„Drachengeschichten“ von Ulrike Stegemann
sondern drohend real. Wie ein Donnergrollen senkte sie sich vom Himmel, so d...
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„Drachengeschichten“ von Ulrike Stegemann
sondern drohend real. Wie ein Donnergrollen senkte sie sich vom Himmel, so dass Lorely zitternd zu Boden sank. Sie warf die Hände vor ihr Gesicht und wagte nicht, wieder aufzusehen. Etwas landete direkt vor ihr. Groß und schwer kam es unter lautem Poltern auf. Der Erdboden erzitterte unter ihr. Im nächsten Moment strömte heiße Luft auf sie nieder und trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn. „Du wirst bei mir bleiben und deinen Schwur aufrechterhalten“, sagte die Stimme. „Aber ich habe keinen Schwur geleistet.“ Lorelys Antwort war nicht mehr als ein klägliches Flüstern. „Oh, doch. Du hast einen Schwur abgelegt.“ Die Stimme kam näher und die heiße Luft steigerte sich ins Unerträgliche. „Du hast geschworen, dein Leben an meines zu binden, um aus meiner Kraft und deiner Magie eine neue Quelle der Macht entstehen zu lassen.“ Nur sehr langsam nahm Lorely die Hände von ihrem Gesicht. Sie blinzelte und erblickte schließlich das Untier, das sich vor ihr aufgebaut hatte. Mit einem Schlag erstarrte sie. Sämtliche Erinnerungen kehrten zurück. Nach ihrem letzten Zauberspruch musste sie diese für kurze Zeit verloren haben. Ein Zauberspruch, den sie besser nicht benutzt hätte, davon war sie nun überzeugt. In ihrer jugendlichen Naivität hatte sie eines der schrecklichsten Untiere aller Zeiten zu neuem Leben erweckt. Das alles nur aus Hass auf ihre Magie-Lehrerin. Die alte Frau hatte sich stets geweigert Lorelys Künste anzuerkennen. Sie hielt sie für ein untalentiertes Ding und sprach dieses auch laut aus. Das hatte ausgereicht, um Lorely so sehr
„Der Schwur“ Lorely konnte sich nicht erinnern, wie sie diesen Ort erreicht hatte. Ein Ort so düster, dass selbst ein böser Geist vor Schreck erstarren würde. Sie sah sich um. Unter ihren Füßen zog schwarzer Sand in ungebrochenen Bahnen über den Erdboden hinweg. Äste, traurig und abgestorben, ragten vereinzelt in die Höhe. Felsen wuchsen vor ihren Augen empor, in solch erbarmungsloser Weise geformt, dass kein Mensch an ihnen hinaufklettern könnte. Sie verliehen der Landschaft einen erschreckenden Anblick der dunklen Macht. Lorely fühlte sich inmitten dieses Bildes so klein und unbedeutend, dass sie sich wünschte, sie könnte sich irgendwo verkriechen. Doch es gab nichts, was ihr ein Versteck hätte bieten können. Nichts außer dieser trostlosen Landschaft. Abermals fragte sie sich, wie sie hierhin gelangt war. „Du willst wissen, wie du hierher gekommen bist?“, fragte eine innere Stimme, die sie jedoch nicht als ihre eigene erkannte. Sie erschrak. Ihr Blick durchsuchte fieberhaft die Umgebung, ohne etwas zu entdecken. „Was war das?“, fragte sie sich. „Fange ich an durchzudrehen?“ Sie nahm all ihren Mut zusammen und beschloss zu gehen. Immer einen Fuß vor den anderen, wollte sie an der riesigen Felswand vorbeischreiten. „Irgendwo muss es andere Menschen geben. Irgendwann werde ich sie erreichen.“ Doch ihre Worte klangen wenig überzeugend. „Du wirst sie nicht erreichen!“ Da erklang die Stimme erneut. Dieses Mal sprach sie jedoch nicht aus ihrem Inneren,
