1. «Männer und Frauen passen nur in der Mitte zusammen, und das auch nur manchmal», wiederholte sich Mamia. Mit ihren d...
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1. «Männer und Frauen passen nur in der Mitte zusammen, und das auch nur manchmal», wiederholte sich Mamia. Mit ihren drei Kindern hätte Eva glatt dagegen argumentieren können. Aber ihrer Mutter zu widersprechen wäre mit viel Aufwand verbunden, jedenfalls im Augenblick. Außerdem: Jetzt war es ohnehin zu spät. Sie würde Jochen heiraten und damit sechzehn Jahre in wilder Ehe besiegeln. Punkt. Das hatte auch nichts mit einem Einknikken vor bürgerlichen Konventionen zu tun. Worin, bitte, läge das Rebellische, mit Mitte Dreißig immer noch Mr. Right zu suchen, so wie ihre Freundin Claudia? Und sich dann regelmäßig nach irgendwelchen Abenteuern bei den Freundinnen auszuweinen.
So war es nun einmal: Jochen war immer noch der Mann, bei dem Eva weiche Knie bekam, wenn sie ihn ansah. Natürlich nicht immer, aber die guten Tage standen in einem gesunden Verhältnis zu solchen, an denen sie ihn am liebsten an die Wand geklatscht hätte. Sie liebte es, ihn heimlich zu beobachten, wenn er beschäftigt war und mit seinen Gedanken ganz woanders. Am Schreibtisch, über seine Medizinbücher gebeugt, mit zusammengekniffenen Augen, so, als ob er das Problem besser in den Griff bekommen konnte, wenn er es scharf ins Auge faßte. Dann war er immer noch so, wie sie ihn kennengelernt hatte: Ein wißbegieriger, leicht geistesabwesender Medizinstudent, keine Spur überheblich. Vielleicht etwas zu ernst,
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aber charmant. Wenn sie an diesen guten Tagen ihm von hinten die Hände über die Augen legte, dauerte es einen Moment, bevor er aus seiner Versenkung zurückfand. Statt verärgert zu sein, zog er behutsam ihre Hände auf seine Brust hinunter, drehte den Kopf und schaute ganz lieb und verwirrt zwischen ihrem Busen von unten herauf auf einen imaginären Punkt irgendwo zwischen Kinn und Nasenwurzel. Sein Blick war zunächst noch auf einen anderen Horizont eingestellt, noch auf sein medizinisches Nimmerland gerichtet, wie eine Kamera, bei der das Objektiv noch nicht scharf gestellt war. Dann wurden die Pupillen klar, das goldgesprenkelte Braun seiner Iris lebendig, um die Augen bildeten sich freche Lachfalten, und er zog sie mit einem Schwung über die Lehne nach vorne auf seinen Schoß. Es war wie ein Rufen in einen tiefen Brunnen, aus dem dann ganz plötzlich, nein, kein Frosch und natürlich auch kein Prinz, sondern ein dreister und zugleich hingebungsvoller Liebhaber auftauchte. «Entschuldigung, hatten Sie einen Termin?» Doktorspiele : So waren ihre drei Kinder entstanden. Eva mußte lachen bei dem Gedanken. Obwohl das damals gar nicht lustig war. Mit 20 Jahren das erste Mal schwanger. Als ob sie nicht genug Grips hatte, so etwas zu verhindern. Ausgerechnet eine selbstbewußte junge Frau, Germanistikstudentin im dritten Semester, mit emanzipierten Freundinnen. Und gerade ihr passierte es. Jochens Mutter Paula und Mamia waren einmütig für eine Abtreibung. Paula, weil ihr armer Jochen erst einmal das Studium fertig bekommen sollte, und Mamia, weil sich ihr eigenes Schicksal nicht in Gestalt ihrer Tochter wiederholen sollte: Hausmütterchen und dekoratives Anhängsel an der Seite ihres respektierten, aber nicht geliebten Man12
nes. «Du weißt, wo das endet», hatte Mamia ihr beleidigt gedroht, «deinen Berufswunsch kannst du an den Nagel hängen, und wenn er fertig ist, sucht er sich was Besseres, dein lieber Dr. Janssen.» In dieser Situation lernte sie an Jochen eine weitere Eigenschaft kennen. Wenn er das Für und Wider einer Sache einmal abgewogen und sich endgültig entschieden hatte, konnte er geradezu schrecklich stur sein. Sternzeichen Steinbock. Also bekamen sie die kleine Sarah, heirateten aber nicht. Schon, um sich einmal mehr gegen die familiäre Einmischung aufzulehnen. Außerdem wollten sie damit warten, bis er sein Arzt im Praktikum hinter sich hatte; zu dem Zeitpunkt war aber bereits Toni unterwegs. Und schließlich hatten sich alle an die Situation so gewöhnt, daß bei Hannahs Ankunft, ihrer jüngsten Tochter, schon niemand mehr ernsthaft erwartete, daß es in absehbarer Zeit eine offizielle Verbindung geben würde. Eigentlich war es sogar so, daß sich die beiden Pole, Kinderkriegen und Ehe, in der Vorstellung so vollständig voneinander abgekoppelt hatten, daß es nun, sechzehn Jahre nach ihrem ersten Kennenlernen, ungläubige Überraschung hervorrief, als sie das Aufgebot beim Standesamt bestellten. So ist das mit der Gewöhnung. Ausnahme und Regel hatten sich bei ihnen einfach verkehrt. Die Regel in ihrer Beziehung war, daß Kinder und Heiraten nichts miteinander zu tun hatten, egal, ob man nun ein, zwei oder drei Sprößlinge in die Welt gesetzt hatte. Nachdem sich nun 13
einmal eingebürgert hatte, daß Eva und Jochen nicht heiraten würden, war diese Ankündigung die neue und zunächst schockierende Ausnahme. «Warum denn jetzt noch heiraten?» fragte Claudia pikiert, so, als hätte Eva sie persönlich beleidigt. «Vorher hatten wir keine Zeit und kein Geld», erwiderte Eva geduldig. Natürlich war sie sich klar, daß sich beide Gründe angesichts der Umstände ziemlich albern anhörten. Aber sie hatte keine Lust, nach einer tiefgründigeren Erklärung zu suchen. «Hä?» Claudia haute sich verständnislos an die Stirn, «hör mal, ihr habt drei Kinder durchgebracht, und Jochen hat seine Stelle auch nicht erst seit gestern. Ich meine, es ist doch absolut nicht nötig.» Eva lächelte und beschloß, sich nicht den Tag verderben zu lassen. Dazu war das Wetter zu schön und die gemeinsamen Nachmittage in der Gartenlaube zu selten. Seit urdenklichen Zeiten trafen sich die drei hier, in ihrer Fluchtburg an der Elbe, im Hamburger Stadtteil Övelgönne: Das Trio Fatale, die drei Freundinnen. Als Brittas Mutter sich vor zehn Jahren entschieden hatte, den Schrebergarten aufzugeben, hatten sie den Pachtvertrag übernommen. Nicht weil sie das Vereinsleben liebten, daran nahmen sie nicht teil, sondern weil das Stückchen Natur eine wunderbare Erholung zu ihren Stadtwohnungen bot. Britta wühlte in den Beeten; Claudia und Eva saßen am Gartentischchen und nippten genüßlich am Weißwein. Es war nicht das erste Glas. Claudia hob theatralisch die Hände in die Luft. 14
«Nun hör dir das an», wandte sie sich hilfesuchend an Britta, die in die Arbeit vertieft nichts mitbekommen hatte. Jetzt ließ sie die Handschaufel sinken. «Was?» «Eva will heiraten», stöhnte Claudia übertrieben. «Glückwunsch, wer ist denn der Glückliche?» Britta setzte sich zu ihnen. Sie hatte schon einen eigenartigen Sinn für Humor. Aber letztlich hatte Eva geahnt, daß sie nicht einfach ungeschoren davonkommen würde mit ihrem Geständnis. Also wiederholte sie nur schlicht: «Jochen und ich heiraten. Und ich wollte es euch zuerst sagen, damit ihr euch nichts vornehmt an dem Tag.» «Toll, dann gibt's endlich mal wieder 'ne Party. Aber wieso denn Jochen. Den kennst du doch schon so lange.» Britta grinste verschwörerisch über das ganze sommersprossige Gesicht und wischte sich eine ihrer widerspenstigen roten Locken aus der Stirn. Eva atmete auf, hier war kein ernsthafter Widerstand zu befürchten. Britta war bereits verheiratet, allerdings nicht sehr glücklich. Ihre Ehe mit Thomas war eher ein Grund, die Finger von solchen Experimenten zu lassen. Aber sie schien ihre schlechten Erfahrungen nicht auf Eva übertragen zu wollen. Also blieb nur noch Claudia. Diese schien ehrlich betrübt zu sein und ließ den Kopf auf den Tisch sinken. «Das heißt doch nicht, daß irgend etwas anders wird.» Eva streichelte Claudias Arm sanft. Schlagartig begriff sie, daß ihre Freundin ernsthaft verletzt war. «Ich bin die letzte. Bei mir klappt's einfach nicht», schluchzte Claudia halb scherzhaft, halb ernst gemeint und trank einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. «Aber nicht doch, du hast es einfach besser gemacht als wir», griff jetzt auch Britta tröstend ein. Dann grinste 15
sie wieder. «Sieh's mal so, wer seinen eigenen Mann heiratet, ist ein Sparschwein.» Die Wirkung auf den halbherzigen Witz war erstaunlich. Claudia und Britta gackerten drauflos. Muß wohl am Wein liegen, dachte Eva, dann stimmte sie in das prustende Gelächter ihrer beiden Freundinnen ein. Unter Lachtränen drohte sie ihnen mit dem Finger: «Also bitte, Jochen ist mein Traummann.» «So, so. Hat er dir mal wieder einen Termin gegeben?» Claudia lächelte unschuldig und knuffte Britta in die Seite. Wieder startete eine Lachsalve. Was soil's, dachte Eva, dafür waren sie ihre Freundinnen, die besten, die es gab. Eva und Jochen wohnten in der Isestraße 60. Diese lange Straße verband den eher schlichten Hamburger Stadtteil Eimsbüttel mit dem begehrten Viertel Eppendorf Je nach Entfernung von den besseren Adressen hießen die Teilstücke im Volksmund die feine, die miese und die fiese Ise. Die feine Ise wartete mit mehrstöckigen Stadtpalais und einem teilweise venezianischem Flair am Isebekkanel auf. Die miese Ise bestand aus Altbauhäuser aus der Jahrhundertwende, lag aber nicht mehr am Wasser. Die fiese Ise schließlich war zwar ebenfalls ein Altbaustraßenzug, verlief aber rechts und links entlang der U-Bahn-Linie 3, die mit schöner Regelmäßigkeit die Fensterscheiben zum Klirren brachte. Zwischen den beiden Haltestellen Hoheluft und Eppendorfer Baum konnten sich die Gäste der Stadtbahn ein ausführliches Bild von der Hamburger Wohnkultur machen, denn der Schienenstrang war hier aufgeständert worden. In knapp zehn Meter Entfernung 16
rumpelten die Waggons auf der Höhe des zweiten Stocks an den Balkonen und Fenstern vorbei. Trotzdem hängte fast niemand der Anwohner die Aussicht mit Gardinen zu. Vielleicht, weil es für die Leute in den Häusern ebenso interessant war, die Passagiere in der U-Bahn zu beobachten wie umgekehrt. Jedenfalls hatte das Ganze etwas ungemein Großstädtisches, fast wie New York. Bei Jochens schmalem Gehalt erübrigte sich die Frage, in welchem Straßenabschnitt die Janssens wohnten. Die fiese Ise hatte aber immerhin den Vorteil, daß die Mieten für große Wohnungen noch einigermaßen bezahlbar waren. Außerdem befand sich der große Wochenmarkt direkt vor ihrer Tür, unter den Stelzen der Hochbahn. Zerstreut beobachtete Eva, wie vor dem Fenster eine U-Bahn die Gleise entlangfuhr. Auf diesem Streckenabschnitt drosselten die Bahnen ihre Geschwindigkeit; nicht etwa, um die Anwohner zu schonen, sondern als Vorsichtsmaßnahme angesichts des altersschwachen Zustands der Hochstrecke. Beim Abbremsen kratzten, schabten und quietschten die Waggonräder. Und wenn die Bahn wieder beschleunigte, verwandelte sich das Geräusch in ein durchdringendes Summen. Die Scheiben zitterten kurz, dann war der Spuk vorbei, zumindest für die nächsten fünf Minuten. Eva wandte sich wieder der Spiegeltür des Kleiderschranks zu und musterte sich kritisch. Der neue Kurzhaarschnitt betonte vorteilhaft ihr herzförmiges Gesicht. Auch ihre kecken braunen Augen kamen besser zur Geltung. Früher hatte sie ihre langen 17
dunkelblonden Haare geliebt. Aber irgendwann kam bei ihr wie bei fast jeder Frau der Zeitpunkt, wo sie sich für etwas Bequemes und Pflegeleichtes entschieden hatte. Wegen des Haushalts und der Kinder hatte sie keine Zeit mehr, sich stundenlang mit einer Hochsteckfrisur zu beschäftigen. Bei ihrer Freundin Claudia war das anders. Sie hatte genug Zeit, um ihre dichte, fast weißblonde Haarpracht zu kleinen Kunstwerken aufzutürmen, die wundervoll zu ihrem flächigen Gesicht paßten. Seufzend strich sich Eva über die Hüften. Ein kleiner Bauchansatz machte sich bemerkbar. Wenn sie ihn darauf ansprach, behauptete Jochen jedesmal steif und fest, daß er ihn lieben würde, und daß sie sich doch nicht verrückt machen solle, sie sei doch nun wirklich schlank und wohlproportioniert. Aber manchmal wünschte sich Eva doch, ein Stückchen größer zu sein. Das war ja das Gemeine an ihren 1 Meter 63: Jedes Kilo mehr schlug bei ihr ganz anders zu Buche als bei Britta oder Claudia. Aus den Augenwinkeln beobachtete Eva ihre Tochter Sarah, die sich gerade ein Minikleid überstreifte, und die kleine Hannah, die sich mit Mamas sündhaft teurem Lippenstift einen Clownsmund malte. Typischer Mutterreflex, dieser 360° Radar, schalt sie sich selbst. Aber partout nicht abzustellen. Als Sarah klein war, hatte Eva Angst, daß sie auf der Straße vor ein Auto laufen, Müll vom Boden aufheben und sich in den Mund stopfen oder aus dem Fenster stürzen würde. Jetzt waren die Sorgen auf drei verteilt, hatten insgesamt aber nicht abgenommen. 18
Der achtjährige Toni mit seinem unbändigen Kletterdrang war geradezu prädestiniert, von den Bäumen zu fallen, vielleicht sogar in ebendieser Sekunde, eine halbe Stunde vor Abfahrt zum Standesamt. Hannah, mit drei die jüngste, steckte in der Phase intensiven Materialmißbrauchs: unbeaufsichtigt herumliegende Haushaltsgegenstände waren vor ihr nicht sicher. Erst neulich hatte sie sich eine bombenfeste Frisur mit anderthalb Tuben Papierkleber gestylt, so wie die auf EMTIWI. Sarah schließlich entwickelte ein Faible für enganliegende, superkurze Röcke und Kleider. In aller Unschuld, wie Eva inständig hoffte. Es sprach zwar grundsätzlich nichts dagegen, daß junge Mädchen ihre Anziehungskraft entdeckten. Aber Sarah mit knappen sechzehn Jahren erschien ihrer Mutter mitunter wie eine naiv gutgläubige Lolita: Ahnungslos, was sie als blonder Unschuldsengel in einem solchen Aufzug bei bestimmten Männern auslösen konnte. Ein ziemliches Dilemma. Einerseits war Eva unbedingt der Meinung, daß das Akzeptieren des eigenen Körpers zur Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens unerläßlich war. Damit taten sich pubertierende Teenager ohnehin schwer. Andererseits war genau diese Suche nach Bestätigung etwas, das Männer ausnutzen konnten. In solchen Augenblicken war Eva froh, daß sie so früh Kinder bekommen hatte, denn mit sechsunddreißig Jahren fühlte sie sich noch nicht restlos verkalkt. Sie war stolz, so etwas wie die beste Freundin ihrer ältesten Tochter zu sein. Und solange sie das Gefühl hatte, daß Sarah ihr noch alles erzählte, war die Welt in Ordnung. «Mit Gürtel besser oder ohne», fragte sie Sarah. Sarah musterte Evas Kleid, einen knielangen, bordeauxroten 19
Baumwollhänger, der etwas formlos die Hüften umspielte. «Mit.» Dann schubste sie ihre Mutter lachend zur Seite und bewunderte sich in ihrem enganliegenden schwarzen Minirock. Eva runzelte die Stirn. «Das sieht dann nicht so feingemacht aus», erklärte Sarah fast entschuldigend. Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte Eva. Das Teil sah eher nach Diskothek aus. Ob ihre Tochter vorhatte, den Standesbeamten durcheinanderzubringen? Gedankenverloren betrachtete sie Sarahs Figur. Es ließ sich nicht leugnen, sie war auf dem Wege, eine junge Frau zu werden. Und dabei war es doch fast erst gestern gewesen, als sie das kleine Pausbäckchen auf dem Arm durch die Gegend getragen hatte. «Ja, ehrlich hübsch», lobte sie schließlich ihre Tochter, «aber laß bitte die Haare offen. Du siehst ja aus wie zwanzig.» «Wieso. Ist doch gut so.» «Aber nicht für mich. Dann denken alle, ich bin mindestens vierzig.» Sarah verzog beleidigt das Gesicht. Das konnte ja heiter werden, wenn das Heiraten jetzt auch noch bedeutete, daß Mama ab sofort die Schönste im ganzen Land sein wollte. «Spieglein, Spieglein ...», flüsterte sie, aber vorsichtshalber so leise, daß man es überhören konnte. «Ich bin die schöne Prinzessin!» Hannah krähte vor Vergnügen und stolzierte in Evas Wildlederpumps durchs Zimmer. Sie hatte den restlichen Lippenstift auf ihr Gesicht verteilt, alle Modeschmuckketten, die sie finden konnte, umgehängt und einen von Sarahs durchbrochenen Schals um die Stirn gewickelt. Alles in allem gab sie eine Mischung aus Winnetous kleiner Schwester und 20
zwergwüchsiger Haremsdame ab. Eva zuckte amüsiert die Schultern. «Das bist du, mein Schatz, wo sind denn nur meine roten Schuhe?» «Bist du eigentlich sicher, daß er der Richtige ist?» fragte Sarah plötzlich unvermittelt. «Sprichst du von deinem Vater?» Eva unterbrach die Suche nach ihrem zweiten Schuh und schaute einigermaßen verständnislos drein. «Klar, noch hast du nicht ja gesagt.» «Sarah!» Das fehlte jetzt noch, eine Grundsatzdebatte übers Heiraten nach Mamias Vorbehalten und dem Spott ihrer Freundinnen. Aber Sarah bohrte weiter: «Warum hast du ihn denn so lange zappeln lassen, wenn er der Richtige ist?» «Er hat nicht gezappelt. Wir waren doch die ganze Zeit rundum glücklich», verteidigte sich Eva. «Ich dachte, Leute heiraten, eben weil sie glücklich sind», insistierte Sarah. «Heirat ist auch der häufigste Scheidungsgrund», konterte Eva schnippisch. «Papa und ich haben viele Prüfungen überstanden, glaub mir. Und jetzt sind wir alt genug, um auch in geordneten Verhältnissen glücklich zu sein ... falls ich meinen zweiten Schuh finde.» In diesem Moment Moment stürmte Toni herein und stürzte sich mit der sinnlosen Wut eines Footballspielers auf das Knäuel von abgelegten Kleidern auf dem Bett. «Kann ich auch einen Schlips haben, Papa?» schrie er. Gleich darauf schaute Jochen um die Ecke. Gedankenverloren wedelte er mit dem zweiten roten Schuh, den Eva 21
die ganze Zeit gesucht hatte, und stellte die nicht eben geistreiche Frage: «Wem gehört denn der hier?» Sarah feixte. Für einen Moment war Eva tatsächlich in Versuchung, den Gedanken, ob er denn der Richtige für sie sei, noch einmal einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Es klingelte. Dreimal, energisch fordernd, einfach unnachahmlich. Das konnte nur Mamia sein. Evas Mutter hatte eine Art zu läuten, die sie unter tausend Klingelgeräuschen heraushörte. Es klang so, wie Mamia war: Widerstand zwecklos. Ergeben Sie sich und kommen Sie mit erhobenen Armen heraus. Jochen sah auf seine Uhr und verdrehte die Augen. Eva schlüpfte in ihren Schuh, scheuchte die Kinder vor sich her und schaffte es noch vor der Wohnungstür, Hannah gegen ihren Protest die drei Lagen Modeschmuckketten wieder abzunehmen. «Wo bleibt ihr denn?» Mamias entrüstete Stimme war im Treppenhaus zu hören, «ihr kommt noch zu spät zu eurer eigenen Hochzeit.» Die Kinder tobten die Treppe hinunter. «Mamia, Mamia», schrie Hannah und sprang Evas Mutter entgegen. Die sechsjährige war Omas erklärter Liebling. Mamia wartete an der Tür und drückte die Enkelin an ihren Busen. Sie trug ein feines beigefarbenes Leinenkostüm, mit blauen Paspeln und einen breitrandigen dunkelblauen Strohhut. An ihren gebräunten Armgelenken klirrten zwei Dutzend Goldreifen. Eva seufzte leise. Für Mamia schien die Trauung in erster Linie dazu gut zu sein, ihre teure Garderobe auszuführen. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, warum sie sich neben ihrer mondänen Mutter immer wie ein Aschenputtel fühlte. Vielleicht 22
war es die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Grande Dame spielte. Sie hatte niemals finanzielle Sorgen erlebt; Geldnot konnte sie sich nicht einmal im Traum vorstellen. Schon gar nicht in der eigenen Familie. Die Tatsache, daß Jochen Arzt war, schien ihr gleichbedeutend mit gutem Einkommen. Daß das Gegenteil nach jahrelangem Studium und drei Kindern der Fall war, konnte oder wollte sie nicht wahrhaben. Jochens Mutter Paula war diejenige, die mit tausend Mark im Monat die Familie unterstützte. Geld, das sie bitter nötig hatten. Eva schluckte ihren Ärger runter und umarmte ihre Mutter. «Morgen, Mamia, ich sterbe vor Aufregung! Hast du Paula schon gesehen?» Die Frage war nicht als Affront gemeint. Eva war wirklich aufgeregt und dachte nicht im Traum daran, mit dieser Frage ihre Mutter zurückzusetzen. Aber Mamia bekam sie prompt in den falschen Hals. «Heute noch nicht», erwiderte sie trocken, «sie ist bestimmt gleich zum Standesamt, damit sie als erste da ist.» «Sehr schick, Mamia», mischte sich Jochen ein und warf einen gespielt bewundernden Blick auf die Garderobe seiner künftigen Schwiegermutter. Mamia lächelte geschmeichelt und schluckte weitere süffisante Bemerkungen hinunter. Eine halbe Stunde später trafen sie vor dem Standesamt in der Grindelallee ein. Das Amt war im Parterre eines der sogenannten Grindelhochhäuser untergebracht, einer Bausünde aus Beton und Glas. Wie überdimensionale Legosteine lagen die Klötze auf einer Grünfläche verstreut: Ein Fremdkörper in dem ansonsten beschaulichen Altbauviertel. In dieser Atmosphäre fiel es schwer, 23
