Von William Marshall ist außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Der Kino-Killer. 4656
WILLIAM MARSHALL
Dünne Luft TH...
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Von William Marshall ist außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Der Kino-Killer. 4656
WILLIAM MARSHALL
Dünne Luft THIN AIR Kriminalroman
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Englischen übertragen von Bernhard Willms.
Made in Germany • 4/78 • 1. Auflage • 118 Genehmigte Taschenbuchausgabe. © der Originalausgabe 1977 by William L. Marshall. © der deutschsprachigen Ausgabe 1978 by Wilhelm Goldmann Verlag, München. Umschlagentwurf: Creativ Shop, A. + A. Bachmann, München. Umschlagfoto: Photo Media, New York. Satz: IBV Lichtsatz KG, Berlin. Druck: Presse-Druck Augsburg. Verlagsnummer: 4722 • Kuhnke/Hofmann ISBN 3-442-04722-6
Die Hauptpersonen Harry Feiffer Phil Auden Bill Spencer Christopher O’Yee Superintendent Dobbs Chief Inspector Munday Inspector Ming Dr. Curry Dr. Fahy
}
Detective Chief Inspector Detective Inspector Detective Inspector Senior Detective Inspector Airport Section Bakteriologe Bakteriologe
Die Handlung spielt in Hongkong.
1 Morgens um neun Uhr stand Chefinspektor Harry Feiffer gut ausgeruht, geduscht und frisch rasiert am halb geöffneten Fenster des Detectives-Room der Yellowstreet Polizeistation von Hong Bay und genoß die Frische des jungen Frühlingstages, die von draußen hereindrang. Noch ein letztes Mal sog er die vielleicht eine Spur zu kalte Luft tief durch die Nase, dann nahm er den Hörer von der Gabel. Der Detectives-Room war ausnahmsweise einmal sauber aufgeräumt. Außer ihm war niemand da. Detective Senior Inspector O’Yee war irgendwo und mühte sich mit viel Geduld, einem der chinesischen Constables beizubringen, wie man einen Topf Kaffee braut. Detective Inspector Spencer war mit Detective Inspector Auden außerhalb, um einen netten kleinen Anruf über einen sonderbaren Geruch irgendwo in der Canton Street aufzuklären, und so war die Welt im großen und ganzen im Moment in Ordnung. »Ja«, sagte Feiffer in die Muschel. Im Kantoner Dialekt fragte eine Stimme zurück: »Ist da das Hauptbüro?« Lässig erwiderte Feiffer: »Das ist richtig.« Er holte noch einmal tief Luft. Draußen vor dem Fenster zog ein ganzes Stimmenkonzert die Straße entlang. Irgend jemand in der Gruppe lachte, und dann kam wieder das Tap-tap-tap eiliger kleiner Füße, als Chinesenmädchen auf ihrem Weg zum Einkaufen oder zur Arbeit draußen vorbeieilten. Weit draußen im Hafen tönte eine Schiffssirene, um die Besitzer der Sampans längsseits zu rufen, damit sie Passagiere oder leichte Fracht übernahmen, und dann kam der Duft heißer Kastanien durch das Fenster, als draußen ein Kastanienverkäufer seinen Karren vorbeischob. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee drang von irgendwoher in der Nähe des Schreibtisches herein. Feiffer beugte sich ein wenig nach vorn. Der Anrufer brauchte lange, um zum Thema zu kommen. Er hatte keine Eile. Er murmelte irgendwas, daß er ein Abgesandter sei, und unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß er – formal gesehen – ja nur jemand anderen vertrete, dies nicht auch gleichzeitig bedeuten müsse, 7
daß er nicht bereit sei, eine volle Rolle in der ganzen Angelegenheit zu akzeptieren, und daß ... Feiffer dachte, das müsse wohl so ein Tag sein, an dem man sich besonders viel Zeit nimmt, um zur Sache zu kommen. Noch einmal beugte er sich etwas vor und sagte: »Fein.« Doch dann rief er plötzlich ins Telefon: »Sie scherzen!« Er straffte sich. »Ich wiederhole«, sagte der Anrufer, »mein Vorgesetzter und ich haben uns entschlossen, daß die Güter für unsere erste Transaktion von höchstens durchschnittlicher Qualität sein werden.« Er unterbrach sich kurz und fuhr dann fort: »Ich bin seine Nummer zwei. In diesem Stadium der Verhandlungen wäre der Gebrauch hochwertiger Waren, so fand wenigstens er, wie ich zugestehen muß, überflüssig gewesen.« Wieder machte er eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Angesichts Ihres Scharfsinns und meiner Position werde ich jetzt einhängen und Sie in wenigen Minuten über eine andere Nummer erneut anrufen.« Und dann fügte er betont höflich noch hinzu: »Warten Sie bitte.« Die Leitung war tot. Feiffer sagte ein paar Worte in das tote Telefon. Das Telefon auf O’Yees Schreibtisch klingelte. Die Stimme von Nummer zwei meldete sich wieder. »Ah. Die eigentlichen Anliegen mußten noch offenbleiben, weil es ja nur eine Demonstration ist, auf die es ankommt. Jedenfalls handelt es sich um den Charterflug von heute früh sieben Uhr fünfundfünfzig der Hong Kong Airlines mit Endziel Tokio, Japan.« Er räusperte sich. »Mein Chef und ich nehmen an, daß die Demonstration innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten vonstatten gehen wird.« Er machte eine kurze Pause. »Vierzehn Minuten dreiunddreißig Sekunden. Ich wiederhole: an Bord befindet sich eine tödliche Vorrichtung, und es ist völlig ausgeschlossen, sie zu entdecken.« Er setzte hinzu: »Ich rufe später noch mal an.« Seine Stimme klang stolz, als er fortfuhr: »Mein Chef und ich haben an alles gedacht. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.« Dann gab er Feiffer die Nummer von Kai Tak Airport Security. »Es kann nichts schaden, wenn Sie da mal vorbeischauen.« Dann hängte er ein. Alles andere als glücklich stieg Auden an der Ecke Stamford Road 8
und Canton Street in einen verwaschenen blauen Overall. Zwischen den beiden chinesischen Arbeitern hindurch blickte er in den Kanalschacht hinein. Er suchte nach Spencer, nach Spencers Overall. »Warum zum Teufel können eure Leute das eigentlich nicht machen?« sagte er plötzlich zu einem der Kanalarbeiter. »Ja, warum können die das eigentlich nicht machen?« fragte er dann auch Spencer. »Na?« Der erste Kanalarbeiter, ein schon älter aussehendes Individuum in braunem Overall (sie waren jetzt wirklich braun) wandte den Kopf, um den jüngeren, zweiten Kanalarbeiter anzusehen. Die bloße Bewegung seines Kopfes setzte einen plötzlichen Mordsgestank von frischem Kanalinhalt frei. »Nicht bewegen!« sagte Auden. »Bleib einfach stehen und erzähl mir!« Und zu Spencer gewandt, fügte er mitfühlend hinzu: »Mein Gott.« Der erste Kanalarbeiter blieb unbeweglich stehen. Sogar die Bewegungen seines Mundes beim Sprechen waren ausgesprochen sparsam, als er sagte: »Ich kann die Leute einfach nicht dran –« »Wascht ihr Kerle euch denn nie?« fragte Auden dazwischen. Wieder fügte er, an Spencer gewandt, hinzu: »Mein Gott!« »Laß mal, Phil«, erwiderte Spencer. Dann verfiel er in den Kantoner Dialekt, als er zu dem Kanalarbeiter sagte: »Er hat eine etwas empfindliche Nase.« Es klang tröstend. Auden blickte in das dunkle Loch der Einstiegsöffnung. »Warum, in drei Teufels Namen, könnt ihr nicht eure eigenen Leute in solche Löcher einsteigen lassen?« Der Gestank der zwei Kanalarbeiter stieg ihm in die Nase. »Ihr zwei wart doch schon unten! Warum, zum Teufel, habt ihr nicht so viel Anstand, selbst nachzusehen?« Ihm fiel plötzlich etwas ein. »Und wie kommt ihr bloß darauf, der Polizei zu erzählen, da unten herrsche ein merkwürdiger Geruch?« Er blickte den zweiten Kanalarbeiter wütend an. »Wenn ihr euch bloß auf eine besonders clevere Art lustig machen wollt, dann könnt ihr euch auf was gefaßt machen!« Er sah zwei Passanten zu, die sich die Taschentücher vor die Nasen hielten und versuchten, so schnell wie möglich die Stelle zu passieren. »Kapiert?« Der zweite Kanalarbeiter nickte. Und das hieß, daß er sich bewegte. Er sah Spencer an. Aber der gehörte zu den großen Schwei9
gern im Lande. »Na? Hast du auch die Sprache verloren?« fragte Auden giftig. Dann sah er wieder den ersten Kanalarbeiter an. »Und jetzt erzählt ihr mir bestimmt, daß ihr zwei nicht nur keine alten Wasserleitungen inspizieren könnt, sondern daß der alte Wasserkanal bis zum Rand voll von dreckigem, altem Wasser ist, eh?« Spencer hog beschwichtigend die Hand. »Sie hätten sich ja gar nicht die Mühe zu machen brauchen, ihren Verdacht sofort zu melden, wenn –« »Ich wünschte bei Gott, sie hätten es nicht getan!« erwiderte Auden und sah den ersten Kanalarbeiter durchdringend an. »Warum, zum Teufel, schicken denn die Leute von der Frischwasserversorgung nicht ein paar von ihnen hinunter?« »Die beiden Arbeiter des Wasserwerkes, die diesen Abschnitt beaufsichtigen, sind krank«, erwiderte der erste Kanalarbeiter schüchtern. »Das überrascht mich nicht im mindesten.« Spencer sagte auch noch was – Auden blickte zum Himmel hinauf. Es war die einzige Richtung, aus der kein Kanalgestank auf ihn eindrang. »Warum mußte ich ausgerechnet den Wunsch haben, in Hongkong ein Cop zu werden?« fragte er den lieben Gott. »Gibt es denn keine Möglichkeit, den Abstieg in dieses stinkende Loch zu vermeiden, wo doch nichts zu finden sein wird, wo ich doch eigentlich in der Station sein sollte, um zuzusehen, wie die Leute da ihren Kaffee brauen und sich in den Sesseln räkeln?« Und er fragte noch einmal: »Gibt es da wirklich keine?« Er gab sich selbst die Antwort. »Es gibt keine.« Dann wandte er sich wieder den Kanalarbeitern zu. »Los, geht voran.« Er sah Spencer an. »Bringen wir’s hinter uns.« Er blickte den ersten Kanalarbeiter an. »Wenn da nur eine tote Katze in einem Sack liegt, dann packe ich sie am Schwanz, wickele ihn dir um den Hals, und dann ...« »Vorwärts, Phil«, sagte Spencer. »Mein Gott«, murmelte Auden zum dritten oder gar schon vierten Mal. Dann folgte er Spencer und den beiden Kanalarbeitern hinunter in den Kanal.
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*
Feiffer hörte ihn durchs Telefon schniefen. »Oh, sicher«, sagte Superintendent Dobbs von der Airport Security. Im Hintergrund wurde das Rauschen und Pfeifen eines startenden Jets hörbar. Es klang deutlich durch den Draht. »Ich sag’ ja nicht, daß es sicher ist –« erwiderte Feiffer vorsichtig. »Wie gut!« erwiderte Superintendent Dobbs. »Da bin ich ja richtig dankbar, daß Sie wenigstens ein ganz klein wenig beeindruckt scheinen von den vielen Millionen Dollar, die die elektronische Ausrüstung wert ist, die wir hier installiert haben, um gerade solche Sachen zu verhindern.« Er schniefte wieder. »Ich werde den Herstellern also sagen können, daß sogar im kugelverseuchten Dschungel von Hong Bay die Trommeln den Eingeborenen inzwischen mitgeteilt haben, daß der Zauber des Großen Weißen Vaters eine Medizin gegen die Bedrohung gefunden hat.« Er unterbrach sich, um hörbar Luft zu holen. »An solchen Frühlingstagen schätzen wir Bombendrohungen aber gar nicht, Feiffer. Sie sind schlecht für den Ausflugsreiseverkehr zu den Blumenzeremonien auf Hawaii.« Wieder mußte er tief Luft holen. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viele Spaßvögel uns anrufen, um uns zu erzählen, sie hätten eine Wasserstoffbombe an irgendeiner Maschine angebracht? Täglich! Normalerweise sechs bis acht. Jeden Tag!« Er schniefte wieder zum Herzerweichen. »Und das sind nur die schizophrenen Chinesen. Europäer mit derselben Macke rufen uns an und erzählen uns, da wäre ein auf elektrische Impulse reagierendes venusianisches Strahlengewehr direkt unter den Tragflächen montiert, um die Ärsche der Passagiere hinauf in die Atmosphäre zu schießen –« er mußte sich wieder unterbrechen, um lautstark Luft zu holen. »Schon mal was von der japanischen Roten Armee gehört?« fragte er dann. »Die Japaner jedenfalls haben davon gehört, und wir ebenfalls«, sagte er. »Eine Chartermaschine voller verdammter Japse rangiert hier ungefähr – was die Sicherheitsmaßnahmen anbelangt – genauso wie eine El-Al-Maschine voller PLO-Leute plus Golda Meir.« Er schnaufte wieder. »Die armen Japse brauchten ja allein zwei Stunden, um durch die Leibesvisitationen durchzukommen. Und dann die Röntgenuntersuchungen des Gepäcks und der Fracht!« Er unterbrach sich noch einmal. »Schönen Dank für den Tip, aber da ist keine 11
Scheißbombe auf irgendeinem Flug an diesem Scheißtag. Und nun beunruhigen Sie mich nicht weiter.« »Er hat nicht gesagt, es sei eine Bombe. Er sprach von einer tödlichen Bedrohung«, sagte Feiffer. »Was soll ich denn tun? Unter ›Unsinn‹ ablegen? Ihr könnt ja machen, was ihr wollt. Ist ja nicht mein Flugplatz.« »Und warum hat er dann Sie angerufen und nicht uns?« »Vielleicht hat er schon gewußt, daß ihr es unter ›Blödsinn‹ einordnet?« »Und genau das werde ich tun!« erwiderte Dobbs. »Können Sie sich denn überhaupt das Chaos vorstellen, das hier ausbrechen würde, wenn wir jedesmal eine schon gestartete Maschine zurückrufen wollten, weil hier so ein Spaßvogel anruft und sagt, an Bord sei eine Bombe?« Er räusperte sich. »Na schön – eine tödliche Bedrohung«, setzte er hinzu. »Und wenn diese japanische Chartermaschine – wir hatten heute nur eine, deshalb weiß ich das so gut – schon seit einer Stunde in der Luft ist und nur zehn Minuten Zeit bleibt, bis das Ding da in die Luft geht, was zum Teufel kann ich dann noch tun?« Dobbs schien beleidigt. »Wir haben hier eine feine Sorte Leute auf dem Airport. Wir haben nette reiche europäische und amerikanische Touristen und Geschäftsleute, die sich Ferien per Jet leisten können, und ich mache doch nicht alles kaputt, weil ein Cop aus einem Distrikt, den ich nur als eine Mischung aus Chicago in den dreißiger Jahren und der Reeperbahn von St. Pauli bezeichnen kann, am chinesischen Neujahrstag hier anruft und mir erzählt, irgend so ein Idiot hätte ihn angerufen.« »Machen Sie doch, was Sie wollen!« Dobbs antwortete nicht gleich. Schließlich fragte er ruhig: »Haben Sie heute schon mal aus dem Fenster gesehen? Ein wundervoller Frühlingstag. Das ist genau die Art von einem Tag, wo selbst die Chinesen keine albernen Anrufe tätigen, weil sie nämlich irgendwo draußen den Sonnenschein genießen.« Er schniefte wieder. »Niemandem wird auch nur das Geringste passieren«, fuhr er fort. »Was ist eigentlich mit euch da unten los ? Jedenfalls schönen Dank für die Information. Ich leg sie unter ›Blödsinn‹ ab, mit Ihrem Namen auf der obersten Kopie.« Im Hintergrund erklang wieder das Donnern eines startenden Jets. »In Ordnung?« fragte Dobbs. 12
Feiffer hängte auf. Detective Inspector Spencer, ein großer, dicht behaarter Schatten direkt vor Auden, sah über die Schulter zurück. »Ich kenne mich ein bißchen im Kanalsystem von Hongkong aus«, sagte er. Sie gingen beim Schein der Taschenlampe um eine Ecke. Ein Strom von irgend etwas, das geradezu unbeschreiblich stank, floß träge durch eine große Zementrille und gab gurgelnde Geräusche von sich. Auden sah gar nicht hin. Er stieß sich den Kopf an einem Stein, der sich aus dem Gewölbe über ihm zu lösen begonnen hatte. »So, wirklich?« sagte er. Sie bogen um eine andere Ecke. Die Gummistiefel der Kanalarbeiter schlürften durch den erbärmlich stinkenden Schlamm. »Wenn ich es doch sage«, erwiderte Spencer etwas lauter auf englisch. Er deutete auf eine Stelle der gebogenen, schleimigen Wand und sagte fast glücklich: »Chadwick.« Er tätschelte die Wand voller Begeisterung und rief über die Schulter zurück: »Ich habe ein Buch darüber gelesen.« Er streichelte einen anderen Teil der Wand, ohne sich um den schleimigen Belag zu kümmern, und rief noch einmal voller Begeisterung: »Chadwick!« »Was ist das denn, ein Chadwick?« fragte Auden angewidert. »Edwin und Osbert Chadwick. Das waren die großen Pioniere für sanitäre Anlagen im neunzehnten Jahrhundert«, berichtete er. Er bemerkte irgend etwas anderes an der Wand und blieb ganz in seine Überlegung versunken stehen. »Osbert Chadwick bereitete den Chadwick-Report von 1882 über die sanitären Verhältnisse von Hongkong vor. Da gab es mal einen Wettbewerb für den Entwurf der Kanalisation in Hongkong; und nachdem er von einem Angestellten im Department für öffentliche Arbeiten gewonnen worden war, holten sie Osbert Chadwick für eine umfassende Bestandsaufnahme vorhandener Anlagen, damit sie darauf aufbauen konnten.« Er nickte zufrieden. »Die Zeit von Edwin Chadwick lag vorher«, sagte er. »Er war verantwortlich für Kanalsysteme in England. Übrigens war er befreundet mit John Stuart Mill und solchen Leuten. Er war in der Kommission für das Armenrecht.« Er wandte sich wieder nach Auden um. »Du hast bestimmt schon von ihm gehört, oder?« 13
»Habe nie was von einem der beiden gehört. Edwin und – wie hieß doch gleich der andere?« »Osbert. Osbert arbeitete von 1880 bis ungefähr 1910. Edwin starb schon 1890. Er wurde 1801 geboren. Als er starb, war er 89 Jahre.« »Da kann man nur staunen, wie er das so lange ausgehalten hat.« Irgend etwas Unappetitliches verschwand gerade gurgelnd im stinkenden Strom. Es klang, als sei da etwas in Gärung übergegangen. »Wenn ich hier unten dieser verdammte Edwin gewesen wäre –« »Edwin ist nie an diesem Ort gewesen«, entgegnete Spencer geduldig. »Osbert war derjenige, der Hongkong untersucht hat.« »Und wie lange hat’s mit dem gedauert?« »Er stellte fest, daß es hier so gut wie keine Entwässerungsanlagen gab, über die zu reden es sich gelohnt hätte.« »Und wie lange blieb er dann, bis es ihm gefiel, ein paar neue zu errichten?« Sie kamen jetzt in einen weiteren Sektor der Kanalanlagen. Hier schien es irgendwo einen leichten Luftzug zu geben. Auden richtete den Kegel seiner Taschenlampe zur Decke, um die Quelle zu entdecken. Aber dann wurde das bißchen frische Luft wieder vom altgewohnten Gestank verdrängt. Er hörte, wie Spencer die Kanalarbeiter fragte, wie weit es denn noch sei, und die Arbeiter erwiderten, sie seien gleich da. »Also, wie lange hat er gebraucht?« wiederholte Auden seine Frage. Die zwei Arbeiter blieben stehen. Der erste Kanalarbeiter deutete auf ein Loch etwa in Kniehöhe in der Wand, das aussah, als sei es mit einem schweren Hammer herausgeschlagen worden. »Hier«, sagte er. »Dahinter verläuft der alte Wasserkanal.« Aufmunternd fügte er hinzu: »Das Loch ist gerade groß genug, um sich hindurchzwängen zu können.« »Und warum hast du’s dann nicht getan?« fragte Auden im Kanton-Dialekt. »Nicht unsere Sektion«, erwiderte der ältere Kanalarbeiter. »Das ist Sache des Wasserwerkes. Wir haben da einen komischen Geruch wahrgenommen.« Er und sein Kamerad traten ein paar Schritte zur Seite, um Spencer Raum zu geben, sich die Sache anzusehen. Spencer steckte den Kopf in die Höhle und schnüffelte hörbar. »Na?« fragte Auden. 14
Spencer hörte auf zu schnüffeln. Sein Kopf kam aus dem Loch zurück. »Das ist so ein merkwürdiger Geruch.« »Kannst du ihn beschreiben?« wollte Auden wissen. Er trat vor und nahm Spencers Platz vor dem Durchbruch ein. Da roch es wirklich. Und dieser Geruch war ihm nicht unbekannt. Er erinnerte ihn irgendwie an einen frischen Morgen draußen im Grünen. »Was meinst du?« fragte Spencer. »Kommt mir bekannt vor, ich weiß aber nicht, woher. So was wie freie Natur und so.« »Schießpulver«, erklärte Auden. »Ja, das riecht hier wie nach einem Pistolenschuß.« Er wandte sich nach den Kanalarbeitern um. »Was ist drüben?« Der erste Kanalarbeiter dachte einen Moment nach. Der Gedanke, daß es oberhalb der Kanalisation noch was anderes geben könnte, schien ihm noch nie gekommen zu sein. »Das muß so eine Art Nitrat sein«, sagte Auden zu Spencer. Er schnüffelte wieder. Der Geruch war sehr stark. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe hinein und sah blaue Wolken vorbeiziehen. »Na komm schon, Edwin –« sagte er zu Spencer und quetschte sich durch das enge Loch hinüber in den Wasserkanal. »Osbert – Osbert war der, der in Hong –« Er wandte sich hastig nach den beiden Arbeitern um und sagte im Kanton-Dialekt: »Wartet hier.« Dann folgte er in das enge Loch. Feiffers Telefon klingelte. Superintendent Dobbs meldete sich. »Feiffer –?« fragte Dobbs. Im Hintergrund hörte man wieder die typischen Geräusche eines startenden Jets. »Ja.« »Was haben Sie gemacht? Sie haben Kontakt mit der Maschine aufgenommen und sie zurückbeordert!« Dobbs’ Stimme übertönte den Lärm des startenden Jets beträchtlich. »Wer, zur Hölle, glauben Sie eigentlich, trägt hier die Verantwortung? Sie können doch nicht einfach jemand anrufen und ihn veranlassen, ein gestartetes Flugzeug zurückzurufen, ohne dazu bevollmächtigt zu sein! Ich trage hier die Verantwortung – wenn hier jemand in der Gegend rumtelefoniert, um Jets zurückzubeordern, dann telefoniere ich in der Gegend herum, um das zu tun!« schrie er. »Wer hat Sie eigentlich angerufen?« wollte er wissen. »Ich mache Sie verantwortlich.« 15
»Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was Sie –« »Das Flugzeug ist auf dem Weg zurück! Die Chartermaschine! Was um alles in der Welt wissen Sie davon?« »Ich weiß nicht das Geringste darüber!« »Irgendwer hat das Flugzeug nach Hongkong ohne meine Einwilligung und in dem Augenblick zurückgeholt, wo Sie mich hier an der Strippe festgehalten haben. Sie und Ihr schäbiger kleiner Distrikt und ihr schäbigen kleinen Detektive mit eurer schäbigen tödlichen – verdammt, was wissen Sie davon?« »Nichts!« »Wer hat sie dann zurückgeholt?« »Wie soll ich das wissen? Warum fragen Sie nicht Ihren schäbigen Piloten?« »Der Verrückte redet ja nicht! Dieser Hampelmann von einem Piloten stößt über Radio Laute aus wie eine alte Lady, die gerade vierzehn liebestollen Gorillas in die Pranken gefallen ist. Er muß einen Schock erlitten haben. Was, verdammt noch mal, haben Sie dem eigentlich erzählt?« »Wie hätte ich ihm irgendwas erzählen können?« fragte Feiffer. »Hören Sie mal, Dobbs –« »Superintendent Dobbs für Sie – immer noch!« »Hören Sie, Dobbs, ich mag es überhaupt nicht, von uniformierten Superintendenten angeschnauzt zu werden –« »Wenn Sie das Flugzeug nicht zurückgerufen haben, wer war es dann? Und warum?« »Ich habe nicht die allerkleinste Idee. Warum fragen Sie nicht den Tower?« »Der Tower weiß es nicht.« »Wie hätte ich dann wohl Kontakt mit der Maschine aufnehmen können? Durch eine Fernbedienung?« »Piloten fallen nicht wegen einer Bombendrohung in Ohnmacht. Nicht so lange wenigstens, wie sie nicht real ist. Und nach dem, was Sie gesagt haben, hätte sie schon vor zwanzig Minuten hochgehen müssen.« »Nach dem, was mein Anrufer gesagt hat«, unterbrach ihn Feiffer. »Also meinetwegen«, knurrte Dobbs. »Hm –« Er unterbrach sich 16
und schien nachzudenken. »Ich rufe Sie gleich zurück.« »Ich kann’s gar nicht erwarten.« Dobbs legte eine weitere Pause ein. »Yeah ...« sagte er dann gedankenverloren, »... zwanzig Minuten ...« er schien wirklich angestrengt nachzudenken. »Verdammt, Feiffer, wenn ich herausfinde, daß Sie es waren ...« Plötzlich schien er wegen irgendwas seine Meinung zu ändern. »Ich rufe Sie zurück.« Auden stand mit dem Rücken zum Wasserkanal und hatte die Taschenlampe ausgeschaltet. Der Geruch war stark. Es roch, als hätte ein ganzes Regiment Soldaten gerade alles abgefeuert, was sie an Schießprügeln bei sich hatten. Spencer schaltete die Taschenlampe wieder ein. Schwaden aus dunkelblauem Rauch zogen in ihrem Lichtkegel vorbei. Er ließ den Lichtkegel durch den alten Wasserkanal schwenken, doch der lag völlig ruhig da. Wasser gab es nicht mehr. Diese Leitung war schon lange stillgelegt, vielleicht, weil sie so nahe am Abwasserkanal vorbeiführte. Sein Fuß stieß gegen irgend etwas. Er richtete den Strahl der Taschenlampe darauf. Es glitzerte im Licht. Spencer hob es auf, um es zu untersuchen. Es war eine leere randlose Neun-Millimeter-Patrone. Er ließ den Schein der Taschenlampe weiterwandern. Und dann sah er eine andere Patrone auf dem Boden liegen, und dann noch eine. Er ließ den Strahl der Taschenlampe über die gegenüberliegende Wand gleiten. Sie war mit mehreren senkrechten Reihen von Löchern gespickt, die die Kugeln aus den leeren Hülsen in die Ziegelwand gehämmert hatten. Es gab Flecken auf der Wand, die nach unten verliefen, und hier und da sah man einen Klecks aus dunkler Flüssigkeit. Über allem hing der eiskalte Hauch des Todes. Auden schaltete seine Taschenlampe an. Ihn interessierte besonders ein bestimmter Teil der Wand. Das Licht der Lampe wurde von einer Reihe Messing-Behälter reflektiert, die dort auf dem Boden lagen. »Da drüben«, sagte Auden. Der Geruch nach Cordit war penetrant. Der Lichtkegel von Audens Lampe wanderte einige wenige Fuß weiter nach links. Sechs Leichen lagen dort übereinander an der Wand. Sie waren alle nackt und blutüberströmt. Um sie herum lagen wie Opfergaben 17
weitere von jenen Messingschachteln, und weiter zurück an der Wand wurden noch mehr Reihen von kleinen Löchern in der Mauer sichtbar, die die Kugeln gerissen hatten, nachdem sie tödlich getroffen hatten. Spencer fing an, die Löcher in den Wänden automatisch zu zählen. Bei neunundzwanzig hörte er auf. Dann zählte er die Messingkästen auf dem Boden. Er kam bis siebenundvierzig und war noch immer nicht am Ende. »Zwei ganze Magazine aus einer automatischen Waffe«, sagte Auden. »Vielleicht noch mehr?« Alle Leichen waren männlichen Geschlechts, Chinesen, und alle Mitte Vierzig bis Fünfzig. Und alle waren splitternackt. Auden schüttelte sich. »Irgend jemand hat sie hier heruntergebracht, sie gezwungen, sich auszuziehen, sie der Reihe nach an die Wand gestellt und sie dann mit einem Maschinengewehr umgebracht.« Spencer nickte. »Nun«, sagte Auden und schaltete seine Lampe wieder aus. Die übereinandergeworfenen Leichen, schweigend und ruhig, sahen im gelben Licht der zwei Taschenlampen aus wie ein Stapel toter Goldfische in einem leeren Glastank. »Was für eine Art zu sterben«, sagte Auden ruhig. Vorsichtig ging er zu dem Loch in der Wand zurück, so als habe er Angst, jemand zu stören. Es dauerte ein wenig, bis Dobbs zum zweitenmal fragte: »Chief Inspector Feiffer?« »Ja –?« »Das Flugzeug ist wieder da«, meldete sich Dobbs. »Ich war gerade an Bord, um es nach Bomben zu untersuchen und mit dem Piloten zu sprechen«, sagte er langsam. »An Bord waren vier Besatzungsmitglieder und siebenundfünfzig Passagiere. Der Pilot wurde mit einem Schock ins Krankenhaus gebracht. Die siebenundfünfzig Passagiere waren japanische Geschäftsleute mit ihren Ehefrauen, die in Hongkong waren, um Einkäufe zu tätigen. Die Reise wurde von ihrem heimatlichen Club oder so was organisiert.« Er unterbrach sich kurz. »Die Maschine wurde von der Hong Kong Airlines zur 18
Verfügung gestellt, die auf diese Weise immer mal ihre alten Maschinen einsetzt, die früher auf der Route Hongkong – Taipeh flogen, bevor sie von den Boeings abgelöst wurden«, fuhr er dann fort. »An Bord waren weder Bomben noch Flugzeugentführer. Es ist kein Versuch unternommen worden, das Flugzeug in fremde Gewalt zu bringen oder es irgendwie mechanisch zu manipulieren. Meine Leute vernehmen gerade das fliegende Personal, und dann hoffen wir auf weitere Informationen durch den Piloten, sobald er vernehmungsfähig ist.« Er räusperte sich fast respektvoll. »Meine Leute werden später zu Ihnen kommen, um Sie noch am Morgen zu hören. Deswegen wäre ich dankbar, wenn Sie sich zur Verfügung halten könnten.« »Geht in Ordnung.« »Das ist sehr gut.« Er schwieg lange. »Was ist mit den Passagieren?« fragte Feiffer. Es dauerte einige Zeit, bis Dobbs’ Stimme wieder über den Draht klang. »Die Passagiere?« »Ja.« »Der Pilot flog, zusammen mit der ganzen Crew im Cockpit eingeschlossen, zurück«, sagte Dobbs. »Als das Flugzeug landete, hatte keiner von ihnen den Mut, in die Kabine zu gehen und darauf zu achten, daß die Leute sich anschnallten.« Seine Stimme klang ganz ruhig. »Ich war der erste an Bord, nachdem die Maschine gelandet war.« »Ich verstehe nicht ganz –« sagte Feiffer gedehnt. »Ich habe sie gefunden«, fuhr Dobbs fort. »Einige von ihnen waren bei der Landung aus ihren Sitzen geschleudert worden, andere nicht. Einige saßen noch in ihren Sitzen.« Er unterbrach sich wieder kurz. »Alle siebenundfünfzig«, sagte er dann. Wieder machte er eine Pause. »Sie waren alle tot«, sagte Dobbs anschließend.
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2 »Okay«, sagte Feiffer ins Telefon, »wenn die Leute von der Spurensicherung fertig sind, begleitet ihr beide die Leichen gleich ins Leichenschauhaus.« Er unterbrach sich und notierte sich schnell die Zeit auf einem Notizblock. »... ja ... fein ...«, murmelte er zwischendurch in den Hörer. Plötzlich fielen zwei große Schatten auf seinen Schreibtisch. »Ruft mich sofort zurück, wenn ihr da seid, und dann werden wir ... ja – fein ... okay.« Er hängte ein und blickte sich nach den Schatten um. Sie gehörten zu zwei breitschultrigen, uniformierten Polizisten, einem Europäer und einem Chinesen. Er sah zu O’Yee hinüber. O’Yee blickte zur Decke empor. »Chief Inspector Munday«, stellte sich der europäische Polizist vor. »Aus Kai Tak.« »Inspector Ming«, sagte der Chinese. Sie warteten und sahen Feiffer neugierig an. Wieder sah Feiffer zu O’Yee hinüber. Aber dessen Blicke schienen an der Decke festzukleben. Es sah aus, als lächele er. »Ja?« sagte Feiffer. »Detective Chief Inspector Feiffer?« fragte Munday. »Ja.« »Und wer sind Sie?« fragte Ming, an O’Yee gewandt. Yee starrte weiter unverwandt zur Decke empor. »Senior Detective Inspector O’Yee«, sagte er. »Oh«, sagte Ming nur und sah wieder zu Feiffer hinüber. »Setzen Sie sich«, sagte Feiffer. »Wir ziehen es vor zu stehen«, erwiderte Munday. Er klopfte sich ein imaginäres Staubkörnchen vom sauber gestärkten Hemd, ohne überhaupt hinzusehen. Wie es möglich sein konnte, daß sich ein Europäer mit braunen Haaren und grünen Augen und ein schwarzhaariger Chinese mit braunen Augen so ähnlich sehen konnten, das war eine Frage, die er irgendwann einmal den Neunmalklugen vom Erkennungsdienst würde vorlegen müssen, dachte Feiffer. Sogar ihre Sprechweise war gleich. Mings Englisch war absolut akzentfrei. »Wir kommen wegen Ihres Informanten«, sagte Munday. »Wir hätten gern auch den Rest der Information.« Er blickte an seinen mes20
serscharfen Bügelfalten hinunter und sah ausgesprochen zufrieden drein. »Da gibt es keine restlichen Informationen. Ich habe Ihrem Vorgesetzten alles gesagt, was ich weiß.« »Wem?« fragte Ming. »Dobbs«, erwiderte Feiffer. »Superintendent Dobbs«, verbesserte Chief Inspector Munday. Er sah sich aufmerksam im Raum um. Die Wände waren fleckig, und die Farbe blätterte überall ab. Sie müßten mal wieder gestrichen werden. »Und?« sagte Munday. »Und – nichts. Ich habe ihm alles erzählt, was ich weiß. Es gibt sonst nichts mehr zu erzählen. Der Mann rief an, nannte sich Nummer zwei und nuschelte was von seinem Prinzipal und irgendeiner geschäftlichen Transaktion, und dann erzählte er mir, er hätte einem Charterflug was angetan. Er hat über zwei verschiedene Telefonleitungen angerufen. So konnte seine Spur nicht zurückverfolgt werden.« Chief Inspector Munday blickte zu Feiffers Telefon hinüber. Der Hörer hatte einen deutlich sichtbaren Riß. Er hob eine Braue. »Haben Sie denn wenigstens versucht, die Spur aufzunehmen?« fragte er mit kritischem Unterton in der Stimme. »Zu der Zeit nein. Ich nahm an – wie Mr. Dobbs übrigens auch, es handele sich um einen Scherz.« Sein Gesicht wurde ernst. »Aber es war wohl keiner, wie?« Munday hatte eines jener Gesichter, von denen man nicht recht weiß, ob es vielleicht aus einem großen Block Beton herausgemeißelt worden sein könnte. Es zeigte absolut nichts. »Nein«, sagte er mit dünnen Lippen, ohne daß man gesehen hätte, wie sie sich bewegten. »Es tut mir leid, aber das ist alles, was ich weiß«, sagte Feiffer. »Wie sind die Passagiere gestorben?« Statt einer Antwort fragte Ming: »Haben Sie eine Idee, warum er Sie und nicht uns angerufen hat?« »Vielleicht deshalb, weil er es nicht gewohnt ist, mit so feinen Leuten zu telefonieren.« »Hm«, machte Munday. Er sah sich im Raum um und blickte dann die beiden sogenannten Polizeioffiziere an, die darin arbeite21
ten. »Hm«, machte er noch einmal. »Übrigens«, fragte Feiffer, »was tun Sie in diesem Fall eigentlich noch, außer mir hier dumme Fragen zu stellen?« »Wir haben die Sache unter Kontrolle«, erwiderte Munday schnell. »Die entsprechenden Personen werden gerade vernommen.« Er unterbrach sich kurz, um dann rasch hinzuzufügen: »Ich denke da an Leute aus Kai Tak. Wir haben ziemlich genaue Vorstellungen darüber, wie sich die Sache abgespielt haben muß, und wir müssen nur noch die fehlenden Mosaiksteine finden.« Er runzelte die Stirn. »Und die dürften in Kai Tak zu finden sein.« Er blickte Feiffer an. »Sie könnten uns sehr helfen, wenn Sie uns die Genehmigung geben, in Ihrem Distrikt einige Vernehmungen durchzuführen. Und Sie könnten für uns jemanden in der Tiger Snake Road vernehmen.« Er räusperte sich. »Es ist nur eine reine Routinebefragung. Wir würden sie sonst selbst durchführen.« Er schien kurz nachzudenken. »Das heißt natürlich, nur wenn Sie das Gefühl haben, auch irgendwie in die Angelegenheit verwickelt zu sein –« »Immerhin hat er mich angerufen.« »Wie könnt ihr eigentlich in so einem Büro arbeiten?« fragte Munday ernst. Er sah sich im Raum um. »An einem Ort wie Hong Bay?« Er schüttelte den Kopf. »All das Blutvergießen und die schweren Körperverletzungen, die ihr hier sammelt –« Er sah Ming an. »Sie waren doch auch einmal hier eingesetzt, oder?« Inspector Ming nickte. Das Telefon auf O’Yees Schreibtisch klingelte. Ming sah zu, wie O’Yee den Hörer aufnahm. O’Yee hörte eine Weile schweigend zu. »Oh ...« sagte er dann gedehnt, »... richtig ...« Er hörte weiter zu. »Wieder so ein Massenschlachten mit diesem Kroppzeug?« fragte Chief Inspector Munday. Feiffer lächelte vage. Er beobachtete O’Yee am Telefon. »... Ja –« sagte O’Yee gerade. »Okay. Sie rufen uns also zurück ... sicher ... ich geb’s weiter ... nun nehmen Sie’s mal nicht so tragisch. Vielleicht ist’s halb so schlimm. – Fein. In Ordnung.« Er hängte ein und sah sich nach Feiffer um. »Das war Bill Spencer vom Leichenschauhaus aus«, sagte er erläuternd. »Er und Auden sind gerade mit den Leichen dort eingetroffen. Sie melden sich wieder, wenn die Polizeifotografen ihre Bilder geschossen haben.« Er grinste Inspec22
tor Ming an. Chief Inspector Munday schüttelte den Kopf und schnippte ein weiteres Staubkörnchen von seiner Uniform. »Schon wieder ein Bandenkrieg mit Mord und Totschlag?« fragte er. »Oder hat da jemand ein paar Handgranaten oder handliche Bomben in der Hauptgeschäftsstraße geworfen?« Er blickte Feiffer an. »Reine Neugier, aber wie ist hier in Hong Bay Ihr täglicher Anfall an Leichen? Zwanzig? Fünfundzwanzig?« »Sechs«, erwiderte Feiffer. »Sie haben sich verschätzt, und zwar auf der ganzen Linie. Keine Messerstechereien, keine Granaten und keine Bomben.« Er blickte Munday ausdruckslos an. »Sie wurden mit Maschinengewehren niedergemacht.« Er sah, wie sich Munday und Ming bedeutungsvoll zunickten. Eine kurze Pause trat ein. Hongkong ist eine Insel von etwa dreißig Quadratmeilen unter britischer Hoheit und liegt in der Südchinesischen See direkt gegenüber der Region von Kowloon und den Neuen Territorien des kontinentalen China. Kowloon und die Neuen Territorien stehen ebenfalls unter britischer Hoheit und werden begrenzt von der rotchinesischen Provinz Kwantung. Das Klima ist subtropisch mit heißen feuchten Sommern und sehr viel Regen. Die Bevölkerungszahl liegt bei etwa vier Millionen, Touristen und Besucher eingerechnet. Die Neuen Territorien sind von China gepachtet. Der Pachtvertrag läuft 1997 aus, aber die Briten werden in jedem Fall entlang der Grenze eine militärische Präsenz aufrechterhalten, obwohl die Kommunisten in dieser Region, aus der fast der gesamte Trinkwasserbedarf der Kolonie gedeckt wird, im Falle daß sie den Pachtvertrag früher beenden wollten, nur die Leitungen zuzudrehen brauchen. Hong Bay liegt auf der Südseite der Insel, und die Reiseführer empfehlen dringend, diese Gegend nach Einbruch der Dunkelheit zu meiden. Der Autopsie-Saal des Leichenschauhauses gehörte zum Hospital St. Paul de Chartres auf der Beach Road in Hong Bay. Von der Decke leuchtete eine einzelne trübe Lampe und verbreitete ein diffuses Licht. An den weißgetünchten Wänden hingen Anweisungen in englischer und chinesischer Sprache, wie bei der Autopsie im ein23
zelnen vorzugehen sei, was mit einem kopflosen oder armlosen Körper zu geschehen habe (die einzelnen Teile der Anatomie in Behälter aus Plastik füllen, die am Seziertisch hängen), und hinsichtlich der Temperaturen, bei denen die Kühlung einzuschalten sei. Auf einem anderen Zettel standen die Namen derjenigen Personen, die zum Sezieren berechtigt waren. Eine letzte Notiz schließlich wies darauf hin, daß der Diebstahl von Leichenteilen ein strafbares Delikt sei. Im Zentrum des Saales fand sich ein Behälter für Leichenteile und ein Seziertisch mit einem Behälter für Instrumente, der auch Geräte wie Sägen und dergleichen enthielt, falls der Pathologe vielleicht auch noch das Gehirn sezieren wollte. Alles, von den Wänden über die Kühlanlagen bis hin zu den Instrumenten, roch nach Lysol. Auden öffnete einen der Tiefkühlbehälter aus rostfreiem Stahl. In zwei vertikalen Reihen sah er sechs Paar Füße vor sich. Um jeden Knöchel war ein Pflaster geklebt, und auf allen stand dasselbe: ›Nicht identifizierte chinesische männliche Person (Polizei)‹. Die Pflasterstreifen waren von 1 bis 6 durchnumeriert. Das Innere der Kühlbox roch kalt und desinfiziert. Die Füße sahen aus wie blasses Gummi. Die Sohlen wiesen zum Teil Verdickungen in der Haut und auch Narben auf. Auden sah Spencer an. Doctor Macarthur trat durch eine Seitentür herein und schüttelte den Kopf. »Nun?« fragte Auden. Macarthur schüttelte noch einmal den Kopf. »Können Sie den Hebemechanismus bedienen?« fragte er Spencer und deutete mit dem Kopf zu einem Gerät hinüber, das wie ein stählernes Bett auf Gummirollen aussah und mit einer hydraulischen Vorrichtung angehoben werden konnte. »Sie können es bis auf genau die Höhe der Kühlbehälter-Regale heben, dahin, wo Sie ein Fach öffnen wollen. Dann ziehen Sie den Behälter mit der Leiche heraus, schieben ihn über die Vorrichtung, heben das Gerät noch etwas an und können es dann wegziehen, um es wieder herabzulassen. So holen Sie jede Leiche in kürzester Zeit aus jeder beliebigen Höhe herunter.« Er unterbrach sich und sah die beiden an. »Die Leichen, die Sie haben wollen, tragen die Nummern 1 bis 6. Verfahren Sie also mit ihnen, wie ich Ihnen beschrieben habe. Aber packen Sie sie danach genauso 24
sorgfältig wieder weg, wie Sie sie vorgefunden haben.« »Müssen wir die Fotos selbst machen?« wollte Spencer wissen und sah noch einmal in das Kühlfach. »Ich fürchte ja. Alle Polizeifotografen sind zufällig in Kai Tak beschäftigt. Sie wollen ja auch nur einige wenige für den internen Gebrauch. Da drüben auf dem Bord finden Sie eine Polaroid-Kamera. Die können Sie benutzen. Kann übrigens sein, daß ich auch nach Kai Tak hinausmuß, wenn die Japaner grünes Licht für die Autopsien geben. Fangen Sie also am besten gleich an.« Er räusperte sich. »Wenn Sie die Fotos machen, wäre es vielleicht keine schlechte Idee, wenn einer von Ihnen den Toten den Mund zuhalten würde, vorausgesetzt, die Leichenstarre ist noch nicht zu weit fortgeschritten. Dazu pressen Sie das Kinn am besten mit der Handfläche fest nach oben. Die Leute sehen dann nicht ganz so tot aus, wenn Sie die Bilder herumzeigen wollen. Falls die Leichenstarre schon eingesetzt hat, werden Sie ganz schön fest drücken müssen.« Er unterbrach sich kurz. »Seien Sie aber bitte vorsichtig, damit Sie den Toten nicht die Kinnladen brechen. Ist sonst alles klar?« Spencer nickte. Er sah zu Auden hinüber. »Ich werde die Münder zudrücken.« »Du hast das schon mal gemacht?« Spencer schüttelte den Kopf. »Da haben Sie eine gute Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln.« Er sah kurz zu den Kühlboxen hinüber. »Gangster, nicht wahr?« Spencer hob die Schultern. »Ich verstehe, warum Sie die Fotos wollen. Wenn es Gangster waren, wissen Sie wenigstens, wo Sie die Fotos herumzeigen müssen. Stimmt’s?« Auden nickte. Macarthur grinste. »In den gewissen Kreisen –« Er war ein großer Mann in einem weißen Mantel mit einer römisch anmutenden Nase. Im Mund trug er eine französische Zigarette, die aber nicht brannte. »So nennt man das ja wohl.« Er schien plötzlich über irgendwas sehr glücklich. »Ich wäre bestimmt ein guter Detektiv geworden.« »Zwei der Leichen hatten Kugeln im Kopf«, sagte Auden vage. Macarthur nickte. Er schien sich seiner Zigarette zu erinnern und 25
zog ein Feuerzeug heraus. Aber das funktionierte nicht richtig. Auden bot ihm Feuer an. »Oh, diesen Teil des Schädels können Sie ganz einfach mit einem Stück des Lakens verdecken«, sagte er und inhalierte tief. »Oder wenn das weggeschossene Stück gerade im Gesicht fehlt, ersetzen Sie es doch einfach mit einen Stück Pflaster.« Er sog wieder an der Zigarette. »Auf jeden Fall überlasse ich das ganz Ihnen«, fuhr er fort. »Ich muß in die Pathologie zurück, um die Autopsien vorzubereiten.« »Was für Autopsien?« fragte Auden. »Der sechs Toten natürlich.« Macarthur blickte ein wenig verwirrt drein. »Sie müssen doch nachher, wenn Sie Ihre Fotos gemacht haben, noch bei der Leichenöffnung dabeisein. Ich dachte, das wüßten Sie. Wir müssen auch die Fingerabdrücke nehmen. Das ist so üblich.« Er sah zu der Wand hinüber, wo alle die Vorschriften hingen, die hier Geltung hatten. »Selbstverständlich sollen wir genau herausfinden, woran sie gestorben sind.« »Sie wurden erschossen!« erwiderte Auden. Er sah von der Hebebühne aus rostfreiem Stahl zu Spencer. »Müssen wir wirklich anwesend sein, wenn Sie ...» Spencer schien sich auch nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Macarthur grinste ihn aufmunternd an. »Ich verlasse Sie nun, damit Sie Ihre Bilder schießen können«, sagte er. »Wenn Sie erst mal Geschmack an so was gefunden haben, werden Sie es auch faszinierend finden.« Er zog wieder an seiner Zigarette, bevor er weitersprach, »... faszinierend, ja wirklich, ganz faszinierend ...« Er blickte die beiden Männer an. »Ich gehe dann jetzt, damit Sie weiterkommen.« Munday und Ming standen noch immer. »Sie wurden vergiftet«, sagte Chief Inspector Munday. »Soweit wir das nach einer ersten Inaugenscheinnahme beurteilen können, mit einer Art Zyanid.« Er runzelte die Stirn. »Die Japaner sind im Moment in der Frage von Leichenöffnungen nicht sehr kooperativ, aber wir erwarten eine Entscheidung innerhalb der nächsten Stunden. Da unsere Experten nur die Genehmigung hatten, eine sehr oberflächliche Untersuchung durchzuführen, können wir im Moment nur sagen, daß es sich um eine chemisch fast reine Form han26
delt, die auf der Stelle tödlich gewesen sein muß.« Erläuternd setzte er hinzu: »Zyanid greift das Atmungszentrum an, falls Sie es nicht wissen sollten.« Feiffer grinste ihn an. »Das wußten Sie?« »Ich habe immer gedacht, es sei das innere System der Zellen«, sagte Feiffer. »Wie wurde es den Toten denn beigebracht?« »Nun ja, wie auch immer«, sagte Munday achselzuckend. »Ich denke, ihr habt hier mit Giftmorden mehr Erfahrung als wir.« Er machte eine vage Handbewegung. »Es war im vorbereiteten Essen, das während des Fluges gereicht wurde. Es wurde mit einer Injektionsnadel in die Speisen gespritzt. Das Loch in der Folie der Verpackung wurde mit einer Gummimischung so verschlossen, daß nichts mehr zu sehen war.« Er hob die Schultern. »Das Flugzeug führte achtzig vorbereitete Mahlzeiten mit sich. Siebenundfünfzig davon sind ausgegeben worden. Wir brauchten ein Mikroskop, um die Einstichöffnungen der Nadeln zu finden. Wir denken, es handelt sich um so etwas wie eine Blausäure-Lösung, und daß die Einstichlöcher nur deshalb wieder verschlossen wurden, um ein Auslaufen zu verhindern.« »Oder um zu verhindern, daß die Besatzung ebenfalls stirbt«, erwiderte Feiffer. »Blausäure tötet ja auch, wenn man es nur einatmet.« Er starrte vor sich auf die Schreibtischplatte und wischte ein imaginäres Staubkörnchen weg. »Wie dem auch sei«, sagte Munday irritiert. »Tatsache ist jedenfalls, daß wir einen sehr konkreten Verdacht haben, das Gift könnte von einem der Lebensmittellieferanten des Flughafens in die Portionen gespritzt worden sein, und natürlich haben wir die ganze Rotte zum Verhör bestellt.« Er wandte sich an Ming. »Stimmt’s?« »Ja, Sir«, sagte Ming. »Es ist nur eine Frage der Zeit«, sagte Chief Inspector Munday, »daß einer von ihnen aufgibt und ein Geständnis ablegt. Und dann haben wir seinen Boss ebenfalls.« »Ihren Anrufer!« warf Inspector Ming dazwischen. »Mein Anrufer nannte sich selbst Nummer zwei. Dies läßt mich in meiner Einfalt vermuten, daß er nicht der Boss ist, sondern ein anderer.« 27
»Dummes Zeug!« erwiderte Munday heftig. Feiffer sah auf seine Schreibtischplatte hinunter. »Auf jeden Fall wird das Essen hier in Hongkong zubereitet und verpackt«, sagte Munday. »In der Tiger Snake Road Nummer fünfundvierzig, um genau zu sein. Wir möchten Sie nun bitten, einmal dorthin zu gehen und mit dem Schichtleiter zu sprechen, um amtlich festzustellen, daß er nichts von der Sache weiß.« Munday sah die beiden Polypen fragend an. »Könnten Sie sich vielleicht zu einer solch einfachen Sache durchringen, oder ist das für Sie etwa nicht aufregend genug?« Feiffer gab keine Antwort. »Ihr macht mich krank«, sagte Munday. »Ihr gebt der Polizei ein schlechtes Image mit all eurer Überbetonung von Blut und Gewalttätigkeiten!« Er runzelte die Stirn. »Warum könnt ihr in Gegenden wie dieser nicht ein wenig leiser treten mit euren Ermittlungen? Müßt ihr denn immer nur herumlaufen und alle Leute anschuldigen und verdächtigen? Warum könnt ihr es nicht ein bißchen langsamer angehen lassen?« »Dann lassen Sie uns Dienst in Kai Tak machen«, erwiderte O’Yee giftig. »Na und? Warum denn nicht?« Feiffer schaltete sich wieder ein. »Wir werden also hingehen und die Packer befragen«, sagte er. »Und dann lassen wir Sie wissen, was die Burschen gesagt haben.« »Vielen Dank! Und versuchen Sie, ein bißchen diskret vorzugehen. Können Sie mir das versprechen?« Munday strich über sein Hemd. »Sehen Sie, ich trage nicht mal einen Revolver.« Er sah anklagend zu O’Yee hinüber, der über dem Hemd deutlich sichtbar seinen Schulterhalfter mit der schweren Burns-Martin trug, und knurrte mißmutig: »Was soll das eigentlich?« Er schien wütend. »Sechs Leute mit Maschinenpistolen niedergemäht!« Er holte tief Luft. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum nicht ein paar zivilisierte Leute die Wasserkanäle mit Blausäure oder etwas ähnlichem gefüllt und euch da allesamt drin vergiftet haben!« Er war im Gesicht rot geworden. »Da gibt es eine zivilisierte Person«, erwiderte O’Yee, »die offenbar alle ihre Vorräte an Zyanid dafür verwendet hat, siebenundfünf28
zig Leute in Kai Tak umzubringen.« Er war äußerlich ganz ruhig. »Wenn aber noch was übrig ist, und Sie kriegen ihn jemals, können Sie ihm ja unsere Adresse hier geben.« »Sehen Sie zu, daß Sie mit den Packern sprechen, und lassen Sie meine Leute aus den Angelegenheiten Ihres schmierigen Bezirks heraus. Dann haben Sie genug getan, um eine ganze Menge Leute sehr glücklich zu machen, Senior Inspector! Klar?« »Jawohl, Sir!« erwiderte O’Yee. Er knirschte hörbar mit den Zähnen, als die Tür ins Schloß fiel, und blickte Feiffer an. Feiffer nahm die 38er vom Schreibtisch und schob sie in seinen Halfter. Es sah aus, als wolle er etwas sagen. Doch dann änderte er seine Meinung und rief unten an, man solle ihm einen Wagen besorgen. Draußen vor dem Leichenschauhaus sah Spencer zu, wie Auden etwas in sein Notizbuch schrieb. Spencer schluckte. Es war später Nachmittag. Vier Stunden waren sie im Leichenschauhaus gewesen. Er schluckte noch einmal. Auden schloß sein Notizbuch und blätterte schnell die Fotos durch. Ihre Qualität war nicht besonders. Er blickte zu Spencer hinüber und reichte ihm die eine Hälfte. »Jetzt werden wir die Fingerabdrücke und die Vermißtenanzeigen im Hauptquartier durchgehen«, sagte Auden, »und wenn wir nichts finden, werden wir uns dranmachen müssen, den unmöglichsten Leuten unsere unmöglichen Fotos vorzulegen.« Er hörte ein Geräusch hinter sich und wandte sich um. Macarthur verließ gerade das Leichenschauhaus und kramte in der Tasche nach den Schlüsseln, um abzuschließen. »Die japanischen Behörden haben gerade ihr Einverständnis gegeben«, sagte Macarthur. »Bis morgen abend werden jetzt ununterbrochen alle notwendigen Untersuchungen an den Leichen vorgenommen«, sagte er zu Auden. »Ein wirklich interessanter Tag.« Er schloß die Tür ab und ging auf den Parkplatz zu. »Wirklich faszinierend«, sagte Auden. »Wahrlich entsetzlich«, erwiderte Spencer. »Was ist das für ein gottverdammtes Geräusch in der Leitung, Mann!« sagte Dobbs irritiert in den Hörer. »Das klingt ja wie ein Wettstreit sämtlicher Autohupen von Hongkong!« 29
»Ich rufe aus der Nähe des Fischmarktes an der Tiger Snake Road an«, erwiderte Feiffer. Ein erneutes wildes Hupkonzert klang auf, als sich drei andere Lastwagen ihren Weg um die Ecke in die Beach Road freihupten. Sie hatten Obst und Gemüse, das sich in geradezu angsteinflößenden Gebirgen von Kisten und Kästen und Körben auf den Lastwagen stapelte, für die Restaurants geladen. Ein DodgeLastwagen, bis oben hin mit lebenden Hühnern beladen, wäre um ein Haar mit einem der Gemüse-Laster kollidiert, und der Fahrer sprang, mit einer Eisenstange bewaffnet, aus seinem Führerhaus und schlug auf die Gemüsekisten ein. Das Hupen vor und hinter dem Hühner-Lastwagen intensivierte sich noch, und sofort erklang als Antwort ein verstärktes Hupkonzert vor und hinter dem Gemüsewagen. »Ich habe die Leute gesprochen, die das Essen verpacken«, sagte Feiffer in die Muschel. »Und da dachte ich, Sie wollten gleich Bescheid haben.« Er mußte schreien, um sich durch den Krach ringsum verständlich zu machen. »Ich habe auch mit dem Besitzer gesprochen. Ganz offensichtlich geschieht das Verpacken nur nachts, um das Essen für den nächsten Tag besser frisch halten zu können. Vor sechs Uhr abends ist niemand von denen da.« »Aha, und was hatte der Boß dann da schon am frühen Nachmittag verloren?« »Er hat seinem Schreiber neue Anweisungen gegeben und Rechnungen geschrieben.« Wieder war irgendwas passiert, und das Hupen und Schreien schwoll erneut an. Der Fahrer des Gemüsewagens schien sich entschlossen zu haben, den Fahrer des Hühnerwagens grün und blau zu schlagen. Er langte in sein Führerhaus, um sich wie der andere Fahrer auch mit einer Eisenstange zu bewaffnen, und förderte geradezu ein Mordsinstrument zutage. Er sah seine Waffe liebevoll an. Der Fahrer des Hühner-Lasters blickte auf seine eigene Stange hinunter. Dann nickte er seinem Kumpel im Fahrerhaus zu. Sofort kam dieser mit einem Brecheisen heraus. Der Gemüsefahrer nickte nun seinem Beifahrer zu, und schon erschien dieser mit einer Axt auf der Bildfläche. O’Yee verließ den vor der Telefonzelle geparkten Wagen und ging auf die beiden Lastwagen zu. Hinter einem mit Melonen beladenen Lastwagen tauchte ein Constable auf und ging ohne sonderliche Eile auf die Streithähne zu. Sofort verschwanden Montiereisen, 30
Brechstange und Axt wie von Zauberhand. O’Yee kehrte zu seinem Wagen zurück. »Sind Sie noch da?« brüllte Dobbs in das Telefon. »Der Besitzer war früher mal Metzger«, sagte Feiffer. »Er betreibt das Geschäft seit etwa sechs Jahren. Er liefert Fertiggerichte an den Flughafen und an eine Firma, die tagtäglich die kleinen äußeren Inselchen mit dem Boot anläuft. Das Geschäft wird auf zwei Stockwerken betrieben. Das Essen wird unten in der Küche gekocht, dann in kleine Portionen abgepackt und mit Aluminiumfolie luftdicht verschlossen und schließlich in die Kühlung gelegt, bis es am nächsten Morgen so gegen fünf Uhr vom Lastwagen eines Vertragstransportunternehmens, das seinen Sitz am Flughafen hat, abgeholt wird.« »Wir kennen die Transportfirma.« »Und?« »Eine hiesige chinesische Firma«, sagte Dobbs. »Wer, sagten Sie, war bei dem Eigentümer dabei?« »Sein Schreiber.« »Sein was?!« »Ich sagte, der Eigentümer sei früher einmal Metzger gewesen!« rief Feiffer in die Muschel. »So?« »Er hat an einer Hand ein paar Finger verloren. Und beide Daumen. Er kann nicht schreiben. Deswegen beschäftigt er einen Schreiber für die Ausfertigung seiner Rechnungen und um seine Anweisungen schriftlich niederzulegen.« »Noch so’n Scheißanalphabet –« Feiffer blickte über die Tiger Snake Road. Der Hühnchen-Fahrer und der Gemüsetransporter hatten sich gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt. Auf diese Weise wollten die beiden dem Constable klarmachen, daß sie ihr ganzes Leben lang schon die besten Freunde seien und hier nur angehalten hatten, um die brüderliche Freundschaft für ein weiteres Menschenleben lang zu festigen. Die Axt? Das Montiereisen? Das Brecheisen? Welche Axt? Welches Montiereisen? Welches Brecheisen? »Er ist kein Analphabet«, sagte Feiffer griesgrämig. »Er hat nur eben zwei oder drei Finger verloren. Das Essen wird morgens vom Eigentümer und seinem Schreiber ausge31
geben und kontrolliert. Dann sind nur noch ein oder zwei Putzfrauen anwesend.« Feiffer zuckte die Schultern. »Der Eigentümer hat mir einige seiner Verträge gezeigt. Es scheint, als wenn er gute Geschäfte macht. Und wenn er schon seine Hände nicht zum Schreiben benutzen kann, dann kann er sie bestimmt nicht für eine so feine Arbeit benutzen, wie sie das Aufziehen einer Spritze und das Injizieren mit einer so feinen Nadel nun mal ist.« »Was ist das für ein Mann? Dieser Besitzer, meine ich?« »Ein Kantonese, mittleres Alter. Breitschultrig. Spitzbäuchlein. Gutsituiert. Alle Anlagen sind sauber und gut genutzt. Zwei große Gefrierschränke für die Essensportionen, mit Sicherheitsschlössern, und doppelte Schlösser an allen anderen Türen. O’Yee hat die Alarmanlage überprüft. Sie ist einfach konstruiert, aber wirkungsvoll. Der Besitzer macht ganz schön Geld und freut sich sehr darüber. Gerade hat er sich einen neuen Mercedes gekauft. Ich habe die Firma angerufen, wo er ihn gekauft hat. Er hat bar bezahlt, allerdings hat er den Preis um fünfzehn Prozent heruntergehandelt. Das hat gut zwei Stunden gedauert. Ich will ja nicht sagen, daß er nicht hier und da mal ein bißchen beim Gewicht seiner Portionen geschummelt hat, aber im großen und ganzen schien er mir vertrauenswürdig.« »Und der Schreiber?« »Der Schreiber ist ein älterer Mann der alten chinesischen Schule. Er muß achtzig oder fünfundachtzig Jahre alt sein. Vielleicht sogar noch älter.« Feiffer unterbrach sich kurz. »Wenn das so bedeutend für Mundays Fall ist, hätte er vielleicht selbst mit dem Eigentümer und seinem Schreiber reden sollen. Ich weiß ja noch nicht einmal genau, worauf ich achten muß.« Feiffer schien lustlos. »Munday hat so getan, als sei die Befragung reine Routine. Warum dann jetzt diese lange Diskussion? Ist es doch vielleicht aus irgendeinem Grund von Bedeutung, was dieser Mann sagt und tut?« Der Gemüsefahrer und der Hühnchen-Chauffeur begannen eine wahre Orgie dort draußen. Sie schlugen sich pausenlos gegenseitig auf die Schultern und demonstrierten eine Kameraderie, die auch den Constable überzeugen mußte. Aber der Uniformierte sah alles andre als überzeugt drein. Der Gemüsefahrer deutete zu seinem Fahrerhaus hinüber und dann auf sein Handgelenk. Aber es sah 32
nicht so aus, als trüge er eine Uhr. Es war wohl nur eine Aufforderung an den Hühnchen-Mann, ihn einen Blick auf seine Uhr werfen zu lassen. Und der deutete sehr eindringlich auf seine Uhr und blickte flehentlich zu seinem Lastwagen hinüber. Aber der Constable sah immer noch alles andere als überzeugt aus, zum Leidwesen der beiden guten Freunde. Doch dann ließ er sich erweichen und schickte die beiden Fahrer in ihre Lastwagen zurück. Er trat auf die Mitte der Fahrbahn, um den Verkehr mit seinen Handzeichen wieder in Fluß zu bringen. Der Hühnchenfahrer winkte dem Constable dankbar zu und vergaß auch nicht, seinem alten Freund, dem Gemüse-Transporteur, freundlich zum Abschied zuzuwinken. Der Verkehr kam langsam wieder in Fluß. »Um die Wahrheit zu sagen«, sagte Dobbs, »wir kommen mit unseren Vernehmungen hier in Kai Tak nicht recht weiter.« »Nein?« Feiffer sah dem uniformierten Constable zu. Es war ein Spaß, seine Gesten zu beobachten. Die beiden Fahrer sahen irgendwie erleichtert drein. Man konnte schon ganz schönen Ärger mit einem Polypen bekommen, der den dicksten Verkehr mit der Grazie einer Balletteuse zu regeln verstand. Die beiden Fahrer hatten sicherlich jetzt das Gefühl, noch einmal ganz knapp davongekommen zu sein. »Sind Sie absolut sicher, daß der Besitzer es nicht gewesen sein kann?« fragte Dobbs am anderen Ende der Leitung. »Ich hatte den Eindruck, daß er hart arbeitet und ein respektabler Mann ist«, erwiderte Feiffer. »Er schien sehr überrascht, mich bei sich zu sehen.« »Sie haben ihm nicht gesagt, was passiert ist?« »Nein, ich habe ihm nicht erzählt, was passiert ist. Er schien überrascht, Besuch von einem Cop zu bekommen, das ist alles. Wenn er gerade den Tod einer ganzen Flugzeugbesatzung verschuldet haben sollte, dann schien ihn das jedenfalls nicht sonderlich aufzuregen.« Feiffer wurde ungeduldig. »Tut mir leid, aber das sieht mir ganz danach aus, als bekämen Sie den Faden auch von dieser Seite her nicht zu fassen.« »Der Besitzer war nicht zufällig der Mann, der Sie angerufen hat? Dieser komische Nummer zwei?« »Nein.« 33
»Warum hat Nummer zwei Sie zuerst angerufen, statt irgend jemanden sonst?« »Ich habe keine Ahnung, das habe ich schon Munday gesagt. Ist er schon zurück, Munday?« »Er ist zurück.« Vor dem Hühner-Lastwagen kam der Verkehr jetzt in Bewegung. Der Fahrer startete den Motor und warf noch einen Blick auf den Fahrer des Gemüsewagens. Dieser erwiderte den Blick. Der uniformierte Constable belauerte die beiden immer noch. Die beiden Fahrer lächelten sich gegenseitig zu. »Tut mir leid«, sagte Feiffer, »aber das ist alles, was ich weiß. Was Sie mir aber noch nicht erzählt haben, ist, warum diese Menschen alle sterben mußten.« Dobbs’ Antwort ließ auf sich warten. »Wir wissen nicht, warum«, sagte er dann ruhig. »Na schön, jedenfalls vielen Dank.« Der Gemüsewagen zog auf gleiche Höhe mit dem Hühner-Gefährt vor und zog dann daran vorbei. »Wenn wir sonst irgendwie helfen können, gern«, sagte Feiffer. »Aber es scheint, als habe sich der Anrufer die erstbeste Polizeistation für seinen Anruf ausgesucht, die er im Telefonbuch gefunden hat. Und was diese Transaktion und so weiter angeht, da weiß ich nicht, was er damit gemeint haben könnte. Vielleicht ruft er beim nächstenmal Kai Tak direkt an, wenn es ein nächstes Mal gibt, und –« »Ich brauche Ihren Trost nicht, Feiffer«, erwiderte Dobbs giftig. Der Lastwagen mit den Hühnern bewegte sich weiter. Der Fahrer beobachtete seinen »alten Freund« in dem Gemüselaster, wie dieser die nächste Ecke nahm. Der Fahrer des Hühner-Transporters blickte auf seine Uhr und fragte sich, ob er nicht vielleicht zu spät kommen werde. »Zur Hölle mit Ihnen!« schnaufte Dobbs und hängte ein. Der Hühnchen-Fahrer schrie dem Constable zu: »Der da! Der da!« Er deutete hinter dem davonziehenden Gemüsewagen her. Der Constable sah sich um. Der Fahrer des Hühner-Lasters schrie laut: »Dieser Bastard hat 34
meine Uhr geklaut!« Er zog den Zündschlüssel ab und bückte sich, um sein Montiereisen vom Boden aufzuheben. »Ah«, sagte die glatte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich hab schon mal angerufen, aber Sie waren nicht da. Ich bin froh, Sie jetzt erreicht zu haben. Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich Sie bitte, noch einen Augenblick verfügbar zu bleiben, bis ich an einen anderen Apparat gegangen bin, damit wir dann in gegenseitigem Respekt und Vertrauen die Transaktion wegen des nächsten Flugzeuges besprechen können. Würden Sie das bitte für mich tun, Mr. Feiffer?« Feiffer sagte nichts. »Vielen Dank«, sagte Nummer zwei. Die Leitung war tot.
