihr denkt, ich gehörte der verbotenen Religion an. Aber da irrt ihr euch. Ich opfere täglich allen Göttern und ganz besonders dir, der Göttin der Ehe und der Beschützerin des Staates.« »Kann eine Göttin sich irren?« fragte Algonkin-Yatta. »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Ascanius. Der Arenameister schien immer verwirrter zu werden. Anscheinend wußte er nicht mehr, ob er wachte oder träumte. Als zwei seiner Gehilfen kamen, gaukelte Anlytha ihm nicht länger vor, sie sei Juno, sondern ließ ihn und die Gehilfen in ihr wieder eine Drachenfrau sehen. »Die ersten Spiele fangen an, Herr«, sagte der eine Gehilfe. Ascanius wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, zog eine Lederflasche unter seinem lockeren Gewand hervor und ließ einen halben Liter Falerner durch seine Kehle rinnen. Danach bekam sein Gesicht wieder etwas Farbe. »Ich eile!« sagte er zu seinen Gehilfen. »Und diese beiden Gefangenen?« fragte ein Gehilfe mit einem Blick auf Algonkin-Yatta und Anlytha. Ascanius' Augen verschleierten sich. »Bringt sie nach der Sportula heraus. Sie werden gegen den Kelten antreten – ohne Waffen außer ihren Zauberkräften«, sagte er mit brüchiger Stimme und eilte endgültig davon. Die beiden Gehilfen blickten sich unsicher an, dann zogen sie sich ein Stück vom Kerker der beiden Gefangenen zurück und flüsterten miteinander, während sie hin und wieder scheue Blicke auf Algonkin-Yatta und Anlytha warfen. Anlytha erschauderte. »Mir ist die Lust am Sammeln von Kunstgegenständen vergangen«, erklärte sie.
7. Als Dorstellarain, mit dem purpurfarbenen Kriegsmantel bekleidet, ins Amphithea-
ter geschickt wurde, während die Libitinarii noch den blutigen Sand zurechten, brannte die Nachmittagssonne mit voller Kraft am Himmel. Gelassen durchquerte der Pthorer die Arena, um dem Kaiser seine Ehrerbietung zu erweisen. Sein: »Ave imperator, morituri te salutant!« schallte laut zur Tribüne des Kaisers und seines Gefolges hinauf. Ganz in der Nähe von Marcus Aurelius Antonius glaubte Dorstellarain zwei Personen zu sehen, die ihm bekannt vorkamen. Aber er wußte nicht, wo er sie einsortieren sollte. Zwei Helfer eilten zu ihm, nahmen seinen Mantel entgegen und reichten ihm die Waffen, die der Arenameister im Auftrag der Veranstalter der Spiele für ihn ausgewählt hatten. Dorstellarain versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ein Retiarius mit seinem Netz, dem Dreizack und dem Armschutz aus Leder und Metall war nicht das Gladiatorenidol, das ihm vorgeschwebt hatte. Der Auftritt als Schwertkämpfer hätte seiner Meinung nach viel imposanter gewirkt und ihm einen größeren Siegespreis eingebracht. Nur mit halben Ohr hörte er zu, wie eine Stimme ihn vorstellte. Hellhörig wurde er allerdings, als angekündigt wurde, daß er gegen einen Magier und eine Drachenfrau antreten sollte. Er drehte sich um und kniff die Augen zusammen, um die Blendwirkung der Sonne etwas abzuschwächen und die beiden Gestalten zu mustern, die soeben durch ein Tor in die Arena getrieben wurden. Die eine Gestalt war zweifellos AlgonkinYatta, wie der Pthorer sofort erkannte. Die zweite Gestalt war nicht Anlytha, sondern ein anscheinend weibliches Wesen, aber mit dem Kopf eines Drachen und in ein undefinierbares schillerndes Gewand gekleidet. Totenstille trat ein, als alle Zuschauer nach mehrmaligem Hinschauen das Ergebnis des ersten Blickes bestätigt fanden: ein Drachenwesen, wie es nur aus Göttersagen
40 bekannt war, hatte die Arena des Flavischen Amphitheaters betreten. Sekunden später glichen die Sitzreihen einem Tollhaus. Die rund fünfundvierzigtausend Zuschauer schrien und redeten wild durcheinander. Dorstellarain drehte den Kopf zurück und sah, daß der Kaiser sich von seinem Platz erhoben hätte und dem Führer seiner Garde Befehle zurief. Kurz darauf schrillten helle Trompetentöne durch die hitzeflimmernde Luft über dem Amphitheater. Die Menschen verstummten und blickten zum Kaiser, der ihnen durch eine Handbewegung Ruhe gebot. Allmählich trat Beruhigung ein. Auf ein weiteres Signal hin setzte sich Dorstellarain zur Mitte der Arena hin in Bewegung. Von der anderen Seite her näherten sich der Kundschafter und die Drachenfrau. Gegen seinen Willen drängte sich dem Pthorer der Gedanke auf, daß die Drachenfrau niemand anders sei als Anlytha. Nicht nur wegen ihrer Körpergröße und ihren Bewegungen tat er das. Er nahm auch den eigentümlichen Geruch wahr, der auch ständig in der Zeitkapsel herrschte und offenbar von allen Passagieren angenommen worden war. Dieser Geruch strömte nicht nur von dem Kundschafter, sondern auch von der Drachenfrau aus. Zweifellos war Anlytha, wenn sie sich das Gesicht eines Drachen geben konnte, eine mächtige Magierin. Dorstellarain spürte, wie sich in ihm alles zusammenkrampfte. Er hatte auf Pthor so viele Beispiele mächtiger Magie erlebt, daß er sich gegen die Kräfte einer Magierin keine Chance ausrechnete. Falls Anlytha ihn töten wollte, würde er wahrscheinlich sterben müssen. Auf der anderen Seite widerstrebte es ihm, gegen Algonkin-Yatta und gegen Anlytha zu kämpfen, auch aus dem Grund, daß er sie nicht verletzen oder gar töten wollte. Deshalb überlegte er fieberhaft, wie sich ein Kampf vermeiden ließ. Zweifellos ließ er sich nicht vermeiden, indem sie einfach nicht gegeneinander kämpften. Man würde
