Eric van Lustbader
Dolman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
DOLMAN/Shallows of Night Copyright © 1978 by Eric Van Lustba...
17 downloads
387 Views
934KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Eric van Lustbader
Dolman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
DOLMAN/Shallows of Night Copyright © 1978 by Eric Van Lustbader Copyright © der deutschen Übersetzung by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martin Eisele Das Buch erschien bereits mit dem Titel „Der dunkle Weg“ Copyright © dieser Ausgabe 1993 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1993 Satz: Compusatz, München Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-06259-0
KEINE REISE HAT EIN ENDE Bujun-Sprichwort
I Eis
Durch kalte Nebel und wogende Wolkenschleier aufsteigend, die weiten Schwingen ausgebreitet, gleitet er auf den unberechenbaren Strömungen dahin. Die Streifen silbrigen Gefieders, die beiderseits über die Flügel verlaufen, kräuseln sich und verwischen im Wind. In einem weiten Bogen wendet er, senkt sich hinunter. Ein Stöhnen ist in seinen Ohren. Seine großen, klaren Augen sind direkt auf das gewaltige Auge der untergehenden Sonne gerichtet: eine breite und abgeflachte Scheibe, an den Seiten breiter, als stecke sie in einem gigantischen Schraubstock. Wattige metallgraue Wolkenstreifen schweben davor, wie die geisterhaften Reste einer einst riesigen, unbesiegbaren Armee. Abermals kreist er, entgeht geschickt einem trügerischen Abwind und richtet den gleichgültigen Blick in die Tiefe unter sich, durchdringt Wolken- und Nebelschichten, sieht das verzerrte Rund der Erde. Hohe Gipfel, vom Alter geschlagen, von gnadenloser Witterung brutal bearbeitet, gekrönt von bitterem Frost, von
perl- und smaragdfarbenem Eis umschlossen… Wild und trotzig erheben sich ihre buckligen Rücken in die Höhe, den peitschenden Winden entgegen, die, ewig wirbelnd, feinen, pudrigen Schnee von den Berghängen sammeln, ihn hochstäuben, mit sich reißen, vorwärts schleudern, wie Riesen, die über das öde Land schreiten. Über schroffe Schluchten schwebt er, deren Tiefen mit dem glänzenden Laken des ewigen Eises dick überfroren sind, während an ihren Seiten bizarre Fahnen lockeren Schnees entlanggetrieben werden, wie Rauch, der von einem Scheiterhaufen aufwirbelt. Seine Blicke folgen dem schwindelerregenden Abstieg von tanzendem Eis, grün-türkismagenta kristallisiert im sterbenden Licht, in das grelle Violett der gähnenden, beunruhigenden Tiefen: jähe Klüfte und Spalte, so sauber in das Land geschnitten, daß man unwillkürlich an eine unbarmherzige Klinge von ungeheuerer Größe dachte. Mächtige Schwingen peitschen die Luft, als aus diesen Tiefen das quälende Ächzen von sich verschiebenden Felsmassen zu hören ist. Ozon und Schwefel erfüllen die Luft, während die Erde bebt und zittert. Eisscherben reißen in dichten Hageln und mit unendlicher Langsamkeit ab, hängen unmöglich schwerelos in der Luft, brechen schichtweise zusammen, bis sie mit abrupter und endgültiger Schnelligkeit zu weiten flirrenden Kaskaden opalisierenden Sprühnebels hoch am Himmel explodieren und sich, wenn sie die letzten schrägen Strahlen wäßrigen Lichts erreichen, schließlich in Regenbögen verwandeln. Ruhig, elegant dreht er sich in der bunten, plötzlich wie gefroren wirkenden Weite des Himmels. Überall Eis und Schneeverwehungen. Nur gelegentlich erhebt sich irgendwo die müde Faust von Granit oder bizarrem
Schiefer – wie alte Grabsteine in einer fremdartigen Wüste, nutzlose Interpunktion auf einer leeren und zerfallenden Seite. Nichts bewegte sich in dieser feindseligen Eislandschaft. Und der große Vogel gleitet über den Himmel, und seine Augen – Augen mit einer schwarzen Iris – sind auf die furchtbare Gleichförmigkeit des Landes gerichtet, suchen es ab, forschen. In die untergehende Sonne hinein fliegt er, das majestätische Gefieder in verwässertem Scharlach gefleckt, und als er ein weiteres Mal erdwärts blickt, nimmt er einen dunklen, winzigen Schatten wahr, einen Schatten, der sich vom grellen Glanz des Eises abhebt. Muskeln reagieren auf den befehlenden Impuls des Gehirns, die Schwingen senken sich, für einen Augenblick verliert das Gefieder den scharlachfarbenen Glanz, zeigt sich in kräftigem, glänzendem Grau. Südwärts wendet er sich, um nähere Einzelheiten erkennen zu können. Die Auflösung des Anblicks kommt viel zu rasch, denn der Schatten ist riesig. Plötzlich bewegt er sich, und erschrocken wendet sich der Vogel ab von der Kante des steilen Abgrunds, deren Verlauf er gefolgt war. Aufgeregt schlagen die Schwingen, schnell, schnell eilt er nach Westen, steigt auf, erreicht die hohen Luftströmungen und wird kleiner im Licht der sinkenden Sonne…
Wie versteinert steht Ronin am Rande des hohen Eisplateaus. Wie versteinert starrt er nach Süden, ohne auf den entschwindenden Punkt am Himmel zu achten. Bewegungslos, sein Körper groß und muskulös, scheint er mehr Statue zu sein als Mensch, für jene zahllosen Legionen errichtet, die ungezählte Zeitalter auf dem wechselnden Antlitz dieses Landes gekämpft haben. Denn einstmals erhoben sich hier üppige grüne Wälder aus riesigem Farn und schlanker
Weide, Wälder, die ihre Fächer aus gefiederten Blättern ausbreiteten und dichte Dschungel aus herunterhängendem Laub und einem dichten Gewirr von Kletterpflanzen schufen. Kakaofarbene Krieger glitten durch das Zwielicht, kauerten sich nieder, schwitzend, den schrillen Schreien verblüffend gefärbter Vögel lauschend oder den Sprung vorbereitend, ein rasend schnelles Vorwärtshuschen, gelbbrauner, brauner Schatten, im durchsickernden Licht zuckend, der schnelle, leise Hieb, der Schwall hellen Blutes, der das Laub mit Perlen verziert, der sterbende Körper des Feindes. Und in einem anderen Zeitalter – früher oder später, man kann nicht sicher sein – stiegen an eben dieser Stelle fünfzehn Klafter Wasser empor, grünes Wasser, lebendig gehalten vom zügellosen Wuchs des Meeres. Breite, hölzerne Schiffe befuhren dieses Meer, und lange Ruder, die aus den hohen, geschwungenen Seiten ragten, tauchten in monotonem Rhythmus in die Wasser ein. Heisere Rufe hallten durch den von Salzwasser und Hitze schweren Himmel, während sich behelmte, bärtige Krieger auf die Schlacht vorbereiteten. Jetzt aber verkrusten dicke, harte Schneeschichten das schlüpfrige Eis der Klippe, auf der er steht, die Füße leicht gespreizt. Unbewußt ballt er seine linke Hand, die in einem seltsamen, schuppenbesetzten Kampfhandschuh, matt, reflektionslos, steckt. Der Wind tobt heran, schreit, heult, sticht in seine Ohren – und rast weiter, an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, über die Spalten und bizarren Erhebungen des Plateaus hinweg, weiter, immer weiter. Die Luft ist trocken und kalt. Der fantastische Anblick, der sich seinen Augen bietet, frißt sich mit der überdeutlichen Wirkung eines ekstatischen Traumes in seinen Verstand hinein. Und für einen winzigen Augenblick zerschmelzen die Erinnerungen an die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit.
Ein gigantisches Eismeer ist es, eine Wüste, weit, grenzenlos. Ehrfurchteinflößend und erregend. »Ein überwältigender Anblick«, sagte die Stimme ganz dicht hinter ihm. Und Ronin drehte sich langsam um, wie in einem Traum, um Borros, den Zaubermann, anzuschauen. »Das wahre Wunder mag darin liegen, daß man uns diesen Anblick unser ganzes Leben lang vorenthalten hat.« Ein dünnes, müdes Lächeln kräuselte Borros’ Lippen. Der Wind peitschte lockeren Schnee gegen ihre Beine, aber sie beachteten ihn nicht. Staunend, forschend, ehrfurchtsvoll standen sie auf dem Eisplateau, seltsame Wesen, bekleidet mit den einteiligen Folien-Anzügen, die sie auf der höchsten Ebene des Freibesitzes gefunden und angezogen hatten, bevor sie unabhängig voneinander und jeder auf seine eigene Weise die letzte metallene Barriere ihrer unterirdischen Welt durchbrochen hatten, die äußere Luke geöffnet hatten, die im treibenden Schnee vergraben war. Es waren äußerst leichte Anzüge, hauteng an Brust und Armen anliegend, die Taschen voll mit Gebrauchsgegenständen und Nahrungskonzentraten, vakuumversiegelt, immun gegen den Zahn der Zeit. Sogar einen kleinen Vorrat an mit Mineralien angereicherter Flüssigkeit trugen sie bei sich. Die Taschen verliefen um die Hüften und an der Außenseite der Beine entlang hinunter, wodurch sich die Innenwärme noch verstärkte. Ronin starrte Borros an, starrte ihn an, als sehe er ihn jetzt gerade zum ersten Male, der Brennpunkt der Realität war ihm schließlich aufgezwungen, und all der rohe Haß, den er in diesen langen Augenblicken des Schwebens zurückgehalten hatte, strömte auf einer unerbittlichen Flutwelle in seinen Geist zurück. Es war, als würde er in einem engen Kanal festhängen, als würden wild und tosend die Abwässer heranschießen…
Und er schrie und schüttelte sich und wehrte sich, und die Bewegungen schienen ihn irgendwie zu reinigen. Er wußte, daß er Zorn und Sorge tief in sich trug, und daß somit eine furchtbare Kraft an ihn gebunden war. Der Zaubermann hatte die Geste mißverstanden und er ergriff Ronins Schulter. »Ist dir auch nicht kalt?« Seine Finger glitten über die Folie, hin zu einer Falte über Ronins Nacken. »Sieh her.« Und er zog vorsichtig daran, nach oben. Die metallische Haut des Anzugs dehnte sich, wuchs förmlich um Ronins Kopf herum und bedeckte ihn. Nur seine Augen und seinen Mund ließ sie frei. Mühsam brachte Borros daraufhin seine eigene Kapuze an. Sodann wandte er sich um, blickte über das Eisgeröll der gefrorenen Einöde, hin zu jenem dunklen Flecken, der den Einstieg in den unter der Erde liegenden Freibesitz bildete. Eine winzige Einstiegsluke, die tiefer und tiefer und tiefer in die Welt im Bauche der Erde hinunterführte, in eine Welt, in der jetzt Krieg herrschte, in eine Welt, in der einzelne Cliquen um hoffnungslose Macht kämpften. »Du darfst mich nicht für einen Narren halten«, sagte der Zaubermann drängend. »Aber wir müssen von hier verschwinden. Jetzt gleich, Ronin.« Tränen quellen in Ronins Augen, blenden ihn, und die Berge schmelzen zusammen, als er das Tosen des Windes nicht mehr wahrnimmt. Der Himmel: farblos. Die Erde: ohne Substanz. Seine Füße sind bleischwer. Sein Herz hämmerte. Es war wie der Nachschock einer tiefen Wunde, die unbedingt ausgebrannt werden mußte. Als würden die Nerven noch nicht richtig funktionieren.
Zuerst gab es überhaupt kein Empfinden. Taubheit nur. Der Körper schützte sich selbst. Aber es gibt eine Grenze. Sein Bewußtsein verengte sich, weil er jetzt dagegen ankämpfte. Alle Menschen, die er geliebt hatte, alle seine Freunde, all die Leute, der er gekannt hatte, mit denen er aufgewachsen war. Fort. Ausgelöscht während eines Augenzwinkerns. Nur ein Aufflackern der Zeit, gerade lang genug, um zwei Atemzüge zu machen, und Leben sind weggeputzt, vergangen wie dünne Kerzen. K’reen und Stahlig und Nirren und G’fand und – der Salamander, der Mittelpunkt des Ganzen. Noch war er da unten, noch lebte er, lebte er… » – jetzt!« Langsam, so schien es ihm, wurde er sich eines ungeduldigen Zupfens an seinem Ärmel bewußt. »Ronin, bitte, wir müssen aufbrechen!« Wie aus einer großen Entfernung hörte er die Worte. Sie hingen wie Lampen vor seinen Augen, einzeln und fest, eines hinter dem anderen, drehten sich um eine unsichtbare Achse, ihr Glanz – »Hol’s die Kälte! Ronin, wir müssen jetzt gehen! Weg von hier, bevor dort unten unsere Verfolgung organisiert werden kann.« Dann war die Bedeutung der Worte durchgedrungen, in seinen Schädel gesickert, und er fuhr auf, wie aus tiefem Schlaf. »Ja«, erwiderte er heiser, und drehte sich, um Borros anzusehen. »Ja, natürlich müssen wir los.« Seine farblosen Augen waren jetzt klar, ihr Blick scharf und schnell. »Aber – wohin?« »Dorthin«, sagte der Zaubermann. Und er hob seine Hand, beschrieb damit eine schweifende Geste über den Rand der Klippe, hinaus in die ungeheuere Weite des dunkler werdenden Eismeeres.
Nichts existierte außer dem Heulen des eiskalten Windes. Zentimeter für Zentimeter schob er sich an dem alten Fels entlang tiefer. In den Rissen und Spalten hatte sich verharschter Schnee angesammelt. Wie das Wehklagen der Verdammten grellte der Wind in seinen Ohren. Ronin tastete nach Halt für Hände und Füße. Borros war bereits ein ansehnliches Stück vorangekommen, dem Ziel näher, das sie sich ausgesucht hatten: das Eismeer, tief, tief unten. Allzu deutlich spürte Ronin den Abgrund in seinem Rücken. Die Großartigkeit seiner Leere lockte ihn, der Wind war wie Sirenengesang, hypnotisch heulend, winselnd… Entspanne dich, laß los, Ronin fühle das sanfte Loslösen warmen Fleisches von kaltem Stein… Du fällst nach hinten, langsam, mühelos, auf das weiche Kissen des Windes… Du drehst dich um dich selbst, wirst davongetragen… Während du in die Tiefe fällst. Ein Ende, das er sich nicht wünschte. »Was, über die Klippe?« hatte er gesagt, vorhin, als Borros ihm sein Vorhaben erläutert hatte. Und in das Gesicht des Zaubermannes war ein eigenartiges Leben gekommen, eine feine Vorfreude. »Ja. Ja! Siehst du nicht?« Als ob er sein ganzes Leben auf diesen einen lebhaften Moment gewartet hätte. »Es ist der einzige Weg hinunter zum Eismeer. Unser Weg liegt im Süden. Südlich in das Land der Menschen.« Und so hatten sie sich dem Abgrund genähert, vorsichtig, behutsam, jeder Schritt eine Gefahr. Der Schnee war verharscht, das Eis trügerisch. Sie hatten sich an den Abstieg gemacht, endlich vollkommen frei von jedweder Fessel, die jeden Menschen irgendwann an ein Zuhause bindet. Herrenlos, aber nicht ziellos.
Annähernd tausend Meter marschierten sie am Abgrund entlang. Dann ließ sich Borros über den Rand gleiten. Ohne einen Blick zurück begann auch Ronin zu klettern. Ronin bemerkte, daß Borros unter ihm angehalten hatte. Er rief zu ihm hinunter, aber das Pfeifen des Windes riß ihm die Worte von den Lippen und peitschte sie davon. Kommunikation war unmöglich. Vorsichtig ließ sich Ronin an die Seite des Gefährten hinunter. »Der Weg unten ist versperrt«, sagte Borros dicht an seinem Ohr. Ronin suchte die wirbelnden Schneeschauer mit seinen Blicken zu durchdringen. Tatsächlich. Direkt unter ihnen wölbte sich ein mächtiger Buckel aus Schnee und Eiskristallen über der Klippenwand, und es war unmöglich, die Haltbarkeit zu bestimmen. Selbstmörderisch, den Abstieg in einem behutsamen Vorantasten zu versuchen. Doch es war unbedingt notwendig, daß sie sich bewegten. Ronin suchte die Klippenwand ab. Rechterhand… Er bemerkte eine dunkle Fläche an der Wand. Er machte den Zaubermann darauf aufmerksam. Langsam schoben sie sich den schmalen Sims entlang, und bald darauf nahm die dunkle Fläche Gestalt an. Wie Ronin gehofft hatte, war es eine Höhle von beträchtlicher Größe. Sie hatten einen Unterschlupf vor Wind und Kälte gefunden. Tief seufzte Borros, als er seine Kapuze abzog. Sein haarloser Schädel glänzte im trüben Licht, schien eigenartig zu diesem fremden und abweisenden Ort zu passen, seine außergewöhnliche Safran-Farbe mochte gar als Patina des Alters durchgehen. Ronin ging zum Höhleneingang zurück. Direkt vor ihm fiel die Klippe jäh ab. Trotzdem mußte es unter der schweren Schneemasse, die sich mit verzweifelter Zähigkeit an den porösen Fels klammerte, einen Weg zum Eismeer hinunter
geben. Von dessen Oberfläche konnte er gerade noch einen schmalen Streifen ausmachen, im nachlassenden Licht funkelnd. Seitlich gab es nur den unbedeutenden Sims, auf dem sie zu der Höhle gelangt waren. Weiter rechts verschwand er, ging er in die Felswand über. Ronin rammte seinen Stiefel in den Schnee, schleuderte die weißen Kristalle hinaus, ins Nichts, und sah ihnen nach, wie sie, gleich weißen Fahnen, in die Tiefe wehten. Dann kehrte er ins Zwielicht der Höhle zurück. Borros war beunruhigt. »Was sollen wir tun?« fragte er Ronin, während er hin und her schritt. »Wir müssen den Abstieg fortsetzen. Wahrscheinlich sind unsere Verfolger schon unterwegs…« Ronin verzog seinen Mund zu einem kurzen, frostigen Lächeln. »Glaubst du wirklich, daß sie auch nur einen Mann an die Oberfläche hinauflassen? Sie müssen doch glauben, daß wir hier draußen umkommen werden.« Der Zaubermann wandte seinen Blick vom Höhleneingang ab und sah Ronin direkt an. »Du scheinst mir Freidal schlecht zu kennen. Oder die Sicherheit. Meine Flucht – « Seine Augen schnellten zum Eingang der Höhle zurück. »Er wird mich töten, wenn er mich gefaßt hat.« Sein Blick glitt wieder über Ronins Gesicht, wie Wolken über das Antlitz der Sonne. »Und dich wird er auch töten. Wenn er mich findet, findet er auch dich.« »Niemand ist hinter uns her«, meinte Ronin eindringlich. Borros zog seine Kapuze wieder über den kahlen Schädel. »Du irrst dich, aber das macht nichts. Selbst wenn uns Freidal nicht folgt, haben wir keine andere Wahl. Wir müssen zum Eismeer hinuntergelangen. Hier können wir nicht lange überleben.«
»Besser auf dem Weg nach unten als hier, in dieser Höhle, sterben«, sagte Ronin zynisch. Borros zuckte die Schultern. »Kommst du mit?« Er antwortete nicht sofort, sondern entfernte sich vom Licht, begab sich in das dunkle Innere der Höhle, roch den scharfen Duft roher Mineralien und Steinstaub, bemerkte, wie das Pfeifen des Windes schwächer wurde. Und es gab andere Geräusche. Weit hinter sich hörte er schwach den durchdringenden Ruf des Zaubermannes, aber darum kümmerte er sich nicht. Aufmerksam lauschte er, während er zielstrebig weiterschritt. Sein Puls beschleunigte sich. Und jetzt war er sicher. Aufgeregt streckte er die Hände aus, ließ sie in die Schwärze hineingleiten, an der Wand entlangtasten, wie ein Blinder. Erneut vernahm er Borros’ Stimme, ein verzweifelter und einsamer Ruf, und er ging langsam vorwärts, um sein Ziel nicht zu verfehlen. Endlich blieb er wieder stehen, seine Finger glitten über das Metall, und sein Herz übersprang einen Schlag, denn er wußte jetzt, daß es einen zweiten Weg in die Tiefe gab. Er rief nach Borros. Was er für das Säuseln des Windes gehalten hatte, war in Wirklichkeit das ferne Geräusch strömenden Wassers gewesen. Das Lied des Windes war schon so lange in seinen Ohren, daß er kaum mehr fähig gewesen war, die feine Veränderung wahrzunehmen. Erinnerungen flammten auf: Der lange Abstieg vom Freibesitz in die Stadt der Zehntausend Pfade… Das Flackern von G’fands lächelndem Gesicht war in seinem inneren Auge erstarrt, löste sich auf in dem blutigen Überrest seines Leichnams, der auf die staubigen Pflastersteine der alten Straße geschleudert war, die Augen traten hervor, die Kehle war von dem namenlosen Ding zerfetzt… Grausame Augen! Die Bestie hatte zweimal versucht, auch ihn, Ronin, zu
töten. Beide Male war sie gescheitert. Die Kälte… Eine tödlichere Kälte, als in einem Sarg voller Eis… Ja, er hätte das Geräusch strömenden Wassers nie erkannt, wäre da nicht dieses Abenteuer gewesen. Ein Wasserfall in der Tiefe unter dem Freibesitz, wildes tosendes Wasser, das ungestüm über glatten Fels hinunterstürzte und hinunterschäumte. Er und G’fand, der Gelehrte, waren auf ihrem Weg in die Stadt der Zehntausend Pfade auf jenen gewaltigen Wasserfall gestoßen, und der Widerhall der fallenden Wasser hatte sie viele Kilometer weit begleitet. Das Geräusch, das er jetzt hörte, war dasselbe, lediglich durch die Entfernung gedämpft. »Zaubermann!« rief Ronin wieder. Ein Tosen in der Ferne. Offenbar waren sie noch weit von dem Katarakt entfernt, doch allein das Vorhandensein des Geräusches war bereits ein deutlicher Hinweis darauf, daß diese Höhle wahrscheinlich mehr als nur eine Höhle war. Ronin glaubte gar, in den äußeren Bereichen eines Tunnels des Freibesitzes zu sein. Er dachte an Bonneduce den Letzten, den kleinen, lahmen Mann, den er in der Stadt der Zehntausend Pfade getroffen hatte, und an dessen Gefährten Hynd, ein Wesen, das mehr als nur ein Tier war. Bonneduce war es gewesen, der ihm, Ronin, versichert hatte, auf der Oberfläche gelebt zu haben. Aber er hatte ihm keinen Hinweis darauf gegeben, wie er in die Stadt der Zehntausend Pfade hinuntergekommen war. Konnte dies sein Ein- und Ausgang sein? Ronin war sich dessen sicher. Unter dieser Voraussetzung mußte es in dieser Höhle einen Schacht geben, der zum Eismeer hinunterführte. Ronins Hand legte sich um den Griff. Borros näherte sich. »Ich habe etwas entdeckt«, sagte Ronin. »Trägst du Zunder bei dir?«
Der Zaubermann griff in eine seiner Taschen und holte Zunder und Feuerstein hervor. Gemeinsam entzündeten sie die Fackel. Die Flamme, anfangs winzig, flackerte fahlgelb hoch, qualmend, so daß die Gefährten würgten und hustend gezwungen waren, ihre Gesichter abzuwenden. Das orangefarbene Licht sprang und bebte, und als sie sich das Wasser aus den Augen wischten, vermochten sie zum ersten Mal die rauhen, sandigen Wände des Höhlenganges zu sehen, schwarzes Eis, das wie Obsidian in den schattigen Vertiefungen glänzte, die Oberfläche ockerfarben und grün, silbern und rosa von den freiliegenden Mineralienadern gestreift. Alles, was sie brauchten, gab es hier, hing an dem Metallgitter in der Fackelnische. Lange Seilwinden, bestehend aus einem besonderen Material, nicht dick, aber – Ronin machte die Probe – offensichtlich mehr als stark genug. Es gab kleine metallene Hämmer mit großen Köpfen, des weiteren einige Beutel, die mit Metallstiften ungewohnter Machart gefüllt waren, am oberen Ende breiter abgeflacht, wodurch ein kreisrundes Loch gestanzt war, groß genug, so daß das Seil hindurchzuziehen war. »Und so«, sagte Ronin, »werden wir die Klippe also doch hinuntersteigen.« Sein Schädel fuhr hoch, die Nasenflügel blähten sich, sogen den Geruch ein! Sie hatten hart gearbeitet, hatten, auf den Knien kauernd, die Stahlstifte in den felsigen Höhlenboden direkt vor der Öffnung getrieben, hatten die Seile eingefädelt, Doppelknoten geknüpft. Die kleinen Beutel trugen sie um ihre Hüften; die Hämmer baumelten an kurzen Riemen von ihren Handgelenken. Nachdem sie sich die Seilenden um die Hüften geschlungen
hatten, waren sie zum Höhleneingang gegangen. Ronin ließ das Seil fallen, seine Hand fuhr an den Schwertgriff. Diese Ausdünstungen kannte er! Ein ungeheuerliches Wesen… Aus den schwarzen Schatten der Stadt der Zehntausend Pfade war es gekrochen, das goldene Halbdunkel sein Verbündeter… Ein fürchterlicher Schädel, wahnsinnig glühende Augen, der gekrümmte, bösartige Schnabel… Ronins Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an die Unverwundbarkeit dieses Monsters, die Verzweiflung, mit der es seine Angriffe führte… G’fand, verletzt am Boden liegend… Die Ausdünstung damals war wie etwas – Lebendiges gewesen. Und der Geruch, den er jetzt, in diesem Moment, wahrnahm, war der gleiche! Weit weg, noch – aber er wurde intensiver! Ronin ließ zu, daß sich Ärger, Zorn, Furcht in ihm vermischten, so lange, bis Wut daraus entstand. Adrenalin pulste durch seinen Körper. Die in den Kampfhandschuh gehüllte Linke ballte sich. Überhaupt, dieser Handschuh… Bonneduce der Letzte hatte ihn ihm überlassen. Aus der riesigen Pfote einer jener schrecklichen Kreaturen war er gemacht. Wie viele von ihnen mag es geben? fragte er sich flüchtig. Er zog seine Klinge blank. Und fühlte die Hand, die sich auf seine Schulter legte, hörte die Stimme, die eindringlich ausrief: »Was machst du? Du Narr, wir müssen von hier verschwinden! Es gibt keine Zeit zu verlieren!« Seine Hand krampfte sich fester um den Schwertgriff. »Ronin, wir müssen das Eismeer erreichen!« Instinktiv wußte er, daß Borros recht hatte. Zuerst einmal mußten sie überleben. Sein Kampf würde warten müssen, und das mochte gut sein. Wenn er dem Kälte-Ungeheuer das nächste Mal gegenüberstand, dann wollte er Zeit und Ort
bestimmt haben. Noch wichtiger aber war, daß er Informationen über den Gegner brauchte, wenn er eine echte Chance haben wollte, ihn zu töten und dabei zu überleben. Ronin rammte sein Schwert in die Scheide zurück, nahm das Seil vom Boden auf und sicherte es erneut um seine Hüfte. Dann nickte er dem Zaubermann wortlos zu und schritt zum Höhleneingang. Der Schnee knirschte unter seinen Schritten. Der Wind schnitt in die Gesichter der Gefährten, als sie sich über den Rand des Abgrunds schoben.
Erinnerungen: Er hing in der Luft, baumelte hin und her, das Seil schnitt grausam in sein Fußgelenk. Schwingen, dachte er, während sie ihn behutsam, lauernd umkreisten, ihren Vorteil wohl kennend. Trotzdem fürchteten sie ihn. Er hatte keine Waffe, und natürlich war das eine entscheidende Tatsache… Irgendwann einmal hatte er dem Gelehrten G’fand erklärt, daß die Kunst des Kampfes viel mehr war als beigebracht zu bekommen, wie man ein Schwert führt. Er pendelte vor und zurück, vor und zurück, fast nackt, Brust, Arme, Schultern schweißglänzend. Anstrengung und Hitze machten ihm zu schaffen. Halte deinen Körper entspannt, hatte ihn der Salamander gelehrt. Handle auf kleinstmöglichem Raum, ohne deinen Schwung zu opfern. Du verstehst, Ronin? Sobald du langsamer wirst, bist du erledigt, dann können dich deine Gegner aufschlitzen… Andere Schüler jener besonderen Kampfgemeinschaft, der der Salamander vorstand, hatten die Prüfung Cruol zu bestehen versucht. An einem von der Decke hängenden Seil festgebunden, der Schädel knapp einen Meter vom Boden entfernt. Vier Schüler griffen mit Holzstäben an, die so lang wie der Körper eines Menschen waren. Kein Prüfling hatte das
lange überlebt. Allerdings war auch keiner von ihnen derart sorgfältig vom Salamander ausgebildet worden wie Ronin. Und niemand war so geschickt wie er. Aber die Prüfung Cruol war zu schwer, und so wurde sie schließlich nur mehr zur Bestrafung verwendet. Nicht jedoch auf der Ebene des Salamanders. Hier wurden mit dieser Prüfung andere Ziele verfolgt. Ronin behielt seinen Schwung bei, pendelte in einer weiten Bahn hin und her, konzentrierte sich auf die Gegner. Der Angriff! Der erste Stab zischte flirrend durch die Luft. Ronin spannte seine Rückenmuskeln an… Ein Brennen zitterte über seine Haut, so knapp war er verfehlt worden. Jetzt schwärmten die Angreifer aus. Weitere Hiebe folgten. Ronin wehrte mit seinen Unterarmen ab und vergrößerte die Schwingungen. Wie ein lebendes Pendel: hin und her, vor und zurück. Und er wartete… wartete, bis er den höchsten Punkt seiner Bahn erreicht hatte, wartete auf einen seitlich heranzuckenden Stab. Linkerhand! – Und Ronin wußte im gleichen Augenblick, daß es verdammt knapp werden würde… Er hing im Scheitelpunkt seiner Bahn, und der Schlag des Schülers würde ihn sehr schnell erreichen… Mit gewaltiger Kraft war er geführt. Ein verzerrtes Gesicht. Anstrengung. Ronins Schwung nahm zu, und jetzt, statt den Schlag abzuwehren, packte er zu, griff nach der nur schemenhaft erkennbaren Waffe, seine eisern zupackenden Finger rutschten über das vom Schweiß des Angreifers glatte Material… Gleichzeitig krachte ein anderer Stab auf ihn nieder, so hart, daß die Rückenmuskeln brannten. Den Schmerz ignorieren! Konzentrieren! Ronin nutzte seinen zunehmenden Schwung aus, drehte den Stab, riß – und dann hatte er gewonnen! Der Stab gehörte ihm! Der erschrockene Schüler taumelte zurück.
Ronin pendelte mit irrsinniger Schnelligkeit nach rechts, und, Vorteil daraus ziehend, rammte er den Stab gegen das Schlüsselbein eines dort stehenden Schülers. Wie von einer Titanenfaust getroffen, brach der Bursche zusammen. Ronin schwang zurück. Und schlug wieder zu. Den zweiten Gegner erwischte er voll in der Körpermitte. Auch er brach zusammen, würgte, ächzte, krümmte sich auf dem Boden. Jetzt gab es nur noch einen Gegner, denn jenem, der von Ronin entwaffnet worden war, war es verboten, sich noch einmal in den Kampf einzumischen. Er hatte seine Waffe verloren. Noch ein Gegner… Ronin fixierte ihn, ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Der Bursche war auf der Hut. Er würde nicht in die Falle gehen, die seinen Kameraden zum Schicksal geworden war. Er konzentrierte sich auf Ronins Stab. Dann griff er an. Unvermittelt. Blitzschnell hieb er nach dem Unterteil von Ronins Stab, versuchte, ihm die Hand zu zerschmettern. Die Schläge folgten rasend schnell aufeinander. Für jeden Schlag, den Ronin abwehrte, mußte er einen einstecken. Brutal krachten die Hiebe auf seine Knöchel nieder. Blutspritzer erschienen. Der Schüler nutzte seinen Vorteil, kam näher. Das helle Blut faszinierte ihn unwiderstehlich. Seine Konzentration ließ nach. Ronin handelte! Sein freier Fuß zuckte vor, donnerte gegen den Schädel des Gegners. Der Mann taumelte, verlor das Gleichgewicht. Der Tritt war nicht stark genug gewesen, um ihn umzuwerfen. Aber er reichte aus. Ronin schlug zu. Sein Stab wischte durch die Luft, traf den Schüler am Hals. Hohl keuchte der Mann auf, sein Gesicht wurde mehlig weiß, sein Mund klaffte auf. Er fiel. Und jetzt gab es nur noch das Geräusch gepreßten Atems in der Halle des Kampfes.
Ronin ließ den Stab fallen, entspannte sich, pendelte langsamer auf einer immer kürzer werdenden Bahn…
Er schwebte im Weiß. Sein Atem vernebelte die kalte Luft, während er Hand über Hand abstieg, Borros knapp über sich, höchstens einen Meter entfernt. Wie gut er sich an die Lektion des Cruol erinnerte. Nur die Umstände waren anders.
Erinnerungen: »Natürlich hassen sie dich, mein lieber Junge!« Die Stimme, die ihm dies sagte, war voll, kräftig, mit einer Spur von entkräfteter Sprödigkeit, die ebenso entwaffnend wie unecht war. »Und es ist ganz verständlich, wirklich.« Der Salamander, der Sensii, der Waffenmeister des Freibesitzes, stand im Eingang jener spartanisch eingerichteten Räume, die Ronin bewohnte. Seit er sich von dem Seil losgeschnitten hatte, war nicht viel Zeit verstrichen. Man hatte ihn angewiesen, in seine Gemächer zurückzukehren. Ronin schickte sich an, aufzustehen, aber eine knappe Handbewegung des Salamanders, ein blitzartiges Zucken des breiten Handgelenks, hielt ihn zurück. »Bleib sitzen, mein lieber Junge, unbedingt. Du hast dir dieses Privileg verdient.« Der Salamander, ein Mann von ungeheuerer Gestalt, war in ein scharlachrotes Hemd gekleidet, dessen weite Falten die wahren Ausmaße seiner Körpermasse geschickt verbargen, und die pechschwarzen Beinkleider steckten in hohen, ebenfalls schwarzen Stiefeln, die zu glänzender
Vollkommenheit poliert worden waren. Sein volles schwarzes Haar war über seinen Schädel zurückgestrichen wie die Schwingen eines furchtbaren Raubvogels. Die dichten Brauen und hohen Wangenknochen betonten auf unergründliche Weise die großen Onyxaugen, ovale Augen, die so hart und durchsichtig wirkten wie Stein. Er betrat den Raum, und dieser schien zusammenzuschrumpfen, ein schwindender und unbedeutender Hintergrund in seiner Gegenwart. Festen Blickes starrte er Ronin an. »Du bist nicht glücklich, mein lieber Junge.« Eine Feststellung. »Wahrscheinlich fühlst du, daß du hier keine Freunde hast.« »Ja«, erwiderte Ronin unbewußt. »Alle Schüler hassen mich.« Der Salamander sah auf Ronin hinunter. Ein Lächeln ohne Wärme huschte über sein Gesicht. »Natürlich ist das wahr, und es sollte dir sehr genehm sein. Mir ist es jedenfalls sehr recht.« Ronins Gesicht verriet Überraschung, aber der Salamander schien dies nicht zu bemerken. »Du bist der beste, mein lieber Junge, zweifellos der allerbeste Schüler, den ich je ausgebildet habe. Niemand ist dir ebenbürtig, kein Schüler, kein Klingenträger. O ja – « Er lachte über den Ausdruck auf Ronins Gesicht, » – das stimmt genau. Du stehst so weit über ihnen, wie ich über dir stehe.« Sein Gelächter nahm einen irren Tonfall an. Ronin war sich des Kompliments eindringlich bewußt. Allerdings verwirrte es ihn mehr, als daß es ihn erfreute. Diese Reaktion war völlig unerklärlich. Die Faust des Salamanders ballte sich. In den wertvollen Juwelen seiner Ringe blitzten kurze Farbexplosionen auf. Er
beugte sich leicht vor, und seine Stimme war jetzt weniger rhetorisch, mehr persönlich. »Sie hassen dich, mein lieber Junge, weil du besser bist als sie, du hast jenes Talent, das sie zu besitzen wünschen, und sie werden nicht ruhen, als bis sie dich im Kampfe übertreffen!« Sein Lachen war ein Donnern der Leidenschaft. »Gut! Denn auch dies dient meinem Ziel. Meine Klingenträger müssen die besten im Freibesitz sein!« Er berührte seine Brust, eine theatralische Geste, die er dennoch mit einer gewissen Würde zu machen verstand. »Bin ich nicht als einziger Saardin der Sensii? Es bedeutet Ehre. Was wissen die anderen Saardin davon?« Seine Stimme wurde leiser, gewann jedoch an Intensität. »Alles, was sie können, ist, sich untereinander zu zanken, um Macht zu wetteifern.« Er warf seinen Schädel zurück, seine Lider senkten sich über die Augen, flogen wieder hoch, ein unerbittlicher Blick traf Ronin, durchbohrte ihn. »Sie verstehen die Bedeutung des Wortes Macht nicht!« Plötzlich hielt er inne, als bemerke er, daß er mehr als ursprünglich vorgehabt geäußert hatte. »Es ist eine Ehre«, sagte er dann, »eine Ehre, die immer hochgehalten werden muß.« Er trat näher an Ronin heran. »Das mußt du ganz und gar verstehen.« Er ließ sich auf das schmale Bett nieder. »Aber du, mein lieber Junge – « Eine schwere, juwelenberingte Hand strich über Ronins Arm – » – du dienst ebenfalls meinem Ziel. Lange und hart habe ich gearbeitet, um dich zu einem Klingenträger zu machen, der allen anderen überlegen ist. Morgen wirst du das Geviert des Kampfes zum letzten Mal als Schüler betreten.« Die Stimme des Salamanders enthielt einen bebenden Unterton von Triumph, den zu verbergen er sich gar nicht die Mühe machte. »Die Ausbilder, die dich zu beurteilen haben, wirst du verblüffen, und wenn du als bester Klingenträger des Freibesitzes aus dem Kampf hervorgegangen bist, noch während die Ausbilder und
die Saardin über dein Können schwatzen, wirst du hierher zurückkehren, um mein Chondrin zu werden.« Eine Stille wirbelte im Raum umher, so absolut wie ein Vakuum. Wie lange sie herrschte, vermochte er später nicht mehr zu erfassen. Irgendwann, so schien es Ronin, kehrten die winzigen Hintergrundgeräusche der Ebene an seine Ohren zurück, im Nichts treibende Männerstimmen, das beruhigende Hämmern von Stiefelsohlen auf dem Holzboden, das ferne, metallische Klirren, das die Kampfübungen begleitete. Geräusche, die so lange seinen Alltag ausgemacht hatten. Jetzt aber drangen sie verändert, als mißtönend und spröde und ohne Bedeutung zu ihm, so, als befände er sich urplötzlich in einer fremden Welt… Und er fragte sich insgeheim, wie lange er schon dort war. In den schimmernden Obsidian-Augen des Salamanders war keine Regung zu sehen…
Schweigend ließen sie sich in die Tiefe hinunter. Von Zeit zu Zeit schlugen sie Stahlstifte in die glatte Felswand, um einen Halt zu finden oder eine unpassierbare Stelle zu umgehen. Stundenlang schienen sie bereits abzusteigen, durch Nebel und Schnee, der immer wieder von kräftigen Aufwinden gegen sie gepeitscht wurde. Unermüdlich arbeiteten sie sich hinunter. Sie legten keine Pause ein; weder, um zu essen, noch, um auszuruhen. Gelegentlich ließen sie eine Handvoll Schnee im Mund zergehen, um ihren Durst zu stillen. Das war alles. Borros’ Drängen war ansteckend geworden. Der Gestank der gefährlichen Kälte-Kreatur kribbelte noch immer in Ronins Nase. Dieser Gestank mochte es schließlich gewesen sein, der die nachklingende Saite des Kummers in ihm zerschlagen hatte. Eines Kummers, so schmerzhaft wie ein freiliegender
Nerv. Es war vorbei. Jetzt konnte er sich auf den Grund dieser Reise konzentrieren… Auf Borros Drängen war er in die Stadt der Zehntausend Pfade hinuntergestiegen. Der Zaubermann war davon überzeugt, daß eine fürchterliche Gefahr die Welt des Menschen zu verschlingen drohte. Damals, als er sich auf den Weg gemacht hatte, hatte er dem Zaubermann nur einen Bruchteil von diesen Geschichten geglaubt. In der Zwischenzeit jedoch hatte sich dies grundsätzlich geändert. Er, Ronin, hatte Bonneduce den Letzten und Hynd getroffen, hatte gegen das Wesen gekämpft, das G’fand getötet hatte… In allem, was geschehen war, spürte er eine besondere Art von Bekräftigung für Borros’ Behauptungen. Der Zaubermann war es gewesen, der ihm aufgetragen hatte, eine alte Schriftenrolle zu suchen. Im Hause dor-Sefriths, des angeblich berühmtesten und gefürchtetsten Hexers der legendären Insel Ama-no-mori, die jetzt nur mehr ein Haufen geborstenen Gesteins und Mauerwerks unter einem fernen Meer war, hatte er sie gefunden. Diese Schriftenrolle war – wie Borros erklärte – der Schlüssel dafür, die unmenschliche Drohung aufzuhalten. Ronin lächelte in sich hinein. Ja, er hatte die Schriftenrolle gefunden. Und er hatte sie behalten. Trotz Freidals Bemühungen, trotz der versuchten Einmischung des Salamanders. Nur ich habe die Schriftenrolle. Und er starrte auf Borros’ hageres Gesicht, das von Erschöpfung verzerrt und abgehärmt erschien, die gelbe Färbung seiner Haut blaß, ungesund im schwächer werdenden Licht. Ich muß es ihm noch sagen, dachte er. Diese Nachricht müßte ein Lächeln bewirken. Und wenn wir herausfinden, was auf dem Pergament geschrieben steht, so werden wir umkehren.
Erinnerungen: Die Prophezeiung des Salamanders war Wirklichkeit geworden. Ronin kehrte als Klingenträger in seine Gemächer zurück. Ausbilder und Saardin waren verblüfft. Noch nie hatten sie einen Kämpfer erlebt, der es an Gewandtheit und Schnelligkeit mit ihm aufgenommen hätte. Ihr aufgeregtes Flüstern und Tuscheln machte ihn krank. Die Prophezeiung des Salamanders war Wirklichkeit geworden. Nur in einem Punkt sollte er sich irren… Ronin kehrte nicht freudig erregt schachtaufwärts, auf die Ebene des Sensii zurück. Er hatte nicht an seinem Können gezweifelt. Als die Zeit der Entscheidung gekommen war, die Zeit des Kampfes, spürte er keinerlei Angst in sich, nur – Erregung. Er wußte, daß der Salamander diese Entscheidung hinausgezögert hatte, bewußt hinausgezögert hatte. Er war bereits vor vielen Signen bereit gewesen, Klingenträger zu werden. Jetzt schien es Ronin, als bedeute der Termin für den Salamander mehr als die Prüfung selbst. Ronin hatte gesiegt. Er war zum Klingenträger geworden. Der Salamander erwartete ihn in der Halle des Kampfes. Seine ungeheuerliche Gestalt war in die pechschwarzen Zeremoniengewänder gehüllt. Sein Haar war frisch zur Haube geformt und geölt, der Fächer, den er so geschickt und tödlich wie ein Schwert zu führen verstand, ragte aus der breiten, scharlachroten Schärpe. An seiner linken Hüfte baumelte das Schwert, das in der vorschriftsmäßigen Scheide aus durchbrochenem Silber mit einer Spitze aus Ebenholz steckte, fein in Gestalt eines sprungbereit kauernden Salamanders geschnitzt.
Links und rechts neben ihm, irgendwie klein und unscheinbar wirkend, standen zwei Klingenträger. Einer von ihnen hielt die Bänder, die schräg von der linken Schulter zur rechten Hüfte über die Tunika eines jeden Chondrin verliefen, ihn auszeichneten und Auskunft gaben, welchem Saardin er verbunden war. Die Farben des Salamanders waren schwarz. Ronin sah die schwarzen Bänder, und sein Entschluß war gefaßt. Ganz klar sah er vor sich, was von ihm erwartet wurde, wofür er ausgebildet worden war. Er blieb vor dem Salamander stehen und verbeugte sich steif, sein Gesicht eine Maske. Und er dachte: Ich weiß auch, was ich tun muß… Große Traurigkeit war in ihm. Feierlich senkte der Salamander seinen Schädel. Der Salamander – er war mehr als nur ein Kampfausbilder für Ronin. Kampfausbilder, Sensii, Saardin. Alles in einer Person. Dennoch würde ihn Ronin nicht als seinen Herrn anerkennen. Keinem Menschen würde er gestatten, ihm seinen Willen aufzuerlegen. Das war für immer vorbei. Endlich frei, würde er sich nicht selbst im komplizierten politischen Labyrinth der Gesellschaft des Freibesitzes versklaven. Er hatte seine Stärke, seine Kraft. Mehr brauchte er nicht. »Jetzt bist du ein Klingenträger«, sagte der Salamander förmlich. War da eine Spur von Stolz in seiner Stimme? Oh, sicherlich nicht beim Salamander. »Von Stund an bist du mein Vasall. Du gehorchst meinen Befehlen, unterliegst meiner Disziplin, meinen Bräuchen, meinem Willen. Kein anderer darf deinem Arm oder deinem Geist befehlen, solange ich lebe. Als Gegenleistung sei dir mein Schutz gewährt, die Macht meines Amtes als Saardin, meine Macht als Sensii des Freibesitzes. Ehrenvoll biete ich dir die Bänder des Salamanders, Saardin, Sensii des Freibesitzes dar, sei mein Chondrin, um meine Klingenträger zu beraten, zu
verteidigen, zu befehligen – sei mein Chondrin, um mir zu gehorchen!« Die Klingenträger, die die Bänder hielten, traten vor. »Nimmst du die Bänder des Chondrin an? Verpfändest du mir gleichsam deinen Arm und deinen Geist?« »Nein, Salamander«, sagte Ronin heiser. »Nein – ich kann es nicht!«
»Es ist nicht mehr weit!« stieß Borros hervor, und dieses Mal übertönten seine Worte das Heulen des Windes. Ronin sah in die Tiefe. Nebel und Schneeschauer waren irgendwie zerfasert, dünner geworden, so daß er weit genug sehen konnte. Mehrere hundert Meter unter ihnen ging der jähe Fall der Klippenwand in einen sanft geneigten Hang über, auf dem sie den Rest des Weges zu den Ufern des Eismeeres bequem hinter sich bringen konnten. Die Einöde des Meeres war jetzt vom fahlen silbrigen Licht des Mondes erhellt, dessen pockennarbiges Antlitz groß und hungrig über ihnen an einem Himmel wabernden Gewölks hing. Ronin starrte zu dem Oval hinauf, dann wieder hinunter, auf die weite Fläche des Eismeeres, das noch immer weit unter ihnen lag. Und sie stiegen tiefer, immer weiter hinunter, obwohl sich die Müdigkeit wie ein schleichendes Gift in sie hineinfraß…
Erinnerungen: Das Gesicht des Salamanders war es, das in Ronins Erinnerung hervorstach. Nur einen Augenblick lang, ein so winziger Zeitsplitter, daß nur Ronin es bemerken konnte, zerbröckelte
die undurchdringliche Fassade aus Dekadenz und Langeweile… Eine Maske, die so viele Jahre lang geformt und geschliffen worden war. Wie der Ansturm eines Wasserfalls im Frühling, der Regenbogen ins Licht zauberte, schienen Dutzende von Emotionen über das Gesicht des Salamanders zu schießen. Aber sie wurden so schnell wieder verdeckt, daß sich Ronin nicht einmal sicher sein konnte, sie wirklich wahrgenommen zu haben. Traurigkeit, Schock, Ärger, Schmerz. Hatte er all das gesehen? Alles gleichzeitig, vermutete er. Damals war er zu sehr von dem in Anspruch genommen gewesen, was er zu tun hatte. Das größere Muster hatte er zu jener Zeit nicht verstehen können. »Du kannst nicht!« brüllte der Salamander. »Du kannst nicht? Was sagst du da? Du kannst nicht? Du wirst! Du mußt! Es kann nicht anders sein!« Sein wütender Blick fraß sich in Ronins Augen, brutal, stechend, tödlich. Seine Hände rissen die Chondrin-Bänder heran, winkten. »Du verspottest dieses Vertrauen! Genau wie du mich verspottest!« Sein Gesicht rötete sich mehr und mehr, Speichel flog von seinen feucht glänzenden Lippen. Er zerknüllte die Bänder, schleuderte sie in Ronins Gesicht. Ronin war nicht fähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Das massige Gesicht des Salamanders bebte, zuckte. »Du kannst nicht? Du verstehst nicht einmal die Bedeutung dieser Worte!« Er hob seine riesige Faust. »Ich war es, der deine Begabung, deine Stärke gesehen hat. Der dich gemacht hat, geschaffen hat! Meine Ideen waren es, die dich zum besten Klingenträger des Freibesitzes formten!« Seine Stimme nahm an Lautstärke und Kraft zu, jetzt bebte sein ganzer Körper, als tobe ein schrecklicher Sturm in seinem Innern. »Ich habe dich ausgebildet, dich angenommen – ich biete dir die höchste Ehre!« Er nähert sich Ronin. »Und du… Du spuckst in mein Gesicht!«
Jetzt war die Stimme des Salamanders ein Kreischen, das von den hohen Wänden widerhallte. Plötzlich, ansatzlos, zuckte seine Hand vor, so irrsinnig schnell, daß Ronin nicht hätte reagieren können, selbst wenn er dies gewollt hätte. Aber er hatte es nicht einmal gewollt. Mit niederdrückender Gewißheit wußte er, daß er ein toter Mann war, wenn er sich überhaupt bewegte. Der Schlag mit dem Handrücken erwischte ihn voll im Gesicht, die Ringe zerfetzten seine Haut. Es war eine verächtliche Geste, und sie verletzte Ronin mehr als die gewaltige Kraft, mit der der Schlag geführt war, mehr als die Wunde, die er hinterließ. Die Wunden würden schließlich heilen. »Du verstehst nicht! Du weißt nichts von Ehre!« Der Salamander spie die Worte heraus, als wären sie vergiftet. Dann schlug er wieder zu. Und ein drittes Mal, die Hand zur Faust geballt. Und er schrie zornentbrannt, voller Haß, weil Ronin nicht fiel, nicht zurückwich, nicht zurückschlug. »Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen!« Eine Litanei der Demütigung. Und weitere Schläge! Wie von Sinnen schlug er auf Ronin ein. Die Klingenträger versuchten, ihn zurückzuhalten, aber er schüttelte sie ab wie Wassertropfen. »Weg von mir!« schrie er. »Raus! Raus! Verschwindet!« Und sie krochen davon, gehorsam, unterwürfig. Noch immer schlug der Salamander auf Ronin ein. Noch immer kreischte er: »Ahh!« Jetzt überschlug sich seine Stimme, verließ die zusammenhängende Rede, taumelnd, irrational, unmenschlich. Seine Finger zuckten an die Schärpe, erfaßten den Fächer, wollten ihn hervorziehen, die tödliche Kante ausbreiten, eine
geschmeidige Guillotine. Doch plötzlich hielt er inne, sein Atem ging schwer und keuchend und unregelmäßig. »Nein!« keuchte er. »Nein, das wäre zu leicht.« Seine Hand glitt davon, er drehte sich um, taumelte davon, verließ die Halle des Kampfes. Und Ronin stand im Zentrum dieser Halle, aufrecht, hörte das Keuchen seines rauhen Atems, als wäre es das Donnern einer wilden Brandung auf einem einsamen, wüsten Strand, während sein Schädel und seine Brust in dumpfem, pochendem Schmerz brannten, in einem Schmerz, den er nur schwach fühlte… Er dachte: Beide, der Salamander und ich, sind wir jetzt entehrt…
»Aus! Wir sind am Ende!« schrie Borros. Sie drehten sich in der Luft. Etwa zwanzig Meter unter ihnen lockten die sanften Abhänge der Klippe. Eine unüberwindliche Distanz. Die Seile waren zu kurz. Borros hatte recht. Sie waren buchstäblich am Ende. »Zu kurz! Verdammt, sie sind zu kurz!« sagte der Zaubermann immer wieder. Er trat nach der Felswand, um seine Drehbewegung zu stoppen; der Tritt machte es jedoch nur noch schlimmer. »Hör auf damit!« sagte Ronin. »Du mußt dich entspannen.« »Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin erschöpft!« »Dann spar dir deinen Atem!« Wieder blickte Ronin hinunter. Massige Wolkenberge zogen vor das Antlitz des Mondes. Düsteres Zwielicht herrschte. Ronin konnte nicht viel sehen. Lediglich den strahlend weißen Schnee, Neuschnee, der die Oberfläche des Abhangs bedeckte. Wie tief? fragte er sich.
Er ließ den Riemen, an dem der Hammer baumelte, von seinem Handgelenk gleiten, warf ihn in die Tiefe. Er schlug in den Schnee. Verschwand darin. Ronin hakte den Beutel mit den Stahlstiften los, und ließ auch diesen fallen. Nahe jener Stelle, an der der Hammer versunken war, traf er auf. Und verschwand. Jetzt bleibt nur noch eines zu tun, dachte Ronin. Und ließ das Seil los! Über sich hörte er einen Schrei, laut, gellend, verwirrend. Dann folgte der Aufschlag! Er krachte in den Schnee. Versank darin. Ein irrwitziges Gewicht lastete plötzlich auf ihm. Er konnte nicht atmen, und das Schwarz ringsum war eine erstickende Masse… Aber er stieß sich empor, strengte sich an, wühlte sich hoch – und durchbrach die Oberfläche. Tief sog er die kalte Luft in seine Lungen. Unter seinen Füßen fühlte er Eis und Felsen. Wieder gellte der Schrei, und Ronin wußte, daß es Borros war. »Schon gut, Borros«, rief er, die Hände vor seinem Mund zum Trichter geformt. »Ich stecke hier im Schnee unter dir. Kannst du mich hören?« Das Schluchzen des Windes. »Ja.« »Laß dich fallen. Der Schnee wird deinen Aufprall mildern.« »Ich habe Angst.« »Schließe deine Augen und laß das Seil los.« »Ronin – « »Die Kälte soll dich holen! Tu’s!« Ein düsterer Schemen sauste herunter. Gleich darauf schlug der Körper in den Schnee. Ronin hörte das knirschende Geräusch und stapfte bereits los. Er bewegte sich, so schnell er konnte. Aber der tiefe Schnee war mehr als hinderlich. Fast schien er ein lebendiges Wesen, das ihn in die Tiefe ziehen
wollte. Keuchend atmete Ronin. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er dachte an den Zaubermann, daran, wie erschöpft er war und daß er ihn aus dem Schnee zerren mußte, weil er sonst ersticken würde. Die wellige, weite Schneefläche reflektierte weiß das Mondlicht. Ronin watete hindurch, selbst müde, und er stolperte, taumelte, warf sich vorwärts, als er das schwarze Loch sah. Mit dem Gesicht nach unten landete er im Schnee, instinktiv fuhren seine Hände vor, er wollte sich hochreißen, aber er sank nur noch tiefer ein. Dann funktionierte sein Denken wieder, und dieses Mal stieß er mit Füßen und Knien gegen das Eis, und dann stand er wieder aufrecht. Er hastete zu dem Loch hin, ließ sich auf die Knie nieder und begann zu graben. Verzweiflung begleitete seine Anstrengungen. Wie von Sinnen schaufelte er den Schnee weg. Endlich stießen seine Finger auf den Körper. Wie ein lebloses Stück Fleisch lag Borros da. Ronin packte ihn, riß, zerrte ihn hoch, investierte all seine Kraft, hievte an dem Gewicht, das übermäßig schwer schien, fühlte die Zeit unter sich fortgleiten – und zwang seine Finger, nicht abzurutschen, nicht loszulassen. Langsam bekam er Borros hoch, wie eine alte Galeone, die im Meer begraben war, das sich nur widerwillig von seiner Beute trennte. Sobald Borros’ Kopf im Freien war, ohrfeigte Ronin ihn. Der Zaubermann hustete und würgte. Halb geschmolzenes Eis troff von seinen bebenden Lippen. Ronin zog ihn vollends hoch. »Schon gut«, flüsterte Borros so leise, daß es auch das Stöhnen des Windes hätte sein können. »Ich bin« – er würgte wieder, fing sich, dann sog er seinen ersten tiefen Atemzug in sich hinein –, »ich bin schon in Ordnung.« Ronin schaufelte eine flache Vertiefung im Windschatten des Hanges aus, direkt unter der glatten Front der Klippe, einer
unerbittlichen Wand, die, wie es schien, ihre schwarzen Schatten bis in die Weiten des wolkenverhangenen Himmels schob. Die Höhlung wurde tief genug, daß sie sich hineinkauern und ausruhen konnten, eine Atempause bekamen vom eisigen Schneiden des Windes und des Frosts. Borros versuchte mehrmals, einige kleine Päckchen aus seinem Anzug zu holen, aber seine Finger zitterten so stark, daß es ihm nicht gelang. Ronin mußte ihm behilflich sein. Dann fütterte er Borros. Später nahm er selbst einige Nahrungskonzentrate zu sich. Irgendwann brachen sie wieder auf. Über die weiten, unberührten Schneeflächen des Hanges stapften sie hinunter, immer weiter hinunter. Der Wind blies ihnen treibenden Schnee in ihre Gesichter, Schnee, der sich mit scharfkantigen Eiskristallen mischte, als die Temperaturen weiter fielen. Die Lippen der beiden Männer waren eis verkrustet, ihre Augenbrauen und Wimpern ebenfalls. Die Wangen waren, obwohl von den Kapuzen geschützt, bereits wie taub. Aber sie gingen weiter, mühsam, entkräftet. Borros fiel. Seine Hände wühlten zuckend im Schnee. Ronin bückte sich, zerrte den Zaubermann wieder hoch. Sein Gewicht bemerkte er dieses Mal kaum. Stolpernd, taumelnd zerrte er ihn mit sich, den Abhang hinunter, durch den weichen, nachgiebigen Schnee, taub vom Wind und dann blind in der Nacht. Tierischer Instinkt war es nur mehr, der ihn Fuß vor Fuß setzen ließ, weiter, weiter…
Sein erster Gedanke galt der Wärme. Er sah ein Feuer vor sich, züngelnde Flammen, heiteres orangefarbenes Glühen, das Prasseln wuchtiger Holzscheite. Er versuchte, näher an die Wärme heranzukommen. Aber er konnte sich nicht rühren. Wie durch einen lichten Nebel drang
das Verstehen zu ihm. Irgend etwas stimmte nicht. Eine Seite seines Gesichts war warm und – Er erschrak. Plötzlich wußte er, wo er war, daß er mit dem Gesicht nach unten im Schnee lag. Unendlich langsam drückte er sich Zentimeter für Zentimeter hoch. Dann wälzte er sich herum, mühte sich in eine sitzende Stellung. Seine Rechte kam hoch, berührte seine andere Gesichtshälfte. Sie war taub. Selbst jetzt, da ihm in den Sinn kam, daß sie möglicherweise sterben würden, wollte er sich nicht in dieses Schicksal fügen. Er mühte sich auf Hände und Knie und sah Borros neben sich liegen. Und sein Blick glitt weiter, über die reglose Gestalt des Zaubermannes hinweg, in jene Richtung, aus der sie gekommen waren. Weit entfernt der ehrfurchtgebietend aufragende Fels der Klippenwand… Ronin versuchte, auf die Füße zu kommen, aufrecht zu stehen – und rutschte aus, fiel, schlitterte auf dem Bauch den Hang hinunter. Er brauchte mehrere Augenblicke lang, um es zu merken. Dann sah er hinunter, plötzlich, ohne auf die immer noch eisige Kälte und die grausame, schneidende Gewalt des Windes zu achten. Ronin streckte seine Hände aus, tastete über den Boden. Glatt. »Zaubermann!« rief Ronin mit gebrochener und trockener Stimme. »Borros!« Der Boden war glatt und eben und hart. Wie ein Spiegel. »Borros!« Und Ronin drehte sein Gesicht, dann seinen ganzen Körper. Die gewaltige, leuchtende Weite des Eismeeres erstreckte sich vor ihm. »Borros!« flüsterte er. »Wir haben es geschafft!«
Hitze strömte, von den Fingerspitzen ausgehend, die Arme hinauf, bis in die Schultern. Der Anblick der Flamme, die träge hinter dem kleinen Gitter tanzte, hatte etwas Hypnotisches an sich. Das sanfte Stoßen, das leise Knarren – einschläfernde Tatsachen. Borros kauerte ihm gegenüber. Die totale Erschöpfung forderte ihren Tribut. Der Zaubermann schlief tief und fest. Ronin fühlte die schnelle Bewegung unter sich und wußte, daß es auch für ihn bald so weit war. Der Schlaf zog ihn in seine Fänge. Empfindungslos waren sie die letzten niedrigen Hänge hinuntergetaumelt, direkt an das Ufer des Eismeeres, ohne es zu wissen. Und dann waren sie zusammengebrochen. Wie lange sie im Schnee lagen, ohne zu denken und zu fühlen, das wußte er später nicht mehr zu sagen. Irgendwann war er wieder zu sich gekommen und hatte damit begonnen, Borros ins Leben zurückzureißen. Der Zaubermann hatte ihm das Geheimnis des Überlebens auf dem Eismeer mitgeteilt. Anfangs hatte Ronin geglaubt, der Zaubermann fantasiere. Aber er hatte auch gelernt, das Wort unmöglich zu ignorieren. So viele scheinbar unmögliche Situationen hatte er bewältigt, so viele verblüffende Dinge gesehen. Er war gezwungen worden, zahllose Lehren, die ihm eingehämmert worden waren, zu korrigieren. Warum also sollte der Zaubermann nicht die Wahrheit sagen? – Außerdem war das ihre einzige Hoffnung, auf der abweisenden, feindlichen Oberfläche der Welt zu überleben. Ronin verlor keine Zeit mit nutzlosem Zweifeln. Er begann mit der Suche. Es war leichter, als er sich dies hatte vorstellen können. Kaum tausend Meter von jenem Ort entfernt, wo sie zusammengebrochen waren, fand er den kleinen Landvorsprung, von dem Borros gesprochen hatte. Von einer gewaltig hohen Eiskappe – höher als jeder Hügel in der Nähe –
ragte er ins Eismeer hinein. Und jetzt begann Ronin fieberhaft zu graben. Borros hatte ihm prophezeit, was er in Eis und Schnee verborgen finden würde. Und er hatte sich nicht getäuscht. Mondlicht flirrte bleich und glitzernd über die glatte Oberfläche des platinfarbenen Eises und enthüllte ihm das fantastische Ding. Ronin war auf den Anblick vorbereitet gewesen. Dennoch traf er ihn nun wie ein Schock, ein glühendheißer Magmastrom pulste durch seine Adern, zerschmolz die Kälte, die sich darin festgekrallt hatte. Er verdoppelte seine Anstrengungen noch, schaufelte den Schnee beiseite, scharrte, kratzte, grub wie ein Berserker. Und endlich brach er durch, hatte das Etwas völlig freigelegt, von Eis und Schnee gesäubert. Er verlor keine Zeit. Er wußte, daß auch seine Kräfte begrenzt waren. Er kehrte um und holte den Zaubermann, einen muskulösen Arm über dessen Rücken gelegt, als Stütze, so daß sie beide aufrecht gehen konnten. Die Nebel waren aufgestiegen und streuten die bleiche Helligkeit, aber hoch oben, am Himmel, schwebte der Mond; die bizarre Wolkendecke hatte ihn freigegeben und eilte nach Westen. Die Gefährten waren sich dieser Tatsache nicht bewußt. Schweigend standen sie da, gebannt vom Anblick des vor ihnen aufragenden Gefährts. Es war mittelgroß, lang, geschwungen erhoben auf schlanken Kufen. Schnittig. »Eine Feluke«, hauchte Borros fast ehrfurchtsvoll. »Sie haben nicht gelogen.« Tränen standen in seinen Augenwinkeln. »Jahrelang habe ich in den alten Büchern gelesen, sie studiert und geträumt. Und als ich mir sicher war, da gab ich mir selbst ein Versprechen. Eines Tages – « Er schüttelte den Kopf, und die Tränen schnellten davon. »Aber
jetzt – jetzt sehe ich, daß ich mir schließlich doch nicht so sicher war, ein Zweifel blieb bestehen. Bis zu diesem Augenblick. O Ronin, sieh es dir an!« Es war ein Schiff. Ein Eisschiff. Langsam gingen sie näher, begaben sich an Bord, erkundeten den hohen Bug, die Aufbauten bis zum niederen Heck; sie schritten über das glatte Deck, ließen ihre erstarrten Finger über das Material der niederen Achterkajüte gleiten, die sich gerade bis über den Schandeckel erhob. Sie begaben sich in den Bauch des Eisschiffes und fanden dort schmale Kojen mit Decken sowie ein schwarzes Metallrechteck im Zentrum der Kajüte. Ronin nahm Zunder und Feuerstein und öffnete entsprechend Borros’ Anweisungen das kleine Gitter. Dann schlug er Feuerstein und Zunder gegeneinander. Knisternd fraß sich die Flamme ins Innere vor. Ronin schloß das Gitter. Er war so dankbar für die Wärme, die ihm entgegenlohte, daß er nicht einmal nach der Kraftstoffquelle fragte. Er legte Borros in eine Koje, deckte ihn zu und unterhielt sich noch eine Weile mit ihm. Dann ging er wieder an Deck. Er nahm den Masten von seinem Lagergestell an der Backbordseite und pflanzte ihn in die dafür vorgesehene Röhre hinter mitschiffs. Er setzte die Rahe, tief unten am Mast. Dann ging er zur Seite und hieb nach den Metallklampen, welche die Reepe hielten. Nachdem er sie befreit hatte, löste er das hohe, flatternde Lateinsegel. Vor Stunden, als sie die schneebedeckten Abhänge zum Ufer des Eismeeres heruntergekommen waren, hatte der Wind vom Meer her in ihre Gesichter geschlagen. In der Zwischenzeit hatte er gedreht. Jetzt peitschte er fast genau südwärts. Während Ronin den Rest der Takelage setzte, dachte er: Jetzt gibt es nichts mehr zu tun. Borros hat mir versichert, daß wir
heute Nacht keine Wache halten müssen, daß es freie Fahrt gibt. Ist er sich wirklich so sicher? Woher weiß er das? Ein heftiger Ruck durchlief den schlanken Schiffskörper. Wind fauchte heran, fing sich im Segel, blähte es auf. Das Eisschiff, das frei auf der Eisfläche stand, nahm Fahrt auf. Knirschend, flirrend jagten die Kufen über die spiegelglatte, schimmernde Fläche. Ronin war zu erschöpft. Das heftige Anrucken überraschte ihn. Er stürzte auf das Deck. Nachdem er sich vorsichtig zum Heck vorgearbeitet hatte, zerrte er das Steuerruder herum und band es fest, so, wie Borros ihn angewiesen hatte. Sie flogen über das Eis, genau nach Süden. Der steife Wind blähte das Segel, trieb sie vorwärts. Einige Herzschläge lang starrte Ronin in die vor ihm liegende Weite, dann verschwand der Mond wieder hinter dahineilenden Wolken, neuer Nebel kam auf. Nichts weiter zu tun. Mit einem letzten Blick auf die Takelage wandte sich Ronin ab und stieg in den Rumpf des Schiffes hinunter. Schlaf.
»Morgen nacht.« Eine kleine, flache Lampe, die von einem Balken der niederen Kajütdecke baumelte, verströmte angenehme, weiche Helligkeit. Der Bewegung des Schiffes gehorchend, schwang sie hin und her. Schatten huschten über die Wände. »Was?« sagte er mit belegter Stimme. Durch die runden Kristall-Bullaugen, die beidseits in die Kajütwände eingelassen waren, sah er, daß es draußen noch immer dunkel war. In dem kleinen Raum war es gemütlich warm, und er schloß seufzend die Augen.
»Wir haben die ganze Nacht geschlafen«, meinte Borros und drehte sich in seiner Koje um. »Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag.« Müde lächelte er. »Ich bin aufgewacht und aufgestanden, und es war kurz vor Sonnenuntergang, deshalb weiß ich es. Ich ging an Deck und stellte fest, daß sich der Wind leicht gedreht hatte. Wir kamen vom Kurs ab, nach Westen. So setzte ich das Ruder neu.« Vorsichtig erhob er sich. Er war dünn und hager. »Hungrig?« Ronin öffnete erst jetzt seine Augen. Gierig schlangen sie die auf dem Schiff gefundenen Nahrungskonzentrate hinunter; Konzentrate mit unbefriedigenden Geschmacksstoffen angereichert. Aber wenigstens füllten sie den Bauch. Urplötzlich mußte Ronin an die Erfrierungen in seinem Gesicht denken. Er hob seine Rechte, tastete darüber, spürte jedoch keine Schmerzen. »Auch diese Möglichkeit haben die Alten vorausgesehen«, meinte der Zaubermann. »Du wirst auch in einer deiner Taschen ein Salbenpäckchen finden. Während du geschlafen hast, habe ich die Erfrierungen damit behandelt. Deine und meine.« Beinahe entschuldigend lächelte er. »Ich hielt es nicht für nötig, dich deshalb aufzuwecken.« Er legte sich wieder in die Koje, als wäre er allein vom Gespräch geschwächt. »Bist du in Ordnung?« fragte Ronin. Der Zaubermann hob eine schlanke Hand. »Es geht schon«, erwiderte er. »Nur – ich werde sehr wahrscheinlich mehr Zeit brauchen, mich zu erholen. Du bist jung, Ronin.« Erneut zogen sich seine Lippen in einem wäßrigen Lächeln hoch. »Die Nachteile des Alters – du verstehst?« Ronin wandte sich ab. »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte er. »Ah, gut. Aber zuerst mußt du mir von deinem Abstieg in die Stadt der Zehntausend Pfade erzählen.«
Ronin sah ihn rechtzeitig genug wieder an, um die Sorge und das Bedauern in seinen Augen glühen zu sehen. Wehmütig schüttelte der Zaubermann seinen Kopf. »Es tut mir leid, Ronin. Ich habe dich auf eine irre Suche geschickt, eine unmögliche – « »Aber – « »Man hat mir von G’fand erzählt…« »Ah.« Sein Herz füllte sich mit eisiger Kälte. »Hat man das?« »Ja.« Borros verzog das Gesicht. »Das war sozusagen Teil meiner Behandlung. Freidal hatte mich bereits einer langen körperlichen Folter ausgesetzt…« Ohne daß sich Borros dessen bewußt wurde, tasteten seine Finger über seine Stirn, wo Ronin die furchtbaren Male der Dehnflecken gesehen hatte. »Freidal wollte mein Wissen. Er wollte alles aus mir herausholen, was ich über die Oberfläche der Welt wußte. Dann begriff er, daß er es auf diese Weise nicht schaffen würde. Es war an der Zeit, eine neue Taktik anzuwenden. Er wußte, daß du meinetwegen auf dem Weg in die Stadt der Zehntausend Pfade warst. Jederzeit hätte er dich aufhalten können – « »Er wollte sehen, was ich dort unten finden würde. Er konnte deinen Willen nicht brechen, also hoffte er, auf diese andere Art und Weise etwas in Erfahrung zu bringen.« Aber Borros hörte ihm gar nicht zu. Er war in seinen Erinnerungen gefangen. »Oh, er war so schlau! Die Kälte soll ihn holen! Er betrat den Folterraum und befahl seinen Leuten, aufzuhören. Dann sagte er mir, daß ich alles hinter mir und nicht nachgegeben hätte. Daß es für ihn offenbar sinnlos sei, es weiterhin zu versuchen. Er – er behauptete, mich zu bewundern… Und, daß ich frei wäre, sobald ich mich erholt hätte.« Borros unterbrach sich und wischte sich über die Augen, als könnte diese Geste den Alptraum auslöschen, der in
seinem Verstand wühlte und sich jetzt, wie unter einem Zwang, aus seinem Mund erbrach. »Unvermittelt sagte er: ›O übrigens‹, als sei dies alles nur von ganz beiläufiger Bedeutung, ›wir haben Ronin in Gewahrsam genommen, als er von einem ungenehmigten Ausflug zurückkehrte. Wir haben ihn höflich nach seinem Verbleib gefragt, denn immerhin ist es eine Angelegenheit der Sicherheit. Die Sicherheit des Freibesitzes steht auf dem Spiel. Wenn Ronin hinauskommen kann, so mag es doch im Bereich des Möglichen sein, daß andere Einlaß erhalten. Du verstehst also, daß wir herausfinden müssen, wohin er ging, und warum. Es ist eine Sache von höchster Wichtigkeit. Allerdings war der gute Ronin bisher zu widerwillig, uns gefällig zu sein. Er weigerte sich, Borros, weigerte sich, seiner heiligen Pflicht dem Freibesitz gegenüber nachzukommen. Du verstehst, was jetzt getan werden muß.‹ O ja, Ronin, ich verstand wirklich. Freidal beabsichtigte, den Dehn bei dir anzuwenden. Und das machte er deutlich: ›Seine respektlosen Handlungen lassen mir keine Wahl‹, sagte er. ›Ich hätte es fast vergessen. Der junge Mann, der ihn begleitete – ein Gelehrter, glaube ich – G’fand –, fand den Tod. Leider, aber Gelehrte sind kaum unerläßlich für den Fortbestand des Freibesitzes.‹« Unbehaglich bewegte sich Borros in seiner Koje, aber er sprach weiter. Seine Augen waren halb geschlossen, der Blick nach innen gekehrt. »Freidal war wütend. Er sah, daß nicht einmal diese Eröffnungen meinen Widerstand brachen. Deshalb…« Der dünne Körper des Zaubermanns schüttelte sich förmlich. »Deshalb ließen sie Stahlig hereinbringen. Direkt vor mit bauten sich die Daggam auf, die den Medizinmann hielten. Einer hielt meinen Kopf so, daß ich alles mit ansehen mußte. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Ich versuchte, meine Augen zu schließen, aber sie schlugen
mich, bis ich sie wieder öffnete. Und Stahlig sah mich an. Ich – ich habe noch nie eine derartige Angst im Gesicht eines menschlichen Wesens geschrieben gesehen. Freidal sagte zu ihm: ›Was fürchtest du am meisten, Stahlig? – Den Verlust deiner Füße? Würde es dir etwas ausmachen, auf deinen Knien durch die Korridore des Freibesitzes zu kriechen? Vielleicht deine Augen? – Fürchtest du die Blindheit? Nein? Nun, so könnte ich dir das Rückgrat brechen lassen, dich am Leben lassen, lebend und doch unbeweglich.‹ Und als er den panischen Ausdruck in Stahligs Augen bemerkte, fuhr Freidal fort: ›Das wäre doch sehr passend, nicht wahr? Dein Freund Ronin hat etwas Ähnliches mit Marcsh, einem meiner Untergebenen, angestellt. Aber das weißt du ja. Du hast Marcsh behandelt. Du jedoch wirst völlig hilflos sein… Du wirst gefüttert und gewaschen werden müssen und abgewischt, wie ein Säugling. ‹ Ja, das waren Freidals Worte.« Borros schwieg plötzlich. Gedämpft drang das Heulen und Stöhnen des Windes in die Kajüte herunter, übertönte vorübergehend die leisen Kratzgeräusche der Kufen, die so schnell über das Eis glitten. Borros stützte seinen Schädel in seine Hände. »Am Ende«, flüsterte er so leise, daß es wie der Atemzug eines Gespenstes klang, »am Ende starb Stahlig vor lauter Angst.« Eine Zeitlang herrschte dumpfe Stille, nur ab und zu unterbrochen vom Stöhnen und Knarren der Takelage über Deck. Ronin legte sich in seiner Koje zurück und versuchte, an nichts zu denken, aber sein Gehirn stand in Flammen, und er erhob sich, stand auf und stieg schweigend die kurze, senkrechte Kajütleiter hinauf.
