In Einarinn kennt nur eine kleine Elite das Geheimnis der Magie. Diese Wenigen leben abgeschieden unter der strengen Üb...
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In Einarinn kennt nur eine kleine Elite das Geheimnis der Magie. Diese Wenigen leben abgeschieden unter der strengen Überwachung des Erzmagus. Doch nichts währet ewig ... Livak ist eine Diebin und Spielerin – und sie bringt sich immer wieder in Schwierigkeiten. Allerdings waren diese noch nie so groß wie diesmal, als sie ein altes Artefakt stiehlt. Denn dieses Artefakt könnte das Geheimnis der Magie in sich tragen. Plötzlich sieht sich Livak von allen möglichen Gruppen verfolgt. Sie muss das Spiel ihres Lebens spielen ...
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Juliet E. McKenna
DIEBESGUT Roman Ins Deutsche übertragen von Rainer Schumacher
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 500 1. Auflage: Dezember 2004
Vollständige Taschenbuchausgabe der in der Bibliothek der Phantastischen Literatur erschienenen Paperbackausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgabe: The Thief’s Gamble © 1999 by Juliet E. McKenna © für die deutschsprachige Ausgabe 2002 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach All rights reserved Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Stefan Bauer Titelillustration: Romas B. Kukalis / Agentur Schlück Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian Satz: Quadroprintservice, Bensberg Druck und Verarbeitung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-404-20500-6
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Für meine Söhne Keith und Ian
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Danksagung
Viele Menschen haben mir bei der Gestaltung dieser Geschichte geholfen. Mein tief empfundener Dank geht an Steve für seine Unterstützung und Inspiration; an Helen, die viel zum ursprünglichen Konzept beigetragen hat, und an Mike und Sue, Liz und Andy, deren ehrliche Kritik von unschätzbarem Wert für mich gewesen ist. Auch möchte ich all jene in Castle Penar lobend erwähnt. Doch das Schreiben ist nur der Anfang. Emma, Val und Adrian, die meine Sache so leidenschaftlich verfochten haben, bin ich ebenso zu Dank verpflichtet wie Tim für seinen unschätzbaren redaktionellen Rat, sowie allen bei Orbit für ihren Enthusiasmus. Ganz persönlich möchte ich noch den verschiedenen Zweigen der Rose-Familie für ihre Hilfe während der großen Windpockenkrise danken. Dank auch meiner Mutter für ihren unvergesslichen Anruf: »Weißt du, es war fast, als hätte ich ein echtes Buch gelesen!«
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1.
Aus: Wohlstand und Weisheit Ein Führer für den Gentleman, um beides zu Erlangen und zu behalten von: Tori Samed
Spielen Die meisten Spiele drehen sich um die Runen der alten Völker, die in zivilisierten Ländern schon längst nicht mehr zur Götterverehrung oder für abergläubische Rituale verwendet werden. Einige Spiele basieren lediglich auf dem willkürlichen Ziehen einer bestimmten Anzahl Runen; andere beruhen auf dem Zusammenstellen von Kombinationen, die einen höheren oder niedrigeren Wert ergeben. In beiden Fällen empfiehlt es sich, sein Gedächtnis zu schulen, um getane Züge nicht zu vergessen. Am besten spielt es sich mit Freunden in fröhlicher Runde und bei einem guten Glas Wein, vorausgesetzt, Einsätze und die Art der Schuldentilgung wurden vorher festgelegt. Auf Reisen findet man in den besseren Gasthöfen größerer Städte und entlang der Hauptkutschenrouten häufig Spieltische mit einem ortsansässigen Spielleiter. Solche Spiele verlaufen zumeist fair, und die Einsätze können beträchtlich sein. Besitzt Ihr ausreichend Fähigkeiten, sind Eure Taschen voller Gold, wenn Ihr 7
Euch vom Tisch erhebt. Allerdings müssen etwaige Schulden in solcher Gesellschaft augenblicklich beglichen werden; ansonsten lauft Ihr Gefahr, dass man Eure Waren und Euer Gepäck zur Schuldtilgung heranzieht. Lasst Euch jedoch nicht zu einem zwanglosen Spiel in einer Stadt verleiten, deren Straßen gerade wegen eines Festes überfüllt sind. Hütet Euch vor dem freundlichen Fremden, der Euch zu einem Spiel verleiten will, um den trübseligen Abend in einer Hinterhoftaverne aufzuheitern. Solche Männer suchen sich die Unvorsichtigen als Beute und wenden das Spiel mit gezinkten Runen und geschickter Hand gnadenlos zu ihren Gunsten. Ohne Herd und Heim, entehrt oder auf der Flucht sind sie nicht besser als Söldner oder Diebe.
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Die Taverne Zum Packpferd an der Straße nach Col, südlich von Ambafost, Ensaimin 12. Vorherbst
Einige Gelegenheiten muss man als ›zu gut, um wahr zu sein‹ bezeichnen. Nach zehn Jahren, da ich mich nur auf meinen Verstand habe verlassen können, hätte ich in der Lage sein sollen, diese Gelegenheiten zu erkennen, aber dem war nicht so. In der Nacht, da diese »besondere Gelegenheit« mein Leben ruinierte, saß ich vor einem prasselnden Feuer, den Bauch gefüllt mit einem guten Abendessen, und lauschte dem Wind, der an dem behaglichen Gasthaus zerrte. Ich trug meine typische, unscheinbare Reisekleidung; mit ein wenig Glück sollte es den anderen Gästen im Schankraum schwer fallen, mein Alter, mein Geschlecht und meinen Beruf zu erkennen. Unauffällig zu sein ist ein Talent, das ich kultiviere: durchschnittliche Größe, durchschnittliche Statur, nichts Besonderes – es sei denn, ich will es anders haben. Die Füße auf einen Schemel gelegt und den Hut über die Augen gezogen sah es vermutlich so aus, als wäre ich eingenickt, doch im Geiste ging ich unruhig auf und ab und trat gegen die Möbel. Wo blieb Halice? Wir hätten uns schon vor vier Tagen hier treffen sollen, und mein unfreiwillig verlängerter Aufenthalt hier fraß allmählich Löcher in meine Börse. Es war sehr ungewöhnlich, dass Halice sich zu einem Treffen verspätete. Die wenigen Male, da es vorgekommen war, hatte sie mir stets eine Nachricht zukommen lassen. Was sollte ich tun? Erneut zählte ich mein Geld. Niemand im Raum bemerkte, 9
wie ich die Hand in die Börse unter meinem Hemd schob und eine Münze nach der anderen durch die Finger gleiten ließ. Ich trage mein Geld Tag und Nacht bei mir; ein paar Mal war ich gezwungen gewesen, mein Gepäck aufzugeben, und ohne Geld macht man so manche schlechte Erfahrung. Ich besaß dreißig caladhrianische Sterne, zehn Tormalinkronen und drei beruhigend schwere Reichskronen. Das war mehr als genug, um auf dem Herbstmarkt in Col etwas riskieren zu können, und in meinem Zimmer hatte ich noch eine schwere Börse mit gewöhnlichem Geld, das meine Reisekosten decken würde ... sofern ich am Morgen würde abreisen können. Musste ich länger warten, würde ich eine Kutsche nehmen müssen, und das würde mich einen Großteil meiner Reserven kosten. Das Problem war nur, dass ich nicht allein auf dem Herbstmarkt arbeiten wollte. So einträglich das Geschäft dort auch sein kann, es war und bleibt ein gefährlicher Ort, und obwohl ich mich heutzutage durchaus um mich selbst kümmern kann, so ist Halice im Umgang mit Schwert und Messern doch um Einiges geschickter als ich. Als Paar zu arbeiten hat auch noch andere Vorteile: Wenn jemand das Gefühl hat, dass etwas mit den Runen nicht stimmt, ist es für ihn viel schwerer zu erkennen, was genau denn nun schief läuft, wenn zwei Personen dem Glück ein wenig auf die Sprünge helfen. Außerdem rechnen die Leute nie damit, dass ausgerechnet zwei Frauen beim Spielen zusammenarbeiten, noch nicht einmal in einer großen Stadt. Ich könnte mich natürlich auch mit anderen zusammentun, doch Halice ist besser als die meisten und ziemlich ehrlich obendrein. Natürlich war die wahrscheinlichste Erklärung für Halices Verspätung, dass sie in der Zelle irgendeines Lords hockte und 10
auf die örtliche Rechtsprechung wartete. Kurz vergaß ich mich und fluchte laut, was glücklicherweise aber niemand bemerkt zu haben schien. Außer mir befanden sich nur noch drei weitere Leute im Schankraum, und die waren tief in ein Gespräch mit dem Wirt versunken. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um Kaufleute; dies hier war eine viel befahrene Handelsstraße, und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie nach Col reisten. Das scheußliche Wetter schien die Ortsansässigen am heimischen Herd festzuhalten, was mir nur recht war. Falls Halice in Schwierigkeiten steckte, hatte ich keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Wenn ich mich als ihre Freundin zu erkennen gäbe, würde man auch mich in Ketten legen. Ich runzelte die Stirn. Es fiel mir schwer zu glauben, dass Halice in Schwierigkeiten geraten sein könnte, aus denen sie sich nicht selbst wieder zu befreien vermochte. Das war einer der Hauptgründe, warum wir unseren Unterhalt in Ensaimin verdienten. Wettbewerb unter den Kaufleuten sorgt für einen beruhigenden Mangel an Unannehmlichkeiten: zum Beispiel Steckbriefe oder Stadtwachen verschiedener Orte, die zusammenarbeiten; so etwas macht Gegenden wie Caladhria sehr ungastlich. Hier dagegen ist der Ärger nur selten so groß, dass man ihm nicht davonlaufen könnte, indem man schlicht die Grenze zur nächsten Stadt überquert, und wir achten sorgfältig darauf, nie länger an einem Ort zu bleiben, als wir dort willkommen sind. Hier saß ich also, ärgerte mich und nippte an einem recht gutem Wein, als ein durchnässter Reiter die Taverne betrat und nach dem Wirt winkte. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, und das erregte sofort meine Neugier; allerdings konnte ich auch nicht näher heran, sonst hätte ich ihre Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Der Reiter reichte dem Wirt ein Stück 11
Pergament, und ich hörte das Klimpern von Münzen. Nachdem der Reiter gegangen war, entfaltete der Wirt den Brief – oder was immer es sein mochte –, und die Kaufleute scharten sich um ihn. »Na, was steht da?«, fragte ein dünner Mann in fleckiger gelber Tunika. »Weiß nich’. Kann nich’ lesen.« Der Wirt zuckte mit den fetten Schultern. »Aber Geld hin oder her, ich muss mehr wissen, bevor ich’s an die Wand hänge.« Ich biss mir auf die Lippe. Ich konnte lesen, dank meiner Mutter, die mir jeden möglichen Vorteil hatte verschaffen wollen, um die Nachteile meiner Geburt wettzumachen; doch ich wollte mich auf keinen Fall verdächtig machen, indem ich diesen Leuten meine Hilfe anbot. »Gebt her!« Der Gefährte des dünnen Mannes griff nach dem Pergament, betrachtete es und runzelte die Stirn. »Wo liegt der ›Rennende Hund‹?« »Das ist eine große Kutschenstation und Taverne auf dem Markt in Ambafost«, meldete sich der dritte Händler und spähte über die in Leder gehüllte Schulter seines Freundes hinweg. »Nun, dort hält sich im Augenblick ein Kaufmann auf, der an Antiquitäten aus Tormalin interessiert ist.« Der bärtige Mann strich das Pergament glatt und las es durch, wobei er die Lippen bewegte. »Hier steht, dass er gute Preise zahlt und dass er am Markttag kaufen will.« »Er muss gute Geschäfte machen, wenn er es sich leisten kann, auf diese Art zu werben.« Der dritte Händler knabberte nachdenklich an einem Fingernagel. »Werden Antiquitäten im Moment gut gehandelt?« Der Bärtige zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat er Pläne 12
für den Herbstmarkt. Es gibt Sammler in Col, und auch Händler aus Relshaz und von den Inseln werden dort sein.« Der dünne Mann starrte gierig auf das Pergament. »Wenn die Preise wirklich so hoch sind, sollten wir vielleicht versuchen, ein paar gute Stücke in die Finger zu kriegen.« Sie hockten sich zusammen, und der Bärtige holte eine Landkarte hervor, während sie ihre Möglichkeiten diskutierten. Ich trank den Rest meines Weins und dachte darüber nach, was ich als Nächstes tun sollte. Zufälligerweise wusste ich, wo es ein paar schöne Stücke aus dem Tormalinreich zu finden gab, und wenn es mir gelang, einen vernünftigen Preis für eines davon zu erzielen – die Gewinnspanne des Händlers mit eingerechnet –, konnte ich bis zur allerletzten Minute auf Halice warten und dann eine Privatkutsche mieten, um nach Col zu gelangen; anschließend bliebe mir dann immer noch genügend Geld, um an Spielen mit hohem Einsatz teilnehmen zu können. Das Problem war nur, das gute Stück zu dem Händler zu bringen, ohne dass der vorherige Eigentümer etwas davon bemerkte. Was das betraf, schienen die Götter mir zur Abwechslung einmal wohlgesonnen zu sein. Ich hätte es besser wissen müssen, doch in diesem Augenblick konnte ich nur an den möglichen Gewinn denken. Außerdem war da noch die süße Rache, die es mir verschaffen würde: ein erheblicher Bonus. War es das Spiel wert? Die Händler waren in ihr Gespräch vertieft, und ich ging nach oben, ohne etwas dazu zu sagen. In meinem Zimmer öffnete ich das Fenster und blickte hinaus. Es regnete noch immer, doch der Wind hatte merklich nachgelassen, und gelegentlich lugte der abnehmende Mond zwischen den Wolken hervor. Sollte ich es tun? Es war mit einem gewissen Risiko verbun13
den; andererseits erwartete mich ein beachtlicher Profit. Nun, ich bin eine Spielerin, und es ist noch niemand reich geworden, indem er seine Runen in der Tasche behalten hat, oder? Die Versuchung war einfach zu groß. Rasch zog ich mich um, tauschte Stoff und Leder gegen Hose und Hemd aus feinster Wolle, Stiefel, Handschuhe und ein Wams mit Kapuze, alles in Kohlengrau. Reines Schwarz erzeugt scharfe Kanten, die selbst in der Dunkelheit Aufmerksamkeit erregen. Die grob behauenen Holzbalken, aus denen die Taverne gebaut war, machten es mir wirklich leicht, zum Fenster hinauszuklettern; nur musste ich darauf achten, keine Spuren auf dem Putz zwischen den Balken zu hinterlassen. Kurz darauf lief ich durch den Wald, der die Straße nach Weißdorn säumte. Es war kalt und feucht, doch die Aussicht auf ein kleines Abenteuer wärmte mich. In jenen Tagen ging ich nicht oft auf Diebestour. An einem fremden Ort die Beute an den Mann zu bringen, war alles andere als leicht, und während man für das Zinken von Runen lediglich die Peitsche zu fürchten hatte – wenn man denn überhaupt erwischt wurde –, drohte einem für den Einbruch ins Haus eines Adeligen im günstigsten Fall der Pranger; schlimmstenfalls kostete es einen die Hand. Unglücklicherweise besitzen jedoch meist nur Adelige Dinge, die das Stehlen wert sind. Ihr mögt Euch vielleicht fragen, warum ich in diesem Fall das Risiko eingegangen bin, doch zufälligerweise wusste ich, dass dieser bestimmte Adelige heute nicht zuhause war, was meine Chancen beträchtlich erhöhte. Jene, die Raeponin verehren, mögen ja so viel über Gleichgewicht, Gerechtigkeit, das Ausgleichen der Waagschale und so weiter reden, wie sie wollen, mich aber werdet Ihr nie an einem von Raeponins Schreinen Opfer darbringen sehen. Immerhin spiele ich, um mir 14
meinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht aus Spaß. Früher in dieser Woche hatte ich auf meinem Pferd unter einer tropfenden Eiche gesessen und einen Gentleman mit seinem Gefolge auf dem Weg in Richtung Norden beobachtet; der Menge des Gepäcks nach zu urteilen, das die Gesellschaft mit sich führte, plante sie einen längeren Aufenthalt an einem anderen Ort. Ich hätte den Gentleman überall wiedererkannt, selbst nach zehn Jahren. Man vergisst nicht so rasch das Gesicht eines Mannes, der versucht hat, einen zu schlagen und zu vergewaltigen. Weißdorn lag nicht weit entfernt, und ich brachte die Strecke rasch und ohne Probleme hinter mich; seinen Körper in gutem Zustand zu halten, ist bei meiner Art zu leben von allergrößter Wichtigkeit. Glücklich sog ich die frische, feuchte Nachtluft ein. Ich liebe es, des Nachts draußen auf dem Land zu sein, auch wenn die Sonne meine Geburtsrunen beherrscht. Das muss ich von meinem Vater geerbt haben, denn aufgewachsen bin ich in der Stadt. Im Dorf war es fast überall dunkel; nur in ein paar der Holzhäuser brannten trübe Lichter, aber dies hier war auch eine ländliche Gegend, und die meisten Leute gingen mit der Sonne zu Bett und standen mit ihr wieder auf. In den größeren Gebäuden aus Ziegeln und Feuerstein, die um den Marktplatz standen, herrschte allerdings noch Leben, obwohl es bereits nach Mitternacht war. Also duckte ich mich in eine Gasse und atmete erst einmal tief durch. Dann schlich ich lautlos durch die dunklen Straßen, wobei ich aufmerksam nach Hunden Ausschau hielt, die meine Anwesenheit hätten verraten können. Das Haus, das ich suchte, lag unmittelbar an einem großen, parkähnlichen Garten, die bevorzugte Lage vieler Residenzen wohlhabender Großgrundbesitzer und Kaufleute. Die schweren 15
Fensterläden aus Eiche an der hohen Vorderseite waren mit Eisenstangen verriegelt; an der robusten Tür war ein teures Schloss. Aber das war mir einerlei, denn ich ging durch eine Gasse auf die Rückseite. Dort fand ich eine dunkle Ecke, von wo aus ich die Küche und die Nebengebäude um den Hof herum beobachten konnte. Meine Mutter hatte immer gesagt, ich sei die nutzloseste Dienerin, die sie je gesehen habe; aber in meinen Jahren als Tochter einer Hauswirtschafterin hatte ich mir unschätzbare Kenntnisse über die Gewohnheiten in großen Häusern angeeignet. Ein Spülmädchen würde versuchen, in der dürftigen Wärme des verlöschenden Herdfeuers zu schlafen, während die besser gestellten Diener kalte, überfüllte Mansardenzimmer bewohnten. Der Koch und der Kammerherr lebten in den besseren Zimmern, von wo sie auf den Hof hinunterblicken konnten. Da ich nicht wusste, wie viele Diener der Bastard mitgenommen hatte, beschloss ich, diese Teile des Hauses zu meiden. Der Raum, in den ich wollte, lag im Erdgeschoss; die Fenster gingen nach vorne heraus. Ich betrachtete sie im unbeständigen Mondlicht und dankte meinem Vater für die gute Nachtsicht, die er mir vererbt hatte. Es sah nicht gerade vielversprechend aus, aber ich wollte nicht aufgeben; ich wollte das Geld, das ich mir auf diese Art verschaffen konnte, und je mehr ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir die Vorstellung, es dem elenden Schwein, das mich zum ersten Mal in dieses Haus gebracht hatte, auf diese Art heimzuzahlen. Dass ausgerechnet dieser Bastard eine solche Silbersammlung besaß, war einfach zu verführerisch. Nachdem meine Mutter einmal zu oft über ihr ruiniertes Leben gejammert hatte, zumal sie ja auch noch das Balg eines fahrenden Sängers aufziehen müsse – noch dazu das eines 16
Sängers vom Waldvolk –, bin ich aus meinem einstigen Heim, so man es denn so nennen konnte, davongerannt. Ich verlegte mich aufs Spielen, was ich schon immer gut beherrschte, und verdiente mir mit dem einen oder anderen Trick mein Essen. Ich hatte eigentlich keinen richtigen Plan, nur die verschwommene Vorstellung, meinen umherziehenden Vater zu finden, und zurückblickend wundere ich mich, dass es so lange gedauert hat, bis ich in Schwierigkeiten geriet. Nach dem gescheiterten Versuch, mich ohne zu zahlen aus einer Taverne davonzumachen, saß ich mit schmerzendem Hinterteil und ohne Gepäck auf der Straße; Letzteres hatte man mir für die Rechnung abgenommen. Zwei Tage später traf ich in Weißdorn ein. Ich war müde, halb verhungert, schmutzig und verzweifelt. Keine der ordentlichen Kutschenstationen ließ mich auch nur zur Tür herein, und schließlich landete ich in einer schmierigen Absteige neben einem Schlachthof. Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, warum so viele Frauen im Schankraum saßen, und es war ein Zeichen für meine Unwissenheit und Verzweiflung, dass ich beschloss, mir selber einen Kunden zu suchen. Vermutlich hatte der Hunger mein Gehirn aufgeweicht. Aber natürlich war ich keine Jungfrau mehr, und nachdem meine Mutter gesehen hatte, wie der Untergärtner mir am Hintern herumfummelte, hatte sie mich zu einem zuverlässigen Kräuterhändler geschleppt, damit es mir nicht so erging wie ihr. Ich sorgte mich auch nicht, dass ich mir irgendeine Krankheit einfangen könnte, und als ich einen Blick auf meine Konkurrenz warf, kam ich zu dem Schluss, dass ich mir zumindest eine Mahlzeit würde verdienen können. Ich kämmte mir das Haar mit den Fingern, so gut ich konnte 17
– damals trug ich es lang –, und zwickte mich in die Wangen, um ihnen ein wenig Farbe zu verleihen. In jenen Tagen verwendete ich auch noch Kräuterpasten, um das Rot in meinem Haar besser zur Geltung zu bringen, und andere Mittelchen, die das Grün meiner Augen hervorhoben. Außerdem schien mir mein rotbraunes Kleid in dem schmutzigen Schankraum trotz der Flecken ausreichend exotisch zu wirken. Die Chancen standen gut, dass keiner dieser Bauerntölpel je eine echte Waldmaid gesehen hatte, und so beschloss ich, den Anfangspreis zu erhöhen. Der nächste Kunde, der die wartenden Frauen in Augenschein nahm, war groß, dunkel und gut aussehend. Fast augenblicklich richtete sein Blick sich auf mich. Die anderen Huren drehten sich weg und tuschelten miteinander. In meiner Naivität glaubte ich, sie seien eifersüchtig auf mich. »Du bist wohl nicht von hier, was?« Er kam zu mir und winkte nach Wein, den ich durstig trank. »Nein, ich bin auf der Durchreise.« Ich tat mein Bestes, mysteriös und verführerisch zu wirken. »Ganz allein?« Seine Hand berührte die meine, als er mir Wein nachschenkte. »Ich mag es, mit leichtem Gepäck zu reisen.« Ich lächelte ihn an, und meine Miene besserte sich. Der Kerl war sauber, jung und sah wohlhabend aus; ich hätte einen weit schlechteren Fang machen können. Aber wie gesagt, ich war damals sehr naiv. »Wie heißt du, meine Süße?« »Merith.« Tatsächlich war das der Name meiner ältesten, unverheirateten Tante, doch wen kümmerte das. »Das ist nicht gerade eine sehr angenehme Schenke. Darf ich dir meine Gastfreundschaft anbieten?« 18
So hatte ich es zwar noch nie ausgedrückt gehört, aber wer war ich schon, dass ich ihm widersprochen hätte. Ich klimperte mit meinen gefärbten Augenlidern. »Ich bin sicher, wir kommen zu einer Übereinkunft.« Immerhin wollte ich mir auch etwas Geld mit dem Ganzen verdienen und nicht nur ein Bett und eine warme Mahlzeit. Der Mann bot mir seinen Arm an, und ich stolzierte aus dem trüben Schankraum. Das Raunen hinter mir schrieb ich enttäuschten Hoffnungen zu. Zehn Jahre später stand ich in der Dunkelheit und betrachtete nachdenklich die Fenster. Das dort war der Salon, in den er mich gebracht hatte; da war ich sicher. Er hatte mich hineingeführt und mir gesagt, ich solle warten. Ich freute mich bei dem Gedanken an gutes Essen und saubere Laken, und das Geschäft, das es abzuwickeln galt, versprach sogar, recht vergnüglich zu werden. Ich wanderte im Gemach herum und bemerkte die edlen Wandbehänge, die polierten Möbel und das ebenso polierte Tormalinsilber auf dem Kaminsims. In meinem Hinterkopf hallten die Balladen wieder, die mein Vater immer gesungen hatte, Geschichten von tugendhaften Jungfrauen, die ins Unglück gestürzt waren und von einem schönen Edelmann gerettet wurden – so etwas in der Art. Als ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, drehte ich mich mit einem einladenden Lächeln um, doch mein Gastgeber brachte nicht das Abendessen, das er versprochen hatte. Er verriegelte die Tür hinter sich, und seine Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Grinsen, während er eine Hundepeitsche durch die Finger zog. Er trug nur noch Hemd und Strümpfe, und sein Gesicht war erwartungsvoll gerötet. Ich stellte mich so, dass der Tisch sich zwischen uns befand; dem Funkeln in 19
den Augen des Mannes nach zu urteilen, hätte ich nicht darauf gewettet, dass es mir gelang, mich aus der Sache rauszureden. Ich mag ja vielleicht naiv gewesen sein, aber ich war nicht dumm. Ich erkannte, dass ich in ernster Gefahr schwebte. »Komm her, Hure!«, befahl er. »Wenn du etwas Lebhafteres willst als normalen Sex, will ich mehr Geld«, entgegnete ich kühn. Falls er glaubte, ich wolle mit ihm spielen, würde er vielleicht unvorsichtig werden, und ich konnte von hier verschwinden wie eine Ratte aus einer brennenden Scheune. »Du bekommst, was ich dir geben will.« Und er sprach nicht von Geld. Plötzlich stürzte er auf mich zu, und die Peitsche streifte meine Wange. Ich schrie so laut ich konnte, doch er lachte nur. »Meine Diener werden für ihre Taubheit bezahlt, Schlampe. Schrei soviel du willst! Das gefällt mir.« Dass es ihm wirklich gefiel, war deutlich zu sehen. Er bewegte sich und ich auch; wir umkreisten den Tisch, und er verzog das Gesicht. »Komm her, und schau, was ich für dich habe«, sabberte er und hob sein Hemd. Ich sprang zum Fenster, doch er war zu schnell, und es gelang ihm, ein Büschel meiner Haare zu packen. Er warf mich zu Boden und hob die Peitsche; ich rollte mich unter den Tisch. Voller Zorn stieß er obszöne Flüche aus und schnappte sich meinen Knöchel. Ich trat und wand mich, während er mich unter dem Tisch hervorzog; er war einfach zu stark. Mit der anderen Hand riss er an meinem Rock, und mein Kopf schlug gegen ein Tischbein. Als er das Blut sah, lachte der Kerl; seltsamerweise war es genau das, was mich meine Beherrschung 20
verlieren ließ. Ich erschlaffte, und als er daraufhin seinen Griff lockerte, riss ich die Knie hoch. Er lachte erneut, während er sich aufrichtete, um sich endgültig zu entblößen; dann trat ich ihm mit beiden Füßen in die Eier. Der Kerl brach zusammen, würgte, und ich rappelte mich auf. Ich packte einen umgefallenen Stuhl, schlug dem Bastard damit auf die Schläfe und rannte zum zweiten Mal Richtung Fenster. Während ich an den Riegeln rummelte, hörte ich ihn stöhnen und fluchen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst gehabt. All meine Aufmerksamkeit war auf das Fenster gerichtet; um keine Zeit zu verlieren, wagte ich es nicht, hinter mich zu blicken. Nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, hatte ich Fenster und Fensterläden geöffnet. Erst da riskierte ich einen Blick zu dem Bastard auf dem Boden. Inzwischen hatte er sich wieder auf die Knie aufgerichtet, doch er hielt sich immer noch seine Männlichkeit und hatte die Augen zusammengekniffen. Ich schwang mich aus dem Fenster und ließ mich auf die Straße fallen. In diesem Augenblick hatte ich seit langer Zeit wieder wirklich Glück, denn ich verletzte mich nicht; dann rannte ich so weit und so schnell ich konnte. Als ich Halice die Geschichte zum ersten Mal erzählte, war sie erstaunt, dass ich so nüchtern darüber sprechen konnte. Wenn ich jedoch übermüdet oder niedergeschlagen war, ließ mich die Erinnerung noch immer nachts schweißgebadet aufwachen, und auch das war ein Grund dafür, warum ich mir zumindest diese kleine Rache gönnen wollte. Was den Rest betraf, so war ich offensichtlich noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, besonders wenn ich an die auf Flugblättern kursierenden farbenfrohen Geschichten über verstümmelte Leichen dachte, oder an den unglücklichen erwürgten 21
Kadaver, den man einst vor meinen Augen aus einem Fluss gezogen hatte. Ich starrte auf das Fenster. Ich fühlte noch immer den Schrecken und die Angst, doch wichtiger war im Augenblick meine Erinnerung an Einzelheiten der Verriegelung. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, die unterschiedlichsten Fähigkeiten zu erlernen für den Fall, dass ich wieder einmal ohne Geld irgendwo stranden sollte, und ich wusste, dass ich ins Haus gelangen würde, falls ich eine Zeit lang unbeobachtet arbeiten konnte. Ich ging um das Gebäude herum und fand ein Seitenfenster, das der kahlen, fensterlosen Wand des Stalls unmittelbar gegenüber lag; das war ideal. Es dauerte nicht so lange, wie ich befürchtet hatte, und alsbald fand ich mich in der Bibliothek wieder. Das war eine Überraschung. Wer hätte gedacht, dass der Affe lesen konnte? Vorsichtig öffnete ich die Tür, doch nirgends war ein Licht zu sehen oder ein Geräusch zu hören. Das Haus roch nach Bienenwachs, und es war so kalt, als hätte hier schon mehrere Tage lang kein Feuer mehr gebrannt. Ich bewegte mich den Gang hinunter; geräuschlos glitten meine Sohlen über die polierten Bodenbretter. Die Salontür war verschlossen, doch das hielt mich nicht lange auf. Allerdings bereitete mir die Dunkelheit inzwischen Schwierigkeiten – noch nicht einmal echte Waldleute können in vollkommener Schwärze sehen –; doch ich erinnerte mich noch genau an den Raum, und so tastete ich mich zielstrebig bis zum Kaminsims vor. Was sollte ich nehmen? Die Versuchung war groß, alles in meinen kleinen, gepolsterten Sack zu stopfen; ich schuldete diesem Abschaum noch etwas für die Narbe auf meiner Wange und meiner Schläfe ... und für den alten Mann, den ich ge22
zwungenermaßen ein Stück die Straße hinunter niederschlagen musste, um an seine Börse zu kommen. Doch rasch schob ich den Gedanken als Torheit beiseite. Ich würde eins von den kleineren Stücken nehmen; das musste reichen. Ich tastete mit der Hand über den Sims und hob eine lange, schlanke Vase hoch. Nein, zu ungewöhnlich. Für die konnte ich keinen reellen Preis festlegen. Als Nächstes folgte ein Pokal, in dessen Seite ein Wappen eingraviert war. Zu leicht wiederzuerkennen. Ich ging weiter zu einem Teller mit ein paar Löffeln, die allerdings zu leicht waren, um echt zu sein, und schließlich fand ich einen kleinen Humpen mit Deckel. Er war glatt, abgesehen von ein paar gravierten Schriftrollen auf Henkel und Deckel, und besaß ein beruhigendes Gewicht. Der Henkel lag gut in meiner Hand; das Ding hätte ich gerne für mich selbst gehabt. Der Humpen stand ein Stück weiter hinten, verborgen zwischen zwei reich verzierten Weinkrügen. Bedeutete das, dass er nicht so rasch vermisst würde? Vielleicht, aber ich hatte ohnehin vor, schon lange verschwunden zu sein, bevor irgendjemand etwas bemerken konnte. Ich steckte den Humpen ein und hob alle anderen Stücke noch einmal hoch, um Staub aufzuwirbeln. Ich wollte keine Spuren hinterlassen, und auf diese Art würde eine dösige Dienerin den Verlust womöglich erst nach ein paar Tagen bemerken. Mittlerweile schmerzten meine Augen vor Anstrengung in dem trüben Licht, und rasch verließ ich das Haus auf demselben Weg, auf dem ich gekommen war. Das Fenster wieder zu verschließen, kostete mich einige Zeit, und als ich schließlich in den Gasthof zurückkehrte, hellte der Himmel sich bereits auf. Mir kam der Gedanke, dass man vermutlich irgendeinem unglücklichen Lakaien die Schuld für den Diebstahl in die Schuhe 23
schieben würde, doch ich kann nicht behaupten, dass mir das allzu große Sorgen bereitet hätte; es geschah dem Kerl nur recht, wenn er für solch einen Widerling arbeitete. Ich hoffte nur, dass der Bastard sich wirklich nach Strich und Faden ärgern würde, wenn er den Diebstahl entdeckte. Bis jetzt verlief das Spiel zu meinen Gunsten. Für den Rest der Nacht legte ich mich ins Bett und schlief tief und traumlos.
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Die Kammer Planirs des Schwarzen in der Inselstadt Hadrumal 12. Vorherbst
»Teile eine Flasche mit einem Erzmagier, und du bist entweder ruiniert oder ein gemachter Mann – so hieß es doch immer, nicht wahr, Otrick?« Der Mann, der das sagte, hielt sein Glas hin, damit es wieder gefüllt werden konnte, und lachte volltönend über seinen eigenen Scherz. »Ich glaube, diese Zeiten waren schon lange vorbei, bevor ich zum ersten Mal hierher gekommen bin, Kalion.« Otrick füllte das Glas und schenkte dann auch sich selbst nach. Seine ruhige Hand strafte die Falten die sein Gesicht durchzogen, und die weißen Haare Lügen, die inzwischen im Bart und auf dem Kopf den Grauen in der Überzahl waren. »Wie lange ist das jetzt her, Wolkenmeister?«, fragte der jüngste der Anwesenden und griff nach der Flasche, wobei er sich bemühte, so gelassen wie möglich zu wirken – ein anerkennenswerter Versuch, vor allem in Anbetracht der erlauchten Gesellschaft, in der er sich befand. Das Lächeln von Otricks zusammengepressten Lippen durchbrach die Maske nicht. »Länger, als ich mich erinnern will, Usara«, erwiderte er in sanftem Tonfall und hob sein Glas. Seine lebhaften blauen Augen funkelten unter den eckigen Augenbrauen. »Wie auch immer, Erzmagier, was wollt Ihr mit uns besprechen?« Kalion drehte sich halb auf dem üppig gepolsterten Stuhl herum, um den gepflegten Mann anzusprechen, der gera25
de die großen Fensterverschluss und die schweren grünen Vorhänge zuzog. »Oh, nichts allzu Wichtiges, Herdmeister. Ihr wart doch zur Sonnenwende in Relshaz, nicht wahr? Ich habe mich gefragt, ob die dortigen Antiquitätenhändler in letzter Zeit etwas Interessantes hereinbekommen haben.« Planir entzündete ein paar Öllampen, und ihr gelbes Licht leuchtete warm auf den Eichenpaneelen, mit denen der Raum verkleidet war. Hier und da enthüllte das sanfte Licht einige Statuen und Statuetten in unauffälligen Nischen, und es verwischte das Netzwerk feiner Linien um die Augen des Erzmagiers, sodass er nur eine Hand voll Jahre älter wirkte als Usara. Er stellte eine Lampe auf den Tisch. »Was haltet ihr von einem Feuer?« »Das wäre nicht schlecht«, antwortete Otrick nachdrücklich. Kalion betrachtete den hageren, alten Magier, der in gut geschnittenes, aber unmodisches graues Tuch gehüllt war, aus den Augenwinkeln. Er selbst öffnete den Kragen seines kastanienbraunen Samtgewandes, dessen Saum aufgestickte Rammen zierten. Er hatte es sich erst vor kurzem nach der neuesten Mode schneidern lassen. »Usara glaubt, er habe etwas Neues gefunden, aber es könnte genauso gut Zeitverschwendung sein, sich damit zu beschäftigen.« Der Erzmagier schnippte mit den Fingern und warf eine Flamme in den makellosen Kamin. Dann zog er seine schwarze Seidenrobe hoch, ließ sich auf einem hochlehnigen Stuhl nieder und wärmte sein Glas mit den langfingrigen Händen, während er den Rücken an das üppige Brokatpolster schmiegte. »Möchte jemand Kuchen? Bitte, nehmt euch, wenn ihr wollt.« »Was genau studierst du, Usara? Hilf mir auf die Sprünge«, 26
bat Kalion den jugendlichen Zauberer. Er war schwer zu verstehen, denn er hatte sich einen Honigkuchen in den Mund gestopft. Usaras hageres Gesicht errötete; die Farbe biss sich mit seinem sandfarbenem Haar und betonte auf grausame Art die bereits ausgedünnten Stellen unmittelbar über der Stirn. »Seit einigen Jahren arbeite ich bereits über den Aufstieg und Fall des Tormalinreiches, Herdmeister. Vergangenes Jahr habe ich ein paar Gelehrte der Universität von Vanam kennen gelernt, die unsere Bibliothek in der Seehalle besucht haben; sie luden mich ein, mir ihre Archive anzuschauen und dort zu arbeiten.« Kalion zuckte mit den Schultern und griff nach dem Weinkrug. Er war offensichtlich nicht interessiert. »Und?« Usara strich seinen Leinenkragen glatt und warf einen kurzen Blick zu Planir; dieser lächelte ihn über den Rand seines Glases hinweg an und nickte ihm beruhigend zu. »Sprich weiter«, ermutigte ihn der Erzmagier. »Nun, als Sannin zur Wintersonnenwende drüben war, nahm sie an einem Fest teil, wo der Wein in Strömen floss und die Zungen lockerte.« Otrick lachte unvermittelt, und seine Augen funkelten schelmisch. »Wie ich Sannin kenne, waren nicht nur die Zungen locker. Mir scheint, Feste sind ihr eigentliches Element.« Er wich Planirs Blick aus und lachte weiter leise in seinen wild wuchernden Bart, während er auf seinem Kuchen kaute. Usara blickte den alten Mann gereizt an und hob die Stimme. »Sie begannen, über Geschichte zu reden. Irgendjemand bemerkte Sannins Halskette. Es ist ein Familienerbstück, AltTormalin, und einer der Historiker fragte sich, was für Geschichten die Kette wohl erzählen könnte, wenn sie dazu in der 27
Lage wäre.« Otrick verschluckte sich und hustete. »Als ich ein Junge war, haben wir mit diesem Spruch versucht, einem Mädchen in den Ausschnitt zu gucken!« Usara ignorierte ihn. »An dem Fest nahmen Gelehrte der unterschiedlichsten Disziplinen teil, auch eine Hand voll Magier. Sie diskutierten darüber, ob es möglich sei, mehr über die einstigen Besitzer von Antiquitäten herauszufinden.« »Und wozu soll das gut sein?« Otrick runzelte die Stirn und schüttelte die leere Weinflasche. »Habt Ihr noch eine davon, Planir?« Der Erzmagier winkte in Richtung einer Flaschensammlung auf einem polierten Regal; der Blick seiner grauen Augen blieb jedoch auf Kalion gerichtet. Usara fuhr fort: »Sannin berichtete, dass sie im Laufe des Gesprächs in der Tat einige interessante Ideen entwickelt hätten.« »Und klangen diese Ideen immer noch so interessant, nachdem die Wirkung des Weins nachgelassen und die Kopfschmerzen eingesetzt hatten?«, erkundigte Otrick sich spöttisch. »Nachdem Sannin uns das erzählt hat, haben wir uns unsere eigenen Gedanken über diese Frage gemacht. Es gibt ein paar ältere Varianten der Weitsicht, die wir ausprobieren könnten, und einige Fragmente religiöser Überlieferungen könnten uns ebenfalls behilflich sein. Wir sind bereits zu ein paar vielversprechenden Ergebnissen gelangt.« Usara beugte sich vor. Sein Blick war konzentriert. »Wisst Ihr, Herdmeister ... Wenn wir eine Möglichkeit entdecken würden, mithilfe von Tormalinantiquitäten mehrere Generationen zurückzublicken – auf das Leben ganz normaler Leute –, würde uns das eine schier unendliche Quelle neuer histori28
scher Informationen verschaffen. Versteht Ihr denn nicht, wie sehr mir das bei meinen Studien weiterhelfen würde? Seit Anbeginn der Geschichtsschreibung war der Fall des Tormalinimperiums der größte Kataklysmus, der je über eine Zivilisation hereingebrochen ist. Falls wir Spuren finden könnten, die uns dabei helfen, die Fragmente schriftlicher Aufzeichnungen zusammenzufügen ...« »Das ist nichts weiter als flüchtiges Interesse und ohne jegliche Bedeutung für die wirkliche Welt.« Die Verachtung in Kalions Stimme war nicht zu überhören, als er nach einem weiteren Stück Kuchen griff und sein Glas auffüllte. Otrick hatte inzwischen einen Korkenzieher entdeckt. »Danke, Wolkenmeister.« »Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, dass wir unsere Geschichte verstehen lernen, wenn wir in die Zukunft blicken wollen.« Usaras schmale Lippen verschwanden fast völlig, als er die Schultern straffte, um dem größeren Mann zu widersprechen. »Sprich nicht so hochmütig mit mir, mein Junge. Ich kann mich noch daran erinnern, wie du in deinen lehmverschmierten Lehrlingslumpen hier angekommen bist ...«, knurrte Kalion. »Wissen besitzt stets einen Wert, Herdmeister. Es ist ...« »Wissen besitzt nur dann einen Wert, wenn man es anwenden kann«, fuhr Kalion dem Jüngeren gnadenlos über den Mund. »Warum reden wir überhaupt darüber, Erzmagier?«, verlangte er mit einem Hauch von Zorn in der Stimme zu wissen. Planir zuckte erneut die Schultern und rieb sich mit der Hand über sein glattrasiertes Kinn. »Ich habe mich gefragt, ob wir einige Kräfte freimachen sollten, um diese Idee weiterzuverfolgen.« 29
»Oh, mit Sicherheit nicht.« Kalion blickte so angewidert drein, wie es einem Mann mit soviel Wein im Blut möglich war. »Es gibt genug andere Dinge, mit denen der Rat sich beschäftigen muss. Ihr habt Imeralds Bericht über die rasche Entwicklung der Verhüttungstechnik im Norden gehört. Das ist ein wirklicher Fortschritt, und wir sollten daran teilhaben. Oder seht Euch doch nur einmal an, wie vorteilhaft sich die Viehzucht in Caladhria entwickelt hat, seit die Lords damit begonnen haben, die Weiden einzuzäunen. Und ich könnte Euch noch einige andere Beispiele von Wissenschaften nennen, in denen es im Laufe der vergangenen Generation mehr Fortschritt gegeben hat als in den fünf davor ...« »Erspart uns den Rest der Rede, Herdmeister«, unterbrach ihn Otrick und gähnte theatralisch. »Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, haben auch wir an der letzten Ratssitzung teilgenommen. Und wir haben Euch zugehört.« »Ihr könnt nicht leugnen, dass meine Vorgänger die Isolation der Höheren Magie ein wenig zu weit getrieben haben, Wolkenmeister.« Planir sprach ruhig, doch es war unmissverständlich, dass seine Worte als Tadel gemeint waren. »Das sage ich schon seit ungezählten Jahreszeiten immer und immer wieder.« Die rote Färbung von Kalions Wangen schwächte sich ein wenig ab. »Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge auf dem Festland verändern, müssen wir uns so rasch wie möglich einen Platz darin suchen, wenn wir nicht hoffnungslos zurückbleiben wollen. Das Prinzip der Nichteinmischung in die Politik beispielsweise ist vollkommen veraltet. Ja, inzwischen würde ich es sogar als bedeutungslos bezeichnen ...« »Ich will ja auch nicht auf alten Grundsätzen herumreiten. 30
Ich sehe nur keinen Sinn darin, was weiß ich wem dabei zu helfen, irgendwelche langweiligen, profanen Leben zu organisieren. Wenn ich schon meine Forschungen und Studien unterbreche, um meine Zeit für irgendetwas anderes zu verwenden, dann nur, um etwas zu erreichen, was ich brauche und wobei ich allein das Sagen habe.« Otrick reichte Kalion den Wein, und sofort war der alte Herdmeister abgelenkt. »Wie auch immer, spart Euch Eure Reden für die nächste Ratsversammlung, Herdmeister. Das ist der geeignete Rahmen für solch eine wichtige Debatte. Nun, sofern es mich betrifft, Usara, kannst du so viel Zeit damit verbringen wie du willst, um herauszufinden, wer was getan hat, während das Reich um ihn herum auseinander fiel. Mich interessiert, ob dein kleiner Plan mir irgendetwas über magische Techniken und Fähigkeiten verrät, die während der dunklen Zeit verloren gegangen sind.« »Solches Wissen wäre in der Tat sehr wertvoll.« Kalion nickte zustimmend. »Ich nehme an, wir könnten dergleichen entdecken, wenn wir mit Dingen arbeiten, die Magiern gehörten ...« Unsicher blickte Usara zu Planir.»... und wenn wir eine Möglichkeit finden, sie irgendwie in der Vergangenheit bei ihren Aktivitäten zu beobachten.« Der Erzmagier beugte sich vor und füllte das Glas des jungen Magiers. »Falls wir uns entscheiden sollten, dieses Projekt zu unterstützen, halte ich es für das Beste, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, und die Erlangung verlorenen magischen Wissens scheint mir das Wichtigste zu sein.« Planir hielt einen Augenblick inne und dachte nach. »Ich glaube, Ihr habt Recht, Kalion. Es ist an der Zeit, dass der Rat über unsere Rolle in der 31
modernen Welt nachdenkt. Andererseits hat aber auch Otrick in gewissem Sinne Recht. Wenn wir Magier uns in die Angelegenheiten jenseits dieser Insel mischen und dabei die Fehler der Vergangenheit vermeiden wollen, müssen wir die Bedingungen unseres Handelns selbst bestimmen.« »Sollte es uns gelingen, einen Teil der Magie wiederzuerlangen, die beim Zerfalls des Imperiums verloren ging, würde das unsere Position deutlich verbessern«, fügte Otrick hinzu. »Wir könnten nützliche Kontakte knüpfen, wenn wir gelehrte Lösungen für einige der Fragen anböten, die der Zusammenbruch der alten Tormalinmacht aufgeworfen hat«, meldete Usara sich kühn zu Wort. »Die meisten Lehrer und Berater des Adels auf dem Festland stammen aus den unterschiedlichsten Universitäten.« »Das ist durchaus eine Überlegung wert.« Fragend blickte Planir zu Kalion. »Was denkt Ihr, Herdmeister?« »Aus den Aufzeichnungen in der Halle könnten wir die Familiennamen der alten Magier erfahren. Dann könnten wir uns erkundigen, ob diese Familien noch kleinere Erbstücke besitzen und sie fragen, ob sie uns diese Stücke verkaufen«, sinnierte Planir. »Sie zu erforschen, wäre dann die Aufgabe Usaras und seiner Schüler.« »Das ist eine Verschwendung von Zeit und Geld«, erklärte Otrick energisch. »Schickt lieber ein paar Agenten in die Berge, um Informationen über diese ›Hochöfen‹ zu sammeln oder wie immer sie auch heißen mögen.« »Das hört sich an, als stelle dies wirklich eine bedeutende Entwicklung dar, Wolkenmeister«, stimmte ihm Planir zu. »Trotzdem kann ich ein paar Männer entbehren, und es dürfte ja nicht so schwer sein, die ein oder andere Antiquität tormali32
nischen Ursprungs zu finden, meint Ihr nicht? Und je mehr wir finden, desto eher wissen wir, ob Usaras Projekt irgendeinen Wert besitzt. Wer weiß, vielleicht erhalten wir ja tatsächlich ein paar brauchbare Informationen über verloren gegangene Magie.« »Oder wir treiben nur den Preis für Tormalinantiquitäten in die Höhe und enden mit einem Berg alter Töpfe und Statuen«, schnaufte Otrick. »Das ist genauso gut möglich«, gestand Planir. »Aber darum könnten wir uns kümmern, wenn wir Ressourcen dafür übrig haben; jetzt hat das wohl kaum Vorrang. Stimmt Ihr mir in diesem Punkt zu, Herdmeister?« »Ich glaube schon.« Kalion klang noch immer nicht überzeugt. Eine Uhr auf dem Kaminsims schlug viermal leise, und Kalion blickte überrascht auf. »Ihr müsst mich entschuldigen, Erzmagier. Mir war nicht bewusst, dass es schon so spät ist.« Er leerte sein Glas und wuchtete sich mit sichtlicher Mühe aus dem Sessel. »Wir müssen eine Zeit vereinbaren, um Eure Rede vor dem Rat eingehender zu diskutieren, Kalion. Sagt Eurem ältesten Schüler, er soll mit Larissa einen Termin abmachen.« Planir überantwortete Kalion formell dem Lampenpagen, der auf der Treppe gedöst hatte. Dann schloss er leise die schwere Eichentür und legte seine reich geschmückte Robe ab; darunter kamen eine praktische Hose und ein dünnes Leinenhemd zum Vorschein, über das er einen abgewetzten und mit Tintenflecken beschmierten Hausmantel zog. »Ich wollte dich schon fragen, seit wann du denselben Schneider hast wie Kalion.« Otrick schob sich das letzte Ku33
chenstück in den Mund und lachte leise. »Ich hab ja immer schon gesagt, dass diese Gewänder nur etwas für Bauernmädchen auf dem Dorffest sind.« Diesmal entblößte Planir beim Lächeln die Zähne, was ihm im Zusammenspiel mit dem Funkeln in seinen Augen etwas Raubtierhaftes verlieh. »Einzelheiten sind äußerst wichtig, Otrick. Das hast du mich gelehrt.« »Dann haben wir deinen Tanz befriedigend getanzt, Erzmagier?« Ein Großteil von Usaras Schüchternheit war mit Kalion verschwunden. Er ging zum Regal. »Möchte jemand Cordial?« »Ich nehme etwas vom Pfefferminzlikör, danke.« Planir setzte sich auf seinen Stuhl und streckte die Lederstiefel in Richtung Feuer aus. Er war sichtlich zufrieden. »Ja, ich denke, es ist sehr gut gelaufen. Sollten irgendwelche Gerüchte betreffs unseres kleinen Projekts auftauchen, haben sie sich mit der Geschichte wohl erledigt.« »Glaubst du?« Usara reichte dem Erzmagier einen kleinen Kristallkelch. »Kalion schien nicht überzeugt zu sein.« »Er hat nicht geglaubt, dass es wert ist, sich dafür zu interessieren«, verbesserte ihn Planir. »Und genau darauf habe ich gehofft.« »Er besitzt großen Einfluss im Rat. Immerhin ist er der Oberste Herdmeister, und das hat schon etwas zu bedeuten.« Usaras Tonfall zeugte noch immer von einer gewissen Unsicherheit. »Ja, er hat Einfluss.« Otrick nickte. »Und er ist ein Mann, an den sich die Leute wenden, wenn es um die neuesten Gerüchte geht, vergiss das nicht.« Verständnis zeichnete sich auf Usaras Gesicht ab, und er lachte. »Sollte also irgendjemand neugierig auf uns und unsere Arbeit werden, wird dieser Jemand sich an Kalion wenden, und 34
Kalion wird ihm sagen, dass er alles darüber wisse und es nicht von Bedeutung sei.« »Wobei allerdings nur wenige Dinge mehr Aufmerksamkeit erregen als ein Projekt, an dem sowohl der Erzmagier als auch der Älteste Wolkenmeister interessiert sind«, ergänzte Planir und nippte zufrieden an seinem Getränk. »Weißt du, Usara, die Leute haben unterschiedliche Vorstellungen, was die Rolle eines Erzmagiers betrifft, doch nur wenige wissen, dass er die meiste Zeit damit verbringt, andere davon zu überzeugen, das zu tun, was er will, und ihnen gleichzeitig einzureden, es sei ihre Idee gewesen.« »Auf jeden Fall hast du Kalion wie einen Vogel auf dem Spielbrett manipuliert«, erklärte Usara anerkennend. Otrick grinste wölfisch. »Spiel niemals Weißer Rabe mit dem Mann, Usara! Ich schwöre dir, er würde eher die Waldvögel dem Raben dienen lassen, bevor er ihn hinausjagt.« »Ich habe schon seit Jahren kein Weißer Rabe mehr gespielt, Wolkenmeister.« Planir schüttelte den Kopf in spöttischer Trauer. »Nach ein paar Jahreszeiten als Erzmagier hat es irgendwie seinen Reiz verloren.« Otrick wühlte in seiner Hosentasche nach einem kleinen Lederbeutel. »Wann willst du dem Rat die Wahrheit sagen?« Er stopfte sich ein paar Blätter in den Mund und kaute genüsslich darauf. »Sobald ich in der Lage bin, ihm eine vollständige Geschichte zu erzählen – oder wenn einer der Ältesten mit einem Gerücht zu mir kommt, das ich einfach nicht ignorieren kann.« Planir blickte Usara scharf an. »Ersteres würde ich bei weitem vorziehen. Wie lange brauchst du noch, um herauszufinden, was ich wissen will?« 35
Während Usara sein Glas leerte, machte sich wieder ein Hauch seiner alten Nervosität bemerkbar. »Wir haben die Methoden verfeinert, um jene Teile zu identifizieren, die wir benötigen.« »Das wurde auch höchste Zeit! Schließlich waren es diese so genannten Kaufleute, die so viel Aufmerksamkeit erregt haben, als du sie mit einem Sack voll Gold ausgeschickt hast, um jedes Stück alten imperialen Schrotts zu kaufen, das sie in die Finger bekommen können«, schnaufte Otrick. »Das war ausgesprochen unglücklich.« Würdevoll drehte Usara sich zu dem alten Magier um. »Nichtsdestotrotz kann ich mich nicht erinnern, dass Euch etwas Besseres eingefallen wäre.« Planir kam einem Streit zuvor, indem er beschwichtigend die Hand hob. »In Anbetracht der Tatsache, dass unsere Leute schon zwei Jahreszeiten daran arbeiten, hätte es mich auch gewundert, wären wir noch länger unbemerkt geblieben. Nun, wie sehen eure Ergebnisse aus?« »Die Informationen, die wir erhalten, sind ausgesprochen detailliert, fast sogar zu detailliert. Wir müssen sie in Zusammenhang bringen. Im Augenblick halten uns die Lücken in den alten Aufzeichnungen auf.« Was Usara offensichtlich zu schaffen machte. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einen der historischen Vanam-Bände hierher bekommen«, sagte Planir nachdenklich. »Mir wäre es lieb, wenn bald größere Fortschritte zu sehen wären.« »Wir haben darum gebeten, doch bis jetzt ist es uns noch nicht gelungen, die Mentoren davon zu überzeugen, uns einen zu überlassen.« Usara scharrte ob dieses peinlichen Geständnis36
ses unglücklich mit den Füßen. »Ich nehme an, ich werde mehr Erfolg haben. Ein Erzmagier besitzt die verschiedensten Kräfte, und die eigentliche Zauberei ist oft die unwichtigste davon.« Planirs Augen glühten im Lampenlicht. »Hast du in letzter Zeit etwas von Casuel Devoir gehört? Wann wird er wieder zurückerwartet?« »Zum Äquinoktium, glaube ich.« Usara zuckte mit den Schultern. »Ich sage, er war eine schlechte Wahl für diese Art Aufgabe«, schnaufte Otrick. »Was für eine Wahl hatten wir denn? Casuel ist schon seit drei Jahreszeiten niemandes Schüler mehr; also vermisst ihn auch niemand. Und er besitzt eine gewisse Kenntnis, was das alte Imperium betrifft. Außerdem ist es ja nicht so, als hätten wir ihm die ganze Geschichte erzählt.« Planir warf Otrick ein Lächeln zu. »Erinnerst du dich noch daran, was vor ein paar Jahren zur Sommersonnenwende passiert ist? Die Entschlossenheit, mit der Casuel Shiwalan hat übertreffen wollen, zeigt, dass er die nötige Härte besitzt, um zu tun, was er tun muss.« »Ha!« Otricks Belustigung verflog so rasch, wie sie gekommen war. »Wenn wir Antworten haben wollen, bevor der Rat uns peinliche Fragen zu stellen beginnt, müssen wir schneller handeln. Wir brauchen mehr Leute.« Planir griff hinter seinen Stuhl, um ein Bündel Papiere vom Tisch zu nehmen. »Ich denke, wir sollten in der Lage sein, noch drei, vier geeignete Agenten zu finden, ohne allzu große Aufmerksamkeit zu erregen.« Usara runzelte die Stirn. »Sie müssten mit einem Magier zusammenarbeiten. Wir müssten eine Hand voll finden, denen wir 37
in dieser Sache vertrauen könnten und die im Augenblick niemandes Schüler sind.« »Nicht unbedingt. Shiwalan Ralsere hat angebissen, als er zu mir kam, um mich zu bitten, ihn als Schüler aufzunehmen. Ich könnte noch einen weiteren besorgen, und ich denke, es ist an der Zeit, dass wir Troanna mit einbeziehen. Niemand wird etwas sagen, wenn sie ein paar Schüler annimmt, besonders nicht bei all den Neuen, die kürzlich gekommen sind«, schlug Otrick vor. »Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte Planir und nickte gedankenverloren. »Du wirst auch ein paar Gelehrte finden müssen, die den Kram so genau wie möglich identifizieren können, Usara.« Otrick gähnte und rieb sich die Augen. »Du schuldest mir was, wenn ich morgen Kopfschmerzen habe, Planir. Ich bin zu alt, um es mit jemandem wie Kalion im Leeren von Flaschen aufzunehmen.« »Solltet Ihr Euch am Morgen unwohl fühlen, Wolkenmeister, werde ich den Weinhändler in eine Eidechse verwandeln«, versprach ihm der Erzmagier feierlich. »Angesichts des Geldes, das er mir für diesen Jahrgang abgeknöpft hat, wird es mir eine Freude sein.« Otrick seufzte, und die Munterkeit verschwand aus seinem Gesicht. Zum ersten Mal war ihm sein Alter anzusehen. »Also, was tun wir, wenn wir die ganze Geschichte kennen? Falls auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was wir vermuten, werden die Festländer den Aufschrei des Rats selbst über den Golf hinweg hören. Jemand, der diese mystische, verborgene Insel finden wollte, müsste dann einfach nur dem Lärm folgen.« »Ein Schock ist am größten, wenn er unerwartet kommt.« 38
Planir wirkte nicht im Mindesten beunruhigt. »Ich denke, ich werde Naldeths Projekten ein wenig Aufmerksamkeit widmen. Dann wird das Kichern hinter seinem Rücken aufhören, und wenn seine Theorien an Verbreitung gewinnen, kannst du ihm die Zusammenarbeit anbieten, Usara. Dann können wir feststellen, wann und wie gewisse Informationen Allgemeinwissen werden.« »Wenn du es sagst.« Die Unsicherheit des jungen Magiers war offensichtlich. »Du spielst mit dem Feuer«, warnte Otrick düster. Planir zuckte mit den Schultern und stand auf, um sich noch etwas Cordial zu holen. »›Mit dem Feuer spielen‹ beschreibt die Tätigkeit eines Erzmagiers genauso gut wie alles andere. Aber wie auch immer ... Bei Tageslicht betrachtet erweist sich dieser Wolf vielleicht als Hund. Womöglich gibt es nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten.« »Ich würde eher auf eine vollständige Runenreihe im ersten Wurf wetten«, murmelte Otrick. »Du glaubst also, alles unter Kontrolle zu haben?« Auf der Suche nach Beruhigung blickte Usara zu Planir. Die regelmäßigen Zähne des Erzmagiers glänzten weiß, als er lächelte. »Ich setze die Dinge nur in Bewegung, Usara. Was ich suche, ist die eine Rune, die das Spiel zu unseren Gunsten wenden kann. Wir alle müssen nach der geeigneten Gelegenheit Ausschau halten und sicherstellen, dass wir sie nicht verpassen!«
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Die Taverne Zum Packpferd an der Straße nach Col, südlich von Ambafost, Ensaimin 13. Vorherbst
Die Geräusche des Gasthofs weckten mich: das Klappern und Klirren von Pferdegeschirr, das Trampeln von Hufen im Hof und das Murmeln der Gäste im Schankraum. Ich blickte zur Sonne, während ich mich für meine Rolle als arme, aber verhältnismäßig ordentliche Dörflerin ankleidete. Eigentlich hatte ich früher aufstehen wollen, aber immerhin fühlte ich mich jetzt trotz meines nächtlichen Ausflugs erfrischt. Kaltes Wasser weckte mich vollends, und ich überprüfte den Beutel unter meinem Kopfkissen, um mich zu vergewissern, dass alles nicht nur ein schöner Traum gewesen war. Der Humpen war da, und im Tageslicht erkannte ich, dass ich in der Tat ein schönes Stück erwischt hatte. Das Silber besaß den typischen Glanz alter Tormalinarbeiten, und das Symbol des Handwerkers am Fuß war klar und deutlich zu sehen, auch ein gutes Zeichen. Ich erkannte das Symbol jedoch nicht – Silber ist nicht mein Ding; mit Gemälden kenne ich mich besser aus. Sollte ich das gute Stück selbst nach Col bringen, wo doch die Marktpreise im Augenblick so stark anzogen? Ich dachte darüber nach, doch die ursprüngliche Idee war gewesen, etwas Geld aufzutreiben, um auf Halice warten zu können; außerdem wollte ich das Ding nicht mehr in den Fingern haben, wenn man den Diebstahl bemerkte und die Miliz sich auf die Suche nach dem Täter machte. Dieser Kaufmann – wer immer er auch sein mochte – konnte den Humpen gerne haben. Ich wollte nur das Geld. 40
Rasch schlang ich das Frühstück hinunter. Dann schwang ich mich auf mein gemietetes Pferd, ritt nach Ambafost und verfluchte die unbequemen Röcke, an die ich nicht gewöhnt war. Auf der Straße ging es inzwischen recht geschäftig zu, und der Regen der vergangenen Tage war strahlendem Sonnenschein gewichen. Bauernkarren und Kutschen rumpelten die Straße entlang. Gelegentlich wurden sie von zwei, drei Reitern überholt oder von einer langsam dahintrottenden Maultierkarawane aufgehalten. Diese Betriebsamkeit war zugleich gut und schlecht für mich. Zum einen bedeutete es mehr Zeugen, die mich identifizieren konnten, sollte jemand nach mir fragen; andererseits konnte ich in der Menge gut untertauchen. Ich überlegte, ob ich den Gasthof wechseln sollte, aber da war das Problem mit Halice; falls sie mir eine Nachricht zukommen ließ, wollte ich sie nicht versäumen. Es war Markttag, und der Marktplatz von Ambafost quoll vor Menschen geradezu über. An Ständen bot man alles an von Gemüse und Fleisch bis hin zu Glaswaren aus Dalasor und Aldabreshiseide; einige Händler hatten offensichtlich hier auf dem Weg nach Col einen Zwischenstopp eingelegt. Die Menschen drängelten sich dicht an dicht, stießen einander beiseite, schrien und fluchten. Überall roch es nach feuchter Wolle und Leder, gemischt mit dem Duft frisch gebackenen Brotes über den Köpfen und dem Gestank von Tierdung unter den Füßen. Ich mag diese Art von Markt; sie bietet hervorragende Deckung. Ein paar Bettler versuchten erfolglos ihr Glück bei den Marktbesuchern, aber nirgends war eine Stadtwache zu sehen, die sie vertrieb, was mich natürlich fröhlich stimmte. Den Rennenden Hund zu finden war leicht. Ich ging hinein und drängte mich durch die Menge. Mehrere Postkutschen 41
waren soeben eingetroffen, und die Fahrgäste schrien einander an, während sie herauszufinden versuchten, wie ihre Reise weitergehen würde: Einige brauchten eine neue Verbindung, andere suchten etwas zu essen; Kinder weinten, und mitten im Schankraum trug ein Ehepaar offen seine Familienstreitigkeiten aus. Eine Rationalistin blieb völlig unbeachtet, als sie jemanden suchte, den sie mit ihren Theorien darüber langweilen konnte, dass angesichts der Fortschritte in Wissenschaft und Magie niemand mehr die alten Götter brauche. »Wo ist der Kaufmann, der an Antiquitäten interessiert ist?« Ich packte eine vorbeikommende Bedienung am Ellbogen. »Im Privatsalon hinter dem vornehmen Aufenthaltsraum.« Das Mädchen schüttelte meine Hand ab und ging weiter, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Im Aufenthaltsraum der vornehmen Leute wich der Lärm einem Murmeln. Hier gab es Sitzbänke mit hohen Lehnen, und wohlriechende Kräuter waren unter die Bodenstreu gemischt. Der Wirt warf mir einen scharfen Blick zu, doch da ich offensichtlich weder eine Hirtin noch eine Bäuerin war, entschied er sich im Zweifel zu meinen Gunsten. Ich schenkte ihm mein strahlendstes Lächeln, jenes, das besagte: niedlich, aber dumm. »Ich bin gerade in der Stadt eingetroffen, und jemand hat mir gesagt, hier gäbe es einen Kaufmann, der nach Antiquitäten sucht. Könnte ich bitte mit ihm sprechen?« »Ich werde ihn wissen lassen, dass Ihr hier seid. Im Augenblick ist er beschäftigt.« Er polierte einen ohnehin schon glänzenden Zinnbecher. Ich wollte den Wirt nicht drängen, und so lächelte ich erneut. »Dann hätte ich gerne einen Becher Wein, während ich warte. Und auch einen für Euch.« Ich legte eine Mark auf den 42
Tresen und nahm den Wein, den er mir einschenkte, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Als ich mich in eine unauffällige Ecke setzte, sah ich zwei Frauen gemeinsam den Privatsalon verlassen; die eine lächelte selbstgefällig, während die andere versuchte, ihren Kummer zu verbergen. »Es ist eine Schande, meine Liebe«, sagte die Lächelnde zu der Verzagten. »Dein Vater hat immer geschworen, dass die Steine echt sind.« Die Frau strich ihr blaues Brokatkleid glatt. »Der Erinnerungswert bleibt erhalten. Es ist ja nicht so, als müsste ich etwas verkaufen – so wie du.« Die erste Frau presste die Lippen aufeinander. »Die Zeiten ändern sich, meine Liebe. Heutzutage ist bei Geschäften kein Platz mehr für Gefühle.« Gemeinsam glitten sie hinaus, und ich erregte die Aufmerksamkeit des Wirts, als dieser eine Weinkaraffe und zwei Kelche auf ein Tablett stellte. Er winkte mir, und ich ging zu ihm. »Ihr solltet lieber nicht seine Zeit verschwenden«, warnte er mich, als er mir die Tür öffnete. »Guten Morgen, mein Name ist Terilla.« Ich setzte wieder das strahlende Lächeln auf und blickte zu den drei Männern, die in dem sonnendurchfluteten Raum mir gegenüber an einem Tisch hockten. In der Mitte saß ein kräftig gebauter Mann in feiner roter Wolle. Er hatte sich an die Wand gelehnt und schaute mich ernst an. Er besaß dunkles Haar und Bart; seine Ringe bestanden aus purem Gold, und wenn ich mich nicht irrte, trug er ein Messer im linken Ärmel. Da seine Stiefel sich unter dem Tisch befanden, konnte ich sie nicht sehen, doch er kam mir wie ein Kerl vor, der mehr als nur ein 43
Messer bei sich trug, was ungewöhnlich für einen Kaufmann war. Seine Gefährten passten nun gar nicht zueinander: Zu seiner Rechten saß ein dürrer Geselle, der mit grobem Leder und grünem Leinen bekleidet war. Gedankenverloren spielte er mit ein paar Runen, und es juckte mir in den Fingern. Der andere wiederum sah aus, als wäre er nur durch Zufall hier hineingeraten; doch er trank Wein, also gehörte er dazu. Vielleicht war er irgendeine Art Schüler; zumindest war er jung genug dafür. Er trug einen schmucklosen braunen Stoff; sein blondes Haar war kurz geschnitten, und er hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ich bezweifelte, dass er eine Klinge bei sich trug. Tatsächlich machte er auf mich eher den Eindruck, als hätte er sich damit nur selbst ins Bein gestochen. Das Schweigen wurde allmählich peinlich, und so legte ich das Lächeln ab und öffnete meine Gürteltasche. »Ich bin gerade erst mit der Kutsche aus Saufurt eingetroffen. Jemand hat mir erzählt, Ihr würdet Tormalinstücke kaufen, und ich habe mich gefragt, wie viel Ihr mir hierfür wohl geben würdet.« Ich stellte den Humpen auf den Tisch. Der Mann in Rot sah ihn sich an, griff jedoch nicht danach. »Wo wollt Ihr hin?« Der Runenspieler sammelte seine Knochen ein und warf mir ein offenes, freundliches Lächeln zu, dem ich ebenso sehr vertraute wie dem meinen. »Ich reise nach Eichberg, um mich Lord Elkiths Truppe anzuschließen.« Sowohl Saufurt als auch Eichberg lagen mehrere Tagesreisen östlich beziehungsweise westlich von hier; sollte er ruhig versuchen, mich dort bei einer Schauspieltruppe zu finden. Ich erwiderte seinen Blick, doch aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der ernste Junge den Humpen griff, um ihn genauer zu 44
betrachten. »Mit Schauspielern zu arbeiten, muss sehr aufregend sein. Was spielt Ihr für eine Rolle?« Interessiert beugte er sich vor. Übertreib es nicht, Junge, dachte ich. Ich sehe ja wohl nicht so aus, als wäre ich gerade erst vom Bauernhof geflohen. »Ich bin Sängerin«, antwortete ich. Das zumindest entsprach der Wahrheit; Singen gehört zu den Fähigkeiten, die ich erwähnt habe. Trotz der Missbilligung meiner Mutter hatte ich mir ein gutes Repertoire an Balladen angeeignet und einige grundlegende Tänze auf der Laute gelernt. »Werdet Ihr den Markt von Col besuchen?« Der Anführer der drei blickte erwartungsvoll zu dem Jungen. War er ein Experte? Wie gesagt, sah er recht jung aus. »Ich weiß noch nicht.« Ich hielt die Zeit für gekommen, nun meinerseits ein paar Fragen zu stellen. »Wollt Ihr in Col Handel treiben? Vielleicht sollte ich Großvaters Humpen selbst dorthin bringen.« Ein Schatten der Sorge huschte über das sommersprossige Gesicht des Jungen. Er blickte zu seinem Arbeitgeber, und irgendwie verständigten sie sich stumm. Schade, dass ich den Jungen nicht zu einem Spiel verlocken konnte; er beherrschte seine Mimik so schlecht, dass er sein letztes Hemd verlieren würde. »Er gehörte Eurem Großvater? Warum wollt Ihr ihn verkaufen?« Der Kaufmann in der Mitte lächelte mich auf eine Art an, die er offensichtlich für ermutigend hielt. Ich kicherte – selbst wenn ich heutzutage Röcke trage, passiert mir das manchmal. »Oh, der Humpen gehört mir«, log ich unverhohlen. »Großvater hat ihn mir auf dem Sterbebett für meine Mitgift gegeben. Ich will ihn nicht verkaufen, aber Ihr müsst wissen, dass ich 45
weg von zuhause möchte. Ich will singen, doch mein Vater will mich mit dem Sohn seines Partners verheiraten. Er ist Kleiderhändler, fett und langweilig und nur an Wolle und Leinen interessiert. Ich musste einfach weg.« Der Mund des Jungen klappte auf, und sein sommersprossiges Gesicht war voller Mitgefühl; die anderen beiden hingegen schienen von meiner Geschichte weniger beeindruckt zu sein. Vielleicht hatte ich ein bisschen zu dick aufgetragen – das lag mit Sicherheit an meinem Kleid. »Also. Wie viel wollt Ihr mir geben?« »Was denkt Ihr denn, dass er wert ist?« Der Mann in Rot beugte sich vor. Sein Blick war unangenehm durchdringend. »Nun ... Ich bin nicht sicher.« Sollte ich ihnen einen niedrigen Preis nennen, das Geld nehmen und machen, dass ich hinauskam, oder sollte ich ihnen zeigen, dass ich den wahren Wert des Stückes kannte? »Ich gebe Euch sechs Mark dafür.« »Caladhrianische oder Tormalinische?« So oder so, das Angebot war ein Witz. »Tormalinische natürlich«, versicherte er mir, als würden die sechs Extragroschen einen Unterschied machen. »Unser Gemeindevorsteher hat immer gesagt, der Humpen sei sehr wertvoll.« Ich hob den Blick und riss jammervoll die Augen auf. »Stimmt das nicht?« Sommersprosse rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum; er hätte etwas gesagt, hätte der Dürre in Grün ihm nicht mit einer Geste Schweigen geboten. Der Rote lehnte sich wieder zurück und strich sich über den Bart. »Er ist das wert, was ich dafür zu zahlen bereit bin«, erklärte er in süßlichem Tonfall, »und das sind sechs Mark, was ich für 46
mehr als großzügig halte, zumal ich weiß, dass er gestohlen ist.« O je. Nun wollte ich nur noch so schnell wie möglich weg von hier. Sollte ich weiter versuchen zu bluffen? Nein. Das war sinnlos, entschied ich rasch. »Gut. Gebt mir das Geld, und ich mache mich wieder auf den Weg. Ich muss die Kutsche erwischen.« Der Hagere zeichnete ein Muster in eine Pfütze verschütteten Weins. Außer mir und den dreien vor mir war niemand im Raum, und doch wurde hinter mir der Riegel von innen vor die Tür geschoben. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Große Scheiße ... ganz große Scheiße. »Ich bin sicher, du hast noch Zeit für eine kleine Unterhaltung«, sagte der Kaufmann in vertraulichem Tonfall. Er machte keinerlei Anstalten, das Geld hervorzuholen. »Warum sagst du uns nicht, woher du das hast? Und wo wir schon dabei sind, könntest du uns auch deinen richtigen Namen nennen.« »Vor ein paar Abenden hatte ich Glück im Spiel. Irgendein Kerl hat den Humpen gesetzt. Ich wusste nicht, dass er gestohlen war.« Der Dürre schenkte mir Wein ein, doch ich beachtete ihn nicht. Ich sollte mit einem Zauberer trinken? Unwahrscheinlich. »Ich fürchte, das war nicht gut genug.« Der Kaufmann nippte an seinem Wein und wischte sich den Bart. »Dieser Humpen ist Teil einer kleinen, aber feinen Sammlung, die einem recht unangenehmen Tuchhändler in Weißdorn gehört. Wir haben schon mit ihm geredet, aber sein Preis war zu hoch.« »Warum habt Ihr ausgerechnet dieses Stück gestohlen?« Sommersprosse konnte sich nicht länger beherrschen, und sein Herr verzog ob der Unterbrechung verärgert das Gesicht. Ich 47
blickte zum Fenster, schätzte meine Chancen, es schnell genug zu erreichen, allerdings nicht als günstig ein. »Entspann dich. Wir werden dir nichts tun.« Der Dürre schob den Wein in meine Richtung. Was er sagte, war ja schön und gut, aber ich traue keinen Zauberern – ich traue ihnen nicht im Mindesten. Andererseits ist es nicht so, als würde ich glauben, was die alten Balladen über sie erzählen: dass sie gegen Schmerz unempfindlich sind, dass sie schier unglaubliche Kräfte besitzen, dass sie Gedanken lesen können und so weiter. Die wenigen Zauberer, die ich kennen gelernt hatte, konnten zwar ein paar Zauber wirken, waren gegen ein Messer in ihren Rippen aber genauso empfindlich wie alle anderen Menschen auch. Sofern es mich betrifft, sind Zauberer allein deswegen gefährlich, weil ihre Motive stets im Dunkeln bleiben. Sie suchen irgendetwas, fragen irgendjemanden nach Neuigkeiten oder versuchen schlicht herauszufinden, wer der Vater desjenigen war ... Fragt mich nicht warum. Egal, was auch immer sie haben wollen, sie laufen über heiße Kohlen, um es zu bekommen, und wenn es ihnen nützlich erscheint, werfen sie dich zu Boden und benutzen dich als Laufsteg. Ich blickte den Dürren fest an. »Aber ob wir dir nun etwas tun oder nicht, die Stadtwachen haben vielleicht eine andere Vorstellung, was das betrifft.« Der Anführer der Drei griff nach dem Humpen. »Der Besitzer dieses schönen Stücks ist ein sehr einflussreicher Mann. Der Offizier, der den Dieb fängt, wird so manchen Vorteil daraus ziehen können.« Ich antwortete nicht darauf. Der Kerl hatte ein erstes Gebot gemacht, und ich wettete, dass ich schon um weit höhere Einsätze gespielt hatte als er. Das Schweigen zog sich in die Länge. Ich hörte den Lärm des 48
Marktplatzes draußen. Händler priesen laut schreiend ihre Waren an, Pferde wieherten, und Karren rumpelten über die Pflastersteine. Zwei Betrunkene schlurften vor dem Fenster vorbei, hilflos kichernd, und ihre Schatten fielen zu uns herein, die wir regungslos warteten. Die Spannung steigerte sich so sehr, dass man die Luft förmlich knistern hörte. Der rote Kaufmann zeigte keinerlei Gemütsregung, der Dürre lächelte, und Sommersprosse sah todunglücklich aus. »Aber natürlich müssen wir der Stadtwache nichts erzählen.« Der Dürre grinste, griff nach dem Becher, den er mir angeboten hatte, und hob ihn zum Toast. Sein Auftraggeber blickte ihn stirnrunzelnd an; dann fuhr er fort: »Weißt du, es gibt noch andere Stücke, die wir gerne in unseren Besitz bekommen würden, und deren Eigentümer nicht gerade begierig darauf sind, sie uns zu verkaufen, und ich frage mich, ob wir da nicht vielleicht eine Abmachung treffen könnten. Offensichtlich besitzt du Talente, die für uns von Nutzen sind.« Gut, jetzt redeten wir vom Geschäft. »Warum kann dein zahmer Beschwörer sie nicht einfach für dich rauszaubern?« »Dazu müsste ich genau wissen, wo sie sind, oder sie am besten sogar in Sichtweite haben.« Der Dürre zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht immer möglich.« So, mit der Ethik gab es hier also kein Problem. Das machte die Sache einfacher. »Das soll also heißen, dass ihr mich der Stadtwache übergeben werdet, damit sie mir die Hände abhacken kann, falls ich nicht für euch arbeiten will.« Sommersprosse zuckte unwillkürlich zusammen; für mich war er das schwache Glied in der Kette, mit der die anderen mich fesseln wollten. 49
»Grundsätzlich, ja.« Der Rote starrte mich ausgesprochen unfreundlich an. »Es würde sich auch für dich lohnen«, versicherte mir der Dürre. »Du würdest einen Prozentsatz vom Wert bekommen.« »Das wird mir nicht viel nützen, wenn man mich schnappt.« »Ich kann dich aus jeder Zelle holen. Wenn ich dich erst einmal besser kenne, kann ich dich überall aufspüren wie ein Bluthund.« Das waren ja schöne Aussichten: ein Zauberer an meinen Fersen, den ich unmöglich abschütteln konnte. »Was, wenn ein zorniger Adeliger mir das Schwert in den Leib rammt, um der Stadtwache die Arbeit zu ersparen?«, forderte ich ihn heraus. »Kannst du mich auch aus Saedrins Zelle holen? Ich habe immer geglaubt, Zauberer beschäftigten sich nicht mit Wiederbelebungen.« »Wenn du gut genug warst, den hier zu finden«, der Rote griff wieder nach meinem Humpen, »bist du auch gut genug, dich nicht erwischen zu lassen.« Er verschränkte die Finger und ließ sie zufrieden knacken; er gefiel mir immer weniger. »Aber wie auch immer ... Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, mit uns darüber zu diskutieren.« Unglücklicherweise musste ich ihm in diesem Punkt Recht geben. Wir konnten uns den ganzen Tag geistreiche Bemerkungen um die Ohren hauen, während der Dürre den freundlichen Schoßhund und der Rote den bissigen Straßenköter spielte, doch ich würde nirgendwohin gehen, solange sie es mir nicht erlaubten. Wie sie dem Wirt erklären wollten, warum sie mich so lange hier behielten, wusste ich nicht. Natürlich hätte ich mich schlicht weigern können, doch mir behagte die Vorstel50
lung nicht, der Stadtwache übergeben zu werden. Vermutlich könnte ich die Strafe mit dramatischen Heulkrämpfen auf Auspeitschung oder Pranger herunterhandeln, doch was, wenn der Kommandant entschied, mich festzuhalten, bis der Möchtegernvergewaltiger, dieser Scheißhaufen, wieder nach Hause kam? Ich setzte weiter mein Spielergesicht auf, doch innerlich verfluchte ich mich: du und deine blöde Rache, du dumme Kuh! »Also gut«, sagte ich langsam. Ich nahm den Wein, leerte den Becher und füllte ihn wieder. Danach fühlte ich mich schon besser. »In was für Geschäften bist du nun unterwegs?«, fragte ich den Roten. »Zum Ein- und Verkaufen braucht niemand einen Zauberer und einen Gelehrten. Was ist so wichtig, dass du jetzt auch noch einen Fassadenkletterer anheuern willst?« »Das soll dich nicht kümmern. Mein Name ist Darni, und meine Gefährten sind Geris und Shiwalan.« »Shiv reicht völlig.« Der Dürre lächelte. »Und dein Name?« »Terilla. Das habe ich euch doch schon gesagt.« Terilla hieß meine Tante, die einen Bäcker geheiratet hatte und so rund geworden war wie eines seiner Brote. Shiv schüttelte den Kopf. »Du lügst schon wieder.« Das konnte ausgesprochen unangenehm werden. Ich beschloss, es mir jedes Mal genau zu überlegen, bevor ich etwas über mich selbst preisgab. Nichtsdestotrotz mussten sie mich irgendwie anreden. Warum eigentlich nicht bei meinem richtigen Namen? »Ich bin Livak.« Ich hob meinen Becher zu einem ironischen Toast, den Shiv erwiderte. Darni schnaufte. »Gut. Wir werden dir ein Zimmer hier besorgen. Morgen ziehen wir weiter. Halt dich bis dahin von anderen fern.« 51
Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, aber ich habe ein Zimmer in einem Gasthof weiter die Hauptstraße hinauf. Morgen früh komme ich wieder zurück.« Darni blickte mich verächtlich an. »Wenn du mich für dumm verkaufen willst, machst du einen großen Fehler.« »Mein Gepäck ist dort, und ich muss die Rechnung noch bezahlen!« »Ich werde sie begleiten«, erbot sich Shiv, und der wütende Ausdruck wich aus Darnis Gesicht. »Während ich weg bin, könnt ihr darüber entscheiden, wie ihr mich angemessen bezahlen wollt. Ich schulde euch was dafür, dass ihr wegen des Humpens die Wache nicht gerufen habt; aber übertreibt es nicht. Ich will die Hälfte des Wertes von allem, was ich stehle – für den Anfang.« Darni gefiel der Vorschlag offensichtlich ganz und gar nicht. »Sei vor Sonnenaufgang wieder hier«, sagte er. Shiv öffnete die Tür – diesmal auf die altmodische Art, mit den Händen –, und winkte mich höflich hindurch. »So. Wie sehen deine Pläne aus?« Shiv saß auf seinem kleinen, stämmigen Pferd wie ein Getreidesack, als wir auf die Hauptstraße hinausritten. Ich bemerkte das zerschlissene Zaumund Sattelzeug, und dass der Gaul müde den Kopf hängen ließ. Mein gemietetes Pferd hingegen war frisch und wach. In Gedanken ging ich den Weg durch, der uns erwartete, und suchte nach einer geeigneten Stelle, um einfach loszugaloppieren und Shiv abzuhängen. Ich wog meine Fähigkeiten, ihn abzuschütteln, gegen die seinen als Fährtenleser ab ... worauf auch immer diese Fähigkeiten sich begründen mochten. Mein Gepäck im Gasthof war mir eigentlich egal. Sollten sie es ruhig behalten; sie würden keine verwertbaren Spuren darin 52
finden. Wir warteten auf einen schwer beladenen Wagen, der um ein zerfurchtes Schlammloch manövrierte. »Ich hoffe, wir bereiten dir keine allzu großen Umstände, Livak.« Jetzt reichte es mir bald. Shiv entwickelte sich mehr und mehr zu einem geeigneten Ziel, um meine Wut daran auszulassen. »Warst du auf dem Weg zum Herbstmarkt in Col? Was hattest du dort vor? Wenn du da auf Diebestour gehen würdest, würde das deine ortsansässigen Kollegen auf den Plan rufen, nehme ich an.« Ich beachtete ihn nicht. Hinter uns veranstaltete ein Esel aus irgendeinem Grund ein Mordsspektakel, und als Shiv sich neugierig umdrehte, trat ich meinem Pferd die Fersen in die Flanken. Frisch wie es war, machte es sich lang und galoppierte los, während ich mich auf den Hals legte, um nicht von einem Ast getroffen zu werden. Doch plötzlich hielt das Tier so unvermittelt an, dass ich aus dem Sattel und zu Boden geworfen wurde. Der Aufprall war hart. Pferdehändler ermahnten einen zwar immer: »Fall locker«, doch dafür war mir keine Zeit geblieben. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte ich, das Pferd sei in ein Kaninchenloch getreten – ich wollte das arme Tier nicht auf dem Gewissen haben –; doch fast augenblicklich stand es wieder auf, und ich tat es ihm nach. Halcarion sei Dank hatte ich mir nichts gebrochen, aber ein paar blaue Flecken hatte ich mir sicherlich geholt. »Tut mir Leid, aber ich glaube, es hätte Darni gar nicht gefallen, wenn ich dich verloren hätte.« 53
Ich hob den Blick und sah Shiv auf seiner schwarzen Stute. Ein grünes Licht glühte um seine Hände. »Du Bastard! Das hätte mich das Leben kosten können!« Ich spie ein paar Blätter aus. »Nein, ich habe schon darauf geachtet, dass dir nichts passiert.« Die Sorge in seiner Stimme hörte sich beinahe echt an. »Ich mache dir keinen Vorwurf, dass du es versucht hast, Livak«, versicherte er mir. »Du hast leicht reden.« Ich fluchte, als das Pferd sich bewegte und ich auf einem Bein hüpfen musste; den anderen Fuß hatte ich bereits in den Steigbügel gesteckt. »Warte, ich helfe dir.« Shiv ergriff die Zügel. »Gib mir dein Wort, dass du es nicht noch einmal versuchst.« »Danke«, sagte ich steif. »Also schön, ich schwöre es dir.« Ich leierte den üblichen Misaen-Eid herunter. »Ich kann durchaus verstehen, dass du auf Darni wütend bist, weil er dich in das alles hineingezogen hat.« Der Zauberer machte weiter auf freundlich, was mich aber nur umso mehr ärgerte. »Oh, du verstehst mich also! Hat er dich auch mit Drohungen zur Zusammenarbeit gezwungen? Hat er auch deine Pläne zerstört? Sorgen deine Freunde sich auch zu Tode, wenn du nicht wie vereinbart erscheinst?« Er schien sich unbehaglich zu fühlen. »Wir brauchen wirklich deine Hilfe.« »Könnt ihr nicht reich genug werden? Ich dachte immer, Zauberer müssten ehrlich mit ihrer Magie umgehen. Ist das nicht der Grund, der uns einfache Leute davon abhält, euch allesamt zu steinigen?« »Es geht hier nicht um Geld. Wir kaufen besondere Stücke 54
für den Erzmagier.« Ich roch förmlich schon den Scheiterhaufen. »Das will ich gar nicht wissen!«, sagte ich schroff. »Ich werde ein paar Aufträge für deinen Herrn erledigen, damit wir quitt sind, aber wenn du mir hinterher schnüffelst, bekommst du Ärger.« Ob meines herausfordernden Blicks senkte er den Kopf. »Das ist nur fair. Nebenbei ... Darni ist nicht mein Herr. Ich kann ihn überstimmen, wenn er versucht, sich auf unfaire Weise einen Vorteil zu verschaffen.« Das könnte interessant sein: zu sehen, was ein Zauberer unter ›unfair‹ verstand. »Was ist mit dem Jungen? Hat er auch was zu sagen?« Sollte er ruhig glauben, er würde mich allmählich auf seine Seite ziehen. Mal sehen, was er sonst noch zu sagen hatte. »Geris?« Shiv lachte. »Das würde er nicht wagen.« »Ist er auch ein Zauberer? Dein Schüler vielleicht?« »Nein, er ist genau das, was du vermutet hast: ein Gelehrter. Er ist von der Universität Vanam, ein Experte für Tormalinkunst.« Manchmal ist die Welt wirklich sehr klein. Ich stamme ursprünglich aus Vanam, und ich kenne die düstere Fassade der Universität recht gut. Sie ist einer jener Orte, die nur in weichem Licht oder von Schnee bedeckt schön erscheinen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie sie von innen aussieht. Sie steht nur den Wohlhabenden offen, die es sich leisten können, überzählige Söhne und Tochter dorthin zu schicken, um unsinniges Zeug zu lernen. Ich beschloss, mich bei Geris einzuschmeicheln, sollte sich die Gelegenheit bieten, und so viel von ihm herauszubekommen, wie ich nur konnte. Das sollte mir 55
nicht allzu schwer fallen. »Was ist mit Darni? Ist er auch ein Zauberer?« »Eigentlich nicht.« »Was soll das denn heißen? Ich dachte, man wird zum Zauberer geboren.« »Das stimmt insofern, als dass eine elementare Affinität angeboren ist; aber ganz so einfach ist das nicht.« »‘tschuldigung?« Shiv besaß den Anstand, beschämt zu wirken. »Tut mir Leid. Die Macht eines Magiers kommt von den Elementen, und die Elemente zu beeinflussen, ist die Grundlage der Zauberei, und damit wird man geboren. Es kommt von innen. Wir versuchen noch immer herauszufinden, wie es funktioniert, zumal magische Fähigkeiten bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Wirklich mächtige Magier sind äußerst selten, und da die meisten Menschen lediglich ein Element beeinflussen können, sind ihre Möglichkeiten ohnehin sehr begrenzt.« »Und was ist nun mit Darni?«, hakte ich nach. »Er besitzt eine doppelte Affinität, was ausgesprochen ungewöhnlich ist, aber sie ist sehr schwach. Seine Eltern leben in Hadrumal; seine Mutter kocht in einer der Hallen, und sein Vater ist Bäcker. An jedem anderen Ort hätte niemand sein Talent bemerkt. Er wäre lediglich jemand gewesen, der unter den widrigsten Umständen Feuer machen könnte und der ein selten gutes Gefühl für das Wetter besitzt.« Ich hatte nie auch nur daran gedacht, dass es in Hadrumal, der sagenumwobenen Stadt des Erzmagiers, auch Köchinnen und Bäcker geben könnte. Irgendwie untergrub diese Vorstellung all die Geschichten aus den erhabenen Balladen ... Ich fragte mich, wer dort wohl putzte. 56
»Nachdem offensichtlich geworden war, dass er seine Talente nicht sonderlich weit würde entwickeln können, begann er, für die Agenten des Erzmagiers zu arbeiten«, fuhr Shiv fort. »Das hier ist der erste Auftrag, den er allein ausführt, deshalb will er sich auf jede nur erdenkliche Art beweisen.« »Was sind diese Agenten des Erzmagiers?«, fragte ich. Shiv blickte mich von der Seite an. »Es ist ja nicht so, dass Planir in seinem Elfenbeinturm in Hadrumal sitzt und in eine Kristallkugel starrt, um an Informationen zu gelangen.« Nun, das war ein schöne Vorstellung! Eines der wenigen guten Dinge im Zusammenhang mit Zauberern war die Tatsache, dass die gefährlichsten von ihnen weit weg auf ihrer verlorenen Insel blieben. »Und wie passt du in das Ganze hinein?« Misstrauisch beäugte ich Shiv. »Ich bin ein Magier der Seehalle, ein Adept des Wassers mit der Luft als zweitem Fokus. Ich bin ein Mitglied des Beraterkreises des Großen Rats.« Nun, das sagte mir gar nichts. »Und das heißt?« »Das heißt, dass die Zauberer hier in der Gegend sich vor mir verneigen und alles in Bewegung setzen werden, um herauszufinden, wie nahe Planir und ich uns wirklich stehen. Daheim in Hadrumal bin ich nur ein gewöhnlicher Fisch in einem belebten Teich.« Der Gasthof kam in Sichtweite, wo all der Unsinn begonnen hatte. »Warte du draußen, während ich die Rechnung begleiche und meine Sachen zusammensuche.« Shiv schüttelte den Kopf. »Ich werde mit hineingehen. Wir sollten noch etwas essen, bevor wir uns wieder auf den Rück57
weg machen.« Ich funkelte ihn verärgert an. Wenn ich jemandem mein Wort gebe, halte ich es auch. Wer weiß, vielleicht existiert Misaen ja wirklich, und ich habe nicht vor, mich nach meinem Tod von Höllenhunden durchs Jenseits jagen zu lassen. Ich werde Saedrin auch so schon genug bequatschen müssen. Jetzt wollte ich allerdings erst einmal nachsehen, ob es Halice gelungen war, mir einen Brief zukommen zu lassen; falls ja, würde ich ihr eine Nachricht hinterlassen. »Irgendwann wirst du mir wohl oder übel vertrauen müssen«, sagte ich. »Ich habe aber Hunger«, erwiderte Shiv in sanftem Tonfall. Ich stapfte voraus und kam mir wie ein Trottel vor. Die zerzauste blonde Schlampe hinter dem Tresen lächelte Shiv an, der das Lächeln erwiderte und etwas sagte, das eindeutig dazu gedacht war, diesen Typ Frau zu beeindrucken. Ich ließ ihn am Tresen zurück und suchte nach dem Wirt, den ich auch fand, wie er ein Fass in den Keller rollte. »Ich muss weiter und möchte meine Rechnung begleichen. Kann ich das Pferd beim Rennenden Hund abgeben?« »Warum nicht? Drei Mark sollten reichen.« Ich öffnete meine Börse und bezahlte den Mann. Dieser Gasthof war nicht gerade billig, doch dank der mangelnden Neugier des Wirts hatten Halice und ich hier schon öfters übernachtet. Du musst das Gute darin sehen, sagte ich mir. Wärst du einfach abgehauen, hättest du beachtliche Schulden hinterlassen, und dir wäre dieses Nest für die Zukunft verwehrt geblieben. »Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?« Er schüttelte den Kopf. 58
»Bei Saedrins Eiern!« Was war Halice passiert? Alles andere mal außer Acht gelassen, brauchte ich jemandem, dem ich vertraute, um ihm zu erzählen, was mir passiert war. »Kann ich einen Brief und etwas Geld zurücklassen?« Wir hatten das schon früher gemacht, und ich wusste, dass ich dem Mann vertrauen konnte. »Sicher.« Ich ging in mein Zimmer und packte rasch meine Sachen. Wäre nicht meine Sorge um Halice gewesen, ich wäre in Gedanken alle erdenklichen Möglichkeiten durchgegangen, die sich aus dieser seltsamen Wendung des Schicksals ergeben konnten. Ich schrieb Halice eine kurze Nachricht voller Spielerjargon und privater Anspielungen und drückte eine Reichskrone ins Siegelwachs. Mehr konnte ich nicht tun, und ich war alles andere als zufrieden damit. »Schreibst du jemandem?« Ohne zu klopfen, kam Shiv herein. »Brauche ich deine Genehmigung dafür? Willst du ihn lesen?« Ich war so erschrocken, dass meine Stimme schrill klang. »Das ist nicht nötig.« Er errötete und machte auf dem Absatz kehrt. Interessant. Unbeabsichtigt war es mir gelungen, seine ärgerliche Selbstbeherrschung zu erschüttern. Schweigend aßen wir; dann ritten wir wieder los, und Shiv spornte sein Pferd zum Trab an. »Der Brief war für meinen Partner. Wir waren in diesem Gasthof verabredet.« Wenn ich schon eine Zeit lang bei dem Trio bleiben musste, war es mir angesichts von Darnis Haltung und der Sanftmütigkeit des Jungen lieber, wenn Shiv wieder sein freundliches Gesicht aufsetzte. Shivs Rücken entspannte sich, und er zügelte sein Pferd, bis 59
ich neben ihn geritten war. »Partner? Dein Liebhaber?« Er hob eine Augenbraue. Ich lachte. »Unsere Beziehung ist rein geschäftlich. Ihr Name ist Halice.« »Dann ...« Er suchte nach den richtigen Worten. »Dann entsorgt ... äh ... sie deinen ... deinen Erwerb, ja?« Zuerst war ich verärgert, erkannte dann aber seinen Irrtum. »Nein. Ich bin keine Einbrecherin – außer unter besonderen Umständen. Wir spielen Runen.« »Wenn du willst, können wir irgendwann ja mal zusammen spielen.« »Ich soll mit jemandem spielen, der durch die Knochen sehen kann? Nein, danke.« Ich hatte gesprochen, ohne vorher darüber nachzudenken, doch Shiv nahm keinen Anstoß an meinen Worten. »Wenn du dir deinen Lebensunterhalt mit den Runen verdienst und dabei mit einer Freundin zusammenarbeitest, nehme ich an, dass die Knochen nicht immer ohne ein wenig Hilfe fallen«, bemerkte er. »Ich schlage vor, wenn wir spielen, verzichtest du darauf, deine Fähigkeiten anzuwenden, und ich verzichte auf die meinen. Abgemacht?« »Abgemacht.« Tatsächlich erschien mir die Vorstellung eines Spiels mit ihm sogar recht interessant. »Nun, wann erwartest du deine Freundin?« »Ich fürchte, sie ist längst überfällig. Das war auch der Grund, warum ich mir den verfluchten Humpen geschnappt habe. Mir ging das Geld aus.« Shiv hielt an. »Würdest du gerne wissen, was deiner Freundin passiert ist?« Ich starrte ihn offenen Mundes an. »Was meinst du damit?« 60
»Wenn du irgendetwas hast, das ihr gehört oder mit dem sie regelmäßig umgegangen ist, müsste ich sie finden können.« Ich war erleichtert, dass ich ihn wieder lächeln sah. »Wie gesagt – ich bin wie ein Bluthund.« »Sicher.« Das musste ich sehen. Ich wühlte in meinen Satteltaschen und fand Halices Lieblingsknochen. »Reicht das?« »Das geht schon.« Shiv schnappte sich den Beutel und lenkte sein Pferd von der Straße. Ich folgte ihm voller Neugier, als er neben einer großen Pfütze aus dem Sattel stieg. Dann holte er eine kleine Flasche mit einer blauen Flüssigkeit hervor und zog den Korken heraus. Anschließend hockte er sich hin und goss ein paar Tropfen davon ins Wasser. Ich kniete mich neben ihn und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie die Pfütze in einem grünen Licht zu glühen begann. Shiv schloss die Augen und packte die Runen mit festem Griff. Nun zeigte sich das gleiche unheimliche Glühen auch um seine Fäuste, und ich schauderte unwillkürlich. Es ist das Zauberlicht, das den Trick von der wahren Kunst unterscheidet, und ich hatte es bis dahin nur wenige Male gesehen. Allerdings hatte ich schon eine ganze Reihe so genannter »Magier« kennen gelernt, und es war jedes Mal interessant gewesen zu hören, welche Entschuldigung sie anbrachten, die äußeren Zeichen ihrer Kunst unterdrücken zu müssen. Shiv atmete tief durch, und das magische Glühen um seine Hände wanderte zur Pfütze. »Sieh ins Wasser«, forderte er mich auf und öffnete die Augen. Ich gehorchte ihm ... und konnte einen Schrei nicht unterdrücken. »Das ist sie! Das ist Halice!« Ich starrte auf das Bild. Es war, als würde man durch ein dickes Glas blicken, doch sie war 61
deutlich zu erkennen. Ich biss mir auf die Lippen. Halice lag im Bett. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Haar hing zerzaust über ihrem verschwitzten Gesicht. Ihr rechtes Bein war von der Hüfte bis zum Fuß geschient und bandagiert – das war nicht gut. Ihre Kleidung war Blut verschmiert, und das Bein sah furchtbar aus. »Sie ist verletzt«, bemerkte Shiv unnötigerweise. »Kannst du erkennen, wo sie ist?« Aufmerksam betrachtete ich das verschwommene Bild und suchte nach irgendeinem Hinweis auf ihren Aufenthaltsort, fand aber keinen. »Sie ist in einer Art Gasthof, aber ich weiß nicht wo.« Shiv zog ein paar Linien durchs Wasser, und das Bild bewegte sich. Habt Ihr jemals auf einem Karren gesessen und nach hinten geblickt, wenn die Pferde losgaloppieren? Ihr wisst, dass dann alles kleiner wird? Besser kann ich nicht beschreiben, wie das Bild sich veränderte. Nach nur wenigen Sekunden sahen wir den Gasthof von außen. Ich seufzte erleichtert. »Das ist der Grüne Frosch in Mittelreck, ganz unverkennbar.« Der Grüne Frosch war ein recht ordentlicher Gasthof, und wichtiger noch, in der kleinen Stadt gab es einen zuverlässigen Apotheker. Unsere gelegentlichen Partner, Sorgrad und Sorgren, hatten uns ihm vorgestellt, nachdem ich von einer recht komplizierten Unternehmung einen aufgeschlitzten Arm zurückbehalten hatte. Shiv legte die Stirn in Falten. »Das liegt an der Straße nach Selerima, nicht wahr? Kurz hinter Dreibrücken.« Ich nickte. »Warum?« »Ich kenne jemanden, der in der Nähe lebt. Ich könnte ihn bitten, dafür zu sorgen, dass man sich um deine Freundin 62
kümmert.« Halice würde mir wohl kaum dafür danken, dass ich sie einem Zauberer überantwortete, doch glaubte ich andererseits auch nicht, dass sie allzu begierig darauf war, an Wundfieber zu sterben. »Könnte er ihr etwas Geld geben und dafür Sorge tragen, dass der Apotheker sich um sie kümmert? Ich werde für die Kosten aufkommen, wenn er Zeit zum Warten hat.« Shiv nickte. »Natürlich. Er ist selbst ein wenig in der Heilkunst bewandert.« Ich atmete tief durch. Das mit dem Vertrauen war offensichtlich eine zweiseitige Angelegenheit. Ich hatte schon Menschen gesehen, die nach solch einem schweren Beinbruch den Rest ihres Lebens als Krüppel verbracht hatten. »Könntest du ihm schreiben? Heute oder morgen geht eine Postkutsche nach Selerima.« »Das ist nicht nötig.« Shiv lächelte und hob die Arme über den Kopf. Ein schwaches, grün-blaues Licht schwebte um seinen Kopf herum und folgte dem Wind die Straße hinunter. Shivs Augen waren offen, aber leer. Ich wedelte mit der Hand davor, doch er blinzelte nicht einmal; sein Geist war meilenweit entfernt. Das war eine gefährliche Art von Vertrauen; ich hätte ihm ohne Probleme ein Messer zwischen die Rippen rammen können. Das heißt ... ich hätte es versuchen können; aber jeder Zauberer mit auch nur einem Funken Verstand pflegte sicherlich stets, Verteidigungsmaßnahmen für solch einen Fall parat zu haben. Zumindest aber hätte ich mich einfach in den Sattel schwingen können und wäre nach nur wenigen Augenblicken zwischen den Bäumen verschwunden gewesen. Sollte er doch versuchen, mich aufzuspüren. 63
Es gibt Zeiten, da wünsche ich mir, ich hätte genau das getan. Meine Mutter hat immer gesagt, meine Neugier würde mich eines Tages an den Galgen bringen. Aber inzwischen faszinierte mich das Ganze. Ich wollte wissen, was wertvolle Antiquitäten, Agenten des Erzmagiers und Gelehrte von der Universität zusammenbrachte. Ich war nicht nur eine Spielerin; wir hatten Freunde wie Charoleia, die uns in ihrer Rolle als »Lady Alaric, die all ihrer Besitztümer beraubte Edeldame« an den unterschiedlichsten Orten schon so manchen Profit eingebracht hatte. Informationen und besonders Vorausinformationen über bedeutende Ereignisse konnten mich reich machen, und dass der Erzmagier an diesem Geschäft beteiligt war, hörte sich vielversprechend an, oder? Halice würde so rasch nirgendwohin gehen, und ich gebe eine armselige Krankenpflegerin ab; außerdem brachte es keinen Profit, an ihrem Bett zu sitzen, ihr die Hand zu halten und darauf zu warten, dass ihr Bein wieder zusammenwuchs. Aber vielleicht würde sich dieses Spiel hier als profitabel erweisen.
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Die Taverne Zum Alten Faß an der Straße nach Hanchet, östlich von Eichberg 13. Vorherbst
Casuel schaute sich in dem kleinen Raum um und schnaufte. Das würde ausreichen, vermutete er. Er zog die weichen, verschlissenen Leinentücher vom Bett und warf sie achtlos in die Ecke. Zufrieden stellte er fest, dass nirgends eine Spur von Ungeziefer zu sehen war, aber es schadete ja nichts, vorsichtig zu sein. Nachdem er die Pferdehaarmatratze sorgfältig untersucht und sie mit seinen eigenen gestärkten Laken bezogen hatte, verteilte er großzügig Essigwasser um das Bett herum. Er hörte ein Klopfen und eine gedämpfte Frage durch die Tür. »Tut mir Leid. Könnt Ihr das bitte wiederholen?« Casuel öffnete die Tür und bemühte sich, so gelassen wie möglich zu klingen; so wollte er die Verachtung verbergen, die er für den schmuddeligen Bauern empfand, der sich vor ihm verneigte. Es gab ja auch keinen Grund, den Kerl gegen sich aufzubringen. Man muss den niederen Schichten gegenüber höflich sein, ermahnte er sich. Der Wirt machte dem Burschen gegenüber eine Bemerkung ob dessen unverständlichen Dialekts. Der Bursche hielt einen Krug mit heißem Wasser in der Hand, und beide unterdrückten ein Grinsen. »Ich habe Euch gefragt«, erklärte der alte Mann und betonte jedes Wort über Gebühr, »ob Ihr uns vielleicht die Ehre erweisen wollt, heute Abend im Schankraum zu speisen, oder ob Euch der Salon genehmer ist?« Sein Lächeln hatte et65
was Lüsternes an sich. »Wir werden alleine dinieren, wie es Sitte ist, wenn man mit einer hochwohlgeborenen jungen Dame reist.« Casuel sprach langsam, um die Reinheit seiner eigenen Diktion zu betonen. Sein Beispiel reinsten Tormalins würde diesen Bauerntölpeln zeigen, wie sehr sie die edle Zunge seines Heimatlandes verstümmelten, dachte er zufrieden. »Wie Euer Gnaden wünscht.« Der alte Mann winkte den Jüngeren aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu; allerdings schloss er sie nicht ganz. Casuel würde die Tür wohl oder übel selbst schließen müssen. Er zischte verärgert, als er hörte, wie die beiden Tölpel es wagten, über ihn zu reden, während sie wieder in den Schankraum hinunterstiegen. »Und was glaubst du, ist sein Geschäft, Onkel? Glaubst du, er verkauft irgendetwas aus diesen Büchern oder so?« »Egal, wie gut er sich kleidet, er wird nicht viel verkaufen, wenn er seine Manieren nicht ändert. Mit seiner Einstellung könnte er nicht mal einer Ziege Gras verkaufen.« »Hm. Und wer ist das Mädchen? Denkst du, sie ist das Tintenfass für seine Feder?« »Zumindest sieht sie für mich nicht danach aus. Sie ist zu jung und zu ruhig dafür. Die würde noch nicht einmal mit einer Maus um den Käse kämpfen.« Casuel warf die Tür mit solcher Gewalt ins Schloss, dass die Kerze flackerte. Einen Augenblick lang hielt er inne und dachte nach, was er dem unverschämten Bauernlümmel hätte sagen sollen; dann zog er sein Hemd aus, um den Dreck des Tages abzuwaschen. Er schauderte bei dem Gedanken an all die Meilen, die er mit Raeponin weiß was für Gesocks in einer Postkut66
sche eingepfercht hatte verbringen müssen. Sorgfältig untersuchte er seine weißen Arme und seine ziemlich schmale Hüfte, und es beruhigte ihn doch sehr, keine Flohbisse zu finden. Anschließend rieb er seine Silberbürste über die Seife, bis es schäumte, und seifte sein Gesicht ein. Casuel nahm den polierten Stahlspiegel und drehte ihn so, dass er das Licht besser einfing. Er betrachtete sich eingehend und fand Trost in der aristokratischen Linie seiner Stirn und seines Kinns. Das Blut der Devoir war noch immer stark genug, dass die alte Macht in den Gesichtern ihrer Söhne zu erkennen war, dachte Casuel, und seine gute Laune kehrte wieder. Vorsichtig machte er sich mit der feinen Stahlklinge ans Werk, auf dass nichts von seinem blauen Blut das Handtuch beflecke. Als er sich der Tasche mit den Toilettenartikeln zuwandte, blickte er zu der bescheidenen Auswahl ausgeblichener Bücher, die auf dem zerkratzten Tisch in einer Reihe neben einem kleinen, unebenen Haufen Pergamente standen. Casuels Selbstvertrauen erhielt einen Dämpfer. Bei seiner Rückkehr nach Hadrumal sollte er Usara wohl etwas mehr zeigen können. Nachdenklich kämmte er sein welliges braunes Haar. Schüchtern klopfte jemand an die Tür. »Herein.« Zögernd spähte Allin durch den Türspalt, bevor sie den Raum betrat. »Die Wirtin sagt, das Essen könne serviert werden.« Sie setzte zu einem Knicks an, hielt sich dann aber zurück und errötete. »Ich habe dir doch gesagt, dass das nicht nötig ist.« Casuel versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. Er wollte nicht riskieren, dass das Mädchen wieder einen Weinkrampf bekam, besonders nicht, da sie sich allein in seinem Zimmer befanden und er kein Hemd trug. 67
»Bitte, verzeiht mir, Herr Devoir.« Allin senkte den Kopf und strich unnötigerweise ihren Rock glatt; doch ihre Stimme blieb fest, wenn auch kaum hörbar. »Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen«, erwiderte Casuel in, wie er glaubte, freundlichem Tonfall. »Vergiss nur nicht, dass ein Magier Respekt verlangen kann. Du solltest dich daran gewöhnen.« Er holte ein sauberes Hemd aus seiner Reisetasche und runzelte die Stirn ob der Knitterfalten. »Ist dein Zimmer zufriedenstellend?« »O ja.« Allin rang ihre fleischigen Hände. »Allerdings würde ich auch mit dem Frauensaal Vorlieb nehmen, sollte Euch das genehmer sein.« »Die Zeiten, da du das Bett mit deinen Schwestern geteilt hast, sind vorbei, ebenso, dass du in einem Schlafsaal voll von Fremden nächtigen müsstest.« Casuel klopfte sich den Staub vom Mantelärmel. »Lass uns zum Essen hinuntergehen. Ich werde dir das Buch zeigen, das ich heute gekauft habe.« Er schnappte sich ein paar Bücher und einige Notizen. Allin schloss den Mund und verzichtete darauf zu sagen, was immer sie hatte sagen wollen. Gehorsam hakte sie sich bei Casuel unter; fast musste sie laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Obwohl Casuel nur von durchschnittlicher Größe war, überragte er Allin doch um mehr als einen Kopf. Er lächelte auf sie hinunter und fragte sich wieder einmal, wie viel Ärger er sich da aufgehalst hatte. Das Mädchen musste sich doch darüber freuen, ein Zimmer ganz für sich allein zu haben; so viel Privatsphäre hatte sie bestimmt noch nie gehabt. Casuel war angenehm überrascht, als er den Salon betrat. Der Raum war ordentlich, wenn auch schlicht möbliert. Als 68
Casuel und Allin sich an den altmodischen Tisch setzten, stieß eine fette Frau die Tür mit ihrer Hüfte auf; in den Händen trug sie ein voll beladenes Tablett. »Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden.« Die Frau knickste beiläufig und schob Casuels Bücher und Papiere zur Seite, um Platz für ihr Tablett zu machen. »Lasst mich das tun!«, sagte Casuel schroff und riss einen wertvollen Band an sich, um ihn vor der Gefahr durch überschwappende Suppe zu bewahren. »Es gibt Brühe, gerösteten Fasan, eine Hammelpastete, Käse und Apfelmus«, erklärte die Frau zufrieden. »Iss nach Herzenslust, mein Entchen. Du könntest etwas Fleisch auf den Rippen vertragen.« Casuel öffnete den Mund, doch ihm fiel nichts Würdevolles ein, was er darauf hätte erwidern können, bevor die Dame mit einem Rascheln ihres selbst gemachten Rocks hinausgeglitten war. Dann erinnerte ihn der verführerische Duft der Speisen auf dem Tisch daran, dass er zum Frühstück das letzte Mal etwas gegessen hatte. »Das sieht sehr gut aus«, sagte er ein wenig überrascht. Allin sprang auf und wollte ihm den Fasan servieren. »Setz dich!«, fuhr Casuel sie an und bereute es sofort, als Allins Augen sich mit Tränen füllten. Sie senkte den Kopf, und er sah nur noch ihre ordentlich geflochtenen Zöpfe, die zu einem hübschen Kranz gebunden waren. Casuel seufzte verzweifelt. »Du musst das verstehen, Allin. Du bist zum Magier geboren. Du besitzt ein seltenes, ein besonderes Talent. Ich verstehe ja, dass das alles neu und irgendwie beunruhigend für dich ist, aber ich werde dich mit nach Hadrumal nehmen, wo du in einer der Hallen in die Lehre ge69
hen wirst. Dein Leben hat sich verändert – zum Besseren, glaub mir! Ich weiß, dass es eine Zeit lang dauern wird, bis du dich an den Gedanken gewöhnt hast, aber du bist nicht mehr die missachtete jüngste Tochter, die jedermann herumkommandiert. Jetzt iss etwas.« Casuel schob ihr die Terrine zu, und nach einem langen Augenblick tupfte Allin ihre Augen mit dem Schal ab und füllte zögernd ihre Suppenschüssel. Sie aßen in verlegenem Schweigen. Allin beendete es, indem sie zögernd etwas murmelte. Zuerst verstand Casuel sie nicht; ihr Lescariakzent klang noch immer dumm für seine Ohren. »Bitte?« »Ich habe mich gefragt, wann wir nach Hadrumal gehen?« Allin blickte ihn unter ihrem Pony an. Eine Windbö ließ die Fensterläden klappern, und der in Gold eingefasste Rücken einer von Casuels letzten Erwerbungen funkelte im Kerzenschein. Die Hammelpastete, die Casuel im Mund hatte, schmeckte plötzlich fad und fett. Das Buch war ohne Zweifel eine sehr alte Kopie von Minrinels Spion. Die handschriftlichen Anmerkungen sahen interessant aus, aber der Band war kaum als Rarität zu bezeichnen. Casuel schob die Pastete beiseite. »Ich glaube nicht, dass wir vor dem nächsten Äquinoktium nach Hadrumal gehen.« Geistesabwesend stocherte er im Apfelmus. »Ich muss erst etwas Lohnendes für Usara finden.« »Ist er ein großer Magier?«, fragte Allin in ehrfurchtsvollem Tonfall. Casuel konnte nicht anders; er musste lachen. »Nicht ganz. Er ist nicht viel älter als ich, und du würdest ihn wohl kaum als 70
eindrucksvolle Persönlichkeit bezeichnen. Er ist ein Höherer Magier in der Erdhalle, wo ich studiere; aber er hat einen Sitz im Rat, und Gerüchten zufolge leiht der Erzmagier ihm dann und wann sein Ohr.« »Und Ihr arbeitet für ihn.« »So einfach ist das nicht.« Casuel nippte an seinem Bier und schauderte. Er sehnte sich nach einem guten Wein. »Vermutlich stellt er mich auf die Probe, um zu sehen, ob ich würdig bin, sein persönlicher Schüler zu werden – ob ich die Gelegenheit verdiene, bei einem besonderen Projekt mit ihm zusammenzuarbeiten.« Er nickte sich selbst zu. »Ich stamme aus einer alten tormalinischen Familie; die Erde ist mein Element – ebenso wie Usaras. Wer wäre besser geeignet, ihn bei der Erforschung des Untergangs des Tormalinreiches zu unterstützen? Ich wette, dass ich mehr über die letzten Tage des Reiches weiß als fünf Ratsmitglieder zusammen.« »Sind die Bücher für ihn, die Ihr meinem Vater abgekauft habt?« »Ja.« Casuel unterdrückte den unwürdigen Gedanken, dass der Preis für diese durchaus begehrenswerten Bände weit höher gewesen war, als er erwartet hatte. Er hatte geglaubt, ein Schnäppchen zu machen. Immerhin war der Mann begierig darauf gewesen, alles Wertvolle, das ihm geblieben war, vor Einbruch des Winters zu Geld zu machen. Von den hin und her wogenden Sommerkämpfen aus ihrem Heim in Lescar vertrieben, mussten Allins Eltern darum kämpfen, ihre zahlreiche Nachkommenschaft ernähren zu können. In dieser Situation hatten sie von dem herumreisenden Gelehrten gehört, der Bücher kaufte. 71
Aber wie auch immer ... Nachdem Casuel bemerkt hatte, dass das Kind, welches jeden Abend das Feuer entzündete, eine geborene Magierin war, hatte er sie unmöglich zurücklassen können. Außerdem bedeutete ein Mund weniger zu füttern für ihren Vater bares Geld. Besonders diesen Mund, dachte Casuel, während er Allin dabei beobachtete, wie sie das Apfelmus mit unnötiger Hast hinunterschlang – ein wenig eleganter Anblick. Casuel trank einen weiteren Schluck und beugte sich vor; schlussendlich war er der Versuchung erlegen, sich jemandem anzuvertrauen. »Das Problem ist – ich glaube, dass ich nicht der Einzige bin, den Usara im Zusammenhang mit seinem Projekt aufs Festland gesandt hat. Nachdem er mich angesprochen hatte, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, ihn und seine anerkannten Schüler im Auge zu behalten. Mehrere Leute führten längere Gespräche mit ihm, was alles und nichts bedeuten kann, wer weiß?« Er spießte ein Stück Käse auf und schnüffelte zweifelnd daran. Für seinen Geschmack ähnelte es viel zu sehr dem, das seine Mutter in Mausefallen zu legen pflegte. »Ich kann mich nicht entscheiden, was das Beste wäre. Vielleicht wäre es zu meinem Vorteil, als Erster heimzukehren. Ich hätte dann zwar erst einen bescheidenen Anfang vorzuweisen und ein paar gute Spuren, aber Usara könnte mich auf formeller Grundlage behalten und offiziell als seinen Schüler anerkennen. Andererseits steht das Äquinoktium unmittelbar bevor, die Zeit der großen Märkte. Die Leute werden dort alles Mögliche verkaufen, Schreiber mit Stapeln der unterschiedlichsten Bücher und so weiter ... Dort könnte ich etwas wirklich Beeindruckendes finden.« Verärgert rammte Casuel sein Messer in den Käse und stieß 72
unvermittelt den Stuhl zurück, sodass der Tisch ins Wackeln geriet. »Doch bei meiner Heimkehr werde ich wahrscheinlich feststellen müssen, dass Shiwalan Ralsere just einen Tag früher mit genau den gleichen Ergebnissen wieder zurückgekehrt ist.« »Ihr scheint ihn nicht sonderlich gut leiden zu können«, wagte Allin sich schüchtern vor. »Ich habe nichts gegen den Mann persönlich«, log Casuel unverhohlen. »Es ist nur so, dass ihm alles in den Schoß zu fallen scheint. Das ist einfach nicht gerecht. Shiwalan hat nicht halb so viel gearbeitet wie ich, aber nach nur drei Jahren in Hadrumal trottet er schon Magiern wie Rafrid oder sogar Shannet hinterher. Die Frau hat seit zehn Jahren niemanden mehr angenommen, und plötzlich ist sie Feuer und Flamme für Shiwalan Ralsere. Dabei hat sie Magier übersehen, die über Jahre hinweg Studienvorschläge ausgearbeitet und fast ebenso lang darauf gewartet haben, dass sich ein Lehrmeister ihrer annimmt.« Das Bier im Krug schwappte nicht mehr; die Oberfläche glitzerte im Kerzenlicht. Ein plötzlicher Gedanke lenkte Casuel von dieser oftmals wiederholten Klage ab. »Weißt du, ich glaube, Shiwalan dreht heimlich ein wenig an seinem Erfolg. Er benutzt seine Kräfte zu seinem eigenen Vorteil. Weitsicht zum Beispiel. Das ist eine Kunst, in der Shiwalan angeblich besonders gut ist. Auch Shannet beschäftigt sich in der Abgeschiedenheit ihres Turms damit – zumindest sagen das die Gerüchte.« »Werde auch ich weitsehen können?« Allins kleine Augen begannen zu leuchten. »Nun, Magier mit einer Wasseraffinität sind die besten Weit73
seher. Du besitzt ein Talent für Feuer, aber du solltest es meistern können. Ich habe es auch geschafft.« Allin blickte Casuel mit einer Ehrfurcht an, die seiner gekränkten Eitelkeit schmeichelte. Ungewöhnliche Kühnheit ergriff von ihm Besitz und verursachte ein Kribbeln in seinem Bauch. Er versuchte, es nicht zu beachten. Dann griff er nach einem tiefen Teller und goss Wasser hinein. »Ich werde es dir zeigen.« Casuel kramte in seinem Schreibkasten nach Tinte und ließ ein paar Tropfen davon ins Wasser fallen. Ein bernsteinfarbenes Licht flackerte um seine Finger, bis er es in ein matschiges Grün verwandeln konnte, um das Wasser zu erhellen. Casuel biss sich auf die Lippen und konzentrierte sich auf das Bild von Shivs Siegelring; es fiel ihm nicht schwer, sich diesen vorzustellen. Immerhin hatte er das Spiegelbild davon nach jenem entwürdigenden Vorfall zur Sommersonnenwende lange genug auf seinem Kinn spazieren getragen. Die Erinnerung lenkte ihn ab, und er musste von neuem beginnen. Die frischen Tintenfäden wirbelten auf dem Wasser, und dann hatte es Casuel: ein verschwommenes Bild von Shiwalan in einem Gasthof ein Gasthof, der offensichtlich weit besser war als dieses Dreckloch, bemerkte Casuel verärgert. »Das ist Ralsere.« »Wer ist das da bei ihm?« Allin starrte offenen Mundes in den Suppenteller. Casuel runzelte die Stirn ob der lebhaften Rothaarigen, die das Bier mit Shiwalan teilte und Runen warf. »Irgendeine Maid frisch aus den Wäldern, die ihre Möglichkeiten austestet«, murmelte er. »Sollte sie für heute Nacht Pläne 74
haben, steht ihr eine Überraschung bevor.« »Wie bitte?« »Nichts«, antwortete Casuel rasch. Eigentlich sah die Schlampe gar nicht mal schlecht aus. Warum traf er nie Frauen wie die? fragte er sich und blickte verstohlen auf Allins unreife, pummelige Gestalt, ihr einfaches, rundes Gesicht und die Stupsnase. Der Anflug von Lust verging sofort, als er einen Mann auf der anderen Seite des Raums erkannte. »Darni Fallion? Was tut der denn hier?« Casuel beobachtete mit offenem Mund, wie Shiwalan den Raum durchquerte, um ein paar Worte mit dem Söldner zu wechseln, bevor er wieder zu dem Mädchen zurückkehrte. Seine Erregung übertrug sich auf das Wasser, und die Vision löste sich in einem Wirbel aus Grün und Braun auf. Casuel ignorierte es ebenso wie die Tintenflecken, die nun den Teller verunstalteten. »Wer ist er? Der andere Mann, meine ich?« »Einer der Agenten des Erzmagiers«, antwortete Casuel grimmig. »Das könnte etwas Ernstes bedeuten. Ich meine, er ist eigentlich ein recht unbedeutender Agent; aber wenn Shiwalan mit Darni reist, heißt das, Planir hat irgendwas damit zu tun.« Casuel konnte sich unmöglich eine solche Gelegenheit durch die Finger gleiten lassen; er musste wissen, was da vor sich ging. »Warte hier.« Casuel ließ Allin mit weit aufgerissenen Augen am Tisch sitzen. Er verließ den Raum und kehrte wenig später mit seinem Spiegel wieder zurück. Mit für ihn ungewöhnlicher Zielstrebigkeit öffnete er die Fensterläden, stellte eine Kerze auf den Sims 75
und ignorierte die kühle Luft. Allin zitterte. Sie schlang ihren Schal enger um die Schultern und schwieg, wie es ihre Gewohnheit aus ihrer gerade erst vergangenen Kindheit war. Casuel setzte sich und schnippte mit den Fingern. Eine orangefarbene Flamme entzündete die Kerze, die dem Wind zum Trotz gleichmäßig brannte. Der junge Magier drehte den Spiegel, um das Bild einzufangen, und es begann von innen heraus zu strahlen. Ein goldenes Licht erhellte zuerst Casuels aufmerksames Gesicht, dann Allins Augen, als diese sich hinter Casuel stellte, um über seine Schulter hinweg das Geschehen im Spiegel verfolgen zu können. »Nun, wohin geht es als Nächstes?« Die Stimme aus dem kleinen Bild klang dünn und gedämpft. »Wer ist das?«, flüsterte Allin zögernd. »Geris, ein lästiger Junge von der Universität in Vanam. Saedrin allein weiß, was er dort zu suchen hat!« Casuel blickte weiter in den Spiegel, wo er Darni inzwischen deutlich erkennen konnte. »Drede, Eyhorne, dann Hanchet.« Darni tippte auf eine Karte, um seine Worte zu untermalen. »Bis wohin nehmen wir das Mädchen mit?« Geris senkte die Stimme und blickte unsicher durch den Raum. Darni zuckte mit den Schultern. »Wenn die Stadtwachen nicht nach ihr suchen, kann sie uns begleiten, solange sie uns nützlich ist. Es hängt viel davon ab, ob sie dieses bestimmte Ding für uns besorgen kann oder nicht. Wenn sie dazu fähig ist und mein Kontaktmann in Hanchet durchkommt, machen wir kehrt nach Friern. Sie soll sich ihr Geld schon ordentlich verdienen, die gierige Schlampe.« »Seid Ihr sicher? Das dürfte sehr riskant werden.« Geris war 76
offensichtlich unglücklich über irgendetwas. Sein Blick huschte ständig zwischen Darni und den beiden anderen auf der gegenüberliegenden Seite des Raums hin und her. Darni trank einen kräftigen Schluck Bier, bevor er in tiefem, ruhigem Tonfall antwortete: »Falls dieser Kräuterhändler Recht hat, sind das genau die Bücher, die wir brauchen, und auf andere Art werden wir sie von Armile nicht bekommen. Du hast den Apotheker gehört. Er ist sicher, dass der alte Kammerherr jetzt in Hanchet lebt und uns gegen ein paar Münzen und das Versprechen auf Rache mit Freuden die Anlage der Bibliothek erklären wird. Ich habe lange überlegt, wo wir einen hoch stehenden Diener finden könnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen.« »Was, wenn sie geschnappt wird?« Geris hob die Stimme, und Darni funkelte ihn warnend an. »Solange er jemanden an den Pranger stellen und hängen kann, wird Lord Armile nach niemand anderem suchen. Und außerdem ... Wer sollte ihr schon glauben, wenn sie von Magiern faselt, die sie und ihre flinken Finger angeheuert hätten?« »Es gefällt mir trotzdem nicht«, bemerkte Geris trotzig. »Es muss dir auch nicht gefallen; es ist nicht deine Entscheidung.« Darnis Stimme hallte harsch vom Metall des Spiegels wider. »Entweder ist sie gut genug, um Ärger zu vermeiden, oder sie muss die Runen nehmen, wie sie fallen. Wie auch immer ... Wenn sie den ersten Auftrag versaut, ergibt es ohnehin keinen Sinn, sie nach Friern mitzunehmen, stimmt’s? Wir werden sie bezahlen und zurücklassen.« Casuel starrte offenen Mundes auf den Spiegel. Was er da hören musste, widerte ihn zutiefst an. »Ich glaube es einfach nicht! Dieses Mädchen ist nicht einfach nur irgendein Flittchen, 77
sie ist eine verfluchte Diebin!« Er schüttelte den Kopf. Wieder machte seine Erregung den Zauber zunichte. Wütend schlug er die Fensterläden zum Schutz vor dem kalten Wind zu. »Sie wollen jemanden berauben?« Allin blickte Casuel entsetzt an. »Das ist noch nicht das Schlimmste! Denk doch nur einmal darüber nach ... Sie könnten Erfolg haben! Ich habe schon immer vermutet, dass Shiwalan nur mit Intrigen so weit gekommen ist und dass Darni für Geld alles tut. Anderthalb Jahreszeiten habe ich gearbeitet, und nun wird man mich wieder übersehen, weil dieses Paar das Ehrgefühl von Kanalratten hat!« Überrascht blickte Casuel auf seine Hände, die machtlos zitterten. »Raeponin möge den beiden die Pocken schicken!« »Was wollt Ihr dagegen tun?« Casuel öffnete den Mund, um solch einen Gedanken von sich zu weisen. Dann hielt er jedoch inne und starrte einen Augenblick lang ins Nichts. Schließlich hustete er und trank einen Schluck Bier. »Nun, wenn sie so abscheuliche Tricks anwenden, ist es meine Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen, nicht wahr? Was, wenn es schief geht? Wenn man ein derartiges Spiel mit einem Magier und einem Agenten des Erzmagiers in Verbindung bringt, wird nicht nur die rothaarige Hexe am Galgen enden, sondern auch der Ruf von Hadrumal!« Allins vertrauens- und respektvoller Blick spornte ihn an. Casuel holte ein langes, dickes Buch aus seiner Tasche. »Was ist das?« »Eine Art Reiseführer mit Karten der verschiedenen Postkutschenrouten«, antwortete er. »Sei bitte einen Moment still.« Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Casuel die Straßen ge78
funden hatte, die er suchte, und sie zu verfolgen war nicht leicht, da er dazu mehrere der Karten gleichzeitig ausklappen musste. Casuel fluchte leise. Hanchet ... Da war es. Ein recht kleiner Ort, wie es schien. Eigentlich nur eine Stelle, wo man besonders gut ein paar Brücken hatte bauen können; um eine ›Stadt‹ handelte es sich zumindest im Tormalinsinn des Wortes nicht. Mit zitternden Händen faltete er die Karten wieder zusammen. »Es ist schwierig. Zum einen haben wir keine Ahnung, zu wem wir Kontakt aufnehmen sollen. Wir wissen nur, dass sie jemanden suchen, der einst Kammerherr von Lord Armile gewesen ist.« »Wenn es dort nur annähernd so ist wie daheim, müsste das reichen, ihn zu finden. In einem Dorf dieser Größe kennt jeder jeden«, bemerkte Allin schüchtern. Casuel blickte sie nachdenklich an. »Die örtliche Gerüchteküche weiß über so einen Mann mit Sicherheit viel zu berichten, nicht wahr? Bei meiner Mutter und ihrem Nähkreis wäre das zumindest so gewesen. Ich nehme an, es gibt dort einen Gasthof, wo ich ein paar Fragen stellen könnte, ohne allzu großes Misstrauen zu erregen.« Entrüstung stieg in Casuels Kehle hoch, und er spülte sie mit einem kräftigen Schluck Bier hinunter. »Wie können Ralsere und Darni es wagen, auch nur daran zu denken, Lord Armile zu berauben? Friern ist eines der wenigen Lehen zwischen hier und Col, wo die Straßen nicht so schlecht sind, dass die Achsen der Kutschen brechen und die Pferde bis zu den Knöcheln im Schlamm versinken! Und wenn wir schon davon reden ... Es sind auch mit die sichersten Straßen hier in der Gegend. Erinnerst du dich noch an die Straßenräuber, die wir vor der 79
Markthalle gesehen haben? Die man an den Pranger gestellt hatte?« »O ja!« Allins bestimmter Tonfall überraschte Casuel, bis er zu der Erkenntnis gelangte, wie viel Wert eine Familie auf Recht und Ordnung legen musste, die durch einen Bürgerkrieg all ihrer Habe und ihres Heims beraubt worden war. Er blickte durch den Raum an einen Ort weit jenseits der mit Kalk verputzten Wände. Nach einem langen Augenblick richtete er sich auf seinem Stuhl auf. »Ich könnte ein paar Erkundigungen über diesen Kammerherrn einziehen; das ist wohl nicht so schlimm. Wenn sich herausstellt, dass Lord Armile einige der Bücher besitzt, die Usara will, warum sollte ich mich dann nicht offen an ihn wenden? Es heißt doch, Raeponin belohnt die Schlagfertigen, nicht wahr?« »Sagt man so?« Allin blickte ihn mit leeren Augen an. Casuel schritt auf dem unebenen Boden auf und ab. Eine Kühnheit, die aus lange unterdrückten Vorbehalten geboren war, gewann nach und nach die Oberhand über die Vorsicht. »Ich muss Usaras Aufmerksamkeit erregen. Ich muss einfach! Und das bedeutet, ein gewisses Risiko einzugehen, habe ich nicht Recht?« Er blieb stehen, machte entschlossen auf dem Absatz kehrt und griff unter seinen Mantel nach einem Beutel Münzen. »Ralsere vergeudet das Geld des Erzmagiers in üppig eingerichteten Kutschenstationen; deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Bücher zu stehlen, anstatt sie ehrlich zu kaufen.« Er schüttete die edlen Münzen auf den Tisch und zählte sie. »Ich könnte Lord Armile einfach bitten, mir seine Bibliothek zu zeigen und ihm anschließend ein faires Angebot für die Bücher 80
unterbreiten, die uns interessieren. Warum nicht? Lord Armile ist mit Sicherheit ein vernünftiger Mann. Immerhin ist er von edler Geburt, wenn auch nur ein Wald- und Wiesenfürst aus Ensaimin.« Casuels volle Lippen verzogen sich zu einem überlegenen Lächeln. »Ich denke allerdings, wir sollten die Sache nicht unnötig verkomplizieren, indem wir ihm sagen, dass wir Magier sind. Ich finde, ›Buchhändler‹ sollte als Erklärung reichen.« Sein Lächeln schwand ein wenig, und er runzelte die Stirn. »Weißt du, Allin, ich möchte nicht, dass du mit irgendjemandem über das alles hier sprichst, wenn wir nach Hadrumal zurückkehren – nicht bis ich Gelegenheit hatte, mit Usara unter vier Augen zu reden. Würden solche Dinge sich herumsprechen, könnten sie die Würde des Magiertums beeinträchtigen. Offenkundig ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass etwas gegen Shiwalan und seine Verbündeten unternommen wird, damit sie in Zukunft von derartigen Taten Abstand nehmen; aber ich will nicht, dass es so aussieht, als wolle ich einen Mitschüler einfach nur anschwärzen. Ich muss den Augenblick sorgfältig abpassen. Usaras Vorhaben ist offensichtlich von außerordentlicher Wichtigkeit, wenn der Erzmagier persönlich darin verwickelt ist, egal wie oberflächlich seine Rolle auch sein mag. Und das wiederum verlangt von den Magiern Zusammenarbeit und nicht Konfrontation. Verstehst du das?« Allin nickte leidenschaftlich. »Natürlich. Ich werde niemandem ein Wort erzählen.« Casuel lächelte anerkennend ob ihres vorbehaltlosen Gehorsams. »Du wirst sehr gut in Hadrumal zurechtkommen, meine Liebe. Du besitzt einen scharfen Verstand und die richtige Einstel81
lung. Ich werde dafür Sorge tragen, dass man dich in einer der besten Hallen unterrichtet.« Das zu arrangieren sollte ihm nicht allzu schwer fallen, nachdem er Shiwalan erst einmal in die Parade gefahren war, Usara beeindruckt und sich die Anerkennung gesichert hatte, die ihm nun schon so lange verwehrt geblieben war. Die Erinnerung an diesen Schmerz ließ Casuel die Zähne aufeinander pressen. Und da war noch immer Darni. War Darni nicht der Einzige gewesen, der noch gestanden hatte, nachdem diese Seeleute in einer von Hadrumals Hafentavernen alle Gäste zu einem zügellosen Faustkampf eingeladen hatten? Vermutlich wäre es besser, wenn Usara Casuels Namen nicht erwähnte, sollte er Planir von dieser entwürdigen Angelegenheit berichten. Doch andererseits – wie sollte Casuel dann die Aufmerksamkeit des Erzmagiers erregen? Darüber würde er noch eingehend nachdenken müssen.