eine Eheschließung als romantisches Gefühlsbekenntnis zweier Menschen zu empfinden. Die Architektur wirkte eher wie ein nüchterner Verweis oder vielleicht wie eine Vorwarnung auf den Vertragscharakter dieser Verbindung. Außer Mamia waren auch Evas Freundinnen Britta und Claudia gekommen. Claudia hatte sich an der Schule, an der sie unterrichtete, frei genommen. Britta hatte ihre Massagepraxis den Vormittag über geschlossen und ihre Tochter Miriam mitgebracht. Thomas, ihr Mann, kam von Dresden, wo er unter der Woche eine ComputerHandelskette aufbaute. Die Wochenenden sollten der Familie gehören. Aber aufgrund des gereizten Eheklimas zwischen ihm und Britta waren seine Besuche in letzter Zeit selten geworden. Stirnrunzelnd beobachtete Eva, wie Brittas Miene sich verdüsterte, sobald sie ihren Mann ansah. Etwas verlegen standen sie beieinander und warteten auf das überfällige Eintreffen von Jochens Mutter Paula. Der Standesbeamte hatte bereits zweimal aus dem Zimmer gelugt und dabei mißbilligend auf die Uhr gesehen. Sie waren zehn Minuten über der Zeit. Aber ohne Paula konnten sie keinesfalls anfangen. Schließlich bezahlte sie nicht nur den monatlichen Zuschuß, sondern hatte sich auch bereit erklärt, die Kosten der Feier zu übernehmen. «Langsam wird's komisch», sagte Jochen gedehnt. «Aber deine Mutter hatte sich doch so gefreut», wunderte sich Britta. «Zu sehr! Wahrscheinlich hat sie ein Beruhigungsmittel genommen und dann den Wecker verschlafen.» 24
Mamia konnte an diesem besonderen Morgen anscheinend nicht ohne Spitzen auf die Verwandtschaft auskommen. «Genauso wird's sein», pflichtete Eva ihrer Mutter ohne Überzeugung bei. Langsam beschlich auch sie ein ungutes Gefühl. Der Standesbeamte lugte ein drittes Mal aus der Tür. Er rückte seine Brille zufecht und schickte sich offensichtlich an, eine Erklärung abzugeben: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Die MöchtegernEheleute Janssen bitte wegtreten, oder so ähnlich. Was macht Menschen mit diesem Job eigentlich so mißmutig? fragte sich Eva. Vielleicht empfanden Standesbeamte ihre Arbeit als vollkommen sinnlos, weil in Großstädten wie Hamburg mindestens jede zweite Ehe wieder geschieden wurde. «Also, Frau Blume, Herr Janssen. Wir können jetzt wirklich nicht länger ...» Bevor der Standesbeamte zu Ende sprechen konnte, hatte sich Mamia eingeschaltet. «Das würden Sie Ihrer Mutter doch auch nicht antun! Seien Sie doch nett, es geht ja nur um Minuten!» Sie stand einfach da in ihrem teuren Kostüm und wies mit befehlsgewohnter Stimme den Mann zurecht. Der Beamte hielt sich an seinem Zettel fest, auf dem die Termine eingetragen waren, und musterte Evas Mutter erstaunt. Er tippte mit dem Finger darauf und sagte: «Äh ...» «Da läßt sich doch was schieben», beschied ihm Mamia knapp und drehte den Kopf leicht in die Richtung des nächsten Brautpaares mit Anhang, das bereits eingetroffen war und im Hintergrund stimmungsfrohe Erwartung verbreitete. Mamia nickte dem Mann noch einmal aufmunternd zu und drehte sich weg. Für sie war der Fall abgeschlossen. Der Beamte knitterte hilflos sein Papier. 25
«Dann bitte ich jetzt Frau Kühn und Herrn Sager.» Nachdem die neue Gruppe an ihnen vorbei ins Zimmer gezogen war, gönnte sich Mamia ihren kleinen Triumph. «Alles gar kein Problem», sagte sie und zwinkerte Eva zu. Wahrscheinlich feilte sie innerlich schon an den Sätzen, die sie Paula unter die Nase reiben wollte ... wenn sie denn endlich auftauchen würde. Claudia hatte sich mit Brittas Tochter Miriam und Evas Toni vor die Tür postiert. Teils um die Kinder abzulenken, teils, um der eigenen wachsenden Unruhe etwas entgegenzusetzen, und wenn es nur Bewegung und frische Luft waren. Ein Taxi fuhr vor, und die Kinder schrien auf vor Begeisterung. Oma Paula war beliebt. Aber dann stiegen doch nur Gäste oder Freunde des Brautpaares aus, das gerade an der Stelle von Jochen und Eva getraut wurde. «Jetzt reicht's, wir fahren hin», entschied Claudia. Sie signalisierte Eva ihr Vorhaben und verschwand mit Miriam und Toni im Taxi. Unterdessen war die Eheschließung des anderen Paares beendet worden. Der mürrische Standesbeamte erschien wieder, stellte mit scheinbar grimmiger Zufriedenheit fest, daß die Eltern des renitenten Brautpaares immer noch nicht vollzählig waren, und ließ sich auch von Jochens Bitten nicht länger erweichen: «Selbst wenn sie jetzt käme, heute wird das nichts mehr. Tut mir leid.» Seltsamerweise fühlte sich Eva in diesem Moment nicht einmal vor den Kopf gestoßen. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Etwas stimmte nicht an diesem Morgen, oder vielleicht auch überhaupt an dem Vorhaben mit der Ehe. 26
Seit ihrer ersten offiziellen Ankündigung des Trauungstermins hatte sie diese Intuition, die sie zwar hartnäckig verdrängt hatte. Allein schon, weil sie die Hochzeit gegen Mamias, Claudias und schließlich auch noch gegen Sarahs Einwände verteidigen mußte. Aber nun wußte sie es klipp und klar: Sie würden nicht heiraten. Es war eben doch eine Schnapsidee, nach sechzehn Jahren so zu tun, als sei man ein turtelndes, taufrisch verliebtes Pärchen, dem zum vollkommenen Glück lediglich der amtliche Segen fehlte. Nicht zuletzt spielte natürlich auch die zu erwartende Steuerersparnis eine Rolle. Aber eigentlich hatten sich doch alle mit der Situation arrangiert. Eine Heirat zu diesem Zeitpunkt war ein bißchen so, als preise man einen alten Staatszirkus plötzlich als sensationelle Weltpremiere an. Dabei drehten sich doch nur dieselben alten Klepper in der Manege. Jochen versuchte Paula aus der Telefonzelle anzurufen. Eva sah ihm zu, wie er horchte, offensichtlich niemand erreichte und wieder auflegte. «Besetzt», sagte er. «Also, das muß sie mir aber erklären», murmelte Eva und schaute Jochen geradewegs in die Augen. Sie faßten sich an der Hand und sahen durch die Glasfassade nach draußen. Ein kleiner Trupp von vertrauten Gesichtern hatte sich inzwischen vor dem Eingang versammelt: Bekannte und Arbeitskollegen von Jochen. Sie stießen sich gegenseitig an, scherzten, nestelten an Korken von Sektflaschen und wogen probeweise Konfetti in der Hand. Sie bereiteten sich auf das vor, was man so tut, wenn das frisch getraute Paar heraustritt: Lärmen, Schulterklop27
fen, hochleben lassen. Eva und Jochen beobachteten sie einen Augenblick lang schweigend. Jochen zögerte und blickte dann Eva fragend an. Sie nickte. Dann nahm er ihre Hand und zog sie entschlossen vor die Tür. Zehn Minuten später saßen sie im «Etrusker», einem kleinen italienischen Restaurant im Grindelhof, mitten im UniViertel, das sie für die Feier über Mittag angemietet hatten. Es war genau das Richtige für die kleine Gruppe von Freunden und Bekannten, die sie beim Standesamt abgeholt hatte. An der Wand lehnte ein mannshohes rotes Herz aus Papier, auf dem die Namen des Brautpaares standen. Nachdem Jochen in seiner Begrüßungsansprache klargestellt hatte, daß nicht etwa ein prinzipielles Zerwürfnis die Ehe verhindert hatte, sondern das unerklärliche Fernbleiben von Paula, löste sich die anfängliche Verlegenheit der Gäste rasch auf. Vielleicht wich sie aber auch nur einem amüsierten Erstaunen oder wohlwollender Skepsis. Eva fühlte sich jedenfalls nicht wohl in ihrer Haut. «Alle starren mich an, ich will hier weg», flüsterte sie Britta zu. «Schwierig», meinte ihre Freundin und tätschelte ihre Hand. <Wenn ich jetzt gehe>, dachte Eva, Also blieb sie sitzen, lächelte tapfer in die Runde und war froh, als sich Jochens Chef zu einer launigen Rede entschloß. «Jetzt wollen wir die Sache mal klarziehen. Kraft der mir verliehenen Autorität als Leiter des international ver28
kannten Instituts für Strahlenforschung will ich nun dir, werter Kollege Jochen, nach jahrzehntelanger Eheanbahnung deinen dringenden Wunsch erfüllen und erkläre hiermit die liebe Eva samt deiner drei Kinder zu deinem rechtmäßigen Anhang.» Dr. Bartel prostete Jochen zu, die Kollegen applaudierten. Eva lächelte wacker. Aber Jochens Chef war noch nicht fertig. «So und nun hat alles seine Ordnung. Du kannst in Ruhe Karriere machen und bald meinen Platz einnehmen.» Die Kollegen entschlossen sich, die kleine Spitze als Scherz aufzunehmen und klatschten begeistert. Auch Jochen nahm es gelassen: «Du sollst uns doch noch lange erhalten bleiben, Wolfgang.» «So, und nun wollen wir endlich den Sprung ins Eheglück sehen! Einmal hier durch, wenn ich bitten darf.» Bartel stemmte das riesengroße Herz vor die beiden und machte eine einladende Bewegung. Jochen lächelte und stellte sich unter Bravorufen seiner Kollegen mit Eva vor das Papierherz. In diesem Moment stürzte Claudia mit den Kindern zur Tür herein. Ihr Gesicht wirkte blaß. Eva stutzte. Toni hatte einen Vogelkäfig in der Hand. Es war Paulas Kanarienvoliere. «Oma Paula ist tot», brach es aus ihm heraus. Schlagartig verstummte das fröhliche Gemurmel der Gäste. Jochen starrte Toni einen Augenblick an, der fassungslos und seltsam steif den Käfig in der Hand hielt, oder besser vorzeigte, so, als würde die Drahtbox für sich sprechen. Dann schloß er seinen Sohn in die Arme. Eva kam zu 29
ihnen und schmiegte sich an beide. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Stumm standen die drei beieinander, und Eva fühlte ganz intensiv, wie Tonis kindliche Verwirrung und Jochens Schmerz auf sie abfärben. Auch sie hatte Paula gemocht, manchmal sogar mehr als ihre eigene Mutter. Paula war auf ihre sanftmütige und duldsame Art zwar nie ein Feuerwerk an Unterhaltung gewesen, aber verglichen mit Mamias anstrengender Gegenwart so etwas wie ein gleichmäßiger und beständiger Ruhepol. Sie hatte nie viel geredet, außer mit den Kindern. Ohne großes Aufheben hatte sie ihnen immer geholfen und niemals zugelassen, daß man ihr mehr als einmal Danke sagte. Sie war eine grauhaarige Märchenfee gewesen, von schlichtem Gemüt, aber mit einem Herz, so groß wie der Hamburger Hafen. «Komm», sagte Jochen schließlich, «wir fahren hin. Claudia kann sich um die Kinder kümmern.»
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2. Hand in Hand betraten sie das kleine Wohnzimmer. Paula saß in ihrem Ohrensessel vor dem Fenster. Ihr rundliches, trotz des Alters ziemlich glattes Gesicht, mit den schütteren grauen Haaren lehnte an den Backen des Sessels, so, als habe sie sich nur ein wenig ausruhen wollen und sei dabei eingeschlafen. Sie trug ihre Haussachen, Kleid und Schürze. Also ist es schon gestern passiert, dachte Eva, und versuchte das Durcheinander in ihrem Kopf zu bändigen. Sie war bisher nur einmal mit dem Tod konfrontiert worden, dem ihres Vaters. Aber das war lange her, als sie noch ein Kind war. Sie erinnerte sich lediglich an Besuche im Krankenhaus, und wie eines Tages das Bett in dem Zimmer plötzlich leer war. Sie hatte ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er war einfach weg, wie verreist. Hier war es anders: Paula war da, und doch nicht mehr. So, als schliefe sie, und doch anders, endgültiger. Nein, es war nicht mehr Paula, die dort in dem Sessel saß. Beklommen registrierte Eva, daß mit Verlassen der Seele, oder wie immer man den Vorgang bezeichnen mochte, sich der zurückgelassene Körper in etwas verwandelte, das nichts mehr gemein hatte mit der Persönlichkeit, die man gekannt und geliebt hatte. Es war nur noch ein wächserner Leib, fast ein Gegenstand, in dem sie verzweifelt und vergeblich nach Paulas Spuren suchte.
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Für Jochen war der Anblick von Toten sicherlich gewohnter. Aber das, was sein Beruf als Arzt ihm an Routine im Umgang mit Verstorbenen verschafft haben mochte, versagte hier, wo es um seine Mutter ging. Eva sah zu, wie er Paula über das Haar strich, vor ihr kniete. Dann sprang er abrupt hoch, riß die Terrassentür auf und stürzte in den kleinen Garten hinter dem Haus. «Was is, Ömer? Hast du schlecht gefrühstückt?» Der dicke Sargträger fuhr seinen türkischen Kollegen mit einer Mischung aus unverhohlener Abneigung und Ärger über die schwere Last an. «Nix geht. Kurve zu eng», gab dieser zurück. Er bemühte sich schwitzend, den Sarg mit Oma Paula um die Flurecke zu heben. Eva und Jochen standen etwas abseits und versuchten, die rüden Sprüche beim Abtransport von Paulas Sarg zu überhören. Schließlich verloren sich die Stimmen der beiden Männer im Hausflur, und die Tür fiel ins Schloß. Jochen und Eva machten sich daran, Paulas Nachlaß zu ordnen. Verstreut auf dem Wohnzimmertisch lagen Papiere, Fotos und sonstige Unterlagen. Stumme Zeugen gelebten Lebens. «Das hört ja nun zum Glück auf», sagte Eva, als ihr Paulas Kontoauszüge in die Hände gerieten. «Was?» fragte er geistesabwesend. «Na, das hier! Die tausend Mark, die sie dir jeden Monat überwiesen hat! Es war mir immer irgendwie peinlich. Furchtbar!» «Furchtbarer ist es, jetzt ohne die tausend Mark auszukommen, wenn du mich fragst! Wir haben die nämlich gebraucht.» 32
«Aber jetzt hast du doch das Haus!» Jochen brummte etwas Unverständliches zur Erwiderung. «Ich könnte es streichen. Mamia müßte ein paar Tage die Kinder versorgen. Tausend Mark Miete könnten wir doch wohl kriegen. Was meinst du?» Wieder reagierte Jochen nicht. Er starrte ungläubig auf die Kontoauszüge, die ihm Eva in die Hand gedrückt hatte. «Das verstehe ich nicht», murmelte er und ließ sich langsam in Paulas Lieblingssessel sinken. «Was ist?» «Das kann doch nicht sein. Wenn ich das hier richtig lese, ist das Haus total verschuldet.» Jochen schlug die Erbschaft aus. Es mußte sein. Selbst wenn sie das kleine Haus von Oma Paula verkauft hätten, wäre eine Restschuld von 50 000 Mark geblieben. Zuviel, bei 4500 Mark brutto, die Jochen als Gehalt vom Strahlungsforschungsinstitut nach Hause brachte. Paula hatte entweder den Überblick über ihren Schuldenstand verloren, oder aber, und das war wahrscheinlicher, die vielen kleinen Geschenke und die Unterstützung, die sie ihnen hatte zukommen lassen, mit der ständig wachsenden Hypothek auf das Haus bezahlt. Eva schluckte bei der Vorstellung, daß die alte Frau, wenn sie Toni ein neues Spielzeug mitgebracht oder Sarah Kleidergeld zugesteckt hatte, damit jedesmal, Stück für Stück, einen Teil ihres Zuhauses verpfändet hatte. Und die monatlichen tausend Mark erst. Seit Sarah auf der Welt war, sechzehn Jahre lang, hatte Paula sie gezahlt. Eva fühlte 33
sich elend bei dem Gedanken, daß ihre Geldprobleme, Jochens schlechter Verdienst, die Tatsache, daß sie wegen der Kinder nicht gearbeitet hatte, kurz: ihrer beider Unvermögen, die Situation finanziell in den Griff zu bekommen, dazu geführt hatte, daß Paula hochverschuldet gestorben war. Eva nahm sich vor, in ihrem Leben grundsätzlich etwas zu ändern. Sie würde wieder arbeiten, vielleicht würde es ja halbtags gehen. Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, beruhigte sie sich selbst. Sarah würde sich regelmäßig um Hannah und Toni kümmern müssen, und Mamia würde sicher auch ein Einsehen haben. Zumindest hoffte Eva das in diesem Moment, auch wenn es ihre Phantasie noch überstieg, wie ihre Mutter im Chanelkostüm drei Kinder hüten wollte. Das Ausschlagen der Erbschaft bedeutete, daß Paulas sämtliche Habe unter den Hammer kommen würde. «Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie ab sofort nichts mehr aus dem Haus entfernen dürfen», hatte die Nachlaßverwalterin gesagt. Sie hatten weder Anrecht auf Wertsachen noch auf persönliche Andenken. Die Türen würden versiegelt werden, und sie würden das Haus nicht mehr betreten dürfen. Also mußte es schnell gehen. Noch am gleichen Abend schlichen sich Jochen und Eva in Paulas Haus. Brittas Mann Thomas begleitete sie, was der Sache den Hauch eines konspirativen Wohnungseinbruchs gab. Etwas mulmig war Eva schon, als sie mit einem Stapel zusammengefalteter Umzugskartons leise durch die rückwärtige Terrassentür eintraten. Aber wer, zum Teufel, sollte schon ein gesteigertes Interesse an Paulas alten Sachen haben? Sie hatten immerhin eine be34
sondere Beziehung dazu. Und schließlich: Sie waren ihnen versprochen worden, und Oma Paula hätte auch dafür gesorgt, daß sie sie bekommen hätten, wenn die Zeit dafür gereicht hätte. In anderen Worten: Paula hätte es so gewollt. Zum Beispiel die alte vergoldete Wanduhr. Eva hatte sie immer gefallen. «Wenn ich einmal tot bin ...», hatte Paula das Gespräch darüber immer begonnen. Eva hatte sie jedesmal lachend unterbrochen «... nun mach mal'n Punkt. Wir brauchen dich noch.» Jetzt dachte sie daran: «Wenn ich einmal tot bin, dann hängst du sie dir an die Wand, und dann denkst du an mich. Nicht jedesmal, wenn du drauf guckst. Aber vielleicht ab und zu mal. Und wenn sie dir nicht mehr gefällt, dann schmeißt du sie halt weg. Da werd ich auch nicht von sterben.» So war sie die Paula. Die Vorstellung, daß eines Tages wildfremde Leute die Uhr beim Trödler kaufen würden und wenn sie dann auf das Zifferblatt schauten, an alles mögliche denken würden, nur eben nicht an Paula, diese Vorstellung fand Eva schrecklich. Sie nahm die Uhr von der Wand und verstaute sie vorsichtig in einen der Kartons. Thomas stöberte in der Küche herum und bewunderte eine alte Kartoffelschälmaschine. «Wahnsinn, der Prototyp aus den Fünfzigern. Die muß mit.» «Die hat noch nie funktioniert», wehrte Jochen ab. Es war wenigstens der zehnte Gegenstand, den Thomas ge35
gen seinen Willen einpacken wollte. Aber er ließ sich auch diesmal nicht beirren und verstaute sie in der Geschirrbox. «Du wirst mir noch dankbar sein.» Eine der Eigenschaften, die Britta an ihrem Mann Thomas auszusetzen hatte, war diese Sturheit, kam Eva jetzt in den Sinn. Jeder Einwand wurde fröhlich weggefegt. Solange es um Haushaltsgeräte ging, war es egal. Wenn es sich aber darum handelte, ob man in Hamburg oder Dresden wohnen sollte, oder warum Britta denn arbeiten mußte, konnte Thomas' gutgelaunte Ignoranz gewiß nervtötend sein. Vielleicht war er auch nur schwerhörig. Oder, besser, er hörte nur, was er hören wollte. So etwas gab es. Da konnte man ihm nicht einmal böse sein. Jochen zuckte mit den Schultern und gesellte sich zu Eva. Er hatte Paulas Schmuckschatulle in der Kommode gefunden. Er öffnete sie und zeigte Eva einen wunderschönen alten Silberring. «Sieh mal. Der Verlobungsring ... von meinem Vater. Den hat sie nie abgenommen, früher.» «Hübsch», sagte Eva und legte die Schatulle auf die Uhr im Karton. «Sie müssen sich sehr geliebt haben.» In der Schublade kam ein Stapel alter Briefe zum Vorschein, verschnürt mit einem Seidenband. Eva las den Absender: «Hilmar Flügel. Nie gehört. Können wir hier lassen. Ich pack das schon mal ins Auto.» Während Eva den Karton zum Auto schleppte, blätterte Jochen in dem Stapel. Etwas weckte seine Neugier. Er zog wahllos einen Brief heraus und begann zu lesen. Aus der Küche meldete Thomas begeistert seinen neuen Fund: 36
«Erinnerst du dich noch an diese Eierschneider? Wir hatten auch so ein Ding! Praktisch! Keine Krümel.» Diesmal stoppte ihn Jochen nicht. Er stutzte und las laut aus dem Brief vor: «Meine innig geliebte Paula! Du bist noch keine zwei Stunden weg, und ich bin so erfüllt von sehnender Liebe, daß ich es schreiben muß... Thomas, wofür hältst du das?» «Ich wünschte, so ein Liebesbrief würde mir auch mal nach Dresden flattern. Deine Eltern müssen ja sehr aufeinander gestanden haben.» Jochen antwortete nachdenklich. «Der Brief ist nicht von meinem Vater. Der ist von einem gewissen Hilmar Flügel.» «Und wer ist das?» Kopfschüttelnd zog Jochen mehrere Briefe aus den Umschlägen und las mit wachsendem Erstaunen daraus vor: «Meine Geliebte, Paula mein Glück, Paula geliebte Menschin, Fühl meine Lippen, den deinen ganz nah, fühl mich immer in dir . . .»