H. G. Ewers sie gewaltsam aufeinander hetzen oder durch eine Horde wilder Tiere zerreißen lassen. Das Publikum wollte Blut fließen sehen – trotz des vielen Blutes, das an diesem Tag schon in der Arena geflossen war. »Bist du Anlytha?« fragte der Pthorer leise, als seine Gegner nur noch wenige Schritte von ihm entfernt waren. »Wer sonst!« vernahm er die geflüsterte Stimme Anlythas. »Warum hast du dich für die Arena gemeldet?« »Weil ich nicht ahnen konnte, daß ihr euch von mir töten lassen wollt«, erwiderte Dorstellarain wütend. »Was nun? Beherrschst du die Magie so gut, daß du uns alle aus diesem Dilemma befreien kannst, Anlytha?« »Du wirst schon Algonkin und mich töten müssen, um die Arena als strahlender Sieger zu verlassen!« sagte Anlytha und zwitscherte belustigt. »Das kann ich nicht«, erklärte Dorstellarain. »Du würdest es auch nicht schaffen, wenn wir nicht wollten«, erwiderte Anlytha. »Aber du sollst nicht uns, sondern die Trugbilder töten, die wir dir und dem Publikum vorgaukeln, Dorstellarain. Das Publikum muß glauben, daß wir wirklich tot sind.« Der Pthorer merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. »Und wie erkenne ich, daß ich nur gegen Trugbilder kämpfe?« »Du bist selbst so etwas wie ein magischer Pol, denn du stammst von Pthor«, sagte Algonkin-Yatta. »Also müßtest du es eigentlich fühlen, ob du gegen Schattenwesen der Magie oder gegen Lebewesen von Fleisch und Blut kämpfst.« Dorstellarain grinste unsicher und sagte: »Mors certa, hora incerta – Der Tod ist gewiß, die Stunde ungewiß!« »Omnes una manet nox – Alle erwartet die eine Nacht!« erwiderte Anlytha. Aus dem Publikum stieg ein Murren auf, zuerst nur dumpf murmelnd, dann zu einem bedrohlichen Grollen anschwellend. Dorstellarain sah, daß aus einem der Innentore einer
Die Zeitpanne der Exerziermeister mit einem Tuch winkte. Vorläufig wollte er sich wohl noch nicht dem Volke zeigen und somit dem Gladiator die Gelegenheit geben, den Kampf ohne erkennbaren äußeren Zwang aufzunehmen. »Bei den Göttern Pthors, ich kann nicht anders!« flüsterte er verzweifelt. Im nächsten Moment hatte er Mühe, dem gleichzeitigen Ansturm seiner Gegner auszuweichen. Die nächsten Minuten bescherten ihm turbulente Kampfszenen, die aber nicht von ihm, sondern von Algonkin-Yatta und Anlytha inszeniert wurden. Das Publikum aber hielt ihn für die treibende Kraft und applaudierte oftmals stürmisch. Dorstellarain aber kämpfte mit bangem Herzen, denn er fürchtete, Algonkin und Anlytha wirklich zu verletzen. Aber als es soweit war, spürte er, wie der Kundschafter und seine Begleiterin sich in sichtbare Schattenwesen und in ihre unsichtbaren Realkörper trennten und wie die Realkörper auf verschlungenen magischen Bahnen entschwanden, während die Schattenwesen sich mit Todesverachtung auf ihn stürzten. Innerhalb einer Minute war der Kampf entschieden. Die Leichenbestatter schleiften das hinaus, was sie für die sterblichen Überreste des Magiers und der Drachenfrau hielten – und unter dem begeisterten Toben des Publikums trat Dorstellarain unter die kaiserliche Tribüne. Auf einen Wink des Kaisers hin eilten mehrere Sklaven in die Arena. Sie brachten dem Gladiator die Siegespalme sowie kostbare Edelsteine, goldenes Geschmeide und Geld. Aus der Gefolgschaft des Kaisers und aus der näheren Umgebung der Tribüne wurden Silber- und Goldmünzen und Schmuckstücke in die Arena geworfen. Doch vergeblich wartete Dorstellarain auf die Rudis, entweder einen Stab oder ein Schwert aus Holz als Zeichen seiner Freilassung. Enttäuscht starrte er zur Tribüne hinauf, bis Ascanius seinen Arm umklammerte und flüsterte: »Du bist für den heutigen Abend bei Marcus Aurelius eingeladen; mehr darfst du
41 nicht erwarten, wenn du dir nicht die Gunst des Kaisers verderben willst.« »Und die Rudis?« flüsterte Dorstellarain grimmig zurück. »Was bildest du dir ein!« entrüstete sich Ascanius und zog den Pthorer hinter sich zum Ausgang der Arena. »Nach dem ersten Kampf! Das Volk will dich noch oft sehen, nachdem du heute einen so erfolgreichen Einstand gegeben hast.« »Davon hat mir die Domina nichts gesagt«, murmelte Dorstellarain vor sich hin, während er sich geistesabwesend in einen Baderaum führen und entkleiden und waschen ließ.
