M'Raven
Dämonenerwachen Version: v1.0 Sie fühlte den weichen Samt auf ihrer Haut. Darunter die Kälte des steinernen Al...
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M'Raven
Dämonenerwachen Version: v1.0 Sie fühlte den weichen Samt auf ihrer Haut. Darunter die Kälte des steinernen Altars, auf dem sie lag. Der Raum, in dem sie sich befand, war nur von dicken roten Kerzen erleuchtet, die in weitem Kreis um den Altar herum aufgestellt waren. Dreizehn Kerzen. Sie war nicht allein. Um sie herum standen zwei Männer und zwei Frauen – eine Person an jeder Seite des Altars. Alle hatten das gleich kupferrote Haar wie sie selbst und die gleichen leicht schräg stehenden grünen Augen. Keiner von ihnen trug auch nur einen einzigen Fetzen Stoff auf dem Leib. Ebenso wenig wie sie selbst. Furcht packte sie plötzlich. Sie wollte aufspringen, wollte schreien – doch kein Laut kam über ihre Lippen, kein Muskel gehorchte ihrem Befehl. Die vier fassten sich an den Händen und begannen, gemessen im Kreis um den Altar zu schreiten. Dabei murmelten sie erst leise, dann immer lauter dieselben Worte einer fremden Sprache: »Zitágunee, Rhu’Carana! Zitágunee!« Bis der ganze Raum von den Worten widerhallte und …
Kara MacLeod erwachte mit einem erstickten Schrei und brauchte einen langen Moment, um zu begreifen, dass es nur ein Traum ge wesen war. Wobei ›nur‹ dem Grauen dieses Albtraums kaum ge recht wurde. Natürlich war es nicht der erste Albtraum ihres 28-jährigen Lebens gewesen. Doch kein anderer zuvor hatte sie mit einer so namenlosen Furcht erfüllt oder sich so real angefühlt. Kara spürte immer noch den kalten Samt auf ihrer Haut und hatte den Geruch von Kerzen wachs in der Nase, vermischt mit Weihrauch … Sie sprang aus dem Bett und lief ins Badezimmer, wo sie sich den Schweiß abwusch, der ihre gesamte Haut bedeckte und ihr Nacht hemd durchtränkt hatte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie schrecklich aussah. Blasse Haut, dunkle Ringe unter den Augen und einen definitiv gequälten Ausdruck im Gesicht. Kein Wunder, denn in letzter Zeit schlief sie ziemlich schlecht – seit ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag vor fünf Wochen, um ge nau zu sein. Zunächst hatte es relativ harmlos mit erotischen Träumen be gonnen, deren Ursache sie in der drei Monate zuvor erfolgten Trennung von ihrem Freund Ben vermutet hatte. Sie fühlte sich ein sam und umarmte immer häufiger ihr zweites Deckbett, um mit der Illusion von menschlicher Nähe einschlafen zu können. Was zugegebenermaßen ein ziemlich erbärmlicher Ersatz war. Doch die Träume waren immer intensiver geworden und in Berei che vorgedrungen, in die sie sich im realen Leben nie gewagt hätte. In einem dieser Träume hatte sie sich auf einer Party gesehen, ge kleidet in ein gewagtes Nichts, das mehr enthüllte als verbarg. Allein der Gedanken daran trieb ihr jedes Mal aufs Neue die Scham röte ins Gesicht. Männer hatten sie umschwärmt wie die Motten das Licht. Und zu ihrem Entsetzen endete das Ganze in einer Orgie, die sie in vollen Zügen genoss. Kara schüttelte sich vor Abscheu. Sie war bestimmt nicht prüde,
aber das … Später waren die Albträume dazugekommen. Auch die hatten erst mit schemenhaften Bildern begonnen, die kurz aufblitzten und wieder verschwanden. Aber sie wurden mit jedem Mal klarer und deutlicher. Inzwischen hatte Kara jedes Mal das Gefühl, tatsächlich der Mittelpunkt dieser … schwarzen Messe zu sein. Der Gedanke ängstigte sie zutiefst. Als ob das nicht schon genug wäre, einen Menschen langsam um den Verstand zu bringen, fühlte sie zusätzlich noch eine steigende Unruhe in sich. Eine seltsame Mischung aus Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen konnte, gepaart mit dem Drang, etwas Be stimmtes zu tun, ohne zu wissen, um was es sich dabei handelte und einem undefinierbaren Hunger obendrein, der nichts mit Essen zu tun hatte. Und über allem lag das Gefühl einer Gefahr, die sich wie ein Netz um sie herum zusammenzuziehen schien. Aber weit und breit gab es keinen realen Anhaltspunkt dafür, dass ihr Gefahr drohte. Karas Leben verlief bis auf die Träume ruhig und friedlich wie immer. Tagsüber ging sie ihrem Beruf als Ethnologin im National Museum of Antiques von Edinburgh nach. Abends vergrub sie sich in die Recherchen für ihre Doktorarbeit zum Thema ›Schottische Volksbräuche und Aberglauben aus vorchristlicher Zeit bis ins 21. Jahrhundert‹. Das Thema war spannend genug, sie abzu lenken und zu beschäftigen und jeden Gedanken an Ben oder ande re Männer auszuschalten. Wenn sie danach ins Bett ging, war sie jedes Mal müde genug, um sofort einzuschlafen. Bis sie von einem ihrer Träume geweckt wurde. Inzwischen hatte sie Angst vorm Einschlafen und zögerte den Zeitpunkt jeden Abend immer weiter hinaus. Mit dem vor hersehbaren Ergebnis, dass sie jeden Morgen unausgeschlafener war und zunehmend Mühe hatte, sich zu konzentrieren. Sie verscheuchte die düsteren Gedanken, zog ein frisches Nacht
hemd an und krabbelte wieder ins Bett. Vielleicht sollte sie Urlaub machen. Oder einen Arzt aufsuchen und sich ein Schlafmittel verschreiben lassen. Während sie langsam wieder in den Schlaf hin über glitt, hatte sie das seltsame Gefühl, irgendwo aus weiter Ferne von einem Magneten angezogen zu werden. Dann war sie eingeschlafen …
* »Sie sehen aber gar nicht gut aus, Kara.« Dr. Mortimers Stimme klang besorgt. Der 60-jährige Kurator des Museums, der sie seit ihrem ersten Arbeitstag hier unter seine Fittiche genommen hatte, war längst auch ein väterlicher Freund geworden. Kara wandte sich mit allen Belangen an ihn, in denen sie einen Vater um Rat gefragt hätte, wenn sie einen gehabt hätte. Sie erinnerte sich nicht an ihren Vater. Er war gestorben, als sie noch keine zwei Jahre alt war. Ihre Mutter hatte danach nicht wieder geheiratet. Dr. Mortimer war bewusst, dass sie ihn als Vater ad optiert hatte und gab sich geschmeichelt die größte Mühe, dieser Rolle gerecht zu werden. »Ich schlafe schlecht in letzter Zeit«, antwortete Kara ihm und un terdrückte ein Gähnen. James Mortimer lächelte verschmitzt. »Wenn die Ursache dafür ein netter junger Mann ist, hat der schlechte Schlaf definitiv seine Berechtigung.« Kara schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nicht.« »Dann arbeiten Sie entschieden zu viel!«, hielt er ihr vor und wurde ernst. »Darüber wollte ich ohnehin mit Ihnen sprechen, Kara. Ihre Arbeit hier im Museum füllt Ihre Zeit nicht so sehr aus, dass nicht noch etwas übrig bliebe, um zumindest einen Teil Ihrer Re
cherchen für Ihre Doktorarbeit während der Arbeitszeit zu erle digen. Dann haben Sie abends etwas mehr Zeit für sich.« »Danke, Sir. Das ist ein sehr großzügiges Angebot, aber …« »Kein Aber, junge Dame!« Er drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. »Glauben Sie denn, ich merke nicht, dass sie sich vergraben, weil Sie Liebeskummer haben?« »Liebeskummer würde ich das nicht nennen«, protestierte Kara er rötend. »Aber zu meiner Zeit nannte man das so«, unterbrach er sie be stimmt und tätschelte ihr freundschaftlich die Schulter. »Eine Trennung ist eine Trennung. Und die ist immer schmerzhaft. Heute genauso wie damals, als ich in Ihrem Alter war. – Wissen Sie was? Sie kommen heute zu uns zum Abendessen. Linda wird sich freuen. Mein Neffe Jarod ist beruflich in der Stadt und will uns heute Abend heimsuchen. Ich kann dem Jungen doch nicht zumuten, den ganzen Abend nur mit seinem schrulligen alten Onkel und seiner zugege ben liebenswerten, aber nicht minder alten Tante zu verbringen. Bitte, Kara, sagen Sie ja.« Sie lachte und gab nach. »Sie sind sehr überzeugend, wenn Sie wollen, Sir. Ich werde also kommen.« Dr. Mortimer strahlte. »Prima! Und da das Private nun geklärt ist, können wir dienstlich werden. Wenn ich mich recht erinnere, gehö ren Sie doch zu den MacLeods of Lewis, die in der Gegend von Lo chinver leben.« »Ja. Warum? Sagten Sie nicht gerade, wir wollten wieder dienst lich werden?« »Werde ich doch, Kara. Ich habe zufällig eine alte Chronik aus der Gegen bekommen, aus Strathan, um genau zu sein. Aus der ent nehme ich, dass einige Leute dort ein paar interessante Gegenstände besitzen könnten, die sie vielleicht an unser Museum zu verkaufen bereit wären. Ich wollte Sie in dieser Mission hinschicken. Ich denke mir, dass die Leute einer einheimischen Highlanderin gegenüber