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2.
Aus: Die Geographie des Ostens Eine Beschreibung der Länder, die einst Provinzen des Tormalinreiches waren, einschließlich eines umfassenden Berichts über die wichtigsten Städte, Industrien und Waren jedes einzelnen, zusammengestellt von Marol Afinoor, Mentor und Gelehrter an der Universität von Vanam
Ensaimin Der Name Ensaimin ist eine Verbalhornung von Einar sai Emmin, was in der alten Tormalinsprache ›Land der vielen Völker‹ bedeutet. Der Plural Einarinn ist uns heute natürlich vertrauter; er ist das alte Wort für ›Welt‹. Historiker, die daran interessiert sind, den Ruhm dieses untergegangenen Reiches zu mehren, beschreiben Ensaimin als Provinz, über die Tormalin genauso fest geherrscht hat wie über Dalasor, Lescar und Caladhria; doch das stimmt nicht. Mit der Unterwerfung von Caladhria dehnte Tormalin seine Macht bis zum Weißen Fluss aus, der natürlichen Grenze zwischen dem nördlichen Teil des Golfs von Peorle und den Bergen des Südlichen Sporns, dem schmalsten Streifen Land in dieser Region, den man verteidigen kann. An dieser Stele nahmen das Tormalinreich und das Königreich von Solura zum ersten Mal 83
formell Kontakt auf. König Soltriss, der alle Länder westlich des Großen Waldes für sich beanspruchte, sandte Botschafter in dieses bis dato von niemandem beanspruchte Gebiet. Auf ihren Reisen zu den einzelnen eingeborenen Völkern trafen diese Gesandten auf Botschafter Kaiser Correls des Entschlossenen, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls über die Annexion dieses Landstrichs nachdachte. Die Unschuldigen, die zu jener Zeit auf den weiten Ebenen dieses fruchtbaren Landes lebten, konnten von Glück sagen, dass beide Herrscher erkannten, welche Gefahren eine weitere Ausdehnung in diesem Gebiet mit sich bringen würde. Correl ließ damals bereits seine Kohorten gen Norden über den Dalas marschieren, um sich die an Mineralien reichen Länder in den Bergen von Gidesta anzueignen, und Soltriss wiederum zweifelte zu Recht an der Überlebensfähigkeit einer Provinz, die vom Rest des Königreiches durch die undurchdringlichen Mysterien des Großen Waldes abgeschnitten war. Es ist nicht zu leugnen, dass das Waldvolk eine solche Umzingelung als Bedrohung erachtet und mit allen ihm zur Verfügung stehenden arkanen Mitteln darauf geantwortet hätte. So kam es, dass das Land Einar sai Emmin anstatt unter Krieg zu leiden, großen Vorteil aus dem Handel zwischen dem Tormalinreich und Solura zog. Die Straßen des Landes entwickelten sich zu bedeutenden Handelsrouten zwischen Ost und West; das Waldvolk begann seinen eigenen Handel, und gidestanische und soluranische Vorstöße in den Drachenrücken brachten Metalle und Edelsteine aus dem Norden zum Meer. Selbst Händler aus den Einöden von Mandarkin jenseits dieser furchteinflößenden Berge riskierten den gefährlichen Übergang, um Felle und Bernstein auf die Märkte des Südens zu bringen. 84
Kleine Fürstentümer erlebten einen rasanten Aufstieg, während unabhängige Städte an Flussübergängen und Straßenkreuzungen sich zu jenen sicheren Zufluchten entwickelten, die das heutige Ensaimin prägen. Die Konkurrenz in einem Land, das ganz auf Handel ausgerichtet war, verhinderte eine Vereinigung, und viele Gelehrte vermuten darin den Einfluss tormalinischer und soluranischer Adeliger, die erpicht darauf waren, den Puffer zwischen diesen beiden großen Mächten aufrechtzuerhalten.
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Die Taverne Zum Rennenden Hund, Ambafost 14. Vorherbst
Ich hatte die vage Vorstellung, bei Morgengrauen aufzustehen und im Galopp davonzustürmen. Das tun Menschen auf Queste doch, oder? Aber nicht diese drei. Als Shiv an meine Tür klopfte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, und ich war schon längere Zeit angezogen und hatte mir immer wieder überlegt, ob ich einfach davonlaufen sollte. Soweit es mich betraf, hatte mein Versprechen, mich nicht davonzumachen, nur für den gestrigen Tag gegolten. Wir aßen ein üppiges Frühstück im Privatsalon. Vor allem Darni tat sich an Fleisch, Zwiebeln, Bier, Brot und Honig gütlich. Ich fragte nach Haferbrei und ignorierte Darnis Belustigung. Ich mag Haferbrei, und ich mag es auch, nach dem Essen zu gehen und nicht zu wanken. Trotzdem, das Frühstück regte mich zum Denken an: Den Dreien ging es offenbar nicht schlecht, und ich fragte mich, wie viel ein Agent des Erzmagiers wohl verdienen mochte. Als wir schließlich aufbrachen, ritten Shiv und Darni, während ich mich zu Geris auf einem zweispännigen Karren gesellte. Ich saß vorne neben ihm, denn die Ladefläche war von eisenbeschlagenen Truhen und Gepäck belegt. Die Truhen sahen interessant aus, und ich fragte mich, ob Shiv wohl Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte oder ob der Einsatz meiner Dietriche sich lohnen würde. Verschlossene Kisten wecken stets meine Neugier. Ich konzentrierte mich auf die Straße vor uns; ich wollte auf keinen Fall, dass Darni und Shiv mein Interesse an ihrem Eigentum bemerkten. 86
Geris war ein guter Kutscher. Seine Hände an den Zügeln waren entspannt, und er redete ruhig auf die Pferde ein. Offensichtlich besaß er jahrelange Erfahrung im Kutschenfahren – vermutlich seit seiner Kindheit –, was wiederum darauf hindeutete, dass er von adeliger Geburt war. Einfache Leute wie ich können von Glück sagen, wenn sie ein Maultier ihr eigen nennen dürfen. Ich hatte bereits mehrere Jahre auf der Straße gelebt, bevor es sich für mich gelohnt hatte, reiten zu lernen, und ich nehme an, dass ich nie Fahren gelernt hätte, wäre es nicht von außerordentlicher Bedeutung für einen Schwindel gewesen, den Halice und ich in Caladhria aufgezogen hatten. »Die beiden passen gut zusammen«, lobte ich nach ein paar Meilen in kameradschaftlichem Schweigen. »loh habe sie vergangenen Frühling ausgesucht.« Geris lächelte. »Sie sind hübsch, nicht wahr? Aber tatsächlich ist ihr Gang so weich, dass ich sie auch genommen hätte, wenn eines schwarz und das andere weiß gewesen wäre. Es hat mich nie sonderlich gekümmert, ob die Tiere von der Fellfarbe her zusammenpassen.« Ich mag freundliche und offene Menschen wie Geris; sie verraten einem so viel mehr, als sie wissen. In Vanam können nur die wirklich Reichen wählerisch sein, was die Farbe ihrer Pferde betrifft – und natürlich können auch nur sie es sich leisten, eine Mode zu ignorieren. So, Geris war also nicht nur adelig, sondern auch reich – zwei Dinge, die nicht unbedingt immer zusammengehörten. Reich, adelig, vertrauensselig und naiv ... Warum hatte ich ihn nicht allein kennen lernen können? Dann kam mir ein weniger fröhlicher Gedanke: Vielleicht war er es, der diese Tour finanzierte und nicht der Erzmagier. Egal. Auf jeden Fall musste ich mich bei unserem nächsten Spiel nicht 87
mehr so sehr zurückhalten; ich konnte ihm ruhig ein wenig Geld aus der Tasche ziehen. »Shiv hat mir erzählt, dass du aus Vanam stammst«, bemerkte ich beiläufig. »Ja, das stimmt.« »So ein Zufall. Ursprünglich komme ich auch von dort.« Ich schenkte ihm mein wärmstes, schwesterlichstes Lächeln. Geris erwiderte es. Er erinnerte mich an eines dieser aufdringlichen Schoßhündchen von den Aldabreshiinseln. »Wo lebst du? Vielleicht haben wir ja gemeinsame Bekannte.« Es war recht lustig zuzusehen, wie sein Verstand sich bemühte, den Mund einzuholen. Für eine höfliche Plauderei war das eine gute Frage; aber wollte er das wirklich von einer Frau wissen, von der er Diebesgut gekauft hatte? Seine Bestürzung war ihm deutlich anzusehen, als er bemerkte, in was für ein Fettnäpfchen er getreten war. Ich war versucht, ein paar Stadtadelige zu nennen, die ich beraubt hatte. Fiel so etwas auch unter den Begriff »Bekannte«? »Ich bezweifele es.« Ich hatte Mitleid mit Geris. »Meine Mutter ist eine einfache Hauswirtschafterin.« »Oh, für wen arbeitet sie?« Das war auch nicht gerade eine sehr taktvolle Frage, doch diesmal schien es ihm nicht aufzufallen. »Für Emys Glashaie. Er lebt auf der Ostseite des Flusses, an der Spaltstraße.« Geris schüttelte den Kopf. »In dem Stadtteil kenne ich mich nicht aus. Meine Familie lebt in Ariborne.« »Oh!« Jetzt musste ich mein Interesse nicht länger vortäuschen. Ariborne bedeutet Geld, wenn auch nicht notwendiger88
weise altes Geld. Um ihren Ruf zu verbessern, haben sich immer schon auch recht zwielichtige Charaktere dort niedergelassen. Geris blickte mich an; dann musste er sich jedoch auf eine Kurve konzentrieren, wo die Straße aufgrund des letzten Regens besonders holprig war. In seinem Gesicht stand deutlich zu lesen, dass er nur zu gerne weiter mit mir geplaudert hätte, doch Darni hatte ihn mit Sicherheit ermahnt, diskret zu sein. Ich schwieg geduldig, und wir kamen ohne Schwierigkeiten durch die Kurve. Verstohlen blickte mich Geris wieder an, und ich sah, wie seine Augen leuchteten, als sie über meine Beine wanderten. Ich streckte sie aus und lehnte mich zurück, wodurch sich mein Wams straffer über meine Brüste spannte. »In Ariborne gibt es ein paar wunderschöne Häuser«, bemerkte ich wehmütig. »Lebst du schon lange dort?« Wie ich gehofft hatte, verlangte der Anstand von Geris, einer Dame zu antworten, selbst einer wie mir. »Mein Vater hat unser Haus vor zehn Jahren gebaut, als wir ...« Geris zögerte. Dann lachte er. »Nun, du kannst es genauso gut erfahren. Mein Vater ist Judal Armiger.« »Niemals!« Ich starrte ihn offenen Mundes an. »Der Spiegelmann? Der Judal?« Geris errötete; trotzdem war er offensichtlich stolz auf seinen Vater, und das war auch nicht verwunderlich. »Warum genierst du dich deswegen so? Judal ist der größte Schauspieler, den Vanam seit Generationen gesehen hat!« Ich ließ meinem Enthusiasmus freien Lauf. »Meine Mutter hat mir erzählt, wie er seine eigene Truppe zusammengestellt hat, anstatt sich einen wohlhabenden Gönner zu suchen. Sie sagt, damit habe er jeden erstaunt. Und dass er dann noch sein eigenes Schauspielhaus gebaut hat, anstatt wie alle anderen in den 89
Tempeln aufzutreten, war ein Geniestreich.« »Er ist ein sehr kluger Mann.« Geris straffte stolz die Schultern. »Klug ist wohl kaum das richtige Wort dafür! Die Leute reden immer noch davon, wie er zum ersten Mal eine Lescariromanze aufgeführt hat. Die Priester waren außer sich. Woher hatte er nur die Nerven, anschließend auch noch ein soluranisches Maskenspiel einzukaufen, um ihnen zu zeigen, was er von ihnen hielt?« Ich lachte. Ich hatte die Maskenmänner einmal als Kind gesehen – bei einem der wenigen Male, da mein Vater mit mir ausgegangen war –, und ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern. »Er schreibt auch selber«, prahlte Geris. »Er hat Spott, Sabotage und Nachahmer überlebt, um einen Standard zu setzen, an dem jede andere Truppe gemessen wird.« Das klang für mich wie eine Zeile von Judal, doch ich wollte nicht spitzfindig sein. Judal war auf jeden Fall ein bemerkenswerter Mann ... der zufälligerweise eine Menge Geld gemacht hatte. »Meine Mutter und ich haben uns einen ganzen Nachmittag lang angestellt, um Die Tochter des Herzogs Marlier zu sehen, weißt du?« Geris fand immer mehr Gefallen an unserer kleinen Plauderei. »Hat es dir gefallen? Was hast du gedacht?« »Meine Mutter sagte, sie hätte nie gedacht, dass die Lescarikriege hätten verhindert werden können, wenn eine Mutter ihrer Tochter nur ein einziges Mal ordentlich den Hintern versohlt hätte.« Ich lachte, als ich mich an den trockenen Tonfall erinnerte, in dem sie das gesagt hatte. 90
»Das ist nicht fair.« Geris wirkte mehr als nur ein wenig verärgert. »Mir hat das Stück auf jeden Fall sehr gut gefallen«, versicherte ich ihm. »Es hat mich tief beeindruckt, wie die Prinzessin sich allen Widerständen zum Trotz geweigert hat, ihr Leben von anderen bestimmen zu lassen.« Das schien Geris zu beschwichtigen, und so ging ich nicht näher darauf ein. Vielleicht hatte ich die sture Suleta nur bewundert, weil ich damals selbst solch ein Trotzkopf gewesen war, heutzutage teile ich jedoch eher die Meinung ihrer Mutter, so unwahrscheinlich das auch klingen mag. »Aber sag mal«, ich schüttelte verwundert den Kopf, »weshalb ziehst du ausgerechnet mit diesem Paar herum?« Ich deutete auf die Rücken von Darni und Shiv. Geris entspannte sich ein wenig. »Mein Mentor an der Universität ist ein Experte für die Geschichte des alten Tormalinreiches, besonders für die Zeit Nemith des Seefahrers und Nemith des Tollkühnen. Deshalb hat Planir Verbindung zu meinem Mentor aufgenommen, und dieser wiederum hat mich an Darni und Shiv empfohlen.« Ich hoffte, niemand vertraute Geris etwas wirklich Wichtiges an. Trotz all seines Zögerns hätte er sich genauso gut »Ich habe ein Geheimnis« auf den Rücken schreiben können. »Wolltest du selbst nicht im ›Spiegel‹ auftreten?« Ich hätte meine sämtlichen Tanten und Cousinen für solch eine Chance verkauft. Nun, um ehrlich zu sein, ich hätte meine Tanten und Cousinen für weitaus weniger verkauft; aber auf jeden Fall konnte ich nicht verstehen, warum Geris auf etwas derart Aufregendes verzichtet hatte. »Eigentlich nicht. Aus mir wäre nie ein guter Schauspieler 91
geworden.« Nun, das entsprach ganz offensichtlich der Wahrheit. »Als mein Vater Vamyre der Kühne geschrieben hat, habe ich mein Interesse an der Geschichte entdeckt. Ich habe ein paar Bühnenstücke verfasst, aber sie waren nicht sonderlich gut. Das Studieren hat mir besser gefallen, den Sinn in alten Sagen finden, Tempelaufzeichnungen entziffern, alte Reichschroniken bearbeiten, diese Art Arbeit eben. Hast du gewusst, dass in Tormalin früher eine Generation fünfundzwanzig Jahre dauerte, während man in Soluran dreiunddreißig Jahre als Generation bezeichnete? Deshalb ist es auch so schwer, die beiden Geschichtsschreibungen miteinander in Einklang zu bringen.« »Und deinem Vater macht das nichts aus?« »Vater hat immer gesagt, dass jeder seinen eigenen Weg gehen muss. Er selbst musste von Zuhause weglaufen, um tun zu können, was er tun wollte, und er hat sich geschworen, es bei seinen eigenen Kindern besser zu machen. Meistens gelingt ihm das auch. Aber wie auch immer, ich habe zwei Brüder und eine Schwester, die Schauspieler geworden sind. Ein anderer Bruder schreibt recht gut, und eine weitere Schwester organisiert alles; also glaube ich nicht, dass sie mich allzu sehr vermissen.« Er lächelte. Offenbar war er zufrieden mit seinem Los. Ich fragte mich, wie eine Familie wohl sein mochte, in der es keinen Streit gab. »Das klingt jetzt vielleicht dumm; aber ich habe nicht gewusst, dass Judal eine Familie hat. Ich glaube, niemand denkt je über Judals Leben jenseits der Bühne nach.« »Es würde ihn freuen, das zu hören.« Geris trieb die Pferde zu einem leichten Trab an, als Shiv und Darni in einem Wäldchen verschwanden. »Er möchte nicht, dass sein Ruf sich auf unser 92
Leben auswirkt. Meine Mutter und meine jüngeren Geschwister können durch die Stadt gehen, ohne erkannt zu werden, und das gefällt ihnen eigentlich recht gut.« Wie viele Kinder hatte der Mann eigentlich? »Sie muss eine bemerkenswerte Frau sein.« »Das ist sie«, bestätigte Geris stolz. Ich lächelte. Ich bezweifelte, dass er das Gleiche meinte wie ich. Wir kamen an einem Wegweiser vorbei, und ich runzelte die Stirn, als ich erkannte, dass wir uns auf der Eyhornestraße befanden. »Wo fahren wir hin? Da ihr mit Antiquitäten handelt, habe ich gedacht, es ginge nach Col.« Geris Lächeln schwand, und er blickte unsicher auf Darnis steifen Rücken. Ich hakte nach. »Ihr wisst doch sicher, dass das Äquinoktium dieses Jahr formell einen Tag länger dauert, um den Kalender auszugleichen. Das wird der größte Herbstmarkt seit Jahren. Ihr könntet dort alle möglichen Händler finden.« »Natürlich. In Col benutzt man doch den Tormalinkalender, oder?« Geris runzelte die Stirn. »Hat man dort nicht vor drei Jahren zum selben Zeitpunkt einen Tag hinzugefügt wie in Soluran?« Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht, dass Geris sich von irgendwelchen Irrtümern in den unterschiedlichen Zeitmessmethoden ablenken ließ. Allein zu wissen, wer welche Methode überhaupt verwendet und stets den richtigen Kalender zur Hand zu haben, war schon Arbeit genug. »Und wo fahren wir nun hin?« »Oh, nach Drede«, antwortete Geris geistesabwesend. »Weißt 93
du, ob man in Tormalin auch Tage an die Sommersonnenwende anhängt?« »Was ist in Drede?« Das ergab einfach keinen Sinn. Drede gehört zu jener Art von Orten, die entsteht, wenn es einfach zu viel ›Land‹ gibt, sodass das Landvolk irgendwann das Bedürfnis verspürt, sich eine Taverne zu bauen. Geris schüttelte sich und schob das Thema der unterschiedlichen Zeitrechnung vorläufig beiseite. »Ich bin nicht sicher, ob ich mit dir darüber reden sollte«, gestand er widerwillig. »Wenn ich dort etwas für euch erledigen soll, brauche ich so viel Planungszeit wie möglich.« »Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann.« »Nun, was soll ich stehlen? Und von wem? Und warum sind diese Dinge für euch so wichtig?« Geris rutschte auf seinem Sitz herum. »Es ist ein Tintenhorn«, antwortete er schließlich. »Ein was?« »Ein Tintenhorn. Man bewahrt Tinte darin auf, und es besteht aus Horn.« »Ja, ja, ich weiß. Aber was ist an diesem so besonders? Darni könnte in Col einen ganzen Sack voll davon kaufen.« »Wir brauchen aber dieses eine. Der Eigentümer will es nicht verkaufen, und wir haben uns lange gefragt, wie wir es wohl bekommen könnten. Und dann bist du aufgetaucht.« Er lächelte mich an. Soweit es mich betraf, konnte Geris seinen Charme ruhig für sich behalten. Ich wurde dieses Spiels allmählich überdrüssig. »Also, entweder sagst du mir jetzt, was los ist, oder ich springe von diesem Karren und verschwinde in den Wäldern, bevor du dir den Finger in die Nase stecken kannst. Versuch 94
das einmal Darni zu erklären.« Er blinzelte ob meines harten Tonfalls. »Darni hat gesagt, er würde dir schon sagen, was du wissen müsstest«, erwiderte er verlegen. »Geris«, warnte ich, »ich bin schneller weg, als du gucken kannst.« »Es ist sehr kompliziert«, erklärte er schließlich. »Wir haben noch einen halben Tag, bevor wir uns Drede überhaupt nur nähern, und ich bin eine gute Zuhörerin. Also, rede.« Er seufzte. »Habe ich schon erwähnt, dass mein Mentor an der Universität ein Experte für den Untergang des Tormalinreiches ist?« Ich nickte. »Ja, die Regierungszeit Nemith des Tollkühnen.« »Er sammelt alte Karten, Tempelbücher, zeitgenössische Aufzeichnungen ... einfach alles, was er in die Finger bekommt. Die Händler kennen ihn, und vor ein paar Jahren hat er auch damit begonnen, Antiquitäten zu sammeln, meist Dinge, die mit Bildung zu tun haben: Federbehälter, Vergrößerungsgläser, Schriftrollenhalter. Nichts Wertvolles, weißt du, aber auf seine Art interessant.« Wo führte das hin? Ich schwieg. »Was ich jetzt sage, wird dir vermutlich sehr seltsam vorkommen.« Geris zögerte; also funkelte ich ihn an. »Er hatte Träume. Nicht irgendwelche Träume, sondern sehr lebendige. Er sagte, es wäre ein Gefühl, als lebe er das Leben eines anderen, und nachdem er aufwachte, konnte er sich noch tagelang an jede noch so kleine Einzelheit erinnern. Ich nehme an, das wäre bedeutungslos geblieben, wäre er zum letzten Äquinoktium nicht auf einer Mentorenversammlung gewesen, 95
nach der sich die Teilnehmer betrunken haben. Er begann, von seinen seltsamen Träumen zu erzählen, und wie sich herausstellte, hatten zwei weitere Mentoren das Gleiche erlebt. Nun, Ornale – so heißt mein Mentor – glaubte, einfach nur zu hart gearbeitet zu haben; deshalb hätte er seine Studien im Schlaf fortgesetzt. Er erzählte die Geschichte nur widerwillig, doch die beiden anderen waren froh, sie zu hören. Einer der beiden ist ein Geograph, der Wettermuster untersucht, und der andere ist Metallurg; er versucht herauszufinden, wie man in den Münzprägen des alten Reiches Weißgold hergestellt hat.« Er und viele tausend andere, dachte ich. Das Leben wird sehr interessant, sollte irgendjemand je herausfinden, wie man in Tormalin Weißgold hergestellt hat, denn dieses Weißgold ist der Grund, warum man die alten Münzen nach wie vor nicht fälschen kann. »Und?«, hakte ich nach. »Nun, ihre Studien hatten nichts mit der Geschichte des Reiches an sich zu tun. Der Geograph fragte sich allmählich, ob er verrückt wurde – ich meine, er ist Rationalist und noch dazu ein sehr extremer; er behauptet, noch nicht einmal an die Existenz der Götter zu glauben. Der Metallurg wiederum schrieb die Träume dem Einatmen von Quecksilberdämpfen zu. Aber wie auch immer, sie sprachen darüber, und bald stellte sich heraus, dass in diesen Träumen Menschen und Ereignisse vorkamen, die Ornale aus seinen Studien kannte, die anderen jedoch nicht. Du musst wissen, dass die Aufzeichnungen aus der Herrschaft des Seefahrers unvollständig sind, und die Herrschaft des Tollkühnen war kurz, weil das Reich um ihn herum zusammenfiel, sodass man so gut wie nichts darüber weiß. Auf jeden Fall gab es damals einen Gouverneur namens Califer, den Ornale aus 96
seinen Studien kannte, doch Drissle – das ist der Metallurg – konnte ihm die Namen von Califers Hunden nennen und dergleichen.« Allmählich verstand ich, warum Geris sich nicht zum Stückeschreiber eignete. Als er Luft holte, unterbrach ich ihn. »Und was haben diese verrückten Träume mit dem Diebstahl eines Tintenhorns in Drede zu tun?« »Die Drei fanden nirgends etwas, das ihnen einen Hinweis über die Natur dieser Träume hätte geben können. In den Schreinen gibt es eine gewisse Tradition, was Träume und Vorhersagen betrifft, doch das nutzte ihnen nicht viel. Dann gibt es da eine gidestanische Legende über einen Mann, der im Schlaf Visionen hatte, aber ...« »Geris, ich will das alles gar nicht wissen«, unterbrach ich ihn erneut. »Warum soll ich ein Tintenhorn stehlen?« Er schien ein wenig eingeschnappt zu sein und schwieg einen Augenblick, um seine Gedanken zu sammeln. »Sie beschlossen herauszufinden, ob es irgendwelche bedeutsamen Gemeinsamkeiten gab.« Der Geist eines Gelehrten, dachte ich, wird für den Rest der Welt wohl ewig ein Geheimnis bleiben. »Es stellte sich heraus, dass jeder von ihnen eine kleine Sammlung alter Artefakte aus dem Tormalinreich besaß. Drissle besaß eine Münzwaage, eine alte Matrize und eine Alchimistentruhe. Marol hatte Karten, Kisten und ein Modell von Aldabreshi, das sogar die Strömungen um die Inseln zeigt, und wie sie sich im Lauf der Jahreszeiten verändern. Das ist sehr interessant, weißt du ...?« Er biss sich auf die Lippen. »Ich nehme an, du willst auch davon nichts hören. Hm. Dann fanden die drei heraus, dass jeder von ihnen ein Ding besaß, an dem er beson97
ders hing und das er niemals verkaufen würde. Diese Dinge stammten alle aus ungefähr derselben Zeit, unmittelbar vor dem Untergang des Reiches, und sie alle tauchten in den Träumen auf. Die drei Mentoren beschlossen, ein wenig zu experimentieren. Sie tauschten die Artefakte untereinander aus, und nachdem die entsprechenden Dinge nicht mehr in den Händen ihrer Besitzer waren, hörten die Träume auf. Waren sie wieder da, kehrten auch die Träume zurück.« Ich blickte nach vorne. Wir holten Shiv und Darni langsam ein. »Komm auf den Punkt, Geris«, flehte ich. »Sie wussten keine Erklärung, und so entschieden sie, dass Magie etwas damit zu tun haben müsse. Sie zogen Erkundigungen ein, und bald fanden sie heraus, dass einer der Magier, Usara, den Untergang des Tormalinreiches und die Gründung von Hadrumal erforscht. Usara glaubt, diese Träume könnten wertvolle Informationen beinhalten. Deshalb hat er Leute ausgeschickt, um noch weitere dieser Antiquitäten zu sammeln.« »Und dieses Tintenhorn ist eine davon?« »Es stammt aus der richtigen Periode und ist genau die Art von kleinen persönlichen Gegenständen, die mit diesen Träumen in Verbindung stehen. Das Problem ist nur, dass der alte Knabe, dem es gehört, es nicht verkaufen will. Das an sich hat schon eine Bedeutung.« »Er könnte einfach nur gierig sein und auf einen hohen Preis spekulieren, wie der Kerl mit dem Humpen.« »Deswegen wollte ich dich auch noch fragen.« Geris wurde immer lebhafter und hob die Stimme. »Warum hast du dir ausgerechnet dieses Stück ausgesucht? Der Kaufmann besaß ein paar Dinge, an denen wir interessiert waren, und der Humpen gehört mit Sicherheit dazu; aber er war bei weitem nicht das 98
Wertvollste. Hast du ihn lange gehabt? Hast du irgendetwas gefühlt in dieser Zeit?« »Geris!« Darni und Shiv hatten angehalten. Sie hatten sich an einer Zollbrücke angestellt. »Was habe ich dir gesagt?« Geris schwieg, als Darni zu uns ritt. »Ich werde ihr sagen, was sie wissen muss – wenn sie es wissen muss.« Dann ritt er wieder zurück, um mit dem Brückenwächter den Zoll auszuhandeln, und ich blickte ihm unfreundlich hinterher. Wir überquerten die Brücke nach Friern, und ich ließ Geris schweigen. Natürlich hatte ich eine Menge Fragen, doch die konnten warten. Friern war nicht der Ort, mich mit Darni auf einen Streit einzulassen, der dazu hätte führen können, dass ich das Trio verlassen musste. Wir kamen an einem Gasthof vorbei, dem Grauen Hirschen, und hielten kurze Zeit später bei einer Kutschenstation an, die ebenfalls Zum Grauen Hirschen hieß, um die Pferde zu füttern und ihnen Gelegenheit zum Ausruhen zu geben. Ich mag keine Orte, wo jede Taverne nach dem Wappen des örtlichen Lords benannt ist. Lord Armiles Miliz war wie immer allgegenwärtig; ständig galoppierten einzelne Trupps achtlos die Straße hinunter. Das Land war abgeriegelter als das letzte Mal, da ich diese Straße entlanggekommen war. Für die Bauern sah es nicht gut aus. Eine beachtliche Zahl von ihnen klopfte Steine neben der Straße, um sich etwas zu essen zu verdienen. Ich war froh, als ich erkannte, dass wir diesen Distrikt nur streifen würden. Es war Spätnachmittag, als die Wegweiser Drede als unser nächstes Ziel auswiesen und die Straße anstieg. Wir waren noch ein gutes Stück von der Stadt entfernt, als Darni uns an einem Weidenbaum halten ließ und wir die Pferde an dem Bach 99
daneben tränkten. »Shiv und Geris werden hier warten«, instruierte er mich. »Wir beide werden nach Drede gehen. Ich zeige dir das Haus, und wenn es dunkel wird, kannst du dich hineinschleichen. Sobald du das Horn hast, machen wir uns wieder auf den Weg.« »Wohin?«, fragte ich. »Ich kenne einen Ort, wo wir eine Weile bleiben können – ein Privathaus, kein Gasthof. Wenn wir uns beeilen, müssten wir bei Sonnenaufgang dort sein. Der Mond ist noch drei Viertel voll; also haben wir genügend Licht.« Letzteres sagte er an Geris gewandt, der sich offensichtlich im Namen der Pferde beschweren wollte. »Wie sieht das Haus von dem Hammel aus?« »Dem was?« »Dem Ziel, dem Opfer.« »Es ist ein kleines Haus neben dem Schlachthof.« »Und der Mann?« »Ein alter, exzentrischer Antiquitätenhändler. Er ist ungefähr sechzig und nicht gerade gesund. Wahrscheinlich klopft er schon jede Nacht an Saedrins Tür.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss es mir erst ansehen, aber eines kann ich dir jetzt schon sagen: Ich steige nicht direkt bei Sonnenuntergang ein.« Darni funkelte mich wütend an. »Du wirst tun, was ich dir sage.« »Nicht, wenn du das Ding wirklich haben willst. Selbst ohne Mond wären um diese Zeit noch Leute auf den Straßen, auch in einem Kaff wie Drede. Und es ist ein Straßenhaus? Kein Hof? Die Häuser dicht an dicht gebaut? Das ist nicht einfach. Wenn er ein alter Mann ist, hat er einen leichten Schlaf, und lass 100
mich raten: Das Haus ist voll mit altem Zeug. Überall liegt etwas rum, auf Böden, Tischen, Stühlen.« »Stimmt.« Das brachte Geris einen wütenden Blick von Darni ein. »Ich werde kurz vor Monduntergang reingehen. Ihr solltet die Stadt durchqueren und euch im ersten Gasthof an der Eyhornestraße ein Zimmer nehmen. Bei Sonnenaufgang treffe ich euch dann dort, und wir können als unschuldige Wanderer Weiterreisen.« »Ich würde sagen ...« Shiv fiel Darni ins Wort. »Livak ist die Expertin hier. Also tun wir, was sie sagt.« Nun warf Darni auch ihm einen wütenden Blick zu; aber er schwieg. Interessant, dachte ich. »So, wer hat mit dem alten Mann gesprochen, als er nicht verkaufen wollte?« »Geris und ich«, antwortete Shiv. »Dann hat Darni Recht. Er sollte mir das Haus besser alleine zeigen. Lasst uns jetzt etwas essen und anschließend irgendwo auf ein Bier einkehren.« Ich lächelte Darni an und bemühte mich, mir die Genugtuung nicht anmerken zu lassen, doch das schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Schmoll so viel du willst, dachte ich; das ist mir egal. Wir aßen rasch und ließen Shiv und Geris bei einem Runenspiel unter dem Baum zurück. Sie würden später weiterziehen, wenn es auf den Straßen ruhig geworden war, und Geris wollte aus irgendeinem Grund seine Spieltechnik verbessern. Ich sagte ihnen, sie sollten versuchen, jeden Kontakt zu anderen Reisenden zu vermeiden. Der alte Knabe mochte ja vielleicht schon auf halbem Weg zu Saedrins Tafel sein, aber ich wettete, dass 101
er einen Zusammenhang zwischen dem seltsamen Paar, dass sein Tintenhorn hatte haben wollen, und der Tatsache herstellen würde, dass eben dieses Tintenhorn sich plötzlich aus dem Staub gemacht hatte. Die Wachtmeister hier in der Gegend waren zwar nicht besonders helle, doch es war besser, wenn niemand Shiv und Geris auf dem Weg identifizieren konnte. Darni und ich schlenderten in die Stadt. Kurz dachte ich darüber nach, mich bei Darni unterzuhaken – um ehrlich zu sein, hauptsächlich um ihn zu ärgern. Ich entschied mich jedoch dagegen; er war die Mühe nicht wert. Während wir die Straße hinuntergingen, schaute ich mich zur Orientierung um; es war schon länger her, seit ich zum letzten Mal hier gewesen war. Drede ist eine nette kleine Stadt mit hübschen Häusern aus dem für diese Gegend typischen gelben Stein. »Grüne Tür«, murmelte Darni in ungezwungenem Tonfall, »Gasse rechts und Efeu am Giebel.« Unauffällig blickte ich zu dem Haus, das er meinte. »Soweit Shiv gesehen hat, ist er hauptsächlich unten«, fuhr Darni fort. »Du kannst durch das Dachfenster rein.« »Ich könnte auch die Tür mit einer Axt einschlagen«, entgegnete ich. »Das ginge schneller und würde vermutlich genauso viel Lärm verursachen.« Darni wollte etwas darauf erwidern, doch ich gebot ihm mit einem Nicken zu den anderen Leuten auf der Straße Schweigen. Ich wurde seiner Arroganz allmählich müde. »Dieses Fenster ist seit seinem Einbau nicht mehr geöffnet worden. Das kann man deutlich an den Spinnweben und dem Efeu sehen«, erklärte ich in sachlichem Tonfall. »Du musst schon darauf vertrauen, dass ich weiß, was ich tue, Darni. Habt ihr mich nicht deshalb in dieses Spiel mit reingezogen?« 102
Wir gingen weiter zu einem kleinen, bescheidenen Gasthof auf dem Marktplatz; dort tranken wir einen Krug Bier zusammen. Der Gasthof war nicht gerade das, was ich meinen Freunden empfehlen würde, aber um ehrlich zu sein, war es wohl mehr Darnis Gesichtsausdruck, der das Bier schal schmecken ließ. »Geh weiter«, sagte ich zu Darni, als wir den Gasthof verlassen hatten. »Schau nicht zurück. Wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang wieder.« Ich schlüpfte in eine Gasse Richtung Schlachthof, und Darni schlenderte gelassen die Hauptstraße hinunter. Ich schüttelte den Kopf; ich bewunderte ihn, und gleichzeitig ärgerte ich mich über ihn. Die Gasse roch nach altem Blut, frischem Dung und verängstigten Tieren. Ein Liebespaar würde sich wohl kaum einen solchen Ort für ein Stelldichein aussuchen; also war er für mich genau richtig. Ich ging um den Schlachthof herum und eine weitere Straße hinauf. Schließlich machte ich es mir in einer dunklen Ecke bequem, um das Haus des alten Mannes zu beobachten. Von Zeit zu Zeit bewegte sich der schwache Schein einer einzelnen Kerze hinter den Fenstern; dann wurde es vorne dunkel. In den Häusern daneben wurde gekocht, gegessen, der Müll hinausgeworfen und schließlich die Fensterläden geschlossen. Die Kamine hörten zu rauchen auf, und zwei junge Kerle kehrten schwankend aus der Taverne zum Haus zur Linken zurück. Als sie feststellten, dass die Tür verriegelt war, kam es zu einem kleinen Aufruhr; schließlich ließ ihre Mutter sie mit lautem Tadel ein. Ich saß und wartete. Stille senkte sich über die kleine Stadt. Ich hörte die Ratten in den Abfallhaufen hinter mir wühlen, 103
und ein gelegentliches Rascheln, wenn eine Katze Beute gemacht hatte. Schließlich überquerte ich die Straße und schlich die Gasse hinunter. Holzschuppen, Abtritte und Schweineställe drängten sich in dem schmalen Spalt, der zwei ungleichmäßige Häuserreihen voneinander trennte. Dem fehlenden Gestank nach zu urteilen, war der Schweinepferch des alten Knaben leer. Das war eine Erleichterung, denn Schweine besitzen nicht nur ein feines Gehör, sondern auch eine gewisse Neugier und die Fähigkeit, einen schier unglaublichen Lärm zu veranstalten. Ich duckte mich in die Schatten und begutachtete Tür und Fenster. Das sah nicht gut aus. Hier waren die Fensterläden genauso dicht wie an der Vorderseite, und überall wucherte Efeu. Es gefiel mir zwar nicht, aber ich würde wohl oder übel mein Glück an der Tür versuchen müssen. Ich kniete nieder und untersuchte den Schlamm vor der Schwelle: keine Krallen- oder Pfotenabdrücke, kein Hundehaar am Holz. So weit, so gut. Ich schaute mich weiter um und dankte Drianon für die Gnade, die sie ihrer widerspenstigen Tochter erwies. Der alte Kauz hatte sich ein Türschloss geleistet. In der Hoffnung, dass er dafür auf Riegel verzichtet hatte, packte ich meine Dietriche aus und machte mich an die Arbeit. Natürlich kann ich auch einen Riegel öffnen, doch nur langsam, und oft ist es mit beträchtlichem Lärm verbunden. Die Zeit verrann. Ich kam zu dem Schluss, dass der Alte sein Geld gut angelegt hatte. Das Schloss war äußerst kompliziert; vielleicht hatte es sogar einer aus den Bergen gemacht. Doch schließlich bewegte sich auch der letzte Zahn, und ich drückte die Klinke so langsam wie möglich hinunter. Zögernd stemmte ich mich gegen Rost und Dreck ... keine Riegel. Ich schlüpfte hinein und blieb erst einmal kurz stehen, um mich zu orientie104
ren. Der Raum roch nach Rauch, Urin und saurer Milch. Von der anderen Seite des Zimmers hallte ein rasselndes Atmen zu mir herüber, und im schwachen Licht der Glut im Kamin sah ich eine zusammengekauerte Gestalt auf einem Stuhl. Dank meiner Waldmenschenaugen gewöhnte ich mich rasch an die Dunkelheit. Auf einem Tisch standen schmutziges Geschirr und Essensreste. Holzscheite lagen achtlos auf dem Boden verstreut zwischen Lumpen und Müll. Ich ging zur nächsten Tür und betrat eine andere Welt. Überall standen Bücher verstreut, doch alle waren sie nach Thema und Autor sortiert. Kein Staub verunstaltete die Ledereinbände, und auf dem Schreibtisch lag ein Pergament, das mit schöner Schrift beschrieben war. Eine Lupe funkelte auf einer peinlich genauen Darstellung des Nachthimmels; auf der Fensterbank wuchsen Kräuter und Blumen, und daneben verrieten Schilder, wie sie zu nutzen und zu pflegen waren. Das Tintenhorn stand auf einem kleinen Tisch neben Federn, Messern und Farbstoffen. Es war ein schönes Ding, ein blasses honigfarbenes Horn von einem Tier, das ich nicht identifizieren konnte, auf einem Sockel aus Rotgold und mit fein gravierten Bändern verziert. Ich streckte die Hand danach aus ... und zögerte. Ich wollte nicht, dass Träume aus dunklen Zeiten in meinen Schlaf eindrangen, und ich wünschte fast, ich hätte nie etwas davon gehört. Ein Husten aus der Küche erschreckte mich, und mit pochendem Herzen schnappte ich mir das gute Stück. Was, wenn der Alte gerade mitten in einem dieser unheimlichen Träume war? Würde es ihn wecken, wenn das Horn sich bewegte? Rasch stellte ich es wieder auf den Tisch zurück wie eine heiße, tropfende Kerze. Ich hörte das Blut in meinen Ohren pochen, wäh105
rend ich das verfluchte Ding anstarrte. Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Ich atmete tief durch, hob das Tintenhorn vorsichtig hoch und rührte mich nicht mehr, während ich auf eine Reaktion aus dem Nachbarraum wartete. Ich hörte eine Decke rascheln und das Knarren des Stuhls; dann ging der Atem des Alten wieder ruhig und regelmäßig. Seine Lungen klangen schlimm. Ich fragte mich, wie er den Winter überleben wollte. Ich ließ meinen Blick über die Bücher schweifen, während ich darauf wartete, dass der Alte wieder in Tiefschlaf versank. Wenn Geris und Shiv nach Informationen über das Ende des Reiches suchten, würden sie sehr viel verlieren, falls der Alte im Schlaf starb und die Bauern das Haus ausräumten. Ein kleiner Stapel war den letzten Kaisern der Nemithdynastie gewidmet; also stopfte ich die Bände in meine Tunika und zog den Gürtel enger. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass es in der Küche wieder ruhig geworden war, schlüpfte ich hinaus. Ich nahm mir die Zeit, die Tür wieder zu verschließen, ohne auf mein immer schneller schlagendes Herz oder den Schweiß zwischen meinen Schulterblättern zu achten. Natürlich würde der alte Gelehrte den Diebstahl bemerken; doch ohne Spuren eines gewaltsamen Eindringens würde die Stadtwache ihn mit etwas Glück als verwirrten alten Kauz abtun. Zufrieden mit meiner Arbeit trottete ich durch die dunklen Straßen auf die Hauptstraße hinaus und verließ das schlafende Drede. Was ich jedoch nicht hinter mir lassen konnte, war das Gefühl, dass meine Tat mich irgendwie beschmutzt hatte. Ja, ich weiß, das klingt aus dem Mund von einer wie mir einfach dumm, aber ich konnte nicht anders, als mir ständig vorzustellen, wie verzweifelt der Alte sein musste, wenn er den Verlust 106
bemerkte. Dieser Diebstahl hatte nichts mit Profit oder Rache zu tun wie der Diebstahl des Humpens. Auch war es kein Stehlen aus Not bei irgendeinem fetten Sack gewesen, der es verschmerzen konnte. Der alte Knabe lebte mehr in seinem Geist als in seinem Leib, und ich fragte mich, wie viel ihm die lebhaften Träume von längst vergangenen Zeiten wohl bedeutet haben mochten, nun da sein Körper und seine Sinne mit dem Alter mehr und mehr versagten. »Reiß dich zusammen, du Ziege!«, tadelte ich mich selbst. »Er könnte der griesgrämigste alte Bastard sein, seit Misaen Sonne und Mond erschaffen hat.« Ich würde Geris bitten, einen mitfühlenden Mentor der Universität hierher zu schicken, damit dieser sich um den alten Knaben kümmerte; er gehörte nicht in diese Hütte. Ich ging schneller, und meine Bedenken schwanden mit jedem Schritt die Straße hinunter. Am Himmel zeigten sich bereits die ersten Anzeichen des Morgengrauens, als ich den Gasthof erreichte. Ich betrat leise den Hof und fragte mich, wie ich die anderen finden sollte. Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Darni saß am Tor des Kutschenschuppens. Er hatte es sich auf einem Strohballen bequem gemacht und den Mantel eng um die Schultern geschlungen. Als ich mich ihm näherte, öffnete er die Augen. »Hast du es?« Ich nickte und reichte ihm den Beutel mit dem Horn. »Warst du die ganze Nacht hier draußen? Falls ja, wirst du kaum reiten können.« »Ich hatte Ruhe genug. So etwas lernt man als Soldat.« Seine Laune schien sich gebessert zu haben. »Besteht die Möglichkeit, dass ich noch etwas essen kann, 107
bevor wir aufbrechen?« Inzwischen war ich ziemlich müde, nun, da die Aufregung der Nacht verflogen war. Darni holte ein wenig Brot, Käse und einen kleinen Bierkrug hinter dem Strohballen hervor; dann reichte er mir seinen Mantel. »Du musst dich ausruhen. Ich wecke die anderen. Sobald die Sonne aufgeht, brechen wir auf.« Ich hatte nicht vor, mich dieser unerwarteten Herzlichkeit zu widersetzen. Also legte ich den guten Wollmantel um die Schultern, der noch immer warm von Darni war, und rollte mich auf dem Strohballen zusammen.
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3.
Aus: Die Tochter des Herzogs Marlier Eine Tragödie in fünf Akten von Awlimail Kespre Zweiter Akt, dritte Szene Suletas Schlafgemach
[Auftritt Tisell] Suleta Sag mir, sag, atmet mein Vater noch? Tisell O liebste Herrin, das tut er, doch man hört das Klappern von Saedrins Schlüsseln bei jedem Atemzug. Die Tür der Anderwelt wird sich alsbald öffnen, um diesen noblen Schatten willkommen zu heißen. Suleta Ich kann es nicht ertragen! Tisell Um seinetwillen müsst Ihr die Bürde tragen, die so schwer auf Eurem schmalen Schultern lastet. Suleta Ach, dass ich zu solchem Leid geboren bin! Tisell Verflucht nicht Eure Geburt, liebstes Kind, sondern das treulose Weib, das ihres Gatten Bett so schändlich befleckt hat. Suleta Sprecht in diesen Wänden nicht so von der Königin, Tisell, oder ich werde Euch nicht vor der Peitsche bewahren können. Tisell Ich spreche die Wahrheit, wie alle Welt sie kennt. Königin mag sie sein, doch als Hure hat sie sich erwiesen 109
und schlimmer noch, sie hat ihre Kinder mit sich in den Dreck gezogen. Suleta Erinnert mich nicht an das Leiden meiner Vettern! Der Makel eines Bastards ist nicht weniger grausam als der Hieb der Peitsche, die ihrer Mutter vor dem Pöbel die Haut in Fetzen riss. Tisell Ihr seid die Güte in Person, dass Ihr an andre denkt, wo Euch doch solch eine Entscheidung droht. Suleta Was meint Ihr? Tisell Hat Eure Mutter nicht mit Euch gesprochen? Ich dachte ... Suleta Ich habe sie nicht gesehen, seit mein Vater heim ... [Auftritt Albrice, Herzogin von Marlier] Tisell Euer Gnaden, (verneigt sich) Albrice Lasst uns allein. Ich will allein mit meiner Tochter sprechen. [Abgang Tisell] Albrice Dein Vater hat sich noch nicht von dieser Welt abgewandt, doch die Ärzte sagen mir, noch vor Sonnenaufgang wird es so weit sein. Nein, die Zeit für Tränen ist noch nicht gekommen, liebstes Kind; diese Freiheit ist uns nicht gestattet. Indem ich aus Liebe heiratete, gab ich den Rang als Prinzessin auf; doch nun da ein Bruder durch deines Vaters Hand gestorben ist und der andere Ehebruch mit dieser Hure beging, bin ich das einzige lebende Kind von König Heric. Nun muss ich dem 110
Ruf von Blut und Familie folgen, und wessen Laken das Bett in deiner Hochzeitsnacht bedecken, wird über Wohl und Wehe dieses unglücklichen Landes entscheiden. Ihre Gnaden von Parnilesse und Draximal besitzen Ansprüche auf den Thron, die auf Raeponins Waage sich im Gleichgewicht befinden. Es ist deine Hand, welch die Waagschale in die ein oder andere Richtung neigen wird. Suleta Werde ich wie ein Stück Fleisch verschachert? Albrice Sprich nicht so mit mir, junge Dame! Habe ich dich zur Dummheit erzogen? Suleta Draximal ist ein verdorbener Säufer, dessen drei Gemahlinnen bereits in Poldrions Barke geflohen sind, während Parnilesse allnächtlich mit seinem Tanzmeister Weib und Gatte spielt! Du verlangst von mir, einen von diesen zu heiraten, und sagst ich sei dumm, wenn ich mich weigere? Ich sage dir offen, Blut hin oder her, königlich oder aufgesogen vom Staub der Straße, nicht mit mir! [Abgang Suleta]
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Östlich von Drede auf der Eyhornestraße 15. Vorherbst
Ich erwartete nicht einzuschlafen, doch als Nächstes erinnere ich mich, wie Shiv mich auf den Karren hob und Geris versuchte, Platz für mich zwischen dem Gepäck zu schaffen. »Ist schon gut.« Ich wand mich aus dem Mantel. »Ich kann vorne sitzen.« Shiv lächelte mich an. »Bist du sicher?« Ich gähnte. »Ich kann beim Fahren ein wenig dösen. Das habe ich auch früher schon gemacht. Aua!« Die harte Kante eines Buches grub sich zwischen meine Rippen, und ich schrie. »Was ist?«, fragte Geris und schaute sich wild um. »Die hier.« Ich griff in meine Tunika und holte die Bücher hervor. »Ich muss wirklich verdammt müde gewesen sein, wenn ich darauf geschlafen habe.« Shivs Augen begannen zu leuchten, als er die Titel der Bände sah, doch als er den ersten aufschlagen wollte, kehrte Darni wieder zurück. Der Magier stopfte daraufhin die Bücher in einen Leinensack und ließ sie in seinen Satteltaschen verschwinden. »Ich habe die Rechnung bezahlt«, sagte Darni. »Machen wir uns also auf den Weg. Niemand hat Livak gesehen, und das sollte auch so bleiben. Es ist ganz gut, wenn die Leute hier uns weiterhin für Farbstoffhändler halten.« Wenn jemand mit Farbstoff handelte, ergab es durchaus Sinn, Truhen zu verschließen und eine Nachtwache aufzustellen. Ich betrachtete Darni und empfand tatsächlich so etwas wie 112
Respekt für ihn; vielleicht besaß der Kerl ja verborgene Talente. Geris fuhr los, und ich nickte ein. Ich kann überall schlafen, so lange ich mich sicher fühle, allerdings normalerweise nicht auf einem Kutschbock. In diesem Fall war das jedoch kein Problem, denn Geris fuhr, als hätte er rohe Eier geladen, und die Straße war in gutem Zustand. Als wir gegen Mittag schließlich anhielten, um den Pferden ein wenig Ruhe zu gönnen, fühlte ich mich erfrischt und war begierig darauf zu erfahren, wohin uns diese verrückte Reise als Nächstes führen würde. Ich musste nicht lange auf eine Antwort warten. Wir waren nicht weit entfernt von der Grenze nach Eyhorne, als Darni uns auf eine Nebenstraße führte. Wir fuhren einen Hang hinauf und blickten auf eine kleine Ansammlung von Gebäuden am bewaldeten Ufer eines Sees hinunter. Die Kamine großer Brennöfen verrieten das Vorhandensein von Werkstätten, und schmutziger Rauch stieg in den Himmel empor. »Darni!« Ein kräftig gebauter Mann in lehmverschmiertem Hemd trat aus einem niedrigen Verschlag und winkte uns zu sich. Dann drehte er sich um und rief über das Wasser hinweg nach einem Jungen, der auf einem niedrigen Ast hockte und angelte. »Seyn! Komm her! Mein Sohn wird sich um eure Pferde kümmern«, erklärte er. »Kommt rein.« Als er mich bemerkte, nickte er mir höflich zu. »Ich bin Travor. Willkommen in meinem Heim.« Er half Darni mit der ersten Truhe, während Geris und Shiv die zweite in ein massives Ziegelhaus in der Mitte der Gebäudeansammlung trugen. Ich schlenderte ihnen hinterher in eine große Küche, wo eine rotgesichtige Frau in ungefähr meinem Alter Brotteig auf einem sauberen Tisch knetete, während ein 113
Schwarm ebenso sauberer Kinder zu ihren Füßen auf dem Fliesenboden spielte. »Shiv!« Dass sie sich freute, den Magier zu sehen, war offensichtlich, als sie ihn auf die Wange küsste, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihn nicht mit ihren mehligen Händen zu berühren. »Hallo Darni. Hallo Geris. Wie geht es euch?« »Gut, danke.« »Geris!« Die Kinder schwärmten um ihn herum. Es waren fünf, von einem kleinen blonden Fräulein, das Geris bis zur Hüfte reichte, bis hin zu einem Krabbelkind, das trotz eindeutiger Beweise für das Gegenteil fest davon überzeugt zu sein schien, gehen zu können. Das Jüngste war gut ein Jahr alt, und dem Bauch der Frau nach zu urteilen, hatte der Töpfer wieder ein gutes Stück im Ofen. Die Frau wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ich bin Harna. Willkommen.« »Livak.« Wir schüttelten uns die Hände. »Wie lange wollt ihr bleiben?« Sie legte den Teig beiseite, damit er unter einem sauberen Tuch aufgehen konnte, und wandte sich an Darni. »Nur heute Nacht. Dann ziehen wir wieder weiter.« Shiv mischte sich ein. »Ich denke, wir könnten eine längere Pause gebrauchen, Harna. Livak hat uns nicht nur den Gegenstand, sondern auch ein paar Bücher besorgt, Darni. Sie könnten sehr nützlich sein, und ich würde gerne Conalls Meinung dazu hören.« Darni warf mir den ersten gereizten Blick des Tages zu. »Ich verstehe. Wir werden später darüber sprechen«, sagte er in einem Tonfall, der Unangenehmes befürchten ließ, hielt kurz inne und stapfte dann auf den Hof hinaus. 114
Harna ignorierte ihn und betrachtete mich genauer. »Du siehst müde aus. Lass mich dir dein Zimmer zeigen. Wie wäre es mit einem Bad?« »Das wäre wunderbar.« Freudig folgte ich ihr, während Geris gezuckertes Obst unter den Kindern verteilte und Shiv sich über einen Teller mit Brot und kaltem Fleisch hermachte. »Hier scheint sich jeder wie Zuhause zu fühlen«, bemerkte ich, als wir die schmale Treppe hinaufstiegen. Harna lachte. »Während der letzten zwei Jahreszeiten habe ich mehr von Darni gesehen als in den vergangenen sechs Jahren zusammen. Aber es macht mir nichts. Schließlich ist es für eine gute Sache.« Ich widerstand der Versuchung, sie weiter auszufragen. »Was hast du mit ihnen zu tun?« Harna hatte offenbar keinerlei Bedenken, was offene Fragen betraf. »Oh, dies und das.« Sie nickte und ließ das Thema auf sich beruhen. »Hier ist dein Zimmer.« Harna öffnete eine niedrige Tür, hinter der sich eine kleine Dachkammer verbarg. Ich atmete den Lavendelduft frischer Laken ein und wäre beinahe an Ort und Stelle eingeschlafen. »Es ist wunderbar. Danke.« Und das war es wirklich. Auf der Kommode standen ein glasierter Krug und eine Schüssel, die so hervorragend gearbeitet waren, dass man in Vanam einen wirklich guten Preis dafür hätte erzielen können; die Wände waren leicht pinkfarben verputzt, und das kleine Fenster wurde von gepflegten Leinenvorhängen eingerahmt. »Zum Bad geht’s hier entlang.« Harna führte mich eine andere Treppe hinunter in einen gefliesten Raum mit einer riesigen Wanne und einem geschickt eingearbeiteten Abfluss im Boden. »Wirklich, sehr gute Arbeit«, bemerkte ich. Harna lächelte. 115
»Travor mag praktische Dinge. Wenn man sieben Kinder baden muss, steht hier manchmal das Wasser wie an einer Furt des Dalas.« Sieben? Drianon rette mich! Travor betrat den Raum mit einem großen Eimer voller dampfendem Wasser in der Hand. »Ich würde es eher mit einer Sturmflut am Golf von Caladhria vergleichen.« Er schüttete das Wasser in die Wanne, und ich starrte gierig darauf. »Danke. Seid ihr sicher, dass ich nicht zu viel heißes Wasser verbrauche?« Travor schüttelte den Kopf. »Die Brennöfen arbeiten heute, und ich habe Kupferkessel daneben gebaut, in denen man Wasser erwärmen kann. Wir könnten euch alle baden lassen und hätten noch genügend heißes Wasser übrig.« Er ging, und Harna kehrte mit weichen Handtüchern in der Hand wieder zurück. »Viel Spaß«, sagte sie und schloss die Tür. Und Spaß hatte ich. Auf einem Regal fand ich Duftölflaschen, sogar etwas Grasgold, meinen Lieblingsduft. Mich in dem wohlriechenden Wasser einweichen zu lassen und meine Haare waschen zu können, machte das Leben gleich viel lebenswerter. Nachdem das Wasser kalt geworden war, stieg ich widerwillig aus der Wanne, wickelte mir ein Handtuch um den Leib und rannte in mein Zimmer zurück, wo saubere Kleidung die Verwandlung beendete. Im Haus war es still. Ich hörte die Kinder irgendwo draußen spielen, und ein Karren rumpelte zum Hof hinaus. Ich streckte mich auf dem Gänsefederbett aus und griff in meine Tasche, um das Buch herauszuholen, dass ich vor Shiv verborgen hatte. Über die Verlorenen Künste Tormalins. Das klang vielver116
sprechend. Ich schlug es auf und arbeitete mich durch die enge Schrift; es war nicht leicht. In Ensaimin spricht jeder Tormalin, doch nur die Gemeinsprache des alten Reiches. Dieser Text war jedoch in der alten Hochsprache verfasst, jener Sprache, die das Reich zusammengehalten hatte. Ich runzelte die Stirn ob der seltsam betonten Worte und versuchte, die Betonungszeichen über und unter den Zeilen zu entziffern. Ich gähnte und rieb mir die Augen. Die Arbeit an dem Text fiel mir so schwer, dass ich mich schließlich damit zufrieden gab, die Kapitelüberschriften zu lesen: Über die Astronomie, Über die Mathematik, Über das Schmelzen von Erzen, Über die Optik, Über Pharmakopoe, Über die Rhetorik. Nicht gerade faszinierend. Ich weiß nicht genau, wann ich eingeschlafen bin, doch als mich ein leises Klopfen an der Tür weckte, war der Himmel schon im Orange des Sonnenuntergangs gefärbt. »Livak? Ich bin es, Harna. Ich will nur Bescheid sagen, dass das Abendessen fertig ist. Kommst du runter?« »Ja, danke. Ich bin gleich bei euch.« Als ich die Treppe hinunterging, hörte ich Shiv und Darni in der Küche. Ich blieb stehen, um sie zu belauschen. »Es gefällt mir nicht, dass sie einfach ihre eigenen Entscheidungen trifft.« Das war Darni, der da knurrte. »Nun, sie hätte ja wohl kaum zu dir kommen und dich um Erlaubnis fragen können, oder? Der alte Mann hat mit Sicherheit sofort bemerkt, dass das Ding verschwunden ist. Da nun auch noch ein paar Bücher verschwunden sind, denkt die Stadtwache vielleicht, es handele sich nur um einen gewöhnlichen Einbruch. Einsiedler wie der haben immer den Ruf eines 117
Geizhalses; ich wette, die halbe Stadt glaubt, er hockt auf Truhen voller Reichsmark. Mit etwas Glück kommen sie zu dem Schluss, dass irgendjemand eingebrochen ist und sich einfach das Nächstbeste von Wert geschnappt hat.« »Glaubst du, sie hat so weit vorausgedacht? Aber wie auch immer ... Wie viele Leute in Drede kennen wohl den Wert solcher Bücher?«, fragte Darni in verächtlichem Tonfall. »Wen kümmert das? Sie zumindest wusste, dass die Bücher nützlich sein könnten und das, obwohl Geris ihr gerade mal die Hälfte der Geschichte erzählt hat.« »Damit weiß sie schon viel zu viel. Sie ist eine Diebin, vergiss das nicht, und nur dafür brauchen wir sie.« »Dem kann ich nicht zustimmen.« Shivs Tonfall war ruhig, aber fest. »Sie versteht sich gut aufs Stehlen, aber sie denkt auch schnell. Je mehr sie weiß, desto größer ist die Chance, dass sie etwas findet, was wir übersehen haben. Planir hat uns gesagt, wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, die sich uns bieten.« Ich verzog das Gesicht. Wollte ich mich noch tiefer in diese Angelegenheit verwickeln lassen? Immerhin waren es Zauberer, die hier falsch spielten. Mir kamen wieder die heißen Kohlen in den Sinn, die ich fast vergessen hatte. Andererseits war hier eine Menge Geld für mich drin; allein die Hälfte des Werts dieses Tintenhorns machte schon einen schönen Stapel Münzen aus, und Informationen besaßen auch ihren Wert. Darni wollte etwas darauf erwidern, doch das Öffnen der Tür und ein Strom schreiender Kinder brachten ihn zum Schweigen. Ich stampfte ein paar Augenblicke lang auf der Stelle, stieg dann den Rest der Treppe hinunter und gesellte mich zu den anderen. 118
Das Essen war hervorragend und reichlich. Harna hatte viel zu tun. Sie musste nicht nur unsere Gruppe, die sieben Kinder und Travor füttern, sondern auch zwei weitere Männer, von denen ich annahm, dass es sich um Travors Gesellen handelte. Sollte Ostrin je beschließen, sich wie in den Legenden als Sterblicher zu verkleiden, um die Gastfreundschaft der Menschen auf die Probe zu stellen, Harna müsste sich nicht sorgen – außer vielleicht um einen permanenten göttlichen Hausgast. Die Gesellen aßen, dankten Harna und gingen in ihre Quartiere. Anschließend erklärte Harna den Kindern, dass es Zeit sei, zu Bett zu gehen. »Och, bitte, kann Geris uns nicht ein paar Tricks zeigen?«, bettelte das älteste Mädchen und riss flehentlich die blauen Augen auf. »Es wäre mir ein Vergnügen«, erbot sich Geris. Harna lächelte. »Aber nur ein paar.« Sie räumte den Tisch ab, während Geris geschickt Münzen zwischen seinen Fingern verschwinden ließ, um sie anschließend aus dem Ohr des Babys wieder hervorzuzaubern. Ich widerstand der Versuchung mitzumachen und wandte mich an Shiv. »Seid ihr sicher, dass die zwei bei einem Krug Bier nichts über die seltsamen Gäste ihres Herrn erzählen werden?« Ich deutete zur Tür, durch welche die Gesellen verschwunden waren. »Harna hat mir gesagt, ihr wärt seit dem Frühlingsäquinoktium oft hier gewesen.« Shiv schüttelte den Kopf und trank einen Schluck von Travors hervorragendem Met. »Sie werden nicht reden.« »Kannst du da sicher sein?« Ich versuchte erst gar nicht, meine Zweifel zu verbergen. 119
»Vollkommen.« Shiv schien wirklich fest davon überzeugt zu sein. Zu meiner Überraschung sagten mir meine Instinkte, dass ich ihm trauen konnte. »Shiv, Shiv, zeigst du uns eine Illusion?« Ich starrte den Jungen an, der gefragt hatte, und hätte mich fast am Met verschluckt. »Harna?« »Oh, na gut.« Harna lächelte und füllte eine große flache Schüssel mit Wasser. Shiv rieb sich die Hände, und das grüne Licht der Magie erstrahlte um seine Finger. Meine Augen müssen so groß gewesen sein wie die der Kinder, als ich sah, wie das Bild eines Teiches mit schilfbewachsenen Ufern und Seerosen auf dem Wasser in der Schüssel erschien. »Mach ein paar Enten, mach ein paar Enten«, bettelte eines der jüngeren Kinder. Shiv gehorchte mit einem unmöglich gelben Vogel, dem ein Schwarm Entlein folgte. Plötzlich flackerte das Bild. Die Entlein stoben auseinander und verbargen sich im Schilf; erfolglos versuchte die Mutter, sie wieder einzusammeln. Shiv brach in lautes Lachen aus. »Harna!«, protestierte er. Als ich den Blick hob, sah ich ein grünes Licht um die Hände der Frau und ein schelmisches Funkeln in ihren Augen. Shiv brachte die Enten wieder unter Kontrolle. »So, das reicht jetzt. Ab ins Bett mit euch.« Die Kinder gehorchten unter bemerkenswert wenig Widerspruch. Nun, gegen den Trick mit den Enten wirkten herkömmliche Gutenachtgeschichten vermutlich ziemlich öde. Harna und Geris scheuchten die Kinder nach oben, und Darni und Shiv gingen hinaus, um ein letztes Mal nach den Pferden zu sehen. Ich fragte sie im Vorübergehen, wohin die Truhen verschwun120
den waren. »Komm ins Arbeitszimmer.« Travor stand auf und führte mich nebenan in einen ordentlich eingerichteten Raum. Er entzündete das Kaminfeuer, öffnete ein poliertes Kabinett und bot mir einen feinen Keramikbecher an. »Wein? Heidelbeerwein, um genau zu sein. Wir machen ihn selbst. Du kannst aber auch Wacholderlikör haben und noch etwas Fleisch.« Mit Fruchtweinen hatte ich schlechte Erfahrungen gemacht. »Wacholderlikör, bitte.« Travor schenkte mir so gut ein, wie es nur jemand tut, der selbst nicht trinkt; dann blickte er verstohlen zum Schreibtisch, auf dem eine große Schieferplatte voller präziser Diagramme lag. »Arbeitest du gerade an etwas? Wenn du weitermachen willst ... Ich möchte dich nicht davon abhalten.« »Wenn es dir nichts ausmacht.« Er setzte sich vor die Platte, offensichtlich erleichtert darüber, nicht länger irgendwelche belanglosen Höflichkeiten austauschen zu müssen. »Was ist das?« Ich spähte auf die Zeichnung, konnte aber keinen Sinn darin erkennen. »In Gidesta wird gerade eine neue Schmelzmethode entwickelt; die Bergmänner haben etwas erfunden, das sie ›Hochofen‹ nennen.« Er runzelte die Stirn ob einiger Berechnungen, wischte einen Teil der Schieferplatte sauber und begann von neuem. Ich blickte ihm über die Schulter. »Harna ist also eine Magierin.« Der Likör ließ mich sprechen, bevor mein Verstand es verhindern konnte. »Das stimmt.« Travor schien das nicht zu beunruhigen. »Wie ...?« Ich wusste nicht, wie ich meine nächste Frage for121
mulieren sollte. Travor hob den Kopf, und ein Grinsen entspannte sein hartes, kantiges Gesicht. »Wie also kommt sie dazu, einen Töpfer mitten im Nirgendwo zu heiraten?« Offenbar war er diese Frage gewöhnt. Ich lachte. »So in etwa.« Travor zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinen Berechnungen zu. »Sie besitzt das Talent. Doch was sie wirklich vom Leben will sind eine gute Ehe, ein schönes Heim und viele Kinder. Wir haben uns kennen gelernt, als sie mit einem anderen Magier durchs Land gereist ist. Wir blieben in Verbindung, und als Seyn – das ist der Magier – unterwegs war, haben wir geheiratet.« Ich trank meinen Likör; was Travor da erzählte, verstand ich ohnehin nicht. Plötzlich bellten draußen die Hunde, und Travor hob den Blick. »Ich sollte besser gehen und nach den Hunden schauen.« Nachdem er gegangen war, erschien Shiv wieder. »Gibt es ein Problem?«, fragte ich. »Ein Fuchs oder so etwas hat sich bei den Enten rumgetrieben.« Shiv schenkte sich ein wenig Gerstenschnaps ein und setzte sich mit einem Seufzen hin. »Wie lange werden wir hier bleiben?« »Ich habe einem Mann mit Namen Conall eine Nachricht gesandt; er lebt drüben in Eyhorne. Er arbeitet an einigen der frühen Aufzeichnungen aus Hadrumal, und ich möchte, dass er mal einen Blick auf die Bücher wirft, die du gefunden hast. Es war eine sehr gute Idee, sie mitzunehmen.« »Wenn du mir sagst, was wirklich hier vorgeht, könnte ich vielleicht noch andere nützliche Dinge finden«, bemerkte ich 122
beiläufig. »Es sei denn, Darni lässt dich nicht.« Shiv lachte und ignorierte den Köder. »Wir werden vermutlich ein paar Tage hier bleiben; also mach das Beste aus der Pause. Als Nächstes geht es nach Dalasor. Das bedeutet viele Übernachtungen im Freien – keine Federbetten und keine frischen Laken.« »Ich dachte, in Dalasor gäbe es nur Gras, Schafe und Rinder.« »Bist du je dort gewesen?« »Ich lebe vom Spielen, Shiv.« Ich füllte meinen Becher wieder auf. »Es nützt mir nicht viel, an einem Spiel mit zehn Ziegen als Höchsteinsatz teilzunehmen.« Wieder lachte Shiv und nippte an seinem Schnaps. Ich betrachtete ihn im sanften Lampenlicht, und ein warmer Schauder lief mir über den Rücken. Er war eigentlich recht gut aussehend – auch wenn man das nicht unbeträchtliche Glühen mit in Betracht zog, das der Likör in meinem Bauch verursachte. Ich durchquerte den Raum und setzte mich neben ihn ans Feuer. »Harna hat gesagt, sie hätte euch seit dem Frühlingsäquinoktium oft gesehen. Ihr seid schon lange von Zuhause weg.« Shiv streckte sich und schloss die Augen. »Das ist richtig«, stimmte er mir zu, »aber Pered ist sehr verständnisvoll.« Ich blinzelte. »Pered?« Ein liebevolles Lächeln zeichnete sich auf Shivs Gesicht ab. »Mein Liebhaber. Er ist Illustrator bei einem Kopisten in Hadrumal. Wir sind jetzt schon sechs Jahre zusammen; er ist es gewohnt, dass ich fort bin.« Ich trank einen weiteren Schluck, um meine Verwirrung zu verbergen, und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Na ja, zumindest hatte ich mich nicht zum Narren gemacht. 123
»Ursprünglich stammst du aber nicht aus Hadrumal, oder? Du sprichst nicht mit dem gleichen Akzent wie Darni, aber einordnen kann ich ihn auch nicht.« »Nein, ich stamme aus West-Caladhria, aus den Marschen hinter Kevil.« Ich erinnerte mich an etwas, das Halice mir einst gesagt hatte: So wie alle sich über Caladhrier lustig machen, so lachen die Caladhrier über die Leute aus Kevil. »Bei Drianon! Du musst für die ja so komisch gewesen sein wie ein Fisch im Baum!« Mein Mund war heute Abend eindeutig schneller als mein Verstand. Ich stellte den Becher ab. »Was meinst du? Weil ich ein Magier bin, oder weil ich ...« Shiv öffnete die Augen und grinste mich verschmitzt an. »Wie nennt es eine Dame in Vanam heutzutage? Eine von denen, die sich ständig ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase halten? Ein Mann, der den Tanzboden nicht überquert? Oder ziehst du die eindeutigeren Bezeichnungen vor? Schwuchtel? Warmer Bruder?«, fragte er mit sichtlichem Vergnügen und einem Funkeln in den Augen. Nun, wenn es ihm nicht peinlich war, warum sollte es mich dann in Verlegenheit bringen? »Ich nehme an, ich würde beides sagen.« »Oh, Caladhria ist nicht so rückständig, wie ihr Leute glaubt.« »Jetzt mach aber mal halb lang«, wies ich ihn zurecht. »Die Hälfte der caladhrischen Häuser, die ich gesehen habe, besaßen noch nicht einmal einen Kamin. Wie viele Leute in deinem Dorf haben Öllampen verwendet?« »Binsenfackeln funktionieren hervorragend. Warum sollte man daran etwas ändern?« Sein ernster Tonfall hätte mich fast in die Irre geführt, doch ich sah das Funkeln in seinen Augen. 124
»Aber du hast Recht. Meine Familie hat nicht gewusst, was sie mit mir tun soll. Sie waren nicht unfreundlich zu mir oder so; ich fühlte mich nur wie ein Schwein im Kuhstall. Mein Onkel hatte einen Vetter, dessen Frau mich einem Magier in Kevil empfohlen hat, und der hat mich dann nach Hadrumal geschickt.« Shivs Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. »Das war vor 15 Jahren, vor einem halben Leben.« Ich hatte vergessen, dass Caladhria so war; wenn deine Großmutter einen Mann kannte, dessen Neffen deinem Vetter einst ein Pferd verkauft haben, bist du mit ihm so gut wie verwandt. Das macht es jemandem wie mir schwer, dort zu arbeiten, aber es hat auch seine guten Seiten: Ich habe dort nie Kinder auf den Straßen betteln sehen. Dann fiel mir etwas ein. »Warum hast du mit der Schankmaid geflirtet, wenn du doch ... hm, anderwärtig orientiert bist?« »Sie erwarten es, und ein freundlich gesonnenes Mädchen kann dir viel Nützliches erzählen.« Das war nur fair. Auch ich hatte schon für genug Männer mit den Wimpern geklimpert, obwohl ich niemals zugelassen hätte, dass sie mich anfassen, geschweige denn mehr. »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn Geris seinen Charme versprüht? Oder Darni?« Ich lachte ob der Vorstellung. »Was ist mit Darni? Was ist sein Problem? Hat er Familie?« »O ja. Er ist mit einer Alchimistin verheiratet, die auf die Insel gekommen ist, um für die Feuermagier zu arbeiten.« Dazu gab es nicht viel zu sagen. »Oh.« »Kurz nach der Wintersonnenwende haben sie ihr erstes Kind bekommen, und ich glaube, Darni ist im Augenblick nicht gerade glücklich darüber, so viel reisen zu müssen.« 125
Shiv klang mitleidvoll. Ich schnaufte. »Das ist noch lange kein Grund dafür, es an uns auszulassen. Kennst du Harna, weil sie eine Magierin ist? Ist das der Grund, warum ihr so oft hierher kommt?« »Deswegen – und weil sie Darnis Cousine ist.« »Ist das nicht irgendwie seltsam? Ich meine, wo Darni sich doch nicht zum echten Magier eignet und sie ...« Shiv schüttelte den Kopf. »Es gab eine Zeit, da hätte Darni seine Eier für nur die Hälfte von Hamas Talent gegeben, aber er hat sich weiterentwickelt. Als er Strell kennen lernte, hat er erkannt, dass es mehr gibt auf der Welt als nur Magie.« Er gähnte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich gehe jetzt ins Bett. Bis morgen.« Ich überlegte, ebenfalls nach oben zu gehen, doch dank meines Nachmittagsschläfchens war ich nicht wirklich müde. Ich ging zum Schreibtisch, um noch einmal einen Blick auf Travors Tafel zu werfen. Ich war gerade in die Gleichungen vertieft, als die sich Tür öffnete. Erschrocken zuckte ich zusammen. »Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Geris lächelte entschuldigend. »Macht nichts.« Fasziniert starrte ich auf die Zeichnung dieses ›Hochofens‹. »Hast du das gesehen?«, fragte ich Geris. »Was? Oh, das, ja. Es ist sehr interessant, nicht wahr?« Ich hob den Blick. Für jemanden, der jede noch so kleine Information sammelte, klang Geris nicht gerade interessiert. Verlegen stand er neben dem Feuer. »Ist alles in Ordnung?« Ich war neugierig. »Ja, ja.« Geris schenkte sich einen großzügigen Becher Wein ein und blinzelte ein wenig, als er ihn in einem Zug leerte. 126
Offensichtlich verlieh ihm das den Mut, nach dem er verlangte. »Ich war nicht sicher, ob du wirklich das Tintenhorn bekommen würdest, weißt du?« »Ich beherrsche mein Metier sehr gut.« Ich bemerkte eine unerwartete Schärfe in meiner Stimme. »Nein, ich habe nicht gemeint ... Ich ... Ich meine, ich dachte, es wäre für jeden unmöglich.« Seine Bewunderung war unüberhörbar, und ich verbarg ein Lächeln hinter meinem Spielergesicht. »Oh.« »Erzähl mir davon«, forderte er mich auf. Vielleicht war das meine Chance, in eines von Judals Stücken zu kommen – wenn auch nur in einer Nebenrolle. »Na gut.« Ich lächelte Geris an, und wir setzten uns auf die Bank am Kamin. »Nun, zuerst haben wir uns das Haus angesehen, und dann gingen wir ein Bier trinken ...« Vielleicht habe ich die Schwierigkeiten ein wenig übertrieben, und ich fürchte, Darni kam nicht allzu oft in meiner Geschichte vor, doch Geris staunendem Gesicht konnte ich einfach nicht widerstehen. »Das hast du einfach wunderbar gemacht«, stieß er hervor, als ich gerade ein besonders farbenfrohes Garn spann. »Wir können dir gar nicht genug dafür danken.« »Sicher. Du bist der Einzige, der mir überhaupt dafür gedankt hat.« Die Erkenntnis traf mich härter, als ich erwartet hatte, und das Zittern in meiner Stimme überraschte mich. »Nein, nein, wir alle sind dir dankbar.« Geris klang betrübt. »Als Shiv sagte, er könne das Stück nicht bekommen, glaubten wir schon, mit leeren Händen zurückkehren zu müssen. Darni war außer sich.« 127
»Und dann bin ich gekommen und habe all eure Probleme gelöst«, schnaufte ich. »Darni könnte wirklich ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen.« »Ich werde mit ihm darüber sprechen«, erklärte Geris entschlossen, und ich konnte nicht anders, als lauthals aufzulachen. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich habe solche Kerle schon oft getroffen.« »Hast du?« Geris schien begierig auf eine weitere Geschichte zu sein, und ich entsprach seinem Wunsch. Sein Interesse schmeichelte mir, und ich genoss die Gelegenheit, mit ein paar meiner spektakulärsten Erfolge prahlen zu können. Ich war nicht allzu überrascht, als Geris mir freundlich den Arm um die Schulter legte, während ich Charoleias letzten Plan erklärte, die Behörden von Relshaz um einige ihrer Einnahmen zu erleichtern. Ermutigend kuschelte ich mich an seine Seite. Es war mir eine Freude, ihn mich küssen zu lassen, während wir unsere Erinnerungen über die verschiedenen Tavernen in Vanam austauschten; sein Atem roch süß nach Wein, und seine Lippen waren fest und trocken. Ich nehme nicht an, dass er damit gerechnet hat, dass wir schon so bald zusammen im Bett liegen würden – so gut erzogen wie er war –; doch ich schlief schon eine ganze Zeit lang allein und war der Ansicht, schon viel zu viele einsame Nächte verbracht zu haben. Kurz erinnerte ich mich daran, dass viele Tränen die Folge gewesen waren, als ich zum letzten Mal die Arbeit mit dem Vergnügen vermischt hatte, doch Geris’ zärtliche Hände und süße Küsse vertrieben bald alle Zweifel. Geris mochte ja in vielerlei Hinsicht naiv gewesen sein, aber soweit ich es beurteilen konnte, gab es in Vanam sicherlich das 128
ein oder andere glückliche Mädchen. Er war ein guter Liebhaber: neu genug, um dem Vergnügen mit einer rührenden Ehrfurcht zu begegnen, doch erfahren genug, um zu wissen, dass geteiltes Vergnügen doppeltes Vergnügen ist. Er war sehr zärtlich und aufgeschlossen, und er tat sogar sein Bestes, um anschließend nicht sofort einzuschlafen. »Schlaf jetzt.« Ich strich ihm das Haar aus der verschwitzten Stirn und küsste ihn. Er zog das frische Laken um mich fest, während wir uns aneinander schmiegten. Mit seinem sanften Atem im Haar schlief ich kurz darauf ein.
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Der Markt von Hanchet 15. Vorherbst
»Hoooh, meine Schöne!« Casuel biss die Zähne zusammen, als er an den Zügeln zog. Das Erschrecken über die Pflastersteine unter den Hufen half; das Pferd blieb stehen und schnaufte missbilligend. »So ist’s schon besser.« Casuel betätigte die Bremse des Einspänners und ließ seinen Blick auf der Suche nach einem Gasthof über den Markt schweifen. Was er sah, überraschte ihn, und anerkennend schürzte er die Lippen. »Das ist weit besser, als ich mir vorgestellt habe, und wir sind rasch vorangekommen«, bemerkte er gut gelaunt zu Allin. »So ein Einspänner ist weitaus bequemer als eine Postkutsche.« Die Fahrt in einer offenen Kutsche hatte Allin zur Abwechslung einmal eine gesunde Gesichtsfarbe verliehen. Casuel schaute sich weiter um; er hatte sich noch nicht entschieden, wohin er sich wenden sollte. Obwohl die Dämmerung anbrach, reichte das Ende des Marktes noch immer bis auf den Hauptplatz der Stadt. »Hey, Meister, mach die Straße frei!« Das Pferd scheute, als ein Bauer verärgert mit dem Stab in ihre Richtung wedelte. Casuel wollte dem Tölpel gerade sagen, was er von ihm hielt, als er erkannte, dass er genau vor einem Wassertrog angehalten hatte. Er schnalzte mit der Zunge, schlug mit den Zügeln und blickte indigniert über die Köpfe der wartenden Bauern hinweg, die ihre Tiere noch einmal tränken wollten, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Ein Ruck 130
ging durch die Kutsche, und unsanft wurde Casuel daran erinnert, dass er zuerst die Bremse lösen musste, bevor es weitergehen konnte. Ein Straßenkind sagte irgendetwas neben Casuels Knie. »Was hast du gesagt?« In den Weilern jenseits der Hauptkutschenrouten war der armselige Dialekt sogar noch stärker ausgeprägt als in den größeren Städten, dachte Casuel entsetzt. »Für ein Viertel Kupfer halte ich Euer Pferd, Herr.« Casuel funkelte den Jungen aus zusammengekniffenen Augen an; dann griff er jedoch in seine Tasche und holte eine Münze hervor. Dies hier war ja schließlich nicht Col. Casuel hielt einen ganzen Pfennig in die Höhe, und die Augen des Jungen leuchteten auf. »Wo können wir Zimmer und einen Stall für die Nacht bekommen?« »Da drüben, im Hirschhund.« Der Straßenjunge versuchte sich an einer Verbeugung. »Folgt mir.« Casuel lenkte das Pferd ungeschickt durch das Gedränge. »Du musst wissen, dass ich in Hadrumal nicht viel Zeit zum Fahren habe«, erklärte er Allin, doch die war viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzuschauen. Im Hof der Gaststube ging es ausgesprochen geschäftig zu; doch als der Einspänner mit seinem gut gekleideten Kutscher erschien, war sofort ein Pferdeknecht zur Stelle. »Wir brauchen Essen und Unterkunft für die Nacht.« Casuel griff nach hinten und reichte das Gepäck herunter. »Nimm das, und lass zwei Zimmer für uns vorbereiten.« »Jawohl, Herr.« Der Stallbursche drückte Allins zerschlissene Reisetasche an die Brust; er schien ein wenig überrascht zu sein. 131
Casuel stieg vom Kutschbock und verzog das Gesicht, als seine Schultermuskeln ob der ungewohnten Beschäftigung des Kutschierens ihren Protest kundtaten. Er blickte zu der noch immer wachsenden Menschenmenge vor dem Wassertrog; dann winkte er dem Straßenjungen. »Führ das Pferd herum, bis es zu schwitzen aufhört. Anschließend gibst du ihm dann Wasser, bringst es wieder zurück, und morgen früh gehört der Pfennig dir, wenn ich aufbreche.« Dem habe ich Gehorsam beigebracht, dachte Casuel, während er ein wenig steif in den Gasthof stapfte. Allin kletterte unbeholfen von der Kutsche und folgte Casuel. Sie prallte gegen ihn, als er plötzlich stehen blieb, denn erstaunt musste er sehen, dass durstige Bauern sich in drei Reihen vor dem Tresen drängten. Unsicher verharrte Casuel einen Augenblick an Ort und Stelle; dann biss er die Zähne zusammen. Seine Zukunft könnte davon abhängen, was er hier erfuhr, ermahnte er sich selbst. »Entschuldigt, bitte. Wenn Ihr so freundlich wärt.« Höflichkeit würde ihm gar nichts nützen, erkannte er, als irgendjemand ihm schmerzvoll den Ellbogen in die Rippen stieß und ein kräftiger Bauer sich in Richtung Bier an ihm vorbei drängte. »Bedienung!« Casuels unvertrauter Akzent hallte über den Lärm des überfüllten Schankraums hinweg, und er bemühte sich, nicht rot zu werden, als plötzlich Stille einkehrte und alle Blicke sich auf ihn richteten. »Ich hätte gerne einen Krug Bier, wenn es nicht zu viel verlangt ist.« Casuel schüttelte den Staub aus den Falten seines Mantels und hustete, um seine Verlegenheit zu verbergen. Die Gespräche um ihn herum wurden wieder aufgenommen, und der Wirt schob einen Krug und Becher über den Tresen. Casuel fand einen Stuhl am Ende des Tresens und betrachtete 132
misstrauisch die ölige Oberfläche des Biers. Auch Allin rümpfte die Nase. »Ich weiß. Ich hätte auch Wein vorgezogen, aber außerhalb der großen Städte Ensaimins ist es sinnlos, auch nur danach zu fragen.« Casuel seufzte. Er hatte Heimweh nach seinen ordentlichen, sauberen Gemächern in Hadrumal oder besser noch, nach dem Haus seiner Eltern. »Entschuldigung.« Er griff nach dem Ärmel einer Schankmaid, die mit einem Tablett voller Suppenschüsseln an ihm vorüber eilte. »Ihr könnt Essen an der Küchentür bestellen.« Sie drehte sich noch nicht einmal zu Casuel um und versuchte, sich loszureißen, ohne das Tablett zu verlieren. »Nein, ich suche nach jemandem, der ...«, begann Casuel. »Versucht es im Waschhaus nebenan«, sagte die Schankmaid schroff und riss ihren Ellbogen aus seiner Reichweite. Casuel nippte an seinem Bier und bedauerte es sofort. Der Wirt befand sich am anderen Ende des Tresens, und nichts deutete darauf hin, dass das Geschäft alsbald nachlassen würde. »Ich würde sagen, wir haben nicht die geringste Chance, hier eine ruhige Unterhaltung zu führen«, flüsterte er Allin zu. Sie nickte. Für einen kurzen Augenblick schwieg sie, weil der Durst stärker war als die Vorsicht und sie das Bier versuchte. Sie verdrehte die Augen und hustete. »Glaubt Ihr, die haben hier Milch?« Sie blinzelte. »Ihr trinkt nicht?« Ein übler Geruch attackierte Casuels Nase. Er drehte sich um und sah einen schmutzigen kleinen Mann neben der Tür zum Hof, dessen Blick hin und her huschte. »Nicht diese Brühe.« Casuel verzog das Gesicht. Die Augen des zerlumpten Mannes begannen zu leuchten, 133
und er griff nach dem Krug. »Nicht so schnell.« Casuel schob den Krug außer Reichweite des Mannes. »Ich will jemanden finden ...« »Das Waschhaus ist nebenan«, erklärte der alte Bettler und hielt den Blick unverwandt auf den Krug gerichtet. »Was ist so besonders an diesem Waschhaus?«, fragte Allin. Casuel schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wir können gehen und es herausfinden. Hier bekommen wir höchstens eine Nacht auf dem Abtritt.« Er erregte die Aufmerksamkeit des Wirtes und warf ein paar Kupfermünzen auf den Tresen. Das Bier überließ er nur allzu gerne dem vergnügten Bettler; dann stand er auf und ging hinaus. Auf der Schwelle blieb er kurz stehen und sog die frische Luft ein. Allin drängte sich an ihm vorbei und rieb sich den Rücken. »Welches ist nun dieses Waschhaus?« »Aus den Fenstern da drüben kommt Dampf.« Allin deutete auf die andere Straßenseite. »Komm. Ich nehme an, die Wäscherinnen wissen, wer wo lebt. Frauen wissen so was immer, nicht wahr?« Allin lächelte unsicher. Casuel ging voraus. Vor der Tür des Waschhauses blieb er jedoch unsicher stehen, denn er hörte Kichern aus dem Inneren. Er hatte sich in der Gesellschaft von Frauen nie sehr wohl gefühlt, besonders nicht in der von mehreren auf einmal. Er blickte zu Allin; vielleicht konnte sie das Reden übernehmen ... nein, vielleicht besser nicht. Casuel straffte die Schultern und ging hinein. Fast wäre er sofort wieder hinausgegangen, als er sich plötzlich einem Mädchen gegenübersah, das ein äußerst tief ausgeschnittenes Mieder über einem ungewöhnlich knappen Kleid trug. Sie begrüßte 134
ihn mit einem ausgesprochen offenherzigen Lächeln. »Kann ich Euch behilflich sein?« Eine Frau ungefähr im Alter von Casuels Mutter blickte von einem Waschtrog auf. »Ich bin auf der Suche nach Informationen.« Casuel bemühte sich, den Schweiß zu ignorieren, der sich auf seiner Stirn bildete. Natürlich war es in einem Waschhaus warm, und offensichtlich mussten die Frauen, die hier arbeiteten, leichte Kleidung tragen. Ein Lächeln zeigte sich im Gesicht der Matrone. »Und was für eine Art von Information mag das sein?« Casuel zog den Mantel aus, um ihn nicht durch Schweißflecken zu verunstalten, und öffnete seinen Kragen. »Ich suche einen Mann, der einst der Kammerherr von Lord Armile von Friern gewesen ist.« »Das müsste Teren sein.« Die Sprecherin war eine Schlampe mit harten Augen und unnatürlich rotem Haar, das ihr offen über die Schultern fiel. Sie blickte an Casuel vorbei zu Allin und legte die Stirn in Falten. »Und könnt Ihr mir sagen, wo er zu finden ist, meine Dame?«, fragte Casuel höflich, aber steif. Zum Glück schien die Suche leicht zu sein. Die Rothaarige tauschte einen raschen Blick mit der Wäscherin. Dann schaute sie Casuel erheitert an. »Kennt Ihr den Weg zur Dalasor-Hochstraße?« »Ich kann ihn finden«, antwortete Casuel. »Überquert die Brücke hinter dem Wäldchen, und geht weiter bis zur dritten Abzweigung. Dort ist ein Poldrionschrein neben einer Roteiche.« »Und dort finde ich ihn?« Casuel war verwirrt. »Die fünfte Nische rechts, mittlere Reihe.« Die Rothaarige 135
lachte laut und trank einen Schluck aus einem Lederschlauch, den sie zwischen den Falten ihres Rocks verborgen hatte. Sie lächelte Allin freundlich an. »Es tut mir Leid, aber er ist tot und verbrannt. Das ist jetzt zweieinhalb Jahreszeiten her.« Die Wäscherin rieb halbherzig mit einem Kupferstab über die Wäsche. Casuel hätte fast auf dem Absatz kehrt gemacht, so erbost war er über den geschmacklosen Humor der Frauen. »Für seine Frau ist das nicht so lustig.« Das Mädchen mit dem halb offenen Mieder trat aus einem Hinterzimmer mit einem Korb Brot und Käse, die sie verteilte. Auch Allin bot sie etwas an, nachdem sie sie eingehender betrachtet hatte. »Komm rein, Mädchen. Es gibt keinen Grund, auf der Schwelle herumzustehen.« Casuel kam eine Idee. »Er hat also eine Witwe hinterlassen?« Die Frau mit dem Schlauch wurde zur Abwechslung einmal ernst. »Das arme Weib. Fünf Mäuler muss sie stopfen, und in drei Tagen Umkreis hat sie keinen einzigen Verwandten.« »Es ist hart, in solch einer Zeit so weit weg von den Seinen zu sein«, bemerkte die Wäscherin mitleidig und seufzte, während sie auf ihrem Brot herumkaute. »Wenn ich mit ihrem Gatten keine Geschäfte mehr machen kann, dann kann ich zumindest etwas für die Unglücklichen tun, die er zurückgelassen hat«, verkündete Casuel überheblich. »Wohltätigkeit ist die Pflicht jedes vernünftigen Menschen.« Die Rothaarige murmelte etwas, das er nicht verstand, denn sie hatte den Mund voll, was ihren Akzent noch schlimmer machte. Die Wäscherin nickte und blickte nachdenklich drein. Casuel ignorierte dieses unbedeutende Spiel. »Wo kann ich die Dame finden?« 136
»Ihr könntet sie in der Molkerei finden«, antwortete das junge Mädchen, nachdem sie durch ein Nicken der Rothaarigen die Erlaubnis dazu bekommen hatte. »Sie verkauft oft Käse für Frau Dowling.« Casuel nickte gnädig zum Dank. Erneut kam ihm ein Gedanke. »Wie viel würde es kosten, wenn ihr meinen Mantel reinigt?« Die Frauen blickten einander an, und die Rothaarige versteckte plötzlich ihr Gesicht in der Schürze und begann zu husten. Die Mundwinkel der alten Wäscherin zuckten amüsiert; trotzdem gelang es ihr, vernünftig zu antworten. »Vier Pfennige sollten genügen, Euer Gnaden.« Sie lächelte Allin an. »Du siehst aus, als könntest du eine Erfrischung vertragen, Mädchen. Warum wartest du nicht hier, während Seine Gnaden das Geschäftliche erledigt?« »Das wäre nett.« Allin zögerte und krallte sich in ihren Schal. »Ich komme später wieder vorbei.« Casuel gab seinen Mantel ab und ging. Er war ein wenig verwirrt ob des Lachens, das hinter ihm erscholl. Er hatte jedoch keine Zeit, um sich mit dem seltsamen Verhalten der Wäscherinnen zu beschäftigen, ermahnte er sich. Der Marktplatz war inzwischen fast leer. Die letzten Wagen fuhren zu den Höfen hinaus oder warteten auf ihre Eigentümer, die noch in eine der Tavernen eingekehrt waren, aus denen fröhlicher Lärm hallte. Angewidert suchte Casuel sich einen Weg durch Stroh, Dung und Gemüsereste auf den Pflastersteinen und ging zu der reetgedeckten Molkerei. Er beschleunigte seinen Schritt, als er sah, wie zwei Frauen vor dem Haus ihre Körbe packten und die breiten Steinstufen den Bettlern überließen. 137
»Entschuldigung, meine Damen.« Casuel verneigte sich formell, und die Frauen hielten überrascht inne. »Ich suche nach der Witwe Teren.« Er bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln. »Und warum?«, fragte eine der Frauen vorsichtig. »Ich hatte geschäftlich mit ihrem verstorbenen Gatten zu tun.« Casuel war zu dem Schluss gekommen, dass ein meisterhafter Ansatz vonnöten war; mit Charme allein erreichte man in dieser Stadt anscheinend nichts. Die Frauen tauschten lange Blicke, die Casuel nichts verrieten. Eine der Frauen blickte über den Platz und zu den Leuten, die erledigten, was immer sie erledigen wollten; dann nickte sie ihrer Gefährtin zu. »Sie ist bei ihren Kindern auf der anderen Seite.« »Braunes Kleid und blaue Schürze«, fügte die zweite hinzu. Die beiden Frauen verließen Casuel und gingen zum Brunnen in der Mitte des Platzes, wo sie scheinbar in ein belangloses Gespräch vertieft stehen blieben. Die Witwe war nicht schwer zu finden, nachdem Casuel erst einmal auf die andere Seite des Hauses gegangen war. Sie war ungefähr genauso alt wie er, besaß, ein schmales Gesicht und wirkte unendlich müde. Sie packte ein paar Brotstücke und Gemüse in ihre Lastkörbe, das Casuels Mutter noch nicht einmal den Schweinen vorgeworfen hätte. »Setz dich und sorg dafür, dass auch deine Schwester aufhört rumzutoben, Miri«, fuhr sie einen zerlumpten Jungen an, der mit seiner jüngeren Schwester Tauben jagte. Das Kind öffnete den Mund, um zu protestieren, besann sich dann jedoch eines Besseren, packte das Mädchen an ihrem zerschlissenen Rock und ließ sich mit seinem abgemagerten Hintern auf der unters138
ten Stufe des Hintereingangs nieder. »Sollten die Kinder nicht längst im Bett sein?« Casuel runzelte die Stirn und betrachtete die Schatten, die immer länger wurden. »Was geht Euch das an?« Diesmal klang die Stimme der Frau nicht zornig, vielmehr lag Niedergeschlagenheit darin. Sie schaute Casuel nicht einmal an, sondern steckte nur die Haarsträhnen zurück, die ihrem Kopftuch entkommen waren, während sie die Schürze des kleinen Mädchens festgezogen hatte. »Es tut mir Leid.« Casuel verneigte sich tief. »Ich bin Casuel Devoir. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich mit der Witwe Teren spreche?« »Erfreut, Euch kennen zu lernen«, erwiderte die Witwe, stand auf und musterte Casuel amüsiert. Die Kinder starrten ihn offenen Mundes an. »Ich hatte gehofft, Euren Gatten zu treffen ...« Casuel hielt inne, als er den stummen Schmerz auf den drei Gesichtern vor ihm sah. »Ich habe von Eurem Verlust gehört«, fuhr er eilig fort, »und ich hatte gehofft, Euch irgendwie behilflich sein zu können.« Ein Funken Leben kehrte in die dunklen Augen der Frau zurück. »Drianon weiß, dass wir Hilfe brauchen können. Hier.« Sie reichte Casuel den ausgefransten Korb; dann stemmte sie selbst das Joch mit den Lastkörben in die Höhe. »Wie Ihr gesagt habt, die beiden sollten schon längst im Bett sein. Begleitet mich nach Hause; dort können wir weiterreden.« Casuel öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn jedoch wieder. Er brauchte diese Information, ermahnte er sich. Wenn es für Darni wichtig war, galt das für ihn umso mehr. Er folgte der Frau und den Kindern. Den Korb hielt er ungeschickt 139
in einem gewissen Abstand, damit die teilweise abgebrochenen Weidenflechten seine Kleidung nicht beschädigen konnten. Zu seiner Erleichterung bog die Witwe alsbald in eine schmale Gasse ein und klopfte an die Tür eines sauberen Reihenhauses. Ein älteres Kind mit einem brüllenden Baby in den Armen öffnete und versperrte den Eingang mit dem Fuß, um ein wild entschlossenes Kleinkind von der Flucht abzuhalten. »Holt euch euer Abendessen, und geht damit nach hinten.« Die Witwe setzte sich auf eine niedrige Bank neben dem Feuer und öffnete ihr Mieder. Gehorsam füllten die Kinder Schüsseln mit dicker Suppe, nahmen sich etwas Brot und gingen durch eine schmale Tür hinaus. »Ich bitte um Verzeihung. Ich werde draußen warten, während Ihr Euer Kind stillt.« Casuel wandte sich zum Gehen. Er wurde puterrot, als das Baby mit sichtlichem Vergnügen und nicht gerade leise zu saugen begann. »Ich muss mich um meine Familie kümmern, und ich bin seit Sonnenaufgang auf den Beinen«, erklärte die Witwe in entschiedenem Tonfall. »Nur jetzt kann ich mich mal in Ruhe hinsetzen. Also redet mit mir, oder geht.« Casuel räusperte sich und starrte verlegen in das armselige Feuer. »Wenn ich recht informiert bin, war Euer Gemahl im Haushalt von Lord Armile beschäftigt.« »Das stimmt. Und was habt Ihr damit zu tun?« »Ich bin daran interessiert, Geschäfte mit seiner Lordschaft zu machen. Ich handele mit Büchern und Manuskripten. Euer Gemahl hat nicht zufällig mit Euch über die Bibliothek in Friern gesprochen?« Casuel drehte widerwillig den Kopf, als er die Witwe müde 140
lachen hörte. »Nicht er hat mit mir darüber gesprochen, sondern ich mit ihm. Ich war es, die an diesem verfluchten Ort Tag für Tag Staub gewischt hat.« »Ihr wart auch eine Dienerin?« »Eine Kammerzofe, bis mein Herr uns hinausgeworfen hat, weil wir es gewagt haben, ohne seine Erlaubnis zu heiraten.« Hass vergiftete die Stimme der Frau, und die Tränen traten ihr in die Augen, als sie versuchte, das erschrockene Baby zu beruhigen. Casuel wusste nicht, was er sagen sollte. Frauen waren ihm auch so schon rätselhaft, aber weinende Frauen verstand er überhaupt nicht mehr. Doch zu seiner großen Erleichterung schüttelte die Frau nach nur wenigen Augenblicken den Kopf und schniefte. »Was wollt Ihr wissen?«, fragte sie. »Ich bin an Werken interessiert, die mit dem Untergang des Tormalinreiches zu tun haben. Wisst Ihr, wovon ich rede? Hat vielleicht irgendjemand einmal Bücher über dieses Thema erwähnt?« Die Witwe legte das Kind über die Schulter und klopfte ihm den Rücken, bis es laut aufstieß; dann legte sie es mit nachdenklichem Gesichtsausdruck an die andere Brust. Anschließend löste sie ihr Kopftuch und schüttelte schönes dunkles Haar frei, das am Ansatz schon leicht grau war. »Ich denke, wir kämen ein gutes Stück besser voran, wenn Ihr aufhören würdet, mich wie ein dummes Mädchen zu behandeln, mein Herr, wie auch immer Euer Name gewesen sein mag«, sagte sie schließlich gereizt. »Bevor wir rausgeworfen wurden, habe ich einen Großteil der Bücher selbst gelesen; 141
daher nehme ich an, dass ich Euch sagen kann, was Ihr wissen wollt. Allerdings möchte ich vorher wissen, wofür Ihr diese Informationen braucht und was sie Euch wert sind.« Casuel zögerte. Er wollte es sich nicht mit solch einer unerwarteten Informationsquelle verscherzen, und so suchte er nach einer angemessenen Antwort. Widerwillig entschied er sich für so viel von der Wahrheit, wie er wagen durfte. »Ich habe einen Kunden, der an Literatur über diese Epoche interessiert ist. Wenn Lord Armile derartige Schriftstücke besitzt, könnte ich ihn ansprechen und ihn fragen, ob er an einem Verkauf interessiert wäre. Erinnert Ihr Euch an irgendwelche Titel oder Autorennamen?« »Ihr hofft wohl, dass er den Wert seiner Bücher nicht kennt und dass Ihr sie ihm billig abschwatzen könnt.« Sowohl ein Hauch von Lachen als auch eine gewisse Schärfe hallten in der Stimme der Witwe wider. »Ihr seid also doch nicht so ehrenvoll, trotz Eures vornehmen Getues. Nicht dass es mir etwas ausmachen würde. Ich werde seiner Lordschaft schaden, wann immer ich kann – und das mit Freuden. Drianon soll ihm die Eier abfaulen lassen.« Casuel öffnete den Mund, um seine Ehre zu verteidigen, atmete dann jedoch erst einmal tief durch. »Was könnt Ihr mir sagen?« Er holte eine Wachstafel aus der Tasche, um sich Notizen zu machen. »Lasst uns erst über den Preis sprechen«, konterte die Witwe und blickte Casuel so streng in die Augen, dass er sich wieder wie ein Fünfjähriger fühlte. »Ich will die Kinder in mein Heimatdorf bringen. Dafür brauche ich einen Karren und Reisegeld.« »Werden fünf Mark Eure Kosten decken? Tormalinmark?« 142
Casuel griff nach seiner Börse. Die Witwe blinzelte. »Das wäre äußerst großzügig.« Sie küsste den flauschigen Kopf ihres Babys und legte das Kind in eine Weidenkrippe. Dann schloss sie zu Casuels großer Erleichterung ihr Mieder und blickte ihn an. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Einen Preis für Bücher auszuhandeln, ist nicht das Gleiche wie um ein Pferd zu feilschen, nicht wahr?« Casuel deutete eine Verbeugung an. »Ich kann so hart feilschen wie jeder Mann, meine Dame. Mein Vater ist Pfefferhändler, und er hat mich das Geschäft gut gelehrt. Aber er ist auch ein Mann von Ehre, und so hat er mir ebenfalls beigebracht, dass man sich angesichts von Witwen und Waisen mildtätig zeigen und nicht seinen eigenen Vorteil suchen soll.« Außerdem reichte das Geld auch noch aus, ein paar ordentliche Kleider zu kaufen. Dann würde die Witwe ihren Verwandten die Kinder nicht als Bettler präsentieren müssen, dachte er zufrieden. »Und ich nehme an, Ihr betrinkt Euch nicht an religiösen Feiertagen und gedenkt Eurer Mutter an jedem Schrein des Drianon.« Dem Tonfall nach zu urteilen war die Bemerkung eher freundlich, denn sarkastisch gemeint. »Aber lasst mich erst die Kinder zu Bett bringen; dann werde ich Euch sagen, was Ihr wissen wollt. Ich bitte Euch nur darum, es diesem Bastard richtig zu zeigen.« Sie blickte zu dem Topf über dem Feuer und biss sich auf die Lippe. »Ihr solltet Euch besser draußen etwas zu essen besorgen. Wir können es uns nicht leisten, etwas abzugeben. Tut mir Leid.« Es hatte bereits zur dritten Nachtstunde geläutet, als Casuel sich schließlich auf den Weg zurück zum Markt und zu dem 143
Gasthof machte. Eine freudige Erregung erfüllte ihn, obwohl er noch immer die Pastete schmeckte, welche er vor einigen Stunden gegessen hatten, und von der er inzwischen vermutete, dass sie Pferdefleisch enthalten hatte. »Allin!«, rief Casuel, als er sich ihrer plötzlich schuldbewusst erinnerte. »Aber es ist wohl nicht so schlimm. Was sollte ihr in einem Waschhaus schon passieren?« Nichtsdestotrotz beschleunigte er seinen Schritt. An der Tür wurde er jedoch von einem Mann aufgehalten, der offenbar zu viel getrunken und unerklärlicherweise beschlossen hatte, um diese Zeit den Preis für seine Wäsche auszudiskutieren. »Entschuldigt bitte.« Casuel schob sich an ihm vorbei und ging hinein. Allin war in ein Gespräch mit der alten Wäscherin vertieft. »Wenn er dich ausnutzt, kannst du hier bleiben. Du musst nur die Laken waschen, weiter nichts. Wir kümmern uns schon um dich.« »Guten Abend, Euer Gnaden!« Die Rothaarige begrüßte ihn laut und trat ihm mit seinem Mantel über dem Arm in den Weg. Allin rappelte sich auf. Ihre Wangen waren gerötet, und ihr frisch frisiertes Haar lockte sich in der feuchten Luft. Die Wäscherin gab Allin einen derben Abschiedskuss. »Du weißt, wo wir zu finden sind, meine Liebe.« Casuel schüttelte ungeduldig den Kopf, während Allin ihren Schal anzog. »Habt Ihr die Witwe gefunden?«, erkundigte sie sich auf dem Weg durch die mondhelle Nacht zurück zum Gasthof. »Das habe ich.« Casuels gute Laune kehrte wieder. »Es könnte ziemlich einfach werden, weißt du? Die Witwe sagt, Lord Armi144
le weiß eigentlich nicht genau, was er in seiner Bibliothek hat. Er hat die Sammlung zugleich mit seinem Titel geerbt. Ich glaube, ich könnte dort etwas finden, um Usara zu beeindrucken, vielleicht sogar Planir.« Fast genauso befriedigend war, dass eine weitere Mark die Witwe dazu bewegt hatte, fortan alles Wissen um die Bibliothek zu leugnen, sollte jemand anders sich danach erkundigen – Shiv und Darni, zum Beispiel. Casuel beschloss, Allin nicht mit diesem Detail zu belasten. Er öffnete die Tür des Gasthofs und blieb auf der Schwelle stehen. Überrascht sah er, dass es hier noch genauso lebhaft zuging wie zuvor. »Entschuldigung, ich hatte vorhin zwei Zimmer reserviert.« Casuel streckte die Hand aus, um die Schankmaid aufzuhalten, deren Haar sich inzwischen gelöst hatte und deren Schürze voller Bier- und Essensflecken war. »Durch die Tür da geht’s zur Treppe. Sucht Euch ein Zimmermädchen, das Ihr belästigen könnt.« Sie eilte an ihm vorbei und griff sich im Laufen ein paar leere Weinflaschen von einem Nachbartisch. »Entschuldigung ...«, begann Casuel entrüstet, nachdem das Mädchen verschwunden war. »Komm«, forderte er Allin gereizt auf und drängte sich zwischen den zechenden Bauern hindurch zur Treppe. Oben musste er feststellen, dass man seine Tasche unter ein Bett in einem Raum geschoben hatte, wo noch neun andere Männer schliefen. Er ging auf den Gang hinaus und winkte einem gequält dreinblickenden Zimmermädchen mit einem Stapel abgenutzter Decken auf dem Arm. »Das hat schon seine Richtigkeit, Euer Gnaden. Ihr seid hier 145
untergebracht, und die Dame schläft im Frauenzimmer oben.« »Wir hatten zwei Zimmer vorbestellt«, erklärte Casuel entrüstet. »An einem Markttag gibt es keine Einzelzimmer.« Die Frau wollte sich an ihm vorbeidrängen, doch verärgert hielt Casuel sie auf. »Es ist sinnlos, darüber zu streiten. Wenn Ihr das Bett nicht wollt, kann ich es an fünf andere vermieten.« Angesichts dieses Tonfalls wechselte Casuel die Gesichtsfarbe. »Oh. Na, dann gut.« Er begleitete Allin hinauf zur Dachkammer, wo er zu seiner Erleichterung eine Gruppe sauberer und ordentlich gekleideter Bauernfrauen fand. Anschließend ging er zu seinem eigenen Bett und holte die Reisetasche hervor. Er wollte sich noch ein paar Notizen machen, bevor er sich schlafen legte. Casuel schnappte entsetzt nach Luft. Sein Ärger über all die kleinen, lästigen Dinge, die er bis jetzt in diesem Gasthof hatte erdulden müssen, war wie weggeblasen. »Raeponin soll ihnen allen die Pocken schicken!« Jemand hatte seine Sachen durchwühlt! Casuel schauderte bei dem Gedanken an schmuddelige Diebe, die seine feinen Stoffe begrapschten. Er überprüfte jedes seiner Bücher, legte sie aufs Bett und griff dann ganz nach unten, um den Stapel mit seinen Papieren und Briefen herauszuholen. Sie waren noch immer mit seinem eigenen Signet versiegelt; doch bei genauerer Untersuchung entdeckte Casuel verräterische Flecken, die ihm zeigten, dass man das Siegel vorsichtig mit einem heißen Messer abgelöst hatte. Er brach das Siegel und ging seine Notizen durch; seine Hände zitterten vor Aufregung. »Seid gegrüßt.« Casuel drehte sich überrascht nach dem Mann um, der ihn in 146
seltsam formellem Tormalin angesprochen hatte. Ein blonder Mann in guter Reisekleidung hatte sich auf das Nachbarbett gesetzt. »Guten Abend«, erwiderte Casuel höflich. »Ihr seid weit weg von Zuhause.« Der Fremde schüttelte die Decke und lächelte. Was ging das diesen zu klein geratenen Kerl an? »Ich bin auf Geschäftsreise«, entgegnete Casuel kurz angebunden. »Wie ich sehe, handelt Ihr mit Büchern.« Die Augen des Mannes waren blau und kalt und straften sein warmes Lächeln Lügen. »Unter anderem.« Dieser merkwürdige Charakter konnte sich ruhig ein paar Fragen selbst beantworten, dachte Casuel. »Ich kann Euren Akzent nicht einordnen. Wo kommt Ihr her?« »Ich bin aus Mandarkin hierher gekommen.« Das Lächeln des Mannes wurde breiter. »Hier ist es wesentlich wärmer.« Wenn du in Mandarkin geboren bist, komme ich von den Aldabreshi-Inseln, dachte Casuel. Diese Lüge stellte höchstens Bauern zufrieden, die sich nie mehr als zehn Meilen von ihrem Heimatdorf entfernt hatten, aber er hatte mehrere Mandarkin in Hadrumal getroffen, und der Akzent dieses Mannes glich dem ihren in keinster Weise. Irgendetwas stimmte hier nicht. Casuel gähnte demonstrativ. »Wenn Ihr mich bitte entschuldigen wollt. Ich möchte schlafen.« Casuel zog Stiefel und Hose aus, kroch unter die rauen Decken und versprach sich ein ordentliches Bad und eine vollständig neue Garderobe, wenn er wieder in der Zivilisation sein würde. »Raeponin allein weiß, wie man bei diesem Lärm schlafen soll«, murmelte er vor sich hin. Im Schankraum war es keinen 147
Deut leiser geworden. Unterschiedlich betrunkene Männer traten teils schon halb ausgezogen in den Raum, und Casuel zog die Decke über den Kopf in dem Versuch, die unangenehme Gesellschaft auszusperren. Nach und nach wurde es stiller, bis schließlich nur noch dann und wann ein Schnarchen durch die Dunkelheit hallte, meist gefolgt von einem Fluch und einem Tritt aus dem Nachbarbett. Überraschenderweise hatte Casuel das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, als das Licht der Morgensonne durch die Fensterläden drang und ein Zimmermädchen an die Tür hämmerte, um das Frühstück anzukündigen. Widerwillig wickelte Casuel sich aus seiner Decke. In seinen Schläfen pochte es, und seine Augen waren nach einer Nacht voller unerwarteter und seltsamer Träume verklebt. Er hatte von Gesprächen mit Usara geträumt und von anderen Leuten, die er aus Hadrumal kannte; auch die Vision von Ralsere und Darni hatte er im Schlaf noch einmal gesehen. Die unsinnigsten Dinge und Erinnerungen hatten sich in seinem schlafen den Geist miteinander vermischt. Beim Frühstück gab Allin es rasch auf, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, und kurz darauf machten sie sich schweigend auf den Weg.
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Travors Töpferei, an der Straße nach Drede, westlich von Eyhorne 16. Vorherbst
Ich wachte früh auf. Es war ein wenig eng, aber ich beschwerte mich nicht. Geris schlief noch immer tief und fest. Ich hauchte ihm einen Kuss auf sein zerzaustes Haar und schlüpfte hinaus. Mithilfe kalten Wassers war ich schon bald völlig wach, und ich hörte Bewegung im Haus. Ich griff unter mein Kissen nach dem Buch; ich wollte nicht in die Verlegenheit kommen, erklären zu müssen, warum ich es zurückgehalten hatte. Ich fragte mich, wo Shivs Zimmer war; wenn ich das Buch zu den anderen legte, war ich sicher, dass er nichts sagen würde. Schwere Schritte gingen vor meiner Tür vorbei. Als ich sie daraufhin einen Spalt öffnete, sah ich Darnis Rücken, der die Treppe hinunterging. »Was willst du wegen Conall tun? Weißt du, wann er kommt?« Ich konnte die Antwort nicht hören, aber es war offensichtlich, dass Darni unten mit Shiv sprach. Leise schloss ich die Tür hinter mir und versuchte es im nächsten Raum. Dort lag Darnis Gepäck; also ging ich weiter. In Shivs Zimmer lagen nicht nur die Bücher auf der Ankleidekommode; am Fußende des Bettes standen auch die geheimnisvollen Truhen. Ich schnüffelte und wischte mir mit der Hand über den Mund. Neugier hatte Amit an den Galgen gebracht. Meine Mutter hatte mir die Kindergeschichte oft genug erzählt; nur schien sie keine Wirkung auf mich gezeigt zu haben. Doch ich hatte Vor149
sicht gelernt. Dies hier war der einzige Zeitpunkt in meinem Leben, da ich mir wünschte, mehr über Zauberer zu wissen. Hatte Shiv die Truhen mit irgendeinem Zauber belegt, sodass er sofort die Treppe hinaufstürmen würde, sollte ich sie auch nur berühren? Hatte Darni vor dem Gasthof Wache gehalten, um die Truhen zu beschützen, oder war das nur ein Täuschungsmanöver gewesen, um zu erklären, warum er die Nacht über im Hof auf mich gewartet hatte? Es juckte mir in den Fingern, und ich spielte mit meinen Dietrichen herum. Bei Saedrins Eiern, was hatte ich schon zu verlieren? Ich wollte ja nichts stehlen, und selbst wenn Shiv mich ertappte und aus dieser Maskerade warf – was ich bezweifelte –, wäre ich nicht schlechter dran als vorher. An den Handel mit dem Tintenhorn würde er sich halten, und mit der Hälfte von dessen Wert konnte ich ohne weiteres eine Fahrt nach Col bezahlen. Sorgrad und Sorgren müssten inzwischen dort sein, und ich könnte mit ihnen arbeiten. Ich schloss die Tür und machte mich am ersten Schloss zu schaffen. Es war gute Arbeit, aber ich wurde damit fertig, und schon bald sprang die Haspe zurück. Ich hob den Truhendeckel; die Truhe war voller in Samt gewickelter Bündel. Ich holte eine Hand voll davon heraus und öffnete sie. Verwirrt sog ich die Luft ein. Sicher, sie enthielten so manches Wertvolle, Ringe und Halsketten aus Gold, teilweise mit Edelsteinen verziert und schon seit Generationen aus der Mode; doch diese Teile lagen neben Plunder, den man überall für ein paar Mark kaufen konnte: ein kleiner Kristallkrug mit Silberdeckel, eine Gürtelkette mit Schlüsseln, Scheren, Duftkugeln und ein Nähkästchen. Ich fand auch zwei Dolche, doch während den einen filigrane Muster zierten, war der andere so schlicht wie ein Brotmesser. 150
Am seltsamsten von allem jedoch war ein zerbrochenes Schwert. Die Klinge war verloren gegangen, aber das Hirschhornheft war genauso sorgfaltig verpackt wie das unbezahlbare Armband daneben. Geschichten von verlorenen Schwertern, die einem Mann das Königtum verleihen können, und neu geschmiedeten Klingen sind der Stoff für Lescariromanzen – und für Lescaripolitik –; aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Shiv an solchen Unsinn glaubte. Hohe, kreischende Stimmen erschallten vor der Tür, und kleine Füße trampelten über den Gang. Rasch legte ich alles wieder zurück und verschloss die Truhe. Die Kinder schienen sich auf Geris gestürzt zu haben, und so gelang es mir, mich unbemerkt nach unten zu schleichen. Beim Frühstück ging es recht lebhaft zu. Leute kamen und gingen, und so dauerte es eine Weile, bis ich bemerkte, dass sich ein grauhaariger alter Mann zu uns gesellt hatte, dessen zappelige Art in seltsamem Gegensatz zu seinem ernsten Gesicht stand. »Shiv?« Fragend nickte ich in Richtung des Neuankömmlings. Shiv schluckte einen Bissen Brot hinunter. »Tut mir Leid. Ich habe vergessen, dass du noch nicht alle kennst. Das ist Conall.« »Es ist mir ein Vergnügen.« Ich schüttelte dem alten Mann die Hand. »Conall, das ist Livak. Sie ist eine Spielerin, aber sie ist so freundlich, uns dabei zu helfen, an ein paar schwierigere Stücke zu kommen.« Ich nehme an, das war besser, als wenn Shiv mich als gemeinen Einbrecher vorgestellt hätte, trotzdem ... Hatte das mit dem ›sie ist so freundlich, uns zu helfen‹ sein müssen? Ich 151
kümmerte mich nicht weiter darum. »Geris hat mir erzählt, du hattest Verstand genug, auch ein paar Bücher mitzunehmen.« Conalls Augen funkelten interessiert. Saedrin, rette mich vor Zauberern und Gelehrten, dachte ich. Wann würde ich jemals wieder nur einfache, ordentliche Leute um mich haben: Pferdehändler, Trickbetrüger, Spieler und dergleichen? »Könntet ihr bitte im Arbeitszimmer weiterreden? Ich habe zu tun.« Harna widmete sich den Aufgaben einer Mutter kleiner Kinder, und wir zogen uns ins Nachbarzimmer zurück. »Nun, die sind wirklich äußerst interessant.« Conall rieb sich freudig die Hände. »Heriods Almanach. Ich habe nur ein einziges Mal eine Kopie dieser Version gesehen, und die war schwer beschädigt.« Er blätterte das Buch durch. »Habt ihr die Mondphasen für die Jahreszeitenwechsel überprüft? Was ist mit den Feiertagen? Irgendwelche Hinweise? Können wir überhaupt die Generation bestimmen?« »Wir haben auch eine Ausgabe von D’Iselions Annalen, die ich noch nie zuvor gesehen habe.« Geris reichte ihm ein weiteres Buch, und Conall wirkte für einen Moment verwirrt wie ein Esel, der zwischen zwei Heuballen hin und her gerissen ist. »Könntest du dir das bitte zuerst ansehen.« Shiv schob ihm ein kleines, blau eingebundenes Buch zu, dessen Seiten gelb vom Alter waren. Ich spähte über den Tisch, konnte die Schrift aber kaum erkennen, geschweige denn lesen. Conall runzelte die Stirn, holte ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und summte vor sich hin, während er das Buch begutachtete. Schließlich blickte er erstaunt auf. »Die Mysterien von Misaen?« Shiv nickte. »Es scheint eine Art Tagebuch zu sein, das Werk 152
eines Eingeweihten, glaube ich.« »Hier steht eine Menge über das Weitsehen«, stieß Conall hervor und blickte zu Shiv. »Habe ich das richtig gelesen? Behauptet er, sie hätten nicht nur sehen, sondern auch hören können?« »Ich glaube schon. Sieh dir die nächste Seite an.« »Hier!« Geris holte ein Blatt mit Notizen hervor. »Da ist eine Referenz zu D’Oxires Navigation. Was denkst du? Spricht er von dem Buch, das wir vergangenen Winter gefunden haben?« Er und Conall beugten sich über den Tisch, während Shiv und Darni sie geduldig beobachteten. »Würde jemand mir vielleicht einmal erklären, worum es hier überhaupt geht?«, fragte ich bissig. Darni öffnete den Mund, doch Shiv kam ihm zuvor. »Ich denke, wir können dir vertrauen.« »Oh ja«, bestätigte ihm Geris und warf mir einen liebevollen Blick zu, den ich irgendwie als beunruhigend empfand. »Du musst wissen, dass es hier um wesentlich mehr geht als nur um seltsame Träume, die uns etwas über den Untergang des Tormalinreiches verraten könnten.« »Was allerdings auch nicht unwichtig ist.« Conall hob mahnend den Finger. »Wir sind gerade erst am Anfang der Forschungen darüber, was wirklich geschehen ist. Ungeheuer viel Wissen ist verloren gegangen.« »Das stimmt, und nicht nur historisches Wissen.« Shiv zögerte. »Ich höre«, spornte ich ihn an. »Wir haben in Hadrumal viel darüber gearbeitet, warum bestimmte Gegenstände Menschen diese merkwürdigen Träume bescheren. Heutzutage kennen wir keinen Zauber mit derartiger 153
Wirkung; aber wir haben schon immer gewusst, dass die alten Tormalin zu Dingen in der Lage waren, die wir erst neu entdecken müssen. Das hier schien uns die beste Chance zu sein, einige ernsthafte Untersuchungen in diese Richtung vorzunehmen. Wir hatten jede Menge Material.« Shiv fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich möchte dich nicht mit Einzelheiten langweilen ...« »Vielen Dank auch«, murmelte ich. »Tut mir Leid. Bitte, sprich weiter.« »Allmählich sieht’s so aus, als hätten wir es hier mit einer neuen – oder besser, mit einer sehr, sehr alten Form der Magie zu tun.« Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Mannes, der gerade seine gesamte Erbschaft an die Runen verloren hatte. »Ich kann dir nicht ganz folgen.« »Das hier ist vollkommen anders als alles, was wir heutzutage als Magie bezeichnen. Es hat nicht das Mindeste mit den Elementen zu tun.« »Tut mir Leid, aber ich verstehe dich immer noch nicht.« Shiv schnalzte verzweifelt mit der Zunge. »Du weißt, dass Magie auf der Manipulation der Bestandteile von ...« »Eigentlich nicht, nein.« Alle starrten mich an, und ich fühlte mich äußerst unangenehm. »Ich hatte noch nie etwas mit Zauberern zu tun«, rechtfertigte ich mich. »Luft, Erde, Feuer und Wasser.« Darni meldete sich aus der Ecke des Raums. »Magier werden mit der Fähigkeit geboren, eines dieser Elemente zu verstehen und zu manipulieren. Mit der entsprechenden Ausbildung können sie auch lernen, die anderen zu beherrschen. Das ist Magie.« »Nun, da ist zwar noch mehr, aber grundsätzlich stimmt das. 154
Ja, so funktioniert es.« Shiv blickte mich ernst an. »Aber die Magie, die diese Dinge umgibt, hat nichts mit den Elementen zu tun.« »Mit was dann?« »Wenn ich das wüsste, wäre ich reif für den Stuhl des Erzmagiers.« »Wir wissen, dass sie irgendeine Kraftquelle anzapfen.« Geris war Feuer und Flamme für dieses Thema. »An manchen Orten ist es stärker als anderswo, aber wir konnten keine Gemeinsamkeiten finden. Wir nennen sie Äther ... die Quelle dieser Kraft, meine ich. Ich habe hier einen Verweis ...« Er kramte in seinen Notizen. Äther. Ein hübsches, beeindruckendes und gelehrtes Wort, das – wenn ich mich recht erinnerte – »leere Luft« bedeutete. Ich nehme an, eine einfachere Sprache hätte ihr Selbstvertrauen geschwächt. »Also. Was wisst ihr wirklich?« »Die einzigen Hinweise, die wir haben, sind Fragmente alter Tormalinschriften und die verzerrten Traditionen der Mysterienkulte.« Conall beugte sich ernst vor. »Und da komme ich ins Spiel. Ich bin ein Eingeweihter des Poldrion. Von alters her obliegt unserer Familie die Priesterschaft, und da die Leute hier in der Gegend recht fromm sind, haben wir die Tradition aufrechterhalten. Vergangenes Jahr habe ich mir den Arm gebrochen, und die Verletzung hat sich entzündet, sodass ich eine Jahreszeit lang ans Bett gefesselt war. Ich habe mir die Zeit mit dem Kollationieren alter Schriften vertrieben.« Einige Leute wissen wirklich, womit man Spaß haben kann, sinnierte ich. »Dabei stieß ich auf Anweisungen für etwas, das die Priester 155
›Wunder‹ nannten, und ich fand heraus, dass ich tatsächlich etwas bewirken konnte, indem ich diesen Anweisungen folgte.« »Ich weiß, das klingt unglaublich ...« Ich hob die Hand, um Geris zum Schweigen zu bringen. »Nein, eigentlich nicht. Soweit es mich betrifft, ist das meiste religiöse Zeugs schlicht Betrug, aber ich habe ein paar Priester gesehen, die Dinge getan haben, die ich nicht erklären konnte. Sprich weiter, Conall.« »Lass es mich dir zeigen.« Der alte Knabe brannte förmlich darauf, mir seinen Trick vorzuführen. »Bitte«, forderte ich ihn auf. Er stellte eine Kerze in die Mitte des Tisches und rezitierte irgendein komplexes Geschwafel. Ich runzelte die Stirn, als das Wachs auf dem Kerzendocht zu schmelzen begann. »Talmia megrala eldrin fres.« Er wiederholte sich, und eine Flamme züngelte am Docht empor. Ich starrte sie an, doch sie war sofort wieder verschwunden. »Könnte es nicht sein, dass Conall zum Magier geboren ist, es bis jetzt aber nicht bemerkt hat?«, fragte ich Shiv. »Wenn man zum Magier geboren ist, macht sich das für gewöhnlich schon in frühester Kindheit bemerkbar.« »Zum Beispiel zündest du aus Versehen die Bettlaken an oder lässt den Brunnen überlaufen«, erklärte Darni mit einer unter diesen Umständen unerwarteten Sachlichkeit. Shiv nickte. »Irgendwie kommt es heraus, selbst wenn der Betreffende alles tut, um es zu unterdrücken. Bei einigen manifestiert sich die Gabe erst spät, aber der älteste bekannte Fall war siebzehn. Conall ist über fünfzig. Wie auch immer, ich wüsste es, wenn es etwas mit den Elementen zu tun hätte. Ich würde es fühlen.« 156
Ich starrte auf die dünne Rauchfahne, die von der Kerze emporstieg. Eine alte Erinnerung machte sich bemerkbar. »Mach das noch mal.« Conall gehorchte, und meine Lippen bewegten sich synchron zu den seinen. »Was ist?« Geris beobachtete mich aufmerksam. »Der Rhythmus«, antwortete ich. »Hört ihr das denn nicht?« Ich griff nach einer Feder und klopfte damit auf den Tisch. »Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Eins, zwei drei.« »Worauf willst du hinaus?« Ich wiederholte die unsinnigen Worte, betonte das Metrum und fragte mich, warum niemand es verstand. Ich habe schon immer ein musikalisches Gehör gehabt; die Harfe war eine meiner Glücksrunen. Die Feder in meiner Hand fing Feuer. »Autsch!« Ich ließ sie fallen, und wir alle starrten sie einen Augenblick lang dumm an, während sie ein Loch in Travors polierten Tisch brannte. Shiv löschte das Feuer mit einem grünen Blitz, und wir alle begannen vom Rauch der verbrannten Feder zu husten, bis Darni das Fenster öffnete. »Gut, gut. Ihr habt mich überzeugt«, erklärte ich mit zitternder Stimme. »Was war an dem Rhythmus so wichtig?« Geris schien mehr als nur interessiert an einer Antwort zu sein. »Ich bin nicht sicher«, sagte Conall langsam und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wir sollten das lieber untersuchen. Wie bist du darauf gekommen?« »Mein Vater war Barde«, antwortete ich widerwillig. »Ich nehme an, ich habe sein Gehör geerbt. Aber wie auch immer, viele der Elegien, mit denen er mich in den Schlaf gesungen 157
hat, besaßen den gleichen Rhythmus.« »Ja?« Conall wühlte in seinen Pergamenten, bis er eine leere Seite gefunden hatte. »Kannst du dich an ihre Titel erinnern?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Was er mir vorgesungen hat, waren alte Waldlieder.« Conall blickte mich an, als wären ihm mein rotes Haar und meine grünen Augen jetzt erst aufgefallen. »Du hast Waldblut?« »Zur Hälfte. Mein Vater ist als Spielmann nach Vanam gekommen, wo er meine Mutter kennen gelernt hat.« »Wo können wir ihn finden?« Conall setzte ungeduldig die Schreibfeder an. »Auf jeden Fall nicht in Vanam«, antwortete ich. »Er ist eine Weile bei uns geblieben, bevor er wieder auf die Straße ging. Von Zeit zu Zeit ist er zurückgekommen; doch seine Besuche wurden immer seltener. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich neun war.« »Wie heißt er?« »Was soll das? Was willst du eigentlich wissen?« Man lernt, ohne einen Vater zu leben; das Gespräch gefiel mir nicht. »Wir wissen so wenig, dass nahezu alles von Bedeutung sein könnte«, erklärte Shiv ruhig. »Wir sollten auch diese Spur verfolgen. Die Waldmenschen reisen weit herum, doch ihre Traditionen behalten sie meist für sich. Sie könnten Dinge wissen, die wir anderen schon seit Generationen vergessen haben.« »Wenn wir den Namen deines Vaters wüssten, könnten wir zumindest seine Familie identifizieren.« »Jihol«, sagte ich. »Jihol?« Conall blickte mich erwartungsvoll an. »Und sein Beiname?« »Bitte?« 158
»Der beschreibende Teil seines Namens. Das ist wichtig, wenn wir ihn finden wollen.« Ich starrte ihn an; dann rührte sich etwas, das tief in meinen Erinnerungen verborgen gewesen war. »Hirschbein«, sagte ich langsam. »Meine Großmutter hat ihn immer so genannt.« Nun, genau genommen hatte sie den Namen mehr gespieen. Ich schob die Erinnerung an ihre Verachtung beiseite, mit der sie einst einen der seltenen Familiennachmittage im Sommer ruiniert hatte. Conall schrieb gewissenhaft alles auf. Geris runzelte die Stirn; dann lächelte er. »Das würde dich zu ...« Er hielt kurz inne. »Wenn du ein Halbblut bist, macht dich das zu Livak Hirschtochter«, erklärte er in einem Tonfall, als verkünde er meinen Anspruch auf den Thron von Lescar. »Das macht mich zu gar nichts«, sagte ich scharf. Mir gefiel die Art nicht, wie bei diesem Gespräch mein Unwissen darüber zur Schau gestellt wurde, was man als mein Erbe bezeichnen konnte. Geris wirkte verletzt, doch ich hatte keine Zeit, mich um seine romantischen Anflüge zu kümmern. »Kommen wir aufs Spiel zurück, Shiv. Ihr habt eine andere Art Magie entdeckt. Was ist daran so wichtig?« »Ich weiß es nicht.« Er breitete die Arme aus. »Es könnte einfach nur eine Kuriosität sein – oder welterschütternd. Wir wissen einfach nicht, womit wir es zu tun haben, und Unwissen kann tödlich sein.« »Damit willst du wohl sagen, dass euch Zauberern die Vorstellung nicht gefällt, dass auch andere Leute Magie anwenden könnten, stimmt’s?« Ich schnaufte verächtlich. »Wo liegt das Problem? Ihr scheint doch noch immer weit mehr über das alles 159
zu wissen als sonst jemand.« »Aber Magier können diese Art der Magie nicht anwenden.« »Geris!«, riefen Shiv und Darni in seltener Einigkeit, und Geris errötete. »Sie können nicht?« Das war interessant. Fragend blickte ich zu Conall. »Ah, nein. Selbst Menschen mit nur einer minimalen elementaren Affinität waren unfähig, die wenigen Dinge zu tun, die wir bis jetzt entdeckt haben.« Ich lachte, bis ich Darnis Gesichtsausdruck bemerkte. Sie hatten eine neue Art der Zauberei entdeckt, doch sein unterentwickeltes magisches Talent reichte aus, um ihm auch diese Magie zu verwehren; das war verdammt hart. Bisweilen hatte er anscheinend wirklich Grund, sich wie ein Arschloch zu benehmen. »Aber andere Leute können es? Also noch mal ... Wer genau kann es und wer nicht?« Mein Interesse wurde immer größer. »Genau können wir es eben nicht sagen, da wir bis jetzt keine Gemeinsamkeiten gefunden haben.« Alle blickten ernst drein und schwiegen. »Hat das auch etwas damit zu tun, dass ihr das Tintenhorn nicht selbst habt holen können?« »Bitte?« Shiv versuchte wenig überzeugend, verständnislos zu wirken. »Du hast gesagt, du könntest Dinge mittels Magie bekommen, wenn du sie nur gesehen hast und weißt, wo sie sind, Shiv. Du und Geris, ihr habt den alten Mann besucht. Wozu also habt ihr mich gebraucht?« »Wie ihr gesagt habt: Sie hat einen scharfen Verstand!« Conall lachte, und ich grinste ihn an. »Es scheint einen Konflikt zwischen diesen beiden Arten der 160
Magie zu geben«, gestand Shiv. »Es ist zwar nicht immer der Fall, aber wirklich stark verzauberte Gegenstände wie dieses Tintenhorn können mir Probleme bereiten.« Geris öffnete den Mund, um das ausführlicher zu erläutern, doch ich winkte ihm zu schweigen. »Da ich das alles nun weiß, wie wäre es da, wenn ihr mir sagen würdet, wohin wir gehen und was wir dort tun werden? Je mehr ich weiß, desto besser kann ich euch helfen.« Darni sah so aus, als wolle er widersprechen, doch er beschloss, die Runen zu akzeptieren, wie sie gefallen waren. Er zog eine Karte aus Geris chaotischem Haufen Pergamente und breitete sie auf dem Tisch aus. »Wir gehen durch Eyhorne und die Hochstraße hinauf nach Dalasor. In Hanchet gibt es einen Mann, mit dem ich mich treffen will; er könnte hilfreiche Informationen für uns haben. Was wir anschließend tun, hängt davon ab, was der Mann uns sagt. Auf jeden Fall will ich vor Einbruch des Winters Inglis erreichen. Dort lebt ein Kaufmann, der uns bei einem Stück überboten hat, an dem wir sehr interessiert sind, und ich will es zurück. Da kommst du ins Spiel.« Ich betrachtete die Karte und schätzte die Entfernung ab sowie die Zeit, die wir benötigen würden, um sie zurückzulegen. »Ist das dein Ernst?«, fragte ich ungläubig. »Mein voller Ernst.« Darnis Tonfall war ruhig und hart. Soviel zum diesjährigen Herbstmarkt in Col. Na ja, wenn die Sache für den Erzmagier wichtig genug war, um seine Leute quer durch das ganze alte Reich zu schicken, was sollte ich da schon sagen? Ich konnte nur schweigen und auf meine Entlohnung warten. Ich fragte mich, ob ich einen regelmäßigen Lohn aushandeln sollte. 161
Erneut blickte ich auf die Karte. »Was ist mit Caladhria? Dort gibt es doch sicherlich eine Menge Adelige, die was weiß ich was für altes Zeug besitzen.« Caladhria lag ein gutes Stück näher, und es gab dort so nette Dinge wie ordentliche Straßen, Gasthäuser und Bäder, an denen es in Dalasor bekannterweise mangelte. »Darum wird sich schon gekümmert«, versicherte mir Conall. »Ich habe dort ein paar Jahre lang auf Anweisung der Behörden Einfriedungen vorgenommen und dementsprechend viele Kontakte geknüpft.« Darauf würde ich wetten; die Caladhrier liebten ihre Bürokratie. Ein Oberster Rat aus den fünfhundert mächtigsten Adeligen lässt die Pergament- und Tintenmacher in Luxus leben. Ich hatte mich schon immer gefragt, wie sie bei einem solchen System auf die doch recht ungewöhnliche Idee mit den Einfriedungen gekommen waren; wenn man sich jedoch die daraus resultierenden Erfolge in der Viehzucht betrachtete, wurde es offensichtlich. Oder kennt Ihr einen Aristokraten, der je eine Gelegenheit ausgelassen hätte, Geld zu machen? »Dann also auf zu den Freuden von Dalasor: so viel Gras, wie man essen kann, und Schafe, so weit das Auge reicht.« Shiv freute sich offenbar ebenso sehr darauf wie ich. »Conall, in Eyhorne ist doch Markt, oder?« Darni betrachtete mich aufmerksam. »Wir müssen dir ein Pferd besorgen, und da ich bei der Durchquerung von Dalasor keine Zeit verschwenden will, sollten wir auch ein paar Ersatzpferde kaufen. Kommt.« Wir ließen Geris und Conall zurück, die sich aufgeregt über die verschmierten alten Texte beugten, und Shiv, der sich bemühte, Travors Tischplatte wieder zu reparieren. Leise Flüche begleiteten beide Arbeiten. 162
Zu Pferd war Eyhorne nicht weit, und als wir dort eintrafen, war der Markt in vollem Gange. Wenn es ums Feilschen ging, erwies sich Darnis Komm-mir-krumm-und-ich-reiß-dir-denArm-aus-Miene als äußerst wertvoll, und schon bald nannten wir einen kräftigen Muli, Kochgeschirr, Decken und Zelte unser eigen. Darni wusste genau, wonach er suchte; er war auf seinem Feld ein ebensolcher Experte wie ich auf meinem. Ich entspannte mich und amüsierte mich, indem ich die örtlichen Taschendiebe bei der Arbeit beobachtete. »Auf welche Eigenschaft legst du bei einem Pferd besonderen Wert?« Darni führte mich selbstbewusst in Richtung der Pferdekoppeln. »Keine Zähne und die Unfähigkeit zu treten?« Er blickte mich neugierig an. »Du kannst doch reiten, oder?« »Wenn es nötig ist, leihe ich mir ein Pferd.« »Also brauchen wir für den da gar nicht erst zu bieten.« Er deutete auf eine Koppel, wo eine schwarzweiße Bestie mit beachtlichem Erfolg versuchte, den Gehilfen des Auktionators zu fressen. »Auf jeden Fall nicht für mich«, beeilte ich mich zu bestätigen. Mit einem Hauch von Sehnsucht in den Augen betrachtete Darni das wilde Tier. »Es ist eine Schande. Ich würde gerne mal einen Gidestani in die Finger bekommen.« Für mich suchten wir schließlich einen gut erzogenen Wallach mit kupferfarbenem Fell und freundlichen Augen aus. Wir fanden auch Ersatztiere für uns alle und ein zusätzliches Zugpferd. Der schlussendliche Preis ließ mich erschrocken blinzeln, doch Darni bezahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das liegt an der Jahreszeit«, erklärte er, während wir die 163
Pferde aufzäumten, um die Stadt wieder zu verlassen. »Im Augenblick kommt der Markt den Verkäufern entgegen.« »Soll das hier Teil meiner Bezahlung sein?« Ich rieb dem Pferd über die seidige Schulter. Darni schüttelte den Kopf. »Betrachte es als Bonus. Planir kann es sich leisten.« Erneut dachte ich darüber nach, längere Zeit mit den Agenten des Erzmagiers zusammenzuarbeiten. Am nächsten Morgen verließen wir Travor und ritten Richtung Norden. Darni gab ein schnelles Tempo vor, und ich genoss es, zur Abwechslung mal ein gutes, ausgebildetes Pferd zu reiten. »Wie willst du ihn nennen?«, fragte Geris, während wir an einer Furt warteten, bis wir an der Reihe waren, sie zu überqueren. »Was? Oh, ich weiß nicht.« »Er besitzt einen edlen Kopf. Wie wäre es mit Kycir?« Ich lachte. »Geris, das ist ein Pferd! Man setzt sich darauf, und es bringt dich schneller an einen Ort, als wenn du laufen würdest. Aber wie auch immer, warum sollte ich ihn mit solch einem Namen strafen wollen?« »Was ist falsch damit? Kycir war der letzte unumstrittene König von Lescar.« »Und er war ein ausgesprochener Narr!« »Er war ein Held!« »Er ist bei einem Duell gestorben, als er die Ehre seiner Frau verteidigen wollte, und als man es ihr sagen wollte, hat man sie im Bett mit seinem Bruder erwischt!« »Als Kycir gestorben ist, hat er an sie geglaubt!« »Damit war er der Letzte. Diese heroische Geschichte hat Les164
car einen zehn Generationen währenden Bürgerkrieg beschert!« Fröhlich stritten wir uns weiter, und als wir wieder auf das Pferd zu sprechen kamen, einigten wir uns angesichts der Fellfarbe auf ›Winterapfel‹ als Namen. Wir ritten mehrere Tage, bis zu jenem Heidestreifen zwischen Eyhorne und Hanchet, der sich bis zur caladhrischen Grenze erstreckt. Es gab nur einen peinlichen Augenblick, als Darni bemerkte, dass Geris das Zelt mit mir teilen wollte. Unter dem Vorwand, Feuerholz sammeln zu wollen, schleppte er ihn zwischen die Bäume. »Ich werde uns Wasser holen.« Gelassen griff ich nach dem Eimer. »Natürlich wirst du das.« Shiv blickte nicht von dem Fleisch auf, das er gerade auf kleine Spieße schob. Ich grinste Shiv an und verschwand lautlos im Wald. Darni blies Geris nach allen Regeln der Kunst den Marsch. »Und wie soll sie mit einem Zweimonatsbauch auf irgendwelche Dächer klettern? Hast du darüber mal nachgedacht?«, zischte er. Geris murmelte irgendetwas Unverständliches. Sollte ich Darni sagen, dass ich mir auch schon darüber Gedanken gemacht und entsprechende Vorkehrungen getroffen hatte? Nein, das ging ihn nichts an. Wenn er den Mut dazu hatte, konnte er mich ja fragen. Verzweifelt hob er die Stimme. »Hör mal, mir ist es egal, ob du das Hühnchen zehnmal pro Nacht stopfen willst ...« Als ich hörte, wie eine Faust weiches Fleisch traf, kam ich zu dem Schluss, es sei an der Zeit zu gehen; ich hatte genug gehört. Darni und Geris kehrten kurz darauf wieder aus dem Wald zurück, und erstaunlicherweise hatten sie tatsächlich eine be165
achtliche Menge Feuerholz gesammelt. Niemand sagte ein Wort, und ich fragte nicht. Da der Abend allerdings in verhältnismäßig guter Stimmung verlief, vermutete ich, dass sie sich geeinigt hatten. Ich seufzte. Wie viel einfacher war es doch, ausschließlich mit Frauen zusammenzuarbeiten. Ein paar Tage später erreichten wir Hanchet; der Vollmond des kleineren Mondes war gerade vorbei, und der größere war drei Viertel voll. Ich freute mich auf ein ordentliches Bett und ein Bad. Unglücklicherweise erwies sich Hanchet in mehr als einer Beziehung als Enttäuschung. Der Ort liegt sehr tief, und die meisten Häuser bestehen aus Weiden- und Lehmfachwerk. Der Regen in letzter Zeit hatte die Straßen aufgeweicht, und ein modriger Gestank war allgegenwärtig. Die Brücke weiter die Straße hinauf war während des letzten Sturms unterspült worden, und in der Stadt wimmelte es von Reisenden, die darauf warteten, dass sie wieder instand gesetzt wurde. Selbst mit dem Geld des Erzmagiers bekamen wir keine ordentlichen Zimmer, und ich war gezwungen, meine Bekanntschaft mit der Tier- und Pflanzenwelt zu erneuern, die in den Betten billigerer Unterkünfte wächst und gedeiht. In unserem Gasthof gab es kein Bad, und angesichts der Spannung in der Stadt verzichtete ich darauf, das »Waschhaus« auf der anderen Straßenseite zu besuchen, das man mir als Ausweichmöglichkeit angeboten hatte; dort hingen mir einfach zu viele »Wäscherinnen« herum. Hanchets gegenwärtige Herrin war eine trockene, alte Jungfer, die unerwartet geerbt hatte und Sex für Geld ausgesprochen kritisch gegenüberstand. Sämtliche Bordelle waren geräumt worden, doch ihre Ladyschaft hatte noch nicht verstanden, weshalb plötzlich ein solcher Andrang an Orten herrschte, wo man sich 166
und seine Kleider »waschen« lassen konnte, wenn Ihr versteht, was ich meine. Am nächsten Morgen ließ Darni uns bei schalem Bier und noch schlimmerem Essen im Schankraum zurück und machte sich auf die Suche nach seinem Kontaktmann. Unerwartet schnell kehrte er wieder zurück – mit einem Gesichtsausdruck, der Wein hätte sauer werden lassen. »Probleme?« Shiv schob ihm den Krug zu, als er sich mit einem Seufzen setzte. »Er ist tot.« Darni starrte mürrisch in sein Bier und fischte irgendetwas heraus. »Wie kam das?« »Ein Abszess. Der Arzt hat den Zahn gezogen, aber es war zu spät. Das Gift war schon im Blut, und zwei Tage später ...« Darni zuckte mit den Schultern. Ich leckte mir über die Zähne und dankte meiner Mutter für die Lücke in meinem Gebiss. Ich wettete, die anderen taten es mir nach; immerhin hatten wir alle diese Geschichte schon einmal gehört. Ich runzelte die Stirn und blickte zu Geris, der unangemessen gut gelaunt war. Er errötete und senkte den Kopf. »Hat er irgendeine Nachricht für dich hinterlassen?«, fragte Shiv zögernd. »Dein Brief ...« Darni schüttelte den Kopf. »Nicht, soweit ich herausfinden konnte. Die Witwe hat alles verkauft und ist zu ihrer Familie zurückgekehrt. Das kann man ihr wohl kaum zum Vorwurf machen; er hat ihr fünf Blagen hinterlassen.« Er funkelte sein Bier an und stand auf, um sich mit dem Wirt darüber zu streiten. »Wer war der Mann? Und was wollte Darni von ihm?«, fragte 167
ich, als ich meine Neugier nicht länger bezähmen konnte. »Das ist nicht so wichtig.« Es gelang Shiv, mich anzulächeln und gleichzeitig Geris einen warnenden Blick zuzuwerfen. So viel dazu. Ich ließ das Thema fallen. Sollte die fehlende Information bedeuten, dass mir ein riskanter Auftrag erspart blieb, konnten sie ihre kleinen Geheimnisse ruhig für sich behalten und sich wichtig fühlen. Außerdem gaben abgelenkte Männer schlechte Spieler ab. Ich holte meine Runen heraus und lächelte die beiden fröhlich an. Zumindest konnten wir das schlammige Hanchet sofort wieder verlassen, und obwohl wir einen weiten Umweg zur nächsten Brücke machen mussten, erreichten wir Dalasor noch vor Einbruch der Nacht.