3 »Nimm mein Telefon«, sagte Feiffer zu O’Yee. »Und hol mir Superintendent Dobbs an die Strippe – schnell.« Der Apparat auf O’Yees Schreibtisch klingelte. Feiffer schnappte sich schnell den Hörer. »Ihn persönlich?« fragte O’Yee. Feiffer nickte. O’Yee begann die Nummer von Kai Tak zu wählen. Nach einer längeren Pause – im Hintergrund waren keinerlei Nebengeräusche zu hören –, drang endlich die Stimme von Nummer zwei an Feiffers Ohr. »Feiffer Sing Sang a?« fragte Nummer zwei dann in aller Ruhe auf kantonesisch. »Hai.« »Ich genieße es, mit gleichwertigen Partnern zu telefonieren«, fuhr Nummer zwei auf kantonesisch fort. »Die Geldfrage sollte – wie Sie sicher schon ahnen – in diesem Stadium unseres Geschäftes langsam mal ins Gespräch kommen. Aber das werden Sie sich – wie gesagt – schon selbst gedacht haben. Sicher haben Sie auch nicht angenommen, daß eine Demonstration von solcher Durchschlagskraft von jemandem in Szene gesetzt wurde, der weiter kein kommerziel35
les Interesse verfolgt als nur, seinen Namen in der Zeitung zu sehen, nicht wahr?« Eine kleine Pause. »Nein. Natürlich haben Sie gleich verstanden, daß es hier um Geschäfte geht.« »Superintendent Dobbs?« sagte O’Yee gerade in sein Telefon. »Ja, hier Dobbs.« »Wir haben gerade Nummer zwei auf der andren Leitung«, sagte O’Yee in die Muschel. Er gab Dobbs die Nummer. »Sobald ich es Ihnen sage, hängen Sie bitte ein und rufen unsere andere Leitung an. Er wechselt nämlich dauernd die Rufnummern, damit wir seine Spur nicht zurückverfolgen können.« »Sagen Sie dem kleinen Luder, er soll mich direkt anrufen!« sagte Dobbs. In seiner Stimme lag wenig Überzeugungskraft. Feiffer sprach wieder in die Muschel. »Was ich nicht verstehe«, sagte er zu Nummer zwei, »das ist, wie Sie auf den Gedanken kommen, ich könnte in der Lage sein, irgendein Geschäft zwischen Ihnen und den Behörden zu vermitteln.« Er sah O’Yee zu, der die Finger nervös über die Wählscheibe seines Apparates gleiten ließ. »Die Leute, mit denen Sie sich unterhalten müssen, sitzen in Kai Tak.« Eine Weile blieb es still am anderen Ende. »Er hat’s ihm gesagt«, berichtete O’Yee. »Und?« fragte Dobbs zurück. In diesem Moment meldete sich Nummer zwei wieder. »Nein.« »Warum nicht?« Wieder eine Pause. »Er hat abgelehnt«, flüsterte O’Yee in sein Telefon. Er sah zu Feiffer hinüber, doch der schüttelte den Kopf. »Er sagt nein«, fuhr O’Yee fort. »Warum nicht?« O’Yee gab die Frage durch bloße Lippenbewegung an Feiffer weiter. »Superintendent Dobbs ist die entscheidende Persönlichkeit in Kai Tak«, sagte Nummer zwei in diesem Augenblick. »Im Zuge unserer Marktanalyse wurde er noch vor Ihnen von uns überprüft. Wissen Sie zum Beispiel, daß Dobbs nur sehr geringe Kenntnisse des Kantonesischen hat, und das, obwohl er nun schon seit achtzehn Jahren in den Kolonien ist. Das ist nicht gerade eine Empfehlung für ihn, meinen Sie nicht auch?« Wieder trat eine Pause ein (Feiffer 36
fragte sich, was er wohl tun mochte), dann meldete sich Nummer zwei wieder. »Und ganz abgesehen davon, ich mag einfach sein Aussehen nicht.« Wieder unterbrach er sich. »Nun?« fragte Dobbs O’Yee. »Unsere Zeit ist um«, meldete sich Nummer zwei wieder. O’Yee blickte Feiffer an. Feiffers Hörer blieb stumm. »Nun?« fragte Dobbs erneut. »Was macht er –« »Er hat aufgelegt«, sagte O’Yee. »Wählen Sie schnell die andere Nummer.« Er legte den Hörer ein paar Sekunden auf, bis es wieder klingelte. Dann reichte er Feiffer den Hörer und ging an dessen Telefon. »Wer war auf der anderen Leitung?« wollte Nummer zwei wissen. »Mein Partner, Senior Inspector O’Yee«, erwiderte Feiffer wahrheitsgemäß. »Mit wem hat er gesprochen?« Feiffer antwortete nicht gleich. Er hörte, wie O’Yee gerade in das andere Telefon sagte: »Ich weiß auch nicht, warum. Er hat nur einfach nein gesagt.« »Mr. O’Yee hat mit Superintendent Dobbs gesprochen«, sagte Feiffer endlich. »Er hat’s ihm gesagt?« fragte Dobbs. »Ist er nicht mehr bei Verstand?« »Mr. Dobbs ist sehr daran interessiert, daß Sie ihn direkt anrufen«, sagte Feiffer. »Und ich habe ihm deshalb versprochen, ihm Ihre Botschaft auf dem schnellstmöglichen Weg zu übermitteln. Deshalb. Ich komme irgendwie nicht von der Idee los, Sie hätten irgendwo noch eine zweite tödliche Bedrohung zur Hand und würden sie genau wie die erste in die Tat umsetzen, wenn ich Ihre Pläne durchkreuze. Aber eine weitere Demonstration ist wirklich nicht nötig.« »Du meine Güte!« stöhnte Dobbs in den Hörer. »Was hat dieser Mensch nur für Vorstellungen von Sicherheitsbestimmungen! Wenn es da eine zweite Bedrohung gäbe, hätten wir sie längst gefunden!« Und dann setzte er zu irgend jemand, der neben ihm stehen mußte, noch hinzu: »Allmächtiger!« 37
Nummer zwei schwieg sich lange aus. Doch schließlich sagte er klar und deutlich: »Ich bedaure die Notwendigkeit, ständig die Telefonleitung wechseln zu müssen. Aber da ich die enge Beziehung zwischen Ihrem Bemühen, Ihr Wort zu halten, Mr. Feiffer, und Ihrem Eifer, bei der Jagd nach Kriminellen erfolgreich zu sein, verstehen kann, scheint mir dies noch eine vergleichsweise geringe Vorsichtsmaßnahme, für die ich um Ihr freundliches Verständnis bitten muß.« Er wartete. »Ich vergebe Ihnen«, sagte Feiffer. »Was? Na? Was ist los?« fragte Dobbs. »Harry verzeiht ihm gerade irgendwas«, berichtete O’Yee. Das Schweigen aus Kai Tak hatte etwas geradezu Tödliches. »Sie haben vollkommen recht hinsichtlich Ihrer zweiten Bemerkung«, sagte Nummer zwei. »Mein Prinzipal ist nämlich entschlossen, diese zweite Bedrohung sofort ins Werk zu setzen, falls die Behörden nicht den Wunsch verspüren sollten, unsere Transaktion zu einem schnellen und für beide Seiten zufriedenstellenden Ende zu bringen.« Er holte kurz Luft und sprach dann weiter. »Mein Prinzipal ist in diesen Dingen überaus genau, und er hat das Gefühl, es sei die Notwendigkeit einer zweiten Demonstration mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von etwa fünfundsechzig Prozent gegeben, rein statistisch betrachtet.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Sie können daher Mr. Dobbs auf der anderen Seite informieren, daß die zweite Bedrohung bereits ins Werk gesetzt wurde und daß er sie nicht entdeckt hat.« »Sag Dobbs, daß ein zweiter Anschlag vorbereitet ist. Und sage ihm auch, daß das Flugzeug womöglich schon in der Luft ist, ja?« Feiffer blickte O’Yee durchdringend an. »Die Maschine ist in der Tat schon in der Luft«, sagte Nummer zwei. »Sag Mr. Dobbs, daß es sich um einen Flug handelt, der schon abgehoben hat«, sagte Feiffer zu O’Yee, bevor er wieder in die eigene Muschel sprach. »Was also wollen Sie? Geld?« »Scheiße!« schrie Dobbs so laut über den Draht, daß Feiffer es hören konnte. »Alles reiner Bluff!« »Hunderttausend amerikanische Dollar«, sagte Nummer zwei. »Und zwar in Scheinen von höchstens zwanzig Dollar das Stück.« 38
»Und vermutlich keine fortlaufenden Nummern auf den Scheinen«, erwiderte Feiffer. »Bluff!« schrie Dobbs schon wieder. »Alles nur Bluff!« »So oder so«, sagte Nummer zwei. »Das ist uns ziemlich einerlei.« »Es würde Ihnen also nichts ausmachen, wenn die Scheine fortlaufend numeriert wären und aus derselben Serie stammten?« wollte Feiffer wissen. »Nein.« Feiffer gab die Information an O’Yee weiter, der sie Dobbs übermittelte. In Kai Tak trat Schweigen ein. »Das ist Schwindel«, sagte Dobbs dann. »Es gibt keine Bedrohung für die nächsten Flüge.« »Welcher Flug ist denn in Gefahr?« fragte Feiffer seinen Gesprächspartner. »Das Geld ist von Ihnen persönlich am alten Busbahnhof in der Peking Road zu deponieren, und zwar am Reparaturschuppen mit der Nummer 3 um sechs Uhr heute abend«, sagte Nummer zwei, ohne auf Feiffers Frage einzugehen. »So viel Geld kann ich in zwei Stunden nicht auftreiben«, sagte Feiffer. »Aber Mr. Dobbs kann es«, sagte Nummer zwei. »Fragen Sie ihn doch.« »Frage Mr. Dobbs, ob er innerhalb von zwei Stunden hunderttausend amerikanische Dollar auftreiben kann«, sagte Feiffer zu O’Yee. O’Yee fragte und wartete auf die Antwort. Kurz darauf nickte er. »Er könnte es besorgen«, sagte Feiffer zu Nummer zwei. »Gut.« Es klickte in der Leitung. Keines der beiden Telefone läutete wieder. Dobbs schien von einem sehr ruhigen Ort aus anzurufen. »In diesem Fall«, sagte er, »scheint es mir wirklich angebracht, Ihnen das Geld in einem Auto zu dem Depot zu schicken.« Er unterbrach sich, um etwas in der Straßenkarte nachzusehen. »Die Reparaturhalle Nummer drei scheint an der Ecke zu sein. Ich werde jemanden mit einem Koffer schicken. Er hat gesagt, es mache ihm nichts aus, wenn die 39
Scheine aus derselben Serie sind und fortlaufende Nummern tragen?« »Genau das hat er gesagt.« »Dann werde ich – nur um ihn zu verwirren, das genau nicht tun«, sagte Dobbs. »Es gibt noch andere Möglichkeiten, Geldscheine wiederzuerkennen, als nur durch die Nummer.« Er tat geheimnisvoll. »Ultraviolett – um ein Beispiel zu nennen.« »Schön, aber es bleiben Ihnen dafür jetzt nur noch neunzig Minuten.« »Lassen Sie das nur meine Sorge sein«, sagte Dobbs zuversichtlich. »Ich glaube nicht, daß dieser miese Hund irgend etwas an einem der Flugzeuge manipuliert hat.« »Ich wäre da nicht ganz so sicher, wenn ich –« »Gehen Sie nur ruhig unbewaffnet dort hinein und –« »Ich sehe gar keinen Grund, unbewaffnet zu gehen.« »– und überlassen das Denken mir«, vollendete Dobbs. »Ich denke doch, daß Sie die Gegend unter Beobachtung haben.« »Nein.« »Warum nicht?« »Erstens habe ich keine Leute dafür. Meine beiden Leute sind wegen einer Mordsache unterwegs. Und zweitens kann man der Art zu reden entnehmen, daß Nummer zwei sehr zuversichtlich ist, jeden Verfolger schnellstens abzuhängen.« »Ich habe nicht davon gesprochen, ihn zu verfolgen. Ich meinte, Sie sollen den Bastard hochnehmen, sobald er auftaucht, verstehen Sie das nicht?« »Und was wird sein Prinzipal dann wohl tun? Wir haben nicht die allergeringste Vorstellung, welches Flugzeug er gemeint haben könnte, wenn der Zauber losgehen könnte. Während Sie eifrig dabei sind, Nummer zwei zu verhören, könnte Nummer eins fröhlich und unbekümmert aufs Knöpfchen drücken und so ziemlich jedes zweite Flugzeug über Asien aus dem Himmel blasen.« »Blödsinn!« »Was meinen Sie damit?« »Das heißt, daß seit dem ersten Anschlag nichts diesen Flughafen verlassen hat, das nicht vorher bis in seine Einzelteile zerlegt worden wäre. Falls da wirklich ein zweiter Zwischenfall im Busch wäre, 40
könnte er nur von einer Fliegenden Untertasse ausgelöst werden. Einen anderen Weg gibt es gar nicht. Das ist ganz sicher. Alles – und ich meine wirklich alles –, was an Bord der Flugzeuge gebracht worden ist, wurde genau untersucht und durchsucht. Dasselbe gilt für Personen.« Dobbs mußte Luft holen, so sehr hatte er sich in Rage geredet. »Nur damit Sie mal sehen, mit welcher Genauigkeit wir zu Werke gegangen sind, lassen Sie sich sagen, daß wir anläßlich dieser Untersuchungen einen arabischen Steward gestellt haben, der einen Flug für hochgestellte Araber begleiten sollte. Der Kerl hatte sich ein Suppositorium mit lauter niedlichen kleinen Diamanten in den Arsch gesteckt, die er vorher seinem Scheich geklaut hatte.« Er holte erneut tief Luft. »Alles, was an einem Stück heute in die Luft gegangen ist, wird da wieder runterkommen, wo es sollte, und zwar in absolut unberührtem, unversehrtem Zustand. Dieser Bandit blufft doch nur. Er weiß es, und ich weiß es. Weshalb sollte er sonst wohl so unbekümmert wegen der Seriennummern auf den Scheinen sein? Er weiß ganz offensichtlich, daß er auch nicht die Spur einer Chance hat, damit durchzukommen – und ich weiß es auch.« »Warum sollte er dann wohl siebenundfünfzig Leute umgebracht haben, wenn das alles umsonst gewesen sein sollte?« »Sie wissen ja, wie diese Asiaten sind.« »Nein. Wie sind sie denn?« »Sie wissen, was ich meine.« »Wollen Sie etwa damit sagen, das alles sei nur so eine Art blutiger Spaß?« »Für die toten Passagiere war es kein Spaß!« »Wovon reden Sie denn eigentlich?« fragte Feiffer. »Um Gottes willen, dieser Bandit meint, was er sagt.« »Und warum hat er Ihnen dann nicht die Nummer des Fluges mitgeteilt?« »Weil er zuerst das Scheißgeld haben will!« »Er weiß genau, daß er das Geld nie bekommen wird!« Dobbs’ Stimme hatte auf einmal einen seltsamen Unterton. »Das fällt in meine Zuständigkeit, und ich verantworte das allein. Wenn wir ihn erst haben, werden wir die Identität seines sogenannten Prinzipals schnell herausgefunden haben, und den schnappen wir uns dann genauso.« 41
»Und was machen Sie, wenn Nummer zwei die Identität seines Prinzipals gar nicht kennt?« »Das werden wir herauskriegen, wenn wir ihn erst haben.« Vorübergehend trat Schweigen auf beiden Seiten ein. Schließlich sagte Feiffer ganz obenhin: »Halten Sie Ihre Leute aus meinem Distrikt heraus, solange Sie nicht die Genehmigung eines höheren Polizeioffiziers haben.« Er wartete. »Was haben Sie gesagt?« »Meiner Meinung nach war die Person, die mich angerufen hat, absolut sicher, einen narrensicheren Fluchtweg für sich selbst ausgedacht zu haben. Und wenn das so ist, dann hat er auch den einen oder anderen Weg entdeckt, wie man unbemerkt etwas an Bord eines Flugzeuges schleusen kann. Und weil die Spur nun mal in meinem Distrikt ihren Anfang nimmt, gedenke ich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und ich gedenke, ihm das Geld im Austausch für die Information zu geben. Sonst nichts. Wenn ich diese Information habe, dann ist die Zeit zur Jagd gekommen. Nicht vorher. Alles klar?« Feiffer blickte zu O’Yee hinüber. »War es etwa auch Ihre Entscheidung, ihm zu sagen, daß ich auf der anderen Leitung war? War das klug?« »Ja, das war es! Er wußte es nämlich schon.« »Wie konnte er das wissen?« »Er hat es erraten! Er und sein verdammter Prinzipal scheinen genau zu wissen, was sie tun und mit wem sie es zu tun haben, und dementsprechend haben sie geplant.« »Falls es einen solchen Prinzipal überhaupt gibt.« »Und selbst wenn es keinen gäbe!« »Vielleicht gibt es wirklich keinen«, sagte Dobbs. »Nun, wenn ich so kühn sein darf zu fragen: Was führt Sie zu dieser Vermutung?« »Sieht doch ganz danach aus, als wenn es nur diesen einen gäbe, oder etwa nicht?« »Wieso sieht das so aus?« Feiffer schickte einen schnellen Blick zu O’Yee hinüber. Keine Antwort. »Dobbs –« Feiffer hatte das Gefühl, als zucke sein Gesprächspartner am an42
deren Ende der Leitung die Schultern und sehe sich im Raum um, um festzustellen, ob er auch allein war. »Er spricht doch chinesisch, nicht wahr?« fragte er auf einmal. »Was?« »Er spricht chinesisch mit Ihnen, nicht wahr?« »Das ist kaum verwunderlich, wenn er ein Chinese ist.« Feiffer sah neugierig zu O’Yee hinüber. »Nun, dann gibt es doch einen Sinn, daß es keinen Prinzipal gibt, meine ich.« »Ich verstehe nicht.« Es dauerte ein wenig, bis Dobbs sich wieder meldete. »Also, wenn es da einen Prinzipal gäbe, der clever genug wäre, uns zweimal hintereinander hereinzulegen, also, das müßte dann ein Europäer sein, oder etwa nicht?« Bevor noch Feiffer seinen Kommentar dazu geben konnte, beeilte er sich, hinzuzusetzen: »Also müßte Ihre Nummer zwei irgendwann Englisch gelernt haben, um mit ihm die Geschichte auszuhecken – oder vielleicht nicht? Aber er spricht nicht Englisch, sonst hätte er sich Ihnen gegenüber doch dieser Sprache bedient. Also gibt es keine zweite Bedrohung einer unserer Maschinen in der Luft.« »Was –?« sagte Feiffer. »Alle meine Offiziere höheren Ranges hier sind Europäer«, sagte Dobbs. Ich habe zwar auch Chinesen, aber die sind nicht mehr als Junior Inspector geworden bis jetzt, und ich lasse sie grundsätzlich nichts unternehmen, ohne ihnen als Aufpasser noch einen Europäer mitzugeben. Ich denke, Sie werden es genauso halten. Ich bin immerhin seit achtzehn Jahren in Asien, und Sie können nicht schon genauso lange in diesem Teil der Welt sein, ohne etwas über die Grundtatsachen dieser Gegend gelernt zu haben, oder?« Feiffer wußte, was jetzt kommen würde. »Und was wäre das?« fragte er tonlos. »Ich meine den Grund, warum Nummer zwei keinen zweiten Anschlag geplant haben konnte?« »Nun, ganz augenscheinlich –« »Augenscheinlich –?« »Die Chinesen sind doch dumm«, sagte Dobbs. »Ohne daß ihnen ein Weißer in jedem Augenblick sagt, was sie tun sollen, können sie sich ja nicht einmal allein die Schuhbänder knüpfen. Ach, die sind 43
strohdumm!« Er schien erstaunt, als er fragend hinzusetzte: »Das wußten Sie nicht? Irgend jemand hat mir gesagt, Sie seien schon sehr lange in den Kolonien.« »Ich bin hier geboren. Ich lebe hier. Und ich beabsichtige, weiter hier zu leben, wenn nicht etwas Dramatisches geschieht, genau wie mein Vater und mein Großvater vor mir. Ich werde hier wohl auch sterben. Ich hoffe, das klärt ein wenig die Standpunkte zwischen uns.« Eine längere Pause trat ein. Dann sagte Dobbs plötzlich: »Oh –«, ihm schien etwas eingefallen zu sein. »Was heißt denn ›oh‹ auf einmal?« Wieder eine Pause. »Oh«, sagte Dobbs dann noch einmal. »Vater und Großvater. Wie hieß er denn? Daddy Wong?« Er lachte. »Oder Großvater Ling Lung mit Oma Lee im Bett?« Er schien mehr zu sich selbst zu sprechen. »Na, ich weiß Bescheid.« Fast erfreut fragte er noch: »Ich habe doch recht?« Über den Draht kam nur noch ein geradezu tödliches Schweigen. Dobbs hängte, noch immer lachend, den Hörer ein.
4 Die beiden Kanalarbeiter saßen auf der offenen Terrasse des Speiselokals in der Tiger Snake Road. Glücklicherweise war der Geruch nach frisch gekochtem Essen in einer Entfernung von zwanzig Yards sehr stark. In dieser Entfernung gab es hoffnungslos überfüllte Eßlokale. In einer Entfernung von zwei Yards aber war das Lokal, in dem die beiden Kanalarbeiter saßen, völlig leer. Der Besitzer des Lokals sah ausgesprochen unglücklich aus. Es war noch immer hell, doch die beiden Kanalarbeiter saßen unter einer Kerosinlampe, die von der Decke herunterbaumelte. Ihren Kleidern schien eine Aura zu entsteigen ähnlich dem Hitzeflirren in der Wüste zur Mittagszeit. Die Aura stieg auf bis zur Lampe, floß wieder herunter und schien in ganzen Wogen irgendwo in der Höhe zu verschwinden. Die Leute im benachbarten Lokal, circa zwanzig Yards entfernt, stöhnten jedesmal gequält auf, wenn sich der Wind in ihre 44
Richtung drehte. Die beiden Kanalarbeiter aßen ungerührt weiter. Einer der Männer im benachbarten Lokal – ein vierschrötiger Schneider, dessen Revers mit Stecknadeln gespickt war und aus dessen Jackentasche das Ende eines Metermaßes hervorlugte, sagte vernehmlich »Uuuhhhh« und verlangte die Rechnung. Er warf den beiden einen vernichtenden Blick zu und ging wieder zu seiner Arbeit. Die beiden Kanalarbeiter ignorierten ihn einfach. Sie mampften unverdrossen weiter und fuhren fort, sich die Münder mit ihren Stäbchen vollzustopfen. Der ältere der beiden beugte sich kurz vor. Er hatte einen harten Arbeitstag hinter sich. Er aß weiter. Seine Aura entwich weiterhin ungestört. »Da sind sie«, sagte Spencer. Er und Auden gingen auf die beiden zu. Die Laternen verbreiteten eine anheimelnde Atmosphäre, und ein wundervoller Duft nach gebratenem Schweinefleisch und Reis hing in der Luft. Spencer spürte, wie er Hunger bekam. »O Gott!« sagte Auden auf einmal. Sie hatten die ZwanzigYards-Grenze überschritten und waren nur noch dreißig Fuß von ihrem Ziel entfernt. Spencer erreichte die beiden Kanalarbeiter zuerst. Sie blickten auf und lächelten. »Tut mir leid, Sie beim Essen stören zu müssen«, sagte Spencer bedauernd. »Schon gut«, erwiderte der ältere der beiden. Er sah Auden mißmutig an. »Wir haben da ein paar Fotografien, die Sie sich bitte einmal ansehen wollen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Der Jüngere sah interessiert drein. Er blickte Auden an. Auden versuchte, Rückenwind zu bekommen. Es gab keinen Rückenwind. »Wir haben die Fingerabdrücke eingesandt und andere Polizeistationen angerufen und gefragt, ob dort jemand als vermißt gemeldet ist. Wir dachten uns, Sie könnten uns vielleicht noch schneller helfen.« Spencer lächelte gewinnend. Er blickte Auden an. »Aber sicher«, sagte der Kanalarbeiter. Er bewegte sich. Seine Aura wurde zur Wolke und hätte Auden fast von den Füßen gerissen. »O Gott!« sagte Auden gefühlvoll. Er blickte sich nach den anderen Lokalen um. Die Leute schüttelten die Köpfe, weil sie dachten, den Europäern fehle neben so vielem anderen auch noch der 45
Geruchssinn. »Nimm dich zusammen!« ermahnte Spencer seinen Kollegen. Der ältere Arbeiter blickte Spencer erwartungsvoll an. Er sprach, wie sein jüngerer Kollege auch, kein Englisch. Er schien darauf zu warten, daß der freundliche Polizist seine letzte Bemerkung für ihn übersetzte. Der freundliche Polizist indes dachte nicht daran, sondern fuhr auf kantonesisch fort: »Er hofft ebenfalls, daß Sie uns helfen können. Hier«, sagte der freundliche Polizist und übergab dem Kanalarbeiter sechs Polaroid-Fotos. »Haben Sie diesen Mann schon einmal irgendwo in Ihrer Nachbarschaft oder während Ihrer Arbeit gesehen?« Der Ältere betrachtete die Fotos. Beim ersten Bild hörte er auf zu kauen und schluckte den ganzen Inhalt seines Mundes auf einmal hinunter. Beim zweiten legte er die Stäbchen aus der Hand. Das dritte reichte er seinem jüngeren Kollegen. Dieser hörte auf zu kauen und nahm einen Schluck Tee. Beim vierten Bild blickte der Ältere zuerst auf Spencer und dann zu Auden. Dann blickte er flüchtig auf das fünfte und das sechste Foto. »Sehen Sie sich die beiden letzten Fotos noch einmal an«, sagte Auden. Der Ältere sah sich die beiden letzten Fotos noch einmal an und reichte sie dann seinem jüngeren Kollegen. Auden rieb sich die Nase. Sie war taub. »Das sind die Leichen aus dem Abwasserkanal«, sagte er. »Dem Wasserkanal.« »Meinetwegen.« »Das war eine Frischwasserleitung, kein Abwasserkanal«, bekräftigte der ältere Kanalarbeiter noch einmal. »Die alte Wasserleitung, die nicht mehr in Betrieb ist. Dafür ist die Abteilung Frischwasserversorgung beim Amt für öffentliche Arbeiten zuständig, nicht wir.« Er schien richtig stolz, als er hinzusetzte: »Wir sind die Abteilung für Schmutzwasserbeseitigung. Das ist ganz was anderes.« Der Jüngere nickte. Sein älterer Kollege wandte sich wieder an die beiden Polizisten. »Sind die allesamt unter die Straßenbahn geraten oder was?« fragte er unschuldsvoll. 46
»Sie wurden mit einem Maschinengewehr umgebracht«, berichtigte Auden. Der jüngere Kanalarbeiter nickte. »Nun?« fragte Spencer. »Wie ist es? Haben Sie einen dieser Männer schon mal in Ihrer Nachbarschaft oder sonstwo gesehen? Vielleicht bei der Arbeit?« »In den Kanälen nie.« Der Jüngere schien sich entschlossen zu haben, sein unterbrochenes Abendessen fortzusetzen, bedachte sich dann aber doch. »Die Wasserleitungen unterstehen dem Amt für Frischwasserversorgung von Hong Bay«, wiederholte er. »Die beaufsichtigen die Wasserleitungen, nicht wir.« »Aber diese Leitung war nicht mehr in Betrieb. Sie war an beiden Ausgängen mit Ziegelwänden verschlossen. Deswegen war ja auch vom Schmutzwasserkanal aus ein Loch in die Trennwand geschlagen worden.« Auden versuchte, nur noch durch fast geschlossene Lippen zu atmen. »Irgend jemand hat diese Leute in den Schmutzwasserkanal geführt, das Loch entdeckt, sie hindurchgeführt und dann umgelegt. Was ist also jetzt: Haben Sie schon mal einen von diesen Männern irgendwo gesehen – auf Ihren Kontrollgängen, meine ich?« Er blickte ungeduldig zu den Tischen weiter hinten. Sie waren alle leer. »Also?« drängte er noch einmal. »Ja oder nein?« Der Ältere schien nachzudenken. Er sah seinen jüngeren Kollegen an und schien über irgend etwas angestrengt nachzudenken. »Vielleicht«, sagte er schließlich. »Was meinen Sie mit ›vielleicht‹? Haben Sie nun oder haben Sie nicht?« Einen Augenblick dachte er daran, beide in eine Zelle sperren zu lassen, damit sie da ein wenig Nachhilfeunterricht in Kommunikationsbereitschaft erhalten sollten. Aber dann sagte er sich, daß der infernalische Gestank, den die beiden spazierentrugen, sich sicher für die nächsten zwei Jahrhunderte in den Zellen des Polizeigefängnisses halten würde, und sofort verwarf er diesen Gedanken wieder. »Na?« ermahnte er. Der Ältere hob das erste Foto wieder auf. Es zeigte eindringlich, was mit dem Gesicht eines Menschen geschieht, dem aus fünf Yards Entfernung zwei Neun-Millimeter-Kugeln in den Kopf geschossen werden. Das Gesicht sah aus, als habe es vom Schöpfer zwei ExtraAugen in der Stirn erhalten, deren Ränder mit rubinroter Farbe ge47
strichen waren. »Den da kenne ich«, sagte er. Er nahm die zweite Fotografie zur Hand. Auf ihr hatte die Kugel auf ihrem Weg in den Hinterkopf die vorderen Schneidezähne einfach mitgenommen. »Und den da auch«, sagte der Mann. »Wer sind sie?« Der Ältere zögerte. Spencer ermutigte ihn ein bißchen. »Wir wissen, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kriminelle handelt und daß Sie sich vielleicht Sorgen wegen möglicher Repressalien machen, aber –« Der Ältere sah zu seinem jüngeren Kollegen hinüber. Aber der hob nur die Schultern. »Er scheint nicht recht zu wissen, was alles passieren kann ...« sagte er zu Spencer. »Ich verspreche Ihnen, daß wir durchaus in der Lage sind, Sie zu schützen«, sagte Spencer geduldig. »Wer sind sie also?« drängte Auden. »Das ist die Frischwasserabteilung«, sagte der ältere Kanalarbeiter. »Wer ist das?« »Die beiden da«, erwiderte der ältere der beiden, »das ist die Frischwasserabteilung von Hong Bay. Sie heißen Hsuang und Ching. Die anderen Namen weiß ich nicht.« Er seufzte. »Die beiden halten die Frischwasserleitungen instand.« Ihm schien etwas einzufallen. »Aber wir haben das Loch nicht in die Wand gemacht, das müssen Sie uns glauben«, sagte er schnell, »es war nämlich schon da! Vielleicht haben wir ein paar andere gemacht, aber das Loch da nicht. Das war ganz bestimmt schon da.« »Was haben die überhaupt in diesem Wasserkanal gesucht?« »Das war ihr Job«, erwiderte der ältere Kanalarbeiter. »Sie mußten die Wasserleitungen beobachten. Wir sind nur zuständig für die Schmutzwasserbeseitigung.« »Was für Löcher haben Sie denn gemacht, wenn Sie dieses hier genau nicht gemacht haben?« fragte Spencer. »Wir haben dieses Loch nicht gemacht. Wir haben vielleicht ein paar Löcher in irgendwelche stillgelegten Kanäle geschlagen, aber das da nicht! Und das können Sie denen auch gleich sagen!« »Wem?« »Sie wissen schon!« 48
»Wem sollen wir was erzählen?« »Sie wissen, was!« »Nein.« Der Ältere seufzte. Seinem Gesicht war zu entnehmen, daß seiner Meinung nach ein Spiel begonnen hatte. Er sah seinen Partner an. Der machte ein Gesicht wie Stan Laurel in seinen besten Tagen. Der Senior blickte wieder hinunter auf seine Reisschüssel. »Wir schlagen schon mal Löcher in die Trennwände zwischen unseren Kanälen und stillgelegten Wasserleitungen, die schon lange nicht mehr benutzt werden.« Er sah auf. »Mein Gott, was erwarten Sie denn? Wir sind doch auch nur Menschen!« Er sah Auden durchdringend an. »Sogar Sie, ja, sogar Sie müssen doch menschliche Gefühle haben.« Spencer versuchte, den Mann zu beruhigen. »Sehen Sie, ich –« sagte er vorsichtig. Auden unterbrach ihn sofort. »Wollt ihr mir allen Ernstes erzählen, ihr zwei –« »Warum denn nicht? fuhren die beiden Kanalarbeiter wie aus einem Mund dazwischen. »Es benutzt sie doch niemand.« Der Ältere sah Spencer herausfordernd an. »Und Sie? Würden Sie etwa nicht –« »Phil, ich verstehe nicht ganz«, sagte Spencer zu Auden. »Diese Ferkel machen sich Löcher in die Zwischenwände, um in die verlassenen Wasserleitungen pinkeln zu können!« »Das stimmt nicht!« konterte der jüngere Kanalarbeiter. »Oder vielleicht zum Scheißen?« fragte Auden. »Nun ...« sagte der Jüngere. »Also doch!« schnaubte Auden und sah den älteren der beiden an. Dann wandte er sich an Spencer und sagte auf englisch: »Die haben genauso einen Spleen mit ihren Kanälen wie du auch!« Und dann schnauzte er auch den Chinesen noch einmal auf kantonesisch an: »Ihr wolltet euren verdammten Kanal nicht verunreinigen, stimmt’s?« Der Ältere nickte. »Das stimmt.« »Sie wollten einen scheißverdammten dreckigen Abwasserkanal nicht verunreinigen!« »Unseren scheißverdammten dreckigen Kanal«, sagte der Ältere der beiden. 49
»Allmächtiger Gott!« sagte Auden. »Warum haben Sie uns das denn nicht gleich gesagt«, schaltete sich Spencer wieder ein. »Und warum sind Sie nicht selbst in den Wasserkanal eingedrungen um zu sehen, welcher Art der eigenartige Geruch war, den Sie wahrgenommen haben? Warum haben Sie nur einfach gesagt, Sie hätten einen eigentümlichen Geruch wahrgenommen, und nicht auch gleich seine Ursache zu ergründen versucht?« Er unterbrach sich einen Augenblick. »Aber Sie sind doch drinnen gewesen, oder etwa nicht?« Der ältere Kanalarbeiter nickte. »Und da haben Sie auch die Leichen gesehen, stimmt’s?« Wieder nickte der Mann. »Dann erklären Sie uns doch um alles in der Welt, warum Sie uns nicht gleich gesagt haben, daß Sie zwei der Toten da drinnen kannten?« fragte Auden. »Daß sie einfache Arbeiter des Wasserwerks waren?« Seine Stimme nahm einen drohenden Klang an. »Na, warum nicht?« Der Ältere erhob sich von seinem Stuhl. Er war klein und wirkte recht unscheinbar. »Sehen Sie mich doch an«, verlangte er. »Wo sollte ich wohl in meinem ganzen Leben noch einmal einen Job kriegen? Wovon verstehe ich denn schon was außer von Schmutzwasserkanälen?« »Na und?« Der Mann hatte Mühe, Tränen zu unterdrücken. »Nun – ich ...«, begann er unbeholfen, brach aber gleich wieder ab und sah sich hilfesuchend nach seinem Kumpel um. Dann sah er Spencer an, den er wohl für den verständnisvolleren der beiden Polypen hielt. »Wir werden keiner Menschenseele etwas erzählen«, versprach Spencer. »Wir haben ja alle Löcher immer wieder verschlossen«, sagte der Kanalarbeiter. »Wirklich alle. Wir haben den ganzen Nachmittag damit verbracht, die Löcher wieder zu verschließen.« »Wir werden niemandem was davon sagen«, wiederholte Spencer. »Wir wären nur sehr dankbar, wenn Sie sich endlich der Mühe unterziehen könnten, uns von Ihren Vermutungen zu erzählen. Sie haben also etwas vermutet und die Polizei verständigt. Sie haben den 50
Wasserkanal gar nicht betreten, weil der nicht zu Ihrem Aufgabengebiet gehört.« »Vielen Dank«, sagte der Mann aufatmend. »Hsuang und Ching. Ist das richtig?« Spencer schrieb die Namen in sein Notizbuch. Der ältere der beiden Kanalarbeiter nickte. »Fein«, sagte Spencer, »vielen Dank.« Dann wandte er sich an Auden und fügte auf englisch hinzu: »Der arme Hund hat geglaubt, die Arbeiter vom Wasserwerk seien heruntergestiegen, um ihn dort beim – na ja – zu überraschen. Verstehst du das denn nicht, Phil?« »Oh, sicher. Das verstehe ich. Wer, glauben die eigentlich, leitet das Wasserwerk? Der alte Babyface Nelson vielleicht?« Auden schien angewidert. »Aber keine Sorge, ich glaube ihm.« Er wandte sich zum Gehen. »Und was jetzt?« Spencer fühlte einen sanften Ruck an seinem Rockschoß. Es war der jüngere Kanalarbeiter. Er deutete mit dem Kopf zu seinem älteren Kumpel hinüber, der hinter vorgehaltener Hand offenbar in ein erleichtertes Schluchzen ausgebrochen war. »Mein Großvater ist sehr dankbar«, sagte er und lächelte. Spencer blickte kurz zu dem älteren Mann hinüber. »Ihr Großvater?« Eine Familie, deren Tradition als Kanalarbeiter über Generationen zurückreichte, mußte doch einfach an Osbert und Edwin Chadwick interessiert sein. Spencer war fasziniert. »Wußten Sie eigentlich schon, daß im neunzehnten Jahrhundert –« »Kommst du jetzt oder immer noch nicht?« rief ihm Auden von jenseits der Zwanzig-Yards-Grenze zu. »Wollten Sie was sagen?« fragte der Jüngere. Spencer antwortete nicht gleich. Er sah Auden nach, der gerade um die Ecke verschwand. »Ein andermal vielleicht –« sagte er verdrießlich. Dann eilte er durch die Stuhl- und Tischreihen hinter Auden her auf die Canton Street. Der Reparaturschuppen Nummer drei im alten Busdepot auf der Peking Road sah aus wie eine Höhle. Er war im viktorianischen Stil erbaut, und anscheinend hatte man ihm ursprünglich noch die Funktion eines Bahnhofes zugedacht, so groß war er. Es hätte aber 51
auch gut sein können, daß einer der zuständigen Architekten damals die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, hier eventuell einmal einen Hangar für Zeppeline zu errichten. Die Halle war einfach riesig – und dunkel. Alle vier Wände waren aus roten Ziegeln errichtet worden. Das Dach war eine freitragende Metallkonstruktion, die schon vom Rost angenagt schien. Der Boden war glatt und ohne eine einzige Grube, von der aus man unter den Bussen hätte arbeiten können. Ein gutes Dutzend Busse stand herum, jeder einzelne in einem mehr oder weniger fortgeschrittenen Zustand des Verfalls. Eine bestimmte Ordnung war wohl beim Einstellen der Busse nicht eingehalten worden. Alles sah ein wenig so aus, als hätten hier die Kinder irgendwelcher Riesen mit ihren Plastikautos gespielt und sie nachher nur nicht richtig weggeräumt. Aus irgendeiner Ecke drang ein feines Surren, wohl von einem Ventilator, aus einer anderen Ecke das gleichmäßige Ticken eines batteriebetriebenen Aggregates, das wohl über Nacht nicht abgeschaltet worden war. Der ganze Komplex war fensterlos. Abgesehen von einigen wenigen Birnen in Sicherheitsfassungen in den Wänden und zwei oder drei drahtgeschützten Dekkenlampen an langen Kabeln gab es kein Licht. Feiffers Schritte hallten auf dem harten Boden. Der Schuppen war verlassen, weil die Arbeiter zum Essen gegangen waren oder weil die folgende Schicht noch nicht angetreten war. Feiffer hatte sich die Jacke ausgezogen, um zu dokumentieren, daß er keine Waffe bei sich trug. Bei den herrschenden Lichtverhältnissen war das aber auch bedeutungslos. Hier in der Halle war es unangenehm kalt. Ein leises Geräusch wie von einem Luftstrom irgendwo unter der Decke zwischen den alten eisernen Verstrebungen drang an sein Ohr. Dazwischen hörte er immer mal wieder das Scharren eines Vogels, der wohl da oben sein Nest gebaut hatte. Feiffer zog die Antenne aus seinem Funkgerät. »Christopher?« sagte er in das Gerät. »Hier«, kam O’Yees Stimme zurück. »Wo bist du jetzt?« »Ich bin bis zu der einen Ecke des Schuppens gegangen. Von hier aus kann ich die General Street sehen.« »Jemand in der Nähe?« »Niemand, der unser Mann sein könnte. Ich sehe nur Leute, die 52
aus Teehäusern und Speiselokalen kommen, ein paar Kinder auf dem Weg zum Abendunterricht und ein paar Busfahrer, die zur Arbeit kommen oder gerade nach Hause gehen. Ich habe am einzigen Seiteneingang geparkt, den ich finden konnte. Er ist von außen mit einem Riegel gesichert.« Er räusperte sich. »Ist bei dir alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung.« Feiffer ging auf einen Bus zu, unter dem eine Montagelampe hing, die noch brannte. »Was Neues von den Leuten aus Kai Tak?« »Nachdem Ming dir den Koffer übergeben hat, ist er in die Yellowthread Street eingebogen. Richtung Flughafen. Sieht so aus, als würden sie sich da raushalten.« Er unterbrach sich kurz und fragte dann: »Hast du den Koffer noch?« Feiffer faßte die Ledergriffe fester. Der Koffer war ziemlich schwer und war hunderttausend Dollar in kleinen Scheinen wert. »Hier ist keine Menschenseele. Ein paar Lampen brennen. Eine davon liegt unter einem Bus in vielleicht zehn oder zwölf Schritt Entfernung. Ich gehe jetzt darauf zu. So wird er mich auf jeden Fall sehen, auch wenn ich ihn nicht sehen kann.« »Ich habe die Kamera hier. Wenn er die Halle auf diesem Weg verläßt, kann ich ein Foto von ihm schießen. Das heißt, wenn er dir nicht sagt, welcher Art die Bedrohung ist. Andernfalls nehme ich ihn hier fest.« »Was ist mit den Uniformierten?« »Constable Yan sitzt auf der anderen Straßenseite in einer Teestube, und Sun steht weiter unten auf der Generalissimo Chen Street, falls unser Mann versuchen sollte, durch den Wagenpark zu fliehen. Beide haben gute Kameras bei sich.« O’Yee schien zuversichtlich. »Wir werden auf jeden Fall mindestens ein gutes Foto von ihm bekommen. Paß nur auf, daß man dich nicht abknallt.« »Ich werde mich vorsehen.« In diesem Moment brach ein ohrenbetäubender Krach los. Feiffer ließ sich sofort zu Boden fallen. »Was zur Hölle war das denn?« Eine kurze Pause trat ein. Dann ertönte ein Blubbern und Keuchen, das schon bald in das typische nagelnde Geräusch eines Dieselmotors überging. Feiffer erhob sich wieder und sagte in sein Walkie-Talkie: »Da 53