«Mann, der hat's aber drauf», brummte Thomas anerkennend. «Der Geliebte meiner Mutter, wie ist das nur möglich?» «So was passiert. Eine kleine Affäre frischt die Ehe auf.» Inwieweit er dabei Fachmann war, ließ Thomas offen. Jochen wirkte sichtlich erschüttert. «Kleine Affäre?! Dieser Brief ist vom Mai '51. Da haben meine Eltern geheiratet! Und hier: '54, '59, '60!» «Sieht nach einer ausgewachsenen Parallelbeziehung aus», urteilte Thomas trocken und teilte der zurückkehrenden Eva die Entdeckung mit: «Wir haben soeben das Liebesleben der Paula Janssen enthüllt.» 37
«Sonst habt ihr nichts zu tun? Könnt ihr mal helfen?» Als Jochen ihr einen der Briefe reichte, tat Eva ihre schnodderige Antwort leid. Er war blaß und zitterte. «Wie konnte sie meinen Vater überhaupt heiraten? Ich verstehe überhaupt nichts mehr.» Eva nahm den Brief und las die Seite schweigend durch. Dann sah sie Jochen verblüfft an. «Das gibt's doch nicht! Deine Eltern waren doch immer das ideale Paar! Die liebe Paula, da kannst du mal sehen.» Das war begütigend gemeint. Aber Evas Gelassenheit verstärkte Jochens Aufregung nur. «Sie hat meinen Vater nach Strich und Faden betrogen ! Die Ehe meiner Eltern war nur eine Farce!» schrie er fast. «Oh, oh ...», meldete sich Evas innere Stimme, eine melodische Warnung, so wie Dustin Hoffman in ihrem Lieblingsfilm RAINMAN. «Oh, oh», die erste Silbe kurz und ansteigend, die zweite lang und abklingend, das bedeutete Ärger und Vorsicht. «Wie konnte sie so was bloß für sich behalten?» fragte sie Jochen jetzt mit anteilnehmender Entrüstung, «das begreife ich nicht. Könnt ich nie.» «Stille Wasser sind tief», quakte Thomas ungefragt dazwischen. «Unglaublich! Und ich habe immer das sichere Gefühl gehabt, ich wäre in einer glücklichen Familie aufgewachsen. Das darf doch alles nicht wahr sein.» Eva nahm tröstend Jochens Hand. «Zu Hause warten drei wunderbare Kinder auf dich, du hast eine glückliche Familie! Laß uns wieder nach vorne gucken und ganz schnell unsere Hochzeit nachholen, Lieber.» Jochen starrte sie geistesabwesend an. Es war dieser 38
Nimmerlandblick, mit dem Fokus irgendwo in weiter Ferne. Diesmal fand sein Blick jedoch nicht zurück. Ohne sie anzusehen, sagte er ernst. «Laß mich bitte erst mal meine Mutter begraben, Eva.» Es war nicht so, daß Eva sich zu diesem Zeitpunkt bereits ernsthaft Sorgen machte. Jochen hatte gelegentlich Phasen schlechter Laune, die aber niemals grundlos waren. Meistens aus beruflichem Streß oder vielmehr Ärger, weil sein Job so schlecht bezahlt wurde, daß sie auf keinen grünen Zweig kamen. Diesmal aber war es die Geschichte mit Paulas Liebhaber. Eva konnte sich nicht genau vorstellen, wie ein Sohn fühlte, der nach dem Tod der Mutter von ihrem Doppelleben erfuhr. Doppelleben, das war der Ausdruck, den Jochen für die heimliche Liaison seiner Mutter gebrauchte. Er litt augenfällig darunter, weil er zwei widerstreitende Gefühle nicht zusammenbrachte: Die Liebe zu seiner Mutter und die Erkenntnis, daß er sich von diesem geliebten Menschen zeitlebens offensichtlich ein falsches Bild gemacht hatte, oder zumindest einen entscheidenden Teil nicht kannte. Er sagte Eva, daß er bis zu diesem Augenblick mit Scheuklappen durch die Welt gerannt sei. Zufrieden und einfältig hatte er an das Gute im Menschen geglaubt und mehr oder weniger klaglos die ganze Mühsal erduldet, drei Kinder und eine Frau versorgen zu müssen. Selbst die Neidereien und das heimliche Gezänk der Kollegen um diesen gering dotierten medizinischen Forschungsjob hatte er ertragen. Das ganze durchwachsene Leben hatte er so gelebt, weil es ihm richtig erschien. Und nun dies. Vielleicht hatte seine Mutter ihn für seine Naivität sogar 39
belächelt, mitfühlend zwar, aber eben doch vor dem Hintergrund ihres ganz anders geführten Lebens. Vielleicht war er nicht einmal das Kind seines Vaters. Vielleicht hieß sein Erzeuger Hilmar Flügel, und seine Mutter und ihr Liebhaber hatten sich hinter dem Rücken seines Vaters prächtig amüsiert über den Ehetrottel, der das Kukkucksei mit ebenjener hingebungsvollen Mühe aufgezogen hatte, wie Jochen nun seine eigenen drei Kinder. Und das Schlimmste daran war, er konnte die Frage nach seiner Abstammung nicht mehr überprüfen. Er konnte Paula nicht mehr fragen. Eva sah, daß es ihm zu schaffen machte, hoffte jedoch, daß er mit der Zeit darüber hinwegkommen würde. In der Zwischenzeit konnte sie nichts anderes tun, als ihm ihre von Ehrlichkeit und Offenheit getragene Beziehung immer wieder vor Augen zu führen. Vielleicht würde ihm eine rasche Hochzeit die Gewißheit zurückgeben, daß Mißtrauen zwischen ihnen keinen Platz hatte, daß sie beide an einem Strang zogen und sich in Liebe zueinander bekennen konnten, ohne die Angst, betrogen zu werden. Deshalb erkundigte sie sich nach einem neuen Trauungstermin, gleich nachdem Jochen am nächsten Morgen, noch immer verstimmt, zur Arbeit gefahren war. Es zeigte sich jedoch, daß das schwieriger war als erwartet. Das Aufgebot bestand nur noch bis zum Ende der kommenden Woche. Entweder mußten sie bis zu diesem Zeitpunkt geheiratet haben, oder die gesamte amtliche Prozedur mit Antrag und Aufgebotsbestellung müßte wiederholt werden. Das würde die Hochzeit um Monate verschieben. Zudem konnten Termine nicht te40
lefonisch, sondern nur persönlich beim Standesamt vereinbart werden. Eva nahm sich vor, am nächsten Tag vorbeizugehen. Zu Claudias Gepflogenheiten gehörte es zwar, die Ehe und eheähnliche Beziehungen nach außen hin vehement abzulehnen, aber ein Gutes hatte es natürlich schon, Jochen und Eva zu Freunden zu haben: Mittags gab es immer etwas Warmes zu essen. Als Lehrerin, Single und Kochniete konnte man das gar nicht genug schätzen. Das war der Bonus für ihre Dreifachbehinderung, wie sie es im Scherz nannte. Als Claudia um 12 Uhr ihre Freundin besuchte, füllte ihr Eva daher ungefragt einen Teller mit würzig duftender Hühnersuppe. «Kommst du aus der Schule?» «Nee, von Fridolin», erwiderte Claudia und ließ es sich schmecken. Fridolin war erst kürzlich ins Haus gezogen, oben, unters Dach. Als er sich bei den Nachbarn vorstellte, wirkte er etwas linkisch, wie Eva fand. Seither machte er sich vorzugsweise durch Hämmern und Klopfen bemerkbar. «Neuer Flirt?» fragte Eva interessiert. «Eher nicht. Er will Lehrer werden. Hab versucht, es ihm auszureden.» «Warum? Ich denke, du liebst deinen Beruf?» wunderte sich Eva. «Bei mir ist es etwas anderes.» Claudia lenkte rasch vom Thema ab, «wie geht es Jochen?» «Oma Paula verfolgt mich schon im Traum. Aber ich laß mich nicht klein kriegen: Nächste Woche wird geheiratet. Sonst bleib ich ewig die ungetraute Braut.» 41
Claudia gluckste: «Da hast du recht, lieber schnell. Männer entdecken oft ihre Freiheit, wenn ihre Mütter erst einmal tot sind.» «Im Ernst?» fragte Eva besorgt und ärgerte sich im selben Moment, daß sie offensichtlich doch nicht so gelassen damit umgehen konnte, wie sie es sich vorgenommen hatte. «Ja, verdammt noch einmal», gestand sie sich heimlich ein, «sie wollte diesen Kerl jetzt endlich heiraten.» Der Grund war fast schon egal. Dinge, um die man kämpfen mußte, erschienen ihr schon immer wertvoller, als diejenigen, die ihr in den Schoß fielen. Außerdem machte sie keine halben Sachen. Was man anfängt, bringt man auch zu Ende. Ihr sportlicher Ehrgeiz war geweckt. Aber das konnte sie Claudia natürlich nicht sagen. Die hätte ihr doch bloß wieder ein Gespräch aufgezwungen über die Gründe, warum ein Zusammenleben ohne Trauschein keine halbe Sache sei. Sarahs Eintreffen erlöste sie aus der Situation. «Mama, Fridolin braucht die Kreissäge! Wo ist die denn?» «Hallo, mein Schatz. Was ist wo?» Erst in diesem Moment bemerkte Sarah, daß Claudia am Tisch saß. Sie hatten ein gutes Verhältnis, nicht nur weil sie Mamas älteste Freundin war. Claudia hatte seit Sarahs Geburt auf sie aufgepaßt, wann immer Eva einen Babysitter gebraucht hatte. Nun war sie zudem Sarahs Klassenlehrerin. «Hallo, Sarah, Fridolin hat übrigens schon eine Kreissäge. Das habe ich gesehen, als ich eben oben war.» Sarahs Lächeln wirkte plötzlich angestrengt. «Du warst...», setzte sie an, und als sie Claudias aufmerksamen Blick bemerkte, «ach nichts. Nur so.» 42
Eva stellte ihrer Tochter nun ebenfalls einen Teller Suppe hin. «Nee, danke. Keinen Hunger.» Sarah schob den Teller weg. «Bist du auf Diät?» erkundigte sich Claudia. «So was hat man in meinem Alter noch nicht nötig», gab Sarah schnippisch zurück. Eine leichte Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie senkte die Augen, sprang vom Stuhl auf und verschwand in ihrem Zimmer. «Hat sie was mit Fridolin?» fragte Claudia ihre Freundin, als sie alleine waren. «Ach was, für Sarah ist der doch uralt!» Zumindest hoffte Eva, daß es so sei. Claudia lächelte hintergründig. Endlich fiel bei Eva der Groschen. Sarah wurde seit einer Weile rot, wenn Fridolins Name fiel. Keine abwegige Vorstellung, ein sechzehnjähriges Mädchen und ein Referendar, der Ende Zwanzig war ... Was Claudia ihr signalisieren wollte war, daß sie erstens ihre Tochter als geschlechtsreifes Wesen betrachten mußte und zweitens, daß sie sich auf eine Portion Liebeskummer vorbereiten konnte. Eva seufzte. Manchmal wußten Klassenlehrerinnen eben doch viel mehr als die Mutter. Auf jeden Fall nahm sie sich vor, diesen Fridolin genauer unter die Lupe zu nehmen. Seltsam, er war ihr eher unscheinbar vorgekommen mit seiner runden Nickelbrille und dem rührend fahrigen Benehmen. «Hör mal zu Kind. Ich hab mir nämlich was überlegt. Also, irgendwann müßt ihr ja nun eure Hochzeit nachholen. Und weil ihr so knapp seid im Moment, hab ich mir überlegt, daß ich das diesmal übernehme.» Mamias Stimme 43
klang außerordentlich selbstzufrieden, als sie das Angebot am Telefon machte. Aber diesen Unterton überhörte Eva im Augenblick. Es war die erste gute Nachricht seit Tagen. «Mama, das ist ja ..., wenn du wüßtest, wie ich mich freue.» «Heute habe ich es festgemacht. Ein altes Gutshaus, und ihr fahrt in offener Kutsche vor. Am 15. Mai kommenden Jahres. Das hat doch Stil, das vergißt man sein Leben lang nicht. Findest du nicht?» Eva war sprachlos. Obwohl sie ihre Mutter weiß Gott gut genug kannte, um sich über ihre Anfälle von Herrschsucht nicht mehr zu wundern: Diese Einmischung ging nun eindeutig zu weit. Fehlte nur noch, daß sie bereits das Orchester gebucht und die Einladungskarten in Druck gegeben hatte. «Mama, ich will doch nicht im Frühjahr heiraten. Ich will jetzt heiraten.» «Ja, das geht nun nicht. Bis dahin haben die nichts frei», ließ sich Mamia pikiert vernehmen. «Jochen hat gerade alles verloren. Mama, er braucht das jetzt! Mich und daß die Kinder endlich wirklich seine sind! Wir heiraten nächste Woche.» «Nächste Woche fahr ich auf Klassenreise.» Das war Toni, der gelangweilt in die Küche geschlendert kam. Eva ließ den Hörer sinken. «Wohin fährst du?» Aber Toni hörte sie nicht mehr. Er war bereits im Flur verschwunden. «Entschuldige, Mama, ich ruf dich später noch mal an.»
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Jochen saß im Arbeitszimmer und starrte die alten Familienfotos von seiner Mutter Paula an, die er vor sich ausgebreitet hatte. Toni zupfte ihn am Ärmel. «Papa? Krieg ich eigentlich auch deinen Namen, wenn ich bei eurer Hochzeit nicht dabei bin?» «Wieso solltest du nicht dabei sein?». «Na, weil ich doch nächste Woche auf Klassenreise bin. Dann heiratet ihr ohne mich und ich bleibe 'ne Blume.» Diese Kinderlogik hatte etwas für sich. Aber Jochen war zu verblüfft, um auf die drollige Argumentation einzugehen. «Blume, Janssen, Flügel ... Wir heiraten jetzt nicht!» sagte er scharf. «Mama sagt aber nächste Woche! Was für ein Flügel?» Statt einer Antwort schob Jochen seinen Stuhl mit einem Ruck vom Schreibtisch weg und marschierte in die Küche. Eva kühlte Hannah die Stirn mit einem Waschlappen. Die Kleine hatte sich eine Beule geholt. «Toni sagt, wir heiraten nächste Woche?» Jochens verletzter Tonfall hätte Eva warnen können, aber wenn sie mit dem Kind beschäftigt war, hatte sie kein Ohr fur seine Empfindlichkeiten. Deswegen sah sie gar nicht erst auf und ließ beiläufig fallen: «Stimmt. Ich hätte es dir noch gesagt.» «Danke. Aber ich werde nächste Woche nicht heiraten. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.» Diesmal schaute Eva hoch: «Du warst im Schock.» «Ich bin im Schock!» brüllte Jochen. 45
Erschrocken trollte sich Hannah zu ihrem Bruder Toni und tastete nach seiner Hand. Eva holte tief Luft und antwortete beherrscht. «Aber gerade deswegen doch! Gerade jetzt solltest du doch wissen, daß wir alle zusammenhalten.» «Ich kann aber jetzt nicht heiraten», beharrte Jochen schon beherrschter, aber um keinen Deut weniger störrisch. «Du kannst nicht? Soll ich dir mal was sagen, was ich die ganze Zeit schon denke?» erregte sich Eva. «Nein.» «Daß du überhaupt nie wirklich heiraten wolltest.» So, nun war es raus. Sollte er doch machen, was er wollte, fluchte Eva innerlich. Sie fühlte sich einfach ungerecht behandelt. Schließlich war sie es, die stillschweigend ihre Vorbehalte gegen die Ehe niedergekämpft und zudem noch sämtliche skeptischen Stimmen in die Schranken gewiesen hatte. «Das ist doch lächerlich! Jahrzehntelang habe ich vor dir auf Knien gelegen», beschwerte sich Jochen. «Weil Paula es immer wollte, wegen der Kinder! Nicht für mich! Für sie hast du es getan! Wegen der tausend Mark im Monat!» Das war ungerecht, und seltsamerweise wußte es Eva in dem Moment, als sie diese Boshaftigkeit ausstieß. Aber sie war zornig. Tränen standen ihr in den Augen. Jochen revanchierte sich postwendend. «Tausend Mark im Monat reichen mir nicht, um eine Verrückte zu heiraten!» «Dann lassen wir es eben.» Nach Evas schlichtem Satz herrschte für einen Moment Stille. Sarah hatte sich zu ihren Geschwistern in 46
den Flur gestellt. Alle drei verfolgten die Szene mit angehaltenem Atem. Es kam selten vor, daß die Fetzen derart flogen. Jochen musterte die Kinder mit einem bitteren Blick, dann brach es aus ihm heraus: Das, was ihn die ganze Zeit beschäftigt hatte, was ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, seit er Paulas Liebesbriefe gefunden hatte. «Nicht Heiraten? Sehr einverstanden. Was bedeutet das schon?! Leg du mir erst einmal einen Beweis vor, daß alle drei Kinder von mir sind.» Eva verschlug es die Sprache. Natürlich waren die drei Kinder von ihm. Man brauchte sie ja nur anzuschauen. Toni mit seinem spitzbübischen Gesicht, eine Miniausgabe seines Vaters, Sarah, die Älteste, die unverkennbar Jochens Augenpartie und Sommersprossen geerbt hatte, und Hannah, die seinen weichen Mund mitbekommen hatte. Geradezu gemein, wie sehr die Kinder nach ihrem Erzeuger geraten waren. Eva hatte einmal gelesen, daß so etwas ein spätes Relikt aus der Urzeit sein könnte: Die Kinder ähnelten in bestimmten Merkmalen auffallend ihrem Vater, so die Theorie, weil dann augenscheinliche Gewißheit über die biologische Herkunft bestand. Wichtig in Zeiten, in denen die Ernährer sichergehen wollten, daß sie mit dem mühsam erlegten Mammutfleisch nicht fremden Nachwuchs fütterten. Nicht weniger primitiv führte sich Jochen jetzt auf, fand Eva, obwohl er doch sehen mußte, wie sehr ihm seine Sprößlinge ähnelten. Krachend fiel die Haustür ins Schloß, und Jochen war verschwunden. Eva konnte sich aber denken, wo er landen würde. Schließlich war Brittas Mann Thomas noch nicht nach Dresden zurückgefahren. Vermutlich würden sich die beiden in der «Glocke» treffen, der Eckkneipe in ihrer 47
Straße und sich gegenseitig ihre Wunden lecken. Da es zwischen Britta und Thomas nicht zum besten stand, würde Thomas sicher Jochens Partei ergreifen. Männersolidarität. Zum Glück hatte Eva ihre Freundinnen. Am nächsten Tag herrschte offizieller Kriegszustand. Jochen war erst nachts um halb drei nach Hause gekommen. Er hatte sich sein Bettzeug geschnappt und war auf die Couch im Wohnzimmer umgezogen, ohne auf Evas Schlichtungsversuche einzugehen. Also hatte auch sie am Morgen auf stur geschaltet. So lange sich die Kinder in der Küche aufhielten, täuschten sie Harmonie vor. Nachdem Hannah zum Spielen in ihr Zimmer gegangen war, und Sarah und Toni sich auf den Weg zur Schule gemacht hatten, herrschte bleiernes Schweigen. Eva spülte das Frühstücksbesteck ab. Jochen kaute verkatert an seiner Kaffeetasse. Dann warf er sich seinen Mantel über. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Mit mürrischem Gesicht riß er sie auf und prallte taub und blind vor Ärger fast in einen riesigen Blumenstrauß, der ihm ins Gesicht gestreckt wurde. «Hallo, ihr zwei», meldeten sich Britta und Claudias fröhliche Stimmen. «Ich bin spät dran», murmelte Jochen entschuldigend und wollte sich an ihnen vorbeidrücken. «Nur einen Augenblick. Es ist wichtig. Auch ich komme zu spät», sagte Britta und schob ihn sanft in den Flur zurück. Neugierig hatte sich Eva in der Küchentür postiert und sah mit verschränkten Armen und unverhohlener Schadenfreude zu, wie Jochen zappelte. Was er partout 48
nicht ertragen konnte, war, wenn man ihn in die Enge trieb. Er ähnelte einem scheuen Pferd, das seinem Fluchtinstinkt folgen wollte, aber keinen Ausweg fand. «Na, dann ... aber faßt euch kurz, bitte», sagte er resigniert, aber nicht sehr höflich. Eva kam näher. Innerlich mußte sie schmunzeln. Das war ein Heimspiel, und ihre Mannschaft hatte den Gegner eingekreist. Auf ihre Freundinnen war Verlaß. Claudia strahlte Jochen unschuldig an. «Wir sind nur schnell vorbeigekommen, um euch zu sagen, daß wir nächste Woche zu eurer Hochzeit kommen.» Jochen schnappte nach Luft: «Ich muß jetzt wirklich los.» Claudia und Britta machten aber nicht die geringsten Anstalten, den Weg freizugeben. «Wenn's eng wird, verkrümelst du dich immer», kommentierte Eva seinen hilflosen Fluchtversuch. «Aber du kannst es ihnen viel besser erklären. Du hast doch alles geschmissen gestern», sagte er. Als würde er kapitulieren, stellte Jochen seine Aktentasche auf den Boden. «Ich soll alles geschmissen haben?!» empörte sich Eva, «wie Sauerbier habe ich mich angeboten! Du hast mich abblitzen lassen! Vor den Kindern!» «Du hast mir mißtraut, mir die unglaublichsten Vorwürfe gemacht», konterte Jochen. «Ehrlich? Welche?» mischte sich Claudia ein. Es klang aufrichtig interessiert und nicht die Spur vorwurfsvoll. Aber Jochen bockte, aus Prinzip oder weil ihm tatsächlich nichts einfiel, «Ich will's nicht wiederholen», erwiderte er einge49
schnappt. Aber Eva ließ nicht locker. «Ach! Warum denn nicht?» «Weil's zu peinlich für dich wäre.» Offensichtlich fiel ihm wirklich nichts mehr ein. Wahrscheinlich hatten sich die Einzelheiten ihres Streits in seinen konfusen und bierseligen Reden mit Thomas verflüchtigt. Vermutlich hatte er nur noch das dumpfe Gefühl, daß er zu Recht beleidigt sein durfte. Triumphierend wandte sich Eva an ihre Freundinnen. «Da seht ihr. Es stimmt.» Diese konnten allerdings nicht mehr folgen. «Was denn?» fragte Britta verwirrt. «Na, daß seine Mutter mich heiraten wollte», begann Eva und bemerkte sogleich, daß ihr Versprecher der beste Beweis dafür war, daß auch ihr die Ursache der Auseinandersetzung abhanden gekommen war, «äh ... die Kinder verehelichen ... ihr versteht schon. Da muß man doch ausnippen», schloß sie in hilfloser Wut. Claudia kniff ein Auge zusammen, dann entschied sie, daß es an der Zeit war, das Spiel zu beenden: «Küßt euch jetzt!» Jochen schmollte. «Ich bin doch nicht im Turnverein.» «Ist euch eigentlich klar, daß ihr heiraten müßt?» fragte Claudia, «ihr habt drei Kinder zu legalisieren!» Britta assistierte: «Ihr müßt das jetzt durchziehen, sonst ruiniert ihr eure Ehe, ob wild oder nicht wild.» «Britta wärmt Würstchen auf, und ich mache Kartoffelsalat. Keine Kosten für euch», versprach Claudia. Britta drückte Jochen den Blumenstrauß in die Hand: «Genau! Hochzeit zum Nulltarif! Los jetzt! Küßt euch endlich!» Gehorsam nahm Jochen die Blumen und reichte sie an Eva weiter, wie ein kleiner Junge auf dem Familienge50
burtstag. Dann spitzte er ironisch die Lippen zum Kuß. Eva wendete sich ab. Jochen frohlockte fast. «Da seht ihr. Es hat keinen Sinn.» «Euer Streiten aber auch nicht», stellte Britta sachlich fest. Claudia fing an zu glucksen. «Jetzt küßt euch schon, das hilft, oder habt ihr das vergessen?» Beflissen schauten Eva und Jochen aneinander vorbei und küßten sich so förmlich wie auf einem Staatsempfang. «Ist doch bescheuert», meinte Eva. Jochen grinste und zog seinen Mantel aus. Er ergriff ihre beiden Hände. Eva konnte nicht anders. Ihre Wut schmolz dahin. Sie schämte sich für die alberne Aufführung, die sie sich geleistet hatten. Nicht weil es vor ihren Freundinnen geschehen war, dazu waren sie da und viel zu vertraut. Sie war ihnen dankbar, daß sie die Initiative ergriffen und die Dinge wieder ins Lot gebracht hatten. Aber die simple Erkenntnis, daß man auch mit sechsunddreißig noch wie ein ausgewachsener Kindskopf durchs Leben tappte, Pläne schmiedete, sie aus nichtigem Anlaß wieder über den Haufen warf, kurz: Daß sie beide ungefähr so erwachsen waren wie die Kinder, die sie in die Welt gesetzt hatten, das war ein echter Grund zum Heulen. So war es nicht verwunderlich, daß ihr Tränen in den Augen standen, während sie Jochen anlächelte. Jochen zog sie an sich und umarmte sie versöhnlich. Claudia und Britta blickten sich kurz an, ein wenig verdutzt über die durchschlagende Wirkung ihres Rettungseinsatzes. Dann stahlen sie sich leise aus der Wohnung.
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3. Eva handelte dem mürrischen Standesbeamten einen neuen Termin fur die Trauung ab: Dienstag der kommenden Woche, am 27. September, um vierzehn Uhr. Als er nach längerem Hin und Her das Datum mit einem altmodischen Füllfederhalter endlich in seinen Kalender eintrug, dankte sie ihm überschwenglich. Eigentlich war es absurd, aber durch die Schwierigkeiten, die dieser Mann ihr bereitet hatte, hatte sie nun das Gefühl, etwas sehr Kostbares erhalten zu haben. Dieses Gefühl hielt exakt bis zu dem Augenblick an, an dem sie Jochen das Datum nannte. Sie saßen mit Hannah und Toni zwischen den Bootssitzen in einem kleinen Kanu, das sie am Goldbeckufer ausgeliehen hatten. Gemächlich schaukelnd folgten sie dem Lauf des Kanal in Richtung Außenalster, Hamburgs großem Stadtsee. Nach ihrem Streit hatte dieser Ausflug den Charakter einer Familienversöhnung. Als sie Jochen den Termin nannte, vergaß er jedoch vor Schreck zu paddeln. «Dienstag mittag um eins ist Oma Paulas Beerdigung.» «Schön, daß ich das auch mal erfahre. Das geht nicht. Ich laß mir nicht schon wieder von deiner Mutter die Hochzeit verderben.» Abrupt drehte sich Jochen zu ihr um, so daß das Boot zu schaukeln begann. «Meine Mutter ist tot!»