Das kleine Eisschiff schoß durch die nächtlichen Nebelfelder, immer nach Süden. Ronin starrte in die Düsternis hinein, aber
außer den verwischten Schatten des gläsern wirkenden Eises, das unter der Feluke dahinschoß, konnte er nichts sehen. Ein Achterwind stieß sie vor sich her, und Ronin beschäftigte sich damit, die Grundvoraussetzungen zu lernen, wie man darin lavierte, während er hart an der Takelage arbeitete, um sie auf Kurs zu halten. Später ging er ins Heck und löste die Seile, die das Steuerrad hielten. Eine Zeitlang steuerte er das Schiff, ließ die Vibrationen in seine Hände und in seinen Körper fließen, davongetragen auf einer imaginären Flutwelle. Das nie enden wollende Sausen der Kufen stand wie ein geisterhafter Gefährte neben ihm. Der Wind spannte das Segel. Schon wechselte das Wetter, die Luft wurde feuchter, dichter als vorhin, und die Kälte erschien noch grimmiger; sie kroch unter die Haut, in Fleisch und Knochen. Schließlich zurrte Ronin das Steuerrad wieder fest und begab sich, tief einatmend, nach unten. Borros lag in seiner Koje und starrte blicklos zur Decke hinauf. »Die Überraschung, Borros«, sagte Ronin sanft. »Ich habe dir nicht gesagt, was es ist.« »Hhmm.« »Du erinnerst dich, weshalb du mich in die Stadt der Zehntausend Pfade geschickt hast?« »Natürlich, aber – « Er setzte sich so plötzlich auf, daß er nur knapp vermied, seinen Schädel an einem Balken anzuschlagen. Farbe kehrte in sein gelblich-bleiches Gesicht zurück. »Du kannst doch nicht meinen – « Endlich erglühte ein Licht in seinen Augen. »Aber du warst in Freidals Gewalt, und – « »Und in der des Salamanders. Seine Leute holten mich aus den Fängen der Sicherheit.« Ein frostiges Lächeln stahl sich in Ronins Gesicht. Der Mund des Zaubermannes klaffte auf.
»Und?« Ronin lachte plötzlich, zum erstenmal seit vielen Zyklen. »Und? Und? – Freidal fand nichts, obwohl er verdammt zu Recht neugierig war.« Ronin hob seine linke Hand, die von dem geheimnisvollen Handschuh umschlossen war. »Und dem Salamander fehlte die Zeit, etwas zu finden – « »Willst du damit etwa behaupten, daß du die Schriftenrolle gefunden hast? Ronin – hast du sie?« Borros kam auf die Füße und hastete zu ihm hinüber. Ronin zog sein Schwert aus der Scheide, umfaßte den Griff und drehte ihn dreimal. Dann zog er ihn ab. Aus den ausgehöhlten Tiefen zog Ronin die Schriftenrolle dor-Sefriths hervor. Er reichte sie dem Zaubermann, der sie feinfühlig öffnete und daraufstarrte. »Du hast sie gefunden, Ronin«, stieß er gepreßt hervor. »Du hast sie gefunden. O Ronin…« Ronin schwieg, ließ Borros mehrere Herzschläge lang Zeit, bis er sagte: »Du mußt mir sagen, was die Schriftzeichen zu bedeuten haben… Warum sie derart wichtig ist.« Borros sah zu ihm hoch, die Flammen der pendelnden Lampe reflektierten in seinen Pupillen, machten sie farblos. »Das kann ich nicht, Ronin«, sagte er mit müder Stimme. »Ich kann es wirklich nicht, denn ich weiß selbst nicht, was die Zeichen zu bedeuten haben.«
Es gab eine Zeit – er konnte sich tatsächlich zwingen, sich daran zu erinnern –, da Stahlig noch nicht Teil seines Lebens war. Es war lange her. Damals war er eine halbe Treppenflucht hinuntergestürzt, auf Abfall und Trümmer. Vielleicht hätte er sich überhaupt nicht verletzt, wären die Trümmer nicht gewesen… So aber war er voll dagegen geschleudert worden, verdreht, überall Blut, sein Bein ein Feuermeer der Schmerzen.
Vielleicht war er damals vor lauter Schmerzen ohnmächtig geworden. Irgendwann jedoch hatte er sich erhoben und auf den Weg zum Medizinmann gemacht. Er humpelte und kroch. Niemand war in der Nähe gewesen, der ihm hätte helfen können. Sein Bein war gebrochen, aber er war jung und kräftig, und Stahlig, der Medizinmann, verstand sein Handwerk. Der Knochen war glatt gebrochen. Da er jedoch durch das zerfetzte Fleisch herausragte, hatte es schlimmer ausgesehen, als es wirklich war. Die Knochen verbanden sich wieder, die Wunde heilte bestens. Aber dies wurde für ihn zweitrangig. Stahlig unterhielt sich mit ihm, während er sich daranmachte, das Bein zu richten. Das war es, was ihn interessierte, ihn fesselte, was ihn letztendlich dazu veranlaßte, so oft wie möglich Stahligs Gemächer aufzusuchen. Der Medizinmann hatte keinen Grund, Ronin auf besondere Weise zu behandeln, dennoch tat er es. Vielleicht hatte er irgendwo tief in ihm ein Potential erkannt, etwas, das andere nicht erkannt hatten. Die beiden Männer wurden Freunde. Der Grund spielte überhaupt keine Rolle, jedenfalls nicht für sie. Das wiederum hieß nicht, daß es in einem gewissen Sektor des Freibesitzes unbemerkt blieb, notiert, niedergeschrieben und zur eventuellen späteren Verwendung zu den Akten gelegt wurde. Wir haben uns gegenseitig akzeptiert, dachte Ronin. Und jetzt hast du dich zu den anderen gesellt…Zu all denen, die mich gekannt haben und deswegen sterben mußten. Draußen erhob sich der Wind und zerrte mit seiner traurigen Melodie an der Takelage. »Du weißt es nicht?« wiederholte Ronin seine Frage. Nicht die Spur einer Emotion schwang in seiner Stimme. »Was hast du mir angetan, Borros?« Der Zaubermann steckte die Schriftrolle in das Versteck im Griff des Schwertes zurück. Er rieb sich über die Augen.
»Setz dich hin«, bat er dann und legte seine schmale Hand auf Ronins Schulter. »Setz dich, und ich werde dir alles sagen, was ich definitiv weiß.«
»In jenen alten Zeiten, da sich die Welt noch schneller um ihre Achse drehte und die Sonne mit großer Kraft am Himmel brannte, in jenen Zeiten, da eine Vielzahl von Menschen auf der Erdoberfläche umherstreiften und das Land sich aus Dreck und grasbewachsenen Flächen in weite Felder eßbarer Pflanzen verwandelte, grün und golden im Sonnenschein, in trockene, mit niedrig wachsenden Blumen vieler Farben betupfte Wüsten, in unglaubliche, vom Wind gepeitschte Steppen und Bergzüge, blau vom Dunst, als Schiffe zahlloser Nationen die Meere befuhren und den Handel mit neuen Ländern pflegten, damals, Ronin, damals kannte man uns unter einem anderen Namen. Wir waren Wissenschaftler, und unsere Arbeit war höchst empirisch, unsere Theoreme kamen fast ausschließlich aus dem Vorderhirn. Bist du mit dem Wort empirisch vertraut? Ah, gut. Methodologie war unser Leitwort, dieser strenge Katholizismus eine feste und tragende Basis unserer Arbeit. Aber die Zeiten änderten sich, änderten sich grundlegend, und die Welt der Alten verging. In dieser Zwischenperiode wurde die Welt von einer ganzen Reihe von Naturkatastrophen heimgesucht. Die Kontinente brachen auseinander und schwanden, um von anderen ersetzt zu werden, die durch kochende, brodelnde Meere an die Oberfläche emporstiegen. Viele Menschen starben. Und, was weit einschneidender war – die Gesetze, die bislang die Welt regierten, wurden umgestürzt, zerstört. Andere, neue traten an ihre Stelle. Das Undenkbare war geschehen; wodurch, das ist unmöglich zu sagen, und es gehört auch nicht unbedingt zu diesem
Bericht. Tatsache ist, daß alle formellen Aufzeichnungen, die es über die alte Welt gegeben haben muß, verloren sind. Übriggeblieben sind nur Fragmente, die sich auf die Welt beziehen, wie sie vorher war. Natürlich gab es unter den Überlebenden der großen Katastrophen zahlreiche Wissenschaftler, doch sie waren derart an die Basis ihres Empirizismus gebunden, daß sie sich weigerten, die veränderten Gegebenheiten zu akzeptieren. Die Welt hatte sich geändert, die alte Methodologie konnte jetzt nur mehr sporadisch funktionieren. Aber das begriffen sie nicht. Vielleicht wollten sie es auch gar nicht begreifen. Andere Männer, die in die neue Ordnung der Dinge hineingeboren worden waren, waren, da sie nicht in der traditionellen Art der Menschen ausgebildet worden waren, in der Lage, den großen Sprung nach vorn im Denken zu tun. Diese Männer wurden sodann die großen Magier. Sie erforschten neue Methoden, alchemistische Methoden, und sie entdeckten zauberische Möglichkeiten, die ihr Licht wie Leuchtfeuer in das große Dunkel verströmten. Also schwoll die Macht der Magier an, und schließlich war sie so gewaltig, daß sie die Wissenschaftler vertrieben, sie verschmähten und lächerlich machten. Und die Magier gingen noch weiter. Sie umgaben sich mit dem Mantel des Oberherren, und irgendwann verloren sie ihre ursprünglichen Ziele aus dem Auge. Verantwortungslos begannen sie, sich zu befehden, um Boden und Macht zu wetteifern. Der unvermeidliche Weltenbrand ihres Streitens breitete sich über den ganzen Planeten aus. Die Zerstörung war gräßlich, erblühte zu unvorstellbaren Höhen. Viele Menschen zogen sich unter die Erdoberfläche zurück. Die Stadt der Zehntausend Pfade entstand auf diese Art und Weise. Es war ein Versuch, eine friedliche Gesellschaft zu gründen, eine Gesellschaft, die
sich aus überlebenden Angehörigen aller Nationen zusammensetzte. Aber in der Bevölkerung der Stadt der Zehntausend Pfade gab es sowohl Magier als auch Wissenschaftler, und sie bekriegten sich noch immer. Es heißt, daß von allen Magiern nur dor-Sefrith von Ama-no-mori unbewegt und unbeteiligt blieb, obwohl sich beide Seiten wegen seiner großen Macht um ihn bemühten. Nach dem Weltenbrand zerbröckelte das einstige Wissen. Jede Generation lernte weniger, und schließlich, zu einer Zeit, da selbst dor-Sefrith es sich nicht mehr leisten konnte, unparteiisch zu sein, splitterten sich Cliquen ab, die sich aufwärtsbohrten durch den mineralreichen Fels, und so entstand schließlich unsere spätere Heimat, der Freibesitz. Das alte Wissen verwässerte mehr und mehr. Und so entstanden die Zaubermänner. Wir sind weder Wissenschaftler noch Magier, wir kämpften mit den Resten des alten Wissens, lernten längst tote Sprachen, veränderten Gleichungen, die wir nicht verstehen konnten und die wahrscheinlich unter den gegebenen Gesetzmäßigkeiten niemals aufgehen können. Und selbst dann, wenn wir einige geringe Fetzen der alten Konzepte begriffen, selbst dann, wenn es uns irgendwie gelungen war, überall verstreute Informationen zusammenzustückeln, um ein großes Ganzes zu schaffen, selbst dann fehlten uns die Hilfsmittel. Die Neers sind, wie du ja weißt, Ronin, so miserabel ausgebildet, daß sie nicht einmal die unerläßlichen Maschinen des Freibesitzes reparieren konnten, ganz zu schweigen davon, daß sie uns jene Maschinen hätten bauen können, die wir benötigt hätten, um irgend etwas zu schaffen. Die meisten Zaubermänner resignierten, bis einige wagemutige Saardin begriffen, daß wir einen begrenzten Nutzen im Machtkampf im Freibesitz hatten. Einen nach dem
anderen nahmen uns die Saardin aufs Korn und zwangen uns unter ihre Herrschaft. Das war das Ende. Fortan waren wir nur noch für die Saardin da, unterdrückt, mußten wir für sie Pläne ersinnen, mit deren Hilfe sie ihre Macht mehren konnten. Ich kehrte ihnen den Rücken, und viele Signen lang wollte ich nicht einmal ihre Ebenen betreten. Ich verbrachte meine Zeit mit den Überbleibseln der anderen Gelehrten, studierte, so gut mir dies möglich war, die Lehren der alten Welt und hoffte, irgendwann einmal, wenigstens für mich selbst den Anschein meines Erbes wiederzugewinnen. Aber je mehr ich las, desto überzeugter wurde ich, daß wir eine sterbende Rasse sind, uns in unserem eigenen vermischten Blute ersticken, träge, inzüchtig, inzestuös. Und G’fand teilte diese meine Auffassung.« Borros schwieg und sah Ronin an. »Du kanntest G’fand?« fragte Ronin. »O ja, er hat mir sehr dabei geholfen, die alten Handschriften zu übersetzen. Jeder Zyklus brachte neue Enthüllungen, aber alles war fragmentarisch, und nur zu oft entstanden anstelle eines gelösten Rätsels ein Dutzend neue. Es war eine Quälerei. Wie viele isolierte Passagen, ihr Anfang und Ende verloren…« »Ich erinnere mich«, unterbrach ihn Ronin, »daß G’fand, als wir in der Stadt der Zehntausend Pfade ankamen, an jeder Hausecke stehenblieb, um die darin eingravierten Schriftzeichen zu lesen.« Der Zaubermann nickte. »Ja. Ich kann mir seine Aufregung vorstellen. Ein derartiges Vorratshaus an Wissen…« Er griff in die Schublade unter seiner Koje und kramte einige Nahrungskonzentrate hervor. Er bot Ronin welche an, doch dieser schüttelte ablehnend den Kopf. Borros setzte sich. Eine Zeitlang war nur sein Schmatzen zu hören. »Eines Tages«, fuhr er dann unvermittelt fort, und seine Stimme wirkte dünn und gläsern, »eines Tages entdeckten wir
ein zerrissenes Manuskript. Es war furchtbar alt und so spröde, daß wir drei Zyklen brauchten, um es vorsichtig so zu säubern, daß wir damit beginnen konnten, die Schriftzeichen zu lesen und fehlende Buchstaben zu ergänzen. Dann machte sich G’fand daran, die Schriftzeichen zu entziffern, und ich verlor das Interesse daran, da ich zu jener Zeit mit einem eigenen Projekt beschäftigt war. Mehrere Zyklen vergingen. Irgendwann suchte mich G’fand überraschend auf und erklärte mir, daß er mit seiner Arbeit überhaupt nicht vorankäme. Die Zeichen waren ihm vollkommen fremd; es gab keine Ähnlichkeit mit irgendeiner jener Sprachen, die er studiert hatte. Dabei war er der bessere Übersetzer von uns beiden. Er ließ nicht locker, bis ich ihm zusagte, mir das Manuskript noch einmal anzusehen. Nun, jene Schriftzeichen, die ihm derartige Schwierigkeiten bereiteten, sprangen mich mit einer derartigen Lebendigkeit an, daß ich meine Überraschung brutal verbergen mußte. In diesen Sekunden war ich meiner besonderen Ausbildung so dankbar. Denn der Kodex war in einer der vergessenen – und, wie ich bis dato angenommen hatte, nutzlosen – Sprache geschrieben, die ich als Kind gelernt hatte. Eine drastische Veränderung in den angeblich unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten unserer Welt wurde vorausgesetzt. Ich las: Zu einer Zeit, da die Grundlagen unserer Wissenschaft gestürzt sind, wird die Menschheit vor der wahren Macht zittern. Eitelkeit ist ihr Verderben, und sie wird das Nahen des Untergangs nicht beachten, bis er sie zermalmt. Der Dolman, ein Hexenwesen mit furchtbarer Macht jenseits menschlichen Begriffsvermögens, wird über die Menschen kommen. Die Veränderung der Gesetze bereitet seine Machtübernahme vor. Dereinst werden sie kommen: Die Legionen des Dolman, dann
die Makkon, und sodann der Dolman selbst, um die Welt in Besitz zu nehmen. Und, damit einhergehend, der Untergang.« Der Wind draußen hatte an Intensität zugenommen, stürmte auf das Eisschiff ein, peitschte es mit irrsinniger Geschwindigkeit über das Eis. Doch dieses Geräusch schien ihnen weit entfernt, unwirklich, in klebriger Zeit erstarrt. Die Gefährten schwiegen. Endlich raffte sich Borros auf, und nachdem er einige Sekundenbruchteile gelauscht hatte, machte er eine Handbewegung nach oben. »Das Segel.« Wäre es noch länger gehißt geblieben, so wäre es zerfetzt worden. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, es zu reffen. Der Sturmwind, der wie rasend von Nordwesten her blies, zerrte an ihrer Kleidung, geißelte ihre Gesichter, zwang sie, nach Luft zu schnappen und sich abzuwenden. Blind waren sie im Abgrund der Nacht, und die Richtung, in die sie getrieben wurden, konnten sie nur erraten. Wieder in der Kajüte angekommen, bliesen sie sich in die hohlen Hände und hielten sie dicht ans Feuer. Die Kälte saß tief in ihnen und ließ sich nur widerwillig vertreiben. Ronin bereitete sich ein Essen. Borros legte sich in seine Koje. Noch bevor Ronin seine karge Mahlzeit beendet hatte, schlief der Zaubermann. Auch Ronin streckte sich jetzt in der Koje aus und starrte auf die schwankende Lampe. Der Dolman… Lange dachte er über diese geheimnisvolle Wesenheit nach. Er mußte eingeschlafen sein. Abrupt schrak er hoch. Die Bullaugen wurden von einem schwachen milchigen Leuchten erhellt. »Tagesanbruch«, hauchte Borros und setzte sich auf. »Die Sonne geht auf. Bald können wir das Segel wieder entfalten.« Später, an Deck, konnten sie ihren ersten Blick auf das Eismeer werfen. Der erste richtige Blick seit sie Segel gesetzt
hatten. Jetzt verstand Ronin, warum sich Borros keine Sorgen gemacht hatte, warum es unnötig gewesen wäre, Wache zu halten. Endlos breitete sich die glatte, schimmernde Fläche aus. Nirgendwo ein steiler, hoher Grat, nirgendwo scharfkantige Vorsprünge, Spitzen. Und nirgendwo ein Horizont, nur Eis, überall nichts als spiegelglattes Eis. Im Osten hatten die grauen Wolken eine blasse Safranfärbung angenommen, als die Sonne ihren täglichen Zug über das Firmament begonnen hatte. Der Wind kam stoßweise, und Borros mußte nach achtern gehen, um den Kurs zu korrigieren. Ronin hielt nach Süden hin Ausschau, sah, wie sich die zerfetzten Wolken anhäuften, zusammenstürzten, von den hohen Winden über den Himmel gepeitscht wurden. Gibt es da draußen wirklich Menschen? fragte er sich. Und – wie sehen sie aus? Wie Bonneduce der Letzte? Er zuckte mit den Schultern und beschäftigte sich mit dem Takelwerk, zog Knoten an, die sich während der Nacht gelockert hatten. Noch schwerer, bedrückender wurde die Luft, bleiern, trotz der Stärke des Windes, und ein leichter Druck setzte sich in Ronins Ohren fest. Er bewegte sich besonders vorsichtig auf dem schaukelnden Deck. Der Ausrutscher in der ersten Nacht saß ihm noch zu gut in der Erinnerung. Er blickte in die Richtung, aus der der Wind heranfauchte. Und dort, im nordwestlichen Viertel, erspähte er die purpurschwarzen Gewitterwolken. Sie kündigten nahenden Sturm an. Ein wilder Ruf ließ seinen Kopf herumfahren, aber er konnte nichts Unstimmiges sehen. Er arbeitete sich zu Borros nach achtern, und der Zaubermann deutete nach Norden. »Was ist los?« fragte Ronin, nachdem er den Gefährten erreicht hatte.
»Ein Schiff! Ich habe ein Schiff gesehen!« Borros umklammerte das Ruder. »Es verfolgt uns!« Ronin starrte angestrengt in die Richtung, in die Borros zeigte, aber außer der Weite des Eismeeres konnte er nichts ausmachen. »Jetzt wird es vom Nebel umhüllt«, flüsterte Borros. »Borros, bist du ganz sicher – « »Es ist das Schwesterschiff«, zischte der Zaubermann. »Ja, hol’s die Kälte, ich hab’s gesehen! Ich hab’s wirklich gesehen!« Ronin wandte sich ab, drehte Borros mit sich herum. Er blickte in das Gesicht des alten Mannes und versuchte, die Furcht zu ignorieren, die sich wie eine Schlange darin wand. »Vergiß es«, sagte er nüchtern. »Du bist noch immer übermüdet. Du hast das gesehen, was dich deine Fantasie sehen lassen wollte. Du hast so viel durchgemacht, aber – das ist jetzt vorbei. Freidal kann dich nicht mehr bedrohen. Du bist frei, Borros!« Borros warf einen kurzen Blick zum Heck zurück, darüber hinaus, in den hochwallenden Nebel. »Beten wir, daß es wirklich so ist…«
Den ganzen Tag über nahm der Wind zu, wurde zum Sturm, dessen Stöße sich von einer Himmelsrichtung zur anderen verlagerten und das Eisschiff mit ständig zunehmender Geschwindigkeit nach Süden jagten. Ronin bediente die Takelage. Die Kufen des Eisschiffes schienen das Eis überhaupt nicht mehr zu berühren, so rasend schnell glitten sie über die gefrorenen Wüsten. Von Zeit zu Zeit bemerkte er Borros’ ängstliche Blicke zurück, aber er sagte nichts, behielt seine Gedanken für sich.
Die verläßliche Konstruktion und Bauweise des Schiffes beeindruckte ihn. Er beobachtete das kleine Sturmsegel, das sie im ersten Licht des Tages gesetzt hatten. Von den mächtigen Windstößen gebläht, bis an die Grenzen der Belastbarkeit gedehnt war es, dennoch: es würde nicht reißen. Dieses Segel war aus einem anderen Stoff gefertigt als das gewobene Leinen des Hauptsegels, leichter, geschmeidiger. Die meiste Zeit schwiegen die Gefährten. Es war jetzt unerläßlich, daß Ruder und Segel stets bemannt waren. Der Sturm war unberechenbar. Ronin handhabte das Segel. Borros wäre dazu nicht in der Lage gewesen; es erforderte zuviel Kraft. Die meiste Zeit verbrachte er damit, an der Takelage zu zerren und nach vorn zu starren, einen Arm um den hölzernen Mast gelegt. Er fühlte das Zittern und Vibrieren und lauschte dem rhythmischen Knarren der Seile, dem Sausen der Kufen und dem einsamen Lied des Windes. Er dachte an nichts; die Zukunft mochte sein, wie sie sein würde. Aber in diesen einsamen Momenten beschlich ihn eine eigenartige Wärme, und während er den Zug der Taue ausglich, ihm trotzte, während er die kaum gebändigte Kraft der Elemente spürte, die sie auf ihn übertrugen, fühlte er, daß ihre Geschmeidigkeit der Garant für ihr Überleben auf dem Eismeer war. Langsam bildete sich ein Bündnis, dessen er sich erst viel später vollauf bewußt wurde. Ein Bündnis, wie es bei vielen Männern unausbleiblich gewesen war, während vieler Zeitalter, auf viel zu vielen Meeren, um genaue Zahlen nennen zu können. Das war es, was ihn den Wechsel des Windes im Gesicht spüren ließ, das Tau blitzartig anziehen oder nachlassen ließ, so daß der Segler stetigen Kurs nach Süden beibehielt. Das war es, was ihn tausend verschiedene Feinheiten des Segelns in so kurzer Zeit begreifen ließ. Kurz nach der Mittagszeit verebbten die Windböen, und es wurde ruhig genug, so daß die beiden Gefährten riskieren
konnten, Ruder und Sturmsegel festzuzurren und in ihre Kajüte hinunterzusteigen, um zu essen und sich auszuruhen. Während sie ihre Mahlzeit einnahmen, erzählte Ronin dem Zaubermann von den Ereignissen in der Stadt der Zehntausend Pfade. Als er schließlich vom Angriff der Kälte-Bestie berichtete, schrie Borros erstickt auf, ein Schrei, der förmlich auf den Lippen explodierte. Er hustete, schluckte krampfhaft. Dann ließ er Ronin das Wesen noch einmal beschreiben, so gut es jenem möglich war. »Die Makkon«, flüsterte er dann, und sein Gesicht war totenbleich. Mehr denn je erinnerte es an einen Totenschädel. »Diese Wesen sind keine Tiere… Es sind Sendboten des Grauens, Sendboten des Dolman! Und da dir ein solches Wesen begegnet ist, steht fest, daß die Wiederkehr des Dolman näher ist, als ich geahnt habe!« Borros schloß seine Augen. »Bleibt uns noch genügend Zeit? O Kälte, es muß, es muß!« Er hob seine Lider, blickte hoch. »Ronin, wir müssen den Süden so schnell wie möglich erreichen. Nichts darf uns aufhalten! Nichts, verstehst du?« »Beruhige dich, Borros«, erwiderte Ronin ganz ruhig. »Uns wird nichts aufhalten!«
Spät am Nachmittag verdunkelte sich das Firmament. Jener gewaltige Sturm, vor dem sie zu fliehen versucht hatten, holte sie mit unerbittlicher Wucht ein. Der Wind kreischte in der Takelage. Die irrsinnigen Laute klangen wie die Schreie an den Pforten der Verdammnis, und Ronin machte sich daran, das Sturmsegel einzuholen. »Nein!« brüllte Borros, und der Sturm dämpfte seinen Aufschrei. »Laß es gehißt! Wir müssen schnellste Fahrt machen, ohne Rücksicht auf das Risiko!«
Ronin sah zum Himmel hoch. Die dahinjagenden purpurschwarzen Wolken, die jetzt dicht und drohend von Westen heranquollen, zogen sich zusammen. In ihrem Zentrum pulsierte der Sturm. »Wenn es nicht herunterkommt, können wir umkippen!« Ronin schrie gegen den Wind an, aber seine Worte wurden wie trockene Blätter von seinen Lippen gefetzt. Borros’ Gesicht war fleckig vor Furcht. »Ich habe es wieder gesehen, das andere Schiff. Es hat aufgeholt. Es ist uns nahe, Ronin, es kommt immer näher…« Seine Augen quollen aus den Höhlen. »Ronin, ich will nicht gefangen werden!« Ronin begann, das Sturmsegel einzuholen. »Du hast nur das gesehen, was du sehen willst! Niemand folgt uns, Borros. Ich will diesen verdammten Sturm lebend überstehen.« Momente später legten sich schlanke Finger auf seinen Arm, schwach, kaum merklich. Ronin drehte sich um und sah in Borros entsetzt geweitete Augen, sah die Schweißlinie, die auf der Stirn des Zaubermannes gefror. »Bitte, Ronin. Bitte! Das Schiff ist hinter uns her. Wenn wir langsamer werden, holt es uns ein.« Stoßweise kam Borros’ Stimme. Weißer Nebel flirrte vor seinen Lippen. »Verstehst du? Ich kann nicht zurückkehren. Ich kann nicht mehr ertragen. Freidal hat alles getan, um – « Ronin berührte ihn sanft. »Geh wieder ans Ruder. Kümmere dich um unseren Kurs«, sagte er leise. »Das Sturmsegel bleibt gehißt.« Dankbar nickte Borros und begab sich wieder nach achtern.
Ronin erneuerte die Knoten und schwor sich, daß er das Sturmsegel beim ersten Anzeichen der vollen Kraft des Unwetters einholen würde. Und das Eisschiff raste weiter, dahingepeitscht von einem immer stärker werdenden Sturmwind…
II Aegir
Er hat sich abgewandt vom Westen, weg vom Sterben der Sonne. Verängstigt flieht er vor dem Aufruhr des weiten Himmels. Direkt hinter sich spürt er die geifernde Erregung des Sturmes, und er wird schneller, gleitet dahin, die Schwingen heftig bewegend. Scharfe, schneidende Höhenwinde umhüllen ihn, der Druck brodelnder, dunkler Wolkenbänke wird allgegenwärtig. Hier und da zerreißen lodernde Blitze die Düsternis. Vor diesen Elementen fürchtet er sich nicht. Er steigt auf, ein vergeblicher Versuch, über dem Sturm zu fliegen. Manches Unwetter hat er überstanden, sicher auf den sich verändernden Luftströmungen schwebend, über den wirbelnden Schneegestöbern; die harten Eiskörnchen vermögen ihm nichts anzuhaben. Dieses Mal jedoch ist alles anders. Die Furcht quillt förmlich auseinander. Außer sich ist er, wie von Sinnen, nur von dem einen Wunsch beseelt: entkommen. Das silberne Gefieder ist jetzt nur ein Schatten. Er sinkt tiefer. Die Luft ist in dieser Höhe zu dünn, und verzweifelt versucht er, eine schnelle Strömung zu finden, die ihn von der Präsenz des lebenden Etwas, die hinter ihm glüht, fortbringt… Fort von jenem Wesen, dessen frostiger Atem wie das pulsierende Streicheln des Todes auf seinen Schwanzfedern zu spüren ist. Denn es ist da, lebendig und böswillig und unermüdlich. Eine Wesenheit von jenseits des Lebens. Unter dem Leben. Es kommt!
Wie ein überdimensionales, bizarres Geschoß taucht er in düsteres purpurnes Gewölk, bricht wieder daraus hervor, sein Fleisch kribbelt und schmerzt. In seiner Angst versucht er aufzuschreien, doch kein Laut kommt aus seinem Schnabel. Tiefer! Hinunter und hinunter stürzt er, bis er die Oberfläche des Eismeeres sieht, das sich eintönig und flach und beruhigend erstreckt. Sein Schatten rast darüber hinweg.
Es war nutzlos, mehr noch, schlimmer noch – es war selbstmörderisch! Schnee prasselte herunter, wirbelte auf, wurde zerstäubt, davongerissen, löschte jedwedes Geräusch, jeden Laut aus. Ronin arbeitete sich an der Reling entlang nach achtern. Vorsichtig, behutsam jeden Schritt setzend. Eine glitschige Schneeschicht bedeckte die Planken. Wie ein Schock war das Unwetter über sie hereingebrochen. Ein gigantisches Leichentuch, flatternd, knatternd, tobend im Wind, das sich über sie senkte, sie zu begraben drohte. Das Unwetter war von tödlicher Gewalt und Stärke. Selbst wenn sie zu zweit das Steuerruder festhielten, wurde das Schiff wie ein Spielball umhergeschleudert, als habe es plötzlich jedes Gewicht verloren. Bei weitem besser für sie, unter Deck zu sein, schloß Ronin. Er machte sich wegen Borros Sorgen. Wie leicht konnte der Zaubermann über Bord gerissen werden. Das Schiff ruckte nach Backbord. Ronin glitt aus, kippte und schlug hin. Seine Hände krallten sich irgendwo fest, zitternd, gleichsam aber eisern. Mühsam richtete er sich wieder auf. Ganz langsam, zögernd, lösten sich seine Finger vom sicheren Halt. Noch vorsichtiger bewegte er sich jetzt vorwärts. Borros klammerte sich an das Ruder. Er war von dem Gedanken an das Verfolgerschiff besessen. Sein totenbleiches Gesicht war wie eine erstarrte Maske, die Lippen zu einer
furchteinflößenden Grimasse verzogen. Und Ronin wurde davon an die Fratze eines soeben Verstorbenen erinnert. Wie Krallen lagen Borros’ knochige Finger um das Holz. Ronin schrie ihn an, aber seine Stimme wurde vom zunehmenden Kreischen des Sturmes ertränkt. Er packte den Zaubermann, hieb nach den schwachen Handgelenken, um ihn so zu zwingen, das Ruder loszulassen und zerrte ihn sodann taumelnd und rutschend zur Kajüte. Er stieß ihn die Leiter hinunter. Dann kehrte er um und zurrte das Ruder fest, arbeitete sich zum Bug vor, rutschte immer wieder auf dem vereisten Deck aus und kam schließlich an der Reling zum Halt. Auf Händen und Knien kroch er weiter. Der Sturm wütete ringsum. Ronin erreichte den Mast und holte das flatternde Sturmsegel ein. Er schnappte nach Luft, würgte, als ihm Hagelkörner und gefrorene Schneekristalle ins Gesicht peitschten. Trotzdem gab er nicht auf. Er befestigte das Segel an der Rah und knüpfte doppelte Knoten. Erst nachdem er dies geschafft hatte, begab er sich nach unten. Borros kauerte auf dem Boden und zitterte. Wortlos sank Ronin in seine Koje. Vielleicht ist es doch zuviel für ihn, dachte er. Zu viele neue Situationen ergaben sich jede Minute, und keiner von ihnen hatte sich auf der Oberfläche akklimatisiert. Für ihn, Ronin, war es nicht so schlimm; er war jung und stark, mit dem Körper und der Anpassungsfähigkeit eines Kriegers. Und sein Gesicht war offen, flexibel. Er konnte akzeptieren. Das wußte er, seit er in der Stadt der Zehntausend Pfade gewesen war. Nicht so Borros, der jetzt theatralisch auf den hölzernen Decksplanken hockte. Der Zaubermann fürchtete sich vor einem imaginären Schiff, das seinen allzu wirklichen Peiniger trug. Den Sturm, der gegen ihren Segler anrannte, schien er gar nicht wahrzunehmen.
Das Toben der Naturgewalten schwoll noch mehr an. Das Schiff bebte und schwankte gefährlich. Weiter raste es über das glitzernde Eis. Wir leben oder wir sterben, und dies hier ist das Ergebnis davon, dachte Ronin. Aber die Kälte soll es holen… Ich will nicht sterben! Borros war aufgestanden. Trunken taumelte er an die Kajütleiter, begann zur verschlossenen Luke hinaufzusteigen. Ronin schnellte vor, bekam ihn zu fassen. »Was machst du?« »Das Segel!« keuchte der Zaubermann, und seine Stimme war fast wie ein Winseln. »Ich muß sicher sein, daß es gehißt ist!« »Es ist gehißt!« Borros wand sich in Ronins Griff. »Ich muß es selbst sehen. Freidal verfolgt uns. Er ist hinter uns her! Wir müssen höchste Fahrt machen. Wenn er uns erwischt, wird er uns vernichten!« Ronin riß ihn herum, so daß er in die müden Augen des Zaubermannes blicken konnte. Panik und Schock trübten sie. Es ist zuviel für ihn, dachte Ronin erneut. »Du mußt Freidal vergessen, Borros! Vergiß alles. Freidal und das andere Schiff – alles! Selbst wenn er uns verfolgt, so wird uns der Sturm schützen. In diesem Chaos kann er uns nicht finden!« Leere breitete sich in Borros Blick aus. Wieder wandte er sich der Luke zu. Ronin schüttelte ihn, verlor die Geduld. »Narr! Der Sturm ist unser Feind! Da draußen wütet der Tod! Das Segel würde uns vernichten!« »Dann hast du es also heruntergeholt!« Borros winselte wie ein Kind. »Ja, und die Kälte soll dich holen! Ich hatte keine andere Wahl! Hätte ich es nicht eingeholt, so wären wir längst zerschmettert!«
Wie rasend krallten sich Borros’ Finger in Ronins Fleisch. »Laß mich gehen! Ich muß das Segel setzen! Schnell! Er wird uns einholen, wenn ich es nicht tue!« Ronin schlug zu. Knapp, ansatzlos. Seine Handkante krachte gegen die Halsschlagader des Zaubermannes, die Wucht des Schlages unterbrach die Nervenverbindungen und den Blutstrom für einen winzigen Augenblick. Das genügte. Haltlos brach Borros zusammen. Ronin zerrte ihn hoch und legte ihn in seine Koje. Dann wandte er sich angewidert ab. Das Schiff stöhnte und ächzte unter der Wucht des Sturmes. Wie wahnsinnig schaukelte die Hängelampe an ihrer kurzen Kette und übergoß die Wände mit Ausbrüchen finsteren Lichts und geometrischen Schatten. Nach einer Weile griff Ronin hinauf und erstickte die Flamme.
Lauschend lag er in der von irrwitzigem Heulen, Pfeifen, Jaulen erfüllten Dunkelheit, fühlte, wie die Feluke unter ihm zitterte und bebte und ruckte, roch die dünne Rauchspur, die noch immer aus der Lampe quoll. Der Sturm fuhr in die Takelage, stöhnte, als sei er ein lebendiges Wesen, tobte, ließ Hagelschauer auf das Deck niedergehen und wischte sie wieder weg. Und die Dunkelheit wurde noch intensiver. Die Geräusche veränderten sich kaum merklich, sanken in ihrer Tonhöhe nach unten, wurden gedämpft, als höre man sie durch Schichten zäher Flüssigkeit. Ein anderer Aspekt der Geräusche, bisher unbemerkt geblieben, wurde überdeutlich. Dann änderte sich die Lautstärke, nahm ab, wurde zu einem langsamen Rhythmus, der irgendwie beruhigend wirkte. Die Töne wurden länger, plötzlich wie gedehnt. Er war tief, tief unten, und die Türme der Welt stiegen über ihm zu gigantischer Größe auf, steile, harte Wände aus
vulkanischem Fels mit mächtigen Furchen und Rissen, so dauerhaft wie Obsidian. Die Grundfesten, beschlagen und geformt von der Macht der Zeit. Ewigkeit. Ein Zeitalter erfüllt mit Umbruch und großer Bewegung. Die Welt formte sich, schrie auf wie ein Säugling; roter, golden geschmolzener Fels wurde in zischenden Strömen aus dem Bauch der Erde gespien, kroch aus tiefen Rissen, kochte in die gewaltigen Meere. Landmassen stiegen auf, glänzend und schaumig. Klippen stürzten wie Wasserfälle in aufgewühlte weiße Wasser. In einem Zeitalter, da alles seinen Anfang nahm. Ein Schatten. Er ist nicht allein. Und in den furchtbaren Schluchten der Grundfeste der Welt spürt er eine Gegenwart, diffus und elementar. Groß ist es, unaussprechlich gewaltig, so daß er nicht weiß, ob er sich bewegt oder ruht. Vielleicht hat es Gesichtszüge, vielleicht ist es hirnlos oder wiederum vollkommen ohne Gestalt. Man kann es nicht unterscheiden. Seine Seiten pulsen vor Energie, deren Quelle, wie ihm scheint, die Gezeiten des Ozeans selbst sind. Stumm gleitet er über die glitschigen Berge dieses Körpers, ein metonymisches Gelände ohne Ende, eine Alptraumlandschaft. Und er staunt. Aber in der absoluten Stille gibt es keine Antworten…
Er erwachte mit einem ungeheueren Durst und dem Bedürfnis, zu urinieren. Er wagte sich an Deck. Noch immer tobte der Sturm, aber der Himmel erschien ihm irgendwie heller. Tagesanbruch, dachte er. Tagesanbruch, oder kurz danach. Unmöglich, das bei diesem Wetter genau festzustellen. Er erleichterte sich und stopfte eine Handvoll Schnee in seinen Mund. Dann kehrte er fröstelnd in die Kajüte zurück. Borros schlief noch immer. Gut so. Er würde mit Kopfschmerzen erwachen.
Ronin trat an seine Koje, beugte sich vor und ließ seine Hand über das Schott gleiten. Nirgends ein Anzeichen, daß das Material gelitten hatte. Nach wie vor hielt es der Raserei des Unwetters stand. Ronin setzte sich und nahm ein zusätzliches Mahl zu sich. Borros stöhnte und wälzte sich von einer Seite auf die andere, aber er erwachte nicht. Ronin sah den blauen Fleck an seinem Hals. Er durchquerte die Kajüte und beugte sich über die gebrechliche Gestalt des Zaubermannes. Borros zitterte. Rasch drehte er ihn auf den Rücken. Das Gesicht des Zaubermannes war erhitzt, die Haut hatte eine trockenes, angespanntes Aussehen angenommen. Langsam hoben sich die Lider. Die Pupillen waren vergrößert und unnatürlich hell. Ronin zog die Schublade unter der Koje auf und holte eine gewobene Decke heraus. Dann entkleidete er Borros. Der Anzug war trocken, aber Borros’ Haut… Rückstände geschmolzenen Schnees und Fieberschweiß glänzten darauf. Der Anzug war hervorragend gefertigt, verhinderte, daß Kälte und Nässe durchdringen konnten. Umgekehrt aber ließ er nicht zu, daß ein schwitzender Körper trocknete. Borros zitterte unter der Gewalt des Fiebers. Ronin deckte ihn zu und ärgerte sich. Er hätte es früher merken müssen. Die gewaltigen Unterschiede an körperlicher Widerstandskraft und geistiger Anpassungsfähigkeit hatten im Zusammenbruch des Zaubermannes enden müssen. Da er es jedoch gewesen war, der ständig vorwärts gedrängt hatte, hatte Ronin die Zeichen völliger Erschöpfung auf dem Gesicht des anderen übersehen. Was haben Freidals furchtbare Sondierungen aus ihm herausgeholt, fragte sich Ronin. Der Sturm hielt das Eisschiff mit monotoner Hingabe in seinen Fängen. Von Zeit zu Zeit versuchte Ronin, das Gesicht des Zaubermannes mit Wasser abzukühlen. Der kahle Schädel
glänzte wächsern im diffusen Licht des schwindenden Tages. Eine ständige Mahnung seiner Verwundbarkeit. Bei Sonnenuntergang wurde das Fieber stärker. Borros hatte unruhig geschlafen und überhaupt nichts zu sich genommen. Jetzt war er vollends ins Delirium hineingetaucht. Wenn sich sein Zustand nicht bald besserte, hatte Borros keine Chance. Dann würde er sterben. Es gab nichts, das er hätte tun können, und seine Hilflosigkeit irritierte und ärgerte ihn. Er hatte die Kajüte durchsucht, in der Hoffnung, Medikamente zu finden, aber schon bald gab er es auf, weil er die Sinnlosigkeit seines Tuns begriff. Sicher, er fand einige Pulver und Tränke, aber er wußte nichts mit ihnen anzufangen. Ein falsches Mittel mochte den Zaubermann wirksamer umbringen als jedes Fieber. So hatte er alles, was er gefunden hatte, im Schrank unter der Koje gelassen, unbenutzt, unbekannt. Borros stöhnte, und draußen kreischte der Sturm in der Takelage. Plötzlich: ein scharfes, knirschendes Geräusch! Ronin wurde vornübergeschleudert, krachte auf die Planken. Das Schiff ruckte und bockte, kam frei, schleuderte, kreiselte. Die Bewegung ist anders geworden, dachte Ronin. Er rappelte sich hoch, kam wieder auf die Füße. Und dann: Hol’s die Kälte. Wir sind irgendwo aufgelaufen… Gegen irgend etwas geprallt! Er täuschte sich nicht. Der schlanke Rumpf der Feluke glitt in einem gefährlich schrägen Winkel über das Eis! Wenn ich das Schiff nicht aufrichte, wird uns unsere Geschwindigkeit umwerfen! Ronin zerrte sich die Kapuze über den Schädel, stürmte die Kajütleiter hinauf, glitt durch die Luke und hinaus in das Tohuwabohu des Sturmes. Eisnadeln prasselten gegen ihn. Der Wind zerrte an Armen und Beinen. Und über dem Schreien des Unwetters hörte er ein rhythmisches, schweres Flattern. Er
schützte seine Augen, starrte in das wirbelnde Chaos, das ihn umgab. Ein Teil der Takelage hatte sich gelöst und peitschte gegen den Rumpf des Seglers. Ronin sah kaum mehr etwas. Er arbeitete sich nach achtern vor, und das Schiff raste zitternd und ruckend auf seinem schrägen, unnatürlichen Kurs dahin. Die Feluke drehte sich im Sturm, kreiselte um die eigene Achse. Sie wird auseinanderbrechen! Panik kam auf. Hand über Hand arbeitete er sich weiter nach hinten. Das Deck war von einer wadenhohen Decke aus Eis und Schnee überzogen. Ein heftiger Windstoß schmetterte gegen das Schiff. Ronins Griff lockerte sich. Das Takelwerk war vereist und glitschig. Er stolperte und rutschte über das Eis. Wurde immer schneller. Er würde über Bord gehen. Mit der Wucht eines Peitschenhiebes wurde ihm das klar. Ronin mühte sich verzweifelt, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, aber er schaffte es nicht, es war einfach unmöglich. Seine behandschuhte Hand zuckte vor, griff nach dem Schandeckel. Mit eindringlicher Klarheit sah er, wie die Schuppen der Makkonhaut über das eisüberzogene Holz rutschten. Er packte fester zu, fühlte die Macht des Sturms, fühlte wie er gegen die Reling krachte – und war plötzlich gewichtslos. Aber er wurde nicht davongeschleudert. Sein Griff war eisern, die Schuppen hatten sich in das Eis gefressen, faßten. Der Wind peitschte ihn. Flirrender Eisstaub prasselte in sein Gesicht, seinen aufgerissenen Mund. In der wilden Umklammerung des Sturms drehte er sich. Aber er hielt sich fest. Ganz ruhig im Innersten. Schwung, dachte er. Und benutzen. Er konzentrierte sich auf die Hand mit dem Handschuh, seine einzige Verbindung zum Leben.
Dann schnellte er sich vor! Sein linker Fuß kam über die Reling, hakte sich fest. Ronin zerrte, sein Körper angespannt wie eine Stahlfeder. Der Sturm warf sich mit aller Macht gegen ihn, ein erbarmungsloser Feind. Ronin schaffte es trotzdem. Zentimeter für Zentimeter arbeitete er sich zurück an Bord. Keuchend krachte er auf die vereisten Decksplanken und kroch weiter. Und er dachte an das, was er gesehen hatte, als er über der Reling gehangen hatte. Backbord, am Heck, klaffte ein langer Riß im Rumpf des Seglers. Was haben wir getroffen? fragte er sich. Der Gedanke wurde gegenstandslos. Er hatte ohnehin schon viel zuviel kostbare Zeit verloren. Das Tau, mit dem das Ruder festgebunden gewesen war, war gerissen. Ronin packte das gekrümmte Holz und stemmte sich mit all seiner Kraft dagegen. Er atmete tief durch, versuchte, seine Energien zu erneuern, seine Lungen brannten, der ausgestoßene Atem stand wie eine Wolke vor seinen Lippen. Der Wind heulte in sein Gesicht, und die Feluke erzitterte, als er ihren Kurs zu korrigieren versuchte. Ronin rammte seine Stiefel in den Eis-Schnee-Belag des Decks und drückte, riß, schob. Endlich hörte er das gequälte Kreischen von Metall auf Eis! Die Kufen faßten wieder! Der Sturm drehte sich! Ronins Muskeln sprangen hoch, zuckten auf seinen Armen, seinem Rücken, seinen Oberschenkeln. Die Feluke war förmlich in der Bewegung erstarrt. Sie schwang nicht mehr ab, drohte nicht mehr zu kippen. Aber noch immer glitt sie schräg dahin, und er wußte, daß er das Ruder nicht mehr weiter drücken konnte, daß es jetzt nur noch eine Chance gab, bevor ein heftiger Windstoß den Kiel querab erwischte und den Segler voll breitseits in den Sturm warf. In fliegender Hast zurrte er das Ruder mit einem anderen Tau fest. Dann kroch er an der Reling entlang nach vorn, zum Mast. Geschickt bewegten sich seine Finger über die Knoten,
lösten das Sturmsegel. Er zog an der Rahe, zerrte an der Takelage, spannte das Sturmsegel. Eisschauer tobten gegen ihn, schwere Brocken, schwarz und zerfetzt wie explodiertes Metall, stießen ihn in die Knie, seine Stiefelsohlen rutschten über das Eis. Das Takelwerk wurde aus seinen Händen gerissen, die Feluke sprang nach vorn, ruckte und bebte, als das Sturmsegel den Wind einfing. Ronin versuchte hochzukommen, aber er rutschte wieder aus. Der Sturm tobte über dem Segler. Ronin versuchte es nicht mehr. Mit dem Rücken kauerte er sich gegen die Reling, die Stiefelsohlen stemmte er gegen den Mast. Dann erwischte er die Takelage wieder und zog daran, um die Rah in den richtigen Winkel zu manövrieren. Er wurde Teil des Eisseglers. Das Knarren und Stöhnen des Takelwerks, das Zittern und Vibrieren des Rumpfes, das unglaubliche Singen des Masts, als er dem Wind nachgab und gleichsam trotzte… Das alles war jetzt eine Verlängerung seiner Arme, seiner Hände, seiner Finger. Er kämpfte um das Leben des Schiffes. Und langsam gab die Quersaling nach! Zentimeter um Zentimeter bewegte sie sich in die benötigte Position. Es war kein steter Prozeß, weil der Sturm gnadenlos auf sie herunterpeitschte, von Böen im falschen Augenblick verändert, so daß er äußerst empfindlich auf jede Luftströmung reagieren mußte. Das Heck begann sich nach Backbord zu drehen, so geringfügig, daß er es anfangs gar nicht bemerkte. Er dachte daran, daß er irgendwann vor Erschöpfung einfach umfallen würde, daß er die Besinnung verlor, noch bevor er eine Veränderung sehen konnte. Und in diesem Zustand fühlte er den Umschwung. Wie der erste lange Schluck eines kräftigen Weins wärmte ihn das Gefühl überwältigender Hochstimmung.
Irgendwann band er die Takelage fest und hangelte sich nach achtern, um das Ruder zu richten. Als er das Heck erreicht hatte, fand er Zeit, sich den Riß im Rumpf ein zweites Mal anzusehen. Seltsam, dachte er. Der Riß sitzt viel zu hoch oben. Wenn wir einen Felsen gerammt hätten, so müßte er weiter unten sitzen… Was könnten wir getroffen haben? Noch einmal besah er sich den Schaden. Nichts Ernsthaftes, befand er. Doch eine zweite derartige Verletzung können wir uns nicht leisten. Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Das Purpur am Himmel hatte sich vertieft, hatte den grauen Farbton des langen Nachmittags ertränkt. Und jetzt senkte sich eine Dunkelheit herunter, deren Vollkommenheit furchtbar war. Noch immer tobte der Sturm, und rings um ihn her wirbelten Eis und Schnee. Bevor Ronin nach unten ging, reffte er das Sturmsegel und befestigte die Rahe. Sicher, er war geteilter Meinung darüber, aber schließlich fühlte er, daß es sicherer war, den Sturm ohne das Segel durchzustehen. »Du mußt es mir sagen!« »Warte, mein Freund, warte.« »Borros, es hat schon zu viele Tote in diesem verdammten Spiel gegeben. Ich brauche Antworten!« Tagesanbruch, fast. Schwaches, perlgraues Licht erschien vor den Bullaugen. Während der Nacht war Borros’ Fieber gesunken. Seitdem atmete er leichter, das Rasseln war aus seinen Lungen und seiner Kehle verschwunden, seine Atemzüge waren tiefer und regelmäßiger geworden. Nach der Fieberwende war er erwacht und hatte die warme Flüssigkeit getrunken, die Ronin vorbereitet hatte. Gierig hatte er sie hinuntergewürgt und um mehr gebeten. »Später«, sagte Ronin.
Borros legte sich zurück, und eine Zeitlang blieb er reglos liegen. Seine Energie war verbraucht, und so trieb er fort, in einen tiefen Schlaf. Sein Körper forderte Tribut. Kurz vor Morgengrauen war er dann wieder erwacht, und er schien kräftiger. Seine Augen blickten klar, und in sein Gesicht war Farbe zurückgekehrt. »Wie lange?« »Einen Zyklus. Einen Tag und eine Nacht.« Er ließ eine dürre Hand über sein Gesicht gleiten. »Kann ich etwas zu trinken haben, meinst du?« »Natürlich.« Ronin reichte ihm eine Schale. »Nicht zuviel.« Das Jaulen und Pfeifen des Windes, das gedämpfte Prasseln der Eiskristalle gegen den Rumpf. »Weißt du«, sagte Borros nach einer Weile, »ich habe so lange von der Oberfläche geträumt, mir vorgestellt, wie es sein würde… In allen Einzelheiten. So lange wünschte ich mir, frei zu sein, unabhängig vom Freibesitz… Und dann, während sich Freidal meiner annahm, da wünschte ich mir nur noch, hier oben sterben zu dürfen. Deshalb habe ich durchgehalten, deshalb habe ich geschwiegen. Ich wußte, daß ich in diesem Loch sterben mußte, wenn ich ihm von dieser Welt hier oben erzählte. Diese Vorstellung schreckte mich mehr als alles andere, sogar – « Er schauderte, und seine Augen schlossen sich halb. Freudlos sah er Ronin an. »Kannst du mich verstehen?« Ronin nickte. »Ja. Ich denke schon, daß ich das kann.« Sie unterhielten sich. Es war unvermeidlich, daß sie wieder auf die Schriftenrolle zu sprechen kamen. »Antworten, Borros.« »Ja, mein Junge, natürlich. Aber ich kann dir nur das sagen, was ich selbst weiß.« Er seufzte tief. »Die Schriftenrolle ist eine Art Schlüssel. Die alten Schriften nennen sie eine Tür zum einzigen Weg, den Dolman möglicherweise aufzuhalten.
Alles nahm seinen Anfang im Sturz der Gesetzmäßigkeiten. Dann werden die Makkon kommen, und seine Legionen werden sich sammeln. Und dann, wenn alle vier Makkon hier sind, werden sie den Dolman herbeirufen. Die Makkon sind seine Wächter, seine Vasallen, seine Sendboten, seine Herolde. Von allen Kreaturen, die in seinen Diensten stehen, unterstehen ihm nur die Makkon direkt. Wenn diese vier Wesenheiten auf der Erde vereint sind, vervielfacht sich ihre Macht. Das ist alles, was mir die Schriften gesagt haben.« »Und wohin fahren wir?« »Ah, diese Frage kann ich besser beantworten. Wir fahren nach Süden, zum Kontinent der Menschen. Ich bin sicher, daß wir dort jene finden, die die Schriftenrolle dor-Sefriths übersetzen können.« »Und – wenn nicht?« »Dann wird der Dolman die Welt in Besitz nehmen, so, wie es geschrieben steht. Der Mensch wird zu existieren aufhören.« Ronin dachte kurz nach. Schließlich sagte er: »Du mußt mir noch etwas sagen, Borros. Wenn wir ein Eisriff oder einen Felsen rammen würden, so müßte der Schaden doch tief unten am Rumpf liegen, richtig?« Der Zaubermann sah ihn verwundert an. »Nun ja, ich nehme es an. Aber es ist kaum wahrscheinlich, daß sich bei diesem Wetter hohe Eisformationen bilden. Warum?« »Kein Grund«, sagte Ronin. »Überhaupt kein Grund.«
Die Abenddämmerung war angebrochen, als es kam! So lange war das irrwitzige Lied des Sturms ihr allgegenwärtiger Begleiter gewesen, daß sie schon geglaubt hatten, taub zu werden. Erst, als die Stille vollkommen war, begriffen sie, was es war. Der Sturm hatte sich verbraucht. Nur
das ungewisse Schweigen war über den Weiten des Eismeeres zurückgeblieben. Ronin war Borros dabei behilflich, den Folienanzug anzulegen. Gemeinsam gingen sie an Deck. Dunkle Wolkenbänke, geschwängert mit Feuchtigkeit und flirrenden Blitzen jagten im Osten dahin, und über ihnen wälzten sich zerfasernde Reste der Gewitterwolken, wie zerfetzte Banner. Aber im Westen war die Luft klar und rein, der lange Horizont buchstäblich ungebrochen, von einem schmalen Wolkensaum eingefärbt. Wie kalte Asche wirkte der Himmel jetzt. Dort, wo der Sonnenball hing, magenta und rosa gefärbt. Und dann war der glühende Ball verschwunden. Die Nacht brach so schnell über sie herein, daß es den Anschein hatte, als habe die Sonne überhaupt niemals existiert. Ronin behielt den Sonnenuntergang im Gedächtnis, und sein Herz wurde leichter. So viele Tage, die erfüllt gewesen waren von nahtlosem Grau und klaustrophobischem Weiß… Die Gefährten machten sich daran, das Deck zu säubern. Aber Borros war noch immer geschwächt, bald mußte er die Arbeit einstellen. Er begab sich nach achtern und kümmerte sich um das Steuer und den anliegenden Kurs. Ronin verstaute das Sturmsegel und richtete das größere Hauptsegel auf. Mit einem Ruck entfaltete er es. Die steife Brise fing sich darin, blähte es auf, und der Eissegler schoß voran, wie von einer imaginären Sehne geschnellt. Blaues Eis flog heran und glitt unter dem Bug davon. »Ronin!« Ein Schrei der Verzweiflung. Und er wußte, was er zu bedeuten hatte, wußte es, noch bevor er seinen Kopf wandte und zu Borros hinsah. Seit jenem Augenblick hatte er es gewußt, da er den hoch oben im Rumpf klaffenden Riß entdeckt hatte, da er sich mit Müh und Not wieder an Bord des Eisseglers zurückgearbeitet hatte.
Der Riß… Zu hoch oben für jedes natürliche Hindernis, dachte er. Etwas hat uns getroffen. Er wandte den Kopf, und dann sah er es. Borros schrie wieder. Beide starrten sie jetzt nach achtern. Hinter ihnen, im aufklarenden Wetter, im versilberten Licht der schlafenden Sonne, vom Eis reflektiert, zeichnete sich die unverwechselbare Silhouette eines Lateinsegels ab. »Siehst du es!« Einen Herzschlag lang blieb das Segel scharf umrissen. Dann verschwand es, erlosch flimmernd, so, wie der letzte Fetzen Tageslicht erlosch. Der Eindruck eines unheilvollen Farbtons, das war alles, was übrigblieb. »Ich habe es dir gesagt!« Aber dafür war jetzt keine Zeit. Es war tatsächlich ein Schwesterschiff der Feluke, und es holte rasch auf. Nur mehr ein knapper halber Kilometer trennte sie voneinander. Haben sie ihren Segler irgendwie leichter gemacht? dachte Ronin. Und – wie konnten sie uns in dieser Einöde finden? Sicher, sie kannten unseren genauen Ausgangspunkt, wußten, daß wir uns exakt nach Süden halten würden. Trotzdem störte ihn etwas. Er starrte dorthin, wo er das Segel zum letzten Mal gesehen hatte. Der Sturm, überlegte er. Sie waren umhergetrieben worden, hätten also jeden Verfolger abhängen müssen. Dennoch waren die anderen jetzt so nahe? Warum? Wie war das möglich? Welche Chancen mochten sie jetzt noch haben? Resignierend zuckte er die Schultern und gab es auf. Egal, wie sie es angestellt hatten. Sie waren hinter ihnen, das allein zählte.
Borros stand am Steuer und hielt den Segler hart am Wind, und Ronin manövrierte die Rah, hielt sie im richtigen Winkel. Das Segel war prall gefüllt. Sie machten gute Fahrt. Mehr konnten sie nicht tun. Auf der grenzenlosen Weite des Eismeeres war jedes Ausweichmanöver nutzlos. Nirgends gab es ein Versteck, und am Horizont nicht einmal die Spur eines Landstreifens. Ronin ließ das Tau durch die Rolle laufen, und die Feluke wechselte mehrere Zentimeter nach Steuerbord über. Wir werden nicht mehr fliehen, dachte Ronin grimmig. »Verdammt, Ronin, wir können es schaffen«, schrie Borros vom Steuerrad her. »Wir können ihnen entkommen.« Ronin glaubte es nicht, aber er schwieg. Warum kann Freidal den Segler handhaben? Wie schafft er das? Dazuhin noch mit seinem Daggam… Sie haben noch nie in ihrem Leben ein Schiff gesehen. Aber all das waren lediglich weitere Fragen, auf die er keine Antwort fand. Grimmig dachte er: Auf jeden Fall bin ich mir ziemlich sicher, daß ich ihnen gar nicht entkommen will. Ich habe mit Freidal eine Rechnung zu begleichen, und ich weiß, daß der Bastard dort drüben ist… »Weißt du«, sagte Borros, »nicht der Tod ist es, den ich fürchte, sondern all das, was davor kommen wird…« Und die Angst flirrte in seinen Augen, ließ sie angeschwollen und glasig erscheinen. »Du bist nur ein einzelner Klingenträger, Ronin. Sie werden dich niedermachen. Und dann – dann werden sie das mit dir anstellen, was sie mit mir bereits angestellt haben. Und ich – « Seine dünnen Lippen bebten. »Und ich werde alles noch einmal ertragen müssen. Das kann ich nicht. Ich kann es nicht!« Abrupt wandte sich Borros ab und schlurfte zur Kajütleiter hin, die in den Bauch der Feluke hinunterführte.
»Geh schlafen«, sagte Ronin. »Du bist sicher. Die Nacht ist noch lange nicht vorbei.« Der Zaubermann sah ihn zynisch an. »Sicher…?« Er lachte böse auf. »Du bist wie alle Klingenträger. Hältst dich für unbesiegbar. So lange, bis du fühlst, wie das Leben aus dir herausquillt.« Er schlug den Lukendeckel über sich zu. Ronin lächelte freudlos. Die Zeit verging. Ronin stand in der Stille der Nacht, lässig gegen den leicht vibrierenden Mast gelehnt. Das feine Sirren der Kufen auf dem Eis beachtete er nicht. Er starrte in die Dunkelheit, tief und gewaltig war sie, wie Obsidian, schwarz wie Basalt, sein Geist ein Theater. Freidal, du verteidigst den Tod. Den Freibesitz gibt es nicht mehr. Die Saardin intrigieren. Jeder will nur noch größere Macht, eine Macht, die so hohl ist wie der Bauch dieses Schiffes. Auf den tiefen Ebenen herrscht Chaos. Die Arbeiter sind krank und wahnsinnig und leiden große Not, und du hast dich verpflichtet, die Gesetze dieses Staates aufrechtzuerhalten… Freidal, du Mörder! Du bist schuld am Tode Stahligs, du hast das Leben aus ihm herausgepreßt, bis ihm das Herz brach. Du hast Borros vernichtet. Oh, natürlich, er ist noch am Leben, aber er ist nicht mehr derselbe Mensch, der er einmal war. Er hat Angst. Eine allgegenwärtige Angst, eine Angst, mit der er lebt. Angst vor deiner Vergeltung. Und du wolltest mich vernichten. Ich habe es in deinem Gesicht gesehen, tief eingegraben… Und jetzt versuchst du es wieder. Gut. Ich werde nicht davonlaufen. Es ist an der Zeit, daß wir beide, du und ich, uns im Kampfe begegnen.
Im zarten ersten Licht des Tages lehnte sich Ronin fest gegen das Ruder. Der Himmel wölbte sich wie eine gefiederte Perlmuttschale über ihm. Es ist soweit, Freidal. Mach dich bereit, gellten Ronins Gedanken. Die Zeit ist fast abgelaufen. Mit erschreckender Geschwindigkeit näherten sich die Segler. Im stärker werdenden Licht des Tages blühten die Konturen des anderen Schiffes förmlich empor. Der Himmel war bedeckt. Weite Wolkenstreifen flirrten im weißen Licht des Sonnenaufgangs. Ein seltsames Licht… schräg einfallend, irgendwie grell. Und die Sonne kroch weiter über den Horizont. Die Schatten auf Deck wirkten bizarr. Jetzt vermochte Ronin, an Deck des feindlichen Seglers Schatten auszumachen, dunkle Gewänder flatterten im Wind. Weiße Flächen – Gesichter – waren ihm zugewandt. Dann ein winziges Aufblitzen… Freidal! Ronin wußte, daß er es war. Das Licht der aufgehenden Sonne hatte sich im künstlichen Auge des Saardin der Sicherheit reflektiert. Ronin hielt den Konfrontationskurs bei. Und er spürte, wie Adrenalin durch seinen Körper pumpte. Freidal! hämmerte es in ihm nach. Er veränderte den Kurs, ließ die Feluke in einen weiten Bogen laufen, so lange, bis er sie parallel neben der feindlichen Feluke hergleiten lassen konnte. Seite an Seite rasten sie über das Eismeer, aneinandergeschmiedet, als wären sie ein einziges Fahrzeug. Äußerlich völlig unbewegt, beinahe gleichgültig, beobachtete Ronin Freidal. Er ging nach hinten, bis knapp mittschiffs. Sein echtes, rechtes Auge funkelte zu ihm herüber. Die Schiffe kamen sich näher. »Ah, Ronin!« schrie Freidal zu ihm herüber. »Deinetwegen bin ich gekommen, deinetwegen und des Zaubermannes
wegen! Eigenwillig ist er meinem Gewahrsam entflohen! Ein unschönes Verhalten!« Ronin schwieg. Seine Blicke glitten über das Deck des feindlichen Schiffes, suchten es ab. Wie viele? »Du wurdest mir ja genommen, lieber Ronin, aber da gibt es noch eine Menge Fragen, die ich von dir beantwortet haben will!« Sicher mindestens zwei Daggam. Oder noch mehr? Unten, in der Kajüte? »Wie du weißt, ist die Oberfläche tabu! Ich wurde mit deiner Rückführung in den Freibesitz beauftragt!« In Freidals Stimme glitzerte der Hohn. Ronin achtete nicht darauf. Er wird die besten Klingenträger des Freibesitzes unter seinem Kommando haben, dachte er. Und – er wird mich nicht mehr unterschätzen. Leicht seitlich hinter Freidal stand der Schreiber, mit einer an seinem Handgelenk befestigten Schreibtafel. Mit der Rechten kritzelte er darauf. Abrechnen. Er ist kein Gegner. Freidal fuhr fort: »Leider wird keiner von euch beiden die Rückreise überleben. Sehr bedauerlich, wirklich. Aber ich will gar nicht mehr wissen, wo ihr wart, oder was ihr getan habt.« Das gesunde Auge funkelte. »Meine Daggam sind sakrosankt; niemand greift sie an, ohne irgendwann die Folgen tragen zu müssen. Du hast Marcsh den Rücken gebrochen. Jetzt wirst du bezahlen. Tod ohne Ehre erwartet dich, mein Herr!« Ronin hörte einen Aufschrei hinter sich, zuckte herum und sah Borros. »Oh, Frost, sie haben uns erwischt!« Ronin hatte es satt. »Verschwinde! Geh nach unten!« schrie er. »Und bleib dort, bis ich zu dir komme!«
Der Zaubermann fixierte die schlanke, hochaufragende Gestalt Freidals, der ihm jetzt so nahe war. Furcht ließ sein Antlitz erstarren. »Du wirst sterben, Ronin!« rief Freidal. »Geh nach unten, Borros!« brüllte Ronin noch einmal, und der Zaubermann verschwand. Die Luke knallte zu. Und die Zwillingsschiffe jagten weiter vor dem Wind dahin. Freidal gab das Zeichen des Angriffs. Die beiden Daggam hoben Seile auf, an deren Enden schwarze Metallhaken befestigt waren, wirbelten sie über ihren Köpfen und schleuderten sie los. Mit einem häßlichen Knirschen trafen sie an Deck auf und verkanteten sich. Die Daggam pullten ihr Schiff heran. Jetzt berührten sich die Feluken richtig. Die Seile wurden hastig festgezurrt. Ronin bewegte sich nicht. Die Daggam sprangen auf den Schandeckel. Jetzt erst kam Leben in Ronin. Er band das Ruder fest. Die Gegner kamen an Bord. Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Freidal beobachtete. Sein falsches Auge leuchtete. Der Schreiberling stand unbeweglich neben ihm, den Griffel schreibbereit auf die Tafel gesetzt. Die Daggam waren groß, mit breiten Schultern und langen Armen. Ihre Gesichter wirkten brutal, barbarisch, irgendwie gar tierisch – jedoch nicht unintelligent. Das des einen war schmal und scharf geschnitten, wie mit einem Beil, während das Gesicht seines Gefährten breitflächig war. Ein Eindruck, den die knollige Nase noch unterstrich. In den schräg über die Brust verlaufenden Gurten steckten je drei Dolche. Ihre Schwerter hatten sie blankgezogen. Für Ronin waren diese letzten ruhigen Sekunden vor dem Kampf wie ein aufkeimender köstlicher Hunger… Die Kraft wogte und pulsierte in ihm wie eine reißende Flut, jedoch
kontrolliert und kanalisiert. Er leckte sich die Lippen und zog seine Klinge. Die Daggam näherten sich. Jetzt war das Warten zu Ende.