wurde nur gerade ein Kompressor gestartet. Muß wohl automatisch gestartet worden sein.« Er schüttelte sich. »Man kommt sich vor wie in einem der alten Filme, wenn es plötzlich kracht und aus einer Wolke Boris Karloff auftaucht«, sagte er. »Ansonsten ist alles in Ordnung. Ich befinde mich jetzt ziemlich im Zentrum der Halle, nahe bei der erwähnten Lampe. Ich denke, ich werde einfach hier stehenbleiben und es unserem Mann überlassen, mich zu finden.« An der Rückwand der Halle blitzte ein Licht auf. Eine Tür ging dort auf. Im Lichtschein, der durch die Tür drang, tauchte eine Silhouette auf. Sie mußte sich bücken, um durch die kleine Tür zu gelangen. »Er kommt gerade durch eine kleine Tür in der Rückseite der Halle. Sieht mehr nach einer Klappe aus, durch die man Abfälle nach draußen werfen kann.« Die Tür ging zu, und sofort herrschte dort drüben wieder tiefste Finsternis. »Er ist jetzt drinnen.« Feiffer konnte jetzt ganz vage einen Schatten erkennen, der sich undeutlich gegen die Rückwand abhob. »Er ist da.« Der Kompressor schaltete sich wieder automatisch aus. Die Stille danach wirkte bedrückend. Feiffers Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Ich lasse das Walkie-Talkie auf ›senden‹ geschaltet«, sagte er. »Er steht nur einfach da. Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt schon gesehen hat. Er ist groß und schlank, soweit ich das nach seiner Silhouette beurteilen kann. Ich hoffe nur, in Kai Tak ist keiner auf die grandiose Idee verfallen, eine Bombe in den Koffer zu packen ...« Er brach abrupt ab. »Jetzt bewegt er sich«, meldete er sich dann wieder. »Ich glaube, er sieht mich. Er geht langsam direkt auf mich zu. Jetzt scheint er sich umzusehen. Ich kann keine Waffe sehen, schwer zu sagen übrigens.« Er wartete ab, während sich in seinen Handtellern, die die Griffe des Koffers hielten, kleine Schweißtropfen bildeten. »Mr. Feiffer?« fragte eine Stimme auf englisch. Feiffer dachte kurz an das, was Dobbs über englischsprechende Chinesen gesagt hatte. »Ja.« »Mr. Feiffer?« meldete sich die Stimme wieder. »Hier«, erwiderte Feiffer. Er machte einen Schritt vorwärts. Von oben erklang das Rascheln des Vogels in seinem Nest. »Soll ich nach vorn kommen oder hier stehenbleiben?« 54
Keine Antwort. Die Gestalt setzte sich in seine Richtung in Bewegung. »Wann wollen Sie mich über die Bedrohung eines der Flugzeuge unterrichten – vor oder nach der Geldübergabe?« Die Gestalt blieb stehen. »Ich bin nicht bewaffnet. Sagen Sie mir nur, wie Sie sich das Geschäft jetzt vorstellen.« »Mr. Feiffer?« sagte die Gestalt in genau demselben Tonfall wie zuvor. »Sprechen Sie nun Englisch oder nicht?« fragte Feiffer. Er verfiel wieder ins Kantonesische. »Nummer zwei?« Die Gestalt zögerte. »Hm«, sagte sie. Sie schien ihre Meinung irgendwie geändert zu haben. »Nummer zwei?« fragte Feiffer noch einmal, diesmal auf englisch. »Ich bin Nummer zwei«, erwiderte die Gestalt auf englisch. »Wer hat Sie geschickt?« »Ich bin Nummer zwei.« »Wer hat Ihnen aufgetragen, mir das zu sagen?« fragte Feiffer auf englisch. Wieder schien die Gestalt zu zögern. »Mr. Feiffer –?« Auf einmal gab es irgendwo ein raschelndes Geräusch, aber es kam nicht aus dem Dach. Irgend etwas hielt sich hinter einem der Busse auf. »Ich bin nicht bewaffnet!« sagte Feiffer noch einmal beschwörend. »Das hier ist kein Trick!« Seitlich von ihm bemerkte er auf einmal ein metallisches Blinken und gleich darauf noch eines. Die Gestalt wandte sich um. Ein metallisches Klicken wurde laut. »Aiiyaa –!« rief die Gestalt und rannte davon. Feiffer sah die Uniformen. »Nicht wegrennen!« schrie er der Gestalt auf englisch nach. ›Das ist er gar nicht‹, dachte er sich im selben Augenblick. »Nein! Nicht rennen!« schrie er noch einmal, diesmal auf kantonesisch. In diesem Moment krachten zwei Schüsse, deren Echo an den Wänden entlangrollte. Die Gestalt fiel nach vorn aufs Gesicht. O’Yee riß die Tür der Reparaturhalle auf. In der Hand hielt er den Revolver. Auf dem Boden mitten in der Halle lag etwas auf dem Boden. Feiffer und zwei uniformierte Polypen standen darum herum. 55
Er ging auf die Leute zu und hörte noch, wie Munday gerade sagte: »Ich bin schließlich nicht Sie! Ich schieße nicht, um zu töten! Ich habe ihn in beide Beine geschossen, und zwar mit einer Ladung, die kaum einen Vogel umbringen könnte.« Und Feiffer erwiderte: »Ich hätte überhaupt nicht auf ihn geschossen.« O’Yee steckte den Revolver wieder weg. Der Angeschossene lag auf dem Boden und hielt sich beide Knie. Er schien erstaunlich wenig zu bluten. »Er war nur ein Strohmann«, sagte Feiffer. »Er hat mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun. Irgend jemand hat ihm aufgetragen, hierhin zu gehen und zu sagen ›Mr. Feiffer?‹ und ›ich bin Nummer zwei‹ und einen Koffer abzuholen.« Feiffer beugte sich zu dem Mann hinunter und fragte ihn auf kantonesisch: »Man hat Sie hergeschickt, um hier einen Koffer abzuholen, nicht wahr?« Der angeschossene Mann schüttelte den Kopf. »Das ist schon der richtige Mann«, sagte Chief Inspector Munday. Er blickte Inspector Ming an. »Wir werden Kai Tak anrufen und Mr. Dobbs Bescheid geben, daß wir ihn haben.« »Dann könnten Sie bei der Gelegenheit auch gleich eine Ambulanz rufen«, sagte Feiffer und sah auf den Verletzten hinunter. Er war genau der Typ, wie sie zu Hunderten auf allen Straßen herumliefen und für ein kleines Entgelt zu praktisch allen Diensten bereit waren. »Wie heißen Sie?« fragte er den Mann. »Yip«, erwiderte der Verletzte. »Der Mann hat mir zwanzig Dollar gegeben. Er hat mir gesagt, ich solle hierhin gehen, zwei Sätze auf englisch sagen und wieder verschwinden. Er sagte, es handele sich um ein Geschäft, das er möglichst diskret abwickeln will. Und dann trug er mir auf, Ihnen später zu sagen, er sei enttäuscht von Ihnen.« »Wann später?« »Falls wir uns auf kantonesisch unterhalten würden.« »Oder falls Sie angeschossen oder verhaftet würden«, ergänzte Feiffer. Der Mann blickte auf seine zerschossenen Knie hinunter und nickte. »Das hier habe ich nicht gewußt«, sagte er. Er blickte von Munday, der den Revolver noch immer in der Hand hielt, zu Ming. »Ich wußte nicht, daß das irgendwas mit der Polizei zu tun hat. Er 56
sagte mir, es handele sich nur um eine geschäftliche Transaktion. Jetzt bin ich in großen Schwierigkeiten, nicht wahr?« »Können Sie aufstehen, Yip?« Der Mann nickte. Er schien lautlos zu weinen. Dankbar nahm er die Hand, die Feiffer ihm reichte, und zog sich in die Höhe. Für einen so schlanken Mann war er erstaunlich schwer. Er fiel schwer gegen Feiffers Brust und sank gleich wieder auf die zerschossenen Knie herunter. »Ich weiß gar nichts von der Polizei und von Schußwaffen«, sagte er traurig. Plötzlich fing er an, hemmungslos zu weinen, und schlug die flachen Hände auf den Boden. »Können Sie mich nicht einfach laufenlassen?« fragte er in flehentlichem Tonfall. »Nein.« »Ich weiß doch überhaupt nichts!« Er wandte sich an Ming. »Können Sie mich nicht einfach nur verbinden und nach Hause gehen lassen?« »Wird schon alles gut werden«, sagte Ming beruhigend zu dem Mann und klopfte ihm die Schultern. Er sah zu Chief Inspector Munday, der am Wandtelefon stand. Dann blickte er Feiffer an. »Das war der Falsche«, sagte er in fast akzentfreiem Englisch. »Ja, Sir, das heißt, verdammt noch mal, nein, Sir!« Er entspannte sich wieder und senkte den Kopf. »Tut mir leid, Sir«, sagte er zu Feiffer. Er blickte auf den am Boden liegenden Mann hinunter. Um zwanzig Uhr zehn erreichte das nächste Flugzeug das Verderben. Gemäß einer Routine-Instruktion vom Tower in Kai Tak kontrollierte der Pilot auf halbem Weg zwischen Hongkong und seinem Bestimmungsort, Taiwan, alle Instrumente an Bord. Dabei erwies sich, daß die Leuchtanzeigen einiger hydraulischer Systeme anscheinend ausgefallen waren. Entsprechend der weiteren Anweisung vom Tower in Kai Tak brach der Pilot den Flug ab und zog eine Schleife von hundertachtzig Grad, um nach Hongkong zurückzukehren. Siebenundzwanzig Minuten später flog die Maschine ihre zweite Schleife über dem Airport und wartete darauf, landen zu können, sobald die südliche Piste frei wurde. Fünfundvierzig Minuten später erhielt die Maschine die Anweisung, auf einem besonders hergerichteten Sektor zu landen. Der 57
Fluglotse erklärte dem Piloten, daß es sich dabei um die übliche Vorsichtsmaßnahme handele, weil nicht ausgeschlossen werden könne, daß es zu einer Bauchlandung kommen werde. Der Pilot überprüfte die Hydraulik an Bord ein zweites Mal und stellte fest, daß die Instrumentenbeleuchtung wieder einwandfrei arbeitete. Er fuhr die Landeklappen aus, um die Fluggeschwindigkeit zu drosseln, und drückte die Nase der Maschine nach unten. Die Haupttanks waren fast leer. Der Pilot fuhr das Fahrgestell aus. Das Fahrgestell fuhr nicht aus. Um 21 Uhr 43 kam der Flug Nummer 26 der Linie HongkongTaipeh flach auf der Landepiste auf. Und obwohl die ganze Landebahn mit Schaum ausgespritzt war, hatte der Pilot Angst, daß durch Funken, die das Metall aus dem Beton der Landebahn schlagen mußte, sich einer der leeren Kerosin-Tanks, in dem noch die hochexplosiven Dünste waberten, entzünden könnte, bevor er die gegenläufigen Rotorblätter der Luftschrauben für ein Bremsmanöver nutzen konnte. Unwillkürlich schloß er die Augen, als die Außenhülle der Maschine Kontakt zur Landepiste bekam. Im Kontrollturm, keine fünfhundert Yards entfernt, und in den Wartehallen der anderen Terminals hörte sich der Knall, mit dem sich der erste Tank entzündete, fast dumpf an, bevor dann der zweite, alles vernichtende Knall folgte. Im Detectives-Room auf der Station brach Feiffer das Schloß des Koffers gewaltsam auf. Er enthielt zwei in braunes Papier gewickelte Päckchen, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. In jedem dieser Päckchen befand sich ein einzelner, glatter, schmuckloser Ziegelstein. Und sonst absolut gar nichts.
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5 Den Leuten taten die Ohren weh. Es war, als habe ein tagelanger Artilleriebeschuß von einer Sekunde zur anderen aufgehört. Die Ohren konnten sich an das Schweigen kaum noch richtig gewöhnen. Die Leute steckten sich die Finger in die Ohren, um das taube Gefühl loszuwerden. Aber ringsum herrschte alles andere als Schweigen. Wagen hupten, Sirenen heulten, und nun starteten die Motoren, Gänge wurden krachend eingelegt, die ersten Leute begannen zu schreien, und von jenseits des Flughafengeländes drang der Verkehrslärm herüber. Der Himmel über dem Flugplatz war leer. Es war ein wunderschöner, blauer Frühlingshimmel. In der Luft herrschte Schweigen. Die Menschen sahen nach oben. Man konnte sogar die Glocken der Klöster von den Bergen herunter hören. »Alle siebeneinhalb Minuten muß hier planmäßig ein Flugzeug landen und starten!« schrie Dobbs in den Hörer. »Einunddreißig Luftfahrtgesellschaften müssen hier stündlich tausend zahlende Passagiere befördern. Und jetzt ist nichts! Nichts bewegt sich! Nichts! Absolut und vollständig Null!« Seine Stimme überschlug sich fast. »Ich werde Sie dafür verantwortlich machen!« Feiffer erwiderte nichts. Draußen vor dem Detective-Room konnte er Leute auf dem Flur diskutieren hören. Irgend jemand schrie im breiten Akzent der Afrikaner: »Dann sag mir doch nur mal einer – warum?« Und gleich darauf ertönte O’Yees Stimme in klarem San-Francisco-Dialekt: »Raus hier!« Die chinesischen Constables bemühten sich, den Leuten auf kantonesisch klarzumachen, daß sie draußen warten sollten. Irgend jemand schrie etwas auf chinesisch. »Raus!« brüllte O’Yee. »Was wollen Sie denn unternehmen?« fragte Dobbs etwas ruhiger. »Sie haben diesen Bastard laufenlassen, Sie ganz allein. Wenn Sie den richtigen Bastard in dem Budepot erwischt hätten, hätten wir unseren prächtigen Mr. Nummer zwei in einem prächtigen Gefängnis gehabt.« Dobbs schluckte. »Ich habe hier den Korridor voll mit einflußreichen Leuten, die alle wissen wollen, wann der Flughafen 59
wieder geöffnet wird. Alles einflußreiche Persönlichkeiten!« »Mir geht’s hier nicht besser, falls das ein Trost für Sie ist.« »Das interessiert mich einen feuchten Staub! Die Fluggesellschaften wollen von mir wissen, wann ich denn den Kerl unschädlich mache, der sich an Bord ihrer Flugzeuge schleicht und die Passagiere umbringt! Das Amt für Zivilluftfahrt hat alle Flüge gestrichen, bis der Kerl hinter Schloß und Riegel sitzt! Und mich machen sie dafür verantwortlich!« Dobbs regte sich immer stärker auf. »Und ich mache Sie dafür verantwortlich!« Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr: »Sollte ich je herausfinden, daß Sie an der ganzen Sache in der einen oder anderen Weise beteiligt waren, dann – ach, ich wage es gar nicht, mir das vorzustellen ...« »Was haben Sie denn von dem Mann erfahren, den Munday niedergeschossen hat?« »Aus dem habe ich überhaupt nichts rausgekriegt. Der Mann, den Munday niedergeschossen hat, war – das wissen Sie selbst ganz genau – nur ein verdammter Strohmann! Er war einer von diesen hochgradig Heroinsüchtigen aus Ihrem Bezirk, den sich Ihre Nummer zwei oder Nummer eins aufgeschnappt und dafür bezahlt hat, das Geld abzuholen.« Dobbs unterbrach sich kurz. »Munday hat gesagt, Sie hätten versucht, ihn zu warnen.« »Ich habe versucht, ihn vor dem Davonlaufen zu warnen.« »Und warum haben Sie das getan?« »Vielleicht wollte ich nur nicht, daß eure in die Pistolen verliebten Burschen ihn abknallten. Es war doch klar, daß er keine Ahnung hatte! Ich wollte mit ihm reden!« »Wenn er nichts wußte, warum wollten Sie dann mit ihm reden?« »Vielleicht wollte ich einfach nicht tatenlos zusehen, wie der arme Hund abgeknallt wurde.« »Munday hat Ihren sogenannten armen Hund aber zufällig gar nicht abgeknallt!« »Und wie – zum Teufel – hätte ich das wissen sollen? Es war nicht ausgemacht, daß Munday auch da war!« »Welch ein Glück, daß er da war! Andernfalls wäre der Kerl doch entkommen, wenn wir die Sache Ihnen allein überlassen hätten!« »Entkommen – womit? Mit diesen beiden Ziegelsteinen?« 60
»Ihre Nummer zwei wußte ganz genau, daß wir ihn nicht bezahlten wollten.« »Genau! Und vielleicht war auch das genau der Grund, warum er einen Strohmann geschickt hat! Vielleicht ist das auch der Grund, warum er sich nicht mit Ihnen unterhalten wollte! Könnte das nicht – in dieser wildesten aller möglichen Welten – vorstellbar sein?« »Irgend jemand muß ihm was über uns erzählt haben, und ich fange langsam an mich zu fragen, wer das wohl gewesen sein könnte ...« Feiffer blieb ruhig. »Aus der Art, wie Sie sich aufführen, schließe ich immer mehr, daß er es gar nicht nötig hatte, sich über Sie zu erkundigen. Ich denke, Sie haben einen persönlichen Ruf, der sich weit über Ihren eigentlichen Aufgabenbereich hinaus verbreitet haben dürfte.« »Bleiben Sie bei Ihren Leisten, Mann!« »Übrigens, wie viele Menschen sind denn letzte Nacht in dem Flugzeug umgekommen?« fragte Feiffer wie nebenbei. »Ein schöner Haufen!« »Es gab also keine Überlebenden?« »Wir haben sechsundzwanzig Tote zu beklagen! Irgend jemand hat groben Kies in die Hydraulik der Fahrgestelle eingefüllt, nicht viel zwar, aber doch gerade genug.« Er schnaufte vernehmlich. »Ich hoffe, Sie betrachten es nicht als persönliche Beleidigung, aber wir waren so frei, die Mechaniker bereits in eigener Regie zu vernehmen.« »Und?« »Und jeden, der noch für die Flugsicherheit verantwortlich ist, außer ein paar Schlitzaugen vom Reinigungsdienst und ein paar Boten, die irgendwo unter Vertrag stehen.« Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Und zu Ihrer Information: Das Gift war reines Zyanid. Da muß irgendein Chinese im Auftrag eines Banditen auf dem Flugplatz sein, der genau weiß, was er will, und – im Moment sind Sie da noch mein erster Gedanke!« Er wartete, ob Feiffer etwas sagen würde, doch der hielt sich eisern zurück. »Wenn Ihre Nummer zwei das nächste Mal anruft, wünsche ich, daß das ganze Gespräch aufgezeichnet wird. Bis jetzt hat ja außer Ihnen noch niemand mit diesem Bastard gesprochen, und aus meiner Sicht besteht Ihr einziger Bei61
trag zur Fahndung bisher darin, daß Sie einen schlitzäugigen Strohmann vor unseren eigenen Polizisten gewarnt haben!« Er legte wieder eine kurze Pause ein. »Ich will nicht behaupten, daß ich große Lust hätte, den Behörden etwa mitzuteilen, die ganze Sache sei von einem heroinsüchtigen Chinesen inszeniert worden, und ich halte im Moment auch noch mit meiner Vermutung zurück, daß mein erster Verdacht auf einen zweitklassigen Cop in Hong Bay fällt. Aber die Tage, an denen Sie noch mein Wohlwollen haben, sind gezählt.« »Schrecklich.« »Jawohl, das ist schrecklich! Ich zähle nur die Dinge mal auf, die nötig wären, um so eine Sache durchzuziehen: genaueste Kenntnis der Örtlichkeiten und der zuständigen Polizeistation und der Polizisten, die Kai Tak überwachen, Telefonanrufe von jemandem, den niemand kennt, das dringende Bedürfnis, das Geld ohne jede Diskussion zu übergeben, und dieses Verlangen danach, Kriminelle vor der Polizei zu warnen. Und das könnte ich noch fortsetzen.« »Zum Beispiel hinsichtlich des leichten Zugangs zu schweren Giften und hydraulischen Systemen. Oder sollte ich vielleicht einen unbekannten Zwillingsbruder haben, der zufällig –« »Hören Sie zu, Feiffer, ich habe Sie überprüfen lassen. So langsam komme ich zu dem Schluß, daß Sie weniger eifrig sind, wenn es um Europäer geht.« »Aha, ich laufe also mit der Kanone in der Hand herum und bringe alle Europäer um, derer ich habhaft werden kann. Ist das so richtig?« »So, in der Art etwa, fange ich an, die Sache zu betrachten.« »Wie seltsam, daß dann meine ersten fünfzig ›Opfer‹ Japaner waren, oder nicht? Oder sollte ich das beim ersten Anschlag übersehen haben?« »Versuchen Sie nur ja nicht, mich hier zu verulken, Mann! Ich will nur wissen, auf welcher Seite Sie stehen.« »Ich stehe auf der Seite der Opfer! Oder haben Sie die ganz vergessen? Wüßte ich nur einen Weg, wie ich Nummer zwei veranlassen könnte, sich direkt mit Ihnen in Verbindung zu setzen, ich wäre glücklich! Tatsache ist aber, daß ihn nichts überzeugen kann.« Feiffer schnaubte wütend. »Ich frage mich warum!« 62
»Sie stehen unter ständiger Bewachung, Feiffer!« »Haben Sie das etwa den wichtigen Leuten auf dem Flugplatz erzählt, von denen Sie vorhin gesprochen haben? Daß sich Ihr erster Verdacht gegen einen nicht ganz kittelreinen europäischen Polypen richtet? Mein Gott, das muß ja einen fürchterlichen Eindruck gemacht haben! Oder sind Sie gar noch so weit gegangen zu sagen, Ihr Hauptverdächtiger sei ein Detective Inspector?« »Ich habe ihnen sogar gesagt, daß Sie ein verdammter Detective Chief Inspector sind!« »Sie müssen völlig übergeschnappt sein!« »Nehmen Sie doch mal einen einzigen von diesen verrückten Anrufen auf Band auf, sonst nichts. Sie haben weiter nichts zu tun, um –« »Na, und dann?« »Dann könnte ich Ihnen vielleicht glauben, daß es da wirklich eine Nummer zwei gibt!« »Aber dann werden Sie immer noch glauben, daß ich die unbekannte Nummer eins bin oder der Boss oder wie man es auch nennen will. Stimmt’s?« »Genau!« Feiffer schwieg einen Moment. »Aber ...« »Was, aber?« »Oh, Sie wissen schon. Ich muß also einen Anruf von Nummer zwei auf Band aufnehmen, um zu beweisen, daß es ihn gibt. Aber statt Ihnen auf diese Weise nun ein für allemal zu beweisen, daß ich nicht der große Unbekannte im Hintergrund bin, sollte ich dann – um mir keine Unannehmlichkeiten an den Hals zu holen – weitermachen und den Mann selbst fassen – falls es ihn gibt. Und wenn es ihn nicht gibt, täte ich gut daran, wenigstens einen zu erfinden. Das meinen Sie doch wohl.« »Genau«, erwiderte Dobbs. »Sehr liebenswürdig.« »Ich freue mich, daß es Ihnen gefällt. Sie können ja Ihren halbgaren Yankee-Freund O’Yee mit einschalten, damit die Sache ein bißchen das Lokalkolorit behält.« Dobbs legte eine Kunstpause ein. »Betrachten Sie’s doch mal von dieser Warte aus: Sie nehmen einem Offizier höheren Ranges eine schwere Last von den Schultern – was 63
an sich schon eine bedenkenswerte Rolle ist –, und dann könnten Sie sich bei dieser Gelegenheit schon gleich selbst wieder für die Gesellschaft der Weißen empfehlen – was ja schließlich auch nicht zu verachten wäre.« »So, wirklich nicht?« »Bestimmt, bestimmt«, versicherte Dobbs eifrig. »Versuchen Sie’s mal. Fühlen Sie sich mal ganz als Weißer. Sie werden sehen, die Welt sieht dann ganz anders aus, viel freundlicher.« Er räusperte sich. »Und denken Sie vor allem an das Tonbandgerät. Am besten sofort.« Es lag keine Drohung mehr in seiner Stimme, nur noch Ablehnung. Die Leitung war tot. Feiffer beobachtete die beiden Spulen des Tonbandgerätes, die sich in die Stimme von Nummer zwei hineindrehten. »Natürlich bin ich ein bißchen enttäuscht, aber nur in persönlicher Hinsicht«, sagte Nummer zwei gerade. »Vom geschäftlichen Standpunkt aus betrachtet war diese Entwicklung natürlich vorhersehbar. Lassen Sie mich sagen, daß es mich gefreut hat zu hören, daß der arme Kerl nicht erschossen worden ist, aber im Hinblick darauf, daß in meinen Planungen ein paar solcher Opfer vorgesehen sind, wirft es mich nicht gleich um.« »Superintendent Dobbs glaubt gar nicht recht an Ihre Existenz. Er hält Sie für eine Ausgeburt meiner kriminellen Phantasie.« »Oh?« sagte Nummer zwei. »Sie nehmen dieses Gespräch doch sicher auf Band auf?« Feiffer sagte nichts. »Und Sie wünschen natürlich, die Leitung zurückzuverfolgen.« »Hätte das denn Zweck?« fragte Feiffer. »Die gelegentlichen Pausen bei Ihnen interpretiere ich so, daß Sie dann auf Ihre Stoppuhr schauen, um sicher zu sein, daß man Sie noch nicht aufgespürt haben kann, und damit Sie wissen, wann es Zeit ist, die Leitung zu wechseln.« Nummer zwei seufzte erleichtert auf. »Es ist wirklich schön«, sagte er beinahe glücklich, »es mit jemand zu tun zu haben, der das Geschäft versteht.« 64
»Was wollen Sie?« Feiffer blickte zu O’Yee hinüber, der wieder am anderen Telefon stand. »Ich will Ihnen nur versichern, daß die unglückliche Affäre in dem Reparaturschuppen den Enthusiasmus meines Prinzipals für den Fortgang unseres Kontaktes in keiner Weise gehemmt hat«, erwiderte Nummer zwei. »Die zweite Bedrohung wäre übrigens – ganz gleich, was sonst gewesen wäre – auf jeden Fall ins Werk gesetzt worden – Sie wissen schon, die Sache mit der Hydraulik bei Flug Nr. 26. Ach, da fällt mir noch ein: Was wollten denn die Leute von Kai Tak statt des Geldes liefern, Zeitungspapier vielleicht?« »Zwei Ziegelsteine.« Einen Moment blieb es still am anderen Ende. Nummer zwei kontrollierte offenbar seine Stoppuhr. »Nun, das werden sie wohl nicht noch einmal versuchen, nicht wahr?« fragte Nummer zwei. »Auf jeden Fall wird noch eine Bestrafung wegen der Nichteinhaltung der ursprünglichen Übereinkunft hinsichtlich der fünfzigtausend Dollar erfolgen. Anweisungen für die Übergabe werden Ihnen später übermittelt.« Wieder unterbrach er sich kurz. »Sie werden nicht in der Lage sein, uns zu fangen«, sagte er dann schnell. »Wir haben die ganze Sache viel zu clever ausgearbeitet.« Feiffer sah zu O’Yee hinüber. O’Yee hielt die Finger hoch zum Zeichen, daß er nur noch wenige Sekunden brauchte. »Ja ...« sagte Nummer zwei gedehnt. Es gab ein glucksendes Geräusch, so als trinke er gerade. Dann sagte er wieder: »Ja – Sie hören dann also wieder von mir.« Er begann zu kichern. Die Leitung war plötzlich tot. Feiffer blickte zu O’Yee hinüber. O’Yee legte gerade den Hörer aus der Hand. »Nun?« »Nichts.« Feiffers Telefon klingelte. Nummer zwei war wieder dran. Seine Stimme klang erregter als sonst. »Ich will Sie nicht lange aufhalten. Aber ich vergaß, es Ihnen zu sagen: Es gibt da wieder eine Bedrohung.« Er machte eine kurze Pause. »Es ist aber noch nicht so eilig. Sagen Sie also Superintendent Dobbs –« Er schien plötzlich anderen Sinnes geworden. »Nein, lieber doch nicht, sonst wird er zu selbstgefällig. Ein schlimmer Fehler – Selbstgefälligkeit.« Er verfiel wieder 65
in seinen geschäftsmäßig kühlen Ton. »Sie werden über alles Weitere informiert werden, sobald entsprechende Anweisungen sinnvoll werden.« Zum zweitenmal hängte er mit lautem »Klick« ein. Auden ging über den Flur des Erdgeschosses in dem zweistöckigen Holzhaus und blickte unter die morsche Treppe. Mit einer Hand probierte er die Festigkeit des Geländers. Ein großes Stück, durchsetzt mit Wurmlöchern, blieb in seiner Hand zurück. Er betrachtete es näher, roch daran und warf es dann auf einen Haufen Gerümpel vor einer Wohnungstür. Etwas Kleines, Widerliches und Vielfüßiges huschte davon. Er wandte sich wieder an Dirty Elmo Fan auf dem Flur hinter ihm und sagte: »Ip Kam Wing.« Er sah noch einmal den Korridor entlang, der sich in nichts von den Korridoren in anderen billigen Absteigequartieren unterschied, und wandte sich dann wieder Dirty Elmo Fan zu. »Nun?« Er blickte seinem Gegenüber ins Gesicht. Es war ein wenig sympatisches, ungewaschenes Gesicht. »Ich will ja nicht gleich sagen, über Ihrem Kopf schwebt das Verhängnis einer von der Polizei angeordneten baulichen und hygienischen Überprüfung Ihres Etablissements, aber ich wüßte es schon zu schätzen, wenn Sie mir ein bißchen helfen wollten.« Er antwortete auf kantonesisch: »Dirty Elmo und ich sind gute Freunde.« »Ich weiß nicht, ob Sie Mr. Spencer kennen«, sagte Auden. »Das hier ist Detective Inspector Spencer. Inspector Spencer ist ein netter Mensch. Bill, das hier ist Dirty Elmo Fan, Besitzer einer Pension, Herberge und eines erstklassigen Bordells.« Wieder sah er Dirty Elmo Fan an und sagte: »Ip Kam Wing.« Dirty Elmo sah den Korridor zu der erst kürzlich untersuchten Treppe hinunter. Was erwarten die Leute in diesen Tagen noch für ihr Geld? Er sah Auden an. »Nie von ihm gehört«, sagte er. »Nein?« Dirty Elmo schüttelte den Kopf. Er nahm die Zigarette aus dem Mund, betrachtete sie nachdenklich und steckte sie sich schließlich wieder zwischen die Lippen. Der Schmutz unter seinen Fingernägeln sah aus wie hineinoperiert, so dick saß er. »Sie wissen ja, wie gern ich Ihnen helfen würde, Mr. Auden, aber ich habe noch nie von ihm gehört. Ist das ein schlimmer Mensch?« 66
»Nein, aber du bist ein schlimmer Mensch, Elmo.« »Ich, Mr. Auden?« In dem Blick, den er dem Polizisten zuwarf, drückte sich alles Leid dieser Welt über ihre Ungerechtigkeit aus. »Wenn ich ein schlechter Mensch wäre –« »Du bist ein schlechter Mensch«, beharrte Auden unerbittlich. »Und wenn du mir nicht alles sagst, was du über Ip Kam Wing weißt, dann bringe ich dich zu deiner Treppe und haue dir ihre Einzelteile so lange um die Ohren, bis es dir wieder einfällt.« Er blickte Spencer an. »Was meinst du?« Spencer lächelte schwach. »Aus unserer niedlichen kleinen Kartei mit den Fingerabdrücken und den Polizeiberichten wissen wir nämlich, daß die letzte Adresse von Ip Kam Wing hier war«, sagte er. »Er hat ja nichts verbrochen. Wir wollen nur mit jemand sprechen, der ihn kennt.« Er blickte Auden an. »Er ist viel netter als ich, nicht wahr, Elmo?« sagte Auden. Dirty Elmo grinste vage. »Er ist auch bekannt als Ip der Kokser.« Einen Augenblick lang herrschte ein geradezu melodramatisches Schweigen, und dann stahl sich, wie die Morgenröte über die von der Nacht verdunkelte Erde, das Erkennen auf Dirty Elmos Gesicht. »Ooohhh! – Ip der Kokser!« Auden nickte. Er sah bewundernd zu Spencer hinüber. »Hilf Himmel, ich glaube, er hat’s!« sagte er. »Oh! Ip der –« wiederholte Elmo. »Noch einmal, und ich trete dir die Zähne aus dem Mund!« warnte Auden. »Er ist weg«, sagte Dirty Elmo Fan. »Und wohin?« »Einfach weggegangen. Vor zwei Tagen. Seitdem ist er weg. Ich hab’ sein Zimmer schon wieder vermietet.« »Wohin ist er gegangen, Elmo?« fragte Auden noch einmal. »Der Schnüffler ist entweder gegangen oder er ist hier. Er schnüffelt immer herum, deshalb heißt er ja auch der Schnüffler. Der Schnüffler schnüffelt nach Jobs für den Schnüffler, und ergo: der Schnüffler hat einen anderen Platz zum Arbeiten und Wohnen gefunden und ist gegangen. Resultat –« »Noch ein Ergo«, sagte Auden, »und du wirst deswegen oder we67
gen was anderem mit ihm gehen.« »Sein Zimmer stand zwei Tage leer. Heute morgen habe ich es an einen anderen vermietet.« »Und was hast du mit seinen Habseligkeiten gemacht?« fragte Spencer. »Seinen was?« »Hatte er nicht das eine oder andere, was er nicht auf seinem Bukkel davontragen konnte?« fragte Auden. »Sie haben den Schnüffler anscheinend nicht gekannt«, erwiderte Elmo. »Und wer kannte ihn?« »Wie meinen Sie das? Ich kannte ihn.« »Wer hat ihn besucht?« fragte Auden. »Niemand. Er war doch der Schnüffler«, erwiderte Dirty Elmo Fan. »Der Schnüffler war der Schnüffler. Es gibt viele Leute wie den Schnüffler. Er ist jetzt weg. Warum interessiert es Sie? Will er zurückkommen?« »Er ist tot«, sagte Spencer. »Uh«, sagte Elmo. »Naja, so ist nun mal das Leben.« Er rieb sich die Nase. »Dann kommt er also nicht zurück?« fragte er. »Der Schnüffler verstand nur was von komischen Sachen.« »Und was war sein letzter Job?« wollte Auden wissen. »Ich weiß nicht. Tellerwäscher, Bote, Aushilfsarbeiter. Was sagen denn Ihre Polizeiberichte?« »Sie besagen, daß er zuletzt einen illegalen Spielbetrieb auf offener Straße hatte«, erwiderte Spencer. »Wirklich?« Dirty Elmo schien entsetzt. »Tz – tz – tz –« »Und du hast ein Bordell«, sagte Auden. Dirty Elmo erwiderte nichts. »Hatte er irgendwelche Freunde?« wollte Auden wissen. Dirty Elmo blickte Auden an. »Nein.« »Familie?« »Ich könnte da etwas sehr Herabsetzendes über die von Ihrem Kollegen zur Schau getragene Unschuld vorbringen«, sagte Dirty Elmo zu Auden. »Ja, das kannst du«, fiel Auden ein. »Willst du es nicht sagen?« Er blickte demonstrativ zum Treppenhaus hinüber. 68
»Nach allem, was ich weiß«, beeilte sich Elmo zu erzählen, »hatte er keine Familienangehörigen und keine Freunde. Er bezahlte sein Zimmer immer eine Woche im voraus, aber ich weiß über seine Einkünfte nicht Bescheid.« »Du sagtest, er sei seit zwei Tagen nicht mehr hier gewesen«, fuhr Spencer fort. »Das ist richtig.« »Nun, wenn er immer für eine Woche im voraus gezahlt hat, dann müßte er doch bis zum Wochenende bezahlt haben.« »Die Versuchung, mir etwas über sein Verbleiben zu erzählen, scheint wohl doch nicht so übermäßig hoch, wie?« fragte Elmo. »Irgend jemand hat ihn in einen Kanal mitgenommen und da erschossen«, erwiderte Spencer. »Wirklich?« Dirty Elmo schien überrascht. »Dann war ja meine Entscheidung, sein Zimmer gleich weiterzuvermieten, eine ausgesprochen kluge geschäftliche Entscheidung.« Er kratzte sich den Kopf. »Mr. Spencer, bevor Sie noch sehr viel älter werden, sollte ich jetzt vielleicht doch erzählen, daß –« Er sah Auden an. Auden lächelte ihm zu und blickte mit neu aufgeflammtem Interesse zur Treppe hinüber. »Mein Gott, wie schrecklich«, sagte Elmo zu Spencer. »Soll das wirklich heißen, dieses arme Menschenkind sei von den dunklen Mächten des Verbrechens und des Unheils in der Blüte seiner Jahre von der Brust seiner Mutter gerissen und grausam ermordet worden?« Aus einem nicht ganz erfindlichen Grund verfiel er auf einmal ins Englische: »Scheiße, verdammte!« Sein Englisch hatte einen starken amerikanischen Akzent. Und er beherrschte auch nicht viele Wörter und Sätze, aber was er so wußte, brachte er jetzt vollständig an. Und so setzte er noch hinzu: »Erstattung von zuviel gezahlter Miete ausgeschlossen.« »Zeig Mr. Fan jetzt die Fotos«, forderte Auden seinen Kollegen Spencer auf. »Und dann frag ihn so höflich wie möglich, ob er auch noch einen der anderen Toten kennt.« Spencer zeigte ihm die Fotos. Mr. Fan kannte keinen der anderen Männer. »Wie geht ’s Geschäft?« fragte Auden den Chinesen. »Welches Geschäft?« 69
»Egal. Das Geschäft, das du im Moment betreibst«, erwiderte Auden. »Gut, gut«, erwiderte Elmo. »Und selbst?« »Gut, gut.« »Das letzte Mal, als Sie hier waren, um mit mir über Hot Times Alice Ping zu reden, haben Sie die Beherrschung verloren und mich geschlagen«, sagte Dirty Elmo. »Ich freue mich zu sehen, daß Sie davon offenbar abgekommen sind.« »Das macht der mäßigende Einfluß von Mr. Spencer«, sagte Auden und wandte sich zur Tür. »Bei der Gelegenheit«, sagte Elmo zu Spencer und hielt ihn am Ärmel fest, »wissen Sie eigentlich, was für ein prächtiger blondhaariger Bursche Sie sind? Es gibt da Leute, müssen Sie wissen, vor allem Seemänner, die so große Burschen gern mögen, solche wie Sie –« Spencer sah ihn nur groß an. Im Detectives-Room nahm O’Yee gerade die Brille ab und blickte auf das Tonbandgerät auf Feiffers Schreibtisch. Gerade lief ein langes Band ab. Das Gerät war mit dem Telefonapparat verbunden, und zwar mit einem jener Saugstopfen, die man schnell von einem Apparat zum anderen umstecken kann. »Bist du diesem Dobbs eigentlich je in Fleisch und Blut begegnet?« wollte O’Yee wissen. »Nein.« Feiffer prüfte die Verbindung zwischen Telefon und Tonbandgerät. Dann drückte er die Pausentaste, um das Gerät aufnahmebereit zu halten. »Ich stelle ihn mir wie einen überdimensionalen Käfer mit ewig gerötetem Gesicht und zwei Colts mit Perlmuttgriffschalen in Schweinslederhalftern vor.« »Das klingt eher nach General Patton.« »– oder als einen untersetzten Mann mit Glatze und randloser Brille. Oder klingt dir das zu sehr nach General Tojo?« »Eher nach Heinrich Himmler«, fand Feiffer. »Abgesehen von der Notwendigkeit, die Existenz einer Nummer zwei nachzuweisen, wie Mr. Dobbs meint, habe ich dabei noch einen anderen Gedanken. Vielleicht kann irgend so ein Geistesgoliath später einmal nur aus der Sprachfärbung erkennen, aus welcher gottverdammten 70
Ecke Asiens seine Familie stammt.« Er blickte kurz auf. »Es gab da vor gar nicht so langer Zeit einmal in Australien einen ganz ähnlichen Fall mit der QANTAS, wo einer eine Million Dollar mit der Drohung erpreßte, er werde eine Maschine in die Luft sprengen, während sie auf dem Weg hierher nach Hongkong sei. Seine Stimme wurde auch verschiedenen Experten vorgespielt, und da hat einer festgestellt, daß der Erpresser irgendwo aus dem Norden Englands stammte oder dem Süden Schottlands.« »Und wer war es? Wo stammte er nun genau her?« »Er stammte genau aus dem Zentrum von London«, erwiderte Feiffer. Das Telefon klingelte, und er beeilte sich, den Hörer aufzunehmen und die Pausentaste des Tonbandgerätes zu lösen. »Ich glaube, ich habe alle Grundsätze des polizeilichen Einsatzes vergessen, als ich ihm meine Gefühle klargemacht habe«, sagte draußen auf der Straße Spencer zu Auden. »Der Mann ist doch hoffnungslos degeneriert. Irgendwie hat es mich gefreut zu hören, daß du ihn anläßlich der letzten Vernehmung geschlagen hast. Ich hätte auch beinahe –« »Ich habe ihn beim letzten Mal ebensowenig geschlagen wie jetzt«, erwiderte Auden. Er schloß die Wagentür auf und kurbelte das Fenster hinunter. »Ich habe ihn überhaupt nie geschlagen.« »Aber du sagtest doch –« »Das war nur für die vielen Ohren bestimmt, die hinter den Türen gelauscht haben.« Er schlug die Tür zu und fragte sich, wie um alles in der Welt der Schnüffler und zwei Arbeiter des Wasserwerks in einem stillgelegten Kanal erschossen werden konnten. »Elmo muß auf seinen geschäftlichen Ruf genauso bedacht sein wie jeder andere auch.« »Na, ich jedenfalls konnte ihn nur mit dem allergrößten Widerwillen betrachten«, sagte Spencer. »Er hat uns geholfen, und ich habe ihm das Gefühl gegeben –« »Komm, fahr du«, sagte Auden und reichte ihm die Schlüssel. Spencer schlug sich plötzlich mit der Hand vor die Stirn. »Und ich habe ihn behandelt, als wäre er weniger als –« Er schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich mich nur so irren.« Auden schüttelte den Kopf und ging um den Wagen herum. 71
»Nun sag doch was! Sag mir, warum ich zurückgehen und mich entschuldigen sollte. Sag mir, warum ich ...« Auden lehnte sich an das Wagendach und blickte die menschenleere Straße hinunter. »Nun?« fragte Spencer. »Was? Was?« Er blickte hinüber zum Eingang von Elmos schmuddeligem Etablissement. »Nun?« drängte er noch einmal. Auden stieg ins Auto und zündete sich eine Zigarette an. Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: »Hier spricht Dr. Fahy von den medizinischen Labors des Hospitals St. Paul de Chartre in Hong Bay.« Feiffer schaltete das Tonbandgerät wieder aus. »Ja?« »Ich habe da ein paar Informationen über das Gift, daß man in den Mägen jener Leute gefunden hat, die gestern während eines Fluges vergiftet wurden. Ich hab’ davon in den Zeitungen gelesen.« »Da rufen Sie wohl besser Superintendent Dobbs vom Flughafen in Kai Tak an«, erwiderte Feiffer. »Er bearbeitet die Sache.« »Superintendent Dobbs sagte mir, ich solle Sie anrufen«, erwiderte der Arzt. »Er sagte, Sie bearbeiten den Fall.« Er unterbrach sich kurz. »Ich habe da nämlich eine Information hinsichtlich des Giftes«, fuhr er dann fort. »Es war Zyanid.« »Ja, das weiß ich schon«, erwiderte Feiffer. »Das ich mir bekannt. Aber es gibt da noch etwas, das Sie eigentlich nicht wissen könnten.« »Und was wäre das?« Dr. Fahys Stimme klang ruhig und völlig emotionsfrei, als er in den Hörer sagte: »Es stammte von uns.« Er wartete auf eine Reaktion.
