Amadeus Firgau, geboren 31. 12. 1943, studierte in Berlin, arbeitete in Stuttgart und lebt heute mit seiner Familie in ...
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Amadeus Firgau, geboren 31. 12. 1943, studierte in Berlin, arbeitete in Stuttgart und lebt heute mit seiner Familie in einem Dorf nahe Saarbrücken. „Sorla Flusskind“ ist sein erster veröffentlichter Roman und erschien zunächst 1990 im Stendel-Verlag. 1995 folgte dort der zweite Band der Sorla-Reihe, „Sorla Schlangenei“. Beide Bände ernteten begeisterte Zustimmung und haben eine große Fangemeinde. „Sorla Drachenvetter“, der dritte Band, wurde allerdings nicht in der erwarteten Zeit fertig, so dass der Verlag die Zusammenarbeit beendete. Inzwischen liegen alle fünf Bände der Sorla-Reihe vor und werden bei Lulu veröffentlicht. Sorla wird aus dem schönen Leben als verwöhnter Prinz der Sidhlande herausgerissen. Er muss sich Aufgaben stellen, die größer sind, als er dachte – und zugleich muss er sich seiner Stärken wieder bewusst werden, um diese Aufgaben zu meistern. Zunächst gilt es, seinen Vater zu finden … Was war los mit diesem reichen, riesigen Land, dass es krank war und mit seinem Leiden die anschließenden Länder ansteckte? Er vernahm die Stimme der Frau Maren: „Der Thron ist verwaist, seit vor vielen Jahren der Kaiser starb. Die Regierung liegt in unbefugten Händen, die sich bereichern und das Wohl des Reiches versäumen.“ „Was kann man tun?“ hörte Sorla Vinumon fragen. „Der Thronerbe entzieht sich seiner Pflicht. Seit Jahren habe ich gemahnt; vergeblich - er fühlt sich unwürdig und sieht andere Aufgaben für sich.“ „Hat er Kinder, die würdig wären, das Reich zu führen?“
Amadeus Firgau:
SORLA DRACHENVETTER Ein fantastischer Roman
Band III des Sorla-Zyklus
Alle Rechte beim Autor. Verleger: Amadeus Firgau Kartenzeichnungen vom Autor und von Michael Soder. Das Titelbild beruht auf: Fotolia_5894108_X © Henrik Andersen - Fotolia.com Gedruckt bei www.lulu.com: Lulu Enterprises Inc. 860 Aviation Parkway Suite 300 Morrisville, NC 27560 United States of America
INHALTSVERZEICHNIS I Die schönen Hallen Brindhals Sorlas fünfzehnter Geburtstag / Nofhelis Einladung / Das unglückliche Pferd / Hasmasus mißglückter Unterricht / Sorla läßt einen Gast verhaften / Das geheime Gewölbe / Tainas private Gemächer / Die Vorwürfe der Hausschlange / Ein Ungeheuer wird befreit
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II Der Sumpfkönig Die Entführung / Mutterglück im Sumpf / Der Tümpel / Belauschte Krebse / Die Freundin des Froschkerls / Die spiegelnden Mücken / Kampf unter Wasser / Reigen der Irrlichter / Sorla jätet die Schlangenwiese / Das Opfer der Rankenpflanze / Durch die Blumen gelernt / Der Weg hinaus
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III Was die Buche fordert Trilk der Waldwicht / Unhöfliche Schrate / Fesseln der Liebe / Die Sage von Danas Tränen / Ysaldes Entscheidung
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IV Das Zauberfest Der Gastbär / Die Bärin auf Sorlas Spuren / Der Wächter der Brücke / Elfen und ihre Gäste / Die Quelle der Besinnung / Der Blick von oben / Der kleine Vetter des DRACHEN
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V Die Grauen und Die Weißen Berge Ein Beutel voll Bucheckern / Riesige Ratten / Verhalten gegen Drachen / Der Bergtroll / Ein alter Bekannter / Die Wette mit Hurmothin dem Schlächter / Die Königshalle / Hungrige Hurgloks / Das Zirpen der Minhiol / Wilde Zwerginnen / Ein Bart wird ausgelöst / Sorla opfert Atne / Ogluskshaddena oder die Bartkrankheit
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VI Die Reise ans Meer Die neue Heimat der Minhiol / Als Pferd oder als Schlange leben / Gespräch mit einem toten Pferd / Die Jagdgesellschaft aus Agra
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VII Familienbande Angenehmer Aufenthalt / Der Zimbelspieler und das Mädchen / Die Ratte im Bootshaus / Die Großzügig Nehmenden / Ganz Schlange sein oder das Ungeheuer aus den Abwässern / Sorla hilft beim Keltern / Flucht aus der Bucht
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VIII Die schnelle Susla Skagengerg erklärt seine Absichten / Die Schnelle Susla / Sorlas kleines Geheimnis / Die Geschichte von den Steuereintreibern und den armen Fischern / Die Blume von Kriteis und andere Schiffe / Sorla rettet zwei Kinder / Kaburische Totenklage
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IX Die Katakomben von Kriteis Kriteis hat prächtige Bauwerke / Mutmaßungen im Gefängnis / Kann Sorla seinem Zellennachbarn trauen? / Das Schafott und die Zuschauer / Der Matrista vermacht sein letztes Hemd / Der Scharfrichter kennt seine Pflicht / Der Gesang der Kaburen / Ein Strick wird geopfert / Skrut will seinen Kopf / Das Grauen auf der Treppe / Die alte Zisterne / Der Herr des Gartens
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X Die mit dem Drachen spricht Der schlafende Drache / Das Ringlein in der morschen Truhe / Merkwürdige Stimmen / Das verschneite Bergdorf / Trolle kämpfen leise / Blutsbrüderschaft / Hukaris schweres Amt
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XI Im Haus der Ifarbirre Bei Murnak zu Gast singt Sorla ein Lied / Dafuls Kindheit / Wie man Geschenke überreicht / Der gefesselte Großvater
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XII Die Höhen Batiflims Zwei Krähen erzählen sich was / Die Dörrer sind unterwegs / Man dankt Tul-uglur gerne / Wissenswertes über die Kaiser / Was nachts heult, ist nicht immer der Wind / Ringkampf im Dunkeln / Die Stadt der Geister / Die Zehen Psen-galurs / Die Schläfer / Wer soll den Thron besteigen?
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XIII Kunil und der Köhler Der sprachlose Köhler / Ein Zwerg wird gesellig / Eifersucht mit üblen Folgen
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XIV Uftar aus Bishoumat Mit dem Floß flussabwärts / Die Behörden von Bishoumat / Die überraschende Treppe / Den Schlangen helfen heißt frei sein / Diener der Dunklen Mächte / Die kleine Schlange muss fliehen
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XV Das Heilbad zu Kaharad Die hübsche Zauberin / Überraschungen im Anod-Tempel / Die Ehrwürdige Mutter muss eingreifen / Eine weitere Geschichte von Anod und Duna / Das entspannende Bad
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XVI Blick auf die Kaiserstadt Die Karawane / Frau Maren prophezeit Unheil / Die Reiterhorde / Der Zweikampf / Nachts in den Palastgärten / Schlangenzahn / Blick auf die Kaiserstadt
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Glossar
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Erstes Kapitel:
DIE SCHÖNEN HALLEN BRINDHALS In der Burg Brindhal drängten sich die Gäste. Fürstin Taina feierte den fünfzehnten Geburtstag ihres Sohnes Sorla. Die Edelsten der Sidh, das Gesicht mit dem feierlichen Blau des Himmels bemalt, waren gekommen, um den Sohn zu beglückwünschen und der Herrscherin zu huldigen. Zwischen ihnen bewegten sich Elfen aus den Wäldern von Rhosmea, gekleidet im Grün jungen Buchenlaubs, Grau der betauten Spinnennetze im Mondlicht und Türkis sonnenglitzernder Eisvogelkehlen. Der Elfenfürst Vinumon trat vor. Er ließ seine Augen über die Sidh wandern – Elfenmischlinge, zugegeben, aber doch kaum mehr als Menschen und fast ebenso kurzlebig. Er sei gekommen, sagte er, um mit eigenen Augen zu sehen, ob Tainas Schönheit so strahlend sei, wie er rühmen hörte. „Ich bereue es nicht, die grünen Wälder Rhosmeas verlassen zu haben, bevor die Zeit deine Jugend besiegt, Sidh-Fürstin.“ „Wir fühlen uns geehrt“, sagte Taina. Denn so umgänglich hatte sie ihre elfischen Nachbarn, deren herbe Unnahbarkeit sie kannte, selten reden hören. Vinumon nickte. „Zugleich bietet es die Gelegenheit, Taina, deine ersten Erfolge bei der Regierung der Sidhlande zu würdigen. Es ist gut zu sehen, dass Atelbe und seine untoten Scharen verschwunden sind und Edelmut und Schönheit des Liarstil-Geschlechts wieder in Brindhal regieren.“ Unter all den Sidh und Elfen gab es – vereinzelt – auch andere Gäste. Die Ramtasi, ein barbarischer Reiterstamm der fernen Taipalsteppe, hatten einen ihrer erprobtesten Krieger geschickt. Schwitzend in seinem Bärenfell, stapfte er auf den Thron zu, als Geschenk ein Pferd mit sich führend, das unruhig tänzelte und alle Umstehenden veranlasste, respektvoll beiseite zu treten. „Heil dir, Taina“, schrie er, dass die Versammelten
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zusammenzuckten. „Begnadete Stute Ramloks!“ Er wischte sich die blonden verfilzten Haarsträhnen aus der Stirne. Taina nickte freundlich, auch wenn die Erinnerung an Herils Hof zwiespältige Gefühle weckte. „Und Ramloks Segen über dich und dein Haus“, fügte der Krieger hinzu. Das Pferd schnaubte nervös und äpfelte auf die weißen Steinfliesen. Diener eilten herbei und vermehrten die Aufregung. Inmitten der Versammelten entstand nun ein zweiter Herd von Unruhe, der sich nach vorne schob. Nur die Ausweichenden sah man; sie blickten höflich lächelnd nach unten, wo man die eigentlichen Verursacher vermuten musste. Jetzt aber traten sie ins Freie vor den Thron: eine Abordnung von sieben Gnomen, nur kindergroß, doch hell schimmerten ihre silbernen Brustpanzer, ihre weißen Spitzbärte standen straff nach vorne weg und wippten bei jedem Schritt. Ihre Augen blitzten aus braunen Gesichtern freundlich in die Runde. Taina schrie entzückt: „Gimkin! Mein Lieber!“ Der Angeredete verbeugte sich, dass sein Spitzbart den Steinboden streifte. „Und Gilse!“ Die Gnomenfrau sah lächelnd auf; ihre weißen Haare waren so straff zu Zöpfen geflochten, dass die spitzen, großen Ohren weit vom Kopf abstanden. Bevor Taina sich zu ihnen neigen konnte, waren die beiden Gnome auf sie zu geeilt und umarmten gerührt jeweils eines ihrer Knie. Gimkin räusperte sich. „Innigst verehrte Taina! Uns obliegt, dir die Grüße Gnelis des Gewaltigen zu vermelden. Wer dich anschaut, so sprach er in den Hallen des Pelkoll, dem ist, als blühten tausend Lilien! Trefflich sprach er, so wahr ich Gimkin der Blumenfreund genannt werde!“ Da schwebten Lilien von der Decke des Saals herab, weiß, duftend, wie sie im Frühling im Halbschatten der Olivenhaine und lichten Laubwälder blühen, umhüllten als weißer Mantel Taina, und während alles Ooh! und Aah! rief, lösten sie sich auf in einen zart goldenen Schimmer, der noch mehrere Atemzüge lang Tainas
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Gestalt umgab und verschönte. Gimkin verneigte sich und trat mit seinen Mitgnomen in die Schar der Gäste zurück, die sein Zauberstückchen bejubelten. Selbst die Elfen lächelten. Sorla fragte sich schon lange, weshalb fast aller Aufmerksamkeit an Taina ging, wo doch sein, Sorlas, Geburtstag gefeiert wurde. Gelangweilt lehnte er am Fenster, sein blondes Haar, von einem silbernen Stirnreif gehalten, lockte sich rosenölduftend um die Schultern des weißen Ehrenkleides; seiner Jugend wegen war nicht das ganze Gesicht bemalt, nur zwei hellblaue Streifen zierten die Wangen. Da trat Nofheli auf ihn zu, das Elfenmädchen, und ließ ihre grünen Augen spöttisch über ihn wandern. Weshalb musterte sie ihn so? Hatten seine Diener ihn nicht genug herausgeputzt? „So sehen wir uns wieder, Nofheli“, sagte er förmlich, obwohl ihm ihrer Schönheit wegen das Herz klopfte. Sie lächelte und warf die Haare zurück, dass die spitz zulaufenden Ohren sichtbar wurden. „Ein weiter Weg vom Rattenloch zum Fürstenhof, Sorle-a-glach! Ich schulde dir von damals noch ein Gegengeschenk. Doch was gibt man dem verwöhnten Sohn der Fürstin Taina, dem Schützling der Glücksgöttin Atne? Zum Zauberfest in Rhosmea lade ich dich, mit Erlaubnis meines Volkes. Das ist meine Gabe.“ Bevor er sich bedanken oder Genaueres erfragen konnte, war sie im Trubel verschwunden. * „Mein geliebter Sohn!“ Taina reckte sich, strich Sorla sanft über den Scheitel: „Wie du gewachsen bist in den letzten Jahren!“ „Sehe ich meinem Vater ähnlich?“ Tainas Gesicht wurde starr. „Du hast keinen Vater. Tokaglur hat dich nie gesehen.“ „Aber ...“
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„Wer seine Pflichten so vergisst, darf nicht Vater genannt werden. Vergiss ihn.“ Sorla nickte und erzählte von Nofhelis Einladung, aber seine Mutter runzelte die Stirn: „Lange genug hast du dich in der gefährlichen Welt herumgetrieben. Hier bist du sicher! Rhosmea ist viele Tagesreisen entfernt; wer weiß, was dir zustoßen könnte! Ich will dich umsorgen, und später wirst du mir helfen, die Sidhlande zu regieren.“ „Aber Mutter ...!“ „Glaube mir, mein Kind! Ich will nur dein Bestes!“ Sorla küsste ihre Stirn. Als sie sich auf dem Thron zurücklehnte, blitzte an ihrem Hals das silberne kleine Amulett auf, das Herrschaftszeichen der Liarstil. Vor zweieinhalb Jahren waren Taina und Sorla abgerissen und halb verhungert nach Brindhal gekommen. Atelbes schreckliche Herrschaft war zusammengebrochen, seine Soldaten lagen tot auf den Straßen und in den Kasernen, es stank nach Verwesung. Einer musste die Dinge in die Hand nehmen. Das Herrscherhaus der Liarstil schien ausgerottet, daher waren die Sidh dabei, einen der ihren zum Fürsten des Landes zu küren. Da kam Taina gerade recht, ihr Amulett wies sie als letzte Überlebende der Liarstil aus. Sorla lächelte in Erinnerung an die vergangenen Jahre. Ihm selbst rettete das Amulett zweimal das Leben, denn er hatte es die ganze Kindheit hindurch getragen, bis er es seiner Mutter zurückgeben konnte. Nun brauchte er es nicht mehr – sein Prinzenleben war so behütet, dass sich drei Diener sorgten, wenn er einmal nieste. Auch sein Messer trug er nicht mehr – „Schlangenzahn“, den tödlich treffenden Wurfdolch. Wozu auch? In seinen fließenden Gewändern ließ es sich nirgends verstauen, und statt der Stiefel, in die er es hätte stecken können, trug er zierliche Sandalen. Taina hatte Schlangenzahn an sich genommen und im Geheimen Gewölbe, der Schatzkammer des Palastes, verwahrt. Um auf andere Gedanken zu kommen, verließ Sorla den Festsaal. Er schlenderte über den großen Platz – viele Schaulustige
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standen hier und deuteten auf ihn – und betrat die Stallungen. Hier stand sein Lieblingspferd Mutterglück, ein geduldiges älteres Tier, auf dem er in den letzten beiden Jahren das Reiten lernte und das ihm alles nachsah. Hier war auch das Geschenk der Ramtasi untergestellt, jene aufgeregte Stute, die in den Festsaal geäpfelt hatte. Daneben saß in der Pfütze eines umgekippten Weinschlauches der barbarische Sendbote aus der Taipalsteppe. „Ich wollt, du wärs tot!“ brabbelte er. Sorla beugte sich zu ihm. „Wie bitte?“ „Ich wollt, sie wär tot – die Stute hier!“ „Ist sie böse, oder was?“ „Sie issie herrlichse Stute der weiten Taipalsteppe! Ramlok selbs wär glücklich, er könnt se decken!“ „Dann verstehe ich nicht ...“ „Trink was, Söhnchen!“ Der Barbar tastete im Stroh umher, fand aber nur leere Weinschläuche, die er traurig schüttelte. „Was hab ich gesagt?“ „Du willst, die Stute wäre tot!“ „Hab ich gesagt? Hab ich gesagt! Dann ging's ihr besser als hier angebunden stehen!“ „Auf mich wirkt sie zufrieden.“ „Weil ich dabei hock, deshalb!“ Er schneuzte sich in die Hand und wischte diese an der Lederhose ab. „Getobt hat se! Die Stallburschen ham mich geholt, sie konntn se nich bändign, beruhign schon gar nich.“ Sorla wollte wissen warum. „Die Freiheit, Söhnchen! Du kenns das freie Leben nich; rings um dich das weite Land, nur Gras, Wind, Wolken!“ Er machte eine weit ausholende Bewegung. „Nich so eingeengt wie hier! Kein Ferd wird eingesperrt, un keins rennt weg, wozu auch? Sie gehören su uns, un wir su den Ferden, un gemeinsam fliegen wir über die Steppe ...“ Der Barbar war aufgestanden, die letzten Worte schrie er voll Inbrunst und unterstrich sie mit Faustschlägen gegen einen Pfosten. Dann wurde ihm schlecht.
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* Hasmasu war Tainas Oberschreiber. Er hatte schon vor Atelbes Schreckensherrschaft den Liarstil gedient, obschon er kein Sidh war, sondern vom heißen Tuneg-la jenseits des Meeres Milat stammte. Trotz seiner siebzig Jahre war er begeistert, als die junge Fürstin ihm Sorlas Erziehung anvertraute. „Junger Herr!“ hatte Hasmasu hoffnungsfroh das erste Treffen begonnen. „Ein Prinz muss vor allem lesen und schreiben lernen.“ „Kann ich schon.“ Sorla dachte an Golbi, seinen gnomischen Lehrmeister, der dieses Feld vor Jahren erfolgreich beackert hatte. „Außerdem spreche ich fließend die Gute Sprache der Berge.“ „Was ist das bitte, junger Herr?“ „Die Sprache der Gnome und der Zwerge; sehr verbreitet bei den Leuten im Berg und ihren Freunden.“ „Da wisst Ihr mehr als ich.“ Sorla nickte gelangweilt. „Kann ich also gehen, Hasmasu?“ „Nun, junger Herr, ich habe mich darauf vorbereitet, Euch in die grundlegenden Kenntnisse der Edelsteine und anderer Schätze einzuführen. Das müsste Euch doch interessieren, oder?“ „Ich hatte auch einen ausgezeichneten Lehrer in Edelsteinkunde: Gobil der Meisterschleifer, er unterrichtete mich lange Zeit.“ Hasmasu beugte sich vor. „Wie schön für Euch, junger Herr!“ „Nicht wahr?“ Sorla unterdrückte ein Gähnen. „Was mich vielleicht interessiert hätte, wäre eine weitere Ausbildung in den Waffen, auch wenn ich schon ziemlich geübt bin im Bogenschießen und dem Umgang mit Schwert und Dolch. Aber meine Mutter sagt, ich habe das nicht mehr nötig. Und du alter Mann würdest mir auch nichts Neues zeigen können, oder?“
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Hasmasus Augen verengten sich, doch höflich sagte er: „Da mögt Ihr recht haben, junger Herr. Meine Stärken lagen immer schon eher im geistigen Bereich.“ „Dann ist die Stunde wohl beendet.“ Sorla stand auf und ging. Und obwohl Hasmasu sich in den folgenden Monaten eifrig und einfallsreich bemühte, den Unterricht wieder aufzunehmen, gelang es Sorla stets, sich dem zu entziehen. Lieber lag er in der großen Marmormuschel der Palmenhalle, ließ sich von warmem Duftwasser berieseln, lauschte dem Lied der zahmen Nachtigallen oder den Harfenklängen seines zweiten Dieners, nippte aus goldenen Schalen den frischen Saft der Granatäpfel ... „Habe ich es nötig, mich wie ein kleiner Junge beim alten Hasmasu zu langweilen? Ich bin Prinz Sorla, der Thronerbe von Brindhal, und das reicht!“ * Nun lehnte Sorla an der Wand des Festsaales und langweilte sich, weil alle seiner Mutter huldigten und kaum jemand ihm. Da war sogar der alte Hasmasu willkommen, der mit freundlich-spöttischem Lächeln näher trat. „Junger Herr! Zu Eurem fünfzehnten Geburtstag will auch ich Euch allen Segen Anods wünschen. Möge er Euch erleuchten, wenn Ihr schon von mir nichts hören wollt!“ „Nun, Hasmasu, ich weiß schon alles, oder?“ Sorla leerte sein Glas und ließ sich nachschenken. Noch war ihm der Wein nicht allzu sehr zu Kopf gestiegen. „Junger Herr, es gibt einige Kenntnisse, welche einem zukünftigen Herrscher gut anstehen würden; Rechtskunde beispielsweise, die Geschichte des Landes, militärisches Wissen, Finanzwesen, Handel und Wandel und allerhand mehr.“ Doch Sorlas Aufmerksamkeit galt einem anderen
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Gratulanten, der quer durch den Saal herankam. Er trug das Festgewand der brindhalischen Würdenträger, doch war sein Gesicht nicht mit dem feierlichen Blau bemalt. Eine solch beeindruckende Gestalt, kraftvoll, von gewinnendem Äußeren, hatte Sorla bislang nicht gesehen. Den anwesenden Elfen schien der Fremde vertraut; sie traten respektvoll beiseite; Vinumon hob die Hände zum Gruß. Der Fremde nickte huldvoll nach allen Seiten, richtete aber sofort seinen Blick wieder auf Sorla. Und seine Augen waren es, die Sorla gefesselt hatten. Es waren die feuchten Augen eines Tieres, einer Katze vielleicht oder einer Ziege: braungelb mit senkrechten schwarzen Schlitzen. Die erwartete höfliche Floskel blieb aus, stattdessen sprach der Fremde: „Du wurdest mir beschrieben, Sorle-a-glach.“ Er musterte Sorla wie ein Pferd ungewisser Herkunft, das er nicht unbedingt kaufen wollte. Sorla blickte verlegen zur Seite; da schien ihm aus den Augenwinkeln, als sei der Fremde gar nicht bekleidet, sondern nackt und am ganzen Körper mit braunrotem zotteligen Fell bedeckt. Eine Täuschung natürlich, hervorgerufen wohl durch – Sorla wusste nicht was. Es war auch unerheblich, denn der Fremde wandte sich zum Gehen. „He du!“ rief Sorla seinem Rücken nach. Der Fremde wandte sich und starrte ihn mit seinen Tieraugen an. Sorla fühlte sich ungemütlich wie lange nicht mehr. Was wagte dieser hergelaufene Kerl! „Ich bin kein kleiner Junge, den man einfach stehen lässt! Wer bist du überhaupt?“ „Es ist Hon!“ wisperte Hasmasu. Jener aber schwieg. Die braungelben Lichter verengten sich, das Gesicht blickte gleichmütig. „Er kann selber reden!“ rief Sorla, lauter als nötig. Die Umstehenden blickten herüber. Er fühlte ein heißes Pochen in seiner Stirn. „Man lässt einen Prinzen nicht stehen wie einen kleinen Jungen!“ Die Zuschauer tuschelten. Sollten sie doch! Dann merkten sie wenigstens, dass man ihn nicht missachten konnte!
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„Aber junger Herr ...“, versuchte Hasmasu zu beschwichtigen. Irgendwo in der Menge fielen spöttische Worte. Irgend jemand lachte. Die Wut rauschte in Sorlas Ohren. „Dies ist mein Ehrentag!“ rief er. Und als der Fremde sich wieder zum Gehen wandte: „Halt, bleib!“ Dieser aber ging weiter, als habe er nicht gehört. Sorla machte einen Schritt vorwärts, als wollte er ihn mit Händen packen und zum Bleiben zwingen. Aber er wäre nur mitgeschleift worden wie ein Hündchen, das sich in einen Stier verbeißt! Nur einen Augenblick zögerte er, dann schrie er: „Wache! Packt ihn!“ Schon stürzten die Männer der Palastwache herbei, umstellten mit gesenkten Spießen den Fremden und führten ihn ab. Sorla blickte ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Die Wut war verraucht, er musste sich den Verlauf des Geschehenen wiederholen, um nicht zu zweifeln, ob sein Vorgehen berechtigt war. Hinter ihm leerte sich der Saal, denn die Elfen wollten überraschenderweise nicht mehr zum abendlichen Festmahle bleiben, und die Edlen der Sidh schlossen sich ihnen an. * Taina bedauerte, dass Sorlas Ehrentag mit solch herbem Missklang geendet hatte, meinte aber, er habe richtig gehandelt: „Du bist mein Sohn, Sorla. Schon deshalb gebührt dir Achtung.“ „Ich will selber die Achtung wert sein!“ „Eben! Du hast schon viel geleistet für dein Alter. Du hast mich gerettet ...“ „Das ist über zwei Jahre her“, wandte Sorla ein. „Du bist der Thronerbe. Du hast das Recht, bis du nach meinem Tod den Thron besteigst ...“ „Aber Mutter ...!“
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„ ... dein Leben zu genießen und bei mir zu sein, statt dich herumzutreiben wie dein ..., wie Tok-aglur.“ Sorla nickte halb überzeugt. „Und was soll jetzt geschehen?“ „Dieser Hon ist ein gefährliches Wesen aus den Sümpfen östlich der Sidhlande. Du erinnerst dich der Gegend, die wir damals südlich umgingen, als wir nach Brindhal kamen? Dort leben nur Ungeheuer, und Hon ist wohl eines der schlimmsten.“ „Weshalb? Er war einfach ein Mann. Solch einen Vater hätte ich gerne gehabt; er hat mich sehr beeindruckt!“ „Eben! Er schleicht sich ein als Mensch und ist doch ein Ungeheuer. Was wollte er von dir? Er soll uns in Ruhe lassen; er stört den Frieden. Deshalb ist es gut, dass wir ihn in Gewahrsam haben. Vergiss ihn einfach.“ „Dürfen wir ihn einfach einsperren? Was sagt das Recht?“ „Wieso IHN? Wir sperren ES ein, dieses Vieh, dieses Ungeheuer aus den Sümpfen; und dagegen gibt es kein Gesetz.“ Nach dieser Unterredung suchte Sorla Hasmasu auf. Dieser hatte seine Räumlichkeiten in einem ruhigen Seitenflügel. Sorla eilte, den Kopf voll unklarer Gedanken, durch die langen, von zierlichen Lampen hell erleuchteten Flure, ohne auf die Wandgemälde, die Blumen in weißen Kübeln, die farbenfrohen Mosaiken zu achten. Er klopfte nur flüchtig und riss sofort die Tür auf: „Hasmasu?“ Ein Schrei ertönte, eine Ladung Bücher fiel Sorla entgegen, und der Oberschreiber, auf einer langsam sich seitlich senkenden Leiter Halt suchend, riss in seinen Bemühungen weitere Bücher aus den oberen Regalen, bis er zuletzt selbst mit großem Krach auf den Tisch fiel, der zusammenbrach. „Verzeiht die Unordnung, junger Herr“, stieß er hervor, indem er sich hochrappelte. „Ich hätte die Leiter nicht gegen eine Tür lehnen dürfen, die nach außen aufgeht.“ „Du sollst mir über diesen Hon erzählen“, sagte Sorla bloß. Der Alte sammelte schweigend einige Bücher zusammen und legte sie auf einen Stuhl, dann richtete er sich auf. „Ich hatte
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selbst eben über ihn nachgelesen, aber die Berichte sind dürftig. Es scheint sich um ein bemerkenswertes Wesen aus den Sümpfen zu handeln, das aber bei den Elfen große Achtung genießt.“ „Und weiter?“ Hasmasu zuckte die Achseln. „Mehr steht da nicht. Weshalb fragt Ihr ihn nicht selbst?“ Sorla drehte sich um und ging, ohne die Tür zu schließen, den ganzen Weg zurück und über den Hof geradewegs zu den Befestigungsanlagen, wo in einem der Verliese der Fremde gefangen saß und Sorla durch die Stäbe ruhig entgegen blickte. Sein Festgewand war fleckenlos, sein Haar wohlgekämmt. „Meine Mutter sagt, du bist ein schlimmes Ungeheuer.“ Die gelben Tieraugen schauten unverwandt. „Und Hasmasu weiß bloß, was in den Büchern steht, und das ist nicht viel. Bücher, pah!“ Die Pupillen des Fremden verengten sich zu einem Schlitz. „Man sagte mir, du seist ein aufgeweckter Junge, Sorle-a-glach. Auf dich wird einige Hoffnung gesetzt. Aber du musst noch viel lernen, bevor du dich würdig erweisen kannst. Verachte deinen Lehrer nicht.“ „Was für Hoffnung, und von wem?“ fragte Sorla stolz und kleinlaut zugleich. „Mach dir darüber keine Gedanken. Der nächste Schritt ist wichtig, nicht der Traum am Horizont. Werde ein Mann, dann erkennst du deine Pflichten.“ Eben näherte sich die Wache mit Hons Mittagessen, da verschwand Sorla. Seine Mutter musste ja nicht unbedingt wissen ... Im Weggehen schien ihm wieder, als sei Hon in Wirklichkeit unbekleidet und von rötlichem Fell bedeckt. Aber als er am Nachmittag zurückkam, hatte er dies vergessen und nahm das Gespräch da auf, wo es unterbrochen wurde: „Dann wäre mein Vater kein Mann.“ „Erzähle mir über deinen Vater.“ „Ein Dieb ist er, der seine Pflichten nicht kennt, sich um seine Familie nicht kümmert! Das sagt meine Mutter.“
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„Was weißt du selbst über ihn?“ „Nichts. In der Diebeszunft hörte ich, er sei ein berühmter Meisterdieb.“ „Du warst selbst ein Dieb, Sorle-a-glach?“ „Nicht lange. Es ist nicht gut, Leute zu bestehlen. Das meint auch meine Mutter.“ „Du bist deiner Mutter ein gehorsames Kind, nicht wahr?“ „Ja.“ Damit ging Sorla, wütend auf Hon und auf sich selbst. * Zwei Tage lang ging Sorla mürrisch umher, zwei Nächte schlief er unruhig, träumte wirres Zeug von Schlangen und Pferden, verunsichernd und aufpeitschend zugleich. Er spürte den Wunsch, Schlangenzahn, sein Wurfmesser, wieder in Händen zu haben, und ging deshalb zu Taina. Sie meinte, mit Waffen spielen sei dumm, er solle lieber lesen. „Eigentlich will ich nur die Klinge ölen, Mutter. Das ist längst nötig. Und gelesen habe ich erst heute Morgen.“ Wie leicht ihm die Lügen über die Lippen kamen! Er erschrak fast über sich. Taina nickte – „Aber verletze dich nicht!“ – und rief Hasmasu, dem sie den Schlüssel zum Geheimen Gewölbe gab. Denn niemand außer Taina selbst durfte alleine diesen Raum betreten. Das ärgerte Sorla. Bin ich nicht so vertrauenswürdig wie meine Mutter? Muss sich Prinz Sorla von einem hinfälligen Greis beaufsichtigen lassen? Das Geheime Gewölbe lag unterirdisch und war über eine schmale Wendeltreppe hinter einer Geheimtür erreichbar. Atelbe hatte sie nie entdeckt, so waren die Schätze der Liarstil unversehrt und vollständig geblieben. Hasmasu war diese Treppe unendlich oft gegangen und kannte sie wie im Schlaf. Dennoch hielt er sich, wohl seiner alten Knochen wegen, sorgsam am Geländer fest, während Sorla gereizt hinten nach drängelte.
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„Drängelt nicht so, junger Herr!“ sagte der Alte, „Ihr bringt mich durcheinander!“ und ging noch einmal zwei, drei Stufen zurück, um sie dann erneut hinabzusteigen. Kindischer Greis, dachte Sorla, dann waren sie aber schon unten, und der Alte schloss langsam die schwere Türe auf. „Ah, Hasmasu!“ zischte eine zarte Stimme. Der alte Schreiber nickte freundlich hinüber zu einer Kiste, auf der eine kleine, schwarze Schlange züngelnd ihren Kopf hin und her wiegte. „Und Sorle-a-glach, unser irrender Vetter!“ „Was ist das?“ fragte Sorla. „Das ist die Hausschlange der Liarstil, junger Herr.“ „Dann müsste ich sie doch schon früher irgendwo gesehen haben?“ „Oh, meist ist sie hier im Geheimen Gewölbe und passt auf.“ „Hier war ich auch schon zweimal.“ „Das heißt nichts, junger Herr. Auch wenn sie hier ist, lässt sie sich selten blicken.“ Tatsächlich war das sprechende Schlänglein verschwunden, und Sorla konnte sie nicht mehr fragen, was sie mit „unser irrender Vetter“ gemeint hatte. Hasmasu öffnete den Kasten mit Sorlas Wertsachen. Neben dem Wurfmesser glänzte der goldene Anhänger, den Sorla lange Zeit am Hals getragen hatte: angeblich ein Amulett, das Zugang verschaffte zu den geheimen Katakomben von Kriteis. Aber Sorla hatte auch gehört, es sei der Schlüssel für eine sagenhafte Schatzkammer in „Batiflim“, ein Ort, den hier niemand kannte. Sorla strich sachte darüber, verloren in alten Erinnerungen. In einer plötzlichen Aufwallung unklarer Gefühle ließ er den goldenen Anhänger im Ärmel verschwinden. Dann nahm er Schlangenzahn, das böse funkelnde Messer, und verließ die Schatzkammer, welche der alte Mann sorgfältig verschloss. In seinem Zimmer – den Diener schickte er hinaus – wog er das Wurfmesser in der Handfläche und fühlte ganz ungewohnte Gefühle in sich aufsteigen. Warum sollte er keine Waffe tragen wie
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ein richtiger Mann? Er war schon fünfzehn Jahre alt! Er legte die fließenden Gewänder ab, schleuderte die Sandalen von den Füßen, zog Hose, Wams, Stiefel an, als wollte er ausreiten, und steckte Schlangenzahn in den rechten Stiefelschaft. Den Anhänger versteckte er wie in früheren Zeiten unter dem Hemd. Ihm fiel der Barbar ein, doch als er den Stall betrat, waren er und die Stute verschwunden, seit dem Vortag, wie der Stallbursche erzählte. Sorla beruhigte ihn, das sei in Ordnung so, er brauche sich nicht weiter darum zu bekümmern. Insgeheim wünschte er den beiden Glück. Und wie er noch über sie nachdachte, stand er, ohne es eigentlich gewollt zu haben, vor der Gittertür des Fremden. Einige Zeit ertrug er den unverwandten Blick Hons, dann murmelte er: „Es tut mir leid.“ Jener aber schwieg, so fuhr Sorla fort, immer schneller und lauter: „Es tut mir leid, dass du hier gefangen sitzt. Es war dumm von mir; ich weiß nicht, weshalb ich so unbeherrscht war. Ich habe den Frieden gestört, das Gastrecht verletzt, ich habe mich aufgeführt wie Atelbe selbst: ungerecht, ...“ Der Fremde hob die Hand: „Vergiss nicht das Wesentliche!“ Sorla glotzte ihn an: „Was meinst du damit, Hon?“ „Öffne diese Türe!“ Wie vor den Kopf gestoßen war Sorla. Es stimmte: Er musste sein falsches Handeln wiedergutmachen, nicht nur darüber reden. „Ich habe keinen Schlüssel“, stotterte er kleinlaut. „Du bist ein gelernter Dieb.“ „Aber ...“ Sorla brach mitten in der Antwort ab – es wäre doch nur eine dumme Ausrede daraus geworden – und ging. Wie sollte er es anstellen? Seine Mutter mochte er nicht bitten. Zu deutlich hatte sie ihre Gefühle über das Sumpfungeheuer geäußert. Andererseits, wenn er dem Wachsoldaten den Schlüssel stahl oder sonstwie das Schloss öffnete, würde dieser für Hons Flucht bestraft werden. Am besten, er vergaß alles. Er begab sich in die Palmenhalle, um sich in der großen Marmormuschel von Duftwässern berieseln zu lassen. Erst als er dort stand und sich
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entkleiden wollte, stutzte er: Seine Kleidung passte nicht zu seinem feigen Verhalten! Als wehrtüchtiger Mann hatte er sich noch vor weniger als einer Stunde gesehen! Waren Stiefel, in deren Schäften Wurfmesser steckten, nur eine Verkleidung für einen verwöhnten Prinzen, der sich langweilte? Hatte es ihm nicht mehr bedeutet: einen Neubeginn, ein Versprechen an sich selbst? Sorla verließ den Ort der zahmen Nachtigallen wieder, wusste aber dennoch nicht, wohin mit sich und seiner Schwierigkeit. Zuletzt fasste er sich ein Herz und ging zu Hasmasu. Er klopfte leise und wartete bescheiden, bis der alte Mann öffnete. „Junger Herr?“ Sorla erzählte alles: seine Gewissensbisse, Hons Forderung, die Schwierigkeiten, diese zu erfüllen. Hasmasu lächelte. „Eure Gedanken sind ehrenhaft, junger Herr. Nun kommt es darauf an, die notwendige Tapferkeit aufzubringen.“ „Tapferkeit?“ „Ihr erklärtet selbst: Die Fürstin wird es nicht erlauben.“ „Soll ich denn einfach so ...?“ Hasmasu lehnte sich in seinem Stuhl zurück: „Wie kam es zu Hons Gefangennahme? Habt Ihr da nicht auch einfach so ...?“ Sorla wurde rot. Aber entschlossen, sich keine Ausflüchte mehr zu gestatten, nickte er, dankte Hasmasu und ging. * Sorla starrte nachdenklich auf den Hof, wo die Glöckchengeckos sich auf den sonnigen Marmorsäulen tummelten und gelegentlich ihr silberhelles „Pling!“ ertönen ließen. Er brauchte den Hauptschlüssel, der alle Kerkertüren öffnete und somit auch Hons Verlies. Er wurde im Geheimen Gewölbe aufbewahrt, und den Schlüssel zu dieser Schatzkammer trug seine Mutter am Gürtel. Die eigene Mutter bestehlen? Zwar wollte er den Schlüssel
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nur ausleihen, dennoch ... „Pling!“ sagte ein Gecko ganz in der Nähe und sah ihn aus großen, gelben Augen an, während er eine Fliege hinunterkaute. Sorla winkte ihm zu, da huschte das Tierchen um die Ecke. Er atmete tief durch und fügte sich den Notwendigkeiten, wie er sie sah. Und so geschah es, dass Taina, als sie sich abends in ihre Gemächer zurückzog, von ihrer Dienerin entkleidet, gebadet und schließlich zu Bett gebracht wurde, nachdem diese Dienerin noch eine Schale Mandelmilch gebracht und sich dann zurückgezogen hatte, nicht allein im Raum war. Denn Sorla stand schamrot hinter einem der Vorhänge, bemühte sich, seine Mutter nicht nackt zu sehen, musste aber doch versuchen, den Überblick zu behalten, zu sehen, wo seine Mutter den Gürtel mit dem Schlüssel verwahrte, und hoffte, sie möge nicht aus einer Eingebung heraus diesen Vorhang zurückziehen – wie stünde er da! Schließlich atmete Taina in ruhigem Schlaf. Ein Öllämpchen brannte nahe ihrem Bett, leicht flackernd in der warmen Nachtluft, die durch die offenen Fenster herein wehte. Sorla schob den Vorhang beiseite und tastete sich geräuschlos an der Wand entlang. Einmal seufzte Taina im Schlafe auf und drehte sich zur Seite; da war Sorla schon blitzschnell zu Boden geglitten und verharrte atemlos, bis Tainas ruhige Atemzüge ihn wieder beruhigten. Nun bewegte er sich auf allen Vieren weiter bis zum Hocker, auf dem die Dienerin Tainas Gewänder abgelegt hatte. Ganz schwach, doch altvertraut süß dufteten die Kleider nach dem Körper seiner Mutter; Sorla schloss die Augen, in Kindheitserinnerungen badend. Dann besann er sich auf sein Vorhaben und griff behutsam, dass nichts klappere oder herunterfalle, zwischen die gefalteten Schichten von Stoff. Rasch fand er den Gürtel, doch der Schlüssel hing nicht daran. Sorla hockte da und kaute Nägel, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte. Eines wollte er noch versuchen, beschloss er; und er kroch an das Bett seiner Mutter heran, beugte sich über ihr geliebtes Gesicht – ach so vertrauensvoll im Schlaf! –
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ließ sich aber nicht beirren, sondern schob die Hand sachte unter ihr Kopfkissen, immer noch ein Stückchen und noch eines – da ertastete er etwas Hartes, Kühles, den Schlüssel. Das Weitere war einfach: eine Reihe grundlegender Übungen aus seiner Lehrlingszeit in der Diebesgilde von Seedorf. Dennoch – nachdem er das Seil am Fenster befestigt, daran die Außenmauer hinab und durch das darunter liegende Fenster wieder ins Gebäude zurück geklettert war, murmelte er, den Schlüssel noch immer zwischen den Zähnen, dem Gott der Diebe ein aufrichtiges „Ak'men, hab Dank!“ Durch die langen Gänge und über weitgeschwungene Treppen eilte Sorla hinab, nickte den Palastwachen zu, die ihm auf ihrem Rundgang begegneten, riss irgendwo eine brennende Fackel aus der Wandhalterung und stand bald vor der kleinen Geheimtür, die er – gewusst wie – flink öffnete und hinter sich wieder schloss. Nun ging es die schmale Wendeltreppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal, denn Sorla hatte noch viel zu tun, und Taina durfte nicht aufwachen, bevor der Schlüssel wieder unter ihrem Kissen lag! Schon stand er unten vor der Tür zum Geheimen Gewölbe, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte – und nichts geschah. Aber es war der richtige Schlüssel; das wusste Sorla. Wo lag der Fehler? Wieder versuchte er es, und noch einmal, und immer wieder; behutsam, rüttelnd, nach links, nach rechts, langsam, schnell – alles ohne Erfolg. Zuletzt hielt er inne, mit roten, verschwitzten Händen. Wieso hatte Hasmasu diese Tür so einfach geöffnet? Was hatte er Sorla voraus? Was hatte er anders gemacht, natürlich außer auf der Treppe fast hinzufallen und sich deshalb so krampfhaft am Geländer festzuhalten. Sorla verzog spöttisch den Mund, als ihm einfiel, dass Hasmasu in seinem Altersstarrsinn sogar zwei Stufen zurückging, als er sich von Sorla gedrängt fühlte. Das war es! Sorla eilte die Treppen wieder hoch bis dicht vor die Geheimtür. Nun hielt er, obwohl ihn die Anspannung fast zerriss, sich am Geländer fest, seine Hand umschloss dabei den Handlauf, wie Sorla es bei Hasmasu beobachtet und belächelt hatte, und er ging wie ein alter Mann bedächtig Stufe für Stufe hinab. Er
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kam sich zwar zunehmend blöde vor, ließ sich aber nicht beirren. Und plötzlich – Sorla hatte vielleicht den halben Weg zurückgelegt – fühlte sein Daumen unter dem Geländer eine Ausbuchtung. Sie ließ sich verschieben, und Sorla tat es. Er hätte sich prügeln können, dass er nicht gleich darauf gekommen war: dies war die Stelle, wo Hasmasu zwei Stufen zurückging! Sorla hatte ihn mit seinem Drängeln gehindert, diesen Knopf zu verschieben! Wie einfach, wenn man es erst wusste! Trotz dieses Erfolgs blieb Sorla umsichtig und ging auch den Rest der Treppe langsam hinab, wobei er das Geländer befühlte. Er fand nichts Besonderes mehr. Nun steckte Sorla den Schlüssel in die Tür des Geheimen Gewölbes, drehte vorsichtig um, und die Tür sprang auf. Wo der Hauptschlüssel für die Kerkertüren war, wusste Sorla, und er ging im flackernden Schein seiner Fackel geradewegs darauf zu, als ihn ein leises Zischen stocken ließ. Vor ihm auf dem Boden ringelte sich eine kleine, schwarze Schlange – die Hausschlange der Liarstil. „Was treibst du hier, Sorle-a-glach?“ züngelte sie. „Ich suche was. Aber sage du mir, wieso du mich letztes Mal einen irrenden Vetter nanntest!“ „Hast du nicht vergessen, wie du im Ei warten musstest drei Jahre und dann schlüpftest als kleine Schlange – so wie ich?“ „Das waren Träume.“ „Hast du nicht vergessen: das Wasser im Mondenlicht? Die Nebel der Schlange?“ „Ich weiß nicht, wovon du faselst.“ „Hast du nicht vergessen, wie Atne dir half bei allem, worauf du jetzt stolz bist? Sie hatte einen Grund, deine Glücksgöttin! Einen Grund, den wir Schlangen billigen.“ „Ach ja?“ „Unser irrender Vetter – das bist du!“ Sorla hatte diese unsinnigen Vorwürfe satt und ging weiter. Da richtete sich die Schlange auf. „Halt!“ zischte sie. „Du hast kein Recht hier!“
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Sorla hielt inne. Ob diese Schlange giftig war? „Ich bin Tainas Sohn. Ich habe das Recht, hier zu sein.“ „Weshalb dann heimlich?“ „Weil ich Hon befreien will und dafür den Hauptschlüssel brauche!“ rief Sorla verärgert und wollte gerade hinzufügen, die Schlange solle sich zum Schwarzen Woul scheren, da war sie schon beiseite gehuscht. „Endlich!“ zischelte sie. „Dein erster kluger Einfall, seit du dich Prinz nennst! Ich will dir helfen dabei, Vetter! Du hast wenig Zeit, denn bevor die Fürstin aufwacht, musst du ihren Schlüssel wieder unter ihre Kleider gelegt haben. Da kann ich dir einen Weg abnehmen; sobald Hon frei ist, bringe ich den Hauptschlüssel hierher zurück. Schließe dieses Gewölbe hinter dir zu. Ich weiß andere Wege.“ „Das könntest du tun?“ fragte Sorla überrascht und erleichtert, doch die kleine Schlange war verschwunden. Er steckte sich den Hauptschlüssel in den Gürtel – so schwer war der nicht, sie konnte ihn durchaus im Maule tragen – und verließ die Schatzkammer, leicht verwirrt, denn dass die Schlange ihn im Zimmer Tainas beobachtet hatte, war ihm peinlich. * Hon beobachtete ihn aus gelben Augen, während Sorla leise den Hauptschlüssel ins Schloss steckte und umdrehte. Erst als die Türe offen stand, erhob sich Hon und trat hinaus. „Ich treffe dich am Haupttor“, sagte er. „Bring ein Pferd mit.“ „Für dich?“ „Für dich, Sorle-a-glach. Ich werde dir etwas zeigen. Und vergiss dein Messer nicht.“ Hon legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte ihm gewinnend zu. „Aber ...“, stammelte Sorla, doch Hon war schon in der Dunkelheit verschwunden.
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„Den Hauptschlüssel“, zischelte es neben ihm. Sorla reichte ihn der kleinen Schlange, die sofort damit in einen Mauerspalt schlüpfte. Sorla trat in die Zelle und legte seinen silbernen Stirnreif auf die Pritsche; das würde die diensthabende Wache entlasten und vor verzweifelten Handlungen, wenn die Flucht entdeckt wurde, bewahren. Dann eilte er die Treppen hinauf, schwang sich aus dem offenen Fenster – Ak'men sei Dank, das Seil hing noch – und kletterte an der dunklen Außenwand zu Tainas Fenster empor. Die Vorhänge bewegten sich sachte, doch war das der laue Nachtwind, der die Düfte der Gärten herantrug; Sorla ließ sich ins Zimmer zu Boden gleiten und kroch im Licht des Öllämpchens zu Tainas Bett hinüber. Ihre Finger zuckten unruhig auf der Bettdecke. Sorla verharrte bewegungslos, bis er sicher war, dass sie fest schlief. Nun hob er sachte eine Ecke des Kissens an und schob mit der anderen Hand den entwendeten Schlüssel an seinen Platz zurück. Ebenso behutsam zog er die Hand wieder unter dem Kissen zurück. „Verlasse mich nicht!“ flüsterte Taina. Sorla erstarrte in der Bewegung. Die Hand seiner Mutter schloss sich um sein Handgelenk. „Geh nicht fort, Geliebter!“ „Aber ...“ stammelte Sorla. „Mein Tok, geliebter Tok-aglur!“ Ihre Augen waren geschlossen, doch ließ sie nicht los, und ihre zweite Hand begann seinen Arm zu streicheln. „Du Licht meines Lebens, mein Mann!“ hauchte sie lächelnd. Sorla zwang sich, still zu verharren, bis Tainas Atem ruhiger ging und ihre Finger sich von seinem Handgelenk lösten. Dann floh er zum Fenster und schwang sich in den dämmernden Morgen hinaus.
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Zweites Kapitel:
DER SUMPFKÖNIG Sorla stand am Haupttor, fröstelnd in der Morgendämmerung, sein Pferd Mutterglück am Zügel. Schon lange wartete er, und viele von denen, die vorbeikamen, zu Fuß, zu Pferde, auf Eselsrücken oder dem Kutschbock, hielten an, um den Prinzen zu begaffen. Er vertrieb sich die Zeit, indem er über die Köpfe der Gaffer hinweg das Land in der Ferne betrachtete. Nach Südwesten dehnte sich noch dunkel das Meer. Weit in den Süden erstreckten sich die freundlichen Sidhlande mit Olivenhainen und Getreidefeldern; dahinter ahnte Sorla die Wälder von Rhosmea, vertraut nur den Elfen, die dort lebten. Eine Tagesreise weit im Osten, in rosige Morgennebel getaucht, lagen die undurchdringlichen Sümpfe. Sie wurden am fernen Horizont von den Ausläufern der Grauen Berge begrenzt. Von dort waren seinerzeit Sorla und Taina nach Brindhal gekommen – nicht durch die tödlichen Sümpfe, auch nicht durch die verwunschenen Elfenwälder von Rhosmea, sondern den schmalen Streifen lichten Waldes dazwischen nutzend. Noch immer war Hon nicht gekommen. Einen kurzen Moment flackerten Zweifel auf: Was tue ich hier? Wohin will Hon mich mitnehmen? Dann aber strahlte wieder das gewinnende Lächeln des Fremden auf, Sorla spürte den väterlichen Druck von Hons Hand auf seiner Schulter ... „Sorle-a-glach?“ In Sorlas Hüfthöhe wippte ein breiter Hut, aus grünen Binsen geflochten. Darunter verbarg ein ähnlich gefertigter Umhang eine kleine, plumpe Gestalt, welche jetzt Sorla am Bein zerrte: „Mitkommen!“ „Was soll das?“ rief dieser ärgerlich. „Hon ruft“, beharrte das kleine Wesen unter dem Binsenhut. „Mitkommen!“
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„Wo ist Hon? Weshalb kommt er nicht selbst?“ „Mitkommen! Hon ruft!“ Der Wortschatz des kleinen Wesens war wohl sehr begrenzt. Nur kurz überlegte Sorla – so hatte er sich das Treffen nicht vorgestellt – dann stieg er in den Sattel der geduldigen Mutterglück. „Und jetzt? Wohin jetzt?“ fragte er. Da war schon das kleine Wesen hinter Sorla auf den Rücken der Stute gesprungen, umklammerte den Jungen mit merkwürdig langen Gliedmaßen, so dass er seine eigenen Arme nicht mehr regen konnte, eine kalte Hand presste sich gegen seinen Mund, und das Pferd schoss erschreckt zum Tor hinaus. * Die Sonne war längst in Sorlas Rücken untergegangen; nach Osten ritten sie, zu den Sümpfen. Vergeblich hatte er sich bemüht, seine Arme aus dem unnachgiebigen Griff zu befreien, vergeblich auch versucht, seine Stute mit Schenkeldruck und allem, was er in seinen unlustig verbrachten Reitstunden gelernt hatte, zur Rückkehr nach Brindhal zu bewegen. Er fühlte die starken Beine seines Entführers, der das Pferd beherrschte und alle Anstrengungen Sorlas durchkreuzte. Den ganzen Tag waren sie geritten, und ihn schmerzte nicht nur der Hintern. Wie konnte jenes Wesen, das nur bis zu Sorlas Hüfte reichte, solch lange und starke Gliedmaßen haben? Biegsam waren sie und zäh, womöglich ganz ohne Knochen. Zu sehen war nur die Pranke, die sich vor Sorlas Mund presste: riesig, faltig, schlammgrau. Was für ein Ungeheuer verbarg sich unter dem grünen Binsen-Umhang? Nur gut, dass Sorla im Stiefel das Messer versteckt hielt; sein Entführer würde Schlangenzahn bei passender Gelegenheit zu spüren bekommen! Ob Hon geahnt hatte, dass Sorla Gefahr drohte? Irgendwann verschwand die Hand vor Sorlas Mund. Er
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konnte freier atmen und nützte die erste Lunge voll Luft, lauthals um Hilfe zu rufen. Das Wesen hinter ihm gluckste; das mochte Belustigung ausdrücken, denn Sorlas Schrei ging verloren im Lärm des Sumpfes ringsum: all dem Zischen und Plärren, Schreien und Schnarren, Fiepen und Platschen, das manchmal verebbte und nach einigen Atemzügen Stille wieder losbrach. „Diese Untat wird nicht ungesühnt bleiben!“ drohte Sorla. „Hon wird Wege finden, mich herauszuhauen!“ Wieder das Glucksen. „Meine Mutter hat bestimmt erfahren, was geschehen ist. Sie wird die Soldaten ausschicken!“ Glucksen. Dass mittlerweile Schwärme von Stechmücken Sorla heimgesucht hatten, war zwar nicht sein vordringlichstes Problem, aber doch schmerzhaft und lästig. Er fluchte wortlos vor sich hin, als wieder Dutzende dieser Blutsauger gleichzeitig auf seinem Gesicht saßen, ohne dass er sie vertreiben konnte. Da lockerte sich die Umschlingung so weit, dass er den linken Arm herausziehen und die Plagegeister fortwischen konnte. „Besser?“ fragte sein Entführer. Sorla war sich zu schade für eine Antwort, doch begann er jetzt mehr auf seine Umgebung zu achten, statt sich nur über die Entführung zu empören und Racheaktionen zu planen. Die Luft war feucht und roch nach Sumpf und Fäulnis. Es war stockfinster; nur wenn der Mond zwischen den Wolken hervortrat, glitzerten überall Pfützen und große Wasserflächen. Noch immer fanden die Pferdehufe festen Boden, aber da war kein gerader Weg, sondern das Wesen hinter Sorla lenkte die Stute mal rechts durch das Schilf, mal links durch Wasser; und Sorla wurde klar, dass er alleine hier nie wieder herausfinden würde. Plötzlich schwappte etwas Riesiges empor, schwarz gegen den Himmel, formlos sich blähend und wälzend. Mutterglück schnaubte, wollte sich aufbäumen, blieb aber, von dem Wesen selbst jetzt gebändigt, zitternd stehen. Ein fürchterliches Zischen und Gurgeln ertönte, dass Sorla die Haare zu Berge standen. Noch
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schlimmer: Hinter ihm, über ihm zischte und gurgelte es plötzlich ebenso. Sorla reckte den Kopf zurück: hinter ihm saß nicht das kleine Wesen mit den langen Armen, sondern etwas grauenvoll Riesiges, Schwarzes, sich ebenso formlos blähend wie das Ungeheuer vor ihm. Was als Arm Sorlas Leib umklammerte, war nur ein winziger Ausläufer dieser grausigen Erscheinung. Atne hilf, dachte Sorla, wohin bin ich geraten! So wogte der Lärm einige Zeit hin und her, während Sorla schreckensstarr dazwischen hockte. Auf einmal versank das Riesenwesen vor ihm wieder im Sumpf; das Wasser schwappte zurück und verlief sich in hin und her kreuzenden Kringeln. „Was war das?“ japste Sorla. „Kleiner Bruder“, gluckste das Wesen hinter ihm, nun wieder mit der gewohnten Stimme in Sorlas Ohrhöhe. „Redet gern.“ „Wie kannst du mal groß und mal klein sein?“ fragte Sorla, seine Furcht vergessend. „Wie Mond“, gluckste es. „Manchmal klein.“ „Und weshalb hältst du mich gefangen?“ Das Wesen hob ihn vom Pferd und ließ ihn daneben bis zu den Knien im Moor versacken: „Geh fort.“ „Wohin denn?“ Sorla blickte ins Dunkel ringsum und versuchte vergeblich, sich am nächststehenden Bein von Mutterglück aus dem Matsch zu ziehen. „Ich käme ja keine zwanzig Schritte weit, ohne zu ertrinken oder gefressen zu werden.“ „Dann bleib.“ Sorla hielt keuchend inne. „Jedenfalls willst du mich nicht fressen. Denn das hättest du schon lange gekonnt.“ Das Wesen gluckste. Welche Miene es dazu machte, konnte Sorla nicht sehen; sowieso war gegen den Nachthimmel nur ein kleiner, plumper Umriss auf dem Rücken der Stute auszumachen. Jetzt wurde Sorla wütend. „Das ist doch alles Unsinn! Willst du Lösegeld? Ich verspreche dir, wenn du mich wohlbehalten zurückbringst ...“ Da tauchte gegen den Nachthimmel eine zweite, größere
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Gestalt auf, und Sorla hörte eine vertraute Stimme: „Wo ist das Messer?“ Es war Hon! Gerettet! Und nun schnell das verlangte Messer! Sorla fingerte vergeblich in seinem Stiefel herum, wo Schlangenzahn längst nicht mehr war. Er war aber gar nicht gemeint; mit einem seiner langen Arme reichte sein Entführer etwas Glitzerndes der dunklen Gestalt Hons hinüber. „Gut gemacht, Örbülwats!“ sagte Hon. „Nimm deine versprochene Belohnung – ich hoffe, sie ist nicht zu zäh – und lass uns alleine.“ Sorlas Entführer schwoll zu Riesengröße an, packte Mutterglück mit einer seiner lappigen Ausbuchtungen und verschwand unter lärmendem Zischen und Gurgeln in der Nacht. * „Also doch!“ Sorla musterte die braunzottelige Gestalt, deren gelb glühende Augen auf ihn nieder starrten. „Ich habe dir vertraut, Hon. Ich dachte, du willst mir wohl!“ Hon schwieg einige Augenblicke, bevor er sagte: „Dies ist der Sumpf. Vertraue niemandem, nicht einmal deinen Augen.“ „Weshalb bin ich hier? Du versprachst, mir was zu zeigen.“ „Dein zweiter Fehler. Geh nicht von dem aus, was war, sondern was ist.“ „Dann gib mir das Messer wieder. Es ist meines!“ „Noch eine Dummheit, Junge. Du bist nicht in der Lage, Forderungen zu stellen. Und du willst einmal ein Reich regieren?“ Sorla presste zornig die Lippen zusammen. Er würde sich nichts mehr vergeben, schon gar nicht gegenüber Hon! Nicht ein Wort würde er an ihn verschwenden! Als er sich umsah, merkte er, dass sich die Möglichkeit dazu sowieso nicht mehr bot, denn Hon war spurlos verschwunden. Eine Zeitlang mühte sich Sorla verzweifelt, seinem
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Sumpfloch zu entkommen, in dem er bis zum Bauch steckte, aber der Schlamm hielt seine Beine unerbittlich fest. Schließlich hielt er erschöpft inne, und als er Furcht und Wut soweit überwunden hatte, dass er seine Gedanken sammeln konnte, begann er seine Lage zu überdenken. Eigentlich war es gar nicht klug, dieses Sumpfloch jetzt zu verlassen, selbst wenn er gekonnt hätte. Denn erstens: wo hätte er hingehen können in der Dunkelheit? Und zweitens, wenn man es recht bedachte, war es hier warm und gemütlich. Sorla ließ sich etwas tiefer zurücksinken, wischte sich ab und zu die Stechmücken vom Gesicht und versuchte seine nähere Umgebung zu mustern. Von seiner Mutter, die wie alle Sidh mit den Elfen verwandt war, hatte er die Elfensicht geerbt, die Fähigkeit also, im Dunkeln weit besser als jeder normale Mensch zu sehen. So unterschied er noch Binsenbüschel, Schachtelhalme, Wasserkresse und allerlei großlappiges Gewächs, wo jeder andere nicht die Hand vor Augen gesehen hätte. Auch bemerkte er hinter einigen Schilfstengeln eine geringe Bewegung, die ihn erstarren ließ. Es war aber nur eine junge Libelle, die frisch dem Larvendasein entschlüpft, aus dem Wasser in ein neues Leben kroch. Nur kurz war dieses, denn Sorla hatte sie erhascht und in den Mund gestopft. Was hatte er da getan? Er, Prinz von Brindhal, verwöhnt und wohlgenährt? Da fiel ihm ein, dass er als Kind am Gnomfluss stets auf diese Weise sich ernährt hatte; alte Gewohnheiten, längst vergessen, waren überraschend zurückgekehrt. Nun gut, so würde er hier nicht verhungern. Zugleich fiel ihm erschreckend ein: So wie die Libellenlarve ihm, mochte auch er anderen zur Nahrung dienen! Örbülwats zum Beispiel, der Mutterglück wohl schon verschlungen hatte, oder dessen Bruder oder ganz andere, unbekannte, unvorstellbare Ungeheuer mochten ihm auflauern! Zerschmettert vom Gefühl des Ausgeliefertseins ließ er sich weiter in sein Sumpfloch sinken, so dass nur noch sein Kopf aus dem Wasser ragte. Hon allerdings schien ihn nicht fressen zu wollen, das hätte er sonst wohl schon getan. Er hätte sich auch nicht die Zeit
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genommen, Sorla über seine Fehler zu belehren. Was also wollte Hon? Diese Frage begleitete ihn bis in den Schlaf. * Die weißen Nebel zerflatterten in der Nachtluft, als der riesige Schlangenkopf sich aus dem Fluss erhob. Sorla aber verspürte keine Angst; er fühlte sich zu Hause. Der Kopf stieß auf ihn zu, die Gabelzunge fuhr ihm übers Gesicht: „Weißt du, wer du bist, kleine Schlange?“ Ich bin Sorla, dachte Sorla. „Sorle-a-glach nannte dich deine Ziehmutter. Sie wusste, du bist ein Molch ohne Vater.“ Kein Molch! dachte Sorla empört, aber der Schlangenkopf stieß ihn rückwärts ins Wasser. * Sorla erwachte prustend, den Mund voll Sumpfwasser. Die Morgensonne glitzerte auf seinem Tümpel. Der Lärm der Nacht war verstummt, stattdessen zirpten zartflüglige Insekten auf den Seerosenblüten, arbeiteten Singvögel emsig am Nestbau zwischen den Schilfstengeln, huschten Rallen, Enten, Blässhühner bescheiden durch die Binsen. Fast ohne Absicht und ganz zurückgefallen in alte Gewohnheiten, griff Sorla sich einen Frosch, der vorwitzig neben ihm zu quaken gewagt hatte. Während er ihm den Kopf abbiss, kam ihm der Traum der letzten Nacht in den Sinn. So seltsam hatte er seit Jahren nicht mehr geträumt. Merkwürdig, dass er keine Angst vor der riesigen Schlange verspürte! Und jene weißen Nebel – sie kamen ihm vertraut vor. Da fiel ihm ein, was erst gestern die kleine Schlange in den Geheimen Gewölben ihm vorhielt: „Hast du nicht
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vergessen: das Wasser im Mondenlicht? Die Nebel der Schlange?“ Es schien Sorla, als habe er in den letzten Jahren etwas verloren und müsse es wiederfinden. >Essen wir es, Schnick?< Sorlas Kopf fuhr herum. Aber er sah niemanden. >Es bewegt sich, hat Augen, Krick!< >Es ist ein Kopf, Schnick.< >Unter Wasser hat es Arme, Krick.< >Wir warten, Schnick. Vielleicht später Happen abkneifen.< Wer sprach da? Kein Mensch weit und breit. Unter einem Pestwurzblatt aber, außer Sorlas Reichweite, saßen zwei Krebse und fuchtelten einander mit ihren Zangen an; völlig lautlos, aber wie sie fuchtelten, hörte Sorla die Worte. Und nun merkte er, dass er sie nicht wirklich hörte, sondern sie bildeten sich in seinem Kopf. Er verhielt sich still und beobachtete weiter, wie die beiden sich über ihn unterhielten. >Hat es Bitterwurzel gegessen? Das schmeckt uns nicht, Krick.< >Bestimmt Bitterwurzel gegessen, Schnick. Oder ganz dummes Weichtier. Zu viele Blutegel.< Sorlas Hände fuhren an seinem Körper herab: tatsächlich, Trauben von glitschigen Egeln! Sie waren die Hosenbeine hoch gekrochen, durch die Ärmel geschlüpft und hingen an Bauch, Rücken, Beinen, Armen – überall! Er versuchte sie abzustreifen, abzudrehen, abzureißen, doch das tat nur weh und nutzte nichts. Wie war das mit der Bitterwurzel? Er wandte sich wieder den Krebsen zu, doch sein Geplantsche hatte sie verscheucht. Vielleicht wurde er die Blutegel los, wenn er von der Bitterwurzel aß. Dazu musste er sie natürlich erst finden, und er wusste nicht mal, wie sie aussah. Bewegen konnte er sich sowieso nicht weit, denn noch immer hielt ihn der Morast gefangen. Versuchsweise zog er an einer der Pflanzen in Reichweite und förderte eine gelbliche Wurzel zu Tage, die nur fade schmeckte. Eine andere schmeckte modrig, andere süßlich; bittere waren nicht
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dabei. „Du bist der erste Mensch, den ich sehe“, erklang eine zarte Stimme. Auf einer Seerosenblüte wiegte sich ein kleines Mädchen, kaum so groß wie Sorlas Unterarm, jedoch mit grünen, durchsichtigen Libellenflügeln. „Jemanden wie dich habe ich auch noch nie gesehen“, antwortete Sorla freundlich. „Ich bin eine Libelfe.“ Ihre Stimme ließ Morgensonne und Seerosenblüten noch schöner wirken. „Und wieso sprichst du die Menschensprache?“ fragte Sorla, der Angst hatte, sie könne die Unterhaltung beenden und wegfliegen. „Einfach so.“ Sie senkte die Augenlider und lächelte. In den Kindheitstagen, als Sorla sich von Fröschen, Fischen und Regenwürmern ernährte, hatte er auch gelernt, blitzschnell zu reagieren. Das tat er jetzt; er warf sich beiseite, und was ihn von hinten anspringen wollte, platschte neben ihm ins Wasser. Sorla packte den Angreifer, der sich unter Wasser wand, stemmte sich daran hoch, bekam ein Bein frei aus dem Schlick, konnte das zweite nachziehen, trat das Wesen noch einmal unter Wasser und sprang hinüber zum nächsten Binsenbüschel, der sein Gewicht trug. Von dort sah er befriedigt zu, wie der Angreifer sich vergeblich bemühte, den Tümpel zu verlassen. Denn nun waren es dessen Beine, die im Morast fest staken, während die Arme das Wasser peitschten. Die Libelfe flatterte über dem Tümpel umher und rief: „Mein Freund! Kann ich dir helfen?“ Das brachte Sorla auf eine Idee. „Bring mir Bitterwurzeln!“ herrschte er die Libelfe an. „Schnell, oder dein Freund stirbt den verdienten Tod!“ Die Kleine schwirrte davon, und Sorla hatte Muße, seinen Angreifer genauer zu betrachten. Dieser war kaum größer als Sorla, nackt und entfernt menschenähnlich, hatte allerdings ein froschähnliches Gesicht und eine grüngraue Haut mit seltsamen Zotteln am ganzen Körper. Einmal ließ er seine lange Zunge vorschnellen, die Sorla aber nicht erreichte. Danach schien er sich
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in seine Lage zu ergeben und blickte Sorla nur mit vorquellenden Augen an. Schon kam die Libelfe zurück, in jedem ihrer Ärmchen eine grünblaue Wurzel, halb so lang wie sie selbst. Sorla warf eine davon dem Froschkerl zu: „Hier! Du wirst es brauchen bei den vielen Blutegeln!“ Der schleuderte das Wurzelstück weit von sich und starrte Sorla weiterhin an. Sorla fragte misstrauisch: „Was soll das?“ „Er mag wohl nichts essen!“ kicherte die Libelfe. „Er soll davon essen und runterschlucken, oder ich glaube nicht, dass das Bitterwurzeln sind!“ Da flatterte die Libelfe verschämt mit ihren Augenlidern, rief: „Ach, Bitterwurzeln meintest du!“ und flog erneut davon. Als sie wiederkam, diesmal mit zwei langen rötlichen Wurzelstücken, brach Sorla das eine entzwei und achtete darauf, dass der Froschkerl die eine Hälfte aß, und zwar nicht nur im Mund behielt, sondern kaute, hinunterschluckte und anschließend sein Maul weit öffnete, zum Beweis, dass es leer war. Erst dann wagte Sorla, selber die zweite Hälfte zu kosten. Die Bitternis traf ihn wie ein Keulenschlag. Im Nu war der Mund trocken und die Zunge rauh und wie gelähmt. Sorla überwand sich und biss solange auf dem Stück herum, bis er es hinunterschlucken konnte. Nun krampfte sich sein Magen zusammen, dass Sorla die Luft wegblieb. Die Libelfe sah ihm aus sicherer Entfernung neugierig zu. „Du isst wohl nicht häufig Bitterwurzeln?“ hauchte sie, und obwohl sie die Hände vor ihr Gesicht hielt, konnte sie ihr Lachen nicht verbergen. Sorla hatte seinen Zorn gegen sie schon vergessen. „Was ist mit der anderen Wurzel, die du zuerst brachtest?“ fragte er. „Wenn du sie isst, wirst du's bereuen; und wenn du sie nicht isst, wirst du's auch bereuen.“ „Das kann man von der Bitterwurzel auch sagen!“ Die Kleine lachte und sah ihn unter niedergeschlagenen Lidern an. „Hilfst du jetzt meinem Freund aus dem Tümpel, ja?“ „Wieso habt ihr mich überfallen wollen?“
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„Na, weil eben.“ „Und wenn ich ihm jetzt heraushelfe ...?“ „Er wird dich dankbar küssen!“ kicherte sie. Sorla hegte große Zweifel, ob er darauf Wert legte. Irgendwie aber konnte er ihr die Bitte nicht länger abschlagen. „Erkläre mir das Rätsel mit der Wurzel, dann überlege ich's mir“, sagte er. „Kinderleicht.“ Sie saß jetzt auf einem Binsenbüschel nahebei und wippte mit dem übergeschlagenen Beinchen. „Wenn du sie nicht isst, wirst du nie wissen, was du versäumt hast.“ „Und wenn ich sie esse?“ „Dann hast du sie nicht mehr!“ Sie kippte vor Lachen fast vom Binsenbüschel. Sorla gab sich geschlagen, stopfte die übrige Bitterwurzel sowie nach kurzem Bedenken die grünblaue Wurzel vorne in sein Hemd und machte sich daran, den Froschkerl, der ihn immer noch anglotzte, zu befreien. Er riss ein Bündel Schilf samt Wurzelwerk aus dem Boden und hielt es ihm mit ausgestrecktem Arm hin, so dass dieser das andere Ende packen konnte. Nach längerem gemeinsamem Zerren und Plantschen, wobei Sorla mehrfach ausrutschte und selbst fast ins Wasser zurückfiel, erreichte der Froschkerl schließlich ein Binsenbüschel, an dem er sich festhalten und vollends herausziehen konnte. „Dies ist das gemeinste Loch im ganzen großen Sumpf“, erklärte die Libelfe empört. „Wer da mal reinfällt, kommt alleine nicht mehr raus!“ Sie strahlte ihn dankbar an. Im selben Augenblick wurde er von hinten gestoßen und lag selbst wieder im Tümpel. Als er auftauchte – die Beine staken wie gewohnt fest im Schlamm – sah er den Froschkerl auf einem Binsenbüschel stehen und ihn anglotzen; auf seiner Schulter aber saß die Libelfe und winkte Sorla fröhlich zu: „Trotzdem vielen Dank, dass du meinem Freund geholfen hast!“ Sorla sah keinen Anlass, ihr zu antworten. Stattdessen beobachtete er, wie aus seinem Hemd halbtote Blutegel heraustrieben. Rasch fuhr er sich in die Hosen, unters Hemd, in die Stiefel und schaffte die ganze Egelbrut, die sich von seiner Haut
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gelöst hatte, hinaus. „Onk!“ sagte der Froschkerl und richtete seine großen Augen auf die Egel, die sich langsam an der Oberfläche des Tümpels wanden. Seine Zunge fuhr heraus – einen Klafter weit – und zog blitzschnell einen der Egel vom Wasser ins Maul. Kaum war der verschluckt, kam der nächste dran, und so weiter. Sorla brauchte zwei Augenblicke, um sein Glück zu begreifen. Wieder bot sich etwas an, das er in Kindestagen beim Elritzenfang erworben hatte: blitzschnell zuzugreifen. Er tat es, zog fest an der Zunge, der Froschkerl fiel ins Wasser, und der Rest war wie gehabt. Als Sorla auf dem Binsenbüschel stand, entfuhr ihm ein „Atne sei Dank!“ ganz wie in alten Tagen. „Das ist ein lustiges Spiel“, sagte die Libelfe aus sicherer Entfernung. „Ich könnte euch den ganzen Tag zuschauen!“ „Ich spiele aber nicht mehr mit“, sagte Sorla. „He! Und was wird aus meinem Freund?“ „Vielleicht morgen“, entgegnete Sorla fröhlich, „falls ich zufällig vorbeikomme!“ und hielt Ausschau nach dem nächsten Binsenbüschel oder sonstigen Halt für seine Füße, um möglichst schnell weit weg von diesem Tümpel zu kommen – erstaunt über sein Glück und die Fähigkeiten, die ihm noch zu Gebot standen, obwohl er sie ganz vergessen hatte. * Mittags wurde es brütend heiß, und Sorla fühlte sich benommen. Seine Augen unterschieden nur undeutlich, seine Ohren hörten seltsame Geräusche, seine Beine knickten ein. Er rollte sich irgendwo im Schilf zusammen und versuchte zu schlafen. Aber das Schilf wisperte ihm Bosheiten zu, die Sumpfblasen platzten nur, um ihn zu ängstigen, die weißen Mittagswolken wollten ihn erdrücken. Er war die Fliege, die schwerfällig den Schilfhalm entlang kroch. Der Frosch, der träge an der Wasseroberfläche hing und die
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Beine hängen ließ, das war er selbst. Und die Libelle, die, satt vom Jagen, im Schatten eines Pestwurzblattes verdaute. Auch der silberwollige Flugsamen, der reglos am Halm hing und auf einen Lufthauch wartete. Dies war Omschjulls Stunde, erinnerte sich Sorla: die heiße Mittagszeit, wenn die Trägheit regiert und manchmal unerwartete Dinge geschehen. Auf Unerwartetes zu warten war natürlich unsinnig, außerdem wäre Sorla zu träge dafür gewesen. >Ist es tot, Krick?< >Ist tot, Schnick.< >Also Happen abkneifen!< Sorla fuhr hoch und sah sich um; er war empfindlich ins Ohr gezwickt worden. Die Krebse, die sich hastig zurückzogen, sahen kleiner aus als jene, die sich am Morgen über Bitterwurzeln unterhielten. „He, ihr!“ rief Sorla ihnen nach. Doch sie waren und blieben verschwunden. Der Bann war gebrochen, Sorla überlegte, wie er den Nachmittag überleben und vielleicht nützen konnte, um dem Sumpf zu entrinnen. Als er sich vorsichtig umsah, erkannte er in der Ferne düstere Bergketten, das mussten die Ausläufer der Grauen Berge sein. Dann lag Brindhal in der entgegengesetzten Richtung, dorthin musste er sich durchschlagen. Vorsichtig kroch er durch das Schilf und fand einige Schritte festes Land, dann Binsenbüschel, wieder festes Land – er kam irgendwie vorwärts. Unter einem Weidenstrauch in der Ferne saß ein Mensch oder etwas, das so aussah. Falls das Hon war, dachte Sorla, dann wollte er ihm gehörig Bescheid sagen. Vorsichtig ging er näher und erkannte einen großen Jungen mit langen blonden Locken, der ihm eher überheblich als freundlich entgegensah. Er trug schmutzige, zerrissene Kleidung – kein Wunder hier im Sumpf – und keinerlei Waffen. „Atne mit dir!“ grüßte Sorla. „Atne mit dir!“ grüßte der Junge zurück. Sorla setzte sich neben ihn und sagte: „Heiß heute.“ „Heiß heute“, bestätigte der Junge.
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„Kennst du dich hier aus?“ fragte Sorla, doch der Junge antwortete nicht, sondern löste sich in einen riesigen, dunklen Schwarm von Stechmücken auf, die über Sorla herfielen. Er war über und über bedeckt und wurde gebissen, konnte nichts sehen, bekam Mücken in Nase und Mund – doch auf einmal war der Spuk vorbei, die Stechmücken ließen von ihm ab, fielen tot zu Boden oder schwirrten unwillig davon. Die Bitterwurzel, dachte Sorla. Und nachdem er sich vom Schreck erholt hatte und ihm klar geworden war, dass diese Mücken ihm sein eigenes Spiegelbild vor Augen geführt hatten, entschied er, dass es für ihn in den Sümpfen lebenswichtig sei, für genügend Nachschub an Bitterwurzel zu sorgen. Ein Stück hatte er noch in der Tasche stecken, zusammen mit der bläulichen Rätselwurzel, aber das würde sicher nur ein, zwei Tage reichen. Im Weitergehen rupfte er Pflanzen aus, um ihre Wurzeln zu untersuchen, solche, die in fester Erde wuchsen, wie auch solche an den Tümpelrändern; ja, er fasste tief ins Wasser, um an Wurzeln von Seerosen und ähnlich schwer erreichbares Gewächs zu gelangen. Das brauchte viel Zeit, war vergeblich, und er kam kaum von der Stelle. Er war am Ende einer morastigen Landzunge angekommen und jetzt ringsum von Wasser umgeben. Sollte er den ganzen Weg zurückgehen, der ihn einige Stunden gekostet hatte? Lieber überwand er sich, den See vor ihm schwimmend zu überqueren, denn das jenseitige Ufer mit Weiden und Erlen war nahe. Das Wasser war bräunlich trüb, roch aber angenehm nach Moor. Sorla hütete sich, den Seerosen zu nahe zu kommen, damit sich seine Beine nicht in deren Stengeln verfingen, die wegen seiner Stiefel tief im Wasser hingen; er schwamm mit sachten Bewegungen, um nicht aufzufallen, und gelangte wohlbehalten bis zur Mitte des Sees, als ihn etwas am Bauch streifte. Im nächsten Augenblick waren seine Beine umschlungen, er wurde hinabgezogen. Der See war nicht tief, so konnte Sorla im bräunlichen Halbdunkel das aufgerissene Maul sehen. Hilflos wand er sich in den Greifarmen, wusste, dass sein Atem nicht mehr lange vorhielt
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und dass es keinen Unterschied machte, denn er hatte nicht einmal sein Messer. Während er um sich trat, griff er in sein Hemd nach der Bitterwurzel – er hatte den verzweifelt lustigen Gedanken, damit dem Untier den Appetit zu vergällen – und rammte sie tief ins Maul hinein zwischen Hunderte von kleinen Zahnraspeln. Dann trat er weiter gegen das Untier und wich so zweimal dem Biss aus. Jetzt aber ging ihm die Luft aus, Blasen kamen aus seinem Mund, das Blut hämmerte hinter seinen Augen, da merkte er, dass nichts ihn festhielt, dass er an die Oberfläche trieb, frische Luft japsend einsog ... Lange lag er halb bewusstlos am jenseitigen Ufer. Wie er panisch hinübergeschwommen war, erinnerte er sich nicht. Erst als der Abend dämmerte, setzte er sich auf und blickte auf den See zurück. Dort draußen trieb ein riesiger, unförmiger Kadaver. Sorla lächelte verwirrt: Wie konnte die Bitterwurzel eine derart tödliche Wirkung haben? Er zuckte die Schultern und entkleidete sich, um die Stiefel auszuleeren, Hemd und Hose auszuwringen und alles zum Trocknen in die Äste einer Weide zu hängen. Dabei fiel ihm aus dem Hemd die Bitterwurzel entgegen. So hatte er versehentlich dem Untier die andere, die blaugrüne Wurzel ins Maul gestoßen! Er schüttelte den Kopf über die unbefangene Arglist der Libelfe, lächelte zugleich verwundert über sein Glück und flüsterte inbrünstig: „Dank dir, oh Atne!“ * In der Abenddämmerung blickte er über den See zurück auf die ferne Bergkette, um zu sehen, ob er sie weiter hinter sich gelassen habe und deshalb mit der Tagesstrecke zufrieden sein könne. Doch was er für Berge gehalten hatte, waren Wetterwolken, die sich jetzt allmählich auflösten. Eben dort ging die Sonne unter; dort also, im Westen, musste Brindhal liegen und er hatte sich den ganzen Tag umsonst bemüht.
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Es gab hier zwischen zwei Erlen ein trockene Stelle, dort schichtete Sorla welkes Schilf auf und rollte sich zusammen, um zu schlafen. Doch wurde es, je weiter die Nacht hereinbrach, immer lauter. Die Frösche machten den Anfang; sie quakten und schnarrten von fern und nah, auch die Wasservögel glucksten und schrien jämmerlich, als beklagten sie den Verlust des Tageslichtes, und Sorlas Gedanken schweiften ab; er erinnerte sich der Sage vom Sonnenhelden Anod, der tags das Licht brachte, nachts sich aber im Schloss hinter den Wolken schlafen legte. Wer war wohl bedeutender: der strahlende Held Anod oder Atne, die Göttin des Glücksrades? Dann fiel ihm aber ein, dass selbst Anod der Macht Atnes unterworfen war, dass in ihr alles ruhte, die Jahreszeiten, Glück und Unglück, Tod und Leben. Dieser Gedanke beruhigte ihn, und er schlief trotz des zunehmenden Nachtlärms ein. Irgendwann erwachte er; ihn fröstelte in der feuchtkalten Nachtluft. Weder Mond noch Sterne konnte er sehen, es war stockdunkel. Seltsam still war es ringsum. Im Moor jenseits der Erlen, unter denen er saß, schwebten einige Irrlichter unruhig auf und nieder. Weitere gesellten sich dazu, woben hin und her, bildeten Reihen, die sich wieder zerteilten und neu zusammen schlossen. Immer mehr Irrlichter tauchten auf, überall, tanzten von jenseits des Sees langsam heran, drängten vom Moor hinter den Erlen näher herbei, schlossen einen weiten, flimmernden Kreis um Sorla. Zunächst war Sorla nur beunruhigt, doch je näher die Irrlichter kamen, desto unbehaglicher wurde ihm, zuletzt beschlich ihn Angst. Er wollte aufstehen und konnte es nicht, die Beine gehorchten nicht mehr, die Arme waren gelähmt, die Zunge versagte den Dienst. So starrte er sprachlos, reglos, hilflos den Irrlichtern entgegen; sie drängten sich um ihn und badeten ihn in fahlem Weiß, das ihn durchdrang und schwächte. Dies war das Ende; hier half keine Wurzel, kein Kampf und kein Reden. Selbst wenn er sich hätte rühren können, dem Kreis der Irrlichter konnte er nicht entkommen. Wenn nur die Sonne schon aufginge! Wie sollte er sich gegen dies auszehrende Licht schützen? Da glomm ein zartblaues Licht auf; dicht neben Sorla
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schimmerte es freundlich, wurde stärker, verbreitete sich nach allen Seiten und drängte die fahlweißen Irrlichter zurück. Der hellblaue Schein ging von einem kleinen Stein aus, der ruhig neben Sorlas Kopf schwebte. „Mein Glygi!“ hauchte Sorla. „Danke!“ Der Stein zitterte und leuchtete noch stärker gegen die Irrlichter an. In diesem Kreis hellblauen Lichts war Sorla sicher. Er begann zu weinen – nicht wegen der überstandenen Gefahr, sondern aus Scham, seinen ersten und treuesten Freund so völlig vergessen zu haben. Sein Glygi war ein Geschenk befreundeter Gnome, als Sorla kaum einige Wochen alt war, und begleitete ihn seit jenen frühen Kindertagen. Jedem Gnom war ein solcher Gnomenstein zugesellt, und keiner war wie der andere, sie entwickelten sich so verschieden wie die Gnome, mit denen sie aufwuchsen. So war es auch bei Sorlas Glygi: Er konnte hier und dort sein, sichtbar und unsichtbar, konnte leuchten, Wege durch Berge finden und vieles mehr; und wenn man seine Hilfe anerkannte, war er froh. Doch seit Sorla in Brindhal als Prinz sorglos lebte, hatte er keinen Bedarf an seinem kleinen Begleiter mehr. Dieser ließ sich immer seltener blicken und wurde doch nicht vermisst – schließlich vergaß Sorla ihn ganz, wie er auch so vieles andere aus seinen Jahren am Gnomfluss vergaß. Die kleine Hausschlange der Liarstil – mit dieser Erkenntnis schlief Sorla ein – hatte ihn zu Recht gescholten. * Als Sorla erwachte, glitzerte die Morgensonne auf den Wasserflächen ringsum und Gesicht und Hände waren voller Mückenstiche. Die Wirkung der Bitterwurzel hatte also nachgelassen. Sorla brach von seiner verbliebenen Wurzel ein großes Stück ab und zwang es unter Brechanfällen hinunter. „Oh Atne!“ seufzte er. „Mach, dass ich Bitterwurzeln finde,
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am besten einen ganzen Haufen.“ Dann machte er sich wieder auf den Weg. Er versuchte, die Morgensonne im Rücken, die westliche Richtung beizubehalten. Das war meist nicht möglich; er hüpfte von Binsenbüschel zu Binsenbüschel, umwatete unwegbare Stellen oder wich zurück vor giftig glucksenden Schlammlöchern und musste oft genug in den eigenen Fußstapfen, die inzwischen voll Wasser standen, zurück, um einen anderen, besseren Weg zu finden. Inzwischen waren tiefhängende Wolken aufgezogen und verbargen die Sonne, doch Sorla mühte sich weiter voran. Er atmete auf, als er vor sich eine größere Fläche sah, die mit Riedgras und lichtem Gebüsch bestanden war und leichtes Vorankommen versprach. Da sprangen zwanzig Schritt weiter fünf Gestalten vom Boden auf, ähnlich dem Froschkerl, den Sorla im Tümpel zurückließ, und rannten mit geschwungenen Keulen auf ihn zu. Er wich seitlich aus, doch auch da erhoben sich Froschkerle aus dem Gras, und von hinten, wo Sorla herkam, stiegen weitere aus dem Sumpfwasser. Wenige Atemzüge später war Sorla in weitem Bogen umzingelt, doch die Froschkerle kamen nicht näher, sondern begannen ihre Keulen nach Sorla zu werfen. Den ersten beiden konnte er ausweichen; er rannte auf die ihm nächsten drei zu, in der verzweifelten Hoffnung, so den Kreis zu durchbrechen. Da traf ihn eine dritte Keule im Rücken, dass er hinfiel. Dort, vor seinen Augen, zuckte eine kleine rotbraune Schlange zurück und züngelte: „Vetter, brauchst du Hilfe?“ Sorla keuchte nur, denn eben hatte ihn eine weitere Keule getroffen. „Ich verstehe dies als Ja“, züngelte das Schlänglein. Im nächsten Augenblick erschollen ringsum Schreie des Entsetzens, dann war alles still. Sorla stemmte sich mühsam hoch – denn sein Rücken schmerzte sehr – und schaute sich um. Die Froschkerle lagen reglos im Gras. Überall aber wimmelte es von kleinen rotbraunen Schlangen, die sich aufrichteten und ihm entgegensahen. „Zufrieden, Vetter?“ züngelte das Schlänglein neben ihm. „Oh ja! Eure Hilfe kam sehr schnell!“
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„Es ist das Gift. Es wirkt sofort“, sagte das Schlänglein bescheiden. „Ich danke euch, dass ihr mich vor diesen Froschkerlen gerettet habt. „Es sind Quöschtlutze. Und du brauchst uns nicht zu danken, denn wir erwarten eine Gegenleistung.“ Sorla blickte in die Runde, wo Hunderte giftiger Schlänglein auf seine Antwort warteten. Er hätte kaum einen Schritt tun können, ohne auf eine von ihnen zu treten. Da fiel ihm die Antwort nicht schwer: „Ich freue mich, wenn ich meinen Schlangenverwandten helfen kann.“ „Es ist eine schwere Arbeit, selbst für dich, und wird Tage dauern!“ „Was soll ich tun?“ „Auf dieser Wiese hat sich ein Unkraut sehr vermehrt, das Bitterwurzel heißt und starke Ausdünstungen hat. Du sollst es ausgraben und wegschaffen, damit wir in unseren Erdhöhlen wieder schlafen können.“ Oh Atne! dachte Sorla. Und er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er nickte aber zuversichtlich und versprach, sein Möglichstes zu tun. „Sagt mir aber, wieso ihr die Menschensprache sprecht.“ „Wir sprechen Schlangengezisch; wir spürten sofort, dass du uns verstehst.“ Tatsächlich, wenn Sorla darauf achtete, so war es nur ein Gezischel, was er hörte, und doch wusste er, was die Schlänglein sagten. Nun zeigten sie ihm die kleinen, dunkelroten Blüten und das zartgefächerte, bräunliche Blattwerk, woran man die Bitterwurzel erkennt und was hier, versteckt unter dem Riedgras, tatsächlich sehr häufig vorkam. Er fertigte sich aus einem abgebrochenen Erlenast einen Grabstock und begann seine eintönige, schweißtreibende Arbeit. Am Ende des ersten Tages tanzte vor seinen Augen nur zartgefächertes, bräunliches Blattwerk; er wusste, dass er dieses Kraut und diese Blüten nie mehr vergessen
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würde. Am Ende des zweiten Tages hatte er drei Grabstöcke verbraucht und seine Hände waren so geschwollen, dass er seine Hose nicht mehr öffnen konnte, als er Wasser lassen musste. Am Ende des dritten Tages schmerzte sein Rücken dermaßen, dass er sich nicht mehr aufrichten konnte. Doch die Wiese sah wie ein umgepflügter Acker aus, und am Rande lagen die Bitterwurzeln mannshoch gestapelt. Es wären noch mehr gewesen, doch immer wieder verschwanden Stücke. Sorla fiel das schon am ersten Tage auf, als er eine besonders merkwürdig geformte Wurzel obenauf legte und diese, als er mit der nächsten Ladung zurückkehrte, fehlte. Nun war ja an Bitterwurzeln kein Mangel, und mehr als drei Wurzeln passten sowieso nicht unter Sorlas Hemd. Aber er wollte wissen, wer sich da bediente, ohne ihn zu fragen. Er setzte sich seitab und tat, als schliefe er. Aus den Augenwinkeln sah er aber bald, wie eine Wurzel angehoben wurde und verschwand. Zu sehen war niemand, nicht einmal eine Spur im weichen Boden. „He!“ rief er. „Du könntest wenigstens fragen, wenn du Bitterwurzeln willst!“ Natürlich antwortete niemand, aber ein Schlänglein kam heran und erklärte, es handle sich wohl um eine L'fumpai, ein harmloses, schüchternes Geschöpf, das sich meist im Wasser verstecke und nur unsichtbar an Land wage. „Und weshalb sieht man nicht mal ihre Spuren? Nicht mal mehr die Bitterwurzel, die sie wegträgt?“ „Die L'fumpai sind nicht wirklich unsichtbar“, antwortete das Schlänglein, „sondern ihr angstvoller Wunsch, nicht gesehen zu werden oder auch nur durch Spuren aufzufallen, wirkt mächtig auf die Sinne dessen, der sie sonst sehen könnte.“ „Ach, das kann mein Glygi auch“, sagte Sorla voller Verständnis. Doch war es schade, ihnen einen solchen Kniff nicht abgucken zu können, um besser im Sumpf zu überleben. Denn das hatte er kurz gehofft. „Wie kann ich mit ihnen reden?“ „Wozu? Sie sind schwach und unnütz!“ meinten die Schlänglein, fügten aber hinzu, wohl nur Libelfen seien so
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sprachbegabt, mit einer L'fumpai zu reden. Aber diesen wiederum sei gar nicht zu trauen. „Wie recht ihr habt!“ seufzte Sorla und machte sich wieder ans Ausgraben der Bitterwurzeln. * Am Morgen des vierten Tages bei den Giftschlänglein verabschiedete sich Sorla von ihnen. Diese versicherten, sie seien nun doch froh, ihn nicht gebissen zu haben, denn sonst ließen sie keinen ungestraft auf ihrer Wiese herum trampeln. Sorla entgegnete, es sei ihm eine Freude und Ehre, sie kennen gelernt zu haben. Mit diesem schönen Einverständnis schieden sie voneinander. Der Himmel war bewölkt, keine Sonne zu sehen, aber Sorla glaubte sich an die Richtung zu erinnern, der er gefolgt war, bevor er auf die Schlangenwiese kam, und versuchte sich weiter nach Westen durchzuschlagen. Die drei Bitterwurzeln im Hemd drückten gegen seinen Magen und behinderten ihn beim Fröschefangen. Er wusste, dass ihn nun keine Giftschlange mehr schützte. Zwar bewegte er sich möglichst unauffällig und nützte jede Deckung, doch ahnte er, dass ohne Glück keine Vorsicht ausreichte. Welches Ungeheuer wartete in der Deckung, die er aufsuchte? Was lauerte im Tümpel vor ihm? Was strich durch das raschelnde Schilf und brach vielleicht im nächsten Augenblick hervor? Sorla überquerte eine weit ausgedehnte sumpfige Wiese, als ihm in einiger Entfernung Gekrächze und schwarzes Geflatter am trüben Himmel auffiel. Als Kind hatte Sorla mit Krähen schlimme Erfahrungen gemacht, auch jetzt war ihm unbehaglich zumute. Doch trieb ihn die Neugier näher heran durch flache Tümpel und scharfblättriges Gestrüpp. Neben einer mannshohen fleischigen Blattpflanze lag ein braun behaartes Wesen, dünngliedrig wie ein ausgemergeltes Kind, und wehrte mit überlangen Armen schwach die Krähen ab. Sorla eilte hinzu; die
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Krähen stoben davon. Als er sich dem mageren Geschöpf wieder zuwandte, blickte er in ängstlich aufgerissene Augen; apfelgroß und honiggelb, halb verdeckt von zotteligem Haar. Es gluckste unverständlich und strebte von Sorla weg, doch war sein linkes Bein umfangen von grünen Schlingen, den armdicken Ranken jener fett wuchernden Pflanze neben ihm. Und diese hatten bereits Hunderte fadendünner Wurzeln in die Haut ihres Opfers gebohrt. Angewidert riss Sorla an den Schlingen, aber sie waren zäh und störrisch zugleich. Wenn er sein Messer noch hätte, ja dann! So lehnte er sich schließlich keuchend zurück, ohne etwas erreicht zu haben, außer dass seine Handflächen von braungrünem Saft verschmiert waren. Das arme Geschöpf bewegte sich kaum noch. Dann erst kam Sorla der Gedanke, dass die Gefahr, gefesselt und hilflos ausgesaugt zu werden, auch ihm drohe, und er sprang auf. Tatsächlich: vier, fünf, sechs fette Ranken reckten sich von mehreren Seiten auf ihn zu und ließen ihm keinen Ausweg. Sorla verharrte und hoffte, im geeigneten Augenblick geschickt unter einem der Ausläufer wegducken und dann fliehen zu können. Doch weitere Ausläufer tasteten sich heran, und seine Hoffnung sank. Wie dumm, dachte er verzweifelt, einem unbekannten Wesen helfen zu wollen und sich selbst ins Unglück zu stürzen! Da merkte er, dass die Ranken nicht näher herankamen; zitternd verharrten sie kurz vor ihm, ja, krümmten sich wieder weg. Was war an ihm so abschreckend? Die Bitterwurzeln! Hastig kramte er eine der Wurzeln aus seinem Hemd und begann damit nach den Ranken zu schlagen, doch diese – zäh, störrisch, armdick – waren nicht zu vertreiben. Es war wohl die Ausdünstung, die sie vertrieb, der Geruch seiner Haut. Nun, so konnte dem armen Wesen geholfen werden. Sorla hielt dem Geschöpf die Bitterwurzel auffordernd vor die Augen, es sollte abbeißen. Aber es hatte die Augen halb geschlossen und achtete nicht mehr auf das, was um es vorging. „Muss man dich auch noch füttern!“ rief Sorla und biss selbst ein großes Stück ab, das er gründlich durchkaute. Den Brei spuckte er in seine Hand und strich diesen dem Wesen ins Maul,
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das er mit der anderen Hand aufgedrückt hatte. Das Wesen hustete und wehrte sich schwach. Aber Sorla hielt ihm das Maul zu, bis es den Brei schluckte. Diesen Vorgang wiederholte er einige Male, wobei er die Ranken im Auge behielt, die ihn auf Armeslänge umschwankten. Als er schließlich versuchsweise an den Schlingen zerrte, die das Bein des braunhaarigen Geschöpfes umgaben, schienen sie ihm nachgiebiger zu sein; und als er genauer nachsah, fand er, dass die fadendünnen Wurzeln, die an ihm sogen, verdorrt waren. „Recht so!“ murmelte Sorla und begann, die Ranken nach und nach vom Bein ihres Opfers abzustreifen, bis er es schließlich ganz befreit hatte. Nun schleifte er es hinter sich von der schrecklichen Pflanze weg – unter all den Ranken durch, die sich gierig reckten und doch vor ihnen zurückscheuten – mehrere hundert Schritt weiter zu einigen Weidenbüschen, wo er Unterschlupf fand. Sein Schützling atmete so flach, als sei er fast tot. Die Augen waren geschlossen, die überlangen, mageren Arme lagen reglos am Boden. Sorla zuckte die Schultern – mehr konnte er nicht tun, auch war er es niemandem schuldig – und ging Frösche fangen. Als er wiederkam, war das Wesen verschwunden. * Auch die nächsten Tage überlebte er mit Glück und Umsicht. Vormittags versuchte er, weiter nach Westen voranzukommen. Er gewann Übung im Erkennen trittfester Stellen, lernte rasch aus vergangenen Gefahren und fügte sich immer mehr ins normale Leben des Sumpfes ein. Wie alle Wesen des Sumpfes verkroch er sich an den heißen Mittagen, wenn Schwüle und seltsame Dünste den Willen lähmten und den Verstand verwirrten, und wagte sich erst wieder hervor, wenn die Abendbrise die Luft und den Geist klärte. Am schlimmsten aber waren noch immer die
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Nächte; Elfensicht, der Glygi und ein übergroßes Maß an Glück ließen ihn auch sie überstehen. Manchmal, wenn er im dunstverhangenen Abendlicht durch die Binsen watete, glaubte er, jenes Glucksen zu vernehmen, wie es das arme Geschöpf ausgestoßen hatte, doch war niemand zu sehen, und sowieso waren glucksende Geräusche im Sumpf nicht Ungewöhnliches. Er hielt sich weiter nach Westen, oder hoffte das zu tun, denn meist war der Himmel bedeckt von schwarzen Wolken, aus denen einmal ein schwerer Platzregen hernieder prasselte und auch das, was bisher halbwegs trocken war, in Sumpf verwandelte. Als seine Bitterwurzeln zur Neige gingen, hielt er Ausschau nach jenem zartgefächerten, bräunlichen Blattwerk mit den kleinen, dunkelroten Blüten, das er auf der Wiese der Giftschlänglein so massenhaft gejätet hatte, entdeckte es ohne Schwierigkeiten mit geübtem Blick und füllte seinen Vorrat auf. Bald kam er an eine Wasserfläche, so dicht bedeckt mit schwimmendem, blau blühendem Kraut, dass es wie eine Wiese aussah. Er stieg in das bräunliche Wasser, das ihm bis an die Knie reichte. Vorsichtig watete er weiter, das Wasser blieb flach, und er stieß mit den Beinen die Schwimmpflanzen aus dem Weg, deren blaue Blüten einen süßlichen Duft verströmten. Als er einmal zurückblickte, war das Ufer in der dunstigen Ferne versunken; weit und breit gab es nur diese grünbewachsene Wasserfläche. Drückend schwül war es geworden; Sorla fühlte sich benommen. Schließlich hockte er sich hin, weil ihn schwindelte, zwischen die blauen Blüten, deren Duft ihm nun noch stärker entgegen strömte, saß ihm Schlamm, die Knie angezogen, stützte das Kinn darauf und schloss die Augen. Er erwachte in einer niedergetrampelten Mulde irgendwo im Röhricht. Wo war er? Wie kam er dorthin? Gesicht und Arme waren von Mückenstichen übersät und geschwollen – also waren Tage vergangen, seit er das letzte Mal von der Bitterwurzel aß. Diese Wurzeln aber trug er noch immer unter dem Hemd. War er so von Sinnen gewesen, dass er sich stechen ließ und an das Gegenmittel nicht dachte?
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„Er ist aufgewacht“, murmelte etwas hinter ihm. Sorla wandte sich um, sah aber niemanden. „Wer spricht da?“ fragte er, doch was immer da geredet hatte, antwortete nicht. Das beunruhigte ihn nicht, denn wenn es ihn nicht gefressen hatte, während er bewusstlos am Boden lag, würde es das jetzt sicher auch nicht tun, sondern schön in seinem Versteck bleiben. Vielleicht war es eine jener unsichtbaren L'fumpai, von denen die Schlänglein erzählten. „Bist du eine L'fumpai?“ fragte er. „Du musst keine Angst haben.“ Es antwortete aber niemand, und nachdem Sorla tüchtig in die Bitterwurzel gebissen, entsprechend gewürgt und sich geschüttelt hatte, machte er sich wieder auf den Weg nach Westen, die Sonne im Rücken. Einmal rief in der Ferne jemand, der Tag sei schön, und das stimmte: Die Sonne strahlte, und eine leichte Brise fächelte frische Luft herbei. Den halben Tag watete er durch Sumpfwiesen und scharfkantiges Schilf, dann kam er an den Rand eines Sees, der sich nach rechts und links weit erstreckte. Sorla überlegte, ob er den See umgehen oder durchschwimmen sollte, da murmelte etwas hinter ihm: „Vorsicht, bleib draußen!“ Sorla wandte sich um, aber niemand war zu sehen. Er schaute auf das Wasser hinaus, und dieses Mal sah er sie reglos dicht unter der Oberfläche lauern: zwei riesige Echsen, nur ihre Nasenlöcher ragten über den Wasserspiegel, die krallenbewehrten Tatzen waren träge abgespreizt, die schuppigen Schwänze bewegten sich sachte. Mit klopfendem Herzen, doch lautlos zog sich Sorla ein paar Dutzend Schritte zurück. „Danke“, flüsterte er, und wie er hoffte, laut genug für jenen unsichtbaren Warner. „Danke für die Warnung.“ Er brach ein Stück Bitterwurzel ab und legte es ins Gras: „Hier, falls du es brauchen kannst!“ Keine Antwort, das Wurzelstück lag reglos da. Sorla zuckte die Schultern und wollte es wieder an sich nehmen, doch er griff ins Leere: da war nichts, er hatte sich getäuscht, er hatte eine Wurzel gesehen, wo längst keine mehr war. Oder, wie das Schlänglein
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erklärt hatte, die Angst der L'fumpai vor Entdeckung hatte auf ihn gewirkt. „Ich weiß, dass du da bist!“ sagte er. „Also kannst du dich auch zeigen.“ Da flüsterte es zurück: „Ich verstehe dich nicht, Mensch. Ich würde ja gerne mit dir reden.“ Das war seltsam, denn wenn Sorla den unsichtbaren Redner verstand, weshalb nicht auch dieser ihn? Er lauschte weiter dem Flüstern und vernahm, dass das Wesen freundliche Gefühle für ihn hege. Und wie er genau hinhorchte, war es eigentlich nur ein Glucksen und leises Brummen, doch er verstand, was es bedeutete. Da ließ sich Sorla selbst auf dieses Glucksen und Brummen ein und versuchte seinen Geräuschen eine fragende Form zu geben. Ganz leicht fiel ihm das, es ging wie von selbst. „Verstehst du mich jetzt?“ gluckste er. „Wie schön! Du beherrschst das Glucksen bedeutsamer Blasen!“ flüsterte es zurück. „Ich staune selbst! Wie habe ich's gelernt?“ fragte Sorla, doch als keine Antwort kam, besann er sich und versuchte, dasselbe durch Glucksen und Brummen auszudrücken. „Als du im See der Traumblüten watetest“, kam die Antwort, „öffnete sich dein Geist – so erfüllt warst du vom Duft der Traumblüten, dass du fünf Tage und Nächte ohne Besinnung umherirrtest. Ich begleitete dich und saß bei dir, wenn du am Boden lagst. Ich sprach dir zu, doch ohne zu hoffen, dass du mich verstündest. Nun freut es mich, dass dein Geist offen war, meine Worte aufzunehmen.“ „Dann zeige dich, dass ich dich sehe!“ „Du hast mich gesehen“, flüsterte es zurück. „Als du mich aus den Schlingen der Egelwurz befreitest!“ „Ach du!“ Sorla erinnerte sich an das dünne braunhaarige Geschöpf mit den riesigen, gelben Augen. „So also sieht eine L’fumpai aus!“ „Lass diesen Namen, so nennen uns nur die anderen.“ „Wie nennt ihr euch?“
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„Wir sind die Kinder Hons.“ „Ach, sieh mal an!“ In Sorlas Kopf schwirrten die Gedanken. Eine Ähnlichkeit war ja da, vor allem die gelben Augen, wenn auch die von Hon nicht so riesig wirkten. Dafür war er groß und kräftig gebaut, nicht wie dieses kleine, magere Geschöpf hier. „Hon sieht aber ganz anders aus“, sagte er. „Du hast Hon gesehen? Oh, welche Ehre!“ „Nun ja“, winkte Sorla ab. „Er versteckt sich ja auch nicht, wie du es tust.“ Da fiel ihm ein, wie plötzlich Hon verschwunden war, als Sorla ihm die Kerkertür öffnete. „Wenigstens nicht ständig.“ „Unser Vater muss sich nicht verstecken. Er ist mächtig!“ „Ja.“ „Er kann die verschiedensten Gestalten vortäuschen!“ „Die von Menschen zum Beispiel; habe ich gemerkt!“ „Er lauscht den Göttern und berät die Großen.“ Sorla wurde es unbehaglich. Jenes bemerkenswerte Wesen hatte sich die Mühe gemacht, ihn in der Burg Brindhal aufzusuchen! Hatte sich von einem eingebildeten, vorlauten Jungen einsperren lassen! Hatte ihn, Sorla, entführt – und all das nur, um ihn im Sumpf auszusetzen. Was sollte das bedeuten? Sorla schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, sich den Kopf über Fragen zu zerbrechen, die er nicht beantworten konnte. Nur die Scham, die aufkam, als er an sein törichtes Verhalten in der Burg dachte, die ließ sich so rasch nicht beiseite schieben. „Höre“, sagte er. „Ich versuche seit vielen Tagen, mich nach Brindhal durchzuschlagen. Ist es noch weit dorthin?“ „Ich kenne Brindhal nicht“, gluckte es zurück. „Wo in den Sümpfen liegt es?“ „Nicht in den Sümpfen! Es liegt im Westen am Meer, weit außerhalb der Sümpfe!“ „Westen? Meer? Nie gehört. Wie sollte es etwas außerhalb der Sümpfe geben?“ „Der Sumpf muss doch irgendwo zu Ende sein!“ rief Sorla, verzweifelt über so viel Begriffsstutzigkeit.