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4.
Aus: Gedanken zu den alten Völkern Ein Vortrag von Weral Tandri vor der Gesellschaft für Altertümer in Selerima
Ich bin sicher, meine Herrn, dass ihr als Kinder ebenso wie ich von euren Kindermädchen mit Geschichten über das Geistervolk unterhalten und manchmal auch geplagt worden seid. Hat jemand von euch schon einmal einen Zahn verloren und anschließend wach im Bett gelegen aus Angst, plötzlich würde ein kleiner blauer Mann aus den Schatten treten und einen Zahn aus eurem Mund verlangen, anstatt sich mit dem Ausgefallenen zufrieden zu geben? Jetzt lachen wir darüber, und manche erwachsene und gebildete Männer erachten solche Geschichten womöglich nicht mehr als nachdenkenswert Ich mache das niemandem zum Vorwurf, doch ich selbst habe es mir zur Aufgabe gemacht, nach der Saat der Wahrheit zu suchen, die sich in den Kindergeschichten zur vollen Blüte entfaltet. Aufgrund der zunehmenden Beliebtheit antiker Studien bei Herren von hoher Geburt und Vermögen hat man in den vergangenen Jahren mehrere Grabstätten der so genannten Geistervölker ausgegraben. Dabei hat man einige faszinierende Entdeckungen gemacht. Ihren Knochen nach zu urteilen waren diese Leute in der Tat gut eine Handspanne kleiner als heutige Menschen. Ein Krieger, den man auf den Ländereien Lord Edrins 169
nahe Fährspalt gefunden hat, besaß schwarzes Haar und vermutlich dunkle Haut, auch wenn das vielleicht auf die hervorragende Konservierung seines Leichnams zurückzuführen ist; das Land war nämlich eine Art Sumpf, bevor man es trocken gelegt und urbar gemacht hat. Die Geschichten von kleinen dunklen Männern scheinen also nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt zu sein. Von den Schattenmännern heißt es, sie seien auf dem Wind geritten. Nun, in einem Ringgrab, das man vergangenen Frühling in Dalasor geöffnet hat, fand man eine Frau, die ihren Kleidern nach von hohem Rang gewesen ist. Sie war mit sechs Pferden begraben, deren Gebeine noch immer reich geschmücktes Zaumzeug zierte. Zu den alltäglicheren Grabbeigaben gehörten Zelte, Teppiche, eine Handmühle und ein Leuchter; doch nirgends fand sich eine Spur von einem Fahrzeug. Tatsächlich findet sich in der Geisterkunst noch nicht einmal die Darstellung eines solchen. Wenn man die auch heute noch riesigen Ebenen Dalasors betrachtet, fällt es nicht schwer, sich ein Volk vorzustellen, das mit riesigen Pferdeherden über diese Ebenen gezogen ist. Meine Herren, die Zeit ist ohne Zweifel reif dafür, die Fakten zu sammeln und wissenschaftlich zu untersuchen. Unsere Vorfahren vermochten in ihrem Unwissen nicht über die uralten Konflikte mit den Völkern der Berge und Wälder hinwegzusehen. Bedenkt nun jedoch, welch große Vorteile sich heutzutage daraus ergeben, da die Bergleute von Gidesta sich mit dem Bergvolk des Drachenrückens zusammengetan haben; selbst die Messer, die ihr gerade zum Essen verwendet, haben bei ihrer Herstellung von Fähigkeiten und Techniken profitiert, die unsere Schmiede seit Generationen vergessen hatten. Als die Pocken 170
vergangenen Winter Heckles heimgesucht haben, vermochten die Apotheker das Leiden vielfach mit schlichten Mitteln zu lindern, deren Herstellung und Anwendung sie durch ihren Handel mit dem Waldvolk gelernt haben. Unsere Kindergeschichten schreiben den Geistervölkern gar wundersame Kräfte zu; aber, ach, davon ist heutzutage nichts mehr geblieben. Uns bleibt nur das Studium der Grabstätten und alten Artefakte. Deshalb bin ich hier, euch um Zusammenarbeit zu bitten, und auch um euer Geld. Wenn es uns gelingt, ein ordentliches Forschungsprogramm aufzustellen, wird uns das unschätzbare Einsichten in längst vergangene Zeiten verschaffen, und vielleicht entdecken wir sogar verlorene Wunder, die sowohl für uns als auch für die nachfolgenden Generationen von großem Nutzen sein werden.
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Die Südstraße, Dalasor 38. Vorherbst
Ich schauderte, als ich am frühen Morgen über das Grasland blickte. Das Gras war feucht vom Tau, und im Schutz der dürren Bäume hatte sich sogar Eis gebildet. »Ist dir kalt?« Geris breitete den Arm aus, und ich schmiegte mich dankbar in seinen Mantel. »Wie lange dauert es noch bis zum Äquinoktium?« Ich runzelte die Stirn. »Ist es nicht ein bisschen früh für Frost?« Geris schürzte die Lippen, während er eine kleine Truhe durchwühlte, aus der er schließlich drei Kalender holte. Das war typisch. Der Rest der Menschheit kam für gewöhnlich mit einem aus. »Noch fünf Tage, falls heute Nacht kein abnehmender Mond ist«, erklärte er. »Wir sind weit nach Norden gekommen, vergiss das nicht.« Ich holte meinen eigenen Mantel. »Also erreichen wir Inglis erst im Nachherbst. Hast du auch einen Almanach für Inglis? Was erwartet uns dort?« Geris konsultierte eines seiner Bücher, schüttelte aber kurz darauf den Kopf. »Das Buch beschäftigt sich zwar mit Inglis, aber hier geht’s nur um Gilden und so weiter.« Das erregte meine Neugier, und ich wollte ihn gerade bitten, einen Blick in das Buch werfen zu dürfen, als Darni uns zurief, wieder auf die Pferde zu steigen. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, beschloss ich, Dalasor wirklich nicht zu mögen. Unter anderem gibt es dort nicht die geringste Deckung, und 172
das hat mich immer schon nervös gemacht. Ich achte stets darauf, einen unauffälligen Fluchtweg zu haben, doch hier konnte man jeden und alles auf Meilen hinweg sehen. Während des Ritts lief mir eine Gänsehaut über den Rücken wie einem Kind, das fest davon überzeugt ist, im Schrank oder im Brunnen lauere ein Ungeheuer. Wir erreichten eine Abzweigung von der Hauptstraße, und überrascht sah ich, wie Darni abbog. Ich trieb das Pferd – ‘tschuldigung, Winterapfel – zum Galopp an und ritt neben ihn. »Nehmen wir nicht den Fluss? Ich dachte, das sei die schnellste Möglichkeit, zur Küste zu gelangen.« Darni schüttelte den Kopf. »Im Augenblick verlassen sämtliche Bergarbeiter und Fallensteller Gidesta; in den Bergen kommt der Winter früher. Die Boote werden voll von ihnen sein, und ihr Verhalten kann man bestenfalls als raubeinig bezeichnen. Ich möchte Ärger aus dem Weg gehen.« »Oh. Na gut.« Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen. Darni grinste mich an. »Du hast dich wohl schon auf das ein oder andere Spiel gefreut.« »Es heißt, auf den größeren Booten könne man ein Vermögen machen, wenn man ohne ein Messer im Rücken wieder von Bord kommen kann«, gestand ich ein. »Tut mir Leid. Du wirst dich damit zufrieden geben müssen, den Hirten ein paar Schafe abzugaunern.« Darni mochte ja lachen, so viel er wollte; aber ein paar Tage später, als wir hielten, um die Nacht in Gesellschaft von ein paar Viehtreibern zu verbringen, gelang es mir, Rindfleisch und eine Ladung Futter für uns zu gewinnen. Trotz der Geräusche des Viehs um uns herum schlief ich tief und fest, doch leider 173
war das meine letzte ruhige Nacht. »Du bist ziemlich aufgekratzt«, bemerkte Darni in gelassenem Tonfall, während wir einen weiteren gleichförmigen Steppenstreifen überquerten. Tatsächlich blickte ich ständig über die Schulter zurück. »Ich bin es nicht gewöhnt, mich so auffällig zu bewegen«, gestand ich. »Je eher ich Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen spüre und eine Wand sehe, hinter der ich mich verstecken kann, desto schneller werde ich wieder glücklich sein.« Darni lächelte breit und atmete die frische Luft tief ein. »Mir gefällt es hier.« »Nun, mir nicht. Ich weiß, das klingt dumm; aber ich bin sicher, beobachtet zu werden.« Darni dachte darüber nach. »Vielleicht sollten wir die Fleischreste wegwerfen. Wölfe könnten unsere Fährte aufgenommen haben. Hier oben gibt es eine Menge Tiere. Hast du sie nicht gesehen? Ihr Waldleute habt doch angeblich eine besondere Beziehung zu Tieren.« Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich bemerke selbst Hunde meist erst, wenn sie mich ins Bein beißen. Ich weiß nur, dass mir irgendwas über den Rücken kriecht.« »Du hast doch nicht irgendwelche Lebewesen aus Hanchet mitgenommen, oder?« Darni amüsierte sich vielleicht, aber ich meinte es durchaus ernst. Als wir zum Essen anhielten, ging ich zu Shiv, um das Fleisch zu portionieren, während er Feuer machte. Wenn man einen Zauberer dabei hat, spart man eine Menge Zunder. »Musst du dich zum Weitsehen immer auf etwas Bestimmtes konzentrieren? So wie bei Halice?«, fragte ich ihn beiläufig. »Oder kannst du dich auch einfach nur umsehen?« 174
Shiv nickte. »Kann ich. Warum fragst du?« »Es mag ja vielleicht dumm klingen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass uns irgendjemand beobachtet. Darni denkt, dass ich mich einfach vor den Wildtieren fürchte; doch ich glaube nicht, dass es damit etwas zu tun hat.« »Bist du sicher?« »Vollkommen.« In diesem Augenblick erkannte ich erst, wie sicher ich mir wirklich war, und Shiv hörte es an meiner Stimme. »Das reicht mir. Wenn du willst, werde ich mich mal ein wenig in unserem Rücken umschauen.« Er holte seine Öle heraus, wirkte seine Magie, und wir alle versammelten uns um ihn, um die faszinierenden Bilder zu betrachten, die er im Wasser erscheinen ließ. Er fand die Hirten, die wir getroffen hatten, und wir beobachteten, wie sie mit ihren Tieren eine Furt durchquerten. »Also gut, dann noch weiter zurück«, stöhnte Shiv. Das Bild flog über das Land, und ich fragte mich, ob ein Vogel die Welt so sah, als grün-braunen Teppich, von glitzernden Wassern durchzogen und hier und da durchsetzt mit dunkelgrünen Wäldchen sowie den roten, blauen und gelben Blüten der letzten Sommerblumen. Mir drehte sich der Magen um, als das Land plötzlich abbrach, und wir in ein Tal hinunterblickten. Wir sahen ein paar Hirsche, die von schlanken grauen Gestalten verfolgt über das Gras rannten; ein paar Fasane wurden aufgescheucht und stieben in die Luft. Ein Rabe pickte an den Überresten eines Wildpferdes, das in einem Graben zu Tode gekommen war; ansonsten sahen wir jedoch keine Lebenszeichen mehr. Shiv ließ das Bild wieder zu uns zurückfliegen. »Nichts Ungewöhnliches zu sehen«, sagte Darni, als das Bild 175
vier Gestalten zeigte, die – umgeben von ihren grasenden Pferden – die Köpfe zusammengesteckt hatten. Ich blinzelte, während das Bild sich in einem Wirbel auflöste. »Ich habe mich überall umgesehen, nicht nur auf dem Weg, den wir gekommen sind«, sagte Shiv. »Da draußen ist nichts.« Ich schüttelte den Kopf. »Dann habe ich mir das alles wohl nur eingebildet«, erklärte ich widerwillig. »Bevor wir das Nachtlager aufschlagen, werden wir nach einer besseren Deckung Ausschau halten«, versuchte Geris, mich zu trösten. Dabei bemerkte ich ein Funkeln in seinen Augen. O Mann, dachte ich, nichts lässt einen besser schlafen als guter Sex – keine unangenehme Aussicht. Ich zwinkerte ihm zu und unterdrückte ein Lächeln, als ich Darnis Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich kenne einen geeigneten Platz dafür.« Darni erhöhte das Tempo, und am Spätnachmittag erkannte ich, dass er auf einen Wall zuhielt, der sich wie ein kleiner, flacher Hügel aus dem Grasland erhob. »Ist das ein Geisterring?« Ich starrte ihn offenen Mundes an. »Sollen wir dort unser Lager aufschlagen?« »Ja.« Er blickte mich herausfordernd an. »Was ist los? Hast du Angst, dass plötzlich ein blauer Schattenmann aus dem Regenbogen springen und dich mit grünen Pfeilen spicken könnte?« »Sie sind kupfern, weißt du? Geisterpfeile, meine ich«, meldete sich Geris. »Das Geistervolk hat nur mit diesem Metall gearbeitet.« Seine Flut unbedeutender Informationen verbarg die Tatsache, dass mir die Worte fehlten, und so konnte ich einen gleichmütigen Gesichtsausdruck bewahren, während wir uns 176
die grasbewachsenen Rampen hinaufarbeiteten. Immerhin waren die Geschichten vom Geistervolk nur für Kinder gedacht, und während jene, deren Füße noch im Kuhmist stecken, vielleicht noch daran glauben, so standen wir zivilisierten Stadtbewohner über solchen Dingen. Jedenfalls sagte ich mir das immer wieder; nur war ich dabei ebenso überzeugend wie ein Straßenhändler, der wundersame Mittelchen gegen Kahlköpfigkeit verkauft. »Sie haben wirklich gelebt, weißt du?«, erklärte Geris hilfreich, während wir unsere Sachen auspackten ich mich gerade davon überzeugt hatte, dass ich mich um solche Kindergeschichten nicht sorgen müsse. »Wer? Kleine graue Männchen, die in den Schatten verschwinden können?« Mühsam brachte ich ein zitterndes Lachen hervor. »Nein«, antwortete Geris ernst. »Aber hier haben Menschen gelebt, ebenso wie an anderen Orten dieser Art. Einer unserer Mentoren hat mit seinen Studenten Ausgrabungen in einem Ring in der Nähe von Borleat durchgeführt. Sie fanden einen Mann, den man mitsamt seinen Schätzen in einem Boot begraben hatte.« »Das ist ja wohl ein Scherz!« Ich runzelte die Stirn. »Es gibt keine schiffbaren Gewässer in der Nähe von Borleat. Barken fahren höchstens bis Tresig.« »Vielleicht konnte man früher weiter fahren. Immerhin gibt es dort Anlegestellen, auch wenn sie nicht mehr benutzt werden.« An diesem Punkt trat Shiv zu uns. »Das Äquinoktium ist nicht mehr weit entfernt.« Er deutete auf die dünne Sichel des Größeren Mondes. »Ist das jemandes Geburtstagsfest?« 177
Geris schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Vorwinterkind.« »Darni und ich sind Nachherbst.« Shiv zuckte mit den Schultern. »Na ja, ich nehme an, uns fällt noch etwas ein, worauf wir trinken können.« »Nun, äh, eigentlich ist es mein Geburtstagsfest. Ich bin im Nachsommer geboren.« Aus irgendeinem dummen Grund gab ich das nur widerwillig zu. »Hier draußen werden wir wohl kaum richtig feiern können.« Geris blickte betroffen drein, was mich zugleich berührte und besorgte. »Dieses Jahr wird es für dich kein großes Fest geben.« »Nun, wir könnten ...« Shivs Plan ging in einem entsetzlichen Schrei eines der Pferde unter, und einen schrecklichen Augenblick lang glaubte ich, das Geistervolk sei wieder zum Leben erwacht. »Die Rücken zum Feuer!« Darnis Befehl brachte uns in die Gegenwart zurück, und ich sah Männer die Rampen hinaufstürmen, deren blanke Schwerter im Feuerschein schimmerten. Ihre Rüstungen klapperten beim Rennen, und ihre schweren Stiefel dröhnten dumpf auf der weichen Erde. Keiner von ihnen sagte ein Wort, doch sie bewegten sich mit einer Entschlossenheit, die schlimmer war als jeder Kriegsschrei. Die Wirkung wurde nur wenig abgeschwächt, als einer von ihnen auf der taunassen Rampe ausrutschte; doch Saedrin sei Dank verschaffte uns das die Gelegenheit, wieder zu uns zu kommen und zu erkennen, dass wir deutlich in der Unterzahl waren. Ich kramte in meiner Gürteltasche nach den Wurfpfeilen und trat zurück, um Raum zum Werfen zu haben. An der Hinterseite meiner Beine spürte ich die Hitze des Feuers; weit konnte ich nicht mehr zurück, ohne in die Glut zu treten. »Küsst Saedrins Arsch«, knurrte Darni, als er vortrat, um sich 178
den vordersten Angreifern zu stellen. Sein Selbstbewusstsein war furchterregend, und der erste Gegner hob sein Schwert, um es auf Darnis Kopf niedersausen zu lassen. Ich beobachtete, wie die Hand des Mannes immer höher stieg ... und immer höher und höher, als Darni sie ihm mit einem mächtigen Schlag am Handgelenk abtrennte. Der Gefährte des Mannes wurde kurz von einem Blutschwall abgelenkt, der ihm ins Gesicht spritzte, doch sein Problem endete, als Darni ihm die Klinge in die Eingeweide stieß. Als schließlich der dritte zu Boden ging, verlor der Angriff ein wenig von seinem Schwung, und wir waren in der Lage, einen Verteidigungsring zu bilden, bevor der eigentliche Kampf begann. In einem Wirbel aus Funken trafen Schwerter aufeinander. Stoß folgte auf Parade und Finte auf Hieb. Darnis Schwert schimmerte im Feuerschein, bis es ihm gelang, die Verteidigung eines Gegners zu durchbrechen und ihm die Kehle aufzureißen. Blut spritzte ihm ins Gesicht, doch er blinzelte es weg und trat die Leiche beiseite. Die tanzenden Schatten des Feuers erschwerten mir das Zielen. Ich warf einen Pfeil, und einen nervenzerreißenden Augenblick lang sah es so aus, als wäre das Opfer nicht davon berührt. Dann begann der Mann zu taumeln, sank auf die Knie, packte sich den Arm, hustete, würgte und starb binnen weniger Sekunden. Was für eine Erleichterung: Das Gift hatte seine Wirkung noch nicht verloren. Meine Pfeile schalteten noch ein paar mehr aus, doch schon bald hatte ich kaum noch welche. Darni kämpfte wie einer von Poldrions Dämonen, und ich achtete darauf, dass er immer zwischen mir und den Angreifern blieb. Ich blickte über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass wir nicht umzingelt 179
wurden und sah, dass Shiv und Geris mit den Rücken zu uns standen. Geris’ Reflexe und Schnelligkeit machten ihn zu einem guten Schwertkämpfer, doch es dauerte zu lange, bis er seinen Gegner endgültig erledigte. Selbst ich erkannte die Gelegenheit, die er diesem gerade verschafft hatte. Und das erkannte auch der Kerl mit dem wilden Gesicht, der ihn angriff, und triumphierend fletschte er die Zähne. Geris hatte zu viele Jahre wie ein Gentleman gefochten, während Darni getötet hatte, um zu überleben. Blut rann Geris’ anderen Arm herunter; offensichtlich war er den Kampf mit dem Schild gewohnt. Er musste erkannt haben, dass er in Schwierigkeiten steckte, denn plötzlich steigerte er seine Geschwindigkeit. Mit einer raschen Hiebfolge trieb er seinen Gegner zurück. Verwirrt vergaß der Mann seine Verteidigung, und Geris spaltete ihm den Schädel. Ich sah, wie Geris angewidert das Gesicht verzog, als er sich umdrehte, um das spritzende Blut und die Knochensplitter nicht in die Augen zu bekommen. Auf unserer Seite des Feuers warf ich meinen letzten Pfeil; dann stand ich einem bärtigen, kräftigen Kerl gegenüber, der glaubte, dass ich nun unbewaffnet sei. Sein Fehler. Ich ließ einen Dolch meinen Ärmel hinuntergleiten, und als der Kerl nahe genug war, stieß ich ihm die Klinge in die Achselhöhle. Als der Bastard fiel, konnte ich den Dolch allerdings nicht wieder herausziehen, und ich spürte die kalte Hand der Angst. »Ich brauche eine Waffe!«, schrie ich. »Darni, ich habe kein Schwert!« Er trat eines der zu Boden gefallenen Schwerter mit solcher Wucht nach hinten, dass es mir beinahe die Zehen abgetrennt hätte. Laut fluchend trieb er einen weiteren Gegner zurück. Der Blonde, der ihm gegenüberstand, glaubte fälschlicherweise, eine 180
Lücke in Darnis Verteidigung erkannt zu haben, und als er vorsprang, bohrte sich die Klinge des Söldners in seine Eingeweide. Schreiend sank der Mann auf die Knie, und Darni trat ihm ins Gesicht. Ich sprang neben Darni und frischte meine Schwertkampfkenntnisse mit erstaunlicher Geschwindigkeit wieder auf. In Gedanken dankte ich Halice dafür, dass sie auf häufigen Übungen mit ihr bestanden hatte, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie mit ihren Fähigkeiten jetzt an meiner Seite zu haben. Ein großer Bastard mit gelbem Bart trat um uns herum und rückte gegen mich vor, den vermeintlich leichteren Gegner. Er war stark und schnell, und ich hatte große Mühe, ihn abzuwehren, bis er auf den Gedärmen seines Freundes ausrutschte und ich ihm die Klinge durch sein hässliches Gesicht ziehen konnte. Einen Augenblick lang glitzerten Zähne und Knochen im Feuerschein, als er kopfüber in die Flammen fiel. Sein Haar fing Feuer, und er begann wild um sich zu schlagen. Verzweifelt trat ich ihm auf den Hinterkopf, bis er sich nicht mehr rührte. Mit einem tiefen Schlag gegen die Knie streckte Darni einen weiteren nieder; dann machte er ihn mit einem Stoß ins Auge fertig. Unsere Blicke trafen sich in einem verrückten Moment der Ruhe. »Halt dich hinter mir. Wie kommen die anderen zurecht? Was ist mit den Pferden?« Die Pferde! Wenn wir die verloren, stand uns ein elend langer Marsch bevor. Ich schaute mich um und sah, warum Darni sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinem Tier die Füße zu fesseln. Der brutal aussehende Braune stieg, trat und biss mit der kontrollierten Wildheit eines ausgebildeten Schlachtrosses, 181
und mehrere Feinde wanden sich blutend unter seinen Hufen. Shiv verwendete einen Strahl bernsteinfarbenen Lichts wie eine Hellebarde, und die Angreifer quiekten wie die Schweine, wann immer sie damit in Berührung kamen. Er fällte zwei von ihnen. Sie zuckten noch nicht einmal; lediglich Blut rann unter ihren Helmen heraus. »Shiv!« Darni bellte wie ein brünstiger Bulle, und Shiv blickte kurz zu uns herüber. Ein brennender Schmerz schoss durch mein Bein, und fast hätte ich den Preis dafür bezahlt, dass ich mich kurz hatte ablenken lassen. Ich kreischte wie Drianons Adler, und das verschaffte mir die Sekunde, die ich brauchte, um mich von dem Schreck zu erholen. Darni kämpfte nun gegen zwei auf einmal, und ich sah mich einem ernsten Problem gegenüber. Dieses Problem war nicht so groß wie die anderen, aber es war schnell, stark und ließ die Klinge mit furchterregender Leichtigkeit um die meine wirbeln. Ich wurde Schritt um Schritt zurückgetrieben, bis ich die Glut des Lagerfeuers unter meinen Sohlen spürte und die Hitze meine Beine versengte. Der Mann, mit dem ich kämpfte, funkelte mich voll wilder Schadenfreude an. Ich habe ehrlich geglaubt, dass ich verloren war. Dann schoss ein saphirfarbenes Licht an mir vorbei, und das triumphierende Gesicht meines Feindes verwandelte sich von einem Augenblick auf den anderen in ein klaffendes schwarzes Loch und wurde zurückgeworfen. In einem wahnsinnigen Augenblick der Stille starrten wir alle verständnislos auf den Toten, Freund und Feind gleichermaßen. »Beweg dich!« Darni stieß mich aus dem verlöschenden Feuer, und zu dritt gruppierten wir uns um Shiv, der ein glitzerndes vielfarbiges Licht um den irdenen Wall des Geisterrings 182
heraufbeschwor. Ein Blitz warf zwei weitere Angreifer zurück, die als verbrannte Fleischklumpen zu Boden sanken, und ein Lichtstrahl schoss aus Shivs Fingern in die letzte Glut des Lagerfeuers. Ein rotes Licht, hell wie der Tag, raste über den Boden hinweg, um den Verwundeten den Gnadenstoß zu versetzen; dann wanderte es durch die Luft, um das Farbenspiel um den Wall mit einem Ring aus Feuer zu krönen, und die feindliche Verstärkung innerhalb des Walls verbrannte schreiend. Bei Saedrin, wie viele waren das? Und wie viele warteten noch außerhalb des Walls? Nur mit großer Mühe gelang es mir, die aufkeimende Panik zu unterdrücken, und mit dem winzigen Teil meines Verstandes, in dem noch kein Chaos herrschte, erkannte ich, dass ich wimmerte. Scheiß drauf, dachte ich und begann genau wie Darni, so laut zu fluchen, wie ich konnte. Ein weiterer Mann fiel auf den blutdurchtränkten Boden, als sein Schwert in rot glühende Splitter zerbarst, die ihm das Gesicht zerfetzten. Die wenigen, die noch standen, erkannten, dass sie in der Falle saßen. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen und stürmten verzweifelt vor, um den Magier zu töten, der für all das verantwortlich war. Nun schrien auch sie; ich verstand zwar kein Wort, doch der Hass in ihren Stimmen war unverkennbar. Entsetzen stieg in mir auf und drohte, mich jeden Augenblick zu überwältigen. Auch ich schrie immer lauter. Darni rief etwas, das ich nicht verstand; doch Shiv ließ das blaue Feuer fallen und begann ein vielfarbiges Netz der Macht zu weben. Schwarze Schatten huschten unsere Klingen entlang, bis diese nur noch aus Dunkelheit zu bestehen schienen. Ich landete einen Treffer bei dem Mann vor mir; der Kettenpanzer an seiner Schulter teilte sich, und das darunter liegende Fleisch 183
schmolz wie Wachs – der Gestank war ekelerregend. Geris setzte seinem Gegner nach, als dieser vor der tödlichen Dunkelheit zurückwich, und hätte sich dabei fast einen Hieb zwischen die Rippen eingefangen. Doch Shiv erkannte die Gefahr, und der Angreifer schrie, als sein Arm von einer grünen Lichtlanze abgetrennt wurde. Er sank auf die Knie, und ich machte seinem Leiden mit einem Hieb ins Genick ein Ende. Es dauerte ein paar wahnsinnige Augenblicke, bis ich erkannte, dass der Kampf vorüber war. In meinen Ohren klingelte es, und ich hatte die Orientierung verloren. Verrückte Schatten tanzten über den Wall, als Shivs Feuerwand ein letztes Mal aufflackerte und dann erstarb. Darni löste sich von uns, die wir wie erstarrt waren, rannte die Rampe hinauf und schrie seinen Trotz in die Nacht hinaus. Ich erschreckte mich furchtbar, als eine Hand meinen Arm packte, doch es war nur Shiv. Ich fing ihn auf, als er auf die Knie sank. Er war kreidebleich, seine Augen fiebrig, und sein Atem rasselte. »Darni!«, kreischte ich. Ich war nicht mehr weit davon entfernt, hysterisch zu werden. Darni, der noch immer auf der Rampe stand, drehte sich zu mir um. »Geris, hilf Livak! Es ist Shiv!« Geris kam und half mir, Shiv auf den Boden zu legen. Dann zog ich diese Leiche aus dem Feuer, und der Gestank verbrannten Fleisches bereitete mir Übelkeit. Ich hatte jedoch keine Zeit, mich zu übergeben. Stattdessen legte ich Holz nach und wartete. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. »Alkohol. Die rote Flasche.« Geris goss vorsichtig etwas davon in Shivs Mund, und der Magier hustete schwach. 184
»Wein, kein Met. Danke. Livak, geh, tu Honig in den Wein, und mach das Ganze warm.« Ich gehorchte mit zitternden Händen. Shivs Gesichtsfarbe verbesserte sich ein wenig, und seine Atmung wurde ruhiger. Geris kümmerte sich konzentriert um ihn. Er öffnete Shivs Kragen und untersuchte ihn auf Verletzungen, ohne auf seinen eigenen, blutüberströmten Arm zu achten. Ein dunkler Schatten kam über den Wall, und ich hatte bereits mein Schwert gezogen, bevor ich erkannte, dass es Darni war. Die Augen des Söldners funkelten wie die eines wilden Hundes. »Nun?« Immer wieder blickte er in die Nacht hinaus, als er zum Feuer zurückkehrte. »Er ist erschöpft, aber nach einer Nacht Schlaf ist er wieder der alte.« Geris Tonfall war ruhig und selbstbewusst, während er zu seinen Satteltaschen ging, um die Ledertasche mit den Pergamenten zu holen. »Was tust du?«, fragte ich verwirrt. Er blickte mich an, als würde er jetzt erst bemerken, dass auch ich hier war. »Ich werde Shiv beim Schlafen helfen.« Er zeigte mir ein Blatt voller sauber geschriebener Verspaare; dann sprach er die komplexen Silben über dem am Boden liegenden Zauberer. Shivs Atmung wurde immer regelmäßiger, und schließlich entspannte sich sein Körper. »Ist das Äthermagie?« »Ja.« Geris runzelte die Stirn. »Sie hat noch nie so rasch gewirkt. Ich frage mich, was diesen Ort ausmacht.« In seiner Stimme lag ein wenig Ratlosigkeit. »Was kannst du sonst noch tun?« 185
»Nicht viel. In den alten Büchern heißt es, man könne Wunden, Fieber und alle möglichen anderen Dinge heilen. Ich jedoch kann ihm lediglich Schlaf verschaffen. Wenn nur ...« »Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär ... ja, ja. Verlang nicht zu viel von dir. Schlaf ist genau das, was Shiv jetzt braucht.« Darni zog seine blutverschmierte Tunika aus und begann, sich den schlimmsten Dreck von der Haut zu waschen. »Sind wir in Sicherheit?«, fragte ich dumm. »Im Augenblick, ja. Ich habe nichts gesehen, was darauf schließen ließe, dass sie sich wieder neu formieren.« Darni schaute sich auf dem blutigen Schlachtfeld um. »Es würde mich überraschen, wenn sie zurückkämen; auf jeden Fall werden wir das nächste Mal vorbereitet sein.« Als er sich mit seinem Hemd trocken rieb, bemerkte ich mehrere breite, purpurfarbene Narben auf Brust und Schultern. Aus einer frischen Armwunde rann Blut, und seine Knöchel waren an beiden Händen aufgeschürft. Er drehte sich um, und ich sah weitere Narben auf seinem Rücken. »Bei meinen Sachen ist eine kleine grüne Tasche, Livak. Ich möchte nicht alles vollbluten ...« Ich holte sie für ihn und zuckte mitleidig zusammen, als er sich Alkohol auf die Wunden goss. »Komm. Lass mich das machen.« Ich arbeitete schnell, und Darni grunzte anerkennend. »Gut. Jetzt lass uns mal einen Blick auf das Bein werfen.« So verrückt es klingen mag, ich hatte meine eigene Wunde vergessen; aber im selben Augenblick, da Darni sie erwähnte, hatte ich das Gefühl, ein Pferd hätte mich getreten. Ich setzte mich und beobachtete wie betäubt, wie Darni meine Hose aufschnitt und einen tiefen Schnitt enthüllte. Das Feuer hatte 186
sämtliche Haare von meinen Beinen geflammt; Verbrennungen waren mir jedoch erspart geblieben – zum Glück, denn diese neigten dazu, sich zu entzünden. »Das müssen wir nähen«, erklärte Darni in sachlichem Tonfall. »Willst du es selbst tun?« »Wartet.« Geris beeilte sich, die lange, doch nicht allzu tiefe Wunde in seinem eigenen Arm zu säubern; dann kam er zu uns. »Das wird jetzt wehtun«, sagte er unnötigerweise, als er meinen Schenkel mit beiden Händen packte. Darni säuberte die Wunde mit einem in Alkohol getränkten Stück Stoff. Es war ein ekelerregendes Gefühl, doch es gelang mir, mich weder zu übergeben noch in Ohnmacht zu fallen, wenn auch nur knapp. Darni beeilte sich, aber als er fertig war, zitterte ich am ganzen Leib, und der Schweiß, lief in Strömen an mir herunter. »Schlaf jetzt. Geris und ich werden die erste Wache übernehmen.« »Hm«, erwiderte ich schlicht, da ich meiner Stimme nicht vertraute. Ich wickelte mich in meinen Mantel und legte mich neben Shiv. Langsam hörte mein Herz auf zu klopfen, und die Angst und Erregung des Kampfes verflogen. Das Zittern hielt jedoch noch etwas länger an; aber schließlich blieb nur noch das Pochen in meinem Bein zurück. Ich schloss die Augen und lauschte dem Knistern des Feuers. Das erinnerte mich an meine Kindheit. Wenn ich damals krank geworden war, hatte ich in der Küche neben dem Herd geschlafen. Plötzlich stiegen mir die Tränen in die Augen. »Livak?« Ich war erstaunt, dass Geris mich mit so leiser Stimme hatte wecken können. Ich blinzelte und blickte mit müden, angestrengten Augen zu ihm hinauf. Der graue Himmel 187
verriet mir, dass die Sonne bald aufgehen würde. »Könntest du eine Weile Wache halten? Ich muss schlafen.« Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen und verzog das Gesicht, als der Schmerz in meinem Bein sich wieder bemerkbar machte. »Sicher.« Ich schaute mich um. »Wo ist Darni?« »Hier.« Darni saß nicht weit entfernt auf dem Wall. Er war angespannt wie ein guter Wachhund. »Willst du dich nicht auch etwas ausruhen?« Er schüttelte den Kopf. »Das könnte ich gar nicht. So ein Kampf lässt das Blut für Stunden kochen. Ich werde mich später ein wenig hinlegen. Ich glaube nicht, dass sie wieder zurückkommen werden.« »Wer waren sie?« »Banditen, nehme ich an. Vermutlich aus Lescar, Briganten, deren Lord in irgendeinem Streit Zweiter geworden ist.« Ich blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Haar und sein Bart waren noch immer blutverschmiert, doch sein Gesicht wirkte fröhlich und entspannt. »Poldrions Fähre wird heute vollbesetzt sein«, bemerkte ich. Darni grinste. »Ich glaube nicht, dass er die meisten von ihnen mitnehmen wird, ohne vorher einen Festpreis vereinbart zu haben. Ich frage mich, wie viele von ihnen er auf halber Strecke über Bord werfen wird.« Er ließ seinen Blick über die Leichen schweifen, die noch immer überall herumlagen. »Ich hoffe, dir wird er einen Nachlass geben. Wo hast du so kämpfen gelernt?«, fragte ich ihn. »In Lescar. Vor zehn Jahren habe ich für den Herzog von Triolle gekämpft.« »Du bist tüchtig«, sagte ich und wechselte das Thema. »Was stimmt nicht mit Shiv?« 188
»Er hat sich verausgabt. Man kann nicht mit solcher Macht um sich werfen, ohne den Preis dafür zu zahlen.« »Daran habe ich gar nicht gedacht«, gestand ich erstaunt. »Ich sollte wirklich mehr über Zauberer lernen.« Darni streckte sich und verzog das Gesicht, als er seine Wunden untersuchte. »Bevor sie erkannten, dass ich als Magier keine Macht besitze, habe ich einige Vorlesungen besucht. Es gibt einen gefährlichen alten Bastard in Hadrumal; er heißt Otrick. Er ist so ziemlich der Beste in Luftmagie. Wie auch immer, er hält regelmäßig eine Vorlesung mit dem Titel: ›Warum regieren Magier nicht die Welt?‹.« Er deutete auf Shivs reglose Gestalt. »Das ist einer der Gründe dafür.« Ich überlegte, was wohl die andere Gründe waren, doch ich wollte nicht fragen. »Otrick gibt neuen Studenten auch praktischen Unterricht. Ich habe gesehen, wie einige aus seiner Halle getragen wurden.« Darni blickte mich an und lächelte. »Kein Magier zu sein, ist nicht unbedingt schlecht, weißt du?« Die Sonne stieg höher und höher; Geris wachte auf, und wir aßen ein Frühstück, das dank der blutigen Umgebung seinen Geschmack verloren hatte. Fliegen sammelten sich, und wir machten uns an die ekelerregende Arbeit, die Leichen beiseite zu schaffen, um mit den Pferden zwischen ihnen hindurch zu können, ohne dass die Tiere in Panik gerieten. Shiv schlief weiter. Sein Gesicht hatte wieder eine normale Farbe angenommen. Von Zeit zu Zeit bewegte er sich, und das Zucken seiner Augenlider verriet uns, dass er träumte. »Wir könnten noch mehr Probleme bekommen. Also sollten wir uns ein paar Rüstungen besorgen«, befahl Darni, und wir holten uns die Kettenhemden von den weniger verstümmelten 189
Leichen. Als ich schließlich mein Kettenhemd in Händen hielt, stellte ich erstaunt fest, dass es mir von der Länge her fast genau passte. Mit neu erwachtem Interesse betrachtete ich die Leichen. »Die sind alle recht gedrungen. Für Shiv werden wir zwei Hemden zusammenbauen müssen.« »Shiv kann keine Rüstung tragen«, erklärte Geris. »Zu viel Metall behindert seine Magie.« Er legte das Schwert beiseite, das er gerade geputzt hatte, zog den Dolch und begann, die Leichen eingehender zu untersuchen. »Ja, sie sind allesamt recht klein.« Mit einem Schaudern fragte ich mich, ob auch die Anatomie zu seinen wissenschaftlichen Interessen gehörte, doch zu meiner großen Erleichterung gab er sich damit zufrieden, Kleidungsstücke aufzuschneiden. »Darni, das ist alles recht seltsam.« Er ging von einem Toten zum anderen und zog Helme und Harnische aus. »Wie meinst du das?« »Sie gleichen sich. Zum Beispiel haben sie alle blondes Haar. Wie oft hast du so etwas schon gesehen?« Darni blickte in einige der fahlen Gesichter mit ihren purpurfarbenen Lippen und den heraushängenden Zungen. Desinteressiert zuckte er mit den Schultern. »Also sind sie miteinander verwandt. Banditen arbeiten oft in Familienverbänden. Das weißt du.« »So viele? Und alle ungefähr gleich alt?«, fragte Geris verwirrt. »Das sind nur Räuber, die ihr Glück versucht haben.« Darni holte eine kleine Zange hervor und begann, einen Teil des Harnischs abzumontieren, den ich mir ausgesucht hatte. »Und was wollten sie dann von uns? Wir sind nicht gerade 190
eine reiche Handelskarawane.« Geris hockte sich auf die Fersen. »Das Einzige, was sich bei uns zu stehlen lohnen würde, sind unsere Pferde, und die waren nicht ihr Ziel.« »Das lag daran, dass jeder, der sich ihnen näherte, einen Tritt verpasst bekam.« Darni grinste. Geris überzeugte das jedoch nicht. »Ich werde mich mal ein wenig umsehen.« »Geh nicht zu weit weg, und sei vorsichtig. Schrei, wenn du irgendetwas siehst.« Besorgt blickte ich ihm hinterher, und fast wäre ich ihm gefolgt, doch Shiv wachte just in diesem Augenblick auf. »Hat jemand Wasser für mich?«, krächzte er. »In meinem Mund fühlt es sich an wie im Handschuh eines Maultiertreibers.« Ich holte ihm einen Becher. »Wie fühlst du dich?« Shiv richtete sich auf den Ellbogen auf und rümpfte die Nase ob des ledrigen Geschmacks des Wassers. »Ich habe mich schon mal besser gefühlt, aber es wird schon wieder.« »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.« Das sollte ein Scherz sein, doch irgendwie klang er nicht so. »Und ich war so leer wie ein Fass ohne Boden.« Er setzte sich auf und schaute sich um. »Saedrin! Was für eine Schweinerei!« Geris kehrte wieder zurück. Er war sichtlich unzufrieden. »Sie hatten keine Pferde.« »Ihre Kameraden werden die Tiere in ihr Versteck gebracht haben. Ich nehme nicht an, dass wir die ganze Bande gesehen haben.« Darni warf mir den Kettenharnisch zu. »Probier ihn mal an.« Ich zog ihn an und verzog das Gesicht ob der Aussicht, ein derartiges Gewicht auf meinen Schultern tragen zu müssen. 191
»Passt gut genug.« Darni schloss den Harnisch mit einem Lederband. »Eigentlich müsste man ihn vernieten«, bemerkte er unzufrieden. »Hört zu«, meldete Geris sich beharrlich. »Sie hatten keine Pferde. Ich sage euch, sie sind zu Fuß gekommen.« »Da draußen? Wir sind meilenweit entfernt von jeder Siedlung. Du musst dich irren.« »Ich habe nach ihren Spuren gesucht. Ich weiß, wovon ich rede«, erklärte Geris mit ungewohnter Entschlossenheit. Ich blickte von den Schwertern auf, von denen ich mir eins aussuchen wollte. »Sprich weiter.« Meine Unruhe kehrte wieder. »Nirgends finden sich Hinweise auf Pferde. Seht sie euch doch nur einmal an.« Er deutete auf die Toten. »Keiner von ihnen trägt Reitstiefel oder Sporen. Sie waren zu Fuß!« »Also ist ihr Versteck nicht weit, und sie beobachten die Straße.« Darni war noch immer nicht überzeugt. »Wir sollten besser von hier verschwinden, bevor sie zurückkommen. An die Arbeit.« Geris hatte mich neugierig gemacht. Als ich mich auf die Suche nach meinen Wurfpfeilen machte, sah ich mir die nächste Leiche genauer an. Ich schluckte meinen Ekel hinunter und öffnete die Kleider des Toten. »Das ist seltsam.« »Was?« Geris trat zu mir, und Shiv schaute mich interessiert an. »Nun, diese Kleider sind alt und zerschlissen, doch darunter ist alles sauber.« Ich beugte mich zu dem Toten hinunter. »Siehst du? Hier sind kleine Blutflecken – von Flohbissen, nehme ich an.« Ich strich mit den Fingern über das marmorne, 192
kalte Fleisch. »Aber hier ist weder ein Fleck noch ein Biss zu sehen. Er sieht aus wie frisch geschrubbt.« Ich ging zum nächsten einigermaßen unversehrten Leichnam. »Hier genau das Gleiche.« »Also sind sie das Ungeziefer losgeworden. Was ist daran so rätselhaft? Hattest du jemals Flöhe? Glaub mir, du würdest sie nicht behalten wollen.« Darni konzentrierte sich auf seine Arbeit. Ich hockte mich auf die Fersen. Darni hatte vermutlich Recht, doch ich glaubte, dass wir hier mit den falschen Runen spielten. Was hatte ich übersehen? Ich untersuchte die Leichen weiter. »Keiner von ihnen hat Geld dabei.« Ich kramte in ein paar Beuteln und Taschen herum, verscheuchte die Fliegen und versuchte, den Blutgestank zu ignorieren. »Und keine persönlichen Gegenstände – nicht ein einziger! Keine Ringe, keine Armreifen, nichts. Was ist das?« Ich zeigte Geris einen Flecken rohen Fleisches auf dem Arm eines Toten. Er suchte bei den anderen nach etwas Ähnlichem, fand aber nichts. »Ein Streifschuss von Shiv?« »Sie sind tot. Mehr muss ich nicht wissen. Kommt. Ich will so schnell wie möglich von hier verschwinden«, erklärte Darni mit strengem Unterton, der jede weitere Untersuchung oder Mutmaßung untersagte. Geris murmelte irgendetwas vor sich hin; dann kehrte er wieder zu seinem Schwert zurück, und Shiv rappelte sich langsam auf. Kurz darauf hatten wir alles zusammengepackt und waren bereit, wieder auf die Straße zurückzukehren. 193
»Was ist mit den Leichen?« Ich hielt an, als wir den Ring verließen und blickte zu den Toten zurück. Darni schüttelte den Kopf. »Brennholz zu suchen, würde zu lange dauern.« Er deutete die Rampe hinunter. »Sie werden sich darum kümmern.« Ich blickte zu den wartenden Raben und schluckte. Die dreißig oder mehr Leichen würden die Vögel eine halbe Jahreszeit gut ernähren. Wieder auf der Straße, vertrieb die frische Luft den Gestank des Todes, und ich fühlte mich schon besser. An der nächsten Furt legten wir eine Pause ein, und alle zogen wir uns aus, um die letzten Blutreste von uns und unseren Sachen zu waschen. Geris versuchte, mich dazu zu bewegen, anstandshalber ein Stück weiter den Fluss hinunter zu baden, doch ich wollte nichts davon hören – nicht, solange Drianon weiß was für Banditen da draußen lauerten. »Ich halte das alles immer noch für äußerst seltsam«, flüsterte ich Shiv zu, während ich mein Haar abtrocknete. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich Darni, dessen Ohren voller Seife waren, und der sich gerade den Bart auswusch. »Da stimme ich dir zu.« Shiv zog das Hemd über den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, warum ich sie nicht bemerkt habe, als ich per Weitsicht zurückgegangen bin. Wenn sie nicht geritten sind, müssen sie in dem Gebiet gewesen sein, das ich untersucht habe.« »Vielleicht sind sie nur bis zu einem gewissen Punkt geritten und dann zu Fuß weitermarschiert«, sagte ich unschlüssig. »Warum sollten sie?« »Ich habe keine Ahnung.« Unzufrieden und schweigend setzten wir unseren Weg fort. 194
Friern Jagdhaus 40. Vorherbst
Casuel verzog das Gesicht, als er vorsichtig aus der Kutsche stieg, um nicht in eine Schlammpfütze zu treten. Es war von außerordentlicher Wichtigkeit, dass er einen guten Eindruck machte. Er zupfte seinen Mantel zurecht, um die Falten herauszubekommen, und runzelte die Stirn ob der Kratzer auf seinen Stiefeln, wo ein Bauer ihm auf die Füße getreten hatte. »Ist es das?« Allin ließ ihren Blick über die kleine Ansammlung dicht gedrängter Ziegelhäuser schweifen. »Nun, zumindest müssen wir nicht nach dem Weg fragen«, erwiderte Casuel. Sie starrten auf die breite Ziegelfront des Gutshauses, das sich vier Stockwerke hoch hinter den großen Eisentoren auf der anderen Straßenseite erhob. »Das ist ein Jagdhaus?« Casuel konnte es Allin nicht verübeln, dass sie es schier unglaublich fand. Lord Armiles Residenz mochte ja vielleicht einmal als Jagdhaus begonnen haben, doch Casuel bezweifelte, dass von dem ursprünglichen Gebäude noch allzu viel übrig war. Nachdenklich betrachtete er die Hüttenbewohner, die vor einer Tür im Zaun Schlange standen, wo hartgesichtige Männer in grauen Livreen auf ihre Hellebarden gestützt Wache hielten. Gelegentlich ließ man ein paar hinein. Hinter Geris und Allin ertönte ein Horn. »Macht den Wegfrei!« Casuel wich in einen nahen Eingang zurück, bevor eine Kutsche an ihm vorbeirumpelte. Die Räder bespritzten Allins Rock 195
mit dem Schlamm der zerfurchten Straße. Dann trabten die Pferde die mit Kies aufgeschüttete Zufahrt des Gutshauses hinauf. Casuel blickte ihnen mit einem gewissen Bedauern hinterher. Er hätte einen weit besseren Auftritt gehabt, hätte er sich ein Fahrzeug gemietet, erkannte er zu spät. Aber die Ausgabe wäre kaum zu rechtfertigen gewesen ... oder? »Komm, Alin.« Er überquerte die Straße und näherte sich den Wachen. Den Kopf hoch erhoben und die Schultern gestrafft, achtete er nicht auf die Blicke der neugierigen Bauern. Allin ahmte ihn nach, und Casuel bemerkte zufrieden, dass sie endlich ein Verhalten an den Tag legte, das man beinahe schon als würdevoll bezeichnen konnte. »Guten Tag. Ich würde gerne mit Lord Armiles Kammerherrn sprechen.« Casuel verneigte sich gerade so knapp, wie er es für angemessen hielt; dann blickte er erwartungsvoll zu dem Mann, der ein mit einer Schleife verziertes Abzeichen aus Hirschhorn am Wams trug. »Ich nehme an, er erwartet Euch?«, erkundigte sich der Torwächter vorsichtig. »Ich bin nicht mit ihm verabredet, nein.« Casuel lächelte höflich. »Dann wartet, bis Ihr an der Reihe seid!« Arroganz fiel dem Milizionär offenbar leichter als Höflichkeit. Casuel lächelte, als er in seinen Beutel griff und den Brief hervorholte, den er vorbereitet hatte. »Bitte, überbringt dem Kammerherrn dieses Schreiben mit meinen besten Grüßen. Er wird mich sehen wollen.« Unsicher blickte der Wachmann auf den Brief, dann zu Ca196
suel und aufs Haus. »Hier.« Er winkte einem nervösen jungen Burschen, dessen graue Livree für einen Mann geschneidert worden war, der mindestens eine Handspanne größer war als er. »Bring das Armin.« Der Junge rannte die Auffahrt hinauf, und beinahe wäre er vor lauter Eile auf dem Kies ausgerutscht. »Ist es hier Sitte, sitzen zu bleiben, während eine Dame steht?« Casuel hob die Augenbrauen und blickte zu den beiden Wachen, die auf einer Bank hockten. »Steht auf!« Die beiden funkelten ihren Anführer gereizt an, gehorchten aber. Allin knickste, setzte sich und zupfte nervös ihren Rock zurecht. Casuels Lächeln wurde ein wenig breiter. Er holte eine Schreibtafel hervor und machte sich ein paar Notizen, worauf die Wartenden ihn – sehr zu seiner Freude – mit zunehmender Ehrfurcht betrachteten. »Er ... Er soll kommen.« Der Junge kehrte zurück, atemlos und verschwitzt trotz des kühlen Wetters. »Danke.« Casuel ließ, sich Zeit. Dem Wachmann an der Tür schenkte er ein gnädiges Nicken und einen Silberpfennig. »Siehst du, Allin? Man muss nur wissen, wie man mit solchen Leuten umzugehen hat«, flüsterte er. Er unterdrückte ein Lächeln, als hinter ihm das große Rätselraten begann, während das Tor geschlossen wurde; doch auf dem Weg zum Haus verflog seine Zufriedenheit rasch. Handlanger, die ihre Macht missbrauchten, um andere in die Schranken zu weisen, waren eine Sache; doch der Mann, der hier wohnte, gehörte zu einem anderen Schlag. »Warum sieht es so aus wie ein lescarischer Adelssitz?«, er197
kundigte Allin sich angespannt. Die Fenster im Erdgeschoss waren vor kurzem in Schießscharten verwandelt worden, und auf dem Dach arbeiteten Männer an Wehrgängen und einem Wachturm. Mehrere Bauern, deren Haar und Kleidung von rotem Staub bedeckt waren, stapelten neben dem Hauptweg Ziegel; Balken lagen zum Gerüstbau bereit, und von der anderen Seite des Hauses hallte Hämmern herüber. »Oh, bedeutungslose Kleinfürsten beeindrucken ihre Nachbarn gerne mit ihren Befestigungen«, erklärte Casuel leichthin. »Hier entlang.« Sie folgten dem nervösen Jungen um einen Trockengraben herum, wo stämmige Kerle in grauen Livreen spitze Stangen in den Boden rammten. Eine Seitentür stand offen. Dort wartete ein plattgesichtiger Mann in Blau neben einer Dienerin. Die Dienerin knickste, als die Fremden näher kamen, und nahm ihnen die Mäntel ab. »Guten Tag.« Casuel war zufrieden, dass seine geübte Verbeugung diesmal ebenso elegant beantwortet wurde. Er folgte dem Mann, und seine Laune besserte sich beträchtlich, während sie durch eine mit Holz verkleidete, gebohnerte Halle und eine geflieste Treppe hinaufgeführt wurden. Allin schaute sich verunsichert um und krallte sich in ihren Schal. »Hier entlang, bitte.« Der Lakai öffnete die Tür und winkte Casuel mit beinahe unterwürfiger Höflichkeit hindurch. Casuel blieb einen Augenblick stehen, um den geschmackvoll eingerichteten Raum zu bewundern; dann drehte er sich zu ihrem Führer um. »Darf ich fragen ...?« Seine Stimme verhallte. Der Diener hatte hinter ihnen die Tür geschlossen und sie allein gelassen. »Ich glaube nicht, dass wir hier willkommen sind«, flüsterte 198
Allin unruhig. Ein leichter Schauder lief Casuel über den Rücken, doch er ignorierte ihn. »Ah, Erfrischungen!« Er ging zu einer Anrichte und füllte sich dankbar einen Pokal, um die Unruhe in seinem Magen zu bekämpfen. »Hier.« Er füllte einen zweiten und reichte ihn Allin. »Das wird deinen Wangen etwas Farbe verleihen, meine Liebe. Offenbar bist du ein wenig kutschenkrank geworden.« Er kostete den Wein und hob anerkennend die Augenbrauen. »Nun, so weit westlich hätte ich nicht gedacht, einen Trokai zu finden, Allin. Lord Armile ist offenbar ein Mann von erlesenem Geschmack.« Langsam drehte er sich um die eigene Achse und begutachtete jede Einzelheit des Raumes. Alles war ausgesprochen elegant, doch unauffällig – der perfekte Hintergrund für das lebensgroße Porträt über dem Kamin. Die stehende Gestalt in formeller Kleidung hatte sich halb weggedreht, und ein Arm ruhte auf einem Sockel, auf dem eine kleine Statue der Erbpriesterschaft der Familie gemäß betete. »Ist er das?«, flüsterte Allin ehrfurchtsvoll. »Ich nehme es an. Das ist der neueste Tormalinstil. Es gibt nichts Moderneres.« Casuel empfand das Gesicht nicht gerade als freundlich. Der durchdringende Blick und der harte volle Mund waren ausgesprochen unangenehm anzuschauen; doch der lebendige Realismus des Bildes hob es wohltuend von den anderen, kleineren Porträts an den getäfelten Wänden ab, deren älterer, schmeichelhafter Stil im Vergleich dazu geradezu lächerlich wirkte. »Ich musste dem Kerl einen Sack voll Geld bezahlen, damit er so weit herauskam; aber ich denke, das war es wert. Was 199
meint Ihr?« Casuel zuckte zusammen. Er drehte sich um und sah das Original des Bildes aus einer Tür treten, die in einer Nische verborgen war. »Wer ...?« Er hustete und räusperte sich. »Wer ist der Künstler?« »Ein Bursche, den Messire Den Ilmiral mir empfohlen hat«, sagte eine Stimme auf Tormalin. Lord Armiles Aussprache war geschliffen; nur ein leichtes Lispeln störte, was darauf schließen ließ, dass einer seiner ersten Lehrer aus Lescar stammte. Er musterte Allin von Kopf bis Fuß, bevor er sich leicht verwirrt vor ihr verneigte. »Das ist eine beeindruckende Arbeit.« Casuel nippte an seinem Wein. Erst jetzt erkannte er, dass der Künstler seinem Kunden doch geschmeichelt hatte, indem er die harten Linien um Mund und Augen ein wenig weicher und den Gesichtsausdruck nicht ganz so verächtlich gemalt hatte wie in Wirklichkeit. »So viel Anerkennung von einem so gebildeten Mann ist in der Tat ein großes Lob.« Lord Armile lächelte gut gelaunt und öffnete Casuels Brief. »Nun, Ihr schreibt, Ihr hättet etwas mit mir zu besprechen, das von Vorteil für mich wäre.« Casuel erwiderte das Lächeln. Auch wenn Lord Armiles Benehmen und die Ausstattung seines Heims der neuesten Tormalinmode entsprachen, so blieb er doch ein Hinterwäldlerfürst aus Ensaimin. Jedwede Feinheit und Schicklichkeit wären hier verschwendet. »In der Tat.« Casuel setzte sich. »Ich handele mit Büchern, antiken Dokumenten und dergleichen. Wie mir zu Ohren ge200
kommen ist, besitzt Ihr eine schöne Bibliothek.« »Und von wem wisst Ihr das?« Casuel zögerte einen Augenblick. »Ist das von Bedeutung?« »Ich weiß nun einmal gerne, wer über mich redet.« Casuel bemerkte nicht, dass Lord Armiles Lächeln seine Augen nicht erreichte. »Ich habe den Betreffenden nicht nach seinem Namen gefragt. Wir haben uns bloß in einem Gasthof unterhalten.« Casuel trank noch einen Schluck Wein. »Wichtig ist, dass ich Kunden habe, die an verschiedenen Texten interessiert sind, und ich habe mich gefragt, ob Ihr zufällig den ein oder anderen davon besitzt.« »Wer sind Eure Kunden?« »Gelehrte und Antiquare. Die Einzelheiten sind nicht wichtig.« Casuel stolperte ein wenig über seinen Versuch, unbekümmert zu wirken. »Einzelheiten sind immer wichtig.« Lord Armile blieb stehen. »Ich habe nicht den Wunsch, irgendetwas aus meiner Bibliothek zu verkaufen. Ich wünsche Euch eine gute Reise.« Er drehte sich zu der verborgenen Tür um. Casuel starrte ihn einen Augenblick lang offenen Mundes an; dann rappelte er sich auf. »Mylord, ich glaube, Ihr erkennt nicht, wie ... Ich meine, ich kann Euch eine beachtliche Summe bieten.« »Meine Einkünfte genügen mir voll und ganz.« »Ihr könntet Euch die Dankbarkeit mächtiger Männer verdienen«, versuchte Casuel es verzweifelt. Lord Armile blickte über die Schulter zu ihm zurück. »Ich bin ein mächtiger Mann«, sagte er leise. »Und Ihr seid nicht der erste Spion, der versucht hat, sich in mein Haus einzuschlei201
chen.« »Ich bin kein Spion.« Entrüstet hob Casuel die Stimme. »Wer seid Ihr dann?« Lord Armile zog zweimal an der Klingelschnur, und Casuel hörte schwere Schritte vor der Tür. »Ich bin reisender Buchhändler; das habe ich Euch doch gesagt.« Die Flamme der Entrüstung verlosch; Casuel war mit einem Mal kalt, und der Wein in seinem Magen wurde sauer. »Ach ja? Habt Ihr auch meine Nachbarn besucht? Immerhin besitzen sie ebenfalls schöne Bibliotheken. Nein, Ihr habt sie nicht besucht. Man hätte mich darüber informiert. Ihr seid direkt zu mir gekommen, frisch aus Markt Harrall. Ihr habt noch nicht einmal eine Tasche dabei. Sagt mir, wie geht es Lord Soval?« »Ich hatte nicht die Ehre, den Herrn kennen zu lernen«, antwortete Casuel steif. »Das nehme ich auch nicht ab. Heutzutage erledigt sein Stutzer von Sohn die Drecksarbeit.« Armile klatschte in die Hände, und zwei der kräftigsten Männer in den allgegenwärtigen grauen Livreen stießen die Tür auf. Allin kreischte ängstlich und klammerte sich an Casuels Ärmel. »Ihr begeht einen schweren Fehler.« Zorn mischte sich in Casuels Stimme. »Ich bin kein Spion. Ich bin ein Magier.« Armile hob die Hand, und die Männer blieben stehen. »Ach ja? Beweist es.« Casuel blinzelte und löste Allins Finger von seinem Arm. »Bitte?« »Beweist es!« Die Drohung in Armiles Stimme war unmissverständlich, und auch der letzte Rest von Casuels kaum vorhandenem Mut verabschiedete sich. Da seine Hände zitterten, rieb er sie erst einmal, bevor er das 202
bernsteinfarbene Licht seiner Macht in ein engmaschiges Netz flocht. Ermutigt durch das ehrfurchtsvolle Murmeln hinter ihm griff er auf all seine Ressourcen zurück und entließ die Macht in Form eines gigantischen Hundes mit glühenden Augen, dessen Speichel zischte, wenn er auf den Boden tropfte. Allin schlug die Hände vor den Mund, um ein Kreischen zu unterdrücken. Lord Armile starrte ungerührt auf die Erscheinung. »Ein netter Jahrmarktstrick, nehme ich an.« Casuel presste die Lippen aufeinander. Das Biest bellte trotzig, und Casuel sah zu seinem Vergnügen, dass Lord Armiles Hände unwillkürlich zu den Ohren wanderten. Allin war inzwischen so bleich wie ein Bettlaken. Da sie glaubten, ihr Herr würde bedroht, näherten sich die Männer Casuel, doch dieser drehte den Hund zu ihnen um. Das Monstrum knurrte und blickte von einem zum anderen. Die beiden Männer schauten sich zweifelnd an; aber keiner von ihnen wollte ausprobieren, wie real die fingerlangen Zähne wirklich waren. Ein plötzliches Lachen erschreckte Casuel, doch er hielt das magische Gewebe aufrecht. »Ich bin beeindruckt. Ich muss mich entschuldigen; aber in dieser Gegend haben wir unruhige Zeiten.« Lord Armile ging zu der Anrichte, ohne den Hund auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. Er füllte einen Pokal und leerte ihn in einem Zug. »Bitte, lasst uns noch einmal von vorne beginnen.« Armile winkte den Männern, die sich nur allzu gerne wieder entfernten. Casuel ließ den Hund einen Augenblick lang erstarren; dann 203
löste er ihn in einer Flamme auf, die an die Decke stieg und durch sie hindurch. Lord Armile rang sich ein Lächeln ab, als er sah, dass seine kostbaren Stuckarbeiten unbeschädigt geblieben waren. »Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, zum Abendessen zu bleiben?« »Danke. Es wäre mir eine Freude.« Casuel strich sich den Mantel glatt. Das entsprach schon eher dem Empfang, auf den er ein Anrecht hatte, auch wenn er gezwungen gewesen war, ihn sich durch solch ein vulgäres Schauspiel zu verdienen. »Lasst uns in die Bibliothek gehen. Dann werden wir sehen, welche Bücher Euch interessieren, Mylady.« Höflich und mit einem gewinnenden Lächeln bot Lord Armile Allin den Arm an. Casuel nickte, straffte die Schultern und folgte Lord Armile. Die Bibliothek war ein langer Raum an der Seite des Hauses. Die hohen Fenster waren durch Bücherregale voneinander getrennt, und auf der gegenüberliegenden Seite standen noch mehr Bände. »Das ist äußerst beeindruckend.« Casuel verbarg sein Staunen nicht. »Außerhalb Tormalins habe ich selten eine Bibliothek von solcher Qualität gesehen.« »Danke. Mein Vater war so etwas wie ein Gelehrter.« Lord Armile sprach mit einem harten Unterton, was Casuel jedoch entging. »Bitte, schaut Euch um. Ich muss die Küche wissen lassen, dass wir Gäste zum Abendessen haben werden.« Lord Armile verließ den Raum durch eine weitere Tür in der Wand, und Allin blickte ihm verwirrt hinterher. »Er muss doch jemanden haben, der solche Nachrichten für ihn überbringt.« »Sei still. Braves Mädchen.« Casuel suchte eifrig die Regale ab und verglich alles mit der Liste, die er sich eingeprägt hatte. 204
»O ja, hier steht eine exzellente Kopie von Menniths Geschichte. Und sieh mal, hier sind Selerimas Kräuterkunde und Tandris Vergessene Jahre. Das ist alles sehr ermutigend.« Schon bald hatte er noch weitere Texte identifiziert, alle in unterschiedlichem Zustand und meist mit Anmerkungen versehen. Schließlich setzte er sich an einen Tisch und stellte ein paar rasche Berechnungen an. Allin blickte ihm über die Schulter und schnappte nach Luft. »Oh, ich wusste, dass es nicht billig werden würde, aber ich habe ein paar minderwertige Kopien, die ich verkaufen kann«, versicherte Casuel ihr gelassen. »Außerdem mangelt es mir nicht gerade an Geld. Wenn du mich jetzt bitte nicht mehr unterbrechen würdest.« Allin ließ sich auf ein Sofa fallen und vergrub die Finger in ihrem Schal. Eine ganze Weile später blickte Casuel erschrocken auf, als ein blau livrierter Lakai die Tür öffnete. »Das Abendessen ist aufgetragen. Bitte, folgt mir.« Casuel blickte zum Fenster und stellte überrascht fest, dass es bereits dämmerte. »Ja, danke. Komm, Allin.« Er steckte seine Notizen in die Tasche und folgte dem Diener. Zu Casuels Überraschung wurde das Abendessen in einem kleinen Salon mit alten schweren Möbeln serviert. Offenbar war Lord Armiles moderner Geschmack noch nicht bis in diesen Teil des Hauses vorgedrungen. Casuel unterdrückte ein Lächeln; den Gewinn vom Verkauf der Bücher könnte man hier hervorragend anlegen. »Habt Ihr einiges von Interesse gefunden?« Lord Armile winkte einem Diener, der daraufhin die Deckel von den ver205
schiedenen Gerichten hob. Casuel nahm sich eine Taube und ein Stück Brot. »Ja, danke. Ich denke, ich werde in der Lage sein, mehrere meiner Aufträge zu erfüllen.« »Für wen, sagtet Ihr, arbeitet Ihr?« Armile nickte einem zweiten Lakaien zu, der daraufhin eine schwere Rinderkeule tranchierte. Casuel beobachtete zufrieden, wie Allin sich nach und nach entspannte, während sie ihren Teller füllte. »Ich assistiere einigen Mitgliedern des Rats der Magier bei ihren Forschungen«, antwortete Casuel in beiläufigem Tonfall. Er hatte seine Stellung genug gut gesichert, um die Sache freundlicher anzugehen, entschied er. »Magie ist eine Disziplin, die auf Zusammenarbeit angewiesen ist.« »Und diese Magier sind an Antiquitäten interessiert? Habe ich das richtig verstanden?« »Unter anderem«, erwiderte Casuel in so hochmütigem Tonfall, wie es ihm mit einem Stück Taube zwischen den Zähnen möglich war. »Versucht einmal von der Wildpastete.« Lord Armile winkte wieder dem Diener, der rasch die Becher nachfüllte. »Werdet Ihr schon bald wieder nach Hadrumal zurückkehren?« »Das kommt darauf an.« Casuel griff nach einer Platte mit Koteletts. »Zuerst muss ich einige Aufgaben erledigen.« »Aber Ihr seid frei in Euren Entscheidungen und könnt Euch Eure Pflichten einteilen, oder?« »So ziemlich.« Casuel nickte. »Ich bin mein eigener Herr.« Lord Armile lächelte breit, auch wenn das die harten Falten um seinen Mund nur noch verstärkte, wodurch er beinahe finster wirkte. Casuels Bewunderung für den Porträtmaler wuchs stetig. 206
»Nun, was für interessante Dinge habt Ihr denn in meiner Bibliothek gefunden?« Lord Armile lehnte sich im Stuhl zurück und nippte an seinem Wein. Casuel schluckte die Taube hastig hinunter und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Ihr besitzt sicherlich einige interessante Texte. Allerdings weiß ich nicht, wie viel davon ich mit meinen Mitteln werde kaufen können.« Lord Armile hob die Hand. »Mein lieber Herr, ich würde niemals Geld von Euch nehmen – nicht wenn der Rat der Magier diese Bücher für seine Forschungen braucht.« Casuel starrte ihn offenen Mundes an. »Nun, das ... Ich meine ... Selbstverständlich weiß ich Eure Großzügigkeit zu schätzen, aber ...« »Ihr könntet es mir allerdings mit einem kleinen Dienst vergelten.« Armile neigte den Kopf zur Seite. Von seinem Lächeln war nichts mehr übrig geblieben. »Und was für eine Art Dienst soll das sein?«, fragte Casuel. Er blickte durch den Raum zu dem kräftigen Diener, der mit verschränkten Armen vor der Tür stand. »Ich glaube, Ihr habt meinen Nachbarn noch nicht kennen gelernt, oder? Lord Soval?« Lord Armile schnippte mit den Fingern, und ein weiterer Diener füllte kleine Gläser mit einem klaren Weinbrand. Auch dieser Lakai war für einen Hausdiener ungewöhnlich kräftig gebaut, bemerkte Casuel. »Nun, Ihr müsst wissen, dass er eine Kiesgrube besitzt, die ich gerne kaufen würde. Ich habe ihm ein faires Angebot gemacht, doch er weigert sich, mit mir zu verhandeln.« Armile zuckte mit den Schultern. »Ihr könntet ihn davon überzeugen.« »Was wollt Ihr denn mit einer Kiesgrube?« Casuel blickte Allin überrascht an, auch wenn er ihr dankbar 207
für die Unterbrechung war. »Damit könnte ich die Kosten für die Straßenerhaltung erheblich verringern, meine Liebe.« Armile bot ihr einen Weinbrand an, den sie jedoch errötend ablehnte. »Eure Straßen befinden sich in der Tat in hervorragendem Zustand, Mylord.« Ein wenig Schmeichelei konnte hier nicht schaden, entschied Casuel. »Eure Händler und Pächter müssen Euch dankbar dafür sein.« »Scheiß auf die Händler! Mich interessiert nur, dass ich meine Miliz so schnell wie möglich an jeden beliebigen Ort schicken kann«, erwiderte Lord Armile mit hartem Gesichtsausdruck. »Herrschen bedeutet Strenge.« Casuel rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Auch ich bin ein Freund von Recht und Ordnung; doch ich fürchte, es steht einem Magier nicht an, sich in die Politik einzumischen. Es tut mir Leid.« »Mir auch.« Lord Armile schnippte mit den Fingern, und Casuel wurde von hinten gepackt. Schwere Eisenbänder wurden ihm um die Handgelenke gelegt, während er erfolglos versuchte, sich aus dem Griff der Diener zu befreien. »Das ist empörend!«, spie er hervor. »Außerdem – wie, in Saedrins Namen, glaubt Ihr, könnte ich Lord Soval von irgendetwas überzeugen?« Armile stand auf und beugte sich über Casuel, der auf seinem Stuhl zusammensank. »Droht ihm, ihn impotent zu machen oder seinen ganzen Haushalt lahm zu legen. Es ist mir egal.« Er sprach leise, doch unverhohlen drohend. »Tut, was immer Ihr tun müsst, um ihn davon zu überzeugen, dass die Gefahr, mir zu trotzen, größer ist als die Nachteile, die er durch einen Verkauf erleiden würde.« 208
Er drehte sich um und verneigte sich tief vor Allin, die wie erstarrt auf ihrem Stuhl hockte, ein halb gegessenes Törtchen in der Hand. »Denkt darüber nach, wie Ihr mir am besten helfen könnt. Ihr habt bis Mitternacht Zeit.« Mit seinen Henkersknechten im Schlepptau glitt er aus dem Raum, und die beiden Gefangenen hörten, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. »O nein«, wimmerte Allin. »Was werden sie uns antun?« Casuel schloss die Augen und atmete tief durch, bis er die Kontrolle über seine Blase zurückgewonnen hatte. »Sei still, du dummes Gör«, zischte er in unbeholfenem Lescar. Das erstaunte Allin so sehr, dass sie tatsächlich schwieg. Es folgte eine lange Stille; draußen vor der Tür waren leise Stimmen zu vernehmen. »Was sollen wir tun? Soll ich es einmal am Fenster versuchen?«, fragte Allin nach einer Weile. Ihre Stimme zitterte noch immer, doch sie klang nicht mehr hysterisch. Casuel war erleichtert, dass sie nicht nur ihre Muttersprache, sondern auch ihren Verstand gebrauchte. »Ich denke, Lord Armile muss lernen, dass er einen Magier nicht wie eine Magd herumkommandieren kann«, erklärte Casuel. »Aber in Ketten könnt Ihr keine Magie wirken. Das steht so in den Balladen.« Casuel rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Das ist ein Aberglaube, den zu beseitigen wir nie Lust verspürt haben. Sicher, ein Luftmagier könnte in diesen Fesseln nicht arbeiten, und im Wasser sollte man es besser gar nicht erst versuchen; aber ich bin ein Erdmagier.« 209
Er schloss die Augen und konzentrierte sich, und bernsteinfarbene Lichttentakel schlängelten sich über die Eisenbänder. Allin hielt die Luft an, doch nichts geschah. Casuel öffnete die Augen wieder und blickte verzweifelt auf seine Hände. »Ich hätte nicht so viel Energie für diese verdammte Illusion aufwenden sollen«, murmelte er reumütig. »Ich dachte immer, Magier könnten einfach so verschwinden, durch Wände gehen und dergleichen.« Allins entrüsteter Unterton entfachte einen Zorn, der sich durch Casuels aufkeimende Panik brannte. »Ein Wolkenmeister mag vielleicht dazu in der Lage sein. Ich kann im Augenblick nur das Element meiner Geburt berühren«, sagte er. »Und was könnt Ihr damit tun? Könnt Ihr uns hier herausbringen oder irgendwie um Hilfe rufen?« Allin ging zum Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Übelkeit machte sich in Casuels Magen breit, und sehnsüchtig blickte er zu dem Weinbrandglas. »Gib mir einen Moment. Diese Fesseln müsste ich nach einiger Zeit abschütteln können, und das Schloss ist kein Problem. Ich weiß nur nicht, wie wir an diesen Schlägern vorbeikommen sollen.« Allin starrte ihn an. »Werdet Ihr tun müssen, was er verlangt? Glaubt Ihr, dass er sein Wort hält?« »So oder so, ich kann es nicht tun«, antwortete Casuel unglücklich. »Ich meine, selbst wenn ich Lord Soval so viel Angst einjagen würde, dass er dem Handel zustimmt, irgendwann wird der Rat davon erfahren, und dann stecke ich in größeren Schwierigkeiten, als du dir vorstellen kannst!« Allin rüttelte an den Fensterläden. »Hilfe! Hilfe!«, schrie sie verzweifelt, doch als Antwort erscholl nur lautes Lachen vor 210
der Tür. »Halt’s Maul, du dummes Gör!« »Dann tut doch selbst etwas!« Allin wirbelte herum, und aus den Kerzen auf dem Tisch schlugen Flammen in die Höhe, als der Zorn des Mädchens sie erreichte. Beide beobachteten offenen Mundes, wie das magische Feuer die Kerzen verschlang, bis nur noch ein Pfütze geschmolzenes Wachs übrig war, das Lord Armiles polierten Tisch ruinierte. »Beruhige dich, meine Liebe«, sagte Casuel mit zitternder Stimme. Plötzlich war er dankbar dafür, dass niemand den Kamin entzündet hatte. Allins Knie wurden weich, und sie ließ sich auf den Fenstersitz fallen. Sie war aschfahl. Casuel wollte etwas sagen, schloss den Mund aber wieder. Zu spät. Allin hatte es bemerkt. »Was ist? Ist Euch etwas eingefallen?« »Nein ... ich meine, eigentlich nicht. Es ist egal.« Casuel zuckte bei der Vorstellung unwillkürlich zusammen, dem Gedanken zu folgen, der ihm gerade gekommen war. Er konnte es nicht einmal ertragen, auch nur an eine solche Demütigung zu denken. »Ihr habt eine Idee?« Allin stand auf. »Was ist es?« Casuel zögerte. Demütigung war der Schande vorzuziehen, oder? »Nun, wenn du eine Flamme heraufbeschwören und etwas Spiegelndes finden könntest, könnte ich mittels Weitsicht um Hilfe rufen.« Allin ging zum Tisch und suchte zwischen Topfen und Tellern nach einer glänzenden Oberfläche, die als Spiegel herhalten konnte, wobei sie einen Teller herunterstieß, der krachend zu Boden fiel. Allin erstarrte, und die beiden Gefangenen hiel211
ten den Atem an, doch niemand öffnete die Tür. »Hier.« Allin wischte die Sauce von einer silbernen Cloche. »Wie wäre es damit?« »Bring sie her, und such dir eine Kerze.« Casuel atmete tief durch. »Halt sie hoch. Ja, so ist gut. Jetzt konzentrier dich auf den Docht, aber sachte diesmal. Konzentrier dich, und erzeuge eine kleine Flamme.« Sie starrten auf die Kerze, die sich trotzig zu brennen weigerte. »Konzentrier dich!«, drängte Casuel. »Das tue ich doch!« Allin schürzte die Lippen und beugte sich näher zu der Kerze heran. Plötzlich erschien eine Flamme, und Casuel hustete ob des Gestanks von verbranntem Haar, als sich eine von Allins Locken entzündete. Allin schlug das Feuer hastig aus. »Halt sie fest! Halte sie! Ja, gut so. Bring sie runter. Beruhige dich. Du machst das sehr gut«, plapperte Casuel. Allin brachte ein zitterndes Lächeln zustande, und die Kerzenflamme schrumpfte auf normale Größe. Casuel legte seine zitternden Hände zusammen und konzentrierte seine Kräfte auf das Spiegelbild. Eine Welle der Macht durchfuhr ihn und erschreckte ihn, bis er sich an die Eisenmasse erinnerte, die um seine Handgelenke gebunden war. Mit wem sollte er Verbindung aufnehmen? Verzweifelt versuchte er, sich daran zu erinnern, ob irgendein Magier in der Nähe war. Casuel verließ der Mut. Bei der Reichweite, die ihm zur Verfügung stand, war Usara die offensichtliche Wahl, oder? Zumindest könnte es ihm gelingen, diese peinliche Angelegenheit geheim zu halten, wenn er sich damit offen an ein Ratsmitglied wandte. Die Cloche füllte sich mit einem strahlenden bernsteinfarbe212
nen Licht, und ein Bild erschien. Casuel atmete tief ein. »Usara!« Der Magier mit dem sandfarbenen Haar blickte von seinen Tiegeln auf und schaute sich neugierig um. »Casuel?« Allin starrte auf das Bild. »Kann er uns nicht sehen?« Casuel beachtete sie nicht. »Usara, bitte, ich brauche Eure Hilfe.« Der Magier krempelte seine zerschlissenen Ärmel hoch und hob die Hand. Das Zauberbild verdunkelte sich, und die Luft knisterte vor Macht. Dann blickte Usara den beiden Gefangenen in die Augen. »Wo bist du?« »Ich werde von Lord Armile von Friern festgehalten, der meine Magie für seine Zwecke missbrauchen will«, antwortete Casuel offen. »Wie konnte das geschehen?« »Das werde ich Euch später erklären.« Aber nur, falls er keine Möglichkeit fand, das zu vermeiden. »Bitte, wenn es nur um mich ginge, würde ich mich ihm stellen, aber ich habe ein Mädchen bei mir, eine Magiegeborene, die ich nach Hadrumal bringen will. Ich glaube, sie schwebt in Gefahr.« Usara warf einen Blick auf Allin. »Und dieser Lord Armile hat dich tatsächlich gefangen gesetzt?« »So in etwa ...«, begann Casuel. »Ich denke, wir sollten dafür sorgen, dass er es sich beim nächsten Mal zweimal überlegt«, erklärte Usara in hartem Tonfall. Sein Gesicht schien aus dem Bild herauszuquellen. »Macht euch bereit, dass ihr loslauft!« »Was ...?« Casuels Frage ging in einem furchterregenden Krachen unter, 213
als die Fensterwand in Stücke gerissen wurde, und ein Regen aus Glas und Stein nach außen flog. »Komm!« Casuels Befehl war unnötig. Von seinen Fesseln behindert, kroch er über die Trümmer Allin hinterher, die den Rock über die Knie gehoben hatte und wie ein Hase auf der Flucht vor den Hunden rannte. Kurz blieb sie stehen und rieb sich die Augen, denn die Dunkelheit verwirrte sie. Schreie hallten aus dem Haus und den Nebengebäuden; Türen wurden aufgestoßen, und Hunde bellten. »Hier entlang.« Casuel schleuderte einen verzweifelten Blitz aus bernsteinfarbenem Licht gegen eine Gartentür. Er und Allin rannten durch das Loch im Zaun und suchten in einem Gebüsch dahinter Deckung. »Warte. Lass mich die hier erst abnehmen.« Casuel fluchte, doch einen Augenblick später fielen die Fesseln herunter. Allin stand zitternd und keuchend auf, und Casuel packte sie an der Schulter. »Reiß dich zusammen!« Er beschwor eine hellblaue Aura um sie herum. »Wenn du ruhig bleibst, kann ich uns ungesehen hier herausbringen.« Allin nickte in stummer Angst. »Wir werden nach Markt Harrall zurückkehren, unsere Sachen holen und die erste Kutsche fort von hier nehmen.« Casuel zwang sich, selbstbewusster zu klingen, als er sich in Wirklichkeit fühlte. »Haben wir den Distrikt erst einmal verlassen, können wir nach Hadrumal zurück.« Wo er einiges würde erklären müssen, dachte er niedergeschlagen, während sie sich einen Weg durch die triefend nassen Pflanzen bahnten. Das alles war Shiwalans Schuld.
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Inglis 6. Nachherbst
Der Rest unserer Reise verlief ereignislos, und beide Monde waren fast voll, als wir schließlich eine Hügelkette überquerten und auf den Fluss Dalas hinunterblickten, der hier ins Meer mündete. Im Delta lag die Stadt Inglis, der einzige zivilisierte Ort in mehreren Meilen Umkreis. Zufrieden atmete ich durch und verabschiedete mich von der endlosen Grassteppe. »Das sieht wie eine Stadt nach meinem Geschmack aus, Geris. Hier ist alles möglich. Das spüre ich in meinen Knochen.« Ich lächelte Geris an, und er erwiderte mein Lächeln. Wir nahmen die Hauptstraße, die am Fluss entlang zur Stadt führte. Es fiel mir schwer, nicht wie ein unbedarfter caladhrischer Bauer auf die Flöße zu starren, die neben großen Flussschiffen aus den Wäldern und Bergen von Gidesta den Strom hinunterfuhren. Gesang, Lachen und der Lärm einer Schlägerei hallten über das Wasser zu uns herüber. Voller Bedauern, dass ich keine Möglichkeit hatte, an einem der berühmten Spiele an Bord teilzunehmen, zuckten meine Finger. Ich nehme an, Darni hatte Recht damit, dass Boote Ärger bedeuten; aber unsere Reise durch die Steppe war auch nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen. Schreie von einem Boot, das gerade anlegte, ließen die Pferde scheuen, als ein Mann über die Reling geworfen wurde. Fluchend versuchte der Kerl, die Anlegestelle hinaufzuklettern. An beiden Ufern befanden sich oberhalb der Flutmarke Werften, und von überall war Hämmern und Sägen zu hören. 215
Ich roch frisches Holz, Pech und Teer und vor allem den salzigen Duft des Meeres. Wenn ich aufmerksam lauschte, konnte ich gerade so das Rauschen der Wellen über dem Lärm der Stadt vernehmen. Natürlich hatte ich die See schon einmal gesehen. Mehrere Male war ich bereits in Relshaz gewesen, und einige Zeit hatte ich an der Gewürzküste zwischen Peorle und Grennet verbracht; doch die geschützten Wasser des Golfs von Caladhria sind nichts im Vergleich zum offenen Meer. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, während wir uns einen Weg zu den Ostdocks bahnten, wo die hohen Masten dalasorianischer Clipper in den Morgenhimmel ragten. Die Straßen führten uns durch die Docks, und wir hielten kurz an, während Darni und Shiv besprachen, was wir als Nächstes tun sollten. Ich hörte ihnen nicht zu. Ich starrte auf die Brandung, die sich an den Felsen vor der Landzunge und den massiven Seemauern brach. Die Sonne glitzerte auf dem ruhigeren Wasser der Mündung und den schlanken, bemalten Rümpfen mächtiger Seeschiffe. Wenn man an die schwerfälligen Galeeren dachte, die den Golf von Lescar überquerten, wirkten diese Schiffe hier wie Rennpferde im Vergleich zu Ackergäulen. Kein Wunder, dass Tormalin den Dalasorianern verbot, das Kap der Winde zu umfahren; einmal in den südlichen Gewässern, könnte ihnen kein Schiff entkommen. Der Wind drehte sich, und ein ekelhafter Gestank und das Rasseln von Ketten riss mich aus meinen Gedanken. Ich hustete, drehte mich um und sah eine Reihe von Galgen. Unterschiedlich stark verfaulte Leichen schaukelten in der Brise, und Schwärme von Vögeln suchten sich dort eine Mahlzeit. »Was weißt du über Inglis?« Ich ritt neben Geris, der sich mit 216
weit aufgerissenen Augen umschaute wie ein Bauernweib auf ihrem ersten großen Markt. »Wer herrscht hier?« Geris schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher. So weit nördlich bin ich noch nie gewesen. Darni müsste es aber wissen.« Darni drehte sich um, als er seinen Namen hörte. »Was hast du gesagt?« Ich wiederholte die Frage. »Später. Erst suchen wir uns eine Bleibe; dann setzen wir uns zusammen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen. Ich habe ein paar Kontakte hier.« »Ich muss wissen, womit wir es zu tun haben, wenn ich meine Arbeit tun soll«, warnte ich ihn. »Oh, der Kaufmann ...« Geris verschluckte sich fast, als ich Winterapfel gegen seine Pferde trieb und ihn anfunkelte, den Mund zu halten. »Nicht auf der Straße, und nicht so laut«, zischte ich. Er errötete. Ich widerstand dem Verlangen, ihn zu trösten. Geris musste lernen, sich ein wenig unauffälliger zu verhalten, oder wir alle würde bald zur Belustigung der Seevögel an diesen Galgen baumeln. Inglis war genau die Art Stadt, in der so etwas an der Tagesordnung war. Shiv führte uns durch die geschäftigen Straßen ins Herz der Stadt. Die Gebäude waren aus weißem Stein errichtet, und die Hauptstraßen waren gut gepflastert; Wasser lief durch Rinnsteine ab. Auf dem Weg bemerkte ich, dass die meisten Häuser sich in Stil und Alter ähnelten; nur wenige stachen daraus hervor. An diesem Ort roch es förmlich nach Planung, Ordnung und Geld, und ich fragte mich erneut, wer hier wohl das Sagen hatte. 217
»Fort mit euch!« Darni hob die Gerte, als wir auf einen großen Platz ritten und Bettler vom Rand eines Brunnens aufsprangen und auf uns zustürzten. Ich warf einem Mann ein paar Kupferstücke zu, der auf Beinen zu uns gehumpelt kam, die durch irgendeine Kinderkrankheit schrecklich verwachsen waren. So etwas konnte man nicht vortäuschen. Allerdings bereute ich meine Großzügigkeit sofort, als andere zu uns herandrängten. »Ein Kupferstück! Nur ein Stück Kupfer!« Ein dünner Mann wedelte unkontrolliert mit den Händen neben dem Kopf von Geris’ Pferd, und ich sah, dass er die leeren, grünlichen Augen eines Tahnsüchtigen besaß. Ich trat dem Mann in den Rücken, hob den Dolch und war froh darüber, Handschuhe zu tragen, als ich Eiterbeulen im Gesicht des Kerls bemerkte. »Mach, dass du wegkommst, bevor ich dich in Stücke schneide!« Er war noch nicht so verwirrt, dass er die Botschaft nicht verstanden hätte, und so stolperte er davon. »Hat er dich berührt?«, rief Shiv besorgt. Ich schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen.« Ich hatte mich einmal drei Tage lang ohne Unterbrechung übergeben, weil ich mir die Börse eines Tahnsüchtigen geschnappt hatte; damals hatte ich beschlossen, nie wieder mit dem Zeug in Berührung zu kommen. Das Geld des Erzmagiers verschaffte uns saubere, luftige Zimmer in einem respektablen Gasthof. Während ich mich in einem heißen Bad entspannte, kam ich zu dem Schluss, dass ich mich an diese Art des Reisens gewöhnen könnte. Bei Drianon, es tat gut, das Kettenhemd auszuziehen; meine Schultern brachten mich um! Ein Klopfen an der Tür bewahrte mich davor, in dem duftenden Wasser einzuschlafen. 218
»Wer ist da?« »Darni hat uns einen Salon im ersten Stock gemietet.« Shiv steckte den Kopf ins Zimmer. »Er ist rausgegangen, um die Kontakte zu treffen, von denen er gesprochen hat; also brauchst du dich nicht zu beeilen. Komm runter, wenn du fertig bist.« Widerwillig wuchtete ich mich aus der Wanne und zog saubere Kleider an. Meine Laune besserte sich deutlich, als mir der Gedanke kam, dass es in dieser Art Gasthof sicher eine Wäscherin gab. Kleider in Flüssen zu waschen, ist besser als nichts, doch hinterher stinkt man wie ein Frosch. Ich verzog das Gesicht, als ich meine verdreckten Kleider aus dem Geisterring betrachtete; ich hatte mein Bestes getan, aber man konnte die Flecken immer noch als Blut erkennen. Einer Wäscherin würde es vielleicht gelingen, sie zu entfernen, doch sie würden Anlass für Gerüchte sein; daher beschloss ich, die Kleider wegzuwerfen. Das gefiel mir allerdings ganz und gar nicht. Das ruinierte Wams war eines meiner Lieblingskleidungsstücke. Es war aus reinem Elchleder und nicht so leicht zu ersetzen. Plötzlich fiel mir etwas ein, und ich eilte in Geris Zimmer. »Es gibt hier doch bestimmt ein paar gute Gewürzhändler, oder?« Geris lächelte, als ich den Raum betrat. Er sortierte gerade seine kleinen Kästchen und Schachteln, und ich sah, dass er nicht zufrieden sein würde, ehe Inglis nicht einen Beitrag zu seiner Trinkkräutersammlung geleistet hatte. Am Lagerfeuer waren wir stets von einem umtriebigen Geris unterhalten worden, der sich ständig um die richtige Temperatur in seinem Kessel gesorgt hatte. Anschließend pflegte er die Ergebnisse seiner Versuche zwar stets großzügig mit uns zu teilen, nur leider teilten wir seine Liebe nicht, was seltsam duftendes hei219
ßes Wasser betraf. »Ich brauche noch mehr Kupfersalz«, erklärte er und legte die Stirn in Falten. »Hier oben ist es vermutlich sehr teuer, was meinst du? Ich werde mir wohl einfach eine Krone holen. Das dürfte ja nicht so teuer sein.« Ich dachte darüber nach, ihm zu erklären, dass eine solche Menge selbst in Vanam ein Viertel des Jahreseinkommens meiner Mutter kosten würde, doch das hätte vermutlich keinen Sinn ergeben. Trotzdem, ein Gang zum nächsten Kräuterhändler wäre vielleicht gar nicht mal so uninteressant; womöglich gab es in Inglis ja auch ein paar ›Gewürze‹ für meine Wurfpfeile. Dann erinnerte ich mich daran, weshalb ich gekommen war. »Gib deine Kleider von dem Kampf nicht der Wäscherin. Wir wollen doch keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.« »Oh, ich habe sie schon verbrannt, als ich eines Nachts auf Wache gewesen bin«, erwiderte Geris entspannt. »Meinst du, ich könnte hier etwas Bierkraut bekommen?« Er hatte sie einfach so verbrannt, als wären sie nur Müll gewesen. Ein Seidenhemd, eine feine Wolltunika und eine maßgeschneiderte Hose. Es musste ein seltsames Gefühl sein, ständig in Wohlstand zu leben. »Komm. Lass uns Darnis Salon suchen gehen.« »Ich möchte erst eine Einkaufsliste zusammenstellen.« Er fuhr fort, seine Kräuter zu sortieren, während ich mich geduldig an den Türpfosten lehnte. Es hätte schlimmer kommen können; wir hätten in Relshaz sein können, wo im Augenblick geradezu eine Manie herrschte, was Trinkkräuter betraf. Angeblich konnte man dort mit einem Kästchen exotischer Kräuter ein Vermögen machen. Selbst eine Reihe von Giftunfällen hatte die Leidenschaft der Menschen 220
dort nicht gezügelt. Dabei fiel mir ein, dass ich einmal an einem Spiel mit sehr hohen Einsätzen teilgenommen hatte, bei dem einer der prominenteren Teilnehmer plötzlich einer Kräutervergiftung erlegen war. Allerdings wird mich nie jemand davon überzeugen können, dass das ein Unfall gewesen ist. »Wenn wir wieder in Vanam sind, werde ich dich zu meinen Lieblingshändlern mitnehmen.« Geris nahm meinen Arm, als wir die Treppe hinunterstiegen. »Kurz hinter der Eisenbrücke gibt es einen ganz hervorragenden Laden. Auch meine Mutter kauft dort all ihre Kräuter. Sie wird dir übrigens gefallen.« Geris plauderte glücklich weiter. Ich kam zu dem Schluss, dass ich mir überlegen musste, auf behutsame Art mit ihm Schluss zu machen. Geris besaß das Verlangen, ein Nest zu bauen, wie man es außerhalb eines Hühnerstalls nur selten findet. Wir waren in vielerlei Hinsicht zu unterschiedlich. Das Äquinoktium hatten wir in einem Hirtenlager verbracht, wo wir uns mit Vorräten und frischen Tieren versorgt hatten, und Geris hatte uns alle mitten in der Nacht geweckt, um den Hornsignalen zu lauschen, die zur Feier des Tages über die kalte Steppe hallten. Währenddessen stand er einfach da, las Abschnitte aus seinem Almanach vor und plapperte von den antiken Ursprüngen des Ritus und den Traditionen, die mit dem Sonnenzyklus in Verbindung stehen. Soweit es mich betraf, verrieten die Hornsignale mir lediglich, wie weit die anderen Lager entfernt waren, und das hätte ich auch erfahren, wäre ich in meine Decken gewickelt liegen geblieben. Vielleicht werde ich eines Tages mein Haar auf Drianons Altar legen, doch Geris würde es mir bestimmt nicht abschneiden. Aber egal, darüber konnte ich mir später immer noch Gedanken machen. »Es ist der letzte auf der rechten Seite.« Shiv kam hinter uns 221
heran, und wir öffneten die Tür. Im Innern des geschmackvoll mit grünem Brokat eingerichteten Salons fanden wir Darni und einen seltsamen jungen Mann. »Dies hier ist Fremin Altaniss.« Darni winkte dem jungen Mann, der uns alle unsicher anblickte und den Mund öffnete. »Warte.« Ich wandte mich an Shiv. »Inglis scheint mir die falsche Stadt zu sein, um belauscht zu werden. Kannst du etwas dagegen unternehmen?« »Sicher.« Mit einem strahlenden blauen Licht malte er ein paar Runen in die Luft; dann flogen Funken durch Fenster und Wände, die daraufhin kurz aufglühten. »Nun denn.« Ich setzte mich an den Kopf des Tisches. »Guten Morgen, Fremin. Und wer genau bist du?« »Er ist ein Agent, dessen Aufgabe es ist, den Kaufmann zu überwachen, an dem wir interessiert sind.« »Kann er nicht für sich selbst sprechen, Darni?« »Er muss sich mir gegenüber verantworten.« Der arme Junge sah aus wie eine Maus zwischen zwei Katzen; doch ich hatte nicht vor, mich so einfach geschlagen zu geben. »Darni, wenn es darum geht, Menschen in ihre Einzelteile zu zerlegen, bist du der Beste, den ich je gesehen habe – keine Frage. Aber glaub mir, ich bin die Beste, wenn es darum geht, andere Leute um ihr Eigentum zu erleichtern. Ich muss bestimmte Dinge wissen, von denen ich nicht glaube, dass du sie überhaupt erkennen würdest. Wenn es dich glücklich macht, frage ich dich, und du fragst dann ihn; aber ich glaube, es wäre einfacher, wenn ich ihn direkt befragen würde.« Shiv öffnete den Mund, um etwas darauf zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder. Wir alle warteten darauf, dass Darni 222
eine Entscheidung traf. Die Spannung im Raum wurde dadurch verstärkt, dass von draußen keine Geräusche mehr zu uns drangen. »Mach weiter.« Er nickte Fremin ernst zu, der erleichtert wieder zu atmen begann. »Nun, wie gut kennst du Inglis? Wie lange bist du schon hier?« »Ich bin Yeniya – das ist die Händlerin – von Relshaz hierher gefolgt. Seit Ende Nachsommer sind wir hier.« »Warst du je zuvor in Inglis?« Er schüttelte den Kopf, und ich unterdrückte ein Seufzen. Der Auftrag versprach auch so schon hart genug zu werden, und ich hatte auf etwas genauere Informationen gehofft, am besten von einem Einheimischen. »Was kannst du mir über die Stadt sagen? Wer glaubt, sie zu beherrschen, und wer beherrscht sie wirklich?« »Die Kaufmannsgilde beherrscht alles«, antwortete Fremin selbstbewusst. »Sie übt die wirkliche Herrschaft aus. Verschiedene Gilden tun unterschiedliche Dinge, aber ihre Anführer arbeiten gut zusammen. Die Kaufmannsgilde fungiert dabei als so eine Art ›Obergilde‹.« »Gibt es hier einen Rat oder eine gewählte Versammlung, die dem Volk eine Stimme verleiht?« »Jeder, der hier ständig lebt, muss Mitglied einer der Gilden sein; deshalb nehme ich an, dass sie ihre Sorgen durch ihren Gildenführer, ihren Obmann oder was auch immer kundtun.« Er schaute mich unsicher an. »Wie funktioniert das?« »Ich bin nicht sicher. Jede Gilde besitzt ihr eigenes System.« Ich runzelte die Stirn. »Wie groß ist die Kontrolle, die sie 223
ausüben? Es muss doch ein paar Leute geben, die ihr Glück auf eigene Faust versuchen wollen.« Fremin schüttelte erneut den Kopf. »Wer sich keiner Gilde anschließt, wird aus der Stadt vertrieben. Es hat allerdings auch seine Vorteile, Gildemitglied zu sein; freie Fracht Richtung Süden ist einer davon. Die Gilden kümmern sich auch um die städtischen Angelegenheiten.« »Es muss doch jemanden geben, der dabei nicht mitmacht«, protestierte ich. »Gildebeiträge kosten Geld, und das bedeutet weniger Profit.« »Nein, das ist alles Teil des Ganzen. Die Gilden nehmen kein Geld von ihren Mitgliedern. Die Mitglieder bezahlen ihre Beiträge in Form von Dienstleistungen: Straßenreinigung, Feuerwehr und dergleichen.« Irgendjemand hatte das alles äußerst gut durchdacht. Mir kam ein Gedanke. »Ist diese Feuerwehr tüchtig? Und wo wir schon dabei sind ... Welche Strafe steht hier auf Brandstiftung?« »Livak!«, rief Geris, als er erkannte, worauf ich hinauswollte. »Das hier ist nicht Vanam«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Zum Beispiel ist hier alles aus Stein gebaut.« Fremin blickte unglücklich drein. »So oder so, sie würden dich dafür hängen. Immerhin geht es dabei um viel Geld und Waren.« »Ich könnte aus sicherer Entfernung ein Feuer entfachen«, bemerkte Shiv. »Geht es dir um ein Ablenkungsmanöver?« Ich nickte. »Der Trick ist, den Auftrag nicht einfach nur zu erledigen, sondern anschließend auch ungeschoren davonzukommen.« »Wirst du es schaffen?« Darnis sorgenvoller Gesichtsausdruck 224
überraschte mich. »Ich bin nicht sicher«, antwortete ich offen. »Ich muss noch weit mehr wissen, bevor ich dir das sagen kann. Nun, Fremin ... oder ist dir Frem lieber?« »Frem ist schon in Ordnung.« Er entspannte sich ein wenig, und ich lächelte ihn an. Es war nicht seine Schuld, dass er für uns genauso nützlich war wie ein Eunuch in einem Freudenhaus. »Wie passt diese Händlerin da hinein? Was für Geschäfte hat sie hier zu erledigen, und wie ist ihr Status?« »Sie handelt mit Stoff und Pelzen. Sie kauft Felle aus den Ländern stromaufwärts und Wolle aus Dalasor. Sie hat eine Abmachung mit einer Familie hier, die die Wolle zu Stoff verarbeitet; anschließend schickt sie den Stoff nach Süden, nach Tormalin, oder verkauft ihn an die Fallensteller, wenn die von den Bergen herunterkommen. Sie importiert auch Seide und Leinen aus Tormalin und von den Aldabreshi-Inseln.« »Ist sie reich?« »Sehr reich. Sie ist allerdings auch noch sehr jung, keine dreißig, würde ich schätzen, und sie ist sehr hübsch.« »Was weißt du über ihr Privatleben?« »Sie ist Witwe. Ihr Mann stammte aus einer Familie von Tuchhändlern. Vergangenen Winter ist er an einer Lungenentzündung gestorben. Im Augenblick machen ihr eine Hand voll Männer den Hof; alle sind sie im selben Geschäft und hochrangige Mitglieder ihrer Gilde.« »Wie hast du das alles herausgefunden?« »Ich habe entdeckt, wo ihre Diener hingehen, wenn sie sich ein Bier genehmigen wollen, und mich mit ihnen angefreundet. Ich hab mich ein wenig umgehört – das Übliche. Ich habe ihnen 225
erzählt, ich würde mich im Auftrag einiger Ziegenhirten erkundigen, die nach neuen Märkten Ausschau halten.« Shiv musste mein Spielergesicht durchschaut haben. »Erscheint dir das zu schwierig?« »Nun ja, wir haben es hier mit der Art Bürgerin zu tun, die alle möglichen Gefallen wird einfordern können, wenn sie ein Problem hat, zum Beispiel den Diebstahl einer wertvollen Halskette. Mehr noch: Fünf der mächtigsten Männer hier sind nur zu begierig darauf, ihr zu Hilfe zu eilen, um sie ins Bett zu bekommen. Sobald sie den Schmuck vermisst, werden die Leute Fragen stellen, und ich wette, dass sie sich schon bald nach einem kleinen Jungen aus dem Süden erkundigen – einem Jungen mit blauen Augen und braunem Haar, der viel zu viele Fragen gestellt hat und sich nach der letztjährigen Relshazmode kleidet.« Frem wurde offensichtlich übel, und er tat mir Leid – besonders als ich Darnis Gesichtsausdruck sah. »Nimm dir das nächste Mal die Zeit, soviel wie möglich herauszufinden, indem du nur beobachtest. Verkleide dich als Bettler mit Lumpen, Dreck und allem, oder besser noch als Verrückter. Die Leute werden sich vielleicht an einen Schwachsinnigen erinnern, der irgendetwas davon gefaselt hat, dass blaue Katzen ihn verfolgen; dein Gesicht jedoch werden sie vergessen.« »Machst du das so?«, fragte Shiv neugierig. Ich grinste ihn an und lehnte mich zurück. »Oh, ich habe da einen guten Spruch – von wegen, ich würde meine verlorenen Kinder suchen. Ich sage dann immer, sie müssten hier irgendwo sein, und die Leute verraten mir alles Mögliche, wenn sie mir erklären wollen, warum sie nicht in diesem oder jenem Haus sein können. Wenn ich erst einmal so viel herausgefunden 226
habe, wie ich kann, benehme ich mich immer seltsamer. Zum Beispiel erkläre ich, das eine Kind sei eine Ziege, das andere ein Schweinchen. Dann können die Leute gar nicht schnell genug von mir wegkommen.« »Willst du das auch hier versuchen?«, fragte Darni zweifelnd. »Nein. Ich werde mich zurückhalten, bis es an die eigentliche Arbeit geht. Frem, du kannst noch etwas für mich tun; dann solltest du dich auf den Heimweg machen. Triff dich heute Abend mit deinen Trinkkumpanen, und finde so viel wie möglich über die Männer heraus, die unserem Ziel den Hof machen. Mich interessiert besonders, wer das Rennen zu verlieren droht, und ob sie sich in letzter Zeit mit einem von ihnen gestritten hat. Gib so viel aus, wie du willst. Sag ihnen, du hättest ein hervorragendes Geschäft mit deinen Ziegen gemacht und dass du morgen wieder nach Hause gehen würdest. Am Morgen besorgst du dir als Erstes eine Passage nach Tormalin und sorgst dafür, dass man sieht, wie du an Bord gehst. Fang mit jemandem an den Docks eine Schlägerei an oder so was.« »Das kann ich mit dir machen.« Darni wollte Frem beruhigen, doch der schien sein Glück eher mit einem Hafenarbeiter versuchen zu wollen. »Shiv, es gibt hier doch sicherlich Magier. Kannst du herausfinden, was sie tun und wie die Gilden zu ihnen stehen? Wenn du Magie benutzen musst, möchte ich vorher wissen, wie der Trupp sich zusammensetzt, der sich uns dann an die Fersen heftet.« Er nickte. »Kein Problem.« »Gut. Ich werde losziehen und versuchen, selbst etwas herauszufinden. Ich muss ein Gefühl für den Ort bekommen, bevor ich einen Plan entwickeln kann.« 227
»Ich werde dich begleiten.« Geris stand auf. »Allein falle ich weniger auf. Vertrau mir.« Ich würde mit einem grün gefärbten Muli weniger auffallen, aber ich wollte Geris’ Gefühle nicht verletzen. »Das hier ist eine raue Stadt. Es könnte gefährlich werden«, protestierte Geris. »Ich kann auf mich aufpassen«, erwiderte ich so sanft ich konnte. »Ich mache das nun schon sehr, sehr lange, Geris.« »Wenn Frem nach Hadrumal zurückfährt, möchte ich ihm einen Bericht mitgeben. Dabei benötige ich deine Hilfe, Geris«, erklärte Darni streng. »Wir beide bleiben hier, und wenn Livak uns später für ein Ablenkungsmanöver braucht, haben nur wenige Leute unsere Gesichter gesehen.« Das heiterte Geris sichtlich auf. Ich ging und verließ den Gasthof unauffällig durch den Stall. Trotz meiner Verletzung beschloss ich, zu Fuß zu gehen. Darni hatte die Fäden in meinem Bein vor ein paar Tagen gezogen, und obwohl die Wunde noch recht empfindlich war, hatte ich zu Fuß einfach mehr Bewegungsfreiheit. Je weiter ich mich von den anderen entfernte, desto freier konnte ich atmen. Unter dem Befehl eines anderen zu arbeiten, bedrückte mich noch immer, und es war gut, sich endlich wieder frei zu fühlen – auch wenn dieses Gefühl nur eine Illusion und nicht von Dauer war. Kurz dachte ich darüber nach, einfach an Bord eines Schiffes zu gehen, doch inzwischen war die Herausforderung, die dieser Diebstahl darstellte, zu verlockend. Das würde die schwerste Arbeit werden, die ich je allein erledigt hatte, und sehnsüchtig dachte ich an Halice, Sorgrad, Sorgren und Charoleia. Wären sie an meiner Seite, würde ich einfach einsteigen und wäre mit dem halben Vermögen der Frau ver228
schwunden, bevor sie auch nur »Piep« sagen konnte. Ich schob den Gedanken rasch beiseite; er brachte mich jetzt auch nicht weiter. Während ich durch die Stadt schlenderte, achtete ich sorgfältig darauf, alles zu vermeiden, womit ich Aufmerksamkeit hätte erregen können. Ich wollte die unsichtbare Frau sein. Dann kam mir ein interessanter Gedanke: Nun, da ich mit einem Zauberer zusammenarbeitete, eröffneten sich mir die unterschiedlichsten Möglichkeiten, die einem normalen Fassadenkletterer verwehrt blieben. Ich musste das einmal eingehender mit Shiv besprechen. Ich suchte nach einem Teil der Stadt, wo die Gilden und ihre Vertreter nicht so präsent waren wie anderswo. In den meisten Küstenstädten wären das die Docks gewesen, doch da Inglis vollständig vom Handel abhing, war hier vermutlich genau das Gegenteil der Fall. Scheinbar ziellos wanderte ich durch die Straße wie ein neu eingetroffener Händler, der sich erst einmal in Ruhe alles anschaut. Inglis war sicherlich ein interessanter Ort. Alle möglichen Arten von Schmieden besaßen ihre eigenen Viertel: Kupfer, Silber, Gold. In ihrer Nähe wohnten die Edelsteinhändler und -schleifer sowie die Juweliere. Pelzhändler und Gerber arbeiteten zusammen in einem Distrikt; ihre Werkstätten und Läden standen auf der windabgewandten Seite der Tuchhändler und Schneider, deren Lagerhäuser den Großteil des Stadtzentrums ausmachten, gemischt mit allen möglichen anderen Geschäften, wie sie in einer großen Stadt üblich sind. Es gab Obsthändler, Fleischer, Zimmerleute, Töpfer – und alle waren sie harte Geschäftsleute. Ihre Kunden reichten von überanstrengten Müttern in schlichten Kleidern, die eine Schar Kinder am Rockzipfel mit sich herumschleppten, bis hin zu elegan229
ten Damen in fließenden Seidengewändern, die von unterwürfigen Händlern verfolgt wurden. Straßenhändler verkauften allen möglichen Schund, und überall wurde Essen feilgeboten. Die Taschendiebe und Beutelschneider zu finden, bereitete mir größere Probleme. Einmal glaubte ich einen gesehen zu haben. Zwar hatte ich ihn nicht bei der Tat beobachtet, doch als er sich von seinem Opfer löste, ging er auffallend schnell. Schließlich fand ich den Pferdemarkt. Das sah schon vielversprechender aus. An einigen Türen hingen noch Festgirlanden; viele waren jedoch bereits in die Gosse gefallen. Wenn diese Leute schon nicht allzu pflichtbewusst waren, was die Straßenreinigung betraf, nahmen sie andere Dinge vielleicht auch etwas lockerer. Ich sah einen Priester, der Brot und Fleisch als Almosen verteilte. Sein Schrein war so ungewöhnlich gut gepflegt wie die anderen, an denen ich vorübergekommen war, doch er war der erste Kleriker in Inglis, der nicht mit einer Sammelbüchse rappelte. Um die große, staubige Pferdekoppel herum gab es nur wenige Tavernen. Bei der Aufgehenden Sonne handelte es sich offensichtlich um ein Bordell, und in die Gekreuzten Schwerter ging man anscheinend nur, um zu zechen. Der Adler sah da schon besser aus, und ich wurde nicht enttäuscht. Zwar ging es dort recht lustig zu, doch niemand war wirklich betrunken, und in einer Ecke spielte man fröhlich Runen. Ich überließ die Leute ihrem Spiel; niemand will gleichzeitig reden und Runen werfen. Am Fenster standen Tische mit Rabenspielbrettern, und ich suchte nach einem freien Platz. Ich spiele gerne Weißer Rabe, doch weder Darni noch Geris kannten die Regeln. Shiv hingegen schon, aber nach ein paar Spielen erkannte ich, dass er nicht sonderlich begeistert davon war ... was auch irgendwie Sinn ergibt, wenn man darüber nach230
denkt, von wegen Zauberer und so. Gegenüber einem großen, dürren Mann mit dunklem, lockigem Haar und olivfarbener Haut, wie man sie oft in Tormalin sieht, war ein Stuhl frei. Scheinbar entspannt saß er bei einem Becher Wein; nichts auf der Welt schien ihn zu kümmern. Doch ich wusste es besser. Ich sah den wachsamen Blick seiner Augen, während er jeden aufmerksam musterte, der an ihm vorüberkam. Er trug ein schlichtes, praktisches Schwert und hatte sich halb abgewandt, damit ihm niemand unbemerkt in den Rücken kommen konnte. »Wollt Ihr spielen?« Ich deutete auf das Brett. »Warum nicht?« Er straffte die Schultern und winkte dem Wirt. »Weißer Rabe oder Waldfasan?« Ich begann, die abgegriffenen Spielsteine zu sortieren. »Egal. Wein?« Ich nickte und platzierte Bäume und Büsche auf dem Brett. Mal sehen, wie gut er war. »Interessant«, murmelte der Mann, und ich lehnte mich zurück, um an einem hervorragenden Roten aus Califeria zu nippen, während mein Gegenüber sich die Vögel aussuchte, mit denen er die Partie eröffnen wollte. »Gerade erst in Inglis eingetroffen?« Er blickte nicht auf, während er die Apfeldrosseln und Nebelkrähen aufbaute – ein höflicher Mann, der nur ein höfliches Gespräch führen wollte. »Heute Morgen.« Warum sollte ich lügen, wenn es nicht notwendig war? »Von flussaufwärts?« Ich schüttelte den Kopf und beugte mich vor, um seine Aufstellung zu studieren, bevor ich den Raben aufs Brett stellte. Die 231
Aufstellung war trügerisch einfach, und mein Gegenüber hielt Raben und Eulen für den nächsten Zug zurück. Wenn ich nicht aufpasste, konnte das die Vertreibung meines weißen Raben aus dem Wald bedeuten. »Dann kommt Ihr also aus Tormalin? Was gibt es Neues?« Jetzt wollte er doch tatsächlich wissen, woher ich war. »Nein, ich bin die Südstraße von Dalasor heraufgekommen. Angefangen hat meine Reise in Ensaimin. Was ist mit Euch?« »Ich bin von Tormalin die Küste raufgefahren, um etwas für ein paar Leute zu erledigen. Ich bin seit zehn Tagen hier. Vielleicht kann ich Euch helfen, Euch einen guten Gasthof empfehlen oder bessere Händler.« »Das wäre in der Tat sehr nützlich.« Wir verstanden uns prächtig. Wir spielten ein paar Runden, und ich zwang seine Singvögel über den westlichen Rand des Brettes, bevor er zwei Falken einsetzte, um mich zurückzutreiben. »Es ist eine lange Reise von Ensaimin«, bemerkte mein Freund und füllte meinen Becher nach. »Was führt Euch hierher?« »Die Suche nach neuen Möglichkeiten, das Übliche eben.« »Dies hier ist nicht gerade eine Stadt, die einen unternehmerischen Geist willkommen heißt, wenn Ihr wisst, was ich meine.« Er hob den Blick, und ich sah, dass er seine freundliche Warnung ernst gemeint hatte. »Mir scheint hier alles sehr gut organisiert zu sein«, erwiderte ich, als pflichte ich ihm bei. »Wie ich höre, sind die Gilden hier für alles verantwortlich, einschließlich der Stadtwache und so.« »Das stimmt, und sie machen ihre Arbeit gut. Die Milizionäre sind nicht die üblichen Verlierer mit einem guten Bekannten im 232
Stadtrat. Die Gilden heuern jeden Winter Männer aus Lescar an, wenn die Kämpfe dort abflauen. Sie werden gut bezahlt und sind gut ausgebildet. In Inglis gibt es eine Menge Geld, und die Gilden sind daran interessiert, dass sich jeder hier sicher fühlt.« »Gehen sie regelmäßig Streife? Und wie gut sind sie, wenn es wirklich Ärger gibt? Nehmen wir zum Beispiel an, jemand durchwühlt mein Zimmer.« »Sie gehen überall Streife, Tag und Nacht. Wenn sie den Ärger trotzdem nicht verhindern können, jagen sie den Übeltäter, und wie ich zu meiner Freude gehört habe, lassen sie sich nicht bestechen. Auch Magier arbeiten mit ihnen zusammen.« »Wenn ich mir so die Galgen anschaue, sind sie ziemlich gründlich. Wird hier jeder gehängt, oder gibt es auch ein Gefängnis?« »Es gibt einen Kerker, in den sie Betrunkene und so was werfen.« »Schön zu wissen, dass die Straßen des Nachts sicher sind.« Wir beide klangen ehrlich zufrieden. Ich verriet meine Spielstrategie mit einem ungeschickten Zug und wäre beinahe einer versteckten Gruppe Eulen zum Opfer gefallen. »So weit östlich habe ich noch nicht viele vom Waldvolk gesehen.« Er trank seinen Wein und lehnte sich zurück, um das Brett zu studieren. Die Partie wurde allmählich kompliziert. »Oh, wir kommen herum.« »Es muss ziemlich lästig sein, wenn jedermann Euch sofort an Eurem kupferfarbenen Haar erkennt.« Ich grinste wider Willen. »Oh, es würde Euch erstaunen, was man alles mit Kräutertinkturen machen kann. Ich kann so schwarz und lockig sein, wie Ihr wollt.« Er lächelte freundlich. »Und ich wette, Ihr würdet damit ver233
dammt gut aussehen. Ich kann mir höchstens den Kopf kahl scheren und mir einen Bart wachsen lassen.« Das war eine interessante Vorstellung. »Musstet Ihr das schon öfters tun?« »Dann und wann. Wie Ihr, suche auch ich ständig nach neuen Gelegenheiten.« Wir spielten ein paar Züge. »Blond ist bestimmt eine gute Farbe, wenn man sich die Haare färben will.« Er war sehr gut; es klang wirklich so, als wäre ihm der Gedanke gerade erst gekommen. »Nicht dass man echtes Blond oft sehen würde.« »Nein.« Ich schaute mich im Schankraum um und sah die üblichen verschiedenen Brauntöne. »Die Haarfarbe von der Schankmaid da, zum Beispiel, stammt eindeutig aus dem Tiegel eines Alchimisten.« »Ich glaube, ich habe noch nie mehr als zwei echte Blondschöpfe nebeneinander gesehen.« Es war, als führten wir ein ungezwungenes Gespräch bei einem freundschaftlichen Spiel. »Ich habe auf der Straße ein paar Leute getroffen, die behaupteten, einen ganzen Trupp von Blonden gesehen zu haben.« Das war ein fairer Tausch; er hatte mir einiges über die Stadtwache verraten. Wie auch immer, ich hätte nur zu gerne den Grund für seine Neugier gewusst. »Ach? Und wann war das?« »Vor ein paar Tagen, kurz vor dem Äquinoktium, an der Abzweigung nach Lescar.« Er studierte das Brett. Scheinbar konzentrierte er sich voll und ganz auf seinen nächsten Zug; doch ich wette, ich hätte ein ganzes Buch gesehen, hätte ich ihm in diesem Augenblick 234
in die Augen schauen können. »Wie sieht es dieses Jahr mit dem Vieh aus?« Er machte seinen Zug und keilte meinen Raben ein. »Ziemlich gut. Dank des Regens gab es den ganzen Sommer über saftiges Gras.« Also waren unsere blonden Angreifer nicht diejenigen, an denen er interessiert war. Wir setzten unser Spiel fort und schwatzten über dies und das. Es war ein gutes Spiel, und schließlich gewann ich, was mich mehr freute, als ich erwartet hatte. Der Mann stand auf und bot mir seine Hand dar. »Danke für das Spiel. Ich wünsche Euch einen schönen Aufenthalt. Inglis ist eine angenehme Stadt, solange man nicht die Aufmerksamkeit der falschen Leute erregt.« Er stieß seinen Raben mit dem Finger um. Ich leerte meinen Wein und ging. Das Gefängnis zu finden, war leicht, und ich studierte es eine Weile, bevor ich mich in den Bezirk aufmachte, wo Yeniya die Händlerin wohnte. Obwohl ich den Gefährten etwas anderes erzählt hatte, wollte ich mir das Haus erst einmal ansehen. Und ich war froh, mich so entschieden zu haben, denn ich fand heraus, dass Yeniyas luxuriöses, dreistöckiges Heim unmittelbar an ihr Kontor angebaut war, welches wiederum an die Parallelstraße grenzte. Ich hätte all mein Geld darauf verwettet, dass es eine Verbindungstür zwischen beiden Gebäuden gab, was ich mir als potenziellen Ein- und Ausgang merkte. Allmählich nahm ein durchführbarer Plan in meinem Kopf Gestalt an. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mir die Webergilde in allen Einzelheiten anzusehen sowie den Bauernmarkt und zwei weitere Privathäuser. Gelegentlich kehrte ich auch noch in die ein oder andere Taverne ein, sprach mit diesem und jenem 235
und spielte ein paar Runden Runen. Ich hatte keine Ahnung, ob irgendjemand mich beobachtete, aber dies war nicht die Zeit, unnötige Risiken einzugehen. Als die Stadtglocken die erste Nachtstunde einläuteten, machte ich mich mit einer hübsch gefüllten Börse auf den Weg zurück zu den anderen. Nach so langer Zeit in der Wildnis waren die Glocken ein wahrer Trost. Glocken bedeuten Zivilisation, heißes Wasser und ordentliches Essen. »Da bist du ja!« Geris bemühte sich, seine gewaltige Erleichterung zu verbergen, und mich rührte seine Sorge. »Ich hab dir doch gesagt, mir wird nichts passieren.« Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Jetzt lass uns etwas essen, und wenn die anderen zurückkommen, können wir uns an die Planung machen.« Mit meinem Gewinn kaufte ich uns die beste Mahlzeit im Haus, und wir lachten und flirteten beim letzten Becher Wein, als zuerst Frem und dann Shiv erschien. Es war das Natürlichste von der Welt, dass wir uns mit Wein und Schnaps in unseren Salon zurückzogen, doch nachdem die Tür erst einmal geschlossen war, kamen wir zum Geschäft. »Nun, Frem, was hast du uns zu sagen?« Es stellte sich heraus, dass Yeniya überaus geschickt mit ihren Freiern spielte. Ich war froh, dass sie nie beschlossen hatte, professionelle Spielerin zu werden. Alle Freier waren eifrig bei der Sache und fest davon überzeugt, dass sie innerhalb eines Jahres Yeniyas Haar für Drianon schneiden würden, wenn nicht schon früher. In der Zwischenzeit schloss Yeniya immer neue Verträge und knüpfte Verbindungen, um ihr ohnehin schon beachtliches Vermögen zu vergrößern. Ich verzog das Gesicht ob dieser Neuigkeiten; ich wusste 236
nicht, wie ich sie zu unseren Gunsten einsetzen sollte. »Und da war noch etwas.« Frem trank einen Schluck Wein. »Es gibt einen Neffen ihres toten Mannes, der ihr eine Menge Ärger bereitet. Er hat das Testament bei der Anwaltsgilde angefochten. Er behauptet, sein Erbteil hätte dem Gesetz nach größer ausfallen müssen; deshalb müsse man ihm mehr Geschäftsanteile geben.« »Und ist da was dran?« Frem zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen; aber er erzählt jedem, dass er den Fall nur verloren hat, weil einer der Richter hinter Yeniya her ist.« Ich grinste. Das war genau die Art Information, die ich haben wollte. »Was hast du vor?«, fragte Geris neugierig. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich werde es dir später erzählen. Shiv, was kannst du uns über die Zauberer sagen?« Er runzelte die Stirn. »Sie werden geachtet und sind in den üblichen Geschäften tätig, aber sie müssen einer Gilde beitreten wie alle anderen auch. Tatsächlich versuchen sie, zwei Herren zu dienen. Meine Autorität wird dafür sorgen, dass sie sich aus allem heraushalten, was uns betrifft. Keiner von ihnen wird die Wache auf unsere Spur fuhren. Aber ich glaube nicht, dass sie auf irgendeine Weise mit uns zusammenarbeiten werden. Jeder Magier, der hier die Linie überschreitet, findet sich auf dem nächsten Boot wieder, egal wohin es geht.« »Das dürfte kein Problem sein«, versicherte ich ihm. »Solange du nur deine Magie wirken kannst, ohne dass jemand mit dem Finger auf dich zeigt.« »Und was stellst du dir vor?« »Wenn die Wache mich einsperrt, kannst du mich dann 237
rausholen und wieder reinbringen?« »Ja, wenn ich Zeit habe, mir das Gebäude genauer anzuschauen.« Shiv war fasziniert. »Kannst du mich unsichtbar machen?« Das war ein schwerer Brocken. »Ja. Es würde ungefähr zwei Stunden anhalten. Reicht das?« »Das ist lang genug.« Ich lehnte mich im Stuhl zurück und lächelte die anderen der Reihe nach an. »Ich denke, wir können jetzt damit beginnen, einen Plan zu entwerfen, meine Herren.« Eigentlich war es recht einfach. Ich musste rein- und rauskommen, ohne gesehen zu werden, und wir wollten eine schön auffällige Spur für die Stadtwache hinterlassen, der sie folgen konnte, wenn Yeniya »Räuber!« schrie. Außerdem brauchten wir noch eine Verteidigung für den Fall, dass man mich aus irgendeinem Grund entdeckte. Frem erzählte uns, wann Yeniyas Diener ihren nächsten freien Abend hatten, und Darni und Geris verbrachten die bis dahin verbleibenden Abende damit, sich mit dem betrübten Neffen anzufreunden und ihn zu ermutigen, seine Beschwerden immer lauter und auffälliger vorzutragen. All das beobachtete ich eines Abends aus einer ruhigen Ecke im Schankraum. Darni und Geris hätten mit ihrer Vorstellung ohne weiteres in Judals Theater auftreten können. Ich hätte nie gedacht, dass sie das Talent besitzen würden, aber sie waren brillant. Ich folgte unserem Ablenkungsmanöver ein paar Nächte lang nach Hause, und schon bald kannte ich sein kleines Haus und die einfachen Schlösser. Wenn erst einmal eine Hand voll von Yeniyas Juwelen in seinem Kamin versteckt waren, sollte er die Stadtwache lange genug unterhalten, um uns ein paar Tage später eine unauffällige Abreise zu ermöglichen, sobald die Wache nicht mehr jeden ausfragte, der die Stadt verließ. 238
5.