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Lorely nach. „Die ganze Welt?“ Sie wandte sich um und wies auf die trostlose Landschaft. „Vielleicht haben wir schon alles zerstört und ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern. Hier gibt es nichts mehr, was es zu zerstören lohnt.“ Der Drache lachte. „Nein“, sagte er. „An diesem Ort gibt es für uns nichts zu tun. Dies ist mein Zuhause.“ Er besah sie eindringlich, als hätte sie dies wissen müssen. Doch Lorely fehlte noch immer ein Stück ihrer Erinnerung. „Hier habe ich viele Jahrhunderte lang geschlafen. Du hast mich endlich erweckt. Und nun werde ich an deiner Seite ausziehen und zerstören.“ Lorelys Gedanken überschlugen sich. Wenn dies seine Heimat war und sie noch nichts zerstört hatten, dann gab es noch die Stadt, in der ihr Zuhause lag. Sie erinnerte sich an die Magier-Schule. Plötzlich fielen ihr die Worte wieder ein, die sie in Verbindung mit dem Spruch gesagt hatte. „Diese unfähigen Magier ... Rache an den unfähigen Magiern ...“ Denn sie hatten Lorely niemals anerkannt. „Ja, wir werden diese verdammte Schule ein für alle Mal zerstören!“, rief der Drache voller Vorfreude. Seine Gefühle gingen auf sie über und vermischten sich mit ihrer Unsicherheit zu einer seelischen Qual. Ihr wurde klar, dass sie ihre Magier-Ausbildung niemals würde beenden können, wenn sie die Schule nun zerstörte. „Ich kann das nicht tun.“ Ihre Körperhaltung drückte die Verachtung aus, die sie für sich selbst empfand. Am liebsten würde sie alles ungeschehen machen. Doch sie wusste keine Möglichkeit, den Drachen wieder in seinen ewigen Schlaf zu verdammen. „Es gibt keinen Ausweg“, sagte er. „Du hast mich erweckt und ich werde nicht eher ruhen, bis meine Aufgabe erfüllt ist. Den Schwur, den du abgelegt hast, kannst du nicht einfach brechen.“ Lorely blieb keine andere Wahl, als auf seinen Rücken zu steigen und sich mit ihm in die Lüfte zu erheben.
zu erzürnen, dass sie den alten Zauberspruch aus dem verbotenen Buch herausgesucht hatte. Nun stand der herbeigerufene Drache vor ihr. „Ja, ich erinnere mich“, gab sie zu. In ihren Worten lag jedoch keine Freude, sondern tiefes Bedauern um das, was sie getan hatte. „Ich weiß, dass du dich erinnerst, kleine Magierin.“ Ein Grinsen umspielte seine gewaltigen Lippen und er kam Lorely bedrohlich nahe, als wollte er sie verschlingen. Allein sein Kopf war größer als die junge Frau selbst. Ein kalter Schauer lief über Lorelys Rücken. Auch den Drachen überfiel diese Wahrnehmung. Denn durch das Herbeirufen hatte sie gleichzeitig ihre beiden Leben zu einem einzigen verbunden. Er legte seinen Kopf auf dem Erdboden ab und zwinkerte ihr zu. So konnte sie plötzlich die Kraft und Stärke spüren, die seinen Drachenkörper durchströmte. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Im Gegenteil. Sie glaubte, sie könne sich über ihn erheben. „Aber was tun wir jetzt, mein lieber Drache?“, fragte sie. „Was werden wir gemeinsam tun?“ Der Drache zeigte seine Zähne. Sein Spott prallte ihr entgegen. „Erinnerst du dich wirklich nicht? Weißt du nicht mehr, was in dem Buch geschrieben stand?“ Lorely legte die Stirn in Falten. Sie überlegte eine ganze Weile, doch sie erinnerte sich lediglich an die ersten Zeilen des Spruches. Mit diesen hatte sie den Drachen erweckt. Doch wie lautete seine Aufgabe? „Zerstören!“ Der Drache richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er stieß einen lauten und schrecklichen Schrei aus, so dass Lorely sich die Hände auf die Ohren pressen musste. „Zerstören“, wiederholte er in sanfterem Tonfall, als er auf seine Pranken zurücksank. Er legte den Kopf schief und durchbohrte sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen. „Aber was wollen wir zerstören?“, fragte
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unvermeidbar.“ Lorely wusste, dass es nur diesen Ausweg gab. So nahm sie den Dolch und beendete mit einem Schlag ihrer beider Leben.