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„Ich kenne nur die Sümpfe“, beharrte die unsichtbare L’fumpai, „und glaube mir, wir sind mittendrin.“ Sorla stand auf, verbittert schweigend, und machte sich wieder auf den Weg, dorthin, wo er den Westen vermutete. * Zwei Tage und eine Nacht brauchte Sorla, um einen üblen Morast zu durchqueren; den größeren Teil davon auf dem Rücken eines wilden Schweines reitend, das er mit Bitterwurzeln angelockt und freundlich gestimmt hatte. Als der zweite Tag zu Ende ging, erreichten sie trockenen Boden. Sorla rutschte erschöpft von seinem borstigen Reittier herunter, dieses aber trottete weiter und verschwand plötzlich in einem Loch, das eben noch nicht da war und sich jetzt schmatzend wieder schloss. Sorla erstarrte in der Bewegung und sah genauer hin. Nun fielen ihm merkwürdige Stellen auf, klafterbreit und geringfügig vom übrigen Gelände abweichend: zu glatt vielleicht und ohne Gras. In weitem Bogen und vorsichtig jeden Schritt wählend umging er sie. Seine Knie zitterten. Als die Nacht hereinbrach, lag er erschöpft unter einem Erlengestrüpp, zusammengerollt wie ein Kind im Mutterleib. Die nächtlichen Geräusche des Sumpfes, das Lärmen, Klatschen, Pfeifen, Sirren und Schreien, woran er sich seit langem gewöhnt hatte, überfielen ihn wie in der ersten Nacht. „Glygi“, flüsterte er. „Hilf mir!“ Da glomm hellblau und freundlich das Licht auf, dicht neben ihm schwebte der Gnomenstein. „Glygi! Ich finde hier nicht heraus. Hilf mir! Finde mir den Weg!“ Der hellblaue Schimmer erlosch, und Sorla, im beruhigenden Wissen, dass sein Glygi den Weg erkundete, fiel in unruhigen Schlaf. Der Morgen kam; Sorlas Gnomenstein war noch nicht zurückgekehrt. Da half nichts, Sorla musste hier warten. Er fing ein
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paar Frösche, trank eine Handvoll sumpfiges Wasser und setzte sich wieder unter sein Erlengestrüpp. Zum ersten Mal hatte er Zeit. Er betrachtete, wie sich die Morgensonne auf den weiten Wasserflächen spiegelte und wie die Mücken tanzten. In der Ferne – er brauchte nicht einmal den Kopf zu wenden – zeichneten sich die Bergketten ab. Also mussten Westen und Meer hinter ihm liegen, doch wozu sich umdrehen? Später, als es heißer wurde, setzten die Wachträume ein, wie jeden Tag. Er war eine Krähe und würgte unverdaute Knöchlein einer Kröte hervor. Er war eine Libellenlarve, die dem Licht über dem Wasser entgegen kroch. Er war eine L'fumpai im flachen Wasser und betrachtete einen Jungen mit verfilzten blonden Strähnen, der dort unter dem Erlengebüsch döste. Abends kam eine leichte Brise auf. Sorla erwachte und hob den Kopf. Vor ihm dehnten sich die Wasserflächen, doch um die fernen Berge zu betrachten, musste er den Kopf drehen: da waren sie, auf den anderen Seite, von der untergehenden Sonne vergoldet. Ihm war jedoch nicht erinnerlich, sich umgesetzt zu haben. Wieder stand er auf, trank an einer Stelle, die ihm sauber schien, pinkelte in einen brackigen Tümpel, pflückte von einem Schilfstengel eine fette Libellenlarve, die dort ihr Schlüpfen erwartete, knackte sie mit den Zähnen auf und setzte sich wieder unter sein Erlengebüsch. Der Glygi war nicht zurückgekehrt. Die Nacht verbrachte er wachend, angstvoll in die Finsternis starrend und die Ohren voll vom nächtlichen Lärm. Den nächsten Tag vergaß er zu essen, so sehr hielt er Ausschau nach seinem Glygi und durchwachte auch diese Nacht. Ob die Berge morgens links von ihm und abends zu seiner Rechten lagen, bekümmerte ihn nicht mehr. Den dritten Tag vergaß er sogar zu trinken; er starrte nur noch vor sich hin. Als es dunkelte, überwältigte ihn der Schlaf. Vor ihm schimmerte der Gnomenstein und glitt, als Sorla sich erhob, langsam nach vorne weg ins unbekannte Dunkel. Sorla folgte ihm über Binsenbüschel und durch schlammige Tümpel. Immer tiefer in den Sumpf hinein watete er, und als der Glygi den
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Wasserspiegel durchbrach und verschwand, tauchte auch Sorla unter, ohne sich zu besinnen. Es war nicht schwierig. An merkwürdigen Pflanzengebilden vorbei sank er tiefer und tiefer seinem Glygi nach, dessen freundliches Glimmen er durch die bräunliche Brühe kaum noch erkannte. Auf dem tiefsten Grunde, in dumpfgoldenes Licht getaucht und umgeben von Hunderten der ungeheuerlichsten Wesen, saß Hon. Statt ihm den Weg aus den Sümpfen zu weisen, hatte der Glygi Sorla ausgerechnet hierher geführt! Die Schamröte stieg ihm ins Gesicht, er fühlte sich auf unredlicher Flucht ertappt, denn im Innersten wusste er, dass der Weg zu Hon der richtige und einzig ihm verbliebene war. Er sank vor Hon in den Schlamm und wartete darauf, angeredet zu werden. Doch nichts geschah, so schaute er schließlich hoch und Hon direkt in die braungelben Augen. Die senkrechten Striche seiner Pupillen waren so schmal wie Messerklingen. Sorla wandte den Blick ab und flüsterte: „Es tut mir leid.“ Er erhielt keine Antwort, doch war es ringsum ruhig geworden. Sorla fuhr zögernd fort: „Ich weiß, dass ich dumm bin und mich kindisch verhielt. Meine Mutter ...“ Er schluckte und setzte neu an, mit noch leiserer Stimme: „Meine Mutter lehrte mich, dass ich eines Vaters nicht bedürfe. Ich war ein aufgeblasener Frosch.“ Als Sorla hochblickte, sah er, dass Hons Augen noch immer auf ihn gerichtet waren. Ihm wurde heiß vor Scham; er murmelte: „Du bist der König. Das Elend, in das du mich warfst, geschah mir recht.“ Damit wollte er nach hinten wegkriechen, doch Hons Arme packten ihn und hoben ihn hoch. „Bleib, Kleiner!“ rief er. „Setz dich und warte, bis ich Zeit habe, mit dir zu reden!“ So hockte sich Sorla zwischen die Ungeheuer, die von Hon Anweisungen entgegennahmen, ihre Anliegen vorbrachten oder gemeinsam mit ihrem König Lieder sangen. Das ging laut und lebhaft zu, und da er das Glucksen bedeutsamer Blasen gelernt hatte, verstand er einiges, doch kam es ihm seltsam vor. Mit ihren Liedern, so schien es, begrüßten und verabschiedeten die Sonne, ließen Nebel wallen und
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Hitze brüten, bewegten sie den Sumpf. Alles sahen sie, alles besprachen sie, auch Sorlas Name wurde erwähnt: Sorle-a-glach, Molch ohne Vater. Schließlich verstummten die Gesänge. „Was meinst du dazu, Sorle-a-glach?“ fragte Hon. Sorla zuckte zusammen. „Ich weiß nicht, was soll ich meinen?“ stammelte er. Doch Hon wiederholte die Frage, und Sorla sagte: „Ich will meinen Vater sehen. Ich muss ihn suchen.“ „Nur so findest du aus dem Sumpf“, nickte Hon. * Sorla erwachte niesend, denn die Morgensonne kitzelte ihn in der Nase. Er war von jenem merkwürdigen Traum ganz befangen. Mit Hon zu sprechen, der den Sumpf bewegte! Wasser zu atmen! Es war zum Lachen. Als er unter seinem Erlengestrüpp hervorkroch und sich reckte, sah er in einiger Entfernung etwas in der Sonne glitzern. Neugierig ging er näher. Der Boden war hier überall fest und trocken. Heidekraut wuchs, und dort, auf einer freien sandigen Stelle, glitzerte ein wohlbekanntes Messer. „Schlangenzahn!“ flüsterte Sorla und nahm es an sich. Als sich aufrichtete, fiel sein Blick auf den nahen Wald, der sich im Süden über den ganzen Horizont erstreckte: der Elfenwald von Rhosmea.
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Drittes Kapitel:
WAS DIE BUCHE FORDERT Hier war das Leben! Einen jungen Hasen hatte Sorla mit einem Steinwurf erjagt und größtenteils verzehrt. Zwar hatte er kein Feuer, doch er schnitt das Fleisch in kleine Stücke und klopfte es weich. Auch gab es jede Menge süßer Beeren und anderer Früchte. Jetzt lag er zufrieden im Halbschatten unter einer Eberesche und betastete seinen vollen Bauch. Ihm war klar, dass er schleunigst nach Brindhal zurückkehren sollte, um seine Mutter von ihren Sorgen um ihn zu erlösen. Das war einfach genug: er musste nur dem Waldrand folgen, der sich nach Westen zum Meer erstreckte. Aber er hatte keine Lust dazu. Viel lieber wollte er nach Süden, tiefer in den Wald hinein und das Zauberfest in Rhosmea besuchen, zu welchem ihn Nofheli eingeladen hatte. Seine Mutter hatte es ihm nicht erlaubt, erinnerte er sich. Aber er wollte nicht mehr über sich bestimmen lassen; er war kein Muttersöhnchen! Hoffentlich kam er nicht zu spät zum Zauberfest; er wusste ja nicht, wann genau und wo in diesen riesigen Wäldern es stattfinden sollte. Da fiel ihm auf, dass es auch andere Arten der Führung gab, denen er unterworfen war. So war es nicht seine Entscheidung gewesen, sich aus Brindhal und Tainas sanfter Bevormundung zu lösen. Hon hatte ihn entführt und gezwungen, im Sumpf sich an das zu erinnern, was zu seiner Schande er alles vergessen hatte. Selbst das Glück, hier am Saum des Elfenwaldes sich den Bauch vollzuschlagen und unabhängig zu fühlen, war ja vorgegeben; hatte nicht das Messer durch sein Glitzern den Weg gewiesen? Und wie war das Messer dort hin geraten? Weshalb tat Hon so etwas? Steckte Atne dahinter, die Göttin des Glückes? Berieten sich große Mächte über seinem Kopf, was mit ihm geschehen sollte? Ab jetzt würde es nach seinem eigenen Kopf gehen, beschloss Sorla. Er
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sprang auf, gab der Eberesche einen trotzigen Tritt und humpelte mit verstauchtem Zeh weiter in den Wald hinein. Es gab Wildwechsel genug, die ihm das Fortkommen erleichterten; und wenn er an einen Bach kam, fanden sich gestürzte Bäume, ihn zu überqueren. Noch einmal – gegen Abend – war Tara, die Göttin der Jagd, ihm hold: Vor ihm flatterte eine Ringeltaube auf, er warf Schlangenzahn und traf sie im Flug. Er zog ihr den Federbalg ab und löste das Fleisch von den Knochen, da brummte hinter ihm eine tiefe Stimme: „Keine Angst! Ich komme in Frieden!“ Sorla richtete sich auf und sah niemanden, zu dem diese Stimme passte. Zwischen dem Wurzelwerk einer nahen Buche aber bewegte sich ein brauner Pilz kaum eine Handspanne über dem Moosboden. Statt eines Stieles hatte er zwei Beine, die sich durch das Moos mühten. Davor sollte er Angst haben? Wohl eher umgekehrt! „Friede!“ nickte Sorla. Da trippelte der Träger des pilzförmigen Käppchens näher – aufrecht und fast wie ein winziger Mensch, doch ragte die Nase weit aus dem mausähnlichen Gesicht – und stellte sich als Trilk aus dem Volk der Waldwichte vor. Jetzt wusste Sorla, weshalb ihm das Wesen so seltsam vertraut war: es hatte ihn an den Stallwicht Fim erinnert, seinen kleinen Freund aus Stutenhof. „Und ich bin Sorle-a-glach aus dem Volk der Menschen. Möchtest du mitessen?“ Trilk brummte würdevoll: „Nicht dass ich hungrig wäre, aber eine freundliche Einladung soll man nicht ausschlagen!“ und setzte sich auf eine Wurzel neben Sorla. Das rohe Fleisch der Turteltaube war lange nicht so zäh wie das des Hasens, doch schmeckten die angequollenen Körner aus dem Kropf der Taube fast noch besser. Es war aber nicht viel, und obwohl sich Trilk zurückhielt und von allem nur sehr wenig aß, wurde Sorla nicht satt. „Ich danke für die Gastfreundschaft“, brummte Trilk schließlich und erhob sich. „Gemütlich hier. Gut, dass Ysalde
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schläft.“ „Ysalde? Ist sie böse?“ „Oh nein. Sie mag nur niemanden in ihrer Nähe. Dich vielleicht ja, weil du ein hübscher Junge bist. Sie lebt in dieser Buche hier. Im Frühling ist sie munter und neugierig, aber jetzt müsste man ihren Namen rufen, um sie hervorzulocken.“ „Ist sie stark?“ „Wie man es nimmt“, lachte Trilk. „So stark wie ein Baum, gewissermaßen.“ Damit erhob er sich, wünschte eine gute Nacht und ruhigen Schlaf und verschwand unter seiner Wurzel. Tatsächlich dunkelte es schon. Sorla verkroch sich nahe dem breiten Buchenstamm unter Farnwedeln und schlief rasch ein. * Ein Tritt in den Bauch weckte ihn, doch bevor er aufspringen konnte, ließ ihn ein Schlag gegen den Hinterkopf nach vorne taumeln. Noch ein Schlag, und er sackte auf die Knie. Höhnendes Gekreisch erscholl. Es war Nacht, doch undeutlich erkannte er drei zottige Gestalten, menschengroß, mit grün leuchtenden Augen und riesigen Ohren. In ihren überlangen Armen hielten sie Prügel und entwurzelte Baumschösslinge als Keulen schlagbereit. „Einen schönen guten Abend!“ sagte er so höflich, wie seine Benommenheit es ihm erlaubte. „Tut mir nichts, und ich tue euch auch nichts!“ Dem nächsten Keulenschlag konnte er ausweichen. Mit diesen Kerlen lohnte es nicht, Höflichkeiten auszutauschen. „Glygi“, flüsterte er, „schweb' dort rüber, aber leuchte dabei!“ Da glomm das vertraute hellblaue Licht auf, dicht über Sorlas Kopf. Als eine Keule heransauste, erlosch es und erschien wieder ein Stückchen weiter entfernt. Die drei Unholde schwangen ihre Keulen nach dem Gnomenstein, der außer Reichweite
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davonschwebte. „Ärgh!“ schrie einer, den die Keule eines anderen traf. „Urgh!“ keuchte der nächste, und sein Schädel dröhnte dumpf. Auf Sorla achteten sie nicht; er kroch leise nach hinten davon – und stieß gegen die haarigen Knie eines vierten dieser Kerle. Da warf er Schlangenzahn. Das Messer fuhr dem Gegner in den Bauch, der schreiend, keuchend, gurgelnd zusammenbrach, die Pranken an den Leib gepresst. Sorla sprang hinzu und riss sein Messer heraus, um damit ins Dunkle zu flüchten. Zu spät – die drei anderen waren zurückgekehrt. Einer hatte seine Arme von hinten gepackt, die beiden anderen stellten sich zurecht, um ihm mit ihren Keulen den Schädel einzuschlagen. „Ysalde!“ schrie Sorla, so laut er konnte. „Hilf mir!“ Und weil die drei Unholde, verblüfft über sein Geschrei, kurz innehielten, noch einmal und noch lauter: „Ysalde! In Atnes Namen!“ Da war ihm, als ersticke er, und ihm schwanden die Sinne. * „In Danas Namen wäre passender gewesen als in Atnes, meinst du nicht auch?“ Wer hatte mit solch lieblicher Stimme geredet? Sorla öffnete die Augen und sah vor sich eine holde Mädchengestalt. Es stimmte; sie sah aus, wie man sich Dana vorstellte, die frühlingshafte Göttin der Liebe: schlank, mit langem Haar, weißer Haut, blutrotem Mund. „Bist du Ysalde? Die so stark wie ein Baum ist?“ stotterte er. Sie lachte glockenhell und drehte sich auf ihren Zehenspitzen, dass die Haare flogen. „Sehe ich so aus?“ Dann trat sie auf ihn zu, beide Hände ausgestreckt: „Und wer bist du?“ „Sorla, ich meine: Sorle-a-glach.“ Er wich zurück. „Hab‘ keine Angst, Sorle-a-glach. Hier bist du sicher.“
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Sorla sah sich um. Sie befanden sich in einem hellen Raum, doch waren alle Umrisse verschwommen, nur sein Körper und der Ysaldes waren deutlich zu sehen. „Wo bin ich?“ fragte er. „Wo sind diese Ungeheuer?“ „Du meinst die dummen Schrate?“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter; federleicht und doch wurde ihm heiß. Mit der anderen Hand machte sie eine Bewegung, als zöge sie einen Vorhang beiseite: „Sieh!“ Auf dem nächtlich dunklen Waldboden, wenige Schritte weiter, lagen die reglosen Körper der Unholde. Dem einen fehlte ein Arm, dem anderen hing das Gedärm aus dem Leib, dem dritten sickerte noch das Blut aus Nase, Ohren, Mund ... „Warst du das?“ stammelte Sorla. „Nein, Trilk, denke ich.“ „Trilk?“ Statt einer Antwort wies sie auf eine dunkle, plumpe Gestalt, die in einiger Entfernung neben einem Baum hockte und sich die Wunden leckte: ein riesiger Bär. „Trilk?“ wiederholte Sorla. Dann fiel ihm ein, dass das Brummen des Waldwichtes nicht zu seiner Größe gepasst hatte. Und hatte nicht auch Fim, der Stallwicht, sich in ein Tier verwandeln können? Er wandte sich zu Ysalde: „Ich muss gehen und ihm danken.“ Sie schüttelte den Kopf: „Einem zornigen Bären sollte man nicht zu nahe kommen. Trilk könnte dich für einen Schrat halten.“ Sie lächelte und fügte hinzu: „Außerdem kam er zu spät. Er hätte dich nicht retten können.“ „Dann muss ich dir danken.“ „Und wie?“ In ihren Augen glitzerte etwas, was ihm erneut die Hitze durch den Körper trieb. „Ich weiß nicht“, stammelte er. „Dann lass uns über anderes reden. Noch habe ich deine Frage, wo wir seien, nicht beantwortet. Wir sind in der Buche, unter der du schliefst.“
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„Ist die Buche hohl?“ „Nein, dies ist ein ganz normaler, gesunder Baum, hoffe ich.“ „Und wie kann ich ...“ Sorla bewegte seine Hände, seine Finger und runzelte vor Nichtverstehen die Stirn. „Lass das dich nicht bekümmern, Sorle-a-glach. Komm, sei mein Gast!“ Damit legt Ysalde ihre Hand um seinen Hals und hielt ihm einen Kelch mit duftendem Wasser hin: „Trink!“ Als er zögerte, nippte sie davon und bot es ihm wieder an: „Es ist der Lebenssaft des Baumes. Trink unbesorgt.“ Das tat er. Da fielen Müdigkeit, Zweifel, Schüchternheit von ihm ab; er bebte vor Kraft und Lebenslust, und als Ysalde ihre schönen Augen zu ihm aufschlug und sich an ihn schmiegte, wusste sein Körper den Weg. So lernte Sorla die Wonnen der Liebe kennen und war erst fünfzehn Jahre und ein halbes. * Sorla erwachte in den Armen Ysaldes, die ihn nachdenklich betrachtete. „Einen seltsamen Vogel habe ich mir eingefangen“, flüsterte sie, „aber einen hübschen!“ und drückte ihn stärker an sich. Er jedoch überlegte, wie er höflich Abschied nehmen könnte, denn er wollte sich zum Zauberfest möglichst nicht verspäten. Da sprang sie auf, zog ihn zu sich hoch und sagte: „Komm! Ich zeige dir den Wald von Rhosmea!“ Ihre zierlichen Finger umschlossen fest seine Hand, sie führte ihn höher und höher hinauf, bis sie stehen blieb, um den unsichtbaren Vorhang beiseite zu wischen: „Sieh!“ Sorla fühlte das langsame Schwanken im Morgenwind, sie waren im Wipfel der mächtigen Buche und schauten über die wogenden Baumkronen. „Sieh!“ wiederholte Ysalde. „Kein Baum weit und breit reicht an uns heran!“ „Wo halten die Elfen ihr Zauberfest ab?“ fragte er. Sie wies nach Süden, wo weit entfernt ein Hügel aus dem
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Meer der Wipfel ragte. Plötzlich wandte sie sich ihm zu, die Stirne gerunzelt: „Warum fragst du?“ „Ich muss dorthin.“ Sie lächelte. Ihre schlanken Arme verschränkten sich hinter seinem Hals, ihr Körper drückte sich an den seinen, da vergaß Sorla seinen Vorsatz. Und während sie niedersanken, flüsterte sie ihm heiß ins Ohr: „So stark wie die Buche sollst du sein und mit mir leben lange Zeit!“ * „Bin ich der erste, mit dem du diese schönen Dinge treibst?“ fragte Sorla, wohlig sich räkelnd. „Es gab da einen Elfen, er war meiner Gunst nicht würdig.“ „Wieso nicht?“ „Ich bot ihm Liebe und Jugend, solange diese Buche lebt. Er sagte, ein Elf lebe auch ohne mich so lange. Außerdem ...“ „Ja?“ Ysaldes Augen funkelten böse. „Er begann sich zu langweilen. Er wollte fort, auf Abenteuer.“ „Er wird sicher noch oft an dich denken“, wollte Sorla sie beschwichtigen. Sie lächelte. „Ich habe ihn getötet, natürlich.“ Sorlas Kinn sackte herab. „War er gemein zu dir? Wollte er dir wehtun?“ „Hier im Baum kann nichts mir wehtun. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, mich umzubringen, wäre er mit mir gestorben.“ Sie lachte hell auf: „Wie soll ein schwacher Körper aus Fleisch und Knochen in einer Buche atmen und leben, wenn ich es nicht will?“ Während sie sein Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte, fuhr sie fort: „Auch du, mein Lieber, lebst durch mein Wollen. Sei froh!“ Sie begannen ihr Liebesspiel erneut, und Sorla vergaß seine
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aufkeimenden Zweifel. * Später kehrten die Zweifel zurück. Jetzt erst fiel ihm auf, wie sauber und gepflegt sein ganzer Körper war, obwohl er vom Sumpf her noch vor Schmutz starren müsste. Seit er Ysaldes Gast war, hatte er noch keine Notdurft verrichtet. Und – erschreckt betastete er sich – wo war Schlangenzahn, sein Wurfmesser? Wo waren überhaupt seine Habseligkeiten, Kleider, die Bitterwurzeln? Da ahnte er, dass er wie im Traum hier lebte, während sein wirklicher Körper irgendwo, irgendwie in der Buche gefangen lag – abhängig von Ysaldes Wohlwollen. Oder dies war sein Körper, aber alles, was Ysalde nicht wollte, war von ihm abgefallen. Und seine beiden Vorsätze: seinen Vater zu finden, sich nicht länger lenken und bevormunden zu lassen – wie passte das zu seinem Leben mit Ysalde? Konnte er sie überhaupt bitten, ihn ziehen zu lassen? War das Schicksal seines Vorgängers, des unglücklichen Elfen, nicht Warnung genug? Er musste sehr vorsichtig vorgehen. „Ysalde, gibt es noch andere wie dich? Mädchen, die in Bäumen leben?“ „Du meinst Dryaden? Sicher, es wird einige geben.“ „Du hast noch nie den Baum verlassen, seit ich hier bin. Trefft ihr euch nicht gelegentlich?“ „Wozu?“ „Nun, Dryadenprobleme besprechen, Freundschaften schließen ...“ „Wozu?“ Sorla breitete die Arme aus. „Diese Buche hier wächst doch auch nicht alleine. Es ist ein Wald aus vielen Buchen und anderen Bäumen; wie eine große Familie.“ Ysalde lachte belustigt. Sie nahm ihn bei der Hand und
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führte ihn wieder hinauf, um ihm das wogende Meer der Wipfel im Sonnenlicht zu zeigen: „Du täuschst dich, mein Liebster. Schau genau hin! Jeder Baum kämpft gegen alle anderen! Jeder will alles Licht für sich, allen Wurzelraum für sich, alles Wasser für sich allein. Was du siehst, sind die Sieger im Kampf eines jeden gegen jeden. Die Schwachen verkümmern und vermodern.“ „Aber zugleich schützen sie sich gegenseitig vor Stürmen, oder? Wolltest du, dass dein Baum allein auf einem Berg steht, allen Winden und Wettern ausgesetzt?“ „Du redest wie ein Elf. Als ob der Wald das wichtigste sei!“ „Und was ist wichtig?“ Sie dehnte ihren schönen Leib. „Ich bin wichtig.“ „Und die anderen Dryaden?“ Ysalde zuckte ihre schönen Schultern. Sorla versuchte es auf einem neuen Weg. „Aber deine Mutter? Sie hat dich geliebt. Ist sie dir gleichgültig?“ Ysalde nahm seine Stirn zwischen ihre Hände und drückte einen Kuss darauf: „Dummkopf! Dryaden haben keine Mütter.“ „Und wie kommt ihr auf die Welt? Ihr müsst doch irgendwie ...“ Sie strich ihr langes Haar aus der Stirn. „Jener Elf, du weißt schon, erzählte mir eine Geschichte. Das war natürlich, bevor er auf dumme Gedanken kam. Es ist die Sage von Danas Tränen.“ Und als Sorla seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte, begann sie zu erzählen: „Hör zu! Als Dana die Erde betrat, war alles voll Freude. Die Blumen blühten, die Vögel sangen, die Bäume entfalteten grünes Laub. Sie alle priesen Dana die Liebreizende. Es lebte aber die Riesin Kalinfarre auf den höchsten Bergen, wo ewiges Eis herrscht und die Stürme toben. Als sie hinab blickte, sah sie die grünen Täler und nickte. Lange Zeit später blickte sie wieder hinab: die Täler waren grün und die Blumen blühten wie zuvor. Da sprach sie: 'Gibt es keine Früchte, keine Ernte?' Und sie stieg hinab in die Täler und trat hin vor Dana, um sie wie ein Kind zu schelten. 'Wo sind die Früchte der Bäume, wo
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die Nachkommen der Elfen und anderen Wesen?' 'Ich musste durch die Fluren wandeln und dem Lobgesang der Vögel lauschen', entgegnete Dana. 'Doch meist kam mich die Lust an zum Liebesspiel.' 'Dies ist Narrheit', rief Kalinfarre und ging zu Danas Mutter Atne, um ihr Vorhaltungen zu machen. 'Schicke deine ältere Tochter!' rief sie. 'Schicke Frena, die klug Waltende!' Und Atne stimmte ihr zu. Als aber Dana ihre Schwester sah, stampfte sie mit den Füßen und wollte das Feld nicht räumen. Drum packte Kalinfarre sie und schleppte sie hinweg auf die Berge, dort sei noch Arbeit zu tun. Dana jedoch weinte, denn nur wenig wollte hier grünen, und je höher sie kamen, desto kälter war es. Die Tränen Danas aber fallen noch immer herab auf die Welt. Und wenn einen Baum eine solche Träne benetzt, dann erwacht in ihm Danas kleine Tochter.“ * „Wer soll wissen, was an dieser Sage wahr ist“, schränkte Ysalde ein. „Ich erinnere mich nur, in diesem Baum erwacht zu sein. Damals war die Buche noch sehr jung; vielleicht ist es auch so, dass ich die Buche selber bin, oder das, was in ihr anfing zu fühlen und zu denken. Vielleicht entwickeln manche Bäume diese Gabe. Und wozu soll das dienen?“ Ysalde strich sich nachdenklich über die Stirn. „Seltsam! Dies ist das erste Mal, dass ich mir solche Gedanken mache.“ „Andere müssen sich diese Gedanken schon früher gemacht haben, sonst gäbe es die Sage nicht“, flocht Sorla behutsam ein. Ysalde nickte nachdenklich. „Und wenn der Elf sie mir nicht erzählt hätte, würde ich sie bis heute nicht kennen.“ Plötzlich stieß sie Sorla wild von sich und zischte: „Du machst mich ganz verrückt mit deinen Reden!“ Und während Sorla noch
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zurücktaumelte, sprang sie ihn an und zwang ihm ein wildes Liebesspiel auf, das alle weiteren Gedanken erstickte. Zwei Tage später fragte sie ihn: „Was bedeutet 'wie ein Kind'?“ „Wie meinst du das?“ „In der Sage heißt es: 'Kalinfarre trat hin vor Dana, um sie wie ein Kind zu schelten'.“ „Kalinfarre denkt, dass Dana nicht vernünftig handelt, also zum Wohle aller, sondern nur an sich denkt und was ihr gerade Spaß macht, wie ein kleines Kind eben.“ „Ist das schlecht?“ „Nicht bei Kindern. Und die haben ihre Mütter, die sie schelten oder loben und ihnen zeigen, wie es richtig ist.“ „Gut, dass ich keine Mutter hatte!“ Sorla schwieg dazu und streichelte Ysaldes trotzig abgewandten Rücken. * Wieder zwei Tage später, als Sorla sich gerade unter zärtlichsten Liebkosungen über Ysalde beugte, schubste sie ihn weg und setzte sich hoch. „Wir sollten mal offen miteinander reden, mein Liebster!“ „Wie meinst du das?“ „Erstens: Ich weiß immer, was du denkst. Es ist, als redest du laut. Auch eben, als du deine Gedanken hinter Zärtlichkeiten verstecktest.“ Sorla glotzte mit offenem Munde. Sie fuhr fort: „Für deine Unverschämtheiten und Heucheleien hätte dir längst das Schicksal deines Vorgängers gebührt. Der war noch hübscher als du, und stärker, männlicher.“ Sorla zuckte zusammen, sie sprach lauernd weiter: „Allerdings war er eingebildet wie alle Elfen; doch du, Sorle-a-
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glach, du kennst deinen Platz und fügst dich.“ Sorla schluckte, dann sagte er mit gepresster Stimme: „Wenn du sowieso meine Gedanken liest, dann kann ich mir die Vorsicht sparen, sie zu verschweigen.“ „Gut“, sagte sie, zurückgelehnt, die Hände über die Knie verschränkt: „Rede!“ Sorla atmete tief durch, wollte seine Gedanken sammeln, erinnerte sich dann aber, dass er sie vor Ysalde genauso gut laut aussprechen konnte: „Ich bin wehrlos und in deiner Hand, Ysalde. Man sagt, Dana sei bei allem Liebreiz grausam wie ein Kind, das einem Käfer die Beinchen einzeln ausreißt. Du bist eine ihrer Töchter.“ Er sah sie an; ihre Augen blitzten, ihre Lippen waren blutrot. „Du bist wunderschön, und was wir zusammen machen ... Du bist die erste Frau, mit der ich so zusammen war. Das alles weißt du, denn du kennst meine Gedanken.“ „Komme zum Wesentlichen, Sorle-a-glach!“ Doch bevor Sorla antworten konnte, unterbrach sie ihn unwirsch: „Spar' es dir. Ich kann es schonungsloser sagen als du. Nämlich du willst hier weg, lieber gestern als heute. Du hast Pläne, denen würdest du alles opfern, was ich dir biete – genau wie Theonfiorel, dein Vorgänger.“ „Ich fühle mich ihm nah.“ „Bei Mala, da hast du recht!“ Sie lachte hell auf, Sorla aber biss die Zähne zusammen, als sie die Todesgöttin nannte, und ließ sich nicht beirren. „Hättest du ihn ziehen lassen, Ysalde, würde er noch heute in Liebe an dich denken.“ „Vielleicht. Er nahm mich ernst in den letzten Atemzügen seines Lebens: diese Genugtuung bleibt mir. Und nun, Sorle-aglach, ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen.“ „Abschied?“ „Ein Liebhaber, dessen Gedanken woanders sind, taugt nicht für mich.“ Sie lächelte und strich ihm mit der Zehe zart über die Lippen. Sorla sah, dass ihre Augen feucht waren, doch dann hörte er sie spöttisch sagen: „Möchtest du um Gnade winseln? Vielleicht behalte ich dich noch ein Weilchen.“
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Sorlas Gesicht erstarrte. Seine Gedanken rasten, und ihr Lächeln, wie sie sein Denken beobachtete, erboste ihn so sehr, dass er rief: „Nie werde ich um Gnade winseln! Wenn es dir Spaß macht, Ysalde, dann bring' mich um.“ Sie lachte. Da war ihm, als ersticke er, und ihm schwanden die Sinne. * Sorla kam zu sich, die Augen geschlossen. Er hörte Wipfel rauschen, Vögel zwitschern – zum erstenmal seit vielen Tagen. Im Stiefelschaft drückte Schlangenzahn wohlvertraut gegen sein Bein, die Hände griffen ins feuchte Moos. Da öffnete er die Augen und sah neben sich Trilk hocken, das bärtige Gesichtlein kaum eine Handspanne über dem Moos, schlafend vornüber gebeugt. Sorla richtete sich auf und gab Trilk einen Schubs. Doch statt Trilk umzukippen, fiel Sorla selbst zurück ins Moos, so massig und unverrückbar hockte der Waldwicht da. Auch glaubte Sorla in grobes, dichtes Fell gefasst zu haben, wo doch nur der kleine Trilk zu sehen war. „Tu das lieber nicht“, brummte dieser und rieb sich die Äuglein. „Fast hätte ich zugeschlagen, und wir hätten es beide bereut.“ „Sorla nickte. „Ich sah, wie du die Waldschrate zerfetztest. Danke auch!“ „Gern geschehen“, winkte Trilk ab. „Auch hat mir Ysalde deinen Dank längst ausgerichtet.“ „Wann? Sie war doch stets bei mir!“ „Wenn du schliefst, Sorla, saß sie oft hier, wie du jetzt. Das tat sie früher nie, doch etwas scheint sie zu bewegen.“ „Dann sprach sie über mich?“ Zu Sorlas Enttäuschung schüttelte Trilk den Kopf. „Sie fragte mich alles Mögliche; ob ich Dana weniger verehre als Frena
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zum Beispiel.“ „Und welche Göttin verehrst du am meisten?“ „Tara natürlich. Auch wollte sie alles über meine Kindheit wissen und ob meine Mutter mich liebte. Seltsam, nicht wahr?“ Sorla kam es gar nicht seltsam vor, doch sagte er nur, indem er aufstand: „Ich muss weiter. Sonst versäume ich das Zauberfest.“ Trilk nickte, dass sein braunes Hütchen schwankte. „Tu das. Und denke daran: Ysalde lässt dich gehen, damit du bei den Elfen ihren Ruhm verbreitest – wie schön sie ist, wie mächtig, wie freundlich und hilfsbereit.“ „Mache ich. Kein Problem.“ „Außerdem“, fuhr Trilk fort, „musst du in vier Wochen, wenn die Bucheckern reifen, wieder hier sein.“ Sorla starrte entsetzt in sein faltiges Gesicht. „Ysalde will das so“, erklärte der Waldwicht. „Und wenn ich nicht will?“ Trilk blickte ihn eindringlich an, in sein Brummen mischte sich Drohung. „Bedenke, Sorla, Ysalde ist hier; sie hört dich, sieht dich, sie hat dich noch immer in ihrer Gewalt. Versprich, dass du wiederkommst, dann kannst du das Zauberfest besuchen.“ Sorla seufzte. Vielleicht fand sich ja eine Lösung. „Nun gut, ich komme wieder.“ „Wenn die Bucheckern fallen“, erinnerte ihn Trilk. Versprich es!“ „Ich verspreche es“, murrte Sorla. Da schien ihm, als zerzausten ihm Ysaldes schlanke Finger die Haare, wie sie es in übermütigen Stunden oft getan hatte.
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Viertes Kapitel:
DAS ZAUBERFEST Sorla drängte sich durch das Gewirr sperriger Brombeerranken; vor den Dornen schützte ihn sein dichter Pelz. Wie immer waren die süßesten Früchte ganz oben; man musste auf die Hinterbeine, um sie sich ins Maul zu langen. Ein Mäusenest hob er mit breiter Pranke aus, leckte die rosigen Dinger auf, die sich noch kaum regten, so klein und blind waren sie, und trottete dann weiter nach Süden, ab und an verhaltend, den massigen Schädel hin und her wendend, um zu sichern. „Damit du heil ankommst“, hatte Trilk gebrummt, „und wir dich hier gesund wiedersehen, mache ich dich zu meinem Gastbären.“ Er hatte Sorla auf die Schultern geschlagen, was nur ging, weil Sorla noch auf der Wurzel hockte. „Gastbär?“ Trilk nickte. „Schon geschehen.“ Erst da hatte Sorla gemerkt, was passiert war. „He! Ich will das nicht!“ „Wieso? Du bist ein hübscher junger Bär, wenn auch etwas mager“, war die Antwort gewesen. Sorla hatte nicht gewusst, ob er Trilks Brummen als belustigt oder unwirsch deuten sollte. „Bleibt das so?“ „Keine Sorge. Wenn du zurückkommst, mache ich aus dir wieder einen Menschenjungen. Aber vielleicht magst du das dann gar nicht mehr.“ „Und wo sind meine Sachen, meine Kleider?“ Doch Trilk hatte ihn beruhigt, er trage sie in sich herum, in seiner Bärengestalt verborgen, und ihm gute Reise gewünscht. Seit drei Tagen war er nun gewandert, nachts und in der Mittagshitze schlafend, ansonsten in gleichmäßig wiegendem Passgang trabend, schwerfällig und doch geschickt über Rinnsale und gestürzte Bäume setzend. Abhänge rutschte er hinunter und
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überkugelte sich oft. Seen durchschwamm er, durch jedes Unterholz brach er mühelos. Wie einfach war es, einen Baum zu erklettern, indem man ihn umarmte und die Krallen in die Borke setzte! Wie lecker schmeckte der Honig der Wildbienen, die wütend und hilflos einen umsummten! Alles in allem, fand Sorla, führten Bären ein herrliches Leben. Einmal traf er auf eine fremde Bärenfährte, die ihm merkwürdig gut in die Nase kitzelte, und folgte ihr einige Zeit. Am Rande einer Lichtung sah er, wie jenseits der Wiese ein Bär, schmächtiger noch als Sorla selbst, eben wieder im Unterholz verschwand. Sorla setzte hinterher über die Wiese und durch das Gestrüpp, trottete um eine umgestürzte Eiche und rammte – ehe er sich's versah – seinen Kopf in den braunzottigen Rumpf des anderen Bären. Der fuhr herum, wischte Sorla mit seiner Pranke über die Schnauze, dass Blut aus den Striemen rann, und sprang außer Sorlas Reichweite, eher dieser wusste, was geschehen war. „Spinnst du?“ rief Sorla und fügte ein „Entschuldigung!“ noch hinzu. Der andere, beim Klang der Menschenstimme, fuhr zusammen und begann drohend brummend sich zurückzuziehen. „He, warte!“ rief Sorla und hätte sich dann am liebsten auf die Zunge gebissen, doch der andere war schon mit einem Satz im Gebüsch verschwunden. Sorla wollte zunächst hinterher, besann sich aber doch auf sein eigentliches Ziel und bog nach Süden ab. Im Laufe des nächsten Tages überquerte Sorla einige Höhenzüge, getrennt durch tiefe Schluchten, in welchen er zwischen Felswänden bachaufwärts waten und kleinere Wasserfälle überwinden musste, bis er wieder eine Möglichkeit fand, den nächsten Hang zu erklimmen. Einmal, er hatte eine solche Schlucht bereits unter sich gelassen und bahnte sich vorsichtig seinen Weg am Rand eines steilen Felsabsturzes entlang, da sah er tief unten, wo der Bach glitzerte, die winzige Gestalt eines Bären auf einem der umspülten Felsbrocken stehen, suchen, zögern und dann mit einem Satz über das gischtende Wasser den nächsten Felsen erreichen – so hatte er selbst es vor kurzem getan, nur nicht ganz so geschickt.
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Sorla trottete weiter, bis der Boden eben wurde, dort legte er sich nieder und wartete. Bald hörte er Krallen auf Felsen kratzen, Zweige knacken, dann tauchte ein junger Bär auf, derselbe, dem er die Schrammen auf seiner Schnauze zu verdanken hatte. Wieder wehte es Sorla freundlich kitzelnd in die Nase. Der andere legte sich in einigem Abstand gleichfalls hin und leckte seine Pranken. Als Sorla sich erhob und nähertrottete, brummte er aber so giftig, dass Sorla zurückwich und seinen Weg weiter verfolgte. * Wo genau sollte das Zauberfest stattfinden? Sorla war nun mehrere Tage lang immer tiefer in den Wald von Rhosmea eingedrungen und hatte niemand getroffen, den er hätte fragen können. War dies nicht der Elfenwald? Und wo versteckten sie sich? Aufgefallen war ihm nur, dass der Wald sich immer undurchdringlicher zeigte. Schluchten, Wasserfälle, Felsüberhänge, dicht verwachsenes Unterholz, eng stehende Bäume, deren tiefhängende Äste und knorrig sich sperrende Wurzeln dem Fortkommen zu wehren suchten – Sorla dankte Trilk im Stillen, diese Hindernisse nicht als Menschenjunge durchqueren zu müssen. Waldschraten war er mehrfach begegnet; er wich ihnen aus. Einmal aber vergaß er zu wittern, bevor er um einen Felsen bog, und sah sich zwei dieser ungeschlachten Wesen gegenüber, die sich heulend auf ihn stürzten. Er richtete sich auf und schlug dem vordersten Gegner die Pranke ins Gesicht. Dieser wollte sich wegducken, doch eine Kralle verfing sich in seiner Augenhöhle und riss den Kopf zurück, dass das Genick knackend zerbrach und er reglos zu Boden fiel. Der zweite schmetterte Sorla eine Keule über den Schädel, kam dabei den Bärenpranken zu nahe, und Sorla umfasste ihn, presste ihn an sich, dass die Rippen knackten und Blut hustend auch dieser zusammenbrach. So schnell ging das, es
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machte fast schon Spaß. Außer leichtem Schädelbrummen war der Kampf an Sorla spurlos vorbeigegangen, abgesehen vielleicht noch von den Blutspritzern, mit denen der zweite Waldschrat den Bärenpelz besudelt hatte. Wieder kam er an eine Schlucht. Wie tief sie war, konnte Sorla nur ahnen, denn die Felswände fielen schon am oberen Rand so steil ab, dass er nicht wagte, hinunter zu spähen, aus Angst, er könne den Halt verlieren und im freien Fall hinab auf die Felsblöcke des Baches prallen, den er tief unten rauschen hörte. Also wandte er sich nach links, in der Hoffnung, eine Furt zu finden. Stundenlang trottete er so, da erblickte er in der Ferne eine Brücke, die in hohem Bogen die Schlucht überspannte. Er eilte hinüber, zwängte sich durch das letzte Buschwerk und tappte näher. Die Brücke war zwei Handspannen schmal und aus verwittertem Stein; es gab keine Mauer oder sonstige Sicherung, so dass es war, als müsse man auf einem schlanken Baumstamm hinübergehen. Zögerlich wagte er die ersten Schritte. Im Abgrund toste das Wasser, und als er hinab blickte, sah er tief unten zerschmetterte Gerippe und halb verweste Körper in Haufen liegen. „Was willst du hier?“ tönte es von drüben. Sorla verharrte. Als Bär konnte er ja nicht gemeint sein, doch schien es besser, von der Brücke zu verschwinden, und er zog sich so rasch zurück, als es im Passgang rückwärts ging. Er kam aber nicht weit. „Antworte!“ Ein Pfeil zischte dicht über Sorlas Ohren hinweg und schlug in den Eichenstamm weit hinter ihm. Als Sorla herumfuhr, sah er ihn dort zitternd stecken. Er glänzte merkwürdig dunkel. Im selben Augenblick verschwand er aber und hinterließ ein Loch in der Rinde. Wieder erscholl die Stimme: „Wer bist du, wenn du nicht als Bärenhäuter herumtrollst?“ „Ich bin Sorle-a-glach und will zum Zauberfest der Elfen.“ „Siehst du die Knochen dort unten? Sage mir, weshalb du nicht bei ihnen liegen sollst.“ „Ich bin eingeladen, von Nofheli!“
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„Wer ist das?“ „Eine Elfin.“ „Beschreibe sie!“ „Sie ist recht jung für eine Elfin, und wunderschön.“ „Alle Elfinnen sind wunderschön; das bedarf keiner Erwähnung.“ „Na gut!“ rief Sorla erbost. „Sie hat flachsblonde Haare und grüne Augen, hilft dir das? Außerdem ist sie das hochmütigste Wesen, dem ich je begegnete, aber ich habe ja auch sonst noch keine Elfen näher kennen gelernt! Und mit ihr habe ich Wochen und Monate zusammen gelebt, das war kein Vergnügen. Und sie besitzt ein Paar Gnomenstiefel, die hat sie von mir. Und ich habe ihr geholfen, als sie dabei war, aus Stolz zu verhungern. Und ich ...“ Ein silberhelles Lachen unterbrach ihn. „Lass gut sein, Sorle-a-glach“, rief eine Mädchenstimme. „War das ein Spaß eben!“ „Finde ich nicht, Nofheli!“ „Ein Bär, der wie ein Menschenjunges schimpft!“ „Seit wann werden Gäste mit Pfeilen empfangen?“ „Seit wann schleichen sich Gäste als Bärenhäuter ein?“ Und je erboster Sorla wurde, desto mehr wollte sich Nofheli – noch immer irgendwo jenseits der Brücke versteckt – vor Lachen ausschütten, bis sich die erste Stimme wieder einmischte: „Lass gut sein, wir sollten Menschen nicht ihre Ungeschicklichkeiten erläutern. Sind wir ihre Lehrer?“ Das brachte Sorla erst richtig auf. „Dass ich als Bär herumlaufe, daran bin nicht ich schuld!“ „Siehst du, Nofheli“, fuhr der andere unbekümmert fort. „Wenn ein Mensch bei einer Peinlichkeit ertappt wird, weiß er sich keinen besseren Rat, als andere verantwortlich zu machen. Diese zweite Peinlichkeit können wir dem Armen durch großzügiges Wegschauen ersparen. Er ist nun mal dein Gast.“ „Und wie ihr über mich urteilt, ohne eine Ahnung zu haben, ist das vielleicht gastfreundlich?“ schrie Sorla. Dabei setzte er sich auf seine Bärenschinken und schüttelte die Pratzen, was so possierlich aussah, dass Nofheli erneut loslachte.
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„Sei froh, Sorle-a-glach“, rief sie, „dass ich dich besser kenne und nicht nach dem Eindruck gehen muss, den du hier machst. Obwohl du die Bärenwelt ja gehörig beeindruckst.“ „Wieso?“ „Sieh dich um; dort weint dir ein Bärenmädchen nach!“ Tatsächlich stand in sicherer Entfernung von der Brücke jener schmächtige Bär, der ihm seit Tagen gefolgt war. Er – oder, wie Sorla jetzt wusste: sie – schwankte unschlüssig hin und her und stöhnte leise. Sorla rief ihr zu: „Tut mir leid, kleine Bärin! Mit mir darfst du nicht rechnen!“ Er hatte aber kaum die ersten Menschenworte gerufen, da war sie im Gebüsch verschwunden. Sorla war sich dessen bewusst, dass die einlenkenden Worte Nofhelis, sie kenne ihn besser und müsse nicht nach dem jetzigen Eindruck gehen, nicht nur versöhnlich gemeint waren, sondern weit mehr Entgegenkommen zeigten, als Nicht-Elfen sonst erwarten durften. Es deutete ja ein Eingeständnis an, sie hätten sich nicht angemessen verhalten. Also ließ er dies so gelten und trottete erhobenen Schädels über die Brücke, an deren Ende ihn Nofheli empfing. Neben ihr stand ein älterer Elf, der misstrauisch unter weißen Augenbrauen hervorblitzte und schwieg. Seine großen, spitzen Ohren waren übersät von bräunlichen Altersflecken. Auf seinem Langbogen hielt er einen dunkel glänzenden Pfeil bereit. Sorla begrüßte Nofheli, indem er seine Schnauze in ihre ausgestreckte Hand legte. „Das kitzelt“, lachte sie silberhell. „Von einem Bären lasse ich mir das gefallen.“ Zu dem älteren Elfen sagte Sorla: „Das ist ein toller Pfeil, der von selbst zurückkehrt!“ Er bekam aber nur ein herablassendes Kopfnicken zur Antwort.
* Das Zauberfest sollte auf dem Hügel stattfinden, welchen
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Sorla von Ysaldes Baumwipfel aus gesehen hatte und vor dem er jetzt stand. Allerdings waren noch zwei Tage Zeit, denn erst dann war der Mond voll. Wenn er geglaubt hatte, er würde als Gast gefeiert oder wenigstens als Bär gefürchtet werden, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Man beachtete ihn nicht oder wies ihm einfache Arbeiten zu: „Du da, bring das mal in die Küche.“ Das galt beispielsweise für Klafterholz, das er mit dem Maul tragen sollte. „He, Dingsbums, halt mal das, bis ich wiederkomme.“ Auch nicht besser. „Dummbär, steh uns nicht im Weg rum.“ Ganz schlimm. In solchen Fällen bedienten sie sich der Menschensprache, aber so, als sprächen sie zu einem schwachsinnigen Kind. Noch verletzender war, dass sie untereinander in der Sprache der Elfen redeten und er hilflos dabei stand. Eigentlich ließ sich außer Nofheli niemand dazu herab, ihm irgend etwas zu erklären. Immerhin bekam er viel zu sehen. Außer den Elfen, die zahlreich versammelt waren, gab es einige Gäste, die man offensichtlich ernster nahm als ihn. Da war Frau Maren, ein menschenähnlicher Geist, den man nur nachts zu Gesicht bekam und da halb durchsichtig. Sie wirkte streng und besorgt, doch als ihr Blick zufällig auf Sorla fiel, lächelte sie ihm aufmunternd zu. Vielleicht hätte sie ihn zwischen den Ohren gekrault, wegen ihrer Körperlosigkeit verbot sich das jedoch. Da war eine Gruppe wandelnder Bäume, von den Elfen Hwendeloi genannt. Sorla waren diese merkwürdigen Wesen aus vielen Erzählungen und Mythen bekannt. Er fand sie aber sehr enttäuschend, denn meistens bildeten sie ein Wäldchen für sich und knarzten dort dumpf vor sich hin. Zwei riesige Biber, fett und altersgrau, schwankten umher, zeigten rotgelbe Zähne und schleiften platte Schwänze nach. Nofheli erklärte Sorla, dass sie besondere Einsichten in Leben und Wirken der Bäume gesammelt hätten, das sie Interessierten weiter vermitteln wollten. Merkwürdigerweise wollten die Hwendeloi dieses Angebot nicht wahrnehmen, während die Elfen sich als willige Zuhörer erwiesen.
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Ein buckliger Riese – doppelt so hoch und dreimal so breit wie ein Mensch – schleppte auf seinen Schultern einen Felsblock umher, und es wurde Sorla bald klar, dass nicht der Riese der Gast war, sondern das „Auge der Berge“, das er trug und bediente. Sorla wunderte sich, dass es diese wunderlichen Bergwesen in den Elfenwald verschlagen hatte, doch Nofheli erklärte, dass das Auge des Berges auch das Fremdartige kennen lernen wolle und deshalb ständig auf Reisen sei. Und da war vor allem der DRACHE. Schillernd blau lag er auf der Kuppe des Hügels zusammengerollt und verschlief die Tage und Nächte bis zur Vollmondnacht des Zauberfestes. Wenn Sorla in die Nähe des DRACHEN kam, überlief ihn ein Schauder von Angst und Ehrfurcht, so riesig und gefährlich sah er aus, so uralt und zugleich so herrlich schön. „So alt ist er gar nicht“, meinte Nofheli. „Ein richtig alter Drache hätte sich nicht hierher bemüht. Aber ein junger, kaum vierhundert Jahre alt, der ist noch neugierig.“ Sorla ließ das auf sich wirken. Dann fragte er: „Hätte man nicht auch meinen Freund Horell einladen können? Er ist ein großer Zauberer!“ „Ein Menschen-Zauberer?“ Sie lachte silberhell. „Einer dieser Buchmenschen, die Sprüche auswendig lernen und dann vorführen?“ „Was ist daran zum Lachen?“ „Wahre Magie ist eine Gabe, die keiner Bücher bedarf. Deine Freunde Trilk und Ysalde, von denen du erzähltest, haben mehr Zauberkraft im kleinen Finger, als der größte Zauberer ohne sein Buch oder andere Hilfsmittel aufbieten könnte.“ „Dann hätte man ja die beiden einladen können.“ „Sorle-a-glach, du bist eben doch nur ein Mensch. Ihr sinkt vor jedem bisschen Magie in die Knie, weil es euren Verstand überfordert. Trilk kann nichts Besonderes. Ysalde hat zwar beträchtliche Zauberkraft, allerdings wäre sie an einer Einladung wenig interessiert.“ „Ich habe dir erzählt, dass sie sich geändert hat, Nofheli.“
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„Sie wäre die erste Dryade, die sich etwas aus der Meinung anderer macht.“ Mehr wollte Nofheli dazu nicht sagen, und Sorla spürte, dass Theonfiorels Schicksal der unausgesprochene Hauptgrund war. „Und Hon, der König der Sümpfe? Wäre er nicht eine Einladung wert?“ „Unbedingt, Sorle-a-glach. Er ist jederzeit willkommen, findet aber nur selten die Gelegenheit, uns zu besuchen. Dass du ihn kennen lernen durftest, überrascht mich sehr.“ „Vielleicht bin ich doch nicht so unwichtig?“ Nofheli rümpfte ihre hübsche Nase und wandte sich ab. Sorla aber war stolz, eine Reihe von Bekannten aufgezählt zu haben, die Gnade vor den Augen der Elfen fanden. * Am Abend, bevor das Zauberfest beginnen sollte, reinigten sich alle in der Quelle der Besinnung. Das war ein kleiner Teich am Fuße des Hügels, beschattet von Weiden und Erlen. Kein Fisch, kein Frosch, kein Krebs lebte hier. In seiner Mitte stieg eine warme Strömung vom Grunde her auf. Das Wasser war klar, schmeckte aber bitter. Zunächst badeten die Elfen, dann die Gäste. Der DRACHE kroch als letzter ins Wasser; aus Rücksicht, denn er füllte den Teich ganz aus, alles Wasser strömte über die Ufer; und es würde eine Woche dauern, bis er sich wieder füllte. Dem Bade entstieg man sauber wie selten im Leben, die Haut glühte wohlig, die Gedanken waren befreit von dumpfen Gewohnheiten und unklaren Gefühlen. Sorla fühlte sich seltsam erhoben. Ihm fiel auf, dass die Elfen ihm unbefangener begegneten, so wie auch er ihnen nicht nachtrug, wie sie ihn zuvor behandelt hatten. Im sternklar dunklen Himmel stand der weiße Vollmond. Eine sommerlich warme Brise strich über den Hügel, in die sich
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kühlere Luft aus den Waldestiefen mischte. Alle waren im Kreise versammelt. Der DRACHE hatte seinen riesigen Kopf zwischen einer älteren Elfin und Sorlas Bärengestalt eingereiht, während sein restlicher Leib sich außen um die halbe Versammlung lagerte. In seinem Maul hätte ein Ferkel unzerteilt Platz gehabt; seine Augen waren handspannengroß und starrten in hartem Gelb aus dem schwarzblau schillernden Kopf. Sorla fühlte sich neben ihm zunächst befangen, bis er auf der gegenüber liegenden Seite undeutlich Frau Maren erkannte, die dort über dem Gras schwebte und ihm zulächelte. Dass auf seiner rechten Seite Nofheli stand, wirkte ebenfalls beruhigend. Vinumon, Elfenfürst und Gastgeber, trat vor, in dunkles Moosgrün gewandet, in welches funkelnde Lichtlein eingewebt waren. Alles schwieg erwartungsvoll. Vinumon wies mit großer Gebärde zum Vollmond und begann eine lange Rede in Elfensprache, von der Nofheli Sorla das Notwendigste übersetzte. Er grüßte zunächst alle Bewohner Rhosmeas und dann die Gäste, die er namentlich erwähnte. Auch an Sorla kam die Reihe: „Sorle-aglach, Prinz der Sidhlande, Sohn und Thronfolger der Fürstin Taina aus dem Geschlecht der Liarstil, zur Zeit Gastbär des Waldwichtes Trilk.“ Alle sahen ihn an, aber mit nur mäßigem Interesse. Er verneigte sich mit rotem Gesicht. Wie gut, dass keiner dies unter seiner Bärengestalt sah! Dann sprach Vinumon über das Thema des diesjährigen Zauberfestes, und wenn Sorla gehofft hatte, er würde Zauberstückchen zu sehen bekommen, sah er sich getäuscht. Es ging um Einsichten in das Weltgeschehen, derer sie teilhaftig werden sollten. Bei diesen vorbereitenden Ausführungen schwieg Nofheli meistens, denn, so sagte sie: „Das verstehst du sowieso nicht.“ Danach verneigte sich Vinumon und setzte sich hin, wo er gestanden hatte, in die Mitte des Kreises. Er hob wieder die Arme zum Vollmond. Sorla wartete, was wohl sonst noch geschehen solle. Aber alles schwieg. Ihm wurde langweilig, und er ließ seinen schweren Schädel hin und her schaukeln. Da war ihm, als sei
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Vinumon sehr klein geworden. Auch die im Kreise Versammelten waren winzig: die Elfen, die Hwendeloi, der kleine Bär, selbst der Drache, sie alle wurden immer kleiner und verschwanden mit jenem winzigen Hügel im riesigen Wald von Rhosmea. Aber auch der Wald war nur ein dunkler Fleck, umgeben von Bergen, Sümpfen und dem Meer, dessen winzige Wellen im Lichte des Vollmondes funkelten. Und weitere Länder schlossen sich an im Norden, Westen, Osten, ja auch im Süden jenseits des Meeres, mit Wäldern, Wüsten, Bergen. Überall pulsierte das Schaffen und Drängen des jungen Menschengeschlechtes, das Wälder rodete, Städte gründete, Handelswege eröffnete. Daneben spürte man die Beharrlichkeit der alten Rassen: der Zwerge, Gnome, Riesen, Elfen. In manchen Gegenden wichen sie zurück, andere Orte verteidigten sie zäh und bewahrten so Wälder, Seen und Berge vor dem Zugriff der Menschen. An solchen Orten blieb alles, wie es immer war, unverändert. Wo die alten Rassen jedoch verschwunden waren und die Menschen unbekümmert ihre Neigungen auslebten, änderten sich die Dinge atemberaubend schnell – wo sollte das hinführen? Sorla erkannte, wie wünschenswert ein Gleichgewicht der Kräfte des Erneuerns und Bewahrens sei, wie glücklich das Zusammenleben der alten und neuen Rassen sich auswirken könnte, wenn nur die Verständigung möglich wäre. Es zeichneten sich Machtfelder ab; die einzelnen Länder übten ihren jeweiligen Einfluss auf ihre nähere Umgebung aus, der aber in Wellen und Echos weiterwirkte. Das alles hing zusammen, Sorla fühlte und begriff es. Er spürte die Fäden, an denen man ziehen müsste, um Günstiges zu bewirken, wenn man die Macht hätte. Ja, wenn er Herrscher der Sidhlande wäre, dann wollte er seine Möglichkeiten zum Wohle aller nutzen! Aber das Gleichgewicht wollte er wohl achten! Jetzt aber spürte er einen schlechten Geschmack im Mund; ein Ort der langsamen Fäulnis zog seine Aufmerksamkeit auf sich, das Hernostische Kaiserreich weit im Osten von Ailat. Was war los mit diesem reichen, riesigen Land, dass es krank war und mit
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seinem Leiden die anschließenden Länder ansteckte? Er vernahm die Stimme der Frau Maren: „Der Thron ist verwaist, seit vor vielen Jahren der Kaiser starb. Die Regierung liegt in unbefugten Händen, die sich bereichern und das Wohl des Reiches versäumen.“ „Was kann man tun?“ hörte Sorla Vinumon fragen. „Der Thronerbe entzieht sich seiner Pflicht. Seit Jahren habe ich gemahnt; vergeblich – er fühlt sich unwürdig und sieht andere Aufgaben für sich.“ „Hat er Kinder, die würdig wären, das Reich zu führen?“ „Wer weiß? Er liebte eine Frau und verließ sie um seiner Ziele willen. Ihre Spur verlor sich, sie wird wohl gestorben sein.“ Das Gespräch verstummte, Sorla überließ sich wieder der Betrachtung des Weltgeschehens. Die Erwähnung der verlassenen Frau hatte ihn erschüttert, aber das Bild des hernostischen Throns drängte sich vor; er war die Nabe, um die sich alles drehte. Es war entsetzlich, ihn leer zu sehen, zugleich waren die Anforderungen so abschreckend hoch. Sorla fühlte mit jenem Thronerben, der befürchtete, diesen Platz nicht auszufüllen. Aber er warf ihm auch vor, das Wohl des Reiches Unwürdigen überlassen zu haben. Das alles ging ihm zu Herzen, wie gerne hätte er eingegriffen, geholfen! Er blickte auf zum Vollmond; dessen vollkommenes Rund gab seinem Blick Halt und seinem Herzen Ruhe. Das Glucksen der verschlafenen Blässhühner, das Rascheln des Schilfes im Nachtwind lenkten ihn ab; wo war er? Dies war nicht der Hügel im Wald von Rhosmea, dies waren die Norfell-Auen, altvertraut mit ihren Nebelschwaden und unwirtlichen Binsenbüscheln. Schon schob sich vor den Mond der riesige Schuppenkopf, züngelnd und hin und her sich wiegend. „Schlange!“ flüsterte er. „Viel habe ich erfahren!“ „Es wird Zeit, dass du dich zeigst!“ zischte sie und stieß ihn zu Boden. *
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Als er sich umsah, lag er zusammengekrümmt in der Mitte der Versammlung. Er wollte sich aufrappeln, doch ging das nicht, er hatte weder Arme noch Beine. So wand er sich am Boden, und mit jeder Windung wurde sein Schlangenkörper ihm wieder vertrauter. Alle sahen zu, wie er sich im Mondlicht regte. Niemand sprach ein Wort, man hörte nur das Rascheln der Blätter in der nächtlichen Brise. Er fühlte sich ausgeliefert hier auf dem Hügel, unter all diesen Augen. Wo sollte er sich verstecken? Da hob der DRACHE sein Haupt. „Ich spüre, wie du fühlst, kleiner Vetter“, fauchte er. „Komm und verkrieche dich bei mir.“ Sorla schlängelte hinüber, schlüpfte unter die gefalteten Flügel des DRACHEN ins Dunkel und ringelte sich aufseufzend zusammen. Der DRACHE aber sprach zur Versammlung: „Hier geschah ein großes Zeichen, und würdig beschließt es unser Zauberfest.“ „Wer hätte gedacht“, sagte Vinumon, „dass der kleine Sorle-a-glach zaubern könnte!“ „Das kann er nicht“, fauchte der DRACHE. „Aber es ist ein großer Zauber in ihm. Dieser Mensch verdient meine Beachtung.“ * Am nächsten Morgen war Sorla keine Schlange mehr, doch auch die Bärengestalt blieb verschwunden. „Dein Schlangenzauber zerbrach Trilks Bärenzauber“, erklärte Nofheli. „Ich habe nicht gezaubert“, widersprach Sorla. „Es hat mich überrascht. Es ist schon lange in mir.“ Doch das hatte schon der DRACHE gesagt. Und er rief Sorla, als dieser wieder als normaler Menschenjunge erschien, zu sich. Die Morgensonne glitzerte auf den stahlblauen Schuppen, die
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Augen glühten gelb. „Seit Urzeiten streiten Schlangen und Drachen, welches Geschlecht älter sei. Es ist, als frage man, was früher war, das Wasser oder das Feuer. Einigkeit herrscht aber darüber, dass wir verwandt sind.“ Hier schwieg der DRACHE einige Zeit, aus seinen Nüstern strömte der Atem so heiß, dass die Luft darüber zitterte. Dann sprach er weiter, in heiserem Fauchen: „Deine schwache Menschengestalt kann mich nicht täuschen; die Macht einer großen Schlange lebt in dir. Daher will ich dir bei deinen nächsten Schritten helfen.“ „Ich will eigentlich nach Osten“, stammelte Sorla überwältigt, „möglichst weit.“ „Ich bringe dich zu den Grauen Bergen, wo sie am höchsten sind.“ „Aber ich habe versprochen, zu einem Baum im Norden dieses Waldes zurückzukehren.“ „Ich begleite dich.“ „Die wollen mich behalten, fürchte ich.“ Der DRACHE schnob nur verächtlich, dass kleine Flammen aus seinen Nüstern züngelten.
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Fünftes Kapitel:
DIE GRAUEN UND DIE WEISSEN BERGE Tief unter Sorla zogen die Baumwipfel von Rhosmea dahin. Der Wind brauste um seine Ohren und nahm ihm den Atem. Hätte Sorla auf dem Rücken des DRACHEN gesessen, wäre ihm vielleicht wohler gewesen, vielleicht aber auch nicht, denn wie leicht konnte man von dem glatt beschuppten Rücken abrutschen! Doch der DRACHE hatte ihn ganz selbstverständlich mit seinen Klauen gepackt und war, ihn an seinen Leib gedrückt haltend, losgeflogen. Schon sank der DRACHE tiefer, die Bäume schienen Sorla entgegen zu fliegen; und ehe er sich's versah, stürzte er zwischen den Baumkronen hindurch – ein letztes Mal peitschten die Drachenflügel die Luft und bremsten den Fall, da prallte Sorla auf dem weichen Moosboden auf. „Hier muss es sein“, fauchte der DRACHE. Sorla rappelte sich auf. Er erkannte Ysaldes Buche, wenig hatte sich verändert: der Waldboden war trocken und übersät mit Bucheckern. Trilk tauchte hinter einer Wurzel auf, klein und runzelig wie je. Misstrauisch äugte er zum DRACHEN hinüber, der als riesiger Klumpen zusammengerollt mit geschlossenen Augen dalag. „Gefährlich?“ flüsterte er. „Unbedingt“, flüsterte Sorla zurück. „Man darf ihn nicht reizen, sonst ...“ Er untermalte die düstere Andeutung mit eindrucksvollen Gesten. „Er will mich zu den Grauen Bergen mitnehmen. Wir dürfen ihn nicht warten lassen!“ Denn das hatte sich Sorla ausgeheckt. Den DRACHEN, meinte er, habe ihm Atne geschickt; und seither sah er der versprochenen Rückkehr zu Ysaldes Buche weit gelassener entgegen. Sicherlich konnte Ysalde den DRACHEN nicht bezwingen. Er spürte sanfte Arme, die ihn von hinten umfassten; er
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atmete Ysaldes Duft. „Du bist zurückgekehrt, mein Geliebter“, hauchte sie. Da wandte er sich um – so liebreizend stand sie vor ihm, dass sein Entschluss, sie zu verlassen, wankte. „Nein“, sagte sie. „Du sollst nicht bleiben, Sorle-a-glach.“ Sie lächelte. „Nicht weil ich Angst hätte vor deinem DRACHEN, sondern du sollst einen Auftrag ausführen, der mir wichtig ist.“ „Ich habe dich bei den Elfen gerühmt“, sagte Sorla verwirrt, „wie du befahlst.“ Sie fuhr ihm durch die Haare. „Nett von dir. Aber ich habe mir auch Gedanken anderer Art gemacht. Hier!“ Sie streckte ihm einen Beutel hin. „Nimm diese Bucheckern.“ „Bucheckern?“ Ysalde nickte. „Ich habe sie ausgesucht, es sind die besten. Achte gut auf sie.“ „Was soll ich damit?“ „Wenn du eine Stelle findest, die dir gefällt und wo du stehen wolltest, wenn du eine Buche wärst, dann stecke sie in den Boden. Nicht alle auf einmal, hörst du, sondern immer je eine! Du kommst weit herum, also lasse dir Zeit.“ Er hörte kaum, was sie sagte, denn sie war so schön, dass ihm das Herz klopfte. Er umarmte sie und wollte sich an sie drücken, doch sie schob ihn weg. „Das ist vorbei, Sorle-a-glach. Es war dein Wunsch, mich zu verlassen.“ Sie hatte ja Recht. Er nickte: „Ich mach' das mit den Bucheckern, Ysalde, so wie du willst. aber weshalb ...?“ Ysalde lachte. „Es ist ein Versuch, Frena zu huldigen. Aber das verstehst du noch nicht.“ * Gerne hätte Sorla gefragt, wie die Flüsse und Berge hießen, die unter ihnen dahinzogen. Einmal hatte er zu einer Frage angesetzt, doch der Wind riss ihm die Worte vom Munde. Sowieso
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war der DRACHE nicht zum Plaudern geneigt, das hatte Sorla bald festgestellt. Vor kurzem hatte er tief unten einen Fluss erspäht, der als dunkles Band nach Süden führte. Das war der Fluss Eldran. Dann musste von den vielen Zuströmen, die sich zwischen den bewaldeten Bergen dem Eldran zuschlängelten, einer der Gnomfluss sein, an dessen Oberlauf, einem Wildbach mit Wasserfällen und einigen flacheren, ruhigeren Kuhlen, Sorla seine Kindheit verbracht hatte. So sehr Sorla aber seine Augen anstrengte, er konnte nichts erkennen, was ihn erinnert hätte – sie flogen viel zu hoch darüber hin. Doch als unter ihm eine sonnige Lichtung vorbeizog, ließ er schnell eine von Ysaldes Bucheckern hinunterfallen; dort mochte eine kleine Buche heranwachsen und groß und mächtig werden! Ihm fiel ein, wie ihn Laschre über die Welt belehrte. Das Flusstrollweib hatte am Ufer gehockt, grau, massig, felsgestaltig, von den Felsblöcken rings umher nicht zu unterscheiden. Er war auf sie hinaufgeklettert, in der Faust eine eben gefangene junge Forelle. Einen Finger hatte er in deren Kiemen gesteckt, damit sie ihm nicht entglitt. Nun saß er auf Laschres Kopf – oder Rücken oder Schulter; das war schwer zu unterscheiden – und blinzelte auf das Kiesgeröll hinunter, das in der Mittagssonne grell weiß dalag. Dahinter gurgelte und zischte der Wildbach; jenseits des Baches stieg der Berghang steil an und begrenzte mit seinem dunklen Grün den Blick. „Wenn ich dort hinaufsteige, Laschre, kann ich dann weitergehen? Und was sehe ich dort?“ „Bleib hier!“ hatte Laschre dumpf gegrollt. Er biss ein Stück aus dem Rücken der Forelle, die noch ein wenig zuckte, und nuschelte: „Ich meine, wenn ich groß wäre! Gibt es hinter diesem Berg andere Berge?“ „Ja.“ „Und wenn ich auch auf diese Berge steige, sind dahinter wieder andere Berge?“ „Ja.“
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Mehr sagte Laschre nicht zu diesem Thema, denn sie war sehr wortkarg. Aber in Sorla formte sich die Vorstellung, er lebe im Mittelpunkt kreisförmig aufgeschichteter Berge, die ihn behüteten; ein Ring von jeweils weiteren umgeben, und so fort bis hinter alle Grenzen. Er musste lachen, als er daran zurückdachte, doch der Wind riss ihm das Lachen vom Munde, bevor er es selber hören konnte. * Mittags überflogen sie eine weite Hochfläche, auf die ganz überraschend der DRACHE sich hinabsenkte. Er setzte Sorla ab und fauchte: „Warte hier!“ Dann schwang er seine breiten Hautflügel und flog davon. Auf freien Flächen hatte Sorla sich nie wohlgefühlt, doch der Himmel, von dem aus eine Gefahr auf ihn herabstoßen könnte, war leer bis auf den DRACHEN, der rasch zu einem Punkt zusammenschrumpfte und verschwand. Sorla kauerte sich ins hohe Gras, entleerte Blase und Darm und machte sich dann auf Nahrungssuche. In der Nähe stand windschief ein kleiner Baum. Dieser trug einige Holzäpfel, die waren aber so hart und sauer, dass Sorla verzichtete. In der weiteren Umgebung fand er ein paar Schnecken, eine Stelle mit zarten Pflanzenschösslingen, drei wilde Möhren, eine davon verwurmt. Wie er wieder aufblickte, fiel ihm weiter vorne eine Bewegung im Gras auf. Auch seitlich von ihm regten sich in einigem Abstand die Halme, wo sich etwas hindurchschob, um ihn zu belauern, umschleichen ... Sorla fuhr herum und rannte zurück in die Richtung, wo er den Holzapfelbaum wusste. Hinter ihm gellten triumphierende Schreie. Er schaute nicht zurück, er rannte mit aller Kraft dem kleinen Baum entgegen, verzweifelt stieß er hervor: „Oh Atne hilf!“ Da war der Baum, Sorla sprang dem nächsten Ast entgegen und zog sich hoch.
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Schon reckten sich klauenartige Hände nach den Ästen unter ihm, spitznasige Fratzen schrien und pfiffen einander zu: das waren Ratten, fast menschengroß. Drei waren um den Baum versammelt, fünf, sechs weitere kamen in großen Sätzen angerannt. Sorla zog sein Messer und stach zu, wo immer eine der riesigen Ratten versuchte hochzuklettern. Noch konnte er sie abwehren, aber wie lange? Jetzt drängten sich schon über sechs dort unten, und noch immer kamen welche dazu. „Oh Atne hilf!“ keuchte Sorla wieder, während er sich an einem Ast festhielt und den nächsten Angriff abwartete. Lange konnte er die Angreifer nicht mehr abwehren, sein Arm begann müde zu werden. Da erscholl ein Kreischen aus der Luft, im nächsten Augenblick fuhr der DRACHE mitten unter die riesigen Ratten, begrub etliche unter sich, zerfetzte noch immer kreischend weitere mit seinen Pranken, und denen, die jetzt aus ihrer Schreckensstarre erwachten und versuchten zu fliehen, setzte er im Zickzackflug nach, bis nichts mehr sich regte. Sorla stieg vom Baum herab und ging dem DRACHEN entgegen, der gerade eines seiner Opfer verschlang. „Danke!“ sagte er. Der DRACHE aber fauchte ihm entgegen, dass sein heißer Atem Sorla die Augenbrauen kräuselte. Dieser sprang zurück und wartete in gebührendem Abstand. Der DRACHE fraß noch zwei weitere Riesenratten, dann rollte er sich zum Schlafe zusammen. Was hatte den DRACHEN so erbost? Das fragte sich Sorla, während er wieder auf Nahrungssuche ging: Wurzeln, Raupen, Beeren. Die toten Ratten rührte er nicht, so großen Hunger er auch hatte, aus einer merkwürdigen Scheu heraus, denn zu menschenähnlich hatten sie auf ihn gewirkt. Als Sorla wieder aufblickte, war der DRACHE verschwunden. Drei Tage wartete Sorla, geduckt im Grase, auf die Rückkehr des DRACHEN. Während er Schnecken sammelte und aus ihren Häuschen sog, fiel ihm ein, was sein Jugendfreund Horell ihm erzählte: dass auch die mächtigsten Drachen eine Schwäche hätten, nämlich ihre Eitelkeit. Und er legte sich zurecht, wie er sich
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dem DRACHEN gegenüber verhalten wollte, wenn – oder falls – dieser zurückkehrte. Auch fielen ihm die Bucheckern ein. Als er eine davon in die Erde stecken wollte, fiel ihm ein, dass auf dieser weiten Fläche sich eine Buche recht einsam fühlen müsse; er ging also hinüber zum Holzapfelbaum, maß zwölf Schritte ab und versenkte dort eine seiner Bucheckern. Zufrieden erhob er sich; eines Tages würde hier eine Buche einträchtig neben dem Holzapfelbaum stehen – nahe genug zusammen, um sich gegenseitig zu schützen, doch weit genug auseinander, um sich nicht das Sonnenlicht zu rauben. Dann, auf einmal, war der DRACHE wieder da, reckte die hautigen Flügel und gähnte, dass die Luft vor Hitze flirrte. „Wo warst du die ganze Zeit?“ rief Sorla überrascht. „Hier!“ fauchte der DRACHE; sonst nichts. „Aber wie ...?“ Sorla biss sich auf die Zunge, denn klug und höflich hatte er vorgehen wollen, nicht plump wie ein Kind. Dass der DRACHE die Gabe besaß, sich unsichtbar zu machen, wenn er nicht gestört sein wollte, zum Beispiel beim Schlafen, das war ja jetzt klar, das konnte sich Sorla selbst zusammenreimen. Sorla näherte sich dem DRACHEN, der nun mit geschlossenen Augen in der Sonne lag und ihn nicht beachtete, bis auf ein, zwei Dutzend Schritte, wo er respektvoll verharrte. „Oh werter DRACHE!“ begann er. „Erlaube mir unwürdigem Geschöpf, meine Bewunderung, die wahrhaft grenzenlos ist, auszudrücken. Wie mächtig ist deine Stärke, wie herrlich deine Schönheit!“ Der DRACHE hatte ihm den Kopf zugewandt, seine Augen blinzelten in der Sonne. Ermutigt setzte Sorla fort: „Wie großmütig warst du, mit meiner Nichtigkeit dich abzugeben! Und erschreckend war die Wut, mit der du unter den riesigen Ratten aufräumtest; ein jeder Biss zerschmetterte eine von ihnen!“ Jetzt hatte der DRACHE die Augen geöffnet. Sorla atmete tief ein und setzte zum Schlusswort an: „Ich möchte demütig meine Dankbarkeit ausdrücken, werter DRACHE, und hoffe, dich damit nicht zu langweilen!“
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„Keineswegs!“ fauchte dieser. „Endlich redest du, wie es sich gehört! Nun komm, wir wollen weiterreisen!“ * Der DRACHE hatte Sorla geraten, zwei der riesigen Rattenkadaver abzuhäuten und sich in deren Felle, die Haare nach innen gekehrt, einzuwickeln. Die Felle hielten den Flugwind, der so nahe den Bergen eiskalt war, einigermaßen ab, dennoch fror er entsetzlich und war froh, als nach zwei, drei Stunden der DRACHE einer Geröllhalde entgegen sank und flügelschlagend landete. Sorla wand sich aus den schweren, stinkenden Fellen und schaute umher. Ringsum ragten graue Felswände in den Himmel. Noch schien die Sonne, doch schon wehte es kühl vom schattigen Teil der Geröllhalde herüber. „Sind dies die Grauen Berge?“ fragte er, doch der DRACHE war wieder verschwunden. Die Eigenarten eines so bedeutenden Wesens galt es zu ertragen, also hockte sich Sorla in die Sonne und wartete. Er fühlte sich unsicher, die Bergwelt war ihm fremd. Als die Schatten näher rückten, hüllte er sich wieder in seine Felle und kroch zwischen zwei größere Felsbrocken, um vor dem aufkommenden Wind geschützt zu sein. Eine Bewegung weiter unten auf der Geröllhalde ließ ihn aufschrecken. Nichts war zu sehen, und schon wollte er an eine Täuschung glauben, als sich wieder etwas regte: ein Teil des Gerölls schien sich zu heben, dann kollerten Steine den Abhang hinab, während eine dunkle Masse sich hochwölbte und sichtbar wurde als Rumpf und kantiger Schädel – riesig, ungeschlacht stand nun ein Wesen im Geröll und glotzte auf Sorla herab. Im nächsten Augenblick fuhr die riesige Pranke auf Sorla herab, doch gewarnt durch den Schatten, der plötzlich auf die Steine neben ihm fiel, hatte er sich blitzschnell zwischen die Felsen geworfen.
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Mit seinen Pranken wuchtete das Ungeheuer den einen Felsen aus dem Boden und kippte ihn laut schnaufend beiseite; Sorla war da aber schon längst hinter einem weiteren Felsblock verschwunden. Weiter zu rennen wagte er nicht, denn in der wieder eintretenden Stille hätte er sich durch das Rasseln und Knirschen des Gerölls unter seinen Füßen verraten. So überlegte er, ob er sich einfach still verhalten und auf die Dummheit des Ungeheuers hoffen oder vorsichtig um die Ecke spähen sollte, um es zu beobachten, damit es ihn nicht überraschen könne. Da erscholl ein fauchendes Kreischen, und wie Sorla nun doch aus seinem Versteck hervor lugte, sah er den DRACHEN, dessen Schwanz wütend umher peitschte, dass das Geröll nach allen Seiten spritzte, und seinen Rachen drohend öffnete. Ihm gegenüber hatte sich das ungeschlachte Wesen aufgerichtet – höher aufgerichtet als der DRACHE – und wollte mit seinen Krallen zuschlagen. Da fuhr aus dem Drachenschlund ein Feuerstrahl; eine fauchende Wolke rotglühender Hitze waberte dem Ungeheuer entgegen und umhüllte es. Das brüllte auf, schlug um sich in der Feuerwoge, zuckte ein letztes Mal und lag dann verkohlt und reglos auf den Steinen. Sorla trat aus dem Versteck. „Großmächtiger DRACHE!“ rief er aus sicherer Entfernung. „Welch Schauspiel deiner Macht!“ „Ein Kinderspiel!“ fauchte der DRACHE. „Ein Bergtroll ist kein würdiger Gegner.“ „Bergtroll?“ Aber der DRACHE war nicht zu weiteren Erklärungen geneigt. „Komm her!“ fauchte er. Und als er Sorla in seinen Krallen hielt, flatterte er hoch, ließ sich in den Aufwind fallen, der die Geröllhalde hinauf strich, ließ sich von ihm empor treiben über einen schmalen Grat; dort stürzte er sich eine Steilwand hinab, bekam wieder Wind unter die Flügel und strich an den Felsen entlang auf eine riesige Grotte zu. „Hier!“ fauchte er, nachdem er sich auf dem schmalen Felsensims niedergelassen hatte, der zur Grotte führte. „Geh, du wirst erwartet.“
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„Wie ... was?“ „Lasse dich nicht abweisen! Dir gebührt gastliche Aufnahme und sicheres Geleit auf die andere Seite der Grauen Berge.“ „Heißt das, du lässt mich ...“, stammelte Sorla. „Und wer wohnt hier?“ Als aber der DRACHE ohne weitere Antwort seine Schwingen zum Abflug spreizte, rief ihm Sorla ein hastiges „Vielen, herzlichen Dank!“ zu und glaubte durch den brausenden Flügelschlag das wohlvertraute Fauchen zu hören, allerdings ohne ein Wort zu verstehen. Bald verschwand der DRACHE als winzige Gestalt hinter einem Berggipfel. Jetzt erst bemerkte Sorla, wie sehr er im Abendwind fror, dass er seine Felle auf der Geröllhalde vergessen hatte, und dass er auf einem Felssims stand, kaum drei Fuß breit – hinter ihm türmte sich die Felswand auf, vor ihm fiel sie ins Bodenlose. Drei Schritte weiter links aber öffnete sich die dunkle Grotte. Er zwang seine zitternden Knie, diese drei Schritte zu gehen. * Im Halbdunkel der Grotte traten ihm drei bärtige Gestalten entgegen; kleiner als er selbst, aber so kräftig gebaut, dass jeder wohl doppelt so breit war wie er. Ihre grimmigen Mienen verhießen nichts Gutes. An den Gürteln steckten kurzstielige Äxte, der vorderste hielt eine gespannte Armbrust bereit. Das waren Zwerge, erinnerte sich Sorla, es fiel ihm aber nicht gleich ein, wann und wo er schon solche gesehen hatte. Er versuchte ein freundliches Lächeln und sagte: „Atne sei mit euch!“ Der mit der Armbrust schob die buschigen Brauen noch dichter zusammen, so dass zwischen ihnen und der klobigen Nase die Augen fast nicht mehr zu sehen waren. Mit der Armbrust machte er eine Bewegung, die Sorla aufforderte, aus der Grotte zu
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verschwinden, möglichst schnell, und wenn er dabei über den Felssims ins Tal stürzte, na wenn schon. Unter dem herabhängenden Schnauzbart hervor sprach er zu seinen Kumpanen etwas in einer seltsam kehligen Sprache. Diese verfielen in kurzes, bärbeißiges Lachen. Dann starrten sie alle drei Sorla an, in Erwartung seines schleunigen Rückzuges. Als Sorla aber den Zwerg reden hörte, fühlte er sich in seine Kindheit bei den Gnomen zurück versetzt: die Gute Sprache der Berge war es und er kannte sie, auch wenn sie hier einen ungehobelten Klang verliehen bekam, den sie bei den feinsinnigen Gnomen nicht hatte. Und was der Zwerg sagte, war: „Wenn sich der Drachen-Günstling einschüchtern lässt, erspart uns das Umstände!“ Sorla antwortete in derselben Sprache: „In vielen Liedern wird die Unfreundlichkeit der Zwerge beklagt.“ Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Der vorderste Zwerg hatte die Armbrust ganz sinken lassen, alle drei standen mit offenen Mündern da. „Ihre Tapferkeit aber hörte ich oft loben“, fuhr Sorla fort. „Und tapfer müsst ihr sein, wenn ihr es mit dem DRACHEN verscherzen wollt.“ Noch immer glotzten ihn die Zwerge offenmäulig an. „Doch um euch zu zeigen, dass ich nicht nur die Gute Sprache der Berge beherrsche, sondern auch die Grundregeln der Höflichkeit unter Fremden kenne, will ich euch meinen Namen nennen. Ich bin Sorle-a-glach, Sohn der Taina aus dem Geschlecht der Liarstil, welche Fürstin der Sidhlande ist.“ Der vorderste Zwerg strich sich über den Bart und stopfte das Ende sorglich unter dem Gürtel fest. „Wisse“, sagte er, „vor dir steht Furoltin, Sohn des Hurmothin. Dort stehen meine Vettern Orgslingir und Trolslingir, Söhne meines Onkels Ygrottir.“ Die genannten Zwerge senkten jeweils kurz das Haupt, dass sich die Bärte nach vorne bauschten, und schauten dann wieder starr in Sorlas Gesicht. „Es hat uns überrascht zu hören“, fuhr Furoltin fort, „dass du die Gute Sprache der Berge beherrschst, wenn auch in dem verweichlichten Klang, der in den Gnomlanden üblich ist.
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Noch mehr aber erstaunt uns, dass du deinen Mutternamen, nicht aber den deines Vaters nanntest. Ist er so geschmäht in seinem Volke, dass du ihn nicht zu nennen wagst? Oder kennst du ihn womöglich gar nicht?“ Orgslingir und Trolslingir lachten beifällig in ihre Bärte. Sorla biss sich auf die Zähne, denn er begriff die Absicht Furoltins; wenn es zum Streit kam, brauchten sie ihm keine Gastfreundschaft anzubieten und – wie er es vorher ausdrückte – sparten sich Umstände. „Mein Vater ist Tok-aglur, weithin berühmt als Meister seines Berufs“, sagte er. „Um ihn im Hernostischen Kaiserreich aufzusuchen, bin ich unterwegs. Ich ersuche um eure Gastfreundschaft und um eure Hilfe beim Durchqueren der Grauen Berge.“ „Was für einen Beruf übt dein Vater denn aus?“ fragte Furoltin. Immerhin entspannte er nebenbei seine Armbrust und nahm den Bolzen wieder heraus. Sollte Sorla ihnen gestehen, dass er ein Dieb sei? Oder ihnen etwas von einem Fürsten oder Heerführer vorlügen? Er straffte sich, blickte Furoltin ins Auge und sagte: „Mein Vater ist ein Dieb, einer der größten aller Zeiten.“ „Ein Dieb!“ wiederholte Furoltin und wandte sich seinen Vettern zu. „Ein Dieb!“ murmelten Orgslingir und Trolslingir. Weiter sprachen die Zwerge nichts; sie blickten unter ihren buschigen Augenbrauen prüfend herüber und winkten ihm mitzukommen. Er folgte mit unguten Vorahnungen. Es ging durch eine Reihe verwinkelter Stollen und Höhlen tief in den Berg. An Abzweigungen und gefährlichen Stellen blakten Fackeln an den Höhlenwänden, dazwischen aber lagen weite Strecken fast völliger Finsternis. Ein normaler Mensch wäre hier blind und hilflos hinter seinen Führern her gestolpert, aber Sorla hatte von seiner Mutter die Elfensicht geerbt und bewegte sich fast ebenso sicher wie die hier heimischen Zwerge. Einmal hielt Furoltin ihn am Arm fest, und Sorla erkannte undeutlich vor sich eine Felskante, dahinter herrschte Finsternis. An
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der kalten Luft, die ihm entgegen wehte, und der Weise, wie sich die Geräusche ohne Widerhall verloren, erahnte er, wie tief der Abgrund vor ihm sein müsse. „Burothrir!“ rief Furoltin. „Bring uns rüber, beim Barte Brothenfimpirs!“ Diese Worte weckten in Sorla undeutliche Erinnerungen. Brothenfimpir, so hatten ihm einst die Gnome erzählt, war ein sagenhafter Zwergenheld, der aber in den Überlieferungen der Gnome eine eher zweifelhafte Rolle spielte. Doch weshalb kam ihm der Name Burothrir so vertraut vor? Da klang aus der Dunkelheit weit über ihm ein leises Ächzen, das allmählich lauter wurde, näher kam und sich mit knarrenden, rumpelnden Geräuschen mischte. Jetzt senkte sich in Sorlas Blickfeld eine Plattform, drehte sich langsam, sank weiter, und nun sah Sorla auch das Seil, an dem sie hing und das sich nach oben in der Dunkelheit verlor. „Halt an, Burothrir!“ rief Furoltin. „Hältst du uns für Fledermäuse? Sollen wir der Brücke hinterher flattern?“ Orgslingir und Trolslingir lachten bärbeißig; auch aus der Finsternis über ihnen erscholl, durch die Entfernung gedämpft, ein behäbiges Hohoho. Die Plattform blieb mit einem Ruck vor ihnen schweben; Furoltin sprang hinüber und packte eines der vier Seile, durch welche die Ecken mit dem eigentlichen Halteseil verknüpft waren. „Los, Sorle-a-glach!“ rief er, und als Sorla zögerte, den Sprung über den Abgrund zu tun, rief er: „Beim Barte Brothenfimpirs! Sollen wir uns die Beine in den Steiß stehen?“ Sorla sprang, kam auf der schwankenden, sich drehenden Plattform an und umklammerte mit beiden Händen eines der Seile. Orgslingir und Trolslingir folgten, Furoltin rief: „Auf geht's, Burothrir!“ und ruckend wurde die Plattform nach oben gezogen, wobei sie sich in der Finsternis drehte und langsam hin und her schwankte. Das Seil knisterte, von oben ächzte es bedenklich; Sorla wurde schwindelig vor Angst; nie zuvor hatte er ein Seil so inbrünstig umklammert wie jetzt. Als die Plattform mit einem Ruck anhielt, öffnete er wieder
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die Augen und erkannte zwei Armlängen entfernt einen Felsvorsprung, beleuchtet von einer Fackel. Dort stand ein Zwerg und beobachtete sie. Furoltin aber kniete am Rand der Plattform, packte etwas, das dort angebracht war, und hob es an: eine Eisenstange, die am hinteren Ende mit einem Ring an der Plattform befestigt war und vorne einen Haken hatte. Den Haken dieser Stange versenkte er in einem Loch auf dem Felsvorsprung. Das gleiche tat Orgslingir mit einer ähnlichen Stange an der zweiten Ecke der Plattform. Jetzt schwankte die Plattform nicht mehr, war aber noch immer durch zwei Armlängen Abgrund vom sicheren Fels getrennt. „Auf geht's, Sorle-a-glach!“ rief Furoltin. „So viel Aussicht gibt's hier nicht, dass du so lange schauen musst!“ „Ich dachte, die Plattform wird näher an den Felsvorsprung gezogen. Wozu die Stangen?“ Der Zwerg gegenüber erklärte: „Höre, Fremder. Eine Plattform ist kein Fels. Von einem Felsen kannst du wegspringen und weißt, wo du landest. Wenn du von dieser Plattform wegspringst, weicht sie nach hinten aus, und du fällst in die Tiefe. Deshalb die Stangen. Damit du nicht Fledermaus spielst!“ Auch die anderen Zwerge fielen in sein Lachen ein. „Und nun springe, beim Barte Brothenfimpirs!“ rief Furoltin. * Erst nachdem Sorla einige Atemzüge lang an der Felswand gelehnt und seine zitternden Knie beruhigt hatte, schlug er die Augen auf und sah sich um. Furoltin beobachtete ihn, Orgslingir und Trolslingir aber waren verschwunden. Der vierte Zwerg bediente ein Rad, das über zwei Zahnkränze mit einer großen Seilwinde verbunden war, und als von tief unten ein „Halt an, Burothrir!“ erscholl, ließ er eine Sperre einrasten. So etwas hatte
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Sorla noch nie gesehen. Kurz darauf ertönte von unten: „Zieh sie hoch, Burothrir!“ und dieser begann das Rad in der entgegengesetzten Richtung zu drehen, bis die Plattform wieder schemenhaft in der Dunkelheit auftauchte. Der Zwerg legte die Sperre ein und wandte sich Sorla zu, dabei legte er die Hand auf den Griff seiner kurzstieligen Axt. „Ich bin Burothrir, das wirst du schon gehört haben.“ Er strich sich über seinen roten Gabelbart, dessen beide Zipfel in kunstreichen Knoten endeten. „Furoltin sagt mir, du seist Sorle-aglach, Sohn des Diebes Tok-aglur.“ Sorla nickte. Burothrir packte seine Axt fester. „Wie kommt es, Sorle-aglach, dass du dich meiner nicht erinnerst? Oder bist du nicht der, für den du dich ausgibst?“ „Natürlich bin ich es!“ erboste sich Sorla. „Wer denn sonst?“ Und nach kurzem Nachdenken: „Dein Name, Burothrir, kam mir vertraut vor, doch weiß ich nicht woher.“ „Wir trafen uns am Norfell-Fluss, ich und Durethin und Thorandir, meine Vettern. Es sind wohl sechs Jahre her.“ „Damals war ich erst neun oder so!“ verteidigte sich Sorla. „Ich habe vieles inzwischen vergessen.“ „Seltsam! Du warst ein tapferes Kind. Dein Begleiter, Girsu der Dunkle, war des Lobes voll über dich.“ Girsu! Der wortkarge, zuverlässige Gnom trat plötzlich vor Sorlas Augen, und mit ihm jener Aufenthalt am Flussufer: Sie wuschen sich den stinkenden Dreck der Chrebilhöhle, aus der sie geflohen waren, vom Körper; da tauchten am Ufer drei Zwerge auf. „Jetzt erinnere ich mich“, sagte Sorla. „Auch an eine kleine Frau, die mir Süßigkeiten gab. Und Flasse, den habe ich später wieder getroffen.“ „Die waren bei uns“, nickte Burothrir. Er ließ den Griff der Axt fahren und gab Sorla die Hand: „Willkommen unter den Grauen Bergen, Sorle-a-glach!“
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* Wie viele Zwerge insgesamt hier lebten, konnte Sorla nicht feststellen; dreißig bis vierzig, schätzte er, denn so viele hatte er bisher kennen gelernt und immer wieder gesehen, es mochte aber noch weitere geben. Sie durchstreiften Gänge und Klüfte, trieben neue Stollen in den Berg, oft viele Tagereisen voneinander entfernt, förderten Erze und andere Mineralien. Eisen und Kupfer gab es mehr, als die Zwerge brauchten, auch Zinn konnte nach Bedarf abgebaut werden. Wenn sie Quarze oder edle Steine fanden, dann waren sie es auch zufrieden. Was sie suchten und in einigen Gegenden gefunden hatten, waren silberführende Erzgänge. Aber wovon sie wirklich träumten, das war Gold. Wenn sie dieses Metall erwähnten, glomm in ihren Augen eine Gier auf, die Sorla erschreckte. Er war nun schon über eine Woche hier; zumindest war das sein Eindruck, denn es gab unter Tage keine festen Schlafenszeiten; jeder schlief, wenn er erschöpft war, ansonsten arbeitete er in einem Stollen, in der Schmiede oder beim Verhütten der Erze. Doch alle versicherten Sorla, dass „zu Hause“ – und das war nicht hier, sondern irgendwo tief in den Weißen Bergen – die Zwerge ein gemütliches Leben bei Met, Gesang und Zwerginnen führten. Allerdings war kaum einer in den letzten fünfzig Jahren dort gewesen, so dass ihre Erzählungen wohl eher ihre Sehnsucht hier als die Wirklichkeit dort bezeichneten. Zwerginnen gab es hier nicht, Met und Gesang wenigstens ab und zu. Das erste große Gelage fand zwei Tage nach Sorlas Ankunft statt. Zwei Dutzend Zwerge waren aus den entferntesten Stollen zusammengekommen und hockten an langen Tischen in einer rußigen Halle, die sonst als Schmiede diente, zwischen zwei großen Feuern, über denen allerlei Fleisch an Spießen briet. Die Tische bestanden nur aus Brettern, die über Holzböcke gelegt waren. Jeder hielt einen hölzernen Humpen mit Met in der einen und ein Stück Brot oder Fleisch in der anderen Faust. Auf Regalen
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an der Wand aber standen viele zinnerne Krüge; doch als Sorla fragte, weshalb man nicht diese benutze, wurde ihm erklärt, bei Streitigkeiten litten die Zinnkrüge allzu schnell Schaden, während Holzhumpen einen Zwergenschädel eher aushielten. In den Weißen Bergen allerdings trinke man stets aus zinnernen und sogar silbernen Krügen; die Silberschmiede dort hätten viel zu tun. Offensichtlich war Sorlas Eintreffen der eigentliche Grund für das zahlreiche Erscheinen der Zwerge, was ihn verwunderte. „Ich will doch nur auf die andere Seite der Grauen Berge“, sagte er zu Burothrir. Dieser nickte beruhigend und winkte zugleich ab, weil er damit beschäftigt war, die silbernen Bartklammern, mit denen der Schnauzbart daran gehindert wurde, in den Met einzutauchen oder sich am Bratenfett zu beschmutzen, geschickter anzubringen. Nun kamen auch Durethin und Thorandir, die Sorla damals mit Burothrir zusammen am Norfell-Fluss traf. Sie begrüßten ihn herzlich und legten ihre Bärte sorglich zurecht. Am unteren Ende des Tisches entstand Unruhe. Als Sorla aufblickte, sah er einen weißbärtigen Zwerg die Halle betreten. Über der Schulter trug er eine langstielige Streitaxt, die er sorgsam abstellte, bevor er sich ebenfalls am Tisch niederließ. Alles schwieg ehrerbietig, während er einen Humpen Met zum Munde führte und leer trank. „Wo ist der Fremdling?“ rief er dann mit tiefer Stimme. Burothrir stieß Sorla in den Rücken, und dieser stand auf. „Komm her!“ Sorla trat näher heran. „Dein Vater sei ein Dieb, höre ich.“ Da das keine Frage war, schwieg Sorla. „Du habest ihn sogar als Meister seines Faches gerühmt, sagte mein Sohn.“ Jetzt reichte es Sorla. „Ich weiß nicht, wer dein Sohn ist“, versetzte er. „Ich weiß nicht einmal, wer du bist. Ich jedenfalls heiße Sorle-a-glach.“ Ringsum herrschte atemlose Stille bis auf einen Methumpen, der irgendwo abgestellt wurde. Der Weißbart stutzte,
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lachte und rief in die Runde: „Er hat ja recht! Nicht jeder kann mich kennen!“ Doch seine Augen waren hart, als er, zu Sorla gewandt, hinzufügte: „So wisse, Milchbart, dass ich Hurmothin bin, genannt der Schlächter, berühmt in den Weißen und den Grauen Bergen!“ Sorla warf einen Seitenblick auf die Streitaxt. „Ja, schau sie dir an! Viele Sorten Blut habe ich sie kosten lassen, und sie ist noch lange nicht satt!“ Er lachte. „Ich bin beeindruckt, Hurmothin.“ „Das Kämpfen ist wohl nicht deine Sache, oder?“ „Man schlägt sich so durch.“ Sorla trat von einem Bein aufs andere, weil er nicht recht wusste, worauf das alles hinauslaufen sollte. Am liebsten hätte er sich wieder gesetzt und friedlich an seinem Bratenstück gekaut. Aber Hurmothin war noch nicht fertig: „Du sollst ja schon als Kind recht flink und geschickt gewesen sein, hörte ich. Vielleicht hast du das von deinem Vater.“ Er legte ein Stück Braten vor sich auf den Tisch und stellte sich einen Schritt weit dahinter auf, die Streitaxt in beiden Händen: „Kannst du mir dieses Fleischstück wegnehmen, bevor ich mit meiner Axt dazwischen fahre?“ „Wenn ich es nicht schnell genug schaffe, ist meine Hand zerhackt, richtig?“ „Längs oder quer, je nachdem“, nickte Hurmothin. „Du kannst natürlich ablehnen, diese Probe zu machen. Dann kennen wir nicht deine Geschicklichkeit, aber deinen Mut.“ Die anderen Zwerge lachten bärbeißig, besonders Furoltin, der von der Nebenbank her bewundernd auf seinen Vater blickte. Burothrir aber schaute bedenklich; Durethin und Thorandir flüsterten aufgebracht miteinander. „Und wenn ich es schaffe, Hurmothin, was bekomme ich?“ „Oho, eine Wette! Der Milchbart rechnet sich Chancen aus!“ Er warf ein großes Goldstück auf den Tisch: „Hier, das soll der Preis sein!“ „So viel Gold!“ murmelten einige Zwerge; das ließ Sorla aufhorchen. „Ich will einen Schiedsrichter!“ rief er. „Vielleicht
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Burothrir – er soll das Goldstück verwahren und mir hinterher aushändigen.“ „Du bist sehr zuversichtlich!“ lachte Hurmothin. „Soll Burothrir den Schiedsrichter spielen!“ Burothrir trat heran. „Verehrter Hurmothin!“ sagte er. „Diese Wette ist ein grober Scherz und nicht im Sinne der Gastfreundschaft.“ „Lass nur, Burothrir“, wehrte Sorla ab. „Meine Hände sind so flink, da kann nichts schiefgehen.“ „Wie du willst.“ Burothrir nahm das Goldstück, trat zurück und rief: „Es gilt!“ Sorla begann hin und her zu tänzeln, wobei er seine Handgelenke und Finger lockerte. Hurmothin blickte scheinbar unbeteiligt geradeaus, tatsächlich aber, wie Sorla merkte, unter seinen buschigen Brauen hervor ihm genau in die Augen. Sorla fiel ein, wie er in der Diebesgilde von Seedorf mit den anderen Lehrlingen Abende lang ähnliche Spielchen getrieben hatte. Er zuckte mit dem Ellbogen, doch Hurmothin blieb von der Finte unbeeindruckt. Plötzlich trat Sorla von unten gegen das Brett, das den Tisch bildete. Das Bratenstück flog in die Höhe. Gleichzeitig sauste die Axt hernieder, noch bevor sich das Brett eine Handbreit gehoben hatte, und verschwand bis zum Stiel darin- hätte Sorla das Fleisch ergreifen wollen, seine Hand wäre verloren gewesen. So aber fing er es in der Luft auf und humpelte ein paar Schritte weiter, denn von dem Tritt schmerzten seine Zehen fürchterlich. Hurmothin stellte den Stiefel auf das Brett, um seine Axt herauszuwuchten. „So war es nicht abgemacht“, murrte er. „Du hast nicht hingegriffen. Wir wiederholen das Spiel, oder ich will mein Gold zurück.“ „Hier ist das Fleisch!“ rief Sorla. Er wedelte mit dem Bratenstück über den Köpfen der Zwerge: „Ich habe den Preis verdient!“ „Er hat Recht, verehrter Hurmothin“, erklärte Burothrir. „Sorle-a-glach musste nicht tun, was du dachtest, dass er tun würde.
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Du bist stark, er aber ist gewitzt.“ „Hört, hört!“ riefen Durethin und Thorandir. „Er ist ein Dieb und Sohn eines Diebes.“ Hurmothin wandte sich um und verließ, die Streitaxt geschultert, die Halle. Burothrir aber überreichte Sorla das Goldstück: „Hier, Sorle-aglach! Du hast den Wettkampf gewonnen!“ „Es war nicht gerecht!“ schrie Furoltin und schlug den Humpen so hart auf den Tisch auf, dass der Met herausschwappte. „Mein Vater wurde betrogen – der größte Held der Zwergenschaft genasführt von einem hergelaufenen, feigen Diebesbalg!“ Durethin sprang auf. „Wer ist feige?“ erboste er sich. „Ist es feige, gegen Hurmothin und seine Streitaxt anzutreten? Dein Vater andererseits: in welche große Gefahr begab denn er sich?“ Furoltin packte Durethin am Bart: „Nennst du meinen Vater feige?“ „Lass meinen Bart los, du Troll!“ Damit krachte Durethins Methumpen auf Furoltins Schädel. Dieser schlug mit seinem Trinkgefäß zurück; so heftig, dass der Henkel abbrach. Burothrir warf sich schlichtend dazwischen, geriet in einen Fausthieb von Furoltin, der ihm gar nicht galt, und haute als Antwort diesem beide Fäuste von links und rechts auf die Ohren. Orgslingir und Trolslingir, die einige Reihen weiter saßen, kletterten jetzt über Bänke, Tische, Zwerge, um sich auf in die Schlägerei zu stürzen. Sie trafen auf Thorandir, der sich bisher beiseite gehalten hatte, weil Furoltin schon zwei Gegner hatte. Er schlug ihre Köpfe zusammen, sie aber packten ihn und warfen ihn einen Tisch weiter auf Zwerge, die noch ihre Ruhe bewahrten. Jetzt sprangen auch diese mit aufgebrachtem „Beim Barte Brothenfimpirs!“ herbei, und trafen auf jene, über die Orgslingir und Trolslingir hinweg getrampelt waren. Nun riss es auch die letzten ins Getümmel, denn keiner wollte sich lumpen lassen. Sorla zog sich vorsichtig an die Wand zurück, wobei er gelegentlich herumfliegenden Trinkgefäßen auswich, und verkroch sich in einer der Nebenhöhlen in der ihm zugewiesenen
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Schlafnische. * „Wach auf, Sorle-a-glach!“ Burothrir rollte den schlaftrunkenen Sorla aus der Schlafnische, dass er auf den Felsboden polterte. „Der König will dich sehen!“ Sorla durfte seine Stiefel anziehen und austreten, aber nichts essen, denn „Wenn der König ruft, so eilen wir“, wie Burothrir mahnte. „Wo wohnt der König?“ fragte er, während er Burothrir durch lange Stollen hinterher eilte. Dieser aber rannte weiter, abwärts, aufwärts, durch Grotten und Hallen; Wege, die Sorla nicht kannte und alleine auch nicht zurückfinden würde. Schließlich kamen sie zu einer kleinen Kammer, in der eine Öllampe brannte. „Hier!“ sagte Burothrir, aber da war kein König, nur ein seltsam ausgeschmückter Kreis auf dem Boden: „Ein Brückenzeichen!“ „Und wo ist die Brücke?“ „Das Zeichen selbst ist die Brücke, Sorle-a-glach. Es wird uns zum König bringen. Nun tritt herein, am besten gleichzeitig mit mir.“ Burothrir packte ihn am Ellbogen und zog ihn mit sich auf dieses Muster. Da verging ihm Hören und Sehen, er schien zu schweben, zu fallen; und als er wieder auf festem Boden stand und seine Augen sich an das gleißende Licht gewöhnte, sah er, dass sie am Eingang einer riesigen Halle standen, deren Boden mit silbrigem Gespinst ganz bedeckt war. „Tretet hier entlang!“ flüsterte ein würdig geschmückter Zwerg und wies ihnen einen kleinen Holzsteg, der als Brücke über das Silbergespinst hinweg in die Halle hineinführte. „Diese Zwerge hier sehen ganz anders aus“, bemerkte Sorla, während sie die Stufen zum ersten Holzsteg betraten.
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„Dies sind die Dienenden Zwerge“, erklärte Burothrir. „Sie kümmern sich um die Verwaltung und das Wohl des Königs.“ „Dann bist du ein grabender Zwerg?“ „Beinahe richtig. Wir heißen Schürfende Zwerge. Auch gibt es Kämpfende Zwerge – denke nur an Hurmothin – und Forschende Zwerge und viele andere Berufe.“ „Könnte ein Kämpfender Zwerg nicht zugleich auch einer sein, welcher schürft?“ „Natürlich. Die meisten Dienenden Zwerge waren früher Forschende Zwerge, die meisten Kämpfenden haben zunächst geschürft. Auch ein Forschender Zwerg muss kämpfen können, und ein Dienender Zwerg wird das Schürfen nie verlernen.“ „Aha. Und was machen die Frauen?“ „Welche Frauen?“ „Nun, eure Zwergenfrauen.“ Burothrir blieb stehen und warf ihm einen misstrauisch bösen Blick zu. „Soll das ein Witz sein?“ „Wieso?“ stammelte Sorla, überrascht von dem Stimmungsumschwung des sonst so umgänglichen Zwerges. Dieser aber hatte sich wieder weggewandt und stapfte wortlos weiter. Sorla folgte ihm, wobei ihm Dutzende von Erklärungsversuchen für das Verhalten Burothrirs durch den Kopf wirbelten, einer merkwürdiger als der andere. Das strahlende Licht in der riesigen Halle rührte nicht von Fackeln oder Öllampen her, sondern von leuchtenden Steinen, welche die Wände der Halle bedeckten. Der Boden der Halle war kreuz und quer mit Stegen und Plattformen versehen, so dass die Dienenden Zwerge, die überall geschäftig umher eilten, sich berieten, Bücher schleppten und Schreibarbeiten erledigten, das silberne Gespinst nicht berührten, das neben und unter den Stegen wucherte. „Was geht hier vor?“ fragte Sorla. „Das ist die Königshalle!“ antwortete Burothrir, halbwegs beruhigt. „Und weshalb wächst hier solches Zeug am Boden?“
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Burothrir sah ihn entsetzt an. „Das ist der königliche Bart!“ Sorlas Blick folgte der Hauptrichtung der Strähnen und Locken und bemerkte erst jetzt auf einer erhöhten Plattform den König selbst: eine kleine, unförmige Gestalt, von welcher der weiße Bart nach allen Richtungen wucherte, den ganzen Boden der Halle bedeckte und in Ausläufern an den Wänden emporkroch. Wo das Haupt war, ließ sich durch die goldene Krone vermuten. Wenn man genauer hinsah, konnte man aber zwischen Goldreif und Bartansatz auch die blitzenden Augen unterscheiden. „Und weshalb ist der Bart so lang?“ fragte Sorla. „Durch diesen Bart ist unser König mit dem Berg verbunden!“ Burothrirs Stimme zitterte vor Ergriffenheit. „So zieht er Kraft aus den Urtiefen der Berge! Er ist schon undenkbar alt!“ Beeindruckt blickte Sorla wieder zur Plattform hin. Dort standen – in gebührendem Abstand zum Thron – Hurmothin mit seiner Streitaxt und ein Sorla unbekannter Zwerg, der sich auf einen langstieligen Hammer lehnte und in dunkel schimmernde Rüstung gehüllt war. „Das ist Ygrottir, Hurmothins jüngerer Bruder“, wisperte Burothrir Sorla zu. „Auch ein berühmter Kämpfender Zwerg!“ „Man sieht's!“ flüsterte Sorla beeindruckt zurück. „Aber was tun die hier?“ Schon wurden sie von einem weißbärtigen Dienenden Zwerg herangewinkt und stellten sich neben Ygrottir und Hurmothin, die Augen erwartungsvoll in Richtung Thron und König gerichtet. Sorla überlegte, ob er sich verbeugen solle, aber da Burothrir aufrecht stehenblieb, hielt er es genau so und wartete ab. Der Weißbart hob die Arme. „Hört die Worte des Königs, oh Zwerge und Nichtzwerge!“ Alles verstummte, jeder einzelne Zwerg in der Halle blieb, wo er stand, wie angewurzelt stehen und wandte sein Gesicht dem Throne zu. Zwischen den wuchernden Wellen des königlichen Bartes tauchte eine Hand auf, um einem der Dienenden Zwerge zuzuwinken. Die Ringe blitzten im Dämmerschein der Halle. „Erkläre du es ihnen, mein Sohn“, murmelte die Stimme unter dem
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Bart hervor. Der Dienende Zwerg nickte und trat an den Thron heran. „Höret den Willen des Königs!“ rief er. „Tief in den Weißen Bergen, am Grunde der Kluft, in welche der unterste der ehemals silberführenden Stollen mündet, haust ein Ungeheuer, dessen Schätze wir begehren. Der wackere Argslokir wagte sein Leben und fand dort den Tod, desgleichen Jahrdutzende später der berühmte Rasathir. Dieser ließ dort unten seinen wunderbaren 'Ring, der die Kälte bannt'. Nun ist es des Königs Wille, dass ihr zu dritt hinuntergeht und die Schätze hebt.“ „Wer ist der dritte? Etwa Burothrir?“ fragte Ygrottir. „Sorle-a-glach, der junge Mensch hier.“ „Was soll der Dieb uns taugen?“ murrte Hurmothin. Der Dienende Zwerg runzelte verweisend die Stirn, so dass sich die Brauen abwärts und die Schnauzhaare aufwärts sträubten. „Der König hörte mit Interesse, dass Sorle-a-glach die Wette gewann, die du ihm aufdrängtest, oh Hurmothin. Er scheint Fähigkeiten zu besitzen, die euch nützen mögen.“ „Aber ...“ „Es ist des Königs Wille!“ unterbrach ihn der Zwerg. Aus dem königlichen Barte murmelte es: „So ist es. Ihr dürft euch entfernen, meine Kinder. Und vergesst vor allem nicht Rasathirs wunderbaren Ring!“ * „Mir passt das gar nicht“, flüsterte Sorla Burothrir zu, während sie über die Holzstege zurückgingen. Hurmothin und Ygrottir stapften murrend und murmelnd weiter voraus. „Ich dachte, ihr bringt mich auf die östliche Seite der Grauen Berge, wie es mit dem DRACHEN ausgemacht war. Stattdessen soll ich hier gefährliche Aufträge ausführen.“ „Du hast die Grauen Berge bereits verlassen, Sorle-a-
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glach“, antwortete Burothrir. „Das Zeichen, auf das du tratest, brachte dich hierher – wohl hundert Meilen nach Nordosten. Dies hier sind die Weißen Berge. Unsere Verpflichtung gegen den DRACHEN haben wir erfüllt.“ „Was soll ich hier?“ rief Sorla erbost. „Ich will hier raus, und zwar schnell!“ Burothrir schüttelte bedenklich den Bart. „Hier gilt der Wille des Königs. Dem kannst du dich nicht widersetzen.“ „So mächtig wirkte er gar nicht, Burothrir. Er hat zwar einen erstaunlichen Bart, aber was leistet er sonst?“ „So darfst du nicht reden, Sorle-a-glach. Er ist unser König und verwachsen mit dem Herz der Berge!“ Sorla zuckte die Achseln. „Das nützt mir nichts. Ich kann hier doch nicht ewig bleiben!“ Burothrir reckte sich, um ihm ermutigend auf die Schulter zu schlagen. „Zeige Hurmothin und Ygrottir, dass du mehr kannst als Met trinken.“ Also fügte sich Sorla und trottete eine halbe Stunde später hinter den beiden Kämpfenden Zwergen her – abwärts durch Stollen, manchmal beleuchtet und voll Schürfender Zwerge, manchmal dunkel und verlassen. Hurmothin ging voraus, lautstark mit seinem Bruder über die Zumutung redend, die Begleitung eines Diebes ertragen zu müssen. Sorla hielt sich in einigem Abstand hinter ihnen. Je tiefer sie kamen, desto seltener sahen sie andere Zwerge, desto häufiger tasteten sie sich im Lichte von Hurmothins Laterne, die dieser am Gürtel trug, durch verlassene Gänge, deren verschimmelte Stützbalken kein Vertrauen erweckten. Einmal hangelten sie sich einen abgeteuften Schacht hinab, als sich unter Hurmothins Gewicht ein Trittstein löste. „Beim Barte Brothenfimpirs!“ murrte er, hatte sich aber bereits einige Sprossen tiefer wieder gefangen. „Wie wäre es, wenn wir uns anseilen?“ schlug Sorla vor. Ygrottir klang abfällig. „Willst du uns halten, Dieb?“ „Nein, ich könnte vorausgehen, oder klettern wie jetzt. Ich bin der Leichteste und recht geschickt. Ich könnte die Gefahren
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erkunden, die uns bevorstehen.“ „Ein kluger Vorschlag!“ sagte Hurmothin. „Wenn du fällst, können wir das Seil ja immer noch loslassen.“ „Und wenn dich ein Troll frisst, dann wünschen wir ihm gute Mahlzeit“, ergänzte Ygrottir. Die beiden Brüder lachten in herzhaftem Bass, dann meinte Hurmothin: „Nur Zwerge kennen sich unter Tage aus, Dieb. Bleib hinter uns, da störst du am wenigsten.“ So blieb es bei der bisherigen Marschordnung, auch als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Sorla zuckte die Achseln und ging im hellblauen Schimmer seines Gnomensteins hinterher. Da ihn der Gedanke an hungrige Trolle nicht losließ, leuchtete er in alle Klüfte und hinter alle Vorsprünge, wo ein solcher lauern könnte. Trolle fand er nicht, aber in einem Spalt, an dem die Zwerge achtlos vorbei gestapft waren, sah er etwas funkeln. Er bückte sich und glaubte kurz eine winzige Gestalt zu sehen, kaum fingerlang; ihr daumennagelgroßes Gesichtchen schaute ihn an, ein klitzekleiner Dolch, den das Wesen im Gürtel trug, blitzte im Widerschein des Glygi. Im nächsten Moment war alles weg; Sorla starrte in eine leere dunkle Ecke. „Nanu, Kleines!“ flüsterte Sorla verblüfft. „Wo steckst du?“ Doch das Wesen blieb verschwunden. Sie kamen an einen Belüftungsschacht, der senkrecht in die Tiefe führte. Hurmothin stieg als erster hinab. Nur mit einer Hand hielt er sich an den eisernen Leitersprossen fest, immer rasch zur nächsttieferen weitergreifend, denn mit der anderen hielt er die Streitaxt. Ygrottir folgte; wegen seines Streithammers hatte auch er nur eine Hand für die Sprossen frei. Sorla kletterte als letzter in den Schacht. „Gebt acht!“ brummte Hurmothins Bass von unten. „Das Zeug ist verrostet!“ Zum Beweis rüttelte er an der Leitersprosse, an welcher er gerade hing. Diese löste sich, Hurmothin stürzte in die Tiefe. Einen Atemzug später und einige Klafter tiefer hatte er sich wieder gefangen; er hing sicher an seiner langstieligen Streitaxt, die er im Fallen quer im Schacht verkeilt hatte.