Aus: Der Freisassenalmanach der Meeresküste
Sostire Heriod Enthält umfassende Zeitpläne und Instruktionen für alle Arten des Ackerbaus, der Viehzucht und für sämtliche Haushaltsarbeiten Die Jahreszeiten, wie sie von den Monden bestimmt werden, und die Sitten, die sich daraus ergeben Wintersonnenwende Poldrion geweiht Größerer und Kleinerer Mond voll. Gidesta:
Weißpelzverkauf. Frostmarkt in Inglis. Kopfgeld für Wölfe wird ausbezahlt. Dalasor: Mistelmarkt. Ritt des Verdammnispferdes. Tormalin: Münzsteuer. Wintergerichtstag Seelennacht Nachwinter Misaen geweiht Dauert bis zum Ende des zweiten Neumonds des Größeren Mondes. 239
Gidesta:
Aufstellen der Schädel bis zum 20. Tag. Anschließend Einmotten der Schlitten. Dalasor: Brennen und Segnen der Herden. Decken der Stuten. Tormalin: Winterblumenmaiden werden gekrönt. Ausgabe des Stempelgeldes. Vorfrühling Halcarion geweiht Dauert bis zum Ende des Neumonds des Kleineren Mondes Gidesta:
Ritus des Dastennin, wenn das Eis der Flüsse bricht. Pelzverkauf in Inglis. Dalasor: Enthornen der Jungwidder. Futterverkauf an der Herdenstraße. Tormalin: Schmücken der Pflüge und Segnen der Saat. Richten der Türdornen. Frühlingsäquinoktium Raeponin geweiht Größerer Mond nimmt ab, Kleinerer Mond nimmt zu. Gidesta:
Bergwerkskontrakte werden geschlossen. Apothekermarkt in Inglis. Dalasor: Sängertag. Wasserrechte für den Sommer werden ausgelost. Tormalin: Herdensteuer. Versammlung der großen Häuser. Blütensingen.
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Nachfrühling Arrimelin geweiht Dauert, bis sowohl Größerer als auch Kleinerer Mond halb voll sind. Gidesta:
Flussschifffahrt wird wieder aufgenommen. Bergfest am Gerrads Berg. Dalasor: Den Geistern Wegzoll zahlen. Ishelwasser-Rennen. Tormalin: Lehnspflichten werden erfüllt. Einsegnen der Schiffe und Netze. Vorsommer Ostrin geweiht Dauert, bis der Größere Mond zum zweiten Mal drei Viertel voll ist. Gidesta: Dalasor:
Wollverkauf und Färbermarkt. Dockfeste in Inglis. Scherensaison. Ausräuchern des Zeckenkönigs. Ringbefiederung. Tormalin: Heumachen, Ernte einfahren. Fest der Schreinerstürmung. Sommersonnenwende Saedrin geweiht Neumond des Größeren Mondes. Gidesta: Gildewahlen in Inglis. Befriedung der Berge. Dalasor: Milchmärkte und Käserennen. Weißnachtfeuer. Tormalin: Sommergerichtstag. Landsteuer fällig. Des Kaisers Stempelgeld. 241
Nachsommer Larasion geweiht Dauert bis zum zweiten Vollmond des Größeren Mondes. Gidesta: Apothekermärkte. Tuchverkauf. Schreinbier. Dalasor: Krönung der Steine. Freilassen der Herden. Tormalin: Rosenmarkt. Wachnächte in den Schreinen. Kornflechten. Vorherbst Dastennin geweiht Dauert, bis der Größere Mond zunimmt, nachdem beide Monde Neumond hatten. Gidesta: Ende der Bergbausaison. Erztribut fällig. Dalasor: Herden- und Schmiedefeste. Tormalin: Ernte. Ostrins Schwein wird verkauft. Seesalzverkauf. Herbstäquinoktium Drianon geweiht Halbmond beider Monde. Gidesta: Dalasor:
Edelsteinmarkt. Steinsalzverkauf in Inglis. Viehmarkt an der Herdenstraße. Blasen der Hornkette. Tormalin: Fleisch-, Milch- und Wollsteuer fällig. Abgehen der Grenzen.
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Nachherbst Talagrin geweiht Dauert bis zum zweiten Vollmond des Kleineren Mondes. Gidesta:
Verkauf der Gildenanwärterschaften. Gesellen bekommen Abschlussgeld. Tormalin: Weizenköniginnen. Die letzten Kälberfeste. Holzsammler ziehen los. Vorwinter Maewelin geweiht Dauert bis zum zweiten Vollmond des Größeren Mondes. Gidesta: Dalasor:
Auktionen für die Fallensteller. Eisrennen in Inglis. Verbrennen des Plagenweibs. Einkleiden der Wachbäume. Tormalin: Grüne Zweige an den Schreinen. Einzäunung der Straßen.
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Inglis 10. Vorherbst
Die Nacht für unsere kleine Unternehmung war gekommen, und ich machte mich mit Shiv auf den Weg. Später würde Geris den unglückseligen Neffen in den Gasthof auf eine Runde Runen ausführen. Shiv hatte ein paar Zauber gewirkt, die dafür sorgten, dass niemand sich daran erinnern würde, den Mann gesehen zu haben; ich hatte Geris einen besonderen Satz Runen überlassen, mit denen er das Spiel nach Belieben beeinflussen konnte. Ein paar Abende lang hatte ich ihm Tricks gezeigt und war zu dem Schluss gekommen, dass seine flinken Finger zusammen mit seiner naiven Art verheerend für seine Spielpartner sein könnten. Ich fragte mich sogar, ob er eine Zukunft als Spieler hätte. Gemütliche, gemeinsame Nächte in einem warmen, weichen Federbett fördern solche Gedanken. Draußen war es kalt und dunkel; doch vor den Häusern der Reichen brannten Lampen, und gelegentlich kam ein Nachtwächter mit einer Laterne vorbei. Ich trank einen Schluck von dem Wacholderlikör, den ich mir mitgenommen hatte; dann goss ich etwas davon über mein Haar und meine Kleider. Ich musste Vorsicht walten lassen. Es ergab keinen Sinn, unsichtbar zu sein, wenn jeder sich fragte, wo denn der Schnapsgestank herkam. Wir fanden eine ruhige Taverne in einer respektablen Gegend, in der Wachleute gerne Streife gehen, und ich begann mit meiner beeindruckenden Vorstellung einer Betrunkenen, die abwechselnd gefühlsselig oder streitlustig war. Vielleicht sollte auch ich bei Judal vorsprechen, denn es dauerte 244
nicht lange, bis der Wirt einen Jungen mit einer Botschaft losschickte. »Komm, Süße. Wir suchen jetzt mal ein schönes Bett für dich.« »Er hat gesagt, dass er mich liebt. Er hat’s geschworen!« »Ja, natürlich hat er das.« Der Milizionär musste mich fast ins Gefängnis tragen. Seinem Akzent nach stammte er aus Lescar, und sein blank polierter Harnisch verriet, dass er äußerst gründlich war. Ich sah nicht, dass Shiv uns folgte, doch die Zellentür war kaum geschlossen, da umgab mich ein verwirrender, unsichtbarer Luftwirbel. Ich verlor vollkommen die Orientierung, und mir wurde schlecht. Also schloss ich die Augen, und als ich sie wieder öffnete, stand ich neben Shiv. Irgendwie gelang es mir, ihm nicht auf die Stiefel zu kotzen; als Dankeschön hätte sich das auch schlecht gemacht. »Komm.« Wir gingen so schnell wir konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich habe eine Illusion zurückgelassen, die dich schlafend zeigt«, flüsterte Shiv. »Gute Idee.« Es gibt immer etwas, das man vergisst, und ich fragte mich allmählich, ob Shiv es vielleicht in Betracht ziehen würde, in Zukunft mit Halice und mir zusammenzuarbeiten. Wir fanden die unscheinbare Gasse neben Yeniyas Haus, wo Darni auf uns wartete. »Sie ist zur siebten Stunde nach Hause gekommen und bis jetzt nicht wieder rausgegangen. Die Diener haben das Haus vor Sonnenuntergang verlassen.« Ich runzelte die Stirn. Wir wussten, dass Yeniya heute Abend mit einem ihrer Verehrer zum Essen verabredet war, und wir 245
verließen uns darauf, dass nie jemand gesehen hatte, wie sie die fragliche Halskette zu einem Abendkleid trug. »Also gut. Geh zurück, und hilf Geris.« Darni ging, und Shiv wirkte seine Magie an mir. Es fühlte sich äußerst seltsam an. Ich konnte mich selbst sehen, doch nur verschwommen wie einen Schatten. Ich zog meinen Mantel aus, und als ich ihn Shiv vor die Füße warf, wurde der Mantel plötzlich sichtbar, und der Magier sprang erschrocken einen Schritt zurück. »Geh in den Gasthof zurück«, flüsterte ich ihm zu. »Und wenn es Probleme gibt? Wenn sie doch nicht ausgeht?« Sein Blick ging knapp an meinem rechten Ohr vorbei. »Ich werde schon damit fertig. Wir wollen doch nicht, dass jemand hier dich herumhängen sieht.« Er ging, und ich überquerte die Straße und stieg die Treppe in den Küchenhof hinunter. Es machte mir richtig Spaß, nicht erst alles beobachten, warten und mich in den Schatten verstecken zu müssen. Sollte ich reingehen oder nicht? Immerhin war ich unsichtbar, und wir wussten, dass die Diener das Haus verlassen hatten. Sollte ich mich durchs Haus schleichen, obwohl Yeniya noch drinnen war? Was tat sie wohl allein in einem leeren Haus? Ein paar Dinge fielen mir da schon ein; eines davon bedeutete allerdings, dass sie in Wirklichkeit gar nicht alleine war. War das so schlimm? Wenn sie sich mit einem hübschen Diener vergnügte, würde sie kaum bemerken, wie ich durch die Räume schlich. Ich hoffte nur, sie besaß ein Ankleidezimmer und bewahrte ihren Schmuck nicht im Schlafgemach auf. Guter Sex lässt einen vielleicht glauben, dass die Welt sich dreht; aber Schmuckkästchen öffnen sich immer noch nicht von selbst, und Halsketten fliegen nicht durch die Luft. Ich 246
beschloss reinzugehen. Sollte meine Aufgabe sich als unmöglich erweisen, würde ich einfach wieder hinausschleichen, und wir müssten uns etwas Neues einfallen lassen. Küche und Keller waren dunkel, und die Türschlösser gaben rasch nach. Geräuschlos glitt ich über den gefliesten Küchenboden. Der Geruch von Wäsche und Gebackenem mischte sich mit dem heißen metallischen Geruch des Herdes, und Erinnerungen wurden in mir wach: An solch einem Ort war ich aufgewachsen. Irgendwelche Gerichte waren hier vor kurzem nicht zubereitet worden; also speisten Yeniya und ihr Freier nicht im Haus. Das war eine Erleichterung. Aber was ging hier vor? Wir beobachteten Yeniya nun schon seit Tagen, und für gewöhnlich war sie so zuverlässig wie der Regen auf den Aldabreshi-Inseln. Irgendetwas fühlte sich mit einem Mal falsch an, während ich mich an dem langen, geschrubbten Tisch in Richtung Tür entlang tastete. Allmählich wünschte ich, dass Shiv noch draußen wartete, oder besser noch, dass er hier bei mir wäre. Ich stieg die Treppe hinauf und kam in eine üppig möblierte Halle. Selbst im Zwielicht erkannte ich, dass das Haus, in dem ich ausgewachsen war, verglichen mit dem hier billig und trist wirkte. Yeniya oder ihr verstorbener Ehemann besaßen nicht nur Geld, sondern auch Geschmack Lackierte Vasen schimmerten in Alkoven, und das Mondlicht, das durch die Fenster fiel, beleuchtete die Gemälde an den Wänden. Trockenblumen in silbernen Ständern verliehen der Luft einen betörenden Duft. Das Haus war wunderschön und strahlte eine beruhigende Gelassenheit aus. Leise stahl ich mich die mit Teppich ausgelegten Stufen in den ersten Stock hinauf und ... und fand heraus, dass die Dame des Hauses inzwischen alles andere als Schönheit und beruhigende Gelassenheit ausstrahlte. 247
Wer das hier getan haben mochte, hatte keine Gnade gezeigt. Yeniyas schlanke Finger waren brutal gebrochen und ineinander gedreht worden; elfenbeinfarbene Splitter ragten aus dem Fleisch heraus. Blut auf ihrem einst makellosen Gesicht zeigte, wo sie sich vor lauter Schmerz die Lippe durchgebissen hatte, während ein Strom von Tränen ihre Schminke zu einem farbigen Chaos verwischt hatte. Man hatte ihr ganze Büschel ihres glänzendbraunen Haares ausgerissen, und der Rest war matt geworden. Die Druckstellen an ihrem Hals hatten sich erst zu verfärben aufgehört, als der Tod sie endlich erlöst hatte; doch man erkannte deutlich, dass man sie wiederholt gewürgt hatte. Auf ihren Gelenken waren die Spuren starker Hände zu sehen, und das Blut und die weißen Flecken auf ihrem Satinkleid verrieten mir auch warum. War die Vergewaltigung Teil der Folter gewesen oder nur eine Dreingabe für die Täter? Ein Dolch ragte aus Yeniyas Auge heraus – das war ihr Ende gewesen –, doch das andere Auge leuchtete noch immer blau, und sie starrte mich an. Warum war dieser grässliche Mord verübt worden? Ich presste die Hände auf den Mund, bis ich meine Fassung wieder fand. Das war ein ganzer Satz neuer Runen. Ich versuchte, mich zu beruhigen und meinen Verstand zu gebrauchen. Ich musste herausfinden, so viel ich konnte, und dann zusehen, dass ich von hier verschwand. Ich bückte mich, um Yeniya die armseligen, blutverschmierten Überreste ihres Kleides über den nackten Leib zu legen, doch im letzten Augenblick hielt ich inne. Wenn Zauberer mit der Stadtwache zusammenarbeiteten – wer wusste schon, was sie herausfinden konnten? Ich durfte nichts berühren. Ich zwang mich, den mitleiderregenden Leichnam nicht zu beachten und schaute mich im Zimmer um. Es war ein Arbeits248
zimmer, und die Eindringlinge hatten es vollständig durchwühlt. Überall lagen Pergamente herum; sie waren zerknittert, zerfetzt und blutverschmiert. Einige sah ich mir mit zusammengekniffenen Augen an und dankte meinem Vater wieder einmal dafür, dass er mir die scharfen Augen des Waldvolks vererbt hatte. Bei den Papieren handelte es sich um Geschäftsunterlagen, und selbst meinem ungeschulten Blicken erschienen sie mit ihren Zahlen wichtig. Ich blickte wieder zu der Leiche. Um all das anzurichten, hatten die Täter Zeit gebraucht. Yeniya war weder geknebelt noch gefesselt gewesen, und um ihre Lippen herum gab es keine blauen Flecken; offenbar hatte man ihr den Mund nicht zugehalten. Der wilde Angriff musste einen unheiligen Lärm verursacht haben. Warum hatte niemand sie schreien gehört? Warum hatte Darni sie nicht gehört? Ich ging zum Fenster. Von dort konnte ich die Gasse sehen, in der er Wache gehalten hatte. Die oder der Angreifer mussten gekommen sein, als Yeniya sich für ihr Abendessen angekleidet hatte. Wo war ihre Zofe? fragte ich mich nervös. Wie waren die Täter hereingekommen? An einer Wand stand eine schwere Metallkassette. Soweit ich es beurteilen konnte, war sie fest verankert. Der Deckel war geöffnet, doch ich wusste beim besten Willen nicht, wie die Eindringlinge ihn geöffnet hatten. Nirgends waren Schlüssel zu sehen. Um die Kassette herum lagen weitere Papiere verstreut, und ein Häuflein Lederbeutel flüsterte mir verführerisch zu: ›Durchsuch uns‹. Ich war zwar nicht wirklich in Versuchung geführt, aber irgendetwas kam mir seltsam vor. Ich schaute mir den Inhalt der Kassette genauer an, wobei ich die einzelnen Gegenstände vorsichtig mit der Dolchspitze auseinander schob; dann hockte ich mich auf die Fersen und runzelte die Stirn. Es 249
musste doch auch Geld hier drin gewesen sein! Ein paar Münzen waren zwischen die Papiere gerutscht, doch der Rest war verschwunden. Von Yeniyas Schmuck waren nur ein paar in Samttücher gewickelte Einzelstücke übrig geblieben, und die hübschen Beutel mit den Edelsteinen hatte überhaupt niemand angerührt. Was war hier los gewesen? Hatten die Täter die Kassette einfach aufgebrochen, sich das Erstbeste geschnappt und waren davongerannt, um alles noch in dieser Nacht gegen Dinge einzutauschen, die sich leicht verkaufen ließen? Warum hatten sie die wunderschönen Edelsteine zurückgelassen, deren Herkunft ohnehin niemand würde feststellen können, und stattdessen den leicht zu identifizierenden Schmuck mitgenommen? Folter ist eine langwierige Angelegenheit und an einem solchen Ort mit hohem Risiko verbunden ... Warum hatten sie die arme Frau überhaupt gefoltert? Wenn die Täter Informationen über Yeniyas Geschäfte haben wollten – davon hatten sie das meiste zertrampelt. Außerdem war Yeniya auf ihrem Gebiet zwar bedeutend gewesen, doch gab es noch weit größere Fische in diesem Teich. Was hatte sie gewusst, dass es ein solches Risiko wert gewesen war? Schließlich war dies hier eine Stadt, in der man selbst harmlose Beutelschneider auf der Stelle aufzuhängen pflegte. Das alles stank zum Himmel. Ich blickte erneut zu der Kassette. Sollte ich nach der Kette suchen? Nein, ich war sicher, dass Yeniyas Mörder sie mitgenommen hatten. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Waren sie vielleicht genau wie ich hinter dieser Kette her gewesen? Ich hatte keinen Grund, so etwas zu glauben; dennoch war ich überzeugt davon. Egal. Es war an der Zeit, dass ich von hier verschwand. Ich warf einen letzten Blick in die Kassette. Sollte ich etwas 250
mitnehmen, um es dem Neffen unterzuschieben? Nein, er mochte vielleicht ein gieriger Idiot sein, aber er verdiente es nicht, noch tiefer in diesen Sumpf gezogen zu werden. War da vielleicht noch etwas anderes von Interesse? Nein, nichts, was das Risiko wert gewesen wäre, mit diesem Verbrechen in Verbindung gebracht zu werden. Ich ging zur Tür und erstarrte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich leise Geräusche unten in der Halle hörte. Du Närrin, schalt ich mich selbst, das ist vermutlich nur die Küchenkatze. Vermutlich. Aber was, wenn sie es nicht war? Ich blickte auf meine Hände, die zum Glück noch immer kaum zu sehen waren; doch ich verfluchte mich, weil ich nicht auf die Stundenglocke gelauscht hatte. Wie lange durfte ich noch auf die magische Tarnung vertrauen? Langsam schlich ich in eine dunkle Ecke und beugte mich vorsichtig vor, bis ich über das Geländer hinunterblicken konnte. Die Dunkelheit im Treppenhaus war nahezu vollkommen, doch auf der Straße ging jemand mit einer Laterne vorbei, deren Licht kurz durch die Fenster fiel. In diesem Augenblick bemerkte ich einen Schatten, der rasch unter der Treppe verschwand. Ich rührte mich nicht und beobachtete, wie der Schatten sich teilte, und eine dunkle Gestalt lautlos in Richtung Küche rannte. Leise schlich ich in den nächsten Stock hinauf. Mein Herz raste, während ich mich um verschiedene Ziergegenstände herum tastete. Was mir vorhin noch so schön und elegant erschienen war, betrachtete ich nun als Schrott, der mir im Wege stand. Ich blieb kurz stehen, um meinen Atem wieder zu beruhigen, und lauschte aufmerksam, ob irgendjemand mich verfolgte. Ich hörte nichts, doch das machte mich auch nicht glücklich. Die Türen um mich herum waren allesamt geschlos251
sen, und ich wollte nicht riskieren, von einem knarrenden Scharnier verraten zu werden, egal wie unwahrscheinlich das in einem solch gepflegten Haus sein mochte. Ich ging den Gang so leise und vorsichtig hinunter, wie ich nur konnte. Welche der Türen am Ende des Gangs führte auf die Hintertreppe? Ich drückte mein Gesicht an jeden Türspalt, bis ich schließlich von einer leichten Brise auf meinen Lippen belohnt wurde. Ich versuchte die Klinke und dankte Halcarion, dass sie keinen Laut von sich gab; dann fand ich mich auf der Dienstbotentreppe zum Keller wieder. Hier gab es überhaupt kein Licht mehr. Selbst meine Waldvolkaugen nutzten mir nichts mehr; und ich konnte mich nur noch auf meine Füße verlassen, während ich gegen die Furcht ankämpfte, plötzlich von hinten gepackt zu werden. Ich musste mich darauf konzentrieren, von hier zu verschwinden, bevor Shivs Zauber seine Wirkung verlor. Mit der rechten Hand stützte ich mich an den Wandpaneelen ab, während meine linke den Dolch umklammerte. Meine Finger glitten über eine Unregelmäßigkeit in der Wand, und ich hielt an, um nachzusehen, was es war. Nicht breiter als eine Messerklinge verlief der Spalt die gesamte Paneele entlang, und als ich sachte darauf drückte, gab sie ein wenig nach. Ich atmete langsam aus. War das die Tür zum Kontor? Das hätte zumindest Sinn ergeben, denn sie befand sich an der richtigen Stelle dafür. Sollte ich je wieder hier herauskommen, würde ich die Runen eine Jahreszeit lang beiseite legen müssen; ich hatte heute schon viel zu viel von meinem Glück aufgebraucht. Plötzlich begannen meine Finger, mit denen ich die Paneele abtastete, heftig zu zittern. Es musste hier doch irgendwo ein Schloss oder einen Griff geben. Diesmal fand ich eine kleine 252
Unregelmäßigkeit, die sich beiseite schieben ließ; dahinter verbarg sich ein Loch. Ein Schloss. Ein Griff oder ein Hebel wären zwar besser gewesen, aber ich holte meine Dietriche heraus und machte mich in der Dunkelheit sofort ans Werk. Geschafft! Ich war durch und schloss die Tür schneller, als ich je eine Tür geschlossen hatte. Anschließend drehte ich mich um, wollte feststellen, wo ich mich befand. Die Decke konnte ich in der Dunkelheit zwar nicht erkennen, aber ich vermochte hohe Gestelle zu sehen, die in gerader Linie von mir wegführten. Auch roch ich frische Färbemittel, und als ich die Hand ausstreckte, fühlte ich Wolle unter meinen Fingern. Rasch eilte ich auf die andere Seite; dort waren die Türen, das wusste ich. Ich hoffte nur, dass es hier keine Wachen gab, egal ob sie nun zu den Gilden gehörten oder nicht ... Darüber hätte ich mich auch im Vorfeld informieren sollen. Ein schwacher Geruch, der an einen nassen Hund erinnerte, verriet mir, dass in der Nähe Felle gelagert waren, und auf der Suche nach dem Ausgang spähte ich in die Dunkelheit. Schritte vor mir ließen mich erstarren. Fast glaubte ich, mir die Geräusche nur eingebildet zu haben, doch nach ein paar Sekunden erklangen sie erneut: Es war eindeutig das Klacken von Stahlsohlen auf Fliesen. Ich huschte zwischen zwei Gestelle und griff in die Felle. Konnte ich mich hier irgendwo verstecken? Keine gute Idee. Dann betrachtete ich die Gestelle. Waren sie stabil genug, um hinaufzuklettern? Vielleicht. Doch während ich die Risiken abwog, begann sich alles in meinem Kopf zu drehen. Ich blinzelte, doch die Verwirrung wurde nur schlimmer; es war, als hätte ich plötzlich Fieber bekommen. Ich trat einen Schritt vor, konnte mich aber nicht mehr daran erinnern, in welche Richtung ich ging. Dann drehte ich mich um, 253
doch auch das fühlte sich nicht richtig an. Meine Knie wurden weich, und meine Hände zitterten. Die großen Lagergestelle mit den Fellen ragten über mir auf, begannen vor mir zu schwanken und neigten sich zu mir hinunter, bis ich das Gefühl hatte, lauthals schreien zu müssen. Der Geruch wurde zu einem ekelerregenden, erstickenden Gestank. Wieder drehte ich mich um und fiel auf die Knie, als der Boden unter meinen Füßen zu schwanken begann, und ich krallte mich in die Ritzen zwischen den Fliesen wie an einen Berghang, denn ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick hinunterzufallen. Ein Schrei stieg in meiner Kehle empor, doch irgendein noch klarer Teil meines fiebrigen Geistes wusste, dass ich nicht schreien durfte. Ich biss mir auf die Zunge und schmeckte bitteres Blut. Der Schmerz half mir, wieder ein wenig klarer zu werden, und ich kroch mit letzter Kraft unter das nächstbeste Gestell. Während ich dort lag, den Kopf schüttelte und versuchte, die Einzelteile meines Verstandes wieder zusammenzusuchen, sah ich ein Paar schwarzer Stiefel den Gang hinaufkommen. Das leise Knirschen von Leder ertönte, und die Gestalt glitt an mir vorbei. Ich verharrte so reglos in meinem Versteck wie eine Statue auf ihrem Podest. Nachdem die kaum wahrnehmbaren Schritte verhallt waren, klärte sich mein Kopf wieder, und ich versuchte verzweifelt herauszufinden, in welche Richtung die Tür lag. Noch während ich meine Gedanken sammelte, bemerkte ich vor mir ein schwaches Licht. Ich kroch aus meinem Versteck hervor, doch was ich sah, ließ mich glauben, wieder dem Fieber zu verfallen. Schwach leuchteten Fußspuren auf dem Steinboden, aber nicht in den Farben des Zauberlichts, sondern mehr einem Irrlicht gleich, wie man sie in Sümpfen oder auf Schiffen sieht. Ich starrte sie an. Dann packte mich Entsetzen, 254
als ich erkannte, dass es sich um meine Spuren handelte, die beleuchtet waren, um meinem Verfolger den Weg zu mir zu weisen. Ich überprüfte meine Sohlen, fand aber nichts; also machte es keinen Sinn, die Stiefel auszuziehen. So schnell ich konnte und ohne allzu viel Lärm zu verursachen, kroch ich auf die andere Seite der Gestelle; Geschwindigkeit war nun wichtiger, als leise zu sein. Ich stand auf und schaute mich ängstlich um. Ein paar Gestellreihen hinter mir waren wieder Schritte zu hören; also bewegte ich mich von ihnen weg. Ich fluchte stumm, als ich meine eigenen silbrigen Spuren sah. Schließlich erreichte ich das große, zweiflügelige Tor und fand eine Seitentür. Mit meinen verschwitzten Händen konnte ich die Dietriche nicht richtig packen, während ich versuchte, das Schloss zu knacken. Meine verschwitzten Hände ... meine deutlich sichtbaren, verschwitzten Hände, erkannte ich entsetzt. Shivs Zauber hatte seine Wirkung verloren. In der Dunkelheit hinter mir scharrte laut ein Stiefelabsatz über den Boden, und in diesem Augenblick rissen meine Nerven wie eine Bogensehne. Ich schob die schweren Riegel des Haupttors zurück und stieß den Torflügel auf. Lieber ging ich das Risiko ein, einer Wache in die Arme zu laufen, als genauso wie Yeniya zu enden. Ein Schrei hinter mir rief die Jäger herbei, und ich rannte um mein Leben. Die Straßen waren dunkel, und es herrschte vollkommene Stille. Meine Schritte hallten von den kahlen Steinwänden der Kontore wider. Nirgends hätte ich mich verstecken können, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich rannte weiter Richtung Stadtmitte. Saedrin sei Dank half mir die kühle Nachtluft, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Warum ist nie ein Wachmann da, wenn man 255
einen braucht? Ich sah den dunklen Eingang einer Gasse und verlangsamte meinen Schritt ein wenig. Sollte ich dort einbiegen oder nicht? Dieses Zögern rettete mir das Leben, denn plötzlich sprang ein schwarz gekleideter Mann aus der Gasse und schwang das Schwert nach der Stelle, wo mein Kopf gewesen wäre, hätte ich mein Tempo nicht verringert. Ich stolperte zurück und zog mein eigenes Schwert. Wie hatten sie mich überholen können? Wieder schlug der Mörder zu. Ich parierte den Hieb, doch er war so kräftig, dass ein stechender Schmerz durch meine Arme fuhr, und ich musste mich schnell ducken, um nicht vom nächsten Schlag getroffen zu werden. Ich ließ das Schwert fallen und zog die Reservewaffe aus dem Gürtel. Diese war vergiftet – das war gut –, doch um sie einzusetzen, musste ich näher an meinen Feind heran – das war schlecht. Saedrin sei Dank hatte Darni nach dem Kampf in Dalasor eingewilligt, ein wenig den Dolchkampf mit mir zu üben. Um hier wieder herauszukommen, konnte ich alle Fähigkeiten gebrauchen, die ich jemals gelernt hatte. Der Kerl stürzte sich wieder auf mich, diesmal mit einem Schlag, der mir den Schädel gespalten hätte, wäre ich nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen. Ich beobachtete ihn aufmerksam und erkannte, dass er seine Angriffe unbewusst durch eine Bewegung mit seiner freien Hand ankündigte; zwar ging es dabei nur um den Bruchteil einer Sekunde, aber jeder noch so kleine Vorteil konnte mir das Leben retten. Wir umkreisten einander und kämpften, und als ich sah, dass er wieder zu einem Überkopfhieb ansetzte, sprang ich vor und stieß ihm den Dolch am Harnisch vorbei in die Achsel. Der Kerl spie mich in irgendeinem Kauderwelsch an, und ich 256
wich zurück, um der Reposte auszuweichen. Das ist das Problem mit Giften: Die, die man am sichersten bei sich tragen kann, sind nicht unbedingt die, die am schnellsten wirken. Sein nächster Hieb war langsamer, und er leckte sich über die Lippen, als das Gift zu wirken begann. Dann ließen seine Reflexe ihn im Stich, und es gelang mir mit meinem nächsten Hieb, seine Knie zu zerschmettern. Als er fiel, schlug ich ihm den Kopf ab, der wie ein Ball über die Straße kullerte. Dabei löste sich der Helm, und ein blonder Schopf kam zum Vorschein. Überall war Blut, und ich fluchte. Wenn das nicht die Aufmerksamkeit der Stadtwache erregte, was dann? Ein Schrei hinter mir erstarb zu einem Keuchen. Ich wirbelte herum und sah drei weitere Männer in identischen Rüstungen, die genau auf mich zuhielten. Als ich einen Schritt zurücksprang, rutschte ich auf dem Blut meines Opfers aus. Ich fluchte und schlurfte bei meinem Rückzug fortan nur noch über das Pflaster. Schließlich drehte ich mich um, um wieder loszurennen, doch erneut begann die Welt sich vor meinen Augen zu drehen. Ihr kennt doch sicherlich diese Träume, in denen man laufen will, es aber nicht kann, als stünde man bis zur Hüfte im Wasser – so fühlte ich mich in diesem Augenblick. Nach nur ein paar Schritten drehte ich mich abermals um in der Absicht, mich meinen Feinden zu stellen. Wenn ich schon sterben musste, dann nicht mit einem Schwert im Rücken. Sie kamen näher. Einer grinste. Weiße Zähne funkelten in seinem blassen Gesicht. Das machte mich rasend vor Wut, und ich rief ihnen die wildesten Flüche zu, während ich die Arme mit Schwert und Dolch zu einer tödlichen Umarmung ausbreitete. Wenn ich einen tiefen Stoß anbringen konnte, war das Gift noch für einen der Kerle gut. Ich würde so viele von den 257
Bastarden mitnehmen, wie ich konnte. Sie verteilten sich, während ich mit dem Rücken an eine Wand gedrängt wurde, und ich fragte mich, wie hoch heute Nacht wohl der Preis für eine Überfahrt mit Poldrions Barke war. »He, ihr Scheißefresser! Wie wär’s, wenn ihr es mal mit jemandem in eurer Größe versucht? Na, habt ihr den Mut dazu?« Drei Männer traten aus der Gasse und zogen die Schwerter. Sie waren rau und dreckig und sahen wie der Tod persönlich aus ... meine Helden! Als meine Jäger einen Augenblick lang verwirrt innehielten, klärte sich mein Verstand wieder und spornte mich an. Ich rammte einem der Burschen den Dolch in den Hals und sprang durch die Lücke, als er von der Wucht des Stoßes zu Boden geworfen wurde. »Brauchst du Hilfe, meine Süße?« Der Anführer meiner Retter trat neben mich und lächelte wie ein verrückter Hund durch seinen verfilzten Bart. Das war zwar nicht gerade ein Lescariherzog, der zu meiner Rettung geritten kam, aber ich würde mich jetzt bestimmt nicht mit ihm über Hygiene streiten. Mein Retter brauchte keine Antwort, denn die Jäger in Schwarz machten sich daran, die neue Bedrohung anzugreifen. Sie bewegten sich wie ausgebildete Soldaten und griffen wie ein Mann an. Meine neuen Verbündeten besaßen zwar nicht die gleiche Eleganz, doch machten sie dieses Manko mit einer Wildheit wett, wie sie nur das harte Leben in den Bergbaulagern hervorbringen kann. Sie hackten mit ihren schartigen Schwertern um sich und trieben die Jäger Schritt für Schritt zurück. Ich war noch immer mit dem Kerl beschäftigt, den ich in den Hals gestochen hatte, denn auch bei ihm dauerte es seine Zeit, bis das Gift Wirkung zeigte. Schließlich rollte er mit den 258
Augen und stolperte vorwärts, sodass ich ihm den Dolch unters Kinn rammen konnte. Er sank vor mir auf Knie, und ich roch den unpassenden Duft von Rasierwasser in seinem sauberen Gesicht, bevor Blut zwischen den schlaffen Lippen hervorquoll. Ich trat den Leichnam beiseite und sprang meinen neuen Freunden zur Seite. Nun, da wir zwei zu eins überlegen waren, hielten die Jäger uns nicht lange stand. Einer starb, als sein Gehirn sich nach einem mächtigen Hieb auf der Wand verteilte. Der andere kam sauberer ums Leben. Plötzlich erkannte er die Ausweglosigkeit seiner Lage, vergaß seine Deckung und fing sich einen Stoß, in die Kehle ein. »Bewegt euch!« Der Verrückte Hund machte uns Beine, noch bevor der Mann zu seinen Füßen zu würgen aufgehört hatte. Wir rannten die Gasse hinunter, die auf eine weitere Straße mit Kontoren und Handelshöfen führte. Dann ging es durch ein ganzes Netzwerk kleinerer Gassen, bis wir schließlich eine ruhige Straße mit Fremdenheimen erreichten. »Danke reicht hier wohl nicht aus, Jungs«, sagte ich, als wir in einen gelassenen Schritt verfielen. »Es sah aus, als könntest du Hilfe brauchen, meine Blume.« »Dem kann ich kaum widersprechen. Was habt ihr da gemacht?« »Wir sind ein bisschen spazieren gegangen.« Die Männer blickten einander an, und ich sah, dass unser Bündnis allmählich brüchig wurde. »Glück für mich.« Ich griff in meine Börse und fragte mich, wie viel ich ihnen geben sollte. Scheiß drauf. Sie konnten ruhig alles haben. Ich schnitt die Börse mit dem Dolch vom Gürtel. »Besauft euch auf meine Kosten, und tut mir einen Gefallen: Vergesst, dass ihr mich gesehen habt.« 259
Der Verrückte Hund blinzelte. »Du musst nicht ...«, begann er unsicher. »Danke.« Einer seiner Kameraden nahm mir die Börse ab und wog sie anerkennend in der Hand. Wir gingen langsam weiter, bis wir an einem patrouillierenden Milizionär vorüber waren. Die Dunkelheit verbarg das Blut auf unseren Kleidern, doch ich war so nervös wie ein Fohlen, dem man zum ersten Mal ein Halfter angelegt hatte. An der nächsten Straßenecke verließ ich die Bergarbeiter, ohne zurückzublicken, und eilte so schnell ich es wagte zu unserem Gasthof zurück. Ich schlich durch die Ställe hinein, schnappte mir einen Mantel, den irgendein Trottel auf seinem Sattel zurückgelassen hatte, und warf ihn mir über die Schultern, um die Blutflecken zu verbergen; dann stieg ich die Hintertreppe hinauf. Die Salontür war abgeschlossen, was mich erstaunte, und wütend rüttelte ich an der Klinke. »Aufmachen!«, zischte ich. Schlüssel klimperten, und ich fiel nach vorne, als Darni mir die Tür aus der Hand riss. Ich drängte mich an ihm vorbei. »Wir haben ein Scheißproblem ...!«, begann ich atemlos. »Weißt du, wo er ist?« Darni packte mich an der Schulter und grub die Fingernägel in mein Fleisch. »Wo wer ist?« Ich schob seine Hand weg. »Hör zu. Das ist wichtig.« »Nein, du hörst mir zu.« Darni war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden. »Weißt du, wo Geris ist?« »Geris?« Ich starrte ihn dumm an. »Er sollte hier Runen spielen, mit ... wie heißt er noch ... dem Neffen.« »Er ist verschwunden.« Ich blickte mich um und sah Shiv. Der Zauberer kniete neben den Truhen, die wir nun schon so 260
viele Meilen mit uns herumgeschleppt hatten. Sie waren offen und leer. »Verschwunden?« Alles zu wiederholen war zwar nicht sonderlich hilfreich, aber ich begriff noch immer nicht ganz, wovon die beiden eigentlich redeten. »Der Wirt sagt, er ist gegangen, kurz bevor ich zurückgekommen bin.« Darnis Gesicht war hart wie Stein. »Er hat die Arbeit von drei Jahreszeiten mitgenommen und ist mit einer Gruppe blonder Männer verschwunden.« Ich starrte ihn an. Mein Mund klappte auf. Dann schloss ich ihn wieder, wirbelte auf dem Absatz herum und rannte los. Ich stürmte aus dem Gasthof und ignorierte sowohl Darnis zorniges Brüllen als auch die staunenden Blicke der anderen Gäste. Während ich durch die dunklen Straßen rannte, betete ich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben voller Inbrunst. »Halcarion, bitte, lass ihn dort sein, bitte, lass ihn dort sein.« Würde die Mondmaid mir noch zuhören, obwohl ich heute Nacht schon so viel von meinem Glück aufgebraucht hatte? »Kann ich Euch behilflich sein, meine Dame?« Ein weiterer dieser polierten Stadtwachen trat aus einem Eingang, um mir den Weg zu versperren. Ich bemerkte das Funkeln seines Harnischs gerade noch rechtzeitig genug, um nicht meinen Dolch zu ziehen. Allmählich war ich mit den Nerven am Ende. »Tut mir Leid. Nein, danke. Ich ... komme zu spät zu einem Treffen.« Ich stolperte über die Worte, doch der Milizionär salutierte nur und trat beiseite. Ich zwang mich, langsamer zu gehen. Ich trug noch immer die blutverschmierten Kleider, und ich wollte das jetzt nicht erklären müssen. Noch schrie niemand herum; also war der Mord auch noch nicht entdeckt worden, aber es konnte nicht 261
mehr lange dauern. Die Diener würden bald wieder nach Hause kommen. Auf dem Pferdemarkt herrschte noch reges Treiben. Die Koppeln waren voll, und die Pferdehirten aus Dalasor und Gidesta hatten sich um Lagerfeuer versammelt. Sie sangen und tranken ohne Rücksicht auf Leute, die schlafen wollten. Im Adler ging es ebenfalls noch recht lebhaft zu, und ich drängte mich durch die Menge, wobei mich der Mantel behinderte, doch ablegen konnte ich ihn ja nicht. Ich suchte nach dem dunklen Lockenkopf, den schlanken Gliedern ... Schließlich sah ich den Mann, den ich suchte. Er spielte Weißer Rabe mit einem Pferdehändler, und ihr ausgeglichenes Spiel hatte eine beachtliche Zahl Zuschauer angelockt. Er blickte auf, als ich mich ihm näherte. Das Lampenlicht funkelte golden in seinen braunen Augen, doch nun da ich ihn gefunden hatte, stand ich einfach nur dumm da und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ist es Großmutter? Hat sie einen weiteren Anfall bekommen? Gut, ich komme.« Er stand auf und führte mich sofort hinaus, wobei er mir helfend den Arm um die Schultern legte, und da er einen guten Kopf größer war als alle anderen hier, machten die Gäste uns rasch Platz. »Was ist?« Er blieb hinter den Pferdekoppeln stehen, wo niemand uns sehen konnte. »Du jagst blonde Männer. Hast du schon eine Spur von ihnen entdeckt?«, wollte ich wissen. »Noch nicht«, antwortete er langsam. »Warum fragst du?« »Einer meiner Reisegefährten ist verschwunden. Ich glaube, sie haben ihn sich geschnappt.« »Scheiße!« Einen Augenblick lang verlor er seine Maske, und 262
ich sah heißen Zorn in seinen Augen, während seine Hand unwillkürlich zum Heft seines Schwertes wanderte. »Wer bist du, und was tust du hier?« »Ich reise mit einem Zauberer und einem Agenten des Erzmagiers. Sie sammeln Artefakte aus dem Tormalinreich für irgendeine von Planirs Projekten. Wir hatten auch einen Gelehrten aus Vanam dabei. Geris. Heute Abend waren wir aus, und als wir zurückkehrten, war er verschwunden, offenbar in Begleitung einer Gruppe von blonden Männern.« »Könnte er nicht von sich aus irgendwohin gegangen sein? Warum glaubst du, dass es die Männer sind, die ich suche?« Sein Blick war scharf und sein Gesicht ausdruckslos. Das war kein Mann, mit dem man spielen sollte, wenn man etwas getrunken hatte. »Auf der Straße hierher sind wir von einem Trupp dieser Blondschöpfe überfallen worden, und als ich heute Nacht eine Arbeit erledigen wollte, haben mich noch mehr von ihnen angegriffen. Das war kein Zufall. Du suchst sie, und zwar aus einem wichtigen Grund, sonst wärst du nicht soweit nach Norden gekommen.« »Was war das für eine Arbeit?« Ich zögerte. Ich wollte ihm nicht zu viel verraten; außerdem empfand ich einen seltsamen Widerwillen, mich als den zahmen Dieb eines Zauberers zu erkennen zu geben. »Können wir einander in dieser Sache helfen?«, erwiderte ich. »Ich kann dir nicht mehr sagen, bevor ich nicht dein Wort habe.« »Sicher.« Er nickte und schwor bei Dastennin, eine interessante Wahl. Nachdem ich ihm die Geschichte in Grundzügen erzählt hatte, unterbrachen uns die fünf Glockenschläge zur Mitternacht. 263
Mein ehemaliger Spielpartner fluchte und schaute sich um. Ich sah, wie die Pferdehändler ihre Feuer löschten und widerwillige Kunden aus den Tavernen vertrieben wurden. Ich hatte es gerade so geschafft. »Heute Nacht können wir nicht mehr viel tun.« Mein neuer Freund strich sich mit der Hand übers Haar. »Wie wäre es, wenn wir uns morgen bei Sonnenaufgang treffen würden?« Ich nickte und wandte mich zum Gehen. Ich wusste nicht, was ich sonst noch hätte sagen oder tun sollen, und die Kraft, die mir die Schrecken der Nacht verliehen hatten, schwand rasch dahin. Ich stolperte über einen getrockneten Pferdeapfel und wäre gefallen, hätte mein Freund mich nicht am Arm gepackt. »Alles in Ordnung?« Ich sah ihn die Fingerspitzen aneinander reiben und daran schnüffeln, um sich zu vergewissern, dass es Blut war, was er spürte. »Das ist nicht meins«, erklärte ich ihm müde. »Es war bloß eine Scheißnacht, und ich bin zu Tode erschöpft.« »Du kannst mein Bett hier haben, wenn du willst«, bot er mir an. Ich schüttelte den Kopf. »Es wird mir schon gut gehen. Wenn ich jetzt auch noch verschwinde, wird Darni die ganze Stadt auseinander nehmen.« »Der Magier?« »Nein, der Agent. Nebenbei ... Nimm dich vor ihm in Acht; er hört nicht so gern auf Vorschläge anderer Leute.« »Willst du, dass ich dich zurückbringe?« »Nein, danke. Ich geb schon auf mich Acht.« Er nickte und drehte sich um. Dann blickte er noch einmal 264
über die Schulter zu mir zurück. »Übrigens ... Wie heißt du?« Ich starrte ihn einen Augenblick an, bis mir auffiel, dass wir einander noch gar nicht vorgestellt hatten. »Livak. Man nennt mich Livak.« »Ich bin Ryshad.« Er zwinkerte mir zu und lächelte ermutigend. »Bis morgen früh.« Mit schnellen Schritten überquerte er den Pferdemarkt, und kurz darauf hatte ich ihn in den Schatten verloren. Langsam kehrte ich in unseren Gasthof zurück. Da es inzwischen nach Mitternacht war, würde die Stadtwache ab jetzt aufmerksamer auf Leute achten, die sich um diese Zeit noch auf den Straßen herumtrieben. Ich zog die Kapuze über und hielt mich in den Schatten. Vielleicht hätte ich Ryshads Begleitung akzeptieren sollen; ein Paar wäre weniger auffällig gewesen. Mir fiel auf, dass er sich nicht aufgedrängt hatte, und ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ein Mann mich zum letzten Mal beim Wort genommen hatte, als ich gesagt hatte, ich könne selbst auf mich Acht geben. Das war zur Abwechslung mal ganz nett. Als ich wieder zurückkehrte, stand Darni kurz davor, den Tisch aufzufressen. »Renn nie wieder einfach so davon!«, fuhr er mich wütend an. »Wo bist du hingelaufen?« »Ich kenne da jemanden, der uns vielleicht helfen kann«, antwortete ich in höflichem Tonfall. »Er wird morgen früh hierher kommen.« Ich schob mich an ihm vorbei und ging zum Tisch, wo Shiv bereits trübsinnig über einem Becher Wein hockte. »Shiv!« Ich hatte ihn ganz vergessen. Wir hätten uns am Gefängnis treffen sollen. »Was ...?« Er unterbrach mich mit einem müden Winken. »Ich habe die Schlösser an einer Hand voll Zellen und der Haupttür geöffnet. 265
Bei all dem Aufruhr wird man dich kaum vermissen.« »Danke.« Ich beschloss, trotzdem vorsichtig zu sein, obwohl sich mit Sicherheit niemand das Gesicht einer Betrunkenen gemerkt hatte. »Scheiß drauf! Mit wem hast du gequatscht?« Darni packte mich an der Schulter. Nun stand auch ich kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Ich schlug seine Hand weg. »Verdammt noch mal, Darni! Ich wäre heute Nacht fast umgebracht worden, weißt du das? Woher, glaubst du wohl, stammt das ganze Blut? Du hast mich noch nicht einmal gefragt, wie es mir dabei ergangen ist, als ich die Drecksarbeit für dich erledigt habe!« »Dazu hatte ich ja auch keine Gelegenheit, nicht wahr? Ich wollte dich nach Geris fragen, aber du bist wie ein geprügelter Hund davongerannt! Mach das nie wieder, hast du mich verstanden?!« »Kommandiere mich nicht herum, Darni! Ich bin keiner deiner schwachsinnigen Spürhunde. Hast du mir nicht zugehört? Ich bin heute Nacht fast umgebracht worden! Damit sind wir quitt. Ich werde weder für dich noch für deinen geliebten Erzmagier noch einen Handschlag tun.« »Haltet den Mund! Alle beide! Das hilft Geris auch nicht!« Shiv trat zwischen uns, und ich bemerkte, wie müde er aussah. Mein Zorn schwand, und ich erinnerte mich wieder an meine Angst. Ich war völlig erschöpft. Ich trank einen kräftigen Schluck von Shivs Wein, doch das nützte nichts. »Hast du ihn mit Weitsicht gesucht? Kannst du ihn nicht finden?« 266
»Ich finde nicht die geringste Spur, und ich habe alles versucht, was mir eingefallen ist.« Shiv konnte seine Furcht und seine Verzweiflung nicht verbergen. »Lasst uns schlafen gehen. Dann sehen wir, was wir bei Tage tun können.« Ich nickte und ging. Darni ignorierte ich völlig. In meinem Zimmer angekommen, zog ich mich aus und warf die ruinierten Kleider auf einen Haufen. Dann ließ ich mich ins Bett fallen und wickelte mich in die Decken. Fast augenblicklich schlief ich ein. Ich machte mir riesige Sorgen um Geris und dachte noch immer an Yeniya, die blonden Männer und an alles andere. Aber im Augenblick hatte ich schlicht genug. Ich war so müde, dass ich nicht einmal mehr weinen konnte.
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6.
Aus: Nemith der Tollkühne
Sein siebtes und letztes Jahr Annalen des Imperiums – Sieur D’Isselion
Es geschah in diesem Jahr, dass Nemith, der Letzte seiner Dynastie, dem törichtsten Ehrgeiz folgte, der Eroberung von Gidesta. Das Jahr begann schlecht. Der zweifache Neumond zur Wintersonnenwende kündet stets von Unheil, doch Nemith spottete den traditionellen Riten, um Poldrion zu dieser Zeit zu besänftigen, und er demütigte die Seher, die gekommen waren, die Zukunft für das nächste Jahr zu lesen. Von diesem Zeitpunkt an verschlechterten sich seine Beziehungen zur Priesterschaft dramatisch. Es war bei den imperialen Sonnenwendfeiern, als erste Gerüchte die Runde machten, dem Kaiser würde man zum Äquinoktium den Beinamen »der Tollkühne« verleihen. Die Verzögerung seiner Akklamation durch die Großen Häuser bereitete Nemith bereits viel Verdruss, und aus seiner Korrespondenz mit General Paleras kann man schließen, dass er darüber nachgedacht hat das Heer gegen seine ärgsten Widersacher einzusetzen. Auch wenn solch eine Theorie schwerlich zu beweisen ist, würde sie doch Nemiths nie da gewesene Entscheidung erklären, die Kohorten des Vorjahres unter Waffen zu lassen – die ganze Erntezeit hindurch bis weit in den Herbst und Winter hinein. 268
Unnötig zu sagen, dass solche Befehle unter den Soldaten äußerst unpopulär gewesen sind, und in der Folge kam es in den Lagern wiederholt zu Unruhen. Eine schlechte Ernte tat ihr Übriges, um die Situation der Landbevölkerung zu verschlechtern, zumal die meisten Arbeitskräfte ja im Militär dienten. Das wiederum ließ die Brotpreise in den Städten steigen, was zu wachsender Unzufriedenheit bei den Armen führte. Die Fürsten der Großen Häuser legten beim Kaiser mehrmals Protest ein, bis Nemith schließlich seiner Verachtung für Sieur Den Rannion Ausdruck verlieh, indem er dessen Briefe als Servietten auf einem seiner verdorbenen Feste benutzte. Von diesem Zeitpunkt an lehnten die in der Versammlung vertretenen Fürsten jede Einladung in den kaiserlichen Palast ab, doch Nemith betrachtete dies nur als Zeichen ihrer Ergebenheit. Zum Äquinoktium hungerten die Kohorten in ihren Lagern, und es drohte eine offene Rebellion. Nemith suchte verzweifelt nach einem Krieg, um die Soldaten mit Beute zu versorgen und sie von den reichen Kernprovinzen des Reiches fern zu halten. Da er glaubte, Caladhria und Dalasor seien befriedet, befahl er seinen Truppen, den Dalas nach Norden zu überqueren. In den Briefen an seine Frau erzählt er immer wieder Geschichten über Flüsse voller Gold und Hänge voller Silber, was offensichtlich ein weiterer gewichtiger Grund für diesen Feldzug war. Wie die imperialen Bücher für dieses Jahr beweisen, war Nemith zu dieser Zeit nahezu bankrott, und die Fürsten der Großen Häuser hatten ihm bereits zwei Jahreszeiten lang jeden Kredit verweigert. Zum Äquinoktium wurde er in der Tat zum ›Tollkühnen‹ ausgerufen, eine Beleidigung, die umso bitterer war, da er sie natürlich nicht zurückzahlen konnte. Der Gidestafeldzug nahm einen schlechten Anfang, als das 269
Bergvolk seine Winterquartiere in den Talfestungen des Drachenrückens verließ und zurückschlug. Mit ihrer Wildheit überrannten sie die tormalinischen Bauernsoldaten, die für den Dienst in Lescar und Caladhria ausgehoben worden waren. Wichtiger war jedoch, dass sie – wie sich bald herausstellte – über weit mehr Männer verfügten, als man vermutet hatte. Indem er sich sowohl Fürsten als auch Priester und Großgrundbesitzer zum Feind gemacht hatte, hatte Nemith seine Armeen ohne erfahrene Feldherrn in den Krieg geschickt, und auch die Nachrichtenbeschaffung sowie die Versorgung ließen arg zu wünschen übrig. Als seine Verluste stiegen, wurde Desertion zu einem ernsten Problem. Nemith befahl immer härtere Disziplinarmaßnahmen, aber natürlich machte das alles noch viel schlimmer. Die Fürsten weigerten sich, weitere Kohorten unter ihren Pächtern auszuheben, und boten jenen offen Zuflucht, die von des Kaisers eigenen Ländereien flohen. Es ist strittig, ob Nemith seine Herrschaft zu diesem Zeitpunkt noch hätte retten können, hätte er seine Truppen über den Dalas zurückgezogen. Vielleicht ja, doch die Ereignisse in Ensaimin und Caladhria ließen dies alsbald zu einer akademischen Frage werden.
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Inglis 11. Nachherbst, morgens
Es war bereits taghell, als ich am nächsten Morgen aufwachte, und einen flüchtigen Augenblick lang lag ich einfach nur in meinem weichen Bett und genoss Ruhe und Frieden. Dann vermisste ich Geris Wärme unter den weichen Wolldecken, und das Chaos des vorherigen Tages ergriff wieder von meinem Geist Besitz. »Livak?« Shivs leise Stimme vor meiner Tür rettete mich vor den Tränen. »Ich bin wach. Komm rein.« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. Shiv betrat den Raum mit einem dampfenden Krug in der Hand, den er auf den Waschtisch stellte. »Du siehst furchtbar aus. Uns hast du gesagt, wir sollten uns schlafen legen. Was hast du getan?« »Ich habe über ein paar Dinge nachgedacht, die ich versuchen könnte«, gestand er verlegen. »Du darfst dich nicht so verausgaben«, ermahnte ich ihn streng. »Bei Drianon, jetzt klinge ich schon wie meine Mutter, Shiv. Treib mich nie wieder dazu!« Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Da ist ein Mann, der nach dir gefragt hat. Sein Name ist Ryshad. Er hat gesagt, du wüsstest, worum es geht.« Ich war sofort aus dem Bett und zog mich rasch an. »Wo ist er?« »Im Salon. Darni besorgt uns Frühstück.« 271
Ich bemitleidete die armen Küchenmädchen. Als ich in den Salon kam, konzentrierte Darni sich voll und ganz auf Brot und Fleisch und ignorierte Ryshad völlig. Ryshad wiederum saß bei einem kleinen Becher Bier und kümmerte sich nicht im Mindesten um die Feindseligkeit, die ihm von jenseits des Tisches entgegenschlug. »Ryshad, danke, dass du gekommen bist.« Ich betrachtete das Essen. Was gab es denn? Fleisch, Brot, ein paar Reste vom Vorabend. Kein Haferbrei. Ich blickte zu Darni und beschloss, auf meinen geliebten Brei zu verzichten. Stattdessen nahm ich mir eine Schüssel mit einer Art Obstpudding und schenkte mir einen Becher Wein ein, den ich mit Wasser verdünnte. »Was interessiert dich das alles?« Darni blickte von seinem Essen auf und schaute Ryshad herausfordernd an. »Ich jage gelbhaarige Männer, die einen Verwandten meines Herrn angegriffen haben«, antwortete Ryshad in gelassenem Tonfall. »Ich habe Livak vor ein paar Tagen kennen gelernt, und wir haben ein paar Informationen ausgetauscht. Gestern hat sie mir erzählt, es sähe so aus, als hätten die Blonden sich einen Freund von euch geschnappt.« »Du stammst aus Tormalin?« Shiv sah interessiert aus, und ich war es ebenfalls. »Aus Zyoutessela, um genau zu sein. Ich habe mich Messire D’Olbriot verschworen.« Er griff in sein Hemd und holte ein Bronzemedaillon hervor, in das ein Wappen eingraviert war. »Und das heißt?«, erkundigte sich Shiv. »Mein Schwert gehört ihm. Ich bin sein Lehnsmann«, antwortete Ryshad schlicht. »Ich tue, was er von mir verlangt.« Der Name sagte mir nichts, aber der Titel bedeutete alten Adel, und dass Männer wie Ryshad diesem Fürsten die Treue 272
schworen, ließ darauf schließen, dass er eine wichtige Rolle in der komplexen tormalinischen Politik spielte. »Kennst du ihn?« Shiv blickte fragend zu Darni. »Ich kenne ihn ... und wenn man unberechtigt ein Lehnsmannzeichen trägt, riskiert man, dafür aufgeknüpft zu werden.« Darnis Streitsucht schwächte sich ein wenig ab, und er musterte Ryshad von Kopf bis Fuß. »Messire D’Olbriot kann seine Abstammung noch drei Generationen weiter zurückverfolgen als selbst der Kaiser, und daran erinnert er ihn auch allzu gerne.« »Was haben diese Männer ihm angetan?« Ich griff nach dem Wasserkrug, um meinen Wein noch ein wenig mehr zu verdünnen. »Sie haben einen seiner Neffen angegriffen, als der sich auf dem Heimweg von einem Bankett befand. Der Junge wurde halb tot geprügelt und auf der Straße liegen gelassen. Jetzt ist er auf einem Auge blind und kann nur noch einen Arm bewegen. Auch sein Geist hat Schaden genommen; er hat sich zu einem Kind zurückentwickelt.« Kurz zeigte sich Ryshads Zorn inmitten seiner leidenschaftslosen Worte, und unbewusst schlug er den Mantel hinter das Schwert zurück. »Warum haben sie das getan?« »Soweit wir wissen, war es ein simpler Raubüberfall. Er trug ein paar Erbschmuckstücke, Ringe, um genau zu sein. Das war auch alles, was sie ihm abgenommen haben.« Shiv und Darni blickten kurz einander an, was Ryshad natürlich nicht entging. Er fuhr fort. »Mein Herr will Rache für die Verletzungen und fordert sein Eigentum zurück. Wenn ich sie an einem Ort erwische, wo es eine zuverlässige Justiz gibt, werde ich die Behörden dazu be273
wegen, uns die Täter auszuliefern. Falls nicht, habe ich Befehl, sie umzubringen.« Damit hatte ich kein Problem, und außerdem ... Wer würde sich schon den Männern eines tormalinischen Fürsten in den Weg stellen? »Du willst ihnen alleine gegenübertreten?« Darni versuchte, den Spott aus seiner Stimme fern zu halten, doch es gelang ihm nicht. »Ich arbeite mit jemandem zusammen, und im Kampf sind wir recht geschickt, wenn es denn sein muss«, erwiderte Ryshad selbstbewusst. »Sollte es nicht anders gehen, werden wir vor Ort Hilfe anheuern.« »Aus welcher Epoche stammten diese Ringe?«, fragte Shiv. »Aus der Nemiths des Seefahrers.« Ryshad blickte mich erwartungsvoll an. »Es sieht so aus, als wärst du nicht die Einzige, die Antiquitäten sammelt.« Shiv hob die Hand, um Darni davon abzuhalten, etwas darauf zu erwidern. »Ich nehme an, Livak hat dir erzählt, dass wir für Planir arbeiten«, sagte der Magier. Ryshad nickte. Es folgte ein verlegenes Schweigen, währenddessen sich jeder überlegte, was er als Nächstes sagen sollte. Schließlich sagte ich, wobei ich meine Schüssel auf den Tisch knallte: »Also gut. Nachdem wir jetzt festgestellt haben, dass wir alle für wirklich wichtige Leute arbeiten, können wir uns später immer noch angemessen beeindruckt zeigen. Was wollen wir jetzt tun, um Geris zu finden? Was weißt du über diese Leute, Ryshad?« Er verzog das Gesicht und rieb sich das unrasierte Kinn. »Nicht viel. Es sind Fremde. Ich meine, echte Fremde. Sie stammen aus keinem der Länder, die einst Teil des alten Imperiums 274
waren.« »Könnten es Soluraner sein?«, fragte Darni zweifelnd. Ryshad schüttelte den Kopf. »Ich kenne Solura recht gut. Diese Männer ähneln keinem mir bekannten Volk auf dieser Seite der Welt. Soweit ich herausfinden konnte, sprechen sie auch kein Soluranisch. Gleiches gilt übrigens für alle Sprachen des alten Reiches, einschließlich des Tormalin selbst.« Das war seltsam. Jeder sprach Tormalin so fließend wie seine eigene Muttersprache, oder? Das muss man, wenn man studieren oder handeln will. »Wie verständigen sie sich dann mit den Leuten?« Shiv schien über die Frage äußerst besorgt zu sein; allerdings konnte ich den Grund dafür nicht nachvollziehen. »Das kümmert sie nicht. Ich bin ihnen die ganze Küste hinauf gefolgt, und ich habe niemanden getroffen, der direkt mit ihnen zu tun gehabt hätte – jedenfalls niemanden, der noch lebt. Sie tauchen irgendwo auf, erledigen irgendetwas und verschwinden noch in derselben Nacht.« »Was tun sie?«, fragte ich, obwohl ich fürchtete, die Antwort bereits zu kennen. »Hauptsächlich stehlen sie Tormalinantiquitäten«, bestätigte Ryshad meine Vermutung. »Dabei machen sie sich nicht die Mühe, ihre Taten zu verbergen. Sie schlagen jemanden halb tot oder foltern ihn sogar, und dann schnappen sie sich antiken Schmuck – ein Schwert, Erbsilber oder so was – und sind weg. Es ergibt keinen Sinn. Was sie sich nehmen, rechtfertigt in keinster Weise die Gewalt, die sie dafür aufwenden. Und wenn sich irgendjemand an die Verfolgung macht, sind sie verschwunden wie Rauch im Wind.« »Was führen sie im Schilde?« Darnis Feindseligkeit 275
schrumpfte in gleichem Maße, wie sein Interesse wuchs. Ryshad beugte sich vor. »Vielleicht könnt ihr einen Sinn in die Sache bringen. Sie haben auch Tempel angegriffen und Priester getötet.« Er sah ein wenig enttäuscht aus, als unsere leeren Blicke unsere Unwissenheit verrieten. »Wenn sie kommen und gehen wie Schatten, wie hast du dann vor ihnen hier sein können?«, erkundigte sich Darni, der inzwischen allen Ärger vergessen hatte und voll und ganz bei der Sache war. »Sie haben sich in gerader Linie die Küste hinaufgearbeitet und nur in größeren Städten zugeschlagen. Nach Bremilayne konnten sie nirgendwo anders mehr hingehen. Wir glaubten, ihnen endlich einmal zuvorgekommen zu sein. Seit einer halben Jahreszeit warten wir hier, und nun sind sie wieder aus dem Nichts erschienen und haben sich euren Gelehrten geschnappt.« Enttäuschung verlieh Ryshads Stimme einen harten Unterton. »Das ist noch nicht alles. Ihr solltet wissen, was mit Yeniya geschehen ist. Wir könnten tief im Dreck stecken, wenn die Stadtwache nach uns sucht.« Ich stellte den Becher ab und erzählte die Geschichte meines haarsträubenden Abenteuers. Die Erinnerung ließ mich schaudern, und das Frühstück rumorte in meinem Magen. »War das Zufall, oder haben sie gewusst, dass ihr Yeniya berauben wolltet?«, sinnierte Ryshad. Darni sah ein wenig blass aus. »Sie hätten die Information Geris abpressen können.« »Nein, sie war bereits tot, bevor wir ihn hier zurückgelassen haben. Da bin ich sicher.« Ich wollte gar nicht daran denken, 276
dass Geris sich in den Händen von Männern befand, die getan hatten, was ich gesehen hatte. »Erzähl mir mehr von dieser Verwirrung, die du empfunden hast«, forderte Shiv mich auf. Inzwischen hatte er ein paar von seinen Notizen hervorgekramt. Ich erzählte es ihm noch einmal. »War das Magie?« »Jedenfalls keine, die ich kenne.« Shiv klang irgendwie beleidigt. Er ließ Siegelwachs auf ein gefaltetes Pergament tropfen und drückte seinen Ring hinein. »Ich bin gleich wieder zurück« Darni blickte mich an, als Shiv den Raum verließ. »Du bist Kämpfe nicht gewohnt, nicht wahr? Erinnere dich an den Geisterring; danach ging es dir furchtbar. Bist du sicher, dass dir nicht bloß die Angst einen Streich gespielt hat?« Er hatte einen bewusst sachlichen Tonfall angeschlagen. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin es aber gewohnt, durch dunkle Häuser zu kriechen, Darni. Ich erschrecke mich nicht vor Schatten, und ich besitze die Augen einer Waldfrau, hast du das bereits vergessen? Ich hatte Angst, sicher – aber wenn ich mich fürchte, denke ich meist nur umso klarer.« Eine Pause setzte ein. Alle starrten wir auf unsere Hände, und ich dachte ernsthaft darüber nach, meine Gefährten einfach hier sitzen zu lassen und nach Ensaimin zurückzukehren. Den Herbstmarkt in Col hatte ich zwar verpasst; doch wenn Halice wieder reisefertig war, konnte ich mit ihr nach Relshaz gehen, wo Charoleia überwintern wollte. Ich seufzte. Ohne vorher zu wissen, was mit Geris geschehen war, konnte ich nicht los; das zumindest schuldete ich ihm. Ich kämpfte gegen einen unlogischen Zorn auf ihn an, weil er sich einfach so hatte schnappen lassen. Das kommt davon, wenn man mit Amateuren spielt. Shiv kehrte wieder zurück. »Ich werde Verbindung mit Planir 277
aufnehmen«, erklärte er unvermittelt. »Er muss wissen, was hier vor sich geht, und ich brauche Instruktionen.« »Dafür gibt es keinen Grund«, widersprach Darni. »Wir könnten Geris schon heute Abend wieder bei uns haben. Diese Männer haben doch sicher Spuren hinterlassen.« »Ich jage sie nun schon seit dem Vorsommer, und ich habe noch nie eine Spur gefunden«, erklärte Ryshad ruhig. »Geris ist nicht dumm. Er könnte sich selbst befreien«, erwiderte Darni. »Falls er dazu in der Lage ist. Der Wirt hat gesagt, er sei scheinbar freiwillig mit den Fremden mitgegangen. Wisst ihr, ob er mit jemandem gesprochen hat?«, fragte ich. »Nein, aber was hat das damit zu tun?« »Oh, komm schon, Darni.« Ich versuchte, freundlich zu bleiben. »Wann ist Geris zum letzten Mal irgendwohin gegangen oder hat etwas getan, ohne ununterbrochen zu plappern? Freiwillig ist er also bestimmt nicht mitgegangen, und das bedeutet noch mehr Magie.« »Wir brauchen Instruktionen, und der Rat muss wissen, was hier geschieht«, beharrte Shiv auf seiner Meinung. »Wir kommen schon selbst damit zurecht.« Darni stieg die Röte ins Gesicht. »Ich denke, Livak hat Recht, was Geris betrifft. Wir haben es hier mit Magie zu tun, und das bedeutet, es ist meine Entscheidung«, sagte Shiv in ungewohnt hartem Tonfall. Er schlug die Tür hinter sich zu. Ich wollte nicht bleiben und warten, bis Darni sich ein neues Ziel für seine Wut suchte; also stand ich auf. »Darni, ich brauche etwas Geld.« »Wofür?« Der plötzliche Themenwechsel verwirrte ihn. 278
»Die Hälfte meiner Kleider sind mit Blut verschmiert, und ich will der Wäscherin keinen so saftigen Knochen vor die Füße werfen, dass sie damit sofort zur Stadtwache rennt. Noch ein paar solcher Kämpfe, und ich laufe in einem Tanzkleid herum und trage Hausschuhe.« Darni griff in seine Börse und warf eine Hand voll Münzen auf den Tisch; dabei murmelte er irgendetwas von Frauen und ihren Prioritäten. Ich nahm die Münzen und lächelte Ryshad an. »Lass uns einkaufen gehen«, sagte er freundschaftlich. Auf den Straßen wurde bereits lebhaft Handel getrieben. Ich trug mein schlichtestes Hemd und einen Rock, und Ryshad mit seinem unauffälligen Selbstgewebten wäre überall als der typische Dorfschönling durchgegangen. »Informationen«, fragte ich ihn leise. »Wer hat Informationen in dieser Stadt?« »Schauen wir uns erst ein wenig auf den Hauptstraßen um.« Ryshad hatte eindeutig das gleiche Ziel wie ich. Die Aushangkästen vor dem Haus der Druckergilde zogen eine große Menschenmenge an. Nachdem wir uns nach vorne gedrängt hatten, sah ich auch warum. Der Mord an Yeniya würde hier eine ganze Zeit lang das wichtigste Gesprächsthema sein. Kein Wunder, denn zu ihren Verehrern gehörte einer der wichtigsten Vertreter der Papiermachergilde. Laut Aushang war sie vergewaltigt und erdrosselt worden. Bedeutete das, dass der Schreiber irgendetwas falsch verstanden hatte, oder hielt die Stadtwache absichtlich Informationen zurück, um den Mörder in Sicherheit zu wiegen? Ryshad tippte auf einen Absatz ein Stück weiter unten. Die Stadtwache wollte wissen, ob irgendjemand in letzter Zeit 279
Zimmer an Männer vermietet hatte, die vermutlich Brüder waren, blond und bärtig. Mich beunruhigte jedoch mehr die Beschreibung von vier Männern, die in der Nähe des Tatorts gesehen worden waren. Ihrer Kleidung nach sollte es sich um Bergleute oder Fallensteller handeln, und einer von ihnen, hieß es, sei ungewöhnlich klein, schlank und rothaarig gewesen. Ich hoffte, meine Retter besaßen genug Verstand, den Mund zu halten. Mit etwas Glück waren sie noch immer damit beschäftigt, mein Geld zu versaufen und somit zu betrunken, um mit irgendjemandem zu reden. Aber wie auch immer, in nächster Zeit sollte ich wohl lieber Röcke tragen. Wir gingen zum Stand eines Kleiderhändlers, wo Ryshad mir ein Kopftuch kaufte. »Wer schreibt diese Aushänge, und woher bekommt er seine Informationen?«, fragte ich, während ich mein Haar unter das Kopftuch stopfte, froh über die Tarnung und darüber, dass mir ein wenig wärmer wurde. »Sollen wir ihn wissen lassen, dass wir Interesse an der Sache haben?« »Weiß er mehr, als er geschrieben hat? Die Gilden herrschen in dieser Stadt, und sie kontrollieren auch die Stadtwache.« Scheinbar gelassen schaute Ryshad sich auf dem Platz um. »Mit Sicherheit haben sie ihre eigenen Quellen.« »Dann lass uns die Augen offen halten.« Ich strich meinen Rock glatt, und wir brachen zu einem längeren Einkaufsbummel auf. Beinahe genoss ich unseren Spaziergang, bis wir an einem Stand vorüberkamen, wo Becher mit heißem Würzwasser verkauft wurden. Ich hasste es, daran zu denken, was mit Geris geschehen sein könnte und zwang mich, mich auf unsere Maskerade zu konzentrieren. Wir gingen weiter zu einem Kleiderhändler. 280
»Was hältst du von dem hier?« Ich hielt mir ein Hemd vor die Brust, und Ryshad musterte mich eingehend. »Es ist wunderhübsch, meine Liebe. Kauf es, wenn es dir gefällt.« Sein glasiger Blick entsprach perfekt dem eines Mannes, der es hasste, mit seiner Frau einkaufen zu gehen. »Ich bin nicht sicher. Was ist mit dem Bestickten?« »Was?« Ryshad drehte den Kopf zu mir, als hätte ich ihn überrascht. »Du hörst mir nicht zu, nicht wahr?«, knurrte ich. Der Kleiderhändler senkte taktvoll den Kopf und faltete ein paar seiner Kleidungsstücke, und ich musste darum kämpfen, ernst zu bleiben, als Ryshad mir zuzwinkerte. »Ich habe Durst.« Ryshad hob die Hand, als ich gerade eine hausmütterliche Tirade loslassen wollte. »Kauf sie beide, und nimm auch dieses bernsteinfarbenes Seidending. Ich gebe einen aus.« Der Händler lächelte uns erfreut an; das war angesichts des Seidenpreises so weit im Norden auch kein Wunder. Bernstein war außerdem eine Farbe, die mir besonders gut stand. Ryshad bezahlte den Mann; dann gingen wir mit einem weiteren Paket unter dem Arm wieder unseres Weges. »Und jetzt?«, fragte ich. »Du brauchst noch Hosen. Aber ich glaube, die sollte ich besser alleine kaufen.« »Und was soll ich in der Zwischenzeit tun?« »Setz dich irgendwohin, trink einen Becher Wein, und sieh dir den Musikanten da an.« Ryshad führte mich zu einer angenehmen Taverne auf der anderen Seite des Platzes, und ich setzte mich draußen an einen Tisch, um die schwache Sonne und den stark verdünnten Wein 281
zu genießen. Während ich meine Päckchen durchsuchte, blickte ich aus den Augenwinkeln heraus immer wieder zu dem Lautenspieler. Er lehnte an einer Art Denkmal und spielte unbeschwerte Lescaritänze. Passanten warfen ihm Kupferstücke zu, doch ich sah auch ein paar Bettler, die sich ihm näherten. Sie hörten auf zu reden, und er gab jedem von ihnen eine Münze. War das nur Freundlichkeit unter Gossenbewohnern? Wo ich herkomme, sieht man das genauso häufig wie ein Huhn mit Reißzähnen. Ein Milizionär trat herbei, um den Spielmann zu vertreiben, doch dieser straffte die Schultern, um dagegen zu protestieren. Ich beobachtete, wie die beiden sich Aug in Aug gegenüberstanden und miteinander stritten. Das war seltsam. Bis jetzt hatte ich hier noch nie gesehen, dass ein Mitglied der Stadtwache sich um das Straßenvolk kümmerte. Außerdem hatte der Lautenspieler niemanden verärgert. Tatsächlich spielte er sogar recht gut, gut genug sogar, um in einer Taverne aufzutreten. Der Wachmann stieß ihn gegen die Statue. Ich hatte es zwar nicht gesehen, aber ich hätte Darnis bestes Schwert darauf verwettet, dass in diesem Augenblick irgendetwas den Besitzer gewechselt hatte. Der Musikant machte sich über den Platz davon, und ich hielt nach Ryshad Ausschau; ich wollte eine solche Spur nicht einfach wieder kalt werden lassen. Als Ryshad fast im selben Augenblick erschien, seufzte ich erleichtert auf. Ich war bereits auf den Beinen, bevor er mich erreicht hatte. »Du hast Recht. Er arbeitet eindeutig für die Stadtwache. Sollen wir ihm folgen?« Ich schaute mich um. Der Spielmann war noch zu sehen. »Nicht jetzt. Wir können ihn jederzeit wieder finden, und ich 282
möchte nicht, dass die Stadtwache weiß, dass wir an ihm interessiert sind.« Ryshad führte mich in die entgegengesetzte Richtung. »Sie sind nun fast alle auf den Straßen und treiben sämtliches Gesindel aus seinen Löchern. Einige bekommen nur einen Tritt, doch ein paar machen, dass sie verschwinden, und sie haben es verflixt eilig.« »Also lassen wir unseren Freund mit den flinken Fingern sammeln, was er kann, bevor wir ihm ein paar Fragen stellen? Sollen wir ihm einen Beutel Gold anbieten, damit er den Mund hält, und ihm damit drohen, ihm in einer dunklen Gasse ein Messer zwischen die Rippen zu rammen, falls er die Wache auf uns hetzt?« Ryshad lächelte. »Ja, ich glaube, so werden wir es machen. Lass uns jetzt diese Päckchen wegbringen; dann können wir meinen Partner suchen gehen, Aiten. Ich sollte ihm erklären, was los ist.« Nachdem wir in unseren Gasthof zurückgekehrt waren, steckten wir kurz die Köpfe in den Salon hinein. Shiv war tief in ein Gespräch mit einem nervös wirkenden jungen Mann versunken, der eine übertrieben bunte Robe trug. »Wer arbeitet sonst noch mit Fährtenmagie?«, fragte Shiv gerade verärgert. »Niemand«, erklärte der unglückliche Jüngling. »Ich habe jeden gefragt, der mir in den Sinn gekommen ist, und niemand hat mit so etwas gearbeitet. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie Ihr diese Art Wirkung erzeugen wollt. Ich nehme allerdings an, Ihr könntet ...« »Egal.« Shiv blickte zu uns. »Gibt es was Neues?« »Tut mir Leid.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir kommen später wieder zurück. Wo ist Darni?« 283
»Unterwegs.« Shivs Gesichtsausdruck sprach Bände. Ich deutete auf seinen Gast. »Irgendwelche Hinweise?« »Es sieht so aus, als hätte die Stadtwache die Zauberer einem scharfen Verhör unterzogen. Sie sind davon überzeugt, dass die Täter nur mithilfe von Magie zu Yeniya haben vordringen können.« Shiv seufzte. »Ich will mich nicht verdächtig machen, indem ich zu viele Fragen stelle. Irgendjemand könnte auf den Gedanken kommen, den eigenen Arsch zu retten, indem er mir die Stadtwache auf den Hals hetzt.« »Bis später.« Ich schloss die Tür und wandte mich an Ryshad. »So. Wohin gehen wir?« »Zu den Tierkampfarenen.« Er musterte mich von Kopf bis Fuß. »Kannst du auch etwas weniger respektabel aussehen?« Ich löste mein Haar, schlang das Tuch um die Schultern und knöpfte das Hemd ein Stück auf. »Gut so?« Er grinste. »Gut so.« Es dauerte eine Weile, bis wir Ryshads Freund inmitten der blutrünstigen Menge gefunden hatten, die sich an den Tierkämpfen ergötzte. Ich war es inzwischen mehr als leid, ständig in den Hintern gekniffen zu werden, als Ryshad plötzlich einem Gesicht in der Masse winkte und auf die Tür deutete. Der Blutgeruch und die Schmerzensschreie der Tiere ließen mich an Yeniya denken; ich hatte noch nie einen Sinn in der Tierhatz gesehen. »Ryshad! Schön, dich zu sehen!« »Livak, das ist Aiten.« Aiten war von durchschnittlicher Statur und besaß unauffälliges braunes Haar und ebenso braune Augen. Er war genau die Art Mann, die man in einer Menschenmenge leicht übersehen konnte. Unsicher blickte er mich an; also klimperte ich mit den 284
Wimpern und sah so billig aus, wie ich konnte. Ryshad lachte. »Lass dich nicht auf den Arm nehmen, Aiten. Sie arbeitet mit ein paar Agenten des Erzmagiers zusammen, und wenn ihr das irgendwann einmal zu langweilig werden sollte, könnte D’Olbriot schlechtere Geschäfte machen, als sie in seine Dienste zu nehmen.« »Was gibt es Neues?« Aiten war bereits ganz bei der Sache, als wir zum Rand der nächsten Arena gingen. Ryshad gab ihm einen bemerkenswert knappen Bericht über die Entwicklungen, während ich die Falkner dabei beobachtete, wie sie ihre Vögel vorführten. Aiten wirkte unglücklich. »Hier haben wir nichts davon mitbekommen – gar nichts. Die Stadtwache war zwar vor einiger Zeit hier und hat ein paar der bekanntesten Schläger mitgenommen, aber das schien mir mehr Routine zu sein. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie jemand Bestimmten gesucht.« »Dann sind diese Bastarde also aufgetaucht, haben die arme Frau in Stücke gerissen und sind wieder in ihrem Loch verschwunden, ohne dass jemand etwas bemerkt hätte?« Ryshads Gesicht war hart wie Stein. »Allmählich geht mir das auf den Geist!« »Ich werde versuchen, etwas herauszufinden.« Aiten schaute sich um. »Ich probier’s gleich mal bei den Falken; aber ich brauche etwas Geld, um wetten zu können.« Ryshad reichte ihm eine schwere Börse. Warum hatte ich nie mit solch einem wohlhabenden Hintermann gearbeitet? Weil es in den meisten Fällen bedeutete, Befehle von jemandem wie Darni entgegennehmen zu müssen, ermahnte ich mich selbst. »Hast du schon einen guten Vogel im Auge?« »Nur Scheiße«, erwiderte Aiten fröhlich. »Aber es ist jedes 285
Mal erstaunlich, was die Leute einem erzählen, nachdem sie erst einmal dein Geld eingesackt haben.« »Triff dich mit uns bei Sonnenuntergang.« Ryshad ergriff meinen Arm, und wir machten uns auf den Weg zu einem teuren Gasthof, wo wir uns mit Darnis Geld ein geruhsames Essen gönnten. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, durch die Stadt zu spazieren. Hier und da kauften wir etwas ein, betrachteten die Sehenswürdigkeiten und beobachteten, wie die Stadtwache überall Köder für jene auslegte, die ihr etwas sagen könnten. Wer immer in dieser Stadt die Macht hatte, er wusste, was er tat.
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Die Kammer Planirs des Schwarzen, Hadrumal 11. Nachherbst, Mittag
Kalion legte seine Pergamente zu einem ordentlichen Stapel zusammen. »Wie Ihr seht, Erzmagier, ist klar, was es für unsere Finanzen bedeutet, sollten wir in der nächsten Jahreszeit noch einmal so viele Anwärter dazu bekommen.« Er saß auf seinem Stuhl wie ein Mann, der bereit war, seine Stellung mit allen Mitteln zu verteidigen. »Danke, dass Ihr mir das gebracht habt.« Planir lächelte den Herdmeister freundlich an und lehnte sich zurück. »In der Tat denke ich sogar, dass wir die Bücher aller Hallen überprüfen sollten, um zu sehen, ob dieses Problem auch anderenorts auftritt. Ich nehme an, das wird der Fall sein, und dann können wir gemeinsame Maßnahmen ergreifen.« Der Erzmagier schloss die verschiedenen Hauptbücher, die offen auf dem polierten Tisch lagen, und stand auf, um sie wieder auf das Regal unter dem großen Lanzettfenster zu stellen. »Wir können das bei der nächsten Ratsversammlung zur Sprache bringen. Nun, solange Ihr mit dem turnusmäßigen Wechsel der Lehrlinge einverstanden seid, sehe ich keinen Grund, Euch länger aufzuhalten. Ich muss gestehen, auch ich bin sehr beschäftigt.« Planir blickte Kalion erwartungsvoll an, doch der rundliche Magier blieb trotzig sitzen. »Es gibt da noch etwas, das ich ansprechen muss, Erzmagier.« Kalions Tonfall war streng, sogar ein wenig missbilligend. »Ach?« Planir setzte sich wieder und hob leicht die Augenbrauen. 287
»Mich sorgt der Grad an Vertrautheit, die Ihr einigen Leuten Euch gegenüber zugesteht.« Kalion beugte sich vor, und sein Doppelkinn schwabbelte, als er nachdrücklich den Kopf schüttelte. »Die Art und Weise, wie Otrick mit Euch spricht – und Usara, wenn wir schon dabei sind –, ist nicht angemessen!« Planir griff nach der Karaffe, die zwischen ihnen stand, schenkte sich ein Glas Wasser ein und drehte es gelassen in einen Sonnenstrahl, der durch die Herbstwolken gedrungen war und die steinernen Türme von Hadrumal golden leuchten ließ. »Otrick ist einer der ältesten Magier in Hadrumal und obendrein der Oberste Wolkenmeister, Kalion«, erklärte er in mildem Tonfall. »Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, war er bereits Ratsmitglied, als Ihr und ich noch Lehrlinge waren. Ich fände es kaum passend, Ehrerbietung von ihm zu verlangen. Und was Usara betrifft, so war er mein erster Schüler. Ich betrachtete ihn nicht nur als Mitmagier, sondern auch als Freund.« Planirs freundliche Vernunft nahm Kalions Missbilligung eindeutig die Schärfe, doch der Herdmeister gab nicht so rasch auf. »Ich rede nicht nur von Otrick und Usara. Ich habe gehört, Ihr hättet den Äquinoktiumstanz in der Quellenhalle besucht und mit jedem weiblichen Lehrling getanzt, der keinen Partner hatte. Wenn Ihr Euch solche Freiheiten nehmt, tut das der Würde Eures Amtes nicht gerade gut.« »Um offen zu sein, Herdmeister, kümmert mich in letzter Zeit weniger die Würde meines Amtes als vielmehr seine Wirksamkeit.« Planir blickte Kalion streng an, und seine Stimme wurde schärfer. »Beides ist untrennbar miteinander verbunden!«, protestierte Kalion erregt. 288
»Das glaube ich nicht.« Planir nippte an seinem Wasser und hob die Hand, um Kalion Schweigen zu. gebieten. »Ihr habt Euch letztens vor dem Rat hervorragend dafür eingesetzt, dass die Magie auf dem Festland wieder an Bedeutung gewinnen sollte. Wenn ich mich recht entsinne, habt Ihr gesagt, Magier müssten sichtbarer werden, sich weniger zurückhalten. Ich stimme dem zu, und ich glaube, das Ähnliches auch für das Amt des Erzmagiers gilt. Wenn selbst der einfachste Lehrling den Eindruck hat, dass man mit mir reden kann, erfahre ich mehr bei einem Rundgang durch Hadrumal als in einer ganzen Woche aufmerksamen Studiums von Denkschriften der verschiedenen Hallen. Und ich brauche diese Informationen, wenn ich die Pflicht erfüllen soll, die der Rat mir auferlegt hat.« »Da ist immer noch die Frage des Respekts ...«, begann Kalion nach einem kurzen Augenblick der Unsicherheit. »Ich glaube, dass man sich Respekt verdienen muss, Herdmeister. Man kann ihn nicht einfach einfordern«, fiel Planir ihm barsch ins Wort. »Die Zeiten ändern sich auf dem Festland – das habt Ihr selbst gesagt –, und unsere Lehrlinge sind mit diesen Veränderungen aufgewachsen. Wir können nicht von ihnen erwarten, dass sie sich drei Generationen zurückentwickeln, sobald sie den Fuß vom Boot setzen. Das hier ist nicht irgendein caladhrianisches Lehen, wo ich in meinem hohen Amt nur einmal einen kurzen Mantel tragen müsste, und alle würden sich die Roben abschneiden.« »Rangunterschiede sind von großer Wichtigkeit, wenn Ihr Eure Autorität wahren wollt.« Kalion veränderte seine Haltung und spielte unbewusst an seinem Amtsring herum. »Vergesst nicht, dass wir unsere Ränge nur durch den Willen der Mehrheit besitzen, Kalion, auch wenn das nie so offen aus289
gesprochen wird. Aber wie auch immer ... Habt Ihr jemals gesehen, dass es mir an Autorität gemangelt hätte, sei es nun im Rat oder der Magiergemeinschaft im Allgemeinen?« Planir lächelte. Seine Frage war einfach genug gewesen, doch Kalion errötete und dachte lange über eine Antwort nach, bevor er verlegen den Blick senkte. Der Erzmagier schaute aus dem Fenster zu den Dächern der Hallen, die sich bis zum Hafen erstreckten, und legte die Stirn in Falten. Dann stand er auf, verschränkte die Arme und blickte auf Kalion hinunter. »Ihr wisst, wie es heißt: Der Hund, der einmal bellt, dem hört man zu; der Hund, der die Nacht über bellt, wird ausgepeitscht. Ich benutze meine Autorität, wenn es notwendig ist – macht Euch darüber keine Sorgen, Kalion –; aber Ihr wisst so gut wie ich, dass ein Erzmagier mit einem Hang zur Tyrannei rasch bei allem übergangen und immer weiter isoliert wird.« Jemand klopfte höflich an die Tür, und Kalion drehte sichtlich erleichtert den Kopf herum. »Das wird Usara sein, der sein Vorhaben mit mir besprechen will.« Planir verneigte sich knapp. »Ihr müsst uns jetzt entschuldigen.« »Gewiss, Erzmagier.« Kalion steckte seine Dokumente in eine schön gearbeitete Mappe, stand auf und strich seine purpurfarbene Tunika glatt. »Herdmeister.« Usara verneigte sich höflich, als Planir die Tür öffnete, um Kalion hinauszulassen. »Komm herein.« Planir ging zum Tisch zurück und überließ es Usara, die Tür zu schließen. »Es ist mir gelungen, mit Shannet zu sprechen ...«, begann Usara voller Eifer, doch Planir runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. 290
»Einen Augenblick, San. Weißt du, wer Kalion heutzutage mit Gerüchten aus der Quellenhalle versorgt?« Usara schüttelte den Kopf. »Nein. Soll ich mich ein wenig umhören?« Planir nickte. »Aber diskret. Nun, was hat Shannet gesagt?« »Erst einmal hat sie versucht, Geris mittels Weitsicht selbst zu finden; dann hat sie ihren Zauber mit Otricks Hilfe verstärkt. Sie hatte genauso wenig Glück wie wir.« Usara seufzte. »Verflixt!« Planirs Verzweiflung war offensichtlich. »Will sie, dass auch ich mich an dem Zauber beteilige, nun da ich mit Kalion und seinen verfluchten Zahlen fertig bin?« Er legte seine formelle Robe ab und zog stattdessen eine bequeme Wolljacke über sein Hemd. »Nein. Sie sagt, selbst wenn sie den halben Rat einspannen würde, mache es keinen Unterschied. Sie glaubt, dass er irgendwie abgeschirmt wird.« Usara strich sich ratlos mit der Hand über sein immer dünneres Haar. »Sie ist die Expertin; sie sollte es wissen. Dann haben wir es also wieder mit ätherischer Magie zu tun«, sagte Planir und presste die Lippen aufeinander. »Das scheint unser Problem zu sein«, stimmte Usara ihm zu. »Und wo finden wir die Lösung dafür, Sar?«, verlangte Planir zu wissen. Er ging zu einem Bücherregal und holte mehrere Bände heraus. »Otrick sucht danach in den Archiven.« Usara nahm vom Erzmagier einen schweren Band in grünem Leder entgegen und legte ihn auf den Tisch. »Shannet hat gesagt, sie sei bei ihrer Arbeit schon einmal auf so etwas gestoßen.« Planir hielt kurz inne, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. »Wann?« 291
»Hast du jemals von einem Magier mit Namen Azazir gehört?« Usara kramte in den Taschen seiner von Tintenflecken übersäten Pluderhose, bis er schließlich eine zerknüllte Notiz hervorholte. »Ja«, antwortete Planir langsam. »Warum?« »Shannet sagt, er hätte behauptet, ein paar Inseln weit draußen im Meer entdeckt zu haben, Hunderte von Meilen westlich von hier. Azazirs Schüler, Viltred, war ein Freund von ihr, und gemeinsam haben sie versucht, diese Inseln mittels Weitsicht wieder zu finden, um Azazirs Behauptung zu bestätigen.« Usara blickte von seinen Notizen auf. »Sie ist sicher, dass die gleiche Art Schutzschild, die vor all diesen Jahren die Inseln vor ihr und Viltred verborgen hat, nun auch Geris verbirgt.« »Tatsächlich?« Planir wollte noch etwas hinzufügen, als sich plötzlich die Tür öffnete und Otrick erschien. Der alte Magier sank gegen den Türrahmen und atmete schwer. Sein Gesicht war fast genauso weiß wie sein Hemd. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass Magier es zur Mode machen, im Erdgeschoss zu leben anstatt all diese unseligen Treppen hinaufzusteigen!« Otrick ließ sich auf einen Stuhl fallen und kramte in seiner Manteltasche nach einem Kaublatt. »Hast du das Tagebuch gefunden?« Usara reichte Otrick ein Glas Wasser. Der alte Mann nickte. Einen Augenblick war er sprachlos; dann zog er ein dünnes Buch aus seiner Jacke. »Hier. Verrate dem Archivar nicht, dass ich es gestohlen habe.« Planir nahm das Buch, blätterte rasch durch die vergilbten Seiten und betrachtete die krakelige Schrift mit zusammengekniffenen Augen. »Nun, das ist angesichts von Shivs letztem Bericht wirklich 292
interessant.« Der Erzmagier blickte zu Usara. »Hör dir das mal an: ›Die Wälle der Festung wurden von schwarz livrierten Männern bewacht, und es war offensichtlich, dass unser Gastgeber ein stehendes Heer von beachtlicher Größe unterhielt. Als ich versuchte, die Wehranlage zu verlassen, verwehrte man mir ohne Erklärung oder Entschuldigung den Ausgang.‹ Und da ist noch mehr: ›Das Essen war kaum als zufrieden stellend zu bezeichnen, und die Blicke und das Murmeln von den unteren Tischen beunruhigte uns zunehmend. Ich kann nur vermuten, dass unser dunkles Äußeres der Grund dafür war, denn dort waren die meisten Menschen hell von Haut und Haan.‹« »Ich habe Shannet erzählt, dass Geris vermutlich von blonden Männern entführt worden ist. Dabei sind ihr dann auch Azazir und Viltred wieder eingefallen.« Usara nickte. »Dann kommen diese Leute also von dort?« Otricks Augen leuchteten inzwischen, und sein Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe bekommen. »Von irgendwelchen Inseln jenseits der Karte? Das Meer können sie nur mit Magie überqueren, das wisst ihr.« »Allmählich sieht es so aus, als hätten sie genau das getan. Erinnert euch daran, was dieser tormalinische Lehnsmann Shiv erzählt hat«, sagte Planir nachdenklich. »Ich denke, wir sollten so viel wie möglich über diese Inseln und ihre Bewohner herausfinden. Und wie es scheint, befinden sich Shiv und Darni am richtigen Ort, um damit anzufangen.« »Was ist mit Geris?« Usara blickte von dem Buch auf, in dem er gerade las. Planir blätterte weiter in dem Tagebuch. »Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass Geris verloren ist«, erklärte er schließlich. »Ätherische Magie ist nicht länger mehr nur eine antike Kurio293
sität. Hier steht weit mehr auf dem Spiel als das Leben eines jugendlichen Gelehrten aus Vanam. Denkt an Naldeths neueste Theorie, an die imperialen Chroniken, die er untersucht hat.« »Shiv wird Geris nicht aufgeben wollen«, warnte Otrick und legte die Stirn in Falten. »Ich würde das an seiner Stelle auch nicht tun.« Planir zuckte mit den Schultern. »Wer sagt denn, dass sie den Jungen aufgeben sollen? Diese geheimnisvollen Inseln sind doch sicherlich der beste Ort, um nach ihm zu suchen.« »Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?«, fragte Usara zweifelnd. »Was ich glaube, ist nicht von Bedeutung – vorausgesetzt, es gelingt mir, Shiv zu überzeugen.« Planir schlug das Buch zu. »Wenn Azazir diese Inseln schon einmal gefunden hat, besitzt Shiv genug Talent, sie ebenfalls zu finden, nachdem Azazir ihm alles erzählt hat, was er weiß.« »Und wie soll er deiner Meinung nach an diese Informationen kommen?«, fragte Otrick spöttisch. »Seit mehr als einer Generation hat niemand mehr etwas von Azazir gehört.« »Erlaubt, dass ich Euch verbessere, Wolkenmeister.« Ein schwaches Lächeln hellte Planirs ernste Mine auf. »Ich habe ein wachsames Auge auf Azazir gehabt, seit ich den Ring des Erzmagiers übergestreift habe. Ich kann Shiv zu ihm führen.« »Und was ist, wenn Azazir nicht mit uns zusammenarbeiten will?«, fragte Usara. »Du kennst seinen Ruf.« »Lasst uns das Pferd nicht vom Schwanz aufzäumen.« Planir lachte unvermittelt. »Falls nötig, werde ich meine Autorität geltend machen. Das wird Kalion Stoff zum Nachdenken geben.«
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Inglis 11. Nachherbst, Abend
Als die Sonne schließlich unterging, kannte ich Inglis’ Straßen und Gassen beinahe genauso gut wie die von Vanam. Das könnte sich als nützlich erweisen, sollte sich jemals etwas ergeben, wo der Gewinn das Risiko rechtfertigte, hier zu arbeiten. Von Geris jedoch fanden wir keine Spur, ebenso wenig wie von dem geheimnisvollen Trupp, der ihn entführt hatte. Erschöpft kehrten wir in den Gasthof zurück. Als wir die Treppe hinaufstiegen, hörten wir Darni und Shiv am Ende des Ganges laut streiten. Ich rannte zum Salon und stieß die Tür auf. »Soll hier jeder wissen, was ihr euch zu sagen habt? Ich habe schon leisere Massenschlägereien erlebt!« Die beiden standen sich einander am Tisch gegenüber. Nun drehten sie sich zu mir um und funkelten mich an; aber zumindest hatte ich sie zum Schweigen gebracht. »Was ist hier los?«, verlangte ich zu wissen. »Wir haben neue Anweisungen vom Erzmagier erhalten.« Shiv war weiß vor Wut. »Und ich stimme ihnen nicht zu«, begann Darni. Er war knallrot angelaufen und atmete schwer. »Du sollst ihnen nicht zustimmen, du sollst gehorchen«, sagte Shiv mit Schärfe in der Stimme. Ich hätte nie geglaubt, dass seine Stimme so kalt klingen könnte. »Und was sollen wir tun?« Ich setzte mich und schenkte uns allen Wein ein. Nach einem kurzen, spannungsgeladenen Augenblick setzten sich die beiden Streithähne wieder, wenn auch 295
nur widerwillig. »Planir will, dass wir einen verrückten alten Magier aufspüren, der vermutlich ohnehin schon irgendwo tot in der Gosse liegt«, erklärte Darni in verächtlichem Tonfall. »Shiv?« »Planir hat mir gesagt, er habe Geschichten über ein Volk von blonden Menschen gehört. Es gibt da diesen Magier, Azazir, der behauptet hat, vor mehreren Generationen das Meer überquert und ein unbekanntes Land entdeckt zu haben. Aus diesem Land stammen angeblich die Blonden.« »Das klingt mir ein wenig vage, Shiv«, erwiderte ich zweifelnd. »Da ist noch mehr. Planir besitzt zuverlässige imperiale Aufzeichnungen aus der Zeit Nemiths des Tollkühnen. Auch dort wird ein blondes Volk erwähnt, und soweit Planir es hat herausfinden können, haben diese Fremden Magie angewandt, um das Reich zu vernichten. Sie besitzen Kräfte, über die wir nichts wissen.« Trotz der Wärme im Raum lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. »Das Tormalinreich ist untergegangen, weil es zu groß geworden war, um es beherrschen zu können. Versorgungsprobleme waren der Grund für seinen Untergang, nicht Magie. Das weiß jeder.« Darni stand wieder auf und beugte sich streitlustig zu Shiv. »Und was verlangt Planir jetzt von euch?« Die Frage brachte Ryshad einen dankbaren Blick von Shiv ein. »Wenn es uns gelingen sollte, Azazir zu finden, könnte er uns sagen, woher diese Leute kommen. Und wenn wir dieses Land erreichen könnten, wären wir wiederum in der Lage he296
rauszufinden, wer sie sind und was sie wollen.« »Das sind mir ein paar ›wenns‹ zu viel«, erwiderte ich noch immer zweifelnd. »Was ist mit Geris? Wir haben einige Spuren gefunden, die wir verfolgen sollten! Stimmt’s, Ryshad?« Ryshad nickte langsam. »Das stimmt. Aber ich habe andernorts schon bessere Spuren gehabt, und sie haben mich nirgendwohin geführt. Wenn dieser Magier uns den Weg zu ihnen zeigen kann, wären wir vielleicht besser dran, wenn wir uns direkt an denjenigen halten würden, der die Befehle gibt.« »Azazir könnte nicht mal auf die eigene Nase zeigen, ohne sich dabei mit dem Finger das Auge auszustechen.« Darni rief es fast. »Du hast die gleichen Geschichten gehört wie ich, Shiv. Er ist ein verrückter, alter Bastard, den man schon das letzte Mal hätte hinrichten sollen, als er sich mit dem Rat angelegt hat. Aber wie auch immer, seit Jahren schon hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Vermutlich verrottet er bereits in irgendeiner Wildnis, und das ist gut so.« Ryshad und ich blickten einander unsicher an. Magier, die vom Erzmagier oder dem Rat zum Tode verurteilt wurden? Von so etwas hatte ich noch nie gehört. »Nun, wie willst du ihn finden?«, forderte Darni Shiv heraus. »Planir hat ein Gebiet entdeckt, wo die Elemente in Unordnung geraten sind. Eine Menge Wasser ist dort konzentriert – so viel, dass nur Magie die Ursache dafür sein kann. Dieses Gebiet liegt in jenem Teil von Gidesta, wo Azazir zum letzten Mal gesehen worden ist. Ich bin Wassermagier. Wenn ich nahe genug herankomme, sollte es mir möglich sein, die Kraft zu ihrer Quelle zurückzuverfolgen.« Selbst für einen Unwissenden wie mich klang das nicht gerade vielversprechend. 297
»Dafür gibt es keine Garantie. Außerdem findest du vielleicht nur ein paar langfristige Zauber und Azazirs Knochen. Aber gut ... Nehmen wir einmal an, er lebt noch. Warum sollte er mit dir reden? Du wirst ihm doch sagen, dass du für Planir arbeitest, oder? ›Bitte, hilf mir, weil ich für den Erzmagier arbeite, der dir angedroht hat, dich unter die Erde zu bringen, sobald du dich auch nur auf zwanzig Meilen einem Dorf näherst.‹ Lächerlich!« Jetzt schrie Darni wirklich. »Was ist mit Geris, Shiv?«, fragte ich, zunehmend besorgt über die Richtung, in die sich die Sache entwickelte. »Sie haben einen Tag Vorsprung vor uns, und wenn wir jetzt irgendwo anders hingehen, wird die Spur bei unserer Rückkehr kalt sein.« »Planir hat Geris selbst mit Weitsicht gesucht und den halben Rat zusammengetrommelt, um den Zauber zu verstärken. Wenn sie ihn nicht finden können, kann es niemand.« Shivs Gesichtsausdruck verriet seine Verzweiflung. »Dann bleibt uns also nur, den Hintermann zu suchen«, sagte Ryshad ruhig. »Wenn wir ihn finden, haben wir auch die Chance, euren Freund aufzuspüren.« »Wer hat dich denn gefragt?« Darni wandte den Blick nicht von Shiv. »Das kannst du nicht tun, Shiv. Wir müssen hier und jetzt nach Geris suchen!« »Ich kann dem Erzmagier nicht den Gehorsam verweigern, und wenn du nur einen Funken Verstand hast, wirst du das auch nicht tun.« Sich zu beherrschen, bereitete Shiv offenbar große Mühe. »Ich mache mich bei Tagesanbruch auf den Weg. Ryshad, der Ermagier wüsste es sehr zu schätzen, wenn du dich uns anschließen würdest. Livak, du hast keinerlei Verpflichtung mehr uns gegenüber, aber solltest du dich uns anschließen wollen, würde ich es sehr begrüßen.« 298
»Ich brauche sie, um Geris zu finden!«, rief Darni. Shiv öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann jedoch wieder, stapfte aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu. »Ich bin noch nicht fertig!« Darni stürmte ihm hinterher, und ich glaubte, die Tür würde aus ihren Angeln gerissen werden, als er sie voller Wut aufwarf. »Darni versteht unter einer Diskussion, seine Meinung möglichst laut zu vertreten, bis alle anderen aufgeben«, erklärte ich Ryshad, während ich uns Wein nachschenkte. »Ich habe solche Leute auch früher schon getroffen.« Ryshad schien das alles nicht zu kümmern. »Nun, was wirst du tun?« »Was ist mit dir?« »Aiten und ich werden Shiv begleiten, keine Frage. Das mag ja vielleicht eine schwache Spur sein, aber es ist die beste seit zwei Jahreszeiten.« »Du glaubst also, dass wir auf diese Weise auch Geris finden könnten? Ich hasse die Vorstellung, ihn einfach so aufzugeben.« »Falls es hier noch nützliche Informationen geben sollte, wird die Stadtwache sie herausbekommen. Fünf der wichtigsten Männer in der Stadt raufen sich die Haare wegen Yeniya, vergiss das nicht. Wenn dieser eine Trupp gefunden werden kann, wird die Stadtwache ihn mindestens so rasch aufspüren, wie wir es könnten, und somit auch Geris.« »Du hörst dich nicht gerade überzeugt an.« »Das bin ich auch nicht«, gestand Ryshad. »Ich habe mich schon lange gefragt, ob die Blonden vielleicht Magie einsetzen. Komm schon, Livak! Du bist weit herumgekommen. Geris könnte längst tot sein. Falls er doch noch leben sollte, dann 299
nur, weil sie etwas von ihm wollen, und in diesem Fall bringen sie ihn mit Sicherheit zu ihrem Anführer zurück. Denk einmal darüber nach.« Ich seufzte. All meine Gefühle einschließlich meines Pflichtbewusstseins sagten mir, dass ich Darni dabei helfen sollte, die Stadt auf den Kopf zu stellen, bis wir Geris gefunden hatten, doch mein Verstand widersprach; er sagte, dass Shiv und Ryshad Recht hatten. Wenn es galt, eine harte Entscheidung zu treffen, so erkannte ich plötzlich, dann vertraute ich Shiv mehr als Darni, Zauberer hin oder her. »Ich nehme an, es wäre wirklich besser, wenn ich euch begleiten würde«, sagte ich unglücklich. »Das freut mich.« Ryshad stand auf und legte mir tröstend den Arm um die Schulter. »Bis später. Ich muss Ait erzählen, was wir vorhaben und noch ein paar Dinge erledigen.« Ich blickte ihm hinterher, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann machte ich meinem hilflosen Zorn Luft, indem ich ein paar Becher durch den Raum warf. Warum sollten nur Shiv und Darni ihren Gefühlen freien Lauf lassen? Den Rest des Tages verbrachte ich damit, in unmittelbarer Umgebung des Gasthofs nach Spuren von Geris zu suchen. Ich fand absolut gar nichts. Schließlich stapfte ich wieder nach oben, um eine einsame Nacht in einem kalten Bett zu verbringen. Unglücklich ging ich immer wieder die Möglichkeiten durch, die sich mir boten, bis ich schließlich erschöpft einschlief. An einem feuchten, kalten Herbstmorgen brachen wir auf. Darni war nirgends zu sehen, und als Shiv und ich unsere Pferde sattelten, bemerkte ich, dass Geris Pferde verschwunden waren. 300
»Wo sind die Braunen?« Aufgeregt schaute ich mich um. »Darni hat dafür gesorgt, dass man sich um sie kümmert. Sollte es notwendig sein, wird er jemanden anheuern, der sie nach Vanam bringt«, erklärte Shiv kurz angebunden. Sein Gesichtsausdruck untersagte jede weitere Diskussion, und so fuhr ich schweigend fort, Winterapfels Zaumzeug festzuzurren. Absurderweise war ich erleichtert, nicht unangenehm auffallen zu müssen, indem ich darauf bestand, dass sich irgendjemand um Geris geliebte Pferde kümmerte; gleichzeitig ärgerte es mich auch ein wenig, dass Darni mir die Sache aus der Hand genommen hatte.
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Der Gasthof Zur Luzerne, Inglis 15. Nachherbst
»Nun, das sieht schon besser aus.« Casuel zog die Handschuhe aus und schaute sich zufrieden in dem sauberen Raum um. Er öffnete das Fenster, atmete tief die frische Salzluft ein und lächelte, während er seinen Blick über die gleichmäßigen Häuserreihen schweifen ließ. Das Geläut zur fünften Tagesstunde war gerade verhallt. »Es ist schön, wieder im Osten zu sein. Die weißen Steine, aus denen die Häuser gebaut sind, erinnern mich an Zuhause, weißt du?« Er drehte sich um, um Allin anzulächeln, stattdessen runzelte er die Stirn. Traurig stand die junge Frau in der Tür und schnäuzte in ihr schmuddeliges Taschentuch. »Warum mussten wir hierher kommen?«, jammerte sie. »Ich möchte nach Hadrumal. Ich habe nicht erwartet, in einer verdreckten Kutsche ganz Lescar durchqueren zu müssen. Warum habt Ihr mich nicht zu meinem Onkel gebracht? Als wir durch das Nachbardorf gekommen sind, sah doch alles friedlich aus. Bis zum Frühling wird nicht mehr gekämpft. Ich bin noch nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt noch Magierin werden will.« »Du hast keine Wahl. Die hat niemand«, erwiderte Casuel gereizt. Er wurde diese Diskussion allmählich leid. »Wir werden rasch genug nach Hadrumal gehen.« Wenn wir Glück haben, fügte er in Gedanken hinzu; und dann werde ich dich endlich los. »Man kann ja wohl kaum von mir erwarten, dass ich dich in irgendeinem Kaff in Lescar wie302
der abhole. Was, wenn ich noch heute nach Hadrumal gerufen werde?« Allin jammerte in ihr Taschentuch. »Warum gehst du nicht in dein Zimmer und ruhst dich etwas aus?«, schlug Casuel verzweifelt vor. »Ich werde einer Dienerin sagen, sie soll dir warmes Würzwasser für deine Erkältung bringen.« Allin seufzte und schleppte sich ins angrenzende Zimmer. Casuel atmete erleichtert auf. Rasch entzündete er eine Kerze, machte den Spiegel bereit und nahm Kontakt zu Usara auf. »Hast du Inglis bereits erreicht?«, verlangte der blonde Magier zu wissen, nachdem er die Verbindung mit einem eigenen Zauber gefestigt hatte. »Natürlich«, antwortete Casuel entrüstet. »Obwohl ich nach wie vor nicht verstehe, warum wir überhaupt so weit hier heraufkommen mussten ...« »Vertrau mir, Casuel, hätte ich eine andere Wahl gehabt, ich hätte dich nicht geschickt«, unterbrach ihn Usara. Casuel fasste das als eine Art Entschuldigung auf. »Also gut. Was soll ich für Euch tun?« Er sah, wie sich das Bild von Usara die Augen rieb und gähnte. Warum war er so müde? Wenn hier Nachmittag war, müsste es in Hadrumal doch gerade erst Vormittag sein, oder? Casuel hoffte, dass Usara sich nicht angewöhnt hatte, mit Leuten wie Otrick zu zechen. Usara schnippte mit dem Fingern über einem Becher und trank einen Schluck, nachdem der Inhalt zu dampfen begonnen hatte. Er zuckte leicht zusammen. »Es hat einen Mord in der Stadt gegeben. Das Opfer war eine bekannte Händlerin, eine Frau mit Namen Yeniya. Ich möchte, dass du Verbindung zu 303
den Magiern vor Ort aufnimmst, um die neuesten Neuigkeiten zu erfahren. Geh aber diskret vor, um Saedrins Willen! Im Augenblick ist die Situation ein wenig angespannt.« Casuel runzelte die Stirn. »Verzeiht mir, aber es gibt doch sicherlich Weitsichttechniken, die Ihr ...« »Glaubst du, das hätten wir nicht schon längst versucht?«, unterbrach ihn Usara gereizt. »Nein, was wir jetzt brauchen, sind die Augen der Straße. Du musst dein Bestes tun, und dazu gehört auch, dass du es zur Abwechslung einmal mit Taktgefühl versuchst.« »Habt Ihr keine Agenten für solche Aufgaben?«, fragte Casuel. »Das hier ist eindeutig unter der Würde eines Magiers«, fügte er angewidert hinzu. Das Glühen des Zaubers flackerte golden. »Wie wäre es, wenn du aufhören würdest zu meckern und dich stattdessen an die Arbeit machst, Casuel?« Usaras Tonfall wurde härter. »Ich denke, nach dem Fiasko in Friern schuldest du mir etwas, oder bist du da anderer Meinung? Aber natürlich könnte ich die Angelegenheit auch zuerst mit Planir besprechen, wenn du willst.« Casuel hoffte, dass das bernsteinfarbene Glühen des Zaubers sein Erröten verbarg. »Tut mir Leid. Natürlich sollten wir Magier einander helfen. Es wäre mir eine Freude.« Das Zauberbild flackerte, und Casuel verstand die ersten Worte von Usaras Erwiderung nicht. »Und noch etwas«, fuhr der Erzmagier fort. »Wir suchen nach einer, vielleicht auch zwei Gruppen blonder Männer. Es handelt sich um jeweils eine Handvoll. Die Männer sind verhältnismäßig klein und stammen aus keiner Provinz des alten Imperiums. Höre dich unter den Magiern um, und errege niemandes Aufmerksamkeit! Hast du 304
verstanden, Casuel? Ich möchte nicht, dass diese Leute sich an deine Fersen heften.« »Nun, falls es so gefährlich ist, sollte ich vielleicht einen Magier suchen, der sich um Allin kümmert, bis sie nach Hadrumal gebracht werden kann. Was meint Ihr?«, fragte Casuel voller offensichtlicher Hoffnung. »Das wäre unter den gegebenen Umständen nicht angebracht«, antwortete Usara rätselhaft. »Wie auch immer ... Du hast sie gefunden, und deshalb trägst du auch die Verantwortung für sie. Du kennst die Regeln. Und jetzt fang an, und setz dich morgen mit mir in Verbindung, am besten, nachdem ich gefrühstückt habe.« Usara beendete den Zauber derart unvermittelt, dass Casuels Hände brannten. Verärgert starrte er einen Augenblick in den leeren Spiegel; dann kramte er in seiner Tasche nach Schreibutensilien. Er konnte ja schwerlich durch die Stadt laufen und verlangen, Magier zu sehen, denen er nicht vorgestellt worden war. Außerdem durfte er auch Allin nicht ohne Aufsicht zurücklassen. »An wen schreibt Ihr?« Casuel drehte sich um und sah Allin in der Tür stehen. Sie wirkte zerzaust und elend. »Kommt mein Würzwasser bald?«, fragte sie bockig. Casuel biss sich auf die Lippe, stand auf und läutete. »Die Dienerinnen hier scheinen sich Zeit zu lassen.« Er setzte sich wieder und zögerte, die Feder über einem Stück Pergament. »An wen schreibt Ihr?« Allin schnäuzte sich. »Ich benötige Informationen von einem der örtlichen Magier.« Nachdenklich säuberte Casuel die Federspitze. »Hier leben Magier wie in Hadrumal?« Allin wirkte verwirrt, 305
und Casuel ermahnte sich, dass ein vernünftiger Magier sich besser von den gefährlichen Wirren der Lescarikriege fern halten sollte. Aber wie auch immer, er wollte nicht, dass Allins Unwissen auf ihn zurückfiel, wenn sie erst einmal als Lehrling angenommen war. »Magier, die hoffen können, unser Wissen um die Magie zu vergrößern, bleiben nach ihrer Ausbildung in Hadrumal«, erklärte er hochmütig. »Jene, deren Talente eher für Alltägliches geeignet sind, die sich also mit den weniger erhabenen Aspekten der Magie beschäftigen, kehren im Allgemeinen wieder auf das Festland zurück und suchen sich eine Arbeit. Die Hochrangigeren unter uns kennen für gewöhnlich jemanden in fast jeder Stadt.« Er runzelte die Stirn. Wen kannte er in Inglis, der ihm vielleicht würde helfen wollen? Es gab Zeiten, da wäre es von Nutzen, sich so gut wie Shiwalan bei anderen Leuten einschmeicheln zu können. Vielleicht war Carral der Richtige? Was Carral hier tat, hatte irgendetwas mit dem Fluss zu tun ... oder mit Edelsteinen? Egal, es war wohl nicht allzu wichtig. Casuel schrieb rasch eine Nachricht an ihn und versiegelte den Brief. »Ja?« Die Tür öffnete sich, und ein Zimmermädchen steckte den Kopf herein. »Bitte, lasst diesen Brief überbringen.« Casuel suchte in seiner Tasche nach einer Münze. »Ja, Herr.« »Könnte ich bitte etwas Würzwasser haben?«, meldete sich Allin, nachdem die Dienerin sich bereits zum Gehen gewandt hatte. Die Dienerin blickte sie mitfühlend an. »Gewiss. Ich bringe sofort etwas. Leg dich besser hin, meine Kleine. Du willst doch 306
nicht, dass du es auch noch auf der Brust bekommst.« Kurz darauf kehrte sie in Begleitung einer älteren Frau und mit einem qualmenden und duftenden Krug wieder zurück. Die Frauen gaben Allin das Würzwasser und ein mit Duftölen getränktes Tuch; Casuel kam das alles ein wenig übertrieben vor. Schließlich war er allein. Er breitete seine Bücher auf dem Tisch aus und begann zu lesen. Vielleicht fand er ja einen Hinweis darauf, was Usara im Schilde führte. Was konnte am Fall des Imperiums wohl so bedeutsam sein? Die Gelehrten hatten sich doch schon seit Generationen mit jedem noch so kleinen Detail dieser Ereignisse eingehend auseinander gesetzt. Gelegentlich hallten die Geräusche der Straße zu Usara herauf. Hufe klapperten über das Pflaster; Leute schrien und lachten, doch Casuel ignorierte das alles den ganzen Nachmittag über. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit, stellte Zusammenhänge zwischen einzelnen Aspekten her und suchte nach Hinweisen, um die ein oder andere These zu untermauern. Plötzlich flog die Tür auf, und fast wäre sie aus den Angeln gerissen worden, als zwei riesige Männer mit zerzaustem Haar und ungepflegten Bärten ins Zimmer stürmten. Sie packten Casuel, stießen ihn gegen die Wand und bliesen ihm ihren stinkenden Atem ins Gesicht, während sie ihn festhielten. Casuel rang nach Luft und nach Worten, doch beides fehlte ihm. Panik überkam ihn, als seine Füße den Kontakt zum Boden verloren und er noch immer in die wilden Gesichter seiner Angreifer blickte. Eine Welle der Angst löschte die Erinnerung an jeden Zauber aus, den er jemals gelernt hatte, und das schwache Glühen um seine Finger verschwand. Ein zweites Paar dunkelhaariger Schläger betrat den Raum. Ihre groben Lederkleider waren von altem Blut verklebt, und 307
ihre ungegerbten Fellmäntel ließen darauf schließen, dass es sich um Fallensteller handelte, die vermutlich gerade erst in der Stadt eingetroffen waren. Sie gruppierten sich zu beiden Seiten eines großen jungen Mannes, der so gar nicht zu den anderen passen wollte. Er trug elegante, jedoch zerknitterte Samtkleidung, die dermaßen verdreckt war, dass keine noch so gründliche Wäsche sie würde retten können. Sein Gesicht war unrasiert und blass, die Augen rot umrandet und geschwollen. Casuel blickte ihn verzweifelt an. Er war so verwirrt, dass er nicht mehr wusste, wie er reagieren sollte – und ob überhaupt. »Du, schließ die Tür und pass auf! Und du«, der junge Mann wandte sich an den letzten Fallensteller, der den Raum betreten hatte, »überprüf das Zimmer da, und vergewissere dich, dass er allein ist!« Langsam ging er um den Tisch herum, bis er Casuel unmittelbar gegenüberstand und ihm in die Augen starrte. Sein Blick war voller Zorn. »Wer bist du, du kleiner Scheißer, und warum interessiert dich Yeniyas Tod?« »Ich weiß nicht, was Ihr meint!« Casuel schnappte nach Luft, als die Männer ihn wieder gegen die Wand stießen. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht zu wahren. Der zornige Mann wedelte mit einem Pergament. »Versuch nicht, mich auf den Arm zu nehmen! Carral weiß, von wem er sein Geld bekommt. Er hat deine Nachricht direkt zu mir geschickt.« Er packte Casuel am Kinn und drückte ihm den Kopf zurück. »Und jetzt rede!« Seine Stimme klang heiser, und Casuel erkannte, dass er einem Mann gegenüber stand, dessen wilde Gefühle ihn jenseits aller Vernunft getrieben hatten. 308
»Bitte, tut mir nicht weh!« Allins Stimme war ein verzweifeltes Kreischen. Casuel hatte gerade genau das Gleiche sagen wollen, als einer der Schläger mit Allin im Schlepptau aus dem Nebenzimmer erschien. Er zerrte sie so brutal mit sich, dass sie mehr stolperte als ging. »Sonst ist niemand hier, Evern. Nur dieses kleine Täubchen. Schön mollig, nicht wahr?« Er stieß Allin auf einen Stuhl, und sie wich vor dem lüsternen Blick des Mannes zurück, der sie mit gelben Zähnen angrinste. »Gehört ihr zur ... zur Stadtwache?«, stammelte Casuel. »Das wirst du dir noch wünschen!« Der Mann mit Namen Evern lachte hart. »Nein, bezeichne uns einfach als besorgte Bürger. Weißt du, Yeniya war eine Freundin von mir.« Seine Stimme brach, und er rieb sich mit der Hand über die Augen. »Irgendein Bastard hat sie umgebracht, und ich werde jeden töten, der damit zu tun hatte.« »Ich habe nichts damit zu tun!« Casuel versuchte, den Kopf zu schütteln, fing sich damit aber nur eine Ohrfeige ein. »Und warum fragst du dann nach ihr, Arschgesicht? Warum bist du so interessiert daran, welche Spuren die Stadtwache inzwischen gefunden hat?« Casuel klappte den Mund auf; er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Evern nickte dem Fallensteller zu seiner Linken zu, der Casuel daraufhin einen mächtigen Schlag in den Magen verpasste. Casuel schrie vor Schmerz; er hätte nie geglaubt, dass etwas so wehtun könnte. Hätten die Männer ihn nicht an die Wand gepresst, er wäre zusammengebrochen. In dem verzweifelten Versuch, den Schmerz zu lindern, trat er von einem Fuß. auf den anderen. 309
»Warum stellst du solche Fragen? Du hast Angst, dass die Stadtwache dir auf die Spur kommen könnte, nicht wahr? Jedenfalls sieht es für mich so aus.« Der junge Mann zog ein paar Handschuhe aus seinem Gürtel und streifte sie sich übertrieben langsam über. Casuel blinzelte die Tränen aus seinen Augen. »Ich versuche nur herauszufinden, was geschehen ist.« Evern schlug ihm unvermittelt ins Gesicht. »Warum?«, schrie er voller Zorn. Blut rann über Casuels Kinn. Er zuckte zusammen, als er über den Riss in seiner Lippe leckte, und unterdrückte ein Wimmern, während Evern vor ihm stand und mit der Faust in die Hand schlug, ohne auf das Blut zu achten, welches das teure Leder ruinierte. Das Geräusch rennender Füße hallte durch den Gang, und Casuel blickte verzweifelt zur Tür. »Du stammst aus Tormalin, nicht wahr?«, fragte Evern nachdenklich. »Ein paar Tormalin haben sich bereits nach dem Mord erkundigt, doch sie sind wie vom Erdboden verschluckt. Wer waren sie?« »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung!«, erwiderte Casuel, am Ende seiner Kräfte. »Ich weiß nicht einmal, wovon Ihr überhaupt redet!« »Da muss dir schon etwas Besseres einfallen, du kleiner Scheißer«, spie Evern hervor und verzog das Gesicht zu einer hässlichen Fratze. »Ich will wissen, was diese Tormalin damit zu tun haben. Warum sonst hätten sie verschwinden sollen?« Er rammte Casuel die Faust zwischen die Rippen, und der junge Magier schnappte nach Luft. Allin brach in Tränen aus und weinte laut, verstummte aber sofort, als sie bemerkte, dass sie damit sämtliche Aufmerksamkeit auf sich lenkte. 310
Evern drehte sich zu ihr um. Seine Verachtung war ihm deutlich anzusehen. »Und was hast du mir zu sagen?« Er zwirbelte an Allins Locken herum und riss ihren Kopf zurück. »Was weißt du?« Er beugte sich dicht zu ihr heran und legte die Stirn in Falten. »Nichts«, wimmerte sie und schlug die Hände vor die Brust. Evern richtete sich wieder auf und blickte verächtlich auf sie hinab. »Dann wärmst du ihm also nur das Bett, stimmt’s?« Unvermittelt wandte er sich wieder Casuel zu, der so weit zurückzuckte, wie es ihm möglich war. Allmählich wurden ihm die Arme im Griff der Fallensteller taub, und sein Kinn schmerzte fürchterlich. »Sie ist ein wenig jung zum Pflücken, oder?«, schnaufte Evern. »Aber du siehst aus, als hättest du es nötig. Warum teilst du sie nicht mit uns? Wollen wir doch mal sehen, was sie alles kann!« »Lass sie in Frieden, du Schwein!« Casuel versuchte erfolglos, sich zu befreien; seine Gedanken überschlugen sich. Was würde Usara ihm wohl antun, sollte die dumme Kuh vergewaltigt werden? »Sie hat nichts mit alledem zu tun!« Evern schob sein Gesicht dicht an das Casuels heran, und der junge Magier roch teure Duftöle über den Schweißgestank hinweg. »Überzeug mich davon«, knurrte er drohend. Casuel schloss die Augen und verfluchte im Geiste den Tag, da er Hadrumal verlassen hatte. »Ihr müsst wissen, dass ich ein Magier bin.« Er wollte Würde beweisen, doch es gelang ihm nicht. Seine Stimme war nur ein verzweifeltes Wimmern. »Und?« Evern trat einen Schritt zurück. Sein Gesicht war hart wie Stein. »Soll ich jetzt beeindruckt sein? Meiner Erfahrung nach tun Magier, wofür sie bezahlt werden. Oder willst du mich 311
in eine Kröte verwandeln?« Er zog einen dünnen Dolch und presste den funkelnden Stahl gegen Casuels Kehle. »Es heißt, wer immer Yeniya getötet haben mag, hat Magie benutzt. Warum sollte ich dich nicht einfach umbringen, selbst nur auf die Vermutung hin, dass du etwas damit zu tun hattest?« Er verstärkte den Druck und drehte die Scheide gegen Casuels Hals. Casuel begann zu zittern, als ein brennender Schmerz seine Kehle entlang fuhr, und schloss die Augen. »Ich schwöre, dass ich nichts damit zu tun hatte«, krächzte er. »Ich bedaure Euren Verlust.« Evern wandte sich ab, winkte, und die Fallensteller stürzten sich auf Casuel und droschen auf ihn ein; offenbar besaßen sie Erfahrung in dieser Art der Folter. Casuel versuchte, sich zusammenzukrümmen, um Bauch und Weichteile zu schützen. Vage war er sich Allins Wimmern bewusst, während seine Welt sich in einen Albtraum aus Schmerz verwandelte, wie er es nie für möglich gehalten hätte. »Ich glaube nicht, dass er was weiß, Evern. Mel, sorg dafür, dass die Schlampe das Maul hält, oder gib ihr einen Grund zum Jammern.« Casuel hörte die Worte des Fallenstellers trotz des Klingeins in seinen Ohren. »Er ist nicht der Typ, der Prügel vertragen kann.«. Tränen der Erleichterung rannen durch den Schweiß und das Blut auf Casuels Wangen. Er wagte nicht, sich zu rühren, doch vorsichtig öffnete er die Augen wieder. Außerhalb des Zimmers war ein leises Geräusch zu hören, und alle drehten sich danach um. Der Fallensteller an der Tür grunzte, als die Klinke hinunter312
gedrückt wurde, doch als er sich umdrehte, um dagegen zu halten, flogen ihm die weiß gestrichenen Paneelen ins Gesicht, und er wurde zu Boden geschleudert. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, stand ein stämmiger Kerl mit dunklem Bart über ihm und trat ihm in den Unterleib. Der Mann schwang drohend das Schwert und funkelte Evern an. »Ruf deine Hunde zurück, oder ich muss sie erschlagen!« »Darni!« Casuel versuchte aufzustehen, blieb jedoch auf den Knien, als ein brennender Schmerz seine Glieder durchfuhr. »Ich wette, du hättest niemals gedacht, dass du dich mal freuen würdest, mich zu sehen, Cas.« Darni lächelte böse. Evern wich einen Schritt zurück und breitete die Arme aus. »Wer bist du?«, stieß er in verwirrtem Zorn hervor. Darni verneigte sich spöttisch. »Jemand, der dir sagt, dass du einen schweren Fehler begangen hast. Du kannst von Glück reden, dass Carral genug Verstand besaß, mir von dem Brief zu erzählen. Dieser armselige Scheißhaufen hier hat nichts mit Yeniyas Tod zu tun.« »Woher willst du das wissen?« Evern hob den Dolch. »Warum steckst du den Piekser nicht einfach weg?« Darnis Stimme war kalt wie Eis. »Schieb ihn zu mir.« Evern zögerte, gehorchte dann jedoch, und Casuel atmete wieder, wenn auch nur flach. »Ich weiß, dass er nichts mit ihrem Tod zu tun gehabt hat, weil er für denselben Herrn arbeitet wie ich.« Darni blickte von einem Fallensteller zum nächsten. »Warum setzt ihr euch nicht? Dann können wir vernünftig miteinander reden. Ich würde das bei weitem vorziehen. Und vergesst nicht, dass ich derjenige mit dem Breitschwert bin.« Evern presste die Lippen aufeinander, und ein tiefes Knurren 313
kam über seine Lippen. Schließlich aber nickte er. »Also gut.« Die Fallensteller halfen ihrem Kameraden, der sich noch immer stöhnend und mit grauem Gesicht auf dem Boden wand. Dann stellten sie sich in einer Reihe am Fenster auf, sodass Evern zwischen ihnen und Darni stand. »Nun, für wen arbeitet ihr?« Evern verschränkte die Arme und blickte Darni hochmütig an. »Für den Rat der Magier natürlich.« Darni klang überrascht. Warum fragte der Mann? »Planir ist sehr besorgt, dass Magie bei einem solchen Verbrechen verwendet worden ist.« »Der ist ein Agent des Erzmagiers?« Evern starrte Casuel ungläubig an. »Nein, aber ich. Steh auf, Cas.« Darni zog ein Halsband unter seinem Kragen hervor, und Evern starrte offenen Mundes auf den Ring daran. »Zeig es mir«, verlangte er. Darni zog das Band über den Kopf und warf es Evern zu. »Woher soll ich wissen, dass es echt ist?«, fragte er und warf es kurz darauf wieder zurück. Darni schüttelte den Kopf und fing das Halsband aus der Luft. »Glaubst du wirklich, dass jemand es wagen würde, so etwas zu fälschen? Glaub mir, niemand verarscht Planir.« Er blickte zu Casuel, der sich inzwischen auf einen Stuhl geschleppt hatte und sich die Rippen hielt. »Ich weiß nicht, was er hiervon halten wird«, sagte er nachdenklich. »Ihr habt dem armen Cas verdammt übel mitgespielt.« »Ich hatte meine Gründe«, spie Evern hervor. »Kein Zauberer schreibt mir vor, wie ich die Dinge in meiner eigenen Stadt zu regeln habe – Erzmagier hin oder her. Ich hatte Grund zu der Annahme, dass dieser elende Jammerlappen mit der Angele314
genheit zu tun hat. Beim Mord an Yeniya war Magie im Spiel, und sollte ein Magier etwas damit zu tun haben, werden wir den gesamten armseligen Haufen ins Meer jagen. Was will dein geliebter Erzmagier tun, wenn wir die Stadt für euch Bastarde sperren? Die Gilden brauchen euch nicht. Wir beherrschen diese Stadt, und so wird es auch bleiben.« Darni schüttelte erneut den Kopf. »Mach keine sinnlosen Drohungen. Ihr seid diejenigen, die am Ende verlieren werden, wenn ihr euch mit den Magiern anlegt.« Er lächelte Evern an. Casuel empfand Darnis Gesichtsausdruck als das Schrecklichste, was er bisher gesehen hatte. »Aber wie dem auch sei ... Sollte Planir herausfinden, dass ein Magier in die Sache verwickelt war, wird er sich nicht einmal am Meeresgrund, unter den Eisfeldern des Drachenrückens oder unter einem Aldabreshivulkan verstecken können. In einem Eimer voll eigener Scheiße zu ertrinken, wäre ein gnädigeres Schicksal als das, wozu der Rat ihn verurteilen würde. Habe ich Recht, Cas?« Casuel nickte stumm. Evern riss die Hände hoch, hielt jedoch inne, als Darni das Schwert auf ihn richtete. »Wer hat Yeniya getötet? Wo finde ich diese Bastarde? Und was tut dein Erzmagier, um Yeniya zu rächen?« »Das geht dich nichts an«, antwortete Darni kalt. »Aber vielleicht könntest du ja mal darüber nachdenken, mir zu helfen. Ich suche nach ein paar Männern, von denen ich weiß, dass sie mit der Sache zu tun hatten, und ich glaube, dass ich eine gute Chance habe, sie zu schnappen.« »Sie haben Yeniya umgebracht?« »Nein, aber sie können uns zu den Tätern führen.« 315
Darni legte das Schwert in die linke Hand und bot Evern die rechte dar. »Mein Wort darauf. Hilf mir, sie zu fassen, und wir vergessen den Vorfall hier. – Halt’s Maul, Cas«, fügte er hinzu, als der Magier seinen zerschlagenen Mund öffnete, um zu protestieren. »Arbeiten wir in dieser Sache also zusammen, oder muss ich es euch für meinen Freund hier heimzahlen?« Darni funkelte die Fallensteller an, die sich zweifelnde Blicke zuwarfen. In Everns Gesicht kämpften Hoffnung und Leid miteinander. Das Schweigen wurde von einem lauten Aufprall unterbrochen, als Allin ohnmächtig wurde und wenig elegant vom Stuhl rutschte. »Bei Drianons Titten«, sagte Darni genervt. »Wer ist das, Cas? Was immer du ihr bezahlt haben magst, es war nicht genug.« Die Spannung im Raum löste sich. Evern senkte den Kopf und rang verwirrt mit den Tränen. »Also gut. Ich hoffe für dich, dass du Recht hast«, warnte er. »Vertrau mir«, erwiderte Darni hart. »Ich will diese Leute genauso sehr wie du.« Casuel blickte zu ihm auf und stellte fest, dass es der Wahrheit entsprach. Beinahe empfand er so etwas wie Mitleid für diese Leute, sollte Darni sie je in die Finger bekommen, aber der Gedanke verschwand, als der Schmerz wieder heftig in seinem ganzen Körper wühlte.