aufgeschlossener sind als einem großstädtischen Lowlander wie mir. Außerdem könnte es dort etwas Interessantes für Ihre Arbeit geben. Haben Sie schon mal von einem Ort namens Demon’s Leap ge hört? Wenn ich es richtig verstanden habe, fanden dort früher ir gendwelche Rituale statt.« Kara hatte plötzlich das Gefühl, einen Bleiklumpen im Magen zu haben. Schwindel erfasste sie, die Umgebung verschwamm vor ih ren Augen. Bilder strömten in schneller Reihenfolge auf sie ein. Eine Höhle … eine Decke auf dem Boden … Kerzen … die nackten, in einander verschlungenen Leiber zweier Menschen … Lust … Hunger … Gestalten in Mönchskutten … ein Messer … Blut … »Kara!« Dr. Mortimers erschrockener Ruf riss sie wieder in die Wirklichkeit zurück. »Mein Gott, Sie sind auf einmal ganz bleich und fast ohnmächtig geworden! Ich glaube, Sie sind ernsthaft krank.« Kara schüttelte benommen den Kopf. »Das … war nur ein Schwindelanfall.« Sie strich sich über die Stirn und fühlte die Schweißperlen, die sich dort gebildet hatten. »Ich sagte doch, dass ich die letzten Nächte schlecht geschlafen habe. – Wie, sagten Sie, heißt der Ort?« »Demon’s Leap. Aber das ist jetzt vollkommen unwichtig. Sie ge hen sofort nach Hause und legen sich schlafen. Anordnung vom Chef!«, wehrte er ihren beginnenden Protest ab. »Und wenn es nicht besser wird, sollten Sie unbedingt einen Arzt aufsuchen. Nun gehen Sie.« Er duldete keinen Widerspruch. Also machte sich Kara ergeben auf den Heimweg. Es beunruhigte sie zutiefst, dass diese Träume? Visionen? Oder was immer es war … Dass sie sie nun auch schon in wachem Zustand heimsuchten. Ein Arztbesuch war in Anbetracht dessen keine schlechte Idee. Aber vielleicht half tatsächlich auch eine Mütze voll Schlaf. Sie hatte es zum Glück nicht weit bis nach Hause, das direkt neben der National Library of Scotland an der George IV. Bridge lag. Kara
lebte gern mit dem Bewusstsein, ihre geliebten Bücher direkt neben an zu haben. Außerdem war es dort weitaus ruhiger als in anderen Teilen der Stadt. Das kam ihr heute besonders gelegen. Sie schloss ihre Tür hinter sich ab, schaltete die Klingel aus, stellte das Telefon ab, ließ die Jalousien herunter und legte sich ins Bett. Zu ihrer Über raschung schlief sie sofort ein …
* Caleb MacLeod stand am Fenster seines Hauses am Rand von Inver ness und starrte blicklos auf das Wasser des Moray Firth hinaus. Seit einigen Wochen verspürte er eine Unruhe, die nichts Gutes verhieß. Irgendwo ballte sich eine Gefahr zusammen, die auf seine Familie zielte. Noch war sie weit entfernt, aber er konnte sie spüren. Zuerst hatte er geglaubt, dass die Schutzzauber, die er um sich, sein Haus und seine Familie gelegt hatte, schwächer wurden. Doch die waren alle stark wie eh und je. Demnach war es unmöglich, dass ihre Feinde sie gefunden hatten. Dennoch tat sich etwas und es war angebracht, höchst wachsam zu sein. Auch sein 28-jähriger Sohn Kyle und seine 23 Jahre alte Tochter Kassandra fühlten etwas. Er fragte sich allerdings, wieso seine sechs Jahre jüngere Halbschwester Kay kaum etwas wahrnahm, obwohl sie normalerweise das sensibelste Gespür von allen hatte. Es musste irgendetwas sein, das … »Vater!« Kyles Stimme klang aufgeregt, als er fast lautlos ins Zimmer trat. Cal wandte sich vom Fenster ab und sah seinen Sohn erwartungs voll an. »Vater, ich spüre etwas …« Kyle schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll …« »Nun, fang einfach damit an zu beschreiben, welchem bekannten
Gefühl es ähnelt«, riet Cal seinem Sohn. Kyle atmete einmal tief durch und setzte sich in einen Sessel. »Du erinnerst dich doch, dass ich als Kind oft das Gefühl hatte, nicht vollständig zu sein. Als hätte man einen Teil von mir weggenom men.« Cal nickte. »Aber irgendwann hat dieses Gefühl aufgehört, wie ich mich erinnere.« »Nun, nicht wirklich aufgehört«, gestand Kyle. »Ich hatte mich einfach so sehr daran gewöhnt, dass ich es nicht mehr bewusst wahrgenommen habe.« »Und das hat sich jetzt geändert?«, fragte Cal interessiert. Kyle nickte. »Es ist, als wäre dieser fehlende Teil irgendwie auf gewacht und – ruft jetzt nach mir. Als wenn irgendwo in der Feme ein Magnet wäre, der mich anzieht. Als wenn …« Er suchte nach Worten. »Als wenn dein eigenes Blut nach dir ruft?« Kyle nickte heftig. »Ja, genau so.« Caleb hatte mit einem Mal das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Was sein Sohn da beschrieb, war so eindeutig der Ruf des Blutes, dass das nur einen einzigen Schluss zuließ. Bisher hatte er gedacht, seine Familie sei vollzählig und es gäbe keine weiteren Mitglieder mehr. Doch wenn sie von ihrem eigenen Blut gerufen wurden, dann musste es noch irgendwo einen Verwandten geben, von dessen Existenz sie bisher nichts gewusst hatten. »Sollte das möglich sein?«, überlegte er laut. »Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass … Aber es ist nicht ausgeschlossen!« »Was wäre möglich? Wovon redest du?« »Kyle, ich möchte mit dir eine Retrospektion durchführen. Eine Rückschau zum Tag deiner Geburt.« Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Klar, kein Problem.
Aber warum?« »Ich habe einen Verdacht. Und wenn der sich bestätigt, dann steht uns ein wunderbares Ereignis bevor. Das uns aber gleichzeitig in große Gefahr bringen kann. Komm, machen wir uns ans Werk.« Die beiden Männer begaben sich in einen Raum im Keller, der hin ter einer Wand verborgen war und nur durch eine Geheimtür betre ten werden konnte. Dieses geheime Zimmer war definitiv nicht für die Blicke Außenstehender geeignet. Schließlich verriet es die MacLeods auf den ersten Blick als Anhänger eines magischen Kultes. In der Mitte des Raums stand ein steinerner Altar inmitten eines mit roter Farbe auf den Boden gezeichneten Pentagramms, in dessen Spitzen fünf rote Kerzen standen. An einer Wand befand sich ein Regal mit magischen Gerätschaften. An den Wänden entlang war der Fußboden je etwa eineinhalb Meter breit mit weichen Teppichen belegt, auf denen Meditations- und Sitzkissen lagen. Cal holte eine Kristallkugel aus dem Regal, während Kyle sich be quem auf einem der Kissen niederließ. Er nahm die Kugel entgegen und versenkte sich in Trance. Sein Vater zündete inzwischen ein sti mulierendes Räucherwerk an und setzte sich schließend seinem Sohn gegenüber. Als erfahrenem Magier gelang es Kyle sofort, den erforderlichen Zustand zu erreichen und sich auf die geistige Reise durch die Zeit vorzubereiten. Er starrte in die Kugel. »Caelu«, hörte er die sonore Stimme seines Vaters, die ihn mit sei nem wahren Namen ansprach. »Kehre zurück zum Tag deiner Ge burt. Sommersonnenwende 1976. Direkt zu dem Moment, nachdem dem du geboren wurdest. – Was siehst du?« Kyles Blick nahm einen abwesenden Ausdruck an. Cal sah, dass in der Kristallkugel die Nebel der Zeit zu wirbeln begannen und sich schließlich langsam klärten. Alles Weitere war nur noch für seinen Sohn sichtbar. Der begann plötzlich mit der Stimme eines Babys zu wimmern.