Vibrierend, leicht schaukelnd jagten die Schiffe über das Eis, weiße Sprühnebel aufwirbelnd, die zu Regenbogen wurden. Sie waren aneinandergebunden, eine Umarmung, die jetzt nur noch vom Tod gelöst werden konnte. Die beiden Daggam waren perfekt aufeinander eingespielt. Sie griffen an, aus verschiedenen Richtungen kommend, jedoch synchron, im gleichen Augenblick. Sie wollten ihn verwirren. Auf den Klingen flirrte das Sonnenlicht, irrwitzige Reflexe. Ronin war auf der Hut. Die Klingen zuckten heran wie giftige Schlangen, blitzschnell. Sein Instinkt ließ ihn jedoch noch schneller reagieren. Parierschlag. Das Schwert hochreißen, leicht seitlich gedreht. Klirrend schrammte Stahl über Stahl. Aber das war nicht genug. Die Klinge des rechts heranschnellenden Daggam durchbrach seine Deckung und fraß sich in seine Schulter. Schmerz lohte auf. Nerven wurden taub. Blut quoll aus der Wunde. Die Daggam verzogen ihre Gesichter unter einem gemeinen Grinsen und kamen näher. Alles, hörte Ronin den Salamander sagen, alles, was während des Kampfes geschieht, kann zu deinem eigenen Vorteil genutzt werden. Du mußt nur wissen, wie. Ein starker Arm vermag nur das Schwert zu halten; die Kraft, die diesen Arm führt, ist der Verstand. Die Daggam waren zuversichtlicher geworden. Sie hatten gesehen, wie spielerisch leicht es gewesen war, ihn zu verwunden.
Der zweite Angriff! Koordinierte Präzision! Sie schnellten vor, die Klingen huschende Schemen, drängten ihn zurück. Ronin parierte, hielt seine Deckung aufrecht. Sie kamen am Aufbau der Kajüte vorbei. Trieben ihn vor sich her, zum Bug. Laß deinen Gegner die ersten Züge machen, wenn du dir seiner Künste unsicher bist. In seinen Handlungen wirst du deinen Sieg finden. Und Ronin beobachtete sie, während er sich verteidigte. Nur vereinzelt griff er selbst an, um ihre Abwehr einschätzen zu können. Sie waren ausgezeichnete Kämpfer, gute Klingenträger. Und ihm fehlte der Raum, um sie wirksam angreifen zu können. Mittschiffs hielt er sie auf. Die Rahe benutzte er als Barriere. Blitzschnell. Aber sie waren nicht dumm genug, ihm eine Atempause zu gewähren. Sie würden kontern. Trotzdem gab es da eine hauchfeine Chance… Er nutzte sie. Warf sich seitwärts, auf Beilgesicht, führte einen irrsinnig schnellen Streich – und traf. Er schlitzte den Daggam dicht unter den Rippen auf. Blut spritzte. Der Mund des Klingenträgers klaffte in stummem Protest auf, die Zunge stach steif hervor, und die Augen quollen aus den Höhlen. Der Mann brach zusammen. Heißes Blut pumpte auf die eiskalten Decksplanken. Der andere Daggam glitt unter der Rahe durch, wütend, verbittert über den schnellen Tod seines Kameraden. Ronin wehrte den ersten Angriff ab und zog sich zum Schandeckel hin zurück, in den sich die Enterhaken krallten. Ronin war ganz ruhig. Der Daggam kämpfte routiniert. Aber der Tod seines Gefährten hatte ihn beunruhigt. Seine Selbstsicherheit war zusammengeschmolzen. Ronin hielt seine Schläge so tief, daß der flachgesichtige Daggam annehmen mußte, daß er die gleiche Taktik verfolgte. Ein blitzschneller Streich unter die Rippen.
Die Klingen klirrten gegeneinander, kamen wieder frei, zuckten zurück, flirrten erneut gegeneinander, ein tödlicher Tanz. Ronin parierte wieder. Dann griff er an. In einem horizontalen Bogen schwang seine Klinge herunter. Zu spät reagierte der Daggam, zu spät brachte er sein Schwert hoch… Der Schädel wurde ihm vom Rumpf getrennt, flog von dem zuckenden Körper und kollerte schließlich über das Deck. Ronin bückte sich, riß den Leichnam hoch und warf ihn über Bord. Freidal starrte herüber. Ronin federte vorwärts, schnellte über den Schandeckel und landete mit der geschmeidigen Eleganz eines Raubtieres auf dem Deck von Freidals Segler. Die Takelage vibrierte. Die Brise zauberte ein klagendes Lied hinein. Und der Saardin der Sicherheit lächelte. Die feste Kappe seines blauschwarzen Haares glänzte, das lange, hagere Gesicht zuckte. Seine Rechte schoß hoch, an die Brust, dorthin, wo die drei Dolche steckten. Eine huschende Bewegung, blitzartig, viel zu schnell, als daß man sie mit den Augen hätte verfolgen können. Aber Ronin wußte, was das zu bedeuten hatte. Er handelte bereits, drehte sich, wand sich förmlich zur Seite, und der Dolch sauste an ihm vorbei. Ronin hob seine Klinge an. Ein schneller Rundblick. Keine weiteren Daggam. Jetzt war Freidal allein. Ronin schob sich an dem bewegungslos stehenden Schreiber vorbei. Der Umhang des Mannes flatterte im Wind. »Ah, so bist du also endlich zu mir gekommen, mein Herr«, meinte Freidal höhnisch. Ronin starrte ihn an, ohne langsamer zu werden. Er passierte den Mast, das gespannte Segel. An die schwingende Rahe denken.
Vorbei an Taurollen, festgebundenen Fässern und den an der Backbord-Längsplanke befestigten zusätzlichen Mast. »Zuerst die einfachen Kämpfer«, sagte Freidal. »Eine Grundregel jedweder Kriegskunst. Der Feind soll in einem ersten Angriff weichgemacht werden. Seine Energie soll sich an den Soldaten erschöpfen. Dann…« Freidal lachte. »Dann kommt die Elite. Sie wird das Werk vollenden… Ein bewundernswerter Plan, Ronin, meinst du nicht auch?« Das helle Sirren der Kufen schrillte in Ronins Ohren. Freidals Gesicht. Bleich, den dünnlippigen Mund grausam verzogen. Ein höhnisches Grinsen. »Nicht zuviel Mühe, um einen Verräter zu töten.« Das Licht fing sich in den blanken Klingen seiner beiden Dolche. Freidal, Saardin und Chondrin in einer Person. »Der Freibesitz kann Leute deines Schlages nicht tolerieren, Ronin. Du bist eine Krankheit, ein Geschwür, das ausgemerzt werden muß. Ich kann es nicht zulassen, daß du in den Freibesitz zurückkehrst.« Endlich zog er sein mächtiges Schwert blank. »Ich werde dich zermalmen, Ronin. Mit großer Sorgfalt und noch größerer Geschicklichkeit. Und ich werde sehr, sehr auf die Feinheiten achten… Auf den Schmerz… Und die Furcht!« Und er griff an, stellte sich seitlich, so daß er Ronin die kleinstmögliche Angriffsfläche bot. Der erste Schlag. Ansatzlos, kaum zu erkennen, ein senkrechter Stoß, im letzten Augenblick herumschnellend. Der zweite ein horizontal heranflirrender Hieb, hinter dem urgewaltige Kraft steckte. Ronin wehrte beide ab. Freidals Linke zuckte hoch und zog einen Dolch. Die Spitze nach oben gekehrt, hielt er ihn vor sich. Teilnahmslos beobachtete der Schreiber den Kampf. Den seltsamen tödlichen Tanz der beiden Todfeinde.
Ronin wich leicht zurück. Er stolperte, fiel rücklings. In diesem Augenblick sah er – seine Augen waren noch auf Freidal gerichtet – das leichte Aufblitzen im rechten Auge des Saardin. Ronin ließ sich fallen, bemühte sich gar nicht, sein Gleichgewicht zurückzubekommen, Halt zu gewinnen. Er entspannte seinen Körper und krachte auf das Deck. Der Dolch sauste mit einem zornigen Winseln über ihn weg und grub sich in das Holz der Längsplanke. Ronin verlor keine Zeit mehr. Er federte hoch, warf sich Freidal, der vor ihm hochragte, entgegen. Das Schiff ruckte unter einem unbarmherzigen Windstoß. Freidal geriet ins Wanken. Ronins Schlag verfehlte ihn. Aber Ronin setzte blitzschnell nach. Seine behandschuhte Linke schoß vor, schmetterte über Freidals Wange, riß Hautfetzen mit sich und zerteilte den höhnisch verzogenen Mundwinkel des Saardin. Der Schädel wurde ihm in den Nacken gerissen. Ronin sauste an ihm vorbei, der Schwung seines Sprunges trug ihn auf den Backbord-Schandeckel. Voll krachte er dagegen. Der Atem wurde ihm aus den Lungen gedroschen. Er keuchte und mühte sich verzweifelt ab, nicht zusammenzuklappen. Freidal wischte sich das Blut von den Lippen. Dann tastete er sich über die zerfetzte Gesichtshälfte. Ein beidhändig geführter Schlag folgte. Und über Ronin hatte sich ein irrer Nebelschleier heruntergesenkt, die Geräusche klangen verzerrt, sein Blick war getrübt. In diesen Sekundenbruchteilen begriff er überhaupt nichts mehr von dem, was vor sich ging. Freidals Klinge zuckte auf ihn herunter. Da riß Ronin seine behandschuhte, gepanzerte Faust hoch, denn die schuppige Makkon-Haut war jetzt seine einzige Abwehr. Freidals Klinge schmetterte dagegen, die eigenartige, harte Oberfläche des Handschuhs kräuselte sich… Der Schlag wurde
absorbiert. Freidals Klinge schrammte über die Schuppenhaut, als wäre sie geölt, prallte ab, der tödliche Schlag wurde abgelenkt, verwandelt – und der Stahl fuhr in Ronins Schulterwunde. Der erneut auflodernde Schmerz brachte ihn wieder zu sich. Er wand sich zur Seite, weg vom Schandeckel, und wirbelte herum, den Griff um den Schwertgriff erneuernd, taumelte weiter, weg von der Längsplanke, während Freidal noch immer ungläubig auf die mattschimmernde Haut des Handschuhs starrte. Sein blutiges Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er warf sich nach vorn, unbesonnen und eiskalt zugleich. Die Klingen schrammten aneinander entlang. Ronin parierte, hielt seine Stellung. Der Saardin wollte zurückweichen, als wäre er gezwungen, unter Ronins Angriff nachzugeben. Aber Ronin durchschaute das Ganze als List, wußte, daß Freidal lediglich Platz brauchte, Ellbogenfreiheit, um seinen letzten Dolch zu werfen. Ronin setzte dem Saardin nach, drängte ihn rücklings gegen den Mast. Freidal zog den Dolch. Im gleichen Augenblick schloß sich Ronins behandschuhte Linke um die Hand des Saardin. Wieder trafen die Klingen aufeinander. Freidal schüttelte sich, riß seine Hand aus Ronins Umklammerung. Die hell glänzende Dolchklinge schoß vor, direkt auf Ronins Hals zu. Unmöglich, auszuweichen. Ronin schnellte sich ab. Der Dolch fetzte über sein Schlüsselbein. Und dann war Ronin vorbei. Er kreiselte herum, seine Klinge sirrte hoch, ein fahler Schemen blitzenden Stahls. Freidal schrie. Das war der Augenblick, in dem Ronins Klinge ihr Ziel fand. Tief fraß sie sich in den Mund des Saardin hinein. Der brodelnde Schrei wurde erstickt. Eine wilde Drehung der Klinge. Ronin fuhr herum. Das Schwert bereits für einen weiteren Schlag über den Kopf erhoben, beidhändig hielt er es.
Sein Körper sehnig und angespannt wie eine übergroße Stahlfeder. Aber es war nicht mehr nötig. Freidal krümmte sich auf dem Deck, Kinn, Arme, Hände blutbesudelt. Überall war Blut. Plötzlich lag er still. Ronin sah auf, erwartete, von weiteren Daggam angegriffen zu werden. Aber nichts geschah. Nur Freidals Schreiber stand einsam im Bug des Eisseglers. Ronin näherte sich ihm. »Du hast deine letzte Zeile geschrieben«, meinte er lakonisch. Der Mann schwieg. Ronin ging nach achtern und riß die Kajütluke auf. Er stieg die Leiter hinunter und sah sich im Bauch des Seglers um. Niemand. Wieder hinauf. Freidal lag noch immer dort, wo er gefallen war. Der Schreiber hatte sich nicht bewegt. Ein letztes Mal glitt Ronins forschender Blick über das teilnahmslose Gesicht des Mannes, dann wandte er sich ab. Ein einziger großer Schritt brachte ihn an Bord der anderen Feluke. Mit einem kräftigen Hieb durchtrennte er die Seile, die die beiden Schiffe Seite an Seite hielten. Sie trennten sich. Steuerlos trieb die gegnerische Feluke allmählich nach Backbord ab, nach Osten, wurde immer kleiner, jetzt gewissermaßen nur mehr eine Erinnerung.
Borros glaubte ihm natürlich nicht, aber das war zu erwarten gewesen; es machte ihm nichts aus. »Er ist tot«, sagte Ronin noch einmal. »Glaub es, oder glaub es nicht, ganz nach Belieben.« Trübe, farblos, gesichtslos ging die Sonne hinter einem wattigen Wolkenvorhang unter; das ernüchternde Ende eines weiteren Tages. Kurz bevor er nach unten ging, blickte Ronin
nach Westen und glaubte einen Herzschlag lang, Land gesehen zu haben. Aber er konnte sich nicht sicher sein. Wie sich herausstellte, spielte das keine große Rolle. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, stellte Borros beinahe schroff fest, als Ronin ihm davon erzählte. »Und – ich glaube nicht, daß er tot ist.« »Sollen wir umkehren und uns vergewissern?« fragte Ronin. »Wenn wir die nötige Zeit hätten, so würde ich darauf bestehen«, erwiderte der Zaubermann eigensinnig. »Damit ich ihm den Schädel eintreten könnte.« »Natürlich würdest du das tun. Jetzt.« »Ich bedauere nicht«, sagte er mit einer Spur von Selbstgefälligkeit, »daß mir deine Kampfbegeisterung fehlt.« Ronin setzte sich auf seine Koje, kramte in der darunterliegenden Schublade herum, und als er einen Stoffetzen gefunden hatte, begann er, die Klinge seines Schwertes zu säubern. »Meine Kampfbegeisterung, wie du das nennst, ist momentan immerhin dein einziger Schutz.« »Vor der Rache des Freibesitzes. Jetzt, da wir auf der Oberfläche sind, ist ihre Macht ernstlich begrenzt.« »Noch vor ein paar Stunden hättest du das nicht gesagt.« »Ronin, du begreifst noch immer nicht. Generationenlang waren wir abgeriegelt, der Fortschritt aufgehalten… Sind wir an unserem eigenen Schutt erstickt.« In Borros’ Gesicht verkrampfte sich etwas. Düster fuhr er fort: »Ebenso wie Freidal bist du ein Produkt all dessen. Du bist stolz darauf, ein Klingenträger zu sein. Ein künstlicher Lebensstil, ein Lebensstil, speziell für den Freibesitz geschaffen. Hier oben ist er völlig sinnlos.« »Bis jetzt nicht.« »Ja, mach dich nur über mich lustig! Bald werden wir den Kontinent der Menschen erreichen. Eine zivilisierte
Gesellschaft erwartet uns. Die Menschheit hat aus der bitteren Lektion der Zauberischen Kriege gelernt – « Ronin stand auf. »Vor was fürchtest du dich denn, alter Mann?« »Ich?« Augenblicklich flammten Borros’ graue Augen auf. »Ich fürchte das Schwert, das du führst, und den Arm, der das Schwert führte. Ich will ehrlich sein, Ronin: Ich fürchte, daß deine Gegenwart unseren Kontakt mit der Zivilisation gefährdet. Ich bin ein Mann der Wissenschaft und des Wissens. Ich habe viel studiert. Mir werden die Menschen zuhören, aber du – du bist ein Barbar für sie. Zu stark pulsiert der Blutinstinkt in dir. Möglicherweise interpretierst du eine Bewegung oder eine Geste falsch… Möglicherweise muß deshalb jemand sterben.« »Wenn du das wirklich glaubst, dann kennst du mich schlecht.« »Ich weiß nur, daß du ein Klingenträger bist, und das genügt. Ihr seid alle gleich. Ihr versteht nur zu kämpfen und zu töten.« »Du solltest dir einmal überlegen, wie es dir ohne mich an der Oberfläche ergangen wäre«, sagte Ronin ganz ruhig. Dann stieg er die Kajütleiter hinauf, in die Nacht. Wie bleiche Blumenblätter ergossen sich die Lichttupfer über das Eismeer, über das Deck des dahineilenden Schiffes und über Ronin. Er öffnete seine Augen – Wimpern, Brauen, Bartstoppeln waren vom Frost bereift – und blickte in das milde Licht des Morgens. Schlafumnebelt war er noch, er spürte die Traumwärme von K’reens geschmeidigem, biegsamem Körper unter sich beben, atmete den Duft ihres Haares… Dann wandte er den Kopf, starrte direkt in die aufsteigende Sonne, in die flirrenden Nebel aus Rot/Orange/Gold, die im Osten hochstiegen. Das Firmament spannte sich wolkenlos über ihm, tiefblau, durchsichtig, zum ersten Mal für ihn geöffnet.
Lange Zeit saß er wie versteinert da. Irgendwann erhob er sich, streckte sich, lockerte die verknoteten Muskeln. Er ging zur Längsplanke nach Steuerbord hinüber und sah, wie sich knapp vier Kilometer entfernt das Land entfaltete. Er zog einen Dolch aus dem Gürtel und kratzte nachdenklich über seinen Schnauzbart, während er den Anblick in sich aufnahm. Es tat gut, nach einer derart langen Zeit inmitten des Nichts wieder Land zu sehen. Tief atmete er ein. Die Luft war frisch und klar, sie funkelte in einer kühlen Sprödigkeit, die jedoch nicht unangenehm, sondern, im Gegenteil, nach der Bedrückung des Sturms um so erfreulicher war. »Endlich Land«, sagte Borros hinter ihm. Ronin drehte sich um. »Hier.« Ronin steckte den Dolch in die Scheide zurück und nahm die Nahrungskonzentrate, die ihm der Zaubermann anbot. Im Licht des neuen Tages schien der alte Mann irgendwie kleiner, als hätte ihn die Zerreißprobe hier oben, auf der Erdoberfläche, ausgedörrt. Ronin meinte, neue Furchen zu sehen, die sich in die straffe, gelbliche Haut gegraben hatten; unter den schmalen Mandelaugen, an den herabgezogenen Mundwinkeln. Er wandte sich wieder ab und sah zur abgeplatteten Sonne hin, die, nachdem sie die niedrig hängende Wolkendecke hinter sich gelassen hatte, mit der Abgespanntheit des Alters ihren Weg nahm. »Wir befinden uns weiter südlich, als ich zu hoffen gewagt hatte.« »Aber das Eis umgibt uns noch immer«, meinte Ronin. Er zeigte zur niederen, hügeligen Küste hinüber. Das Land war vollständig mit Eis und Schnee bedeckt. »Nun, das war zu erwarten, und es wird auch noch eine ganze Zeit lang so bleiben. Aber der Sturm hat uns viel weiter vorangetrieben als erwartet. Kannst du das Ansteigen der
Temperaturen nicht spüren? Ein kaum wahrnehmbarer Vorgang, ein äußerst langsamer Vorgang, doch besteht schon ein Unterschied. Und ich glaube, auch die Macht des Eises ist angegriffen. Schau dir den Farbunterschied an… Es ist nicht mehr so dick.« Der Wind hatte abgeflacht, und das Schiff glitt ruhig über das Eismeer. Gelegentlich wurde das Segel von einem hektischen Windstoß gebläht. Ronin kauerte sich gegen die Backbord-Plankenreling und schärfte die Schneiden seiner Klinge, während er die berauschende Berührung des stärker werdenden Sonnenscheins spürte. Borros hielt sich nahe mittschiffs auf. Er überprüfte Zusatzmasten und Rahe und beseitigte die letzten Überreste von Eis und gefrorenem Schnee vom Deck. Im Verlauf des Tages hatte sich die Ruhe über sie gesenkt, eine wohltuende Mattigkeit, eine Atempause von den Anstrengungen und Entbehrungen ihrer langen Reise. Sie waren zufrieden damit, durch den langen Nachmittag zu treiben, ohne zu sprechen oder auch nur zu denken. In der Kajüte nahmen sie ein kaltes Abendmahl zu sich. Kurz vor Sonnenuntergang kamen sie wieder an Deck. Steuerbord waren die eis- und schneebedeckten Klippen widerwillig weniger abweisenden Felswänden in Scharlachrot und Grau gewichen. Noch immer gab es viel Schnee, aber das Land vermochte wenigstens hin und wieder, sich unter der weißen Decke hervorzuheben. Weiter entfernt, im düsteren Abenddunst flach erscheinend, verlief eine Bergkette über den Horizont, tief violett, schneebedeckt, zerklüftet und unbezwingbar, in malven- und lavendelfarbene Nebel gehüllt. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich auf den Höhen, Lichtscherben flirrten davon und
verwandelten sie urplötzlich in eine schwarze Papiersilhouette vor einem scharlachroten Hintergrund. Ronin hörte das Geräusch in dem Moment, als der obere Rand der aufgedunsenen Sonne hinter den Bergen verschwand! Mittschiffs war es laut geworden. Ronin federte hoch und rannte los, zum Backbord-Schandeckel. Borros hielt sich am Bug auf, wo er nach einer Ersatzrolle für den Flaschenzug suchte. Die bisher verwendete war im Sturm zerbrochen. Es war ein Geräusch, das Ronin nicht begriff. Er hatte es noch niemals zuvor gehört. Ein Traumgeräusch, als würde die Welt gespalten. Da war es wieder! Lauter. Länger anhaltend. Grelle Mißtöne, dazwischen ein tiefes, polterndes Brüllen, das das Schiff vibrieren ließ, und schließlich in ein hohes Kreischen mündete. Borros’ Kopf ruckte hoch. Backbord entstand eine dunkle, gezackte Linie im Eis! Dann zerbarst es! Brocken flogen hoch, wie von unsichtbaren Titanenfäusten hochgeschmettert. In einem irrwitzigen Hagel regneten sie nieder. Die Feluke ruckte und bockte. Ronin krallte sich am Schandeckel fest. Eisiger Schrecken fuhr in seine Nervenenden! Aus dem im Eis klaffenden Loch glitt ein riesiger Körper, gewaltig, schwankend, immer höher hinauf, ein Körper, der das letzte, saphirfarbene Zwielicht förmlich anzuziehen, aufzusaugen schien. Ronin starrte hin, sah das riesige Auge, unheilvoll und fremd, darunter die schmalen, häßlichen Kiefer. Und dann war das Monster an ihm vorbeigeschossen, hin zum hohen Vordersteven der Feluke. Der Eissegler wurde von einem harten Schlag getroffen. Ronin krachte gegen den Mast. Die Kufen schrammten kreischend über das Eis, als die Feluke quer über das Eis schleuderte und endlich mit einem gewaltigen, protestierenden Krachen zum Halt kam. Das Deck
splitterte, als das Ding ein zweites Mal gegen den Bug donnerte. Tuch zerriß, und Borros schrie. Ronin taumelte hoch, kam auf die Füße und krachte wieder nieder. Er zog sein Schwert, kroch nach vorn, der Vordersteven war im letzten Licht des Tages scharlachrot befleckt. Ein heftiges Zischen! Ronin fuhr herum, atmete durchdringenden Gestank ein, die widerliche Aura faulenden Fleisches, Schleims, von Salz und anderen Gerüchen, die er nicht definieren konnte. Das Ding war über ihm, und er spürte die Kälte der Meerestiefen, das Wasser, das auf ihn herunterprasselte. Schleimige Pflanzendickichte klatschten ihm auf Gesicht und Schultern. Völlige Dunkelheit. Er ahnte seine Anwesenheit… Ganz nahe war es, das Ding, ganz dicht an der Backbordseite. Ronin schnellte hoch, riß das Schwert herum, schwang es in einem harten, beidhändigen Schlag. Und traf. Die Klinge fuhr in schuppige Haut, tief hinein in fremdartiges Fleisch. Ein hoher, schriller Ton gellte auf. Ronin zerrte seine Klinge frei, hieb ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal zu. Das Ding zuckte zurück. Ein zweiter Blick auf das fürchterliche Auge, glitzernd und funkelnd in der Düsternis. Ronin kam auf die Füße, und er übergab sich fast, als er das aufklaffende Maul der Bestie sah. Der Gestank war überwältigend. Gewaltige dreieckige Reißzähne. Schaum flockte. Zerfallene Fleischreste klebten dazwischen. Und der Schädel fuhr heran… Ronin reagierte. Er warf sich seitwärts weg, hinter sich hörte er das fürchterliche Zusammenklappen der Zahnreihen. Die Bestie verlor keine Zeit. Der Schädel ruckte hoch. Ronin sah ihn mit irrsinniger Langsamkeit heranschießen. Ein alptraumhafter Schädel, eckig, saurierhaft, mit einer langen, schmalen Schnauze, Hängekiefern, flammenden, getrübten Augen auf beiden Seiten des Schädels, und, weiter
hinten, zahlreiche sichelförmige Schlitze, die auf der glitzernden Schuppenhaut flatterten. Dann war der Anblick wie ausgelöscht, Ronin mußte um sein Leben kämpfen. Der sehnige Schlangenhals stieß den Schädel vor! Salzige Gischt und Tang flogen auf ihn zu, und er war gezwungen, hinter dem Mast mit dem flatternden Segel Schutz zu suchen. Zu spät bemerkte er seinen Fehler. Das Ding schnellte hinter ihm her. Krachend brach der Mast. Ein splitterndes Tohuwabohu, dann ein Wald von Segeltuch und Takelwerk… Das Schiff schaukelte wie verrückt unter ihm. Ronin kämpfte sich den Weg aus dem Gewirr frei. Die Bestie hatte sich zurückgezogen. Der Schädel stieß auf die reglose Gestalt des Zaubermannes hinunter… Ronin sah es, als er sich freikämpfte. Tropfende Kiefer… Ronin riß sich hoch, stürmte vorwärts, obwohl er wußte, daß er viel zu weit weg war, daß er nicht mehr rechtzeitig kommen konnte. Er schleuderte den Dolch, sah, wie er sich direkt unter dem rechten Auge eingrub. Mit unglaublicher Beschleunigung schoß der Schädel nach vorn, die Kiefer weit aufgerissen. Borros schrie. Blut und zerrissene Eingeweide regneten durch die Luft, umnebelten Ronin, als er seine Klinge in das Stirnauge der Bestie trieb. Er wurde herumgerissen. Mit letzter Kraft klammerte er sich am Schwertgriff fest. Die Bestie wand sich im Todeskampf und peitschte Ronin hin und her. Immer wieder versuchte er, die Klinge frei zu bekommen; tief hatte sie sich in die Wölbung unter dem zerstörten Auge eingegraben. Dann schaffte er es doch, die Waffe loszureißen. Der Ruck warf ihn rücklings auf das Deck. Grünes schmieriges Blut pulste aus der Wunde. Der Bestienschädel pendelte hin und her, suchte vergebens nach seinem Peiniger. Ronin kroch über das Deck,
brachte Distanz zwischen sich und dem tödlichen Gegner. Nur knapp entging er einem blindlings geführten Angriff. Kiefer krachten zusammen. Menschenblut – Borros’ Blut – spritzte. Dann bäumte sich die Bestie auf und schmetterte gegen das Eisschiff. Der Backbord-Schandeckel nahe am Bug zersplitterte, Trümmerstücke wirbelten durch die Luft. Ronin richtete sich auf. Er mußte die Bestie töten, bevor sie das Schiff völlig demolierte. Er mußte sich stellen. Vorsichtig, jede Nervenfaser angespannt, stellte er sich so, daß ihn die Bestie mit dem unverletzten Auge sehen konnte. Der Schädel hörte auf, hin und her zu pendeln. Sekundenlang verhielt er ganz still. Dann schoß er mit alarmierender Schnelligkeit vor. Ronin war darauf gefaßt gewesen, holte aus und schmetterte seine Klinge gegen die Schnauze des Monsters. Der Schlag glitt von der dicken, schuppigen Haut ab, Ronin wurde herumgerissen, der Bestienschädel zuckte vor, direkt auf ihn zu… Und enthauptete ihn schier! Mit einem Panthersatz schnellte Ronin aus der unmittelbaren Reichweite der tödlichen Zahnreihen. So etwas würde er nie wieder probieren. Aber es mußte einen Weg geben, dieser Bestie beizukommen. Im Zick-Zack-Kurs hetzte er über das Deck. Das Monster verfolgte ihn. Dicht über den Decksplanken schwebend, glitt der Schädel hinter ihm her. Der Mast… Die untere Hälfte zersplittert und spitz zulaufend. Ronin rammte sein Schwert in die Scheide und verdoppelte seine Laufgeschwindigkeit. Der Bestienschädel holte auf. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um das zu wissen. Der Angriff erfolgte blitzschnell! Ronin duckte sich, sah einen huschenden Schatten über sich hinwegschießen, roch die fürchterliche Ausdünstung der Bestie… Wieder hatte er Zeit gewonnen. Er rollte ab, kam wieder auf die Füße – und erreichte den Mast. Hastig zerrte er ihn hoch.
Trotzdem war er nicht schnell genug. Wie ein Orkan raste der Bestienschädel heran, traf ihn, scheuerte über seinen Rücken, fetzte ihn auf. Ronin wurde auf das Deck geschleudert. Übelkeit bestürmte ihn, sein Rücken brannte. Er schüttelte seinen Schädel, um irgendwie klarzukommen. Überall der Gestank der Bestie. Und der Schädel kam schon wieder… Dieses Mal würde ihn das Monster endgültig erledigen. Jetzt! dachte er trotz des roten Dunstschleiers in seinem Schädel, der ihn mit Bewußtlosigkeit zu umhüllen drohte. Er kam wieder auf die Füße, schaffte es, den Mast noch einmal hochzuzerren, gerade hoch genug, und die Bestie schoß heran… Ein fürchterlicher Ruck. Ronin taumelte, warf sich beiseite, irgendwohin, nur weg… Aber er wußte im gleichen Augenblick, daß er gewonnen hatte. Er wälzte sich herum, sah dorthin, wo das Monster liegen mußte. Der Mast hatte sich tief in das Maul der Bestie gegraben, durch Gaumen und Gaumensegel direkt ins Gehirn. Und der Schädel stieg hoch in die Luft, die mächtigen Kiefer mahlten, flockiger Schaum spritzte. Wie rasend gebärdete sich das Ungeheuer aus den Tiefen des Eismeeres. Grelle Schreie gellten und hallten von irgendwoher wider. Und dann war die Bestie verschwunden, über Bord gerutscht, in die Tiefen, aus denen sie gekommen war, sterbend oder bereits tot. Immer tiefer sank sie hinunter, immer tiefer, bis nur die zerborstene Oberfläche des Eises und der Blutschleim, der das Deck der Feluke befleckte, von ihrem Überfall zeugten. Ronin sank in die Knie, verharrte sekundenlang, dann fiel er vornüber. Seine Stirn schmetterte gegen die Kälte, die sich in den Planken festgefressen hatte. Er keuchte, schluckte die feuchte Luft, die jetzt, da die Bestie verschwunden war, wieder klarer, reiner schien, dann kroch er unter Schmerzen vorwärts.
Borros lag in einer Pfütze aus Blut und zerfetztem Fleisch. Seine Beine waren verschwunden, die untere Hälfte seines Rumpfes eine breiige Masse. Ronins Blick wurde ausdruckslos. Der Zaubermann war tot. Weiter, dachte Ronin. Weiter. Aber der Segler stand bewegungslos auf dem Eismeer. Ronin versuchte, auf die Füße zu kommen. Benommenheit und Schmerz tobten in ihm. Seine Knie gaben immer wieder nach. Er klammerte sich an den Backbord-Schandeckel und wartete ab. Einige Herzschläge später war er in der Lage zu stehen. Er verbannte den Schmerz in die Tiefen seines Bewußtseins, eisern, unerbittlich gegen sich selbst. Er durfte nicht ohnmächtig werden: Nicht jetzt. Er krümmte sich, ließ sich über den Schandeckel gleiten, hinunter auf das glitzernde, flirrende Eis. Mühsam arbeitete er sich am Rumpf der Feluke entlang vorwärts zur Vorderkante, zu den Kufen. Zerschmetterte Eisbrocken blockierten den Weg des Schiffes. Vorsichtig wandte er sich nach Backbord, hin zu dem im Eis klaffenden Spalt. Daneben ließ er sich auf Hände und Knie nieder. Zu dunkel, um irgend etwas zu sehen. Aber er lauschte. Leises Plätschern war zu hören. Nachhallend und fern. Wasser. Das Eis wurde dünner. Er hob seinen Kopf und blickte angestrengt nach Süden. Gab es irgendwo da draußen ein Ende des Eismeeres? Endlich Land? Die Zivilisation, von der Borros gesprochen hatte? Menschen? Und was dann? fragte er sich. Wie ein verwundetes Tier schüttelte er den Kopf. Das Nächstliegende zuerst. Die Schmerzen tobten jetzt in kurz aufeinanderfolgenden Wellen durch seinen Körper. Er richtete sich wieder auf und kletterte an Bord zurück. Er schleppte sich nach vorn und zerrte den Leichnam des Zaubermannes hoch. Weiter. Hinunter auf das jetzt schwarze Eis, hin zum schlüpfrigen
Rand des obsidianfarbenen Wasserabgrundes. Endlich daheim, dachte Ronin. Er rutschte leicht aus seinen Armen, ein bleiches, schmieriges Aufblitzen im Sternenlicht, dann war er in der Tiefe verschwunden. Nur einen Augenblick lang war das rhythmische Schwappen der Wellen von dem harten Platschen unterbrochen, mit dem Borros’ Leiche in sie eintauchte. Ronin arbeitete eine scheinbar endlose Ewigkeit lang, um das Geröll von den Kufen des Eisseglers wegzuräumen. Sein Rücken brannte, und als er seine Arbeit endlich doch beendet hatte, schwitzte er und zitterte. Er schleppte sich an Bord, kauerte sich auf dem Deck nieder, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Augenblicke vergingen wie Jahrhunderte. Irgendwann kroch er über das Deck, schaffte es, sich noch einmal aufzurichten und den Ersatzmast zu lösen und in den entsprechenden Ständer zu pflanzen. Dann brachte er die Rahe an. Mit dem Flaschenzug setzte er die Takelage. Wind kam auf, säuselnd, seufzend, klagend. Ronin setzte das Segel und brach auf die Knie nieder. Schwärze dehnte sich plötzlich in seinem Schädel aus. In seinen Ohren war ein dumpfes Summen. Er stieß sich hoch, in eine sitzende Stellung, und zog das Segel auf, befestigte die Taue. Es war fast völlig windstill. Das Leinentuch flatterte nutzlos und träge. Es machte ihm nichts aus. Er versuchte, die Wärme der Kajüte zu erreichen, schaffte es jedoch nicht mehr. Schock und Erschöpfung ließen ihn erstarren, noch bevor er zwei taumelnde Schritte hatte machen können. Der Schmerz in seinem Innersten wuchs, und er wurde immer schwächer. Irgendwann im Lauf der langen Nacht kam ein starker Wind auf, das Eisschiff ruckte zögernd an, dann rutschte es vorwärts, nahm Fahrt auf. Ronin erwachte gegen Tagesanbruch, aber die Bewegungen des Schiffskörpers machten ihn träge und ließen ihn rasch wieder in einen fiebrigen Schlaf gleiten.
Als er das nächste Mal die Augen öffnete, war es wieder Nacht. Lange Augenblicke lag er bewegungslos, während sein Verstand versuchte, die Ereignisse der Reise nachzuvollziehen. Es war zuviel. Seine Hände glitten zitternd zu den Taschen des zerfetzten Folienanzugs. Nichts. Die restliche Verpflegung war weg, verschwunden. Seine Zähne klapperten aufeinander. Ein tiefes, dumpfes Dröhnen brach über ihn herein. Dieses Geräusch brauchte eine Weile, um ihn zu durchdringen. Nur langsam erfaßte er es. Er wälzte sich herum. Langsam kroch er über das Deck. Ein unbeständiges Leuchten erschien steuerbords, flackernde Flecken von Rot und Orange erhellten den Himmel. In der Ferne schien ein Berg in Brand zu stehen, rubinroten Rauch auszuspeien, brennende Ausdünstungen in die obsidianschwarze Nacht zu schleudern. Ronin starrte hin, fasziniert, davon überzeugt, daß er träumte. In seinen Ohren entstand ein Druck. Mächtige Brocken dunklen, seifigen Gesteins wirbelten durch die Nacht, und flüssiges Feuer, safranfarben, blaßgrün, violett schoß aus dem Berggipfel hervor, entzündete die Luft und regnete in weiten Kaskaden zur Erde zurück. Blaues Feuer, geisterhaft und durchscheinend, schrieb sich unergründlich in die turbulente Dunkelheit. Das Land schien zu beben, schien sich in einer großen Hebung zu verschieben. Donnergrollen ließ Ronins Körper vibrieren und erfüllte ihn mit weißglühender Energie. Die ganze Welt war in Bewegung. Er bildete sich ein, klagendes Jammern hören zu können. Der Berg schien zu bluten. Gelbes und scharlachrotes Gestein ergoß sich dampfend und brodelnd und zäh über seine Seiten. Dann war die Nacht wieder allgewaltig, das Schwarz hüllte alles ein, eine Schwärze, noch dunkler als die des Schlafs. Feiner Staub regnete auf Ronin herunter. Er würgte.
Das Eisschiff eilte nach Süden davon, fort von dem bebenden Land, dem roten und onyxfarbenen Himmel, weiter, über das dünner werdende Eis, immer weiter… Irgendwann erschien die abgeflachte Sonnenscheibe über dem Horizont, in Wolken badend, die unter den Berührungen der Sonnenstrahlen bernsteinfarben aufleuchteten. Der Morgen war frostig und versprach einen kühlen, jedoch nicht kalten Tag. Noch immer lag Ronin auf dem mit Trümmern übersäten Deck im Fieberwahn. Die Fetzen des Folienanzuges flatterten über seinen geschundenen Rücken. Vielleicht war es besser so: Er sah nicht, wie die riesigen Eisbrocken mit Donnergetöse abbrachen und in das dunkelgrüne Wasser hinausgetrieben wurden. Von einem Geräusch begleitet, das halb Aufstöhnen, halb berstendes Knirschen war, rutschte die Feluke über die letzten dünnen Ausläufer der Eisfläche. Dann geschah es: Der Segler brach ein, splitternd fetzte das Eis auseinander. Bedenklich tief tauchte der Bug der Feluke ein – und lichtete sich wieder auf. Ein Wasserschwall ergoß sich über das Deck und wirbelte um die ausgestreckt liegende Gestalt. Ronin wachte kurz auf, prustete Salzwasser aus Mund und Nase und erhob sich schwach. Unsagbar langsam zerrte er sich am Schandeckel hoch und blickte darüber hinweg. Sein benommenes Gehirn schrie auf! Wasser! Aber er konnte sich nicht denken, warum das so wichtig war. Er hob seinen Kopf, und die Sonne blendete ihn. Wieder starrte er auf das blaugrüne, von der Sonne golden bestrahlte Wasser, und dann in die Tiefen dieses Wassers auf – auf was? Ein Schatten? Tief unter den leicht gekräuselten Wellen konturlos, ein Schemen… Es kam Ronin so vor, als starre er sehr lange darauf. Und die grünen Wellen, die jetzt mit reflektierendem Licht besetzt waren, in zehntausend winzige
Halbmonde umschlungen, sich erhoben und senkten, erwiderten seinen Blick. Was? Dann wurde er wieder ohnmächtig. Schlaff rutschte sein Körper auf das vom Salz rutschige Deck zurück. Der Tag wurde kalt. Wogende, dunkle, schwere Wolken zogen vor das Antlitz der Sonne und löschten ihre Wärme aus. Das Meer wechselte die Farbe, wurde schiefergrau, und hier und da erschienen Schaumkronen. Ein schwerer, bösartiger Wind erhob sich von Nordost und zerrte am Segel. Augenblicke später, in zunehmender Dunkelheit, schlug der Sturm mit voller Wut zu! Die Brecher hoben sich, das Schiff begann zu sinken. Es bekam Schlagseite, der Sturm drückte es tiefer, ließ es in die rasend entstehenden Wellentäler hinunterkrachen. Gleichzeitig fegten hohe Wellenkämme heran, peitschten über das Deck, tobten, geiferten. Der Regen, der vom Himmel prasselte, war wie eine Wand, der Tag ertrank in dunkelgrünen, dunklen Farben, alles wurde konturlos, war erfüllt mit dem Zischen und Trommeln des Wolkenbruchs. Das Schiff sank, und nichts vermochte es zu retten. Es brach auseinander. Der Sturm tobte, verfing sich in klaffenden Spalten und Rissen, zerrte mit Urgewalten. Der Regen ließ nach, aber der Wind wurde stärker, als wüßte er um den Todeskampf des Schiffes. Die Decksplanken unter Ronins Körper bäumten sich auf und sanken wieder in ihre ursprüngliche Lage zurück; er wurde herumgerissen, davongeschleudert, hinaus in die stürmische See. Er erwachte im Wasser, er keuchte, rang nach Luft. Meerwasser füllte seinen Mund. Er schluckte es, würgte, kam endlich an die Oberfläche. Mit einem mahlenden, knirschenden Donnern barst der Eissegler auseinander. Tohuwabohu überall um ihn her. Orientierungslos, hilf los.
Das Gewicht seines Schwertes zog ihn in die Tiefe. Er sackte ab, grapschte nach einem unweit vor ihm treiben den Stück des Masts, verfehlte es, kam wieder hoch, seine Lungen drohten zu zerplatzen, sein Rücken war ein Relief der Qual, das Salzwasser tobte in den Wunden. Ronin griff wieder nach dem Mast, spürte ihn, seine schlüpfrige Länge… Eine Sekunde lang, dann war er schon wieder davongerollt. Er versuchte, ihm zu folgen, machte Schwimmbewegungen, instinktiv. Aber er hatte keine Kraft mehr in sich. Mit einer eigenartigen Ruhe wußte er, daß er ertrank, und daß es nichts gab, was er dagegen tun konnte. Er glitt in die kalten grünen Tiefen hinunter, sah, wie das Licht von ihm wich. In seinen Lungen trug er ein schnell schwindendes Stück Himmel mit sich.
III Sha’angh’sei
Selbst wenn ihm Rikkagin T’ien voll ins Gesicht blickte, war er nie sicher, was der untersetzte Mann dachte. »Tee?« Wie jetzt, beispielsweise. »Bitte.« Was leitet ihn? fragte sich Ronin nicht zum ersten Mal. Rikkagin T’ien war massig, untersetzt. Seine breiten Schultern, die muskulösen Arme und die kurzen Beine ließen ihn beinahe wie ein Wesen aus einer anderen Welt erscheinen. Hinzu kam noch die Tatsache, daß sein Schädel völlig kahl war. »Ist doch angenehm, sich ab und zu einmal zu entspannen, oder?« Er hob die kleine Kanne hoch, die in einem bunten Radmuster lackiert war. »Du mußt entschuldigen, daß uns keine Dame Gesellschaft leistet«, fuhr er sodann fort, während er zierlich die kleine Tasse umdrehte. »Ich weiß, es ist nahezu unrühmlich für einen Rikkagin, diese Funktion auszuüben.« Er goß die Tasse voll. Die honigfarbene Flüssigkeit dampfte. T’ien neigte seinen Schädel. »Allerdings zwingt uns der Krieg, uns mit so vielen Dingen abzufinden… Dinge, die wir normalerweise verabscheuungswürdig finden würden.« Er zuckte mit den Schultern, als spräche er mit einem alten Freund. Seine gelbliche Haut glänzte im schwachen Lampenlicht, sein breiter, ovaler Schädel mit den kleinen Ohren, den schwarzen Mandelaugen und dem lächelnden Mund wirkte in dieser Atmosphäre beinahe königlich. Wie ein
feiner Duft schwebten die fernen Geräusche eines Schiffes heran, beherrscht vom rhythmischen Singen der Takelage. Rikkagin T’ien beachtete es nicht. Feierlich konfrontierte er Ronin mit einer gefüllten Tasse. Er lächelte seltsam und schlürfte die honigfarbene Flüssigkeit. Dann hob er seinen Kopf und seufzte gedehnt. »Tee«, sagte er, »ist wahrlich das Geschenk der Götter.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht. Plötzlich wirkte er seltsam kindlich. »Wie eigenartig, daß deine Leute nichts von seiner Existenz wissen.« Wieder nahm er einen tiefen Schluck zu sich. »Wie tragisch.« Mit gekreuzten Beinen saßen sie sich gegenüber. Ein niederer, in grünen und grauen Quadraten lackierter Holztisch stand zwischen ihnen. »Fühlst du dich wohl in deinen neuen Kleidern?« Ronins Rechte tastete über das weit geschnittene Hemd. »Ja«, erwiderte er. »Sehr. Aber dieses Material… Es ist neu für mich.« »Ah, das ist Seide. Kühl in der Hitze, warm, wenn es kalt ist.« Rikkagin T’ien schlürfte wieder an seinem Tee. »Manche Dinge sind unwandelbar, nicht wahr?« Er stellte seine Tasse exakt in die Mitte eines grünen Quadrats. »Jetzt, da es dir besser geht, erzähle mir bitte noch einmal, woher du kommst und weshalb du hier bist.«
Etwas zog ihn in die Tiefe! Er fühlte sich geborgen, das Meer spülte über ihn hinweg. Dann stieg er zu jenem smaragdfarbenen Lichtflecken auf, stieg auf aus der Tiefe, aus dem furchtbaren, flüssigen Schweigen, aus dem Zentrum des Todes, hoch, höher, in die reine, süße Luft des Tages, das Wühlen der Wellen. Er hustete
und würgte Meerwasser aus sich heraus. Seine Lungen pumpten wie ein Blasebalg, automatisch, unabhängig von den befehlenden Impulsen seines Gehirns, das noch umnebelt war, noch nicht bereit, die Rückkehr ins Leben zu begreifen. Und er stieg auf in die Luft, ein keuchender, verwundeter Phönix. »So, so«, sagte Rikkagin T’ien und nickte. »Klingenträger nennst du dich.« Er blickte Ronin hart ins Gesicht, dann auf die Armmuskeln, die sehnige Brust. »Ein Soldat bist du, ein Taktiker. Tja. Du bist verwundet, krank, die Verletzungen auf deinem Rücken sind ziemlich ernst. Mein Arzt hat mich davon in Kenntnis gesetzt, daß du diese Narben für den Rest deines Lebens tragen wirst.« Er erhob sich geschmeidig, stellte sich aufrecht hin, die Beine leicht gespreizt. Drei Männer betraten den Raum, rasch, leise, alle waren sie bewaffnet. Wenn T’ien eine Bewegung gemacht hatte, um sie herbeizurufen, so hatte Ronin sie nicht bemerkt. »Doch ein Soldat kann eines: Er kann kämpfen, oder?« Er bedeutete Ronin, aufzustehen. »Komm«, sagte er leichthin. »Komm her, greif mich an!«
Ein Lied hallte in seinem Gehirn. Ein Lied. Es beherrschte seine Sinne, erfüllte die Luft mit rauchigem Beigeschmack, spülte über das Meer dahin. Eine Singsang-Flut von Stimmen, rhythmisch, einschläfernd und kräftig gleichermaßen. Langsam, benommen, wand er sich herum. Betäubt. Er ertrank, sank anmutig in die Tiefe, drehte sich mit den unterseeischen Strömungen. Er streckte seine Arme aus. Und jetzt? Er bemerkte das schmutzige Gewebe eines Netzes. Ein Netz, in dem er gefangen war. Darunter: das Wogen und Saugen des Meeres an langen Holzplanken. Schwingungen. Seine Augen
fuhren hoch, und ein Wort entstand in seinem Gehirn. Ein Schiff, dachte er benommen. Durchnäßt und triefend pendelte er knapp dreißig Meter über dem Wasser. Über ihm ragte das Schiff gut und gerne weitere vierzig Meter hoch auf. Eine ungeheuere Masse. Der Rumpf vom Schandeckel bis annähernd fünfzehn Meter über dem Meeresspiegel dunkelgrün bemalt. Daran schließend rot. Unzählige quadratische Schotts unterbrachen die glatte Haut des Schiffes. Lange, schlanke Stangen ragten daraus hervor und zerteilten das Wasser in schrägem Winkel. Ein Stangenwald; auf verschiedenen Etagen. Zwei? Drei? Als er aufblickte, blendete ihn die Sonne, und er erbrach Meerwasser, bevor er ohnmächtig wurde.
»Rikkagin«, meinte T’ien, nachdem Ronin das erste Mal die Geschichte des Freibesitzes erzählt hatte, »dürfte demnach ein Titel sein, der dem des Saardin nicht unähnlich ist, nicht wahr?« Das hatte Ronin überrascht, denn er war nicht entwaffnet worden, nicht einmal in Gegenwart Rikkagin T’iens. Ganz langsam kam er zu der Erkenntnis, daß dies nicht geschehen war, weil sie ihn nicht fürchteten. T’ien winkte ihm, und diese Gedanken flogen wie Tauben durch seinen Verstand, ja, wie Tauben, die vor einem kühlen Wind flohen. Was der kleine Mann zu ihm gesagt hatte, stimmte. Er war noch immer geschwächt, nicht kräftig genug. Und es würde noch viele Tage dauern, bis er wieder ganz gesund war. Doch er war ein Klingenträger, und T’ien hatte erneut recht: Er würde sich beweisen müssen. Er stand auf, und Rikkagin T’ien verbeugte sich, eine seltsam feierliche Geste, die zu erwidern Ronin vernünftig genug war.
Zwei Männer traten vor, bückten sich, nahmen den Tisch auf und trugen ihn weg. Langsam zog T’ien sein Schwert aus der Scheide. Das Licht schimmerte auf der leicht gebogenen Klinge. »Ah«, sagte Rikkagin T’ien, als hätte er bisher seinen Atem angehalten. Wärme. Er fühlte sie, noch bevor er seine Augen öffnete. Dann trafen ihn die vielfältigen Gerüche: Schweiß und Salz. Klebriger Teer, der in der Sonne dörrte. Aromatisches Pech. Der Singsang hallte in seinen Ohren wider, das Deck wiegte sich sanft unter ihm in einem stampfenden Rhythmus. Wärme. An seiner Brust, auf seinen Wangen. Er lag auf dem Deck ausgestreckt. Seltsam, das Brennen auf seinem Rücken hatte nachgelassen. Er fühlte Bewegung um sich herum. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Die Hitze verebbte. Er versuchte, sich hochzustemmen, auf die Füße zu kommen. Eine sanfte, aber kräftige Hand hinderte ihn. Er gehorchte, weil er plötzlich verstand, daß sich jemand um die Wunden auf seinem Rücken kümmerte. Er fühlte sich schwach und entleert, nicht einmal sicher, wieviel Energiereserven ihm geblieben waren, um sich wehren zu können, falls er angegriffen wurde. Die Situation war unklar. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Auf einem Schiff, natürlich. Nur ein Schiff. Ein Gedanke loderte in ihm hoch. Der Mast der Feluke… Biegen, sagte er sich. Biegen, oder du wirst brechen. Also zwang er sich, sich inmitten des Unbekannten zu entspannen. So überlebte er.
Sekundenlang schloß er die Augen und ließ den Atem aus sich hinausfließen. Irgendwann atmete er wieder ein. Dies wiederholte er. Er reinigte sein Atemsystem, kräftigte sich, versorgte sein Blut mit Sauerstoff. Seine Lider hoben sich. Er
starrte Rikkagin T’ien an. Er verbannte jedoch weitere Spekulationen aus seinem Schädel. T’iens Schwert war ein Schatten, aufblitzend, hochzuckend… Rikkagin T’ien schrie. Ronin wehrte den Schlag ab. In letzter Sekunde. Der durchdringende Ton hatte ihn überrascht. Die Klingen schrammten aneinander entlang. Der Rikkagin wirbelte herum, wieder flirrte sein Schwert durch die Luft. Ronin parierte. Die Gewalt des gegnerischen Schlages fetzte durch sein Handgelenk. Sein Rücken begann wieder zu brennen. Ronin hob seine Klinge. Schwer wie eine Wasserleiche lag sie in seiner Hand. Schmerz loderte in seiner Brust, ließ ihn keuchen, seine Wachsamkeit ließ nach. Durch den Schleier seiner Qual sah er Rikkagin T’ien, sah, wie er vorschnellte und versuchte, sich zu verteidigen. Schweiß perlte auf seiner Stirn, seiner Brust. Langsam kam seine Schwerthand hoch. Zitternd. Das Ende, dachte er. Aber anstatt zuzuschlagen, stand T’ien so still wie eine Statue, sein Schwert senkte sich, glitt in die Scheide. Das Deck drehte sich plötzlich, schien sich Ronin entgegenzubäumen… Dann lag er in den kräftigen Armen der beiden Männer, die hinter ihn getreten waren. Sanft ließen sie ihn auf die am Boden liegende Binsenmatte gleiten und rammten sein Schwert in die Scheide. Rikkagin T’iens Gesichtsoval schwebte in Ronins Blicklinie. Er lächelte beruhigend. Ronin mühte sich, aufzustehen. »Bleib jetzt ganz ruhig liegen«, sagte T’ien. »Ich habe erfahren, was ich erfahren wollte.« Er zuckte die Schultern, eine völlig pragmatische Geste, überhaupt nicht theatralisch. »Bedaure deinen Schmerz nicht, Klingenträger.« Sein Gesicht war ein großer gelber, am Himmel befestigter Mond. »Du mußt wissen, daß wir gesehen haben, wie dein Schiff auseinanderbrach. Deine Geschichte war höchst überzeugend,
besonders mit diesen schrecklichen Wunden auf deinem Rücken. Trotzdem…« Der Mond verblaßte vor Ronins Augen, Blut dröhnte in seinen Schläfen. »Wir befinden uns im Krieg, und ich muß dir sagen, daß meine Feinde alles tun würden, um meine Pläne aufzudecken… Du darfst mich nicht für melodramatisch halten; ich sage die Wahrheit. Und, frei gesagt, da gab es immerhin die Möglichkeit, daß du in ihren Diensten stehst.« Schmerz rieselte durch seine Brust, machte das Atmen zur Qual. Wohlwollend lächelte der Mond am wolkenlosen Himmel. »Ruhe dich aus. Du hast bewiesen, daß deine Geschichte wahr ist. Du bist, was du zu sein behauptest. Nur eine lebenslange Ausbildung hat dich mit drei gebrochenen Rippen gegen mich bestehen lassen.« Der Mond schwankte und barst auseinander. Er strengte sich an, ihn noch einmal zu sehen. »Mein Arzt ist hier. Er wird dir etwas zu trinken geben. Schluck es hinunter. Er muß deine Rippen richten.« Der Mond erlosch, und er fiel, fiel, fiel…
Die Tage eilten dahin, kamen und vergingen wie Rauchwolken, erblühten kurz und verflüchtigten sich in einem milden Jasminwind, als hätten sie überhaupt niemals existiert. Andere ersetzten sie. Ein kurzlebiger Verlauf, der sich in ein Gemälde tonaler Farben mischte, Klangbrocken, verblassendes Flüstern, fast gehörte Worte. Die meiste Zeit schlief er tief und traumlos. Als er sich endlich stark genug fühlte und sich aufrichtete, bemerkte er die Behinderung. Ein Verband. Fest um seinen Brustkorb herum angelegt. Ein Mann verließ die Kajüte. Ein anderer beugte sich vor und goß Tee aus einer irdenen Kanne
in eine kleine Tasse, die auf einem lackierten Tablett stand. Er hielt sie Ronin hin, und dieser nahm sie dankbar und trank, bis sein Durst gestillt war. Dann lehnte er sich zurück und blickte den Seemann an. Seine Nase war scharf gekrümmt, der Mund breit und dünn. Die tief in den Höhlen liegenden Augen waren blau. Er trug ein über der Brust offenstehendes Hemd und eine Hose mit weiten Beinen. An seiner rechten Hüfte trug er Scheide und Schwert. Die Kajütentür öffnete sich. Der Arzt trat ein. »Ah«, rief er lächelnd aus, »du hast bereits Tee bekommen. Gut.« Er kniete sich neben Ronin nieder und drückte ihn sanft zurück. Geschickt fuhren seine Finger über den Verband. Der Arzt hatte eine gelbe Haut, wie T’ien. Mandelaugen. Eine breite Nase. Er kicherte unterdrückt, dann sah er Ronin direkt an. »Es war ein sehr schlimmer Bruch, ja. Du wurdest mit großer Wucht getroffen.« Er schüttelte den Kopf, während seine Finger ihre tastende Wanderschaft fortsetzten. Einmal zuckte Ronin zusammen, und der Arzt sagte: »Ah.« Ziemlich leise. »Es geht ihm also besser?« erkundigte sich Rikkagin T’ien ganz in der Nähe. Ronin hatte sein Kommen nicht bemerkt. »Meine Güte, ja«, nickte der Arzt. »Sehr viel besser. Die Rippen verbinden sich schneller, als ich vermutet hätte. Ein sehr schöner Körper. Was den Rücken betrifft« – er zuckte fast entschuldigend mit den Schultern –, »die Wunden werden heilen. Aber die Narben werden für immer bleiben.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Das dürfte allerdings so schlimm nicht sein, eh?« »So«, sagte Rikkagin T’ien, und sprach Ronin damit direkt an. »Wenn du dich stark genug fühlst, kommst du an Deck. Dann werden wir unsere Unterhaltung fortsetzen.« Er drehte sich um und verließ die Kajüte.
»Gebt ihm so viel Tee, wie er haben möchte. Und Reiskuchen«, wies der Arzt an, bevor auch er ging. Die beiden Männer blieben bei Ronin. Bald darauf sank er in tiefen Schlaf.
Als dichtes, verqualmtes Gewirr stieg sie hügelan. Ausgehend von dem großen Hafen, den Ufern des gelben, schlammigen Meeres breitete sie sich nach allen Seiten hin aus, ein Dschungel aus ein- und zweistöckigen Bauwerken aus Holz, dunkler Farbe, braunem Ziegelwerk. Dicht an dicht ragten die Gebäude auf, so daß er nicht sagen konnte, wo eines aufhörte und das andere begann. »Sha’angh’sei«, sagte Rikkagin T’ien. Ronin starrte hinüber. Auf den langen Docks und Kais wimmelten Menschen, überall herrschte hektische Betriebsamkeit. Dunkle Massen – wie Ameisen, die über einen Erdhaufen hasteten. Noch waren sie zu weit entfernt, und er konnte keine Einzelheiten unterscheiden. Ein eigenartiger Nebel schwebte über der ganzen Stadt, Bestandteil ihres Wirrwarrs, ihrer Größe. »Willkommen auf dem Kontinent der Menschen.« T’ien lachte, und eine strenge Schärfe schwang in seiner Stimme. Ronin riß seinen Blick von der Stadt los und blickte den Mann an, der neben Rikkagin T’ien stand. Er war groß und muskulös, mit tiefblauen Augen und kurzgeschnittenem, dichtem blondem Haar. Ein Elfenbeinstab steckte in seinem Ohrläppchen. Er trug ein hell gefärbtes, locker sitzendes Seidenhemd und schwarze Beinkleider. In einer langen, abgenutzten Lederscheide steckte ein Krummschwert. In der himmelblauen Hüftschärpe trug er den Dolch; eine Waffe mit außergewöhnlich langer Klinge, deren Griff mit grob
geschnittenen Smaragden besetzt war. T’ien hatte diesen Mann als seinen Stellvertreter vorgestellt: Tuolin. »Ich habe dich aus dem Meer gefischt«, meinte der blonde Mann, als er Ronins Blick bemerkte. »Instinktiv, wirklich. Die meisten Männer glaubten dich bereits ertrunken. Du warst eine lange Zeit unter Wasser.« Ronin schüttelte den Kopf. »Ich sank immer tiefer, und ich hielt meinen Atem an. Dann kam Dunkelheit, alles übertreffendes Schweigen, und dann – « Rikkagin T’ien bellte einen Befehl, und ein halbes Dutzend Männer sprang hoch und hangelte das Takelwerk empor. Er drehte sich um und betrachtete Ronin und Tuolin. »Was ist mit deinem Rücken passiert?« fragte Tuolin. »Bist du schon einmal im Norden gewesen?« Tuolin schüttelte seinen Kopf. »Nein.« »Auf dem Eismeer«, sagte Ronin leise, »weit genug südlich, dort, wo das Wasser bereits durch die Eisdecke sickert, sie dünner macht… Dort brach ein ungeheuerliches Wesen an die Oberfläche. Es hat uns angegriffen.« Tuolins Augen verengten sich. Rasch blickte er zu T’ien hinüber, dann wieder zu Ronin. »Was für ein Wesen?« Ronin zuckte die Schultern. »Genau beschreiben kann ich es nicht. Diese Welt, scheint mir, ist voller seltsamer und gewaltiger Dinge… auf jeden Fall: Die Nacht war angebrochen, das Licht nahezu völlig verschwunden. Die Bestie hat uns überrascht. Es blieb nur noch die Zeit, dem Tod ins Auge zu sehen, nichts sonst.« Die Männer in der Takelage hatten die höchsten Rahen erreicht. Jetzt refften sie die Topsegel. »Die Bestie riß meinen Freund entzwei. Fraß seine Beine.« Wie drei Statuen standen sie auf dem hohen Achterdeck, nahe dem Heck des Schiffes. Eine leichte Brise wischte über
ihre Gesichter, die zaghafte Berührung einer wiedergefundenen Geliebten. »Du mußt zu verstehen lernen«, wandte Rikkagin T’ien ein, »daß uns der Tod wenig bedeutet. Er gehört zur Lebensart in Sha’angh’sei.« Kurz blickte er nach oben. Die Männer hatten ihre Arbeit schnell und geschickt getan; jetzt kletterten sie an Deck zurück. »Krieg, Ronin, das ist alles, was wir gekannt haben, alles, was wir je kennen werden. Der Tod lauert hinter jeder Tür, unter jedem Bett, in jeder dunklen Gasse von Sha’angh’sei.« Das Schiff verlangsamte. Die Männer auf den Ruderbänken hatten Befehl bekommen, in ihrem Rudertempo nachzulassen. »Wir wollen es nicht anders haben.« »Wir haben jedwede Fähigkeit verloren, um unsere Toten zu trauern«, meinte Tuolin bedauernd. »Doch ich würde sehr gern mehr über dieses Wesen aus den Tiefen des Eismeeres wissen.« »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen«, versetzte Ronin. »Allerdings bin ich äußerst neugierig, was die Fortbewegung dieses Schiffes betrifft. Wenn ihr erlauben würdet – « »Die Ruder?« sagte Tuolin. »Ich glaube kaum, daß du – « »Tuolin«, unterbrach Rikkagin T’ien, »unter diesen Umständen dürfte uns kaum eine Wahl bleiben. Es handelt sich um einen einfachen Austausch von Informationen.« Seine Augen funkelten. »Wie dem auch sei: führe uns zu den Ruderleuten hinunter.« Tuolins Gesicht verkantete sich, und Ronin grübelte darüber nach, was ihm bei diesem Dialog entgangen war. Er verstand nur, daß es am besten war zu schweigen. Die Luft im Bauch des riesigen Schiffes war schwer und drückend; man schien sie schneiden zu können. Konzentrierter Gestank schlug ihnen entgegen, dennoch war die Luft insgesamt sauberer, als er erwartet hätte. Die Männer saßen auf niederen Holzbänken, drei an jedem Ruder. Bis zu den Hüften
waren sie nackt, die Muskeln auf Schultern und Rücken glänzten im Schweiß. Sie bewegten sich in perfektem Einklang mit dem Rhythmus des Trommelschlags. Drei Ruderetagen auf drei Viertel der Länge des Schiffes. Zahllose Männer. Bei hundert angelangt, hörte er auf zu zählen. Sie waren dunkelhaarig und dunkelhäutig, knochig, hager, muskulös, groß und untersetzt, hellhäutig und blond, gelbhäutig und mandeläugig. »Wie du siehst«, sagte T’ien überschwenglich, »denken wir nicht daran, uns einzig auf die Beständigkeit des Wetters zu verlassen. Segeltuch ist gut, wenn es der Wind gnädig meint, ansonsten aber – « Er zuckte mit den Schultern. Langsam schritten sie den schmalen Gang zwischen den Ruderbänken entlang. »Sie sind ständig bemannt«, fuhr T’ien fort. »Die Männer arbeiten in Schichten.« »Und diese Arbeit macht ihnen nichts aus?« fragte Ronin. »Ausmachen?« echote Tuolin ungläubig. »Sie sind Soldaten, dem Rikkagin T’ien verpflichtet. Es ist ihre Pflicht. Genau, wie es ihre Pflicht ist, zu kämpfen und zu sterben, wenn es der Sicherheit des Rikkagin dienlich ist.« Er stieß die Luft aus. »Woher kommt dieser Mann, daß er dies nicht versteht? Unmöglich kann er ein zivilisierter Mensch sein!« T’ien lächelte ein wenig geistesabwesend, als amüsiere er sich über einen privaten Scherz. »Er kommt von weit her, Tuolin. Urteile nicht zu streng über ihn.« Kurz flammten Tuolins Augen auf. Eine Sekunde lang glaubte Ronin, er würde sich gegen den Rikkagin wenden. »Lehre ihn, unsere Sitten zu begreifen«, sagte T’ien gelassen. »Ja«, erwiderte Tuolin, während das kalte Licht aus seinen Augen wich. »Geduld macht sich von selbst bezahlt, ist es nicht so?«
T’ien ging weiter, und Ronin und Tuolin folgten ihm dichtauf. »Du mußt wissen«, wandte sich Tuolin an ihn, »daß wir viele moralische Verpflichtungen zu erfüllen haben, Verpflichtungen, die uns praktisch von Geburt an zu ehren gelehrt wurden.« Ein blitzschnelles Huschen in Ronins Blickwinkel. »Einem Rikkagin verpflichtet zu sein, hat viele Vorteile.« Bewegung. Seitwärts, rechter Hand. »Man ißt gut, man wird gekleidet, man hat Geld, man ist ausgebildet – « Und Tuolin hatte es auch gesehen. Geschmeidig federte er zur Seite, den langen Dolch in einer blitzschnellen Bewegung gezückt. Ein Schrei wühlte die dumpfe Luft auf. Die Gestalt war heran. Tuolin sprang vor, der Dolch blitzte in einem wilden Stoß. Der Körper des Angreifers war lang, hager, schweißbedeckt. Ein gekrümmtes, zweischneidiges Schwert zuckte herunter. Da fuhr Tuolins Klinge in den Körper des Mannes. Der Mund öffnete sich, entblößte verfaulende Zahnstümpfe, die Augen wurden glasig. Heftig zuckten die Beine. Das Krummschwert polterte zu Boden. Gleichgültig sah Rikkagin T’ien zu, wie Tuolin seinen Dolch zurückriß und dem Schwerverletzten die Kehle durchtrennte. Dann ließ er den Leichnam zu Boden gleiten. T’ien hatte nicht einmal sein Schwert gezogen. Der Rikkagin seufzte. Ohne Ronin oder Tuolin anzusehen, sagte er: »Es dürfte das Beste sein, wenn wir an Deck zurückkehren.« Er stieg über den Leichnam hinweg.
Sha’angh’sei erhob sich vor und über ihnen, als sie in den Hafen einfuhren. Langsam pflügte das Schiff durch das trübe
Wasser, gelbbraun, irgendwie klebrig, vorbei an den Rahen getakelter Fischerboote, vorbei an Frachtschiffen mit hohem Heck. Steuerbords war gerade noch die breite Mündung eines Flusses auszumachen, dessen Fluten sich ins Meer ergossen. Ronin stand auf dem hohen Achterdeck und nahm den Anblick der Stadt in sich auf. Rings um ihn her war Bewegung und Hektik, Männer eilten über die Schiffsplanken, holten die entfalteten Segel ein, banden Rahen und Taue fest. Der Wald der Ruderstangen ragte in den Himmel, tropfnaß und glänzend. Die Ruderleute machten sich bereit, sie an Bord zu ziehen. Wie ein mächtiges Juwel lag die Stadt vor ihnen in der samtschwarzen Dämmerung, düster und trübe gemacht vom Alter, vor unbeständiger Bewegung schwelend, sich selbst aus dem Schaum und den Ausdünstungen des Landes emporwerfend. Jene Gebäude, die dem Ufer am nächsten standen, waren auf einem Delta erbaut. Wieder, wie zur Bestätigung dessen, blickte Ronin zu der Flußmündung hinüber. Er konnte sie nicht mehr sehen. Hinter der Delta-Ebene stieg die Stadt wie das Rückgrat eines sich verängstigt duckenden Tieres empor. Zahllose Gebäude waren auf Pfählen erbaut, die sich tief in die Haut des Hügels bohrten. Vorspringende Balkone, gerillt und mit Säulen versehen… Unzählige Fassaden, unzählige Dächer. Wie auf ein verabredetes Signal hin wurden in der Stadt Lampen und Fackeln entzündet. Schwarz lackierte Hartholzwände glänzten in dem seltsam verwischt wirkenden Lichterschein. Der zunehmende saphir- und malvenfarbene Dunst machte das Flackern der Flammen weicher, so daß sich die einzelnen Lichtquellen mischten, verwischten und die Stadt in einem ätherischen Glühen gefangen schien. Ronins Puls beschleunigte. Dem Zufall war es zu verdanken, daß er Sha’angh’sei erreicht hatte, und es war ganz offenbar
ein größerer Hafen auf dem Kontinent der Menschen. Er zweifelte nicht mehr daran, daß er hier jemanden finden würde, der das Rätsel von dor-Sefriths Schriftenrolle lösen konnte. Die sanften Ausläufer des Lichts griffen nach ihm, als das Schiff an die wartenden Kais heranmanövriert wurde. Vielleicht, so überlegte Ronin, vielleicht kennt Rikkagin T’ien einen Gelehrten, der mir helfen kann. Männer schwärmten über die langen Kais, und Ronin, der die wilde Aufregung der Leute beobachtete, spürte, wie sich sein Magen verknotete. Der Kontinent der Menschen… Borros hatte die ganze Zeit über recht gehabt. So viele Menschen lebten hier… Eine furchtbare Welt. Selbst jetzt, da sie sich vor seinen Augen ausbreitete, war es noch immer wie ein Schock. Sie hatten so oft darüber gesprochen. Es war eine Traumwelt gewesen, ein Bestandteil ihrer Fantasie. Ein Ziel, das sie am Leben gehalten hatte, als sie über das konturlose, platinfarbene Eis geflogen waren, endlose Tage und Nächte lang, in denen nichts als Wind und Kälte ihre Realität gewesen war. Dieser Traum hatte Borros bis zum Ende am Leben gehalten, dessen war sich Ronin sicher. Die Schergen der Sicherheit hatten seinen Körper zerschlagen, hatten ihn gefoltert und zerbrochen. Borros aber hatte ihnen dennoch getrotzt. Der Gedanke an dieses Ziel hatte ihm die Kraft dazu gegeben. Und jetzt – jetzt betrat er, Ronin, das überfüllte Ufer des Menschen-Kontinents. Kein Traum mehr. Ein kurzer Befehl gellte auf. Dann berührte der Schiffsrumpf die knarrenden Holz-Kais.
Stimmenwirrwarr. Energiegeladene Hektik. Überall hin und her eilende Menschen. Die vielstimmige Atonalität von im Streit, Lachen, Befehl erhobenen Stimmen. Schiffe wurden beund entladen. Türen knallten. Die lockenden Rufe von
Verkäufern. Die fröhlichen Weisen heiser, monotoner Arbeitslieder. Der rauhe, hämmernde Rhythmus schneller Schritte. Soldaten. Das Klirren von Waffen. Irgendwo, fern, tönten Glocken, ein Hauch geheimnisvollen Gesangs, und, allgegenwärtig, der schwere Wellenschlag des gelben Meeres, das gegen den Bauch der Stadt plätscherte, ihn liebkoste, ihr Erdreich wegspülte, an ihrem Grundgestein fraß. Er stand auf dem Kai, eine fremde Insel in einem Ozean sich bewegender Leiber. Soldaten marschierten an ihm vorbei und stießen die emsigen Arbeiter mit den Ellenbogen beiseite. Doch jene ließen sich nicht irritieren. Ohne Unterbrechung arbeiteten sie weiter, Schweiß strömte über ihre nackten Rücken. Gewaltige Lasten schleppten sie. Andere wiederum trugen Körbe, die bis an den Rand mit Lebensmitteln gefüllt waren, auf ihren Schultern. Aufseher schrien Anweisungen, Befehle wurden gebrüllt, Verkäufer boten ihre Waren feil, Körper bestürmten ihn wie eine Brandung, tausend Töne brandeten gegen seine Ohren, umhüllten ihn. Er atmete tief, und seine Nasenflügel weiteten sich, nahmen die dampfende Luft in sich auf, die mit den Düften der Menschen, der Schärfe frischer Gewürze und zähflüssiger Öle, dem Gemisch exotischer Parfüms, dickem, klebrigem Schweiß, dem salzigen Geruch des Meeres geschwängert war. Unzählige Wohlgerüche des Lebens und des Todes. Irgendwann fand ihn Tuolin. »Der Rikkagin wünscht dich morgen früh zu sehen.« Kaftane aus Seide und Baumwolle, enge Blusen, die sich über feste Brüste spannten, lange Ohrringe, die leise klirrten. »Er brennt förmlich darauf, sich ausführlich mit dir zu unterhalten.« Glitzernde Goldringe, ein Holzbein, das in einem abgenutzten Schuh endete, wirbelnde bunte Röcke, matt glänzende Armbänder, die Pracht gelber Federn.