Er flog sie über das dunkle Tal hinweg, so weit, bis sie eine grüne Oase unter sich entdeckte. Da verloren sie allmählich an Höhe und setzten auf die Erde zu. Lorely erkannte mit vor Schreck geweiteten Augen, dass sie direkt auf ihre Heimat zuflogen. Dort ragten die Türme der Magier-Schule zwischen den vielen kleineren Häusern auf. Menschenmassen drängten sich auf den Balkonen der Türme. Sie hatten die Ankunft des Drachen längst bemerkt. Lichtblitze und Feuerkugeln zogen an ihm vorbei, ohne ihn zu treffen. Die Magier versuchten mit allen Mitteln, ihn abzuwehren. Vergebens. Der Drache landete unter einer gewaltigen Erschütterung der Erde vor den Eingangstoren der Schule. Er stieß einen Feuerschwall aus seinem Maul und setzte mit einem Schlag alles in Brand. Die Menschen schrien auf. Nun waren sie nicht mehr mit ihrer Verteidigung beschäftigt, sondern vielmehr mit dem Löschen des Feuers. Magische Regenwolken entstanden. Sie sollten den Flammen entgegensetzen. Lorely sah hinauf und erkannte auf einem der Balkone ihre Magie-Lehrerin. Sie warf ihr einen boshaften Blick zu. „Warum hast du das getan, Lorely? Warum?“ Tränen quollen aus ihren Augen und rannen in Strömen über ihre Wangen. Sie wollte sagen, dass es ihr Leid tat. Das alles hatte sie nie gewollt. Doch sie brachte kein einziges Wort über die Lippen. In den Händen ihrer Lehrerin blitzte etwas auf. Zunächst konnte Lorely es nicht erkennen. Ihr wurde jedoch schnell klar, um welchen Gegenstand es sich handelte. Sie nickte zustimmend. Die Lehrerin wickelte ein rubinrotes Tuch um das blitzende Ding und ließ es in Lorelys Hände fallen. Zitternd packte die junge Frau es aus. Sie hielt es in die Höhe und ein spitzer Dolch kam zum Vorschein. Da erinnerte sie sich an die letzten Worte des Zauberspruches: „Was dem einen geschieht, ist für den anderen
ENDE
„Der einäugige Drache“ Analah stieß einen Freudenschrei aus. Schon so lange – viel zu lange – lag das Ei in ihrer warmen Höhle, ohne dass sich das Geringste getan hatte. Die stolze Drachendame hatte die Hoffnung jedoch nicht aufgegeben. So sehr sehnte sie sich nach Nachwuchs und nun schien das Warten ein Ende zu haben. Ein verdächtiges Knacken drang aus dem Inneren des Eis und schon im nächsten Moment zeichnete sich ein langer Riss an der Außenseite ab. Analahs Augen strahlten. Sie beugte sich vor und beobachtete, wie die Schale nach und nach zerbröckelte. Schließlich traten zwei Beinchen kräftig gegen die Überreste. Ein kleines, mit rostbraunen Schuppen überzogenes Drachenbaby lag auf dem staubigen Höhlenboden. Es regte sich hilflos und ein kleines Horn hob und senkte sich immer wieder. Die Drachendame musste sich eine Träne aus den Augen wischen. Ihr Kind war auf der Welt. Ein Kind, das sie so lange ersehnt hatte. Sie konnte es kaum abwarten, ihren Kopf vorzustrecken und das Kleine mit ihrer Nasenspitze anzustupsen. Es rollte mit einem quietschenden Aufschrei zur Seite. Seine kurzen, dicken Beine strampelten wild. Mit einem Ruck reckte es sich zu seiner Mutter auf und blickte sie mit einem großen Auge an. Analah erstarrte vor Entsetzen. Ein einziges, bernstein-leuchtendes Auge
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Drachen? Gibt es hier denn niemanden von unserer Art?“ Mit seinem großen Auge blickte er zu seiner Mutter auf. Sie überragte ihn noch immer um ein ganzes Stück. Analah machte ein bedrücktes Gesicht. Sie hatte damit gerechnet, dass er diese Frage eines Tages stellen würde. Doch an einer Erklärung fehlte es ihr nach wie vor. „Natürlich gibt es andere unserer Art“, sagte sie schließlich. „Wo sind sie?“ Kemiran wurde plötzlich ganz aufgeregt. „Ich möchte sie sehen ... sie kennen lernen ...“ Analah seufzte. Sie wusste nicht, wie sie es ihrem Sohn am besten beibringen sollte. „Mutter, was ist mit dir?“ Ihre Traurigkeit blieb ihm nicht verborgen. „Es geht nicht, Kemiran.“ Sie wagte nicht, ihren Sohn dabei anzusehen. „Du kannst sie nicht kennen lernen.“ „Aber wieso nicht, Mutter?