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6 Auf Gamewells Tisch stand ein Plastikmodell eines britischen Chieftain-Panzers, sorgfältig mit Tarnfarben gestrichen und im vollen Schmuck aller Regiments- und Schwadronenabzeichen. Auf einem der Aktenschränke stand ein weiteres Modell eines Panzers in den Farben des Afrika-Korps – und dann noch ein anderes – offenbar russisches – Modell eines gepanzerten Fahrzeugs direkt unter dem Portrait der Königin. P.A.J.S. Gamewell blickte liebevoll zu seinen verschiedenen Panzermodellen, während er angestrengt nachdachte. Er strich sich das Jackett glatt und sah noch ein letztes Mal zu dem Chieftain hinüber, bevor er sagte: »Ja, wir hatten ihn einmal hier. Er war ein hochgewachsener, knochig wirkender junger Mann mit erstaunlich langen Fingern.« Noch einmal blickte er von den Panzerbildern an der Wand zu seiner Waffensammlung auf dem Schreibtisch und fuhr fort: »Sein Name war Lee. Gleich nachdem Sie mich angerufen haben, habe ich seine Akte heraussuchen lassen. Sein voller Name lautete Lee Wai Tak. Er war zum Corporal degradiert worden. Ein mieser Zeitgenosse und ein miserabler Soldat. So was wie den habe ich noch nie gesehen.« Er blickte Auden an. Spencer dachte die ganze Zeit angestrengt darüber nach, was wohl das P.A.J.S. auf der Namensplatte auf dem Schreibtisch bedeuten mochte. Ein Rang? Seine Vornamen? »Tut mir leid, Sie das fragen zu müssen«, sagte er freundlich, »aber welchen Rang bekleiden Sie, Mr. Gamewell?« »Captain«, erwiderte Gamewell. »Er blickte flüchtig zu seinen Panzer-Modellen hinüber. »Oder Lieutenant, eines von beiden. Ich weiß es selbst nicht genau. In den Briefen meines Regiments in Deutschland heiße ich Captain, aber in der Soldliste stehe ich als Lieutenant. Meine Mutter ist fest davon überzeugt, daß ich schließlich und endlich mindestens Major sein müßte. Nennen Sie mich Patrick. Ich habe mit den Stationierungsstreitkräften hier in Hongkong ohnehin nichts zu tun. Ich bin aus Tradition Panzer-Offizier.« »Oh!« machte Spencer. Er sah auch ohne weiteres ein, daß Hongkong für einen Panzerführer nicht der richtige Einsatzort war. Er starrte aus dem Fenster der Baracke, in dem das Büro lag. Auf dem 73
Parkplatz standen einige leichtbewaffnete Fahrzeuge und eine kleinere Kanone auf Selbstfahrlafette. Panzer sah er keine. »Es muß wirklich ein bißchen deprimierend für einen Panzeroffizier sein, hier Dienst zu tun, wo es gar keine Panzer gibt«, sagte Spencer. »Hören Sie, Pat«, sagte Auden, »die Leute im Lucky Dime sagen ...« »Patrick«, unterbrach ihn der Captain/Lieutenant. »Wie Sie meinen.« »Und ich meine Patrick.« »Sie haben es nicht gern, wenn man Sie Pat nennt?« »Ich werde nicht gern Pat genannt.« Es klang fast wie ein Signalhorn. »Ich bin ein überaus friedlicher Mensch, und gelegentlich ermutige ich auch mir unterstellte Offiziere zu mehr Persönlichem im gegenseitigen Umgang miteinander. Aber mein Name ist Patrick.« Er blickte wieder zu dem Chieftain-Modell hinüber. Es war bestückt mit einer gewaltigen Kanone, von der eine tödliche Bedrohung auszugehen schien. »Dieser Mann, den Sie den Schnüffler nennen, war also mit Lee befreundet, sagen Sie?« »Yeah«, erwiderte Auden gepreßt. Gamewell blickte ihn an und schwieg. »Wo ist denn Ihr Regiment im Moment stationiert?« fragte Spencer freundlich. »Am Rhein«, erwiderte Gamewell. »Vielleicht sind die Kameraden mit ihren Chieftains gerade in diesem Moment im Manöver. Ich habe einen Brief von einem Freund erhalten. Der Mann, den sie in meinen Tank gesetzt hatten, hat das gute Stück zu Schrott gefahren. Mitten in einen Graben ist er mit dem Chieftain gefahren. Drei Tage haben die anderen gebraucht, um ihn wieder rauszuholen. Sie können sich vorstellen, wie er ausgesehen hat.« »Oh, das tut mir aber leid«, sagte Spencer. »Im Grunde hat’s ja auch sein Gutes«, sagte Gamewell. »Er wird demnächst nach hier versetzt, um die leichte Artillerie auszubilden, und dann kann ich wieder zurück zu den Panzern.« Er schien wieder voll und ganz mit dem Schicksal im Einklang. Es sah fast so aus, als unterhalte er sich mit seinem Panzer-Modell. »Wenn es bei uns an etwas keinen Mangel gibt, dann an Panzern.« Er schien sich plötzlich wieder an die Anwesenheit der beiden Polizeibeamten zu erin74
nern. »Dieser Lee war einer der diensttuenden Corporals hier im Office. Er hat als einfacher Fahrer angefangen, und später haben wir ihn auf eines der leichter gepanzerten Fahrzeuge gesetzt. Aber der Kerl war so blöd, daß wir ihn hinauswerfen mußten. Ich habe nie gehört, daß ihn jemand ›Schnüffler‹ genannt hätte. Was ist mit ihm?« »Er ist tot«, sagte Spencer. »Er ist der Mann auf dem zweiten Foto, dem zweimal direkt ins Gesicht geschossen wurde.« Gamewell nickte. »Alles, was ich Ihnen von Corporal Lee erzählen kann, ist, daß er verkommen war und daß wir ihn hinausgeworfen haben. Wir waren drauf und dran, ihn vors Kriegsgericht zu stellen, da kam er glücklicherweise selbst um seine Entlassung ein, und so konnten wir uns den ganzen Ärger ersparen. Lee war ein entsetzlich schleimiger Kerl, nie um eine Ausrede verlegen. Ich bin froh, daß wir ihn los sind.« »Soweit wir wissen, war er hier als Bobby Lee bekannt«, sagte Auden. »Ja, wirklich?« Gamewell schien nicht interessiert. »Er war auf jeden Fall ein absolut unbrauchbarer Soldat, egal, wie er sich auch genannt haben mag.« »Warum genau wurde er entlassen?« Gamewell betrachtete gedankenverloren den Turm des PanzerModells. »Er war ein Dieb«, sagte er dann und betrachtete noch einmal kurz das Foto und ließ dann die anderen ebenfalls durch seine Finger gleiten. »Einer von den anderen auf den Fotos kommt mir ebenfalls ein bißchen bekannt vor. Ich glaube, ich habe ihn ein- oder zweimal vom Gelände gejagt, weil er an den Essensvorräten gesehen wurde. Hieß wohl Hsuang oder so ähnlich. Ich habe einen Bericht über ihn angefertigt und an die Militärpolizei weitergeleitet. Aber seit Lee nicht mehr hier ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Und deshalb habe ich die Sache schließlich auf sich beruhen lassen.« »Sein Name war Hsuang«, erklärte Spencer. »Er arbeitete in einem Kanal.« »Das überrascht mich kaum.« »Vermissen Sie hier irgend etwas?« wollte Auden wissen. »Was zum Beispiel?« »Zum Beispiel Feuerwaffen?« Gamewell sah wieder zu dem Panzer-Modell. »Kaum, es sei denn, 75
jemand habe sich die Mühe gemacht und hätte eine der 76-Millimeter-Kanonen von einem der Saladins da draußen abgeschraubt.« »Und?« drängte Auden. »Hat irgend jemand?« »Gibt’s hier sonst so was?« fragte Gamewell. »Ich dachte mehr an Feuerwaffen bis zur Größe höchstens eines Maschinengewehrs.« »Nur das, von dem Sie schon wissen.« »Von welchem wissen wir schon?« »Das eine, das Lee geklaut hat«, erwiderte Gamewell. »Das war ja auch der Anlaß für den Hinauswurf. Wir hatten ihn im Verdacht, eine Sterling-MP gestohlen zu haben, die eines Tages im Magazin fehlte. Aber wir konnten es nicht beweisen und haben die Militärpolizei eingeschaltet.« Er sah Auden ins Gesicht. »Das ist jetzt ungefähr sechs oder acht Wochen her. Sie sollten vielleicht besser zur Militärpolizei gehen und fragen, ob die das Ding noch immer nicht gefunden haben.« Er sah mit finsterem Gesicht zum Geschütz des Chieftain-Modells hinüber. »Wir konnten es nie mehr finden, aber wir konnten Lee auch nicht beweisen, daß er es genommen hatte. Der blöde Affe hat ja möglicherweise nicht einmal gewußt, an welchem Ende die Kugeln herauskommen.« Er hob den Kopf. »Wie ist Lee überhaupt gestorben?« wollte er auf einmal wissen. »Zweimal dürfen Sie raten«, erwiderte Auden. »Oh!« Er blickte Spencer an. »Ich hatte in England mal einen Freund, der fuhr auch einen Tank«, sagte Spencer. »Er hieß Roberts.« »Alan Roberts?« »Ja«, sagte Spencer. »Den kenne ich!« rief Gamewell. »Ganz großartiger Bursche. Er ging dann nach Kanada, um da in einem Kriegsfilm mitzuspielen.« »Ja, genau.« »Sie kennen also den alten Alan!« sagte Gamewell nicht ohne Freude. »Das ist toll!« Er schien sich wirklich ehrlich zu freuen. »Ein guter Panzeroffizier. Ich kann mich erinnern, wie ich mal mit Alan in Hamburg versackt bin.« Sein Gesicht strahlte in der Erinnerung. »Können Sie uns noch irgend etwas über Lee oder Hsuang erzählen?« schaltete sich Auden ein. 76
»Nicht das Allergeringste«, erwiderte Gamewell. »Spencer war Ihr Name, nicht wahr?« »Bill Spencer.« »Ich muß unbedingt einen ausgeben, Bill«, sagte Gamewell. »Alan würde es mir ja nie verzeihen, wenn ich einen seiner Freunde so einfach fortlassen würde. Wo sind Sie denn zur Schule gegangen, Bill?« »In dieselbe wie Alan.« »Und ich ja auch!« setzte Gamewell hinzu. »Sie müßten eigentlich ein oder zwei Jahre weiter gewesen sein als ich. Ich meine, mich jetzt auch ganz dunkel zu erinnern.« Er schüttelte den Kopf, als könne er noch immer nicht glauben, was er mit eigenen Ohren gehört hatte. »Da sind wir also die ganze Zeit aneinander vorbeigelaufen. Schrecklich. Sie haben wohl nie eine Karriere als Panzeroffizier ins Auge gefaßt, wie?« »Eine Zeitlang habe ich mal ernsthaft an die Artillerie gedacht ...« »Sie hätten mit uns zu den Panzern kommen sollen! Alan wird ja auch aus dem Staunen nicht mehr herauskommen, wenn er erfährt, daß wir uns hier zufällig begegnet sind.« »Wir müssen gehen«, drängte Auden. Gamewell schnippte mit den Fingern in Richtung seines Panzermodells. »Sehen Sie«, sagte er. »Der Chieftain da. Nehmen Sie ihn. Ich habe ihn selbst gebastelt. Artillerie! Sie müssen ja von Sinnen sein! Hier! Nehmen Sie!« Er sah Spencer herausfordernd an und versuchte schnell, sich sein Alter vorzustellen. »Noch ist es nicht zu spät. So, dann kennen Sie also den alten Alan? Was sagt der Mensch denn dazu!« »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte Auden wieder. »Seien Sie still.« Seine Augen hingen noch immer glücklich an Spencers Gesicht. »Wissen Sie, wenn Sie das nächstemal wieder in England sind, nehme ich Sie mal mit. Dann können Sie das ganze Regiment in Aktion sehen.« Spencer machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber Gamewell schnitt ihm das Wort ab. »Nehmen Sie den Panzer.« Er reichte ihn Spencer. »Was sagt der Mensch nur dazu!« 77
»Nun, jedenfalls vielen Dank, Mr. Gamewell«, sagte Spencer. »Patrick! Patrick!« Sein ganzes Herz war bei seinen Panzern am fernen Rhein, und jetzt blinzelte er einem vermeintlich verwandten Menschen im fernen panzerlosen Osten zu. Auden wurde langsam ungeduldig. »Wir müssen immer noch den Kerl fangen, der Hsuang, Lee und den Rest umgebracht hat«, sagte er. Gamewell warf ihm einen kurzen Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Spencer, um sich schließlich doch wieder für Auden zu interessieren. »Wie war doch gleich Ihr Name?« wollte er wissen. »Mein Name ist Auden«, erwiderte Auden mühsam beherrscht. »Nein, wirklich«, erwiderte Gamewell. »Na, alter Kumpel Auden, Ihr Ärger ist vorbei.« Er sah Spencer an. »Wie könnten Sie fehlen, wenn der alte gute Bill mit von der Partie ist? Bill, du hast mir den ganzen Tag gerettet.« »Die Sterling-MP, die Lee hier geklaut hat, ist womöglich dieselbe, mit der er umgebracht wurde«, sagte Auden. »Hast du jemals eine lange Reihe von Panzern über die Hauptstraßen von Berlin fahren sehen?« fragte Gamewell seinen neuen Freund. »Mein Gott, Bill, was für ein Anblick!« Auden ging hinaus und wartete draußen auf Spencer. O’Yee nahm den Hörer auf. »Senior Inspector«, sagte er in die Muschel. »Wo ist Mr. Feiffer?« unterbrach ihn die Stimme von Nummer zwei. Er hatte das Klicken gehört, mit dem das Tonbandgerät eingeschaltet wurde. Sofort rief er: »Schalten Sie das verdammte Ding aus und rufen Sie mir Feiffer! Warum ist er denn nicht da, um meinen Anruf entgegenzunehmen?« »Tut mir leid«, erwiderte O’Yee, »aber er ist –« »Wo ist er?« »Hm, er ist –« »Holen Sie ihn!« verlangte Nummer zwei. »Er ist aber im Moment nicht hier.« »Mein Prinzipal und ich lieben es aber nicht zu hören, er sei nicht auf seinem Posten«, sagte Nummer zwei. »Also gut, ich rufe später noch einmal an. Und ich rede nicht mit dem Management der unte78
ren Stufe. Das hier ist schließlich ein Geschäft der allerersten Klasse!« Er machte eine Pause. »Holen Sie ihn!« verlangte er dann noch einmal und hängte auf. Die mit weißen Teppichen ausgelegten Korridore des Labortraktes beim St. Paul de Chartre Hospital schienen ausschließlich von weißgekleideten Chinesinnen und Chinesen bewohnt zu werden. Der Geruch nach Formalin und frisch gewaschenem Leinen schien überall gleichzeitig zu sein. »Das Zeug stammt aus den Laboratorien von Dr. Curry«, berichtete Dr. Fahy. »Er hat es erst heute morgen festgestellt, und da habe ich Sie sofort angerufen.« Er war ein großer, schwer gebauter Mann, der die innere Selbstsicherheit des erfolgreichen Mittfünfzigers ausstrahlte. Er eilte den Korridor so schnell hinunter, daß mancher, der jünger war als er, außer Atem gekommen wäre. »Als wir hörten, daß in den Mägen der Opfer reines Zyanid in großen Mengen gefunden wurde, haben wir sofort unsere Vorräte kontrolliert.« Er blickte kurz durch eine offenstehende Tür in einen Raum, wo sich drei oder vier Männer mit etwas Grünlichem beschäftigten, das auf dem Boden lag, und nickte. »Curry gehört zu unserem Stab und ist zuständig für alle toxikologischen Untersuchungen. Gifte, Sie verstehen? Er beschäftigt sich auch damit, wie man durch ständige Verabreichung von geringen Mengen Gift eine gewisse Immunität erreichen kann. Das ist ein altes Gebiet in der medizinischen Wissenschaft, aber es gibt da eine Fülle neuer Aspekte, vor allem im Zusammenhang mit der Krebsforschung.« Sie näherten sich jetzt einer doppelten Schwingtür aus Glas. Dr. Fahy stieß sie auf. »Wir sind da«, sagte er. Feiffer ging hinein und sah sich um. Hier hing ein anderer, starker Geruch in der Luft: ein Mittelding zwischen einem Mittel, um verstopfte Ausgüsse wieder freizubekommen, und den Überresten einer Brauerei. »Doctor Curry, das ist Detective Chief Inspector Feiffer von der Polizei«, stellte er ihn vor. Er sah sich kurz in dem Raum um, als wolle er sich davon überzeugen, daß alles seine Ordnung hatte, und fuhr dann fort: »Ich halte mich im Hintergrund, stehe aber zur Verfügung, für den Fall, daß da noch Fragen auftauchen, die ich vielleicht besser beantworten könnte.« Er blickte Dr. Curry an, einen kleinen, viereckigen Mann mit einem flachen Gesicht ohne 79
scharfe Konturen und einem echten Schluck-Komplex. »Roger, ich will nur mal feststellen, was du von deiner Ausrüstung wirklich brauchst.« Sein Blick fiel auf einen Bunsen-Brenner, der ganz offensichtlich seit Pasteurs Zeiten nicht mehr benutzt worden war. »Halte die Kosten für Ausrüstungsgegenstände so gering wie möglich und kauf nichts Unnötiges«, ermahnte er seinen Kollegen. Dann wandte er sich an Feiffer. »Lassen Sie sich von mir nicht stören, machen Sie ruhig weiter.« »Vielen Dank«, erwiderte Feiffer. Dr. Currys Hände fielen ihm auf. Sie waren deutlich von Säuren zerfressen. »Wann haben Sie zum erstenmal gemerkt, daß das Zyanid nicht mehr da ist?« »Heute morgen. Dr. Fahy hatte über die Sache mit dem Flugzeug in der Zeitung gelesen und eine Untersuchung unserer Giftvorräte angeordnet. In meinem Giftschrank hatte eine Flasche Blausäure gestanden, als ich zum letztenmal hineingesehen hatte, und heute war sie nicht mehr da.« Er führte Feiffer zu der Glastür und öffnete sie für ihn. »Sie können noch genau sehen, wo der Dieb die Brechstange angesetzt hat, um hier einzudringen.« »Ja.« Im Türrahmen war deutlich zu sehen, wo ein eisernes Instrument angesetzt worden war, um die Tür gewaltsam aufzubrechen. Feiffer untersuchte das Schloß. Hier war ganz präzise die Stelle zu erkennen, wo die Brechstange angesetzt worden war, um die Zunge des Schlosses aus ihrer Verankerung zu lösen. »Das muß schon zwei Tage vorher gewesen sein, bevor das Gift in dem Flugzeug gebraucht worden ist. Wie kommt es, daß Sie das nicht früher bemerkt haben?« »Die Tür funktionierte ja, und deshalb ist es mir auch nie in den Sinn gekommen, sie zu untersuchen.« »Das sind aber sehr deutliche Markierungen«, sagte Feiffer. Er betrachtete die Stellen noch eingehender. »Schenken Sie Ihren Giften in der Regel eigentlich sehr viel Aufmerksamkeit? Ist es eigentlich die Regel, daß Sie hier Blausäure aufbewahren?« Curry sah zu Dr. Fahy hinüber. »Wir dürfen an sich nur das Minimum aller Gifte aufbewahren«, sagte er. »Und wenn die Vorgesetzten einen Grund finden, einem auch das noch vorzuenthalten, dann können Sie getrost wetten, daß sie das tun.« Er blickte Fahy durchdringend an. »Aber Frank, das war doch nötig für die nächsten 80
Experimente. Wenn Sie mir das auch noch wegnehmen, werde ich die Experimente nie zu Ende bringen können!« Dr. Fahy sah ihn nur schweigend an. »Ich brauche einen Messingschrank«, sagte er schnell zu Fahy, um dessen unausgesprochene Frage gar nicht erst hören zu müssen. »Wenn wir fürs Militär arbeiten würden, hätten wir das alles gar nicht nötig. Aber solange wir nichts anderes tun als ein paar Millionen Menschen vor dem Verderben zu bewahren, hält das ja kein Mensch für nötig.« Die letzten Worte hatte er fast geschrien. »Frank, ich brauche diese Sicherheitsvorkehrungen!« »Dieser Messingbehälter ist eine Spezialanfertigung«, sagte Dr. Fahy. »Und die sind nicht billig, wie Sie ja wissen.« »Ich weiß, daß das eine Spezialanfertigung ist«, erwiderte Curry und sah Feiffer an. »Sehen Sie, ich weiß auch nicht mehr als das, was ich sehe. Das Gift ist weg, und an der Tür sind Spuren von Gewaltanwendung. Schlußfolgerung: Jemand ist hier gewaltsam eingedrungen und hat die Blausäure gestohlen.« Wieder hob sich seine Stimme. »Wenn das Zeug etwas wert gewesen wäre, würde ich auf ihn da tippen.« Er deutete auf Dr. Fahy. Dieser gab das Grinsen seines Kollegen zurück, sagte aber nichts. »Hören Sie, Mr. Feiffer, die Situation hier ist nämlich die, daß wir ständig um Geld verlegen sind. Nur für die Leute, die neue Krankheiten und Bomben erfinden, ist seltsamerweise immer genug Geld da.« Er sah Feiffer fragend an. »Ich denke, die Leute, die die Fingerabdrücke nehmen, sind schon unterwegs, wie?« »Ich habe sie von Dr. Fahys Büro aus angerufen.« »Die gut alte wissenschaftliche Methode«, sagte Curry. »Den Polypen bezahlt man wohl auch nicht soviel, nach allem, was man so hört.« Er schüttelte den Kopf. »Wissen Sie«, sagte er, »daß ich längst in die Schweiz gehen könnte oder sonstwohin, wo’s schön ist, wenn ich nur genug verdienen würde. Wie konnten eigentlich Leute wie Curie und Pasteur ihre Entdeckungen machen? Ganz allein auf sich gestellt, ohne irgend jemanden, der ihnen auch nur einen Pfennig zahlte? Die Curies jedenfalls hatten keinen Pfennig. Heute hat sich manches gewandelt. Heute muß man schon verdammtes Glück haben, um überhaupt die erforderliche Ausrüstung in die Finger zu bekommen.« Er blickte zu Fahy hinüber. »Und Leute wie er –« Er 81
schüttelte den Kopf. »Frank ist ja kein übler Kerl. Und er ist auch ein guter Chemiker. Ich glaube, es muß sich mal einer einzig und allein um die finanziellen Dinge kümmern.« Er blickte Feiffer fragend an. »Sie sind ein guter Polizist und ich ein guter Forscher. Warum können wir dann gemeinsam nichts herausfinden?« Feiffer betrachtete noch einmal die Beschädigungen an der Tür. Sie sahen nicht aus, als seien sie von einem berufsmäßigen Einbrecher verursacht worden. »Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß ich ein guter Polizist sein könnte?« fragte er wie nebenbei. »Allein schon die Tatsache, daß Sie sich mit mir hier über Belanglosigkeiten unterhalten und hoffen, dabei etwas herauszufinden.« »Und das tue ich also wirklich?« »Kommen Sie, wir beschäftigen uns beide mit dem Aufdecken des Verborgenen«, sagte Curry. »Zufallsentdeckungen gelingen doch nur denen, die schon eine vorbereitete Meinung haben. Ich wollte, ich könnte Ihnen noch etwas berichten, aber das kann ich leider nicht. Um ehrlich zu sein, mir macht es noch nicht einmal etwas aus, daß die Blausäure verschwunden ist. Ich brauchte sie nicht und hätte sie auch die nächsten Jahre bestimmt nicht brauchen können.« Seine Stimme klang pessimistisch, als er hinzusetzte: »Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ich noch mehr davon bekommen könnte. Ich muß es wohl auf die Verlustliste setzen. Und ich hätte es im Grunde nicht einmal für erwähnenswert gehalten, wenn es für etwas Sinnvolleres verwendet worden wäre, als so viele Menschen so sinnlos zu vergiften.« Feiffer nickte. »Es ist ja nicht so, daß die Wirkung von Blausäure unbekannt wäre«, fuhr Dr. Curry fort. »Wenn es etwas Exotisches gewesen wäre, dann hätte der Tod all dieser Menschen wenigstens der Wissenschaft noch etwas gebracht. Aber so ist das Ganze doch völlig widersinnig.« »Ich bin sicher, daß diese Erkenntnis für die Angehörigen der Toten eine kolossale Erleichterung sein wird.« »Jahr für Jahr sterben Millionen von Menschen! Es ist erfreulich, daß etliche davon sterben, um durch ihren Tod der Wissenschaft neue Erkenntnisse zu vermitteln, damit wir in Zukunft besser leben 82
können.« Seine Stimme sank zu einem vertraulichen Flüstern herunter. »Alle die Ärzte, die in den Konzentrationslagern Experimente angestellt haben, müssen doch stets zwischen dem Wunsch hin und her gerissen gewesen sein, kein Menschenleben zu vernichten, und dem ebenso starken Wunsch, vom Tod dieser Leute zu lernen, um das Leben kommender Generationen sicherer zu machen.« Er räusperte sich. »Das ist ein Problem, das wohl jeden Wissenschaftler mehr oder weniger stark beschäftigt. Das ist so, als wenn ein Polizist Kriminelle erschießt, um Unschuldige zu retten.« »Die Leute, die wirklich gelegentlich von Polizisten in der Ausübung ihres Dienstes erschossen werden, haben sich aber zumeist vorher irgendeines Verbrechens schuldig gemacht.« »Und das trifft auf die Leute im Flugzeug nicht zu?« »Wie meinen Sie denn das?« »Waren sie nicht irgendwie irgendeiner Sache schuldig?« »Selbstverständlich nicht.« »Oh!« sagte Dr. Curry. »Ich versuche ja auch nur, meine im allgemeinen etwas langweilige Erzählkunst ein wenig aufzulockern. Das scheint mir wohl nicht sehr gut gelungen zu sein, wie?« »Sie tun so, als seien Menschen Ihrer Meinung nach nur gut als Versuchskaninchen, um späteren Generationen das Leben zu erleichtern.« Feiffer schien ungehalten. »Wann ist denn Ihrer Meinung nach diejenige Generation auf der Erde, deren Leben zu erhalten sich lohnen könnte?« »Natürlich«, sagte Curry. »Sicher haben Sie recht. Sie scheinen überhaupt großen Respekt vor dem menschlichen Leben zu haben.« »Sie etwa nicht?« »Warum sollte ich wohl so völlig mittellos meine medizinischen Forschungen betreiben, wenn ich gleichzeitig ein kleines Vermögen dabei verdienen könnte, den Militärs zu erläutern, wie man Menschen am billigsten und sichersten um die Ecke bringt?« »Warum wohl?« Curry lächelte. Er sah kurz zu Dr. Fahy hinüber, der gerade ein gläsernes Gerät untersuchte. »Sie müssen schon verzeihen«, sagte er, »ich lebe sicher viel zu sehr in meiner eigenen kleinen Welt.« Er sah zu, wie Fahy gerade einen Destillationsapparat auseinandernahm. »Oh, nicht, Frank!« rief er flehend. 83
Er ging hinüber, um sich mit dem Antichristen der Wissenschaft, dem Kommerz, ins Gefecht zu begeben. »Nummer zwei hat angerufen«, sagte O’Yee. »Er klang nicht sehr glücklich. Später will er noch einmal anrufen.« »Haben Sie das Gespräch auf Band?« »Ja. Er ruft wieder an. Angeblich will er nicht mit Untergebenen sprechen und hat deshalb wieder aufgelegt. Irgendwas bei den Medizinern herausgekriegt?« »Nicht viel.« »Wird jemand vermißt?« Feiffer ging ans Tonbandgerät, um es zurückzuspulen. »Das übliche Vertragspersonal: Putzfrauen und so weiter. Nur für Gelegenheitsarbeiten. Keine besonderen Vorkommnisse. Sie kommen und gehen Tag für Tag.« »Ist einer dabei mit Geldschwierigkeiten?« »Die haben sie dem Anschein nach alle. Das sieht da ein bißchen wie beim billigen Jakob aus. Ich mußte mir einen Vortrag über die Unarten des militärischen wissenschaftlichen Establishments anhören und über die Freuden ungetrübter wissenschaftlicher Arbeit. Ich bin dageblieben, bis die Leute vom Erkennungsdienst eintrafen, und soweit ich das mitgekriegt habe, waren sie alles andere als glücklich. Wo auf jedem Korridor und in jedem Zimmer Gummihandschuhe und Überziehschuhe aus Gummi herumliegen, verwundert es nicht, daß die Einbrecher auf den Gedanken kamen, möglichst keine Finger- und Fußabdrücke zu hinterlassen. Die gestohlene Menge Blausäure ist übrigens ziemlich genauso groß wie die bei dem Anschlag auf das Flugzeug benutzte Menge.« »Also ein Diebstahl im Auftrag?« »Sieht so aus.« Feiffer hatte das Tonband inzwischen zurücklaufen lassen und drückte jetzt auf den Wiedergabeknopf. »Dieser Mann, diese Nummer zwei meine ich, scheint mir nicht der Typ zu sein, um so etwas allein zu organisieren«, sagte O’Yee. »Zum einen scheint er mir eine Spur zu angeberisch, um auf etwas zu kommen, das so viel Heimlichkeiten erfordert. Glaubst du, sein sogenannter Prinzipal könnte nicht vielleicht doch irgendein Geschäftsmann sein? Ich meine, wegen des Jargons, dessen sich Num84
mer zwei bedient? Er könnte vielleicht einiges aufgeschnappt haben. Was meinst du?« »Das ist gut möglich«, erwiderte Feiffer. »Aber sehr überzeugt scheinst du nicht zu sein.« »Nein«, erwiderte Feiffer. »Ich bin viel mehr davon überzeugt, was er als nächstes tun wird ...« Vom Tonbandgerät her erklang jetzt die Stimme von Nummer zwei. Spencer traf sich mit Auden am Auto wieder. Er schien ausgesprochen glücklich. Wie ein kleiner Junge sein Geburtstagsgeschenk hatte er das Panzer-Modell unter den Arm geklemmt. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und stellte den Tank zwischen sich und Auden. »Okay«, sagte Auden. »Wir wissen jetzt also, daß zwei der Opfer Kanalarbeiter waren – oder Arbeiter des Wasserwerks, ist ja auch egal. Der andere war der Schnüffler, und einer nannte sich Lee und war ein entlassener Soldat. So, und wie geht’s jetzt weiter?« »Tut mir leid, daß ich mich so lange aufgehalten habe«, sagte Spencer. »Und dieser Bobby Lee hat wohl das Gewehr beschafft, mit dem sie alle umgebracht wurden. Was müssen wir jetzt noch herausfinden?« »Nimm’s nicht so tragisch, daß ich einem alten Schulkameraden über den Weg gelaufen bin«, sagte Spencer. »Ja, ist ja schon gut!« wehrte Auden ab. »Aber wohin wenden wir uns denn jetzt von hier aus in der großen weiten Welt. Nun?« »Du kennst die Antwort schon?« »Ja, verdammt, ich kenne die Antwort!« »Und wohin also?« »Nun, während du dich da drinnen mit deinem alten Schulfreund unterhalten hast, hat sich einer von uns – ich, um genau zu sein – Gott sei Dank die Militärpolizei ans Funkgerät geholt und bei diesen Leuten erfahren, daß Bobby Lee nach seiner Entlassung einen Vertrag für Gebäudereinigung bekam. Einer von uns hat sogar die Adresse herausgekriegt, die Adresse von der Agentur nämlich, die ihn unter Vertrag genommen hat. Und genau da fahren wir von hier aus hin.« Er sah Spencer schief an. »Ich scheine ein Verhältnis zur 85
Polizeiarbeit zu besitzen, das du ganz offensichtlich hinter dir gelassen hast, kaum daß du deinen alten Freund da wiedergesehen hast und mit ihm über die ruhmreiche Königliche Artillerie gefachsimpelt hast.« »Nun, es ist ja nicht unbedingt nötig, daß du ...« »Wie geht’s denn deinem süßen kleinen Panzerchen?« fragte Auden. »Richtig behaglich, nicht?« »Das ist ein sehr schöner Panzer«, erwiderte Spencer. »Er hat ihn selbst gebastelt.« Auden schlug die Arme über dem Kopf zusammen. »Du heiliger Bimbam!« rief er. »Ja, er ist wirklich schön, richtig süß ist er, absolut super!« »Nun hab dich mal nicht so«, maulte Spencer und setzte ihn sich auf den Schoß. Auden sah ihn kurz an und startete den Wagen. Sie verließen das militärische Sperrgebiet und fuhren Richtung Meer. Nummer zwei rief an. Seine Stimme klang ärgerlich und maliziös.
7 »Mein Prinzipal ist sehr ungehalten über Sie!« Seine Stimme klang scharf. Feiffer schwieg. Das Bandgerät lief. Er blickte über den Tisch hinüber zu dem Telefon auf Spencers Schreibtisch, an dem gerade O’Yee stand und leise in den Hörer sprach. »Telefon-Gesellschaft? – Chefingenieur – Fangschaltung –« Er schwieg einen Moment. »Ich bin’s wieder –« Nummer zwei schien ungehalten. »Er meint, Sie sollten sich für Verhandlungen bereit halten und nicht in der Gegend rumrennen. Er ist wirklich böse auf Sie.« »Ich bedaure zutiefst, ihn womöglich beleidigt zu haben«, erwiderte Feiffer. »Vielleicht ist auch diese unbedeutende Angelegenheit, die Sie verkörpern, nicht die einzige Sache, die meine Auf86
merksamkeit erfordert.« Er blickte zu O’Yee hinüber, der ungeduldig auf das Zustandekommen der Fangschaltung wartete. »Ich war aber auch nur eine Stunde fort.« Keine Antwort. »Sind Sie noch da?« »Tun Sie nur, was man Ihnen sagt, Feiffer«, kam plötzlich wieder die energische Stimme von Nummer zwei. »Und wiederholen Sie sich nicht andauernd, wenn wir miteinander reden. Und ich habe keine Lust, immer zweimal anzurufen. Von nun an bleiben Sie in Ihrem Büro, wenn wir zu einem Telefongespräch verabredet sind!« »Aber wie soll ich wissen, wann wir zu einem Telefongespräch verabredet sind?« »Sie sollen ja auch nur an Ihrem Schreibtisch bleiben, das ist alles«, sagte Nummer zwei barsch. »Mein Prinzipal war sehr ärgerlich, daß ich Sie nicht erreichen konnte. Nach allem, was Sie jetzt schon wissen, hätte es sich auch um eine Angelegenheit auf Leben und Tod für ein ganzes Flugzeug voller Menschen handeln können.« »Mr. O’Yee war doch hier.« »Ich verhandele nicht mit Untergebenen. Ich verhandele nur mit den führenden Leuten. Sie wurden als Verhandlungspartner ausgewählt, und also verhandele ich nur mit Ihnen. Mit sonst niemand!« Es schien ihm wirklich ernst zu sein. »Wo sind Sie denn überhaupt gewesen?« In diesem Moment sagte O’Yee gerade leise und schnell in sein Telefon: »Ich weiß nicht, wie lange wir ihn noch auf der anderen Leitung festhalten können ...« »Ich war ausgegangen«, sagte Feiffer knapp. »Wohin?« »Das geht Sie wohl nichts an.« »Mich geht alles etwas an!« schnappte Nummer zwei ein. »Ich habe Sie gefragt, wo Sie gewesen sind! Notfalls kann ich es herausfinden!« »Na, dann finden Sie’s mal heraus.« »Sie haben die beiden Sabotageakte untersucht«, sagte Nummer zwei. »Bestimmt sind Sie an einem der beiden Orte gewesen, derer wir uns schon bedient haben – bei den hydraulischen Anlagen –?« 87
»Tatsächlich hat Superintendent Dobbs –« »Dann also bei dem Lebensmittellieferanten!« fiel ihm Nummer zwei ins Wort. »Ich bin sehr verärgert!« »Und ich dachte, Sie hätten gesagt, es sei Ihr Prinzipal, der so sehr verärgert sei.« Er blickte schnell hinüber zu O’Yee. O’Yee trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ich hatte bisher eigentlich immer den Eindruck –« sagte Feiffer. Die Leitung machte »klick«. Das Telefon auf O’Yees Schreibtisch klingelte. Feiffer steckte schnell das Mikrofon des Tonbandgerätes um. »Mein Prinzipal war sehr unzufrieden mit Ihnen«, erklang wieder die Stimme von Nummer zwei. O’Yee sagte leise in den anderen Telefonhörer: »Er hat die Leitung gewechselt. Hier ist die Nummer –« »Sie haben seinen Unwillen geweckt«, fuhr Nummer zwei fort, »und das ist eine ganz unangenehme Geschichte.« Feiffer gab keine Antwort. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Feiffer blickte zu O’Yee hinüber. »Feiffer – sind Sie da?« Feiffer wartete noch einen Augenblick, dann hängte er ein. O’Yee sah ihn an. Es dauerte ein wenig, dann klingelte das andere Telefon auf Audens Schreibtisch. O’Yee sagte zu dem Ingenieur der Telefongesellschaft: »Vergessen Sie’s. Hier ist die neue Nummer.« Er gab ihm die Nummer von Audens Apparat. Audens Telefon klingelte weiter. O’Yee sah Feiffer fragend an. »Nun?« Feiffer ging an seinen eigenen Schreibtisch zurück und befestigte das Mikrofon am Hörer seines eigenen Apparates. Er wartete. Das Telefon auf Audens Schreibtisch hörte auf zu klingeln. Wieder brachte O’Yee den Mund ganz nah an die Sprechmuschel, um dem Ingenieur etwas zuzuflüstern. »Vergessen Sie’s ...« Er wartete einen Augenblick und sagte dann so freundlich wie möglich zu seinem Gesprächspartner: »Bleiben Sie doch noch einen Moment dran ...« 88
Das Telefon auf Feiffers Schreibtisch klingelte. Er nahm den Hörer auf. O’Yee gab dem Ingenieur die Nummer. Nummer zwei brüllte in den Hörer: »Was, zum Teufel, treiben Sie hier für ein Spiel?« Feiffer gab keine Antwort. »Das wird dem Prinzipal aber gar nicht gefallen. Sie wollen sich ihm in den Weg stellen, und Sie werden es bereuen!« »Ich habe mir die Aufzeichnung Ihres Gespräches mit O’Yee angehört«, sagte Feiffer ungerührt. »Sie scheinen ja hysterisch zu sein. Da aber zum Zeitpunkt Ihres Anrufes Ihr Prinzipal noch gar nicht wissen konnte, daß ich nicht am meinem Schreibtisch war, waren Sie wohl doch eher selbst hysterisch.« Er räusperte sich. »Und hysterische Anfälle passen ja auch eher zu Büroboten als zu Geschäftsleuten von einiger Bedeutung. Bedauerlicherweise komme ich mehr und mehr zu der Überzeugung, daß Sie nicht derjenige sind, mit dem zu reden sich lohnen könnte. So wie Sie vorhin die Kontrolle über sich verloren haben und Ihr neuerlicher Ausbruch gerade eben lassen mich glauben, daß Sie gar nicht in dem Maße geschäftlich verantwortlich sind, wie Sie behaupten.« Er unterbrach sich kurz. »Ja wirklich«, fuhr er dann fort, »ich frage mich langsam, ob Sie überhaupt wissen, ob es in diesem Moment eine neue Entwicklung gibt oder nicht.« Nummer zwei schien betroffen. »Und was meinen Sie wohl, wer das alles arrangiert hat?« rief er heftig in die Muschel. »Wer, glauben Sie wohl, hat jedem seinen Platz in diesem Spiel zugewiesen, damit alles so reibungslos klappt? Wer, glauben Sie wohl, sorgt von einem Tag zum anderen dafür, daß alles seinen Gang wie gewohnt weitergeht? Heh?« »Der Prinzipal?« »Ich!« schrie Nummer zwei zurück. »Warum dann gleich so aufgeregt, wenn Ihr unwichtiger Telefonanruf bei einem untergeordneten Beamten gelandet ist? Sie sagen doch selbst, daß Sie nur ein Untergebener sind.« »Ich bin sein Partner!« »Oh?« »Ich weiß, was Sie vorhaben«, sagte Nummer zwei, schon wieder 89
etwas ruhiger. »Sie wollen mich aufregen, mich ärgern, damit ich so lange auf Ihrer Telefonleitung bleibe, bis Ihr mieser kleiner Eurasier die Spur zurückverfolgt hat. Aber ich habe eine Stoppuhr hier. Und es bleiben uns nur noch ein paar läppische Sekunden.« O’Yee hob siebenmal fünf Finger hoch. Der Ingenieur benötigte also nur noch wenig mehr als eine halbe Minute. »Mein mieser kleiner Eurasier, wie Sie ihn nennen, braucht noch fünfzig Sekunden«, erwiderte Feiffer. »Beeilen Sie sich also. Was wollen Sie?« »Mein Prinzipal kennt Sie«, sagte Nummer zwei. »Er hat mich vor Ihnen gewarnt. Er sagte, Sie liebten kleine unsaubere Spielchen mit eingebildeten Leuten.« Er lachte kurz. »Ich bin aber nicht eingebildet! So gern höre ich mich gar nicht reden. Sie können’s also gleich wieder vergessen.« Er unterbrach sich kurz. »Noch zwanzig Sekunden!« »Ihr Prinzipal kennt mich?« »Er kennt Sie sogar sehr gut.« »Er weiß von mir, wollen Sie sagen. Er hat sich erkundigt. Das gehört wohl zu Ihrer Marktanalyse, die Sie vorher angestellt haben, wie?« »Er kennt Sie besser. Er weiß alles über Sie und von Ihnen.« »Das behauptet er.« »Wenn er es sagt, dann stimmt es auch!« »Er ist ein Krimineller, nicht wahr? Jemand, den ich schon einmal hinter Gitter gebracht habe?« »Fünfzehn Sekunden«, sagte Nummer zwei. O’Yee legte beide Hände über die Sprechmuschel und flüsterte beschwörend: Schneller ...« »Ist er vielleicht ein angesehener Mann? Gar ein Geschäftsmann?« Nummer zwei sagte nichts. »Und er hat schon eine andere Bedrohung vorbereitet, von der Sie noch nicht einmal etwas wissen. Stimmt’s?« »Zehn Sekunden«, sagte Nummer zwei erstaunlich ruhig. »Die Tatsache, daß es da im Hintergrund einen nicht teilnehmenden Helfer in der ganzen Angelegenheit gibt, hat nichts mit meiner Fähigkeit zu tun, die täglichen Geschäfte zu besorgen.« 90
»Noch zehn Sekunden«, sagte Feiffer. Eine kurze Pause trat ein. Ihm war, als habe Nummer zwei gerade leise gekichert. »Noch neun.« Er sah zu O’Yee hinüber. »Nur drei, um genau zu sein«, kam die Stimme von Nummer zwei wieder. »Ich nehme wieder Kontakt auf.« Feiffer wollte etwas sagen. »Nur noch fünf Sekunden, dann haben wir ihn«, flüsterte O’Yee aufgeregt. »Hören Sie –« sagte Feiffer in die Muschel. Zu spät. Die Leitung war schon tot. O’Yee legte den Hörer auf. Er schüttelte mißmutig den Kopf. Da klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch schon wieder. Er nahm den Hörer auf. »O’Yee«, meldete er sich. Nummer zwei war am Apparat. »Schnell, holen Sie Feiffer!« Und sobald Feiffer am Hörer war, sagte er: »Versuchen Sie nur ja nie wieder, mich hereinzulegen! Ich weiß, daß Sie das Tonbandgerät am anderen Apparat angeschlossen haben und mich deshalb jetzt nicht so einfach ausfindig machen können. Und versuchen Sie es auch nie wieder. Wir haben uns verstanden?« Seine Stimme klang wie ein heiseres Knurren. »Ich bitte mir ein bißchen Respekt von Ihnen aus, oder Sie haben bald so viele Leichen um sich herum, daß Sie Schwimmhäute brauchen werden, um überhaupt durch das Blut durchzukommen.« Er holte tief Luft, bevor er hinzusetzte: »Nur um es Ihnen endlich in Ihren Schädel zu boxen, sage ich Ihnen jetzt, daß ich Sie in drei Sekunden wieder auf Ihrem Apparat anrufen werde, um einiges hinsichtlich der Machtkonstellationen und unseres gegenseitigen Verhältnisses klarzustellen. Stöpseln Sie also das verdammte Ding wieder ein. Vielleicht gebe ich Ihnen einen Hinweis. Mal sehen.« Er hängte ein. »Was hat er gesagt?« wollte O’Yee wissen, doch da klingelte schon das Telefon auf Feiffers Schreibtisch. Er schaltete sofort das Tonbandgerät ein. »Ja?« sagte Feiffer. Es dauerte ein wenig, bis die Stimme von Nummer zwei wieder zu hören war, diesmal ganz weich und fast schon intim. »Harry? Es ist doch wohl sonst niemand in der Nähe, oder?« Er legte eine kurze 91
Pause ein. »Harry, ich bin ja so froh, daß du mit von der Partie bist. Du ahnst ja gar nicht, wieviel leichter es ist, wenn man einen Mann auf der anderen Seite hat. War doch ein hübsches Gespräch, das wir da gerade auf Tonband produziert haben, oder? Und nun sag mal ehrlich: Was, glaubst du, wird Dobbs daraus jetzt machen?« Seine Stimme klang honigsüß. »Laß dich nicht unterkriegen, alter Junge. Denk immer an deinen Anteil von dreißig Prozent, dann ist manches leichter. – Mach’s gut, alter Junge ...« Die ganze Unterhaltung, deren jedes einzelne Wort auf dem Tonband festgehalten worden war, endete mit einem vernehmlichen »Klick« in der Leitung. »Du machst wohl einen Scherz!« rief O’Yee. »Natürlich mußt du das sofort löschen.« »Wenn die Marktanalyse dieses Kerls, der sich Nummer zwei nennt, wirklich so gut ist, dann wird er gewußt haben, daß ich es nicht löschen würde. Er weiß, daß ich nichts mit der Sache zu tun habe, und ich weiß es. Worüber sich also Gedanken machen?« »Weil dieser verfluchte Dobbs nicht glauben wird, daß du nichts damit zu tun hast!« »Wenn er seine Marktanalyse so sorgfältig gemacht hat, wie er behauptet«, sagte Feiffer, »dann wird er auch meine Reaktion auf so etwas vorhersehen können, und früher oder später wird das alles mal irgendwo in seine Pläne passen. Ich lösche es jedenfalls nicht und überlasse es Dobbs, sich seinen eigenen Reim darauf zu machen.« Er grinste schief. »In einem hat Nummer zwei natürlich recht: Es wäre für ihn ungeheuer hilfreich, jemanden auf der anderen Seite zu haben.« Er blickte auf. »Jetzt bin ich nur mal auf den nächsten Schritt von Kai Tak aus neugierig.« »Das dürfte wohl nicht so leicht vorauszusehen sein«, erwiderte O’Yee. »Oder glaubst du etwa, Dobbs hätte etwas damit zu tun?« »Dobbs denkt ganz sicher, ich hätte was damit zu tun.« »Dobbs ist ein verdammter Superintendent! Aber du glaubst doch wohl offensichtlich nicht im Ernst daran, daß er fähig sein könnte, an die hundert Menschen umzubringen?« »Irgend jemand ist dazu fähig.« »Aber ausgerechnet Dobbs –« O’Yee schüttelte den Kopf. »Das 92
ist doch wohl nicht gut möglich, oder?« Der junge Beamte sah seinen Vorgesetzten an wie ein waidwundes Tier. »Und er denkt, Sie wären es!« »Vielleicht hat er recht«, sagte Feiffer scheinbar uninteressiert. »Nun ist es aber genug!« »Haben wir eigentlich noch eine unbespielte Spule?« »Im Schrank.« »Dann hol sie doch bitte, Christopher, und leg sie auf, falls Nummer zwei noch einmal anruft.« »Und was ist nun mit dem alten Band? Was willst du damit anfangen?« »Sagte ich das nicht schon? Ich werde es Dobbs schicken.« »Ungeschnitten?« »Ungeschnitten«, erwiderte Feiffer ruhig. »Ich will nur sehen, was er damit anfängt.« Er sah vor sich nieder, als müsse er über irgend etwas nachdenken. »Mir fehlen die Worte«, sagte O’Yee. Er ging an den Schrank, um ein neues Tonband zu holen. Die East Wind Cleaners and Messengers Employment Agency lag an der Beach Road in Hong Bay, nicht weit vom alten Busdepot entfernt. Sie hatte ihre Büros direkt über einem Lager mit Daunenfedern und Kapok, wie es für Bettdecken und Matratzen Verwendung findet. Der Geruch aus dem Lager zog durch das Treppenhaus nach oben bis auf den vierten Stock, wo die Agentur ihre Büros hatte. Er hatte ungefähr dieselbe Wirkung wie eine Wolke Pollen zur Zeit des Heuschnupfens. Spencer schneuzte sich die Nase zum wiederholten Mal in sein großes Taschentuch. Dann ging er hinter Auden her in das erste Büro gleich rechts und zog die Tür hinter sich zu. Wieder mußte er niesen. Der Mann hinter dem roh gezimmerten Empfangstisch war ein Chinese mittleren Alters mit einem offenstehenden weißen Hemd. Er hatte die typischen hohlen Wangen aller Opiumraucher. Spencer nieste wieder. »Ja bitte«, sagte der Mann. Spencer holte seinen Polizeiausweis heraus und hielt ihn dem Chinesen unter die Nase. Jetzt nieste der Chinese. 93
Es war eine wahre Nies-Orgie. »Der Chef –« prustete Spencer schließlich mühsam, »– oder der Schichtleiter –« Der Mann am Empfangstisch nieste noch einmal und deutete mit dem Daumen zur Tür. »Da drin?« fragte Auden und nieste. Der Empfangschef nieste. »Ja – haaatschiii – ja doch!« Auden und Spencer gingen auf die Tür zu und stießen sie auf. Sie standen vor einer zweiten Tür. Doppeltüren! Auden stieß auch die zweite Tür auf. Spencer nieste. Der Raum dahinter war angenehm kühl, mit Klimaanlage, es roch frisch und ozonreich. Die beiden Polizisten hörten auf zu niesen. »Gott sei Dank!« sagte Spencer auf englisch. Er sah den Mann hinter dem Schreibtisch an. »Polizei«, sagte er auf kantonesisch. »Tut uns leid, Sie stören zu müssen, aber –« »Mr. –« fiel Auden ein. »Wu.« Der Mann erhob sich und ging um seinen Schreibtisch herum, um den beiden Polizisten die Hand zu schütteln. Er war ein schlanker Chinese Mitte Dreißig. Zu seinem tadellos sitzenden und gepflegten Anzug trug er ein gestreiftes Hemd, dessen Kragen bis oben hin zugeknöpft war. Sein Händedruck war bemerkenswert fest. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und machte eine einladende Geste zu den beiden Stühlen davor. Am Handgelenk trug er eine sehr wertvolle Rolex-Uhr. »P.K. Wu, um genau zu sein«, ergänzte der Chinese auf englisch. Er hatte einen leichten Boston-Akzent. »Was kann ich für Sie tun?« Aber noch bevor einer der beiden Polizisten etwas sagen konnte, setzte er noch schnell hinzu: »Bitte, entschuldigen Sie das wenig Einladende meines Büros. Aber Henry Ford hat auch einmal in einer schmutzigen Hinterhofgarage angefangen.« »So, wirklich?« fragte Spencer. »In der Tat«, bekräftigte P.K. Wu. Auden legte ohne weitere Umschweife die sechs Fotografien auf den Tisch. »Kennen Sie einen dieser Leute?« fragte er. »Sie sehen tot aus.« »Sie sind tot. Kennen Sie einen von ihnen?« 94
»Sie sind von der Yellowthread Street Station«, sagte P.K. Wu, »oder sollte ich mich täuschen?« »Sie vermuten richtig.« »Wenn die Männer tot sind, dann wollen Sie also von mir wissen, ob ich den einen oder anderen gekannt habe?« »Also gut. Haben Sie einen dieser Männer gekannt?« »Nein.« P.K. Wu schob die Fotos über den Tisch zurück. »Wenigstens einer von ihnen war aber bei Ihnen beschäftigt«, sagte Auden. »Oh! Wer denn?« »Das wollten wir gern von Ihnen hören.« »Ich erinnere mich nicht gut an Gesichter«, sagte P.K. Wu. »An Namen erinnere ich mich recht gut, an Daten, an Prozentsätze und die Valuta-Kurse. Ich halte mir den Kopf ganz und gar für meine geschäftlichen Belange frei. Wenn Sie mir Namen nennen können, erinnere ich mich vielleicht.« »Bobby Lee«, sagte Auden. »Ja –« »Der Schnüffler«, ergänzte Auden. »Der – was?« »Bekannt auch als Ip Kam Wing.« »Ja –« »Sie kennen ihn?« fragte er schnell. »Pardon, Sie kannten ihn?« »Ich kannte sie beide.« »Wir versuchen herauszufinden, wo sie gearbeitet haben und wer ihre Freunde waren.« »Sie haben beide mal für mich gearbeitet«, sagte P.K. Wu. »Der eine, den Sie den Schnüffler genannt haben, war vorbestraft.« »Das wissen wir.« »Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen«, sagte Wu, »ich bin nicht der Mensch, der anderen, die einmal einen Fehltritt begangen haben, eine zweite Chance zu geben bereit ist. Ich habe ihn genommen, weil er billig war.« »Aha.« »Er war als Reinemachejunge angestellt«, fuhr Wu fort. »Das ist mein Geschäft. Ich betreibe eine Agentur, die Reinigungspersonal 95
und Boten vermittelt. Der andere Mann, jener Lee, war als Bote bei mir unter Vertrag.« »Die beiden anderen waren beim Wasserwerk angestellt«, sagte Spencer. »Sie hießen Hsuang und Ching.« P. K. Wu hob die Schultern. Er schien nicht im Bilde. »Wo hat Bobby Lee denn zuletzt gearbeitet?« fragte Auden. »Führen Sie darüber nicht vielleicht eine Liste?« P.K. Wu legte den Zeigefinger an die Stirn zum Zeichen, daß er scharf nachdachte. »Lee war bei einer Firma in der Tiger Snake Road angestellt«, sagte er und gab Auden die Nummer. »Und Ip war bei einer anderen Firma, die irgendwas mit leichter Industrie zu tun hat.« Er gab den Polizisten die Adresse. »Ip war auf Gebäudereinigung spezialisiert, und Lee arbeitete als Bote. Sie arbeiteten beide nur zwei Wochen und gingen dann wieder. Ich habe meine Provision bekommen und mich deshalb nicht weiter um sie gekümmert. Es gibt so viele Leute, die nur für wenige Wochen Arbeit suchen, und so viele, die nur für kurze Zeit Arbeit zu vergeben haben. Ich bringe sie gegen entsprechendes Entgelt zusammen.« Plötzlich schnurrte seine Armbanduhr. »Sonst noch etwas?« »Wird sonst noch jemand von Ihrer Lohnliste vermißt?« fragte Spencer. »Das hier ist der Markt für Gelegenheitsarbeiter, nicht das deutsche Volkswagen-Werk«, erwiderte Wu lächelnd. »Sie kommen und gehen, gehen und kommen. Nächste Woche um diese Zeit wird zum Beispiel der Mann da draußen am Empfang auch schon nicht mehr bei mir sein. Irgendwann einmal wird jeder von ihnen vermißt.« »Der Mann da draußen sieht wie ein Opiumsüchtiger aus«, sagte Spencer. »Er ist auch einer«, erwiderte Wu. »Aber wie jeder andere Mensch hat auch er eine Frau, Kinder, Großeltern – und da braucht er jemanden, der ihm eine zweite Chance gibt –« »Oh!« sagte Spencer nur und blickte Auden vielsagend an. »Und er arbeitet billig«, fügte Wu hinzu. Er lächelte nichtssagend. Es war das Lächeln eines Mannes, der sich seines Weges bis ganz nach oben absolut sicher ist.
* 96
»Ja? Was wollen Sie denn?« klang die Stimme von Superintendent Dobbs aus dem Hörer. »Ich war auf halbem Weg zu Ihnen bei den Medizinern und habe mich mit ihnen unterhalten«, sagte Feiffer. »Das Gift stammt aus ihren Laboratorien. An der Tür zum Giftraum habe ich deutliche Spuren eines Brecheisens gefunden, mit dem sie aufgebrochen wurde«, fuhr Feiffer fort. »Eine erstklassige Arbeit – fast ohne alle Beschädigungen und vor allem, ohne Fingerabdrücke zurückzulassen. Und was war bei den Leuten von der Hydraulik?« »Die Sabotage ist von einem Insider begangen worden, oder es muß jemand durchs Fenster eingestiegen sein«, sagte Dobbs von oben herab. »Schließlich braucht man einen Haufen Kies auch nicht annähernd so scharf zu bewachen wie einen Schrank voll Gift.« Er unterbrach sich kurz, um dann zu fragen: »Und was war mit den Lebensmittellieferanten? Dieser Job muß doch auch von einem Angehörigen der Firma durchgeführt worden sein. So steht’s wenigstens in Ihrem Bericht.« »Richtig.« »Es wird Sie interessieren zu hören, daß wir in Kürze wieder Flugzeuge von hier starten lassen werden«, berichtete Dobbs. »Mir scheint, Sie sind heute weniger wütend«, sagte Feiffer. »Oh, ich bin nach wie vor aufgebracht, aber wir haben doch jetzt wenigstens wieder normalen Flugbetrieb.« Die Stimme des Superintendenten klang kühl und beherrscht. »Ich könnte mir vorstellen, daß Ihnen das nicht gerade recht ist.« »Und warum eigentlich nicht?« »Wenn ich mir die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen lasse«, sagte Dobbs, »dann fehlt mir eigentlich nicht mehr viel, um ans Ziel zu kommen. Wenn nämlich ein alter Hund wie ich auf einmal ein Kratzen am Hintern verspürt und wenn der Name dieses Kratzens Feiffer ist, dann gehe ich rund und wecke andere schlafende Hunde, um mich zu erkundigen, ob sie nicht vielleicht an denselben Beschwerden leiden wie ich.« Er holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Wissen Sie, daß ich nicht übel Lust hätte, einmal Ihr Apartment und Ihr Bankkonto zu filzen?« Schweigen. »Also, Ihre Tage außerhalb des Gefängnisses sind strikt gezählt, Feiffer!« 97
»Vielleicht gilt das für jemand anderen genauso –« »Was soll das heißen – falls es überhaupt etwas heißen soll?« »Ich habe Ihnen das letzte Tonband per Boten zustellen lassen«, sagte Feiffer. »Es müßte jetzt eigentlich bei Ihnen sein.« »Und?« »Haben Sie es schon abgehört?« »Sobald ich es habe, werde ich es abhören«, erwiderte Dobbs. »Warum? Was ist denn drauf?« »Nichts weiter.« »Was meinen Sie nun damit schon wieder?« fragte Dobbs. »Sollte es bereits hier eingetroffen sein, werde ich es mir holen, um es abzuspielen. Was heißt ›nichts weiter‹?« »Ich muß jetzt gehen«, sagte Feiffer. »Nun? Was soll ›nichts weiter‹ heißen, wenn es in einem solchen Ton gesagt wird? Was, zum Teufel, ist auf dem Band?« Dobbs schien ehrlich erregt. »Ich werde es jetzt gleich herausfinden! Und Sie sind mir dafür verantwortlich!« Feiffer legte den Hörer auf die Gabel. O’Yee war gerade draußen auf dem Korridor, und abgesehen vom steten Ticken der Wanduhr herrschte im Detectives-Room Grabesstille.