»Momentan ist er vollauf damit beschäftigt, gewisse Vorbereitungen zu treffen – und wir beide könnten zu essen und zu trinken gebrauchen.« Rumpelnde Karren, blitzende grüne Augen, seltsame zweirädrige Kutschen, von sich abplagenden Läufern gezogen, dunkles Haar, das in der sanften, wohlriechenden Brise fliegt, schrill klingende Musik. »Und besonders zu trinken, eh?« Gesichter, die von Schleiern verhüllt werden, Gesichter mit langen, eingefetteten und lockigen Bärten, der würzige, den Mund wäßrig machende Duft gebratenen Fleisches, eine schwarze, schrecklich leere Augenhöhle, Lachen, weit offenstehende Münder, schwarze Zähne, Falten unter ernst, heiter blickenden Augen, das Aufblitzen eines Dolchs. »Und wenn wir satt sind, werden wir einen ganz besonderen Besuch machen, Ronin, o ja.« Auf der weiten Rundfläche der Kais ließ das Gedränge vorübergehend nach. Auf und ab tanzende Lichter längs der Wasserkante bannten Ronin. Niedrige, breite Boote, manche mit notdürftigen Unterschlüpfen, die meisten jedoch ohne dieselben, schaukelten auf der abendlichen Flut. Laternen wurden aufgehängt. Männer und Frauen und Kinder drängten sich auf den Schiffen. Alte, so unbeweglich wie Statuen, kauerten dazwischen. Säuglinge schrien. Alle hatten sie sich zur Abendmahlzeit versammelt. Zerbrochene, flache Schalen mit Reis. Lange Stäbchen. Hungrige Augen. »Die Heimstatt vieler Leute«, kommentierte Tuolin, als er Ronins Blick bemerkte. »Generationen von ihnen haben an Land gearbeitet und auf den Tasstans gewohnt.« Und wieder strömten Menschen heran, eine wilde, scheinbar nicht enden wollende Flut. Ronins Ausblick wurde verdeckt. Nur das tanzende Licht der Laternen schimmerte – immer wieder unterbrochen – zu ihm her.
Seite an Seite gingen die beiden Männer weiter. »Für diese Leute gibt es keinen Platz in Sha’angh’sei«, meinte Tuolin. Rufe. Hastige Schritte. »Es hat ihn nie gegeben.« »Dennoch arbeiten sie hier.« »O ja.« Irgendwo in der Düsternis: eine Rauferei. Derbe Flüche. Stimmen, die sich entfernten, im Meer der Leiber ertränkt wurden. »Arbeit gibt es immer, von früh bis spät… Für eine Kupfermünze, die am Ende des Tages der Händler für jenen schimmeligen Reis nimmt, den sie brauchen, um wenigstens am Leben bleiben zu können. Ja, es gibt immer Arbeit in Sha’angh’sei… Jedoch keinen Wohnraum.« Plötzlich lachte Tuolin und schlug Ronin auf die Schultern. »Jetzt aber Schluß mit dem Geschwätz. Zu lange war ich in der Fremde…« Geschickt führte er Ronin durch die drängelnde Menge. »Komm«, rief er. »Wir gehen in die Eisenstraße.« Schwarze Eisenlaternen säumten die Straßen. Nachtlichter flackerten darin; rauchig leckten die Flammen an der Dunkelheit. Pflastersteine bedeckten den Boden. Die Gebäude rechts und links wurden verschiedenartig genutzt: als Unterkünfte oder Läden ohne feststellbares Muster. Männer lungerten in offenen Eingängen herum. Abseits dieser Hauptstraße gab es zahllose schmale, gewundene Gassen, schwärzer als die Nacht. Ronin und Tuolin kamen an vielen Soldaten vorbei. Sie waren unterschiedlich gekleidet und offenbar verschiedenen Rikkagin verpflichtet. Ronin genoß es förmlich, sich bewegen zu können. Eine Gelegenheit, seine Gesundung zu erproben. Seit einigen Tagen
bereits schmerzte sein Rücken nicht mehr. Auch die Schulterwunde war fast geheilt. Gleichsam aber wußte er, daß die Rippen mehr Zeit brauchten, um zu verwachsen. Noch immer fühlte sich sein Brustkorb steif und wund an, aber der größte Teil der heftigen Schmerzen war von ihm gewichen, und die körperliche Betätigung war belebend, nicht ermüdend. Sie erreichten die Eisenstraße. Zwei Männer würfelten. Eine Frau mit schmutzigen Kleidern kauerte im Staub der Straße, ein schreiendes Baby in der Krümmung ihres Arms. Sie streckte flehend eine schmutzige Hand aus. Die Nägel waren eingerissen. »Bitte«, rief sie mit erbärmlich schwacher Stimme. »Bitte…« Ihre traurigen Augen richteten sich auf Ronin. Schmerz flirrte darin. »Kümmere dich nicht um sie«, sagte Tuolin. »Das Kind weint«, sagte Ronin. »Es hat Hunger.« Rasch überquerte Tuolin die überfüllte Straße. Er fetzte das Kleid der Frau auseinander und zerrte ihre darunter verborgene Hand hoch, so daß Ronin den Dolch sah, dessen Spitze sie in den Leib des Babys gedrückt hatte. Zornig blitzten die Mandelaugen auf, und sie wand sich in Tuolins Griff. Unvermittelt stieß sie den Dolch vorwärts. Tuolin wich geschmeidig aus und wich zurück. Sie gingen weiter. »Eine Lektion über Sha’angh’sei«, kommentierte er lakonisch. Ronin blickte in das Gewühl menschlicher Leiber zurück. Die Frau hatte sich wieder gegen die Hauswand gekauert, eine Hand flehend ausgestreckt, die andere verborgen. Ihre Lippen bewegten sich. Ihre Blicke suchten die Gesichter der Vorbeigehenden ab. Das Baby schrie.
»Des Kriegs wegen wurde Sha’angh’sei erbaut, und dieses Werk wurde an einem Tag vollbracht.« »Sicher meinst du dies nicht ernst.« »Nun, vielleicht übertreibe ich tatsächlich ein wenig.« »Wie lange?« »Du meinst den Bau der Stadt?« »Nein. Den Krieg. Wie lange dauert er schon?« »Ewigkeiten. Ich erinnere mich nicht. Niemand kann sich erinnern.« »Wer kämpft gegen wen?« »Jeder gegen jeden.« »Das ist keine Antwort.« »Dennoch ist es die Wahrheit.« Sie saßen an einem schmalen, einfachen Brettertisch, ganz dicht an der hinteren Wand der Schänke. Die Decke war niedrig. Unweit von ihnen führte eine breite Holztreppe zum ersten Stockwerk hinauf. Die Luft war dick und vom Rauch der brennenden Talgkerzen geschwängert. Vor den Männern standen Platten mit geschmortem Fleisch und gedünstetem Fisch, rohem Gemüse und dem unvermeidlichen Reis. Die Becher wurden ständig mit klarem, heißem, kräftigem Reiswein nachgefüllt. Sie aßen und benutzten dabei die langen Stäbchen. Die Männer an Bord des großen Schiffes hatten Ronin gelehrt, wie man diese eigenartigen Eßwerkzeuge benutzte. »Hier dürften alle Menschenrassen vertreten sein, glaube ich«, sagte Tuolin zwischen zwei Bissen, »in unterschiedlicher Stärke. Und sie sind nie gemeinsam angekommen.« »Borros, der Zaubermann, mit dem ich über das Eismeer reiste, vertrat die Ansicht, die Zauberischen Kriege hätten jeden Konflikt beendet.« Tuolin lächelte, trank von seinem Reiswein und wischte sich dann den Mund ab. Seine Züge verrieten ihn jedoch. Er war
keineswegs so amüsiert, wie er sich gab. Es waren kalte Augen, kalt und blau wie Eis. »Der Mensch wird es nie lernen, Ronin. Ewig liegt er im Krieg mit sich selbst.« Er zuckte die Schultern. »Es gibt keine Abhilfe, fürchte ich.« Sechs Soldaten betraten das Wirtshaus und ließen sich an einem Tisch nahe der Tür nieder. Sie bestellten Wein und begannen zu trinken. Lautstark unterhielten sie sich und lachten, wenn einer von ihnen eine deftige Zote zum besten gegeben hatte. »Splitterparteien, Cliquen beherrschen diese Stadt«, sagte Tuolin. »Jeder mißtraut jedem, denn der Krieg ermöglichte es den Gerissenen, viel Geld zu machen.« In einer anderen Ecke saßen zwei vermummte Männer, groß und hellhaarig, in Begleitung zweier schmächtiger Frauen. »Die Stadt ist bis zum Bersten voll von vielen, vielen Hongs – Händlern –, die durch den Krieg reich und fett geworden sind.« »Sie wohnen hier?« »Kaum«, schnaubte Tuolin. Wieder trank er von seinem Wein. »Sie leben in den oberen Bereichen. In der befestigten Stadt.« »Eine andere Stadt?« »Ja und nein. Es ist immer noch Sha’angh’sei.« Ihnen gegenüber flüsterte eine Frau mit seltsam affenartigem Gesicht mit drei Männern, die in dunkle Umhänge gehüllt am Tisch saßen. Wenn sie ihren Kopf bewegte, drehten sich lange Ohrringe aus grünem Stein. »Was ist mit dem Krieg?« »Er lodert überall. Deshalb kehrten wir nach Sha’angh’sei zurück. Nördlich und westlich der Stadt hat sich eine Banditenarmee zusammengezogen.«
Drei Kinder stürmten in die Schänke. Sie waren dünn und schmutzig, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Der Wirt rief nach ihnen. Ein Junge ging zögernd zu ihm hin und händigte ihm eine Anzahl matt schimmernder Münzen aus. Der Wirt ohrfeigte ihn so fest, daß sein dürrer Körper bebte. Der Junge vergrub eine schmutzige Hand in einer Tasche und holte weitere Münzen hervor. Dann riß er sich los und hetzte hinter seinen Gefährten her, die Treppe hinauf. »Die Hongs bezahlen uns, damit wir ihre Interessen schützen. Die Banditen müssen vernichtet werden, bevor sie sich zur Plage wandeln und auf die Stadt stürzen.« Es war eine unlogische Geschichte. Ronin witterte das förmlich, obwohl er erst so kurze Zeit bei diesen Leuten weilte. Allerdings konnte er nicht erraten, weshalb ihn Tuolin belügen sollte. »Dann wirst du Sha’angh’sei also verlassen?« fragte er. »Ja. Übermorgen. Bis Kamado, der Festung des Nordens, ist es ein Dreitagesmarsch.« Einer der drei Männer, die sich mit der affengesichtigen Frau unterhalten hatten, erhob sich und verließ die Schänke. Ronin wollte etwas sagen, aber Tuolins Hand, die sich plötzlich auf seinen Arm legte, ließ ihn stumm bleiben. Er folgte dem Blick des blonden Mannes. In der Türöffnung standen zwei Männer. Sie trugen dunkle, an den Knien ausgebeulte Hosen, Seidenhemden und darüber schwarze Umhänge. Ihre Gesichter breitflächig. Die Mandelaugen kalt. Das lange Haar war gewachst und zu Zöpfen gebunden. Ein verirrter Windstoß zupfte an ihren Umhängen. In den Schärpen steckten kurzstielige Äxte. »Bleib still«, flüsterte Tuolin. Sein Blick glitt von den beiden Männern weg. In seiner Stimme war ein eigenartiger Ton. Furcht? Er sah Ronin an, dann sagte er in normalem Tonfall: »Der Rikkagin wird dich morgen zu bestimmter Stunde
erwarten. Bis zu diesem Termin bin ich dein Führer. Er hat mich gebeten, diese Aufgabe wahrzunehmen.« Ronin starrte ihn an. »Sha’angh’sei ist eine komplizierte, manchmal verwirrende Stadt. Der Rikkagin wünscht zu vermeiden, daß du dich verirrst.« Die Männer standen noch immer in der Türöffnung, ihre schwarzen Augen suchten den Raum ab. Der Wirt blickte hoch. Dann eilte er, die Hände an seiner Schürze abwischend, durch den Raum. Er zog einen kleinen Lederbeutel aus der Innentasche und überreichte ihn den Männern. Einer sagte etwas zu ihm und lachte. Der Wirt verbeugte sich. Die Männer wandten sich ab und verschwanden in der Nacht. »Kennst du die beiden?« fragte Ronin. »Das waren die Grünen«, erwiderte Tuolin, als genüge dies als Antwort. Er leerte seinen Becher. »Ich habe genug. Was meinst du, Ronin, machen wir uns wieder auf den Weg?« Tuolin bezahlte. Die grünen Stein-Ohrringe der affengesichtigen Frau tanzten, während sie sprach. Als sie die Schänke verließen, schienen weniger Leute unterwegs zu sein als am frühen Abend. Die Luft roch angenehm. Tuolin sah sich sichernd nach allen Richtungen um, dann entspannte er sich. Er streckte sich. »Jetzt«, sagte er, »fängt der Abend erst richtig an.«
T’ien stand auf der goldenen Tafel, die mit ebenfalls goldenen Nägeln linker Hand der beiden hohen, gelben Doppeltüren angebracht war. Eine geschwungene Eisentreppe führte von der Okanstraße zu diesen Türen hinauf. Unterwegs hatte Ronin Tuolin zweimal dabei ertappt, wie er sich verstohlen umgeblickt hatte, als erwarte er, verfolgt zu
werden. Allerdings schien dies gänzlich unmöglich; viel zu viele Menschen waren unterwegs. Tuolin klopfte gegen die gelben Türen, und einen Moment später wurden sie geöffnet. »Matsu«, hauchte er lächelnd. Zwei bewaffnete Männer flankierten sie, und ließen sie allein durch ihre Gegenwart kleiner erscheinen, als sie war. Sie war mittelgroß und schlank. Ihr Gesicht oval, feingeschnitten, mit schmalen Mandelaugen. Dichtes schwarzes Haar fiel glatt und offen auf ihre Schultern herunter. Sie trug ein raffiniert geschnittenes Silberkleid mit hohem, geschlossenem Kragen und weiten, bauschigen Ärmeln, auf das graue Tauben gestickt waren. Ihre Haut war sehr hell, die Lippen nicht bemalt. Die ovale Schmucknadel aus Lapislazuli vor ihrer Kehle hob sich vom Schwarz, Grau und Weiß ihrer Kleidung ab. Sie lächelte Tuolin an, dann Ronin. Nur kurz. Die Wachen entspannten sich. Sie bedeutete den Gefährten, einzutreten und führte sie wortlos durch einen schmalen Vorraum. Ein hoher, goldgerahmter Spiegel offenbarte sie als kleine Prozession. Sie wandte sich nach links, durch offenstehende Türen, in einen Raum, der von weichem, freundlichem Licht erhellt war. Die Wände waren bis in Hüfthöhe eines durchschnittlich großen Mannes holzgetäfelt, darüber in gedämpftem Gelb bemalt. Elfenbeinfarben war die hohe Decke. In ihrem Zentrum war eine aus geschliffenem Topas gefertigte Lampe befestigt; gut fünfhundert Kristalle waren geschickt daran befestigt, so daß die unzähligen kleinen Flammen, die in ihrer Mitte tanzten, durch die Facetten leuchteten. Dieses eigentümliche Licht verlieh dem Raum seine verzaubernde Wirkung.
Der Boden war ebenfalls holzgetäfelt und lackiert. Intime Diwans und bequeme Plüschsessel standen darauf. Die Mädchen hatten es sich darin bequem gemacht. Einige saßen in Gesellschaft einiger Männer, tranken und rauchten, wieder andere unterhielten sich mit ihren Freundinnen oder wandten ihre Gesichter den Männern zu, wie die Blüten einer Blume, die der Bahn der Sonne folgten. Matsu verließ sie, durchquerte den Raum, ging zu zwei Männern und einer Frau. Wenige Augenblicke später kehrte sie mit der Frau zu ihnen zurück. Sie trug ein bodenlanges, safranfarbenes Seidenkleid, an einer Seite geschlitzt, so daß Ronin bei jedem Schritt, den sie machte, ihre langen Beine sehen konnte. Das Kleid war mit fantastischen Blumenmustern im blassesten Grün bestickt. Wie Matsus Kleid trug auch dieses weite Ärmel und einen hohen Kragen. Dieser Zuschnitt schaffte es irgendwie, ihre Figur zu betonen. Ihr Gesicht war außergewöhnlich. Große, schmale Augen, die Oberlider dunkel und sinnlich, obwohl sie ganz offenbar nicht bemalt waren. Ein schmales Kinn, fein geschnitten und doch energisch. Hohe Wangenknochen. Ihre Lippen waren in tiefem Scharlachrot bemalt, feucht glänzend, halb geöffnet. Sie trug ihr Haar sehr lang und so gebürstet, daß es sanft über ihre linke Schulter und Brust fiel. Es war so dunkel, daß es blauschwarz schimmerte. Sie lächelte und entblößte kleine weiße Zähne. Dann hob sie ihre Hände und drückte sie zusammen. »Ah, Tuolin«, sagte sie. »Es tut gut, dich wiederzusehen.« Ihre Stimme war sanft, wie ferner Glockenklang. Sie senkte ihre Hände. Zierliche Finger mit langen, gelb lackierten Nägeln. Topas-Ohrringe in Form einer Blume. Momenteindrücke. Langsam wandte sie ihr Gesicht Ronin zu.
Fragend sah sie ihn an. Plötzlich hatte er das eigenartige Gefühl, doppelt zu sehen. »Kiri, ich darf dir Ronin vorstellen«, sagte Tuolin. »Er ist ein Krieger aus einem fernen Nordland. Dies ist seine erste Nacht in Sha’angh’sei.« »Und du hast ihn hierhergebracht?« sagte sie mit einem melodischen Lachen. »Wie besonders schmeichelhaft.« Sie winkte ein junges Mädchen heran. »Liy wird euch in die Baderäume geleiten. Und wenn ihr zurückkehrt, werdet ihr euch entscheiden.« Die dunklen Augen musterten ihn. Ronin und Tuolin folgten dem Mädchen. Eine wuchtige Teakholztür. Dann ein kurzer Durchgang, dessen Wände aus grob behauenem Stein bestanden. Der Gegensatz zu dem Raum mit dem sanften goldfarbenen Licht war vollkommen. Sie schritten eine Treppe hinunter. An den Wänden waren Kupfertiegel angebracht, auf denen kleine Flämmchen tanzten und ein rauchiges Licht verbreiteten. Die Steinstufen waren feucht. Irgendwo, nicht weit entfernt, konnte Ronin das leise Plitschen von Wasser ausmachen. Sie erreichten einen weiten, in den Fels gehauenen Raum. Eine niedere Holzdecke spannte sich über ihnen. Lampen spendeten freundliche Helligkeit. Es war warm. In eine Wand war eine gewaltige Feuerstelle gehauen. Die Flammen prasselten und knisterten über die Holzscheite und leckten in die Höhe. Ein riesiger Kessel hing über dem Feuer, gefüllt mit kochendem, dampfendem Wasser. Zwei große, rechteckige Holzbottiche beherrschten den Raum. Sie standen auf einem erhöht angebrachten Holzgitterboden. Einer der Bottiche war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Vier halbnackte, dunkelhaarige, mandeläugige Mädchen erwarteten sie. Wasser dampfte und gurgelte.
»Komm«, rief Tuolin vergnügt, während er seine schmutzige Seekleidung auszog und seine Waffen auf einen der hölzernen Haken hängte, die in die Wand eingelassen waren. Ronin tat es ihm gleich, und die Mädchen geleiteten sie zu dem leeren Bottich. Nachdem sie hineingeklettert waren, füllten die Mädchen den Bottich mit heißem Wasser. Sodann stiegen sie ebenfalls hinein, nahmen weiche Bürsten und wohlriechende Seifen und begannen, die beiden Männer gründlich zu waschen. Tuolin schnaubte und prustete Wasser aus seinem Mund. »Nun, Ronin, wie gefällt dir das? War es in deiner Heimat je so angenehm?« Die Hände der Mädchen waren weich und sanft, und das heiße Seifenwasser auf seiner Haut fühlte sich köstlich an. Die Mädchen unterhielten sich flüsternd, als sie die Narben auf seinem Rücken sahen, lange, blasse, frisch verheilte Narben, und sie waren sehr vorsichtig, als sie ihn einseiften. Er empfand kein Unbehagen, nur Vergnügen. Sie strichen über seine Brust, massierten sanft und behutsam seine Muskeln, als wüßten sie, daß seine Rippen kürzlich gebrochen waren. Dann wiesen sie ihn und Tuolin an, sich in den anderen Bottich hinüberzubegeben. Sauberes heißes Wasser wurde zugegossen. Zwei Mädchen säuberten den ersten Bottich. Die anderen beiden sammelten die schmutzigen Kleider der Gefährten auf und verließen den Raum. Ronin lehnte sich zurück, streckte seine Beine aus und ließ die Hitze langsam in seinen Körper sickern. Allmählich lockerten sich seine Muskeln. Ein Großteil jener Anspannung, die ihn seit Tagen erfüllte, floß förmlich aus ihm heraus. Er schloß seine Augen. Wie unerwartet, neu dies alles für ihn war. Wie völlig anders… So oft hatte er sich mit Borros darüber unterhalten,
dem Zaubermann gelauscht, wenn er ihm seine Vorstellungen ausgemalt hatte. Aber es war alles anders. Ganz anders. Erst jetzt begriff er die ganze Tragweite des Abenteuers, auf das er sich in dem Moment eingelassen hatte, als er die Luke des Freibesitzes aufgestoßen und in die Kälte hinausgestürmt war. Damals hatte er keine Ahnung, wohin er gehen sollte, oder ob er auf der Oberfläche überhaupt überleben konnte. Blindlings war er Borros gefolgt, nur von dem Wunsch besessen, dem Freibesitz zu entkommen und das Rätsel von dor-Sefriths Schriftenrolle zu lösen. Die Hitze stieg in ihm hoch wie jenes Gefühl, das die Nähe einer nackten Frau vermittelte. Und damit einhergehend fielen die Barrieren, die er so mühselig errichtet hatte. Er dachte an sie. Oh, K’reen, wie mußt du gequält worden sein. Tag und Nacht hat er dich mit Lügen gefüttert, dich vergiftet! Das Wasser kräuselte sich, und Ronin sah auf, in die Gegenwart. Eines der Mädchen war zu ihnen in den Bottich geklettert und kicherte. Tuolin spritzte es naß. Seltsam, dachte Ronin. Die Welt des Freibesitzes scheint so weit zurückzuliegen. So fern wie ein anderes Leben. Sie aber nicht. Sie ist nach wie vor bei mir, und es gibt nichts, was der Salamander dagegen tun könnte. Die Kälte soll ihn holen! Er starrte zu seinem Schwert hinüber. Leicht pendelte es hin und her. Eines der Mädchen hatte es vorhin gestreift, als es den Raum verlassen hatte. Das Schwert und, darin versteckt, die Schriftenrolle… Und wenn Borros wieder recht behielt, der Schlüssel für das Überleben der Menschen. Er konnte nicht mehr an den Worten des Zaubermannes zweifeln. Er hatte bereits mit einem Makkon gekämpft, hatte seine fürchterliche Macht gespürt. Instinktiv hatte er gewußt, daß ein derartiges Wesen nicht von dieser Welt stammen konnte. Diese Welt hatte ihre eigenen Ungeheuer.
Mindestens ein Makkon hielt sich also bereits auf dieser Welt auf. Wenn dor-Sefriths Schriftenrolle nicht entziffert war, bis die vier Unheimlichen zusammenkamen, so würden sie den Dolman herbeirufen. Das Ende der Menschheit. »Fertig?« fragte Tuolin. Ronin nickte und erhob sich. Wasser tropfte von ihm ab. »Erlaube mir, dich anzusehen!« Die scharlachroten Lippen öffneten sich. Die winzige rosafarbene Zunge wischte über die gleichmäßigen Zahnreihen. Sie lachte. »Sie ist sehr geschickt in diesen Dingen, fürwahr!« Er trug ein seidenes Gewand, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Auf der Vorderseite und Rücken, ebenso über den Armen, waren grimmig aufgerichtete Drachen eingestickt. Tuolin trug ein tiefblaues Gewand. Brust und Rücken wurden vom Bildnis weißer Reiher geschmückt. »Ah, Tuolin, du mußt einen bemerkenswerten Mann in mein Haus gebracht haben.« Kiris Blick tauchte in den von Ronin. »Es ist ein Geheimnis, aber ich will es euch offenbaren. Matsu wählte die Kleider so, daß sie zu ihrem Träger passen. Und mit ihrer Wahl liegt sie selten falsch.« »Warum ausgerechnet Drachen?« fragte Ronin und sah auf die glitzernde Stickerei. »Ich weiß es nicht; noch nicht«, erwiderte sie mit leichtem Lächeln. »Nie zuvor habe ich dieses besondere Muster gesehen.« Sie wandte sich wieder an Tuolin und nahm seinen Arm. Gemeinsam schlenderten sie in den Raum mit dem Topaslicht, hielten kurz an, als ihnen Tee und Reiswein angeboten wurden und setzten ihren Weg sodann fort. Kiri stellte die beiden Männer den Mädchen vor. Alle waren sie schön. Alle waren sie anders. Lächelnd strichen sie mit ihren verzierten Papierfächern durch die Luft.
Tuolin traf seine Wahl, ein großes, schlankes Mädchen mit hellen Augen, hellem Haar und üppigem Mund. Kiri nickte und wandte sich an Ronin. »Und du?« sagte sie leise. »Wen erwählst du dir?« Ronins Blick glitt über die Mädchen, hinweg über eine bizarre Landschaft der Weiblichkeit, dann sah er Kiri direkt an. »Dich«, sagte er gedehnt. »Dich erwähle ich mir.« Ihr Mund öffnete sich leicht. Ein Überraschungslaut kam über ihre Lippen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie kicherte, erstickte es, indem sie schluckte. Die anderen drei verhielten sich still und sahen sie an. Die Bewegungen ringsum setzten sich fort, das schwache Flattern eines Fächers, das Aufblitzen nackter Beine, der süße Duft sich kräuselnden Rauchs, das Dampfen heißen Tees und gewürzten Reisweines, wie das sich langsam drehende, gewaltige Rad der Sterne. Urplötzlich: das Klirren einer Tasse, die auf einem lackierten Tablett abgesetzt wurde, ein derart von allen anderen Geräuschen losgelöster Laut, wie ein Donnerschlag in einer regenverschleierten Nacht. Tuolin sagte: »Aber das ist un…« Kiris feinsinnig erhobene Hand ließ ihn verstummen. »Er ist fremd in dieser Stadt… Du selbst sagtest es mir, Tuolin, nicht wahr?« Die gelben Nägel waren wie winzige Fackeln im Licht. »Ich fragte ihn, und er gab mir eine ehrliche Antwort.« Sie blickte wieder in Ronins Augen, während sie weiterhin an Tuolin gerichtet sprach. »Du hast Sa erwählt. Nimm sie also.« »Aber – « »Denk nicht weiter darüber nach. Deine Harmonie soll nicht gebrochen, dieses Haus nicht wertlos werden. Ich bin nicht beleidigt. Ich werde mich um Ronin kümmern. Und er wird sich um mich kümmern.«
»Was habe ich falsch gemacht?« wollte Ronin wissen, nachdem Tuolin und Sa davongegangen waren. Sie nahm seinen Arm und lachte leise. »Tod«, sagte sie. »Es bedeutet den Tod, nach mir zu fragen, Fremder.« Ein junges Mädchen kam zu ihnen und reichte Reiswein. »Bitte«, sagte Kiri, und er reichte ihr einen Becher; einen anderen nahm er für sich. Er schlürfte an dem Wein. Er schmeckte gänzlich anders als jener im Wirtshaus. Die Gewürze zauberten einen scharfen Geschmack hinein und eine Süße, die er schätzte. »So werde ich mir also eine andere Gefährtin erwählen.« Sie lächelte wieder. Stoff raschelte auf parfümierter Haut. Der süße Duft des Rauches schien intensiver geworden zu sein. »Willst du das wirklich tun? Ist es dein ehrlicher Wunsch?« »Nein.« »Du bereust deine Wahl nicht?« Er blieb stehen und sah sie an. »Nein, aber – « »Ja?« Die scharlachroten Lippen öffneten sich, verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich möchte die Regeln deines Volkes nicht verletzen.« Sie drängte ihn, weiterzugehen. »Du mußt noch viel lernen, Ronin. Eine der wichtigsten Tatsachen in Sha’angh’sei ist die, daß es keine Gesetze und Regeln gibt.« »Aber gerade sagtest du mir – « »Daß es den Tod bedeutet, nach mir zu fragen, ja.« Ihre gelben Fingernägel strichen über die Konturen der goldenen Drachen seines Gewandes, über geblähte Nüstern, offenstehende Rachen, vorstehende Schlangenzungen, tiefer, über die geschmeidigen Körper, hin zu den erhobenen Klauen. »Nehmen darf man sich alles. Man muß es nur wagen. Und man muß stark sein. Die Cliquen dieser Stadt binden sich mit
Codices und ungeschriebenen Regeln.« Ihre Augen waren groß und geheimnisvoll. Er spürte den Druck ihrer Fingernägel durch den geschmeidigen Stoff. Ihre Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt: »Wer, außer den Beherrschern und den Beherrschten, wohnt schon in Sha’angh’sei? In diesen Mauern gibt es kein Gesetz.« Der Raum des Topaslichtes leerte sich. Die Paare zogen sich zurück. Die Mädchen räumten lautlos auf. Bald war der goldene Lichterglanz Ronin und Kiri allein überlassen. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Nein«, hauchte sie, und als sie ihren Kopf schüttelte, war ihr Haar wie ein Wald in der Nacht, »nein, du kommst nicht aus Sha’angh’sei, auch nicht aus der näheren Umgebung der Stadt. Du bist völlig unberührt von ihrem Odem.« »Ist das so wichtig?« »Ja«, flüsterte sie. »O ja.«
»Sag mir, weshalb du nach Sha’angh’sei gekommen bist.« »Du hast es bereits gehört.« »Ja, aber dieses Mal soll es auch Tuolin hören.« »Ich wußte nichts von dieser Stadt, bis du mir davon erzählt hast.« »Natürlich«, sagte er, nicht unfreundlich. Rikkagin T’ien saß mit gekreuzten Beinen hinter einem grün lackierten Tisch, auf dem eine Teekanne aus gebranntem Ton stand, eine Tasse, ein Tintenfaß. Ein Federkiel lag daneben. Er legte ein Bündel Papier beiseite. »Bitte, fang an.« Ronin erzählte die Geschichte der Schriftenrolle dor-Sefriths, erzählte von den Makkon, dem Kommen des Dolman. Als er geendet hatte, herrschte Stille im Raum. Goldgelbes Licht strömte in schrägen Linien durch die bleigefaßten
Glasscheiben. Dort draußen führte die Doppelbaststraße vorbei. Der Rikkagin und seine Männer waren in dieses Haus einquartiert worden. Morgen, bei Tagesanbruch, würden sie zu ihrem langen Marsch nach Kamado aufbrechen. Ronin sah, wie T’ien und Tuolin einen Blick wechselten. Tuolin erhob sich schließlich, die Hände auf seinem Rücken verschränkt. Vielleicht glaubten sie ihm nicht. Vielleicht hielten sie ihn – trotz T’iens gegenteiliger Beteuerung – noch immer für einen Feind. Dennoch, ich muß sie fragen, sagte er sich. »Könnt ihr helfen?« »Ich muß wissen, was die Schriftzeichen zu bedeuten haben.« Der Rikkagin lächelte beinahe traurig. »Ich fürchte, das wird gänzlich unmöglich sein.« »Möglicherweise kann ihm der Rat helfen«, sagte Tuolin. Der Rikkagin schien einen Augenblick lang verwirrt. Er starrte den blonden Mann an, als wäre er eine Statue, die plötzlich gesprochen hatte. Dann sagte er: »Ja, jetzt, da du es sagst… Es wäre eine mögliche Antwort.« Wieder schien er in Gedanken verloren. Tuolin wandte sich an Ronin. »Sha’angh’sei wird von einem Stadtrat regiert: neun Mitglieder repräsentieren die größten Cliquen der Stadt. Die kleineren Parteien machen sich durch Silbertaels und andere Sachwerte lieb Kind. Wenn irgend jemand in dieser Stadt das nötige Wissen besitzt, um dein Rätsel lösen zu können, so die Ratsmitglieder.« »Wo treffen sie zusammen?« »In der befestigten Stadt über uns, hügelaufwärts. Aber du wirst dich bis morgen gedulden müssen. Heute dürfte keine Sitzung mehr stattfinden. Ist es nicht so, Rikkagin?« Tuolin lächelte.
»Hhmm? O ja, ganz recht«, erwiderte T’ien, aber er schien mit seinen Gedanken noch immer sehr weit weg zu sein, mit anderen Dingen beschäftigt. Jemand klopfte gegen die Tür, und Tuolin durchquerte den Raum, noch bevor T’ien Gelegenheit hatte, etwas zu äußern. Er öffnete. Ein Soldat verneigte sich und reichte Tuolin ein Stück gefaltetes Reispapier. Der blonde Mann öffnete es und las. Seine Stirn furchte sich. Konzentration – oder Besorgnis? Er bedeutete dem Soldaten, sich zurück zuziehen. Der Mann gehorchte schweigend. Tuolin stieß die Tür zu. Dann schritt er zu T’ien und legte das Schreiben auf den Tisch. T’ien begann zu lesen. »Ich fürchte«, wandte sich Tuolin an Ronin, »daß wir dich für den Rest dieses Tages dir selbst überlassen müssen. Eine Reihe organisatorischer Probleme… Bitte, fühle dich frei, die Stadt zu besichtigen. Es wäre uns jedoch eine Freude, wenn du das Abendmahl gemeinsam mit uns einnehmen würdest.« Das Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht. T’ien sah auf. »Meine Männer sind angewiesen, dir einen Beutel mit Münzen auszuhändigen. In Sha’angh’sei gibt es nichts, wofür nicht bezahlt werden muß.«
Ronin folgte einer leicht abwärts geneigten Straße. Der Himmel war bedeckt, gelblicher Nebel stieg hoch. Er überraschte sich dabei, daß er an T’ien und Tuolin dachte. Wieder quälte ihn das Gefühl, daß ihm etwas Wichtiges entgangen war, doch die Antwort bleib ungreifbar. Er zuckte mit den Schultern und verbannte das Problem aus seinen Gedanken. Wenig später bog er in eine breite Allee ein. Zahllose Verkaufsstände säumten die Straße. Menschen drängten sich dicht an dicht. Ein Händler verkaufte Hühner. Sie waren an
den Hälsen aufgehängt, gekocht, mit glänzender, zinnoberroter Soße glasiert, so daß sie hölzern und unecht wirkten. Leute drängten sich um den Stand, bezahlten. Der Händler holte mit Reis gefüllte Schalen und Stäbchen und schnitt große Fleischstücke in den Reis. Die Leute aßen im Stehen. Für eine weitere Münze bekamen sie eine kleine Tasse mit grünem Tee. Ronin ging weiter. Geschäftig hasteten die Menschen an ihm vorbei, oder kamen ihm entgegen, eine stete Flut menschlicher Leiber. Eine Gruppe Soldaten marschierte heran, zerteilte geringschätzig die lebende Flut. Ronin schritt durch die gewundenen Straßen der Stadt, vom schnellen Pulsschlag erfaßt, der sich wiederholte und veränderte. Hier und da ein Aufblitzen von Farben, ein Aufruhr von Klängen. Aromatische Gewürze wehten über die Gassen. Er sah, wie Geschäfte abgewickelt wurden, mit raschen, sicheren Gesten besiegelt wurden. Er beobachtete Leute, die nichts anderes zu tun hatten, als andere Leute zu beobachten. An Ladenfenstern standen sie, oder in Hauseingängen. Und er ging weiter, immer weiter. Holprige Straßen. Naßkalte Gassen. Irgendwann hörte er den Glockenschlag, weich, sanft, rein. Er folgte ihm, bis er vor einer Steinmauer stand. Noch immer war das Schlagen der Glocken zu hören. Eine alte Holztür war in die steinerne Mauer eingelassen. Ohne nachzudenken, öffnete er sie und trat hindurch. Die Geräusche der Stadt schwanden, als er die Schwelle überquerte. Klarer war der Glockenklang jetzt zu hören, obwohl die Quelle noch immer weit entfernt schien. Vor dem plötzlichen Hintergrund nebelhafter Stille ertönte ein Horn. Dann erklangen die Glocken süß von neuem, ihr Lied färbte die Luft.
Er stand in einem großen Garten, klar, exakt, schön. Weiß, gelb und rosa glitzernde Blumen waren in erlesenen Mustern zwischen Steinen und pelzigem Moos angeordnet. Irgendwo plätscherte Wasser. Etwas weiter entfernt sah er einen winzigen Wasserfall und einen Teich. Kleine Fische mit Silberflossen huschten im Wasser umher. Ronin schritt über einen mit strahlend weißem Kies bestreuten Weg. Die Glocken verstummten. Erneut erklang das Horn. Ein leiser, trällernder Gesang wehte an seine Ohren, angenehm, einschläfernd in der regungslosen Luft. Ronin strengte sich an, er lauschte, aber von der Stadt außerhalb der Steinmauer war kein Laut zu vernehmen. Im Zentrum des Gartens stand eine große, metallene Urne, aus Messing vielleicht. Daneben saß ein uralter Mann. Er war in braune Gewänder gehüllt. Das mit Runzeln überzogene Gesicht strahlte Ruhe und inneren Frieden aus, die Augen waren geschlossen. Das spärliche Haupthaar war weiß, der Bart lang und wallend. Er saß so still wie ein Stein. Ronin streckte die Hand aus und berührte die gewölbten Metallseiten der Urne und fühlte – nichts! Ein so reines, vollkommenes Nichts, daß es schon wieder fühlbar, berührbar war. Ein unverwandelbarer Raum gähnte vor ihm auf, Jahre fielen wie trockene Blätter zu Boden, Jahrhunderte vergingen wie stumme Regentropfen, Jahrtausende, Ewigkeiten erblühten, verschmolzen miteinander, zerbarsten. Und eine gewaltige Ruhe hielt ihren Einzug in ihn: der Donner der Ewigkeit. Er war erschüttert. Er merkte, daß er seine Augen geschlossen hatte. Als er sie wieder öffnete, schlugen die Glocken erneut, hoch in der Luft vibrierte ihr Lied. Auf steifen Beinen stakste Ronin zur Tür, schritt über die Schwelle, und es war, als hätte ihn ein Sturm von Musik in eine andere Welt getragen. Die Luft war feucht
vom Räucherwerk, das Licht schwach, bräunlich verfärbt, als wäre es gealtert. Steinwände und Marmorsäulen, eine Decke, die in der Düsternis nicht zu sehen war. In der Ferne glühten die Flammen zahlreicher Kerzen. Ronin bewegte sich, und plötzlich fühlte er sich wie einer der Fische draußen im Teich. Wie Silbertaels hingen die Jahrhunderte über ihm, dicht und schön. Irgendwo glaubte er ein Husten zu hören, leise, fragend. Eine – wie auch immer geartete – Gegenwart. Er glaubte eine Stimme zu hören, so fern, daß er nur das Echo vernahm: Finde ihn! Das leise Tappen geschmeidiger Pfoten. Ein Kratzen, so sanft wie das Rascheln von Herbstblättern. Du mußt ihn finden! Echos, die verhallten und vergingen. Träumerisch sah er sich um. Da war der Gesang wieder, hell und klar erfüllte er die Luft mit Wärme und Freundlichkeit. Goldgelbe Lichtstrahlen fielen durch die hohen, schmalen Fenster des Raumes, lackierten den Steinboden, die Schilfmatten. Er war allein. Er dachte an die Urne und den alten Mann, der reglos daneben saß, und verließ den Raum, kehrte in den Garten zurück. Der Mann hatte sich nicht bewegt. Noch immer saß er wie eine Statue neben der Urne. Die Glocken schwiegen. Ronin näherte sich der Steinmauer und trat durch die Tür ins Freie. Als er sie hinter sich schloß, brachen die disharmonischen Geräusche der Stadt rasend und verzweifelt über ihn her wie ein Heuschreckenschwarm in der Hitze des Sommers. Ziellos, halb betäubt, ging er durch das Gewirr der Straßen und Gassen. Irgendwann bemerkte er, daß sich das Tageslicht zurückzog. Der Tag neigte sich seinem Ende zu. T’ien und Tuolin erwarteten ihn.
Er beschloß umzukehren. Er kam an einem Teppichladen in der Dreigipfelstraße vorbei. Eine Armee von Angestellten umschwirrte die Kunden. Daneben eine Apotheke. Über dem Eingang hing ein riesiger Steinkrug an alten, knirschenden Ketten. Ein staubblindes Fenster gab nur zögernd den Blick auf kleine bunte Päckchen, Fläschchen und Tiegel frei. In der Mitte der Auslage stand eine gläserne Schüssel. In einer leicht gelblich verfärbten Flüssigkeit schwamm eine Wurzel, die wie ein menschlicher Körper geformt war. Eigentümlich… Sie war düster orangebraun, mit zahlreichen Ranken und haarfeinen Wurzeln. Das Ding erregte seine Neugier. Er betrat den Laden. Ein langer, schmaler Raum, staubig und abgenutzt wirkend, nahm ihn auf. Von der rechten Wand ausgehend, verlief ein hoher Glas-Holz-Schrank. Eine Unzahl von Behältnissen war darin aufgestapelt. Hundertundein Mittelchen gegen Kopf- und Magenschmerzen, Muskelzerrungen und geschwollene Füße, vermutete Ronin. Der Eigentümer stand hinter einer Theke an der Stirnseite des Raumes. Er war klein und alt und von der Last seiner Jahre gebeugt. Ein trauriger Mann, wie es schien. Seine Mandelaugen blickten verschleiert, die gelbe Haut war dünn wie Reispapier, fast durchscheinend. Lange Haarsträhnen wuchsen aus seiner Kinnspitze und hingen bis weit auf die Brust hinunter. Ansonsten war er kahl. Pedantisch füllte er ein saphirfarbenes Pulver in weiße Reispapierschächtelchen. Als Ronin näher kam, sah er auf. »Ja?« »Kannst du mir den kürzesten Weg zur Doppelbaststraße nennen?« »Das kommt darauf an.« Er verschloß das Schächtelchen und stellte es auf ein Regal hinter sich. Dann drehte er sich wieder um. »Du kannst durch die Gasse dort drüben zur
Blaubergstraße abkürzen, dann bist du noch knapp fünf Minuten Wegs von der Doppelbaststraße entfernt. Sicherer allerdings wäre es, wenn du der Dreigipfelstraße folgst, bis du die Nanking erreichst. Du weißt, was ich meine? Ein längerer Weg, aber sicherer.« Er nickte, musterte Ronin und räusperte sich. Unvermittelt sagte er: »Du bist nicht nur hier hereingekommen, um mich nach dem Weg zur Doppelbaststraße zu fragen.« Er tippte mit einem gekrümmten Finger gegen Ronins Brust. »Jeder da draußen hätte dir deine Frage beantworten können. Nein, ich glaube, daß du in Wirklichkeit hereingekommen bist, um dich nach der Wurzel zu erkundigen.« Ronin verbarg seine Überraschung nicht. »Wie konntest du das wissen?« »Du bist keinesfalls der erste. Die Wurzel ist nicht allein der Dekoration wegen da, obwohl viele Vorübereilende dies annehmen.« Ronin hatte es satt. »Wirst du mir meine Frage beantworten?« »Die Wurzel«, sagte der Alte, während er die Schächtelchen Stück für Stück auf das Regal hinter sich stellte, »ist uralt. Und wie alle uralten Dinge hat sie eine Geschichte. O ja! Keine sehr amüsante, allerdings, das sei dir gesagt.« Seine Nasenflügel weiteten sich, und er bewegte sich unruhig. »Komm näher. Ja. Du bist also der Bursche, der den Tempel aufgesucht hat.« Er schloß seine Augen, nur einen winzigen Augenblick lang. »Da ist noch ein Hauch von Räucherwerk…« »Aber was – « »Schließlich hörte ich das Horn ertönen.« »Das Horn?« »›Ein Besucher!‹ sagte es. ›Ein Besucher!‹« »Was für ein Unsinn. Es war nur ein Tempel von Sha’angh’sei.«
Der alte Mann lächelte eigenartig, und Ronin sah seine schwarz lackierten Zähne. Er mußte an die affengesichtige Frau denken, die er in der Schänke beobachtet hatte. Ihre Zähne waren auch schwarz gefärbt gewesen. Welche Geheimnisse mochte sie verkauft haben, und zu welchem Preis? »Ah, nein, du irrst dich. Der Tempel stand schon an jener Stelle, lange bevor Sha’angh’sei gebaut wurde. Die Stadt wuchs um ihn herum empor. Es ist der Tempel eines fremden Volkes, das von diesem Kontinent verschwand, noch bevor die ersten Menschen geboren waren.« Er zuckte ehrerbietig mit den Schultern. »Manche behaupten dies jedenfalls.« »Aber ich sah einen Mann im Garten des Tempels sitzen.« Erneut lächelte der Alte. »So mag das, was man hört, doch nicht die Wahrheit sein. Du weißt: oftmals sagen die Leute nur das, was sie einen wissen lassen wollen.« Der alte Mann legte seine Hand an seine Stirn, als habe er Kopfschmerzen. »So wie die Leute, die das Haus in der Doppelbaststraße bewohnen.« Ronin starrte ihn an. »Was?« »Nimm die Nanking.« »Aber das ist der längere Weg!« »Es spielt keine Rolle. Es hat ohnehin keinen Sinn, daß du dorthin gehst, wohin du zu gehen gedenkst.« Er spürte ein Kribbeln in seinem Genick. »Warum nicht?« »Weil das Haus verlassen ist.«
Hastig verließ Ronin den Laden, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür hinter sich zu schließen. Er wand sich durch das Gedränge der Leiber, suchte die Gasse, die zur Blaubergstraße führte. Fast hätte er sie übersehen, so schmal und dunkel war sie. Die Laternen wurden angezündet, um den
tief purpurnen Dunst zu vertreiben, der sich über die Stadt heruntersenkte. Düsternis breitete sich aus. Das Licht der Laternen war nicht stark genug, ihr Einhalt zu gebieten. Ronin tauchte in das Schwarz der Gasse ein. Im gleichen Sekundenbruchteil wußte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Vor ihm hätte es wenigstens den Hauch eines Lichtschimmers geben müssen… Er zog seine Klinge blank. Schweigend und todbringend glitt er weiter, an einer feuchten Wand entlang. Eine Biegung. Immer noch keine Spur von Licht. Nur Dunkelheit. Absolute Dunkelheit. Ronins Nackenhärchen richteten sich auf. Der Geruch verwesender Fische. Menschliche Exkremente. Irgendwo vor ihm: harte, scharrende Geräusche. Keuchen. Ein Knurren. Er erstarrte und lauschte angespannt. Mehr als eine Person; mehr als zwei. Eine genauere Bestimmung war nicht möglich. Aber das war so schon in Ordnung. Er war bereit. Adrenalin pulste durch seinen Körper. Viel zu lange hatte sein Schwert in der Scheide gesteckt. Er wollte den Kampf. Es war ihm gleichgültig, wie viele Männer da vorne auf ihn warteten. Er setzte sich wieder in Bewegung. Schatten. Bewegungen. Weiße Augen richteten sich auf ihn. Rasch zählte er, denn er wußte, daß er einen Herzschlag später bereits keine Zeit mehr hierfür haben würde. Ein Mann lag am Boden. Sechs Männer umringten ihn, beugten sich über ihn. Kurz glitzerte eine gekrümmte Klinge auf, sich drehend, dann war sie verschwunden, verloren in der Nacht. Ein anderes Glitzern. Feucht. Schwarz. Blut! Ronin hörte das schwache Sirren und reagierte bereits. Damit hatten sie nicht gerechnet. Schnelligkeit.
Rasend schnell federte er vorwärts und schlug zu. Ein durchdringender Schrei. Die Axt polterte auf das Pflaster. Ronin hatte absichtlich tiefer gehalten. Seine Klinge war in den Leib des Mannes gefahren. Blut pulste heraus. Der Mann brach zusammen. Ronin hetzte weiter. Ein zweihändig geführter Stoß. Die Klinge pfiff durch die Luft und traf den heranspringenden Gegner. Sie spaltete ihn von der Schulter bis zum Bauch. Wie betrunken zuckte der Bursche, er war tot, noch bevor er zuckend am Boden auftraf. Das Fieber in ihm stieg, alles um ihn herum schien langsamer zu werden, während seine eigene Schnelligkeit zunahm. Ronin sah die Axt heranflirren und wußte, daß er sein Schwert nicht mehr rechtzeitig genug hochbekommen konnte. Er ließ es fallen und riß im letzten Sekundenbruchteil die behandschuhte Linke hoch. Die Makkon-Haut absorbierte den brutalen Hieb. Der Mann keuchte verwundert. Ronin sah das Weiß seiner Pupillen aufleuchten. Furcht und Überraschung. Jetzt lachte er, ein lautes, dröhnendes Lachen, das durch die enge Gasse gellte, von Holz- und Ziegelwänden widerhallte. Sie flohen. Hastige Schritte entfernten sich. Stimmengemurmel. Fluchen. Endlich sah Ronin die Lichter der Laternen vor der Blauberggasse vor sich, am hinteren Ende der Gasse leuchten. Ronin strich über die Schuppen des Handschuhs und hob seine Klinge auf. Mit einem Ruck ließ er sie in die Scheide fahren. Er wandte sich dem am Boden liegenden Mann zu, bückte sich auf ein Knie und tastete nach der Halsschlagader. Der Mann hustete würgend. Er zitterte. Dunkelhaarig und mandeläugig war er, aber seine Gesichtszüge waren trotzdem seltsam fremdartig. Trotz des schwachen, ungewissen Lichts sah es Ronin. Gesichtszüge, die ihm auf unbestimmte Weise
vertraut vorkamen. Der Mann war mit einem engsitzenden Anzug aus mattschwarzem Stoff bekleidet. Blut quoll über seine Lippen, schwarz und naßglänzend in der Nacht. Zuckend griff eine Hand empor und umklammerte den Hals. Er hustete noch einmal Blut. Dann starb er. Ronin erhob sich, zögerte, sah auf den Leichnam hinunter, und bückte sich, einer inneren Eingebung folgend, noch einmal. Er öffnete die im Tode geballte Faust des Mannes. Ein schmales Silberhalsband lag auf der Handfläche. Etwas baumelte daran. Ronin betrachtete es nicht näher, sondern nahm es und steckte es in den Stiefelschaft. Er wußte selbst nicht, warum er das tat. Es gab keinen Grund. Er setzte sich wieder in Bewegung. Gleich darauf trat er in das Durcheinander und Flackerlicht der Blaubergstraße hinaus.
Schweigen. Die Nacht still und ruhig. Der alte Mann hatte recht behalten. Rikkagin T’iens Unterkunft war verlassen. Ronin drehte sich auf der Stufe um und sah über die Straße hinweg. Er war völlig allein. Alle waren sie fort. T’ien. Tuolin. Die Männer. Sogar der Dienstmann. Nach Kamado, nahm er an. Zu früh. Kein gutes Omen. Vielleicht hatte sich die Situation im Norden verschlimmert. Wenn sie ihm die Wahrheit gesagt hatten, und er war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie das getan hatten. Plötzlich erinnerte er sich an die seltsame Wurzel. In seiner Eile hatte er gar nicht mehr daran gedacht. Er hatte vergessen, sich ihre Geschichte erzählen zu lassen. Er zuckte die Schultern. Nun, jetzt war es zu spät. Der alte Mann hatte seinen Laden sicher längst geschlossen. Morgen, dachte er.
Morgen werde ich mich darum kümmern, bevor ich zur befestigten Stadt hinaufgehe. Er war jetzt fest entschlossen, den Rat der Stadt aufzusuchen. Und auf jeden Fall war er hungrig. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen, und da nur Reis und Tee. Er stieg die Treppe zur Straße hinunter und machte sich auf die Suche nach einem Wirtshaus.
»Jemand wird zu dir kommen.« »Aber – « »Keine Anweisungen.« »In Ordnung. Und die Bezahlung?« »Jetzt. In Silbertaels.« »Einen Augenblick – « »Du möchtest ihn sehen?« »Ja, aber – « »Dann wirst du tun, was ich sage.« Die affengesichtige Frau war in einen grünen Umhang gehüllt. Ein haarloser Mann saß an ihrer Seite. Sein Schädel war schmal, das Gesicht flach, ausdruckslos. Durch seine Nase trug er einen hellerleuchteten Ring. Scheinbar gedankenverloren zog er an einer langen, leicht abwärts gebogenen Pfeife. Die affengesichtige Frau unterhielt sich mit einem rotblonden Mann. Seine Gesichtshaut war weiß wie Milch, die Augen hell. Er saß in einer seltsam steifen Haltung am Tisch, als könne er ein Bein nicht beugen. »Das ist zuviel«, sagte er. Die Frau beugte sich vor. Ronin konnte ihre schwarzen Zähne schimmern sehen. »Denke daran, was dir das Silber erkaufen wird. Der Seercus ist selten…« Angespannt lachte
sie. »Und ich brauche dich wohl nicht an die Verbote zu erinnern. Du kannst dich glücklich schätzen. Sehr glücklich.« Sie saßen an einem Ecktisch, ganz in Ronins Nähe. Er brauchte sich nicht einmal anzustrengen, um ihre Unterhaltung trotz des dumpfen Wirtshauslärms mitzubekommen. Ronin stieß seine Reisschale von sich, hob die Stäbchen und führte den letzten Bissen gekochten Fleisches an seinen Mund. Bedächtig kaute er. Dann griff er nach dem Becher mit dem Reiswein. »Möglicherweise wird man mir an anderer Stelle einen besseren Preis machen«, sagte der Rotblonde, aber seine Stimme klang nicht sonderlich überzeugend. Die affengesichtige Frau lachte, ein leises silberhelles Klingen, überraschend zärtlich. »O ja, auf jeden Fall. Und die Grünen werden – « »Nein, nein!« stieß der Mann hervor. »Du hast mich falsch verstanden. Hier.« Er holte seine Lederbörse unter dem Umhang hervor und zählte vierzig Silberstücke auf den Tisch. Die Frau blickte ihn ernst an. Die Taels beachtete sie überhaupt nicht. Der Kahlköpfige nahm sie an sich. »Und noch einmal zehn Taels«, verlangte die Frau. Der Rotblonde starrte sie an. »Zehn… Aber du nanntest mir einen Preis – « »Die zehn Taels sind der Preis dafür, daß ich die Grünen nicht informiere.« Der Mann öffnete seine Börse ein zweites Mal, und die Frau lachte. »Der Seercus«, flüsterte sie dann. Der haarlose Mann schob die Münzen ein. Er zog wieder an seiner Pfeife. Eine Rauchwolke faserte hoch. Sie erhoben sich und gingen davon. Der Mann mit dem rotblonden Haar ließ eine zitternde Hand über sein Gesicht gleiten, griff nach der kleinen Weinflasche,
die vor ihm auf dem Tisch stand und schenkte sich einen Becher voll. Er verschüttete ziemlich viel. Zwei Männer betraten die Schänke. Sie setzten sich an Ronins Tisch. Der Wirt schlenderte herbei und nahm die Bestellung auf. Gedämpften Fisch und Wein. Ronin verlangte eine weitere Flasche Wein. Er schwieg und lauschte der Unterhaltung seiner Tischnachbarn. »… und wie sehen die Felder jetzt aus? Du mußt es wissen, du hast sie mit eigenen Augen gesehen.« »Der Mohn ist nicht gut.« Der Mann, der das sagte, kratzte sich an seiner breiten, rotgeäderten Nase. »Ah, also wieder die Roten. Dieses Mal müssen wir die Grünen einschreiben, um – « »Nicht die Roten.« Er klopfte sich den Staub aus dem Umhang. »He, was sagst du da?« Argwöhnisch blickte der Mann seinen Gefährten an. »Das ist doch nicht wieder einer deiner Tricks, oder? Du weißt, daß ich mit dir darin übereinstimme, was die Grünen anbelangt. Sie verlangen gewaltig viel… Aber wir werden noch viel mehr verlieren, wenn die Ernte vernichtet ist. Ich nehme an, daß du das kapiert hast.« »Nein, ich sage die Wahrheit.« »Nun, wer war es dann?« Der Wirt kam und brachte Fisch, Reis und Wein. Die beiden Männer schwiegen, bis er sie bedient hatte und wieder davonschlurfte. Der Mann mit der breiten Nase seufzte und goß sich Wein ein. »Ich wollte, ich wüßte es. Wirklich.« Er kümmerte sich um seinen Fisch. Dann sagte er: »Soviel ich weiß, haben sich die Roten im Norden gespalten.« Der andere lachte unbehaglich, während er Wein in seinen Becher goß. »Ich glaube kaum, daß dies möglich ist.«
»Ich habe es jedenfalls gehört.« Er begann, die Schale dicht vor die Lippen haltend, Reis in seinen Mund zu schaufeln. »Jeden Tag verschwinden mehr Kubaru, und die Ernten selbst sind nicht so ergiebig, wie sie sein sollten.« »Nun, wenn man sich nicht richtig darum kümmert – « »Ich fürchte, das ist nur ein Teil des gesamten Problems.« Er nahm einen großen Schluck Wein, vielleicht, weil er glaubte, so seine Nerven beruhigen zu können. »Es ist, als hätte sich das Land verändert. Als wäre es plötzlich nicht mehr so fruchtbar wie früher…« Er hustete heftig. Ronin hatte anfangs nur beiläufig zugehört. Er wollte die komplizierte Stadt begreifen. Unterhaltungen zuzuhören, schien ihm für den Anfang ein guter Weg, mindestens so gut wie jeder andere. Das mochte ein weiterer Grund dafür gewesen sein, dieses Wirtshaus aufzusuchen. Doch je weiter die Unterhaltung der beiden Männer voranschritt, desto aufmerksamer war er geworden. Vielleicht war dies der Anfang. Vielleicht hatte er noch weniger Zeit als angenommen. Dor-Sefriths Schriftenrolle mußte so schnell wie möglich übersetzt werden. Er durfte keine Zeit mehr verlieren… Der Stadtrat Sha’angh’seis mußte ihm helfen können, sonst… Das Gespräch der beiden Händler wandte sich anderen Themen zu. Den Preisen und dem veränderlichen Markt. Ronin bezahlte seine Mahlzeit und verließ die Schänke. In der Nanking fragte er einen Jungen nach dem Weg zur Okanstraße. Die Antwort mußte er bezahlen.
Sie war nicht da, und so wartete er. Es war schon spät. Er bat um Reiswein, und ein junges Mädchen erfüllte ihm den Wunsch. Er erinnerte sich an sie.
»Wie alt bist du?« fragte er sie, während er von den Gewürzen kostete. Sie senkte ihre bemalten Augenlider. »Elf, Sire«, hauchte sie. So leise, daß er sich anstrengen mußte, sie zu hören. Er öffnete wieder seinen Mund, und sie eilte davon. Er versuchte, sich zu entspannen, versuchte, sich auf die feinen, kaum hörbaren Geräusche raschelnder Seide zu konzentrieren, die über Satinschenkel wischte, auf die leise geführten Gespräche. Stimmen wie die murmelnde Dünung des Meeres… Das goldene Licht. Er schloß seine Augen zu schmalen Schlitzen, hörte in seinen Gedanken ein Horn ertönen, fern und einsam. Ein sanftes Lachen drang herein. Ein unterdrücktes Kichern. Düfte, die auf lauer Luft heranwehten. Eine Spur von süßem Rauch, und er dachte an die Mohnfelder. »Oben, im Norden, herrscht große Angst.« Die Stimme des Händlers hallte durch seinen Schädel. Warum? »Ronin.« Er öffnete seine Augen. Matsu stand vor ihm. Ihre Haut weiß wie Elfenbein, ihre Augen wie Oliven. Ihr Körper klein, geschmeidig. »Sie wird sehr spät kommen. Bitte erlaube mir, dich nach oben zu bringen.« Sie hielt ihm ihre schmale Hand hin. Ronin ergriff sie. Sie war fest und warm. Er stand auf, streichelte sacht über ihre Handfläche. Seite an Seite schritten sie die breiten, polierten Treppenstufen in den ersten Stock hinauf. Er fühlte ihre Nähe, stark und beruhigend. Er legte einen Arm um ihre schmalen Schultern, streichelte ihre Wange. Das goldene Licht wurde intensiver, heller, je höher sie kamen. Die winzigen Kristalle bebten, ließen nadelfeine Lichtpunkte über ihre Gesichter funkeln. Er blickte hinunter, trunken von Wein und Müdigkeit. Der große Raum lag einsam und verlassen in der Tiefe.
Goldene Sofas, niedere, lackierte Tische. Selbst die Mädchen mochten zwischenzeitlich zu Bett gegangen sein. Fleckenlos sauber war der Raum, es gab keine beschmutzten Teeschalen, nirgends Weinflecken, nirgends Pfeifenasche, nichts. Scheinbar endlos strömte das goldene Licht hinunter. Matsu zog Ronin weiter, in ihr Gemach. Sanft schloß sie die Tür hinter sich. Auf einem schwarzlackierten Tisch neben dem breiten Bett stand eine kleine Lampe. Sie zündete sie nicht an. Der Raum hatte eine hohe, gewölbte Decke. Über die Wand spannte sich eine Tapete mit Blütenmuster. Die Vorhänge vor den Fenstern waren noch nicht geschlossen worden. Ronin starrte in die Nacht hinaus. Der Mond stand geisterhaft und bleich am Himmel. Die Nacht war sternenklar. Er setzte sich auf das Bett und starrte weiterhin zum Fenster hinüber, hinaus auf den pulsierenden Teppich blauweißer, seltsam nahe wirkender Nadelköpfchen. Matsu kniete vor ihm nieder und zog ihm die Stiefel aus. Ein Teil des Himmels war heller, als wäre ein durchscheinender Schal über das Schwarze der Nacht gelegt worden; eine Lichtbrücke. Matsu entkleidete ihn und brachte ihm das Drachengewand. Er streifte es über und ließ sich in das Bett zurückfallen. Sie breitete die Decke über ihn aus. Dann kam sie zu ihm. Ihr nackter Körper zitterte vor der Kälte der Nacht, die durch das offene Fenster hereinströmte. Gänsehaut überzog ihre weiche Haut. Er legte ihren Kopf in die Höhlung seiner Schulter, streichelte über ihr Haar. Und seine Gedanken waren in weiter Ferne. Sie rauchte eine Zeitlang, und der Rauch umhüllte sie jedesmal, wenn sie tief inhalierte. Aus der Stadt, die offenbar niemals schlief, hallten Geräusche zu ihnen herauf. Weit entfernt bellte ein Hund. Von der langen Wasserfront wehte rhythmischer Singsang heran. Ganz in der Nähe klapperte etwas Metallisches auf die Pflastersteine. Schritte. Ein heiserer
Ruf. Ein Karren ratterte vorbei. Eine unmelodische Weise wurde gepfiffen. Matsus Augen trübten sich. Die kalte Pfeife glitt aus ihren Händen. Sie war an seiner Seite eingeschlafen, jetzt nah und warm, und ihre flachen, rhythmischen Atemzüge wirkten wie ein Schlafmittel auf ihn. Endlich entspannte er sich. Vorsichtig legte er ihre Pfeife beiseite. Der Mond stand riesengroß im glitzernden Quadrat des Fensters, flach und dünn wie Reispapier. Dann glitt eine Wolke vor sein Antlitz. Ronins Augen schlossen sich. Er träumte von einem Mohnfeld, das unter einem kühlen Wind wogte…
Es war noch immer dunkel, als sie ihn weckte. »Sie wird heute abend kommen.« »Es ist gut.« »Willst du, daß ich bleibe?« Ihre Stimme war ein Flüstern, wie die eines Kindes. Er sah sie an. »Bleib bei mir.« Ein geschmeidiges Rascheln. Das Kleid glitt zu Boden. Sie legte sich neben ihn. Eine Zeitlang war es still. Er lauschte dem Rascheln der Blätter draußen in den Bäumen. Schritte und gedämpfte Stimmen. Matsu zog die Decken enger um sich und Ronin. »Es ist kalt.« Ronin fühlte ihren geschmeidigen Körper und hielt sie fest. Nach einer Weile sprach sie wieder. »Kennst du Tuolin gut?« Ronin wandte ihr sein Gesicht zu. »Nicht gut, nein.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist bedeutungslos. Er wird im Kampf sterben.« Er richtete sich auf einen Ellenbogen auf und starrte sie an. »Was sagst du da?«
»Viele Dinge erzählte er Sa in den Untiefen der Nacht. Ich habe viele andere gehört. Böse Geschichten.« »Was hast du gehört?« »Die Armeen der Rikkagin kämpfen nicht mehr gegen die Roten im Norden. Ich habe gehört, daß sie jetzt Seite an Seite kämpfen… Die Gesetzlosen und das Gesetz.« »Gegen wen?« fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Andere…«, erwiderte sie, wobei sie diesem einen Wort einen seltsamen Oberton gab, als sei das nicht der Begriff, den sie gebrauchen wollte. »Wesen. Menschen, die keine Menschen sind.« »Wer hat dir das gesagt?« »Spielt das eine Rolle?« »Vielleicht. Vielleicht sogar eine große.« »Der Mann meiner Freundin ist Soldat unter Rikkagin HsienDo. Sein Sohn ebenfalls. Sie verbrachten viel Zeit im Norden, nahe Kamado. Vor drei Tagen kehrten sie nach Sha’angh’sei zurück.« Sie klammerte sich plötzlich an ihm fest, und er spürte, wie sie zitterte und mußte an die Blätter der Bäume denken. »Der Mann meiner Freundin ist jetzt blind. Seinen Sohn mußte man nach Sha’angh’sei zurücktragen. Sein Rücken ist gebrochen.« Ihre Stimme kam jetzt stoßweise. »Sie haben nicht gegen die Roten gekämpft, und sie haben nicht gegen Banditen gekämpft. Sie hatten einen anderen Feind.« Ein Frösteln durchlief sie. »Sogar die Grünen reden untereinander über die Situation im Norden.« Vor dem Fenster erschien eine dünne Linie schwachen Graus. Er hielt ihren zitternden Körper in seinen Armen und beobachtete die graue Linie, die mit quälender Langsamkeit breiter wurde, immer mehr, um schließlich die Last eines weiteren Tages mit sich zu bringen.
Sie schluchzte noch immer, deshalb sagte er: »Wer sind die Grünen?« Er wollte, daß sie aufhörte. Und er wollte es wissen. »Die Grünen…« Sie schniefte. »Du mußt sie doch gesehen haben?« »Zwei Männer in Schwarz im Eingang des Wirtshauses. Sie trugen Äxte in ihren Schärpen und verlangten vom Wirt Bezahlung. Sind sie das? Ich bin nicht sicher.« »Sie sind es«, antwortete sie. »Und sie sind das Gesetz.« Er war überrascht. »Ich dachte, das Gesetz seien die Rikkagin.« Sie schüttelte ihren Kopf. Ihr Haar fächelte über seine Wange. Die letzten ihrer Tränen glitten auf das Dunkel seines Armes. »Nein«, sagte sie leise, jetzt ruhiger. »Die Rikkagin wurden nicht in diesem Land geboren. Oh, sie sind Ursache dafür, daß es wuchs und wurde, wie es jetzt ist. Viele kommen von weit, weit her. Sie brachten ihre Legionen mit sich, um sich die Reichtümer des Landes zu erkämpfen… Die Mohnfelder, die Seidenzuchten, das Silber und weiteres. Sie veränderten das Land, verzerrten es und ebenso das Volk. Alles mußte sich ihren Zwecken unterordnen.« Sie unterbrach sich und seufzte, als wäre sie es nicht gewohnt, so viel zu reden. Ihr Kopf legte sich auf seine Brust. Er atmete ihren süßen Duft ein. Ihre Füße strichen an seinen Waden entlang. »Dies hier ist ein sehr altes Land«, fuhr sie schließlich fort. »Viele jener Leute sind noch am Leben, die die Sitten und Gebräuche der Ahnen nicht vergessen haben, die sorgfältig vom Vater an den Sohn oder die Tochter weitergegeben wurden. Ein Erbe, das uns wertvoller ist als Landbesitz oder Silber, selbst jetzt noch, im Zeitalter der Rikkagin und der Hongs.« Ihre Hand suchte die seine, eine Berührung wie von einer Feder, dennoch vermittelte sie ihm eine höchst einzigartige
Vertrautheit. »Die Grünen und die Roten liegen seit ewigen Zeiten miteinander im Krieg, wenigstens sagt man dies. Vom Augenblick ihrer Geburt an gab es Feindschaft. Jetzt versucht jeder, das Territorium des anderen zu gewinnen.« »Und der Grund dieser Feindschaft?« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Du willst es mir nicht sagen.« Überrascht blickte sie ihn an. »Nein, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht einmal, daß sie selbst es noch wissen.« Der Himmel schleuderte Perlen auf die Dächer Sha’angh’seis. Ein feiner Nieselregen ging nieder, seufzte in den Baumkronen, wehte nebelhaft durchs Fenster. Eine sanfte Morgenbrise kam auf. In der Ferne tutete ein Schiffshorn, gedämpft und melancholisch schwang der Ton heran. Sie küßte seine breite Brust, öffnete sein Gewand, streichelte ihn. »Sie sind«, flüsterte sie, »die Terroristen der Tradition.« Und dann hielt sie ihm ihren Mund entgegen. Sacht öffneten sich die feucht glänzenden Lippen…
Der Winkel war es, der den Anblick so fürchterlich machte. Matsu würgte und wandte sich ab. Ronin hielt sie, spürte, wie sich ihr Körper verkrampfte. Ihr Schock war verständlich. Der Schädel ragte in einem unmenschlichen Winkel ab… Sie schien ruhiger zu werden, und drehte sich um, sah noch einmal hin, wie um damit den Schock zu besiegen. Der Kopf hing nur mehr an einem Fetzen Haut an der Schulter. Im düsteren Licht glitzerte sie rot. Der Schrei war wie ein Dieb in der Nacht über sie hereingebrochen, Ronin war hochgezuckt, hatte sein Schwert ergriffen und war bereits unterwegs, noch bevor der grausige
Laut verebbte. Lärm. Bewegung. Überall hinter den unzähligen geschlossenen Türen. Wieder gellte der Schrei, gurgelnd, noch schrecklicher dieses Mal. Dann wurde er erstickt, gurgelnd, blubbernd. Er stürmte den Korridor entlang, zum oberen Ende der Treppe. Ein dumpfer Stoß. Er war gerade an der Tür vorbeigehetzt. Matsu eilte hinter ihm her. Mit fahrigen Fingern band sie ihre Schärpe. Ronin stoppte ab, hob sein Schwert, stieß die Tür mit seiner Schulter auf und federte in den Raum hinein. Das Fenster sah er zuerst; es lag in Blickrichtung. Außerdem wußte er, daß es außer der Tür nur noch diesen Ausgang gab. Weit standen die Fensterflügel offen. Auf einer Seite waren die Vorhänge fortgefetzt, auf der anderen flatterten sie zerrissen im Nachtwind. Auf dem Korridor waren Schritte zu hören. Er kümmerte sich nicht darum. Tief atmete er den in dem Raum herrschenden Gestank ein. Sie lag auf dem Bett, ihr Kopf unnatürlich abgewinkelt. Kehle, Kehlkopf, Halsmuskulatur – alles fehlte, war förmlich herausgerissen worden. Ausgefranste Haut. Blut. Ronin schaute in ihr Gesicht. Sa. Er drängte Matsu aus dem Raum, mußte sie zwingen, mit ihm zu gehen. Hier gab es für sie beide nichts mehr zu tun. Er schloß die Tür. »Noch nie«, flüsterte Matsu, »noch nie habe ich solch einen Tod gesehen.« Der Korridor füllte sich. Hauptsächlich Frauen. Die Männer zogen die Anonymität vor. »Hat jemand von euch Kiri gesehen?« Er begann, sich anzuziehen. Sie zog ihr Kleid fester um sich. »Die Grünen?« fragte er, weil er vollkommen sicher sein wollte.