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„Beim Barte Brothenfimpirs!“ schimpfte er. „Das war knapp!“ „Verehrte Zwerge!“ meldete sich Sorla zaghaft von oben. „Ich möchte meinen Vorschlag wiederholen.“ Nach kurzem Schweigen meinte Ygrottir: „Wir sollten es mal versuchen, mein Bruder. Der Dieb ist vielleicht umsichtiger, das mag uns nützen. Auch hat er beide Hände frei.“ Hurmothin brummte etwas, das auf Sorla immer noch eher feindselig wirkte, aber Ygrottir schien es als Zustimmung zu deuten. Er winkte Sorla zu sich herab, band ihm ein Seilende um die Brust und ließ ihn an sich vorbei zu Hurmothin hinabsteigen. Dieser drückte sich wortlos an die Schachtwand, so dass Sorla weiter hinab klettern und die Führung übernehmen konnte. Sorla prüfte im Weiterklettern die Sprossen auf ihre Sicherheit und meldete jede lose nach oben, insgesamt immerhin vier. Auch schaute er in alle Spalten und hielt immer wieder inne, um zu lauschen. Schließlich sah er im hellblauen Schimmer seines Gnomensteins einige Klafter tiefer das Ende des Schachtes. Er mündete dort in einen Gang, der in beide Richtungen weiterführte. Leider fehlten hier sämtliche Sprossen; Sorla sah, dass er hinabspringen musste. „Halt!“ flüsterte eine silberhelle Stimme an seinem Ohr. „Nicht springen!“ Sorla konnte niemanden entdecken, aber wieder flüsterte etwas neben seinem Ohr: „Unten warten zwei Hurgloks auf dich, einer links, einer rechts. Sie sind hungrig.“ „Was ist ein Hurglok?“ flüsterte Sorla ins Leere, denn noch immer konnte er den Sprecher nicht ausmachen. „Du wirst ihnen nicht begegnen wollen.“ Das war als Auskunft nicht erschöpfend, aber Sorla flüsterte zurück: „Danke für die Warnung, mein unsichtbarer Freund!“ Dann kletterte er wieder nach oben zurück. „Was soll das, Dieb?“ murrte Hurmothin, als Sorla bei seinen Stiefeln ankam. „Dieser Schacht mündet in einen Gang. Man muss die
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letzten Klafter hinabspringen, weil die Sprossen fehlen.“ „Und?“ höhnte Hurmothin. „Das traust du dich nicht?“ „Dort lauern zwei Hurgloks.“ „Hurgloks?“ Hurmothins Stimme bebte. „Zwei Hurgloks?“ Und von weiter oben kam Ygrottirs gedämpfter Bass: „Beim Barte Brothenfimpirs! Zwei Hurgloks?“ Sorla nickte, aber anscheinend hatte die Frage gar nicht ihm gegolten, denn schon kam Ygrottir zu ihnen herab geklettert, machte sich von dem Seil los, das ihn mit Sorla verbunden hatte, und stieg weiter zu Hurmothin hinab. Sie berieten sich, aber zu leise, als dass Sorla sie verstanden hätte. Er sah, wie sie sorgfältig ihre Bärte in den Gürteln feststopften und dann nebeneinander den Schacht in die Tiefe kletterten bis zu dem Punkt, wo die Sprossen aufhörten. Sorla kletterte vorsichtig hinterher, denn er wollte alles sehen. Die beiden Brüder hingen mit ihren linken Händen gemeinsam an der letzten Sprosse und hielten ihre Waffen in der jeweils anderen. Jetzt nickten sie einander zu und sprangen in die Tiefe, die Rücken einander zugewandt. Im Fallen packten sie ihre Waffen mit beiden Fäusten und holten schon zum Schlag aus, bevor sie unten ankamen. Aus den Gängen rechts und links schnellte je eine riesige Hand hervor, um die Zwerge zu packen – so riesig, dass jede von ihnen einen Zwerg umgreifen und zerquetschen konnte. Doch schon war die eine von Hurmothins Streitaxt zerspalten, die andere von Ygrottirs Streithammer zermalmt. Wieder schnellten zwei Pranken heraus, doch die beiden Zwerge waren zur Seite gesprungen und ließen ihre Waffen auf die ins Leere greifenden Finger niedersausen. Ein doppelstimmiges Geheul erscholl; schrill und so widerwärtig, dass Sorla vor Schreck fast den Halt verlor. Hurmothin und Ygrottir sprangen, ihre Waffen über den Häuptern wirbelnd, in die Gangmitte zurück und rückten in die ihnen jeweils zugewandte Gangöffnung vor. Sorla sah, wie sie zuschlugen, noch einmal und ein weiteres Mal, wobei das Geheul immer schriller und grässlicher wurde und beim dritten Schlag
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verstummte. Nach einiger Zeit, während der die Stille Sorla in den Ohren klang, erscholl Ygrottirs Bass: „Beim Barte Brothenfimpirs! Solch einen Spaß habe ich schon lange nicht mehr gehabt!“ „Sehr wahr, Ygrottir!“ antwortete Hurmothin. „Diese Hurgloks sind verdammt schnell. Aber wir haben ihnen einen Tanz geliefert!“ „Wenn sie uns überrascht hätten, wären wir zerquetscht worden, bevor wir 'Brothenfimpir' hätten sagen können!“ Beide Zwerge lachten bärbeißig. „Aber wenn unser Dieb hinuntergesprungen wäre, wären wir gewarnt gewesen“, prustete Ygrottir und schlug seinem Bruder auf den Rücken. „Falsch, Ygrottir!“ grölte Hurmothin. „Sie hätten ihn so schnell gefressen, dass wir nichts bemerkt hätten. Wir wären ihr Nachtisch geworden!“ Sie mussten sich an der Gangwand stützen, um nicht vor Lachen umzufallen. Sorla stand verwundert dabei. Als sie sich erholt hatten, hoben sie ihre Waffen auf, kletterten über den Haufen abgeschlagener Hurglok-Gliedmaßen und marschierten in eine der beiden Gangöffnungen hinein. Sorla folgte ihnen; er warf einen Blick auf die getöteten Hurgloks, doch waren diese dermaßen zermalmt und in Stücke gehauen, dass ihre ursprüngliche Gestalt nicht mehr festzustellen war. Nach einigen Stunden öffnete sich der Gang in eine riesige Höhle – keine Wand, keine Decke, kein Boden zu sehen, nur Finsternis. „Hier war mal eine Seilbrücke“, brummte Hurmothin. „Nein, eine Strickleiter“, widersprach Ygrottir. „Das war die Seilbrücke, nachdem sie am anderen Ende abriss.“ „Das wusste ich nicht. Ich stand leider nicht drauf, als das geschah.“ „Ich auch nicht!“ lachte Hurmothin und schlug Ygrottir auf die Schulter.
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Als die beiden sich beruhigt hatten, meinte Hurmothin, sie könnten ja Sorla an einem Seil festbinden und herumschwingen, „bis er etwas hat.“ „Oder bis etwas ihn hat!“ schrie Ygrottir und haute Hurmothin auf die Schenkel. Als auch dieses Gelächter verebbte, sagte Sorla: „Verehrte Zwerge, ich schlage vor, dass wir hier eine Rast einlegen und ich anschließend versuche, diese Höhle zu erkunden. Ich bin im Klettern recht geübt und kann hier wohl nützlich sein.“ „Er redet geschwollen wie ein verdammter Gnom!“ brummte Hurmothin. „Aber er hat recht“, entgegnete Ygrottir. „Und die Sache mit den Hurgloks hat er gut gemacht.“ Hurmothin brummte eine widerwillige Zustimmung. Damit war es abgemacht. Sie breiteten ihre Decken aus, aßen, tranken, drehten die Dochte der Laternen herunter und legten sich schlafen. * Sorla erwachte von einem leisen Zirpen in seiner Nähe. Sein Glygi erglomm und badete die Umgebung in wohlvertrautes hellblaues Licht, doch nichts war zu sehen, von dem das Zirpen hätte herrühren können. Es mochten Mäuse sein, dachte er, oder irgendwelche höhlenbewohnende Insekten. Die beiden Zwerge schliefen noch. Sollten sie doch; das Kundschaften war ja Sorlas Sache. Er schlang sich zwei Seile um den Oberkörper, befestigte ein drittes an einem eisernen Haken – der rührte noch von der Seilbrücke her – und seilte sich vorsichtig in die Tiefe ab. Als er das Ende des Seils erreicht hatte, schwang er sich daran nach rechts und links, um die Felswand näher zu erkunden, und fand so einen Vorsprung, von dem aus ein Sims weiter in die Dunkelheit führte. Hier befestigte Sorla das Seilende, um sich den Rückweg zu erleichtern, und machte sich – ungesichert
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und daher umso vorsichtiger – daran, dem Sims zu folgen. „Warte!“ flüsterte in seiner Nähe dieselbe silberhelle Stimme, die ihn vor den Hurgloks gewarnt hatte. „Ich möchte dir etwas vorschlagen.“ „Gut“, antwortete Sorla leise. „Aber wer bist du?“ Da sah er nahebei, doch außerhalb seiner Reichweite, jene winzige Gestalt sitzen, die er letztlich überrascht hatte: kaum fingerlang vom braungelockten Köpfchen bis zu den bloßen Füßchen, umhüllt von einem grob gewebten Gewand, in dessen Gürtel der klitzekleine Dolch blitzte. „Easmil bin ich“, sagte das Geschöpf, „ein Fürstensohn vom Volke der Minhiol. Man kennt uns als das 'Kleine Volk'.“ Sorla lächelte. „Und ich bin Sorle-a-glach, ein Fürstensohn vom Volke der Sidh.“ „Wir scheinen einiges gemeinsam zu haben“, entgegnete Easmil ernst, „vielleicht auch ähnliche Schwierigkeiten, da wir beide nicht zu Hause sind.“ Sorla nickte. „Ich suche meinen Vater und weiß nicht genau, wo er ist.“ „Da habe ich es leichter, Sorle-a-glach. Ich suche nur die Krone meines Vaters, um sein Nachfolger zu werden; und ich weiß genau, wo sie ist.“ „Wozu brauchst du dann mich?“ Easmil lächelte. „Du hast einen Gnomenstein. Es ist bekannt, dass Gnome und deren Freunde ihr Wort halten. Deinen Begleitern würden wir nicht trauen.“ „Aber wieso brauchst du Hilfe, wenn du weißt, wo du suchen musst?“ „Weil Ogluskshaddena auf der Krone sitzt und wir sie nicht vertreiben können.“ „Ogluskshaddena?“ „Das Ungeheuer, das ihr besiegen sollt, um seine Schätze dem Zwergenkönig zu bringen. Diese Zwerge kennen nicht einmal seinen Namen, doch von den Schätzen, die sie dort holen wollen, haben sie eine genaue Vorstellung. Seit Tagen redet der
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Zwergenkönig kaum über etwas anderes.“ „Woher weißt du das alles?“ Easmil lächelte bescheiden. „Schon lange halten wir uns im unterirdischen Reich der Zwerge auf, denn ich habe gelobt, nicht ohne die Krone meines Vaters ans Sonnenlicht zurückzukehren. Wir kennen inzwischen jeden Winkel hier. Wir waren auch dabei, als der Zwergenkönig mit euch sprach, und haben euch seither begleitet.“ Er entfaltete Flügel – wie die von dunklen Schmetterlingen – und schwebte zu einer Nische hoch, wo Sorla auf einmal eine Gruppe ähnlicher kleiner Wesen entdeckte. „Du musst wissen, Sorle-a-glach“, fuhr Easmil fort, „dass wir nicht nur fliegen können und daher schneller sind als du und deine Zwergenkumpane, sondern dass wir uns jederzeit vor den Blicken anderer Wesen verbergen können, selbst wenn wir dicht bei ihnen sind.“ Sorla nickte. „Ich hab's gemerkt. Und was ist der Vorschlag, von dem du redetest?“ „Falls die Zwerge Ogluskshaddena bezwingen, werden sie uns die Krone nicht geben wollen. Wenn du uns hilfst, die Krone meines Vaters zu beschaffen, werden wir dir helfen, das Zwergenreich zu verlassen. Denn glaube nicht, dass der Zwergenkönig dich freiwillig ziehen lässt!“ „Bei Ak'men! Wieso nicht?“ empörte sich Sorla. „Wir hörten, wie er sich mit anderen Zwergen beriet. Einen geschickten Dieb kann er immer brauchen.“ „Ohne mich! Easmil, deinen Vorschlag nehme ich an!“ Easmil wandte sich an seine Gefolgsleute, um ihnen dies mitzuteilen. Er sprach in seltsam zirpenden Geräuschen, denn, wie er Sorla erklärte, „die Gute Sprache der Berge ist nicht die unseres Volkes und nur wenige Minhiol verstehen sie.“ Er und Easmil besiegelten ihre Abmachung, indem Easmil seine Handflächen gegen die von Sorla drückte, was nicht ganz einfach war: Easmil musste seine Arme auseinander strecken, um Sorlas Handflächen, die dieser dicht zusammengelegt hatte, zu erreichen. Easmils Gefolgsleute begleiteten dies mit jubelndem
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Gezirpe. Ab da war alles recht einfach, denn die Minhiol kannten sich ja aus. Der Sims, den Sorla entlang klettern wollte, hätte sich als Sackgasse erwiesen; stattdessen rieten sie ihm, an das erste Seil ein zweites anzuknüpfen und sich daran zum Boden der riesigen Höhle hinabzulassen. Dort lagen die Reste der alten Seilbrücke. Sorla flickte und verknotete, was auszubessern war, verstärkte alles mit dem übrigen dritten Seil und befestigte die so entstandene Strickleiter am Ende seines Kletterseiles, an dem er anschließend zu den Zwergen hochkletterte. „Aha!“ rief Ygrottir. „Unser Dieb kehrt von seinem Ausflug zurück!“ Die beiden Zwerge saßen schmausend beisammen und sahen Sorla erwartungsvoll entgegen, als er über die Felskante zu ihnen hoch klomm. „Er kommt mit leeren Händen“, murrte Hurmothin. „Helft mir, dieses Seil hochzuziehen“, sagte Sorla, „dann seht ihr, was ich mitgebracht habe!“ Das taten sie, und es war recht mühsam. Doch als schließlich die Strickleiter in Sicht kam, musste selbst Hurmothin zugeben, dass diese für ihr weiteres Fortkommen nützlich sei. „An einem Seil zu hangeln wäre nicht meine Sache gewesen“, stimmte sein Bruder zu, „und an der senkrechten Wand herumzuklimmen wie eine Spinne schon gar nicht. Ich hatte mir deshalb schon Sorgen gemacht!“ Also befestigten sie die Strickleiter an dem eisernen Haken, rollten die beiden Seile wieder zusammen und machten sich auf den Weg. „Der Dieb voran!“ sagte Ygrottir, vielleicht aus Misstrauen, vielleicht weil sich diese Reihenfolge den Zwergen als sinnvoll erwiesen hatte. Sorla war es einerlei. Am Boden aber übernahm Hurmothin wieder die Führung. Er schien sich auszukennen, obwohl innerhalb des schwankenden Lichtscheins seiner Laterne nur Felstrümmer und feuchtes Geröll auftauchten und jenseits alles finster war. Nach einigem mühseligen Klettern und Kriechen tauchte eine Felswand im Laternenschein auf.
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„Aha!“ sagte Hurmothin befriedigt. Er wies auf eine senkrechte Felsspalte: „Dort geht's hinein!“ Ygrottir hob die Hand. „Wir sollten vorsichtig sein. Wenn ich jemandem auflauern wollte, würde ich es dort drin tun. Der Spalt ist nicht mal breit genug, dass wir unsere Waffen schwingen können.“ Auch Sorla hatte ein ungutes Gefühl. Er war in der Wildnis aufgewachsen und hatte geschärfte Sinne; irgendwie lag Gefahr in der Luft. Hurmothin schien es jetzt ebenfalls zu spüren. „Stimmt, Ygrottir“, brummte er. „Der Dieb soll nachsehen.“ „Mache ich“, sagte Sorla, obwohl sich ihm die Haare sträubten. „Ihr solltet euch rechts und links von dieser Spalte aufstellen, ohne dass man euch von drinnen sieht. Vielleicht komme ich gleich wieder herausgerannt und brauche eure Hilfe.“ „Guter Vorschlag“, nickte Ygrottir. Hurmothin brummte etwas in seinen weißen Bart und nickte ebenfalls. Sorla näherte sich vorsichtig der Felswand und untersuchte bei jedem Schritt den Boden nach möglichen Spuren. Ihm fiel auf, dass neben einigen kleineren Felsblöcken Vertiefungen im Mergel waren, in welche diese Felsen genau passten. Sie waren also umgekippt oder beiseite gerollt worden. Wer sollte das tun? Vielleicht war auch etwas sehr Schweres über die Steine geschleift worden. Oder ein Wesen mit riesigen Füßen war hier entlang geschlurft! Sorla sträubten sich wieder die Haare. Sieben Schritte vor dem Felsspalt blieb Sorla stehen, um zu lauschen. Zunächst fiel ihm nichts auf, erst als sein Herzklopfen sich beruhigt hatte und der Atem ganz flach ging, hörte er, wie der Felsspalte leise Geräusche drangen, die er aber nicht sofort benennen konnte. Er wollte noch genauer hinhorchen, da flüsterte hinter ihm Hurmothin: „Der Dieb traut sich nicht hineinzugehen!“ „Vielleicht ist er im Stehen eingeschlafen!“ kicherte Ygrottir leise. Er schien sich dabei umgedreht zu haben, denn ein Lederriemen seiner Rüstung knarrte.
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Da gab Sorla es auf zu lauschen, auch konnte er nicht mehr darauf hoffen, dass, falls dort drinnen etwas lauerte, sie es überraschen könnten. Stattdessen ließ er den Glygi vorausschweben und den Spalt vor ihm erhellen. Nichts Beunruhigendes war zu sehen; der Boden der Felsspalte bestand aus Geröll und war halbwegs eben, so dass sich zwischen den glatten Wänden ein schmaler Weg ergab, der nach hinten ins Dunkle führte. Seitlich vom Eingang führten verwitterte Felsstufen irgendwohin nach oben. „Was sind das für Stufen?“ fragte er Hurmothin, der ihm inzwischen so dicht hinterhergekommen war, dass er ihm ins Genick schnaufte. „Dort oben endete früher die Seilbrücke“, gab dieser widerwillig Auskunft. Und Ygrottir ergänzte: „Hier kamen wir runter, wenn wir zu den Silberstollen wollten, die weiter vorne im Felsspalt sind.“ „Genug geschwatzt!“ murrte Hurmothin und setzte sich an Sorla vorbei in Bewegung. Ygrottir folgte ihm. Sorla zögerte, denn er hatte das unklare Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Als aber der Schein von Hurmothins Laterne sich immer weiter in den Felsspalt entfernte, eilte er hinterher. Die Zwerge schritten unbekümmert aus, das Geröll knirschte unter ihren Stiefeln. Sorla konnte sich gut vorstellen, wie gering sie seine vorigen Versuche des behutsamen Erkundens und Lauschens einschätzten. Einmal hörte er auf dem Weg hinter sich ein Geräusch – oder glaubte es zu hören – doch da weiter nichts geschah, schloss er wieder zu den Zwergen auf. Dass sein Glygi aufgehört hatte zu leuchten, hätte ihm allerdings zu denken geben müssen. Doch fiel es ihm nicht auf, da er nur darauf achtete, was im Schein von Hurmothins Laterne zu sehen war. So war er genauso überrascht wie die beiden Zwerge, als plötzlich von hinten jemand schrie: „Bleibt stehen, ihr Schwachköpfe!“ Sorla fuhr herum und blickte auf drei Speerspitzen, die auf seinen Bauch zielten. Dahinter waren undeutlich Gestalten von Zwergen zu erkennen, und über deren Köpfen ragten weitere Speere
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bedrohlich empor. Im nächsten Augenblick ertönte von vorne der Befehl: „Keine Bewegung, Schwachköpfe! Ihr seid umzingelt!“ Auch dort, Sorla sah es undeutlich, standen mehrere Reihen Zwerge, von denen die drei vordersten ihre Speere auf Hurmothin richteten. „Beim Barte Brothenfimpirs!“ schrie dieser. „Wilde Zwerginnen!“ Schallendes Hohngelächter beantwortete diesen Wutausbruch. „Wir müssen uns durchschlagen!“ knurrte Hurmothin und versuchte seine Streitaxt zu schwingen. Doch die Felswände standen zu eng beieinander, zudem verlief an dieser Stelle der Spalt nach oben nicht senkrecht, sondern schief, so dass Hurmothin mit seiner Axt in keiner Richtung zurecht kam. Neues Hohngelächter quittierte seine Bemühungen. „Ergebt euch lieber!“ schrie jemand von hinten. „Eure Bärte seid ihr los, lebendig oder tot! Ihr könnt's euch aussuchen, ihr Schwachköpfe!“ „Sie hat recht, mein Bruder“, murmelte Ygrottir. „Wir sitzen in der Falle. Eine, zwei könnten wir verwunden, bestenfalls, bevor sie uns mit ihren Speeren fertigmachen. Es ist auch nicht heldenhaft, gegen Frauen zu kämpfen.“ „Das sind keine Frauen!“ murrte Hurmothin. „Das sind Ungeheuer! Sie wollen unsere Bärte und vielleicht noch mehr!“ Sorla, angesichts der drei auf ihn gerichteten Speerspitzen, versuchte sich unauffällig hinter Ygrottir zurückzuziehen, denn dieser hatte ja Rüstung und Streithammer. Da rief eine der vorderen Zwerginnen, deren pralle rote Zöpfe Sorla schon aufgefallen waren: „He, du schmächtiger Stecken! Was bist denn du für einer? Zu einem richtigen Zwerg jedenfalls taugst du nicht!“ „Es ist ein junger Mensch“, antwortete Ygrottir, der sich an Sorla vorbei nach vorne drängte. „Lasst ihn zufrieden, er hat euch nichts getan. Und einen Bart kann er euch auch nicht bieten.“ Die Rotzöpfige lachte. „Ein Bart ist nicht alles!“ Die Zwergin neben ihr, massig gebaut und wohl die
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Anführerin, rief unwillig: „Genug davon! Ihr Schwachköpfe sollt euch ergeben, sonst kriegt ihr unsere Speere in die Bäuche!“ „Einige von euch müssten vorher dran glauben!“ rief Ygrottir. „Wollt ihr das wirklich?“ „Was wir wollen“, erwiderte die Anführerin, „ist, euch Schwachköpfe um eure Bärte winseln zu sehen.“ „Beim Barte Brothenfimpirs!“ knirschte Hurmothin. „Nur über meine Leiche!“ So standen sie sich gegenüber, und einige Atemzüge geschah gar nichts. Sorla flüsterte Ygrottir zu: „Sind alle Zwerginnen so wie diese hier?“ „Oh nein!“ antwortete dieser. „Die meisten sind gezähmt. Sie wissen, was sich gehört, brauen Met, ziehen Zwergenbälger groß und lassen sich keine Bärte wachsen.“ Erst jetzt, als er genauer hinsah, fiel Sorla auf, dass die Zwerginnen außer ihrer üppigen Kopfbehaarung, die sie zumeist in Form dicker Zöpfe gebändigt hatten, genug Bartflaum aufwiesen, um mit richtigen Bärten prahlen zu können. Die eine hatte einen kleinen Knebelbart, die andere einen hübsch geflochtenen Schnurrbart und so weiter. Als auch weiterhin nichts geschah, als dass die Zwerginnen mit ihren Speeren drohten, während Ygrottir und Hurmothin ihre Waffen abwehrbereit hielten, beschloss Sorla, eine kleine Rede zu halten: „Verehrte Zwerginnen und Zwerge! Gestattet einem Nichtzwerg, der vielleicht eure Bräuche und Probleme nicht gut genug kennt, einige Worte zu sprechen. Dies hier ist eine verfahrene Lage. Die Zwerginnen können nichts erzwingen, ohne selber Opfer zu beklagen, und die Zwerge werden sich nicht ergeben. Das kann jetzt lange so bleiben und uns aufhalten, obwohl wir alle Besseres zu tun hätten. Auch scheint mir, dass im Grunde keiner dem anderen wirklich ans Leder will. Das Vernünftigste wäre sicher, wir gingen stillschweigend auseinander und vergäßen den Vorfall. Aber offensichtlich geht es um Fragen der Ehre. Also schlage ich vor, diese friedlich zu klären, und zwar bald. Mir
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scheinen, wie ich die zwergische Wesensart einschätze, Zweikämpfe ohne Waffen ein brauchbarer Weg.“ Nach kurzem Schweigen sagte die Anführerin: „Das war geredet wie ein Gnom, geschwollen. Aber dumm war's nicht. Zwei unsrer Besten sollen gegen die beiden Schwachköpfe kämpfen, ohne Waffen natürlich, und nach unserem Sieg schneiden wir euch die Bärte ab.“ „Beim Barte Brothenfimpirs!“ empörte sich Hurmothin. Und Ygrottir rief: „Wir siegen natürlich! Was gibt's bei euch dann abzuschneiden?“ Da meldete sich die rotzöpfige Zwergin zu Wort: „Dann lassen wir das mit den Bärten. Mir wäre was anderes sowieso lieber. Ich schlage vor, wer den Kampf verliert, muss dem Sieger einen Monat lang dienen und zu Willen sein. Und das Beste dabei ist: dann krieg' ich meinen Spaß, egal ob ich verliere oder gewinne! Ich melde mich auch zum Ringkampf!“ Einige andere Zwerginnen kicherten zustimmend, auch hörte Sorla eine murmeln: „Und die anderen gehen leer aus? Das ist gemein!“ „Unsinn!“ fuhr die Anführerin dazwischen. „Uns geht's nicht um Spaß, sondern um die Würde Wilder Zwerginnen! Die Vorstellung, einem Schwachkopf zu Willen sein zu müssen, ist unerträglich. Lassen wir es bei den Bärten. Und wenn die unseren nicht so stattlich sind wie die der Schwachköpfe, so sind wir doch genau so stolz darauf. Wir können aber stattdessen auch unsere Zöpfe anbieten.“ Die meisten Zwerginnen nickten zustimmend, andere wollten ihre Zöpfe nicht aufs Spiel setzen. Sorla flüsterte Ygrottir zu: „Ihr solltet dem zustimmen! Sonst zieht sich das hin, bis wir einschlafen; aber die Zwerginnen können umschichtig wachbleiben, dann haben sie uns sowieso.“ Ygrottir flüsterte zurück: „Stimmt. Sag das auch Hurmothin!“ Dieser ließ sich ebenfalls überzeugen, und so wurden die Zweikämpfe beschlossen. Die Zwerginnen gaben den Weg zurück
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zu der großen Höhle frei, wo sich die beiden Gruppen gegenüber aufstellten. „Wie auch immer die Kämpfe ausgehen“, rief die Anführerin den Zwergen zu, „es wird nie vergessen werden, wie wir euch Schwachköpfe in die Falle gelockt haben!“ „Ich verstehe, dass eine Hälfte von ihnen sich weiter vorne in der Kluft aufhielt“, flüsterte Ygrottir Sorla zu. „Aber wo waren diejenigen versteckt, die hinter uns auftauchten?“ „Oberhalb dieser Felsstufen hier“, erwiderte Sorla unglücklich. „Ich hätte es wissen müssen.“ Und da ihn dies an eine andere offene Frage erinnerte, wandte er sich an die Anführerin der Zwerginnen: „Weshalb habt ihr all die Felsen hier umgestoßen?“ „Wir haben ein Goldstück gesucht, das eine mal hier versteckte. Deswegen kamen wir überhaupt hierher.“ „Und habt ihr's gefunden?“ „Ja, Atne sei's gepriesen!“ Das brachte Sorla auf eine Idee, die er aber vorläufig für sich behielt. * „Möge die Bessere gewinnen!“ rief die Anführerin und eröffnete damit die Kämpfe. Sie selbst trat gegen Hurmothin an, weil dessen weißer Bart ihr ein besonderes Ärgernis war. Sie legten Waffen und Rüstung ab und traten in den Ring, der in den Mergel geritzt worden war. Hurmothin stand breitschultrig und stämmig auf seinen kurzen Beinen da, doch hatte die Anführerin gewiss den doppelten Umfang, was an ihren massigen Brüsten lag, die durch einen starken Gürtel auf Hüfthöhe beisammen gehalten wurden. „Komm her, Schwachkopf!“ verhöhnte sie Hurmothin. „Oder hast du Angst?“ „Tolles Weib!“ knurrte dieser. „Lass dich züchtigen!“ Er trat vorwärts, um sie zu packen und umzuwerfen. Aber so breit war
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sie, dass er sie nicht umfassen konnte. Sie sprang beiseite, packte ihn beim Bart und zog ihn einmal im Kreise herum. Die umstehenden Zwerginnen johlten. Überraschend gelang es ihm aber, ihren Arm zu packen, nach hinten zu drehen und mit einem Knie ihren Hintern anzuheben, dass sie hilflos mit den Beinen in der Luft strampelte. „Ergibst du dich?“ rief er, aber da hatte sie in erstaunlicher Gelenkigkeit ihre Beine über ihren Kopf geworfen und mit ihnen den seinen in die Zange genommen. Beide plumpsten zur Seite, aber sie ließ nicht locker, er mochte sich wenden, wie er wollte. Zudem hielt sie wieder seinen Bart gepackt und rief: „Ergib dich selbst, oder ich reiße dir den Bart strähnenweise aus!“ Das war ein klarer Sieg, wie selbst Ygrottir zugeben musste, und Hurmothin stellte sich geschlagen zur Seite. Gegen Ygrottir trat eine jüngere Zwergin an, die rotzöpfige mit den eigenwilligen Vorschlägen. „Komm, lass uns tanzen, Süßer!“ rief sie und fasste nach seinen Händen. Er entwand sich ihrem Griff und packte sie um den Leib, um sie aus dem Stand zu heben. „Dann eben anders!“ rief sie, wobei sie ihr Knie hochriss und ihn so hart an empfindlicher Stelle traf, dass er, die Hände zwischen die Beine gepresst, umher tanzte. Die anderen Zwerginnen jubelten. „Gut getanzt!“ rief sie und klatschte. Das war ihr Fehler, denn ihm gelang es, ihre beiden Hände zu packen und sie über sein Bein stolpern zu lassen, dass sie auf den Bauch fiel. Er sprang ihr auf den Rücken und drückte ihren Kopf in den Mergelmatsch. „Ergib dich!“ rief er, aber da sie mit dem Gesicht im Dreck nicht antworten konnte, ließ er ihren Kopf wieder los. Mit Schwung dreht sie sich zur Seite, so dass er von ihrem Rücken fiel, und sprang ihm auf den Bauch: „Ha, mein Süßer!“ Ygrottir zog ihre Füße weg, so dass sie erneut in den Dreck fiel, sprang auf und riss sie an den Zöpfen hoch. Nun warf er sie sich über die Schultern, Rücken an Rücken, hielt sie an den Zöpfen und ließ sie hilflos strampeln.
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„Ergib dich, kleine Raubkatze!“ rief er, und nachdem er sie einmal im Kreis herumgetragen hatte, ohne dass sie etwas anderes tun konnte als zappeln und schimpfen, mussten die Zwerginnen eingestehen, dass Ygrottir den Sieg errungen hatte. „Nun geht's ans Bärteabschneiden!“ rief die Anführerin und ging, einen Dolch in der Rechten, auf Hurmothin zu. „Halt!“ rief da Sorla. Er hielt das Goldstück, das er von Hurmothin gewonnen hatte, in die Höhe und drehte es, dass es im Schein der vielen Laternen so richtig funkelte: „Mit diesem Gold will ich Hurmothins Bart freikaufen!“ „Eine Goldmünze!“ und „Die ist ja riesig!“ wisperten die Zwerginnen, welche Sorla umdrängten. Die Anführerin aber schob sie beiseite und sagte barsch: „Lass sehen!“ Sorla sah, wie es in ihr arbeitete. Schließlich sagte sie: „Einem Schwachkopf die Manneszierde abzuschneiden ist süß. Aber Gold ist doch besser.“ Sie schnappte sich das Goldstück aus Sorlas Hand und wandte sich brüsk ab. Hurmothin glotzte überrascht. Er kratzte sich den Kopf, fasste einen Entschluss, blieb wieder stehen und ging dann doch auf Sorla zu, vor dem er sich aufbaute. „Ich weiß, nicht, warum du das getan hast, Dieb“, murrte er, „aber ich schulde dir etwas.“ Damit wandte er sich ab und hatte nicht einmal gelächelt. Nun war es an Ygrottir, sich seinen Siegespreis zu holen. Er stand vor der Zwergin, befühlte ihre dicken Zöpfe und rief dann: „Wie sind diese Zöpfe schön an dir! Ich will großzügig sein; wenn Hurmothin, mein älterer Bruder, seinen Bart behielt, so will ich dir deine Zöpfe nicht nehmen!“ Da warf sie jauchzend ihre Arme um seinen Hals und hing lange an ihn geklammert, während er verlegen da stand und zunehmend errötete. *
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Die Wilden Zwerginnen waren ihrer Wege gegangen – alle außer Borletgar, der rotzöpfigen jungen Zwergin. Sie hatte beschlossen, bei Ygrottir zu bleiben, „vorläufig“, wie sie betonte. Sie schlugen schon jetzt ihr Nachtlager auf, denn viel war an diesem Tage geschehen, was bedacht und besprochen sein wollte. Es kam dann aber doch nicht zu gemeinsamen Gesprächen, denn Ygrottir und Borletgar hatten Augen und Hände nur für einander. Manchmal kniete sie vor ihm und strählte andächtig seinen Bart, manchmal kniete er hinter ihr und flocht versonnen ihre Zöpfe. Sie fütterten sich gegenseitig, und Ygrottir, der berühmte Held der Zwergenschaft, benahm sich dabei so unwürdig einfältig, dass Hurmothin Verächtliches in seinen Bart murmelte. Natürlich suchten die beiden auch eine abgeschiedene Schlafstatt auf, denn, wie Borletgar es ausdrückte, „was wir treiben, dürft ihr beide euch nur vorstellen!“ „Frauen bringen Unglück!“ murrte Hurmothin. „Der König stellt uns eine Aufgabe, bei der schon zwei Helden ihr Leben ließen, und mein kleiner Bruder denkt nur an alberne Zärtlichkeiten!“ Sorla wusste dazu nichts zu sagen, was Hurmothin beruhigt hätte, und dachte vor dem Einschlafen lieber über den vergangenen und den kommenden Tag nach. Merkwürdig schien ihm beispielsweise, dass Easmil und seine Minhiol ihn nicht vor dem Hinterhalt der Wilden Zwerginnen gewarnt hatten. Auch zweifelte Sorla, ob Hurmothin sich über den Gefallen, den Sorla ihm mit dem Freikauf seines Bartes tat, wirklich freute. In der Schuld eines Diebes zu stehen schien Hurmothins Ehre anzukratzen. Nun gut, um so unbekümmerter würde Sorla bei Gelegenheit diese Schuld einfordern. Das brachte ihn zum kommenden Tag. Es galt, Ogluskshaddena ihrer Schätze zu berauben, was vermutlich erforderte, sie vorher zu töten. Daran waren schon andere Zwergenhelden gescheitert. Man musste also einen anderen Weg finden als nur loszustürmen und draufzuschlagen, was ja die Stärke von Zwergenhelden war. Und danach, so hatte Sorla Easmil zugesagt, würde er den Zwergen die Krone der Minhiol wieder abnehmen müssen. Das schien ihm fast noch schwieriger als
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Ogluskshaddena zu berauben, auch würde es ihm die Feindschaft der Zwerge nicht nur in den Weißen Bergen zuziehen. Über den vielen fruchtlosen Überlegungen dazu schlief Sorla endlich ein. Er erwachte von einem Zirpen dicht an seinem Ohr. „Verdammte Ratten!“ brummte Hurmothin, der neben ihm lag. „Wie soll man bei ihrem Pfeifen schlafen?“ Damit drehte er sich um und schlief wieder ein. Sorla aber stand auf und ging hinter einen Felsblock, vorgeblich um Wasser abzuschlagen. Da erschien auch schon der Prinz der Minhiol. „Gut, dass du da bist, Easmil!“ flüsterte Sorla. „Weshalb habt ihr uns gestern nicht gewarnt?“ „Wir dachten nicht, dass andere Zwerge eine Gefahr sein könnten, Sorle-a-glach. Wir beobachteten aber mit Vergnügen, wie du die Schwierigkeiten überwandest. Wenn du auch heute so viel Geschick und Geistesgegenwart zeigst, müsste uns der ersehnte Erfolg beschieden sein!“ „Ich hatte Glück. Doch ob mir Atne weiterhin so hold ist, oder Ak'men, ihr Neffe, das ist fraglich.“ „Meine Leute und ich werden ein Gebet an sie richten.“ „Tut das. Und ich werde Atne ein Opfer bringen.“ Er dachte an frühere Gelegenheiten, wo er oder seine Mutter etwas Wertvolles von sich warfen – dem Zufall anheim stellend, damit zu tun und zu lassen, was er wollte – zog den Beutel, in dem er seine Münzen verwahrte, vom Gürtel und begann ihn am Riemen herumzuwirbeln. „Ist das deine ganze Barschaft?“ flüsterte Easmil verdutzt. „Sicher. Mit Atne mache ich keine halben Sachen. Sie war mir in der letzten Zeit auch sehr gewogen.“ Er schwang den Beutel am Riemen herum. „Mein Dank für dich, Atne!“ flüsterte er und ließ den Beutel fahren, der in hohem Bogen in der Dunkelheit der Halle verschwand. Gleich darauf ertönte ein schmerzlicher Aufschrei, ein allgemeiner Aufruhr, gefolgt von grässlichem Heulen, das sich einige Atemzüge lang steigerte und röchelnd verebbte. „Was habe ich getan?“ fragte Sorla entsetzt. Doch Easmil
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war verschwunden, stattdessen kam Hurmothin angerannt und rief: „Ygrottir! Wie geht es euch?“ „Danke, alles erledigt!“ kam dessen Stimme aus der Gegend, in welche Sorlas Geldbeutel geflogen war. Als Sorla und Hurmothin dort ankamen, sahen sie Borletgar und Ygrottir, beide nur leicht bekleidet, aber blutbespritzt, neben ihrem Schlafplatz stehen. Ygrottir hielt noch den Streithammer in den Händen, Borletgars Speer steckte im Bauch eines Trolls, der tot und riesig vor ihnen lag. „Es war merkwürdig!“ berichtete Ygrottir. „Etwas Schweres fiel auf den Kopf meines Zopfschneckchens, äh, Borletgars. Davon wachte sie auf, das weckte mich. Und das war unser Glück, bei Atne! Denn da stand dieser Troll und hielt uns für sein Futter.“ Er lachte bärbeißig. „Ich muss schon sagen, Borletgar und ihr Speer haben ganze Arbeit geleistet!“ „Du übertreibst, mein Goldstück!“ flüsterte sie verlegen. „Das meiste hast doch du getan mit deinem Hammer!“ Und als die beiden ihre Sachen zusammenräumten, rief Ygrottir aus: „Sieh mal, Sorle-a-glach, dein Geldbeutel! Den hast du hier verloren!“ „Sicher nicht“, winkte dieser ab. „Doch, ich sah ihn gestern genau, als du die Goldmünze hervorholtest. Das ist er! Welch ein Glück, dass wir ihn wieder haben!“ Sorla steckte ihn dankend ein und musste sich danach erst einmal setzen. * Sie waren wieder in dem Felsenspalt, wo die Wilden Zwerginnen ihren Hinterhalt gelegt hatten. Hurmothin ging mit seiner Laterne voraus und leuchtete in jeden der zahlreichen Silberstollen, die hier abgingen. Ihm folgte Borletgar, die sich
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ständig nach Ygrottir umdrehte. Sorla folgte in einigem Abstand, denn er wollte sich mit Easmil bereden. „Easmil, ich habe Angst vor dem, was heute noch geschieht!“ „Weshalb, Sorle-a-glach? Welches Glück du hast, das haben wir vorhin gesehen!“ „Es war zuviel! Statt mein Opfer einfach anzunehmen, rettet sie zwei meiner Begleiter, die dem Tode geweiht waren, auf ungewöhnliche Weise. Ich glaube, sie hat diesen Troll nur hergeführt, damit wir ihre Macht bewundern.“ „Das ist doch nicht schlimm, oder? Jeder weiß, wie launisch die Glücksgöttin ist.“ „Eben! Und mir obendrein den Geldbeutel wieder zurück zu geben – es ist mir unheimlich.“ Nach einiger Zeit, in der Sorla seinen Gedanken nachhing, während Easmil rücksichtsvoll schweigend auf seiner Schulter saß, raffte er sich auf und sagte: „Genug davon. Was für ein Wesen ist diese Ogluskshaddena, Easmil?“ „Riesig groß, wie ein Pilz oder ein Schleim, und wahrscheinlich ebenso dumm. Aber ich bin da nicht so sicher. Sie war schon immer hier, oder zumindest eine sehr lange Zeit. All diese Schätze, welche die Zwerge jetzt heben wollen, hat sie nicht etwa gesammelt, sondern sie sind liegen geblieben als Reste ihrer Opfer.“ „Dann hättet ihr doch unsichtbar hinabfliegen und euch die Krone holen können; oder ist sie zu schwer?“ „Keinesfalls, wir könnten sie durchaus tragen. Einer meiner Leute flog auch hinunter, um sie zu suchen, doch als er Ogluskshaddena zu nahe kam, verdorrten seine Flügel, und er stürzte in den Tod.“ „Sind es ihre Ausdünstungen, die sie so gefährlich machen?“ „Für das Kleine Volk sicherlich. Ob für große Leute wie dich und die Zwerge, das wissen wir nicht. Jedenfalls ist sie kaum zu töten. Sie besteht ja nur aus Schleim und zähen Fasern, sie hat
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weder Kopf noch Herz, weder Knochen noch Gedärm; wo also soll man sie treffen?“ „Du machst mir wirklich Mut, Easmil.“ Sorla holte zu Ygrottir auf und fragte diesen, was die Zwerge über das Ungeheuer wüssten, das sie zu töten beabsichtigten. „Was muss man schon wissen?“ entgegnete Ygrottir. „Es ist sehr groß, aber mein Bruder und ich sind erfahrene Kämpfer, und nun ist auch noch Borletgar zu uns gestoßen. Da müsste es zu schaffen sein, beim Barte Brothenfimpirs!“ „So habt ihr keinen Plan, wie ihr vorgehen wollt?“ „Wie üblich – drauf und dran!“ Er lachte bärbeißig, und Borletgar wandte sich bewundernd zu ihm um. „Ihr solltet klüger vorgehen als jene, die vor euch kamen! Drauf und dran reicht nicht!“ Jetzt drehte sich Hurmothin um und rief zurück: „Gib Ruhe, Dieb, und schwatze nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst!“ Sorla seufzte. Bald nach diesem Wortwechsel erweiterte sich die Kluft, und sie mussten über Geröll steil abwärts klettern. Je tiefer sie kamen, desto wärmer wurde es. Die Luft war neblig, und die Felsen glitzerten vor Feuchtigkeit. Schließlich kamen sie an eine Kante, hinter welcher der Felsen senkrecht abfiel. Sorla und die Zwerge legten sich auf ihre Bäuche und blickten vorsichtig über den Rand in die Tiefe. Der riesige Felsspalt, den sie seit Stunden durchwandert hatten, öffnete sich hier zu einer fast kreisförmigen Grotte, die wirkte wie ausgeätzt, ausgefressen zu einem gewaltigen Loch. Dessen Boden, ungefähr zehn Klafter tiefer, sahen sie erst, als Hurmothin seine Laterne an einem Seil hinab ließ. Dort unten lag breit und reglos eine gelbbraune Masse; sie füllte den ganzen Boden aus und ließ zwischen sich und der senkrechten Felswand ringsum nur einen schmalen Rand, der von glitzernden Schätzen übersät war. Manchmal liefen leichte Wellen über das Riesengebilde, oder
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es formten sich ganz langsam Einbuchtungen oder Auswüchse, die dann wieder verschwanden. Ein leicht stechender Geruch lag in der Luft – nicht so schlimm, dass es in den Augen brannte, aber doch spürbar. „Riecht ihr das?“ flüsterte Sorla. „Das könnte gefährlich sein!“ „Unsinn!“ murrte Hurmothin. Und zu den anderen Zwergen: „Seht ihr das viele Gold?“ „Wir hätten Träger mitbringen sollen!“ antwortete Ygrottir. „Die vielen edlen Steine werden wir zurücklassen müssen“, bedauerte Borletgar. „Ihr redet, als hättet ihr Ogluskshaddena schon besiegt!“ ärgerte sich Sorla. „Ogluskshaddena? So heißt das Zeug dort unten?“ fragte Ygrottir. „Woher weißt du das?“ „Es spricht sich herum“, wehrte Sorla ab. „Wir haben den Namen nie gehört!“ entgegnete Hurmothin und beäugte Sorla unter misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen. „Doch!“ entgegnete Borletgar eifrig. „Wir Wilden Zwerginnen kennen eine Sage, da wird ein Zwerg erwähnt, den die Götter mit Ogluskshaddena bestrafen oder beschenken. Der Name heißt in der Sprache der Trolle 'Das Übel am Ende des Bartes'. Wir hielten es für eine Art Bartkrankheit.“ „Scheußlicher Name“, schüttelte sich Ygrottir. „Typisch für Trolle!“ „Wohlan!“ rief Hurmothin. „Dann wollen wir dieser Scheußlichkeit zeigen, was Kämpfende Zwerge sind!“ „Und Wilde Zwerginnen!“ mahnte Borletgar. „Die vor allem!“ lächelte Ygrottir in seinen Bart und sank mit Borletgar in eine derart innige Umarmung, dass sie Hurmothins Räuspern erst nach langem daraus zurückholen konnte. „Soviel Zeit muss sein!“ verteidigte Borletgar die Verzögerung. „Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen!“ Sie ordnete ihre Röcke und zwinkerte Sorla zu.
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Nun wurde es ernst. Die Zwerge befestigten drei Seile an der Felskante, packten ihre Waffen und ließen sich gleichzeitig zum schmalen Rand hinab, wo ihre Stiefel zwischen all den Edelsteinen und goldenen Schätzen kaum einen Platz fanden. Sofort schlugen und stachen sie auf Ogluskshaddena ein. Im selben Augenblick bäumte sich die reglose Masse auf und peitschte mit schlangenartigen Auswüchsen um sich. Die Zwerge konnten ausweichen oder mit ihren Waffen dagegen halten, doch verwickelte sich Ygrottirs Streithammer in die Masse aus Schleim und zähen Fasern und ließ sich nicht mehr zurückziehen. Borletgar eilte ihm zu Hilfe. Sie wehrte die immer zahlreicher wimmelnden Tentakeln von ihm ab, indem sie wieder und wieder darauf einstach oder sie mit quer gehaltenem Speer abdrängte. Auch Hurmothins Streitaxt hatte sich verfangen und war ihm sogar aus den Händen gerissen worden. Er sprang am Rand hin und her, um den Griff wieder zu packen, der aus den wimmelnden Massen herausragte und wie Treibgut in der Brandung des Meeres tanzte. Noch immer mühte sich Ygrottir, seinen Streithammer dem Ungeheuer zu entwinden, und jetzt, mit einem beidhändigen Ruck am Stiel, zog er ihn zurück. Doch hielt er nur den Stiel in Händen, und diesen nur zur Hälfte, der Rest fehlte. Da schrie Borletgar auf; sie war von den Auswüchsen Ogluskshaddenas umwickelt und schlug hilflos um sich. Ygrottir warf den nutzlosen Stiel seiner Waffe beiseite, packte mit einer Hand ein herabhängendes Seil, mit der anderen griff er nach Borletgar, um sie dem Ungeheuer zu entreißen. „Ich brenne!“ schrie sie. „Es frisst mich schon auf! Oh Ygrottir, mein Liebster!“ Er aber hielt fest und keuchte vor Anstrengung. Das Seil war so straff, dass es knarrte, und rieb bei jedem Aufbäumen Ogluskshaddenas an der Felskante hin und her. Fasern stäubten ab, noch drei, vier Atemzüge lang hielt das Seil stand, dann riss es und schlug wie eine Peitschenschnur nach Ygrottir, warf diesen gegen Borletgar, und beide versanken in den aufgewühlten Massen
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Ogluskshaddenas. * Hurmothin, waffenlos und allein, war den umher schlagenden Armen knapp entronnen und wieder zum Felsrand hochgeklettert, von wo Sorla dem Geschehen entsetzt zugesehen hatte. Nun saß der Zwerg da und verband seinen linken Fuß, an welchem vier Zehen fehlten: der Schleim Ogluskshaddenas hatte sie zerfressen. Er sagte kein Wort, sein Gesicht war versteinert. Nur einmal stand er auf und schleuderte den nutzlosen Rest des zerfressenen Stiefels in die Tiefe. Als er sich wieder setzen wollte, stieß er gegen den Rucksack seines jüngeren Bruders. Da liefen Tränen über sein Gesicht und versickerten im Bart, aber er saß da und rührte sich nicht. Sorla konnte hier nichts tun. Er ging die Felskante entlang und sah, dass sie fast um das ganze Loch, in welchem Ogluskshaddena hauste, einen Sims bildete, so dass man ihm folgen und das Loch umrunden oder auch auf der anderen Seite in der Kluft weitergehen konnte. Diesen Sims betrat Sorla nun, schrittweise und vorsichtig, wobei er den Glygi immer wieder zum Leuchten hinab schickte, denn er wollte unter all den Schätzen die Krone der Minhiol herausfinden. „Dort unten ist sie!“ wisperte Easmil, aber Sorla konnte nichts entdecken, was einer Krone ähnlich sah. „Gleich neben jenem Faserbündel!“ Noch immer machte Sorla dort unten nur Edelsteine, Ringe und einen goldenen Dolch aus. Aber dieses Faserbündel sah merkwürdig aus. Wie ein dickes, schlecht gedrehtes Seil führte es aus der Masse Ogluskshaddenas heraus und schmiegte sich in halber Höhe an die sie umgebende Felswand. Jetzt fielen Sorla noch weitere, ähnliche Faserbündel auf, die sämtlich den Leib
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Ogluskshaddenas mit dem Felsen verbanden. Und als er dem Verlauf der einzelnen Faserbündel aufwärts folgte, sah er, dass sie alle wieder zusammenfanden und schließlich in einen verfilzten Klumpen mündeten, der von der Höhlendecke, dick wie ein Zwergenrumpf und einem Stalaktiten täuschend ähnlich, herabhing – am anderen Ende des Loches und somit außerhalb der Reichweite von Hurmothins Laterne. „Das Übel am Ende des Bartes“, flüsterte Sorla; ihm war ganz schlecht von der Erkenntnis, die sich ihm aufdrängte. Langsam und in Gedanken ging er zurück zu Hurmothin. Dort zog er die beiden verbliebenen Seile hoch, löste das eine und verknüpfte es mit dem Ende des anderen, das noch am Felsrand befestigt war. So hatte er ein doppelt so langes Seil, das quer über das Loch reichte. Er hielt das Ende fest, und indem er das Loch umschritt, fing er mit dem Seil den von der Höhlendecke herabhängenden Faserklumpen ein. Weiter das Loch umrundend kam er zu Hurmothin zurück und begann das Seil zu sich heranzuziehen. „Was tust du da, Dieb?“ murrte Hurmothin. „Verzeih, Hurmothin“, sagte Sorla, „dass ich dich in deiner Trauer störe. Doch ich gedenke Ogluskshaddena den Lebensfaden abzuschneiden.“ Hurmothin stand auf und humpelte näher. Er betrachtete den verfilzten Klumpen, der in der Schlinge gefangen langsam schaukelte, und verfolgte dessen Verästelungen mit seinen Augen, soweit das Licht seiner Laterne reichte. Sorla schickte den Glygi hinunter, so dass Hurmothin sich überzeugen konnte, wie all die Faserbündel im Leib der Ogluskshaddena zusammenkamen. „Dies ist abscheulich!“ flüsterte er. Dann holte er seinen Dolch und sagte zu Sorla: „Lass mich dies selbst tun, ich bitte dich!“ Seine Stimme war so heiser vor Rachedurst, dass Sorla sie kaum erkannte. „Gerne, Hurmothin. Doch bevor du anfängst zu schneiden, beantworte mir bitte eine Frage: Glaubst du, dass die Kraft in diesem Filzklumpen nach unten fließt, wo sich die Faserbündel verästeln, oder dass die Kraft von Ogluskshaddena dort unten
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kommt, sich sammelt und durch den Filzklumpen weiter nach oben steigt?“ Hurmothins Augen glitzerten böse unter seinen Brauen hervor. „Ich kann deine Frage nicht beantworten, Sorle-a-glach, aber ich weiß, was du meinst. Dies ist der Bart meines Königs. „Dann weißt du, was du tust, Hurmothin.“ „Natürlich. Wenn die Kraft hinabfließt zu diesem Ungeheuer, dann kann ich meinen König jetzt von einer Krankheit befreien, die an ihm zehrt; das wird er mir danken. Aber“, und jetzt grollte Hurmothins Bass heiser und gepresst, „wenn die Kraft nach oben strömt, wenn also mein König sich nährt vom Tode meines Bruders und ähnliches seit Zwergengedenken tat und deshalb so lange schon lebt ...“ Er sprach nicht weiter, sondern begann mit seinem Dolch am Filzklumpen herumzusäbeln. „Das tat er nicht absichtlich“, wandte Sorla ein, „sonst hätte er uns nicht geschickt, Ogluskshaddena zu töten.“ „Mir einerlei“, stieß Hurmothin hervor und schnitt weiter. „Vielleicht hat er's vergessen; er ist so alt. Vielleicht hat ihm die Goldgier den Verstand geraubt.“ Da löste sich eine Strähne; gleichzeitig zuckte Ogluskshaddena so stark zusammen, dass ein dumpfes Klatschen aus dem Loch erklang. Eine weitere Strähne riss auseinander, da begann Ogluskshaddena zu toben, dass der Boden bebte. „Spürst du das, du Ungeheuer?“ flüsterte Hurmothin. „Tut dir das weh?“ Und mit verstärkter Kraft bearbeitete er des Zwergenkönigs verfilzte Barthaare. Immer heftiger tobte Ogluskshaddena; sie peitschte die Felswände; sie bäumte sich auf, doch ohne die Kante zu erreichen, wo ihre Peiniger standen; sie stieß zischend Dämpfe aus, die in Augen und Nase stachen. Der Boden schwankte, Steinbrocken begannen von der Höhlendecke herabzufallen. Doch Hurmothin schnitt verbissen weiter, jetzt hing die Masse der von unten kommenden Faserbündel an nur noch einem dünnen Strang des sonst völlig aufgespleißten Klumpen. Noch ein Schnitt, die Faserbündel fielen nach unten, der zerschnittene
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Klumpen, aus der Seilschlinge befreit, drehte sich wirbelnd unter der Höhlendecke – da krachte es aus der Tiefe, dröhnte von überall her, der Boden bebte so stark, dass Sorla und Hurmothin stürzten und umher geworfen wurden. Die Laterne fiel um und erlosch, in der Finsternis hielten sich Sorla und Hurmothin umklammert, als gäbe ihnen das einen Halt in dem Toben und Krachen ringsum. * Als Sorlas Bewusstsein zurückkehrte, war ringsum alles still. Sorlas Schädel allerdings pochte schmerzhaft; als er den Kopf befühlte, klebten seine Finger von Blut. Nun erglomm auch der Glygi, und in seinem hellblauen Schimmer sah Sorla inmitten von herabgefallenen Steinbrocken Hurmothin sitzen, der seinen Bart bürstete und dabei Sorla besorgt betrachtete. „Gut, dass du lebst, Sorle-a-glach. Seit Stunden lagst du wie tot. Du hättest einen Helm tragen sollen wie ich.“ Sorla grinste und kroch auf allen Vieren zum Felsrand, um hinabzuschauen. Dort unten klaffte ein Riss von einer Wand quer durch den Boden zur anderen. Einige zerrissene Faserbündel hingen an den Wänden, von Ogluskshaddena waren ein paar reglose Fetzen übrig, der Rest war in der Tiefe verschwunden. „Ob sie noch lebt?“ fragte Sorla Hurmothin, der neben ihm kniete. „Kaum möglich“, knurrte dieser. „Das war ihr Todeskampf vorhin.“ Nach einigen Augenblicken, in denen er erkennbar nach Worten rang, sagte er leise: „Wir hätten das gleich tun sollen statt sinnlos zu kämpfen.“ Dann aber verstaute er das Ende des frisch gestriegelten Bartes unter dem Gürtel und rief: „Nun her mit den Schätzen, wegen derer wir herkamen!“ Er schnallte sich einen leeren Rucksack um, packte das Seil und ließ sich die Felswand hinunter. Sorla folgte, bewegte sich aber wegen seines Kopfwehs und anderer
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Prellungen recht vorsichtig das Seil hinunter. Es fiel ihm gleich auf, dass die Luft nicht mehr dumpf und stechend, sondern frisch und angenehm war. Am Boden angekommen, begann Hurmothin einzusammeln, was aus Gold war – je gediegener, desto besser. Sorla ließ alles liegen, er suchte nur nach der Krone und hoffte sie vor Hurmothin zu finden, möglichst unbemerkt. „Seltsam“, murmelte Hurmothin schließlich. „Ich kann Rasathirs Ring nicht finden.“ „Du meinst den, der die Kälte bannt?“ fragte Sorla, aber ohne ganz bei der Sache zu sein. „Genau den. Ich hoffe, dass Ogluskshaddena ihn nicht mit in die Tiefe gerissen hat!“ Vorsichtig näherte sich Hurmothin dem klaffenden Riss und lugte in den Abgrund. Daran hatte Sorla noch nicht gedacht. Ganz sicher war ein Teil des Schatzes mit Ogluskshaddena verschwunden, vielleicht auch die Krone der Minhiol! Auch die weitere Suche blieb bei beiden vergeblich. Also stopfte Hurmothin noch andere Schätze in seinen Rucksack, bis dieser zu platzen drohte; und Sorla, den als Kind die Gnome in Edelsteinkunde unterwiesen hatten, suchte sich eine Handvoll besonders schöner Steine zusammen, die er in seinen Beutel steckte. Als sie wieder hochgeklettert waren, breiteten sie ihre Decken fürs Nachtlager aus. Dies war ein langer und schrecklicher Tag gewesen; beide waren völlig erschöpft. * Sorla erwachte davon, dass Hurmothin vor sich hin brummte: „Rasathirs Ring muss hier irgendwo sein!“ „Wieso glaubst du das, Hurmothin?“ gähnte Sorla. „Ich spür's! Ich hielt ihn einmal in der Hand; was man da fühlt, erkennt man auf zehn Schritte wieder!“ Er begann auf allen Vieren herumzukriechen und Stein für Stein umzudrehen. Plötzlich
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fuhr er hoch: „Hast du ihn, Sorle-a-glach?“ Sorla schüttelte den Kopf. Aber Hurmothin grollte: „Du bist ein Dieb, oder? Wer sonst könnte ihn haben? Denn er ist hier, ich weiß es!“ Da ertönte leises Zirpen, wie mehrstimmiges helles Lachen, und plötzlich schwebten vor ihnen, doch außer Reichweite, Easmil mit seinen Gefolgsleuten. „Edler Zwerg!“ rief er silberhell. „Verdächtigt nicht euren Gefährten. Hier ist, was Ihr sucht!“ Damit wies er auf sein Haupt, den ein winziger Goldreif schmückte – so groß wie ein Ring für den kleinen Finger eines Zwerges. „Rasathirs Ring!“ rief Hurmothin. „Nein, unsere Krone!“ widersprach Easmil. „Sie gehörte dem Kleinen Volk seit jeher. Wie Rasathir sie einst raubte, ist eine andere Geschichte; gleichviel, wir haben sie wieder.“ „Ihr habt euch da runter getraut?“ staunte Sorla. „Sicher. Nachdem ihr Ogluskshaddena besiegtet und der Riss sich öffnete, reinigte sich die Luft – wir hatten die Krone schon geholt, als ihr noch oben saßt!“ Hurmothin starrte zornig auf die kleinen Flügelwesen, dann fuhr er Sorla an: „Du kennst die also?“ „Nun ja“, sagte Sorla, „einige Tage schon. Hurmothin, ich möchte dich Prinz Easmil von den Minhiol vorstellen.“ „König Easmil!“ unterbrach ihn Easmil mit bescheidenem Lächeln. „Verzeih, König Easmil.“ „Für dich einfach Easmil, Sorle-a-glach. Und wisse, wir haben einen Weg erkundet, der führt dich und uns in vier Stunden aus diesem Berg hinaus.“ Hurmothin fuhr herum. Sorla sagte: „Ich wollte nie hier bleiben, Hurmothin, das weißt du!“ „Das stimmt!“ grollte dieser. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal bedauern würde!“ Damit fing er an, seine Decke zusammenzurollen und am Rucksack zu befestigen. Während er sich den Rucksack umschnallte, sagte er: „Ich bekam den Befehl,
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dich wieder mit in den Thronsaal zu bringen. Nun schulde ich dir aber einen Gefallen, Sorle-a-glach. Wenn ich dich jetzt laufen lasse, denke ich, sind wir quitt.“ „Das denke ich auch, Hurmothin!“ sagte Sorla und schloss ihn in die Arme.
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Sechstes Kapitel:
DIE REISE ANS MEER Die Sterne waren das erste, was Sorla begrüßte, als er und die Minhiol sich dem Ausgang des Spaltes näherten. Kühl und würzig wehte ihnen die Nachtluft entgegen, in der Ferne murmelte ein Bach. Dies war ein Tal zwischen zwei mächtigen Bergen; dabei waren sie stundenlang nur aufwärts gestiegen! Wie tief erstreckte sich das unterirdische Reich der Zwerge! Um sich von den Anstrengungen der letzten Stunden auszuruhen, blieben sie in der Höhle und warteten den Sonnenaufgang ab. Das Singen der Amseln weckte sie, bald zwitscherten Meisen, Finken, sämtliche Vögel; und als Sorla hinaus blickte, sah er Büsche und Auwiesen in frischem Grün. „Es ist schon Frühling!“ sagte er betroffen. „Ich war den ganzen Herbst und Winter dort unten!“ Easmil nickte. „Bei den Zwergen vergeht die Zeit langsamer als draußen. Du denkst, du besuchst sie zwei, drei Wochen, schon ist ein halbes Jahr vorbei.“ Nun bin ich sechzehn Jahre alt, dachte Sorla. Es wird wahrhaftig Zeit, dass ich meinen Vater finde. Zunächst suchten sie sich eine sonnige Stelle am Wildbach. Sorla badete im eiskalten Wasser und wusch seine Kleidung, die er an Zweigen trocknete. Es gab reichlich schmackhafte Sprossen, fette Insekten, Schnecken, Vogeleier und im Bach jede Menge Krebse und Forellen. Er fühlte sich an seine Kindheit am Gnomfluss erinnert. Auch die Minhiol freuten sich, wieder im Freien zu sein. Sie schaukelten auf den gelben Blüten des Huflattichs, der hier massenhaft wuchs, putzten ihre Flügel und wärmten sich in der Sonne. Dabei zirpten sie einander fröhlich zu; nur wenn ein größerer Vogel über ihnen vorbei flog, verstummten sie und wurden unsichtbar.
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„Was hast du nun vor, Sorle-a-glach?“ fragte Easmil. „Ich muss nach Süden ans Meer, dann nach Osten ins Hernostische Kaiserreich.“ „Da hast du Glück, Sorle-a-glach, denn dieses Tal führt nach Süden. Wenn du ihm folgst, gelangst du in das flache Land zwischen den Weißen und den Grauen Bergen. Wenn du dich weiter nach Mittag hältst, kommst du schließlich ans Meer. Wir werden einige Tagesreisen weit mitkommen und uns einen Ort suchen, wo es wärmer ist als hier und die Winter milder sind.“ Es stimmte; Sorla merkte, dass es an den Berghängen nur Nadelbäume gab. Seinen Plan, eine von Ysaldes Bucheckern einzupflanzen, verschob er daher auf später. Am Nachmittag, als Sorlas Sachen getrocknet waren, machten sie sich auf den Weg. Sie folgten dem Bach, die Minhiol vorausfliegend, während Sorla auf dem klappernden Geröll am Rande des Bachbettes entlang eilte oder, wenn dieses zu sehr bewachsen war, durch die nassen Auwiesen watete. Abends suchten sie sich einen überhängenden Felsen. So ging es zwei Tage durch die Ausläufer der Weißen Berge. Der Bach war zu einem lärmenden Fluss geworden, der gischtend über Felsen tobte. Dann allmählich floss er ruhiger, das Tal öffnete sich, und vor ihnen lag weites Grasland mit einzelnen bewaldeten Anhöhen. Fern im dunstigen Westen erstreckten sich die Grauen Berge, hinter denen Sorlas Heimat lag. Hier war der Frühling schon weiter voran; das Gras war hoch und saftig, die Wiesen voller Blüten, die Berghänge prangten im jungen Grün der Laubbäume. Gegen Nachmittag durchquerten sie einen lichten Mischwald und kamen an einen kleinen See, mit Röhricht halb umwachsen und blühenden Seerosen bedeckt. Nahebei hatte eine alte Riesenfichte im Sturz einige andere Bäume umgerissen, und in der entstandenen Lichtung blühten Fingerhut, Glockenblumen und andere Blumen in buntem Allerlei. Die Minhiol gaukelten begeistert zirpend hin und her. „Hübsch hier“, so fasste Easmil die Äußerungen seiner Leute zusammen, „dies soll unsere neue Heimat sein!“
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„Weshalb kehrt ihr nicht zu eurem Volk zurück?“ fragte Sorla. Easmil zögerte kurz mit der Antwort. „Was du hier siehst, Sorle-a-glach, sind die Reste meines Volkes. Mein Vater, König Odhumel, kam mit den anderen um, als unsere Heimat zerstört wurde. Doch das ist eine lange und traurige Geschichte, mit welcher ich dich nicht belasten will. Sicher gibt es noch andere Stämme des Kleinen Volkes; doch wer weiß, wo sie leben und ob sie Raum auch für uns hätten? Es ist besser, wenn wir hier einen neuen Anfang wagen.“ „Und der Winter? Ist es nicht zu kalt hier?“ „Nein, Sorle-a-glach. Ich habe ja die Krone meines Vaters wieder, die der Kälte wehrt. Hier wird niemand erfrieren müssen!“ Sorla nickte. Er kramte eine von Ysaldes Bucheckern hervor: „Dann habe ich zum Abschied ein Anliegen an euch. Hier soll eine Buche wachsen; ich bitte euch, gebt auf sie Acht!“ „Sicher! Aber sage, weshalb du diese Buchecker so lange mit dir getragen hast!“ „Ich habe noch mehr davon; es sind ganz besondere. Eine Dryade gab mir den Auftrag, Früchte ihres Baumes zu verbreiten!“ „Hier soll die Buche einer Dryade wachsen?“ Easmil war so fassungslos, dass er von der Fingerhutstaude fiel, auf der er saß, und beinahe zu Boden fiel, bevor er sich des Fliegens wieder erinnerte. „Ist das schlimm?“ fragte Sorla besorgt. „Im Gegenteil, mein Freund! Dies ist kein Anliegen, Sorlea-glach, dies ist ein Geschenk! Eine Dryade in unserem Wald, das ist die beste Gesellschaft, der beste Schutz, den wir uns denken können!“ „Eine Dryade?“ Sorla war wie vor den Kopf geschlagen. „Du meinst, Dryaden vermehren sich durch Bucheckern?“ Easmil nickte eifrig. „Dann müsste es rund um einen Dryadenbaum doch massenhaft kleine Dryaden geben, oder?“ „Natürlich nicht, Sorla. Wo eine Dryade lebt, kann sich
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keine zweite entwickeln. Du weißt es vielleicht nicht, aber Dryaden sind sehr selbstsüchtig.“ Oh doch, dachte Sorla, das habe ich gemerkt. Aber er sagte nur: „Also deshalb sind Dryaden so selten!“ „Genau, Sorla. Wir werden deine kleine Buche bewachen und umhegen, wir werden ihr mit guten Zaubern zu Gesundheit und raschem Wachstum verhelfen!“ Er zirpte seinen Minhiol die frohe Botschaft zu, und Sorla sah sich von ihm aufgeregt dankenden kleinen Gestalten umschwebt. * Bei so viel Herzlichkeit war ihm der Abschied schwergefallen. Doch nun war er schon fünf Tage lang nach Süden gewandert; anfangs im Schutze der Bäume dem Flusse folgend. Immer wieder schickten ihm die Berge ihre Ausläufer in die Quere, er musste Hänge hoch und hinunter klettern oder zusammen mit dem Fluss große Umwege machen. Später, als sich der Fluss weiter in die Ebene hinaus verlagerte und Sorla befürchtete, ohne diesen den Weg zum Meer nicht zu finden, verließ der Junge den schützenden Wald und folgte dem Fluss. Auch hier, unter Erlen und Haselgebüsch, bot sich Deckung. Die freie Ebene dagegen, wo er sich schutzlos allen Blicken ausgeliefert fühlte, behagte Sorla nicht. Überhaupt fühlte er sich seltsam. Vielleicht hatte er Fieber; andererseits war er dank Ramloks Segen nie krank gewesen. Doch auch wenn er keine Erklärung fand, so blieb sein Geist doch unklar; etwas zerrte an ihm, zog ihn fort von den wirklichen Dingen – ihm war, als ob er schwebe, halb träume, während er tatsächlich doch über Uferkiesel stolperte oder sich durch Erlengebüsch zwängte. An diesem Abend, als er sich ausruhte und einen eben gefangenen Fisch verzehrte, glaubte er, aus den Augenwinkeln in einiger Entfernung ein grasendes Pferd zu sehen. Tatsächlich aber waren in der Kuhle dort, als er genauer hinsah, nur Schwaden des
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Abendnebels. Am folgenden Tage hörte er ein leises Schnauben, sah jedoch kein größeres Tier weit und breit. Vielleicht hatte ihn das Rauschen des Flusses irregeführt. Und als er gegen Abend das deutliche Gefühl hatte, etwas beknabbere ihm mit weichen Nüstern die Ohren, schrak er zwar auf, dachte aber, seine Sinne spielten ihm einen Streich, da er schon so viele Tage alleine unterwegs war. Er begann über Pferde nachzudenken. In den entlegenen Dörfern und Gehöften, die er in seiner Kindheit besuchte, wurden sie gezüchtet und verkauft. Doch Sorla hatte nie reiten gelernt, dabei war ihm einmal ein Fohlen geschenkt worden, ein kleiner treuer Freund. „Kennan-glai!“ flüsterte er in bittersüßer Erinnerung, denn jenes Fohlen war lange schon tot. Dann fiel ihm ein, es später im Traum auf jener gelbfahlen Steppe gesehen zu haben, über welche die unsterbliche Herde Ramloks jagte und der Wind die dunklen Wolken trieb. Es schien dort glücklich zu sein. Mit diesen Gedanken schlief Sorla ein. Da war wieder die weite Steppe, der heiße Wind wirbelte den Staub hoch, und die regenverheißenden Wolken trieben unter der grellen Sonne dahin. Es war aber nicht Kennan-glai, das kleine, braune Fohlen, das ihn begrüßte, sondern ein mächtiger blondmähniger Hengst trabte auf ihn zu. „Heril!“ rief Sorla. Der Hengst umkreiste ihn und blieb schließlich stehen. „Du bist groß geworden!“ schnaubte er und stupste ihn mit der Nase, dass Sorla fast umfiel. „Mit Drachen bist du geflogen!“ „Woher weißt du ...?“ Der Hengst wieherte und schüttelte die Mähne. „Nun sage mir aber, mein junger Hengst, was kriechst du im Gebüsch umher wie eine Wühlmaus?“ „Ich brauche doch Deckung!“ stammelte Sorla. „Pferde verstecken sich nicht unter Haselnusssträuchern; stolz heben sie ihr Haupt unter freiem Himmel!“ Damit bäumte sich Heril auf, machte auf der Hinterhand kehrt und galoppierte zurück
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zu der wartenden Herde. Jetzt fielen die ersten Regentropfen. * Sorla erwachte, als ihm die Morgensonne ins Gesicht schien. Das Gras glänzte von Tau. Der Traum war ihm noch lebhaft im Gedächtnis; ihn ärgerten die Vorhaltungen Herils, auch wenn es ja nur geträumt war. Andererseits – was konnte ihm groß geschehen, wenn er sich stolz erhobenen Hauptes auf die freien Grasflächen hinauswagte? Seine Angst, von Adlern davongetragen oder von Krähenschwärmen belästigt zu werden, war in seiner frühen Kindheit berechtigt, nun aber war er groß und stark genug. Warum also sich verstecken? Ihm als Prinz der Sidhlande geziemte Stolz zu zeigen. Also kämpfte er gegen seine Angst an und schritt erhobenen Hauptes ins Freie hinaus. Der Himmel war blau und wolkenfrei, die Sonne brannte auf ihn und das junge Gras hernieder. Nun – auf der freien Fläche – kam Sorla rascher voran. Ab und zu krampfte sich ihm das Herz zusammen, er wollte sich ins hohe Gras ducken; dann aber dachte er an seine Würde als Prinz und an die Ermahnung Herils, und, die Schultern gereckt, ging er aufrecht weiter. Wieder glaubte er, hinter seinem Rücken leises Schnauben zu hören. Doch war da nichts zu sehen außer in einiger Entfernung ein paar Reiher am Ufer des Flusses. Er schüttelte den Kopf über diesen Streich, den ihm seine Sinne spielten. Es war höchste Zeit, dass er wieder unter Menschen kam. Als der Abend dämmerte, schmerzten ihn die Schultern von der Anstrengung, aufrecht zu gehen, auch wenn er weithin sichtbar war. Er suchte sich am Waldrand einen hohlen Baum, um sich vor dem Nachtwind zu schützen, und schlief ein.
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* Die weißen Nebelschwaden hoben sich und enthüllten den nachtschwarzen Fluss. Aus den Wellen hob sich der riesige Schlangenkopf. Mit seinen starr glitzernden Augen blickte er herab auf Sorla, der zusammengerollt zwischen den Binsenbüscheln lag. „Kleine Schlange“, zischte er. „Hast du das Kriechen verlernt?“ „Aber Heril sagt, Pferde gehen aufrecht.“ „Pferde sind Wesen des Windes, kleine Schlange. Lerne du vom Wasser!“ „Aber Heril nannte mich ...“ Da wandte die Schlange den Kopf ab, und ihr Maul, das von vorne so streng aussah, wirkte seitlich, als ob es lächle. Dann sank sie ins Wasser zurück. * Der Morgen war trüb und feucht. Sorla stolperte auf den Ufersteinen entlang, duckte sich unter den tropfenden Weidenzweigen hindurch, dann fielen ihm seine Vorsätze des Vortages ein; er trat hinaus in die offene Ebene der Flussaue und trottete missmutig nachdenklich durchs nasse Gras. Was bedeutete der Traum der letzten Nacht? War es falsch, Mut zu beweisen, sich erhobenen Hauptes der Welt zu zeigen? Andererseits waren Schlangen nicht feige, auch wenn sie am Boden krochen, und die riesige Schlange seiner Träume ganz sicherlich nicht. Was war richtig? Sorla runzelte die Stirn und schimpfte sich einen Narren. Er selbst musste entscheiden, je nach Lage, ob er sich einer Schlange oder einem Pferde gleich verhalten sollte. Überhaupt: Träume waren wichtig, sie gaben den Gedanken Nahrung, doch
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durften sie den hellen Tag nicht bestimmen. Sorla lächelte, weil er seine Überlegungen so glücklich beendet hatte. Dennoch wich den ganzen Tag jene seltsame Abgelenktheit nicht von ihm. Er beschloss daher schon am frühen Abend, sich ein Lager zu suchen. Etwas schnaubte hinter ihm, Sorla spürte auch deutlich den Atem. Doch war da nur das Grasland, seitlich eingegrenzt von Wald und Fluss. Auf die Gefahr hin, sich vor sich selbst lächerlich zu machen, flüsterte er: „Kennan-glai?“ und sah plötzlich, wie rechts neben ihm ein Pferd ging – nur undeutlich, traumgleich; er konnte durch den Pferdeleib die Ufergehölze dahinter erkennen, dann war es schon wieder verschwunden und er rieb sich verblüfft die Augen. „Kennan-glai?“ wiederholte er. Die Umrisse des Pferdes hoben sich gegen den Hintergrund ab. Je sicherer er sich war, das Pferd zu sehen, desto deutlicher wurde es und stand zuletzt ganz körperhaft da: schnaubend, tänzelnd, Kennan-glai. „Wie schön, dich zu sehen“, schnaubte das Fohlen. „Wie lange habe ich mich gemüht, dass du mich bemerkst!“ „Jetzt in den letzten Tagen?“ fragte Sorla; er begann den Grund seiner seltsamen Abgelenktheit zu ahnen. „Nein, schon viel früher! Aber tief in den Bergen oder irgendwo in den Wäldern; wie soll ich mich da zeigen? Wie soll ich eine Brücke schlagen von Ramloks Steppe zu eurer Welt? Doch diese weite Ebene ...“ „So bist du nicht wirklich hier, Kennan-glai?“ Das Fohlen prustete belustigt. „Ich bin tot, Sorla, hast du das vergessen?“ „Wieso habe ich dich nicht im Traum gesehen? Heril hat mit mir geredet, weshalb nicht du?“ „Wo denkst du hin!“ wunderte sich das Fohlen. „Ich kann doch nicht die Herde verlassen! Heril würde mich ganz schön zurechtstauchen!“ „Aber jetzt, hast du ihn um Erlaubnis gefragt?“ „Wozu, Sorla? Ich habe die Herde nicht verlassen. Ich denke an dich, das ist alles.“ „Ich denke auch oft an dich, Kennan-glai“, flüsterte Sorla
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gerührt, denn in seiner Einsamkeit tat ihm das gut. Das Fohlen aber antwortete: „So oft auch wieder nicht, Sorla; ich spüre deine Gedanken. Aber es macht nichts. Ich meinte auch nicht die gewöhnliche Erinnerung an jemanden, den man liebt, als ich sagte, ich denke an dich. Nein, ich denke an dich mit all meiner Mühe, denn dein Leben ist in Gefahr.“ „Das war es oft in letzter Zeit.“ „Ich weiß, Sorla. Aber oft rettete dich deine Klugheit, manchmal half dir Atne. Dieses Mal aber wird dir Atne nicht beistehen und deine Klugheit nicht ausreichen.“ „Das weißt du jetzt schon?“ „Auf unserer weiten Steppe sehen wir die Gewitterwolken, lange bevor der Blitz einschlägt.“ „Und wie kann ich diesen Blitz vermeiden, Kennan-glai?“ „Du musst, wenn die Gefahr am größten ist, ganz Schlange sein.“ „Aber Heril sagte ...“ „Er denkt nur an Größe und Würde. Das ist ja auch sehr wichtig. Und ein Letztes: Alle Dinge, die dir wichtig sind, musst du von dir tun.“ „Wie meinst du das?“ Das Fohlen senkte den Kopf und rieb die Nüstern an Sorlas Hand. „Ich kann dir sonst nichts sagen, Sorla, leider. Ich hoffe, dass du dem Tod entgehst.“ Und noch während es sprach, verschwand das Tier, so dass Sorlas Blick auf die weiten Wiesen durch nichts mehr gehemmt waren, während noch die letzten Worte Kennanglais in seinem Kopfe nachklangen. * Sorla erwachte aus unruhigem Schlummer. Die Unterhaltung mit Kennan-glai war ihm in solch klarer Erinnerung, dass er mit geschlossenen Augen noch eine Zeitlang über dessen
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Warnung und merkwürdigen Ratschläge nachsann. Vielleicht aber war es nur ein Traum, geboren aus seiner Sehnsucht nach Gesellschaft? Da hörte er ein Geräusch, Stimmen. Er schlug die Augen auf und sah sich von einer Handvoll Männern zu Pferde umstellt: wohlgekleidet, mit Speer und Kurzbogen bewaffnet, wie eine der edlen Jagdgesellschaften, an denen Sorla früher in Brindhal oft teilnahm. Nun, da er sich aufrichtete, ließen sie alle Zurückhaltung fallen; sie lachten über Sorla in einer ihm unbekannten Sprache und deuteten mit Fingern auf verschiedenes an ihm, was ihnen komisch erschien. Sorla strich sich die Haare aus der Stirn. „Was gibt's zu lachen?“ rief er erbost. Er verwendete die Sprache von Ailat, wo er aufgewachsen war; jene der Sidh war hierzulande vermutlich unbekannt, und die Gute Sprache der Berge ganz gewiss. „Ah! Der Wilde kann sprechen!“ rief einer in derselben, wenn auch merkwürdig gefärbten Sprache. „Tatsächlich?“ lachte ein anderer. „Ich dachte, er grunzt!“ Ein jüngerer Mann, als Anführer herausgehoben auch durch seine besondere Kleidung, hob den Arm. Er tadelte seine Begleiter in scharfem Ton, worauf die anderen betreten zu Boden blickten. Was er gesagt hatte, verstand Sorla nicht; es war eine fremde Sprache, deren angenehm kehliger Klang Sorla jedoch vertraut vorkam. Nun wandte sich der Anführer Sorla mit belustigtem Lächeln zu: „Wenn du aus Ailat stammst, wie deine Sprache nahelegt, dann bist du weit gereist, Fremder!“ Sorla nickte. „Das stimmt. Ich heiße Sorle-a-glach und wuchs in einem Teil Ailats auf, den man die Gnomlande nennt.“ Das war nicht gelogen, doch dass er sich nicht als Prinz der Sidhlande vorstellte, womit er ja hätte Eindruck schinden können, geschah völlig unüberlegt und nur, weil ihm Kennan-glais Warnung noch in den Ohren klang. Der Anführer, mit angedeutetem Neigen des Hauptes,
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antwortete: „Wer seinen Namen nicht nennt, zeigt keinen Anstand. Es geschieht uns recht, dass du, den wir als Wilden verlachten, uns diesen lehrst. Drum beeile ich mich, die Scharte auszuwetzen; ich bin Korraghom aus Agra. Meine Gefährten heißen ...“ Während er seine Begleiter einzeln vorstellte, konnte Sorla nur nicken und sich nichts merken, denn ihm wirbelten die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Agra hieß die Hafenstadt, aus der sein Freund Raghairom kam, der so gerne sang und sich des Lebens freute, der später Herils Hof übernahm und Sorla das Fohlen Kennan-glai schenkte. Nun verstand er auch, weshalb ihm die Sprache so vertraut klang. Eben hatte Korraghom ihm den letzten seiner Begleiter vorgestellt und wandte sich nun wieder an Sorla: „Nun, Sorle-aglach aus den Gnomlanden, nach solch langer Reise weißt du sicherlich viel zu erzählen. Du kannst dich uns anschließen, wenn du nichts Besseres vorhast. Wir kehren nach meiner Vaterstadt Agra zurück. Das wird noch einige Tage dauern, und kurzweilige Unterhaltung, besonders abends am Lagerfeuer, käme uns sicher gelegen!“ Agra, die Hafenstadt: besser konnte Sorla es nicht treffen! Er nahm die Einladung dankend an. „Aber“, sagte er, „ihr seid beritten. Wie soll ich da Schritt halten?“ Korraghom wischte die Bedenken beiseite: „Keine Sorge, Sorle-a-glach! Wir haben Pferde übrig.“ Damit reichte er Sorla die Hand mit soviel Herzlichkeit, dass Sorla ihn sofort gut leiden mochte. * Seine neuen Reisebegleiter erwiesen sich sämtlich als offenherzige und lebensfrohe Menschen, so dass Sorla ihnen ihren anfänglichen Spott nicht weiter nachtrug, sondern als Ausdruck ihrer Freude an harmlosen Späßen verstand. Nur wenige
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beherrschten die Sprache Ailats so fehlerfrei wie Korraghom; manche verstanden sie gar nicht, die meisten radebrechten in einer Weise, die Sorla lebhaft an seinen Freund Raghairom erinnerte: „Noch ein Häppchen Zeit, Sorle-a-glach, dann wir essen schöne Braten, was wir geschießt heute morgen. Oh, wird sein lecker wie nur Küsse von schönes Frau!“ Er hütete sich jedoch, Raghairom zu erwähnen, wie er auch sonst nur erzählte, was Menschen mit normalen Schicksalen erleben mochten, also nichts von Zwergen, Drachen und dergleichen. All das hätte zu unglaublich geklungen. Es gab auch so genug, womit er die Runde am Lagerfeuer unterhalten konnte. Beispielsweise zeigte er, wie schnell und geschickt er mit seinen Händen umgehen konnte. Oft sang er anzügliche Lieder, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Oder er beschrieb die Wirtstöchter von Stutenhof, die so gerne Geschenke annahmen und dann in ihrer Dankbarkeit keine Grenzen kannten. Schwierigkeiten bereitete ihm anfangs das Reiten, was seine Begleiter erstaunte und belustigte. „Bist du gelebt in Dorf mit Pferde, und nichts gesessen auf ein Rücken von Stute?“ Sorla musste zugeben, dass er als armes, elternloses Kind dem Wirt das schmutzige Geschirr wusch und sich kein Pferd leisten konnte. „In Agra weiß reiten jede Kind. Und segeln! Und singen, tanzen ... Ist so schön, Agra! Muss du kommen, sehen, auch tanzen und singen!“ „Und viel schön Fraue!“ fiel der nächste mit glänzenden Augen ein. „Noch viel mehr besser als Reiten und Segeln!“ Sorla nickte eifrig und behauptete, es sei der Ruhm Agras gewesen, der ihn von Ailat fort gelockt habe. * Sorla hatte bislang zwei Städte kennen gelernt. Seedorf war
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bunt und aufregend; Brindhal rühmte sich herrlicher Gärten zwischen prachtvollen Bauwerken aus elfischer Vergangenheit – doch wie er jetzt von den nördlichen Anhöhen auf Agra herabblickte, war ihm klar, dass er eine schönere Stadt wohl nie mehr sehen würde. Agra lag vor ihm in der Sonne wie ein weißer Traum. Dahinter öffnete sich die Kaburische Bucht dunkelblau und gleißend nach Süden, Boote mit bunten Segeln schwebten darauf hin und her. Über allem lag ein Duft aus Blüten und edlen Harzen, und wenn man die Augen schloss, geblendet von soviel Schönheit und Anmut, dann hörte man noch immer Kinderlachen und heitere Lieder und wusste, dass man das Ziel seiner Sehnsucht erreicht hatte. Korraghom lud ihn zu sich ein: „Eine bescheidene Wohnung, die ich mit ein paar Freunden teile. Bitte sei unser Gast, so lange du willst!“ Die bescheidene Wohnung stellte sich als schmucke Villa heraus, welche nicht nur einen atemberaubenden Blick über ganz Agra bot, sondern auch einen riesigen Park mit einer Anlegestelle, an der zwei seetüchtige Boote darauf warteten, dass man Segel setzte und mit ihnen durch die Bucht kreuzte und hinaus aufs offene Meer fuhr.
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Siebtes Kapitel:
FAMILIENBANDE In Korraghoms Villa war jeden Tag ein Fest, und es dauerte bis in die Nacht; die Freunde kamen, die Freundinnen und andere schöne Mädchen. Mit ihnen lernte Sorla zu tanzen, singen, scherzen. Es gab köstliche Speisen und duftenden Wein, doch, wie Korraghom Sorla warnte: „Wer wenig trinkt, genießt das Leben besser!“ Meist waren die Abende warm, dann feierten sie draußen im Garten, tanzten oder gingen, sich unterhaltend, spazieren. „Wie schön ist es hier!“ seufzte Sorla, und als an einer abgelegeneren Stelle gerade niemand her schaute, steckte er eine Buchecker in den Boden. Wo er jetzt stand, würde einst eine mächtige Buche den Hügel krönen! Überhaupt bewunderte Sorla, wie die Bewohner Agras in allen Dingen ihres Lebens Anmut zu zeigen wussten. Wenn einer sang, fielen alle mit ein, denn jeder in Agra kannte alle Lieder. Wenn sie um die Wette segelten oder ritten, trug nicht der Schnellste den Sieg davon, sondern derjenige, der Geschicklichkeit mit Anmut zu verbinden wusste. Wenn die jungen Männer im Ringkampf Kraft und Geschicklichkeit erprobten, blieb es stets ein Spiel, und wer dabei nicht gewann, war nicht der Unterlegene, sondern hatte am Spiel den ebenbürtigen Anteil. So war es kein Wunder, dass Sorla länger blieb als unbedingt notwendig. Von den Trinkgelagen der Zwerge abgesehen, die nicht so sein Geschmack waren, musste er Spaß und Geselligkeit allzu lange entbehren, und selbst die Feste in Brindhal hatten ihm nicht so gefallen wie die täglichen Unterhaltungen im Hause Korraghoms. Er sagte zwar immer wieder: „Mein lieber Korraghom, morgen muss ich mir Arbeit und eine eigene Unterkunft suchen!“ Denn da er unterwegs behauptet hatte, Agra sei das Ziel seiner Sehnsucht gewesen, konnte er jetzt schlecht
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zugeben, dass er eigentlich weiterreisen wollte. Korraghom aber legte ihm jedes Mal freundschaftlich den Arm um die Schultern und entgegnete: „Lieber Sorle-a-glach, tu mir bitte den Gefallen und bleibe noch ein Weilchen; wir alle freuen uns an deiner Gesellschaft!“ Dann ließ sich Sorla nicht unnötig lange bitten. Er nutzte die Zeit, um die Stadt zu erkunden. Immer wieder war Sorla überwältigt, wie schön Agra auch von nahem, wie liebenswürdig seine Einwohner waren: Kleine lauschige Plätze, wo an Brunnen die Kinder spielten und die Alten plauderten; breite Alleen mit Palmen und Orangenbäumen, unter deren Schatten Musikanten und Akrobaten die Vorbeigehenden unterhielten; altehrwürdige Arkaden mit Gewölben voller Marktbuden, aus denen es duftete, und Werkstätten, in denen gehämmert, gebosselt, gefeilt wurde. Und erst der Hafen mit Schiffen, Waren und Seeleuten aus Ländern, von denen Sorla kaum je gehört hatte! All das beeindruckte ihn tief, am meisten jedoch, dass es nirgends Elend gab. Zwar sah er zuweilen arme Menschen, doch auch sie wussten sich zu kleiden und das Leben von der besten Seite zu nehmen. Betrunkene und Störenfriede gab es allenfalls am Hafen; aber das waren ausländische Seeleute, und sie wurden eher bemitleidet als verachtet. „Woher kommt es, dass die Stadt so schön ist und die Menschen so glücklich sind?“ fragte er Korraghom. Dieser antwortete: „Das liegt an der Sonne, der Luft, dem Meer; unser Seehandel blüht; und schließlich haben die Grafen von Agra seit Generationen weise regiert.“ Nach einigen Tagen hatte sich Sorla in Agra bereits so eingelebt und fühlte sich dermaßen wohl, dass der Gedanke der Abreise ihm immer ferner rückte. Dazu kam, dass er Korraghom liebgewonnen hatte wie einen älteren Bruder. Unter seiner Anleitung verbesserte Sorla seine Reitkünste, er lernte Segel zu setzen und ein Boot zu steuern. Es war unverkennbar, dass Korraghom sich über die Fortschritte seines Schützlings fast noch mehr freute als dieser selbst. Bald hatte Sorla auch genug Wörter und Redensarten
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aufgeschnappt, um sich in der Sprache Agras halbwegs zurechtzufinden. Und als er hörte, dass dies auch die Sprache des hernostischen Kaiserreiches war, nur mit geringfügigen Unterschieden, verstärkte sich sein Eifer noch. * Bei einem Fest in Korraghoms Haus geschah es, dass ein Mädchen, sie hieß Edsighla, Sorla so freundlich ansprach, dass er verlegen stolperte und ihr auf den Fuß trat. Sie aber schrie nur ganz wenig und lächelte sofort wieder so liebreizend, ja sie stützte ihn sogar und tröstete ihn, als habe er den Schaden gehabt; dabei streiften ihre langen Wimpern seine Wange, und angenehm verwirrt nahm er den Druck einiger weicher Körperstellen an seinem eigenen Leib wahr. Kurz darauf fiel ihm auf, dass der goldene Anhänger, den er um den Hals trug, verschwunden war. Er war auch sonst nirgends zu finden, weder auf dem Boden noch irgendwo in seinen Kleidern. „Was suchst du, Sorle-a-glach?“ fragte Edsighla, die eben mit einem Glas Wein zurück kam und sich auf die Polster neben ihm setzte. „Mein Anhänger“, keuchte Sorla. „Er ist weg!“ „Das kann nicht sein, du Armer! Wie sieht er denn aus?“ „Wie ein kleiner Schlüssel, ganz golden!“ Sie tastete zwischen den Kissen umher, fuhr in die Ritzen zwischen den Polstern und brachte etwas Glitzerndes zum Vorschein: „Das da?“ Sorla griff nach dem goldenen Schlüsselchen, da fiel ihm auf, wie sehr der Vorfall an Techniken erinnerte, die er in der Seedorfer Diebeszunft gelernt hatte. Das Schlüsselchen, das sagte ihm ein Blick, war seinem Anhänger nur sehr ähnlich. Er ließ sich aber nichts anmerken, sondern sprach dem Mädchen, das ihn aus klaren Augen unschuldig ansah, erleichterten Dank aus.
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Gleichzeitig überlegte er, wo sie den echten Anhänger versteckt haben mochte. An ihrem sparsam bekleideten Körper wohl nicht; also ließ er den Blick zu den Amphoren hinüber schweifen, von wo Edsighla eben mit dem Wein gekommen war. Da stand ein Zimbelspieler, den er bislang hier nicht gesehen hatte – schlank und drahtig, gerade führte er einigen Gästen vor, wie er mit zwei Hämmerchen in jeder Hand gegenläufige Melodien spielen konnte. Edsighla hängte sich bei Sorla ein und schlug vor, im lauschigen Garten etwas zu wandeln. „Man kann von der Anlegestelle das Meeresleuchten sehen!“ „Gerne!“ lächelte Sorla. Er sah aus den Augenwinkeln, wie der Musikant seine Zimbel behutsam in ein Tuch wickelte, geradezu liebevoll in einen mitgebrachten Beutel legte und sich verabschiedete. „Ich hole nur einen Umhang, damit du nicht frierst!“ Und bevor sie beteuern konnte, wie unnötig diese Fürsorge sei, war er im Nebenraum verschwunden. Von dort schwang er sich aus dem Fenster, rannte im Dunkeln ums Haus und wartete hinter der Ecke. Die Tür öffnete sich; Korraghom selbst verabschiedete den Musikanten mit einem Trinkgeld und dem Wunsch, ihn bald wieder spielen zu hören. Dann ging er ins Haus zurück, der Zimbelspieler stand allein auf der dunklen Straße. Sorla sprang ihn von der Seite an, ließ sich mit ihm zu Boden fallen und hatte, bevor er über die Schulter abrollte und wieder aufsprang, ihm schon den Beutel entrissen. Fünf Schritte entfernt von dem Zimbelspieler, der ebenfalls sehr schnell auf die Beine gekommen war und sich auf ihn stürzen wollte, stand Sorla, sein Messer in der Hand, den Fuß auf dem Beutel. „Ein Schritt, und ich zertrete deine Zimbel!“ Der andere verharrte. „Was soll das?“ zischte er. „Bei Ak'men, das fragst du? Ich will den Anhänger zurück!“ „Was faselst du? Gib mir die Zimbel wieder! Es ist ein Familienerbstück!“ Sorla setzte den Fuß fester auf und rieb ihn über dem
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Beutel hin und her, dass durch das Tuch dumpf die Saiten klangen. „Den Anhänger!“ wiederholte er. Der andere hob beschwörend die Hände: „So barbarisch wirst du nicht sein, mein wunderbares Instrument zu beschädigen!“ Aber er wagte sich nicht näher. Sorla schlitzte mit dem Messer den Beutel auf; eine Saite zersprang. „Meinen Anhänger will ich!“ „Welchen Anhänger, du Irrsinniger!“ Der Zimbelspieler weinte fast. Schon wollte Sorla unschlüssig werden, da hörte er ein Geräusch hinter sich, duckte sich blitzschnell – etwas streifte noch seinen Schädel. Als er herumfuhr, sah er Edsighla, in der Hand einen Totschläger. Sorla packte ihr Handgelenk. Sie zerrte und tobte, da sagte er: „Tu das nicht. Es sieht nicht anmutig aus.“ Sie hielt still, funkelte ihn aber böse an. „Für deine Hinterlist sollte ich dich erstechen, schöne Edsighla“, drohte Sorla. „Dann könnte ich das Instrument in diesem Beutel zertreten und, bei Ak'men, mit diesem Wurfmesser jenen Tölpel töten. Ich verspreche dir, er stirbt so schnell, dass er nicht mehr schreit.“ Er hoffte, dass sie seine Drohung ernst nahmen. Der Zimbelspieler flüsterte: „Bei Ak'men, du würdest der Rache nicht entgehen!“ Edsighla aber schwieg und ließ ihre Körpernähe auf Sorla wirken, was ihn weit mehr beeindruckte. Er fuhr fort: „Andererseits wäre eine Übereinkunft denkbar. Ihr rückt meinen Anhänger heraus, und alles ist vergeben und vergessen.“ „Lieber Sorle-a-glach“, sagte Edsighla sanft, „auch du hast vorhin bei Ak'men geschworen. Was hat ein hergelaufener Junge aus den fernen Gnomlanden mit dem Gott der Diebe zu schaffen?“ „Ihr habt mich an ihn erinnert, ihr Verbrecher!“ Sie wirkte unbeeindruckt. „Ich glaube, du bist selbst ein Dieb. Dann weißt du auch, wie schlecht deine Chancen hier stehen. Unsere Gilde ist mit der Stadtverwaltung im besten Einvernehmen. Glaubst du, irgend etwas gegen uns ausrichten zu können?“ „Weshalb wart ihr so scharf auf meinen Anhänger?“ „Er sieht eben wertvoll aus“, entgegnete Edsighla
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schnippisch. „Gut. Ich gebe euch den falschen Schlüssel zurück und lege noch was dazu. Dafür bekomme ich den echten Anhänger wieder.“ „Das geht nicht!“ warf der Zimbelspieler fröhlich ein. „Weshalb nicht?“ Aus dem Dunkel hinter ihm kam die Antwort: „Weil zwei Pfeile auf dich gerichtet sind. Lasse das Mädchen los und gehe einen Schritt zurück.“ Sorla verwünschte sich, dass er sich in lange Gespräche hatte verwickeln lassen: jetzt war die Verstärkung da! Er ließ Edsighlas Hand fahren, trat wie befohlen vom Instrumentenbeutel weg, wobei er an einem Riemen hängen blieb, darüber stolperte und einen zweiten Schritt machen musste, um nicht zu fallen. Dadurch kam er nahe an die Ecke, hinter der er vorher stand. „Gut. Und jetzt das Messer, lasse es fallen.“ Sorla warf sich beiseite und ließ sich hinter die Ecke rollen. Im gleichen Augenblick schrie der Zimbelspieler auf – er war von einem Pfeil getroffen worden. Sorla aber eilte zurück ums Haus und stieg durch dasselbe Fenster wieder ein, durch das er es verlassen hatte. Das Fest war in vollem Gang, keiner hatte seine Abwesenheit bemerkt. * Im Morgengrauen verabschiedeten sich die letzten Gäste oder lagen bereits in verschiedenen Räumen in tiefem Schlaf. Die Bediensteten trugen auf leisen Sohlen die Käfige mit den Spottdrosseln ins Freie und verbannten die Hunde in den Garten – der Schlummer der Herrschaft und ihrer Gäste sollte nicht gestört werden. Sorla aber wälzte sich ruhelos auf seinem Lager; wie sollte er den Anhänger wieder beschaffen? War dies die Falle, von welcher Kennan-glai geredet hatte? Es stimmte, Atne hatte ihm wahrlich nicht beigestanden; und er hätte rechtzeitig, wie ihm das
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Fohlen geraten hatte, alles Wertvolle von sich tun sollen, was wohl heißen sollte: verstecken. Er war gewarnt worden. Nun, jetzt war es zu spät, dachte Sorla und sank in die Kissen zurück. Aber die Zweifel blieben, nagten; und die Frage, wo er seine restlichen Wertsachen verstecken könnte, ging ihm im Kopfe herum. Nicht in der Stadt, das war klar. Denn wenn er Agra verlassen wollte, musste er sich seine Sachen schnell wieder beschaffen können. Hier im Hause Korraghoms auch nicht; ständig waren die Bediensteten mit ihren Staubwedeln unterwegs und ließen nichts unverrückt. Schließlich stand er auf, gähnend, und wankte in den Garten hinaus. Nachdem er die schnüffelnden Hunde weggescheucht hatte, ging er im taunassen Gras die Rosenbeete entlang, bis ihn die Büsche der Sicht vom Hause her verbargen. Ein paar bauchige Holzkübel boten sich als Versteck an, aber wer konnte wissen, wann sie der Gärtner brauchte? Sorla ging weiter hinunter zum Strand, wo an der Anlegestelle neben dem Bootshaus die beiden Segelboote vertäut lagen. Vorsichtig öffnete Sorla die Tür des Bootshauses und sah sich um. Es gab Regale, Schubläden, Werkzeugkästen, daneben Seilrollen, alle möglichen Beschläge, Werg zum Putzen und Kalfatern, ein Fässlein mit Pech und vieles mehr, alles sauber und ordentlich aufgeräumt. Eine Ratte huschte vorbei. Im schummrigen Licht der wenigen Morgensonnenstrahlen, die durch die Bretterritzen fielen, schien es Sorla, als habe sie eine kleine schwarze Jacke an. Doch im nächsten Augenblick, ehe sie zwischen zwei Kisten verschwand, war die Ratte nur von ihrem grauen Fell bedeckt, wie es sich gehört. Sorla lächelte und flüsterte: „Ich bin Sorle-a-glach. Wenn hier einer vom verehrten Volke der Wichte haust, dann grüße ich ihn höflich.“ Alles blieb still, nur eine Fliege brummte im Dachgebälk umher. Sorla wiederholte, was er gesagt hatte, diesmal in der Guten Sprache der Berge. Nichts geschah, nur die Fliege summelte und brummelte eintönig. Sorla setzte sich auf den Boden, und während er auf
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Antwort wartete oder eine Eingebung, wo er seine Wertsachen verstecken sollte, schlief er ein. Er erwachte von einem derben Tritt gegen sein Schienbein. Vor ihm stand ein kräftiger Seemann, wettergegerbt, mit kurzem grauem Haar. Er hatte die Arme, breit wie Sorlas Oberschenkel, über seiner Brust verschränkt, dass fast die Nähte seiner schwarzen Teerjacke platzten. Die goldenen Ohrringe funkelten. „Hab's mir überlegt, Sorle-a-glach“, brummte er. „Bitte was?“ stammelte Sorla. Der Mann nickte gewichtig. „Du gibst mir die Wertsachen.“ „Bitte wie?“ „Hör zu. Ich pass' auf dein Zeug auf, da kommt nichts weg.“ Wie zur Bekräftigung ballte er eine riesige Faust. „Und bevor du Anker lichtest, holst du's dir.“ „Äh, wer bist ... woher weißt ...?“ „Ach ja.“ Der Seemann grinste, seine starken Zähne blitzten weiß im dunklen Gesicht. „Skagengerg ist der Name. Kannst auch Skage sagen.“ Sorla stand vorsichtig auf; er bemühte sich, außerhalb der Reichweite dieser mächtigen Arme zu bleiben. „Ich verstehe nicht ...“ Skagengerg lachte: „Wozu? Junge, guck nicht blöd, schlag ein!“ Er hielt seine breite Hand hin. Sorla runzelte die Stirn. „Soll das heißen, du verwahrst meine Sachen, bis ich sie wieder brauche – einfach so?“ Der Seemann senkte bestätigend den Kopf. Sorla überlegte fieberhaft. Irgend etwas stimmte hier nicht. Andrerseits hätte ihm dieser Skagengerg längst mit Gewalt alles wegnehmen können, wenn er gewollt hätte. Aber was bedeuteten seine ersten Worte, er habe es sich überlegt? Und woher kannte er Sorlas Namen? Woher wusste er überhaupt, dass Sorla ein Versteck suchte? Skagengerg zog sich an seiner langen Nase und grinste. „Was du dir für Gedanken machst, Junge! Merk' dir: Skage weiß alles und kann alles. Na ja, fast alles.“
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Der liest meine Gedanken, durchfuhr es Sorla. Skagengerg nickte. „Jawohl, Junge. Also, wie ist's?“ „Und was willst du dafür? Und wo finde ich dich?“ „Na hier! Ruf' einfach meinen Namen.“ „Also gut“, murmelte Sorla. Er hatte es aufgegeben, irgend etwas noch verstehen zu wollen. Und während Skagengerg einwarf: „Na klar, 'ne Landratte wie du blickt es nicht, wer ich bin“, begann Sorla in seinem Rucksack zu kramen. Aber Skagengerg hob die breite Hand. „Ich hab's schon – dein Messer, deine Edelsteine. Den Anhänger hast du dir ja klauen lassen.“ „Als ich schlief, hast du mich durchsucht!“ rief Sorla erbost. Aber der andere lachte: „Junge, ich hab' doch gewusst, wie du dich entscheidest. Bloß den einen Rubin, den hast du noch, denn den wirst du brauchen.“ Damit war er verschwunden. Irgendwo hinter einer Kiste raschelte etwas. * Das Haus der Großzügig Nehmenden – so nannte sich die hiesige Diebesgilde – befand sich zwischen einer Transportfirma und einem Bankhaus in einer belebten Straße. Auf dem Bronzeschild am Eingang stand: „Sicherheitsberatung, Nachforschungen und schwierige Beschaffungsaufträge“, doch wusste anscheinend jeder, was sich dahinter verbarg. Sorla wurde in der Halle von einer älteren Dame empfangen, die sich höflich nach seinem Namen erkundigte, ihn zugleich aber mit kalten Blicken abschätzte. „Ich bin Sorle-a-glach aus Ailat und will den Zunftmeister sprechen.“ „Zunftmeister? Ich verstehe nicht.“ Gleichzeitig winkte sie einen kräftigen Mann heran, der unauffällig in der Nähe stand.
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„Ich beherrsche die hiesige Sprache nicht sehr gut. Sagt man 'Oberster der Gilde'?“ „Junger Mann, wir kommen so nicht weiter. Nenne dein Anliegen, und ich leite dich weiter an die entsprechende Fachkraft.“ Sorla bemühte sich, höflich zu bleiben. „Ich bin Mitglied der 'Verteiler des Reichtums' in Seedorf.“ Sie hob die Augenbrauen: „Seedorf in Ailat? Gibt es dort ein Schwesterunternehmen?“ Sorla nickte. „Nun, Sorle-a-glach, du müsstest dich erst einmal ausweisen. Dann können wir weitersehen.“ Sie deutete auf den kräftigen Mann; dieser nickte Sorla zu und führte ihn zu einer Tür mit der Aufschrift „Privat“. Der Raum war nüchtern eingerichtet, hinter einem Schreibtisch saß ein dunkelhäutiger Mann mit vielen kleinen Zöpfen. Der Kräftige sagte: „Er nennt sich Sorle-a-glach und behauptet, von der Gilde in Seedorf, Ailat, zu kommen.“ „Ah ja.“ Der Dunkelhäutige lächelte unvermutet. „Wie heißt denn noch mal der dortige Gildenmeister?“ „Ich kenne nur Meister Eidwon. Ob er das eigentliche Oberhaupt ist, weiß ich aber nicht.“ „Von dem habe ich gehört. Man nennt ihn den Stummen, glaube ich.“ Er spielte gelangweilt mit einem silbernen Brieföffner. „Nein, den Blinden“, verbesserte Sorla. „Und wer bist du?“ Der Dunkelhäutige blickte belustigt auf. „Mein Lieber, noch bin es ich, der die Fragen stellt. Nenne mir jetzt den Namen von Eidwons Tochter!“ Erst jetzt merkte Sorla, dass dies keine Plauderei war, sondern eine Überprüfung seiner Angaben. „Raijinke“, antwortete er. „Stimmt, mein Guter, doch das könnte jeder wissen. Wie aber lautet das Passwort eurer Gilde?“ Sorla lächelte verächtlich. „Du weißt, das ich das nicht sagen darf. Aber ich kann euch das eurige verraten, wenigstens das vom vorletzten Jahr.“ Und er sagte es.