8 Im Detectives-Room wurde O’Yee von Feiffer gerade bedeutet, er solle seinen Hörer wieder auf die Gabel legen. Die Stimme in Feiffers Muschel war die von Auden. »Wir dachten zuerst, es handele sich um einen merkwürdigen Zufall«, sagte Auden gerade. »Doch beim zweiten Hinsehen schien uns der Zufall denn doch zu auffallend. Und siehe da, es war genau das richtige Terrain, um weiter zu bohren.« Feiffer gab den Hörer an O’Yee weiter. »Phil«, meldete sich O’Yee. »Hier ist Christopher O’Yee. Würdest du noch mal von vorn beginnen?« Er blickte zu Feiffer hinüber, der gerade in seinem Notizbuch blätterte. »Harry will es so. Es ist 98
alles in Ordnung.« »Es geht um die sechs Leichen, die wir in dem Wasserkanal gefunden haben«, sagte Auden. »Zwei von ihnen waren Kanalarbeiter, die ja ein gewisses ›Recht‹ hatten, sich da unten aufzuhalten, was für die anderen nicht unbedingt gilt. Einen von ihnen konnten wir als einen gewissen Ip Kam Wing identifizieren – ein kleiner Gauner, der sich von Zeit zu Zeit sogar mit richtiger Arbeit am Leben erhielt. Einen anderen konnten wir als Bobby Lee, ehemals Soldat, identifizieren. Dieser Lee nun, das haben wir ermittelt, ist unehrenhaft aus der Armee entlassen worden, weil er ein leichtes Maschinengewehr gestohlen hat. Und mit einem solchen leichten Maschinengewehr sind die Leute in der stillgelegten Wasserleitung schließlich erschossen worden.« Auden machte eine kurze Pause. »So weit, so gut«, fuhr er dann fort. »Es stellte sich dann heraus, daß beide – Lee und Ip – eine Zeitlang für denselben Laden gearbeitet haben, der sich ›East Wind Cleaners and Messengers Employment Agency‹ nannte. Chef dieses Ladens ist ein gewisser P.K. Wu. Nachdem wir diesen Wu nun ein bißchen angeschubst hatten, erinnerte der sich schließlich, daß er Lee einmal in die Tiger Snake Road vermittelt hatte, wo er vorbereitete und verpackte Mahlzeiten ausfahren sollte – zu einer Firma, die den Flughafen mit Fertiggerichten versorgt.« Er unterbrach sich in der Erwartung von O’Yees Reaktion. Doch es erfolgte keine. »Und Ip – welch seltsamer Zufall – arbeitete gelegentlich für eine Firma, wo die hydraulischen Einrichtungen von Flugzeugen gewartet wurden, und zwar von solchen Flugzeugen, die auf Kai Tak Station machten.« »Und was ist mit den beiden anderen Leichen?« »Na, ich denke, wir haben erst mal bei den vier ersten Leichen gute Arbeit geleistet!« »Dann wißt ihr also bis zur Stunde noch nichts weiter über die restlichen zwei Leichen?« »Na ja, und ich wollte Harry gerade erzählen, daß wir als gute, kooperationsbereite Cops schnurstracks nach Kai Tak hinausgewetzt sind, um den Brüdern da alles sofort zu erzählen«, fuhr Auden fort. »Denn was wir inzwischen wußten, das mußte die doch schließlich auch interessieren. Da kam dann so ein Chief Inspector Munday in seiner Paradeuniform. Munday hat uns erzählt, die Sache wäre bei 99
ihnen in den besten Händen und sie legten keinen Wert auf Hilfe aus der Yellowthread Street. Munday hat Spencer und mich angewiesen, für eine schnelle Überführung zu sorgen, bevor es zu spät sein könnte. Er allein weiß, was er damit gemeint hat.« Auden unterbrach sich kurz. »Munday hat noch so ein paar dunkle Andeutungen gemacht und mich gefragt, wie gut oder wie schlecht denn meine Aussichten auf eine baldige Beförderung hier seien und ob ich nicht wüßte, wieviel Geld Chief Inspector Feiffer auf seinem Konto habe.« Er nahm den Hörer in die andere Hand. »Christopher, könnte nicht einer von euch vielleicht einmal die Liebenswürdigkeit haben, mir zu erzählen, was bei euch los ist? Ich war der Meinung, wir hätten schon ein gutes Stück Ermittlungsarbeit geleistet. Ich habe ja nicht gleich mit dem Hosenband-Orden gerechnet, aber immerhin ...« »In Kai Tak scheint man zu glauben, den Mann zu kennen, der hinter allem steckt.« »Natürlich diese beiden – Ip und Lee –, um ein paar Namen zu nennen.« »Und der Mann, der hinter den beiden steht?« »Ja, wenn sie den auch haben, warum sagen sie’s uns dann nicht?« »Sie glauben vielleicht, ihr wüßtet es schon.« »Keinen blassen Schimmer haben wir! Also, was sollen wir jetzt unternehmen? Wenn das nun wirklich deren Fall ist, dann hätten sie unsre Information entgegennehmen und weiterverfolgen sollen. Und was soll überhaupt dieser Blödsinn von wegen Fortschritten bei der Aufklärung des Falles und wegen des Verbleibs irgendwelcher Beute auf Feiffers Konto? Hört er eigentlich über den zweiten Hörer mit?« »Ich bin da«, schaltete sich Feiffer ein. »Also, was hat das zu bedeuten?« »Das kommt sehr darauf an, was ihr ihnen erzählt habt.« »Gar nichts haben wir denen erzählt. Die haben uns gar nicht zu Wort kommen lassen! Die haben uns praktisch mit physischer Gewalt aus dem Büro gejagt! Wie, zum Teufel, sollte ich denn wohl auch wissen, wieviel Geld du auf Schweizer Konten hast verschwinden lassen?« Auden schien ehrlich aufgebracht. »Ich habe noch nicht 100
einmal gewußt, daß du ein Konto in der Schweiz hast, bis die es mir sagten.« »Ich habe auch keins.« »Womit denn alles klar und bewiesen wäre«, knurrte Auden wütend. Seine Stimme klang sarkastisch, als er fortfuhr: »Hör mal zu, Spencer und ich sind uns klar darüber, daß wir nicht mehr sind als ein Dreck, aber vielleicht könnte sich doch einer von euch Herrgöttern mal herbeilassen, uns zu erklären, was nun neuerdings los ist.« »Habt ihr hinsichtlich der beiden anderen Leichen Spuren entdecken können, auf denen man vielleicht zu ihrer Identität finden könnte?« fragte Feiffer statt einer Antwort. »Nein, haben wir nicht!« »Was ist denn mit dieser Arbeitsvermittlung und mit diesem Wu?« »Wu beschäftigt vornehmlich Leute, die billig arbeiten. Er kann sich an keinen seiner Leute erinnern, wenn er nicht den Namen in großen Lettern vor Augen hat. Und da wir die Namen nicht haben, hat er die dazugehörigen Informationen nicht.« »Habt ihr die medizinischen Labors im Hospital untersucht?« »Wir sind gleich hingegangen, nachdem wir wußten, daß Lee für den Lebensmittellieferanten gearbeitet hat. Da haben wir mit einem Arzt namens Fahy gesprochen und ihm die Fotos der Opfer gezeigt. Keiner von ihnen hat je dort gearbeitet. Wir haben auch mit dem Chef der Reinigungstruppe gesprochen –« er machte eine kleine Pause, »– und da dachte ich vorübergehend an einen Witz, denn der Raum konnte auch als Sezierraum verwendet werden. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Jedenfalls hat der Chef der Reinigungsmannschaft keinen Zweifel daran gelassen, daß keiner der toten Männer jemals dort gearbeitet hat oder mit irgendwas dort nur das Allergeringste zu tun hatte. Scheinbar muß man mindestens ein entlassener General sein, um Arbeit in einem Krankenhaus zu kriegen. Und da das Laboratorium ohnehin deutlich sichtbar von außen aufgebrochen worden ist, haben wir die Sache nicht weiter untersucht.« Er holte tief Luft. »Gibt es denn wirklich niemanden, der die unendliche Güte aufbringen könnte, uns aus unserer Unwissenheit zu erlösen und uns zu sagen, was vorgeht?« Keine Antwort. Mehr zu sich 101
selbst gewandt fuhr Auden schließlich fort: »Nein, es gibt wohl niemanden. – Mit dem letzten Rest von polizeilichem Diensteifer, der mir noch verblieben ist, bitte ich jetzt nur noch, jemand möge sich herablassen, mir wenigstens mitzuteilen, wem ich meine Informationen übermitteln soll, wenn sich offenkundig niemand dafür interessiert.« Wieder eine kleine Pause. »Nein, es interessiert sich niemand dafür. Wer, verdammt noch mal, bearbeitet überhaupt die Sache auf dem Flugplatz? Kann man wenigstens das erfahren?« »Wir bearbeiten sie«, sagte O’Yee. »Ist es die Möglichkeit!« »Es ist die Möglichkeit.« »Aber was, um alles in der Welt, hat das mit uns zu tun?« »Wie du schon sagtest: Nur die besten Detectives bekommen die Orden.« »Was soll das schon wieder heißen? Wie können wir das bearbeiten? Wir liegen doch meilenweit vom Airport weg, wie kann das unser Fall sein? Die Leichen wurden uns doch anscheinend direkt in den Schoß geworfen, um den Verdacht vom wirklichen Tatort abzulenken und um die Leichen irgendwie loszuwerden. Jetzt haben wir festgestellt, daß es da einen Zusammenhang gibt, und es wäre Sache von Kai Tak, unsere Ergebnisse mit ein paar freundlichen Worten des Dankes zu übernehmen.« In der Leitung erklang auf einmal ein Klicken. »Harry –« »Ich bin’s noch immer«, sagte O’Yee. »Hat er eingehängt?« fragte Auden mit gedämpfter Stimme. »Ja.« »Was geht da vor, Christopher? Was hat es mit diesem Wirbel um Feiffer auf sich? Dieser Munday hat uns geradeheraus gefragt, wie sehr denn Feiffer um Geld verlegen war und ob seine Frau viel koste!« »Und?« »Spencer hat ihn geradeheraus gefragt, was seine Frau sagen würde, wenn er heute abend ohne Zähne nach Hause käme«, erwiderte Auden. »Du machst doch Spaß –« »So?« fragte Auden. »Ach, und noch was. Wer ist eigentlich dieser Mensch namens Dobbs, von dem ihr da immer faselt? Das klingt ja 102
immer, als sei er nach dem lieben Gott der wichtigste Cop auf Erden. Wer ist das eigentlich?« O’Yee blickte zu Feiffer hinüber. Feiffer machte sich gerade neue Notizen in sein Buch und verglich sie mit früheren. »Superintendent Dobbs ist für die Sicherheit von Kai Tak verantwortlich«, sagte O’Yee. »Hat wohl bisher noch keinen solchen Job gehabt, wie?« »Das hat Spencer auch schon gemeint. Also was ist?« »Ich habe Schlechtere gesehen.« »Na schön. Sagst du mir jetzt, was los ist?« »Tut mir leid, nein.« »Großartig! Und was sollen wir jetzt tun?« »Ihr fragt am besten weiter rum, um was über die beiden restlichen Toten in Erfahrung zu bringen.« »Wo sollen wir fragen? Wir sind an einem toten Punkt angelangt. Die Sache müßte von Kai Tak übernommen werden. Wo sollen wir noch fragen?« »Habt ihr die Fotos auf dem Airport rumgezeigt?« »Die Fotos in Kai Tak herumzeigen! Du willst dich wohl über mich lustig machen, wie?« »Fangt mal mit den verschiedenen Reinigungstrupps an und dann sagen wir – die verschiedenen Dienstleistungszweige –« »Das wäre ungefähr dasselbe, als wenn ich zu einem Spaziergang aufbreche und unversehens in einem halben Dutzend Propeller lande.« »Heutzutage geht alles per Jet.« »Noch besser!« »– danach könnt ihr in die Wartungshallen gehen, wo die Hydraulik der einzelnen Flugzeuge gewartet wird. Seht euch mal um, ob ihr nicht doch jemanden findet, der den einen oder anderen Toten kennt.« »Haben wir schon gemacht«, erwiderte Auden. »Wollt ihr uns vielleicht nur von der Station fernhalten? Ist es das?« O’Yee gab keine Antwort. »Was ist bei euch bloß los, verdammt noch mal?« »Tu du nur dein Bestmögliches, ja«, sagte O’Yee. »Versprichst du mir das?« 103
»Was willst du damit sagen? Wir haben unser Bestmögliches getan, und es ist ganz schön was dabei herausgekommen! Wenigstens dachten wir, wir hätten gute Arbeit geleistet!« Audens Stimme klang wütend. »Nun entschuldige schon, Christopher, wenn ich vielleicht ein bißchen hartnäckig bin, aber –« »Ich verzeihe dir«, sagte O’Yee. »Und was ist mit unserer bisher geleisteten Arbeit?« O’Yee grinste breit, sagte aber keinen Ton. »Nun?« bohrte Auden weiter. »Versucht herauszufinden, wer die beiden anderen Toten sind«, sagte O’Yee. »Ich habe das schreckliche Gefühl, als würden wir hier zuerst etwas erfahren, aber wenn ihr das natürlich vorher schafft, du und Spencer –« »Was sollen wir vorher schaffen – ihr spinnt.« »Wir würden es zu begrüßen wissen«, sagte O’Yee. »Wer ist ›wir‹?« fragte Auden. »Gib mir doch endlich wenigstens mal einen Anhaltspunkt!« O’Yee sah Feiffer an. Auden schwieg einen Augenblick lang am anderen Ende der Leitung. Schließlich hängte O’Yee den Hörer ein. »Spencer hat Munday angedroht, er werde ihm ein paar Zähne ausschlagen.« Er blickte Feiffer an. Doch der sah noch immer in sein Notizbuch. O’Yee schaute sich im Raum um. Er dachte darüber nach, was er jetzt wohl am besten sagen sollte. Schließlich fischte er eine Zigarette aus der Packung, die auf seinem Schreibtisch lag, und zündete sie an. Es war eine neue Marke. Seine Frau hatte sie gekauft, weil sie angeblich helfen sollte, sich das Rauchen abzugewöhnen. Er zog kräftig daran. Sie schmeckte scheußlich. Die Stimme des Commanders klang ausgesprochen ärgerlich am Telefon. »Hören Sie, Feiffer«, sagte der Commander, »um keine unnötigen Worte zu verlieren: Gerade war Superintendent Dobbs vom Airport Kai Tak hier bei mir im Büro. Er hat um mein Einverständnis für ein internes Verfahren gegen Sie nachgesucht. Ich soll Sie vom Dienst suspendieren, während er und seine Geheimen vom Inneren Dienst Sie in Ihre Einzelteile zerlegen wollen. Ich hoffe, Sie können mir den Grund dafür nennen.« 104
»Jawohl, Sir.« »Nun?« »Nun – was?« »Ja, was steckt dahinter? Dobbs hat mir eine haarsträubende Geschichte erzählt, Sie steckten hinter den Anschlägen auf die Flugzeuge und Sie hätten offen versucht, die Festnahme einer Person zu verhindern, die nachweislich in die Sache verwickelt war. Stimmt das?« »Glauben Sie, daß das stimmt?« »Es geht hier nicht darum, was ich glaube oder nicht glaube! Mir wurde offiziell das Ansuchen eines vorgesetzten Offiziers vorgetragen, eine interne Untersuchung gegen Sie anzustrengen, und ich will wissen, was an der Geschichte dran ist!« »Nichts ist dran.« »Er hat mir berichtet, Sie hätten Ihre Leute mit einer frei erfundenen Geschichte über Tote in einem Kanal nach Kai Tak geschickt, um ihn in die Irre zu führen. Er sei aber davon überzeugt, Sie wären bis über beide Ohren in die Angelegenheit verwickelt. Bei dieser Gelegenheit hat er mir ein Tonband vorgespielt von einem Gespräch zwischen Ihnen und einem der Hauptbeteiligten, der sich Nummer zwei nannte. In diesem Gespräch hat sich besagter Nummer zwei auch noch herzlich bei Ihnen für die geleistete Hilfe bedankt und Ihren Anteil an dem zu erpressenden Geld erwähnt –« »Hat er auch erwähnt, woher er das Band hatte?« »Ich weiß, woher das Band stammt! Es kam von Ihnen. Und ich weiß auch, daß kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, ein solches Tonband aus der Hand geben würde, wenn auch nur ein Wort darauf der Wahrheit entspräche. Trotzdem ist Dobbs fest davon überzeugt, daß auch das nur Teil Ihres Planes ist und daß Sie es nicht nur nicht vernichtet, sondern Nummer zwei geradezu ermuntert haben, dieses Gespräch zu führen, um jeden Verdacht von sich selbst abzulenken. Das ist mehr als schwachsinnig, ich weiß, aber das ist nun mal seine Ansicht von der ganzen Sache. Sie müssen zugeben, daß das für jemanden, der Sie nicht kennt, nicht gut aussieht.« Der Commander wurde plötzlich heftig. »Verdammt, Sie müssen doch einsehen, daß das sogar auf Ihren besten Freund den denkbar schlechtesten Eindruck machen muß! Also, was steckt 105
wirklich dahinter?« »Dahinter steckt nur, daß Dobbs es sich in seinen Dickschädel gesetzt hat, ich müßte was damit zu tun haben. Dobbs hält eine Menge von seinen Leuten auf Kai Tak, und wenn er eine Gelegenheit hat, sich über einfache Cops zu mokieren, dann nimmt er sie gern wahr, um seine eigene Untauglichkeit ein bißchen zu kaschieren«, erwiderte Feiffer. »Und wenn Sie meine Meinung zu der Frage hören wollen, wer sich wohl hinter diesem Prinzipal verbergen könnte, dann empfehle ich Ihnen, sich gerade diesen Mr. Dobbs einmal näher anzusehen.« »Meinen Sie das im Ernst?« »Hat er es ernst gemeint?« »Sie erklären mir da gerade, warum Dobbs darauf aus ist, Sie zu beschuldigen, und daß das Unsinn ist«, sagte der Commander, »und dann kommen Sie mir mit derselben Geschichte, nur umgekehrt.« »Ich habe Ihnen nur gesagt, was meine wohlüberlegte Vermutung ist.« »Und dasselbe hat er getan!« erwiderte der Commander scharf. »Wer bearbeitet diesen Fall denn überhaupt?« »Dobbs meint, ich. Das paßt zu ihm, die Verantwortung anderen in die Schuhe zu schieben.« »Gesetzt den Fall, er gäbe Ihnen genug Leine, würden Sie dann vielleicht ...« »Genau.« »Hat dieses Individuum Nummer zwei eigentlich schon mal Kontakt zu jemand anderem aufgenommen?« »Bis jetzt nicht.« »Nur mit Ihnen?« »Nur mit mir.« Einen Moment blieb es still. »Dann sollten Sie sich um eine schnelle Aufklärung bemühen«, sagte der Commander schließlich. »Um eine ganz besonders schnelle Aufklärung sogar.« »Also ist es mein Fall?« »Wäre es Ihnen lieber, wenn es der Fall von Dobbs wäre?« »Nein, das möchte ich in der Tat nicht!« »Okay, dann ist es Ihrer. Ich habe Dobbs erklärt, ich würde mir seine Beschuldigungen gegen Sie durch den Kopf gehen lassen. Das106
selbe mache ich jetzt mit Ihrer Beschuldigung gegen ihn. Ist das fair?« »Einverstanden.« »Mir gefällt das gar nicht, Feiffer«, sagte der Commander, »nicht im allergeringsten gefällt mir das.« »Nein, Sir.« »Wollen Sie mir vielleicht nicht doch etwas erzählen?« »Nein.« »Dann, in drei Teufels Namen, klären Sie die Sache auf!« Es gab ein scharfes Klicken in der Leitung, als der Commander den Hörer auf die Gabel warf. Feiffer blickte O’Yee an. O’Yees Telefon klingelte, und er nahm den Hörer auf. Feiffer überlegte, daß niemand mehr an die mehr als achtzig Toten zu denken schien. O’Yee erhob sich und brachte das Telefon an seinen Tisch herüber. Er reichte Feiffer wortlos den Hörer. »Ah«, erklang die Stimme von Nummer zwei. »Die Dinge entwickeln sich in einer Art und Weise, die es mir geraten erscheinen läßt, gleich noch einmal Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Und nun hören Sie mir mal genau zu ...« Dobbs’ Stimme klang, als komme sie wieder aus jenem völlig schalldichten Raum, aus dem sie schon einmal gekommen zu sein schien. »Nummer zwei sagt, er fordere hundertundfünfzigtausend amerikanische Dollar«, sagte Feiffer. »Der Preis ist gestiegen, wie?« »Genau das hat er gesagt.« »Hat er auch gesagt, wo er es entgegennehmen will? Oder reicht es, wenn ich einen Scheck für Ihr Nummernkonto in der Schweiz zur Post gebe?« »Er sagte, das Geld müsse hierher zu mir in die Yellothread Street gebracht werden, und zwar von einem Ihrer Polizisten. Er hat verlangt, daß es hier für eine spätere Übergabe bereitstehen müsse. Die Übergabe soll noch heute erfolgen.« »Wann genau?« »Das hat er nicht gesagt.« »So, hat er nicht?« 107
»Nein.« »Doch, das hat er wohl«, behauptete Dobbs, »oder – natürlich, das brauchte er ja auch gar nicht.« »Werden Sie das Geld bereitstellen oder nicht?« »Warum sollten wir?« »Weil er gesagt hat, daß Sie andernfalls wieder eine Überraschung mit einem Ihrer niedlichen kleinen Flugzeuge erleben werden«, erwiderte Feiffer. »Er hat wörtlich gesagt, die Sache sei bereits gestartet.« »Was Sie ohne Zweifel wieder veranlassen wird, einen Ihrer untergebenen kleinen Lügner mit haarsträubenden Geschichten von wegen Leichen in Kanälen und so zu mir zu schicken.« »Was ich mit Sicherheit nicht tun werde.« »Oh?« Die Stimme des Superintendenten klang amüsiert. »Die Bandaufzeichnungen aller Gespräche werden übrigens als Beweismittel hier auf der Station aufbewahrt.« »Als Beweismittel?« Dobbs kicherte leise. »Gegen wen denn?« »Wollen Sie nun das Geld zur Verfügung stellen oder nicht?« »Was wäre Ihnen denn lieber?« »Er hat keinen Scherz gemacht.« »Das weiß ich. Er hat nicht gescherzt, er hat wahrscheinlich nicht einmal angerufen. Und jetzt sagen Sie mir, welche Stückelung Ihnen – ich sage Ihnen! – am angenehmsten wäre.« »Er hat keinerlei Wünsche in dieser Hinsicht geäußert, so daß ich davon ausgehe, daß das Ihnen überlassen bleibt.« Eine kurze Pause trat ein. »Damit ich es nicht vergesse«, sagte Dobbs dann ganz unvermittelt, »ich habe da noch eine Anweisung für Sie. Und zwar wünsche ich unter keinen Umständen, daß Ihre Untergebenen weiter herumspionieren und uniformierten Offizieren dumme Fragen stellen.« »Haben Sie vor, den Anweisungen von Nummer zwei zu folgen oder nicht?« »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Nichts. »Der sogenannte Detective, der hier seine blödsinnigen Fragen losgelassen hat, hieß Spencer. Chief Inspector Munday hat ihm höflich eine Frage gestellt, worauf dieser Spencer ihn mit unflätigen Be108
drohungen bedacht hat.« Feiffer wartete in Ruhe ab. »Mr. Spencer wird sich auf ein Disziplinarverfahren einstellen müssen, wenn das alles hier erst einmal vorbei ist.« »Ja oder nein?« »Versuchen Sie nicht, mich zu ignorieren, Feiffer.« Seine Stimme klang ruhig und voller Selbstsicherheit. »Aus meinem Gespräch mit Nummer zwei habe ich den Eindruck gewonnen, als sei die Bedrohung irgendwann am späten Nachmittag oder Abend zu erwarten. Es wäre vielleicht zu überlegen, ob man in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf Flugzeugstarts verzichten sollte, um genaue Durchsuchungen anzustellen –« »Mr. Munday wurde in Gegenwart von Inspector Ming und zwei uniformierten Constables bedroht.« »Hundertfünfzigtausend Dollar. Ja oder nein?« »Haben Sie überhaupt zugehört, was ich gesagt habe?« schrie Dobbs. »Ja, ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Und ich habe auch gehört, was Munday gesagt hat, und Munday kann sich gratulieren, daß ich nicht selbst da war, sonst hätte man ihm die schön polierten Uniformknöpfe nur mit dem Chirurgenmesser aus dem Leib holen können!« »Ich schreibe das alles Wort für Wort mit.« »Ja, tun Sie das!« »Wo also, meinen Sie, könnte diese neuerliche Bedrohung stekken?« »Darüber stelle ich keinerlei Vermutungen an. Das ist Ihre Sache! Meine Sache ist es nur, Bote für das Geld zu sein. Das Geld, ja oder nein?« »Wann wollen Sie’s denn haben?« »Jetzt gleich!« »Ich werde Inspector Ming damit schicken.« »Ja, tun Sie das.« »Interessant. Finden Sie nicht, wie die Erwähnung Ihrer Frau auf die Leute in Ihrer Umgebung wirkt«, sagte Dobbs. »Wäre ich ein Cop mit einer schmutzigen Phantasie, dann müßte ich ja glatt vermuten ...« 109
Feiffer spürte, wie der Hörer in seiner Hand zu knacken und zu knirschen begann. »Sicher, auch eine Art, Freunde und einflußreiche Leute zu gewinnen –« nuschelte Dobbs. »Wollen Sie vielleicht eine offizielle Erklärung abgeben?« Feiffers Knöchel wurden langsam weiß. Er holte tief Luft. »Nein? Keine Erklärung?« »Ich werde hiersein, wenn Ming kommt«, sagte Feiffer mühsam beherrscht. Dobbs begann zu lachen. »Sie scheinen vollkommen vergessen zu haben, daß es bisher schon mehr als achtzig Tote gegeben hat«, sagte Feiffer. »Wie heißt sie eigentlich? Nicola, nicht wahr? Ist sie eine Weiße? Wäre ganz interessant, das zu wissen. Ich muß Ihren Mr. Spencer mal fragen. Cherchez la femme – so sagt man doch? Habe ich da einen empfindlichen Punkt getroffen? Scheint wohl so.« Er brach in höhnendes Gelächter aus, bevor die Verbindung zu dem schalldichten Raum endgültig unterbrochen wurde. Inspector Ming blickte den Eurasier O’Yee an und dann auf den offenen Koffer auf Feiffers Schreibtisch. Der Koffer enthielt hundertfünfzigtausend amerikanische Dollar in Zehn- und Zwanzig-Dollar-Noten, die zu großen Bündeln zusammengefaßt waren. Jedes einzelne Bündel war mit einem Gummiband zusammengebunden. Es war ein großer Koffer, aber die Banknoten füllten ihn vollständig aus. »Es ist alles da«, sagte Ming und blickte wieder zu O’Yee hinüber. »Ist sonst noch was?« fragte er. O’Yee schüttelte den Kopf. Inspector Ming blickte auf Feiffers Hände, als er die Schlösser zuschnappen ließ. Sie zitterten. Wieder blickte Inspector Ming zu O’Yee. Der Lärm, mit dem die Triebwerke einer 707 in einem der Testhangars aufgewärmt wurden, war ohrenbetäubend. »Zeig’s ihm!« schrie Auden Spencer ins Ohr. Er faßte den Chef der Wartungsmannschaft bei der Schulter und schrie ihm ins Ohr: »Kennen Sie einen dieser Leute?« 110
»Was?!« schrie der Mann zurück. »Diese Leute!« schrie ihm Auden ins Ohr und deutete auf die Bilder in Spencers Hand. »Kennen Sie einen von denen?« »Nein!« Der Lärm der Motoren steigerte sich noch um einige Dezibel und übertönte alles andere. Der Boss der Wartungsmannschaft schrie in den höchsten Tönen: »Fragen Sie den da.« Er deutete zu einem anderen Mann. »Wen?« »Den da!« Der Monteur deutete mit einem ölverschmierten Finger in eine Ecke des Hangars, wo gerade ein Mann auftauchte. Über den Lärm hinweg brüllte er: »Das ist Chief Inspector Munday! Den müssen Sie fragen –« Nummer zwei hatte verlangt, daß er ihn auf den Stufen der Polizeistation erwarte. Er sollte allein dort stehen und in die Yellowthread Street in Richtung der Singapur China Tokio Bank schauen. Der Koffer in seiner Hand war schwer. Er nahm ihn in die andere Hand und sah die ganze Länge der Straße hinunter. Überall waren Leute. Eine ganze Rotte von Taxis bog in die Straße ein auf der Suche nach Fahrgästen, und dann tauchten auch zwei von Kulis gezogene Rikschas auf, in denen ein paar ältere Damen saßen. Die Damen sahen sich ähnlich wie Schwestern. Ein paar Nichtstuer auf der anderen Straßenseite machten ihre Bemerkungen über das Leben im allgemeinen, die Politik und Geld und verwickelten eine andere Gruppe Leute, die gerade des Wegs kam, in eine Diskussion. Aber die zweite Gruppe blieb nicht lange und kehrte bald in einem Teehaus ein. Fünfzig Yards vor der Station blieb eine Gruppe junger europäischer Mädchen in der Uniform der Schülerinnen vom St.-PaulsCollege vor einem Schaufenster stehen und diskutierte die ständig steigenden Kosten für Kosmetika. Eine von ihnen, ein pickliges blondes Mädchen, tippte sich an die Wange und begann einen Vortrag über den richtigen Gebrauch von Gesichtsmasken auf fünfzehnjähriger Haut. Ein europäisch gekleideter Mann stand ein Stückchen weiter zurück und schien auf die Mädchen zu warten. Feiffer hielt es für möglich, daß es sich um einen chinesischen Lehrer handelte, der die Mädchen nach Hause begleiten sollte. Eine Gruppe chinesischer Halbstarker knatterte auf Mopeds heran. Die Jungen 111
verrenkten sich die Hälse auf der Suche nach einem chinesischen Gesicht unter den Mädchen, um ihr was zuzurufen. Aber es war keine Chinesin dabei, und so ließen sie es schließlich. Die Mädchen beendeten ihre Unterhaltung und gingen auf ihn zu, ihr Lehrer immer ein Stück hinter ihnen. Feiffer blickte die Straße in entgegengesetzter Richtung hinunter. Aber von dort schien niemand auf ihn zuzukommen. Die Mädchen schauten in jedes Schaufenster und kamen langsam immer näher. Feiffer hörte, wie eine von ihnen auf englisch etwas über Max Factor sagte und Vergleiche mit Revlon anstellte. Ein anderes Mädchen kicherte. Feiffer sah sich nach ihrem Lehrer um, als sie vorbeigingen. Der Lehrer war stehengeblieben. Er stand direkt vor Feiffer, den Rücken dem Polizeibeamten zugewandt, und wartete offenbar auf eine Gelegenheit, die Straße zu überqueren. Feiffer trat einen Schritt vor. Es war später Nachmittag – sein Schatten eilte ihm ein gutes Stück voraus. Da sagte der Lehrer plötzlich auf kantonesisch: »Stop.« Feiffer sah zu den Schulmädchen hinüber. Sie waren schon zwanzig Yards weiter die Straße hinunter und unterhielten sich. »So niedlich sie auch sein mögen«, sagte der Lehrer, »ich gehöre nicht zu ihnen. Ich weiß, daß Sie die Schule kennen, in die sie gehen. Deswegen konnte ich mich ein Stückchen hinter ihnen halten. Sie haben mich nicht einmal bemerkt. Aber mir ist es trotzdem gelungen, wie ihr Lehrer auszusehen, der sie nach Hause begleitet.« Er blickte kurz über die Schulter zurück. »Haben Sie das Geld?« »Ja.« »Gut.« Nummer zwei blickte kurz über die Schulter zurück. »Was haben Sie getan, um es zu markieren?« »Es ist gekennzeichnet.« »Ja.« Nummer zwei schien größtes Interesse am vorbeiflutenden Verkehr zu haben und vermied es, den Kopf zu wenden. »Wollen Sie es nun haben oder nicht?« Nummer zwei antwortete nicht. Er beobachtete den Verkehr, der schwächer wurde. »Nun?« »Nein«, sagte Nummer zwei. »Gekennzeichnete Scheine kann ich nicht brauchen. Tut mir leid. Sie sind Polizist. Gehen Sie in die Bank 112
drüben auf der anderen Straßenseite und wechseln Sie das Geld.« Seine Stimme klang unbeteiligt. »Die können ja immer noch Kai Tak anrufen, nicht wahr?« sagte er. »Das heißt, wenn Sie hier einen Auflauf von Polizei und ein vom Himmel gefallenes Flugzeug wünschen. Gehen Sie also in die Bank und bitten Sie die Leute, die Banknoten in niedliche, unverdächtige Dollarnoten umzutauschen. Nun machen Sie schon! Ich gehe sogar mit Ihnen.« Er bewegte die Hand wie ein Tambourmajor, der seinen Spielmannszug dirigiert, und führte Feiffer in gebührendem Abstand und so, daß dieser sein Gesicht nicht ganz erkennen konnte, über die Straße und in die Bank hinein.
9 Es war ein meisterhaftes Manöver. Nummer zwei ging vor Feiffer her in die Bank und stellte sich gleich seitlich der Tür vor die Bankschließfächer. Während Feiffer durch die Tür ging, drehte er sich langsam, so daß er ihm immer den Rücken zuwandte. Hinter der Tür stand ein riesiger Sikh als Wächter in einer Phantasie-Uniform mit dem Emblem der Bank auf dem großen blauen Turban. Im Gürtel trug er einen schweren Revolver. Der Sikh blickte Feiffer kurz an. Feiffer sah weg. »Und jetzt suchen Sie sich einen netten, freundlichen Kassierer und wechseln Sie das Geld.« Nummer zwei trat an einen nicht besetzten Schalter, nahm ein Formular zur Hand und tat, als wolle er die einzelnen Spalten ausfüllen. »Versuchen Sie sich nicht daran zu erinnern, welches Schreibgerät ich hier benutze«, sagte er dabei. »Ich werde meine Fingerabdrücke abwischen, bevor wir gehen. Im übrigen sind meine Fingerabdrücke auch nirgends registriert. Ich bin zu clever, um mich erwischen zu lassen. Ich werde jetzt ein Depositen-Formular ausfüllen und es dann in die Tasche stecken, bevor ich wieder gehe.« Feiffer sah sich in der Bank um. Es war eine der wenigen Filialen der Singapur China Tokio Bank, die es hier in Hongkong gab, und der ganze Bau war auf Repräsentation abgestellt. Das Innere hatte 113
die Größe eines mittleren Bahnhofs mit einem hohen Gewölbe als Decke. Die Schalter und Möbel waren aus massivem Mahagoni. Der Boden war mit hochglänzendem Parkett ausgelegt, dem ein leichter Geruch nach Bohnerwachs entstieg. Der ganze Raum war blitzsauber. Die Schalter und die Zahlteller an den einzelnen Schaltern waren von ganzen Reinigungskolonnen blankgescheuert worden, bis sie spiegelten. Von der Decke hingen ein halbes Dutzend großer weißer Ventilatoren herunter, die während des ganzen Jahres in Betrieb waren. Die gedämpfte Atmosphäre und Ruhe des Raumes wurde nur hin und wieder vom Klicken der automatischen Buchungsmaschinen oder dem diskreten Klingeln von Münzen in den Zahltellern unterbrochen. »Das wird hier niemand tun«, sagte Feiffer zu Nummer zwei. »Dann zeigen Sie ihnen Ihren Ausweis.« »Ich müßte mich als Howard Hughes ausweisen können, damit man mir eine solche Menge Bargeld wechselt, ohne Fragen zu stellen.« »Dann lassen Sie sich eben ausfragen. Sie sind ja schließlich Polizeioffizier, oder nicht?« »Ich bin Chief Inspector. Das ist was anderes als Commissioner oder der Chef von Interpol«, entgegnete Feiffer. »Sagen Sie mir als Zeichen Ihres guten Willens, auf welches Flugzeug Sie es diesmal abgesehen haben.« »Da Sie das Geld noch immer in der Hand halten, benötigen Sie auch noch kein Zeichen guten Willens«, sagte Nummer zwei. »Bisher entwickelt sich die Transaktion doch in ausgesprochen zivilisierten Bahnen. Ich warne Sie: Stellen Sie meine Geduld nicht mit kleinen Spielchen auf die Probe, die nur der Verzögerung dienen.« Seine Stimme klang plötzlich scharf. »Der Kassierer gleich dort rechts wird es wechseln. Der mit der Brille.« Er drehte sich ein klein wenig zur Seite, als Feiffer an ihm vorbeiging, um sich nicht ins Gesicht sehen zu lassen, und wandte sich schließlich ganz um. So geriet er voll in das Gesichtsfeld des Sikhs und zog sich gleich ein wenig zurück. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ja, Sir?« sagte der Kassierer höflich. Er schob ein paar Papiere zur Seite und sah Feiffer erwartungsvoll an. Er war ein noch junger Mann mit einer Brille, deren Gläser zweigeteilt waren. Er lächelte 114
gewinnend, um dem Kunden zu zeigen, daß er ganz zu seiner Verfügung steht. Feiffer betrachtete ihn aufmerksam. Der Kassierer schien aus dem Norden Chinas zu stammen und mochte um die zwanzig Jahre alt sein. »Amerikanische Währung«, sagte Feiffer. »Ich möchte sie in Banknoten verschiedener Größe wechseln. Zehner und Zwanziger in Fünfziger und Hunderter.« »Hongkonger Währung?« »Amerikanische. Ich möchte nur andere Banknoten.« »Sehr wohl, Sir.« Das war zwar kein Geschäft für die Bank, aber es war immer gut, Kunden zufriedenzustellen. Solch guter Wille schlug sich später immer mal wieder in Profit um. Der Kassierer setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Wieviel, Sir?« Er sah in seine Geldfächer, um festzustellen, wieviel amerikanische Währung er denn zur Hand hatte. »Hundertfünfzigtausend Dollar.« »– bitte?« »Einhundertfünfzig –« »Einen Moment hatte ich schon gedacht, Sie hätten gesagt –« Der Kassierer strahlte sehr viel weniger guten Willen aus. »– tausend«, ergänzte Feiffer schnell. »Sehen Sie, ich bin Polizeioffizier. Ich glaube, es ist wohl besser, ich spreche mit dem Geschäftsführer. Ist es noch immer Mr. Quang?« »Mr. – ja.« Der Kassierer schickte einen hilfesuchenden Blick zu dem Sikh hinüber. »Mr. Quang, ja.« Der Kassierer schob seine Hand unter dem Zahltisch etwas näher an seinen Revolver heran. Seine Augen trafen sich mit denen des Sikhs. »Sehen Sie, ich weiß, was Sie da mit der Hand machen«, sagte Feiffer, »und ich weiß natürlich auch, daß die Mündung Ihres Revolvers schon genau auf meinen Bauch zeigt. Aber ich bin wirklich Polizeioffizier. Mein Ausweis befindet sich in der Innentasche meiner Jacke. Ich werde ihn jetzt herausholen.« Seine Stimme klang so ruhig wie nur möglich. »Tun Sie also nichts Unüberlegtes, was die Bank später bereuen müßte.« Seine Hand glitt in die Innentasche seines Jacketts und fand die Karte. Er zog sie heraus und legte sie vor den Kassierer auf den Zahlteller. In diesem Moment spürte er, wie etwas Hartes, Kaltes sich in seine Seite bohrte, und der Schatten 115
des Sikhs fiel auf ihn. »Mein Bester«, sagte eine Stimme auf englisch mit indischem Akzent, »ich habe Sie doch nicht zufällig mit der Mündung meines Revolvers verletzt? Ich bin doch sehr vorsichtig zu Werke gegangen.« Er blickte den Kassierer an. »Bin ich nicht vorsichtig zu Werke gegangen?« »Er behauptet, er sei Polizeioffizier«, sagte der Kassierer. »Er trägt auch einen Revolver. Ich habe ihn gesehen, als er –« Wieder ein harter Stoß mit dem Revolverlauf. »Nochmals um Entschuldigung für meine Unvorsichtigkeit, Sir«, sagte der Sikh. »Im Umgang mit Kriminellen verliert man so leicht alles Zartgefühl. Das gilt übrigens auch für den Kassierer. Er hält in diesem Augenblick nämlich schon –« »Ich möchte Mr. Quang sprechen«, sagte Feiffer. Der Sikh blickte den Kassierer an, der gerade die Ausweiskarte überprüfte. »Er sagt, er habe hundertfünfzigtausend Dollar zu wechseln.« »Hm«, machte der Sikh. »In diesem Fall wird es Mr. Quang eine persönliche Freude sein zu helfen. Ja, er wird sogar so erfreut sein, daß ich Sie selbst zu ihm begleiten werde. Ich bedaure, daß ich im Umgang mit der Waffe zu wenig geschult bin. Aber sie wird Ihnen bestimmt öfter mal in den Rücken stoßen, während wir zu seinem Büro gehen. Ich bin sicher, daß Sie mir verzeihen werden. – Hier geht’s lang. Immer geradeaus.« Er blickte sich in der Bank nach möglichen Komplizen um, sah in der Nähe aber nur einen gutgekleideten Mann, der ihm den Rücken zuwandte und ein Formular ausfüllte, offenbar einer von der besseren Sorte. »Rufen Sie Mr. Quang an und sagen Sie ihm, daß wir kommen«, sagte der Sikh zu dem Kassierer. Dann wandte er sich an Feiffer. »Ihr Koffer sieht schwer aus.« Er stieß Feiffer mit der Revolvermündung an. Feiffer gab ihm den Koffer. »Wer da?« sagte Dobbs über den Draht. »Detective Senior Inspector O’Yee.« »O’ – was?« »O’Yee.« »Oh, der Chinesen Yankee Eurasier –« 116
»Wer, zum Teufel, spricht denn da?« »Hier ist Dobbs.« »Ah ... Dobbs«, sagte O’Yee. »Sie schon wieder.« »Ganz richtig, ich bin’s schon wieder! Und ich bin Superintendent Dobbs für Sie, Sie kleines Halbblut! Ich will mich nur vergewissern, daß Ihr Mr. Feiffer das Geld hat!« »Sprechen Sie vielleicht von Detective Chief Inspector Feiffer, Superintendent Dobbs – Sir?« »Hat er das Geld? Ja oder nein?« »Wer?« »Feiffer, Sie stupider kleiner ...« »Oh, Sie sprechen von Detective Chief ...« »Hören Sie, Sie ...!« »Ja, er hat das Geld gekriegt!« »Dann holen Sie ihn her!« »Er ist nicht da.« »Wo ist er?« »Wer?« »Feiffer!« »Er ist ausgegangen.« »Wohin?!« »Weiß ich nicht.« »Sir!« »Weiß ich nicht, Sir!« »Er sagte, die Übergabe sollte noch heute erfolgen. Er sollte sich langsam darauf vorbereiten. Seine Pläne machen. Wo ist er?« »Schlagen Sie mich, ich weiß es nicht.« »Wo ist das verfluchte Geld?« »Was für ein verfluchtes Geld?« »Das verfluchte Übergabegeld!« »Oh, dieses verfluchte Geld ...« O’Yee blickte auf seine Uhr. »Ja, du kleiner Bastard, genau dieses verfluchte Geld! Wo ist es?« »Nun, ja ...« Wieder blickte O’Yee auf seine Uhr. »Also, das ist eine ganz lange Geschichte, und um die Wahrheit zu sagen ...« Er fragte sich, ob Dobbs dieses Gespräch etwa auf Tonband aufzeichnete. »Mr. Feiffer –« sagte Mr. Quang und erhob sich, um hinter seinem 117
schweren Schreibtisch nach vorn zu kommen und dem Polizisten die Hand zu schütteln. Er blickte den Sikh mißbilligend an. »Müßten Sie jetzt nicht eigentlich draußen Ihren Dienst versehen?« »Er hat mir nur den Weg gezeigt«, sagte Feiffer. Er streckte die Hand aus, um seinen Koffer und den Ausweis wieder entgegenzunehmen. »Sie haben sehr hilfsbereite Leute hier in der Bank«, sagte er dabei zu Mr. Quang. Er blickte auf den Revolver in der Hand des Sikhs. Er sah fast aus wie eine Kanone. Mr. Quang lächelte. »Es ist gut, vielen Dank, Mr. Singh«, sagte er zu dem Sikh. »Ich kenne Mr. Feiffer.« Der Sikh nickte und ging hinaus. Mr. Quang legte eine kleine Pause ein, bevor er sich wieder an Feiffer wandte. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte er schließlich. Er wunderte sich, warum Feiffer die Tür einen Spalt öffnete und den Stuhl dann so schob, daß er hinaussehen konnte. »Wir schätzen uns immer glücklich, wenn wir den Behörden in ihren privaten Transaktionen behilflich sein können.« »Das ist keine private, sondern eine offizielle Transaktion«, erwiderte Feiffer. Er setzte den Koffer mitten auf den Tisch und legte seinen Polizeiausweis gleich daneben. »In diesem Koffer befinden sich hundertfünfzigtausend amerikanische Dollar in gekennzeichneten Scheinen. Ich möchte sie Dollar für Dollar in nicht markierte Banknoten umtauschen.« Mr. Quang antwortete nicht gleich. Er war ein kleiner Chinese Mitte Fünfzig und trug einen Anzug von bestem englischem Schnitt und Tuch. Er sah auf Feiffers schon leicht abgetragenen weißen Anzug. Auf seinem Gesicht zeigten sich Zweifel. »Es ist Teil einer Ermittlungsaktion. Wir würden es begrüßen, wenn uns die Bank dabei unterstützt.« »Sie sind natürlich im Besitz einer Ermächtigung eines höherrangigen Offiziers?« Mr. Quang lehnte sich in seinem Sessel zurück. An der Wand hinter ihm hing eine wertvolle alte Original-Fotografie von Hongkong aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein echtes Original von Dalton und Michaels. »Ich denke da an einen Assistant Commissioner oder einen Regierungsbeamten – oder etwas Vergleichbares.« »Nein.« Die Fotografie zeigte die Insel an einem sehr nebligen 118
Tag mit Wolken über dem Hafen. Den Schiffen nach zu urteilen, die im Hafen lagen, mußte das Bild in den späten siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden sein. »Es mußte alles sehr schnell geschehen«, sagte Feiffer. »Es betrifft die Angelegenheit auf dem Flugplatz von Kai Tak.« »Ich habe davon in den Zeitungen gelesen«, sagte Mr. Quang. »Ein Superintendent würde da auch reichen.« »Der einzige Superintendent, der mit der Sache zu tun hat, ist der in Kai Tak. Ich muß das Geld sofort gewechselt haben.« »Ich kann Kai Tak sofort mal anrufen –« »Nein.« »Oh?« Der Nebel auf dem Foto schien sich vor Feiffers Augen in tödliche radioaktive Schwaden zu verwandeln. »Warum wäre denn das nicht im Sinne der Aktion?« fragte Mr. Quang freundlich. »Weil der Superintendent von Kai Tak nicht wollen wird, daß Sie mir das Geld wechseln.« Feiffer blickte durch die halb geöffnete Tür auf den Rücken von Nummer zwei. Nummer zwei schien angestrengt in das von ihm ausgefüllte Formular zu blicken und war offensichtlich noch im Zweifel, ob ausgerechnet diese Bank würdig sein konnte, sein hart Erspartes für die Zukunft zu verwalten. »Ich muß Sie einfach bitten, mir Ihr Vertrauen zu schenken und zu tun, um was ich Sie bitte. Und Sie müssen es bitte tun, ohne weitere Fragen zu stellen.« Er blickte auf die Uhr. Ungefähr um diese Zeit könnte Dobbs schon am Telefon hängen, um festzustellen, ob die Übergabe im Gange war. »Könnten Sie es bitte jetzt tun?« »Nein.« »Warum nicht?« Mr. Quang schüttelte den Kopf. »Ganz ehrlich, haben Sie soviel Geld in der richtigen Währung hier?« »Sicher«, erwiderte Mr. Quang. »Und wir sind entschlossen, es hierzubehalten. Ich werde den Superintendenten anrufen, und wenn er sagt, es sei in Ordnung, und wenn er bereit ist, Ihre Unterschrift für seine eigene gelten zu lassen, und wenn meine Vorgesetzten dann ebenfalls keine Einwendungen haben, dann wechsle ich Ihnen den Betrag selbstverständlich. Aber wir können doch nicht eine solche Summe über den Tisch reichen auf das Wort eines –« 119
»Natürlich erhalten Sie dieses Geld hier in dem Koffer dafür – es ist ja nicht gefälscht.« »Aber markiert.« »Nun, ja –« »Von wem?« »Nun, von der Polizei –« »Und das ist beweisbar?« fragte Mr. Quang. »Die Singapur China Tokio Bank erhält für Geld, das bei irgendwelchen Richtern auf dem Tisch liegt, keine Zinsen. Ich rufe den Superintendenten in Kai Tak an.« »Ich sähe es lieber, wenn Sie das lassen wollten.« »Vielleicht, aber immerhin –« »Sehen Sie, es wäre mir lieber, Sie riefen nicht dort an«, sagte Feiffer. »Ich brauche das Geld jetzt, um ...« »Welch merkwürdiger Zufall«, erwiderte Mr. Quang, »aber wir brauchen das Geld auch gerade. Das kommt vielleicht daher, daß wir hier ein Bankgeschäft betreiben.« Er senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Niemand unterstellt, hier sollte Geld reingewaschen werden, das sich die Polizei durch Korruption oder so ähnlich beschafft hat, und daß Sie etwa unverfängliche Banknoten im Tausch für –« »Es stammt aus der Sache in Kai Tak!« »Jenem Kai Tak zum Beispiel, von wo aus so viele Flüge direkt in die Schweiz gehen? In jene Schweiz, die nicht ausliefert?« »Es ist das Geld für den Erpresser!« »So, wirklich?« »Ja!« »Dann möchte ich doch aber meinen, Geld von der Art, wie Sie es da in Ihrem Köfferchen haben, wäre genau das Richtige, nämlich von der Polizei kenntlich gemachte Banknoten.« Draußen schien Nummer zwei langsam nervös zu werden. »Zum letztenmal«, sagte Feiffer, »Sie würden es also nicht auf bloßes Vertrauen hin tun?« Mr. Quang blickte ihn an. »Bitte –« Mr. Quang schüttelte den Kopf. Er langte nach dem Telefon. Als er aufblickte, sah er genau in die Mündung von Feiffers Dienstwaffe. 120
Sein Mund blieb offen. »Bleiben Sie vom Telefon weg«, sagte Feiffer sanft. Mr. Quang zog langsam die Hand zurück. Er blickte noch einmal auf den Koffer und die danebenliegende Ausweiskarte. Dann sah er wieder in die Mündung der Waffe. »Dann sagen Sie mir bitte nur noch, was ich tun soll und wie«, sagte Mr. Quang. In seinem Hirn formte sich schon – entsprechend den Vorträgen auf der Managerschule – die komplette Beschreibung von Tat und Täter – doch dann hielt er inne. Er mußte plötzlich daran denken, daß er den Täter schließlich kannte. Er blickte noch einmal auf den Ausweis vor ihm und dachte: ›Gott im Himmel, er ist ja die Polizei!‹ Laut aber sagte er: »Ich bin bereit, alles zu tun, um Leben zu retten.« Er schluckte. »Das muß natürlich mein erstes Bestreben sein.« Feiffer nickte. »Nehmen Sie jetzt das Telefon, und veranlassen Sie Ihre Leute, das Geld hierher zu bringen«, sagte er flach. Er blickte auf das Bild von Hongkong im neunzehnten Jahrhundert und fragte sich, wie es sich wohl im Vergleich mit einem Bild des Stanley-Gefängnisses von heute ausnehmen mochte. »Nehmen Sie schon den Hörer ab«, sagte er schnell. Constable Sun stürmte in den Detectives-Room mit der Neuigkeit, daß in der Bank direkt gegenüber gerade ein Raub ausgeführt würde. O’Yee sagte zu Dobbs ins Telefon: »Ich muß Schluß machen.« Er knallte den Hörer auf die Gabel und rannte hinter Constable Sun her auf die Straße. Noch im Laufen überprüfte er seinen Revolver. Auden knallte den Hörer der Öffentlichen an der Airport Road auf die Gabel und kam schwitzend aus der stickigen Zelle nach draußen. »Nichts!« sagte er zu Spencer. »Über die Leichen?« »Über nichts! Es ist kein Aas da! Wie kann denn die ganze Polizeistation verwaist sein? Immerhin ist es unsere gottverdammte Polizeistation. Hast du je gehört, daß überhaupt niemand da ist? Was geschieht, wenn jemand mit der Polizei in Verbindung treten will?« Er redete sich ordentlich in Rage. »Ich wollte zum Beispiel mit die121
ser Station Kontakt aufnehmen!« »Ruf Kai Tak an.« »Großartige Idee! Warum nicht gleich Auschwitz anrufen und sich ein warmes Plätzchen in einer Gaskammer reservieren lassen?« »Vielleicht sollten wir es wenigstens versuchen ...« »Aber wir haben es doch schon versucht! Sie haben uns rausgeschmissen. Erinnerst du dich nicht mehr?« »Das war beim letzten Mal«, sagte Spencer aufmunternd. »Dieses Mal haben wir zumindest eine echte Information für sie –« »Und was ist, wenn sie uns fragen, was ausgerechnet sie mit dieser echten Information anfangen sollen, die wir für sie haben? Was dann? Wir wissen ja nicht einmal, was gespielt wird. Wie sollen wir wissen, wie alles zusammenpaßt? Oder ob das überhaupt zusammenpaßt.« Auden schien fest entschlossen. »Ich jedenfalls werde den Teufel tun und die anrufen, und damit basta!« »Dann tue ich es!« »Wundervoll! Großartig! Fantastisch! Mr. Gutgesinnt wird sie anrufen! Und dann stellst du dich gleich als der vor, der Munday zu einer Zahnbehandlung ohne Dentist verhelfen wollte. Vielleicht lädt er dich sogar zu einem kleinen Umtrunk in einer piekfeinen Bar ein, die unsereins noch nicht einmal dienstlich zu sehen kriegt! Wer weiß, vielleicht hat er noch ein bißchen Zyanid übrig, mit dem er dir den Drink würzt. Riecht so großartig nach Bittermandeln.« »Das ist Arsen«, sagte Spencer. »Vielleicht beschafft er auch davon ein bißchen!« entgegnete Auden giftig. »Ich habe die Schnauze voll. Ich gehe jetzt ins Auto zurück, mache mir das Radio an und döse eine Runde bei moderner Popmusik.« Er sah zu, wie Spencer in die Zelle ging und in seiner Jackentasche nach Kleingeld kramte. Schließlich wandte er sich Auden zu und lächelte. »O nein!« sagte Auden. Er öffnete die Wagentür und reichte ihm ein paar Münzen. Dann stellte er sich neben die Telefonzelle und sah mit gemischten Gefühlen zu, wie sich Spencers Mund bewegte, während er mit Kai Tak sprach. Spencer kam wieder aus der Zelle heraus und blickte an Auden vorbei. »Dobbs konferiert pausenlos mit den Fluggesellschaften«, sagte er. »Alle anderen sind schon unterwegs zur Yellowthread Street.« Er grinste schwach. 122
»Auf der Station Yellowthread Street ist aber niemand!« »Der diensthabende Constable in Kai Tak sagte, es ginge da um Geld oder so was. Er sagte, er würde die Station noch mal zu erreichen versuchen. Bisher habe er es auch vergebens versucht.« »Er kann niemanden erreichen? Ich kann niemanden erreichen! Das kommt daher, daß da niemand ist!« »Er sagte, er könne den Kai Tak Leuten etwas ausrichten, falls es wichtig sei.« »Aber wo sind die denn jetzt?« »Das wußte er auch nicht. Keiner weiß es. Hier scheint überhaupt nie jemand irgend etwas zu wissen –« »Was geht hier eigentlich vor?« sagte Auden. »Es verschwinden doch keine ganzen Polizeimannschaften von der Bildfläche!« Er starrte hinauf in den Himmel und schrie über die überfüllte Straße hinweg: »Wo, zum Teufel, sind die alle?« Der Sikh blickte auf die uniformierten Polizisten, die durch den Haupteingang hereinströmten, und steckte den Revolver wieder weg. Alles schien in Ordnung zu sein. Da hatte es dieses mehr als seltsame Geschäft gegeben: Der Detective hatte einen Koffer durch die Tür von Mr. Quang an jemanden weitergereicht, der nicht wollte, daß man sein Gesicht sehen konnte, aber im Bankgeschäft war so etwas durchaus nicht ungewöhnlich. Exzentrische Millionäre gab es immer wieder. Der Sikh ging schnell auf die Beamten zu. »Interner Alarm aus dem Zimmer des Managers«, sagte O’Yee. »Wo geht’s lang?« »Hier bitte.« Der Sikh geleitete die Polizisten zum Büro des Managers. Die Tür war geschlossen. Er öffnete sie und blickte hinein. Aber da waren nur der Polizist und Mr. Quang. Und der Manager hatte doch gesagt, er kenne – »Harry!« sagte O’Yee. Er sah, daß Feiffer seinen Revolver auf dem Schoß liegen hatte. Der Bankmanager blickte erleichtert drein. Er lächelte. »Ich habe was von einem Banküberfall gehört«, sagte O’Yee und blickte sich verwirrt um. »Sind wir zu spät? Ist es schon vorbei?« Der ganze Tisch des Managers war übersät mit Noten zu zehn und zwanzig amerikanischen Dollar. Der Bankmanager schien 123
über irgendwas so amüsiert, daß er in einem fort lächelte. »Wo war es denn?« fragte O’Yee und sah sich weiter im Raum um. Feiffer schüttelte den Kopf. »Das hier war es«, sagte er ruhig. Er schaute voller Interesse auf das Bild in dem kostbaren Rahmen über dem teuren Schreibtisch. »Harry«, sagte der Commander am Telefon, »vor mir liegt ein Bericht von Mr. Dobbs aus Kai Tak. Darin schreibt Mr. Dobbs, Sie hätten von Kai Tak präparierte Dollarnoten erhalten, um diesen ominösen Nummer zwei damit zu bezahlen, und –« er legte eine kleine Pause ein, während er den Bericht noch einmal überflog »– und daß Sie ihn hinsichtlich der Übergabezeit nicht ordnungsgemäß unterrichtet haben.« »Ja.« »Sie stimmen also zu? Das ist korrekt?« »Ich wollte nur einfach nicht Dobbs und seine Leute dabeihaben, damit die mir nicht wieder mit ihren Revolvern alles kaputtmachen. Ich wollte Nummer zwei Zeit und Gelegenheit geben, mir zu sagen, auf welches Flugzeug das nächste Attentat geplant ist und wann es stattfinden soll.« »Ich verstehe.« Der Commander las weiter in dem Bericht. »Ich dachte mir, ich sollte Sie gleich darauf ansprechen, um Ihnen eine Chance zu geben –« Wieder eine kurze Pause. »Der Bericht ist ja gerade erst hier eingegangen. Ah, hier! Es steht da weiter, diese Information sei jedoch nicht gegeben worden. Ich meine die Information von Nummer zwei hinsichtlich des nächsten Attentats, die Zug um Zug gegen das Geld gegeben werden sollte. Stimmt das?« »Er wird mich anrufen.« »Sie meinen, er ruft Sie an, um Ihnen diese Information am Telefon zu geben?« »Ja.« »Das hat er gesagt?« »Ja.« »Verstehe. Zur Zeit also vertreten Sie die Ansicht, es sei sinnvoll gewesen, das Geld zu übergeben, ohne auch nur die Spur einer Chance zu haben, weitere Leben zu retten?« Die Stimme des Com124
manders klang ungläubig. »Und das halten Sie für ein faires Geschäft?« »Ja.« »Sie reden wohl nie sehr viel.« »Sie haben schließlich den Bericht.« »Dann lassen Ihre bisherigen Antworten wohl den Schluß zu, daß er auch im folgenden Punkt recht hat, daß Sie nämlich in der Lage gewesen wären ihn festzunehmen, es aber nicht getan haben. Stimmt das?« »Ja.« »Hm.« Er las weiter. »Haben Sie denn eine gute Beschreibung von ihm?« »Er hat mir die ganze Zeit den Rücken zugewandt.« »Wie hat er denn das fertiggebracht?« »Indem er mir ganz einfach nicht das Gesicht zugewandt hat«, erwiderte Feiffer heftig. »Sehen Sie, Commander, ich habe einfach nur getan, was ich für notwendig hielt, um zu verhindern, daß noch mehr unschuldige Menschen in Flugzeugen sterben, die von Kai Tak aus starten. Das ist alles. Ich bin doch schließlich kein Krimineller, der in die ganze Sache verwickelt ist.« »Das weiß ich doch«, sagte der Commander voller Sympathie. »Ich verstehe ja auch, daß Sie das alles persönlich schrecklich aufregen muß. Ich würde die Drohungen dieses Mr. Dobbs auch nicht zu ernst nehmen. Noch vor ein paar Stunden hatte ich ihn am Telefon, und da hat er mir diesen ganzen Quatsch von seinen Chinesen erzählt und die Sache mit Ihrer Frau –« Keine Antwort. »Sehen Sie, Harry«, sagte der Commander, »ich kenne Sie nun seit Urzeiten. Ich muß die Anschuldigungen ernst nehmen, aber natürlich nicht so ernst, als wenn ich Sie gar nicht kennen würde. Und was nun diese Geschichte angeht, wo Sie einem Kriminellen das Geld ohne Gegenleistung übergeben haben, so kann auch das noch in Ordnung gebracht werden, wenn er wirklich Ort und Zeit eines neuen Anschlags rechtzeitig bekanntgibt – vorausgesetzt, es ist überhaupt einer geplant.« Feiffer hörte, wie der Commander wieder eine Seite umschlug. »Dobbs erwähnt hier auch, daß einer Ihrer Leute, ein Mr. Spencer, sich sehr rüde gegenüber seinen Leuten in 125
Kai Tak benommen haben soll. Sorgen Sie bitte dafür, daß er sich ein bißchen zusammennimmt, ja?« »In Ordnung.« »Fein.« Wieder hörte Feiffer, wie der Commander eine Seite umblätterte. »Irgendwann werden die Polizisten dieser Tage auch mal lernen müssen, das Wichtigste gleich zu Beginn zu sagen, statt alles chronologisch aufzuschreiben. So wäre das Leben viel leichter für einen alternden, halbblinden Commander.« Es raschelte wieder. »Sonst ist da wohl nichts.« Er blätterte weiter und murmelte halblaut vor sich hin, während er Zeile für Zeile weiterlas. »Koffer voll Geld ... Banknoten zu zehn und zwanzig ... mit Ultraviolett gekennzeichnet ... und von Inspector Ming an Chief Inspector Feiffer ausgehändigt ... telefonische Unterredung zwischen Detective Inspector O’Yee und ...« Er unterbrach sich. »Oh, mein Gott!« sagte er. Dann brachte er nur noch einen gurgelnden Ton hervor. Im Detectives-Room blickte Feiffer O’Yee an. O’Yee starrte gegen die Decke. »Harry?« kam die Stimme des Commanders wieder über den Draht. »Ja, Sir?« Die Stimme des Commanders klang geschockt. Sie klang, als habe der Commander ein rotes Gesicht. Es gab ein keuchendes Geräusch. »Sie haben ja eine Bank ausgeraubt!« schrie der Commander über die Leitung. Feiffer blickte O’Yee an. Man hörte nur ein Röcheln im Telefon. Es klang, als sei dem Commander gerade mitten durchs Herz geschossen worden.