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Dann wandte er sich wieder nach vorne und trieb das Boot mit heftigen Paddelschlägen an. Eva schwieg eine Weile. Dann sagte sie kleinlaut: «Tut mir leid. Aber was machen wir denn jetzt?» «Um wieviel Uhr ist die Hochzeit?» meldete sich Toni zu Wort. Eva seufzte. «Um zwei.» «Aha. Und die Beerdigung von Oma Paula ist um eins. Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Das schaffen wir doch lässig beides! Und ich kann den nächsten Tag mit auf Klassenreise gehen.» Diesmal drehte sich Jochen behutsam um. Gedankenverloren blickte er erst seinen Sohn, dann Eva an. Schließlich grinste er: «Warum eigentlich nicht?!» «Und so findet unsere liebe Paula Janssen ihre letzte Ruhestätte hier, neben ihrem geliebten Mann, den sie ein Leben lang in Liebe und Treue begleitet hat. Erde zu Erde, Staub zu Staub.» Bei den letzten Worten des Pastors beobachtete Eva Jochen aus den Augenwinkeln. Er ließ sich jedoch nichts anmerken. Er hatte Frieden mit seiner Mutter gemacht. Sie standen ganz vorne am Grab, mit den Schuhen in der gelbbraunen Erde, die vom leichten Nieselregen aufgeweicht war. Der Pastor warf Erde auf den Sarg und reichte Jochen die Handschaufel. Jochen tat es ihm nach und ließ anschließend einen großen Strauß weißer Rosen in die Grube hinabfallen. Eva trat mit Hannah hinzu und half ihr mit der Schaufel. Die Kleine griff danach wie nach einem Sandkastenspielzeug, machte aber gleichzeitig ein bekümmertes und verständnisloses Gesicht. Wie seltsam muß ihr das alles vorkommen, dachte Eva, als sie Hannah die Hand führte und die Erde 53
mit einem dumpfen Klatschen auf dem Holz landete. Nicht einmal wir Großen verstehen das. Ein ganzes langes Leben endet damit, daß wir mit kleinen Schaufeln eine Handvoll Erde auf die Toten werfen, sie schmutzig machen, im Dreck einbuddeln. Du sollst nicht mit Sand schmeißen, hatte sie wie alle Mütter auf der Welt ihren Kindern beigebracht. Jetzt warf die fünfjährige Hannah mit einer Mischung aus kindlicher Faszination und abgrundtiefer Traurigkeit Erde auf Omas Grab. «Wo ist der Schmetterling?» fragte sie Eva leise. Sie meinte die Schmetterlinge, die Oma Paula ihr in ihrem Garten so oft gezeigt hatte. Dabei hatte sie ihrer Enkelin erklärt, daß man sich in einen Schmetterling verwandelt, wenn man tot ist, daß sie, Oma Paula, immer bei ihnen sein würde, wenn auch in anderer Gestalt. Eva hatte keine Antwort. Eine Träne stahl sich aus ihren Augenwinkeln. Sie nahm die Schaufel und warf noch eine Hand voll Erde auf den Sarg. «Tschüs, liebe Paula.» «Tschüs, Oma Paula», echote Hannah. Sie gingen auf die gegenüberliegende Straßenseite in ein Lokal, das sich auf Begräbnisfeierlichkeiten eingerichtet hatte. Normale Kundschaft würde sich in diese kargen Räume, mit durchgehender Verglasung an der Frontseite und Blick auf die Grabsteine gewiß nicht verirren. Der rote, unverputzte Klinker an den Wänden und die großen Bodenvasen mit Herbstblumen verstärkten die Friedhofsatmosphäre. Die Einrichtung übernahm sozusagen die Trauerarbeit und erleichterte es den Gästen, sich in eine angenehme Entspannung hinein zu trinken. 54
Es waren einige ältere Kondolenzbesucher dabei, gleichaltrige Bekannte von Paula, die den Schreck und die wacklige Sicherheit, noch einmal davongekommen zu sein, bei einem Schnaps verdauten. Jochen gesellte sich zu ihnen an die Bar. «Sagt mal, erinnert ihr euch zufällig noch an einen gewissen Hilmar Flügel», fragte er den grauhaarigen Behrensen, einen alten Freund der Familie. «War das nicht der, der dann irgendwann nach Amerika gegangen ist?» «Ja, ich erinnere mich», setzte sein Nachbar hinzu, «guter Freund deiner Eltern, damals. Wenn du mich fragst, das war so ein Schwerenöter, so ein ganz charmanter. Den mochten die Frauen gern.» «Ist aber auch schon tot nun», übernahm Behrensen das Gespräch wieder. Er und sein Sitznachbar kippten einen weiteren Korn und vertieften sich in das morbide Gesprächsthema, wer aus ihrem Bekanntenkreis bereits gestorben war. Jochens Aufmerksamkeit erlahmte. Aus ihnen waren keine Einzelheiten über den ehemaligen Liebhaber seiner Mutter herauszuholen. Eva machte ihm Zeichen, daß es Zeit sei aufzubrechen. Mit höflichen Ausreden verabschiedeten sie sich von Paulas engsten Freunden und verschwanden unauffällig. Für einen Trauungstermin sechzig Minuten nach der Beerdigung hätte sicher keiner Verständnis aufgebracht. Kaum waren sie um die Ecke gebogen, rasten sie zu ihrem klapprigen alten Volvo. In weiser Voraussicht hatten sie das Auto außer Sichtweite geparkt. Sarah zerrte die Tüte mit ihrem enganliegenden bunten Kleid hinter 55
dem Rücksitz hervor und schlüpfte hinein. Eva hatte sich entschieden, ihr elegantes schwarzes Kleid anzubehalten. Sie tauschte lediglich die blickdichten dunklen Strümpfe gegen ein paar aufregende Nylons mit durchbrochenem Muster aus. Jochen warf den Wagen an und gab Gas. Für die Strecke vom Stellinger Friedhof bis zum Standesamt in der Grindelallee brauchte man selbst bei fließendem Verkehr gut zwanzig Minuten. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhren sie die Hoheluftchaussee stadteinwärts, während sie die letzten Veränderungen an ihrer Kleidung vornahmen. Ein zufälliger Beobachter hätte sie für eine Bande von Bankräubern halten können, die im Fluchtwagen ihre Verkleidung wechselte. Die Radarfalle Ecke Eppendorfer Weg zeigte sie später jedoch als das, was sie waren: Eine aufgeregte fünfköpfige Familie, in der jedes Mitglied in dem Sekundenbruchteil, in dem das Foto entstand, mit seltsam verzerrten Zügen an seiner Kleidung herumfummelte. Es war, wenn man so will, das erste offizielle Hochzeitsfoto des Tages. Zwei Minuten vor zwei parkte Jochen den Volvo mit quietschenden Reifen im Halteverbot vorm Standesamt. «Sie haben es geschafft.» Mamia hatte sich vor den Eingang postiert und atmete sichtlich auf. Sie trug ein marineblaues Kostüm zu einem farblich abgestimmten Schiffchen mit Schleier. An Paulas Beerdigung hatte sie nicht teilgenommen, weil es ihr nicht möglich gewesen wäre, sich in so kurzer Zeit umzuziehen. Das hatte sie natürlich nicht gesagt, sondern sich ihrer Meinung nach taktvoll herausgeredet, daß sie in so kurzer Zeit unmöglich von 56
Trauer auf Freude umschalten könnte. Machte sie das weniger liebenswert? Nein, entschied Eva, denn wer eine derartige Erklärung ablieferte, dem mußte zumindest die Phantasie und die Mühe angerechnet werden. Sie nahm ihre Mutter in die Arme. «Los jetzt, schnell», trieb Britta sie an. «Ich muß mal», quengelte Hannah und zog an ihrer kneifenden Strumpfhose. Eva schnappte sich ihre Tochter und hielt sie hinters Gebüsch. Während sich Hannah erleichterte, flog ein Falter auf. «Der Schmetterling!» rief das Mädchen. «Siehst du, Oma Paula kommt auch zu unserer Hochzeit.» Hannah nickte eifrig. Eva lächelte, als sie das glückliche Gesicht ihres Kindes sah. Dann liefen sie zu den anderen und standen um Punkt zwei im Trauzimmer. Als hätte das Schicksal diesmal ein Einsehen, erwartete sie dort nicht der bekannte miesgelaunte Standesbeamte, sondern eine junge Kollegin, der ihre Aufgabe noch sichtlich Spaß machte. Der offizielle Teil der Eheschließung war in weniger als zehn Minuten vollzogen. Er beschränkte sich auf eine relativ unspektakuläre gegenseitige Bestätigung, daß man das weitere Leben miteinander verbringen wolle und schloß eine kurze Belehrung über die rechtlichen Folgen mit ein. Aber die junge Beamtin nahm sich darüber hinaus noch ein paar Minuten Zeit fur ein persönliches Gespräch. Sie musterte die drei Kinder, die sich mit ihren Blumensträußen in der Hand hinter ihren Eltern aufgereiht hatten. «Und», fragte die Standesbeamtin schelmisch zwinkernd, «seid ihr denn auch einverstanden?» 57
«Ja», schrie Hannah begeistert. «Sehr», sagte Sarah und seufzte erleichtert. Offensichtlich war sie froh, daß sich die Streitereien der vergangenen Tage endlich in Wohlgefallen aufgelöst hatten. Es hatte ihr vermutlich mehr zugesetzt, als sie es nach außen hin gezeigt hatte. Nur Toni mimte den Coolen und beantwortete die Frage mit einem lässigen: «Na klar.» Das war der Höhepunkt an Gefühlsduseligkeit, die sich der Achtjährige zugestand. Aber Eva wußte, wie es in seinem Kinderherz aussah. Schließlich war es Toni gewesen, der beim Kanuausflug mit seinem praktischen Vorschlag das ganze Unternehmen gerettet hatte. Und wenn es nur deswegen war, weil er nicht mehr Blume mit Nachnamen heißen wollte, damit die Hänseleien auf dem Pausenhof aufhörten. Janssen war da schon etwas anderes. So hießen Schiffskapitäne oder Fußballer beim F C Bergedorf. Janssen, so hieß jetzt auch Eva. Sie hätte ihren Geburtsnamen behalten können. Aber aus einer sentimentalen Anwandlung heraus wollte sie sich auch namentlich zu Jochen bekennen. Wenn man sich einmal zu einem traditionellen Schritt wie der Ehe entschlossen hatte, dann richtig, fand sie, obwohl sie damit natürlich Claudias Widerspruch herausgefordert hatte. Als sie vor die Tür des Standesamtes traten, wartete eine Überraschung auf sie: Eine offene, weiße Hochzeitskutsche mit zwei Schimmeln bespannt. Mamia lächelte zufrieden. Die ganz große Show mit Dinner im Landhaus 58
war ihr zwar nicht vergönnt gewesen, aber die Kutschfahrt hatte sie sich nicht nehmen lassen. Ein bißchen beeindrucken wollte sie die Hochzeitsgäste schon, immerhin waren ja auch Jochens Arztkollegen zugegen, die nun Champagnerflaschen köpften und Konfetti warfen. Eva starrte auf die blumengeschmückte Karosse und war sprachlos. «Ja, Kinder, wenn schon, denn schon», verkündete Mamia stolz. In diesem Moment stimmte ein bunter Pulk von Straßenmusikern ein ohrenbetäubendes Lied an. Das war Brittas und Claudias Einfall gewesen. Sie hatten die Mitglieder der Gruppe Los Andes, Dauergäste auf dem Isemarkt, zum Standesamt bestellt. Weil Eva mit den Kindern immer vor der Musikantengruppe stehengeblieben war, wenn sie ihre Markteinkäufe erledigt hatte, wußten sie, daß ihre Freundin die Musik mochte. Und so bescherten sie ihr nun das Vergnügen, die getragenen Takte des Hochzeitsmarsches in einer Fassung zu hören, die so bizarr klang, wie die Namen der verwendeten Instrumente: Bombo, eine große mit Ziegenfell bespannte Trommel, C'Hullu-C’Hullu, ein Rasselinstrument aus Ziegenhufen, Chagarango, eine Art indianische Mandoline aus dem Hornpanzer eines Gürteltiers, sowie Kena und Siku, Flöten aus Bambus und Schilf. Die kleinen ponchogewandten Musiker lächelten unerschütterlich; die Gäste lauschten mit amüsierter Andächtigkeit; die Pferde spitzten die Ohren und scharrten nervös mit den Hufen. Schließlich beschleunigte sich der Rhythmus, und die Musik wechselte zu dem wilden Stück Que Siga La Fiesta. Mit lateinamerikanischer Fröhlichkeit setzte sich der Zug in Marsch, mit Eva, Jochen, Mamia und den Kindern in der Kutsche und dahinter der Troß von Freun59
den und Bekannten, die bereits anfingen zu steppen. Mamia hatte sicherlich etwas anderes vorgeschwebt, als sie von einer unvergeßlichen Hochzeit schwärmte, aber für Eva war es unterm Strich der gelungenste Stilmix, den sie sich vorstellen konnte. Kartoffelsalat und Würstchen zu Hause paßten einfach wunderbar zu dem Crescendo. Ihre Hochzeit lag zwei Monate zurück. Der Herbst war vorbei, und auf dem Isemarkt hatten die Verkäufer bereits ihre Heizlüfter und Glutöfen an den Ständen angeworfen. Eva kaufte eine Kiste Orangen und einen Adventskranz. Nachdem sie zurückgekehrt war, stellte sie die Tüten in der Küche ab und sah nach Jochen. Er saß an seinem Schreibtisch und blätterte in Papieren. Eva schlich sich von hinten an ihn heran und umarmte ihn mit ihren froststeifen Händen. «Haben wir es nicht gut», flüsterte sie ihm ins Ohr und rieb sich an ihm wie eine Katze. Jochen wirkte jedoch abwesend. Er zog sie nicht auf seinen Schoß und versteifte unwillkürlich seinen Rücken. Eva knabberte an seinem Ohrläppchen. «Die anderen hetzen dem Geld hinterher, und dabei verpassen sie das Schönste.» Wieder keine Reaktion. Offensichtlich war Jochen heute schwer von Begriff. Also hauchte sie ihm ins Ohr: «Am hellichten Tag! Nachts ist es nicht halb so schön! Komm.» Dabei versuchte sie ihn aus dem Stuhl zu ziehen. «Moment mal», murmelte er, blieb aber ungerührt sitzen. «Auf dem Drehstuhl?» Eva kicherte, «also, ich weiß ja nicht...» 60
Sie küßte ihn zärtlich auf den Nacken. «Hör mal... Eva ... bitte, laß doch mal.» «Was ist los?» «Wir sind pleite.» Jochen sagte es leise und bestimmt. Aber das hatte Eva schon öfter gehört, und sie hatte sich gefreut, daß sie beide ungestört waren, bis Hannah aus dem Kindergarten abgeholt werden mußte. Sie streichelte seinen Haaransatz und biß ihn sanft in den Nakken. Jetzt drehte sich Jochen auf dem Stuhl um und suchte ihren Blick. «Wir kriegen kein Geld mehr. Der Automat hat meine Scheckkarte gefressen. Ende der Fahnenstange!» Eva wurde klar, daß Jochen es ernst meinte. Es waren zwar nur noch drei Tage bis zum Ersten, aber einige Ausgaben standen noch an. Und Sarah mußte gleich Anfang Dezember dreihundert Mark für ihre Klassenfahrt in der Schule abliefern. «Das gibt's doch nicht, es geht doch immer irgendwie weiter.» Jochen hob die Hände und ließ sie kraftlos herunterfallen. «Ja, so lange Paula uns immer mit ihren Finanzspritzen geholfen hat! Aber seit ihrem Tod haben wir jeden Monat einen Tausender weniger, die Beerdigung, unsere Hochzeit... wir sind in den roten Zahlen versackt.» «Dann muß eben mehr Geld reinkommen. Daß wir mit viertausendfünfhundert Mark brutto nicht auskommen, ist doch klar.» «Das sehe ich auch so», stimmte Jochen zu. «Ja und? Was willst du machen?» Evas Frage war ohne Hintergedanken gestellt, aber Jochens Reaktion war nicht eben freundlich: «Wieso ich?» 61
«Was soll das heißen?» antwortete Eva. Jochen runzelte die Stirn. Schärfer als nötig konterte er: «Ich erinnere mich nicht, daß wir jemals beschlossen haben, daß ich die Familie zeitlebens allein versorgen muß.» «Alleine? Und was tue ich, deiner Meinung nach?» Das hat man nun davon, dachte Eva, kaum ist man verheiratet, kehrt er den armen, überlasteten Familienvater heraus. Dabei hatten sie sich nun einmal für die klassische Rollenverteilung entschieden. Das war ja auch ein Entgegenkommen ihrerseits gewesen: Sie hatte ihre zaghaften Schritte im Journalismus abgebrochen, war nur noch Hausfrau und Mutter. Offensichtlich hatte er verdrängt, daß das auch Arbeit war, und es war an der Zeit, ihn daran zu erinnern: «Ich versorge die Familie! Und das ist ein Fulltimejob! Tag und Nacht.» «Das weiß ich. Aber die Kinder sind größer geworden.» «Hannah ist erst drei», erinnerte ihn Eva. «Hannah ist im Kindergarten. Tausend Mark im Monat kannst du doch auch dazuverdienen.» «Du meinst also, nachdem ich zehn Jahre raus aus dem Beruf bin, soll ich jetzt kurzerhand den Karren aus dem Dreck ziehen? Mamia hat schon vor Jahren gesagt, du sollst deine eigene Praxis machen. Dann hätten wir jetzt genug Geld.» Vielleicht waren die Vorwürfe, die sie ihm an den Kopf warf, ungerecht. Aber sie war schlichtweg verärgert über die Art und Weise, wie er sie in die Pflicht nehmen wollte: Scheckkarte eingezogen - Zack -, du bist dran. Sie hätte sich gewünscht, er hätte ihr die Situation etwas früher nahegebracht, nicht erst jetzt, nachdem das Kind 62
in den Brunnen gefallen war. Das mit der eigenen Praxis war natürlich nicht so einfach. Insofern war ihr Einwand ein gefundenes Fressen fur Jochen. «Blödsinn», schimpfte er. «Mamia hat doch keine Ahnung, was es heutzutage heißt, sich niederzulassen! Außerdem laß ich mir von deiner Mutter nicht meinen Beruf vorschreiben.» «Aber ich soll mir von dir vorschreiben lassen, was ich zu tun habe?! Und was ist mit dem Notdienst? Da hättest du tausend Mark pro Nacht verdienen können.» «Ja, hätte, aber vor einem Jahr stimmte unsere Kasse noch! Es gab keinen Grund für mich, die Nächte woanders zu verbringen! Du hast am lautesten dagegen gewettert.» Jochen hatte recht. Sie hatte nicht gewollt, daß er nach einer vollen Arbeitswoche auch noch Freitag oder Samstag nacht in die Klinik verschwand. Das Wochenende sollte der Familie gehören, tagsüber den Kindern und nachts ihnen beiden. Jochen zog sich den Mantel über. «Wo willst du hin?» «In die Klinik.» «Aber wie geht es denn jetzt weiter», fragte Eva kleinlaut. Sie haßte es, wenn sie sich stritten und keine Versöhnung herbeiführen konnten. Jochen wiederum schien es in letzter Zeit geradezu zu lieben, eine Katastrophenstimmung zu verbreiten und sich dann wortlos abzusetzen. An der Tür besann er sich und drehte sich noch einmal um. Mit etwas ruhigerer Stimme sagte er: «Ich muß morgen einen anständigen Vortrag halten, damit die Typen meinen Forschungsauftrag verlängern! Wie es bei dir weitergeht, mußt du entscheiden.»