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Die Straße nach Gidesta aus Richtung Inglis 15. Vorherbst
Reiten und im Freien zu übernachten verlieren recht schnell ihren Reiz als winterlicher Zeitvertreib, dachte ich verärgert. Ich trauerte den Federbetten im letzten Gasthof nach. Gereizt stieß ich Winterapfel die Hand zwischen die Rippen, damit er ausatmete, bevor ich den Sattelgurt festzurrte; er würde mich nicht zweimal an einem Tag überraschen. Düstere Gedanken plagten mich: Solange ich das Pferd ritt, dem wir gemeinsam einen Namen gegeben hatten, würde ich Geris kaum vergessen. Glücklicherweise ritten Ryshad und Aiten auf ihren zotteligen Braunen heran – die aussahen, als stammten sie direkt aus den gidestanischen Steppen –, bevor meine Laune sich weiter verschlechtern konnte. »Nun, wohin geht es heute Nachmittag?« Ryshad wendete sein Pferd, um neben Shiv zu reiten. »Wir müssen den Fluss überqueren und die Nordstraße nehmen.« Shiv trieb sein Pferd mehr an, als nötig war, und Ryshad ließ ihn vorausreiten. Wir waren bereits ein gutes Stück weit gekommen, bevor die Sonne unterging. Ich blickte über die Schulter zurück, um das Abendrot über der funkelnden See zu sehen, bevor die Hügel das Meer vollends verdeckten. Wir überließen Shiv die Führung, da er offensichtlich allein sein wollte. Als Aiten Ryshad mit ein paar recht merkwürdigen Geschichten verwöhnte, erkannte ich, dass Aiten sämtliche zwielichtigeren Viertel von Inglis nach den Blonden durchsucht haben musste; ich hatte 317
solche Geschichten auch früher schon gehört, allerdings nur in Freudenhäusern. Bitte, missversteht mich nicht: Viele Freudenhäuser bieten auch Spielmöglichkeiten an, um Trottel von ihrem Geld zu trennen, und vor ein paar Jahren hatte ich drei Jahreszeiten in verschiedenen Etablissements verbracht, um den Damen dabei zu helfen, dass die Runen zu ihrem Vorteil fielen. Es war eine erhellende Erfahrung gewesen, die mich von jedweder romantischen Vorstellung geheilt hatte, was das Leben einer Prostituierten betraf, aber es hatte auch keine sonderlich große Herausforderung dargestellt; keiner der Männer hatte dem Spiel auch nur annähernd die volle Aufmerksamkeit geschenkt. Ich hörte mit halbem Ohr zu, während Aiten Ryshad die neuesten Witze aus den Tierkampfarenen erzählte. Ryshad lachte an den richtigen Stellen, doch seine Aufmerksamkeit blieb auf die Straße vor uns und die Wälder um uns herum gerichtet. Aiten schien das gewöhnt zu sein und fuhr mit seinen Geschichten fort. Bis jetzt hatte er allerdings noch nichts erzählt, was ich noch nie gehört hätte. Inglis war eine Stadt, wo alte Witze zum Sterben hingingen. Mit unserem Muli im Schlepptau bildete ich die Nachhut, und ich kam zu dem Schluss, dass das Tier vielleicht der Fröhlichste von uns war. Shiv hielt an, um die Hände ins Wasser zu tauchen und nachdenklich auf den Nebenfluss des Dalas zu starren, den wir erreicht hatten. »Dem folgen wir«, erklärte er im sanftesten Tonfall, den ich seit Geris Verschwinden von ihm gehört hatte, und ich ritt neben ihn. Es war eine Erleichterung für mich, dass er seine gute Laune wieder zu finden schien. »Wir folgen den Flüssen? Dann ist Azazir also Wasserma318
gier?« »Habe ich das nicht gesagt? Ja, er ist sogar einer der besten.« Shiv lächelte mich schwach an. »Und warum ...?« Ich konnte mich nicht so recht entscheiden, wie ich die Frage formulieren sollte, die mir schon die ganze Zeit im Hinterkopf herumgespukt war. »Und warum ist er mit dem Rat aneinander geraten?« Shiv verließ den verschlammten Pfad, und wir ritten über das trockenere Gras. Ich ließ ihm Zeit zu entscheiden, was und wie viel er mir sagen wollte. Als er schließlich antwortete, sprach er langsam und nachdenklich. »Du musst verstehen, dass für einen Magier wie Azazir sein Element das wichtigste auf der Welt ist. Er ist fasziniert vom Wasser, von der Wirkung, die es auf andere Dinge hat, davon, dass es zugleich Teil dieser Dinge ist, und auch davon, wie er das alles beeinflussen kann. Viele der wirklich mächtigen Magier sind so veranlagt.« »Ist er mächtig? Und wo wir schon davon sprechen ... Ist er gefährlich?«, fragte ich ein wenig nervös. »Er ist sogar sehr mächtig, aber ich bezweifle, dass er gefährlich ist, es sei denn, du kommst ihm bei irgendwas in die Quere.« Ich hätte eine beruhigendere Antwort vorgezogen. »Und was ist mit dem, was Darni gesagt hat? Dass man ihn hinrichten würde?« Shiv runzelte die Stirn. »Azazir war immer ein Einzelgänger. Er kam und ging, wie er wollte, und tat seltsame Dinge wie diese Reise über den Ozean. Die Seehalle ist voll von Geschichten über ihn, und es ist schwer zu sagen, welche davon wirklich der Wahrheit entsprechen. Wenn man dem Rat glaubt, pflegte 319
er die Hälfte der Zeit zu übertreiben, falls er nicht gerade offensichtliche Lügen erzählte. Der Grund für seine Verbannung war schließlich die Überflutung von Adrulle.« »Was?«, rief Ryshad. Ich drehte mich im Sattel um und sah, dass er und Aiten genauso interessiert zuhörten wie ich. Aiten lachte, und Shiv lächelte ihn an. »Damals war das nicht so lustig. Es war Vorsommer, und er hat einen beachtlichen Teil der gesamten Ernte von Süd-Caladhria ersäuft. In jenem Winter haben sich die Brotpreise verdoppelt, und in einigen Städten ist es zu Unruhen gekommen.« »Warum hat er das getan?«, fragte ich. »Er wollte einen großen Sumpf studieren«, erklärte Shiv schlicht. »Also hat er den Rel ins nächste Tiefland umgelenkt.« »Und wie tief ist dabei der Flussspiegel gesunken?« Kein Wunder, dass viele Menschen Zauberer als Bedrohung betrachteten. Allein die Tiefe und Breite des Rel verhindern, dass die blutigen Fehden Lescars ins friedliche Caladhria hinüberschwappen. »Tief genug für den Herzog von Marlier, um Marodeure über den Fluss zu schicken«, antwortete Shiv. »Was war mit Relshaz?« Ryshad sah so erstaunt aus, wie ich mich fühlte. »Die Magistratsversammlung hob im selben Augenblick eine Miliz aus, als der Flusspegel zu sinken begann. Sie waren die Ersten, die Azazirs Hinrichtung verlangten.« Das war keine Überraschung. Angesichts ihrer Lage an der Schnittstelle zwischen Caladhria und Lescar nehmen die Relshazri ihre Unabhängigkeit und Sicherheit ausgesprochen ernst. Da beides vor allem vom Fluss abhängt, steht in Relshaz schon auf den Vorschlag, eine Brücke zu bauen, die Todesstrafe, ganz 320
zu schweigen davon, es zu versuchen. Natürlich unternimmt deshalb auch niemand einen solchen Versuch. Abgesehen davon ist Relshaz eine recht lockere Stadt mit vielen Möglichkeiten für jemanden wie mich. Plötzlich sehnte ich mich nach der warmen Sonne des Südens und den herrlichen Weinen, und so verpasste ich Ryshads nächste Frage. »Nein. Der Rat nimmt keine Befehle von einer anderen Macht entgegen.« Shiv wirkte sehr ernst. »Tatsächlich war es sogar so, dass Azazir vermutlich hingerichtet worden wäre, hätten die Relshazri nicht solch einen Aufstand gemacht. So aber hat der Erzmagier ihn lediglich hierher verbannt, damit es nicht so aussieht, als hätte er den Relshazri nachgegeben.« Ich hatte noch immer Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Zauberern, die Zauberer umbringen. »Sie haben wirklich darüber nachgedacht, ihn hinzurichten?« Shiv blickte mich ernst an. »Der Ärger, für den er verantwortlich war, hat vielen Menschen das Leben gekostet. Nur mit sehr viel Geld und drei Jahreszeiten harter Arbeit konnte das Chaos wieder beseitigt werden. Diese Art Vorfall schädigt den Ruf der Magier erheblich. Wir sind sehr mächtig, und das kann die Menschen ängstigen; also tun wir unser Bestes, damit sie diese Macht nie zu sehen bekommen. Wenn jemand wie Azazir schlicht und einfach tut, was er will, ohne über die Folgen nachzudenken, machen die Menschen sich Sorgen. Wenn der Rat so jemanden dann ungeschoren davonkommen lässt, werden irgendwann magiegeborene Kinder ausgesetzt und dem Tod überlassen und Magier aus Dörfern und Städten gejagt oder vielleicht sogar erschlagen. Der Rat kontrolliert sämtliche Magier, damit niemand anderer diese Aufgabe übernimmt.« »Otrick zum Thema: ›Warum beherrschen Magier nicht die 321
Welt?‹«, murmelte ich vor mich hin. Shiv grinste erneut. »Den meisten dürfte man mit so etwas gar nicht kommen. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Element zu studieren. Trotzdem hat es der eine oder andere schon einmal versucht, und der Rat hat sich darum gekümmert und dem ein Ende bereitet.« Wir erreichten eine weitere Stelle, wo zwei Nebenflüsse in den Dalas mündeten, und Shiv stieg ab, um seine Hände erneut ins Wasser zu tauchen. Ich wusste nicht, was ich von dieser Diskussion halten sollte. Einiges von dem, was er sagte, war sicherlich furchteinflößend. Ein ausgetretener Pfad führte am Flussufer entlang, und da die Hügel immer steiler und bewaldeter wurden, hielten wir uns an ihn. Wir kamen gut voran und trafen schließlich mehrere Tage nördlich des Dalas auf eine Bergbausiedlung. Sie war recht groß und hatte ungewöhnlicherweise etwas Beständiges an sich. So gab es hier beispielsweise eine aus Stein gebaute Schmiede und einen Gasthof, der aussah, als böte er mehr als nur Huren und Alkohol, der scharf genug war, um einem die Zähne wegzubrennen. Shiv führte uns auf eine Art Marktplatz, auch wenn niemand hier etwas zu verkaufen schien. Frauen und Männer in grober Arbeitskleidung musterten uns neugierig im Vorübergehen. Shiv richtete sich in seinem Sattel auf und schaute sich hochmütig um. Ich sah ihn mir an und erkannte, dass er anders als der Rest von uns vollkommen sauber war. Ein guter Zauber; ich nickte anerkennend. »Ich bin ein Magier aus dem Rat des Erzmagiers, und ich suche nach Neuigkeiten.« Aiten und Ryshad ritten neben mich, schlugen ihre Mäntel 322
von den Schwertern zurück und legten gelassen die Hände auf die Hefte. Wir drei blickten einander an und warteten darauf, dass die Einheimischen lauthals auflachten oder uns vielleicht sogar mit Pferdeäpfeln bewarfen; doch es geschah nichts dergleichen, was mich überraschte. Ich würde gerne einmal sehen, wie ein Magier so etwas in Vanam versucht. »Was für eine Art Neuigkeiten?« Der Schmied verließ seinen Amboss, trat zu uns und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Er war äußerst muskulös; sein Gesicht und seine Hände waren von winzigen Narben übersät, und er sprach ruhig und selbstsicher. Vielleicht erhielten wir hier doch ein paar nützliche Informationen. »Ich suche einen alten Magier mit Namen Azazir. Vor ein paar Jahren lebte er ein Stück nördlich von hier.« Shiv hob die Hände und wob ein Netz blauen Feuers in der Mitte des Platzes. Die glühenden Bänder schlängelten sich um die flimmernde Luft und warfen flüchtige Spiegelungen außerhalb des Kreises. Plötzlich wurden die Bänder dünner, verschwanden im Nichts, und ein Bild erschien in der Luft. Ungefähr halb so groß wie in der Realität sah ich eine hagere Gestalt in langem grünem Mantel über einer zerschlissenen Robe. Azazir besaß dünnes graues Haar, das an seinen Schultern gerade abgeschnitten war, und eine krumme Haltung, die sein Gesicht vorstehen ließ, sodass er insgesamt an einen Reiher erinnerte – ein Eindruck, der von seiner mächtigen Nase noch verstärkt wurde. Seine Augen funkelten grün, und während wir zuschauten, begann das Bild sich im Kreis zu drehen, breitete die Arme aus und starrte die Bergleute an, als könnte es sie sehen. Es gelang mir, den Mund wieder zu schließen, und ich versuchte, Ryshads und Aitens Gelassenheit nachzuahmen. Fast 323
hätte ich die Beherrschung wieder verloren, als Ryshad mir zuzwinkerte, doch die Einheimischen waren ohnehin so erstaunt, dass ich ihnen in den Hals greifen und ihre Eingeweide hätte klauen können, ohne dass sie etwas davon bemerkt hätten. »So«, Shivs Stimme schnitt durch die Stille wie ein Messer, »kennt hier jemand diesen Mann?« Ein Raunen ging durch die Menge, und eine widerwillige alte Frau wurde von hinten nach vorne gestoßen. »Kannst du mir helfen?« Shiv beugte sich zu ihr hinunter. Seine Stimme klang glatt wie Seide und genauso verführerisch. Das schmuddelige alte Weib riss die Augen auf wie ein Kaninchen im Angesicht des Wiesels; und schüttelte sie sich wild. »Bis vor ungefähr zehn Jahren ist er immer hier runtergekommen und hat Mehl und so was geholt«, sagte sie dann. Shiv lächelte sie an, eine Mischung aus Dankbarkeit und Arroganz, und warf der Alten eine Münze zu, was sie natürlich mehr interessierte als alles andere. Das Funkeln des Goldes löste plötzlich überall um uns herum die Zungen. »Er lebte hinter dem Eichenwald, wo die Birken bis an den Fluss wachsen.« »Er soll eine Hütte am Forellenteich besessen haben.« »Nein, er hat am See gelebt.« »Er war zum letzten Mal zur Sommersonnenwende vor drei Jahren hier. Ich erinnere mich genau, denn kurz darauf ist Nalli geboren worden, und wir hatten dieses Wespennest unter dem Dach.« »Aber er war älter als auf dem Bild. Er hat fast all seine Haare verloren und braucht einen Stock zum Gehen.« 324
»Mein Onkel hat gesagt, er hätte ihn jenseits der Schneegrenze getroffen; das war vorletzten Winter. Sie wussten, dass er ein Zauberer war, denn er trug nur eine Tunika, und die war so zerlumpt, dass wir sie noch nicht einmal als Hundedecke hergenommen hätten. Jeder normale Mensch wäre in dem Aufzug dort oben erfroren.« »Inzwischen wird er wohl tot sein.« Shiv hob die Hand, und das Geplapper hörte auf. »Hat jemand ihn seit Frühling vergangen Jahres gesehen?« Die Menschen, deren Zahl sich seit unserer Ankunft verdoppelt zu haben schien, traten unruhig von einem Fuß auf den anderen und blickten einander unsicher an; doch niemand sagte etwas. Shiv beugte sich vom Sattel herunter und ließ seinen Blick herrisch über die Menge schweifen. »Ich danke euch im Namen des Erzmagiers. Gibt es irgendetwas, das ich zur Belohnung für euch tun kann?« Wenn ich bis jetzt geglaubt hatte, das die Leute erstaunt waren, so wirkten sie nun wie vor den Kopf geschlagen. Das Rauschen des Flusses klang laut durch die Stille. Doch gerade als ich Winterapfel die Sporen geben und uns hier hinaus führen wollte, meldete sich eine Stimme aus den hinteren Reihen. »Könnt Ihr uns sagen, wo die Silberader liegt?« Der Mann wurde rasch zum Schweigen gebracht, doch Shiv lächelte. »Sucht nach einem Spalt in Form eines Bären mit Vogelbeeren darüber und darunter.« Shiv verteilte eine Hand voll Tormalinmark und ritt los. Auch Ryshad und Aiten setzten sich in Bewegung. Sie reihten sich hinter dem Magier ein wie eine kaiserliche Eskorte. Ich blieb mit dem Muli zurück, und so wandte ich mich an den nächststehenden Bauern, wobei ich 325
mich um die gleiche herrschaftliche Art bemühte wie Shiv. »Wir wären euch für etwas Brot äußerst dankbar. Und wenn ihr noch Obst und Mehl entbehren könntet ...?« Mehrere Leute huschten davon und kehrten kurz darauf mit Körben und Säcken wieder zurück. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Muli mich in diesem Augenblick tadelnd angeblickt hat, aber ich freute mich viel zu sehr auf ein Stück frisches Brot, als dass es mich gekümmert hätte. Der Muli beschloss schließlich, mit mir zusammenzuarbeiten, sodass ich erhaben aus dem Dorf reiten konnte. Shiv musste für diese Leute das außergewöhnlichste Ereignis seit dem letzten Bergrutsch gewesen sein. Als ich eine Wegbiegung erreichte, wartete Aiten dort auf mich. »Ich wollte dich nicht verlieren, meine Blume.« Er grinste, als er die Last des Mulis sah. »Gute Idee. Ist auch irgendetwas Nettes fürs Abendessen dabei?« »Wo sind Shiv und Ryshad?« Falls er glaubte, die Frau würde von selbst das Kochen übernehmen, hatte er sich schwer getäuscht. Ich fragte mich, ob ich es ihm offen sagen oder es ihn selbst herausfinden lassen sollte; selbst Darni war auf unserer Reise durch Dalasor nie auf so eine Idee gekommen. »Shiv wäscht sich wieder die Hände.« Aiten half mir, den Muli über eine rutschige Stelle zu führen, und wir hielten auf eine schäumende Stromschnelle zu, die zwischen den Bäumen hindurch zu erkennen war. »Du warst schon mal hier oben, stimmt’s?« Ich folgte Aiten und stieg ab, um Winterapfel über Baumwurzeln hinwegzuführen, die aus dem Ufer ragten. »Das stimmt. Ich habe drei Jahreszeiten in den Goldlagern 326
westlich von Celiare verbracht. Woher weißt du das?« Ich lächelte leicht. »Solltest du mich jemals Zweimarkspielchen spielen sehen, darfst du mich ›meine Blume‹ nennen. Ansonsten heiße ich Livak. Einverstanden?« Aiten wartete, bis ich wieder neben ihm war, und froh erkannte ich, dass er nicht beleidigt war. »Ich stamme ursprünglich aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Parnilesse.« Er bot mir die Hand, um mir über eine weitere rutschige Stelle zu helfen. »In meiner Familie sind alle Bauern. Ich habe allerdings nie Gefallen an einem Leben mit Pflug und Hacke gefunden; also bin ich in die Miliz des Herzogs eingetreten. Eine Jahreszeit hatten wir uns mit Triolle gegen Draximal verbündet, und in der nächsten kämpften wir mit Triolle gegen Marlier. Ich fand bald heraus, dass Seine Gnaden Lescar nie vereint hätte, es sei denn, die Pest hätte alle anderen dahingerafft, und so habe ich dann mein Glück auf eigene Faust versucht. Ich habe im Bergbau ganz gut verdient, aber es ist nicht gerade leicht, hier oben zu überleben. Vor vier Jahren bin ich dann nach Süden gegangen.« Wir erreichten die Stromschnellen und sahen, wie Shiv die Stämme der Birken betrachtete, während Ryshad in einem Holzhaufen neben einem ins Wasser gestürzten Baum stocherte. »Die Hochwassermarke liegt hier noch weit höher«, bemerkte Shiv gerade. »Seht euch das einmal an.« Ryshad zog irgendetwas aus dem flachen Wasser, und wir alle traten zu ihm und sahen ein Stück Dachbalken, an dem noch immer einige Schindeln hingen. »Ich bin sicher, das alles ist äußerst faszinierend; aber könntet ihr es einem unwissenden Stadtbewohner bitte erklären?«, fragte ich höflich. 327
»Der Fluss tritt regelmäßig, allerdings ungewöhnlich hoch über die Ufer«, antwortete Shiv, als wäre damit alles klar. »Und das sollte nicht so sein?«, wagte ich mich vor. »Natürlich nicht.« Shiv beherrschte sich und schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid. Nein, er sollte nicht so viel Schaden verursachen, nicht so nah an der Quelle.« »Ich will dich ja nicht beleidigen, Shiv, aber ich habe in diesen Bergen gelebt«, meldete Aiten sich zögernd. »Wenn die Schneeschmelze einsetzt, quellen diese Flüsse auf wie Wasser in einem Kochtopf.« »Das habe ich schon mit einbezogen«, versicherte ihm Shiv. »Es ist trotzdem nicht natürlich. Weiter flussaufwärts sind Gebäude vom Wasser eingerissen worden. Das hier war ohne Zweifel ein Dachbalken! Wie viele Leute wären wohl dumm genug, ihre Häuser unterhalb der Hochwassermarke zu bauen?« Ich persönlich kannte Leute, die dumm genug waren, ihre Füße in Brand zu stecken, wenn sie ihre Stiefel trocknen wollten, doch nach der Vorstellung im Dorf musste ich davon ausgehen, dass Shiv wusste, was er tat. Das erinnerte mich an etwas. »Woher wusstest du das mit der Silberader, Shiv?« Er lachte. »Planir hat mir davon erzählt. Er dachte sich schon, dass wir uns vielleicht bei ein paar Leuten hier oben würden einschmeicheln müssen. Er ist von seiner Affinität her Erdmagier; deshalb sieht er solche Dinge mit Weitsicht.« Das klang nach einem nützlichen Talent. Ich wettete, dass er nie unter Geldproblemen litt. »Warum kann er uns dann nicht einfach sagen, wo Azazir ist?« »Es gibt Schwierigkeiten, was die Korrelation einer Kombination verschiedener Elemente betrifft, besonders auf diese Ent328
fernung. Es ist sehr kompliziert.« Normalerweise gab Shiv nicht solch vage Antworten, und er blickte mir nicht in die Augen, als er sich in den Sattel schwang. Nachdenklich folgte ich ihm, während wir immer tiefer in den Wald vordrangen. Shivs kleines Schauspiel war der Höhepunkt des Tages gewesen, und während wir uns immer weiter vom letzten echten Bett und einem schönen Bad entfernten, fing es zu regnen an. Zwar war es kein heftiger Regen, sondern nur ein leichtes Nieseln, doch ich fand rasch heraus, dass man nach einer gewissen Zeit genauso nass ist. Missmutig starrte ich auf die feuchten Flecken an Winterapfels Ohren, und ungefähr zum zehnten Mal, seit wir Inglis verlassen hatten, fragte ich mich, was ich eigentlich hier draußen tat. Wir suchten uns einen Weg über die immer schmaleren Pfade, bis es zum Weiterreiten zu dunkel wurde und wir unser Lager aufschlugen. In dieser Nacht fiel die Temperatur wie ein Stein, und wir wachten kalt, steif und ausgesprochen übellaunig auf. Selbst der Muli wirkte verärgert. Wir stiegen immer höher und höher hinauf, und mit jedem Schritt wurde es schlimmer. Der Regen nahm an Stärke zu, und die Luft kühlte merklich ab. Es gelang uns nicht einmal, das Brot zu essen, bevor sich die ersten Schimmelflecken zeigten, und wir verloren die Hälfte unseres Obstes, als sich der Lastharnisch des Mulis löste, da die Riemen sich in der Feuchtigkeit gedehnt hatten. Wir beschlossen, Fladenbrot zu backen, obwohl das Mehl sich inzwischen in eine feuchte Pampe verwandelt hatte. Am nächsten Tag mussten wir jedoch unseren Fehler erkennen, denn einer nach dem anderen rannten wir mit Magenkrämpfen ins Unterholz. Wir erduldeten zwei Tage, in denen die Essenspausen vornehmlich daraus bestanden, lediglich et329
was zu trinken. Aber schließlich war das Schlimmste vorüber, und nachdem wir uns ein wenig an die elenden Bedingungen gewöhnt hatten, kamen wir wieder besser voran. Ich habe bestimmt gut eine Hand voll Lescariromanzen gelesen und doppelt so viele Balladen gehört, in denen die Helden auf der Suche nach einem verlorenen magischen Amulett oder um eine Prinzessin zu retten durch die Wildnis ziehen, doch in keiner einzigen wurde erwähnt, was für eine mühselige Angelegenheit das sein kann. Ich begann, von gepflasterten Straßen unter Winterapfels Hufen zu träumen. Unglücklicherweise träumte ich auch von Geris, und das war so ziemlich das Einzige, das mich davon abhielt, einfach auf dem Absatz kehrt zu machen und in die Wärme und zu trockenen Kleidern zurückzukehren. Shiv schien das alles nichts auszumachen, und ich schwöre, dass er irgendwie weniger nass war als wir. Auch Ryshad und Aiten nahmen die Unannehmlichkeiten mit verhältnismäßigem Gleichmut auf, was nur bewies, wie gefühllos Männer sein können. Eines fürchterlichen Nachmittags verloren sie allerdings die Beherrschung, doch danach fühlte ich mich auch nicht besser. Die Lippen vor Wut aufeinander gepresst, folgte Ryshad seiner üblichen Routine. Er befreite sein Schwert von winzigen Rostflecken, während Aiten ins Dickicht stapfte, um uns ein paar Kaninchen oder Eichhörnchen zum Abendessen zu fangen. Shiv war fort, um mit den Pfützen zu reden oder so was, und ich untersuchte Winterapfel und den Muli nach aufgescheuerten Stellen und befreite ihre Beine von Schlamm und Blättern. »Glaubst du wirklich, dass es die Sache wert ist, das Ding mitzuschleppen?« Angewidert blickte ich auf mein zusammen330
gerolltes, rostiges Kettenhemd. Es nur anzuschauen reichte schon, meine Schultern schmerzen zu lassen. Ryshad zuckte die Achseln. »Auf dem Rücken des Mulis hat es jedenfalls keinen Sinn. Trag es, oder wirf es weg.« »Es ist vollkommen verdreckt«, knurrte ich. »Ich werde darin frieren, und es wiegt so viel wie ein Sack Korn. Außerdem stinkt es.« Ryshad wedelte mit der Drahtbürste in meine Richtung. »Mach es sauber und öl es ein, wenn du willst.« Schmollend blickte ich von ihm zum Kettenhemd und wieder zurück. Ich wollte keinen Rat, ich wollte Mitleid. Ich wollte Verständnis und jemanden, der mir sagte, dass es richtig war, das verfluchte Ding wegzuwerfen. »Du trägst keine Rüstung«, bemerkte ich vorwurfsvoll. Ryshad klopfte auf seinen dicken Mantel, und überrascht hörte ich ein dumpfes Klang. »Rüstungsplatten«, erklärte er, zog den Mantel aus und ließ mich die Metallscheiben befühlen, die zwischen Leder und Leinen eingenäht waren. »Das sieht bequemer aus«, sagte ich bewundernd. »Wo kann ich so etwas bekommen?« »Auf dieser Seite des Dalas nirgendwo. Ich habe meins aus Zyoutessela.« »Stammst du ursprünglich von dort? Erzähl mir davon. Ist es wahr, dass man dort den großen Ozean und den Golf von Lescar gleichzeitig sehen kann?« Ich wäre gerne an irgendeinen warmen, zivilisierten und exotischen Ort gegangen, wenn auch nur in den Erinnerungen eines anderen. Ryshad lehnte sich zurück und vergaß einen Augenblick seine Arbeit. »Nun, das kann man, wenn man den Turm am Pass hinaufsteigt, den die Den Rannion gebaut haben. Die beiden 331
Ankerplätze liegen tatsächlich ein gutes Stück voneinander entfernt. Ich nehme an, man könnte sie besser als zwei eigenständige Städte bezeichnen, die nur durch die Hafenstraße miteinander verbunden sind. Dazwischen liegen die Berge. Wir leben auf der Ozeanseite. Mein Vater besitzt ein Gutshaus als Lehnsmann von Messire D’Olbriot. Unserem Herrn gehört gut ein Drittel des Landes auf dieser Seite, und ihm gebührt ein Fünftel des Wegzolls für die Hafenstraße.« Vielleicht sollte ich doch einmal darüber nachdenken, für D’Olbriot zu arbeiten. Ryshad sprach von überwältigendem Reichtum. »Riskieren es viele Schiffe, das Kap der Winde zu umrunden, um den Zoll für den Landweg nicht bezahlen zu müssen?« Ich erinnerte mich an die schlanken dalasorianischen Schiffe in Inglis. »Im Sommer wagen es einige, doch im Herbst kommen viele als Wracks auf der anderen Seite an.« Ryshad polierte sein Schwert ein letztes Mal mit einem öligen Tuch und wollte es in die Scheide stecken. Unerwartet verhakte es sich, und Ryshad fluchte. »Was stimmt denn jetzt schon wieder nicht?« Er zog seinen Schwertgürtel aus und untersuchte die Scheide. »Bei Dasts Zähnen!« Er löste die Scheide vom Gehänge und lugte hinein. »Sie ist verzogen! Nicht zu glauben. Fünf Jahre habe ich sie nun schon, und eine Reise nach Gidesta reicht aus, um sie zu ruinieren!« Ryshad setzte sich wieder und begann, das Leder vom Holz zu lösen. Er fluchte leise vor sich hin, als Aiten plötzlich aus dem Unterholz stürmte und sich wütend Ranken und Zweige von den Kleidern riss, die daran hängen geblieben waren. 332
»Ich finde da draußen nicht das Mindeste«, verkündete er. »Die kleinsten Spuren, die ich gesehen habe, stammten von einem Wasserhirsch und einer Bergziege.« »Ich esse auch Ziege.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber nicht heute Abend.« Aiten warf ein paar verdrehte Holzstücke ins Feuer. »Das ist dein Bogen!«, rief ich. »Und wenn ich damit etwas töten wollte, müsste ich mich auf Schlagdistanz anschleichen und es zu Tode prügeln.« Aiten kramte in seiner Satteltasche nach einer Flasche Schnaps. »Er ist genauso verdreht wie das Hinterbein des Mulis. Das ist dieser verdammte Regen. Wo ist Shiv? Er ist doch angeblich Wassermagier. Warum kann er nichts gegen dieses unheilige Wetter tun?« Er versuchte, sich die Hände an unserem armseligen Feuer zu wärmen. Zumindest hatten die Oberreste des Bogens ein paar kleine Flammen hervorgerufen. Ich ließ die beiden allein und ging auf die Suche nach Shiv. Shiv kniete über einen tiefen Pfütze, doch als ich ihm über die Schulter blickte, sah ich nur komplizierte Muster aus rubinrotem, bernsteinfarbenem, saphirblauem und smaragdgrünem Licht. Shiv stand aufrecht und rieb sich den Rücken. »Braucht ihr mich für etwas?« »Ait kann nichts zu essen finden. Er hat sich gefragt, ob du etwas wegen des Wetters unternehmen könntest – den Regen vielleicht ein wenig mildern.« Shiv verzog das Gesicht. »Tut mir Leid. Wettermagie übersteigt meine Fähigkeiten bei weitem. Dazu benötigt man einen Machtnexus und mindestens vier Magier.« Ich seufzte. »Es war einen Versuch wert. Was tust du da?« 333
Shiv wandte sich wieder der Pfütze zu. »Ich suche nach elementaren Verzerrungen in dieser Gegend. Die Kraft des Wassers ist auf einige faszinierende Arten gebunden worden.« »Wie das?« Shiv blickte mich mitfühlend an. »Das ist sehr kompliziert. Du würdest es nicht verstehen.« Ich erwiderte seinen Blick und kniff die Augen zusammen, als ein Verdacht in mir aufstieg. »Bist du sicher? Es hat doch nicht zufällig etwas mit den Dingen zu tun, die in letzter Zeit verzogen, verrostet oder verrottet sind, oder?« »Also gut, es hat etwas damit zu tun«, gestand er. »Aber immerhin bedeutet das, dass wir auf der richtigen Fährte sind, oder? Anscheinend versucht Azazir, uns zu entmutigen.« »Sofern es mich betrifft, hat er auch Erfolg damit«, knurrte ich. »Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie weit wir noch reiten müssen?« Shiv ging ans Ufer und deutete weiter die Hügel hinauf. »Siehst du diesen doppelten Felsvorsprung über dem Hang dort drüben? Ich glaube, er ist irgendwo dahinter.« Ich sah weniger auf den Hügel als zu den Sturmwolken, die sich darüber sammelten. Ich runzelte die Stirn, während ich herauszufinden versuchte, was an diesem Anblick nicht stimmte. »Shiv, diese Wolken bewegen sich nicht«, sagte ich. »Sieh doch. Sie drehen sich nur im Kreis. Das ergibt keinen Sinn. Dort oben herrscht Nordwind. Das siehst du an den Bäumen.« »Wirklich?« Mir war klar, dass er seine Überraschung nur vortäuschte. »Du hast doch gesagt, ein Zauberer allein könne keine Wettermagie wirken«, tadelte ich ihn. 334
»Das kann er auch nicht.« Mir wäre lieber gewesen, ich hätte den unsicheren Unterton in Shivs Stimme überhört. »Nun, jedenfalls sollte er nicht dazu in der Lage sein.«
335
7.
Aus: Eine Zusammenfassung der
Gründung von Hadrumal von: Ocarn, Dritter Flutmeister der Seehalle
Nachdem das Land Hecksen verwüstet war, wuchs im Volk die Furcht vor den Magiegeborenen. So widerwärtig wir die Torheit und den Ehrgeiz der Magier Mereel und Freit auch finden mögen – die Behauptungen der Herren von Peorle und Algeral, dass sie verzaubert worden seien, können nichts als Lügen sein. Schlimmer noch, die Gewählten von Col machten sich diese armselige Entschuldigung zu Eigen, indem sie erklärten, ihre Verstrickung in die Angelegenheit sei das Ergebnis einer Verschwörung von Magiern und Priestern gewesen, welche die Macht hatten übernehmen wollen. Gerüchte blähten diese Verleumdungen noch auf, was unter den Unwissenden für Panik sorgte. Selbst einfache Schreiber wurden Opfer des prügelnden Mobs, und einige Schulen wurden geplündert. Die offizielle Priesterschaft wurde aufgelöst, und die Bibliothek des Tempels verbrannt. Da in Col einer der letzten Tempel stand, der das Chaos der Dunklen Generationen bis dato überlebt hatte, wiegt das Wissen, was dort verloren gegangen ist, umso schwerer. Das soll uns ermahnen, nie die Gefahren zu unterschätzen, die dem schlichten Gemüt des einfachen Volkes entspringen können. 336
Trydek reiste damals als Tutor durch Caladhria. Dort waren antischolastische Vorurteile nicht so weit verbreitet, doch schädliches Unwissen war allgegenwärtig. Inzwischen galt es als ausreichend für einen Adeligen, sich einen Schreiber zu halten; er selbst brauchte weder Lesen noch Schreiben zu lernen, und viele Bibliotheken wurden dem Verfall überlassen. Magiegeboren zu sein wurde zunehmend als Absonderlichkeit betrachtet, wenn nicht gar als Unglück, und viele Unglückliche wurden zum Opfer ihrer eigenen ungeschulten Macht. Einige bemerkenswerte Katastrophen wie die Verbrennung von Lady Shress und ihrem Kind im Kindbett wurden zum Gegenstand weit verbreiteter, verzerrter Legenden. Der Herzog von Triole bedrohte sogar jene, die die arkanen Künste anwendeten, wie er sie bezeichnete, mit der Folter, und bald folgten andere Adelige seinem Beispiel. Natürlich erreichte er damit nur, dass ohnehin schon ungeschulte und verängstige Jungen und Mädchen einem schier unerträglichen Druck ausgesetzt wurden. Kurz darauf wurden sie mit jeder Überschwemmung, jedem Feuer und jedem Blitzeinschlag in Verbindung gebracht, und jedes Mal begann eine wilde Jagd, bis schließlich irgendein Unglücklicher gefunden war, der auch nur einen Hauch von Affinität besaß. Hatte der Betreffende Glück, jagte man ihn nur davon; ansonsten brachte man ihn um. Trydek scharte einen Kreis von vertriebenen Magiegeborenen um sich und versuchte, sich mit ihnen an verschiedenen Orten niederzulassen. Als junger Mann habe ich ihn einmal in seinen letzten Jahren sprechen hören. Er erzählte ausgesprochen lebendig von der Furcht und dem Unwissen, auf die er und seine kleine Schar gestoßen sind. Einige Magier hatten ihre Talente entwickelt und ausgebaut, um derartige Entwicklungen in ihrer 337
Heimat aufzuhalten. Rückblickend müssen wir eingestehen, dass Taten wie die Zerstörung von Markt Geril, das Blenden von Lord Ardel und besonders der Parnilesseaufstand unklug gewesen sind, wenn auch verständlich. Nach diesem letzten Ereignis willigte Trydek schließlich ein, sich vom Festland zurückzuziehen. Der Vorschlag stammte von Videla, der Ersten Flutmeisterin der Seehalle.
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Gidesta 19. Nachherbst
Regen, Regen und noch mehr Regen. Je näher wir dem Wolkenkreis kamen, desto heftiger regnete es. Der ortsgebundene Sturm wirkte schon bald so glaubwürdig wie die Anteilnahme eines Priesters. Ich bemerkte, wie Ryshad und Aiten sich unsicher anschauten und dann und wann zweifelnd zu Shiv blickten. Wir kämpften uns weiter nach oben. Das Dickicht aus Bäumen, Büschen und Efeu wurde zunehmend dichter, und mit wachsender Verärgerung mussten wir immer wieder anhalten, um uns und den Tieren einen Weg frei zu schlagen. Die entscheidende Rune fiel, als wir ein Lager aufschlugen und es niemandem gelang, ein Feuer zu machen. In der Hoffnung, etwas halbwegs Trockenes zu essen zu finden, kramte ich in den Packtaschen des Mulis. Ich schnitt gerade ein Stück Trockenfleisch, als ich mit dem Messer abrutschte und die Klinge schmerzhaft über meine Knöchel schrammte. Ich stand kurz davor, vor Wut in Tränen auszubrechen, da bemerkte ich, dass sich zwischen Ryshad und Aiten ein Streit anbahnte, und ich beherrschte mich. »Lass es mich einmal versuchen. Du machst das vollkommen falsch.« »Bitte schön. Der Feuerstein ist unbrauchbar.« »Hast du den Zunder im Hemd getragen, wie ich es dir gesagt habe?« »Was immer es für einen Sinn gehabt haben mag. Er ist so nass wie der Rest von mir.« 339
»Nun, warum hast du ihn nicht in ein Öltuch gewickelt?« »Warum ist das überhaupt meine Sache? Warum machst du dich selbst nicht mal nützlich, statt nur herumzumaulen?« »Ich habe vergangene Nacht mit dem Scheißzeug in der Hose geschlafen. Als ich es dir gegeben habe, war es knochentrocken.« Ich hielt es für an der Zeit, mich einzumischen. »Shiv, könntest du uns beim Feuermachen helfen?« »Bitte?« »Das Feuer, Shiv. Wir brauchen etwas Warmes zu essen und zu trinken.« »Seid ihr sicher?« Das brachte das Fass zum Überlaufen; zumindest Ryshad konnte sein Temperament nicht mehr zügeln. »Natürlich ist sie sicher. Wir sind alle nass bis auf die Haut und frieren uns den Hintern ab. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest – von normalen Menschen läuft der Regen nicht einfach so ab wie von einem Entenarsch!« Ich seufzte. »Mach bitte Feuer, Shiv, ja?« Shiv trat ans aufgeschichtete Feuerholz, das bereits nass genug war, dass man es hätte auswringen können, und biss sich auf die Lippe, während er die Hände darüber hielt. Es folgte ein langes, kühles, angespanntes Schweigen. »Es gibt da offenbar ein Problem.« Unglücklich blickte Shiv vom einen zum anderen. »Und das wäre?«, fragte Ryshad in drohendem Tonfall. »Es sind die Elemente. Dieses Gebiet scheint vom Element des Feuers fast vollkommen abgeschnitten zu sein.« »Was bedeutet fast vollkommen?« Ich war froh, Shiv etwas fragen zu können, anstatt mich mit Ryshad anlegen zu müssen. 340
»Es reicht, um das Entzünden eines Feuers unmöglich zu machen, sei es nun auf magische oder andere Art.« Ich wartete darauf, dass entweder Ryshad oder Aiten überkochten, doch nichts geschah. »Was tun wir jetzt?« Ryshad machte seinen Gefühlen Luft, indem er gegen das armseligen Häuflein Zweige und Zunder trat und sie halb durch das zugewucherte Loch schleuderte, das hier eine Lichtung genannt wurde. Aiten hielt Shiv die Hand unter die Nase. Sie war kreideweiß und zerknittert wie ein feuchter Lappen. »Siehst du das? Meine Finger sehen aus, als hätte ich drei Tage lang in einer Badewanne gelegen. Mir ist schon so lange kalt, dass ich nicht einmal mehr zittern kann. Wenn du nichts tust, werden wir morgen alle vor Erschöpfung umfallen, sollten wir überhaupt jemals wieder aufwachen. Ich habe in diesen Bergen gelebt, Shiv. Ich habe so etwas schon gesehen.« »Vielleicht sollten wir einfach wieder umkehren?« Die Blicke Aitens und Ryshads verrieten mir, dass sie das Gleiche dachten, doch keiner von ihnen hatte es als Erster vorschlagen wollen. »Nein ...« Shivs Stimme besaß einen flehenden Unterton, der mich überraschte. »Wir können jetzt nicht aufgeben. Azazir tut das alles nur, um uns den Mut zu nehmen.« »Und bei mir hat er damit Erfolg gehabt.« Ryshad hatte seine Beherrschung wiedergewonnen, doch sein Gesichtsausdruck war hart und finster. »Nun?« Aitens Frage hing in der Luft, während wir alle vermieden, den anderen in die Augen zu blicken. »Ich kann zwar kein Feuer machen, aber ich kann euch ein wenig trocknen und versuchen, den Regen fern zu halten«, bot Shiv an. 341
Aiten hob den Blick. »Rysh? Was meinst du?« Ryshad seufzte. »Wir müssen etwas tun, um die Nacht zu überleben. Es ist ohnehin schon zu spät, um heute noch wieder ins Tal hinunterzugehen.« Nun, da wir etwas Sinnvolles zu tun hatten, machten wir uns rasch an die Arbeit. Ich zog die trockensten Decken aus den Packtaschen, während Ryshad und Aiten ein Dach aus Öltuch bauten. Wir zogen unsere durchnässten Mäntel und Tuniken aus und setzten uns Knie an Knie in einen Kreis, um uns gegenseitig zu wärmen. Es war schwierig, aber wir schlangen die Decken so um unsere Schultern, dass sie einander überlappten, und zogen sie straff an. »Jetzt entspannt euch, und lasst mich ohne Unterbrechung arbeiten.« Shiv sammelte schwach leuchtende Tentakel aus blauem Licht in seinen Händen und schloss die Augen. Selbst ich erkannte, dass die Magie hier irgendwie verzerrt wurde; normalerweise leuchtete Shivs Magierlicht azurblau, doch nun glich es mehr dem Türkis, den die Aldabreshi so hoch schätzen. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu unterbrechen, doch nur wenige Augenblicke später wusste ich, warum er es für notwendig erachtet hatte, uns zu ermahnen, als das machtvolle Licht sich über und um uns herum schlängelte. Das Wasser wurde aus unseren Kleidern und Haaren gedrängt und verwandelte sich in Dampf; es kitzelte fürchterlich. Ich schloss die Augen, doch das machte es nur noch schlimmer, und so öffnete ich sie wieder. Kennt Ihr das Gefühl, von einer ganzen Flohhorde angefallen zu werden? Das hier war zehnmal schlimmer. Meine ganze Haut war von Juckreiz befallen, und Ryshads Gesichtsausdruck nach erging es ihm nicht viel anders. Ich glaubte bereits, dies hier sei schlimmer, als durchnässt zu 342
sein, als ich plötzlich meine Zehen wieder spüren konnte. Sie juckten und brannten – eine deutliche Verbesserung –, aber ich war noch immer nicht ganz überzeugt. Aiten rutschte nervös hin und her und fluchte vor sich hin, schwieg jedoch wieder, als Shiv ihn streng anblickte. Ich biss mir auf die Lippe und konzentrierte mich auf die Dampfwölkchen, die sich in die Luft schlängelten, um sich alsbald aufzulösen. Jedes vorbeikommende Tier hielt uns mit Sicherheit für einen Komposthaufen. Als ich schließlich den ersten der beiden Monde über den Baumkronen aufsteigen sah, seufzte Shiv und ließ die Magie los. »Das müsste jetzt besser sein.« Ich konnte ihn in der Dunkelheit kaum sehen, doch ich hörte die Unsicherheit in seiner Stimme. Ich tastete mein Hemd ab. Es war steif, aber ziemlich trocken, und ich bemerkte, dass meine Finger nicht mehr so faltig waren. »Danke, Shiv.« Aiten kramte in seiner Gürteltasche. »Will einer Thassin?« Wenn ich etwas Anregendes brauchte, hielt ich mich für gewöhnlich an Alkohol, doch im Augenblick war mir alles Recht. »Brich sie auseinander, und schieb dir das Stück in die Wange«, riet er mir. »Darf ich?« Shiv entzündete einen kleinen Ball Magierlicht und streckte die Hand aus. »Ich wusste nicht, dass du kaust.« »Nicht regelmäßig.« Aiten hielt kurz inne, um die harte Schale der Nuss aufzubeißen. »Ich hab immer ein paar für Notfälle dabei, und ich glaube, jetzt ist die richtige Zeit dafür. Willst du auch etwas, Rysh?« Ryshad seufzte, und im unheimlichen Glühen des Magier343
lichts sah ich, wie er das Gesicht verzog. »Es wäre wohl besser. Wie viel hast du?« »Genug, um dich sanft wieder nach unten zu bringen.« Aiten blickte seinen Freund mitleidig an, als der ihm ein paar der dunklen Nüsse reichte. »Früher habe ich mal ständig gekaut«, erklärte Ryshad, als er die Nuss mit geübter Leichtigkeit knackte. »Es hat mich gut zwei Jahreszeiten gekostet, es mir wieder abzugewöhnen.« Ich war beeindruckt. »Das war eine beachtliche Leistung.« Wieder verzog Ryshad das Gesicht. »Aber ich möchte es nicht noch einmal tun müssen.« Wir hockten auf der Erde und kauten wie eine Herde Kühe, und schon bald spürte ich, wie die Wärme aus meinem Mund in meinen Bauch und weiter in meine Beine wanderte. All die Leiden der vergangenen Tage in Kälte und Regen verwandelten sich in ein belangloses Ärgernis, und ich verstand allmählich, warum die Leute dieses Zeug kauten. Zu meiner Überraschung wurde ich hungrig. »Wenn wir wieder in der Zivilisation sind, werde ich das größte Stück Rindfleisch kaufen, das der Schlachter anzubieten hat. Ich werde es mit Butter und Zwiebeln braten und eine ganze Tagesration Brot dazu verschlingen«, murmelte ich. »Tu das nicht«, stöhnte Ryshad. Wir aßen das wenige Essbare, das ich in unserem Gepäck noch hatte finden können. Alles schmeckte seltsam nach der Thassinnuss, und unsere Laune besserte sich deutlich. Natürlich wussten wir, dass dieses Gefühl nicht echt war, doch nach einer Weile war uns das egal. »Was war das schlimmste Essen, das ihr je gegessen habt? Abgesehen von diesem hier natürlich.« Aiten grinste mich an. 344
Seine Zähne waren fleckig und sein Atem bitter von den Nüssen. Shiv gab uns einen übertriebenen Bericht über das Lehrlingsessen in Hadrumal ... zumindest hoffte ich, dass es übertrieben war. Falls nicht, würde Planir meinen Bericht schriftlich bekommen; niemand wird mich je an einem Ort sehen, wo man Mäuse im Eintopf finden kann. Unser Gespräch verlagerte sich von katastrophalem Essen zu katastrophalen Taten, und Aiten erheiterte uns mit seinen Geschichten über das Leben als Lescarisöldner. Meine Lieblingsgeschichte war die über einen Unteroffizier, der seinen Trupp eines Nachts in einen Hinterhalt geführt hatte. »Kommt, Jungs!«, spornte er seine Männer an. »Jungs?« Doch er hörte nur noch das Trappeln fliehender Füße und sah die Laterne des Bannerträgers, die sich mit Höchstgeschwindigkeit entfernte! Ein weiterer Fall von Tod durch Dummheit. Ryshad konterte mit einer Geschichte über die Schwierigkeit, zur Miliz verpflichteten Bauern den Umgang mit dem Schild beizubringen, ohne dass sie sich dabei selbst verletzten, und ich brachte sie alle ins Grübeln, indem ich sie fragte: »Was ist der am schwierigsten zu umgehenden Schutz gegen Einbrecher, den ihr euch vorstellen könnt?« Für den Fall, dass Ihr Euch fragen solltet, um was es sich dabei handelt ... Es sind weder Hunde, Schlösser noch Wachleute; es sind diese verdammten kleinen Windspiele, die sich die Leute in Tür und Fenster hängen. Ich hatte schon so manches Bier mit dieser Frage gewonnen. Der Morgen brach früher an, als ich erwartet hatte, und wir lösten unseren Kreis auf, streckten die verkrampften Beine und bereiteten uns auf den nächsten Teil dieser unseligen Reise vor. Shiv hatte sein Bestes getan, was unsere Kleider und Stiefel 345
betraf, doch die feuchte, kalte Tunika wieder überzustreifen war mit das Schlimmste, das ich seit langer Zeit getan hatte. Unnötig zu erwähnen, dass es noch immer wie aus Eimern schüttete, und ich glaube nicht, dass ich jemals ein so verärgertes Tier gesehen habe wie meinen Muli. Ein weiterer Tag Ausrutschen, Hacken und Fluchen brachte uns auf einen Hügelkamm. Oben angekommen blickten wir auf eine vollkommen andere Szenerie hinunter. Es war ein Tal mit einem See in der Mitte, doch während die meisten Seen von ein, zwei Flüssen gespeist werden, besaß dieser hier Hunderte von Zuläufen. Ich weiß, es klingt abstrus, aber diese Flüsse und Bäche folgten nicht einfach der Natur bergab – sie zielten auf den See. Ich wette, wir hätten sogar welche gefunden, die bergauf flossen, hätten wir danach gesucht. Wasser strömte die steilen Talseiten hinab. Nur wenigen Pflanzen war es gelungen, an den Hängen Wurzeln zu schlagen; es sah so aus, als würden auch Erde und Gras bald den Kampf verlieren. Der See war dunkel, schlammig und grün, und dichter Nebel hing über der Oberfläche. »Ist es das?«, fragte Aiten unnötigerweise. Shiv nickte langsam, während er seinen Blick aufmerksam über das Tal schweifen ließ. Ich folgte seinem Beispiel, sah aber nichts. Allmählich wurde ich unruhig und fragte mich, was sich so falsch anfühlte. Die Brunnenquelle war schon immer eine meiner Glücksrunen gewesen ... Was versuchte sie mir zu sagen? Nach ein paar Augenblicken verstand ich es. »Hört ihr etwas? Liegt das nur an meinen Ohren, oder gibt es hier wirklich keine Vögel?« Wir alle lauschten, doch außer dem Rauschen des Wassers unter uns und einem dumpfen Murmeln aus Richtung See war 346
nichts zu hören. »Hier lang.« Shiv setzte sich in Richtung des Geräuschs in Bewegung, und schließlich suchten wir uns vorsichtig einen Weg am schlammigen Ufer entlang. Ich spürte ein Kribbeln im Nacken und wusste ohne Zweifel, dass irgendjemand oder irgendetwas uns beobachtete. Winterapfel schnaufte und stapfte aufgekratzt im Wasser, das seine Hufe umspülte. Ich fluchte und musste all mein Können aufbieten, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Ich hatte alle Hände voll zu tun, da ich ja auch noch den Muli führte; die elende Kreatur hatte beschlossen, dass sie außer mit mir mit niemandem zusammenarbeiten wollte. Ich bin ja dafür, dass Frauen zusammenhalten – der Muli war eine Stute –, aber das war ein wenig zu viel des Guten. Es gelang mir, das störrische Tier zu einem mürrischen Trott zu bewegen, doch als ich nach vorne blickte, waren die anderen schon ein gutes Stück vorausgeritten. Nebel füllte die Lücke zwischen uns, und ein Schauder lief mir über den Rücken. »Wartet!« Ich trat Winterapfel die Fersen in die Flanken, und er sprang vorwärts, doch der Nebel wurde von Augenblick zu Augenblick dichter. Shiv und die anderen waren in der klammen weißen Masse nur noch als formlose Gestalten zu erkennen. »Wartet auf mich!«, rief ich, doch die tote Luft dämpfte meine Stimme wie ein Kissen. Ich blickte hinunter, um zu sehen, wo sich die Wasserkante befand, aber selbst Winterapfels Hufe konnte ich im Nebel nicht mehr sehen. Er blieb stehen und schnaufte nervös; die Ohren hatte er zunächst nach vorne gerichtet, dann legte er sie zurück. Ich blickte zu dem Muli. Alles, was ich sehen konnte, war 347
der Kopf; das Tier hatte ebenfalls die Ohren angelegt und rollte mit den Augen, als hätte irgendetwas es erschreckt. Ich saß im Sattel und zwang mich, ruhig zu atmen, während ich in den Nebel lauschte, um herauszufinden, was die Tiere so beunruhigt hatte. Ein furchtbares Flüstern klang vom See zu uns herüber, doch ich vermochte es nicht genau zu erkennen. Ich zitterte im kalten Wind und trat Winterapfel hart in die Flanken, aber er wollte sich nicht bewegen. Ein plötzliches Schnattern hinter uns erschreckte den Muli, sodass er nach vorne gegen Winterapfels Hinterteil sprang. Winterapfel riss den Kopf herum, fletschte die Zähne und schnappte nach der Mulistute. Diese schnappte zurück; Winterapfel stieg, und ich glitt wenig elegant aus dem Sattel. »Bleib stehen, du verdammter Gaul!« Hilflos griff ich nach den baumelnden Zügeln, doch die verfluchte Kreatur verschwand im Nebel, der inzwischen so dick geworden war wie saure Milch. Ich rappelte mich auf und schaute mich mit wilden Blicken um, wobei ich noch immer die Zügel des Mulis in der Hand hielt. Falls dort draußen irgendetwas nach einer Mahlzeit Ausschau hielt, konnte es zuerst den Muli haben. Ob es wohl Bären hier in der Gegend gab? Wölfe? Oder vielleicht noch etwas Schlimmeres? »Komm.« Ich hielt mich an der Trense fest und lehnte mich gegen die struppige Schulter des Tiers, während ich vorsichtig ein paar Schritte machte. Wasser umspülte meine Füße, und ich fluchte. Ich ging, wie ich glaubte, auf demselben Weg zurück, den ich gekommen war, doch nach nur wenigen Metern stand ich wieder im Wasser. Als ich mich daraufhin erneut umdrehte, sah ich kurz etwas im Nebel: eine dunkle, undeutliche, ungefähr mannshohe Ges348
talt. »Shiv? Ryshad? Seid ihr das?« Langsam ging ich weiter, sah aber nur den Nebel. Hinter mir hörte ich ein Scharren auf den Steinen. Ich wirbelte herum und presste den Rücken an die beruhigend feste Flanke des Mulis. Als mir dann irgendjemand oder irgendetwas auf die Schulter klopfte, schrie ich lauthals auf; aber als ich mich entsetzt umschaute, war nichts zu sehen. All die Ängste, die jeder Mensch im Hinterkopf mit sich herumträgt, hämmerten plötzlich an die Eingangstür meines Geistes. Die Angst, die man als Kind empfunden hatte, wenn man im Dunkeln durchs Haus gewandert war, die Schrecken, die einen ins Bett und in die Sicherheit der Decken zurück begleiteten, die Panik, in einer überfüllten Straße von den Eltern getrennt zu werden ... all das und auch die Ängste meines Erwachsenenlebens kehrten wieder zurück und gesellten sich zu der Furcht vor dem Nebel. Erneut fühlte ich die panische Angst, als ich fast vergewaltigt worden wäre; mein Magen drehte sich wie damals, als mir eine Auspeitschung bevorgestanden hatte, und ich empfand die gleiche Unsicherheit wie in Relshaz, als ich während der Unruhen von Sorgrad getrennt worden war. Ich begann zu zittern, als mir meine gesammelten Ängste das Denken und Gehen immer schwerer machten. Auch der Muli zitterte und schwitzte wie ein Tier, das einem Raubtier gegenüberstand. Sein Kopf pendelte von einer Seite zur anderen, während Schatten im Nebel um uns heranrückten und von überall her ein böses Flüstern ertönte. Ich hörte das Echo der Verachtung in der Stimme meiner Großmutter, wenn sie von meinem Waldblut gesprochen hatte, hörte das Schlagen von Leder auf Fleisch und das wahnsinnige Lachen des Möchtgernvergewaltigers. Schließlich sank ich verzweifelt auf die Knie, doch ich 349
klammerte mich weiter an die Zügel des Mulis, als würde ich sonst ertrinken. Ich weiß nicht, wie lange ich dort so hockte. Der namenlose Schrecken im Nebel hatte mich gelähmt. Schließlich drang die schwache Stimme der Vernunft durch den Lärm der Angst in meinem Kopf. Als die Furcht zu groß wurde, als dass ich sie noch länger mit geschlossenen Augen hätte ertragen können, bemerkte ich auf einer Seite eine leichte Veränderung im Nebel. Wo vorher alles so weiß gewesen war wie ein Leichentuch, sah ich nun eine schwache Tönung. Ein kaum merkliches helles Blau breitete sich in der dicken, feuchten Luft aus. Das musste Shiv sein. Ich stand auf und zwang meine zitternden Beine, in Richtung des Blaus zu marschieren; den widerspenstigen Muli zerrte ich hinter mir her. Während ich ging, verflog die lähmende Panik allmählich, und ich beschleunigte meine Schritte. Ich kann die Erleichterung nicht beschreiben, die ich empfand, als ich Shiv in einer Sphäre sauberer Luft stehen sah. Sein Zauber dehnte sich aus, und als das inzwischen strahlende Blau über mich hinwegspülte, war alle Furcht wie weggeblasen. »Was geht hier vor?« Ich eilte neben ihn und schaute mich noch immer vorsichtig um. Shiv schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf seinen Zauber. Eine Veränderung der Lichtverhältnisse ließ mich nach oben blicken, und ich sah, wie sich der Nebel über uns auflöste. Kurz darauf konnten wir das Seeufer und die Hänge des Tals erkennen. Ich atmete die frische Luft tief ein, bis schließlich auch das Zittern aufhörte. »Azazir!« Shivs Brüllen erschreckte den Muli, doch es gelang mir, ihn festzuhalten. »Deine Zauber sind eine mächtige Vertei350
digung gegen die Ungeschulten! Ich weiß dein Können zu würdigen, aber lass uns dieses Spiel beenden! Wir haben Dringendes mit dir zu besprechen. Wir würden dich nicht stören, ginge es nicht um Leben und Tod!« Ein Donnern hallte durchs Tal, und von einem Augenblick auf den anderen war der Nebel verschwunden. Ich blinzelte die Tränen aus den Augen, als der plötzliche Sonnenschein eines wunderschönen Herbsttages mich blendete. Es war so schnell vorbei, dass ich fast an meinen Sinnen zweifelte; dann kehrten die Wolken wieder zurück, und es begann heftiger zu regnen als zuvor. »Shiv!« Aiten und Ryshad stolperten durch den Regen auf uns zu; jeden Augenblick drohten sie auf dem tückischen Schlamm auszurutschen. Auch sie hatten ihre Pferde verloren, und beide waren sie kreideweiß. Erbrochenes verunstaltete Aitens Mantel; ich wollte nicht darüber nachdenken, was ihn so sehr in Angst hatte versetzen können. Ryshads Gesicht war ruhig und blass, die Klinge seines Schwertes mattgrau wie der Himmel über uns. »Es war ein Zauber.« Shiv breitete die Arme aus, und wir stellten uns in einen Kreis und packten uns an den Händen, um Kraft aus der Gegenwart der anderen zu ziehen. Nach und nach vertrieben wir so die Überreste der Furcht aus unseren Köpfen. Ryshad unterbrach das Schweigen. »Und was jetzt, Shiv?« »Wir gehen weiter.« Sein Tonfall gestattete keinen Widerspruch, und er führte uns weiter zur Spitze des Sees. Wir folgten ihm; dabei drängten wir drei uns dicht an den beruhigenden Leib des Mulis. Inzwischen hatten wir alle die Schwerter gezückt. Das Rauschen des Wassers wurde immer lauter, und nun, da 351
der Nebel sich verzogen hatte, sahen wir einen Wasserfall, der vor uns eine Klippe hinunterstürzte. Gischt schwebte über dem schäumenden Wasser wie Dampf. »Seht dort!« Aiten deutete zum Fuß der Klippe. Was ich zunächst für einen Felshaufen gehalten hatte, erwies sich bei genauerem Hinsehen als seltsam gleichmäßig, und als wir näher kamen, erkannte ich grobe Fenster und den dunklen Schatten einer Holztür. Das war eindeutig irgendeine Art Behausung. »Kommt.« Ryshad ging an Shiv vorbei voraus, und Aiten folgte ihm. »Vorsichtig. Wir müssen Geduld haben«, rief Shiv ihnen hinterher. Ich bin nicht sicher, was Aiten darauf erwidert hat, aber es war vermutlich so was wie »Steck dir deine Geduld in den Hintern«. Auf jeden Fall rannte er zur Tür und trat sie mit geübter Gewalt ein. Allerdings hörte er nicht das erwartete Krachen, sondern mehr ein feuchtes Knirschen, und dass er anschließend den Fuß aus der matschigen Holzmasse ziehen musste, beeinträchtigte die Wirkung seines Auftritts noch mehr. Shiv murmelte etwas wenig Schmeichelhaftes und eilte den beiden hinterher. Ich nahm mir Zeit, den Muli anzubinden, und folgte ihnen erst, nachdem klar war, dass kein verrückter Zauberer sie in Frösche verwandeln würde. Einmal in der Felshütte – oder der Höhle, je nachdem, wie man es betrachtete – war offensichtlich, dass einst jemand hier gewohnt hatte, doch dieser Jemand war schon lange verschwunden. Schlichte Holzmöbel waren von Pilzen überwuchert, und die Überreste der Stuhlpolster dienten nun als Mäusenester. Ryshad und Aiten öffneten die Schränke und eine Truhe, fanden aber nichts abgesehen von einem undefinierbaren nassen Brei. Wasser rieselte die 352
Wände herab, und die Luft roch feucht und ungesund. »Wenn das sein Heim war, muss er tot sein«, sagte ich schließlich. »Darni hat gesagt, er könnte langwirkende Wachzauber hinterlassen haben. Vielleicht war es das, was wir gefunden haben.« »Hier ist etwas.« Ryshad untersuchte gerade sorgfältig die hintere Wand, und als er mit der Hand eine Spalte entlang fuhr, erkannten wir eine Tür aus Stein. »Lass mich mal sehen.« Während Shiv und die anderen sich um die Tür drängten, ging ich zum Kamin. Er war in die Wand eingearbeitet und enthielt eine Herdstelle. Seit langer Zeit hatte hier schon nichts mehr gebrannt, und die Asche war fast völlig weggespült worden. Ich beugte mich vor, um den Schornstein hinaufzuspähen, sah aber kein Licht. Weiter oben war er vermutlich blockiert, von einem Nest vielleicht, das irgendein Vogel gebaut hatte, bevor er aus diesem Gebiet geflohen war. Ich fragte mich, ob ein Zauberer wohl einfallsreicher war als andere Leute, wenn es ums Verstecken von Wertgegenständen ging. »Hier!« Ich drehte mich um und sah, wie Shiv die Felstür mit bernsteinfarbenem Licht hervorhob. Sie öffnete sich, und die drei Männer blickten in die Dunkelheit dahinter. »Kommt.« Shiv schuf eine magische Lichtkugel, und die drei gingen durch die Tür. Ich griff in den Rauchabzug und tastete darin herum. Da ich nichts Ungewöhnliches fand, wandte ich mich dem als Herd dienenden Teil der Feuerstelle zu. Weit hinten spürte ich eine andere Art von Stein; er war deutlich glatter als die grob behauenen Felsbrocken, aus denen der Kamin sonst bestand. Ich 353
drückte ein wenig darauf herum, und zu meiner Überraschung gab er nach und drehte sich steif um ein Scharnier in der Mitte. Dahinter verbarg sich ein Loch. Ich streckte mich so weit es ging, das Gesicht an die schmutzigen Gitter des Herds gepresst. Dann zuckten meine Finger vor etwas Kaltem, Glitschigem zurück, doch ich zwang meine Phantasie, sich zurückzuhalten und holte das durchnässte Bündel hervor. Einst war es ein schönes, weiches Lederbündel gewesen, doch das war schon lange her. Ich schlug die faulig stinkenden Lederreste zurück und enthüllte einen langen weißen Stab sowie einen schönen Silberring. Ich war noch immer allein; also band ich den Ring an einen Lederriemen und hing ihn mir zur Erinnerung an unsere Abenteuer um den Hals. Dann betrachtete ich den Stab genauer. Er war mit sechseckigen Formen verziert, die mich an Bienenwaben erinnerten, und in jeder dieser Waben befand sich eine Schnitzerei. Ich sah winzige Figuren, monströse Gesichter, Spinnweben, Schneeflocken, alles Mögliche. Der Stab selbst bestand aus einem einzigen Knochenstück, und ein Ende war mit kleinen Edelsteinen verziert. Ich wusste, dass das irgendetwas mit Zauberei zu tun haben musste. Bei den Edelsteinen handelte es sich um Bernstein, Rubin, Saphir, Smaragd und Diamant – die Edelsteine der Elemente. »Da drin ist nichts.« Ryshad kam als Erster wieder heraus. Seine Stiefel knirschten auf den Trümmern unter seinen Füßen. »Aber ich habe was gefunden.« Ich drehte mich um und hielt Shiv den Stab hin. »Sein Fokus!« Shiv riss ihn mir aus der Hand und musterte ihn aufmerksam. »Und?« Aiten versuchte, einen Blick auf den Stab zu werfen, doch Shiv drehte ihn von ihm weg. 354
»Wenn sein Fokus noch hier ist, kann er nicht weit sein«, murmelte Shiv mehr zu sich selbst als zu uns. »Was ist das?«, fragte Ryshad neugierig. »Was? Oh, das ist Azazirs Fokus. Jeder Magier fertigt so etwas an, um seine magische Ausbildung aufzuzeichnen; das hat etwas mit Disziplin zu tun. Es dient dazu, den Geist auf das zu konzentrieren, was man tut.« Shiv schaute sich in der düsteren Felsbehausung um und runzelte die Stirn. »Kommt.« Er führte uns hinaus, und ich schauderte, als der Regen uns erneut mit voller Wucht traf. »Wo bist du, du alter Wahnsinniger?« Shiv verzog das Gesicht und starrte auf den Wasserfall. »Hier entlang.« Ryshad ging zum Seeufer und ein Stück daran entlang, doch er war noch nicht weit gekommen, da veränderten sich die Dinge mit erschreckender Geschwindigkeit. Es wurde immer kälter, und der Regen verwandelte sich erst in Schnee und dann in Hagel; gleichzeitig wehte von nirgendwo her ein Sturm heran und schleuderte uns die Eiskörner in die Gesichter. Ich schrie auf, als ein Hagelkorn so groß wie ein Ei meinen Arm traf; dann legte ich schützend die Arme über den Kopf. Wir rannten los, um in Azazirs alter Behausung Schutz zu suchen, doch bevor wir sie erreichen konnten, hörte der Hagel auf, und die Luft war wieder klar und sauber. Unsicher blickten wir einander an, und Wasser tropfte uns an Nase und Kinn herunter. Auf Ryshads Wange bildete sich ein großer blauer Fleck. Meine Haut begann wieder zu kribbeln, und die Haare auf meinem nackten Arm stellten sich auf, als ein seltsames Knistern die Luft erfüllte. Die grauen Wolken über uns wurden schwarz und quollen drohend zu uns herunter. 355
»Lauft!« Shivs Stimme riss uns aus unseren Gedanken, und wir erreichten die Höhle unmittelbar bevor der erste Blitz eine Fontäne aus Wasser und Schlamm in die Höhe schleuderte. »Azazir!« Shiv stand vor uns und hob protestierend die Arme. »Zeig dich, wenn du damit weitermachen willst! Wenn du mich auf die Probe stellen willst, dann fordere mich heraus, doch nur von Angesicht zu Angesicht! Komm heraus, und stell dich meiner Magie, wenn du dich traust!« Ryshad und ich blickten einander entsetzt an. In ein Kräftemessen zwischen zwei Zauberern zu geraten, erschien uns beiden als sicherer Weg, frühzeitig eine Passage auf Poldrions Fähre zu buchen. Es folgte ein Schweigen, das einen halben Tag zu dauern schien; doch ich vermute, in Wahrheit handelte es sich nur um ein paar Augenblicke, bevor die Luft ihre Spannung verlor und die Wolken sich zu ihrer üblichen Aufgabe zurückzogen, nämlich dem kübelweisen Ausschütten von Regen. Ich blickte zu Shiv und sah, dass er fasziniert auf den Wasserfall am Ende des Sees starrte. Eine unheimliche Freude leuchtete in seinen Augen, und seine Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln, während er staunend den Kopf schüttelte. Ich hatte ihn noch nie so losgelöst von allem Weltlichen erlebt, und das ängstigte mich mehr, als ich in Worte fassen kann. Ich leckte über meine plötzlich trockenen Lippen. »Was ist, Shiv? Ist da eine Höhle hinter dem Wasserfall? Ist er dort?« »O nein«, keuchte Shiv. »Siehst du es denn nicht? Es ist der Wasserfall.« Shiv rannte los und eilte das Ufer entlang, während wir drei anderen uns dumm anblickten und versuchten, dem Ganzen 356
einen Sinn zu entnehmen. Ich schüttelte den Kopf und war die Erste, die Shiv folgte, doch keiner von uns wagte sich allzu nahe an das tosende Wasser heran. Ich starrte in den Wasserfall und kniff die Augen zusammen. War etwas da drinnen, oder bildete ich mir das nur ein? Ein Fleck inmitten des reißenden Wassers schien sich nicht von der Stelle zu bewegen, sondern drehte sich offenbar endlos im Kreis. »Azazir!« Shiv sandte einen grünen Blitz in den Wasserfall, und was auch immer ich zu sehen geglaubt hatte, verschwand. Ich wollte mich gerade abwenden, als eine Gestalt aus dem Wasser stieg und über die Oberfläche auf uns zu kam. Zunächst war die Gestalt klar wie Wasser, doch je näher sie uns kam, desto deutlicher war sie als Mensch zu erkennen. Als sie schließlich das Ufer erreichte, sah ich einen nackten alten Mann, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Sein Haar und sein Bart waren eher farblos als weiß, seine Augen blass, sein Blick durchdringend und – so empfand ich es zumindest – wahnsinnig. »Wer bist du?« Die Stimme des uralten Magiers hallte im Einklang mit dem Rauschen des Wassers, und er starrte Shiv an, ohne zu blinzeln ... wie ein Fisch. »Ich bin Shiwalan, Eingeweihter der Seehalle, Adept von Wasser und Luft. Ich diene dem Großen Rat, und auf Befehl des Erzmagiers bin ich hier, um dir Fragen zu stellen.« Shivs Stimme klang ruhig und selbstbewusst. Azazir zuckte mit den Augenbrauen. »Wer ist jetzt Erzmagier?« »Planir der Schwarze«, antwortete Shiv. Azazirs plötzliches Lachen ließ uns alle zusammenzucken. 357
»Planir! Ich erinnere mich an ihn! Der Sohn eines Bergarbeiters aus den Gruben von Gidesta. Alles, was er besaß, war voller Kohlestaub, selbst die Narben an seinen Knien und den Knöcheln. Planir der Schwarze! Ich wette, die anderen Lehrlinge haben ihm diesen Namen gegeben, nachdem sie seine schmutzigen Kleider gesehen haben!« Er trat vom Wasser herunter, und ich beobachtete erleichtert, wie ihm der Kontakt mit der Erde ein wenig mehr Farbe verlieh. »Und was will Seine Eminenz von mir?« Er starrte Shiv mit seinen Fischaugen an. »Lasst uns das an einem bequemeren Ort besprechen.« Shiv wandte sich in Richtung Höhle, doch Azazir hockte sich schlicht in den Uferschlamm. »Ich finde es hier bequem.« Auf seinen Armen und seiner Brust sah ich ein Muster. Zuerst hielt ich es für Schuppen, doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich die gleiche Art Wabenbilder wie auf dem Stab. Einige waren ihm tätowiert, andere jedoch schlicht in die Haut geschnitten und vernarbt. Ich schauderte – nicht nur wegen des Regens und der Kälte. »Du bist in deiner Jugend übers Meer gereist«, begann Shiv zögernd. »Dabei hast du die Heimat eines Volkes von blonden Menschen entdeckt. Wir müssen alles wissen, was du uns über sie erzählen kannst.« Azazir drehte ein paar flache Steine um. »Warum sollte ich euch meine Geschichten erzählen? Damals hat mir niemand geglaubt. Warum sollte ich dem Rat jetzt helfen?« Er griff sich eine Hand voll Schnecken, stopfte sie sich in den Mund und aß sie mitsamt ihren Häusern. Aiten schnappte angewidert nach Luft und wandte sich ab. 358
»Diese Leute reisen durch Tormalin und Dalasor. Sie rauben und morden. Wir brauchen deine Hilfe.« Shiv bemühte sich, so gelassen wie möglich zu klingen. »Das hat nichts mit mir zu tun.« Azazir wühlte im Dreck, und plötzlich verlor ich die Geduld mit ihm. »Schön. Wenn du nicht daran interessiert bist, nachdem wir den ganzen weiten Weg hier raufgekommen sind und uns deine Tricks haben gefallen lassen, stopf dir ruhig den Bauch voll. Tu mir nur den Gefallen, und halte diesen Scheißregen lange genug auf, damit wir ein Feuer machen und uns etwas Warmes zu essen kochen können. Dann machen wir uns wieder auf den Weg, und du kannst so viele Schlammburgen bauen, wie du willst.« Azazir blickte mich an, und ich sah zum ersten Mal etwas Menschliches in seinen kalten, toten Augen. »Ich nehme an, wenn ihr nicht dumm genug wart, euch von der Magie umbringen zu lassen, lohnt es sich vielleicht, mit euch zu reden.« Er stand auf und ging zu den Überresten seiner Behausung. Je weiter er sich vom See entfernte, desto menschlicher wirkte er, und als wir schließlich die Höhle erreichten, zitterte er leicht. Im Innern erglühten die Wände in einem grünen Licht, als sie ihren Herrn erkannten. »Dürfen wir Feuer machen?«, fragte Aiten hungrig. Auf seinem Gesicht spiegelte sich unser aller Erleichterung wieder, als Azazir langsam nickte. »Der Schornstein ist blockiert.« Ich hielt Aiten auf, bevor er den Zunder benutzen konnte, und wir gingen hinaus, um den Schornstein von außen freizumachen. Als wir wieder zurückkehrten, hatte Ryshad bereits ein kleines Feuer entfacht und brach die Überreste der Tür auseinander, um sie neben dem 359
Herd zu trocknen. Azazir hatte sich Shivs Mantel um die Schultern geschlungen und war mit dem jungen Magier in ein Gespräch vertieft, der ihm ausführlich erklärte, was uns hierher geführt hatte. Wir aßen ein spärliches Mal, doch inzwischen hätte ich ein Vermögen für einen Teller heiße Suppe bezahlt, also beschwerte ich mich nicht. Selbst die Mulistute sah schon fröhlicher aus, als wir sie neben der Tür und einem Haufen frischen Grases festbanden. »Nun, kannst du uns etwas über deine Reise erzählen?«, fragte Shiv schließlich. Wir alle blickten den alten Zauberer erwartungsvoll an. Azazir legte das Kinn in die Hände, stützte die Ellbogen auf die knochigen Knie und starrte in die Vergangenheit. »Ich habe nach der verlorenen Kolonie gesucht«, begann er schließlich. »Ich bin in Tormalin geboren, und wir vergessen unsere Familien nicht, selbst wenn die Magiergeburt uns von der Pflicht dem Blut gegenüber befreit.« »Aus welcher Familie stammst du?«, fragte Ryshad und erntete für die Unterbrechung einen strengen Blick von Shiv. »Ich bin ein T’Aleonne.« Azazir lächelte ob der Erinnerung. »Ich war Azazir Junker T’Aleonne, Spross des Kristallbaumes.« Ich sah, dass Ryshad und Aiten diese Worte irgendetwas bedeuteten; ich jedoch hatte keine Ahnung. »Im alten Reich waren wir eine der mächtigsten Familien«, fuhr Azazir fort. »Wir besaßen Macht und Geld. Wir waren mit der Hälfte der Kaiser aus dem Haus Nemith verwandt und stammten von Haus Tarl ab. Wir hätten die Begründer der nächsten Dynastie sein können, doch mein Vorfahre war mit der Suche nach Ländern jenseits des Ozeans beschäftigt. Als Den Fallaemion mit seinen Schiffen nach Kel Ar’Ayen fuhr, 360
segelten wir mit ihm und halfen ihm, neue Reichsstädte jenseits des Meeres zu bauen. Meine Vorfahren saßen mit Nemith dem Seefahrer am Tisch und segelten mit ihm über das Meer. Wir sollten über die neuen Länder herrschen, denn es war unser Recht.« Zorn und Verachtung verzerrten das Gesicht des alten Mannes. »Nemith der Tollkühne, so haben ihn die Geschichtsschreiber genannt. Ich nehme an, Nemith der Geile ist diesen Arschkriechern zu ehrlich gewesen. Als sie auftauchten, die blonden Männer, die Eismenschen, sandten die Kolonisten eine Nachricht nach der anderen und riefen um Hilfe, doch es kam keine. Nemith der Letzte war zu sehr damit beschäftigt, das Reich in Brand zu stecken, um seine Gier nach Gold und Huren zu befriedigen. Er zog es vor, das Bergvolk in dem wahnsinnigen Versuch zu bekämpfen, Gidesta zu erobern. Ich wette, er war froh darüber, sich nicht einem Haus stellen zu müssen, das zehnmal mehr zum Herrschen geeignet war als sein eigenes. Meine Vorfahren taten, was sie konnten. Sie gaben jede Krone aus, die sie besaßen, doch es war zu spät. Die Kolonie war verloren; das Reich zerbrach, und meine Familie versank in Armut, während niedere Familien sich an den Trümmern von Tormalins Ruhm gütlich taten und fett wurden.« Azazir starrte säuerlich ins Feuer und brütete über das Unrecht, das seiner Familie vor zwanzig Generationen widerfahren war. »Du weißt, wo diese Kolonie liegt?«, hakte Shiv vorsichtig nach. »Wir hatten unsere Archive. Meine Familie hat viel verloren, doch unsere Geschichte haben wir bewahrt. Wir waren nicht wie der Abschaum, der nach uns kam und nur Straßenköter 361
unter seinen Vorfahren hatte.« Azazirs Stimme nahm einen entrüsteten Tonfall an. »Niemand glaubte uns. Die anderen Familien, die das Meer überquert hatten, waren längst verschwunden – und mit ihnen ihr Wissen. Meinen Vater bezeichnete man als senil und geistig verwirrt; man spottete über seine Bildung und seine Kenntnis der alten Geschichte. Ich wartete meine Zeit ab und beendete meine Ausbildung. Ich wusste, dass ich eines Tages das offene Meer wie meine Vorfahren würde überqueren können, um das zu beanspruchen, was sie mir hinterlassen hatten.« Er blickte uns der Reihe nach an, und seine Augen leuchteten mit der Überzeugung der wahrhaft Besessenen. »Ich bin dazu geboren, die Größe meiner Familie wiederherzustellen. Warum sonst bin ich Magier?« Wieder erfüllte Leid seine Stimme. »Ich dachte, Magier wären anders. Ich hielt sie für aufgeschlossen, doch sie werden genauso sehr von Eifersucht zerfressen wie der Rest der Menschheit. Niemand wollte mir helfen. Stattdessen arbeiteten alle gegen mich, dessen bin ich sicher. Niemand wollte, dass ich Erfolg hatte. Ich hätte der größte Magier meiner Generation werden können, hätten irgendwelche Kleingeister es mir nicht unmöglich gemacht. Ich hätte Erzmagier werden sollen, doch niemand verstand meine visionäre Kraft.« »Und du hast trotz alledem das Meer überquert?«, versuchte Shiv Azazir von seiner Tirade abzubringen – mit Erfolg. »Das habe ich!«, erklärte der alte Zauberer triumphierend. »Ich habe Jahre damit verbracht, die Meeresströmungen und die Geheimnisse der Tiefe zu studieren. Ich sprach mit den Fischen und den anderen Tieren der See, selbst mit den Drachen des Südmeeres. Sie lehrten mich ihre Geheimnisse, und schließlich 362
fand ich einen Lehrling, der den gleichen Weitblick besaß wie ich. Er gab seine Kraft zu der meinen, und gemeinsam überquerten wir den Ozean.« »Wer war er?«, fragte Shiv spontan. Azazir verzog das Gesicht. »Er nannte sich Viltred. Er kam mit mir, doch am Ende hat er die Nerven verloren. So wie die anderen besaß er kein Rückgrat, wenn es um echte Magie ging. Keiner von ihnen ist zu der Hingabe fähig, wie edles Blut es von seinen Söhnen verlangt.« Shiv warf mir einen reumütigen Blick zu, während wir darauf warteten, dass Azazir seine verbitterte Rede beendete. »Du hast also die Überquerung geschafft?«, gelang es Shiv zu fragen, als Azazir eine kurze Pause einlegte, um nachzudenken. »Das habe ich. Sie sagten, es sei unmöglich, aber ich habe bewiesen, dass ich Wellen und Sturm beherrschen konnte.« Der alte Zauberer straffte stolz die Schultern und hob das Kinn. »Kel Ar’Ayen erwies sich als ein Land von Inseln, die durch Kanäle und Sandbänke voneinander getrennt und vom offenen Meer umgeben sind. Diese Menschen, die Eismänner oder Elietimm, wie sie in der alten Sprache heißen, müssen sich wie die Kaninchen vermehrt haben. Sie waren überall und hatten das Land in eine fast vollkommene Ödnis verwandelt. Von den alten Tormalinstädten fand ich nicht die geringste Spur; alles war verloren. Ich fand nur diese Wilden mit ihren gelben Köpfen und fruchtbaren Lenden.« Der Kummer in seiner Stimme ließ Azazir fast menschlich klingen. »Wie konntest du so sicher sein, dass du wirklich Kel Ar’Ayen erreicht hattest?«, fragte Shiv vorsichtig. Azazir blickte ihn an. Erneut funkelte Zorn in seinen Augen. »Obwohl ihre Städte gefallen waren, habe ich Relikte unserer 363
Vorfahren entdeckt. Ich stellte mich dem Herrscher des Ortes vor, wo wir gelandet waren, und zu Anfang behandelte man uns als geehrte Gäste, wie es nur angemessen war. Zu den Schätzen seines Hauses gehörte Silber, Waffen und andere Wertgegenstände, die nur aus dem alten Reich stammen konnten. Seine Vorfahren müssen wie Wilde die Toten entweiht haben.« Der alte Zauberer zog den Mantel enger um die Schultern und starrte wieder ins Feuer. »Es dauerte nicht lange, da zeigte mir dieser Hund sein wahres Gesicht. Man gestattete uns nicht länger, unsere Gemächer zu verlassen, und als wir dagegen protestierten, drohte man uns an, uns in Ketten zu legen. Das hätte er nicht tun sollen. Ich bin kein Bauer, der sich vor dem Hahn auf dem Mist verbeugt. Er besaß nicht das Recht, mich festzusetzen, oder das Eigentum von Familien zu besitzen, deren Blut zehnmal edler war als das seiner eigenen! Mich sollte er nicht beleidigen – mich, der ich über dieses Land hätte herrschen sollen, während sein Volk unter der Knute leben und mir für ihr elendes Leben hätte danken sollen.« »Hast du irgendwelche Erbstücke mit nach Hause gebracht?« Ryshads Frage zeigte keinerlei Wirkung auf Azazir. Unbeeindruckt fuhr der alte Mann mit seiner Tirade fort. »Bei Relikten aus dem alten Reich kann man fast nie sicher sein. Die meisten sind nur Kopien«, erklärte ich laut und mischte genug Zweifel und Mitleid in meinen Tonfall, um den Alten zu ärgern und so seine Aufmerksamkeit zu erregen. Azazir schluckte den Köder. Er setzte sich auf und fixierte sich mit seinen kalten grünen Augen. »Du unwissende Schlampe. Was weißt du schon von solchen Dingen?« »Reg dich nicht auf, Großväterchen«, tröstete ich ihn. »Wenn 364
du gerne Schätze aus dem alten Reichs besitzen würdest, dann nennen wir sie eben so.« Azazir sprang fluchend auf und stapfte ins Zimmer hinter der verborgenen Steintür. »Was glaubst du eigentlich, was du hier machst?«, zischte mich Shiv an. Ich winkte ihm zu schweigen, als Azazir mit einem in Tuch gewickeltem Bündel zurückkehrte. Wo immer er das versteckt haben mochte, er hatte es gut versteckt, denn es war trocken und roch nach Konservierungsmitteln. »Falls einer von euch die Fähigkeit besitzen sollte, solche Dinge zu untersuchen, der möge ruhig mal einen Blick hier drauf werfen«, erklärte er hochmütig, während er das Bündel öffnete; dabei stellte sich das Tuch als Umhang heraus, dessen Schnitt und Farbe schon seit einer Generation aus der Mode war. Ich überließ Shiv das Fragen, während ich selbst mich daran machte, den Inhalt des Bündels zu untersuchen. Ryshad gesellte sich zu mir. Wir fanden Schmuckstücke, ein paar Waffen, einen Schreiberkasten und mehrere kleine, persönliche Gegenstände, die jenen ähnelten, mit denen Geris verschwunden war. »Was denkst du?« Ich hielt ein Maniküreset ins Licht. »Die stammen aus Tormalin, soviel steht fest, aus der Zeit des Reichsendes.« Ryshad strich mit den Fingern über das geprägte Wappen auf einem Pokal. »Das ist das Wappen der D’Alsennin. Das hier ist Den Rannion, und das hier, glaube ich, gehört zu einer Nebenlinie der Tor Priminale.« Mir sagte nichts davon etwas. »Was ist mit dieser verlorenen Kolonie?«, fragte ich ihn. Ryshad runzelte die Stirn. »Das ist alles ein wenig seltsam. Es gibt Geschichten über eine Kolonie, die Nemith der Seefahrer 365
gegründet haben soll; aber in allen Geschichten heißt es, sie sei in Gidesta entstanden, als das Reich versucht hat, sich nach Norden auszudehnen. Ich habe ein paar der Berichte darüber gelesen. Egal, was Azazir auch sagt, sie lag auf keinen Fall jenseits des Meeres auf irgendwelchen Inseln. In den Berichten ist von großen Wäldern die Rede, von reichen Gold- und Kupfervorkommen und von Flüssen, deren Ufer voller Edelsteine sind.« Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wieder zu finden, wäre wirklich der Mühe wert, allein um das Monopol der Aldabreshi zu brechen.« »Dem kann ich nur zustimmen.« Ryshad hockte sich mit einem Schwert in der Hand auf die Fersen. »Kann es wirklich möglich sein, dass all die Geschichten falsch waren?« »Was berichten sie über das Schicksal der Kolonie?« »Sie wurde vom Bergvolk überrannt. Damals waren sie in Gidesta noch viel weiter verbreitet, und sie haben das Reich zurückgetrieben. Nemith der Tollkühne hat ihnen Rache geschworen und eine Armee über den Dalas geschickt, doch das war ein Feldzug ohne richtiges Ziel. Nemith war so besessen davon, Gidesta zu erobern, dass er alles andere hat verkommen lassen. Das Reich ist zerfallen und alle Magie verschwunden, bis Trydek Hadrumal gegründet hat. Gidesta wiederum ist niemals von irgendjemandem erobert worden.« Ich dachte darüber nach. »Bist du schon einmal jemandem vom Bergvolk begegnet, Rysh?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. In der Regel kommen sie nicht nach Süden.« »Ich kenne zwei Brüder, die zum alten Bergvolk gehören. Sie stammen aus einem Tal nahe der Grenze zu Mandarkin.« 366
»Und?« »Sie sind kleiner als die meisten anderen Menschen. Der größere von beiden ist ungefähr so groß wie ich. Sorgrad besitzt sandfarbenes Haar, doch Sorgren ist viel heller; er ist fast so blond wie die geheimnisvollen Männer, die wir jagen. Was, wenn deine Historiker ein wenig verwirrt waren? Wenn sie Nemiths Kampf im Norden mit den Kämpfen jenseits des Meeres verwechselt haben? Wenn diese Kolonie wirklich so gründlich ausradiert wurde, wie Azazir sagt, ist wohl kaum jemand übrig geblieben, um die Aufzeichnungen zurechtzurücken.« Ryshad war offenbar nicht davon überzeugt. »Damit fischst du so ziemlich im Trüben, Livak. Wie auch immer, diese Inseln können unmöglich die Kolonie gewesen sein; dafür sind die Beschreibungen einfach zu unterschiedlich.« Ich wollte gerade etwas darauf erwidern, als irgendetwas in den Falten des Umhangs meine Aufmerksamkeit erregte. Es war ein langer dünner Dolch, der aus drei miteinander verbundenen Klingen bestand, um bösartige, dreieckige Wunden zu verursachen. »Was ist das?« Ich gab ihn Ryshad, der jedoch nur den Kopf schüttelte. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Aiten kam zu uns und schaute sich die Waffe an. »Wer immer sich das hier ausgedacht hat – er ist krank«, sagte er bewundernd. »Das ist keine Tormalinarbeit, und ich wette, dass auch das Bergvolk ihn nicht angefertigt hat.« Ich kramte weiter in Azazirs Schätzen und holte schließlich einen Krummdolch hervor. »Und was ist mit dem hier?« Ryshad zuckte mit den Schultern. »Zwei nicht zu identifizie367
rende Waffen haben nicht viel zu bedeuten.« Ein plötzlicher Aufruhr beendete unsere Diskussion. »Dann seid ihr also nur gekommen, um mich zu berauben?« Azazir sprang auf und funkelte Shiv an. »Nein, ich habe doch nur gefragt ...« »Ihr glaubt mir genauso wenig wie alle anderen. Ihr wollt nur den letzten Rest meines Vermögens plündern, um euch zu bereichern. Ich glaube nicht an irgendwelche fremden Eindringlinge. Ihr lügt. Ihr lügt wie alle anderen auch!« Shiv zuckte zusammen, als Azazir ihn mit seiner knochigen Hand ins Gesicht schlug. Der Mund des jungen Magiers füllte sich mit Blut, und er spuckte aus; dann presste er fluchend die Hand auf die blutende Nase. »Ich schwöre dir, dass wir es ehrlich meinen.« Ryshad griff unter sein Hemd und holte das Medaillon hervor. »Ich bin ein Lehnsmann von Messire D’Olbriot, und ich will mich an diesen Fremden für eine Beleidigung rächen, die sie seinem Blut zugefügt haben. Hier ist sein Wappen, mit dem er mir gestattet, mein Schwert in seinem Namen zu führen.« »D’Olbriot? Aus Zyoutessela? Sind sie so weit aufgestiegen?« »Messire D’Olbriot ist einer der engsten Berater des Kaisers«, erklärte Ryshad mit fester Stimme. »Wer ist jetzt Kaiser? Hat Tadriol es geschafft, seine Linie am Leben zu erhalten? Welchen von seinen Söhnen hat er ausgewählt?« Azazirs Zorn verschwand so rasch, wie er gekommen war. »Er hat Tadriol ausgewählt, den dritten Sohn von Tadriol dem Besonnenen. Bis jetzt hat es noch keine Akklamation gegeben; deshalb trägt er selbst noch keinen Titel.« Interessiert blickte ich Ryshad an. Wenn er im Voraus wuss368
te, wen die Tormalinfürsten letztendlich zu ihrem Herrscher wählen würden, konnten wir damit in den Spielhallen von Relshaz und ähnlichen Orten ein Vermögen verdienen. Ich beschloss, später einmal mit ihm darüber zu reden. Azazir war lange genug abgelenkt, dass Shiv sich wieder fassen konnte, und gemeinsam mit Ryshad gelang es ihm schließlich, den alten, verrückten Kerl wieder zu beruhigen. Allerdings war der Preis für Azazirs wiedergewonnene Freundlichkeit hoch: Wir mussten uns weitere Tiraden gegen alles und jeden anhören, der ihm je über den Weg gelaufen war, und alsbald wurde ich seiner Reden müde. Besonders dass er Frauen nur am Herd und im Bett sehen wollte, ärgerte mich, und so beschloss ich irgendwann, mich schlafen zu legen, wenn auch nur um der Versuchung zu entgehen, dem alten Bastard meine Meinung zu sagen. Ich genoss den Luxus trockener Decken neben einem warmen Feuer und versank schon bald in einem wunderbaren, traumlosen Nichts.
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Silbergasse, Inglis 19. Nachherbst
»Soweit es mich betrifft, ist meine Anwesenheit hier vollkommen sinnlos, besonders zwei Nächte in Folge«, knurrte Casuel und zog sich tiefer in seinen Fellmantel zurück. So gleichgültig wie die Sterne in dieser frostigen Nacht starrte Darni aufmerksam in die schmale Gasse ein Stück weit von ihrem Ausguck auf einem kleinen Balkon entfernt. »Oh, hör auf zu jammern, Cas. Sei nur bereit, einen Zauber über diese Tür zu legen, sobald ich es dir sage«, murmelte er, und in der kalten Luft bildete sein Atem kleine Wölkchen. »Du scheinst zu vergessen, dass ich mehrere gebrochene Rippen habe«, zischte Casuel. »Gebrochen? Wohl kaum«, erwiderte Darni knapp. »Vielleicht hast du sie dir ein wenig verstaucht. Hättest du sie dir gebrochen, würdest du schreiend auf dem Rücken liegen und nach Tahntee brüllen. Ich weiß das. Ich habe es schon durchgemacht.« Da eine weitere Diskussion über diesen Punkt offenbar sinnlos war, kauerte Casuel sich zusammen. Aber schließlich versuchte er es trotzdem noch einmal. »In dieser Eiseskälte hier oben zu hocken, wird allmählich äußerst unangenehm. Es ist schon nach Mitternacht, und ich bin müde und hungrig. Und hör auf, mich Cas zu nennen. Du weißt genau, dass ich das nicht mag.« »Ich würde sagen, ich habe mir das Recht verdient, dich zu nennen, wie es mir beliebt, wenn wir es auf Raeponins Waage 370
legen. Du hast dich immer noch nicht dafür bedankt, dass ich dich gerettet habe, weißt du das?« Darnis Grinsen reizte Casuel nur noch mehr. »Dann vielen Dank. Ich bin dir wirklich sehr, sehr dankbar; dessen kannst du sicher sein«, sagte er steif. »Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich nicht hier sein sollte. Dieser Apotheker hat gesagt, ich könnte innere Verletzungen davongetragen haben.« »Darüber mach dir keine Sorgen. Diese Fallensteller haben gewusst, was sie taten«, erklärte Darni gelangweilt. »Du pinkelst ja schließlich kein Blut, oder? Also hör jetzt endlich mit dem Jammern auf.« »Ich sollte im Bett liegen.« Entrüstet hob Casuel die Stimme. »Der Apotheker hat gesagt ...« »Sprich leise.« Darni funkelte Casuel drohend an. »Man hat dich doch versorgt, oder? Ich rate dir, deine Muskeln ein wenig zu trainieren; dann wird es deinen Rippen beim nächsten Mal besser gehen.« »Es wird kein nächstes Mal geben«, grummelte Casuel. »Ich würde sagen, das hängt davon ab, wie lange du für mich arbeiten wirst.« Kurz blitzten Darnis Zähne im schwachen Mondlicht auf. Unruhig rutschte Casuel auf seinem Beobachtungsposten hin und her und kniff die Backen bei dem fürchterlichen Gedanken zusammen, dass er noch einmal in solch eine Situation geraten könnte. Ein Blumentopf schlug leicht gegen das Geländer, einer von mehreren, die hier darauf warteten, im Frühling wieder bepflanzt zu werden. »Mach nicht so viel Lärm! Sitz still!«, knurrte Darni. Casuel steckte die Hände in den Mantel und tastete vorsich371
tig seine Rippen ab, bis ein plötzlicher Schmerz ihn nach Luft schnappen und die Hände zurückreißen ließ. »Ich verstehe immer noch nicht, was wir hier eigentlich tun. Seit gestern Abend sagst du, du würdest es mir gleich verraten, und ich warte immer noch.« »Ich brauche einen Magier, dem ich vertrauen kann, um diese Tür zu versiegeln«, erklärte Darni leise, ohne sich zu Casuel umzudrehen. »Die Jungs und Mädels hier vermuten vielleicht, dass ich sie in Stücke reißen werde, sollten sie versuchen, mich zu verarschen. Du weißt es.« Er kicherte böse und zwinkerte Casuel zu. »Ich finde das gar nicht lustig«, sagte der Magier verärgert. »Und du hast mir immer noch nicht gesagt, warum wir eigentlich hier sind.« Darni trat vorsichtig vom Balkongeländer zurück und rieb sich mit der Hand über den Bart, um die Feuchtigkeit abzuwischen, die sich dort in der kalten Nachtluft gesammelt hatte. »Der Laden da unten, der mit der grünen Tür, die du magisch versiegeln sollst, gehört einem Geldwechsler. Gestern Nachmittag hatte er Besuch von einer blonden halben Portion, die eine beachtliche Summe in Lescarimark gewechselt haben wollte.« »Also hat irgendjemand nicht tief genug in den Sack geguckt, als man ihn für irgendetwas bezahlt hat?«, schnaufte Casuel. »Dass jemand dumm genug ist, sich mehr als nur eine Hand voll Bleimünzen unterschieben zu lassen, ist zwar ungewöhnlich, das stimmt; aber das macht den Betreffenden kaum verdächtig.« Darni starrte ihn verwirrt an. »Hörst du eigentlich jemals einem anderem außer dir selbst zu? Du warst doch dabei, als Evern erklärt hat, der alte Geldsack sei nebenbei Antiquitäten372
händler, oder habe ich mir das nur eingebildet? Es sieht so aus, als besäße er einige von den Antiquitäten, die Planir haben will, und wir wissen, dass auch die Blondschöpfe hinter denen her sind. Also warten wir hier auf sie.« »Man hätte mir von der Sache mit den Tormalinartefakten erzählen sollen.« Casuel vergaß die Schmerzen in seiner Brust, als dieser Gedanke ihn von Neuem aufregte. »Ich weiß nicht, wie ich wirkungsvoll mit Usara zusammenarbeiten soll, wenn man mir nicht sagt, um was es geht.« »Ich würde eher sagen, je weniger du weißt, desto sicherer bist du«, erwiderte Darni abweisend. »Mit Lord Friern zum Beispiel bist du ja nicht weit gekommen.« »Woher weißt du davon?« Casuel starrte Darni wütend an. »Du kannst keinen Kontakt mit Usara aufgenommen haben. Du besitzt nicht das Talent dafür.« »Allin hat es mir erzählt.« Casuel beugte sich näher an Casuel heran, und der eitle Magier zog sich tiefer in seinen Mantel zurück. »Die Unterhaltung mit ihr war sehr aufschlussreich. Sie sagt, ihr wärt auch in Hanchet gewesen. Ich frage mich, wen ihr da getroffen habt.« Zu seinem Frust fehlten Casuel die Worte, und als die Balkontür sich mit leisem Knarren langsam öffnete, zuckte er unwillkürlich zusammen. »Bis jetzt ist nirgends jemand zu sehen.« Evern schlüpfte durch die halb offene Tür und hockte sich neben Darni. »Ich halte das Ganze für Zeitverschwendung.« »Der Kommandant der Stadtwache war da anderer Meinung«, erwiderte Darni in höflichem Tonfall. »Er hat uns Männern die Erlaubnis gegeben, im Notfall fünf Nächte lang hier Wache zu halten.« 373
»Dann glaubst du also wirklich, dass sie kommen?«, fragte Evern. »Ja.« Darni starrte wieder in die düstere Gasse. »Und sie werden uns zu dem führen, der Yeniya getötet hat?« »Ja.« »Bist du sicher?« »Ich würde es ihnen raten, oder sie sitzen einen Augenblick später in Poldrions Boot.« Finster starrte Darni auf die Tür. Casuel stieß ein unbehagliches Zischen aus und versuchte, durch Gewichtsverlagerung wieder Gefühl in seinen tauben Hintern zu bringen. Evern funkelte ihn an, doch bevor er etwas sagen konnte, verspannte sich Darni wie ein Jagdhund, der Beute gewittert hatte. »Cas, komm her«, befahl er und hob eine Laterne hoch. »Mach die an.« Das gelang Casuel erst beim zweiten Versuch. Seine Finger zitterten. »Mir ist zu kalt«, erklärte er. Darni und Evern ignorierten ihn; sie konzentrierten sich auf unauffällige Bewegungen auf der Straße unter ihnen. Mehrere Männer schlenderten gelassen an der Gosse entlang, und als sie eine Seitenstraße kreuzten, war kurz ein unbedeckter blonder Kopf zu sehen. »Da!« Evern deutete auf ein kurz aufblitzendes Licht in einem weit entfernten Fenster. Darni grunzte und öffnete zur Antwort kurz die Blende seiner eigenen Laterne. Casuel versuchte zu sehen, was da vor sich ging. »Entschuldigung.« Verärgert zupfte er Evern am Ärmel. Evern ignorierte ihn abermals, rutschte aber Richtung Fenster. »Ich bin bei den Milizionären.« Darni nickte, während er unverwandt weiter in die Dunkel374
heit der Gasse blickte. »Cas, mach dich bereit«, befahl er. »Sie sind vorbeigegangen«, wandte Casuel ein. »Sie ...« Er schwieg, als Darni warnend die Hand hob. »Tu einfach, was ich dir sage.« Casuel presste die Lippen aufeinander und spähte durch das Geländer zur Tür, die inzwischen nur noch als dunkler Fleck in einer grauen Wand zu erkennen war. Er wirkte einen kleinen Zauber, um besser sehen zu können, und gestand sich widerwillig ein, dass er tatsächlich ein wenig Angst vor den Konsequenzen hatte, sollte er versagen und Darnis Befehl nicht erfüllen. Als er schattenhafte Bewegungen bemerkte, griff er verzweifelt zur Erde hinunter, aus der er seine Macht bezog, und sandte den magiegeborenen Teil seines Wesens in und über die schmale Straße. Die Berührung von Erde und Stein beruhigte ihn und stellte sein verletztes Selbstbewusstsein wieder her. Seine Augen wurden glasig, während er sich um die steinerne Türstufe herumtastete, die Macht in das umgebende Mauerwerk fließen ließ und all seine Magie sammelte, um für Darnis Befehl bereit zu sein. Schritte hallten durch Casuels Geist, als Stiefel vorsichtig das Pflaster überquerten und dann stehen blieben. Zu beiden Seiten der Tür hatten sich Männer postiert. Ein weiterer beugte sich zum Türschloss vor, und ein seltsamer Schauder durchfuhr Casuels Sinne, als die Tür lautlos und ohne Schlüssel oder Dietrich geöffnet wurde. Stiefel traten rasch hinein. Weitere folgten. Eisenbeschlagene Sohlen schlugen Funken in Casuels Magie, während sie rasch die Straße überquerten und ohne zu zögern das Haus betraten. »Jetzt.« Darni packte Casuel mit aller Kraft am Arm, und der Magier löste den Zauber wortlos aus. Er befahl dem Stein, ihm 375
zu gehorchen, befahl ihm, sich leise in das Holz der Tür und Fensterläden zu krallen und eine Verbindung damit einzugehen, die keine gewöhnliche Kraft zu brechen vermochte. Dann ließ Casuel seine Magie tief in das Holz eindringen und machte es so hart wie Stein. »Komm.« Darni sprang auf. »Nein. Ich warte lieber ...« Casuel konnte den Satz nicht mehr beenden. Erschrocken schnappte er nach Luft, als Darni ihn grob in die Höhe riss und durch die Tür in Richtung Treppe stieß. »Lauf!« Für einen Mann seiner kräftigen Statur bewegte Darni sich überraschend leichtfüßig. Casuel zögerte einen Augenblick; dann eilte er Darni hinterher. Er fürchtete sich weit mehr vor den Gefahren, die in den dunklen Straßen auf ihn lauerten, als vor dem, was ihn in dem Haus erwartete. Schließlich könnte er sich dort drinnen hinter Darni verstecken. Evern gesellte sich zu ihnen, und Casuel sah, wie sich das Licht von Laternen auf Harnischen spiegelte, als Milizionäre ihre Mäntel zurückschlugen, um besser laufen zu können. Ein Trupp versammelte sich vor der Tür, während von innen ein Hämmern zu hören war. »Cas, mach dem Lärm ein Ende«, befahl Darni sofort. Casuel machte sich an der Luft zu schaffen. Ein blauer Blitz zuckte aus seinen Fingern, und der Lärm verstummte. Erleichtert atmete er tief durch ... und verzog das Gesicht ob des stechenden Schmerzes in seiner Brust. Darni nickte Evern zu. »Siehst du? Magier sind doch zu etwas nutze.« »Du«, Evern deutete auf einen Wachmann und dann zu ei376
nem Fenster, hinter dem ein gelbes Licht zu sehen war, »sag ihm, er soll wieder schlafen gehen, wer immer das gewesen sein mag. Wir haben alles unter Kontrolle.« »Haben wir das?«, verlangte Darni zu wissen. Evern hob eine silberne Trillerpfeife und blies mehrmals kurz hinein. Zur Antwort hallten andere Pfiffe über die Dächer, und Casuel sah, wie eine weitere Kerze ein Stück die Straße hinunter sofort gelöscht wurde. »Alles bereit«, erklärte Evern. »Dann lass uns reingehen.« Darni blickte erwartungsvoll zu Casuel, der zitternd die Hand auf die Tür legte. Die Magie vibrierte unter seinen Fingern, und die Tür schwang auf seinen Befehl hin auf. Ein dumpfer Knall war zu hören, als sie gegen denjenigen schlug, der von innen auf sie eingehämmert hatte, und die Milizionäre stürmten wie eine gepanzerte Büffelherde ins Innere. Darni zog einen schimmernden Dolch und blieb auf der Schwelle stehen, um Evern den Weg zu versperren. »Wir werden das auf meine Art erledigen«, warnte er, bevor er den Arm hob. »Cas, bleib hinter mir.« »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber hier draußen warten«, beeilte sich Casuel zu erwidern. »Es macht mir aber etwas aus. Du gehst jetzt da rein, und machst uns Licht.« Darni funkelte ihn an. Casuel biss sich auf die Lippe und schlurfte zögernd hinter Darni her; dann betraten sie gemeinsam das Haus. Casuel zuckte unwillkürlich zusammen, als er das Geräusch von Fäusten vernahm, die auf Fleisch schlugen, und das Grunzen, wenn ein Hieb überraschend auf eine Rüstung traf. Ein rascher Zauber reichte aus, um den Raum mit blauem Magierlicht zu erhellen, und Casuel blieb im Eingang stehen. In Erwartung weiterer 377
Gewalt drehte sich ihm jetzt schon der Magen um. Nun sah er, was hier vor sich ging. Die Milizionäre versuchten, die Möchtegerndiebe mit geübter Brutalität niederzuringen. Zwei der Übeltäter lagen bereits auf dem Boden und wurden gefesselt. Casuel schrie entsetzt auf, als ein blondhaariger Jüngling zu Boden geprügelt wurde; Blut strömte dem jungen Kerl übers Gesicht. Dann ging ein weiterer unter einem Hagel von Schlägen zu Boden. Verzweifelt versuchte er, unter einen Tisch zu kriechen, doch er wurde herausgezogen und unter einem Berg von Brustharnischen begraben. Casuel verzog das Gesicht und biss sich auf die Lippe. Die Ähnlichkeit der Einbrecher zu dem Mann, den er in Hanchet getroffen hatte, war frappierend, doch über diese Reise wollte er mit Darni nun wirklich nicht reden. Egal, jetzt war das ohnehin nicht mehr von Bedeutung, oder? »Vorsichtig!«, knurrte Darni. »Wir wollen noch mit ihnen reden können!« Einer der Fremden bewies, das zumindest er dazu noch in der Lage war, auch wenn er nur unverständliches Zeug plapperte. Einen Stuhl in der Hand versuchte er fluchend, drei Milizionäre abzuwehren. Sie stürzten sich auf ihn, doch er war schneller und schickte einen von ihnen mit einem Schlag ins Gesicht auf die Knie. Ein Tritt vor das Kinn des Mannes ließ diesen blutspuckend nach hinten in die Beine seiner Kameraden fallen. Darni bewegte sich gerade vorsichtig zur Flanke des Einbrechers, als Casuel von einem silbernen Blitz erschreckt wurde; ein Wurfmesser flog dicht an seinem Ohr vorbei und bohrte sich in die Kehle des kampflustigen Einbrechers. Dieser sank mit einem Schrei auf die Knie, doch bald konnte er nur noch würgen, während Blut aus seinem Mund rann. Er wankte und 378
griff sich verzweifelt an den Hals, ohne auf die Schnitte zu achten, die er sich bei dem Versuch zuzog, die Klinge herauszuziehen. Als er aufzustehen versuchte, rutschte er auf seinem eigenen Blut aus. Darni sprang vor, packte den Mann am Haar, riss den Kopf des Unglücklichen zurück und schnitt ihm die Kehle fast bis zum Genick durch. Wie eine Puppe, der man die Fäden durchtrennt hatte, brach der Mann zusammen, und überall verteilte sich Blut. »Wir brauchen sie lebend, du dummer Hund!«, brüllte Darni Evern an. »Mach doch, was du willst. Ich nehme keine Befehle von dir entgegen«, fauchte Evern. »Sieh dir doch nur an, was er mit Yarl gemacht hat.« Darni verschwendete keinen Blick an den verletzten Milizionär, der soeben von seinen Kameraden aus dem Haus gebracht wurde. »Wir brauchen sie lebend, damit sie Fragen beantworten können. Mach so etwas noch einmal, und ich bringe dich eigenhändig um.« Kurz herrschte Stille, während jeder auf Darni und Evern blickte. Casuel schlug verzweifelt die Hände vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen; er wusste, wie sehr seine Rippen ihn schmerzen würde. Evern senkte den Blick als Erster und wandte sich den Gefangenen zu, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. »Nun, dann lass uns auch Fragen stellen«, forderte er. Vorsichtig ging Darni um die Blutlache herum, die sich unter dem Leichnam bildete, und begutachtete die Arbeit der Stadtwache. Der jüngste Gefangene hing schlaff in seinen Fesseln; nur der kräftige Wachmann, der ihn an die Wand drückte, hielt 379
ihn aufrecht. »Wie heißt du?« Darni wedelte mit der Hand vor dem blassen Gesicht des Jungen. »Der ist nicht bei uns. Seht euch doch nur mal seine Augen an«, sagte er angewidert. »Ihr Jungs geht ein wenig grob zu Werke.« Der nächste Mann musterte Darni misstrauisch. Als der Söldner ihn ansprach, stieß er einen Schwall harscher Laute aus. Die anderen beiden Gefangenen versteiften sich daraufhin; ihre Mienen verhärteten sich. Darni brachte den Mann mit einem Schlag ins Gesicht zum Schweigen; doch selbst Casuel konnte die neugewonnene Entschlossenheit in den hellen Gesichtern der Fremden erkennen, als sie auf ihren gefallenen Kameraden blickten, der in seinem eigenen Blut lag. »Wenn ihr uns sagt, was wir wissen wollen, werden wir euch gut behandeln«, verkündete Darni mit lauter Stimme und trat einen Schritt zurück, um die Gefangenen der Reihe nach anzublicken. »Schweigt, und euch stehen schlimme Zeiten bevor.« Casuel betrachtete die blonden Männer und fragte sich, was jetzt wohl geschehen würde; er hoffte nur, dass es nicht allzu schmutzig wurde. Die Stille wurde nur von schwerem Atmen und dem Klimpern und Knarren der Harnische durchbrochen, wenn die Wachleute ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerten. Die Gefangenen erwiderten Darnis Blick und schwiegen trotzig. Darni schüttelte den Kopf und kehrte ihnen den Rücken zu. Er blickte zu Evern, hob die Augenbrauen und legte den Kopf ein Stück zurück. Evern runzelte die Stirn; dann nickte er bedächtig. »Na gut, dann muss Cas hier wohl seine Magie anwenden, um das Innere ihrer Köpfe für uns nach außen zu kehren«, be380
merkte Darni in beiläufigem Tonfall. »Mir wäre es zwar lieber, wenn sie Vernunft beweisen würden, aber hinterher können wir ihnen ja immer noch die Kehlen durchschneiden.« Casuel öffnete den Mund, um zu erklären, dass so etwas unmöglich sei, doch Evern trat ihm auf den Fuß. »Der da. Der Rechte.« Evern trat vor und funkelte den Mann mit loderndem Hass an. »Er hat geblinzelt, und die beiden anderen haben zu ihm geblickt.« »Stimmt.« Darni baute sich vor dem Mann auf. Sein Bart berührte fast die Nase des kleineren Mannes, während er langsam die blutige Klinge am Wams des Gefangenen abwischte, erst die eine Seite, dann die andere. Schließlich hob Darni die Waffe und grinste böse. »Das wird dir viel mehr wehtun als mir, Junge.« »Was hast du vor?«, fragte Casuel mit zitternder Stimme und starrte mit Abscheu und Faszination auf die funkelnde Klinge. »Nur, was wir tun müssen – genug, um unseren Freund zum Reden zu bringen.« Darni schob die Klinge hinter das Ohr des Mannes. »Weißt du, es gibt viele Einzelteile, die ein Mann nicht unbedingt braucht, zumindest nicht zum Reden.« Ein dünnes Blutrinnsal floss an der Klinge herunter, und Casuel stürzte zur Tür hinaus. Verzweifelt schnappte er nach Luft, während sein Magen rebellierte. Ein Schrei aus dem Innern des Hauses erschreckte ihn, und rasch wob er die Luft zusammen und verstopfte sich mit der Magie die Ohren; dann schloss er die Augen. »Wie konnte ich mich nur in so etwas hineinziehen lassen?«, stöhnte er. Keine Anerkennung und kein noch so hoher Aufstieg in der Magierhierarchie waren das hier wert, nicht einmal ein Sitz im Rat. 381
Nach und nach fand Casuel einen Teil seiner Beherrschung wieder, und zitternd vor Kälte und Anspannung lehnte er sich erschöpft gegen die Hauswand. Schwach und wie aus weiter Ferne drangen sechs Glockenschläge zu ihm durch, und er fragte sich, ob er jetzt wohl ins Bett gehen sollte. Besser nicht, entschied er widerwillig. Dies schien kein guter Zeitpunkt zu sein, Darni zu verärgern. »Also dann.« Als er plötzlich eine Hand auf der Schulter spürte, hätte Casuel sich beinahe in die Hose gemacht, doch gerade noch rechtzeitig erkannte er, dass es einer der Milizionäre war. Einen Augenblick später erschienen auch die anderen mit den gekrümmt laufenden Gefangenen im Schlepptau. »Da bist du ja, Cas. Hier. Ein Souvenir.« Darni erschien in der Tür und warf Casuel einen blutigen Fleischklumpen zu. Angewidert stolperte Casuel zurück und stieß einen leisen Schrei aus, als er ein menschliches Ohr erkannte. »Du ... hast doch nicht ...?«, keuchte er. »Nein, habe ich nicht.« Darni hob das Ohr auf und warf es wieder ins Haus zurück. »Tut mir Leid, aber ich konnte einfach nicht widerstehen – nicht, nachdem ich dein Gesicht da drinnen gesehen habe.« Er grinste fröhlich. »Dann ... dann ...«, stammelte Casuel, als Evern das Haus verließ, gefolgt von einem Milizionär, der den letzten, bewusstlosen Gefangenen über der Schulter trug. »Wir haben ihn ins Hinterzimmer gebracht und ihm gesagt, wir würden seine Kameraden nach und nach in Stücke schneiden, wenn er nicht redet.« Darni wischte sich zufrieden die Hände an einem ekelhaft fleckigen Handtuch ab. »Sie alle haben ziemlich überzeugend geschrien, nachdem wir uns erst mal 382
ihre Eier vorgenommen haben. Dann haben wir ein paar Stücke von dem Toten abgeschnitten und sie dem Kerl im Hinterzimmer gezeigt.« »Du bist wirklich ein hinterhältiger Bastard«, sagte Evern mit einer Mischung aus Bewunderung, Respekt und Furcht. »Der Schlimmste von allen«, erwiderte Darni in freundlichem Tonfall. »Komm, Cas. Lass uns nach Hause gehen.« Casuel stolperte Darni hinterher, als dieser sich eiligen Schrittes auf den Weg durch die stillen Straßen machte. Casuel wollte ihn fragen, wie er solche Dinge tun konnte, wagte es aber nicht. Eine verschlafen dreinblickende Hausdienerin ließ sie in die Luzerne, und als der Schein ihrer Kerze das Blut auf Darni enthüllte, kreischte sie entsetzt. »Mach dir keine Sorgen, meine Süße. Das ist nicht mein Blut.« Darni lächelte auf die Frau herab, und sie wich ängstlich vor ihm zurück. »Gibt’s noch was zu essen? Ich habe heute Nacht sehr viel gearbeitet.« Stumm knickste die Dienerin und zündete einen Kerzenleuchter auf dem Tisch an, bevor sie in Richtung Küche davonhuschte. »Du hast Hunger?« Casuel konnte es nicht glauben. Er schlang die Arme um seinen schmerzenden Brustkorb und sehnte sich nach seinem Bett. »Also gut. Was hast du herausgefunden?« Darni winkte ihm zu schweigen, als die Dienerin mit einem gut gefüllten Tablett zurückkehrte. »Danke, meine Süße. Hier. Kauf dir eine hübsche Haarschleife. Wir nehmen das mit nach oben.« Casuel ging mit dem Kerzenleuchter voran und wartete mit 383
wachsender Verärgerung, während Darni an einem Stück kalten Fasans kaute, das vor Soße troff. »Darf ich jetzt ins Bett gehen?«, fragte Casuel schließlich. Darni schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Ich brauche dich noch, um mit Usara oder Otrick zu sprechen«, antwortete, ein Stück Brot im Mund. »Nicht heute Nacht!«, stöhnte Casuel. »Was hast du ihnen überhaupt zu sagen?« »Diese Weißgesichter stammen von irgendwelchen Inseln, die irgendwo weit draußen im Meer liegen.« Darni blickte von seinem Essen auf. »Was hältst du davon?« Casuel setzte sich und griff nach einem Becher Wein. »Ich halte das für sehr interessant«, antwortete er. »Warum?« Darni blickte ihn scharf an. »Ich habe ein paar seltsame Passagen in den Schriften gefunden, die ich studiert habe. Wenn es tatsächlich Land jenseits des Meeres gibt, würden sie einen Sinn ergeben.« Casuel schaute sich nach seinen Büchern um. »Nun, soweit es mich betrifft, ist nur eines wichtig: Wir haben eine erste Spur, die uns vielleicht an den Ort führen könnte, an den man Geris gebracht hat.« Darni biss ein Stück aus dem Fasan heraus. »O ja.« Casuel wirkte nachdenklich. »Hat er gesagt, was genau sie hier tun?« Darni schüttelte den Kopf. »Nein, nur dass sie Tormalinantiquitäten suchen und stehlen. Er hat es allerdings als ›Rückführung‹ bezeichnet und ständig irgendwas von irgendwelchen Erbfeinden gefaselt.« »Die Männer, mit denen Shiwalan und das Mädchen losgezogen sind ... Du hast gesagt, es seien Lehnsmänner von Mess384
ire D’Olbriot, nicht wahr?« Casuel holte eine Landkarte, entrollte sie auf dem Tisch und zog die Kerzen näher heran. »Und?« Darni schob das Tablett beiseite, seufzte zufrieden und schenkte sich noch ein wenig Wein nach. »Nun, er hat großes Interesse an der Sache. Und wichtiger noch: Er ist ein Fürst mit Interessen an der gesamten Meeresküste.« Casuel blickte von der Karte auf. »Er könnte uns ein Schiff besorgen.« Darni schaute ihn einen Augenblick lang an; dann brach er in lautes Lachen aus. Casuel biss die Zähne zusammen und wünschte sich, Darni irgendwann dieses blöde Grinsen aus dem Gesicht prügeln zu können. »Nein, hör zu.« Casuel versuchte, seinen Zorn zu verbergen. »Natürlich werden wir Usara alles erzählen; aber was auch immer sie in Hadrumal sagen werden, du brauchst ein Schiff, wenn du diesen Jungen, diesen Geris, holen willst. Je schneller wir ein Schiff beschaffen, desto besser.« Und desto größer waren seine eigenen Chancen, Usaras Aufmerksamkeit zu erregen – und vielleicht sogar Planirs, fügte Casuel in Gedanken hinzu. Er brauchte etwas, das er seinen bisherigen, mehr als bescheidenen Ergebnissen hinzufügen konnte. Außerdem würden sich auch gewisse Vorteile daraus ergeben, einem solch mächtigen Herrn wie Messire D’Olbriot zu dienen. Darni schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte nicht mehr Leute in die Sache mit hineinziehen als unbedingt nötig. Außerdem würden wir den besten Teil der Jahreszeit verlieren, wenn wir bis nach Zyoutessela gehen würden.« Casuel schob Darni die Karte unter die Nase. »Den Vorwinter verbringen sämtliche Fürsten in Toremal. Dort werden wichtige 385
politische Fragen entschieden. Andere Dinge sind dann ja bereits erledigt. Die Ernte ist eingebracht, und Seehandel ist im Winter unmöglich. Wenn wir nach Bremilayne kommen, können wir durch den kaiserlichen Kurierdienst eine Nachricht überbringen lassen. Die Kerle schaffen 50 Meilen am Tag; nach nur vier Tagen werden wir bereits Antwort haben.« Darni betrachtete die Karte. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er noch immer nicht überzeugt war. »Ich weiß nicht, warum ein kaiserlicher Kurier einen Brief von mir annehmen sollte, Planirs Siegel hin oder her.« »Ich kann ihn abschicken.« Casuel hob seinen eigenen Siegelring. »Mein Vater zahlt genug Münzsteuer.« Darni lehnte sich zurück und nippte an seinem Wein. »Ich vergesse immer wieder, dass du in Tormalin geboren bist«, bemerkte er, rieb sich den Bart und blickte nachdenklich auf die Kerzen. »Nach dem zu urteilen, was du gesagt hast, ist Messire D’Olbriot bereits in die Sache verwickelt. Da war doch der Angriff auf seinen Neffen oder wen auch immer«, fuhr Casuel fort. »Planir würde ohnehin zu gegebener Zeit Kontakt mit ihm aufnehmen, wenn seine Leute mit Shiwalan zusammenarbeiten.« Darni schüttelte den Kopf und lachte leise. »Du bist so durchschaubar wie Tormalinglas, weißt du das, Cas? Na schön, tun wir’s.« Casuel schwieg. Für einen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte; dann: »Ist das dein Ernst?« Darni leerte seinen Becher. »Evern hat schon gesagt, dass wir so spät im Jahr hier oben kein Schiff mehr bekommen. Gut. Jetzt kannst du zu Bett gehen. Morgen früh berichten wir als Erstes Usara, was wir vorhaben. Einen Versuch ist es wert.« 386
Azazirs See 20. Nachherbst
Ich wusste nicht, ob Shiv beim Feuer Magie benutzt hatte, doch als ich am folgenden Morgen erwachte, brannte es immer noch, angeheizt mit Torf. Ryshad, Shiv und Aiten schnarchten noch. Von Azazir war keine Spur zu sehen. Ich stocherte im Feuer herum, um es zu neuem Leben zu entfachen, legte Holz nach und ging dann mit einem Eimer los, um Wasser zu holen. Der Muli begrüßte mich mit der gleichen Zuneigung, die er jedem gegenüber zeigte; dann hörte ich ein Wiehern weiter das Ufer hinunter – das waren Winterapfel und die anderen Pferde, die sich am trocknenden Gras gütlich taten. Azazir hatte eindeutig nicht alles vergessen, was er einst über das normale Leben gewusst hatte, denn die Pferde waren abgesattelt und gestriegelt worden. Sättel und Zaumzeug lagen neben der Tür. Ich überprüfte sie rasch. Alles war intakt, wenn auch verkratzt und schmutzig. Azazir musste die Tiere mit seiner Magie gefangen haben, als sie in Panik vor dem Nebel geflohen waren. Das waren gute Neuigkeiten. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass die Pferde sich inzwischen schon auf halbem Weg zum Dalas befanden. Unsicher blickte ich auf den See und fragte mich, ob man das Wasser daraus trinken konnte. In diesem Augenblick trat Shiv aus Azazirs Höhle, gähnte und reckte sich. »Wo ist Azazir?«, fragte ich. Shiv schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Er ist kurz nach Mitternacht gegangen. Ich nehme an, er ist wieder irgendwo im 387
Wasser.« Er schauderte, jedoch nicht vor Kälte. »Ich habe schon von Magiern gehört, die von ihrem Element besessen waren, aber ich habe mir nie richtig vorstellen können, was das bedeutet. Tu mir einen Gefallen, Livak: Solltest du je den Eindruck haben, dass ich mich in diese Richtung entwickle, stoß mir einen von deinen Dolchen in den Leib.« Er starrte auf den Wasserfall, und sein Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. »Nun, was hast du sonst noch über diese Eismänner erfahren?«, fragte ich in barschem Tonfall. Mir gefiel die Angst in Shivs Augen nicht. »Was? Oh, ich nehme an, mit ein paar weiteren Nachforschungen wird der Rat diese Inseln finden können. Nach dem, was Azazir erzählt hat, können wir ziemlich sicher sein, woher diese Blonden kommen. Ryshad scheint zu glauben, dass die Vorfahren mehrerer Familien, die in Tormalin angegriffen worden sind, irgendwie am Aufbau der Kolonie des Seefahrers beteiligt waren; es gibt also eine Verbindung. Allerdings bin ich nicht sicher, was das für uns bedeutet.« »Wird der Rat etwas unternehmen? Und was ist mit Geris?« Shivs Antwort ging in einem lauten Rauschen unter, als Azazir vor uns aus dem Wasser sprang. Sein nackter Körper wirkte wieder blass und unirdisch, und in seinen Augen funkelte wahnsinniger Zorn. »Habt ihr mich angelogen, oder seid ihr einfach nur dumm?«, zischte er. »Ihr behauptet diese Männer zu verfolgen, doch ich sehe, dass sie euch jagen! Haltet ihr mich für einen Narren?« »Was? Zeig sie mir!« Shiv webte ein Netz der Macht, und der See zu seinen Füßen begann zu kochen. Ich rannte zur Höhle 388
und trat Ryshad gegen die Füße. »Wach auf. Wir kriegen Gesellschaft!« Während die anderen nach ihren Stiefeln, Kleidern und Schwertern griffen, rannte ich zu Shiv zurück. Er blickte in eine Pfütze aus Seewasser, und Azazir fügte sein eigenes smaragdgrünes Licht dem Zauber hinzu, was die Tiefe und Klarheit des Bildes unglaublich steigerte. Schließlich waren wir alle um die Pfütze versammelt und beobachteten, wie auf der Scheibe verzauberten Seewassers die nun vertrauten blonden Köpfe erschienen, die sich durch das Dickicht des Waldes kämpften. »Woher wussten sie, wo wir sind?« Ich runzelte die Stirn. »Was ist, wenn sie Darni geschnappt haben? Hätte er es ihnen verraten?« Shiv schüttelte den Kopf. »Er wäre eher gestorben.« Das konnte ich glauben; allerdings hoffte ich trotz meiner Differenzen mit Darni, dass es nicht dazu gekommen war. »Ich würde eher sagen, sie jagen Azazir«, bemerkte Ryshad ein paar Augenblicke später. »Sie müssen hinter den Tormalinartefakten her sein, die er ihnen gestohlen hat.« »Warum ausgerechnet jetzt, nach so vielen Jahren?«, fragte ich. Die Geheimnisse hinter dieser Angelegenheit ließen mich zunehmend verzweifeln. »Warum genau in diesem Augenblick, wo auch wir hier sind?« Niemand wusste eine Antwort auf diese Frage, während wir den heranrückenden Feind beobachteten. Der Hauptunterschied zwischen ihnen und uns war, dass sie einen direkteren Weg einschlugen als wir. Immer wieder kreuzten sie unsere Spur, aber sie sahen sich noch nicht einmal um, sondern gingen zielstrebig weiter. 389
»Noch mehr Magie«, murmelte Ryshad. »Nicht, dass ich sie fühlen könnte.« Azazir starrte auf das Bild, das Gesicht hart und misstrauisch. »Lasst uns mal sehen, wie sie mit meiner Verteidigung zurechtkommen.« Wir sahen, wie der Feind von immer dichterem Dornengestrüpp, Wurzeln und niedrig hängenden Ästen verlangsamt wurde. Zwar konnten wir nicht hören, was sie sagten, aber ich möchte wetten, dass sie nicht gerade schmeichlerische Worte für die Landschaft fanden. »Warte mal einen Augenblick.« Shiv hob die Hand, um Azazirs Angriff aufzuhalten. Einer der Elietimm – ich nehme an, wir konnten sie jetzt so nennen – hob die Hand und schien etwas zu singen, wobei er übertrieben den Mund bewegte. Mein eigener Mund klappte auf, als wir sahen, wie das Dickicht sich vor ihnen teilte, um ihnen den Weg freizumachen. »Was war das?« Azazir war sichtlich verwirrt. »Meinen Zauber hat es nicht berührt; das war kein Gegenzauber. Irgendwie hat er direkt Kontakt mit den Pflanzen aufgenommen.« Entrüstung zeigte sich auf seinem Gesicht. »Mal sehen, wie ihm das gefällt.« Während der wahnsinnige alte Zauberer den Angreifern mehr und mehr Hindernisse in den Weg legte, studierte ich die kleinen Gestalten im Bild. Der singende Mann war genau wie die anderen gekleidet; er trug ein Kettenhemd über schwarzem Leder und hielt ein Schwert in der Hand. Offenbar wurde seine Magie nicht von Metall behindert. »Ryshad, wie waren die Männer gekleidet, die du jagst?« »Meist trugen sie Kleidung aus der Gegend. Wir haben he390
rausgefunden, dass sie die Sachen aus Wäschereien und dergleichen stahlen.« Stirnrunzelnd betrachtete er das Bild. »Was war mit denen, die hinter euch her waren?« »Die in Inglis trugen Leder wie die hier, aber die in Dalasor waren in einfaches, altes Leinen gekleidet.« »Dann suchen wir vielleicht mehr als nur einen Trupp. Wie können sie so schnell von einem Ort an den anderen gelangen?« Ich dachte noch immer über eine Antwort darauf nach, als uns ein Schrei Aitens von Shivs Zauber ablenkte. Aiten hatte das Seeufer im Auge behalten, während wir anderen die Angreifer studierten. »Da drüben!« Ich folgte seinem ausgestreckten Arm auf die andere Seite des Wassers. Ein entschlossener Trupp braun gewandeter Männer hielt genau auf uns zu. Ihre Kleider waren aus schlichtem Leinen, doch ihre Schwerter funkelten im Sonnenschein, und ihre Schöpfe waren – welch eine Überraschung – blond. Ein Schrei hallte über den See, und ich sah einen weiteren ähnlichen Trupp den See auf der anderen Seite umrunden. Azazir und Shiv lösten ihren Zauber auf und wandten sich gegen die neue Bedrohung, während Aiten und Ryshad Seite an Seite und mit gezückten Schwertern vorrückten. Grünes Feuer aus Azazirs Händen schoss über das Wasser; als es auf zwei Angreifer traf, erstarrten diese in einem Mantel aus graugrünem Eis. Shiv beeinflusste die Luft über dem See und schleuderte dem Trupp eine große Wasserhose entgegen. Schlamm und Steine flogen in den Himmel hinauf; einige Elietimm wurden in Stücke gerissen, und für kurze Zeit färbte das Wasser sich rot. 391
Ich war gerade zu dem Schluss gelangt, dass alles vorbei sein würde, bevor sie uns erreichten, als Shiv plötzlich laut aufschrie. Blut spritzte aus einer Wunde an seinem Arm, und er sank auf die Knie, als eine unsichtbare Kraft ihm gegen die Schläfe schlug. Ich wollte zu ihm, doch dann bemächtigte sich meiner wieder der Schwindel, wie ich ihn in Inglis gespürt hatte. »Weißt du, wer dafür verantwortlich ist?«, rief ich verzweifelt. »Schlag ihn mit irgendwas! Sorg dafür, dass er zu singen aufhört!« Azazirs Hände schwebten in der Luft, und Unsicherheit zeigte sich auf seinem Gesicht, während er sich ein Ziel aussuchte. Ich fluchte, als sich scheinbar grundlos eine Wunde auf meiner Hand öffnete. Dann sah ich das Hagelkorn. Der Feind hatte einen Hagelsturm heraufbeschworen. »Es ist der weiter hinten, der mit der Kapuze am Mantel.« Ich drehte mich um und sah, dass Ryshad ein Fernrohr hervorgeholt hatte, um die Angreifer genauer zu betrachten. Er war ganz ruhig; das Blut auf seinem Ärmel beachtete er nicht. Die Eismänner gerieten ins Taumeln, und ein paar sanken zu Boden; Wasser strömte ihnen aus Nasen und Mündern. Sie begannen zu würgen und speien, und schon bald ertranken sie an der Luft. Dann spürte ich meine Beine wieder. Obwohl Azazir ihre Magie beendet hatte, mussten wir uns noch immer ihren Schwertern stellen. Ich fluchte, während ich nach meinen Pfeilen griff. Noch ein Kampf, und wieder trug ich das verdammte Kettenhemd nicht. Glücklicherweise hatten Ryshad und Aiten an ihre Rüstungen gedacht, und ich stellte mich hinter sie und suchte nach Zielen. Diese Männer erwiesen sich als genauso empfänglich für mein 392
Gift wie jene in Dalasor, und nur eine Hand voll des ersten Trupps überlebte lange genug, um in den Nahkampf zu gehen. Einer machte den Fehler, sich gegen Azazir zu wenden, und sein Schwert ging genau durch den verbrauchten alten Leib. Damit meine ich nicht, dass es ihn in zwei Teile spaltete, ich meine, dass es durch ihn hindurch ging. Das Fleisch öffnete sich vor der Klinge und schloss sich dahinter wieder, und Wellen liefen über die alte Haut. Ich sah das Entsetzen auf dem Gesicht des Mannes, als Azazir ihm plötzlich einen flüssigen Arm in den Rachen stieß und ihn an Ort und Stelle ersäufte. Ich half Shiv nach hinten, und wir beobachteten, wie Ryshad und Aiten uns zeigten, wozu gut ausgebildete Tormalinschwertkämpfer in der Lage sind. Offenbar waren sie gewohnt zusammenzuarbeiten. Sie beschützten einander, während sie die Angreifer einen nach dem anderen mit geschickten, sparsamen Hieben und Stößen niederstreckten. Und niedergestreckt bedeutete so gut wie tot. Die wenigen, die zu uns durchdrangen, hauchten ihr Leben im Schlamm zu unseren Füßen aus, und schließlich zogen sich ihre Kameraden vor dem Angriff der Tormalinkrieger zurück. Ich drehte mich nach dem anderen Trupp um und sah, dass er auf dem uns gegenüberliegenden Ufer des Abflusses zögerte. Azazir hob die Hand, und ihr eigener Hagelsturm ging auf sie nieder, was sie in große Verwirrung stürzte. Einer trat ans Seeufer und warf irgendetwas ins Wasser. Azazir fluchte, rannte los und tauchte kopfüber ins Wasser, wobei er kaum einen Spritzer verursachte. Der Trupp teilte sich. Einige liefen davon, doch mehr rückten gegen uns vor. Ryshad und Aiten stellten sich ihnen in den Weg; doch bevor es zum Kampf kam, schossen die Wasser des 393
Sees schäumend in die Höhe. Grün glänzende Schuppen tauchten aus der Welle auf, gekrönt von scharlachroten Rückenstacheln: ein Wasserdrache. Er stieg aus dem See; sein langer Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, und seine gespaltene Zunge zuckte um weiße Zähne, die so lang wie Schwerter waren. Flügel so groß wie die Segel eines Seeschiffes entfalteten sich und funkelten im Sonnenlicht; dann stieg der Drache in die Höhe, bis er auf der Wasseroberfläche zu stehen schien. Ein herausforderndes Gebrüll hallte von den umliegenden Hügeln wider, und Freund wie Feind erstarrte in Staunen. Aiten brach den Bann. »Kommt. Das kann nur eine Illusion sein. Lasst uns zuschlagen, solange sie verwirrt sind.« Er und Ryshad rannten los, und Shiv und ich folgten ihnen. Ich war mehr als nur ein wenig misstrauisch. Der Drache zischte und stürzte sich auf den Mann, der dem Ufer am nächsten stand. Der große, bösartige Kopf schoss vor und schnappte nach dem Opfer wie eine Bärenfalle; er verschlang den Kopf des Mannes und warf den Körper achtlos beiseite wie eine riesige, unheilige Katze; dann packte er einen zweiten und einen dritten. Ryshad und Aiten blieben stehen, und wir beobachteten, wie die übrig gebliebenen Eismänner voller Panik davonrannten. Fast hätte ich mich ihnen angeschlossen, als der Drache sich zischend zu uns umdrehte; blutige Fetzen hingen zwischen seinen Zähnen. Er betrachtete uns mit glühenden roten Augen, die länglichen Pupillen waren pechschwarz. Unsicher und verängstigt wagten wir nicht, uns zu rühren; dann legte die Bestie die Flügel an und versank in den trüben Wassern des Sees. »Das nenne ich mal eine Illusion!«, sagte Ryshad mit zitternder Stimme. 394
Aiten schüttelte ungläubig den Kopf. »Man hat den letzten von ihnen zur Zeit meines Großvaters erschlagen. Er selbst hat eines der letzten Drachenboote befehligt. Wie hat er hier oben überleben können? Es sind Warmwassertiere.« »War das Azazir?«, fragte ich Shiv, der genauso verwirrt aussah wie wir anderen. Shiv runzelte die Stirn und steckte vorsichtig die Hände in den See, riss sie aber rasch wieder heraus, als würde das Wasser kochen. »Nein. Er ist da drin, aber der Drache auch. Es sind eindeutig zwei verschiedene Wesen.« »Aber Drachen sind nie so weit nach Norden gekommen«, beharrte Aiten auf seiner Meinung, um sich nicht dem für ihn scheinbar Unmöglichen stellen zu müssen. »Ich denke ...«, begann Shiv zögernd. »Ich denke, dass Azazir den Drachen irgendwie erschaffen hat. Immerhin sind es Elementarwesen.« »Vergesst den Drachen«, sagte Ryshad drängend. »Wir verpassen gerade die beste Chance, uns diese Mörder zu schnappen.« »Sie rennen wie die Hasen.« Ich nickte ihm zu. »Sie könnten uns direkt zu ihrem Heimatlager führen.« »Shiv, behalte sie im Auge, während wir die Pferde holen«, befahl Ryshad. Wir ließen Shiv über einer Pfütze knien, während wir zurückrannten und unsere Tiere so rasch wie möglich sattelten. Winterapfel spürte, dass ich es eilig hatte, und wurde ungewöhnlich zappelig. Ich fluchte und riss am Halfter, um ihn zu beruhigen. Wir konnten uns keine Verzögerung leisten. Diese Männer würden uns vielleicht sogar zu Geris führen, falls er noch lebte. Als wir zu Shiv zurückkehrten, wob dieser gerade ein kom395
plexes Muster aus bernsteinfarbenem Licht zwischen den Steinen. Er blickte auf und lächelte kalt, aber triumphierend. »Ich habe ihre Spur markiert. Jetzt können sie uns nicht mehr entkommen.« Er blickte an mir vorbei zu Ryshad. »Hast du die Artefakte?« Ryshad nickte, als wir uns in die Sättel schwangen. »Azazir hat dir seine Schätze gegeben?«, fragte ich Shiv ungläubig. »Wie hast du das geschafft?« »Ich habe ihm erklärt, dass ich Planir nicht davon berichten könnte, wie er hier oben Wasser und Wetter manipuliert hat, solange ich damit beschäftigt bin, die Artefakte zu studieren, um die Befehle des Erzmagiers auszuführen.« Shivs Tonfall war so hart wie sein Gesichtsausdruck. »Das war natürlich, bevor ich von dem Drachen wusste. Ob ich das Geheimnis bewahren kann, weiß ich nicht.« Ich schauderte und blickte unruhig auf den See. »Lasst uns losreiten, ja?« Shiv ritt voraus, um seinem Zauber zu folgen, und ich ritt neben Ryshad. Irgendetwas war anders. »Du benutzt ja eines der Schwerter von Azazir.« Er grinste ein wenig unsicher. »Shiv hat mir dazu geraten. Ich kann nicht gerade behaupten, dass es sonderlich angenehm ist, irgendjemandes Erbstück im Wert von Tausenden von Kronen am Gürtel zu tragen.« Ich hob die Augenbrauen. Ich wusste ja, dass alte Waffen wertvoll waren, aber so wertvoll? Ich fragte mich, ob ich wie bei dem Tintenhorn einen Teil des Wertes für mich beanspruchen konnte. Vermutlich nicht, dachte ich reumütig. Bald erreichten wir normales Waldland. Shiv hob die Hand, und wir hielten. »Wir haben sie fast erreicht«, sagte er leise. »Ich 396
sollte ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen.« Die Luft um uns herum schimmerte wie Sonnenlicht, das von einem Bach reflektiert wird. »Sind wir unsichtbar?«, fragte ich zögernd. Shiv schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind nur schwer zu sehen. Wenn wir einen gewissen Abstand halten und uns ruhig verhalten, dürften sie uns nicht bemerken.« Der Tag verging langsam, während wir unsere Beute verfolgten. Zwar konnte von panischer Flucht keine Rede mehr sein, aber angesichts des Geländes marschierten sie noch immer mit beachtlicher Geschwindigkeit. »Wir reiten nach Osten, stimmt’s?«, fragte ich Ryshad und versuchte, die Sonne durch das goldene Blätterdach des Herbstwaldes hindurch zu sehen. »Im Augenblick ja«, bestätigte er. »Ich würde sagen, es geht Richtung Küste.« Allmählich fragte ich mich, ob die Blonden irgendwann einmal anhalten würden, als die Dämmerung der Nacht wich und wir immer noch weiterzogen, obwohl von beiden Monden nur eine schmale Sichel zu sehen war. Dann winkte uns Shiv zu halten und seufzte erleichtert. Er stieg ab und ging zu uns zurück. »In einem kleinen Tal unmittelbar hinter der Anhöhe da hinten schlagen sie gerade ihr Lager auf«, erklärte er leise. »Wir werden sie abwechselnd beobachten, aber ich nehme nicht an, dass sie so bald irgendwohin gehen werden.« Ryshad stieg ebenfalls ab und fesselte seinem Pferd die Füße. »Falls es euch nichts ausmacht, übernehme ich die erste Wache.« »Ich werde dir Gesellschaft leisten.« Ich klopfte Winterapfel 397
ein letztes Mal, und gemeinsam mit Ryshad stieg ich die Anhöhe hinauf. Ryshad bewegte sich fast so leise über den mit Blättern und Zweigen übersäten Waldboden wie ich, und ich grinste ihn anerkennend an, als er sich zu mir umdrehte. Schließlich ließen wir uns für das letzte Stück auf alle Viere nieder, und oben angekommen legten wir uns flach auf den Boden. Es war eine kühle Nacht, doch trocken und still, sodass es uns nicht sonderlich unangenehm war. Unsere Beute war um ein kleines Feuer versammelt. Ich beobachtete sie eine Zeit lang; dann verzog ich das Gesicht. »Sie reden nicht viel miteinander«, bemerkte ich leise. Ryshad nickte. »Sie scheinen alles mit militärischer Disziplin zu tun.« Es dauerte nicht lange, da sah ich, was er damit meinte. Die Hälfte der zehn Überlebenden aß, während der Rest Wache hielt. Auch mit Wasserholen, Holzsammeln und dergleichen wechselten sie sich ab; ja, sie wuschen und zogen sich sogar fünf zu fünf aus. Allein ihnen dabei zuzusehen ließ mich schaudern. Bei den meisten Leuten gelte ich ja geradezu als besessen, was persönliche Sauberkeit betrifft, aber selbst ich hätte bei diesem Wetter auf ein Waschen im Freien verzichtet. Schließlich wickelten sich die Eismänner in ihre Decken. Zwei saßen schweigend Wache. Sie starrten in die Dunkelheit der Waldnacht, während ihre Kameraden schliefen. Einige Zeit später wurden zwei andere durch irgendeinen Instinkt geweckt und übernahmen wortlos die Wache. »Sie haben ihren Offizier verloren«, sagte Ryshad leise. »Niemand gibt ihnen Befehle, und sie diskutieren nicht darüber, was sie als Nächstes tun sollen. Niemand hat das Kommando.« 398
Ich schluckte einen Fluch hinunter. »Wir haben vergessen, die Leichen zu untersuchen.« Der dunkle Schatten, der Ryshad war, zuckte mit den Schultern. »Wir hatten ja auch keine Zeit dafür, oder? Ich nehme an, die Magier waren die Anführer. Dieser Mob da unten tut einfach, wozu er ausgebildet worden ist; sie haben nichts anderes zu tun.« »Und was bedeutet das für uns?« Ich sah Ryshads Zähne im Dunkeln schimmern, als er lächelte. »Ich wette, sie laufen entweder auf geradem Weg zu ihrem Häuptling oder nach Hause. Willst du ein paar Kronen darauf setzen?« Ich schüttelte den Kopf, bevor ich mich daran erinnerte, dass Ryshad es vermutlich gar nicht sehen konnte. »Keine Wetten, Rysh.« Die Nacht verlief ereignislos. Allerdings bekamen die Elietimm deutlich mehr Schlaf als wir vier, was ich im Geiste dem hinzufügte, was sie mir jetzt schon schuldeten. Während ich sie dabei beobachtete, wie sie sich auf den Tagesmarsch vorbereiteten, aß ich ein kaltes Frühstück; derweil kümmerten sich meine Freunde um unsere eigene Ausrüstung. Allmählich wurde es langweilig, bis ich mich daran erinnerte, was diese Männer getan hatten. Ich fragte mich, wie Männer, denen es so offensichtlich an Entschlußkraft mangelte, Yeniya derart systematisch hatten zu Tode foltern können. Wenn sie wirklich nur Befehlen folgten, was für eine Art Mensch hatte dann solch einen Befehl gegeben? Ich war froh, dass wir ihn vermutlich am Seeufer getötet hatten. Dieser Tag und auch die folgenden verliefen ziemlich ereignislos, während wir den zunehmend entmutigten Trupp weiter 399
nach Osten verfolgten. Sie wurden immer langsamer, und in ihrem monotonen täglichen Ablauf zeigten sich die ersten Risse. Die Reise war nicht sonderlich hart. Zwar war es kalt, aber auch sonnig und trocken. Dann rochen wir den salzigen Duft des Meeres im Wind; wir waren nicht mehr weit von der Küste entfernt.