* Rund ein Dutzend Gladiatoren waren zu dem Fest im Hause des Kaisers eingeladen worden, alles große Männer aus Knochen und Sehnen und Muskeln, mit verwegenen narbigen Gesichtern und wissenden Augen. Im Verlaufe der Vorbereitungen, die dem Herrichten der Eingeladenen galten, hatte der Pthorer erfahren, daß noch kein römischer Kaiser Grund gehabt hatte, sich vor den Gladiatoren zu fürchten, sondern daß die Gladiatoren von Rom ein kleines Heer von Draufgängern waren, an die sich die Kaiser in gefährlichen Augenblicken unbedenklich um Hilfe wandten. Während Dorstellarain gemeinsam mit den anderen eingeladenen Gladiatoren und dem Arenameister zum Haupttor ging, bewunderte er die prunkvolle Kleidung und den Schmuck der vielen Menschen, die durch das Haupttor schlenderten. Laufend kamen Sänften mit hochgestellten Gästen an. Die Gladiatoren betraten den Seitenportikus. Der Pthorer blickte bewundernd auf den von Säulen aus numidischem Marmor umgebenen Hofraum, auf die weißen Bildsäulen der Danaiden und anderen Darstellungen von Göttern und Helden. Die Männer und Frauen, die sich dort drängten, glichen den Statuen, denn wie diese waren auch sie mit
42 Toga, Peplos und Stola bekleidet. Dorstellarain sah goldverbrämte Tuniken, weiße purpurbestickte Sandalen, Perlenketten, Geschmeide und mit Goldstaub gepudertes Frauenhaar. Zwischen den Gästen standen oder gingen die Prätorianer der Palastgarde, scheinbar völlig unberührt von all dem Reichtum und der Schönheit. Dorstellarain fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Waren das die gleichen blutrünstigen Barbaren, die sich am Nervenkitzel des gegenseitigen Mordens von Menschen weideten? Oder hatte er eine andere Welt betreten, als er diesen Hof erreichte? »Komm, Dorjan!« rief Ascanius ihm zu. »Der Kaiser wartet nicht gern auf seine Ehrengäste!« »Ja, beeile dich, keltischer Göttersohn!« spottete eine weibliche Stimme unmittelbar neben ihm. Er sah, daß eine unglaublich schöne Römerin dicht neben ihm stand und ihn anlächelte, aber an dem leisen Zwitschern, das sie von sich gab, erkannte er schließlich Anlytha. »Ich bin froh, daß du lebst«, erklärte er, während er neben Anlytha den anderen Gladiatoren folgte. »Wie geht es Algonkin?« »Gut! Er ist in die Kapsel zurückgekehrt, um festzustellen, was er zur Reparatur der Zeitmaschine braucht. Aber ich muß jetzt zurückbleiben. Wir sind im großen Triclinium. Ich nenne mich übrigens Callina. Vielleicht sehen wir uns noch.« »Das denke ich schon«, erwiderte der Pthorer geistesabwesend, denn zu viele Eindrücke stürmten auf ihn ein, als daß er sich einem einzigen ausreichend widmen konnte. Ascanius zog ihn mit schweißnassen Händen mit sich fort. Als er anhielt, sagte er: »Sei gegrüßt, Marcus Aurelius! Das ist unser neuer Gladiator, der heute zeigen durfte, was in ihm steckt.« »Seid alle gegrüßt!« antwortete eine sonore Stimme, die Autorität und Gelassenheit ausstrahlte. »Ich grüße dich, Dorjan Pthoricus Clanocis! Dein Kampf gegen den Magier und die Drachenfrau war bewunderns-
H. G. Ewers wert. Selten sah ich einen so guten Retiarius.« Und das ist es! dachte Dorstellarain. Darum wurde ich nicht freigelassen. Zwar sehen die Römer selten einen so guten Retiarius, aber ich war nicht eben der erste Netzkämpfer, dessen Leistung das Publikum begeisterte. Er wollte etwas erwidern, denn er hätte es als dumm empfunden, gegenüber einem Barbarenkaiser den Maulfaulen zu spielen, als sein Blick auf die Frau schräg hinter Marcus Aurelius fiel, und er erschrak. Sie trug kein Kopftuch, und sie trug keine Maske, aber es waren nicht nur die vergoldeten Fußnägel, die den Pthorer instinktiv wissen ließen, daß er der Frau aus dem Keller gegenüberstand, einer Frau, die ein Doppelleben führte und in dunkle Geschäfte verwickelt war. Da schaute auch die Frau auf. Ihre Blicke trafen sich – und der wissende Blick der »Domina« machte ihm klar, daß sie ihn jederzeit unter Druck setzen konnte. Zu allem Überfluß entdeckte er neben der »Domina« jenen Römer, den er im Hafengebiet nahe der Tibermündung überfallen und beraubt hatte. Er schien nicht nur mit der Frau des Kaisers vertraut zu sein, sondern auch die besondere Gunst des Kaisers zu genießen. Glücklicherweise hatte er ihn damals nicht gesehen. Marcus Antonius bemerkte seinen Blick und deutete ihn auf harmlose Weise. »Du erkennst also meinen berühmtesten Gast, Dorjan!« Er lächelte freundlich. »Galenus ist ein Genie, das noch nach Jahrhunderten von sich reden machen wird, mein Freund.« »Leider kann auch er nicht verhindern, daß Menschen sterben«, warf ein anderer Römer ein, der Lucius Verus hieß, wie Dorstellarain später erfuhr. Der Pthorer hob die Hände und sagte: »Was stirbt, verläßt darum noch nicht das Universum. Es wird nur in seine Grundstoffe aufgelöst, neu gemischt und zu neuem Leben geformt, so wie auch die Elemente