Sie schüttelte den Kopf, das Haar wehte wie dichter Nebel um ihre Wangen, breitete sich fächerförmig aus. »Nein. Die Grünen benutzen Äxte, und – « Sie schauderte. »Und nicht… das!« Er schnallte seinen Gürtel um und ging zu ihr, zog sie an sich. Ihre blassen Hände waren kalt wie Eis. »Es ist äußerst wichtig, daß ich gehe… Daß ich jetzt gehe. Verstehst du?« Er sagte es, weil er ihre Augen sah. Ihr Blick war bewölkt wie der Himmel bei Anbruch eines stürmischen Tages. »Bist du in Ordnung? Wirst du bei den Wachen bleiben?« Er wollte sichergehen. Sie schaute hinauf in seine farblosen Augen. »Ja«, sagte sie endlich, und er glaubte ihr. »Kiri wird bald zurückkommen.« »Sag ihr, daß ich hier war.« Die Spur eines Lächelns. »Ja«, nickte sie. »Ich werde es ihr sagen.« Leise schloß sich die Tür hinter ihm.
Es war ein beunruhigender Tag: Der Himmel war bedeckt, der Regen fiel jetzt schwerer, prasselte gegen die Dächer, und er zog seinen Umhang fester um seine Schultern. Direkt über ihm bot sich das Firmament ein kleines bißchen heller, aber in der Ferne jagten dunkle Wolken dahin. Doch nicht einmal dieses Wetter konnte die Menschen schrecken. Zähe Leibermassen wälzten sich durch die Straßen. Schirme aus geöltem Reispapier und dichte Umhänge, um die Nässe abzuhalten. Ronin blieb an einem Stand in der Straße des Segens stehen und bestellte Reis und Tee. Dann fragte er nach dem direkten Weg zur befestigten Stadt. In seiner Magengrube wühlte ein nervöses Kribbeln. Er hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Er
trank seinen grünen Tee und lauschte dem einsamen Prasseln des Regens auf dem dürftigen Vordach des Standes. Nach einer Weile ging er weiter. Die Straße des Segens entlang, bis zur König-Messer-Straße. Irgendwann kam er an einem Bettler vorbei, der ausgestreckt, schmutzig, bewegungslos auf dem Pflaster lag. Erst ein paar Schritte weiter begriff er, daß der Mann tot war. T’ien hatte es ihm gesagt: In Sha’angh’sei wurde der Tod ignoriert. Meistens jedenfalls. Und das brachte ihn zu Sas Tod zurück. Das war nicht das Werk der Grünen gewesen, natürlich nicht. Er wußte es schon, bevor er Matsu gefragt hatte. Der Gestank, der noch immer in seiner Nase klebte… Ein Zeitfaktor. Selbst, wenn er das Gemach erst betreten hätte, nachdem sich der Geruch gelegt hatte, hätte er gewußt, wer sie getötet hatte. Sie war auf dieselbe Art und Weise gestorben wie G’fand in der Stadt der Zehntausend Pfade. Ein Makkon. Aber warum hatte er Sa getötet? Ronin spürte, daß es unsagbar wichtig war, dies herauszufinden. Aber die Antwort entzog sich ihm. Die König-Messer-Straße schlängelte sich in die Höhe. Die alten, verstaubten Läden standen nicht mehr so dicht an dicht, die Lücken zwischen den einzelnen Gebäuden wurden größer. Anfangs nur schmutzige Durchgänge. Doch je weiter er hinaufstieg, desto vollgestopfter waren sie mit wildem Gras, Abfällen, Fichtendickichten. Die Spitzen der Bäume schwankten im herunterwirbelnden Regen. Und – je höher er kam, desto massiver waren die Häuser gebaut. Ziegelmauern, in gutem Zustand und reich verziert. Verschiedene architektonische Baustile machten sich bemerkbar. Die Straße war jetzt gut gepflastert. Allerdings waren hier oben kaum noch Leute unterwegs. Der Weg zur befestigten
Stadt schien die einzige Gegend in Sha’angh’sei zu sein, die nicht mit menschlichen Leibern verstopft war. Es war unheimlich still. Er vermißte den Lärm und das Gedränge der Menge, das Wirbeln von sich mischenden Gerüchen, den Schmutz, das Leben und den Tod, den weiten, geheimnisvollen Schmuck der Menschheit. Und die irgendwie künstlich wirkenden Häuser beeindruckten ihn plötzlich. Matsus Worte fielen ihm ein: Sie verdrehen das Land! Denn dies hier schien ein völlig anderes Sha’angh’sei zu sein, gleichzeitig sauberer und krasser. Ihm schien es, daß hier, zwischen den mit Säulen verzierten Häusern, zwischen verziertem Stuckwerk vorragenden Baikonen und Eisengeländern die natürlichen Töne und Neigungen des Landes zurückgestoßen worden waren, an den Vorhügeln in Schach gehalten, daß hier das Brandzeichen der Rikkagin, die aus fernen Landen gekommen waren und nun hier hockten und reich und fett wurden, sehr deutlich zu erkennen war. Er schritt die letzte Anhöhe der Straße empor und trat in den kalten Schatten der befestigten Stadt. Die Mauer war etwa sechseinhalb Meter hoch, aus gelben Steinblöcken errichtet, die so geschickt zusammengefügt worden waren, daß er kaum einmal eine Ritze ausmachen konnte. Schwere Metallportale standen offen, jedoch versperrte ein Gittertor den Eingang. Direkt dahinter standen Männer mit weiten schwarzen Beinkleidern und purpurnen Steppjacken. Sie waren ohne Ausnahme mit einschneidigen Krummschwertern und Wurfäxten bewaffnet. Ihr langes, eingefettetes Haar trugen sie zu Zöpfen geflochten. Ein untersetzter Bursche mit einem flachen, nichtssagenden Gesicht und breiter Nase kam heran und öffnete das Tor. »Warum bist du in die befestigte Stadt gekommen? Solltest du gar ein neuer Kompradore sein?«
Ein anderer Mann schlenderte herbei. Genießerisch zog er an der Pfeife; eine Wolke süßen Rauchs umwehte seinen Schädel. Aus halb geschlossenen Augen heraus betrachtete er Ronin. »Ich habe vor, um eine Audienz beim Stadtrat zu ersuchen«, sagte Ronin gedehnt. Der flachgesichtige Mann lachte schallend und ging davon. »Sie werden dich nicht vorlassen«, meinte der andere und zog an seiner Pfeife. »Warum nicht? Ich komme in einer äußerst dringenden Angelegenheit.« Rauch wirbelte hoch, und der Mann drehte sich träge und deutete auf die Bäume, die in dichten Reihen von ihnen fortführten, die stillen Alleen säumten. Auf die großen Gebäude mit ihren flachen Dächern, terrassenförmig hochsteigend, mit sorgfältig gepflegten Vorgärten. »Hier leben die dicken Hongs und die hageren Funktionäre von Sha’angh’sei. Hier vergrößern sie ihre Vermögen, ungesehen, in Anonymität, und, für einen gewissen Preis, sicher.« »Sicher – wovor?« Die schwarzen Augen richteten sich auf Ronin. Ein unnachgiebig harter Blick. »Sicher vor Sha’angh’sei«, sagte er leise. »Der Stadtrat ist für niemanden zu sprechen, mein Freund. Für überhaupt niemanden.« Der Regen prasselte herunter. Die Alleen waren glitschig vor Nässe, die Pflastersteine glänzten trübe. Die Baumkronen rauschten im Wind, warfen Feuchtigkeit herunter, und irgendwo sang süß ein Vogel, schützend von braunen Zweigen und grünen Blättern verhüllt. »Wo ist das Ratsgebäude?«
Der Mann mit den dunklen Augen seufzte. »Geh die Allee links entlang. Die zweite Abzweigung.« Er trat in den Schutz des Vordaches zurück.
Die Echos von Schritten auf Marmor. Das leise Seufzen. Das verlängerte Säuseln von geflüsterten Gesprächen. Das leise Klicken von Stiefelsohlen. Die Halle war kalt, und, abgesehen von den in regelmäßigen Abständen aufragenden Säulen, bar jeder Ausschmückung. An einer Wand entlang verliefen marmorne Bänke ohne Lehne. Die Halle warf seine Schritte zurück. Er ließ sich trotzdem nicht beirren. Gebeugte, in sich zusammengesunkene Menschen kauerten auf den Bänken. Eine eigenartige Atmosphäre herrschte. Es schien, daß sie schon lange hier waren, daß sie den Zweck ihres Kommens vergessen hatten. Erwartung war vor langer Zeit vergangen. Vor ihm ein mächtiges Pult. Ebenfalls aus Marmor. Geschwungen, dick, massiv, ein mächtiger Schutzschild für die Frau, die hinter seiner beeindruckenden Fassade saß. Obwohl sie das schwarze Haar und die Mandelaugen der Einheimischen von Sha’angh’sei hatte, war ihr Gesicht weniger fein geschnitten. Fremdes Blut pulste in ihren Adern. Ihre Augen waren hell, das Kinn breit, kantig. Es gab ihr einen Ausdruck von Stärke. Entsprechend sprach sie. »Ja, Sire? Laß mich dein Begehr hören.« Eine lange Namensliste lag vor ihr. Sie war im Begriff, den dritten Namen von oben her durchzustreichen. »Ich suche Audienz beim Stadtrat von Sha’angh’sei.« Der Federkiel tauchte in das Tintenfaß. »Ja?« »Ich komme in einer Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit.«
Erst jetzt sah sie hoch. »Tatsächlich?« Ein bezauberndes Lächeln huschte auf ihr Gesicht. »Ich fürchte, es wird dir nichts nützen.« »Ich bin sicher, wenn der Rat hört – « »Verzeih, aber du scheinst nicht zu verstehen…« Sie trug eine eng geschnittene, grüngoldene Steppjacke, die ihre vorspringenden Brüste und die schmale Hüfte auf eine äußerst sinnliche Art betonten. Ihre Saphirnägel zupften an der Jacke. »Es bedarf eines Termins, will man vor den Stadtrat treten. Es wird viele Tage dauern.« »Ich glaube, daß dir der Ernst der Lage nicht bewußt ist«, sagte Ronin kalt, aber er kam sich dabei ziemlich dumm vor. Die Frau seufzte und schürzte ihre Lippen. »Sire, jeder, der um Audienz anfragt, kommt in einer dringenden Mission.« »Aber – « »Sire, du befindest dich im Ratsgebäude der Stadt Sha’angh’sei, dem Regierungssitz ebendieser Stadt sowie eines gewaltigen Teils der näheren Umgebung. Die Verwaltung ist eine höchst komplizierte und problembeladene Aufgabe. Kannst du das verstehen?« Sie beugte sich vor, und ihr Gesicht war angespannt. »Sollte dies nicht der Fall sein, so will ich dir sagen, daß diese Stadt zahlreiche Bewohner ernähren und beherbergen muß, ebenso die umliegenden Gemeinden. Und es muß sich um die ständige Flut der Flüchtlinge aus dem Norden gekümmert werden.« Sie warf ihre Schultern zurück; beinahe eine herausfordernde Geste. Sie zeitigte eine doppelte Wirkung. Sie versteht ihre Arbeit, dachte Ronin. »Der Hafen von Sha’angh’sei ist Hauptumschlagplatz eines Großteils aller Rohmaterialien, die die Menschen des Kontinents ernähren. Und es bedarf mehr als einer Vollzeitaufgabe in diesen schlimmen Zeiten, den Betrieb der Stadt in Gang zu halten.«
Ihre Hand fuhr hoch, wischte eine widerspenstige Haarsträhne zurück. »So«, sagte sie dann, »jetzt magst du verstehen, warum wir nicht zulassen können, daß der Rat gestört wird. Würde jedem, der dieses Gebäude betritt, eine sofortige Audienz gewährt – wie sollte diese Stadt funktionieren?« Tief holte sie Atem und lehnte sich in ihren Sessel zurück. Ihre Brüste schwangen ihm entgegen, ein unfeines Angebot des Trostes. Ronin starrte in ihre Augen. »Ich muß den Rat heute sehen. Jetzt.« Er erwartete nicht, sie damit einschüchtern zu können, und er täuschte sich nicht. Sie schnippte mit den Fingern, und zwei mit Äxten und Krummdolchen bewaffnete Männer erschienen. »Wäre dir geholfen, wenn ich deinen Namen ebenfalls auf die Liste setze?« fragte sie süßlich. Starr war ihr Blick auf ihn gerichtet. In der Tiefe funkelte ein Lächeln. »In Ordnung«, sagte Ronin und nannte seinen Namen. »Ja«, meinte sie, während sie schrieb. Die Feder bewegte sich. Dann lehnte sie sich zurück, ihre rosa Zunge irrte einen Moment lang über ihre Lippen. »Das ist sehr vernünftig.«
Der Regen schien schwerer auf die Erde herunterzuprasseln. Die Männer hockten unter dem Dachvorsprung um einen Ziegelherd. Flammen prasselten und versprühten Funken. Sie tranken Reiswein. Ronin näherte sich ihnen. Der Mann mit den dunklen Augen blickte ihn durch den Pfeifenrauch hindurch an. Die anderen ignorierten ihn. Ronin trat unter den Vorsprung und schüttelte den Regen von seinem Umhang. »Du hattest recht. Der Rat war nicht zu sprechen.« »Es war vorhersehbar«, meinte der Mann. »Bedauerlich, aber was kann man schon tun?«
Ronin hockte sich neben ihn. Niemand bot ihm Wein an. »Ich muß hineinkommen. Und es muß einen Weg geben…« Der Flachgesichtige blickte zu ihm herüber. »Wirf ihn hinaus, T’ung«, sagte er zu dem Mann mit den dunklen Augen. »Warum verschwendest du deine Zeit mit ihm?« »Vielleicht, weil er nicht aus Sha’angh’sei ist«, meinte T’ung. Er wandte sich an Ronin. »Und die Bezahlung?« Der Flachgesichtige knurrte verständnisvoll. Ronin hob den Geldbeutel hoch und ließ das fette Klirren der Kupfermünzen für sich sprechen. T’ung faßte die Börse ins Auge und verzog seinen Mund. »Mhh, viel zu wenig, fürchte ich.« Sein Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Nicht annähernd genug.« »Was verlangst du noch?« »Was hast du außer diesem Beutel?« Ronin sah ihn an. »Nichts.« »Das ist sehr bedauerlich.« »Warte. Vielleicht gibt es da doch noch etwas, das dich interessieren könnte.« Seine Rechte fuhr in den Stiefelschaft. »Eine Silberkette.« Ronin zog die Kette, die er dem Toten abgenommen hatte, heraus. Die silberne Blüte glühte im diffusen Licht. Er reichte sie T’ung. Trübselig prasselte der Regen auf das Vordach, ließ die Blätter auf den Bäumen zu seinem Rhythmus tanzen. T’ung saß sehr still und starrte auf die Silberblüte. Als er sie drehte, flammte sie orangefarben auf. Der Feuerschein flirrte darauf. Langsam legte er seine Pfeife nieder. »Wo hast du sie her?« »Was?« Ein kurzes Blitzen in der Dunkelheit. »Sag es mir!« Schwarzes Blut. Die silbern aufblühende Klinge, die auf ihn zuraste.
»Eine Antwort! Ich will eine Antwort von dir!« Die Stimme wurde rauh und unangenehm. Köpfe drehten sich. Der Flachgesichtige erhob sich. Zu spät, dachte Ronin wild. Er federte hoch, starrte auf die Axt, die an T’ungs Seite hing. Grüne! Der Flachgesichtige sah die Silberblüte. Seine Hand fuhr an den Axtgriff. T’ung stand ebenfalls auf. Die anderen Männer waren alarmiert. Sie setzten ihre Tassen und Pfeifen ab und kamen heran. Ronin entfernte sich rückwärts gehend. Er dachte: Ich bin ein verdammter Narr! Die Kälte soll mich holen. Grüne haben den Mann getötet! T’ung stand zwischen ihm und dem offenen Tor. Dahinter lockte das wimmelnde Sha’angh’sei – wie eine süße Belohnung. T’ung zog die Axt aus dem Gürtel. Und die anderen kamen näher. »Tötet ihn!« befahl der Flachgesichtige. Er kauerte sich nieder, hoffte, daß ihn das Gestrüpp ausreichend genug verbarg. Keuchend atmete er. Der Regen prasselte auf ihn herunter. Er lauschte, achtete konzentriert auf die Geräusche, von denen er wußte, daß sie kommen würden. Aber er konnte nur das Rascheln des durchnäßten Laubs hören. Der Himmel war fast verschwunden. Der Regen peitschte in sein Gesicht. Ronin wischte ihn fort. Dann hörte er die Geräusche. Schritte. Stimmen. Das Klirren von Waffen. Blitzschnell hatte er sich entschieden. Die Axt sauste auf ihn herunter. Er wußte, daß sie von ihm erwarteten, daß er seine Klinge blankzog, sich verteidigte, sich zurückzog. Er tat es nicht. Blitzartig war er vorgeschnellt, gegen T’ung gekracht. Mit dem Unterarm hatte er dessen Axt beiseite gefetzt. T’ung war gegen die Wand zurückgeschmettert worden. Der Weg war frei.
Ronin hetzte los. Durch das Tor. In unregelmäßigem ZickZack durch den Regen, sich der mit Äxten bewaffneten Gegner in seinem Rücken brennend bewußt. Sie verfolgten ihn. Der Flachgesichtige brüllte Befehle. T’ungs Stimme, seltsam ruhig und fern. Und er hörte, wie das Keuchen näher kam. Der Flachgesichtige holte auf. Er brauchte ihm nicht auf dem ZickZack-Kurs zu folgen. Ronin kreiselte herum, zog seine Klinge. Der Flachgesichtige war flink, aber er war auch wütend, und das mochte helfen. Ronin griff an. Er rutschte aus. Idiot! Der Flachgesichtige grinste. Mühelos wich er Ronins Schlag aus. Und kam näher. Seine Axtklinge blitzte, ein nebelhafter Schemen im Regen. Ronin riß seinen Oberkörper zurück. Dennoch war er nicht schnell genug. Mit sengender weißer Hitze fraß sich die Klinge in seinen Arm. Ignorieren. Er schwang seine eigene Klinge in einem Rückwärtsbogen, und der Grüne, nicht an doppelschneidige Waffen gewöhnt, reagierte zu langsam. Ronins Klinge erwischte ihn, fuhr tief in seinen Arm. Der Flachgesichtige schrie, sein Körper zuckte, die blutige Axt entfiel seinen zitternden Fingern. Ronin drehte die Klinge, riß sie zurück. Mit einem ekelhaften Laut fiel der Arm zu Boden. Der Grüne klappte wie eine Papierpuppe zusammen. Regen spülte über das aus der Wunde strömende Blut. Die anderen kamen. Ronin hetzte weiter, die KönigMesser-Straße entlang… Und jetzt kamen die Schritte näher, trotz des Regens deutlich hörbar. Stiefelsohlen scharrten auf dem Pflaster, Rufe hallten. Ronin drückte sich noch tiefer in das Gestrüpp. Sekunden vergingen quälend langsam. Er riskierte eine Bewegung, um sich kurz zu orientieren. Von T’ung geführt, schwärmten die Grünen aus. Einer kam direkt auf sein Versteck zu.
Der Regen verzierte die Blätter mit Perlen und Silberstreifen. Sie zitterten vor seinem Gesicht. In den Zweigen über ihm flatterte ein Vogel. Ein Knirschen. Das Geräusch war sehr nahe gewesen. Er spürte die Gegenwart des Grünen. Nur durch einen dürftigen Vorhang grüner Blätter waren sie voneinander getrennt. Ronin hielt seinen Atem an. Vielleicht – Nein, die Zweige wurden geteilt. Ihm blieb keine Wahl. Behutsam legte er sein Schwert auf den Boden. Dann zuckten seine Hände vor. Er bekam den Grünen an der Kehle zu fassen und riß ihn in das Gestrüpp hinein. Der Mann hatte keine Chance. Ronin preßte ihm den Unterarm gegen die Luftröhre, bis sich die Augen des Grünen nach oben drehten. Ohne einen Laut von sich zu geben, erschlaffte er, das Gesicht käsig weiß. Ronin erstarrte, lauschte. Das feine Lied des Regens. Er zog den Grünen weiter in das Gestrüpp hinein, dann glitt er wieder nach vorn, dorthin, wo er sein Schwert abgelegt hatte. Er wischte es ab und steckte es in die Scheide. Erneut versank er in dumpfe Bewegungslosigkeit. Er wartete. Irgendwann konnte er sicher sein, daß die Grünen zum Tor zurückgegangen waren.
Der Regen hatte aufgehört, als er die untere Stadt erreichte. Die Läden von Sha’angh’sei wuchsen überall um ihn herum empor, Menschen drängten sich in den Straßen und Gassen. Ronin schob sich durch die Menge. Sein linker Arm war blutgetränkt, und die Schmerzen pulsierten unablässig gegen seinen Geist. Er kam an einer großen Menschengruppe vorbei. Die Leute trugen eilig geschnürte Beutel über den Schultern. Ihre Füße
waren nackt, schlammverschmiert. Soldaten wiesen sie zu einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Flüchtlinge«, antwortete ein Soldat auf Ronins Frage. »Sie sind vor den Kämpfen im Norden geflohen.« Eine zerbrechlich wirkende Gestalt brach zusammen. Das Gesicht krachte in eine Pfütze fauligen Wassers. Niemand achtete darauf. Ronin eilte zu der reglosen Gestalt. »Der ist nicht mehr zu helfen«, kommentierte der Soldat. Ronin kniete sich neben sie hin und drehte sie um. Behutsam wischte er den Schlamm aus dem hageren Gesicht. Die Augen waren geschlossen, der Mund schlaff verzogen. Es war eine Frau, jung und immer noch schön, trotz des nahen Hungertodes. Ronin stieß ihren weitkrempigen Hut zurück, betastete ihren Hals. Er öffnete ihren Mund und stieß langsam, tief seinen Atem hinein. Der Soldat schlenderte herbei. Die meisten Flüchtlinge waren inzwischen hineingepfercht. »Das kannst du dir sparen«, sagte er und biß in den Zuckerrohrstab, den er in der Linken hielt. »Die ist hinüber.« »Unsinn!« versetzte Ronin. Der Soldat lachte, ein finsterer und übler Ton. »Sie ist weniger als wertlos.« Er räusperte sich, spuckte aus. »Es sei denn, dir fehlt das Geld für eine Frau. Aber sie scheint eine armselige – « Ronin erhob sich, die Hand am Schwertgriff. Die Kiefer zusammengepreßt, die Muskeln angespannt, starrte er dem Soldaten in die Augen. »Still jetzt!« sagte er dann, und seine Stimme war wie das Pfeifen einer heruntersausenden Stahlklinge. Der Soldat wog seine Chancen ab. Man sah es ihm deutlich an. Sein Blick irrte seitlich weg, suchte nach den Kameraden.
Aber die waren ebenfalls in dem Haus verschwunden. Er war allein. Das mochte den Ausschlag geben. »Schon gut«, räumte der Soldat ein. »Mach was du willst. Es geht mich nichts an. Sollen sich die Grünen darum kümmern.« Er wandte sich ab, schritt zu dem Gebäude hinüber, in das die Flüchtlinge eingewiesen worden waren. Die Frau atmete jetzt in flachen Zügen, aber ihre Augen waren noch immer geschlossen. Sie war ernstlich verletzt oder krank, vielleicht gar beides. Er konnte sie nicht einfach hier liegenlassen. Er hatte ohnehin vor, den Apotheker aufzusuchen. Vorsichtig nahm Ronin die zerbrechliche Gestalt hoch und setzte sich in Bewegung. Er tauchte in den drängenden, schiebenden, stoßenden Menschenmassen unter.
Der riesige Krug pendelte im schwächer werdenden Tageslicht, die Ketten quietschten. Der Staub, der im Laden allgegenwärtig war, schien noch dicker zu liegen als gestern. »Ah«, rief der alte Mann ohne große Überraschung aus. »Du hast dich also doch für die Gasse entschieden.« Ronin setzte die Frau auf einem Schemel ab. Der Apotheker kam hinter seiner Theke hervor. Er trug ein gelbes Seidengewand, einer Tunika ähnlich, mit weiten Ärmeln. Dazu Sandalen. Zuerst sah er Ronin an, dann die in sich zusammengesunkene Frau. »Sie stammt nicht aus Sha’angh’sei – « »Ja, das kann ich wohl sehen.« Geschickt begann er, sie zu untersuchen. »Von einem Soldaten erfuhr ich, daß sie aus dem Norden kommt. Geflohen.« Der alte Mann nickte. Behutsam berührte er ihr Gesicht, dann richtete er sich auf, kehrte hinter die Theke zurück und holte einige Pulverpäckchen hervor. Den Inhalt, rot, grau, golden,
schüttete er in ein Gefäß und mischte ihn sodann mit einer milchigen Flüssigkeit. Dann schob er es zu Ronin hinüber. »Das soll sie trinken.« Er drehte sich um. »Du wirst sie mitnehmen?« »Ja. Ich bin sicher, daß sie sich im Tencho um sie kümmern werden.« Der Apotheker blickte ihn seltsam an, dann nickte er. Ronin drückte ihr Kiefergelenk, und der Mund klaffte auf. Behutsam bettete er ihren Kopf in seine Armbeuge, bevor er ihr den zähflüssigen Brei einflößte. Der Apotheker kehrte aus den modrigen Tiefen des Ladens an seine Seite zurück und untersuchte Ronins Arm. Geschickt legte er ein quadratisches, gesalbtes Polster auf die Wunde und verband sie mit einem sauberen weißen Tuch. Abschließend goß er eine klare Flüssigkeit darüber, die rasch einsickerte. Einen Moment lang wurden die Schmerzen besonders stechend. Dann waren sie, beinahe schlagartig, verschwunden. »Erzähle mir von der Wurzel«, bat er. Der Apotheker richtete sich auf. »Die Legende sagt, daß sie von einem Krieger gefunden wurde. Der größte Krieger eines inzwischen längst toten Volkes. Er langweilte sich und ritt aus. Seine Geschicklichkeit im Kampf war so groß, daß es niemanden gab, der gegen ihn bestehen konnte, und deshalb blieb ihm sein größter Wunsch, die Bezwingung eines mächtigen Gegners, versagt.« Der Apotheker legte ihm einen weiteren Verband an. »Als der Abend nahte«, fuhr er fort, »kam er auf eine Lichtung in den tiefen Wäldern seines Landes. Ein bleicher Mond strahlte sanft am hohen Himmel, und – das milde Licht fiel auf die Wurzel. Die Lichtung war recht groß, und als der Krieger abstieg, stellte er fest, daß rissige, verwitterte Steinplatten in den Boden eingelassen waren, als wäre dieser Ort eine alte Grabstätte.
Der Krieger begab sich also zu der Wurzel und zog sie aus dem Boden. Ein wilder Heißhunger befiel ihn augenblicklich, und so schnitt er ein Stück von der Wurzel ab und verspeiste es.« Der Apotheker räusperte sich. Ronin starrte ihn an. »Und?« »Der Krieger, so weiß die Sage weiter zu berichten, wurde mehr als ein Mensch.« »Ein Gott?« »Vielleicht.« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Wenn du so willst. Es ist nur eine Legende.« »Keine angenehme, sagtest du gestern.« »Ja, das stimmt.« Der Alte blinzelte, und seine Augen wirkten mit einem Mal riesengroß. »Der Krieger wurde in der Tat mehr als ein Mensch, gleichwohl aber auch zu einer Gefahr für die alten Gesetze, da es jetzt gewiß niemanden mehr gab, der gegen ihn bestehen konnte. Deshalb wurde ein furchtbarer Gegner auf ihn gehetzt. Der Dolman.« Der Schwindelanfall war so brutal, daß er eine Sekunde lang glaubte, der Fliesenboden wäre in einen Fluß verwandelt. Er mühte sich ab, seinen Atem zu kontrollieren. Irgendwo das Echo hektischen Gelächters. »Der Dolman… Was ist das für ein Wesen?« Es klang wie die Stimme eines anderen, weit entfernt, undeutlich. »Der älteste der Alten. Die Urängste des Menschen. Die Schrecken eines Kindes, das in der Nacht allein ist und sich fürchtet. Ein Alptraum, dessen Zügel freigegeben wurden, real geworden, substantiell.« Ein trockener Wind im Kern seines Seins. »Unmöglich…« Lediglich ein Flüstern im betagten Staub. »Eine äußerst gewaltige Schöpfung.« »Woher stammt er?«
»Vielleicht aus der Wurzel?« »Und die Wurzel? Woher stammt sie?« »Die Götter selbst können es nicht wissen – «
»Sie wünscht dich zu sehen.« »Gut, so ist sie also zurückgekehrt.« »Sie bittet darum, daß du auf sie wartest. Hier.« Matsu hielt ihren Blick auf den Boden gesenkt. »Wirst du heute nacht bei mir bleiben?« »Ich kann nicht.« Die Stimme war kaum ein Flüstern. Er versuchte, ihren Blick zu finden. »Yung wird dir Wein bringen.« Sie verneigte sich vor ihm, eine seltsam formelle Geste. »Matsu?« Sie ging davon. Tauchte ein in das leise Stimmengewirr, in das feine silberhelle Lachen, das goldene Licht. Die anderen Mädchen kümmerten sich nicht um sie. Diese Leute sind mir schließlich doch noch ein Rätsel, dachte Ronin. Er fand einen leeren Sessel und ließ sich müde hineinfallen. Gleich darauf brachte ihm die kleine Yung einen Krug Wein und Becher. Sie kniete sich an seiner Seite nieder und füllte einen Becher. Schweigend reichte sie ihn heran. Er trank, und sie entfernte sich. Wärme glitt durch seine Kehle, und er genoß sie. Er kostete alle Gewürze, und ihm fiel ein, daß er heute noch keine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte. Erinnerungen keimten auf… Der Apotheker, der sich wieder der Frau zuwandte, während er, Ronin, seine Klinge blankzog. Er schraubte den Griff ab und zog dor-Sefriths Schriftenrolle aus dem Versteck. Erneut
studierte er die Schriftzeichen. So oft hatte er das schon getan. Nichtssagend starrten sie ihn an. Er drehte sich um. Offenbar hatte der alte Mann eine Wunde entdeckt. An der Innenseite des Oberschenkels legte er einen Verband an. »Du darfst die Verbände nicht wechseln. Nicht einmal, wenn sie schmutzig werden sollten. Es ist Medizin darunter.« Im gleichen Augenblick erblickte er die Schriftenrolle und schüttelte seinen Kopf. »Weißt du, was das hier ist?« Er sah weg. »Ich kann dir dabei nicht behilflich sein.« »Du hast dir die Zeichen nicht einmal angesehen.« Ronin hielt ihm die Rolle hin. »Sie haben nichts zu sagen.« Ronins Augen loderten. »Die Kälte soll dich holen! Natürlich haben sie etwas zu sagen! Du weißt vom Dolman, du als einziger aller Leute, die ich in Sha’ang’sei getroffen habe. Du weißt, daß er existiert, also mußt du auch wissen, daß er in die Welt der Menschen zurückzukehren trachtet!« Die alten, müden Augen starrten ihn ausdruckslos an. Verzweifelt sagte Ronin: »Seine Sendboten streifen bereits durch die Straßen der Stadt. Der Makkon hat heute morgen getötet!« Ein schwaches Zittern im Mundwinkel des Alten. Er schien im Begriff, vor Jammer und Schmerz zusammenzubrechen. »Warum sagst du mir diese Dinge?« hauchte er mit einer Stimme, die von Furcht und einer anderen, unbestimmbaren Regung spröde war. »Es gibt keinen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht gelitten habe; und ich sah viele Tage. Ich wünsche mir nur mehr ein Ende des Leids.« »Willst du, daß die Menschheit untergeht?« schrie Ronin, plötzlich wütend. »Wenn du trotz deines Wissens schweigst, wirst du zum Verbündeten des Dolman!«
»Ein neues Zeitalter dämmert herauf. Der Mensch muß sich um sich selbst kümmern.« »Bist du kein Mensch?« »Ich kann dir nicht helfen. Ich kann diese Schriftzeichen nicht lesen.« »Sag mir, wer es kann.« »Wahrscheinlich überhaupt niemand… Aber ich sage dir: Es ist wahr, der Dolman kommt tatsächlich, und dieses Mal mag die Welt zur völligen Vergessenheit zermalmt werden… Der Dolman ist der Zerstörer allen Lebens, ein Krieger, der einer Macht außerhalb jeder Vorstellungskraft gebietet. Schon formieren sich seine Kräfte im Norden… Ah, ich sehe, daß du dies bereits geahnt hast. Gut. Nun geh. Nimm die Frau mit dir und sorge gut für sie. Denke an das, was ich dir gesagt habe. Das ist alles, was ich für dich tun konnte.« Doch was sollte er jetzt tun? Der Stadtrat von Sha’angh-’sei war momentan unerreichbar für ihn. Kiri war seine einzige Hoffnung. Sie kannte viele Leute. Auch einflußreiche Leute. Das Tencho war für die Reichen und Mächtigen. Und darunter waren, ohne Zweifel, auch mehrere Beamte des Rates. Hier konnte er seinen Hebel ansetzen. Wenn Kiri einverstanden war, ihm zu helfen. Er mußte sie fragen. Die Zeit wurde knapp. Mit jedem vergehenden Tag reichte der kalte Schatten des Dolman tiefer in den Kontinent der Menschen hinein. Seine Legionen formierten sich. So wartete er auf sie, wie sie ihn gebeten hatte, ausgestreckt in dem bequemen Plüschsessel. Er trank viel. Yung hatte ihm bereits den dritten Krug gebracht. Seine Gedanken trieben dahin, während er die Menschen um ihn herum beobachtete. Die an ihm vorbeigehenden Frauen waren bunte Schilfrohre, pastellfarben und schlank, sie bogen sich, und die Gewänder fielen in vollkommenen Falten zu Boden und raschelten im sanften Wind. Fächer und lange Augenlider flatterten wie
nervöse Insekten in den weiten Strahlen der Sonne am feuchten Ende des Tages, wenn sie der regungslose Wasserspiegel erstrahlen läßt. Gelassene, ovale Gesichter. Fließende Haarsträhnen. Die sagenhaften Blüten unmöglicher Blumen. Geheimnisvoll. Erotisch. Zwei gertenschlanke Mädchen kamen zu ihm und baten ihn, ihnen zu folgen. Er wurde gebadet und neu gekleidet, und er wußte plötzlich, daß an diesem Abend noch etwas Besonderes geschehen würde.
»Bin ich des Wartens nicht wert?« fragte sie ohne Scheu. Sie trug ein formell wirkendes Kleid aus reicher, purpurner Seide wie ein pflaumenfarbener Sonnenuntergang mit Fäden aus blassestem Taubengrau, die zu einem Muster sich öffnender Blumen gewoben waren. Ihre Lippen sowie die langen Fingernägel waren purpurn, und in ihrem Haar trug sie eine Amethystnadel in Form eines fantastischen geflügelten Tieres. In ihren außergewöhnlichen, schwarzen Augen tanzten diamantene Lichtfunken. »Bist du hungrig?« fragte sie unvermittelt. »Ja, sehr.« Sie lachte, und es war, als blitze die Sonne auf einer entblößten Klinge. »Nun, dann komm mit mir, mein starker Mann, und denke daran, was du gesagt hast.« Sie verließen das Haus, traten hinaus in die Nacht von Sha’angh’sei, durch feuchten, strähnigen Nebel, lavendelfarben und grau, einem Nebel, in dem tausend Augen verborgen waren, zehntausend Messer, eine Million sich bewegender Füße. Die weiten, geschwungenen Stufen hinunter. Dort wartete ein gedrungener, überdachter Wagen, eine Rikscha, wie Kiri
erklärte. Sie stiegen ein, und der barfüßige Kubaru hob die Stangen hoch und setzte sich ohne ein Wort in Bewegung. Die Laternen waren entzündet worden, ihr Licht spülte über das Gedränge der Leiber hinweg, über die Gerüche schmorenden Essens und kochenden Reises; ein gewaltiges, buntes Gemälde, auf dem, wie es schien, sämtliche Ereignisse aller menschlichen Zeitalter in feinen Farben gemalt worden waren, zu kräftig, um Wirklichkeit zu sein. Er atmete ihren Moschusgeruch ein und wandte ihr sein Gesicht zu. Ihre Augen waren so groß, daß er sich vorstellte, ein ganzes Universum läge in ihren Tiefen. Platinfarbene Flecken irrlichterten darin. Erschrocken stellte er fest, daß ihre Augen nicht schwarz waren, sondern derart tief violett, wie er es noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Aufwärts stiegen sie, fort vom wimmelnden Hafendelta, hinauf in die höheren Bereiche der Stadt, zu den spitztürmigen Häusern, den reich verzierten Baikonen, den behauenen Steinwänden und kunstvoll gestalteten Gärten. Bäume flüsterten ihre rätselhaften Botschaften, und die Nacht wurde tiefer, als sich das intensive Licht zahlloser Laternen von ihnen entfernte, den Berghang hinunter; das rasch zurückweichende Ufer einer weißglühenden Insel, jetzt fern und unwirklich, nur mehr bewegte Spritzer auf der düsteren Oberfläche der Nacht. Nur der keuchende Atem des Kubaru, das rhythmische Geräusch seiner Schritte und, ganz leise, die sanften Laute der Nachtinsekten, eine Eule, die hoch oben in einem Baum klagend schrie. Einmal hatte er daran gedacht, es ihr zu sagen, aber das blasse Oval ihres Gesichts ließ seine Worte sich in seiner Kehle verfangen, und er schwieg und starrte auf die platinfarbenen Lichtstäubchen.
Der Kubaru hielt vor einem zweistöckigen Haus an. Dunkle Ziegel. Geschnitztes Hartholz. Säulenverziert der Eingang. Pompös. Schlanke Laternen flankierten die breite, in gelbem Metall gefaßte Tür. Ronin stieg aus der Rikscha und drehte sich um. Kiri glitt in seinen Arm. Seite an Seite stiegen sie die Stufen empor. Die Türen öffneten sich nach innen, als sie herankamen. Ein ziemlich übertrieben dramatisches Willkommen, fand Ronin. Zwei große Männer bauten sich vor ihnen auf. Beinkleider und Hemden aus schwarzer Baumwolle. Bewaffnet mit kurzen, einschneidigen Schwertern, die ohne Scheide an massiven Messingketten hingen. Ihre Augen waren schlitzförmig, die Lippen schmal, die Gesichter seltsam hundeähnlich. Sie verneigten sich vor Kiri und traten teilnahmslos zurück, boten Einlaß. Ronin musterte sie neugierig, aber sie hielten ihn nicht auf, als er an ihnen vorbeiging. Ein weiter, hoher Korridor. Im Hintergrund: Treppenfluchten, die sich in den ersten und zweiten Stock emporschwangen. Links eine Reihe geschlossener Türen. Nach rechts hin öffneten sich Schiebetüren aus geöltem, wohlriechendem Holz. Sie traten in einen großen Raum, gemütlich möbliert mit satingepolsterten Sesseln und kleinen, niederen Plüschsofas. Ein riesiger, mit wirbelnden Mustern versehener Teppich schmückte den Boden. Die hellgrünen Wände waren mit Goldschnitt verziert. Es gab keine Fenster. Annähernd zehn Leute hielten sich in dem Raum auf. Weniger als die Hälfte davon Frauen. Ein großer, schlanker Mann wandte sich bei ihrem Eintreten um, und ein seltsam weißes Lächeln teilte sein langes Gesicht. Er kam zu ihnen. Seine Augen waren rund und blaßblau, sein Haar dicht, grau und sehr lang. Wie eine Löwenmähne umrahmte es sein Gesicht. Er war in einen formellen Sha’angh’sei-Anzug
gekleidet, Beinkleider und loses, weit fallendes Hemd, darauf ein Schattenmuster von Gold auf Gold. »Ah, Kiri, sei gegrüßt!« Die Stimme war tief und schön moduliert. Wieder lächelte er, und Ronin sah den halbkreisförmigen Wulst, der, von seinem linken Mundwinkel ausgehend, am Nasenflügel endete. Eine böse Narbe. »Llowan«, sagte Kiri. »Dies ist Ronin, ein Krieger aus dem Norden.« Der Mann kehrte seinen eisigen Blick Ronin zu und verneigte sich förmlich. »Ich bin höchst erfreut, dich zu sehen.« »Llowan ist der Hafenmeister von Sha’angh’sei. Er überwacht sämtliche Transaktionen der Hafen-Hongs, erhebt die Abgaben auf jede Schiffsladung, die den Hafen erreicht oder verläßt.« Wieder erglühte das seltsame Lächeln, unnatürlich gedehnt durch die bleiche Narbe. »Du ehrst mich, Lady.« Dann, auch an Ronin gewandt: »Ihr müßt von meinem Wein kosten. Hara!« rief er einem Diener zu, und der Mann eilte herbei und brachte lange Stielgläser und Weißwein. »Entstammst du tatsächlich einer anderen Zivilisation?« erkundigte sich Llowan, während er sie zu den anderen Gästen geleitete. Ohne Ronins Antwort abzuwarten, übernahm er die Vorstellung. Nahtlos schloß sich eine belanglose Unterhaltung an. Namen fielen wie Laub im Herbstwind, und so konzentrierte er sich auf die Gesichter. Ein hochgewachsener Mann, breitschultrig, ohne erkennbares Kinn und mit so winzigen Augen, daß sie an geröstete Insekten erinnerten, wandte sich an seinen Tischnachbarn. »Rikkagin«, sagte er mit leicht erhobener Stimme. »Die Geschichten, die
aus dem Norden zu uns dringen, sind ziemlich schrecklich anzuhören. Man beginnt, sich Sorgen zu machen.« Sie saßen auf Seidenkissen um einen niederen Tisch, dessen Oberfläche auf Hochglanz poliert war. Becher mit heißem Wein und Schalen mit den unterschiedlichsten Köstlichkeiten standen darauf. Geröstete Fleischstückchen, in heißes Öl getauchter Fisch, gedünstetes Gemüse, kleine, klebrige Süßigkeiten. »Was ist damit?« versetzte der Rikkagin in einem Tonfall, der deutlich genug darauf verwies, daß er diese Angelegenheit nicht zu diskutieren wünschte. Er war ein breitschultriger Mann mit rötlicher Gesichtsfarbe. Die ebenfalls breite, rotgeäderte Nase stach förmlich hervor. Der dichte graue Bart, der um die roten Lippen gelblich gefleckt war, ließ ihn verwegen aussehen. »Du weißt, Sha’angh’sei ist eine Stadt zahlloser Geschichten, Chi’en. Die meisten sind freiweg erfunden…« »Diese jedoch halten sich beständig«, erklärte Chi’en, und seine gelben Wangen bebten. Er neigte sich auf dem Kissen zurück, ein reichverzierter Fächer wischte ihm Luft herbei. »Geschichten, um die Hongs zu verängstigen, sind leicht erfunden!« sagte der Rikkagin geringschätzig. »Sei kein ängstliches Waschweib!« Der große Mann fuhr auf. »Aber die Kämpfe sind keinesfalls – « »Mein lieber Herr…« Der Rikkagin runzelte seine Stirn, die dichten Brauen erschienen wie Donnerwolken. »Würde es den Krieg nicht geben, so wäre Sha’angh’sei noch immer ein schlammiger Pfuhl mit primitiven Papierhäusern, die beim ersten Windstoß in sich zusammenfallen, und du müßtest mit deinem Weib auf den Reisfeldern arbeiten. Der Krieg war es, der uns reich gemacht hat, und das dürfte jeder einzelne von uns wissen. Ohne ihn – «
»Du sprichst vom Krieg«, wandte ein dünner, mürrischer Mann mit dunklen Augen und kurz geschorenem Haar ein, »als wäre er ein Instrument, das man in der Hand halten und benutzen könnte, wie es einem beliebt.« Ronin überlegte einen Augenblick lang, dann erinnerte er sich an den Namen des Mannes: Mantu, ein Priester aus dem Hause Kanton. »Aber der Krieg bedeutet den Tod für Tausende von uns, und gleichwohl Verstümmelung, Hungersnot und Leiden für zahllose andere.« »Woher willst du dies wissen?« warf eine Frau mit hohen Wangenknochen ein, ebenfalls eine Hong. »Du hast dich doch nie aus der Unverletzlichkeit deiner Gegend um Sha’angh’sei fortbegeben.« »Das war auch nicht nötig«, erklärte der Priester bitter. »Ich habe genug zu tun mit den Flüchtlingen, die tagtäglich vom Norden her in die Stadt strömen und Asyl und Trost in meinem Hause suchen.« »Deine Frömmigkeit macht mich krank, Mantu!« zischte der Rikkagin. »Wo wäre das Haus Kanton ohne den Krieg? Ohne das große Leiden – wer würde kommen, eure Kathedrale zu füllen?« »Es gibt eine Tradition – « »Hör auf mit deiner Tradition!« Die Stimme war rauh. Die Gesichter wandten sich dem Mann zu, der den Satz förmlich ausgespuckt hatte. Schlank war er und muskulös, mit einem knochigen Gesicht, das von Augen beherrscht wurde, die tiefschwarz wie die Nacht waren. Dunkles, gelocktes Haar fiel auf seine Schultern nieder. Der lange, an den Seiten herabhängende Schnauzbart verlieh ihm ein finsteres Aussehen. Er war der einzige in der illustren Gesellschaft, der einfache Kleider und einen Reisemantel trug. »Deine Leute kamen vor den Rikkagin in dieses Land, das mag stimmen. Aber so sicher, wie sie den Glauben von Kanton
predigten, so sicher habt ihr meinem Volk ebensoviel genommen wie die Soldaten. Das Haus Kanton. Meine Zunge wird dick vor Wut, wenn ich gezwungen bin, diesen fürchterlichen Namen auszusprechen. Eure Religion ist nicht die Religion Sha’angh’seis!« »Po!« sagte Llowan freundlich, »deine Leute sind Händler, Nomaden des Westens.« In den trüben Augen funkelte ein düsterer Blitz. »Ihr betrügt euch selbst, wenn ihr glaubt, daß das einen Unterschied macht. Sind meine Augen nicht Chi’ens Augen ähnlich? Und meine Haut? – Hat sie nicht die gleiche Farbe wie die Haut von Li Su? Sie sind reiche Hongs von Sha’angh’sei, genau wie es ihre Eltern vor ihnen waren. Sie kommen aus dem Süden, und ihr Volk ist älter als das meine. Wollt ihr mir das wirklich weismachen? Ja?« Seine Faust donnerte auf den Tisch nieder, und der Laut war wie der Donner eines auf den Amboß niederfahrenden Hammers in dem grün-goldenen Raum. »Ich sage dir: nein! Unser Land ist unsagbar reich, und doch ißt mein Volk nur aus halbgefüllten Schalen, und nur mit viel Glück finden einige Leute hin und wieder ein paar alte Fischköpfe auf den Abfallhaufen. Tag für Tag plagen sie sich ab, um die Mohnfrucht für die Herren von Sha’angh’sei zu destillieren.« »Die Tradition des Hauses Kanton ist ohne Tadel!« versetzte Mantu belehrend. »Viele Jahre lang – « »Ohne Tadel – und fett wie die Rikkagin und die Hongs. Fett vom Schweiß unserer Arbeit!« höhnte Po. »Offenbar verstehst du die Kanton-Lehren nicht. Du bist fehlgeleitet, wie so viele…« erwiderte Mantu. »Alle Menschen sehnen sich nach Beständigkeit.« Er hob seine Hände. »Deshalb erwerben sie viele Dinge, als würde ihnen dieser Besitz wahrhaftig die Unsterblichkeit garantieren. Doch alles Leben ist vergänglich, und der Mensch, der Dauerhaftigkeit
ersehnt, unterliegt unausweichlich – und folglich leidet er. Und in diesem seinem Leiden gefangen, läßt er die ihn umgebenden Menschen leiden.« »Philosophie ist ganz in Ordnung und gut für jene, die genügend Zeit zur Hand haben, sich damit abzugeben«, sagte Chi’en gereizt. »Trotzdem sorge ich mich mehr über das, was mir zu Ohren gekommen ist. Der Krieg soll – anders geworden sein.« »Oh, Schluß damit!« sagte der Rikkagin erbittert und wischte sich durch seinen Bart. »Wenn wir schon deinem Geschwätz zuhören müssen, dann bring es am besten gleich hinter dich!« Chi’en kümmerte sich nicht um den Ausbruch. »Die Gerüchte«, sagte er bedacht, »die nach Sha’angh’sei einsickern, berichten davon, daß die Soldaten im Norden nicht mehr gegen Menschen kämpfen.« Ein kurzes, unbehagliches Schweigen baute sich auf, als sei ein ungeladener und unwillkommener Gast unerwartet mit Nachrichten gekommen, die alle fürchteten, jedoch trotzdem hören wollten. »Eine Geschichte für Dummköpfe!« stieß der Rikkagin verärgert hervor. »Aber gut, gut. Sag uns, wie diese Wesen, die keine Menschen sind, aussehen. Sag es uns. Zweifellos hast du bereits detaillierte Beschreibungen für uns.« Die Wangen des großen Mannes bebten, und seine Augenlider begannen zu flattern. »Nein, das habe ich nicht. Alles, was ich gehört habe, habe ich gesagt.« Der Rikkagin beugte sich mit einem verächtlichen Knurren vor, um ein Stück gebratenen Fisch mit seinen Stäbchen aufzunehmen. Dann seufzte er ziemlich befriedigt. »Ja, es ist immer höchst aufschlußreich zu hören, wie die Wahrheit verdreht wird, um den Bedürfnissen des Individuums gerecht zu werden – «
Po lachte, ein kurzer, beunruhigender Ton, wie das plötzliche Knacken eines Zweiges im Wald, nachdem man völlig sicher gewesen war, daß niemand in der Nähe war. Po fuhr fort: »Die Roten haben die Hilfe eines wilden Stammes gewonnen, eines nördlichen Volkes, das, so scheint es, der Frucht des Mohns verfallen ist. Wie man mir sagte, entziehen sie ihm den Sirup, gefrieren ihn und kauen ihn sodann.« »Was?« rief Li Su aus. »Ungebeizt und ungeschnitten? Das kann nicht sein! Die Wirkung wäre – « »…höchst außergewöhnlich«, räumte Llowan mit seinem weisen, schiefen Lächeln ein. »Ich glaube, in diesem Punkt stimmen wir alle überein, Godaigo.« »Eine ziemlich erschreckende Sitte, da stimme ich zu«, meinte der Rikkagin. »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Llowan, und alle lachten. Godaigo wischte seine roten Lippen an einem Seidentuch ab, das der Gastgeber zur Verfügung gestellt hatte. »Sei es, wie es ist… Interessant wäre es jedenfalls, zu wissen, wo diese Roten den Hebel angesetzt haben, um sich der Hilfe dieses Stammes zu versichern.« Er hob seine Hände. »Und ich gestehe, bis Verstärkung an Ort und Stelle ist, werden wir ziemlich belästigt sein. Aber das ist auch schon alles.« »Dennoch, die Gerüchte existieren«, warf Mantu ein. »Würden sie der Wahrheit entsprechen, so wäre das gut.« »Was sagst du da?« fuhr ihn der Rikkagin an. »Ich sage dir offen und ehrlich, daß ich die Wahrhaftigkeit dieser Geschichten begrüßen und willkommen heißen würde. Immerhin würden derartige Tatsachen ein Ende des Krieges bedeuten. Das ist es schließlich, wonach das Haus Kanton strebt.«
»Das Haus Kanton strebt nach der Herrschaft über den Kontinent der Menschen«, sagte Po schroff. »Und zweifellos wird es hierin versagen.« »Wir streben nach niemandes Herrschaft! Du redest Unsinn!« »Und die Seelen?« Der Priester lächelte gütig. »Das Leben, mein lieber Po, ist seelenlos. Die Essenz eines jeden Menschen lebt nach dem Tod des Körpers weiter, um, wie man hofft, in einen würdigeren Körper versetzt zu werden, bis das letzte Nichts erreicht ist.« »Ihren Verstand also.« Mantu lächelte und zuckte mit den Schultern. »Sollen wir über Semantik diskutieren, Händler?« »Nun«, sagte Llowan, wobei er die Diener herbeiklatschte und so versuchte, weiteren Disput zu verhindern, »ich glaube, daß es an der Zeit ist, uns dem ernsthafteren Anliegen dieses Abends zuzuwenden…« Zuerst füllten die Diener das Glas eines jeden Gastes mit einem kalten, klaren Wein. Sodann schöpften sie eine kräftige, dampfende Suppe aus Fischbrühe in große, emaillierte Schüsseln. Später wurden neue Gläser gebracht und mit einem kräftig funkelnden Wein gefüllt. Großzügig behäufte Teller mit gewürzten roten Muscheln wurden bereitgestellt. Noch immer dachte Ronin an das, was der Priester gesagt hatte. Die Diener servierten große Platten mit Fleisch in erstaunlicher Auswahl. »Mantu«, wandte sich Ronin an den Priester. »Dieses Nichts, von dem du gesprochen hast. Was genau ist das?« Der Priester musterte ihn knapp, offenbar froh über Ronins Interesse. »Es ist ein Zustand, nach dem jedermann streben muß – « »Auch Frauen?«
Mantu war sich offenbar nicht sicher, ob er es ernst meinte oder sich über ihn lustig machte. »Gewiß, auch Frauen. Theologen benutzen das Wort Mann gleichbedeutend mit Menschheit.« Sein kleiner Mund glänzte fettig. »Das Nichts ist, kurz gesagt, die völlige Auslöschung des Ich.« Ronin war ein wenig überrascht. »Willst du damit etwa sagen, daß die Individualität aufgegeben werden muß?« »Ist diese Individualität denn ein so wertvoller Besitz?« erkundigte sich Mantu. »Genaugenommen ist es nichts anderes als Landbesitz, ein Haus, Silbertaels, ein Kunstwerk, oder« – er sah Ronin direkt an – »ein Schwert.« »Aber alle diese Dinge sind materiell existent.« »Dennoch ist der Besitz nicht zu unterscheiden und muß vor dem Nichts aufgegeben werden, auf das die Ganzheit erreicht werden kann.« »Und dann?« »Nun, daraufhin die Vollendung«, antwortete der Priester ein wenig verblüfft. »Aber ich glaube, daß der Mensch nicht dazu ausersehen ist, vollendet zu sein.« Llowan lachte und schlug auf den Tisch. »Jetzt hat er dich, Mantu!« Der Priester schloß sich der allgemeinen guten Laune nicht an. Die lebhaften Unterhaltungen setzten sich fort, als die Diener stumm die Teller entfernten, nur, um sie sogleich wieder durch unbenutzte zu ersetzen. Gedämpfter und gebratener Reis wurde serviert, dazu gewürfeltes Fleisch und Gemüse. Kaum war dieser Gang beendet, wurden die glänzenden Terrinen gebracht, gehäuft mit gekochten Langusten sowie Becher mit dem traditionellen Reiswein. Ronin sah, daß Kiri ihn heimlich anlächelte. Ja, ich hatte großen Hunger, aber dies –
Er schob den Gedanken beiseite. Kiri hatte sich lange und eingehend mit Llowan und Li Su unterhalten, und er begann, sich zu fragen, weshalb sie ihn überhaupt mitgenommen hatte. Eifersucht? Vielleicht. Ihr Geflüster mit Llowan, die leichten Berührungen, das sanfte Lächeln – das alles gefiel ihm nicht. Er trank von seinem Reiswein. Kiri mochte weder Mohnfelder ihr eigen nennen noch mit Silber oder anderen kostbaren Metallen handeln – dennoch war sie eine mächtige Frau, sozusagen der führende Händler einer Ware, die oftmals wertvoller war als Rauch oder Silber oder Seide… Ob sie tatsächlich in die Geheimnisse Sha’angh’seis eingeweiht war? Wenn ja, so war sie jetzt seine einzige Möglichkeit, zum Rat vorzudringen. Aber wie er über diese Dinge nachdachte, spürte er das Nachlassen ihrer Dringlichkeit. Er starrte auf ihre ehrfurchtgebietende Schönheit, unvollkommen und deshalb ungemein erregend, er fühlte ihre Aura, und das Verlangen, sie zu besitzen, war plötzlich riesengroß. Die Diener brachten heiße, parfümierte Tücher für Gesicht und Hände und daran anschließend Schalen mit dunklem und cremigem Pudding, gelber und lockerer Eierkrem, Tabletts mit Pasteten. »Einen Krieger hat Llowan dich genannt«, sagte Po und lehnte sich zu Ronin hinüber, daß jener ihn besser verstehen konnte. »Dereinst waren auch die Leute meines Volkes Krieger.« »Was ist geschehen?« »Sehr unvorteilhaft.« Die schwarzen Augen fixierten ihn. Ronin merkte zu späte, daß man ihn köderte. Er tauchte zwei Finger in einen kühlen und würzigen Pudding. »Vielleicht waren sie damals nicht geschickt genug.« Die dunklen Augen weiteten sich, eine Sekunde lang flackerte so etwas wie Wahnsinn in den Tiefen. Ronins Finger
schlossen sich um den Griff seines Schwertes. Aber das Gesicht seines Gesprächspartners entspannte sich. Po fing an zu lachen. »O ja,«, prustete er und trank Wein. »Vielleicht könnte ich dich sogar mögen!« Er biß in eine Pastete. »Aber sag mir: wie haben meine Leute als Krieger versagt?« »Sie haben dieses Land nicht regiert«, erwiderte Ronin leise. Das Lächeln war verschwunden, und das Gesicht schien jetzt unfähig, auch nur eine Spur von Glück auszudrücken. Der Mund öffnete sich. »Ja, Krieger. Das kann ich nicht bestreiten.« Er seufzte. »Doch blieb ihnen keine Wahl. Es war nur ein kleiner Stamm aus dem Westen. Wir waren nicht stark genug.« »Aber es gibt doch viele Stämme in diesem Land?« »Viele, ja, überall verstreut.« »Die Vereinigung aller Stämme hätte ein Anfang sein können.« In den ebenholzschwarzen Augen glomm Interesse auf. »Glaubst du etwa, daß solch eine Aufgabe einfach ist? Worte! Aber man braucht – « Er unterbrach sich, kochte innerlich, ein entfesselter Sturm. Weiß und scharf traten die Knöchel an seiner rechten Hand hervor, die das Glas umklammert hielt. Als er fortfuhr, war seine Stimme nur mehr ein zischendes Flüstern, kontrolliert und gehässig: »Aber es war niemand da. Wir schrien nach unseren Göttern, erflehten Hilfe, wir opferten unsere Kinder, zerrissen uns vor Verzweiflung – und wie hat man uns geantwortet?« Das unangenehme Lachen hatte zu ihm zurückgefunden. »Sie sind gekommen. Die fremden Priester und die Rikkagin. Und zwischenzeitlich war es zu spät. Die Sklaverei erschien vergleichsweise beinahe angenehm.« Salate wurden in großen Schüsseln serviert. Sodann große Käseecken und dicke Scheiben eines schweren, aus Getreide gebackenen Brotes.
»Ja, jetzt ist es zu spät«, stellte Mantu fest. »Weil ihr nicht geschafft habt, zu behalten, was euch gehörte. Jetzt ist es unser, und es steht dir fürwahr schlecht an, anderen eure Unzulänglichkeiten vorzuwerfen.« »Still, du!« schrie Po. »In der Tat«, sagte der Priester einschmeichelnd, in dem er sich an Ronin wandte, »in der Tat eine Illustration der KantonLehren. Die Begierde eines Menschen steckt seine Nachbarn an…« »Worte!« Po spie aus. »Mein lieber Freund!« Llowan hob warnend die Hand. »Du mußt wirklich lernen, dich zu kontrollieren – « Aber der Händler war bereits auf den Füßen. Er schwankte. Ein großes, dunkles Wesen in der Nacht. »Zu lange schon haben die Fremden unser Land ausgeplündert und die Lehren unseres Volkes mit Silbertaels verdreht. Zu spät soll es sein?« Er lachte. »Jetzt! Jetzt kommt die Zeit der Vergeltung! Jetzt kommen die Tage der Finsternis, und alle Fremden sollen die Niederlage kosten, bevor sie in den Schlamm des Deltas von Sha’angh’sei gestampft werden!« Damit drehte er sich um und schritt davon. Sein Umhang wirbelte wie die Flügel eines Raubvogels hinter ihm her. »Ein verbitterter Mann«, kommentierte Mantu. »Ich nehme an, daß wir alle diesen unglückseligen Ausbruch vergessen können«, sagte Llowan. Aber Ronin beobachtete den Rikkagin, und das Feuer in seinen Augen gefiel ihm überhaupt nicht. Llowan klatschte in die Hände. Der letzte Gang des Abendmahls wurde serviert. Orangen, geschält und in Wein getränkt, Feigen, weiße Trauben sowie ein Sortiment verschiedenster Nüsse. Als endlich der letzte Teller abgeräumt worden war, wurden Pfeifen verteilt, knochenweiß, mit langen Stielen und kleinen
Köpfen. Winzige Lampen wurden neben jedem Gast zu Boden gestellt. Llowan schnitt kleine Krumen aus einem bräunlichen Würfel. Sie rauchten. Nach einer Weile schien es Ronin, als werde das Licht immer schwächer und diffuser. Mehr Frauen schienen um den Tisch zu sitzen. Er selbst inhalierte nur sehr wenig von dem Rauch; er sah den anderen zu, wie sie sich entspannten. Die Luft wurde dick und süß. Kiri teilte sich eine Pfeife mit Llowan. Noch immer flüsterten die beiden miteinander. Er lehnte sich hinüber, atmete ihr Parfüm ein, und Zorn wallte in ihm. Er ergriff ihr kühles Handgelenk und zog daran. Er hatte Widerstand erwartet, aber da war keiner. Sie glitt in seine Arme. Ihre purpurnen Lippen waren an seiner Kehle; er spürte den Druck ihrer Brüste. »Laß uns nicht zu lange bleiben«, flüsterte sie. Er war überrascht. Sie lächelte, wandte sich Llowan zu und küßte ihn sanft auf die Lippen. Wie im Traum erhob sich Ronin, und noch immer hielt er ihren geschmeidigen Körper in seinem Arm. Sie entfernten sich von den weichen Polstern, durchquerten den von süßem Rauch erfüllten Raum, und ihr Gehen blieb unbemerkt. Sie traten in die kalte, erschreckende Nacht hinaus. Tief atmete er ein und wieder aus, um seine Lungen von dem übersättigenden Duft frei zu machen, seinen Kopf klarzubekommen. Er schwitzte. War wie in Trance. Seite an Seite gingen sie den Berghang hinunter, fort von den schlanken Fichten und Dickichten gepflegter Gärten, die mit dem Zirpen unzähliger Zikaden erfüllt waren, fort von den runden, glänzenden Gesichtern, von den Lippen, die von schwerem und sprudelndem Wein und von Lust geglättet waren, fort von den goldenen Ornamenten und den gekauften Wächtern. Er schwieg.
Kurz blickte sie ihn an, als wolle sie sich sein Profil einprägen. »Du bist mir böse. Warum? Ich habe dir nichts getan.« »Warum hast du mich mitgenommen?« »Muß ich einen Grund haben?« »Ja.« »Ich wollte mit dir zusammen sein.« Er lachte kurz, und sie fröstelte. »Du hast dich ausschließlich mit Llowan unterhalten.« »Was spielt das schon für eine Rolle? Ich bin bei dir.« Einen Moment lang schloß er seine Augen und fühlte die Spannung, die zwischen ihnen entstand, zugleich unangenehm und in ihrer Vertrautheit unbestimmt beruhigend. K’reen, warum weinst du? Du weißt, daß ich das nicht mag. Oh, du blutiger Narr! Nicht wieder. Er öffnete seine Augen, merkte, daß sie ihn anstarrte. Lichter glitten über ihr Gesicht. Spiegelten sich in ihren unwahrscheinlich violetten Augen. Er lächelte. »Ja, es war dumm von mir. Mein Verstand war voll von Gedanken an andere Zeiten. Wir wollen es vergessen, ja?« Ihre Lippen öffneten sich, und sie beugte sich zu ihm. »Ja«, hauchte sie dicht an seinem Mund. Er spürte ihre Wärme. Sie gingen weiter. Ein frischer Seewind wehte zu ihnen her. Das Delta von Sha’angh’sei. Zahllose Leute. Stimmenwirrwarr. Vorbei an Verkaufsständen. Vorbei an brutal raufenden Männern. Vorbei an Betrunkenen, vorbei an Frauen mit weiß bemalten Gesichtern, langen Beinen. Vorbei an Weinverkäufern und Geldwechseln, die sich hinter den Barrieren ihrer Käfige an Straßenecken versteckten. Vorbei an marschierenden Soldaten und schreienden Hongs. Vorbei an Dieben und Taschendieben, die im Dunkel der Gassen lauerten. Vorbei an betrunkenen Krüppeln, an kämpfenden
Kindern und frühzeitig werfenden Hündinnen, an Abfallhaufen, auf denen dunkle Gestalten herumkrabbelten oder schliefen, vorbei an faulenden Leichnamen, die von der wimmelnden Menge getreten und überschritten wurden, auf die Nanking und ins Zentrum des ausgelassenen Treibens. Die breite Hauptstraße war ein Aufruhr von Farben und rasender Bewegung. »Ein Fest?« fragte Ronin. »Das Fest der Lemurin«, nickte Kiri. »Heute abend erreicht es seinen Höhepunkt.« Sie sahen sich einem riesigen Drachen gegenüber, dreifach gefärbt, der sich zu den Bewegungen der unter seiner Papierhaut hockenden Gesellen wand. Scheinbar böswillig starrte er zu ihnen her, bevor er sich abwandte und weiter stampfte. Kinder in zerlumpten Kleidern tanzten an seinen sich windenden Flanken entlang, drängten ihn weiter. Es gab mißtönende Musik, schlagend und hämmernd, und viel Geschrei, als die Leute folgten. »Diese Kreatur«, sagte Kiri an Ronins Ohr, »ist das Abbild der Lemurin, der weiblichen Schlange, die im Meer vor den Ufern von Sha’angh’sei lebt. Sie ist es, die das Wasser gelb färbt, denn mit ihrem ungeheuerlichen Körper peitscht sie den Meeresgrund, und das wirbelt den schweren Schlamm empor. Jedes Jahr wird sie, die unsere Drachentore hütet, mit diesem Fest geehrt.« »Dieses Land steckt voller Legenden.« »Ja«, sagte sie. »So ist es seit ewigen Zeiten.« Sie zogen weiter, ihr Kubaru scheinbar unermüdlich. Endlich roch er das Meer. Das Hafenviertel. Die Straßen waren rutschig von Salzwasser und Fischblut, die großen Lagerhäuser fensterlos, glänzend im Silberlicht des Mondes, der es schließlich doch noch geschafft hatte, die Wolkendecke davonzujagen. Als der Kubaru anhielt, glaubte Ronin sogar,
das Plätschern der Wellen gegen die hölzernen Kais hören zu können. Sie betraten ein stilles schwarzes Gebäude. Er schloß die Tür hinter ihnen. Kiri ging durch die pechschwarze Dunkelheit voran. Er hörte leise Geräusche, dann flackerte eine kleine Lampe auf. »Dies ist einer von Llowans Harrtin«, kommentierte sie. »Hier werden seine Produkte gelagert; und hier wohnt normalerweise auch sein Kompradore.« »So ist Llowan also auch ein Hong?« Sie lachte sanft. »O ja. Er ist Herr über viele Mohnfelder im Norden.« Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie schritten durch einen breiten Korridor und betraten einen gewaltigen Raum. »Hier«, sagte sie ruhig, »lagern Träume für zehntausend Generationen. Träume der Leidenschaft. Träume der Verzweiflung.« Sie gingen weiter. »Sieh hier«, sagte sie. »Das Büro des Kompradore. Er ist der Mittelsmann zwischen Llowan und den Schauerleuten und Kubaru. Er betreibt den täglichen Versand und überwacht die Lagerung. Eine sehr einträgliche Position.« »Und wo ist er heute nacht?« Sie drehte sich ihm zu und lächelte. »Im Tencho, mein Krieger, im Tencho.«
Das Gemach im ersten Stock des Lagerhauses erstreckte sich nahezu über die gesamte Länge des Gebäudes. Die Stirnseite bestand aus einer Reihe großer Fenster, hinter denen die gestirnte Nacht lockte. Zur linken lag die weite Fläche eines riesigen, niederen Bettes mit vielen Kissen. Rechts waren Teppiche über den
Holzboden verstreut. Ein massiger Schreibtisch nahm eine entlegene Ecke ein. Dahinter, an der Wand, war ein großer, in einen holzgeschnitzten Rahmen gefaßter Spiegel angebracht. Mehrere elastische Rohrstühle standen davor. Ronin trat an die Fenster und öffnete einen Flügel. Lautlos schwang er auf. Ronin trat auf die breite Veranda hinaus. Unter ihm das Meer: von platinfarbenem Mondlicht gesprenkelt, das von der sich hebenden und senkenden Wasserfläche zu einem Regen tanzender Scherben zerhackt wurde, so klar in der Nacht, daß es wie ein geschmolzener Pfad aussah, der sich selbst errichtete und ihn lockte, zu den fernen Gefilden des Himmels aufzusteigen, zu grenzenlosen, wirbelnden Ufern. Benommen lauschte er jetzt der Stille, die sich aus dem sanften Plätschern der Wellen gegen die Kais, dem Knarren der dunklen, sicher verankerten Schiffe, den Bewegungen jener in der Galaxis der auf den Wellen schaukelnden Tasstans schlafenden Menschen zusammensetzte. All diese jetzt vertrauten Geräusche machten ihm die absolute Fremdartigkeit der Kosmographie, die sich wie Fragmente einer zertrümmerten Welt über ihm wölbten, bewußt. Dann fühlte er Kiris Nähe hinter sich, noch bevor er die Berührung ihres Körpers spürte. Sie drängte sich gegen ihn. Die Wärme ihrer Haut strahlte durch die seidenen Kleider. Die Konturen ihrer Brüste, ihrer Schenkel. Gleichzeitig weich und fest zeichneten sie sich ab. Die Hitze. Er wandte sich um, seine Lippen fanden ihre, und ihre kleine Zunge leckte ihn. Unter ihnen: das ewige Plätschern der See. In der Ferne: das leise Singen der Kubaru, die sich bereit machten, beim ersten Licht des Tages auszulaufen, die grellen Schreie, die vom Fest der Lemurin herwehten.
Seine Fingerspitzen glitten über ihren Rücken. Tiefer. Ganz langsam. Sie zog ihn mit sich. Die Seebrise folgte ihnen bis hin zu dem großen, weichen Bett. Sanft zog sie ihn nieder. Ihr Haar schlug in sein Gesicht. Er öffnete ihr Kleid, küßte die helle, durchscheinende Haut. Sein Verlangen war gewaltig. Sie stöhnte. Und die Flut riß ihn mit sich.