Gleich darauf sprach er mit der weichen Stimme einer Frau. »Sie haben ein wunderschönes Baby, Mrs. MacLeod. Einen Sohn. Und es ist alles an ihm dran, was er haben muss. Herzlichen Glückwunsch! Haben Sie schon einen Namen für ihn?« »Kyle«, antwortete Kyle mit einer anderen Frauenstimme. Cal kannte sie nur zu gut. Sie rief ein schmerzhaftes Echo in ihm wach. Kyle schrie plötzlich mit der Stimme seiner Mutter schmerz haft auf. »Oh, da hat es aber noch jemand eilig, auf die Welt zu kommen«, sagte die erste Frau. »Keine Sorge, dieses Mal geht es leichter. Sie haben es bald überstanden, Mrs. MacLeod.« »Geh vorwärts in der Zeit«, wie Cal seinen Sohn atemlos an, »bis zur … zweiten Geburt.« Gleich darauf wimmerte Kyle erneut wie ein neugeborenes Baby. Dann: »Ein Mädchen diesmal! Sie haben gesunde Zwillinge bekommen. Und wie soll Ihre kleine Prinzessin heißen?« »Kara«, antwortete seine Mutter. »Oh, geben Sie sie mir! Beide! Ich will sie wenigstens einmal beide im Arm halten, Frau Doktor!« »Aber Mrs. MacLeod«, sagte die Ärztin sanft. »Sie werden Ihre beiden Schätze noch oft im Arm halten.« »Nein!« Kyles Mutter begann zu weinen. »Hören Sie, Doktor! Sie müssen etwas für mich tun! Mein kleines Mädchen … Da ist doch diese andere Frau. Die gestern eine Totgeburt hatte. Sie heißt auch MacLeod, nicht wahr? Sie müssen ihr meine Kara geben. Bitte!« »Das kann ich nicht tun!« protestierte die Ärztin. »Auf keinen Fall …« »Bitte, Sie verstehen das nicht! Meine Kinder sind in großer Gefahr! Zu viele Menschen wissen, dass ich schwanger bin. Sie werden meine Kinder töten! Aber niemand außer Ihnen weiß, dass ich Zwillinge habe. Wenn Sie meine Kara der anderen Frau geben, wird wenigstens sie in Sicherheit sein und leben. Bitte!«
Cal brach beinahe das Herz, als er die Mutter seiner Kinder um de ren Leben flehen hörte. Ihre Sorge war nur zu berechtigt gewesen. Wenige Monate nach der Geburt war Mirjana ermordet worden. »Genug!«, befahl er. »Komm zurück, Caelu!« Der junge Mann brach die Trance ab und ließ seinen Geist in die Realität zurückkehren. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Er warf sich seinem Vater in die Arme und klammerte sich an ihm fest, wie er es nicht einmal als kleiner Junge getan hatte. Cal hielt ihn und weinte mit ihm. Ihre Art war normalerweise re lativ emotionslos und nicht zur Liebe fähig. Doch er war eine Aus nahme. Er hatte Mirjana mehr geliebt als sein Leben. Und er hätte alles dafür gegeben, sie retten zu können. Aber er hatte nur Kyle schützen können – mit knapper Not. Doch jetzt … »Ich habe noch eine Schwester«, schluchzte Kyle. »Eine Zwillings schwester!« Cal nickte. »Deshalb hast du dich immer gefühlt, als hätte man einen Teil von dir weggenommen. Man hat dir einen Teil wegge nommen: deinen Zwilling.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe noch eine Tochter!« Der Gedanke war überwältigend. »Und sie erwacht gerade.« »Damit ist sie in großer Gefahr«, stellte Kyle fest, jetzt wieder ernst, emotionslos und kühl. »Wenn wir sie spüren können …« »Dann kann das die Bruderschaft auch«, ergänzte Cal. »Wenn die sie aufspüren, werden sie sie genauso töten wie deine – eure Mutter. Mach dich auf den Weg, mein Junge! Finde sie! Beschütze sie! Und bring sie her. Hier wird sie in Sicherheit sein. Wenigstens für einige Zeit.«
*
Der Schrei hallte schaurig durch die Mauern des Klosters St. George the Pure. Die Mönche der Bruderschaft des Reinen Lichts hielten in ihren Tätigkeiten inne und blickten einander erwartungsvoll an. Der Schrei wiederholte sich dreimal. Dann herrschte eine gespannte Stille, in der sich die Brüder in der Kapelle versammelten und stumm zu beten begannen. Nach ungefähr einer Stunde trat der Abt vor sie hin. Die grauen Augen in seinem hageren Gesicht glühten mit einem fanatischen Feuer. »Brüder!«, verkündete er ernst. »Der Herr hat unsere Gebete erhört! Er sandte Bruder Ambrosius eine Vision! Wir haben erneut einen gefunden!« Die Brüder brachen in ein lautes Halleluja aus. Der Abt bat mit einer Handbewegung um Ruhe. »Ja, Brüder – Halleluja! Es ist wahr! Wir haben eine neue Ausgeburt der Hölle aufgespürt. Gott sprach zu uns: Ihr sollt die Kreaturen der Hölle nicht am Leben lassen! Und, bei Gott, wir werden sie nicht am Leben lassen!« Ein neues »Halleluja!« antwortete ihm. Der Abt ließ seinen Blick über die versammelten Mönche schweifen, die ihn in eifriger Erwartung ansahen. Schließlich blieben seine Augen auf einem rüs tigen Mann ruhen, der langsam wie hypnotisiert aufstand. »Ja, Bruder Innocencius«, bestätigte der Abt mit fester Stimme. »Du bist auserwählt, den Auftrag des Herrn auszuführen. Du wirst sofort aufbrechen. Halleluja!«
* Als Kara am Abend Dr. Mortimer besuchte, fühlte sie sich ausgeruht und relativ munter. Sie hatte fast den ganzen Tag verschlafen. Aber offensichtlich hatte die Therapie gewirkt. Dr. Mortimer und seine Frau Linda freuten sich sichtlich, sie zu se
hen. »Und dies hier«, stellte der Museumsdirektor vor und schob einen jungen Mann vor sie hin, »ist mein Neffe Jarod Kane. Frisch zurück aus Amerika. Jarod, mein Protegée Kara MacLeod, die begabteste Ethnologin, die ich je kennen gelernt habe.« Kara errötete und reichte Jarod die Hand. »Ihr Onkel übertreibt«, wehrte sie ab. »Das tut Onkel James in der Regel eher nicht«, widersprach er und drückte ihre Hand fest. Seine Stimme klang voll und tief. Er musterte sie eindringlich mit seinen blauen Augen, die einen auffallenden Kontrast zu seinem fast schwarzen Haar bildeten. Kara hatte plötzlich den Eindruck, von einer Klapperschlange gemustert zu werden, die jeden Moment zu stoßen wollte. Sie fühlte sich schlagartig unwohl in seiner Nähe, doch gleichzeitig von ihm angezogen. Sie zog ihre Hand zurück. »Setzt euch, Kinder«, forderte Dr. Mortimer sie auf. »Das Essen ist noch nicht ganz fertig. Jarod wollte uns gerade von seiner Arbeit in den Staaten erzählen. Er ist Polizist.« »Noch nicht, Onkel«, verbesserte er. »Ich bin in der Ausbildung beim FBI in Quantico. Die haben seit einiger Zeit eine Sonderabtei lung für Okkultismus.« »Wie ›Akte X‹?«, fragte Kara interessiert. Jarod nickte. »So ähnlich, wenn auch nicht ganz so spektakulär. Die Abteilung untersucht und registriert alle Fälle, die in irgend einer Form mit Okkultismus oder ›Hexerei‹ zu tun haben. Angefangen bei relevanten Drogendelikten über einschlägige Tier quälerei und unautorisierte Schlachtungen, schwarze Messen und dergleichen, bis hin zu Ritualmorden. Scotland Yard will eine ähnli che Abteilung einrichten, deren Operationsgebiet hauptsächlich hier in Schottland sein soll.« »Warum ausgerechnet hier?«, fragte Dr. Mortimer.