Die Zeitpanne selbst sich verwandeln.« Er sah, daß Marcus Aurelius mit leuchtenden Augen einem Schreiber seine Worte diktierte, und er fragte sich, ob der Kaiser sie als eigene Gedanken mehr oder weniger verfälscht der Nachwelt überliefern wolle. Mit leichter Belustigung nahm er sich vor, bei jeder Gelegenheit weitere Sprüche von sich zu geben und dann, wenn er – falls überhaupt – die Erde in einer späteren Zeit besuchte, nachzusehen, was der Kaiser daraus gemacht und wie er es weitergegeben hatte. »Laß ihn keine echte Weisheit erfahren, sondern immer nur halbphilosophische Pseudoweisheiten, Dorjan!« flüsterte Callina-Anlytha neben ihm. »Die Dame neben Galenus, die dich so hochmütig mustert und gleichzeitig von Furcht geschüttelt wird, ist Marcus' ungetreues und dunklen Mächten verfallenes Eheweib.« »Seine Gattin?« flüsterte Dorstellarain zurück. »Eine echte Nymphomanin«, meinte Callina-Anlytha. »Sie wird versuchen, dich für ein paar schwache Stunden einzufangen. Gleichzeitig wird sie immer befürchten, daß du ihre Geheimnisse an ihren Ehemann verrätst. Sei also immer auf der Hut vor ihr!« »Scher dich zum Teufel!« gab Dorstellarain unwillig zurück. »Ich kann sehr gut auf mich aufpassen!« Zu seiner Verwunderung verschwand Callina-Anlytha tatsächlich von seiner Seite. Dafür tauchte plötzlich die Gemahlin des Marcus neben ihm auf und veranlaßte ihn mit dem sanften Druck ihrer Hände, sich mit ihm an der Tafel niederzulassen, die von Tausenden Lampen an den Wänden und auf den Tischen beleuchtet wurde. Scharen von Sklaven trugen immer neue Gerichte auf. Wein wurde in kleinen Mischkrügen serviert, die großen, mit Schnee gefüllten Gefäßen entnommen wurden. Es gab Berge von verschiedenen Würsten, Fleischklößen, Wildbret, Schweinefleisch, Hühner, Hasen und Fische. Dem Aussehen nach waren es Speisen, die Dorstellarain größtenteils
43 auch von Pthor kannte. Bald mußte er feststellen, daß es einen großen Unterschied gab. Allein der Geruch der Soßen war phantastisch und erregte bei dem Pthorer Übelkeit – und zwar nicht nur, weil die Speisen, die er gesalzen kannte, von den Römern mit Honig gewürzt wurden und weil sie scharfe und gleichzeitig widerlich süße Gerichte, die mit Sellerie, Rosinen, Essig, Honig, Öl und Minze angemacht waren, aßen, sondern hauptsächlich, weil oft alles noch mit einer zusätzlichen Soße übergossen war, die nach Aas roch. Die Gattin des Marcus bediente ihn. Wenn sie ihm besonders delikate Bratenstücke in den Mund schob oder gar eine Auster zubereitete, sah Marcus Aurelius Antonius manchmal stirnrunzelnd herüber, aber er blieb dem Pthorer gegenüber stets freundlich. Als Marcus' Eheweib ihm einmal die bewußte Soße über herrlichen gebratenen Tintenfisch goß, lief er von dem Geruch ganz grün im Gesicht an und mußte gegen einen starken Brechreiz kämpfen. »Wir Römer würzen oft mit dieser Soße, dem Garum«, erklärte sie lächelnd. »Man erhält sie in einem langwierigen Verfahren aus einer Mischung verschiedener Fische, die man zerkleinert, umrührt, in der Sonne gären läßt und dann durchseiht.« »Ich kann gar nicht sagen, wie mir dieses Zeug schmeckt«, erwiderte der Pthorer doppeldeutig. »Aber ich habe schon soviel gegessen, daß ich jetzt lieber etwas Obst hätte.« Seine Tischgefährtin winkte einem Sklaven und legte ihrem Gast mehrere Fleischstücke auf den Teller. »Gesottenes Straußenfleisch«, erläuterte sie. »Zur Soße nimmt man Pfeffer, Minze, gerösteten Kümmel, Selleriesamen, Datteln oder Möhren, Honig, Essig, Wein aus getrockneten Trauben, ein wenig Fleischbrühe und Öl, kocht alles in einem Tiegel, dickt es mit Stärke ein und gießt es über das Straußenfleisch. Anschließend streut man Pfeffer darauf.«
44 Dorstellarain nahm einen großen Schluck Wein, stieß laut auf und sagte dann: »Denke öfter an die Ewigkeit und die ganze Weltmasse und daran, daß jedes Einzelwesen, mit dem All verglichen, als ein Feigenkörnchen und, verglichen mit der unendlichen Zeit, als einen Augenblick erscheint, in dem man einen Bohrer umdreht.« Belustigt beobachtete er, daß der Kaiser sich auch diese Worte merkte und anschließend wieder seinem Schreiber diktierte. Danach musterte er das gesottene Straußenfleisch, schüttelte sich und sagte: »Obst wollte ich haben, Weib!«
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den – und das vor den Augen von Marcus Aurelius!« »Du wirst dich irren!« erwiderte der Kundschafter. »Selbst eine Philosophennatur wie Marcus Aurelius würde da nicht ruhig zuschauen.« »Sein Eheweib ist eine Nymphomanin«, erklärte Anlytha. »In dem Fall bringt ein Ehemann seine Gattin entweder um, nimmt sich das Leben oder wird zum Philosophen und Dulder.« Algonkin-Yatta seufzte. »Was bist du doch für ein kluges Mädchen! Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich ärmer als jetzt. Ich meine das nicht materialistisch, obwohl ich gerade heute gezwungen * bin, demnächst auch an den materialisti»Algonkin!« flötete es. schen Sinn zu denken.« Der Kundschafter hob den Kopf und stieß »Wie meinst du das?« erkundigte sich mit voller Kraft gegen die geliftete AbAnlytha argwöhnisch. »Du willst doch etwas deckung des Zeitreise-Instrumentariums. von mir!« Stöhnend fiel er vornüber, mitten hinein in »Ich brauche deine Hilfe«, antwortete der die verkohlten Temporalkreise und BeKundschafter ernst. schleunigerspulen. Er griff in eine Brusttasche seines ver»Hörst du mich nicht?« flötete Anlythas schmierten und zerkratzten Overalls und zog Stimme zuckersüß. eine der fingerlangen Beschleunigerspulen Diesmal hob Algonkin-Yatta den Kopf hervor. Sie sah schwarz aus von dem Ruß, behutsam, drehte ihn und sich so, daß er der sie hauchdünn bedeckte. durch die Einstiegsöffnung sah und machte: »Bitte, poliere sie!« bat er Anlytha. »Huh!« Seine Begleiterin zuckte erst vor dem verErschrocken kreischend, hüpfte Anlytha schmutzten Gegenstand zurück, aber dann bis zur Decke der Zeitkapsel empor. Aber nahm sie ihn mit spitzen Fingern entgegen, sie beruhigte sich rasch wieder. Ohne weiter holte ein Läppchen aus ihrer Kombination auf das geschwärzte Gesicht des Kundschafund rieb die Spule damit ab. Ihre Augen ters einzugehen, breitete sie eine Plastikfolie weiteten sich, als unter dem Ruß gelbes auf dem Boden der Kapsel aus und leerte ihglänzendes Metall zum Vorschein kam. ren Utensilienbeutel darüber aus. »Es handelt sich um ein nichtrostendes Mit geweiteten Augen blickte Algonkin-Yat- Weichmetall, dessen Schmelzpunkt bei 1049 ta auf kostbare Kameen und Münzen, eine Grad Celsius bei hundertprozentiger ReinCorona Civia, wertvolles Geschmeide, zwei heit liegt und dessen atomare Struktur …« kleine chirurgische Instrumente und einen »Es ist Gold!