Im Nachlassen der Spannung schwebend. Kiri räusperte sich. »Du hast versucht, den Rat zu sprechen.« Ihre Stimme enthielt einen leisen Unterton von Verwunderung. »Ja, heute nachmittag.« »Und du hast gegen die Grünen gekämpft. Das war sehr dumm.« Er seufzte. »Es ließ sich nicht vermeiden.« »Mußtest du einen töten?« »Ich habe mehr als einen getötet.« Sie biß sich auf die Lippen. Der Mond war verschwunden. Sie zündeten die Lampe wieder an. Eine Weile lauschte er dem Plätschern des Meeres. »Sie sind hinter dir her.« »Ich fürchte mich nicht.« Ihre Hand streichelte sanft über seine Brust. »Ich will nicht, daß du stirbst.« Er lachte. »Also werde ich am Leben bleiben.« »Man darf die Grünen nicht unterschätzen.« »Das zu tun war auch nicht meine Absicht. Aber es muß getan werden, was getan werden muß. Ich bin ein Krieger. Wenn mich die Grünen stellen, werde ich sie vernichten.«
Sie starrte ihn an, und ihr Blick war unergründlich. Er glaubte, weit draußen über dem Wasser den klagenden Schrei eines Nachtvogels zu hören. »Ja«, flüsterte sie endlich. »Ja, ich glaube, das würdest du tatsächlich.« Dann: »Ich kann mir nicht vorstellen, das jemals zu einem anderen Mann gesagt zu haben.« »Ist das ein Kompliment?« Jetzt lachte sie, ein klarer, funkelnder Tonfall, und er ergriff ihre Hand, fühlte ihre Wärme, als sich ihre Finger mit den seinen verflochten. »Warum hast du den Rat aufgesucht?« Er sagte es ihr. »Aber du glaubst doch nicht wirklich an diese Geschichten?« »Doch, Kiri, genau das tue ich.« »Aber Godaigo – « »Der Rikkagin war heute morgen nicht im Tencho. Er hat Sa nicht gesehen.« Sie starrte ihn an. »Was hat Sas Tod mit den Gerüchten von den unheimlichen Wesenheiten zu tun? Meine Männer haben die Mörder bereits erledigt.« »Mörder?« echote Ronin mit belegter Stimme. »Wen?« »Nun, eben jene Männer, die sie zuletzt besucht hatten. Aber – « »Kiri, sie wurde nicht von Menschen getötet.« Er fühlte, wie sie zitterte. Gänsehaut überzog ihre Arme. »Woher weißt du das?« »Weil ich gegen jenes Wesen gekämpft habe, das sie auf dem Gewissen hat. Es hat einen Freund von mir auf genau dieselbe Art und Weise getötet.« Sie machte sich von ihm los. »Ich kann das nicht glauben. Genauso, wie ich nicht glauben kann, daß die Kämpfe im Norden anders geworden sind…«
»Dennoch bitte ich dich, mir zu einer Audienz beim Rat zu verhelfen. Wenn du mir nicht hilfst, dann werde ich wahrscheinlich nie vorgelassen werden.« »Und warum glaubst du, daß dir der Rat helfen kann?« »Tuolin erzählte mir vom Rat.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, ganz schnell. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir beileibe nicht vorstellen, weshalb er das tat. Der Rat wird wenig – « Ronin ergriff ihre Schultern. »Kiri, es ist wichtig!« »Es gibt keine andere Möglichkeit?« »Keine.« Sie zerzauste sein Haar. »In Ordnung, mein Krieger. Morgen wirst du in den Räumlichkeiten des Rates stehen.« Er zog sie an sich und küßte sie, und er fühlte ihren geschmeidigen Körper mit einer Intensität, die ihn schier um den Verstand brachte. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten, wand sich in seinen Armen, und der Wald ihres Haares hob sich im Wind, eine zitternde Brücke zu ihren bebenden Muskeln. Die kleine Flamme der Lampe erlosch flackernd. Kiri holte etwas unter einem Kissen hervor, ihre Hand kam hoch, ein Wegweiser, lang und weiß und schlank in der Düsternis, die Nägel schwarz schimmernd wie getrocknetes Blut. Sie hielt einen kleinen schwarzen Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger, legte ihn an ihre Lippen, inhalierte und reichte ihn an Ronin weiter. Ihre Lippen flüsterten etwas. Er verstand es nicht. Tief inhalierte er den süßen Duft, der von dem kleinen Brocken ausstrahlte. Finger auf seinen Lippen. Eine kalte Empfindung. »Iß es.« Und nachdem er seinen Mund geöffnet hatte. »Vertraust du mir?« Aber das war eine rhetorische Frage, und er verspürte kein Bedürfnis, zu antworten.
Die Wärme überströmte ihn, Reibungshitze, als würde ein Satinhandschuh über gelbes Elfenbein streichen. Und Kiri flüsterte weiter. Ihre geöffneten Lippen waren feucht und glänzend, doch ihre Worte waren fern, schwach, unhörbar. In einer weit entfernten Höhle geäußert, die von hellem Licht und tierischen Gerüchen erfüllt war. Der Wind legte sich, und die Luft wurde ruhig, ihr wirbelnder Tanz verebbte. Wie ein dunkler Samtvorhang lastete die Dunkelheit der Nacht auf ihnen und nahm sie auf. Die Atmosphäre erstarrte zwischen zwei Atemzügen, und er hing in der Schwebe, lauschte dem Plätschern der Wellen, die so klar und kräftig waren wie Donnerschläge. In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Und sein Körper veränderte sich, füllte sich jetzt mit köstlicher Wärme, während die sexuelle Ekstase über ihn hinwegtobte, in sein Gehirn stach, ihn blendete. Kiris Körper bewegte sich immer wilder, ungestümer gegen ihn, ihre Kraft wurde zur außergewöhnlichen physischen Empfindung. Sicht, Gehör, Geschmack und die Visionen im Theater seines Verstandes wurden eins, während er sich ihrer als völlig voneinander getrennte Aufnahmen bewußt wurde. Und die Zeit dehnte sich, streckte sich vor ihm aus, ein neugefundener, angenehmer Freund… Er tauchte in die Tiefen der gelben, angeschwollenen See, und fühlte, wie seine Hände auf einen glatten und doch schuppigen Körper stießen. Zuckende Windungen. Triumph. Er griff hinab, packte zu und hob den Kopf in die Höhe… Kiris Gesicht. Kiris tiefviolette Augen, dunkel wie die Meerestiefen, Platinsprenkel tanzten darin. Ihr weiches Haar war wie Seetang, und ihr Gesicht so weiß wie Schnee. Visionen… Er spürte den sich windenden Körper unter sich, und er ritt die Lemurin aus den Untiefen des Sha’angh’sei-Meeres heraus,
vorbei an den schaumgekrönten Klippen, in denen das Leben wimmelte, und hinaus, fort, fort, auf den großen westlichen Strömungen, in die Tiefe. Unvermittelt kam der eiskalte Schrecken, eine Ahnung nahenden Grauens, und er wurde hochgerissen, wie ein Tier im Strudel eines Wirbelwindes. Und zum ersten Mal kannte er seinen Namen. Aus seinem Innersten, das wie ein weißglühender Stein pulsierte und dennoch bewegungslos in der Strömung dessen verharrte, was er gegessen hatte, kam der Ton: Der Dolman! Sein Ich öffnete sich. Und er fühlte ihn näher kommen! Und es war Verwüstung! Es war Vernichtung! Als übermenschlicher Beobachter sah er die Welt in Schutt und Asche liegen, verbrannt, ohne Leben, tot, vernichtet von einem Feuersturm von unermeßlicher Kraft. Der Schrecken ergriff ihn mit feurigen Klauen, und er fühlte, wie sich seine Brust zusammenzog, bis die ganze Luft aus seinen Lungen gepreßt war. Er kämpfte gegen das Kommende, fühlte sich hilflos. Hörte, was er nicht begreifen konnte. Dich! heulte der Dolman, und das Universum erzitterte. Dich. Dich! Er schrie und ruckte vom Bett hoch, kam auf die Füße, stolperte, krachte gegen die Wand. Die Fensterläden zitterten. Er war schweißnaß. Kiri eilte zu ihm, lieblich und nackt, Elfenbein und Holzkohle. Sie kauerte sich neben ihm nieder. »Es ist schon gut«, hauchte sie, da sie seine Reaktion mißverstand. »Ich habe nicht daran gedacht, daß du den Rauch nicht gewöhnt bist. Dies war viel mehr… Ich wollte dir nur Freude schenken.« Er legte seine Arme um sie, fühlte den kalten Nachtwind, der zu ihnen heranpeitschte, und er starrte zum schwarzen Nachthimmel hoch, zwang sich, tief einzuatmen, immer wieder.
»Nein, nein, Kiri«, sagte er mit dünner, angestrengter Stimme. »Ich habe ihn gespürt, mehr als ich ihn sah. Das, was du mir gegeben hast, schuf eine – eine Art Verbindung. Ich fühlte, daß der Dolman nahe ist, sehr nahe…« Seine Stimme war zu einem metallischen Flüstern in den ansteigenden Tönen des Windes geworden. »Und er ist hinter mir her!« Die Furcht hatte sich in sie hineingefressen, er sah es ihr an. Sie kleideten sich an und traten auf die schmale, glänzende Straße hinaus. Jene Zeit der Nacht war angebrochen, in der der Mond untergegangen war und die Morgendämmerung noch nicht am letzten Faden der Dunkelheit zu ziehen begonnen hatte. Es hatte angefangen zu regnen. Die Luft war schwer und von einem bitteren, lebhaften Duft erfüllt. Sie hetzten zu dem geduldig wartenden Kubaru und der Rikscha hinüber und stiegen hinein. Der Kubaru setzte sich augenblicklich in Bewegung, verfiel in seinen geschmeidigen, ausdauernden Trab und brachte sie durch das sumpfige Hafendelta in die finsteren hinteren Winkel Sha’angh’seis. Blitze schmückten den Himmel. Donnerschläge hallten von den Hauswänden wider. Hin und wieder unterbrach der Läufer seinen Trab, wurde langsamer, dann wieder schneller. Ronin musterte Kiris Profil. Das bleiche, flackernde Licht des Gewitters machte es seltsam wächsern und starr. Sie eilten durch schmale, ungepflasterte Straßen, die der Regen förmlich aufwühlte. Schwarzes Wasser spritzte unter den Füßen des Kubaru. Dies hier schien der älteste Teil der Stadt zu sein. Kleine Bretterbuden und Schilf wuchsen aus dem Boden empor, baufällig und doch mit einer eigenartigen, sorgenvollen Würde, die unmöglich zu beschreiben war. Vielleicht war es lediglich die Übereinstimmung dürftiger Behausungen mit ihrer Umgebung, die ausreichte, ihm dieses Gefühl zu geben. Dennoch verstand er, daß er hier Sha’angh’sei so sah, wie es
gewesen war, bevor die Kanton-Priester und die rundäugigen Rikkagin ins Land gekommen waren. Niemand brauchte es ihm zu sagen. Er wußte es. Unaufgefordert hielt der Kubaru vor den sich auftürmenden Säulen eines aus massivem Mauerwerk erbauten Tempels. Gedrungen und gewaltig wirkte das Bauwerk, die Fassade war glatt vom Regen, rissig und halb mit Kletterpflanzen überwuchert. Sie schritten die schmale Gasse hinein, hinter dem Kubaru her, der die Rolle des Führers übernommen hatte. Folgten ihm durch Doppeltüren aus in schwarzes Eisen gefaßtem Bambus. Durch eine Menge im Eingang herumwimmelnder anderer Kubaru. Unerwünschte Besucher wären hier abgewiesen worden. Fernes Stimmengemurmel. Grauer Steinboden. Hohe, gebogene Steinmauern. Dieser Tempel wies eine völlig andere Atmosphäre auf als jener, den Ronin auf seinem Streifzug entdeckt hatte. »Was ist das für ein Ort?« wollte er wissen. Kiri wandte ihm ihr Gesicht zu, und er sah, daß sie von irgendwoher einen pflaumenfarbenen Seidenschal hervorgeholt und diesen um ihren Kopf gewickelt hatte, als wünschte sie nicht erkannt zu werden. »Kay-Iro De«, sagte sie und benutzte damit ein Wort, das der alten Sprache des Volkes von Sha’angh’sei entstammte und von dem es keine angemessene Übersetzung in die moderne Sprache gab. Es hatte wechselnde Bedeutung: Meereslied. Jadeschlange. Und: Sie-die-ohne-Glieder-ist. Vielleicht gab es noch weitere Bedeutungen, von denen jedoch niemand sprach. »Ich sagte dir, daß heute nacht der Höhepunkt des Festes der Lemurin stattfindet«, sagte sie leise, wobei ihre violetten Augen glänzten. »Doch heute nacht geschieht noch mehr…
Jedes siebte Jahr in der letzten Nacht des Festes erscheint der Seercus von Sha’angh’sei!« Eine affengesichtige Frau, in einen grünen Umhang gehüllt, ein haarloser Mann an ihrer Seite, die rasche Bewegung, mit der er die Taels eingesammelt hatte, ihr heimliches Geflüster… Es schien jetzt, als sei der Tempel riesig, der schmale, hohe, fensterlose Korridor, den sie entlanggingen, endlos. Auf den feuchtkalten Mauern perlte Wasser. Steinbögen waren in regelmäßigen Abständen in den Gang eingebaut, an ihren Scheitelpunkten waren eiserne Kohlepfannen aufgehängt, die ein schwaches, unbeständiges Licht versprühten. Schließlich erreichten sie eine breite Treppe, die sie hinunterstiegen. Er stellte mit einiger Verwunderung fest, daß der Korridor an diesem Ende keinen Ausgang zu haben schien. Vorsichtig stiegen sie in die Tiefe hinunter. Ihr Weg wurde jetzt von flackernden Fackeln erhellt, die in verkrusteten Halterungen befestigt waren. Fünfzig Stufen, dann folgte ein Treppenabsatz. Wieder kamen sie an zahlreichen Kubaru vorbei, die sie sehr genau musterten. Sie wurden jedoch nicht aufgehalten und stiegen tiefer und tiefer. Die Luft wurde ständig kälter, die Stufen glitschig, naß. Schließlich gab es Ronin auf, die Treppenabsätze zu zählen. Er konnte Salz und Phosphor und Schwefel riechen, als sie den letzten Absatz erreicht und die Kubaru-Wache passiert hatten. Ihr Läufer winkte ihnen stumm zu. Vornübergebeugt schlossen sie zu ihm auf. Dann krochen sie durch einen engen Durchlaß. Es war finster. Kleine Tiere huschten an ihren Füßen vorbei. Der Tunnel führte in eine riesige Höhle, die von ungeheuren, tropfenden Fackeln beleuchtet wurde. Prasselnd und rauchgekrönt loderten die Flammen in die Höhe. Große, natürlich gewachsene Steinsäulen, gesprenkelt und gestreift von im Licht metallisch blinkenden Mineralien, stiegen vom
Felsenboden in die dunklen Bereiche des unsichtbaren Höhlenhimmels empor. Unsagbar viele Leute drängten sich in der Höhle. Plötzlich teilte sich die Menge. Er konnte das Becken sehen. Er trat näher. Gebannt. Es war ein gewaltiges Oval, vor Ewigkeiten durch ein katastrophales Geschehen in den Höhlenboden gerissen, und das Wasser, das es ausfüllte, war grün – so grün wie ein Fichtenwald im Hochsommer, mit einem Hauch erlesener Jade. Seine Tiefe schien unauslotbar. Vielleicht mündete es gar in den weiten Ozean vor Sha’angh’seis Ufern. Wieder mußte er an die affengesichtige Frau und ihre gezischten Worte denken, der Seercus, wobei ihnen ihre Modulation eine Rätselhaftigkeit verlieh, von der Ronin angenommen hatte, daß es lediglich Teil ihres Verkaufsgespräches sei. Jetzt stand er in der Höhle der Seercus und wunderte sich. Unausgesetzt strömten weitere Kubaru in die Höhle herein. Es gab zahlreiche Tunneleingänge, wie Ronin mit einem knappen Rundblick feststellte. Die Männer waren mandeläugig, ihr schwarzes, glänzendes Haar zu langen Zöpfen geflochten. Sie trugen legere Anzüge aus dunkler Baumwolle und grober Seide. Endlich hatte er das wahre Sha’angh’sei vor Augen, entblößt, nackt in der Arena von Kay-Iro De in dieser heiligsten Nacht. In diesen Stunden waren sie befreit von der ungeheuren Last der täglichen Feldarbeit, des Krieges, frei der Bedrückung von Eindringlingen und Zeit. Zehntausend Jahre waren wie eine abgestorbene Haut von ihnen abgefallen, um – was zu enthüllen? Bald würde er die Antwort darauf bekommen. Weit entfernt, aus der Höhe herunterwehend, hörte er Gesang. Langsam wich die Dunkelheit warmem, goldenem Licht. Eine gut getarnte Tür schwang auf; die Priester betraten
die Höhle. Sie trugen Laternen, die aus den getrockneten, aufgeblasenen und steiflackierten Häuten großer Fische gefertigt worden waren. Mit verschiedenen Farbstoffen war der ursprüngliche Anblick eines jeden Tieres wiederhergestellt worden. Ein bizarrer Anblick. Wallende seegrüne Mäntel lagen um die Schultern der Priester, ihre muskulösen Arme waren nicht bedeckt. Ihre Schädel waren länglich, kantig, hart geschnitten und gelbhäutig. Alle waren sie haarlos und ziemlich jung. Sie stellten die Fischlampen an entsprechend gekennzeichneten Stellen ab. Jetzt erst konnte Ronin die Statue sehen, die sich am gegenüberliegenden Beckenufer erhob. Eine Statue aus purem Gold, äußerst geschickt bearbeitet, so daß sie einen gewaltigen Drachen darstellte, dessen mächtiger Körper um einen goldenen Königsthron gewunden war. Ein fürchterlicher Schädel saß auf einem massigen Hals, hündisch, grausam, mit langer, grinsender Schnauze, langen scharfen Reißzähnen und geblähten Nüstern. Große, runde Jadeaugen funkelten im helleren Licht. Kiri ergriff seine Hand, und ihr Atem war schwer, als sie zu den Priestern hinübersah. Alle waren sie jetzt versammelt. An jeder Tunnelmündung waren Kubaru postiert. Einer der Priester gab ein Zeichen. In eine weite Messingpfanne wurde Räucherwerk geworfen. Gelbliche Rauchwolken erhoben sich in die düsteren Höhen des Höhlendoms. Würziger Duft schwängerte die Luft. Ein kleiner Junge führte ein Tier herbei, das Ronin nicht sogleich identifizieren konnte. Möglicherweise war es ein junger Eber. Die Priester warfen ihn auf eine befleckte Steinplatte nieder. Erneut stimmten sie ihren Gesang an. Der Eber quiekte erbärmlich.
Die Versammelten wiederholten den Choral: »Kay-Iro De. Kay-Iro De.« Einer der Priester griff in seinen Umhang und holte ein Messer mit Kristallgriff hervor. Hoch hob er seine Hände über seinen Kopf, dann begann er, in der alten Sprache zu reden, Worte, die weder Ronin noch, wie er vermutete, Kiri zu verstehen vermochte. Doch ihre Bedeutung schien klar, und Ronin war keineswegs überrascht, als die glänzende Klinge in einem flachen Bogen herunterzuckte. Tief drang sie in den Leib des Tieres. Heißes Blut sprudelte hervor, befleckte die Gewänder der Priester. Der Gesang schwoll an. Der Priester ließ das Messer achtlos fallen, seine Hand wühlte sich in den noch zitternden Leib des Tieres und riß das warme Herz heraus. Mit einem derben Riemen band er es an den Dolch. Sodann warf er beides in die Mitte des Seebeckens. Die anderen Priester fingen das Blut des Tieres in einer glasierten gelben Schüssel auf. Die Wellen plätscherten gegen den Beckenrand, und mit ihnen stieg eine Art Seufzen aus der Menge empor. Erneut begann der Singsang. Schweigend umrundeten die Priester das Becken, hin zur goldenen Drachenstatue, wo sie die mit Blut gefüllte Schüssel abstellten. Sie verneigten sich und tauchten ihre Hände in die scharlachrote Flüssigkeit. Daraufhin erstieg einer nach dem anderen den riesigen Thron und strich das Blut auf die Drachenaugen, bis es über die Schnauze heruntertropfte, in das aufgerissene Maul, auf die Zähne und schließlich in die tiefen, grünen Wasser. Jetzt kehrten sie zurück, und ein junges Mädchen war bei ihnen. Ein weißes Gewand, auf das ein silberner Fisch gestickt war, bedeckte ihre Blößen. Warm und weich und zitternd fühlte Ronin Kiris Körper neben sich. Die Priester bedeuteten dem Mädchen, sich zu verneigen. Ihr Gesicht war fein geschnitten, hübsch, ihre Haut sehr hell.
Schwarze Mandelaugen und sehr langes schwarzes Haar. Sie war mittelgroß, wohlproportioniert. Feierlich wuschen die Priester ihre Hände. Auf ein weiteres Signal hin wurde noch mehr Räucherwerk in die Tiegel geworfen. Eine grüne Wolke erhob sich in die Luft. Ronin konnte die von der Menschenmenge ausgestrahlte Hitze jetzt spüren. Unwillkürlich atmete er tiefer. Die Priester legten Masken aus Papiermache an, die ihnen das Aussehen überdimensionaler Fische verliehen. Glänzende Schuppen. Massige, wulstige Kiemen. Runde, starr glotzende Augen. Langsam umkreisten sie das Mädchen. Der Gesang, der von der Menge aufstieg, nahm an Lautstärke und Intensität zu. Die Priester entkleideten das Mädchen. Nackt stand sie vor ihnen, nackt und atemberaubend, mit wohlgeformten, breiten Hüften und schweren Brüsten und festen Schenkeln. »Kay-Iro De! Kay-Iro De!« sang die Menge. Kiri stöhnte leise neben ihm. Aus einem kleineren Nebenbecken wurde ein flatterndes, wild um sich schlagendes Seewesen gezogen, schwarz, glatt, glänzend. Es war kein Fisch, denn als es von den Priestern geschlachtet wurde, quoll rotes Blut aus der Wunde. Wieder sammelten die Priester das Blut in einer Schüssel. Sodann begaben sie sich zu dem Mädchen, ergriffen die Arme, zwangen den Kopf zurück, drängten sie, den Mund zu öffnen und das warme Blut zu trinken. Würgend schluckte sie. Der Gesang wurde lauter. Die Priester stießen das Mädchen auf den goldenen Thron. Sie taumelte, klammerte sich an der glitschigen Drachenhaut fest, ihr Gesicht hinter einer schwarzen Haarwoge verborgen. Ihr Körper verkrampfte sich. Sie erbrach die rote Flüssigkeit, benäßte den Schädel der Statue.
Sie zitterte, und ihr Griff lockerte sich. Die Priester zogen sich zurück. Sie glitt tiefer, unausweichlich auf die grünen Wasser zu… Entglitt der schlüpfrigen Umarmung des Drachens und tauchte in die kühlen Fluten, hinein in das blutbefleckte Salzmeer. Ein kollektives Aufkeuchen stieg aus der Menge empor, und der Gesang setzte erneut ein. Auch die Priester beteiligten sich wieder daran. »Kay-Iro De! Kay-Iro De!« Das Mädchen schlug um sich, versuchte, an die Oberfläche zu gelangen. Ganz offenbar konnte es nicht schwimmen. Ihr Schädel tanzte auf dem Wasser, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Urplötzlich verschwand sie, von unsichtbaren Klauen in die Tiefe gefetzt! Und das Wasser begann zu brodeln und zu kochen und zu wirbeln, als unterläge es einer wilden, unnatürlichen Strömung, und die Luft über dem Wasser schien unter furchtbarer Hitze zu flimmern. Spannung bemächtigte sich der Menge. Furcht pulsierte, stritt mit dem unheilvollen Wunsch, vorwärts, zum Beckenrand zu drängen… Chaotische Bewegungen entstanden. Der Gesang der Priester schwoll zu einem wilden Tornado an. Echos hallten von den Höhlenwänden wider. »Kay-Iro De! Kay-Iro De!« Ein ungeheuerliches Wesen aus den Tiefen des Meeres tauchte auf! Ronin sah die bizarren Konturen, verschwommen und nebulös, schwarz und gewaltig, starrte wie gebannt darauf. Die Wasser wallten und tobten, ein milchiger Schleier sprühte über die Gaffer hinweg, näßte sie. Und dann durchbrach es die Oberfläche, schoß hoch, höher, hinein in die von Räucherwerk und frisch vergossenem Blut schwere Luft, hinein in die Wärme, die von zahllosen Körpern rasender Menschen ausstrahlte. Schaum, der aus dem wirren
Seetang seines Haares flog, schwarze Mandelaugen, riesig und unheilvoll glühend. »Kay-Iro De! Kay-Iro De!« Oh, gewiß nicht, dachte Ronin. Die schwarzen Augen in dem annähernd menschlichen Schädel fixierten die Menge, während sich der Körper nach oben hin krümmte, so daß ein weißer, biegsamer Mädchenkörper zu sehen war, ganz kurz nur, gebrochen, tot. Grüner Schaum flockte davon, weiße Gischt troff von den dicken, biegsamen Windungen des schuppigen, mit Algen und gelben Muscheln besetzten Monster-Körpers. Im nächsten Augenblick tauchte der Unheimliche wieder in die Tiefe. Nur ein sanftes Kräuseln auf der Oberfläche zeugte noch von seiner ehrfurchtgebietenden Erscheinung. Eine Sekunde lang herrschte eisige Stille, und wäre nicht vereinzelt das Trippeln der winzigen Tiere zu hören gewesen, so hätte Ronin glauben können, daß die Zeit selbst stehengeblieben wäre. Schaudernd ergriff Kiri seinen Arm. »Schau«, flüsterte sie heiser. »Schau!« Und er starrte zu der Drachenstatue hinüber. Der blutbeschmierte Monsterschädel war verschwunden. An seiner Stelle saß jetzt der feingeschnittene goldene Kopf einer Frau. Seegrüne Jadeaugen funkelten verführerisch.
Als er erwachte, hatte die Sonne den Zenit bereits überschritten. Einen Moment lang lag er ganz still und beobachtete die hellen Lichtstreifen, die wie geschmolzenes Blei über den Boden rieselten, lauschte dem nahen Gesang, dem heiseren Rufen, den Schritten, dem Knarren der vor Anker liegenden Schiffe.
Eine nicht meßbare Zeitspanne schwebte er über dem zurückweichenden Abgrund des Unbewußten, aus dessen Tiefen etwas emporstieg… Er setzte sich auf. Gerippte Holztüren, durch die eine salzige Brise fächerte… Plötzlich wußte er, daß er sich in Llowans Harrtin aufhielt. Er konnte sich nicht daran erinnern, warum sie ihn hierhergebracht hatte. Warum nicht ins Tencho? Er war allein in dem großen Raum. Er stand auf und trat auf den Balkon hinaus. Mit leicht zusammengekniffenen Augen blickte er auf das träge Meer hinaus, das von großen und kleinen Schiffen bedeckt war. Ein heller, klarer Himmel wölbte sich darüber, und er blinzelte in die Sonne. Unten, an den Kais von Sha’angh’sei, herrschte behende Aktivität. Schiffe wurden beund entladen. Kompradores brüllten den Schauermännern Befehle zu, und diese gaben sie an die singenden Kubaru weiter, die unter dem Gewicht von Ballen und Fässern, die angefüllt waren mit dem Reichtum der Stadt, den Lebensmitteln und Textilien des Kontinents, dahineilten. Sein Blick schweifte zu den weißen, geblähten Segeln hin, die die nahen Gewässer übersäten, weiter hinaus, zum gelben Meer, und die Ereignisse der vergangenen Nacht überfluteten ihn plötzlich wie eine nach Salz und Phosphor stinkende Flutwelle. Kay-Iro De! Kay-Iro De! Er schüttelte den Kopf. Vielleicht nur eine Nachwirkung jener Substanz, die er gekaut hatte? Wie hatte Kiri sie genannt? Die Tränen der Lemurin. Nur eine Illusion, die aufstieg und niederfiel wie die Gezeiten. Sonne, die auf dem ruhelosen Wasser tanzte. Scherben flüssigen Goldes. Eine so ausweichende und vage Erinnerung, als wäre sie Teil eines anderen Lebens. Was? Eine Gestalt, dunkel und riesig und unbeständig und…
Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um, trat in den kühlen Raum zurück und erblickte Matsu, die heitere, geschmeidige Matsu. Sie stand im Zentrum des Raumes, mit einem hübschen blaßgrünen Kleid, rostfarben gesäumt, über dessen Oberfläche Blätter derselben Farbe fielen. Sie trug ein tiefblau lackiertes Tablett, auf dem eine grau und rot lackierte Teekanne sowie mehrere in derselben Art bemalte kleine Tassen standen. »Ich bin gekommen, um dich zum Rat zu bringen«, sagte sie, während sie sich niederließ und das Tablett abstellte. »Bitte. Setz dich. Ich habe dein Frühstück gebracht.« Ihre dunklen Augen fixierten ihn. Einen winzigen Augenblick lang zog sich sein Magen zusammen. Er wischte sich mit seiner rechten Hand übers Gesicht und ließ sich ihr gegenüber nieder. Er wusch sein Gesicht und seine Hände in der bereitstehenden großen Wasserschüssel. Matsu tupfte ihm sein Gesicht mit einem sauberen weißen Tuch trocken. Er lehnte sich zurück. »Matsu, wo ist – « »Sie hat heute sehr viel zu tun, und es ist bereits Nachmittag.« »Wie geht es der Frau, die ich zu euch ins Tencho brachte?« Sie antwortete nicht gleich, sondern konzentrierte sich voll auf die Teezeremonie, das Wenden der Tasse, das Eingießen, das Umrühren, auf all die exakten Bewegungen, die es so besonders machten. Schweigend beobachtete er ihre geschickten Hände. Endlich dampfte der Tee in der Tasse, und sie reichte sie ihm. Dann sagte sie: »Sie ist aufgewacht. Ihr Name ist Moeru, sie hat es mir aufgeschrieben.« Er trank von dem Tee, und er schmeckte hervorragend. »Hat sie noch Fieber?« »Ich glaube nicht. Sie war hungrig und hat etwas gegessen.«
»Das ist gut.« »Sie wollte den Verband abnehmen.« »Ah, nein! Der Apotheker hat ausdrücklich angewiesen, daß er nicht abgenommen werden darf. Unter dem Tuch ist eine Heilpackung.« »Aber sie behauptet, keinen Schmerz darunter zu verspüren.« »Dann wirkt die Packung.« Eine Zeitlang herrschte Stille. Er schlürfte seinen Tee. Matsu beobachtete ihn; ihre kleinen weißen Hände hatte sie in ihrem Schoß gefaltet. »Der Mann deiner Freundin«, sagte er unvermittelt. »Wie geht es ihm?« »Ah«, seufzte Matsu. »Es ist sehr traurig. Er wurde gestern bei einem Streit im Wirtshaus erstochen.« »Das tut mir leid.« Sie lächelte matt. »Vielleicht ist es besser so. Der Krieg hat ihn verändert. Meine Freundin erkannte ihn kaum mehr wieder. Denen, die ihn liebten, brachte er nur Sorgen, selbst seinem Sohn, der gelähmt darniederliegt.« »Das verstehe ich nicht.« »Sein Rücken ist gebrochen, aber er hat noch immer Augen, die sehen können. Sein Vater verübelte ihm das.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wie ich bereits sagte: vielleicht ist es besser so.« »Möchtest du nicht eine Tasse Tee mit mir trinken?« Matsu schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist dein Tee.«
Die Sonne brannte aus einem tiefblauen Himmel herunter. Es roch nach ausgeweideten Fischen, die in der Hitze trockneten, nach Zimt, Nelken, Koriander, und Ronins Nasenflügel weiteten sich, als erinnerten sie sich an einen fernen und ekelhaften Geruch.
Dann saßen sie in der Rikscha, und der Kubaru begann zu laufen. Rasch entfernten sie sich vom Harrtin des Llowan, eilten durch enge Straßen, vorbei an den blinden Fassaden zahlloser anderer Harrtin, und schließlich hinaus auf die breite Uferstraße von Sha’angh’sei. Tief im Dschungel der Stadt geschah es dann! Der KubaruLäufer stolperte und fiel zu Boden. Ruckartig hielt die Rikscha an. Die scharlachrote Wunde an der Seite des Läufers stach Ronin förmlich in die Augen. Er handelte. Als die beiden Männer auf die noch schaukelnde Rikscha sprangen, hatte er seine Klinge bereits gezogen. Gleichsam aber wußte er, daß sie ihm hier kaum nützen konnte. Er hatte keine Bewegungsfreiheit. Der Kerl, der auf ihn zukam, ließ seine dolchbewehrte Hand vorzucken, schmetterte sie gegen Ronins Handgelenk. Das Schwert entfiel ihm. Der Kerl verstand sein Handwerk. Gleichzeitig schnellte er vor, umfaßte das Handgelenk des Angreifers und riß daran. Sie stürzten aus der Rikscha. Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit kam der Kerl wieder auf die Füße. Er stank nach Schweiß und billigem Fusel. Blitzartig kam der zweite Angriff. Der Dolch zuckte genau auf Ronins Kehle zu. Er wich aus, rammte seinem Gegenüber die Linke gegen das Kinn. Mit einem harten Krachen klappten die Kiefer aufeinander. Der Bursche wurde zurückgeworfen. Ronin kam auf die Füße. Der Mann mit dem Messer gab sich zuversichtlich. Grinsend kam er wieder heran. Er unterschätzte Ronin, da dieser unbewaffnet war. Er war klein, jedoch sehr kräftig, mit breiten Schultern und schlanken Hüften. Die Arme waren massig und muskulös. Er hatte ein breitflächiges, intelligentes Gesicht, dunkle, verschlagen blickende Augen. Ein langer Haarzopf baumelte auf seinem Rücken herunter; ansonsten war er kahl. Sein rechtes Ohr fehlte.
Er war klug und unwissend zugleich. Ronin ließ ihn herankommen. Eiskalt wartete er ab. Und er brauchte nicht lange zu warten. Der Kerl täuschte, ließ seine Klinge gegen Ronins Herz zucken, dann im letzten Augenblick, riß er sie nach unten, holte aus, um sie mit voller Wucht in Ronins Magen zu rammen. Ronin nutze den Schwung des Mannes aus, packte den vorgestreckten Arm, riß ihn herum und hebelte den Messerhelden über sich hinweg. Mit einem entsetzten Aufschrei schlug er auf dem Pflaster auf und blieb reglos liegen. Ronin bückte sich, hob den am Boden liegenden Dolch auf. »Laß ihn wieder fallen!« sagte die eiskalte Stimme hinter ihm. Der zweite Angreifer! Ronin drehte sich um. Der Kerl hatte Matsu herangezogen, und sein Dolch saß an ihrer pochenden weißen Kehle. Er starrte in ihre Augen, und sah in ihrer Düsternis keine Furcht? Was dann? Traurig schüttelte der Dieb seinen Kopf. »Das hättest du nicht tun sollen.« Er war breit, sehr groß, mit einem grauen Bart und langem, fettigem Haar. Er hatte die hohe Stirn und die Augen eines Tieres. Ronin erstarrte. »Was soll ich seiner Frau und seinen Kindern sagen? Wovon werden sie in Zukunft leben? Was essen? Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dein Geld und deine Frau zu nehmen.« Er sah zu dem Mann hinüber, der gebrochen und bewußtlos auf dem dreckigen Pflaster lag, dann wieder auf Ronin. »Sie wird einen hohen Preis beim Sha-rida erbringen.« Matsu keuchte vor Schmerz, als sich die Dolchspitze in ihre Kehle grub. »Sha-rida?« sagte Ronin und schob sich langsam näher. Er mußte den Mann hinhalten, ihn reden lassen.
»Ah, ein Fremdländer. Narr, daß du in einer Rikscha durch diese Straßen fährst. Der Geruch deines Geldes zieht dir voran.« Er lächelte spöttisch. »Doch begrüße ich deine Dummheit, da sie mein Lebensunterhalt ist. Möge sie noch lange bestehen bleiben. Komm nicht näher!« fauchte er plötzlich. Seine Stimme war jetzt kalt und hart. »Die Frau wird durch das Loch in ihrer Kehle atmen. Du bist nicht so dumm, es darauf ankommen zu lassen, nehme ich an.« Der Kerl zerrte Matsu vor sich, auf der Dolchklinge flirrte Sonnenlicht. »Jetzt komm, laß uns diese Angelegenheit zu einem Ende bringen. Wirf dein Geld auf den Boden!« »Also gut«, sagte Ronin. »Aber tu ihr nichts an.« Er war nahe genug herangekommen. Matsu in der richtigen Stellung. So hatte er sie haben wollen. Sie sollte ihn sehen können. Er brauchte diesen Vorteil. Sein Schwert lag viel zu weit entfernt. Sie würde sterben, bevor er auch nur einen Schritt in diese Richtung getan hätte. Geringfügig sanken seine Schultern nach vorn, sackten in einer Geste der Geschlagenheit herunter. Zurück in den Tiefen des Freibesitzes… Der Salamander, ein Sensii, sagte: »Gib deinem Gegner Anhaltspunkte. Er wird darin ausgebildet sein, in jenen winzigen Dingen, die deine Haltung verrät, zu lesen, den Schlüssel seines Sieges darin zu suchen. Deshalb mußt du ihm geben, was er zu finden wünscht…« Diese Männer waren erfahren genug. Seine Hände fingerten an seinem Gürtel herum, lösten ganz langsam den Geldbeutel. Er starrte in Matsus Augen, und sie las darin, erfuhr, was er sie hatte wissen lassen wollen. Es stand in seinen farblosen Augen geschrieben. Der Beutel klirrte auf den Boden. Ronin schnellte vor. Seine behandschuhte Linke zuckte hoch…
Das Geräusch des am Boden auftreffenden Geldbeutels hatte den Kerl lange genug abgelenkt. Ronins offensichtliche Niedergeschlagenheit hatte ihn unvorsichtig gemacht. Mehr brauchte Ronin nicht. Er packte die Klinge, drehte sie weg, das Metall knackte. Matsu handelte ebenfalls. Sie warf sich seitwärts weg; ihre zierliche Faust grub sich in den Magen des Banditen. Der Kerl hatte sich gefangen. Mit einem wütenden Aufschrei krallte er seine Rechte in Ronins Kehle. Die Luft wurde knapp. Verbissen rangen die beiden Männer um jeden noch so geringen Vorteil. Der Kerl drückte brutal zu. Aber Ronin brachte seine Rechte hoch, rammte sie dem Kerl gegen die Halsschlagader. Er vermochte nicht einmal zu schreien. Ronin kam frei, rasselnd pumpte er Luft in seine Lungen. Aber der Kerl warf sich bereits wieder heran. Ronin schmetterte die behandschuhte Linke gegen das Brustbein des Kerls. Der Knochen brach, zersplitterte, und die Wucht des Schlages rammte ihn nach oben, ins Herz. Blut und Eingeweide spritzten heraus, näßten Ronin, und das plötzlich blutleere weiße Gesicht seines Gegners tanzte wie das einer verrückt gewordenen Marionette auf und ab. Krampfartig schlugen die Zähne aufeinander und bissen die heraushängende Zungenspitze ab. Ronin wandte sich ab. Matsu stand drei, vier Schritte entfernt und starrte auf den Leichnam. Dann zuckte sie zusammen, sah ihm in die Augen. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte sie etwas sagen, aber sie blieb stumm. Sie ging und holte ihm sein Schwert. Er hob den Geldbeutel auf. Matsu reichte ihm einen Fetzen, den sie aus dem blutgetränkten Hemd des toten Kubaru gerissen hatte. Scheu berührte sie den seltsamen, hornartigen, reflektionslosen Handschuh, der jetzt feucht glänzte.
»Was ist das?« flüsterte sie endlich, während sie über die Haut strich. »Ein Geschenk«, erwiderte Ronin und betrachtete den dünnen roten Striemen, der quer über ihre Kehle verlief. Der Bandit war nicht zimperlich gewesen. Sanft strich er über die gerötete Erhebung. Ihre Augen schlossen sich, und sie zitterte. »Ein kleiner Mann hat ihn mir überlassen… Ein kleiner Mann mit einem seltsamen Gefährten.« Er lächelte freudlos. »Er ist aus der Klaue des Wesens gemacht, das Sa getötet hat.« Sie schien ihn nicht zu hören. »Nie hätte ich geglaubt, daß ein Mensch das tun könnte, was du soeben getan hast. War es der Handschuh?« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht, zum Teil.« Er griff nach ihr. »Laß uns weitergehen. Der Rat erwartet mich.« Ihre dunklen Augen hoben sich, blickten ihn seltsam an. Dann nickte sie, und sie brachen auf, folgten den labyrinthartigen Straßen Sha’angh’seis, fanden schließlich die Nanking und dann, kurze Zeit später, eine schmale, gewundene Straße ohne Namen. »Das letzte Mal habe ich einen anderen Weg benutzt.« »Natürlich. Aber heute dürfte es sehr unvernünftig sein, die König-Messer-Straße zu nehmen, nicht wahr?« Er lachte. »Ja, da hast du recht. Aber was ist mit den Grünen am Tor?« »Es gibt viele Eingänge zur befestigten Stadt.« Der Weg war steil. Riesige Fichten und üppige grünblättrige Bäume säumten den Weg. Dazwischen wucherten kleinere Pflanzen und wild blühende Büsche. Häuser schien es hier nicht zu geben. Bald überlagerte der Schatten der großen Mauer die Sonnenwärme. Sie erreichten das Tor. Ronin hielt sein Gesicht im Schatten, während Matsu leise mit einem Grünen sprach.
Die Metalltür schwang auf, sie traten ein. Die Grünen kümmerten sich nicht um sie. Sie folgten der weiten, großzügig angelegten Allee. »Der Sha-rida, Matsu – was ist das?« fragte Ronin unvermittelt. Sie lachte nervös. »Mit diesem Begriff erschreckt man Fremde.« Aber er sah die Angst in ihren Augen und gab nicht nach. »Dann muß es eine dazugehörige Geschichte geben. Erzähle sie mir. Ich bin nicht so leicht zu erschrecken.« Ihr Blick glitt über sein Gesicht, und sie versuchte ein Lächeln, schaffte es jedoch nicht ganz. »Der Sha-rida ist ein Markt, ein ganz besonderer Markt, der, wie man den vielen Gerüchten entnehmen kann, sich des Nachts durch die dunklen Gassen von Sha’angh’sei bewegt und erst öffnet, wenn der Mond den Himmel verlassen hat.« »Sklavenhandel!« räumte Ronin ein. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Die Menschenhändler betreiben ihr Geschäft zur Tageszeit.« »Was dann?« »Auf dem Sha-rida wird in der Tat mit Menschen gehandelt, jedoch gelangen nur die schönsten Frauen und Männer zum Verkauf… Jung und gesund müssen sie sein.« »Warum?« Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her. Die Zikaden sangen, und hämmernde Vogelrufe antworteten über ihren Köpfen. Weiß und leer erstreckte sich die Allee vor ihnen her, als wäre sie das uninteressant gewordene Spielzeug eines Riesen. »Weil jene, die verkauft werden, ein schrecklicher Tod erwartet«, sagte Matsu endlich. Ihre Stimme war wie die erste Berührung des Herbstwindes. »Die Käufer wünschen nur den Tod und den Vorgang des Sterbens zu beobachten, und je mehr
sie dieser perversen Neigung frönen, desto gelangweilter werden sie. Immer schrecklichere Arten des Sterbens beschwören sie für ihre Opfer herauf…« Sie sah ihn an. »Derartiges vermag selbst in einer Stadt wie Sha’angh’sei unmöglich zu sein…« »Es ist nur eine Geschichte.« »Ja«, sagte sie. »Das ist alles.« Ihre Schritte zertrümmerten die Stille der Halle. Sie näherten sich dem gewaltigen Marmor Schreibtisch. Die Frau mit den hellen Augen und den vorspringenden Brüsten war auf ihrem Posten. Zwei Grüne hielten vor den schweren hölzernen Portalen Wache. »Ja?« erkundigte sie sich und hob ihren Kopf. Sie schien Ronin nicht wiederzuerkennen. Er wollte etwas sagen, aber Matsu bedeutete ihm mit einer leichten Berührung, zu schweigen. Sie flüsterte der Frau etwas ins Ohr. Sie zuckte zurück. »Nein, ich fürchte – « Aber Matsu sprach weiter, eindringlicher jetzt. Verwunderung zeichnete sich im Gesicht der Frau ab. Plötzlich nickte sie. »Ja. Ja, natürlich«, beteuerte sie und gab den Grünen ein Zeichen. Sie öffneten die Türen. Endlich! dachte Ronin. Matsu folgte ihm. Eine Audienz beim Rat von Sha’angh’sei. Sie traten über die Schwelle. Ronin schraubte bereits den Schwertgriff ab. Eine Antwort auf das große Rätsel. Das Ende der Ungewißheit. Jetzt war der Weg frei, den Dolman und seine Horden vernichtend zu schlagen. Die Türen schlossen sich hinter ihnen. Ronin erstarrte. Er kreiselte zu Matsu herum. »Was ist das für ein verrückter Scherz?« »Das ist kein Scherz!« Sie hielt seinem harten Blick stand. »Dann ist dies sicher der falsche Raum!«
»Du vermagst selbst zu sehen, daß dies der Sitzungssaal des Rates ist.« Ein fensterloser Raum mit hoher, leicht gewölbter Decke, beherrscht von einem gewaltigen, reichverzierten Tisch, um den in regelmäßigen Abständen hochlehnige Holzstühle aufgestellt waren. Ein Raum, der – abgesehen von Ronin und Matsu – leer war. »Dann hast du mich an einem Tag hierhergebracht, da der Rat keine Sitzung hält?« »Wenn dem so wäre, wäre das Gebäude verschlossen gewesen.« Ronins Temperament ging plötzlich mit ihm durch. Er packte Matsu an den Schultern und schüttelte sie. »Sind sie dann Geister, daß ich sie nicht sehen kann?« »Nein, beileibe nicht.« Ihre Stimme war klar und rein, wie ein Vogelruf im Hochsommer. »Es ist ganz einfach.« »Matsu, wenn du nicht endlich mit der Sprache herausrückst, werde ich – « »Es gibt keinen Stadtrat von Sha’angh’sei!«
Der Drache starrte ihn spöttisch an. Die goldenen Augen funkelten unter den letzten schräg einfallenden Strahlen der Sonne. Das Gewand lag über dem Stuhl. Ronin durchquerte den Raum, nahm es an sich und streifte es über. Dann gürtete er seine Waffen darüber. Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Auf dem Rückweg zum Tencho hatten sie kaum miteinander gesprochen. Er wollte eine Erklärung haben. Zu lange hatte er damit zugebracht, eine Antwort zu finden, nur, um stets vor neue Rätsel gestellt zu werden. Er hatte Matsu angeschrien, hatte gedroht, die Einrichtung zu zertrümmern, jeden Raum des Ratsgebäudes zu inspizieren und
die Grünen zu töten. Sie aber hatte ihn bloß angestarrt und ihn gebeten, mit ihr ins Tencho zurückzukehren. »Die Antwort ist dort.« Das war alles, was sie gesagt hatte. Schließlich hatte er nachgegeben. Ihm blieb keine Wahl. Im Westen türmten sich schwere Wolken auf, verdunkelten die untergehende Sonne, verwandelten ihr orangefarbenes Feuer in tiefes Scharlachrot. Ein weiterer Sturm kommt heran, dachte Ronin. Matsu trat zu ihm, legte ihm die Schärpe um und band sie in der formellen Art und Weise. Kurz musterte sie ihn im Dämmerlicht. Die schnell sterbende Sonne war jetzt nur mehr ein dunkler Rubin, der zwischen den Gebäuden auf der Okanstraße leuchtete. Und das seltsame Licht, wie poliert wirkend und immer noch intensiv, schien alle Farbe aus ihrem Gesicht zu tilgen, ließ sie bleich aussehen, zauberte Schatten unter ihre Augen. Ihre Haut war straff und glatt, keine Furche, kein Makel beeinträchtigte die Satinoberfläche. Ganz still stand sie vor ihm, und er fühlte sich plötzlich veranlaßt, seine Hand auszustrecken, ihr Gesicht zu berühren, um sich zu vergewissern, ob es tatsächlich aus Fleisch und Blut war, warm und nachgiebig, und nicht nur eine vorgefertigte Maske. Einen Herzschlag lang senkten sich ihre Wimpern, ihre Lippen öffneten sich, als sei sie im Begriff, etwas zu sagen. Dann hoben sich ihre Lider, und ihre schlanke Hand bewegte sich verblüffend schnell, ergriff die seine, eine einfache Geste, dennoch schaffte sie es, sie in eine sanfte Zärtlichkeit zu verwandeln. Wortlos zog sie ihn mit sich, aus dem Zimmer. Sie traten in den schwach beleuchteten Korridor hinaus. Dann führte sie ihn, hin zu der geschwungenen Treppe. Sie schritten die flachen Stufen hinunter und erreichten schließlich den hinteren Teil des Hauses, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Sie gingen schnell und schweigend dahin. Durch eine
kleine Holztür hinaus in einen weiten Garten, üppig und grün vom Gefieder voll entwickelten Blattwerks. Inmitten dieses kunstvoll angelegten Dschungels standen die beiden vierbeinigen Wesen, gesattelt und gezäumt. Sie schnaubten und stampften, als Ronin und Matsu sich ihnen näherten. Die beiden Wärter streichelten sie und redeten besänftigend auf sie ein. »Es sind Lumas. Pferde aus dem hohen Norden, sehr kräftig und ziemlich intelligent.« Sie zuckte die Schultern, als sehe sie seinen Einwand vorher. »Normale Pferde sind recht dumm. Man kann sie im Krieg gut gebrauchen, sicher, und da werden sie auch hauptsächlich verwendet… Die Lumas jedoch sind sehr selten.« Sie hob eine Hand. »Der Hengst ist ein Geschenk Kiris an dich.« Ronin trat an den rostroten Luma heran, seine Rechte griff in die dichte rote Mähne, kraulte sie. Der lange, spitz zulaufende Schädel des Tieres wurde von auffallend weiten Nüstern beherrscht sowie von aufrecht stehenden, dreieckigen Ohren. Die großen, runden Augen waren von tiefem Blau, und dazwischen wuchsen drei kurze gelbe Hörner empor. Der Luma-Hengst schnaubte und stieß seine Schnauze gegen Ronins Hand. Neugier und Intelligenz glommen in den Augen. Ronin stieg auf, und Matsu tat es ihm gleich. Ihr Luma war eine graue Stute mit einer schneeweißen Mähne. Sie ließen den Garten hinter sich zurück. Die Wärter schlossen die eisernen Tore. Laut hallte der Hufschlag der Lumas von den Pflastersteinen und Häuserfassaden wider. Blauweiße Funken stoben auf. Der Reitwind blähte sein seidenes Hemd, die Drachen schienen lebendig zu werden, über seinen Körper zu tanzen. Matsu, die dicht vor ihm dahinjagte, stieß einen gellenden Schrei aus, um ihr Reittier anzuspornen und die vor ihnen wogende Menschenmenge zu warnen. Hastig eilten dunkle
Gestalten aus dem Weg, drohten ihnen mit den Fäusten oder murmelten Verwünschungen. Die Worte verhallten ungehört. Sie preschten durch die Straßen, hinaus ins dunkle Straßenlabyrinth des Deltas. In der Hafengegend drängten sich nicht mehr so viele Menschen, dafür aber waren die Straßen schmal und gewunden. Unvermittelt ließen sie die beengenden Gassen hinter sich und eilten auf die Uferstraße hinaus, die purpurn und schwarz und tiefrot im letzten Sonnenlicht lag. Die Sonne selbst war nur mehr eine winzige Sichel vor dem düsteren Horizont, die sich in die liebende Umarmung des singenden Meeres senkte. Die Lieder der Kubaru begleiteten sie, als sie auf der Uferstraße dahinstürmten, und Ronin atmete den Odem des Meeres ein, den beißenden Geruch getrockneten Fisches, die widerliche Süße des Mohnsirups. Die violetten Fassaden der Harrtin mit ihren breiten Verandas jagten in majestätischer Anordnung an ihnen vorbei. Und plötzlich waren sie allein mit sich und dem Meer. Feiner Sand wirbelte unter den Hufen der Lumas auf, vor ihnen erstreckte sich der dunkle Strand in frohlockender Einsamkeit. Der Luma-Hengst stieß ein ungestümes Wiehern aus, eine Artikulation der Freude und des Triumphes gleichermaßen, und dann wurde das Tier noch schneller. Das Meer zu ihrer Linken nahm die Farbe massiven Zinnobers an, und Ronin spürte, wie sein Herz schneller hämmerte. Erregung durchpulste ihn, Erregung und ein Gefühl grenzenloser Freiheit… Der Luma-Hengst jagte über eine weit geschwungene Düne, und Ronin dachte: Laß den verdammten Dolman kommen. Ich werde die eiskalte Umarmung des Makkon begrüßen, wenn es soweit ist, denn ganz gewiß werde ich sein Untergang sein, ich bin sein Mörder…
Er holte Matsu ein, dirigierte den Luma-Hengst an ihre Seite, und so eilten sie in die mächtiger werdende Nacht hinein. Matsus Gesicht wirkte irgendwie teilnahmslos. Sie hing wieder ihren unergründlichen Gedanken nach…
Als die goldenen Lichter von Sha’angh’sei nur mehr schmierige Flecken im Dunst hinter ihnen waren, zügelte Matsu ihre Luma-Stute. »Hier muß ich dich verlassen, Ronin. Reite weiter. Der Hengst wird dich ohne zu fehlen an dein Ziel bringen.« »Aber was – « Sie riß ihre Stute herum und war bereits wieder unterwegs, noch bevor Ronin irgendwie reagieren konnte. Der Hufschlag war kaum mehr als ein Flüstern in der Nacht. Der Sand dämpfte jeden Laut. Ronin unterdrückte einen Fluch und grub seine Absätze in die Flanken des Hengstes, so, wie Matsu es ihm beigebracht hatte. Das Tier setzte sich in Bewegung und wurde rasch schneller. Ronin konzentrierte sich auf seine Kraft, auf die harmonische, spielerisch leichte Bewegung seiner Muskeln, den dünnen Schweißfilm, der das prächtige Fell glättete. Irgendwann sah er einen Schatten in der Düsternis vor sich. Sein Hengst verlangsamte, ohne daß er ihn zügelte. Er hörte tänzelnden Huf schlag und erkannte die Silhouette eines Lumas. Ganz plötzlich war er nahe genug, um Einzelheiten sehen zu können. Safrangelb war das Fell des Tieres, die Mähne schwarz. Kiri saß darauf. Sie sah ihm entgegen. Ihr langes schwarzes Haar flatterte im Wind. Sie trug ein blaßgelbes Kleid mit einem goldenen Blumenmuster. »Kiri«, sagte er atemlos. »Ich danke dir für dein Geschenk. Es ist ein herrliches Tier!«
Sie lächelte. »Er paßt zu dir, mein Freund, und wie ich hörte, hat er dich sogleich begrüßt. Du mußt wissen, daß sich Lumas nicht leicht zähmen lassen.« »Ja, aber wie in – « »Komm!« rief sie ihm zu und zog dabei an den Zügeln. »Komm mit mir, mein Krieger!« Und sie flogen über die wellenförmigen Uferdünen, entlang an der donnernden, leuchtenden Grenze des Meeres, kalte weiße Gischt wurde von den Hufen hochgewirbelt und ließ ihr Haar und ihre Gesichter funkeln. Ihre Füße waren nackt, gruben sich in die Flanken des Tieres und spornten es zu noch schnellerem Lauf an. »Kiri!« rief er ihr nach. »Was ist mit dem Rat? Welchen Streich hast du mir gespielt?« Sie schüttelte ihr Haar aus dem Gesicht. »Es war kein Streich. Nur die Wahrheit.« Sie wandte ihm ihr bleiches Gesicht zu. »Wenn ich es dir gesagt hätte, so hättest du mir nicht geglaubt.« Sie rasten in die Brandung hinaus, und das Meer donnerte um sie her. »Der Rat ist nichts als ein wohldurchdachter Mythos. Es ist am besten für das Volk, wenn es glaubt, daß eine Körperschaft ihr Leben beherrscht und die Stadt regiert. Die Wahrheit jedoch sieht anderes aus… Tatsache ist, daß ein solcher Rat hier niemals existieren und überleben könnte. Sha’angh’sei würde ihn nicht dulden.« »Du sprichst, als wäre die Stadt ein lebendiges Wesen.« Sie nickte. »Es gibt keine vergleichbare Stadt auf der ganzen Welt. Ein Stadtrat, gebildet von Angehörigen der verschiedenen Parteien, ergibt hier nur als Gedankenspiel einen Sinn. In Wirklichkeit würden sie sich gegenseitig in der Luft zerreißen.«
»Wer empfängt die Leute, die um Audienz ersuchen und schließlich vorgelassen werden müssen?« »Wenn sie überhaupt jemanden sehen, dann – mich.« Er starrte zu ihr hin. Sie hielt sich aufrecht, das Haar umwehte ihr Gesicht, ihre Augen waren zwei tiefe Brunnen in die Zeit. »Dich? Aber warum? Führst du eine Partei in Sha’angh’sei?« Sie lachte jetzt, tief und lang, ein herrlicher Tonfall. Der Wind zerfaserte ihn, trug ihn davon. »Nein, mein Krieger, keine Partei.« Meeresbrandung sprühte gegen die Flanken der Lumas, so daß sie wie mit Silber überzogen glänzten. Sie grub ihre Hacken in die Flanken ihrer Stute und trieb sie an. Mit einem wilden Satz jagte das Tier los, über die seufzenden, sich verändernden Dünen hinweg. Ronin fluchte und hetzte ihr nach, trieb sein Tier durchs Wasser, kürzte durch die kleine, halbmondförmige Bucht ab, und der Seewind bauschte sein Hemd, ließ es um seine Seiten flattern. Er holte auf. Sie lachte und gab ihm die Antwort, die er inzwischen beinahe erahnte. »Keine Partei, o nein. Nur einer kann herrschen. In die Hand eines einzelnen ist die höchste Macht gegeben. Und dieser eine, Ronin – dieser eine bin ich! Ich bin die Kaiserin von Sha’angh’sei!« Die Nacht war ein vollkommener schwarzer Schleier, der sich über das Land gesenkt hatte. Irgendwo tropfte Wasser. Trübselig. Monoton. Das Flackerlicht der Lampen war erloschen, und niemand war da, der es hätte neu entzünden können. Aus einem Fenster im zweiten Stock tobten die Geräusche eines scharfen Streites. Ein Aufkeuchen. Ein kurzer, abgerissener Schrei. Dann: Stille. Er kauerte sich in die Schatten des Hauseingangs, reglos und
wachsam. Irgendwo heulte ein Hund. Zwei Frauen taumelten an dem Eingang vorbei. Er konnte ihren Schweiß riechen. Sie lachten, hielten ihre Kleider mit unsicheren Händen zusammen. Das vorübergehende Aufleuchten von weißer Haut. Dann lag die Straße wieder einsam und verlassen im Bann der Düsternis.
Die Türen öffneten sich bei ihrem Nahen, und er sog den feuchten Duft des grünsamtenen Gartens ein, der jetzt schwarz und wie tot war, begraben von der Finsternis. Erst als sie abgestiegen und die Lumas fortgeführt worden waren, wurde eine kleine Fackel entzündet. Die Üppigkeit der sie umgebenden Natur war überwältigend nach der kahlen Schönheit des weißen Sandstrandes und des schwarzen Himmels. Er atmete die Jasminluft und lauschte dem vielstimmigen Murmeln und Rascheln um sich her. Gelbe Insekten tanzten im Feuerschein, als sie zu ihm kam. Die Stille war erschreckend, und er streckte eine Hand aus, um sie anzuhalten. Sie ergriff sie, ihr Gesichteinblasses Oval, umgeben vom zitternden Wald ihres Haares. Seite an Seite schritten sie über das Gras, durch ein Labyrinth von Hecken, die weit über ihre Köpfe emporwuchsen, vorbei an flüsternden, duftenden, mit Tauperlen geschmückten Fichten zur anderen Seite des Gartens. Sie senkte die Fackel und erstickte die Flamme. Völlige Dunkelheit umgab sie. All die kleinen Geräusche schienen plötzlich lauter geworden zu sein, nachdem die Sicht zu einem Nichts zusammengeschmolzen war. Ronins Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie standen vor einem kahlen Steinbau. Eine tief ins Mauerwerk eingelassene Tür
stand offen, und sie gebot ihm, einzutreten. Auf der Schwelle drehte er sich um. »Warum hat mir Tuolin vorgeschlagen, den Rat aufzusuchen, Kiri? Er muß doch gewußt haben – « »Vielleicht wollte er dir Hoffnung machen.« »Aber es gibt keinen Rat!« »Ich glaube kaum, daß Tuolin dies weiß.« »Bist du dir sicher?« »Einigermaßen. Warum?« »Ich – ich weiß es nicht. Einen Moment lang dachte ich – « »Ja?« »Warum ist er so unerwartet aufgebrochen?« »Soldaten werden von ihrer eigenen Zeit regiert. Er brach auf, weil er früher gerufen wurde.« »Natürlich. Wahrscheinlich hast du recht…« Er drehte sich um. Ein schwarzer Korridor nahm sie auf. »Geradeaus«, sagte sie hinter ihm. »Es gibt keine Biegungen.« Trotzdem war er auf der Hut. »Übrigens… Der Frau, die du zu uns gebracht hast, geht es besser. Sie ist aufgestanden. Sie wünschte, den Mädchen zu helfen. Ihre schnelle Genesung ist erstaunlich.« »Was hat sie dir erzählt?« »Nichts.« »Überhaupt nichts?« »Sie kann nicht sprechen. Sie ist stumm.« »Ich würde sie gerne sehen.« »Sicher. Matsu hat ihr von dir erzählt. Sie möchte sich bei dir bedanken – « Er taumelte vorwärts, wäre beinahe gestolpert, sein Atem verlor sich in ihm, war wie weggesogen. Vor ihm war Licht, ein abruptes Ende der Finsternis… Eine gigantische Halle. Die
Wände aus sanft gestreiftem Marmor, gelb und rosa und schwarz. Die hohe, bogenförmige vergoldete Decke wurde von zwölf Säulen getragen, sechs auf jeder Seite. In goldenen Tiegeln, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebracht waren, flackerten kleine Flammen. Bildnisse von fremdartigen, wunderschönen Frauen und Männern schimmerten an den Wänden. Groß und schön waren sie, goldhäutig, ihr Haar von der Farbe geschliffener Saphire. Ronin mußte blinzeln und sich zwingen zu atmen. »Was ist los?« Ihre Hand berührte seine Schultern. »Ich kenne diesen Ort… Ich habe ihn früher schon einmal gesehen!« Seine Stimme war belegt. »Oh, aber das ist unmöglich. Du – « »Ich bin schon einmal hier gewesen, Kiri – « »Ronin – « »Und ich werde wieder hier sein, ich weiß das jetzt. Glaub mir, ich kenne diesen Ort. In der Stadt der Zehntausend Pfade, im Hause dor-Sefriths, dem großen Magier von Ama-no-mori – «
Er hatte lange genug gewartet. Vorsichtig hetzte er über die Straße, von Schatten zu Schatten, und als er unter dem großen Steinkrug stand, war sein Schwert gezogen. Rasch und geschmeidig huschte er hinein, mit der rechten Schulter voran, um das geringstmögliche Ziel zu bieten. Schwer hing der Geruch von Pulvern und Salben und Säften in der Luft, und er wußte, noch bevor er es sah, daß die gesamte Einrichtung samt Flaschen und Krügen und Fläschchen und Tiegeln zertrümmert worden war. Ihr rätselhafter Inhalt vergossen, dunkle Flecken auf dem Boden, in geheimnisvollen Kombinationen gemischt.
Den Apotheker fand er hinter der Theke. Er lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet wie die Schwingen eines Adlers. Wie ein obszönes Gewächs ragte die Axt aus seiner Brust. Ronin zog sie heraus und warf sie achtlos beiseite. Auf dem Boden waren zwei blutrote Streifen zu erkennen, ein umgekehrtes V. Hatte der Alte versucht, mit seinem verströmenden Blut eine Nachricht für ihn zu schreiben? Wie auch immer – er hatte es nicht mehr geschafft. Und mit dem Tod des Apothekers war auch seine letzte Hoffnung dahin, die Schriftenrolle nutzlos und nichtig. Der Dolman war nicht mehr aufzuhalten. Das Ende der Menschheit gewiß… Er witterte die Bewegung hinter sich, federte seitwärts weg, riß seine Klinge hoch, ein flirrender silberner Schemen. Dann erst gellte der Schrei auf. Ronins Klinge schmetterte gegen zwei Beine, durchtrennte sie. Eine Axt krachte zu Boden. Schritte. Einige Bodenbretter knarrten. Ronin orientierte sich. Wich weiter zurück. Plötzlich war überall um ihn her Bewegung. Er wirbelte herum, schlug wieder zu, kurze, blitzschnelle Hiebe, die jedesmal trafen. Ein wuchtiger Schatten – direkt vor ihm! Ronin fetzte die Klinge seitlich vor, rammte sie in den Hals des Angreifers. Heißes Blut spritzte in sein Gesicht. Er wich zurück, entfernte sich von den Körpern, die im Sterben wie rasend tanzten. Aber sie ließen ihm keine Chance. Von überallher stürzten sie sich jetzt auf ihn, hängten sich an seinen Schwertarm, schlugen auf ihn ein. Ronin wehrte sich, kreiselte um seine eigene Achse, schlug Finger und Hände ab, spaltete einen, zwei, drei Schädel, aber es waren zu viele. Dieses Mal waren sie kein Risiko eingegangen! Irgendwann hatten sie es geschafft! Sie rissen ihn von den Füßen, drängten ihn zu Boden, schlugen auf ihn ein, würgten ihn, traten ihn. Er kämpfte noch immer, aber es war sinnlos.
Sie drückten seine Hände und Füße auf den dreckigen Boden, er würgte, bekam keine Luft mehr und begann übergangslos eine scheinbar endlos weite Sandböschung hinunterzukollern, er überschlug sich, fiel in ein schwarzes Land, wo Äxte mit sichelförmigen Klingen wie ungeschnittener Weizen aus blutroten Leichnamen wuchsen.
»Wir sind keine habgierigen Seelen!« Turmalin schwebte im Rauch. »Wir sind so, wie wir sein müssen.« Rot-grün-braun blinkten die Facetten in dem Perlenleuchten. »So, wie uns die Geschichte zu sein bestimmt hat.« Der blaue Dunst, gefroren, hob und senkte sich wie das Meer bei Ebbe und Flut. »Schachfiguren.« Ein rauher Ausbruch von Gelächter. Blubbernd, wild, als habe man unter Druck stehendes Wasser freigelassen. »Oje, oje.« Eine tiefe, schwere Stimme. Turmalin, der im bunten Glanz tanzte, eine Miniatursonne auf der nach außen gewölbten Oberfläche. »Ja. Wir sind das Resultat einer unversöhnlichen Vergangenheit. Von den Erfordernissen unseres Landes hierhin und dorthin geschleudert. Ob wir aufgestiegen sind, bevor das Bedürfnis nach uns aufgekommen ist? Konnten wir es denn?« Die Turmalinsonne zitterte an ihrem Firmament. Er hatte fette Wangen, und seine Kiefer waren kaum erkennbar. Sie schwabbelten, wenn er lachte. Eine breite, flache Nase stach aus dem wuchtigen Schädel, schmale Schlitzaugen funkelten heimtückisch und böse. Der Kugelschädel schien direkt auf die massigen Schultern gesetzt zu sein. Der Mund war klein und irgendwie zart.
»In langen Jahrhunderten, zu fern, um sie noch zählen zu können, wurden wir in den Gedanken unserer Götter geformt, zum Schutze unseres Volkes, und um den Reichtum unseres Landes zu hüten.« Er saß in einem Korbsessel, dessen hohe Lehne sich in elegantem Schwung emporwand, wie die suchend umhertastenden Hälse zweier ungeheuerlicher kopfloser Wesen, Zwillinge ohne Verstand. »Um die Roten zu vernichten!« Ein fleischiger Arm schwang hoch und legte sich mit einem scharfen Knacken auf das Korbgeflecht. »Um die Macht der Rikkagin zu untergraben. Um Rache zu nehmen an all jenen, die zu uns kommen, um nichts als Reichtum zu suchen. Diebe und Schlimmeres. Mörder.« Die Kobaltaugen verlagerten ihren Brennpunkt. »Unser Preis ist hoch, ja; und man bezahlt ihn jede Stunde jedes Tages und jeder Nacht im Hoheitsgebiet von Sha’angh’sei. Wir werden bezahlt, um jene zu schützen, die wie verängstigte Ameisen in der befestigten Stadt leben. Wenn wir das wollten, würde diese Stadt uns gehören. Die fetten Hongs liefern uns genau jene Tarife ab, die wir verlangen. Die Rikkagin, die durch den Krieg im Norden reich wurden, bezahlen uns an jedem letzten Tag des Monats. Ah – wie ich sie hasse! Wie ich mich bemühe, sie zu schlagen! Es ist nicht genug, ihr Geld zu nehmen, nein, nicht annähernd genug!« Ein Geräusch. Der Blick der Kobaltaugen glitt tiefer. »Meinst du, daß er alles gehört hat?« Er machte eine unwillige Handbewegung, und einer seiner Männer schüttete Ronin das Salzwasser ins Gesicht. Es brannte in seinen Wunden, aber gleichsam machte es auch seinen Schädel frei. Wieder stöhnte er. »Du sollst ganz bei Besinnung sein«, sagte der riesige Mann.