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Entgeistert starrte ihm Eva nach. Das klang so gar nicht nach dem verbissenen Kämpfer, der sich nicht unterkriegen ließ. Es klang im Gegenteil sehr frustriert. Und was sollte das heißen, «damit sie meinen Forschungsauftrag verlängern»? Drohte ihm jetzt auch noch Arbeitslosigkeit? Bevor sie sich über die Tragweite des Gesagten im klaren wurde, hatte Jochen die Wohnung verlassen. Eva schleppte sich mit einem schweren Vogelhäuschen ab. Mit Claudia und Britta hatte sie beschlossen, in diesem Winter Futter auszulegen. Die Idee hatte ihr ursprünglich gefallen. Aber inzwischen stiftete Oma Paulas Kanarienvogel jede Menge Unruhe zu Hause und machte Dreck. Toni und Hannah wollten nicht einsehen, daß es kein Streicheltier war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit nahmen sie ihn aus dem Käfig heraus, setzten ihn auf die Lego-Bahn oder unter die Bettdecke, wobei er panisch kreischte. Das Ende vom Lied: Flaum und Vogelkot übers gesamte Kinderzimmer verteilt und ein völlig neurotisches Federbündel, das bei der geringsten Annäherung aus Leibeskräften lospiepte. Es war nicht Evas Art zu jammern, aber der vergebliche Protest des Tieres gegen die Anschläge auf sein Leben schien ihr plötzlich ein Sinnbild für ihre eigene verfahrene Situation zu sein. Es ließ sich nicht beschönigen: Seit sie mit Jochen verheiratet war, nahmen ihre Auseinandersetzungen zu - an Heftigkeit wie an Häufigkeit. Sie stritten sich und trennten sich praktisch unentschieden. Anschließend waren sie froh, wenn es Erholungspausen gab, in denen die Ursache zwar nicht aus der Welt geschafft war, aber mit 64
Rücksicht auf die gegenseitige Erschöpfung Waffenstillstand herrschte. Jochen schien sich als Märtyrer zu fühlen, der unter Preisgabe jeglicher Lebensfreude und bis zum physischen Zusammenbruch das Geld für die Familie heranschaffte. Und am Ende reichte es doch wieder nicht. «Oh, Gott verdammt», fluchte sie ungehalten, als ihr das Standbein des Vogelhauses im Gehen gegen ihr Schienbein schlug. Sie war nur noch ein paar Schritte von der Gartenlaube entfernt. Aber in diesem Moment hätte sie das sperrige Ding am liebsten in die Hecke geworfen. Achtzig Mark hatte es gekostet. Eva hatte es gekauft, bevor ihr Jochen erzählt hatte, daß das gemeinsame Konto heillos überzogen war. Jetzt ärgerte sie sich darüber, daß sie die entbehrliche Ausgabe gemacht hatte. Es war entwürdigend, sich kleinlich aufzuführen. Aber sie mußte Claudia und Britta bitten, sich an dem Kauf zu beteiligen. Nein, das ging nicht. Sie hatten dafür ja andere Anschaffungen für ihre Fluchtburg, ihr gemeinsames kleines Gartenhaus bezahlt. Sie würde sich lieber die Zunge abbeißen, als Geld von ihren besten Freundinnen zu verlangen. Die beiden beugten sich gerade über das Salatbeet und sammelten die reifen Köpfe in einen Korb. Britta blickte als erste auf und sah, wie Eva sich mit dem Vogelhaus abmühte. «Gut, daß du daran gedacht hast», sagte sie strahlend und half ihr die Last abzustellen. 65
«Ich denke doch immer an alles, noch nicht gemerkt?» gab Eva spitz zurück. Es tat ihr leid, aber es war ihr nun einmal herausgerutscht. Eigentlich galt die Bemerkung nicht Britta, sondern noch Jochen, mit dem sie im Geist ein Gespräch führte. Claudia stutzte, dann entschloß sie sich, Eva mit einer freundlichen Geste aufzuheitern. Sie reichte ihr den Korb. «Hier, der letzte Salat! Davon kannst du deine Familie für ein paar Wochen ernähren.» Eva schluckte. Claudia hatte, wenn auch ungewollt, auf Anhieb die wunde Stelle getroffen. «Das werde ich auch müssen. Danke», erwiderte sie sarkastisch. Claudia und Britta warfen sich einen erstaunten Blick zu. Bevor der Ärger sie erstickte, griff Eva zum Spaten. «Wo soll das Ding denn aufgestellt werden? Ich hab nicht viel Zeit.» «Da vorne», sagte Claudia, ohne auf ihren gereizten Tonfall einzugehen. Eva setzte den Spaten an der bezeichneten Stelle in den Boden und trat das Stahlblatt wütend in die Erde. Nach drei weiteren kräftigen Fußstößen hielt sie inne und drehte sich zu ihren Freundinnen um. Die standen mit verwundertem Ausdruck noch genauso da, wie sie sie verlassen hatte. «Kann mir mal einer helfen hier?!» fuhr Eva sie an. «Mann, ist die drauf», murmelte Claudia. «Mach du die heiße Schokolade. Ich geh an die Front.» Britta schulterte ihren kleinen Klappspaten und gesellte sich zu Eva. Schweigend hob sie das Loch mit aus, bis es groß genug war, um das Standbein des Vogelhäuschens zu versenken. Als Eva die stumme Verrichtung nicht mehr er66
trug, platzte es aus ihr heraus: «Er will mich zwingen zu arbeiten.» Britta stützte ihren Arm auf die Schaufel und schaute sie fragend an. «Als ob ich nicht schon genug um die Ohren hätte. Jetzt soll ich auch noch das Geld verdienen», beschwerte sich Eva. «Das ist doch eine gute Idee! Du wirst es genießen, sage ich dir.» «Was gibt's denn da zu genießen.» Etwas mehr Anteilnahme statt lauer Scherzchen hatte sich Eva schon erhofft. Britta schien es jedoch ernst zu meinen. «Oh, vieles! Sie lassen dich ausreden, begrenzte Arbeitszeit, du hast nur eine Funktion zu erfüllen, und dafür kriegst du Anerkennung und Geld! Wunderbar! Eine Erleichterung! Sieh's doch mal so: Du darfst arbeiten gehen!» Ironie war exakt das, was Eva im Augenblick überhaupt nicht ertragen konnte. «Ich bin nicht wie du», erwiderte sie, «ich will meine Kinder nicht dauernd wegorganisieren! Du siehst ja, wohin das führt.» «Ach, ja?» Eigentlich hätte Eva es bei Brittas trockener Reaktion bewenden lassen sollen. Aber ein widerwärtiger kleiner Dämon in ihr wollte sich rächen, egal an wem, auch an Unschuldigen. «Ja!» stieß Eva nach, «ein vernachlässigtes Einzelkind und eine Ehe, die den Bach runtergeht!» Nun war es zu spät. Britta schössen die Tränen in die Augen. Sie biß die Lippen aufeinander und wendete den Kopf ab. Eva bereute ihre Worte aufrichtig. Es war ver67
rückt, noch vor einer Sekunde hatte sie ihrer Freundin bedenkenlos die gröbsten Gemeinheiten ins Gesicht geschleudert. Jetzt, wo sie sie ausgesprochen hatte, schämte sie sich. «Tut mir leid», sagte sie und trat auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen. Aber Britta wich zwei Schritte zurück. «So denkst du über mich?» fragte sie gefaßt. «Nein. Nein, tue ich nicht. Ich ...» Eva fehlten die Worte. «Ich stehe mit dem Rücken zur Wand.» Herrgott noch mal, sie wußte genau, daß das keine Entschuldigung für ihr Verhalten war. Über andere herzufallen war die dümmste Art und Weise, mit den eigenen Frustrationen umzugehen. Und obendrein noch der schnellste Weg, ihre besten Freundinnen zu verlieren. Eva brach in Tränen aus. Es war, als ob in ihrem Brustkasten ein schlecht geschichteter, wackliger Holzstoß plötzlich ins Rutschen geriet. Die ganze Ladung knarziger, verdrehter, wurmstichiger Knüppel polterte herunter. «Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Wir haben kein Geld mehr. Aber ich will meine Kinder nicht alleine lassen ... und ich kann doch gar nichts ... und ich bin schon so alt... mich will doch keiner ...» schluchzte sie, untröstlich wie ein kleines Kind. «Heiße Schokolade!» Claudia winkte ihnen vom Gartenhaus zu. Eva und Britta fuhren sich verstohlen mit den Ärmeln über ihre tränenverschmierten Gesichter. Dann trotteten sie zur Tür wie zwei Geschwister, die sich gestritten hatten und nun ihren Zwist vorübergehend aussetzten, weil ihre Mutter sie zum Essen gerufen hatte. 68
Das Gartenhäuschen hatten sie mit alten ausrangierten Möbeln eingerichtet. Auf dem Boden lag ein Flokatiteppich, und das Sofa bestand aus drei übereinander gestapelten Schaumstoffmatratzen. Wenn man sie nebeneinander legte, füllten sie die Hälfte des Raumes aus und bildeten eine Schlafwiese in typischer WG-Manier. Aber es war schon lange her, daß sie in der Hütte gemeinsam übernachtet hatten. Ein Foto an der Wand erinnerte an die Zeit: Eva, Claudia und Britta als fröhliche Grimassen schneidende Teenager vor dem Schulgebäude. Das war damals gewesen, als das Häuschen noch Brittas Mutter gehörte. Claudia hängte es ab und hielt es Eva unter die Nase, die sich mit ihrem Becher in die Sofaecke gekauert hatte. «Jetzt sieh dir das an! Wie lange ist das her?» «Da waren wir sechzehn! Zwanzig Jahre oder?» «Du hast dich kaum verändert!» sinnierte Claudia, «nur innerlich. Da hast du dazugewonnen an Lebenserfahrung.» «Naja ... Lebenserfahrung aus der Kochnische!» Brittas schneidender Einwurf zeigte, daß sie Eva noch nicht verziehen hatte. «Du hast ja eine tolle Art, 'ne Freundin aufzubauen», wunderte sich Claudia. «Glaubst du etwa, daß baut mich auf, wenn ich mir sagen lassen muß, daß ich mein Kind vernachlässige?» «Aber das hat sie doch nicht so gemeint! Du bist immer so empfindlich.» Claudia wirkte unglücklich. Ihre gutgemeinten Bemühungen verfingen bei den beiden nicht. Im Gegenteil, jetzt hatte sie Britta unbeabsichtigt auch noch Mimosenhaftigkeit unterstellt. Diese fühlte sich jetzt offensichtlich von zwei Seiten angegriffen. 69
«Ihr wißt genau, daß ich keine Wahl hatte. Thomas war arbeitslos. Wovon hätten wir denn leben sollen?» «Aber jetzt hast du die Wahl», sagte Eva, «du könntest mit nach Dresden gehen. Thomas verdient genug. Du willst doch arbeiten.» «Na und? Glaubst du, ich geb das alles einfach auf? Die Praxis, meine Unabhängigkeit, die Arbeit, die mir Spaß macht? Du würdest das tun, stimmt's? An meiner Stelle?!» Brittas Lebensweg hatte sich in einem Punkt tatsächlich von Evas und Claudias unterschieden. Nach dem Abitur hatte sie nicht studiert. Statt dessen hatte sie gejobbt und gleichzeitig eine Ausbildung als Physiotherapeutin abgeschlossen. Schritt für Schritt hatte sie sich eine eigene Existenz aufgebaut. Sie war stolz darauf, immer ihr eigenes Geld zu verdienen und nicht von Thomas abhängig zu sein. Aber diese Unabhängigkeit war teuer erkauft. Tatsächlich hatte sie für ihre Tochter Miriam nicht soviel Zeit aufbringen können, wie sie es sich gewünscht hätte. Eva machte es sich nicht leicht mit der Antwort, die Britta eingefordert hatte. Würde sie alles stehen und liegen lassen, um mit Jochen in eine andere Stadt zu ziehen, sich dort von ihm aushalten zu lassen, um bis an das Ende ihrer Tage Hausfrau und Mutter zu spielen? «Ja, wahrscheinlich», räumte sie schließlich selbstkritisch ein. «Das dachte ich mir. Und du denkst, ich bin egoistisch, und Miriam wird darunter leiden.» «Nein. Ich denke, du bist selbständig, und ich hab ein70
fach Schiß, da raus zu gehen und mich lächerlich zu machen», erwiderte Eva. «Ich beneide dich», setzte sie nach einer kurzen Pause leise hinzu. Britta schwieg, sichtlich betroffen über das unerwartete Geständnis. Claudia hatte nach ihren hilflosen Ausgleichsbemühungen den Mund gehalten. Aber diese trübsinnige Stille konnte sie nicht länger ertragen. «Unsinn», ging sie Eva burschikos an, «wozu haben wir dich studieren lassen? Heute schreibst du denen doch die Artikel runter wie nichts! Alles, was du brauchst, ist ein Job.» Eva zuckte resigniert mit den Schultern. Aber Britta schien der Einwurf auf eine Idee gebracht zu haben. «Ich habe einen Patienten, der ist mir, sagen wir mal, sehr zugetan ...» «Ach, nee! Kaum ist Thomas wieder in Dresden ...», ulkte Claudia. «Quatsch. Ich mit so einem Bindegewebsschwächling?! Niemals!!» «Bindegewebsschwächling?!» Eva und Claudia lachten. «Also, der ist jedenfalls bei so einem privaten Hörfunksender, bei Hansa-Radio, der ist irgendwas Höheres. Da kann ich leicht was für dich arrangieren.» «Na also, super. Das machst du», entschied Claudia für Eva. «Aber was soll ich denn sagen? Ich weiß gar nicht mehr wie das geht!» Das war keine vorgespielte Unsicherheit. Eva hatte das Gefühl, beruflich wieder bei Null anfangen zu müssen. 71
«Was du sagst, das überlegen wir uns noch.» Diesmal entschied Britta für sie, und Claudia lieferte den Text. «Du gehst hin und sagst: Ich bin's, die Eva. Ich soll den Laden hier schmeißen!» «Und das Geld absahnen», setzte Britta hinzu. «Aber nur, bis meine Kinder mich wieder brauchen», wendete Eva scherzhaft ein. «Genau.» Im gleichen Moment, wie auf ein geheimes Signal hin, fingen sie alle drei an zu lachen. Erst glucksten sie, dann schwoll das Gelächter an, und schließlich lachten sie lauthals. Sie sahen sich ihre feuchten roten Nasen an, die zusammengekniffenen Augen mit den salzigen Pfützchen in den Winkeln, die geschwollenen Äderchen, und konnten nicht anders. Drei Frauen, die wie Schulkinder einen Kriegsrat abhielten, um einem Bindegewebsschwächling mit klassischen weiblichen Methoden einen Job abzuluchsen. Das hatte was von Pippi Langstrumpf und Hanni und Nanni. Aber sie hatten ja schon einen Kriegsnamen, das Trio Fatale.
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4. Eine Woche später hatte Eva den Termin. Claudia hatte angeboten, sie hinzufahren. Um halb zehn saß Eva in ihrem einzigen Kostüm, einem dezenten grauen Zweiteiler, und mit zum Zerreißen gespannten Nerven auf dem Beifahrersitz. Jochen hatte sie nichts davon erzählt. Falls es schieflaufen sollte, wollte sie sich weder seinen Trost noch seine möglicherweise ironischen Bemerkungen anhören. Aber die Geheimhaltung hatte ihre Nervosität nur gesteigert. Allein schon deshalb, weil sie zusätzliche logistische Probleme zu bewältigen hatte: Hannah mußte früher in den Kindergarten gebracht werden; den Lebenslauf konnte sie in Jochens Anwesenheit nicht tippen; eine vernünftige Aktenmappe besaß sie auch nicht. Damit immerhin konnte ihr Claudia aushelfen. Rasch stopfte sie ihre Unterlagen in die elegante Ledertasche, die ihre Freundin auf dem Rücksitz für sie bereitgelegt hatte. Dabei fiel ihr Hannahs Schnuller in die Hände. Offensichtlich hatte sie ihn in der Hektik im Kindergarten wieder eingesteckt. «Mist, den braucht sie noch.» «Sie wird's überleben», versuchte Claudia sie zu beruhigen. Evas Aufregung war ihr nicht entgangen. Amüsiert musterte sie den dicken Papierstapel, den Eva zusammengestellt hatte. «Sieht nach einer Bewerbung fürs Bundeskanzleramt aus. Blutgruppe, Geburtsurkunde, Impfpaß, alles dabei?» Erschrocken stellte Eva ihre Wühlarbeit ein und blickte auf: «Habe ich nicht!» Claudia grinste so lange, bis Eva begriff. Fast entschul-
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digend erklärte sie: «Ich habe die ganze Nacht an meinem Lebenslauf gesessen! Das war vielleicht ein Trip! Habe mich fünf Jahre jünger gemacht. Meinst du, das glaubt mir einer?» «Wenn du nicht von deiner sechzehnjährigen Tochter erzählst, immer.» Es half nichts, jeder noch so gutmütige Scherz löste neue Wellen von Panik bei ihrer Freundin aus. «O Gott, daran muß ich denken. Aber, weißt du, dadurch ist die zehnjährige Pause, in der ich nichts gemacht habe, einfach so auf fünf Jahre geschrumpft. Clever, nicht?» Evas Stimme bettelte um Zustimmung. Claudia entschied sich für eine zweideutige Antwort: «Man wird beeindruckt sein. So oder so.» Vorm Eingang zum Sender in der Ost-West-Straße unternahm Eva noch einen schwachen Fluchtversuch. Britta könnte ihr sicherlich einen neuen Termin besorgen, nachdem sich der erste so problemlos hatte einrichten lassen, und heute war einfach nicht ihr Tag. Aber Claudia schob sie resolut in den Fahrstuhl und drückte, bevor sie wieder heraussprang, sicherheitshalber noch auf den Knopf für die Etage, in der ihre Freundin aussteigen mußte. Während Eva nach oben befördert wurde, atmete sie tief ein und aus. Es half aber nichts. Sie war nervös. Und schlimmer noch, sie wußte, daß sie auch auf andere nervös wirkte. Dann öffneten sich die Türen und gaben unvermittelt den Blick auf ein riesiges Fabrikloft frei. Keine Empfangsschleuse, keine weiteren Einlaßkontrollen. Sie stand mitten im hektischen Treiben. Aus einer 74
Gruppe von lässig gekleideten Leuten, die Eva allesamt zehn Jahre jünger vorkamen, löste sich ein Mädchen und kam auf Inline-Skates auf sie zugerollt. Kurz vor ihr bremste sie elegant ab und fuhr eine kleine Schleife hinter den Schreibtisch, der zu Evas Rechten stand. Das mußte die Empfangssekretärin sein. Ein Blick auf ihre kunstvoll zerrissene Jeans und das Netz-T-Shirt machte Eva klar, daß sie sich hoffnungslos overdressed gekleidet hatte. «Hallo, suchst du wen?» fragte das Mädchen. «Ja. Ich bin mit Herrn Petzold verabredet.» Ohne hinzusehen, deutete das Mädchen über die Schulter nach hinten. «Klaus?! Das ist der da hinten, im Glaskäfig.» Eva bedankte sich und schlug die angegebene Richtung ein. In der linken Ecke der Etage war ein Raum mit Glastrennwänden abgeteilt worden. Die Tür stand offen. Eva stand unschlüssig davor, weil der Mann hinter dem verchromten Schreibtischgestell telefonierte. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen, winkte er sie herein und deutete auf einen freien Stuhl. Im Gegensatz zu den flippigen Twens in der Halle trug Klaus Petzold einen hellen Leinenanzug und eine Krawatte: der New Business Chic, lässig, aber eben doch unverkennbar Geschäftskleidung. Während sie ihn betrachtete, ertappte sich Eva dabei, nach Anzeichen von Bindegewebsschwäche zu suchen, obwohl sie eigentlich gar nicht wußte, wonach sie suchen sollte. Äußerlich war ihm jedenfalls nichts anzumerken, außer einer gewissen Abgespanntheit in seinen leicht schwammigen Gesichtszügen und dunklen Ringen 75
unter den Augen. Wenigstens er war anscheinend älter als sie, vielleicht Mitte Vierzig. Er beendete sein Telefongespräch und entschuldigte sich freundlich für die Verzögerung. Mit trockener Kehle und einer fahrigen Handbewegung wehrte Eva ab. «Macht doch nichts. Ich bin Eva Janssen ...» «Bin im Bilde. Britta hat mich angerufen. Sie behandelt meinen Rücken. Böse Zungen behaupten, ich habe eine schlechte Haltung.» Er grinste breit über die scheinbar gewichtige Doppeldeutigkeit seiner Aussage und sah sie mit seinen blaßblauen, leicht verschwommenen Augen lauernd an. Oder war der Blick nur erwartungsvoll? Eva zog ihre Unterlagen aus der Mappe und legte sie auf den Schreibtisch. Unglücklicherweise fiel dabei Hannahs Schnuller heraus und landete neben ihrem Stuhl. Mit dem Fuß schob sie ihn unauffällig zur Seite. «Meine Biographie und ein paar Sachen, die ich geschrieben habe für Tageszeitungen, Hörfunk, na ja, Sie sehen sich das besser selbst an.» Oberflächlich blätterte er in ihren Arbeitsproben. Eva hätte wetten können, daß er nicht eine Zeile las. Sie hatte das Gefühl, zusammenzuschrumpfen wie Alice im Wunderland. Wenn sie dann so klein geworden wäre wie Lewis Carolls Märchenfigur, hätte sie sich unauffällig davonstehlen können, unter den Rollen der Inline-Skaterin hindurch, zum Fahrstuhl und nach draußen. Bevor sie den Gedanken zu Ende spinnen konnte, stürmte einer der jungen Mitarbeiter herein und knallte ein Manuskript auf den Schreibtisch. «Das können wir so nicht bringen! Ich hab's ja gleich gesagt.» 76
«Woran liegt's?» fragte Petzold, offensichtlich ungerührt über die Störung des Vorstellungsgesprächs. «Silke kriegt das nicht hin! Zu trocken, zu langweilig, kein einziges Interview! Die hat einfach keinen Stil! Jedenfalls nicht den, den wir brauchen!» spulte der junge Mann ab. «Und nun?» «Frag mich doch mal was Leichtes.» Tja, das war's dann wohl, dachte Eva. Die haben ein Problem, und dabei halte ich sie nur auf. Sie war damit beschäftigt, einen möglichst gelassenen Gesichtsausdruck einzustudieren, hinter dem sie ihre Enttäuschung verbergen konnte. Deswegen traf sie die Frage völlig unvorbereitet, die der Chefredakteur nun an sie richtete. «Hast du heute schon was vor?» Eva starrte ihn an und zuckte dann unwillkürlich mit den Schultern, wie um den seltsamen Ausdruck abzuschütteln. Wollte er sie ausführen? Petzold schien ihre Reflexbewegung als Zustimmung zu werten, oder er ging sowieso davon aus, daß man ihm nicht widersprach. Er deutete auf den jungen Mann an seiner Seite. «Das hier ist der herzensgute Till, der wird dir jetzt deine Ausrüstung geben, und dann kannst du dein Improvisationstalent unter Beweis stellen. Kleine Sache, bis morgen mittag, dreihundert, als Einstieg. Alles weitere erklärt dir Till.» Als Eva nichts erwiderte und ihn nur verwirrt ansah, fragte er leicht ironisch: «Du bist doch gekommen, um zu arbeiten, oder?» «Ja, sicher.» 77
«Na prima, dann leg mal los.» Letzteres sagte er bereits mit dem Hörer in der Hand, während er mit dem Finger seine Telefonliste durchging. Der junge Mann tippte an ihre Schulter. Mit einem freudigen und gleichzeitig ungläubigen Lächeln stand sie auf. Gott sei Dank sprach Petzold bereits, sonst hätte sie sich womöglich noch zu schwärmerischen Danksagungen hinreißen lassen. Er nickte ihr zu, und sie folgte mit steifen Beinen dem herzensguten Till. Auf der Hinfahrt hatte sie Claudia mit ihrer Nervosität verrückt gemacht. Auf der Rückfahrt brachte sie ihre Freundin mit einem unausgesetzten Redeschwall fast um den Verstand. «Wir sind da», unterbrach Claudia sie schließlich, als der Wagen schon fünf Minuten vor der Haustür stand. Eva umarmte sie überschwenglich und stürzte ins Haus. In Windeseile warf sie Jochens alten Computer an und machte sich Notizen für ihren Beitrag. Um zwei holte sie Hannah vom Kindergarten, setzte das Essen für sie auf und rief Jochen im Institut an, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen. «Weißt du was?» In ihrer Stimme schwang unverkennbarer Stolz. «Ich hab einen Job.» «Schön», sagte er mit zerstreuter Stimme. Eva fiel ein, daß er heute seinen wichtigen Vortrag hatte. Die Bewilligung weiterer Mittel für das Forschungsprojekt hing davon ab. Sollte es eingestellt werden, war sein Arbeitsplatz, freundlich ausgedrückt, gefährdet. Offensichtlich hatte sie ihn mitten aus der Arbeit gerissen. Aber sie war zu glücklich, um auf seine verhaltene Reaktion zu ach78
ten. Außerdem, Freude wirkt ja auch ansteckend. Vielleicht würde es ihm helfen, wenn er hörte, daß nun alles besser werden würde. «Alles wird gut! Ich bekomme genau die dreihundert Mark für Sarahs Klassenfahrt! Ich mache einen Beitrag: Einsam unterm Tannenbaum. Hab nicht die geringste Ahnung. Aber Claudia wird mir helfen. Ist genau ihr Thema. Verrückt, was? Wir sind gleich verabredet, morgen muß ich abgeben. Du mußt kommen und die Kinder übernehmen.» Das war alles, was sie in einem Atemzug loswerden konnte. «Ich kann jetzt nicht», flüsterte Jochen. Im Hintergrund war das Stimmengemurmel der Konferenz zu hören. «Aber du mußt.» «Ich ruf dich später wieder an», sagte er. Eva hörte, daß er hektisch auf den Telefonknöpfen herumdrückte. Bevor ihr jedoch klar wurde, daß er versuchte, die Freisprechfunktion auszustellen, hatte sie den Fauxpas schon begangen. «Später?» schrie sie entrüstet. «Wir sind jetzt pleite.» Jochen schwieg. «Du wolltest doch, daß ich arbeite! Bitte, jetzt arbeite ich. Soll ich vielleicht nachts meine Interviews machen? Eine zweite Chance geben die mir nicht.» Mit unangenehmer Deutlichkeit konnte sie hören, wie die Hintergrundgeräusche am anderen Ende der Leitung erstarben und einem verlegenen Räuspern Platz machten. Offensichtlich hatte sie die Lage ihres Einkommens zu einem interessanten Tagesordnungspunkt der Versammlung gemacht. 79
«Ruf deine Mutter an», bat Jochen. Diesmal reagierte Eva auf seinen gesenkten Tonfall und bemühte sich, ebenfalls leise zu sprechen. «Habe ich schon. Die kann erst morgen. Verdammt, es sind auch deine Kinder! Du kannst mich jetzt nicht hängenlassen.» «Tut mir leid. Ich rufe wieder an.» Ohne ihre Erwiderung abzuwarten, legte er auf. «Dieser Idiot! Dieser selbstherrliche Pascha!» Eva warf den Kochlöffel in die Spüle. Hannahs Mittagessen war sowieso angebrannt. Ihre kleine Tochter sah sie erstaunt an, schwieg aber. Eva kippte das ungenießbare Essen in den Mülleimer und öffnete ein Glas Fertiggericht. Während sie beobachtete, wie sich der Glasinhalt im Wasserbad erwärmte, ging sie in Gedanken ihre Möglichkeiten durch. Toni spielte mit Brittas Tochter Miriam hinten im Kinderzimmer. Beide brauchten zwar keine Aufsicht mehr, konnten aber keinesfalls die Verantwortung fur die kleine Hannah übernehmen. Jochen und Mamia schieden aus. Also blieb noch Sarah - falls sie rechtzeitig aus der Schule kommen und nicht gleich zu einer ihrer Freundinnen gehen würde. Die Haustür, die gerade ins Schloß fiel, beantwortete die Frage. Eva ließ alles stehen und lief in den Hausflur. Sarah warf ihre Schultasche in die Ecke neben der Garderobe und musterte ihre Mutter verblüfft: Kostüm und Kochlöffel, eine seltsame Mischung. «Hey, Mama, wie siehst du denn aus?» «Ich hab einen Job ...» Sarah freute sich ehrlich. 80
«Toll, gratuliere ...» «Danke. Hör mal, mein Schatz. Du mußt mir heute einen Gefallen tun und auf die Kleinen aufpassen. Ich muß sofort los.» Sarah zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Ohne sich umzudrehen, sagte sie zögerlich: «Ich kann heute nicht. Bin verabredet. Mit Jenny.» «Die siehst du doch jeden Tag.» «Aber heute müssen wir uns treffen», protestierte Sarah. «Wir, äh, müssen ein Referat zusammen vorbereiten!» Unter normalen Umständen hätte Sarahs Reaktion Eva hellhörig gemacht. Aber sie war zu abgelenkt, um auf den feinen Unterton zu achten. Sie verstaute das Aufnahmegerät, das Petzolds Assistent ihr mitgegeben hatte, in ihrer Tasche, warf sich den Mantel über und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und sagte: «Dann kommt Jenny eben hierher. Und ihr bereitet euch vor, während die Kleinen nebenan spielen. Es ist ja nur, bis Jochen kommt.» Sarah schmollte. Also machte Eva noch einmal kehrt und schloß ihre Große in die Arme. «Sarah. Mein erster Job! Ich würde dich doch sonst nicht bitten.» Bevor sie die Tür hinter sich zufallen ließ, fiel ihr noch eine kleine Gemeinheit ein. «Und ruf Papa an, du kannst ihn ruhig nerven! Er müßte nämlich längst hier sein.»