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„Nicht schlecht, junger Mann“. Der Dunkelhäutige schlug ein Buch mit langen Listen auf und blätterte darin. „Merkwürdig. In Seedorf gibt es keinen Sorle-a-glach. Was sagst du nun?“ „Ich bin schon einige Zeit dort weg. Und man nannte mich Sorla.“ Der Dunkelhäutige balancierte den Brieföffner auf seinem linken Handrücken, ließ ihn durch die Luft wirbeln und fing ihn am Griff auf. Der Brieföffner war, sah Sorla nun, ein Dolch. „Weshalb bist du dort weggegangen?“ „Das ist meine Angelegenheit.“ „Richtig. Und sicher willst du mir auch nicht erzählen, in welcher Angelegenheit du hier erscheinst?“ „Ich will meinen Anhänger wieder, den ihr mir gestern Nacht abgenommen habt.“ „Interessant. Was für ein Anhänger?“ „Frag' Edsighla und den Zimbelspieler.“ „Kenne ich nicht.“ Sorla atmete tief durch und setzte neu an: „Können wir die Spielchen bitte lassen? Ich habe mich als Zunftmitglied aus Seedorf offenbart, um eure Hilfe zu bekommen, nicht um mich reinlegen zu lassen.“ Der Dunkelhäutige sah ihn aufmerksam an, sagte aber nichts. „Und noch was. Als Meister Eidwon noch bei euch in Agra arbeitete, half eure Gilde dem Meisterdieb Tok-aglur, eurem Grafen eine Karte der Katakomben von Kriteis zu entwenden.“ „Es gibt keine Katakomben in Kriteis.“ „Das hörte ich auch. Ich weiß nicht, was Tok-aglur vorhatte. Anscheinend gehört der Anhänger zu dem Plan, und ich wollte ihn Tok-aglur bringen.“ „Im Auftrag Eidwons?“ „Nein.“ Sorla zögerte kurz und platzte dann heraus: „Tokaglur ist mein Vater!“ „Das ist natürlich ein Grund“, lächelte der Dunkelhäutige. „Allerdings höre ich zum erstenmal, dass Tok-aglur einen Sohn hat.
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Könntest du es beweisen?“ Sorla zögerte. Er dachte an das Mal auf seiner Hinterbacke, das aussah wie ein umgekehrtes Herz. Auch Tok-aglur hatte ein solches Zeichen an der gleichen Stelle, hatte ihm seine Mutter einst verraten. Er sagte: „Ich weiß, dass mein Vater ein besonderes Erkennungsmerkmal an seinem Körper hat.“ Der Dunkelhäutige sah in einer seiner Listen nach; mit dem Dolch fuhr er die Zeilen entlang und blieb mit der Spitze an einer Stelle stehen. „Und? Auch ich weiß es. Jeder kann es nachlesen. Bin ich deshalb sein Sohn?“ „Ich habe Toks Mal geerbt.“ Sorla löste den Gürtel. Der andere stand auf, trat näher und nahm den Vaterschaftsbeweis in Augenschein. „Interessant“, sagte er. „Ich erlebe selten, dass hier jemand die Hosen herunterlässt, aber es hat seinen Reiz.“ Sorla wurde rot. Rasch zog er sich wieder an. Der Dunkelhäutige war hinter seinen Schreibtisch zurückgekehrt. „Nun, mein Junge“, sagte er förmlich, „ganz offenkundig bist du mit Tokaglur verwandt, den auch wir verehren. Da will ich doch sehen, was wir für dich tun können. Was wärest du bereit zu geben, um unsere Unkosten für die Wiederbeschaffung dieses Kleinods zu decken?“ „Was?“ empörte sich Sorla. Der andere sah ihn belustigt an. „Dir geht es um den ideellen Wert, nicht? Da solltest du nicht feilschen. Die jetzigen Eigentümer kannst du mit Empörung nicht beeindrucken.“ „Was ist der Preis?“ „Zwanzig Goldmünzen. Bei euch in Ailat heißen sie Eflem, nicht wahr?“ Sorla stammelte: „Davon könnte man zwanzig Pferde kaufen!“ „Bei euch in Ailat vielleicht“, beschwichtigte der Dunkelhäutige. „Hier kostet ein gutes Pferd bis zu zwei dieser Goldmünzen. Und dein Anhänger ist zehn Pferde wert, denke ich.“ „Oh Ak'men!“ seufzte Sorla. Er holte den Rubin, den ihm der geheimnisvolle Skagengerg gelassen hatte, aus seiner Tasche:
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„Hier. Dieser Stein ist wenigstens zwanzig Goldmünzen wert, vielleicht dreißig.“ Der Dunkelhäutige nickte und holte aus einer Schublade Sorlas Anhänger hervor. „Welch ein Zufall, dass ich diesen Anhänger bereits aufgespürt habe.“ Er lächelte harmlos. „Die Großzügig Nehmenden sind wahrhaft geschwind“, nickte Sorla. Er legte den Rubin auf den Schreibtisch neben den silbernen Brieföffner, der eigentlich ein Dolch war, und verließ, den Anhänger in der schweißnassen Hand, das Gebäude. * Korraghom empfing ihn gähnend mit dem Vorschlag, nach der durchzechten Nacht sich im Schwitzbad zu reinigen. Sorla nickte, sagte aber, er wolle vorher im Meer schwimmen, und ging wie schon am frühen Morgen durch die Rosenbeete zum Strand. Im Bootshaus war es so still und einsam wie zuvor. „Skage?“ flüsterte Sorla. „Skagengerg?“ Hinter ihm raschelte es. Sorla fuhr herum und sah von einem Regalbrett eine große, graue Ratte herunterlugen. Im ersten Augenblick schien sie ein goldenes Ringlein im Ohr zu tragen. „Also doch ein Wicht!“ sagte Sorla. „Von wegen!“ pfiff ihn die Ratte an. „Nun gib den Anhänger schon her, du hast es eilig!“ „Woher weißt du ...?“ „Junge, das hatten wir erst heute früh!“ Sorla nickte verwirrt und nestelte sich den Anhänger vom Hals. Auch sein Halstuch nahm er ab und wickelte neben dem Anhänger auch die restlichen Bucheckern hinein, denn sein Versprechen, das er Ysalde gegeben hatte, schien ihm ebenfalls wichtig. Die Ratte verschwand, doch etwas Unsichtbares, Großes atmete plötzlich neben Sorla und nahm ihm das Bündelchen aus der Hand.
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Mit tropfnassem Lendentuch, die restliche Kleidung über dem Arm, denn er musste seine Ausrede wahrmachen, betrat Sorla das Schwitzbad. Korraghom blickte ihm erfreut entgegen und wies auf den Platz neben sich. „Wo sind die anderen?“ fragte Sorla, während er sich ein Badetuch holte. „Schlafen noch.“ Dann schwiegen sie und schwitzten einträchtig. Als sie davon genug hatten, gingen sie hinüber zum Kaltwasserbecken, legten ihre Badetücher an den Rand und sprangen hinein. „He, Sorla!“ rief Korraghom. „Du hast da ein Mal auf deinem Hintern, zeig mal her!“ „Wieso?“ Sorla fühlte sich unangenehm an die Szene im Haus der Großzügig Nehmenden erinnert. „Nun schau doch! Ich habe genau das gleiche Zeichen!“ Korraghom deutete, mit verdrehtem Rücken, um selbst hinsehen zu können, auf seine rechte Hinterbacke. „Wie ein umgekehrtes Herz!“ murmelte Sorla. Seine Gedanken überschlugen sich. „Ach? Ich dachte immer, wie ein Lindenblatt. Aber ist das nicht erstaunlich? Solch ein Zufall?“ Korraghom schaute aufgeregt zwischen seiner und Sorlas Hinterbacke hin und her. Sorla setzte sich hin und überlegte. Es gab nur eine Erklärung: Tok-aglur, sein Vater, der Meisterdieb, hatte hier in Agra einen Sohn gezeugt. Korraghom war Sorlas Halbbruder. Daher also die innige Verbundenheit! Daher also war es Sorla bisher nicht gelungen, sich zu lösen und weiterzureisen! Noch immer verwunderte sich Korraghom: „Ist das nicht seltsam?“ „Korraghom“, begann Sorla und musste sich räuspern, denn seine Stimme war belegt. „Mein lieber Korraghom!“ „Was redest du so heiser?“ „Korraghom“, wiederholte Sorla. „Ich muss dir sagen, dass mein Vater eben dasselbe Mal hat, und ich habe es von ihm geerbt.“ Er blickte Korraghom in die Augen, um zu beobachten, wie in ihm
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die Erkenntnis aufglomm. Dieser lachte, stutzte, lachte wieder verlegen, setzte sich neben Sorla und schwieg. Dann flüsterte er: „Ich wollte immer schon wissen, wer mein richtiger Vater ist.“ Sorla erzählte es ihm. Korraghom legte seinen Arm um ihn und sagte leise: „Mein Bruder!“ Sie saßen lange beisammen, und Korraghom wollte alles über Sorla wissen. Ein Diener brachte Tee und Gebäck, sonst durfte niemand sie stören. Schließlich stand Korraghom auf und sagte: „Ich will dich meiner Mutter vorstellen, mein Bruder. Sie wird sich freuen, von unserem Vater zu hören.“ Sorla nickte begeistert. Sie gingen auf ihre Zimmer, um sich entsprechend anzukleiden, und ritten dann nach Agra hinein. Einen Diener hatte Korraghom vorausgeschickt, um seine Mutter auf seinen Besuch vorzubereiten. Sie kamen bald in die höher gelegenen Bezirke, wo die Vornehmen wohnten, und schließlich bis zum Palast des Grafen von Agra. „Hier wohnt deine Mutter?“ fragte Sorla. Korraghom nickte. „Sie beaufsichtigt die Küche, sie hat ein gutes Einkommen.“ „Ich hatte mich schon gewundert, wovon du deine Villa am Meer unterhältst.“ „Sie gehört ja nicht wirklich mir“, wehrte Korraghom lachend ab. „Ich glaube, ich erzählte dir das schon.“ Unter diesen Reden waren sie in den Innenhof gekommen, und vier Wachen kamen herbei, um ihnen aus dem Sattel zu helfen. Da schrie Korraghom, während er auf Sorla deutete: „Haltet ihn, den Verbrecher!“ So schnell hatten sie Sorla gepackt – sie mussten es vorher geplant haben – es blieb ihm keine Möglichkeit, sich zu befreien. „Was soll das?“ schrie er, zappelnd, sich windend. „Korraghom, bist du wahnsinnig?“ Doch schon wurde er weggeschleift.
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* Sorlas Zelle war geräumig, aber kahl und zugig. In der Rückwand dicht unter der Decke gab es eine schmale Fensterluke, durch die etwas Sonnenlicht hereinfiel und nachts manchmal der Mond zu sehen war. Die Zellentür gegenüber bestand aus Eisenstäben. Dahinter saß eine Wache auf einem Holzschemel oder ging gelangweilt auf und ab. Sorla konnte die Tür nicht erreichen, weil sein linker Fuß an der Rückwand festgekettet war. Der Boden senkte sich zur Mitte hin, damit Wasser, Urin und was auch immer dort in einem handbreiten Loch abfließen konnten. Jetzt war eingetreten, wovor ihn Kennan-glai gewarnt hatte. Diese Falle war wahrhaft tödlich. Atne würde ihm nicht helfen, hatte das Fohlen gesagt, was hieß, dass er auf sein Glück nicht hoffen durfte. Aber einen Rat hatte Kennan-glai ihm noch auf den Weg gegeben: er solle ganz Schlange sein. Nun, er wollte versuchen, seinen verletzten Stolz, seine Wut und Enttäuschung zu verstecken. Wenn es sein müsste, würde er kriechen. Am vierten Tag erschien Korraghom vor der Tür. Er schickte die Wache fort und setzte sich auf den Hocker neben die Gitterstäbe. Sorla sah seinen Vorbereitungen schweigend zu. „Mein lieber Sorla“, begann Korraghom. „Ich musste so handeln und möchte, dass du mich verstehst.“ Bei den Worten „Mein lieber Sorla“ zuckte dieser zusammen, schwieg jedoch. Korraghom sah ihn eindringlich an. „Du wusstest es nicht, doch ich bin der älteste Sohn des Grafen. Ich werde also nach seinem Tode die Herrschaft übernehmen.“ Sorla zuckte verbittert die Achseln, denn was kümmerte ihn das? „Verstehe, Sorla. Wenn der Graf erfährt, dass ich nicht wirklich sein Sohn bin, ja, dass dein Vater meine Mutter schwängerte, während er sich hier hereinschlich, um meinem Vater eines seiner geliebten Bücher zu stehlen – glaubst du, er macht
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mich zum Erben? Er hat noch andere Söhne.“ Sorla räusperte sich. „Du musst es ihm ja nicht auf die Nase binden, oder?“ Korraghom schüttelte den Kopf. „Es kommt heraus. Es macht mich erpressbar. Die Diebeszunft hier weiß sicher Bescheid.“ Er seufzte und fügte hinzu: „Du mit deinem Mal bist der lebende Beweis, dass ich nicht wirklich des Grafen Sohn bin.“ Sorla ahnte, welche Schlüsse sein Halbbruder zog. Dieser nickte: „Du verstehst, ich kann nicht anders handeln, so sehr ich dich liebe. Du musst sterben, so rasch wie möglich.“ Das Blut pochte in Sorlas Schädel. Doch statt seine Wut herauszuschreien, dem ehemaligen Freund entgegenzuschleudern und so doch nur seine Machtlosigkeit zu zeigen, fragte er heiser: „Weshalb lebe ich noch? Du hast schon vier Tage verstreichen lassen.“ Korraghom lächelte bitter. „In unserer Grafschaft wird nicht einfach hingerichtet. Man braucht eine Anklage, ein Urteil, vor allem auch die Zustimmung meines Vaters.“ „Wessen bin ich angeklagt? Um mich zu töten, brauchst du doch einen Vorwand deinem Vater gegenüber.“ „Hochverrat“, sagte Korraghom achselzuckend. „Du wolltest den Grafen bestehlen oder, noch besser, im Auftrag einer feindlichen Macht ihn meucheln. Mir wird schon was einfallen.“ „Du könntest in der Diebesgilde um Rat fragen“, höhnte Sorla. „Dafür bist du dir sicher auch nicht zu schade.“ Gar nicht schlecht pariert, dachte er. Wenn Korraghom das wirklich tut und dann herausfindet, dass die Diebe über mein Mal schon Bescheid wissen, dann lohnt es sich nicht mehr, mich zu beseitigen. Dieser lächelte ein wenig. „Ich kenne die Großzügig Nehmenden bereits. Mein Vater hatte sie beauftragt, alles über dich herauszufinden, als du bei mir einzogst. Er ist sehr auf meine Sicherheit bedacht.“ „Und? Haben sie alles herausgefunden?“ „Anfangs nur wenig. Erst der Kniff mit dem Anhänger, der dich in ihr Haus lockte ...“
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Sorla brauchte einige Atemzüge, um sich wieder zu fassen. „Dann war deine Überraschung im Schwitzbad nur gespielt? Du wusstest schon alles?“ „Ich wollte mich vergewissern. Es ging um die Entscheidung, muss ich dich wirklich beseitigen? Ich kann dich ja gut leiden. Doch nachdem auch die Diebesgilde dein Mal kennt ...“ Sorla schwieg, denn es gab nichts mehr zu sagen. * Längst war es dunkel. Sorla kauerte in der Mauernische. Er hatte Angst. „Du musst sterben, so rasch wie möglich.“ Dieser Satz Korraghoms kreiste in seinem Kopf und hinderte ihn am klaren Denken. Und wenn es ihm gelang, doch einen weiterführenden Gedanken zu fassen, dann kam der zweite Satz in die Quere: Auf sein Glück dürfe er nicht hoffen. Eine Botschaft müsste hinausgeschmuggelt werden! Jemand müsste ihm zur Hilfe kommen. Aber wer? Und wer sollte die Botschaft hinausschaffen? Du musst sterben, so rasch wie möglich. Aber vielleicht konnte er, mit ein bisschen Glück ... Und auf Atnes Gunst brauchst du diesmal nicht zu hoffen. Immerhin hatte er Zeit, bis das Urteil gefällt war und der Graf seine Zustimmung gegeben hatte. Das konnte noch dauern. „He!“ rief er dem Wachsoldaten zu. „Wie lange werde ich hier bleiben?“ „Halt' die Schnauze.“ „Wann soll ich sterben?“ Aber der Soldat hatte sich unwillig weggewandt. Sorla sank auf den Boden zurück. Vielleicht war es schon heute Nacht soweit? Würden sie ihn in dieser Zelle ermorden oder ihn hinausschleifen, um ihn woanders umzubringen? Im Abflussloch zeigten sich Schnurrhaare, eine zitternde
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Nasenspitze; vorsichtig kroch eine Ratte heraus ins Mondlicht und zu einigen Brotbrocken, die Sorla verschmäht hatte. Eine wilde Hoffnung wallte in Sorla auf. „Skagengerg?“ flüsterte er. Aber da war keine kleine schwarze Jacke, kein Wiedererkennen – nur eine gewöhnliche fette Ratte, und bei Sorlas Kopfwenden und Flüstern huschte sie erschreckt zum Abflussloch zurück und verschwand. Sorla lag wieder auf dem Boden, rücklings ausgestreckt, verzweifelt. Die Steinplatten schimmerten blass im Mondlicht, das durch die Luke hereinkam. Er rückte ein wenig hinüber, jetzt blickte er hinauf in den bleichen, weißen Mond, der die hohe Luke fast ausfüllte. Jetzt im sanften Licht hinauf zu schweben, dem Mond entgegen, hinaus in die Freiheit der nächtlichen Welt! Sorla schloss die Augen, um sich dies auszumalen, doch durch die geschlossenen Lider drang noch das helle Mondlicht und störte seine Träume. * Vor den Mond schob sich dunkel und riesig der Schlangenkopf. Von nah und fern raschelte das Schilf, gluckste Wasser zwischen den Binsenbüscheln der Norfell-Auen. „Ich soll sterben!“ wisperte Sorla. Die riesige Schlange wandte sich ihm zu, kam noch näher, ihr Kopf verdeckte fast den Himmel: „Dann flieh, kleine Schlange.“ „Ich kann nicht, mein Bein ist angekettet!“ Die gespaltene Zunge betupfte ihn prüfend. „Narrheit! Wir haben keine Beine!“ Damit sank die Schlange zurück ins Wasser des breiten Flusses. Die bleichen Nebelschwaden wallten empor und verhüllten den Mond. *
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Es schien Sorla ganz selbstverständlich, aus der Fußfessel heraus zu kriechen. Gerne wäre er nun zur Luke hoch und davon geglitten, doch er konnte sie nicht erreichen, sein schmaler Leib fand keinen Halt beim Klettern. Nun kroch er zur Zellentür, die mondhelle Mitte des Steinbodens meidend. Der Wachsoldat hockte halb abgewandt und döste. Aber das hintere Ende des Ganges war durch eine Tür versperrt; hier war kein Entkommen, selbst wenn die Wache schlief. Da fiel Sorla die Ratte ein. Was sie konnte, musste auch ihm gelingen! Er kroch zur Mitte der Zelle und schlüpfte durchs Abflussloch hinab ins Dunkle. Der Gestank von Kot und alter Pisse schlug ihm entgegen, gemischt mit fauligen Gerüchen unklarer Herkunft. Das breite Abflussrohr führte schräg abwärts. Sorla hatte keine Mühe, sich zu halten, und hätte auch wieder umkehren können. Doch er kroch weiter. Seine Zunge erkundete den Weg und versuchte fernere Geruchsquellen aufzuspüren, auch wenn es schlimm war, den vorherrschenden Gestank auf ihr zu fühlen. Seltsam war, dass trotz völliger Dunkelheit Sorla Umrisse erkannte; besonders die warmen Leiber der Ratten, die in einiger Entfernung erschreckt vor ihm davon huschten, hoben sich deutlich gegen die Umgebung ab. Sorla schwamm nun eine große Kloake entlang. Der Gestank war hier noch schlimmer als zuvor, doch schien es richtig, dem Lauf der zäh treibenden Abwässer, die doch irgendwann ins Freie münden mussten, zu folgen. Weiter vorne stockte die Strömung. Hier war der Kanal breiter, Schlamm hatte sich abgelagert und an manchen Stellen zu flachen Hügeln verfestigt, an denen allerlei gestrandet und hängengeblieben war – Unverdauliches wie Kirschkerne, aber auch Tuchfetzen, Rattenskelette, eine Bürste. Auf eine dieser Inseln kroch Sorla hinauf und schaute sich um. Dies war ein gemauertes Gewölbe, in welches verschiedene Zuflüsse mündeten; auch von oben platschte gelegentlich Wasser oder anderes herunter und verursachte Wellen zwischen den
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Schlickhügeln. Dann glucksten Blasen und entließen faulige Gerüche. Es gab weiter vorne einen vergitterten Abfluss, doch waren die Abstände zwischen den Eisenstäben für einen Schlangenleib weit genug. Da war aber auch eine Treppe, die vom breiten Absatz aus ohne Geländer nach oben führte. Auf den unteren Stufen standen zwei geflochtene Körbe, eine Schaufel und ein Eimer, womit wohl gelegentlich der sich hier sammelnde Schlamm entfernt wurde. Sorla versuchte züngelnd zu erfahren, welchen der beiden Wege er wählen sollte. Durch all den Gestank hindurch zog sich ein Hauch frischerer Luft; er schien vom vergitterten Abfluss herzukommen. Um sicherzugehen, schwamm Sorla jedoch zur Treppe hinüber und erklomm die glitschigen Stufen. Sie endeten unterhalb eines Holzdeckels, den Sorla in seiner Schlangengestalt nicht wegschieben konnte. Es blieb nur der Weg durchs Abflussgitter; er schlängelte sich zwischen den Eisenstäben hindurch und folgte weiter, im Kot halb schwimmend, halb kriechend, dem nun stärker abwärts geneigten Gang, der bald in eine drei Schritte breite und mannshohe Kloake mündete. Von allen Seiten vermehrten Rohre die Menge der Abwässer. Hier führte zwischen Ziegelwand und kotgefüllter Kanalsohle ein schmaler Steg entlang. Dankbar kroch die kleine Schlange hinauf, und da sie erschöpft war vom Schwimmen und Kriechen, vom Ankämpfen gegen das Absinken in den Schlamm, benommen von all dem Gestank, ruhte sie ein wenig auf festem Boden aus. * Sorla erwachte davon, dass eine Ratte über sein Bein rannte. Ihre spitzen Krallen ritzten seine Haut und belehrten ihn, dass er nackt war. Seine Kleider waren in der Zelle
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zurückgeblieben, als er in Schlangengestalt davonkroch. Es war stockfinster. Die Fähigkeit, im Dunkeln Umrisse durch größere oder geringere Wärme wahrzunehmen, war zusammen mit der Schlangengestalt verschwunden. Als er sich aufrichtete, rutschte er vom schmalen Steg in die Abflussrinne, platschte darin herum, stieß sich beim Herausklettern den Kopf an der Ziegelmauer und stellte sich, schlaftrunken wie er war, überhaupt sehr ungeschickt an, bis er sich seines Gnomensteins erinnerte. „Glygi!“ flüsterte er, und schon glomm dieser, vor ihm schwebend, in hellblauem Schimmer auf. Sorla sah sich um. Dicht über seinem Kopf wölbte sich die gemauerte Decke der Kloake. Algen und dumpf riechende Ablagerungen hingen in Fetzen herab. Sorla folgte dem schmalen Steg weiter abwärts, bis sich vor ihm eine Reihe von Schächten abzeichnete, die nach oben führten. Sorla plantschte hinüber. Der Atem stockte ihm, denn hier stank es besonders schlimm. Dann aber überwand er sich, schob den Oberkörper in einen der Schächte und sah zwei Armlängen über sich eine runde Öffnung, durch die das Tageslicht schimmerte. Es fiel ihm leicht, sich an den ausgewaschenen Ritzen zwischen den Ziegelsteinen hochzuziehen und den Kopf herauszustrecken. Für die Schultern aber war die Öffnung zu eng. Er schaute sich um: ein niedriger Raum mit steinernen Sitzbänken an den beiden gegenüberliegenden Wänden. In kurzen Abständen waren die Bänke mit runden Löchern versehen – durch eines schaute Sorla, auf zwei anderen saßen Männer, um sich in dieser öffentlichen Bedürfnisanstalt zu erleichtern. Doch nun starrten sie ihn an, einer deutete auf ihn, der andere zitterte mit der Kinnlade vor Schreck. Sorla sank zurück in die Kloake; doch hörte er noch das Gestammel: „Ein Geist! Ein grüner Dämon aus der Tiefe!“ Er konnte es ihnen nicht verdenken, denn als er sich nun genauer betrachtete, stellte er fest, dass überall, wo ihn nicht der grauschwarze Schlick bedeckte, grünschuppige Schlangenhaut zu sehen war. Weiter eilte er die Kloake entlang, ohne länger auf Zuflüsse
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von oben oder von der Seite zu achten. Irgendwo musste sie ja ins Freie münden, um all den Schmutz und die Abwässer in den Fluss oder das Meer zu leiten! Es schien Sorla, als liefe er ewig; ihm war gar nicht in Erinnerung, dass die Stadt, die sich über ihm erstreckte, dermaßen ausgedehnt war. Doch schließlich schimmerte es hell auf dem trüben Spiegel der Abwässer, und als Sorla der vor ihm liegenden Biegung gefolgt war, sah er in der Ferne Sonnenschein – dort war der Kanal zu Ende. Ohne länger auf den schmalen Steg zu achten, platschte Sorla dem Licht entgegen. So ungewohnt hell war es, dass er die Augen zusammenkniff. So geschah es, dass er erst, als er dem sonnendurchfluteten Ausgang nahe war, das schmiedeeiserne Gitter erkannte, das diesen verschloss. Zum Greifen nahe lag der grobkiesige Strand, noch feucht von der letzten Flut, die all den Unrat, den der Kanal aus der Stadt beförderte, davon geschwemmt hatte. Weiter draußen schwebten die Segelschiffe vorbei, die Möwen schrien. Dicht an die Gitterstäbe gepresst, erkannte Sorla die Ausläufer der Bucht, auch die Villen der Reichen. Dort irgendwo mochte Korraghom in seinem schönen Hause sitzen. Ob er von Sorlas Flucht schon erfahren hatte? Das brachte Sorla wieder zur Besinnung. Weshalb sollte er enttäuscht sein? Wäre er nicht in die Abwässer geflohen, dann hätten ihn die Schergen vielleicht schon hingerichtet. Langsam watete er zurück in die Kloake und kletterte zum Steg hinauf. Es galt, einen anderen Ausgang zu finden. * Er hatte einige Stunden lang Nebengänge erkundet, deren Zuleitungen – Bleirohre zumeist, aber auch die aus Ziegeln gemauerten Leitungen – für ihn zu eng waren. Hier jedoch bot sich ein breiter Schacht, und das Wasser, welches ihm entgegenfloss, roch so angenehm sauber und nach Seife, dass er sich gründlich
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darin reinigte. Im Schimmer seines Gnomensteins begutachtete er sich und fand sich eigentlich recht hübsch; von Kopf bis Fuß war er von zarten blassgrünen Schuppen bedeckt, auch schmückten ihn braunrote Tupfen. Nur am Bauch, den Handflächen und Fußsohlen, die heller waren und ins Gelbliche spielten, fehlten die Punkte. Er erinnerte sich, wie er vor drei, vier Jahren schon einmal trotz seiner Menschengestalt in einer solchen Schlangenhaut steckte. Es war ihm sehr peinlich gewesen, er hatte sich den ganzen Tag im Bett versteckt, bis die Schuppen abfielen. Ihm fiel auch ein, dass er damals, solange die Schlangenhaut ihn umgab, mit Tieren reden und unsichtbare Wesen erkennen konnte. Gerne hätte er das erneut überprüft, doch die einzigen Tiere hier unten waren Ratten, welche ängstlich vor ihm davon huschten, ohne sich auf Gespräche einzulassen. Und dass er keine unsichtbaren Wesen, zum Beispiel Gespenster und Dämonen, wahrnahm, war eher beruhigend. Seine Lage war schwierig genug auch ohne sie. Der Kanal, aus dem in unregelmäßigem Schwall das seifige Wasser strömte, war hoch genug, dass er auf Knien und Ellbogen darin entlang kriechen konnte. Es ging schräg nach oben, manchmal schwappte ihm das Wasser über den Kopf, doch dann fand er wieder Luft und kroch prustend weiter. Von vorne kam dämmriges Tageslicht. Der Glygi, dessen Licht nicht mehr nötig war, verschwand. Der nächste Schwall Wasser war so heiß, dass Sorla sich fast verbrühte. „Beim Vater aller Fußpilze!“ schimpfte er, biss sich dann aber auf die Zunge, denn er hörte Stimmen ganz in der Nähe. Langsam kroch er weiter, bis der Gang in einen Schacht mündete. Über sich sah er in Reichweite einen Rost aus Holzlatten, zwischen denen Wasser herunter tropfte. Dort oben mussten Leute sein; er hörte eine Frau sagen: „Du stehst uns aber ziemlich im Wege!“ „Frau“, entgegnete eine Männerstimme, „ich habe den Befehl, die Stadt zu schützen.“ „Indem du in der Wäscherei herumstehst?“ Mehrere Frauen lachten. „Hier kam noch nie was Gefährliches herein, Soldat! Außer
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stinkende Männersocken natürlich.“ „Was wisst ihr Weiber schon! Heute Morgen erst kroch ein Dämon aus den Abwässern!“ Die Frauen kicherten ungläubig. „Glaubt mir! Grün und schuppig! In der Bedürfnisanstalt am Alten Markt! Er streckte seinen scheußlichen Kopf aus dem Loch, durch das man scheißt. Der ehrenwerte Ratsherr Oldasthom jedoch, der gerade anwesend war, schlug ihn in die Flucht!“ „Na, was Oldasthom kann, das trauen wir uns auch zu!“ sagte eine der Frauen. Sorla hielt sein Gesicht von unten an den Lattenrost gepresst und konnte den Waschraum halbwegs überblicken. Der Soldat stand gleich neben ihm. „Täuscht euch nicht!“ sagte dieser eben. „Korraghom, der Sohn des Grafen, ließ verkünden, dass dieses Ungeheuer sehr gefährlich ist und sofort getötet werden muss!“ Die Frauen schwiegen beeindruckt, während Sorla leise den Lattenrost etwas anhob, um zu prüfen, wie rasch er ihn öffnen könne. Schließlich aber fragte eine: „Wenn dieser gefährliche Dämon ausgerechnet hier aus den Abwässern kriecht, was wirst du tun, Soldat?“ „Seht ihr meine Lanze? Damit spieße ich ihn auf!“ „Oh, zeige sie mal her! Ist die Spitze sehr scharf?“ Der Soldat reichte den bewundernden Wäscherinnen seine Waffe zur Ansicht. Diesen Augenblick wählte Sorla, um den Holzrost beiseite zu drücken und rasch, aber so leise wie möglich herauszuklettern. Tatsächlich merkte der Soldat nichts, bis die Wäscherinnen anfingen zu kreischen. Er fuhr herum, mit offenem Mund und schreckensweiten Augen. Bevor er seinen Dolch zücken konnte, war Sorla an ihm vorbeigerannt. Eine der Waschfrauen schrie: „Stirb, du Ungeheuer!“ und warf ihm die Lanze entgegen – nicht wohlgezielt, aber mit genug Wucht, dass die Waffe in Sorlas linkem Arm eine klaffende Wunde aufriss. Sorla biss sich auf die Zähne, packte die Lanze mit der Rechten und rammte sie dem Soldaten, der eben mit seinem Dolch
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auf ihn eindrang, in den Oberschenkel, dass er zusammenbrach. Schnell griff sich Sorla aus den herumliegenden Bergen von Wäsche ein paar Bettlaken oder Kleidungsstücke – das war so schnell nicht festzustellen – und stürzte durch die Tür hinaus auf die Straße. „Hilf, Atne!“ flüsterte er, doch schien die Glücksgöttin heute wirklich kein besonders freundliches Augenmerk auf ihn zu richten, denn eben kamen drei Wachsoldaten die Straße entlang. Sorla drehte sich zur Flucht, doch mündete die Straße hier in eine Sackgasse. Ohne sich zu besinnen, stürzte er in den nächsten Hauseingang, während er hinter sich schon die Alarmrufe der Stadtwache hörte. Er hastete durch einen Raum, in dem betende Menschen beisammen saßen und bei seinem Anblick laut aufschrien. Die hintere Tür führte in die Küche und von dort in einen Innenhof mit Gemüsegarten. Eben wollte er den Pfad zwischen den Beeten entlang rennen und am anderen Ende über die Steinmauer klettern, da fiel ihm ein, dass er mit seinem verwundeten Arm sich nicht an der Mauer würde hochziehen können. Er blickte sich verzweifelt um und sah eine Holzleiter, die zum Speicher hinauf führte. In wenigen Augenblicken war er hochgeklettert, mit seinem gesunden Arm sich haltend, die Stoffbündel um den verwundeten gewickelt, um keine Blutspuren zu hinterlassen, und öffnete die niedrige Tür. Ein paar Tauben flatterten erschreckt durch die Dachluke, Federchen wirbelten vom Bretterboden auf. „Eine Schlange!“ schrien die Tauben. „Nur fort!“ Sorla lächelte matt. Es stimmte also: durch die Schlangenhaut verstand er die Tiere. Nur half es ihm zur Zeit nicht viel. Er hörte, wie unten die erschreckten Bewohner durcheinander schrien, dann aber schwiegen, als der barsche Befehlston eines Stadtsoldaten dazwischenfuhr: „Im Namen des Grafen! Ruhe!“ und dann: „Habt ihr ein Ungeheuer gesehen?“ Sorla ließ die Stoffbündel auf den Bretterboden des Speichers fallen. Eines war ganz nass und schwer von Blut; in
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einem plötzlichen Entschluss warf er es mit Schwung quer durch den Hof, dass es nahe der Steinmauer auf den Beeten aufschlug. Dann zog er die Holztür hinter sich zu und sank auf die Knie. Es gelang ihm noch, mit einem Fetzen Stoff den Arm oberhalb der Wunde so abzubinden, dass die heftige Blutung aufhörte, dann brach er zusammen. Unten ging die Tür auf, Stimmengewirr ergoss sich in den Hof. „Hier rannte es durch!“ schrie einer. „Aber wohin? Hier ist doch eine hohe Mauer!“ ein anderer. „Vielleicht ist es noch irgendwo hier?“ ein dritter. „Frena steh' uns bei, es will uns auflauern!“ „Wir müssen alles durchsuchen!“ Das war wohl ein Wachsoldat. „Hier, der Geräteschuppen, damit fangt an! Und diese Holzleiter, wo führt sie hin?“ „Hauptmann! Sieh mal, da drüben!“ meldete sich ein anderer Soldat, der offensichtlich den blutigen Stoffklumpen gefunden hatte. „Das hat das Ungeheuer auf der Flucht verloren“, entschied der Hauptmann. „Dann ist es dort über die Mauer geflohen! Was liegt dahinter?“ „Noch ein Garten, das Haus gehört zur Zuckerbäckergasse“, antwortete jemand beflissen. „Also Abmarsch und zur Zuckerbäckergasse!“ rief der Hauptmann, dann wurde es wieder ruhig. * Sorla erwachte durch das Gurren der Tauben unter dem Dachgebälk. Er verstand sie nicht, und sie schienen keine besondere Angst mehr vor ihm zu haben. Er war entsetzlich durstig. Versuchsweise zupfte er an seinem Hals; die schuppige Haut löste sich in breiten Fetzen. Auch am übrigen Körper ließ sie sich teils herunterstreifen, teils musste Sorla sie in Streifen
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abreißen. Als er den Verband am Arm löste und die lose Schlangenhaut entfernte, war die Wunde darunter verschwunden – so vollständig geheilt, dass nicht einmal eine Narbe auf der rosig neuen Haut zu sehen war. Die Tauben fühlten sich durch ihn doch zu sehr gestört; sie verließen durch eine Dachluke den Speicher. Sorla hörte ihren harten Flügelschlag sich entfernen. Nun galt es, sich irgendwie zu bekleiden. Sorla wühlte in seinem Stoffhaufen; einiges klebte vor halbtrockenem Blut, aber ein größeres Tuch, wohl ein Bettlaken, war sauber genug. Er riss einen Streifen ab, den er sich als Lendentuch um die Hüften schlang. Den Rest nahm er als Umhang über die Schultern und verknotete die vorderen Enden. Jetzt konnte er sich wieder unter Menschen bewegen, ohne allzu sehr aufzufallen. Draußen knarrte die Treppe. Als der alte Mann die Tür öffnete, war Sorla schon hinter einem breiten Balken verborgen. Der Alte schlurfte durch die aufwirbelnden Federchen zur Mitte des Speichers, in der Hand einen Krug. Als sein Fuß an eine flache Schale stieß, bückte er sich und füllte sie mit Wasser. Dann streute er mit unsicheren Bewegungen aus seiner Schürzentasche Körner auf den Boden. „Kommt, ihr Täubchen!“ rief er und hustete ein bisschen. Mit schräg gelegtem Kopf lauschte er. „Wo bleibt ihr? Seid ihr alle ausgeflogen?“ Sorla wünschte, der Alte sollte endlich gehen, damit er seinen Durst an der Wasserschale löschen könne. Da drehte sich der andere um und rief: „Wer ist da?“ Seine Augen starrten milchig trüb in die Ferne. Sorla verhielt sich ganz ruhig hinter seinem Balken. Doch der Alte wandte sich in seine Richtung, die blinden Augen ziellos. „Ich höre dich atmen!“ sagte er. „Bist du das Ungeheuer?“ „Hab' keine Angst!“ versuchte Sorla ihn zu beruhigen. Der Alte hob die Brauen. „Du hörst dich an wie ein junger Mann.“ „Das bin ich auch.“ „Was tust du hier oben, du junger Mann ohne Namen?“
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„Ich gehe ja gleich“, beteuerte Sorla. „Aber darf ich von dem Wasser trinken?“ Der Alte hielt den Krug mit ausgestrecktem Arme in Sorlas Richtung: „Hier nimm! Danach aber beantworte meine Frage!“ Hastig trank Sorla und gab den leeren Krug in die offene Hand des Alten zurück. „Ich musste mich verstecken, weil ich ins Unglück geriet. Atne hat mich vergessen.“ Der Alte runzelte die Stirne. Vor sich hin murmelnd, tastete er umher, bis er einen Holzkloben fand, und ließ sich ächzend auf diesem nieder. „Nun erkläre mir, was dich zu dieser Ansicht führte! Du kannst dir Zeit nehmen, denn ich sitze bequem.“ Zunächst zögerte Sorla, dann begann er zu erzählen. Er vermied es, Namen und Einzelheiten zu erwähnen, sagte aber, dass ihm eine große Gefahr geweissagt wurde, aus der ihm Atne diesmal nicht heraushelfen werde. Diese Weissagung sei eingetroffen, und er habe sich nur mit großer Mühe aus der tödlichen Falle befreien können. „Und da hat mir kein Glück geholfen, sondern ich musste mich auf meine besonderen Fähigkeiten verlassen!“ „So bist du also gewohnt, dass Atne dir aus allen Klemmen heraushilft?“ warf der Alte ein. „Du scheinst ein wahres Glückskind zu sein.“ Sorla musste zugeben, dass man das so sehen könne. „Aber zugleich bringt sie mich ständig in ungewöhnliche und gefährliche Lagen, in denen jeder gewöhnliche Mensch umkommen würde“, fügte er empört hinzu. Der Alte nickte: „Offensichtlich bist du kein gewöhnlicher Mensch, du junger Mann ohne Namen. Haben deine besonderen Fähigkeiten damit zu tun, dass man dich als Ungeheuer fürchtet?“ Sorla zögerte. Wie weit konnte er dem alten Blinden vertrauen? Was, wenn dieser um Hilfe rief? Andererseits hätte er dies schon längst tun können. So antwortete Sorla schließlich: „Ich bin kein Ungeheuer, sondern ein Mensch wie du. Doch als ich ein Kind war, nahm sich meiner eine riesige Schlange an. Sie ist sehr stark und auf so seltsame Weise klug, dass ich sie meist gar nicht verstehe. Ich träume häufig, wieder dort zu sein und mit ihr zu
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reden; und manchmal geschieht es, dass ich von diesen Träumen in eine Schlangenhaut gehüllt oder völlig in eine kleine Schlange verwandelt erwache. Es ist die Art, wie diese riesige Schlange mir hilft. Es hält aber nie lange vor; auch jetzt habe ich wieder mein normales menschliches Aussehen.“ Der Alte schwieg, der Krug pendelte langsam in seiner Hand, die er auf sein Knie gestützt hatte, hin und her. Sorla wartete auf eine Antwort, beispielsweise eine Äußerung des Erstaunens oder Unglaubens, doch nichts geschah. Ob er eingeschlafen war? Langsam und vorsichtig bewegte sich Sorla in weitem Kreis um ihn herum in Richtung Tür. Da hob der Alte den Kopf: „Halt, bleibe noch!“ Und nach einer weiteren Pause nickte er und sagte: „Du meinst also, wenn jene Schlange dir hilft, dann sei dies nicht durch Atnes Willen geschehen, richtig?“ Sorla nickte stumm, doch bevor ihm einfiel, dass der Alte dies ja nicht sehen konnte, fuhr jener fort: „Die Schlange, so meinst du, steht außerhalb der Macht Atnes?“ „Ich weiß nicht“, stammelte Sorla, dem diese Fragestellung ziemlich unwichtig vorkam. „Ich hörte, dass die Großen Schlangen schon da waren vor allem anderen, vielleicht sogar vor den Drachen, und da kann es ja ...“ „Wer sagt das?“ unterbrach ihn der Alte. „Ein Drache, den ich mal kennenlernte.“ „So? Mit Drachen pflegst du also auch Umgang, du junger Mensch ohne Namen?“ „Nur einmal hatte ich die Gelegenheit“, versuchte Sorla zu beschwichtigen, „und der war noch recht jung, erst vierhundert Jahre alt ...“ Zu Sorlas Erstaunen lachte der Alte. „Nun denn, so ein junger Drache, der kann sich ja auch irren.“ Nimmt er mich nicht ernst? dachte Sorla. Aufgebracht fuhr er fort: „Und ein Priester erzählte mir mal, dass die Schlangen so alt sind, dass selbst die Schwarze Dreiheit ...“ „Die Besser Ungenannten!“ wies ihn der Alte zurecht und machte ein schützendes Zeichen mit seiner Hand. „ ... die Besser Ungenannten nichts gegen sie vermögen.“
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Der Alte nickte nachdenklich. „Welcher Priester war das?“ „Uglamesk aus Fellmtal. Das ist ein Ort in Ailat, wo ich herkomme.“ „Ich kenne Uglamesk.“ Der Alte lächelte. „Ein alter Freund von mir. Mich wundert nur, dass er so leichtfertig über diese Dinge redet. Es sei denn ...“, er hob den Arm und zeigte in Sorlas Richtung, „es sei denn, du bist der Junge, der damals in jenem Nest, wie hieß es doch, Stutenhof, solches Aufsehen erregte.“ Sorla nickte verblüfft. „Woher weißt du ...?“ Der Alte bewegte den Arm in einer umfassenden Geste über seinem Kopf: „Tauben. Brieftauben, genauer gesagt.“ Sorla ließ das auf sich wirken, dann fiel ihm ein: „Aber du bist doch blind! Wie kannst du die Briefe lesen?“ „Das ist richtig. Für die Tauben sorgt seit einigen Jahren ein Priesterschüler, ungefähr in deinem Alter, ein netter Junge. Aber ich kann es nicht lassen, ab und an sie noch zu füttern. Alte Gewohnheit, weißt du.“ Er lächelte in Sorlas Richtung. „Viel wichtiger aber scheint mir der Umstand, dass du ausgerechnet bei uns Zuflucht suchtest, du junger Mann ohne Namen!“ „Wieso?“ „Weil dieses Gebäude, auch der Speicher natürlich, der Atne-Priesterschaft gehört. Was sagst du jetzt? Hat Atne dich vergessen?“ * Sorla bahnte sich den Weg durch die kauflustige Menge auf dem Markplatz und bog dann in die Hauptstraße zum Westtor ein. Er ließ sich von dem bunten Gewimmel mittreiben und hing seinen Gedanken nach. Der Alte war überzeugt gewesen, dass Atne ihm Sorla in den Taubenschlag geführt hatte. Was aber die vorher durchstandene Gefahr betraf, so war er unschlüssig. „Wahr ist“, hatte er eingeräumt, „so wie es jenseits von Zufall und Schicksal die
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mächtige Grundströmung des Lebens gibt, so gibt es jenseits der Glücksgöttin die angestammte Macht der Schlangen. Das Wasser wird immer hinab zum Meer fließen, gleich welchen Weg es dahin wählen mag.“ Und als Sorla ihn recht verständnislos ansah, hatte er ergänzt: „Die Schlangen sind Wesen des Wassers.“ Da hatte Sorla aufgehorcht: „Und Drachen solche des Feuers?“ Als der Alte nickte, fuhr Sorla fort: „Und keiner weiß, was früher war, Feuer oder Wasser?“ Der Alte hatte wegen des Eifers gelächelt, aber Sorla war das Gespräch mit dem DRACHEN eingefallen, auch wie jener sagte, Drachen und Schlangen seien verwandt, und ihn seinen kleinen Vetter nannte. „Ich bin der Drachenvetter!“ flüsterte er zu sich selbst, merkwürdig bewegt. Aber der Alte hatte ihn gehört. „Drachenvetter? Soll ich dich so nennen, du junger Mann ohne Namen? Oder doch nur einen Dieb auf der Flucht?“ Hoppla! Eben stieß Sorla mit einem Mann zusammen, der einen Stoffballen auf dem Kopfe und zwei weitere unter jedem Arme trug. Der Ballen auf dem Kopf kollerte zu Boden, und als der Mann ihn aufheben wollte, musste er erst die anderen beiden beiseite legen. Aber statt über Sorlas Ungeschicklichkeit zu schimpfen, lachte er und nahm freundlich Sorlas Hilfe an. Jetzt war Sorlas Gedankengang unterbrochen; wichtig war nun, seine Ausrüstung zu holen und schleunigst die Stadt zu verlassen. Nicht nur, um Korraghoms Häschern zu entgehen, sondern er wollte ja seinen Vater finden. Zu lange hatte er gesäumt! Zunächst musste er zurück zu Korraghoms Bootshaus, wo er seine Sachen verwahrt hatte, aber die Villengegend lag außerhalb der Stadtmauer. Tatsächlich sah er weiter vorne das alte Stadttor; dort staute sich die Menge, denn fünf Wachsoldaten hatten sich in einer Reihe quer unter dem Tor aufgestellt und musterten argwöhnisch jeden, der passieren wollte. Sie waren also bereits gewarnt! Wie an ihnen vorbeikommen? Doch Sorla hatte seine
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Ausbildung zum Dieb nicht umsonst gemacht. Sich zu verkleiden fiel ihm als erstes ein, doch fehlte ihm dazu alles Notwendige; nicht einmal als Mädchen konnte er durchgehen, da er nichts hatte, um seinen Flaumbart abzurasieren. Einen Aufruhr stiften und dann verschwinden, wenn die Stadtwache angelockt war? Zu gefährlich, und wahrscheinlich würden diese fünf Soldaten ihren Posten nicht verlassen. Jemanden bestechen, ihm zu helfen? Ach, er hatte ja nur dieses Bettlaken! Die Diebesgilde um Hilfe bitten? Lieber nicht, wer weiß, wie gut ihre Beziehungen zu Korraghom waren! Auf andere Weise die Stadt verlassen? Die Stadtmauern waren hoch und bewacht; der Hauptabfluss der Abwässer war, er wusste es ja, vergittert. Ja, wenn der DRACHE käme, um ihn hinauszutragen ... Um den Wachsoldaten nicht durch sein langes Zögern vor dem Tor aufzufallen, hatte sich Sorla hinter einem Pferdefuhrwerk, das gerade entladen wurde, gegen die Hauswand gedrückt. Der Fuhrmann beäugte ihn missmutig, da Sorla ihm im Wege war, wenn er seine Säcke auslud und zum nächsten Hofeingang schleppte. „Kann ich dir tragen helfen“, fragte Sorla, „für ein Stück Brot und einen Schluck Wein?“ Der Fuhrmann musterte ihn, war dann wohl mit seiner Schulterbreite zufrieden und nickte. Da ergriff Sorla die Stange, die auf der Ladefläche des Fuhrwerks lag, zog, wie er es beobachtet hatte, mit dem daran befestigten Haken einen Sack bis zum Ende der Ladefläche und kippte ihn sich auf den gebückten Rücken. Mit beiden Händen die schwere Last haltend, wankte er hinter dem Fuhrmann her. „Was ist da drin?“ keuchte er. „Steine?“ „Zwiebeln“, knurrte der Fuhrmann, und Sorla erkannte, dass dies der Eingang zu einem Gasthof war, der natürlich einen Vorrat an Zwiebeln brauchen konnte. Noch zwei Säcke Zwiebeln, fünf Säcke Mehl und drei luftgetrocknete Schinken musste Sorla schleppen, dann winkte ihm der Fuhrmann, der inzwischen seinen Pferden Futtersäcke vors
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Maul gehängt hatte, mitzukommen: „Zeit zum Essen!“ Als sie im Gastraum saßen, eine Schale Suppe sowie eine Kanne Wein auf dem Tisch zwischen ihnen und jeder einen Löffel in der rechten und einen Kanten Brot in der linken Hand, da knurrte der Fuhrmann: „Ein kräftiger Bursche wie du sollte nicht betteln, sondern ehrlich arbeiten!“ Sorla nickte betrübt: „Ich würde ja gerne, aber man lässt mich nicht.“ Der Fuhrmann sah ihn fragend an. „Nun ja, als Waise hatte ich kein Geld für eine Lehre, da verkaufte mich mein Vormund an die Diebesgilde. Nun soll ich als Dieb arbeiten, um mein Lehrgeld zurückzuzahlen. Aber ich mag die Leute nicht bestehlen!“ „Dann lauf' doch weg!“ „Das ist es ja! Sie haben mir schon meine Kleider und alles weggenommen, als Pfand. Und der Stadtwache wurde gesagt, sie sollten mich nicht entkommen lassen.“ Der Fuhrmann schüttelte mitfühlend den kraushaarigen Kopf. „Mach' dir keine Gedanken“, sagte er, „ich bringe dich aus der Stadt.“ Tatsächlich, als sie zum Fuhrwerk zurückkehrten, wies er Sorla an, sich unter den leeren Säcken zu verstecken. Nachdem er seinen Tieren die Futtersäcke wieder abgenommen, ihnen auch ein paar Eimer zu trinken gegeben hatte, setzte er sich auf den Kutschbock und fuhr langsam die Straße hinab auf das Tor mit den Wachsoldaten zu. Sorla hielt sich ganz still, trotz der Mühe, unter den staubigen Säcken ein Niesen zu unterdrücken. Jetzt hörte er – gedämpft durch das Sackleinen – das „Halt!“ eines Wachsoldaten, und das Fuhrwerk blieb stehen. „Was ist los?“ knurrte der Fuhrmann. „Wir suchen einen entflohenen Dieb. Ist dir was aufgefallen?“ „Gibt's Belohnung?“ „Fünfzig Goldstücke.“
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„Fünfzig Goldstücke?“ Das Folgende war leise gesprochen, doch Sorla hatte gute Ohren: „Höre, Soldat, auf der Ladefläche hinter mir ...“ Schon war Sorla aufgesprungen, den Hakenstab in der Hand, um sich zu verteidigen. Die Wachen waren zu verblüfft, um sofort zu reagieren; da wirbelte Sorla den Stab herum und schlug einem der Zugtiere den Haken in den Rücken. Das Pferd wieherte laut, bäumte sich auf, erschreckte das andere Tier; und ehe der Fuhrmann sich's versah, gingen die beiden Gäule durch und das Fuhrwerk rumpelte davon. Die Wachsoldaten sprangen zur Seite, um nicht überrollt zu werden. Zwar rannten sie hinterher, konnten aber das Gefährt nicht mehr einholen. Ihr „Haltet den Dieb!“ verlor sich in der Ferne. Der Fuhrmann hatte alle Mühe, dass ihm nicht die Zügel entglitten oder er gar von seinem Kutschbock fiel; um Sorla konnte er sich nicht kümmern. Dieser stand hinten auf der Ladefläche, auf eine Möglichkeit wartend, wo er abspringen konnte. Da ratterten sie an einem Ententeich vorbei; Sorla sprang, aber zu spät – er hatte die Geschwindigkeit des Fuhrwerks unterschätzt – und landete in den Binsen am Ufer des Teiches. Als er die Böschung hochhumpelte, wurde er von lachenden Dörflern begrüßt, die auf dem angrenzenden Platz ihren Wein kelterten. Sie hatten ihn beobachtet, machten gutmütige Scherze und luden ihn zum Imbiss ein: Speckbrot mit neuem Wein. Er erbot sich, ihnen zu helfen. Da musste er mit anderen Burschen die große Saftpresse bedienen, Fässer herbeirollen und säubern – alles aber mit Lachen und Liedern, wobei ihm die Mädchen schöne Augen machten. Es dauerte nicht lange, da kam ein Trupp Stadtsoldaten vorbeigeritten. Sie waren in solcher Eile, dass sie an die kelternden Bauern samt Sorla in ihrer Mitte keinen Blick verschwendeten. Abends wollte er sich verabschieden, da musste er zur Abendsuppe bleiben und bekam danach noch ein paar abgelegte Kleider geschenkt, „denn derart zerlumpt können wir einen so tüchtigen Kerl nicht laufen lassen.“ Nachdem er allen die Hände
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geschüttelt und sich den Umarmungen eines besonders gefühlvollen Mädchens behutsam entwunden hatte, verließ er den freundlichen Schein des Holzfeuers und folgte der dunklen Landstraße nach Süden, zurück zum Meer, von dem ihn das Fuhrwerk mit den rasenden Pferden weggetragen hatte. * Die Zikaden lärmten in der milden Nachtluft. Wenn sie manchmal wie verabredet schwiegen, dann hörte Sorla manchmal aus der Ferne einen Hund heulen; ansonsten war alles still. Einmal überholte ihn ein Reiter; Sorla, gewarnt vom Klappern der Hufe, lag mit Herzklopfen in den Binsen neben der Straße, bis er vorüber war. Noch vor Mitternacht tauchten die Hügel auf, hinter denen die Gärten und Villen der Vornehmen lagen. Schwarz zeichneten sich Zypressen und Pinien gegen den mondhellen Nachthimmel ab. Sorla verließ die Straße, um nach links in weitem Bogen die Villengegend zu umrunden. Nahe der Straße war der Boden feucht und mit mannshohen Binsen dicht bestanden. Das Durchkommen war schwierig, die Stechmücken lästig, doch verbargen die Schilfbüschel Sorla vor jedem Blick. Später wurde der Boden trockener, steiniger; hier wuchsen Ginster und vielerlei anderes stachliges Gestrüpp. Sorla suchte sich leise und vorsichtig den Weg, alle Deckungen nützend. Er stieß auf eine niedrige Mauer aus Lehm und Bruchsteinen, dahinter lag ein kleines Gehöft. Ein Hund schlug an, und Sorla beeilte sich, in den Schutz der hartlaubigen Büsche zurückzukehren und das Anwesen weitläufig zu umgehen. Dennoch musste er später einige Male über solche Mauern steigen, um dem Meer näherzukommen. Als er an einem Feigengebüsch, das mit seinen tiefhängenden Ästen und breitlappigem Laub die halbe Mauer verdeckte, stehenblieb, um zu pissen, gleichzeitig aber den würzigen Duft der Feigenblätter einatmete und die Blicke schweifen ließ, da brach aus dem Gebüsch
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eine große, schwarze Gestalt hervor, ein riesiges Haupt reckte sich ihm entgegen und brüllte ihm empört sein „A-iii-a-iiih!“ entgegen. Sorla war durch den Maulesel, den er aufgestört hatte, selbst so erschreckt, dass er zwei Atemzüge lang erstarrt da stand, bevor er sich besann und mit einem schnellen Satz über die Mauer die Weide wieder verließ. Bald stieß er auf die Uferstraße, die Agra mit dem westlich vorgelagerten Villenviertel verband. Hier waren er und Korraghom vor wenigen Tagen vorbeigeritten, als Brüder und in scheinbar guter Freundschaft! Man konnte nie sicher sein, seufzte Sorla insgeheim und wollte die Straße überqueren, als ihm auffiel: Man konnte nie sicher sein! Also verbarg er sich hinter einem der Alleebäume und erkundete von da die Umgebung. Es war hier sehr dunkel, da die Alleebäume das Mondlicht fernhielten. Doch Sorla mit seiner ererbten Elfensicht unterschied jenseits der Straße die schwarzen Stämme der Alleebäume, dahinter unkrautbewachsenes Brachland mit freien Stellen, auf denen zwei Hasen gemächlich umher hoppelten und Kräuter mümmelten. Plötzlich verschwanden sie im Brombeergebüsch, aufgeschreckt von einem schwarzen Schatten, der sich von einem Alleebaum löste, auf der Straßenseite schräg gegenüber von Sorla, zwei Alleebäume weiterhuschte und dort mit dem Baumstamm scheinbar verschmolz. „Langweilig, was?“ hörte Sorla ihn flüstern. „Nichts los“, bestätigte eine zweite Stimme. „Der kommt nicht mehr.“ „Atne sei Dank!“ meinte der erste. „Wenn er so ein Ungeheuer ist, wie unser Hauptmann sagt, dann bin ich auf eine Begegnung nicht scharf!“ „Und dieser Aufwand! Alle drei Bäume ein Mann! Normal wäre ich jetzt im Bett bei ...“ Sorla überlegte schnell. Wenn hier hinter jedem dritten Baum ein Soldat verborgen stand und dieser eine eben seinen Posten verlassen hatte, dann war genau dort die Lücke, wo Sorla – drei Bäume weit vom jeweils nächsten Posten – unbemerkt durch
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die Kette schlüpfen konnte. Vorsichtig, ohne ein Ästchen zu zertreten oder sonst ein Geräusch zu verursachen, bewegte sich Sorla auf seiner Straßenseite weiter, bis er gegenüber dem verlassenen Baum stand, kroch dann auf allen Vieren über die nachtdunkle Straße und verschwand aufatmend jenseits zwischen den Brombeerbüschen. „Dank dir, oh Atne!“ stieß er leise hervor, als er sich außer Hörweite der Postenkette wusste. * Im Morgengrauen erreichte Sorla endlich das Bootshaus. Es hatte ihn viel Zeit gekostet, bis zum Meer zu gelangen, wobei er noch einige Posten und Wachhunde gegen den Wind umgehen musste, und an der Küste entlang – teils am Sandstrand, teils über Klippen kletternd – bis zu Korraghoms Anwesen zu gelangen. Ihm war klar, dass er den Garten nicht betreten und vor allem sich dem Haus nicht nähern durfte, auch wenn es dunkel und scheinbar friedlich da stand. Was sollte er auch da? Mit Korraghom gab es nichts mehr zu bereden. So schwamm er die letzte Strecke, bis er den Landesteg erreichte. Unter ihm versteckt, watete er auf den Strand zu. Eine Ratte saß dort auf einem Haufen angeschwemmten Tangs und beobachtete ihn. Ihr kleiner Ohrring blitzte im Mondlicht. „Du warst lange fort!“ pfiff sie ihn an. „Länger, als ich vorhersehen konnte.“ „Sei gegrüßt, Skagengerg“, flüsterte Sorla, „äh, Skage!“ „Quatsch nicht, gleich kommen die Wachen vorbei!“ Also verhielt sich Sorla unter dem Landesteg still, auch wenn ihn zu frieren begann. Wenige Atemzüge später knirschte der Kies unter den Stiefeln dreier Männer, die mit Laternen umher leuchteten. „Keine Spuren am Strand“, sagte der eine. „Hier ist er also
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nicht aufgekreuzt.“ „Gut, Männer, gehen wir zurück.“ Als die Männer den Strand verlassen hatten, tauchte die Ratte unter ihrem Tanghügel wieder auf. „Los, rüber zum Boot!“ pfiff sie. „Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Zwei Segelboote waren am Landesteg vertäut. „Welches meinst du, Skage?“ Die Ratte war schon auf den Steg gesprungen und lugte von dort auf Sorla hinunter. „Beeile dich, du Landratte!“ Seine Frage zu beantworten schien ihr offenbar nicht notwendig. Als Sorla sich am Steg hochzog, sah er auch, weshalb: das eine Boot war halb voll Wasser gelaufen. „Da gibt es viel zu pumpen!“ pfiff die Ratte. „Wir werden keine Verfolger haben!“ „Und meine Sachen?“ „Nun komm' an Bord, Junge, mach' schon!“ Die Ratte saß bereits neben der Kajütentür. Und während Sorla noch über die Reling kletterte, löste sich wie von Geisterhand das Tau, mit dem das Boot am Landesteg befestigt war, rollte sich ordnungsgemäß zusammen und verschwand in einem Kasten. Sorla setzte die Segel, doch war da kein Lüftchen weit und breit, um sie zu füllen. „Wie sollen wir hier wegkommen, ohne Wind?“ „Keine Bange, das haben wir gleich!“ Schon kam von Land her ein strammer Wind auf, und das kleine Segelboot schoß durch die morgengraue Bucht aufs offene Meer hinaus.
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Achtes Kapitel:
DIE SCHNELLE SUSLA Der letzte Streifen Land war hinter dem Horizont verschwunden; ringsum dehnte sich das sonnglitzernde Meer. Skagengerg lehnte am Mast und beobachtete belustigt, wie Sorla seine Schätze verstaute: den kleinen goldenen Anhänger unterm Hemd an seinem Hals, das Messer Schlangenzahn in seinem Gürtel – denn seine Stiefel hatte er im Gefängnis von Agra zurückgelassen – und in seiner Hosentasche die verbliebenen Edelsteine. Zu ihnen gesellte sich, wie Sorla spürte, sogleich auch sein Glygi; jedoch nicht lange, dann war er wieder irgendwohin unterwegs. „Dein Gnomenstein ist sehr unternehmungslustig“, bemerkte Skagengerg, der offensichtlich Sorlas Gedanken gelesen hatte. Dieser nickte, war aber bereits bei einem anderen Thema: „Jetzt sind wir weit genug von der Küste entfernt, kein Schiff ist zu sehen. Für deine Hilfe muss ich dir danken, auch für den günstigen Wind.“ Skagengerg nickte. „Nur so konntest du das Boot alleine segeln.“ „Ich weiß. Und nun? Was mich betrifft, muss ich nach Osten, ins Hernostische Reich.“ „Weiß schon, du willst deinen Vater finden.“ Skagengerg verschränkte die muskelbepackten Arme über der breiten Brust. „Vergiss es. Ich habe andere Pläne mit diesem Boot.“ Sorla war wie vor den Kopf geschlagen. „W-wieso hast du mir geholfen?“ stammelte er. „Wieso hast du auf mich gewartet?“ Skagengerg lachte gutmütig. „Du bist eine echte Landratte, Sorle-a-glach. Schon mal was von einem Klabautermann gehört?“ Sorla zuckte verwirrt die Schultern. Was sollte diese Frage? „Hör' zu, damit du die Lage peilst. Unsereins lebt auf richtigen, großen Schiffen, auf dem offenen Meer. Das ist unsere
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Welt. Denkst du, mir macht es Spaß, in dem Bootshaus zu leben?“ Er sah richtig zornig aus. „Zuzusehen, wie dein Korraghom und seine Kumpane in der Bucht herumkreuzen?“ „Weshalb bist du dann dort geblieben?“ „Sie sind ja nie aufs offene Meer hinaus.“ „Du hättest dir doch das Boot schnappen können und selbst, ...“ „Geht nicht. Ein Klabautermann kann nur auf bemannten Schiffen mitreisen“, presste Skagengerg zwischen seinen Zähnen hervor. „Er kann es nicht selbst führen. Bei Wendualo, das ist eben so.“ Und als Sorla bei dem unbekannten Namen den Kopf hob, fügte er verbissen hinzu: „Der Gott der Meere, Wendualo.“ Nach kurzem Bedenken sprach er weiter: „Also: alleine kann ich kein Schiff führen, nicht mal so ein winziges Boot; und ich kann auch keinem Menschen den Kurs befehlen. Bloß mitfahren, meist unbemerkt, das kann ich. Deshalb habe ich dir zur Flucht verholfen.“ „A-aber jetzt willst du mir befehlen, oder?“ „Quatsch, mein Junge. Segle, wohin du willst.“ Er lachte. „Was du noch wissen solltest, Landratte: Einen Klabautermann sieht man nur, wenn er das Schiff bald verlässt.“ „Oder das Bootshaus.“ „Jawohl, mein Junge. Doch jetzt rede ich von dieser Nussschale.“ „Wie willst du unser Boot verlassen, Skage? Wohin willst du gehen?“ Skagengerg lachte und deutete weit hinaus nach Süden: „Auf jenes Schiff dort.“ * Erst Stunden später erschienen am Horizont die
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Mastspitzen eines großen Segelschiffes. Sorla hielt Kurs nach Osten, doch war der Wind nicht günstig. Das fremde Segelschiff kam rasch näher. Skagengerg lächelte hintergründig, während er Sorlas vergebliche Bemühungen beobachtete, gegen den Wind zu kreuzen. „Was soll das, Skage? Wieso verhext du mir den Wind?“ „Junge, es kommt aufs Gleiche raus. Früher oder später haben sie dich eingeholt und ich gehe an Bord. Ich mache nur, dass es schneller geht. Denn je länger sie dich jagen, desto wütender werden sie, desto unwahrscheinlicher, dass sie dich verschonen.“ Da muss man ja noch dankbar sein, dachte Sorla verbissen, aber laut sagte er: „Korraghom hat meinen Tod sowieso beschlossen.“ Skagengerg grinste. „Du Landratte, das ist kein Schiff aus Agra. Es sind hernostische Seeräuber!“ Inzwischen war das andere Schiff auf gleicher Höhe, und Sorla stellte entsetzt fest, dass es ihm den Wind aus den Segeln nahm. Noch näher kam es heran, seine Außenwand ragte neben Sorlas hilflos treibendem Boot wie eine riesige Mauer in die Höhe. Sorla bemühte sich, Abstand zu halten, um nicht gerammt und unter Wasser gedrückt zu werden. Da schlug, von oben geschleudert, eine Harpune in das Deck des kleinen Bootes ein, ein Ruf erscholl: „Beidrehen! Wir kommen an Bord!“ Als Sorla zu der Reling hoch über ihm blickte, sah er mehrere Männer, die mit Pfeilen auf ihn zielten. „Was soll ich tun, Skage?“ rief Sorla, aber dieser war verschwunden. Nun wurde ein Boot zu Wasser gelassen, darin saßen drei Männer. Sie ruderten rasch näher, vertäuten ihr Ruderboot an Sorlas Fahrzeug und stiegen über die Reling. Zwei bauten sich vor Sorla auf, während der dritte, den blanken Dolch in der Hand, unter Deck ging. Als er wieder hochkam, wirkte er ratlos. Er sprach mit den anderen in einer fremden Sprache. Dann wandte er sich Sorla zu: „Wo sind die anderen?“ „Ich bin allein.“
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„Man braucht einen zweiten Mann, um dieses Boot zu steuern.“ „Ich hatte günstigen Wind.“ „Das ist Schwachsinn, bei Wendualo. Man hat nicht immer günstigen Wind!“ „Ich war auf der Flucht; ich hatte keine Wahl.“ Sorla lächelte bei einem plötzlichen Einfall. „Jetzt bin ich froh, dass ihr mich gefunden habt.“ Der Mann schaute ihn verblüfft an, dann winkte er: „Komm mit. Der Matrista soll entscheiden.“ Auf der Brücke, umgeben von einigen Seeleuten, stand der Kapitän des Schiffes, und Sorla, all seiner Wertsachen beraubt, gebunden und auf den Deckplanken hockend, hatte Zeit, ihn zu bewundern, denn er sah bemerkenswert gut aus. Nicht nur wegen seines muskulösen Körpers, nicht nur weil seine weißen Zähne aus dem braungebrannten Gesicht leuchteten und seine blauen Augen gewinnend oder hart strahlten, je nach Lage, und nicht nur, weil er rückhaltloses Vertrauen in seine Entscheidungen und Führerschaft erweckte, sondern weil er insgesamt, wie er sich bewegte und gab, im Betrachter ein Lächeln erzeugte und das Verlangen, ihm nahe zu sein. Er wirkte wie ein kleiner Junge, dem man nie böse sein kann, und zugleich wie ein edles Raubtier, um dessen Zutrauen man sich bemüht; und falls dieser Mann eine Schwester hatte, die ihm ähnlich sah, dann war sie wohl eine der schönsten Frauen der Welt. Nun kam er auf Sorla zu. Dieser wurde hochgerissen: „Aufstehen, wenn der Matrista mit dir spricht!“ Doch dieser lächelte. „Meine Männer berichten, du seist alleine unterwegs.“ Seine Stimme passte zu seiner übrigen Erscheinung, und Sorla, trotz der Gefahr, in der er sich fühlte, ertappte sich bei dem Wunsch, als Erwachsener später wenigstens halb so ansehnlich zu sein. „Ja“, sagte er mit belegter Stimme. „Du seist auf der Flucht und habest unsere Hilfe dankend angenommen.“ „Ja, Matrista.“
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„Weißt du, wer wir sind?“ „Keine Ahnung. Einer deiner Männer sprach vorhin in einer Sprache, die ich nicht kenne.“ „Kaburisch.“ „Und sie nannten dich den Matrista.“ Der Matrista lächelte, doch sein Blick musterte Sorlas Körper wie eine Ware auf dem Markt. „Bei uns werden so die Anführer der großen Familien genannt, ebenso die Anführer von Schiffen.“ Das Lächeln verschwand. „Nenne mir einen Grund, weshalb wir dich nicht über Bord werfen sollen. Du bist hübsch und nicht auf den Kopf gefallen, doch das waren schon viele vor dir, die wir über die Reling geschickt haben.“ „Gastfreundschaft?“ Sorla lächelte unsicher. Die umstehenden Männer lachten wie über einen guten Scherz. „Ich könnte bei euch anheuern.“ Wieder lachten einige, doch ein Jüngerer sagte ernsthaft: „Er hat sich von der Küste alleine bis hier durchgeschlagen.“ „So eine Nussschale ist mit der 'Schnellen Susla' doch nicht zu vergleichen!“ erboste sich ein zweiter. „Über Bord mit ihm!“ Ein paar Bemerkungen in kaburischer Sprache flogen hin und her. Sorla verstand zwar nichts, doch das Gelächter, das immer wieder aufkam, und die begleitenden Blicke verhießen nichts Gutes. Dann führte einer anstößige Bewegungen vor und schaute Sorla an. „Was soll das?“ fragte Sorla den Matrista. „Er führt vor, was er mit dir anstellen will, bevor er dir den Hals durchschneidet.“ Der Matrista zuckte die Schultern, als wollte er sagen: „Nun ja, man darf es ihm nicht übelnehmen.“ „Ich möchte ihn umbringen!“ zischte Sorla. Der Matrista hob die Augenbrauen: „Dein dritter Vorschlag, und keineswegs der schlechteste.“ Er lächelte und wandte sich an seine Mannschaft: „Unser Gast erklärt sich einverstanden, gegen Boflu zu kämpfen. Ihr wisst, es gibt auf der 'Schnellen Susla' diese Sitte. Es ist meist sehr unterhaltsam.“ „Der Kerl da kann mich nicht herausfordern“, wandte Boflu überrascht ein. „Er ist kein Mann der 'Schnellen Susla'.“
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„Er will aber anheuern“, erklärte der Matrista mit seinem gewinnendsten Lächeln, „und herausgefordert hast du ihn.“ „Ja, das stimmt!“ riefen die anderen. „Es soll einen Zweikampf geben!“ Man merkte ihnen die Vorfreude auf ein bisschen Abwechslung an. Der Matrista nickte. „Die Regeln: Alles ist erlaubt außer Unbeteiligte zu verletzen oder gar das Schiff zu beschädigen. Der Zweikampf endet, wenn einer der beiden stirbt.“ Alle blickten Sorla an; sie schienen ihm nicht viel zuzutrauen. Der Matrista fuhr fort: „Wer Gnade erbittet oder gewährt, stirbt durch die Schiedsrichter, das sind wir.“ Alle brüllten ihre Zustimmung und stellten sich mit Enterhaken oder Säbeln auf, um als Schiedsrichter bereit zu sein. Sorla versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Vor kurzem noch hatte er seine erfolgreiche Flucht bejubelt, und nun sollte er um sein Leben kämpfen! „Mit welchen Waffen kämpfen wir?“ fragte er heiser. Der Matrista zeigte auf Boflu, der mit einem Säbel bereitstand: „Das ist seine Lieblingswaffe.“ „Mit Säbeln kann ich nicht umgehen.“ „Das macht nichts, du bekommst ja auch keinen.“ „Dann will ich mein Messer. Wo ist es?“ „In meiner Kabine, zusammen mit deinem Anhänger und den Steinen. Falls du siegst, bist du in die Mannschaft aufgenommen und erhältst alles zurück.“ „Ich brauche es aber jetzt. Wie soll ich sonst kämpfen?“ „Ja, das ist Pech.“ Die blauen Augen des Matrista strahlten in solch aufrichtigem Vergnügen, dass Sorla Mühe hatte, seinen aufwallenden Zorn über die Ungerechtigkeit beizubehalten. Er flüsterte ein Stoßgebet an Atne, denn Glück konnte er wahrlich brauchen, dann eines an Ak'men, den Gott der Diebe: „Hilf mir, dass ich mich geschickt und würdig erweise!“ Mehr konnte er nicht tun, er musste auf seine Gelegenheit warten und bis dahin überleben. „Der Kampf beginnt!“ rief der Matrista und trat zurück.
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Boflu sprang auf Sorla zu und führte einen Hieb, der diesem das Haupt glatt vom Rumpf getrennt hätte, wäre er nicht in einer seitlichen Hechtrolle abgetaucht und hinter dem Mast verschwunden. Die Seeräuber murmelten überrascht. „Los, stell' dich!“ schrie Boflu und begann den Mast zu umrunden; rechts herum, da er den Säbel mit der Rechten führte und mit Hieben nach links versuchte, Sorla in den Rücken zu hauen, der vor ihm um den Mast herum auswich. So rannten sie im Kreis, und die Zuschauer begannen zu murren. Plötzlich aber trat Boflu einen Schritt zurück, sein Säbel wechselte in die Linke, mit einer blitzschnellen, fließenden Bewegung, und Sorla sah sich dem Gegner gegenüber, den er hinter sich wähnte. Derart überraschend kam dies, dass er nicht mehr zurückweichen konnte. So sprang er mit den Füßen voraus in Boflus Magen, stieß sich da ab und landete nach einer Rolle rückwärts wieder auf den Beinen. Auch dies ging blitzschnell und fließend, so dass Boflu stöhnend auf dem Boden lag, bevor er seinen kraftvoll angesetzten Hieb führen konnte. Die Umstehenden lachten, einer klatschte Beifall. Das gefiel Boflu gar nicht; er begann Sorla vor sich herzujagen, indem er mächtige, weit ausholende Hiebe führte, denen dieser nicht zur Seite hin entkommen konnte. Sorla wich über das Deck immer weiter zurück. Schon begann sich der Schiffsrumpf zum Bug hin zu verjüngen; hier gab es keinen Ausweg, und Boflu lachte siegesgewiss. Seine Schiffskameraden feuerten ihn an: „Du hast ihn, Boflu! Mach' ihn fertig!“ Und was an kaburischen Zurufen kam, bedeutete sicher auch nichts anderes. Wenn ich nur mein Messer hätte, dachte Sorla. Wenn doch Skagengerg mir Schlangenzahn beschaffen könnte; Skage ist der einzige hier, der mir helfen würde! Mit dem Fuß stieß er an eine Rolle Schiffstau, das lose Ende lag obenauf. Das ergriff Sorla und schwang es über seinem Kopf im Kreise, dass es mit Wucht Boflus Schläfe traf. Es verschaffte Sorla genug Zeit, um unter Boflus Arm hindurch in dessen Rücken zu gelangen. Jetzt hatte er wieder die
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ganze Länge des Decks bis zum Heck, um den Hieben seines Gegners auszuweichen. Die Zuschauer machten bereitwillig Platz, während Boflu ihn vor sich her trieb, und trabten mit anfeuernden Worten hinterher. In Sorla machte sich Angst breit. Er hatte bisher nichts Entscheidendes ausrichten, trotz all seiner Geschicklichkeit: nur immer ausweichen und reagieren können. Dabei durfte er sich auch nicht einen Fehler leisten. Denn wenn Boflu einmal traf, war Sorla erledigt. Boflu dagegen war schon mehrmals von Sorla getroffen worden, ohne dass es eine besondere Rolle gespielt hätte. Der Ausgang war klar: irgendwann würde Sorla nicht rasch genug reagieren können. Das schien auch den Zuschauern deutlich geworden zu sein; mit rhythmischem Klatschen begleiteten sie Boflus Hiebe. Aber gerade durch das Klatschen, das immer langsamer wurde, fiel Sorla auf, dass Boflus Ausdauer nachließ. Er machte Pausen zwischen den Angriffen, die Hiebe kamen flacher und mit weniger Wucht. Einmal stolperte er, als sein Schlag wieder nur ins Leere ging. Schon lag Sorla eine Bemerkung höhnischen Triumphes auf der Zunge, doch fiel ihm ein, es sei besser, den Gegner nicht unnötig anzustacheln. Stattdessen, als er sich an der Kajüte entlang vor Boflus Hieben zurückzog, riss er plötzlich die Kajütentür auf. Boflus Säbel prallte an der Türkante ab, sprang ihm aus der Hand und flog, sich drehend und in der Sonne glitzernd, über die Kajüte hinweg auf der anderen Seite ins Meer. Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen der Zuschauer. Doch bevor Sorla sein Glück nützen und sich auf Boflu stürzen konnte, um ihm, wie er es in der Diebeszunft gelernt hatte, den Hals zu brechen, riss dieser einem der Umstehenden den Enterhaken aus der Hand – eine Stange mit Spitze und einem Haken – und drang, ihn beidhändig führend, erneut auf Sorla ein. Nun konnte Sorla nicht mehr vor seitlich geführten Hieben rückwärts ausweichen; denn Boflu stieß den Enterhaken wie einen Speer nach vorne, so dass Sorla nur mit Mühe rechtzeitig beiseite
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springen konnte; riss dann seine Waffe so gezielt zurück, dass der Haken Sorlas Seite traf und eine tiefe Fleischwunde aufriss. „Jawohl!“ schrien Boflus Kameraden. „Stich zu!“ Doch Sorla hatte sich zur Seite gerollt, sprang auf und rannte, sich die verwundete Seite haltend, außer Boflus Reichweite. Dieser hatte sich mit seinem Enterhaken in einem gespannten Seil verfangen und war nun einige Atemzüge damit beschäftigt. „Pst, Sorle-a-glach!“ hörte Sorla jemand flüstern. „Schneller ging's nicht!“ Eine unsichtbare Hand drückte ihm ein Messer in die Hand – sein Messer, Schlangenzahn war es! Aus den Augenwinkeln sah Sorla eine Ratte davonhuschen, die ein schwarzes Jäckchen zu tragen schien, vielleicht glitzerte da auch ein kleiner Ohrring. „Danke, Skage!“ flüsterte Sorla. Und als Boflu nun in siegesgewissem Gebrüll auf ihn zu rannte, ließ Sorla ihn auf fünf Schritt herankommen, schleuderte dann sein Wurfmesser, und Schlangenzahn blieb tief zwischen Boflus Rippen stecken, auch als dieser, im Todeskampf sich windend, auf den Deckplanken hin und her rollte. * „Was ich noch immer nicht verstehe, ist, wie du an dein Messer gekommen bist, mein Junge.“ Der Matrista sah ihn nachdenklich an; Sorla lächelte unschuldig. „Nun“, fuhr der Matrista fort, „wir alle haben unsere kleinen Geheimnisse.“ Er legte seinen starken Arm um Sorlas Schultern und führte ihn achtern, wo die Mannschaftskajüte war. Ein paar Männer saßen herum und beobachteten Sorlas Eintreten. „Du bekommst Boflus Hängematte und nimmst auch sonst seinen Platz ein. Falls jemand hier meint, er müsse Boflu an dir rächen, ist das deine Sache, nicht meine. Doch du kommst ja ganz gut zurecht, habe ich gemerkt.“ Ein abschließender Klaps auf die Schultern, und
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der Matrista war gegangen. Ein unbehagliches Schweigen herrschte, während Sorla und die anderen Männer sich gegenseitig betrachteten. Schließlich nickte Sorla und sagte: „Ich heiße Sorle-a-glach. Lasst euch nicht stören. Ich komme jetzt öfter.“ Ein paar lachten, aber im Hintergrund murrte jemand: „Boflu war ein tüchtiger Mann! Schade um ihn!“ „Sei kein Narr, Kreskar!“ erwiderte ein älterer Mann mit grauen Zöpfen. „Boflu hatte es darauf angelegt, und die Kampfbedingungen waren klar zu seinen Gunsten. Auch bevor dieser Junge hier das Messer warf – übrigens ein großartiger Wurf, möchte ich sagen – hatte er uns Boflu und seine Ungeschicklichkeit vorgeführt. Gib also Ruhe.“ Dieser Wortwechsel spiegelte die Stimmung der Mannschaft insgesamt wider. Ein paar hegten Vorbehalte gegen Sorla und zeigten sie offen, für die meisten aber war die Sache erledigt, und durch sein Verhalten im Kampf gegen Boflu hatte Sorla bei ihnen Ansehen erworben. Die Schnelle Susla lief drei Tage später eine kleine Insel an, die, wie Sorla erfuhr, der Hauptinsel Kabures vorgelagert war; nach dieser sind die ganze Inselgruppe und auch die kaburische Bucht benannt. Dort ließen sie das kleine Segelboot Korraghoms zurück und fassten Proviant und Wasser. Die meisten Männer nützten die Zeit, um ihre Familien, vor allem ihre Frauen, zu besuchen, welche, in landesüblich dunkle Gewänder gehüllt, bereits im Hafen warteten, seit der Mann im Hafenturm den Mast der Schnellen Susla ausgemacht hatte. Eine schlanke, junge Frau suchte ihren Mann vergeblich unter denen, die von Bord winkten. Als ihr zugerufen wurde, was geschehen war, schüttelte sie die Faust gegen Sorla und schrie kaburische Beschimpfungen, bis man sie wegführte. Sorla hatte gehofft, im Hafen den Seeräubern entkommen zu können. Doch war die Insel winzig, jeder dort kannte ihn – und die Verwandten Boflus warteten nur darauf, ihn irgendwo alleine abzufangen.
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Ein paar Tage später stachen sie wieder in See, natürlich mit Sorla, der sich nun an Bord einlebte. Als erstes lernte er die Arbeit, die von ihm als Seemann erwartet wurde. Er bekam starke Arme, breitere Schultern und einen wiegenden Gang. Nebenher erwarb er genug Brocken der kaburischen Sprache, um mit den anderen um die Wette singen, fluchen, lachen zu können. In Abwandlung seines Namens nannten sie ihn Solur, was im Kaburischen einen Dieb und Abenteurer bezeichnet. Das war zunächst als Wortspiel gemeint, doch als Sorla zumindest den Teil seiner Lebensgeschichte preisgab, die seine Lehrlingszeit bei der Seedorfer Diebesgilde betraf, hing ihm der Name an wie Pech. Von Anfang an ließ Sorla keinen Zweifel daran, dass er zwar seine Pflichten als Seemann erfüllen, nicht aber sich an der eigentlichen Seeräuberei beteiligen werde. Er sei zwar ein Dieb, wolle aber niemand aus Gewinnsucht töten. Einige nannten ihn allzu zartbesaitet und waren enttäuscht, denn als vollwertiger Ersatz für Boflu taugte er so ja nicht. Sie hofften jedoch, er werde sich schon noch besinnen. Der Matrista, das merkte Sorla bald, liebte junge Männer, wie andere schöne Frauen lieben. Nun war die Schnelle Susla oft viele Wochen unterwegs, und die Männer waren sowieso aufeinander angewiesen, wenn sie ihre dringlichsten Bedürfnisse nicht selbst befriedigen wollten, da fielen die Neigungen des Matrista nicht aus dem Rahmen. Dass ihm Sorla gefiel, war offenkundig. Als er jedoch merkte, dass Sorla ihn zwar bewunderte, aber dennoch nicht sein Lager teilen wollte, ließ er ihn in Ruhe. Es gab an Bord genug andere junge Männer, die waren froh, wenn sie der Matrista zum Liebchen erkor. Alles in allem war Sorla mit seinem Schicksal vorerst zufrieden. Immerhin lag er nicht tot auf dem Grund des Meeres, dafür musste er Atne dankbar sein. *
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In den nächsten Wochen lernte Sorla, indem er den Matrista beobachtete, eine Menge darüber, was einen guten Anführer ausmacht. Auch in der Mannschaftskajüte wurden dessen Entscheidungen des langen und breiten besprochen und gewürdigt. Von ihm gelobt zu werden war herrlich, von ihm bestraft zu werden eine Gerechtigkeit, der man sich willig unterwarf. „Jeder von uns würde für ihn in den Tod gehen“, nickte Kreskar. „Außer Solur hier vielleicht.“ Er hatte sich mit Sorlas Anwesenheit und besonderer Rolle offensichtlich noch nicht abgefunden. „Und ich bin sicher“, fügte ein anderer, Letko mit Namen, hinzu, „auch der Matrista würde sein Leben opfern, um die Mannschaft zu retten.“ Sein hübsches Gesicht wurde rot. Prato, jener Ältere mit grauen Zöpfen, der damals Kreskar zurechtgewiesen hatte, sagte nachdenklich: „Noch besser wär's natürlich, keiner bräuchte zu sterben. Wir alle haben doch Frauen und Kinder. Wir reden zuviel vom Tod.“ „Nun, wir sind Seeräuber, oder?“ warf Kreskar hitzig ein. „Als wir noch Fischer waren, starben auch nicht alle an Altersschwäche!“ Das überraschte Sorla: „Ihr habt früher als Fischer gelebt?“ „Der Alte da, Prato, der ja“, antwortete Letko. „Wir anderen haben das nur von unseren Vätern erzählt bekommen.“ „Und weshalb seid ihr Seeräuber geworden?“ „Weil wir ein freies Volk sind!“ rief Kreskar. „Weil wir keine Steuern zahlen!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Weinkrüge wackelten. Ein tiefes Lachen ertönte; in der niedrigen Kajütentür stand der Matrista. „Es ist nicht ganz so einfach, Kreskar“, sagte er. „Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich es Solur etwas verständlicher darstelle.“ Er setzte sich mit an den Tisch, Letko füllte ihm errötend einen Krug. „Es ist wahr, die kaburischen Inseln sind unabhängig, auch wenn sowohl Agra als auch Kratos schon mehrmals versuchten, uns zu unterwerfen. Doch zahlen wir seit Generationen
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einen freiwilligen Tribut an das Hernostische Reich, damit es uns vor solchen Übergriffen schützt.“ „Freiwilliger Tribut, meine Fresse!“ murrte Kreskar. Der Matrista hob die Hand. „Geduld! Ich rede von den Zeiten unserer Väter. Aber dann starb der Schlangenkaiser ...“ Als er Sorlas fragenden Blick sah, erklärte er: „Der hernostische Kaiser. Als er starb, fand sich kein geeigneter Thronerbe.“ Sorla fiel das Zauberfest der Elfen ein. Doch unterbrach er den Matrista nicht, der fortfuhr: „Seither herrschen üble Zustände. Die Gesetze des Kaisers gelten nicht mehr. Deshalb können wir uns nicht gegen die Steuereintreiber wehren, die mit Soldaten zu unseren Fischerdörfern kommen. Sie wirtschaften in die eigene Tasche. Sie verlangen mehr, als ein Fischer mit ehrlicher Arbeit verdienen kann. Nur durch die Seeräuberei können wir ihre Forderungen erfüllen. Ihnen ist es gleich, woher das Geld stammt, obwohl es ein offenes Geheimnis ist.“ „Also seid ihr zu Räubern und Mördern geworden, um den korrupten Beamten zu Geld zu verhelfen, stimmt das?“ warf Sorla ein. Die blauen Augen des Matrista betrachteten ihn nachdenklich. „Das klingt nicht schön, doch man könnte es so sagen, Solur.“ „Und wenn du die Wahl hättest, Matrista, wärest du lieber wieder Fischer?“ „Ich ein Fischer?“ Der Matrista lachte. „Wer hier würde freiwillig der Seeräuberei entsagen? Der soll mal die Hand heben.“ Das war als Witz gemeint, doch Prato, der Graukopf, streckte tatsächlich den Arm hoch: „Ich, Matrista, ich wäre lieber ein einfacher Fischer. Es ist nicht so aufregend, das stimmt, aber ich wäre ein ehrlicher Mann und öfter bei meiner Frau.“ Der Matrista legte den Arm um ihn: „Dafür lieben wir dich, mein Guter, dass du diese Sehnsucht noch hegst, auch wenn wir sie nicht teilen.“
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* „Schiff voraus!“ scholl es vom Ausguck. Sofort brach allgemeine Geschäftigkeit aus; außer Sorla wusste jeder, was zu tun war. Bald konnte man das fremde Schiff auch von Deck aus sehen. Es war etwas größer als die Schnelle Susla und lag tief im Wasser. „Ein Frachter aus Kratos“, sagte Prato, der das Steuer bediente. „Was bedeutet das?“ wollte Sorla wissen. „Beute natürlich.“ Nun war der Ernstfall eingetreten. Sorla half beim Setzen des zweiten Segels, hielt sich aber ansonsten im Hintergrund. Die anderen befestigten Schilde an der Reling, bereiteten Brandpfeile und andere Wurfgeschosse vor, knüpften Seile an Enterhaken, besprachen die Teilung der Beute, die sie noch gar nicht gesehen hatten – auf Sorla achteten sie in ihrem Jagdfieber nicht. Das kratolische Schiff versuchte zu fliehen, lag aber zu tief im Wasser. Auch zur Seite auszubrechen schlug fehl, denn die Schnelle Susla war weitaus wendiger und schnitt ihm den Weg ab. Da versuchte das fremde Schiff, die Schnelle Susla zu rammen. Der Matrista, der das Ruder nun selbst übernommen hatte, lachte, als er dies sah. Er leitete ein Wendemanöver ein und brachte die Schnelle Susla längsseits zum fremden Schiff, wodurch er diesem den Wind aus den Segeln nahm. Am Bug konnte Sorla in hübscher Schrift lesen: „Blume von Kriteis“. „Segel reffen! Anlegen!“ rief er. Schon flogen Enterhaken hinüber; die Männer zerrten an den daran befestigten Seilen und zogen so die beiden Schiffe näher zusammen. Von drüben flogen Pfeile herüber, die aber wirkungslos gegen die Schildwand an der Reling prasselten oder über die Schnelle Susla hinweg pfiffen und im Meer versanken. Die Seeräuber jedoch blieben hinter den Schilden verschanzt und schossen ihre Pfeile gezielt auf einzelne Leute der Blume von Kriteis, wenn diese versuchten, die Enterhaken von ihrem Schiff zu lösen. Schon waren mindestens
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fünf getötet oder schwer verwundet. Nun rieb sich die Backbordseite der Schnellen Susla knarrend an der Steuerbordseite des kratolischen Schiffes. Die Männer vertäuten die Halteseile, so dass die Schnelle Susla, die noch immer in Fahrt war, die Blume von Kriteis eine Strecke mit sich zog, bevor beide Schiffe zum Stillstand kamen und nebeneinander in den Wellen dümpelten. „Ergebt euch!“ rief der Matrista hinüber. „Fresst eure Schwänze!“ kam die Antwort. Der Matrista lächelte zufrieden – er schien diese Antwort erhofft zu haben. „Klar zum Entern!“ rief er, und seine Männer sprangen säbelschwingend über die Reling. Die kratolischen Seeleuten wehrten sich tapfer, konnten aber gegen die Übermacht der kampferprobten Seeräuber nichts ausrichten. Nach kurzem Gemetzel wurden die vier Überlebenden, darunter auch der Kapitän, an Bord der Schnellen Susla an den Mast gebunden. „Ihr lasst sie leben?“ fragte Sorla Letko in aufkeimender Hoffnung. Dieser meinte ihn beruhigen zu müssen: „Nein, nein. Wir brauchen sie nur für den Fall, dass wir die Wertsachen nicht gleich finden.“ Die Fracht der Blume von Kriteis bestand im wesentlichen aus Statuen von Granit, wie er südlich des Meeres in Tuneg-la abgebaut wird, und ein paar Kisten mit wasserdicht verpackten Büchern in fremdländischen Zeichen. Das erboste die Seeräuber ungeheuer, denn nichts davon ließ sich verkaufen oder verzehren. „Wo ist das Gold?“ fragte der Matrista den Kapitän. Dieser stammelte, die Ware müsse ja erst verkauft werden. „Und die Mannschaft bekommt solange keinen Sold?“ unterbrach der Matrista ihn. „Hafengebühren? Nein? Rücklagen für unerwartete Ausgaben? Nein?“ Er winkte Kreskar, der im Foltern einiges Geschick erworben hatte; und bald flehte der Kapitän, das Versteck verraten zu dürfen, wenn man ihn nur rasch sterben ließe. Der Wunsch wurde ihm erfüllt, nachdem man eine Schatulle mit mehreren hundert Goldmünzen gefunden hatte. Auch den anderen drei Kratolen gewährte man, versöhnlich gestimmt,
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einen raschen Tod, indem man sie Wendualo empfahl, das heißt mit gefesselten Händen über Bord warf. * Sorla war vom Schreien des kratolischen Kapitäns fast schlecht geworden; seine Schiffskameraden beruhigten ihn aber, das vergehe bald. Sie brachten ihm Kostproben von allem, was die Kombüse der Blume von Kriteis zu bieten hatte: Wein, Braten, Leckereien. Sich selbst schlugen sie damit in der Siegesfeier dermaßen die Bäuche voll, dass sie abwechselnd kotzend über der Reling hingen. Aber wenn sie nicht Wendualo opferten, dann sangen sie so schöne Lieder aus der kaburischen Heimat, dass selbst Sorla die Tränen der Rührung kamen, der sich doch geschworen hatte, dieses Seeräuberpack zu verachten. Letko lag schmachtend an der Brust des Matrista, der aber auch andere überschwenglich umarmte, denn der Tod war nahe gewesen, alle aber hatten tapfer und erfolgreich gekämpft. „Bis auf Solur“, grollte Kreskar mit scheelem Blick. „Lass ihn“, beschwichtigte der Matrista. „Er hat's vorher gesagt, dass er Gewissensgründe hat.“ „Er ist eben kein Kabure!“ „Richtig, deshalb hat er auch nicht die Steuereintreiber im Nacken. Feige ist er nicht. Nun lass ihn in Frieden.“ Sprach's und schenkte Sorla neu ein. Der gleichzeitige Griff zwischen dessen Beine war nur dem Wein zuzuschreiben und nicht persönlich gemeint. Es folgten zwei ereignislose Wochen, während derer die Schnelle Susla auf Beutesuche die See durchstreifte. Man verstaute Segeltuch und was sonst von der Blume der Kriteis als brauchbar übernommen wurde, bevor man sie samt Statuen und Bücherkisten versenkte. Rako, ein ruhiger und freundlicher Mann, brachte sich
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vier neue Narben am linken Oberschenkel an – eine Kerbe für jeden, den er kürzlich getötet hatte. Den Oberschenkel wählte er, da an den Armen kein Platz mehr war. Es war nicht viel zu tun und begann so langweilig zu werden, dass sinnlose Streitigkeiten aufkamen. Einige beklagten sich beispielsweise, Zlapo, der Schiffskoch, begünstige Letko, weil der ihm des Nachts einen lieben Gefallen getan habe. Das führte zu bösen Worten und einigen gefährlichen Schnittverletzungen. Dann erscholl wieder der Ruf „Schiff voraus!“ Alle waren froh über die Abwechslung. Diesmal gelang es der Schnellen Susla allerdings nicht so leicht, ihr Opfer einzuholen und ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Also musste man zu anderen Mitteln greifen. „Brandpfeil fertig!“ rief der Matrista. Prato betätigte die Winde einer großen Armbrust, die in einer Halterung am Vorderdeck eingelassen war. Ein großer Bolzen, umwickelt mit pechgetränkten Lappen, lag auf der Schiene. Er war mit zwei merkwürdigen Widerhaken versehen. „Brandpfeil ab!“ Prato entzündete das Pech mit einer bereitgehaltenen Fackel und betätigte den Abzug. Der Bolzen zischte lodernd in weitem Bogen und traf das Segel des fremden Schiffes. Statt aber es zu durchschlagen, verfing sich der Bolzen durch die Widerhaken im Segel, das rasch in Brand aufging. Bald trieb das fremde Schiff hilflos in der Dünung. Die Schnelle Susla näherte sich gemächlich auf Schussweite. Nun war auch der Name des fremden Schiffes zu lesen; „Tanzende Eserdha“ stand in der Sprache und Schrift Agras neben der bemalten Holzfigur einer nackten Frau, die den Bugspriet zierte. „Ergebt euch!“ rief der Matrista. „Niemals, ihr kaburischen Teufel!“ kam es von der Tanzenden Eserdha zurück, deren Takelage schon lichterloh brannte. Der Matrista lächelte. Seine Männer vergnügten sich, mit
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Pfeilen und Armbrustbolzen die Leute der Tanzenden Eserdha abzuschießen, während diese versuchten, das um sich greifende Feuer zu löschen. „Halt!“ rief der Matrista seinen Leuten zu. „Lasst sie machen! Es nützt nichts, wenn unsere Beute verbrennt oder absäuft.“ Also schaute die Besatzung der Schnellen Susla zu, wie die anderen Seeleute verzweifelt das Feuer bekämpften. Nach zwei Stunden war es gelöscht und die Tanzende Eserdha gerettet. Jetzt begannen die Seeräuber wieder zu schießen, was für die anderen so überraschend kam, dass sie nicht mehr die Zeit fanden, ihre Löscheimer wegzustellen, bevor sie starben. Die Gegenwehr war gering, nur ein paar schlecht gezielte Pfeile flogen herüber oder fielen schon vorher ins Wasser. Offensichtlich waren die wenigen Überlebenden keine guten Kämpfer. „Klarmachen zum Entern!“ rief der Matrista. Da erscholl es von drüben: „Halt!“ Ein dicker Mann winkte hinter dem Mast der Tanzenden Eserdha hervor. „Wir ergeben uns!“ „Zu spät!“ lachte der Matrista. „Ihr seid Fischfutter!“ Und da er seinen Befehl zum Entern nicht widerrief, schleuderten seine Männer ihre Enterhaken, um die Schnelle Susla an das steuerlos treibende Schiff heranzuziehen. Als sie an Bord der Tanzenden Eserdha kletterten, fanden sie neben all den Toten nur noch zwei Verwundete, die kaum die Arme zur Gegenwehr heben konnten. Diese wurden rasch abgestochen; der Dicke, der sich vor die Kajütentür stellte und um Gnade für sich und die Seinen winselte, ebenfalls. „Erst in der Kajüte“, so erzählte Letko Sorla später, „gab es ernsthaft was zu tun. Ein Bartloser mit dunkler Haut, wahrscheinlich beschnitten,“ Letkos Lippen kräuselten sich spöttisch, „aber er hatte in jeder Hand einen Dolch.“ Gegen ihre Enterhaken und Säbel nutzten diese Waffen allerdings wenig; er war schnell niedergemetzelt und hatte nur Rako eine unbedeutende Verletzung am Unterarm beibringen können. Sein Körper war aber so groß und schwer, dass sie ihn zu dritt von der Schranktür wegschleifen mussten, vor der er zusammmengebrochen lag. Im
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Schrank waren zwei Kinder versteckt – ein halbwüchsiger Junge und ein vielleicht siebenjähriges Mädchen, dazu noch ihre Mutter, die furchtbar schrie, weshalb ihr Rako wegen seiner empfindlichen Ohren mit dem Säbelknauf über den Kopf schlug, dass sie besinnungslos zusammenbrach. Diese drei wurden an Bord der Schnellen Susla gebracht. Nun hatte auch Sorla, während die Seeräuber das andere Schiff plünderten und anschließend versenkten, Zeit, sie sich anzusehen. Die Mutter war noch bewusstlos, also zog Sorla sie in den Schatten. Den Kindern bot er Wasser an. Das Mädchen starrte jedoch auf seine reglose Mutter; der Junge wandte sich mit zusammengepressten Lippen von dem angebotenen Krug ab. Seine gefesselten Hände ballten sich. „Das legt sich“, sagte Zlapo, der Sorlas Bemühungen von der Kombüse aus zusah. „Bis sie auf den Sklavenmarkt kommen, sind sie vernünftig.“ „Sklavenmarkt?“ „Nun, Frauen und Kinder tötet man nicht, wenn man's vermeiden kann.“ Die Mutter allerdings starb wenige Stunden später an ihrer Kopfverletzung, ohne noch einmal zur Besinnung gekommen zu sein. Der Matrista entschied, dass der dadurch entstandene Verlust von Rakos Anteil abgezogen werden solle: „Mit Frauen geht man so nicht um, Rako. Stell' dir vor, es sei deine Mutter!“ Das traf; der Gescholtene bekam Tränen in die Augen, und abends, als er mit den anderen sich auf dem Achterdeck betrank, beteuerte er immer wieder, wer seiner Mutter was zuleide täte, dem würde er's aber zeigen. * Eben dieses Gelage – abgehalten natürlich mit den Vorräten der unglücklichen Tanzenden Eserdha – wurde gestört, als
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Kreskar aus der Mannschaftskajüte getorkelt kam: „He, Jungs, schlimme Nachricht!“ Alle fanden das zum Lachen. „Hat Zlapo uns in die Suppe gepisst?“ fragte einer, „Ist Letko schwanger?“ ein anderer. Aber Kreskar hob beschwörend die Hand: „Ich hab' den Klabautermann gesehen.“ „Quatsch' nicht dumm!“ riefen die anderen erschrocken. „Mit so was macht man keine Scherze!“ „Nein, hört zu. Ich geh' in die Kajüte, denk' mir nix, da steht ein fremder Kerl vor Solurs Hängematte.“ „Wie – fremder Kerl?“ „Wie ich sage. Groß, breit, und bestimmt kein Kabure.“ „Gibt's doch nicht!“ „Sag' ich doch, es ist der Klabautermann. Ich frag' ihn, 'He, was machst du hier?' Und er: 'Ich packe, ich mustere ab.'„ Alle sprangen auf, um nachzusehen. Doch die Mannschaftskajüte war leer. Sie durchsuchten das Schiff vom Mastkorb bis zum Kielraum und kamen zum Ergebnis, dass Kreskar geträumt haben müsse. „Mach' dir nichts draus“, sagte der Matrista und schlug ihm auf die Schulter. „Das kann den Besten passieren. Das kommt vom Spakjo-Wein.“ Auch die anderen hauten ihm auf die Schulter – erleichtert über die einleuchtende Erklärung – und fast jeder konnte eine Geschichte beitragen, welche Streiche ihm der Spakjo-Wein schon gespielt habe. Sorla aber durchsuchte seine Hängematte genau und fand unter der Decke ein Zettelchen, bedeckt mit krakeligen und altmodischen Schriftzeichen: „Halte die Ohren steif, Junge. Du bist ein tüchtiger Seemann geworden, aber deine Zukunft liegt auf dem Land, soviel weiß ich. Skage.“ Nachdenklich ging Sorla zurück auf Deck. Wenn der Klabautermann sich zeigte, stand dem Schiff wahrscheinlich ein Unglück bevor. Sonst hätte er ja keinen Grund, das Schiff zu verlassen – die Schnelle Susla war doch ganz nach seinem
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Geschmack. „Ich muss dich mal alleine sprechen, Matrista“, sagte er. „Hoho!“ riefen die anderen. „Letko, pass auf, Solur schmeißt sich an deinen Matrista ran!“ Aber weiter kümmerten sie sich nicht darum. Als sie außer Hörweite waren, eröffnete Sorla dem Matrista, dass Kreskar recht gehabt habe. Er, Sorla, kenne diesen Klabautermann persönlich. „Du und deine kleinen Geheimnisse, Solur!“ entgegnete der Matrista nachdenklich. „Beschreibe ihn!“ Das tat Sorla, danach wollte der Matrista auch von Kreskar wissen, wie der Fremde ausgesehen habe. Die Beschreibungen deckten sich. Da unterbrach der Matrista das Gelage: „Leute! Kreskar hatte recht, und dem Schiff droht Gefahr! Kann sein, ein Unwetter kommt. Am besten, wir treffen die Vorbereitungen für den Notfall. Und zwar jetzt gleich.“ Alle stöhnten, wankten dann aber gehorsam zur Arbeit. Die Boote wurden nachgesehen, Ruder überprüft, Wasser und Proviant in den Booten verstaut, Notsegel bereitgelegt – alles für den kaum vorstellbaren Fall, die Schnelle Susla könnte überraschend Schiffbruch erleiden. Schließlich krochen alle, die nicht am Ruder oder an den Segeln gebraucht wurden, erschöpft in die Hängematten. Sie schliefen schlecht, weil sie damit rechneten, wegen eines aufkommenden Sturms an Bord gerufen zu werden. Am nächsten Morgen waren alle überrascht, dass das Schiff nicht untergegangen war. „Umso besser“, meinte Prato, „dann erwischt's uns wenigstens nicht, wenn wir besoffen sind.“ Allerdings wurde ein Unwetter immer unwahrscheinlicher, denn die Sonne schien heiß, und der Wind hatte sich fast gänzlich gelegt. „Schiff voraus!“ schrie der Mann im Ausguck. „Na also“, sagte der Matrista zufrieden. „Vielleicht kommt ja gar kein Unwetter. Vielleicht will der Klabautermann nur umsteigen. Dann sollten wir das Schiff dort nicht zerstören, sondern nur ausplündern.“ Es wurden die üblichen Vorbereitungen getroffen, und sie
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kamen trotz des geringen Windes immer näher, denn das fremde Schiff machte keine erkennbare Fahrt. „Wieso flieht es nicht?“ fragte Sorla. „Kann es doch nicht – mit nur dem Rahsegel und fast keinem Wind!“ Jetzt fiel auch Sorla das einfache Rahsegel auf. Auch sonst war das fremde Schiff ungewöhnlich gebaut. „Wo kommt es her?“ fragte Sorla. „Weiß nicht“, antwortete Prato. „Vielleicht aus Nireg-la. Dort sollen sie ja noch diese Segel verwenden. Aber was macht es so weit nördlich?“ Kreskar zuckte die Schultern: „Wir werden's herausfinden, wenn's wichtig ist.“ Bald konnten sie Einzelheiten erkennen. Erstaunlich war, dass das andere Schiff eine sehr hohe Reling hatte, hinter welcher man die Köpfe der Besatzung kaum sehen konnte. Merkwürdig war auch, dass am Bug kein Schiffsname zu lesen, sondern ein einfarbig blaues Tuch angebracht war. Doch vielleicht waren in Nireg-la die Gebräuche anders. Nun schob sich die Schnelle Susla, nach ihrer gewohnten Weise, auf die Luvseite des fremden Schiffes, um diesem den Wind aus dem Segel zu nehmen. Gleichzeitig wurden die Segel gerefft, bis die Schnelle Susla alle Fahrt verlor und nur vom Wind näher an ihr Opfer herangetrieben wurde. „He, Schnelle Susla!“ erscholl da ein Ruf von drüben. „Wollt ihr uns rammen? Was habt ihr vor?“ „Ergebt euch!“ rief der Matrista zurück. „Dann lassen wir euch vielleicht das Leben!“ „Seid ihr Seeräuber?“ „Bei Wendualo!“ lachte der Matrista. „Habt ihr's schon gemerkt?“ Da wurde das blaue Tuch vom Bug des anderen Schiffes entfernt. Jeder konnte den Namen lesen: „Kriteische Seewacht Eins“. „Das kommt gewiß nicht aus Nireg-la“, murmelte Prato,
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und der Matrista runzelte die Stirn: „Seewacht? Das muss was Neues sein. Am besten, wir hauen ab.“ Er gab den Befehl, Segel zu setzen, und langsam glitt die Schnelle Susla fort von der Kriteischen Seewacht Eins. Von dort aber kam der Befehl: „Beidrehen oder wir zerstören euer Schiff!“ Der Matrista lachte nur: „Wie sollen die uns noch einholen!“ Doch plötzlich veränderte sich das andere Schiff auf merkwürdige Weise. Unterhalb der Reling öffneten sich Schlitze, lange Ruder wurden herausgeschoben, ins Wasser getaucht und begannen dann im Gleichtakt zu rudern. Das Schiff nahm überraschend schnell Fahrt auf. Gerade jetzt bei dem schwachen Wind war es mit seinen Ruderern deutlich im Vorteil. „Letzte Warnung!“ erscholl es wieder. „Beidrehen oder wir zerstören euer Schiff!“ „Mir gefällt das nicht“, murmelte der Matrista. „Was haben die bloß im Sinn?“ Schon war das kratolische Schiff auf gleicher Höhe und wurde immer noch schneller, der Bug schwenkte herum, bis er auf die Schnelle Susla zeigte. Und nun erst sahen die Leute der Schnellen Susla, daß das feindliche Schiff unter dem Wasserspiegel einen langen Rammsporn hatte. Bevor die Schnelle Susla ihr verzweifeltes Ausweichmanöver durchführen konnte, war die Kriteische Seewacht Eins herangekommen und hatte sich mit lautem Krachen in den Leib der Schnellen Susla gebohrt. Knirschend hingen die beiden Schiffe zusammen, schwankend wie erschöpfte Liebende; einige Augenblicke später jedoch begannen die kratolischen Ruderer ihr Schiff von seinem Opfer zu lösen. Der Rammsporn hinterließ eine klaffende Öffnung in der Schiffswand, in die das Meerwasser strömte. Die Schnelle Susla hing bereits mit starker Schlagseite, sie war nicht mehr zu retten. Die Seeräuber fluchten leise, während sie die vier Boote zu Wasser ließen. Während sie hineinstiegen und drei der Boote bereits von der Schnellen Susla wegzurudern begannen, eilte Sorla
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noch einmal unter Deck. „Wo bleibst du, Solur?“ rief Prato, der mit dem Matrista im vierten Boot auf Sorla wartete. Dieser aber war schon im Laderaum und öffnete die Riegel, hinter denen die beiden gefangenen Kinder eingesperrt waren. Sie blickten ihm entsetzt entgegen, denn hier unten war das Rauschen des hereinströmenden Wassers, das Krachen und Knarren des gepeinigten Schiffsleibes noch deutlicher zu hören. „Kommt, schnell!“ rief er, führte sie an Deck und ließ sie vor sich her die Strickleiter zum Boot hinunterklettern. „Bei Wendualo!“ murmelte der Matrista, als er die Kinder sah. Als Sorla auch im Boot saß, sagte er: „Ich hatte gehofft, du vergißt die Kinder.“ „Wieso? Wolltest du, daß sie mit dem Schiff untergehen?“ „Ich habe nichts gegen die Kinder.“ Der Matrista strich dem Mädchen über die Haare. „Aber nun werden wir alle sterben.“ Sorla begriff; diese Kinder waren die einzigen, die gegen die Seeräuber aussagen konnten. Ohne sie hätte man alles abstreiten können, denn die verräterische Ladung ging ja soeben mit der Schnellen Susla unter. Als habe er Sorlas Gedanken gelesen, fügte der Matrista hinzu: „Jetzt ist es zu spät, die Kinder zu beseitigen. Die verdammten Kratolen haben sie bereits gesehen.“ „Und wenn wir fliehen?“ Prato schüttelte den Kopf. „Wir können diesem riesigen Ruderschiff nicht entkommen.“ Alle vier Boote wiegten sich in weitem Umkreis auf den Wellen; die Seeräuber sahen zu, wie ihr geliebtes Schiff unterging. Zuerst verschwand das Heck im Wasser. Fässer und Kisten rumpelten über das Deck nach achtern und fielen ins Meer. Bald war bloß noch der Bug zu sehen, der Bugspriet mit den gemalten Flügeln ragte in den Himmel und verschwand dann im schäumenden Wasser. „Sie ist von uns gegangen!“ rief der Matrista, der mit ausgebreiteten Armen im Boot stand. „Die Schnelle Susla war das schönste Schiff, das je die Meer befuhr! Laßt uns das Klagelied
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singen!“ Da sangen seine Leute der Schnellen Susla das Abschiedslied, wie es auf den kaburischen Inseln den Verstorbenen gesungen wird, wenn man sie zu Grabe trägt – so schön, so traurig, daß auch Sorla mit den anderen weinte. Selbst die Kratolen auf ihrem Schiff blieben still, solange das Lied dauerte. Als es vorbei war, hörte man von Bord der Kriteischen Seewacht Eins: „Sehr rührend. Jetzt ergebt euch. Ihr seid hier in kratolischen Gewässern und werdet der kriteischen Gerichtsbarkeit zugeführt.“ Die Leute des Matrista hatten keine Wahl, als einzeln an Bord der Kriteischen Seewacht Eins zu kommen und sich fesseln zu lassen – es sei denn, sie zogen den Freitod in den Wellen vor, wie es Rako tat, der mit dem Ruf „Mich hängt ihr nicht!“ ins Wasser sprang und gleich unterging.