“ Doch sie schüttelte nur den Kopf, nicht bereit, ihm eine klärende Antwort zu geben. So traurig hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Er fühlte sich schuldig, ohne dass er wusste, was er Schreckliches gesagt oder getan hatte. In dieser Nacht schlich er sich nicht hinaus an den See und er beobachtete nicht den Mond. Er blieb in der Höhle und verkroch sich voll Kummer in einer Ecke. Immer wieder musste er an die anderen Drachen denken, die es irgendwo da draußen gab. Vielleicht würde er sie niemals kennen lernen, obwohl er nicht begreifen wollte aus welchem Grund. Über seinen Gram verfiel er schließlich dem Schlaf. So kam es, dass er zum ersten Mal in seinem Leben in den dunklen Stunden des Tages ruhte. Geweckt wurde er durch Stimmen. Sie drangen nur flüsternd an seine Ohren. Doch er war ausgeruht und schnell hellwach, so dass er sie klar verstehen konnte. „Nein, Emira, ich kann dich nicht einlassen“, hörte er seine Mutter sagen. „Es geht nicht. Du weißt aus welchem Grund.“
prangte unterhalb seiner Stirn. Sie konnte es nicht begreifen. Ihr Kleines war unvollkommen. Damit würde sie den Spott all der anderen Drachen auf sich ziehen. Sie würden sie belächeln und bemitleiden. Weshalb hatte sie kein gesundes Kind auf die Welt bringen können? Doch das Drachenbaby war keinesfalls krank. Es tummelte sich von einem Fleck auf den nächsten und stieß dabei glucksende Geräusche aus. Schließlich gelangte es zu seiner Mutter und kuschelte sich an ihren warmen Körper. Sein kleines Horn bohrte sich ungeduldig in ihre Seite. Analah lächelte sanft auf ihr Kleines hinab. Obwohl es unvollkommen war, konnte sie ihre mütterlichen Gefühle nicht länger unterdrücken. „Mein Kleiner“, sagte sie und stupste ihn ein zweites Mal mit der Nasenspitze an. „Ich werde dich Kemiran nennen.“ Um den kleinen Kemiran nicht dem Spott seiner Artgenossen auszusetzen, ließ seine Mutter ihn in ihrer Höhle aufwachsen. Am Tage sollte er ruhen und nur des Nachts, wenn ihn niemand sehen konnte, durfte er hinaus und einige Schritte die Landschaft entlanglaufen. Oft setzte er sich an das Ufer eines nahe gelegenen Sees und beobachtete den Mond, der sich in der glatten Wasseroberfläche spiegelte. Kemiran tauchte dann immer eine Pranke in den See und zauberte damit lustige gekräuselte Linien in das Spiegelbild der gelben Scheibe. Eigentlich führte er ein glückliches Leben, denn seine Mutter ließ es ihm an nichts fehlen. Und doch spürte er eine große Leere in sich aufsteigen. Ihm verlangte es nach der Gesellschaft anderer Drachen, auch wenn seine Mutter stets bei ihm blieb. Es musste noch weitere seiner Art geben, davon war er überzeugt. Er wollte ihnen so gerne begegnen. Eines Tages konnte er seine Neugier nicht mehr unterdrücken und fragte seine Mutter nach ihnen. „Mutter, wo sind nur all die anderen
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„Was redet sie da?“ Analah seufzte. „Ich hätte es dir viel früher sagen sollen.“ Offensichtlich fiel es ihr nicht leicht, die passenden Worte zu finden. „Sie hat Recht. Dir fehlt ein Auge. Du bist kein vollkommener Drache. Doch ich brachte es damals nicht übers Herz, dich deswegen zu verstoßen.“ Die fremde Drachendame betrachtete ihn neugierig von allen Seiten. Sie wirkte geradezu erstaunt über seine Erscheinung. Kemiran spie aus. „Das ist also der Grund, weshalb ich niemals all die anderen Drachen kennen lernen durfte. Schließlich bin ich ja auch kein richtiger Drache“, sagte er spöttisch. „Nun ja, du bist nur beinahe ein richtiger Drache“, belächelte ihn die Fremde. Wütend stürzte Kemiran an ihr vorbei, jedoch nicht ohne ihr bei dieser Gelegenheit einen kräftigen Hieb mit seiner Klaue zu verpassen. Sie heulte schmerzlich auf, ließ ihn jedoch ziehen. Weder sie noch seine Mutter machten Anstalten ihm zu folgen. „Ich habe es dir doch gesagt! Eines Tages wird er dich verlassen.“ Analah fühlte sich mit einem Mal vollkommen hilflos. Was würde nun aus ihrem Kleinen werden?