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Claudia hatte sich bereit erklärt, sie zu einer Hotelanlage in der Nähe von Schwerin zu fahren. In ihrem Prospekt hatten die Betreiber mit einem Programm für Alleinstehende geworben: Gesundheitsbewußtes, ganzheitliches Entspannen, speziell für sie und ihn ohne Partner. «Und die machen Weihnachten für Singles?» erkundigte sich Eva, als sie im Auto saßen. «Fitneß statt Familienkitsch! Ist doch Klasse.» «Hoffentlich sind ein paar depressive Gäste da, die ich befragen kann.» Evas Wunsch war nicht sehr rücksichtsvoll. Schließlich sprach sie damit auch die Lebenssituation ihrer Freundin an. Aber Eva hatte Blut geleckt. Sie hatte ihr Thema fertig im Kopf: Der Katzenjammer der Singles. Sie brauchte nur noch ein paar Statisten, die deftige Klischees über ihre erbarmungswürdige Einsamkeit beim Anblick brennender Kerzen vom Stapel lassen würden. Und falls sie diese sogenannten O-Töne nicht bekam, hatte sie auch fertige Antworten parat, die sie ihren Gesprächspartnern unterschieben konnte. Daß ihre Überlegungen zynisch waren, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie wollte doch nur einen ergreifenden und überzeugenden Radiobeitrag abliefern, der die Hörer zum Nachdenken anregte. An Claudia, die zu diesen alleinstehenden Menschen gehörte, dachte Eva dabei gar nicht. Zur Strafe war zum vereinbarten Zeitpunkt niemand im Hotel. Es schien sogar geschlossen zu sein. Unschlüssig stand sie mit Claudia auf einer nässetriefenden Weide vor dem mecklenburgischen Herrenhaus. Eine Kuh reckte ihre Schnauze über den Stacheldrahtzaun. «Die einzige Alleinstehende hier weit und breit.» 82
Claudia konnte sich die schadenfrohe Bemerkung nicht verkneifen, nachdem Eva ihr auf der ganzen Fahrt begeistert das Elend der Singles in den düstersten Farben geschildert hatte. «Außer dir», sagte Eva und hielt ihr das Mikrophon unter die Nase. «Fühlen Sie sich in der Vorweihnachtszeit besonders einsam?» Claudia reagierte prompt und spielte mit, wobei sie sich bemühte, dem Horrorszenario ihrer Freundin soweit wie möglich zu entsprechen. «Klar! Wer guckt schon gern allein in die brennenden Kerzen? Die Freundinnen müssen Adventskalender basteln, Nikolausstiefel füllen ... keiner hat mehr Zeit.» Eva stellte den Rekorder ab. «Ich habe immer Zeit für dich!» «Wie du willst», grinste Claudia, «es ist dein Interview.» Beleidigt stellte Eva den Rekorder wieder an. «Wie steht's mit Fluchtgedanken bei Ihnen?» Jetzt schien Claudia erst richtig in Fahrt zu kommen. Sie verdrehte theatralisch die Augäpfel und seufzte tief, bevor sie antwortete. «Ich? Nein! - Wissen Sie, ich bin Heiligabend immer bei meiner besten Freundin. Die hat Kinder, Mann, Oma, Rauschgoldengel...» «Also, die Flucht in die Ersatzfamilie. Sehnen Sie sich da nicht nach einer eigenen?» «Bloß nicht! Für diesen Streß bin ich nicht gemacht. Außerdem bin ich erblich vorbelastet. Meine Eltern sind geschieden.» «Was wünschen Sie sich vom Weihnachtsmann?» «Daß er seinen blöden Bart abnimmt, den roten Bade83
mantel auszieht und zu mir ins Bett schlüpft... die Stiefel kann er meinetwegen anbehalten.» Der Rest von Claudias Antwort ging im prustenden Gelächter unter. Eva schaltete den Rekorder wieder ab und drohte ihr mit dem Finger. «Du bist obszön. Das kann ich nicht bringen.» Zum Glück fuhr jetzt ein Geländewagen vor das Portal des Hauses. Eine junge Frau stieg aus und winkte ihnen zu, die Geschäftsführerin des Single-Hotels. Sie zeigte ihnen die Räume des Hauses: Gästezimmer in hellem Naturholz, Gemeinschaftsraum, eine Bio-Küche. Eva gab sich redlich Mühe, die angepriesenen Wechselwirkungen von Naturkost, ätherischen Raumölen und seelischen Wohltaten auf die Gäste nachzuvollziehen, von denen im übrigen jede Spur fehlte. Das Hotel stand leer. Falls sich wider Erwarten doch noch ein Single hierhin verirren sollte, hätte ihm die solide Schwermut dieser brachliegenden natur- und umweltkorrekten Einöde wahrscheinlich den Rest gegeben. Eva beschlich der Verdacht, daß die spontane Zusage, die sie auf ihre telefonische Interviewabsprache erhalten hatte, darauf beruhte, daß die Geschäftsführerin dringend Werbung in eigener Sache machen wollte. Sie redete ohne Punkt und Komma. Eva nickte scheinbar interessiert und stellte mittendrin heimlich das Bandgerät ab. Als sie schließlich wieder im Auto saßen, mußten sich die beiden erst einmal Luft verschaffen. «Das war die erste Hardcore-Vegetarierin, die mir be84
gegnet ist», stöhnte Eva, «meinst du, es träumt sich ehrlich besser auf Dinkel-Matratzen?» Claudia feixte: «Träumen vielleicht, aber vögeln ...» «Denk lieber daran, deinen Schlafbereich auszupendeln, bevor du ins Bett gehst!» mahnte Eva. «Vorher oder nachher?» «Statt dessen.» Den Rest der Fahrt kalauerten die Freundinnen über sanft gespülte Biopräservative mit Rohkostgeschmack, über Singles, die nackt um einen mecklenburgischen Weihnachtsbaum tanzten und ihre ungespritzten Äpfel auf dem Gabentisch um Verzeihung baten, bevor sie sie aufaßen. Ab und zu drückte Eva auf den Aufnahmeknopf ihres Rekorders, und so kam am Ende doch noch so etwas wie das Porträt einer einsamen Mittdreißigerin kurz vor den Feiertagen dabei heraus. Natürlich war nichts von alledem wahr, aber es war anrührend. Außerdem war sie ausdrücklich losgeschickt worden, um ihr Improvisationstalent unter Beweis zu stellen, rechtfertigte sich Eva still vor sich selbst. Zumindest das konnte man ihr mit dieser Reportage nicht absprechen. Eva drückte ihrer Freundin einen Kuß auf die Wange und sprang aus dem Wagen. «Ich bin wieder da», rief sie gutgelaunt, als sie um halb sechs die Wohnung betrat. Keine Antwort. Vielleicht war Jochen mit den Kindern zu Mamia gefahren. Obwohl, nein, das war unwahrscheinlich. Auch wenn ihre Mutter in einem Anflug von Familienverantwortung sie kürzlich zum Essen eingeladen hatte: Vor die Wahl gestellt, sich einen ganzen Abend lang wohlmeinende Ratschläge 85
über seine berufliche Zukunft anzuhören oder eine Pakkung Miraculi aufzureißen, würde sich Jochen für die Spaghettis entscheiden. Sie knipste das Licht an und trat auf einen Zettel, der vor der Küchentür lag: «wir sint im krankenhaus. Hannah ist vom Hochbet gefallen! Komm schnell.» Das war Tonis krakelige Schrift. Eva rannte die Treppen wieder hinunter, aber Claudias Wagen war schon verschwunden. Sie winkte ein Taxi heran und stand zehn Minuten später im Zimmer der Kinderabteilung der Uniklinik Eppendorf. «Pssst», bedeutete ihr Jochen, als sie in ihrer ersten Aufwallung an das Bett stürzen und Hannah in die Arme schließen wollte. Ihre Tochter lag mit geschlossenen Augen im Bett. Ihr rechtes Ärmchen war von der Schulter an eingegipst. Das kleine blasse Gesicht behielt selbst im Schlaf noch den Ausdruck von Kummer und kindlichem Unverständnis über das, was ihr widerfahren war. Evas Herz verkrampfte sich. Und alles, weil ich diesen absolut überflüssigen und albernen Beitrag um jeden Preis machen wollte, verfluchte sie sich selbst. Zart streichelte sie über Hannahs gesunden Arm. Tränen stiegen ihr in die Augen. «Mein Baby! Was haben sie mit dir gemacht?» Dann suchte sie Jochens Blick. «Wie geht es ihr ... es wird doch alles wieder gut, bitte?» «Alles okay», beruhigte Jochen sie, «sie schläft nur ihre Narkose aus. Morgen früh können wir sie wieder mit nach Hause nehmen. Toni und Sarah sind solange bei Britta.» Er machte jedoch keine Anstalten, Eva in den 86
Arm zu nehmen. Statt dessen schenkte er ihr aus einer Kognakflasche ein halbes Wasserglas voll ein, reichte es ihr und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Sie nahm einen tiefen Schluck und schüttelte sich. «Mein Gott, nur weil ich nicht da war!» Evas Zerknirschung führte immerhin dazu, daß er in sachlichem Ton feststellte: «Ich war auch nicht da.» Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann entschied sich Eva, das Thema vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Es gab Wichtigeres als ihre Verstimmung. In der Ecke des Raumes stand ein schmales Klappbett für Eltern, die über Nacht bei ihren Kindern bleiben wollten. Eva zog an dem Verschlußriegel, konnte ihn aber nicht aufbekommen. «Kannst du mir mal helfen?» «Wieso, was soll das denn werden?» fragte Jochen, ohne sich zu rühren. «Mein Schlafplatz, nehme ich doch an.» Eva mußte sich zusammenreißen, um nicht gleich wieder gereizt zu klingen. «Das ist mein Bett», sagte Jochen. «Jetzt bin ich da, du kannst doch gehen!» «Ich will aber nicht gehen», beharrte Jochen, «heute nachmittag wolltest du unbedingt, daß ich die Kinder übernehme! Bitte, ich habe übernommen. Und jetzt kommst du, und ich bin plötzlich wieder überflüssig?» «Heute nachmittag hast du mich abgewürgt! Wo die Kinder blieben, war dir scheißegal.» Eva mußte flüstern, um Hannah nicht aufzuwecken. Dafür schossen ihr beinahe Flammen aus den Augen. Das fehlte noch, daß er ihr Vorwürfe machte, wo sie doch schon selbst genug mit sich haderte. Er war es doch, der 87
ihr ganz beiläufig mitgeteilt hatte, daß sie von nun mitzuarbeiten habe. Und sein Forschungsjob war es, der so wenig abwarf, daß sie am ausgestreckten Arm verhungerten. «Ich habe meinen Job riskiert, um bei Hannah zu bleiben», entrüstete sich Jochen. «Tickst du noch richtig?» «Hätte ich Hannah vielleicht allein lassen sollen?» Wahrscheinlich hätten sie sich in der nächsten Sekunde wirklich angebrüllt, wenn nicht die Nachtschwester hereingekommen wäre. Sie begrüßte Eva freundlich, wandte sich aber dann ausschließlich an Jochen. «Brauchen Sie noch ein Schmerzmittel für Ihre Tochter?» Und als er verneinte: «Schön. Na, Sie haben das ja im Griff, Dr. Janssen.» Sie war Mitte Zwanzig, attraktiv und lächelte Jochen unentwegt an, der ihre Bewunderung offensichtlich genoß. Vielleicht kam es Eva allerdings auch nur so vor. Mit kaum verhohlener Gereiztheit bat sie die Schwester, das Klappbett für sie herzurichten. Die junge Frau stutzte, tat aber dann bereitwillig, was von ihr verlangt wurde. An der Tür wendete sie sich noch einmal um. «Aber der Vater wurde doch mit aufgenommen, das ist doch richtig?» fragte sie. «Ja, das ist richtig», antwortete Jochen und warf Eva einen bedeutungsvollen Blick zu. Die Nachtschwester verabschiedete sich, und Eva streckte sich auf dem schmalen Klappbett aus. «Mann, bin ich fertig», murmelte sie. «Dann geh nach Hause und schlaf dich aus.» Jochens Stimme hatte einen fast drohenden Unterton. «Und wenn sie aufwacht? Und Schmerzen hat? Ich 88
könnte kein Auge zutun.» Eva drehte sich zur Wand. Für sie war das Thema erledigt. Sie hörte, wie Jochen unschlüssig neben dem Bett herumtappste. Schließlich legte er sich neben sie, das heißt, er versuchte es und stieß sich schmerzhaft an ihrem Ellbogen. «Autsch!» fluchte er. «Du bist eine verdammte Glucke. Du willst alles haben und auf nichts verzichten!» Mit einem Ruck krachte das Klappbett unter ihrem gemeinsamen Gewicht zusammen. Den Rest der Nacht verbrachte Jochen in dem freien Gitterbett für Kleinkinder und Eva auf der Matratze des Klappbetts auf dem Boden. Die einzige, die gut schlief, war Hannah. Mamia hatte sich bereit erklärt, am kommenden Tag einzuspringen und für die Kinder zu sorgen, solange Eva ihren Beitrag fertigtextete, um ihn noch rechtzeitig abgeben zu können. Auf der Suche nach Haushaltsutensilien und Lebensmitteln durchstöberte ihre Mutter die Küche allerdings so provozierend laut, daß Eva sich fragte, ob es eine gute Idee gewesen war, sie herzubitten. Hannah paradierte mit ihrem Verband durch die Wohnung. Die Anerkennung, die sie damit bei den anderen holte, entschädigte sie für die Schmerzen. Etwas Ruhe fand Eva erst, als Sarah und Toni zur Schule verschwanden und Mamia mit der Kleinen zum Einkaufen ging. Gegen vier Uhr hatte Eva ihren Kommentar zu den Interviewausschnitten endlich fertiggestellt. Claudias schlüpfrige Singleträume hatte sie den bierernsten Ausführun89
gen der Geschäftsführerin des Hotels gegenübergestellt und das Ganze mit einem sanft ironischen Sprechertext verbunden. Auf diese Weise entstand aus dem eigentlich verunglückten Schnellschuß doch noch etwas Brauchbares. Nein, es war mehr, wie Eva nach nochmaligem Durchlesen erstaunt feststellte: Es war eine Minikomödie, in der die Nöte einer alleinstehenden Frau, die ihre Situation dennoch recht souverän und witzig schilderte, auf das angeblich maßgeschneiderte Angebot einer selbsternannten Expertin prallten. Am Ende wirkte Claudia mit ihrer nicht ganz ernst gemeinten Sehnsucht nach erotischen Weihnachtsmännern viel überzeugender als die Hotelmanagerin. Den Abgabetermin hatte Eva mittlerweile um einen halben Tag überzogen. Als sie mit einem flauen Gefühl im Magen in der Redaktion anrief, um anzukündigen, daß sie ihren Beitrag schnell vorbeibringen wolle, erlebte sie eine unangenehme Überraschung. Klaus Petzold sei nicht mehr im Haus, richtete man ihr aus. Er habe gerade seine Krankengymnastik, und das könne dauern. Überhaupt sei alles nicht mehr so dringend und so wichtig mit dem Single-Thema. Man habe bereits für Ersatz gesorgt. Die Gelassenheit, mit der ihr das mitgeteilt wurde, versetzte sie erst recht in Wut. Wegen des Termindrucks hatte sie gestern ihre Kinder vernachlässigt und Stunden auf der Autobahn verbracht. Hannah war vom Hochbett gefallen, und schlußendlich hatte sie sich auch noch mit Jochen gestritten. Grimmig warf sie den Hörer auf die Gabel. Zumindest die versprochenen dreihundert Mark mußten für den ganzen Ärger doch herausspringen, 90
schoß es ihr durch den Kopf, oder wenigstens ein Ausfallhonorar. Petzold war also bei seiner Krankengymnastik, das bedeutete bei Britta. Und dann hatte sie einen Einfall. Vielleicht war es keine gute Idee, aber sie wollte es wenigstens nicht unversucht lassen. Fünfzehn Minuten später stand sie unangemeldet in Brittas Fitneßraum und überraschte einen verschwitzten Klaus Petzold, der sich trotz der Unterstützung ihrer Freundin vergeblich an der Sprossenwand abmühte. «Entschuldigung, aber die Redaktion sagte mir ...» «Was gibt's?» fragte Petzold und ließ sich rasch auf die Matte herab. Die Störung war ihm sichtlich unangenehm. «Ich weiß, ich bin zu spät. Aber ich wollte es Ihnen auf jeden Fall trotzdem geben. Ich hätte natürlich lieber noch zwei Tage gehabt.» Petzold wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Ob er vor Anstrengung oder Verärgerung hochrot war, konnte Eva nicht eindeutig feststellen. «Das kriegen wir jetzt nicht mehr unter, tut mir leid.» «Können Sie es nicht versuchen?» «Laß einfach alles hier. Ich sehe es mir gelegentlich an.» Eva schluckte. Sie verkniff sich die Frage nach dem versprochenen Honorar und zeigte sich statt dessen reumütig: «Darf ich mich denn mal wieder melden?» «Ich ruf dich an.» Mehr war nicht aus ihm herauszuholen. Um Haltung bemüht legte Eva den Rekorder, das Band und ihr Manuskript auf die Liege am Eingang. Sie 91
nickte Britta zum Abschied zu, die ihren Blick bedauernd erwiderte. Petzold hatte seinen Kopf bereits wieder im Handtuch vergraben. Leise schloß sie die Tür hinter sich. Es war zum Heulen. Der Job hatte ihr Spaß gemacht und - wichtiger noch ihr ein Gefühl zurückgegeben, das sie verdrängt hatte: Selbstbestätigung und Vertrauen in ihre beruflichen Fähigkeiten. Sie war nicht nur Hausfrau und Mutter. Sie konnte mehr. Und dieses Mehr, zum Greifen nahe, löste sich in Sekundenschnelle vor ihren Augen in nichts auf. Als sie nach Hause kam, hatte Mamia das Abendessen fertig, und alle Kinder waren wieder eingetrudelt. Sie setzte sich an den Tisch und zwang sich zu einem Lächeln. «Du mußt mir unbedingt eure Arbeitszeiten sagen, sonst weiß ich wirklich nicht, wie ich hier wirtschaften soll», empfing Mamia ihre Tochter. «Tja, ich fürchte, ich bin schon wieder arbeitslos», gestand Eva kleinlaut. «Ich hab's nicht geschafft. Bei denen bin ich unten durch.» Mamia runzelte vielsagend die Stirn: «Ja, aber was soll ich dann hier, wenn du nicht mehr arbeitest.» «Aber wir freuen uns doch immer, wenn du da bist», erwiderte Eva matt. Immerhin, Sarah versuchte sie zu trösten: «Tut mir leid, Mama.» Eva streichelte ihr liebevoll über das Haar. Sicher machte sich ihre älteste Tochter ebenfalls Vorwürfe, daß es zu dem Unglück mit Hannah gekommen war. 92
«Was ist denn aus deinem Referat geworden? Du Ärmste bist doch gestern zu gar nichts gekommen.» Sarah wurde rot und senkte den Kopf: «Darüber wollte ich gestern mit dir reden ... das ist total blöd gelaufen gestern...» «Ich schreib dir eine Entschuldigung», unterbrach sie Eva, «das wäre ja noch schöner.» «Schon gut», druckste Sarah und starrte auf ihren Teller. Bevor sie loswerden konnte, was ihr auf dem Herzen lag, war die Gelegenheit schon wieder verstrichen. Die Wohnungstür fiel laut ins Schloß, und Jochen meldete sich offensichtlich gutgelaunt aus dem Flur. «Wir haben die Nase wieder über Wasser», rief er und tauchte gleich darauf mit einer Flasche Sekt auf «Mein Job ist gerettet, und ich habe zusätzlich einen Notdienstposten. Zwei Nächte im Monat, an Feiertagen vielleicht auch mal ein Tagesdienst.» «Na, Gott sei Dank! Gratuliere, mein Junge», beglückwünschte ihn Mamia. Unauffällig drückte Jochen Sarah drei Hundertmarkscheine in die Hand und flüsterte: «Hier, für deine Klassenreise.» Dann ließ er den Korken knallen. «Das wird reichen! Auch ohne deine Mitarbeit, Eva, zufrieden?» «Ach, jetzt bin ich also plötzlich wieder überflüssig?» Jochen reichte ihr versöhnlich ein Glas und lächelte verschämt. Er wirkte, als ob eine gewaltige Last von seinen Schultern gefallen war. Er konnte sich nun wieder als klassisches Familienoberhaupt, als Ernährer und Haushaltsvorstand fühlen. Für ihn war die finanzielle Krise in erster Linie eine Identitätskrise gewesen, denn der Geldmangel nagte nicht nur am Portemonnaie, sondern auch 93
an der Seele. Eva verstand das nur zu gut. Sie wollte diese Last ja mit ihm teilen. Und sie hätte es gekonnt, wenn sie am Vormittag lächerliche vier Stunden früher Zeit für ihren Job gefunden hätte. Es war wie immer alles nur eine Frage der Organisation: Einfach, aber wahr. Falls sie jemals wieder eine Chance bekommen sollte, würde sie einen strikten Zeitplan aufstellen, schwor sich Eva. Es fragte sich nur, ob Jochen dann bereit sein würde, mitzuziehen. Sie wollte die gute Stimmung jetzt nicht verderben. Aber sie würden miteinander reden müssen. Als sie Toni und Hannah schlafen gelegt hatten, ergab sich die Gelegenheit. Jochen zog die Tür zum Kinderzimmer zu und schloß sie in die Arme. Das erste Mal seit langer Zeit war er mit seinen Gedanken wieder ganz bei ihr. «Die schönste Zeit: wenn sie alle sicher in ihren Betten liegen. Sieht aus, als hätten wir es wieder einmal geschafft, Liebste.» Eva genoß die entspannte Nähe. Nachdenklich und sehr selbstkritisch sagte sie: «Du hast es geschafft. Ich habe meine Kinder vernachlässigt, und den Job habe ich auch geschmissen.» «Tut mir leid, daß ich so einen Druck gemacht habe. Aber...» «Das war schon gut so», unterbrach ihn Eva, «sonst hätte ich doch nie gemerkt, daß ich als Journalistin noch ganz fit bin.» Das war natürlich ein Testballon. Jetzt würde sich herausstellen, ob Jochen sich mit dem Gedanken anfreunden konnte, daß Eva mehr sein wollte als ein treusorgendes Hausmütterchen. 94
«Klar bist du eine gute Journalistin», begann er vielversprechend, um dann rasch das Thema zu wechseln, «aber es wird doch alles andere unwichtig, wenn was mit den Kindern ist.» «Ja, sicher», stimmte ihm Eva zu. Aber das war es nicht, was sie von ihm hören wollte. Er hätte den Test grandios bestanden, wenn er beispielsweise gesagt hätte: «Laß uns mal überlegen, ob wir das in Zukunft nicht besser hinkriegen können», oder wenigstens vage «schau'n wir mal». In diesem Moment platzte Sarah in den Flur: «Mama! Claudia hat angerufen: Sofort Radio anschalten. Dein Beitrag läuft!» Hinter der geschlossenen Kinderzimmertür polterte es. Eine Sekunde später stand Toni wieder im Flur, und Hannah kletterte einarmig aus ihrem Bett. Dann liefen sie ins Wohnzimmer, wo Mamia und Sarah den richtigen Sender eingestellt hatten und lauschten. Klar und selbstbewußt klang Evas Anmoderation aus den Lautsprechern. «Nie zuvor standen in Deutschland materielle Sicherheit und Karriere so hoch im Kurs wie heute. Beziehungen stören da nur...» Eva wünschte sich inständig, daß Jochen die Botschaft zwischen diesen Zeilen verstand. Dann kam die Überleitung zum Thema. «... Aber für die immer größer werdende Gruppe der Singles brechen harte Zeiten an: Es wird Weihnachten... Und wer möchte schon allein unterm Tannenbaum stehen. Wie steht's mit Fluchtgedanken bei Ihnen?» 95
Es folgte Claudias schmalztriefende Antwort, daß sie Heiligabend immer bei der Familie ihrer besten Freundin verbrachte mit deren Kindern, Mann, Oma ... An dieser Stelle fühlte sich Mamia besonders geschmeichelt. «Die Begabung hat Eva von ihrem Vater», vertraute sie Jochen stolz an. «Aber das ist doch Claudia», bemerkte dieser trocken. Danach herrschte andächtige Stille bis zum Schluß. «Klasse, Mama», schrie Toni als erster. Gerührt nahm Eva die Glückwünsche der übrigen Familienmitglieder entgegen. Am meisten freute sie sich jedoch, daß sie Petzold offenbar doch beeindruckt hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß er sich das Band noch anhören würde, schon gar nicht am selben Tag. Und nun war ihr Beitrag auf Sendung. «Ich krieg die dreihundert Mark!» jubelte sie. «Sarah, deine Klassenreise ist gerettet.» Ihre Tochter grinste verschmitzt. Dann zog sie sechs Hundertmarkscheine aus der Tasche und hielt sie hoch: «So machen wir es jetzt immer: dreihundert von Mamia, dreihundert von Papa. Mit den dreihundert von dir macht das neunhundert. In Zukunft gebt ihr alles überflüssige Geld mir, und ich werde hier der Vermögensverwalter.»