Ronin riß seinen verschwommenen Blick vom Turmalin, der um den Hals des Mannes lag, los. Die Wände des Raumes bestanden aus Bambus, waren mit einem klaren Lack überzogen, so daß sie im schwachen Lampenlicht glänzten. Es gab keine Fenster, aber in der Decke war ein Dachfenster in die klare Nacht hinaus geöffnet. »Du hast viele meiner Männer getötet, vielen Frauen und deren Familien Kummer gemacht.« Er seufzte. »Wir sind die Ching Pang. Die Grünen.« Seine fleischige Hand griff unter sein Gewand, zog einen Gegenstand hervor. Ein schwaches Funkeln. Dann fiel das Ding vor Ronin auf den Boden. »Da!« Es war das Silberhalsband, das er dem toten Mann abgenommen und später T’ung als Bezahlung angeboten hatte. Er starrte auf die winzige Silberblüte, während er das Salzwasser aus seinen Augen wischte, und einen Moment lang glaubte er fernen Glockenschlag zu hören, den gedämpften Ruf eines Horns, ja, und er meinte die träge umherschwimmenden Fische in jenem vollendeten Tempelgarten sehen zu können, der jetzt irgendwo im Labyrinth von Sha’angh’sei verloren war. Ewigkeit. »Sag uns, wer du bist. Wer hat dich hierher geschickt?« Ronin hustete und schluckte dann versuchsweise. »Bestimmt waren es nicht die Roten. Sie wissen weniger von der Sakura als wir.« »Ich weiß nichts von diesem Halsband.« »Das ist eine Lüge. Du hast Ching Pang angegriffen. Du wolltest deinen Freund retten…« »Wen?« »Den Mann in Schwarz. Den Mann, der dieses Silberhalsband bei sich trug.« Der große, fette Mann gab sich so geduldig wie ein Onkel, der zu einem ungezogenen Kind sprach. »Ich sah, daß jemand angegriffen wurde, wollte helfen.«
Der gewaltige Mann lachte. »Ich habe keinen Zweifel mehr. Dumm, daß du dich uns so offen zeigst. Du unterschätzt uns. Weshalb wurdest du hierhergeschickt?« »Ich kam nach Sha’angh’sei, um ein Rätsel zu lösen.« »Woher bist du gekommen?« »Aus dem Norden.« »Lügner! Im Norden gibt es nur Wilde!« »Ich stamme nicht aus diesem Land.« »Und die Sakura?« »Ich weiß nicht, was du willst.« Voller Mitleid schaute der riesige Mann auf Ronin nieder, dann hob er seinen Blick. »T’ung, es ist an der Zeit, das zu tun, was du tun mußt.« »Soll ich ihn zuerst töten?« »Nein, aber sei zufrieden, das wird später kommen.« »Ich will ihn haben.« »Du wirst ihn bekommen. Aber zuerst wirst du ihn mitnehmen. Er soll sehen, wie es den Elenden ergeht, die sich weigern, mit uns zusammenzuarbeiten…«
Der Mann war groß, hager und voller Angst. Seine Hände waren an einen kurzen Bambusstab auf seinem Rücken gebunden. Unablässig flehte er sie an, ihn zu verschonen. Aber die Grünen gaben ihm keine Antwort. Schweigend stießen sie ihn vor sich her. Ronin biß die Zähne zusammen. T’ung und noch zwei andere Grüne. Und er war gefesselt, wie der hagere Mann. Keine Chance. Wie Diebe stahlen sie sich durch die Schatten der Nacht, enge, abfallbesäte Gassen entlang, in denen es keine Nachtlichter gab, dort, wo der süße Rauch die Luft
schwängerte und das Klappern von Würfeln wie ein atonaler Zapfenstreich war. »Halt!« zischte T’ung. Der Hagere zitterte. »Verdammt, sagt endlich, was – « Weiter kam Ronin nicht. T’ung holte aus und ohrfeigte ihn. Einer der Grünen holte eine halb gefüllte Reisschale unter seinem Umhang hervor. Die Augen des Hageren traten bei ihrem Anblick hervor. Plötzlich begann er sich im Griff des Grünen zu winden. »Nein!« keuchte er. Sorgfältig, beinahe feierlich, stellte der Mann die Reisschale auf die unterste Stufe einer Treppe, die zu einer schmalen Eingangstür emporführte. Zwei Stäbchen legte er neben die Schale. Dann erhob er sich, drehte sich um und trat, sich leicht vor T’ung verneigend, an Ronins Seite. »Sieh genau hin«, flüsterte er kalt. »Er stirbt einen grausamen Tod. Er wußte über viele Dinge Bescheid. Leider teilte er sein Wissen mit den falschen Leuten. Dafür bezahlt er nun.« T’ung zog seinen Dolch…
»Fürwahr, es ist bedauerlich«, sagte Du-Sing. »Wir, die wir die Beschützer von Sha’angh’sei sind, sind gezwungen, mit der Geißel der Furcht zu regieren. Ein Imperativ dieser Stadt, eine vorgegebene Regel, wenn du so willst, die wir einfach als weitere Tatsache unserer Existenz betrachten. Es gibt nur diese eine Möglichkeit. Die Furcht ist ein überzeugendes Argument. Wenn man einem Ku-baru sagt: ›sag uns, was wir wissen wollen, oder wir sind gezwungen, dir den Fuß abzuschneiden!‹, so wird er sich mit seiner Antwort beeilen, denn ohne seinen Fuß kann er nicht arbeiten und somit also auch seine Familie nicht ernähren. Dasselbe gilt für einen
Rikkagin, wenn man ihm sagt: ›sag es uns, oder wir werden dir die rechte Hand abschneiden.‹ Nun, natürlich wird er uns alles erzählen, was wir wissen wollen.« Er lachte, und sein fettes Gesicht wackelte. Dann nahm Du-Sings Gesicht jedoch eine besorgte Schärfe an. »Es sind die Hongs und die Rikkagin und die KantonPriester, die ihren seelenlosen Dreck ausspucken, die das Volk von Sha’angh’sei berauben. Und es sind die Ching Pang, denen der Ruf von Dieben, Mördern und bösen Menschen vorauseilt. Welch Hohn! Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein!« »Ist das deine Rechtfertigung für das, was T’ung mit diesem armseligen Burschen angestellt hat?« fragte Ronin frostig. »Rechtfertigung?« schrie Du-Sing. »Wir brauchen keine Rechtfertigung. Wir tun, was getan werden muß. Niemand sonst wird es tun. Und diese Stadt muß überleben. Durch unser Wirken wird sie überleben!« Er verlagerte sein Körpergewicht, setzte sich bequemer zurück. »Das, was du gesehen hast, mag dir als moralische Lektion im Gedächtnis haftenbleiben. Du atmest jetzt unter unserer Duldung.« Er zog das Silberhalsband hervor. »Wo ist deines?« stieß er plötzlich hervor. Seine Stimme zitterte. »Ich kenne nur dieses eine«, erwiderte Ronin sanft. »Hast du es vielleicht vergraben?« »Ich kenne nur dieses eine.« »Ist deine Mission in Sha’angh’sei dieselbe wie die der anderen?« »Bis zu dem Augenblick, da ich aus dem Wasser gefischt wurde, hatte ich noch nie etwas von dieser Stadt gehört.« »Dann hast du den Mann also auf dem Schiff kennengelernt?« »Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen – «
»Es gibt viele Methoden, die Wahrheit aus dir herauszuholen, und T’ung kennt sie alle. Ich brauche dich doch nicht daran zu erinnern, wie sehr er darauf brennt, dich ganz für sich allein zu haben…?« »Die Wahrheit wurde bereits gesagt.« »Du sprichst wie ein wahrer Held«, sagte Du-Sing voller Sarkasmus. »Bist du tatsächlich so dumm, zu glauben, wir könnten dich nicht brechen?« »Nun, ich weiß, daß ihr irgendwann eine geeignete Methode finden werdet… Und dann werde ich gezwungen sein, euch eine Lüge zu erzählen, damit ihr mich tötet.« »Die Wahrheit ist alles, was wir haben wollen.« Ronin lachte kurz. »Die Wahrheit – und mein Leben. Ich bin weder ein Kubaru noch ein fetter Hong, den deine Drohungen einschüchtern. Ich stamme nicht aus dieser Stadt. Ich halte dich oder die Ching Pang nicht in ehrerbietiger Erfurcht, wie alle andern in dieser Stadt es tun. Ihr bedeutet mir nichts.« Er starrte in die tiefblauen Augen, und sie hielten seinem Blick stand. Ronin räusperte sich und sprach weiter: »Und außerdem ist das alles bedeutungslos… Das namenlose Grauen wirft seinen Schatten gegen die Wand. All eure sorgfältig gesponnenen Machtsysteme sind dazu verdammt, zerfetzt zu werden, zu vergehen, wenn der Dolman nicht aufgehalten werden kann!« T’ung bewegte sich hinter ihm. »So eine Albernheit ist – « Du-Sings Hand zuckte hoch, gebot Einhalt und Stille. Er sah Ronin blinzelnd an, und in diesem Augenblick glaubte er, die Spur einer Du-Sing normalerweise gänzlich fremden Emotion auszumachen, weit, weit in den Tiefen seiner Augen. »Er weiß von den Bujun«, sagte T’ung. »Ich weiß es. Er kann uns sagen – « »Ruhe!« brüllte Du-Sing. »Idiot! Soll man dir die Zunge aus dem Mund reißen?« Er bemühte sich, wieder ruhiger zu
werden. »Chei soll vier Männer hereinschicken«, sagte er nach einer Weile. T’ung durchquerte den Raum und öffnete die Tür. Dort sprach er mit einem der davor postierten Wächter. Als er zurückkehrte, blickte Du-Sing zu ihm auf und sagte: »Und jetzt – gib ihm sein Schwert.«
Flüssiges Silber, das sich unter einem gewaltigen Windstoß kräuselte. Zwei Männer im Lampenschein. Kalt und hart und geschliffen. Das Pfeifen gekrümmter Klingen. Der scharfe beißende Geruch von Schweiß und tierischer Furcht. Eine leichte Bewegung am äußersten Rand seines Blickfeldes. Licht, das auf der langen, beidseitig geschliffenen Klinge flirrte. Adrenalin schoß durch seinen Körper. Schneller. Verdoppeln. Stoßen und umdrehen. Sie begriffen es nicht, sie kämpften ganz anders, und Anpassung brauchte Zeit. Er gab sie ihnen nicht. Eine Klinge mähte zu ihm her, und er wehrte sie blitzartig seitwärts ab, kreiselte gleichzeitig herum und seine Klinge fraß sich in den Leib des Grünen. Der Mann schrie. Blut spritzte aus der Wunde an seiner Seite. Er taumelte und fiel. Ein Axthieb streifte seine Schulter. Ronin wirbelte herum, sein Schwert zuckte nach vorn, schrammte über die gekrümmte Klinge und ließ blaue Funken tanzen. Er parierte zwei weitere Hiebe, bevor er unter einem schräg heruntersausenden Schlag nach vorn sprang und dem Grünen seine Klinge in den Leib rammte. Der Gestank des Todes verdickte die Luft. Ronin riß sein Schwert zurück. Der tödlich Verletzte preßte seine Hände auf die Wunde, versuchte den pulsenden Blutstrom zu stoppen. Vergeblich.
Der nächste Angreifer stürzte heran, schmetterte seine Klinge gegen Ronins Waffe, versuchte, ihn zurückzudrängen. Beinahe wäre es ihm gelungen. Ronin fintete, wich dem nächsten Axthieb aus, federte in die Knie… Und dann kam seine Chance. Der Grüne holte zum tödlichen Schlag aus, blitzschnell zuckte seine Waffenhand hoch – aber Ronin war noch schneller. Senkrecht stieß er seine Klinge hoch und trieb sie mit aller Kraft in die Kehle des Mannes. Der Körper ruckte, wild flogen die Arme auseinander, als versuche er zu fliegen. Der Mund klaffte auf, Blut quoll heraus. Dann verkrampfte sich der Mann, als wolle er ein ungeheures Gewicht abwerfen. Die Axt jagte über den Boden. Ronin war schon wieder unterwegs, ließ sich fallen und rollte durch den Raum, bis er mit dem Rücken gegen eine Bambuswand stieß. Der vierte Gegner kam auf ihn zu. T’ung hielt ihn plötzlich am Arm zurück und sagte, auf Ronin starrend: »Er gehört mir. Bleib weg von ihm.« Geduckt näherte sich T’ung. Die Axt pendelte hin und her. Dann griff er an. Sein Schlag zielte auf Ronins Knie. Er wollte ihn erst verkrüppeln, dann töten. Ronin durchschaute die Taktik. Gerade noch rechtzeitig bekam er seine Klinge herunter. Er parierte. Die Wucht des Schlages pflanzte sich bis in seine Haarspitzen fort. T’ung verlor keine Zeit. Er täuschte rechts und griff von links her an. Der Schlag war trügerisch, schwerfällig, aber er durchbrach Ronins Deckung, die Sichel aus scharf geschliffenem Metall raste auf das Schlüsselbein zu. Ronin fetzte sie mit seiner behandschuhten Linken beiseite. T’ungs Augen weiteten sich ungläubig. Ronin bemerkte es. Er ließ sein Schwert fallen und federte vor! Licht wirbelte über die Schuppen des Handschuhs, als die Linke vorzuckte. Ronin rammte T’ung die Faust gegen die
Luftröhre. In einem wilden Reflex zuckte T’ungs Zunge vor, er bekam keine Luft mehr. Dennoch wehrte er sich verbissen. Er versuchte, Ronins nächstem Schlag auszuweichen. Aber das war unmöglich. Der Hieb schmetterte in sein Gesicht, und die Wangenknochen zersplitterten. Er schrie, sein Kopf wurde herumgeworfen. Seine Hände tasteten über den Boden, Süchten nach der Axt. Die anderen Grünen machten Anstalten, einzugreifen, aber auf einen Wink von Du-Sing hielten sie inne. Wieder schlug Ronin zu… Visionen: Eine dunkle Gasse. Eine auf dem Boden ausgestreckt liegende Gestalt, ein Flehen… Und Zähne brachen unter der Gewalt seines Schlages, der Unterkiefer wurde zertrümmert, hing herunter, augenlose Höhlen und ein Mund, der nicht mehr sprechen konnte… T’ung, grinsend, den Dolch noch in der Hand… Und T’ungs Nase brach, verwandelte sich zu einer breiigen Masse. Urplötzlich ließ Ronin von ihm ab, warf sich herum, hob sein Schwert auf und stürmte auf den letzten Grünen zu, seine Klinge blitzte auf, als hielte er einen lebendigen Blitz in der Hand. Entsetzt wich der Mann zurück, aber er brachte seine Axt hoch, schlug zu – und fehlte. Ronins Klinge raste auf ihn herunter, platinfarben, der Länge nach pulsierend… und spaltete den Schädel des Grünen. Wie ein aufgespießter Fisch zuckte der Körper des Mannes… Ronin kümmerte sich nicht um ihn. Er bückte sich, riß das am Boden liegende Silberhalsband hoch und stürmte weiter, zur Tür. Mit voller Wucht warf er sich dagegen. Das Holz splitterte. Er krachte ins Freie und gegen den Grünen, der dort postiert war. Mit einem wilden Fausthieb schickte er ihn zu Boden. Chei hetzte durch die Tür, die Axt zum Schlag erhoben.
Du-Sing machte eine kurze Geste. »Laß ihn!« Und nach einem Moment: »Mach die Tür zu und komm her!« Chei gehorchte. Vorsichtig stieg er über die Leichen seiner Kameraden. Du-Sing rieb sich mit seiner fleischigen Hand über die Augen. »Ruf einen Läufer herbei«, sagte er dann gedehnt, »und eine Eskorte. Drei Ching Pang sollen ihn begleiten. Unsere besten Männer. Du wirst mit ihnen gehen.« Er starrte auf den vor ihm stehenden Mann. »Ich will, daß ihr eine Botschaft zu Lui Wu bringt.« »Aber Du-Sing, das kann nicht dein Ernst sein – « »Doch. Ich habe mich entschlossen. Ich nehme mit dem Taipan der Hung Pang Kontakt auf.« »Die Roten«, hauchte Chei, und in seinem Gesicht stand Verwunderung geschrieben. Kalt erwiderte Du-Sing seinen Blick.
Er lief nicht vor den Grünen davon. Davonlaufen – das lag nicht in seiner Natur. Außerdem fühlte er, daß sie jetzt keine Gefahr mehr für ihn darstellten. Nicht nach dem, was er in DuSings Augen hatte lesen können. Der Mann wußte um den Dolman, zumindest jedoch, daß der Krieg im Norden nicht mehr das war, was er so viele Jahrhunderte lang gewesen war. Dennoch hetzte er durch die Nacht von Sha’angh’sei, durch düstere enge Gassen voller dahindösender Familien und streunender gelber Hunde, deren Fell von den vorstehenden Rippen gestreift wurde, die breiteren Straßen entlang, in denen nächtliche Zecher umhertaumelten und stöhnten und sich erbrachen… Plötzlich gellte ein kreischender Schrei auf. Eine Frau… Irgendwo in der Jasminnacht. Aber viel zu schnell brach der Laut wieder ab, und er wußte, daß es keine Rolle mehr spielte, woher er gekommen war.
Und er rannte weiter, seine Lungen brannten, seine Beine bewegten sich wie von selbst. Verzweiflung senkte sich auf ihn herunter. Sein Schädel war mit einer Folge winziger Einzelheiten angefüllt, Worte und Ereignisse und Hinweise, die er aufgenommen hatte, die jedoch bisher irgendwo in den Tiefen seines Bewußtseins geschwebt hatten. Einzeln waren sie bedeutungslos gewesen, doch als Teile eines Ganzen wurden sie zu einem erschreckenden Gebot. Oh, Kiri, wie ein Lied in seinem verwirrten Geist, während er durch das Straßenlabyrinth von Sha’angh’sei rannte. Und dann, endlich, erwachte Sha’angh’sei für ihn zum Leben, ein leuchtendes, pochendes Wesen mit eigener körperlicher Existenz. Er fühlte ihre Gegenwart förmlich, so wie den Körper einer Geliebten, heiß und feucht, aufregend und beängstigend, besitzergreifend und unersättlich, und das Gemisch von Triumph und Furcht in seinem Inneren war überwältigend.
Düster und still lag die Okanstraße in der Dämmerung. Die hohen Bäume, die den Straßenrand säumten, wirkten wie erstarrt, die nächtlichen Geräusche scheinbar wie weggewischt, als gehörten sie in eine andere Zeit, einer schwach wahrgenommenen Zukunft, vielleicht Stimmen, die im langsamen Wechsel der Jahrhunderte ertönten. Er stürmte die anmutig geschwungene Treppe hinauf und donnerte gegen die massiven gelben Türen. Sie schwangen auf. Seine Rechte schoß vor, riß die Frau mit den geweiteten Augen zu sich heran. »Wo ist Kiri?« Natürlich erkannte sie ihn und hielt die Wachen zurück. Mit einem sanften, kaum erkennbaren Lächeln bat sie ihn, ihr zu folgen. Sie geleitete ihn in den Raum mit dem goldenen Licht und verließ ihn sodann eilig.
Ronin streifte zwischen den kleinen Sofas und Tischen herum. Unruhe pulste in ihm. Er brauchte etwas zu trinken. Aber wie gewöhnlich war alles weggestellt worden. Als die Frau die Treppe herunterkam, drehte er sich um. »Sie wird zu dir kommen.« Erleichterung durchflutete ihn, und er entspannte sich und atmete tief durch. Dann stand sie auf dem obersten Treppenabsatz, schlank und geschmeidig, ihr schwarzes Haar wie ein endlos weiter Ozean um ihre Schultern, und einen Augenblick lang schien sie ihm fremd, eine andere zu sein. »Was ist passiert?« Rasch schritt sie die Treppe herunter. »Bist du verletzt?« Er sah auf sein zerrissenes und blutiges Gewand. »Verletzt? Nein, ich glaube nicht.« Er sah auf. »Kennst du Du-Sing?« Sie starrte ihn an. »Wo hast du diesen Namen gehört?« »Grüne haben beim Apotheker auf mich gewartet. Sie brachten mich zu ihm.« »Und du lebst immer noch…« murmelte sie überrascht. »Wahrscheinlich glaubte er dich im Besitz wichtiger Informationen. Aber was für – « Ronin seufzte. »Seine Leute waren es, die den Fremden erschlagen haben. Ich habe gegen sie gekämpft. Ich habe dir davon erzählt…« Sie winkte ab, fließender Lavendel auf ihren Nägeln. »Ja, und weiter?« »Sie sind geflohen. Ich nahm dem Toten eine Silberkette ab. Irgend etwas bewog mich, sie zu nehmen. Ich weiß nicht, was. Nun, die Kette war Anlaß für meinen Streit mit den Grünen, oben, in der befestigten Stadt.« »Du hast sie ihnen gezeigt?« »Wie ein Narr. Ich wollte mir damit den Weg zum Rat freikaufen.«
»Wäre die Situation nicht so ernst, so wäre es lustig.« »Ja…« »Warum ist die Kette so wichtig?« »Eine Silberblüte hängt daran. Die Sakura… so nannte sie Du-Sing.« »Ich – « Er unterbrach sie. »Ich werde sie dir zeigen, wenn wir mehr Zeit haben. Jetzt aber muß ich die Frau sehen, die ich zu dir gebracht habe. Moeru.« »Aber es ist so spät. Ich will sie nicht wecken.« »Kiri – « Sie lächelte. »Schon gut, mein Freund. Aber dann mußt du mir berichten, was Du-Sing von dir wollte. Und über den Mann in der Gasse – « »Komm«, sagte er. Sie ging in die oberen Räumlichkeiten voran. Leise traten sie in das dunkle Gemach. Kiri entzündete die Lampe, die auf dem kleinen Holztisch neben dem breiten Bett stand. Moerus dunkles Gesicht war entspannt, drückte Ruhe und Frieden aus; Dreck und Schmerzen waren verschwunden. Ganz entzückend sah sie aus. Ihre langen ovalen Augen und ihr breiter Mund gaben ihrem Gesicht die Offenheit der Unschuld, ein Kind, das in einem fernen Land schläft. Kiri beugte sich über sie. Ihre Augen öffneten sich; sie starrte Ronin an. Er sah das wilde, offene Meer. »Dies ist der Mann, der dich gerettet hat, Moeru. Matsu hat dir von ihm erzählt.« Moeru nickte und streckte ihre schlanke Hand aus. Die einstmals rissigen Nägel waren geschnitten und poliert und begannen bereits durchscheinend und glänzend zu werden. Sie berührte seine Hand, strich über deren Rücken. Er beobachtete ihren Mund, aber die Korallenlippen bewegten sich nicht. Stumm von Geburt an, dachte er.
»Moeru, ich muß dich um einen Gefallen bitten. Es ist sehr wichtig… Wirst du mir helfen?« Sie nickte. »Zieh die Bettdecke weg«, sagte er. Kiri sah stumm zu. Moeru wischte die leichte Decke beiseite. Sie war nackt. Ihre Haut wie poliertes Gold. Vielleicht eine Spur von Oliv. Ihr Körper war so schön wie ihr Gesicht, fest und fein gerundet und sinnlich. »Ist der Verband gewechselt worden?« »Du hast Matsu gesagt, daß das nicht geschehen dürfe«, erwiderte Kiri. »Ich werde den Verband abnehmen, Moeru.« Gelassen betrachteten ihn die blaugrünen Augen. Moeru öffnete ihre Beine. Ronin strich über den warmen Oberschenkel. Ein Muskel zuckte unter der Berührung. Vorsichtig zog Ronin den Verbandsstoff weg. An der Innenseite des Schenkels bemerkte er eine Wölbung. Er sah auf ihre Beine. Gespreizt erinnerten sie an ein umgekehrt gezeichnetes V. Ronin nahm den Verband vollends ab. Die menschenförmige Wurzel kam zum Vorschein. Moeru strich sich über die Stelle, die der Verband bedeckt hatte, dann deckte sie sich wieder zu. »Sie war nicht verletzt.« Kiri schüttelte den Kopf. »Ja, ich weiß. Der alte Apotheker brauchte nur einen Vorwand, um dies hier zu verstecken.« Er zeigte ihr die geheimnisvolle Wurzel. »Was ist das?« »Die Wurzel alles Guten«, antwortete er mit einem Lachen. »Oder allen Übels.« Dann brandete der Schrei auf, sich überschlagend, voller Grauen, und Ronin hetzte los. Kiri folgte ihm dichtauf. Den
Korridor entlang. Im gleichen Augenblick roch er den fürchterlichen Makkon-Gestank! Trotz der geschlossenen Tür fühlte er die unaussprechliche Kälte! Er stoppte. »Nein!« stöhnte Kiri, »o nein!« Er verstand nicht, bis er die Tür aufgebrochen hatte und schon im Raum war. Die Ungeheuerlichkeit seines Irrtums traf ihn wie ein schrecklicher Schwerthieb, und er fluchte laut, während er seine Klinge blankzog. Kiri schluchzte. Ronin ignorierte sie und konzentrierte sich auf das Ding, das vor ihm stand. Es war über drei Meter hoch, mit dicken, mächtigen, behuften Säulenbeinen. Die Gliedmaßen waren verdreht, knorrig, verwachsen, die oberen länger als die unteren, mit sechsfingrigen Klauenhänden. Der Kopf war ungeheuerlich. Eine bizarre schwarze Fläche, in der unheilvolle, fremdartige Augen saßen, die orangenen Pupillen nicht mehr als senkrechte Schlitze. Darunter ragte ein obszöner, kurzer, gebogener Schnabel vor, der sich krampfartig öffnete und schloß. Das Wesen pulsierte unbeständig, die Konturen nahmen ab und wieder zu und wieder ab. Ein Schwanz peitschte nervös hin und her. Jetzt war die Kreatur auf ihn aufmerksam geworden. Ganz langsam wandte sie sich ihm zu. Ein unheimlicher Schrei brach aus dem Schnabel hervor. Mit einer unwilligen Kopfbewegung schleuderte es die Reste dessen, was einmal ein Mensch gewesen sein mußte, zu ihm herüber, eine zerbrochene rosaweiße Hülle. Ronin wich aus. Aber die Bestie hielt noch immer Matsu in den Klauen, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er hätte es wissen müssen. In jener Nacht, da der Makkon Sa getötet hatte, war er mit Matsu zusammengewesen, nicht mit Kiri. Dich! hatte der Dolman in seinem Geist gekreischt. Dich!
Deshalb war er wie von allen bösen Geistern gehetzt gerannt, deshalb hatte er es so eilig gehabt, ins Tencho zurückzukommen. Die Erkenntnis, daß der Makkon in jener Nacht nach ihm gesucht hatte und daß er zurückkehren würde, hatte ihn vorangepeitscht. Und er hatte nur an Kiri gedacht, mit der er in letzter Zeit so oft zusammengewesen war, und jetzt sah er den gequälten Blick in Matsus Augen, und sein Herz schrie auf in plötzlichem Schmerz. Seine Lippen bewegten sich, riefen leise ihren Namen. Wieder schrie der Makkon, und seine krallenbewehrte Faust stieß in ihre Hüfte hinunter, und Matsu schrie vor Schmerz, als ihr Becken zerbarst und weiße Knochen durch das Fleisch stießen. »Matsu!« Ronin stürzte sich vor, und die ekelhafte Körperausdünstung des Monsters schlug ihm entgegen. Sein Gesicht wurde von einer unirdischen Kälte getroffen, wurde taub, rasend schnell. Er schrie auf, ein Reflex, als der Schmerz ihn durchraste, und er schlug zu. Die Klinge sprang von der Schuppenhaut ab! Der Makkon-Schnabel öffnete sich, ein eigenartiger Ton erfüllte den Raum, ein abscheuliches Gelächter, und dann schlug die Bestie zu, und die Wucht des Schlages schmetterte Ronin zurück. Ein Pfeiflaut, hoch und durchdringend, in seinem Geist widerhallend. Der Makkon verstummte. Erneut gellte der Pfiff, jetzt beständig. Der Makkon schrie vor Wut, riß an Matsus Arm, fetzte ihn aus dem Gelenk, und als Ronin näher kam, zerfetzte das Ding ihre Kehle. Blut spritzte über ihren weißen Körper. Der Makkon schrie und warf den Leichnam des Mädchens achtlos beiseite. Dann hetzte er los und glitt durch das Fenster ins Dunkel der Nacht.
Ronin taumelte. Halb betäubt kniete er neben Matsus Leichnam nieder und nahm ihn in seine Arme. Warum habe ich nicht an den Handschuh gedacht? Und er starrte auf ihren blutbesudelten Körper hinunter und drehte sich nicht einmal um, als er die Bewegungen hinter sich wahrnahm. Ein kalter Wind wehte über ihn hinweg. Er beachtete ihn nicht. Er barg Matsus sterbliche Überreste an seiner Brust. Ein Schatten fiel über sein Gesicht, und erst jetzt blickte er auf. Kiri stand vor ihm, mit einem Brustpanzer aus tiefgelb gefärbtem Leder, hohen, polierten Stiefeln und hellen, ledernen Beinkleidern. Sie wandte sich von ihm ab, trat ans Fenster und starrte hinaus. Sie keuchte auf, als sie im wattigen Dunst der Dämmerung die schrecklichen, pulsierenden Raubtieraugen sah, den zu- und aufschnappenden Schnabel, die dicke, graue Zunge erblickte. Der Makkon schrie wieder. Und Ronin, der noch immer Matsu an sich klammerte, als könne er so verhindern, daß das Leben aus ihr hinaussickerte, dachte an die eine Nacht, in der sie bei ihm gewesen war, in der er ihre köstliche Wärme gefühlt und ihren Worten gelauscht hatte. Sind meine Gefühle so gut versteckt? Ah, die Kälte soll mich holen! Bestimmt, dachte er, bestimmt bin ich ein Verdammter!
IV Kreatur der Finsternis
»Seltsam«, sagte sie und zügelte ihre Stute. Rechter Hand war der Himmel lavendelfarben geperlt, die Sonne nach wie vor lediglich ein Gespenst, das im dichten Morgendunst in die Höhe glitt. Im Norden und im Westen war es noch dunkel. Die Lumas schnaubten und stampften unwillig auf, begierig darauf, endlich wieder die Zügel frei zu bekommen und vor dem Wind dahingaloppieren zu dürfen. Sha’angh’sei war ein lang ausgestrecktes Etwas hinter ihnen, ein schmutziger Streifen, der sich bizarr bis zum Meer hinunter erstreckte. Sie hatten auf einem von den ersten Sonnenstrahlen sacht berührten Hügelkamm angehalten und überschauten den breiten, sich dahinwindenden Fluß, der in das gelbe Meer mündete. Das Wasser war tief, an manchen Stellen gab es turbulente Strudel, an anderen wiederum plätscherte das Wasser ruhig und träge dahin. Ausgehend vom Stadtrand Sha’angh’seis verlief er nahezu direkt nordwärts. Der Makkon folgte seinem Lauf, und sie folgten dem Makkon. »Was ist los?« fragte Ronin. Sie drehte sich halb um, und ihr langes Haar wischte über ihr Gesicht. »Der Wind kündigt den Herbst an…«, sagte sie. Er fühlte die starken Böen, kalt und feucht, die an ihren Umhängen zerrten und die Kronen der hohen, schlanken Fichten erbeben ließen. »Na und?«
In Kiris Augen funkelte ein seltsamer Glanz. »Es ist«, sagte sie leise, »die Zeit des Hochsommers…« »Du folgst ihm, und ich werde mit dir kommen!« Er wollte verneinen, aber gleichzeitig wußte er, daß das sinnlos bleiben würde. Ein Gefühlschaos zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie konnte nicht mehr weinen. Ihr Gesicht war eine weiße Maske des Hasses. »Ich will dir etwas sagen – « Seine Brust schmerzte, als habe ihn ein heftiger Schlag getroffen. »Es ist nicht nötig.« »Ich verstehe nicht. Du kannst nicht wissen – « »Ich kann und ich weiß.« Sie wandte sich dem Fenster zu, und das draußen knospende Licht wirkte seltsam fremd und gespenstisch. »Matsu war mehr als eine Schwester für mich. Mehr als eine Tochter.« »Was dann?« »Wenn ich dir das sagen würde, so würdest du mich für verrückt halten.«
Sie jagten dahin, und das Licht des neuen Tages belebte sich wie geschmolzenes Metall, und die Herbstwinde peitschten ihre Umhänge. Kiris gelöstes Haar flatterte wie der Schweif eines mythischen Geschöpfs, halb Mensch, halb Tier hinter ihr her. Über das öde Land stürmten sie, vorbei an den langen, ebenen Feldern, auf denen unzählige Kubaru-Männer und -Frauen arbeiteten, die Rockschöße zusammengerafft und um die Hüften gebunden, tief gebückt. Entlang an den dahinjagenden Wassern des Flusses, der sich immer weiter gen Norden, hin zu Tod und Vernichtung des Krieges schob, die Ufer schlammig und braun, reich an kostbaren Mineralien, die die nahen Felder nährten.
Dem Makkon folgten sie, und Ronin konzentrierte sich derart intensiv auf die vor ihnen verlaufende Fährte, daß er den Verfolger nicht bemerkte… Bis zum Mittag hatte das Land sie verschluckt, und mit ihnen sämtliche Spuren der Zivilisation. Das Delta, aus dem Sha’angh’sei emporwuchs, war schon lange nicht mehr zu sehen. Das Gelände wurde zunehmend steiniger, trocken, hob und senkte sich in immer höheren Wellen dahin, wie ein sturmgepeitschter Ozean. Es gab nur mehr spärliche Vegetation. Braune und grüne Pflanzen, knorrig, deformiert, gediehen hier und da zwischen gedrungenen Felsblöcken und klammerten sich zäh an jede Nahrung, derer sie habhaft werden konnten. Das Erdreich war trockener und grober und erstreckte sich in einer sanften Neigung vor ihnen empor, immer höher hinauf, je weiter sie sich vom Meer entfernten. Einmal erspähten sie im Osten eine lange Reihe von Soldaten, die nach Norden marschierten, einen Versorgungstroß von Pferden hinter sich herziehend. Staubfahnen hingen in der Luft. Sie spornten ihre Lumas an, und bald hatten sie die Kolonne weit hinter sich gelassen. Die Sonne stand noch hoch im Süden, aber über ihnen und im Norden türmten sich wogende graue Wolkenberge auf. »Sag mir jetzt, was Du-Sing von dir wollte.« »Etwas, das ich ihm nicht geben konnte. Ich weiß nichts von der Sakura.« »Und was ist mit dem Mann in der Gasse?« »Die Grünen haben ihn überfallen und erschlagen. Vier waren es, vielleicht mehr. Ich kam ihm zu Hilfe, aber es war schon zu spät.« »Wie sah er aus?« Sein Kopf ruckte herum, und er dachte: Ah. »Warum willst du das wissen?«
»Es ist eine logische Frage.« Er schüttelte den Kopf. »Wirklich?« Sie lächelte. »Schon gut. Ich habe gewisse Gründe für meine Frage… Wirst du es mir jetzt sagen?« Er sah sie einen Moment lang nachdenklich an, ihr Haar wehte über ihre Schultern, und das erinnerte ihn an Matsu. Ihr Haar hätte – »Er sah anders aus als die Leute von Sha’angh’sei. Anders auch als die Leute aus meinem Volk. Aber die Lichtverhältnisse waren miserabel, und – « »Seine Haut war gelb?« »Ja.« »Und sein Gesicht?« »Schwarze Augen. Hohe Wangenknochen.« »Laß mich die Kette sehen.« Er reichte sie ihr, und sie nahm sie an sich und betrachtete die Silberblüte. »Bujun.« Ihr Atem ein explosiver Laut. »Der Grüne, T’ung, erwähnte dieses Wort, und er hätte noch mehr gesagt, wenn er nicht von Du-Sing unterbrochen worden wäre.« »Ja, das kann ich mir vorstellen.« Sie gab ihm das Halsband zurück. »Die Bujun – das ist eine verschwundene Menschenrasse, vorgeblich die größten Krieger und die Elite der Magier. Sie lebten zu einer Zeit, da zauberische Elemente Basis dieser Welt waren. Die Sakura ist ihr Symbol. Sie soll, so heißt es, nur auf ihrer Insel wachsen.« »Was ist mit ihnen geschehen?« »Niemand weiß, ob sie tatsächlich existieren. Die Geschichten von den Bujun versiegten nach den Zauberkriegen. Vielleicht wurde Ama-no-mori zerstört – « Ronin fuhr auf. »Ihre Insel heißt Ama-no-mori?« »Das schwimmende Königreich, ja.«
»Kiri, die Schriftenrolle, die ich bei mir trage, ist in der Handschrift dor-Sefriths geschrieben, des mächtigsten Magiers von Ama-no-mori!« »Wer hat dir das gesagt?« »Ein Zaubermann aus dem Freibesitz. Er hat die alten Codices studiert, die von der Schriftenrolle berichteten. Und seine Worte wurden mir später von einem Mann bestätigt, den ich in der Stadt der Zehntausend Pfade traf… Bonneduce der Letzte. Dor-Sefrith ist ein Bujun, es gibt keinen Zweifel.« »Dann war der Mann, den die Grünen getötet haben, auch ein Bujun. Sie leben noch!« Ihre violetten Augen blitzten auf. »Kein Wunder also, daß Du-Sing derart darauf brannte, zu erfahren, was du mit der ganzen Angelegenheit zu schaffen hast. Die Anwesenheit eines Bujun in Sha’angh’sei hat etwas zu bedeuten. Möglicherweise wird ihr Interesse am Kontinent der Menschen das Gleichgewicht der Mächte erheblich verändern. Er will den Vorsprung der Ching Pang gegenüber den Hong Pang natürlich halten.« Ronin nickte. »Ja, zuerst. Momentan dürften seine Sorgen allerdings deckungsgleich sein mit den unseren.« »Was meinst du?« »Du-Sing hätte mich jederzeit töten können, aber er tat es nicht. Schon gut, es ist klar, daß er Informationen von mir wollte. Aber er ist ein schlauer Bursche, und er muß gemerkt haben, daß ich nichts von der Sakura weiß – « »Warum sollte er das glauben?« »Er hatte keine andere Wahl, und er wußte es. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, und er war sich dessen bewußt. Dann erwähnte ich den Dolman. Und er wußte Bescheid, Kiri!« Er schlug auf seinen Sattelknauf. »Der Fuchs wußte es! Außer Du-Sing selbst dürftest du wohl am besten wissen, wie perfekt sein Spitzelnetz ist. Jede Kaste in Sha’angh’sei hat mit den
Ching Pang zu tun. Du-Sing hat zehntausend Augen und Ohren in der Stadt und außerhalb. Er weiß, daß der Krieg im Norden nicht mehr gegen die Roten geführt wird. Er versteht die Besorgnis der Rikkagin. Sie kämpfen gegen nichtmenschliche Wesen. Du hast den Makkon ja gesehen, du hast gesehen, was zu tun er in der Lage ist. Die traditionelle Feindschaft, die die Schicksale der Grünen und der Roten bestimmen, ist gebrochen. Die Streitkräfte des Dolman sind auf den Kontinent der Menschen gekommen.« Die Lumas hinterließen eine hochwehende Staubfahne, als sie in eine zerklüftete Schlucht hinunterjagten. Auf einem Plateau hinter ihnen erschien ein einsamer Reiter. Aufrecht saß er auf einem himmelblauen Luma. Ronin und Kiri erreichten die Schluchtsohle. Über ihren Köpfen flatterten graue und braune Vögel auf und flohen vor den herannahenden Wolken nach Süden. Windböen fuhren in die Kronen der Fichten. Die Trostlosigkeit des Landes verlieh ihnen die symbolische Kraft ewiger Wächter… Ronin und Kiri trieben ihre Lumas an, Seite an Seite jagten sie durch die Schlucht, an riesigen Felsbrocken vorbei, immer weiter, bis der Weg wieder anstieg. Auf einem einsamen Plateau hielten sie an, und Ronin stieg ab und streichelte den langen Hals des Hengstes, als er ihn umrundete, um nach den Makkon-Spuren zu sehen. Ungeduldig tänzelte das Tier. Ronin kniete sich nieder, wischte über die tief eingegrabene Fußspur. Unverwechselbar. Die Huf abdrücke jeden kleineren Tieres wären zumindest teilweise vom Wind verweht worden. Aber die Spuren des Makkon waren nicht so leicht zu verwischen. Erst recht nicht, wenn er sie absichtlich hinterlassen hatte. Dich! Ein Echo in seinem Geist. Dich! »Holen wir auf?« Er zuckte die Schultern. »Wenn er es will…«
Er saß wieder auf und gab dem Hengst die Hacken zu spüren. Mit einem wilden Wiehern hetzte er los. Ronin ließ ihm die Zügel nach. Unermüdlich schienen die Tiere, am glücklichsten, wenn sie wie der Wind dahinjagen konnten. »Dieses Mal möchte ich den Ort der Auseinandersetzung bestimmen«, rief er ihr zu. »Ich glaube nicht, daß dir das gelingen wird!« »Ich auch nicht.« Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Das Licht wurde schwächer. Fast den ganzen Tag über war der Himmel bewölkt gewesen, grau und düster gemacht von den dicken, aufgewühlten Wolkenschichten, die den Himmel verhüllten, so weit sie sehen konnten. Das Land war farb- und schattenlos, und eine Zeitlang hatten sie das eigenartige und beunruhigende Gefühl, über eine endlose Traumlandschaft dahinzujagen, sich nicht in Kilometern, sondern eher im Geist immer weiter von der Welt der Menschen zu entfernen und in den Machtbereich einer anderen Art von Leben einzudringen. Als sie endlich das Ende des Plateaus erreichten, war es im Norden schon dunkel. Sie ritten in ein weites, vollständig in Schatten getauchtes Tal hinunter. Auf halbem Wege stieß Kiri einen kurzen Schrei aus, beugte sich im Sattel vor und deutete wortlos hinunter. An den geröllbesäten Abhang schloß sich ein weites Feld schwankender knochenweißer Blumen an. Dann überflutete sie der süße Duft wie eine klebrige Flutwelle, und sie hatten die Wiese erreicht. »Mohn«, flüsterte Kiri. Die Lumas schüttelten ihre Schädel, schnaubten und bewegten sich langsamer voran, da sie den Boden nicht sehen konnten.
Sie schienen einen Ozean zu durchqueren, der mit einer ansteckenden Beharrlichkeit rauschte, weiße Kämme und blaue Wellentäler, der Wellenschlag der Blüten, als der Wind über die unermeßliche Fläche fuhr. In diesem Augenblick brach die Sonne noch einmal durch einen Riß in der Wolkendecke, ganz am Rande des Himmels, im Westen, und das Blumenmeer war in ein gespenstisches Purpurlicht getaucht. Und dieses Licht riß auch die bizarre Gestalt vor ihnen aus den Schatten, die sich wie vom Grunde des Ozeans erhob, eine fürchterliche Erscheinung mit funkelnden, orangefarbenen Raubtieraugen! Düster grollend watete sie auf sie zu. Die langen Arme pendelten hin und her, die Krallen waren dunkle Schwaden im purpurnen Blumenmeer. Die Lumas bäumten sich auf, wieherten ängstlich und tänzelten zurück. Wild rollten ihre Augen. »Absteigen, Ronin! Schnell, bevor er dich abwirft!« schrie Kiri. Ronin glitt aus dem Sattel, federte in die Knie, riß seine Klinge aus der Scheide. Kiri tat es ihm gleich. Auf ihrer gekrümmten Klinge flirrte ein Lichtfetzen. Sie stürmte vor. Ronin winkte sie zurück. »Dein Schwert vermag ihm nichts anzuhaben!« Sie schien ihn gar nicht zu hören. »Ich muß ihn töten!« schrie sie voller Haß. Sie rannte auf den Makkon zu. Ronin packte sie am Handgelenk, riß sie zurück, und sein Gesicht war ganz dicht vor dem ihren. Sie kämpfte in seiner Umarmung. »Hör mich an, Kiri. Ich kann dich verstehen… Ich weiß, wie es in dir aussieht. Aber der Makkon hat auch meinen Freund getötet. Ich habe bereits gegen ihn gekämpft. Bloßer Stahl und Muskeln können ihm nichts anhaben. Er stammt nicht von
dieser Welt, und deshalb ist er auch nicht an ihre Gesetze gebunden.« Noch immer starrte sie über seine Schulter hinweg auf das heranschlurfende Ungeheuer. »Zu viele haben durch ihn schon ihr Leben verloren. G’fand, Sa, dann Matsu. Ich will nicht, daß du die nächste bist, Kiri!« Ihre violetten Augen waren wie glühende Kohlen in der Dämmerung. Sie sah ihn an. »Jetzt ist keine Zeit für Vernunft – die ist für alle Zeit entflohen.« Sie riß sich von ihm los. Aber er stand noch immer zwischen ihr und dem Makkon. »Ich bin schon zur Hälfte tot!« schrie sie wild. »Wenn ich das abscheuliche Ding mit mir nehmen kann, dann – « Er ließ sie nicht weiterreden. Er schlug zu, ansatzlos, ohne Warnung. Sie brach zusammen. Er fing sie auf und ließ sie behutsam in die purpurnen Mohnblumen gleiten. Wispernd umwogten sie die reglose Gestalt. Er starrte auf sie nieder; einen kleinen Augenblick nur, dann wandte er sich ab. Er wird dich nicht töten, dachte er. Die Klinge in seiner Rechten war ein Gewicht, das ihn auf den Grund des Ozeans zu ziehen drohte. Der Makkon kam. Ronin warf das Schwert weg. Dann schnallte er seinen Gürtel ab. Die Bestie schrie kreischend auf. Sie hatte ihn erkannt. Die Lumas wieherten nervös und wichen zurück. Ronin achtete nicht darauf. Den Blick starr auf den Makkon gerichtet, schritt er ihm entgegen. Die seltsamen Blüten streichelten seine Waden. Ihr reiches, süßes Aroma vereinte sich mit dem erstickenden Gestank der Wesenheit. Der Makkon warf sich vor. Ronin pendelte leicht beiseite, wich dem Ansturm mühelos aus – und rammte seine behandschuhte Faust in den grausam gekrümmten Schnabel. Der Makkon heulte auf, und Ronin glaubte, seine
Trommelfelle würden bersten. Aber er hatte es geschafft, den Schnabel aufzureißen, und er dachte nicht daran, jetzt noch einmal aufzugeben. Er konnte nicht mehr zurück. Der Makkon schlug nach ihm. Ronin drückte seine Linke tiefer in den Rachen des Ungeheuers. Das Heulen wurde lauter. Ronin schloß seine Augen, konzentrierte sich nur noch auf seine Linke. Tiefer! Tiefer! Und seine Rechte krallte sich an der bizarren Gestalt fest, eisern, obwohl es Wahnsinn war. Wie glühende Nadeln schoß der Schmerz durch seinen Körper, höher, in seinen Geist. Tränen quollen aus seinen Augen, tropften über die Wangen. Die Kälte, die von dem Makkon ausstrahlte, war so furchtbar, daß seine Hände zu erstarren drohten. Aber er hielt sich fest. Und er rammte seine Linke noch tiefer in den Rachen der Bestie. Er zitterte vor Schmerz. Er begann, seinen WahnsinnsEntschluß zu bedauern. Wie hatte er sich einbilden können, daß er – Der Gedanke verging. Der Schnabel knirschte zu, ein ekelhafter Laut, als die Kiefer über die Schuppenhaut seines Handschuhs mahlten. Wenn er den stoßenden Druck nicht beibehielt, würde er rausrutschen, und dann war er so gut wie tot. Und Ronin sah… Sah den Makkon, wie er Matsu in seinem schrecklichen Griff hielt, wie er ihre Kehle herausfetzte, reifes Fleisch, das er gestreichelt und geküßt hatte… Der salzige Geschmack ihres Blutes… Und der Haß loderte in ihm empor, eine wilde Feuersbrunst, und er begann zu glühen und zu wachsen, und er zwang sich an die fürchterlichen Einzelheiten zu denken, an Matsus Blut, an ihren Schrei, an ihren Schmerz, und er schrie stumm und gellend, spürte, wie er plötzlich die Kraft hatte, den Makkon zu vernichten… Und er riß diese Kraft zusammen, konzentrierte
sie, stieß, rammte, drückte… Obwohl der Schmerz ihn schier umbrachte, schaffte er es, den wilden, beinahe unkontrollierten Schlägen der Bestie standzuhalten. Sein Rücken schmerzte, als sei er in Feuer gebadet. Seine Lungen krampften sich zusammen. Er bekam keine Luft mehr. Die Schläge prasselten auf ihn herunter. Blutige Schleier schwebten zitternd vor seinen Augen. Aber er ließ nicht locker, nicht jetzt… Er überlebte von Herzschlag zu Herzschlag, war wie Kitt in einer ungeheueren Klaue, wurde verdreht, verformt, verändert, neu ausgerichtet, aber er gab nicht auf! Wie rasend schlug sein Herz, und er war draußen, in seinem Magen wühlten Übelkeit, Ekel, sein Rücken war ein Meer lodernder Schmerzen, seine Beine hingen nutzlos an der riesenhaften Makkon-Gestalt herunter, ein Krüppel, und noch immer kämpfte er, kämpfte, obwohl die Taubheit nach seinem Gehirn griff, eine unhaltbare, karmesinrote Flut… Instinkt regierte. Er schlug zu. Trümmerte seine Linke noch tiefer in den Rachen hinein, wie rasend, reduziert auf reine Materie, explodierte die Kraft in ihm… Überleben! Überleben! Wie ein Orkan tosten diese Worte durch seinen Schädel, ein Sturmgewitter, das hinter seinen geschlossenen Augen tobte, und dann wusch ein warmer Regen durch sein Ich, aus seinem Innersten kommend, dem zentralen Strudel, von dem es gnädigerweise kein Verstehen gab, ein blauer Blitz umschloß den Himmel über ihm, und etwas näherte sich jetzt, und obwohl er es nicht mehr verstehen konnte, glitt seine Faust endlich an der krampfartig zuckenden Makkon-Zunge vorbei, tiefer, tiefer, weiter – und durchbrach den Gaumen der Bestie, fuhr mit unmenschlicher Kraft in die Augenhöhle hinauf… Das häßliche Knirschen raubte ihm den Verstand. Die Kältevibrationen wurden unerträglich, es zerbröckelte, zerbarst in zehntausend Bruchstücke, sein heißes rotes Fleisch trieb in
einem kühlen Wind dahin… Lavendelfarbene Wolken… Davon… Davon…
Zuerst war es der süße Duft und dann die Dunkelheit. Die Nacht war hereingebrochen. Er versuchte, sich zu erheben, war jedoch zu keiner Bewegung fähig. Rings um ihn her raunte der Mohn. Über ihm hingen die nickenden Blütenglocken. Er ruhte sich aus und konzentrierte sich auf seine Atemzüge und seine Sinne: Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Gefühl: Leben. Endlich konnte er seine Finger bewegen, dann seine Hand, schließlich den Arm. Er versuchte, sich aufzurichten. Keine Bewegung. Er forschte, stellte fest, daß er seine Füße nicht spüren konnte. Sein Rücken… Die wütenden Schläge des Makkon… Er rief Kiris Namen, aber seine Stimme war nur ein leises Krächzen in der ruhelosen Wiese. Seine Kehle war ausgetrocknet. Neben sich nahm er eine Bewegung wahr, und er rief wieder, so laut er konnte. Ein zögerndes, fragendes Schnauben antwortete ihm. Er wollte sich herumwälzen, schaffte es jedoch nicht. Die Geräusche des sich unter dem Wind neigenden Mohns… Plötzlich hing der Schädel seines Luma-Hengstes über ihm. Die blauen Augen starrten ihn an, und er flüsterte dem Tier leise Worte zu, einen sanften Singsang, wie ihn die Wärter in Kiris Juwelengarten gebraucht hatten. Und der Hengst näherte sich, streckte seine Schnauze aus. Dicht neben Ronins Schädel ragten die Vorderläufe auf. Das Tier wischte ihm übers Gesicht, leckte ihn ab. Irgendwann ließ es seinen Schädel an Ronins Stirn verharren. Und Ronin sprach zu ihm, leise, sanft, beruhigend, und streichelte seinen Schädel.
Nach einer Weile schlief er ein, und der Luma-Hengst stand wachsam über ihm in der Nacht, die großen Nüstern weit gebläht. Mehrere Male rief er nach der Stute, die ein paar Meter entfernt über Kiri stand. Die Lumas wachten die ganze Nacht hindurch. Aber niemand kam. Und nur Ronin hörte tief in seinem Ich, tief in seinen wirren Träumen gefangen, die durcheinanderhallenden Stimmen, die jetzt mit einiger Verzweiflung riefen: Hast du ihn gefunden? Du mußt ihn finden. Ja, das werde ich. Aber wenn er es gemacht hat? Dann sind wir wirklich verloren. Selbst, wenn ich ihn finde, so kommt der Kai-feng immer noch. Es bleibt dann wenig Zeit, selbst für uns – Plötzlich, davongetragen auf einem trostlosen Sturmwind, fielen die Stimmen von ihm ab. Ruhe kehrte ein.
Das blaue Morgenlicht weckte ihn. Der rotgraue Luma-Hengst stand über ihm. Weiße Wolken standen vor seinen Nüstern. Ronin griff hinauf, langte nach dem herunterhängenden Zügel und zog sich Hand über Hand hoch, bis er auf seinen Füßen stand. Die Taubheit war aus seinen Beinen und seinem Rücken verschwunden. Trotzdem, ein Rest von Schwindel steckte noch in ihm. Einen Augenblick lang lehnte er sich gegen die Flanke des Luma-Hengstes, und sammelte seine Kräfte. Dann wankte er durch das blaue Feld, zu Kiri hinüber. Tief war sie im rauschenden Blumenmeer versunken. Eine große, purpurne Prellung prangte an ihrer linken Stirnseite. Sie erwachte, als er sich über sie beugte. Unwillkürlich zuckte er zurück. Vielleicht erwartete er, daß sie ihn angriff. Immerhin hatte er sie niedergeschlagen, und sie war die Kaiserin von Sha’angh’sei.
Schweigend musterte sie ihn. Dann erhob sie sich und kramte gedörrtes Fleisch und Brotfladen und eine Wasserflasche aus den Satteltaschen. Immer noch schweigend fütterte sie dann die Lumas, bevor sie sich wieder setzte und selber zu essen begann. Sie bot Ronin etwas an. Er setzte sich neben sie. »Ich habe mich dumm benommen«, sagte sie unvermittelt. »Ich hätte auf dich hören sollen…« »Ich – « »Du hast nicht fest genug zugeschlagen. Ich war nicht ohnmächtig… Als ich wieder auf den Füßen stand, sah ich, daß dich die Bestie in ihrer Umklammerung hatte, und da griff ich sie an. Ich konnte nichts ausrichten. Ein spielerischer Schlag hat mich davongeschleudert. Das ist alles, woran ich mich erinnere.« »Dann weißt du jetzt, daß ich die Wahrheit gesagt habe.« »Ja«, erwiderte sie einfach. »Vielleicht wollte ich dir gestern nicht glauben. Die Rikkagin verachten Frauen, die zu kämpfen verstehen, und ich dachte – « »Unsinn«, unterbrach Ronin. Und er dachte an K’reen. An ihren Kampf. Vielleicht war sie ihm als Krieger ebenbürtig, wer weiß, niemand wird es je wissen. »Ich habe ihn verletzt«, sagte er rauh. »Aber wie?« Er hob die behandschuhte Linke. Die seltsamen Schuppen glitzerten im Licht. »Damit. Mit seiner eigenen Haut.« Dann lachte er. »Weißt du, wo Kamado liegt?« »Natürlich.« »Kannst du uns dorthin bringen?« »Es liegt im Norden, am Fluß. Ich glaube kaum, daß es ein Problem sein wird, es zu finden.« Wenig später brachen sie auf.
Sie ritten direkt nach Norden, hielten den sich dahinschlängelnden Fluß zu ihrer Linken, und es dauerte nicht lange, bis sie auf Soldaten trafen, die ebenfalls nordwärts strömten, weite Kolonnen, die von Waffen und Kriegsmaschinen starrten. Sie schlossen sich der Karawane an. Banner flatterten im Wind. Krummschwerter und scharfe Lanzenspitzen glänzten im Sonnenlicht. Bogenschützen trugen gewaltige Langbogen über ihren Schultern. Kavalleristen betätigten sich als Vorreiter, und Späher schützten die Flanken des Heeres. Metall klirrte und klapperte, und die mit Lebensmitteln und zusätzlichen Waffen beladenen Wagen knarrten unter ihren schweren Lasten. Allmählich holten Ronin und Kiri auf, und schließlich erreichten sie die Nachhut des Heeres, Reiter aus dem Gefolge des Rikkagin. Sie wiesen sie zu ihrem Befehlshaber. Jener war ein Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht. Ein langer Zopf baumelte über seinen Schultern. Seine Wangen zeigten die Spuren zahlreicher Narben. »Seid ihr auf dem Weg nach Kamado?« fragte Ronin. »Alle Männer sind in diesen Tagen auf dem Weg nach Kamado«, erwiderte der Rikkagin finster. »Oder auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung.« »Kennst du den Rikkagin T’ien?« »Nur dem Namen nach. Es gibt viele Rikkagin.« »Ich hörte, daß er in Kamado ist.« Der Rikkagin nickte. »Es ist möglich. Ich weiß es nicht. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit meinen Männern reiten.« »Danke, Rikkagin.« Sie wandten ihre Lumas und ritten eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Der Wind und das Knarren von Leder und der Hufschlag waren die einzigen Geräusche, die sie begleiteten.
»Warst du schon einmal in Kamado, Rikkagin?« wollte Kiri wissen. »Zu oft, Lady. Eigentlich hätte unsere Einheit erst in zwei Wochen an die Front zurückkehren müssen, aber der Feind wird von Tag zu Tag stärker… Wir brauchen jeden Mann. Woher sie kommen, kann ich nicht sagen. Niemand kann das. Und dabei haben wir nichts unversucht gelassen, es herauszufinden.« »Du hast nichts in Erfahrung bringen können?« »Überhaupt nichts«, antwortete der Rikkagin. »Denn keiner unserer Späher ist zurückgekehrt.«
Sie erblickten Kamado zur Mittagszeit. Die mächtigen grauschwarzen, mit wuchtigen Zinnen versehenen Mauern beherrschten den gewaltigen Hügel, auf dem die Stadt vor langer Zeit erbaut worden war. Der breite Fluß toste linker Hand an der Festung entlang, und im Norden war der grüne Vorhang eines Waldes auszumachen. Es war sehr kalt geworden. Der Himmel hatte sich immer mehr verfinstert, je weiter sie nach Norden vorgedrungen waren. Ein feiner Nieselregen strömte auf Menschen und Tiere herunter, überzog die Helme der Soldaten mit einem glänzenden Film und verklumpte die Felle der Reittiere. Wie eine Geisterstadt erhob sich Kamado in der Wildnis der öden Landschaft. Die Steinmauern ragten hoch auf, wie die Verlängerung der staubigen Hügel. Kreisrund war die Festung angelegt, mit neueren Anbauten im Osten und Westen, rechteckige Ausbuchtungen, die ihr ein eigenartiges, fremdartiges Aussehen verliehen. Massive in Metall gefaßte Portale waren zu erkennen, davor, aus der Entfernung nur verschwommene Schemen,
patrouillierten Soldaten. Nach Westen hin fiel der Hügel ab, senkte sich zum Wasser hinunter. Eine Holzbrücke überspannte den Fluß. Am gegenüberliegenden Ufer war eine Zeltstadt errichtet. Zahllose Pavillons und Zelte, von schmalen Pfaden durchzogen, auf denen Soldaten herumwimmelten. An mehreren Stellen waren bereits Kochfeuer entzündet worden. Der Rikkagin ließ die Kolonne anhalten und schickte einen Reiter nach Kamado hinunter, um die Heerführer von ihrer Ankunft zu informieren. Wenig später signalisierte der Mann seinem Rikkagin, daß dem Einmarsch in die Festung nichts im Wege stand. Mit gewaltigem Lärm setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung. In einer müden Prozession trotteten die Männer hinunter, durch die riesigen, polierten Bronzetore, winzig vor den aufragenden Mauern, hinein in die dunklen und schaurigen Tiefen von Kamado, der steinernen Zitadelle…
Kamado war eine Welt für sich, errichtet, um im Krieg zu bestehen, ein Bollwerk in einem Konflikt, der seit Jahrhunderten in Gang gehalten wurde. Kamado war so riesig und so kompliziert gebaut, daß Ronin, der seinen Luma-Hengst hinter dem Südtor gezügelt hatte, die weiter entfernten nördlichen Begrenzungen der Festung nicht sehen konnte. Langgestreckte, zweistöckige Gebäude bildeten den nächstgelegenen, südlichen Bereich der Zitadelle. Sämtliche gen Süden gelegenen Mauern waren fensterlos, öde, nichtssagend bis auf die Flecken und Narben, die die Jahre hinterlassen hatten. Mit einem leichten Schenkeldruck ließ Ronin seinen LumaHengst antraben. Kiri folgte schweigend. Sie ritten weiter, folgten überdachten Straßen, die scheinbar endlos in den
Bauch der Stadt hineinstachen. Hier waren die Fassaden mit Holz verkleidet, die Decken mit wuchtigen Balken abgestützt, in die verwirrende Muster geschnitzt waren, alte Kriegsgötter und wilde Frauen mit hohen, geschwungenen Helmen, Gnome mit krausen Bärten und Ringen in der Nase, bei denen die Soldaten seit ehedem Rat und Gnade suchten, um so ihren Sieg sicherzustellen. Es war offensichtlich, daß Kamado wesentlich früher erbaut worden war als Sha’angh’sei. Aber wer mochte dieses fantastische Monument der Schlacht errichtet haben? Sicher nicht das Volk von Sha’angh’sei. Überall herrschte hektisches Leben. Die Soldaten bereiteten sich auf den nächsten Kampf vor. An Schleifrädern wurden Axt- und Säbelklingen geschärft. Schimmernde Kaskaden kalter, blauer Funken stoben davon. Schützen spannten ihre Bögen, Pfeilmacher leimten die Federn an die dünnen, hölzernen Schäfte. Soldatenpatrouillen marschierten im Eilschritt durch die engen Gassen. Pferde wurden gefüttert und getränkt und gestriegelt. Dann trabten wieder zahllose Männer an ihnen vorbei. Die Wachablösung für die Männer auf den Zinnen. Schmale Treppen führten zu ihnen in die Höhe hinauf. Und die Verwundeten waren allgegenwärtig, eine schmerzerfüllte Welt von Blut und Verbänden, eine Welt der Einarmigen und Einbeinigen, der Geblendeten und Narbigen. Sie kauerten gegen hölzerne Säulen oder lagen zusammengerollt im Staub vor ihren verlorenen Kriegsgöttern, die arrogant und ohne sich um sie zu kümmern auf sie herunterglotzten. Vielleicht waren ihre Rikkagin nicht demütig genug vor ihr Antlitz getreten? Vielleicht waren ihre Opfer zu dürftig gewesen? Oder, was noch wahrscheinlicher war: Ihre Macht war schon längst vom Angesicht dieser Welt gefegt…
Allein, vergessen und stumm starrten sie auf ein Reich hinunter, das nicht mehr ihres war. Vor einer Gruppe verwundeter Männer hielt Ronin seinen Hengst an. Er erkundigte sich nach dem Quartier von Rikkagin T’ien. Ein großer, hagerer Mann wies ihm den Weg. Sie ritten weiter, durch Innentore und kreisrunde Innenhöfe, gerade Hauptstraßen entlang und um ein wuchtiges Steingebäude herum. Vor einer holzverkleideten Kaserne stiegen sie ab. Hinter ihnen wurden Stimmen laut. Schritte näherten sich. Ronin wandte sich um. Er sah Tuolin zuerst, dessen blonder Haarschopf auch in der Menge der Soldaten nicht zu übersehen war. »In Ordnung, bringt ihn nach draußen!« Sechs, sieben Soldaten umringten ihn. Sie hielten ihre Klingen in der Hand. Ronin starrte hin, um den Gefangenen zu sehen. Langsam näherte er sich den Männern. Plötzlich hielt er abrupt inne. Der Mann mit den auf dem Rücken gefesselten Händen, den die Soldaten eskortierten, war – Rikkagin T’ien! Starr blickte er geradeaus. Auf Tuolins Befehl hin stoppten T’ien und seine Bewacher. »Du bist ein Ching Pang, leugnest du weiterhin?« »Nein!« »Du bist ein Spion.« »Ich bin ein Ching Pang, das ist alles.« »Alles?« wiederholte Tuolin zynisch. »Die Ching Pang wollen uns vernichten!« »Wir erstreben lediglich die Freiheit des Volkes von Sha’angh’sei.« »Und was würden die Leute mit dieser Freiheit anfangen?« stieß Tuolin verächtlich hervor. »Etwa in die Lehm- und Bambushütten ihrer Ahnen zurückkehren?«
»Dereinst waren unsere Ahnen groß. Größer, als dein Volk je zu werden geträumt hat.« Tuolin wandte sich abrupt ab, und als sei dies das Signal gewesen, schlugen die Soldaten auf T’ien ein. Er brach zusammen. »Schafft den Leichnam fort!« befahl Tuolin. »Das verstehe ich nicht«, sagte Ronin zu Kiri. »Der Rikkagin T’ien ein Grüner?« »Wovon sprichst du?« Sie sah ihn an. »Der Rikkagin T’ien kommt gerade zu uns.« »Das ist Tuolin.« »Ja«, nickte Sie. »Und der Rikkagin T’ien.« Sie bemerkte seine Überraschung. »Alle Rikkagin nehmen am Ende ihrer Ausbildung einen zweiten Namen an.« »Wer war dann der Mann, den Tuolin gerade hinrichten ließ?« »Lei’in, der oberste Berater des Rikkagin.« Sie schien amüsiert. »Und ein Ching Pang; Tuolin muß ziemlich wütend sein.« Ronin wollte ihr von Tuolins List erzählen, aber er überlegte es sich anders. Er mußte die ganze Sache jetzt erst einmal selbst durchdenken. Er dachte an die Ereignisse auf dem Schiff des Rikkagin. Man hatte ihn nicht entwaffnet; darüber hatte er sich noch gewundert. Lei’in hatte sich ihm gegenüber als Rikkagin ausgegeben und ihn ausgehorcht. Man hatte ihn getestet. Erst nachdem dieser Test zufriedenstellend verlaufen war, hatte man ihn an Deck und in Tuolins Nähe gelassen. Jetzt ergab das alles einen Sinn. Der Krieg züchtete seine eigene Form von Paranoia. Jetzt paßte alles zusammen. Der Mordversuch auf dem Schiff, die Nacht, die er mit Tuolin herumgezogen war. Der große blonde Mann wurde auf sie aufmerksam und schien plötzlich unsicher, ob er weiterhin finster dreinblicken
oder lächeln sollte. Schließlich setzte er eine neutrale Miene auf. »Nun, hat dir der Rat geholfen?« wandte er sich an Ronin. »Ich – ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen.« »Wie schade«, meinte Tuolin ohne rechte Überzeugung. Er musterte Kiri. »Fast hätte ich dich nicht erkannt.« Bezeichnend sah er auf das Schwert hinunter, das sie an ihrer linken Seite trug. »Vermagst du das tatsächlich zu gebrauchen, oder ist es nur zum Vorzeigen?« »Was meinst du?« sagte Kiri. »Ich meine, daß ich dich lieber im Tencho sehe«, erwiderte Tuolin ruhig. »Auf dem Schlachtfeld mißtraue ich den Frauen.« »Warum?« Sie bemühte sich, ihren Ärger unter Kontrolle zu halten. »Sie scheinen nie zu wissen, wo es langgeht.« »Unsinn!« Er zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nichts zu diskutieren. Kämpfen sollte denen überlassen bleiben, die es am besten können. Ende der Diskussion.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ronin zu, als existiere sie nicht mehr. »Warum bist du hier?« Er schlenderte zur Kaserne hinüber, und sie folgten ihm. »Das kommt ganz darauf an.« »Ob du inzwischen glaubst, mir vertrauen zu können.« Tuolin warf seinen Schädel zurück und lachte. »Ja, ich verstehe.« Er wischte sich über die Augen. »Ich glaube, ich kann dir beruhigt versichern, daß ich deine Erprobungszeit als beendet betrachte.« Sie stiegen die Holzstufen hinauf und traten in den schattigen Korridor hinein. Die niedere Decke wurde von Balken abgestützt. Die Möblierung war spärlich und zweckmäßig ausgerichtet. Im Hauptraum des Parterres gab es eine große steinerne Herdstelle. Ein Feuer brannte darin.
Tuolin führte sie durch den Raum, vorbei an vielen Soldaten, die herumlungerten, würfelten, sich unterhielten oder ganz einfach vor sich hinstarrten. Schließlich betraten sie ein kleineres, fensterloses Hinterzimmer. An der Stirnseite stand ein wuchtiger Schreibtisch, dessen Tischplatte ziemlich verkratzt war. Davor waren mehrere Stühle aufgestellt. Seitlich hiervon stand ein niederer Schrank, dessen Türen entfernt worden waren. Der Rikkagin setzte sich hinter den Schreibtisch und holte einen Krug Wein aus dem Schrank. Er stellte Gläser auf den Tisch, schenkte ein. Sie tranken. Ronin wunderte sich nur flüchtig über Tuolins Verhalten Kiri gegenüber. »Sa ist tot und Matsu ebenfalls. Beide wurden sie von einer Kreatur getötet, gegen die ich bereits in meinem Land gekämpft habe. Der Makkon… Er verließ Sha’angh’sei und wandte sich gen Norden. In den Mohnfeldern, einen halben Tagesritt südlich von hier, lauerte er uns auf.« Ronin hielt inne. »Du scheinst nicht sonderlich überrascht.« »Mein Freund, viele Dinge sind durchgesickert, seit dem Tag, da wir uns das erste Mal gegenüberstanden. Ich habe vieles gesehen, gegen manchen Gegner gekämpft, den ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht erträumt hätte.« Er deutete auf die Wände. »Wir kämpfen gegen Nichtmenschen.« Er seufzte. »Hier erinnert nicht mehr vieles an die Dinge, die von den Zauberkriegen hervorgebracht wurden.« »Ich glaube nicht, daß diese Wesen mit jener Zeit zu tun haben.« Tuolin leerte seinen Becher und füllte ihn erneut. »Egal. Diese Männer sind keine Feiglinge. Der Kampf ist ihr Leben, ist alles, was sie kennen. Aber sie sind an Gegner gewöhnt, die bluten, wenn man ihnen eine Wunde zugefügt hat… Man gebe ihnen einen Feind, den sie sehen und töten können. Aber dies – « Er schwenkte den Wein in seinem Becher, bis er
überschwappte. Er kümmerte sich nicht darum. »Diesen Kampf verlieren wir.« Ronin beugte sich vor. »Tuolin, dieses Wesen, der Makkon, ist ein Vasall des Dolman. Erinnerst du dich? Ich habe dir erzählt – « Der Rikkagin deutete mit dem Becher auf ihn. »Vier Makkon gibt es, und mindestens einen von ihnen mußt du töten, bevor sie zusammenkommen können.« »So ist es.« »Ich habe es mir gemerkt.« Ronin nickte. »Und du hast tatsächlich bereits gegen einen dieser – Makkon gekämpft?« »Ja, sogar mehr als einmal. Das letzte Mal konnte ich ihn verletzen. Hiermit.« Er hielt die Hand mit dem Schuppenhandschuh hoch. »Tuolin – mit gewöhnlichen Waffen vermag man ihm nichts anzuhaben. Dieser Handschuh hier wurde aus Makkon-Haut gefertigt. Ich habe ihn verletzt. Und er hat mich fast getötet.« Der Rikkagin fuhr wieder über seine Augen, und Ronin sah die tief eingegrabenen Furchen der Erschöpfung in seinem Gesicht. »Dann hält sich der Makkon also wahrscheinlich hier auf.« »Ich muß ihn finden.« »Es ist gut.« Tuolin zog an dem Elfenbeinstab, der ein Ohrläppchen durchbohrte. »Wir werden uns im Feldlager umsehen. Wenn es irgendwo Neuigkeiten über deinen Makkon zu erfahren gibt, dann dort.« »Ich freue mich, daß du mir glaubst.« Der große Mann seufzte. »Ich habe zuviel Zeit bei Toten und Sterbenden verbracht, um dir nicht zu glauben«, erwiderte er müde.
Die staubigen Straßen Kamados waren von heiseren Rufen erfüllt, Stahl klirrte auf Stahl, Kriegspferde schnaubten und tänzelten unruhig, Verletzte stöhnten. Sie verließen die Stadt durch das südliche Tor. Soldaten begleiteten sie bis an die Brücke. Im Nordwesten türmten sich dunkle Gewitterwolken auf und wälzten sich rasch nach Süden. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war bleiern und kalt. Feuchte Nebel dampften über dem Land. Eilig schritten sie über die Holzbohlen. Ronin sah kurz in die schäumenden Tiefen hinunter, erhaschte einen flüchtigen Blick auf schwarze, glänzende Felsen und glatte, pfeilschnell hochzuckende Fische. Im Süden war das Land braun und kahl, wie von einer gewaltigen Feuersbrunst überschwemmt. Rechter Hand lag das Lager, zahllose Zeltreihen erstreckten sich in die Länge, dazwischen ragten strahlend helle Pavillons auf, Pferde waren an langen Holmen angebunden, Feuer flackerten wie stumme Insekten und wurden von huschenden Schatten umtanzt. Hohes grünes, leicht gewelltes Grasland umringte das Lager. Die Ausläufer des Waldes waren gut achthundert Meter von den äußeren Zeltreihen entfernt. Niederes Buschwerk und wuchtige hohe Bäume. Der Wald selbst war ungeheuer dicht und hoch, das Unterholz ineinander verfilzt, daß es wie eine massive grüne Wand aussah. Als sie das andere Ufer erreicht hatten, eilten ihnen Soldaten entgegen. Tuolin befahl ihnen, sie zu Rikkagin Wos Pavillon zu bringen. Sie schritten durch das hohe Gras. Glühwürmchen schwirrten durch das Zwielicht. Das Gras rauschte im sachten Abendwind, und Zikaden zirpten. Alles war in tiefes Blau getaucht. Der Pavillon war leuchtend gelb und blau gestreift. Der leichte Wind hatte sich gelegt, und die Leinenwände hingen
bewegungslos, wie erstarrt. Im ganzen Lager wurden Lampen entzündet. Der Geruch von brennendem Holz und verkohltem Fleisch wehte durch das Lager. In dem Pavillon war es warm und hell. Zahllose Lampen verstrahlten ihren sanften Schein. Schatten tanzten über die Wände, als draußen Soldaten vorbeimarschierten. Ein ständiger Strom von Läufern überbrachte und erhielt verschlüsselte Nachrichten auf schmalen Reispapierstreifen. Tuolin ging voran durch das disziplinierte Durcheinander zu einem Mann, der plötzlich in ihr Blickfeld kam. Sein Haar war dunkel und sehr lang. Energisch ragte das Kinn vor. Er drehte sich um und starrte Tuolin und Ronin und Kiri entgegen. »Ah, T’ien, ist Hui mit seinen Truppen angekommen?« »Ja, kurz vor Sonnenuntergang.« »Gut. Wir brauchen jeden Mann.« Er räusperte sich unbehaglich. »Heute mittag haben wir eine weitere Patrouille verloren.« »Wo?« »Im Norden. Im Wald.« »Wie viele Mann?« »Dreizehn. Nur einer kam zurück.« Wos Gesicht zeigte Ekel. »Und er kann uns nicht mehr nützen. Tobt wie ein Wahnsinniger.« »Was hat er gesagt?« »Ich weiß es nicht mehr. Frag Le’ehn, wenn du es wissen willst. Ich würde mich nicht darum bemühen.« Auf Ronins Drängen suchte Tuolin ein schweres, gedrungenes Individuum auf, dessen schwarzes Haar zu einem langen Zopf geflochten war. Fette Wangen und schmale, funkelnde Augen. Le’ehn zog sie beiseite, zur Leinenwand hin, wo sie sicher sein konnten, ungestört sprechen zu können.