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Neuntes Kapitel:
DIE KATAKOMBEN VON KRITEIS Von dem berühmten, altehrwürdigen Kriteis bekam Sorla außer der Hafeneinfahrt nicht viel zu sehen, denn sobald die Kriteische Seewacht Eins mit ihren Gefangenen einlief, wurden diese unter starker Bewachung in ein nahegelegenes Gebäude abgeführt und eingesperrt. Dennoch: Schon die vorgelagerten Brandungsmauern waren beeindruckend, dann der Leuchtturm, massig, sechskantig; so hoch wie die Tannen in den Wäldern Ailats! Der Hafen, neben dem sich der von Agra ausnahm wie das Kaltwasserbecken im Schwitzbad Korraghoms, dehnte sich weit in einem Gewirr von Stegen, Schiffen, Booten, Kränen. Was Sorla jedoch am meisten erstaunte und vorübergehend seine schlimme Lage vergessen ließ, waren die riesigen steinernen Gebäude, die den Hafen von Kriteis säumten, fast jedes so groß wie das Schloss des Grafen von Agra, doch massiger, unerbittlicher, prächtiger, insgesamt wahrhaft einschüchternd. Diese Stadt atmete nicht Schönheit, sondern den Stolz auf ihre althergebrachte Seemacht. Jeder Seeräuber wurde in einer Einzelzelle untergebracht, so auch Sorla. Allerdings waren diese Zellen nur durch Eisengitter voneinander getrennt, breit genug, um die Hände hindurch zu strecken. Die Zellentüren führten jeweils auf den Gang, in welchem Wächter und andere Beamte hin und hergingen. Sorlas Messer sowie seine Wertsachen wurden eingezogen und in der Schreibstube verwahrt. Den Anhänger jedoch ließ man ihn, denn er war so klein, dass der Sachwert eher gering schien. „Kleines goldenes Schlüsselchen“, bemerkte der Beamte. „Ist wohl von deiner Süßen?“ „Von meinem Vater“, antwortete Sorla wahrheitsgemäß. Die nächsten zehn Tage verbrachten die Männer der Schnellen Susla untätig und ihres Schicksals ungewiss in ihren
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Zellen. Sie unterhielten sich flüsternd; dabei wurde alles, was einer sagte, zur nächsten Zelle weitergeflüstert, bis es alle gehört hatten – alle außer eben den Wachen draußen im Gang. „Sie werden uns hängen“, meinte einer. „Nein, köpfen“, ein anderer. „Quatsch, wir werden als Sklaven in den Steinbrüchen arbeiten“, ein dritter. Sie stritten sich, ob man noch reden könne, wenn der Kopf abgehackt wurde. „Nein, aber herumgucken schon“, meinte Prato. „Bloß, was nützt dir das?“ Einer sagte, man dürfe vor dem Hängen nichts essen, weil man sonst in die Hosen scheiße. Zlapo, der Schiffskoch, verkündete, er wolle sich als Henkersmahlzeit ein kaburisches Gericht erbitten, das so schwer herzustellen sei, dass es seiner Mithilfe in der Gefängnisküche bedürfe; diese Gelegenheit wolle er zur Flucht nützen. „Wenn Solur die beiden Bälger nicht gerettet hätte, könnte man uns nichts nachweisen!“ murrte Kreskar. „Ich habe immer gewusst, dass er uns Unglück bringt!“ „Dass die Schnelle Susla ein Seeräuberschiff war, wissen die auch so“, widersprach der Matrista. „Ein kaburisches Schiff, das nicht zum Fischfang taugt, was sonst soll das sein?“ Alle nickten, denn sie waren ja stolz darauf, dass jeder wusste, Kaburen sind Seeräuber. Auch war da der Wortwechsel zwischen dem Matrista und dem Kapitän der Kriteischen Seewacht Eins gewesen, wo der Matrista aus ihren räuberischen Absichten kein Hehl gemacht hatte. „Man wird uns zum Tode verurteilen“, sagte der Matrista. „Aber verzweifelt nicht. Ich werde eine Gelegenheit finden zu fliehen. Und dann hole ich euch hier raus, das verspreche ich.“ Und jeder, dem diese Ankündigung von der benachbarten Zelle zugeflüstert wurde, fühlte sich erleichtert und bekam neue Hoffnung. Sie wussten auch, dass viele Kaburen in Kriteis lebten, da mochte der Matrista wohl Helfer finden. Auch Sorla lächelte und dachte: Der Matrista ist ein toller Kerl, der schafft das! Die Zelle links neben Sorla war zunächst leer, doch zwei Tage später wurde dort ein Mann eingeliefert, der sich Daful nannte und, wie er sagte, wegen Diebstahls angeklagt sei, den er, wie er augenzwinkernd sagte, nicht begangen habe.
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Einerseits war dieser Mensch gewinnend in Aussehen und Wesen; dunkelhaarig mit einzelnen grauen Strähnen, der Bart kurzgeschoren, die Hände schlank und doch kräftig, der Körper drahtig. Besonders die Augen, klug und direkt, hatten es Sorla angetan. Andererseits spürte Sorla, dass etwas nicht stimmte. Beispielsweise war Daful für Sorlas Geschmack zu freundlich, wollte zu viel wissen, war in seinen eigenen Angaben aber recht undurchsichtig. Einem der kaburischen Seeräuber wäre dies vielleicht nicht aufgefallen, doch Sorla hatte durch seine Lehrlingszeit bei den Dieben ein feines Gespür dafür erworben, wem er vertrauen konnte. Nun, bei Korraghom hatte es versagt, aber das war ein besonderer Fall. Und doch, das war das Erstaunliche, fühlte Sorla sich zu Daful hingezogen. Da war etwas in dessen Stimme und Art, sich zu bewegen, die Sorla berührte. Also unterhielt er sich gerne mit ihm, auch wenn er nichts glaubte. „Du bist ein kluger Junge und viel herumgekommen“, sagte Daful, nachdem Sorla ihm widerwillig ein paar Fragen beantwortet hatte. Sorla lächelte spöttisch, denn die Schmeichelei war zu offensichtlich. Daful schien dies nicht zu merken, er sagte ernsthaft: „Ich wollte, ich hätte einen Sohn wie dich – natürlich einen, der nicht bald geköpft wird.“ „Hast du keine Söhne?“ fragte Sorla, wider Willen neugierig geworden. „Keine Zeit für Familienkram. Zu viel auf Reisen.“ „Na, jetzt sitzt du aber auch fest, oder?“ Daful lachte leise. „Stimmt.“ Dann kam der Wärter mit dem Essen, und sie wandten sich den Blechnäpfen mit dem Eintopf zu. Später nahm Daful das Gespräch wieder auf: „Es tut mir leid, dass ich sagte, du wirst bald geköpft, Sorle-a-glach.“ „Ich werde freikommen“, sagte Sorla zuversichtlich.
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Daful lächelte. „Das sagen sie alle. Eine weise Frau brachte mir bei, wie man das Schicksal eines Menschen in dessen Augen sehen kann. Ich könnte also schauen, ob du bald sterben wirst oder nicht.“ „Wirklich?“ „Ja. Dazu müsstest du aber näher an die Gitterstäbe rücken.“ Sorla rückte näher heran und beugte sich noch etwas vor. Daful kam mit seinem Gesicht ebenfalls dicht an die Gitterstäbe und musterte nun aufmerksam Sorlas Augen. Dabei murmelte er: „Sieh mir genau in die Augen!“ Das tat Sorla und bemühte sich, nicht hin und her zu blicken, um Daful die Untersuchung zu erleichtern. Dieser schaute noch immer Sorla tief in die Augen, dass es diesem fast unheimlich wurde, und flüsterte mehrmals: „Du fühlst dich müde. Deine Hände werden schwer.“ „Quatsch!“ flüsterte Sorla zurück. „Was soll das?“ Daful schüttelte den Kopf. „Es klappt nicht. Seltsam.“ Er rieb sich die Augen, dachte kurz nach und sagte dann: „Wir müssen es anders versuchen. Setz' dich mehr so schräg hin.“ Sorla tat wie angewiesen. Wieder beugte sich Daful ihm hinter den Gitterstäben dicht entgegen und flüsterte: „So, jetzt ganz stillhalten!“ Sorla tat wie befohlen, doch etwas weckte sein Misstrauen. Im selben Augenblick zuckte seine linke Hand hoch und hielt den Arm Dafuls fest, der sich eben mit Sorlas Anhänger durch die Gitterstäbe zurückziehen wollte. Mit der Rechten riss er die Schnur, an welcher der Anhänger hing, aus Dafuls Hand. „Bei Ak'men, bist du schnell!“ flüsterte Daful. Er beäugte schmerzlich die blutigen Striemen, die ihm die Schnur in der Handfläche eingebrannt hatte. Sorla rückte zwei Schritte weiter weg und band sich den kleinen goldenen Schlüssel wieder um. „Als Kind fing ich die Fische mit bloßer Hand“, sagte er. „Da werde ich doch noch deinen Arm erwischen.“ „Ich habe dich unterschätzt, mein Junge. Gewöhnlich geht
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mir so was nicht schief.“ „Bist du nicht wegen Diebstahls hier?“ „Stimmt“, lächelte Daful. „Aber sag' mal, was verlangst du für das kleine Ding da?“ „Geb' ich nicht her.“ „Ich könnte dir Vergünstigungen verschaffen. Besseres Essen, Frauenbesuch, solche Sachen. Würde dir das gefallen?“ „Gib dir keine Mühe“, sagte Sorla und legte sich schlafen. * Dann war es soweit. Mit Handschellen gefesselt wurden sie auf den Gang hinausgeführt, dort mit eisernen Fußfesseln aneinander gekettet und in das Gerichtsgebäude gebracht. Eine wütende Menschenmenge säumte die Straßen; Steine flogen, Beschimpfungen und höhnisches Gelächter begleiteten sie. Die Zuschauer im Gerichtssaal bestanden vor allem aus Kaufleuten, denen jede Beeinträchtigung des Seehandels als äußerstes Verbrechen galt. Ihnen sprach der Ankläger aus dem Herzen, als er in donnernder Rede die Untaten schilderte, welche Seeräuber im Allgemeinen und die der Schnellen Susla insbesondere begangen hatten. Danach wurden die beiden Kinder, welche Sorla gerettet hatte, hereingeleitet. Was sie aussagten, reichte zur Verurteilung. So sahen es nicht nur die Zuschauer, sondern auch der Richter, der kurzen Prozess machte: „Wir sprechen die hier Vorgeführten der Seeräuberei schuldig. Sie werden öffentlich durch das Beil hingerichtet.“ Sorla zwang sich, nicht herauszuschreien, dass er unschuldig sei. Schon zuvor hatte er sich überlegt, dass dies keinen Zweck habe. Aber für Untaten verurteilt zu werden, die man nicht beging, war schwer zu schlucken. Als er mit vor Zorn brennenden Augen die johlenden Zuschauer musterte, fiel ihm einer auf, der ganz ruhig dastand und ihn zufrieden lächelnd ansah: Korraghom.
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Das traf Sorla wie ein Keulenschlag. Die Verurteilten wurden abgeführt und wieder in ihre Zellen eingeschlossen. Noch immer dachte Sorla an seinen Halbbruder. Hatte Korraghom in allen Häfen seine Spitzel sitzen? Oder waren die Diebesgilden beauftragt, Sorla für ihn aufzuspüren? Jedenfalls hatte Korraghom von seiner Verhaftung erfahren und war gekommen, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Mittlerweile war es Nacht geworden. Das merkte Sorla daran, dass keine Beamten mehr durch die Gänge eilten und dass die Wächter Schichtwechsel hatten. Das Geklapper der Blechnäpfe war längst verklungen – erst in den Zellen, dann in der am Ende des Ganges liegenden Gefängnisküche, wo sie gereinigt und gestapelt wurden. Die meisten Gefangenen schnarchten bereits. In der Nachbarzelle räusperte sich Daful: „Na?“ „Wir sollen geköpft werden. Öffentlich.“ „Die übliche Strafe für Seeräuber. Tut mir leid, mein Junge.“ „Ich hatte gehofft, dass es Zwangsarbeit wird.“ Daful schüttelte den Kopf: „Nicht in Kriteis. In Agra vielleicht, im Hernostischen Reich auch, aber nicht hier, wo der Seehandel alles ist.“ Als Sorla schwieg, fuhr Daful fort: „Und dein Anhänger, das goldene Schlüsselchen? Wem wirst du es vermachen?“ „Ich habe nicht vor, hier zu sterben!“ stieß Sorla hervor. Daful lächelte traurig. „Das ist die richtige Einstellung, bei Ak'men! Immer hoffen, bis zuletzt. Glaub' mir, mein Junge, ich will nicht, dass du stirbst, aber so oder so, den Anhänger hätte ich gern.“ „Nichts zu machen, Daful.“ Der Mann öffnete seine schlanken Hände in einer Geste der Vergeblichkeit. „Ich geb's auf. Schade, dass die Gitter im Wege sind. Ich hätte dir den Anhänger mit Gewalt genommen.“ „Unterschätze mich nicht schon wieder.“ Selbstbewusst reckte Sorla seine breiten Schultern. Daful lachte leise; er hob die Hand zum Abschied. „Atne sei mit dir, mein Junge. Ich hab' noch was anderes vor.“ Damit
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wandte er sich von Sorla ab und begann an der Zellentür zu rütteln: „He, Wärter!“ Nach einiger Zeit schlurfte der Mann der Nachtschicht heran – müde und lustlos: „Was is'?“ „Mit meinen Augen stimmt was nicht, Wärter“, flüsterte Daful. „Es ist mir was reingeflogen, glaub' ich. Kannst du es sehen?“ „Du nervst“, murrte der Wärter und wandte sich ab. „Komm zurück! Es tut weh! Kannst du nicht mal gucken, bitte?“ „Morgen kommt der Gefängnisarzt.“ „Hier, ein Kurno!“ Daful hielt eine Silbermünze hoch. „Der vorletzte, den ich habe. Mir tut's jetzt weh, nicht morgen, also mach' schon.“ Der Wärter nahm die Münze, hob die Laterne hoch, um Dafuls Gesicht zu beleuchten, hielt sich aber außerhalb der Reichweite Dafuls. „Ich seh' nichts.“ „Ein Haar oder ein Fussel, glaub' ich. Guck' doch mal genau und mach' ihn raus.“ Der Wächter näherte sein Gesicht vorsichtig den Stäben und sah Daful genauer in die Augen. „Ich sehe ...“, sagte er, dann brach er ab, und in einem völlig anderen, fast kindlichen Ton murmelte er: „Ich sehe ... „Du bist müde, Wärter.“ Dieser nickte und starrte weiter in Dafuls Augen. „Du bist müde, deine Hände sind schwer, so schwer!“ flüsterte Daful. „Komm näher und stütze dich.“ „Ja, ich muss mich stützen“, murmelte der Wärter und lehnte sich gegen die Zellentür. Daful schob die Hand durch die Gitterstäbe und bekam den Schlüssel zu fassen, der an des Wärters Gürtel hing. Er schloss die Zellentür auf. „Komm herein“, flüsterte er dem Wärter zu. „Setz' dich hier hin und ruhe dich aus. Ich mache dir Platz.“ Der Wärter wankte benommen in Dafuls Zelle und ließ sich an der hinteren Wand nieder. Daful verschloss die Zellentür von
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außen und flüsterte dem Wärter noch zu, er solle jetzt schlafen. Gehorsam begann dieser zu schnarchen. „He!“ flüsterte Sorla. Daful wandte sich ihm zu. „Tut mir leid, mein Junge. Ich kann dich nicht mitnehmen.“ „Wieso nicht?“ „Weil's nur alleine geht.“ Er nickte Sorla abschließend zu und huschte den Gang entlang in die Gefängnisküche. Einmal glaubte Sorla von dort ein leises Klirren zu hören, ansonsten blieb alles ruhig. Erst als die Wärter der Frühschicht kamen und verblüfft feststellten, dass in Dafuls Zelle ihr Kollege schlief, Daful aber fehlte, brach große Aufregung aus. Daful aber wurde nicht gefunden. * Das Gericht hatte bestimmt, dass alle zwei Tage einer der Seeräuber hingerichtet werden sollte. Den Anfang wollten sie mit dem Anführer der Seeräuberbande machen. Der Matrista nahm die Nachricht gelassen auf. „Denkt daran!“ flüsterte er seinen Nachbarn zu, die es dann an ihre Zellennachbarn weitergaben, „wenn mir die Flucht gelingt, werde ich euch retten!“ „Der Matrista wird es schaffen!“ flüsterten sich die anderen zu. „Wenn es einem gelingt, dann ihm!“ Die Nacht vor der geplanten Hinrichtung des Matrista verbrachten die Seeräuber singend, und ihre Lieder klangen so schön und wehmütig und stolz zugleich, dass auch die Wärter gebannt lauschten und sich ab und an eine Träne aus dem Auge wischten. Erst gegen Morgen wurde es ruhiger, da setzte sich der Matrista dicht an die Gitterstäbe, die ihn von Letko, der das Glück hatte, sein Zellennachbar zu sein, trennten; dieser drängte sich von der anderen Seite hinzu, und die beiden umarmten sich durch die Stäbe hindurch und schliefen nach einigen Liebkosungen in dieser
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Stellung ein. Am nächsten Morgen wurde Sorla mit den übrigen Seeräubern gefesselt und hinaus auf die Dachterrasse geführt, denn sie sollten der Hinrichtung ihres Anführers beiwohnen. „Damit ihr seht, wie's auch euch geht“, erklärte ein Wärter zufrieden. „Dann habt ihr schon mal was zu denken.“ Der Himmel war von jenem blassen, klaren Blau, wie man es von schönen Herbsttagen kennt; ein leichter Wind strich über die Dachterrasse und brachte Sorla den salzigen Duft von Tang und Meer. Von hier konnte man den ganzen Hafen und einen Teil der Stadt überblicken, doch schauten die Seeräuber nur auf den Platz vor dem Hafen, denn dort, mit der Rückseite an die Seemauer angrenzend, war ein Podest aufgebaut, auf dem ein großer Holzblock seiner blutigen Bestimmung harrte. Zehn Schritte vor diesem Schafott standen Männer der Stadtwache in doppelter Reihe und drängten die Zuschauer zurück. Nun erschienen zwei Uniformierte mit Fanfaren, hinter ihnen schritten ein Trommler und ein Vertreter der Gerichtsbarkeit, der ein zusammengerolltes Schriftstück hielt. Sie stellten sich neben dem Schafott auf und warteten, die Zuschauer murmelten unruhig. Plötzlich begann die Menge zu johlen, und nun sahen auch die Seeräuber von ihrer Dachterrasse aus den zweiten, wichtigeren Trupp dem Podest sich nähern: den dunkel gekleideten Scharfrichter mit seinem langstieligen Beil auf der Schulter, hinter ihm seinen vermummten Gehilfen, der einen Korb trug, schließlich – das Geschrei der Zuschauer wurde ohrenbetäubend – umgeben von Wachsoldaten den Matrista. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Die Uniformierten traten vor. Sie bliesen in ihre Fanfaren, da verstummte die Menge. Der Gerichtsbeamte entrollte sein Schriftstück und verlas das Urteil. „Verurteilter“, sprach er danach den Matrista an. „Hast du etwas zu sagen, dann tu es jetzt!“ Der Matrista nickte, seine Haltung straffte sich. „Bürger von Kriteis!“ rief er. „Ich habe viel verbrochen und verdiene zu
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sterben. Aber auch ich habe mein Leben geliebt und die Freiheit und das weite Meer dort draußen, so wie alle unter euch, die zur See fahren.“ Zustimmende Rufe wurden laut, der Matrista lächelte und fuhr fort: „Das Wichtigste aber ist die Kameradschaft. Alle für einen, einer für alle! Darum danke ich meinen Leuten, die auch bei Sturm und hoher See ihren Mann standen und jeder Gefahr tapfer ins Auge blickten.“ Er machte ein Pause, die Menge schwieg ergriffen. Der Matrista nickte in die Runde und sprach weiter: „Gerne würde ich meinen Männern etwas geben zum Zeichen meines Dankes. Doch nichts ist mir geblieben außer den Kleidern an meinem Leib. Daher ist es mein Wunsch, bevor ich sterbe: Dieses Hemd, das mir noch meine Mutter mitgab, will ich Letko schenken, meinem Freund, stellvertretend für alle von der Schnellen Susla, die dort oben zusehen müssen, wie ich sterbe.“ Er blickte zur Dachterrasse hoch, Sorla glaubte trotz der Entfernung seine blauen Augen blitzen zu sehen. Dann schaute der Matrista wieder in die Runde der Zuschauer auf dem Platz. „Dieses Hemd“, sagte er mit gesenkter Stimme, doch so leise waren die Leute, dass sie alle es hörten. „Dieses Hemd, noch ist es sauber, noch ist es nicht von Blut durchtränkt. Ihr Bürger von Kriteis, erlaubt ihr mir, dass ich es ihm hinterlasse, rein und unbefleckt?“ Da brach in der Menge ein Geschrei los: „Ja, er soll's haben! Das letzte Hemd! Das ist wahre Freundschaft!“ Der Gerichtsbeamte schaute verdutzt hin und her, schüttelte den Kopf, winkte, dass man schweigen solle, doch ohne Erfolg. Erst als die Fanfaren geblasen wurden, wurde es auf dem Platz wieder einigermaßen ruhig. Der Gerichtsbeamte hob die Hände: „Leute, das geht so nicht! Es stört den geordneten Verlauf der Hinrichtung!“ Da schrien und buhten die Leute, dass es in den Ohren gellte. Der Gerichtsbeamte trat unruhig hin und her, dann beriet er sich mit dem Scharfrichter und dessen Gehilfen. Schließlich trat er wieder an den Rand des Schafotts. Es wurde ruhig. „Liebe Leute!“ rief er heiser. „Es ist zwar nicht üblich, aber
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diesem letzten und harmlosen Wunsch wollen wir ausnahmsweise stattgeben. Wir werden das Hemd vor der Hinrichtung entfernen und so vor Beschmutzung bewahren.“ Also stellten sich die Wachsoldaten mit gesenkten Lanzen im Kreise auf. Dem Matrista in ihrer Mitte wurden die Fesseln, mit denen seine Hände hinter seinem Rücken gebunden waren, abgenommen. Er rieb sich die Hände, um das Blut wieder zum Fließen zu bringen, dann streifte er sich das Hemd über den Kopf und reichte es dem Gehilfen des Scharfrichters. Sein entblößter Oberkörper, sonngebräunt und muskulös, leuchtete in der Morgensonne. Die Weiber in der Menge kreischten begeistert, Letko neben Sorla atmete schwer. Im nächsten Augenblick aber packte der Matrista den Gehilfen und stieß ihn in die Lanzen der Wachsoldaten vor ihm. Bevor die anderen reagieren konnten, hatte er sich durch die entstandene Lücke gedrängt. Vor ihm lag der Platz, der von Menschen wimmelte; hier war kein Durchkommen. Doch hinter ihm erstreckte sich die Seemauer; der Matrista schlug einen Haken, rannte zur Mauer, und mit einem Sprung bekam er den Rand zu fassen. Fast hatte er sich hochgezogen, da waren die Wachen herangeeilt; doch er trat mit den Beinen nach hinten ihnen gegen die Köpfe, rollte herum und brachte sich auf der breiten Mauerkrone in Sicherheit. „Ihm nach!“ schrie der Gerichtsbeamte. Unter dem Gejohle der Menge begannen die Stadtsoldaten die Mauer zu erklettern. Inzwischen aber war der Matrista auf den Beinen und rannte die Mauer entlang. „Er schafft es!“ jubelten die Seeräuber auf ihrer Dachterrasse, denn keiner konnte ihn jetzt noch einholen. Da sahen sie, wie der Scharfrichter seine langstielige Axt über dem Kopf herumwirbelte: In flachem Bogen sauste die Waffe dem Flüchtenden hinterher und traf ihn zwischen den Schulterblättern. Da lag der Matrista zuckend auf der Mauerkrone, das Blut quoll aus seinem Rücken, dann war er tot.
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Der Scharfrichter, groß und breit gebaut, verneigte sich. „Ich kam, um ihn zu töten“, rief er, „und ich gehe nie, ohne meine Arbeit verrichtet zu haben!“ Die Menge schrie vor Begeisterung. * Die Seeräuber waren längst in ihre Zellen zurückgebracht worden, doch noch immer hatten sie das Bild ihres erschlagenen Matristas vor Augen, das Bild ihrer zerstörten Hoffnung. „Nun, er hat's zumindest versucht“, hatte Prato noch auf der Dachterrasse gemurmelt. „Und es war ein guter Abgang, das muss man ihm lassen.“ Mehr war dazu nicht zu sagen. Allen war klar, dass sie sterben würden. Letko trug das Hemd des Matristas bei sich; er zog es nicht an, sondern roch nur manchmal daran, wenn er meinte, keiner sehe es. Manch anderer Seeräuber beneidete ihn darum, auch wenn es nur ein schwacher Trost war und wenig Schutz bot gegen die nachts anbrandende Furcht vor der eigenen Hinrichtung. Wenn die Nacht am tiefsten war und die Todesfurcht, die doch jeder für sich behielt, am größten, dann halfen sie sich mit Liedern ihrer Heimat darüber hinweg. Liebeslieder waren dabei, solche vom Frühling und, das fand Sorla merkwürdig, auch Kinderlieder, gesungene Abzählreime, schlicht und doch wunderschön. Da sie nicht schon vorher wussten, wer als nächster hingerichtet werden sollte, lebte jeder in ständiger Anspannung. „Das Schlimme ist nicht, dass ich sterben muss, sondern dass ich abgeschlachtet werden soll wie ein Schwein!“ schrie Kreskar, dass die Wärter herbeirannten. „Immer wollte ich im Kampf sterben!“ „Dieses Glück kann nicht jeder haben“, entgegnete Prato. „Vielleicht hilft's dir, wenn du mal zusammenrechnest, wie viele Grausamkeiten wir begangen haben. Was mich betrifft, so leide ich oft unter bösen Alpträumen deshalb. Von denen kann der Tod mich
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befreien.“ Kreskar brummte etwas Unverständliches und kauerte sich auf dem Zellenboden zusammen. Zwei Tage, nachdem der Matrista starb, wurde Kreskar zur Hinrichtung geführt. Bevor er dem Scharfrichter übergeben wurde, rief er in die tosende Menge: „Freiheit für Kabures!“ Dann kniete er sich vor den Hackklotz, legte den Kopf unaufgefordert hin und wartete auf den erlösenden Hieb. Des Scharfrichters Gehilfe – ein neuer übrigens, denn der vorige war in den Lanzen verendet, in welche der Matrista ihn gestoßen hatte – legte Kreskars abgehauenen Kopf in den Korb, um ihn zum Gerichtsgebäude zu tragen, wo er wie auch später die der anderen Seeräuber aufgespießt und zur Schau gestellt wurde. Als nächstes sollte der ältere von zwei Brüdern hingerichtet werden, da bat dieser den Gerichtsbeamten, ob man nicht erst den jüngeren Bruder töten könnte. „Weshalb?“ höhnte der Beamte. „Liegt dir soviel daran, zwei oder vier Tagen länger zu leben?“ Dieser aber schüttelte den Kopf. „Es ist schrecklich, den eigenen Bruder sterben zu sehen. Das will ich ihm ersparen, er ist ja noch so jung!“ Da hatte der Gerichtsbeamte ein Einsehen und nahm den Jüngeren mit; der Ältere folgte seinem Bruder zwei Tage danach. Jede Hinrichtung riss Lücken in den Gesang der Kaburen, der anfangs den Zellengang mit vielstimmigem Schall erfüllte. Die kräftige Stimme des Matrista fehlte schon lange, der klare Tenor vor allem des jüngeren der beiden Brüder wurde sehr vermisst, und als Zlapo der Schiffskoch unters Beil kam, hatten die übrigen keinen Bass mehr, um ihren Liedern die gewohnte Kraft und Fülle zu geben. Zlapos Plan war fehlgeschlagen. Zwar durfte er in der Gefängnisküche seine schwierige kaburische Henkersmahlzeit zubereiten, aber er war so aufgeregt, dass er sich eine Pfanne voll siedenden Öls über Bauch und Beine schüttete. An Flucht war da nicht mehr zu denken; im Gegenteil, Zlapo schrie vor Schmerzen
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und sehnte die Morgendämmerung herbei, die ihm den Tod bringen sollte. Der Mann in der Zelle rechts neben Sorla wurde Skrut genannt, was auf Kaburisch Gurke bedeutet und sich auf die beachtliche Länge seines Geschlechtsorgans bezog; wie er wirklich hieß, hatte Sorla nie erfahren. Skrut fragte einen der Wärter, was denn mit den enthaupteten Körpern geschehe. Sie würden weit draußen ins Meer geworfen werden, war die Antwort. Das stimmte Skrut fröhlich, denn er hatte befürchtet, auf dem Schindanger zu landen, wo sich die Straßenköter die räudigen Bäuche vollschlagen: „Ich habe gehört, dass Wendualo den tapferen Seeleuten Heimstatt und ein neues Leben in seinem Reich gewährt.“ Der Wärter lachte: „Aber es wird ihm nicht gefallen, wenn du deinen Kopf nicht mitbringst!“ „Ja, wollt ihr unsere Köpfe ewig behalten? Werft sie ins Meer, wenn ihr sie nicht mehr braucht; ich hole mir dann meinen schon!“ Der Wärter ging achselzuckend weiter. Aber Skrut war ganz aufgeregt: „Das mit den Köpfen ist ein Problem. Wenn Wendualo mir gnädig ist – und ich habe ihm mein ganzes Leben treu gedient! Wie viele Männer habe ich ihm mit eigener Hand auf den Meeresboden hinunter geschickt! – dann wird er mir ein zweites Leben gewähren.“ „Das müsste doch für euch alle gelten, oder?“ warf Sorla ein. „Keine Ahnung. Ich weiß bloß, dass ich Wendualo geweiht wurde, da war ich noch ein Kind. Meinem Vater war das wichtig, denn er war aus Seenot gerettet worden, da wollte er Wendualo seine Dankbarkeit zeigen.“ „Vielleicht hast du Wendualo deine Gurke zu verdanken?“ Skrut lachte. „Kann schon sein. Von meinem Vater hab' ich sie jedenfalls nicht. Der war normal bestückt.“ Als Skrut dann auf dem Schafott stand, versuchte er den Gerichtsbeamten zu überzeugen, dass man ihm nicht den Kopf abschlagen solle, sondern eher sein Glied, denn während man
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andere an ihrem Gesicht erkenne, heiße er ja nach seinem Freudenspender und werde daran erkannt. Man könne ihn ja trotzdem irgendwie töten. Er zeigte das genannte Körperteil sogar vor, was in der Menge große Unruhe hervorrief. Der Gerichtsbeamte aber ging auf diese Beweisführung nicht ein und winkte unwirsch dem Scharfrichter, der Skrut sehr schnell um seinen Kopf brachte. * „Heute bist du dran!“ sagte der Wärter, der in Begleitung zweier Stadtsoldaten vor Sorlas Zelle stand. Sorla musste sich mit dem Rücken an die Tür stellen und die Arme nach hinten halten, so dass der Wärter ihm durch die Gitterstäbe hindurch die Hände hinter dem Rücken fesseln konnte. Dies hatte Sorla früher bei den anderen beobachtet, die abgeführt wurden, und hatte sich einen Kniff zurechtgelegt, den er in der Diebeszunft einst lernte; nämlich die Hände scheinbar hilfsbereit so hin und her zu drehen, dass die Fesselung nur scheinbar gelang, tatsächlich aber wirkungslos war. Eine Drehung und dann ein Ruck würden genügen, um den Knoten zu lösen. Er würde aber bis kurz vor der Hinrichtung warten müssen, denn dann erst wurde den Verurteilten die Schlinge vom Hals genommen, an der man sie festhielt. Im Innenhof des Gefängnisses erwarteten ihn schon der Gerichtsbeamte und sechs Soldaten der Stadtwache, die ihn in ihre Mitte nahmen. Sie führten ihn an dem Strick, der ihm fast den Hals abschnürte, wie ein Opfertier hinaus vor das Gefängnisgebäude und über den Platz durch die johlenden Zuschauer hinüber zum Schafott. Sorlas Beine zitterten dermaßen, dass er kaum gehen konnte. „Sorle-a-glach!“ rief jemand aus der Menge. Sorla erkannte Korraghom, der die Hände vor den Mund wölbte, damit Sorla ihn besser hörte: „Jetzt bin ich beruhigt, du Dieb!“
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„Du Schwein!“ schrie Sorla, doch mit einem Ruck am Strick wurde er weitergezerrt. Endlich hatten sie die Menge durchquert und erreichten die doppelte Reihe der Stadtwachen, die den Bereich vor dem Schafott freihielten. Dort saßen auf Bänken die bevorzugten Zuschauer: Würdenträger vor allem, zumeist mit jüngerer weiblicher Begleitung, aber auch die beiden Kinder, welche die Seeräuber in die Sklaverei verkaufen wollten. Der Junge sah Sorla ernst an, das kleine Mädchen weinte. Vor dem Schafott warteten der Scharfrichter und sein vermummter Gehilfe. Wie groß und mächtig der Scharfrichter tatsächlich war, hatte Sorla von der Dachterrasse aus gar nicht so deutlich gesehen. Jetzt aber stand er vor diesem Hünen und musste den Kopf heben, um nicht nur auf dessen abgenutztes Lederwams zu schauen, das dieser über dem ansonsten nackten Oberkörper trug. Der Scharfrichter überprüfte die Fesseln an Sorlas Handgelenk. „Kluges Bürschchen!“ murrte er. „Aber nicht klug genug.“ Mit einer schmerzhaften Verdrehung von Sorlas Handgelenk und einem Ruck löste er den Knoten, dann fesselte er Sorla erneut, diesmal aber richtig. „Eine Hinrichtung ist kein Spaß“, tadelte er. „Da kann ich solche Mätzchen nicht gebrauchen!“ Nun stieg der Scharfrichter auf das Schafott und stellte sich neben den Holzklotz, die langstielige Axt quer vor sich in beiden Händen. Ihm folgte sein Gehilfe mit dem Korb. Hinter ihm wurde Sorla von zwei Stadtsoldaten am Strick die Stufen eher hochgezerrt als geführt. Erst als er neben dem Holzklotz stand, übergaben die Soldaten den Strick an den Scharfrichter. „Mach' dich bereit!“ mahnte dieser. „Dies ist die wichtigste Stunde in deinem unwürdigen Leben. Halte dich aufrecht, versuche nicht davonzurennen. Wenn du schon sterben musst, dann tu es würdig.“ Sorla nickte, hatte aber die Hoffnung, irgendwie zu entkommen, nicht aufgegeben. Der Scharfrichter schien dies zu merken, denn er sagte: „Vergiss es und steh gerade!“ Damit streifte er Sorla den Strick über den Kopf. „Mit den gefesselten Händen
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kämest du nicht weit!“ Nun ertönten unten vor dem Schafott die Fanfaren, dann verlas der Gerichtsbeamte das Urteil. Sorla hörte nicht zu; verzweifelt suchte er einen Ausweg, doch vergeblich. Der Gerichtsbeamte schwieg, der Trommler begann seinen eintönigen Schlag. Noch zwanzig Atemzüge würde es dauern, das wusste Sorla von den bisherigen Hinrichtungen. Plötzlich spürte Sorla, wie hinter seinem Rücken sich jemand an seinen Fesseln zu schaffen machte und sie mit einem Ruck durchschnitt. Es war der vermummte Gehilfe, und fast noch im selben Augenblick holte er ein Seil aus seinem Korb und warf es über den Scharfrichter. „Binde ihn!“ rief er, da schlang sich das Seil wie ein lebendes Wesen um den Scharfrichter, schnürte ihn samt seiner Axt zusammen und band ihn am Holzblock fest. „Mir nach!“ rief der Gehilfe, sprang mit einem Satz über die Brandungsmauer und verschwand. Sorla kletterte hinterher, schon flogen die ersten Pfeile. Wo war der Gehilfe? Da sah Sorla ihn dicht unter der Brandungsmauer im Wasser. Er winkte hoch: „Schnell, komm!“ Sorla sprang in weitem Bogen, denn er wollte nicht auf den vorgelagerten Felsblöcken aufschlagen, und tauchte ins Meer. Unter Wasser schwamm er zurück zur Brandungsmauer, wo eben noch der Gehilfe war. Zwei Speere schlugen neben ihm im Wasser ein und sanken harmlos hinab ins Dunkle, Luftblasen hinter sich her ziehend. Ein dritter streifte ihn am Bein, doch, vom Wasser abgelenkt und im Schwung gebremst, nur mit dem Schaft. Der Gehilfe hatte sich bereits unter einem Vorsprung der Brandungsmauer versteckt. Als Sorla neben ihm auftauchte, blickte er in das Gesicht Dafuls. „Bist du der Gehilfe des Scharfrichters?“ stammelte Sorla. „Nur vorübergehend“, grinste dieser. „Ich erklär's dir später. Komm!“ Damit verließ er die Nische und schwamm dicht an der Mauer entlang weiter, Sorla folgte ihm. Von oben ertönte Geschrei, eine Wolke von Pfeilen zischte herab und prasselte wirkungslos ins Wasser, denn keiner kam dicht genug an die beiden
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heran, die sich im Schutz der Mauer hielten. „Deckung ist das halbe Leben!“ lachte Daful. „Jetzt aufgepasst! Wir müssen dort hinein!“ Er zeigte auf eine Maueröffnung, die tief unter ihnen im dunklen Wasser kaum noch zu sehen war. * „Euer Matrista hatte doch den Gehilfen des Scharfrichters gegen die Lanzen der Stadtwache gestoßen“, erklärte Daful. „Das war nicht tödlich, doch liegt der Arme noch immer mit schweren Verletzungen zu Hause im Bett. Also wurde ein Ersatz gesucht, und ich bewarb mich.“ Er betrachtete seine schlanken Finger. „Es wäre auch anders gegangen, aber so wurde die Sache sehr vereinfacht.“ Sie saßen in einer Grotte, dumpf und zur Hälfte mit Meerwasser gefüllt, durch das schwach etwas Sonnenlicht, vom Grunde zurückgeworfen, schimmerte. Hier waren sie vor drei Stunden aufgetaucht, Daful wollte eigentlich weiter, doch Sorla brach zitternd zusammen. Den sicheren Tod so deutlich und unabwendbar vor Augen, dann die Rettung im letzten Augenblick, das war zuviel selbst für Sorla, der doch schon andere schlimme Erlebnisse durchgemacht hatte. Daful half ihm, sich zu entkleiden, wrang ihm die nasse Kleidung aus und zog ihn wieder an, als sei Sorla ein kleines krankes Kind. Auch aus seiner eigenen Kleidung drückte er das Meerwasser heraus und deckte dann mit seinem feuchten Kapuzenmantel den Jungen zu, der schließlich einschlief. Nun war er wieder aufgewacht, doch wollte Daful ihm noch Zeit geben, sich zu erholen. Da konnte man sich auch besprechen und Fragen beantworten. Die eigentlich wichtige Frage stellte Sorla jetzt: „Weshalb hast du mich gerettet?“ „Ich könnte ja sagen, weil du ein netter Kerl bist und ich so einen wie dich als Ziehsohn brauchen könnte. Aber die Wahrheit
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ist, ich will den kleinen Anhänger.“ Unwillkürlich fasste sich Sorla an den Hals; der Anhänger war noch da. Daful lachte; er holte aus seiner Tasche eine Handvoll Edelsteine und ein Messer hervor. Es waren Sorlas Wertsachen, die er im Gefängnis hatte abgeben müssen, das Messer war sein Wurfmesser Schlangenzahn: „Hier, mein Junge, alles deins. Hat mich einige Mühe gekostet. Ich denke, ich kann jetzt verlangen, dass du im Gegenzug mir diesen kleinen Anhänger überlässt.“ Sorla schwieg, da fuhr Daful fort: „Du überlegst noch? Nun, was ich auch in die Waagschale werfen kann, ist, dass ich für deine Rettung mein schönes Seil opfern musste. Es hat mich über zwanzig Jahre begleitet und mir oft geholfen, ja, ein paar Male das Leben gerettet, so wie jetzt dir.“ „Können wir es nicht holen?“ fragte Sorla heiser; er kam sich so schlecht vor. Daful schüttelte den Kopf. „Um den Scharfrichter zu befreien, muss man das Seil zerschneiden. Damit ist es zerstört.“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Das ist längst geschehen, da waren wir wahrscheinlich noch nicht einmal bis zur Mauer geschwommen.“ Sorla schaute beschämt zu Boden. Was sollte er dazu sagen? Als er einmal aufblickte, sah er, wie dessen dunkle Augen auf ihm ruhten. Schließlich sagte er: „Ich schulde dir mein Leben, Daful. Alles würde ich dir geben, was ich habe. Aber dieser Anhänger gehört mir nicht. Ich muss ihn dem zurückbringen, dem er gehört, das habe ich mir geschworen.“ Daful schwieg. Schließlich konnte Sorla es nicht mehr aushalten und flehte: „Versteh das bitte, Daful!“ Dieser antwortete: „Offensichtlich wollen eine ganze Menge Leute diesen Anhänger haben. Und wer ist das, dem du so sehr verpflichtet bist?“ „Mein Vater“, flüsterte Sorla. „Ich hab' ihn nie gesehen, er hat sich um mich nie gekümmert. Aber wenn ich ihm sein Eigentum wiederbringe, dachte ich, dann muss er mich annehmen.“ Nach einer langen Pause sagte Daful: „Ich glaube, ich
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verstehe, was du meinst. Da gibt es nur eine Lösung, Sorle-aglach.“ „Sag' Sorla zu mir.“ „Sorla. Nämlich: Behalte den Anhänger und bringe ihn deinem Vater. Vorher aber kommst du mit mir. Ich brauche den Anhänger nur, um eine Tür zu öffnen, gewissermaßen. Danach kannst du damit tun, was du willst. Ich denke, das kann ich verlangen. Das würde auch dein Vater verstehen.“ Sorla nickte, ihm liefen Tränen übers Gesicht. „Einverstanden“, flüsterte er. Daful streckte die Hand aus: „Dann ist es abgemacht. Wir wollen zusammenarbeiten, uns nicht bestehlen oder hintergehen. Bei Ak'men!“ Sorla gab ihm die Hand. „Bei Ak'men!“ wiederholte er, drehte sich zur Seite und schlief wieder ein. Als er erwachte, war es fast dunkel. Er war sehr durstig. „Wie lange habe ich geschlafen?“ fragte er Daful, der als dunkle Gestalt neben ihm saß. „Ein paar Stunden, denke ich. Es wird wohl Abend werden. Du bist in den letzten Nächten viel wach gelegen, oder?“ Sorla nickte, aber das konnte Daful nicht sehen, also sagte er: „Wir wussten ja nie, wer als nächster drankommt. Da macht man sich Gedanken. Es war besser, die Nacht mit Liedern hinter sich zu bringen als sich mit Sorgen zu quälen.“ „Deine kaburischen Freunde sangen wirklich sehr schön. Du bist aber kein Kabure, oder?“ „Hab' ich so schlecht gesungen?“ Sorla musste lachen. Da geschah etwas Seltsames: Das Wasser, das schwarz und glatt vor ihnen lag, kräuselte sich; eine Hand, im Dunkeln kaum noch sichtbar, tauchte auf, dann der Arm, der Rumpf – eine menschliche Gestalt kam langsam an die Oberfläche, doch das Schreckliche war, sie hatte keinen Kopf. Sorla war aufgesprungen und wich an die Felswand zurück, wo Daful bereits stand. „Was ist denn das?“ flüsterte dieser. Sorla starrte nur, ohne zu antworten, auf die Gestalt, welche bereits bis
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zur Hüfte aus dem Wasser herausragte und langsam auf Sorla zu watete. Daful riss den Kapuzenmantel an sich, auf dem Sorla gelegen hatte, und rief Sorla zu, ihm zu folgen. Beide rannten den Gang hinein ins Dunkle. Sorla stieß sich zweimal den Kopf an einer Felswand, bis er sich seines Glygis erinnerte. Da schwebte dieser vor ihm, im vertrauten hellblauen Licht erglimmend. Atemlos blieben die beiden stehen, sich umschauend. Von dem kopflosen Ungeheuer war nichts zu sehen. Der Gang war hier breiter, höhlenartiger; Tropfsteine hingen von der Decke, vom Glygi geheimnisvoll beleuchtet. „Das ist ja was Geschicktes!“ lobte Daful. „Leuchtet und schwebt sogar! Wo hast du das her?“ „Es ist ein Gnomenstein, ein Geschenk von Gnomen, bei denen ich lange lebte.“ „Hört sich interessant an. Davon musst du mir später mehr erzählen.“ Daful hängte seine kleine Laterne, die er offensichtlich eben mit Stahl und Zunder zum Leuchten bringen wollte, wieder an seinen Gürtel und wandte sich zum Weitergehen. Nach einiger Zeit kamen sie in eine kleine Grotte mit feuchtem Lehmboden. Hier war der Gang zu Ende. Daful murmelte ärgerlich, es müsse doch irgendwo weitergehen, er habe sich schließlich kundig gemacht. Aber es half nichts, sie mussten umkehren. „Als wir vorhin durch den dunklen Gang rannten“, meinte Sorla, „da haben wir vielleicht die Abzweigung verpasst.“ Daful nickte und wollte etwas erwidern, brach jedoch mitten im Satz ab. Vor ihnen stand das kopflose Wesen, im Licht des Glygi gut zu sehen. Sein nackter, blaugrauer Leib war der eines kräftigen Menschen, der Halsansatz endete in einer klaffenden Wunde. Zwischen den Beinen aber ... „Skrut!“ stieß Sorla hervor, den Blick auf das mächtige Geschlechtsorgan gerichtet, das zwischen den blaugrauen Beinen hing. Und zu Daful: „Ich kenne ihn. Es ist Skrut, einer der Seeräuber.“
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„Dann sollte er still auf dem Meeresgrund liegen“, meinte Daful, „und nicht hier herumwandern.“ „So blaugrau war er früher aber nicht“, murmelte Sorla, weil ihm nichts Besseres einfiel. „Wieso steht er hier rum?“ Sie wagten nicht, sich an Skruts wandelnder Leiche vorbeizudrücken, und verharrten unschlüssig. Auch das Ungeheuer rührte sich nicht von der Stelle. Daful wurde ungeduldig. „Wir können nicht ewig hier warten.“ „Aber was sollen wir tun?“ „Dein Freund hier will was Bestimmtes, glaube ich. Etwas, wozu er uns braucht.“ Sorla schlug sich an die Stirn, als ihm die Erkenntnis kam: „Seinen Kopf will er haben!“ Ganz deutlich stand ihm die Erinnerung an die Unterhaltung der letzten Nacht vor Augen. „Es war ihm sehr wichtig.“ Daful seufzte. „Soll das heißen, dass wir uns hinauf in die Stadt schleichen sollen, um abgeschlagene Köpfe zu stehlen?“ Als er Sorlas ratlosen Blick auf das Ungeheuer sah, fügte er hinzu: „Dann tun wir's eben.“ Skrut schien zu spüren, was Sorla und Daful beschlossen hatten, denn nun trat er bereitwillig beiseite, um die beiden vorbeizulassen. Im Lichte des Glygi fanden sie bald die Abzweigung, die sie zuvor im Dunkeln verfehlt hatten. Sie eilten, von Skrut in einigem Abstand gefolgt, einen engeren, muffig riechenden Gang entlang, der vor langer Zeit aus dem Fels gehauen wurde. Plötzlich blieb Daful stehen. „Hier müssen wir hoch!“ Er deutete auf eine schmale Steintreppe. „Ich kenne die Pläne dieser Gänge ganz gut“, fügte er hinzu. „Sonst hätte ich einen anderen Fluchtweg für uns gewählt.“ Die Treppe führte an der linken Wand hinauf und durch ein Loch in der Gangdecke in eine Felsenkammer mit mehreren Ausgängen. „Ich wollte eigentlich dort weiter“, erklärte Daful und
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zeigte auf den breitesten Ausgang, „denn so kommen wir zur alten Zisterne und schließlich aus der Stadt hinaus. Aber jetzt sollen wir ja Skruts Kopf besorgen. Der steckt auf einem Pfahl vor dem Gerichtsgebäude, also müssen wir einen Weg hinauf ins Stadtzentrum finden.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Es wird bald Nacht sein, Ak'men sei Dank. Das macht es uns leichter.“ Sie folgten einem schmalen Gang, der bald an einem Brunnenschacht endete. Im Lichte des Glygi sahen sie rostige Leitersprossen. Unter ihnen schimmerte der Wasserspiegel. „Das ist der Brunnen vom unteren Markt“, flüsterte Daful. „Hier bin ich schon mal gewesen!“ Damit begann er vorsichtig den Schacht hinaufzusteigen. Sorla folgte ihm. Als er zurückblickte, sah er das kopflose Ungeheuer dicht hinter sich auf den Sprossen. Der hellblaue Schimmer des Glygi beleuchtete die klaffende Halswunde. Schaudernd wandte sich Sorla ab und stieg rasch hinter Daful her. Dieser war bereits dabei, das Brunnengitter geräuschlos soweit wegzuschieben, so dass er aus dem Schacht heraussteigen und das Gitter neben den Brunnen stellen konnte. „Komm!“ flüsterte er. „Niemand da!“ Sorla kletterte auf den Brunnenrand und ließ sich auf die Steinplatten hinabgleiten. Der Glygi war verschwunden. Die schmale Mondsichel erhellte den Marktplatz nur spärlich, die Gebäude umstanden ihn als schwarze Mauer. Daful war bereits in den Schatten eines dieser Häuser gehuscht, Sorla folgte ihm. „Solche unvorbereiteten Aktionen liebe ich nicht besonders“, flüsterte ihm Daful zu, als er an einer Hausecke verharrte. „Die Erfolgsaussichten sind kaum größer als bei jedem Anfänger.“ „Wieso?“ fragte Sorla. „Wir brauchen doch nur den Kopf von einem Spieß abzumachen, oder? Dunkel genug ist es auch.“ Daful hob warnend die Hand. Nun hörte auch Sorla die gleichförmigen Schritte von Soldatenstiefeln. Und da erschienen auch schon fünf Männer der Stadtwache auf dem Platz und überquerten diesen, ohne Sorla und Daful in ihrem Versteck zu bemerken.
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„Siehst du?“ flüsterte Daful. „Wir wissen nicht, wann und in welchen Abständen sie vorbeikommen. Auch sonst gibt es vieles, was wir vorher hätten überprüfen sollen. Wir kennen nicht mal die Gegebenheiten. Und vergiss nicht, wir werden beide gesucht!“ Sorla nickte. Wie hätte sich wohl sein Vater verhalten – Tok-aglur der Meisterdieb? Wo mochte er gerade sein? Sie schlichen an einer Häuserfront entlang und gelangten in eine Arkade, wo es so dunkel war, dass Daful sich an der Mauer entlang tasten musste. Sorla jedoch erkannte noch die Umrisse der Gegenstände und hielt einmal Daful warnend zurück – er wäre fast über eine Holztafel gestolpert, die an einem Arkadenpfeiler lehnte. „Danke!“ flüsterte Daful. „Gute Augen hast du!“ Sorla lächelte und ging ab jetzt voraus. Zwei Häuser weiter gelangten sie wieder auf einen freien Platz und von da in ein Gewirr enger Gassen. Einmal kamen sie an zwei Gestalten vorbei, die sich in einen Hauseingang drückten – Liebende oder Diebe, das war nicht zu erkennen. Die Gasse öffnete sich in einen weiten Platz; an seinem anderen Ende stand das Gerichtsgebäude in beeindruckender Breite. Undeutlich waren davor hoch aufragende Stangen zu sehen, an deren oberen Enden dunkle Klumpen staken. Doch statt hinzugehen, blickte Daful sich suchend um. „Ja, dort ist es!“ flüsterte er schließlich und huschte hinüber zu einem öffentlichen Brunnengewölbe. Seitlich vom Eingang führte eine Treppe in die Tiefe, war jedoch mit einem Gitter verschlossen. „Hier geht es ebenfalls zur alten Zisterne“, erläuterte Daful. „Allerdings lässt sich das Gitter nur von außen öffnen.“ Er holte aus seiner Tasche einen Bund mit kleinen metallenen Gegenständen, die Sorla als auffällig gut gearbeitete Dietriche erkannte, wie sie sich in seiner früheren Zunft allenfalls ein Gildenmeister leisten konnte. Innerhalb weniger Augenblicke war das Schloss geöffnet, und Daful trat zufrieden zurück: „Unser Fluchtweg für nachher!“ Sorla hatte mittlerweile die eingemeißelte Inschrift betrachtet: „Tretet ein, trinkt und dankt Tul-uglur!“ Darunter war eine kleine Bronzetafel angebracht, die warnte: „Nicht betreten –
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Lebensgefahr!“ Er wunderte sich über den Widerspruch und wollte eben Daful darauf hinweisen, da erscholl aus der Ferne ein grässliches Geschrei, ungefähr aus der Richtung der kleinen Gässchen, die sie vorher durchquert hatten. „Was war das?“ flüsterte er. „Weiß nicht“, entgegnete Daful. „Aber wir müssen uns jetzt beeilen!“ Tatsächlich hörte man Rufe, Schritte – die ganze Nachbarschaft war aus dem Schlaf geschreckt. Wieder schrie jemand in panischem Entsetzen, weitere Stimmen mischten sich in den Chor des Schreckens. „Ich glaube, unser Freund Skrut ist dort unterwegs“, meinte Daful trocken. „Es ist nicht sehr hilfreich.“ Er eilte über den Platz auf die Stangen zu, Sorla hastete hinterher. Vor den Stangen blieb Daful stehen: „Welcher Kopf ist es?“ Sorla schaute hoch auf die dunklen Klumpen, die im Nachthimmel über ihm schwebten. „Weiß nicht“, sagte er ratlos. „Wie soll ich das von hier aus erkennen?“ Daful nickte. Kurz entschlossen hob er die erste der vielen Stangen aus ihrer Verankerung. „Fang auf!“ rief er, als der Kopf in der Höhe zu schwanken und sich zu neigen begann. Sorla packte zu, um die schwere Stange auf den Boden zu legen. Der Kopf kollerte über die Steinplatten; er war bis zur Unkenntlichkeit verrottet und stank so übel nach Verwesung, dass Sorla sich zwingen musste hinzusehen. „Das ist nicht Skrut“, sagte er mit zugehaltener Nase. „Der Schädel hing schon zu lange hier.“ Daful begann die nächste Stange zu kippen. Von dort starrte der Kopf Zlapos herab, des Schiffskochs; Sorla legte ihn achtsam, wenn auch angewidert beiseite, denn Hitze und Vögel hatten auch ihm sehr zugesetzt. Vier weitere Schädel wurden abgenommen, zwei davon hatten schon Wochen dort gehangen und waren nur noch sonngebleichte Knochen. Dann hielt Sorla Skruts Haupt in Händen.
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Es stank zwar, ein Auge fehlte, das andere hing verquollen halb heraus, ansonsten aber war der Kopf noch gut erhalten. Der Kopf bewegte die Kiefer, als wolle er etwas sagen, doch brachte er nur ein leises Schmatzen heraus, worauf Sorla ihn vor Schreck fallen ließ. Das handelte ihm ein verweisendes Zähneklappern ein. Was auch immer Sorla darauf antworten wollte, er wurde durch entsetzte Rufe unterbrochen. Aus der Gasse, aus der sie gekommen waren, drängten viele Menschen schreiend auf den Platz, wo sie in alle Richtungen auseinander stoben; nun sah Sorla dort Skruts kopflose Gestalt, die in großen Schritten heranwankte. „Na also“, nickte Daful, „dann wären wir wieder zusammen. Nun aber schnell, bevor die Stadtwache kommt!“ Damit eilte er in Richtung des Brunnenhauses über den Platz. Sorla rannte, Skruts Kopf an den Haaren haltend, hinterher. Auf halbem Weg schloss sich ihm Skrut an, der als erstes seinen Kopf an sich nahm. Vorläufig trug er ihn unter dem Arm. Daful wartete schon beim geöffneten Gitter, ließ die beiden hindurch und zog es hinter ihnen zu, dass das Schloss einrastete. Sie eilten eine lange Wendeltreppe hinab, die von Sorlas Glygi bläulich erleuchtet war. Erst bei einem größeren Absatz blieben sie stehen, um Atem zu schöpfen und zu lauschen, ob ihnen jemand folgte. Nur Skrut schien unbeeindruckt. Er setzte den Kopf vorsichtig auf seinen Hals, dann rückte er ihn ein paar Male hin und her, bis er tatsächlich nicht mehr herunter kippte, sondern hielt wie festgewachsen. „Na also“, sagte Skrut mit dumpf rasselnder Stimme; offensichtlich waren Schäden im Kehlkopf zurückgeblieben. Nun drückte er das heraushängende Auge in seine Höhle zurück, wo es halbwegs Halt fand und abwechselnd in verschiedene Richtungen starrte. Sorla konnte seinen Blick von diesem Schauspiel nicht lösen. Daful dagegen schien unbeeindruckt; er drängte zur Eile, denn man hörte, wie oben am Gitter gerüttelt wurde. Also eilten sie im Lichte des Gnomensteins weiter die Wendeltreppe hinunter; Daful voraus, dann Sorla, welcher immer
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befürchtete, der hinter ihm her trampelnde Skrut könne ihm in den Rücken stolpern. Plötzlich fiel Daful hin und wälzte sich am Boden. Sorla eilte hinzu, um ihm aufzuhelfen, da fühlte er seine Beine umschlungen, gefesselt – er schlug neben Daful hin. „Was ist das?“ flüsterte er entsetzt. Schon kroch etwas Unsichtbares an seiner Brust hoch und umklammerte seine Arme. „Ich weiß nicht“, keuchte Daful, der sich hilflos wand. „Es ist nichts zu sehen!“ Auch Skrut stolperte, fing sich aber wieder. „Lass mich los!“ murrte er. Und wie er an seinen unsichtbaren Fesseln ruckte und zerrte, wurde sein Grollen des Unmuts lauter und lauter, bis er vor Wut schrie – nicht wie ein Mensch schreit, sondern unheimlich dumpf, gurgelnd, Unverständliches heraushustend. Er tobte und schlug um sich, da fiel ihm der Kopf herunter – oder wurde abgerissen, das konnte Sorla nicht erkennen – und rollte ein, zwei Schritte weiter den Gang entlang. Das Gebrüll brach ab, nur leises Stöhnen drang aus dem offenen Halse Skruts, während er erneut mit Wucht sich loszureißen versuchte. Jetzt hatte er beide Arme frei, bekam seinen Kopf zu fassen und setzte ihn auf den Hals zurück. „Ein Messer!“ gurgelte er. „Wo ist ein Messer?“ „In meinem Stiefel“, keuchte Sorla, vom unsichtbaren Klammergriff zusammengeschnürt. Skrut ließ sich nach vorne fallen, auf Sorla zu und ertastete mit seiner feuchten Pranke Sorlas Messer Schlangenzahn. „Ha!“ brüllte er, indem er sich herumwarf und auf etwas Unsichtbares einzustechen begann: „Gib mir Kraft, Wendualo!“ Weiter hieb und metzelte er, wühlte sich durch Hindernisse, die keiner sah, hustete, schnaufte, schrie, dass Sorla die Ohren gellten – aber das alles schien kein Ende zu nehmen; kein Mensch hätte diese Kraft gehabt, diese Ausdauer aufgebracht, doch noch immer wütete Skrut gegen den unsichtbaren Gegner, der ihn von allen Seiten zu bedrängen schien. Da plötzlich spürte Sorla, dass der Griff, der ihn am Boden hielt, sich löste. Rasch sprang er auf, auch Daful hatte sich befreit
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und stand mit einem Dolch kampfbereit da, ohne aber zu sehen, wogegen er kämpfen sollte. „Seid ihr frei? Gut!“ murrte Skrut. „Schnell weg!“ Damit wandte er sich dem abwärts führenden Gang zu, Sorla und Daful folgten ihm. Etwas Unsichtbares schlug nach Sorlas Ferse, konnte ihn aber nicht mehr festhalten. Einige hundert Schritte später öffnete sich vor ihnen ein Brunnenraum. Aufatmend blieben sie stehen und sahen sich um. Das bläuliche Licht des Glygi schimmerte in der stillen Wasserfläche, die von einem Marmorrand eingefasst war. In der Wand darüber war die Sorla schon bekannte Inschrift eingemeißelt: „Trinkt und dankt Tul-uglur!“ „Danke für deine Hilfe“, sagte Daful. Sorla schloss sich an: „Ja, danke, Skrut!“ „Gern geschehen, Solur!“ entgegnete Skrut förmlich und reichte ihm Schlangenzahn zurück. „Ihr habt mir den Kopf besorgt. Alleine hätte ich das nicht geschafft. Ich konnte ja nichts sehen.“ Er schien zu lächeln, doch da Vögel ihm die Mundwinkel zerhackt hatten, so dass die Backenzähne zwischen den zerfransten Lippen hervorschimmerten, konnte Sorla sich nicht sicher sein. „Wenn du nichts sehen konntest“, hakte Daful ein, „wie hast du uns gefunden? Wie konntest du vorhin deinen Kopf wiederfinden, als er dir verloren ging?“ „Ich fühle das. Ich wusste, wo ich euch treffe; und den Kopf, den spürte ich genau. Es ist anders als früher. Ihr habt ja auch nicht gesehen, was uns vorhin bedrängte. Ich schon, ich wusste, wogegen ich kämpfte.“ Daful nickte verständnisvoll und neigte sich zum Brunnenrand, um eine Handvoll des klaren Wassers zu schöpfen. „Aah, herrlich!“ sagte er. „Dank dir, Tul-uglur!“ Sorla tat es ihm nach; das Wasser war kühl und schmeckte köstlich. Da trank er noch viele Hände voll, denn auf einmal fiel ihm ein, wie durstig er den ganzen Tag schon gewesen war. „Wer ist Tul-uglur?“ fragte er dann. „Ein Kaiser des Hernostischen Reiches“, antwortete Daful.
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„Schon lange tot.“ Er sprach so kurz angebunden, dass Sorla ihn überrascht ansah. Wieso war ihm das Thema unangenehm? „Ich hasse das Hernostische Reich“, grollte Skrut, den Sorla fast vergessen hatte. „Es schickt Steuereintreiber nach Kabures, die das Volk aussaugen.“ „Das war nicht immer so“, wandte Daful heftig ein. „Es wird sich auch wieder ändern.“ „Wie willst du das wissen?“ forderte ihn Skrut heraus. „Ich weiß es nicht.“ Daful wirkte schmerzlich berührt. „Aber ich hoffe es.“ „Pah!“ Damit wandte sich Skrut zum Gehen. Die beiden anderen folgten ihm, denn einen anderen Weg gab es nicht, es sei denn, sie hätten zurück an die Oberfläche gewollt, vorbei an dem unsichtbaren Schrecken, der auf den Stufen lauerte. Sorla fühlte sich erfrischt, als sei er eben aus wohltuendem Schlaf erwacht. Er teilte das Daful mit, welcher lächelnd nickte: „Ja, ein besonders gutes Wasser war das.“ „Meinst du, es lag am Wasser?“ Daful nickte. „Tul-uglur schuf einige dieser Brunnenanlagen. Das Wasser hat besondere Kraft.“ „Schade, dass die Bevölkerung es nicht genießen kann“, sagte Sorla nachdenklich. „Wenn ich die Macht hätte, würde ich dafür sorgen, dass dieses unsichtbare Ungeheuer verschwindet.“ „Das schafft keiner!“ wandte Skrut ein. „Das ist wie bei Algen, es wächst immer nach!“ „Man müsste mit einem gewaltigen Feuer den Treppengang reinigen“, sagte Daful. „Aber woher nehmen?“ „Ein Drache!“ sagte Sorla. „Ein Drache könnte das tun.“ „Natürlich!“ höhnte Skrut. „Du gehst einfach hin zum Drachen und sagst, los, mach mal!“ „Etwas höflicher natürlich!“ „Du redest, als ob du mit Drachen auf Du wärest!“ Sorla lächelte und schwieg. Wenig später versperrte ihnen eine Steinwand den Weg. Der Gang schien zu Ende, aber Daful machte sich bereits an einer
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Steinplatte zu schaffen, die seitlich in die Felswand eingelassen war. „Ich kenne diese Anlagen Tul-uglurs“, murmelte er erklärend. „Sie sind überall gleich.“ Mit einem kleinen Haken, den er in den Spalt zwischen Felswand und Steinplatte einführte, zog er diese heraus und legte sie beiseite. Dahinter hing aus einem Loch eine Kette, die nach unten wieder in einem Loch verschwand. Daful begann daran zu ziehen, doch ohne Erfolg. „Festgerostet“, murmelte er verärgert. Auch als Sorla mit anfasste und beide mit aller Kraft ruckten und zogen, rührte sich nichts. Stöhnend richtete sich Daful wieder auf: „Bei Ak'men, das ist schlimm. Ich hoffte, wir könnten diese Tür öffnen.“ „Welche Tür?“ fragte Sorla, denn er sah keine. „Dort die Wand!“ Daful zeigte auf das Gangende. „Diese Steinplatte ist mit Gegengewichten verbunden. Eigentlich müsste sie sich ganz leicht heben lassen.“ „Lasst mich versuchen“, knurrte Skrut. Mit einer Pranke packte er die Kette, mit der anderen stützte er sich gegen die Wand, dann zog er. Rasselnd und knirschend kam die Kette Glied um Glied zum Vorschein, um unten wieder im Loch zu verschwinden. Am Gangende bildete sich unten ein Spalt, der sich rasch zum mannshohen Durchgang vergrößerte. „Na also“, gurgelte Skrut. „Wendualo sei Dank.“ Sorla wunderte sich. „Ich bin doch auch nicht schwach, wieso haben Daful und ich das nicht geschafft?“ Skrut zeigte auf seinen bläulich feuchten Körper: „Du siehst doch, ich bin nicht mehr der Skrut, den du kennst. Früher hätte ich das auch nicht geschafft. Doch jetzt bin ich ein Geschöpf Wendualos geworden, und er hat mir die Kraft gegeben, ihm zu dienen.“ „Nicht schlecht!“ nickte Sorla und versuchte sein Unbehagen angesichts des ungeheuerlichen Anblicks zu meistern. Jetzt erst wurde ihm richtig bewusst, dass Skrut größer und vor allem breiter gebaut war als früher. Die Hände waren mächtige Pranken geworden; jeder Finger so dick wie sonst drei zusammen. Nur der Kopf hatte sich nicht verändert – außer durch die Schäden
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von Wind, Wetter und gierigen Vogelschnäbeln natürlich – und saß jetzt scheinbar winzig auf dem Ungetüm von Körper. Inzwischen hatte Daful die Seitennische, in der die Kette verborgen war, wieder verschlossen. „Genug geplaudert!“ mahnte er nun und duckte sich unter dem hochgezogenen Steinblock hindurch in den dahinter sich erstreckenden Gang. Als auch Sorla und Skrut hindurch geschlüpft waren, zog er an zwei Ringen, welche unten im riesigen Steinblock eingelassen waren. Mit leisem Rumpeln glitt dieser hinunter und versperrte die Rückkehr. * Daful schien sich hier unten gut auszukennen. Keine Kreuzung, keine Weggabelung konnte ihn beirren. Ja, er habe alle Karten, die es zu den Katakomben von Kriteis gab, eifrig studiert, sagte er. „Ich denke, es gibt keine Katakomben hier?“ wandte Sorla ein. „Dies sind doch bloß Gänge und Brunnenanlagen, oder?“ Daful lächelte. „Stimmt. Katakomben sind unterirdische Begräbnisstätten, und so was gibt's nicht in Kriteis. Es ist nur eine alte Angewohnheit von mir, all dies hier so zu nennen.“ Sie folgten verschiedenen Gängen, stiegen Stufen hinauf und irgendwann andere wieder hinab. Einmal überquerten sie eine schmale, gebogene Brücke. Das Licht des Glygi verlor sich in der Dunkelheit, so tief ging es unter ihnen hinab. Von irgendwo hörten sie Wasser rauschen. „Was ist dort unten?“ flüsterte Sorla. Daful zuckte die Schultern und trieb zur Eile an. Wenig später kamen sie in eine Kammer, deren Wände und Decke mit bunten Mosaiken bedeckt waren – zumeist Spiralen, Mäanderbänder, ineinander verwobene Blüten und Ranken. „Sieh mal das Herz dort oben!“ sagte Sorla und wies auf ein Ornament, das über ihnen von der Mitte der Decke prangte.
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„Was soll denn das?“ „Das ist das Zeichen Tul-uglurs“, erklärte Daful. „Ich dachte, es ist ein Lindenblatt“, gurgelte Skrut. „Das kommt daher, weil du es von der anderen Seite aus siehst. In Wirklichkeit ist es ein Wassertropfen.“ „Wie das? Ein Wassertropfen sieht anders aus, nämlich unten rund, nicht gespalten“, wunderte sich Sorla. Daful lächelte. „Es stellt die wundersame Vermehrung des Wassers dar, also wie aus einem Tropfen zwei werden. Die früheren Kaiser Hernostes konnten das Wunder des Wassers wirken; daran soll dieses Zeichen erinnern.“ Insgeheim wunderte sich Sorla darüber, dass auch das Mal auf seiner Hinterbacke so aussah wie ein umgekehrtes Herz, doch verkniff er es sich, die Hose herunterzulassen und diesen Zufall den anderen vorzuführen. Aus der Kammer führten mehrere Ausgänge in verschiedene Richtungen. Daful wandte sich ohne zu zögern dem breitesten davon zu. Wenige Schritte später traten sie auf eine Empore hinaus, die entlang der Felswand nach beiden Seiten in die Dunkelheit führte; vor ihnen erstreckte sich eine riesige Halle. Im Licht des Gnomensteins erkannte Sorla noch die nächsten beiden Pfeiler, die vor ihnen hochragten und die Felsendecke stützten; der Rest der Halle blieb in der Dunkelheit verborgen. Das Licht des Glygi spiegelte sich tief unten als winzig verlorener Punkt auf einer stillen Wasserfläche. „Das ist die alte Zisterne“, flüsterte Daful. Er wies mit der rechten Hand zur Seite in die Finsternis: „Von dort wären wir gekommen, wenn wir nicht Skruts Kopf wegen den Umweg hätten machen müssen.“ „Sehr verbunden“, gurgelte Skrut förmlich. „Und nun ist die Zeit gekommen, wo ich euch verlasse. Wendualo ruft mich.“ „Eigentlich schade“, warf Daful ein. „Wir haben gut zusammengearbeitet. Ich möchte auch nicht versäumen, dir zu danken, Skrut, dass du unser Leben gerettet hast.“ „Wann soll das gewesen sein?“ fragte Skrut verdutzt. „Ach,
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du meinst das Zeug, das uns auf der Treppe festhielt?“ Er verzog seine Mundwinkel zu einem zerfransten Grinsen. „Das hat Spaß gemacht! Überhaupt vermisse ich die Zeit auf der Schnellen Susla; da war immer was los!“ Damit wandte er sich ab und trottete die Empore entlang in die Dunkelheit. * Sorla und Daful folgten der Empore in die andere Richtung. Der Glygi wanderte mit ihnen; in seinem Schimmer erschienen immer neue Pfeiler, während hinter ihnen die anderen in die Dunkelheit zurücksanken. Welche Ausmaße diese alte Zisterne hatte! Daful aber ging unbeirrt weiter und blieb erst bei einer seitlichen Nische stehen. „Zeit zum Rasten!“ verkündete er. In der Nische lagen zwei Seile, ein Brett, ein paar Bälge aus Ziegenleder, zwei Rucksäcke, zwei Henkelflaschen sowie ein Eimer und ein Paket. Daful ließ sich auf einem der Bälge nieder und winkte Sorla, sich ebenfalls zu setzen: „Komm, iss!“ Damit öffnete er das Paket und holte Brot, getrocknete Früchte und Dörrfleisch hervor. Sorla staunte: „Wo kommt das her?“ Schon lief ihm das Wasser im Munde zusammen, so hungrig war er auf einmal. „Letzter Tage hergebracht. Dich vor dem Henker zu retten wäre sinnlos, wenn wir anschließend hier unten verhungern, oder?“ Daful band eine der Flaschen an einem Seil fest, um sie aus der Zisterne zu füllen. Das Wasser, das er so heraufzog, ließ sich gut trinken; es war kalt und klar mit einem kaum erkennbaren Beigeschmack von Algen und Rost. „Warst du oft hier unten?“ fragte Sorla mit vollem Mund. Daful nickte. „Schon bei früheren Anlässen, und jetzt, um deine Flucht vorzubereiten, vor allem um den besten Weg zu erkunden. Allerdings weiß ich nur aus alten Plänen, wie es
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weitergehen soll.“ „Die Treppe zum Brunnenraum hast du wohl vorher auch nicht überprüft?“ „Stimmt. Auf jenes unsichtbare Ungeheuer war ich nicht gefasst. Wir müssen uns auf Ak'mens Wohlwollen verlassen.“ „Atnes Gunst“, verbesserte Sorla. „Von mir aus auch Atnes Gunst. Du hast recht, wir werden mehr Glück als Geschicklichkeit brauchen.“ „Wenn wir gerade von deinen Plänen reden, Daful – wo ist die Tür, für die du meinen Anhänger brauchst?” „Weit entfernt von hier, Solur. Tut mir leid. Unser Ziel liegt nördlich vom Hernostischen Reich.” „Trifft sich gut, Daful. Dorthin wollte ich sowieso.” Als sie satt waren und sich ausgeruht hatten, packten sie die frisch gefüllten Flaschen und Reste des Essens in ihre Rucksäcke, in denen sich schon Decken und andere Notwendigkeiten befanden. Die Seilrollen konnten vorläufig über der Schulter getragen werden. „Wozu brauchst du dieses Zeug, Daful?“ Sorla wies auf das Brett und die Ziegenbälge. „Wir bauen ein Boot daraus. Du wirst es gleich sehen.“ Als sie die Nische verließen, sah Daful sich ein letztes Mal um, als würde er lange nicht mehr hierher zurückkommen. Dann begann er die Ziegenbälge aufzublasen, Sorla half ihm dabei. Die Öffnungen wurden verschnürt und die vier Bälge mit einem der Seile so an dem Brett befestigt, dass ein kleines Floß entstand. „Es ist fürs Gepäck gedacht“, schränkte Daful den Nutzen des Gefährts ein. „Wir werden trotzdem ins kalte Wasser müssen.“ Nun band er das Floß am zweiten Seil fest und ließ es langsam zum Wasser hinunter. Dann befestigte er das Seil mit einem Haken an der Empore und begann sich ebenfalls abzuseilen. „Wenn ich unten bin, komm nach. Aber leise; wir wollen nicht auffallen!“ Sorla tat wie befohlen; das Wasser war schrecklich kalt, wie es ihm von unten in den Hosenbeinen immer höher kroch.
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„Halt!“ flüsterte Daful. Sorla erstarrte, doch war es keine Warnung, sondern Daful löste den Rucksack von Sorlas Rücken, bevor er ins Wasser tauchte, und band ihn auf dem Floß fest, wo bereits sein eigener verstaut war. Nun ließ sich Sorla vollends ins Wasser gleiten und hielt sich am Floß fest. Daful löste mit einem Ruck den Haken von der Empore, das Seil fiel herunter und wurde aufs Gepäck gelegt. Gemeinsam das Floß vor sich herschiebend, schwammen Daful und Sorla hinaus auf die weite, dunkle Wasserfläche der Zisterne. Bald war die Wand hinter ihnen nicht mehr zu sehen. Daful schien sich von den Pfeilern leiten zu lassen, denn er zählte leise mit, wie sie langsam vor ihnen im hellblauen Schimmer des Glygi auftauchten. Beim siebzehnten hob Daful die Hand und zeigte nach links: „Jetzt dort hinüber!“ Sorla nickte, doch sein ganzer Körper zitterte vor Kälte. In dieser Richtung waren die Abstände zwischen den Pfeilern etwas größer, oder sie kamen, weil ihnen die Glieder erstarrten, nicht mehr so schnell voran. „Wie lange noch?“ fragte Sorla zähneklappernd. Daful sah besorgt zu ihm herüber. Statt zu antworten, schwamm er wieder schneller und bemühte sich, das Floß alleine vor sich her zu schieben, um den Jungen zu entlasten. Als der sechste Pfeiler erschien, flüsterte Daful: „Nun, Ak'men, gib, dass alles so ist, wie die alten Karten sagen!“ Der Pfeiler, dem sie sich näherten, war weiter über den Wasserspiegel hinauf mit Algen und jahrhundertealten Ablagerungen bedeckt, aber dennoch erkannte Sorla zwischen all diesen Verkrustungen eine dünne bronzene Kette – voller Grünspan, aber sonst wohl erhalten – die von Ringen gehalten am Pfeiler entlang hinaufführte. Daful schwamm dicht heran, um an der Kette zu ziehen. Zunächst tat sich nichts, denn die Kette saß fest, aber nachdem er ein paar Mal heftig gezerrt hatte, gab sie zögernd nach, und von weit oben aus der Dunkelheit erklang ein leiser, metallener Ton. Etwas knirschte innerhalb des Pfeilers, dann hörte Sorla
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Wasser rauschen. Hoch über ihnen rumpelte es; dieses Geräusch kam langsam näher. Schließlich erschien im Lichte des Glygi eine riesige Hand, flach ausgestreckt, die sich langsam herabsenkte. Als sie das Wasser erreichte, verharrte sie, und Sorla sah, dass sie aus grünspanüberzogener Bronze war wie die Kette und eigentlich den Beginn einer Treppe bildete, welche auf dem schräg herabgestreckten Arm hinauf ins Ungewisse führte. „Na also“, sagte Daful und kletterte auf die Handfläche. Sorla war dermaßen unterkühlt, dass Daful ihm helfen musste, aus dem Wasser zu steigen. Danach zerrte Daful das Floß samt dem daran befestigten Gepäck aus dem Wasser, öffnete einen der Rucksäcke und wühlte die Decke heraus. „Hier, wärme dich!“ murmelte er. „Zieh aber vorher das nasse Zeug aus!“ Während Sorla eingehüllt auf einem Ziegenbalg hockte, wrang Daful dessen Oberbekleidung aus. Seine eigenen Sachen zog er aber nach dem Auswinden gleich wieder an und begann, Sorla mit Dörrfrüchten und kleinen Happen Brot zu füttern. Sorla wunderte sich; er war gewohnt, für sich selbst zu sorgen. „Keine Sorge, Daful“, sagte er. „Sobald ich aufgewärmt bin, geht's mir wieder gut.“ „Du sollst dich nicht erkälten, Junge.“ „Ich war noch nie krank, mein ganzes Leben nicht.“ Daful sah ihn zweifelnd an, da erklärte Sorla: „Das liegt an Ramlok, einem Gott, der bei uns verehrt wird. Als meine Mutter mit mir schwanger war, wurde sie ihm geweiht; und das bedeutete lebenslange Gesundheit für sie und auch für mich.“ „Nicht schlecht“, nickte Daful. „Du hast wohl schon viel erlebt. Davon musst du mir später mehr erzählen.“ „Hast du schon mal gesagt“, grinste Sorla, der inzwischen zu zittern aufgehört hatte. Daful grinste zurück. Und das Einverständnis, das in dieser stillen Erwiderung lag, wärmte Sorla innerlich mehr, als es die Decke äußerlich vermochte. Daful war bereits dabei, die Luft aus den Ziegenbälgen zu drücken, um sie zusammenzurollen und zusammen mit den Seilen an den Rucksäcken zu befestigen. Sorla verstand, dass es ihm eilig
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war, weiterzukommen. Rasch zog er Hose und Hemd über. Kalt und klamm klebten sie an ihm. Bald aber, als er, seinen Rucksack geschultert, hinter Daful her die merkwürdige Treppe hochstieg, wurde ihm warm. Nach ungefähr hundert Stufen war das Wasser unten ihnen nicht mehr zu sehen. Bald aber konnten sie hoch über sich die Gewölbe aus Fels und unterstützendem Mauerwerk erkennen, welche die Decke der Zisterne bildeten. Dicht darunter ragte ein Vorsprung, zu dem die Treppe führte. Dahinter führte ein Gang ins Dunkle. Als sie beide auf dem Vorsprung angekommen waren, zog Daful wieder an einer Kette, und rumpelnd begann sich der metallene Arm zu heben, bis er an der Decke zum Stillstand kam. Von unten war er jetzt wieder nicht mehr zu sehen. „Toll!“ murmelte Sorla. Daful nickte und winkte ihm, er solle ihm in den dunklen Gang nachfolgen: „Ohne deinen Gnomenstein sehe ich ja nichts.“ Der Gang führte in einen kleinen Raum mit einer Tür aus bronzebeschlagenen Eichenbohlen. Es gab kein Schloss, keinen Riegel, weder Knauf noch Klinke. Versuchsweise drückte Daful dagegen, doch die Türe öffnete sich nicht. „Eine böse Überraschung!“ Daful rieb sich die Stirn. „Davon stand in den Karten nichts.“ Mit Wucht warf er sich gegen die Tür, doch der einzige Erfolg war, dass er sich stöhnend die Schulter hielt. Er winkte Sorla: „Los, zusammen!“ Gemeinsam rannten sie gegen die Tür, die von der Wucht des Anpralls dumpf erklang, aber sich nicht rührte. Während sie noch ratlos dastanden, ging die Türe langsam auf. Ein heller Lichtstrahl fiel auf den Boden vor Sorlas Füße und verbreiterte sich. In der offenen Türe stand ein Mann in einem schlichten, weißen Leinenhemd, das bis zum Boden reichte. Er sah sie fragend an. „Sei gegrüßt!“ sagte Daful, der sich rasch gefasst hatte. „Wir sind Daful und Solur.“ „Keine Namen, die man kennen müsste. Was stört ihr mich?“
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Daful runzelte die Stirne. „Ich dachte, hier wäre der Ausgang aus der Zisterne?“ „Hier wohne ich.“ Damit wandte sich der Mann ab, um die Türe zu schließen; doch bei dieser Bewegung fiel das helle Licht der Halle auf sein Gesicht, und Sorla fielen die goldglänzenden Augen auf. Das war kein Mensch! „Halt!“ rief Sorla, um Zeit zu gewinnen, und hielt Daful zurück, der schon vorhatte, den Zugang mit Gewalt zu erzwingen. „Nur einen Augenblick, bitte!“ Der Mann richtete seine Goldaugen auf ihn. „Wozu?“ Sorla versuchte sich verzweifelt zu erinnern. Irgendwann hatte er ähnliche Augen bereits gesehen! Bei der riesigen Kröte einst, die in der Lehmhütte eines merkwürdigen Zauberers lebte? Nein, jene goldenen Augen glänzten verträumt, diese hier aber glühten heiß und hart. Es waren die Augen eines Drachen! „Hoher Herr!“ begann Sorla, der sich erinnerte, wie er durch Schmeichelei den ihn begleitenden Drachen damals günstig stimmte. „Einen kleinen Augenblick eurer kostbaren Zeit erbitte ich, um unser Anliegen vorzutragen. Ihr seid bestimmt weit mächtiger, als eure menschliche Gestalt vermuten lässt. So mächtig, dass ihr nicht nötig habt, mit Waffen zu drohen, denn Ihr könntet uns zerschmettern, wann immer es euch in den Sinn kommt.“ Sorla hoffte, dass seinem Gegenüber dieses nicht gerade jetzt in den Sinne käme. Er holte Luft und fuhr fort: „Wir bitten dich unterwürfig, uns den Durchgang zu gestatten, da wir uns nach Freiheit und frischer Luft sehnen. Und wenn wir dabei einen Hauch eurer mächtigen Aura atmen dürfen, so fühlen wir uns geehrt.“ Der Mann lächelte ein wenig. „Du weißt zu reden, junger Mensch. Welcher von beiden bist du – Solur oder Daful?“ „Sorle-a-glach heiße ich mit vollem Namen, hoher Herr.“ Die Brauen über den goldenen Augen hoben sich ein wenig. „Von dir habe ich gehört. Tritt ein.“ Also betrat Sorla die Halle; Daful folgte, ohne dass es ihm verwehrt wurde.
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* Es war strahlend hell, obwohl keine Sonne zu sehen war. Palmen und blühende Sträucher wuchsen üppig, von bunten Vögeln umschwirrt, am Boden eilten Wachteln umher, und in einiger Entfernung standen vier Rehe und beäugten die Neuankömmlinge misstrauisch. Der goldäugige Herr des Gartens führte sie zwischen Rosenbeeten hindurch einen schmalen Weg, der mit muschelförmigen Platten gepflastert war – jede davon ein bis zwei Handspannen breit und aus unbekanntem, mattschimmerndem Material, jedenfalls weder Stein noch Keramik oder Metall. Sie waren in der Mitte gewölbt und wichen in ihrer Färbung voneinander ab; es gab dunkelgrüne, graugrüne, manche hatten eine schwarze Schattierung, die kleineren spielten ins Gelbliche. „Das sind Schuppen!“ entfuhr es Sorla. „Riesige Schuppen!“ Der Herr des Gartens wandte sich um und nickte. „Drachenschuppen, um genau zu sein“, sagte er. „Es gibt hier jede Menge davon.“ Wenn dieser Mann mit den goldenen Augen tatsächlich ein Drache war, hatte er sich seiner eigenen Schuppen entledigt, um ein Mensch zu werden? Gerne hätte Sorla diese Frage geäußert, wagte es aber nicht. Da drehte sich der Herr des Gartens um. „Klug gedacht, junger Mensch, aber nicht getroffen.“ Er blieb bei einem runden Steintisch stehen und winkte ihnen, sich zu ihm auf die einfachen Stühle zu setzen. „Neugierige Besucher liebe ich durchaus nicht“, sagte er, „und ich sorge dafür, dass sie so schnell wie möglich verschwinden.“ Seine goldenen Augen blickten hart. „Doch werde ich diesmal eine Ausnahme machen.“ Er schnippte mit den Fingern, murmelte einige Worte; da erschienen auf dem Tisch vor ihnen
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Teller mit Früchten, Brot und Gebratenem sowie zwei Karaffen mit Wasser und gesüßtem Tee. „Bedient euch“, lächelte er, doch seine Augen blickten hart wie zuvor. „Inzwischen werde ich das Nötigste erläutern.“ Und während Sorla und Daful heißhungrig zugriffen, ohne sich länger zu wundern, woher die Köstlichkeiten kamen, begann der Herr des Gartens zu sprechen: „Es stimmt, dass ich eure Gedanken verstehe, so als äußertet ihr sie in lauten Worten. Daher, Daful, um deinen derzeitigen Namen zu verwenden, ist mir dein Geheimnis inzwischen bekannt, denn dein Denken kreist fast nur um dieses; doch werde ich es achten und für mich behalten. Ob dein Vorhaben gelingt oder nicht, hat zwar für mich keine Bedeutung, doch wünsche ich dir Glück.“ „Unser junger Freund hier, Sorle-a-glach, hat ganz richtig gefolgert, als er mich als Drachen erkannte. Jener Drache, mit welchem er kürzlich zusammen reiste, ist jedoch, gemessen an mir, sehr jung – etwa so wie, in Menschenaltern gerechnet, Sorle-a-glach wesentlich jünger und unerfahrener ist als Daful. Das mag seine Verwunderung über Sorle-a-glachs schlangenhafte Fähigkeiten erklären, mit denen er inzwischen die halbe Drachenwelt vertraut gemacht hat.“ Er verzog die Mundwinkel leicht belustigt und fuhr fort: „Nicht alle Drachen teilen seine Begeisterung. Wie bei allen denkenden Wesen gibt es auch bei uns zwei Gruppen: die einen denken nur im Rahmen ihrer besonderen Bewandtnisse, die anderen versuchen das Ganze zu erfassen. Die ersteren beurteilen die Welt aus rein drachischer Sicht und betrachten die Schlangen als Gegner, die anderen erkennen, dass Schlangen und Drachen – oder vielmehr die Kräfte, für die sie stehen – zusammen eines der Gleichgewichte bilden, ohne welche die Welt nicht bestünde.“ Seine goldenen Augen richteten sich auf Sorla. „Es ist dir geglückt, die Brücke zu den Drachen zu schlagen. Ein kleiner Drachenvetter bist du geworden, junge Schlange; dies mag, wenn du dereinst deinen Platz und deine Aufgabe gefunden hast, von Bedeutung sein.“
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Sorla wirbelte der Kopf, nicht nur durch die ehrenvolle Behandlung, sondern vor allem der Andeutungen wegen, die Daful und ihn betrafen. Welcher Platz, welche Aufgabe warteten auf ihn? Was war Dafuls geheimes Vorhaben, was sein richtiger Name? Die spöttische Stimme des Herrn des Gartens unterbrach ihn in seinem Denken: „Ursprünglich wolltest du nur wissen, weshalb sich hier Drachenschuppen in solchen Mengen finden, nicht wahr?“ Sorla nickte. „Dann höre. Du weißt, dass im Unterschied zu Schlangen wir Drachen uns nicht häuten. Unser Schuppenkleid wächst mit uns, jede einzelne Schuppe wird Hunderte, vielleicht Tausende von Jahren alt – zusammen mit dem ganzen Drachen, der in seiner Höhle hockt und immer fetter wird. Aber nicht alle sind so. Zu mir kommen gelegentlich Drachen, grün und ungebildet, wie sie aus dem Ei krochen. Sie suchen das tiefere Verständnis der Dinge, wollen nicht länger nur grünschuppige Ungeheuer sein, die Feuer gegen alles speien, was sie nicht verstehen. Ich bin ihr Lehrer, und wenn sie ihr Denken geändert, erweitert haben, dann müssen sie auch äußerlich sich wandeln. Sie stoßen den altgewohnten Panzer ab, wie sie ihr altes Denken abgeworfen haben, in dem sie sich so lange wohlfühlten. Es ist eine zweite Geburt. Nackt und schutzlos müssen sie sich zurechtfinden, bis ihnen neue Schuppen in einer neuen, ihnen gemäßeren Farbe wachsen.“ Er zeigte auf den Weg: „All diese Schuppen sind Zeichen überholten Denkens, zu nichts mehr nütze außer vielleicht die Wege zu pflastern.“ Er lachte verhalten. „Der Drache, der mich mitnahm“, meldete sich Sorla zaghaft, „hat dunkelblaue Schuppen, die schillern und glänzen.“ „Eine vielversprechende Farbe. Ich gab mich ein Dutzend Jahre mit ihm ab, bevor er sein Grüntum ablegte.“ Daful räusperte sich. „Ehrenwerter Lehrer von Drachen, wir sind beglückt, dass wir euch kennenlernen und eurer Weisheit lauschen durften.“
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Der Angeredete unterbrach ihn: „Aber ihr wollt dringend weiter, nicht wahr?“ Daful nickte. „Reisende soll man nicht aufhalten“, sagte der Herr des Gartens so ernst, dass Sorla schon befürchtete, Daful habe ihn erzürnt. „Was ist euer Ziel?“ „Eigentlich müssen wir weiter nach Osten – zur Hochebene von Batiflim.“ Sorla zuckte zusammen; den Namen hatte er gehört, und er hing mit dem Anhänger zusammen! „Aber“, fuhr Daful fort, „als erstes müssen wir den Ausgang aus diesen unterirdischen Gängen finden. Nach meinen Karten führt von hier ein Weg direkt zu einem Wald nördlich von Kriteis.“ Der Herr des Gartens lachte leise. „Deine Karten gelten hier nicht.“ Daful runzelte die Stirn. „Aber ...“ „Kriteis ist weit entfernt von hier. Dachtest du, ich hause in der alten Zisterne von Kriteis? Das wäre kein würdiger Ort für mich und die Drachen, die mich aufsuchen.“ „Aber ...“ „Du darfst nicht immer glauben, was du siehst. Ein Meisterdieb sollte den Unterschied zwischen Anschein und Wirklichkeit kennen.“ Daful sah sich ratlos um. „Dann zeige uns bitte den Weg hinaus, hoher Herr!“ Der Herr des Gartens erhob sich und winkte ihnen zu folgen. Im Gehen sprach er: „Was mich erheitert, ist euer kleiner unsichtbarer Begleiter. Schon lange hatte ich nicht mehr das Vergnügen, einen Gnomenstein zu beobachten.“ „Es ist mein Glygi, hoher Herr!“ antwortete Sorla schüchtern und doch ein bisschen stolz. „Ich weiß. Er fliegt herum, neugierig wie ein Vögelchen. Ich werde ihm ein passendes Geschenk machen, das vielleicht auch euch hilft.“
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Sorla stammelte einen Dank, konnte sich aber unter dem Geschenk nichts vorstellen. Sie durchwanderten weiter den schönen Garten, als Sorla eine Idee kam. „Hoher Herr!” sagte er, nachdem er sich verlegen geräuspert hatte. „In diesem wunderbaren Garten habe ich viele Bäume gesehen, aber noch keine Buche. Dürfte ich vielleicht ...” Der Herr des Gartens unterbrach ihn: „... hier eine Buchecker vergraben, nicht wahr? Damit in meinem Garten eine kleine Dryade heranwächst, meinst du das?” Sorla nickte betreten. „Ich habe den Auftrag, Buchen zu pflanzen, so lange mein Vorrat an Bucheckern reicht.” „Gib mir eine, ich werde mich darum kümmern. Deine kleine Dryade mag mir dann manchmal die Zeit vertreiben.” Während sie so sprachen, gelangten sie zu einer Tür. „Hier ist der Ausgang. Beeilt euch, denn ich habe euch schon zuviel meiner Zeit gewidmet.“ Sorla und Daful stammelten verlegene Dankesworte und durchschritten die Tür. Als sich Sorla noch einmal umwandte, sah er nicht den schönen Garten, sondern eine weite, von Feuer durchlohte Höhle, und zwischen den zackig schroffen Felsen hockte ein riesiger Drache, in dessen goldenen Schuppen sich rötlich der Schein der Flammen spiegelte. „Glaube nicht alles, was du siehst!“ echote es in seinem Hirn; Sorla entschied für sich, daß die feurige Höhle die Wirklichkeit und der Garten der bloße Schein war. Oder war es umgekehrt? Und wie sollte es der kleinen Dryade ergehen? Sorla wischte die Gedanken beiseite und blickte nach vorne in den dunklen Gang, an dessen fernem Ende ein Licht schimmerte.
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Zehntes Kapitel:
DIE MIT DEM DRACHEN SPRICHT Das Licht erwies sich als Öffnung hoch oben in einer riesigen Höhle. Ein paar Eiskristalle tanzten herab und machten das schwache Licht noch bleicher, als es ohnehin schon war. Es war beißend kalt. Den Boden der Höhle bedeckte eine dünne Schicht Schnee; nur in der Mitte, wo die Eiskristalle rieselten, lag er zu einem flachen Hügel aufgehäuft. Ganz deutlich sah Sorla dort die klafterbreite Spur einer riesigen, krallenbewehrten Tatze. Daful hatte Sorla bereits mit einer wortlosen Geste abgehalten, die Höhle zu betreten. Er wies hinüber in den dämmrigen Bereich jenseits des Schneehügels. Dort lagerte nahe der Höhlenwand ein blaugrauer Drache – größer als drei oder vier Pferde. Die lappigen Flügel waren eng an den zusammengerollten Körper gelegt, auf den beiden vorderen Tatzen ruhte der zackenbewehrte Kopf, die Augen geschlossen. Es gab noch einen Ausgang aus dieser großen Höhle, aber dazu hätte man dicht an dem Drachen vorbei müssen. Daful und Sorla zogen sich lautlos in den Gang zurück, aus dem sie gekommen waren. „Was nun?“ wisperte Sorla. „Weiß ich’s? Du bist doch der Drachenvetter, oder?“ Sorla lächelte über den gutmütigen Spott. Bislang hatten sie sich über die Worte des Drachenlehrers in seinem merkwürdigen Garten noch nicht unterhalten; zu sehr war Daful bestrebt, den Ausgang zu finden. „Der Herr des Gartens wird von dem Drachen hier gewusst haben“, antwortete er. „Ich glaube nicht, dass er uns einen Streich spielen wollte.“ „Vielleicht hat er einfach nicht daran gedacht? Für ihn ist so ein Drache eben nicht so aufregend wie für unsereinen.“ Nach
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kurzem Zögern fügte Daful hinzu: „Dies ist der erste, den ich je gesehen habe.“ „Und der Herr des Gartens?“ „Richtig, aber der trat als Mensch auf.“ Sorla nickte; es konnte ja nicht jeder das Glück haben, bereits mit einem Drachen geflogen zu sein und sich mit ihnen auszukennen. Dann erschrak er über seinen Hochmut und ermahnte sich, nicht überheblich und leichtsinnig zu werden. „Du bist der Ältere“, sagte er bescheiden. „Sag, wie wir hier raus kommen!“ „Vielleicht sollten wir einfach am Drachen vorbei schleichen?“ schlug Daful vor. „Kannst du dich leise bewegen?“ „Schleichen lernte ich in der Diebesgilde.“ „Na also. Für Diebe wie uns eine der einfacheren Übungen, oder?“ Also bewegten sie sich lautlos, behutsam und möglichst weit vom Drachen entfernt auf den jenseitigen Ausgang zu. Der Drache – den Kopf zwischen den Tatzen, die Augen geschlossen – rührte sich nicht. Sein Atem ging so langsam, dass sich vor den Nüstern Schnee sammelte. Dann, nach einer Zeitspanne, innerhalb derer Sorla erstickt wäre, wenn er so lange hätte den Atem anhalten wollen, begann sich sein Wanst zu verbreitern – so allmählich nur, dass vor den Nüstern nicht ein Schneeflöckchen aufwirbelte. Nach einer weiteren Zeitspanne völliger Reglosigkeit, in welcher Sorla und Daful den halben Weg bis zum Ausgang hinter sich brachten, begann der Drache auszuatmen. Auch dieses geschah so langsam und geräuschlos, dass man es nur daran merkte, wie der Schnee im klafterweiten Umkreis vor den Nüstern zu schmelzen begann, versickerte und schließlich wegtrocknete. Aufatmend erreichten die beiden den jenseitigen Felsspalt und huschten hinein. Der Gang war so schmal, dass kein Drache ihnen hierher folgen konnte, daher blieb Daful nach ein paar Dutzend Schritten stehen, um sich und Sorla zu ihrem Erfolg zu beglückwünschen. Doch Sorla hielt ihm den Mund zu und flüsterte ehrerbietig in die Richtung, aus der sie kamen: „Hochverehrter
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Drache! Wir danken dir demütigst, dass du in deiner Großmut es vorzogst, uns nicht zu bemerken. Wir werden in Ehrfurcht deiner gedenken!“ Um sicherzugehen, wiederholte er dasselbe in der Guten Sprache der Berge. „Was sollte das?“ wisperte Daful im Weitergehen. „Das war die Gute Sprache der Berge, wie sie von Gnomen und Zwergen gesprochen wird. Vielleicht versteht er sie besser als die Sprache von Agra und Kriteis.“ „Erstaunlich, dass du diese Sprache beherrschst. Aber weshalb die ganze Ansprache?“ „Als wir ihn das erste Mal sahen, lag sein Kopf auf seinen Tatzen, richtig?“ „Ich denke schon. Und?“ „Als wir wieder die Höhle betraten, hatte er den Kopf nicht auf, sondern zwischen den Tatzen.“ Daful nickte verstehend. „Du hast recht. Als wir in den Gang zurückgingen, schaute er uns nach, danach stellte er sich schlafend. Schlimm, dass mir das nicht auffiel.“ Er schlug Sorla auf die Schulter: „Weiter so, Junge! Wer das Kleine missachtet, kann das Große nicht gewinnen!“ Sorla lächelte über das Lob, entgegnete aber: „Doch wer sich nur um den Kleinkram kümmert, aus dem wird wohl nichts Großes, oder?“ „Das wollen wir nicht hoffen, dass du so einer bist, Junge!“ lachte Daful. „Aber stelle dir vor, du wärest der Herrscher eines Reiches. Wie kannst du die Geschicke des Ganzen gerecht lenken, wenn du gegen einzelne Untertanen ungerecht bist? Oder wie kannst du Gesetze zur Verteilung des Wassers im ganzen Land erlassen, wenn du übersiehst, dass jemand den Schlamm aus den Kanälen räumen muss?“ „In Ailat gibt es genug Wasser, auch in den Sidhlanden.“ „Ich denke an das Hernostische Reich. Wasser ist dort in manchen Gegenden selten und kostbar. Wer das Wasser verteilt, der hat die Macht.“
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„Dann wäre das Wichtigste, dafür zu sorgen, dass die Beamten, die das Wasser verteilen, nicht bestechlich sind“, meinte Sorla. Er dachte an die Steuereintreiber, unter denen die kaburischen Fischer litten. „Richtig, mein Junge! Bleibt die Schwierigkeit, all die bestechlichen Beamten aufzufinden und dann noch die unbestechlichen Richter, welche sie bestrafen.“ Sorla nickte. „Meine Mutter ist eine Fürstin. Ich als ihr Sohn werde vielleicht einmal nach ihr herrschen. Anod sei Dank kommt Bestechlichkeit bei uns nur selten vor.“ „Ein Prinz auf Abwegen!“ lachte Daful. „Ein Dieb und Seeräuber, der eigentlich ein Prinz ist!“ Als er Sorlas gerunzelte Stirn sah, fügte er hinzu: „Mach‘ dir nichts draus, das geht auch ganz anderen so.“ Wenn sie den Mund zum Reden öffneten, hing ihr Atem wie Nebel in der Luft. Es war so kalt, dass das Gesicht taub und gefühllos wurde, und Sorla wurde immer einsilbiger, weil die klammen Lippen die Worte nicht mehr formen wollten. Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als sie vor sich auf dem Boden, vom Glygi sanft erhellt, eine zusammengekauerte Gestalt gewahrten. Sie näherten sich vorsichtig und sahen einen Mann, der zu schlafen schien. Sorla sprach ihn an, doch dieser rührte sich nicht. Sie rüttelten ihn an der Schulter, da fiel er um. Leere Augenhöhlen starrten aus einem mumifizierten Gesicht. „Wahrscheinlich erfroren“, murmelte Daful. „Oder Altersschwäche.“ „Wie lange ist er schon tot?“ fragte Sorla. „Kann man nicht sagen. Hier oben, in der Kälte, kann man Dutzende von Jahren liegen und sieht doch aus, als sei man eben erst gestorben.“ Daful beugte sich zu der Leiche hinab. „Ich frage mich eher, was er hier suchte.“ Doch der Tote gab sein Geheimnis nicht preis. Er hatte keine Waffen dabei, keinen Rucksack, nur einen Filzmantel, in den er gehüllt war. So ließen sie ihn liegen und gingen weiter, tüchtig ausschreitend, um sich durch die Bewegung wieder zu erwärmen.
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Nach einiger Zeit endete der Gang an einer Holztür. Daful wollte sie öffnen, da brach sie aus den Angeln, so morsch war sie. Dahinter zeigte sich im Lichte des Glygi eine wohnlich eingerichtete Felsenkammer, rundum mit Stoffen behängt, wohl um Kälte und Zugluft abzuwehren, und ausgestattet mit Bett, Tisch und einer Kiste. Auf dem Tisch fanden sich ein Öllämpchen, Tintenfass mit Schreibfeder und ein kleines Buch. „Aha!“ sagte Daful. „Die Aufzeichnungen!“ Doch wie er sich über den Tisch beugte, um danach zu greifen, brach dieser zusammen, das Buch fiel zu Boden und löste sich in einer Staubwolke auf. Missmutig wischte sich Daful die Holzkrümel von den Kleidern. Die Kiste enthielt verrottete Kleidungsstücke sowie einige Bündel noch gut erhaltener Talgkerzen, die sie aber unangetastet ließen. Als Sorla den Deckel zuklappte, zerbrach dieser in morsche Stücke und aus einem versteckten, jetzt erst sichtbaren Fach fiel ein kleiner Ring. Er bestand aus einem schmalen Silberreif, den ein winziger Bergkristall krönte. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass auf der Innenseite des Rings etwas eingraviert war. „Hübsch“, meinte Daful. „Aber nichts Besonderes. Ein Geschenk für kleine Mädchen.“ Sorla nickte und steckte den Ring ein – für den eher unwahrscheinlichen Fall, einem Mädchen etwas schenken zu müssen. Auf der rückwärtigen Seite der Felskammer fand sich hinter den Stoffvorhängen, die bei unvorsichtiger Behandlung in Stücke fielen, eine zweite Holztür. Dort führte der Gang weiter abwärts, und sie folgten seinen Windungen. Sorla fiel auf, dass gelegentlich, wenn es sehr steil war, Stufen in den Felsboden gehauen waren, auch hatte jemand die Stellen, wo der natürliche Gang zu schmal war, mit Hammer und Meißel verbreitert. Die Luft wurde merklich frischer, und als sie jetzt um eine Ecke bogen, blies ihnen kalter Wind entgegen. Sie blickten hinaus
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in die Nacht. Tief unter ihnen lag ein weites, dunkles Tal, in der Ferne blinkte ein Licht. „Ein Lagerfeuer?“ überlegte Daful und kniff die Augen zusammen. „Nein. Es sind fünf oder sechs kleine Häuser, bei einem steht die Tür offen.“ In diesem Augenblick erlosch das Licht. „Sie haben die Türe geschlossen“, fügte Sorla hinzu. „Du hast bessere Augen als ich, und das will was heißen.“ * Sie hatten beschlossen, die Nacht im Schutze des Gangs zu verbringen, und waren, in ihre Umhänge gewickelt und der Kälte wegen aneinander geschmiegt, sofort eingeschlafen. Sorla träumte von zu Hause – Burg Brindhal mit den weißen Marmorsälen. Seine Mutter flüsterte: „Ich bin stolz auf dich.“ Aber wie sie ihn an sich drückte, spürte er im Gesicht ihre heißen Tränen. Später wanderte er in den nächtlichen Gärten umher, musste aber plötzlich seinen Weg zwischen Schilf und Binsenbüscheln suchen. Wasser schmatzte an den Stiefeln, irgendwo gluckste ein verschlafenes Blässhuhn. Dies waren die Norfell-Auen. Vor den blassen Vollmond schob sich dunkel der riesige Schlangenkopf. „Nun?“ „Sind Drachen unsere Vettern?“ „Braucht das Wasser das Feuer?“ zischte die Schlange und stieß ihn grob in die Binsen zurück. Doch im Fallen hörte er noch: „Finde es heraus, kleine Schlange!“ *
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Sorla erwachte durch streitende Stimmen vor dem Höhleneingang. Daful schlief noch, da schien es Sorla besser, sich ruhig zu verhalten. Vielleicht kamen sie ja nicht herein. „Das ist mein Käfer!“ rief der eine. „Nein, ich, ich, ich habe ihn gefunden!“ schrie ein anderer. „Ich hau‘ dir eins über den Kopf, wenn du nicht wegrückst!“ „Ha ha ha! Schau, schon hab‘ ich ihn verschluckt!“ Eine dritte Stimme mischte sich ein: „Da ist schon wieder eine Insektenlarve! Gleich hier unter der Borke! Lecker!“ „Wo? Wo? Gibt’s da noch mehr?“ schrien die anderen beiden. Jetzt wachte auch Daful auf. „Was die Vögel so früh schon schreien! Da kann man ja nicht schlafen!“ Jetzt fiel es auch Sorla auf: Was er im Halbschlaf für Stimmen hielt, war nur das Gezwitscher hungriger Meisen gewesen. Nach einem hastigen Frühstück mit klammen Fingern verließen sie ihren Unterschlupf. Draußen lag der Schnee hüfthoch. Die Sonne war über den nahegelegenen Berggipfeln aufgegangen, hatte aber das Tal noch nicht erreicht. Vom Meer war nichts zu sehen, obwohl sie nach Süden hin freien Blick in die Ferne hatten. „Und wo ist Kriteis?“ fragte Sorla. Daful zuckte die Achseln. „Mir scheint, dass wir ganz woanders sind. Schau dir die Berge an, den Schnee – wer weiß, wohin es uns verschlagen hat.“ Sorla nickte; ihm fiel ein, dass der Herr des Gartens gelacht hatte, weil sie meinten, sie seien noch in Kriteis. Sie machten sich auf den Weg ins Tal hinunter. Es gab keinen Weg, sie wühlten sich durch den Schnee hangabwärts, kletterten über Felsbrocken und niedrige Stauden und erreichten schließlich den Nadelwald, der wie ein grünes Band das Tal umschloss. Hier war das Fortkommen noch beschwerlicher, denn kreuz und quer lagen umgestürzte Baumstämme im Weg, die schneebeladenen Äste hingen tief herab. Mittags fanden sie einen Wildwechsel, da wurde es besser; sie gelangten an einen Bach und,
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ihm folgend, bei Einbruch der Dämmerung endlich zu einem in den Schnee getrampelten Pfad. Der führte zu einer schmalen Holzbrücke. Jenseits des Baches lag die kleine Ansiedlung, die sie in der Nacht vom Berg herab gesehen hatten. Hunde schlugen an, kurz darauf kamen sechs davon angerannt, dicht bepelzt und groß genug, um zur Bärenjagd zu taugen. Sie umringten Daful und Sorla, doch solange diese sich still verhielten, beschränkten sie sich darauf, drohend zu knurren. Bald danach kamen zwei Männer, ihre Speere in den Händen bereit. Auf dem Rücken trugen sie je einen Bogen mit Köcher und ein Paar Schneeschuhe. Der vordere, mit kurzem dunklem Vollbart, sagte etwas in einer rauhen und Sorla völlig unbekannten Sprache. Doch Daful schien ihn zu verstehen; er antwortete gestenreich und, wie Sorla fand, allzu höflich. Der ältere der beiden Männer hörte sich das schweigend an, der Jüngere, mit rotblondem Bart, schaute verkniffen. Der Ältere aber nickte kurz, als Daful geendet hatte, und winkte ihnen mitzukommen. Die Hunde trotteten misstrauisch hinterher. Das Gehöft bestand aus Verschlägen, Scheunen und einem niedrigen, breiten Haus, das Wohn- und Stallräume unter einem Dach vereinte. Durch einen Vorraum erreichten sie eine von Balken gestützte Halle, in deren Mitte ein helles Holzfeuer prasselte. Eine ältere Frau half ihnen, ihre nassen, schneeverklumpten Oberkleider und Stiefel auszuziehen und über eine Stange nahe dem Feuer aufzuhängen, wo sie bald vor sich hin dampften. Auf dem Boden saß neben einer kleinen Kiste eine junge Frau, die ihr Kind stillte. Nun legte sie es in die Kiste zurück und verschwand damit durch eine der Türen. Sorla und Daful waren allein. „Was hast du ihnen gesagt, Daful?“ flüsterte Sorla. „Dass wir Hilfe brauchen und dafür zahlen.“ Das war der falsche Weg, dachte Sorla, schwieg aber. In solch einsamen Gegenden waren Hilfe und Gastfreundschaft selbstverständlich; sie kaufen zu wollen – auf diesen Gedanken konnte nur ein Städter kommen! Er bemühte sich, den Blick der
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Frau zu erhaschen und ihr zuzulächeln, doch sie hielt die Augen gesenkt und eilte geschäftig umher. „Und wo sind wir?“ Daful lächelte zufrieden. „In irgendeinem Tal der Region Batiflim. Wir hätten es kaum besser treffen können! Das hat uns eine Reise von mehreren Wochen erspart.“ „Wo ist das – Batiflim?“ „Es ist die nördlichste Provinz des Hernostischen Reiches. Viele Berge, aber keine einzige Stadt.“ „Gut, dass du ihre Sprache verstehst, Daful.“ Daful verzog die Mundwinkel und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Es kostete mich zwei Jahre meiner ansonsten glücklichen Kindheit, sie zu lernen.“ Sorlas Neugier erwachte, doch beschränkte er sich darauf, teilnehmend zu nicken. Daful aber sprach nachdenklich weiter: „Dieses Bergvolk lebt hier seit Menschengedenken. Sie sind überhaupt recht stolz und eigen. Dass sie Untertanen des Kaiserreichs sind, ist ihnen nicht beizubringen.“ Jetzt kam die Frau zurück; sie trug einen Topf Suppe sowie einen Kanten Brot, setzte alles vor Daful und Sorla ab, legte zwei Holzlöffel dazu, dann verschwand sie wieder. „Und wo ist der Ort, den du suchst, Daful? Die Tür, für die du meinen Schlüssel brauchst?“ „Auf der Hochebene irgendwo. Ich weiß leider nicht, wo wir uns hier befinden. Irgendein abgelegenes Hochtal, denke ich. Wir werden die Leute fragen müssen, bevor wir uns morgen auf den Weg machen.“ * Morgens auf dem Abtritt– einem Bretterverschlag samt Sitzbalken über dem nahen Bach – hörte Sorla Stimmen vor der Tür, konnte aber wegen des Gemurmels des Wassers nur wenig
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verstehen. Über heraufziehende Schneewolken wurde gesprochen, auch über den Geschmack gefrorener Hagebutten. „Trolle hab ich gesehen“, glaubte Sorla halbwegs deutlich zu hören. „In der Schlucht.“ Es konnten aber auch Knollen sein oder Wolle, oder was auch immer. Als er den Abtritt verließ, wartete da niemand. Auch waren im frischen Schnee keine Fußspuren außer den seinen und den paar Trippelspuren der Bergfinken, die sich in der Nähe herumtrieben. Entweder es gab hier unsichtbar schwebende Wesen oder ihm hatte das Bachgemurmel einen Streich gespielt, dachte er. In der Küche prasselte ein helles Feuer; hier saßen die zahlreichen Bewohner des Hauses bei der Morgensuppe oder machten sich am Herd zu schaffen: Erwachsene, Halbwüchsige, dazwischen wuselten zwei Hände voll Kinder. Als Daful und Sorla eintraten, hob nicht einer der Männer den Kopf. Scheinbar gleichgültig blieben sie über ihre Näpfe gebeugt und schlürften die heiße Suppe von den Holzlöffeln. Die ältere Frau jedoch, die sie schon gestern Abend bedient hatte, stellte ihnen je einen gefüllten Napf auf eine noch freie Ecke des Tisches und wies auf zwei Hocker, die sie sich heranziehen sollten. Neben ihnen saßen ein paar Männer, die meisten mit dunklen, kurz geschnittenen Vollbärten. Sorla erkannte den Mann wieder, der sie gestern zum Gehöft gebracht hatte. Auch der Jüngere, Rotblonde war am Tisch. Am Tischende hockte ein Greis mit wenigen weißen Strähnen; der Suppenlöffel zitterte in seiner Hand. In der Ecke neben dem Holzstapel stand die Kiste mit dem Säugling, den Sorla gestern sah. Irgendwie kam ihm das Kind seltsam vor; mit seinen überlangen Armen und den borstigen kurzen Haaren schien es eine Missgeburt. Es herrschte ungemütliche Stimmung; zumindest kam es Sorla so vor. Gerne hätte er die Anwesenden in ihrer Sprache begrüßt, aber er verstand ja kein einziges Wort. Einmal blickte der Rotblonde herüber – wie es Sorla schien, scheel und feindselig. Daful wandte sich an den Mann neben ihm mit einer Frage, bekam aber nur ein Kopfschütteln zur Antwort. Nachdem der Mann
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gemächlich zwei, drei weitere Löffel seiner Suppe geschlürft hatte, brummte er, ohne aufzublicken, noch etwas in seinen Bart, was eher abweisend klang. „Um was geht es?“ fragte Sorla Daful. „Um unsere Weiterreise zur Hochebene, ob wir einen Führer bekommen. Er sagt, es liege zuviel Schnee.“ „Ich glaube, sie haben keine Lust, uns zu helfen.“ Daful nickte. „Nicht mal für Geld. Ich bot ihnen ein Goldstück. Das brächte hierzulande zwei Maultiere.“ Er zuckte die Schultern. „Merkwürdiges Volk.“ Sorla blickte sich um, um die Bewohner des Gehöftes genauer zu betrachten. Außer den Männern und der älteren Frau saßen am Tisch noch zwei jüngere Frauen mit einer Handvoll Kinder und Halbwüchsiger. Die Älteste davon war ein hübsches Mädchen von fünfzehn, sechzehn Jahren, das eben aufstand, um der älteren Frau beim Abräumen zur Hand zu gehen. Sie bewegte sich gewandt und selbstbewusst. Wenn ihr die dunklen Locken in die Stirne fielen, wischte sie diese mit einer unwirschen Handbewegung fort. Als sie Sorlas neugierige Blicke bemerkte, blitzte sie ihn an und zog ihm den halbvollen Napf weg. „He!“ rief er und hielt ihn fest. Sie verzog abschätzig die Mundwinkel und schob ihm den Napf wieder hin, dass er beinahe überschwappte. Das hielt ihn nicht davon ab, weiterhin ihr mit seinen Blicken zu folgen. Und als einer der Männer, vielleicht ihr Vater oder älterer Bruder, ihr einen Befehl gab und sie daraufhin ihren Umhang überwarf und die Küche verließ, fragte er Daful, wohin sie gehe. Sie gehe zur Schlucht, erfuhr er, um nach den Krebsreusen zu sehen. „Dort sind doch Trolle!“ entfuhr es Sorla. „Was sagst du?“ fragte Daful mit vollem Mund. „Trolle“, wiederholte Sorla. „Ich hörte, in der Schlucht sind Trolle.“ Daful übersetzte das den anderen Männern. Einer schaute hoch und ließ es sich wiederholen, dann verzog er verächtlich den Mund, die übrigen ließen sich erst gar nicht beim Essen stören.