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5. Als hätte es ihr Claudia nicht angedeutet. Als hätte sie es nicht selber merken müssen, wo sich doch die Anzeichen häuften. Eva raufte sich zornig die Haare: Sarah, ihre liebe kleine, große Sarah und dieser nichtsnutzige, unscheinbare Fridolin. Lieh sich ständig Werkzeug von ihnen, sägte und hämmerte bis in die Abendstunden und ging mittlerweile auch noch ein und aus in ihrer Wohnung. Und ausgerechnet dieser knapp dreißigjährige Taugenichts machte sich an ihre Tochter heran und brach ihr das Herz. Oder wie sollte sie sein Verhalten verstehen? Sarah hockte in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer, verfaßte traurige Liebesbriefe und nahm ihn dann auch noch in Schutz. «Er ist kein Mistkerl! Mama. Ich liebe ihn. Aber er will mich nicht. Dabei habe ich es doch gefühlt. Du hast immer gesagt, ich soll mich auf mein Gefühl verlassen.» «Der macht ja wohl mit jeder rum. Den knöpf ich mir vor.» Eva stand entschlossen auf. Vergebens versuchte Sarah ihre Mutter zurückzuhalten. «Wenn du das tust, sprech ich kein Wort mehr mit dir. Das schwöre ich.» Als Jochen mittags nach Hause kam, zog sie ihn zur Seite. «Du mußt mit Sarah reden. Von mir will sie sich nicht helfen lassen.» «Ich kann jetzt nicht, unmöglich!» wehrte Jochen ab. «Jochen, es ist ernst! Fridolin, dieser Mistkerl, hat sie verführt. Ich könnte ihn umbringen.»
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Das wirkte. Jochen ließ alles liegen und klopfte an Sarahs Tür. Eine Weile hörte Eva aufgeregte Stimmen, dann schoß Sarah heraus und rannte die Treppen hinunter nach draußen. Einen Augenblick später folgte ihr Jochen mit hochrotem Kopf. Später stellte sich heraus, daß alles ein schrecklicher Irrtum war: Sarah hatte Fridolin zwar angehimmelt. Die Tränen flossen aber, weil er sie taktvoll zurückgewiesen hatte. Und das wiederum lag daran, daß er, der junge Referendar, sich in Britta verliebt hatte. Gleich beim erstenmal, als er Evas Freundin gesehen hatte, schlug der Blitz bei ihm ein. Im nachhinein ging Eva ein Licht auf, warum sich Fridolin in der letzten Zeit so eng an sie und ihre Familie angeschlossen hatte, warum er sich mit Claudia getroffen und ihre Nähe gesucht hatte. Trotz seiner grenzenlosen Leidenschaft war er bei Britta bisher keinen Schritt weitergekommen. Sie mochte Fridolin gern, hatte aber die Nase von Männern gestrichen voll. Ihre Ehe mit Thomas hatte sie sozusagen ausgesetzt. Nach dem letzten Weihnachtsfest kam er nur noch nach Hamburg, um seine kleine Tochter zu besuchen. In dieser seelischen Verfassung wollte sie keine neue Beziehung eingehen. Fridolins letzte Hoffnung waren Eva und Claudia. Durch sie riß der Kontakt nicht ab, über sie konnte er erfahren, wie es Britta ging. Im neuen Jahr führte ihn seine Beharrlichkeit endlich ans Ziel, und er verbrachte eine Nacht mit ihr. Aber danach wurde alles nur noch schlimmer. 98
Für Britta war es ein Ausrutscher, für ihn der Beginn einer Liebe, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte und die das ganze Leben andauern sollte. Kurzum: Er war ein schrecklicher Schwärmer, und Eva und Claudia wurde es langsam lästig, dermaßen unverhohlen von ihm eingespannt zu werden. Er war ja lieb und nett, aber wochenlang seine Inbrunst zu ertragen und Brittas eindeutige Zurückweisung, obwohl sie sich eigentlich nach Liebe sehnte, das war zuviel. Der März bescherte den Menschen einige warme Tage. Die ersten Mücken tanzten an den Eibufern, und Paare gingen händchenhaltend durch die Marsch. Die schönste Zeit für die drei Freundinnen, um ihre freien Nachmittage in der Gartenlaube zu verbringen. Sie stellten die Gartenstühle zur Deichseite hin. In Abständen von fünfzehn, zwanzig Minuten konnten sie riesige Containerschiffe beobachten, die sich langsam und majestätisch die Elbe hinabschoben in Richtung Nordsee: Logenplatz für Fernweh, Schaukel, um die Seele baumeln zu lassen. Eva hatte einen Grund zum Feiern: Nach mehreren Beiträgen für Hansa-Radio hatte sie sich ein Herz gefaßt und sich bei der Kulturredaktion des NDR-Hörfunks in der Rothenbaumchaussee vorgestellt. Die ausschließlich bunten Themen des Privatsenders, wobei bunt nur ein beschönigender Ausdruck für oberflächlich war, hatten Eva rasch genervt. Recherche und Vorbereitung hielt man dort offenbar für unnötig. Ihre Aufträge bekam sie ständig in letzter Minute. Beim öffentlich-rechtlichen Sender pflegte man statt dessen einen seriösen Journalismus. Eva konnte sich intensiv mit ihren Themen auseinander99
setzen und nutzte die Chance, die man ihr dort als zunächst freier Autorin eingeräumt hatte. Nach sechs Wochen gehörte sie bereits zu den festen Freien, was hieß, daß sie sich auf regelmäßige Beiträge verlassen konnte. Und darauf stieß sie mit ihren Freundinnen an. Claudia schenkte Sekt nach. «Halt! Nicht mehr! Sonst vergesse ich mich!» Britta lehnte ab, zu spät. Claudia lachte: «Darauf will ich hinaus.» Dann holte sie eine Handvoll Gummibärchen aus der Tüte und futterte Britta wie ein kleines Kind. «Einen für die fleißige Eva, einen fur die neidische Claudia und einen für den lieben Fridolin.» Britta mußte lachen und verschluckte sich prompt. «Ihr wollt also im Ernst, daß ich mich auf Fridolin einlasse? Das kann ich nicht.» «Er gibt sich solche Mühe», warb Eva mit verstellter, tieftrauriger Stimme. Aber Britta schaltete auf stur. «Er soll mich in Ruhe lassen.» «Damit du dich in Ruhe einigeln kannst?» fragte Claudia. «Ja! Einigeln, das ist genau, was ich brauche nach dem ganzen Streß mit Thomas.» Eva stimmte ihr zu. «Was? Das verstehst du?» widersprach Claudia. «Warum denn? Fridolin ist bezaubernd, wenn ihr mich fragt, völlig ungefährlich, aber bezaubernd! Und er liebt Britta, daran ist ja wohl kein Zweifel mehr.» Britta stöhnte: «Ja, eben, das ist es ja gerade.» «Also, wenn ich du wäre ...», begann Eva nachdenklich, «dann würde ich es mal ein bißchen probieren.» «Wie soll das denn gehen?» fragte Britta verständnislos. 100
«Na, nicht gleich mit Haut und Haaren.» Claudia gluckste: «Mit der Haut und mit den Haaren fängt es aber doch meist erst an.» «Das ist es ja! Und ich war zehn Jahre immer nur mit Thomas ...» Was Britta meinte, war wohl, daß die Gewöhnung an nur einen einzigen Mann über so lange Zeit in eine fatale Sackgasse führen konnte. Einerseits bot die Erotik mit dem vertrauten Partner keine Überraschung mehr, andererseits machte die Routine es unmöglich, die Intimität mit einem Fremden genießen zu können. Allein schon deshalb, weil der Hautkontakt anders war. Er roch anders, die Haare auf den Armen, die Wimpern, die Runzeln, die Leberflecke, die Falten, alles saß quasi verkehrt und mußte neu begriffen werden. Nicht nur die Menschen mußten sich verstehen, sondern auch die Häute. «O Gott, wenn ich mir vorstelle, ich stehe nackt vor Fridolin ...», unterbrach Eva laut ihren Gedankengang. Claudia drohte ihr scherzhaft mit dem Finger: «Du doch nicht.» «Ich meine ja nur, es ist nicht so einfach», erklärte Eva. «Man ist irgendwie fast jungfräulich verklemmt nach so langer Ehe, oder? Und dann mit einem Fremden ...» Eva ertappte sich dabei, daß ihr die Vorstellung plötzlich doch nicht vollkommen reizlos erschien. Denn während sie noch darüber nachdachte, sah sie unvermutet einen Mann vor sich: den neuen Chefredakteur des Senders, Dr. Reichenbach. Er kam aus dem launischen Kaleidoskop ihrer Erinnerung auf sie zu marschiert mit Hannah an der Hand und sagte mit einem amüsierten Lächeln: Sie mußte mal Pippi machen. Das war erst vor einer Woche gewesen. Aufgrund der üblichen Abstimmungsschwierigkeiten mit Jochen hatte sie ihre kleine Tochter 101
mit in den Sender genommen und für eine Sekunde aus den Augen gelassen, als sie ihr Manuskript ablieferte. Hannah war verschwunden, und sie suchte verrückt vor Sorge die Flure ab. Dann kam ihr die Kleine an der Hand des Mannes entgegen. Sein Lächeln hatte sie nervös gemacht. Jetzt verschwamm es und zog sich wieder zurück in den seltsamen Hinterhalt, in dem er sich eingenistet hatte: ein Tagtraum. Eva schüttelte den Kopf und lenkte sich hastig ab. Es war wesentlich beruhigender, sich über Brittas Situation den Kopf zu zerbrechen: «Die alles entscheidende Frage ist: Bist du in ihn verliebt?» Statt einer Antwort schob ihre Freundin die Sonnenbrille hoch und kicherte. «Positiv», urteilte Claudia. Erst jetzt kam Brittas Protest: «Nein, falsch! Bin ich nicht, ich bin's nicht.» «Wer dreimal lügt...» Eva setzte ein strenges Gesicht auf. Dann brachen alle drei in ein befreiendes Gelächter aus. Im April war Eva in einer Live-Talksendung aufgetreten als Ersatz für einen überraschend verhinderten Experten. Seitdem genoß sie eine bevorzugte Behandlung bei ihrem zuständigen Redakteur im Sender. Zwischen ihm und Eva hatte sich inzwischen eine freundschaftliche Arbeitsatmosphäre entwickelt, was sich nicht zuletzt an ihrem schnodderigen Umgangston ablesen ließ. «Hallo, Eva, hat er dich endlich gefeuert?» begrüßte Rainer sie, als sie ihm im Funkhaus in die Arme lief. «Im Gegenteil. Er interessiert sich für mein Opernprojekt.» Eva hatte gerade ein Gespräch mit Reichenbach 102
hinter sich, der Mann mit dem Lächeln, das sie nervös machte. Sie hatte ihm ein Porträt über die Sopranistin Karlotta Banderas vorgeschlagen. Grünes Licht hatte sie zwar noch nicht erhalten, aber er hatte ihr sein grundsätzliches Interesse signalisiert und sie darüber hinaus für den kommenden Tag zu einem Geschäftsessen eingeladen. Ganz zwanglos um 13.00 Uhr. Nicht schlecht für eine freie Journalistin, die erst seit einem knappen halben Jahr wieder Fuß faßte. Auch Rainer war beeindruckt: «Sieh mal einer an. An das Thema Oper hat er bis jetzt keinen anderen rangelassen. Ist sein Erbhof.» «Ich weiß. Ist ja auch noch gar nicht klar, was daraus wird», wiegelte Eva ab. Innerlich platzte sie fast vor Stolz. Rainer zwinkerte ihr zu: «Wenn's eine schafft, dann du. Apropos: Weißt du schon, daß Katharina uns verläßt? Sie geht zum Fernsehen in unsere Reichshauptstadt. Aber ihre Planstelle läßt sie hier.» «Ja, und?» «Was heißt hier und? Das war ein Tip.» Eva schwebte nach Hause und hatte dabei das Gefühl, daß alle Leute sie an diesem Tag anlächelten. Naja, vielleicht doch nicht alle. Als sie die Wohnung betrat, saß Jochen wieder einmal am Schreibtisch und brütete über einem Vortrag. Seit die Forschungsmittel aufgrund seines Referats verlängert worden waren, hatten sich seine Kollegen unisono dafür ausgesprochen, daß er den Schreibkram erledigte. Natürlich nicht mit diesen Worten, sondern mit viel Schulterklopfen und Respektbekundungen für seine Wortgewandtheit. Jochen war sich selbst gegen103
über allerdings zu ehrlich, um diese durchsichtigen Komplimente ernst zu nehmen. Gutgelaunt begrüßte ihn Eva. «Hallo, da bin ich wieder. Kommst du voran?» «Vorträge sind nicht gerade meine Stärke», stellte Jochen selbstkritisch fest. Außerdem kosteten sie ihn zusätzliche Zeit, und das, nachdem er zudem regelmäßig Notdienstschichten übernommen hatte. Er war überarbeitet. «Ach was», versuchte Eva ihn aufzumuntern, «das ist reine Nervosität. Wir müßten endlich mal wieder Urlaub machen. Ein großes Ferienhaus, ganz für uns allein. Wär das nicht toll?» «Hast du vor, eine Bank zu überfallen?» fragte er sie und lächelte halb spöttisch, halb resignierend. Eva ließ sich von seiner Frustration nicht anstecken: «Ich denke darüber nach. Dein Vortrag wird bestimmt wunderbar. Du bist der geborene Redner.» Jochen stutzte. Sicher, seit Eva zunehmend Erfolg mit ihren Beiträgen hatte, blühte sie auf. Ganz im Gegensatz zu ihm, der dahinzuwelken schien. In einem frischen Blumenstrauß hätte man ihn wohl aussortiert. Aber diese unerschütterlich gute Laune war ihm verdächtig. Und daß sie als begabte Hörfunkjournalistin seinen stockenden Vortragsstil lobte, war nachgerade ein Scherz. «Hast du was? Du bist so ... so positiv...», fragte er sie mißtrauisch. «Tatsächlich? Sei doch froh. Ich hab eingekauft. Essen machen mußt du selbst. Ich fahr gleich ins Gartenhaus.» «Irgendwas brütet sie doch schon wieder aus», seufzte Jochen. Aber Eva hörte das nicht mehr. Sie war schon zur Tür hinaus. 104
Am nächsten Tag traf sie sich mit Reichenbach zum Geschäftsessen. Sie fuhren ins Le Canard an der Eibchaussee, die Sorte von Restaurant, von der Eva ab und zu in Zeitschriften las unter Rubriken wie Was Sternekoch Viehauser als Festtagsbraten empfiehlt, und dann folgte üblicherweise eine ellenlange Proviantliste von Zutaten, die man beim besten Willen nicht auf dem Isemarkt besorgen, geschweige denn hätte bezahlen können. Während sie auf das Essen warteten, brachte Reichenbach sie zum Lachen, indem er von seinem ersten Rendezvous erzählte. Er stellte sich als unheilbaren Tolpatsch dar. Sein unkontrollierbarer Schluckauf hatte ihn seinerzeit um den ersten Kuß gebracht. Während er das erzählte, hatte Eva ausgiebig Gelegenheit, sein sympathisches Lachen zu studieren. «Und ich dachte immer, Männern passiert so etwas nicht, nur mir. Beim ersten Rendezvous war ich immer so nervös, daß ich jedesmal irgendwas schrecklich Peinliches angestellt habe.» «Schlimmer, als ich mich angestellt habe, geht es gar nicht», behauptete er und lächelte auf diese seltsam ansteckende und gleichzeitig beunruhigende Art, die Eva gleich beim allererstenmal aufgefallen war. Gut, sie war nicht auf den Kopf gefallen. Es lag auf der Hand, daß sein Interesse an ihr nicht ausschließlich im gemeinsamen Faible für Radiobeiträge über Opernmusik bestand. Trotzdem war doch nichts dabei, mit ihm in Hamburgs feinstem Restaurant zu Mittag zu essen, obwohl noch kein Wort über Karlotta Banderas und die Oper in Barcelona gefallen war. Sie war schließlich eine feste Freie, wie es im Jargon hieß; was war schon dabei, mit dem Brötchengeber ein zwangloses Gespräch über Jobs zu führen, 105
oder, wenn er darauf bestand, auch über Gott und die Welt, das erste Rendezvous, den ersten Kuß? Außer lächeln, und das fiel ihr ausgesprochen leicht, weil er tatsächlich amüsant und unterhaltsam war, mußte sie ja nichts machen. Solche und ähnliche Gedanken gingen Eva durch den Kopf. «Jetzt habe ich tatsächlich beinahe vergessen, was ich Sie fragen wollte», sagte er und machte eine bedeutungsschwangere Pause, «wir werden demnächst einen Wechsel in der Redaktion haben. Eine Mitarbeiterin verläßt uns zum Herbst. Sie haben vermutlich schon davon gehört.» Eva gelang es, einigermaßen überzeugend den Kopf zu schütteln. «Hätten Sie Interesse an der Position?» «Interesse hätte ich schon», erwiderte sie zögernd, «aber sind Sie sicher, daß ich die Richtige für die Stelle bin?» Ihre Zurückhaltung war nicht gespielt. Eine feste Stelle würde die ohnehin wacklige Balance zwischen Familie, Kindern und Beruf noch viel stärker belasten. «Ich weiß, was das für Sie bedeutet. Es würde Ihr Leben ziemlich umkrempeln. Sie müssen es sich zutrauen.» Er griff über den Tisch und legte behutsam seine Hand auf ihre linke. Sie war warm und trocken und seltsam leicht. Trotzdem hatte sie das Gefühl, daß ihre Hand am Tisch festgenagelt war. Vorsichtig zog sie sie zurück und tat, als müsse sie sich die Lippen mit der Serviette abtupfen. Dann hatte sie sich soweit gesammelt, daß sie ihm gefaßt antworten konnte. «Ihr Angebot ist wirklich sehr verlockend. Ich denke darüber nach.»
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Auf dem Nachhauseweg versuchte Eva ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte geschafft, was vor genau sechs Monaten noch undenkbar schien, als Hausfrau und Mutter nach zehnjähriger Pause in den Beruf wieder richtig einzusteigen. Warum war das eigentlich so schnell gegangen? Lag es an ihrem Können, am Glück, oder war es Protektion, weil Reichenbach sie sympathisch fand? Wahrscheinlich war es von allem ein bißchen, entschied sie. Wenn sie als Journalistin eine Niete gewesen wäre, hätte sie keine regelmäßigen Aufträge bekommen. Das Ausscheiden einer festangestellten Redakteurin ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt konnte niemand vorhersehen, und daß Reichenbach sie offensichtlich mochte, war wiederum unverkennbar. Warum hätte er sie sonst nach dem Essen noch in ein Musikgeschäft geschleppt, um sich verschiedene Einspielungen von Opernarien anzuhören, sie zum Kaffee eingeladen und anschließend noch einen Spaziergang vorgeschlagen? Anscheinend hatte er sich den ganzen Nachmittag für sie freigehalten. Blödsinn, wenn er mit seinen fünfundvierzig Jahren auf Abenteuer aus war, konnte er sich aus dem Troß der Sekretärinnen, Volontärinnen und Praktikantinnen mühelos eine Jüngere aussuchen. Reichenbach brauchte keine Mittdreißigerin mit drei Kindern. Basta. Außerdem konnte sie ja immer noch nein sagen, beruhigte sie sich selbst, sowohl was den Job anging als auch ... schrecklich, seine unaufdringlich werbende Art hatte sie tatsächlich verwirrt.