« unterbrach ihn Anlytha pompejischen Silberspiegel. und zwitscherte triumphierend. »Sag bloß, »Die ›Tageseinnahmen‹ einer Taschendie Zeitmaschine besteht innen aus purem diebin!« kommentierte er ironisch. Gold!« »Ha!« machte Anlytha. »Wer ist wohl »Gold ist nur ein Name«, antwortete Alschlimmer von uns: Dorjan oder ich? Ich jegonkin-Yatta. »Wichtig ist die atomare denfalls weiß, was ich gesehen habe. Dorjan Strukturformel – und wichtig ist es für uns, ist mit dieser Hexe von Kaiserin verschwundaß wir zirka dreihundert Kilogramm che-
Die Zeitpanne misch hundertprozentig reinen Goldes bekommen, aus dem wir mit Hilfe eines sogenannten Psifilterverfahrens zirka dreißig Gramm Goldatome mit magisch aufgeladenen Kernen aussortieren. Soviel brauchen wir nämlich, um die Überzüge auf den Beschleunigerspulen und Kontaktstäben zu erneuern, die infolge unserer Panne zerschmolzen sind.« »Magisch aufgeladene Atomkerne!« zeterte Anlytha und stellte ihren Federschopf aufrecht. »So etwas gibt es doch gar nicht!« »Doch!« entgegnete Algonkin-Yatta. »Sie kommen sogar natürlich vor, aber selten mehr als drei auf Hüllentuchfühlung – und es müssen mindestens siebentausend unmittelbar beieinander sein, damit eine magische Ausstrahlung möglich wird.« Anlytha legte den Kopf schief und dachte nach. Als sie zu einem Ergebnis gekommen war, richtete sie den Kopf wieder auf, reichte dem Kundschafter eine goldene römische Münze und sagte: »Stell doch bitte fest, wie viele Goldatome mit magisch aufgeladenen Kernen sich darin befinden, Algonkin!« Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, edle Vogelkönigin.« Er wand sich aus der Öffnung, richtete sich in der Innenzelle seufzend auf und streckte sich. Danach ging er zu einer weiteren, aber kleineren und viereckigen Öffnung in der Innenwand, berührte einen Sensor und wartete, bis ein silbrig schimmerndes kubisches Gebilde von zirka zwanzig Zentimetern Kantenlänge herausgeglitten war. Algonkin-Yatta legte die Goldmünze einfach auf die obere Fläche des Kubus und wartete. Sekunden später schien die obere Fläche transparent zu werden, dann war die Münze plötzlich verschwunden. Nach einer Weile blinkte es in der nach vorn gerichteten Seite blitzschnell und mit rasch wechselnder Lichtintensität auf. Algonkin-Yatta hatte sich vorher zur Seite geneigt und musterte das Eingabeelement der Mini-Psiotronik, das sich genau gegenüber von dem Kubus an der Wandung befand.
45 Der Kundschafter machte ein enttäuschtes Gesicht, schloß die Augen und schien sich von der Umwelt abkapseln zu wollen. »Was ist plötzlich mit dir los, Algonkin?« fragte Anlytha besorgt. »Was hast du nur, Kleiner?« »Kleiner?« fragte Algonkin-Yatta und öffnete die Augen. »Wie meinst du das?« »Nett!« antwortete Anlytha. »Du bist schließlich ein lieber netter Kerl. Also, wie ist es mit der Goldmünze?« »Miserable Qualität!« erklärte Algonkin-Yatta. »Voll von Verunreinigungen. Man scheint in dieser Zeit noch keine Raffinationsverfahren für Gold zu kennen, wahrscheinlich noch nicht einmal die einfachste Elektrolyse.« Er deutete auf die Spule, die Anlytha noch immer in der Hand hielt. »Von dem Gold, das auf Ruoryc hergestellt wird, braucht man zirka zehntausend Gramm, um daraus ein Gramm Gold mit magisch aufgeladenen Atomkernen zu gewinnen. Aber das ist eben hundertprozentig reines Gold. Deshalb reichen uns dreihundert Kilogramm. Aber von dem Römergold brauchten wir wegen seiner starken Verunreinigung etwa vierzigtausend Gramm zur Gewinnung eines Gramms mit magischen Atomkernen. Das wären insgesamt eintausendzweihundert Kilogramm. Um das hierherzubringen, müßtest du nicht nur flinke Hände haben, sondern auch sehr flinke Füße, Anlytha.« »Und viel Glück«, erwiderte Anlytha. »Wahrscheinlich könnte ich nicht halb soviel zusammenstehlen.« Algonkin-Yatta nickte. »Eben! Darum wird unser Freund Dorstellarain diese Aufgabe übernehmen. Sage ihm das, bitte, wenn du ihn wiedersiehst.« »Ich fürchte er müßte dazu das halbe Imperium Romanum ausplündern, Algonkin«, sagte Anlytha kleinlaut. »Wie er das Gold beschafft, ist seine Sache«, erklärte der Kundschafter. »Ich könnte ihn nicht dazu bringen, aber du verstehst es, ihm die Sache schmackhaft zu machen. Au-
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ßerdem filtern wir von dem gesamten Gold nur die dreißig Gramm mit den psionisch strahlenden Atomkernen aus. Dorjan kann also fast alles wiederhaben, sobald wir fertig sind.« Anlytha erhob sich. »Das wird ihm gefallen. Ich werde sofort …« »Nichts wirst du!« entschied Algonkin-Yatta. »Jedenfalls nicht vor morgen früh! Oder willst du ihn jetzt stören?« Anlytha setzte sich im Schneidersitz. »Dieser Schurke!« Der Kundschafter lächelte. »Außerdem habe ich vor, nachher zu tauchen und ein paar leckere Fische zu fangen, die wir uns dann grillen können.« Anlytha zwitscherte erfreut. »Das ist eine gute Botschaft. Beeile dich, Yatta!« »Yatta?« echote der Kundschafter. »Das klingt mir besser als Algonkin«, meinte Anlytha. »Es klingt wie ein Kosename.« »Du wirst dich beherrschen müssen«, erwiderte Algonkin-Yatta, während er sich für den Tauchgang bis auf eine kurze Hose entkleidete.