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8.
Aus: D’Oxires Grundlagen der Navigation Die Meeresküste
Vor der Küste des großen Meeres zu segeln, ist etwas vollkommen anderes als die Schifffahrt im Golf von Lescar oder zwischen den Aldabreshi-Inseln. Jeder Seemann, der das Meer zum ersten Mal befährt, muss sein Handwerk neu erlernen, oder er wird untergehen. Das Wetter ist hier weitaus härter; ständig wehen stürmische Winde von der offenen See herein. Die Wellen sind höher und mächtiger, was für die Schiffe bedeutet, dass sie schlanker sein und tiefer im Wasser liegen müssen; auch die Takelung ist hier weit vielfältiger als anderswo. Galeeren sind in diesen Gewässern so gut wie unbrauchbar, da ständig die Gefahr von Stürmen droht. Doch wie auch immer, angesichts der mangelhaften Landverbindungen entlang der Küste und der sich daraus ergebenden Tatsache, dass Waren nur mühsam über Land transportiert werden können, ist es einem Seemann möglich, auf diesen Routen innerhalb kürzester Zeit einen beachtlichen Gewinn zu erzielen – natürlich nur, wenn er sich den Bedingungen anpasst; andernfalls findet er sich rasch auf dem Grund des Meeres wieder. Die Meeresströmungen stellen die größte Gefahr für die Küstenschifffahrt dar. Jeder Seemann, der sich außer Sichtweite des Landes begibt, muss darauf achten, dass er nicht vom Kurs 401
abkommt. Natürlich ist es verhältnismäßig leicht festzustellen, ob man sich zu weit im Norden oder im Süden befindet, doch das hilft nicht sonderlich viel. Entlang der Klippen an der Meeresküste gibt es nur wenige Ankerplätze, und die meisten sind gerade tief genug für Fischerboote. Einen Navigator anzuheuern, der die Küste mitsamt ihren Gefahren kennt, kann als überlebenswichtig betrachtet werden. Nicht alle Häfen sind aufgrund der widrigen Winde leicht anzusteuern, und vor vielen Hafenbecken befinden sich Sandbänke. Erfahrene Mannschaften sind eine angemessene Bezahlung wert. Ehemalige Piraten sind wertvolle Besatzungsmitglieder, solange ihre Zahl an Bord begrenzt ist. Wenn man zu weit nach Osten abgetrieben wird, endet dies fast immer tödlich – auf die ein oder andere Weise. Die Strömungen sind schnell, und mit Besteckrechnung kann man die Geschwindigkeit nicht mehr ermitteln. Jeder Hafenmeister kann Euch Jahr für Jahr eine Liste von Schiffen zusammenstellen, die spurlos auf dem Meer verschwunden sind; selbst die Winterstürme spülen keine Reste mehr von ihnen an. Die Strömungen südlich von Bremilayne sind besonders reißend und können ein Schiff Hunderte von Meilen vom Kurs abbringen. Wenn ein Schiff durch günstigen Wind solch einer Strömung entkommt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es von eben diesem Wind immer weiter gen Westen getrieben wird, bis es an der Küste zerschellt – besonders, falls die Besatzung die Landung des Nachts versucht. Und das geschieht recht oft, sodass viele Fischerfamilien sich ein Zubrot mit der Bergung von Strandgut verdienen. Südlich von Zyoutessela verschlechtert sich das Wetter zunehmend, und die Strömungen werden vollkommen unberechen402
bar. Der Versuch, das Kap der Winde zu umrunden, bleibt den Wahnsinnigen und Verzweifelten vorbehalten; ernsthafte Seeleute halten sich davon fern. Der Warentransport von einem Teil Zyoutesselas in den anderen, ist weit weniger kostspielig als der Verlust von Schiff und Ladung. Die meisten Händler machen den Landtransport zur Bedingung für jeden Vertrag, den sie mit einem Seemann schließen. Kein respektabler Geldverleiher gibt einem Kaufmann Geld für eine Ladung, ohne dass vorher der Überlandtransport verbindlich festgelegt worden ist.
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Sholvinbucht, Gidesta 26. Nachherbst
Die Schreie der Seevögel hallten über die Baumwipfel, gefolgt von den Geräuschen menschlichen Lebens – das Knarren und Platschen von Schiffen, die zu Wasser gelassen wurden, und Stimmen im aufkommenden Wind. »Vorsichtig«, warnte uns Shiv, bevor wir die Pferde anbanden und zum Waldrand schlichen, um den steilen Hang hinunterzublicken. Wir sahen, wie die Elietimm ein Dorf betraten, das in einer kleinen Bucht an der felsigen Küste lag. Ein reißender Fluss, auf den Azazir stolz gewesen wäre, strömte hier ins Meer. Fischerboote lagen an einer dunklen Steinmole, und zum Trocknen aufgehängte Netze flatterten im Wind, der eine Duftmischung aus Räucherkräutern, Fischinnereien und Schlamm zu uns hinübertrug – der typische betörende Duft der Meeresküste. Ich runzelte die Stirn, während wir beobachteten, wie unsere Beute geradewegs zu einem großen Dreimaster ging, der am äußersten Ende der Mole festgemacht hatte, ein gutes Stück vom letzten einheimischen Boot entfernt, wo ein paar Fischer gerade ihren Fang ausluden. Die Fischer blickten noch nicht einmal auf, als die Elietimm in ordentlicher Zweierreihe an ihnen vorbeimarschierten; offenbar hatten die Eismänner ihre Disziplin unerwartet wieder gefunden. »Shiv, verbergen auch sie sich mit Magie?« »Nicht, dass ich wüsste.« »Aber niemand nimmt Notiz von ihnen, geschweige denn, 404
dass jemand mit ihnen spricht. Was geht da vor?« Wir beobachteten, wie der Trupp den Dreimaster erreichte, wo die Männer offenbar überprüft wurden. »Bei Saedrin, das ist ja seltsam.« Ich ignorierte Shivs und Ryshads Einwände und schlich mich vorsichtig den Pfad hinunter, wobei ich sorgfältig darauf achtete, möglichst viel Deckung zwischen mir und dem Schiff zu haben, bis ich die Steinhütten am Fluss erreichte, wo ich mich zwischen den Leuten verbergen konnte. Alle starrten mich an, als wäre ich ein ganzer Wanderzirkus in einer Person. »Morgen.« Ein grauhaariger, alter Arbeiter, der sich auf einer Bank sonnte, musterte mich misstrauisch. Ich versuchte es mit einem strahlenden Lächeln, Marke niedlich und dumm, auch wenn das nicht sonderlich gut zu den verdreckten Kleidern passte. »Könnt Ihr mir irgendetwas über das Schiff dort sagen?« Ich deutete auf den Dreimaster. Er blickte mich verwirrt an. »Was für ein Schiff?« »Das mit den grünen Wimpeln«, antwortete ich bedächtig und fragte mich, ob es mir beim ersten Versuch gelungen war, auf den Dorftrottel zu treffen. Der Mann kniff die Augen zusammen und spähte aufs Meer hinaus, ohne das Schiff auch nur zu bemerken, das sich genau in seinem Sichtfeld befand. »Kommt es gerade rein? Meine Augen sind nicht mehr die besten.« »Vergesst es.« Ich wollte gerade gehen, als eine Frau mit Händen wie Leder und wettergegerbtem Gesicht die Hüttentür öffnete. 405
»Vater? Mit wem sprichst du?« Ihr Blick war so scharf wie das Tranchiermesser, das sie in der Hand hielt. Hier war mein Charme wohl verschwendet. Frauen fallen ohnehin nur selten darauf herein. »Könnt Ihr mir sagen, ob Ihr in letzter Zeit Fremde in der Gegend gesehen habt?« Das Funkeln in ihren Augen spiegelte das Silber, das sie kurz zwischen meinen Fingern gesehen hatte. »Und was sollen das für Fremde sein?« »Blond wie Leute vom Bergvolk. Sie bleiben meist unter sich.« Die Frau beäugte die Münze, schüttelte aber später den Kopf. »Tut mir Leid. So jemanden habe ich nicht gesehen.« »Was ist mit Schiffen, die Ihr nicht kennt? Seeschiffe, ähnlich denen aus Dalasor?« »Seit zur Sonnenwende ein Händler aus Inglis hier war, haben wir keinen mehr gesehen.« Enttäuschung lag in ihrer Stimme; offenbar meinte sie es tatsächlich ernst. Und ich hätte ihr geglaubt, wäre da nicht das Schiff gewesen, dessen Mannschaft geschäftig übers Deck huschte. »Was ist mit dem Schiff am Ende der Mole? Wann ist es hereingekommen?« Ehrlich verwirrt folgte die Frau meinem Blick, und ihre Augen hefteten sich auf das Fischerboot. »Das sind Machil und seine Brüder. Sie sind kurz nach Sonnenaufgang von den Fischgründen zurückgekehrt.« Ich drückte ihr ein paar Mark in die schmutzige Hand, damit sie nicht darüber nachdachte, wer ich wohl sein mochte; dann stapfte ich entschlossen durchs Dorf, um niemandem Gelegen406
heit zu geben, mich anzusprechen. Als ich zu den anderen zurückkehrte, blickte Ryshad mich gereizt an. »Und?« »Es ist wirklich seltsam. Niemand scheint das Schiff und die Männer sehen zu können«, erklärte ich gerade heraus. Ryshad und Aiten wirkten verwirrt, doch Shiv war sichtlich verzweifelt. Müde wischte er sich mit der Hand übers Gesicht. »Im alten Reich war Gedankenkontrolle eine der magischen Disziplinen. In Hadrumal ist uns so etwas nie gelungen. Offensichtlich sind sie zu Dingen fähig, von denen wir nicht mal ein Ahnung haben.« Wir wandten uns zu Shiv um. »Was sollen wir jetzt tun? Kannst du herausfinden, ob sie Geris an Bord haben?« »Kannst du ihn auf die gleiche Art rausholen, wie du es bei mir im Gefängnis gemacht hast?« »Lasst mich bitte einen Augenblick in Ruhe, ja?«, sagte Shiv. Er schloss die Augen und verzog das Gesicht, als ein vielfarbiges Magierlicht um seinen Kopf erschien. »Irgendetwas blockiert meinen Zauber!« Er fluchte. »Ich kann nicht in den Rumpf sehen.« Ich seufzte. »Das beweist wohl, dass wir es hier mit einer anderen Art von Magie zu tun haben.« Unentschlossen standen wir im Kreis beisammen, bis Aiten zum Ankerplatz hinunterblickte und fluchte. »Bei Dasts Zähnen, sie verschwenden keine Zeit. Sie legen ab.« Hilflos beobachteten wir, wie die Besatzung die Leinen losmachte und das Schiff mit langen Rudern aus der Bucht gefahren wurde. »Kommt«, zischte Shiv. »Wir brauchen ein Boot.« 407
Na, wunderbar! Das wurde ja immer besser. Ich fragte mich erneut, welchen Gott ich wohl beleidigt haben mochte, dass ich in diese Situation geraten war. Wir ritten den Hügel hinunter und über die Mole, ohne auch nur auf die neugierigen Blicke der Einheimischen zu achten. »Machil!« Ein sonnengebräunter Seemann blickte vom Deck seines Bootes auf und fragte sich offensichtlich verwirrt, woher diese Rothaarige seinen Namen kannte. Shiv blickte herrisch von seinem Pferd auf die Fischer hinunter. »Ich bin im Auftrag des Erzmagiers unterwegs und brauche ein Boot. Kann man euch anheuern?« Unglücklicherweise wirkte Machil wenig beeindruckt, als er sich wieder dem Ausnehmen der Fische zuwandte. »Nein.« Ryshad holte sein Medaillon hervor. »Ich diene Messire D’Olbriot von Zyoutessela. Er wäre dir für deine Zusammenarbeit äußerst dankbar.« Machil zuckte mit den Schultern. »Was interessiert mich das? Ich fahre nicht so weit nach Süden, nicht um diese Jahreszeit.« Da es offenbar keinen Zweck hatte, an den guten Willen des Mannes zu appellieren, war ich am Zug. »Nun denn, es soll sich auch für dich lohnen.« Ich verzichtete auf ein Lächeln und schüttelte stattdessen nur meine Börse, in der es fröhlich klimperte. Machil musste ja nicht wissen, dass sich nur caladhrianische Pfennige darin befanden; ich hoffte nur, Shiv hatte sich vor unserem Aufbruch noch etwas Geld von Darni geben lassen. Wie heißt es doch im Sprichwort? Durch die Taschen eines Mannes kommt man auch an seine Hände. Machil schob den Eimer beiseite und hob die Augenbrauen. »Wie?« 408
Ich betrachtete das Boot, musterte die Ladung und blickte dann zum Dorf. Mir kam ein Gedanke. »Du verkaufst deinen Fisch nicht hier, stimmt’s?« Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. »Und?« »Also pökelst oder räucherst du ihn und bringst ihn weiter ins Land hinein. In die Bergbaulager, vermute ich, und ich wette, sie bezahlen einen sehr guten Preis dafür.« Machil blickte mich erwartungsvoll an. Die anderen besaßen Verstand genug, um ruhig zu bleiben und so dreinzuschauen, als wüssten sie genau, worauf ich hinauswollte. »Transportierst du ihn selber, oder verkaufst du ihn an einen Zwischenhändler?« Machils Blicke huschten zu einem langen, niedrigen Gebäude auf der anderen Seite des Flusses, und ich wusste, dass ich den richtigen Nerv getroffen hatte. Ich deutete auf unsere Pferde und den Muli. »Mit drei Pferden und einem Muli könntest du den Transport selbst übernehmen und den Gewinn allein einstreichen.« Jetzt grinste ich, und zu meiner Erleichterung erhielt ich als Antwort ein schwaches Lächeln. »Vier Pferde, und wir könnten ins Geschäft kommen. Ich nehme kein Pferd an Bord; du müsstest es ohnehin hier zurücklassen.« Dann hatte ich wohl keine Chance, Winterapfel zu behalten, aber die Hoffnung darauf war ohnehin nur gering gewesen; trotzdem bedauerte ich es. Sollte ich Geris jemals wiedersehen, würde er für all den sentimentalen Unsinn büßen müssen, mit dem er mich angesteckt hatte. Ich blickte angemessen widerwillig drein, um Machil glauben zu machen, dass er die Runde gewonnen hatte. Dann nickte ich 409
langsam. »Geht in Ordnung.« »Dann habt ihr euer Boot.« Er gähnte. »Heute Abend bei Flut ist alles bereit. Wo soll es hingehen?« Fragend blickte ich zu Shiv. Der nickte kaum merklich, und ich lächelte Machil an. »Das werden wir dir später sagen.« Machil schien nicht allzu glücklich darüber zu sein, und ich fürchtete schon, er würde Probleme machen, als wir am Abend mit so viel nützlichen Vorräten aufkreuzten, wie wir an so einem kleinen Ort kaufen konnten. Glücklicherweise wollte er sein Unwissen der Mannschaft gegenüber jedoch nicht eingestehen, und so winkte er uns nur höflich, ihm unter Deck zu den engen Kabinen zu folgen, während unser Gepäck verstaut wurde. »So. Wo geht es denn nun hin?«, verlangte er zu wissen. »Auf die offene See hinaus«, antwortete Shiv gelassen. »Ich verfolge ein Schiff, das heute Morgen die Küste verlassen hat.« Machil klappte den Mund auf. »Da soll wohl ein Scherz sein! Die sind jetzt schon lange weg.« Shiv hob gelassen die Hände und ließ die hölzernen Kabinenwände in Magierlicht erstrahlen. »Ich werde sie finden.« »Gilt das auch für die richtigen Winde und Strömungen?«, fragte Machil spöttisch. »Natürlich.« Shiv schaute den Fischer an, als wundere er sich darüber, wie jemand eine so dumme Frage stellen konnte. »Tut mir Leid. Ich kann unmöglich genug Vorräte für eine Reise an Bord nehmen, von der ich noch nicht einmal weiß, wie lange sie dauert, vor allem nicht heute Abend. Besonders Frischwasser könnte bei einer längeren Fahrt zum Problem werden.« Shivs Stimme nahm eine gewisse Härte an. »Das Meer ist 410
voller Fische, und ich kann so viel Wasser entsalzen, wie du willst.« Machil strich sich mit der Hand über das fettige Haar. Dass er Shiv nicht glaubte, war offensichtlich, doch aus verständlichen Gründen wollte er einen Zauberer nicht offen als Lügner bezeichnen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein. Unmöglich. Ihr könnt eure Pferde wiederhaben. Für nichts und niemanden werde ich es riskieren, aufs offene Meer hinauszufahren.« »Wie weit fährst du denn normalerweise hinaus?«, fragte Aiten in sanftem Tonfall, während er Knoten in eine Kordel band. »Drei Tagesreisen von hier gibt es gute Fischgründe«, antwortete Machil nach kurzem, misstrauischem Schweigen. Fasziniert blickte er auf Aitens Hände. »Wie wäre es, wenn du uns so weit rausbringen würdest? Wenn wir bis dahin das Schiff gefunden haben und das Wetter mitspielt, können wir immer noch entscheiden, ob es weiter hinausgehen soll oder nicht.« »Das ist ein verdammt guter Tausch für fünf gute Tiere und ihr Zaumzeug.« Ich hielt die kleine Erinnerung für angebracht. »Also gut. Bis raus zu den Fischgründen; dann entscheide ich, ob es weitergeht.« Machil ging, ohne uns Gelegenheit zu geben, darauf zu antworten. Kurz darauf hörten wir, wie er seinen Brüdern Befehle zubrüllte. Aiten grinste Shiv an. »Ich nehme an, du kannst den Wind in die falsche Richtung wehen lassen, sollten wir weiterfahren wollen.« »Das ist ja alles schön und gut, aber wir sind kein Seeleute«, erklärte ich. »Wir brauchen sie immer noch, um diesen Pott zu fahren. Was ist, wenn sie sich weigern, mit uns zusammenzuar411
beiten?« Aiten warf mir das Stück Kordel mit den Knoten zu. »Ich habe von meinem Großvater mehr als nur Seemannsgarn gelernt. Warum, glaubst du wohl, ist Machil zu der Ansicht gelangt, dass er mir trauen kann?« Ich hatte keine Gelegenheit mehr, etwas darauf zu erwidern, als plötzlich ein Ruck den Boden unter unseren Füßen durchfuhr. »Sieht so aus, als wären wir unterwegs.« Aiten kletterte die Leiter hinauf auf Deck, während ich tief durchatmete, mich setzte und die Zähne zusammenbiss. Ryshad schaute mich mitleidig an. »Du bist also kein guter Seemann?« Ich blickte zu ihm hinauf und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich bin einmal von Relshaz nach Col gefahren, und ich habe die ganze Fahrt über gekotzt. Und die Golfküste gilt als ruhiges Gewässer.«
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Das Gästehaus des Schreins von Ostrin, Bremilayne 42. Nachherbst
Casuel schluckte seinen Ärger hinunter, während Darni erneut auf und ab ging. »Ich verstehe nicht, warum wir den ganzen Morgen darauf warten müssen, dass der Mann uns zu sich ruft«, wiederholte der Krieger gereizt. »Ein Tormalinfürst empfängt die Leute, wie und wann es ihm beliebt, nicht wenn sie es wollen«, erklärte Casuel zum – wie er glaubte – fünfzigsten Mal. »Wir wollen doch nur die Erlaubnis, einen seiner Kapitäne um Überfahrt bitten zu dürfen.« Darni ging zum Fenster und blickte hinaus. »Allerdings würde ich auch gerne wissen, warum er persönlich hierher gekommen ist.« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Woher auch?« Casuel säuberte seine Schreibfeder und steckte sie weg. Es war ohnehin sinnlos, jetzt zu arbeiten. Er verschloss sein Tintenfass und stapelte die Bücher ordentlich auf einer Seite des polierten alten Tisches. »Ich könnte andere Sache erledigen. Erkundigungen einziehen, zum Beispiel.« Darni schob den Musselinvorhang ein Stück beiseite und blickte die Straße hinunter. »Ich mag es nicht, wenn man mir befiehlt, Zeit zu verschwenden, nur um auf die Launen eines hochnäsigen Adeligen zu warten.« »Messire D’Olbriot ist eine der führenden Persönlichkeiten des Reiches!«, erklärte Casuel verzweifelt. »Er führt seinen Haushalt, seine Familie, seine Lehnsmänner und deren Pächter. 413
Seine Einkünfte betragen ein Zwanzigstel der gesamten Reichseinnahmen, zumindest, was die Steuer betrifft. Wenn er uns zu sehen wünscht, heißt das, dass er die Angelegenheit als wichtig erachtet. Er ist bestimmt nicht hierher gekommen, weil er nichts Besseres zu tun hat!« Allin meldete sich aus der Ecke zu Wort, in der sie saß und Casuels Kleider stopfte. »Dann ist er so etwas wie ein Herzog?« »Nein, er ist weit bedeutender als ein Herzog. Wenn er sagt, dass es regnet, zieht jeder, der im Rang unter dem Kaiser steht, die Kapuze über.« Casuel blickte Allin an. Sie war heute hübsch zurecht gemacht – dafür hatte er gesorgt –, aber er war noch immer unruhig, was ihre Anwesenheit hier betraf. Eigentlich hatte er sie mit einer Hand voll Kupferstücke auf einen Einkaufsbummel schicken wollen; doch wie es das Schicksal wollte, war heute Waschtag im Gästehaus, und keine Dienerin war frei, um sie zu begleiten. »Er ist der bedeutendste Mann, den du je kennen lernen wirst. Also rühr dich nicht, und sei still«, sagte er drohend. In solch erhabener Gesellschaft würde Allins Lescariakzent nur widerwärtig klingen. »Vielleicht ist er in Tormalin die bedeutendste Persönlichkeit.« Darni schaute sich um. »Ich würde eher Planir als den bedeutendsten lebenden Menschen bezeichnen.« Allin stocherte nervös mit ihrer Nadel herum. »Muss ich ihn auch kennen lernen?« »Ja, aber mach dir keine Sorgen. Er ist sehr umgänglich.« Darni lächelte sie an. »Wir werden dich schon bald nach Hadrumal bringen, das verspreche ich dir. Ich werde dich Strell vorstellen, meiner Frau. Sie ist Alchemistin; deshalb kennt sie 414
viele Feuermagier. Sie wird schon dafür sorgen, dass du gut unterkommst.« »Danke für dein Interesse, Darni, aber ich werde mich um Allin kümmern«, sagte Casuel. »Es kann ja wohl nicht schaden, sich verschiedene Angebote anzuschauen, oder?« Darni bemühte sich um einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck. »Du kannst ihr ja helfen, das Beste auszuwählen.« Allin blickte von einem zum anderen. Überraschung zeigte sich auf ihrem runden Gesicht, und ihre Augen begannen zu leuchten. »Ich kann wählen?« »Das würde ich doch sagen.« Darni nickte. »Im Augenblick sind Feuermagier sehr gefragt.« »Ich denke, wir sollten uns erst einmal um diese Angelegenheit hier kümmern«, sagte Casuel, um dem Thema ein Ende zu bereiten. Allin duckte sich wieder über ihre Näharbeit, doch ein schwaches, zufriedenes Lächeln spielte um ihren Mund. Vor dem Fenster ging es geschäftig zu. Besucher kamen und gingen; Menschen brachten Opfergaben für Ostrin, und aus der Ferne hallten die Rufe der Marktschreier. Allin flickte die meisten von Casuels Kleidern, die des Flickens bedurften, und Darni hatte jeden Winkel des spärlich eingerichteten Wartezimmers erkundet – die Hand voll Stühle, den Tisch und eine Reihe von Schnitzereien, die Ostrin auf seinen Reisen zeigten, wenn er verkleidet die Gastfreundschaft von Königen und Fürsten prüfte. Schließlich hörten sie das Klingeln der Türglocke. »Endlich«, seufzte Darni. »Denk daran, was ich dir über richtiges Benehmen gesagt habe, Allin.« Nervös strich sich Casuel übers Haar und ließ rasch Bücher und Schreibutensilien unter dem Stuhl ver415
schwinden. Die Tür öffnete sich, und ein Jüngling in Livree betrat den Raum. »Messire D’Olbriot erwartet euch im Empfangsraum«, verkündete er in herablassendem Tonfall. »Ach, ja?« Darnis Gesichtsausdruck verhärtete sich, und Casuel trat rasch vor. »Danke, mein Junge.« Casuel glitt an dem Lakaien vorbei und drückte ihm eine Münze in die Hand. Einen Augenblick war der Diener derart verwirrt, dass er sich schließlich an Allin vorbeidrängen musste, die dem Magier gehorsam hinterher trottete. Darni schlenderte hintendrein und grinste anerkennend. »Messire D’Olbriot.« Mit einer Verbeugung ließ der Lakai sie durch die Tür; er war noch immer sichtlich wütend. Casuel schenkte dem Diener ein herablassendes Nicken; dann verneigte er sich demütig vor den vier Männern, die vor ihnen auf eleganten Stühlen an einem blank polierten Tisch saßen, auf dem eine Vase mit Blumen stand. »Messire, ich bin Casuel Devoir, seines Zeichens Magier. Meine Gefährten sind Darni Fallion, Agent des Erzmagiers, und Allin Mere, Lehrling.« Allins Rock schleifte über den Boden, als sie so tief knickste, dass sie fast vornüber gefallen wäre. Darni packte sie gerade noch rechtzeitig am Ellbogen, während er selbst sich steif verneigte. Die vier Männer standen auf und erwiderten die Verbeugungen höflich. »Darf ich Euch meinen älteren Bruder vorstellen, den Sohn meiner ältesten Schwester und meinen jüngsten Sohn.« Der Fürst deutete der Reihe nach auf seine Gefährten. Casuel verneigte sich erneut und musterte den Fürsten und seine Ratgeber 416
unauffällig. Messire D’Olbriot war ein Mann in den besten Jahren, kräftig, mit zurückweichendem grauem Haar, einem runden Gesicht und wässrigen, klugen Augen. Seinen Bruder konnte man bereits als alten Mann bezeichnen. Tiefe Falten verliehen ihm einen traurigen Gesichtsausdruck, auch wenn sein Blick scharf war. Der Neffe war ein paar Jahre älter als der Jüngste der vier. Beide zeigten einen Hang zum Übergewicht, auch wenn ein guter Schneider das zu kaschieren gewusst hatte. Die vier Gesichter wiesen nicht nur eine große Familienähnlichkeit auf, sie verrieten auch ein Selbstbewusstsein, wie es allein Menschen mit viel Geld und Macht zu eigen ist. »Devoir?«, meldete sich der Neffe unvermittelt. »Euer Vater ist nicht zufällig Pfefferhändler in Orelwald, oder?« »Doch, das ist er.« Casuel rang sich ein nervöses Lächeln ab; sein Vater würde es ihm nicht danken, wenn er die Aufmerksamkeit derart hoch gestellter Persönlichkeiten auf seinen Namen lenkte und dann einen Fehler beging. »Dann seid Ihr der Bruder des Komponisten Amalin Devoir, nicht wahr?« Alle Augen richteten sich interessiert auf Casuel, und der junge Magier verneigte sich erneut. Nur mit Mühe vermochte er seine Wut zu unterdrücken. Würde irgendein Tormalin ihn jemals als ihn selbst erkennen und nicht als Verwandten seines wichtigtuerischen Bruders? »In Toremal habe ich die neueste Komposition Eures Bruders gehört. Euer Vater muss sehr stolz auf ihn sein«, bemerkte Messire D’Olbriot höflich. »Mein Vater ist kein besonderer Mann, und Brüder habe ich nicht, aber ich spreche im Namen des Erzmagiers.« Formelle 417
Höflichkeiten waren offenbar nicht nach Darnis Geschmack. »Dürfte ich nun Eure Antwort auf unsere Bitte erfahren?« Die blaugrauen Augen der D’Olbriots wandten sich dem Krieger zu. Der Fürst zog ein Pergament aus seinem weiten Ärmel. »Euer Brief kam recht überraschend«, bemerkte er. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weil ich so lange nichts mehr von Ryshad gehört hatte; aber natürlich war ich mir im Klaren darüber, dass seine Suche ihn weit jenseits der Reichweite des kaiserlichen Kurierdienstes führen könnte. Wisst Ihr, wo genau er sich im Augenblick befindet?« »Ich habe ihn und seine Gefährten mit Weitsicht gesucht.« Vorsichtig trat Casuel einen Schritt näher an Darni heran. »Derzeit wissen wir nur, dass sie auf einem Fischerboot sind, irgendwo weit draußen auf dem offenen Meer.« »Dann werden wir ihn und Aiten niemals wiedersehen«, bemerkte der ältere Bruder traurig. »Wir werden um sie trauern.« »Nicht unbedingt«, erwiderte Darni mit fester Stimme. »Unser Gefährte ist ein erfahrener Magier, und er besitzt Macht über das Wasser.« »Wisst Ihr, wohin sie fahren?«, fragte der Neffe und beugte sich fasziniert vor. »Zu einer Inselgruppe weit im Osten.« Casuel versuchte, sich die verschwitzten Hände unauffällig am Wams abzuwischen. »Und was hoffen sie dort zu finden?« »Wir glauben, dass diese Inseln die Heimat eines Volkes von blondhaarigen Menschen sind, die für eine Reihe von Diebstählen und gewalttätigen Übergriffen verantwortlich zeichnen.« D’Olbriot blickte seine Verwandten der Reihe nach an und hob fragend die Augenbrauen. Der Bruder schüttelte den Kopf; 418
der Sohn zuckte mit den Schultern, und der Neffe schürzte die Lippen. »Wir brauchen ein Schiff, um sie verfolgen zu können.« Darnis Ungeduld wurde offensichtlich. »Wir hatten gehofft, Ihr könntet uns dabei behilflich sein ...« »Nur in Kindergeschichten und widersprüchlichen Legenden ist von Inseln im Osten die Rede«, bemerkte der Bruder ernst. »In einem stimmen die Geschichten allerdings überein: Jeder, der diese Inseln erreicht, ist dem Tod geweiht.« »In diesem Fall können wir nur hoffen, dass Ryshad und Aiten sie nicht finden.« Nachdenklich rieb sich der Neffe das Kinn. »Sie schweben in großer Gefahr, ob sie nun an Land gehen oder nicht.« Der Fürst las den Brief erneut. Dann hob er den Kopf. »Offenbar wisst Ihr von den Verbrechen, die an unserem Blut verübt worden sind und wofür diese Männer die Verantwortung tragen. Wie kommt es, dass Ihr daran interessiert seid? Abgesehen von Eurem angeborenen Sinn für Gerechtigkeit natürlich.« Seine Stimme klang sachlich, doch in seinen Augen lag ein Funkeln. »Einer unserer Gefährten ist von einem Trupp dieser Blonden entführt worden. Er ist ein Gelehrter, der für den Erzmagier arbeitet, und außerdem ist er mein Freund.« Darni starrte auf den Fürsten hinunter. Ungerührt erwiderte D’Olbriot den Blick. »Was ist so wichtig an dem, was der Erzmagier will? Hat es etwas mit diesem blonden Volk zu tun?« »Euch das zu sagen, ist Sache des Erzmagiers, sollte er zu dem Schluss kommen, dass Ihr es wissen müsst.« Darnis Tonfall war höflich genug, doch Casuel zuckte ob der kühnen Worte 419
unwillkürlich zusammen. »Es ist wirklich sehr wichtig, und ich bin sicher, dass Planir Euren Rat suchen wird, Messire. Schließlich betrifft es auch die Sicherheit des tormalinischen Reiches und ...« Darni brachte ihm mit einem Blick zum Schweigen. »Das unmittelbare Problem ist, uns ein Schiff zu besorgen. Wir brauchen ein Schiff, um diese Inseln finden zu können, um unseren und Euren Männern beizustehen und unseren Kameraden zurückzuholen. Ich habe viel über die Loyalität tormalinischer Lehnsmänner gehört. Ich war davon ausgegangen, dass Ihr uns helft.« »Ich glaube kaum, dass Ihr einem D’Olbriot etwas über Loyalität beibringen könnt, Mann der Magier.« Der Neffe funkelte Darni feindselig an. »Ich bin sicher, er wollte Euch nicht beleidigen ...«, begann Casuel. Diesmal wurde er von Messire D’Olbriot zum Schweigen gebracht. »Was meinst du, Bruder?« Der ältere Mann rutschte auf seinem Stuhl herum. »Zwei Lehnsmänner in einem Fischerboot sind ein Aufklärungstrupp, aber ein Meeresschiff mit dem Banner der D’Olbriot könnte als feindlicher Akt betrachtet werden. Außerdem ist da noch die Frage, ob man Magiern gestatten soll, sich in die Politik einzumischen. Ich denke, wir sollten uns lieber aus dieser Sache heraushalten.« »Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt, doch ich glaube nicht, dass diese Männer euch im Stich lassen werden«, sagte Darni in ruhigem Tonfall. »Zieht eure eigenen Erkundigungen ein, meine Herrn. Ihr werdet herausfinden, dass nicht nur euer Neffe, sondern auch viele andere beraubt worden sind. Ich bin 420
sicher, ihr habt davon gehört, was vor kurzem in Inglis geschehen ist. Wenn ihr dann Ryshads Bericht erhaltet, werdet ihr feststellen, dass diese Gewalt nur das Vorspiel zu etwas weit Schlimmerem ist.« Casuel fragte sich, wie Darni eine schlichte Vermutung so formulieren konnte, dass sie wie eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache klang. »Wir haben die Pflicht, Genugtuung für das Schicksal meines Vetters einzufordern, Vater«, meldete der Sohn sich zum ersten Mal zu Wort. »Und wir haben auch eine Pflicht unseren Lehnsmännern gegenüber.« Messire D’Olbriot blickte ihn nachdenklich an; dann wandte er sich wieder Darni zu. »Ihr wollt gehen, egal wie ich mich entscheide?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »So ist es«, bestätigte Darni ihm entschlossen. »Ich kann meine Gefährten in einer solchen Situation nicht einfach im Stich lassen. Ich habe Hadrumal kontaktiert, und der Erzmagier hat mir seine Erlaubnis gegeben.« »Ihr wollt es allein mit diesem unbekannten Volk aufnehmen? Ein Mann, ein Magier und ein Mädchen?«, fragte der Bruder mit einem Hauch von Spott in der Stimme. Zu Casuels großer Erleichterung schnappte Darni nicht nach dem Köder. »Nein, Herr. Der Erzmagier hat erklärt, dass er uns sowohl Magier als auch Krieger zur Unterstützung schicken wolle. Sie werden bald hier sein. Um so wenig Zeit wie möglich zu verschwenden, würde ich es allerdings vorziehen, dann ein Schiff bereit zu haben.« »Ihr plant also eine Invasion«, sagte der alte Mann in missbilligendem Tonfall. »Das ist eindeutig ein feindseliger Akt.« »Sie haben den Kampf begonnen, indem sie Menschen wie 421
Euren Neffen überfallen und meinen Gefährten entführt haben.« Darni beherrschte sich, doch seine Stimme klang eiskalt. »Ich würde es eher eine Vergeltungsmaßnahme nennen.« Messire D’Olbriot hatte den Brief wieder zusammengerollt und trommelte damit geistesabwesend auf sein Knie. »Wir können die Tatsache nicht ignorieren, dass wir ein persönliches Interesse an dieser Angelegenheit haben, meine Herren.« Er zerknüllte das Pergament. »Wenn wir uns mit Magiern verbünden, wird das ohne Zweifel für Gerede sorgen, aber ich glaube, in diesem Fall ist es akzeptabel.« Er winkte seinem Neffen. »Junker Camarl wird dafür sorgen, dass Ihr mit meinen Seekapitänen sprechen könnt. Die endgültige Entscheidung liegt bei ihnen, aber ich werde sie wissen lassen, dass ich Eure Unternehmung befürworte.« »Das ist äußerst großzügig von Euch, Messire ...« Casuel schluckte seine Dankesrede hinunter, als der Fürst fortfuhr. »Ich verlange von Euch nur eines.« D’Olbriot blickte Darni tief in die Augen. »Planir oder einer seiner engsten Berater muss mir die Angelegenheit persönlich erklären, und zwar nicht später als bis zur Wintersonnenwende. Falls Tormalin auf irgendeine Weise in seinen Interessen bedroht sein sollte, will ich genügend Vorwarnzeit haben, um angemessene Maßnahmen ergreifen zu können. Habt Ihr mich verstanden? Das ist die Bedingung für meine Unterstützung, und die steht nicht zur Debatte. Habe ich Euer Wort darauf?« »Natürlich, Herr.« Darni verneigte sich höflich und warf dabei Casuel einen giftigen Blick zu. »Ich bin sicher, dass der Erzmagier Euch gerne alle Informationen geben wird, die Ihr haben wollt.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Kapitän allzu 422
begierig darauf ist, zu dieser Jahreszeit aufs offene Meer hinauszusegeln.« Der Bruder des Fürsten verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann werden wir eben herausfinden, wer Dastennin am meisten vertraut.« Zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie Belustigung auf Messire D’Olbriots Gesicht, und die Atmosphäre entspannte sich. »Vielleicht solltet auch Ihr ein Opfer am Schrein des Herrn der See darbringen, bevor Ihr Euch auf den Weg macht.« »Ein exzellenter Vorschlag.« Casuel vergaß seine Rippen und verbeugte sich tiefer denn je. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als die Adeligen sich erhoben, während Darni lachte. »Es könnte wohl nicht schaden. Danke, Messire.« »Junker Camarl wird noch heute wieder Kontakt mit Euch aufnehmen und Euch in den Hafen begleiten.« Messire D’Olbriot hielt kurz inne, um sich höflich vor Allin zu verbeugen – eine Geste, die ihm die anderen Familienmitglieder nachmachten. Allin wurde puterrot, knickste und war sprachlos vor Staunen – was Casuel zutiefst beruhigte. »Lasst mich Euch hinaus begleiten.« Eifrig huschte er dem Fürsten und seiner Familie hinterher. Darni schaute ihm nach, und ein Hauch von Verachtung huschte über sein Gesicht. »Muss ich auch auf dem Schiff über das Meer?«, flüsterte Allin, und Sorge spiegelte sich auf ihrem runden Gesicht. »Nein, meine Süße.« Darni legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich. »Alles wird gut. Bald werden ein paar ordentliche Magier hier sein; die werden sich dann um dich kümmern.«
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Das Offene Meer Zweite Hälfte des Nachherbstes
Über diesen Teil unserer unsinnigen Reise kann ich nicht viel sagen, weil ich die meiste Zeit mit dem Kopf im Eimer verbrachte. Keinem der anderen erging es ähnlich, doch die Scherze auf meine Kosten ebbten rasch ab, als offensichtlich wurde, dass ich mich nicht nur ein paar Stunden übergeben würde, bevor ich meine Seemannsbeine bekam. Mehrere Tage lang bestand meine Welt nur aus Übelkeit und Elend. Eines Abends bei Einbruch der Nacht kam Ryshad zu mir. Er hielt meinen Kopf und half mir dann, das Gesicht zu waschen. Limonenöl im Wasser vertrieb den Geschmack der Galle in meinem Mund, und ich brachte ein mühsames »Danke« hervor. »Nichts zu danken.« Sanft wischte er mir mit einem sauberen, feuchten Tuch übers Gesicht. »Hier, trink einen Schluck Wasser, und kau das. Es wird dir helfen.« Nachdem ein paar vorsichtige Schlucke Wasser im Magen blieben, hielt ich die Hand auf. »Es ist doch kein Thassin, oder?« »Nein, gezuckerter Ingwer.« Er gab mir ein klebriges Etwas. Es reinigte meinen Mund, was eine Erleichterung war, doch als das Schiff sich wieder heftiger zu bewegen begann, steckte mein Kopf wieder im Eimer. Schon bald verlor ich das Interesse an allem anderen; selbst meine Neugier hatte sich verabschiedet, sodass ich noch nicht einmal mehr Shiv zuhörte, wenn er in die Kabine kam. Nun, zumindest hörte ich so lange nicht zu, bis ich bemerkte, dass sie über mich sprachen. »Sie behält nicht einmal mehr das Wasser bei sich«, sagte 424
Ryshad gerade. »Das könnte ernst werden.« »Du hättest mich früher rufen sollen«, beschwerte sich Shiv. Hätte ich mich nicht so elend gefühlt, seine Sorge hätte mich gerührt. »Du warst zu beschäftigt. Wie kommt der Steuermann mit der Magie zurecht?« »Oh, er scheint ganz glücklich damit zu sein; sicher bin ich allerdings nicht, ob er es wegen seiner Brüder nur vortäuscht.« Shiv trat an meine Koje und legte mir sanft die Hände auf die Schläfen. Ich schloss die Augen, als plötzlich ein smaragdgrünes Licht aufleuchtete. Das half jedoch nicht viel, da das Licht aus meinem Kopf zu kommen schien. Es war ein so seltsames Gefühl, dass ich selbst meine Übelkeit vergaß. Das Leuchten verschwand, und ich blinzelte, um die bunten Flecken vor meinen Augen zu vertreiben. »Was war das?«, krächzte ich. »Du hast Wasser in den Ohren«, erklärte Shiv. »Das ist einer der Gründe, dass du dich so schlecht fühlst. Was ich getan habe, müsste dir eigentlich helfen. Versuch jetzt, ein wenig zu schlafen.« Ich bemerkte, dass die schreckliche Übelkeit verschwunden war. Erleichtert atmete ich tief durch, bereute es aber sofort wieder, als ich spürte, wie rau mein Hals geworden war, und der Schmerz in meinem Leib und meinen Schultern pochte fürchterlich. »Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber eine meiner Geburtsrunen war der südliche Seewind«, gelang es mir, leise zu scherzen. »Hier, nimm noch etwas Ingwer.« Ryshad reichte mir ein kleines, in Papier gewickeltes Stück. Der Ingwer half mir in der Tat. Ich trank einen kräftigen 425
Schluck Wasser, und als das im Bauch blieb, trank ich noch einen zweiten und aß etwas Schiffszwieback. Nach einer Weile glaubte ich, schlafen zu können. Zu meinem Erstaunen wachte ich irgendwann an einem sonnigen Tag und in einer leeren Kabine wieder auf, und in meinem Magen herrschte Frieden, Drianon sei Dank. Nach einer Weile erschien Ryshad mit etwas trockenem Brot. »Komm rauf an Deck«, riet er mir. »Du könntest frische Luft gebrauchen.« Ich folgte ihm. Meine Beine zitterten noch immer, während ich die Leiter hinaufkletterte, doch von der Übelkeit war nichts mehr zu spüren; also hatte Shivs Zauber wohl gewirkt. Ich schaute mich auf dem Boot um und sah Aiten trotz der Kälte mit nacktem Oberkörper, wie er der Mannschaft mit einem Netz half. Shiv war in ein Gespräch mit dem Steuermann versunken. »Segel voraus!« Ich blickte nach oben und sah einen dürren Jungen hoch im Mast, der gefährlich hin und her schwankte. Fast hätte sich mir bei dem Anblick wieder der Magen umgedreht; also schaute ich auf die See hinaus. »Von da unten kann man es nicht sehen!«, rief der Junge Shiv zu. Der Magier nickte, und ich bemerkte, dass das Boot langsamer wurde. »Halten wir?«, fragte ich nervös und blickte in alle Richtungen übers Wasser. »Nein, wir sorgen nur dafür, dass sie uns nicht sehen können. Wir bleiben weit genug zurück, dass die Krümmung des Ozeans uns verbirgt.« »Bitte?« »Der Ozean ist krumm.« Ryshad beschrieb einen Bogen in der Luft. »Wenn wir hier bleiben, können sie uns nicht sehen. Sie 426
sind das größere Schiff; also können wir ihren Mastspitzen folgen.« Ich muss Ryshad so dumm angeschaut haben, dass er sich genötigt sah, sich hinzuhocken und ein Bild auf das nasse Deck zu malen. »Das ist die Meeresoberfläche. Einige sagen, es sei wie die Krümmung auf einem vollen Glas, und manche glauben sogar, dass die Welt eine Kugel ist. Aber wie auch immer ...« Als er kurz aufblickte, hob ich die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das klang mir viel zu sehr nach einem dieser Gespräche mit Geris, und ich kam zu dem Schluss, dass ich besser dran war, wenn ich nicht so viel über das Meer wusste. »Mir reicht dein Wort. Mich interessiert nur, wann wir wieder trockenen Boden unter den Füßen haben.« Niemand konnte mir die Frage beantworten, doch das schien auch niemandem etwas auszumachen. Machil willigte ein, weiter aufs Meer hinauszusegeln, nachdem Shiv ihm bewiesen hatte, wie gut er Wind und Wasser um das Boot herum beherrschen konnte. Außerdem war Machil der festen Oberzeugung, dass er vor seinen Brüdern ausgesprochen dumm dagestanden hätte, wäre er jetzt einfach umgekehrt; Aiten hatte ganze Arbeit geleistet, ihn auf unsere Seite zu ziehen. Niemand fragte uns, was wir eigentlich vorhatten, und da Shiv freiwillig nichts sagte, hielten auch wir anderen den Mund. Unsere Reise dauerte immer länger, noch einmal zehn Tage. Schon bald war Langeweile mein Hauptproblem, da ich nirgends helfen konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte. Der Himmel wurde immer grauer und das Wetter stürmischer, doch da auch das niemandem etwas auszumachen schien, musste ich wohl oder übel glauben, dass wir nicht zu sinken drohten. We427
nigstens wurde ich nicht mehr seekrank. Shiv konzentrierte sich darauf, das feindliche Schiff zu verfolgen, während Ryshad und Aiten der Mannschaft halfen. Ich spielte ein paar Partien Runen, doch nachdem ich die Schiffsbesatzung mehrmals um ihren gesamten Vorrat an Muschelspielsteinen erleichtert hatte, verlor ich das Interesse. Als die Monde schließlich den Beginn des Vorwinters ankündigten, fragte ich mich, ob wir das Elietimmschiff irgendwann vom Rand der Welt fallen sehen würden. In just diesem Augenblick erschreckte uns der Junge im Mast mit einem lauten: »Land voraus!« Machil kletterte rasch, wenn auch wenig elegant den Mast hinauf. Der Wind trieb seine Worte davon, und so konnten wir nicht verstehen, worüber er mit dem Ausguck sprach. Als er wieder herunterkam, zeigte sich auf seinem Gesicht eine Mischung aus Furcht und Staunen, die sich in den Gesichtern seiner Brüder widerspiegelte. »Da draußen ist Land.« Er hatte offenbar nicht geglaubt, dass wir etwas finden würden. Die Seeleute blickten einander an. Irgendetwas beunruhigte sie, doch niemand schien es aussprechen zu wollen. »Dann lasst uns mehr Segel setzen und näher heranfahren.« Aiten ging zu den Tauen, aber niemand folgte ihm. »Das will ich nicht.« Der Schiffsjunge, der jüngste der Brüder, errötete, doch keiner der anderen zischte ihn an, wie es ansonsten ihre Gewohnheit war, wenn er sich ungefragt zu Wort meldete. »Warum nicht?«, fragte Shiv vorsichtig. Ich sah, dass es ihn beunruhigte, wie die Dinge sich entwickelten. Der Junge biss die Zähne zusammen. »Wenn es so weit hier 428
draußen Land gibt, müssen dort die Schatten leben.« Er schaute von einem seiner Brüder zum anderen und forderte sie heraus, ihm zu widersprechen. Die Älteren blickten einander an, doch niemand sagte ein Wort. »Schatten?«, fragte ich und versuchte, nicht allzu neugierig zu klingen. Der Junge öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Verlegenes Schweigen setzte ein, bis Machil sich schließlich zu Wort meldete. »Es gibt alte Geschichten über Inseln, wo die Schatten der Ertrunkenen leben. Es heißt, wenn man dort landet, kann man nie wieder fort.« Er blickte uns trotzig an, und ich erkannte, dass wir ein Problem hatten. »Ihr glaubt doch sicherlich nicht an solche Kindergeschichten?« Aitens amüsierter Tonfall war ein Fehler, und ich sah, wie sich die Gesichter um uns herum verhärteten. »Die Schatten existieren wirklich. Manchmal verfangen sie sich in den Netzen, wenn man zu weit nördlich fischt.« Das war einer der älteren Brüder; er gehörte zu jener Art Mann, der man nicht genügend Phantasie zutrauen würde, um einen Fisch auch einmal zu backen statt zu braten. »Ich verstehe. Und wie sehen sie aus?« Shiv wirkte vollkommen ernst. Machil zuckte mit den Schultern. »Wie alles andere, das ertrunken ist; aber man kann sie als Schatten erkennen, weil sie keine Farbe haben. Haut und Haare, beides ist farblos.« Ich musste nicht zu den anderen blicken, um zu wissen, dass wir alle das Gleiche dachten. Warum hatten wir diesen Leuten nicht gesagt, was wir vorhatten, und sie gefragt, ob sie nicht irgendetwas Nützliches für uns wüssten? Was auch immer wir 429
jetzt sagten, für diese Leute würde es wie Lügen klingen, die wir erfanden, um sie die Schatten vergessen zu lassen. Shiv blickte die entschlossenen Gesichter der Reihe nach an und traf eine Entscheidung. Er deutete auf das kleine Beiboot. »Setzt uns darin aus. Dann könnt ihr nach Hause zurück.« »O nein. Wir brauchen dich für die Winde«, widersprach Machil entschlossen. »Ich kann einen Zauber wirken, der euch nach Hause bringen wird«, erwiderte Shiv mit der Autorität eines Magiers. Machil drehte sich um und murmelte irgendetwas von wegen, eine ganze Mulikarawane sei diese Fahrt nicht wert gewesen, doch er befahl ein paar seiner Brüder, das Ruderboot loszumachen. Ich folgte Shiv in die Kabine hinunter. »Shiv«, sagte ich nervös. »Was tun wir hier eigentlich?« Er blickte von dem Brief auf, den er gerade begonnen hatte. »Oh, ich hatte nie vor, das Schiff anlegen zu lassen. Ich halte es für besser, ungesehen an Land zu gehen und die Gegend erst einmal zu erkunden, bevor wir entscheiden, was zu tun ist. Eigentlich hatte ich das Ruderboot ja erst einsetzen wollen, wenn wir etwas näher herangekommen wären, aber so ist es auch nicht weiter schlimm.« »Da bin ich nicht so sicher.« Seine beruhigende Art hatte genau die gegenteilige Wirkung auf mich. »Wie sollen wir dann wieder nach Hause kommen? Die Jungs hier sind wieder auf dem Weg nach Westen, bevor wir auch nur die Ruder eingelegt haben.« »Ich werde uns schon nach Hause bringen. Wenn wir ein Schiff bekommen können, wird es einfach. Sollte jedoch das Schlimmste passieren, kann ich uns immer noch versetzen, so wie ich es mit dir in Inglis gemacht habe.« 430
Ich starrte ihn offenen Mundes an. Jemanden durch eine Wand und über eine halbe Straße zu versetzen, war eine Sache, aber über wie viele Meilen redeten wir jetzt? Plötzlich fiel mir etwas ein. »Soll das heißen, dass du diese Art Reise mit Magie machen kannst? Dann habe ich mir die Seele wohl umsonst aus dem Leib gekotzt, oder was?« Shiv schüttelte den Kopf, während er den Brief versiegelte und an Planir richtete. »Tut mir Leid, ich kann uns nur an einen Ort bringen, wo ich schon einmal gewesen bin. Anschließend bin ich einen Tag lang zu nichts mehr fähig. Ein derart komplexer Zauber kann einen wirklich fertig machen.« Ich suchte nach einem weiteren Einwand, um Shiv davon abzubringen, dieses plötzlich so wunderhübsche Schiff und die liebevolle Mannschaft einfach mitten im Ozean zu verlassen. Zu meinem großen Verdruss fiel mir jedoch nichts ein, was er nicht ebenso leicht hätte beiseite schieben können. Ich erinnerte mich daran, dass es einer der Gründe dafür war, warum ich normalerweise nichts mit Zauberern zu tun haben wollte. Also machten wir uns in der Nussschale auf den Weg, in der ich für meinen Geschmack viel zu nahe am Wasser saß. Zumindest waren auch Ryshad und Aiten nervös, auch wenn das mehr daran lag, dass sie ihre Rüstungen angelegt hatten für den Fall, dass es bei der Landung Ärger gab. Das bedeutete, dass sie ungefähr so gut würden schwimmen können wie ein Sack Steine – na ja, wenigstens hätte ich dann Gesellschaft, wenn wir ins Wasser gingen. Da Vanam so weit entfernt vom Meer liegt, wie es nur irgend möglich ist, hatte ich nie Schwimmen gelernt. Aber zum Glück mussten wir wenigstens nicht rudern. Shiv saß am Bug des Bootes, steckte eine Hand ins Wasser und konzentrierte sich. Leise glitt das Boot über die Wellen, und es 431
dauerte nicht lange, da nahmen die grauen Schatten am Horizont Gestalt an. Die matt grünen Hügel über schieferfarbenen Ufern sahen allerdings nicht gerade einladend aus. Geräuschlos glitten wir in eine seichte Bucht. Dort saßen wir eine Zeit lang schweigend beieinander und blickten einander ratlos an. »Kommt.« Ryshad stand entschlossen auf und verließ das Boot. »Wir sind hierher gekommen, um Antworten zu bekommen; dann lasst sie uns auch suchen.« Aiten bestand darauf, dass wir das Boot über die Flutmarke zogen und es mit ein paar Felsen sicherten. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückkehren können; meinetwegen konnte Shiv dann auch schlafen, so lange er wollte. Ich verzichtete jedoch darauf, das auszusprechen. Wir alle waren viel zu nervös, als dass einer von uns einen Streit riskiert hätte. Trotzdem fühlte es sich gut an, eine Aufgabe und wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. »Und was jetzt?«, fragte ich, nachdem wir eine Stelle am Ufer gefunden hatten, wo wir unser Gepäck verstauen konnten. »Wir müssen ein Gefühl für den Ort bekommen, bevor wir irgendwelche Pläne schmieden können«, antwortete Ryshad. »Lasst uns mal sehen, wie diese Leute leben; dann finden wir vielleicht den, der hier das Sagen hat.« Das war schon mehr nach meinem Geschmack. »Wenn wir sein Haus finden, gehe ich rein und schau mich mal ein wenig um.« »Ich weiß nicht, ob es klug ist, wenn wir uns trennen ...«, begann Shiv unsicher. Ryshad winkte ihm zu schweigen. »Das werden wir besprechen, wenn es soweit ist.« 432
Er ging das Ufer hinauf voran, und wir überquerten einen unangenehm offenen Streifen stoppeligen Graslandes. Ich schaute mich um und runzelte die Stirn. »Hier gibt es sehr wenig Deckung, Rysh.« Die wenigen Bäume standen weit auseinander und waren vom Wind recht mitgenommen. Außer vielleicht einem unterernährten Schwein hätte sich nichts darunter verstecken können. Ryshad verschwendete keine Zeit mit Antworten, sondern führte uns zu einem flachen, felsigen Hang. Dort fiel uns zwar das Gehen schwerer, aber zumindest hatten wir ein wenig Deckung. Nach einem längeren Marsch verriet uns Rauch am Horizont, dass Menschen in der Nähe waren. Vorsichtig gingen wir weiter. »Das sind Dungfeuer.« Aiten rümpfte die Nase ob des Geruchs, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Was sonst sollte man in dieser Öde als Brennstoff verwenden? Von einem Aussichtspunkt zwischen den Felsen blickten wir auf eine kleine Siedlung an der zerklüfteten Küste. Die Menschen arbeiteten an Booten am Strand. Und noch etwas anderes lag auf dem Ufergeröll, etwas Großes, Schwarzes, das ich nicht genau erkennen konnte. Ryshad holte sein Fernrohr heraus und konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken. »Bei Dasts Zähnen, das ist ein Fisch!« »Darf ich?« Shiv nahm ihm das Fernrohr ab. »Nein, das ist ein Wal, ein Meerungeheuer.« »So etwas wie ein Drache?«, fragte ich nervös. Zum Glück hatte ich nicht an Seeungeheuer oder Ähnliches gedacht, als wir noch auf dem Boot gewesen waren. »Nein. Sie sehen aus wie Fische, aber sie haben warmes Blut. 433
Und sie säugen ihre Jungen.« Shiv reichte mir das Fernrohr, und ich konnte eine Gruppe blonder Menschen sehen, die damit beschäftigt waren, Haut und Fleisch von dem riesigen, blutigen Kadaver abzuziehen. Da ich meinem Magen noch immer nicht vertraute, drehte ich den Kopf, um nach anderen Dingen Ausschau zu halten. In dem Ort ging es so geschäftig zu wie in einem Bienenstock. Fleisch von dem Wal trocknete an Stangen; Kinder gruben nach irgendetwas im Sand hinter dem Dorf, und die Erwachsenen flickten die Netze, nahmen die Fische aus und sortierten die Taue. Shiv griff nach dem Fernrohr, und widerwillig überließ ich es ihm. »Azazir hatte Recht, als er sagte, sie vermehren sich wie die Karnickel. Hier gibt es mindestens dreimal so viele Menschen wie in dem Dorf, von dem wir aufgebrochen sind«, bemerkte ich. Aiten hielt in die andere Richtung Wache. Er drehte sich zu uns um. »Seht euch das einmal an.« Ich blickte die Küste hinunter und sah Männer und Frauen, die zwischen den Felsen arbeiteten, welche die Ebbe freigelegt hatte. Einige sammelten Muscheln, während andere Seetang in Körbe füllten, die dann landeinwärts getragen wurden, wo weitere Leute ihn in Terrassenfelder an den Hügeln einarbeiteten. »Sie bewegen sich wie Sklaven«, murmelte Aiten. »Wie auf den Aldabreshi-Inseln.« »Nur dass es hier nicht brütend heiß ist und alles im Urwald erstickt«, erwiderte ich und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Ryshad gesellte sich zu uns. »Das sind keine Sklaven«, sagte er langsam. »Oder seht ihr irgendwelche Aufseher? Niemand hat 434
eine Peitsche oder einen Stock. Sie tun das, weil sie es tun wollen.« Ich ließ den Blick über die öde Landschaft schweifen und schauderte ob des kalten Windes, der von See her wehte. »Sie tun es, weil sie sonst verhungern würden. Bei Misaen, was für einen Ort haben die sich zum Leben ausgesucht!« »Das ist keine Frage des ›Aussuchens‹«, meldete sich Shiv wieder zu Wort, als er Ryshad das Fernrohr zurückgab. »Aufgrund der Strömungen und Winde kann man diese Inseln ohne Magie nicht verlassen.« Hier saßen wir also und beobachteten diese Menschen bei ihrer schweren, eintönigen Arbeit. Die Ankunft einer kleinen Flotte von Einmannbooten löste einen kleinen Aufruhr aus; die Netze zwischen den Booten waren voller Fisch. Kurz darauf kamen ein paar der größeren Zwei- und Viermannboote herein, und ich konnte nicht anders, als entsetzt nach Luft zu schnappen; die größeren Boote schienen keinen Fisch, sondern Leichen zu befördern. Ryshad versicherte mir jedoch, dass es sich nicht um Menschen, sondern um Seehunde handelte, wie sie auch an der Südküste von Tormalin heimisch sind. Ich hasste es, jedes Mal als Dummerchen dazustehen, wenn mein Unwissen über die See und ihre Tiere so offensichtlich wurde. Von jetzt an, beschloss ich, würde ich einfach den Mund halten und mir im Laufe der Zeit durch Zuhören und Beobachten das nötige Wissen aneignen. »Wo bekommen sie das Holz für ihre Boote her?«, sinnierte Aiten, während wir beobachteten, wie die Boote an Land gezogen und in langen, niedrigen Gebäuden untergebracht wurden. Ryshad spähte wieder durch sein Fernrohr. Ich beschloss, mir bei der nächsten Gelegenheit auch eins zu besorgen. 435
»Ich glaube nicht, dass sie Holz zum Bau benutzen«, sagte er nach einer Weile und schob das Fernrohr zusammen. »Diese Boote scheinen aus Leder auf Knochenrahmen zu bestehen.« Wir blickten zu dem Walkadaver, von dem inzwischen nur noch die mächtigen Rippen übrig waren. »Sie nutzen wirklich alles.« Sorge mischte sich unter Shivs Bewunderung, und ich verstand auch warum. Diese Leute besaßen sehr wenig, aber sie machten das Beste daraus. Armut und Einfallsreichtum sind eine gefährliche Kombination. Wir schlichen uns in den Schutz einer Felsspalte. Dem Wind entkommen zu sein, war eine Erleichterung, aber uns war noch immer kalt. Sollte es jetzt noch zu regnen anfangen, steckten wir in Schwierigkeiten. Es wurde Mittag, und der sich drehende Wind trug den wohligen Duft von gebratenem Fisch herbei. »Ich verhungere«, stöhnte Aiten. »Riecht doch nur!« Er blickte mich an. »Du könntest nicht hinunterschleichen und uns etwas stehlen, oder?« »Unsinn!« Ich ersparte ihm einen tadelnden Blick. »Da unten falle ich auf wie ein Eunuch im Puff.« »Na und? Ich dachte immer, Frauen lieben Männer, die nichts von ihnen wollen.« Aiten grinste. »Würdet ihr beide jetzt vielleicht mal ruhig sein?«, zischte Shiv. Jetzt war wohl nicht die rechte Zeit für dumme Witze. »Da drüben!« Ryshad beobachtete noch immer das Dorf, und wir alle folgten seinem Blick. Eine Gruppe von Männern hatte sich auf der landeinwärts gewandten Seite der Häuser versammelt. Sie luden sich Lasten auf, die selbst auf diese Entfernung schwer genug aussahen, um mich unwillkürlich zusammenzucken zu lassen. 436
»Folgen wir ihnen.« Vorsichtig arbeiteten wir uns um den Felskamm herum, der das kleine Dorf umgab, und blickten zu den Männern hinunter, als diese sich zu einer ordentlichen Reihe formierten und die Küste hinaufmarschierten. Wir hielten uns ungefähr parallel zu ihnen und kamen kurz darauf in flacheres, weniger steiniges Land. Erneut wurde Deckung immer seltener, und wir mussten von Felsen zu Gräben rennen und dabei auf Shivs Magie vertrauen, die bewirken sollte, dass jemand, der sich einfach nur umschaute, uns übersehen würde. Es kam zu einer Verzögerung, als die Lastenträger einen Fluss erreichten, wo Menschen im Schlamm der Flussmündung standen und mit Netzen Fische fingen, die von den Gezeiten hereingebracht worden waren. Auf der anderen Seite erhob sich eine hohe Klippe. Kleine Gestalten am Rand sammelten die Eier aus den Nestern der Seevögel, die entrüstet kreischten und die Plünderer mit Schnäbeln und Krallen angriffen. Wieder schauderte ich. Es musste furchtbar sein, die glitschigen Felsen hinaufzuklettern, während einem die Vögel auf den Kopf schissen. Wir warteten, bis die Lastenträger sicher den Fluss überquert hatten; dann suchten wir selbst uns einen Weg über den feuchten Sand. Shiv ging voraus, um uns vor Löchern zu warnen, die im trüben Wasser verborgen waren. Meine Stiefel hielten das Wasser fern; allerdings war uns allen inzwischen entschieden zu kalt, doch erleichtert stellte ich fest, dass es hinter dem Fluss landeinwärts ging. Hier gab es Hügel, die uns vor dem Wind schützten, und wir erreichten eine flache Straße, die das Gehen viel einfacher machte, obwohl wir immer wieder in die Büsche springen mussten, wenn Shivs Magie uns sagte, dass jemand kam. 437
Bei einer dieser Gelegenheiten hockte ich gerade in einem Busch am Straßenrand und saugte an meiner Hand, die von den bösartigen Dornen der hiesigen Pflanzenwelt aufgerissen worden war, als ich etwas auf einem der Markierungssteine bemerkte, die in regelmäßigen Abständen die Straße begrenzten. Es war eine grobes Bild aus Linien und Winkeln in einem Viereck. Wo hatte ich das schon mal gesehen? Auf den Fischerbooten? Auf jeden Fall hatte ich es für eine Verzierung gehalten. Wir gingen weiter. Nun, da mir das Symbol aufgefallen war, sah ich es auf jedem Stein. Ich war so sehr damit beschäftigt, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, dass ich fast gegen Ryshad gerannt wäre, als wir um eine Kurve kamen und plötzlich eine Ansammlung von Häusern sahen. Die Lastenträger waren an einer Art befestigtem Gutshaus angekommen. In der Mitte stand ein großes, zweistöckiges Haus, umgeben von einer hohen Mauer, an die weitere Gebäude angebaut waren. Hier ging es genauso geschäftig zu wie in dem Dorf, das wir gerade verlassen hatten, doch die Gebäude standen nicht so dicht an dicht. Ich nehme an, Platz bedeutete Wohlstand in einem Land, wo jedes noch so kleine Fleckchen Erde genutzt werden musste. Hoch über dem Tor hing eine Schiefertafel mit dem Symbol, das ich nun schon den ganzen Weg über immer wieder gesehen hatte – offenbar war es ein Wappen –, und davor standen braun livrierte Wachen. »Sieht so aus, als hätten wir das Haus des Häuptlings gefunden«, murmelte ich und trat neben Ryshad. Er schaute sich stirnrunzelnd um. »Das ist kein Ort, der leicht zu verteidigen wäre. Ein Angreifer könnte sie einfach von den Hügeln aus mit Steinen und Pfeilen eindecken.« »Du weißt nicht, was für magische Verteidigungen sie ha438
ben«, bemerkte Shiv und erinnerte uns damit an etwas, das ich am liebsten vergessen hätte. Wir kauerten uns in eine Felsnische und beobachteten, wie die Lastenträger geduldig vor dem Tor warteten. Keiner von ihnen setzte sich oder legte seine Ladung ab. Sie standen einfach nur da, bis sie gerufen wurden, um ihre Last an Männer aus dem Haupthaus zu übergeben. In den Werkstätten an der Mauer ging es geschäftig zu. Ich hörte das Hämmern von Schmieden, und da war auch noch ein anderes Geräusch, das ich zunächst nicht richtig zuordnen konnte, bis ich mehlverschmierte Männer sah, die Säcke aus einem niedrigen Gebäude trugen. Was jedoch fehlte, war das Geräusch von Wasser und Dampf aus der Schmiede. »Wie treiben sie die Mühle an?«, fragte ich Shiv. Shiv verzog das Gesicht und schloss die Augen; die Hände hatte er flach auf die Felsen gelegt. Kurz zeichnete sich Verwirrung auf seinem Gesicht ab; dann öffnete er die Augen wieder. »Die Hitze kommt aus der Erde, ebenso heißes Wasser und Dampf. Das nutzen sie irgendwie.« Staunend blickten wie einander an. Diese Leute waren wirklich sehr einfallsreich. »Diese Inseln müssen von Feuerbergen gemacht worden sein«, bemerkte Ryshad. »Die Aldabreshi-Inseln sind genauso entstanden.« Die Reihe der Lastenträger schlurfte vorwärts, und ich erinnerte mich daran, was ich tun sollte. Ein Mann führte eine Art Liste auf einer Holztafel, und ich beobachtete ihn aufmerksam. Wir brauchten Informationen; also wollte ich wissen, wohin diese Tafel gebracht wurde. Schließlich klappte der Mann die Tafel zu und ging zum Haupthaus, ohne dass jemand ihn ange439
sprochen hätte. »Meinst du, du kommst da rein?« Ryshad reichte mir das Fernrohr, und ich betrachtete die Siedlung. »Wenn ich mich nur um die Mauern und Fenster kümmern müsste, wäre es kein Problem.« Ich drehte mich zu Shiv um. »Kannst du irgendwie feststellen, ob es magische Verteidigungseinrichtungen gibt?« Shiv zuckte hilflos mit den Schultern. »Jedenfalls keine Elementarmagie. Doch ob es ätherische Verteidigungen gibt ...« Ich runzelte die Stirn. »Es macht mir ja nichts aus, ein Wagnis einzugehen, aber ich ziehe es vor, vorher zu wissen, ob es die Sache wert ist.« Ryshad stellte die offensichtliche Frage, bevor ich es konnte. »Kannst du sagen, ob da drin irgendwelche von den gestohlenen Dingen sind?« Shiv suchte in seinen Taschen nach den Ölen, die er zum Weitsehen brauchte. »Wollen wir uns das doch mal anschauen.« Wir hielten Wache, während Shiv über seiner kleinen Silberschüssel hockte, Sprüche murmelte und mit den Händen wedelte; das Magierlicht unterdrückte er, um uns nicht unnötig zu gefährden. Schließlich tippte er mir auf den Rücken, und ich kauerte mich neben ihn. »Ich glaube, ich habe ein paar von Darnis Büchern gefunden, ein paar Bände von Weral Tandris Historie. Sie befinden sich in einer Art Arbeitszimmer auf der anderen Seite im ersten Stock ... glaube ich.« »Irgendeine Spur von Geris?«, fragte ich in der vagen Hoffnung auf einen Siegeswurf bei diesem Spiel. Shiv schüttelte den Kopf und seufzte. »Keine.« »Sind irgendwelche Teile des Hauses so abgeschirmt wie das 440
Schiff?« Ryshad blickte über die Schulter. »Nein. Ich konnte das ganze Haus überprüfen.« »Könntest du mir das Innere zeigen? Das würde es mir wesentlich einfacher machen.« Shiv hatte Bedenken. »Lieber nicht, wenn du glaubst, dass du es auch so hinbekommst. Sich einen groben Überblick zu verschaffen, ist eine Sache, aber eine eingehende Untersuchung braucht Zeit und Kraft. Vergiss nicht, dass die Elietimm am See in der Lage waren, mich als Magier zu identifizieren. Deshalb nehme ich an, dass sie Elementarmagie irgendwie aufspüren können.« Leider konnte ich ihm in diesem Punkt nicht widersprechen. »Wenn es sonst keine Schutzmaßnahmen gibt, halte ich es für unwahrscheinlich, dass sie eine ätherische Verteidigung eingerichtet haben«, sagte Ryshad, um mir Mut zu machen. Ich hob die Augenbrauen und blickte ihn skeptisch an; das war eine recht vage Vermutung, aber immerhin besser als nichts. So saßen wir in unserem Versteck und verbrachten den Rest des Tages mit Warten. Rasch wurde uns langweilig; unsere Glieder wurden steif, und wir bekamen Hunger. In all den wunderbaren Abenteuerballaden hatten die Schreiber wirklich einen großen Teil weggelassen. Wann habt Ihr einen Barden zum letzten Mal davon singen hören, wie der Held sich fast zu Tode langweilt, oder wie er in einem nicht enden wollenden Regen bis auf die Knochen nass wird? Nun, zumindest war uns Letzteres bis jetzt erspart geblieben. Ich wollte Ryshad gegenüber eine entsprechende Bemerkung machen, entschied mich aber dagegen. Auf dieser besonderen Queste hatten wir Dastennin schon ein wenig zu oft herausgefordert.
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Das Gästehaus des Schreins von Ostrin, Bremilayne 1. Vorwinter
Darni machte seinem Ärger Luft, indem er wie wild klingelte. »Besorg uns was zu essen«, rief er, als ein verschreckter Akolyth die Tür öffnete. »Guten Tag. Bitte, verzeiht meinem Gefährten.« Casuel verneigte sich knapp und eilte hinein. Junker Camarl folgte ihm langsam und mit nachdenklicher Miene. »Stimmt was nicht?«, fragte Allin und drückte nervös ihre Näharbeit an die Brust, als die drei Männer sich die regennassen Mäntel auszogen. Darni ging unruhig auf und ab. »Wir können nicht einen Kapitän finden, der mit uns aufs Meer hinausfahren will.« Düster betrachtete Casuel eine Liste mit Namen. »Wir haben jede Entschuldigung gehört – von unberechenbaren Strömungen bis hin zu Seeschlangen.« »Ich muss gestehen, dass ich es allmählich leid werde, von Männern, die nach Seetang stinken, wie ein Trottel behandelt zu werden.« Camarl strich sich über sein von Meersalz verklebtes Haar. »Sie sind feige«, spie Darni hervor. »Nein, nur vorsichtig, und zu dieser Jahreszeit ist das auch richtig so.« Der Junker schüttelte den Kopf. »Wir haben von diesen Männern verlangt, ihr Leben zu riskieren.« In diesem Augenblick rüttelte eine heftige Windbö an den Fenstern, als wolle sie Camarls Worte unterstreichen. »Wir bieten ihnen Geld genug!« Darni ließ sich auf einen 442
Stuhl fallen. »Warum kann Messire D’Olbriot nicht einfach einem von ihnen befehlen, uns mitzunehmen?« »Sie arbeiten für ihn, und viele segeln auf Schiffen, die ihm gehören.« Ein Hauch von Zorn schlich sich in Camarls Stimme. »Trotzdem treffen sie ihre eigenen Entscheidungen, und Messire hat weder das Interesse noch den Wunsch, sie zu irgendetwas zu zwingen.« »Bevor Planirs Leute hier eintreffen, brauchen wir ein Schiff.« Seine hilflose Wut ließ Darni wieder aufstehen. Camarl blickte zu Casuel, der verdrossen auf seinem Stuhl hockte und sich die Rippen hielt. »Wisst Ihr, wann es soweit sein wird, Junker Devoir?« Casuel schüttelte müde den Kopf. »Sie müssen ein Schiff finden, das sie von Hadrumal aufs Festland fährt, und das ist im Winter immer schwer. Durch Lescar sollten sie allerdings gut vorankommen; um diese Jahreszeit wird dort nicht gekämpft.« »Allerdings werden die Straßen wegen des Regens in schrecklichem Zustand sein.« Darni war keineswegs beruhigt. »Und Shiv und die anderen schweben vermutlich schon in größter Gefahr.« »Oder sie befinden sich bereits in diesem Augenblick wieder auf dem Heimweg.« Camarl runzelte die Stirn. »Ich zumindest würde nicht an einer fremden Küste landen, ohne eine Fluchtmöglichkeit zu haben. Sie haben doch sicher noch ihr Boot zur Verfügung, oder?« »Ich nehme nicht an, dass Shiwalan sich allzu viele Gedanken über eine Rückkehr gemacht hat«, murmelte Casuel säuerlich. »Wisst ihr, was mit euren Freunden geschehen ist?« Allin beendete ihre Stopfarbeit und biss den Faden ab. 443
»Du hast sie doch mit Weitsicht beobachtet, Cas, oder?« Darni beugte sich über den Tisch zu ihm vor. »Eigentlich nicht. Ich habe Weitsicht das letzte Mal angewendet, als du mich darum gebeten hast, und da waren sie noch auf dem Boot.« Ein rechtfertigender Unterton schwang in Casuels Stimme mit. »Muss man dir denn alles sagen?« Darni warf die Hände in die Höhe. »Du hast mir gesagt, ich soll jede Stunde Kontakt mit Hadrumal aufnehmen«, erwiderte Casuel in einem Anflug von Mut. »Wie soll ich da noch Zeit für etwas anderes haben?« »Es wäre nett, wenn du ab zu mal selbst auf etwas kommen würdest, verflucht noch mal!« Darni wurde immer lauter. Allin eilte zur Tür, um auf ein Klopfen zu antworten. Eine verwirrte Dienerin stand auf der Schwelle. »Der Junker hat nach Würzwasser gefragt.« Sie knickste nervös. »Danke.« Camarl beobachtete, wie das Mädchen ein Tablett auf den Tisch stellte und sofort wieder hinauseilte. »Ich glaube nicht, dass viel dabei herumkommen wird, wenn wir uns hier streiten«, bemerkte er, während er nach einer Gewürzkugel griff und mit einem Löffel Kräuter in einen kleinen Silberbehälter träufelte, den er dann verschloss. »Ich werde meinen Onkel fragen, ob er noch andere Seeleute kennt, die wir ansprechen könnten.« Camarl hing den Silberbehälter in einen Becher und goss heißes Wasser darauf. »Ich möchte wirklich nicht mit noch mehr Leuten über unser Problem reden, solange es nicht unbedingt vonnöten ist.« Darni griff nach einem Becher. »Wir wissen, dass die Blondköpfe in 444
diesem Teil des Landes gewesen sind. Vielleicht haben sie ja noch Spione hier.« »Im Augenblick gibt es hier keine blonden Männer«, meldete Allin sich überraschend zu Wort. Sie legte ihr Nähzeug beiseite und bereitete sich einen Becher Würzwasser zu. »Woher weißt du das?« Darni blickte sie belustigt an. »Ich habe mit den Dienerinnen gesprochen.« Allin errötete. »Ich habe ihnen erzählt, meine Mutter wolle blondes Haar für eine Perücke kaufen, und ich habe sie gebeten, mir sofort Bescheid zu sagen, sollten sie jemanden mit echtem hellem Haar sehen. Ich habe ihnen gesagt, es sei egal, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt. Einen Mann könne ich schließlich immer noch fragen, ob er eine Schwester hat, die bald heiratet und bereit ist, ihr Haar zu verkaufen.« Unsicher blickte sie zu den drei Männern. Während sich in Casuels Gesicht ungläubiger Ärger zeigte, war Darni offensichtlich angenehm überrascht. »Ich wollte nur helfen.« Allin trank einen Schluck Würzwasser. »Ich habe schon mal mit dir darüber geredet, was das Schwätzen mit der Dienerschaft angeht ...«, begann Casuel drohend. »Ach, halt den Mund, Cas, und mach dir was Würzwasser.« Darni schob ihm das Tablett vor die Nase. »Was ist, wenn sie uns nun alle in Gefahr gebracht hat?« »Weißt du ...« Aus den Augenwinkeln heraus sah Darni, wie Camarl verächtlich das Gesicht verzog, und so verzichtete er darauf zu sagen, was er hatte sagen wollen. Stattdessen bemerkte er: »Hättest du noch mehr Mist im Kopf, würde ein Hahn darauf krähen, Cas.« 445
Allin grinste, und Camarl rieb sich mit der Hand über den Mund, um ein Lächeln zu verbergen. Casuel beschäftigte sich mit seinem Becher. Plötzlich erfüllte ihn Sehnsucht nach dem eleganten Salon seiner Mutter und ihrem Würzwassertablett mit dem einheitlichen Silbergeschirr, das sie extra zur vergangenen Sonnenwende von einem Silberschmied hatte anfertigen lassen. Er war etwas besseres gewohnt als diese Ansammlung von Altertümern! Junker Camarl räusperte sich. »Wenn niemand etwas von euren Feinden gehört hat, sind wir vorläufig wenigstens eine Sorge los. Trotzdem halte ich es für sinnvoll herauszufinden, was Ryshad und eure Freunde tun. Junker Devoir, seid Ihr ausgeruht genug, um Euch erneut in ... in ›Weitsicht‹ zu versuchen? So habt Ihr es doch genannt, oder?« Das Verlangen, sein Talent aus purem Trotz zurückzuhalten, kämpfte mit Casuels Wunsch, sich die Dankbarkeit eines solch einflussreichen Herrn zu verdienen. »Ich kann es versuchen, aber ich bin sehr müde«, antwortete er nach kurzem Nachdenken. »Danke.« Camarl verneigte sich höflich. Casuel rieb sich die Hände. »Ich brauche eine große, flache Schüssel und kaltes Wasser.« Allin eilte gehorsam davon, um beides zu holen. »Hast du irgendwas, das Shiv oder dieser Frau gehört?«, fragte Casuel Darni. »Bei dieser Entfernung brauche ich etwas, auf das ich mich konzentrieren kann.« Darni kramte in seiner Tasche. »Hier.« Er reichte Casuel einen Runenknochen. »Den habe ich Livak abgenommen, als ein paar dalasorianische Ziegenhirten misstrauisch geworden sind.« »Was tut er da?«, flüsterte Camarl Allin zu, während sie Ca446
suel beobachteten, wie er die verdächtig schwere Rune in die Schüssel legte, Wasser hinzugab, sich darüber beugte und tief durchatmete – was er sofort bereute, als ein stechender Schmerz seine Brust erfüllte. »Er wird ein Bild von den Leuten, die Ihr sucht, auf dem Wasser erscheinen lassen, eine Art Spiegelbild.« Aufmerksam verfolgte Allin jede von Casuels Bewegungen. »Könnt Ihr das auch?« Camarl war fasziniert. »Noch nicht; aber ich werde es lernen.« Allins Augen leuchteten vor Entschlossenheit. »Könnte ich bitte ein wenig Ruhe haben?«, sagte Casuel ungehalten. Ein mattgrünes Licht sammelte sich am Boden der Schüssel. Nach und nach wurde es heller und klarer, während es zur Wasseroberfläche hinaufstieg. Schließlich flackerte es auf Gasuels angestrengtem Gesicht und warf seltsame Schatten auf Stirn und Wangen des Magiers. »Da!« Casuel biss entschlossen die Zähne zusammen und klammerte sich an dem Bild fest. »Sie sind auf jeden Fall irgendwo an Land gegangen.« Darni, Allin und Camarl beugten sich neugierig vor und sahen einen Haufen grauer Felsen. »Dort«, sagte Darni nach einem langen Augenblick. »Da in dem Loch.« Camarl betrachtete das Bild. »Sie verstecken sich, aber ich kann nicht sehen, vor was oder vor wem.« »Geris ist nicht bei ihnen«, bemerkte Darni enttäuscht. Allin schlang unbewusst ihr Halstuch enger um die Schultern. »Das sieht sehr düster und kalt aus.« Camarl nickte. »Die Frage ist nur, sind sie weit im Norden 447
oder sehr weit östlich von hier?« »Zeig uns noch mehr, Cas«, forderte Darni den Magier auf. »Ich werde es versuchen«, erwiderte Casuel mit zusammengebissenen Zähnen. Langsam bewegte sich das Bild über öde Felsen und Schutt zu grauen Häusern, die dem harten Wetter trotzten. »Ob sie das da wohl beobachten?« Camarl streckte die Hand aus, um auf das größte der Häuser zu deuten. »Nicht das Wasser berühren«, sagte Casuel sichtlich angestrengt, und der Junker zog die Hand zurück. Darni sog zischend die Luft ein und dachte kurz nach. Dann meinte er: »Ich frage mich, ob Geris dort drinnen ist. Nachdem sie ihn da rausgeholt haben, müssen sie von dem Fels verschwinden, und zwar schnell. Bei Saedrin, nichts tun zu können, macht mich wahnsinnig!« »Könnt Ihr nicht mit ihnen sprechen?«, fragte Allin zögernd. »Nicht mit diesem Zauber, nicht auf diese Entfernung«, antwortete Casuel kurz angebunden. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Darni murmelte irgendetwas in seinen Bart, wovon die anderen nur das Wort »nutzlos« verstanden. »Würdest du es gerne selbst einmal versuchen?«, sagte Casuel mit scharfer Stimme, und das Licht des Zaubers begann zu flackern und wurde schwächer. »Das ist wirklich bemerkenswert«, warf Junker Camarl ein. »Bis jetzt habe ich nie daran gedacht, einen Magier in meine Dienste zu nehmen. Ich wusste ja nicht, wozu sie fähig sind.« Casuel hob das Kinn und warf Darni einen Blick zu, der triumphierend und verächtlich zugleich war, bevor er sich wieder auf seinen Zauber konzentrierte. 448
»Könnt Ihr uns noch mehr von der Insel zeigen?« Camarl machte sich auf einem Stück Pergament Notizen. »Für den Fall, dass wir dort landen, meine ich.« »Wir?« Darni blickte den jungen Adeligen fragend an. Camarl grinste. »Ich glaube, ich sollte die Interessen der D’Olbriot repräsentieren, wenn ihr diese Inseln erreicht. Messire wird von mir erwarten, nach Gelegenheiten für unsere Familie Ausschau zu halten.« »Es geht darum, unsere Freunde zu retten, nicht Euren Fürsten reicher zu machen«, knurrte Darni. »Beide Ziele sind durchaus miteinander vereinbar«, erwiderte Camarl mit fester Stimme. »Das Meer dort ist offenbar reich an Lebewesen, und auf den Inseln selbst könnte es Rohstoffe geben.« »Sieht überhaupt noch jemand hierher?«, verlangte Casuel gereizt zu wissen, und sofort richteten alle ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Bild im Wasser. Ein schneebedeckter Berg erschien in der Mitte des Bildes. Unter den Gletschern waren lange Geröllhalden zu erkennen, die sich bis in öde Täler hinein erstreckten, wo nur Gestrüpp und gelegentlich ein wenig Gras wuchsen. In der Abenddämmerung waren die Lichter einer armseligen Siedlung zu sehen. Menschen oder Tiere waren nicht auszumachen. Doch schwach waren Spuren um einen Flickenteppich aus Feldern zu erkennen, die sich bis zur zerklüfteten Küste der kalten grauen See erstreckten. »Wir müssen eine Stelle finden, wo wir mit einem Seeschiff landen können.« Camarl runzelte die Stirn. Casuel atmete zitternd ein, und das Bild wanderte die Küste 449
entlang. Eine Bucht erschien, eine Lagune, die von einem langen Band aus Felsklippen vom offenen Meer getrennt war. Schließlich kam eine weitere Insel in Sicht, eine Landspitze, die weit ins Meer hineinragte; deutlich waren Erhebungen darauf zu erkennen. »Das sind keine Felsen; das sind Befestigungen«, erklärte Darni. »Seht mal da! Das muss eine Patrouille sein.« Sie beobachteten, wie eine Reihe winziger Gestalten einen Damm zwischen den Inseln überquerte und in einem kleinen Wachturm verschwand. »Ich frage mich, was sie da wohl verteidigen?«, sinnierte Camarl. »Junker Devoir, könnt Ihr die Meeresstraße weiter hinauf verfolgen?« Casuel nickte stumm; inzwischen atmete er schnell und flach. Das Meer schimmerte im Mondlicht, doch je näher die Nacht rückte, desto schwieriger waren Einzelheiten in dem grauen Land zu erkennen. »Dort! Schiffswerften!«, rief Camarl plötzlich. Sie blickten auf einen eingezäunten Uferbereich. Dort lag stapelweise Holz neben langen Hütten; sich bewegende, winzige Lichter deuteten auf Wachen hin, und am Ende einer langen Mole waren mehrere große Schiffe vertäut. Casuel und Camarl blickten einander an. »Wo bekommen sie das Holz für Schiffe von dieser Größe her?«, fragten sie fast gleichzeitig. »Aus Gidesta oder Dalasor?« Darni presste die Lippen zusammen. »Stehlen oder kaufen sie es?«, fragte Camarl düster. »Was für eine Art Stützpunkt haben sie hier und wo?« Das Bild begann plötzlich zu wabern, als Casuel es eine hohe 450
Klippe hinaufwandern ließ. Eisfelder tauchten auf, die von einem rötlichen Schimmer erhellt wurden. »Feuerberge!«, stieß Darni hervor. »Wie auf den Aldabreshi-Inseln.« Casuel wischte sich mit zitternder Hand über die Stirn. Das Land raste unter ihnen dahin, bis es plötzlich steil zu einem kochenden See abfiel. Dampfwolken stiegen an der Grenze von Land und Wasser auf, wo geschmolzenes Gestein sich als brennender Fluss in den See ergoss. Weiter auf dem See war eine kleine Insel zu erkennen, deren gleichmäßige Kegelform einen krassen Gegensatz zu dem Chaos zu ihren Füßen bildete. »Da ist Misaen noch immer bei der Arbeit«, bemerkte Camarl. »Ich spüre die Macht der Erde dort. Sie kommt durch den Zauber zu mir.« Casuel blinzelte sich die Schweißtropfen aus den Augen. »An diesem Ort toben die Elemente mit Urgewalt – Feuer, Wasser, alles.« Darni starrte auf das Bild. »Kannst du mich nicht dorthin transportieren, Cas?« »Du weißt ganz genau, dass ein Magier jemanden nur an einen Ort transportieren kann, an dem er selbst schon einmal gewesen ist, und zwar körperlich«, sagte Casuel, und das Leuchten des Zaubers wurde unaufhaltsam schwächer. »Otrick hat so etwas schon einmal mit Weitsicht allein geschafft«, wandte Darni ein. Casuel schüttelte den Kopf, und das Bild war plötzlich verschwunden. »Dass Otrick sich bis jetzt noch nicht umgebracht hat, ist eines der größten Rätsel der heutigen Magie.« Zitternd legte er die Hände um den Würzwasserbecher und leerte ihn. »Zumindest scheinen sie im Augenblick in Sicherheit zu sein.« Hilflos verzog Darni das Gesicht. 451
»Du ärgerst dich nur, weil sie vor dir dort angekommen sind«, bemerkte Casuel. »Darum geht es hier nicht, und das weißt du«, erwiderte Darni wütend. »Auf jeden Fall ...« Junker Camarl hob die Stimme, um die beiden Streithähne zu übertönen. »Auf jeden Fall ist es jetzt erst einmal vonnöten, dass wir für Hilfe sorgen, sollte sie benötigt werden.« Darni und Casuel blickten ihn an. »Und wie?«, fragten sie im Chor. Nachdenklich legte Camarl die Stirn in Falten. »Ich fürchte, im Augenblick habe ich nicht die geringste Ahnung.«
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Die Insel der Elietimm 1. Vorwinter
Es dämmerte, und die Torwachen wurden abgelöst. Eine neue Wachmannschaft marschierte aus der Kaserne an der uns zugewandten Seite des Gutshauses, und ich merkte mir das Haus, um es später möglichst weiträumig zu umgehen. Während die Offiziere etwas austauschten, von dem ich vermutete, dass es sich um Schlüssel handelte, wurde ein unglücklicher Soldat ausgezogen, zu einem Holzgestell gebracht und daran festgebunden. Als das Knallen der Peitsche von den umliegenden Hügeln widerhallte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Auch ohne Ryshads Fernrohr konnten wir das Blut über den Rücken des Mannes laufen sehen. Als man von ihm abließ, hing er so schlaff an den Seilen, dass er uns mehr tot als bewusstlos zu sein schien. »Und ihr glaubt immer noch, dass es hier anders ist als auf den Aldabreshi-Inseln?«, murmelte Aiten düster. Ryshad schüttelte den Kopf. »Soldaten auszupeitschen, dient der Disziplin, wie brutal es auch wirken mag. Bürger und Bauern auszupeitschen, würde eher dem Verhalten der AldabreshiKriegsherrn entsprechen, und davon ist nirgends etwas zu sehen. Wenn du glaubst, wir könnten Hilfe bei den Bauern finden, vergiss es lieber.« Diese Erinnerung an unsere Isolation und die Gefahr, in der wir uns befanden, ließ uns alle betreten schweigen, und eine Zeit lang saßen wir nur da und beobachteten, wie die Nacht sich auf uns herabsenkte. Es wurde immer kälter, und von ei453
nem gewissen Punkt an fragte ich mich, wie ich ein Schloss mit gefrorenen Fingern knacken sollte. »Hier.« Shiv reichte mir einen kleinen Stein, und ich stellte überrascht fest, dass er warm war. Shiv grinste mich an. »Ich bin zwar nicht sonderlich gut in Erdmagie, aber den ein oder anderen Trick habe ich schon gelernt.« Ich blickte zu den Sternen und Monden empor. Halcarions Krone befand sich an einer anderen Stelle; trotzdem beobachtete ich sie aufmerksam. Als ich schließlich die Zeit auf gut nach Mitternacht schätzte, stand ich langsam auf und verzog das Gesicht, während ich mich streckte, um wieder Leben in meine Glieder zu bringen. Dann tauschte ich meine Stiefel gegen weiche Lederschuhe. »Ich möchte nicht, dass du mich mit Weitsicht beobachtest. Das könnte jemand bemerken«, flüsterte ich Shiv zu. »Aber kannst du vielleicht dein Gehör verstärken?« Shiv nickte, und ich seufzte erleichtert. »Wenn man mich schnappt, schreie ich so laut ich kann. Solltest du mich dann hören, hol mich so schnell wie möglich da raus.« Vorsichtig schlich ich den Hang hinunter. Überall lagen lose Steine, und ich wollte mich nicht mit einem Geräusch verraten, egal wie leise es sein mochte. Eine Ansammlung kleiner Häuser an der Straße bot mir gute Deckung; ich nutzte die Schatten, um zu jenem Teil der Anlage zu gelangen, der am weitesten von der Kaserne entfernt lag. Die Mauer war aus Ziegeln gebaut, sodass ich genügend Halt hatte, um ohne größere Schwierigkeiten hinaufklettern zu können. Eine Zeit lang hing ich an der Wand wie ein Eichhörnchen und spähte über den Mauerrand, bis ich sicher war, dass niemand sich im Innenhof befand. 454
Dann rollte ich mich über die Mauerkrone und ließ mich auf der anderen Seite lautlos hinunter gleiten. Niemand schrie oder zeigte mit dem Finger auf mich. Alle Wachen schienen im Torhaus versammelt zu sein. Ich neidete ihnen den warmen Ofen nicht, solange sie nur drinnen blieben, während ich hier herumschlich. Das Haupthaus besaß lange, schmale Fenster. Wie sich herausstellte, bestanden die Scheiben aus flach geschliffenem Horn, das in Holzrahmen eingearbeitet war. Verwundert schüttelte ich den Kopf; offensichtlich entsprach das der hiesigen Vorstellung von Luxus. Daheim hatten heutzutage selbst Pächter Glas in den Fenstern. Ich ging auf die Seite, von der Shiv annahm, dass sich dort das Arbeitszimmer befand, und schaute mir das unterste Fenster genauer an. Es ließ sich bewegen, doch ich wettete, dass sich Läden auf der anderen Seite befanden, und sei es auch nur, um in diesem ungastlichen Klima die Wärme drinnen zu halten. Ich runzelte die Stirn. Ohne zu wissen, was mich auf der anderen Seite erwartete, wollte ich das Risiko nicht eingehen, das Fenster zu öffnen. Selbst der dümmste Diener macht einen Aufstand, wenn jemand mitten in der Nacht durchs Fenster klettert und auf ihn drauftritt. Also ging ich zu einer Nebentür, wo ich ein einfaches Schloss vorfand, das ich vermutlich selbst mit einem Strohhalm hätte öffnen können. Da ich jedoch meine Dietriche dabei hatte, war ich wenige Augenblicke später drinnen und schloss die Tür hinter mir. Der Gang war still und dunkel, und ich bewegte mich mit äußerster Vorsicht, um nicht unvermittelt gegen irgendetwas zu stoßen. Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich ein paar Nischen in den Wänden erkennen 455
und Türen rechts und links. In den Nischen stand das, was die Einheimischen wohl als Schätze bezeichnet hätten. Größtenteils handelte es sich dabei um Metallgegenstände – Pokale, ein Waschkrug –; aber es gab auch einige einfache Tongefäße. Auf jeden Fall sah ich nichts, wofür ich mir daheim auch nur einen Becher Bier hätte kaufen können. Das Einzige, das mir hier gefiel, waren die wollenen Wandbehänge, in die das gleiche Wappen eingewebt war wie über dem Tor. Eine Tür stand offen; also warf ich vorsichtig einen Blick in den Raum dahinter. Er war voller Truhen. Ich ging hinein, ohne darüber nachzudenken – verschlossene Truhen ziehen mich magisch an. Sollte ich eine öffnen? Ich versuchte es an einem Deckel, und da er unverschlossen war, hob ich ihn hoch und spähte in die Truhe hinein. Sie war voller Metallschrott, altes Eisen und Bronzeteile. Ich erinnerte mich an das Dorf, wo alles aus Stein und Knochen gemacht war, und blickte auf den Schrott, den daheim jeder Schmied fortgeworfen hätte. Hier wurde er im Haus des Anführers gelagert wie bei uns nur Silber und Gold. Wenn diese Menschen das als Reichtum betrachteten, waren sie weit gefährlicher, als ich bisher angenommen hatte – vor allem, da sie offensichtlich problemlos das Meer überqueren konnten. Mir fiel auf, dass meine Füße gar nicht mehr kalt waren, und vorsichtig legte ich die Hand auf den Steinboden. Er war warm, und das verwirrte mich, bis ich mich daran erinnerte, was Shiv über die Wärme aus der Erde gesagt hatte. Ich verließ, den Raum mit den Truhen und spähte vorsichtig die Treppe zum ersten Stock hinauf, an deren Ende ein schwaches Glühen darauf hindeutete, dass dort irgendwo ein Licht brannte. Es bewegte sich nicht, also trug niemand es herum; aber wenn man ein 456
Licht des Nachts brennen lässt, heißt das, man erwartet jemanden. Leise schlich ich die Stufen hinauf. Oben angekommen, sah ich zu meiner großen Erleichterung einen Teppich, der meine Schritte dämpfte. Eine kleine Öllampe stand auf einem polierten Steintisch in der Mitte des Gangs, und ich erkannte, dass dies die Gemächer von Adeligen sein mussten. Kurz blieb ich stehen, um mich zu orientieren; dann eilte ich in Richtung Arbeitszimmer, um möglichst rasch außer Sichtweite zu kommen, sollte jemand den Abtritt aufsuchen müssen. Die Tür zum Arbeitszimmer war ebenfalls nicht abgeschlossen. Ich staunte über das Vertrauen des Hausbesitzers in seine Sicherheit, besonders angesichts der eher gelassenen Haltung der Torwachen. Diese Leute rechneten nicht mit Ärger – zumindest nicht mit der Art Ärger, wie wir ihn brachten. Nun, ich bin stets auf Schwierigkeiten vorbereitet; also schloss ich hinter mir die Tür. Ich schaute mich in dem ordentlichen Raum mit seinen Regalen voller Dokumente um. Hier wohnte kein fauler Herrscher wie Armile von Friern, den nur eines interessierte: alles aus seinen Untertanen herauszupressen, um seine geliebte Miliz und seine Huren bezahlen zu können. Hier bebauten die Bauern das Land, die Fischer fingen die Fische, und dieser Mann hier führte die Mühle, die Schmiede und die Lager, und offensichtlich organisierte er auch alles. Hier bedeutete Zusammenarbeit Überleben – und das machte diese Menschen zu gefährlichen Feinden. Als ich mich daran machte, den Raum zu durchsuchen, schauderte ich trotz der milden Luft. Da hier alles offen stand, hätte eigentlich jeder wissen müssen, dass man genauso gut »Sehr wichtig!« auf eine Truhe hätte schreiben können, wenn man sie abschloss. Auf jeden Fall hatte ich nach wenigen Augenblicken eine schwere, antike Eichen457
truhe geöffnet und holte ein Buch heraus. Und da waren noch andere. Allerdings war es zum Lesen zu dunkel, und so griff ich widerwillig nach einer kleinen Lampe mit nach Fisch stinkendem Öl. Die Fensterläden waren geschlossen, und da die Lampe auf dem Gang brannte, würde hoffentlich kein verräterisches Licht unter der Tür hindurchschimmern. Im goldenen Licht der Lampe erkannte ich, dass die Bücher in Alt-Tormalin geschrieben waren, und nachdem ich die Truhe halb ausgeräumt hatte, fand ich das Geschichtsbuch, von dem Shiv gesprochen hatte. Doch mich erwartete noch etwas Besseres. Schade, dass nie jemand da ist, zu dem man sagen kann, »ich hab’s ja gleich gewusst«, wenn man etwas Wichtiges vorhergesehen hat. Was mich so zufrieden stimmte, war ein Pergament mit Notizen, das zwischen den Seiten steckte. Die Notizen waren im Alphabet des Bergvolks geschrieben; zumindest gab es eine Ähnlichkeit. Sorgrad und Sorgren hatten Halice und mir die Schrift beigebracht, um Briefe zu schreiben, die niemand sonst lesen konnte; daher wusste ich, dass ich nicht falsch lag. Den Worten selbst konnte ich allerdings kaum einen Sinn entnehmen. Mein Bergvolkvokabular beschränkte sich hauptsächlich auf Begriffe, die mit Spielen, Wertsachen, Häusern und Pferden zu tun hatten. Trotzdem konnte ich erkennen, dass diese Sprache zumindest Ähnlichkeit mit der des Bergvolkes aufwies. Die beiden Sprachen waren auf ähnliche Weise verwandt wie Dalasorianisch mit Caladhrisch oder Tormalin mit Lescari. Wenn man die eine Sprache kennt, kann man die andere halbwegs verstehen, wenn der Sprecher langsam spricht. Unter den Büchern lagen zusammengefaltete Pergamente. Natürlich weckte auch das mein Interesse, und ich holte sie heraus und entfaltete sie auf dem Schreibpult. Während ich mit 458
großer Mühe die Namen auf einer Art Familienstammbaum entzifferte, erkannte ich mehrere der tormalinischen Adelshäuser, die Azazir und Ryshad erwähnt hatten. Neben einigen standen die Namen von Städten und ein paar unlesbare Notizen. Manche Textstellen und Namen waren durchgestrichen; ich fragte mich, was das wohl zu bedeuten hatte. Bei anderen, eng beschriebenen Pergamenten handelte es sich vermutlich um irgendwelche Berichte, an deren Kopf jeweils Namen standen, die unglücklicherweise zu Aldabreshikriegsherrn zu gehören schienen. Ich weiß nur wenig über die Inseln. Das ist auch so ein Ort, wo niemand Geld benutzt; außerdem hat man dort die unangenehme Angewohnheit, uneingeladene Gäste hinzurichten. Trotzdem weiß jeder, dass die Kriegsherrn früher die Küsten Lescars und Tormalins immer wieder angegriffen hatten, wenn sie glaubten, damit durchkommen zu können, und die Vorstellung gefiel mir gar nicht, dass die Elietimm Verbündete auf dem Archipel haben könnten. Allmählich sah es so aus, als stünde Planir der Schwarze vor weit größeren Problemen, als er glaubte. Ich schaute mich nach etwas um, womit ich Kopien anfertigen konnte; doch rasch fand ich heraus, dass Tinte und Feder in diesem Land ebenfalls wertvoll genug waren, um sie in einem kleinen Schrank wegzuschließen, was wiederum bedeutete, dass man ihren Verlust bemerken würde. Da ich unbedingt vermeiden wollte, irgendwelche Spuren zu hinterlassen, versuchte ich einfach, mir so viel wie möglich zu merken. Auf dem Tisch lagen Landkarten, die ich mir ebenfalls genauer anschaute, nachdem ich erkannt hatte, dass darauf die Insel dargestellt war. Rasch fand ich das Dorf und die Straße hierher. Ich stieß einen lautlosen Pfiff aus, als ich sah, mit wie viel Liebe zum Detail die Karten angefertigt waren. Der Zeich459
ner hatte fast jeden einzelnen Felsen eingetragen. Die Insel war zwischen drei Herren aufgeteilt, und meine Vermutung bestätigte sich, dass es sich bei dem Symbol, das wir überall gesehen hatten, um ein Wappen handelte. Jedes Herrschaftsgebiet war mit seinem eigenen Wappen markiert, und ich versuchte, mir die Landmarken um jeden Herrensitz zu merken. Sollten wir Geris jemals finden, dann in einer dieser Anlagen; darauf würde ich wetten. Ich schaute mir die Karten der Reihe nach an, wobei ich sorgfältig darauf achtete, nichts durcheinander zu bringen, bis ich eine Karte fand, auf der die gesamte Inselgruppe zu sehen war. Mich verließ der Mut, als ich die Größe der Landmasse sah, und ich versuchte, die ungefähre Bevölkerungszahl zu errechnen, indem ich das Dorf zugrunde legte, in dessen Nähe wir gelandet waren. Diese Inseln waren in der Fläche vielleicht nur halb so groß wie Caladhria, aber ich möchte wetten, dass hier viermal so viele Menschen lebten wie in Ensaimin, und daheim gilt meine Heimat schon als übervölkert. Die einzige gute Nachricht war, dass die Herren jedes noch so kleine Fleckchen Erde unter sich aufgeteilt hatten. Selbst auf den Sandbänken in den Flachen Meeresstraßen waren Wappen eingezeichnet; auf einigen waren sogar mehrere zu sehen. An den Grenzen waren die Wappen des Öfteren durchgestrichen und durch andere ersetzt worden; viele dieser Änderungen schienen erst vor kurzem gemacht worden zu sein. Das war nur logisch: In einem derart öden Land war sicherlich jede Ackerfurche Gold wert. Dieser Beweis für Konflikte unter den Elietimm war allerdings der einzige Lichtblick, der sich mir bot. Meine Freude ob dieser guten Neuigkeit war jedoch sofort wie weggeblasen, als ich Karten fand, auf denen Teile der Küs460
ten von Dalasor und Tormalin zu sehen waren. Ich fand Inglis; auf einer anderen Karte entdeckte ich Zyoutessela. Die dalasorianische Küste war mit vielen Einzelheiten gezeichnet, neben denen Notizen standen, die einem Seemann wohl etwas gesagt hätten. Ich verzog das Gesicht. Da Inglis das einzige echte Machtzentrum in dieser Gegend war, würde es sehr schwer werden, diese Leute wieder ins Meer zu treiben, sollten sie sich entscheiden, in Dalasor zu landen, um sich zur Abwechslung mal ordentliches Land einzuverleiben. Ich konnte nur hoffen, dass sie nur wenige Schiffe besaßen, im besten Falle nur das eine, das wir gesehen hatten. Das zu versenken – und jedes ähnliche Fahrzeug –, musste eines unserer vorrangigen Ziele sein. Shiv würde uns dann wohl tatsächlich mittels Magie nach Hause bringen müssen. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür draußen im Gang ließ mich erstarren. Ich löschte die Lampe mit den Fingern, kauerte mich hinter das Schreibpult und lutschte an meinen verbrannten Fingerspitzen. Niemand kam; also kroch ich zu der leicht verzogenen Tür und lugte durch den Spalt. Ein kleines Kind in langem Nachtgewand tapste durch den Gang und zog irgendein Wolltier hinter sich her. Es ging in ein Zimmer am anderen Ende des Ganges, und ich hörte das Murmeln von Stimmen: Erwachsene, die offensichtlich versuchten, das Kind zu beruhigen. Mit pochendem Herzen kauerte ich scheinbar eine Ewigkeit lang hinter der Tür. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass die Erwachsenen dem Kind wohl erlaubt hatten, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Trotzdem, die Eltern kleiner Kinder haben einen notorisch leichten Schlaf, und so beschloss ich, so rasch wie möglich zu verschwinden. Ich legte alles wieder so hin, wie ich es in Erinnerung hatte, und schlich zehnmal so vorsichtig 461
hinaus, wie ich hereingekommen war. Es gelang mir, das Haus zu verlassen, ohne jemanden zu wecken. An der erstbesten Stelle kletterte ich über die Mauer und kehrte in weitem Bogen um die Siedlung zu unserem Beobachtungspunkt zurück. Sicherheit war im Augenblick wichtiger als Zeit, vor allem, da ich nun so wichtige Informationen hatte. Am Rande der Felsmulde wartete Ryshad auf mich, und ich nahm den Mantel dankbar an, den er mir anbot, denn einmal aus dem Haus, hatte ich sofort wieder die Kälte zu spüren bekommen. »Wir müssen ...«, begann ich und kramte in meinem Gepäck nach etwas Essbarem. Ryshad brachte mich zum Schweigen, indem er mir den Finger auf die Lippen legte. »Später. Lass uns von hier verschwinden, solange es noch dunkel ist.« Er drehte sich zu Shiv und Aiten um und hatte sie wenige Augenblicke später geweckt. Aiten war nicht allzu begierig darauf, wieder loszumarschieren, doch Shiv stimmte zu, und kurz darauf schlichen wir durchs Gebüsch. Wir fanden eine weitere kleine Mulde, und Ryshad und ich legten uns hin, während Shiv und Aiten Wache hielten. Im grauen Licht der Morgendämmerung wachte ich steif und kalt auf, und während wir aßen, berichtete ich, was ich gefunden hatte. »Ich nehme an, wir sollten dieses Schiff suchen, das Seeschiff, und es versenken«, schloss ich. »Wir müssen noch einmal zurück und uns Vorräte besorgen, bevor wir irgendetwas anderes tun«, sagte Aiten säuerlich, während er auf einem Stück Trockenfleisch kaute. »Ich möchte Kontakt zu Planir aufnehmen und ihm sagen, was du gefunden hast«, erklärte Shiv. »Diese Information ist zu 462
wichtig; sie kann nicht warten.« Zu wichtig, als das sie verloren gehen dürfte, falls man uns gefangen nehmen sollte, dachte ich düster. Shiv nahm einen blauen Kristall in die Hände, schloss die Augen und verzog konzentriert das Gesicht. »Kannst du so eine Karte für uns zeichnen?«, fragte Ryshad nachdenklich. »Zeig uns für den Anfang erst einmal, wo die anderen Adeligen wohnen.« »Ich werde es versuchen.« Ich war noch damit beschäftigt, Striche in die Erde zu zeichnen und Steine auf mein Bild zu legen, die für Hügel und Dörfer standen, als ich Ryshad und Aiten gleichzeitig fluchen hörte, obwohl sie in verschiedene Richtungen Wache hielten. Ich hob den Kopf. »Was ist?« »Männer. Ein ganzer Haufen ist hierher unterwegs.« Ryshad rutschte von seinem Posten zu Aiten herunter. »Könnte das eine Jagdgesellschaft sein?«, fragte Aiten zögernd. »Was sollen sie hier draußen jagen – außer uns?« Ryshad packte Shiv an den Schultern und schüttelte ihn. Der Magier fluchte, als er die Augen öffnete. »Was?«, fragte er gereizt. »Was? Ich habe kaum die Verbindung hergestellt.« »Ärger«, antwortete Ryshad knapp und warf sich seinen Rucksack über die Schulter, »und er ist uns auf den Fersen.« Wir kletterten so schnell wir konnten durch das kleine Tal, das von unseren Verfolgern weg führte. Ich warf einen raschen Blick zurück und konnte gerade noch zwei Gruppen schattenhafter Gestalten erkennen. Sie schwärmten aus und marschierten entschlossen den Hang hinauf. Trotz des trüben Lichts und 463
der Tatsache, dass ich Stein und Bein geschworen hätte, keine Spuren hinterlassen zu haben, hielten sie genau auf die Mulde zu. »Wartet«, keuchte Ryshad, und wir kauerten uns hinter ein paar Felsen mitten in einem kleinen Bach. Von dort konnten wir beobachten, wie die Elietimm die Mulde von allen Seiten und mit überraschender Gewalt angriffen. Dabei machten sie allerdings nur wenige oder gar keine Geräusche. Ihre Disziplin war so hart wie die Felsen um uns herum, und sie formierten sich sofort wieder in Reihen, während zwei von ihnen hin und her liefen, wie Hunde, die eine Spur aufnehmen. Leise hallte ein rhythmischer Gesang über die kalte, stille Landschaft. »Bewegt euch!« Shiv ging voraus, und vorsichtig suchten wir uns einen Weg durch das Bachbett. Nebelschwaden stiegen vom Wasser empor; ich sah, wie sie sich um Shivs Hände sammelten, woraus ich schloss, dass er sie kontrollierte. Am Rand meines Sichtfelds schien der Nebel zu glitzern, und obwohl ich vermutete, dass dies ein weiterer Zauber war, um uns zu verbergen, lenkte das Phänomen mich ab – wie ein Ton, den man kaum wahrnimmt, von dem man aber ganz genau weiß, dass er da ist. »Pass auf, meine Blume, wo du hinläufst«, zischte Aiten, als ich ihm in die Hacken trat. Ich entschuldigte mich, und wir eilten Ryshad und Shiv hinterher. Schließlich öffnete sich das Tal, und wir standen auf einer offenen Grasebene. Ryshad schaute sich um. Für einen Moment war er unentschlossen; dann führte er uns einen Hang hinauf, der mit armseligem Gestrüpp bewachsen war, hinter dem wir uns aber zumindest verstecken konnten. Inzwischen schmerzte mir der Rücken vom geduckten Rennen, doch trotz Shivs Zauber wagten wir nicht, 464
uns aufzurichten, damit niemand uns als Schatten vor dem grauen Himmel sehen konnte. Es war schon heller geworden, und die ersten goldenen Strahlen der Sonne drangen über die Hügelkuppen. Ich hatte keine Angst – noch nicht –, aber das Wissen, dass ich schon bald allen Grund dazu haben könnte, ging mir ständig im Hinterkopf herum wie ein Jucken an einer Stelle, die man nicht erreichen kann. Auf jeden Fall missfiel mir die Vorstellung, so weit weg von allem gefangen zu werden. Hier war eine rasche Flucht über die Grenze unmöglich. »Runter.« Ryshad warf sich im Gestrüpp flach auf den Bauch, und wir folgten seinem Beispiel, als wir das Klingeln von Ziegenglocken hinter der Kuppe hörten. Ryshad kroch vorwärts, und ich musste gegen die Versuchung ankämpfen, ebenfalls hinaufzuschleichen, denn mehr Bewegung bedeutete, dass man uns leichter würde entdecken können. Es überraschte mich, wie sehr ich Ryshad vertraute. Ich entspannte mich ein wenig, als Ryshad uns schließlich zu sich winkte. Auf Knien und Ellbogen kroch ich durch die Beerenbüsche, ohne auf die Dornen zu achten. Bei Ryshad angekommen, blickte ich hinunter und sah einen verschlafenen Jungen, der sich die Augen rieb, bevor er eine Herde elend aussehender Ziegen aus einem schlichten Pferch zu unserer Linken trieb. Ein paar Frauen molken dort die Mutterziegen, und der Junge stieg den gegenüberliegenden Hang hinauf; also machten wir uns nach rechts auf den Weg. Dieses Tal war geschützt genug, sodass hier ein paar größere Bäume wachsen konnten, die uns erlaubten, aufrecht zu gehen – das war gut –; schlecht war nur, dass die Ziegen sich wegen der fingerlangen Dornen von den Bäumen fern hielten, die nun ständig an unseren Kleidern zerrten. Wir ignorierten sie und gingen schneller. 465
»Halt.« Aiten bildete die Nachhut, und wir erstarrten ob seiner Warnung. Ich blickte zurück und sah unsere Verfolger, wie sie sich mit der gleichen Präzision wie zuvor auf den Ziegenpferch stürzten. Die Frauen hoben die Hände zum Zeichen, dass sie unbewaffnet waren, doch nachdem sie sich zu erkennen gegeben hatten, strafften sie furchtlos die Schultern, und kein Schwert und keine Stimme wurden gehoben, als die Anführer des Jagdtrupps vortraten, um die Ziegenhirtinnen zu befragen. Als die ersten Sonnenstrahlen ins Tal fielen, sah ich die Metallhalsbänder der beiden Anführer funkeln. Jetzt war noch nicht die Zeit für Furcht, entschied ich; im Augenblick reichte es, wenn wir uns besorgt zeigten. »Siehst du die Abzeichen?«, fragte ich Aiten. »Falls es zu einem Kampf kommt, sollten die beiden als Erste dran glauben.« Shiv dachte gerade über eine Frage von Ryshad nach, und ich drehte mich um, um die Antwort zu hören. »Du hast Recht. Sie müssen irgendwie Leben spüren können, menschliches Leben. Schließlich ist niemand auf die Ziegen losgegangen.« »Also müssen wir unter Leute«, erklärte Ryshad düster. »Das ist verdammt gefährlich«, murmelte Aiten zweifelnd, doch ich musste Ryshad zustimmen. Die Geschichte von dem Dieb, der einen Diamanten in einem Glas Kandiszucker versteckt, ist zwar alt; aber es hat früher funktioniert, und es funktioniert auch heute noch. Ich rief mir die Karte der Inseln ins Gedächtnis und verfluchte mich dafür, nicht genau aufgepasst zu haben, wohin wir gelaufen waren. »Da runter liegt ein Dorf.« Ich ging voraus, und wir kamen gut voran. Allerdings würde es schon bald taghell sein, und es 466
dauerte nicht lange, da lichtete sich der Wald. Deshalb wichen wir an einen dichter bewachsenen Hang aus. Dort war der Boden jedoch von nassem Laub bedeckt, was das Vorwärtskommen erschwerte. Schließlich hörten wir die Alltagsgeräusche eines Dorfes. Gebeugt wie Greise, die unter Altersschwäche litten, schlichen wir näher heran. Ich sah grobe Steindächer mit gedrungenen Kaminen, und Ryshad winkte uns, still zu bleiben, während er mit schier schmerzhafter Vorsicht vorausschlich. Ich rührte mich nicht und zwang mich, den Blick auf Ryshads Rücken gerichtet zu halten. »Hinter dir kannst du sie nicht hören, und vor dir wirst du sie nicht sehen können; also riskiere nicht, dass dich irgendjemand bemerkt, wenn du dich bewegst, du dumme Kuh«, tadelte ich mich selbst leise. »Ait bewacht unseren Rücken. Vertrau ihm.« Shivs Gesicht war angespannt, und ich erkannte, dass es sich bei dem leisen Geräusch, das ich hörte, um sein Zähneknirschen handelte. Der kaum wahrnehmbare Laut zerrte an meinen Nerven wie das Kratzen einer Klinge auf einer Schiefertafel, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Gerade als ich glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, winkte Ryshad uns zu sich, und ich atmete erleichtert auf. Wir suchten uns einen Weg durch die ineinander geschlungenen Setzlinge am Rand des Hangs, der schützend das Dorf umgab, und ich erkannte, dass Ryshad auf eine kleine Ansammlung aufrecht stehender Steine zuhielt. Das letzte Stück mussten wir auf den Bäuchen zurücklegen, doch einmal zwischen den Menhiren, hatten wir Deckung, und wichtiger noch, wir konnten das ganze Dorf einsehen, sowie den Weg, den wir 467
gekommen waren, und auch den Weg aus dem Dorf hinaus. »Zeichne uns noch mal eine Karte. Sie mögen uns ja vielleicht für eine Weile verlieren, aber wir sollten schon eine ungefähre Ahnung davon haben, wohin wir gehen wollen.« »Nach Einbruch der Nacht sollten wir uns zu einem der Küstendörfer begeben«, sagte Shiv leise und blickte von seinem Beobachtungspunkt zurück. »Wenn wir eines von diesen Walfangbooten in die Finger bekommen könnten, kann ich uns nach Hause bringen.« »Könntest du uns nicht einfach von hier wegzaubern?« Ich versuchte, die Frage nicht flehentlich klingen zu lassen, scheiterte aber kläglich. Missmutig konzentrierte ich mich auf die Karte, die ich in den Dreck zeichnete. »Und? Kannst du?« Aiten blickte hoffnungsvoll auf Shiv, doch der schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn ich zwischen jetzt und Sonnenuntergang nicht gezwungen bin, irgendeinen anderen Zauber zu wirken, kann ich vielleicht einen von euch zurückschicken.« Unsicher schaute Aiten zu Ryshad, der mit den Schultern zuckte. »Das wäre dann ja wohl am besten Livak«, sagte er schlicht. »Nein!«, rief ich unvorsichtigerweise, doch sofort errötete ich und ärgerte mich über mich selbst, als die anderen mich ermahnten, leise zu sein. »Du bist diejenige mit den Informationen, die Planir braucht.« Ryshad blickt mich streng an, und ich schluckte meinen verwirrten Widerspruch hinunter. Um ehrlich zu sein, vollführte mein in langen Jahren des Auf-sich-allein-gestellt-Seins perfektionierter Überlebensinstinkt in diesem Augenblick einen Freudensprung – endlich raus aus diesem Mist! Ich wusste 468
nicht, ob mich das zu einer gefühllosen Schlampe oder zu einem vernünftigen Agenten Planirs machte; ich wusste nur, dass ich den Gedanken hasste, diese Männer einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Aber darüber konnte ich später noch nachdenken, wenn Shiv ausgeruht genug war, um den Zauber wirken zu können; allerdings hätte ich nicht darauf gewettet, dass er viel Gelegenheit zum Ausruhen bekommen würde. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und so suchte ich mir einen Beobachtungsposten zwischen zweien der Sandsteinblöcke. Die Spannung löste sich, doch ich wusste, dass es ausgesprochen dumm gewesen wäre, sich jetzt zu entspannen. Ich zwang mich, unsere Umgebung in allen Einzelheiten zu studieren, um wachsam zu bleiben. Buchstaben waren in die Sandsteinmenhire eingraviert, und ich fragte mich, welchen Sinn die Steine wohl hatten; es erschien mir seltsam, dass die Menschen hier so viel wertvolles Land für ein paar Steine verschwendeten. Nach einer Weile, die ich mit dem Entziffern der Inschriften und dem Beobachten des Dorfes verbracht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass es sich bei den Inschriften um Namen handelte. Ein schrecklicher Verdacht regte sich in meinem Hinterkopf, bis ich ihn nicht länger ignorieren konnte. Ich tastete über die Erde, auf der ich saß, und strich mit den Finger über die abgestorbenen Sommerpflanzen, die sich um meine Hände und Knie schlangen. Rasch fand ich genügend Hinweise darauf, dass hier die Grasnarbe in einem ungefähr mannsgroßen Stück abgehoben worden war. Ich sprach ein rasches Gebet zu Misaen und hoffte, dass niemand im Dorf ausgerechnet heute den Wunsch verspürte, mit einem seiner Ahnen zu sprechen. Dann bemerkte ich, dass Ryshad mich verwirrt anblickte, 469
und ich kroch an seine Seite. »Wir sind in einem Totenrund«, sagte ich leise. Kurz zeigte sich Staunen auf Ryshads Gesicht, und ich erinnerte mich daran, dass Dastennins Gefolgsleute ihre Toten lieber auf See bestatten, anstatt sie zu verbrennen, wie wir anderen es taten. »Seltsame Leute.« In seinem Gesicht spiegelte sich meine eigene Abscheu wider. Diese Leute verscharrten ihre Toten unverbrannt! Möge Saedrin mir die Gnade gewähren, an einem zivilisierten Ort zu sterben, damit ich einen schönen Scheiterhaufen und eine hübsche Urne bekomme, in der ich dann in irgendeinem Schrein ruhen kann, während ich herausfinde, was die Anderwelt so alles zu bieten hat.
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9.