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10 Die Uhr im Detectives-Room in der Yellowthread Street zeigte genau sechs Uhr nachmittags, draußen begann es zu dämmern. In den offenen Speiselokalen draußen auf der Straße wurden die KerosinLampen angezündet, und durch die Fenster drang der Geruch von frisch gekochtem Essen und über Holzkohlenfeuer gegrilltem Fleisch. »Was mich noch immer erstaunt, Harry«, sagte O’Yee gerade, »das ist die Tatsache, daß du noch nicht in einem Keller in Kai Tak sitzt und dort mit der Peitsche verhört wirst.« Feiffer blickte das Telefon auf seinem Schreibtisch mißmutig an. »Das kann noch immer passieren«, sagte er. »Die Singapur China Tokio Bank hat ihr Geld zurückbekommen.« »Die Singapur China Tokio Bank hat das Geld von Kai Tak zurückbekommen. Und da sie ja nur hundertneunundvierzigtausend ausgezahlt hat, hat sie auch noch ein Geschäft dabei gemacht.« »Ich hätte nicht gedacht, daß Banken auch noch für das Auswechseln von Scheinen eine Gebühr erheben.« »Normalerweise tun sie das auch nicht. Ich habe es Mr. Quang mehr oder weniger aufgedrängt, weil ich dachte, ich könnte ihn und seine Direktoren auf diese Weise ein bißchen beruhigen.« »Da hättest du vielleicht etwas mehr als ein drittel Prozent anbieten sollen.« »Ich hatte sogar nur an fünfhundert Dollar gedacht. Die anderen fünf waren seine Idee.« »So, dann will er also keinen Ärger.« Feiffer blickte sein Telefon an. »In dem Augenblick schien es mir eine gute Idee zu sein.« »Ich hoffe, Kai Tak läßt sich davon ebenfalls überzeugen.« »Die Leute von Kai Tak sind alles andere als überzeugt.« Im Telefon erklang ein leises Klingeln. Sofort riß Feiffer den Hörer von der Gabel. Aber es war nur Constable Sun, der im Vorraum von seinem Apparat aus anrufen wollte. Feiffer legte den Hörer wieder hin. »Wird er hier anrufen?« »Er sollte es besser tun.« »Ich meine, ob du absolut sicher bist, daß da wieder ein anderes 127
Flugzeug in Gefahr ist«, sagte O’Yee. »Nein, ich bin absolut nicht sicher, daß da wieder ein anderes Flugzeug in Gefahr ist! Deswegen sitze ich doch hier rum und warte auf einen Anruf! Wie soll ich das schließlich wissen?« O’Yee nickte. »Wie hoch sind die Chancen der Bank, daß sie es behalten darf?« »Was behalten darf?« »Die Provision.« »Das weiß ich nicht. Vielleicht sind ihre Chancen sogar sehr gut – ich weiß es nicht.« Plötzlich sprang Feiffer nervös von seinem Stuhl hoch. »Christopher, dieser Bastard wird doch anrufen, oder etwa nicht?« Es war sechs Uhr abends. Der Geruch aus den Speiselokalen wurde stärker. Es war nicht leicht, den Appetit zu zügeln. Das Telefon klingelte. »Nun, hier bin ich«, sagte Nummer zwei auf kantonesisch, »ich, der reichste Dreck von Hong Bay.« O’Yee wählte die Nummer des Telefoningenieurs und gab ihm die Nummer von Feiffers Apparat. »Ich bin’s, der Mann, der sein Wort hält.« Die Stimme von Nummer zwei drückte Zufriedenheit aus. »Ich dachte, nachdem Sie ehrlich und anständig zu mir waren, sollte ich es Ihnen gegenüber auch sein. Wodurch bewiesen wäre, daß ich ein ehrenhafter Mann bin, der nichts tut oder sagt, das ihm zur Schande gereichen müßte. Ausgenommen natürlich die Tatsache, daß ich ein paar Flugzeuge voller Menschen opfern mußte.« Seine Stimme klang betrübt. »Was bin ich also? Auf jeden Fall bin ich jetzt ein bißchen betrunken, und das ist ja wohl natürlich, wo ich jetzt dank Ihnen der reichste Dreck in der Stadt geworden bin.« Seine Stimme klang wieder ganz glücklich. »Oh, die Freuden finanzieller Stabilität! Ich bin reich!« »Worin besteht die Bedrohung?« O’Yee legte die Hand über die Muschel seines Apparates. »Sobald er die Leitung wechselt, gebe ich Ihnen die neue Nummer«, flüsterte er. »Ha–ha–ha«, lachte Nummer zwei. Seine Stimme klang schon nicht mehr ganz klar. »Das ist das letztemal, daß ich mich selbst betrinke. Bald schon werde ich in angenehmerem Klima leben und 128
von Erfolg und Sex umgeben sein. Hundertfünfzigtausend, richtig angelegt, reichen schon für eine kleine Weile. Tut mir leid für meinen Prinzipal, aber er ist ja ein so verständnisvoller Mensch. Ich habe ihn angerufen, bevor ich jetzt mit Ihnen telefoniere, und ihm gesagt, daß ich, wo er ja ein so verständnisvoller Mensch ist, das ganze Geld für mich allein genommen habe, und daß er, sollte er mehr wollen, dies ja von Ihnen sicher bekommen könne. Er hat das aber gar nicht verstanden. – Sind Sie noch da?« »Ich bin noch da.« »Das Problem mit meinem Prinzipal ist, daß er, anders als ich, ein Mann von Ideen ist. Ich bin mehr der Typ des Praktikers. Ich setze die Ideen in die Tat um. Sie verstehen? Ich könnte Ihnen erzählen, was ich alles getan habe – das würden Sie gar nicht glauben!« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich könnte Ihnen ja sagen, was es ist. Aber warum die Sache so einfach machen?« Er räusperte sich. »Sind Sie noch da?« »Sie haben sechs Menschen mit einem Maschinengewehr umgebracht«, sagte Feiffer wie beiläufig, »und zwar in einem stillgelegten alten Wasserkanal.« »Ganz recht, ganz recht! Genau das habe ich getan. Was mich wiederum zu der Schlußfolgerung führt, daß meinem Prinzipal gar nichts weiter übrigbleiben wird, als mich mit dem Geld allein ziehen zu lassen. Sie hätten ihn mal sehen sollen!« Seine Stimme klang ausgesprochen glücklich. »Er weiß gar nicht, was die Kugeln den angeheuerten Hilfskräften alles angetan haben, nachdem diese ihre Nützlichkeit für das Geschäft eingebüßt hatten. Verhindern konnte er es jedenfalls nicht. Er wurde richtig grün im Gesicht. Als dann auch noch zwei harmlose alte Wasserwerksarbeiter auftauchten und ich die gleich auch noch aus Sicherheitsgründen an die Wand stellen mußte, wäre er fast geplatzt.« Nummer zwei kicherte leise. »Dabei war ja einer von ihnen – Sie können ihn getrost den eigentlich Schuldigen nennen – so freundlich, mir zu sagen, wo ich vier nackte, nicht identifizierbare Leichen verstauen könnte. Die Gegend war so sehr geeignet für diesen Zweck, daß ich ihn und seinen Kumpel gleich mit verstaut habe. Kein Wunder, daß man heutzutage so schlecht gute Helfer bekommt, wenn sie überall in den Kanälen herumliegen.« Er kicherte. »Ich könnte gut einen Engpaß auf dem 129
Markt für Helfer in kriminellen Angelegenheiten verschuldet haben, der für Jahre fortbestehen wird.« Er schien sich richtig über sich selbst zu freuen. »Ich möchte mich auch noch bei Ihnen für Ihre freundliche Hilfe während der ganzen Zeit bedanken.« Jetzt brach er in lautes Lachen aus. »Ich werde bald weg sein. Wenn Sie erst einmal zur Kenntnis genommen haben werden, daß es Leute auf der Welt gibt, die noch weniger wert sind als Sie selbst, dann wird es leicht für Sie sein, mit ihnen so zu jonglieren, daß sich Ihre eigene Zukunft zum besten wendet. Und nun machen Sie sich weiter keine Gedanken. Ich verspreche Ihnen, daß ich mein Geld in ein anständiges Geschäft investieren werde.« »Die Bedrohung!« »Die Bedrohung?« »Wo ist sie?« Nummer zwei bekam Schluckauf. »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Ihnen das erzählen soll.« »Sie haben ein Geschäft abgeschlossen.« Feiffer blickte zu O’Yee hinüber, der gerade auf seine Uhr blickte. Er schien überrascht, daß das Gespräch schon so lange dauerte. Der Ingenieur sagte irgend etwas, und O’Yee erwiderte aufgeregt: »Ja –« »Nein, ich glaube, ich werde es Ihnen doch nicht erzählen«, sagte Nummer zwei. »Also gibt es eine Bedrohung?« »O ja. Im Kanal waren sechs Tote, ein Grabfinder, ein Unschuldiger und vier Männer, die solche Bedrohungen in die Welt gesetzt haben.« Nummer zwei legte eine kurze Pause ein. »Sie sehen, bei Leuten wie bei meinem Prinzipal ist das grundsätzlich so, daß sie sich die Finger nicht schmutzig machen wollen. So überlassen sie es Leuten wie mir, die Einzelheiten ins Werk zu setzen. Er kennt die einzelnen Gefahrenquellen genausowenig wie Sie. Für ihn ist das ganz in Ordnung, sich im Hintergrund zu halten, während ich die ganze Dreckarbeit mache und die Cops an der Nase herumführe. Na, und da dachte ich mir, daß die Dinge langsam ein bißchen zu heiß wurden, und deshalb habe ich mich entschlossen, seinen Part gleich mitzuspielen. Aber die normale Höflichkeit und ein ausgeprägter Sinn für Rache haben mich dann doch dazu bewegt, ihn wenigstens anzurufen, woraus Sie vielleicht ersehen mögen, daß ich 130
doch noch nicht bar allen menschlichen Gefühls bin. Aber beim zweiten Hinsehen wird man sagen müssen, daß die Rachegefühle dabei die erste Rolle gespielt haben.« Er lachte. »Also muß ich wohl ohne alles menschliche Gefühl sein.« Er rülpste hörbar. »Ich glaube, ich werde Ihnen gar nichts erzählen.« Er machte eine kurze Pause. »Bis auf eines – und das auch nur, um meinen alten Prinzipal, der jetzt völlig unnötig und überflüssig geworden ist, zu ärgern –« er kicherte wieder leise vor sich hin. »Ja, wegen all dieser Gefühle also – habe ich seinen Befehl mißachtet – hicks! Machen Sie daraus, was Sie können.« Er rülpste wieder. »Sie sind ein guter, achtbarer Mensch, Feiffer, und Sie haben so ein enges und gutes Verhältnis zum menschlichen Leben, und da könnten Sie eigentlich –« »Ja –?« O’Yee gab Zeichen mit der Hand. Er deutete auf seine Uhr. »Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren«, sagte Feiffer in den Hörer, »daß man in Kai Tak der Meinung ist, ich habe in der einen oder anderen Weise mit der Sache zu tun?« »O ja. Und ich hoffe auch, diesen Eindruck durch meinen Anruf in gewisser Weise verstärkt zu haben.« Er senkte seine Stimme. »Sie werden begreifen müssen, Harry, alter Junge, daß man in dieser Welt am besten gleich unters Fallbeil geht, wenn man kein Kapital hat. Leute wie Sie werden nie aufhören, Leute wie mich zu amüsieren. Es muß wohl bei Leuten wie Ihnen an einer Art Charakterfehler liegen, daß sie immer wieder Leuten wie mir vertrauen. Und das können Sie nun mal nicht. Wenn ich überhaupt irgendwelche Gefühle für irgend jemanden hätte, dann nur für einen, der mit einem Plan käme, wie man irgendwo Geld herauspressen oder Leute umbringen kann – am besten beides. Da ich nun keinerlei Gefühle für irgend jemanden habe und da ich bezweifle, daß in absehbarer Zeit noch einmal jemand mit einer guten Idee auf mich zukommt, sind meine Gefühle derzeit schlicht nicht existent.« Er rülpste wieder. »So angenehm es auch sein mag, sich mit jemandem mit Ihrer Intelligenz zu unterhalten – jemand, der sich nicht um die schmutzigen Details kümmert –, ich bin noch nicht ganz aus dem Busch und bedauere deshalb jetzt aufhängen zu müssen.« »Zuerst sagen Sie mir noch, welcher Art die Bedrohung ist.« »Warum? Etwa wegen dieser beschissenen Humanität?« 131
»Weil Sie mir das schuldig sind!« Nummer zwei lachte. »Schuldeten Sie mir vielleicht hundertfünfzigtausend Dollar?« fragte er. »Na? Ich habe sie mir einfach genommen! Und wenn Sie also die Bedrohung finden wollen, dann lernen Sie erst einmal ein paar harte Fakten über das Leben und machen Sie sich selbst auf die Suche.« Sein Tonfall wurde geradezu väterlich. »Auf dieser Welt gibt es nichts umsonst, Mr. Feiffer, und wenn einer denkt, das ginge doch –« »Dann geben Sie mir wenigstens den Namen Ihres Prinzipals!« »Und warum?« Feiffer blickte zu O’Yee hinüber. »Warum sollte ich?« fragte Nummer zwei noch einmal. »Nennen Sie mir einen einzigen Grund dafür.« »Und wenn es reine Gemeinheit wäre?« Nummer zwei legte eine kleine Pause ein und ließ sich diesen Vorschlag durch den alkoholgeschwängerten Schädel gehen. »Warum nicht?« sagte er schließlich mehr zu sich selbst. »Ja, warum eigentlich nicht?« Wieder entstand eine Pause. »Noch fünfzehn Sekunden auf derselben Leitung, und wir haben ihn«, sagte O’Yee leise. »Nun?« sagte Feiffer in den Hörer. Nummer zwei rülpste. Dann gab es ein scharfes Geräusch, so als stoße jemand mit einem harten Gegenstand gegen den Hörer. »Es ist eine öffentliche Telefonzelle irgendwo in der Gegend von –« Er unterbrach sich und hörte dem Telefoningenieur zu, der sich in diesem Moment wieder meldete. »Nun?« fragte Feiffer noch einmal in seinen Hörer. Es gab wieder ein Knacken, dann herrschte kurzes Schweigen. Schließlich war wieder die Stimme von Nummer zwei da. Sie klang, als komme sie von weit her. »Sehen Sie, es war –« Er sprach jetzt englisch. »Sie müssen –« Und dann gab es ein dumpfes Geräusch, als wenn etwas Weiches zu Boden fallen würde. Wieder kam die Stimme von Nummer zwei. »Sehen Sie, es war –« In Feiffers Hörer gab es ein schreckliches klirrendes Geräusch, als wenn Glas zersplitterte. »Wir haben ihn!« sagte in diesem Moment O’Yee. »Es ist die öffentliche Zelle nahe bei dem großen Restaurant in der Hong Bay 132
Beach Road. Halte ihn noch ein bißchen länger am Telefon fest. Ich schicke einen Streifenwagen hin!« Er knallte den Hörer auf die Gabel und riß ihn gleich wieder an sich, um dann die Nummer des Funkraums zu wählen. Doch ein Blick in Feiffers Gesicht ließ ihn einen Moment innehalten. »Er ist doch noch da? Vor einer Sekunde war er doch noch dran. – Guter Gott, wir werden ihn doch wohl nicht verloren haben, jetzt, wo wir so nahe dran sind, ihn zu schnappen? – ich könnte das ganze Gebiet abriegeln lassen.« An Feiffers Ohr drang außer einem tiefen Schweigen nur noch das »Tap-tap«, mit dem der lose herunterhängende Hörer gelegentlich gegen die eine oder andere Wand der Telefonzelle stieß. Und noch ein ganz feines pfeifendes Geräusch war da, so als wenn Luft durch enge Löcher streicht. Feiffer wartete. »Worauf wartest du?« fragte O’Yee verzweifelt. Feiffer wartete noch einen kleinen Augenblick. Dann kam der Ton. »Wir sind hinter einem Europäer her, der Blut am Anzug hat«, sagte Feiffer. »Wovon redest du? Hat er dir Einzelheiten zur neuerlichen Bedrohung gegeben?« »Nein«, sagte Feiffer. »Du hast die Adresse der Telefonzelle?« »Ja –« Feiffer hängte den Hörer auf und langte nach seiner Jacke. Er schien plötzlich müde und ausgelaugt wie ein Mann ohne die geringste Hoffnung. Der Ton, auf den er gewartet und den er vernommen hatte, war das Todesstöhnen von Nummer zwei gewesen. Vorn im großen Vorraum sagte Constable Sun gerade in den Hörer seines Telefons: »Tut mir leid, Inspector Auden, aber sie sind schon wieder weg.« »Was? Alle beide?« »Sie sind beide weg, sowohl Mr. O’Yee als auch Chief Inspector Feiffer.« »Wer macht denn dann die Stallwache?« »Ich denke, ich.« »Ich rede vom Detektiv-Büro.« 133
»Niemand«, sagte Constable Sun besänftigend. »Sie sind wegen eines Mordes unterwegs.« »Was für ein Mord?« »Auf der Hong Bay Beach Road. So sagte wenigstens Mr. O’Yee. Alle anderen Constables sind mit ihnen gefahren. Das ganze Gebiet wurde abgeriegelt. Falls es in der Gegend noch einen Banküberfall gegeben hat, erwischen wir die bei der Gelegenheit gleich mit.« »Was meinen Sie denn damit, mit einem Banküberfall?« fragte Auden. »Wo auf der Beach Road? Und wer wurde ermordet?« »In der Nähe eines Restaurants auf einem Parkplatz. Da steht eine Telefonzelle. Wer das Opfer ist, weiß ich nicht. Gejagt wird jedenfalls ein Europäer.« »Und was hat das mit einem Banküberfall zu tun?« fragte Auden. »Was für ein Banküberfall überhaupt? Wie konnte der Mann dann zur Beach Road kommen? Da gibt es doch keine Banken.« »Der Banküberfall war hier in der Yellowthread Street.« »In –« »Der Mord aber passierte in der Beach Road.« »Dann stehen die beiden Sachen also nicht im Zusammenhang miteinander?« »Nein«, sagte Constable Sun. »Den Banküberfall hat Chief Inspector Feiffer verübt.« Am anderen Ende trat eine Pause ein. »Wissen Sie eigentlich, Sun«, meldete sich Auden dann wieder, »daß Sie der erste sind, der mir überhaupt was erzählt?« sagte er mit flacher Stimme. »Sie sind der erste Mensch, der die Freundlichkeit besitzt, mich wie ein menschliches Wesen zu behandeln, das vielleicht an dem interessiert sein könnte, was ringsum passiert –« »Ja, das ist sehr nett, daß Sie das sagen, Mr. Auden«, sagte Sun in den Hörer, »aber –« »Aber ich habe nicht ein einziges Wort von dem verstanden, was Sie da gesagt haben!« brüllte Auden unvermittelt in den Hörer. »Oh«, sagte Constable Sun. Wieder eine Pause. Sun dachte, es sei das mindeste, was er tun könne, wenn er noch einmal von vorn beginne. Und er dachte weiter, daß es vielleicht wirklich ein bißchen verwirrend war, wenn man es nicht von allem 134
Anfang an miterlebt hatte. Das in einzelnen Teilen serviert zu bekommen, war zweifellos ein bißchen unfair, vor allem dann, wenn man wegen ganz was anderem unterwegs war und bei entsprechenden Anrufen keine ausreichenden Auskünfte erhielt. »Sehen Sie mal –« begann er daher geduldig. Unter den Scheinwerfern, die um die drei Telefonzellen herum aufgestellt worden waren, glitzerten die Glassplitter wie Eisstückchen. Das Licht wurde vom Glas der Telefonzellen und der Autos auf dem nahegelegenen Parkplatz reflektiert. Ein dicker Lichtstrahl ging von einem Ambulanzwagen aus, der sich seinen Weg zu den Telefonzellen bahnte, und die Lichter von den Polizeiwagen mischten sich mit den Taschenlampen der Polizisten, die sich alle Mühe gaben, die Neugierigen vom Ort des Geschehens fernzuhalten. Der Körper von Nummer zwei lag in der Telefonzelle. Zerbrochenes Glas von der Telefonzelle bedeckte sein Gesicht und seine Schultern. Er hielt noch immer den Koffer, der auf seiner Brust lag. Auf dem Koffer waren ein paar dunkle Blutflecken zu sehen. So wie der Körper da lag, sah es aus, als enthalte er keine Knochen mehr. Der Amtsarzt Dr. Macarthur zündete sich gerade eine neue Zigarette an und langte nach unten, um den Kopf zur Seite zu drehen. Es schepperte leise, als ein paar Glassplitter zu Boden fielen. Ein Blitz flammte auf, als ein Polizeifotograf ein Bild schoß. Mit leisem Klicken fiel die ausgebrannte Blitzbirne zu Boden, während der Fotograf um die Zellen herumging, um ein Foto der ganzen Szene aus einem anderen Blickwinkel zu schießen. Senior Detective Inspector O’Yee war noch in einer der anderen Telefonzellen, um etwas auf dem Boden zu suchen, und der Fotograf wartete, bis er wieder herauskam. Dann schoß er den nächsten Blitz ab. Dr. Macarthur faßte Nummer zwei im Genick und drehte seinen Kopf in die andere Richtung, um einen Blick auf die andere Gesichtshälfte werfen zu können. Er lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Zug aus seiner französischen Zigarette und untersuchte mit Interesse eine kleine Probe, die er von der Haut des Nackens entnommen hatte. Er roch auch daran. »Die beiden anderen Telefonzellen sind total verwüstet«, sagte 135
O’Yee zu Feiffer. »Offenbar war er zu betrunken, um nach einer anderen Möglichkeit zum Telefonieren zu suchen.« »Oder zu vertrauensselig.« Feiffer sah zu, wie Macarthur wieder den Kopf des Toten von einer Seite zur anderen bewegte. Im Nacken schimmerte irgend etwas. Macarthur schien sich sehr intensiv dafür zu interessieren. »Irgendwelche Zeugen?« »Keine. Und Ihr Europäer scheint unerkannt entkommen zu sein.« »Wieso glauben Sie eigentlich so fest daran, daß es sich um einen Europäer handelt?« »Er hat englisch mit ihm gesprochen.« »Nummer zwei hat sich auf englisch mit ihm unterhalten?« »Ja.« »Ich wußte gar nicht, daß er Englisch kann.« »Ich auch nicht. Aus den wenigen Worten, die er sprach, hatte ich den Eindruck, als spreche er mit amerikanischem oder kanadischem Akzent. Vielleicht war er deshalb immer so besorgt darum, nicht mit dir zu sprechen. Er hat vielleicht gefürchtet, du würdest es merken.« »Vielleicht. Hast du den Europäer mit ihm reden hören?« »Nein, der hat nichts gesagt.« »Hast du schon einen Blick in den Koffer geworfen?« »Macarthur hat einen Schnitt mit dem Skalpell hinein gemacht.« »Und?« »Es ist das Geld. Auf dem Koffer sind Kratzer und Risse. Der Mörder hat wohl versucht, Nummer zwei den Koffer zu entreißen. Macarthur wird ihn wohl erst im Leichenschauhaus aus seinen Händen lösen können. Bestimmt muß er dafür ein paar Finger brechen.« »Ich habe die beiden anderen Telefonzellen untersucht«, sagte O’Yee, »und in den Telefonbüchern fand ich, daß die Nummern der Yellowthread Street unterstrichen waren. Offenbar hat er immer von hier aus angerufen. Und dann ist er immer von einer Zelle in die andere gegangen und hat jedesmal eine andere Nummer bei uns angerufen.« O’Yee verzog das Gesicht. »Jedenfalls kann man ihm nicht vorwerfen, er sei unvorsichtig gewesen. Bevor er uns angerufen hat, muß er von hier aus auch den Prinzipal angerufen haben. Wie allerdings der Prinzipal wußte, wer er war –« 136
»Der Prinzipal war der Mann mit den Ideen«, sagte Feiffer. »Nummer zwei hat die Telefonate wahrscheinlich alle selbst und ohne Anweisung geführt. Jedenfalls hatte er den Eindruck, daß der Prinzipal ein Mann ist, der Gewalt verabscheut.« »Na, jedenfalls haben wir die hundertfünfzigtausend wieder«, sagte O’Yee. »Ja, jedenfalls haben wir die hundertfünfzigtausend wieder«, wiederholte Feiffer. »Das Ding da im Nacken ist übrigens ein Dolch. Nach Auskunft von Dr. Macarthur wurde er erstochen. Das Messer hat die Halsschlagader getroffen. Es wurde aus kürzester Entfernung zielsicher geworfen. Das Klirren, das ich gehört habe, muß wohl erst entstanden sein, als er mit dem Ding im Nacken durch die Seitenwand gefallen ist. Das erklärt auch das Fehlen von Blut. Wenn der Mörder die Waffe aus der Arterie gezogen hätte, wäre es herausgeschossen wie aus einer Quelle.« Feiffer verzog das Gesicht. »Er war unsere einzige Verbindung zu der Bedrohung, was auch immer das sein mag. Der Prinzipal war nur der Mann, der die Ideen beigesteuert hat. Nummer zwei wird uns jedenfalls nichts mehr erzählen.« »Irgendeine Identifikation?« »Nein.« »Aber er ist der Mann, den du in der Bank gesehen hast?« »Ja«, sagte Feiffer. »Diese Bedrohung oder was sonst immer wird nun aktiviert, und es gibt nichts –« Er blickte über die Menge hinweg, in die Bewegung kam. »Ich habe jedenfalls im Moment genug.« Er blickte auf seine Uhr, während über ihnen ein Flugzeug aufstieg, und schüttelte den Kopf. Er sah auf, als Auden über die Köpfe der Schaulustigen rief: »Harry –« Und dann sah er ihn zusammen mit Spencer durch die Menge eilen. »Hallo, Christopher«, begrüßte Spencer O’Yee. Dann blickte er zu der Telefonzelle hinüber, wo Macarthur noch immer den Toten untersuchte. »Wir hätten daran denken sollen, daß er der nächste sein würde«, sagte er zu Auden. »Nummer zwei?« Feiffer nickte. »Ich dachte, ihr seid unterwegs, um den Leuten Löcher in den Bauch zu fragen«, sagte O’Yee. »Habt ihr denn wenigstens ein paar Antworten bekommen?« 137
»Woher wußtet ihr denn, daß das Nummer zwei ist?« fragte Feiffer. »Wer sonst rennt schon in der Gegend rum und bringt Leute um?« fragte Auden zurück. »Er ist offenbar dabei, reinen Tisch in der ganzen Agentur zu machen.« Er fing einen Seitenblick Macarthurs auf und nickte ihm zu. »Nicht, daß sich irgend jemand dafür interessieren würde, aber wir haben den fünften identifiziert.« »Was meinst du denn damit, daß er herumgeht und Leute umbringt?« fragte Feiffer. »Wer rennt herum und bringt Leute um?« »Nummer zwei.« Auden blickte O’Yee an. »Nummer zwei rennt in der Gegend rum und bringt Leute um. Du siehst ein bißchen übernächtig aus, Harry. Dafür sind Spencer und ich die vergessenen Männer. Ich will ja nicht behaupten, daß ich viel von ihm gehalten hätte. Aber das ist eine üble Art, von der Bühne abzutreten. Erstochen, was?« Er deutete zu dem Toten. »Wie meinst du das, daß du nicht viel von ihm gehalten hast?« »Wie ich es sagte. P. K. Wu gehörte nicht gerade zu der Sorte Menschen, die ich –« »Wer ist P. K. Wu?« fiel ihm Feiffer ins Wort. »Meinst du den Chef der Agentur, die Reinigungskräfte und Boten vermittelt?« »Natürlich«, erwiderte Auden. »Das ist er doch. P. K. Wu.« Auden deutete wieder zu der Telefonzelle. »Sie wissen doch, diese Leiche da drüben bei der Telefonzelle, die Nummer zwei auch noch auf dem Gewissen haben dürfte.« »Aber das ist Nummer zwei!« erwiderte Feiffer. »Was meinst du denn mit reinem Tisch in der Agentur machen?« »Ich meine –« Auden warf einen schnellen Blick auf die Leiche. »Ich dachte –« Er war sichtlich außer Fassung. »Die fünfte Leiche war ein Reinigungsspezialist. Und der war bei ihm angestellt.« Er deutete wieder auf die Leiche. »Wir haben auf dem Flughafen jemand gefunden, der das Foto identifiziert hat.« Auden schüttelte den Kopf. »Behauptest du allen Ernstes, dieser kleine miese Lump da sei Nummer zwei?« »Wo auf dem Flugplatz?« »In einem der Hangars, wo die Maschinen gewartet werden«, sagte Auden. »Willst du vielleicht sagen, er hätte von seinem Büro aus so ein bißchen Do-it-yourself-Sabotage betrieben?« Auden 138
machte große Augen und beeilte sich hinzuzusetzen: »Er war im Hangar drei beschäftigt. Dieser Hangar war an eine Chartergesellschaft verpachtet. Er arbeitete gerade an einem der Flugzeuge, als er eines Tages nicht mehr zur Arbeit erschien, und –« »Bevor oder nachdem ein Flugzeug aus diesem Hangar in die Luft ging?« »Danach«, sagte Auden. »Mein Gott, du glaubst doch nicht –« »Welches Flugzeug?« »Hm –« »Flug 721 nach Sydney, Australien«, sagte Spencer an Audens Stelle. »Er muß irgendwann heute starten.« »Welche Fluggesellschaft?« »Pan Oceania Charters«, sagte Auden. »Mein Gott, nun sag uns nur nicht, irgendwer würde sich doch noch für das interessieren, was wir herausgefunden haben.« »Hast du mit Kai Tak gesprochen?« »Nein, wir haben nicht mit Kai Tak gesprochen. Kai Tak wollte von uns nichts erzählt bekommen. Wir konnten ja noch nicht einmal die Yellowthread Street erreichen wegen ... Sag mal, was war das da eigentlich für ein Banküberfall?« Er winkte ab, als er Feiffers Gesicht sah, und stürzte ans Funkgerät im Wagen. Sieben Flugminuten außerhalb von Hongkong, direkt über dem Südchinesischen Meer, empfing der Pilot von Flug Nr. 721 den Ruf des Tower in Hongkong. Er stabilisierte die Maschine in zehntausend Fuß Höhe und brachte sie dann wieder auf Richtung Landeanflug Hongkong, bis er schließlich über der Stadt kreiste. Er blickte auf seinen Chronometer. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß Charterflüge grundsätzlich nicht pünktlich abhoben. Es war eines der ungeschriebenen Gesetze der Luftfahrt, daß Charterflüge grundsätzlich zehn Minuten bis eine Viertelstunde nach der festgesetzten Zeit starteten. Es gab keine Abweichungen von diesem Gesetz. Der Pilot sah wieder auf die Borduhr. Nur diesmal war der Start absolut pünktlich erfolgt. Ausgerechnet!
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Auf ihrem Weg zurück zu ihrem Auto am Ende des Parkplatzes deutete Spencer hinauf zum Himmel und sagte: »Das ist es.« Die Nacht war klar und kohlrabenschwarz. Es war nicht mehr als ein gleichmäßig blinkendes Lichtpünktchen am Horizont, das sich immer wieder im Kreis drehte.
11 Das Innere des Flugzeugs mit der Nummer 721 sah aus wie ein hoffnungslos überfüllter Kramladen. Hundertundneun Passagiere hatten für diesen Flug gebucht: Sie alle waren im vorderen Teil zusammengepfercht und drohten fast die Tür zum Cockpit einzudrücken. Sie drängten sich im Mittelgang und bis hinein ins WC. Die kleinen Fenster waren beschlagen – draußen herrschte finstere Nacht bei einigen Graden unter Null. Drinnen schwitzten die Passagiere in ihrer leichten Kleidung. Im Mittelgang der Passagierkabine unterbrach sich der Erste Steward und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Nacken war feucht von Schweiß, und auf seinem Kragen lagen Schmutz und Staub. Er kniete sich wieder auf den Boden, um die Klammern zu lösen, mit denen der Teppich auf dem Boden befestigt war. Schließlich faßte er das schon freie Ende des Teppichs der Einfachheit halber mit den Händen und zog daran. Sofort lösten sich etliche der Klammern. Dann machte er dasselbe mit dem Teppich zwischen zwei Sitzreihen. Er rollte den Teppich zusammen und untersuchte ihn eingehend. Auch den Boden zwischen und unter den Sitzen untersuchte er sorgfältig. Unter dem Teppich kam der AluminiumFußboden zum Vorschein, übersät mit dreckverklebten Rinnen und Vertiefungen. Der Chef-Steward setzte seine Suche unter den anderen Sitzen fort. Hinter ihm war eine Stewardess dabei, die Sitze systematisch aufzuschneiden, um die Polsterung zu durchsuchen. Sie fand nichts und wandte sich der nächsten Sitzreihe zu. Zwei Reihen weiter zurück waren der Zweite Steward und der Bordingenieur dabei, mit allerlei Werkzeug die Sitze ganz auseinanderzunehmen, wobei sie auch die Lehnen nicht vergaßen. Und so140
bald sie einen Sitz in seine Einzelteile zerlegt hatten, machten sie sich über den nächsten her. Die Zweite Stewardess hatte das Handgepäck im hinteren Teil des Flugzeugs zu einem Berg aufgetürmt. Zeitungen und Bücher, ganze Stangen zollfreier Zigaretten und haufenweise Flaschen lagen bunt durcheinander. Sie öffnete eine Tragetasche aus Papier und schüttete ihren Inhalt der Einfachheit halber auf den Boden zu den übrigen Dingen dort. Noch mehr Zigaretten und Schnapsflaschen kamen zum Vorschein, dazu ein paar Taschenbücher (sie blätterte sie kurz durch und warf sie dann zum großen Haufen), eine Polaroid-Kamera (sie öffnete die Rückseite, nahm den Film heraus und untersuchte den Innenraum der Kamera), ein paar Magazine und eine Thermosflasche. Sie schraubte den Verschluß der Thermosflasche auf und goß den Inhalt aus. Anschließend hielt sie die Flasche verkehrt rum, um sicher zu sein, daß sie leer war. Dann warf sie auch die Thermosflasche auf den Haufen. Es gab ein klirrendes Geräusch, als das Glas zerbrach. Sie griff nach dem letzten Gepäckstück, das sie noch nicht durchsucht hatte, und entdeckte, daß auch dieses nichts enthielt außer Zigaretten. Nun führte sie die Hand über den Boden der Gepäckablage über den Sitzen, um sich zu vergewissern, daß sie nichts übersehen hatte. Sie fand ein Kinderspielzeug aus Gummi – seltsam genug, wo doch keine Kinder gebucht waren –, untersuchte es eingehend, kam zu dem Schluß, daß es anläßlich eines früheren Fluges vergessen worden sein mußte, und – warf es auf den Haufen. Es landete genau auf einem Berg aus Jacken, deren Taschen allesamt nach außen gekehrt waren. Die Zweite Stewardess wischte sich über das Gesicht, verlor das Interesse an der Tatsache, daß sie womöglich zuviel Bein zeigte, wenn sie sich – auf den Sitzen stehend – allzusehr in die Höhe reckte, und schob die Hand in das benachbarte Gepäckabteil. Es war leer. Sie ging auf die andere Seite des Mittelganges und versuchte ihr Glück dort. Der Bordingenieur nickte dem Zweiten Steward zu und bedeutete ihm, daß es an der Zeit sei, mit der Untersuchung der Sitze aufzuhören. Sie hatten die halbe Länge des Flugzeugrumpfes hinter sich gebracht. Der Flugingenieur holte aus seiner Hüfttasche einen Schraubenzieher hervor und ging nach hinten hinter die ausgebauten Sitze, 141
um die Innenverkleidung des Flugzeuges loszuschrauben. Das Flugzeug sah langsam aus wie seine eigene Konstruktionszeichnung. Der Flugingenieur schraubte gerade ein Stück Plastik der Innenverkleidung los, auf dem ein Bild von Bleriots Monoplan zu sehen war, und blickte in die dahinterliegenden Hohlräume. Ein Gewirr von Drähten und Verbindungsstellen starrte ihm entgegen. Er begann, Draht für Draht abzusuchen. Die Zweite Stewardess verschloß gerade wieder ein Gepäckabteil und ging in den rückwärtigen Teil des Flugzeuges ans Bordtelefon. Gerade wollte sie die Verbindung zum Cockpit herstellen, als sich die Anlage einschaltete. Sie wartete. »Kai Tak gibt Anweisung, jetzt die Sitze und das Gepäck im Mittelteil unseres Flugzeuges zu untersuchen«, sagte die Stimme von Captain Ford. »Wir sollen die Rettungseinrichtungen untersuchen. Die Rettungsringe müssen zwecks Nachschau ausgebaut und aufgeschnitten werden.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann mit ruhiger Stimme fort: »Es besteht keine Gefahr, meine Damen und Herren. Wir befinden uns nicht mehr über dem offenen Meer und werden sie also nicht mehr benötigen.« Der Flugkapitän fragte sich, ob er nicht so etwas wie erleichtertes Lachen gehört haben könnte. »Sobald der hintere Teil klar ist, können wir die Passagiere nach dort bringen«, sagte er zu seinem Copiloten. »Dann können wir in aller Ruhe den vorderen Teil durchsuchen. Wir überlassen es ihnen, das Durcheinander dort aufzuräumen. Dann haben sie was zu tun und kommen nicht so schnell auf dumme Gedanken.« Er zog eine weitere Schleife, um die Maschine im vorgeschriebenen Luftraum zu halten, und sah auf die Treibstoffanzeige. Der Copilot hatte im Moment nichts zu tun. Er sah auf seine Hände hinunter. »Du bleibst hier, Nick«, sagte Captain Ford. »Für alle Fälle. Okay?« Der Copilot nickte und beobachtete auf dem künstlichen Horizont den Aufstieg eines kleineren Flugzeuges. »Genau wie Errol Flynn –« sagte Captain Ford. Das Flugzeug entfernte sich aus seinem Ortungsbereich, und Captain Ford justierte die Maschine noch einmal.