8. Dorstellarain erschrak, als Marcus Aurelius, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich neben dem Portikus stand, durch den er gerade gehen wollte. »Ich habe nur etwas vergessen, Marcus«, stammelte der Pthorer in tödlicher Verlegenheit. Der Kaiser musterte ihn aufmerksam. »Genau das glaube ich dir nicht, Dorjan Pthoricus Clanocis! Ein Gladiator verläßt niemals kampflos die Arena. Was die Allnatur jedem zuträgt, ist ihm zuträglich, und gerade dann zuträglich, wann sie es zuträgt.« »Was höre ich da!« staunte Dorstellarain. »Das war ja direkt Philosophie!« Marcus Aurelius nickte und lächelte geschmeichelt.
»Philosophie, zu der du mich angeregt hast, Dorjan. Ich ließ mir mangels anderer Beschäftigung heute nacht deine gestrigen Aussprüche durch den Kopf gehen und fand dabei selbst einige der Selbstbetrachtung entsprungenen Worte. Es ist sehr ungewöhnlich für einen Gladiator, daß er weise Aussprüche formuliert. Ich hätte dich gern immer in meiner Nähe, sagen wir als Verwalter meines Hauses. Selbstverständlich würde ich dich, falls du den Posten annehmen willst, zum Freien ernennen.« Dorstellarain nahm seinen Gladiatorenhelm ab, da es ihm darunter plötzlich zu warm geworden war. Das Angebot des Kaisers war mehr, als er sich in so kurzer Zeit zu träumen gewagt hatte. Mit dem uralten Wissen von Pthor würde er, soweit er darüber verfügte, den Kaiser bald noch stärker beeindrucken als bisher. Andererseits schämte er sich, weil Marcus Aurelius derart großzügig und gelassen über das Verhältnis hinwegsah, das er mit seiner Ehegattin angeknüpft hatte und das sie sicher aufrechterhalten wollte. Marcus legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Es spricht nur für dich, daß du Entscheidungen von solcher Tragweite nicht aus dem Stand heraus fällst, Dorjan. Überlege dir alles gut und sage mir morgen abend Bescheid.« »Ich danke dir, Marcus«, erwiderte Dorstellarain und setzte in seiner Verwirrung den Helm verkehrt herum auf. Zwei Prätorianer, die ihn wenig später sahen und auslachten, legten sich gleich danach schlafen, wenn auch unfreiwillig. Der Pthorer aber begab sich in den Stall, in dem er sein Pferd untergestellt hatte und ritt auf der Via Ostiensis zur Küste. In der Nähe des alten Hafens von Ostia bog er nach Norden ab und ließ sein Pferd schmale Wege entlangtraben, bis er den von Trajan errichteten Hafen von Rom erreichte, an dessen Mole er seinen Fuß zum erstenmal auf römischen Boden gesetzt hatte – und wo er den berühmtesten Arzt einer ganzen Ge-
Die Zeitpanne schichtsepoche hinterhältig überfallen und beraubt hatte, wie er beschämt dachte. Glücklicherweise hatte Galenus damals sein Gesicht nicht gesehen, da Dorstellarain ihn von hinten niedergeschlagen hatte. Dadurch konnte er ihn nicht wiedererkennen. Nur die Gattin des Kaisers dürfte sich zusammengereimt haben, wer den Arzt überfallen hatte. Dorstellarain band sein Pferd im Schatten einer Baumgruppe fest, ging zum Fischerhafen und lieh sich von einem schwatzhaften Küstenfischer ein kleines Ruderboot. Anschließend kostete er das Gefühl aus, das aufgeplatzte blutende Blasen bereiten, weil er die Hände zur Abkühlung immer wieder ins Wasser getaucht hatte. Als er ungefähr die Stelle erreichte, an der die Zeitkapsel gesunken sein mußte, warf er den Anker aus Eisenholz aus, entkleidete sich und sprang über Bord. Das Salzwasser brannte schmerzhaft in seinen aufgeplatzten Blasen und in den Augen, aber der Pthorer ließ sich nicht beirren. Er brauchte nur fünfmal zu tauchen, bis er die Kapsel an einer relativ ruhigen Stelle des Deltas der Tibermündung auf Grund entdeckte. Er tauchte noch einmal auf, um durch zweiminütiges kräftiges Durchatmen sein Blut mit einer Sauerstoffreserve für fünf Minuten anzureichern, dann schwamm er zielsicher auf die Kapsel zu. Als er die offene Schleuse entdeckte, erschrak er zuerst, denn er fürchtete, sie könnte sich durch eine Panne geöffnet haben, und das Wasser hätte Algonkin-Yatta und Anlytha ertränkt. Aber dann sah er in ziemlicher Entfernung schemenhaft den Kundschafter auf einen Schwarm Fische zugleiten und war erleichtert. Lautlos glitt er in die offene Schleusenkammer und verschloß das Außenschott. Danach öffnete er das Innenschott. Anlytha hatte die Geräusche dabei offensichtlich gehört, denn sie sagte zwitschernd: »Fein, daß du wieder da bist, Yatta! Du bist eben doch verläßlich und nicht so ein
47 treuloser Herumtreiber wie Dorjan, dem ich ein Heer römischer Läuse auf die Haut wünsche.« Dorstellarain grinste, betrat die Innenzelle und verstellte seine Stimme so, daß sie wie die des Kundschafters klang. »Aber er hat Erfolg gehabt, Lytha. Draußen hörte ich, wie die Leute im Hafen schrien, daß Dorjan zum Kaiser ausgerufen worden sei.« »Niemals!« zeterte Anlytha und fuhr herum. »Und nenne mich nicht Lytha!« Mit offenem Mund starrte sie den Pthorer an, dann sagte sie, das Gesicht abwendend: »Schäme dich, Kaiser Dorjan!« Der Pthorer ließ sich nieder, leerte das Glas mit Geetee, das vor Anlytha stand und sagte: »Kaiser bin ich noch nicht, wohl aber der Verwalter des kaiserlichen Palasts und der Vertraute des Marcus Aurelius Antonius. Alle Türen des Palasts stehen mir offen.« »Alle brauchst du nicht, Dorjan«, erklärte Anlytha trocken. »Du brauchst nur zwei offene Türen: die, die zu den Räumen führt, in denen du deine Nächte verbringst – und die Tür zur Schatzkammer. Wir brauchen nämlich mehr als eine Tonne Gold, und in deiner neuen Stellung dürfte es einem Genie wie dir leichtfallen, es zu organisieren.« Dorstellarain schnappte nach Luft. Er hatte seine Fassung noch nicht wiedererlangt, als das Innenschott sich schloß und als wenig später der Kundschafter die Innenzelle betrat, mehrere große Fische in der Hand.