»Weil es gerade hier in den letzten dreißig Jahren etliche unaufge klärte Fälle gegeben hat, die damit in Zusammenhang stehen könn ten. Das Hauptbüro wird hier in Edinburgh sein. Später sollen wei tere Zweigstellen im ganzen Land dazukommen.« »Und du sollst das Büro leiten?«, fragte Mortimer. Jarod nickte. »Glückwunsch, mein Junge!« Linda Mortimer rief sie zum Essen. Kara war erleichtert, dass Jar od Kane seine Aufmerksamkeit jetzt erst einmal seinem Steak wid mete. Er hatte sie die ganze Zeit über so intensiv und ernst angese hen, dass sie sich fast schon bedroht fühlte. Zum Glück lenkte Dr. Mortimer das Gesprächsthema wieder auf vertrautes Terrain. Er hatte eine Liste der Familiennamen zu sammengestellt, die Kara in Lochinver und Umgebung aufsuchen und herausfinden sollte, ob sie Antiquitäten besaßen, die sie dem National Museum verkaufen wollten. Er besprach mit ihr die wei teren Einzelheiten und drängte sie, möglichst bald aufzubrechen. Außerdem ordnete er an, dass sie sich mindestens drei Monate Zeit lassen und anschließend noch mindestens zwei Wochen Urlaub anhängen müsse. Der Rest des Abends verging mit nettem Geplauder über Gott und die Welt, bis Kara gegen zehn Uhr entschied, dass sie nun gehen müsse. Zu ihrem Entsetzten bot Jarod Kane an, sie zu begleiten – und Dr. Mortimer hielt das für eine gute Idee! Da Kara kein plausibler Grund einfiel, mit dem sie das Angebot hätte ablehnen können, verließ sie mit Jarod Kane das Haus seines Onkels. Kaum war sie mit ihm allein auf der Straße, fühlte sie sich noch unwohler. Gleichzeitig hatte sie das Bedürfnis, sich ihm in die Arme zu werfen und … »Woher kommen Sie, Kara?« Sie zuckte bei der unerwarteten Frage zusammen. »Lochinver, wie Ihr Onkel schon erwähnt hat.« »Nun, ich meinte eigentlich, aus welcher Familie Sie stammen.«
»Das ist eine ziemlich dumme Frage, Jarod. Ich bin, wie mein Name besagt, eine MacLeod aus dem Clan MacLeod of Lewis. Wieso fragen Sie?« Er packte sie plötzlich so hart am Arm, dass sie erschrocken auf keuchte. »Sie können mich nicht belügen, Kara. Ihre Tarnung funktioniert nicht so ganz. Ich kann spüren, dass Sie nicht die sind, für die Sie sich ausgeben.« Sie machte sich heftig von ihm los und funkelte ihn wütend an. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie überhaupt reden! Aber wenn Sie mich noch einmal anfassen, dann …« Sie kam nicht dazu, ihre Drohung zu vollenden. Aus dem Schatten eines Hauses sprang eine geduckte Gestalt. Kara bekam nur einen flüchtigen Eindruck von einem Mann im Kapuzenmantel, ehe sie den Dolch aufblitzen sah, mit dem der Angreifer auf ihr Herz zielte. »Stirb, Ausgeburt der Hölle!«, brüllte er mit überschnappender Stimme. »Gott befiehlt deinen Tod!« Kara schrie entsetzt auf und sprang instinktiv zurück. Im nächsten Moment war sie sehr froh, dass Jarod Kane sie begleitet hatte. Der Polizist verstellte dem Angreifer den Weg, blockte seinen Dolchstich ab, entwaffnete den Mann und brachte ihn mit einem Judowurf zu Fall. Doch der Mann war hart im Nehmen. Er sprang auf die Füße und floh. Jarod folgte ihm, aber der Angreifer war unglaublich schnell und ausdauernd. Nach ein paar hundert Metern gab Jarod auf und kehrte zu Kara zurück, die sich vollkommen schockiert mit dem Rücken gegen die Hauswand gepresst hatte. Jarod hob den Dolch auf, den der Fremde fallen gelassen hatte. Er war aus reinem Silber, aus einem einzigen Stück gegossen und mit verschiedenen Symbolen graviert. Er hielt ihn Kara hin. »Wollen Sie mir immer noch erzählen, dass Sie ein ganz normaler Mensch sind?« Sie starrte ihn nur aus großen grünen Augen entsetzt an und sagte
kein Wort. Er bohrte den Blick in diese Augen, um sie zu zwingen, ihr Geheimnis preiszugeben. Doch sein Geist griff ins Leere. Da war nur Schock, Angst und Verständnislosigkeit. Er seufzte, hob die Hand und strich ihr mit einer überraschend sanften Geste über die Wange. »Vielleicht sind Sie ja wirklich unschuldig und ich irre mich«, räumte er leise ein. »Dann sehen Sie zu, dass das so bleibt. – Und jetzt bringe ich sie zur nächsten Polizeiwache, damit Sie eine Anzeige erstatten können.« Kara begleitete Jarod aufs Revier, machte eine Anzeige, sprach mit einem Polizeipsychologen und wurde Stunden später in Jarods Be gleitung nach Hause entlassen. Dort fühlte sie sich mit dem Polizis ten, den man zu ihrem Schutz vor ihre Tür stellte, einigermaßen si cher. Sie legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Doch ihr Schlaf wurde durch bedrohliche Träume gestört, in denen sie von Männern in Mönchskutten ermordet wurde. Am nächsten Morgen packte sie ihre Koffer und reiste mit dem Mittagszug nach Lochinver. Sie hoffte, dort im Haus ihrer Mutter ein wenig Ruhe zu finden …
* Caitlin MacLeod freute sich sehr, ihre Tochter wieder einmal bei sich zu haben. Sie war allerdings entsetzt, als sie von dem Überfall hörte. »Und du hast keine Ahnung, wer der Angreifer sein könnte?«, vergewisserte sie sich. Kara schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er trug eine Art schwarze Kutte … ähnlich wie ein Mönch. Vielleicht gehört er zu irgendeiner Sekte, für die alle Frauen Ausgeburten der Hölle sind.« Caitlin war
blass geworden. »Was ist los, Mom?« Sie lächelte gezwungen. »Nichts, Liebes. Nur … Sei bitte sehr, sehr vorsichtig, ja?« »Das habe ich vor. Aber du verschweigst mir doch was.« Caitlin lachte. »Ach was, Kind!« Kara wusste, dass ihre Mutter log. Aber sie ließ es auf sich beruhen und machte sich am nächsten Tag an die Arbeit. Caitlin unterstütze sie nach Kräften bei ihrer Suche nach den von Mortimer begehrten Antiquitäten und Kara konnte er folgreich einige wirklich seltene und gut erhaltenen Stücke erwer ben. Es hatte eben unbestreitbar einige Vorteile, die Historikerin und Stadtarchivarin als Mutter zu haben. Daneben fand Kara noch viel Zeit, an ihrer Dissertation zu arbeiten und Nachforschungen über den von Mortimer erwähnten Ort ›Demon’s Leap‹ anzustellen. Sie erfuhr, dass der Ort irgendwo im Glencanisp Forest am Fuß des Mount Canisp liegen musste. Doch er war in keiner Karte der Gegend verzeichnet. Allerdings wurde er in verschiedenen alten Schriften erwähnt, die Kara im Archiv fand – mit sich vollkommen widersprechenden In formationen. In einer Quelle hieß es, Demon’s Leap sei ein Ort, den junge Frauen vor der Hochzeit aufsuchten, um dort mit heidnischen Ri tualen für Glück in der Ehe zu bitten. Die meisten anderen Quellen nannten ihn einen verfluchten Ort, den jeder anständige Christen mensch mied wie der Teufel das Weihwasser. »Mom, was weißt du über Demon’s Leap?«, fragte Kara nach einer Woche vergeblicher Suche. Caitlin erblasste und ließ vor Schreck das Buch fallen, das sie ge rade in der Hand hielt. »O Gott, Kind! Halt dich von diesem Ort fern!« Kara verdrehte genervt die Augen. »Warum denn, um alles in der
Welt? Es ist doch nur ein Ort irgendwo im Wald.« Ihre Mutter setzte sich auf die Couch und lud Kara ein, neben ihr Platz zu nehmen. »Demon’s Leap ist ein … besonderer Ort. Im Mit telalter sollen sich dort die Hexen in Vollmondnächten versammelt und mit ›Buhlteufeln‹ Unzucht getrieben haben, wie man es damals nannte.« Kara lachte. »Mit anderen Worten, die unverheirateten – oder auch verheirateten Frauen – haben dort ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht oder einfach nur ihre Lust ausgelebt. Okay, damals war das ein Verbrechen. Aber heute doch nicht mehr. Warum also soll ich dort nicht hingehen?« Sie blickte Caitlin scharf an. »Mutter, was verschweigst du mir?« Die Angesprochene seufzte tief. »Bitte, frag mich nicht, Kara. Ich habe geschworen, das … Geheimnis … niemals preiszugeben. Nur so viel: Du bist in Gefahr. Und wenn du nach Demon’s Leap gehst, wird dich diese Gefahr noch viel schneller einholen.« Kara riss der Geduldsfaden. »Also, Mutter, entweder du sagst mir jetzt, was das für ein Geheimnis ist, oder ich werde hingehen und es selbst herausfinden.« »Kara, nein!« Caitlin sah sie flehentlich und unglücklich an, sagte aber kein weiteres Wort. »Okay, Mutter, wie du willst!« Sie stand auf. »Ich werde es also ohne dich herausfinden.« Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, verließ sie das Haus, stieg in ihren Mietwagen und fuhr zum Glencanisp Forest. Sie hatte das Ge fühl, plötzlich genau zu wissen, wo der geheimnisvolle Ort lag. Und sie fühlte sich wie magisch von ihm angezogen …
* Kara war so auf ihre Gefühle und die Fahrt konzentriert, dass sie
nicht bemerkte, dass ihr ein dunkler Wagen folgte. Und in großem Abstand dahinter noch ein zweiter. Sie erreichte den Canisp eine halbe Stunde später, parkte ihren Wagen auf dem Touristenparkplatz und ging zu Fuß weiter. Demon’s Leap lag verborgen hinter schroffen Felsen. Der Zugang war so von Büschen überwuchert, dass man ihn nur durch Zufall finden konnte – wenn man nicht von ihm gerufen wurde. Eine weitere halbe Stunde später hatte sie den Ort erreicht. Es war eine kleine Höhle unter einem Felsvorsprung. Kara erkannte die Höhle aus der Vision, die sie gehabt hatte, als Dr. Mortimer Demon’s Leap zum ersten Mal erwähnte. Dieselbe Vision stellte sich auch jetzt wieder ein. Sie sah einen fast überirdisch schönen Mann, der vollkommen nackt auf dem Felsvorsprung hockte und sie ansah. Im nächsten Moment sprang er mit einem eleganten Satz vom Felsen herunter – Demon’s Leap – und lud sie mit einer Handbewegung ein, ihm in die Höhle zu folgen. Drinnen entkleidete er sie und sie liebten sich auf dem moosbedeckten Höhlenboden mit einer Leidenschaft und In tensität, die Kara noch nie zuvor verspürt hatte. Plötzlich verdunkelte ein Schatten den Höhleneingang. Karas Herz setzte einen Schlag aus, als sie einen Mönch in einer schwarzen Kut te erkannte. In der Hand hielt er einen silbernen Dolch … »Dämon! Hexe! Höllenbrut!«, kreischte der Mann in wahnsinniger Wut, ehe er sich mit einem triumphierenden »Jetzt stirbst du!« auf sie stürzte. Kara erkannte zu spät, dass dieser Mann nicht Bestandteil ihrer Vision sondern sehr real war. Der Dolch würde sie durchbohren, wenn nicht ein Wunder geschah. Doch genau das trat überraschend ein. Hinter dem Mönch blitzte etwas hell auf, traf ihn in den Rücken und warf ihn zu Boden, wo er reglos liegen blieb. »Nein, heute nicht«, antwortete eine kühle Stimme vom Eingang her auf die Ankündigung des Mönchs.