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Wieder traf Sorla ein rascher, feindseliger Blick von dem jungen Rotblonden. Sorla pochte das Blut im Kopf. Er war doch nicht dumm! Hatte er sich diese Stimmen, die sich in das Rauschen des Baches unter dem Abtritt mischten, nur eingebildet? Nachdenklich, missmutig rührte er in seiner Suppe herum. Aber er fand keine Ruhe mehr. Schließlich flüsterte er Daful zu: „Frag mal, wo diese Schlucht ist!“ „Willst du dem Mädchen nach? Hübsch ist sie ja.“ Sorla fand das nicht zum Lachen. Daful zuckte die Achseln und beugte sich zu dem Mann hinüber, der das Mädchen wegen der Krebsreusen geschickt hatte. Der hörte sich die Frage unwillig an und griff wortlos nach dem Löffel, um weiter zu essen. Plötzlich ließ er ihn wieder fallen, kratzte sich im Nacken und stand auf. Der Hocker rumpelte zu Boden. Als er hinausging, eilte Sorla hinterher. Der Mann hatte bereits die Pelzjacke an, stand mit zwei Speeren in den Fäustlingen vor dem Haus und pfiff nach den Hunden. Sorla streifte seine Jacke über, die im Vorraum hing. Dann folgte er den knietiefen Spuren weg vom Gehöft über eine weite Schneefläche, an deren Ende eben der letzte buschige Hundeschwanz hinter einem Felsen verschwand. Kurz bevor Sorla diesen Felsen erreichte, hörte er jemanden sagen: „Zwei Trolle sind zuviel für diesen Mann.“ „Und die drei Hunde?“ fragte eine andere Stimme. „Trotzdem. Du siehst ja – ein ungleicher Kampf!“ Sorla schüttelte den Kopf, um die merkwürdigen Stimmen loszuwerden. Das war heute schon das zweite Mal, dass er jemanden reden hörte, obwohl ganz offenkundig niemand in der Nähe war. Und was sollte das Gerede von einem Kampf, wenn kein Kampflärm zu hören war? Kein Hundegebell, kein Geschrei, nichts war zu vernehmen außer vielleicht dem Zwitschern einiger Ammern im Gebüsch bei jenem Felsen, zu dem der Pfad führte. Ob sein Kopf gelitten hatte, und er bildete sich alles nur ein? Er überquerte den Rest der Schneefläche. Die Ammern schwirrten davon, als er den Felsen erreichte, um den der
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ausgetretene Pfad führte. Sorla verharrte und lugte um die Kante. Hier führten die Spuren steil hinab über Felsbrocken und Wurzeln; unten gischtete der Wildbach. Doch hörte Sorla keinen Laut; kein Brausen und Gurgeln des Wassers, kein Vogelgezwitscher, kein Rauschen des Windes in den Wipfeln. Ihm war unbehaglich in dieser lastenden Stille, als er vorsichtig über Felsen und Wurzeln, die von den Vorausgehenden freigelegt waren, hinabkletterte. Einmal rutschte er aus; einige Steine polterten über die Felsen hinab – völlig lautlos, wie Sorla erstaunt bemerkte, ohne sich aber weitere Gedanken zu machen. Unten führte der Pfad weiter in die Schlucht hinein. Schon nach wenigen Schritten stieß Sorla auf einen toten Hund im aufgewühlten Schnee. Ein zweiter lag in Stücke zerrissen daneben. Erschreckt blickte Sorla auf. Kaum zehn Schritte weiter schlugen zwei hässliche nackte Gestalten auf den Mann und den letzten der drei Hunde ein, mit überlangen Armen und riesigen, krallenbewehrten Fäusten. Der Mann stand rückwärts gegen die Felswand gepresst und hielt sich die Ungeheuer mit seinen Speeren vom Leibe, doch war es ganz deutlich nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn überwältigen würden. Sorla sah, wie der Mann schrie, wie der Hund bellte; aber er konnte es nicht hören. Was ist mit meinen Ohren, dachte er kurz, aber jetzt war keine Zeit, sich zu wundern. Er zog sein Wurfmesser aus dem Stiefel und schleuderte es dem nächststehenden Troll in den Rücken. Dieser sackte zusammen, das Maul aufgerissen, doch kein Laut drang hervor, nur ein Schwall Blut. Sorla rannte hinüber, um sich Schlangenzahn wieder zu holen. Der andere Troll fuhr herum, da sah der Mann die Gelegenheit, mit einem seiner Speere zuzustoßen, und traf den Troll in die Seite. Und während der Hund sich in dem Bein des Ungeheuers verbiss, rammte ihm der Mann den Speer ein zweites Mal in den Leib, so dass er, sich krümmend, zu Boden fiel. Der Mann stach noch einmal zu. In diesem Augenblick fielen die Geräusche wieder über Sorla her. Der Wildbach lärmte, der Hund knurrte, die sterbenden Trolle kreischten und gurgelten Blut.
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Der Mann stand schwer atmend auf seine Speere gelehnt, dann straffte er sich und schaute suchend umher. Wo war das Mädchen? Aus der Ferne, schluchtabwärts, hörten sie zornige Rufe. Es war die Stimme des Mädchens. Der Mann rannte los, gefolgt von seinem Hund und in einigem Abstand von Sorla, der noch Schlangenzahn an sich nehmen musste. Hinter der nächsten Biegung sahen sie in einiger Entfernung das Mädchen. Vor ihr kniete ein Troll. Er hielt ihre Hand gepackt, doch mit ihrem freien Arm schlug sie auf ihn ein, und er erwehrte sich ihrer Schläge mühsam mit seiner anderen Pranke, in der er eine große Forelle hielt, während sein hochgerecktes Glied die eigentlichen Absichten verdeutlichte. Unter jedem ihrer zornigen Schreie zuckte er hilflos zusammen. Und immer, wenn sie ihren Arm sinken ließ, mit dem sie auf ihn eindrosch, hielt er ihr die Forelle hin, als Geschenk oder versöhnliche Geste. Als der Hund den Troll ansprang, ließ dieser das Mädchen los und fegte den Hund mit seinem Arm zur Seite, dass er, groß wie er war, jaulend durch die Luft flog und irgendwo im tiefen Schnee versank, aus dem er sich in mühsamen Sprüngen zurück zum Weg kämpfte. Nun war auch der Mann heran und schleuderte einen Speer, traf aber nur die Schulter des Trolls. Dieser rannte ihm in ungefügen Sprüngen entgegen, die Arme zum Zuschlagen erhoben. Der Mann versuchte den Angriff mit seinem zweiten Speer zu parieren, doch riss ihm der Troll die Waffe aus der Hand und packte ihn am Hals, um ihn zu erwürgen. Sorla war jetzt nahe genug, um Schlangenzahn zu schleudern. Das Messer traf den Troll in die Seite; Blut quoll hellrot schäumend hervor. Der Troll sackte in die Knie, ließ aber nicht los, als wolle er sich festhalten. Da sprang das Mädchen herbei, hob den Speer auf und rammte ihm diesen tief in den Leib. Während er sich sterbend in seinem Blut wälzte, sammelte der Mann bereits seine Speere ein. Dann sah er nach den Wunden des Hundes. Sorla holte sein Wurfmesser und wischte es ab. Das
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Mädchen aber ging zum Bach, nach den Krebsreusen sehen, denn deshalb war sie ja gekommen. * Der weitere Tag verlief, als wäre nichts geschehen. Die beiden Hundeleichen blieben in der Schlucht liegen, ebenso die Kadaver der Trolle. Die Leute auf dem Gehöft gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach, während Sorla und Daful im Haus saßen, unschlüssig, was sie tun sollten. Als Sorla von dem Kampf berichtete, tat er das im stolzen Gefühl, tapfer gehandelt zuhaben. Daful aber meinte: „Du warst wohl eher leichtsinnig. Die Menschen hier scheinen es auch nicht zu würdigen, dass du dich eingemischt hast.“ Viel bemerkenswerter erschien Daful die Stille, die in der Schlucht herrschte. „Das war sicher Magie. Ich habe schon früher gehört, dass Trolle um sich herum alle Geräusche ersticken können, wenn sie Überfälle planen oder auch sonst nicht wollen, dass das Opfer um Hilfe schreit. Sehr geschickt; ich wollte, ich könnte das auch!“ Sorla nickte ohne Überzeugung, er konnte Dafuls Begeisterung nicht teilen; die Erinnerung an das lastende Schweigen, das ihn in der Schlucht umgab, war ihm noch immer unangenehm. „Und was ist mit den Stimmen, die ich hörte?“ „War das heute das erste Mal?“ „Nein, gestern morgen hörte ich auch jemand reden, aber niemand war da. Ich fürchte, mit meinem Kopf stimmt was nicht.“ Daful zuckte die Schultern. „Immerhin hast du zutreffende Hinweise erhalten. Das ist ja von Vorteil. Vielleicht finden wir später heraus, wo diese Stimmen herkommen.“. Sorla war nicht ganz beruhigt, doch er verstand, dass bloßes Herumraten nicht weiterführte. Mittags brachte die ältere Frau einen Topf Suppe mit Brot. Sie lächelte Sorla an. Immerhin, dachte dieser, das Eis scheint
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gebrochen. Den Nachmittag erforschten er und Daful die nähere Umgebung. Sie stellten fest, dass sie sich, solange der Schnee so hoch lag, ohne einen kundigen Führer nicht auf die Suche nach den Hochebenen von Batiflim machen konnten. Als sie sich abends in der Küche einfanden, um zu essen, erhoben sich alle. Der Mann, mit dem Sorla in der Schlucht war, trat vor, ergriff Sorlas Hand und sagte etwas, wobei er Daful ansah. „Er heißt Memlik“, sagte Daful, „und ist das Oberhaupt hier. Er will deinen Namen wissen, um dich zu begrüßen.“ „Sorle-a-glach“, sagte Sorla und blickte Memlik in die Augen. „Sorle-a-glach“, nickte dieser. Dann begann er zu reden. Immer wenn er eine Pause machte, übersetzte Daful das Wesentliche. Dies war Memlik wichtig, weshalb er jeweils geduldig wartete, bis Daful fertig übersetzt hatte. „Also“, begann Daful, „ich übersetze: Dieser junge Fremde hat uns beigestanden gegen die Trolle. Ohne ihn wäre ich – also Memlik – tot. Schlimmer noch, meine Tochter Hukari befände sich in der Gewalt der Trolle. Sorle-a-glach hat unsere Sippe vor Schmach und Unglück bewahrt. Er ist mutig, selbstlos und tüchtig im Kampf. Ich habe beschlossen, ihn ...“ Daful stockte. „Datasik? Was ist das? Er will dich zum Datasik machen. Keine Ahnung, was das heißt; wird wohl nichts Schlimmes sein.“ Memlik nickte: „Datasik!“ Lachend hob er Sorlas Arm, den er noch immer gepackt hielt, in die Höhe. Dann zog er mit der freien Linken sein Messer aus dem Gürtel und schnitt sich quer über den Daumenballen, dass das Blut hervorquoll und auf Sorlas Handgelenk tropfte. Während Sorla noch starrte, hatte Memlik auch in dessen Handballen geschnitten und presste seinen eigenen Handballen gegen Sorlas Wunde. „Jetzt weiß ich’s wieder“, rief Daful. „Blutsbruder! Datasik heißt Blutsbruder.“ Die anderen Männer drängten heran, um Sorla zu umarmen. „Datasik!“ riefen sie und küssten Sorla auf die Stirn.
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Selbst der Rotblonde kam und gab Sorla die Hand. Dieser war etwas überrascht, aber in dem überschwenglichen Treiben begann auch er zu lächeln und „Datasik!“ zu rufen. Das vermehrte die allgemeine Herzlichkeit; auch die Frauen kamen herbei, um ihn zu umarmen, als habe ein schmerzlich vermisstes Familienmitglied endlich heimgefunden. Die ältere Frau verband behutsam den Schnitt in Sorlas Daumenballen. Hukari, Memliks hübsche Tochter, trat mit gesenktem Blick bis dicht vor Sorla heran. Ihm pochte das Blut im Hals. Dann schaute sie ihm jedoch voll in die Augen. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Stimme leise und rauh. Was sie sagte, verstand Sorla natürlich nicht, doch zum ersten Male wünschte er sich, er beherrschte die Sprache dieses Bergvolkes. „Was hat sie gesagt, Daful?“ Dieser grinste. „Du bist jetzt ihr Bruder, sagt sie, aber sie weiß nicht, ob sie sich freut.“ Bevor Sorla sich darüber ärgern konnte, fügte Daful hinzu: „Ich denke, sie will andeuten, dass sie dich nicht zum Mann haben kann, oder du sie nicht zur Frau, wie auch immer.“ Sorla glotzte ihn an – das kam ihm jetzt alles zu schnell, überhaupt, wieso hätte sie ihn heiraten wollen? War sie vorher nicht ausgesprochen schnippisch gewesen? Und wieso sollte er mit siebzehn heiraten? Da kam Memlik zurück und legte ihm, laut redend, seinen Arm um die Schultern. Daful erklärte: „Er will dir ein Geschenk machen, um dich als neues Mitglied der Sippe willkommen zu heißen.“ Memlik winkte, und ein anderer Mann brachte einen Kurzbogen, ähnlich denen, welche die Männer unterwegs bei sich führten, jedoch besonders schön gearbeitet. In der anderen Hand hielt er einen mit Pfeilen gefüllten Köcher. „Bei Ak’men!“, entfuhr es Daful. „Einen solchen Bogen sah ich schon lange nicht mehr!“ Dann besann er sich auf seine Aufgabe und übersetzte, was Memlik gerade sagte: „Er hofft, dass seine Schuld bei dir jetzt beglichen ist. Gleichzeitig lädt er dich ein
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– und mich natürlich auch – hier so lange zu bleiben, bis du mit diesem Bogen so umgehen kannst, dass du seiner würdig bist. Denn es ist der Bogen eines berühmten Vorfahren. Ach ja, und bis du ihre Sprache so gut verstehst, wie es sich für ein Mitglied dieser Sippe gebührt.“ Leiser fügte Daful hinzu: „Das würde ein Vierteljahr dauern – mindestens – bis wir wegkommen. Ich weiß nicht, ob ...“ Er runzelte die Stirne. Jäh flog Sorla Mitleid an mit diesem Mann, der so tüchtig und klug war und zugleich so ruhelos, so einsam. Sorla nahm den Bogen entgegen und betrachtete ihn. Ihm fiel ein, wie er als Kind bereits, als er bei den Gnomen lebte, den Umgang mit Pfeil und Bogen lernte. Er schaute sich nach einem passenden Ziel um. Im hinteren Teil der Küche hingen Stücke geräucherten Bärenfleisches von der verrußten Decke. Er legte einen Pfeil auf die Sehne. Als er spannte – der Daumenballen schmerzte dabei etwas – hielt alles hörbar den Atem an. Sie meinen, dachte er, ich versuche einen der Schinken zu treffen. Dann werden sie mich höflich loben. Tatsächlich sah es für alle aus, als ziele er auf den vordersten Schinken, in Wirklichkeit aber hielt er höher, dorthin, wo das Fleischstück mit einem Stück Sehne befestigt an einem Haken hing. Der Pfeil zischte quer durch den Raum, durchschnitt die Sehne; der Schinken rumpelte auf die Bodenbretter. Sorla strahlte. Zunächst war alles ganz still, dann brach Gelächter los. Die Männer eilten herbei und schlugen Sorla auf die Schulter. Nur Memlik drohte grinsend mit dem Finger. „Was meint er?“ fragte Sorla Daful, der unbeeindruckt dabeisaß. „Also die meisten finden es toll, dass einer mit achtzehn schon so gut treffen kann ...“ „Ich werde siebzehn, im Frühjahr.“ „Du siehst älter aus, Sorla. Und Memlik sagte, tu es lieber nicht noch mal, sonst kriegst du Ärger mit seiner Frau, denn das ist ihre Küche.“ Sorla nickte. „Daful, bitte übersetze, was ich jetzt sage.“ Und als dieser nickte, fuhr Sorla, an die Anwesenden gerichtet, fort:
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„Ich danke euch für diese schöne Waffe. Ich werde mich bemühen, ihrer würdig zu werden. Ich danke auch für die Ehre, in eure Sippe aufgenommen zu werden. Gerne nehme ich die Einladung an, bei euch zu leben, bis ich genug reden und schießen gelernt habe, um euch keine Schande zu bereiten.“ „Gut gesprochen!“ erwiderte Memlik. „Auch wenn unsere Sippe ihren Namen verlor, hat sie viel Ehre zu verteidigen. Wir sind uns aber sicher, dass du uns weitere Ehre einbringst, Sorle-a-glach. Vielleicht nimmst du mal eine unserer Töchter zur Frau? Vielleicht sogar meine Hukari?“ Daful zuckte zusammen. „Ja, geht das?“ flüsterte er Sorla zu. „Ich denke, du bist ihr Bruder?“ Er wandte an Memlik und gab dessen Auskunft an Sorla weiter: „Er sagt, ein Blutsbruder unterliege nicht den Beschränkungen eines leiblichen Bruders. Da sagte ich ihm aber, wir müssten bald abreisen.“ Die ältere Frau hatte mittlerweile zusammen mit Hukari eine Kanne Wein auf den Tisch gestellt. Memlik ergriff sie beidhändig und trank ein paar große Schlucke. Dann reichte er sie an Sorla weiter. Der Wein war schwer und süß; es musste SpakjoWein sein, der seinen Weg bis hier gefunden hatte. Nun machte die Kanne auch unter den übrigen Männern die Runde, musste aus dem Fass nachgefüllt werden und kam wieder über Memlik zu Sorla. Dieser spürte schon die Wirkung der Schlucke aus der ersten Runde, hielt aber tüchtig mit. Als die Kanne zum dritten Mal bei ihm ankam, hielt er den Augenblick für gekommen, wieder eine Ansprache zu halten. Dass Daful übersetzen sollte, daran dachte er gar nicht, er stützte sich auf Memliks Schulter und redete einfach los, mitten in den allgemeinen Lärm. „Liebe Brüder und Sch-schwestern! Ihr tut mir soviel Gutes, da muss auch ich, auch ich was geben.“ Alle schauten ihn erwartungsvoll an, der Lärm ließ nach. Er kramte in seiner Tasche und brachte den kleinen Ring mit dem hellen Edelstein zum Vorschein, den er in der morschen Truhe in dem Gang nahe dem Drachen gefunden hatte. „Diesen Ring will ich meiner Schw...
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schw...“, er brach ab, um seine Zunge zu mehr Gehorsam zu zwingen, „ meiner Schwester Hukari schenken!“ „Hukari“ war das einzige Wort, das die Anwesenden verstanden. Und den Ring, den er hochhielt, den sahen sie. Mit einem Mal war es totenstill im Raum. Memlik starrte mit offenem Mund. Hukari schlug die Hände vors Gesicht. Sorla kam der Verdacht, dass er einen furchtbaren Fehler begangen hatte. * Sorla schlief sehr unruhig und fühlte sich wie zerschlagen. Nachdem er Hukari den Ring verehrt hatte – er war ihm fast aus den Händen gefallen, so betrunken war er – hatte zunächst betroffenes Schweigen geherrscht, dann aber drängten sich alle an Hukari heran; Stühle fielen um, man schrie durcheinander. In diesem Lärm und Tumult achtete niemand mehr auf Sorla, und nachdem er sich einige Zeit vergeblich bemühte, den Grund der Aufregung zu erfahren, ging er schlafen – müde und betrunken war er sowieso. Doch der Lärm aus der Küche hielt ihn noch lange wach, auch ließ ihn die unklare Vorstellung, er müsse Hukari zur Frau nehmen, weil er ihr den Ring schenkte, nicht in Ruhe. Daful konnte oder wollte ihm nicht helfen; vielleicht war er verstimmt, weil sich alles um Sorla drehte. Am nächsten Morgen stolperte Sorla müde und missmutig in die Küche, wo die anderen schon bei der Morgensuppe saßen. Daful zwinkerte ihm zu. „Da hast du was angestellt, Sorla!“ sagte er, grinste aber dabei. „Was denn?“ „Memlik wird’s dir erklären.“ Eben setzte sich der Genannte neben Sorla und legte ihm den Arm um die Schulter. Daful musste wieder übersetzen.
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„Wir danken dir für den Ring, und wir danken Atne, dass sie dich gesandt hat.“ Zur Bekräftigung schlug ihm Memlik auf die Schulter, dass sie schmerzte. „Es ist ein großes Wunder. Wir erkannten den Ring sofort wieder, denn er war schon immer in unserer Sippe, bevor er verlorenging. Wer ihn trägt, ist vor allen ausgezeichnet als ’Der mit dem Drachen spricht’. Nur dieser darf sich gefahrlos dem Drachen nähern und ihm die Belange unseres Volkes vortragen.“ „Drachen? Meint Memlik ...?“ Daful nickte: „Ja, er redet von dem Ungeheuer dort oben, das sich schlafend stellt.“ Memlik fuhr fort, von Daful übersetzt: „Es war ein schlimmer Verlust für das ganze Volk in den Bergen von Batiflim; unsere Sippe musste viele Vorwürfe einstecken. Jetzt erst tragen wir wieder zurecht den Namen der ’Drachenfreunde’. Sorla lächelte. „Das passt ja gut. Ich bin ein Drachenvetter.“ Daful verdrehte die Augen, übersetzte es aber. Nun war Sorla gezwungen, zu erzählen, wie er auf einem Drachen reiste und sich mit Drachen unterhielt –seine Schlangenhaftigkeit aber, den eigentlichen Grund, weshalb der DRACHE ihn seinen kleinen Vetter nannte, verschwieg er. Die Anwesenden waren beeindruckt. Memlik sagte, da hätte Sorla den Ring ja gleich behalten können; er sei als ’Der mit dem Drachen spricht’ wohl der geeignetste. „Ich kann aber nicht immer bei euch bleiben“, wandte Sorla ein. Memlik nickte. „Das wissen wir, wir haben es gestern nacht besprochen. Als du Hukari den Ring schenktest, hast du ihr dieses Amt zugewiesen.“ Er seufzte. „Eine große Ehre für meine Tochter, aber auch eine große Bürde. Noch nie hatte eine Frau das Amt dessen inne, der mit dem Drachen spricht.“ Er legte die Hand auf Sorla Arm. „Und vielleicht das Schlimmste ist, dass Hukari nun keinen Mann mehr finden wird.
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’Die mit dem Drachen spricht’ steht so weit über allen jungen Männern, dass niemand es wagen wird, um sie zu werben.“ * „Die großen Raupen machen schneller satt!” „Hat deine auch so viele Eier gelegt? Unser Nest ist voll!” Sorla lächelte über die Vögel, die geschäftig umherflogen, um Futter für ihre Jungen zu sammeln. Längst war ihm klar geworden, woher die Stimmen kamen, die ihn eine Zeitlang so verwirrten. Und ihm war eingefallen, was der Drachenlehrer, der Herr des Gartens, gesagt hatte: Sorlas Glygi erinnere ihn an ein Vögelchen und er wolle diesem Gnomenstein ein passendes Geschenk machen. So wurde Sorla durch seinen Glygi befähigt, die Vogellaute zu verstehen, als seien sie menschliche Worte. Schade, dass er seinerseits sich den Vögeln nicht verständlich machen konnte; sie beispielsweise bitten, irgend wohin zu fliegen, um etwas zu suchen oder vielleicht einen Brief zu überbringen. So aber hörte er nur mit an, was sich das gefiederte Volk gegenseitig zu erzählen hatte; das war meist so belanglos, dass Sorla schon gar nicht mehr darauf achtete. Der Frühling hatte nun auch dieses hochgelegene Seitental erreicht, nur die Nordhänge lagen noch tief verschneit. Sorla hatte die Zeit genutzt, die Sprache des Bergvolkes zu lernen. Dabei halfen ihm vor allem die ältere Frau, manchmal auch die hübsche Hukari. Letztere schien die Gelegenheiten aber nur zu nutzen, um Sorla auf seine Fehler hinzuweisen, wobei ihre dunklen Augen spöttisch aufblitzten. Über Dinge des Alltages sprach er fließend; schwierige Themen bewältigte er radebrechend. Hukari kam über den Hof; die Vögel schwirrten davon. „Sorle-a-glach!” „Du kannst ruhig Sorla sagen”, erinnerte dieser. „Sorle-a-glach”, wiederholte sie. „Der Schnee ist
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geschmolzen. Nun ist es Zeit, meine Aufgabe als Die mit dem Drachen spricht wahrzunehmen.“ „Und?” „Du sollst mitkommen, mir den Weg zur Drachenhöhle zeigen.” Sie brachen im Morgengrauen auf, begleitet von Burk, dem Hund, der den Kampf gegen die Trolle überlebte. Sorla hatte Bogen und Köcher, das Geschenk Memliks, geschultert. Zunächst folgten sie dem Wasserlauf bachaufwärts bis zu dem schmalen Brückensteg, an den sich Sorla noch erinnerte. Danach ging es steil über Felsen und Wurzeln durch den Bergwald hinauf. Sorla hatte Mühe, mit Hukari Schritt zu halten; sie eilte wie eine Bergziege die steilsten Hänge hoch. Ab und an blieb sie stehen, um auf Sorla zu warten. „Man merkt, du bist ein Mensch aus den Ebenen”, sagte sie abfällig. „Gib mir deinen Rucksack, sonst kommen wir überhaupt nicht mehr voran.” Zunächst zögerte Sorla, ihr auch noch sein Gepäck aufzuladen, doch es stimmte: Selbst mit zwei Rucksäcken beladen kam sie noch so schnell voran wie er ohne Gepäck. Sie folgten einem kaum erkennbaren Pfad, der sich aber bald verlor. Der Waldboden war weich und rutschig, überall rieselte und gluckste Schmelzwasser. Mittags hatten sie die Baumgrenze erreicht; sie rasteten auf einem der Felsblöcke und blickten hinunter übers Tal. Die Berghänge gegenüber lagen noch tief verschneit, hier aber reckten sich schon die ersten weißen Krokusblüten der Sonne entgegen. Ein Bächlein mit Schmelzwasser rieselte nahebei. Hukari packte Brotfladen und Räucherspeck aus. Sorla schöpfte Wasser aus dem Bächlein, als Burk knurrte. Über die Felsen sprang, schritt, hüpfte ein Männlein den Hang herab, in zottige Lumpen gekleidet, die ihm bei jedem Sprung wie Flügel um die Ohren flatterten. Schon war es auf fünf Schritte herangekommen, da blieb es stehen. Burk hatte nicht aufgehört zu knurren; den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, mit angelegten Ohren wich er bis zum nächsten Felsen zurück.
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„Einen schönen Tag wünsche ich und frohes Gelingen bei allem!” rief das Männlein. ”Doch sagt eurem Hund, er möge sich ruhig verhalten!” „Einen schönen Tag, Fremdling!” entgegnete Sorla höflich, während Hukari zu Burk ging und ihm über das gesträubte Nackenhaar strich. Dessen Knurren ging in ängstliches Winseln über. „Dummer Burk!” schalt Hukari, „Gegen Trolle bist du mutig, aber hier hast du Angst?” Der Hund leckte Hukaris Hand, starrte jedoch weiter winselnd auf das Männlein. Dieses war nun noch nähergekommen und setzte sich auf einen der herumliegenden Felsbrocken. Es hatte einen eisgrauen Bart und solch struppige Brauen, dass das Gesicht kaum noch zu sehen war. Mit den Händen wühlte es in den leeren Taschen seiner Kleider und drehte sie sogar um, dann murmelte es: „Jetzt habe ich tatsächlich nichts dabei, um euch beim Essen Gesellschaft zu leisten!” „Wir haben genug”, lud ihn Hukari ein. ”Iss mit uns!” Sie reichte ihm ein Stück Brotfladen mit Speck, dazu einen hutzeligen Apfel vom Vorjahr – das gleiche, was sie und Sorla aßen. „Was führt euch herauf in diese einsame Gegend?” fragte das Männlein mit vollem Mund. „Hier gibt es kein Weideland für eure Esel und Schweine. Wollt ihr wilde Ziegen jagen? Oder Trolle?” Hukari lächelte. „Wir suchen eine Höhle.” „Wenn ihr Unterschlupf für die Nacht braucht, wäre es besser, ihr steigt ins Tal hinab; dort gibt es Menschen und Gehöfte.” „Von da kommen wir”, entgegnete Hukari knapp. Auch Sorla fühlte sich unbehaglich. Was wollte dieser Fremde von ihnen? „Wir sollten unsere Namen austauschen”, schlug er vor. „Ich bin Sorle-a-glach. Wer bist du?” Das Männlein winkte ab. „Mein Name ist sehr lang und schwierig auszusprechen. Man kennt mich aber auch als den Grauen vom Berg.”
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„Und ich bin Hukari. Wir gehören zur Sippe der Drachenfreunde.” „Oh wirklich?” Die buschigen Brauen des Männleins zuckten. „Heißt das, ihr seid mit einem Drachen befreundet?” „Ich weiß nicht”, gab Hukari zu. „Wir haben ihn schon lange nicht mehr aufgesucht, über sechzig Jahre. Vielleicht ist er fort; vielleicht hat er uns vergessen.” „Vielleicht denkt er, ihr habt ihn vergessen?” wandte der Graue vom Berg ein. „Nein, unser Erkennungszeichen ging verloren”, sagte das Mädchen. ”Das hier.” Sie hob die Hand, der Stein des Ringes strahlte in der Sonne. „Hübscher Ring”, nickte das Männlein. ”Kann sein, ich habe ihn schon gesehen. Wie ging er euch verloren?” „Mein Großvater war damals Der mit dem Drachen spricht. Ihm war diese Aufgabe sehr wichtig. Als er älter wurde, hielt er sich kaum noch bei uns im Gehöft auf, sondern lebte irgendwo hier oben, um näher bei dem Drachen zu sein. Dort starb er; erst Sorle-aglach fand seine Leiche und brachte uns den Ring zurück.” Der Graue vom Berg nickte. Seine buschigen Brauen zuckten, so dass die Augen kurz zu sehen waren. „Der alte Kesnik, ich kannte ihn. Er trug diesen Ring in der Tasche, denn durch die Gicht waren seine Finger geschwollen.” Er betrachtete seine eigenen kräftigen Finger, die mit krallenartigen Fingernägeln bewehrt waren. Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Menschen sind erschreckend kurzlebig. Es lohnt sich nur selten, sie kennenzulernen. Und bevor sie sterben, leiden sie an allerhand Krankheiten.” Sorla und Hukari blickten ihn betroffen an, da sprang das Männlein hoch und rief: „Nun will ich weiter. Nutzt eure karg bemessene Lebenszeit!” Lachend hüpfte, schritt, sprang es von Fels zu Fels davon; seine Lumpen umflatterten es wie Flügel. Sorla schien es, als würden die Sprünge höher, je weiter sich das Männlein entfernte, dann verschwand es hinter einer Felskuppe. Burk näherte sich dem Felsblock, auf dem der Graue vom
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Berg gehockt hatte, um ihn zu beschnüffeln. Dabei sträubten sich ihm erneut die Nackenhaare. „Schau dir Burk an”, sagte Hukari. ”Er hat noch immer Angst.” „Ein merkwürdiger Gast”, nickte Sorla. „Das war kein Mensch.” „Und hast du seine Augen gesehen? Wie aus Gold!” Jetzt fiel es auch Sorla ein: kurz hatte er die Augen des Männleins gesehen – es waren die heißen, goldfarbenen Augen eines Drachen. * Sorla meinte, die Audienz bei dem Drachen hätten sie ja nun hinter sich. „Wer sonst sollte der Graue vom Berg sein?” Hukari schüttelte ihren hübschen Kopf. „Du bist nur zu faul, weiter nach der Höhle zu suchen. Auch wenn der Graue vom Berg der Drache ist, den wir suchen, gehört es sich, dass wir zu ihm gehen.” Sorla verzog die Mundwinkel, denn sie hatte ja recht. Er stapfte hinter ihr her, die Sonne schien, die Bergfinken schwatzten über den öden Geschmack vorjähriger Nadelbaumsamen. Zwei Stunden später und erheblich weiter oben, wo noch knietiefer Schnee lag, entdeckten sie die dunkle Öffnung der Höhle. Eigentlich hatte Sorla gehofft, hier Spuren des Männleins zu finden, doch der Schnee vor der Höhle lag unberührt, und in der Höhle selbst gab es keine nasse Flecken geschmolzenen Schnees. Er ging voraus, denn er kannte den Weg. Das Tageslicht, das durch den Eingang fiel, blieb bald hinter ihnen zurück. „Ich dachte, es ist bloß eine Grotte”, flüsterte Hukari. „Jetzt haben wir keine Fackeln dabei.” Da glomm hellblaues Licht vor ihnen auf; Sorlas Gnomenstein schwebte ihnen voran.
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„Wie schön!” hauchte Hukari. „Was ist das?” „Mein Glygi”, antwortete Sorla, als ob damit alles gesagt sei. Erst als Hukari ihn drängte, erklärte er, was es mit seinem kleinen Begleiter auf sich hatte. „So treu wie er ist keine Frau!” schloss er großspurig. „Wie gut, dass dich keine interessiert”, fauchte sie und sprach vorläufig kein Wort mehr mit ihm. Sorla kam sich dumm vor. Sie waren bald bei der morschen Tür angekommen. Sorla öffnete sie und schob den zerfetzten Vorhang beiseite. „Hier hat dein Großvater gehaust”, sagte er. Hukari antwortete nicht, sah sich aber um. Über die alte Decke, welche über das Bettlager gebreitet war, fuhr sie mit zärtlicher Hand. Dann gingen sie weiter. Es wurde kälter, je höher sie kamen. Ihr Atem bildete weiße Wolken im Licht des Glygi. „Was ist das?” entfuhr es Hukari. Sie deutete auf die sitzende Gestalt des toten Kesnik vor ihnen. Dann aber erkannte sie ihren Großvater und fiel neben ihm auf die Knie: „Du Armer!” Sie wollte ihn sofort bestatten. Sorla entgegnete, dass der Gang aus Fels bestand und draußen noch Schnee lag und der Boden gefroren war. „Oder willst du ihn bis hinunter ins Tal tragen? Ich fürchte, sein Leib könnte in Stücke brechen.” Hukari schleuderte ihm ein Wort entgegen, das er noch nie gehört hatte, dessen genaue Bedeutung er aber jetzt nicht erfragen wollte. „Pack ihn bei den Füßen!” zischte sie. Sie selbst hielt ihn unter den Achseln. So zerrten und schleiften sie den verdorrten Körper hinunter bis zu der Kammer des Toten, wo sie ihn aufs Bett legten. Hukari breitete die alte Decke über ihn: „Hier liegt er besser. Und jetzt gehe ich den Drachen besuchen!” Damit eilte sie los, den Gang hinauf. Burk hechelte hinterher. Sorla hatte Mühe nachzukommen. Es dauerte nicht lange, und sie sahen von ferne schwaches Tageslicht schimmern. Als sie näher kamen und in die große Höhle lugten, welche von dem großen Loch in der Decke erhellt wurde, war der Drache nicht zu sehen. Der flache Haufen Schnee, an den sich Sorla erinnerte, war
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zertrampelt. „Und jetzt?” flüsterte Hukari. Sorla zuckte die Achseln. „Vielleicht ist er unsichtbar”, entschied Hukari. ”Egal, ich singe jetzt das Lied.” „Welches Lied?” „Womit man Drachen freundlich stimmt. Das kennt doch jedes Kind!” Sie warf ihm einen Blick zu, als sei seine Unwissenheit sträflich. „Bei euch vielleicht!” „Klar bei uns. Keiner sonst kennt es, nur wir Drachenfreunde.” „Na also! Woher soll ich es dann kennen?” Hukari lächelte boshaft. „Weil du zu unserer Sippe gehörst. Hast du es vergessen, du Blutsbruder meines Vaters?” Sorla schwieg. Was war bloß mit dieser Frau los, dachte er. Ständig ärgerte sie ihn! Hukari jedoch begann mit zarter Stimme zu singen. Es war ein eingängiges Liedchen, obwohl es auf Sorla zunächst fremdartig wirkte. Die Worte schienen keinen Sinn zu ergeben, aber sie fügten sich in einen seltsamen Rhythmus. Nun hatte sie geendet, da murmelte jemand: „Das war hübsch gesungen!” Sie schauten sich um, sahen aber niemand. „Also doch unsichtbar!” flüsterte Hukari. „Es kam von dort oben!” flüsterte Sorla und deutete nach oben zur Höhlendecke, wo durch das Loch das Tageslicht fiel. Hukari nickte: „Die Stimme klang wie unser merkwürdiger Gast heute!” Und sie rief zur Höhlendecke hinauf: „Bist du das, Grauer vom Berg?” „Gewiss! Geht aus dem Weg!” Große Brocken Schnee brachen vom Rand des Loches ab und zerbarsten unten auf dem Boden. Burk zog sich winselnd in den Gang zurück. Da rutschte, flatterte, sprang etwas Riesiges herab – vor Hukari und Sorla landete der blaugraue Drache und ließ sich gemächlich nieder. Seine goldenen Augen blickten hart und heiß
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auf Hukari. „Ehrwürdiger Grauer vom Berg ... verzeih, wir wussten nicht ...”, stammelte Sorla überrascht. Der Drache aber, ohne seinen Blick von Hukari zu wenden, unterbrach ihn: „Das Mädchen soll noch einmal singen.” Hukari wiederholte mit zitternder Stimme ihr Liedchen. Der Drache hielt seine Augen noch lange, nachdem sie fertig war, geschlossen. „Ah!” sagte er schließlich. „Das habe ich vermisst! Dabei hatte Kesnik eine weit weniger angenehme Stimme.” „Soll ich noch mal singen?” bot Hukari zaghaft an. Die heißen goldenen Augen ruhten eine Zeitlang auf ihr, dann sagte der Drache: „Wir wollen es nicht übertreiben. Du magst singen, wenn du wiederkommst.” „Gewiss!” flüsterte Hukari. „Nächste Woche? Übermorgen?” „Im Sommer. Zweimal im Jahre ist fast mehr, als ich an menschlicher Gegenwart ertragen mag. Und komme nicht ohne ein Anliegen, das dir dringend scheint.” Hukari wurde rot. „Ich dachte, ich sollte mich vorstellen.” „Du hast es nun getan.” Sorla fand, dass er lange genug geschwiegen hatte. „Ehrwürdiger Grauer vom Berg!” begann er. „Deine mächtige Gestalt zu sehen, deine Weisheit zu hören, nur das trieb uns ...” „Schweig!” fauchte der Drache. „Versuche nicht, mir zu schmeicheln. Lobhudeleien beleidigen meinen Verstand.” „Verzeih!” murmelte Sorla betroffen. „Ich dachte ...” „Du dachtest, Drachen wollen geschmeichelt sein. Doch mit zu vielen Menschen sprach ich in den letzten Jahrhunderten, und ich ziehe solche vor, die meinen Rat ehrlich suchen. Das schmeichelt mir mehr.” Sorla meinte, er müsse vor Scham umsinken. Halb benommen hörte er, was der Drache weiter sprach: „Ich will dir den Fehler nachsehen, denn ich hörte, du seist für Großes bestimmt. Aber dann lerne auch, den Großen als ein Großer zu begegnen. Und nun geht; ihr braucht euch nicht zu verabschieden.”
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* Sie hatten ihre Decken nahe dem Ausgang der Höhle ausgebreitet, unweit der Stelle, wo Sorla und Daful damals übernachteten. „Drachenvetter! Ha!” spottete Hukari halblaut, während sie sich neben Sorla in ihrer Decke einrollte. Dann aber fügte sie begütigend hinzu: „Andererseits, auch von einem Drachen gemaßregelt zu werden ist eine Ehre, welche sonst kaum einem Mensch vergönnt ist.” „Normalerweise wird man gefressen”, murmelte Sorla kleinlaut. „Stimmt, Sorle-a-glach. Und seinen Rat solltest du beherzigen, denke ich.” „Dass ich ehrlich sein soll?” „Das nicht unbedingt. Ich meinte deine Demut und Bescheidenheit. Du bist kein kleiner Junge mehr, sondern ein Mann. Also sei stolz, zeig deinen Wert!” „Ich war früher sehr stolz und musste das bitter büßen.” Sorla erzählte von seinem Leben als Prinz auf Brindhal und wie er sich gegen Hon, der sein Gast war, verhielt. „Du warst nicht stolz”, wandte Hukari ein, „sondern eingebildet – aufgeblasen, weil du dich eigentlich klein fühltest. Bei uns kennt jeder Mann seinen Wert; wir brauchen keine Prinzen!” Sorla überdachte das schweigend, bis er einschlief. Das dauerte recht lange, denn auch der Umstand, dass dicht neben ihm Hukari lag und atmete, nahm ihm die Ruhe. Am folgenden Morgen ging ihm das Gespräch noch immer durch den Kopf, während er hinter Hukari den Hang hinab kletterte. Plötzlich blieb Hukari stehen, auf einem Fels vor ihr hockte ein riesiges Wesen, fett, nackt und graugrün, die massigen Brüste beulten sich neben den angezogenen Knien – ein Trollweib. „Einen guten Tag, Muhme!” sagte Hukari höflich. Sorla
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glaubte nicht richtig zu hören. „Tag, mein Kindchen!” grinste das Wesen mit seinem riesigen Maul, über das eine unförmige Nase hing. „Haben meine Jungs dich besucht?” „Sie sind tot, Muhme.” Das Gesicht des Trollweibs zog sich in einer schmerzlichen Fratze zusammen. „Hab ich ihnen gleich gesagt: Geht nicht ins Tal, hab ich gesagt. Sie waren noch so klein.” Sie schneuzte sich mit ihrer Riesenfaust und wischte sich anschließend über die Augen. „Na, manchmal klappt’s ja. Wie geht‘s eurem Trollbalg?” „Danke, gut, Muhme. Es liegt in einer Kiste am Herd und wächst jeden Tag.” „Und wie sieht es aus?” „Mehr Mensch als Troll. Meine Schwester nennt es den Rübenkönig, wegen seiner großen Nase.” „Rübenkönig!” wiederholte das Trollweib. „Ein schöner Name. Und ist es wirklich nur die Nase? Er soll mich mal besuchen kommen.” Hukari nickte. „Ach, Muhme, bevor ich es vergesse: Ich bin jetzt Die mit dem Drachen spricht. Da sollen deine Jungs mich in Zukunft in Ruhe lassen, wenn ich hier vorbei komme.” „Wirklich, Kindchen? Das wird sie nicht beeindrucken.” „Dann kriegen sie aber gewaltig Ärger, Muhme! „Ich halt‘ mich da raus, Kindchen. Guck mal, hier sind schon welche!” Hinter den Felsen waren zwei Trolle hervorgetreten, größer und breiter als Sorla, einer ungeschlachter als der andere. Der vordere streckte die Pranken nach Hukari aus. Im selben Augenblick war Sorla auf den nächsten Felsblock geklettert, außer Reichweite der Trolle. „Halt!” rief er. Der Pfeil auf seinem gespannten Bogen zielte auf den vorderen Troll. Der glotzte zu Sorla hoch, lachte und packte Hukaris Haare. Da fuhr ihm Sorlas Pfeil in den Oberarm. Der Troll fuhr zurück und brüllte vor Schmerz. Hukari kletterte rasch zu Sorla hoch.
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„Schlecht gezielt, was?” höhnte das Trollweib. „Der nächste Pfeil tötet. Oder wir reden vernünftig”, entgegnete Sorla. Drohend zielte er auf den anderen Troll, der zu ihm hinauf klettern wollte. „Hör‘ auf ihn, Muhme”, rief Hukari. „Er ist ein Meisterschütze.” Das Trollweib rief ihrem Sohn etwas zu, was Sorla nicht verstand. Dieser aber schien nicht zu tun, wie sie wollte, da haute sie ihm ihre Faust an den Kopf, dass er seitlich weg purzelte, groß wie er war. Sie brüllte nun ihre Söhne an und fuchtelte mit ihren breiten Armen herum, bis beide flach auf dem Boden lagen und zu ihr hoch glotzten. Der mit dem Pfeil im Arm hatte vor Schreck sogar aufgehört zu schreien. „So!” sagte das Trollweib und hockte sich wieder hin. „Nun rede, du Meisterschütze!” „Erstens”, begann Sorla, „will ich mit Hukari unbelästigt ins Tal zurück. Ich könnte deine Söhne töten, aber ich tu’s nicht gerne, weil Hukari dich Muhme nennt.” Er holte Atem. „Zweitens sollte sich ein Weg finden lassen, daß Trolle und Menschen in dieser Gegend zusammen leben, ohne einander umzubringen. Denn seit ich hörte, wie du mit Hukari sprachst, hat sich meine Meinung über Trolle geändert.” Das Trollweib lachte. „Du bist hier fremd und ein Träumer dazu. Trolljungs wollen Menschenfrauen schwängern, und das gefällt den Menschenjungs nicht. So einfach ist das. Außerdem wird ein Troll erst mit vierzig Jahren vernünftig, oder noch später. Vorher ist mit unsereins nicht zu reden.” „Dann gehen wir jetzt”, beschloß Sorla und sprang vom Felsen. Die beiden Trolle zuckten, blieben aber liegen, selbst als Sorla sich seinen Pfeil wiederholte, der herausgerissen herumlag. „Also bis ein andermal, Muhme!” verabschiedete sich Hukari und folgte Sorla. Nachdem sie ein gutes Stück Wegs bergab gerannt waren, blieb Hukari stehen, um auf Sorla zu warten. Als sie dann langsamer weiter gingen, sagte Hukari wie beiläufig: „Nun stelle schon deine Frage.”
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„Wieso nennst du ein Trollweib Muhme?” „Weil wir verwandt sind. Wir hier oben haben Trollblut in unseren Adern. Und umgekehrt, es ist manchmal kaum zu sagen, ob jemand eher Mensch oder Troll ist. Aber das mußt du nicht weitererzählen, es geht keinen außerhalb der Sippe was an. Schlimm genug, was über uns und die Ziegen gemunkelt wird, obwohl das nun wirklich gelogen ist.” Hukaris dunkle Augen funkelten, doch Sorla konnte nicht entscheiden, ob aus Wut oder Belustigung. „Und du ...?” Hukari lachte. „Ich bin ein echtes Menschenmädchen; vielleicht ein, zwei Spritzer Trollblut, mehr nicht.” „Du bist ja auch sehr hübsch.” „Oh danke, Sorle-a-glach. Aber du wärst überrascht, wie hübsch manche Trollmädchen sind. Man merkt es dann nur an den spitzen Ohren. Und daß sie ein bißchen haariger sind, natürlich.” „Die Ohren?” „Nein, die ganzen Mädchen natürlich!” lachte Hukari. „Aber die Ohren sind das beste Zeichen.” „Genau wie bei uns!” entfuhr es Sorla. „Wie meinst du?” „Meine Mutter ist eine Sidh. Das sind Menschen mit viel Elfenblut; man sieht es ein bißchen an den Ohren. Die sind bei Elfen ja auch ganz spitz, weißt du.” „Ich habe davon gehört; doch hierzulande haben wir eben Trolle.” „Mir ist aufgefallen,” sagte er, „dass die Trolle bei euch viel menschlicher sind. Ich habe schon andere Trolle gesehen, die waren wirklich schlimm.” „Du meinst die Felsentrolle oder die echten Bergtrolle. Es stimmt, unsere Trolle von Batiflim sind da schon recht zahm, Ûrgqâschps sei Dank. Wenigstens die meisten.” „Wer ist Ur, Ur ...?“ Sorla versuchte vergeblich den Namen Ûr-gqâschps auszusprechen. „Eine Trollgottheit. Verantwortlich dafür, daß es genug
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Trolle auf der Welt gibt, daß Quetschwunden bei Steinschlag sofort heilen, aber nur bei Trollen, daß das männliche Glied unermüdlich steht, aber nur bei Trollen, daß ausgestoßene Augen und Zähne wieder nachwachsen, aber nur bei Trollen, daß man im kalten Wind so wenig friert wie im wärmenden Furz der eigenen Mutter, ...” „Aber nur bei Trollen!” ergänzte Sorla. Hukari lachte und nahm ihn bei der Hand. Sorlas Herz klopfte, während er sich bemühte, mit ihr Schritt zu halten, und sich gleichzeitig überlegte, ob sie wohl Haare auf dem Rücken hatte, oder an anderen Stellen, wo man sie bei Frauen nicht erwartet. Gleichzeitig übte er, den Namen Ûr-gqâschps auszusprechen. Das war schwierig, denn es galt, gleichzeitig mit dem Kehlkopf ein Geräusch zu machen, als müsse man brechen. Ein paar Male wurde es Sorla bei seinen Versuchen fast wirklich schlecht, was Hukaris Gelächter hervorrief. Plötzlich rumpelten und polterten Felsbrocken vor ihnen den Hang herab; Hukari hatte Sorla jedoch schon an der Hand unter einen überhängenden Felsen gezogen. „Wusste ich es doch”, murmelte sie, „dass sie das witzig finden!” „Wer? Die Jungs deiner Muhme da oben?” Sie nickte grimmig, und da der Steinschlag vorüber war, gingen sie weiter und erreichten bald die schützende Baumgrenze. * Auf der Bank vor dem Haupthaus saß in der Nachmittagssonne Daful. Als sie näher kamen, stand er auf. „Morgen geht es los!” rief er Sorla entgegen. „Was? Wohin?” „Bei Ak’men! Auf die Hochebene natürlich! Hast du vergessen, weshalb wir hier sind?” „Aber wir haben doch keinen Führer, sagtest du!”
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„ Perkan wird uns führen!“ Daful wies auf den jungen Mann mit dem rotblonden Bart, der in der Nähe ein Maultier striegelte und jetzt verkniffen zu Sorla und Hukari herüber sah. „Seit du hier so wohlgelitten bist, hat sich Memlik auch mir gegenüber hilfsbereiter erwiesen. Und nun, da die Pässe frei sind, die wir überqueren müssen ...“ Daful lächelte so unbefangen, wie Sorla es bei diesem Mann schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sorla ging schweigend ins Haus. Dort begrüßte ihn Memlik mit einer Umarmung und bestätigte, was Daful gesagt hatte. „Wir werden dich vermissen, Sorla! Aber einmal kehrst du wieder, das fühle ich!“ Bei der Abendsuppe berichtete Hukari ausführlich von ihrem Besuch beim Grauen vom Berg. Den Zwischenfall mit den Jungs der Trollmuhme erwähnte sie jedoch nur knapp. Wenn die Zuhörer jubelten, riefen oder etwas fragten, plärrte Rübenkönig in seiner Holzkiste mit und schwenkte die langen Arme. Sorla fiel auf, daß Hukari nie zu ihm herüber sah. Ihre Augen waren gerötet, als seien sie überanstrengt oder als habe sie geweint. Als er jedoch nach dem Essen die Küche verließ, hielt sie ihn fest und sagte unfreundlich: „Morgen also gehst du weg?“ Sorla nickte. „Ich hab‘ dir noch was zu sagen, Sorle-a-glach. Komm mit!“ Sie wandte sich brüsk um und verließ die Küche. Draußen sagte sie: „Zeig‘ mir deine Geldmünzen!“ Und als Sorla verdutzt eine Handvoll Münzen aus dem Hosensack holte, fischte sie sich eine Silbermünze heraus. „Dieser Kurno ist für Marushu.“ „Für was?“ fragte Sorla, doch sie zog ihn hinter sich her die kleine Holztreppe hoch zum Dachgeschoss, wo die Schlafgemächer waren. Hukari öffnete die Tür des Zimmers, wo sie mit ihren beiden Schwestern wohnte. Kaum war auch er eingetreten, wobei er sich unter dem Querbalken bücken musste, schob sie den Riegel vor und begann sich auszuziehen. „Und deine Schwestern?“ fragte er blöde. „Die eine stillt Rübenkönig, die andere hilft abspülen, und heute Nacht schlafen beide bei unserer Mutter.“
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Damit war alles gesagt. Sie saß auf den Fellen ihres Bettes und beobachtete, wie er sich auszog. Im Mondlicht, das durch die kleine Luke fiel, sah er, daß sie weder auf dem Rücken Haare hatte noch sonstwo, wo man es bei Frauen nicht erwartet. Sie war noch schöner, als er es sich vorgestellt hatte. Ständig musste er sich wegen der Dachbalken bücken, einmal stieß er sich dennoch den Kopf an. Dann zog sie ihn an der Hand zu sich her.
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Elftes Kapitel:
IM HAUS DER IFARBIRRE Zunächst mussten sie das Hochtal verlassen, in welchem Memliks Sippe abgeschieden lebte. Sie ritten auf Maultieren, deren Satteltaschen mit Decken und Proviant beladen waren sowie, wie es Perkan ausdrückte, den notwendigen Geschenken. Zwei Tage lang folgten sie schmalen Pfaden abwärts, bis sie in ein breiteres Tal kamen, in welchem ein Fluss in der Sonne glitzerte. „Dies ist der Fluss Bato“, erklärte Perkan, „von dem das ganze Batiflim den Namen hat. Hier ist er noch schmal. Aber aus allen Seitentälern kommt Wasser dazu. Wenn er Batiflim verlässt, ist er ein mächtiger Fluss.“ Daful nickte. „Er ist einer der wichtigsten Flüsse des Kaiserreiches; nicht nur für die Binnenschifffahrt, sondern vor allem des Wassers wegen. Die hernostischen Provinzen wie Batiflim oder Kratos decken ja ihren Wasserbedarf selbst, jedoch das eigentliche Hernoste ist weitgehend auf den Bato angewiesen.“ Sorla blickte überrascht zu Daful hinüber. So belehrend hatte er ihn noch nie reden gehört. Doch dieser fuhr unbeirrt fort: „Natürlich gibt es Regenzisternen, Brunnen und noch ein paar weitere Flüsse, doch für die Bewässerung unserer Felder reicht das bei weitem nicht. Und dann erst die Hauptstadt! Ohne den Bato wären neun Zehntel dort ohne Wasserversorgung.“ „Du redest, als wärest du für die Bewässerung des Kaiserreiches persönlich verantwortlich“, sagte Perkan und spuckte aus, wie immer, wenn er die Wörter Hernoste oder Kaiserreich in den Mund nahm. „Verzeih“, erwiderte Daful freundlich, aber seine dunklen Augen blitzten, „solches Wissen musste ich mir in meiner Jugend einprägen. Die Lehrer dachten, es sei für meinen Lebensweg erforderlich.“ Schweigsam ritten sie weiter. Sorla fiel ein, dass Daful
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schon mehrfach über Wasser in Verbindung mit dem Kaiserreich gesprochen hatte – in Kriteis, als sie in der Brunnenanlage des früheren Kaisers Tul-uglur waren, dann als er über die Bedeutung der Wasserverteilung und die damit verbundene Macht sprach. Diese Themen schienen ihm wichtiger, als man es bei einem Abenteurer, wie es Daful ja offensichtlich war, erwarten konnte. Sie ritten flussaufwärts bis zu einer Furt, wo sie den Fluss überquerten. Der Frühling war hier weit fortgeschritten; die Erlen und Birken standen in frischem Grün. Es gab auch Haselsträucher, ja sogar vereinzelte Maronenbäume. Hier mussten auch Buchen gedeihen, dachte Sorla, und unter dem Vorwand, sich entleeren zu müssen, suchte er eine sonnige, windgeschützte Stelle und versenkte dort eine seiner Bucheckern. „Heute nacht werden wir Murnaks Gast sein“, kündigte Perkan an. „Wer ist Murnak?“ fragte Sorla. „Der Anführer einer befreundeten Sippe. Ihr dürft euch nicht erschrecken lassen, auch wenn sie euch angreifen. Sonst denken sie, wir führen Böses im Schilde, und versuchen uns zu töten.“ „Das ist es, was ich an diesem Volk so liebe“, seufzte Daful. Perkan sah ihn verkniffen an. „Und wenn wir auf Murnaks Gastfreundschaft verzichten?“ wandte Sorla ein. Perkan schüttelte den Kopf. „Wir kämen hier nicht unbemerkt vorbei. Das ist auch gut so, denn damit schützt Murnak sämtliche Sippen oberhalb seines Bereichs vor den Eindringlingen aus Hernoste.“ Er spuckte aus. Das Tal verengte sich hier zu einer Klamm; sie folgten dem Geröllstreifen, der zwischen Flussufer und steiler Felswand entlang führte. Wegen der groben und zum Teil kantigen Steine stiegen sie ab und zogen die Maultiere an den Zügeln hinter sich her. Diese Stelle ist für Wegelagerer wie geschaffen, fuhr es Sorla durch den Kopf. Da zischte ein Pfeil an seinem Gesicht vorbei und blieb im Stamm eines Holunderstrauches stecken.
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Perkan zog den Pfeil heraus, um ihn zu begutachten. Dann rief er: „Ist das dein Pfeil, Asnuk?“ Aus dem Gebüsch oberhalb der Felswand weiter vorne ertönte die Antwort: „Ho, bist du das, Perkan? Wen hast du bei dir?“ „Der Junge ist Memliks Blutsbruder. Der andere ...“ Perkan drehte sich zu Daful um und hob warnend die Brauen, „... der andere ist sein Begleiter.“ „Und was sucht ihr in unserem Tal?“ „Wir bringen Murnak Nachrichten. Morgen reiten wir weiter.“ „Wartet hier!“ Perkan hockte sich auf einen der größeren Felsen; er schien mit einer längeren Wartezeit zu rechnen. Sorla und Daful taten es ihm nach kurzem Zögern nach. Als Daful etwas sagen wollte, schüttelte Perkan warnend den Kopf und presste die Lippen zusammen. Er wies mit einem raschen Blick aus den Augenwinkeln auf eine Felsspalte in der Nähe. Sorla verstand: sie wurden belauscht. Auch Daful schien begriffen zu haben, denn er setzte sich gleichmütig zurecht und gähnte. Die Maultiere standen herum, schlugen mit den Schweifen nach den Fliegen und bewegten nervös die langen Ohren. Es dauerte fast eine Stunde, da hörten sie wieder Asnuks Stimme: „Hörst du, Perkan? Ihr könnt weiter.“ „Bis heute Abend, Asnuk!“ entgegnete Perkan. „Lasst uns was Braten übrig!“ Von oben erscholl das Lachen einiger Männer, dann war es still. Perkan stieg auf sein Maultier, Sorla und Daful folgten ihm schweigend. Die Klamm öffnete sich weiter vorne zu einem Kessel lotrechter Felswände, dessen Boden von einem See ausgefüllt war. In diesen See rauschte ein mächtiger Wasserfall. Wie sollten sie hier weiterkommen? „Der Bato!“ erläuterte Perkan. „Hier ist er jung und macht Sprünge!“ Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Dann wandte er sein Tier den Gebüschen nahe der Felswand zu, wo er abstieg und, das
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Maultier am Zügel nachziehend, sich durch die Büsche zwängte. Sorla und Daful machten es ihm nach und erreichten einen verborgenen Pfad, der hier steil an der Felswand entlang nach oben führte. Als sie die Hälfte erreicht hatten, fiel Sorla eine Bewegung auf: In einer Nische der Felswand gegenüber standen ein paar Männer, ihre Bögen und Armbrüste gesenkt, und winkten ihnen zu. „Die hätten uns hier mühelos abschießen können“, murmelte Daful. „Murnaks Leute könnten eine ganze Armee erledigen“, erläuterte Perkan, „lange bevor es der erste bis hier oben schafft. Und das beste ist, sie sind so gut getarnt, dass die Eindringlinge nicht mal wissen, wogegen sie sich wehren sollen.“ Er lächelte schon wieder; die Gegend schien seine Laune zu heben. Schließlich kamen sie oben an, es war schon Abend. Vor ihnen schlängelte sich ein freundliches Tal zwischen bewaldeten Berghängen. Der Bato floss ruhig in seinem breiten, flachen Bett. Nahe dem Fluss, inmitten von Feldern und Weiden, sahen sie auf einem Hügel ein befestigtes Anwesen. Dorthin lenkten sie ihre Tiere. „Noch etwas“, sagte Perkan, „ein paar Leute dort haben spitze Ohren. Das ist eine Eigentümlichkeit dieser Gegend, aber sprecht sie nicht darauf an.“ „Oder wir kriegen Schwierigkeiten“, murmelte Sorla. „Bei Ûr-gqâschps!“ Perkan sah ihn überrascht an. „Du weißt ...?“ Sorla grinste. * In der Halle des Haupthauses waren drei, vier Dutzend Männer, Frauen und Kinder versammelt. Über dem offenen Feuer in der Mitte drehten sich Bratspieße mit Zicklein. Der Rauch zog nach oben ab, und durch die offenen Fenster und Türen wehte frische
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Luft herein. Dennoch war es sehr heiß, die meisten hockten halb oder fast ganz entblößt auf den Fellen, die auf dem Boden ausgebreitet waren. Tatsächlich hatte ein gutes Viertel der Anwesenden spitze Ohren, bei manchen fielen auch überlange Arme mit massigen Muskeln auf oder ein besonders breiter Mund, über den womöglich eine große Nase hing, oder es gab andere ungewöhnliche Körpermerkmale. Andererseits schienen Sorla einige der Frauen, besonders die jüngeren, ausgesprochen hübsch, ungeachtet ihrer spitzen Ohren und manchmal sehr behaarten Brüste. Murnak saß im Kreis einiger älterer Männer und sah den Ankömmlingen entgegen. Er war massig gebaut und mindestens einen Kopf größer als sonst jemand in der Halle. Als er durch den Rauch Perkan erkannte, stand er auf, um ihn zu umarmen. „Ho, Perkan! Was gibt es Neues in Memliks Tal?“ Perkan lächelte. „Vor allem haben wir unseren Drachenring wieder. Hukari ist jetzt Die mit dem Drachen spricht.“ „Eine gute Nachricht“, nickte Murnak. „Den Ring brachten uns diese beiden hier: Sorle-a-glach, ein Blutsbruder Memliks, und sein Begleiter Daful.“ Murnak sah Sorla prüfend an. „Blutsbruder, eh?“ Sorla nickte, und Perkan erklärte: „Er half Memlik, seine Tochter bei einem Überfall zu beschützen. Dabei rettete er Memliks Leben. Er war selbstlos und tapfer.“ „Was für ein Überfall war das, Sorle-a-glach?“ „Drei Trolle, die wohl Hukari schwängern wollten.“ Ein paar der Anwesenden lachten. Aber Murnak sagte: „Diese Trolle sind ja eine schlimme Plage!“ Als Sorla schwieg, fügte er lauernd hinzu: „Denkst du auch so, Sorle-a-glach?“ „Je nachdem, Murnak.“ „Was heißt das?“ „Ich wurde von einem Flusstrollweib aufgezogen. Sie war für mich eine gute Mutter. Und ich lernte Hukaris Muhme kennen, eine kluge Trollin, die ihre Söhne gut im Griff hat.“ „Also liebst du Trolle, Sorle-a-glach?“ Jetzt lachten einige
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der jungen Frauen mit den behaarten Brüsten. Sorla grinste. „Die Frauen vielleicht. Murnak, ich habe auch Trolle erlebt, die mich fressen wollten. Da war ein Bergtroll, und dann traf ich noch zwei Hurgloks tief in den Weißen Bergen. Kurz gesagt, mit Trollen ist es wie mit Menschen. Es gibt solche und solche.“ Aufatmend fügte er hinzu: „Bei Ûr-gqâschps!“ Zwei Atemzüge schwiegen alle überrascht, dann brach Lachen und beifälliges Gemurmel los. Murnak schlug Sorla auf die Schulter und wies ihm einen Platz neben sich an. Als auch Daful sich setzen wollte, hielt Murnak ihn fest: „Du bist also Sorle-aglachs Begleiter?“ Daful nickte. „Das ist seltsam“, meinte Murnak, „denn du bist viel älter.“ „Ich begleite ihn zu den Hochebenen von Batiflim. Dort suchen wir einen Schatz.“ Das schien Murnak einzuleuchten. „Jeder sucht sein Glück woanders. Für heute seid meine Gäste!“ Es wurde ein langer und fröhlicher Abend, auch wenn manche Späße für Sorlas Geschmack sehr ungewöhnlich waren – so derb wie manches, das Sorla bei den Zwergen in den Grauen Bergen erlebte. Doch während dort sich alles ums Trinken und Kämpfen drehte, ging es hier eher ums drall Körperliche oder war so grotesk, dass Sorla oft nicht verstand, was es da jetzt zum Lachen gab. Zwei schlugen ihre Köpfe gegen einander und sangen dabei im Takt, bis einer ohnmächtig wurde. Der andere gewann dadurch das Recht, ein Loblied auf sich selbst zu singen. Er tat das aus dem Stegreif, schien aber schon Übung zu haben. Schön klang es nicht, das war aber auch nicht verlangt. Zwei Frauen warfen sich gegenseitig ihre Kleinkinder zu. Einmal prallten die Kleinen in der Luft zusammen und fielen zu Boden, aber das tat dem Spiel keinen Abbruch. Sie sangen dann jede ein Loblied auf sich selbst, jeweils abwechselnd eine Strophe. Ein älterer Mann prahlte damit, dass seine Nase länger und klobiger sei als sein Glied, und bewies es. Er wollte gerade ein
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Loblied auf sich singen, da nahmen sich ein paar Frauen der Sache an und bewiesen ihm das Gegenteil. Zur Strafe musste er die Luft anhalten, während andere in weitem Kreis um ihn herum standen, bis er umfiel. Derjenige, auf den nun sein Kopf zeigte, hatte gewonnen und durfte ein Loblied auf sich singen. Drei Frauen wetteiferten, wer am schrillsten singen konnte. Sie sangen alle so schrill, dass es Sorla im Kopf schmerzte. Auch bemühten sie sich sehr, und der Wettkampf dauerte ziemlich lange, wobei alle im Raum sie anfeuerten. Die Gewinnerin durfte schließlich ein Loblied auf sich singen. Dann gab es ein Spiel, bei dem man nicht lachen durfte, aber jeder lachte wie irre. Auf einmal schauten alle Sorla an. „Sorlea-glach!“ rief Murnak. „Du hast gewonnen. Nun singe!“ „Wobei habe ich gewonnen?“ fragte Sorla verdutzt. „Du hast am wenigsten gelacht. Selbst dein Begleiter, Daful, hat mehr gelacht.“ Daful zwinkerte ihm zu und flüsterte: „Ich wollte vermeiden, ein Loblied auf mich singen zu müssen. Nur Mut!“ Sorla stellte sich also hin und hob die Arme, wie er es bei den anderen gesehen hatte. Allerdings war er schon stark angetrunken und musste sich immer wieder an einem der Stützbalken festhalten. „Seht mich an und hört mir zu, denn ich bin Sorle-a-glach“, begann er. „Ho, ho!“ riefen einige aufmunternd. „Ich hab schon mehr von der Welt gesehen als sonst jemand hier! „Ho, ho! Das sollen andere glauben!“ „Ich war bei den Toten und brachte meinen Freund zurück!“ „Ho, ho?“ „Ich hab mit Drachen geredet und einer Dryade geschlafen!“ „Ho, ho, ho!“ Großer Beifall. „Ich bin Mensch und Pferd und Schlange zugleich!“
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Alle sahen ihn verdutzt an. „Ich habe Freunde bei Elfen und Gnomen, bei Menschen und Zwergen!“ „Urgh!“ riefen einige abfällig bei dem letzten Wort. Zwerge schienen hier nicht beliebt zu sein. „Vielleicht auch bald bei den Trollen!“ „Ho, ho, ho!“ Die Stimmung war wieder gut. „Meine Mutter ist eine Fürstin in einem fremden Land, und wenn ich meinen Vater finde, bin ich der glücklichste aller Menschen.“ Damit setzte sich Sorla. Alle klatschten. Perkan rief stolz: „Er gehört zu meiner Sippe!“ „Ein gutes Lied!“ rief Murnak, und leiser fügte er hinzu: „Und ich glaube sogar, das meiste stimmt.“ Er sah Sorla nachdenklich an. Schließlich gingen alle schlafen, manche gleich an Ort und Stelle, die anderen verließen die Halle. Perkan zeigte Sorla und Daful ihre Schlafstellen: „Schlaft wohl und unbesorgt!“ Dann wurde er selbst von einem hübschen Mädchen mit nur ganz wenig Haaren auf der Brust weggeführt, das schon den ganzen Abend dicht neben ihm saß. * Sorla war zu aufgewühlt, um gleich einschlafen zu können. Er drehte sich unruhig hin und her, da hörte er Daful seinen Namen flüstern. „Ja, Daful?“ antwortete er ebenso leise. „Mir gehen noch ein paar Sachen aus deinem Lied durch den Kopf, Sorla. Wie hast du das mit der Schlange gemeint?“ „Ich wurde mal von einer Schlange zu ihrem Kind erklärt. Eine riesige Schlange war das. Und seither bin ich gewissermaßen unter ihrem Schutz: In manchen Träumen besuche ich sie, dann gibt
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sie mir Ratschläge oder stellt mir seltsame Aufgaben ...“ Sorla lachte verlegen. „Was für Aufgaben zum Beispiel?“ „Kürzlich träumte ich, dass sie mir auftrug, herauszufinden, ob Drachen und Schlangen verwandt seien.“ „Merkwürdig. Wie hat sie das genau ausgedrückt? Weißt du noch?“ „Du erinnerst dich, wie der Drachenlehrer in seinem schönen Garten mich Drachenvetter nannte, obwohl ich zugleich das Schlangenkind bin? Deshalb fragte ich sie, ob Drachen die Vettern von Schlangen sind. Denn Drachen sind Wesen des Feuers, und Schlangen solche des Wassers.“ „Richtig, mein Junge. Und die Antwort?“ „Sie stellte die Gegenfrage, ob das Wasser das Feuer brauche. Und ich soll es herausfinden.“ „Nun, ich wüsste eine Lösung“, murmelte Daful nachdenklich. „Nämlich?“ „Das heilige Tier des Hernostischen Kaiserreiches ist die Schlange. Von den Schlangenkaisern habe ich dir schon erzählt, oder?“ „M-hm, und der letzte ist schon lange tot.“ „Richtig.“ Daful schwieg kurz, sprach dann aber weiter: „Das heilige Tier Batiflims jedoch ist der Drache. Deshalb ist auch die Sippe der Drachenfreunde so wichtig. Und ich denke, so verschieden Batiflim und Hernoste auch sind, sie brauchen einander. Vor allem braucht Hernoste Batiflim.“ „Du meinst wegen dem Fluss Bato und seinem Wasser?“ „Auch aus ganz anderen Gründen. Die will ich aber jetzt nicht alle aufzählen. Die jetzigen Machthaber haben sie sowieso vergessen.“ „Hast du das alles als Kind gelernt?“ „Ja. Meine Lehrer nahmen ihre Aufgabe sehr genau.“ „Du musst reiche Eltern gehabt haben – mit all den Lehrern und so.“
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„Meine Eltern starben früh.“ „Tut mir leid, Daful.“ „Eine Tante hat sich um mich gekümmert.“ Wie traurig für Daful, dachte Sorla. Er bemühte sich, das Thema zu wechseln. „In Brindhal hatte ich auch einen Lehrer. Er wollte mir beibringen, was man als Fürst später so braucht. Er hieß Hasmasu.“ „Hasmasu aus Tuneg-la?“ „Ja. Kennst du ihn?“ Daful zögerte. „Er ist sehr berühmt. Ein guter Lehrer.“ Sorla war sich nicht so sicher. Er hatte sich damals sehr gelangweilt. Einige Zeit hing er seinen Erinnerungen nach, dann fiel ihm etwas anderes ein: „Daful?“ „Hm?“ kam es halb verschlafen zurück. „Jetzt muss ich dich auch was fragen, aber es ist mir ein bisschen peinlich.“ „Keine Sorge. Nur zu.“ „Ich habe ja keinen Vater, den ich fragen könnte.“ „Schon klar, mein Junge.“ „Du kennst doch diese hernostischen Silbermünzen mit dem Mond drauf?“ „Du meinst den Kurno.“ „Ja. Wenn ein Mädchen, bevor sie mit einem schläft, so einen Kurno haben will – was hat das zu bedeuten?“ „Nun ...“, Daful räusperte sich. „Der Kurno ist im Hernostischen Kaiserreich der Mindestlohn für eine Dirne. So ähnlich wie in Ailat der Dremke, jener Silberring.“ „Ach so“, flüsterte Sorla unglücklich. „Es gibt aber“, fuhr Daful fort, „noch eine zweite Erklärung. Viele Frauen, besonders auf dem Lande, verehren die Mondgöttin Marushu. Sie ist zugleich die Göttin der Liebe. Der Kurno ist gewissermaßen ein Zeichen dieser Göttin. Wenn eine Frau einer Beziehung Dauer verleihen will, dann erfleht sie den Segen Marushus. Dazu braucht sie ein Zeichen, eben den Kurno, den ihr der Mann gegeben haben muss. Das ist so ein Brauch.“
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Sorla schwieg erleichtert und beunruhigt zugleich. Falls Dafuls zweite Erklärung zutraf – wollte er wirklich eine dauerhafte Beziehung mit Hukari? Er war ja nicht mal gefragt worden! Daful flüsterte: „Reicht dir die Erklärung?“ „Ja, danke.“ „Wenn du mal wieder so eine Frage hast, mein Junge, beantworte ich sie gerne.“ Sorla durchflutete ein warmes Gefühl. Unversehens war er eingeschlafen. * Zum Abschied gab ihnen Murnak einen Sack Rüben für ihre Maultiere: „Auf den Hochebenen brauchen die das. Dort gibt es bloß Steine.“ Perkan dankte. „Auch wir haben Geschenke dabei. Gestern Abend war nicht die Zeit dafür.“ Aus der Satteltasche holte er zwei Flaschen: „Das ist noch von letztem Jahr, als wir das Kraftwasser brauten.“ Murnak grinste. „Euer Kraftwasser ist berüchtigt. Wir danken.“ Dann ritten sie weiter und ließen bald die Felder und Weiden von Murnaks Siedlung hinter sich. Schon zeigte sich die Sonne über den Bergen und begann das Tal zu erwärmen. Wieder fand Sorla Gelegenheit, an einer windgeschützten Stelle eine Buchecker in den Boden zu stecken. Er hatte nur noch wenige übrig und war stolz auf sich, Ysaldes Wunsch so sorglich zu erfüllen. Ungefähr zur Mittagszeit öffnete sich rechter Hand ein schmales Seitental. Perkan zog aus dem Gepäck drei lange geräucherte Würste. Zwei gab er Daful und Sorla, die dritte behielt er selbst. „Geschenke!“ erklärte er. „Wir brauchen sie bald.“ Sorla wunderte sich, aber kam nicht zum Fragen, denn er hatte Mühe, beim Reiten die Wurst festzuhalten, die so schwer war wie ein
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kleines Kind. Sie hatte aber am einen Ende ein zur Schlinge geknotetes Darmende. Daran war sie zum Räuchern aufgehängt gewesen, nun steckte er sein Handgelenk hindurch, so konnte sie ihm nicht mehr entgleiten. Das Seitental verengte sich bald fast zur Klamm. Unter ihnen gischtete der Wildbach, es war gerade genug Platz für die Maultiere, so dass die Reiter auf ihre Knie achten mussten, um sie nicht an der Felswand aufzuschürfen. Wassertropfen stäubten bis zu ihnen hoch und hüllten sie in benetzenden Nebel. Vor einer Felskante, hinter welcher der Pfad verschwand, zügelte Perkan sein Tier und wandte sich zu Sorla und Daful. „Jetzt wird es ernst!“ kündigte er an. „Haltet das Geschenk vor euch, so wie ich. Und wenn ihr es abgegeben habt, reitet schnell weiter! Macht es mir genau nach, aber erst, wenn ihr dran seid, einer nach dem anderen!“ „Was ist da vorne?“ wollte Daful wissen. „Na, Trolle.“ Hinter der Biegung ging es ein paar Schritte steil empor; sie hatten Mühe, nicht vom Rücken der Maultiere zu rutschen. Da waren sie schon am Rande eines kleinen Talkessels angelangt – kaum zwanzig Schritte im Durchmesser und voller Trolle, die ihnen entgegen glotzten. „Ho, ho!“ rief Perkan und hielt seine Wurst hoch. Dann ritt er langsam zur Mitte des Lagers, warf die Wurst in die ihn umringende Meute, und während sich die Trolle darum rauften, trieb er sein Maultier mit den Fersen an und erreichte sicher das andere Ende, wo der Weg weiter führte. Die Reihe war an Sorla. „Ho, ho!“ rief er und hielt das Geschenk hoch. Er ritt wie Perkan langsam zur Mitte des Lagers, um dort die Wurst den Trollen zuzuwerfen. Doch als die Trolle danach grabschten, rissen sie ihn mit, denn er hatte vergessen, sein Handgelenk aus der Darmschlinge zu ziehen. Nun lag er am Boden; zwei Trolle hielten ihn an den Beinen fest, ein weiterer riss ihm die Wurst von der Hand – wütend, als wolle Sorla sie nicht freiwillig hergeben. Kaum war Sorla von der vertrackten Wurst befreit,
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balgten sich fünf, sechs Trolle um sie, aber zwei hielten noch immer Sorla fest, und weitere acht bis zehn drangen auf ihn ein. Das alles geschah innerhalb von zwei, drei Atemzügen. Mitten hinein trieb nun Daful sein Maultier, schwang die Wurst an der Darmschlinge wie eine Keule, schlug damit ein paar Trolle nieder, warf dann die Wurst in hohem Bogen mitten in die Meute, was einige der Trolle von Sorla ablenkte, drängte sein Tier in die Gruppe hinein, die Sorla bedrohte, und ließ es sich aufbäumen und mit den Hinterläufen ausschlagen. So gelangte er dicht neben Sorla. „Spring!“ rief er und hielt ihm die Hand hin, um ihn vollends auf sein Tier zu ziehen. Die Trolle waren kurz zurückgewichen, so dass Sorla Zeit fand, sich hinter Daful rittlings zu setzen, doch nun kamen sie heulend heran. Daful aber lenkte das Tier hinüber zu Sorlas Maultier, das zitternd am Rande des Geschehens stand, und sprang hinüber auf dessen Rücken, so dass es erschreckt los preschte. Gemeinsam mit Daful erreichte Sorla das andere Ende des Kessels und trabte hinter Perkan, der besorgt gewartet hatte, davon. „Nicht schlecht!“ sagte Perkan, als sie später ihre Tiere verschnaufen ließen. Er betrachtete Daful mit neuer Hochachtung. „So schön sind hier Geschenke schon lange nicht mehr überreicht worden!“ * Drei Tage lang folgten sie dem engen Seitental steil aufwärts bis zu dessen Ende. Sie waren noch zweimal mit Trollen zusammen getroffen und einmal mit einem wütenden Waldrind, das sich hierher verirrt hatte. Zeitweise ritten sie in dichtem Nebel und sahen kaum den Kopf ihres Reittieres vor sich, doch Perkan wusste den Weg auswendig und erklärte, sie würden bald die Wolken von oben sehen. So war es dann auch, aber über ihnen lagerte eine weitere Nebelschicht, alles schien grau in grau, und ein kalter Wind
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vertrieb den letzten Rest ihrer guten Laune. Nun standen sie am unteren Ende eines Geröllhangs, auf dem nun hier und da eine verkrüppelte Fichte oder Kiefer ums Überleben kämpfte. „Trostlos“, murmelte Sorla. „Warte, bis du auf der Hochebene bist“, sagte Perkan und deutete in den Nebel über ihnen. „Dann weißt du, was trostlos ist!“ Dafuls Gesicht leuchtete auf: „Heißt das, dort oben ist unser Ziel?“ „Weiß ich nicht. Dort beginnen die Hochebenen, aber sie erstrecken sich viele Tagesreisen weit. Was du dort suchst, hast du uns bisher vorenthalten.“ Daful nickte. „Es muss irgendwo Ruinen geben, eine verlassene Burg oder so. Mehr weiß ich auch nicht.“ Perkan blickte erschreckt. „Du meinst die Stadt der Geister?“ „Kennst du sie? Warst du schon dort?“ „Anod bewahre! Ich habe Geschichten gehört – ein Mann kann seinen Mut besser beweisen, als dort den Tod zu suchen.“ „Du musst nicht mitkommen, Perkan“, sagte Daful. „Du hast uns gut hierher gebracht. Wir sind dir zu Dank verpflichtet und werden deine Leistung rühmen!“ „Bloß das nicht!“ wehrte Perkan ab. „Wenn Murnak erfährt, dass ich einen Mann aus Hernoste“ – er spuckte aus – „durch sein Tal führte, häutet er mich bei lebendigem Leibe, und das mit Recht!“ Daful lächelte. „Dann wollen wir alles geheimhalten, das ist mir sowieso recht. Dennoch gilt, was ich vorhin sagte.“ „Du musst mir nicht danken“, erwiderte Perkan mit gerunzelten Brauen. „Ich tat es für Sorle-a-glach; er gehört zu unserer Sippe. Ich werde euch auch zur Stadt der Geister bringen, wenn das euer Ziel ist.“ Sie beschlossen, ihr Nachtlager unterhalb der Geröllhalde aufzuschlagen, und nützten die restliche Zeit, bis es dunkel wurde, um die mitgeführten Ziegenbälge zu wässern. In diesen wollte Perkan Wasservorrat für die nächsten Tage mitnehmen, doch erst
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musste das Leder wieder geschmeidig und dicht werden. „Regnet es dort oben nicht?“ fragte Sorla. „Gelegentlich schon, doch alles versickert. Es gibt keine Bäche oder Seen.“ Am nächsten Morgen machten sie sich an den Aufstieg. Perkan führte sie möglichst am Rande des Geröllfeldes im Zickzack hoch; manchmal zögerte er, dann ging er alleine voraus, behutsam Schritt für Schritt, um einen Weg zu erkunden, wo sich nicht unversehens unter den Füßen die Steine lösen. Die Maultiere führten sie hinter sich am langen Zügel. Mittags ruhten sie eine halbe Stunde auf einem Felsblock, dann mahnte Perkan zum Aufbruch. Am späten Nachmittag hatten sie das Geröllfeld unter sich gelassen, nun ging es weiter zwischen zerschrundenen Felsen steil aufwärts. Nachdem sie eine schräg herausragende Steinplatte mühsam überquert hatten, war das Schlimmste überstanden. Vor ihnen lag eine leichte Anhöhe, die, von drei, vier übereinander gestaffelten Felsbändern unterbrochen, bis zur eigentlichen Hochebene führte. Dicht an das nächstgelegene Felsband, unweit von ihnen, war ein mächtiges, sich breit hin duckendes Haus aus Felstrümmern und Baumstämmen gebaut. Dorthin führte sie Perkan, und sie kamen an, gerade als die Sonne hinter ihnen unterging. Nun merkten sie, dass das Haus noch weit größer und höher war, als es von weitem wirkte; und damit man die übergroße Tür nach außen öffnen konnte, war der Felsboden ein Stück weit aufgehackt worden. Über der Tür hielt ein riesiger Totenschädel Wache. „Trolle?“ fragte Daful. Perkan schüttelte grinsend den Kopf. „Hier wohnt Ifarbirre mit ihrer Familie. Eine gute Freundin.“ Damit klopfte er an die Tür, und als keiner kam, versuchte er sie zu öffnen. Er reichte kaum bis zu der Querstange, die als mächtiger Riegel in die Balkentür eingearbeitet war. Nur mit Sorlas und Dafuls Hilfe gelang es ihm, sie anzuheben und die Türe aufzuziehen. „Ho, ho!“ rief er. „Perkan ist hier und bittet um Nachtlager!“
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„Perkan?“ dröhnte ein tiefe Stimme von drinnen. „Komm rein, du kennst den Weg!“ „Ich bringe zwei Männer mit.“ „Sie können kommen, Großvater ist gefesselt.“ Perkan winkte Daful und Sorla. „Bringt die Maultiere herein!“ Die beiden folgten ihm zögernd. Als Perkan hinter ihnen die Türe zu zog, standen sie zunächst im Dunkel. Die drei Maultiere schnaubten unruhig. Es roch scharf nach Ziegen und altem Dung. Von irgendwo klang vielstimmiges Gemecker. Sorlas Augen gewöhnten sich schnell an das schwache Dämmerlicht, das durch eine kleine Dachluke in diesen weitläufigen Raum fiel. Auf dem glattgetretenen Lehmboden lagen oder standen Dutzende von Ziegen, die den Eindringlingen misstrauisch entgegen äugten. Sorla nahm Daful, der noch hilflos herumstand, bei der Hand. Perkan aber schien sich im Dunkeln auszukennen und hatte sich mit seinem Maultier bereits an der Wand entlang getastet bis zu einem stallähnlichen Verschlag, dessen Boden mit Steinplatten belegt und einer Rinne versehen war, so dass man den Mist besser hinaus schaffen konnte. Nachdem sie ihre Maultiere dort untergebracht und abgesattelt hatten, führte sie Perkan zu einer Tür im hinteren Bereich. Auch diese Tür war erstaunlich groß; Sorla hätte den oberen Querbalken des Rahmens nicht zu fassen bekommen, selbst wenn er sich gestreckt hätte; den Riegel der Türe konnte er in Augenhöhe vor sich sehen. Perkan öffnete, und sie betraten einen weiten, von einem offenen Feuer erhellten Raum. Auf den zweiten Blick erkannte Sorla, dass es eine natürliche Höhle war; sie befanden sich innerhalb des Felsbandes, an welches das Haus gebaut war. Im hinteren Bereich kniete eine riesige Frau, so groß wie zwei Männer über einander, vor einem ebenso riesigen Greis mit Glatze und wirrem weißem Bart, um ihn zu füttern. Der alte Mann war blind. Er saß auf einem aus einem Eichenstamm am Stück geschnitzten Stuhl und war mit Armen und Beinen daran festgebunden. Nun hob er den Kopf und rief: „Ho, ho! Ich rieche Menschenfleisch!“
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Gleichzeitig begann er an seinen Fesseln zu zerren. „Lass gut sein, Großvater. Das ist Perkan, den kennst du ja“, antwortete Ifarbirre mit ihrer Bassstimme. „Ich rieche noch andere Menschen! Gibt’s die zum Abendbrot?“ Trotz seines Alters war der Großvater erschreckend stark. Die armdicken Seile, mit denen er gefesselt war, knirschten; der eichene Stuhl ächzte. „Es sind Perkans Freunde, die darfst du nicht essen.“ „Du willst, dass ich verhungere, Ifarbirre!“ „Es gibt gesottenen Wolf und Ziegenmilch. Also sei ruhig.“ „Wolf, Ziegen – immer das gleiche. Ich mag mal wieder Menschen essen.“ Perkan rief: „Ich habe Holundermus gebracht!“ „Holundermus? Ist etwa Perkan gekommen?“ „Ja, Großvater“, seufzte Ifarbirre. „Holundermus esse ich gern!“ Perkan rief: „Und meine Freunde haben Honig mitgebracht!“ „Honig? Wer bringt mir Honig?“ „Perkans Freunde, Großvater“, sagte Ifarbirre. „Ja, ist denn Perkan hier?“ Ifarbirre schwieg und schob dem Greis einen Happen gesottenes Wolfsfleisch in den riesigen Mund. Perkan aber winkte Sorla und Daful, sie sollten mit in den Stall kommen, denn sie mussten ihm helfen, die großen Töpfe Holundermus und Honig zu schleppen. Das waren, erklärte Perkan, die letzten Geschenke, die sie mitgeführt hatten. Aber jenseits von Ifarbirres Haus kannte er sowieso niemand mehr. „Und wie hast du diese Riesin kennengelernt?“ fragte Sorla. „Eine lustige Geschichte, Sorle-a-glach. Das soll sie euch nachher selbst erzählen.“ Das tat Ifarbirre dann auch. Erst aber teilte sie allen gewaltige Mengen gesottenen Wolfsfleisches und frischer Ziegenmilch zu. Großvater bekam in seine Ziegenmilch
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Holundermus gerührt, was ihn friedlich stimmte. Ifarbirres Hand erschreckte Sorla, als sie plötzlich vor seinem Gesicht auftauchte, so riesig war sie. Sorla hätte sie mit seinen beiden Händen nur halb bedecken können. „Es war vor fünf Jahren“, begann das Riesenmädchen. Damals gingen meine Eltern fort, um Verwandte im Norden zu besuchen, in Riesenheim. Sie ließen mich mit Großvater zurück. Und meinen drei kleinen Geschwistern natürlich. Ich jagte Wölfe oder Trolle, die Kleinen sollten auf die Ziegen aufpassen.“ „Die Kleinen,“ warf Perkan ein, „sind noch riesiger als Ifarbirre.“ Sie lachte. „Stimmt. Nur sie schaffen es, Großvater auf seinem Stuhl festzubinden. „Wieso habt ihr ihn gefesselt?“ wollte Sorla wissen. „Er hat Anfälle, dann will er das Dach abdecken und die Mauern einreißen. Er hat es auch schon zweimal gemacht. Als er jung war, vor zwei oder drei Jahrhunderten, da gab es das Haus noch nicht, bloß diese Höhle. Er lebte meist im Freien und fraß Trolle oder was sonst vorbeikam. Seine Söhne haben das Haus später gebaut und auch die Ziegen angeschafft, aber jetzt weiß er nichts mehr davon.“ Sie schlug Großvater freundlich auf den Schenkel, dass es schallte. „Nicht wahr, Alter?“ Dieser aber kaute genüsslich an einem Brocken Wolfsfleisch und ließ sich nicht stören. Ifarbirre lachte und fuhr fort: „Wir trieben viel Unsinn; unsere Eltern waren ja jetzt fort. Meine Brüder machten sich den Spaß, mich wie einen Ball hin und her zu werfen – jeder auf der anderen Seite einer Schlucht. Oder wir fütterten Großvater mit Fliegenpilzen und Bilsenkraut, bis er glaubte, er sei eine Maus. Nicht wahr, Alter?“ Großvater schrak auf: „Wo ist eine Maus?“ „Trink deine Ziegenmilch, Großvater! Aber wir selbst aßen natürlich auch davon. An jenem Tag, von dem ich reden will, hockten meine Brüder unten in der Schlucht vor der Felswand. Sie kicherten blöde und riefen: ‚Der Berg wackelt!‘ Ich saß auch
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irgendwo rum und dachte, ich bin eine Blaubeere.“ „Ausgerechnet!“ murmelte Sorla. Ifarbirre lachte dröhnend und wollte ihm auf die Schulter klopfen; er konnte dem Schlag gerade noch ausweichen. „Da kam Perkan den Waldbach entlang. Er sah mich nicht, weil ich zwischen den Felsen saß und mir Laubzweige auf den Kopf gelegt hatte. Ich war ja eine Blaubeere.“ „Das erklärt alles“, nickte Daful. „Aber ich sah ihn sehr wohl, und er kam mir groß und wunderschön vor – der richtige Liebhaber für mich. Ich stand auf und schnappte ihn mir ...“ „Ihr müsst euch meinen Schrecken vorstellen“, unterbrach Perkan, „da kommen zwei riesige Hände aus dem Gebüsch und heben dich hoch! Ich dachte, jetzt ist’s aus.“ Er nickte eindrucksvoll. „Aber dann drückte sie mich an ihr Herz; und sie war völlig nackt ...“ „Ich war ja eine Blaubeere“, erklärte Ifarbirre. „Eben!“ grinste Perkan, „und eine sehr hübsche und wohlgeformte dazu!“ „Aber Perkan, du bist doch nur halb so groß!“ wunderte sich Sorla. „Na und?“ entgegnete Perkan. „Man tut, was man kann.“ „Er machte seine Sache sehr gut“, sagte Ifarbirre. „Ich mochte ihn daher später nicht auffressen, obwohl er lecker aussah. Inzwischen habe ich mir das Menschenfressen ganz abgewöhnt. Auch den Kleinen habe ich eingeschärft, meine Bekannten in Ruhe zu lassen.“ „Wo sind deine Brüder, Ifarbirre?“ fragte Sorla. „Keine Ahnung. Letzte Woche gingen sie los, Wölfe jagen. Ich hoffe, sie kommen bald zurück, damit wir Großvater mal losbinden können. Der Arme hockt jetzt schon fünf Tage hier.“ Schon während des Essens legte Ifarbirre immer wieder ihren riesigen Arm um Perkan und presste ihn an ihr Herz, wobei er tief zwischen ihren Brüsten versank. Aber als alle satt waren, hielt sie nichts mehr; sie holte Perkan auf ihren Schoß und legte Sorla
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und Daful nahe, sich im Ziegenstall bei ihren Maultieren schlafen zu legen, sie seien doch sicherlich müde von der Reise. Die beiden gingen grinsend hinaus. Im Stroh zusammengerollt, schon im Halbschlaf, wandte sich Sorla an Daful: „Wie kommt es, dass Ifarbirre und ihr Großvater die Sprache der Menschen von Batiflim sprechen?“ „Du irrst, Sorla. Es ist die Sprache der Riesen. Von ihnen lernten es die Trolle, von denen die Menschen, die sich in den Tälern Batiflims ansiedelten.“ „Ich kann die Sprache der Riesen!“ freute sich Sorla und schlief ein. Irgendwann erwachte er durch Gepolter vor dem Eingang. Jemand stieß den Querbalken beiseite, dann kreischte die Tür in ihren Angeln. Der Nachtwind fuhr kalt herein. Eine riesige Gestalt verdunkelte den Eingang, eine zweite folgte, unter dem Türrahmen geduckt. Dann wurde die Türe zugezogen. „Hier stinkt’s!“ dröhnte eine Stimme. Sie klang noch dumpfer als der Bass Ifarbirres; so tief, dass Sorla sie im Magen spürte. „Menschengestank!“ murrte eine ebenso tiefe Stimme. „War wohl das Abendbrot.“ „Schwesterlein hat also ihr Zartgefühl überwunden.“ Ein behäbiges Lachen als Antwort. „Mal sehen, ob noch was übrig ist.“ Schwere Schritte tappten näher. Sorla duckte sich tief hinter die Ziegen und hielt den Atem an. In der Dunkelheit erkannte er undeutlich die Umrisse der beiden Riesen, die sich an der Wand entlang tasteten. Er legte Daful warnend die Hand auf den Mund. Gleichzeitig spürte er, wie auf seinen eigenen Mund sich Dafuls Hand warnend legte. Trotz der Gefahr musste er lächeln. Nun wurde die Verbindungstür zur großen Höhle aufgezogen; ein schwacher Schimmer des Herdfeuers fiel quer über den Stallboden. Sorla presste sich noch tiefer ins Stroh, bis die beiden Riesen verschwunden waren und die Tür zur Höhle hinter sich geschlossen hatten.
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„Hast du Genaueres gesehen?“ flüsterte Daful. „Zwei Riesen, mit Keulen bewaffnet, einer nackt, einer im Lendenschurz.“ „Beneidenswert, deine Augen. Jetzt lass‘ uns verschwinden!“ „Wieso?“ „Bei Ak’men! Es wird Ärger geben, das spüre ich.“ „Wir sind doch Gäste, oder?“ „Dann sage mir, weshalb du nicht aufgestanden bist und Ifarbirres Brüder begrüßt hast!“ Daful war schon dabei, seine wichtigsten Sachen im Rucksack zu verstauen. Sorla tat es ihm nach, ohne recht überzeugt zu sein, denn draußen war es kalt. Da, mit einem fürchterlichen Krach, flog die Verbindungstür quer durch den Stall. Durch die Öffnung ragte, von hinten beleuchtet, das riesige Bein, mit dem die Tür aus den Angeln getreten worden war. „Weg damit!“ brüllte Großvater und bückte sich, um vollends in den Stall zu gelangen. Er stieß gegen die Dachbalken. „Was soll das Gerümpel?“ Schon hatte er die Arme in die Höhe gereckt und drückte die Dachbretter auseinander, dass sie zur Seite und auf den Boden rumpelten. „Sterne!“ rief er. „Luft!“ Er blähte den Brustkasten, zum Zeichen, wie wohl ihm die frische Luft tue, dann tastete er umher, was er noch wegräumen könne. Jetzt stieß er gegen den Verschlag, hinter dem die Maultiere untergebracht waren – und wo Sorla und Daful sich versteckt hielten. Großvater packte die Bretter des Verschlags und riss sie auseinander. „Menschen!“ rief er. „Ich riech’s!“ Seine weißlichen Augen glotzten blind umher. Dann trat er heran mit einem Schritt, Sorla wurde von Großvaters Knie am Kopf getroffen und zur Seite gerempelt. Daful duckte sich, doch hatte ihn Großvaters riesige Hand schon gepackt. „Halt!“ donnerte Ifarbirre, die sich eben durch das Eingangsloch duckte. „Lass ihn laufen, Großvater!“ Der Arm, mit dem der Alte ausgeholt hatte, um Daful an der Felswand zu zerschmettern, verharrte in der Luft. Perkan
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zwängte sich an ihren Schenkeln vorbei; doch die Hose hing ihm noch in den Knien und ließ ihn stolpern. „Halt!“ rief er noch im Fallen, da ließ Großvater Daful los und packte Perkan. „Der riecht lecker!“ Er biss Perkan in den Bauch. Dieser schrie, wie Sorla noch nie jemanden schreien hörte. Er zuckte und zappelte, die Gedärme lappten heraus. Ifarbirre hatte sich von hinten auf Großvater geworfen, aber es war längst zu spät. Perkan hatte zu schreien aufgehört, Großvater schmatzte, kaute, stopfte sich heraushängendes Gekröse ins Maul. Jetzt erst hatten sich Ifarbirres Brüder durch den Höhleneingang gezwängt und überwältigten Großvater. Aber das konnte, dachte Sorla bitter, ihnen Perkan nicht wiedergeben.
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Zwölftes Kapitel:
DIE HÖHEN BATIFLIMS Die Luft auf der Hochebene war morgens eisig, mittags oft heiß, stets aber merkwürdig dünn. Staub wirbelte bei jedem Schritt, Steine rasselten und knirschten unter den Hufen der Maultiere. Aus dem fast schwarzen Himmel strahlte die Sonne grell. Vor drei Tagen hatten Sorla und Daful das Haus der Riesen verlassen, gleich nachdem sie Perkans Reste dort bestatteten. Ifarbirre hatte geheult, wie wohl nur Riesinnen heulen können. Ihre Brüder hockten gleichmütig dabei, doch Sorla argwöhnte, dass sie die Verschwendung guter Nahrung insgeheim bedauerten. Nun kämpften sie sich voran, über Steinbrocken und durch gelegentliches Dorngestrüpp, meist gegen den Wind, immer nach Osten, wo sie den Ort vermuteten, den Perkan die Stadt der Geister genannt hatte. „Wenn uns die Geister angreifen, wie sollen wir uns wehren, Daful?“ Dieser schaute mit seinen dunklen Augen freundlich auf Sorla, zuckte jedoch die Achseln. „Ich denke, das mit den Geistern ist bloßer Aberglaube. Perkan war nie dort, also woher sollte er Genaues wissen?“ „Aber wenn doch?“ „Wir haben schon Schlimmeres überlebt, oder? Mit Ak’mens Hilfe werden wir auch mit Geistern fertig werden.“ Sorla konnte diese Antwort nicht überzeugen, doch er spürte, dass Daful keine Gefahr scheute, um sein Ziel in Batiflim zu erreichen. Er würde sein Leben riskieren und das von Sorla gleich mit, falls dieser, wie versprochen, bei ihm blieb. Bei Sonnenuntergang schlugen sie auf hartem Steinboden ein ungemütliches Lager auf. Zwei Krähen saßen unweit auf einem Felsbrocken und beobachteten, wie Sorla und Daful etwas Dörrfleisch mit trockenem Fladenbrot aßen.