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Der Erste Steward riß an einem Teilstück der Verkleidung. Es gab ein Geräusch wie bei einem Reißverschluß, als sich die Befestigungen lösten. Hinter der Verkleidung kam wieder nichts weiter als ein Gewirr von Kabeln und Drähten zum Vorschein. »Wenn die Cops in Hongkong wissen wollen, daß etwas an Bord ist, das den Flug gefährdet«, flüsterte er dabei, »warum haben sie sich den Kerl nicht geschnappt und ihn gefragt, was es ist?« Der Bordingenieur, ein großer Amerikaner mit braungebranntem Gesicht und einer schweißnassen Stirn, blickte in das Gewirr hinter der Verkleidung. Gleich links neben einem Relais entdeckte er eine Abzweigdose, die nicht richtig verschlossen schien. Der Chefingenieur schraubte den Deckel ab und blickte hinein. Aber er fand nichts. Irgend jemand hatte nur den Deckel bei der Fertigmontage des Flugzeugs nicht richtig zugeschraubt. Er schraubte den Deckel wieder auf und sah sich nach den Passagieren um. Sie waren ruhig. Der Flugingenieur wandte sich einer anderen Verteilerdose zu. Sie schien unberührt. Trotzdem schraubte er den Deckel ab, um einen Blick hineinzuwerfen, um ganz sicher zu sein. »Nun?« sagte der Erste Steward. »Ist doch logisch, oder?« Der Flugingenieur seufzte und öffnete eine weitere Dose. Wieder sah er sich nach den Passagieren um. »Das war ein anderes Land«, sagte der Flugingenieur. »Und im übrigen ist der Hund tot.« Er löste die vier Schrauben des Deckels und öffnete die Dose. »Henry, nun sag mir doch um alles in der Welt, was das schon wieder zu bedeuten hat«, sagte der Chefsteward. Er sah sich um, als die Stewardess gerade damit anfing, die Lebensrettungsringe aufzuschlitzen und das Kapok auf dem einst so schönen Boden zu verstreuen. »Wir haben jetzt den hinteren Teil des Flugzeuges abgesucht«, sagte Flugkapitän Ford vorn im Cockpit in sein Funkgerät. »Das Handgepäck ist durchsucht und die Wandvertäfelung entfernt. Sitze und Rettungsringe sind untersucht. Wir haben eine Menge Spirituosen gefunden. Die Passagiere sind noch erfreulich ruhig. Im Augenblick sind wir dabei, sie in den rückwärtigen Teil des Flugzeuges zu bringen, damit sie dort die Unordnung ein bißchen beseitigen, während 143
die Besatzung den vorderen Teil durchsucht. Ich nehme an, im vorderen Teil ist genauso zu verfahren wie im rückwärtigen.« Er blickte kurz zur Decke des Cockpits und sagte: »Over.« Es entstand eine kurze Pause, während das Funkgerät umschaltete. »Flug Nr. 721, hier spricht Kai Tak Tower. Auf Empfang bleiben. Over.« »Flug 721.« »Flug Nr. 721, der Ingenieur der Boeing hier auf dem Airport fragt, ob Sie alle Steckverbindungen und Abzweigdosen hinter den Wandvertäfelungen untersucht haben. Over.« »Flugingenieur bestätigt über Bordtelefon, daß er die elektrischen Leitungen auf beiden Seiten des Rumpfes untersucht hat. Erwarten weitere Instruktionen. Over.« »Verstanden, 721, wir haben hier Konstruktionspläne auf dem Tisch liegen.« Es gab eine kurze Pause. »Der Boeing-Ingenieur hat einen kompletten Satz Zeichnungen von der Elektrik, den Sitzen, allen leicht zu lösenden Verkleidungen und den kleineren motorischen und hydraulischen Systemen.« Wieder gab es eine kleine Pause. »Der Boeing-Ingenieur sagt mir gerade, daß die hintere Kombüse und das WC noch durchsucht werden müssen einschließlich aller Verkleidungen, bevor Sie den vorderen Teil des Flugzeuges in Angriff nehmen können. Over.« »Ist die Polizei da? Over.« »Verstanden, 721, ja. Over.« »Hat sie eine Vorstellung, wonach wir überhaupt suchen sollen? Weiß sie, welcher Art die Bombe ist? Over.« »Negativ, 721 –« wieder eine Pause, als offenbar jemand etwas zu dem Mann am Funkgerät sagte. »Die Polizei hält es für möglich, daß es sich gar nicht um eine Bombe handelt. Ihre Information geht nur dahin, daß es sich um irgendeine nicht näher bekannte Bedrohung handelt. Over.« »Entsetzlich! Over.« »John, hier spricht George Yi«, sagte die Stimme vom Tower her. »Vor ein paar Nächten haben wir uns anläßlich einer Flughafenparty kennengelernt. Du erinnerst dich doch noch an den großen, breitschultrigen Chinesen, den du da eingeladen hast. Weißt du nicht 144
mehr? Du wolltest mich mitnehmen zu einem Weekend voll Sex und Spaß in Darwin. Over.« »Darwin ist immer voller Sex und Spaß. Over.« »Ich habe mir’s überlegt«, sagte die Stimme von George Yi über Funk. »Ich nehme die Einladung an, sobald diese Sache hier vorbei ist. Over.« »Hast du denn ein paar schöne Schwestern? Over.« »Negativ, 721, die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe, ist –« er unterbrach sich. »Hallo, 721, der Boeing-Mensch sagt mir gerade, daß die Deckenverkleidungen ebenfalls von einem Laien gelöst werden können und daß es darunter etliche Ausbuchtungen gibt, die sich zur Aufnahme eines Objektes eignen könnten. Er läßt Ihrem Chef-Ingenieur ausrichten, die Verkleidungen seien mit Kreuzschrauben gesichert. Over.« »Verstanden, Tower. Ich geb’s weiter.« Er wandte sich an den Copiloten. »Haben wir Schraubenzieher für Kreuzschrauben an Bord?« Der Copilot, selbst früher Bordingenieur, nickte. »Wir haben das erforderliche Werkzeug an Bord, Tower. Over.« »Der Boeing-Mann teilt gerade mit, es gebe an Bord ein komplettes zweites Werkzeug-Set im vorderen Stauraum der Maschine. Over.« »Roger, Tower.« »– teilt gerade mit, daß der Verschlußmechanismus –« »Verstanden, Tower, wir sind eine fliegende Bombe. Ich werde dafür sorgen, daß der Bordingenieur den Verschluß vorsichtig öffnet. Over.« »– Roger, Flug 721.« »Flug 721 im Luftraum über Kai Tak. Flug 721.« Er wandte sich seinem Copiloten zu. Die Augen des Copiloten flackerten. Der Copilot blickte ihn an. »Hast du je ein Wochenende voller Spaß in Darwin erlebt?« fragte Captain Ford. Der Copilot schüttelte den Kopf. »Aha. Sobald ich dem Flugingenieur erklärt habe, wie man die Deckenverkleidung einer Boeing löst, wird es mir ein besonderes Vergnügen sein, deine Bildungslücke zu schließen und dir ein wenig 145
von der ausgeprägten Erotik der Frauen in heißen Klimazonen zu berichten. Gedulde dich nur noch ein Augenblickchen und bezähme deine natürliche Neugier, bis ich –« Er drückte den Knopf der Bordsprechanlage, um seine Anweisungen in den vorderen Teil der Maschine zu geben. Die Stimme von Inspector Ming klang gepreßt am Telefon. »Wir können es von hier aus über der Stadt kreisen sehen«, sagte Feiffer. Er blickte auf die Uhr. Es war fast neun Uhr abends. »Ist bis jetzt irgend etwas gefunden worden?« »Nein, Sir«, kam Inspector Mings Stimme. »Alle Mann einschließlich der unteren Dienstgrade sind im Tower bei den Vertretern der Fluggesellschaft. Soweit ich weiß, hat es der Captain in großer Ruhe aufgenommen. Sie nehmen im Moment während des Fluges die gesamte Innenverkleidung ab, um nach der Gefahr zu suchen, die diesen Flug bedroht. Bisher sind sie mit dem rückwärtigen Teil fertig und fangen jetzt im Vorderteil an. Das Flugzeug ist inzwischen drei Stunden in der Luft. Ein Flug nach Sydney dauert in der Regel zwölf Stunden. Deswegen geht man jetzt davon aus, daß innerhalb der nächsten drei oder vier Stunden etwas geschehen wird, dann nämlich, wenn sich die Maschine über Australien befinden müßte. Falls bis dahin nichts gefunden wird, soll die Maschine auf die offene See umdirigiert werden für den Fall, daß es doch noch zu einer Explosion kommt.« »Verstehe.« »Die Wasserschutzpolizei und die Seenotrettung sind schon verständigt«, fuhr Inspector Ming fort. »Hier treffen jetzt immer mehr Freunde und Verwandte der Fluggäste ein.« »Benötigen Sie Hilfe?« »Wir haben zwei Hilfstrupps aus Yaumati hier und etliche Angehörige des weiblichen Polizeicorps. Das müßte reichen. Haben Sie neue Informationen?« »Nur, was Sie schon wissen.« »Ich weiß überhaupt nichts. Superintendent Dobbs und Mr. Munday sind im Tower. Wie haben Sie Ihre Informationen erhalten? Von diesem Mann, der sich selbst Nummer zwei nannte?« »Indirekt.« 146
Inspector Ming schwieg. Feiffer beobachtete die Lichter am Himmel, die sich in seinen Fenstern spiegelten. Endlich meldete sich wieder die Stimme von Inspector Ming. »Meiner Meinung nach haben Sie sehr weise gehandelt, als Sie ihm das Geld gaben«, sagte er. »Daran ist er wahrscheinlich gescheitert.« »Er ist gescheitert, aber nicht an dem Geld«, erwiderte Feiffer. »Er wurde von dem Mann umgebracht, den er den Prinzipal nannte. Das Geld haben wir zurück.« Am anderen Ende war es auf einmal sehr still. »Hallo, sind Sie noch da? Ist irgendwas passiert?« »Falscher Alarm. Dann hat also der Prinzipal jetzt das Geld?« »Nein, wir haben es. Nummer zwei hat es noch im Tod so festgehalten, daß der Prinzipal ihm die Tasche nicht entreißen konnte.« »Wie wurde er denn umgebracht?« fragte Ming. »Er wurde erstochen.« »Und Sie haben dann nichts mehr unternommen? Haben die Laborberichte irgend etwas ergeben? Im gegenwärtigen Stand der Ermittlungen sind auch Kleinigkeiten vielleicht von entscheidender Bedeutung.« Seine Stimme klang besorgt. Feiffer hörte im Hintergrund das Geräusch eines startenden Flugzeugs. »Wir wissen nur, daß der Prinzipal ein Europäer ist.« Er legte eine kleine Pause ein und dachte daran, Ming vielleicht zu fragen, wo sich denn Dobbs zur Mordzeit aufgehalten hatte. »Die Laborberichte sagen, daß der Tod praktisch auf der Stelle eingetreten ist und daß der Dolch in irgendwelche Chemikalien getaucht gewesen sein muß, die alle zusammen den Eindruck von Leim und Spuren von Teer ergaben.« »Ein Fabrikarbeiter vielleicht?« fragte Inspector Ming. »Teer? Straßenarbeiter? Arbeiter auf einer Bootswerft? Irgendeine Idee?« »Nummer zwei hat eine Reinigungsagentur betrieben. Es ist möglich, daß das Messer einem seiner Leute gehörte. Einer meiner uniformierten Constables überwacht das Haus, in dem die Agentur liegt, um herauszufinden, ob sie vielleicht irgendwelche europäischen Hintermänner hatte. Aber bisher noch kein Erfolg. Sobald wir etwas Brauchbares in Erfahrung gebracht haben, lassen wir es Sie sofort wissen.« »Vielen Dank, Sir.« Inspector Ming machte eine kurze Pause, be147
vor er fortfuhr: »Hier tauchen immer mehr Leute auf. Ich muß jetzt Schluß machen.« »Okay«, sagte Feiffer, »und viel Glück.« »Danke gleichfalls«, erwiderte Ming. »Leim? Teer? Vielleicht eine Leimfabrik, in deren Nähe gerade die Straße ausgebessert wird? Aber das haben Sie doch sicher schon nachgeprüft, oder?« »Richtig. Leim bezieht Hongkong aus Taiwan. Hier wird keiner hergestellt. Und nirgends werden im Moment Straßenarbeiten durchgeführt.« »Hm«, sagte Inspector Ming. »Auf Wiedersehen, Sir.« Er legte den Hörer auf die Gabel. Feiffer blickte aus dem Fenster. Die Lichter am Himmel beschrieben weiter ihren scheinbar nie endenden Kreis. Der Copilot blickte auf. »Warum setzen wir das Flugzeug nicht einfach auf den Boden«, sagte er. »Wir lassen die Passagiere über die Notrutschen ins Freie, und dann soll sich das verdammte Ding meinetwegen in seine Bestandteile auflösen! Wer hatte eigentlich die fabelhafte Idee, uns hier oben zu lassen? Warum bringen wir das Scheißding nicht einfach runter?« »Wie das letzte auch? Ohne Räder beispielsweise?« fragte der Flugkapitän ruhig. »Mit Tanks, deren Inhalt für einen ganzen Pazifik-Flug reichen würde? Die andere Maschine hatte leere Tanks, und trotzdem ging sie hoch wie ein Molotow-Cocktail.« »Unsere Fahrgestelle sind in Ordnung! Wir haben sie überprüft! Vom Boden aus hat man die Räder sehen können.« »Und die Systeme zum Blockieren in der richtigen Stellung? Hat man vom Boden aus etwa sehen können, ob sie weit genug ausgefahren und ob sie richtig arretiert waren?« fragte der Flugkapitän. »Ich will dir mal was sagen, mein Sohn. In sechs Stunden müssen wir hinaus aufs offene Meer. Und falls dann immer noch nichts passiert, haben wir so gut wie nichts mehr in den Tanks. Erst dann kehren wir zurück und versuchen eine Landung. Der Augenblick, in dem ich hinaus auf die Tragflächen muß, um in die Tanks zu pinkeln, damit die alte Mühle überhaupt weiterfliegt, genau das ist der richtige Augenblick zur Landung. Im Moment liegt der Schaumteppich, den sie 148
da unten aufgesprüht haben, gut vierhundert Fuß dick auf der Rollbahn. Mit leeren Tanks fällt man da so weich hinein wie in Omas gutes altes Federbett.« »Du sagst es.« »Ich sage es, jawohl, alter Freund. Dein guter alter Onkel John ist weit und breit bekannt für seine Abneigung gegen harte Landungen und spindeldürre Ladys. Und – ganz im Vertrauen – ich kann dir versichern, daß ich in meiner langen Luftfahrt-Karriere noch nie irgendwo umgebracht worden bin.« Das Bordtelefon summte, und er nahm den Hörer ab. Er hörte einen Augenblick schweigend zu, bevor er den Hörer wieder auflegte. »Sie sind jetzt mit dem hinteren und dem vorderen Teil der Maschine fertig. Jetzt fangen sie mit der Küche und den Vorratsräumen an. Und auch die Sitzplätze der Stewardessen sollen drankommen. Lange wird es nicht mehr dauern, und hier wimmelt es von mehr ›Flugzeugentblätterern‹, als du dir je hast träumen lassen. Na komm schon, alter Freund, sag mir in dieser Stunde des Abschieds von allem Irdischen die Wahrheit: Hast du dir nicht schon manches Mal gewünscht, ein Flugzeug möge vor deinen eigenen Augen in seine Bestandteile aufgelöst werden?« Er grinste schief. »Na sicher hast du das. Gib’s ruhig zu. Deinem alten Onkel John kannst du’s ja ruhig sagen.« Er zog das Flugzeug ein bißchen herum, um wieder einen neuen Kreis zu vollenden. Der Copilot sagte nichts. Er sah nur aus dem Fenster in die schwarze Nacht hinaus. »Ah«, sagte der Pilot, »um noch mal auf das Weekend in Darwin zurückzukommen –« Er holte noch einmal tief Luft, bevor er seine Erzählung begann. »Der Pilot ist ein Australier namens Ford«, sagte unten auf dem Flugplatz im Tower George Yi. »Er fliegt schon seit Mitte der fünfziger Jahre Jets, und davor war er in der Army und hat im KoreaKrieg Hubschrauber geflogen.« Er blätterte in dem Dossier weiter, das vor ihm lag. »Er hat auch ein paar Auszeichnungen erhalten. Das Phlegma, das er ständig zur Schau trägt, ist wohl nur Routine. Er ist unverheiratet, seine Karriere weist keinen einzigen dunklen Punkt auf. Hat jetzt den Rang eines Senior Captain und lebt in Sydney.« Er nahm eine andere Akte zur Hand. »Der Copilot ist jünger 149
und noch nicht so abgeklärt. Auch ein Australier. War mal Fluglehrer für kleinere Maschinen, begann seine Laufbahn als Flugingenieur, hat dann über Nacht Karriere gemacht. Auch mit ihm scheint alles in Ordnung.« Er wandte sich an den Mann von der Boeing. »Okay?« Der Vertreter der Boeing, ein gedrungener Amerikaner mit einer bemerkenswert dünnen Krawatte um den Hals, nickte. George Yi schien zufrieden. »Wenn mich einer fragt, ob ich den Eindruck habe, daß die beiden irgendwann die Nerven verlieren könnten, würde ich nein sagen. Hinsichtlich der Passagiere bin ich da nicht so sicher, aber der Captain hat sie ja mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt, so daß man hoffen kann, daß alles schon vorüber ist, wenn sie richtig merken, was wirklich los ist.« Er wandte sich an Superintendent Dobbs. »Sind Sie sicher, daß es dieser Flug ist?« Ein Summton erklang, als sich das Flugzeug wieder über Funk meldete. Er legte den Schalter um. »Hallo, John«, sagte er in das Mikrofon, »alles okay? Over.« Im Zuge der Durchsuchungsaktion waren jetzt alle Rettungsringe zerschnitten worden. George Yi blickte auf seine Uhr. Es wurde Zeit, sie von der Stadt wegzudirigieren. Um vier Uhr zehn und eine halbe Minute kehrte die Maschine von der offenen See über die Stadt zurück. Auf den Polizei- und Rettungsbooten sah man, daß sie umkehrte. Der Chefingenieur kam ins Cockpit und blickte auf die Reihe der Instrumente. Ohne gefragt worden zu sein, sagte er: »Die Passagiere sind okay. Sie sind gerade dabei, das Durcheinander wieder ein bißchen aufzuräumen, das die Crew hinterlassen hat, und schimpfen wie die Rohrspatzen, daß man sie hier als Dienstpersonal einsetzt. Da braut sich ein ganz schöner Haß auf die Fluggesellschaft zusammen.« Er sah den Captain an und sagte in seinem breiten australischen Akzent: »Na, wie wär’s denn jetzt mit zwei Wochen Darwin, John, altes Haus?« Der Captain nickte. Er versuchte, einen echten Arizona-Dialekt zu imitieren, als er sagte: »Dazu fehlt aber noch einiges, Partner. – Was ist mit den Kombüsen?« 150
»Durchsucht. Würde sagen, ganz schön dreckig hinter der Fassade. Wie lange sind wir jetzt in der Luft?« »Elf Stunden.« »Hast du mit Nick zusammen noch einmal die Hydraulik überprüft?« »Und die Kontrollsysteme und die Einstellung der Triebwerke.« »Dann ist es also nur ein schlechter Scherz?« Der Captain nickte. »Wie ist die Lage bei den Treibstoffvorräten?« »Wird Zeit, die Zusatztanks einzuschalten. Wir haben gerade noch genug, um auf die Erde zurückzukehren und Nicks Feuerzeug neu zu füllen. Wie haben unsere Zwangsarbeiter da hinten gearbeitet? Sind die Sitze wieder fest genug eingebaut, um sich darin festzuschnallen?« »Notdürftig. Wir werden sie im Mittelgang auf den Boden legen müssen.« »Gut. Das Kabinenpersonal ist vorbereitet?« Der Chefingenieur nickte. Er blickte am Captain vorbei aus dem Fenster des Cockpits. Im Osten zeigte sich die Dämmerung, und lange Schatten wechselten sich überall mit ersten bleistiftdünnen Lichtfingern ab und ließen die Neuen Territorien und das Gebiet an der chinesischen Grenze in bizarren Formen erscheinen. Er sah zum Höhenmesser. Zwölftausend Fuß. Er schaute nach rechts hinunter zum Flugplatz Kai Tak. »Für heute morgen hatte ich in Sydney eine Verabredung mit einem australischen Mädchen«, sagte der Chefingenieur. Der Captain ließ ein leises Knurren hören. »Sie stammt übrigens aus Darwin.« »Zeit für alle, an ihre Plätze zu gehen«, sagte der Captain. »Ich rufe jetzt George auf dem Tower und sage ihm, daß wir kommen.« Er blickte noch einmal auf die Anzeige für die Tankfüllung und wandte sich dann an den Copiloten. »Gehst du hinaus, um in den Tank zu pinkeln, oder muß ich es selbst tun?« fragte er. Der Copilot antwortete nicht. Er konnte auf einer der äußeren Landebahnen einen dicken weißen Schaumteppich erkennen. Der Teppich schien sich vom Hafen bis direkt hinaus in die schwarze Unendlichkeit zu erstrecken. Er schüttelte den Kopf, um die Bilder 151
wieder loszuwerden, die sich in seine Phantasie einzunisten begannen. »Ich gehe nach hinten, um alles vorzubereiten«, sagte der Chefingenieur. Der Captain nickte. Er legte den Schalter für den Ersatztank auf seiner Schalterkonsole um. Dann blickte er den Copiloten an und lehnte sich seufzend zu ihm hinüber, um auch den Schalter auf der anderen Konsole umzulegen. Die Dämmerung zog langsam auf: Er erkannte die Berge und Kowloon, das sich zwischen sie zu schmiegen schien. Die ersten Vorboten des Tageslichtes ergossen sich über Lo Wu und Fan Ling bis zu den hoch aufragenden Häusern von Yaumati. Seine Blicke gingen hinüber zur Insel Hongkong. Irgend etwas an diesem Bild erinnerte ihn plötzlich an Korea. Er dachte sich, dies müsse wohl nur eine ungewollte Assoziation von Gedanken an den Tod sein. Wieder blickte er geradeaus zu den landwirtschaftlich genutzten Flächen in den Neuen Territorien. Das Land war grün und seit langem unter dem Pflug. Hier und da konnte man zwischen den Hügeln schon Häuser, Straßen und Flüsse erkennen. In den Reisfeldern nahe Tai Po waren schon die ersten Wasserbüffel bei der Arbeit, und es starteten schon die ersten Traktoren mit ihren Wagenladungen Früchte für die Märkte. Seltsam, wie ähnlich das Land in Asien doch in allen Gegenden wirkt. Genauso hatte es damals in Korea ausgesehen, als er zum erstenmal mit dem Hubschrauber abgeschossen worden war, und auch beim zweiten Mal, als ein MG ihn unter Feuer nahm, ganz in der Nähe jener Hügelkette, wo doch –. Sonderbar, wie die Erinnerung an all das in Gerüchen und Bildern zurückkehrte. Captain Ford blickte auf seine Hand hinunter. Er schien wegen irgendwas besorgt. Es gab ein kaum wahrnehmbares Geräusch, als der letzte Tropfen Treibstoff aus dem Haupttank auslief und gleich darauf von dem Kerosin aus dem Ersatztank ersetzt wurde. »Ich glaube fast, ich habe mir den Finger verletzt«, sagte Captain Ford. Er blickte seinen Copiloten ganz sonderbar an und – starb im selben Augenblick in seinem Sessel. 152
12 Feiffer hielt den Hörer ans Ohr und wartete. Er blickte auf die Wanduhr. Es war neun Uhr morgens. Er blickte hinüber zu O’Yee, Auden und Spencer. Auden blickte auf seine Uhr. Feiffer sagte ins Telefon: »... ja ...« Es gab wieder eine Pause. O’Yee, der nahe am Fenster stand, blickte hinaus. Er machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. Dann blickte er auf Feiffer an dessen Tisch. Sein Blick ging wieder zu der Wanduhr. Draußen schien sogar der Verkehr den Atem anzuhalten. Das Schweigen dauerte lange. Feiffer schluckte. Wieder sagte er ins Telefon: »... ja ...« Es gab eine neuerliche Pause. Dann sagte Feiffer: »Wirklich? Sie sind ... Vielen Dank ... ja. Danke schön.« Er legte den Hörer fast liebevoll auf die Gabel. »Nun ...?« »Es ist da«, sagte Feiffer und blickte hinüber zu Auden. »Es ist da.« Feiffer zwinkerte mit den Augen, als müsse er ein Trugbild verscheuchen. »Der Copilot hat es runtergebracht, und es hat keine weiteren Opfer gegeben. Kai Tak sagt, die Landung sei sogar recht gut gewesen.« Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Die haben Löschschaum auf die Landebahn bis bald nach Singapur gespritzt, aber der Tower sagt, die Landung sei sogar recht gut gewesen.« Und noch einmal wiederholte er es. »Der Tower sagt, die Landung sei –« Seine Hände zitterten. Aber er zwang sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Was? Das ist vielleicht mal ’ne Erleichterung, oder?« Ringsum herrschte Schweigen. Auden atmete hörbar aus. Er blickte Spencer an. Spencer lächelte gequält. Er schüttelte den Kopf und sagte nur: »Puh!« Er schüttelte den Kopf noch einmal und setzte hinzu: »Guter alter Copilot.« Er sah beifallheischend zu Auden hinüber. »Yeah«, sagte Auden. »Guter alter Copilot«, sagte Spencer. In seinen Augen schienen Freudentränen zu schimmern. »Guter alter verdammter Copilot, guter alter verdammter, guter alter verdammter, guter alter Copilot!« Er sah sich im Kreis um und rief: »Yippee!« 153
»Göttlicher Copilot!« rief Auden. »Guter alter Charlton Heston von Kai Tak«, fiel jetzt auch O’Yee ein. »Guter alter Humphrey Bogart, original amerikanischer Schauspieler und Inbild aller braven fliegenden Jungs!« Feiffer atmete hörbar aus. »Guter alter Auden und guter alter Spencer«, sagte er mit Wärme in der Stimme, »ihr habt euren unfähigen Chief Inspector tief beschämt, als ihr den fünften Toten identifiziert habt.« Er sah Spencer an. »Vielen Dank.« »Denk dir nichts dabei.« »Das war die längste Nacht, die ich je hinter mich gebracht habe«, sagte O’Yee. »Wie viele Menschen waren denn überhaupt an Bord gewesen?« wollte er von Feiffer wissen. »Hundertsiebenundsechzig«, erwiderte Feiffer. »Jesus!« »Guter alter Copilot«, sagte Feiffer wieder. O’Yee nickte. Auden blickte Spencer an. »Und wir selbst auch.« Spencer nickte. »Als Originalmitglied und autorisierter Sprecher der Supereinheit der Hong Bay Polizei gedenke ich, mich demnächst dem FBI oder Interpol anzubieten«, sagte Auden mit einer großartigen Gebärde. »Ich werde mich samt meiner mit Orden überhäuften Brust dort vorstellen und ihnen sagen, daß ich als Retter eines Flugzeuges voll mit unschuldigen Leuten –« »Mir tut nur der Flugkapitän leid«, sagte O’Yee zu Feiffer. Sofort trat allgemeines Schweigen ein. »Yeah«, sagte Auden schließlich. »Den hatte ich beinahe ganz vergessen.« Er blickte sich um. »Tut mir leid.« Dann wandte er sich an O’Yee. »Nun, was jetzt? Keine weiteren Informationen unserer Beobachtungsposten über Nummer zwei?« »Nichts. Die Agentur von Nummer zwei war ganz klar ein EinMann-Betrieb.« »Das da eben am Telefon war George Yi vom Tower«, sagte Feiffer. »Wir bekommen das Ergebnis der Leichenschau vom Piloten so bald wie irgend möglich.« Er blickte Spencer an. »Erinnert dich die Kombination von Leim und Teer an irgend etwas im Zusammenhang mit dem Flugplatz?« 154
»Teer und Leim?« fragte Spencer. »An das Messer, mit dem Nummer zwei umgebracht wurde?« »Ja.« »Glaubst du, es handelt sich um jemand, der auf dem Airport arbeitet?« Er blickte zu O’Yee hinüber. »Du denkst an Dobbs?« »Fällt dir in diesem Zusammenhang irgend etwas ein?« »Im Zusammenhang mit dem Airport – nein«, erwiderte Spencer. »Fangen wir wieder mit dem Prinzipal an? Haben denn die Fingerabdrücke keine neuen Erkenntnisse gebracht?« »Nein«, sagte Feiffer. »Wir fangen wirklich wieder mit dem Prinzipal an. Es gibt da nämlich immer noch ein Opfer aus dem Kanal, das ihr beide bisher nicht identifizieren konntet, und das bedeutet, daß es noch immer eine weitere Bedrohung geben könnte. Im übrigen hat der Prinzipal – wer es auch immer sein mag – sein Geld nicht bekommen, und deshalb werden wir vielleicht in gar nicht allzulanger Zeit wieder von ihm hören.« »Er ist ein Europäer, nicht wahr?« fragte O’Yee. »Nummer zwei sprach englisch mit ihm.« »Und du meinst, da schlummert noch irgendwo im Hintergrund eine weitere Bedrohung?« sagte O’Yee. »Genau das meine ich, ja.« O’Yee atmete tief durch. Dann stieß er eine dichte Rauchwolke aus seiner Zigarette durch das geöffnete Fenster. »Wo fangen wir an?« wollte Auden wissen. Er blickte O’Yee an. O’Yee wandte sich um und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Im schalldichten Vernehmungsraum von Kai Tak saß Chief Inspector Munday und blätterte eine neue Seite von Feiffers Bericht auf. Irgend etwas schien ihn besonders zu interessieren, und er las es zweimal, dachte einen Moment nach und schlug die nächste Seite auf. Gleich neben ihm lagen die Aufzeichnungen aller Telefongespräche bis auf die letzte. Er machte sich eine Notiz, bei nächster Gelegenheit auch davon eine Kopie von der Yellowthread Street anzufordern. Schießlich schloß er die Mappe mit dem Bericht Feiffers und studierte sorgfältig die Passagierliste von Flug 721 und dann die Namen der Besatzungsmitglieder. An der Personalakte des Flug155
kapitäns hing ein Zettel mit dem Hinweis, das Leichenschauhaus wegen der Todesursache anzurufen, sobald man das Ergebnis erwarten konnte. Er blickte auf die Uhr und fragte sich, ob er die Constables und die weiblichen Polizisten auch noch überprüfen sollte, die sich im Moment um die Passagiere kümmerten. Er dachte, daß sie jetzt alle eigentlich in der Lage sein mußten, ein paar Fragen zu beantworten. Einen Augenblick lang dachte er daran, Dobbs wegen dieser Angelegenheit zu befragen. Doch dann fiel ihm ein, daß Superintendent Dobbs bei der Rettungsmannschaft auf dem Flughafen war und es sicher einer Funkverbindung bedurfte, um mit ihm in Kontakt zu treten. Er verwarf den Gedanken wieder und nahm den Aktenordner zur Hand, auf dem in großen Lettern stand: Ermittlungen der Yellowthread Street. Einer der Silberknöpfe an seiner Uniform war ein wenig matt, er zog sein blütenweißes Taschentuch hervor, entfaltete es sorgfältig und polierte dann damit den Knopf, bis er wieder glänzte. Danach faltete er das Taschentuch wieder säuberlich zusammen und steckte es vorsichtig in die Hosentasche zurück, wobei er darauf achtete, daß es sich nicht zusammenschob, damit es seine Tasche nicht ausbeulen konnte. Jetzt erst machte er sich wieder an die Lektüre und dachte weiter nach. »Wir wissen«, sagte Feiffer, »daß dieser Mann namens Ip der Schnüffler angestellt war bei der Firma, die das Essen für die Fluggesellschaften lieferte, und wir wissen weiter, daß er diesen Job über die Agentur von Nummer zwei bekam. Wir wissen, daß Ip für die Vergiftung der Mahlzeiten auf dem Flug verantwortlich war, und wir wissen weiter, daß das benutzte Gift aus den medizinischen Labors des St. Paul Hospitals stammte.« »Und daß Ip zu den Leuten gehörte, die Nummer zwei in dem Kanal umgebracht hat«, ergänzte Spencer. »Nummer zwei hat eingestanden, dafür verantwortlich zu sein.« »Genau«, sagte Feiffer. »Und auch, daß Ip das Gift aus den Labors gestohlen hat. Richtig? Oder nicht?« »Diese Vermutung liegt nahe«, sagte O’Yee. »Immerhin hat es ei156
nen Einbruch in die Labors gegeben. An allen anderen Orten waren die Beteiligten ja direkt: bei der Speiseherstellung, der Wartungshalle für die hydraulischen Anlagen und dem letzten Flugzeug.« »Und diese Möglichkeit war durch die Vermittlung von Nummer zwei gegeben.« »Nummer zwei hat das ermöglicht, ja«, sagte O’Yee. »Kann man dann nicht vielleicht auch davon ausgehen, daß der Pilot dieses letzten Flugzeuges den letzten Rest des Giftes bekommen hat? Das wäre doch zumindest eine brauchbare Erklärung dafür, wie ein Mann, der unter ständiger ärztlicher Beobachtung steht, so plötzlich während eines Fluges tot umfällt.« Doch schon schienen ihm die ersten Bedenken gegen die eigene Theorie zu kommen. »Wenn aber die Maschine schon zehn Minuten nach dem Start von Kai Tak alarmiert wurde, wie kommt es dann, daß er das Gift überhaupt zu sich genommen hat? Das erste, was die Leute in dem Flugzeug nach den bisherigen Erfahrungen gemacht haben werden, wird doch gewesen sein, daß sie den Genuß jeglicher Speisen untersagt haben. Und die Verantwortlichen werden sich selbst sicher zuerst an ihre Anweisungen gehalten haben.« »Bill?« sagte Feiffer zu Spencer. »Ich will mich ja nicht als Experten bezeichnen«, sagte Spencer, »aber bisher glaubte ich immer, nach dem Genuß von Zyanid winde sich das Opfer in Schmerzen. Aber nach dem, was du berichtet hast, hatte ich den Eindruck, als wenn der Pilot ganz plötzlich einfach nur umgefallen sei.« Er schüttelte den Kopf. »Wie lange dauert es eigentlich, bis Zyanid zum Tod führt?« »Wenige Minuten bis zu einer Stunde; das ist abhängig von der Dosis.« »Und wissen wir denn, ob er irgend etwas gegessen oder getrunken hat?« wollte Spencer wissen. »Nach dem, was der Tower mitgeteilt hat, nein.« »Also war es kein Zyanid?« fragte Auden. »Das hätte ich eigentlich auch gedacht. Was tötet eigentlich derartig schnell außer Zyanid? Was sonst außer einer Kugel oder einem Messer?« Er blickte O’Yee an. »Christopher?« »Ich hab’ mal gehört, wenn man jemandem Luft in die Vene injiziert, dann führt das auch sofort zum Tod«, erwiderte O’Yee. »Au157
ßer dem Copiloten war niemand sonst im Cockpit. Warum sollte er das getan haben? Es ist ja ganz klar, daß der Copilot die Maschine landen würde, wenn dem Flugkapitän etwas zustieß. Warum also dann den Flugkapitän in die Hölle schicken, den Copiloten aber nicht? Das ergibt doch keinen Sinn.« Er legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Wenn aber nun das Flugzeug seit zwölf Stunden und mehr in der Luft war, dann muß es etwas gewesen sein, was der Pilot vor dem Start gegessen oder getrunken hat. Ich habe aber noch nie von etwas gehört, das so lange braucht, um zu wirken, ohne daß man etwas spürt, und was dann derart blitzschnell zum Tode führt. Die meisten Gifte werden durch die Blutbahnen befördert, nicht wahr? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es so lange dauern konnte, bis das Herz erreicht war.« Er hob den Kopf. Ihm schien ein Gedanke gekommen zu sein. »Oder sollten wir auf einer ganz falschen Fährte sein, wenn wir an Gift denken? Ich hatte auch den Eindruck, als sei alles Gift aus dem medizinischen Labor schon beim ersten Anschlag verbraucht worden.« Er blickte Feiffer fragend an. »War es nicht so?« »Ja.« Feiffer blickte auf die Uhr. »Das Ergebnis der Leichenschau können wir schon sehr bald erwarten. Laßt uns also dieses Thema bis dahin zurückstellen.« Er holte tief Luft. »Der zweite Anschlag ist ebenfalls klar. Lee, der Ex-Soldat, fand einen Job auf dem Flughafen und beging die Sabotage an der Hydraulik des zweiten Flugzeugs.« »Und er war es auch, der die Maschinenpistole aus dem ArmeeDepot besorgte«, ergänzte Spencer. »Die sich jetzt wo befindet?« fragte Feiffer. »Ich weiß nicht«, sagte Spencer. »Der Prinzipal war anwesend, als die Morde in dem Kanal begangen wurden. Also hat er sie jetzt vielleicht. Sie befand sich nicht in Wus Apartment, als Phil und ich es letzte Nacht durchsuchten. In seinem Büro ebenfalls nicht. Vielleicht liegt sie schon auf dem Grund des Südchinesischen Meeres.« »Wir wissen ferner«, sagte Feiffer, »daß das letzte Opfer, das ihr identifiziert habt, auf dem Flugplatz in dem Hangar arbeitete, in dem die Maschine für den Flug 721 gewartet wurde. Demnach also wissen wir, daß – was auch immer dem Piloten zugestoßen sein mag – dieses auf jeden Fall von diesem Mann begangen wurde.« 158
»Aber wie?« fragte Spencer. »Wie konnte er irgend etwas in das Flugzeug praktizieren, das eine solche Wirkung hatte?« Er sah Feiffer ins Gesicht und fragte: »Warten wir das Ergebnis der Leichenschau ab – einverstanden?« »Natürlich«, sagte Feiffer. »Aber ganz gleich, wie die einzelnen Sabotageakte auch immer in Szene gesetzt wurden – jemand muß sie koordiniert haben.« »Der Prinzipal natürlich«, sagte O’Yee. »Der Prinzipal muß detaillierte Kenntnisse sowohl des Flugbetriebes allgemein als auch des Betriebes auf Kai Tak im besonderen gehabt haben.« »Irgendein Verdacht, um wen es sich dabei handeln könnte?« fragte O’Yee. »Nur einen«, erwiderte Feiffer. »Wir wissen, daß der Prinzipal erfahren hat, daß Nummer zwei ihn mit dem Geld hintergehen wollte, denn er sagte mir, er habe bereits mit dem Prinzipal gesprochen und ihm gesagt, daß er das Geld für sich allein wollte. Aber der Prinzipal war schneller, als Nummer zwei es erwartet hatte, und kam, um ihn zu töten. Der Prinzipal wußte genau, von wo aus Nummer zwei ihn angerufen hatte. Der Prinzipal war der Mann, der die Ideen beisteuerte. Aus diesem Grunde ist es logisch zu vermuten, daß der Prinzipal auch den Ort festlegte, von wo aus telefoniert werden sollte. Und da Nummer zwei betrunken war, konnte der Prinzipal davon ausgehen, daß er wieder dieselbe Telefonzelle benutzte. Nummer zwei aber ist der Alkohol und der Umstand, daß er sich plötzlich so unermeßlich reich vorkam, dermaßen zu Kopf gestiegen, daß er gar nicht mehr daran dachte, daß der Prinzipal die Telefonzelle kannte.« Feiffer nickte vor sich hin. »Und da Nummer zwei englisch mit ihm sprach, ist also der Prinzipal ein Europäer, der was von Flugzeugen allgemein und von Kai Tak im besonderen versteht.« »Du konstruierst da einen glaubwürdigen Verdacht gegen Dobbs«, sagte O’Yee. »Wenn man dich so reden hört, fühlt man sich direkt versucht, Dobbs zum nächsten Baum zu führen und ihn dort aufzuhängen.« »So?« fragte Feiffer. »Der eigentliche Grund, warum Nummer zwei mit mir kantonesisch sprach, ist, daß er einen starken amerika159
nischen Akzent hatte.« Er blickte Auden und Spencer fragend an. »Stimmt doch, oder?« »Ja, den hatte er«, sagte Spencer. »Und genau das hätte den Kreis der Verdächtigen gleich ganz erheblich eingeschränkt. Und dieses ganze Gerede von der Eilbedürftigkeit der Abwicklung dieser ›Transaktion‹ hat er doch nur gebracht, weil Bill und Phil ihn in seiner Agentur kennengelernt hatten und weil sie die Leichen in dem Kanal entdeckt hatten. Er muß gedacht haben, wir könnten nicht mehr weit davon entfernt sein, ihn mit der Geschichte in Verbindung zu bringen. Bezeichnenderweise wollte er ja auch nicht mit dir verhandeln, Christopher, aus Angst, du, ein Amerikaner, könntest seinen Akzent sogar in seinem Kantonesisch entdecken.« »Das ist ein bißchen unglaubwürdig. Ich habe das Gespräch auch nicht auf Band aufgenommen.« »Er war ein sehr sorgfältiger Mann. Oder zumindest war es der Mann, der ihm die Ideen lieferte«, sagte Feiffer. »Irgend jemand könnte ihm mal gesagt haben, daß man auch bestimmte Akzente identifizieren kann, und daß es auf der amerikanischen Botschaft Tonbandaufzeichnungen aller Leute gibt, die jemals ein Visum beantragt haben oder sonst dort vorstellig geworden sind oder längere Zeit in den Staaten gelebt haben.« »Entweder das, oder er hat einfach nur meinen eigenen Akzent gleich richtig eingeschätzt, als ich mich am Telefon gemeldet habe«, sagte O’Yee. »Mir scheint, du malst da in sehr groben Strichen das Bild von Dobbs –« »Ich zeichne das Bild des Mannes, der Nummer zwei beseitigt hat und der aller Wahrscheinlichkeit nach auch hinter all den anderen Sachen steckt.« »Nun hör mal zu, Harry«, sagte O’Yee, »es gibt für Dobbs keine Möglichkeit, dich mit Dreck zu bewerfen, und also gibt es für dich auch keinen Grund, dich gegen ihn so zu verteidigen. Dobbs ist mehr als ein ...« »Er wird hier anrufen«, unterbrach ihn Feiffer. »Und ich will bereit sein für alle Fragen, die er dann stellen könnte.« »Wer soll anrufen? Dobbs?« »Der Bastard, der hinter dem allen steckt. Er hat noch immer eine 160
Bedrohung in der Hinterhand, und wir haben immer noch das Geld.« Feiffer hob die Schultern. »Also wird er hier anrufen.« »Der Prinzipal«, sagte O’Yee. Feiffer sagte nichts. »Ich dachte, du meinst Dobbs –« »Er wird schon anrufen«, sagte Feiffer. »Der Prinzipal«, sagte O’Yee mit Emphase. Feiffer sagte nichts. Die Stimme am anderen Ende klang formvollendet. »Chief Inspector Feiffer? Hier spricht Chief Inspector Munday von Kai Tak. Die Leichenschau hat ergeben, daß im Körper des Piloten Giftspuren gefunden wurden. In den Zeigefingern des Toten war die Konzentration besonders deutlich. Bei dem Gift handelt es sich um reines Nikotin. Wir haben den Bericht gerade erst erhalten. Das Gift, das schon durch bloße Resorption durch die Haut tödlich ist, war auf die beiden Schalter für die Reservetanks gesprüht worden. Normalerweise wären diese beiden Schalter kurz vor Erreichen des Zieles in Sydney betätigt worden. Es wäre für beide Piloten auf der Stelle tödlich gewesen.« »Und warum hat es nur den Flugkapitän getötet?« »Ganz offensichtlich hat Captain Ford beide Schalter selbst betätigt. Nach Aussagen des Copiloten war dieser in dem Augenblick, als Captain Ford die Schalter umlegte, anderweitig beschäftigt. Daher ist anzunehmen, daß Captain Ford beide Schalter selbst umlegte.« Bevor Feiffer etwas sagen konnte, fügte Munday schnell hinzu: »Wir gehen nicht davon aus, daß dem Copiloten in diesem Zusammenhang irgendwelche Vorwürfe zu machen wären.« Im Hintergrund heulte gerade ein Flugtriebwerk auf. »Im Augenblick hat Superintendent Dobbs alle verfügbaren Leute abgestellt, um die anderen Flugzeuge zu untersuchen.« Er wartete einen Moment, bevor er fortfuhr: »Ich habe Ihnen also die gewünschte Information weitergegeben. Ist sonst noch was?« »Reines Nikotin?« »Ja. Aufgenommen direkt durch die Haut.« Feiffer dachte nach. »Nun?« fragte Chief Inspector Munday. 161
»Vielen Dank für Ihren Anruf.« Das Geräusch des Triebwerkes verstummte, dann klang wieder Mundays Stimme durch den Draht. »Bei Gott, wenn Sie wirklich hinter dem allen stecken, dann sind Sie bald dran! Superintendent Dobbs nimmt gerade alle Berichte genauestens unter die Lupe, und Gott stehe Ihnen bei, wenn er auch nur das Geringste findet.« »Vielen Dank für Ihren Anruf«, sagte Feiffer noch einmal. Er starrte die Wand hinter O’Yees Schreibtisch an. In seinen Gedanken fügte sich wieder etwas zusammen. Er dachte weiter nach. »Irgend etwas, das Nummer zwei gesagt hat –« Chief Inspector Munday schien ihn nicht verstanden zu haben. »Also denn, bis wir mehr –« »Er hat die Anweisung nicht befolgt!« sagte Feiffer. »Was?« »Die Anweisung!« sagte Feiffer. »Er hat sie nicht befolgt! Die zweite war die letzte! Ja, ich weiß es genau: So war es!« Aber Dobbs! Wie, zur Hölle, paßte Dobbs in dieses Bild? Er hängte ganz unvermittelt den Hörer ein. Superintendent Dobbs öffnete die Tür seines Büros. Er blickte Inspector Ming an, der an seinem Schreibtisch saß. »Alles in Ordnung?« fragte er. Ming nickte. »Gut, dann lümmeln Sie nicht mit einer Zigarette im Mund herum. Gehen Sie zurück an Ihre Arbeit.« »Sir!« Inspector Ming drückte hastig die Zigarette im Aschenbecher aus. »Ekelhafte Angewohnheit«, sagte Dobbs angewidert. Er ging zum Aschenbecher, noch bevor Ming die Tür hinter sich zugemacht hatte, und entleerte ihn mit einem verachtungsvollen Blick in den Papierkorb. Er sah sich nach dem Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch um, nahm den Bericht über die Leichenschau an dem toten Piloten zur Hand und holte sich den Ordner mit der Aufschrift ›Ermittlungen der Yellowthread Street‹. Er setzte sich und las die ersten beiden Blätter mit sichtlicher Neugier.
* 162
»Bill«, sagte Feiffer zu Spencer, »was sagt der Bericht über das Messer? Was wurde darauf gefunden?« Er begann, eine Telefonnummer zu wählen. »Da steht nur, daß man Teer und Leim darauf gefunden hat – und dazu natürlich Blut und Stoffreste – überhaupt das Übliche. Warum fragst du?« Am anderen Ende der Leitung klickte es, dann meldete sich der Teilnehmer. »Dr. Fahy«, sagte Feiffer, »hier ist Chief Inspector Feiffer, wir – reines Nikotin ... Ja. Ich dachte mir, es könnte von Ihnen –« Er lauschte einen Augenblick. »Sagen Sie es mir genau ... ja – ich verstehe.« Er hob plötzlich wie abwehrend die Hand. »Nein, sagen Sie nichts – noch nicht – es ist noch nicht absolut sicher. Halten Sie sich da lieber raus. Wir besprechen hier nur gerade einige Möglichkeiten, um andere auszuschließen, und dann werden wir – ja, gut.« Er legte auf und blickte Spencer an. »Ich weiß, was du glaubst, was drinsteht«, sagte er. »Ich habe dich aber gefragt, was genau in dem Bericht steht. Steht da Teer und Leim, oder steht da nicht vielleicht –« Spencer hatte die Seite aufgeschlagen. »Hier steht«, begann er, »also hier steht ›... wurden an der Klinge ebenfalls deutliche Spuren von Bestandteilen handelsüblicher Leime gefunden –‹.« »Also nicht Leim«, fiel ihm Feiffer aufgeregt ins Wort, »sondern Bestandteile von Leim! Klar und deutlich gesagt: Chemikalien!« »Ich verstehe nicht«, sagte Spencer. »Und Teer.« »Teer?« »Ja –« »Oder –?« »Teere – Mehrzahl, um genau zu sein«, sagte Spencer ärgerlich. »T – doppeltes E – R – E. Ist doch dasselbe, oder?« »Bist du sicher?« fragte Feiffer. »Etwa nicht? Du weißt doch, das schwarze Zeug, mit dem sie die Straßendecken machen.« »Oder das Zeug, das für verschiedene chemische Forschungszwecke gebraucht wird«, sagte Feiffer, zu O’Yee gewandt. »Der Anruf vor ein paar Minuten kam von einem freundlichen kleinen Vögelchen in Kai Tak, das mir da ein Liedchen gesungen hat und das ihr unter dem Namen Munday kennt. Der Pilot starb durch eine 163
Nikotin-Vergiftung. Und das ist das Zeug, das in der Homöopathie zu Forschungszwecken gebraucht wird – von Heilpraktikern.« »Wie – Dr. Curry?« »Wie Curry«, bestätigte Feiffer. »Wie Curry, der Europäer. Wie Curry, der Mann, der Geld für seine Forschungen brauchte. Wie Curry, der Mann, dem plötzlich Zyanid fehlte und der es erst meldete, als man schon bei ihm danach suchte. Wie Curry, der Mann, der nicht einmal gemerkt haben will, daß bei ihm eingebrochen worden war.« Er hob die Stimme ein wenig, als er fortfuhr: »Wie Curry, der Prinzipal, dem Nummer zwei den Gehorsam verweigerte. Er verweigerte den Befehl, weil das medizinische Laboratorium des St. Pauls Hospitals der einzige Ort in Hongkong ist, wo man reines Nikotin bekommen und dessen Diebstahl nicht entdeckt werden konnte, weil Curry das Gift durch eine andere Substanz ersetzte, damit die entsprechende Flasche unberührt erscheinen sollte. Das konnte er mit dem Zyanid nicht mehr machen, weil sein Chef, Dr. Fahy, eine Untersuchung angeordnet hatte und deshalb schon wußte, daß Zyanid fehlte. Fahy ist selbst Chemiker. Er hätte es gemerkt.« »Aber was ist mit dem Nikotin?« fragte Auden. »Das hätte er genauso entdeckt.« »Wann?« »Was meinst du?« »Ich meine, wann? Wann hätte er wohl gemerkt, daß es nicht mehr da war?« »Nun, hiernach – nach diesem letzten Anschlag.« Er hob die Brauen. »Aber woher hätte er es wissen sollen? Der Tote wäre ja ins Meer gestürzt und mit ihm das Gift.« »Wirklich? Fliegen nicht Maschinen, die nach Sydney wollen, von hier aus das letzte Stück über Land und nicht über dem Meer? Hätten die australischen Behörden das Gift vielleicht nicht entdeckt? Sie hätten es entdeckt. Es hätte vielleicht seine Zeit gedauert, aber am Ende hätten sie es doch gefunden.« Er sah sich triumphierend im Kreis um. »Aber warum wäre das im Grunde egal gewesen? Es wäre deshalb gleichgültig gewesen, weil der Anschlag mit dem Nikotin der letzte sein sollte!« »Nachdem sie abkassiert hatten!« sagte O’Yee. »Das war also die 164
letzte Bedrohung, um die große, letzte Summe aus uns herauszupressen. Hat Nummer zwei euch denn nicht gesagt, er nehme den kleineren Teil?« »Und Nummer zwei hinterging seinen Prinzipal, weil er dachte, ganze hunderttausend Dollar seien immer noch besser als irgendein Prozentsatz irgendeiner Summe, die dem Prinzipal letzten Endes vorgeschwebt haben mag.« Er nickte. »Ja, er hat die Ausführung des letzten Befehls verweigert, so daß der Prinzipal keine Handhabe mehr gegen ihn hatte. Der letzte Anschlag hätte wegen der Verwendung von Gift direkt auf Curry hingewiesen, aber zu der Zeit, wo man das entdeckt hätte, wären alle anderen Beteiligten längst in Übersee gewesen, und wir hätten sie nie mehr ausfindig machen können.« »Oder sie hätten tot in einem Kanal unter dem Pflaster von Hongkong gelegen«, ergänzte Spencer. »Wer weiß, vielleicht hat Nummer zwei so etwas vorhergesehen.« »Also ist es Curry«, sagte Auden. »Richtig«, sagte Feiffer. Sein Telefon klingelte, und er hob den Hörer ab. Im medizinischen Labor ging Dr. Curry gerade an der Tür zu Dr. Fahys Büro vorbei. Er sah hinein, gewahrte Dr. Fahy und blieb stehen. Er blickte in Dr. Fahys Gesicht. Die Stimme sagte auf englisch: »In genau drei und einer viertel Minute werde ich die Telefonleitung wechseln. Halten Sie also alle Ihre Anschlüsse offen.« Die Stimme klang, als komme sie von sehr weit her. Sie klang undeutlich. »Verstehen Sie, was ich sage?« Feiffer erwiderte nichts. Er spürte, wie sich seine Hand um den Hörer zu verkrampfen begann. Er hörte, wie O’Yee sein eigenes Telefon aufnahm, um den Ingenieur anzurufen, damit dieser den Anruf zurückverfolgte. Feiffer schüttelte den Kopf. Die unbestimmbare Stimme fragte: »Sind Sie noch da?« »Ja, ich bin noch da«, erwiderte Feiffer vorsichtig. »Und ich freue mich, endlich auch einmal mit dem eigentlich Verantwortlichen reden zu können.« 165
»Die Dinge fangen an, sich ein wenig in der falschen Richtung zu entwickeln«, sagte die Stimme, »Daher will ich das Geld jetzt sofort.« »Verstehe«, sagte Feiffer. »Ich denke, das läßt sich einrichten.« O’Yees Telefon klingelte. Er nahm den Hörer auf und sprach ein paar schnelle Worte in die Muschel. Währenddessen sagte Feiffer zu der Stimme: »Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie brauchen würden, um unterzutauchen, nachdem Sie Nummer zwei umgebracht haben.« »Sie haben den Falschen erwischt«, sagte die Stimme. »So, wirklich?« »Ja.« »Der Prinzipal? Habe ich nicht –« »Nein«, sagte die Stimme. »Oh?« »Nein«, sagte die Stimme. »Der Prinzipal ist – genau wie die Nummer zwei – entbehrlich. Diesmal reden Sie wirklich mit dem Hauptverantwortlichen.« Die Stimme wurde so undeutlich, daß kaum noch etwas zu verstehen war. »Hier spricht Nummer eins.« »Hören Sie, Sie –« »Das Geld!« O’Yee hängte das andere Telefon wieder ein. Er kam schnell herüber und flüsterte: »Er ist benachrichtigt. Dr. Fahy war am Apparat. Curry ist im medizinischen Labor eingeschlossen. Ich habe Dr. Fahy gesagt, er solle das ganze Gebäude evakuieren für den Fall, daß er noch das Maschinengewehr hat. Fahy hat alle Türen abgeschlossen. Curry ist irgendwo auf dem dritten Stock!« Er blickte auf das Telefon in Feiffers Hand. »Mein Gott, Fahy hat doch gesagt, auf dem dritten Stock gebe es gar keinen Telefonanschluß!« »Was?« sagte Feiffer. Er senkte kurz den Telefonhörer hinunter. »Mit wem du da auch immer sprichst, es ist auf keinen Fall Curry!« Er blickte erschrocken auf die nicht zugedeckte Sprechmuschel des Telefonapparates, deutete mit dem Finger darauf und sagte: »Mein Gott, er hat mich doch wohl nicht gehört? Oder?« Plötzlich war sein Gesicht vor Schreck verzerrt. »Und ich dachte, du hättest noch immer –« Die Verbindung wurde jäh unterbrochen. 166
»Hat er mich etwa gehört?« fragte O’Yee. »Dann weiß er ja, daß wir –« Er schluckte. »Wenn es aber da, wo Curry jetzt ist, keine Telefone gibt, wie kann er dann der Prinzipal sein? Wenn er –« »Es war Nummer eins«, sagte Feiffer. »Besorg mir ein Auto, schnell! Das war der Verantwortliche, der alles über Flugzeuge und Flughäfen weiß und der die ganze Sache geplant hat. Das war der Mann, dem man Bekanntschaften mit Leuten wie Nummer zwei zutrauen kann. Und er weiß, daß wir wissen, daß Curry der Prinzipal ist. Du kannst deinen Hut darauf verwetten, daß er weiß, wer er ist!« Er holte tief Luft. »Nummer eins hat sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten und die Sache aus dem Dunkel heraus geleitet, während seine Kreatur den Job übernommen hatte, tödliche Spielzeuge zu ersinnen und zu beschaffen, um dann seinerseits ihre Kreatur zu beauftragen, diese Bedrohungen auch richtig einzusetzen!« Er blickte Auden an. »Ruf sofort Kai Tak an und sage mir dann, was du dort in Erfahrung bringen konntest! Eines mußt du unter allen Umständen herausfinden: ob überhaupt jemand dort ist oder nicht. Und mit ›jemand‹ meine ich –« Er sah O’Yee ins Gesicht und sagte mit dem letzten Rest ihm noch verbliebener Selbstbeherrschung: »Um Gottes willen, Christopher, kapier doch endlich! Es ist Dobbs!« O’Yee hatte schon die Garage wegen eines Autos an der Strippe, als er noch hinzufügte: »Es muß so sein! Es kann gar nicht anders sein!« Er blickte Auden an, der gerade telefonierte. Auden hängte ein. »Das war Munday«, sagte er. »Dobbs ist nicht da. Munday sagt, er wisse nicht, wo Dobbs sich im Moment aufhalte.« »Aber ich weiß es!« sagte Feiffer. »Und wo?« Feiffer sah ihn einen Moment schweigend an. Es paßte alles. Jedes Detail. »Er ist zum Labor gegangen, um Curry umzubringen«, sagte er plötzlich. Dann sah er zu O’Yee hinüber und brüllte hemmungslos: »Wo, zum Teufel, bleibt das verdammte Auto?«
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13 Dr. Fahy stand allein auf den weißen Marmorstufen des vierstöckigen Gebäudes, das die medizinischen Labors beherbergte. Ein gigantischer Jumbo-Jet röhrte beim Anflug auf den Flughafen in nur wenigen hundert Fuß Höhe über ihn hinweg. Er war so niedrig, daß man sein Fahrgestell sehen konnte, als es ausgefahren wurde. Feiffer blickte kurz nach oben. Die Unterseite des Flugzeuges schimmerte silbern. Er erreichte Fahy auf der obersten Stufe und blickte an ihm vorbei durch die Glasscheibe ins Innere. Das Foyer dahinter war leer. O’Yee stand am Fuß der Stufen und bedeutete Auden und Spencer mit der Hand, die hinteren Ausgänge zu besetzen. Dann eilte er ebenfalls die Treppe empor, wobei er jedesmal zwei Stufen auf einmal nahm. »Sie sagten mir am Telefon zu, das Gebäude zu evakuieren«, sagte er zu Fahy. »Ist das inzwischen geschehen?« Fahy nickte. Er blickte besorgt drein. »Und Curry ist wo?« »Im dritten Stock. Einer der Angestellten hat ihn dort über den Flur rennen sehen. Ich habe die Fahrstühle abschalten lassen, und die Treppen haben automatisch schließende Feuerschutztüren auf jedem Stockwerk, die ich nicht habe öffnen lassen. Er sitzt da oben in der Falle.« Er sah O’Yee neugierig an. Unter dessen Schulter hatte er etwas metallisch blinken sehen, von dem eine tödliche Drohung auszugehen schien. »Sehen Sie mal –«, sagte er ein bißchen unbeholfen. Er blickte die ganze Länge des Gebäudes hinauf und hinunter, um sich zu vergewissern, daß die ganze Umgebung evakuiert war. Schließlich wandte er sich wieder O’Yee zu und fragte: »Stimmt es denn wirklich, daß er alle diese Menschen –« »Der andere«, mischte sich Feiffer ein. »Wo ist der?« »Welcher andere?« »Mr. Feiffer und ich hätten gern von Ihnen die Schlüssel zu den Aufzügen und den Feuerschutztüren«, sagte O’Yee rasch. »Darüber hinaus benötigen wir einen Hauptschlüssel für alle Zimmertüren. Was befindet sich eigentlich auf dem dritten Stock?« »Nichts. Der Raum mit der Säure. Da verwahren wir korrosionsanfällige Materialien. Er liegt direkt unter dem Generatorenraum. Da ist es normalerweise viel zu laut zum Arbeiten. Wir haben zwar 168
für unseren Etat einen Posten angefordert, um der Decke einen Schallschutz zu geben, aber bisher hatten wir –« »Es waren zwei«, sagte Feiffer, »und ich warte immer noch darauf zu hören, wo der andere ist.« »Was meinen Sie damit?« »Ich meine den anderen!« sagte Feiffer scharf. »Wer ist sonst noch drin?« »Nur der andere Mann von Ihnen und Dr. Curry. Sonst ist da niemand.« »Welcher andere Mann von uns?« fragte O’Yee überrascht. »Dobbs«, sagte Feiffer. Er faßte an den Griff seiner Dienstwaffe und löste den Riemen, der den Revolver im Halfter halten sollte. »Seinen Namen kenne ich nicht«, sagte Fahy. »Er tauchte kurz vor Abschluß der Evakuierungsaktion hier auf. Wir haben noch alle Leute hinausgebracht. Von der Straße kam ein Polizist und hat uns dabei geholfen. Ich dachte, der andere wäre einer von Ihnen.« »Wo ist er jetzt?« »Ich weiß nicht.« »Wußte er, wo Curry war? Haben Sie es ihm erzählt?« »Ja – ich glaube schon. Nein, das heißt – ich weiß es nicht. Er wurde auf den Stufen gesehen, kurz nachdem der Verkehrspolizist in das Gebäude kam, um zu helfen. Ich hatte schon gedacht –« »Woher wußten Sie denn, daß der zweite Mann ein Polizist war?« fragte O’Yee. Feiffer blickte Fahy an. »Weil er so eine verdammte Uniform anhatte – deswegen?« »Ja«, erwiderte Dr. Fahy. »Ich dachte schon – immerhin war er doch ein Europäer in einer einwandfreien Uniform. Ein Chief Inspector oder so was –« »Vielleicht ein Superintendent?« fragte Feiffer schnell. »Möglich«, sagte Fahy. »Gehörte er denn nicht zu Ihnen? Ich hatte nur gedacht –« »Du bleibst hier und bewachst die vorderen Eingänge«, sagte Feiffer zu O’Yee. »Ich gehe mit dir nach oben!« widersprach O’Yee. »Du bewachst die vorderen Zugänge und hältst Dr. Fahy fern«, entgegnete Feiffer ernst. »Ich werde mich allein um unseren Freund 169
Curry kümmern.« Er blickte Dr. Fahy an und nahm ihm die Schlüssel aus der Hand. »Und was ist mit Dobbs?« Feiffer sah ihn an. »Ich werde mich mit derselben Energie auch um Dobbs kümmern«, schnappte er. »Du sollst hier draußen bleiben! Klar? Und das gilt auch für Auden und Spencer! Das ist ein Befehl! Verstanden?« »Hör mal, Harry –« Dr. Fahy blickte die beiden Männer verständnislos an. »Welcher ist nun der Schlüssel für die Tür?« fragte Feiffer ihn und hielt ihm den Bund entgegen. »Dieser da. Der kleinere ist für den Aufzug.« »Fein.« »Sieh mal, Harry«, versuchte es O’Yee noch einmal, »du bist schließlich nicht der Buck Rogers aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert –« »Nein, ich bin ein gottverdammter Idiot, ich weiß.« »Du bist doch gar nicht in der richtigen Verfassung!« »Erzähl du mir nichts von der richtigen geistigen Verfassung für diesen Job! Ich bin das arme Schwein, das dieser Bastard da oben den Wölfen zum Fraß vorwerfen wollte! Hast du das vielleicht vergessen?« »Und was hast du vor?« O’Yee hätte viel darum gegeben, wenn Dr. Fahy nicht dabeigewesen wäre. Er hätte Feiffer gern das eine oder andere ohne Zeugen gesagt, und er hätte ihn darauf aufmerksam gemacht, wie nützlich unter Umständen Zeugen sein können. Aber das hätte alles nur noch verschlimmert. »Dann sag mir doch wenigstens, was du vorhast«, sagte er statt dessen. Feiffer zog den kurzläufigen Revolver. Er ging auf die Tür zu und schloß sie mit dem ersten Schlüssel auf. O’Yee ging hinter ihm her. »Nun?« sagte O’Yee. »Geh auf deinen Posten!« schnauzte Feiffer ihn an. Er stieß die Tür auf und trat ins Innere des Foyers und schloß die Tür hinter sich wieder sorgfältig ab. Dann ging er zielsicher zu den Aufzügen hinüber und steckte den kleinen Schlüssel in die Konsole.