Kara, unfähig sich zu rühren oder auch nur zu schreien, starrte ih ren Retter an. Sie glaubte für einen Moment, in ein ins Männliche verzerrtes Spiegelbild ihres eigenen Gesichts zu sehen. Sie sah die gleichen roten Haare, die gleichen grünen, leicht schräg stehenden Augen, den gleichen Mund … »Kara!«, sagte ihr männliches Spiegelbild und streckte eine Hand nach ihr aus. In seiner Stimme lag eine unglaubliche Bandbreite von Gefühlen, die von Erleichterung, tiefer Rührung und Ergriffenheit bis zu Staunen und – Liebe reichte. »Ich bin Kyle«, stellte er sich vor. »Dein – Zwillingsbruder. Komm, wir müssen hier verschwinden. Bevor dieser Fanatiker wieder auf wacht und versucht, sein Werk zu vollenden. Komm!« Kara gehorchte und nahm seine Hand. Im selben Moment verschmolz etwas in ihr mit dem Fremden, der ihr Gesicht trug und sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Sie schmiegte sich an ihn und er hielt sie, wie etwas unendlich Kostbares. »Aber wie …« »Später, Kara! Du wirst alles erfahren. Jetzt müssen wir weg von hier.« Sie folgte ihm …
* »O mein Gott!«, entfuhr es Caitlin MacLeod, als sie die Tür öffnete und Karas männliches Ebenbild neben ihrer Tochter stehen sah. »Mom, was ist hier los?«, fragte Kara verzweifelt. »Erklären Sie es ihr, Mrs. MacLeod«, sagte Kyle. »Sie muss die Wahrheit erfahren, sonst lebt sie nicht mehr lange. Vor einer halben Stunde hat man zum zweiten Mal versucht, sie umzubringen.«
»O mein Gott!« wiederholte Caitlin. »Kommt rein!« Sie führte die beiden ins Wohnzimmer. »Setzt euch.« Sie nahm ebenfalls Platz und atmete dann tief durch. »Kara, du … Ich … ich bin nicht deine Mut ter.« »Was?« Caitlin nickte. »Ich lag im selben Krankenhaus wie deine Mutter, Mirjana MacLeod. Wir sind nicht verwandt, aber MacLeod ist ja in Schottland, besonders hier in dieser Gegend, kein seltener Name. Einen Tag, bevor ihr beide geboren wurdet, hatte ich eine Fehlge burt. Aus mir unbekannten Gründen fürchtete eure Mutter um euer Leben und auch um ihr eigenes. Sie dachte, wenn sie eins ihrer Kinder weggibt, wäre es in Sicherheit. Und so haben wir mit Hilfe der Ärztin, die euch entbunden hat, deine Geburtsurkunde gefälscht und dich als mein Kind ausgegeben. Ich musste deiner Mutter bei Gott schwören, weder dir noch sonst jemandem jemals die Wahrheit zu sagen. Und sie schärfte mir ein, dich von Demon’s Leap fern zu halten, da du dort in große Gefahr geraten würdest.« Caitlin zuckte mit den Schultern. »Ich gebe zu, ich habe sie für überdreht und verrückt gehalten. Aber da sie durch ihre Verrückt heit meinen größten Verlust rückgängig machte und mir die größte Freude schenkte – dich, Kara – habe ich nicht weiter protestiert. Zweifel kamen mir erst, als ich erfuhr, dass sie nur wenige Wochen nach eurer Geburt ermordet wurde und ihr Sohn seitdem ver schollen, wahrscheinlich ebenfalls tot war.« Kara war bis ins Mark erschüttert. »Aber wer hat sie ermordet? Und warum? Und wieso hat dieser Mönch – oder was er ist – ver sucht, mich umzubringen?« »Er gehört zu einem Orden, der sich die Bruderschaft des Reinen Lichts nennt«, erklärte Kyle. »Und die haben es schon seit Jahr hunderten auf uns abgesehen.« Er hob abwehrend die Hand, als Kara neue Fragen stellen wollte. »Später, Schwesterchen! Wir müssen hier verschwinden. Sofort. Der Typ bleibt nicht ewig be
wusstlos. Pack deine Sachen. Ich bringe dich zu unserem Vater. Dort bist du in Sicherheit.« »Mein Vater lebt?« Kyle nickt. »Beeil dich!« Während Kara in ihr Zimmer eilte, um ihre Sachen zu packen, wandte er sich an Caitlin. »Sie sollten auch verschwinden. Machen Sie einen langen Urlaub, am besten im Aus land. Und fahren Sie noch heute.« »Aber meine Arbeit …« »Melden Sie sich krank und tauchen Sie unter. Wenn die Bruder schaft Sie in die Finger bekommt, werden sie Sie so lange foltern, bis Sie ihnen sagen, wo Kara ist. Darin haben die Jahrhunderte lange Übung, glauben Sie mir.« Caitlin brauchte keine weitere Motivation. Sie ging Packen. Wenig später verabschiedete sie sich hastig von Kara. »Mein Liebling, glaub mir«, sagte sie zum Abschied, »ich habe dich immer geliebt wie mein eigenes Kind. Und ich hätte dich nie belogen, wenn deine Mutter es nicht verlangt hätte.« Kara umarmte sie. »Ach, Mom! Ich habe nur dich als Mutter ge kannt. Und das wirst du immer bleiben. Pass auf dich auf!« »Und du auf dich!« Dann zog Kyle sie unnachgiebig nach draußen. Das Letzte, was Caitlin MacLeod von ihrer Tochter sah, war ihr roter Haarschopf, der in Kyles dunkelblauem Sportwagen um die nächste Straßenecke herum verschwand …
* Kara erlebte die vierstündige Fahrt nach Inverness wie in Trance. Sie hatte das Gefühl, dass man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte und ihr ganzes Leben Kopf stand. Sie hatte keine
Ahnung, wie ihre Zukunft aussah. Ob sie überhaupt eine Zukunft hatte. Dazu kam der Schock der zweimaligen Mordversuche und die Eröffnung, dass ihre Mutter nicht ihre Mutter war. Kyle schwieg die meiste Zeit während der Fahrt. Ihr Bruder. Ihr Zwilling. So fremd und doch so vertraut. Die Beantwortung aller Fragen hatte er auf den Moment vertagt, wenn sie zu Hause ankom men und ihr Vater alles erklären würde. Zu Hause. Ihr Vater. Noch ein Fremder. Doch als sie ihm schließlich gegenüberstand, spürte sie dieselbe Vertrautheit wie mit Kyle. Caleb MacLeod war Kyles älteres Eben bild, Mitte Fünfzig, rothaarig und grünäugig wie wohl die ganze Fa milie. Er schloss sie in die Arme und weinte eine lange Zeit mit ihr. Nachdem sie sich alle schließlich wieder etwas beruhigt hatten, setzten sie sich im Wohnzimmer zusammen. »Kara«, sagte ihr Vater, »ich weiß, dass die Ereignisse der letzten Tage schlimm für dich gewesen sind. Und ich würde dir gern viel Zeit lassen, alles zu verarbeiten. Aber diese Zeit haben wir leider nicht. Deine Kräfte sind dabei zu erwachen und du musst sie schnellstmöglich unter Kontrolle bringen, damit du sicher leben kannst.« Kara schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht.« »Ich erkläre es dir. Aber vorab Folgendes: Wir sind alle geistig ganz gesund und nicht verrückt. Und jedes Wort, das ich dir jetzt sage, ist die Wahrheit und kein übler Scherz.« Bedauernd fügte er hinzu: »Ich weiß, dass du für diese Wahrheit nicht bereit bist und dass es ein neuer Schock für dich sein wird. Aber wir haben keine andere Wahl.« Er sah sie eindringlich an. »Kara, wir alle sind – Dämonen. Inkubi und Sukkubi, um genau zu sein. Unsere Familie lebt schon seit über zweitausend Jahren unter den Menschen. Anfangs gab es keine Pro bleme. Aber dann kamen die Christenpriester und mit ihnen eine bisher nie da gewesene Körperfeindlichkeit. Deshalb begannen sie