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„Kalte Nacht wird das, Gelbauge“, hörte Sorla die eine krächzen. Die andere trat von einem Fuß auf den anderen und sträubte die Nackenfedern. „Mich stören diese ...“, krächzte sie. Sorla verstand nicht das Ende des Satzes, denn die Krähe redete über etwas, wofür er keinen Begriff hatte. „Sie sind wirklich lästig.“ „Es ist zu trocken hier“, sagte die erste. „Ein bisschen Wasser, und sie wären weg.“ „Hier gibt’s kein Wasser, Krummkralle.“ „Das weiß ich selbst!“ entgegnete die erste und hackte verweisend nach Gelbauge. Sorla musste lachen, die beiden Krähen hielten erschreckt inne. Dann beruhigten sie sich wieder. „Diese Menschen dort drüben haben leckeres Futter, Gelbauge.“ „Aber sie fressen alles alleine.“ Sorla warf ihnen ein Bröckchen Brot hinüber. Die beiden Vögel stürzten sich darauf. Gelbauge erhaschte es und flatterte damit im Schnabel davon. Krummkralle blickte enttäuscht umher, auf den Boden und hinüber zu Sorla und Daful, aber die hatten alles aufgegessen. „Nichts mehr los hier“, sagte Krummschnabel. „Lass uns fliegen.“ „Ja, zur Schlucht, wo der Tümpel ist. Ist ja nicht weit.“ Damit flogen sie auf und verschwanden nach Osten in der Abenddämmerung. Sorla schlief schlecht und erwachte immer wieder, weil ihm etwas übers Gesicht lief oder wehte – er wusste nicht was. Auch Daful wälzte sich unruhig und murmelte im Schlaf. „Ich träumte“, sagte er am Morgen, „wir wurden von Ratten heimgesucht. Ich wachte sogar auf, glaube ich. Aber da war nichts zu sehen.“ Sorla nickte, er spürte immer noch die Erinnerung der kleinen Bewegungen auf seinem Gesicht. Auch litt er schrecklichen Durst. Ihm war schwindlig, die Zunge klebte am Gaumen. Als er zu
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den Maultieren wankte, wo die wassergefüllten Ziegenbälge lagen, kniete da Daful und wollte eben trinken. Doch als er Sorla sah, ließ er den Balg wieder sinken und reichte ihn herüber: „Trink, Junge! Du siehst schlecht aus!“ Sorla trank gierig, schon war der Beutel leer. Da erst fiel ihm auf, dass schon vorher kaum etwas drin gewesen war. Daful nickte. Er hob einen der übrigen Bälge an und schüttelte ihn bedenklich. „Es ist kaum noch Wasser da, Sorla. Dabei sind wir erst drei Tage und eine Nacht unterwegs.“ Auch Dafuls Mund schien völlig ausgetrocknet, denn er sprach undeutlich und mit schwerer Zunge. Seine Augen waren gerötet. „Gestern schienen sie mir viel voller“, wandte Sorla ein. Er untersuchte die Ziegenbälge auf undichte Stellen, doch sie waren in Ordnung. „Als hätte jemand heute nacht Wasser gestohlen!“ Daful hob den Kopf. „Dörrer!“ flüsterte er heiser. „Von denen habe ich schon gehört!“ „Was redest du?“ Daful winkte ab, öffnete den Ziegenbalg, den er vorher so besorgt geschüttelt hatte, und trank den armseligen Rest. „Dörrer!“ wiederholte er dann. „Unsichtbare kleine Wesen, die auf diesen trockenen Hochebenen umher geistern und Wasser vernichten. Sie mögen es nicht, alles soll dürr sein. Deshalb sind diese Beutel fast leer, deshalb sind wir so durstig!“ Sorla fiel ein, was die Krähen gesagt hatten. „Und jetzt, Daful?“ „Wir müssen umkehren.“ „Aber es ist noch etwas Wasser da!“ „Denk an die Maultiere, Sorla. Sie haben noch nichts getrunken. Willst du sie töten? Willst du das ganze Gepäck alleine tragen? Selbst dann reicht das Wasser nur einen Tag. Es hilft nichts; wir müssen umkehren. Wenn wir Glück haben, erreichen wir Ifarbirres Haus, ohne vorher zu verdursten.“ Daful hatte gegen Ende immer lauter geredet; ihm fiel diese Entscheidung offensichtlich nicht leicht. Sorla nickte und war doch
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nicht überzeugt. Da fiel ihm etwas ein: „Daful, geradeaus weiter nach Osten gibt es einen Tümpel mit reichlich Wasser. Wir müssen nicht umkehren, sondern nur diesen Tümpel finden.“ „Woher weißt du das?“ „Ich habe Krähen belauscht.“ Daful furchte die Stirne. „Das sollen kluge Vögel sein. Und dass du sie verstehen kannst, ist eine Gabe der Götter. Doch wenn wir das Wasser nicht finden, sterben wir gewiss. Sollen wir es wagen?“ Sorla nickte. „Der Tümpel kann nicht allzu weit entfernt sein.“ „Also gut. Möge Atne uns beistehen!“ Sie gaben das restliche Wasser – viel war es nicht – den Maultieren; „denn wenn die verrecken, sind wir sowieso verloren“, sagte Daful. Dann brachen sie auf. Am Vortag hatten sie die Maultiere geschont, weil diese schwer beladen waren und ihre Hufe unter Geröll und Felsboden litten; heute aber saßen sie auf, denn sie hofften, vom Rücken der Tiere aus den Tümpel leichter entdecken zu können. Vor ihnen erstreckte sich die gewohnte Hochebene mit dürren Büschen und vereinzelten zerklüftet aufragenden Felsen. Der Himmel war von grauen Nebelschleiern bedeckt, es wehte ein kalter Wind. Aus den Augenwinkeln erhaschte Sorla eine Bewegung; als er hinsah, verschwand es. Das geschah ihm mehrere Male; ihm schien, als grinse ihn etwas hämisch an, ein Gesicht, das doch nur Luft war. „Daful,“ sagte er, „uns beobachtet was.“ Daful nickte. „Dörrer. Ich habe sie auch bemerkt.“ „Die sind doch unsichtbar, oder?“ „Eigentlich schon. Doch je sicherer sie sind, dass man ihnen zum Opfer fällt, desto sichtbarer zeigen sie sich. Feige Biester!“ Er versuchte auszuspucken, doch sein Mund war zu trocken. Sie ritten weiter. Irgendwo musste ja dieser Tümpel sein,
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man musste ihn nur finden und durfte sich nicht ablenken lassen von den Fratzen, die sich ihnen immer deutlicher und doch nicht greifbar vorgaukelten. Mittlerweile hatte sich der Nebel über ihnen aufgelöst; die Sonne, klein und grell, brannte auf sie herab. In Stößen erhob sich ein trockener Wind, der um sie herum pudrigen Staub aufwirbelte. Sorla klebte die Zunge am Gaumen, denn das bisschen Wasser am Morgen hatte schon da seinen Durst nicht löschen können. Doch den Tümpel fanden sie nicht. Rings um sie breitete sich die zerklüftete Ebene bis zum Horizont. Die Schatten der Felsbrocken zeichneten sich scharf und schwarz auf dem Boden ab. Nachmittags wurden die Zweifel übermächtig. Ob die Richtung stimmte? Ob Sorla die Krähen missverstanden hatte? Seine Augen brannten, das Hirn dröhnte. Die ihn umtanzenden Fratzen in der Luft drängten sich näher. „Sollten wir lieber im Zickzack reiten?“ flüsterte er heiser. „Oder in Kreisen? Vielleicht reiten wir ja gerade am Tümpel vorbei.“ Daful schüttelte den Kopf. „Das hält uns auf. Entweder liegt der Tümpel vor uns im Osten, oder wir gehen zugrunde.“ Sorla versuchte klar zu denken, ihm war schon ganz schwindlig. Natürlich hatte Daful recht: von dem ursprünglichen Plan, der am ehesten Erfolg versprach, durften sie nicht abweichen. „Wenn wir Pech haben“, fügte Daful hinzu, „sind deine Krähen die halbe Nacht durch geflogen. Dann wäre dieser Tümpel noch zwei, drei Tagesritte entfernt. Das schaffen wir nicht.“ „Und wenn wir die Nacht durchreiten?“ „Wie willst du nachts den Tümpel finden?“ Sorla antwortete nicht. Er ertappte sich, dass er bloß noch vor sich auf den Hals seines Maultieres stierte. Dabei sollte er doch aufpassen, die Blicke schweifen lassen, damit sie den Tümpel nicht verpassten. „Sorla?“ Sorla hörte das aus weiter Ferne, es fiel ihm schwer, sich im Sattel zu halten. Die Fratzen umkreisten ihn, er schloss die
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Augen und dachte, wie schön es wäre, als Krähe wegfliegen zu können. „Junge, wach auf!“ Eine Hand rüttelte an Sorlas Schulter. „Komm zu dir!“ „Als Krähe fliegen“, murmelte er. „Ganz hoch!“ „Was redest du da, Junge?“ Sorla lachte irre, es war ja alles so hoffnungslos, und kippte seitlich vom Rücken seines Maultieres. Aber Daful fing ihn auf und schob ihn zurück in den Sattel. „Du bist den Durst nicht gewohnt, Junge. Hier trink!“ Daful hielt Sorla die Öffnung einer kleinen metallenen Flasche an den Mund. Die Flüssigkeit war süßlich und doch erfrischend; sie brannte ein wenig im Hals. Sorla Gedanken klärten sich, er fühlte sich schon besser. „Was ist das, Daful?“ „Ein hernostischer Trank, hilft gegen Erschöpfung.“ Sorla beobachtete, wie Daful das leere Fläschchen verschraubte und es in den Rucksack steckte. „Und du? Hast du für dich jetzt keinen mehr?“ Daful zuckte die Achseln. „Nein. Der war für den Notfall.“ Sorla begriff, was Daful getan hatte. „Danke!“ flüsterte er. „Reden wir nicht drüber, mein Junge. Es ist meine Schuld, dass du hier bist, statt deinen Vater zu suchen.“ Daful lächelte ihn aus dunklen Augen an. Eben wollten sie weiter reiten, da sagte Daful: „Als du über Krähen sprachst, fiel mir was ein.“ Er formte die Hände vor dem Mund zum Trichter und begann zu schreien. Sorla schaute ihm verblüfft zu, da sah er auf einmal in einiger Entfernung halbrechts vor ihnen eine Schar Vögel auffliegen. „Na also!“ nickte Daful. „Wozu lange suchen, wenn uns die Krähen den Weg weisen!“ Er trieb sein Maultier an, Sorlas zockelte hinterher. Bald kamen sie dahin, wo sie die Vögel beobachtet hatten. Es war aber weit und breit kein Tümpel zu sehen. Sorla blickte sich um; ihm fiel ein seltsam geformter Hügel
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auf. Als er näher ritt und ihn umrundete, stellte er fest, dass es eine riesige gemauerte Grotte war, die sich zur abgewandten Seite hin öffnete. Verwitterte Steinstufen führten hinab zu einem runden Becken. Dort schimmerte dunkelgrün eine weite Wasserfläche und warf das Tageslicht, das sich in ihr spiegelte, in hellen Kringeln an die Grottendecke. * Nachdem sie ihren Durst gelöscht hatten, sah sich Daful um. „Irgendwo müsste auch eine Tränke für die Tiere sein! Tuluglur hat das sicher nicht vergessen!“ „Tul-uglur?“ Statt einer Antwort deutete Daful auf die halb verwitterte Inschrift über dem Grotteneingang: „Tretet ein, trinkt und dankt Tul-uglur!“ Wie an jenem Brunnenhaus in Kriteis, erinnerte sich Sorla. Jener sagenhafte Kaiser schien sehr um das Wohl seines Landes besorgt gewesen zu sein. Inzwischen hatte Daful die Tränke gefunden: einen alten Steintrog nahe der Grotte, unter Moos und Dreck halb verborgen. Gemeinsam kratzten sie die Höhlung leer und füllten sie mit frischem Wasser, das sie in Ziegenbälgen aus der Grotte herauf schleppten. Als die Tiere getrunken hatten, wuschen sie sich und dann ihre Leibwäsche. Während diese im Winde trocknete, saßen Sorla und Daful in Decken gehüllt beieinander und aßen vom mitgebrachten Dörrfleisch. „Atne sei Dank!“ sagte Sorla etwas verspätet, aber es kam von Herzen. „Stell‘ dir vor, wir hätten die Grotte nicht gefunden! Die Krähen aufzuscheuchen war ein guter Gedanke!“ „Mich wundert nur“, entgegnete Daful, „dass die Krähen von einem Tümpel sprachen, nicht von einer Grotte.“ „Ich denke, für die Krähen ist es ein Tümpel wie jedes
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andere Wasserloch; sie wissen ja nicht, was Grotten sind.“ Danach schwiegen sie einige Zeit und hingen ihren Gedanken nach. In einiger Entfernung hatten sich ein paar Krähen niedergelassen und schimpften, weil Menschen vor ihrem Tümpel saßen. Sorla grinste. „Wann brechen wir auf, Daful?“ „Am liebsten sofort. Wir können die Nacht durchreiten. Vielleicht vermeiden wir so, dass uns die Dörrer wieder im Schlaf belästigen. Dann schlafen wir eben morgen vormittag ein paar Stunden.“ Also packten sie alles zusammen – die Leibwäsche war mittlerweile getrocknet – und ritten weiter in Richtung Osten. Sorla und Daful blickten sich immer wieder nach markanten Punkten um, damit sie im Notfall den Weg zur Grotte zurückfänden. Die Fratzen zeigten sich nicht wieder; sie hingen wohl irgendwie mit dem Durst zusammen, den Sorla und Daful hatten, bevor sie die Grotte fanden. Vielleicht waren es die Dörrer selbst gewesen. Stattdessen aber trug der nächtliche Wind ein leises, schauriges Heulen heran, das Sorla Gänsehaut verursachte. „Was ist denn das, Daful? Ist es gefährlich?“ „Höre nicht hin, mein Junge. Entweder besteht die Gefahr bloß darin, dass man sich den Mut rauben lässt. Oder es ist tatsächlich gefährlich, dann können wir sowieso nicht mehr ausweichen.“ Sorla verzog die Mundwinkel; Daful hatte ihn nicht überzeugt. Inzwischen war es stockdunkel geworden; die Maultiere setzten ihre Hufe nur langsam und zögernd auf. Doch am Horizont zeigte sich der Mond, und schon nach einer Stunde war er hoch genug gestiegen, um sein bleiches Licht auf die Felsen zu werfen. „Schau!“ flüsterte Daful. In der Ferne ragten die dunklen Umrisse einer Stadtmauer auf, und dahinter zahlreiche Häuser und Türme. „Die Stadt der Geister, von welcher Perkan sprach.“ „Müssen wir dorthin, Daful?“ „Ja.“ Je näher sie kamen, desto lauter und deutlicher wurde das
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Heulen. Nirgends war auch nur das kleinste Lichtlein zu sehen, die Fenster blickten dunkel und leer. Überhaupt wirkten die Häuser zerfallen und unbewohnbar, wie Sorla jetzt feststellte. Ihn schauderte. „Der Sage nach“, erzählte Daful leichthin, als säßen sie gemütlich am Lagerfeuer und näherten sich nicht bei Nacht irgendwelchen unheimlichen Ruinen, „war die Gegend hier einst sehr fruchtbar. Es gab Felder mit fettem Boden, fischreiche Bäche ...“ „Hier auf der Hochebene?“ „Nein, all dies war einst ein weites Tal. Die Berge ringsum schützten es vor kalten Winden. Die Wälder an den Berghängen bestanden aus Maronen- und Nussbäumen sowie anderen fruchttragenden Gehölzen – Äpfel, Birnen, Trauben, was du willst. Außerdem wimmelten sie von jagdbarem Wild. Das Leben der Bewohner war glücklich und gesegnet, denn die Götter blickten auf sie mit Wohlgefallen.“ „Und dann haben die Leute gefrevelt und wurden bestraft“, warf Sorla ein, der solche Sagen kannte. Daful lachte leise. „Ja, das wäre gerecht gewesen und einleuchtend. Die Sage geht jedoch anders. In jenem wunderschönen Tal von Batiflim wuchs, wie es heißt, in einer Bauernkate ein begabter junger Mann auf. Heute kennt man ihn als Sinn-he Fala den Leuchtenden, den ersten hernostischen Kaiser. Er verließ bettelarm sein Heimattal und gelangte in der Stadt Hernoste, die damals die Hauptstadt eines gleichnamigen Königreiches war, zu Macht und Ruhm. Wie ihm dies glückte, weiß man nicht; es ist zu lange her. Er scheint aber ein mächtiger Zauberer gewesen zu sein. Nun hatte der König eine einzige Tochter mit Namen Zusnild, weithin gerühmt ob ihres Liebreizes, die hätte er gerne einem würdigen Mann vermählt. Sie wollte jedoch unverheiratet bleiben, da sie in Wirklichkeit eine Schlangenfee war. Daher stellte sie den zahlreichen Freiern eine Aufgabe, die sie für unlösbar hielt: Nur wem es gelänge, die Wasser des Tales von Batiflim nach Hernoste zu lenken, dem würde sie sich hingeben.“
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„Man müsste das ganze Tal hochheben“, überlegte Sorla, den die Geschichte gefesselt hatte, „dann würden die Wasser herabfließen.“ „Genau! Dir ist jedoch klar, mein Junge, was das für das Tal bedeutet! Unser Held war von der Schönheit der Prinzessin so bezaubert, dass er das Wohl seiner Heimat für seine Liebe opferte. Er wirkte einen gewaltigen Zauber und beschwor die mächtigsten Kräfte im Inneren der Erde; so hob er das ganze Tal bis über die Berge von Batiflim an. Die Wasser flossen herab und sammelten sich im Flusse Bato, aber auch kleineren Flüssen. Sie alle führten das Wasser nach Hernoste hinab, während das ehemalige Tal in seiner einsamen Höhe verdorrte und starb.“ Weil Daful schwieg, glaubte Sorla, die Erzählung sei beendet, und sagte: „Man müsste also den Zauber unwirksam machen, dann könnte das Tal wieder fruchtbar werden, nicht wahr?“ Daful fuhr herum: „Dummheit! Hier ist doch längst alles Leben erstorben. Wem würde die Umkehrung des Schicksals nützen? Aber die Menschen, die jetzt in unzählbaren Scharen im hernostischen Reich leben – sollen die etwa alle verdursten? So würden wir nicht ein altes Unrecht tilgen, sondern ein neues, größeres hinzufügen!“ Er atmete schwer. Sorla war erschrocken, dass Daful sich über Sorlas Gedanken, der ja sowieso undurchführbar war, dermaßen aufregte. Doch nun schien sich Daful gefasst zu haben, denn mit ruhigerer Stimme fuhr er fort: „Du musst lernen, in größeren Zusammenhängen zu denken, mein Junge. Übrigens ist meine Geschichte noch nicht zu Ende. Denn gegen alle Erwartung wurden Sinn-he Fala und Zusnild, die verkappte Schlangenfee, ein glückliches Paar. Jedenfalls behauptet das die Sage. Gemeinsam schufen sie mit dem hernostischen Königreich und Batiflim den Grundstein des Kaiserreiches. Und mit ihrem Sohn Ugalur, so schließt die Sage, begründeten sie die Dynastie der Schlangenkaiser.“ „Was heißt das?“ „Von seiner Mutter erbten er und seine Nachfahren die
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Gabe, Schlangengestalt anzunehmen. So etwas macht Eindruck auf das Volk, ich finde es jedoch nicht so wichtig. Es gab einige gute Kaiser in Hernoste, die sich nicht in Schlangen verwandeln konnten, obwohl sie zur Schlangendynastie gehörten. Wichtiger war, dass Ugalur all die Fähigkeiten, die er seinen ungewöhnlichen Eltern verdankte, zum Wohle des Reiches einzusetzen verstand. Es gibt viele Sagen, die seine weisen Entscheidungen, klugen Gesetze und erfolgreichen Unternehmungen rühmen. Deshalb wurde der Name Ugalur vielen seiner Nachfahren an den eigentlichen Namen angehängt, beispielsweise Tul-uglur.“ „Ach, der!“ erinnerte sich Sorla. „Ja, Sorla. Tul-uglur war der zwölfte hernostische Kaiser und zugleich der siebte echte Schlangenkaiser. Er vermehrte das Wasser, doch das habe ich dir schon erzählt.“ Sorla überlegte, ob er Daful darauf hinweisen sollte, dass er selbst auch zur Schlange werden konnte, wenigstens manchmal. Aber Daful unterbrach diese Gedanken, indem er ihm auf die Schulter schlug und lachte: „Tul-uglur ist jedenfalls nicht nur Sage. Ohne ihn und seine Grotte wären wir beide jetzt schon tot!“ * Dicht vor ihnen ragten die nachtschwarzen Mauern auf und verdeckten den Mond. Die Hufe der Maultiere traten auf herumliegende Knochen, so dass es alle paar Atemzüge unter ihnen knackte. Das vielstimmige Heulen gellte Sorla in den Ohren, so dass er kaum vernahm, dass Daful etwas sagte. „Was hast du gesagt?“ „Wir müssen das Tor suchen!“ wiederholte Daful lauter. „Willst du heute nacht da rein?“ entsetzte sich Sorla. Daful sah ihn an und begann zu lächeln. „Nein, mein Junge. Morgen früh ist früh genug.“ Sie fanden in einiger Entfernung von den düsteren
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Stadtmauern eine windgeschützte Kuhle und schlugen dort ihr Nachtlager auf. „Es sind nur wenige Stunden bis Sonnenaufgang“, sagte Daful, „doch wir sollten abwechselnd wachen.“ „Ich wache“, bot Sorla an. Daful nickte, rollte sich in seine Decke ein und war schon eingeschlafen. Wie müde musste dieser Mann sein, dachte Sorla, der im Licht des Vollmondes das Antlitz des Schlafenden musterte, ein wohlgeformtes, wenn auch abgemagertes Gesicht. Die dunklen Brauen zuckten im Schlaf. Was war es nur, das Daful drängte und weiter trieb? Was suchte er in dieser Einöde? Plötzlich fühlte sich Sorla bei den Schultern herum gerissen. Eine dunkle Gestalt stand da und hielt ihn gepackt. Sorla wand sich im eisernen Griff, ohne seine Arme bewegen zu können; er versuchte zu schreien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Für zwei Augenblicke gelang es ihm, die Füße gegen einen Felsen zu stemmen und den Gegner ins Wanken zu bringen, doch dieser hob ihn einfach vom Boden weg und ließ ihn strampeln. Die Gelegenheit, Daful durch einen Tritt zu wecken, war verpasst. Aber dem Gegner in den Bauch treten, das ging noch, und Sorla tat es mehrfach und mit voller Kraft. Es schien aber nichts zu bewirken. Als Sorla nach weiteren zehn Atemzügen immer noch lebte, folgerte er, dass der Angreifer ihn gar nicht töten wollte – zumindest nicht sofort – sondern nur mit ihm spielte. Durch die heftigen Bewegungen hatten sie sich so gedreht, dass das Gesicht des Angreifers ins Mondlicht geriet. Es war ein schreckliches, unmenschliches Gesicht mit grün glühenden Augen, die Sorla durchdringend musterten. Unvermittelt entfaltete das Ungeheuer riesige dunkle Flügel, ließ Sorla unsanft zu Bodenfallen und flog in Richtung Stadt davon. Sorla hinkte zum Lager zurück, um Daful zu wecken. Dieser hatte keine Erklärung, wer der unheimliche Gast war. Sie beschlossen, den Rest der Nacht gemeinsam zu wachen. Gegen Morgen ließ das vielstimmige Heulen nach und verstummte ganz, als die bleiche Sonne über den Horizont stieg. Eine einzelne Stimme aber schrie auf in unnennbarem Schmerz.
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Sorla fuhr entsetzt zusammen. In der folgenden Stille flüsterte er: „Was um Anods willen war das?“ Daful hob die Hand zum Zeichen, er solle schweigen. Und schon erhob sich die Stimme wieder und klagte so herzzerreißend und grässlich zugleich, dass Sorla in mitfühlendem Schmerz mit den Zähnen knirschte. Das Klagelied dauerte wohl eine Viertelstunde; Sorla und Daful wagten nicht sich zu rühren. Erst in der nachfolgenden Stille wandte sich Daful Sorla zu und flüsterte: „Davon habe ich gehört. Es ist jeden Morgen das gleiche. Und ich verstehe, weshalb kaum ein Kaiser je hierher reiste – es erinnert uns an das Schicksal, das diese Gegend einst durch Sinn-he Fala erlitt.“ „Man muss einen Weg finden ...“, begann Sorla nach einer Pause, dann fiel ihm ein, dass genau deshalb Daful ihn bereits einmal zurechtgewiesen hatte, und er fuhr gereizt fort: „... auch wenn‘s dir nicht passt!“ Daful war schon dabei, die Decken zusammenzurollen und den Maultieren an die Satteltaschen zu binden. Er fuhr herum, musterte Sorla und sagte dann ruhig: „Ich verstehe deine Gefühle gut. Und verzeih, dass ich vergaß dir zu danken, dass du wachtest und mich schlafen ließest. Jetzt werde ich wachen, denn du hast seit gestern früh nicht geschlafen.“ Damit rollte er die Decken wieder aus und setzte sich daneben, während Sorla, der sich plötzlich sehr schämte, hinein wickelte und bis Mittag schlief. * Das große Stadttor bestand aus Bronze und Eichenholz und war nach all der Zeit noch immer gut erhalten. Es war geschlossen, doch Daful wandte sich einer kleinen Seitentür zu und hatte sie binnen Augenblicken mit einem merkwürdig geformten Haken geöffnet. „Solch einen Dietrich habe ich noch nie gesehen“, sagte Sorla, der aus seiner Diebeslehrzeit einige Fachkenntnisse
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mitbrachte. „Spezialanfertigung“, lachte Daful leise und steckte sein Werkzeug wieder ein. Fast hätte sich Sorla mit dieser Erklärung zufrieden gegeben, da fiel ihm etwas auf: „Wie konntest du vorher wissen, wie deine Spezialanfertigung aussehen soll?“ Daful grinste. „Man merkt, dass du wieder ausgeschlafen bist. Ich habe den Schlüssel ausgeliehen. Aus der Schatzkammer der hernostischen Kaiser.“ Das war schon einleuchtender. Daful schien ein geschickter Dieb zu sein oder gute Beziehungen zu haben. Sie blickten vorsichtig durch die halb geöffnete Tür und erkannten eine breite, auf beiden Seiten von Ruinen gesäumte Straße. Eine Brise wirbelte Schleier von Staub auf und trieb sie Sorla und Daful ins Gesicht, dass sie sich Tücher um Mund und Nase binden mussten, um nicht weiter zu husten. Nun traten sie vorsichtig durch das Stadttor, die Maultiere am Zügel führend, und blickten sich um. Außer dem leichten Wind hörten sie keinen Laut. Sorla schaute besorgt umher, ob sich vielleicht das nächtliche Flügelwesen von irgendwo auf sie stürzte, doch konnte er nichts dergleichen entdecken. Daful schien sich auszukennen, denn er wandte sich sofort einer Seitengasse zu. Dieser folgten sie, bis die Gasse sich zu einem großen Platz öffnete. An einem in der Mauer eingelassenen Ring banden sie ihre Reittiere fest und gaben ihnen noch einmal zu trinken. In der Mitte des Platzes stand ein trockener Brunnen, der wohl früher einmal sein Wasser in breiten Kaskaden verströmt hatte. Gegenüber ragte ein prächtiger Tempel des Sonnenhelden Anod mit säulenverziertem Eingang. „Daful, wie kommt es, dass hier eine Stadt mit großen Tempeln steht? Nach deiner Erzählung gab es doch nur Dörfer und Bauernkaten, oder?“ Daful verharrte, die Verzögerung war ihm unlieb, doch er gab Auskunft: „Es ist eine Sage, Sorla. Da wird vieles vereinfacht, was sich in Wahrheit verwickelter abspielte. Beispielsweise wurde
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das Tal sicher nicht innerhalb von Augenblicken angehoben, gleichgültig wie mächtig der Zauber Sinn-he Falas war, sondern es dauerte wohl Wochen und Monate. Auch reichte das vorhandene Wasser noch für einige Jahre, in denen der neue Herrscher Hernostes sich und seiner Frau diese Stadt als Zeichen seiner Macht erbauen ließ. Viele Staatsbeamte wurden verpflichtet, mit ihren Familien hierher zu ziehen und eine Verwaltung aufzubauen. Andere Leute, die sich eine neue Zukunft erhofften, zogen ihnen nach. Als dann das Wasser knapp wurde, flohen die Glücksjäger als erste, dann die Staatsbeamten, nur die ursprünglichen Bewohner blieben bis zum bitteren Ende. So haben wir hier eine prächtige hernostische Stadt, gefüllt mit dem Bodensatz von Hass und Trauer. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“ „Du weißt erstaunlich viel, Daful.“ Als dieser schwieg, fuhr Sorla fort: „Was willst du hier eigentlich finden?“ „Das Regenszepter.“ Daful lachte leise. „Auf diese Frage warte ich schon lange, mein Junge. Wer das Regenszepter hält, hält Hernoste in seinen Händen.“ Sorla war vor den Kopf geschlagen. „Du willst Herrscher über das hernostische Kaiserreich werden?“ „Ich wäre kein schlechter Kaiser. Seit Generationen liegt das Reich darnieder, weil es keinen Kaiser hat.“ „Davon habe ich gehört, auch dass die Richter und Beamten in die eigene Tasche wirtschaften.“ „Wenn’s nur das wäre!“ Dafuls dunkle Augen blitzten wütend. „Es sind ein paar Familien, die sich zusammentaten, um Agla Schlangenfreund zu ermorden, den letzten Schlangenkaiser. Sie töteten auch die Angehörigen und Freunde; nur wenige konnten fliehen. Seither nutzen sie ihre Macht, um sich zu bereichern. Das Volk leidet, und statt der Gesetze herrscht die Willkür.“ Sorla war über diesen Ausbruch überrascht. Vorsichtig die Worte wählend, sagte er: „Kann das Volk nicht selbst ...?“ „Das Volk?“ Daful lachte bitter. „Seit Generationen lassen sich die Menschen einschüchtern und ausrauben. Du musst verstehen, Sorla, in diesem Reich leben sehr viele und sehr
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verschiedene Menschen, die sich erst einmal einigen müssten. Vielleicht, wenn sie ein Zeichen hätten, eine Hoffnung ...“ „Das Regenszepter?“ Daful nickte und wandte sich zum Gehen, doch Sorla hielt ihn zurück: „Eine Frage noch. Wieso suchst du das Regenszepter ausgerechnet hier? Hat Agla Schlangenfreund ohne es geherrscht?“ Daful zog die Brauen zusammen. „Wenn wir noch lange reden, wird es Nacht, bevor wir unser Ziel erreicht haben. Als Agla Schlangenfreund lebte, war das Regenszepter natürlich bei ihm. Als er starb, verschwand es; und das war gut so, denn sonst hätten es jetzt die Mörder. Nun lass uns gehen. Bleibe dicht bei mir und fasse nichts an, wenn dir dein Leben lieb ist!“ Damit musste sich Sorla zufrieden geben, denn Daful eilte hinüber zum Anod-Tempel, wobei er dem Brunnen in der Mitte des Platzes jedoch weiträumig auswich. Sorla wunderte sich, hielt sich aber an Dafuls Warnung und folgte dessen Weg. Als sie den Tempel erreichten, schaute Daful an den Säulen empor zum abschließenden Fries, zählte die Rosetten des Frieses ab – es waren siebzehn – und trat dann vorsichtig in den offenen Tempeleingang. Sorla musterte die dämmrige, reich geschmückte Halle. Die Steinfliesen waren unter Staub und Sand kaum noch zu sehen. Im Hintergrund schimmerte die vergoldete Statue des Sonnenhelden. Zu deren Füßen hockten zwei vermummte Gestalten, das gezogene Schwert quer vor sich auf ihren Knien. Auch sie waren vom Staub der Jahrhunderte bedeckt. Sobald sich auch Dafuls Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ging er auf die Statue zu, ohne sich um die beiden reglosen Gestalten zu kümmern, und erwies dem Sonnengott durch eine leichte Verbeugung die notwendige Achtung. „Daful!“ flüsterte Sorla und deutete auf die beiden Wächter. Daful winkte ab und kniete vor der Statue nieder. Nun begann er zu Sorlas Erstaunen die vergoldeten Füße Anods abzutasten. Sorla kniete sich daneben und sah, was Daful gefunden hatte: unter jedem Fuß gab es eine daumennagelgroße Stelle, die
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sich nach innen drücken ließ. Als Sorla seine Finger versuchsweise danach ausstreckte, schlug Daful ihm die Hand beiseite und zischte: „Bist du verrückt?“ Nun drückte er selbst mit dem rechten Zeigefinger die eine Stelle hinein und hielt sie gepresst, während er mit dem linken Zeigefinger die entsprechende andere Stelle, sorgfältig mitzählend, siebzehnmal hinein drückte und dann beide Zeigefinger gleichzeitig zurückzog. „Schnell mir nach!“ flüsterte er und rannte auf die linke Wand zu, wo eine der vielen gemalten Abbildungen Anods prangte. Sorla eilte hinterher. Kurz bevor sie gegen die Wand prallten, glitt ein Teil der Wand nach oben weg. Daful zog Sorla hinter sich hinein ins Dunkle. Zwei Atemzüge später sauste das Wandstück wieder nach unten und hätte jeden zerquetscht, der sich dort noch aufgehalten hätte. Sorla hörte, wie Daful in seinem Rucksack kramte und dabei flüsterte: „Wo hab‘ ich das Zunderkästchen?“ Da glomm der Glygi auf und tauchte die Umgebung in den vertrauten hellblauen Schimmer. Sie standen in einer engen Kammer, in der außer den gemauerten Wänden nur eine schmale Bronzetür zu sehen war. Daful flüsterte: „Die vierte Falle!“ Statt die einladende Tür zu öffnen, suchte er die Wand gegenüber ab, schob schließlich seinen Dolch in eine Mauerritze – knirschend schob sich die Wand zur Seite und gab einen Gang frei. „Du kennst dich gut aus, Daful!“ flüsterte Sorla. „Ich hatte Zugang zu den alten Plänen. Trotzdem müssen wir sehr vorsichtig sein.“ „Was wäre geschehen, wenn wir die Tür geöffnet hätten?“ „Es war keine Tür. Wir hätten den geheimen Durchgang blockiert und uns damit auf ewig eingesperrt. „Und die anderen Fallen, was war mit denen?“ „Ein andermal, mein Junge“, winkte Daful ab. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Er schritt ganz langsam und vorsichtig den Gang entlang. Dabei ließ er am vor sich ausgestreckten Arm einen seidenen Faden bis fast zu den Fliesen des Gangbodens herunter hängen. Sorla folgte neugierig. Daful war aber so behutsam in all
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seinen Bewegungen, dass Sorlas Aufmerksamkeit schließlich nachließ. Als er sich schon anfing zu langweilen, blieb Daful stehen. „Schau!“ flüsterte er. Eine Handbreit über dem Boden und kaum zu sehen war ein Draht gespannt. Ohne den Faden, der sich sachte dagegen legte, wäre er wohl auch Daful nicht aufgefallen. „Eine besonders gemeine Einrichtung!“ wisperte Daful. „Wer den Draht übersieht, wird zerquetscht. Wer ihn entdeckt und vorsichtig darüber hinweg steigt, stirbt genauso. Die Fliesen hier, dicht hinter dem Draht, lösen die Falle nämlich ebenfalls aus.“ Er wickelte die Seidenschnur vorsichtig um den Draht und ging, Sorla mit sich nehmend und weiteren Faden von einer Spule abwickelnd, ein paar Schritte zurück. „Das müsste reichen!“ sagte er und zog mit einem Ruck an der Schnur. Erschreckend lautlos schoben sich vor ihnen die beiden Seitenwände zusammen – so schnell, dass niemand entkommen wäre, der sich zwischen ihnen befunden hätte. Dann glitten sie langsam wieder auseinander. „Schnell hindurch!“ flüsterte Daful und rannte, den Draht überspringend, durch das sich weiter verbreiternde Gangstück, von Sorla dicht gefolgt. Als sie schließlich stehen blieben, fragte Sorla erbost: „Wozu taugt ein Gang, den keiner durchqueren kann?“ „Man kann ihn durchaus durchqueren, wie du siehst. Die Fallen sollen nur die Unbefugten abwehren – Diebe und Abenteurer.“ „Und was sind wir?“ Daful sah ihn ernst an. „Ich bin befugt wie sonst keiner. Zum Wohl Hernostes das Regenszepter zu holen ist mein Ziel und meine Aufgabe, seit ich denken kann.“ Die Überzeugung, mit welcher er dies sagte, berührte Sorla tief. Plötzlich sah er diesen geschickten, klugen, aber so schrecklich getriebenen Mann mit anderen Augen, und er fragte: „Bist du vielleicht ein Verwandter des ermordeten Kaisers?“ Daful nickte. „Der einzige Überlebende – meines Wissens. Alle Söhne des Kaisers wurden getötet, auch mein Vater. Er hatte
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sich und seine Familie viele Jahre verbergen können, wurde aber schließlich verraten. Meine Mutter konnte mich noch verstecken, bevor die Verbrecher sie fanden und erstachen.“ „Das ist schrecklich“, stotterte Sorla. „Ja.“ Daful legte seine Hand auf Sorlas Schulter. „Was dich betrifft, mein Junge, bin ich sicher, dass du mein Geheimnis und das dieses Tempels nicht verraten wirst. Ich kenne dich mittlerweile gut genug.“ Damit war für Daful das Gespräch beendet. Er winkte Sorla, ihm zu folgen. Aber dieser hatte Mühe, auf den Gang und dessen Gefahren zu achten, zuviel wirbelte ihm durch den Kopf. Der hernostische Thronerbe! Unerkannt lebte er und bemühte sich ein Leben lang, das Regenszepter wiederzugewinnen! Wieviel Vorarbeit, wieviel Planung musste notwendig gewesen sein, wie viele Enttäuschungen hatte es wohl gegeben! Ein solches Leben mit einem klaren Ziel aber, das fühlte Sorla, war wert, gelebt zu werden. Er wollte Daful helfen, wo er konnte. Die nächsten fünfzig Schritte ging Daful zwar behutsam, aber doch zügiger als bisher; er schien sich sicher zu sein, dass es hier keine Fallen gab. Dann war der Gang zu Ende. An der Wand befand sich ein Hebel, darüber stand eingemeißelt: „Die Zehen Psen-galurs sollen dich tragen.“ „Was soll das heißen?“ fragte Sorla. „Psen-galur war der vierzehnte Schlangenkaiser“, erläuterte Daful. „Die Frage ist, wie viele Zehen er wohl hatte. So viele Male muss man den Hebel drücken, oder der Boden unter uns öffnet sich und wir stürzen in die Fallgrube darunter.“ „Na, zehn doch.“ „Falsch.“ „Neun? Acht?“ Daful lachte leise und drückte den Hebel zwölf Male und ließ ihn dann los. In der Wand mit dem Hebel klickte und knirschte ein verborgener Mechanismus. Nun schob Daful die Wand mühelos nach hinten weg. Sie eilten hindurch, hinter ihnen glitt die Geheimtür zurück und versperrte den Rückweg.
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Daful zwinkerte Sorla zu. „Die zwölf Zehen des alten Psengalur sind ein wohl gehütetes Familiengeheimnis. Ich hoffe, du plauderst es nicht aus, mein Junge!“ Offensichtlich war der Gang so beschaffen, dass bloß die engsten Angehörigen der Kaiserfamilie ihn benutzen konnten – in den kaiserlichen Archiven lagen ja auch die Unterlagen über die Fallen. Sorla war klar, dass nur ganz besondere Umstände Daful dazu bringen konnten, einem Außenstehenden wie Sorla diese Geheimnisse zu offenbaren. Der neue Gang mündete in einen runden Raum, dessen Wände mit Abbildungen aus blauen und goldenen Mosaiksteinchen bedeckt waren. Die Mitte des Raumes schmückte eine niedrige Brunnenschale, gefüllt mit klarem Wasser. Daful beugte sich hinab und schöpfte eine Handvoll. „Köstlich!“ murmelte er. Sorla tat es ihm nach und sagte: „Tul-uglur sei Dank!“ „Du irrst, Sorla. Dieser Raum entstand lange vor Tul-uglurs Zeit. Ich las in alten Schriften, dass er schon vorhanden war, bevor Sinn-he Fala der Leuchtende den Anod-Tempel erbauen ließ, unter dem wir uns jetzt befinden. Und das ist ja wirklich lange her.“ „Der Anod-Tempel wurde also auf ein älteres Bauwerk gesetzt?“ „Vielleicht. Oder dieser Raum war schon immer in der Erde verborgen. Wer soll das jetzt noch wissen? Jedenfalls befindet sich hier der Zugang zur Schatzkammer.“ Damit machte sich Daful daran, die Wände zu untersuchen, indem er vorsichtig mit den Fingern darüber fuhr und sie auf Unebenheiten prüfte. Doch nach einer halben Stunde hatte er noch immer nicht gefunden, was er suchte. „Bei Ak’men!“ stöhnte er schließlich. „Hier muss doch irgendwo eine Tür sein“, murmelte er. „Wozu sonst dient denn unser Schlüssel?“ Sorla zog die Schnur aus dem Hemd, woran der goldene Anhänger befestigt war – kaum halb so lang wie sein kleiner Finger, länglich-flach, mit winzigen Edelsteinen unregelmäßig besetzt. Wieso Schlüssel, dachte er; es sah eher aus wie ein Fisch, wie eine
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der Elritzen, die er früher im Gnomfluss mit bloßen Händen fing. Und spielerisch tauchte er das Glitzerding in die Brunnenschale. Eine dunkelblaue Wolke bildete sich im Wasser. Sorla zog erschreckt den Anhänger zurück, doch es war zu spät: ein Donnerschlag krachte durch den Raum. „Was hast du getan!“ schrie Daful. Blitze zuckten aus der Brunnenschale, schlossen sich wimmelnd zusammen und bildeten eine riesige leuchtende Kugel über dem Wasser. Plötzlich zerfiel die Lichtkugel, an ihrer Stelle stand eine große Gestalt mit grün glühenden Augen. Dunkle Flügel ragten halb entfaltet zu beiden Seiten. Sorla erkannte den Gegner des nächtlichen Ringkampfes; jetzt – im bläulichen Licht des Glygi – wirkte er noch schrecklicher, unmenschlicher. Er wuchs weiter, dehnte sich, bis seine Flügel die Wände berührten und das Haupt an die Decke stieß. Auf Daful und Sorla herabblickend, grollte er: „Was sucht ihr hier?“ Daful räusperte sich und sprach: „Großer Azluthos, Hüter des Herzens von Batiflim! Wir begehren Eintritt zur Schatzkammer, um das Regenszepter zu holen. Das Kaiserreich ...“ Weiter kam er nicht, denn Azluthos hatte ihn mit der flachen Hand vor die Stirne geschlagen, dass er rückwärts taumelnd zusammenbrach. „Schweig!“ murrte Azluthos mit so tiefer Stimme, dass Sorla sie eher als Beben im Magen wahrnahm als mit den Ohren. Dann wandte er sich Sorla zu; die grün glühenden Augen schienen sich in ihn zu bohren. „Dich kenne ich, Sorle-a-glach! Geh und hole das Regenszepter!“ Da öffnete sich vor ihnen ein Spalt, aus dem Licht in immer breiterem Strahl in den Raum fiel und Sorla blendete. Als sich seine Augen an das gleißende Licht gewöhnt hatten, sah er, dass die halbe Wand verschwunden war und eine riesige, hell erleuchtete Halle freigab. Berge von Gold bedeckten den Boden, Edelsteine lagen in blitzenden Haufen, dazwischen führte ein schmaler Pfad tiefer in die Halle hinein.
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Diesem Pfad folgte Sorla, vorsichtig bemüht, nicht auf die ausgebreiteten Schätze zu treten. Einmal dachte er daran, dass jeder dieser Edelsteine ein Vermögen wert war, dass jeder vernünftige Mensch, nicht nur ein gelernter Dieb wie er, alles daran setzen müsste, ihn zu erwerben – doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Er eilte unbeirrt weiter. Plötzlich stand er am Rande eines Abgrundes. Er legte sich flach auf den Boden zwischen all die scharfkantig glitzernden Edelsteine und schaute hinab. Was er sah, verwirrte ihn so, dass er sich die Augen rieb; denn tief dort unten breitete sich ein weites Tal mit Wiesen, Bächen, Dörfern, Wäldern. Alles war in fahles Licht getaucht, wie in Abendnebel. „Es ist nur ein Traum“, hörte Sorla eine rauhe Stimme hinter sich. Er fuhr hoch und sah einem wildbärtigen Mann ins Gesicht. Auf den zweiten Blick merkte Sorla, dass nur der Oberkörper menschlich wirkte, dieser aber nach unten in einen Pferdeleib überging. So stand das seltsame Wesen auf seinen vier Hufen zwischen den Goldhaufen und starrte, die Arme vor der muskelbepackten Brust verschränkt, auf Sorla herab. „Du hast noch keinen Zentaur gesehen“, stellte der Pferdemann fest, als bedürfe es keiner Frage. „Ich bin Arphelos. Was suchst du hier?“ Sorla starrte ihn verblüfft an – nicht nur wegen des Aussehens, sondern weil der Zentaur in der alten Sprache Sidhlands redete. Sorla hatte sie nicht mehr vernommen, seit er aus der Burg Brindhal entführt wurde. Dann besann er sich und richtete sich vollends auf. „Ich bin Sorle-a-glach“, antwortete er in derselben Sprache. „Ich will das Regenszepter holen.“ Arphelos nickte. „Komm mit!“ Er trabte zwischen den Goldbergen davon. Sorla warf einen letzten Blick auf die unwirkliche Landschaft tief unter ihm und folgte dem Zentaur. Bald gelangten sie zur Höhlenwand, wo sich ein Gang öffnete – ebenso hell erleuchtet wie die große Halle, die sie jetzt verließen. Es ging in steilen Windungen abwärts. Arphelos‘ Hufe
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klapperten voraus, Sorla hatte Mühe, ihm zu folgen. Die Wände des Gangs, blau gekachelt, waren mit silbernen Friesen von Fischen und Schlangen geschmückt, doch konnte Sorla sie in der Eile nicht näher betrachten. Schließlich öffnete sich vor ihnen eine weite Halle. Nach oben verlor sie sich in Nebel, durch den nur wenig Licht drang. Der Boden war in dämmriges Halbdunkel getaucht; dicht beieinander und soweit Sorla sehen konnte, lagerten Tierleiber – Pferde, wie es schien. Erst auf den zweiten Blick erkannte Sorla, dass hier Tausende von Zentauren schliefen. Die Bäuche hoben sich in langsamem Atem, manchmal zuckte ein Huf. „Was ist das hier?“ fragte Sorla leise. „Mein Volk siehst du, die Zentauren aus dem Tal von Batiflim. Sie retteten sich hierher, als ihre Heimat zerstört wurde. Das war vor vielen Jahrhunderten, seither schlafen sie und warten. Nur einer hält Wache. Wir lösen uns ab, seit drei Jahren ist die Reihe an mir.“ Sorla schwieg einige Zeit beeindruckt, dann sagte er: „Ich dachte erst, dies sei der Boden der Halle, auf die ich von oben aus herunter schaute, wo wir uns trafen.“ „So ist es.“ „Wo ist die schöne Landschaft, die ich sah?“ „Ich sagte doch: sie ist nur ein Traumbild. Durch Jahrhunderte entstanden aus dem Heimweh meines Volkes.“ Sorla nickte. „Und hier finde ich das Regenszepter?“ „Nein, das liegt oben.“ Damit wandte sich Arphelos wieder zum Gang, durch den sie gekommen waren. „Weshalb kamen wir dann hier herunter?“ „Damit mein Volk nicht vergessen wird.“ Arphelos trabte davon, Sorla eilte nach und fragte sich, welchen Unterschied es für die Zentauren mache, dass er sie schlafen sah. Ja, wenn Daful sie gesehen hätte! Der wollte schließlich Kaiser werden und war dann verantwortlich. Als sie den langen, blau gekachelten Gang durcheilt hatten und wieder oben in der hellen Halle anlangten, sah sich Sorla
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vergeblich um, wo denn das Regenszepter sei. Arphelos fasste ihn an der Schulter. Er hielt einen grünblauen Stab, schmal und kaum zwei Handspannen lang: „Hier, nimm!“ Der Stab fühlte sich kühl an und lag gut in der Hand. „Was macht man damit?“ fragte Sorla neugierig. Irgendwie widerstrebte ihm die Vorstellung, er solle das Regenszepter an Daful weitergeben. Arphelos lächelte. „Es dient zu vielem. Vorerst nur eines: Nimm den Stab in die Rechte und schlage mit der linken Hand auf das obere Ende!“ Sorla tat es, das Regenszepter verschwand. „Wo ist es hin?“ fragte er, auf seine leeren Hände starrend. „Tu es noch mal!“ Sorla schlug mit der flachen Linken auf die gekrümmte Rechte – der Stab war wieder da. „Sehr geschickt! Geht das immer so?“ Arphelos nickte. „Ja. Doch wenn du stirbst und das Szepter keinem Nachfolger übergeben konntest, kommt es hierher zurück.“ „Aha, also weil Agla Schlangenfreund umgebracht wurde ...“ „Nicht nur das“, unterbrach ihn Arphelos. „Erst wurde er gefoltert, damit er das Regenszepter herausgibt. Nur weil er standhaft blieb, ist es jetzt hier.“ „Ein Held also.“ „Aber er vergaß, sich um uns zu kümmern“, sagte Arphelos bitter, „ebenso wie all die Regenkaiser vor ihm.“ „Und wozu dient das Regenszepter, außer dass es hübsch aussieht?“ Arphelos lächelte. „Frage Azluthos.“ „Den Dämon dort draußen?“ „Den Hüter des Herzens von Batiflim. Ohne ihn hätte mein Volk keine Zuflucht gefunden. Nun geh, Sorle-a-glach, und vergiss uns Zentauren nicht!“ Ich werde es Daful ausrichten, dachte Sorla.
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* Sorlas Augen mussten sich erst wieder an das Dämmerlicht gewöhnen. Das blaugoldene Mosaik spiegelte sich in der Brunnenschale, davor stand Daful und streckte erwartungsvoll die Hand aus. Als Sorla hinüber ging und ihm das Regenszepter reichen wollte, trat die dunkle Gestalt Azluthos‘ dazwischen. „Nicht dir, Prinz Tok-Aglur, gehört es. Sondern deinem Sohn Sorle-a-glach, dem künftigen Schlangenfürst!“ Der Mann, der sich Daful nannte, starrte überrascht auf den Jungen. Sorlas Knie zitterten. Fast entfiel ihm das Szepter.
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Dreizehntes Kapitel:
KUNIL UND DER KÖHLER Sie rasteten am Ufer des Bato und hielten die nackten Zehen ins kalte Wasser getunkt. Sorla blinzelte in die glitzernden Wellen, nagte an einem gebratenen Taubenflügel und grinste blöd vor lauter Behaglichkeit. So ließ es sich aushalten! Die Reise von der Hochebene hierher war gar nicht so schwer gewesen. Denn das Hauptproblem, die Wasserknappheit, war durch das Regenszepter behoben. Azluthos hatte Sorla gezeigt, wie er den blaugrünen Stab halten und welche Worte er sprechen müsse, damit klares, erfrischendes Wasser in breitem Strahl heraus floss. Selbst die Maultiere wurden damit getränkt und trabten anschließend munterer über Stock und Stein als je zuvor. Das Beste aber waren die Gespräche mit seinem Vater. Wie vieles hatten sie einander zu erzählen! Sorlas Kindertage bei den Gnomen, Tainas wechselvolles Leben, Tok-aglurs Suche nach dem Anhänger ... Und dennoch blieb eine merkwürdige Scheu vor Tok-aglur, den er immer noch Daful nannte – aus Gewohnheit und weil dieser seine wahre Identität vor Dritten verbergen wollte. Ein Grund der Scheu war natürlich die Weigerung Azluthos‘, Tok-aglur das Regenszepter anzuvertrauen. Welche Vorzüge hatte Sorla denn gegenüber dem erfahrenen, weltklugen Vater? „Mein Sohn“, sagte Tok-aglur. „Du hast das Schlangenhafte, das Wunderbare; ich nicht. Vielleicht ist es so besser – du wirst Kaiser, und ich helfe mit Rat und Tat. Zusammen sind wir unschlagbar.“ Er lächelte und drückte Sorla an sich – damit schien das Thema erledigt. *
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Das klappernde, rutschende Bachgeröll war den Maultieren unangenehm, doch gab es keine andere Möglichkeit voranzukommen, denn die steilen Bergwälder reichten bis fast ans Ufer; auf dem schmalen Streifen dazwischen verhinderte das Gestrüpp der Erlen und Weiden jedes Durchkommen. Eines der Maultiere hatte ein Hufeisen verloren und hinkte; Tok-aglur verteilte seine Last auf die Rücken der übrigen Tiere, von denen aber ebenfalls eines bald zu lahmen begann. Zwei Tage ritten sie flussabwärts, dann .rochen sie Rauch und folgten ihm zu einer kleinen Blockhütte. Davor stand ein erkalteter Meiler, der gerade ausgeräumt werden sollte. Der Köhler starrte aus rußigem Gesicht auf Sorla und Tok-aglur. „Anod sei mit dir!“ grüßte Tok-aglur in der Sprache Batiflims. und stieg vom Maultier. Der Köhler schneuzte sich in die Hand, die er am Bein abwischte. Ansonsten schwieg er. „Gibt es in der Nähe ein Anwesen mit einem Schmied? Unsere Tiere müssen beschlagen werden.“ Der Köhler glotzte noch immer; Tok-aglur wiederholte die Frage auf Hernostisch – erfolglos. Doch als Tok-aglur ein kleines Silberstück aus seinem Beutel fischte und hochhielt, straffte sich die Haltung des Köhlers; er beugte sich vor, wagte aber nicht, die Münze zu berühren. „Das gehört dir, wenn du uns zu einem Schmied führst.“ Der Angesprochene nuschelte unverständlich. Tok-aglur hob fragend die Augenbrauen, da versuchte der Köhler es erneut, stammelte und zischte; sein Gesicht wurde vor Anstrengung rot, aber nichts Verständliches kam heraus. Im Gegenteil, je mehr er sich bemühte, desto hoffnungsloser wurden seine Bemühungen. Schließlich gab er auf, von seinem Sprachfehler geschlagen, und schaute trotzig zu den Reitern hoch. Tok-aglur seufzte. „Guter Mann, es reicht, wenn du bei meinen Fragen nickst oder den Kopf schüttelst. Kennst du in der Nähe einen Schmied?“ Der Köhler nickte. Offensichtlich verstand er Hernostisch.
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„Kannst du uns hinführen?“ Entschiedenes Kopfschütteln – der Köhler wies auf die Haufen von Holzkohle und den Meiler. „Ich verstehe. Du willst deine Arbeit nicht im Stich lassen. Würde das hier dich entschädigen?“ Tok-aglur hielt zusätzlich zu der Silbermünze ein kleines Goldstück hoch. Der Köhler starrte, als sähe er ein Wunder. Er trat vorsichtig näher und betastete mit groben, schwarzen Fingern die Münzen, bis Tok-aglur sie ihm entzog: „Nun sage, wirst du uns zum Schmied führen?“ Wieder schüttelte der Köhler den Kopf, doch fiel ihm die Entscheidung offensichtlich schwer. „Weißt du eine Möglichkeit, uns den Weg zu beschreiben, wenn du selbst schon nicht mitkommen kannst?“ In dem Mann arbeitete es. Seine Fäuste ballten sich, dann nickte er entschlossen und rief: „Kunil, komm her!“ Sorla war verblüfft, wie klar der Mann auf einmal reden konnte. Noch erstaunter war er, als aus der Blockhütte ein rotblondes Mädchen trat, hübsch, zartgliedrig, fast ein Kind. Doch der Blick, mit dem sie Sorla unter halb geschlossenen Lidern musterte, war der einer Frau. „Kunil, höre!“ sagte der Köhler. „Diese Fremden wollen zum Schmied. Ich bringe sie hin. Räume du derweil den Meiler aus.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Kunil! Schau, das Geld!“ Er zeigte auf die beiden Münzen, die Tok-aglur noch immer in der flachen Hand hielt. Kunil wischte die roten Haarsträhnen aus der Stirne. „Nein.“ Der Köhler hob die Hand, als wolle er sie schlagen, besann sich aber. „Gut, bring du sie hin. Aber komm sofort zurück.“ Kunils Augen blitzten unter ihren Haarsträhnen auf. „Morgen abend. Rascher geht’s nicht.“ Sie ging in die Hütte, um sich reisefertig zu machen. Der Köhler wandte sich Tok-aglur und Sorla zu, um ihnen
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etwas zu sagen, aber das misslang ebenso kläglich wie beim ersten Mal. Er brach ab, als Kunil zu ihnen trat, mit Rucksack und Mantel in den Händen. „Er meint“, sagte sie, „ihr sollt auf mich aufpassen.“ „Ja!“ Der Köhler hielt sie an den Schultern gepackt, seine rußigen Fäuste zitterten. „Mach keine Dummheiten, sonst werde ich wütend!“ Kunil stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. „Was denkst du! Ich bin dein braves Mädchen, oder?“ Inzwischen hatte Tok-aglur eines der Maultiere von seinen Lasten befreit und auf dessen Rücken eine Satteldecke für das Mädchen gelegt. Das abgeladene Zeug – Futtersäcke und leere Wasserbehälter – trug Sorla zur Blockhütte hinüber. „Bis morgen also!“ sagte Tok-aglur. Der Köhler nickte wortlos. Als sie von der Lichtung weg in den Wald ritten, wandte Sorla sich um – der Köhler stand noch immer neben seinem Meiler und blickte ihnen nach. „Dein Vater sorgt sich sehr um dich“, sagte Sorla zu Kunil, die vor ihm ritt. „Wieso Vater?“ Sie lachte. * „Dort ist es!“ sagte Kunil. Sorla hatte ein kleines Dorf erwartet, an der Furt eines Flusses gelegen oder auf einer gerodeten Anhöhe im Wald. Stattdessen sah er sich einer Felswand gegenüber, in der eine dunkle Grotte offenstand wie ein zahnloses Maul. Sie ritten auf dem schmalen Pfad durch das Geröll näher heran, dann rief Kunil durch die trichterförmig vorgehaltenen Hände ein lautes „He, ihr da drinnen!“ Heraus trat ein Zwerg – vierschrötig mit langem grauem Bart. Er blickte grimmig unter tief hängenden Brauen, ansonsten
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wartete er ab. „Der Köhler schickt mich“, rief Kunil. „Diese Fremden brauchen einen Hufschmied für ihre Tiere.“ „Hufschmied – nein“, rief der Zwerg in holprigem Hernostisch zurück. „Ihr habt doch eine Schmiede!“ beharrte Kunil. „Wozu sonst braucht ihr unsere Holzkohle?“ „Schmiede – besonders. Nicht Tiere.“ Er schüttelte nachdrücklich das Haupt, dass der Bart hin und her schwang. Damit war für ihn die Unterhaltung beendet; er wandte sich ab, um in die Höhle zurück zu stapfen. Sorla fand es Zeit, sich einzumischen. „Beim Barte Brothenfimpirs!“ rief er in der Guten Sprache der Berge. „Ich bin Sorle-a-glach, Tok-aglurs Sohn, und grüße dich, oh Zwerg!“ Der Zwerg hatte sich überrascht umgedreht – schon bei den ersten Worten - und starrte ihn ein paar Augenblicke an. Dann antwortete er: „Ich grüße dich, Sorle-a-glach. Murlingir bin ich, Sohn des großen Fenruthin. Seit Jahren hörte ich nicht mehr den Klang der Guten Sprache der Berge. Und aus dem Mund eines Nichtzwerges hörte ich sie noch nie. Komm mit deinen Gefährten herein, damit wir plaudern.“ So geschah es, selbst die Maultiere wurden in die Höhle geführt, dort untergebracht und mit Wasser und Futter versorgt. Tok-aglur flüsterte Sorla zu: „Wie hast du das hingekriegt, mein Junge?“ Kunil aber schaute eingeschüchtert und beeindruckt umher. Und es gab viel zu sehen, denn die Höhle, nach außen so unscheinbar, öffnete sich, nachdem Murlingir eine Steintür beiseite drückte, zu einem ansehnlichen Wohnraum, erhellt nicht nur vom lodernden Kaminfeuer, sondern überdies von zwei leuchtenden Steinen, wie sie Sorla in der Halle des Zwergenkönigs gesehen hatte. An der Rückwand ließen drei Türen vermuten, dass weitere Gänge ins Innere des Berges führten. Murlingir räumte von einem breiten Tisch allerlei Pergamente und Bücher weg, dann öffnete er eine der Türen und wuchtete ein Fässchen Met heraus, auf dem ein Laib Brot und der abgehäutete Hinterlauf eines kleineren Huftieres
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lagen. „Ist der Schlegel von einem Reh?“ fragte Tok-aglur. „Nicht Reh – Rentier“, radebrechte der Zwerg. „Wo gibt es hier Rentiere?“ „Nicht hier – im Norden. Freunde schicken.“ Tok-aglur schaute verwundert, doch Sorla sagte in der Guten Sprache der Berge: „Aha, hinter der Türe ist ein Brückenzeichen, oder?“ „Richtig. Du weißt viel über uns Zwerge, junger Mensch. Dieses Brückenzeichen ist sehr nützlich, denn ich habe nicht die Zeit, mich selbst um die Beschaffung meiner Nahrung zu kümmern. Zu viel zu tun hier. Es ist meine Tagesration. Aber es bleibt immer viel übrig und ich muss es wegwerfen. Also könnt ihr unbesorgt essen, soviel ihr wollt.“ Er redete in einem fort; es schien ihm wohl zu tun. Gleichzeitig eilte er geschäftig hin und her, steckte das Fleischstück an einen Bratspieß und befestigte diesen über dem Kaminfeuer. Er stellte vier silberne Krüge auf den Tisch und füllte sie mit Met. Dann eilt er zum Kaminfeuer, um den Braten zu wenden. Beiläufig sagte er zu Sorla: „Das Menschenmädchen kenne ich, sie wohnt bei dem Mann, der die Holzkohle bringt. Aber wer ist der Mann?“ Sorla stieß Tok-aglur an: „Murlingir fragt, wer du bist.“ Tok-aglur lächelte aus seinen dunklen Augen und stellte sich auf Hernostisch als Daful vor. Murlingir nickte, er schien damit zufrieden zu sein. * Erst am nächsten Morgen erinnerten sie sich des eigentlichen Anlasses ihres Besuches. Zu lange hatten sie getrunken, gegessen, vor allem aber geredet. Dabei erzählte Sorla von seiner Kindheit bei den Gnomen, wo er die Gute Sprache der Berge lernte. Auch berichtete er den wesentlichen Hergang des
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Kampfes gegen Ogluskshaddena in den Weißen Bergen, verzichtete aber mit Rücksicht auf Murlingir darauf, das Verhalten der Kämpfenden Zwerge oder gar des Zwergenkönigs zu kritisieren. Tok-aglur wollte seine wahren Ziele und seinen Namen nicht preisgeben. Er hatte sich ja sogar als Vater Sorlas verleugnet. Daher erzählte er als Daful unverfängliche Erlebnisse, beispielsweise wie vor zwei Tagen sein Maultier gescheut hatte, denn vor ihnen stand unvermutet ein riesiger Bär. „Ich fiel zu Boden und verstauchte den Knöchel. Ich versuchte wegzuhumpeln. Der Bär aber war wütend. Wir mussten ihn aufgeschreckt oder sonstwie verärgert haben, jedenfalls ging er auf mich los.“ „Maultier – nicht vor dir?“ fragte Murlingir. „Nein, das war ja seitlich ausgebrochen. Jedenfalls wäre es mir schlimm ergangen, wenn nicht Sorla gewesen wäre. Er warf sein Messer und tötete den Bären.“ „Messer klein – Bär groß“, sagte Murlingir zweifelnd. Sorla holte Schlangenzahn hervor: „Ich weiß, Murlingir. Doch dieses Messer ist schlimm. Mir sagte jemand einmal, es wolle von sich aus töten – egal wen. Ich habe bisher nur einmal erlebt, dass es sein Ziel verfehlte. Aber derjenige war sehr geschickt und hatte großes Glück.“ Murlingir beäugte Schlangenzahn interessiert. Nebenher fragte er: „Wer war – hatte Glück?“ „Ich selbst war es, Atne sei Dank. Aber das ist schon lange her.“ Der Zwerg sah ihn so nachdenklich an, dass es Sorla peinlich war. Um den Eindruck abzuschwächen, fügte er hinzu: „Vielleicht konnte der vorige Besitzer ja auch nicht so gut werfen.“ „Und du – du guter Werfer!“ Sorla nickte, denn es traf ja zu. Wieder schaute ihn der Zwerg so nachdenklich an, aber das mochte am vielen Met liegen. Auch Kunil konnte einiges erzählen. Zunächst saß sie schüchtern da, aber ein paar Schlucke Met – den sie nicht gewohnt war – reichten, ihre Zunge zu lösen. Ihre Eltern hatten ein, zwei Tagesreisen weg von hier ein Stückchen Wald gerodet und eine
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Blockhütte gebaut, in der sie mit fünf Ziegen lebten. Kunil war ihr einziges Kind. Vor drei Jahren, da war sie dreizehn, starb die Mutter im Kindbett, kurz darauf wurde ihr Vater von einem stürzenden Baumstamm erschlagen. Kunil begrub den Vater neben der Mutter, dann brachte sie die Ziegen zum Nachbarn, der einen halben Tag entfernt wohnte. Sie selbst hätte dort bleiben können, denn es waren freundliche Leute und Kunil ein anstelliges Kind, aber sie wollte den Fluss hinunter zum nächsten Dorf, wo ihre Tante als Magd arbeitete. Dort kam sie allerdings nie an, denn schon am ersten Tag ihrer Reise begegnete sie einem Pelztierjäger, der sie vergewaltigte und danach als seine Gefangene mit sich schleppte, bis es ihm zu umständlich wurde. Er beschloss, sie zu verkaufen, und bot sie auch dem Köhler an. Der aber kannte die Familie des Mädchens; in seinem Zorn erschlug er den Pelztierjäger. Kunil blieb nun bei ihm. „Ich hab ihn lieb“, sagte sie. Sorla erinnerte sich, wie der Köhler die Hand hob, als wolle er das Mädchen schlagen. Doch wie er noch überlegte, ob er diesen Einwand machen solle, fuhr sie fort: „Die Leute lachen über ihn, weil er nicht reden kann. Da wird er oft wütend und ist unsicher. Mit mir kann er reden. Er braucht mich.“ Sie nickte in ihren Metkrug. All das war am Tag zuvor, jetzt standen sie bei den Maultieren, und Murlingir schaute sich die Hufeisen an. Zu Sorla gewandt sagte er in der Guten Sprache der Berge: „Ich habe so was noch nie gemacht, aber das hier scheint mir nicht schwierig.“ Zu Tok-aglur sagte er: „Heute abend – alles fertig.“ Abends war nicht nur ein neues Hufeisen geschmiedet und damit das Maultier beschlagen, sondern bei allen Tieren waren die Eisen gerichtet. „Neue Erfindung – Eisen nicht abfallen!“ erklärte Murlingir stolz. Sorla erfuhr, als er in der Guten Sprache der Berge nachfragte, der Zwerg habe eine besondere Art von Hufnägeln verwendet, die sich nie mehr lockern, außer man wolle das, dann aber sei es ganz einfach. „Wunderbar!“ lobte Tok-aglur. „Erfindung von Fenruthin – mein Vater berühmter
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Forschender Zwerg.“ „Was hat dein Vater denn so geforscht?“ „Oh, vieles“, erwiderte Murlingir wortkarg. Über die Bezahlung der Hufeisen war vorher nicht verhandelt worden. Murlingir hatte weit mehr geleistet, als von ihm erbeten war. Ein gewöhnlicher Hufschmied hätte einen Kurno verlangt. Doch als Tok-aglur dem Zwerg ein Goldstück anbot, nahm er es gelassen an, als sei dies der angemessene Lohn. Es war spät, so nahmen sie Murlingirs Einladung an, noch einmal bei ihm zu übernachten. Wieder wurde gegessen, getrunken, gelacht, Kunil sang mit ihrem dünnen Stimmchen ein Lied nach dem anderen – sie fielen spät aufs Lager und schliefen lange in den Morgen. Bevor sie los ritten, nahm Murlingir Sorla beiseite. „Mit dem Brückenzeichen kam heute früh eine Nachricht von Hurmothin.“ „Hurmothin!“ rief Sorla. „Woher weiß er ... hast du ... wie geht es ihm?“ Murlingir schmunzelte in seinen Bart, entrollte ein Blatt und las feierlich daraus vor: „Sage Sorle-a-glach: Als wir Ogluskshaddena besiegten, das Übel am Ende des Bartes, siechte der Besitzer des Bartes dahin und starb. Nun wurde ich zum König gewählt. Das ist nicht so lustig wie Trolle zu schlachten. Der kleine Dieb soll aber wissen, dass mir seine Art, erst nachzuschauen und nachzudenken, gefallen hat. Wann immer ich losschlagen will, denke ich an Ygrottir, meinen tapferen Bruder, und seine Gespielin Borletgar. Das ermahnt mich, besonnenere Entscheidungen zu treffen. Und sage Sorle-a-glach, dass er bei uns jederzeit willkommen ist. Diesen Brief sprach der König dem Dienenden Zwerg Hurtin in die Feder. Höret die Worte des Königs!“ Murlingir rollte das Blatt zusammen. „Da ist noch etwas, Sorle-a-glach. Diesem Daful darfst du nicht trauen! Er spielt seine Rolle geschickt, aber was er sagt, ist nicht wahr.“ Sorla nickte: „Ich werde auf der Hut sein.“ Was sonst hätte er sagen können? Er durfte ja Tok-aglurs Bestreben, als
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hernostischer Prinz unerkannt zu bleiben, nicht vereiteln. Dann fiel ihm die Frage wieder ein, die er schon am Tage zuvor stellen wollte: „Weshalb, Murlingir, lebst du hier so alleine und weit entfernt von den Weißen Bergen?“ Dieser verschränkte die Arme über dem Bauch und schaute Sorla prüfend an. „Da Hurmothin dich schätzt, will ich diese Frage beantworten. Ich bewache hier einen der alten Hebel der Macht. Nur noch zehn Jahre, dann werde ich von einem meiner Mitzwerge abgelöst.“ „Und was ist ... ?“ setzte Sorla zur nächsten Frage an, doch Murlingir schüttelte ihm zum Abschied die Hand und stapfte in seine Höhle zurück. Während sie zur Köhlerhütte zurück ritten, fiel Sorla auf, wie still und in sich gekehrt Kunil auf ihrem Maultier saß. „Was bedrückt dich?“ fragte er. „Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Wir hatten ihm gesagt, dass wir nur einen Tag weg sind; nun sind es zwei.“ „Na und?“ Sie krümmte sich wortlos zusammen. * „Wo warst du so lange?“ Der Köhler stand mit geröteten Augen vor seiner Hütte. Kunil wollte antworten, da schrie er: „Ich mach mir Sorgen; ist dir das egal?“ „Nein, aber ...“ „Die ganze Nacht hab‘ ich gewartet, und heute den ganzen Tag! Was hast du getrieben?“ „Die Hufeisen – der Zwerg brauchte bis gestern dafür“, stammelte Kunil. „Es sind ganz besonders gute Hufeisen.“ „Zwei Nächte warst du weg!“ Der Blick des Köhlers fiel auf Sorla. Sein Gesicht verfinsterte sich, er schrie Sorla an. Doch blieb es Gestammel, unverständliches Gebrüll. Da packte er Kunils
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Schultern: „Mit dem hast du’s getrieben! Weil er hübsch ist und jung! Weil er reden kann! Und mir erzählst du eine dumme Geschichte!“ „Nein!“ schluchzte sie. Sorla rief: „Du tust ihr unrecht. Da war nichts!“ Doch der Köhler schüttelte den zornroten Kopf. „Jetzt hilft dir der Bengel natürlich! Und kommt sich ganz toll vor!“ Tok-aglur mischte sich ein: „Höre, Köhler! Ich kann es bezeugen. Der Zwerg hat sich erst heute früh um die Hufeisen gekümmert – wir konnten ja nicht vorher weg.“ Der Köhler starrte ihn an, drehte sich wortlos um und verschwand, unter dem niedrigen Querbalken sich duckend, in der Blockhütte. „Warte!“ rief Kunil und rannte hinterher. Man hörte das Geräusch von Schlägen; Kunil schrie, blieb aber in der Hütte. „Na so was!“ sagte Sorla. „Wie verrückt kann man werden?“ „Junge“, antwortete Tok-aglur, „du weißt noch nicht, was Eifersucht ist: ein Fluch, eine unheilbare Krankheit. Möge Frena dich davor bewahren!“ Die Sonne war schon hinter den Bergen untergegangen, im Tal wurde es dämmerig und kühl. Also beschlossen Tok-aglur und Sorla, am Waldrand ihr Lager aufzuschlagen. Von der Blockhütte jenseits der Lichtung hörten sie die Stimmen Kunils und des Köhlers – manchmal leise, dann wieder wütend ausbrechend oder lauthals weinend. „Was soll ich tun!“ schrie einmal der Köhler so laut, dass Sorla aus dem Halbschlaf hochschreckte. „Wie soll ich sicher sein, dass zwischen euch nichts war?“ „Ich schwör’s! Bei Frena!“ „Und wenn du recht hast?“ stöhnte der Köhler. „Wie konnte ich dich schlagen? Du bist doch mein Einziges!“ Sorla hörte, wie er aus der Hütte rannte. „Bleib!“ jammerte Kunil, „Ich liebe dich!“ Doch das Geräusch seiner schweren Schritte verschwand zwischen den Bäumen und wurde vom weichen Moos verschluckt. Endlich wurde es still, Sorla fiel in den lange entbehrten Schlaf.
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Am frühen Morgen wurde Sorla wachgerüttelt. Vor ihm im Morgennebel stand Kunil, bleich und zitternd. „Hilf mir, ihn abzuschneiden“, sagte sie. Der Köhler hing am Ast einer Eiche; die Zunge hing aus dem dunkel geschwollenen Gesicht. Von den wirren Haarsträhnen tropfte Tau.
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Vierzehntes Kapitel:
UFTAR AUS BISHOUMAT Sie standen an der Anlegestelle. Kunil wandte sich dem Dorf zu, wo ihre Tante wohnte; Sorla und sein Vater stiegen mit ihren Maultieren hinüber auf das Floß, mit dem sie den Bato weiter hinab fahren wollten. Das Floß bestand vorne nur aus drei Baumstämmen, wurde nach hinten aber immer breiter; so dass es ein Dreieck bildete, auf dem weit mehr Personen und Tiere Platz gefunden hätten, als tatsächlich darauf waren: neben Tok-aglur und Sorla noch die fünf Flößer und zwei Männer, von denen einer ein Pferd mitführte. Da dieses sich nicht mit den Maultieren vertrug, waren alle froh, als der Mann nach wenigen Tagen das Floß wieder verließ. Die Reise ging gemächlich vonstatten. Tagsüber glitten sie den Fluß hinab, vor Regen und Sonne durch eine aufgespanntes Segeltuch geschützt. Abends machten sie das Floß am Ufer fest, manchmal auch an der Anlegestelle einer Siedlung, wo sie sich die Beine vertreten, Vorräte kaufen und eine Kneipe aufsuchen konnten. Waren sie anfangs noch von waldigen Bergen umgeben, so wurde nach und nach das Land flacher; Gehöfte, Äcker, Obstgärten häuften sich. Später fuhren sie an Olivenhainen vorbei, an Weingärten, Korkeichen, wogenden Weizenfeldern. „So liebe ich Hernoste!“ sagte Tok-aglur. „In diesen nördlichen Provinzen ist das Land sehr fruchtbar, auch ohne künstliche Bewässerung.“ Diesen Abend gelangten sie in eine größere Stadt namens Bishoumat, die sich zu beiden Seiten des Flusses erstreckte. Das Ufer war befestigt, mehrere Brücken verbanden in gemauerten Bögen die beiden Hälften der Stadt. Auf ihnen wimmelten die Menschen, drängten sich Karren, unter ihnen schoben sich Lastkähne durch die Brückenbögen.
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Das Floß war zu breit, um durch die Brückenbögen zu passen, also musste es in kleinere Teile– jeweils nicht mehr als sechs Stämme breit - zerlegt und außerhalb der Stadt wieder zusammengebunden werden. „Wozu diese Umstände?“ wunderte sich Sorla. „Die können die Stämme doch schon hier verkaufen, oder?“ „Es sind besondere Bäume“, erklärte Tok-aglur. „Solch lange, gerade Stämme findet man nur in Batiflim. Man braucht sie aber als Mastbäume der hernostischen Schiffe.“ Die Weiterfahrt war für den nächsten Tag geplant. Daher führten Sorla und Tok-aglur ihre Tiere von dem Floß herunter und stellten sie für die Nacht in einem Mietstall unter. Danach schlenderten sie über den Marktplatz von Bishoumat, froh über die Abwechslung. Plötzlich stand vor ihnen der Mann, der sich vor drei Tagen mit seinem Pferd am Ufer hatte absetzen lassen. Sorla grüßte, dieser aber zeigt auf Tok-aglur und schrie: „Da ist der Mörder!“ Hinter ihm standen sieben Stadtwachen mit Spießen. Als Sorla und Tok-aglur sich umdrehten, um zu fliehen, warteten dort weitere, und die beiden wären fast in die Spieße hinein gerannt. Schnell wurden sie überwältigt, entwaffnet, abgeführt. Im Gefängnis schob man sie zunächst in die Schreibstube. Der Schreiber nahm mürrisch ihre Namen auf. „Daful“, sagte Tok-aglur. „Aus Kriteis.“ „Hense“, sagte Sorla. „Aus dem Fürstentum Ailat.“ „Ihr seid verhaftet“, sagte der Schreiber abschließend, „weil ihr einen Köhler in den nördlichen Provinzen ermordet und beraubt habt.“ „So ein Unsinn!“ empörte sich Sorla. „Wer behauptet denn so was?“ „Es gibt Zeugen!“ Der Schreiber hob bedeutungsschwer die Brauen. „Es gibt Zeugen, die euer Verbrechen beobachteten!“ „Das ist doch Unsinn!“ rief Sorla erneut. „Der Köhler hat sich selbst aufgehängt.“ „Das könnt ihr dem Richter sagen“, murmelte der Schreiber
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gelangweilt und winkte, die Wachen sollten die Gefangenen entfernen. In der Zelle wollte sich Sorla schon wieder aufregen, aber Tok-aglur fasste ihn am Arm: „Das nützt nichts, wenn du herumschreist. Ich frage mich, weshalb wir verhaftet wurden.“ „Na, weil uns dieser Kerl verleumdet hat.“ Tok-aglur winkte ab. „Schon klar, aber was steckt dahinter?“ Mitten in der Nacht –nach langem Reden waren sie endlich eingeschlafen – wurden sie vom Knarren einer Tür geweckt. Vor ihrer Zelle standen drei Wachleute und ein kleiner, dicker Mann in kostbarer Kleidung. Alle vier trugen Laternen. „Seid ihr Daful und Hense?“ flüsterte der Dicke. „Ich bin hier, um euch zu helfen. In der Verhandlung morgen wird man euch zum Tod am Galgen verurteilen. Der Richter ist streng und ungeduldig; er hat anderes zu tun, als sich eure Erklärungen anzuhören, zumal der Zeuge, der euch belastet, hier einen guten Ruf genießt. Doch gegen ein angemessenes Entgelt – für notwendige Auslagen und die Bezahlung der Wachleute – kann ich euch zur Flucht verhelfen.“ Er faltete seine Hände, was wegen der vielen Ringe nicht ganz einfach war. Aus Nächstenliebe tut der das nicht, dachte Sorla. Doch Tok-aglur legte ihm die Hand auf den Arm und sagte: „Hört sich gut an. Wie hoch soll das Entgelt denn sein?“ „Zwei Kaiser für euch beide.“ „Kaiser?“ fragte Sorla argwöhnisch. Tok-aglur lächelte. „Hernostische Goldmünzen. Eigentlich heißen sie Kaiser-Goldstücke, weil sie in seinem Namen geprägt werden, doch wer hat Zeit für solch lange Wörter?“ Der kleine Dicke grinste: „Stimmt. Und deshalb entscheidet euch schnell.“ „Zwei Kaiser sind wir wert“, antwortete Tok-aglur und zwinkerte Sorla zu. Er kramte innerhalb seines Hemdes umher und zog zwei Münzen hervor. Als der Dicke durch die Gitterstäbe danach greifen wollte, zog Tok-aglur sie zurück. „Erst holt uns hier
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raus.“ „Es gibt kein Vertrauen in dieser Welt“, seufzte der Dicke. „Ich schlage vor: Wir öffnen die Zellentür, ihr gebt uns den ersten Kaiser, dann zeigen wir euch den Fluchtweg und bekommen den zweiten. Ich muss kaum erwähnen, dass diese tapferen Männer hier sehr geschickt im Gebrauch ihrer Waffen sind.“ Er wies auf die drei Wachleute, die neben ihm standen und zur Bekräftigung seiner Worte finstere Mienen schnitten. „Einverstanden?“ Tok-aglur nickte. Einer der Wachleute trat heran und schloss die Zellentür auf. Als die beiden Gefangenen heraustraten, sagte Tok-aglur beiläufig: „Unsere Waffen hätten wir natürlich gerne zurück.“ „Zu schwierig“, bedauerte der Dicke. „Wer soll wissen, wo die sind?“ „Noch ein Goldstück, nur für euch Wachleute, wenn ihr unsere Sachen bringt.“ „Keine Zeit!“ wehrte der Dicke ab, doch die Wachleute waren anderer Ansicht. Der mit dem Schlüsselbund eilte davon und kam kurz darauf mit den beiden Dolchen und den Rucksäcken zurück. Erleichtert nahm Sorla Schlangenzahn an sich, während Tok-aglur einen dritten Kaiser hervor holte und dem Wachmann gab. „Dass euch das Zeug so viel wert ist“, wunderte sich der Dicke scheinbar gelassen, doch Sorla sah, wie seine Augen wütend blitzten. „Ein wahrer Mann ist lieber ohne Geld als ohne Waffen“, zitierte Tok-aglur ein Sprichwort aus Batiflim. In hernostischer Übersetzung klang es nicht so schwungvoll, doch die Wachleute nickten. „Auch Geld ist eine Waffe“, lächelte der Dicke herablassend. „Doch jedem das, was ihn glücklich macht.“ Damit hielt er die Hand auf, und Tok-aglur legte wie abgemacht die erste Goldmünze hinein. Nun führte sie der kleine Dicke den Gang entlang. Die Wachleute folgten Sorla und Tok-aglur mit gesenkten Spießen. Das
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kam Sorla merkwürdig vor, denn weshalb wollte man verhindern, dass sie wegliefen, wenn man ihnen zugleich zur Flucht verhalf? Dann fiel ihm ein, dass sie noch ein Goldstück bezahlen sollten – das erklärte alles. Es schien ein weitläufiges Gebäude mit mehreren Stockwerken zu sein, oder mehrere Gebäude waren durch Flure, Türen, Kellerräume verbunden. Jedenfalls führte der Dicke sie treppauf, treppab und durch verwinkelte Gänge, während die Laternen der Wachleute schwankende Schatten an die Wände warfen. Schließlich öffnete der Dicke eine schmale Eisentür mit einem Schlüsselbund, den er an einer Leine bei sich trug, und zwängte sich hindurch. „Mir nach, aber leise!“ drängte er. „Ihr Wachleute wartet oben!“ „Wir brauchen Licht dort unten“, sagte Tok-aglur. Einer der Wachleute reichte ihm seine Laterne. Alle drei schüttelten ihnen die Hände zum Abschied – das Kaiser-Goldstück schien ihre Gemüter sehr bewegt zu haben. Es ging eine enge Wendeltreppe hinab; die Luft roch feucht und muffig. Die Treppe führte in eine Kammer mit einer weiteren verschlossenen Türe, wo der Dicke auf die beiden wartete. Seine Laterne stand neben ihm auf dem Boden. „Hier trennen sich unsere Wege“, sagte er. Er trat zu einem Hebel, der neben der Tür aus der Wand ragte, und schob ihn mit beiden Händen nach oben. Dann öffnete er die Tür mit einem seiner Schlüssel. Dahinter war eine schmale Steintreppe, die ins Dunkle hinab führte – ohne Geländer, ohne Wände, rechts und links nur Dunkelheit. „Da sollen wir runter?“ fragte Tok-aglur misstrauisch. Der Dicke nickte. „Die Treppe führt in die alten Zisternen. Ihr findet dort unten einen Gang, der euch vor die Stadtmauern führt. Eine Laterne habt ihr ja.“ Er hielt die Hand auf. Tok-aglur legte das zweite Goldstück hinein. „Ein ertragreicher Abendausflug für euch“, sagte er. Der Dicke lächelte und trat beiseite, um den Weg zur Steintreppe freizugeben. Tok-aglur ging vorsichtig voraus, Sorla
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folgte ihm. Der Dicke stand oben in der offenen Tür und blickte ihnen nach. Als sie ungefähr zwanzig Stufen hinabgestiegen waren, schrie er plötzlich: „Stirb, Prinz Tok-aglur, und sei verdammt!“ Er drückte den Hebel hinunter, die Steinstufen unter Sorla verschwanden – sie hatten sich weggedreht und bildeten eine schiefe Ebene, welche Sorla und Tok-aglur hinabglitten. Sorla aber packte im Fallen sein Messer und stach es in eine der Spalten zwischen den Stufen. Mit einem Ruck wurde sein Rutschen abgebremst; er lag, sich an Schlangenzahn haltend, mit dem Rumpf und einem Bein auf der Steinrutsche, das andere Bein hing, ohne Halt zu finden, darüber hinaus. Obendrein war es plötzlich dunkel –der Dicke hatte die Türe zugeknallt, Tok-aglurs Laterne war wohl in die Tiefe gefallen. „Vater?“ flüsterte Sorla. „Nenne mich Daful!“ kam es leise zurück. „Atne sei Dank! Ich dachte, du seist tot!“ „Ich konnte den Dolch zwischen die Stufen stoßen. Schade, dass ich die Laterne fallen lassen musste.“ Und nach zwei Atemzügen: „Wo steckst du, Junge? Ich dachte, ich muss dich auffangen.“ „Ich habe auch den Dolch benutzt, wie du. Das lernte ich bei Meister Eidwon in Seedorf.“ „Der gute Eidwon!“ Tok-aglur lachte leise, als säßen sie am Lagerfeuer statt in der Falle. „Aber genug geplaudert. Was ist mit deinem Gnomenstein? Wir könnten etwas Licht gebrauchen.“ Tatsächlich, es war merkwürdig, dass sich der Glygi nicht zeigte. Gerne hätte Sorla den beruhigenden hellblauen Schimmer gesehen, ganz zu schweigen davon, dass es schlimm war, in der völligen Finsternis nicht zu wissen, wie tief unter ihnen der Boden war oder was sonst an Überraschungen ihrer harrte. „Es muss einen Grund geben. Vielleicht werden wir beobachtet; das mag mein Glygi nicht.“ „Der Dicke vielleicht“, stimmte Tok-aglur zu. „Er will sichergehen, dass wir tot sind. Wenn hier was leuchtete, wäre er gewarnt.“
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Sie schwiegen, Sorla überlegte fieberhaft. In seiner rechten Hand begann der Dolchgriff, an den er sich geklammert hatte, zu schmerzen. Sorla wechselte die Hand, tastete mit der nun freien Hand nach der Kante der Steinrutsche und zog sich vollends hinauf, so dass sein Bein nicht länger ohne Halt herabhing. Das war bequemer, doch wie sollte es weitergehen? „Was sollen wir also tun, Daful?“ „Ich glaube nicht, dass wir die Tür dort oben öffnen könnten, selbst wenn dahinter niemand auf uns wartet.“ „Ich wünschte, mein Glygi würde uns leuchten. Wenn bloß der Dicke da oben verschwände!“ „Vielleicht ist er längst weg, Sorla. Vielleicht ist dein Glygi magisch gelähmt.“ „Wie meinst du das?“ „Ich habe es mal erlebt. Ein Raum war mit magischer Kraft so angefüllt, dass alle schwächere Magie darin erstickte. So könnte der Dicke sichergehen, dass kein Zauber uns helfen kann.“ Sorla dachte darüber nach. Der Gnomenstein war ihm seit frühestem Gedenken vertraut, gewissermaßen ein Teil von Sorla selbst, und schien ihm ganz natürlich. Schrecklich zu denken, dass dieser kleine treue Begleiter erstickt, gelähmt sein sollte! „Und mein Regenstab?“ flüsterte Sorla mit gepresster Stimme. „Wäre der stark genug, um sich nicht ersticken zu lassen?“ „Guter Einfall. Versuch’s doch mal!“ Aber das ging ja nicht – wie sollte Sorla die Hände zusammenschlagen, solange er sich am Dolchgriff festhalten musste? Sie schwiegen wieder. Jetzt begann auch Sorlas andere Hand zu schmerzen. „So geht das nicht weiter, Daful“, flüsterte er. „Stimmt. Wir müssen versuchen, nach unten weiterzukommen. Vielleicht gibt es ja einen Ausweg. Gib mir deinen Dolch herunter!“ Sorla zog vorsichtig Schlangenzahn aus der Ritze und packte den Griff mit den Zähnen, um die Hände frei zu haben. Denn schon geriet er ins Rutschen, und er musste die Außenkanten der
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Steinrutsche packen, um die Fahrt abzubremsen und nicht seitlich in die Tiefe zu fallen. Bald stieß er mit den Füßen gegen Tok-aglurs Kopf oder Schultern und kam aufatmend zum Stillstand. Seinem Vater den Dolch zuzureichen, war noch einmal eine kitzlige Sache, doch sie gelang. Und nun arbeitete sich Tok-aglur langsam nach unten weiter, indem er die Dolche abwechselnd herauszog und eine Stufe tiefer in die Ritze steckte. Sorla stand auf seinen Schultern und hatte nur darauf zu achten, nicht seitlich in die Tiefe zu stürzen. Plötzlich hielt Tok-aglur inne. „Was ist los?“ flüsterte Sorla. „Die Stufen sind zu Ende. Hier ist nichts mehr; ich weiß nicht weiter.“ „Oh Atne!“ Sie schwiegen, Sorla dachte verzweifelt nach. In der lastenden Stille hörte er das Blut in seinen Schläfen pochen, so angestrengt hielt er sich fest, um nicht zu fallen. Plötzlich fiel ihm ein anderes Geräusch auf, ein kaum vernehmbares Scharren und Zischen – so schwach, dass er es zunächst für seinen eigenen Atem gehalten hatte. Jetzt aber, wo er darauf achtete, verstand er Fetzen von Gedanken und Sätzen: „Nur warten ... das Fressen fällt bald herunter.“ Schlangengezisch war das, ihm wohlbekannt und verständlich. „Vater“, flüsterte Sorla, „da unten warten Schlangen auf uns.“ „Bei Ak’men! Bist du sicher?“ Sorla antwortete ihm nicht, sondern zischelte: „Seid gegrüßt dort unten!“ Zunächst herrschte völlige Stille, dann kam die Antwort: „Wer bist du?“ „Sorle-a-glach, die kleine Schlange. Ich bin zwar in Menschengestalt, doch lasst euch nicht beirren.“ „Komm herunter. Wir werden entscheiden: Freund oder Futter.“ „Wie tief ist es? Kann ich springen?“ „Wir fangen dich auf. Wir sind da sehr geübt.“
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„Das beruhigt mich. Ich komme jetzt!“ Mit wenigen Worten gab er seinem Vater Bescheid und ließ sich seitlich von der Steinrampe fallen. Einen Atemzug später fühlte er sich im Fallen gepackt. Aber Sorla hatte die Hände frei. Er schlug mit der flachen Linken auf die gekrümmte Rechte – das Regenszepter lag in seiner Hand. Im selben Augenblick erglomm der Glygi und füllte den Umkreis mit vertrautem hellblauem Schimmer. Ein Schlangenmaul hielt Sorlas Leib gepackt – so groß, dass er die Augen dahinter nicht sah. Aber zwei weitere riesige Schlangen nahm er wahr, die sich züngelnd über ihn beugten. Ihre klafterdicken Leiber wälzten sich langsam über den Boden. „Hübsch, dieses Licht“, zischte die eine. „Aber ungewohnt. Schmerzt in den Augen.“ „Es ist ein Gnomenstein“, erwiderte die andere. „Ich erinnere mich, dass Gnome gut schmecken.“ Sorla fühlte, wie aus dem Maul, das ihn hielt, sich die große gespaltene Zunge schob und ihn betastete. „Ich bin kein Gnom!“ rief er hastig. „Auch Menschen sind lecker“, zischten die beiden Schlangen und beugten sich über ihn. „Ich bin euer Vetter! Wie sonst könnten wir uns verständigen?“ „Wie kann ein Mensch zugleich Schlange sein?“ „Ich wurde adoptiert, von einer großen Schlange am Norfell-Fluss.“ Da lockerte sich die Umklammerung durch die Schlangenkiefer; Sorla fiel zu Boden, und die Schlange, die ihn gehalten hatte, zischte: „ Die große Alte vom Norfell!“ Und zu ihm gewandt: „Erzähle, was du weißt!“ „Gerne! Aber dort oben hängt noch ein Mensch, der ist mein Freund. Bitte fangt ihn auf wie vorhin mich und verschont ihn um meinetwillen.“ Die Schlangen stimmten zu. So kam auch Tok-aglur wohlbehalten unten an und gab Sorla seinen Dolch zurück. „Du
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überraschst mich immer wieder, Junge“, flüsterte er. „Plauderst mit Schlangen!“ Danach hielt er sich im Hintergrund, um den Appetit der Schlangen nicht zu reizen. Sorla aber begann zu erzählen, vom Norfell und der großen Schlange, auch wie er im Traum mit ihr sprach. Die Schlangen wollten jede Einzelheit hören; selbst die Begebenheit mit den Schlänglein im Sumpf, denen Sorla die Bitterwurzeln ausgraben musste. „Das ist wie in alten Zeiten“, zischte eine von ihnen, „als Zusnild herrschte.“ „So weit muss man nicht zurückdenken“, widersprach eine andere. „Der letzte Schlangenkaiser starb erst kürzlich – vor etwa hundert Jahren.“ „Agla Schlangenfreund war das“, stimmte die dritte zu. „Aber er verstand nicht Schlangengezisch!“ „Das ist wahr.“ Nun starrten die drei Schlangen Sorla an. Er räusperte sich und drehte verlegen sein Regenszepter hin und her. Schließlich sagte er: „Eigentlich wollen wir wieder raus, an die Sonne.“ Da wiegten die Schlangen ihre Häupter und zischelten einander so leise zu, dass Sorla nichts verstand. Schließlich wandten sie sich wieder ihm zu und eröffneten ihm, sie wüssten einen Weg nach draußen; und ihm zu helfen wäre auch der Sache der Schlangen dienlich: „Wir helfen dir – du hilfst uns!“ Eine der Schlangen kroch Sorla und Tok-aglur voraus, die anderen beiden blieben zurück. Am Rande der riesigen Halle sahen sie hoch über sich einen Absatz, der als Weg um die ganze Halle zu führen schien. „Dort hinauf?“ fragte Sorla. „Das schaffen wir nie!“ Die Schlange aber packte erst Sorla, dann seinen Vater mit ihrem Maul und hob sie dort hinauf. Sie selbst blieb unten, denn für den Schlangenleib war der Steg zu schmal. „Dort oben“, zischte sie, „findet ihr Räder und Hebel. Wir Schlangen können solches Menschenwerk nicht bedienen. Ihr aber sollt sie finden und dann tun, wie ich euch sage.“ Tatsächlich, sie waren nicht weit gegangen, da fanden sie
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eine Nische in der Wand – zu schmal für den riesigen Kopf der Schlange –voller mit Grünspan überzogener Hebel und Räder. „Findet einen Hebel“, zischte die Schlange, „an dem ein Stern eingeritzt ist. Den sollt ihr hochziehen.“ Mit vereinten Kräften gelang es Sorla und Tok-aglur, den bezeichneten Hebel hochzudrücken. Eine Tür in der Wand schwang auf, drin stand eine Kiste. Sie klappten den Deckel hoch und fanden darin, gelagert auf einem schwarzen Würfel, einen schwach glühenden Stab. „Zerstört den Stab!“ zischte die Schlange von draußen. Sorla flüsterte seinem Vater zu: „Sollen wir das tun? Was wird geschehen?“ Tok-aglur zuckte die Schultern. „Haben wir eine Wahl? Wir wollen hier raus, oder?“ Vorsichtig näherte Sorla seine Hand dem Stab, aber dieser strahlte eine solche Hitze aus, dass Sorla ihn nicht anzufassen wagte. „Man müsste Wasser haben und ihn löschen“, grübelte er. „Nimm doch dein Regenszepter“, schlug Tok-aglur vor. Das trug Sorla noch immer in der Hand und hatte es dennoch fast vergessen. Rasch hielt er es über die Kiste, murmelte die Worte, welche ihn Azluthos gelehrt hatte und hielt es so, dass klares Wasser herausfloss. Der glühende Stab zischte, Dampf stieg auf, und plötzlich gab es einen Knall – der Stab war in eine Handvoll schwarzer Teile zerborsten, die schwarz glänzend auf dem Boden der Kiste lagen. Der restliche Dampf verflog. „Na also“, sagte Sorla befriedigt. Da hörte er ein Rauschen von ferne, das mächtig anschwoll. Der Boden zitterte. „Ich glaube“, sagte Tok-aglur nachdenklich, „du kannst dein Szepter wegtun.“ Sorla ließ es verschwinden – und tatsächlich leuchtete sein Glygi unbeirrt weiter. „Heißt das, wir haben den Zauber gebrochen, der hier alle Magie erstickte?“ „Ja, und Kaiser Tul-uglurs alter Wasserzauber wirkt wieder, wie wir hören!“ „Dann war das hier eine seiner Zisternen?“
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Tok-aglur nickte und trat auf den Steg hinaus. Sorla folgte ihm und sah, dass der Boden der Halle schon weitgehend überflutet war. Die Schlange wand sich behaglich in den neuen Pfützen. „Sehr gut!“ zischte sie. „Folgt dem Steg zur anderen Seite der Halle; dort treffen wir uns wieder!“ Während sie dem Steg folgten, sagte Sorla nachdenklich: „Wozu braucht man eine Zisterne, wenn durch Bishoumat sogar ein Fluss fließt?“ „Vielleicht führt er im Sommer zu wenig Wasser. Oder das Flusswasser ist zu schmutzig zum Trinken, immerhin kippt jeder seinen Unrat hinein. Und vor allem glaube ich, dass diese Stadt früher viel größer war.“ „Und wem sollte es nützen, die Zisterne unbrauchbar zu machen?“ „Keine Ahnung. Aber es waren mächtige Zauberer, denke ich.“ Sie kamen zum Ende der Wand, wo der Steg im rechten Winkel abbog und an der nächsten Wand entlang führte. Das Wasser war mittlerweile schon recht hoch gestiegen und glitzerte im Licht des Glygi. Schließlich kamen sie wieder an eine Ecke und stießen danach auf eine breite Plattform. Hier wartete die Schlange bereits auf sie, nur wenig unterhalb des Steges, wobei sie gegen die Strömung des herandrängenden Wassers anschwimmen musste. „Hier ist noch ein Stück Menschenwerk – eine Aufgabe für euch!“ zischte sie. Sorla erblickte, in der Rückwand eingelassen, ein klafterbreites Rad mit vielen Speichen. Eine Inschrift besagte: „Drehe mich nach links, um die Pforte zu den Kavernen zu schließen.“ Nach links ließ sich das Rad aber, wie Sorla und Tokaglur feststellten, beim besten Willen und trotz vereinter Kräfte nicht bewegen, da es schon bis zum Anschlag gedreht war. Es war ja auch keine Pforte zu sehen, die man hätte schließen können. Also drehten sie das Rad nach rechts, indem sie in die Speichen griffen und schoben und wuchteten. Da brauste Wasser hinter der Wand und, von unsichtbaren Kräften geschoben, öffnete sich ein Spalt
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immer breiter. Als das Tor weit genug geöffnet war, schwamm die Schlange hindurch in einen langen, dunklen Gang. „Folgt mir“, zischte sie. Sorla und sein Vater sprangen ins kalte, wirbelnde Wasser, da drängten sich jedoch schon die anderen beiden Schlangen an ihnen vorbei, ohne auf sie zu achten. Sorla schluckte Wasser und hatte Mühe, den Kopf über die wild gegen die Wände schwappenden Wellen zu halten. „Bei Ak’men!“ keuchte Tok-aglur, „haben die es eilig!“ Sorla konnte nicht antworten, denn er hatte schon wieder Wasser geschluckt, doch es war offensichtlich, dass die Schlangen sich beeilten, ihrer eigenen, vieljährigen Gefangenschaft in der alten Zisterne von Bishoumat zu entkommen. War das gut? Was, wenn die ungeheuren Schlangen hinauf in die Stadt kröchen und unter der Bevölkerung ihre Opfer suchten? Zu spät, sich darüber Gedanken zu machen! Hauptsache, sie selbst überlebten und fanden hier heraus; um alles andere mussten sie sich später kümmern! Nach kurzer Zeit kamen sie an steinerne Stufen, die seitlich aus dem Wasser nach oben führten. Zwei Haltegriffe rahmten rechts und links den schmalen Durchgang ein. Bevor die Strömung sie vorbei spülte, packten sie das Geländer und zogen sich heraus. Von den Schlangen war nichts zu sehen. Diese Treppe jedenfalls konnten die riesigen Tiere nicht benutzt haben, dazu war sie zu schmal. „Sollten wir nicht den Schlangen folgen?“ fragte Sorla. „Das ist nicht ratsam, mein Junge. Sie würden uns wohl fressen.“ „Wieso? Wir haben ihnen doch geholfen!“ „Wir waren nützlich, weil wir ihre Anweisungen verstanden und die Hebel bedienen konnten, aber jetzt gilt das nicht mehr.“ „Aber die Schlange rief mir zu, wir sollten ihr folgen.“ „Das würde ich zu meinem Abendessen auch sagen, wenn es mich verstünde.“ Sorla zögerte, die Ansicht seines Vaters zu teilen; aber er
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musste zugeben, dass Vorsicht und Misstrauen angebracht waren. Sie stiegen also die Stufen hoch, doch war das nicht einfach, denn Jahrhunderte alte Ablagerungen hatten die Stufen mit glitschigem Schleim knöcheltief überzogen. Auch hingen Algenstränge und modrige Wurzeln kreuz und quer im Wege; sie mussten darüber steigen, sie sich aus dem Gesicht schieben, oder hochheben und unten durch kriechen – es war kein Vergnügen, und doch waren sie froh, einen Weg nach oben gefunden zu haben. Die Treppe wurde, je höher sie kamen, trockener und sauberer; sie führte um mehrere Ecken und endete an einer geschlossenen Tür. „Und jetzt?“ fragte Sorla enttäuscht. Sein Vater aber warf nur einen Blick darauf und lachte leise. „Diese Tür ist nur von außen verschlossen, denn nicht jeder soll hier herunter steigen. Doch dieser Riegel – schau – lässt sich von hier aus zurückschieben.“ Dies tat er nun leise und schob die Tür vorsichtig einen winzigen Spalt auf. Dahinter war es dunkel und still. Sorla sog prüfend die Luft ein; es war der trockene, abgestandene Geruch von lange nicht gelüfteten Räumen und erinnerte ihn an die Gänge, welche sie mit dem hinterlistigen Dicken entlang gegangen waren, bevor er sie in die Falle führte. Auch Tok-aglur schien das zu fühlen, denn er flüsterte: „Ich glaube, wir sind im Gebäude oberhalb der Zisterne. Ich ahnte das schon vorher, als die Treppe diese Kehre machte.“ Damit öffnete er die Türe ganz sachte ein weiteres Stückchen. Offensichtlich war niemand in der Nähe, denn der Glygi schwebte voraus und beleuchtete einen breiten Gang, von welchem viele Türen abgingen. „Siehst du!“ sagte Tok-aglur befriedigt. „Und wenn wir jetzt noch diesen Dicken finden ...“ „Und er ist alleine ...“, ergänzte Sorla sehnsüchtig und voller Rachegelüste. Sein Vater nickte. „Ich verstehe dich gut. Aber wichtiger als ihm heimzuzahlen, was er uns antun wollte, ist, mehr über ihn und seinesgleichen herauszufinden. Es ist nützlich, seinen Feind zu
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kennen.“ Er trat in den Gang hinaus, Sorla folgte und drückte die Tür soweit wie möglich zu. Schließen konnte er sie mangels Schlüssel nicht, auch wollte er sich einen Fluchtweg offenhalten. Sein Vater öffnete eine der gegenüberliegenden Türen. Sie blickten in ein Zimmer mit Regalen voller Schriftrollen und Bücher, in der Mitte stand ein Schreibtisch, auf dem sich ebenfalls allerhand Papier stapelte. „Ein Amtszimmer!“ flüsterte Tok-aglur und blätterte in den herumliegenden Schriftstücken: „Wasserrechte, Gebühren, Mahnungen ... . Wie ich vermutete, es ist die städtische Wasserbehörde.“ Sorla ließ seine Blicke schweifen, aber außer einer halbvertrockneten Kübelpflanze fiel ihm nichts auf. Da verließen sie den Raum und schlichen weiter den Gang entlang. Hin und wieder öffneten sie eine der Amtsstuben, die sich aber alle ähnelten. Eine Treppe mit dem Hinweisschild „Strafverfolgung“ führte zum nächsten Stockwerk hoch, aber sie gingen daran vorbei. Am Ende des Ganges bogen sie um die Ecke und sahen eine wohlbekannte Tür: hier hatte sie der Dicke hinein und in die Falle gelockt. Daneben ragte der Hebel aus der Wand, noch immer abwärts gedrückt. Gerne hätte Sorla einen Blick hinein geworfen, um zu sehen, ob die Zisterne vollgelaufen war, die Schlangen zurückgekehrt waren und wie die Steinrutsche von oben aussah. Aber sein Vater schüttelte den Kopf: er wollte weiter, die Nachtzeit, wenn im Gebäude niemand arbeitete, nützen. Auch hier führten Treppen in die oberen Stockwerke; diesmal stiegen sie hoch. Hier, im Bereich der Strafverfolgung, waren die Zimmer geräumiger, die Kübelpflanzen besser gepflegt, die Tische weniger beladen, dafür aber jeweils mit einer kleinen Statue des Sonnengottes Anod geschmückt. Im zweiten dieser Zimmer fiel Sorla auf, dass jemand die Anodstatue mutwillig zerstört hatte: die Sonne, die er tragen sollte, war geschwärzt, seine Augen zerkratzt, der Penis abgebrochen.
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„Merkwürdig“, sagte Tok-aglur und begann mit neuem Eifer die Schriftstücke und Schubladen zu durchsuchen. Plötzlich hielt er inne: „Da, schau!“ Sorla las: „Betrifft den Prinzen Tokaglur.“ Es folgten Berichte, wo Sorlas Vater angeblich gesehen und anschließend vergeblich gesucht worden war, sowie Belohnungen für zweckdienliche Hinweise. Während Sorla all dies noch überflog, hatte sein Vater bereits etwas Neues gefunden: „Aussage von Bisum Oslan, Mitarbeiter der verdeckten Ermittlung, betreffend Verbrechen des Prinzen Tok-aglur, insbesondere den Mord an einem Köhler in Batiflim.“ „Dieses Schwein“, murmelte Sorla. Aber Tok-aglur widersprach: „Nein, er erledigt nur seinen Auftrag. Aber die Auftraggeber, das sind unsere Feinde.“ Er kramte in den Schubladen, suchte nach doppelten Böden, und plötzlich sprang seitlich am Schreibtisch ein Fach auf. „Aha“, grinste Tokaglur und holte das Dienstsiegel heraus. „Nun wollen wir ein paar Verfügungen erlassen.“ Zunächst blätterte er in den Ablagen, um sich die Handschrift dessen einzuprägen, der hier zuständig war – eines staatlichen Anklägers namens Uftar. Dann versorgte er sich mit leeren Papierbögen und begann gefälschte Anordnungen zu verfassen. Sorla sah gebannt zu. Die erste Anordnung verfügte die vorläufige Festsetzung des Bisum Oslan. Die zweite bestimmte, dass auf höhere Anweisung hin die Verfolgung des Prinzen Tokaglur aufzuheben sei. Tok-aglur streute etwas Sand über das Geschriebene, um die überschüssige Tinte abzusaugen, siegelte die beiden Schriftstücke und legte sie in den Ablagekorb für „Ausgang“. „Wäre es nicht gut, mein Junge, wenn dieser Uftar uns nicht mehr schaden könnte?“ Sorla nickte. „Nun stelle dir vor, Sorla, ich hätte ein Gift, das ich hier so anbringen könnte, dass dieser Schurke daran stürbe, und zwar in wenigen Augenblicken – wie würde dir das gefallen?“ Sorla zögerte. Meinte sein Vater das ernst? Hatte er dieses
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Gift dabei? Es wäre eine einfache Lösung und Rache zugleich, an einem gewissenlosen Schurken, der sich nichts daraus machte, andere Menschen zu töten. Doch halt, all dies hatten sie schon in der Diebesgilde durchgesprochen. Sorla erinnerte sich deutlich, wie Meister Eidwon, als er sie in Giftkunde unterrichtete, sagte: „Wir müssen die Gifte kennen, um uns dagegen zu wappnen. Aber wir sind keine Meuchelmörder, also verwenden wir sie nicht selbst.“ Nicht alle waren von Meister Eidwons Belehrung überzeugt, doch Sorla verstand, dass dies eine Grenze war, die er nicht überschreiten wollte. Trotzdem fragte er: „Wie hättest du das angefangen?“ Tok-aglur wies auf ein Beistelltischchen hin, da standen eine Flasche mit Quittensirup hin, daneben die halbvolle Karaffe Wasser – hier konnte ein geschmackloses Gift leicht aufgelöst werden. „Und hier ist das Gift dazu.“ Mit spitzen Fingern hob er ein verstöpseltes Glasröhrchen hoch, das neben dem Dienstsiegel im Geheimfach versteckt war, und zeigte Sorla die bläuliche Flüssigkeit: „Wirkt rascher, als du schreien kannst.“ „Wieso wurden wir nicht damit vergiftet?“ wunderte sich Sorla. „Das wäre doch rascher gegangen als uns in die alte Zisterne zu locken.“ „Und wie die Leichen verschwinden lassen?“ hielt Tokaglur dagegen. „Außerdem hätte ich nichts getrunken.“ Plötzlich hob er die Hand: „Achtung!“ Im selben Augenblick erlosch der Glygi; sie standen im Dunkeln. Nur schwach schimmerte das Mondlicht durch das schmale Fenster. Auch Sorla hörte nun Schritte, die vom Ende des Ganges heran schlurften. Ein Gehstock schlug regelmäßig auf die Steinfliesen. Sie verbargen sich hinter der Tür, hoffend, die Schritte würden sich wieder entfernen. Doch näher und näher schlurften sie – verharrten vor der Tür, der Stock schlug einmal hart gegen den Türrahmen und herein trat ein hagerer Mann in schwarzem Umhang. Sorla überlief ein Frösteln. Der Hagere schlurfte weiter zur Mitte des Raumes, mit der knochigen Linken auf den Stock gestützt. Er stutzte, als sein Blick auf die Papierstapel fiel, die wegzuräumen Tok-aglur nicht mehr die
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Zeit gefunden hatte. „Besucher!“ murmelte er. „Widerwärtige Schnüffler!“ Dann drehte er sich um in Richtung Tür, blickte Sorla direkt ins Gesicht, dann Tok-aglur –nickte und flüsterte: „Dank dir, Großer Woul! Du führst mir die Feinde zu und lässest mich deine Macht genießen!“ Er richtete seinen Gehstock auf die beiden, aus der Spitze züngelte fahlgelbes Licht. „Gehorcht mir!“ flüsterte der Hagere. „Im Namen des Großen Woul!“ Das Frösteln in Sorla wurde so stark, dass es ihn schüttelte; er wollte wegrennen, konnte aber kein Glied rühren. In seinem Kopf machte sich ein Gefühl von Dumpfheit breit, gegen das sich Sorla vergeblich wehrte. Der Hagere winkte mit der Hand: „Folgt mir, im Namen Wouls!“ Dann ging er, auf seinen Stock gestützt, zur Tür hinaus. Sorla tappte willenlos hinterdrein; aus dem Augenwinkel sah er, dass es seinem Vater nicht anders ging. Sie gingen den dunklen Gang entlang, den Uftars Stock nur schwach mit seinem fahlgelben Licht erhellte, dann eine Treppe hinunter und weiter zu einer Tür mit der Aufschrift: „Richter Meret“. Dort saß in einem Raum, überfüllt mit Schriftrollen und vom Mondlicht und einer Öllampe beleuchtet, der kleine Dicke und blickte überrascht hoch. Doch als er hinter dem Hageren auch Sorla und Tok-aglur erblickte, weiteten sich seine Augen vor Schreck. „Meister Uftar!“ stammelte er. „Wie kommen diese ...?“ Der Hagere richtete seinen Stock auf den Dicken: „Du bist unfähig, Meret! Spüre meinen Zorn!“ Fahlgelbes Licht züngelte aus der Spitze des Stockes, da krümmte der Dicke sich zusammen, fiel zu Boden, wollte schreien, doch kein Ton kam aus dem aufgerissenen Mund. Die Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Der ganze Körper zitterte und zuckte, jetzt trat Schaum aus dem Mund, Blut rann aus den Ohren. Uftar murmelte verächtlich: „Du Wurm! Nun darfst du sterben.“ Er richtete den Stock auf den Boden, da fiel der Körper Merets zusammen und blieb reglos liegen. Der Hagere aber hob die Arme, so dass die schwarzen Ärmel zurück glitten, und murmelte:
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„Großer Woul, Herr der großen Dunkelheit, der du warst von Anbeginn! Ich bitte dich demütigst: Nimm dieses Opfer an!“ Sorla sah mit Entsetzen, wie etwas Dunkles vom Boden her hoch waberte, sich ausbreitete und die Leiche des Dicken den Blicken verbarg. Sorla spürte die Kälte bis tief in die Knochen. Er erinnerte sich schwach, etwas Ähnliches früher einmal erlebt zu haben; doch das dumpfe Gefühl in seinem Schädel erstickte alle Gedanken. Aber etwas war in seinem Kopf, das wehrte sich, das wollte sich nicht aufgeben. In all der Dumpfheit blitzte immer wieder ein Widerstreben auf, eine wütende Ablehnung all des Grauenhaften, das sich hier bot. Langsam wich er zurück bis zum schmalen Fenster; das Mondlicht umspielte seine Schultern. Noch immer waberte das Schwarze vor ihnen, dann, langsam, löste es sich auf – und Merets Leiche war verschwunden. Uftar wandte sich Tok-aglur zu, der wie betäubt dastand. „Nun, Prinz? Gefällt dir, was du siehst? Und bevor ich dich töte, wirst du deinen Sohn sterben sehen. Erkenne die Macht des großen Woul und verzweifle!“ Mit diesen Worten richtete er seinen Stock auf die Stelle vor dem Fenster, wo Sorla eben noch gestanden hatte. Sorla aber lag im Mondlicht zusammengerollt als kleine Schlange, zuckte vorwärts, als das fahlgelbe Licht ihm entgegen züngelte, schnellte auf Uftar zu und schlug ihm die Zähne ins Bein. Der Hagere blickte völlig überrascht nach unten, wankte, griff sich ans Herz und brach tot zusammen. Sein Stock klapperte zu Boden, wo das fahlgelbe Licht einen Kreis bildete. Die kleine Schlange war rechtzeitig zur Seite gekrochen, um nicht unter den fallenden Körper zu geraten. Nun überstürzten sich ihre Gedanken: Gift hatte sie, das sofort wirkte! So wie jene rötlichen Schlänglein, denen Sorla helfen musste, die Bitterwurzeln aus der Wiese zu räumen. Und als die kleine Schlange an ihrem Leib entlang blickte, fand sie, dass sie nicht grün oder gelb war wie sonst, sondern rötlich – sie war tatsächlich eine jener Giftschlänglein! Und was war mit ihrer früheren Schlangengestalt? All dies huschte durch ihren kleinen Kopf, da sah sie, wie dunkler Nebel aus dem Boden stieg, um Uftars schwarz verhüllten
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Körper waberte und ihn verbarg. Als die Dunkelheit sich schließlich verzog, war auch Uftars Körper verschwunden. Nur sein Stock lag noch auf den Steinfliesen, doch das fahlgelbe Licht war erloschen. Tok-aglur begann sich zu regen. Sorla sah, wie sein Vater umher schaute, ganz offensichtlich verwirrt und erstaunt, wie er in diesen Raum kam. Tok-aglurs Blick fiel auf den Kleiderhaufen neben dem Fenster – Sorlas Sachen, aus denen er als Schlänglein heraus geschlüpft war. Er runzelte die Stirne, da bemerkte er die kleine Schlange daneben und erstarrte vor Schreck. Nun sah Sorla, wie sein Vater langsam mit der Hand nach dem Gürtel griff, wo der Dolch stak. Er wusste, wie zielsicher sein Vater diese Waffe werfen konnte! „Nein, nicht!“ wollte das Schlänglein schreien, doch sein Gezisch ließ den Vater erneut zusammenzucken. Diesen Augenblick nutzte die Schlange, um in ihrer Todesangst zur Türe hinaus zu entwischen. Rasch glitt sie den dunklen Gang entlang bis zur großen Eingangstür. Diese war verschlossen, doch die kleine Schlange zwängte sich durch den Spalt zwischen Tür und steinerner Schwelle hinaus ins nächtliche Freie, wo sie sich unter den Büschen verkroch.