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»Ich hoffe, das alles hat seine Richtigkeit«, sagte Dr. Fahy. O’Yee erwiderte nichts. »Ich meine – ist das die Art, in der Polizeioffiziere normalerweise vorgehen? Ich meine, also, ich hatte den ganz bestimmten Eindruck, als wenn –« O’Yees Augen ruhten auf ihm. Aber es schien, als blickten sie durch ihn hindurch. »Sie gehen jetzt besser«, sagte O’Yee. »Sollten Sie nicht doch vielleicht besser hineingehen?« sagte Dr. Fahy ängstlich. »Ich meine –« O’Yee blickte ihn nur an. »Lassen Sie mich nur bitte einen Moment nachdenken«, sagte er dann auf einmal. Es wurde ein verhältnismäßig langer Augenblick. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich auf dem dritten Stock. Sie blieb offen. Feiffer hatte die Birne mit dem Revolverknauf zertrümmert und blieb im finsteren Inneren des Fahrstuhls. Der Korridor lag schweigend und dunkel da. Ein ungewohnter Geruch hing in der Luft. Von der oberen Etage dröhnte das ständige Wummern der Generatoren deutlich bis hier herunter. Der Revolver lag sicher in seiner Hand. Er wartete ab. Sein Atem ging gleichmäßig und ruhig. Er blickte aufmerksam in den Korridor vor ihm. »Du hast ihn allein gehen lassen?« fragte Auden. »Bist du wahnsinnig?« »Er wollte unbedingt allein gehen! Was hätte ich denn tun sollen – ihm den Schädel einschlagen und das Kommando über diese vermaledeite Bounty übernehmen? Was erwartest du denn von mir? Er ist der vorgesetzte Offizier, nicht ich!« O’Yee sah wütend aus. »Und, was zum Teufel, treibst du überhaupt hier vorn? Du sollst doch mit Spencer zusammen den rückwärtigen Ausgang bewachen!« »Hier gibt’s keine Rückseite. Das Gebäude grenzt unmittelbar an das Hospital. An der Rückseite gibt es nur eine Feuertür als Verbindung der beiden Gebäude, und die ist verschlossen, und zwar von innen. Wie konntest du ihn bloß allein dort hinaufgehen lassen! Hol den Schlüssel und –« »Es gibt keinen Schlüssel mehr! Er hat den einzigen Schlüssel 171
mitgenommen!« »Dann reißen wir die Tür ein!« verlangte Auden. »Was ist, wenn er Dobbs auf der Stelle erschießt und dann auch noch Curry umlegt? Wo sind dann seine Zeugen?« »Er wird niemanden töten!« »Oh, großartig! Und woher weißt du das? Mit Hilfe chinesischer Telepathie etwa? Woher willst du wissen, daß er nicht wie ein Berserker da oben wüten wird?« »Weil ich ihn kenne!« »Dann sag mir doch mal, warum er allein gegangen ist?« »Vielleicht, um uns aus der Sache rauszuhalten?« »Bravo!« »Ich meine, um uns aus einer persönlichen Auseinandersetzung mit Dobbs herauszuhalten«, sagte O’Yee. »Ich meine, damit wir nicht in den ganzen Schlamassel hineingezogen werden sollen, den Dobbs ihm anscheinend anhängen will!« »Und das glaubst du wirklich?« »Ja!« »Was bildet er sich eigentlich ein, wer er ist, eh?« fragte Auden. »Ich kenne ihn!« beharrte O’Yee. »Ich kenne ihn schon seit Jahren. Er bringt niemand um, außer in Notwehr.« »Nach allem, was ich gehört habe, war Dobbs kurz davor, bei ihm zu Hause die Tür einzutreten und sich seine Frau und seine Kinder vorzunehmen. Na, was würdest du wohl in einem solchen Fall tun?« »In Ordnung!« »Was ist in Ordnung?« O’Yee machte eine Pause. Er blickte an dem vierstöckigen Haus empor und ballte die Fäuste. »Nun?« »In Ordnung«, sagte O’Yee. »Hol die Cops von Kai Tak her.« »Und was ist mit der Tür?« »Kai Tak. Alles klar?« »Und eine Abteilung Bereitschaftspolizei. Die reißen dieses Nichts aus Glas und Aluminium innerhalb weniger Sekunden herunter –« O’Yees Gesicht verfinsterte sich. Er blickte Auden starr an. 172
»Nun?« fragte Auden. »Du sollst tun, was ich dir gesagt habe!« schrie O’Yee ihn an. »Du dreimal verdammter subalterner Beamter, ruf jetzt auf der Stelle Kai Tak an und hol die Leute her – und sonst gar nichts!« Er schrie aus vollem Hals. »Verstanden!?« Einen Augenblick lang ballte Auden die Hand zur Faust. Doch dann überlegte er es sich anders. Er sah an dem Gebäude in die Höhe. »Nun?« fragte O’Yee. »Machst du’s endlich?« »Yes, Sir!« erwiderte Auden. Er wandte sich ab, um zum Auto zu rennen, wobei er unentwegt vor sich hinmurmelte und schimpfte. Feiffer schraubte die letzte Glühbirne im Korridor aus. Jetzt gab es auf dem ganzen Korridor nur noch eine Tür. Sie war unverschlossen. Ohne Licht aus dem Korridor konnte er in ihrem Rahmen nicht gleich gesehen werden. Im Innern des Raumes brannte ein Licht; er konnte den Widerschein unter der Tür erkennen. Das unentwegte Wummern der Generatoren über ihm schien stärker zu werden. Ganz langsam drückte er die Tür auf – und sah Dobbs. Auden blickte über die Sitze des Autos weg zu O’Yee. O’Yee stand noch an der Glastür oben auf der Treppe. Er hatte die Hand auf dem Türgriff und drückte. Er schien sich nicht entscheiden zu können. Er blickte zurück. Auden nahm das Mikrofon der Funkanlage vor die Lippen. »Alles, was ich weiß«, sagte er schnell, »ist, daß Sie um Hilfe gebeten werden. Ihr Mr. Dobbs ist auch hier. Verstanden?« Er schluckte und sagte die übliche Schlußformel: »Over.« »Ich habe aber nicht alle Kräfte verfügbar«, sagte Munday. »Die Leute sind überall auf dem Airport verteilt. Es würde Stunden dauern, bis ich sie alle zusammengesucht hätte und –« »Dann kommen Sie wenigstens selbst! Einverstanden?« »Das geht doch nicht! Es gibt Dienstvorschriften über –« »Vergessen Sie Ihre Dienstvorschriften!« Auden blickte zu O’Yee hinüber. Er wirkte ein wenig wie ein kleiner Junge, der gern zu einer Geburtstagsparty möchte, zu der ihn aber niemand eingeladen hat. Er drückte den Knopf seines Funkgerätes, vernahm aber nur noch ein Rauschen. 173
Auden blickte zu O’Yee. Dann schaltete er das Funkgerät aus und ging hinüber. »Mein Name ist Feiffer«, sagte Feiffer in die Dunkelheit hinein. »Wenn sich Ihre Hand auch nur einen Millimeter in Richtung Ihrer Waffe bewegt, dann verspreche ich Ihnen, daß ich nicht zögern werde, von der eigenen Gebrauch zu machen. Ich blase Ihnen den Kopf von den Schultern, ohne auch nur eine einzige Sekunde lang zu zögern.« An der Wand stand eine Zinkbadewanne, direkt unter etlichen riesigen Flaschen voller Säure. Über eine Glasröhre lief Säure in die Zinkwanne. Helle Dampfwolken standen über der Wanne. Jetzt trat Feiffer in den schwach erleuchteten Raum. Seine Stimme klang unbeteiligt, als er sagte: »Bleiben Sie jetzt ganz, ganz ruhig stehen und sagen Sie kein Wort.« O’Yee versuchte verzweifelt, die Tür einzudrücken. In seinen Augen schienen Tränen zu stehen. »Gottverdammt!« sagte er zu der Tür. »Gottverdammt, verdammt noch mal!« Er rüttelte an der Tür wie ein Verrückter und schrie: »Verdammt noch mal!« Schließlich wandte er sich um und blickte Auden an. »Dann hol doch die Bereitschaftspolizei!« schrie er ihn an. »Sollen die die Tür hier aufbrechen!« Wieder warf er sich an die Tür und schrie: »Gottverdammt!« »Ich war es nicht!« sagte Dobbs. Feiffer blickte auf den Körper am Boden. Es war Curry. Quer über seine Kehle verlief eine schreckliche Schnittwunde. Blut war über seine Hand und den Boden gelaufen, so als habe er versucht, es aufzusammeln und wieder in seinen Körper zu füllen. Und da war auch eine kreisrunde Blutspur auf dem Boden, als habe er sich dort im Kreis um sich selbst gedreht, um auch alles verlorene Blut wiederzufinden und es zurückzustopfen. Seine Augen waren im Schrecken des Todes weit geöffnet. Gleich neben ihm stand eine Schranktür offen. Auf dem Boden lagen Flugtickets und Banknoten verstreut: farbige Schweizer Franken. Daneben lag ein geöffneter Paß, der von Blut getränkt war. »Ich habe ihn nicht umgebracht«, 174
sagte Dobbs. In seine Augen schien plötzlich das Leben zurückzukehren, als er auf Feiffer zuging. »Feiffer! Sie haben diesen Mann ermordet, und ich kann es beweisen!« »Wenn Sie noch einen einzigen weiteren Schritt auf mich zukommen«, sagte Feiffer mit erzwungener Ruhe, »dann wird das Ihr letzter sein.« »Dann machen Sie doch weiter! Töten Sie mich doch! Bringen Sie mich hier um und versuchen Sie dann, sich herauszureden! Wo sind denn Ihre Leute?« Feiffer sagte nichts. »Sie sind allein hier! In eigener Initiative!« schrie Dobbs. »Also machen Sie schon ein Ende! Legen Sie mich um und versuchen Sie hinterher mal, das anderen klarzumachen!« Er trat einen Schritt weiter vor. Er war ein schwerer, großer Mann Mitte Fünfzig, mit roten Haaren. »Versuchen Sie nicht ...« »Er war der Prinzipal!« schrie Dobbs. »Er! Curry!« Feiffer gab keine Antwort. »Und Sie sind der Mann hinter ihm!« Der Revolver in Feiffers Hand deutete geradeaus. »Der große Europäer im Hintergrund! Der Mann, der den blöden Chinesen die Befehle gab und seinem stinkenden Mittelsmann! Der Mann mit den Ideen! Sie mordhungriger Bastard, Sie! Sie haben fast neunzig Menschen auf dem Gewissen!« Seine Stimme hob sich noch mehr. »Du dreckiger, stinkender, mordender –« »Sie haben ihn umgebracht, nicht ich!« fiel ihm Feiffer ins Wort. »Sie waren der Mann mit den Kenntnissen über Flugplätze und Flugzeuge. Sie sind der Mann, der Leute wie diesen Wu kannte. Sie sind der Mann, der mich angerufen und dabei festgestellt hat, daß alles schiefgegangen ist.« Er beruhigte sich etwas. »Und Sie sind der Mann, den ich über der Leiche des Prinzipals stehend angetroffen habe. Dobbs, ich werde Sie jetzt für die nächsten zweihundertneunundfünfzig Jahre ins Stanley-Gefängnis bringen –« »Wagen Sie es, mich auch nur anzufassen! Wem wollen Sie das wohl erzählen? Sie wollen mich umbringen, und das wissen wir beide. Sie sind ein Killer rundrum, Feiffer! Sie wußten genau, daß ich nach dem Ergebnis der Leichenschau sofort ahnte, wer Ihr Gift175
lieferant war, und, bei Gott, Sie haben dafür gesorgt, daß Sie noch kurz vor mir hier waren, um Ihren gottverfluchten Prinzipal rechtzeitig umzubringen! Und wie sieht Ihr blutiges kleines Spielchen diesmal aus? Wollen Sie mich mit meiner eigenen Waffe umbringen und sie dann Curry in die Hand drücken, damit es so aussieht, als hätten wir uns gegenseitig umgebracht? Aber in dieser Rechnung steckt ein riesengroßer Fehler. Ich habe nämlich nicht vor, Ihnen meinen Revolver zu geben; weder Ihnen noch sonst jemandem. Der einzige Weg, ihn von mir zu bekommen, ist, mich zuerst mit Ihrem Revolver umzulegen, und wenn man dann eine 38er Kugel in meinem Körper findet, hat Munday Sie auf dem Umweg über eine ballistische Untersuchung sofort. In dieser Kolonie gibt es noch die Todesstrafe durch den Strang. Und man wird Sie so hoch aufhängen, daß der Fall in den Strick Ihnen den Kopf abreißen wird! Ich wollte bei Gott, ich könnte zurückkommen, um das zu sehen!« »Ich beschuldige Sie des Mordes an einer nicht ganz sicheren Anzahl von Menschen«, sagte Feiffer ruhig. »Diese Morde haben Sie mit klarem Kopf geplant und aus niederen Motiven durchgeführt –« »Sie müssen wahnsinnig geworden sein!« »– und ich mache Sie pflichtgemäß darauf aufmerksam, daß alles, was Sie von nun an sagen, später gegen Sie verwandt ...« »Und wie wollen Sie beispielsweise die Tatsache erklären, daß Sie überhaupt hier sind?« fiel ihm Dobbs ins Wort. »Sie haben ja keine Kopie des Berichtes über die Leichenschau erhalten. Was also suchen Sie hier? Dieser Mann war ein persönlicher Freund von mir, du dreckiger Bastard!« Feiffer machte eine Pause. »Munday hat mir davon berichtet«, sagte er schließlich. »Oh, natürlich!« »Und dann habe ich Dr. Fahy angerufen, um mir Gewißheit zu verschaffen.« Ihm fiel etwas ein. »Haben Sie eigentlich mit Dr. Fahy auf Ihrem Weg hierhin gesprochen?« fragte er. »Natürlich haben Sie das. Dr. Fahy sagte mir, Sie seien hier im Gebäude, und –« Er unterbrach sich. »Aber wenn Sie es nicht getan haben, wer in drei Teufels Namen war es dann? Und wenn Sie nicht hinter den Anschlägen stecken, warum haben Sie dann Curry umgebracht?« »Ich habe niemanden umgebracht!« sagte Dobbs. »Nun sehen Sie 176
mich doch nur an! Wo ist denn das Blut, das mich von oben bis unten bespritzt hätte, wenn ich diesem Kerl die verdammte Kehle durchgeschnitten hätte! Ja, glauben Sie denn, ich wäre so blöd, hier in voller Uniform aufzutauchen, wenn ich vorgehabt hätte, Curry umzubringen?« »Sie haben mich angerufen. Sie haben gesagt, Sie seien Nummer eins!« »Wie kann ich behauptet haben, ich wäre ein Chinese?« »Nicht Nummer zwei – Nummer eins!« »Ich weiß nicht, wovon Sie überhaupt reden!« erwiderte Dobbs. »Hören Sie zu, Feiffer, wenn Sie vorhaben, mich umzubringen, dann sollten Sie nicht mehr allzulange warten, denn in zwei Sekunden greife ich Sie an, und wenn ich dann auch nur eine einzige Hand um Ihre Kehle legen kann, bevor Sie den ersten Schuß abgefeuert haben, dann verspreche ich Ihnen, daß Sie sie nie mehr loswerden.« »Wozu läuft hier eigentlich das Säurebad ein?« »Es lief schon, als ich hereinkam. Und Curry war auch schon tot, als ich hier ankam. Ich habe mich gerade nach dem Mann umgesehen, der das getan haben könnte, als Sie hereinspazierten. Jetzt brauche ich ja wohl nicht mehr weiter zu suchen, nicht wahr? Er wurde wenige Minuten, bevor ich hier war, umgebracht. Wo also hatten Sie sich versteckt?« »Ich bin vom Korridor hergekommen«, erwiderte Feiffer. »Und da gibt es keine Möglichkeit, sich zu verstecken.« Er blickte sich im Raum um auf der Suche nach der Jacke, die Dobbs womöglich getragen haben konnte, um seine Uniform vor Blutspritzern zu schützen. Aber da war keine Jacke. Er blickte wieder zu dem Säurebad. »Wenn Sie es nicht waren, wer soll es dann gewesen sein?« fragte Dobbs. Er blickte auf den toten Dr. Curry hinunter. »Und wer hat den da getötet?« Er sah Feiffer an. »Sie waren es!« sagte er anklagend. »Wo ist eigentlich die Maschinenpistole geblieben?« Feiffer blickte auf das Säurebad. »Draußen auf dem Korridor gibt es keinerlei Versteckmöglichkeiten, und alle Aufzüge sind blockiert.« »Wie sind Sie denn dann hereingekommen?« 177
»Über die Treppe. Auf dem zweiten Stock gibt es keine Feuertüren mehr«, sagte Dobbs. »Ich bin über die Treppe gekommen. Aber da war schon jemand hier, der noch vor mir in das Gebäude gekommen ist. Wenn die Fahrstühle alle blockiert waren, warum habe ich Sie dann nicht auf der Treppe gesehen, wenn Sie erst nach mir kamen? Wie sind Sie hier heraufgekommen?« »Ich habe den Schlüssel von Dr. Fahy bekommen.« »Nachdem die Türen schon geschlossen waren?« »Ja.« Dobbs dachte nach. »Sie waren es also nicht, oder?« fragte er nach einer Weile. »Nein.« »Sie waren es nicht«, wiederholte Dobbs. Feiffer senkte den Revolver. Das Wummern der Generatoren war unverändert. »Wenn Sie es aber nicht waren, wer, zum Teufel, war es dann?« sagte Dobbs. »Wenn Sie nicht hierhergekommen sind, um Curry zu töten, wer hat ihn dann umgebracht?« »Irgend jemand hat mich wegen des Geldes angerufen«, sagte Feiffer. »Ich dachte, Sie seien es.« »Wann war das?« »Vor einer Stunde vielleicht.« »Von Kai Tak bis hierhin braucht man mit dem Auto eine Dreiviertelstunde. Fahy kann Ihnen aber bestätigen, daß ich schon seit mehr als einer halben Stunde hier im Haus bin.« Dobbs schüttelte den Kopf. »Also kann ich es gar nicht gewesen sein.« Er blickte zu der Wanne hinüber. »Wer auch immer Curry umgebracht hat, er wollte ihn anschließend in die Säure werfen, um ihn vollständig von der Bildfläche verschwinden zu lassen.« In einer Ecke des Raumes war gleich neben einem der Säurebehälter eine kleine Tür zu einem Vorratsraum. In diesem Moment schwang die Tür leise auf. Eine Stimme aus dem Vorratsraum sagte leise, aber deutlich: »Sosehr ich mich an Ihrer Unterhaltung erfreut habe, aber die Zeit zu reden ist jetzt vorüber.« Er warnte Feiffer. »Heben Sie nur ja nicht diesen Revolver, Mr. Feiffer, oder ich müßte die Maschinenpistole auf der Stelle in Tätigkeit setzen.« Er trat aus dem kleinen Vorratsraum heraus, die Sterling-MP in der Hand. 178
»Gebrauchen muß ich sie wohl in jedem Fall, wenn auch nur ein wenig später. Mr. Dobbs, werden die Wunder in Ihrem kleinen Spatzenhirn eigentlich je aufhören?« Er sah Feiffer an und ließ ein gutturales Lachen hören. Es war Nummer eins. Er trat einen Schritt vor ins Licht, so daß sie ihn erkennen konnten.
14 Die Säure lief noch immer blubbernd aus den großen Glaszylindern. Nummer eins stoppte den Zufluß. Es gab ein zischendes Geräusch, als die Flüssigkeit in der Wanne zur Ruhe kam. »Sie –« sagte Dobbs ungläubig. Er starrte Nummer eins völlig ungläubig an. Die Mündung der Maschinenpistole deutete unverwandt direkt auf seine Brust. Nummer eins blickte kurz zu dem Revolver in Feiffers Hand und schwenkte den Lauf der MP. Feiffer steckte den Revolver wieder in den Halfter. »Dobbs«, sagte Inspector Ming, »ich habe Sie gefragt, ob denn die Wunder in Ihrer beschränkten kleinen Welt nie ein Ende nehmen. Ich erwarte eine Antwort.« »Gehen Sie zur Hölle!« »Ich erwarte eine Antwort.« »Gehen Sie zur Hölle!« Feiffer sah auf die Sterling in der Hand des Verbrechers. Sie war entsichert. Die Hände, die die Waffe hielten, zitterten auch nicht im geringsten. Er sah Ming in die Augen. Sie waren starr auf Dobbs gerichtet. »Nein, Dobbs«, sagte Ming kalt, »Sie sind derjenige, der zur Hölle fahren wird, und ich bin der dreckige kleine Chinese, der Sie dorthin bringen wird. Ich werde Sie zunächst zu Hundefutter verarbeiten und Sie dann gleich Ihrer Auflösung zuführen. Zuerst werde ich Sie in kleine Scheibchen schneiden, und wenn es vorbei ist, werde ich auf Sie spucken.« Seine Züge verzerrten sich. »Sagen Sie dreckiger kleiner Chinese zu mir!« »Sind Sie vielleicht keiner?« 179
»O ja, das bin ich. Genau das bin ich. Ich bin der dreckige kleine Chinese, der Sie pausenlos ausgetrickst und Ihren schönen Flugplatz in die Luft geblasen hat. Genau der bin ich. Der dreckige kleine Chinese, der diesem Curry die Befehle gegeben hat, damit er Nummer zwei herumhetzen konnte – der dreckige kleine Chinese, der einen Europäer anheuerte, damit der einen anderen dreckigen kleinen Chinesen herumkommandierte, weil Leute Ihres Schlages glauben sollten, hinter dem allen stehe das große europäische Gehirn.« Sein Gesicht verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. »Es mußte ja einfach ein Europäer hinter allem stecken, nicht wahr? Und da war auch ein Europäer, und das war Curry. Er kommandierte diesen dreckigen kleinen Chinesen, Nummer zwei, herum, und genau das paßte doch in Ihr Bild.« Er grinste schief. »Dieser Feiffer hier, Dobbs, der hat Sie viel besser eingeschätzt, und er paßte in Ihr Bild. Er spricht perfekt kantonesisch, also mußte er für Sie doch einfach zu den Verdächtigen gehören. Ja, er wurde Ihr Hauptverdächtigter!« Er lachte wild. »Aber ich war es, Dobbs, ich!« Er wandte sich an Feiffer. »Mr. Feiffer«, sagte er verbindlich, »Sie werden sich vielleicht gewundert haben, wie gut mein Englisch war. Das ist einzig dem Umstand zuzuschreiben, daß dieser Mr. Dobbs hier, obwohl schon mehr als zwanzig Jahre in der Kolonie, sich noch nie herabgelassen hat, mehr als zwei Worte Chinesisch zu lernen. Jeder aus Mr. Dobbs’ Stab muß entweder perfekt Englisch ohne den geringsten Akzent sprechen, oder er kann seine Karriere gleich von Anfang an vergessen. Ich habe schon die höchste Stufe erreicht. Ich bin Inspector geworden. Munday, der Chief Inspector, hat nicht die Hälfte meiner Erfahrung oder meiner Intelligenz, aber er ist Chief Inspector. Aber Mr. Munday ist ja auch ein Weißer! Ich bin jetzt an der Spitze – ja, an der Spitze, die ein Chinese erreichen kann.« Er wandte sich wieder an Dobbs und brüllte plötzlich los: »Dobbs, hier ist China! Hongkong ist China!« Aber sofort war seine Stimme wieder eiskalt. »Dobbs, ich werde Sie jetzt töten und alle Beweise gegen Sie in Sachen Attentate direkt auf Ihren Schreibtisch legen.« Er wandte sich wieder an Feiffer. »Einer der Vorteile, die die Arbeit auf dem Flugplatz mit sich bringt, besteht darin, daß man leicht an konfiszierte oder vergessene Pässe kommen kann. Sehen Sie sich nur das Sammelsurium von Pässen in Currys Schrank da an. Die sind alle 180
von mir. Es gab für ihn nie eine Chance, sie zu benutzen, aber solange er mir noch von Nutzen war, gaben sie ihm ein Gefühl der Sicherheit, um ihn immer wieder für mich arbeiten zu lassen.« Er grinste. »Nummer zwei hat nie auch nur von meiner Existenz geahnt. Nach der Übergabe des Geldes brauchte ich einfach nur noch Curry auszuschalten und ihn ganz offiziell zu verhaften.« Er wandte sich wieder an Dobbs. »Das hätte doch genau in Ihr Weltbild gepaßt, oder nicht, Dobbs?« fragte er lachend. »Der dumme Chinese, der das Geld an den überintelligenten Europäer weitergab, ihn dann tötete und nachher zu blöd war, um herauszufinden, wo der Geistesriese aus Europa das Geld versteckt hatte.« Er sah Feiffer an. »Und Sie paßten nahtlos in den Plan. Sie in die Anklagebank zu setzen, das mußte Dobbs doch in seinen Augen zum Helden des Jahrhunderts werden lassen.« Er verzog die Mundwinkel und wandte sich wieder Dobbs zu. »Nicht schlecht für einen Chinesen, was, Dobbs? Leute wie Sie, Dobbs, bringen mich zum Kotzen.« Feiffer blickte zu dem einzigen kleinen Fenster des Raumes an der gegenüberliegenden Wand. Von dort waren es noch drei ganze Stockwerke bis hinunter in die Sicherheit des festen Bodens. »Meine Leute sind draußen«, sagte er. »Ja, das weiß ich«, sagte Ming. »Und sobald sie die Schüsse hören, werden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um hier hineinzukommen. Dann aber werde ich schon oben im Generatorenraum sein, von wo aus ich mich ihnen im richtigen Moment anschließen werde. Dann werde ich sagen, ich sei von unten gekommen, weil ich in meinem Streifenwagen den Notruf gehört hätte. Oder ich werde sagen, ich sei auf der anderen Straßenseite in der Telefonzelle gewesen und hätte von dort den Auflauf hier gesehen. Sobald man die Leiche von Dobbs findet, wird es hier nämlich von Leuten aus Kai Tak wimmeln. Und, Dobbs, man wird nie einen dreckigen kleinen Chinesen zur Kenntnis nehmen, der sich neben so vielen illustren Europäern ebenfalls hier herumgetrieben hat. Oder etwa doch?« »Superintendent Dobbs für Sie, Sie gelbes Monstrum!« sagte Dobbs. »Mr. Ming für Sie!« schnappte Ming. Er wandte sich an Feiffer. »Falls Sie sich wundern sollten, wie es mir gelungen ist, Currys Blut von meiner Uniformjacke fernzuhalten, kann ich Ihnen sagen, daß 181
ich einen alten Regenmantel getragen habe. Er liegt jetzt in dem Säurebad, in das eigentlich auch Curry hinein sollte. Dahin sind übrigens auch die Sachen nach dem Job in dem Kanal gewandert.« Er schluckte. »Ich wollte eigentlich nur schnell Curry umbringen und mich dann aus dem Staub machen. Daß dabei auch noch Sie aufgetaucht sind, Dobbs, das war wirklich ein ganz ungeahnter Glücksfall.« »Sie werden nicht davonkommen«, sagte Dobbs. »Ich bin doch schon davongekommen! Wenn man Sie findet, wird alles derart konfus sein, daß man Wochen braucht, um langsam Klarheit zu bekommen, und dann werde ich wegen der allerletzten Bedrohung eines Flugzeuges anrufen und mein Geld verlangen.« Er lachte. »Ich werde einfach behaupten, ich sei einer der kleinen Ganoven aus der alten Gang, die das alles geplant hat. Man wird Feiffer mit Kugeln aus der Maschinenpistole finden und Sie mit Kugeln aus Feiffers Revolver. Ein klassisches Feuergefecht zwischen Gangstern – oder zwischen dem guten Cop und dem bösen Gangster. Ganz einfach!« Er blickte Feiffer an. »Es tut mir ja leid, daß Sie auch gehen müssen, aber es muß leider sein. Allerdings werde ich es in Ihrem Fall schnell und schmerzlos machen.« »Das ist ja wirklich liebenswürdig von Ihnen«, sagte Feiffer. »Und bevor ich es vergesse oder nichts mehr sagen kann: Vielen Dank, daß Sie mich hereingelegt haben.« »Tut mir wirklich leid.« »Darauf schließe ich eine Wette ab.« »Nicht wirklich«, sagte Ming. »Ich –« »Sie haben über neunzig Menschen auf dem Gewissen! Nun kommen Sie mir bloß nicht damit, die Wiederherstellung der chinesischen Ehre rechtfertige das alles. Sie sind nicht anders als alle Mörder und Diebe auf der ganzen Welt, gleich von welcher Hautfarbe. Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie wollten mir irgendwelche Vorteile angedeihen lassen! Sie sind derjenige, der andere zum Kotzen bringt, nicht Dobbs!« »Aber er hat mich Stückchen für Stückchen langsam getötet!« »Mir bricht das Herz.« »Mr. Dobbs«, sagte Ming steif, »stellen Sie sich da vor die Wanne.« Er blickte Feiffer an. »Vielleicht haben Sie sogar recht. 182
Und in diesem Fall gibt es überhaupt keinen Grund mehr, nur noch eine einzige Sekunde zu verlieren.« »Verdammte Nummer eins«, sagte Dobbs sarkastisch. »Gehen Sie rüber zur Wanne«, sagte Ming. Der Fahrer des Einsatzwagens der Bereitschaftspolizei riß die Klappe seines Wagens herunter. Der Landrover war voll mit Tränengasgewehren und Karabinern. »Die schwere Eisenschere«, sagte O’Yee und wühlte schon in einer der Kisten. »Die Schneidemaschine!« schrie er den beiden Inspektoren zu, die schon ihre Gewehre zusammenbauten. Er wühlte weiter in der Kiste herum. »Hilf mir doch suchen!« schrie er Auden an. Dobbs sah sich schnell im Raum um. Seine Blicke trafen sich mit denen von Feiffer. Er blickte zum Fenster. Dann berührte er leicht den Halfter mit den Fingerspitzen und runzelte die Stirn. »Sehen Sie«, sagte Dobbs zu Ming, »dieser Ort sagt mir nichts.« Er hob die Hand wie ein Verkehrspolizist, um ihn zu stoppen. »Sehen Sie, es lohnt sich doch nicht, dafür zu sterben, oder?« Ming lächelte. »All dieses Gerede über die Chinesen ist doch nur ein großer Haufen Quatsch ... das wissen Sie doch ...« Er deutete mit der Hand zu Feiffer. »Sogar er weiß es. Alles, was Sie wollen, ist doch nur Geld. Nun, ich bin in der Lage, es für Sie zu beschaffen! Ich kann das Geld bekommen! Ich kann sogar das Doppelte von dem ranschaffen, was Sie haben wollen.« Er gab sich den Anschein des Kumpelhaften. »Curry war der Prinzipal. Okay. Jeder weiß das. Okay. Fein. Dann lassen Sie es doch dabei – warum machen Sie sich weiter Gedanken?« Gleich unter seinem rechten Auge zuckte ein Muskel. »Nun? Was machen Sie sich weiter Gedanken? Warum denn nicht?« »Halt’s Mal, Dobbs!« sagte Feiffer. »Halten Sie’s Maul! Was wollen Sie tun? Hier wegen ein paar Toten in einem Flugzeug sterben? Was interessiert es denn die Leute überall in der Welt, was in einer so kleinen lausigen Kolonie vorgeht? Sie wissen doch, warum die Leute hierher kommen, Feiffer. 183
Sie kommen, um sich zu holen, was irgend zu holen ist, und dann verschwinden sie wieder als reiche Leute.« Er blickte Ming durchdringend an. »Stimmt das vielleicht nicht?« Auf Mings Gesicht lag ein undurchdringliches Lächeln. »Dieser ganze Quatsch, den ich da über Chinesen von mir gegeben habe«, sagte Dobbs, »– Mensch, Sie wissen doch, daß ich das im Grunde genommen nicht so gemeint habe! Und wenn ich es so gemeint hätte, dann habe ich mich geirrt! Dann habe ich andere Chinesen gemeint! Ich meinte doch nicht Leute Ihres Kalibers! Wenn Sie mir je gesagt hätten, daß Sie so was planen, ich hätte Ihnen doch geholfen!« Sein Gesicht drückte Begeisterung aus. »Ich kann Ihnen noch immer helfen!« »Und wie?« »Ich kann Sie decken! Wir können behaupten, wir hätten Feiffer beim Mord an Curry überrascht, daß uns aber die anderen, die in die Sache verwickelt waren, durch die Lappen gegangen sind! Später können wir dann behaupten, irgend jemand habe uns wegen des Geldes angerufen, und dann können Sie als Bote fungieren. Und Sie überbringen es dann – uns! Ich kann uns Passagen auf einem Flugzeug beschaffen in ein Land, aus dem es keine Auslieferung gibt. Das ist das Werk einer einzigen Sekunde. Und mit doppeltem, was sage ich, dreifachem Erfolg.« »Und was wird aus Feiffer?« »Was schert uns der?« fragte Dobbs. »Sehen Sie, mein ganzes Leben lang habe ich auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Sie brauchen überhaupt nichts mehr zu tun. Ich kann ihn töten, und wir können sagen –« Er machte eine vage Handbewegung. »Wir brauchen noch nicht einmal zu lügen! Ich gebe sogar zu, daß ich ihn getötet habe! Wir können ein bißchen von Currys Blut auf seine Uniform schmieren, und dann sagen wir, wir hätten ihn gefunden, als er sich gerade über Curry beugte.« Dobbs sah Ming flehend an. »Ich kann Ihnen helfen!« Er begann, langsam seinen Revolver aus dem Halfter zu ziehen. »Ich beweise es Ihnen! Ich töte ihn jetzt gleich für Sie!« Er blickte ängstlich zu der Maschinenpistole. »Ich bewege mich ganz langsam! Ich werde nur einen einzigen Schuß abgeben! Sie können mich überwachen!« Vorsichtig kam der Revolver aus dem Halfter und lag in Dobbs’ Hand. Sein Finger lag nicht am Ab184
zug. »Sehen Sie! Ich entlade ihn jetzt. Und dann setze ich nur eine Patrone ein, so daß ich also nur –« Er ließ die Kammer aufschnappen und holte fünf der sechs Patronen heraus. »Die restlichen Patronen können wir später wieder einsetzen, wenn er tot ist.« Er blickte Ming an. »Hol’s der Teufel, aber ich sterbe nun mal nicht gern!« Ming sagte nichts. »Es wird funktionieren«, sagte Dobbs. »Ich weiß genau, wie alles auszusehen hat.« Mings Augen waren unverwandt auf den Revolver gerichtet. Er schien ihn irgendwie zu faszinieren. »Also gut, dann bin ich ein Nichts«, sagte Dobbs. Seine Augen suchten die von Feiffer. »Was haben Sie erwartet?« fragte er und wandte sich gleich wieder Ming zu. »Ja?« Ming schwieg noch immer. Seine Augen blickten unverwandt auf seinen Chef und die eine Patrone in der offenen Kammer des Revolvers. Er schien zu lächeln. »Sehen Sie!« sagte Dobbs. Er ließ die Trommel sich drehen, um die Patrone aus der Sicht verschwinden zu lassen. »Ich könnte jetzt gar nicht mehr schießen.« Das Lächeln blieb auf Mings Gesicht. Feiffer sah ihn an. »Entladen Sie Ihre Waffe!« verlangte Dobbs von Feiffer. Feiffer ließ die sechs Patronen in die offene Hand fallen. »Ich habe die letzten sechzehn Jahre damit verbracht, nach und nach reich zu werden«, sagte Dobbs, »und das wissen Sie ganz genau, Ming. Warum also sollte ich etwas gegen den ganz großen Zahltag haben? Ja, ich mag die Chinesen nun mal nicht, und das ist schlimm. Aber was soll’s? Es gibt eine Menge Halbeuropäer so wie den da, die ich genausowenig leiden kann. Er weiß im Grunde nicht, wohin er gehört. Aber ich für meine Person weiß es, und Sie wissen es ebenfalls!« Er zuckte die Schultern. »Sehen Sie, ich kann Sie kein bißchen leiden, und Sie hassen mich auf den Tod – aber gemeinsam können wir unser Glück machen! Und danach gehen wir jeder unserer Wege – was interessiert es mich, ob wir beide uns dann jemals wiedersehen.« Er hob die Schultern. »Für mich wäre es eine Kleinigkeit. Man wird mir ohne weiteres glauben! Sie wissen, daß man mir glauben wird.« Er blickte Ming fragend an. »Nun? Wie denken Sie darüber?« 185
Das Lächeln auf Mings Gesicht schien unverändert. »Ein niedlicher Versuch«, sagte er. »Sie werden’s gar nicht glauben, aber ich denke sogar, daß Sie es ernst meinen.« Er hob die MP ein Stückchen an. »Aber genug ist genug.« Seine Augen ruhten nach wie vor auf dem Revolver in Dobbs’ Hand. »Vielen Dank übrigens, daß Sie Ihren Revolver selbst gezogen haben. Das macht die Sache wegen der Fingerabdrücke noch einfacher.« Seine Augen verengten sich ein wenig. »Dobbs, Sie sind wirklich eine Null.« Er senkte die Mündung der MP ein wenig, um auf die Uhr an seinem Handgelenk zu blicken. Er duckte sich automatisch, als sowohl Feiffer wie Dobbs ihre Revolver fast gleichzeitig in Richtung des kleinen Fensters schleuderten und in Richtung zum Flur rannten – genau in dem Augenblick, als eine Garbe aus der Maschinenpistole über ihre Köpfe hinwegstrich. Auden hielt schon ein Tränengasgewehr in der Hand, als die Bereitschaftspolizei sich daranmachte, die Tür aufzubrechen. Er hörte das dicke Glas splittern. Irgend etwas kam aus einem der Fenster ganz oben geflogen und schlug krachend auf den Beton zu seinen Füßen. Er rannte die Stufen hinunter, und dann hörte er die Garbe aus einer Maschinenpistole. O’Yee entriß ihm das Gewehr und zielte kurz. Dann zog er den Abzug durch. Es gab einen dumpfen Knall, als die Tränengasbombe durch das Fenster im dritten Stock fiel. Scherben und Splitter vom Schrank flogen durch den Raum, während er sich mit Gas füllte. Feiffer tastete sich vor und bekam einen Arm von Dobbs zu fassen. Er zog an dem Arm und flüsterte. »Raus! Hier entlang!« Wieder ein Feuerstoß und dann ein lautes Klicken. Currys Leiche lag ihnen im Weg. Feiffer schob sie mit dem Fuß zur Seite, und schon wurde sie von einer dichten Gaswolke verschluckt, die sich über den Boden ausbreitete. Tränen begannen über sein Gesicht zu strömen, und seine Lunge zog sich zusammen, als das Gas in sie eindrang. Wieder gab es ein Klicken, als Ming versuchte, die Sterling wieder zu laden, dann lautes Husten und schließlich vernehmbares Knacken, als er den Sicherungsflügel zurückzog. 186
Feiffers Hand bekam die Tür zum Korridor zu fassen. Blind zog er sie auf und drängte Dobbs nach draußen. Drinnen im Raum erklang ein erneuter Feuerstoß, als Ming in blinder Wut den Fußboden auf der Suche nach ihnen mit der Sterling förmlich umpflügte. Feiffer schlug die Tür zu und kam auf die Füße. Den Türknauf hielt er mit beiden Händen fest, während er sich an die Wand daneben lehnte. Die Tür schien zu explodieren, als Ming eine Garbe hineinschoß. Gleich darauf ertönte ein feines Singen, mit dem einzelne Kugeln von den metallenen Angeln abprallten und als Querschläger in den Raum dahinter zurückjaulten. Durch die zerfetzte Tür drang Gas in den Korridor. Feiffer suchte in aller Eile in seiner Jackentasche nach den Schlüsseln für die Aufzüge. Er fand sie. Wieder drang ein Feuerstoß durch die Tür und brach dann abrupt ab. Von drinnen klang schreckliches Husten, als Ming versuchte, die Lungen wieder freizubekommen. Und noch ein Feuerstoß aus der Sterling ließ Feiffer fast das Trommelfell platzen, als der Verbrecher blind in den Raum hineinschoß. Man hörte dickes Glas splittern. Feiffer ließ die Tür los und zog Dobbs mit sich bis an die Wand zurück. »Rennen Sie, so schnell Sie können!« schrie er Dobbs in Ohr. Mings Augen wurden langsam wieder klar. Rings um ihn brach Glas. Durch das Glas hindurch sah er für den Bruchteil einer Sekunde eine riesige Woge der Säure aus den sechs zerschossenen Glasbehältern auf sich zukommen. Er riß die Arme hoch, als wolle er die Woge mit den Händen aufhalten.
15 Die Stimme des Commanders klang besorgt am Telefon. »So, und wie denken Sie über die Möglichkeit, daß es doch noch eine letzte Bedrohung geben könnte, Feiffer?« Er räusperte sich. »Seither sind immerhin zwei Tage vergangen, und es hat sich nichts ereignet. Was meinen Sie?« »Was meint denn Dobbs?« 187
»Ich wußte ja noch gar nicht, daß Sie beide in den letzten Tagen so dicke Freunde geworden sind.« »Das sind wir gar nicht. Bedrohungen von Flugzeugen aufzudekken ist seine Sache.« Feiffer blickte zur Wanduhr hinüber. Es war kurz vor sechs Uhr nachmittags und somit Zeit, an den Nachhauseweg zu denken. »Ich sehe eigentlich keinen Grund zu der Vermutung, Inspector Ming sei ein Mann, der sein Wort in einer solchen Sache nicht hält.« »Sie glauben also, es gibt noch eine solche Bedrohung?« »Ich weiß es nicht. Wie schon gesagt, das ist Dobbs’ Sache.« »Dann ist Ihnen also nicht so, als müßten Sie mal schnell hinüber nach Kai Tak fahren, um ihm ein bißchen zu helfen?« »Nein, mir ist nicht so, als müßte ich mal schnell hinüber nach Kai Tak fahren, um ihm ein bißchen zu helfen.« »Sehen Sie mal, Feiffer«, sagte der Commander besänftigend, »ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als suchte ich Entschuldigungen für Leute vom Schlage eines Dobbs, aber –« »Ich bin richtig froh, das aus Ihrem Mund zu hören.« »– aber diese Sache in Kai Tak hat ja in einem wahren Blutbad geendet. Sicher begreifen Sie, daß die Leute noch immer Angst davor haben, mit dem Flugzeug –« »Ich sehe bloß nicht, wie ich von Nutzen sein könnte, Commander. Sowohl Nummer zwei als auch Ming sprachen davon, daß es noch eine letzte Bedrohung geben würde, aber was das ist und wo das ist, das weiß ich einfach nicht. Dobbs braucht meine Hilfe bestimmt nicht. Ich weiß wirklich nicht, was wir von hier aus noch tun können.« »Dobbs machte mir ganz den Eindruck, als wisse er Ihre Hilfe zu schätzen, wann immer Sie sie ihm anbieten würden.« »Sagen Sie ihm, er soll das dumme Gerede lassen.« »Nach allem, was ich aus den Berichten lesen kann, besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß er Ihnen in dem Raum das Leben gerettet hat.« »Wenn das stimmt, dann hat er einiges in den Berichten beschönigt, und da werden Sie verstehen, daß ich nicht gerade vor Dankbarkeit überfließe.« »Ist das Ihr letztes Wort in dieser Angelegenheit?« 188
»Mein letztes Wort in dieser Angelegenheit war, Dobbs zu empfehlen, es herunterzuschlucken.« »Gut«, sagte der Commander, »aber das war vor zwei Tagen. Und die Bedrohung? Es dauert jetzt schon länger als bei den anderen. Ob was schiefgegangen ist?« »Bestimmt.« »Warten wir noch mal eine Woche ab, und dann sehen wir ja, ob etwas passiert und was«, sagte der Commander. »Wenn nichts passiert, gehen wir eben davon aus, daß es vorbei ist.« Er unterbrach sich kurz. »Und da es auf sechs Uhr zugeht, denke ich, werden Sie sich schon aufs Nachhausegehen eingestellt haben.« Feiffer sagte nichts. »Also dann«, brummte der Commander. »Machen Sie sich einen schönen Abend. Es ist immerhin Frühling. Wissen Sie, als ich noch in Ihrem Alter war –« Er hörte ein scharfes Klicken am anderen Ende der Leitung und grinste vor sich hin. Um einundzwanzig Uhr Ortszeit sah der Steward des El Al Fluges Nummer 569 von Hongkong über New Delhi nach Rom auf die Uhr. Die Maschine war noch außerhalb der europäischen Kontrollzone, und es blieb noch gerade Zeit für einen Film, bevor das Abendessen gereicht wurde. Er drückte den entsprechenden Knopf an einer Wandkonsole, um den Film zu starten. Aber fast noch im selben Augenblick stoppte er die Vorführung wieder und holte die Kassette aus dem Filmgeber. Das Flugzeug war auf einem Charterflug und voll mit amerikanischen Rabbinern auf dem Weg nach Europa und ins Heilige Land. Da war ein alter Film von 1955 mit Victor Mature in der Hauptrolle und dem Titel »Der Ägypter« wohl doch nicht ganz das richtige Programm. Ängstlich blickte der Steward zur ersten Reihe von Rabbinern. Ihm fiel auf, daß es sich bei dem Film um eine der alten Nitrat-Kopien handelte, die eigentlich nicht mehr an Bord von Flugzeugen benutzt werden sollten. »Da hat sich einer einen dummen Scherz erlaubt«, murmelte er und ging schnell nach vorn ins Cockpit, um vom Tower in Rom die Freigabe für einen anderen Film zu erhalten. 189
Er hielt einen Moment inne und betrachtete den Film. Aus der Tonspur war gleich zu Anfang ein Stückchen herausgebrochen, und so hätte sich der Streifen ohnehin schon nach den ersten Minuten Laufzeit im Projektor verheddert. Er ging zu den Passagiersitzen zurück und zeigte den Film einer Gruppe von Rabbinern gleich vorn in der ersten Reihe. Die Rabbiner verzichteten auf die Vorführung. Eine Sache wie diese – ein Film über die gottverdammten Ägypter auf einem braven israelischen Flugzeug, dachten die beiden ChefRabbiner, war, sagen wir –, nun ja, was sollte man da sagen? War eigentlich provozierend! Die Reisegesellschaft der Rabbiner öffnete die Talmuds und nutzte die zusätzliche Zeit.