Aus: Die Verlorenen Künste von Tormalin Argulemmin vom Tannath-See
Die Magie der Priester Bevor durch den Fall des Hauses Nemiths die Dunklen Generationen für unsere unglückliche Welt anbrachen, beherrschten die Priester Tormalins viele wunderbare Künste. Während wir um den Verlust dessen trauern dürfen, was dem Reich einst Schönheit verliehen hat, bleiben solche Künste in Zeiten des Chaos besser im Verborgenen. Es heißt, die Priester hätten in den Geist eines Menschen blicken und jeden seiner Gedanken lesen können. Die meisten vermochten dies nur von Angesicht zu Angesicht mit dem Betreffenden, doch erschreckender noch, manche konnten es, obwohl sie sich mehrere Räume von ihrem Ziel entfernt befanden, oder – so unglaublich es klingen mag – auf Dutzende Meilen Entfernung. Was die Priester lesen konnten, hing davon ab, wie weit ihre Fähigkeit entwickelt war. Ein Novize war nur in der Lage, die Stimmung eines anderes festzustellen. Ein gebildeterer Anwender dieser Form der Magie jedoch konnte erkennen, wie die Gefühle sich entwickelten und was das Objekt der Angst oder der Lust war. Den fähigsten Priestern wiederum war es möglich, zusammenhängende Worte aus den Köpfen der Unglücklichen zu ziehen und ihnen ihre intimsten Gedanken 471
glücklichen zu ziehen und ihnen ihre intimsten Gedanken und Geheimnisse zu entreißen. Ein paar wenige vermochten sogar in die Träume eines Menschen einzudringen und seine Erinnerungen und Wünsche zu durchsuchen, was dem Opfer große Schmerzen bereitete. Durch solche Methoden wuchsen der Einfluss und die Macht der Priesterschaft stetig, besonders die der Priester des Poldrion und der Raeponin. Wenn es um Beweise für ein Verbrechen ging, besaßen nur wenige Menschen die Kühnheit, den Worten eines Priesters zu widersprechen, und wagte es doch einmal jemand – wer hätte ihm da glauben sollen, wo doch alle Anwesenden um die Macht der priesterlichen Magie wussten? Können wir glauben, dass diese Macht niemals missbraucht worden ist? Dass niemals falsches Zeugnis abgelegt worden ist, wo doch niemand hoffen durfte, einem Priester zu widersprechen? Ach, leider ist die Fehlbarkeit der menschlichen Natur das Einzige, das sich über die Generationen hinweg nicht verändert hat. Nachdem ein Jüngling in die Priesterschaft eingetreten war, lag sein Leben in den Händen der höheren Priester. In Riten, an die sich niemand mehr erinnern kann, wurden schreckliche Eide geschworen – schrecklich waren sie ohne Zweifel, sonst hätte jemand sie aufgezeichnet. Fasten und andere Entbehrungen waren nützlich, um den Leib zu reinigen und den Geist zu brechen, sodass der Wille des Akolythen den Wünschen des Meisters entsprechend gebeugt wurde. Für den Fall, dass ein Jüngling seine Entscheidung zurücknahm und zu fliehen versuchte, geboten die Priester über vielerlei Zauber, um ein Netz um ihn zu weben. Es heißt, sie hätten über Meilen hinweg miteinander reden können, von einem Schrein zum anderen. Das, was ein Priester 472
sah, konnte einem anderen enthüllt werden, und so wurde das Bild eines Mannes, den die Priester suchten, innerhalb weniger Tage im ganzen Reich verbreitet. Jeder seiner Schritte konnte mithilfe von Magie verfolgt werden, die sich weder vom Wetter noch von irgendwelchen Täuschungsmanövern beeinflussen ließ. Auf mysteriösem Wege konnte die Ausstrahlung seines Geistes sichtbar gemacht werden, und das war eine Spur, die man unmöglich verwischen konnte. Den heutigen Priestern sind nur kleine Wunder geblieben.
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Die Insel der Elietimm 2. Vorwinter
Die Sonne stieg höher, und wir sahen keine Spur von unseren Verfolgern, was uns natürlich eine Erleichterung war, auch wenn es uns ein Rätsel blieb. Auch in diesem Dorf ging es äußerst geschäftig zu, und zum Glück schienen den Menschen die Bedürfnisse der Lebenden wichtiger zu sein als die Verehrung der Toten. So nah an der Sonnenwende und so weit im Norden waren die Tage kürzer, als ich sie je erlebt hatte. Nachdem der Mittag schneller gekommen und wieder gegangen war, als jeder von uns erwartet hatte, fragte ich mich, ob wir vielleicht bis zum Einbruch der Nacht hier warten und dann ein Boot suchen gehen konnten. Wir beobachteten Gruppen von Männern, die hinter dem Dorf Pflüge durch die Erde zogen, und mir fiel auf, dass ich bis jetzt auf diesen Inseln kein Tier gesehen hatte, das größer als eine Ziege war. Kein Wunder, dass die Männer, von denen wir in Dalasor angegriffen worden waren, keine Pferde dabei gehabt hatten. Gruppen von Frauen sammelten etwas, das ich nach einiger Zeit als Brennnesseln erkannte. Ohne auf die brennenden Blätter zu achten, warfen sie die Pflanzen in einen Steintrog. Andere leerten einen ähnlichen Trog, und ich sah, wie sie Fasern aus dem Zeug lösten, so wie man es bei uns daheim mit Leinen macht. Es hatte irgendetwas Beunruhigendes an sich, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie eine Pflanze zu Stoff verarbeiteten, die man in unserer Heimat als Unkraut schlicht aus der Erde gerissen und verbrannt hätte. Auch die Kinder waren geschäftig, selbst die kleinsten unter 474
ihnen. Sie putzten, holten dies und trugen das. Ich konnte in die sauberen Höfe hinter einer Gruppe von Häusern blicken, und in jedem stand ein Verschlag für irgendwelche pelzigen Tiere, keine Kaninchen, aber von ungefähr der gleichen Größe und mit langen, buschigen Schwänzen. Regenwasserzisternen wurden von Laub und ähnlichem befreit, und zu jeder Behausung gehörte ein kleiner Garten, wo ich Jungen und Mädchen Grünzeug pflegen sah. Diese Gärten grenzten unmittelbar aneinander, waren aber durch dicke Mauern getrennt, in die Abzüge eingebaut waren, aus denen blauer Rauch quoll. Was sie dort anbauten waren mit Sicherheit keine exotischen Blumen wie in den Gärten der streitsüchtigen Botaniker Vanams. Diese Leute verschwendeten kein Brennmaterial, um pflanzlichen Purpur herzustellen; hier ging es ums Überleben. Die Erinnerung an Vanam rief mir wieder meine nicht enden wollende Sorge um Geris ins Gedächtnis. Die Warterei ging mir allmählich auf die Nerven, und das umso mehr, da ich wusste, dass Warten das einzig Vernünftige war, das wir im Augenblick tun konnten. Unaufhaltsam wanderte die Sonne über den Himmel, und schließlich stieg die Sorge in mir auf, dass ich vielleicht doch allein nach Hause würde zurückkehren müssen. Ryshad musste meine Unruhe bemerkt haben. Er setzte sich neben mich. »Ein arbeitsames Volk, nicht wahr?«, murmelte er und nickte in Richtung des Dorfes. »Dieser Ort hat irgendwie etwas Seltsames an sich, aber ich kann nicht genau den Finger darauf legen«, sagte ich. Wir blickten den Hang hinunter. Nun, da ich bewusst danach Ausschau hielt, sah ich, was hier nicht stimmte. »Wo sind die alten Leute?« Zwar konnten wir hier und da ein paar Kahlköpfe 475
erkennen und auch einige Grauhaarige, doch alle arbeiteten sie. Von Greisen, die auf Bänken hockten und miteinander plauderten, wie sie bei uns selbst im kleinsten Dorf üblich waren, war weit und breit nichts zu sehen. »Wenn wir schon davon sprechen ... Wo sind die Krüppel und Bettler?« Ryshad beugte sich vor und runzelte die Stirn, während er seinen Blick über die wimmelnden Menschen schweifen ließ. Er reichte mir sein Fernrohr, und ich sah, dass er Recht hatte. Nirgends waren Verunstaltungen durch Krankheit oder Unfall zu sehen, keine Spur von dem alltäglichen Pech, das Misaen einigen Menschen auf die Geburtsrunen schreibt. »Entweder sind ihre Ärzte sehr gut oder ungewöhnlich schlecht.« Eine Bewegung erregte meine Aufmerksamkeit, und ich blickte zu einer Gruppe, die um einen Misthaufen herum zu Werke war. Inmitten des Drecks schimmerte etwas Weißes, und durch das Fernrohr sah ich, dass es sich um Knochen handelte, genauer gesagt um eine kleine Hand. Was das vermutlich bedeutete, war so schrecklich, dass mir das Auftauchen braun livrierter Männer auf dem uns gegenüberliegenden Hügel als willkommene Ablenkung erschien. »Rührt euch nicht«, ermahnte uns Shiv unnötigerweise. Wir kauerten uns ins hohe Gras wie Junghasen, die sich vor der Meute verbargen. Die Menschen hörten sofort auf zu arbeiten, als der Jagdtrupp die Dorfmitte betrat. Die Männer mit den Halsbändern riefen irgendetwas, und die Dörfler versammelten sich ohne Widerspruch. Ihre Bewegungen hatten jedoch nichts Ängstliches an sich. Niemand zog den Hut oder strich sich die Haare zurecht, wie man es bei uns erwartet hätte. Einer der Anführer 476
sagte irgendetwas, und zu meiner Erleichterung antwortete man ihm mit Schulterzucken und Kopfschütteln. Einen Augenblick lang standen die Krieger einfach nur da; dann, auf einen Befehl ihrer Anführer hin, verteilten sie sich unter den Dörflern und tranken dankbar aus Krügen, die ihnen gereicht wurden. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätten das nicht getan, denn sofort bekam auch ich schrecklichen Durst. »Zeit zu verschwinden«, murmelte Ryshad. Bäuchlings krochen wir auf die andere Seite des Steinkreises. Shiv erreichte die Menhire, die der Küstenstraße unmittelbar gegenüber lagen, als Erster; doch plötzlich blitzte etwas Weißes zwischen den Steinen auf. Die verdammten Dinger begannen zu läuten wie Tempelglocken! Es war ein lautes hohles Geräusch, als würden Misaen persönlich auf die Steine einschlagen. Mit einem Fluch auf den Lippen zuckte Shiv zurück, schlang die Arme um die Brust und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Diese Arschlöcher!« Aiten sprang auf und rannte auf die Lücke zwischen den Steinen zu, als wolle er eine Tür einrennen. Dann war er plötzlich über die Hügelkuppe verschwunden; nichts hatte ihn aufgehalten. Kurz herrschte Verwirrung, während Ryshad und ich gleichzeitig nach Shivs Schulter griffen, dann aber kurz innehielten, um dem anderen den Vortritt zu lassen. »Los! Bewegt euch!«, fuhr Shiv uns an, und wir rannten gemeinsam los. Jenseits der Hügelkuppe rutschten wir einen Pfad hinunter, an dessen Fuß Aiten sich gerade den Dreck von den Kleidern klopfte; offenbar war er gestürzt und den ganzen Hang hinuntergerollt. Allerdings war er bei Bewusstsein und stand aufrecht; mehr musste ich nicht wissen. So rannte ich an ihm vorbei zur Küstenstraße voraus. Die Geräusche unserer 477
Verfolger wurden leiser, während das Land vor uns abfiel, doch ich wusste, das es nicht lange dauern würde, bis die Hunde die Spur wieder aufnahmen. Shiv murmelte im Laufen vor sich hin. »Wie konnte das geschehen? Da war keine Magie. Die Steine waren so tot wie die Knochen, die unter ihnen liegen. Ich weiß, dass ich kein Adept der Erde bin, aber das hätte ich gemerkt. Was haben sie getan?« »Ist das wirklich wichtig?«, erwiderte ich schrill und wirbelte zu ihm herum. »Lauf!« Hinter einer Kurve wäre ich beinahe gegen eine Ziege gerannt, als wir auf einen weiteren dieser Hirtenjungen mit seiner Herde stießen. Aiten riss sein Schwert aus der Scheide. »Das ist Zeitverschwendung.« »Vergiss es. Sie wissen ohnehin, wohin wir gelaufen sind.« Ryshad und ich sprachen gleichzeitig, und Aiten ließ es dabei bewenden, den Jungen zu beschimpfen und in einen Dornenbusch zu stoßen. Das Gras wich Geröll und Sand, und wir gelangten auf einen offenen Strand an einem in der Sonne glitzernden Flachwasserkanal, aus dem Sandbänke ragten. Im Augenblick herrschte Ebbe. Dastennin musste uns noch eine Fuhre Glück geschenkt haben. »Wartet!« Auf der Suche nach einer Landmarke in einer Landschaft, die auf den ersten Blick so gleichförmig war wie ein Weizenfeld, schaute ich mich um. Verflixt, ich hatte doch diese eine Karte gesehen! Ich zwang mich, ruhiger zu atmen und mein pochendes Herz nicht zu beachten, um mich konzentrieren zu können. Nach ein paar Atemzügen hatte ich es: eine Reihe von Steinhaufen entlang der bedrohlich wirkenden Hügel auf der anderen Seite und ein Menhir etwas Ähnliches in der 478
Mitte des Kanals. »Fernrohr!«, verlangte ich und musterte die Steine. Ich hatte richtig vermutet: Es waren andere Wappen. »Wenn wir diesen Kanal überqueren können, sind wir in einem anderen Herrschaftsgebiet«, erklärte ich. Ryshad nickte. Er hatte sofort verstanden. »Sie werden nicht leichtfertig eine Grenze überqueren. Und selbst wenn sie nicht umkehren, müssen sie zuerst wahrscheinlich jemanden losschicken, um neue Befehle zu holen.« Noch während wir sprachen, setzten wir uns wieder in Bewegung, und Shiv ging in das eisige Seewasser voraus, den Blick stur auf das Wasser gerichtet, um einen sicheren Weg für uns zu finden. Aiten hatte wieder ein wenig an Fassung gewonnen. Erneut übernahm er die Nachhut, und ich musste ein Lächeln unterdrücken, als die Männer kurz stehen blieben, denn das eiskalte Wasser hatte ihre Lenden erreicht. Wir gingen weiter. Ich hielt meinen Blick fest auf eine Stelle zwischen Ryshads Schulterblättern gerichtet und ignorierte eisern meine Angst vor dem unsichtbaren, weichen Meeresboden, über den ich lief, und der Strömung, die an meinen Beinen zerrte. Schon bald war das Wasser nicht mehr ganz so tief, doch das war auch nicht besser, denn nun drang der kalte Wind in unsere nassen Kleider, und ich fühlte mich wie ein eingewickeltes Stück Fleisch in einem Kühlhaus. Als wir schließlich die Sandbank erreichten, konnten wir wenigstens wieder rennen, was uns in unseren nassen Kleidern und Stiefeln zwar nicht sonderlich leicht fiel, aber zumindest brachte es unser Blut in Wallung. Dann hörte ich plötzlich das Geräusch von Stiefeln auf Ge479
röll. Ich blickte zurück und erkannte, dass sich die Runen soeben gegen uns gewendet hatten. Rufe hallten über das Wasser. Die beiden Anführer schickten Männer hinter uns her ins Meer. Ich hasste ihren triumphierenden Gesichtsausdruck, doch kaum wünschte ich mir, ihnen die Visagen einschlagen zu können, verschwanden die beiden vorderen. Sie wurden so rasch unter die Wasseroberfläche gezogen, dass sie nicht einmal mehr Zeit zum Schreien hatten. »Shiv!« Ich drehte mich zu ihm um, doch er blickte nicht zu mir. In seinem Gesicht zeichnete sich stummes Entsetzen ab, und als ich mich nach rechts wandte, sah ich auch warum. Ein Trupp Männer in glänzenden schwarzen Lederuniformen war vor uns auf den Hügeln erschienen; an ihrer Spitze stand ein weißhaariger Mann mit einem schwarzen Streitkolben. Die Arme hatte er hoch über den Kopf gehoben, und als der Wind drehte, hörten wir einen unmelodischen Gesang. Furcht drehte mir den Magen um, als ich die Uniformen als diejenigen erkannte, die auch die Mörder in Inglis getragen hatten. Jedwede Angst vor unseren ursprünglichen Verfolgern verflog schneller, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Aus dem Nichts tauchten plötzlich Armbrüste auf, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, als Bolzen über unsere Köpfe hinweg zischten. Einige drangen durch, doch weit mehr prallten von einer unsichtbaren Wand ab. Die Lederträger antworteten mit Bögen und überraschend wirkungsvollen Steinschleudern, doch bei der zweiten Armbrustsalve sank eine Hand voll von ihnen zu Boden; Blut rann den Gefallenen aus Nasen und Ohren. Der Mann mit dem Streitkolben rief etwas, und eine Art Akolyth stimmte in den Gesang mit ein. Plötzlich verschwand ein Teil seiner Männer, und ich hörte Geschrei in unserem Rü480
cken. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie die Verschwundenen inmitten unserer Verfolger auf den jüngeren der beiden Anführer eindrangen. Mehrere von ihnen fielen, die Gesichter zu blutigen Klumpen zerschlagen, doch der Halsbandträger war gezwungen, sich mit einem magischen Sprung auf den Hang des nächsten Hügels zurückzuziehen. Nun, da er offen zu sehen war, schleuderte der Streitkolbenträger seine Macht direkt gegen ihn. Erde und Steine flogen in die Luft, und ein unglücklicher Krieger wurde buchstäblich auseinander gerissen. Den Weißhaarigen schien das Schicksal seiner Männer nicht zu kümmern, die plötzlich mitten in der Bewegung erstarrten und in Stücke gehauen wurden. Nachdem sie erledigt waren, versuchte der ältere Halsbandträger, seinen Feind mit blauen Feuerstößen direkt anzugreifen. Doch als das Feuer den unsichtbaren Schild traf, zuckte es wild in alle Richtungen. Ein paar Männer trugen allerdings leichtere Verletzungen davon, die sich jedoch binnen weniger Sekunden immer mehr öffneten und zu schwären begannen. Ein weiterer Akolyth trat vor und stimmte in den Gesang mit ein. »Vorwärts!« Mit gezücktem Schwert führte Ryshad uns von der Sandbank hinunter, während die beiden Trupps gegeneinander vorrückten. Ich hoffte inständig, dass sie mehr daran interessiert waren, sich gegenseitig umzubringen, als uns zu schnappen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich zu bewegen; auf jeden Fall wurden wir bemerkt. Ich schrie entsetzt auf, als mich plötzlich unsichtbare Hände unwiderstehlich in die Höhe hoben. Ryshad packte mich an der Hüfte, als meine Füße sich vom Boden lösten, und ich krallte mich verzweifelt in seine Schultern und Locken. Blau-weiße Funken knisterten in meinem Haar, bis ein eisiger Windstoß 481
mich wieder zu Boden stieß. Seltsam eckige Lichtstrahlen zuckten von einer Seite zur anderen, doch sie wurden rechts wie links von einem strahlendblauen Feuer abgelenkt, das aus Shivs Händen stammte. Ein grünes Schimmern um uns herum dehnte sich bis zu den vorrückenden Kriegern aus, und wo immer sie hintraten, wurde der Sand zu weich für ihr Gewicht. »Versucht es ruhig mit eurer altmodischen Magie«, rief Shiv. »Hier bin ich in meinem Element.« Benommen klammerte ich mich an Ryshad. Wir kauerten nebeneinander, während Shiv ein schimmerndes Netz der Macht um uns wob und Aiten trotzig das Schwert zog. Aus beiden Richtungen kamen noch immer die Männer in Braun und Schwarz. Shiv schleuderte ihnen Blitze entgegen. Immer mehr Männer wurden brennend ins Wasser geworfen. Dann hörte ich einen ersten Hauch von Verzweiflung in Shivs Stimme, während er die Blonden verfluchte, denn für jeden Mann, den er fällte, sandten die Äthermagier zwei neue in den Kanal; anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen, waren sie nun wieder hinter der wertvolleren Beute her. Schulter an Schulter wichen wir zurück und erwarteten den Tod mit gezückten Schwertern und ruhiger Hand. Meine Innereien verwandelten sich in Wasser, und ein Schrei stieg in mir auf, doch ohne den Weg durch die Kehle zu finden. Zugleich empfand ich einen verrückten Stolz. Aus irgendeinem Grund – vermutlich Erschöpfung – musste Shiv seinen Angriff für einen Augenblick unterbrechen, und in diesem Moment stieß ihn eine unsichtbare Hand zurück und riss ihn von den Beinen. Während ein leuchtendblauer Fleck auf seiner Stirn erschien, landete er schlaff wie eine Puppe auf einem Felshaufen, der im flachen Wasser verborgen gewesen 482
war. Blut sammelte sich hinter seinem Kopf im Wasser, und ich trat hilflos einen Schritt auf ihn zu. Ich rutschte aus, und plötzlich waren meine Füße wie festgewachsen. Ich wand mich verzweifelt, wurde in dieser unmöglichen Haltung jedoch von irgendetwas in der Luft festgehalten. Hilflos versuchte ich, mit den Armen zu rudern; es war ein Gefühl, als wäre ich in Honig gefangen, und bald schon konnte ich mich überhaupt nicht mehr bewegen. Mit letzter Kraft drehte ich den Kopf in einem schmerzhaften Winkel und konnte Ryshad und Aiten gerade noch erkennen. Sie waren ebenso gefangen wie ich, mitten im Sturz in der Luft wie festgenagelt. In Aitens Fall schwebte sein Kopf nur eine Handbreit über dem Wasser; ich konnte sehen, wie sein Atem kleine Wellen auf der Oberfläche entstehen ließ. Dann erscholl um uns herum Kriegsgeschrei, und der wirkliche Kampf begann, nun da wir uns nicht mehr bewegen konnten. Blutiges Wasser rann durch den Sand, und der Gestank des Gemetzels vermischte sich mit dem salzigen Duft der See und dem Schweißgeruch der Kämpfenden. Hoch über uns hörte ich Seevögel schreien, die von dem zu erwartenden Futter angezogen wurden. Egal was für eine Magie meine Füße hatte taub werden lassen, jetzt kroch diese Taubheit langsam meinen ganzen Leib hinauf; ich hatte das Gefühl, als rücke das Chaos um mich herum in immer größere Ferne. Meine Mutter hatte mir einst einen Sirup von den Aldabreshi-Inseln verabreicht, der die Schmerzen hatte betäuben sollen, während ein Arzt mir einen Abszess aus dem Rücken schnitt. Später war ich mitten in der Nacht aufgewacht und hatte meine Mutter neben meinem Bett gesehen. Angespannt hatte sie jeden meiner Atemzüge beobachtet, doch ich war damals genauso 483
weit vom Schmerz entfernt gewesen wie jetzt von den Sterbenden auf der Sandbank. Verschwommen bemerkte ich, dass die Schreie sich veränderten; von zusammenhängenden Worten konnte keine Rede mehr sein. Ich sah einen Mann in Braun sich gegen seinen Nachbarn wenden. Er warf sein Schwert beiseite und griff den Feind wie ein Tier mit Zähnen und Krallen an. Beiden schien es völlig egal zu sein, dass sie aneinander geklammert im Schaum der aufkommenden Flut ertranken. Die ersten kleineren Wellen schwemmten eine Leiche an mir vorbei. Der Mann hielt noch immer den Dolch fest umklammert, der ihm in die Kehle gestoßen worden war. Undeutlich sah ich noch, wie zwei Männer vor mir vorbeistolperten. Beide bluteten aus tödlichen Wunden, doch Wahnsinn funkelte in ihren Augen, und sie kämpften weiter. Dann packten mich raue Hände, und ich wurde über eine lederne Schulter geworfen. Mein Kopf hüpfte hilflos auf und ab, und Nieten kratzten meine Wangen auf. Einen kurzen Augenblick lang, als ich an einen anderen Mann übergeben wurde, sah ich den Weg, den wir vor noch gar nicht so langer Zeit gekommen waren. Überall lagen braun livrierte Leichen, und der ältere Halsbandträger ging zwischen den Verwundeten herum. Einigen half er auf die Beine, doch als er seinen jüngeren Kameraden erreichte, schüttelte er den Kopf und stieß ihm einen Dolch ins Auge. Blutverschmiert schrie er einen Fluch, der selbst mein betäubtes Blut erschauern ließ, obwohl ich kein Wort verstand. Die schwarz gewandeten Kerle, die uns trugen, wurden nicht einmal langsamer; lag ihnen ein toter Feind im Weg, traten sie ihn mit offensichtlicher Verachtung beiseite. Dann erreichte die Taubheit meinen Kopf, und alles löste sich 484
in Nichts auf. Es dauerte einige Zeit, bis mir klar wurde, dass ich wieder bei Bewusstsein war. Ich konnte mich nicht bewegen, noch nicht einmal die Augen, und es dauerte noch eine Weile, bis ich erkannte, dass es sich bei der weißen Fläche, die ich sah, um eine verputzte Decke handelte. Dieser Gedanke beschäftigte meinen betäubten Geist geraume Zeit; dann – während mein Verstand langsam wieder aufwachte – sah ich winzige Risse und ein Spinnennetz in einer unerreichbaren Ecke. Ich fand Interesse an der Textur der Decke, als mein Gehör plötzlich wieder funktionierte, und erstaunt stellte ich fest, dass ich es bis jetzt eigentlich gar nicht vermisst hatte. Ein gutes Stück neben mir erklangen harte Schritte auf den Bodenbrettern, und von unten kam ein seltsames Klappern. Während ich mit halb betäubten Sinnen eines Betrunkenen herauszufinden versuchte, was diese Geräusche bedeuten mochten, erscholl ein furchtbarer Schrei. Der Schrei weckte mich gründlicher, als hätte man mir einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet. Es war der Schrei eines Menschen gewesen, doch kein Schrei der Wut, sondern des reinen Entsetzens. Kurz fürchtete ich um meine Kameraden, doch schon bald ängstigte ich mich nur noch um mich selbst. Im Geiste hatte der Schrei mich vor Schreck in die Höhe springen lassen, doch in Wirklichkeit hatte ich keinen Muskel gerührt. Ich war so hilflos wie ein betäubtes Schwein, das auf das Messer des Schlachters wartet. Im selben Augenblick – beinahe so, als wäre mein Gedanke ein Signal gewesen – öffnete sich die Tür, und ich hörte leise Schritte. Erfolglos versuchte ich, den Kopf zu drehen, hätte mir die Mühe aber sparen können. Der Neuankömmling kam zu mir und beugte sich über mich, sodass ich sein Gesicht sehen konn485
te. Es war der weißhaarige Mann vom Strand, der mit dem Streitkolben. Auf gewisse Weise war er trotz seiner kantigen Gesichtszüge gut aussehend. An seinen langen Wangenknochen war kein überflüssiges Gramm Fleisch, und die Haut war vollkommen glatt; lediglich hier und da waren ein paar kleinere Fältchen und mehrere kleine Narben zu sehen. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz, und sie erschienen mir so mitleidlos und fremd wie die eines Adlers, der gefühllos seine Beute beäugt. Der Mann sprach, doch die Worte sagten mir nichts. Im Klang ähnelten sie der Sprache des Bergvolkes, und ein paar Laute kamen mir sogar vertraut vor, doch in dieser Geschwindigkeit konnte ich sie nicht verstehen. Ich versuchte, mit den Schultern zu zucken, die Augen aufzureißen oder den Mund zu verziehen, um ihm klar zu machen, dass ich ihn nicht verstand – ohne Erfolg. In den Augen des Mannes flackerte eine unangenehme Belustigung auf, und er wiederholte seine Worte, nur langsamer; ich verstand allerdings noch immer nichts. Dann kehrte das Gefühl in meine Arme und Beine zurück, und ich spürte Fesseln an Hüfte, Hand- und Fußgelenken, die mich an einen harten Tisch fesselten. All meine Muskeln begannen gleichzeitig gegen die Anspannung zu protestieren, was mir ein Gefühl bescherte, das selbst den schlimmsten Kater übertraf, den ich je gehabt hatte, und ich musste mich darauf konzentrieren, mich nicht zu übergeben, was natürlich eine schlechte Idee ist, wenn man auf dem Rücken liegt. Weißhaar beugte sich noch immer über mich. Offensichtlich erheiterte ich ihn weiterhin. »Ich möchte dich in meinem Heim willkommen heißen. Ich 486
hoffe, wir können während deines Besuchs zu einer Übereinkunft kommen.« Er sprach Tormalin, jedoch nicht die Alte Sprache der Bücher und Schriftrollen, die er sich aus irgendwelchen alten Beutestücken hätte zusammenbasteln können, sondern die Gemeinsprache dieses Landes. Der Akzent stammte aus dem Süden, und die Redeweise entsprach der der Kaufmannsschicht. Jede Geste des Trotzes erschien mir mit einem Mal lächerlich. »Ihr seid uneingeladen in mein Reich gekommen, und ich habe Recht strenge Regeln, was so etwas betrifft«, fuhr er in freundlichem Tonfall fort. »Aber wie auch immer, ihr stammt aus Tren Ar’Dryen, und dem gilt im Augenblick mein Interesse. Nützliche Informationen könnten durchaus eine Strafmilderung zur Folge haben.« Ob des unbekannten Namens runzelte ich die Stirn: Tren Ar’Dryen? Berge der Abenddämmerung? Jedenfalls bedeutete es das ungefähr. Es kam mir nur merkwürdig vor, dass diese Leute unsere Heimat mit einem Tormalinwort bezeichneten. Der Mann schlug mit einer ledernen Faust neben meinen Kopf, und die Nieten trieben Dellen in das Holz. »Bitte, hör mir zu, wenn ich mit dir rede.« Sein milder Tonfall stand in krassem Gegensatz zu der gewalttätigen Geste. »Du reist mit einem Zauberer aus Hadrumal und zwei Söldnern«, fuhr er gelassen fort. »Weshalb seid ihr hier?« Da mir keine sinnvolle Antwort einfiel, schwieg ich. Offensichtlich enttäuscht hob der Weißhaarige eine Augenbraue. »Ihr arbeitet für Planir den Schwarzen. Bitte, sag mir, was ihr für ihn tun sollt.« Ich blieb stumm wie die Statue in einem Tempel. »Ihr habt Verbindung zu dem Dieb Azazir aufgenommen. 487
Was hat er euch über die Länder von Kel Ar’Ayen erzählt?« Als ich noch immer nicht antwortete, beugte er sich näher zu mir heran, und ich roch Seife und Badeöl. Sein Atem war frisch von Kräutern und seine Zähne gleichmäßig und weiß. »Wenn du mit mir zusammenarbeitest, wird alles gut für dich ausgehen. Leistest du Widerstand, wirst du dir tausendmal wünschen, tot zu sein, bevor ich dich zu den Schatten entlasse.« Das mochte wie eine Drohung klingen, wie jeder schwarzgewandete Bösewicht sie in einem Lescaridrama macht, aber dieser Mann hier meinte es ernst, und das wusste ich. Er musste die Furcht in meinen Augen gesehen haben, denn er lächelte zufrieden; dann wandte er sich von mir ab und begann, langsam auf und ab zu gehen. »Was kannst du mir von den gegenwärtigen politischen Verhältnissen in Tormalin erzählen? Welche Fürsten besitzen wirklich Einfluss? Wer hat das Ohr des Kaisers?« Warum fragte er ausgerechnet mich? Ich hatte so wenig Ahnung davon, dass ich mir nicht einmal eine Lüge hätte ausdenken können. »Was ist mit Planir? Wie sieht es mit seinen Beziehungen zu ... sagen wir, den Relshazri aus, dem caladhrianischen Rat oder den Herzogtümern?« Was sollte ich davon wissen? Ryshad hatte vielleicht eine Ahnung davon, aber ich ... Während ich noch darüber nachdachte, blieb der Weißhaarige plötzlich stehen. »Gut. Also haben wenigstens einige von euch die richtigen Verbindungen. Und was weißt du, was von Nutzen für mich wäre?« Verzweifelt versuchte ich, meinen Geist zu leeren, doch der Mann durchquerte mit ein paar raschen Schritten den Raum, 488
packte meinen Kopf und presste seine Finger in meine Schläfen. Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Gesicht, und Speichel tropfte auf meine Wangen. »Versuch nicht, gegen mich zu kämpfen, junge Frau. Ich kann in deinen Geist eindringen, wie es mir beliebt, und mir holen, was ich will. Wenn du dich widersetzt, tust du dir nur selber weh. Also, sei ein braves Mädchen, und bleib ruhig. Vielleicht töte ich dich dann noch nicht.« Die Worte waren die eines Vergewaltigers, und tatsächlich vergewaltigte er meinen Geist gründlicher, als der verdammte Bastard in Weißdorn meinen Körper hätte schänden können. Er beraubte mich der Selbstbeherrschung der Erwachsenen und legte das Kind wieder bloß, das ich einst gewesen war, ängstlich und rebellisch zugleich, während es sich einen Platz in einer Welt gesucht hatte, in der die meisten Menschen Mutter und Vater hatten. Nachdem er mich wieder in ein kleines, weinendes Mädchen verwandelt hatte, wandte er sich meiner Begegnung mit Darni und Shiv zu und brach meine Erinnerungen auseinander, um alles aus ihnen herauszuholen, was ihm nützlich erschien. Ich fühlte seine Verachtung ob meines Unwissens über die Pläne der beiden, doch bevor er meine Rolle weiter untersuchte, spürte ich, wie seine Verachtung einer lüsternen Neugier wich. In einem einzigen Augenblick kannte er die intimsten Einzelheiten meiner Zeit mit Geris und anderen, und ich fühlte seine geile Belustigung, mit der er mich besudelte. Mein Geist pochte förmlich. Er schwoll an und wurde auseinander genommen, während der Weißhaarige weiter in mich drang, bis ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Ich hatte das Gefühl, als dauere diese Folter Stunden, doch in Wahrheit handelte es sich vermutlich nur um wenige Augenblicke. 489
Der Schock, als er mich losließ, bereitete mir fast körperliche Schmerzen. Einen Augenblick lang stand er über mir, und eine widerliche Zufriedenheit ließ ihn lächeln. Ich biss die Zähne zusammen, um ihn nicht anzuflehen, er solle mir nicht mehr wehtun, doch meine Tränen vermochte ich nicht zurückzuhalten, und so liefen sie über die Schläfen in meine Haare. Der Weißhaarige beugte sich erneut zu mir herunter und flüsterte mir wie ein Liebhaber ins Ohr: »Ich will noch mehr von dir. Jetzt entscheide dich, ob du es mir freiwillig sagen willst, oder ob ich es wieder in deinem Kopf suchen soll. Vielleicht wäre es dir aber auch lieber, würde ich dich den Wachen überlassen.« Gnadenlos zwickte er mir in den Nippel, und ich schnappte vor Schmerz nach Luft. »Es gibt mehr als eine Möglichkeit, Menschen zum Reden zu bringen, und glaub mir, ich benutze sie alle.« Unvermittelt ging er hinaus, und ich hörte, wie hinter ihm die Tür verriegelt wurde. Im selben Augenblick lösten sich meine Fesseln, doch als ich mich aufrichtete, um mir die Handgelenke zu reiben, war von Fesseln nichts zu sehen. Ich starrte auf die roten Linien auf meinem Fleisch und schüttelte den Kopf, als ich erkannte, dass die Fesseln nur in meinem Kopf existiert hatten. Ich versuchte, die Panik zu unterdrücken, die mich zu überwältigen drohte; ich atmete schnell und flach wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Ich weiß nicht, wie lange ich dort hilflos gesessen habe, aber schließlich schwand die Furcht ein wenig, und ich hörte alltägliche Geräusche jenseits des schmalen Fensters meines Gefängnisses. Meine Großmutter hatte es immer Sturheit genannt, meine Mutter Trotz, aber wie man es auch nennen mochte, schlussendlich gab es mir die Kraft aufzustehen. 490
Ich durchquerte den Raum und untersuchte das Fenster. Es war vergittert; also war hier keine Flucht möglich; außerdem sah ich, dass ich mich im vierten Stock befand. Die steile Wand gehörte zu einer Art Bergfried, der gut zu verteidigen war, so weit ich sehen konnte. Unter mir sah ich einen geschäftig belebten Hof, der von einer dicken Wehrmauer umgeben war, auf der in regelmäßigen Abständen Wachen vorbeimarschierten. In der näheren Umgebung schien es keine weitere Erhebung zu geben, und ich kam zu dem Schluss, dass der Erbauer dieser Festung etwas von Burgenbau verstanden haben musste. Ich tippte gegen das Fensterglas. Es war unregelmäßig und milchig, aber es war Glas. Unter mir sah ich eine ganze Reihe von Gewächshäusern an der Südwand eines ummauerten Gartens. Die Wachen trugen mit Nieten beschlagenes schwarzes Leder. Nach den Maßstäben dieses Landes, hatten wir es hier offensichtlich mit einem der reichsten und mächtigsten Herrn zu tun, was alles Mögliche für uns bedeutete, auf jeden Fall nichts Gutes – für uns in unserer derzeitigen Situation und für Planir oder für jeden anderen, den diese Kerle an ihren Ufern finden würden. Ich bemerkte, dass es sich bei den großen Dingern, die in der Ferne aufragten, um Schiffsmasten handelte – Seeschiffe. Und was jetzt? Ich muss gestehen, dass ich kurz davor stand, einfach aufzugeben. Ein Teil von mir sah keinen Ausweg, außer das Wenige zu erzählen, das ich wusste, und auf einen schnellen Tod zu hoffen. Doch glücklicherweise bin ich vor allem eine Spielerin, und so erinnerte ich mich daran, dass ein Spiel erst vorbei ist, wenn die letzte Rune gefallen ist. Schließlich begann ich, auf jedes noch so leise Geräusch zu lauschen. Ich ging zur Tür und untersuchte das Schloss. Es war gut, aber ich war bes491
ser. Ich wollte gerade meinen Gürtel ausziehen – die Gürtelschnalle ist zufälligerweise ein hervorragender Dietrich –, als ich Schritte auf dem Gang vernahm. Rasch zog ich mich in eine Ecke zurück, kauerte mich auf den Boden, den Kopf auf die Knie und in den Armen versteckt – ein Bild der Angst und der Verzweiflung. Es war nicht der Weißhaarige, sondern sechs seiner Krieger. Das musste ein Versuch sein, mich einzuschüchtern, denn inzwischen wussten sie sicherlich, dass ich keine Magie wirken konnte. Ich blickte angemessen verängstigt drein – und glaubt mir, das fiel mir nicht schwer. Die Männer führten mich wortlos hinaus, und wir stiegen drei Treppen hinunter und durch eintönige, weißgetünchte Gänge. In einem weiteren leeren Raum zog mich ein älterer Mann in hellgrauer Robe aus und suchte mich so gründlich ab, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die Wachen warfen mir lüsterne Blicke zu, doch so, wie die Dinge standen, war Vergewaltigung so ziemlich das letzte, wovor ich mich fürchtete. Ich hatte schon Schlimmeres erlebt wie damals, als ich noch jung und dumm gewesen war und einen Apotheker hatte aufsuchen müssen, weil ich mir den Tripper eingefangen hatte. Nachdem der Mann in der grauen Robe und mit den kalten Fingern fertig war, führten die Wachen mich weitere Treppen hinunter und warfen mich in den saubersten Kerker, den ich je gesehen hatte. Auf Ketten wurde verzichtet. Vermutlich glaubten sie, dass eine nackte Rothaarige auf der Flucht leicht genug zu erkennen und zu verfolgen war. Ich untersuchte mein neues Gefängnis. Es war ungefähr so groß wie eine Pferdebox. Licht kam durch ein Gitter hoch in der Wand herein, das auf den Hof hinaus führte. Auch hier waren die Wände weißgetüncht und geschrubbt, doch Flecken verrie492
ten mir, wo sich einst Blut auf Boden und Wänden verteilt hatte. Es gab einen Eimer, einen Krug mit sauberem Wasser und einen Korb mit Brot und Käse; mir fiel auf, dass auch hier der Boden warm war. Ich dachte gerade darüber nach, dass ich ein Lescariloch, in dem man leicht übersehen wird, dieser kahlen, sauberen Kammer vorgezogen hätte – da war eine Flucht nämlich durchaus möglich –, als sich plötzlich die Tür öffnete und Aiten zu mir hineingestoßen wurde. »Livak!« Er war so nackt wie ich, doch in weit schlimmerem Zustand. Auf seiner blassen Haut waren deutlich blaue Flecken und Schnitte zu sehen, und er hatte ein blaues Auge. Er starrte mich an, und der nicht zerschlagene Teil seines Gesichts errötete, während er versuchte, seine Männlichkeit vor mir zu verstecken. »Sei kein Narr«, sagte ich. »Schließlich haben wir nichts voreinander zu verbergen, oder?« Es war typisch, dass ausgerechnet Aiten mit seinen zweideutigen Witzen angesichts meiner und seiner Nacktheit plötzlich so schüchtern wurde wie eine Jungfrau Halcarions. Der peinliche Augenblick endete mit Ryshads Erscheinen. Er hatte zwar keine offensichtlichen Verletzungen, doch er wirkte arg mitgenommen, und wie ich war er offenbar der Auffassung, dass unsere Nacktheit das Geringste unserer Probleme war. Er war ungewohnt blass, sodass sich sein Dreitagebart deutlich von der Haut abhob. »Alles in Ordnung?«, fragten Aiten und ich gleichzeitig, während wir Ryshad halfen, sich hinzusetzen. Ich holte ihm einen Becher Wasser, doch er winkte ab; anscheinend war ihm übel. »Seid ihr schon zu diesem Weißhaarigen gebracht worden?«, fragte er uns mit zitternder Stimme. Er konnte uns nicht in die 493
Augen blicken. »Ja.« Auch ich konnte ein Zittern in meiner Stimme nicht vermeiden. Ryshad hob den Kopf, und ich sah ein Spiegelbild meines eigenen Leidens in seinen warmen bernsteinfarbenen Augen. Dieses Gefühl einer gemeinsamen Erfahrung verlieh mir irgendwie Kraft, und wie zur Antwort sah ich einen Funken Entschlossenheit in Ryshads Augen funkeln. Aiten blickte uns ängstlich an. »Ich nehme an, das ist etwas Schlimmes, oder?« »Ja«, antwortete Ryshad langsam. »Und wir sollen dir erzählen, wie schlimm, damit die Furcht es dann noch schlimmer macht.« Ein Hauch der gewohnten Härte verlieh seiner Stimme wieder ein wenig Kraft. »Aber das werde ich nicht tun. Es ist schlimm, Ait, sehr schlimm sogar, aber du wirst schon damit fertig.« Ich wunderte mich, wie überzeugt Ryshad klang, und Aitens Gesichtsausdruck nach zu urteilen, empfand er genauso. »Und was ist mit dir passiert?« Ich wollte Ait ablenken und herausfinden, was uns beim nächsten Spiel erwartete. Aiten zuckte mit den Schultern. »Ein paar von denen haben ihr Bestes getan, mir den Verstand rauszuprügeln. Sie haben wohl geglaubt, sie hätten mich weich geklopft, als irgendso ein Arsch – ein alter Mann – mich fragte, warum wir hier sind. Ich habe nichts gesagt. Dann hat man mich ausgezogen ... durchsucht«, er errötete, »und hier reingeworfen.« »Kein Grund, sich deswegen schlecht zu fühlen, Ait.« Ich sah, dass es ihn sehr beschäftigte. »Insgesamt sechs Wachen können jetzt beschwören, dass ich eine echte Rothaarige bin. Damit versuchen sie nur, uns zu zerbrechen.« Ryshad blickte vom Boden auf, als wäre ihm unsere Nackt494
heit gerade erst aufgefallen. Er starrte mich an wie ein Pferdehändler eine kräftige Stute. »Hat einer von ihnen was versucht? Meinst du, man könnte einen von ihnen überzeugen ...?« »Rysh!«, fiel Aiten ihm entsetzt ins Wort. »Ist schon gut, Ait.« Beruhigend legte ich ihm die Hand auf den Arm. »Versteh das nicht falsch, aber ich würde sie mich bis zur Sonnenwende auf sechs verschiedene Arten rammeln lassen, wenn uns das hier herausbrächte; aber keiner hat auch nur genascht.« Ryshad warf mir ein schwaches Lächeln zu. »Nun, das verrät uns zumindest, dass sie mehr Disziplin besitzen als die meisten Soldaten, denen ich bisher begegnet bin.« »Leider«, pflichtete ich ihm bei. Ryshad stand auf und machte sich daran, die Zelle zu untersuchen. Als er zu dem Gitter hinaufblickte, öffnete sich die Tür wieder, und Shiv wurde hereingeworfen. Glücklicherweise stand Aiten genau richtig, um den Bewusstlosen aufzufangen. Shivs Haar war noch immer von Blut und Meersalz verklebt. »Warum hat er seine Hose behalten dürfen?«, murmelte Aiten verärgert, während er Shiv sanft auf den Boden legte und ihm das Wams auszog, um es ihm unter den Kopf zu legen. »Weil es keinen Sinn macht, einen Bewusstlosen zu demütigen.« Ryshad kniete sich neben ihn. »Was bedeutet, dass er seit unserer Gefangennahme nicht mehr aufgewacht ist.« Vorsichtig und mit grimmigem Gesichtsausdruck untersuchte er die Wunden an Shivs Hinterkopf. Ich schauderte. »Es wäre mir lieber, wenn das alles nicht so gut durchdacht wäre.« Ryshad hockte sich auf die Fersen. »Wer immer hier das Sa495
gen hat, ist ein verdammt kluger Bastard. Warum glaubt ihr wohl hat man uns hintereinander in ein und dieselbe Zelle geworfen? Nehmen wir einmal an, alles ist berechnet, um uns in Unruhe zu versetzen und uns langsam zu zerbrechen ... kämpft dagegen an!« Ich weiß nicht, ob man uns irgendwie belauscht hat, sei es nun mit dem Ohr oder mit Magie, aber ich glaube nicht, dass sich in diesem Augenblick die Tür zufällig geöffnet hat. Ein weiterer lebloser Körper wurde zu uns hineingeworfen. Ich erkannte den mit Pelz abgesetzten Mantel sofort, noch bevor Ryshad den Leichnam auf den Rücken drehen konnte, um das zu enthüllen, was von Geris einst so freundlichem, sanftem Gesicht übrig war. Ich schluckte einen Schrei des Entsetzens herunter und schlug die Hände vor den Mund. Ryshad trat zu mir und legte mir den Arm um die zitternden Schultern. »Ist das Geris?«, fragte er in sanftem Tonfall, obwohl er die Antwort vermutlich längst kannte. Ich nickte stumm; dann brach ich in Tränen aus. Das war der Augenblick, vor dem ich mich gefürchtet hatte. Die Logik hatte mir gesagt, ich müsse damit rechnen, doch mein Spielerblut hatte mich wider alle Wahrscheinlichkeit auf jene Art von glücklichem Ende hoffen lassen, wie Judal es im Spiegel immer wieder aufführt. Ich hatte auch früher schon Freunde verloren, doch in diesen Fällen war die Gefahr Teil des Spiels gewesen, und wir alle hatten uns freiwillig darauf eingelassen. Irgendwie war es mir bis jetzt nie gelungen, den Glauben aufzugeben, dass Misaen sich schon um Geris kümmern würde, so wie er sich auch um Betrunkene und kleine Kinder sorgt. Geris war einfach ein viel zu netter Mensch gewesen, als dass ihm etwas Böses hätte widerfahren können. 496
Die Trauer um Geris wurde immer größer und beherrschte bald meinen gesamten Geist; sie wurde noch von der Angst um mein eigenes Schicksal verstärkt, von dem Entsetzen ob der Vergewaltigung meiner Gedanken, dem Versagen bei unserem Auftrag und der schrecklichen Furcht vor dem, was geschehen würde, wenn der Weißhaarige seine verfluchten Blondschöpfe über das Meer führte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das alles sei meine Schuld. Ich wusste, wie die Welt funktionierte; ich hätte mich um jemanden wie Geris kümmern müssen. Meine Verteidigung, mein hart erkämpfter Optimismus, meine Hoffnung, dass wir schon irgendwie überleben würden – alles brach zusammen. Ich weinte, wie ich noch nie im Leben geweint hatte. Ich weinte wie ein kleines Mädchen um eine zerbrochene Puppe. Ich weinte, bis ich mich vollkommen leer fühlte und nur noch zittern konnte. Meine Augen waren geschwollen und brannten, und in meinem Kopf pochte der Schmerz des Augenblicks. Doch nach und nach zog der Sturm vorüber, wie es stets der Fall ist. Ich erreichte den Punkt, wo Jammern mehr Luxus als Erleichterung ist, und ich spürte Ryshads kräftige Arme um meinen Leib, roch seinen männlichen Duft und sah die Haare auf seiner Brust, die ich mit meinen Tränen genässt hatte. Ich atmete tief ein und gestattete ihm, mich an die Wand zu setzen. In irgendeinem fernen Teil meines Geistes kam mir der Gedanke, dass uns das allen eigentlich hätte peinlich sein müssen, doch mich konnte es nicht rühren. Ryshad holte mir Wasser, und Aiten reichte mir wortlos einen Leinenfetzen, den er aus Shivs Hemd gerissen hatte. Ich wischte mir das Gesicht ab und lehnte mich erschöpft zurück. Das war der Augenblick, als ich mich erneut fragte, ob man uns beobachtete, und ein Funken 497
des Zorns kämpfte gegen die Trauer in meinem Geist. Ich schaute zu Aiten und sah, dass sein Blick ständig zwischen Shiv und Geris hin und her wanderte. Scham und Trotz mischten sich auf seinem Gesicht. Er fühlte, dass ich ihn beobachtete, biss sich auf die Lippe, erwiderte aber meinen Blick. »Sie brauchen doch nicht all ihre Kleider, oder? Um ehrlich zu sein, könnte ich ein gutes Stück klarer denken, wenn meine Eier nicht ständig im Wind baumeln würden.« »Das stimmt wohl.« Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen, während ich ihn innerlich anschrie, die Finger von meinem Freund und meinem Liebhaber zu lassen. Ryshad warf mir einen Blick zu, der mich glauben ließ, dass er meine Gefühle verstand. »Wir können Geris nicht verbrennen, aber wir können ihn zurechtmachen und den Ritus über ihn sprechen«, sagte er sanft. »Das zumindest hat er verdient.« Also zogen wir Geris aus, wuschen seinen armen, geschundenen Leib, so gut wir konnten, und wickelten ihn in seinen guten Wollmantel, der noch immer nach den Kräutern roch, mit denen er seine Wäsche stets frisch gehalten hatte. Ich brach erneut in Tränen aus, als ich die Überreste seiner schlanken Hände sah, die mir so viel Vergnügen bereitet hatten; all seine Finger waren gebrochen, und einen hatte man ihm sogar abgeschnitten. An Händen und Füßen fehlten die Nägel, während die Sohlen Schwellungen aufwiesen, die nur von wiederholten Schlägen mit einem dünnen Stock stammen konnten. Brandflecken zeigten, wo man sein Gesicht, die Innenseite seiner Arme und seine Lenden mit heißem Eisen bearbeitet hatte. Seine einst festen, vollen Lippen, die so gut hatten küssen können, waren aufgeplatzt. Er hatte die meisten seiner Zähne verloren; manche schienen ihm sogar ausgerissen und nicht ausgeschlagen wor498
den zu sein. Tränen rannen über mein Gesicht, als ich die sanften braunen Augen schloss, deren neugierigen, unschuldigen Blick ich immer in Erinnerung behalten würde. Meine Trauer ließ nicht nach, doch mein Zorn wuchs, als ich das eine nicht fand, das ich suchte: die tödliche Wunde, den Gnadenstoß. Eine solche Wunde war einfach nicht da, und langsam wuchs die Entschlossenheit in mir heran, es dem weißhaarigen, eiskalten Bastard noch heimzuzahlen, der dafür verantwortlich war, bevor mich selbst der Tod ereilte. Während ich Geris’ zerschundenen Leib betrachtete, kam ich zu dem Schluss, dass wir nie mehr lebend hier herauskommen würden. Natürlich hatte keiner von uns Geld dabei; also kratzten wir den Dreck von Geris’ Stiefeln und machten daraus Schlamm, mit dem wir dem Toten dann auf die Hände schrieben, was wir Poldrion schuldeten. Ich fügte auch Shivs Namen hinzu und nach kurzem Zögern auch Darnis; ich glaubte nicht, dass ihm das etwas ausmachen würde. Dann sprachen wir die Abschiedsworte. Dastennins Ritus glich dem Drianons, an den ich gewöhnt war, und ich nahm an, dass Poldrion ohnehin wusste, was wir von ihm wollten. Ich zog Geris zum letzten Mal die Kapuze seines Mantels übers Gesicht, setzte mich neben ihn und senkte den Kopf. Es war der schlimmste Augenblick in meinem Leben. »Erzähl mir von ihm.« Ryshad reichte mir Shivs Tunika, während er selbst sich Geris’ Hose anzog und sich neben mich setzte. In stummem Schmerz schüttelte ich den Kopf, doch Ryshad packte mich am Arm, und als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich Tränen in seinen Augen. »Rede mit mir. Erzähl mir, wie er war. Erinnere dich an die 499
guten Dinge, die glücklichen Zeiten.« Unbeachtet kullerte eine einzelne Träne seine Wange hinab. »Wenn du es nicht tust, wirst du dich nie so an ihn erinnern können. Ich war bei meiner Schwester, als sie am Fleckfieber gestorben ist. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Über ein Jahr lang habe ich sie in meinen Erinnerungen nur im Todeskampf gesehen. Das hat mich auch zum Thassinkauen getrieben.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch Ryshad blieb hart. »Ich habe ihn nicht gekannt. Glaubst du, wir wären Freunde geworden? Wie war er?« »Er war ein lieber Junge, der allen nur Gutes wollte«, antwortete ich schließlich. »In vielerlei Hinsicht war er noch unschuldig. Er hatte keine Ahnung, was Geld wert ist, und er war viel zu vertrauensselig. Er war treu und liebevoll.« Meine Stimme zitterte. »Wart ihr ...?« Ryshad wusste nicht, wie er es sagen wollte, aber ich wusste, was er meinte. »Wir waren Liebhaber, aber mehr durch Zufall als aus irgendeinem anderen Grund«, erklärte ich offen. »Ich denke, für Geris bedeutete es mehr als für mich. Er stammte aus einer großen Familie, und soweit ich gesehen habe, liebte er Kinder. Vielleicht hat er darüber nachgedacht, sich irgendwo mit mir niederzulassen, doch daraus wäre nie etwas geworden.« Trauer um etwas, das ich nie wirklich gewollt hatte, war dumm; trotzdem schmerzte mich der Gedanke. »O Saedrin, wer wird es seiner Familie sagen?« Wieder rannen mir die Tränen über die Wangen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich noch welche hatte. »Haben sie sich nahe gestanden?« 500
»Ich glaube schon. Er hat viel von ihnen geredet.« Plötzlich war ich unsicher. Wie viel hatte ich wirklich über Geris gewusst? Bis jetzt hatte ich das nie als sonderlich wichtig empfunden; doch nun fragt ich mich, was ich wohl herausgefunden hätte, hätte ich mir die Mühe gemacht. Ich erzählte Ryshad von Judal und dem Spiegel, von Geris’ endloser Neugier, seinem naiven Geplappere über dies und das, von seinen Kalendern und Almanachs und von den Vorträgen über die verschiedenen Arten, einen König zu wählen, und über Schriftsteller, die schon vor Generationen gestorben waren. Während ich sprach, erkannte ich, wie unvollständig mein Wissen über Geris war. Wo hatte zum Beispiel seine Leidenschaft für Würzwasser begonnen? fragte ich mich. Ich erinnerte mich an den Kampf im Geisterring, an Geris’ Tapferkeit und seine unerwartete Selbstbeherrschung. Wo hatte er diesen Mut gelernt? Als meine Gefühle mich zu ersticken drohten, konterte Ryshad mit eigenen Geschichten. Er sprach von seinen Brüdern und seiner toten Schwester, von Pferden, die er besessen hatte, und von Gelehrten, denen er einst begegnet war. Ich weiß nicht, wie lange wir so miteinander redeten. In der Zelle wurde es dunkel; das wenige Licht stammte von Fackeln im Hof. Zum Schluss war ich wieder ruhig, und Geris lebte zumindest in meinen Erinnerungen weiter. Nun sah ich ihn wieder so, wie ich ihn gekannt hatte, und nicht als das zerbrochene Ding an der Wand. Geris hat mir einmal erzählt, dass die Aldabreshi glauben, niemand sei wirklich tot, bis nicht auch der letzte Mensch gestorben ist, der ihn gekannt hat. Jetzt hatte ich eine ungefähre Ahnung, was sie damit meinten. 501
Das Gästehaus des Schreins von Ostrin, Bremilayne 2. Vorwinter
Allin seufzte und blickte auf den dreieckigen Riss am Knie von Darnis Hose. Sie saß auf dem Fenstersitz, hatte die Knie angezogen und schaute dann und wann auf die schmale, verregnete Straße. Sie hatte schon geglaubt, diese Flickarbeit endlich los zu sein, und sie vermisste die harten, klaren Winter Lescars; in ihrer Heimat war es so anders als an diesem trüben Ort. Ein Klopfen an der Tür erschreckte sie, und rasch stellte sie die Füße wieder auf den Boden und richtete ihren Rock. »Herein.« »Guten Tag.« Ein Mann, ungefähr so alt wie Allins Vater, öffnete die Tür und schlug eine nasse Kapuze zurück, unter der ordentliches, kurz geschnittenes dunkles Haar und ein glattrasiertes Gesicht zum Vorschein kamen. »Bist du Allin?« »Natürlich ist sie das.« Ein kleinerer Mann drängte sich vorbei, um sich an dem armseligen Feuer zu wärmen. Unter der Kapuze seines zerschlissenen Umhangs erschienen graues Haar und ein zotteliger Bart. Er blickte Allin mit durchdringenden blauen Augen an. »Das ist kein Feuer; das ist Mist, Mädchen. Lass mehr Kohle kommen!« Allin wollte nicht zugeben, dass sie das nicht gewagt hatte. »Vergiss das.« Der dunkle Mann lächelte sie an. Seine grauen Augen wirkten freundlich. »Wir sind hier, um Casuel und Darni zu sehen.« Abgesehen von dem gidestanischen Akzent erinnerte der 502
Mann Allin an ihren Onkel Warrin. »Ich fürchte, sie sind beide im Augenblick außer Haus, Herr. Soll ich ihnen sagen, dass Ihr hier wart? Ihr könntet ihnen eine Nachricht hinterlassen.« Sie legte die Näharbeit beiseite. »Soll ich euch Wein oder Würzwasser kommen lassen?« »Wein wäre jetzt sehr angenehm, vielen Dank.« Der dunkle Mann hing die Umhänge an die Kleiderhaken und ging ebenfalls zum Feuer. Seine Hände waren weiß vor Kälte, die Nägel blau. Allin verschränkte die Hände und ging zur Klingel, um nach der Dienerin zu rufen. Das Klingeln hallte durch den stillen Raum. »Seid ihr Seefahrer?« Allin hatte sich entschlossen, ein höfliches Gespräch zu wagen. »So eine Art.« Der kleine Mann grinste sie schelmisch an, und zu ihrem Ärger spürte Allin, dass sie wie üblich errötete. »Wir sind Magier, Kollegen von Darni und Casuel.« Der dunkle Mann lächelte aus irgendeinem Grund. Die Tür rappelte und bewahrte Allin davor, etwas darauf antworten zu müssen. »Schön! Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß, Cas!« Darni stürmte herein. »Es gibt keinen ...« Casuels Worte verhallten, als er den Raum betrat. »Planir?« Er verneigte sich rasch, und Allin brachte mühsam einen Knicks zustande, bevor ihr die Knie weich wurden, und sie mit einem lauten Plumps auf dem Fenstersitz landete. »Erzmagier. Wolkenmeister.« Darni vollführte die tiefste und ehrehrbietigste Verbeugung, die Allin je bei ihm gesehen hatte. »Seid willkommen.« 503
»Was hast du wegen des Schiffes unternommen?« Otrick funkelte ihn an. Darni erwiderte den Blick. »Niemand ist bereit, sich den Strömungen, Stürmen oder Seeungeheuern zu stellen ... oder was ihnen sonst noch einfällt.« »Messire D’Olbriot will versuchen, etwas für uns auszuhandeln«, beeilte sich Casuel hinzuzufügen. »Ich bin sicher, dass so mancher seine Meinung ändern würde, wenn Messire sich endlich dazu entschließen könnte, ein paar Befehle zu erteilen«, knurrte Darni. »In Tormalin wird das aber nicht so gehandhabt«, sagte Casuel, bevor er sich eines besseren besann und nervös zu Planir blickte. »Verzeiht mir, Erzmagier.« Darni ignorierte ihn und wandte sich an Otrick. »Wer begleitet euch sonst noch? Wie viele Schwerter?« »Im Augenblick sind es nur wir beide. Wir dachten, wir sollten vorausgehen«, antwortete Planir mit einem Hauch von Autorität in der Stimme, die jede weitere Frage Darnis im Keim erstickte. »Ich habe mir schon gedacht, dass es Probleme gibt, um diese Jahreszeit ein Schiff zu bekommen.« »Ich bin sicher, es wird uns gelingen. Ich meine, Messire D’Olbriot hat uns seine volle Unterstützung zugesichert, und ich bin sicher, dass er uns erlauben wird, noch weitere Seeleute anzusprechen«, erklärte Casuel. »Wenn D’Olbriots Seeleute zu dieser Jahreszeit nicht segeln wollen, weiß ich nicht, wer es sonst tun sollte.« Planirs Tonfall war sanft, doch Casuel sah schon wieder so aus, als hätte ihm jemand vors Schienbein getreten. »Richtig. Dann sollten wir es besser bei jemand anderem versuchen.« Otrick rieb sich vergnügt die Hände. 504
»Wen gibt es denn da noch?« Darni war verwirrt. »Piraten!«, antwortete Otrick froh gelaunt. Bevor irgendjemand etwas darauf erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und die Dienerin schaute sich neugierig um. »Wein, bitte«, sagte Allin mit schwacher Stimme. »Und mehr Kohle.« »Darf ich fragen, warum ihr über Piraten sprecht?« Junker Camarl trat um die Dienerin herum und legte seinen durchnässten Mantel gelassen über einen Stuhl. »Oh, Junker, das ist ... nun, ich ... äh, das ist ...« Casuel blickte von Otrick zu dem jungen Adeligen; offensichtlich bereitete ihm seine eigene Unentschlossenheit fast körperliche Schmerzen. »Junker Camarl D’Olbriot«, Darni trat vor, »darf ich Euch Planir vorstellen, Erzmagier von Hadrumal, und Otrick, Wolkenmeister der Neuen Halle.« Camarl verneigte sich tief, was Planir erwiderte, während Otrick es bei einem höflichen Nicken bewenden ließ. »Ich habe gerade gesagt, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als einen Piraten zu fragen, wenn wir um diese Jahreszeit aufs Meer hinaus wollen.« Otricks Augen funkelten herausfordernd. »Das ist ein sehr ... interessanter Vorschlag«, entgegnete Camarl vorsichtig. Der Wein wurde gebracht, und Camarl mischte in aller Ruhe warmes Wasser und Honig darunter. Planir gesellte sich zu ihm. »Es ist sicher möglich, dass ein Pirat einwilligen wird, aufs offene Meer zu fahren, wenn normale Seeleute sich weigern.« Der Junker nippte an seinem Wein. »Allerdings würde uns dieses doch recht fragwürdige Privileg einen maßlos überzogenen Preis kosten.« 505
»Geld ist ohne Bedeutung«, erwiderte Darni mit fester Stimme und schüttete sich den Wein unverdünnt in den Hals. »Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, wie ich zu einem Piraten Kontakt aufnehmen sollte.« Camarl schüttelte den Kopf und lächelte leicht. »Die wenigen, die ich kenne, baumelten an Galgen im Hafen.« »Oh, darum kann ich mich kümmern. Ich bin schon mit der Hälfte der Halsabschneider in diesen Gewässern gesegelt.« Otrick grinste vergnügt, als er die entsetzten Gesichter der anderen sah. »Wie ich sehe, kommt dieser Vorschlag ein wenig überraschend für Euch«, sagte Planir und schaute sich um. »Doch falls niemand eine andere Idee hat, fürchte ich, dass uns nichts anderes übrig bleibt.« Ein mürrisches Schweigen setzte ein, während die Männer sich fragend anblickten und reumütig die Köpfe schüttelten. »Aber was sollte einen Piraten davon abhalten, uns draußen auf See einfach die Kehlen durchzuschneiden und über Bord zu werfen?«, platzte Casuel schließlich heraus. »Ich, zum Beispiel«, knurrte Darni. »Bei Saedrins Eiern, Cas, war für eine Art Magier bist du eigentlich?« »Vorsicht ist durchaus angebracht, Casuel«, mischte Planir sich rasch ein. »Nichtsdestotrotz schweben dein Mitmagier und seine Gefährten in großer Gefahr, und wir müssen rasch handeln, wenn wir sie retten wollen.« »Was meint Ihr damit?« Darni blickte verwirrt zu dem Erzmagier, bevor er sich wieder Casuel zuwandte. »Du hast sie doch per Weitsicht beobachtet, oder?« »Sie wurden gefangen genommen, du dämlicher Hornochse.« Otrick war nicht annähernd so groß wie Casuel; dennoch wich 506
der jüngere Magier unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ich ... Ich meine, ich wollte, aber da war so wenig Zeit, und ...« Casuels Stimme wurde zu einem verzweifelten Stammeln. »Es scheint recht unerwartet geschehen zu sein.« Planir setzte sich an den Tisch und brach damit den Kreis, der sich um den unglücklichen Casuel gebildet hatte. »Das ist auch der Grund, dass wir vorausgegangen sind.« »Das, und weil du so die peinlichen Fragen des Rates nicht beantworten musstest!«, schnaufte Otrick, während er seinen Becher nachfüllte. Casuel riss entsetzt die Augen auf, als Darni und Camarl sich von Otricks Lachen anstecken ließen. »Da hast du wohl leider Recht.« Planir zwinkerte Allin zu, die das Gespräch mit großen Augen verfolgte. Sie kicherte überrascht, bevor sie beschämt die Hand vor den Mund schlug. »Gut, wenn du dann also genug mit unserem neuen Talent geflirtet hast, verehrungswürdiger Erzmagus, können wir dann gehen?« Otrick leerte seinen Becher. »Du solltest besser hier bleiben, meine Blume. Wenn man ein hübsches Mädchen wie dich an die Orte mitnimmt, zu denen wir gehen wollen, müssten wir am Ende wohl dafür bezahlen, dass wir dich wieder mitnehmen dürfen, und diese Vorstellung behagt mir ganz und gar nicht.« Otrick schnappte sich seinen Mantel und marschierte hinaus. Planir verneigte sich elegant vor Allin, dann schlenderte er Darni und Camarl hinterher, vorbei an Casuel, der wie ein schlecht ausgebildeter Diener auf der Schwelle stand. Casuel hob das Kinn und versuchte erfolglos, den missbilligenden Blick hoher Herrschaften aufzusetzen. »Mach ja keine Dummheiten, während wir weg sind«, sagte 507
er. Allin gelang es, sich zu beherrschen, bis er außer Hörweite war; dann brach sie in lautes Lachen aus. Casuel schaute sich panisch um, bis er Junker Camarls grünen Umhang erspähte, der sich den Hügel hinunterbewegte. Casuel stürzte den vieren hinterher und wäre dabei fast auf dem nassen Kopfsteinpflaster ausgerutscht. »Hier entlang.« Die vier folgten Otrick eine schmale Gasse hinunter, wo die Häuser Felshaufen glichen, aus denen aus irgendeinem Grund Schornsteine gewachsen waren. Der »Duft« unter ihren Füßen wurde immer beißender, und in stetig größer werdenden Abfallhaufen wühlten raschelnd die Ratten. Wirtshausschilder waren in dieser Gegend wohl aus der Mode gekommen, aber ein Türpfosten in Form einer nackten Frau, die potenziellen Gästen die Brüste entgegenreckte, reichte als Hinweis vollkommen aus. »Wir sind da.« Otrick versetzte der Hure einen freundschaftlichen Klaps auf den hölzernen Hintern. Die anderen folgten ihm. Darni verzog mürrisch das Gesicht; Camarl war beherrscht wie immer; Planir lächelte wie über einen Scherz, und Casuel war schlicht entsetzt. Als die fünf den Schankraum betraten, wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill. Casuel trat Darni in die Hacken, als dieser unvermittelt stehen blieb, die Arme vor der Brust verschränkte und die Gäste düster anfunkelte. »Hör auf, so dreinzublicken, als wolle dir jemand ins Auge spucken, Darni«, forderte Otrick ihn verärgert auf. »Wenn ich eine Schlägerei hätte haben wollte, hätte ich einen Mastiff mitgenommen.« Darni ließ seinen Blick zu den Frauen an der wackeligen 508
Treppe wandern, und in seinen Augen zeigte sich ein Hauch von Lüsternheit. Eine der Frauen kam zu ihnen. Ihr Mieder war mit alten, schmutzigen Rüschen verziert, die ihre rosigen Nippel nicht zu verdecken vermochten. »Hallo, alter Mann. Ich habe dich ja schon seit ein paar Jahreszeiten nicht mehr hier gesehen.« Aus der Nähe betrachtet konnte man Falten unter dem Rouge der Hure erkennen. »Ich war beschäftigt, meine Süße.« Otrick wedelte mit der Hand. Darni setzte sich steif auf eine Bank an der Wand, während der Junker und Planir sich scheinbar vollkommen gelassen Stühle nahmen. Camarls Fassung wurde allerdings kurz erschüttert, als ihm jemand auf die Schulter klopfte, er sich umdrehte und in das Dekollete einer zerzausten Blondine blickte, die sich über ihn beugte und ihm einen Becher Wein anbot. »Danke.« Er nahm den Becher und gab dem Mädchen ein Kupferstück, das sie mit einem Augenzwinkern zwischen ihren üppigen Brüsten verschwinden ließ. »Das ist auf jeden Fall ein Teil von Bremilayne, den ich bis jetzt noch nie gesehen habe«, flüsterte Camarl Casuel zu, der mit zusammengepressten Knien auf seinem Stuhl hockte und den Umhang fest um die Schultern geschlungen hatte. Casuel nickte, nippte geistesabwesend an seinem Wein ... und war erstaunt. Der war gut! »Was hast du denn erwartet, Cas?«, lachte Otrick. »Freier Handel heißt, die besten Waren zu bekommen, ohne Geld an die Zwischenhändler zu verschwenden.« Die Hure auf Otricks Schoß kicherte wie ein kleines Mädchen und streichelte dem alten Mann den Bart. »Hier gibt es immer nur das Beste.« 509
»Wir haben nicht gerade viel Zeit, Otrick«, ermahnte Planir den alten Magier mit einem ungewohnten Hauch von Härte in der Stimme. »Nun denn, meine Süße. Ich suche Strandläufer.« Otrick legte der Dirne den Arm um die Hüfte. Die Hure blickte ihn misstrauisch an. »Vor ein paar Nächten war er hier; seitdem habe ich ihn aber nicht mehr gesehen.« Otrick grinste wissend und drückte sie an sich. »Sag ihm einfach, Graupfaff sucht ihn.« »Falls ich ihn sehen sollte, werde ich es ihm sagen.« Die Frau nickte. Planir stand auf und verneigte sich. »Vielen Dank für den Wein, gute Frau.« Er gab ihr eine Hand voll Silber, was unter den Damen an der Treppe eine gewisse Unruhe auslöste. Otrick schob die Hure von seinem Schoß und stand auf, um sie zum Abschied noch einmal in den Hintern zu zwicken und ihr einen schmatzenden Kuss zu geben. Die anderen gingen schon einmal hinaus und warteten. »Na? Möchtest du später nicht noch einmal zurückkommen, Darni?«, fragte Otrick, als er schließlich auch herauskam. Seine blauen Augen funkelten schelmisch. »Ich bin ein verheirateter Mann, Wolkenmeister.« Darni lachte. »Ich glaube nicht, dass Strell mir für die Art Geschenk danken würde, die ich ihr da drin besorgen könnte.« Schon bald erreichten sie wieder die breiten Straßen der besseren Stadtviertel. »Ich bin neugierig, Wolkenmeister«, begann Camarl zögernd. »Strandläufer und Graupfaff sind doch Vogelnamen, oder?« »Würdet Ihr Euren echten Namen verwenden, wenn Ihr im 510
Freihandel mitmischen wolltet?« Otrick funkelte den jungen Adeligen herausfordernd an. Ein verlegenes Schweigen setzte ein. »Was genau hattest du eigentlich mit diesen Piraten zu tun?«, fragte Planir schließlich. »Jeder hier will das wissen, aber ich bin der Einzige, der es sich aufgrund seines Ranges zu fragen traut, und ich hab irgendwie das Gefühl, dass die Geschichte nichts für Allins Ohren wäre.« Otrick kicherte böse. »Man wird nicht Wolkenmeister, indem man sich unter Bäume hockt und Blätter in den Wind wirft. Auf dem offenen Meer habe ich mehr über den Wind gelernt als jeder andere lebende Magier. Wie, glaubt ihr wohl, könnten wir Shiv und die anderen sonst verfolgen.« Camarl blickte Otrick an. »Das hatte ich Euch ohnehin schon fragen wollen. Ich weiß wirklich nicht, wie wir diese Inseln rechtzeitig erreichen sollen, um den anderen noch helfen zu können.« Der Junker machte ein ernstes Gesicht, und unbewusst hatte er einen Tonfall gewählt, der seinem Rang entsprach. »Die Überfahrt dauert mindestens fünfundzwanzig Tage, würde ich schätzen.« Planir zögerte kurz; dann antwortete er: »Vertraut mir, Junker. Sollte es notwendig sein, können wir das Meer binnen weniger Stunden überqueren.« Sein Tonfall entsprach der Autorität seines Amtes. Camarl nickte. »Und was tun wir jetzt?« »Jetzt hoffen wir, dass Otricks alter Kamerad Kontakt zu uns aufnimmt, und bereiten uns schon einmal auf die Reise vor«, antwortete Planir. »In der Zwischenzeit werde ich Verbindung zu Kalion und einigen anderen Ratsmitgliedern aufnehmen. Lasst uns hoffen, dass sie unsere Geschichte interessant genug 511
finden, um bei dem Spaß mitzumachen.«
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Die Burg der Eismänner, Insel der Elietimm 3. Vorwinter
Wir hätten ohne Pause miteinander geredet; dann aber bewegte sich Shiv und stöhnte. Aiten hatte schweigend neben ihm gesessen, nachdem er sich die Hose des Magiers geborgt hatte. Von Zeit zu Zeit hatte er Shivs Atmung und Herzschlag überprüft und ihm mit Hilfe eines feuchten Stücks Leinen Wasser auf die Lippen geträufelt. »Wie geht es ihm?« Ich hielt Shivs Hand. Erneut kam ich mir vollkommen nutzlos vor. Aiten schüttelte den Kopf. »Das werden wir erst erfahren, wenn er aufwacht. Das ist das Problem mit Kopfverletzungen.« Sein beherrschter Tonfall beruhigte mich. »Ich kann allerdings keinen Schädelbruch fühlen, und wenn er im Sterben läge – ich glaube nicht, dass er sich jetzt wieder gerührt hätte.« Trotzdem schien gut ein halber Tag zu vergehen, bevor Shiv die Augen öffnete; doch sie waren noch trüb und leer, die Pupillen unterschiedlich groß. Als er versuchte, sich aufzurichten, begann er hilflos zu würgen. Ein wenig Wasser half ihm, und es gelang uns, ihn aufzusetzen. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis er wieder sprechen konnte. »Sei ganz ruhig. Entspann dich«, sagte Aiten. »Dein Geist war schon auf halbem Weg zu Saedrin, und es wird wohl noch eine Zeit lang dauern, bis er sich vollständig erholt hat.« Ich sah Hilflosigkeit und Verzweiflung in Shivs Gesicht, und so ergriff ich seine Hand. »Keine Angst. Wir gehen nicht fort.« Ich hoffte, dass nicht plötzlich ein Elietimmkrieger auftauchte, 513
um meine Worte Lügen zu strafen. Shiv hustete. »Ich nehme an, wir sind in irgendeiner Art Kerker, stimmt’s?«, fragte er mit einem Hauch seines alten Humors in der Stimme. Ich zuckte mit den Schultern. »Verglichen mit den Zellen, in denen ich schon gesessen habe ... Ich hab schon schlechtere Gasthöfe gesehen. Aber ja, wir sind eingesperrt.« Shiv blickte zu Aiten und kniff die Augen zusammen. Offenbar konnte er noch nicht klar sehen. »Entweder hast du dich mit einer Schweineherde angelegt, oder sie haben versucht, Informationen aus dir herauszubekommen.« »Ich fürchte, sie wollen ihre Fragen wirklich beantwortet haben.« Ryshad zögerte. »Und sie kennen Mittel und Wege, in deinen Kopf einzudringen.« Shiv stöhnte, doch nicht vor Schmerz. »Dann sind sie Äthermagier? Wir hatten Recht?« »Tut mir Leid.« »Was tun wir jetzt?« Ryshad blickte uns der Reihe nach fragend an. Ich hob die Hand. »Sollten wir wirklich darüber reden? Ich bin sicher, der Eismann, dieser weißhaarige Bastard, hat irgendwie meine Gedanken belauscht.« Aiten und Ryshad blickten zunächst einander und dann mich unsicher an. »Es ist weit nach Mitternacht«, sagte Shiv mit schwacher Stimme. Er hatte wieder die Augen geschlossen. »In unmittelbarer Nähe fühle ich keinen wachen Geist. Außerdem ... Haben wir eine Wahl? Ich zumindest möchte nicht schweigend hier herumsitzen, bis sie uns wieder holen.« »Können wir hier irgendwie herauskommen?« Aiten starrte 514
zweifelnd zu dem Gitter hinauf, das inzwischen nur noch schattenhaft zu erkennen war, da man die Fackeln im Hof vor einiger Zeit gelöscht hatte. »Und wenn es uns wirklich gelingt – wohin sollen wir dann laufen?« Ich ging zur Tür und fand ein Schloss, das für die hiesigen Verhältnisse vielleicht als sicher galt; für mich stellte es nur deshalb eine Herausforderung dar, weil ich kein Werkzeug dabei hatte. Nachdenklich blickte ich auf die Knochenbecher und fragte mich, wie viel Lärm es wohl verursachen würde, einen von ihnen zu zerschlagen. Shiv verlagerte sein Gewicht und verzog das Gesicht. »Falls es uns gelingt, hier rauszukommen, müssen wir ein Loch suchen, in dem wir uns verstecken können, bis ich Kontakt zu Planir aufgenommen habe. Nachdem die Verbindung hergestellt ist, kann er zusammen mit dem Rat die Macht des Zaubers verstärken, sodass wir zumindest eine Warnung übermitteln können.« »Könnten sie uns auch nach Hause holen?«, fragte ich vorsichtig nach. Shiv seufzte. »Vielleicht. Aber das halte ich eher für unwahrscheinlich. Ich möchte dich nicht anlügen.« Aiten und Ryshad verbargen ihre Enttäuschung gut; ich jedoch fasste neuen Mut. Eine kleine Chance ist immer noch besser als gar keine, und ich war eine Spielerin. Solange ich Shiv nicht danach fragte, wie groß die Chance wirklich war, konnte ich mir wenigstens einreden, dass es den Wurf wert war; immerhin sind es oft die letzten Runen, die das Spiel entscheiden. »Könntest du uns verstecken, Shiv?«, fragte Ryshad nach kurzem Nachdenken. 515
»Ich glaube schon«, antwortete der junge Magier langsam. »Ich habe darüber nachgedacht, wie sie uns verfolgt haben, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich sie mit ein paar Illusionen von unserer Fährte ablenken könnte – jedenfalls eine Zeit lang.« Ryshad nickte. »Wenn wir in der Burg bleiben – oder in der Nähe –, sollten sie uns nicht so rasch finden können.« »In jeder Burg, die ich bis jetzt gesehen habe, war irgendein Teil ungenutzt. In jeder gab es Ecken, wo man sich hervorragend hätte verstecken können.« Aitens Gesicht hellte sich endlich ein wenig auf; also verzichtete ich darauf, ihm zu erklären, dass sein Plan auf ungefähr ebenso sicheren Grundlagen stand wie die Versprechen eines Pferdehändlers. »Wir müssen unsere Umgebung erkunden.« Ich blickte zu Shiv. »Du kannst nicht schnell laufen; also müssen wir im Voraus wissen, wohin wir gehen wollen. Wenn es mir gelingt, die Zelle zu verlassen und die Burg auszukundschaften, während alle schlafen, finde ich vielleicht ein Versteck.« Shiv wirkte nicht überzeuget, und ich fragte mich, ob er wohl vermutete, was meine wahren Absichten waren. Ich mied seinen Blick, ging zur Tür und spähte wieder durchs Schlüsselloch. »Ait, kannst du einen dieser Becher zerbrechen? Ich brauche lange Splitter, nach Möglichkeit nicht allzu spitz.« Shiv hustete schwach. »Ich glaube, das können wir einfacher haben. Hier in der Gegend scheinen nicht viele Leute aus Kerkern auszubrechen. Warum sonst haben sie mir wohl meine Stiefel gelassen?« Er lachte leise, und ich blickte ein wenig verärgert auf ihn hinunter. 516
»Sieh dir die Nähte an, Livak, die inneren und die äußeren.« Eine plötzliche Hoffnung keimte in mir auf, während ich die Nähte mit den Fingernägeln löste und vier feine Stahlnadeln zum Vorschein kamen. Wie ein Mann drehten wir uns gleichzeitig zur Tür um aus Furcht, dass plötzlich irgendein Bastard hereingestürmt kommen könnte, der uns belauscht hatte; aber nach einem langen Augenblick vollkommener Stille hauchte ich Shiv einen Kuss auf die Stirn. »Mit den Dingern kann ich an so einem Ort überall hin. Vielleicht kommen wir damit sogar hinaus.« »Sei vorsichtig.« Ryshad blickte mich streng an. Ich schenkte ihm einen schwachen Abklatsch meines alten Lächelns. »Wann war ich das nicht?« Bevor Ryshad noch etwas anderes einfallen konnte, war ich bereits draußen und schlich geräuschlos auf nackten Füßen durch den Zellengang. Zurzeit schienen wir zum Glück die einzigen Gäste des Weißhaarigen zu sein. Ein kalter Luftzug erinnerte mich daran, dass ich nur eine Wolltunika trug, doch das war im Augenblick ohne Bedeutung. Ich musste über Wichtigeres nachdenken, und mit Shivs Dietrichen konnte ich wesentlich mehr ausrichten, als ich ursprünglich gehofft hatte. Ich beschloss, nicht nur ein Versteck zu suchen, sondern auch den schnellsten Weg hier heraus zu finden. Egal was Shiv auch sagte, ich glaubte nicht, dass er uns über einen längeren Zeitraum hinweg würde verbergen können. Natürlich zweifelte ich nicht an seinen Fähigkeiten, doch diese Leute hier waren zu Dingen in der Lage, über die wir nur wenig wussten. Was, in Saedrins Namen, sollte Shiv dem entgegensetzen? Das Selbstvertrauen der Eismänner ließ mich an eine Überlegenheit dieser 517
fremden Art von Magie glauben, und wir befanden uns im Herzen ihres Landes. Selbst wenn es uns gelingen sollte, hier herauszukommen – mit dem verletzten Shiv kämen wir nicht einmal eine Meile weit, dann wären wir wie ein verwundeter Hirsch, der auf den Gnadenstoß wartet. Aber vielleicht war Drianon uns ja wohlgesonnen, und es war einen Versuch wert; aber ich gedachte, meine Zeit noch sinnvoller zu nutzen, solange ich frei in der schlafenden Burg umherstreifen konnte. Rasch stieg ich die Hintertreppe hinauf und drängte entschlossen die Furcht beiseite, als ich an dem Raum vorüberkam, wo man mich festgehalten hatte; für Angst hatte ich jetzt keine Zeit. An jeder Tür blieb ich kurz stehen und lauschte auf die Geräusche von Schlafenden in den Räumen dahinter. Das fiel mir hier leichter als in den anderen Städten, in denen ich bis jetzt gearbeitet hatte, denn hier hallte kein Geräusch von der Straße herein. Bald hatte ich herausgefunden, dass keiner der Räume bewohnt war; in diesem Stock wurde gearbeitet, nicht geschlafen. Mein Selbstvertrauen kehrte wieder, nachdem ich mich nun schon so lange wie ein Ersatzpferd gefühlt hatte, das hinter dem Wagen hergezogen wurde. Shiv mochte ja jederzeit irgendwelche Zauber um mich herum wirken können, und ich würde niemals so gut das Schwert beherrschen wie Ryshad oder Aiten, aber ich bin immer noch die Beste, wenn es um Aufklärung geht. Diesmal ging ich natürlich mit besonderer Vorsicht vor; aber es kann nie schaden, alles gründlich zu überprüfen. Langsam stieg ich noch eine Treppe hinauf. Hinter der ersten Biegung wurde der Teppich unter meinen Füßen dicker und weicher. Vorsichtig strich ich mit den Zehen von einer Seite zur anderen und stellte fest, dass der Teppich von einer Wand bis zur ande518
ren reichte – ein Luxus. War dies hier der Wohnbereich? Inzwischen hatten sich meine Waldvolkaugen an das schwache Licht gewöhnt, das durch die schmalen Ritzen in den Fensterläden hereinfiel, und als ich von der Treppe in den nächsten Stock blicken konnte, schaute ich mich erst einmal um. Ich sah das Schimmern polierten Holzes, blaue Keramik und das Funkeln eines bronzenen Wandspiegels. In unserer Heimat wäre unser Gastgeber vermutlich nur als wohlhabend betrachtet worden, aber ich nahm an, auf diesem Misthaufen hier war er der größte Hahn. Also besaß er nicht nur den Ehrgeiz, sondern auch die Fähigkeiten – ob nun magischer oder anderer Natur –, die Dinge nach seinen Wünschen zu beeinflussen. So leise ich konnte, schlich ich in den Gang hinein und lauschte an der ersten Tür. Nach einem langen Augenblick der Stille hörte ich das Rascheln von Decken und das Knarren eines Bettes, als sich irgendjemand bewegte; dann herrschte wieder Ruhe. War das der weißhaarige, kalte Bastard, der hier das Sagen hatte? Ich bewegte meine Finger, um sie zu lockern, bevor ich mich daran erinnerte, dass ich keine Klinge hatte. Hätte ich eine Waffe bei mir gehabt, ich wäre hineingeschlichen und hätte ihm ohne zu zögern die Kehle durchgeschnitten. Vielleicht war es ja ganz gut, dass ich unbewaffnet war; aber daran zweifle ich ehrlich gesagt heute noch. Vermutlich hätte die Tat mich das Leben gekostet, doch ich hätte einen ganzen Sack Gold dafür gegeben, dem Kerl in diesem Augenblick ein Messer in den Hals zu rammen. Würde es vielleicht reichen, ihm einen der Dietriche durchs Auge oder in ein Ohr zu stoßen? Vielleicht, aber es war nicht sicher genug, als dass es das Risiko wert gewesen wäre. Ein guter Spieler weiß, wann er die Runen werfen und wann er warten muss. Außerdem hatte ich nicht die ge519
ringste Ahnung, wer sonst noch hier wohnte. Vielleicht würde ich eine Frau oder sogar ein Kind zum Schweigen bringen müssen, wenn ich diesen Raum betrat, und ich hasse unnötiges Töten. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und schlich die Treppe wieder hinab; nach wie vor achtete ich auf jedes noch so leise Geräusch. Ich fand nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Wachen innerhalb des Bergfrieds patrouillierten, und als ich durch einen Spalt zwischen den Fensterläden blickte, sah ich nur zwei Männer, die wenig mehr taten, als ab und zu mit den Füßen zu stampfen, um die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. In einem Anflug von Kühnheit beschloss ich, irgendwann mit Halice, Sorgrad und Sorgren hierher zurückzukehren – und auch mit Charoleia, wenn sie frei war –, um die Burg auszuräumen und diesem Bastard den Sinn und Zweck ordentlicher Sicherheitsmaßnahmen beizubringen. Einen Augenblick lang war ich unentschlossen; dann machte ich mich an der Tür des Raums neben dem zu schaffen, in dem man mich zunächst festgehalten hatte. Da Weißhaar meine Gedanken hatte hören können, und da er so rasch bei mir gewesen war, musste er sich irgendwo in der Nähe aufgehalten haben. Aber nicht in diesem Raum, sagte ich mir nach einem kurzen Blick auf das Schloss, das alles andere als sicher war. Ich wandte mich dem gegenüberliegenden Raum zu. An dessen Tür befand sich das beste Schloss, das ich außerhalb von Relshaz je gesehen hatte: schwerer Stahl und gut geölt. Das Schloss war gut, aber ich war besser, und schon bald wurden meine Mühen belohnt. Bei dem Raum handelte es sich um eine Art Arbeitszimmer oder Bibliothek. Ich schlüpfte hinein und schloss hinter mir vorsichtig die Tür; ich wollte nicht gestört werden. 520
Wandteppiche aus ungefärbter Wolle verliehen den Wänden eine weiche Note und sorgten dafür, dass es hier nicht zog. Es wäre falsch gewesen, die Teppiche wegen ihres Mangels an Farbe schlechter zu machen, als sie waren, denn sie waren wunderbar gearbeitet und zeigten komplizierte Muster aus allen möglichen natürlichen Braun- und Grautönen. Dicke Teppiche schmeichelten meinen inzwischen schmerzhaft kalten Zehen. Die Möbel bestanden aus hervorragend gearbeitetem Holz. Sie glänzten von Bienenwachs und hingebungsvollem Polieren. Die Dunkelheit stellte allerdings ein Problem dar, und ich dachte darüber nach, für ein wenig Licht zu sorgen. Schließlich fand ich eine Kerze in einem Leuchter aus erstklassigem Gidestasilber und sagte mir, dass es das Risiko wert sei, sie anzumachen. Würde irgendein Wächter es wagen nachzusehen, wenn Licht im Arbeitszimmer seiner Herrn brannte? Ich bezweifelte es. Nicht an diesem Ort und nicht um diese Zeit. Erfolglos schaute ich mich nach Stahl, Feuerstein, Zunder oder etwas Ähnlichem um. Ich versuchte es in sämtlichen Schubladen des Schreibpults, doch ich fand nur Federn, Tinte und Messer. Ich nahm das schärfste; es war zwar nicht viel, aber besser als gar nichts. Der Geruch des Bienenwachses weckte meine Erinnerung, und plötzlich hatte ich eine Idee. Ich starrte auf den Docht und flüsterte: »Talmia megrala eldrin fres.« Als die Kerze zu brennen begann, erfüllte mich eine Freude, die so gar nicht zu unserer Lage passen wollte. Beherrsch dich, ermahnte ich mich streng. Du wolltest Licht, jetzt nutz es auch. Absurderweise hob meine Stimmung sich beträchtlich; ich hatte den Eindruck, als hätte ich mich schon seit Jahreszeiten nicht mehr so gut gefühlt. Nun da ich besser sehen konnte, musterte ich die prallvollen 521
Bücherregale. Bände über alttormalinische Geschichte waren nach Herrschern sortiert; des Weiteren fand ich Briefsammlungen, Werke über Naturphilosophie, Ethik und Drama. Einige der Autorennamen kannte ich von Geris, und ich erkannte, dass hier ein Großteil der Bücher und sicher auch anderer Schätze stehen musste, den die Eismänner uns gestohlen hatten. Allerdings war jetzt wohl kaum die Zeit, sich irgendetwas davon zurückzuholen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Tisch zu und setzte mich auf den weich gepolsterten Stuhl, um mir die ordentlich gestapelten Pergamente genauer anzuschauen. Diesmal war es mir allerdings ziemlich egal, ob ich Spuren hinterließ oder nicht. Was konnte mir denn groß passieren? Dass man mich fing und folterte? Das war nichts Neues. Ich war noch immer fest davon überzeugt, dass wir alle hier sterben würden. Ich wollte nur eins: irgendwie die Räder lockern, bevor die Karawane sich auf den Weg machte. Teils wollte ich es für Planir tun, teils für meine Familie und all meine Freunde, die unweigerlich würden leiden müssen, sollten die Eismänner in unsere Heimat einfallen. Hauptsächlich ging es mir allerdings um Rache. Diese Bastarde sollten dafür büßen, was sie mir angetan hatten – dafür und für Geris’ einsamen, qualvollen Tod. Ich ignorierte die leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mich daran erinnern wollte, dass es Rache gewesen war, die mich überhaupt erst hierher gebracht hatte. Ich dachte darüber nach, den Bergfried in Brand zu stecken, doch ich beschloss, damit zu warten, bis ich einen Weg für uns hinaus gefunden hatte; dann wäre ein Feuer als Ablenkung weitaus nützlicher als jetzt. Nun würde ich mich erst einmal umschauen und versuchen, so viel nützliche Informationen wie 522
möglich zu finden. Ordnung schien diesen Leuten angeboren zu sein wie einem Hirschhund die langen Beine, und so konnte ich schon bald verschiedene Notizstapel bestimmten Dingen zuordnen. Der Weißhaarige besaß so ziemlich die gleichen Informationen über die Küste von Inglis wie der Kommandant der braun Livrierten; über Tormalin gab es hier allerdings nur wenig, was endlich einmal eine gute Neuigkeit war. Was der Weißhaarige allerdings besaß, war ein großes Dokument über den Untergang des alten Reiches; in der Mitte standen die Jahreszahlen, rechts und links davon die dazugehörigen Ereignisse. Er hatte offenbar schon länger daran gearbeitet; die Ränder waren ein wenig ausgefranst, und die Worte waren mit verschiedenen Tinten geschrieben. Er schien besonders an den Aktivitäten der einzelnen Adelsfamilien interessiert zu sein, von denen Azazir erzählt hatte, dass sie an der Gründung von Kel Ar’Ayen beteiligt gewesen waren. Unter diesem Dokument fand ich Genealogien und andere Aufzeichnen, alles sorgfältig zusammengestellt. Auf einem weiteren Blatt standen die Namen verschiedener Städte Tormalins, Dalasors und Caladhrias. Zu jeder Stadt gehörten eine Reihe von Namen und zu jedem Namen Zahlen. Zunächst sagte mir das nichts, und so legte ich es beiseite und wandte mich einer anderen Liste mit den Elietimmreichen zu; auch hier standen wieder Namen dabei. Einige waren durchgestrichen und mit Zahlen versehen. Ich betrachtete beide Pergamente, bis sich ein neues Bild ergab. Es war wie bei diesen Aldabreshi-Schnitzereien, in denen man von einer Seite ein Gesicht und von der anderen einen Baum sieht. Wenn ich diesen Felshaufen inmitten des Ozeans verlassen wollte, brauchte ich Informationen über den Ort, zu dem ich ging. Wie es aussah, unterhielt Weißhaar ein ganzes 523
Netz von Informanten in unserer Heimat, und offensichtlich bezahlte er sie gut. Nachdenklich blickte ich auf die zweite Liste. Zwischen den Elietimmfürsten herrschte eine mörderische Rivalität, und da sie sich schwerlich Auge in Auge gegenübertraten, hätte ich gewettet, dass Meuchelmord in diesen Gefilden ein gebräuchliches Mittel der Politik war. Vielleicht aber auch nicht. Hätte eine solche Gefahr nicht bedeutet, dass es überall von Wachen nur so hätte wimmeln müssen? Wie im Haus einer Lescarifürstin, die nicht entführt werden wollte, um »geheiratet« zu werden? Von solchen Vorsichtsmaßnahmen hatte ich allerdings nichts gesehen. Aber vielleicht vertrauten sie ja auf eine magische Verteidigung. Ich zuckte mit den Schultern und legte die Listen beiseite; dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Auf einem weiteren Stapel fanden sich Pergamente, an deren Kopf je ein Name eines Elietimmfürstentums stand. Ich konnte ihnen jedoch keinen Sinn entlocken, obwohl ich mich inzwischen wieder an die eckige Bergvolkschritt gewöhnt hatte; also legte ich auch sie beiseite und griff nach einem Stapel, der ziemlich neu aussah. Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich Ryshads Namen las und die Worte Zyoutessela, D’Olbriot und Tadriol in den Notizen erkannte. Ich konnte ihm nicht vorwerfen, dass er diese Informationen preisgegeben hatte – schließlich hatte ich die Methoden der Eismänner am eigenen Leibe kennen gelernt –; aber es sorgte mich zu sehen, wie viel dieser Bastard aus Ryshads Kopf herausgeholt hatte. Auf dem Pergament mit dem Namen Aiten standen nur ein paar Zeilen, und von mir hatte er offenbar auch nicht viel Wertvolles erfahren. Dabei fiel mir ein: Wie viel war ich für ihn wohl wert? Ich legte das Blatt zur Seite, und meine Hand fing plötzlich an zu zittern, als mir der Name Geris ins Auge sprang. Ich hätte 524
es nicht ertragen können, das Verhörprotokoll zu entziffern; also schob ich es rasch beiseite und starrte einen Augenblick lang auf das, was sich darunter verbarg. Vor mir lagen mehrere Pergamente, die in sauberem Tormalin beschrieben waren, und ich erkannte Geris’ Handschrift. Was hatte ich hier entdeckt? »Beruhige dich«, tadelte ich mich selbst. Ich bekämpfte das Zittern meiner Hände und zwang mich, langsamer zu atmen, bis sich Worte aus dem sinnlosen Gewirr vor meinen Augen herausschälten. Der Text erwies sich als ausführliche Abhandlung über den Zusammenbruch des alten Reiches. Ich übersprang die Referenzen zu Schriften und Leuten, die mir nichts sagten; aber an der sorgfältigen Art der Darstellung erkannte ich sofort Geris’ Leidenschaft, und ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Verärgert blinzelte ich sie mir aus den Augen und überflog den Text auf der Suche nach irgendetwas, das uns Lebenden nützen konnte. Eine Erwähnung des Äthers erregte meine Aufmerksamkeit, und ich las den ganzen Absatz. Nachdem ich die Werke Trel’Mithrias und die Annalen studiert habe, die vom Orden der Hämmer des Misaen aufbewahrt worden sind (welcher nun in den westlichen Landen verschwunden ist), ist offensichtlich, dass es sich bei der Magie des alten Reiches vorwiegend um das handelte, was wir heute als ätherische Magie bezeichnen. Elementare Magie war eine untergeordnete Wissenschaft, der man weitgehend jeden praktischen Nutzen abgesprochen hat. Diese ätherische Magie gründet sich auf die Kraft, die im menschlichen Geist verborgen ist, was erklärt, warum sie mit allen Formen der geistigen Kommunikation und Kontrolle in Verbindung steht – Dinge, die in der Elementarmagie eher ungewöhnlich sind. »Komm auf den Punkt, Geris«, seufzte ich und übersprang 525
ein paar Abschnitte, in denen er über Geisteskräfte in Legende und Tradition spekulierte. Die Macht wird verstärkt, wenn eine Reihe von Geistern sich auf einen einzigen Fokus konzentriert. Die Beispiele von Argulemmin und Nemith dem Gelehrten beweisen, dass sowohl im alten Reich als auch in den alten Elietimmkulturen Religion dieser Fokus war, was wiederum erklärt, warum damals hauptsächlich Priester als Magier in Erscheinung traten. Und es erklärte, warum diese Bastarde bei uns jeden Tempel in Schutt und Asche legten, den sie finden konnten. Es folgte eine komplizierte Passage über die Argumente der Rationalisten; Geris spekulierte sogar, dass unsere Vorstellung der Götter sich vermutlich auf frühe Anwender ätherischer Magie bezog. Es folgte noch mehr in der Art; ich überflog es, bis mich eine Erwähnung von Kel Ar’Ayen wieder sorgfältiger lesen ließ. Diesen Abschnitten zufolge, die aus den Geschichtsbüchern der Elietimm stammen, kann man unmöglich leugnen, dass es weit im Osten einen Kontinent gibt, auf dem sich einst auch die Kolonie von Kel Ar’Ayen befunden hat. Wenn die folgenden Passagen aus den Annalen des Heriod genau sind, bedeutet es, dass ein erbitterter Kampf um diese Länder geführt worden ist, ein Kampf, bei dem man hauptsächlich auf Magie vertraut hat. Rasch überflog ich die ausführliche Beweisführung für diese These. Das sagte mir ohnehin nichts; Geris’ Wort reichte mir als Beweis vollkommen aus. Wenn wir Gar Pretsens Korrekturen akzeptieren und die Elietimmaufzeichnungen hinzufügen, ist klar, dass die Tormalinsiedler, als sie schließlich in die Enge getrieben wurden, ihre Zauber nicht gegen die Magie der Elietimm richteten, sondern irgendwie direkt gegen die Quelle derselben. Doch indem sie dies 526
taten, zerstörten sie nicht nur die Grundlagen der feindlichen Magie, sondern zugleich das Tormalinreich, das ihre Heimat war. In den westlichen Landen erholte sich die Äthermagie nie von dem Chaos, das auf den Untergang des Reiches folgte; in den Dunklen Generationen ging sie nahezu vollständig verloren. Im Clansystem der Elietimm blieb jedoch ein kleiner geistiger Fokus in Form der Treue der Clanmitglieder erhalten. So besaßen die Äthermagier der Elietimm, die Priester und Herrscher zugleich waren, nach wie vor eine Quelle für ihre Macht, wenn auch eine weit schwächere als zuvor. Ich ignorierte die folgenden Abschnitte, die sich mit der Bedeutung der Religion in Tormalin und anderen Teilen des alten Reiches beschäftigten. Wenn wir Priester und Gläubige brauchten, um diese Bastarde mit Äthermagie zu bekämpfen, waren wir schon verloren, bevor die Elietimm landeten. Mir fiel niemand ein, der jünger als vielleicht vierzig Jahre war und etwas Frömmeres tat, als sich an die Festtage zu halten und im Namen irgendeiner Gottheit seine Eide zu schwören. Die Priester mussten sich nicht darum sorgen, dass die Rationalisten die Menschen von der Religion entfremden könnten; die Gleichgültigkeit der meisten reichte dafür vollkommen aus. Zutiefst bedrückt verzichtete ich darauf, den Rest von Geris’ sorgfältig ausgearbeiteter Abhandlung zu lesen. Nun hatte ich also meine Antworten. Half mir das irgendwie weiter? Würde es Planir helfen – vorausgesetzt natürlich, wir konnten ihm die Informationen zukommen lassen? Würde es ihm gelingen, den Kaiser zur Zusammenarbeit zu bewegen? Und falls ja, würde es Tormalin und den Magiern zusammen gelingen, eine Invasion aufzuhalten, die von unbekannter Magie unterstützt wurde? Die Hälfte der Lescariherzöge würde sich vermutlich mit den Elie527
timm verbünden, nur um dadurch einen Vorteil gegenüber ihren Rivalen herauszuschinden, und bis der caladhrianische Adelsrat seine Debatten beendet und eine Entscheidung getroffen hatte, lagerten die Elietimm wahrscheinlich schon vor den Toren. Saedrin allein weiß, wie die Aldabreshi reagieren würden, aber ich mochte wetten, dass sie nicht mit dem Kaiser oder den Magiern zusammenarbeiten würden. Während ich die Dokumente wieder ordentlich zusammenlegte, entfachte ein neuer Gedanke brennenden Zorn in mir, und alles andere war vergessen. Geris hatte längere Zeit hier verbracht. Er hatte die Bücher nach seinem Gutdünken nutzen dürfen, und man hatte ihn aufgefordert, seine Schlussfolgerungen niederzuschreiben. Er musste mit ihnen zusammengearbeitet haben. Diese Arbeit hätte er unmöglich schaffen können, wenn irgendein Elietimm ständig in seinem Kopf herumgespukt wäre. Angesichts seiner Lage konnte ich ihm das allerdings wohl kaum zum Vorwurf machen. Hatte er seine Bildung im Tausch für seine Freiheit angeboten? Vielleicht, aber ich vermutete, dass er inmitten so vieler Informationen einfach der Versuchung nicht hatte widerstehen können. Hatte er damit gerechnet, dass man ihn töten würde, sobald seine Arbeit beendet war? Ich hoffte nicht. Ich hätte es natürlich erwartet, aber ich hätte vermutlich trotzdem mitgemacht und auf einen glücklichen Wurf gehofft, der mich hier herausgebracht hätte. Wenn ich es von Weißhaars Standpunkt aus betrachtete, ergab es durchaus einen Sinn, Geris zu ermorden. Das Risiko war einfach zu groß, dass er alles einem Rivalen verriet oder sein Wissen sogar in die Heimat zurückbrachte. Das war ja alles schön und gut; aber falls Geris wirklich mit ihnen zusammengearbeitet hatte, war die Folter sinnlos gewesen. Mir 528
fiel nur ein Grund für eine solche Tat ein: Der Weißhaarige war krank. Egal, ich hatte keine Zeit dafür. Ich schnappte mir alle Papiere, von denen ich glaubte, dass sie uns nützen könnten, löschte die Kerze und ging. Ich stand im Gang und fragte mich, wohin ich mich wenden sollte, als ich ein weiteres Schloss bemerkte. Angesichts meiner Geschichte mit verschlossenen Türen und Kisten überrascht es wohl niemand, dass ich wenige Augenblicke später durch die Tür war. Ein Lächeln schlich sich auf meine ausgetrockneten Lippen, als ich unsere Kleider und Ausrüstung sah. Normalerweise hätte man wohl glauben sollen, dass alles als Beute an die Truppen verteilt worden wäre, doch bei den Eismännern herrschte eiserne Disziplin – entweder das, oder Weißhaar hielt unsere Anwesenheit streng geheim. Ein paar Sachen waren aufgetrennt oder zerschnitten worden, doch wie es schien, waren Hosen und Hemden überall auf der Welt gleich und somit uninteressant. Ich steckte schneller in meiner Hose und meinen Stiefeln als ein Liebhaber, der im Hof das Pferd des Ehemanns hört, und rasch suchte ich Ryshads und Aitens Sachen heraus. Leider sah ich keine Waffen. Ich schaute mich in dem Raum um. Es mussten irgendwo welche sein, dessen war ich sicher – warum, weiß ich nicht. Ich ging zum Fenster, öffnete die Läden einen Spalt, um ein wenig Licht hereinzulassen und bemerkte eine dunkle Holztruhe unter der Fensterbank. Ich öffnete sie, und Stahl, Silber und Gold funkelten im Mondlicht. »Dank sei Poldrion«, flüsterte ich triumphierend. Die Schwerter waren nicht die unseren, doch solange die Dinger ein Heft und eine Klinge besaßen, war es mir egal. Ich fand zwei gute Schwerter, schwerer und länger als unsere, sowie eine Hand voll Dolche. Dass wir weder Scheiden noch Gür529
tel hatten, könnte ein Problem werden, aber damit würden wir leben müssen. Ein Schwert in jeder Hand zu haben, hob meine Moral deutlich an. Ein Geräusch von draußen ließ mich erstarren. Durch den Spalt zwischen den Fensterläden sah ich, wie die Wachen sich am oberen Ende der Treppe zum Wehrgang trafen. Ein zweites Paar stieg hinauf; sie tauschten irgendetwas aus. Dann eilten die ersten beiden hinunter, ohne Zweifel, um sich aufzuwärmen, zu essen und zu schlafen. Ich blickte ihnen hinterher, und kurz sah ich ein glühendes Kohlenbecken, als sie ins Torhaus gingen. Ich schaute zum Himmel. Trimons Harfe befand sich unmittelbar über uns, und da ich gerade einen Wachwechsel gesehen hatte, konnte die Morgendämmerung nicht mehr weit sein. Die Nächte mochten hier ja länger sein als daheim; trotzdem durfte ich keine Zeit verlieren. Rasch kramte ich in den in Samt gewickelten Päckchen am Truhenboden. Eines war voller Ringe, und ich steckte je zwei oder drei auf jeden meiner Finger; es musste hier doch irgendjemanden geben, der sich bestechen ließ. Zu guter Letzt schaute ich mich noch einmal im Raum um für den Fall, dass ich etwas übersehen hatte; doch ich fand nur noch einen Abtritt in einer Nische hinter einem Vorhang. Ich wollte ihn schon ignorieren, als mir plötzlich ein Gedanke kam. Ich betrachtete den Abtritt genauer und den Wasserkrug darüber, der zum Spülen gedacht war; dann spähte ich in den Abtritt selbst hinein und sah einen Abflussschacht, der sich in der Dunkelheit verlor. Ich hatte schon von Wasserspülungen auf Abtritten gehört, doch noch nie eine gesehen. Dies hier schien so eine Art Zwischending zwischen einem echten Wasserklo und den einfachen Abtritten zu sein, wo man nur einen Eimer oder eine Sandgrube unter sich hatte. 530
Wasser. Ich zerbrach mir den Kopf, doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass wir irgendwo auf diesen Inseln ein Frischwasserreservoir gesehen hätten. Und wo ich jetzt darüber nachdachte ... Die Bäche, die wir hatten überqueren müssen, waren bösartige kleine Dinger gewesen, und in den Dörfern hatte sich auf jedem Dach ein Regenwasserbecken befunden. Ich konnte mich nicht daran erinnern, einen Brunnen gesehen zu haben, zumindest nicht draußen. Das hier war ein reicher Haushalt; aber auch wenn sie Wasser dafür verschwenden konnten, den Abtritt auszuspülen – ich wettete, dass sie es irgendwie weiter verwendeten. Ich beschloss, nicht länger darüber nachzudenken und dem Abfluss zu folgen. Rasch erreichte ich die unteren Stockwerke. Ich bewegte mich mit äußerster Vorsicht für den Fall, dass mir ein Diener über den Weg lief. Doch ich sah keinen einzigen, was mein Misstrauen erregte, und kurz fragte ich mich, warum das so war; allerdings fiel mir keine Antwort darauf ein. Fast hätte ich einen Schlaganfall bekommen, als plötzlich eine jagende Katze an meinen Beinen vorbeistrich, doch abgesehen von dem Tier, schien nichts und niemand hier zu sein. Im untersten Stock befanden sich Bade- und Waschräume, und wie ich gehofft hatte, gab es in jedem einen großen Abfluss. Rasch hatte ich das erste Gitter herausgehoben. Ich überprüfte noch ein paar andere und stellte fest, dass sie alle nach Süden verliefen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich den Mut aufbrachte, durch einen hindurchzukriechen, doch inzwischen hatte ich wirklich keine Zeit mehr. Die Abflüsse waren groß; wahrscheinlich musste es so sein, da hier jeder so viel Wert auf Sauberkeit legte. Kleine Spuren im Schlick ließen mich überdies vermuten, dass man regelmä531
ßig unglückliche Kinder hier herunterschickte, um den Kanal sauber zu halten. Ich kam verhältnismäßig gut voran, doch was die anderen betraf, machte ich mir Sorgen. Aiten würde hier schon zurechtkommen und wohl auch Shiv; er war zwar groß, aber dünn. Ryshad allerdings würde sich hindurchzwängen müssen, aber ich nahm an, dass er ein paar Schrammen in Kauf nehmen würde, solange, er nur von diesem verfluchten Ort verschwinden konnte. Ich ging weiter und stellte erfreut fest, dass die einzelnen Abflüsse zusammenliefen und weiter Richtung Süden führten. Meine Nase verriet mir, wo das Wasser aus den Abtritten mündete, doch davon durfte ich mich nicht aufhalten lassen. Ich versuchte, den Schlamm zu meiden, und nahm mir vor, Aiten zu warnen. Er durfte nichts von dem Zeug in seine Wunden bekommen, sonst würden sie innerhalb kürzester Zeit zu schwären beginnen. Dank des Gewichts, das ich mit mir herumtrug, und der Tatsache, dass ich nur gebückt laufen konnte, bekam ich bald Rückenschmerzen, und erfolglos versuchte ich in der Dunkelheit etwas zu sehen, als ich plötzlich an irgendetwas gelangte, das ich zunächst für eine Ecke hielt. Vorsichtig tastete ich um die Wand herum, doch schon bald wurde offensichtlich, dass ich in einer Sackgasse gelandet war. Wo floss das Wasser hin? Widerwillig steckte ich die Hand hinein und entdeckte mehrere kleinere Rohre. Weiter konnte ich dem Wasser nicht folgen. Aber warum war der Rest so weiträumig gebaut? Warum hatten sie nicht von Anfang an Rohre verwendet? Nachdem ich mir eine Ewigkeit darüber den Kopf zerbrochen hatte, wie es mir schien, tastete ich die Decke ab. Nach kurzem Suchen fand ich das, was ich erwartet hatte: eine Luke. Vorsichtig schob ich sie in die Höhe, und als ich sie weit genug 532
geöffnet hatte, um hinauszublicken, sah ich den ummauerten Garten mit den Gewächshäusern. Ich schluckte einen Jubelschrei herunter und suchte den Garten nach einer Möglichkeit ab, wie wir von hier weiterkommen könnten. Hier mussten wir vorsichtig sein, erkannte ich. Die hohen, vom Winter vertrockneten Stängel einiger Weizenpflanzen wanden sich um die Überreste von Bohnensträuchern, und der Boden war mit Blättern bedeckt, die ich nicht kannte. Drei Nutzpflanzen auf demselben Boden: Unter anderen Umständen hätte ich das als bewundernswerte Leistung erachtet, doch im Augenblick interessierte mich nur, wie wir uns geräuschlos durch so viel vertrocknetes Laub bewegen konnten. Ich blickte zur Außenmauer und sah zu meiner Freude ein kleines Ausfalltor. Es war gegen Eindringlinge verriegelt; aber das war natürlich kein Problem, da wir ja hinaus und nicht hinein wollten. Schwere Schritte auf der Mauer erinnerten mich an die Wachen und dämpften meine Freude. Ich runzelte die Stirn. War Shiv gesund genug, um eine Illusion heraufzubeschwören, die uns zumindest an den Wachen vorbei und durchs Tor bringen würde? Weiteres Nachdenken war sinnlos; uns lief die Zeit davon. Also eilte ich so schnell und leise wie möglich zurück und ermahnte mich nachdrücklich, nicht allzu optimistisch zu sein. Aber ich hatte einen Fluchtweg entdeckt; wir hatten Kleider und Waffen, und allmählich keimte in mir die Hoffnung, dass wir vielleicht doch eine Chance hatten, dieser Bärengrube zu entkommen. »Das ist Unsinn«, ermahnte ich mich. »Mach dir nichts vor. Du hast jetzt nur eine Chance, und zwar die, aufrecht und mit dem Schwert in der Hand zu sterben.« 533
Vielleicht war es so, aber das war immer noch besser, als sich von Weißhaar den Verstand in Stücke reißen zu lassen oder durch die Eisen seiner Folterknechte zu sterben. Ich schauderte, als ich mich an einige Abschnitte aus Geris’ Schriften erinnerte. Das Bündel mit den Schriftrollen fühlte sich mit einem Mal schier unendlich kalt an, als wäre die Unmenschlichkeit der Worte in das Pergament eingedrungen.
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10.
Aus: Das letzte Werk von Geris Armiger, verstor-
bener Gelehrter der Universität von Vanam zusammengestellt und kommentiert von Ornale Schreiber, seinem Mentor und Freund
Elietimmeinfälle auf dem westlichen Kontinent sind zwar ein verhältnismäßig neues Phänomen, doch die so genannten Eismänner wissen seit den Schlachten um Kel Ar’Ayen von unserer Existenz, und ihre historischen Aufzeichnungen zeichnet eine Kontinuität aus, um die wir sie nur beneiden können. Der folgende Brief wurde vom Clanführer der Schwarzen Klippe an den Clanführer der Eischbänke geschrieben, irgendwann in den zwei Jahren zwischen dem Tod Feorles des Letzten und der Anarchie der Blutäxte. Die Einstellung, die in diesem Brief zutage tritt, scheint sich nicht groß verändert zu haben, die heutige Generation mit eingeschlossen: Das endgültige Versagen der Priester und ihrer Magie hat viele Menschen dazu gebracht, an den Göttern zu zweifeln, mein Bruder, doch lass du dich davon nicht beeinflussen. Wir sind die Hämmer Misaens, und wir müssen im Glauben fest bleiben. So viele Jahre lang auf diese Inseln beschränkt zu sein, war in der Tat ein hartes Los, besonders für jene von uns, deren Alte sich noch an das süße Grün von Kel Ar’Ayen erinnern können. 535
Vergiss nie jenes weite und fruchtbare Land, mein Bruder; sage stattdessen deinem Großvater, er solle seine Erinnerung wach halten, denn sie sind der Spiegel dessen, was Misaen uns versprochen hat. Lass den Zweifel nicht deinen Geist vergiften. Misaen stellt uns auf die Probe, auf dass wir besser und von dem Schmutz gereinigt werden, der zu unserem Sturz durch die Hände der verfluchten Männer aus dem Land der Morgenröte geführt hat. Die Götter bleiben, und Misaen ist noch immer der Schöpfer. Er sendet noch immer Feuer von unseren Bergen herab. Solen wir das Feuer in unseren Herzen sterben lassen? Ich werde es nicht tun, und auch nicht meine Söhne und die Söhne meiner Söhne, nicht bis meine Linie in der kalten Asche des Letzten Sturms untergeht. Unser Stahl wird in seinem Feuer schmelzen, nicht in der Kälte der See zerbrechen. Ich verspreche dir als heiligen Eid am Grab meiner Vorväter, die einst über den goldenen Sand des Ostens geschritten sind: Wir werden wieder die Herren der Meere sein! Von unseren wimmernden Priestern, die uns verraten haben, werden wir die Macht von Wille und Geist übernehmen. Wir werden nach Osten reisen und die Städte von Kel Ar’Ayen niederreißen, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht. Wir werden nach Westen reisen und die tormalinischen Eindringlinge jagen, bis ihre Clans in alle Winde verstreut sind. Das Zeitalter der Priester ist vorbei; wir sind keine Kinder mehr, die der Amme bedürfen. Misaen erwartet ein Zeitalter der Krieger, die das Schwert nicht nur mit der Hand, sondern auch mit dem Geist führen können. Solche Krieger werden Länder im Osten wie im Westen erobern. Die Leere von Kel Ar’Ayen werden sie mit ihren Söhnen füllen, und Tren Ar’Dryen soll sich ihrer Macht unterwerfen. Glaube nicht, dass Misaen uns hat 536
fallen lassen; das hat er nicht. Er hat uns unser Schicksal gezeigt und uns weggesperrt wie Athleten vor einem Wettkampf, auf dass wir uns auf den Sieg vorbereiten und ihn uns verdienen. Es ist seltsam, dass sämtliche Namen der Elietimm für Tormalin irgendetwas mit »Morgenröte« zu tun haben, wo doch ihre Inseln im Osten von uns liegen. Siehe Teil Acht der Argumente, dass dieses Volk ursprünglich aus den Ländern des Bergvolks stammt.