Ein lang gezogenes Schnauben ertönte. „Du machst dich doch lächerlich“, sagte eine zweite – ihm unbekannte – Stimme. „Wie lange willst du ihn eigentlich noch verstecken? Irgendwann wird er sowieso bemerken, was los ist!“ „Psst!“ Analah zischte. „Sei leise. Du weckst ihn noch auf.“ Bemerken, was los ist? Kemiran legte den Kopf schief. Konnte es sein, dass seine Mutter mit einem anderen Drachen über ihn sprach? Langsam richtete er sich auf. Er wollte wissen, wer seiner Mutter dort einen Besuch abstattete. „Glaubst du denn, du kannst ihn ewig beschützen?“, sagte die unbekannte Stimme. „Wenn du ihn weiterhin hier einsperrst, wird er dich eines Tages verlassen, und du kannst nichts dagegen tun.“ Analah schwieg. „Du solltest ...“ Die Stimme der fremden Drachendame erstarb, als Kemiran plötzlich direkt hinter seiner Mutter auftauchte. „Ihr redet über mich, habe ich Recht?“ Sein Auge funkelte wild. Er stellte sich neben seine Mutter und wartete unmissverständlich auf eine Erklärung. „Kemiran ...“, brachte sie leise hervor. „Es tut mir Leid.“ „Meine Güte!“, sagte die Fremde. Mit vorgeschobener Nase betrachtete sie den jungen Drachen. „Es sieht wirklich so vollkommen anders aus. Geradezu unnatürlich.“ Ihre Stimme nahm einen unfreundlichen Tonfall an. „Was sieht unnatürlich aus?“ Kemiran spürte, wie sich die Wut in seinem Bauch einen Weg nach oben kämpfte. „Aber Junge“, sagte sie, „hast du denn nie bemerkt, dass du anders bist? Ist dir nie aufgefallen, dass dir ein Auge fehlt?“ Kemirans riesiger Kiefer blieb vor Entsetzen offen stehen. Er hatte sich selbst immer als vollkommen normal angesehen und nun kam diese Fremde daher und behauptete, er wäre unnatürlich. Mit eisigem Blick wandte er sich an seine Mutter.
Obwohl Kemiran die meiste Zeit seines Lebens im Dunkel der Höhle verbracht hatte, hatte seine Mutter nicht versäumt, ihn das Fliegen zu lehren. So erhob sich der junge Drache in die Lüfte und flog und flog, bis er sein Zuhause weit hinter sich gelassen hatte. Erst als die Abenddämmerung einsetzte, fühlte er sich allmählich erschöpft und suchte nach einem passenden Flecken Erdboden, um sich auszuruhen. Ein See tauchte unter ihm auf. Er schien geradezu perfekt, glich er doch seiner Heimat ungemein. Kemiran setzte zum Sturzflug an. Wie ein Blitz schoss er auf den Boden zu und stoppte sein rasantes Tempo erst kurz davor. Er ließ sich direkt am Ufer nieder, tauchte eine Pranke in das Wasser und
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was sie damit meinte. „Ja“, sagte sie. „Ich kann jeden Drachen in bis zu zehn Kilometer Entfernung riechen.“ Sie reckte sich stolz in die Höhe. „Aber du musstest mich doch nicht riechen, um zu wissen, dass ich ein Drache bin. Du kannst es doch sehen.“ „Nein, kann ich nicht.“ „Wie ... du kannst nicht?“ „Ich bin blind.“ Kemiran ließ die Pranken von seinem Gesicht sinken. Sie grinste noch immer, ohne ihn dabei anzusehen. Ihr Gesicht zeigte keine Traurigkeit, obwohl auch sie nicht vollkommen war. „Ich habe nur ein Auge.“ Es platzte einfach so aus ihm heraus. Er dachte nicht darüber nach, was er sagte. „Oh.“ Sie zuckte nur kurz mit den Schultern. „Dann passen wir wohl sehr gut zusammen.“ Nun begann auch Kemiran zu grinsen.
genoss das lustige Kräuseln, das sich sogleich über die klare Oberfläche hinwegzog. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wer ist da?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Der junge Drache zuckte zusammen. Er wagte nicht, sich umzudrehen und demjenigen ins Gesicht zu blicken. Viel zu große Angst hatte er davor, dass dieser ihn verspotten könnte. „Niemand“, sagte er. „Niemand? Das glaube ich nicht“, sagte die Stimme. Kemiran spürte deutlich, wie sich ihm jemand näherte und nur einen Augenblick später sah er ein junges Drachenmädchen, das sich neben ihn setzte. Erschrocken hielt er beide Pranken vor sein Gesicht, damit sie seine Unvollkommenheit nicht entdecken konnte. Doch sie sah ihn nicht einmal an. „Du bist ein Drache, genau wie ich. Ich konnte dich schon riechen, als du noch in der Luft warst.“ „Mich riechen?“ Kemiran verstand nicht,
ENDE
Drachengeschichten erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei Ulrike Stegemann und vph. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Maike Niemeier
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