* Als Dorstellarain gegen Abend wieder in die Stadt Rom einritt, fiel ihm gleich die Aufregung auf, die unter den Bürgern und Sklaven herrschte. Zusammen mit den von Legionären begleiteten Wagenzügen und den durch die Straßen von Rom streifenden Soldaten-Abteilungen weckte das in Dorjan die Ahnung, daß sich große Ereignisse anbahnten. Mit Anlythas moralischer Hilfe und Al-
48 gonkin-Yattas sachlichen Argumenten war in dem Pthorer der Entschluß gereift worden, das ihm von Marcus Aurelius angebotene Amt anzunehmen. Er hatte versprochen, das benötigte Gold zu besorgen, wenn auch nur nach und nach in kleineren Mengen. Anders war es nicht möglich, wenn seine Beschaffungsaktion nicht bald auffallen und Gegenreaktionen hervorrufen sollte. Jedenfalls kehrte Dorjan nicht in die Gladiatorenkaserne zurück, sondern ritt sofort zum Haus des Marcus. Dort tat sich auch einiges. Als erstes fielen Dorjan die Prätorianer auf, die sich um die gesamten Mauern des Grundstücks postiert hatten. Anscheinend hatten die beiden Prätorianer, die seinen Zorn gespürt hatten, geplaudert, denn ihre Kameraden empfingen den Gladiator mit finsteren Blicken. Sie wollten ihm sogar den Zutritt zum Hause des Kaisers verbieten. »Du hast hier nichts zu suchen!« herrschte ihn ihr Anführer, ein Legatus, an. Dorjan beherrschte sich meisterhaft und zwang sich, den Legaten nicht einfach niederzureiten. »Frage bei Marcus an, Affendressierer!« forderte er kalt. »Solltest du es nicht tun, wird er dich mit dem Hals in eine Gabel stecken und dich nach altem Brauch zu Tode peitschen.« Einige Sekunden lang sah es aus, als wollte der Legat den Gladiator von seinen Prätorianern in Stücke hauen lassen, doch dann schien der Unterfeldherr ernsthaft darüber nachzudenken, was für Folgen es für ihn haben würde, wenn der Gladiator recht hatte. Er gab sich einen Ruck und ging selbst in den Palast. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht puterrot angelaufen. »Du darfst passieren, Dorjan!« sagte er mit vor Wut heiserer Stimme. »Danke!« erwiderte Dorjan und ritt durch das Tor, ohne den Legaten noch eines Blickes zu würdigen. Im stillen aber faßte er den Entschluß, für eine baldige Ablösung dieses Legaten zu sorgen. Er wußte, daß er in ihm einen Feind besaß, der mühelos für
H. G. Ewers seine heimliche Ermordung sorgen konnte, und er war nicht gewillt, seine Aufmerksamkeit, die mehr als ausgelastet war, auch noch weiter zu zersplittern. Als er den Palast betrat, eilte ihm Marcus Aurelius mit gerötetem Gesicht entgegen. »Krieg!« rief er mehr schmerzlich als begeistert. »Die Parther rennen schon wieder gegen die Euphratlinie an. Ich werde mit einem starken Heer übers Meer fahren und die Unruhestifter zurücktreiben!« »Die Parther?« fragte Dorjan, denn er besaß bisher noch keine Informationen über »die Parther«. »Reiterkrieger, die aus den Steppen östlich des Kaspisees kamen und zuerst die Satrapie Parthia des Seleukiden-Reiches eroberten und dann die Seleukiden immer weiter, bis schließlich zum Euphrat, zurückdrängten. Sie fingen vor mehr als anderthalb Jahrhunderten einen Krieg mit Rom um Armenien an und bedrohen außerdem unsere Handelswege nach China und Indien. Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als sie zu schlagen, so daß sie sich nicht so bald wieder erholen können.« »Das klingt unlustig«, meinte Dorjan. Marcus erwiderte bitter: »Ich werde auch keinen Spaß an diesem Feldzug haben – und auch nicht an den nächsten Feldzügen, die ich gegen die Britannier, Markomannen, Quaden und Sarmaten führen muß.« Er musterte Dorjan aufmerksam: »Wie hast du dich entschieden?« »Ich nehme das Amt an, wenn ich dich auf dem Feldzug gegen die Parther begleiten darf, Marcus.« Marcus Aurelius sah verblüfft aus. »Du willst nicht in meinem Haus bleiben, Dorjan? Aber …« Dorjan konnte sich denken, was Marcus beinahe gesagt hatte. Er wollte ihm zu verstehen geben, daß seine Ehefrau ihn nicht auf dem Feldzug begleitete. »Was soll ich in deinem Hause, wenn ich keine tiefsinnigen Gespräche mit dir führen kann, Marcus!« erwiderte er. »Außerdem drängt mein heißes Blut mich zu Abenteuern
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– und ich hoffe doch, daß wir im Land der Parther reiche Beute machen werden.« »Das werden wir, denn wir werden siegen«, versicherte der Kaiser. »Wenn du mitkommst, dann sei morgen bei Sonnenaufgang im großen Hafen. Du wirst das Schiff erkennen, mit dem wir beide übers Meer fahren werden.« »Ich werde pünktlich dort sein«, versprach Dorjan.