uns und unsere menschlichen Partner zu verfolgen. Besonders die Bruderschaft des Reinen Lichts. Ihr ganzes Leben ist auf die Ver nichtung von Dämonen und ihrer menschlichen Helfer ausgerichtet. Aus diesem Grund haben sie auch eure Mutter umgebracht. Und sie hätten auch nicht gezögert das Baby zu töten, das Kyle damals war, wenn ich ihn nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätte.« Kara starrte ihn an und brauchte eine Weile, um seine Worte zu begreifen. Plötzlich lachte sie hysterisch auf. »Entweder ihr seid doch verrückt – oder ich bin es!« Cal sah sie mitfühlend an. »Es tut mir so Leid, mein Kind. Leider ist es die Wahrheit.« »Die du selbst nachprüfen kannst«, warf Kyle ein. »Erinnere dich. Warst du jemals krank? Mit Sicherheit nicht. Kleine Wunden sind auf der Stelle wieder narbenlos verheilt. Falls du dir mal irgend wann einen Knochen gebrochen haben solltest, war er innerhalb einer Woche wieder vollkommen ganz. Entgegen aller Regel. Und in letzter Zeit entwickelst du zunehmend einen Hunger, der nichts mit normaler Nahrungsaufnahme zu tun hat. Ich wette, du bist inzwi schen so weit, dass du am liebsten jedem Mann die Kleider vom Leib reißen möchtest.« Kara konnte nicht verhindern, dass sie knallrot wurde. »Nur in meinen Träumen!«, protestierte sie. »Doch nicht in der Realität!« »Kommt noch«, prophezeite Kyle trocken. »Das ist ganz normal, Kara«, erklärte Cal ruhig. »Du bist ein Suk kubus.« »Ein – was?« »Im Mittelalter nannte man uns Buhlteufel. Im modernen Sprach gebrauch heißt das Sexdämon. Die männliche Form ist übrigens ein Inkubus. Zusätzlich zu der normalen Nahrung, die wir zu uns nehmen, ernähren wir uns von der wunderbaren Energie, die wäh rend des Geschlechtsakts erzeugt wird. Unsere Art braucht diese Form der Nahrung zum Überleben. Wenn wir sie nicht konsu
mieren, verhungern wir buchstäblich.« Cal ergriff sanft Karas Hände. »Du, Kyle und eure Schwester Kas sandra, die du noch kennen lernen wirst, ihr seid zur Hälfte Men schen.« Er zuckte mit den Schultern. »Normalerweise sind Inkubi und Sukkubi mit Menschen nicht fortpflanzungsfähig. Ich bin durch eine genetische Mutation eine Ausnahme und ihr seid das Ergebnis. Deshalb hätte es sein können, dass dieser Kelch an dir vorüber ge gangen wäre. Besonders da du ein Zwilling bist. In der Regel über tragen sich diese Fähigkeiten nur auf den stärkeren Zwilling, der auch zuerst geboren wird. Und bis jetzt warst du bis auf die Abwesenheit von Krankheiten ein ganz normaler Mensch. Doch aus unbekannten Gründen hat sich nach 28 Jahren dein Dämonenblut entschlossen zu erwachen. Die Träume sind nur der Anfang. Der Tag wird kommen, an dem du sie ausleben musst, um zu überleben. Es tut mir Leid.« »Und dein erwachendes Dämonenblut ist auch der Grund, weshalb die Bruderschaft plötzlich hinter dir her ist«, fügte Kyle hinzu. »In jeder Generation haben sie eine Art Seher, der den größ ten Teil seiner Tage in Trance verbringt und mit seinem Geist die ätherischen Sphären nach dämonischer Signatur durchstreift. Wenn er eine gefunden hat, schicken sie ihre Jäger los, den Besitzer zu tö ten.« Kara erschauerte. »Und … in Demon’s Leap suchen sie uns zuerst? Wieso?« »Weil das der Ort ist, an dem wir alle irgendwann einmal gezeugt wurden«, antwortete Cal. »Einige – so wie ich – sind sogar dort ge boren worden. Deshalb haben sie die Höhle besonders im Visier.« »Aber … wieso seid ihr dann nicht auf der Flucht? Ihr seid doch genauso in Gefahr wie ich.« »Stimmt«, bestätigte Cal. »Aber wir haben magische Schutzschilde um uns errichtet, die es dem Seher unmöglich machen, uns wahr zunehmen. Da deine Magie aber noch unterentwickelt ist und du sie
nicht beherrschst, konnte er dich aufspüren.« »Magie«, echote Kara perplex. »Jetzt sagt nur noch, dass ich Fähig keiten habe wie … wie die drei Hexen in ›Charmed‹.« »So ähnlich«, bestätigte ihr Vater. »Wärst du bei mir auf gewachsen, hättest du deine Kräfte ganz langsam auf natürlichem Weg entwickeln können. Aber bis vor ein paar Tagen haben wir nichts von deiner Existenz gewusst. Das alles bringt uns jetzt in diese schwierige Situation. Wir müssen deine Kräfte auf einen Schlag aktivieren, damit du sie schnellstmöglich nutzen kannst, um dich selbst zu schützen.« Kara sah ihn misstrauisch an. »Was bedeutet das?« »Dass wir die Magie deines Dämonenblutes in einem Initiationsri tual vollständig befreien werden.« Sie musterte ihn skeptisch, immer noch nicht ganz überzeugt. »Tut das weh?« Caleb lachte. »Ganz im Gegenteil. Du fühlst dich hinterher buch stäblich wie neu geboren.«
* Der Raum, in dem sich Kara befand, war nur von dicken roten Kerzen erleuchtet, die in weitem Kreis um den steinernen Altar her um aufgestellt waren, auf dem sie lag. Dreizehn Kerzen. Sie fühlte den weichen Samt auf ihrer Haut. Darunter die Kälte des Steins. Man hatte ihr nicht viel Zeit zum Nachdenken gegeben, nur einen Tag, um sich auszuruhen und ihre Gedanken wenigstens ein biss chen zu ordnen. Eine Zeit, die viel zu kurz war, um zu begreifen, dass sie eine Halbdämonin war, die sich von Sex ernähren musste und magische Kräfte hatte. Am nächsten Abend fand das Ritual statt, auf das ihre Tante Kay und ihre jüngere Schwester Kassandra sie vorbereitet hatten. Beide waren plötzlich da, genauso rothaarig
und grünäugig wie alle MacLeods. Doch Kara hatte keine Zeit, mit ihnen richtig bekannt zu werden. Einem rituellen Bad in einem Kräutersud war eine Ganzkörperölung mit einem betäubend duftenden Öl gefolgt. Dann hatte man sie in eine scharlachrote Robe gesteckt, unter der sie völlig nackt war. Zum Schluss musste sie noch einen seltsam schmeckenden Tee trin ken, der sie entspannen sollte. Anschließend wurde sie in einen geheimen Ritualraum im Keller geführt. Kay nahm ihr die Robe ab und half ihr, sich nackt auf den Altar zu legen. Kara fühlte sich seltsam entrückt, als sei sie nur un beteiligte Beobachterin, nicht die Hauptperson. Ihre Familie trat jetzt an den Altar. Auch sie waren nackt. Caleb und Kyle standen an je einer Seite, Kay am Fußende und Kassandra am Kopfende des Altars. Kara wurde plötzlich von Furcht gepackt. Sie wollte aufspringen, wollte ihnen Einhalt gebieten. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Kein Muskel gehorchte mehr ihrem Befehl. Die vier fassten sich an den Händen und begannen, im Kreis um den Altar zu schreiten. Dabei murmelten sie erst leise, dann immer lauter dieselben Worte einer fremden Sprache: »Zitágunee, Rhu’Carana! Zitágunee!« Bis der ganze Raum von den Worten widerhallte. Für Kara schien auf einmal in ihrem eigenen Körper kein Platz mehr zu sein. Ihr Geist begann, sich sanft daraus zu lösen, bis er über ihr schwebte und sie sich selbst auf dem Altar liegen sah. Etwas geschah, während die vier den Ruf ständig wiederholten. Etwas veränderte sich. Für immer. Kara fiel in Dunkelheit. Als ihr Geist daraus wieder auftauchte, befand sie sich wieder in ihrem Körper. Mit geschärften Sinnen, die seltsame Lichter wahr nahmen. Mit einem Gefühl großer Kraft in jeder Muskelfaser. Mit einem Hunger, einem Verlangen, das sie schier wahnsinnig machte. Als plötzlich ein fremder Mann vor ihr stand, nackt wie sie selbst und sie einladend anlächelte, zögerte sie keine Sekunde. Der Sukku
bus schlug zu und vollzog die Vereinigung auf dem Altar mit einer Intensität, die weit jenseits alles Menschlichen lag. Es hatte nichts mit Gefühlen zu tun, nichts mit Liebe oder Zärtlichkeit. Es war pu rer Sex, Lust und Wildheit. Sie brauchte es. Der Hunger in ihr sog die erzeugte Energie auf und nahm vom dem Mann, was er bekom men konnte. Der lachte nur und gab ihr, wonach sie verlangte, bis sie vollkommen erschöpft und gesättigt war. Dann verschwand er …