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Fünfzehntes Kapitel:
DAS HEILBAD ZU KAHARAD Im Morgengrauen erwachte Sorla, weil ihn fror. Der neblige Dunst ließ alles undeutlich erscheinen, das Gras war nass von Tau. Die Büsche verbargen Sorla nur ungenügend; selbst wenn er die Beine eng an den Leib zog, ragten Füße, Rücken oder Kopf unter den Zweigen hervor. Er war nackt. Das kannte er schon von früheren Verwandlungen, und als er sich befühlte, bewahrheitete sich, was er vermutet hatte: seinen Körper bedeckten rötliche Schuppen. Der Boden war hart, daher hockte sich Sorla hin und überlegte, wie es weitergehen sollte. Eben hatte er den Entschluss gefasst, aus der Stadt zu fliehen, bevor die Straßen voller Leute waren, da hörte er, wie sich die Eingangstür des großen Gebäudes langsam öffnete. Tok-glur trat heraus, in der einen Hand Sorlas Kleiderbündel und Wurfmesser, in der anderen den Stock Uftars. „Psst!“ flüsterte Sorla, „Vater!“ Dieser erstarrte in der Bewegung. „Sorla? Wo steckst du?“ „Nicht erschrecken, Vater! Ich sehe ein bisschen merkwürdig aus.“ Sorla erhob sich langsam hinter den Büschen und stand nun da – nackt, der ganze Körper mit rötlichen Schuppen bedeckt, die sich an manchen Stellen schon in breiten Streifen ablösten. Tok-aglur blickte entsetzt. „Was ist mit dir?“ „Ich war die kleine Schlange, Vater. Du hättest mich fast umgebracht.“ Während Tok-aglur das zu begreifen suchte, zog sich Sorla an und steckte aufatmend seine Waffe zu sich. Nur noch Hände und Gesicht waren unverhüllt – die rotschuppige Haut sah aus, als litte er unter schrecklichem Ausschlag. Dann berichtete er, was in Merets Zimmer vorgefallen war. „Ich hatte keine Ahnung“, sagte Tok-aglur. „Als ich aus
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meiner Betäubung erwachte, war niemand da, bloß deine Sachen und die Schlange – ich meine, du.“ „Es war schrecklich!“ Sorla schüttelte sich in der Erinnerung an das dumpfe Grauen, das ihn zu durchdringen und lähmen versuchte. Zugleich durchrieselte ihn Stolz bei dem Gedanken, wie er erfolgreich widerstanden hatte. Falsch: nicht er, sondern etwas in ihm hatte sich gewehrt. In Gedanken versunken, zupfte er einen Fetzen schuppiger Haut von seiner Nase. Irgendwo in der Ferne, vom Morgennebel verborgen, klapperten Hufe auf Pflastersteinen. Das Geräusch kam näher, und Sorla hatte sich mit seinem Vater kaum hinter die Büsche zurückgezogen, da ritt schon die Stadtwache vorbei: fünf Soldaten mit Spieß und Kurzschwert. „Wir sollten weg von hier!“ flüsterte Tok-aglur. Sorla nickte, und sie gingen, vom Morgennebel halbwegs verborgen und dicht an die Hauswände gedrückt, zurück zum Marktplatz und weiter zu der Gasse, wo sie ihre Tiere untergestellt hatten. Ein Stallknecht war schon wach und schaufelte verdrießlich den Mist zwischen den Pferdehufen weg. Als er aber zur ausgemachten Stallmiete noch ein Silberstück als Trinkgeld bekam, erhellt sich sein Gesicht. Er half ihnen die Pferde zu satteln und die Gepäcktaschen zu befestigen. „Möge Anod euch heilen“, sagte er höflich zu Sorla, dem er die Steigbügel hielt. „Die Bäder von Kaharad sollen gegen Hautleiden helfen.“ Tok-aglur lächelte. „Danke für den Rat, aber wir reiten nach Norden.“ *
Auf das Floß, wie zunächst ausgemacht, kehrten sie vorsichtshalber nicht zurück. Während sie auf ihren Maultieren die
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Straße nach Süden entlang ritten, hatte Sorla Zeit genug, zu berichten und zu erklären. Nachmittags machten sie Rast am Ufer des Bato. Sorla badete und beobachtete die Fische, welche begierig nach den letzten Fetzen Schlangenhaut schnappten. Abends erreichten sie Kaharad. Gerne hätte Sorla sofort das Heilbad besucht, nicht wegen irgendwelcher Hautleiden, sondern weil sein Vater ihm erzählt hatte, es sei Marushu geweiht, der hernostischen Liebesgöttin, und Sorla hatte unklare Vorstellungen von hübschen, willigen Priesterinnen. Aber Tok-aglur winkte ab – sie hätten dringlichere Geschäfte, sagte er. Er schien sich auszukennen; denn er lenkte sein Maultier zielsicher durch das Gedränge von Karren, Eseln, Bettlern, Obstständen, Kauflustigen und fand bald eine Nebengasse, deren Häuser so eng standen, dass sie sich an den Dachtraufen fast berührten und die Tauben von einem Dach zum anderen nicht hinüber flogen, sondern hüpften. Hier gab es Werkstätten aller Art sowie Schreibstuben, in denen auch Landkarten und Schriftrollen feilgeboten wurden. Tok-aglur stieg vor einer bunt bemalten Ladentür ab. Ein verwittertes Schild besagte, hier gebe es gebrauchtes Zubehör für den aufstrebenden Zauberer. Eine hübsche Frau, in grüne Seidentücher gehüllt, blickte von einem dicken Buch auf, als sie eintraten. „Ah, mein lieber ...“ Tok-aglur hob abwehrend die Hand, da unterbrach sie sich und zwinkerte ihm zu. „Nun, schöner Fremder, was kann ich für dich tun?“ „Anod sei mit dir, anmutige Zauberin!“ lächelte Tok-aglur. Er hielt ihr den Stab Uftars entgegen: „Was hältst du hiervon?“ Vorsichtig griff sie danach und wog ihn in den Händen. „Edles Holz, gut ausgewogen, aber zum bloßen Zuschlagen fast zu schade.“ Als sie ihn wendete, stutzte sie. „Da steht was geschrieben, aber nicht in üblicher Schrift.“ Sie holte ein Buch mit der Aufschrift „Verzeichnis seltener Zeichen und Runen“, begann zu blättern, schließlich deutete sie auf eine Liste von fremdartigen Symbolen: „Runen der Dunkelheit vor dem Licht! So was sieht man nur bei Dienern der Besser Ungenannten - Anod bewahre uns vor
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dem Übel!“ Stirnrunzelnd untersuchte sie den Stab genauer, dann begann sie in seltsamem Singsang Worte zu deklamieren, die Sorla nicht verstand. Um den Stab wirbelten kleine Funken, die sich ineinander verwoben. Dann jedoch erloschen sie einer nach dem anderen. Erschöpft brach die Frau ab. „Das ist zu stark für mich“, flüsterte sie. „Ich werde den Stab meinem Meister bringen.“ „Nein“, entgegnete Tok-aglur. „Ich traue in dieser Stadt nur dir. Können wir den Stab vernichten?“ „Anods Tempel!“ nickte sie. „Wir bringen ihn hin und lassen ihn Anod weihen. So wird er unschädlich.“ „Das müsste gehen.“ Tok-aglur nickte. „Bleibt die Frage, wo wir armen Fremden heute übernachten.“ „Nun, dein junger Begleiter kann ja im Laden übernachten. Ich lege ihm ein paar Decken hin. Und für dich wird sich auch eine warme Schlafstelle finden, denke ich.“ Sie errötete. „Vorher aber wollen wir essen.“ * Der erste Priester, den sie antrafen, war noch recht jung. Als sie ihm sagten, es handle sich um ein Anliegen von ganz besonderer Bedeutung, das sie nur dem Obersten Priester anvertrauen könnten, eilte er mit fliegenden Gewändern davon. Sie blieben in der Vorhalle zurück und betrachteten die Friese an den weißen Marmorwänden, die von Anods Abenteuern und Macht kündeten. Dann endlich ertönten Schritte aus einem der seitlichen Gänge, der junge Priester kam, führte sie in ein Nebengebäude und hielt ihnen dort eine Tür auf, ohne selbst mit einzutreten. Ein würdiger Mann in reich besticktem weißen Gewand sah ihnen entgegen. „Der Oberste Priester hat zu tun“, beschied er sie. „Vertraut euch mir an, denn ich kann euch genau so gut helfen. Zuvor aber schließt die Türe und sagt mir eure Namen.“
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„Ich bin Furdas aus Hernoste“, sagte Tok-aglur, während Sorla die Türe hinter sich zu zog. Der Priester blickte auf seinen Ring und lächelte verweisend. „Bitte keine falsche Angaben. Im Lichte Anods gilt nur die Wahrheit.“ „Tok-aglur aus Hernoste.“ „Sorla aus Ailat.“ Die junge Frau sagte: „Kiarsti aus Kaharad.“ Der Priester nickte. „Schon besser. Nun, was braucht ihr?“ Kiarsti erklärte, sie wollten die böse Macht in Uftars Stab zerstören, indem sie ihn Anod weihten. Der Priester strich bedächtig den gepflegten Bart. „Ich will diesen Stab sehen“, sagte er, die Hand ausstreckend. Kiarsti reichte ihm diesen, der Priester packte ihn und jubelte: „Preis dir, oh Großer Woul, der du mir Uftars Erbe anvertraut hast!“ Mit weitem Schwung holte er aus, beidhändig, der Knauf des Stabs traf Kiarsti am Kopf. Sie brach tot auf dem Mosaikboden zusammen. Aufschreiend warf Tok-aglur sein Messer, doch es prallte einen Schritt vor dem Priester ab und fiel zu Boden. Der Priester lachte, er richtete den Stab auf Tok-aglur. Fahlgelbes Licht begann heraus zu züngeln und Grauen verbreitete sich. Doch nun leuchtete kein Mond, um Sorla in ein Schlänglein zu verwandeln. In ohnmächtiger Wut warf er Schlangenzahn, obwohl er wusste, es würde von jener unsichtbaren Schutzwand abprallen – doch das Messer fand sein Ziel, der Mann stürzte Blut gurgelnd auf die Knie. Schon fiel er sterbend zur Seite, schon waberte das Dunkel aus dem Mosaik, um ihn zu verschlingen. „Was ist hier los?“ In der Tür stand ein alter Mann in hellem Umhang, auf einen schmalen Stock gestützt. Als er das Dunkel sah, richtete er seinen Stab darauf und rief: „Im Namen Anods, verkrieche dich in die tiefsten Tiefen, du Auswurf der Finsternis!“ Da verschwand das dunkle Gewaber, doch auch der Priester war fort, nur sein Ring und Uftars Stock lagen da, daneben Sorlas Wurfmesser Schlangenzahn.
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„Erklärt, was hier geschah!“ forderte der Alte, seinen Stab gegen Tok-aglur und Sorla gerichtet. Hinter ihm standen mehrere bewaffnete Priester. Tok-aglur, als der Ältere, gehorchte der Aufforderung, doch kaum erwähnte er Uftars Stab, da wollte der alte Priester auch wissen, wie dieser Stab in ihre Hände geriet. Also berichtete Tok-aglur ab ihrer Verhaftung in Bishoumat der Reihe nach alles. Als er sagte, wie Kiarsti starb, stockte seine Stimme, aber er fasste sich und sprach weiter. Der Alte hörte wortlos zu. Als der Bericht beendet war, bückte er sich nach dem Ring des abtrünnigen Priesters und warf einen Blick darauf. „Alles ist wahr, was du erzähltest, so unwahrscheinlich es klingt.“ Er seufzte. „Wer hätte das von Taheget gedacht!“ Er hielt den Ring hoch: „Dies ist der Ring der Wahrheit, und Taheget war mit ihm betraut, um der Wahrheit zu dienen, nicht um uns zu täuschen, da er alleine ihn trug. Derlei darf nicht wieder geschehen; wir müssen zurückfinden zum alten Brauch, den Ring reihum zu tragen.“ „Und was soll mit Uftars Stab geschehen?“ fragte Tokaglur. Sorla spürte die Wut, die in seiner Stimme schwang. Der Alte nickte. „Wir werden ihn unschädlich machen, wie die unglückliche Kiarsti es vorschlug.“ Als er sich vorbeugte, um Uftars Stab zu ergreifen, kam ihm Sorla zuvor. Der Alte wollte verärgert auffahren, besann sich aber und sagte: „Misstrauisch, Sorla aus Ailat? Aber nach dem Geschehenen ist dies verzeihlich. Nimm den Ring und prüfe mich!“ Verdutzt ergriff Sorla den Ring. Als er auf den eingelassenen Stein blickte, spürte er auf einmal die Gefühle seines Gegenübers. Da war keine Täuschung, nur der Wunsch, alles wieder zu Anods Ehren in Ordnung und Klarheit zu bringen – gemischt mit einem erheblichen Maß an Selbstvorwürfen, Taheget zu lange vertraut zu haben. Daneben aber erkannte Sorla eine Vertrautheit mit ihm selbst – dieser alte Mann wusste über Sorla weit mehr, als ihm heute erzählt wurde! Sorla wollte den Ring zurückgeben und wandte sich , verwirrt und auch etwas verlegen, einen halben Schritt zur falschen
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Seite: so stand plötzlich sein Vater ihm gegenüber. Da wallten Gefühle in einer Zahl und Stärke hoch, die Sorla bei diesem beherrschten Mann nicht für möglich gehalten hätte. Schmerz und Wut wegen Kiarstis Tod waren die lautesten Stimmen in diesem Chor, dann aber Sorge um den Zustand des Hernostischen Reiches, auch Liebe für Sorla. Ein Misston entstand durch die Enttäuschung, dass nicht er selbst, sondern sein Sohn zum Thronfolger erkoren war. Und hinter allem, halb verdeckt durch die vielen neueren Empfindungen, klang der alte Schmerz, Taina verlassen zu haben, die schöne Geliebte aus Ailat, Sorlas Mutter. Sorla zuckte vor diesen Einblicken zurück und gab schamrot den Ring dem alten Mann. Dieser lächelte. „Wagst du jetzt, mir diesen üblen Stab anzuvertrauen? Und wenn es euch beruhigt: der Oberste Priester, den ihr suchtet, das bin ich.“ Aber das hatte sich Sorla schon längst gedacht. Es war recht eindrucksvoll, wie die Weihung vorbereitet wurde. Mehrere Priester schritten um das ewige Licht unter der Kuppel des Haupttempels und beteten laut zu Anod. Der Oberste Priester stand mit geschlossenen Augen dabei, Kraft sammelnd für den entscheidenden Vorgang. Dann wurde ihm der Stab Uftars gereicht; er hielt ihn mit beiden Händen empor und rief: „Möge das Licht Anods dich durchdringen und die Dunkelheit vertreiben!“ Der Stab zitterte, zuckte, tobte – obwohl der Oberste Priester ihn mit beiden Fäusten gepackt hielt, sprang ihm der Stab fast aus den Händen. „Unterwirf dich!“ rief er. „Erkenne das Licht!“ Noch stärker schlug der Stab hin und her und riss den Körper des alten Mannes mit sich; plötzlich zerbarst er mit lautem Krachen. Der alte Priester fiel zurück, zwei andere sprangen herbei, um ihn aufzufangen und zu stützen. Sie klagten laut, und nun sah auch Sorla den Grund: beide Hände des Obersten Priesters troffen von Blut, mehrere Finger fehlten. „Eilt zum Heilbad!“ rief einer der Priester. „Holt die Ehrwürdige Mutter!“ Schon rannte der junge Priester davon, den Sorla bereits kannte. Inzwischen mühten sich die anderen Priester,
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die Blutung zu stillen, doch nur mit wenig Erfolg. Der Alte saß still mit bleichem Gesicht, ohne zu klagen. Endlich – es schien Ewigkeiten gedauert zu haben – kehrte der junge Priester zurück, hinter ihm schritt eine ältere, stämmig gebaute Frau. Sie schob die Umstehenden beiseite und beugte sich über den Obersten Priester. „Mein lieber Zanolphis!“ rief sie. „Hast du dich mal wieder übernommen?“ „Alles für den guten Zweck, liebe Ehrwürdige Mutter!“ verteidigte er sich mit schwacher Stimme. „Das Böse wurde erfolgreich vertrieben.“ „Na, so ganz erfolgreich wohl nicht, wie mir scheint. Dir fehlen ja die halben Hände, wie willst du in Zukunft das Böse bekämpfen?“ „Ich weiß ja, meine Liebe. Aber immerhin konnte ich den Stab Uftars aus Bishoumat zerstören!“ „Das ist eine gute Nachricht, Zanolphis. Und jetzt sei still, ich muss ein kleineres Wunder wirken.“ Sie schloss die Augen, hob die Arme und – schwieg. Langsam sammelte sich Licht um ihre Gestalt, doch nicht weiß strahlend wie das ewige Licht Anods, sondern es flirrte als bläulich grüne Aura, floss allmählich hinüber zu den verletzten Händen und hüllte sie ganz ein. Alle Anwesenden schwiegen, Sorla wagte kaum zu atmen. Die Ehrwürdige Mutter verharrte noch immer in derselben Haltung, doch allmählich verblasste die Aura, die Hände des Obersten Priesters wurden zunehmend sichtbar: sie waren unversehrt! Zanolphis betrachtete sie und wackelte erfreut mit den Fingern. „Sehr hübsch!“ lobte er, „aber sie passen nicht zu mir altem Mann. Sie sehen so frisch aus wie die eines Knaben!“ Die Ehrwürdige Mutter hatte sich erschöpft auf einem Schemel niedergelassen. „Wer weiß, wie lange sie bei dir halten“, sagte sie unwillig. „Übrigens, Spenden nimmt das Heilbad sogar von Priestern des Anod-Tempels entgegen. Aber seid nicht so geizig wie letztes Mal!“ Dann aber, als der Oberste Priester auf sie zu trat und sich zu ihr herab beugte, lächelte sie versöhnt und küsste
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ihn auf die Stirn. Kiarsti war nahe dem Ewigen Licht Anods aufgebahrt worden. Tok-aglur saß daneben und hielt ihre Hand. Nun trat die Ehrwürdige Mutter zu ihm. „Hier kann ich leider nichts mehr tun, Prinz“, sagte sie mitleidig. „Sie ist gestorben, ohne Schmerzen zu leiden; das mag ein Trost sein. Und was an Üblem von der Dunklen Macht sie gestreift hat, wird durch Anods Licht nun getilgt. So wird sie sicher in Urskals Reich gelangen.“ Tok-aglur nickte. „Es ist gut, Ehrwürdige Mutter. Nun sagt, woher ihr mich kennt.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du bist nicht der einzige, der sich Sorgen um den Zustand des Reiches macht, Prinz. Zumindest hier in Kaharad gibt es eine Verschwörung des Guten, wenn man es so ausdrücken darf. Und manche von uns sind nicht nur guten Willens, sondern verfügen über beachtliche Kenntnisse und Fähigkeiten.“ „Kenntnisse und Fähigkeiten haben auch die Feinde“, entgegnete Tok-aglur bitter. „Aber es freut mich zu hören, dass ich nicht alleine bin.“ „Du hast einen Sohn!“ „Sorla ist jung und unerfahren.“ Dieser hatte alles gehört; das Urteil seines Vaters verletzte ihn, auch wenn es zutreffen mochte. Doch was die Ehrwürdige Mutter erwiderte, erfüllte ihn mit Stolz: „Wer hat Taheget unschädlich gemacht? Wer Uftar besiegt? Wer mit den Ungeheuern in der Zisterne von Bishoumat verhandelt? Mein lieber Prinz, Erfahrung und Verstand sind nicht alles. Dein Sohn ist ein Liebling Atnes, und er hat wunderbare Fähigkeiten, die jeden erstaunen. Ohne ihn stündest du schlecht da. Ihr braucht einander.“ Sie atmete tief durch, so aufgewühlt war sie, und fuhr fort: „Ich möchte das an einem Beispiel erklären. Mein Freund Zanolphis dient Anod, weil er glaubt, das Segensreichste für die Menschen sei eine kluge, erleuchtete Herrschaft, geleitet von Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit. Er steckt voller Wissen und teilt mir davon oft mehr mit, als ich verdauen kann. Aber ich bewundere
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ihn dafür. Ich andererseits fühle, dass es wichtiger ist, einander zu helfen und den Einklang zu stärken. Daher leite ich das Heilbad, und da ich mit Marushus Segen gelernt habe, die Kraft des Lebens zu sammeln und zu lenken, kann ich manchmal mit kleinen Wundern aushelfen, wo sonst keine Hoffnung wäre. So ergänzen wir einander.“ Sie lächelte Tok-aglur zu und bedachte Sorla mit einem Augenzwinkern. * Am folgenden Tag hatte Sorla – auf Einladung der Ehrwürdigen Mutter – Gelegenheit, das berühmte Heilbad zu besichtigen. Es gab Priesterinnen, einige davon sehr hübsch. Alle waren freundlich, wirkten aber unnahbar und eilten geschäftig umher. Die Ehrwürdige Mutter schien seine enttäuschten Gedanken zu lesen, denn sie nahm ihn beim Arm und erklärte: „Liebe hat viele Seiten, Sorla. Ebenso viele Aufgaben hat Marushu. Zunächst denkt man an die Leidenschaft zwischen Mann und Frau, und wir feiern Marushu als Herrin dieser Gefühle zweimal im Jahr – schade, dass du nicht da sein wirst. Mehr braucht es nicht, denn keiner muss die Menschen daran erinnern, was die meisten sowieso am liebsten tun. Allerdings ist es diese Seite der Liebe, die unserem Tempel die meisten Einkünfte sichert, und zwar das ganze Jahr hindurch. Zweitens gibt es die Liebe, die sich als Band der Treue zeigt, und hier ähnelt Marushu der Göttin Frena, der klug Waltenden, die du aus dem Lande Ailat kennst. Aus der Pflege der Treue fließen uns nur selten Einkünfte, doch gewinnt Marushu viel Kraft aus den Gebeten der Menschen, die ihrer Liebe Dauer verleihen wollen. Drittens haben wir die Liebe der Menschen untereinander, die sich als Mitleid, Hilfe, Verständnis zeigt. Diese kommt zu kurz, wenn jeder nur an sich denkt. Ich gebe zu, nicht jeder teilt meine Ansicht, dass Marushu auch hierfür zuständig sei.
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Aber alle besuchen gerne unser Heilbad und lassen sich ihre Leiden lindern. Und wer es sich leisten kann, spendet gern.“ Sie führte Sorla durch die Anlagen mit den heißen Brunnen, dampfenden Badebecken, Liegeräumen, Schwitzbädern. „Das Wasser hier, mein lieber Sorla, hat seine heilende Wirkung, weil zwei Kräfte, die einander sonst unversöhnlich gegenüber stehen, zusammen wirkten. Das Wasser kommt aus solchen Tiefen, dass es die Kraft des Feuers dort unten erlebt und mit herauf gebracht hat. Ist das nicht merkwürdig?“ „Als würden Schlangen und Drachen gemeinsame Sache machen“, nickte Sorla, war aber nicht ganz bei der Sache, weil die Körper der jungen Priesterinnen sich unter den fließenden Gewändern sehr deutlich abzeichneten. „Ah ja!“ sagte der Ehrwürdige Mutter überrascht. „Schlangen und Drachen! Da muss ich dir eine Geschichte erzählen: „Die große alte Schlange lag und hatte seit undenkbaren Zeiten so gelegen, da kam das Mädchen Duna vorbei, so schön wie das Leben. Nun überlegte die Schlange, ob sie Hunger verspüre, aber ihre Neugier war größer und sie hob ihr Haupt, um Dunas weiteren Weg zu verfolgen. Duna ging weiter und kam an dem großen alten Drachen vorbei, der auf seinem Lager seit undenkbaren Zeiten geruht hatte. Auch er war zu neugierig, um sie zu verschlingen, und wie er sein Haupt hob, um sie auf ihrem weiteren Weg zu beobachten, sah er das hochgereckte Haupt der Schlange, und diese sah ihn. Beide waren erstaunt, denn sie hatten gedacht, es gebe nur sie allein. Die Schlange zischte und wühlte das Meer auf. Der Drache fauchte und schlug mit dem Schwanz um sich. Da flogen die glühenden Felsbrocken umher und die Wellen schwappten so hoch wie Berge. Da sahen sie, dass sie mit ihrem Tun das Mädchen Duna gefährdeten, und sie hielten inne. Das Mädchen aber wandte sich zu ihnen und sprach: ‚Ich brauche eure Hilfe!‘ ‚Wofür?‘ fragten Drache und Schlange
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zugleich. ‚Die Schwarze Dreiheit hält Anod gefangen, meinen strahlenden Helden.‘ Das ärgerte die beiden, denn seit Anod den Himmel erhellte, war die Welt kurzweiliger geworden. Also liehen sie dem Mädchen ihre Kräfte, und Duna ging hin und erlöste Anod aus der Gefangenschaft.“ „Die Geschichte von Anod und Duna habe ich früher einmal gehört“, nickte Sorla. „Aber von Schlangen und Drachen war damals nicht die Rede.“ „Es gibt über die beiden viele Geschichten. Aber keine Angst, mein lieber Sorla. Ich habe genug geredet. Sieh, hier ist ein Raum mit einem Badebecken nur für dich.“ „Soll ich baden?“ „Sicher, das ist nie verkehrt, aber du wirst Gesellschaft haben.“ Sie winkte einer jungen Priesterin, die bereits wartend in der Nähe stand, und während sich die Ehrwürdige Mutter entfernte, nahm die junge Priesterin Sorla bei der Hand, führt ihn zur Treppe, die in das dampfende Becken führte, und ließ ihr Gewand fallen.
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Sechzehntes Kapitel:
BLICK AUF DIE KAISERSTADT In den Gärten des Heilbades zu Kaharad hatte Sorla eine der wenigen verbliebenen Bucheckern Ysaldes hinterlassen; ein Gärtner versprach, auf das Gedeihen des zukünftigen Bäumleins zu achten, wusste aber nichts von dessen besonderen Bewandtnissen. Nun waren sie wieder auf der Straße nach Süden. Sie hatten sich einer kleineren Karawane von ungefähr zwanzig Reisenden und doppelt so vielen Last- und Reittieren angeschlossen, denn die Gegend war berüchtigt für Raubüberfälle. Die Wegelagerer blieben meist straflos; man munkelte, dass die hiesigen Beamten bestochen oder als Hehler beteiligt waren. Staub bedeckte Tiere und Menschen, alle litten Durst, denn die Tage waren heiß und das Wasser knapp. Der Fluss Bato war in weitem Bogen nach Westen verschwunden, erst fünf Tagesreisen später würde die Straße wieder an ihm entlang führen. Zwar hätte Sorla mit dem Regenszepter für Trinkwasser sorgen können, doch wollten er und sein Vater kein Aufsehen erregen, sie schlossen sich lieber der allgemeinen Klage über den Durst an. „Man kann die alten Wasserleitungen noch sehen“, murrte Tok-aglur und deutete auf tönerne Rinnen, die auf hüfthohen Stelzen übers Land führten. „Aber sieh, sie sind zerbrochen und keiner wartet sie.“ „Die Bauern in dieser Gegend haben längst aufgegeben“, mischte sich ein älterer Kaufmann ins Gespräch, der neben ihnen ritt. „Selbst wenn sie mit ihren Ziehbrunnen noch etwas Wasser fördern, ist die Ernte geringer als was sie an Steuern zahlen müssen. Wegelagerei ist dann wohl der einzige Ausweg, die Familien durchzubringen.“ Ein weiterer Reisender schloss von hinten auf und schimpfte: „Wozu brauchen wir überhaupt Beamte? Wir sollten uns
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zusammenschließen und sie verjagen!“ Eben wollte Sorla darauf eingehen, da spürte er, wie sein Vater ihm warnend die Hand auf den Arm legte, und schwieg. Auch der ältere Kaufmann war verstummt und trieb sein Maultier mit der Gerte an. Der Schimpfende aber rief: „Ja, wenn von der Dynastie der Schlangenkaiser jemand noch lebte!“ Sorla fiel auf, wie wachsam der Schimpfende umher blickte, was zu der aufgeregten Stimme gar nicht passte. Später bestätigte Tok-aglur Sorlas Beobachtung: „Es gibt überall Spitzel. Man muss sehr vorsichtig sein. Selbst auf Angehörige der Diebesgilde ist kein Verlass mehr.“ Beim abendlichen Lagerfeuer setzte sich der ältere Kaufmann zu ihnen und sagte bedeutsam: „Es gibt Zeiten des Redens und Zeiten des Schweigens.“ Tok-aglur nickte und bot ihm eine Tasse frisch aufgegossenen Pfefferminztees an. Der Kaufmann dankte. Er kramte ein paar getrocknete Birnenschnitze aus einem Stoffbeutel und reichte sie Sorla und seinem Vater. „Mein Name ist Hefterides aus Kaharad“, sagte er dazu. „Ich bin Mutelos aus Ekritmea“, erwiderte Tok-aglur. „Der Junge ist Patto, mein Diener.“ „Ich glaube, ich kenne eine Familie Mutelos in Ekritmea“, sagte Hefterides. „Sind das nicht die Silberschmiede, deren Sohn kürzlich heiratete?“ Sorla wurde es heiß. Was sollte man jetzt antworten? Doch sein Vater erwiderte ungerührt: „Nein, das sind nicht wir. Ich kenne auch keine Silberschmiede gleichen Namens.“ Der Kaufmann lächelte. „Ich auch nicht. Verzeih mein Misstrauen. Ich reise nach Ekritmea, um meinen Neffen im Geschäft zu unterstützen. Sein Vater ist krank.“ Tok-aglur drückte sein Mitgefühl aus. Hefterides schlürfte ein wenig vom heißen Tee. Nach längerem Schweigen nahm er das Gespräch wieder auf: „Für uns Kaufleute wäre es besser, wenn das Kaiserreich zurückfände zu einer Ordnung, wo man einander vertrauen kann. Wie soll man Geschäfte abschließen in Zeiten
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solcher Unsicherheit?“ Tok-aglur nickte. Ein paar Atemzüge später antwortete er: „Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin als Lehrer in einer wohlhabenden Familie angestellt.“ „Ein Lehrer mit eigenem Diener?“ erwiderte Hefterides. „Man scheint dich gut zu bezahlen.“ Tok-aglur lächelte. „Patto gehört der Familie. Wir holen den Sohn in Ekritmea von einer Seereise ab. Aber inzwischen ist es tatsächlich angenehm, einen Diener zur Verfügung zu haben.“ Hefterides lachte leise. „Entweder bist du ein guter Lehrer oder ein guter Geschichtenerzähler, Mutelos. Ich wünsche dir eine angenehme Reise!“ Damit stand er auf und ging zu seinem Schlafplatz zurück. Tok-aglur blickte lange still ins Feuer. Sorla wagte nicht, ihn zu stören. Aber er überlegte, ob er selbst sich so vorsichtig und geschickt verhalten hätte. Die meisten Fallstricke hätte er nicht erkannt, oder er wäre ins Stottern geraten. Was sollte er ohne die Erfahrung seines Vaters anfangen? Als hätte sein Vater diese Gedanken erraten, brach er jetzt sein Schweigen: „Dieser Hefterides ist ein kluger Mann. Vielleicht meinte er es ehrlich, dann hätten wir seine Hilfe brauchen können. Vielleicht ist er ein Spitzel, nur gefährlicher als der andere es war. Es ist schlimm, dass man niemandem trauen darf!“ * „Vater?“ „Ich bin Mutelos!“ flüsterte Tok-aglur ärgerlich. „Uns kann doch keiner hören.“ Das mochte stimmen. Tok-aglur hatte sein Maultier beruhigen müssen, das vor ein paar Geiern am Rande der Straße gescheut hatte. Jetzt ritten sie am Ende der Karawane und in einigem Abstand zu den Reisenden vor ihnen. Der Abendwind
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wehte Staubschwaden quer über die Straße. „Also, was ist?“ „Du sagtest, man könne keinem mehr trauen. Wie ist es mit uns beiden?“ „Was meinst du?“ „Du bist enttäuscht, weil Azluthos in Batiflim nicht dich als Thronerben erkannt hat, sondern mich. Ich besitze das Regenszepter, nach dem du dein halbes Leben gesucht hast. Was bedeutet das für uns?“ Tok-aglur schwieg so lange, dass Sorla schon befürchtete, er wäre seinem Vater zu nahe getreten. Schließlich aber sagte dieser: „Zunächst dachte ich, Azluthos habe einen groben Fehler begangen, später merkte ich, dass er mehr über dich und deine überraschenden Fähigkeiten wusste als ich. Und die Ehrwürdige Mutter hat mir noch einmal deutlich ins Gewissen geredet. Dennoch stimmt es: ich bin enttäuscht.“ „Aber wir können einander trauen?“ „Sicher.“ „Wenn mir etwas zustieße, dann wärest du der einzige Überlebende der alten Dynastie, oder?“ Tok-aglurs Gesicht versteinerte. „Junge, du bist mein Sohn. Ich liebe dich, und nie würde ich dir schaden wollen!“ Sorla traten die Tränen in die Augen. Sein Vater fuhr fort: „Ich würde dich gerne in den Arm nehmen, um dir zu zeigen, dass ich dich liebe. Aber das würde jetzt ziemliches Aufsehen erregen, oder?“ In diesem Augenblick erscholl von der Spitze der Karawane her Lärm. Acht oder zehn bewaffnete Reiter kamen ihnen in einer Staubwolke entgegen, sie schrien: „Ergebt euch!“ Einige Kaufleute lachten, denn sie waren ja weit in der Überzahl. Doch plötzlich erhoben zwölf der Reisenden ihre Säbel, wandten sich gegen die übrigen und riefen ebenfalls, sie sollten sich ergeben, wenn ihnen ihr Leben lieb sei. „Verrat!“ riefen die acht Überfallenen, aber es half nichts, sie waren hoffnungslos in der Minderheit.
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„Wir können da nichts machen“, sagte Tok-aglur. Sorla nickte, da wendeten sie ihre Reittiere und ritten schleunigst nach Norden davon. Nach kurzer Zeit waren sie außer Sichtweite. „Ost oder West?“ fragte Tok-aglur, denn nach Kaharad im Norden zurück wollten sie nicht. Nach Westen bedeutete hin zum Fluss Bato, nach Osten lag weites ehemaliges Ackerland, aber nun verwildert und versteppt. „Nach Osten“, antwortete Sorla. Eigentlich zog es ihn zum Fluss, wo es Wasser und Fische gab. Er wusste nicht, wieso er sich für die weiten versteppten Ebenen entschied. „Na gut“, sagte sein Vater, und sie verließen die Straße, die Abendsonne im Rücken. * Die Nacht war kalt. Aus Angst, entdeckt zu werden, wagten sie nicht, ein Lagerfeuer zu entzünden. So hockten sie an die schlafenden Maultiere gelehnt und in ihre Decken gehüllt. Sie schauten in den klaren Nachthimmel; Tok-aglur erklärte seinem Sohn die Sternbilder und ihre hernostischen Namen. Sie waren, so erläuterte er, wichtig für die Berechnung der Jahreszeiten, vor allem wegen der Verwaltung des Wassers in der Landwirtschaft. „Man muss ja wissen, wann in Batiflim die Schneeschmelze beginnt und hier das Hochwasser hereinbricht. Dann müssen die Dämme instand gesetzt und die Zisternen vorbereitet sein, von denen die Städte den ganzen Sommer zehren können. So war es jedenfalls früher.“ Er unterbrach sich, auch Sorla sah, was sich aus dem Dunkel näherte: eine bleiche Frauengestalt, in einen weißen Mantel gehüllt. Doch die Erscheinung war halb durchsichtig und schwebte über dem Boden. „Was ist das?“ stammelte er entsetzt, dann aber erinnerte er sich. „Frau Maren!“ rief er. Sie näherte sich zögernd. „Wer bist du?“ Ihre Stimme war
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so leise wie der Nachtwind und kaum zu verstehen. „Ich bin Sorle-a-glach, du sahst mich in den Wäldern Rhosmeas, beim Zauberfest der Elfen.“ „Ja, der kleine Bär, der sich in eine Schlange verwandelte! Du hast gehörigen Eindruck hinterlassen. Und was tust du hier?“ Jetzt mischte sich Tok-aglur ein: „Frau Maren, ich bin es gewohnt, dass Ihr ab und an mich heimsucht und an meine Pflichten erinnert. Wieso nicht heute?“ „Prinz, dass du saumselig bist, habe ich dir oft vorgeworfen. Immerhin bist du zurückgekehrt. Gedenkst du jetzt endlich den Thron zu besteigen?“ „Das wird mein Sohn Sorla tun, wenn die Zeit reif ist, nicht ich. So hat Azluthos entschieden“ Frau Maren blickte von einem zum anderen, dann wisperte sie: „Dein Sohn? Das erklärt vieles. Azluthos traf immer die richtigen Entscheidungen.“ „Er hielt mich nicht für saumselig“, verteidigte sich Tokaglur. „Und ich war es auch nicht. Es gab viele Schwierigkeiten zu überwinden.“ „Das mag sein, Prinz. Etwas aber muss ich noch sagen: Einer aus unserer Dynastie wird demnächst sterben. Wer von euch das sein wird, weiß ich nicht.“ Damit verschwand sie. * Den nächsten Tag ritten sie zunächst nach Osten, dann in weitem Bogen zunehmend nach Süden. Jeder hing seinen traurigen Gedanken nach. Nach Frau Marens Ankündigung hatten sie einander entsetzt angesehen. Sorla hatte empört gesagt: „Wie will sie das überhaupt wissen?“ „Seit Jahrhunderten spukt diese Ahnfrau in unserer Familie. Mit ihren Warnungen hatte sie immer recht.“
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„Ich will nicht sterben, Vater. Und bei Atne, ich will auch nicht, dass du stirbst!“ „Mein lieber Junge! Einen wird es wohl treffen. Ich hoffe, dass Atne dich verschont, denn ich habe lange gelebt, und du trägst das Regenszepter.“ Da hatte Sorla zu weinen begonnen und war erst gegen Morgengrauen eingeschlafen. Sein Vater hielt ihn im Arm, das wärmte und tröstete. Nun aber schwitzten sie in der Mittagssonne. Vor ihnen erstreckte sich die eintönige Ebene ehemaliger Weizenfelder, jetzt bewachsen von hartem Gras und scharfblättrigem Gebüsch. Gelegentlich überquerten sie ausgetrocknete Bewässerungsgräben, die wie ein riesiges Netz die Gegend überzogen und den einstigen Reichtum erahnen ließen. Stets waren ein oder zwei leerstehende Gehöfte in Sicht oder kleine verfallene Lehmhütten – hier hatten die Kleinpächter und Tagelöhner gelebt. Auch Reste von Ziehbrunnen, von Windmühlen und Kornspeichern ragten über die Disteln und Agaven hervor. Sorla versuchte, all dies mit den Augen seines Vaters zu sehen; über das Elend krampfte sich ihm das Herz zusammen. Gegen Nachmittag sahen sie weit im Osten eine Staubwolke, die sich rasch näherte. Nun erkannten sie fünf Reiter. Diese mussten auch sie erspäht haben, denn sie änderten ihre Richtung und galoppierten geradewegs auf Sorla und seinen Vater zu. „Was jetzt, Vater?“ „Ich weiß nicht, wir können ihnen nicht entkommen.“ Zwar trieben sie ihre Maultiere zu zügigerer Gangart an, doch die Reiter schwärmten in breiter Linie aus und hatten sie bald erreicht und umzingelt. Es waren hochgewachsene, wilde Gestalten mit Zöpfen und geflochtenen Bärten, die in fremder Sprache einander zuriefen – offensichtlich spöttische Bemerkungen über ihre beiden Gefangenen. Ihre Beinkleidung bestand aus Lederstücken, die mit Riemen an den Beinen kreuzweise verschnürt waren. Über die ansonsten bloßen Oberkörper hatten sie Pelze
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gehängt und mit Gürteln und Schnallen befestigt. Die nackten Arme waren mit Reifen und Bändern geschmückt. Die Männer starrten vor Waffen; jeder führte außer mindestens einem Dolch einen Säbel und mehrere Wurflanzen oder einen Kurzbogen bei sich. Auch die Pferde waren geschmückt. Einigen hatte man Bänder und Federn in ihre Mähnen geflochten, anderen aus dem Fell der Hinterbacken Muster herausrasiert. All das hatte Sorla auf den ersten Blick wahrgenommen, und trotz seiner Angst drängten sich ihm undeutliche Erinnerungen auf. Er rief: „Seid gegrüßt, Ramtasi, im Namen Ramloks!“ Denn es waren Reiterbarbaren aus der Taipalsteppe, sie nannten sich Ramtasi, sie verehrten Ramlok, und all das hatte er in Brindhal bei seinem Lehrer Hasmasu gelernt. Wie lange war das her! Die Reiter stutzten, mindestens die Worte Ramtasi und Ramlok schienen sie verstanden zu haben. Der Anführer drängte sein Pferd näher heran, zeigt auf Sorla und sagte etwas Unverständliches. Sorla wiederholte, nachdem Hernostisch nicht geholfen hatte, seine Anrede in der Sprache der Sidh, aber vergebens. Auch die Sprache Batiflims half nicht weiter, der Anführer schüttelte bloß den Kopf. „Bei Ramlok!“ seufzte Sorla in der Sprache Ailats, denn die Pferde erinnerten ihn an Herils Hof. „Es muss doch einen Weg geben!“ „Warum nicht gleich!“ rief der Anführer in derselben Sprache, wenn auch mit starker Färbung. „Wohin seid ihr unterwegs?“ „Nach Ekritmea, der Stadt im Süden“, schaltete sich Tokaglur ein, ebenfalls in der Sprache Ailats. „Und ihr?“ „Die Fragen stelle ich. Wer seid ihr?“ „Marut aus Kaharad und mein Neffe Nemed“, sagte Tokaglur. „Das mag stimmen oder auch nicht. Wir suchen einen gewissen Tok-aglur und seinen jungen Begleiter. Ihr passt auf die Beschreibung, also müsst ihr mitkommen.“ Es half nichts, dass Tok-aglur sich beschwerte und
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glaubhafte Geschichten erfand. Der Anführer wiederholte: „Ihr müsst mit, der Hetman wird entscheiden, was mit euch geschieht.“ Bis spät in den Nachmittag ritten sie, bewacht von den Ramtasi, in südöstliche Richtung, dann sahen sie eine Gruppe von Zelten, daneben einen Ziehbrunnen, der offensichtlich noch Wasser förderte, denn um den Trog standen Pferde und soffen sich satt. Die beiden Gefangenen wurden mit vorgehaltenen Speerspitzen auf den freien Platz vor einem der Zelte gestoßen. Heraus trat ein stattlicher Ramtasi, in ein Bärenfell gehüllt. Das war der Hetman. Der Anführer der Reiterschar erstattete Bericht, allerdings in der Sprache, die Sorla nicht verstand. Es tauchten aber die Wörter Ramtasi und Ramlok auf, dabei zeigte der Anführer auf Sorla. Der Hetman richtete seinen Arm auf Sorla. „Was weißt du über Ramlok?“ fragte er mit rauher Stimme. Das schien Sorla eine gute Möglichkeit, die Lage zu ihren Gunsten zu wenden. Er lächelte in der Erinnerung an alte Zeiten. „Er herrscht über den Wind. Er gewährt Kraft und Gesundheit. Die Männer der Taipalsteppe verehren Ramlok, denn sie lieben die Freiheit.“ Der daneben stehende Anführer übersetzte alles seinen Männern, die beifällig murmelten. „Das hast du gut gesagt!“ nickte der Hetman. „Was weißt du noch?“ „Der wahre Ramtasi ist wie ein Hengst so stark und stolz. Er trägt sein Haupt aufrecht und kriecht vor keinem. So ist er würdig, einst in die unsterbliche Herde Ramloks aufgenommen zu werden.“ Der Anführer nickte und übersetzte auch dies. Jetzt schrien die Männer begeistert etwas in der fremden Sprache. „Den Männern gefällt, was du sagst“, rief der Hetman. „Sage mir, woher du all dies weißt!“ Nicht schlecht gemacht, lobte sich Sorla in Gedanken. Laut sagte er: „Ich kannte Heril auf seinem Hof in Ailat.“ „Von ihm habe ich gehört. Er wird jetzt alt sein. Wie geht
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es ihm?“ „Er führt seine eigene Herde auf Ramloks weiten Ebenen. Im Traum habe ich ihn dort gesehen.“ Als die Männer das erfuhren, brach ein Stimmengewirr los. „Wir wollen mehr wissen“, sagte der Hetman. „Erzähle, wie es dort aussieht!“ Also beschrieb Sorla den Wind und das wehende Gras, die tief fliegenden Gewitterwolken, die heran galoppierende Herde; dann, wie Heril nun aussah – ein blondmähniger, mächtiger Hengst – und wie er mit Sorla sprach: „Kleines Fohlen“. „Wieso denn das?“ „Meine Mutter war Ramlok geweiht, auf dem Hofe Herils.“ Da blickte der Hetman ihn an und flüsterte heiser: „Nenne mir den Namen deiner Mutter, Nemed.“ Jetzt konnte Sorla nicht weiter lügen, zu sehr hatte er sich in die eigenen Erinnerungen verstrickt. „Ich heiße Sorla, meine Mutter ist Taina, Fürstin von Sidhland.“ Der Hetman nickte. „Ich heiße Kirgul. Deine Mutter habe ich in Brindhal gesehen. Keine ist schöner als sie. Und dich erkenne ich jetzt wieder, Prinz Sorla. Wie weit bist du von zu Hause!“ Da erinnerte sich auch Sorla: Zu seinem fünfzehnten Geburtstag – vor über zwei Jahren – waren viele Gäste in den Hallen Brindhals erschienen. Einer war jener Barbar von der Taipalsteppe, der eine Pferdestute als Geschenk mitbrachte. „Ich erinnere mich“, grinste er. „Du hast das Geschenk für meine Mutter wieder mitgenommen.“ Kirgul nickte. „Dort drüben steht sie!“ Er zeigte auf eine schöne Stute beim Wassertrog. „Ich bereue nicht, ihr die Freiheit wiedergegeben zu haben.“ Er sagte das so trotzig, dass Sorla spürte, wie schwer ihm die Entscheidung gefallen war. „Ich bin froh, dass du es tatest!“, nickte Sorla. „Denn so wurde ich erinnert, dass ich meine Freiheit wieder gewinnen musste.“ „Nun bist du hier“, sagte der Hetman, „und wieder gefangen.“
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„Und wieso?“ schaltete sich Tok-aglur ein, der bisher das Reden seinem Sohn überlassen hatte. „Wenn du der Marut bist, für den du dich ausgibst, wie kann dann Prinz Sorla von den Sidhlanden dein Neffe sein? Wenn du aber Tok-aglur bist, dann weißt du selbst, weshalb man dich sucht.“ Eben kam eine weitere Schar Reiter zurück, mit ihnen ritt ein Mann in hernostischer Tracht. Er stieg ab, zeigte auf Tok-aglur und rief: „Das ist er!“ „Girrhol!“ flüsterte Tok-aglur heiser. Dieser nickte lächelnd: „Du siehst, Prinz, die Sechs Familien gewinnen immer. Es braucht nur Geduld.“ Zum Hetman gewandt, fügte er hinzu: „Du hast dir deinen Lohn verdient.“ Dieser wandte sich fast entschuldigend an Sorla: „Tut mir leid, kleiner Prinz, wir hatten versprochen, euch zu fangen. Dafür dürfen wir in dieser Gegend bleiben.“ „Und wenn ihr die beiden gleich hier tötet, nehmt ihr mir unnötige Arbeit ab“, fügte Girrhol hinzu. „Vom Töten sprach keiner!“ murrte Kirgul. „Es war nur ausgemacht, dass wir sie fangen.“ „Langsam!“ mischte sich Tok-aglur ein. „Diese Gegend gehörte noch nie den Sechs Familien. Was immer sie den Ramtasi versprachen, es hat keine Gültigkeit.“ Er wandte sich nun dem Hetman zu: „Ich, als Mitglied der kaiserlichen Familie, kann euch zusichern, was ihr braucht, wenn ihr nicht länger diesem Verräter dient.“ „Pah!“ rief Girrhol verächtlich. „Hier spricht ein Ausgestoßener, dessen Familie seit Menschengedenken keine Macht mehr hat. Die Verzweiflung treibt ihn zu haltlosen Versprechungen!“ Die Männer, welche Sorla und seinen Vater mit ihren Speeren bewachten, folgten verständnislos dem Hin und Her, doch Sorla spürte, dass ihnen ihre Aufgabe zunehmend verhasst wurde und sie eher zu ihm halten würden als für Girrhol die schmutzige Arbeit zu machen. Auch der Hetman schien das zu merken, oder
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ihm selber war unangenehm, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Er hob die Arme, bis alle schwiegen, und sagte: „Wir Ramtasi haben unsere Zusage gehalten und haben bei dir, Girrhol, keine Ehrenschuld. Eher fühlen wir uns diesem jungen Mann verpflichtet, der uns mit seinen Berichten über Ramloks Herde viel Freude bereitete. Auch hören wir sehr verschiedene Darstellungen über die Zusagen Girrhols und des Prinzen Tok-aglur. Wem, bei Ramlok, sollen wir glauben?“ Als Sorla hörte, wie wichtig dem Hetman die Ehre und die Verpflichtung waren, fiel ihm etwas ein und er sagte: „Sage mir; Kirgul, weshalb reitest du nicht mit den anderen Ramtasi auf den weiten Ebenen der Taipalsteppe? Aus welchem Grund bist du seit zwei Jahren, seit wir uns auf Brindhal sahen, nicht in deine Heimat zurückgekehrt?“ Der Hetman nickte nachdenklich. „Junger Prinz, du hast mir ins Herz geblickt. Wie kann ich heimkehren, wenn ich meine Aufgabe nicht erfüllte?“ „Du hast meiner Mutter ein Geschenk vorenthalten, das sie nicht brauchte. Und du hattest gute Gründe, Kirgul. Aber wenn du ihren Sohn rettest, machst du ihr ein größeres Geschenk, das alle Ehrenschulden tilgt.“ Girrhol fuhr wütend auf, doch der Hetman winkte, er solle schweigen, und wandte sich an seine Leute. Auch wenn Sorla die Sprache nicht verstand, war deutlich, dass er ihnen das Wesentliche in ihrer Sprache darlegte. Unter diesen Leuten war auch ein sehr alter Mann, der zu schwach war, um als Krieger viel zu taugen. Dennoch behandelten ihn alle mit Ehrerbietung. Dieser Mann sprach, und alle , auch Kirgul, nickten ihr Einverständnis. „Hört alle!“ rief Kirgul nun, und der Anführer, welcher schon früher übersetzt hatte, tat dies wieder, so dass alle gleichzeitig des Hetmans Entscheidung hörten. „Hört, was wir zusammen mit dem weisen Surte, unserem Schamanen, beschlossen haben! Wir geben dem jungen Sorla die Freiheit zurück, denn wir sind ihm mehr verpflichtet als Girrhol. Dessen Erlaubnis, hier zu leben, brauchen wir nicht mehr. Denn wir werden diese Gegend, die
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nicht unsere Heimat ist und viele leere Gräben hat, wo schon zwei Pferde ihre Beine brachen, verlassen und in die Taipalsteppe zurückkehren. Wir werden unsere Familien wiedersehen.“ Zustimmende Rufe unterbrachen den Hetman. Dieser nickte und fuhr fort: „Ich werde dem Stammesrat berichten und nehme alle Verantwortung auf mich. Was aber den hernostischen Prinzen Tok-aglur angeht, so sind uns seine Aussagen ebenso zweifelhaft, wie es die Versprechungen Girrhols wurden. Wir wollen wissen, wer von beiden uns Ramtasi belügen wollte. Also werden wir Ramlok als Schiedsrichter anrufen.“ Ein Gottesurteil! Die Männer jubelten, Girrhol machte ein verdutztes Gesicht, begann aber dann siegessicher zu grinsen. Tokaglur flüsterte Sorla zu: „Nun werde ich wohl sterben, wie Frau Maren vorhergesagt hat. Du hast keine Schuld, mein Sohn. Du hast getan, was du konntest, und mehr erreicht, als wir hoffen konnten.“ Sorla traten die Tränen in die Augen, doch verbot er sich das Weinen. Stattdessen sagte er: „Du bist kein Lügner, warum also solltest du sterben?“ „Girrhol kämpft besser zu Pferde als ich. Er schlug mich schon früher in dieser Fertigkeit.“ „Als du den Trollen das Geschenk um die Ohren schlugst, warst du aber sehr gut.“ Trotz der ernsten Lage musste Tok-aglur lächeln. „Das war lustig, aber nichts Besonderes. Damit kann ich bei Girrhol nichts erreichen.“ „War er mal dein Freund?“ „Ja.“ Inzwischen war der Kampfplatz mit nach innen gerichteten Speeren markiert worden, etwa dreißig Schritte im Durchmesser. In der Mitte steckten zwei Dolche, in ungefähr drei Schritten Abstand voneinander, bis zum Heft im Boden. Nun wurden zwei Pferde hereingeführt – ohne Sattel, ohne Zügel, nur mit einem Strick um Hals und Rumpf. Tok-aglur nickte. „Ich habe es geahnt, mein lieber Junge. Was hier verlangt wird, kann ich zwar, aber nicht so gut wie die meisten Ramtasi und sicher nicht so gut wie Girrhol.“
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„Atne wird dir helfen, Vater.“ Jetzt musste Sorla doch weinen. „Ich weiß nicht.“ Girrhol und Tok-aglur wurden nun entkleidet und bekamen je ein Lendentuch, das sie sich umbanden. Danach wurden sie auf entgegengesetzte Seiten des Kampfplatzes zu ihren Pferden geführt und mit dem Hals an dem Haltestrick ihrer Pferde festgebunden, doch so, dass sie etwa zwei Klafter Spielraum hatten. „Wann geht’s endlich los?“ erkundigte sich Girrhol und schlug die Hände tatendurstig zusammen. „Früh genug!“ antwortete Tok-aglur. „Und wenn Ramlok auf uns schaut, wird er dich als Verräter erkennen und vernichten!“ Girrhol wandte sich lachend an die Umstehenden. „Ich werde diesem Angeber den Bauch aufschlitzen und ihm sein Eingeweide ins Maul stopfen!“ „Seid still!“ ermahnte sie der Hetman. „Der Kampf beginnt, wenn Surte das Zeichen gibt.“ Der alte Ramtasi hatte eine Flasche geholt und trank drei Schlucke. Dann hielt er sie einladend Tok-aglur hin. Dieser roch daran und lehnte höflich ab: „Bei Ak’men! Wenn ich mich betrinke, verliere ich meinen klaren Kopf.“ Surte ging quer über den Platz und bot die Flasche Girrhol an. Dieser schüttelte angeekelt den Kopf: „Das Zeug stinkt, Alter!“ Dieser nickte und wollte eben selbst wieder daraus trinken, da hielt Sorla die Hand hin: „Gib mir davon, Surte!“ Denn ihm waren die Gewohnheiten auf Herils Hof eingefallen, wenn es darum ging, Ramlok anzurufen. Surte reichte ihm die Flasche und murmelte etwas Unverständliches, vielleicht eine Einladung. Der Inhalt roch seltsam, aber auch vertraut nach Kräutern, wie sie auf Herils Hof dem Gebräu zugesetzt worden waren. Sorla nahm ein paar kräftige Schlucke. Sofort begann es in seinem Kopf zu brausen. Er spürte, wie jemand ihm die Flasche aus der Hand nahm, aber es war ihm gleichgültig, denn er wollte auf das Brausen hören und zugleich den Kampf beobachten.
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„Der Kampf soll beginnen!“ rief der Hetman, denn Surte hat ihm das Zeichen gegeben. Zwei Ramtasi schlugen den beiden Pferden mit der flachen Seite der Speere über die Hinterbacken; die beiden Tiere rasten erschreckt nach vorne los, und hätten sich Tokaglur und Girrhol nicht im selben Augenblick auf die Pferderücken geschwungen, sie wären an ihren Hälsen hinterher geschleift worden. Sorla bekam das alles mit, aber es schien ganz langsam zu gehen, und er verstand die Aufregung nicht. Zugleich hörte er den Wind brausen, obwohl kein Halm sich rührte, seine Haut wurde kalt. Die beiden Pferde galoppierten mit ihren Reitern auf die Dolche in der Mitte des Platzes zu – wer zuerst ankam, hatte den Vorteil, beide Waffen zu holen oder den anderen abzudrängen. Tokaglur glitt beim Galoppieren seitlich am Pferd herab und ließ die Füße nachschleifen, hielt sich nur am Seil mit einer Hand und hätte mit der anderen den einen Dolch im Vorbeireiten erwischt, wenn nicht Girrhol sich unter den Bauch seines Tieres gehängt hätte, beide Füße und eine Hand im Strick eingehakt, und im Vorbeireiten den Dolch Tok-aglur vor der Nase weggeschnappt hätte. Die Ramtasi murmelten anerkennend. Sorla sah dies aus großer Ferne. Winzige Figuren mühten sich ab, andere standen darum herum. Er hörte auch, wie Surte Ramlok anrief, Gerechtigkeit zu üben, aber das musste ja im Brausen des Windes untergehen. Zu weit war diese Steppe, das gelbe Gras bog sich in Wellen unter dem Wind, wie sollte Ramlok Surtes leise Stimme hören! Es war Sorlas Aufgabe, Hilfe zu holen. „Heril!“ rief er, es dröhnte und hallte in seinem Kopf. „Heril, hilf uns, in Ramloks Namen!“ Tok-aglur hatte sein Tier gewendet und versuchte an den zweiten Dolch zu gelangen. Girrhol aber, wieder auf dem Pferd sitzend, drängte das andere Tier ab, und Tok-aglur raste am Dolch vorbei, ohne ihn zu greifen. Girrhol lachte und hieb ihm im Vorbeireiten mit dem Dolch in den Oberschenkel. Ein breiter roter Schlitz war zu sehen, das Blut strömte. Die Zuschauer schrien auf.
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„Heril!“ rief Sorla wieder, er selbst sah dem Kampf von hoch oben zu, zugleich war er auf den winddurchfluteten Ebenen Ramloks und sah in der Ferne Pferde galoppieren. Aber sie waren so weit entfernt! „Kennan-glai!“ rief er verzweifelt. „Hört ihr mich nicht?“ Tok-aglur hatte es geschafft, beim Reiten und während er Girrhols Angriffen auswich, sein Lendentuch zu lösen und damit sein verletztes Bein abzubinden, dass die Blutung nachließ. Aber das brachte ihm den Sieg nicht näher, allenfalls zögerte es seinen Tod hinaus. Alle wussten das; Girrhol lachte und holte sich inzwischen, ohne dass Tok-aglur es hätte verhindern können, auch den zweiten Dolch. „Kennan-glai!“ schrie Sorla wieder. „Heril! In Ramloks Namen, wo bleibt ihr?“ Da hörte er Kennan-glai rufen: „Ich habe es Heril gesagt! Wir bemühen uns, schau, du kannst Herils Herde schon sehen!“ Und Sorla sah sie heran rasen, der Boden dröhnte. Jetzt warf Girrhol den zweiten Dolch, traf aber nicht, denn Tok-aglur hatte sich seitlich hinter dem Pferd versteckt. Doch Girrhol ritt von der anderen Seite her längsseits neben Tok-aglurs Tier und zerschnitt dessen Haltestrick, an dem Tok-aglur sich eingehängt hatte. Da fiel dieser zu Boden und wurde am Hals nachgeschleift. Zwar gelang es ihm, mit beiden Händen den Strick zu packen und so zu verhindern, dass ihm der Hals zugeschnürt wurde, doch sein Körper schleifte am Boden. Girrhol lachte und stach in die Hinterbacken des Tieres, dass dieses noch entsetzter raste. Er sprang ab, schnitt sich den Strick vom Hals und streckte die Arme sieghaft in den Himmel. Dann hob er den Dolch, um Tokaglur abzustechen, wenn dieser wieder vorbei geschleift wurde. „Jetzt sind wir da!“ wieherte Heril in Sorlas Kopf. Der Himmel verdunkelte sich, Surte blickte überrascht hoch. Ins Heulen des Windes mischte sich schrill das Wiehern unsichtbarer Pferde, dass alle Ramtasi entsetzt zurückwichen. Der Hetman schrie: „Ramlok, stehe uns bei!“ Das Tosen dauerte an, Hunderte von Hufen donnerten im Dunkel vorbei, dann war die Herde vorüber, die Sonne schien. Tok-aglurs Pferd stand zitternd da, während Tok-
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aglur sich stöhnend von seinem Halsstrick befreite. Wo Girrhol stand, war der Boden aufgewühlt und mit einem flachgetretenen Brei von Fleisch und Knochen vermischt. * Alle schrien durcheinander, schließlich gelang es dem Hetman, sich Gehör zu verschaffen. „Von diesem Tag werden noch unsere Urenkel erzählen!“ rief er. „Lasst uns ein Fest feiern!“ Die Vorräte waren gering, doch für Spießbraten reichte es. Es gab auch ein Fass Wein, denn Girrhol hatte sich auf längere Zeit bei den Ramtasi eingerichtet. Nun saßen sie beisammen und erzählten sich alles zum dritten und vierten Male. Tok-aglur lag mit seinen Verbänden ein paar Schritte abseits und schlief, denn er war durch den Blutverlust und die vielen Verletzungen sehr erschöpft. Surte hatte seine Fassung noch immer nicht wiedergewonnen. Immer wieder deutete er mit zitternder Hand auf Sorla. Schließlich kam der Hetman zu Sorla und sagte: „Unser Schamane behauptet, du hättest die Pferde gerufen.“ Sorla nickte müde, er war noch halb betäubt: „Es war Herils Herde.“ Surte fasste Kirgul am Arm; eine Frage schien ihm ganz dringlich. Der Hetman übersetzte: „Wie hast du es angestellt, die Herde zu eurem Beistand zu rufen? Dies ist ein Wunder, das unserem Schamanen noch nie gelang.“ Es war Sorla unangenehm, darüber zu reden, aber er antwortete: „Heril hat mich nicht gehört. Es war Kennan-glai, ein Fohlen, das mir durch Ramloks Pferdesegen sehr vertraut war. Jetzt läuft es in Herils Herde mit. Mit ihm konnte ich reden, und es rief Heril.“ Kirgul übersetzte das, Surte nickte erschüttert und, Sorlas Hände fest in seinen haltend, redete er eindringlich mit dem Hetman. Dieser nickte mehrmals. Schließlich sagte er zu Sorla:
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„Surte hat in seinem langen Leben nur zweimal gehört, dass Ramlok den Pferdesegen gewährte. Wem dies geschieht, der ist ausgezeichnet unter den Ramtasi, und was er sagt, das gilt. Und dass du die Pferde aus Ramloks Ebenen herbeiriefst, übertrifft alles.“ „Aha“, murmelte Sorla, der am liebsten geschlafen hätte. „Du bist kein Ramtasi, aber jeder von uns wird dich ehren und dir helfen, wo er kann.“ „Ich freue mich, Kirgul. Aber jetzt will ich ausruhen.“ * Zehn Tage blieben sie, wo die Ramtasi ihre Zelte aufgeschlagen hatten, dann waren Tok-aglurs Wunden so weit geheilt, dass er reiten konnte. Aber es würde noch lange dauern, ehe seine frühere Beweglichkeit wiederhergestellt war. „Wohin reist ihr?“ fragte Kirgul besorgt. „Es gibt viele, die euch schaden wollen!“ So kam es, dass Sorla und sein Vater, von Kirguls Reiterhorde begleitet und bewacht, drei Wochen später an einem frühen Nachmittag Ekritmea erreichten, die Hauptstadt des hernostischen Reiches. Sorla dankte den Ramtasi für ihre Hilfe und wünschte ihnen für ihre Heimkehr Ramloks Segen. Alle waren gerührt und umarmten einander. Auch Tok-aglur, dem dies alles eigentlich zu gefühlvoll war, wurde geherzt wie ein Bruder. Nun wollten die Ramtasi vor ihrer Heimreise das berühmte Ekritmea erkunden, vor allem den Hafen mit seinen Kaschemmen und Mädchen. Sorla dagegen hatte mit seinem Vater ausgemacht, dass dieser ihm den kaiserlichen Palast wenigstens von außen zeigte. „Wunderschön sind auch die Palastgärten, mein Junge. Und von dem Palasthügel aus kann man die ganze Stadt sehen!“ Kirgul wiegte bedenklich sein Haupt, als er das hörte. „Seid vorsichtig, junger Prinz!“
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Sorla lächelte. „Natürlich, Kirgul. Und sage deinen Reitern, sie sollen niemandem erzählen, wer wir sind und was geschah! Wir wollen kein Aufsehen.“ „Sicher, junger Prinz. Aber es wird ihnen schwerfallen, denn sie sind stolz, all das erlebt zu haben, und das Herz ist ihnen voll davon.“ „Dann sollen sie nicht zuviel Wein trinken, damit ihnen das Herz nicht überläuft.“ „Das wird schwierig, junger Prinz.“ Damit trennten sie sich. Tok-aglur führte seinen Sohn die belebten Prunkstraße entlang, zeigte ihm die Tempel Anods, Marushus und Atnes. Dann aßen sie in einer kleinen Garküche hernostische Fischsuppe mit Weißbrot. Inzwischen war es dämmerig geworden. Sie stiegen die Treppen zu den Palastgärten empor, vorbei an den Buden von Andenkenverkäufern und Buden, in denen leckere Fischspieße oder auch Honigäpfel feilgeboten wurden. Um sie drängte sich eine bunte, laute, fröhliche Menschenmenge. „Je mehr Leute um uns sind“, sagte Tok-aglur, „desto sicherer sind wir.“ Immer höher kamen sie, immer mehr sahen sie von der Stadt unter sich. Der Duft blühender Büsche wehte aus den Palastgärten herüber, die Luft war warm und roch doch nach frischer Erde. Hier gab es keine Verkaufsbuden mehr, keine Menschenmengen. Aber nur noch wenige Bäume verdeckten den Blick auf den kaiserlichen Palast und all die Nebengebäude, deren Dächer im Licht des aufgehenden Mondes glänzten. Viele Fenster waren erleuchtet. Sorla war überwältigt von der Schönheit und Größe der Gebäude. „Wer wohnt jetzt da?“ fragte er. „Takilis, er ist ein Strohmann der Sechs Familien. Und natürlich die Bediensteten, Schreiber, Arbeiter. Dort wäre ich aufgewachsen, wenn meine Familie nicht vertrieben worden wäre! Nur als Dieb habe ich mich manchmal hineingestohlen!“ Sein Gesicht war im Dunkeln kaum zu sehen, aber die Stimme klang
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bitter. Dann legte er seine Hand auf Sorlas Schulter: „Ich will dir jetzt lieber die Aussicht auf die Stadt zeigen.“ Sie gingen den dunklen Weg zwischen den blütenduftenden Büschen entlang, wobei sie ein Liebespaar aufschreckten. Fledermäuse taumelten durch die warme Nachtluft. Dann öffnete sich vor ihnen der Blick auf die Stadt. Dort unten erstreckte sich das Meer weißgetünchter Lehmhäuser mit ihren kleinen erleuchteten Fenstern, dazwischen einzelne Prunkgebäude inmitten ihrer Gärten. Tok-aglur wies auf einzelne Gebäude und benannte sie: „Der Anod-Tempel; führt in Ekritmea ein Schattendasein, viele Priester sind geflohen. Das Haus der Steuern; der Sitz der Habgier und Bestechlichkeit. Das Haus der Freuden Marushus; zum Hurenhaus verkommen, die Sechs Familien streichen den Gewinn ein. Die Kaserne. Das Wasseramt. Das Gefängnis.“ In der Ferne lag dunkel der Hafen, die schlafenden Schiffe waren kaum zu erkennen. In den Kneipen dort mochten sich wohl gerade die Ramtasi vergnügen – mit den Mädchen oder indem sie sich mit irgendwelchen Seeleuten prügelten. Geräusche drangen herauf – das Bellen ärgerlicher Hunde, Gesang, irgendwo wurde gehämmert. Die nächtliche Brise trug Gerüche der Garküchen herauf, der Blüten, Latrinen, Gewürze. „Schön hier“, flüsterte Sorla. Sein Vater zeigte auf ein fernes Wohnviertel am Rande der Stadt: „Dort wuchs ich auf, bei einer Kaufmannsfamilie, die insgeheim meinen Eltern verbunden war. Sie tarnten mich als jungen Sklaven, den sie als Spielgefährten für den Sohn der Familie erworben hatten.“ „Girrhol?“ „Ja.“ Nach einer Pause fügte Tok-aglur hinzu: „Er verriet später seine eigenen Eltern. Kann sein, dass sie noch leben, im Gefängnis dort hinten.“ Sorla überlegte, was einen wohl dazu treiben konnte, die eigenen Eltern zu verraten. Da hörte er ein Rascheln in den Büschen hinter sich und warf sich zu Boden. Ein Pfeil zischte an ihm vorbei.
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„Sorla!“ schrie Tok-aglur und warf sich schützend über ihn. Der nächste Pfeil traf ihn. Gleichzeitig hatte Sorla sein Messer gezogen und im Liegen dorthin geworfen, wo er den versteckten Schützen vermutete. Aus den Büschen erklang ein unterdrückter Schrei, jemand taumelte heraus und fiel zu Boden. Sorla sprang auf und entwand ihm den Bogen. Aber das wäre nicht mehr nötig gewesen; der Mann lag im Sterben. Als er sein Gesicht hoch wandte, erkannte Sorla seinen Halbbruder. „Korraghom!“ „So sehen wir uns wieder“, keuchte dieser. Blut sickerte aus seinem Mund. Die Hand tastete nach dem Messer, das aus seiner Brust ragte. Aber sie sank zurück, ohne es herauszuziehen. „Du hast mir nur Unglück gebracht, Sorla, mein Bruder!“ „Wie kannst du mich so hassen!“ stammelte dieser. Doch konnte er auf die Antwort nicht warten – wenn sie je kam – denn er hörte seinen Vater stöhnen und eilte hinüber. Tok-aglur versuchte den Pfeil aus seinem Rücken zu ziehen, aber konnte ihn nicht richtig greifen. Es schien jedoch nur eine Fleischwunde zu sein, dachte Sorla erleichtert, als er seinen Vater untersuchte. Er packte den Pfeil und zog ihn zunächst vorsichtig, dann mit einem letzten Ruck heraus. Tok-aglur schrie kurz auf, hielt aber still, damit Sorla mit einem zerrissenen Hemd die Wunde verbinden und die Blutung stillen konnte. „Und der andere?“ fragte er, während er sich stöhnend aufrichtete. „Der wird sterben; vielleicht ist er schon tot. Und Vater ...“ „Ja?“ „Es ist ein Sohn von dir.“ Noch nie hatte Sorla seinen Vater so fassungslos gesehen. Mit Sorlas Hilfe wankte er hinüber, wo Korraghom reglos lag. Dieser atmete schwach, seine Augen waren geschlossen. Sorlas Augen brannten, schon füllten sie sich mit Tränen. Er berührte Korraghom an der Schulter und flüsterte seinen Namen.
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Dieser öffnete langsam die Augen und murmelte: „Sorla?“ „Hier ist jemand, der dich sehen will, Bruder.“ Er deutete auf Tok-aglur: „Unser Vater. Ich habe ihn gefunden.“ Korraghom blickte Tok-aglur an, der im Mondlicht vor ihm kniete. „Der mit dem Mal am Hintern?“ Sorla nickte, doch als er merkte, dass Korraghom dies nicht gesehen hatte, antwortete er heiser: „Ja. Wie wir beide.“ „Hallo Vater!“ flüsterte Korraghom. „Wenigstens jetzt habe ich dich gesehen.“ Sein Kopf fiel zurück. Tok-aglur schloss dem Toten die Augen, damit sie nicht länger in den Nachthimmel starrten. Sorla zog sein Wurfmesser aus dem Bauch seines Bruders und weinte haltlos, während er im Gras das Blut abwischte. Dann setzt sich Tok-aglur erschöpft hin, Sorla saß dabei und stützte ihn. „Was für ein Mensch war er?“ flüsterte Tok-aglur schließlich. „Jeder mochte ihn. Er liebte Pferde, Frauen, das Leben. Er lachte gerne. Wir waren gute Freunde.“ „Weshalb schoss er dann auf dich?“ „Er hatte Angst, die Wahrheit käme heraus – dass der Graf von Agra nicht sein Vater war. Er war das schöne Leben gewöhnt und wollte die Grafschaft erben. Die Angst machte ihn verrückt.“ Tok-aglur nickte. „Er hätte uns helfen sollen – seiner wahren Familie. Möge er Ruhe finden in den Nebligen Tiefen.“ „Und was geschieht mit ihm jetzt – mit seiner Leiche? Wir können ihn doch nicht einfach liegenlassen!“ „Ich schicke nachher einen Vertrauten aus dem Palast hierher, der erledigt alles. Dein Bruder wird in der kaiserlichen Gruft bestattet, wie es sich für einen aus unserer Familie gehört.“ Damit schien für ihn die Sache abgeschlossen. Er deutete hinunter auf die Kaiserstadt, das Meer der Lichter, der Gerüche und Geräusche: „Dort unten, Sorla, liegt deine Aufgabe. Es wird nicht leicht werden. Viele Feinde wirst du haben.“ „Du meinst doch, unsere Aufgabe!“
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„Ich werde dir helfen, mein Junge, bei Anods Licht! Aber dir wurde das Szepter anvertraut!“ Sorla atmete tief durch und dachte: Oh Atne, steh mir bei!
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GLOSSAR Aedh-Hiloiadh: Der alte Elfenname für Ailat. Früher lebten dort Elfen. Agla Schlangenfreund: Der letzte hernostische Kaiser. Er wurde ungefähr vier Generationen vor Sorlas Geburt ermordet. Agra: Hafenstadt in der kaburischen Bucht, an der Ostküste von Spakjo. Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft. Man spricht dort einen Dialekt des Hernostischen. Ailat: Ein kleineres Land, benannt nach der Stadt Ailat. Es erstreckt sich von der Ailat-Bucht (mit der Hauptstadt) mit dem Fluß Eldran als Hauptverkehrsachse nach Norden bis zu den Grauen Bergen. Ak'men: Gott der Diebe und Akrobaten. Neffe der Göttin Atne. Amulett Tainas: Ein winziger Schild aus silberhellem Metall. Leuchtet im Dunkeln. Es schützt vor untoten Wesen. Anod: Der Sonnengott. Während er in ländlichen Gegenden verehrt wird, weil er die Dunkelheit vertreibt, scheint er im Kaiserreich eher eine staatstragende Rolle zu spielen. Argslokir: Ein berühmter Zwerg, der sein Leben bei dem Versuch verlor, einem Ungeheuer dessen Schätze abzunehmen. Arphelos: Ein Zentaur. Er redet in der alten Sprache der Sidh. Asing: Winzige Kupfermünze; siehe Münzsystem. Asnuk: Angehöriger von Murnaks Sippe. Atelbe: Ehemaliger Machthaber in Brindhal. Er hatte das Geschlecht der Liarstil mit üblen Methoden entmachtet und mit seinem Heer von Untoten Angst und Schrecken verbreitet. Sorlas Freund Horell gelang es, ihn unschädlich zu machen. Atne: Göttin des Glücks. Ihre Töchter sind Dana, Frena, Tara und Mala. Auge der Berge: Ein Felsblock mit besonderen Fähigkeiten, wird von einem Riesen umhergetragen und bedient. Azluthos: Hüter des Herzen von Batiflim; eine Art Dämon. Batiflim: Gebirgige Region im Norden des Hernostischen Kaiserreichs, dem sich die Bewohner allerdings nicht sehr verbunden fühlen. Die Bäche der seitlichen Hochtäler münden alle in den Fluß Bato. Es soll auf einer Hochebene dort eine Schatzkammer geben, zu der Sorlas goldener Anhänger den Zugang
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ermöglicht. Bato:: Der Fluß, nach welchem die ganze Region von Batiflim ihren Namen hat. Er fließt nach Süden ins Meer und versorgt dabei das Kaiserreich mit seinem Wasser. Bergtroll: Größer als gewöhnliche Trolle, fast schon riesengroß, hausen die Bergtrolle oberhalb der Baumregion zwischen den Felsen. Zum Schlafen bedecken sie sich mit Geröll, sie werfen Felsen und ernähren sich von Steinböcken oder was sonst in ihre Pranken fällt. Zum Glück kommen sie nur selten vor. Besser Ungenannte („Die Besser Ungenannten“): uralte, schlimme Gewalten aus der Zeit vor den Göttern. Bishoumat: Stadt im Norden Hernostes, am Flusse Bato gelegen. Hat viel ihrer früheren Bedeutung und Größe verloren, ist aber noch immer ein bedeutendes Handelszentrum. Bisum Oslan: Ein Mitarbeiter des hernostischen Geheimdienstes. Bitterwurzel: Eine entsetzlich bittere Wurzel, die man in den Sümpfen findet; wer sich vor Blutsaugern aller Art schützen will, nimmt sie allerdings freiwillig zu sich. Blume von Kriteis: Kratolisches Frachtschiff, das den Fehler beging, der Schnellen Susla zu begegnen. Boflu: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“, kämpft am liebsten mit dem Säbel. Borletgar: Eine rotzöpfige jüngere Zwergin in den Weißen Bergen. Brindhal: Hauptstadt von Sidhland, am östlichen Teil der Bucht von Rodnag gelegen. Brothenfimpir: ein Zwergenkrieger aus den Weißen Bergen, lebte vor undenklichen Zeiten und ist vielleicht nur eine Sagengestalt. Er raubte die Elfenfürstin Dheanfiol und tat ihr Gewalt an; so zeugte er Gemenkinnen, den Stammvater der Gnome. Brückenzeichen: Von den Zwergen verwendete Rune, mit deren Hilfe man weite Strecken magisch überbrücken kann. Burk: Hukaris Hund. Burothrir: Zwerg aus den Grauen Bergen. Sein roter Bart ist gegabelt, die Zipfel sind mit Knoten geschmückt. Sorla kennt ihn aus seiner Kindheit. Daful: Ein merkwürdiger Zellennachbar im kriteischen Gefängnis.
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Dana die Liebreizende: Göttin der Liebe und des Frühlings. Eine der vier Töchter Atnes, schlank wie eine Birke, mit langem Haar, weißer Haut und rotem Mund. Die weißrote Apfelblüte ist ihr Zeichen. Duna: Das Mädchen, für welches Anod in Liebe entbrannt ist, doch da sie nur nachts unterwegs ist, kann er mit ihr nie zusammensein. Man sagt, sie sei so schön wie das Leben. Es gibt eine Erzählung, in der sie Anod vor den Ränken der Schwarzen Dreiheit hilft. Datasik: Das erste Wort, das Sorla bei Memliks Sippe lernt. Es heißt „Blutsbruder”. Dörrer: Unsichtbare kleine Wesen, die auf den trockenen Hochebenen von Batiflim umher geistern und Wasser vernichten. Allzu feuchte Orte werden von ihnen jedoch gemieden. Je mehr sie ihre Opfer schädigen, desto sichtbarer werden sie für diese. DRACHE: Sorla kennt zunächst nur diesen einen, und falls er einen Namen haben sollte, hat er ihn Sorla nicht preisgegeben. Der DRACHE hat schillernd schwarzblaue Schuppen, seine Augen leuchten in hartem Gelb. Sein Atem ist heiß, und wenn der DRACHE will, kann er Feuer spucken. Von Kopf bis Schwanzende mißt er etwa 15 Schritt. Die Elfen sagen aber, mit seinen vierhundert Jahren sei er noch recht jung, es gebe weit ältere und riesigere Drachen. Drachenfreunde: So heißt Memliks Sippe, und zwar aus gutem Grund. Dremke: Schmaler Silberring; siehe Münzsystem. Dryaden: Weibliche Baumgeister. Manche Bäume sind von ihnen bewohnt bzw. beseelt. Dryaden können einen Menschen zu sich in den Baum hineinziehen, um ihn zu töten, zu lieben oder aus welchem Grund auch immer. Durethin: Zwerg aus den Grauen Bergen. Sein brauner Bart ist nicht geflochten, aber unter den Gürtel geklemmt. Sorla kennt ihn aus seiner Kindheit. Easmil: Ein Fürstensohn vom Volke der Minhiol. Sorla trifft ihn im Zwergenreich in den Weißen Bergen. Edsighla: Ein geschicktes und sehr hübsches Mädchen aus Agra. Eflem: Goldmünze; siehe Münzsystem.
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Egelwurz: Eine riesige Pflanze in den Großen Sümpfen, die den arglos Vorbeikommenden festhält und aussaugt. Eidwon der Blinde: einflußreiches Mitglied der Diebesgilde in Seedorf. Innerhalb der Gilde wird er Meister Eidwon genannt. Ekritmea: Die Hauptstadt des hernostischen Kaiserreiches. Ekritmea liegt am Meer und hat einen großen Hafen. Elbenwald von Rhosmea: Siehe Rhosmea. Eldran: Ein großer Fluß, der in den Grauen Bergen entspringt, bei Fellmtal die Flüsse Norfell und Fregnas aufnimmt und im Süden bei Ailat-Stadt ins Meer mündet. Sein Wasser ist kalt und grau. Elemente: Feuer (Drachen), Wasser (Schlangen), Luft (Pferde), Erde (Bäume) Elfen: Eine menschenähnliche Rasse, doch zierlicher gebaut und von großer Schönheit. Die spitzen Ohren sind das deutlichste Unterscheidungsmerkmal. Es gibt noch alte Elfenstraßen und Denkmale aus der Zeit, bevor sich die Elfen vor dem sich rasch ausbreitenden Geschlecht der kurzlebigen Menschen in tiefe Wälder zurückzogen. Elfensicht: Die Gabe der Elfen und Gnome, im Dunkeln besser zu sehen, als es Menschen möglich ist; eine Ausnahme bilden die Sidh, da sie Elfenblut in sich haben. Die mit Elfensicht Begabten sehen auch bei Tage besser und schärfer als normale Menschen. Ers: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Fellmtal: Ort, wo Eldran, Fregnas und Norfell zusammenfließen. Der alte Teil liegt am Ostufer des Eldran, dort ist der große Pferdemarkt. Der neue Teil liegt am Westufer an der Alten Straße. Hier gibt es Gasthäuser etc. Fenruthin:: Ein berühmter Forschender Zwerg. Murlingir ist sein Sohn. Flasse: im Sommer meist nackt, im Winter mit wunderlicher Pelzkleidung bedeckt. Hat langes, zotteliges braungraues Haar. Lebt einsam auf der Weideninsel des Eldran-Flusses. Er kann gut heilen und hat noch andere überraschende Qualitäten. Flußtrollweib: Es gibt nur eines; siehe Squompahin-laschre. Fregnas: Dieser Fluß entspringt in den Grauen Bergen und fließt bei
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Fellmtal mit den Flüssen Eldran und Norfell zusammen. Sein Wasser ist trüb und braun. Frena die klug Waltende: Göttin, Schützerin der Frauen und des Hauses. Tochter Atnes. Sie wird mit weiblichen Formen dargestellt. Ihr Zeichen ist der reife Apfel. Furoltin: Zwerg in den Grauen Bergen, Sohn des Hurmothin. Geheimes Gewölbe: die versteckte Schatzkammer im Palast der Liarstil in Brindhal. Gelbauge: eine von zwei neugierigen Krähen auf der Hochebene von Batiflim. Gilse die Hilfreiche: Gnomfrau im Pelkoll, half Taina bei der Geburt Sorlas. Gimkin der Vielseitige: Gnom aus dem Pelkoll und Tainas besonderer Freund. Girrhol: Arbeitet im Auftrag der Sechs Familien, ungefähr in Tokaglurs Alter, denn sie wuchsen zusammen auf. Girsu der Dunkle: Gnom aus dem Pelkoll. Er und Sorla erlebten gemeinsame Abenteuer südlich vom Kirsatten. Glöckchengecko: Solche Geckos kommen in den Sidhlanden und anderen warmen Gegenden vor. Sie lassen hin und wieder ein silberhelles „Pling“ ertönen, was zu ihrem Namen führte. Glucksen bedeutsamer Blasen: Dies ist die Sprache der L’fumpai und einiger anderer Wesen in den Großen Sümpfen. Glygi: Jeder Gnom bekommt bei seiner Geburt einen Gnomenstein, der ihn begleitet und mit seltsamen Eigenschaften versehen ist. In der Guten Sprache der Berge heißen sie Glygi. Einen solchen bekam Sorla als kleines Kind geschenkt. Gneli der Gewaltige: Sippenchef der Pelkoll-Gnome. Gnomberge: Der Pelkoll, der Ofkoll, der Persatten, der Rück und viele mehr. Sie befinden sich östlich des Eldran am Gnomfluß. Hier leben die Gnome, mit welchen Sorla vertraut ist. Natürlich gibt es auf dieser Welt noch viele andere Berge mit anderen Gnomenvölkern. Gnome: Eine menschenähnliche Rasse, halb menschengroß, lebt z.B. in den Gnombergen östlich des Eldran. Braunes, faltiges Gesicht, helle, blitzende Augen, meist weißes Haar. Die zugespitzten
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Ohren verraten elfische Verwandtschaft. Gnomenstein: Siehe Glygi Gnomfluß: Ein kleinerer Fluß, der bei Stutenhof in den Fluß Eldran mündet. Er entspringt im Bereich der Gnomberge Rück, Ralkoll und Persatten. Gobil der Meisterschleifer: ein Pelkoll-Gnom, selbst für Gnome sehr schmächtig gebaut, aber ein Edelstein-Kenner. Golbi der Schreiber: ein Pelkoll-Gnom, Experte für Bücher, Schriften und Sprachen. Sein zweites Interesse ist die Wissenschaft vom Auffinden edler Steine im Berg. Graue Berge: Gebirgskette im Norden des Landes Ailat. Dort entspringen die Flüsse Eldran, Norfell und Fregnas. Grauer vom Berg: Ein merkwürdiges Männlein, das in einer einsamen Berggegend Batiflims lebt und gelegentlich Wanderer in Unterhaltungen verstrickt. Große Sümpfe: befinden sich eine Tagesreise östlich der Sidhlande und grenzen westlich davon, an die Ausläufer der Grauen Berge. Großzügig Nehmende: der Name der Diebeszunft in Agra. Gute Sprache der Berge: Gemeinsame Sprache der Gnome und Zwerge. Kehlig und wohlklingend. Hasmasu: Sorlas Privatlehrer im Palast zu Brindhal. Eigentlich ist er Tainas Oberschreiber und schon siebzig Jahre alt. Er stammt vom heißen Tuneg-la jenseits des Meeres Milat. Hefterides *III“: Ein älterer Kaufmann aus Kaharad. Vielleicht ist er aber auch ein Spitzel und heißt ganz anders. Hense: Ein falscher Name, den sich Sorla gelegentlich zulegt. Heril der Hengst: Ein Barbar aus der Taipal-Steppe, den es an den Fluß Eldran verschlug, wo er auf einem entlegenen Gehöft den Ramlok-Kult einführte. Nach seinem Tod wurde er in die unsterbliche Herde Ramloks aufgenommen. Hernoste: Dieses Land bildet das Zentrum des von ihm geschaffenen Hernostischen Kaiserreiches. Es grenzt im Süden ans Meer, im Norden an die Provinz Batiflim. Der Fluß Bato ist einer der wichtigsten Transportwege und liefert einen Großteil des Wassers für das ausgeklügelte Bewässerungssystem der fruchtbaren Ebenen von Hernoste.
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Hernoste-Stadt: Eine alte Stadt am Fluss Bato im Landesinneren. Sie war ursprünglich die Hauptstadt des Landes Hernoste, aber als das hernostische Kaiserreich entstand, verlor sie ihre Bedeutung. Hernostisch: Diese Sprache wird im Hernostischen Kaiserreich gesprochen – außer in Batiflim – und auch in den umliegenden Ländern zumeist verstanden. Einen hernostischen Dialekt spricht man in Agra. Hernostische Dynastie: Begründet von Sinn-he Fala dem Leuchtenden. Die Herrscher dieser Dynastie tragen den Titel Schlangenkaiser. Hernostisches Kaiserreich: Weit im Osten von Ailat gelegen. Mehr weiß Sorla zunächst nicht, außer daß sich dort vielleicht sein Vater Tok-aglur aufhält. Die Hauptstadt ist die Hafenstadt Ekritmea. Hetman: Anführer einer Horde reitender Steppenbarbaren. Hon: Der Fremde aus den Sümpfen östlich der Sidhlande. Horell: Ein Freund Sorlas und ehrgeiziger, schon recht erfolgreicher Zauberer. Hukari: Memliks hübsche Tochter. Hurglok: Hurgloks sind unförmige trollähnliche Wesen, die in den Tiefen der Berge leben. Ihre Hände sind riesig und können einen Zwerg umfassen und zerquetschen. Man sagt, ein Hurglok kommt durch jede Spalte, durch die seine Hände passen. Hurmothin: Zwerg in den Grauen Bergen, Vater Furoltins und berühmt wegen seiner Heldentaten. Sein weißer Bart, die langstielige Streitaxt und sein Beiname 'Der Schlächter' sagen alles. Er ist Ygrottirs älterer Bruder. Hurtin: Dienender Zwerg in den Weißen Bergen. Hwendeloi: Wandelnde Bäume mit besonderen Fähigkeiten. Sie genießen bei den Elfen große Hochachtung. Ifarbirre: Eine riesige Ziegenhirtin; sie lebt am Rande der Hochebenen von Batiflim. Kaburen: Die Bevölkerung der kaburischen Inseln; überwiegend Fischer. Sie sind arm und lieben den Gesang, ihr Stolz ist
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sprichwörtlich. Kabures: Insel, der Kaburischen Bucht weit vorgelagert, politisch aber von Agra unabhängig und dem Hernostischen Reich tributpflichtig. Kabures bildet mit einigen kleineren Inseln die kaburische Inselgruppe. Kaburische Bucht: liegt östlich von der Halbinsel Spakjo. Der bedeutendste Hafen ist Agra. Kaharad: Eine Stadt im nördlichen Hernoste, etwa einen Tagesritt südlich von Bishoumat und wegen ihrer Heilbäder berühmt. Kaiser-Goldstück: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Kalender: Bei den Menschen und menschenähnlichen Rassen gilt, zumindest im Bereich zwischen Ailat am Meer und dem fernen Nordland, folgender Kalender: das Jahr hat dreizehn Monate mit je vier siebentägigen Wochen. Das sind 364 Tage. Dazu kommt der „Tag zwischen den Jahren“. Die Monate werden bei den Gnomen mit Steinen, bei den Menschen, sofern sie naturverbunden leben, mit Bäumen in Verbindung gebracht. Dieser Baumkalender kennt die Monate Birke, Eberesche, Esche, Erle, Schlehe (Sorlas Geburtsmonat), Weißdorn, Eiche, Ilex, Apfel, Brombeere, Efeu, Schilf und als jahresletzten den Holunder. Kalinfarre: Eine sagenhafte Riesin. Kennan-glai: Sorlas Hengstfohlen, welches er von Raghairom bekam. Durch Ramloks Segen lernte Sorla mit diesem Fohlen zu reden. Später opferte sich Kennan-glai auf, um Sorlas Leben zu retten, und wurde in die unsterbliche Herde Ramloks aufgenommen. Kerosi: Silbermünze; siehe Münzsystem. Kesnik:: Hukaris Großvater. Er war bis zu seinem Tode „Der mit dem Drachen spricht“. Kiarsti: Eine hübsche Zauberin aus Kaharad. Tok-aglur kennt sie recht gut. Kirgul: Ein Hetman der Ramtasi. Er überbrachte Taina ein Pferd als Geschenk seines Stammes. Später trifft Sorla ihn wieder. Klabautermann: Meist unsichtbar oder in Gestalt zum Beispiel einer Ratte; lebt auf Schiffen. Erscheint in Menschengestalt nur,
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wenn er vorhat, dieses Schiff zu verlassen. Da er die Zukunft der nächsten Tage und damit auch Schiffsunglücke vorhersehen kann, betrachten die Seeleute es zu Recht als schlechtes Vorzeichen, wenn sie ihn sehen. Ein Klabautermann setzt alles, auch seine Windzauber und ähnliche Fähigkeiten, ein, um auf einem seetüchtigen Schiff zu leben. Kleines Volk: Siehe Minhiol. Korraghom: Ein Sohn des Grafen von Agra, einige Jahre älter als Sorla. Kraftwasser: Wird von Memliks Sippe im Herbst aus bestimmten Wurzeln und anderen Zutaten gebraut. Angeblich stammt das Rezept von befreundeten Trollen. Kratos: westliche Provinz des hernostischen Reiches. Die kratolische Hauptstadt ist Kriteis. Kreskar: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“. Krick: Kein Name, sondern eine Anrede unter den kenntnisreichen Krebsen aus den Sümpfen bei Brindhal. Wann immer zwei Krebse zusammentreffen, um sich zu unterhalten, heißt der eine Krick und der andere Schnick. Vielleicht ist Krick der Ranghöhere, doch streiten sich da die Gelehrten. Wenn ein dritter Krebs hinzukommt, vertreiben die beiden stärkeren den schwächsten oder fressen ihn auf. Deshalb reichen zwei Anreden. Kriteis: Hauptstadt von Kratos (westliche Provinz des hernostischen Reiches), berühmter Seehafen mit sehr alter Geschichte. Es soll hier geheime Katakomben geben. Krummkralle: eine von zwei neugierigen Krähen auf der Hochebene von Batiflim. Kunil: Dieses Mädchen lebt mit einem Köhler im Norden des hernostischen Kaiserreiches zusammen. Kurno: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Laschre: Siehe Squompahin-laschre. Letko: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“. Er ist jung und recht hübsch. L'fumpai: Eine L'fumpai ist ein harmloses Geschöpf, das im Sumpf lebt. Wenn es das Wasser verläßt, macht es sich unsichtbar, weil es
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so schüchtern ist. Liarstil: Das von Atelbe entmachtete Fürstengeschlecht Sidhlands. Die letzte Überlebende ist Taina, die als rechtmäßige Erbin die Herrschaft in Brindhal wieder übernommen hat. Libelfe: Hübsches Wesen in den Großen Sümpfen, zwei Handspannen lang, ein Mädchen mit grünen Libellenflügeln. Hat viel Sinn für Humor, ist aber trotz ihres kindlichen Gebarens alles andere als harmlos. Natürlich heißt sie nicht wirklich Libelfe, damit hat sie bloß Sorla abgespeist. Mala die Furchtbare: Göttin des Todes und der Ruhe. Eine der vier Töchter Atnes. Sie ist schwarzgekleidet und verschleiert, nur ihre bleichen Lippen sind zu erkennen. Sie herrscht mit Urskal über das Reich der Toten. Ihr Baum ist die immergrüne Eibe. Maren, genannt Frau Maren: Ein menschenähnlicher Geist, den man nur nachts zu Gesicht bekommt und da halb durchsichtig. Marushu: im Hernostischen Reich verehrte Mond- und Liebesgöttin. Matrista: Auf der Insel Kabures ist der Matrista eine Art Clanchef und, da die Kaburen Seefahrer sind, auch zugleich der Kapitän eines Schiffes. Memlik: Anführer einer Sippe des Bergvolkes von Batiflim. Meret: Ein Richter in der nordhernostischen Stadt Bishoumat Milat: So heißt das Meer, das im Norden von Rodnag, Ailat, Kratos und Hernoste, im Süden von Nireg-la und Tuneg-la begrenzt wird. Minhiol: Einer der vielen Stämme des 'Kleinen Volkes'. Die Minhiol sind menschen- oder elfenähnlich, aber von Kopf bis Fuß nur fingerlang. Sie haben Schmetterlingsflügel und können sich unsichtbar machen. Ihre Sprache ist ein Zirpen, das Unkundige mit dem von Grillen verwechseln. Ihr Anführer ist Easmil. Münzsystem im Fürstentum Ailat: --- 1 Asing (Kupfer, winzig). Drei Asing zahlt man z.B. für ein Kräuterbündel, eine Handvoll Möhren etc. Die kleinste Scheidemünze ist der viertel Asing. --- 1 Polk (Kupfer, groß) = 60 Asing. Dafür bekommt man eine gute Flasche Wein oder im Gasthaus eine gute Mahlzeit. Der halbe Polk ist eine halbierte Kupfermünze derselben Größe. --- 1 Dremke (schmaler Silberring) = 10 Polk = 600 Asing.
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Soviel verlangt eine gute Hure in Ailat-Stadt. Die Männer von Stutenhof tragen ihn als Wohlstandsbeweis und Sippenzeichen am Finger. --- 1 Kerosi (Silbermünze massiv) = 5 Dremke = 50 Polk = 3000 Asing. Soviel kostet ein Esel oder ein Monat im Gasthaus mit Essen. Der halbe Kerosi ist eine kleinere Silbermünze. --- 1 Eflem (Goldmünze) = 2 Kerosi = 10 Dremke = 100 Polk = 6000 Asing. Abgegriffene Eflem werden nachgewogen und sind vielleicht nur 9 Dremke wert. Ein gutes Pferd kostet etwa einen Eflem. Münzsystem im Hernostischen Reich: --- 1 Ers (runde Bronzemünze). Dafür bekommt man ein halbes Brot, eine Handvoll Möhren etc. Entspricht ungefähr dem in Ailat gebräuchlichen Asing. Die kleinste Scheidemünze ist der halbe Ers, für den man beim Wasserträger einen Becher Wasser trinken darf. --- 1 Sul (Messing, dreieckig) = 100 Ers. Dafür kann man ein billiges warmes Essen kaufen. Es gibt auch kleinere Messingmünzen, die zehn oder fünfzig Ers wert sind. --- 1 Kurno (runde Silbermünze mit Mondmotiv) = 5 Sul = 500 Ers. Der behördlich festgelegte Liebeslohn für einfache Straßendirnen. Der Zusammenhang zwischen dem Liebeslohn und dem Mondmotiv entspringt dem alten Kult der hernostischen Mond- und Liebesgöttin Marushu. Der Kurno ist fast soviel wert wie der in Ailat für den gleichen Dienst bezahlte Dremke. --- 1 Kaiser-Goldstück = 20 Kurno = 100 Sul = 10000 Ers; wird meist einfach Goldstück genannt. Entspricht im Wert ungefähr dem in Ailat gebräuchlichen Eflem. Man kann dafür auf dem Land je nach Zustand ein bis zwei Maultiere kaufen, in den Städten kostet soviel die Monatsmiete in den besseren Mietshäusern. Es gibt auch ein kleineres Goldstück, das den halben Wert hat. Murlingir: Ein Dienender Zwerg, der südlich von Batiflim lebt. Sohn des Fenruthin.
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Murnak: Anführer einer Sippe des Bergvolkes von Batiflim. Mutterglück: Sorlas Lieblingspferd in Brindhal, eine geduldige, ältere Stute. Neblige Tiefen: Das Totenreich, in dem Urskal und Mala herrschen. Nireg-la: Heißes Land an der südlichen Küste des Meeres Milat, östlich von Tuneg-la. Nofheli: Ein Elfenmädchen aus den Wäldern von Aedh-Hiloiadh, das Sorla bei Markreske kennenlernte. Sie hat ein braungebranntes Gesicht unter flachsblonden Haaren, die Augen sind grün. Sie ist nicht hochmütiger als andere Elfen, aber das reicht bereits. Norfell: Dieser Fluß entspringt in den Hohen Auen der Grauen Berge und strömt bei Fellmtal mit den Flüssen Eldran und Fregnas zusammen. Sein Wasser ist grün. Norfell-Auen: Dort haust eine riesige Schlange, welche Sorla in gewisser Weise als ihr Kind betrachtet. Odhumel: Der verstorbene König der Minhiol, Vater von Easmil. Ogluskshaddena: Ein Ungeheuer in den Tiefen der Weißen Berge. Oldasthom: Ein Ratsherr der Stadt Agra, der in mindestens einem Fall sich als Aufschneider erwies. Oltop der Kahle: Anführer einer Bande von skrupellosen Glücksrittern. Sorla tötete ihn (ohne zu wissen, daß er damit zugleich die Mißhandlungen seines Vaters rächte) und eignete sich sein Wurfmesser an. Omschjull: ein tierhafter Neffe Atnes, zuständig für Gedeih und Vermehrung der Schweine. Omschjulls Stunde: Die heiße Mittagsstunde, wenn die Trägheit regiert und unerwartete Dinge geschehen. Örbülwats: Ein wandlungsfähiges Wesen aus den Sümpfen östlich von Brindhal. Es hat viele Brüder und großen Appetit. Orgslingir: Zwerg in den Grauen Bergen, Sohn des Ygrottir. Pelkoll: Ein Gnomberg, liegt nahe der Mündung des Gnomflusses in den Eldran. Dort lebte Sorla einige Zeit bei den Gnomen. Perkan: Angehöriger von Memliks Sippe; hat rotblonden Bart und wirkt verkniffen. Polk: Große Kupfermünze; siehe Münzsystem. Prato: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“, ein älterer Mann
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mit grauen Zöpfen. Psen-galur: Der vierzehnte Schlangenkaiser. Wie viele Zehen er hatte, ist ein wohlgehütetes Geheimnis. Quöschtlutze: Sorla nennt sie auch Froschkerle, denn so sehen sie aus: menschen- und froschähnlich zugleich. Sie leben in den Sümpfen bei Brindhal. Raghairom: Stammt aus Agra, guter Freund von Sorla. Er ist jetzt auf Herils Hof der neue Hengst. Raijinke: Meister Eidwons hübsche Tochter. Rako: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“, führt mit Hilfe von Schmucknarben Buch über die von ihm Getöteten. Ramlok: Gott der Pferde und der Winde, aber auch der männlichen Kraft und überhaupt der körperlichen Gesundheit, wird vorwiegend von den Reiterbarbaren in der Taipalsteppe verehrt, hat aber auch sonst verstreute Anhängerschaften. Normalerweise ein Männergott, wird aber in extremen Kulten (z.B. auf Herils Hof) zum Mittel einer Frauenherrschaft. Die Ulme ist ihm geweiht. Ramtasi: Reitervolk der Taipalsteppe. Rasathir: Ein berühmter Zwerg, der sein Leben bei dem Versuch verlor, einem Ungeheuer dessen Schätze abzunehmen. Regenszepter: Das Wahrzeichen der hernostischen Kaiser. Rhosmea: Ein großes Waldgebiet zwischen Ailat und der Bucht von Rodnag. Dort leben noch heute Elfen. Riesenheim: einsames Bergland nördlich der Weißen Berge. Rodnag: Eine Bucht und das daran angrenzende Land westlich von Ailat und dem Elbenwald. Rübenkönig: Das Kind von Hukaris Schwester und einem Troll. Schlangengezisch: Diese Sprache verwenden Schlangen untereinander. Schlangenkaiser: Titel der Herrscher des hernostischen Reiches. Der letzte starb jedoch schon lange vor Sorlas Geburt. Schlangenzahn: so nennt Sorla das Wurfmesser, das früher Oltop dem Kahlen gehörte. Schnelle Susla: Ein kaburisches Seeräuberschiff. Schnick: siehe Krick. Schrate: Entfernt menschenähnliche Wesen, zottig, langarmig, dumm
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und gewalttätig. Schwarze Dreiheit: Auch die Dreiheit der Dunklen Gewalten genannt: der Schwarze Woul, der Schwarze Goul, die Schwarze Shurloum. Sie zählen zu den „Besser Ungenannten“: uralten Gewalten aus der Zeit vor den Göttern. Sechs Familien (Die sechs Familien): Sie hatten sich gegen die Dynastie der Schlangenkaiser verbündet und die Kaiserfamilie fast restlos ausgerottet. Seither geht es ihnen gut, dem Reich aber schlecht. Seedorf: eine Siedlung nördlich von Stutenhof, an einem See gelegen, dessen Ausfluß schließlich in den Eldran mündet. Sorla war Lehrling der dortigen Diebesgilde. Sidh: Elfenmischlinge; ein altes, mit den Elfen befreundetes Volk von hoher Kultur, aber wie die Elfen in ihrer Verbreitung in den letzten tausend Jahren sehr zurückgegangen. Am Ostrand der Bucht von Rodnag gibt es, angrenzend an den großen Elbenwald, das Königreich Sidhland. Sidhland, auch Sidhlande: Siehe Sidh. Sinn-he Fala der Leuchtende: Der erste hernostische Kaiser und Vater von Ugalur. Skagengerg: Geheimnisvoller Seemann, den Sorla in Korraghoms Bootshaus kennenlernt. Skrut: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“. Er heißt eigentlich anders. Solur: So heißt Sorla bei den Männern der „Schnellen Susla“. „Solur“ heißt im Kaburischen eigentlich Dieb oder Abenteurer. Sorla: Siehe Sorle-a-glach. Sorle-a-glach: So lautet Sorlas eigentlicher Name und bedeutet „Molch ohne Vater“. So nannte ihn Laschre in der Guten Sprache der Berge. Er ist der Sohn Tainas und Tok-aglurs. Spakjo: eine Halbinsel, welche die Bucht von Ailat von der kaburischen Bucht trennt. Spakjo-Wein: kräftiger gewürzter Süßwein von der Halbinsel Spakjo. Squompahin-laschre: (d.h. „alter, einsamer Fisch“), das Flußtrollweib am Oberlauf des Gnomflusses. Die Eltern waren ein Felsentroll und eine Flußnixe. Squompahin-laschre ist weit
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über hundert Jahre alt, was aber bei ihr nicht viel bedeutet. Stutenhof: Befestigte Siedlung an der Mündung des Gnomflusses in den Eldran. Hier werden Pferde und Schweine gezüchtet, auch kommen Flößer, Köhler und Holzfäller vorbei. Bekannt sind die Pferde von Stutenhof: robust, kleine Pferde mit grauem Fell. Sul: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Surte: Ein Schamane der Ramtasi. Sorla trifft ihn mit seiner Reiterhorde irgendwo zwischen Kaharad und Hernoste, wo sie eigentlich nicht zu Hause sind. Taheget: ein abtrünniger Anodpriester aus Kaharad. Taina: Die jetzige Fürstin von Sidhland und Sorlas Mutter. Sie entstammt dem Geschlecht der Liarstil und hat Elfenblut in den Adern, wie man an den leicht zugespitzten Ohren erkennen kann. Sie hat hellblondes Haar, grüne Augen und gilt weit und breit als eine wunderschöne Frau. Tainas Amulett: silberhell, in der Form eines winzigen Schildes. Schützt vor Untoten, ist vor allem aber das Herrschaftssymbol der Liarstil. Taina bekam es als Kind, als ihre Mutter sie einst auf dem Meere aussetzte, um sie dem Zugriff Atelbes zu entziehen. Taipalsteppe: weites Grasland nördlich der Weißen Berge, östlich von Riesenheim. Takilis: Ihn haben die Sechs Familien als Ersatzkaiser im Palast oberhalb der Stadt Hernoste untergebracht. Tanzende Eserdha: Schiff aus Agra, das den Fehler beging, der Schnellen Susla zu begegnen. Tara die Falkenäugige: Göttin der Jagd und des Heldenhaften Untergangs. Sie hat goldenes Haar und hüllt sich in ein Federkleid, wodurch sie als Falke fliegen kann. Besonders fürchtet man die „Nacht der Tara“, vom sechzehnten zum siebzehnten Tag des Schlehenmonats. Sie ist eine Tochter Atnes. Theonfiorel: Ein Liebhaber Ysaldes, dessen unglückliches Schicksal Sorla vermeiden will. Thorandir: Zwerg aus den Grauen Bergen. Sein roter Bart ist kunstvoll
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geflochten. Sorla kennt ihn aus seiner Kindheit. Tok-aglur: ein Dieb, zugleich Prinz des Kaiserreichs von Hernoste. Trägt vorzugsweise dunkle Kleidung, hat schwarze Locken und auf dem Gesäß ein Mal, das einem umgekehrten Herz ähnelt. Er besitzt ein besonderes Seil. Daß er Sorlas Vater ist, erfuhr er nie, da er Taina nach einer Nacht schon verließ. Sorla weiß von ihm nur, daß er ein Meisterdieb, nicht aber, daß er ein Prinz ist. Traumblüten: Blau blühende Schwimmpflanzen in den Seen der Großen Sümpfe. Sie verströmen einen süßen, betäubenden Duft. Trilk: Ein Waldwicht im Wald von Rhosmea. Trolle: Es gibt sehr verschiedene Arten von Trollen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie zwar menschenähnlich, zumeist aber sehr häßlich sind und in der Wildnis hausen. Üblicherweise fressen sie auch Menschen. Trolslingir: Zwerg in den Grauen Bergen, Sohn des Ygrottir. Tul-uglur: Ein früherer Kaiser des Hernostischen Reiches. Wenn man den Sagen Glauben schenkt, war er nicht nur der zwölfte Kaiser des Reiches, sondern zugleich der siebte echte Schlangenkaiser. Er legte viele Zisternen an. Tuneg-la: Heißes Land an der südlichen Küste des Meeres Milat. Ugalur: Der Sohn von Sinn-he dem Leuchtenden und der hernostischen Königstochter Zusnild. Wenn man den vielen Sagen über ihn Glauben schenkt, war er nicht nur ein guter Herrscher, sondern zudem der erste echte Schlangenkaiser. Uglamesk: ein alter Atne-Priester in Fellmtal, einem Ort in Ailat. Uftar: Ein Staatsanwalt in der nordhernostischen Stadt Bishoumat. Ûr-gqâschps:: Eine Trollgottheit; verantwortlich für Wohlergehen und Vermehrung der Trolle. Die Laute û und â in seinem Namen sind schwierig auszusprechen; es gilt dabei, gleichzeitig mit dem Kehlkopf ein Geräusch zu machen, als müsse man brechen. Urskal: Fürst der Nebligen Tiefen, Gott des Totenreichs und der Dunkelheit. Er ist Malas Gemahl. Anod ist sein Sohn und vertrieb ihn einst von der Oberfläche der Erde.
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Verteiler des Reichtums: der Name der Diebeszunft in Seedorf. Sorla macht dort seine Gesellenprüfung. Vinumon: Elfenfürst von Rhosmea. Weiße Berge: Ein Gebirgskamm, der sich nördlich der Grauen Berge und parallel zu ihnen erstreckt. Wendualo: Gott der Meere. Wendualo opfern heißt oft nur, den Mageninhalt ins Meer entleeren, wie es Seekranke oder Betrunkene gelegentlich tun. Woul (Der Schwarze Woul): Ein Dämon, der von manchen Anhängern der Schwarzen Magie verehrt wird. Wird zur Schwarzen Dreiheit gezählt. Ygrottir: Zwerg in den Grauen Bergen, ein berühmter Kämpfer mit dem Streithammer. Er ist Hurmothins jüngerer Bruder. Ysalde: Eine Dryade, die eine Buche im Wald von Rhosmea bewohnt. Zanolphis: der Oberste Priester des Anod-Tempels in Kaharad. Zlapo: Der Schiffskoch auf der „Schnellen Susla“. Zusnild: Jene sagenhafte hernostische Königstochter, die zugleich eine Schlangenfee war und sich deshalb keinem Manne hingeben wollte. Erst Sinn-he Fala gelang es, ihre Bedingungen zu erfüllen, indem er durch mächtige Zauberei die Wasser von Batiflim in den Fluß Bato und so nach Hernoste lenkte. Sie gebar den sagenhaften Kaiser Ugalur. Zwerge: Jeder glaubt zu wissen, was Zwerge sind, doch wird beispielsweise auch hier über die weiblichen Zwerge (Was tun sie, wie sehen sie aus?) nur wenig berichtet, außer dass es nicht nur gezähmte, sondern auch die sogenannten Wilden Zwerginnen gibt. Die männlichen Zwerge werden nach ihren vorwiegenden Tätigkeiten eingeteilt. So gibt es Schürfende Zwerge, Forschende Zwerge, Dienende Zwerge, Kämpfende Zwerge und viele andere mehr. Die meisten Dienenden Zwerge waren früher Forschende Zwerge, die meisten Kämpfenden haben zunächst geschürft. Auch ein Forschender Zwerg muß kämpfen können, und ein Dienender Zwerg wird das Schürfen nie verlernen.
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