»Er lebt nicht mehr«, flüsterte er, und sein mißtrauischer Blick heftete sich auf Ronin und Kiri. Tuolin klopfte ihm auf den Arm. »Weiter. Die beiden gehören zu mir. Sie werden nicht reden.« Le’ehn wischte sich die Schweißperlen von der Oberlippe. »Ich habe ihn getötet. Ich meine, er lag ohnehin im Sterben, und er hat mich angefleht, ihn zu erlösen. Er konnte es nicht mehr ertragen, noch länger zu leben… Das, was er gesehen hat, war zu schrecklich.« »Was hat die Patrouille angegriffen?« fragte Ronin. Le’ehn sah ihn verblüfft an. »Wo – woher weißt du – « Er brach ab, wandte sich an T’ien. »Woher wußte er es, T’ien?« »Wußte – was?« »Daß ein Etwas die Patrouille angegriffen hat!« »Hat der Mann den Angreifer beschrieben?« fragte der blonde Mann geduldig. »Ja, verflucht sei er. Ich werde heute nacht wohl nicht schlafen können. Es war riesig, mit großen Klauen und einer Alptraumfratze. Es riß ihnen die Kehlen aus dem Leib, sagte er.« »Der Makkon.« Ronins Stimme klang spröde. Tuolin nickte. »Im Wald?« »Ja.« Der Mann schluckte krampfhaft. »Hinter dem Wiesenkamm, annähernd einen Kilometer hinter der Waldgrenze.« Schweigend warteten sie, bis Le’ehn fortfuhr. Er starrte über ihre Schultern weg, auf die aufgeregt hin und her huschenden Schatten auf der Leinwand. »Was noch?« sagte Tuolin sehr sanft. »Bevor er starb, sprach er auch noch von einer anderen Kreatur.« Zögernd kamen die Worte über seine Lippen, als fürchte er, damit die schrecklichen Wesenheiten
heraufzubeschwören. »Eine Kreatur, die dem anderen Ding folgte.« »Weiter!« drängte Ronin. »Er konnte es nicht genau erkennen. Es war neblig, und Blut regnete vom Himmel… Der Kampf…« Le’ehn schluckte wieder. »Rikkagin… Er sagte, daß er den Hirsch gesehen hat!« »Oh, komm«, schnaubte Tuolin. »Rikkagin, er bat mich, ihn zu töten«, sagte der untersetzte Mann kläglich. »Ich glaube nicht, daß er dies – « »Der Hirsch ist nur eine Legende, Le’ehn, eine böse, stinkende – « »Was für eine Legende?« warf Ronin ein. »Es soll ein Wer-Wesen sein. Halb Mensch, halb Tier.« »Und das ist alles?« Tuolin starrte auf Le’ehn, der bei diesen Worten zusammenzuckte. »Manche sagen, er sei das leibhaftige Böse. Und andere wiederum nehmen an, daß er dereinst Mensch war, verwandelt, jetzt gezwungen, einem Zauberlehen zu dienen und seinesgleichen zu bekämpfen.« »Was immer auch die Wahrheit sein mag«, sagte der untersetzte Mann, »dieser Soldat glaubte, ihn gesehen zu haben.« Er hob seine Hand. »Da draußen. Im Wald.« Ronin wandte sich an Tuolin. »Ich gebe nichts auf Legenden. Der Makkon ist es, der mir Sorgen macht. Morgen früh werde ich aufbrechen – « Le’ehns Augen traten hervor. »Du mußt verrückt sein. Der Hirsch – « »Sei still!« fauchte Tuolin. »Wir stehen genug wirklichen Ungeheuern gegenüber, wir brauchen deine Alpträume nicht!« Er wandte sich Ronin zu, und der eisige Ton verschwand aus seiner Stimme. »Ich werde dich begleiten.« Ronin schüttelte den Kopf.
»Du wirst mir nicht helfen können. Ich brauche nur zwei Männer, die diese Gegend kennen. Wenn ich ihn gefunden habe, werde ich sie wegschicken.« Der Rikkagin legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Mein Freund, ich habe vieles für dich getan. Jetzt ist es an der Zeit, daß du deine Schulden begleichst. Ich will diesen Makkon mit eigenen Augen sehen.« Der Griff wurde fester. »Ich muß den Feind kennen, kannst du das verstehen?« Ronin erwiderte den harten Blick des Rikkagin, schließlich nickte er. »Also gut, ich akzeptiere deine Beweggründe.« Le’ehn starrte von T’ien zu Ronin und wich langsam vor ihnen zurück. »Ihr seid beide verrückt! Ihr – « Ein erstickter Schrei! Das Klirren von Metall auf Metall! Sie kreiselten herum. Hastige Schritte donnerten vorbei. Stimmengewirr. »Rasch!« stieß Tuolin hervor. »Nach draußen!« Die schwere Dunkelheit, die vom Wald ausstrahlte, schien die Wiese überzogen zu haben. Die Glühwürmchen waren verschwunden. Auf der schwankenden Grasfläche rollte eine Flut bizarrer Schatten heran! Schnell und geschmeidig und völlig lautlos bewegten sie sich. Nirgends das verräterische Glänzen von Metall. Irgendwie war es ihnen gelungen, den äußeren Wächterkreis des Lagers zu durchdringen, ohne daß ein Alarm ausgelöst worden war. Groß und knochig waren sie, düster, mit breiten Schultern und mächtigen Säulenbeinen. Die langen Bärte und Haare waren eingefettet und geflochten. Die Gesichter rundlich, flach, als hätte die Evolution verfügt, daß die Vorsprünge von Nase und Wangen und Stirn überflüssig seien. Zum Leben erwachte Schattenwesen schienen sie zu sein, keine Menschen. Und doch waren sie real genug. Sie schwangen breite Säbel
aus einem reflektionslosen Metall, nahezu schwarz, mit glockenförmigem Faustschutz. Hinter ihnen türmten sich andere Schatten auf, Schatten, die nahezu mit der Dunkelheit der Nacht verschmolzen waren, unheimlich groß und knochig. Wie dünnes, trockenes Papier spannte sich die Haut über die Schädelknochen. Diese Wesenheiten schwangen massive Morgensterne, wuchtige, dornengespickte Stahlkugeln an kurzen, schweren Ketten. Tuolin zog sein Schwert, Ronin und Kiri taten es ihm gleich. Überall um sie her herrschten Verwirrung und hektisches Chaos. Schreie gellten. Soldaten hetzten hin und her, eilten zu den Waffen. Nebel wallte heran, strich über die Wiese und ins Lager hinein. Die erste Welle der Feinde überrannte die unglücklichen äußeren Patrouillen. Erstickender Gestank umgab die Unheimlichen. Wild schwangen sie ihre Säbel und schnitten eine schreckliche Ernte in diesem zauberischen Hochsommer. Die tödlichen Morgensterne wirbelten über den Schädeln der Totenkopfkrieger. Wie wilde Heuschrecken zischten sie sodann vor und zermalmten Fleisch und Knochen, und das Stöhnen der Sterbenden mischte sich mit dem nassen Klatschen und Knirschen, mit dem die fürchterlichen Waffen gegen neue Ziele krachten. Mit einem wilden Kampfschrei sprang Ronin nach vorn, und seine Klinge fuhr in mächtigen, beidhändig geführten Hieben hin und her, fetzte in die Rümpfe der massiven Angreifer, die ihm am nächsten waren. Grell schrien sie auf, taumelten zurück, ihre Angriffsordnung geriet ins Wanken. Ronin setzte nach, trat mitten zwischen sie, und seine Klinge wütete und forderte einen grausigen Tribut. Kiri und Tuolin waren an seiner Seite und schlugen ebenfalls auf die Angreifer ein, als seien sie wildes Laub. Er
konzentrierte sich und bewegte sich langsam voran, immer weiter in die Reihen der Feinde hinein. Seine Klinge sang das wilde Lied des Todes, bluttriefend und glänzend. Wie eine Maschine schlug er auf die in weiten Reihen anstürmenden Feinde ein, und sein Herz hämmerte, und er war sich jener Geräusche, die außerhalb des Kampflärms lagen, nicht mehr bewußt. Der Kampf war allgegenwärtig. Nichts anderes existierte mehr. Er schlug auf die massigen Gestalten ein, enthauptete sie, trennte zuckende Arme und Beine vom Rumpf, Blut spritzte. Und seine Muskeln waren geschmeidig und bewegten sich leicht. Sein Gesicht war zu einem wölfischen Grinsen verzogen. Ein schemenhaft erkennbarer Krieger warf sich auf ihn. Blitzartig wich Ronin aus, federte herum und spaltete ihn in einem Vorwärtshieb von der Schulter bis zum Brustkasten. Der Rückwärtshieb fetzte in die Körpermitte eines anderen Angreifers. Nicht weit von Ronin entfernt bekam Kiri beinahe den Bauch aufgeschlitzt. Sie hatte nicht mehr aufgepaßt, hatte nur noch Augen für Ronin gehabt, entsetzt und fasziniert zugleich starrte sie zu ihm herüber. Der Schattenkrieger stieß einen triumphierenden Schrei aus und ließ seine Klinge vorzucken. In letzter Sekunde wehrte Kiri ab, federte in die Knie und rammte ihm ihr Schwert von unten her in den Leib. Der Bann war zerrissen. Sie wandte sich den anderen Angreifern zu. Irgendwo erhob sich die Stimme des Rikkagin Wo zu einem scharfen Befehl. Überall hetzten Männer hin und her und versuchten, sich in neuen Verteidigungslinien zu formieren, aber es schien sinnlos. Unaufhaltsam wogten die Schattenkrieger voran. Und der Nebel wallte an ihnen vorbei und über die Soldaten hinweg, und er verbrannte ihnen mit seiner Kälte die Waden. In der Düsternis tauchten noch mehr Knochenkrieger auf. Ihre untersetzten, massigen Mitstreiter fielen unter den Schwerthieben der Verteidiger.
Die Knochenkrieger trugen runde Eisenschilde an ihrem linken Arm, viel zu schwer, als daß sie ein Mensch wirkungsvoll hätte benutzen können. Scharfe Klingen zuckten hoch, trafen ihre Ziele… Die Knochenkrieger kämpften wie Berserker. Geisterhaft bleich leuchteten ihre nur von pergamentener Haut überzogenen Schädel. Die Dornenkugeln sirrten auf engen Kreisbahnen und explodierten mit furchtbarer Wucht. Ronin fühlte sich in eine dunkle Flut gehüllt. In diesen Augenblicken war er kein Individuum mehr, sondern nur ein weiteres Stück menschliches Treibgut, das von einer wilden Unterströmung davongetragen wurde. Er kämpfte wie von Sinnen, und die unheimlichen Schattenkrieger fielen wie Weizenhalme vor seiner rasenden Klinge. Doch für einen toten erhoben sich zahllose neue Gegner. Weiter watete er vor. Der Boden war glitschig vom Blut und Gedärm seiner erschlagenen Gegner. Mühselig arbeitete er sich in die Wiese hinaus, um den hageren Totenkopfkriegern zu begegnen. Tuolin und Kiri hielten sich dicht hinter ihm. Die mächtige Klinge des Rikkagin hob und senkte sich mit der feinen Präzision einer Maschine, und in seiner linken Hand hielt er den Dolch mit dem Smaragdgriff. Mehr als einmal parierte er damit einen tödlichen Stoß. Und auch Kiri zeigte, daß sie zu kämpfen verstand. Ihr Brustpanzer glänzte, war vom Blut ihrer Gegner getränkt, ihr schwarzes Haar wirbelte wie ein dunkler Mantel um ihr Gesicht. Mit einem gewaltigen Schwerthieb, der eine tonnenförmige Brust auseinanderfetzte, stieß Ronin durch die äußeren Reihen der Schattenkrieger. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte er einen Freiraum um sich. Die regungslose Luft lebte vom scharfen Zischen der wirbelnden Morgensterne. Der letzte Soldat fiel, sein Schädel zerschmettert wie eine reife Frucht. Ronin starrte in die Düsternis. Dorthin, wo die grinsenden
Totenschädel zu sehen waren… Die tief in den Höhlen liegenden Augen waren nichtssagende Löcher ohne jede Spur einer Iris oder Pupille. Die Schädel drehten sich auf einem spindeldürren Hals, als sie sich nach ihm umsahen. Ronin hob seine Schwerthand und rannte los. Die Totenkopfkrieger erwarteten ihn. Nahe genug! In einer nebelhaften Bewegung trieb er seine Klinge hinunter und durchtrennte das Schlüsselbein eines Totenkopfkriegers. Der Schädel flog von den knochigen Schultern. Ein grauer Staubregen wirbelte auf. Keine Spur von Blut! Und der Enthauptete wankte weiter auf ihn zu! Sein rechter Arm war noch immer erhoben, und die Stachelkugel schwirrte… und zuckte vor. Ronin warf sich zur Seite. Der Morgenstern zischte über ihn weg. Ronin schlug ein zweites Mal zu, hieb dem Unheimlichen die Beine unter dem Körper weg. Im gleichen Moment traf ihn ein ungeheurer Schlag, und seine Klinge wirbelte auf den durchnäßten Boden. Er wurde nach vorn geschleudert und krachte fast auf den hageren Leichnam. Mit einem wilden Aufschrei warf er – sich herum, sah den Totenkopfkrieger über sich, sah, wie er den Morgenstern hochriß, um ihn wieder auf ihn herunterfahren zu lassen. Wie ein drohender Nebel schoß die tödliche Kugel auf ihn zu. Ronin wälzte sich beiseite, spürte den eisigen Luftzug, als die Kugel an seiner Wange vorbeiwischte. Aussichtslos, so oder so. Seine Klinge lag zu weit weg! Der hagere Krieger stand zwischen Ronin und der Waffe. Ronin wurde eiskalt. Ganz ruhig wartete er den nächsten Schlag ab. Flirrend raste die Kugel heran. Und wieder wich Ronin aus. Erneut wartete er. Er wollte sich ganz sicher sein. Insgeheim zählte er… Der Totenkopfkrieger riß seine Arme hoch. Da federte Ronin vorwärts, er stolperte, fiel, rollte über beide Schultern ab und stand wieder auf den Füßen. Seine
Rechte hielt den Morgenstern eines Gefallenen! Er fetzte die Waffe hoch… Mit einem häßlichen Kreischen trafen die beiden Mordkugeln gegeneinander, die Ketten verhedderten sich. Ronin hetzte weiter, rammte dem Skelettkrieger seine Linke gegen den aufklaffenden Rachen. Gelbe Zähne, groß, spitz zulaufend, schnappten heran… Ronins Schlag zertrümmerte sie, ließ sie davonspritzen. Noch einmal schlug Ronin zu. Der Totenkopfkrieger brach zusammen. Ronin hetzte zu seinem Schwert, riß es hoch und tauchte in die Reihen der Unheimlichen ein. Der Ausgang des Kampfes stand bereits fest. Die Soldaten vermochten dem Ansturm der Totenkopfkrieger nicht standzuhalten. Zu Dutzenden starben sie. Trotzdem dachte Ronin nicht daran, aufzugeben. Er hörte Tuolin schreien, und als er sich umdrehte, entdeckte er den schlanken Rikkagin. Er kämpfte Seite an Seite mit Kiri. Ronin eilte zu den Gefährten. »Wir können nicht gegen sie bestehen, Ronin!« keuchte der Rikkagin und wehrte den verbissenen Angriff einer Schattengestalt ab. »Wir sind geschlagen. Das Lager vernichtet. Wir müssen Wo finden und die Überlebenden neu formieren…« Ronin blickte sich um. Die Totenkopfkrieger schienen überall zu sein. Die ersten hatten bereits den äußeren Kreis der Zelte und Pavillons erreicht. Das Stöhnen und Jammern der Sterbenden hing über dem Lager. Ronin zog sich mit Tuolin und Kiri zu den Pavillons hin zurück. Die Gegner saßen ihnen im Nacken. Jeder Schritt mußte erkämpft werden. Sekundenlang flackerte irgendwo Feuerschein auf. Gleich darauf leckten gierige Flammen in die Höhe! Ein Zelt brannte! Schreie gellten auf. Und dann war die Nacht gelb und orange gestreift, wabernde Hitze tanzte über den brennenden Zelten, stritt sich mit der
Kälte der Nacht. Die Erde dampfte. Der Kampf schien in die Wolken verlagert worden zu sein. Ronin, Kiri und Tuolin hetzten durch das wogende, wirbelnde Nichts, vorbei an den flatternden Leinenwänden, vorbei an den gierigen Flammen. Drei Skelettkrieger stellten sich ihnen in den Weg. Ronin vernichtete sie. Der Boden war schlammig vom Blut der Erschlagenen. Weiche, nachgiebige Dinge quatschten unter ihren Schritten. Das Feuer griff auf die anderen Zelte über. Rauch stieg hoch. Es knisterte und prasselte. Tuolin führte jetzt. Atemlos hetzte er durch das flammende, rauchende, stinkende Chaos, über die grausigen menschlichen und nichtmenschlichen Abfälle hinweg, die wie stinkender Lehm überall verstreut lagen. Wos Pavillon stand in Flammen. Orangene Funken wirbelten in der Nacht. Die Vorhänge flatterten brennend, funkensprühend im Wind. Sie fetzten sie beiseite und hetzten ins Innere des Pavillons – und dann standen sie vor Wo. Er war tot. Seine Arme waren vom Rumpf getrennt. Sein Schädel eine matschige Wunde. Sie waren zu spät gekommen. Als sie den Pavillon verließen, regneten helle Funken auf sie herunter. Die Hitze nahm zu, zerriß die Nacht. Überall tobten die Flammen jetzt. Ein Haufen stämmiger Schattenkrieger kam ihnen entgegen. Ronin und Kiri und Tuolin machten sie nieder. Hinter ihnen tauchten Totenkopfkrieger auf. Ronin wollte sich ihnen stellen. Tuolin riß ihn herum. »Wir haben verloren, Ronin!« schrie er. »Wir müssen zur Festung zurückkehren. Morgen werden wir weitersehen…« Sie rannten los, aus dem Lager hinaus, die schwarze, verlassene Straße entlang, die zur Brücke führte. Blut lief wie ein schwarzer Regen von ihnen ab. Sie waren betäubt und
krank im Herzen. Schreie und Stöhnen verfolgten sie bis zur Brücke. Ein frostiger Nordwestwind fauchte heran und riß und zerrte an ihren Umhängen, ließ die Brückenseile schwirren. Unter ihnen rauschte das Wasser, bleich, sich im Dunkeln kräuselnd, gegen die schwarzen Felsen wirbelnd. Es war stiller geworden, die Nacht heller. Gierig loderten die Flammen des brennenden Zeltlagers in den Nachthimmel hinauf. Die Gefährten eilten an einer Gruppe hoher Tannen vorbei. Schatten. Ronin stieß einen Schrei aus, federte herum und schlug zu. Der wuchtig geführte Hieb zerschmetterte einen Knochenschädel. Ein Hinterhalt. Nur der flackernde Feuerschein hatte die Skelettkrieger verraten, und plötzlich war die Luft wieder erfüllt vom Zischen und Schwirren der Morgensterne. Ein hagerer Krieger verletzte Tuolin an der Seite. Ronin hörte, wie der Rikkagin ausatmete, eine dumpfe Explosion, dann wehrte er sich. Er zerschmetterte den Schädel von Tuolins Gegner. Der Rikkagin griff sich an die blutende Wunde. Seine Beine zitterten. Mühsam hielt er sich aufrecht. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch. Kiri war an der Seite des Rikkagin. Sie hielt ihm die Totenkopfkrieger vom Leibe. Einem blitzartig vorstoßenden Angreifer kam sie zuvor. Ihre Klinge fraß sich in seinen dürren Leib. Er schlug mit dem Schild nach ihr, traf, warf sie zurück. Dann schleuderte er den Morgenstern. Kiri wich aus. Dann köpfte sie den Unheimlichen. Der Torso wirbelte rücklings davon und brach zusammen. Zwei Totenkopfkrieger drängten Ronin zurück. Nicht lange. Mit rasend schnellen Hieben tötete er die Unheimlichen. Tuolin keuchte. Sein Gesicht war eine bleiche Maske des Schmerzes. Er versuchte, seine Klinge zu heben. Die Anstrengung trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn.
Und Kiri kämpfte an seiner Seite, kämpfte um ihr und sein Leben. Geschmeidig entging sie einem fürchterlichen Schwerthieb und wirbelte herum, nutzte ihren Schwung und schmetterte dem verblüfften Gegner ihre Stiefelspitze in den Magen. Dann hieb sie nach ihm, ihr Schwert beidhändig haltend, die Beine gespreizt. Die Klinge blitzte in der Nacht. Einen Sekundenbruchteil später spaltete sie den Schädel des Kriegers vom Schädelknochen bis zum Kiefer. Knochensplitter spritzten und prasselten. Schwer krachte der Unheimliche zu Boden. Dann drehte sie sich um, blitzschnell, und fetzte ihre Klinge durch den Leib eines der auf Ronin eindringenden Krieger. Ronin fegte die heranpfeifende Mordkugel beiseite, packte die Kette und riß sie herum. Der Morgenstern zertrümmerte den bizarren Schädel des Unheimlichen, ließ ihn in einem grauen Knochen- und Staubhagel auseinanderfliegen. Ein weiterer Totenkopfkrieger näherte sich Kiri. Sie fetzte ihm die Beine unter dem Leib weg, dann spaltete sie seinen Schädel. Aber der Kampf forderte auch seinen Tribut. Die Erschöpfung fraß sich in sie hinein. Ihre Bewegungen wurden langsamer. Sie zitterte. Da griff der letzte Knochenkrieger an, schleuderte Kiri wie ein lästiges Stück Fleisch beiseite und warf sich auf Tuolin. Mit einer rasend schnellen Bewegung hatte er eine Kette um den Hals des Rikkagin geschlungen. Tuolin ging zu Boden. Der Totenkopfkrieger kam auf ihm zu liegen. Mit einem bösartigen Knurren würgte er ihn. Ronin hetzte los. Die Augen des Rikkagin traten aus den Höhlen. Sein Mund klaffte auf, als wollte er etwas sagen. Zuckend riß und zerrte seine Linke an der Kette.
Da erreichte Ronin den Unheimlichen. Seine Linke packte den dürren Hals der Kreatur und riß daran. Mit einem berstenden Krachen brach der Knochen. Ronin schleuderte den Leichnam beiseite, bückte sich, lockerte die Kette, die sich tief in Tuolins Kehle gefressen hatte. Der Rikkagin würgte. Sein Gesicht war rot und blau verfärbt, die Augen glasig. Aber er lebte. Keuchend und rasselnd atmete er. Und plötzlich war auch Kiri neben ihm. Gemeinsam richteten sie Tuolin auf. Es hatte zu schneien begonnen, in schrägen Bahnen segelten die dicken, weißen Flocken herunter und bestäubten die Leichen… Kiri fröstelte. Ronin steckte sein Schwert in die Scheide, dann nahm er Tuolin auf seine Arme. So schnell wie möglich schritten sie aus. Der Weg war beschwerlich. Steil führte er hügelan, nach Kamado. Soldaten eilten ihnen entgegen und geleiteten sie zu den hoch aufragenden Mauern von Kamado. Befehle wurden gebrüllt. Die Portale öffneten sich. Jedoch nur so weit, daß sie hindurchschlüpfen konnten. Dann schlossen sie sich mit einem weithin hallenden Schlag. Aufruhr entstand ringsum. Ronin achtete nicht darauf. Er übergab den Rikkagin seinen Leuten. »Zur Kaserne!« brüllte einer. Ronin trottete hinter ihnen her. Kiri war an seiner Seite. Er legte einen Arm um sie, spürte ihre Wärme und wußte, daß sie gegen eine Ohnmacht ankämpfte. Er stolperte, und ein Soldat bot ihm Hilfe an. Er lehnte ab. Irgend jemand nahm ihm Kiri trotzdem ab und trug sie die Treppe hinauf und verschwand mit ihr in dem dunklen Eingang. Ronin sank auf die steilen Stufen nieder.
Die Müdigkeit tobte wie ein schnell wirkendes Gift durch seinen Körper.
Nach einiger Zeit kam ein Mann aus der Kaserne und setzte sich neben ihn. »Er wäre fast gestorben.« Der Mann war groß und breitschultrig, mit grau werdendem Haar und vollem, aber kurzgeschnittenem Bart. Seine Nase war lang und gekrümmt, seine Augen schwarz. »T’iens Arzt ist da drinnen, falls du deine Wunden versorgen lassen willst.« »Ich bin müde«, erwiderte Ronin. »Das ist alles.« Er wandte seinen Kopf und rief nach dem Arzt. Wenig später trat er ins Freie und stieß ein überraschtes Brummen aus, als er Ronin erblickte. Es war der Arzt, der ihn an Bord von Tuolins Schiff zusammengeflickt hatte. Er untersuchte Ronin. Der Breitschultrige wandte sich an Ronin. »Gut für uns, daß er nicht gestorben ist, eh?« Dann, leiser: »Wie heißt du?« »Ronin.« »Ich bin Rikkagin Aerant.« Ronin lehnte seine Stirn gegen das hölzerne Geländer. Die alten Kriegsgötter, die in die Stäbe eingeschnitzt waren, glotzten in der Dunkelheit. »Du hast ihm das Leben gerettet.« »Was?« Ein stechender Schmerz zwischen seinen Schulterblättern. »Tuolin hat mir gesagt, daß – « »Nennst du ihn immer bei seinem anderen Namen?« »Wir sind Brüder.« Ronin drehte seinen Kopf herum. »Du siehst ihm nicht sehr ähnlich.«
Der Arzt hatte ihm einen Verband angelegt und verschwand wieder im Dunkel des Eingangs. »Wir hatten verschiedene Väter«, sagte Aerant endlich. »Ich verstehe.« Er dachte an gar nichts. »Ich kann dir helfen.« Ronin wischte sich über sein Gesicht. »Wie?« »Erzähl mir, was passiert ist.« Ronin faßte sich kurz. Rikkagin Aerant nickte. »Es ist am besten für Wo, daß er tot ist, wirklich. Sein Geist war diesem Krieg verschlossen. Er war derart daran gewöhnt, gegen die Roten und die Nordstämme zu kämpfen, daß er nicht begreifen konnte, daß sich etwas geändert hat, daß der Krieg anders geworden war.« »Wie konnte er sich die Krieger erklären, deren Wunden nicht bluten?« Rikkagin Aerant zuckte die Schultern. »Der militärische Verstand kann alles irgendwie erklären. Ihm fehlte die Fantasie.« Er wischte über seine Hose. »Schade. Er war ein guter Anführer.« »Er war nicht auf den Angriff vorbereitet.« »Ja. Es würde mich brennend interessieren, wie sie so leicht durch den äußeren Kreis gekommen sind.« »Hat dich Tuolin eingeweiht – « »Ja. Ich habe dieses Wesen gesehen, gegen das du gekämpft hast.« »Hast du mit Wo darüber gesprochen?« Aerant lachte kurz auf. »Niemandem außer T’ien habe ich es gesagt, und selbst er – « Seine Augen waren wie kühle Kristalle, sie blickten offen und mit scharfer Intelligenz. »Weiß du, sogar Brüder lieben sich nicht immer.« »Er wollte mich begleiten.« »Das ist jetzt unmöglich.« Er seufzte. »Wahrscheinlich ist es so am besten.«
»Willst du mitkommen?« Aerant wandte sein Gesicht ab. An einer Ecke, am nächsten Kasernenblock, bellte ein Hund. »Ich weiß es nicht. Aber es spielt auch keine Rolle. Ich werde hier gebraucht. Ich werde dir zwei Rote zur Verfügung stellen. Sie wurden in dieser Gegend geboren.« »Gut.« Er stand auf, seine Augen dunkel, unergründlich, als er auf Ronin hinunter starrte. »Vielleicht gelingt es dir, zurückzukehren.« Er stieg die Stufen hinunter, trat auf die schlammige Straße hinaus und ging davon.
Still rieselte der Schnee vom Himmel herunter, überzog die Brustwehren und dämpfte die schlurfenden Schritte der Wächter. Wirbelnd fegte er heran und verdeckte auch die letzte verlöschende Glut des zerstörten Zeltlagers, ein blasser, holperiger Teppich, der die Körper der Gefallenen unter sich barg. Schweigen herrschte in Kamado, nur vereinzelt vom Gleichschritt der Patrouillen-Soldaten unterbrochen. Er zog den Umhang fester um seine Schultern. Der Schmerz dort ließ nach. Er zwang sich, nichts zu denken. Er wollte nicht an die Zukunft denken. Er sah Kiri. Sie schritt die Brustwehr entlang; suchte ihn. Er rief wortlos nach ihr. »Wie geht es deiner Schulter?« fragte er. »Besser.« Sie setzte sich zu ihm. »Der Knochen war aus dem Gelenk gestoßen.« Er nickte. Sie legte eine Hand auf seinen Arm und ließ sich nach oben gleiten. »Bei Tagesanbruch werde ich nach Sha’angh’sei
zurückkehren. Ich muß mit Du-Sing reden. Die Grünen und die Roten müssen sich jetzt zusammentun.« »Das ist richtig.« »Und du bist noch immer entschlossen, in den Wald zu gehen?« Ihr Atem kam in warmen, weichen Stößen. »Ja.« Sie nickte. »Es muß sein, ich weiß.« Er sah sie direkt an. »Du hast dich verändert.« Er wußte nicht, was er in ihrem Gesicht zu sehen erwartet hatte, aber er war überrascht. Sie sah erniedrigt aus, ihre Wangen färbten sich mit einem sanften Rosa. »Natürlich. Matsu ist tot. Ich bin jetzt nur mehr eine halbe Person… Keine gute Gesellschafterin.« Sie stand auf und eilte die steile Treppe hinunter.
Der Tag dämmerte. Ein blutroter Schmierstreifen, der kalt in einem langen Riß in den bedrohlich aufgetürmten Wolken brannte, rosa und perlenverziert im Osten, wo die aufgedunsene, abgeplattete Sonnenscheibe in quälender Bedachtsamkeit emporstieg. Er sah zu, wie das Licht auf die Welt kam. Wie versteinert kauerte er auf der südlichen Brustwehr, wo er auch die Nacht verbracht hatte. Kurz vor Tagesanbruch hatte es aufgehört zu schneien, und dieser Tag schien irgendwie natürlicher als der vorhergegangene. Ronin stand auf, atmete die kalte Luft ein und streckte sich. Er blickte nach Süden, den einsamen, weiß verschneiten Pfad entlang. Weiter oben war der Schnee rosa. Er konnte keine Spuren entdecken, so weit er auch sah. Der Weg zurück nach Sha’angh’sei war frei. Er verließ die Brustwehr und ging zur Kaserne. Zwei untersetzte Männer erwarteten ihn. Ein Soldat brachte ihm eine Tasse dampfenden Tee. Dankbar nahm er sie
an und trank schlückchenweise, genoß die Wärme und Würzigkeit. Die Schale Reis lehnte er ab. Kiri fand er in den Stallungen. Schweigend sattelte sie ihre Luma-Stute. Als er eintrat, begrüßte ihn der Hengst mit einem freudigen Schnauben. Unruhig tänzelte er. Stroh wirbelte durch die Luft. Kiri saß auf. Die Stute war nervös, aber Kiri hielt sie eisern im Zaum und dirigierte sie ins Freie. Ronin ging neben ihr her. Schweigend gingen sie die stillen Straßen entlang. Dann hatten sie das Südtor erreicht. Kiri zügelte das Luma. Ronin zog sie zu sich herunter und küßte sie auf die Wange. »Töte ihn!« flüsterte sie zu ihm. »Töte ihn, bevor ich zurückkehre.« Geschmeidig richtete sie sich wieder auf, grub ihre Hacken in die Flanken der Luma-Stute und gab ihr die Zügel frei. Das Tier schoß los, ein Safranstreifen, hinaus aus dem Schatten der Zitadelle, auf die lange, weiße Straße nach Hause.
Die Stille war wie ein Donnerschlag, allgegenwärtig, allgewaltig. Tief im Wald war der Schneefall auf ein leichtes Rieseln reduziert. Der Baldachin aus mächtigen Ästen und Zweigen fing die meisten Flocken auf. Die Natur umgab ihn in herber Schönheit. Strahlend weiß waren die borkigen, rissigen Stämme überfroren, die grünen Unterseiten der Äste und Zweige schimmerten in tiefem Grün, das unter den blauen Schatten in düsteres Schwarz überging. Die Stille war außergewöhnlich. Wenn er stehenblieb, dann konnte er seine eigenen Atemzüge überlaut hören, ebenso die der beiden Roten, die einige Schritte seitlich von ihm gingen. Mit einem eitrigen Rauschen fiel die Schneekappe von einem Ast, und Ronin schaute instinktiv hoch. Der breite grüne
Zweig mit seinen süß riechenden Nadeln tanzte hektisch auf und ab, ein Blitz aus tiefem Scharlachrot flatterte davon. Sie standen auf einer winzigen Lichtung, dennoch war der Himmel völlig verdunkelt. Wohlriechende braune Nadeln bedeckten weich den Waldboden zwischen den hohen Fichten. In der Nähe der alten, knorrigen Eichen mit ihrem ineinander verwobenen Astwerk und der Fülle ovaler Blätter war die Erde hart gefroren. Und sie gingen weiter, tiefer in den unheimlichen Wald hinein. Ronin behielt die beiden Roten im Auge und ahmte ihre langsamen, bedächtigen Bewegungen nach. Kaum einen Laut verursachten sie. Dicht an dicht ragten die Stämme auf. Bald waren sie gezwungen, hintereinander zu gehen. Der Weg wurde steiler. Granitbrocken stachen durch die hier und da vom Schnee befleckte Humusdecke. Sie erreichten den Kamm der Anhöhe, und der Waldboden senkte sich wieder. Linker Hand war das Plätschern eines Baches zu hören. Schwarze Vögel flatterten unter den schneebeladenen Zweigen umher und stießen schrille Stakkato-Schreie aus. Hier gab es kaum Unterholz, nur grüne Moosflächen und graublaue Gewächse, die am felsigen Untergrund klebten. An diesem Morgen fanden sie keine Spuren, und Yuan, einer der beiden Roten, schickte seinen Gefährten auf einen Erkundungsgang. »Vielleicht haben wir so mehr Glück«, sagte er zu Ronin. Sie gingen weiter nach Norden. Das Antlitz des Waldes veränderte sich nicht. Kurz nach Mittag gab ihm der Rote ein Zeichen. Lautlos glitt Ronin an seine Seite. »Da!« flüsterte Yuan. Ronin starrte durch das verfilzte Gestrüpp, das hier zwischen den Eichen wucherte, und da war Bewegung. Langsam schob
er sich weiter vor, um besser sehen zu können. Dann erstarrte er. Hinter dem Gestrüpp schloß sich eine kleine Lichtung an. Ein knappes Dutzend Totenkopfkrieger durchquerte sie leise. Zwanzig oder mehr Männer mit schwarzem, zu einem Zopf zurückgekämmten Haar schritten neben ihnen. Ronins Blick fraß sich an einem hochgewachsenen Mann fest. Augen wie im stillen Wasser vergrößerte Steine. Ein langer, über die Mundwinkel herunterhängender Schnauzbart. Er würde dieses Gesicht nie vergessen. Po, der verbitterte Händler, der Llowans Empfang verlassen hatte. Ronin berührte Yuans Schulter, und sie zogen sich zurück. »Wer sind die Männer?« »Rote.« »Aber warum sind sie beim Feind?« »Sie hassen die Grünen. Ein alter Haß. Die Knochenschädel haben ihnen Macht über Sha’angh’sei versprochen. Dort sind ihnen die Grünen überlegen. Als Gegenleistung verlangen sie Unterstützung hier im Norden.« »Sie würden gegen ihr eigenes Volk kämpfen? Seite an Seite mit jenen, die keine Menschen sind?« »Machtgier ist eine seltsame Krankheit«, erwiderte Yuan. »Dennoch werden sie mit uns sterben, wenn der Feind siegreich war.« Der andere starrte ihn an. »Glaubst du, sie davon überzeugen zu können?« Ronin dachte an Pos Worte. Er schüttelte seinen Kopf. Der Nachmittag verging, und sie suchten vergebens nach der Spur des Makkons. Kurz nach Sonnenuntergang gaben sie es auf, und Yuan führte ihn zu jener Lichtung zurück, auf der sie sich von dem anderen Roten getrennt hatten. Hier, so hatten sie verabredet, wollten sie sich auch wieder treffen.
»Wir können jetzt nur hoffen, daß Li mehr Glück hatte«, meinte Yuan. Dunkelheit senkte sich auf die Lichtung herunter, als sie dort ankamen, der Schnee wirkte bläulich verfärbt, die Schatten blauschwarz. Ihnen gegenüber ragte ein verkrüppelter, bizarr geformter Baum auf. Yuan überquerte die Lichtung. Langsam folgte ihm Ronin. Seine Blicke versuchten, die Schatten zu durchdringen. Gut und gerne fünf Meter über dem Waldboden war ein Ast von dem Baum gerissen worden. Der Stumpf war lang und spitz gezackt. Auf diesen notdürftigen Pfahl war Li aufgespießt worden. Eine gewaltige Kraft mußte ihn dorthin geschleudert haben. Yuans Wangenmuskeln zuckten, aber er blieb stumm. Er zog sein Schwert und schlug den Pfahl ab. Schwer fiel Li zu Boden. Seine Augen waren geöffnet, das Grauen hatte sich in ihren Tiefen festgefressen. Der Boden war zu hart gefroren, um den Gefährten begraben zu können. Ronin und Yuan gaben es auf und zogen weiter nach Norden. Irgendwann beschlossen sie zu lagern. Yuan sammelte trockenes Holz und machte sich daran, ein rauchloses Feuer zu entzünden. Ronin übernahm die erste Wache. Der bleiche Feuerschein kämpfte gegen die blaue Schneefläche an, ließ Schatten über die Baumstämme huschen und ins Dunkel eintauchen. Außerhalb des Lichtkreises hörte man das geschäftige Hinundherhuschen der Nachttiere. Wenn er sich nach rechts hinüberlehnte, konnte er durch eine winzige Lücke im Dach des Waldes gerade noch den Sichelmond und den ihm zugehörigen Stern ausmachen, schimmernde Platinsplitter, kühl und fern. Ein langgezogenes Heulen wehte heran, ein Schneewolf, möglicherweise, und Stille kehrte ein. Sämtliche kleineren
Tiere des Waldes schienen den Atem anzuhalten. Aber das Heulen wiederholte sich nicht, und so setzten die zahllosen kleinen Geräusche allmählich wieder ein. Eine Eule schrie. Irgendwo flatterte ein Vogel auf. Dann fing es an zu schneien, ein feines Stäuben, das trotz des Labyrinths aus Zweigen, Blättern und Nadeln zu ihm und Yuan herunterdrang. Er weckte den Roten. Yuan streckte sich und gähnte, dann erhob er sich und legte Holz auf die erlöschende Glut. Seine Wache begann. Ronin fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Schwerelos trieb er dahin. Irgendwann wich die Schwärze einem karmesinroten Flackern, Blut schien vom Himmel zu regnen. Er hörte Stimmen, weit entfernt und doch so nah, daß die einzelnen Worte in seinen Ohren nachzuhallen schienen. Noch immer nicht? Es kann keinen weiteren Aufschub geben. Du weißt genausogut wie ich, was geschehen muß, daß ich ihn finden kann. Ja. In Ordnung. Ich bin bereits an Ort und Stelle. Das Schiff ist ausgerüstet und bereit. Ich werde ihn bringen, sei dessen sicher. Nichts mehr bin ich mir sicher. Die Zeit fliegt zu schnell dahin. Die Kai-feng ist nahe. Aber wir sind Draußen. Ja, aber wir müssen von denen abhängig sein, die es nicht sind. Unsere Zeit neigt sich dem Ende zu. Er löste sich von der Unterhaltung und öffnete seine Augen. In den Zweigen säuselte der Wind. Irgendwo ertönte der klagende Ruf eines Ziegenmelkers. Er wandte seinen Kopf. Die Flammen tanzten prasselnd über den wuchtigen Holzscheiten. Yuan saß, die Arme um seine Knie gelegt, um die Kälte fernzuhalten, und starrte in die Schatten des Waldes. Ronin schloß seine Augen und schlief wieder ein. Das blaue Licht der Dämmerung weckte ihn. Die Stimmen fielen ihm ein, und eine Sekunde lang glaubte er fast, daß zwei Menschen mit ihm am Feuer gesessen hatten.
Das Feuer war erloschen, die Asche grau und kalt. Yuan saß noch immer in derselben Stellung wie gestern nacht. Noch immer starrte er zu den Bäumen hinüber. Ronin ging zu ihm, streckte seine Hand aus – und hielt in der Bewegung inne. Er hockte sich nieder. Der Rote war tot. Ein häßliches Loch klaffte in seinem Rücken. Etwas mußte ihn blitzschnell vom Rücken zur Brust hin durchbohrt haben. Vielleicht ein wildes Tier… Er hatte sich während der ganzen Nacht nicht bewegt. Ronin entfernte sich rasch und geräuschlos vom Lager, und stieß nordwärts tiefer in den Wald hinein vor. Sein Rückgrat kribbelte. Es begann wieder zu schneien, stärker jetzt. Die weißen Flocken schränkten seine Sicht ein. Das Labyrinth des Waldes umgab ihn. Wind kam auf, zerrte an seinem Umhang und wirbelte ihm Schnee ins Gesicht. Plötzlich glaubte er, ein Horn ertönen zu hören, traurig und weit weg. Nebel wallte über den Waldboden. Jedes Geräusch, jedes Gefühl für Richtung war jetzt verdeckt. Sein Herz hämmerte. Schräg einfallende Lichtstrahlen erhellten den wattigen Nebel und verwandelten ihn in eine wogende Wildnis aus Licht und vagen Schatten. Kein Laut war mehr zu hören, die Geräusche des Waldes waren verschwunden, und mit ihnen die leichte Beruhigung, von anderen lebenden Wesen umgeben zu sein. Er fühlte sich plötzlich abgeschnitten, so, als schreite er nicht mehr durch die Welt der Menschen. Schweigend fiel der Schnee und mischte sich mit dem zähflüssigen Nebel. Vorsichtig ging Ronin voran, eine Hand ausgestreckt, wie ein Blinder. Die Bäume waren nur mehr düstere Schemen, erst im letzten Moment deutlich sichtbar. Jedes Zeitgefühl entglitt ihm. Er wußte nicht mehr, ob er Stunden oder Tage marschiert war, ob die Sonne über dem Dach seiner Welt schien, oder ob sie untergegangen war.
Hin und wieder nahm er eine Handvoll Schnee in den Mund, um den Durst zu stillen. Hunger wühlte in seinen Eingeweiden. Er hielt nach Wild Ausschau, suchte den Boden nach frischen Spuren ab – vergeblich. Kein Tier, kein früchtetragender Busch oder Baum. Und sein Hunger wurde stärker. Er ging schneller. Schließlich stolperte er über eine freiliegende Wurzel. Er mußte sich ausruhen. Erschöpft kauerte er sich gegen eine alte Kiefer. Der Duft umhüllte ihn. Die braunen Nadeln unter ihm waren weich. Sein Kopf sank auf seine Brust, aber der Hunger ließ ihn nicht einschlafen. Es schien jetzt dunkler, das diffuse Licht flimmerte irgendwo am Rande seiner Wahrnehmung. Da bemerkte er die Wölbung unter seinem Gürtel. Benommen tastete er darüber, seine Hände kramten den Gegenstand heraus. Er war schwammig. Essen. Er versuchte, ihn zu sehen, aber das ungewisse Licht machte das unmöglich. Er nahm einen Bissen, dann noch einen. Nachdenklich kaute er. Es schmeckte leicht bitter. Erst, als er fertig war, wich der Nebel aus seinem Verstand, und er begriff, daß er die menschenförmige Wurzel gegessen hatte, die ihm von dem Apotheker in Sha’angh’sei gegeben worden war. Eine riesige Urne, Fische, die träge dahinschwammen, ganz zarte Flossen, die sich in der Strömung wiegten… Ewigkeit. Seine Kraft schien erneuert. Er spürte es. Alles, was er brauchte, war – In diesem Augenblick glaubte er einen fernen Ruf zu hören, einen Triumphschrei, und er stand auf, beschloß, in die Richtung zu gehen, in der der Schrei laut geworden war. Da hörte er ein Geräusch. Hinter sich. Sehr nahe. Er drehte sich um. Der Nebel wogte noch dichter, das Perlgrau glitzerte in allen Regenbogenfarben.
Ein Schatten. Undeutlich, bizarr, von den Schatten vieler riesiger, alter Eichen halb verborgen. Ronin stieß den Atem aus und entspannte sich. Der Makkon. Unwillkürlich fuhr seine Rechte an den Schwertgriff. Die Macht der Gewohnheit. Aber die Klinge würde ihm gegen dieses Wesen nicht nützen. Die Gestalt trat aus den Schatten heraus. Ronin zog sein Schwert. Ein scharfes metallisches Sirren. Dann sah er das Gesicht der Kreatur, ein Gesicht, so fremdartig und bizarr, daß jeder Gedanke an den Makkon schlagartig aus seinem Verstand getilgt war. Ronin starrte auf den Hirsch! Er war über vier Meter groß, mit breiten Schultern und langen, schlanken Armen. Die Beine waren muskulös, die Oberschenkel unnatürlich massig. Er trug tiefschwarze Hosen und ein ebensolches Panzerhemd. Der Saum seines Umhanges wischte über den Waldboden. Er hatte einen breiten schwarzen Metallgürtel um seine Hüften geschnallt. Zwei Schwerter steckten dahinter. Eines so lang, daß es fast den Boden berührte, das andere kürzer als die traditionelle Waffe der Männer von Sha’angh’sei. Lange starrte Ronin darauf und fragte sich, warum sie ihm so vertraut schienen. Er war sicher, daß er ihresgleichen noch nie gesehen hatte, und doch – Widerstrebend hob er seinen Blick, ließ ihn zum Schädel der Alptraumkreatur hinauf gleiten. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, dennoch hatte er jetzt Angst. Es war kein Zittern in ihm, es war überhaupt keine physische Angelegenheit, eher so, als würde irgend jemand tief in seinem Innersten an seinen Nervensträngen ziehen… Und gleichzeitig gellte das schreckliche Gelächter auf, irr, eiskalt und scheußlich. Ein wuchtiger Schädel, beherrscht von einer langen Schnauze mit weiten, massigen, sich bauschenden Nüstern. Darunter ein riesiges Maul. Große, ebenmäßige Zähne. Unruhig spielende
Dreiecksohren, pelzig. Daneben, aus der abgeschrägten Stirn, wuchsen zwei ungeheure Geweihe! Der Schädel war mit tiefschwarzem prächtig glänzendem Fell überzogen. Ronin starrte in die Augen des Wer-Wesens. Sie waren nicht rund, sondern ziemlich oval, die intelligenten Augen eines Menschen. Pigmentiert mit einer kalten Farbe, die auf dieser Welt keine Entsprechung hatte. Der Hirsch öffnete sein Maul, und eine grelle Stimme peitschte durch Ronins Schädel, er krümmte sich, die Klinge entfiel seiner Faust. Ein irrsinniges Lachen brandete auf. Im Hintergrund eine angsterfüllte Stimme: Steh auf! Steh auf und töte die Bestie! Töte sie… Ein Tier…Der Hirsch ist nur ein Tier! Aber seine Arme reagierten nicht, und seine Finger waren taub, sie krallten sich in den weichen Waldboden. Vernichte ihn, bevor er dich vernichtet! Er würgte, versuchte, sich zu übergeben, aber es kam nichts hoch. Sein Gesicht senkte sich in den Schnee, die Kälte war wie eine Flamme an seiner Stirn. Der Hirsch kam näher. Schnee knirschte. Der Wind wuchs beständig und heulte wie ein haßerfülltes Kind zwischen dem Gewirr der Zweige. Ronin fühlte sich an der Erde festgewachsen, ein weiterer Baum in diesem unheimlichen Wald. Der Hirsch zog das Breitschwert. Die Klinge ein tiefschwarzer Onyx, durchscheinend, auf einem uralten Amboß geschmiedet. Es gab ein Seufzen, als die Blätter zitterten, seinen Namen flüsterten: Setsoru. Der Hirsch blieb vor dem am Boden knieenden Ronin stehen. Seine Linke krallte sich in Ronins Haar, riß seinen Schädel in den Nacken, so daß er in sein Gesicht starren konnte. Das
gewaltige Schwert war erhoben, blitzte durch den Nebel, der um sie her wogte. Und der Hirsch starrte in Ronins farblose Augen. Die Tierlippen zu einem Zähnefletschen zurückgezogen. Haß und Furcht schwammen in seinem Alptraumantlitz, und die Onyxklinge zitterte. Nein! schrie der Hirsch. Der Wind heulte! Eine Stimme war in Ronins Geist. Aber er hörte nur das Heulen und Pfeifen des stärker werdenden Windes. Und in diesem Sekundenbruchteil des Zögerns, da beide jeglicher Bewegung und jeglichen zusammenhängenden Denkens unfähig waren, entstand förmlich aus dem Nichts heraus eine rasend schnelle Bewegung. Ein wütendes Knurren wurde laut. Eine Gestalt schoß aus den wirbelnden Nebeln heraus. Riesige Kiefer klafften auseinander. Klauenbewehrte Vorderläufe zuckten hoch. Die gekrümmten Klauen harkten über die Kehle des Hirsches. Noch abgelenkt, sein Antlitz noch immer eine haßerfüllte Maske, konnte er wenig mehr tun als seinen freien Arm hochzureißen, um den unerwarteten Angriff abzuwehren. Aber das Wesen klammerte sich verbissen an ihm fest, wieder schnappten die Kiefer zu, die Krallen fetzten durch das entblößte Fell. Wild peitschte der lange Körper hin und her. Der Hirsch schrie. Ein furchterregender Schrei der Wut und der Verwirrung brach über seine wulstigen Lippen. Wie ein Donnerschlag hallte er in Ronins Schädel wider. Wie von Sinnen schlug der Hirsch auf das geschmeidige Wesen ein, schmetterte es von sich und warf sich herum. Mit großen, schnellen Sätzen hetzte er davon und verschwand zwischen den Kiefern und Eichen des unheimlichen Waldes. Der Angreifer verharrte reglos im Schnee und fixierte Ronin. Du hast ihn also gefunden. Du hast gewußt, daß ich es schaffen würde.
Das Wesen hob seinen Schädel. Es war annähernd zwei Meter lang, ein vierbeiniges Tier, dessen muskulöser Körper von einer harten Schuppenhaut bedeckt war. Der Schädel war länglich, flach zulaufend, pelzbesetzt. Die langen Kiefer waren mit scharfen, spitzen Reißzähnen besetzt. Die Augen rot und ziemlich intelligent. Ein Schwanz, dünn wie ein Draht, peitschte hin und her und wischte die Nadeln beiseite. Hynd, hast du…? Ja. Die intelligenten Augen waren auf Ronin gerichtet. Der Luma-Hengst wartet am Waldrand. Ausgezeichnet. Und das Mädchen…? Ja. Sie wird kommen. Ist das gut? So muß es sein. Der Makkon ist anderweitig beschäftigt, aber ich weiß nicht, für wie lange. Ich verstehe. Hynd stieß mit seiner Schnauze gegen Ronins Schädel, schob sein Gesicht im kühlen Schnee hin und her. Blinzelnd erwachte er. Da war das Schimmern der Bäume, des Schnees… Das Glitzern seiner Klinge. Und dieses Wesen… Er kannte es. Hynd. Der vierbeinige Gefährte von Bonneduce dem Letzten. Hynd, der brutalgesichtige, aber wundersame Gefährte eines ebenso wundersamen kleinen Mannes. Wie lange mochte es her sein, daß sie sich in der Stadt der Zehntausend Pfade, tief unten, im Bauch der Erde, getroffen hatten? Noch immer benommen, setzte er sich auf. Der geperlte Nebel verzog sich. Goldenes Sonnenlicht flirrte vom Dach des Waldes herunter. Er stand auf, steckte sein Schwert in die Scheide und sah Hynd an. Der unheimliche Bursche schien ihn anzugrinsen. »Zeig mir den Weg, Hynd«, flüsterte Ronin. Und Hynd setzte sich in Bewegung und verschwand im Dunkel zwischen den Bäumen. Ronin folgte ihm.
Unfehlbar führte ihn das Tier zu den östlichen Ausläufern des Waldes. Der Waldboden wurde weicher, war nicht mehr so steinig, und die alten Eichen machten schlanken Kiefern und hohen blauen Fichten Platz. Dann sah Ronin den Himmel, ein kräftiges Blau, im Osten bereits dunkel verfärbt. Der Abend nahte. Einige Minuten später lag die Waldgrenze hinter ihnen. Ein paar Meter entfernt stand der Luma-Hengst. Karmesinrot glänzte sein Fell im Abendlicht. Daneben stand eine kleinere Luma-Stute, ihr Fell himmelblau. Moeru saß im Sattel. Er ging zu ihr. Hynd stieß einen krächzenden Laut aus. Sie lächelte und berührte sein Gesicht. Ihre kleine blasse Hand war sehr sanft. Ihr langes schwarzes Haar wehte um ihr Gesicht. Genau wie – »Moeru, wie bist du hierhergekommen?« Sie sah auf ihn herunter. Dann zeichnete sie zwei Punkte, die sich voranbewegten in den Staub, der ihren Sattel bedeckte. Hinter den beiden Punkten einen dritten. »Du bist Kiri und mir gefolgt?« Sie nickte. »Warum?« Sie legte einen Finger auf sein Schlüsselbein, zog die Umrisse seiner Brust nach. Ihr Fingernagel kratzte über den Stoff. Plötzlich verspürte er eine Welle der Benommenheit und lehnte seinen Kopf gegen das kühle Sattelleder. Die Punkte verschwanden. Er fühlte ihre Hand an seinem Hals. Sie streichelte ihn. Sein Kopf wurde wieder klarer. Sie wischte den Dreck von seiner Stirn und leckte ihre Finger ab. Hynd knurrte. Er kniete sich nieder, streichelte über die hornige Panzerhaut. »Du warst es, den ich nach mir suchen hörte?«
Hynd stieß ein heiseres Husten aus. Er schwenkte seine Schnauze zu Ronins Luma hinüber. »Wohin willst du uns führen?« Es war eine rhetorische Frage. Er erhob sich und ging zu seinem Hengst hinüber. Mit einem Fuß im Steigbügel, hielt er inne. »Was ist mit dem Makkon, Hynd? Ich muß ihn töten, oder wir werden alle untergehen.« Erneut knurrte das Wesen. »Ich soll dir folgen, ich weiß.« Ronin blickte auf Hynd hinunter. »Und wie hast du mich gefunden, frage ich mich.« Es gab keine Antwort. Er schwang sich in den Sattel und nahm die Zügel zusammen. Der Luma-Hengst schnaubte und bäumte sich auf, ein schrilles Wiehern flog von seinen Lefzen. Hynd trottete bereits einen sanft geschwungenen Hang hinauf, Richtung Osten. Ronin gab seinem Luma die Hacken, das Tier trabte los. Moeru lenkte ihr Luma an seine Seite. Als die Dämmerung der Nacht wich, senkte sich das Land allmählich vor ihnen. Sie galoppierten einen gewundenen Pfad entlang, das Gelände jetzt voller Felsvorsprünge, von dichtem Gestrüpp überwuchert. Große gelbe Blüten übersäten die Erde. Sie erreichten einen Hügelkamm, und die Blumen verschwanden vom Antlitz der Erde. Der Weg wurde stetig steiler. Hier und da erhob sich der schwarze Umriß einer imposanten Kiefer am Horizont, doch je höher sie kamen, desto spärlicher gediehen Blumen und Bäume. Der Nachthimmel war von dichten, turbulenten Wolkenbergen mit schwach phosphoreszierenden Unterseiten erfüllt, die durch störende Färbungen glitten. Geschmeidig und ausdauernd eilten die Lumas dahin. Die Tiere genossen die lebhafte Eile, vielleicht bezogen sie gar aus der Reise selbst Energie, denn Ronin kam es so vor, daß sie kräftiger wurden, je länger sie dahinpreschten. Hynd führte nach wie vor.
Es fing an, in kalten, stürmischen Stößen zu schneien. Der Wind war wie ein unbarmherziges Messer, das über Körper und Gesicht schabte, sie vor sich herpeitschte, durch den mit Felsbrocken besäten Bergpaß stöhnte und heulte, dessen Verlauf sie folgten. Eiskalt wurde die Luft, und der Schnee verwandelte sich in Hagelkörner, die auf sie niederprasselten, vom Granit und der gefrorenen Erde abprallten und die Felle der Lumas verfilzten. Einmal wandte sich Ronin im Sattel um und blickte zurück. Die Ebene, die sie hinter sich gelassen hatten, war noch immer zu sehen. Flammen durchzogen dort den Samt der Nacht, und ein gewaltiges Rumoren, das unmöglich zu ergründen war, erfüllte die Luft. Und es schien ihm, als könnte er die dunklen Schatten sich bewegender Männer sehen, Männer, die im Rhythmus eines tiefen Trommelschlages marschierten, und die geheimnisvollen Konturen eines gigantischen Aufgebots an Kriegsmaschinen… Es regnete Feuer… Der Kontinent der Menschen erbebte unter dem frostigen Schritt des Krieges. Der Atem gefror ihm vor den Lippen, und er wandte sich wieder um und grub seine Hacken in die Flanken seines Hengstes, und das Tier wurde noch schneller. Weit voraus eilte Hynd dahin. Plötzlich gellte neben ihm ein wildes Kreischen auf. Er zügelte seinen Hengst, rief Hynd zurück, der augenblicklich heranhetzte. Ronin glitt aus dem Sattel. Moerus Pferd war gestürzt und hatte sie halb unter sich begraben. Die Stute wieherte kläglich. Ihr linker Vorderlauf war gebrochen. Vorsichtig befreite Ronin Moeru. Sie schien nicht verletzt zu sein. Dann zog er seinen Dolch und schnitt der Luma-Stute die Kehle durch. Er saß wieder auf und zog Moeru zu sich in den Sattel. Sie schlang ihre Arme um ihn. Er spürte ihre Wärme, den Druck ihrer Brüste, den Rhythmus ihres Atems.
Die ganze Nacht waren sie unterwegs, und als die Morgensonne den östlichen Horizont färbte, erreichten sie den Gipfel. Ronin zügelte den Hengst, um das aufsteigende Licht in sich aufzunehmen. Ein herrlicher Anblick. Vor ihnen lagen die Osthänge des Berges, die sich tief unten zu einem Plateau geometrisch angelegter Felder und Wiesen vereinten, gesprenkelt mit dem tiefen Grün mehrerer Waldstücke. Das Plateau senkte sich gemächlich zum Meer hin, das dunkelnd und glitzernd in der Ferne lag. Die rote Sonne schob sich über den fernen Horizont und ließ das Wasser karmesinrot und flach und glänzend wie poliertes Metall aussehen. Im Zickzack lenkten sie das Luma den Berghang hinunter, und als sich die Abenddämmerung über das Land senkte, waren sie am Rand des Plateaus angekommen. Über einen welligen Grasteppich stürmten sie dahin. Hier gab es keine Spur von Schnee und Kälte, und der Himmel war klar, ein tiefes Blau, dessen östlicher Rand bereits von schwarzen Flecken eingenommen wurde. Hynd führte sie zu einem gewundenen Weg. Das Grasland wich bebauten und verlassenen Reisfeldern. Hier und da erhoben sich baufällige Holzhütten auf wuchtigen Pfählen. Über den Türen hingen winzige Lampen, die in der zunehmenden Dunkelheit an schimmernde Insektenaugen erinnerten. Und dann blieben auch die Reisfelder hinter ihnen zurück, und sie eilten über trockenes, festes Land. Der Wind war jetzt in ihrem Rücken, und sie kamen noch schneller voran. Das Land war eben, nur niedriges Gestrüpp unterbrach die Monotonie. Hynd stieß ein wildes Kläffen aus und wurde immer schneller, als fühlte er, daß das Ziel nahe war. Und der Luma-Hengst folgte ihm, streckte sich, die geschmeidigen Muskeln arbeiteten in perfektem Einklang. Ronin paßte sich diesen Bewegungen an, so gut es ihm
möglich war. Die schnelle Laufgeschwindigkeit des Lumas berauschte ihn, er ließ sich von ihm davontragen, vertraute ihm blindlings, und er dachte nicht mehr über das Ziel dieser wilden Hetzjagd nach. Moerus Wange war ein sanftes Gewicht an seiner Schulter…
Und so erreichten sie die kleine Hafenstadt Khiyan. Erschöpft und triefäugig, halb verhungert, die Lippen angeschwollen vor lauter Durst, das Gesicht verdreckt und verschwitzt vom langen Ritt, preschten sie an einigen verblüfften Frühaufstehern vorbei. Es war kurz vor Tagesanbruch. Sie donnerten über die glitschigen gepflasterten Straßen, vorbei an Holzhäusern mit schrägen Dächern und steinernen Kaminen, aus denen bereits dünne Rauchfahnen in die kühle Salzluft des Morgens aufstiegen. Möwen kreisten am Himmel und stießen auf das Wasser herunter, um gleich darauf wieder aufzusteigen und dem Sonnenaufgang entgegenzuschweben. Und endlich führte Hynd Ronin und Moeru zum Ufer hinunter, zu einem Wirtshaus, über dessen wuchtiger Tür ein schwankendes Holzschild auszumachen war. Die schwarzen Lettern waren von Wind und Regen zerfressen und nicht mehr lesbar. An einer Wand waren Fischernetze aufgespannt. Ein kleiner Mann mit weißem Haar, das von einem abgenutzten Lederband zurückgehalten wurde, einem ergrauten Bart und tiefgrünen Augen, die in seinem gefurchten, braungebrannten Gesicht leuchteten, stand vor der Tür und sah ihnen entgegen. Er trug einfache braune Beinkleider, ein zerknittertes Lederwams, darüber eine Kettenweste. Die Stiefel reichten knapp bis über die Knöchel. Er kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Er hinkte.
»Ah, Ronin«, sagte Bonneduce der Letzte. »Wie gut es ist, dich wiederzusehen.« »Der Kontinent der Menschen ist jetzt von allen Seiten unter Belagerung.« »Aber Kamado ist nach wie vor Zentrum des Hauptangriffs.« »Ja. Ich glaube, daß die Kai-feng dort gewonnen – oder verloren wird.« »Ich habe diesen Begriff schon einmal gehört – « »Kai-feng – das ist die letzte Schlacht der Menschheit.« »Aber der Schlüssel ist der Makkon. Einen vernichten, heißt, den Dolman daran zu hindern, auf die Welt zu kommen« Er schluckte den Bissen Fleisch hinunter und goß Moeru noch Wein ein. »Warum hast du mich hierhergeholt?« »Weil«, sagte Bonneduce langsam, »du den Makkon noch nicht schlagen kannst. Hätte er dich im Wald erwischt, so wärst du vernichtet worden.« »Woher weißt du das?« »Woher wußte ich, daß G’fand in der Stadt der Zehntausend Pfade vom Makkon getötet werden würde? – Die Knochen.« »Du wußtest es, und doch hast du uns gehen lassen?« »Ihr hättet euch von mir nicht aufhalten lassen.« Sie saßen in der schwach beleuchteten Wirtsstube nahe den Frontfenstern und der offenen Tür. Die weißen Kais von Khiyan erstreckten sich draußen. Schlanke Schiffe mit aufgetakelten Segeln so weiß wie Schnee lagen vor Anker. Die Takelage knarrte. Große Beiboote, mit Männern und Vorräten beladen, glitten zum Lee der Schiffe. Zwei Fischer kamen an der Tür vorbei und begannen damit, die aufgespannten Netze abzunehmen. Es gab Gelächter. Der Wirt kam hinter seiner Theke hervor und unterhielt sich mit den Fischern. In der steinernen Herdstelle des Wirtsraumes prasselte ein Feuer, gierig leckten die Flammen in die unteren Bereiche des geschwärzten Kamins hinauf.
Bonneduce der Letzte hatte Ronin drei Stunden Schlaf gewährt. Moeru hatte ihn schließlich wieder geweckt. Gemeinsam waren sie in die Wirtsstube hinuntergegangen, wo Bonneduce bereits auf sie wartete. »Wo sind sie?« fragte Ronin plötzlich. Bonneduce der Letzte griff mit einem dünnen Lächeln in eine Tasche seines Lederwamses und holte die sieben geometrischen Würfel heraus, die, wie der kleine Mann ihm erklärt hatte, aus den Zähnen des legendären Riesenkrokodils geschnitzt worden waren. Seltsame Schriftzeichen waren in jede Fläche geritzt. Die Knochen. »Was sagen sie dir?« »Die Kai-feng hat begonnen, Ronin. Alle sind jetzt verpflichtet, ihre Rollen im letzten Kampf zu spielen. Sogar Hynd und ich.« »Sogar?« Das Gesicht des kleinen Mannes verfinsterte sich. »Diese Schlacht wird entscheiden, ob die Menschheit steht oder fällt. Ein neues Zeitalter dämmert herauf, Ronin, und niemand vermag zu sagen, was es bringen wird.« »Nicht einmal die Knochen.« Es war keine Frage. »Kein Mensch, kein Lebewesen kann das neue Gleichgewicht der Mächte voraussehen… Somit sind, da die glitzernden Fäden in die Zukunft durchtrennt wurden, die blinden Krieger aufgestellt. So ist der Kampf um die Macht kompliziert geworden. So ist das Siegen die Leiden wert… Und so« – er unterbrach sich und langte zu Hynd hinunter und streichelte ihn – »weiß ich nicht mehr vom Ausgang dieser Schlacht als du.« Gedankenfetzen an die Kai-feng und den Hirsch. Auf unerklärliche Weise miteinander verwoben. Ronin schüttelte den Kopf und verdrängte sie. Er hob seine behandschuhte Linke.
»Ich habe Grund, dir zu danken. Dein Geschenk hat mir oft geholfen.« Bonneduce der Letzte lächelte. »Dann bin ich erfreut.« Von irgendwoher glaubte Ronin ein volltönendes Ticken zu hören. Das gleiche Ticken, das ihm bereits im Haus des kleinen Mannes in der Stadt der Zehntausend Pfade aufgefallen war. Er füllte die Becher erneut. »Wie hat Hynd mich gefunden?« »Ja, natürlich. Ich dachte, du wüßtest es. Die Wurzel bewirkte es.« »Du meinst, weil ich sie gegessen habe?« Bonneduce nickte. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis dies geschah.« »Aber wie konntest du wissen – « »Umständehalber.« Er rieb an seinem kürzeren Bein. »Auf jeden Fall ist unsere Verbindung jetzt stärker, und das ist wichtig.« »Aber – « »Du hast mir keine Fragen gestellt, als ich dir den MakkonHandschuh geschenkt habe«, sagte Bonneduce der Letzte behutsam. »Stelle mir auch jetzt keine Fragen. Es war der vorletzte Schritt zur Beendung des Alten Zyklus.« Ronin wollte noch eine zweifelnde Frage aussprechen, aber Bonneduce winkte ab. »Wir haben keine Zeit mehr. Drei Makkon sind bereits auf den Kontinent der Menschen gekommen, und der vierte ist schon sehr nahe…« »Was ist mit der Schriftenrolle?« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, erwiderte der kleine Mann hastig. »Du mußt nach Ama-no-mori segeln…« Eine Zeitlang herrschte Stille. Mit einem leisen Knacken zerbarst ein Holzscheit im Herd. Funken flogen auf.
Draußen an den Docks waren die Rufe und Lieder der Matrosen zu hören. Das Sonnenlicht strömte in geschmolzenen Strahlen herunter, warm wie Honig und doch irgendwie weit entfernt. Ronin starrte in das runzelige Gesicht seines Gegenübers. »Du weißt, wo die Insel liegt?« Der kleine Mann nickte. »Ich habe dir deinen Kurs aufgezeichnet. Das Wissen, das du suchst, das Wissen, das die Menschheit braucht, gibt es nicht mehr auf dem Kontinent der Menschen.« »Die Bujun – « sagte Ronin. »Ja. Die Bujun.«
Die Luft war warm und mild, so, wie sie zur Sommerszeit sein sollte. Die betagte Sonne schien es mit diesem Landstrich gut zu meinen. Dennoch war es nicht möglich, den Kampf zu vergessen, der hinter den blauen, diesigen Berghängen den Kontinent der Menschen zerfraß. Ronins Gesicht war verkantet, als er auf die Docks hinausschritt. Bonneduce der Letzte und Hynd kamen hinter ihm. Moeru hatte seine Rechte ergriffen. »Das ist sie… Die Kioku.« Bonneduces Stimme war rauh. »Dein Schiff.« Ronin ließ seinen Blick über den Zweimaster streifen. Die rechteckigen Segel waren gesetzt. Männer eilten die Takelage hinauf. Andere machten sich bereit, Anker zu lichten. »Mein Schiff?« Ronin blickte den kleinen Mann erstaunt an. »Du bist der Kapitän. Die Mannschaft ist bereits ausgesucht und an Bord. Du segelst mit der Flut. Jetzt.« Ein Beiboot legte am Kai an. Es schaukelte auf der sanften Dünung. Die Besatzung wartete geduldig. Ronin ließ Moerus Hand los.
»Kümmere dich um sie.« Bonneduce der Letzte schüttelte den Kopf. »Sie begleitet dich, Ronin.« Er schaute von dem kleinen Mann auf Moeru. Vielleicht war es nur das Licht, aber sekundenlang waren ihre Augen so gänzlich anders als die Augen der Leute von Sha’angh’sei. Der Gedanke blitzte in ihm hoch, und war gleich darauf wieder verschwunden. »Ja. Vielleicht ist es besser so.« Bonneduce schaute aufs Meer hinaus. »Es ist die einzige Möglichkeit.« Ronin und Moeru stiegen die schmale Leiter hinunter und ließen sich auf den Mittelsitzen nieder. »Ich wünschte, du könntest uns begleiten«, rief Ronin zu Bonneduce hinauf. Der kleine Mann streichelte über den Schuppenpanzer seines Gefährten. »Wir haben viel zu tun und müssen andere Orte aufsuchen. Ich bin sicher, daß deine Reise erfolgreich sein wird.« »Sehe ich dich wieder?« rief Ronin. Aber die Matrosen hatten das Boot bereits vom Dock weggestoßen und zu rudern begonnen. Der Wind zerfaserte die Antwort des geheimnisvollen kleinen Mannes, riß sie mit sich, ins blendende Sonnenlicht. Sie legten ab. Die Anker der Kioku wurden gelichtet, die Segel gehißt. Stolz blähten sie sich im auffrischenden Wind. Das Schiff glitt der Morgensonne entgegen. Ronin stand auf dem hohen Achterdeck im Heck der Kioku und starrte auf die schäumenden Wasser hinunter, die an den schnittigen Seiten vorbeispulten. Kurs Ama-no-mori, in eine ungewisse und rätselhafte Zukunft. Somit sind, da die Fäden in die Zukunft durchtrennt wurden, die blinden Krieger aufgestellt… Jetzt waren sogar die Knochen nutzlos.
Moeru stand an seiner Seite. Die letzten Seemöwen kreisten um die Masten, bevor sie abdrehten und zum Land zurücksegelten. Und Ronin war vom gewaltigen Anblick des offenen Meeres so gefesselt, so erfüllt von der Vorfreude, endlich die geheimnisvolle, sagenhafte Insel Ama-no-mori, das Ziel seiner langen und anstrengenden Reise, zu sehen, daß ihm das Antlitz seines ersten Maats nicht auffiel. Schrecklich entstellt und vernarbt war es, der Mund verzerrt, Lippen und Unterkiefer nicht vorhanden. Er sah den Haß nicht, der in den eiskalten Augen funkelte. Er sah nicht, wie die bizarre Maske aus bleichem weißem Fleisch unkontrolliert zuckte. Seine Gedanken waren zu weit weg. Der führerlose Segler, der damals auf dem weiten, auf keiner Karte verzeichneten Eismeer davongeglitten war, gehörte einer anderen Zeit, einer anderen Welt an. Und ebenso der Saardin, den er für tot hielt. Aber Freidal war nicht tot. Er lebte, und er stand auf dem glänzenden Vorderdeck der Kioku und starrte voller Haß und Rachgier zu ihm herüber…