* Sehr viel später erhob sich Kara, zog sich die Robe an und suchte ih ren Weg zurück ins Wohnzimmer, wo ihre Familie sie lächelnd erwartete. »Willkommen in der Familie Rhu’u«, sagte Cal. »Dein wahrer Name lautet Rhu’Carana. Ich bin Rhu’Calibor.« Er deutete auf Kyle. »Rhu’Caelu.« Auf Kay: »Rhu’Cayuba.« Auf Kassandra: »Rhu’Cassil ya … Da wir aber unter Menschen leben, haben wir natürlich auch ganz normale menschliche Namen. Wie fühlst du dich?« »Wer war der Mann, der …?« Die Erinnerung an das, was vor kurzem im Keller passiert war, trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. »Ein befreundeter Inkubus, der sich zur Verfügung gestellt hat für dein erstes Mal. Bald wirst du dich Menschen zuwenden können, um deinen Hunger zu stillen.« Kara starrte ihn entsetzt an. »Soll das heißen, dass ich … in Zu kunft wahllos mit irgendwelchen Männern schlafen muss?« Bei dem Gedanken musste sie gewaltsam einen Brechreiz unterdrücken. »Was habt ihr mit mir gemacht?« Kyle schüttelte verständnislos den Kopf. »Wo ist das Problem? Ca rana, du bist ein Sukkubus. Das ist deine Natur. Du hast ein Recht, sie auszuleben. Wie wir alle. Ich habe sie einfach zum Beruf gemacht
und verdiene mein Geld als Callboy.« Kara starrte erst ihn, dann Kassandra angeekelt an. »Und du? Verdienst du dein Geld als Prostituierte?« Kassandra zuckte mit den Schultern. »Callgirl. Einen besseren Be ruf kann ich mir für unsere Art nicht vorstellen. Caelu und ich haben unsere eigenen Agentur. Ganz legal mit Lizenz und Steuer erklärung.« Kara verlor die Beherrschung. »Was habt ihr mir angetan!«, brüllte sie. »Das habe ich nicht gewollt! Das will ich nicht! Macht es wieder rückgängig!« »Kind«, sagte Cal so sanft es ihm möglich war, »das ist unmöglich. Wenn ein Küken einmal geschlüpft ist, kann man es nicht wieder ins Ei zurückstecken. Die Kräfte, die in dir erwacht sind, kannst du nie wieder loswerden. Du kannst lernen, sie zu kontrollieren. Aber sie werden dich bis ans Lebensende begleiten.« »Ich hasse euch!« Sie brach in Tränen aus und rannte heulend aus dem Zimmer. Cal wollte ihr nach, aber Kay hielt ihn zurück. »Lass sie gehen. Das war alles zu viel für sie. Sie hat noch gar nicht begriffen, dass et was von dem menschlichen Teil in ihr gerade vor zwei Stunden für immer gestorben ist und sie selbst für einen Augenblick tot war. Sie braucht Zeit, sich daran zu gewöhnen und es zu verkraften.« »Aber wir haben keine Zeit, wie du sehr wohl weißt.« »Wir werden sie uns nehmen müssen. Sonst fürchte ich um Cara nas Verstand. Und stell dir mal einen wahnsinnigen Sukkubus vor, die auf die Menschen losgeht, ohne ihre Kräfte zu beherrschen.« Cal schüttelte sich und schwieg.
*
»Weg?«, wiederholte Cal am nächsten Morgen fassungslos. »Was heißt das, Caelu: Sie ist weg …?« »Weg, Vater! Sie hat in der Nacht ihre Sachen gepackt und ist verschwunden. Keine Ahnung wohin. Aber es dürfte in ihrem Zu stand nicht allzu schwer sein, sie zu finden.« »Dann mach dich an die Arbeit! Wenn die Bruderschaft sie erwi scht …« Kyle brauchte keine weitere Ermunterung …
* Kara fuhr in Kyles Sportwagen durch die Nacht. Ohne Ziel, ohne Plan. Sie wollte nur weg. Fort von ihrer ›Familie‹, die ihr Unaus sprechliches angetan hatte. Kara fühlte sich komplett verändert. Leider nicht zu ihrem Vorteil. Was immer die MacLeods – oder Rhu’u oder wie immer sie sich nannten – mit ihr gemacht hatten, es hatte den Effekt, dass deren Unmoral auf sie abzufärben begann. Nicht nur, dass ihre Gedanken trotz ihrer Probleme zunehmend um Sex kreisten. Sie verspürte eine Überlegenheit und eine damit einher gehende Überheblichkeit, die ein Teil von ihr verabscheute. Sie ekelte sich vor sich selbst. Besonders wenn sie sich an das er innerte, was sie mit dem größten Vergnügen im Keller getan hatte. Und wie sie es getan hatte … Außerdem spielten ihr ihre Sinne einen Streich. Sie gewahrte um alles, was sie sah, eine Art farbigen Schatten in unterschiedlicher In tensität. Und sie spürte das Wetter in einer Weise wie nie zuvor. Sie wusste, wann es sich ändern würde und wie. Sie wollte so nicht leben. Sie konnte so nicht leben. Ihre Familie mochte gute Absichten gehabt haben, als sie diese Veränderungen an ihr vornahmen. Aber Kara war nicht in der Lage, mit dem Ergeb nis zu leben. Und sie weigerte sich zu glauben, dass es sich wirklich
nicht rückgängig machen ließ. Was sie allerdings tun würde – oder tun musste –, wenn es keine Rettung gab …? Daran wagte sie nicht zu denken. Plötzlich lag die Antwort vor ihr wie ein Wink des Himmels. Im Scheinwerferlicht sah sie einen Wegweiser: ›Kloster St. George the Pure – 3 Meilen‹. Sie bog ohne zu zögern in den schmalen Weg ein, auf den der Pfei ler wies. Ein Kloster. Ein Ort Gottes. Vielleicht konnte man ihr dort weiterhelfen. Einen Exorzismus vornehmen. Oder etwas anderes, das helfen mochte. Einen Versuch war es wert. Als Kara das Kloster erreichte, dämmerte bereits der Morgen. Sie parkte den Wagen ein Stück vor dem Eingang am Wegrand, da es keine Parkplätze gab. Offensichtlich waren die Bewohner nicht auf Besucher eingerichtet. Doch als sie an der Pforte klingelte, wurde ihr fast augenblicklich geöffnet. Vor ihr stand ein überraschend junger Mönch etwa Mitte Dreißig mit schwarzem Haar und grünen Augen. Seine Augen weiteten sich, als er Kara erblickte. »Bitte, ich brauche Hilfe«, erklärte sie ihm. »Geistliche Hilfe.« »Da sind Sie hier am falschen Ort, junge Frau«, sagte er ab weisend. »Gehen Sie! Schnell!« »Aber ich brauche dringend Hilfe!«, flehte Kara. »Wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann sagen Sie mir wenigstens, an wen ich mich wenden kann.« »Bruder Camillus! Wer ist denn da?«, fragte eine Stimme hinter dem Mönch. Zu Karas Überraschung zerbiss der junge Mann einen stummen Fluch zwischen den Lippen, ehe er rückwärts gewandt antwortete: »Eine junge Frau, die sich verirrt hat, Vater Abt. Sie wollte gerade wieder gehen.« »Aber es ist unsere Aufgabe, den Verirrten den Weg zu weisen,
Bruder Camillus. Zumindest können wir ihr mit einer Landkarte aushelfen.« Die Tür wurde weit geöffnet und ein weißhaariger Mann lächelte Kara an. »Treten Sie doch ein.« Kara gehorchte und drängte sich an dem unfreundlichen jungen Mönch vorbei. »Eigentlich brauche ich mehr geistlichen Beistand«, erklärte sie dem Abt. »Ich …« In diesem Moment betrat ein anderer Mönch den Hof. Als er Kara sah, kreischte er auf wie ein Wahnsinniger, zeigte mit dem Finger auf sie und schrie: »Höllenbrut! Der Dämon ist hier!« Kara wich erschrocken einen Schritt zurück. »Aber ich will das doch gar nicht!«, stammelte sie, vollkommen verblüfft darüber, dass dieser Mönch ihre neue Natur sofort erkannt hatte. »Ich will es los werden! Bitte, helfen Sie mir!« Der Abt hatte sich von seinem anfänglichen Schock schnell erholt. Er fasst Kara lächelnd am Arm. »Beruhigen Sie sich, mein Kind! Wir werden Ihnen helfen. Wir werden Sie von dem Dämon in Ihnen befreien.« »Das können Sie tun?« Kara verspürte ungeheure Erleichterung. »Oh, Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich müsste weiter so exis tieren!« »Das müssen Sie nicht, mein Kind. Ich verspreche es Ihnen. Kom men Sie.« Kara folgte ihm. »Aber Vater Abt!«, wandte der unfreundliche junge Mönch ein. »Wir sollten …« »Wir sollten der jungen Dame unbedingt helfen«, unterbrach ihn der Abt. »Nicht wahr, Bruder Camillus?« Etwas in seiner Stimme ließ in Kara plötzlich sämtliche Alarmsi renen Sturm klingeln. Doch es war zu spät. Etwas traf sie von hinten am Kopf und es wurde dunkel um sie …
* Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einem Altar – gefesselt an Händen und Füßen. Über ihr hing ein mitleidig auf sie herabbli ckender Christus am Kreuz. Um sie herum standen Mönchen in schwarzen Kutten, die im Gegensatz zu ihrem Herren mitleidlos auf sie nieder sahen. Karas mordsmäßige Kopfschmerzen und die Übel keit im Magen verblassten gegen die wahnsinnige Todesangst, die jetzt in ihr aufstieg. Besonders als sie den silbernen Dolch in der Hand des Abts sah. Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen. »Bitte!«, flehte sie um ihr Leben. »Ich habe Ihnen doch gar nichts getan!« »Du bist eine Rhu’u«, warf ihr der Abt vor. »Eine von den Verfluchten, die wir geschworen haben zu vernichten. Und Gott hat dich direkt vor unsere Tür geführt, damit wir Sein heiliges Werk vollenden können.« Er reichte den Dolch an einen neben ihm stehenden Mönch, in dem Kara den Mann erkannte, der sie schon zweimal angegriffen hatte. »Bruder Innocencius, die Ehre gebührt immer noch dir.« Der fanatische Eifer, mit dem der Mann den Dolch nahm, machte Kara krank. Sie wand sich in ihren Fesseln und wünschte sich, tat sächlich irgendwelche magischen Fähigkeiten zu haben, um den drohenden Tod abzuwenden. »Bitte nicht!«, versuchte sie es noch ein letztes Mal. Vergeblich … Der Mönch fasste den Dolch feierlich mit beiden Händen, wäh rend seine Brüder einen lateinisch klingenden Gesang anstimmten, hob ihn hoch über den Kopf und … »Feuer!« Der gellende Schrei unterbrach die Zeremonie unsanft. Ein Mönch kam atemlos in den Raum gehastet. »Die Bibliothek
brennt!« Kara war schlagartig vergessen. Der tödliche Dolch, der eben noch auf ihr Herz gezielt hatte, klapperte unbeachtet zu Boden. Alle Mön che rannten wie aufgescheuchte Hühner hinaus, um ihre kostbaren Bücher zu retten. Kara wagte nicht, Hoffnung zu hegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Feuer gelöscht war und die Mönche zurückkommen würden, um ihr Werk zu vollenden. Bis dahin müsste sie sich befreit haben, sonst war es aus. Verzweifelt zerrte sie mit aller Kraft an ih ren Fesseln, doch die Stricke waren zu fest. Ein Schatten fiel über sie. Der unfreundliche junge Mönch war zu rückgekommen. Bruder Camillus. Er hob den Dolch auf. »O bitte!«, flehte Kara wieder. »Ich habe doch niemandem was ge tan!« »Ich weiß«, sagte er ruhig. »Aber das werden die Brüder nie be greifen.« Er zerschnitt Karas Fesseln und half ihr auf. »Sie hätten auf mich hören und verschwinden sollen. Falls Sie es noch nicht ge merkt haben sollten: Dieses Kloster gehört der Bruderschaft des Reinen Lichts. Und das sind Ihre Todfeinde.« Er packte sie am Arm und zog sie mit sich. »Kommen Sie. Wir haben nicht viel Zeit.« Kara ließ sich das nicht zweimal sagen. »Warum helfen sie mir, Bruder Camillus?« »Ich sorge nur dafür, dass Gottes fünftes Gebot befolgt wird: Du sollst nicht töten!« Er öffnete eine geheime Tür neben dem Altar, zau berte aus irgendeiner Tasche seiner Kutte eine Taschenlampe und schob Kara in den Gang hinter der Tür. »Ihre Brüder glauben aber, das fünfte Gebot gilt nicht für … Dä monen.« Er zuckte mit den Schultern. »Meine Brüder sind etwas fanatisch und daher blind. Sie übersehen, dass auch die Dämonen Geschöpfe Gottes sind, die nicht existieren könnten, wenn Er es nicht zuließe.«
Er blieb stehen, ergriff zu ihrer großen Überraschung ihre Hand und drückte sie fest. »Sie können nichts dafür, dass Sie so geboren wurden, Kara. Das ist Ihre Natur, die Sie ebenso wenig ändern können wie Ihre grünen Augen. Ich weiß, dass es im Moment für Sie sehr schwierig ist. Aber Sie haben nur eine Chance, Ihr neues Leben zu meistern, wenn Sie Ihre dämonische Hälfte akzeptieren. Auch wenn das schwer für Sie sein wird.« Er hob abwehrend die Hand, als sie protestieren wollte. »Auch Dä monen sind nicht per se von Grund auf böse. Die meisten haben sich nur ganz bewusst dafür entschieden. Gott hat allen intelligenten Ge schöpfen die Fähigkeit zur freien Entscheidung gegeben. Es ist an uns selbst, ob wir das Gute oder das Böse wählen. Weder das eine noch das andere hat Macht über uns, wenn wir es nicht bewusst zu lassen.« Er lächelte. »Sie werden lernen, ihre Kräfte zu beherrschen, Kara. Kehren Sie zu Ihrer Familie zurück. Die kann Sie beschützen und Ih nen helfen, bis Sie Ihr neues Leben im Griff haben.« Er ging weiter. »Woher kennen Sie meinen Namen? Und was wissen Sie von meiner Familie?« »Ich weiß vieles. Aber Sie bestehen besser nicht auf einer Ant wort.« Kara hatte nicht vor, dem geschenkten Gaul der unerwarteten Hil fe ins Maul zu schauen und verkniff es sich, den Mönch mit den Fragen zu bombardieren, die ihr sonst noch auf der Zunge lagen. Er öffnete kurze Zeit später eine weitere Tür in der Mauer und helles Tageslicht strömte ihnen entgegen. »Wenn Sie sich dicht an der Mauer halten, wird niemand Sie sehen, Kara. Außerdem sind die Brüder noch mit Löscharbeiten beschäftigt. Ihr Wagen steht gleich dort um die Ecke.« »Das Feuer … Haben Sie es gelegt?« Im nächsten Moment wusste sie die Antwort. »Nein, das kann nicht sein. Sie standen ja die ganze Zeit hinter dem Abt. Vermisst man Sie nicht beim Löschen?«
Bruder Camillus lächelte verschmitzt. »Keine Sorge. Gehen Sie. Be vor uns doch noch jemand entdeckt.« Sie ergriff spontan seine Hand und drückte sie fest. »Danke, Bru der Camillus! Das werde ich Ihnen nie vergessen.« Zu ihrer grenzenlosen Überraschung beugte er sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Gottes Segen mit Ihnen, Ka ra. Und nun verschwinden Sie endlich!« Er schob sie auf dem Weg vorwärts, drehte sich um, verschwand im Geheimgang und schloss die Tür. Kara verlor keine Zeit mehr. Sie rannte zu ihrem Wagen und fuhr davon, so schnell es der schlechte Zustand des Weges zuließ. Als sie vom Feldweg, der zum Kloster führte, wieder auf die Hauptstraße abbiegen wollte, prallte sie fast mit einem schwarzen Cabrio zu sammen. Der Fahrer sprang aufgeregt heraus – Kyle! – und riss die Tür ih res Wagens auf. »Carana! Bist du verletzt? Haben Sie dir was getan?« Ohne eine Antwort abzuwarten, riss er sie in die Arme und drückte sie an sich, als wollte er sie nie wieder loslassen. »Oh, Cara na! Schwesterchen! Ich hätte es nicht ertragen, dich wieder zu ver lieren!« »Ich bin in Ordnung«, versicherte verschwinden. Ich will … nach Hause.«
sie
ihm.
»Lass
uns
Er nickte. »Ich fahre vor. Es wird alles wieder gut, glaub mir.«
* Karas zweite Heimkehr gab zu fast noch mehr Freude Anlass als ihre erste. Auch Cal versicherte ihr, dass er es nicht ertragen hätte, sie noch einmal zu verlieren. Ihre Entschuldigung für ihre unüber legte Flucht wischte er mit einer Handbewegung beiseite. »Du bist durcheinander, Kind und das ist nur zu verständlich«,
sagte er. »Es tut mir so Leid, dass ich dir das alles zumuten musste. Aber erzähl uns, was passiert ist. Du warst im Kloster der Bruder schaft?« Kara nickte und lieferte einen ausführlichen Bericht. »Was ich nicht verstehe, ist«, schloss sie, »woher die Mönche wussten, dass ich zur Familie Rhu’u gehöre. Und woher kannte dieser Bruder Ca millus meinen Namen?« »Das wird wohl das Werk ihres Sehers sein«, antwortete Cal schulterzuckend. »Ich werde also bei euch bleiben. Zumindest bis ich gelernt habe, mit meinen Kräften umzugehen. Welche das auch sein mögen. Aber danach führe ich mein eigenes Leben – ohne euch!« Cal nickte mit einem unterdrückten Schmunzeln. »Das ist natür lich deine Entscheidung, Carana. Tatsache ist aber, dass wir nur mit anderen der eigenen Art dauerhaft leben können. Denn du bist und bleibst ein Sukkubus. Das ist deine Natur, mein Kind und du kannst dich ihr nicht entziehen.« Kara blickte ihn unbeeindruckt an und schob trotzig das Kinn vor. »Das wird sich zeigen, Vater. Das wird sich zeigen …« Fortsetzung folgt