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Die Burg der Eismänner, Insel der Elietimm 3. Vorwinter
Ich kehrte rasch in unsere Zelle zurück. Die anderen lagen dicht aneinander gedrängt. Shiv hatte seine Stiefel in die Tunika gesteckt, um damit einen zusätzlichen Kopf vorzutäuschen, was jede neugierige Wache zufrieden stellen sollte. Als ich die Tür öffnete, sah ich, wie sie unwillkürlich zusammenzuckten. »Ich bin’s«, flüsterte ich, und Aiten und Ryshad sprangen sofort auf. Ich warf Aiten seine Kleider zu, doch seine spontane Dankbarkeit endete, als er feststellte, dass sie mehr als nur ein wenig feucht waren und stanken. »Wo warst du?« Ryshad zog sich rasch an, ohne auf den Zustand seiner Hose zu achten. »In den Abwasserkanälen«, antwortete ich knapp. »Es gibt einen Weg hier raus.« Ich blickte an Ryshad vorbei zu Shiv, der sich langsam die Stiefel anzog. »Fühlst du dich schon gut genug, um uns ein kurzes Stück zu verbergen? Wir müssen durch ein kleines Ausfalltor.« Shiv hob den Kopf und grinste. »Ja, es geht schon wieder.« Erleichtert stellte ich fest, dass sein Blick sich geklärt hatte, doch er wirkte noch immer arg mitgenommen. »Dann komm.« Aiten ging mit dem Schwert in der Hand voraus, und Shiv bewegte die Finger auf jene Art, von der ich inzwischen wusste, dass er sich so auf einen Zauber vorbereitete. Die anderen gingen bis zur nächsten Ecke, und ich verschloss die Zellentür 538
hinter uns. Dabei sah ich aus den Augenwinkeln heraus Geris’ verhüllten Leichnam, und ein Anflug von Trauer ließ meine Finger von den Dietrichen abrutschen. Was würden diese Bastarde mit ihm machen? Würden sie ihn in der kalten Erde verscharren, damit die Würmer ihn fraßen, oder würden sie ihn schlicht auf den Mist werfen? fragte ich mich unglücklich. Warum konnten sie die Toten nicht dem reinigenden Feuer überantworten, wie es bei zivilisierten Völkern üblich ist? Ryshads Hand auf meiner Schulter ließ mich erschreckt zusammenzucken. »Das ist nicht Geris, Livak«, sagte er leise und blickte mich mitfühlend an. »Er ist bereits entkommen.« Da ich meiner Stimme im Augenblick nicht traute, nickte ich nur stumm; dann schüttelte ich mich in Gedanken und ging zur Spülküche voraus, wo ich das Abflussgitter ein Stück offen gelassen hatte. Nachdem wir alle in den Kanal geklettert waren, atmete ich trotz des ekelhaften Gestanks schon leichter, und ich konzentrierte mich auf meine Arbeit. Aiten fluchte, als er ausrutschte, und seine Stimme hallte in dem engen Raum harsch von den Wänden wider. Ryshad zischte ihn an, bevor ich Gelegenheit dazu hatte, und wir stapften unbeholfen und schweigend weiter. Ich hoffte, dass niemand sich über uns befand, der die Schritte hätte hören können, oder das Klappern des Schwertes, als Ryshad um eine besonders enge Ecke ging; aber es war jetzt ohnehin zu spät, sich darüber zu sorgen. Ich musste langsamer gehen, da die anderen Schwierigkeiten hatten, sich in der völligen Dunkelheit zu orientieren, und einen schrecklichen Augenblick lang hätte ich mich selbst fast an einer Abzweigung verlaufen. 539
»Triff eine Entscheidung, und bleib dabei, egal ob richtig oder falsch«, ermahnte ich mich leise, und nur wenige Schritte später tastete meine Hand über die Abschlusswand des Kanals. Ich sah ein schwaches Schimmern in der Dunkelheit, wo ich eine Wurzel in die Luke geklemmt hatte. Erleichtert seufzte ich. So rasch, wie ich mein Glück aufbrauchte, schuldete ich Drianon bereits die Hälfte meines Gewinns vom nächsten Jahr. »Ait? Shiv?« Ryshads suchende Hand streifte meine Schulter, und ich ergriff sie. Eine plötzliche Schwäche befiel meine Knie, doch Ryshads beruhigender Griff vertrieb das Zittern aus meinen Gliedern und verlieh mir neuen Mut. Wir zwängten uns in die enge Nische. »Was für eine Art Deckung brauchen wir, und für wie lange?« Shiv drängte sich zu mir, und gemeinsam hoben wir vorsichtig die Luke hoch. Ich deutete auf das Ausfalltor und dann auf den Wehrgang mit den vorbeischlendernden Wachen. Shiv schaute sich sorgfältig im Garten um und nickte langsam. »Es kann nur jeweils einer hinausklettern. Einmal draußen, können wir uns dann schneller bewegen. Wie lange brauchst du für das Tor?« »Wie lange pinkelst du? Ich weiß es nicht, Shiv.« »Tut mir Leid, dumme Frage. Dann lasst uns warten, bis unser geschniegelter Freund in Leder auf der anderen Seite des Wehrgangs ist.« Der faule Bastard ließ sich Zeit; aber nachdem er schließlich verschwunden war, war ich als Erste draußen und duckte mich unter die verwelkten Blätter irgendeiner Pflanze. Der frische Geruch kalter, feuchter Erde stieg mir in die Nase, ein schier unglaublich angenehmer Duft nach dem Gestank des Abwas540
serkanals. Nachdem wir alle draußen waren, hockten wir uns hin und drängten uns wie die Hasen in einem Salatbeet zusammen. Shiv malte ein paar Muster in den Dreck und gab uns durch ein Nicken zu verstehen, dass wir loslaufen sollten. Es war nicht weit bis unter die Mauer, und kein Warnschrei hallte durch die Nacht, der uns verraten hätte. Ich hob den Torbalken herunter und griff nach den Riegeln, doch zum Glück hielt ich mich gerade noch rechtzeitig zurück. Die Riegel waren völlig verrostet und verdreckt, und sie hätten gekreischt wie eine Eule. Einen Augenblick starrte ich sie voll hilfloser Wut einfach nur an; dann machte ich mich an dem Schloss zu schaffen, während ich über das Problem nachdachte. Ich hörte Ryshad und Aiten hinter mir ungeduldig mit den Füßen scharren, und ich musste das Verlangen unterdrücken, sie laut anzuschreien. »Shiv, diese Riegel werden einen Höllenlärm machen. Tu etwas!« Kurz blickte er mich verständnislos an; dann legte er die Hände auf den oberen Riegel, und als ich nach dem unteren griff, spürte ich, wie die Luft um sie herum immer dicker wurde. Ich hob den Kopf und nickte Shiv stumm zu, und gleichzeitig zogen wir die Riegel in einer raschen Bewegung zurück, ohne auch nur einen Laut zu verursachen. Schließlich waren wir durchs Tor und rannten über das freie Feld vor der Burg. Ich blickte zum langsam aufhellenden Himmel hinauf und fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis man unsere Flucht bemerkte. Die Freude ob unserer neugewonnenen Freiheit kämpfte in mir mit der Furcht, verfolgt und wieder eingefangen zu werden. »Vergiss es«, sagte ich mir selbst. »Dazu muss er dich erst 541
einmal finden.« Wir rannten weiter, und bald verfielen wir in einen gleichmäßigen Trott. Es wäre mir lieber gewesen, wir wären schneller gelaufen, doch inzwischen war ich vollkommen erschöpft; nur meine Angst und Wut bewahrten mich davor, an Ort und Stelle zusammenzubrechen. Besorgt blickte ich zu Shiv und Aiten, die weiter und weiter zurückfielen. Shiv war noch immer ungewöhnlich blass, und Aiten litt offensichtlich unter den Nachwirkungen der Folter, die er hatte ertragen müssen. Dunkle Flecken auf seinem Hemd verrieten mir, wo sich einige Wunden wieder geöffnet hatten. »Sobald wir Gelegenheit bekommen, musst du dich waschen, Ait«, erklärte ich ihm. »Meerwasser ist gut zum Heilen, das weißt du.« Er nickte. Seine Augen waren müde, und er hatte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Er quälte sich wirklich. Ryshad hatte die Führung übernommen und hielt auf das Dickicht hoher Masten zu, die sich als Schatten vor dem rötlichen Morgenhimmel abhoben; nicht mehr lange, und die Sonne würde über den Horizont steigen. Ryshad führte uns von der Hauptstraße in ein Gewirr ineinander verschlungener Büsche, von wo aus wir den Hafen überblicken konnten. Das Hafenbecken war eine unregelmäßige Bucht, die sich tief in die Küste gegraben hatte, und der Größe der außen liegenden Schiffe nach zu urteilen, gab es hier eine für Seeschiffe ausreichend tiefe Fahrrinne. Trotz der frühen Stunde arbeiteten bereits Männer auf den Decks, und auf den Kais wurde Ladung verschoben. Platschen, das in der klaren Luft weit hallte, deutete auf Ruderboote hin, die wir zwischen den großen Schiffen aber 542
nicht sehen konnten. Ich wusste nichts über die Gezeiten, doch ich vermutete, dass sie von außerordentlicher Bedeutung für die Geschäftigkeit im Hafen waren. Entlang der Mole standen Hütten; in mehreren brannte Licht. »Ich würde nicht darauf wetten, dass wir hier ein Boot bekommen werden«, bemerkte ich zweifelnd. Plötzlich erschreckte uns Dudelsackmusik. Bestürzt beobachteten wir, wie eine Gruppe Soldaten ein Haus verließ, das offensichtlich eine Taverne war. Sie marschierten ein Stück die Straße hinunter und lösten eine zweite Gruppe in einer unscheinbaren Hütte ab. Ich fluchte leise. Wenn man irgendwo eindringen will, tut man das am Ende der Wachschicht, wenn die Wachen müde und gelangweilt sind, nicht wenn sie gerade gewechselt haben. Ryshad griff nach seinem Fernrohr und fluchte, als ihm einfiel, dass es jetzt zwischen Weißhaars Beutestücken in der Burg lag. Ich hatte genug gesehen. »Dort können wir unmöglich ein Boot bekommen. Wir müssen es in einem Fischerdorf versuchen.« »Nein, warte«, sagte Aiten. Ich drehte mich nicht einmal zu ihm um, sondern ließ den Blick über die Küstenstraße schweifen, die von dem Hafen wegführte. »Wir müssen von hier verschwinden. Die Sonne wird schneller aufgehen, als ihr glaubt.« »Wir müssen das erst besprechen«, sagte Ryshad langsam. »Wir brauchen einen Plan.« Ich schaute mich um und seufzte im Geiste. Eines der wenigen Dinge, mit denen meine Mutter Recht gehabt hatte, war ihre Behauptung, dass Männer stets zu den unmöglichsten 543
Zeiten auf die unmöglichsten Gedanken kommen. »Wir müssen erst hier verschwinden«, zischte ich ihn an. »Kommt schon!« »Und wenn sie entdecken, dass wir geflohen sind? Sie werden sich sofort an unsere Fersen heften, und dann sind wir wieder da, wo wir angefangen haben«, konterte Shiv. »Wir brauchen eine Ablenkung«, sagte Ryshad. »Und es muss eine verflucht gute sein.« »Also schön. Ja, das würde uns helfen, solange wir nur vorsichtig sind und uns dadurch nicht noch tiefer in die Scheiße reiten«, gestand ich ein. »Wie wäre es mit einem kleinen Feuerchen?« Shiv schüttelte den Kopf. »Im Augenblick kann ich nichts mit Feuer anfangen. Ich würde lieber meine Kräfte sparen für den Fall, dass ich uns noch einmal tarnen muss, und ...« Ich hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Erinnerst du dich noch an Hamas Tisch? Ich habe Geris kleine Zauberspruchliste gefunden. Ich kann das selbst erledigen.« »Die ätherischen Wunder? Was ist mit seinen Notizen? Den Büchern? Was hast du sonst noch gefunden?«, fragte Shiv hoffnungsvoll. »Später«, unterbrach ihn Aiten. »Wir brauchen mehr als nur ein kleines Freudenfeuer. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gibt da ein paar Lescaritricks, die wir verwenden sollten. Wir müssen ihnen ernste Schwierigkeiten bereiten und sie glauben machen, ihre Feinde seien daran schuld. Livak, du hast uns doch erzählt, wie viele Grenzstreitigkeiten es hier gibt. Wir könnten dafür sorgen, dass der Bastard glaubt, die Braunen seien für das Feuer verantwortlich.« »Das ist viel zu kompliziert«, wandte ich ein. »Wir haben kei544
ne Zeit, uns zu beweisen, wie klug wir sind.« »Hör mir einfach zu, ja?« Aiten hob die Stimme; also hielt ich den Mund. Allmählich bereute ich, dass ich ihm seine Stiefel wiedergegeben hatte. Je wärmer die Füße wurden, desto weniger Blut schien ins Gehirn zu fließen. »Als ich für Parnilesse gekämpft habe, ist eine Gruppe von uns zwischen Triolles Männer und ein Fort geraten, das von Draximals Leuten besetzt war. Bei Sonnenaufgang wären wir zwischen den beiden zerquetscht worden; also haben sich fünf der erfahrensten von uns auf den Weg gemacht und den Triolletross gefunden. Sie haben die Huren abgeschlachtet und ein paar erbeutete Draximalabzeichen zurückgelassen. Als die Triolletruppen sich daraufhin auf die Draximal stürzten, konnten wir unbehelligt abhauen.« »Du willst es ihnen nur heimzahlen, Ait. Rache ist ein Spiel für Narren.« Da Halcarion offensichtlich beschlossen hatte, mich nicht mit einem Blitz für meine Heuchelei niederzustrecken, fuhr ich fort: »Ich werde hier kein sinnloses Gemetzel veranstalten. Ich bin keine Mörderin. Außerdem würden wir die Burg damit fast so schnell alarmieren, als würden wir in ein Jagdhorn blasen.« Es folgte ein unangenehmes Schweigen; dann meldete Ryshad sich wieder zu Wort. »Es muss ja nicht gleich Mord sein, oder?«, sinnierte er. »Wie wäre es mit einer Geisel? Wir könnten uns eine Frau oder ein Kind schnappen oder falls möglich einen Offizier, einen von den Kerlen mit den Halsbändern.« Ich starrte ihn ungläubig an. »Und ich dachte, Shiv hätte den Schlag auf den Kopf bekommen. Hast du auch nur eine Ahnung davon, wie viel Ärger eine Geisel machen kann? Eine Geisel 545
bedeutet, dass sich einer von uns ausschließlich mit ihr beschäftigen muss. Wir sind aber nur zu viert, und Shiv hat noch nicht alle Steine auf dem Brett.« »Wenn wir eine Geisel haben, können wir verhandeln«, beharrte Ryshad auf seiner Meinung. »Wenn sie uns stellen, könnten wir uns mit ihrer Hilfe vielleicht den Weg freikaufen.« »Und wenn uns die Flucht gelingt, könnte die Geisel Planir mit wertvollen Informationen versorgen«, bemerkte Shiv nachdenklich, und ich erkannte zu meinem Ärger, dass er in Ryshads Lied einzustimmen drohte. Ich zog die Dokumente aus meiner Tunika. »Das hier sind ätherische Zaubersprüche.« Ich wedelte damit vor Ryshads Nase. »Ich kann sie wirken, Rysh. Geris’ Notizen zufolge kann ich aus der Ferne ein Feuer entfachen. Wie wäre es, wenn ich eines der Schiffe dort drüben anzünde? Würden sie dann nicht glauben, ihre Rivalen seien dafür verantwortlich?« Offensichtlich beeindruckte das weder Ryshad noch die anderen. »Lasst uns zuerst von hier verschwinden«, flehte ich. »Ihr habt doch alle schon einmal Weißer Rabe gespielt, oder? Ihr greift doch auch nicht alle Fasanen auf einmal an, sondern nehmt sie euch hintereinander vor.« Der Himmel wurde immer heller, und die Dringlichkeit einer Entscheidung hatte meiner Stimme einen autoritären Tonfall verliehen. »Na gut. Verschwinden wir von hier. Dann können wir uns stellen, wen immer sie uns hinterher schicken.« Ryshads Zustimmung brach das mürrische Schweigen, und hätte ich näher bei ihm gestanden, ich hätte ihn dafür geküsst. Zu unserer Rechten verlief ein langer Meeresarm, und eine 546
Reihe kleiner Hügel verbarg das Ufer vor der Burg. Rasch eilten wir über das kurze Gras, und ich bekam eine Gänsehaut in Erwartung des Schreis, der uns verraten würde; doch wieder einmal schützte uns Shivs Magie vor zufälliger Entdeckung. Wir erreichten den armseligen Schutz der Dünen und kauerten uns auf den Boden, um uns erst einmal zu orientieren. »Da lang. Da haben wir bessere Chancen, ein Boot zu finden.« Ich habe keine Ahnung, warum Aiten so zuversichtlich war, aber er stammte von der Küste, und so folgten wir seiner Führung. Als das Ufer eine Biegung machte und die Dünen größer wurden, wichen wir auf den Strand aus, da wir auf dem festen Sand schneller vorankommen konnten. »Wartet mal einen Augenblick! Mir geht allmählich die Luft aus!« Ich drehte mich um und sah entsetzt, wie weit Shiv zurückgefallen war. Sein Gesicht war noch immer grau, während wir anderen dank der frischen Brise rosige Wangen bekommen hatte. »Hältst du noch immer die Illusion aufrecht?«, fragte Ryshad, und ich verfluchte mich, weil ich nicht daran gedacht hatte, wie sehr die Magie Shiv erschöpfte. »Wir werden es riskieren müssen, ohne sie weiterzugehen«, erklärte Ryshad, als Shiv müde nickte. Kurz knisterte die Luft um uns herum, als Shiv den Zauber aufhob. Sofort fühlte ich mich wieder beängstigend ungeschützt. »Lasst uns näher an die Dünen gehen.« Ich führte uns wieder in den tiefen Sand über der Flutlinie, und wir stapften weiter. Shiv schleppte sich noch immer hinterher, und ich erkannte, dass er dieses Spiel nicht gewinnen konnte. Durch den Sand zu stapfen, erschöpfte ihn ebenso sehr, wie Magie zu wirken. 547
»Bei Dasts Zähnen, du bist ja vollkommen fertig.« Aiten packte Shiv unter den Arm, und Ryshad stützte ihn von der anderen Seite. »Geh ein Stück voraus, Livak«, bat mich Ryshad. »Finde heraus, was uns erwartet.« Ich nickte und brachte ein gutes Stück zwischen mich und die drei Männer; dann kletterte ich die mit hohem Seegras bewachsene Düne hinauf, um weiter sehen zu können. Nun, da Ryshad und Aiten Shiv halfen, kamen wir wieder schneller voran; der Nachteil war nur, dass die beiden nicht mehr so rasch würden reagieren können, sollte jemand uns angreifen. Ich drehte die Augen wie ein Frosch, während ich versuchte, in allen Richtungen zugleich Wache zu halten. Ich hätte mir die Mühe sparen können, denn schlussendlich war es meine Nase, die mich auf die mögliche Gefahr aufmerksam machte. Vor uns roch ich eindeutig den Gestank von Dungfeuern in der unbeständigen Brise. Ich blieb stehen und wartete, bis die anderen am Fuß der Düne auf gleicher Höhe mit mir waren. »Ich glaube, da vorne ist ein Dorf oder so was. Kommt rauf hier! Ich werde mich mal ein wenig umschauen.« Shiv ließ sich dankbar in den weichen Sand fallen, und ich tauschte einen besorgten Blick mit Ryshad, bevor ich mich auf allen vieren durchs hohe Gras arbeitete, wobei ich mir alles ins Gedächtnis rief, was ich jemals über das Schleichen gelernt hatte. Am Rand der Dünen fand ich eine Mulde, und vorsichtig spähte ich aus dem Gras. Ein Bach schlängelte sich über den Strand; allein ihn zu sehen, machte mich schon durstig. Ich folgte mit Blicken dem Bachlauf bis zu einer kleinen Hügelkette, die alsbald zu einem 548
steilen Felskamm anstieg. Auf der landeinwärts gewandten Seite der Hügel stieg frühmorgendlicher Rauch aus mehreren Schornsteinen empor; sie ragten aus Dächern, die mit Gras von den Dünen gedeckt waren. Die Lage des Dorfes war gut gewählt; durch die Hügel war es vor Stürmen geschützt. Sehnsüchtig blickte ich zu einem langen, niedrigen Gebäude auf der Seeseite der Hügel. Da lebte bestimmt niemand, nicht mit einem gemütlichen wind- und wettergeschützten Dorf um die Ecke. Das Gebäude besaß kleine Fenster und eine riesige, breite Tür, die fast die gesamte Vorderseite einnahm. Es schrie förmlich ›Bootshaus‹. Ein Auge ständig auf das Dorf gerichtet, schlich ich darauf zu. Als ich den Strand erreichte, sah ich drei lange, graubraune Schatten dicht beieinander und knapp oberhalb der Flutmarke liegen. Ich grinste. Dastennin hatte sich gerade einen Anteil an allem verdient, was sich in meiner Börse befand, wenn ich wieder einmal an einem seiner Schreine vorüberkam. Walboote waren das nicht. Sie ähnelten mehr jenen Gefährten, die wir damals bei den Seehunden gesehen hatten – damals ... das schien mir schon eine Ewigkeit her zu sein. Ich kroch durch Sand und Gras zurück und fand die anderen. »Und?« Ryshad blickte mich besorgt an, und ich sah, dass es Shiv alles andere als gut ging. »Da sind ein paar Häuser hinter einigen kleinen Hügeln. Vor allen aber gibt es dort auch Boote – für die Seehundjagd, glaube ich. Vermutlich sind sie irgendwie gesichert; also werde ich vorausgehen und versuchen, eins loszumachen, bevor ihr anderen euch ins Freie wagt.« Alle Augen begannen ob dieser Nachricht zu leuchten; selbst Shiv sah wieder besser aus. Vorsichtig schlichen wir an den 549
Rand des Seegrases. Aiten und Ryshad verteilten sich, um das Dorf besser beobachten zu können, und ich schlug einen weiten Bogen, um mich ein möglichst kurzes Stück über den offenen Strand bewegen zu müssen. Ich blickte zu Ryshad zurück; er nickte, und ich atmete tief durch und rannte geduckt in Richtung der Boote, wo die Hügel mich vor den Blicken der Dörfler verbergen würden. Als ich durch den Bach sprang, spornte mich das kalte Wasser noch mehr an; mein Herz raste, und kalte Luft füllte meine Lunge. Ich blickte zu den anderen zurück und stellte entsetzt fest, dass ich die Zinnen der Burg in der Ferne sehen konnte. Eine blasse Linie im Boden wies darauf hin, dass es einen Weg vom Hafen über die Dünen hierher gab. Der Weg gabelte sich; ein Arm führte in Richtung Dorf, der andere genau auf mich zu. Ich schob die Beobachtung als unwichtig beiseite und schaute mir die Boote an, die kopfüber auf dem Strand lagen. Meinen Landrattenaugen nach schienen sie allesamt seetüchtig zu sein, was eine Erleichterung war; schließlich hätte das hier genauso gut eine Reparaturwerft sein können. Nirgends waren Ruder oder Paddel zu sehen, auch nicht unter den Booten; aber wir hatten ja Shiv, und so hoffte ich, dass das kein Problem war. Was jedoch ein Problem darstellte, war das dicke Tau aus geöltem Leder, mit dem die Boote an einen steinernen Pfeiler gebunden waren. Ich kaute auf der Unterlippe und stocherte mit dem Dolch an dem Knoten herum. Er war so kompliziert und fest, dass ich nicht einmal darüber nachdachte, ihn zu lösen. Ich seufzte verärgert. Das Zeug war so hart wie Trockenfleisch und vermutlich genauso schwer zu durchschneiden. Das brauchte Zeit. Als ich meinen Griff um den Dolch veränderte, um mehr 550
Druck ausüben zu können, ließ mich ein stechender Schmerz in der Schläfe erschrocken aufblicken. Ich drehte mich um und sah Ryshad, wie er gerade nach einem zweiten Kiesel griff, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Als er bemerkte, dass ich in seine Richtung schaute, deutete er aufgeregt nach hinten, und ich sah, wie sich das Licht der aufgehenden Sonne auf metallbeschlagenen Uniformen spiegelte. Sofort sprang ich hinter die Boote und beobachtete mehr wütend als verängstigt, wie der schwarzgewandete Trupp in gleichmäßigem Tempo den Hauptweg entlang marschierte. Dann verschwanden sie hinter einer Erhebung, und rasch dachte ich darüber nach, welche Möglichkeiten mir nun blieben. Ich konnte mich wieder den anderen anschließen; allerdings würde der näher kommende Feind mich sehen, wenn ich den offenen Strand überquerte. Hier würden sie mich allerdings auch entdecken, sobald sie die Weggabelung erreichten, es sei denn, ich kroch unter ein Boot. Das war natürlich das Dümmste, was ich machen konnte, denn ich mochte wetten, dass sie hierher geschickt worden waren, um die Boote zu bewachen, was wiederum bedeutete, dass man unsere Flucht inzwischen entdeckt hatte. Ich blickte zu den weit entfernten Türmen von Weißhaars Burg. In dieser Richtung war alles ruhig; aber bis jetzt hatte ich ohnehin stets den Eindruck gehabt, dass es nicht seine Art war, einen unnötigen Aufruhr zu veranstalten. Ich sprang in die bessere Deckung des Bootshauses und schlich darum herum, um es zwischen mich und die näher kommende Gefahr zu bringen. Ich fand eine kleine Tür und war schneller im Haus als eine Katze auf der Flucht vor den Hunden. Bei dem Gebäude handelte es sich in der Tat um ein Bootshaus. In der Mitte stand das Gerüst eines neuen Bootes, 551
und rechts und links davon lagen und standen bearbeitete Walknochen, Leimtöpfe, Seile, Nadeln und Lederstücke. Vorsichtig schlich ich zu der großen Doppeltür und spähte durch den Spalt dazwischen hinaus. Die Elietimm kamen ziemlich schnell den Weg hinunter; doch nun, da ich sie deutlicher sehen konnte, bemerkte ich, dass dieser Trupp bei weitem nicht so diszipliniert war, wie wir es inzwischen von den Eismännern gewohnt waren. Sie wurden von einem Mann in langem schwarzem Mantel angeführt, dessen Haltung bereits von einer schier unglaublichen Überheblichkeit kündete; in seinem Schatten folgte ein wahres Ungetüm von Mann mit funkelnden Silberketten am oberen Ärmel seiner Weste und der typischen Haltung eines stellvertretenden Befehlshabers. Das war alles sehr beeindruckend, und die vier, die den beiden folgten, wirkten angemessen aufmerksam und gut ausgebildet; was allerdings das Bild störte, war das Schweinsgesicht, das den anderen hinterher keuchte. Er bewegte sich mit der Eleganz einer schwangeren Sau, wenn auch langsamer, und er fiel immer weiter zurück. Dann blieben die anderen stehen, und der, den ich als Unteroffizier bezeichnet hätte, schrie das Schweinsgesicht an, was mir wieder ins Gedächtnis rief, warum ich es stets vermieden hatte, für eine Miliz zu arbeiten. Ich schnappte einige der kehligen Flüche auf und erkannte, dass der Wind vom Land her wehte, was wiederum ein Vorteil für uns war. Jedes Geräusch, das wir verursachten, würde davongetragen werden, und der lange Schatten des Bootshauses befand sich links von mir; also würden sie überdies in die Sonne blicken. Wir mussten jeden noch so kleinen Vorteil nutzen, und rasch schaute ich mich nach etwas Nützlichem um. 552
Ich zog ein Stück frisch gegerbten Leders von einem Gerüst und schnappte mir eine Schere, um eine Schleuder zu fertigen. Das war zwar nicht das Gleiche wie vergiftete Wurfpfeile; aber zumindest könnte ich damit ein oder zwei Treffer bei den Bastarden landen, bevor es zum Nahkampf kam. Kurz hielt ich inne; dann schnitt ich ein langes, breites Stück Leder ab, machte ein Loch in der Mitte – und fertig war der Lederharnisch. Im Gegensatz zu meiner Tunika bot mir das wenigstens ein bisschen Schutz gegen eine Klinge. Die anderen nützlichen Dinge, die ich sah, waren ein paar schwere Speere, die aus Holz, Knochen und Leder gefertigt waren. Ich griff mir einen davon und spähte wieder durch den Türspalt, während ich die Waffe prüfend in der Hand wog. Vermutlich hätte ich ein Paddel einfacher werfen können, aber vielleicht konnte ich das Ding ja als eine Art Pike verwenden, was auch eine nützliche Waffe ist, solange der Feind vor dem spitzen Ende steht. Ich stellte eine Hand voll Speere an die Tür und tastete auf dem Boden nach Steinen, die sich für meine Schleuder eigneten, während ich den Unteroffizier dabei beobachtete, wie er zurückging, um Schweinsgesicht höchstpersönlich einen Tritt in den Allerwertesten zu versetzen. Eine Bewegung im langen Gras auf der Seeseite der Dünen erregte meine Aufmerksamkeit, und Ryshad riskierte einen kurzen Blick auf den offenen Strand. Ich nahm den Türbalken ab, öffnete die Tür einen Spalt und winkte Ryshad, den Kopf unten zu halten. Dann dachte ich nach. Die Elietimm waren mit Sicherheit auf dem Weg hierher, und ich ging davon aus, dass es meinen Tod bedeuten würde, sollten sie mich hier allein entdecken. Zu viert wären wir vielleicht in der Lage gewesen, es mit den sieben aufzunehmen, doch 553
Shiv war noch zu schwach zum Kämpfen. Aber egal, jetzt mussten wir erst einmal wieder zusammenkommen und sie lange genug aufhalten, dass wir ein Boot ins Wasser schieben und entkommen konnten. Das war der richtige Zeitpunkt für eine Ablenkung; ich hoffte, dass es Ryshad gelang, Aiten lange genug zurückzuhalten, dass ich mir etwas ausdenken konnte. Aus einem Seitenfenster konnte ich die Fischerhütten mit ihren grau-grünen Reeddächern sehen. Feuer zu legen war stets meine erste Wahl, wenn ich die Aufmerksamkeit von mir ablenken wollte. Außerdem hatte es in diesem Fall den zusätzlichen Vorteil, dass es die Dörfler beschäftigen würde, denn die Vorstellung gefiel mir ganz und gar nicht, plötzlich Männer auf der Gegenseite zu haben, die dazu in der Lage waren, Speere in schwimmende Meerestiere zu werfen. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf das erstbeste Dach und sang die Zauberworte im Rhythmus des Waldvolkes. Einen ekelerregend langen Augenblick schien nichts zu passieren; dann sah ich grauen Rauch gen Himmel quellen, und Flammen loderten auf und fraßen gierig am Reed. Wieder öffnete ich die Tür einen Spalt und sah, dass die anderen sich inzwischen vorsichtig an den Rand des Seegrases geschlichen hatten. Saedrin segne sie: Ungeachtet des Risikos hatten sie offensichtlich die Absicht durchzubrechen, um mir zu Hilfe zu eilen. Ich winkte ihnen, still zu bleiben, und beobachtete aufmerksam den Elietimmtrupp. Der Unteroffizier stand nun Nase an Nase mit Schweinsgesicht und stieß ihm immer wieder mit dem Finger vor die Brust, um seine Worte zu unterstreichen. Der Offizier schaute sich das Ganze hochmütig an, während zwei der anderen es offenbar genossen, dass zur Abwechslung mal ein anderer sein Fett abbekam. Alle drei zuckten unwillkürlich 554
zusammen, als ein anderer das Feuer auf dem Hüttendach bemerkte und erschrocken aufschrie. Fast hätte ich trotz der Gefahr lauthals aufgelacht, als die Soldaten sich in Bewegung setzten, stehen blieben, einander verwirrt anblickten, und dann den Weg zum Dorf einschlugen. Ich riss die Tür auf und winkte die anderen zu mir. Dann wartete ich regungslos und mit der Schleuder in der Hand, während sie über den offenen Strand rannten. Aiten und Ryshad schleppten Shiv zwischen sich; sie hatten sich seine Arme um die Schultern gelegt, und ich schwöre, seine Stiefel sind trocken geblieben, als sie den kleinen Bach durchquerten. Ich glaubte wirklich, sie würden es schaffen; doch als sie bei den Booten anlangten, schaute irgendein Bastard zum Meer und erblickte sie. Sein Schrei ließ das panische Murmeln im Dorf verstummen. Als die anderen mich erreichten, drehten die Soldaten sich zu uns um, und ich sah das goldene Halsband des Anführers in der Sonne funkeln. »Danke, Herr der See«, keuchte Aiten in wilder Zufriedenheit. »Wofür?«, fragte ich unruhig, als er entschlossen den Griff um sein Schwert verstärkte. »Das ist der Scheißkerl, der das Kommando hatte, als sie versuchten, mir die Seele aus dem Leib zu prügeln.« Jetzt verstand ich, warum er so auf den Kampf brannte; man konnte es ihm kaum verübeln. »Pass auf, Ait. Wir müssen sie nur lange genug aufhalten, bis wir ein Boot im Wasser haben«, ermahnte ich ihn. »Wir dürfen uns nicht auf einen längeren Kampf mit ihnen einlassen.« »Ich kümmere mich ums Boot.« Shiv sah angestrengt, aber wach aus, und ich warf ihm ein rasches Lächeln zu. 555
»Ich helfe dir.« Ryshad reichte Aiten die Speere. »Versuch, jemandem damit den Tag zu verderben!« Aiten grinste mit einer Wildheit, wie ich sie in seinem freundlichen Gesicht nie zuvor gesehen hatte, und packte den schweren Speer mit einer Leichtigkeit, die – so hoffte ich – von Erfahrung zeugte. Ich suchte mir eine Hand voll Steine aus, und gemeinsam kauerten wir uns in die Tür, während der Feind näher rückte. »Ich glaube nicht, dass sie uns sehen können«, murmelte ich verwundert, während die Elietimm langsam vorrückten und der Mann, der den Alarm geschlagen hatte, wild in Richtung Bootshaus deutete. Der Unteroffizier war noch immer hinten und machte Schweinsgesicht das Leben schwer, was die anderen offensichtlich ablenkte. »Wir sind in dem Schatten, nicht wahr? Und sie blicken genau in die Sonne.« Aiten kniff die Augen zusammen; dann sprang er auf, schrie und schleuderte seinen Speer. »Wie gefällt dir das, Scheißkopf!« Ich weiß nicht, ob es die Überraschung oder das Sonnenlicht war, das ihn blendete; aber der vorderste Soldat stand einfach nur da, bis der schwere Speer ihm in die Brust drang und er röchelnd und Blut spuckend zu Boden geworfen wurde. Der Schock hielt die anderen lange genug auf, dass Aiten einen zweiten Speer schleudern konnte, doch diesmal setzten sie sich rechtzeitig in Bewegung. Viel nutzte es ihnen allerdings nicht. Aiten hatte so etwas unverkennbar schon früher einmal gemacht – ein weiterer Eismann ging zu Boden und schrie, während der Speer in seinem Bein steckte. Harte, jedoch melodische Silben hallten über die Schreie hinweg, und ich erkannte, dass der Offizier einen magischen 556
Gesang angestimmt hatte, während Ryshad und Shiv zu den Booten rannten. Shiv machte sich an einem der Taue zu schaffen, und Ryshad rammte sein Schwert durch die Rümpfe der anderen Boote. »Du blöde Kuh! Ein Halsband bedeutet Magier. Hast du das vergessen?«, tadelte ich mich wütend und legte einen eiergroßen Stein in die Schleuder. Ich dachte gar nicht daran, einen der Gegner zwischen die Augen zu treffen – so etwas war Unsinn –; stattdessen zielte ich auf die Brust. Der Stein traf sein Ziel, und der Mann klappte zusammen, sank auf die Knie und schrie, was mich hoffen ließ, dass ich ihm zumindest eine Rippe gebrochen hatte. »Geschieht euch recht, ihr Bastarde! Ich bringe euch alle um!« Aiten stürzte aus der Tür, in der einen Hand das Schwert, den Dolch in der anderen. »Warte!«, rief ich ihm sinnlos hinterher. Ich blickte zu Shiv und blinzelte verwirrt, als ich sah, wie sich der komplizierte Knoten in seiner Hand einfach löste. Ryshad half ihm, das Boot umzudrehen; dann rannte er los, um Aiten beizustehen, der die beiden ersten Elietimm fast erreicht hatte. »Bei Dasts Zähnen!« Da Shiv das Boot schnell genug ins Wasser bekam, lief ich den beiden blutrünstigen Trotteln hinterher. Ryshad hielt auf den Unteroffizier zu, und Schweinsgesicht wich entsetzt zurück; also sah ich mich nach einer Möglichkeit um, Aiten zu helfen, der die Verteidigung der verbliebenen zwei Soldaten fast schon durchbrochen hatte. Ein kehliges Zischen machte mich auf den Offizier aufmerksam, in dessen Augen der blanke Hass funkelte. Ich starrte ihn an und war wider alle Vernunft vor Schreck wie gelähmt, als ich ihn erkannte. Sein Haar war dunkel und seine Haut falten557
los, doch jeder Knochen in seinem Gesicht verriet mir, wie der Weißhaarige vor einer Generation ausgesehen haben musste. Er spie eine Reihe rhythmischer Silben hervor, doch bevor er seinen Zauber vollenden konnte, war ich mit gezückten Dolchen über ihm und stieß ihn mit der Kraft schierer Panik zu Boden. Er fluchte, und es gelang ihm, eins meiner Handgelenke zu packen, während mein anderer Dolch wirkungslos über den Panzer auf seinem Rücken kratzte. Mit einem Stoß seiner Hüfte rollte er uns beide herum, aber ich habe schon mit schmutzigeren Tricks gekämpft, als ich normalerweise zugeben würde, und so gelang es ihm nicht, mich unter sich zu begraben. Ich trat nach seinen Knien; dann war ich wieder obenauf. Ich schlug mit der Stirn auf seine Nase und spürte warmes Blut in meinen Haaren, als er zu sprechen versuchte, was er mit den Haaren im Mund aber nicht konnte. Ein schmerzhaftes Reißen auf meiner Kopfhaut verriet mir, dass er sich in meinem Haar festgebissen hatte, doch mit meiner freien Hand schlug ich nach seinen Augen. Fast hätte er mich in diesem Augenblick abgeworfen. Zwar gelang es mir, mein Bein um ihn zu legen, doch gleichzeitig packte er auch meine zweite Hand. Wir rollten uns herum, und Sand drang mir in Augen, Mund und Nase, während jeder von uns versuchte, die Oberhand zu gewinnen. Sein größeres Gewicht forderte allmählich seinen Tribut von mir, und ich glaubte schon, dass ich versucht hatte, einen Wolf mit einer Rattenfalle zu fangen, als er plötzlich zu würgen begann, mich losließ und mit der Hand nach seiner Kehle griff. Sein Gesicht nahm eine seltsame blaue Farbe an, und bewusstlos brach er über mir zusammen. Ich wuchtete seinen Körper von mir herunter und wischte mir übers Gesicht. Shiv stand ein Stück neben mir und betrachtete den gefallenen Offizier mit 558
einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. »Was ist passiert?« »Ich habe die Luft aus seiner Lunge geholt«, antwortete Shiv zufrieden. Ich starrte auf den Eismann. »Ist er tot?« »Noch nicht, und er wird es auch nicht sein, wenn ich es nicht will.« Ich blickte zu Aiten und Ryshad, die über Schweinsgesicht standen. Der fette Kerl hatte offensichtlich sein Schwert weggeworfen und kniete im Sand; sein Bauch schwabbelte wie ein Weinschlauch, als er die Arme zum Zeichen der Kapitulation ausbreitete. »Er wird ihnen erzählen, wohin wir gegangen sind!« Aiten war offenbar sehr dafür, ihn zu töten. »Er kann ihnen erzählen, dass wir deinen Freund mit dem goldenen Halsband haben«, konterte Ryshad. »Ich habe dir doch gesagt, dass es gut wäre, eine Geisel zu nehmen.« Aiten zischte Schweinsgesicht irgendetwas zu; dann ließen die beiden ihn im Sand zurück, während ich Shiv half, Goldhals zum Boot zu schleppen. »So, jetzt hast du deine Geisel, Rysh, und Ait hat ein paar Leute umgebracht. Jetzt, wo alle glücklich sind, können wir bitte diesen verfluchten Ort verlassen?« Ryshad und Aiten grinsten mich an, als sie einstiegen, und ich konnte unmöglich länger die Verärgerte spielen. »Ihr habt mehr Glück, als ihr verdient!« Ich schüttelte den Kopf. »Dastennin liebt mich«, erwiderte Ryshad mit großen Augen und zuckte mit den Schultern. »Was soll ich tun?« »Du könntest darum beten, dass er weiter auf unserer Seite 559
ist.« Shiv strich mit den Händen über den Rumpf, und das Boot setzte sich in Bewegung. »Wir müssen das halbe Meer überqueren, bevor wir auch nur annähernd in Sicherheit sind.«
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Die Docks von Bremilayne 3. Vorwinter
Casuel stapfte über den Kai. Er blickte so böse drein, dass selbst die Hafenarbeiter ihm Platz machten. In machtlosem Zorn krallte er sich in die Wachspapierpäckchen mit Kräutern und Trockenfrüchten. Er war ein Magier, schäumte er innerlich; man war ihm Respekt schuldig und nun das! Junker Camarl mochte sich ja vielleicht nichts dabei gedacht haben – schließlich war er es ja gewohnt, Untergebene herumzukommandieren –, doch Casuel war kein Diener, und Camarl hätte ihn wirklich nicht mit diesem Auftrag losschicken sollen. Warum rannte Darni nicht die steilen Straßen auf und ab und sammelte Pakete? Casuel blickte auf die andere Seite des Hafens und zu dem Schiff am Kai, ein schlankes Gefährt mit hohen Masten und kühnem Bug. Darni und Camarl huschten dort übers Deck und bereiteten mit der Besatzung die Abfahrt vor. Ein Knäuel alter Krabbenfischerboote fuhr um die Seemauer herum. Sie hüpften über das glitzernde Wasser des Hafenbeckens und legten schließlich an. Leute mit Körben unter den Armen versammelten sich an der Mole und warteten darauf, dass der Fang endlich ausgeladen wurde. Ob der Aussicht auf einen frischen Hummer besserte sich Casuels Laune ein wenig; an der Küste waren sie wirklich viel besser als landeinwärts. Das Essen im Gästehaus hatte er als angenehme Überraschung empfunden, auch wenn die Unterkunft an sich etwas altmodisch und karg gewesen war. Casuel schlug seinen schwarzen Mantel zurück und stopfte sich die Päckchen unter den Arm. 561
Wenigstens regnete es heute nicht; der Himmel war strahlendblau, und eine frische Brise trieb Schäfchenwolken vor sich her. Casuel freute sich nicht gerade, aufs offene Meer hinauszufahren; aber vermutlich würde die Reise nicht allzu rau werden – nicht wenn Otrick die Winde kontrollierte. »Casuel! So sehen wir uns also wieder!« Casuel blieb stehen und drehte sich erstaunt um. Ein kleiner blonder Mann trat hinter einem Gestell hervor, auf dem Netze trockneten, und lächelte über das ganze Gesicht. »Ich fürchte, Ihr habt mir etwas voraus, mein Herr.« Casuel bemühte sich, ruhig zu wirken, doch seine Gedanken überschlugen sich. Das war der Feind! Wer sollte ihm jetzt zu Hilfe eilen? Darni? Camarl? »Wir haben uns in Hanchet kennen gelernt. Erinnerst du dich nicht mehr?« Der blonde Mann lächelte fröhlich. »Du warst sehr hilfreich. Boshaftigkeit und Neid machen es einem leicht, jemandes Gedanken zu lesen.« Casuel klappte den Mund auf, wirbelte herum und wollte gerade losrennen, als der Mann ihn mit eisernem Griff am Arm packte. In der anderen Hand des Blonden blitzte Stahl auf. Fürchterlicher Schmerz erfüllte Casuels Kopf, und seine Augen wurden von dem kalten Blick des Mannes festgehalten. Dann fühlte er schwach die Verachtung des anderen. »So, das sind also das Schiff und deine Verbündeten. Danke, mehr wollte ich gar nicht wissen.« Der Feind blickte zu den Einkäufen unter Casuels Armen, lächelte kurz und rammte dem Magier das Messer unmittelbar über der Gürtelschnalle in den Bauch. Casuel klappte zusammen und wurde in die Netze gestoßen. Voller Panik umklammerte er das Heft und wimmerte, während Blut aus seinen Eingeweiden quoll. Der blonde Mann 562
blickte einen Augenblick lang auf ihn hinab; dann verschwand er in der Menschenmenge. »Hilfe!«, krächzte Casuel. »Hilfe!« Es gelang ihm, sich aufzusetzen. Halb hing er in den Netzen, und seine Muskeln verkrampften sich in dem verzweifelten Versuch, irgendetwas gegen die schrecklichen Schmerzen zu tun, die sich von seinem Bauch aus im ganzen Körper ausbreiteten. Das warme Blut auf seinen Fingern war klebrig und glitschig zugleich. Jammernd wie ein kleiner Hund rutschte Casuel auf dem Hintern vorwärts, weg von den Netzen. Dann hielt er an, schnappte nach Luft, und Blut strömte auf die Mole und sammelte sich um ihn herum. Schritte hallten übers Kopfsteinpflaster, und Casuel blickte erleichtert auf. »Helft mir. Ich bin ...« Hilflos beobachtete er, wie der Fischer ihm einfach über die Beine stieg und weiterging, als hätte er ihn nicht gesehen. »Du Bastard«, krächzte Casuel verzweifelt. Er hatte das Gefühl, als glühe das Messer, das ihm in den Bauch und fast bis zum Rückgrat gedrungen war – ein glühendes Stück Stahl, um das herum sein Körper schmolz. Ihm wurde mit jedem Atemzug kälter, selbst der Schweiß auf seiner Stirn. Casuel schrie vor Schmerz auf, als jemand ihm auf den Fuß trat, sodass er das Bein zurückriss. »Pass auf, wo du hintrittst«, sagte die Fischerin fröhlich zu ihrem Gefährten, während ihr Rock vor Casuels ungläubigen Augen vorbeiflatterte. Sie konnten ihn nicht sehen! Sie wussten nicht, dass er hier war! Wie war das möglich? Um ihn herum hatte niemand einen Zauber gewirkt! Er lehnte sich gegen einen Pfosten, den Blick voller Furcht. Er würde hier sterben! Eine Bewegung auf der Mole erregte seine Aufmerksamkeit. 563
Der Fang der Krabbenfischer wurde ausgeladen, und die Leute traten vor, um die Preise auszuhandeln. Ein verzweifeltes Wimmern, das nichts mit den Schmerzen in seinem Leib zu tun hatte, kam über seine Lippen. Casuel sah mehrere blonde Köpfe, die sich durch die Menge in Richtung des Piratenschiffes drängten. Mit seinem Geist griff er nach der Erde – sinnlos; die Schmerzen machten jeglichen Zauberversuch zunichte. Voller hilflosem Entsetzen drückte Casuel die Hand auf die Wunde; er hatte das Gefühl, als würde er innerlich langsam zerrissen. »Casuel!« Allins weißes Gesicht lugte zwischen den Netzen hervor. Panik zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. »Halcarion, hilf!« »Der Feind ... hier ...!« Casuel kämpfte um jedes Wort. Vor seinen Augen begann die Welt zu verschwimmen; jeder seiner Sinne schrie verwirrt auf. Allin kniete sich vor ihn, stellte ihren Eimer ab und riss ein Stück Stoff aus ihrem Rock. »Stillhalten«, befahl sie, während sie das Leinen faltete. Ein schwacher Lavendelduft stieg Casuel in die Nase und überdeckte den Gestank des Blutes. »Hier.« Allin presste ihm das Leinen auf die Wunde, und Casuel schnappte nach Luft. Einen Augenblick später packte er das Heft des Dolches, doch ohne auf das Blut zu achten, legte Allin ihm die Hand um die Finger. »Nein. Nicht bevor ein Arzt da ist.« Sie löste seine Hand mit einer Entschlossenheit, der er nicht widerstehen konnte. Dann schaute sie sich überraschend ruhig um. »Dort!« Casuel deutete mit zitternder Hand auf das Schiff, und Verzweiflung schlich sich in seine schwache Stimme. Auf dem Piratenschiff gab es Schwierigkeiten. Allin beo564
bachtete, wie einer der Masten umstürzte. Segel rissen, und die Schreie getroffener Männer mischten sich mit dem Kreischen der Möwen. Ein zerrissenes Stück Segeltuch landete auf zwei Männern, die sich verzweifelt zu befreien versuchten; doch irgendwie schien sich das Tuch immer enger um sie zusammenzuziehen, als wäre es lebendig. Ein Mann fiel vom Hauptmast, und wie Schlangen folgten ihm Taue in die Tiefe. Dann stürzte ein zweiter hinab, doch er schlug nicht auf Deck auf, denn ein Tau hatte sich um seinen Hals gewickelt und brach ihm das Genick; leblos baumelte er vor dem Segel wie vor einem riesigen Leichentuch. Ein kleines Fischerboot, dessen Besatzung fröhlich mit den Leuten feilschte, stieß gegen die Mole. »Hol Planir«, keuchte Casuel, doch Allin war noch damit beschäftigt, das Leinen mit Hilfe ihrer Schärpe fest um seine Wunde zu binden. »Rührt Euch nicht, um Saedrins willen, und berührt das Messer nicht!«, befahl sie. Dann rannte sie so schnell sie konnte über den Kai, ohne auf die verwirrten Blicke der Leute zu achten, die in aller Ruhe ihren Geschäften nachgingen. Casuel lehnte sich gegen das Trockengestell, atmete schnell und flach und blickte mit weit aufgerissenen Augen zu dem Chaos auf ihrem Schiff. Er sah Darni, der mit seinem roten Umhang und den schwarzen Haaren gut zu erkennen war. Das freundliche Sonnenlicht tanzte auf dem Schwert des Söldners, während er auf der Suche nach einem unsichtbaren Feind wild um sich schlug. Er wirbelte herum, stieß zu und fällte einen unglücklichen Seemann. Das schien ihm jedoch egal zu sein; er jagte weiter ein Phantom, das offenbar nur er sehen konnte. Er sprang, schlug, stach, und all seine Aufmerksamkeit war auf die leere Luft vor ihm gerichtet. Wieder sprang er vor, doch diesmal 565
nicht mehr ganz so geschickt. Mit jedem Augenblick wurden seine Bewegungen zerfahrener. Panisch schaute er sich um und kämpfte nun an zwei, dann an drei Seiten zu gleich. Camarl zog sich langsam die Heckreling entlang zurück. Den Dolch vor sich, tastete er mit der anderen Hand nach hinten, und wie bei Darni war auch sein Blick auf eine unsichtbare Bedrohung gerichtet. Er sprang vor, dann zurück und duckte sich zur Seite, um einem eingebildeten Stoß auszuweichen. Schließlich zuckte er zusammen, packte sich an die Schulter und drehte sich, um eine Wunde zu schützen, die nur sein Geist sehen konnte. Ein Arm hing schlaff herab, und die Klinge fiel ihm aus den Fingern. Erneut wich er zurück, riss sich seinen grünen Umhang herunter und sprang über die Reling und hinein ins Hafenbecken. Kurz sah Casuel den Kopf des jungen Adeligen wieder auftauchen, doch entsetzt erkannte er, dass Camarl unterzugehen drohte. Mit seinem eingebildet, nutzlosen Arm konnte er nicht schwimmen. Mehrere Spritzer im trüben grünen Wasser des Hafenbeckens verrieten, wo weitere Männer aus der Takelage gestürzt waren. Die Masten des großen Seeschiffs schwankten hin und her, als wären sie in einem Wirbelsturm gefangen, während die fröhlich bunten Segel der Fischerboote sanft in der leichten Brise flatterten. Taue bewegten sich in unmöglichen Winkeln und wickelten sich um Arme und Beine, und lose Gegenstände wurden in die Höhe gerissen und gegen ungeschützte Köpfe und Körper geworfen. Ein Wasserfass riss sich aus seiner Halterung los und überrollte ein paar unglückliche Piraten, die hinter dem Steuerhaus Schutz gesucht hatten. Und die ganze Zeit ging das geschäftige Treiben im Hafen weiter, als würde dieses Gemetzel gar nicht stattfinden. 566
»Scheiße aber auch!« Casuel hob den Kopf und sah Otrick, der mit einer Mischung aus Angst und Wut auf ihn hinunter starrte. Casuel hob eine blutverschmierte Hand, um auf den mit Menschen überfüllten Kai zu deuten. »Blondköpfe.« Er presste das Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Otrick beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Ich werde mir diese Kerle schnappen.« Frauen, die darauf warteten, sich an den Körben mit Schalentieren bedienen zu können, schauten sich um, als Windböen an ihren Schals und Halstüchern zu zerren begannen, und ein paar Fischer blickten verwirrt zum klaren blauen Himmel hinauf. Der Wind wurde immer stärker, und die Menge begann sich aufzulösen. Wasser floss über den Kai, und Frauen schrien entsetzt auf, als es plötzlich ihre Füße umspülte. Einige schauten sich um, ob vielleicht die Abflüsse von irgendwelchem Müll verstopft waren. Dann lösten sich ohne ersichtlichen Grund die Pflastersteine und rollten über den Boden. Eine namenlose Gestalt rutschte aus und fiel, und der Tumult breitete sich kreisförmig um den Gestürzten herum aus, als andere über ihn stolperten. Die fröhliche Stimmung verflog, während die Menschen sich zunehmend verwirrt und besorgt umschauten. »Nun denn.« Otrick knackte mit den Fingern, und ein helles blaues Feuer flackerte in seinen Augen. Die blonden Männer hatten das Seeschiff fast erreicht, doch die wachsende Unruhe der Menge hielt sie auf, auch wenn noch immer niemand die Fremden zu bemerken schien; dabei waren sie mit ihren hellen Haaren und den schwarzen, nietenbeschlagenen Lederlivreen nicht zu übersehen. Eine plötzlich auftauchende Welle riss die 567
kleinen Krabbenboote von der Mole los, und die wartenden Menschen wichen vor dem Spritzwasser zurück, sodass die Blondköpfe mit einem Mal allein am Kai standen. Wasser blubberte um ihre Füße, und Schaum drang zwischen den Pflastersteinen hindurch. Dann öffneten sich Risse im Kai, und die Männer gerieten ins Wanken, als hätte plötzlich ein Herbststurm sie gepackt, während die Menschen sich nur ein paar Schritt entfernt frei bewegen konnten. Schreie der Wut und der Furcht übertönten das Plätschern des Wassers und das Kreischen der Möwen. Schließlich erschien wie aus dem Nichts eine dunkle Wolke und verbarg die Sonne. »Schlag sie einfach nieder. Ich möchte es nicht so dramatisch haben.« Planir erschien, Allin an seinen Fersen, und hob die Hand, als Otrick ein funkelndes blaues Licht um seine Finger sammelte. »Wir wollen keinen unnötigen Aufruhr verursachen, und ich habe Messire auch so schon genug zu erklären! Es ist bereits schlimm genug.« Der alte Magier schnaufte missbilligend, doch die schwarze Wolke löste sich auf, und die blonden Männer sanken zu Boden, als wären sie niedergeschlagen worden. Die Fischersfrauen und Seeleute schnappten bestürzt nach Luft, als sie die Eindringlinge plötzlich bemerkten. Einige liefen davon, während andere sich näher heranwagten, dann jedoch zögerten. »Das Schiff!« Allin deutete zitternd in die entsprechende Richtung. Das Chaos auf dem Schiff hatte nicht nachgelassen. Verschreckte Männer drängten sich aneinander und bekämpften Taue und Segeltuch, Werkzeug und Ladung; der Angriff alles Unbelebten ging unvermindert weiter. Einige versuchten, über die Reling ins Wasser zu springen, doch umherschwingende 568
Balken bereiteten jedem dieser Versuche ein vorzeitiges Ende. »Wer ist dafür verantwortlich?«, murmelte Planir und presste die Lippen aufeinander. Langsam ließ er seinen Blick durch den Hafen und den Hang hinauf schweifen, der in die Stadt führte. »Ich fühle nichts. Wie machen die Kerle das?« Wütend und hilflos zugleich verzog Otrick das Gesicht. »Dort.« Planir deutete nach vorne, und eine unscheinbare Gestalt, die halb hinter einem Marktstand verborgen war, brach plötzlich zusammen. »Halte nach anderen Leuten Ausschau, die sich nicht bewegen.« »Einer davon hat Casuels Blut an den Händen«, meldete Allin sich zu Wort. »Könntet Ihr den finden?« Otrick rieb sich die Hände und runzelte die Stirn. »Ich habe einen. Dort an der Taverne.« Eine Frau schrie, als der Mann ihr wie ein Baum vor die Füße fiel, sodass sie beinahe über ihn gestolpert wäre. Aus Versehen trat sie noch gegen ihn; dann rannte sie davon. Inzwischen breitete sich an einigen Stellen Panik unter den Menschen aus, und der unglückliche Mann verschwand unter einer Flut von Stiefeln und Röcken. Nachdem die Leute verschwunden waren, lag er da wie eine zerbrochene Puppe. Auf seinem Umhang waren deutlich Fußabdrücke zu sehen, und sein helles Haar war verdreckt und blutverschmiert. Das Chaos auf dem Piratenschiff endete urplötzlich. Darni löste sich aus einer Gruppe von Seeleuten und rannte die Laufplanke hinunter, das Schwert noch immer in der Faust. Er lief über den Kai, breitete die Arme aus, schüttelte den Kopf und stieß verwirrte Fischer aus dem Weg. Gleichzeitig blickte er sich immer wieder um auf der Suche nach jemandem, den er angreifen konnte; dann wieder schaute er ins Wasser, um zu sehen, 569
wer gesprungen war und den Sprung überlebt hatte. »Darni! Hierher!« Planir schien noch nicht einmal seine Stimme gehoben zu haben, aber der Krieger hatte ihn offenbar über den halben Hafen hinweg gehört und eilte auf ihn zu. »Wo sind diese Dreckskerle?«, wollte er wissen. Sein Gesicht war puterrot und schweißnass. »Ich reiß ihnen die Eier ab!« »Wir werden uns schon um sie kümmern.« Planir kniete sich neben Casuel und verzog besorgt das Gesicht. »Lass mich mal sehen.« Vorsichtig löste er den Verband, hielt den Druck auf der Wunde aber aufrecht und achtete sorgfältig darauf, nicht das Knochenheft des Messers zu berühren. Er warf einen raschen Blick unter das blutdurchtränkte Leinen; dann machte er alles wieder fest. »Wir brauchen einen Arzt, und zwar schnell«, sagte er düster. »Sprecht mit Hadrumal«, forderte Darni ihn auf. »Sprecht mit jemandem, der mit Geris zusammengearbeitet hat. Sie haben irgendwas mit Heilmethoden gemacht.« Planir blickte zu Allin, die eine weitere Kompresse aus herausgerissenem Leinen fertigte. »Das hast du gut gemacht.« »Man lernt eine Menge, wenn dumme Männer den halben Sommer lang in Euren Hecken sterben«, erwiderte sie unglücklich und kniete sich nieder, um den Verband zu erneuern. »Wie sollen wir ihn bewegen?« »Hier.« Darni zog seinen Mantel aus und legte ihn auf den Boden. »Jeder von uns nimmt eine Ecke, und wir müssen langsam gehen.« »Lasst mich helfen. Was ist mit Cas?« Casuel öffnete die trüben Augen und sah Junker Camarl, der Darni über die Schulter blickte. Wasser lief über das Gesicht des 570
jungen Tormalin. Er war klatschnass. Casuel wollte etwas sagen, irgendetwas, eine letzte Botschaft, doch alles, was er hervorbrachte, war ein tränenreiches Flüstern. »Sagt meiner Mutter, dass ich sie liebe.« »Sag es ihr selbst. Ich bin nicht dein Botenjunge«, erwiderte Darni in scharfem Tonfall, der in krassem Gegensatz zu der Vorsicht stand, mit der er Casuel auf den Mantel hob. »Wo gibt es den besten Arzt?«, verlangte Planir von Camarl zu wissen. »Am Muschelhügel«, antwortete der Junker, ohne auch nur einen Augenblick nachdenken zu müssen. »Hier entlang.« »Verflucht!« Otricks Ausruf ließ, sie alle nach ein paar unbeholfenen Schritten innehalten. Allin folgte der ausgestreckten Hand des Wolkenmeisters und sah, dass die überlebenden Piraten sich um die gefallenen Feinde sammelten. Knüppel und Klingen wurden gehoben, und Stiefel traten unbarmherzig zu. Dann wurde der erste leblose Körper an den Rand der Mole gerollt und ins trübe Wasser geworfen. »Bei Saedrins Eiern!« Planir schüttelte den Kopf. »Nun, es sind ja nur die Speerträger. Camarl, wir wollen nur die beiden Magier. Findet sie, und schließt sie gut weg!« Er wechselte die Hand, mit der er den Mantel trug, und deutete in die entsprechende Richtung. Casuel konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, als er ein wenig auf die Seite rollte. »Natürlich. Ich sehe sie.« Camarl setzte sich in Bewegung, und Casuel hörte ihn mit der Autorität eines Tormalin-Adeligen Hilfe herbeirufen. »Du und du – diese Männer sind Verbrecher. Haltet sie fest! Du, bring mir so schnell du kannst ein Seil! 571
Kapitän, besorgt mir einen Läufer! Ich muss Kontakt mit Messire D’Olbriot aufnehmen.« »Lasst uns weitergehen.« Darni konnte die Sorge in seiner Stimme nicht verbergen. »Cas hat es schlimm erwischt.« Langsam und unsicher schlurften sie über das unebene Kopfsteinpflaster. »Freut euch«, sagte Otrick plötzlich. »Der junge Cas hat endlich einmal etwas Nützliches geleistet.« Casuel starrte den alten Magier verwirrt an. Die Welt um ihn herum verschwamm immer mehr. Er sah die Rücken der vier, Dächer und Wolken, und hörte besorgte Stimmen, die jedoch immer schwächer wurden. »Wovon redest du?« Die Verzweiflung in Planirs Stimme verriet seine Sorge. »Du hast dich doch gefragt, wie du den Rat davon überzeugen könntest, dir zu helfen, nicht wahr?« Otrick begann zu keuchen, während sie die steile Straße hinauf stiegen. »Jetzt wird es keine Fragen mehr geben. Diese Leute haben einen Magier angegriffen, und zwar nicht irgendeinen Hinterhofalchimisten, sondern einen der unseren, auch wenn es nur Casuel ist. Wann ist so etwas zum letzten Mal ohne Strafe geblieben? Nicht seit den Zeiten des Chaos, wenn ich mich recht an meinen Geschichtsunterricht erinnere!« Otricks Wangen waren rot vor Anstrengung, als er in Casuels graues, eingefallenes Gesicht blickte. »Siehst du, Casuel? Du hast etwas erreicht, was noch nicht einmal der Erzmagier erreichen konnte. Der Rat wird uns jetzt über jedes Meer folgen, nur um dafür zu sorgen, dass jeder weiß, dass niemand mit so etwas davonkommt. Wir schnappen uns diese Schweinehunde. Mach dir keine Sorgen.« 572
»Was ist mit dem Schiff und der Besatzung?«, fragte Darni düster. »Ohne sie gehen wir nirgendwo hin, und im Augenblick sieht es verflucht schlecht aus. Was wird dein Freund der Vogelmann wohl tun?« »Elende Scheiße!« Casuel drohte, den Wellen des Schmerzes und der Benommenheit zu erliegen, doch er konnte seine Wut nicht leugnen, als Letztes auf dieser Welt womöglich einen Erzmagier zu hören, der wie ein Söldner fluchte.
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Das Meer vor den Inseln der Elietimm 3. Vorwinter
Angetrieben von Shivs Magie, glitt das Jagdboot aufs Meer hinaus. Als wir das Ufer verließen, sprangen wir zunächst über beunruhigend hohe Wellen, doch schon bald fuhren wir durch die mächtige, gleichmäßige Dünung der offenen See. Ich schaute zurück und sah erleichtert, wie der schwarze, steinige Sand und das dürre Grasland hinter uns verschwanden. Es dauerte nicht lange, und auch die Gipfel der grauen Berge waren nur noch dann und wann kurz zu sehen, wenn das Boot von einer Welle in die Höhe gehoben wurde und wir über die mächtigen Wogen hinwegschauen konnten. Ich wandte mich von dem Anblick ab, denn mir drohte bereits wieder übel zu werden. Ryshad kümmerte sich ums Ruder – zum Glück schien er Erfahrung damit zu haben –, während Shiv am Bug hockte und einen Bruchteil seiner Macht aufbrachte, um uns vorwärts zu treiben. Es war vermutlich das erste Mal, dass ich mich freute, in einem Boot zu sitzen, was nur bewies, wie sehr ich mich vor einer erneuten Gefangennahme fürchtete. Das Spritzwasser der Brecher wurde vom Wind aufgefangen, und schon bald waren wir bis auf die Haut durchnässt und froren, doch keiner von uns beschwerte sich. Ich saß hinter Shiv, und als mir der gleichförmige Anblick des Meeres langweilig wurde – was ziemlich schnell der Fall war –, drehte ich mich zu Aiten um, der unseren Gefangenen nachdenklich musterte und immer wieder mit dem Fuß anstupste. Er hatte den Mann einfach ins 574
Boot geworfen; wenn es nach mir ging, konnte er ruhig die ganze Fahrt über so liegen bleiben. »Ich nehme an, er ist immer noch nicht wieder im Spiel, oder?« Ich würde keine Handbreit näher an Goldhals herangehen, wenn ich es irgendwie vermeiden konnte. »Er ist vollkommen vom Brett herunter«, erwiderte Aiten fröhlich und grinste mich breit an. »Weißt du, meine Blume, ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass wir da noch einmal davonkommen würden.« »Ich auch nicht.« Ich schüttelte den Kopf. Tatsächlich konnte ich unser Glück noch immer nicht fassen. »Es ist noch nicht vorbei«, ermahnte uns Ryshad. Konzentriert hatte er die Stirn in Falten gelegt, während er das Boot durch die wogende See manövrierte. »Wir sind von diesen verfluchten Inseln herunter. Das reicht mir«, sagte Aiten grinsend, und auch ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Weißt du, Rysh, das einzig Vernünftige, das ich einen Rationalisten je habe sagen hören, war: ›Genieße den Augenblick.‹ Und das hier scheint mir ein recht angenehmer Augenblick zu sein.« Die Bemerkung brachte mir ein widerwilliges Lächeln von Ryshad ein, und als Shiv sich zu uns umdrehte, sah ich, dass auch sein Gesicht ein wenig entspannter war. Aitens Magen knurrte laut. »Bei Dasts Zähnen!«, rief er. »Ich verhungere!« Nun, da er es erwähnte, wurde mir klar, dass Furcht nur so lange den Magen füllt, wie sie andauert. Wir brauchten mehr als nur frische Luft, um das Meer zu überqueren. Shiv rieb sich die Hände, und das Boot wurde langsamer. 575
»Was ist los?«, fragte ich, und meine Stimme klang besorgter, als mir lieb war. »Ich kann nicht gleichzeitig Fahrt machen, unseren Freund bewusstlos halten und Fische rufen«, erklärte Shiv. »Ich bin noch nicht kräftig genug, um alles auf einmal zu machen.« Ryshad runzelte die Stirn. »Dann sollten wir weiterfahren, so schnell es geht. Wenn wir ihn fesseln«, er stieß den Gefangenen mit dem Fuß an, »kannst du ihm dann das Maul stopfen, damit er nicht zaubern kann?« Shiv nickte, und seine Augen leuchteten auf. »Ich kann ihm Bänder aus Luft um den Mund legen. Wenn ich ihn nicht am Boden halten muss, kann ich mehr Kraft aufs Boot verwenden, und wir werden ein gutes Stück schneller vorankommen.« Ich griff nach dem geflochtenen Lederstrick. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Ich nahm den Strick doppelt, fertigte eine Schlinge für Goldis Hals und band ihm das lose Ende um Hände und Füße. Je mehr er sich gegen die Fesseln wehrte, umso straffer würde er sie anziehen – was das Problem natürlich auch erledigen würde. Aiten stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Du weißt wirklich, wie man ein Vieh fesselt.« Ich zog am Knoten, um mich zu vergewissern, dass er fest genug war. »Ich bin eine Frau mit vielen Talenten.« Doch meine Lässigkeit hatte ein Ende, als ein großer Fisch vor mir ins Boot sprang. »Kannst du auch Fische ausnehmen?« Ich drehte mich um und sah, wie Shiv einen weiteren Fisch aus dem Wasser springen ließ. Angewidert blickte ich auf das zappelnde Ding zu meinen 576
Füßen. »Ich nehme nicht an, dass wir ihn irgendwie kochen können, oder?« »Frischen Fisch? Vollkommen unnötig!« Aiten zog seinen Dolch, prüfte die Klinge und nahm den Fisch mit ein paar geschickten Schnitten aus. Dann legte er ihn auf die Ruderbank und teilte ihn in hauchdünne Scheiben. »Probier mal.« Er reichte mir ein Stück. Mir blieb wohl nichts anderes übrig; also steckte ich es mir in den Mund und versuchte, es herunterzuschlucken, ohne viel zu kauen. Es schmeckte wirklich nicht übel, aber mir gefiel die Vorstellung nicht, den ganzen Heimweg nur von rohem Fisch und Wasser leben zu müssen. Aiten reichte Ryshad ein Stück, der es ohne zu zögern und mit gleichmütigem Gesichtsausdruck aß. Dann sah er, dass ich ihn mit großen Augen beobachtete, und zum ersten Mal seit unserer Flucht hörte ich ihn lachen. »Ich hätte ja auch gern Pfeffersauce oder einen guten Wein dazu, aber gegen frischen Fisch an sich hab’ ich nichts einzuwenden.« »In Zyoutessela bereitet man ihn auf die unterschiedlichsten Arten zu, stimmt’s?« Shiv nahm sich ein Stück, doch wie ich erfreut bemerkte, schien auch er von rohem Fisch nicht besonders angetan zu sein. »Dünn geschnitten mit Kräuterkruste, in Essig oder Zitronensaft eingelegt, oder eben mit Pfeffersauce.« Aiten blickte einen Augenblick lang verträumt drein. »Wenn wir wieder zurück sind, werde ich euch ins feinste Fischhaus der gesamten Ostküste ausführen.« Ich hustete ob des Meergeschmacks des Fisches. »Kannst du etwas Wasser für uns entsalzen, Shiv?« 577
Wir schauten uns nach irgendetwas um, das uns als Eimer dienen könnte – ohne Erfolg. »Wir haben unsere Stiefel«, bemerkte Aiten wenig begeistert. »Wir können auch einfach die Hände nehmen«, meinte Shiv. Nachdem Aiten und ich eine Hand voll Wasser geschöpft hatten, befreite Shiv es mit blauem Magierlicht vom Salz und machte es trinkbar. Es war ein langwieriger Prozess, und das Wasser schmeckte seltsam fad, doch ich wollte mich nicht beschweren. Als Ryshad sich vorbeugte, um auch ein wenig Wasser zu schöpfen, fragt ich mich, ob einer von uns ihn ablösen sollte. »Möchtest du gerne eine Pause machen?« Ryshad schüttelte den Kopf. »Verstehe mich nicht falsch, aber du hast keine Erfahrung mit Booten, stimmt’s? Ait und ich werden uns die Aufgabe teilen.« Ich wollte ihm nicht widersprechen. Das kalte Wasser und der rohe Fisch waren meinem Magen nicht sonderlich gut bekommen, und ich duckte mich ins Boot, um bestmöglich vor der Gischt und dem Wind geschützt zu sein; dann entfaltete ich Geris’ Notizen. Wenn ich sonst schon nichts tun konnte, dann konnte ich wenigstens die Unterlagen durchsehen; vielleicht fand ich ja Hinweise, die uns halfen, uns gegebenenfalls zu verteidigen oder unsere Reise zu beschleunigen. Nachdem der Morgen fast schon vorüber war, glaubte ich etwas entdeckt zu haben; doch als ich aufblickte, sah ich, dass Goldhals mich anstarrte. Er lag unbequem auf dem Bauch, und Zorn funkelte in seinen lebhaften grünen Augen. Ich erwiderte seinen Blick, forderte ihn heraus, doch er wandte den Kopf nicht ab. Ich blickte an ihm vorbei zu Ryshad, der verwundert die Au578
genbrauen hob, als er meine Miene sah. Ich nickte in Richtung Goldhals. »Was denkst du, sollten wir mit ihm tun?«, fragte ich in beiläufigem Tonfall. Ryshad atmete tief durch und zwinkerte mir zu, bevor er mir auf die gleiche gelassene Art antwortete: »Wir können ihn zu Fischköder verarbeiten oder ihn essen, wenn du zur Abwechslung mal warmes Fleisch willst.« »Was!?« Ich ignorierte Aitens überraschten Ausruf, denn ich hatte Furcht in den grasgrünen Augen gesehen, als Goldhals unwillkürlich zusammengezuckt war. »Ich glaube, dass unser Freund hier Tormalin spricht.« Ich drehte mich zu Shiv um. »Kannst du ihm auch die Ohren stopfen?« »Das hätte ich wohl längst schon tun sollen.« Verärgert biss Shiv sich auf die Lippe und webte ein enges Band aus blauem Licht um den Kopf des Mannes. Als das Licht sich auflöste, sah ich nackte Angst in Goldhals Augen – eine Angst, die der Zorn nicht mehr verdrängen konnte. Ich beugte mich weiter zu ihm hinunter und starrte ihn drohend an. Diesmal drehte er den Kopf und schloss die Augen. »Jeder von uns hätte genauso gut daran denken müssen wie du, Shiv«, sagte ich. Zufrieden wandte ich mich wieder Geris’ Notizen zu. »Hört mal zu. Hier steht etwas, das wir versuchen sollten. Es könnte eine Möglichkeit sein, seine Spuren zu verwischen.« »Was nützt uns das hier draußen auf dem Wasser?« Ryshad runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass damit echte Spuren gemeint sind, 579
sondern das, woran Äthermagier sich orientieren – was immer es sein mag.« Ich überflog das Dokument noch einmal. »Ja, ich bin sicher, dass es nichts anderes bedeutet.« Aiten zuckte mit den Schultern. »Es kann nicht schaden, es mal auszuprobieren.« Ich räusperte mich und ging die Worte im Geiste durch, um das Metrum herauszufinden. »Ar mel sidith, ranel marclenae.« Ich sang die Worte, doch es schien nichts zu passieren. »Hat es funktioniert?«, fragte Ryshad. Ich kam mir mehr als nur ein bisschen dumm vor. »Ich habe keine Ahnung.« Wir richteten uns auf einen langweiligen Nachmittag inmitten der grauen Wellen ein, die sich zum bleiernen Himmel auftürmten, während das Boot über die Wogen hüpfte. Am Ende des Tages kamen auch wir selbst uns grau und langweilig vor. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich eingeschlafen war, doch als Shiv mir auf die Schulter klopfte, war es bereits wieder Morgen, und verstört blinzelte ich zu ihm hinauf. »Meine Magie funktioniert also noch!« Ich drehte mich um und sah eine Herde riesiger Fische, die immer wieder aus dem Wasser sprangen, während sie schnurgerade auf uns zuhielten und uns schließlich überholten. Als ich Shivs Lächeln bemerkte, schluckte ich meine Furcht herunter, und ich fragte mich, was um des Himmels willen – oder in diesem Fall des Ozeans willen – das wohl sein mochte. »Dastennins Hunde!« Aiten begrüßte die Kreaturen mit einem Freudenschrei, und Ryshad grinste übers ganze Gesicht, was mich darauf schließen ließ, dass ich keinen Grund hatte, unruhig oder gar ängstlich zu sein. 580
Die riesigen Fische tollten vor dem Bug herum, und ich musste zugeben, dass sie freundliche Gesichter besaßen: lange, fast schnabelartige Schnauzen und nach oben gebogene Mäuler, sodass sie zu lächeln schienen. Sie gaben ein seltsames Quäken von sich, wenn sie aus dem Wasser sprangen, um einen Blick auf Shiv zu werfen, und ich sah, dass ihre Mäuler voller beeindruckender Zähne waren. Ich sagte mir, dass ich mir keine Sorgen zu machten brauchte, solange die anderen sich nicht sorgten; trotzdem zuckte ich unwillkürlich zusammen, als eines der Tier unmittelbar neben mir durch die Wasseroberfläche brach und mich mit einem warmen, übelriechenden Wasserstoß aus einem Loch auf seinem Kopf bespritzte. »Was sind das für Wesen?«, stieß ich hervor. Shiv drehte sich zu mir um; er war gerade dabei, eines der größeren Exemplare zu füttern. »Delfine. Meerestiere ähnlich wie Wale, nur viel kleiner.« Ich betrachtete die schlanken Körper im Wasser und die dreieckigen Rückenflossen, die die Wellen zerteilten. »Und du hast sie gerufen?« Shiv nickte. »Sie können mir viel über jenen Teil des Meeres verraten, in dem wir uns gerade befinden. Unter anderem muss ich wissen, wann wir die Hauptströmung in Richtung Süden erreichen. Um die zu kreuzen, brauche ich all meine Kraft. Wenn die Strömung uns packt, ohne dass ich sofort darauf reagiere, könnten wir das Kap der Winde umrunden, ohne es zu bemerken.« »Ich glaube, einen neuen Kontinent zu entdecken, reicht erst mal.« Ryshad streckte die Hand aus dem Boot, um einen neugierigen Kopf zu streicheln. »Wie hast du sie genannt?« Ich gewöhnte mich immer mehr 581
an die fröhlichen Kreaturen, doch meine Hände behielt ich nach wie vor im Boot. »Dastennins Hunde. Sie sind ihm heilig.« Auch Aiten fütterte die Wesen mit Fischstückchen. »Es heißt, sie könnten zwischen hier und der Anderwelt hin und her reisen, wann immer sie wollen, nicht nur in Träumen oder nach dem Tod.« Ein fröhliches Gesicht lugte aus dem Wasser heraus und blickte mich mit klugen Augen an. Ich verneigte mich und sprach das Wesen förmlich an. »Solltet Ihr die Möglichkeit haben, mit Dastennin oder irgendeinem anderen Gott zu sprechen, könntet Ihr ihn dann bitte in unserem Namen ersuchen, uns sicher nach Hause zu bringen?« Die anderen lächelten, doch niemand lachte. Wie Aiten gesagt hatte: Ein Versuch konnte nicht schaden. Offenen Mundes beobachtete ich, wie die Kreaturen plötzlich ihr Spiel beendeten und tief ins Wasser abtauchten. Fragend blickte ich zu Shiv. »Ich habe sie ausgeschickt. Sie sollen herausfinden, wo wir uns im Verhältnis zu den Strömungen in diesem Gebiet befinden«, erklärte er. »Sie werden von Zeit zu Zeit zurückkehren und dafür sorgen, dass wir auf Kurs bleiben.« Er deutete zur geschlossenen Wolkendecke über uns und auf die eintönigen Wassermassen um uns herum; mehr Erklärung brauchte ich nicht. Ohne großen Appetit aß ich ein Frühstück aus kaltem Fisch und fragte mich, ob wir das Meer überqueren und überleben konnten, wenn uns keine andere Nahrung zur Verfügung stand. Ich begann zu zittern – und das nicht nur wegen des kalten Winds – und kauerte mich in den armseligen Schutz der Bootswand. Dann blickte ich zu Goldhals, der neugierig jede 582
noch so kleine Einzelheit seiner Umgebung studierte. Ich hatte diesen Blick schon einmal gesehen, und die Erinnerung daran jagte mir einen kälteren Schauder über den Rücken, als Wind und Wasser es je vermocht hätten. Er erwiderte meinen Blick, und in den schwarzen Tiefen seiner dunkelbraunen Augen funkelte ein solcher Hass und eine unbändige, aber hilflose Wut, dass ich aufsprang, mich auf ihn warf und ihn mit einem kräftigen Schlag ans Kinn ins Reich der Träume schickte. Normalerweise kann ich niemanden bewusstlos schlagen, nicht einmal einen Gefesselten, aber die Gold- und Silberringe, die ich aus der Burg gestohlen hatte, verliehen meiner Faust eine unwiderstehliche Härte. »Livak!« Alle starrten mich an, während ich meine schmerzenden Finger bewegte. »Das ... Das war er nicht«, stammelte ich. »Das war er nicht. Das waren nicht seine Augen. Seine sind grün; aber ich habe braune Augen gesehen, fast schwarz. Es war dieser Bastard ... der Eismann, der aus der Burg, sein Vater oder wer immer er sein mag.« Wir alle blickten unruhig auf den reglosen Körper, und ich fragte mich, wie viel Schaden ich mit dem Schlag wohl angerichtet hatte; man weiß es fast nie, und das hat schon mehr als einen Mann an den Galgen gebracht. »Der Anführer, der Mann, der uns verhört hat – er hat durch die Augen von dem hier gesehen?«, fragte Ryshad nach langem Schweigen. Ich nickte leidenschaftlich. »Ich bin sicher.« »Dann weiß er also, wo wir sind?« »Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wollte bloß nicht, dass er mich so anstarrt.« 583
»Vielleicht sollten wir ihn einfach über Bord werfen«, schlug Shiv unsicher vor. »Wenn sie uns einholen, könnte er der Preis für unsere Freiheit sein«, erinnerte Ryshad. Aiten öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch er schwieg, und sein Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. Er blinzelte, und während ich ihn betrachtete, sah ich, wie das Licht seiner freundlichen braunen Augen verlosch wie eine Kerze. Stattdessen blickte mich eine tödliche Schwärze an, und Aitens Kiefer klappte schlaff herunter. »Ait!«, schrie ich entsetzt, als ich einem Schwerthieb auswich, der meinen Schädel wie eine Melone gespaltet hätte. Dann verlor ich das Gleichgewicht und fiel auf den Hintern, was mich vor dem zweiten Schlag rettete. Shiv setzte sich in Bewegung, doch er war einen Hauch zu langsam, und der nächste Hieb traf ihn am Arm und zerschmetterte den Knochen wie einen toten Ast. Er schrie. Ich spannte die Muskeln an und trat mit beiden Beinen aus, um zurückzutreiben, was immer aus Aiten geworden war. Ein blaues Licht flackerte um mich herum, als Shiv mich nach hinten zog; er hatte den Zauber rein instinktiv gewirkt. Dann schwächte sich das blendende Licht ein wenig ab, und ich spürte eine Mauer aus Luft, die uns beschützte. »Ryshad! Er hat Ait! Er ist irgendwie in seinen Kopf eingedrungen!« Ryshad hatte sofort nach seiner Waffe gegriffen, doch das Ding, das einst Ait gewesen war, hatte sich ihm bereits zugewandt und hob das Schwert. Einen Augenblick hockten sie einander gegenüber – dann geschah etwas Unerwartetes: Der Eismann ließ Aitens Schwert 584
nicht auf Ryshad herunterfahren, sondern stieß es durch den Rumpf des Bootes. Das Leder riss wie Pergament. »Du Bastard!«, spie Shiv hervor, während er den verletzten Arm an die Brust drückte. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht und schnappte nach Luft, doch ich sah, wie ein grüner Lichtfaden das Loch im Boot zusammennähte, sodass wir zumindest vorläufig vor dem Untergehen bewahrt blieben. Ich riss meinen Ärmel ab und schnitt ihn in Streifen, um damit Shivs Arm zu verbinden. Blut tropfte ihm von den Fingern und mischte sich mit dem Wasser, das sich um unsere Füße gesammelt hatte. »Ich mach das schon«, versuchte ich Shiv zu beruhigen. Shiv gab den Arm frei, und ich zog das Leinen fest um die klaffende Wunde. Er wimmerte vor Schmerz, und ich fluchte hilflos. »Ait! Ait! Kämpf dagegen an! Jag den Bastard aus deinem Kopf.« Ryshads Stimme klang gequält. Ich sah, wie er das Schwert hob, um Aitens Hieb abzuwehren, und Funken stoben. Voller Entsetzen und mit einer Furcht, die mir den Magen umdrehte, beobachtete ich, wie die Puppe, in die der Eismann meinen Freund verwandelt hatte, auf Ryshad eindrosch. Das Wesen hatte nichts von Aitens üblicher Finesse; seine Schläge kündigten sich an wie die eines Rekruten, und ich betete, dies möge bedeuten, dass Aiten in seinem Kopf um die Herrschaft rang. Ryshads Gesicht war schmerzverzerrt, und ich sah Blut auf seinem Hemd. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich sah, dass er nicht angriff; seine Hiebe waren nur zur Verteidigung gedacht. Als der Eismann den Griff um Aitens Geist verstärkte 585
und allmählich auf dessen Fähigkeiten zugreifen konnte, war Ryshad zu langsam, um angemessen zu reagieren. Die Furcht, seinen Freund zu verletzen, lähmte und verdammte ihn. Also lag jetzt alles bei mir. Wenn Ryshad fiel, konnte ich mich keinem erfahrenen Krieger stellen, egal wer dessen Geist kontrollieren mochte. Shiv war inzwischen kaum noch bei Bewusstsein, und ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was geschah, sollte er seinen Zauber nicht mehr aufrecht erhalten können. Ich zog einen Dolch, kroch an den Rand von Shivs Barriere und blickte besorgt zurück. Shiv nickte. Sein Gesicht war verzerrt, so viel Kraft kostete es ihn, bei Bewusstsein zu bleiben. Er wusste, was ich zu tun hatte. Langsam bewegte ich mich vorwärts, sorgfältig darauf bedacht, weder aus dem wild schwankenden Boot zu fallen noch den Feind auf mich aufmerksam zu machen. Ryshad sprang vor, und ich wäre beinahe niedergetrampelt worden, als Aiten von einem Schlag ins Gesicht zurücktaumelte. Ryshad hatte ihn mit dem Schwertknauf voll erwischt, und Blut mischte sich unter die Gischt. Ich sah die Verzweiflung auf Ryshads Gesicht; der Schlag hätte Aiten eigentlich zu Boden und ins Reich der Träume schicken müssen. Es musste die Äthermagie sein, die ihn noch auf den Beinen hielt. Und für diesen kurzen Augenblick der Verzweiflung und Unsicherheit hätte Ryshad beinahe teuer bezahlt. Aitens Schwert fuhr mit schier unglaublicher Wucht auf ihn herab und riss ihm ein blutiges Loch in den Arm. Ich packte meinen Dolch fester. Ich sehnte mich nach meinen Giften, nach einem der Betäubungsmittel, die jeden Mann binnen weniger Augenblicke zu Fall bringen konnten. Aber 586
jetzt war nicht die Zeit für solche Gedanken. Ich musterte Aitens Rücken, doch ein Stich zum Herzen war zu riskant; bei dem schwankenden Boot und Aitens abgehackten Bewegungen würde ich vielleicht nur eine Rippe treffen, und das bedeutete vermutlich meinen Tod. Er musste Blut verlieren, und zwar schnell; also musste ich eine der großen Adern in Hals oder Beinen treffen – das würde ihn zu Boden schicken. Aber würde es auch schnell genug geschehen? Ich konnte nur beten, dass Ryshad rasch genug erkannte, was ich vorhatte. Aiten stellte die Füße auseinander, um in dem schwankenden Boot das Gleichgewicht zu wahren. Dann setzte er zu einem mächtigen Schlag gegen Ryshads Kopf an. Als er sich bewegte, sprang ich vor und schlitzte ihm die Arterie am Oberschenkel bis zur Lende auf. Aiten geriet ins Wanken. Als Ryshad den Blutschwall sah, stürzte er vor und drückte Aiten die Arme in einer wilden Umarmung um den Leib. Gemeinsam sanken sie in dem kleinen Boot auf die Knie. Bald schon erlahmte Aitens Gegenwehr. Sein Kopf fiel auf Ryshads Brust und dann zur Seite; ich sah die Schwärze aus seinen Augen verschwinden, und das vertraute Braun erschien wieder. Kurz zuckten seine Augenbrauen, und er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Doch was es auch gewesen sein mochte – die Worte kamen nie über seine Lippen. Er stöhnte ein letztes Mal und schloss die Augen wie ein müdes Kind. Ich konnte den Anblick der Qualen, die sich in seinem Gesicht spiegelten, nicht ertragen; ich wandte den Blick ab und schloss die Augen, um die hilflosen Tränen meines Freundes nicht sehen zu müssen. »Du Bastard, du Dreckskerl, du Sohn einer pockenzerfressenen Hure, du Scheißfleck auf dem Arsch der Welt!« 587
Ich ließ meinem Hass auf den Eismann in sinnlosen Flüchen freien Lauf, doch sie erleichterten mich nicht. Als ich die Augen wieder öffnete, um mich der Wirklichkeit zu stellen, packte mich Entsetzen: Ich konnte nur noch schemenhaft sehen. »Du besitzt du einen bemerkenswerten Wortschatz, du Schlampe. Aber da ich dich so finden konnte, will mich nicht beschweren.« Die Dunkelheit um mich herum wich dem Licht eines unheimlichen, farblosen Feuers, und ich sah den Eismann langsam aus den Schatten auf mich zukommen. Entsetzt schnappte ich nach Luft, und fast hätte mein Herz endgültig zu schlagen aufgehört. Was hatte er getan? Wo war ich? Entschlossen klammerte ich mich an meinen Dolch und streckte ihm die Klinge entgegen, doch die Waffe wirkte blass und unwirklich in meiner Hand. Zitternd wie Schilf im Wind erkannte ich, dass er mich in meinem eigenen Kopf gefangen hatte. Ich weiß nicht, woher ich das wusste; ich wusste es einfach. »Du bist sehr schlau«, gestand mir die verhasste Stimme zu. Es klang, als stünde er unmittelbar neben mir, und ich sah, wie sich die Lippen des Bildes bewegten, das auf mich zu trieb. Ich verzog das Gesicht. Nun da der erste Schreck vorüber war, hielt der Zorn die Furcht gerade so im Zaum. Das Bild war undeutlich und an den Seiten zerfranst, doch je länger ich hinschaute, desto deutlicher schälte es sich aus der Dunkelheit. »Ich hätte dir mehr Aufmerksamkeit widmen sollen«, sagte er seufzend. »Es ist nur so, dass Geris alles darangesetzt hat, mich davon zu überzeugen, dass du nur ein Betthase bist, ein kleiner weiblicher Trost für ihn und euren Beschwörerfreund.« Eine widerliche Vorfreude schwang in seiner Stimme mit. »Nun da ich die Wahrheit kenne, freue ich mich schon, nicht nur deinen 588
Geist, sondern auch deinen Körper genauer zu erforschen.« Die Furcht vor ihm, die sich nun wieder in meinem Geist ausbreitete, war größer als jeder Schrecken, den ich je gekannt hatte. Er konnte mit meinem Körper tun und lassen, was er wollte. Fleisch heilt, und im schlimmsten Fall ruft die Anderwelt, doch die Vorstellung, ihn wieder in meinen Gedanken zu fühlen, war unerträglich. »Talmia megrala eldrin fres.« Ich spie ihm die Worte ins Gesicht; das Licht flackerte scharlachrot auf, und kurz waberte das Bild. »Unverschämtes Weib!« Ich zuckte zusammen, als ein furchtbarer Schmerz meinen Kopf durchfuhr, doch ich wiederholte die Worte, schrie sie so laut ich konnte. Die Dunkelheit lichtete sich für einen Augenblick, und ich suchte in meinen Erinnerungen nach allem, was ich sonst noch gegen ihn einsetzen konnte, während ich ihm immer und immer wieder den Zauber entgegen schleuderte. »Du armseliges Ding. Ich war schon einmal in dir, und ich kann es wieder tun.« Ich stemmte mich gegen die Fesseln der Bosheit, die mich zu umschlingen drohten, und errichtete eine Mauer aus meinem Verstand. Er kannte meinen Geist, doch das bedeutete, dass ich auch seinen kannte. Instinktiv kämpfte ich, ohne zu wissen wie oder warum; ich wehrte mich mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand. Ich verfluchte mich selbst, dass ich die Zaubersprüche auf Geris’ Liste nur überflogen hatte, um mich nicht mit den unaussprechlichen Worten aufzuhalten. Doch das, woran ich mich erinnerte, schrie ich hinaus. Und während ich die Bruchstücke zitierte, spürte ich, wie der Geist des Eismanns schwächer wur589
de und sein Griff sich lockerte. Der Rhythmus weckte Erinnerungen in mir, die lange vergraben gewesen waren, und Hoffnung keimte in mir auf. »Marmol, edril, senil, dexil, wrem, tedren, fathen, ardren, parlen, vrek.« Ich sang das Zahlenlied des Waldes, das schon seit Generationen selbst in den Ohren des Waldvolks seltsam klang; trotzdem hatte mein Vater es mich einst gelehrt. Ich schrie die uralten Worte und erinnerte mich dann an das Lied mit den Namen der Waldvögel; das Waldvolk hat Weißer Rabe schon lange gespielt, bevor der Rest der Welt das Spiel kennen gelernt hatte. Ich wiederholte alles immer und immer wieder, während ich in meinen Kindheitserinnerungen nach sinnlosen Worten und Kadenzen suchte, die den Eismann, diesen Albtraum, daran hinderten, wieder in mich einzudringen. Ich fühlte seinen Hass und – schwach – auch seine Verwirrung; für ihn war ich nicht mehr als ein Kind, das seine Finger in die Ohren steckt und laut singt, um das Schimpfen der Eltern nicht hören zu müssen. Mehr konnte ich nicht tun; aber wie jeder Dreijährige Euch sagen kann, ist diese Methode ausgesprochen wirksam. Die Dunkelheit um mich herum zog sich zurück, und das schreckliche Bild des Eismanns trieb einen Augenblick lang dahin wie Rauch im Wind. Ich spürte ein Brennen in meinen Handgelenken und Kälte in den Füßen und verdoppelte meine Anstrengungen, da meine Sinne mir sagten, dass ich noch immer Herr über meinen eigenen Körper war. »Livak! Livak!« Ryshads heisere Stimme hallte in meinen Ohren wider, und die Flüche des Eismannes echoten in einem letzten Ansturm von Zorn in meinem Geist. 590
Mein Blick klärte sich, und ich sah Ryshads schmerzverzerrtes Gesicht unmittelbar vor mir. Er hielt meine Handgelenke so fest umklammert, dass ich vor Schmerz nach Luft schnappte. »Bist du es?« »Meine Augen sind meine Augen, oder?« Er schaute mich aufmerksam an, und nach einem langen, angespannten Blick verschwand das Misstrauen aus seinem Gesicht. »War er es?« »Wenn er es bei euch versucht, sprecht den Feuerzauber, alte Balladen und Gebete, wenn ihr welche kennt. Die Worte besitzen Macht; ich weiß nicht warum.« Der kalte Wind ließ mich schaudern, und ich bemerkte, dass ich vollkommen verschwitzt war und erschöpft wie ein Tier, das um sein Leben gerannt ist. Meine Knie gaben nach, und ich sank auf die Ruderbank. Der ekelhaft süße Geruch von Blut stieg mir in die Nase, während die See unser kleines Boot achtlos hin und her schaukelte. »Rysh? Ich musste es tun. Das weißt du doch, oder? Er war es nicht, es war dieser Bastard; aber was ich getan habe, war die einzige Möglichkeit.« Ich hob den Blick, doch Ryshad schaute mich nicht an. Tiefe Verzweiflung schimmerte in seinen Augen, wie ich sie bis jetzt nur bei Menschen auf dem Weg zum Schafott gesehen hatte. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, was er anstarrte, und als wir von einer mächtigen grünen Welle in die Höhe gehoben wurden, sah ich Masten vor dem blassgrauen Himmel im Osten. Segel blähten sich im Wind, während das Schiff auf uns zu raste. Wimpel mit dem Wappen des Eismanns leckten gierig in unsere Richtung. 591
»Trimon rette uns!«, flehte Shiv den Gott der Reisenden an, und ich sah, wie er sich so fest am Bootsrand festkrallte, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Dann fasste ich wieder Mut, als Shiv unser Boot herumdrehte und wir über eine Woge hinwegflogen, und über noch eine und noch eine ... »Oh, Pered«, murmelte Shiv, als er schließlich der Erschöpfung erlag und zusammenbrach. Ich sprang vor, um ihn festzuhalten, sodass er nicht aus dem Boot fiel; doch als ich ihn gepackt hatte, wagte ich nicht, mich wieder zu bewegen, aus Angst, uns sonst zum Kentern zu bringen. Das Boot lag nun mit der Breitseite gegen die mächtigen Wellen, und wir mussten fürchten, allesamt über Bord gespült zu werden. Aitens Leichnam rollte in dem Wasser herum, dass sich allmählich unter unseren Füßen sammelte. Wir würden sinken – das wusste ich – , denn ich sah, wie der magische Faden, mit dem Shiv das Leck gestopft hatte, langsam an Leuchtkraft verlor. »Uns alle werden sie nicht bekommen!« Wutentbrannt wuchtete Ryshad sich den Leib des Toten über die Schulter, und das letzte Blut seines Freundes verschmierte ihm das Hemd, als er ihn in die Weiten des Meeres warf. »Dastennin möge dich zu sich nehmen, Ait. Gute Reise, und folge seinen Hunden in die Anderwelt, wo du für deine Taten belohnt werden wirst. Wir ... Wir werden die Erinnerung an dich am Leben erhalten, bis ... bis wir uns zu dir gesellen.« Er verschluckte sich an den Abschiedsworten, und ich streckte die Hand nach ihm aus. Er ergriff sie, und so hingen wir aneinander – wortlos, hilflos, hoffnungslos. Dann zuckten wir unwillkürlich zusammen, als unser Gefangener verschwand. Ich vermutete, ein ätherischer Zauber war dafür verantwortlich, doch um ehrlich zu sein, es war mir egal. 592
Ich ging zu Shiv, um ihn festzuhalten, während unser Boot buckelte wie ein wildes Pferd. Der Wind peitschte die See um uns herum, und ich fragte mich, ob wir unser Leben den Wellen schenken sollten, um den Eismann seines Triumphs zu berauben. Ich schauderte; es war eine furchtbare Art zu sterben. Die Masten kamen näher, und dann konnten wir die dunklen Rümpfe von insgesamt drei Elietimmschiffen erkennen. Unser Boot buckelte erneut; diesmal aber stammte der Stoß nicht von einer Welle. Wieder stieß uns etwas an, und ich sah eine schlanke Gestalt unmittelbar unter der Wasseroberfläche. »Delfine!« Ryshad blickte mich verwundert an, als spitze Rückenflossen aus dem Wasser auftauchten und unser Boot Richtung Westen schoben. Ein schlanker Kopf hob sich neben Shiv aus dem Wasser, nickte ihm zu und schien ihn berühren zu wollen. Ich fürchtete, das Tier würde uns alle ertränken, und so streckte ich ihm Shivs schlaffe Hand entgegen. »Wer, in Saedrins Namen, seid ihr?« Eine hallende Stimme erfüllte die Luft um uns herum, als der Delfin Shivs Hand berührte. Ich schaute mich um, und Ryshads überraschter Gesichtsausdruck verriet mir, dass auch er die Stimme gehört hatte. Die Luft über Shivs Kopf schimmerte blau und wurde gläsern. Ich sah das Gesicht eines alten Mannes mit scharfkantigem Gesicht, vom Wind zerzausten Haaren und einem ungepflegten Bart. Das Bild war verzerrt, als würde man es durch dickes Glas hindurch betrachten. »Wer bist du?« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. »Ich bin Otrick«, antwortete das Gesicht, als würde das alles erklären. »Wer seid ihr, und warum trägst du den Ring der Macht eines Magiers an der Hand?« 593
Ich blickte auf die Ringsammlung an meinen Fingern und bemerkte zum ersten Mal, dass auch der Silberring dabei war, den ich von Azazir gestohlen hatte. »Ich habe nicht gewusst ...« »Steck ihn auf Shiwalans Finger, und dann halte seine Hand ins Wasser.« Ich kämpfte mit dem Ring, mit meinen kalten, nassen Fingern und mit Shivs schlaffer Hand. Nachdem ich meine Aufgabe erledigt hatte, stieg überall um uns herum ein grünes Licht aus der Tiefe empor und trieb das Boot mit erschreckender Geschwindigkeit vorwärts. Eine Schaumkrone bildete sich vor dem Bug, und die Delfine jagten neben uns her und sprangen auf eine Art und Weise über die Bugwelle, die mich in Angst versetzte. Ich besaß nicht genug Hände, um alles zugleich tun zu können. Während ich mit der einen Hand Shiv festhielt, hielt Ryshad die andere. Ich war froh, seinen beruhigenden Griff zu spüren, doch lieber hätte ich mich irgendwo festgehalten. Ryshad musste die Unsicherheit in meinem Gesicht bemerkt haben, denn er setzte sich neben mich, legte mir den Arm um die Schultern und klammerte sich für uns beide an die Ruderbank. Das wogende Meer machte uns Platz, während das Boot uns auf den wildesten Ritt meines Lebens führte. Ich beschloss, nie wieder auch nur einen Fuß auf eine Flussfähre zu setzen, selbst wenn es einen Umweg von einer halben Jahreszeit bedeuten sollte, eine Brücke zu finden. »Was ist das?«, fragte Ryshad. Ich schlug die Augen auf. »Nebel?« Ich versuchte, den Sarkasmus aus meiner Stimme herauszuhalten, versagte aber kläglich. 594
»Hast du so einen Nebel schon oft gesehen?« Ryshads Augen funkelten, und ich betrachtete den Nebel mit neuem Interesse. Es war eine dichte Bank, und plötzlich erkannte ich, dass sie sich genau auf uns zu bewegte, ohne von Wind und Wellen beeinflusst zu werden. Ich blickte über die Schulter zurück; die Elietimmschiffe kamen immer noch unaufhaltsam näher. Inzwischen waren einzelne Gestalten in der Takelage zu erkennen, und von den Menschen auf Deck konnte ich die Köpfe sehen. Wurden wir es in den Schutz des Nebels schaffen, bevor sie uns einholten? Hatte Otrick uns diesen Nebel geschickt? Mit einer Geschwindigkeit, die mir den Atem verschlug, schoss weißer Nebel den feindlichen Schiffen entgegen; ich sah, dass ein mächtiger Wind ihn vorantrieb. Die Elietimmschiffe hielten so abrupt wie Pferde, wenn man an der Kandare reißt. Segel flatterten nutzlos umher, und das Chaos brach über sie herein. »Schau!« Ich schien immer in die falsche Richtung zu blicken. Wieder drehte ich mich um und sah den schlanken Rumpf eines dalasorianischen Seeschiffs aus dem Nebel kommen, und unser kleines Boot fuhr darauf zu, als würde es mit einem Seil eingeholt; das grüne Licht schimmerte noch immer um uns herum. Ein strahlendweißer Blitz erschreckte uns. Er wurde von der Nebelwand zurückgeworfen, und die Elietimmschiffe setzten sich wieder in Bewegung. Blaues Licht tanzte um sie herum; komplizierte Netze der Macht wurden am Himmel gewoben, und sie leuchteten in allen Farben vor den mattgrauen Wolken. Ich stöhnte. Obwohl das Netz der Zauber immer enger wurde, war offensichtlich, dass noch immer irgendein Schild die Schif595
fe schützte. Sollten die Zauberer ihn nicht durchbrechen können, kamen sie nicht an die Elietimm heran. Unser Boot wurde durchgeschüttelt, als sich eine mächtige Woge bildete, die auf die feindlichen Schiffe zurollte. Ein smaragdgrünes Licht leuchtete auf, als die Woge sich an den Bugen der Elietimmschiffe brach; eines wurde von dem Schlag hilflos herumgeworfen. Als es von den anderen getrennt wurde und den Schutzschild verließ, stürzten sich Luft und Wasser darauf und brachen das Gefährt in der Mitte durch. Segel und Masten flogen in die Luft, und das Deck splitterte wie Feuerholz unter der Axt, während Körper und namenloses Treibgut weit über die dunkle See verteilt wurden. Der Bug ging in einem Wirbel aus Schaum unter, und die Schreie der Seeleute verhallten, als das halbe Schiff auf den Meeresgrund sank. Das Heck erhob sich hoch in die Luft. Alles Mögliche fiel herunter, als es einen Augenblick lang im Wasser zu stehen schien, bevor es mit lautem Gurgeln dem Bug in die Tiefe folgte. Die Wasseroberfläche beruhigte sich wieder, und hier und da tauchte Treibgut auf. Die ätherische Verteidigung der Elietimm geriet ins Wanken. Das blaue Licht, das sich um die anderen Schiffe wand, fand eine Schwachstelle, und Blitze zuckten aus den Wolken und fällten den Hauptmast des zweiten Schiffes. Die Segel fingen Feuer; fast augenblicklich brannten alle drei Masten lichterloh. Und die Flammen wurden nicht schwächer, nachdem sie das Segeltuch gefressen hatten. Ihre Farbe verwandelte sich von natürlichem Orange in Zauberrot. Gierig züngelten sie übers Deck, um alles und jeden zu verschlingen, den sie finden konnten. Das Feuer sprang über unmögliche Lücken hinweg, leckte nach Tauen, Kleidern, Haaren und fraß alles mit erschreckender Geschwindigkeit. Ich schluckte. Mein Mund war plötzlich tro596
cken geworden, als das Zauberfeuer dem Schiff den Todesstoß, versetzte und selbst jenen folgte, die in dem sinnlosen Versuch ins Wasser gesprungen waren, dem Inferno zu entkommen. Die Wolken spiegelten das Licht, sodass ein schreckliches Zerrbild des Sonnenaufgangs entstand. Ich fragte mich, ob ich es mir nur einbildete oder ob ich wirklich die Hitze in meinem Gesicht spüren konnte. Der Rauch wand sich hoch in den Himmel und bildete unmögliche Muster in den Winden, die dem Willen eines Magiers folgten und versuchten, das dritte Schiff aufzuhalten, das noch immer ungerührt weiterfuhr. »Schau, Rysh! Delfine!« Ich deutete auf die dreieckigen Rückenflossen, die sich einen Weg durch das Treibgut bahnten. Ryshad runzelte die Stirn und atmete tief durch. »Äh, nein. Das glaube ich nicht.« Ich schaute genauer hin und sah in der Tat etwas anderes: Es waren je zwei Flossen; eine kleinere zeigte, wo sich der Schwanz befand. »Haie!« Ryshad sprang auf und drehte sich zum Schiff der Magier um. »Haaallooo! Werft uns ein Seil zu! Rasch!«, brüllte er. »Wir haben Verwundete an Bord, und es sind Haie in der Nähe!« Ich verstand nicht recht, was hier vor sich ging, und beobachtete einen der langen grauen Schatten, wie er unserer verlockenden Spur folgte. Als er an unserem zerbrechlichen Gefährt vorüberglitt, geriet es ins Schaukeln, und ich sah die Kiemenöffnungen eines echten Fisches und Augen ohne Verstand und Mitleid sowie mehrere Reihen von Zähnen in einem Maul, das einer Bärenfalle glich. Das gewaltige Tier war länger als unser Boot. »Wird er angreifen?«, rief ich Ryshad zu, der mit dem 597
Schwert in der Hand am Ruder stand, um sofort auf jedes neugierige Maul einzuhauen. »So etwas ist schon vorgekommen«, antwortete er düster. »Sie folgen dem Blut im Wasser.« Seine Rufe hatten für Bewegung auf dem Schiff der Zauberer gesorgt. Männer ließen ein Netz an der Seite herab, und ich sah eine große Gestalt in groben Kleidern, die ein Seil um den Kopf schleuderte. Dann flog es zischend durch die Luft, und nachdem Ryshad es gefangen hatte, holten uns die Seeleute heran. Ich drehte mich um und sah, dass die Haie mehr an der leichten Beute interessiert waren, die zwischen den Wrackteilen der Elietimmschiffe strampelte. Entsetzt versuchte ich, meine Ohren gegen die schrecklichen Schreie zu verschließen. Das dritte Schiff fuhr weiter, ohne auf die Ertrinkenden zu achten, selbst wenn diese ins Kielwasser gezogen wurden. Es kam näher und näher, und trotz des vielfarbigen Netzwerks aus Licht, mit dem Magier verschiedener Elemente versuchten, den Schild zu durchbrechen, wurde es nicht langsamer. Dann ragte es über uns auf. Wir hatten das dalasorianische Schiff fast erreicht; doch als ich die Hand ausstreckte, um ein Seil zu fangen, sah ich Seeleute wie erschossene Vögel aus der Takelage fallen. Die Männer an Deck rannten wild umher. Panik überfiel sie; sie fühlten sich von irgendetwas bedroht, das ich nicht sehen konnte, als die Elietimm mit Äthermagie zurückschlugen. Ein Donnern erschütterte den Himmel, und kurz sah ich das blaue Firmament, als die grauen Wolken über dem Schiff der Elietimm auseinander gerissen wurden. Die Lücke schloss sich sofort wieder, doch während wir das beobachteten, drehten die Wolken sich immer schneller im Kreis, wurden dunkler und wanden sich schließlich auf das Schiff hinunter. Ein zweites 598
Donnern schmerzte mir in den Ohren, und ein weißer Blitz schoss aus dem Herz der Wolke. Es war ein Drache, ein Drache der Luft, eine Kreatur der Wolken und des Donners. Er war riesig, doppelt so groß wie Azazirs Wasserdrache, und das schwarze Schiff der Elietimm wirkte unter ihm geradezu winzig. Sein Bauch war silbern mit einem Hauch von Gold wie Wolken an einem klaren Wintermorgen; der Rest war reinweiß wie die Quellwolken, die bisweilen die Gipfel der Berge umgeben. Der Drache flog herab und um das Magierschiff herum, den Kopf fragend dem Deck zugewandt. Wir waren ihm nun sehr nahe – nahe genug, um die Dornen an seiner Halskrause zu sehen, durchsichtig wie Eiszapfen, und die grau-blauen Schuppen des Rückenkamms, und das tiefe Azurblau seiner Augen ... Dann stürzte er sich auf das Schiff der unglücklichen Elietimm. Mit seinen mächtigen, durchsichtigen Flügeln schwebte der Drache über dem Dreimaster, schlug mit dem Schwanz nach den Masten, und Holz, Segel und Taue fielen in einem einzigen Gewirr aufs Deck. Die Schreie der dem Tode geweihten Elietimm gingen im unirdischen Heulen des triumphierenden Drachen unter, als dieser in die Höhe flog, einen Kreis drehte und sich wie ein Falke wieder hinunterstürzte, um zwischen seinen mächtigen Kiefern Holz und Leinen und Fleisch zu zermalmen. Krallen so lang und funkelnd wie Schwerter brachen den sinnlosen Widerstand einiger Krieger und zerrissen sie in blutige Fetzen. Der Abwind der Flügel peitschte das Wasser, und die Wellen ließen unser Boot gegen den Rumpf des Magierschiffes schlagen. Ich packte das Netz und klammerte mich daran wie ein Geizhals an seine Börse. 599
»Hilfe!«, schrie ich. »Bei Saedrins Arsch, helft uns!« Gesichter erschienen über der Reling, und Hände griffen zu mir hinunter, um mich an Deck zu hieven. Ich zitterte im kalten Wind, als mich schließlich das Entsetzen übermannte; trotzdem stieß ich die hilfsbereiten Hände beiseite, die mich in Decken wickeln und wegführen wollten. »Wir ... Wir haben einen Bewusstlosen ...« Noch während ich die Worte zwischen meinen klappernden Zähnen hindurchpresste, kletterten zwei schlanke Seeleute ohne zu zögern über die Reling. Dann erschien Ryshads dunkler lockiger Kopf, und halb kletterte, halb fiel er aufs Deck. »Livak!« Ich drehte mich ungläubig um, ob ich es mir nur einbildete oder ob der Besitzer dieser harten Stimme wirklich hinter mir stand. »Darni ...!«, stieß ich hervor. Es fiel mir noch immer schwer zu glauben, dass ich ihn wirklich sah. Er blickte an mir vorbei zu den Seeleuten, die Shiv vorsichtig auf eine Decke legten, und ich freute mich, ehrliche Sorge in seinem Gesicht zu sehen. Dann wurde eine Luke geöffnet, und während man Shiv behutsam nach unten schaffte, seufzte Darni erleichtert auf, bevor er unvermittelt zur Reling sprang und einen Blick auf unser zerbrechliches Boot warf. »Geris?«, fragte er mit einem Unterton, der seine harte, entschlossene Haltung Lügen strafte. Müde schüttelte ich den Kopf. »Wir haben ihn gefunden, aber er war bereits tot.« Die Worte drohten mich zu ersticken. Ich wischte mir über die Augen, die vom beißenden Wind, von Erschöpfung und Trauer voller Tränen waren. 600
Bekümmert verzog Darni das Gesicht, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich griff in mein Hemd und holte die Schriftstücke hervor, die ich so liebevoll aufbewahrt hatte, auch wenn sie jetzt von Meerwasser und Schweiß nass und fleckig waren. »Ich habe einen Teil seiner Arbeit gefunden. Es ist wichtig. Einer eurer Magier sollte es sich anschauen.« Darni beachtete die Pergamente nicht. »Ich hätte lieber Geris zurückgehabt«, sagte er barsch. Ich kämpfte gegen das Verlangen an, ihm die Dokumente in den Hals zu stopfen, und wollte ihm gerade die Meinung ob seiner Undankbarkeit sagen, als Ryshad mir eine Decke über die Schultern legte. Dankbar wickelte ich mich darin ein. »Wie kommt es, dass ihr ausgerechnet jetzt aufgetaucht seid, wo wir euch am meisten gebraucht haben? Das ist wirklich ein ausgesprochen glücklicher Zufall.« Ryshad legte die Hände um einen dampfenden Becher, und ich griff mir auch einen, als ein Seemann ihn mir anbot. Es war gewürzter Wein, und die wunderbare Wärme strömte mir sofort bis in die Zehen. »Zufall? Unsinn! Das hier ist nicht die phantasievolle Ballade irgendeines Barden.« Darni hob das Kinn mit einem Hauch seiner typischen Überheblichkeit. »Ich habe gesagt, wir könnten in Inglis eine Spur finden, und ich hatte Recht. Diese Bastarde in schwarzem Leder sind zum selben Zeitpunkt verschwunden wie ihr, aber ich habe mir die Zeit genommen, in Inglis ein paar Kontakte zu knüpfen. Jeder hat versucht, sich die Belohnung für Yeniyas Mörder zu verdienen, und wir haben den Trupp von Blondköpfen aufgespürt, der versucht hat, sich mit einheimischer Kleidung in der Menge zu verstecken. Du erinnerst dich 601
doch, Livak?« Ich erinnerte mich an seine Zweifel, als Geris und ich ihm genau das gesagt hatten, aber ich schwieg. Das war jetzt nicht mehr wichtig. »Ich habe mir ausgerechnet, dass sie verzweifelt genug waren, es noch einmal zu versuchen, nachdem sie beim ersten Mal versagt hatten. Bald fand ich heraus, dass es noch andere Tormalinartefakte in der Stadt gab, und so bin ich zur Stadtwache gegangen. Ich bin ein Agent des Erzmagiers, vergiss das nicht, und ich trage sein Siegel, um es zu beweisen. Die Gildenführer waren genauso begierig darauf, die Kerle zu schnappen, wie Planir; so haben wir alle möglichen Ziele überwacht.« Darni hielt kurz inne, um Luft zu holen. Er war offenbar stolz auf seine Leistung, und es verlangte ihn sichtlich danach, uns ein »Ich hab’s euch ja gesagt« um die Ohren zu hauen, doch bis jetzt war es uns erspart geblieben, Saedrin sei Dank. Ich war auch nicht an seiner Geschichte interessiert. Meinetwegen konnte er vor Stolz so hochnäsig sein wie irgendein närrischer Adelsherr. Wir hatten die Inseln vor ihm erreicht, und wir hatten Geris gefunden, wenn auch zu spät, während Darni vermutlich irgendwelche Diener und Knechte herumgescheucht hatte, indem er ihnen mit der Magie eines anderen drohte. Ich schloss die Augen, als sich wieder Tränen der Erschöpfung darin sammelten. »Wie kommt es also, dass ihr genau in dem Augenblick hier erschienen seid, als wir euch brauchten?« Ryshads Stimme klang neugierig, doch mangelte es ihr unglücklicherweise an der Bewunderung, die Darni erwartete. Eine ältere, rauere Stimme antwortete ihm. »Shiwalan ist mein Schüler. Nachdem ich erst einmal wusste, 602
dass ich ihn hier draußen suchen musste, fiel es mir nicht mehr sonderlich schwer, die Inseln zu finden.« Ich erkannte den dürren, weißhaarigen Mann, der auf uns zukam, als Otrick. Er war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte, kaum so groß wie ich, und er trug eine grobe Tuchhose und einen kurzen, schmuddeligen blauen Mantel. Auf mich wirkte er mehr wie ein Pirat denn wie ein bedeutender Magier. Ich unterdrückte mein Verlangen, ihn zu fragen, warum er sich nicht schon eher auf den Weg hierher gemacht hatte, wenn es so leicht war; ein paar Tage hätten für Geris den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet, und hätten sie uns vor Tagesanbruch gefunden, wäre auch Aiten noch am Leben. Ich schob die Erinnerung an sein Blut auf meinen Händen rasch beiseite. »Wie habt Ihr unser Boot gefunden?«, fragte Ryshad, der offensichtlich froh war, einem anderen danken zu können als Darni – ein Gefühl, das ich voll und ganz teilte. »Das war schon schwieriger, wie ich gestehen muss. Ich habe jeden Wal und Delfin auf dieser Seite des Kaps der Winde das Meer absuchen lassen.« Otrick grinste uns breit an, und ich staunte über das helle Funkeln in seinen saphirfarbenen Augen. »Dieser Drache«, meldete ich mich wieder zu Wort. »War der wirklich oder nur eine Illusion?« Otrick schaute mich an, und ein Hauch von Belustigung huschte über sein kluges Gesicht. »Das ist ein Geheimnis, junge Dame. Er hat seine Arbeit getan, oder nicht?« Wir alle blickten auf das von Wrackteilen übersäte Meer. Die Schreie der sterbenden Seeleute waren inzwischen durch das Kreischen von Seevögeln ersetzt worden, die sich an den Ober603
resten der Elietimm gütlich taten. »Planir lässt Euch seine Hochachtung ausrichten, Otrick. Könntet Ihr bitte einmal unter Deck kommen?« Ein dünner Mann in dickem Mantel erschien an Otricks Seite. Sein Tonfall war unterwürfig und verärgert zugleich, und sein missbilligender Gesichtsausdruck schien eine Gewohnheit zu sein, wenn ich mir die Falten betrachtete, die ein ansonsten recht gutaussehendes Gesicht verunstalteten. Er sah ein wenig kränklich aus, und er bewegte sich wie ein Mann mit Bauchschmerzen; also nahm ich an, dass er zumindest einen Grund für seine schlechte Laune hatte. »Was willst du, Casuel ...? Oh! Ja, ich nehme an, das wäre angebracht. Kommt, ihr beiden. Ihr müsst euch auch ein wenig abtrocknen.« Ryshad und ich folgten Otrick und ließen Darni unzufrieden an Deck zurück. Aus dem Wind in eine warme, trockene Kabine zu kommen, war eines der größten Vergnügen, das ich je erlebt habe, und das schließt die Sommersonnenwende in der Goldenen Rose in Relshaz mit ein. Ein molliges, rosagesichtiges Mädchen mit langem braunem Haar, vielleicht zehn Jahre jünger als ich, brachte mir trockene Kleider, und obwohl ich eine Hose vorgezogen hätte, reichten die dicken Wollsocken und vier Unterröcke aus, um die Kälte fernzuhalten. Schließlich zog ich ein viel zu großes Hemd und Mieder über und schlang mir ein Tuch um den Hals. »Und wo geht es jetzt hin?« Ich konnte nicht anders als gähnen, nun, da die Furcht schwand, die mich wachgehalten hatte. Sehnsüchtig blickte ich auf die weiche Koje. »Ich glaube, Ihr solltet jetzt besser zu Planir gehen!« antwortete meine Wohltäterin in mitfühlendem Tonfall. »Er hat darum 604
gebeten, Euch kennen zu lernen.« »Bist du eine Zauberin?«, fragte ich neugierig. Sie sah aus, als gehöre sie eher ins Schulzimmer irgendeines Lescarinests; ihr Akzent stammte eindeutig von dort. »Noch nicht.« Ihre Gesichtsfarbe wechselte von Rosa zu Dunkelrot. »Aber bald.« Ich nehme an, in ihrem Alter hätte ich so etwas als aufregend empfunden; doch damals war ich viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, meiner Mutter zu beweisen, dass ich auch alleine überleben konnte und sie gar nicht brauchte. »Dann geh voraus«, sagte ich mit dem bisschen Enthusiasmus, zu dem ich noch fähig war. »Wie war gleich dein Name?« »Allin.« Sie führte mich durch ein Labyrinth aus Leitern und hölzernen Wänden zu einer großen Kabine, wo fünf Männer sich über einen Tisch beugten, während andere um sie herum standen. Zwei hoben den Kopf, als wir den Raum betraten, und einer trat vor und hielt mir die Hand hin. »Ich bin Planir. Es ist mir eine Freude, Euch kennen zu lernen.« Der Erzmagier war nicht sonderlich groß, besaß dunkles Haar und eine schlanke Gestalt. Warme graue Augen und ein gewinnendes Lächeln nahmen seinem kantigen Gesicht die Härte. Seine Stimme klang sanft; er sprach mit dem singenden Akzent seiner Kindheit, die er offenbar in Gidesta verbracht hatte, und irgendwie hatte er etwas Vertrautes an sich. Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich wie ein ungemachtes Bett aussehen musste. Planirs Alter war nicht festzustellen; es lag irgendwo zwischen vierzig bis sechzig. Dünne Linien gingen von seinen Augen aus, und sein Haar befand sich schon auf dem Rückzug; dennoch war ich fest davon überzeugt, dass er nach wie vor 605
jede Frau dazu überreden konnte, mit ihm das Bett zu teilen. Er hätte eine Adeliger sein können, oder ein Heerführer, oder ein erfolgreicher Kaufmann. Nur wie ein Erzmagier sah er nicht aus. Ich zwang mich, mich wieder aufs Geschäft zu konzentrieren. »Wir konnten Geris nicht retten, aber ich habe etwas von seinen Arbeiten gefunden. Das könnte vielleicht nützlich sein.« »Usara?« Planir winkte jemandem. Ein junger Magier in Braun trat vor und griff gierig nach den zerknitterten Pergamenten. »Wo genau ...?« Einer der anderen Magier fiel Usara ins Wort. »Planir, wir brauchen Euch.« Die beiden kehrten wieder zum Tisch zurück, und da niemand etwas sagte, folgte ich ihnen. Ein Bild schwebte über der Tischplatte. Ich schnappte nach Luft. Wenn ich geglaubt hatte, Shivs und Hamas Ententeich sei ein phantastischer Zauber gewesen – verglichen mit dem hier war es eine Kinderzeichnung im Sand. Ich erkannte die Inseln der Elietimm, doch dies war nicht einfach nur eine Karte; das Bild war perfekt bis ins kleinste Detail. Ich sah jeden Strand, jedes Dorf und jede Befestigung. Ich schauderte, als ich winzige, reglose Gestalten erblickte. Fühlte sich so ein Gott? »Nun, wenn es uns gelingt, diesen Riss weiter aufzubrechen, kann Kalion das geschmolzene Gestein heraufholen, und ich kümmere mich um den Gletscher.« Der Zauberer, der gerade sprach, war eine kräftige Frau im Kleid einer caladhrischen Bäuerin und mit dem herabhängenden Bauch und dem lückenhaften Gebiss einer Matrone, die eine ganze Horde Kinder zur Welt gebracht hatte. Nichtsdesto606
trotz war ihr Blick scharf und ihr Gesicht entschlossen, während sie auf die winzige vereiste Landschaft vor sich blickte. Planir beugte sich vor und runzelte die Stirn, während er den Krater des Feuerbergs studierte. »Usara, kannst du diesen Kanal für mich öffnen?« Ein bernsteinfarbenes Licht kroch über das Bild, und Usara nickte selbstbewusst. Schweigend beobachtete ich, wie die Magier sich nun alle über die Miniaturwelt beugten, die sie geschaffen hatten, und eine Katastrophe über den Häuptern der Elietimm heraufbeschworen. Die Flanke des Berges begann unter Planirs Magierlicht zu beben, ein Stoß folgte auf den nächsten. Der Zauberer mit Namen Kalion räusperte sich und knackte mit den Fingern, um kleine rote Blitze in die Öffnung zu schicken, die Planir für ihn vorbereitet hatte. Ein strahlend weißes Feuer trat daraus hervor; dann kühlte das kochende Gestein zu Rot ab, während es die Bergflanke hinunterströmte. Die spärliche Vegetation verbrannte zu Asche, und die Feuerwalze bewegte sich auf ein ahnungsloses Dorf zu. »Usara, kannst du das ein wenig ausdünnen?«, murmelte Kalion. Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er sich konzentrierte, und geistesabwesend wischte er sie sich mit seiner prächtigen Samtrobe, die besser zu einem Lescari-Geldverleiher gepasst hätte, übers Gesicht. »Nicht so schnell«, sagte die Frau. Sie stellte irgendetwas mit der Eiswand auf der anderen Seite des Berges an, wo Planir soeben einen zweiten Kanal öffnete. Ich beobachtete, wie sich ein orangefarbener Fluss unter dem Eis entlang schlängelte und schauderte bei der Vorstellung, welche Wassermassen hier auf die unglücklichen Bauern losgelassen wurden. Ich hoffte, dass 607
einige ihrer sorgfältig gehüteten Lager überleben würden; den Elietimm stand eine schreckliche Zeit des Hungerns bevor. Als die Tür sich hinter mir öffnete, zuckte ich überrascht zusammen. Der Mann mit Namen Casuel spähte zögernd herein und war offensichtlich erleichtert, als er mich sah. »Livak, nicht wahr?«, erkundigte er sich leise. »Wer will das wissen?«, fragte ich vorsichtig; auf einen Ruf von Darni beispielsweise wollte ich nicht antworten. »Ihr müsst mir von Euren Erfahrungen berichten. Bitte, kommt mit mir. Ich will einen Bericht für den Rat vorbereiten, um Zeit zu sparen.« Er warf einen besorgten Blick zu den Magiern, die sich über ihren Zauber beugten, doch die bemerkten nicht, dass sich außer ihnen noch jemand im Raum befand. Widerwillig atmete ich tief durch. Ich wollte nicht auch noch Befehle von einem anderen Zauberer anzunehmen, schon gar nicht von einem Mantelträger wie diesem. Andererseits hatte ich nicht mehr die Kraft, mich auf einen Streit einzulassen. »Kann das nicht warten? Es ist ja nicht so, als würde ich davonlaufen.« Casuel schürzte verärgert die Lippen und schaute mich tadelnd an; ausdruckslos erwiderte ich seinen Blick. »Ich nehme es an, ja«, antwortete er schließlich, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. »Ich werde zu Euch kommen, nachdem ich mit Shiwalan gesprochen habe.« »Casuel!« Der fette Zauberer mit Namen Kalion hob den Kopf. »Schick bitte Allin herein. Ich möchte, dass sie sieht, wie das gemacht wird.« Casuel deutete eine Verbeugung an. »Gewiss, Herdmeister.« Er reichte mir seine schmale Hand, und ich schüttelte sie kurz. »Ich sehe Euch dann später.« 608
»Nicht, wenn ich dich vorher sehe, du ungehobelte Laus«, murmelte ich vor mich hin und drängte mich an ihm vorbei. Ich folgte meiner Nase zur Kombüse; kurz darauf fand ich eine ruhige Ecke an Deck, wo ich das Brot und das Fleisch essen konnte, das ich dem umgänglichen Schiffskoch abgeschwatzt hatte. »Ich habe mich schon gefragt, was sie mit dir gemacht haben.« Ryshad erschien hinter einem Fass und setzte sich neben mich. Ich reichte ihm ein Stück Brot. »Ich habe Planir getroffen, aber er war sehr beschäftigt. Soviel ich gesehen habe, versuchen sie, diese Inseln zu versenken.« Ryshad nickte und kaute hungrig sein Brot. Er reichte mir einen Zinnkrug mit Bier, und ich trank einen kräftigen Schluck, bevor mir einfiel, dass ich ja eigentlich kein Bier mochte. »Sieht so aus, als hätten alle etwas zu tun, nur wir nicht.« »Oh, ich würde sagen, wir haben erst einmal genug getan.« Als Antwort auf Ryshads angestrengtes Grinsen brachte ich die Andeutung eines Lächelns zustande. »Hat irgendjemand gesagt, wohin wir fahren?« »Das Schiff ist auf dem Weg nach Hadrumal, aber ich vermute, sie werden vorher noch einmal anlegen müssen – in Tormalin, nehme ich an. Dort können sie mich absetzen«, erklärte Rysh. »Du gehst nach Hause?« Irgendwie gefiel mir die Vorstellung nicht, von Ryshad Abschied nehmen zu müssen. »Ich dachte, sie würden uns alle in Hadrumal festhalten, bis sie auch die letzte Informationen aus uns herausgequetscht haben.« »Das würde eine halbe Jahreszeit dauern. Nein, ich nehme keine Befehle von Magiern entgegen, nicht einmal vom Erzma609
gier. Es ist meine Pflicht, Messire D’Olbriot Bericht zu erstatten; seine Schreiber können Planir dann eine Kopie schicken.« Ryshad verzog das Gesicht und nahm mir das Bier wieder weg. »Anschließend muss ich Aitens Familie besuchen und ihnen erzählen, wie er gestorben ist.« Schweigend saßen wir eine Zeit lang beisammen. »Was ist mit dir?«, fragte Ryshad schließlich. »Ich würde dir gerne Zyoutessela zeigen, und ich bin sicher, Messire D’Olbriot wird dich belohnen wollen.« »Für was?« Ich blickte ihn neugierig an, und er deutete auf meine Hände. »Das sind seine Ringe. Die mit dem brennenden Baum im Wappen.« Er ergriff meine Hand und drehte sanft die Goldbänder an meinen Fingern. »Die sind ein Vermögen wert.« Ich lachte, als ich die Ringe abstreifte und sie ihm gab. »Wer hätte das gedacht? Ich weiß nicht, Rysh ... Ich habe auch ein Leben, zu dem ich gerne wieder zurückkehren würde. Halice glaubt vermutlich, ich sei vom Rand der Welt gefallen; wir wollten uns mit ein paar anderen Freunden in Col treffen. Der beste Platz für mich wäre im Augenblick wohl Relshaz. Vielleicht können die Zauberer mich bis zur Gewürzküste mitnehmen; dann kann ich die Pfefferstraße hinaufziehen.« Ich gähnte trotz des erfrischend kühlen Windes. »Auf jeden Fall will ich nicht nach Hadrumal. Ich werde den Winter nicht mit Zauberern und Gelehrten verbringen, die meinen Kopf zehnmal umdrehen. Sie können mir das Geld auszahlen, das sie mir schulden, und ich werde wohl einen Aufschlag für das unerwartete Risiko nehmen. Aber das war’s dann auch.« Wieder saßen wir eine Zeit lang schweigend beieinander. »Ich muss allerdings sagen, dass ich es nicht mag, einen Auf610
trag nicht vollständig ausgeführt zu haben«, gestand ich. »Das hier ist noch nicht vorbei, stimmt’s?« »Wahrscheinlich nicht. Aber wie meine Mutter immer zu sagen pflegte: Das einzige Ding im Leben ohne offenes Ende ist ein neuer Teppich.« Ryshad seufzte. »Ich weiß, was du meinst. Ich empfinde ähnlich; aber ich habe Pflichten zu erfüllen.« Ich nahm Ryshads Hand, und so saßen wir nebeneinander und dachten darüber nach, was wir am besten tun sollten. Ein langes, tiefes Grollen hallte über das Meer zu uns, und wir blickten einander fragend an. »Shiv!« Ich winkte, als er an uns vorüberging; er war in Gedanken woanders. »Ich hätte nicht gedacht, dich schon so bald wieder auf den Beinen zu sehen!« Ryshad grinste erleichtert und bot ihm Bier an. Shiv gesellte sich zu uns in unserer windgeschützten Ecke und rieb sich den dick verbundenen Arm. »Einer dieser Gelehrten hat sich mit der Heilmagie beschäftigt, wie sie in Solura praktiziert wird. Sie scheint ätherischen Ursprungs zu sein. Aber wie auch immer, er hat mich wieder zusammengeflickt; also will ich mich nicht beschweren.« Ich musterte sein Gesicht. Es hatte schon wieder ein wenig Farbe bekommen, sah aber noch immer überanstrengt und zerschunden aus, und Ryshad war auch nicht viel hübscher. Ich fragte mich, was ich wohl erblicken würde, wenn ich das nächste Mal an einem Spiegel vorüber kam. »Wir haben uns gerade gefragt, was wir als Nächstes tun sollen. Irgendwelche Vorschläge?« Shiv schüttelte müde den Kopf. »Ich werde in Hadrumal gebraucht. Die ganze Geschichte unseres kleinen Abenteuers zu611
sammenzubasteln, ist sehr viel Arbeit. Der Rat hat eine Menge zu diskutieren, und dann müssen sie entscheiden, was sie tun sollen. Einige werden der Meinung sein, wir sollten das alles alleine regeln, andere werden sich für ein Bündnis mit Tormalin aussprechen – und dazwischen wird es eine Vielzahl anderer Meinungen geben. Manche werden die Inseln einfach im Meer versenken wollen, während andere abwarten wollen in der Hoffnung, dass das Problem von selbst verschwindet. Planir hat ja schon mit der Zerstörung begonnen, aber er wird seine Arbeit unterbrechen müssen, und ich bezweifle, dass der Rat vor dem Frühlingsäquinoktium eine Entscheidung fällen wird.« Er seufzte. »Ich möchte eigentlich nur nach Hause zu Pered und für den Rest des Jahres die Tür hinter mir abschließen.« Das war doch mal eine gute Aussicht. »Werden wir zur Sonnenwende zuhause sein? Ich weiß nicht mehr, welcher Tag heute ist.« Shiv lächelte. »Ja. Wie sollen wir sie feiern? Wie wäre es mit einem Ausflug zu den Spielhallen von Relshaz?« Ich wollte gerade lachen, doch in diesem Augenblick lugte der Magier Casuel aus einer Luke hervor und schaute sich nach allen Seiten um wie ein erschrockenes Kaninchen. »Shiwalan, da bist du ja! Rasch, wir brauchen deine Hilfe!« Noch andere Zauberer tauchten auf, und wir erhoben uns. Ich beobachtete offenen Mundes, wie eine riesige Welle auf uns zurollte. Ein magischer, smaragdgrüner Vorhang senkte sich um das Schiff herab. Panik ergriff mich, doch dann ritten wir auf der gewaltigen Woge wie eine Möwe, und mein rasender Herzschlag beruhigte sich. Die Zauberer schauten sich das Spektakel einen Augenblick an; dann wandten sie sich wieder dem zu, was immer sie gerade getan hatten. Ihre Gelassenheit verschlug 612
mir den Atem. »Du solltest dich wirklich darauf vorbereiten, die Befehle des Erzmagiers entgegenzunehmen, Shiwalan«, tadelte Casuel in einem so hochnäsigen Tonfall, dass ich mich fragte, ob ich ihm einen stinkenden Fisch in die Matratze nähen sollte, falls ich je Zeit mit ihm verbringen müsste. »Du vergisst, Cas, dass ich Otricks Schüler bin.« Shiv lächelte Casuel freundlich an, was diesen über die Maßen zu ärgern schien. Er schnaufte verächtlich, doch dann sah er Usara an Deck kommen und eilte davon, um ihm hinterherzubuckeln. Shiv schüttelte den Kopf, und ich sah, wie er mit der Hand das caladhrische Zeichen für Verachtung machte. Wir setzten uns wieder. »Könnte es sein, dass ihr beiden nicht allzu gut miteinander auskommt?« Ryshad hatte das kurze Gespräch erheitert verfolgt. Shiv schüttelte abermals den Kopf und lächelte reumütig, wobei er nach dem Bierkrug griff. »Nun, er ist nicht gerade der angenehmste Mensch auf der Welt, aber das ist zum Teil auch meine Schuld.« Zum ersten Mal sah ich einen Hauch von Scham auf Shivs Gesicht und war fasziniert. »Wie das?«, fragte ich. Shiv zuckte mit den Schultern und dachte einige Zeit nach, bevor er antwortete: »Es war vor ein paar Jahren zur Sonnenwende. Ich hatte ein wenig zu viel getrunken und bekam eine dieser Ideen, die einem nur solange gut erscheinen, bis man wieder nüchtern ist.« Ryshad und ich stimmten ihm in spöttischem Ernst zu, und Shiv lachte. »Tatsache ist, dass niemand Cas je mit einem Mädchen gesehen hat. Er war immer sehr zurückhaltend, und mir kam der 613
Gedanke – nun ja –, dass er vielleicht meine Neigung teilen könnte. Ich hatte gehört, dass seine Familie den Rationalisten nahe steht, und ihr wisst, wie die sind ...« »Wenn die Natur es so vorgesehen hätte, dass Männer neben Männern liegen, warum gibt es dann Frauen, und so weiter, und so fort.« Ryshad nickte. Ich starrte Shiv offenen Mundes an. »Du hast dich an ihn rangemacht?« »Nein, habe ich nicht!«, erwiderte Shiv entrüstet. »Pered und ich sind uns treu. Ich habe ihm nur angeboten, ihn einem Freund von Pered vorzustellen, der uns zur Sonnenwendfeier besucht hat ...« »Aber wie-heißt-er-noch hat das als Angriff auf seine Männlichkeit verstanden?«, wagte Ryshad eine Vermutung und grinste übers ganze Gesicht. »Er hat nach mir geschlagen!«, gestand Shiv reumütig. »Aber er hat nicht getroffen. Ich ihn schon ... und dann lief das Ganze ein wenig aus dem Ruder.« Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Du Trottel!« »Schaut!« Ryshad deutete in die Richtung, in der sich die Inseln der Elietimm befanden. Eine Wolke aus Rauch und Asche stieg hoch in den Himmel. Der Anblick riss uns in die Gegenwart zurück. »Ich sollte jetzt besser gehen«, murmelte Shiv und eilte davon. »Ich würde sagen, Planir und die anderen geben dem Eismann eine Aufgabe, die ihn eine ganze Weile beschäftigen dürfte«, scherzte ich mit zitternder Stimme. Ryshad nickte. Sein Gesicht war angespannt. »Stimmt, aber es wird ihn nicht aufhalten. Ich nehme an, Messire D’Olbriot 614
wird seinen Beobachtern sagen müssen, dass sie zum nächsten Frühlingsäquinoktium nach schwarzen Schiffen Ausschau halten sollen.« Ich schauderte. Als Ryshad die Arme ausbreitete, kuschelte ich mich an ihn, legte das Gesicht auf die warme, trockene Wolle seines Wamses, schloss die Augen und entspannte mich zum ersten Mal, seit wir Inglis verlassen hatten. Er schloss die Arme um mich und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Es war das Natürlichste von der Welt, dass ich den Kopf hob, um ihn zu küssen; dann saßen wir einfach nur da und spendeten einander Trost, während das Schiff in Richtung Heimat fuhr.
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11.
Aus: Reisen in den nicht kartographierten Ländern
der Einarinn von: Marris Dohalle
Das Zahlenlied des Waldvolkes Dass es sich bei dem Waldvolk um ein uraltes Volk handelt, ist angesichts dieses Liedes offensichtlich. Es wird gesungen, um Kinder jene Worte zu lehren, die einst zum Zählen gebraucht wurden: marmol, edril und so weiter. Nun ist es jedoch bedeutungslos, da die Sprache sich über die Generationen hinweg verändert hat. Eins ist die Sonne hoch am Firmament, Marmol ist der Herdkreis, den wir alle teilen. Zwei sind die Monde in ihrem Tanz der Macht, Edril das Netz, das in der Luft gewoben ist. Drei Völker teilen sich Berg, Steppe und Wald, Semil ist für alle der Sonne warmes Gesicht. Vier sind die Winde, die Gutes und Böses uns bringen, Dexil, der Lebensatem von Ruhe und Sturm. Fünf sind die Finger für Harfe wie Bogen, Wrem sind die Tage, die folgen dem Sänger. Sechs sind die Flüsse, die den Feind abwehren, 616
Tedren, wenn Hufschlag den Wald erschüttert. Sieben, die Weisen, welche die Windrose drehen, Fathen, die Leere, der Sitz der Furcht. Acht sind die Jahreszeiten, die jede aufs Neue beginnt, Adren das frische Holz am Baum der Jahre. Neun sind die Heiligen, die Drei mal Drei, Parlen, das Schicksal, das die Narren verspotten. Zehn sind die Finger, die führen die Waffen, Vrek, der Handschlag, das Band der Freundschaft. Ein Großteil der ursprünglichen Bedeutung dieses uralten Textes, der überdies schwer zu übersetzen ist, ist verloren gegangen, da das Waldvolk seine Geschichte nur mündlich überliefert, und diese weicht von Clan zu Clan voneinander ab, denn jeder konzentriert sich auf die Mitglieder seiner eigenen Familie. Was einst vertraut war, wird verzerrt, je öfter es wiederholt wird und wenn die Umstände sich ändern. Das Waldvolk kümmert das nicht. Sie betrachten die Geschichte als sich stets verändernden Rahmen des Lebens, der seine Wurzeln in der Schöpfung hat und sich mit jeder Jahreszeit weiterentwickelt – das ist der eigentliche Baum der Jahre. Verbreiten und Teilen wird als gesund und natürlich betrachtet; Familienverbände reisen durch den Großen Wald, schließen sich für eine Jahreszeit mit anderen zusammen und trennen sich wieder. Bindungen sind selten von Dauer, und es wird stets akzeptiert, wenn ein Familienmitglied sich für ein, zwei Jahreszeiten vom Verband trennt, mit einer anderen Familie umherzieht oder gar den Großen Wald ganz verlässt. Es ist diese Tradition, die dafür verantwortlich ist, dass Waldvolksänger ein vertrauter Anblick auf unseren Straßen sind; sie verbinden die 617
unverbesserliche Wanderlust mit der Liebe ihres Volkes zur Musik, die sich wiederum auf die Tatsache gründet, dass Lied und Epos beim Waldvolk die Geschichtsschreibung ersetzen. Angesichts der Fülle des Großen Waldes ist das Waldvolk in der Lage, al seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne untereinander in Streit zu geraten. Daraus ergibt sich unter anderem ihr mangelndes Verständnis für Begriffe wie »Grenze« und »Eigentum«. Aus demselben Grund sind Waldmenschen auch nur selten gute Nahkämpfer. Sie konzentrieren sich mehr auf Auge und Hand, auf Fähigkeiten, die sie zur Jagd benötigen. Nichtsdestotrotz riskiert der unvorsichtige Reisende, der von den Hauptstraßen im Großen Wald abkommt, dass er in eine Jagd gerät und plötzlich einen vergifteten Pfeil im Rücken spürt. Das Waldvolk ist ausgesprochen aufgeschlossen, denn es lebt im Einklang mit der Natur. Harmonie – zwischen Völkern, zwischen Einzelnen und natürlich in der Musik – ist ein hoch geschätztes Gut. Müssen sie Fragen der Autorität und der Herrschaft klären, erledigen sie dies für gewöhnlich mit einem Sänger- und Dichterwettstreit. Es gilt als weit schrecklicher, einen Gegner zu demütigen, als ihn zu töten. Doch droht ihnen Gefahr, legt das Waldvolk eine Kühnheit und Entschlossenheit an den Tag, mit denen sich nur wenige Völker, ob alte oder neue, messen können.
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Ein Haus in der Schenkelstraße, Mittel-Reckin 40. Vorwinter
Es war kein langer Marsch, und er tat mir gut, nachdem ich sechs Tage lang die meiste Zeit in einer Postkutsche gehockt hatte. Der Wirt im Grünen Frosch erinnerte sich noch gut an Halice und ihr gebrochenes Bein, und er beschrieb mir den Weg zu dem kleinen Haus, das sie seit Anfang der Jahreszeit gemietet hatte. Ich dankte ihm und marschierte fröhlich über die offenen Felder. Das Wetter war kalt und trocken. Überall lag Schnee, und nach Einbruch der Nacht würde der Frost unerträglich werden. Doch im Augenblick war es vollkommen windstill, und die Nachmittagssonne wärmte mein Gesicht. Mit jeder Meile meiner Reise hatte ich mehr Abstand zwischen mich selbst und meine Erfahrungen gelegt, doch fühlte ich mich noch immer ein wenig schuldig und fragte mich, wie alles wohl enden würde. Ich ertappte mich dabei, dass ich hoffte, Ryshad möge von seinem Herrn mit offenen Armen empfangen worden sein. Wie der Empfang durch Aitens Familie aussah, darüber wollte ich gar nicht nachdenken. Hätte ich ihm anbieten sollen, ihn zu begleiten? Das allerdings hätte bedeutet, die schreckliche Erfahrung noch einmal zu durchleben, und es war schon beim ersten Mal schlimm genug gewesen. Nein, Aiten war in die Anderwelt gegangen, und nichts und niemand würde ihn wieder zurückbringen. Seine Familie würde auch ohne meine Hilfe um ihn trauern. Menschen leben, Menschen sterben; Misaen erschafft sie, Poldrion fährt sie hinüber – so ist das Leben. 619
Ich fragte mich, wie es Ryshad erging. Ob er wohl auch an mich dachte? Wärmte plötzliches Verlangen sein Blut so sehr wie das meine? Irgendetwas hatte jenen warmen, freundschaftlichen Kuss in ein Feuer der Lust verwandelt, das uns beide wie vor Sehnsucht brennende Jungfern hatte erbeben lassen. Ruhe und Abgeschiedenheit gibt es nicht gerade im Überfluss auf einem Schiff, wo es vor neugierigen Zauberern nur so wimmelt, und doch war es uns gelungen, einen ruhigen Ort zu finden, um der Leidenschaft frönen zu können, die uns so unerwartet gepackt hatte. Trotzdem, so wundervoll es zwischen uns gewesen war – als Ryshad in Zyoutessela von Bord ging, blieb ich auf dem Schiff und blickte ihm hinterher. Hatte ich einen schrecklichen Fehler begangen oder uns vor etwas bewahrt, das wir irgendwann bereut hätten wie meine Eltern? Das war auch so eine Sache, über die ich lieber nicht nachdenken wollte. Ich rutschte auf einem Eisfleck aus, der im Schatten die Sonne überlebt hatte, und lächelte reumütig. In den letzten zehn Jahren hatte kein Mann mehr einen solchen Eindruck auf mich gemacht. Es erwies sich als ausgesprochen schwierig, den Staub unseres seltsamen Abenteuers abzuschütteln. Da waren noch all die Fragen über die Elietimm, die verlorene Kolonie, die Träume und all die anderen Teile von Planirs Puzzle. Ich konnte meine Neugier nicht unterdrücken, doch wie meine Mutter stets zu sagen pflegte: »Neugier hat Amit an den Galgen gebracht«. Vergiss es, ermahnte ich mich streng; die Tormalinfürsten und Zauberer kommen auch ohne deine Hilfe damit zurecht. Es ist nicht dein Kampf, und doch wärst du beinahe darin umgekommen. Ja, es wäre schon schön, es den Bastarden für Geris heimzuzahlen, doch Rache ist etwas für Narren. Rache hat dir das 620
alles eingebrockt, und schau dir nur an, wie weit es dich gebracht hat! Lös dich davon, Livak, befahl ich mir selbst. Geh und schau nicht zurück. Ich bog in einen schattigen, schmalen Weg voller gefrorener Spurrillen ein. Schließlich erreichte ich ein paar kleine, strohgedeckte Landhäuser und suchte nach einer grünen Tür. Wenn Halice sich um sich selbst kümmerte, konnte es um ihr Bein ja nicht so schlimm bestellt sein. Im Geiste ging ich noch einmal alle Argumente durch, die ich mir ausgedacht hatte und mit denen ich erklären wollte, warum ich so plötzlich alles stehen und liegen gelassen hatte und verschwunden war. Das Problem war nur, dass diese Argumente sich alle ein wenig dünn anhörten, sah man von dem Klimpern der Münzen in der dicken Börse ab, die mein Wams ausbeulte. Liebevoll klopfte ich darauf, so wie es manche Frauen mit ihren schwangeren Bäuchen tun. In meinem Rucksack hatte ich auch eine versiegelte Flasche untadeligen Weins; das sollte helfen, egal was Halice sonst von mir denken mochte. Ich klopfte an die Tür und drückte die Klinke herunter. Meine fröhlichen Begrüßungsworte erstarben mir auf den Lippen, als ich Halice mit erhobenen Armen auf einem Stuhl sah, umgeben von zwei kleinen blonden Männern. »Und dann habe ich gesagt: ›Was glaubst du wohl, wie viel ich kaputtmachen kann?‹.« Halice stieß ihr vertrautes, brüllendes Lachen aus, und das blonde Paar drehte sich um, um zu sehen, wer da gekommen war. »Livak!« Sorgrad und Sorgren eilten auf mich zu, um mich in die Arme zu schließen, doch ich wich zitternd einen Schritt zurück 621
und kämpfte gegen die Furcht, die aus meinen Erinnerungen wieder hervorgebrochen war. Besorgt blieben die beiden stehen. »Alles in Ordnung?« Sorgrads vertraute Stimme vertrieb die schrecklichen Bilder, und ich brachte ein normales Lächeln zustande. »Sicher, tut mir leid. Aber mir ist so furchtbar kalt.« »Komm, und wärm dich.« Halice stand nicht auf, und ich sah eine Krücke neben dem Stuhl. Ihr Bein war unter einer Decke verborgen; ich fragte mich, wie es mit der Heilung voranging. Nun, Halice würde mir schon sagen, wie schlimm es war, aber mir fiel auf, dass sie mangels Bewegung an Gewicht zugelegt hatte. Ich ging zum Herd, rieb mir die Hände über den glühenden Kohlen und atmete die vertrauten Gerüche von frisch gebackenem Brot und geröstetem Fleisch ein – der Duft der Heimat, Sicherheit. »Nun denn. Wo bist du gewesen?« Sorgren schenkte mir Wein aus einem Krug ein, der auf dem Kamingitter stand, und einen Augenblick lang genoss ich erst einmal die Wärme des Würzweins. »Ihr kennt doch dieses eine Spiel – das, von dem ihr immer redet, wenn ihr betrunken seid. Das, nach dem ihr ein rechtschaffenes Leben führen könnt.« Ich grinste sie der Reihe nach an. »Du hast es gefunden?« Halices dunkle Augen funkelten im Feuerschein, und auf ihrem wettergegerbten Gesicht kämpfte Belustigung mit Hoffnung. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf und griff in mein Wams. »Ich habe geglaubt, ich hätte es, aber es hat nicht sollen sein. Trotzdem hat es sich bezahlt gemacht.« 622
Ich warf die Lederbörse auf den Tisch. Sie landete mit einem dumpfen, satten Laut, der von viel Geld sprach. Sorgren wog die Börse in der Hand, und sein Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an. »Wie viel ist da drin?« »Genug, um uns allen eine Sonnenwendfeier zu bescheren, die wir nie vergessen werden! Wie wäre es, wenn wir uns eine schnelle Kutsche mieten und nach Col fahren würden?« Ich leerte meinen Becher und griff nach dem Krug. »Da könnten wir am besten feiern.« »Hört sich gut an.« Sorgrad lächelte mich an, und seine Augen leuchteten. »So! Was genau hast du nun eigentlich gemacht? Halice hat gesagt, sie hätte eine Nachricht von irgendeinem Zauberer bekommen, in der stand, du würdest für den Erzmagier arbeiten.« »Das ist eine lange Geschichte, und ich will sie jetzt nicht erzählen«, erwiderte ich fest. »Vielleicht später, ich weiß es nicht. Es war nicht wie in irgendeiner dummen Ballade, soviel kann ich euch verraten. Es war sehr, sehr gefährlich, und fast hätte ich es nicht mehr zurück geschafft.« »Aber du hast es geschafft, und anscheinend hat es sich gelohnt«, sagte Sorgren fröhlich. Er öffnete die Börse und begann, die Weißgoldmünzen aufzustapeln. Er lebt am liebsten in der Gegenwart. »Geld ist nur etwas wert, wenn du noch lebst, um es ausgeben zu können, Gren.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist mein Anteil und der eines Toten. Sein Spiel hat ihm nur eine Fahrt mit Poldrion eingebracht.« Ein Schauder durchlief mich, und ich wandte mich theatralisch ab, um meine Gefühle zu verbergen. »Ich verdiene mein 623
Geld lieber auf die ehrliche Art, bevor ich noch einmal für den Erzmagier arbeite!« Halice musterte mich einen Augenblick aufmerksam. Sie mag ja wie die ältere Schwester des Dorftrottels aussehen, aber sie ist nicht dumm. »Dann auf nach Col! Lasst uns dieses Geld durchbringen und den Erzmagier vergessen«, rief sie fröhlich. »Die Jungs haben ein paar interessante Ideen, wie wir in Lescar Geld machen können.« »Nun denn.« Ich drehte den Spieß, und Fett tropfte zischend ins Feuer. »Aber lasst uns erst mal dieses Ferkel essen und Pläne schmieden. Lasst uns über warme Schankräume reden, über einen vertrauten Satz Runen in der Hand und ein paar schöne Spielchen mit dummen Bauern. Nur eines möchte ich klarstellen: Was immer wir machen – Zauberer haben nichts damit zu tun!« ENDE
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