* Dorstellarain war schon lange vor Sonnenaufgang im Hafen von Rom. Er kümmerte sich aber nicht um die Kriegs- und Lastschiffe, die an den Kais lagen und sich nur als dunkle Schemen gegen die fahle Helligkeit des Meeres abhoben. Das Boot, das er sich am Vortag entliehen hatte, lag wieder an derselben Stelle. Nur der Fischer war nicht da. Wahrscheinlich schlief er seinen Rausch aus. Das kümmerte den Pthorer nicht. Er nahm das Boot und ruderte zu der Position über der Zeitkapsel. Dort warf er wiederum den Anker aus und tauchte. Algonkin-Yatta ließ ihn erst ein, nachdem er mehrmals mit einem großen Stein gegen die Kapsel geschlagen hatte. »Warum weckst du uns?« fragte er gähnend, als Dorjan die Innenzelle betrat. »Ich muß fort«, erklärte der Pthorer. »Marcus führt einen Feldzug gegen die Parther. Ich begleite ihn. Bei Morgengrauen stechen wir in See und fahren übers Meer in ein fremdes Land.« »Abenteurer!« schimpfte Anlytha. »So schnell vergißt du deine Versprechen?« »Aber, aber!« erwiderte Dorjan lächelnd. »Ich werde an der Seite des römischen Kaisers das Arsakiden-Reich und die umliegenden Dörfer erobern und sämtliche Geldkatzen, Truhen, Schränke und Verstecke ausräumen lassen. Ihr werdet sehen, ich brauche ein ganzes Lastschiff allein für meine – unsere – Beute, wenn ich zurückkomme.« »Wenn du zurückkommst!« sagte Algon-
kin-Yatta bedeutungsvoll. »Und wann kommst du in diesem Fall zurück?« »Zehn Tage, zwanzig Tage!« erwiderte der Pthorer. »Ich weiß ja nicht, wie schnell Roms Schiffe sind.« »Es sind keine Raumschiffe, sondern Segelschiffe mit Ruderern«, erklärte der Kundschafter. »Und auf dem Lande kommt ein Heer nicht schneller voran als seine zu Fuß marschierenden Legionäre! Es dauert mindestens ein Jahr, bis du zurückkehrst.« Verwundert blickte der Pthorer den Kundschafter an. »Was macht es euch aus, Algonkin! Mit Hilfe der Zeitkapsel können wir die Wartezeit anschließend negieren. Und für mich ist es die einzige realisierbare Möglichkeit, zu soviel Gold auf einem Haufen zu kommen, wie du für die Instandsetzung der Kapsel brauchst.« »Wir können die Wartezeit negieren, aber nicht die Ereignisse, die sich in ihr abspielen werden«, erwiderte Algonkin-Yatta, dann machte er eine Gebärde der Resignation. »Aber ich predige tauben Ohren. Dorjan, du hast unseren Segen! Aber nimm dich vor Waffen, Schlangen und Seuchen in acht! Alles Gute – und reiche Beute!« Über das letzte Wort schämte er sich sogleich, aber da war es schon heraus. Anderthalb Stunden später stand Dorstellarain von Pthor neben dem römischen Kaiser Marcus Aurelius Antonius auf dem Hinterdeck eines massig und dennoch elegant wirkenden Fünfruderers vor der überdachten Kabine, in der der Kaiser und sein Vertrauter Dorjan während der Seereise wohnen würden. Dort, wo die mächtigste irdische Stadt eines ganzen Zeitalters lag, ging blutrot die Sonne auf. Unter den Füßen der beiden Männer und auf Deck nahmen rund dreihundert Matrosen und Ruderer ihre Arbeit auf. Hundertzwanzig kampferprobte Soldaten und zwanzig der besten Offiziere und Unteroffiziere schauten auf den Kaiser, als er dem Schiffsführer das Zeichen zum Start gab. Knarrend bewegten sich die Riemen. Die
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Segel waren noch eingeholt; sie würden erst außerhalb des Hafenbeckens gesetzt werden. Fasziniert blickte Dorstellarain auf die martialische Pracht, auf die anderen Kriegsschiffe und das Land, das hinter ihnen zurückblieb. »Es ist wunderbar, nicht wahr, Dorjan?« fragte Marcus Aurelius leise. »Schade, daß des Menschen Unrast den Frieden stört.« »Der Mensch bedroht sich selber nur, doch bleibt es nicht so, denn irgendwo lauert ein schwarzer Moloch und wartet auf den günstigsten Augenblick, um alle Welten in den dunklen Mahlstrom zu ziehen!« »Welche prophetischen Worte!« rief der Kaiser. Dorstellarain wandte sich um und schaute nach Westen, wo sich die Horizontlinie des Meeres scharf vom blaßblauen Himmel abhob, dann streckte er die Hand in die Richtung des Verstecks der Zeitkapsel und sagte, halb für Marcus, halb für seine anderen Freunde: »Du sagst es!« Der Kaiser nickte und sah die Sonde
nicht, die im Schutz des gläsern wirkenden Tarnfelds sein Haupt umrundete und dem vorwitzigen Pthorer eine derbe Kopfnuß verpaßte. Dafür sah er gleich darauf die Tränen in den Augen Dorjans – und voller Rührung über den vermeintlichen Gleichklang ihrer Gefühle umarmte er seinen Vertrauten und küßte ihn auf beide Wangen. »Halte die Ohren steif, du falscher Prophet!« flüsterte es aus der Sonde in Dorjans rechtes Ohr. Dann vernahm der Pthorer eine Minute lang das nervenzerfetzende Kichern Anlythas. »Das Schicksal schmiedet uns zusammen, Marcus!« sagte er, als das Kichern zu laut wurde und er fürchtete, jemand könnte es hören. Schmerzlich verzog er das Gesicht, als die Sonde mit einer letzten Kopfnuß Abschied nahm …
ENDE
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