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«Was soll das heißen, du hast schon ein Haus an der See gemietet? Kannst du mir mal verraten, woher wir das Geld nehmen sollen? Arbeite ich nicht schon genug in letzter Zeit?» Jochen schien wirklich ernsthaft verärgert zu sein, geradezu fassungslos. «Hör mir doch mal zu. Das wollte ich dir doch gerade erzählen. Das Wichtigste weißt du ja noch gar nicht. Eine Redakteurin hat gekündigt, und man hat mir ihre Planstelle angeboten. Ist das nicht toll?» Es sollte eine Überraschung werden. Endlich einmal wieder Urlaub, die ganze Familie. Von ihrem ersten Festgehalt wollte ihn Eva bezahlen. Eine doppelte Überraschung sozusagen. Das war nun gründlich in die Hose gegangen. Jochen starrte sie entgeistert an: «Man hat dir eine feste Stelle angeboten? Und was hast du gesagt?» «Naja, daß ich es mir überlege», sagte Eva. Wobei die Überlegung schon zu einem Entschluß gereift war, was sie zwar verschwieg, aber durch die Urlaubsbuchung deutlich wurde. Jochens Gesicht verfärbte sich dramatisch. «Du mietest ein Ferienhaus, ohne mich zu fragen! Na schön, Schwamm drüber. Du entscheidest über deine weitere berufliche Zukunft, wiederum ohne mit mir vorher darüber zu reden. Meine Tochter macht in letzter Zeit sowieso, was sie will -» das galt Sarah, die sich mit einem klassischen Trick fürs gesamte Wochenende zu ihrer Freundin Jenny abgesetzt hatte: Mama hat's mir schon erlaubt, Papa hat..., und umgekehrt -, «langsam frage ich mich, ob es mich in dieser Familie überhaupt noch gibt. Vielleicht bin ich ja durchsichtig geworden.» Theatralisch breitete er die Arme aus und schaute verwundert auf seinen Körper, so, als ob dieser im Begriff 108
war, sich aufzulösen. «Wie kannst du so einfach ja sagen zu einer festen Stelle? Du wirst von morgens bis abends außer Haus sein. Was soll in der Zeit aus den Kindern werden?» «Jochen, jetzt überleg doch mal: Wir würden ein zweites Gehalt haben. Wir müßten nicht jede Mark zweimal umdrehen. Wir könnten uns ein Ferienhaus an der See leisten ...» «Und Hannah? Hast du mal an Hannah gedacht?» «Sie ist kein Baby mehr. Und den halben Tag ist sie im Kindergarten. Sarah und Mamia können sich nachmittags für ein paar Stunden in der Woche abwechseln.» Es war alles nur eine Frage der Organisation, das hatte sie schon häufiger gedacht. Problematisch war wie immer Jochens Einstellung dazu. «Weißt du, was ich denke? Das Geld ist gar nicht der entscheidende Punkt. Es ist der Job, der dich reizt, nicht wahr?» fragte er jetzt, hilflos, aber nicht mehr zornig. «Und was wäre daran falsch? Los, sag mir, warum ich keinen interessanten, gutbezahlten Job haben soll, der mir Spaß macht!» Darauf fand er keine Antwort. Eva schmiegte sich versöhnlich an ihn und fuhr mit den Händen sanft über seine Brust. «Es ist ja noch nichts entschieden. Und ich denke, wir sollten alle gemeinsam darüber reden. Nicht nur du und ich, sondern auch die Kinder und Mamia. Frieden?» «Erpresserin», murmelte er, als ihre Berührungen fordernder wurden. Sie hatten seit zwei Wochen nicht mehr miteinander geschlafen. Und er vermißte es wirklich, das wußte sie und fand es schmeichelhaft. Wenn man sich nach sechzehn Jahren noch begehrte, dann war das ein 109
gutes Zeichen. Er zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn. Dann wanderten seine Finger weiter und wurden frech, wie in alten Zeiten. Ein penetrantes Telefonklingeln riß sie um drei Uhr früh unsanft aus der Umarmung. Eva nahm den Hörer und meldete sich unfreundlich. Schlagartig setzte sie sich im Bett auf; am anderen Ende war die Polizei. Sie hatten Sarah aufgegriffen, nackt, auf einer Yacht, mit ihrem neuen Freund Sven. «Was ist los? Sind sie festgenommen worden?» Jochen sprang in seine Hose. Eva nickte bloß. «Wir sollen hier warten.» Einen Augenblick später entschied sie: «Ich laß doch mein Kind nicht im Stich!» Eilig stiegen sie in den Wagen und fuhren in Richtung Övelgönne. Der Anruf der Hafenpolizei war von der dortigen Revierwache gekommen. «Was hat sie sich bloß dabei gedacht, uns so anzulügen?» Wütend schlug Jochen mit der Hand aufs Lenkrad. Eva war nicht weniger enttäuscht als er. Instinktiv reagierte sie jedoch wie fast alle Mütter, deren Kinder man kritisierte. Sie nahm Sarah in Schutz. «Wir haben es ihr in letzter Zeit nicht gerade leichtgemacht.» «Ich finde, wir haben es ihr zu leichtgemacht. Und das kommt jetzt dabei raus. Sie macht einen Einbruch!» «Sie sind nicht eingebrochen», stellte Eva richtig. Aber die Tatsche, daß sie sich mit ihren sechzehn Jahren splitternackt auf fremden Booten herumtrieb, war schockierend genug, auch wenn sie ihren Freund Sven als netten Kerl kennengelernt hatte. 110
«Hättest du sie gehen lassen, wenn sie uns die Wahrheit gesagt hätte?» fragte sie Jochen. «Natürlich nicht.» «Siehst du!» «Unsere Tochter hat offensichtlich kein Vertrauen mehr zu uns, belügt und betrügt uns. Und du bist damit auch noch einverstanden», polterte Jochen, aber sie konnte ihm die Sorge um Sarah an der Nasenspitze ablesen. Und mit der Wahrheit war das so eine Sache. Zum Beispiel ihr Treffen mit Reichenbach: Wenn sie Jochen erzählt hätte, wie galant er ihr den Hof machte, würde er den angebotenen Redakteursposten mit ganz anderen Augen sehen. Diskret warb sie um Verständnis für Sarah und damit unausgesprochen auch ein wenig für sich. «Hast du noch nie gelogen oder einfach ein bißchen von der Wahrheit weggelassen, um jemanden zu schonen, den du liebst?» Jochen reagierte nicht besonders einfallsreich: «Das ist doch ganz was anderes!» Dieser Sturkopf! Eva nahm sich vor, den Rest der Fahrt den Mund zu halten, konnte sich eine letzte Bemerkung aber nicht verkneifen. «Es gibt Dinge, die man besser für sich behält. Sarah wird erwachsen. Da lernt man so was.» Als sie den Anleger erreichten, hatte sich die Sache bereits von selbst geregelt. Die Polizei ließ das minderjährige Liebespaar laufen. Die Yacht gehörte Svens ehemaligem Arbeitgeber. Er hatte von der Zweckentfremdung zwar nichts gewußt, mit Rücksicht auf das junge Glück sah er jedoch von einer Strafanzeige ab. 111
«Ist wirklich alles in Ordnung?» erkundigte sich Eva besorgt. Sie hatte immer gehofft, daß Sarah sie ins Vertrauen ziehen würde, wenn es um den ersten Liebeskummer und die ersten Erfahrungen mit Jungen gehen würde. Aber vielleicht war dieser Wunsch nur altbacken, gluckenhaft und völlig daneben. Sarah wirkte allerdings nicht wie ein verführtes Mädchen. «Klar. Wir haben ja nichts Schlimmes gemacht.» Jochens mühsam zurückgehaltener Ärger war sofort wieder entfacht. «So? Das nennst du nichts Schlimmes, was ihr hier angerichtet habt?» «Papa, ich weiß, du bist jetzt sauer auf mich. Es tut mir ja auch leid, daß die euch hergeholt haben ...» «Los, steig jetzt ein», befahl Jochen barsch und musterte Sven von oben bis unten. «Und Sie lassen sich besser eine Weile nicht bei uns zu Hause blicken.» Er war sich über die Wirkung seiner Worte so sicher, daß er sich bereits umgedreht hatte und in Richtung Auto marschiert war. Was Dickköpfigkeit anbelangte, war Sarah ihrem Vater jedoch ebenbürtig. «Ich fahr mit Sven nach Hamburg zurück.» Entgeistert fuhr Jochen herum: «Das kommt überhaupt nicht in Frage.» «Auf keinen Fall», pflichtete Eva ihm bei. «Du fährst jetzt nicht mit dem Motorrad.» «Ich bin mit ihm gekommen. Ich fahr auch wieder mit ihm zurück.» Sarah setzte sich auf den Sozius von Svens Maschine und stülpte sich den Helm auf, um weitere Ermahnungen nicht hören zu müssen. Ihr Freund blickte unschlüssig auf Jochen, dann auf Sarah, die vollendete Tatsachen geschaffen hatte. 112
«Es tut mir wirklich leid. Ich meine das alles», stotterte er. Dann schwang er sich ebenfalls auf die Maschine. Sarah klammerte sich an ihn. Grußlos fuhren sie davon. Als sie auf dem Heimweg waren, graute bereits der Morgen. Jochen kaute an seiner Wut und trommelte Schlagzeugsoli auf das Lenkrad. Schließlich brach der ganze angestaute Zorn aus ihm heraus: «Kannst du mir mal erklären, wieso ich mir wie ein verknöcherter alter Trottel vorkomme? Die müßten doch eigentlich ein schlechtes Gewissen haben.» Vielleicht auch nicht, dachte Eva. Was hatten sie schon verbrochen? Sie liebten sich und hatten die erste Nacht miteinander verbracht. Und dann war alles auch noch schrecklich schiefgelaufen: großes Strafgericht mit Polizei und Eltern. Da konnten selbst starke Naturen Komplexe davontragen. «Weißt du was?» sagte sie und zwinkerte Jochen verschwörerisch zu. «Irgendwann werden wir das alles mal sehr komisch finden.» Bis Hannah und Toni aufwachen würden, hatten sie noch zwei Stunden Ruhe. Vielleicht sollten sie zur Feier des Tages die Erinnerung an ihr erstes Mal wieder aufleben lassen.
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6. «L’amour est un oiseau rebelle», die Liebe: ein widerspenstiger Vogel, schmetterte Karlotta Banderas die großartige Arie im französischen Original. Eva hatte sich Kopfhörer aufgesetzt und summte mit, während sie den Einleitungstext für ihren Beitrag tippte. Dreizehnmal hatte der Komponist Georges Bizet das Libretto ändern müssen, bevor sich die anspruchsvolle Primadonna GalliMarie bereit erklärt hatte, die Rolle der Carmen in der Uraufführung zu übernehmen. Sie verlangte einen großartigen musikalischen Auftritt, und Bizet hatte praktisch über Nacht diese Arie zu Papier gebracht, die nun zu den berühmtesten der Operngeschichte zählte. Das war am 3. März 1875 in Paris. Die weltbekannte Mezzosopranistin von heute, Karlotta Banderas, war nicht weniger launisch. Aber auch Eva hatte es geschafft, sie zur Mitarbeit zu bewegen: Sie hatte ihr die Zusage zu einem Exklusivinterview abringen können. Anläßlich einer Benefizveranstaltung zugunsten des Wiederaufbaus der Oper in Barcelona hielt sich die Banderas für drei Wochen in Europa auf. Vielleicht würde Reichenbach sie Anfang nächsten Monats zur Premiere nach Spanien fahren lassen, spekulierte Eva heimlich. Aber allzu große Hoffnungen verbat sie sich. Auslandsreisen galten als Bonbon. Das war den Chefs oder aber langgedienten Mitarbeitern vorbehalten.
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Seufzend machte sie sich wieder an ihren Text, als es klopfte und Reichenbach seinen Kopf in ihr winziges Redaktionszimmer steckte. «Stör ich?» Ohne ihre Antwort abzuwarten - was sollte Eva auch sagen? - zog Reichenbach triumphierend zwei Tickets aus der Tasche und hielt sie ihr unter die Nase. «Barcelona, morgen, ab Fuhlsbüttel 12.30 Uhr. Pakken Sie was Leichtes ein. Die haben 40 Grad im Schatten. Aber eines müssen Sie mir dafür verraten. Wie haben Sie die Banderas so schnell rumgekriegt?» Eva starrte die Flugscheine an und mußte sich selbst in den Allerwertesten treten, bevor sie zu einer Äußerung fähig war. Das war verrückt, wie im Märchen. Man brauchte nur daran zu denken, und schon wurde es wahr. «Alles eine Sache der Verhandlungstaktik», erwiderte sie stolz, aber dann fiel ihr ein, daß sie unmöglich von heute auf morgen die Reise antreten konnte. «Wie soll ich meinem Mann erklären, daß ich in ein paar Stunden nach Barcelona fliege? Wie soll er das schaffen, mit den Kindern und überhaupt? Es tut mir leid, war wirklich eine gute Idee.» Sehnsüchtig schaute sie immer noch auf die Tickets. Aber ausgeschlossen, in ihren kühnsten Träumen hatte sie zwar gehofft, daß genau das passieren würde, war aber davon ausgegangen, daß es eine entsprechende Vorlaufzeit geben würde. Auch angenehme Überraschungen brauchen Zeit, um verdaut zu werden. «Na ja, vermutlich hat er recht», sagte Reichenbach. Täuschte sie sich, oder klang in seiner Stimme eine Spur von Enttäuschung mit? «Wieso?» fragte sie schlicht. 115
«Ich an seiner Stelle würde Sie auch nicht mit mir nach Barcelona fahren lassen. Ich kann ihn verstehen.» Evas Verwirrung stieg. Das konnte man eigentlich nicht mißverstehen: Reichenbach flirtete ganz unverhohlen mit ihr. «Fahren Sie hin», sagte sie betont sachlich, «es ist doch immerhin gut, wenn einer von uns morgen da sein kann, um das Interview festzuzurren.» «Nein, das ist Ihre Sache, und was soll ich da alleine?» Als hätte es noch irgendeiner Klarstellung bedurft, setzte er hinzu: «Sie entzücken mich, Frau Eva Janssen. Und das schon seit Wochen.» Dann trat er entschlossen auf sie zu und gab ihr einen Kuß. Im nachhinein konnte sich Eva nicht erklären, wie sie sich hatte hinreißen lassen können. Es war so einfach gewesen. Um ungestört zu sein, waren sie ins Gartenhaus an der Elbe gefahren, unter dem schwachen Vorwand, die Einzelheiten des Interviews in aller Ruhe zu besprechen. Reichenbach hatte ihr unaufdringlich, aber deutlich seine Zuneigung ausgesprochen, allerdings so galant, daß sie sich nicht bedrängt fühlte. Zu mehr als einem Kuß war es auch dort nicht gekommen. Dann hatte er sie zum Abendessen eingeladen und ihr dabei so den Mund wäßrig gemacht, daß es ihr schließlich selbst töricht vorkam, nicht doch auf das kurzfristige Angebot einzugehen. Spontaneität und Flexibilität gehörten nun einmal zu einer Journalistin, das müsse auch ihr Mann einsehen, soufflierte er ihr. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie kurz zu Hause angerufen, um sicherzugehen, daß Claudia sich 116
wie besprochen um die Kinder kümmerte. Jochen war noch nicht vom Dienst nach Hause gekommen. Deshalb konnte sie ihn nicht vorbereiten. Schließlich hatte Reichenbach sie in ein Nachtcafé mit klassischer Musik entfuhrt - «L'amour est un oiseau rebelle». Und plötzlich war es halb vier Uhr morgens geworden, als das Taxi sie in der Isestraße absetzte. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Schlafzimmer und lugte ins Bett. Hannah lag eng an ihren Vater gekuschelt, den Daumen im Mund. Als sie das Bett umrundete, stieß sie mit dem Fuß gegen einen Lego-Turm, der scheppernd umfiel. Jochen schreckte hoch und sah auf den Wecker. Bevor Eva zu einer Erklärung ansetzen konnte, fragte er schlaftrunken: «Ist Sarah da?» Seit der Geschichte mit Sven beobachtete er ihre abendlichen Ausflüge mit Argusaugen. «Ja, hab gerade geguckt, die liegt in ihrem Bett und schläft», erwiderte Eva, dankbar für die kurze Verzögerung, bevor es zu der wesentlich heikleren Frage kommen würde: Woher kommst du um diese Zeit? Zu ihrer Überraschung sagte er jedoch nur «Gut», drehte sich um und schlief weiter. Eva schob Hannah in die Mitte, die wie alle kleinen Kinder einen gesunden Schlaf hatte und nichts davon merkte, zog sich die Decke bis ans Kinn und starrte an die Decke. Was sie noch schlimmer fand als den befürchteten Streit, war der, der aus unerklärlichen Gründen ausblieb. Da hatte sie sich ganz umsonst verspannt und war auf ihren mühevollen Rechtfertigungen sitzengeblieben, die so lange in ihrem Kopf herumpolterten, bis sie so unansehnlich, falsch und vorgeschoben klangen, daß sie sie nicht einmal vor sich selbst gelten lassen konnte. Wahrscheinlich sammelt er 117
nur Kraft für das große Donnerwetter morgen früh, sagte sie sich. Gegen Morgen fiel sie in einen kurzen, unruhigen Schlummer. «Tschüs. Papa. Mach's gut.» Sarah drückte Jochen einen Kuß auf die Backe, bedachte ihre Mutter mit einem seltsamen Blick und verschwand zur Schule. Oder kam es Eva nur so vor? Verdammt noch einmal, sie hatte sich doch eigentlich gar nichts zuschulden kommen lassen. Seit dem Aufstehen wartete sie darauf, daß Jochen sie zur Rede stellte. Er gab sich jedoch heiter und gelassen wie selten und dachte offensichtlich nicht eine Sekunde daran, sie wegen ihrer späten Heimkehr anzusprechen. Entweder spielte er äußerst überzeugend den toleranten Ehepartner, oder es interessierte ihn wirklich nicht die Bohne. Eva wußte nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte. Aus ihrem schlechten Gewissen wurde allmählich Ungeduld und schließlich Kränkung, als er weiterhin im Plauderton Belanglosigkeiten von sich gab. Scheinbar bester Laune gab er ihr einen Abschiedskuß und ging zur Tür. Als er die Klinke in der Hand hatte, ergriff Eva endlich die Initiative: «Jochen! Warte, ich muß etwas mit dir besprechen. Die Redaktion schickt mich nach Barcelona.» «Mensch! Das ist ja toll», beglückwünschte er sie. Eva war über seine Reaktion so überrascht, daß sie einen Augenblick lang überlegte, ob sie sich verhört hatte. «Ja, findest du?» «Na, hör mal: Barcelona!» sagte er und nickte anerkennend. «Wann soll's denn losgehen?» «In vier Stunden.» So, nun war es heraus. Kurz und 118
knapp. Diesmal hatte sie ihn aus der Reserve gelockt. Verblüfft fragte er nach: «Was? Und das sagst du mir so ... beim Rausgehen?» Dann fand er jedoch wieder zu seiner Gemütsruhe zurück und lachte. Ja, tatsächlich, er lachte. «Vielleicht sollte ich 'ne Selbsthilfegruppe gründen für kinderreiche Männer erfolgreicher Frauen. Wieso denn so kurzfristig?» «Ich kann ein Interview kriegen mit der Banderas, und... da muß man schnell sein, sonst überlegt sie es sich vielleicht anders. Ich weiß ja, daß es unmöglich ist, aber ich wollte es wenigstens mal sagen», schloß sie kleinmütig. Jochen klappte seinen Terminkalender auf und strahlte wie der Weihnachtsmann. «Nu, hör mal aufzujammern, läuft doch alles bestens zur Zeit. Das müssen wir doch irgendwie hinkriegen! Wie lange bist du weg?» «Drei Tage.» Jochen studierte seinen Dienstplan: «Also, hm . . . heute kein größeres Problem, morgen . .. du müßtest Britta und Claudia anrufen, kannst du das noch machen?» Als sie nichts erwiderte und ihn statt dessen nur entgeistert ansah, setzte er aufmunternd hinzu: «Na, was ist? Pack die Kastagnetten ein! Drei Tage werden wir schon überstehen. Wenn du alleine fliegst, gibt sich auch deine Flugangst. Du wirst sehen, das ist ganz anders!» Wenn er nur wüßte, wie recht er hatte, dachte Eva. Sie atmete tief durch und sagte dann: «Reichenbach fliegt mit.» Jochens gute Laune bekam einen Dämpfer. «Ach, ich dachte, er hat das Opernprojekt an dich abgegeben.» «Hat er ja auch. Aber da steckt ja viel Arbeit von ihm drin ...» Erstaunlich, wie skrupellos sie flunkern konnte, 119
wenn es darauf ankam. Sie hörte sich praktisch selbst beim Sprechen zu und entschied, daß es wenig plausibel klang. «... er fährt hauptsächlich wegen der Banderas.» Jochen schluckte auch diese fadenscheinige Begründung problemlos herunter. «Ach so», sagte er leichthin, «verstehe. Na, dann sieh mal zu, daß er dir nicht den Rang abläuft. Du machst die besseren Interviews!» Eva verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte er die Unaufmerksamkeit besitzen, ihre Notlügen derart leichtsinnig für bare Münze zu nehmen? Waren Männer prinzipiell so unsensibel, oder hatte er das Interesse an ihr so gründlich verloren, daß sie ihm egal war? «Du willst also wirklich, daß ich fahre?» fragte sie tonlos. «Wieso ich? Willst du denn nicht?» «Doch, doch, natürlich», beeilte sie sich zu sagen. Zufrieden nahm er sie in die Arme und drückte sie. Offenbar dachte er, er müsse ihr Mut machen, damit sie die drei Tage ohne seine beschützende Großmut heil überstand. Auch das ärgerte sie. In dem Maße, in dem er sich souverän aufspielte, nahm er ihr unbewußt ein Stück Selbstwertgefühl. «Ich kann dich zum Flughafen bringen nachher.» Er schien ihr wirklich nichts zuzutrauen. Eva bemühte sich, begeistert zu klingen: «O ja!» Sie sah ihm nach, wie er die Treppenstufen hinuntersprang. Als er am ersten Absatz angelangt war, rief sie ihm nach. «Jochen? Liebst du mich noch?» Er winkte fröhlich. «Natürlich. Merkst du das nicht?»
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Britta und Claudia halfen ihr beim Kofferpacken. Natürlich hätte sie es auch allein geschafft, aber sie war froh, daß sie sich mit ihren Freundinnen noch einmal austauschen konnte, bevor es losging. Als sie sich über Jochens Blindheit beschwerte, erntete sie jedoch Unverständnis. «Er vertraut dir eben», meinte Britta, «wäre es dir lieber, wenn er dich dauernd kontrolliert?» «Ja! Dann wüßte ich wenigstens, daß ich als Frau noch für ihn existiere. Nicht nur als Muttertier und ... Organisationstalent. Jochen ist froh, daß er mich los ist», behauptete sie trotzig. Claudia fühlte ihr auf den Zahn. «So ein Unsinn! Ist doch toll, mal rauszukommen für ein paar Tage! Warum sollte er dich denn zurückhalten?» Gequält gestand Eva: «Reichenbach fährt mit.» «Ach, du Scheiße», entfuhr es Claudia, «weiß Jochen das?» «Klar. Das ist es ja. Es ist ihm egal. Ich meine, es ist ja auch egal», korrigierte sich Eva, «... mir bedeutet Reichenbach jedenfalls nichts. Aber das kann Jochen ja nicht wissen, oder? Wieso ist er nicht eifersüchtig, kann mir das eine erklären?» «Hat er denn Grund?» fragte Britta. «Natürlich nicht!» entrüstete sich Eva und erntete prompt skeptische Blicke. Das war nicht die Art von Hilfestellung, die sie gebraucht hatte. Wie sollte sie sich selbst über den Weg trauen, wenn es nicht einmal ihre Freundinnen taten? Am Flughafen musterten sich die beiden Männer höflich. Falls Jochen in diesem Moment ein Licht aufging, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Zuvorkommend 121
wünschte er Eva einen guten Flug und viel Erfolg. Als er hinter der Absperrung verschwunden war, wechselte Christoph Reichenbach wieder in das vertrauliche Du, das seit gestern zwischen ihnen herrschte. Widerstrebend ergab sich Eva dem Kribbeln, das sie dabei durchfuhr. Drei Stunden später landeten sie in Barcelona. «Termin bestätigt! Morgen krieg ich das Interview», teilte sie Christoph freudestrahlend mit und gab ihm sein Handy zurück. «Sehr gut. Dann haben wir heute Zeit für Barcelona.» Christoph legte behutsam den Arm um sie. Als er keinen Widerstand spürte, rückte er im Taxi etwas näher an sie heran. Eva sprudelte nervös los, als wollte sie mit der Plauderei noch einen kleinen Zaun vor der intimen Nähe aufbauen. «Kulturelle Höhepunkte, touristische Attraktionen? Vielleicht sollten wir uns einer Reisegruppe anschließen, wäre doch praktisch.» «Bedaure sehr, aber ich bin nicht gruppenfähig! Erwiesenermaßen.» «Stimmt, da hast du allerdings recht», bestätigte Eva, ohne darüber nachzudenken. «Wieso, sieht man mir das an?» fragte er verblüfft. Eva begutachtete ihn schelmisch: «Ja!» «Wieso sollte auch ein Leben als Einzelgänger spurlos an mir vorbeigehen», jammerte Christoph theatralisch, «Klassenfahrten, Schulausflüge, Chorsingen ... du ahnst nicht, wie ich gelitten habe. Allein das Wort Team verursachte mir schon Magenschmerzen. Weißt du, ich war immer der, der alleine am Rand vom Schulhof stand und 122
die Matheergebnisse ausgerechnet hat, während die anderen wie die Idioten Fußball spielten.» Vielleicht war es dieses durchsichtige Understatement, das Eva ein Stück Überlegenheit zurückgab. Sie schmunzelte und strich ihm wie einem Erstkläßler übers Haar: «Ach, du warst das.» An der Hotelrezeption herrschte Chaos. Busladungen von Touristen bevölkerten das Foyer, bewimpelt, in kurzen Hosen, teilweise mit hilflos unter den Arm geklemmten Stickern ihrer Reiseveranstalter. Anscheinend gab es Probleme mit den Buchungen, denn die Angestellten schüttelten immer wieder den Kopf und hoben bedauernd die Hände. Endlich hatten sie sich an den Tresen durchgekämpft, und Christoph gelang es wie durch ein Wunder, die Aufmerksamkeit des Empfangschefs auf sich zu ziehen. «Reichenbach. Zwei Zimmer bitte für drei Tage.» «Haben Sie reserviert, Senor?» «Ich habe heute morgen angerufen», bestätigte Christoph. «Aber, es tut mir leid, wir sind belegt, completamente! Fiesta major, die Stadt voll mit Touristen! Haben Sie eine Reservierungsbestätigung?» Christoph wurde ungehalten. «Nein, hören Sie mal, Sie haben mir zugesagt.» Mit gequälter Miene blätterte der Angestellte in seinen Buchungsunterlagen. «Eventuell ... aber nur noch ein Zimmer», verkündete er schließlich unglücklich. Christoph schaute Eva fragend an. Sie reagierte rasch. 123
«Dann gehen wir eben woanders hin.» «Ich nehme das Zimmer», rief sofort einer aus der Menge der Touristen, die sich am Schalter drängten. Er zog ein Bündel Pesetenscheine aus der Brusttasche und streckte sie dem Empfangschef aufgeregt entgegen. «Moment mal», unterbrach ihn Eva. Christoph sah sie flehentlich an: «Bitte, ich will nicht im Sechs-Bett-Zimmer untergebracht werden.» «Was ist, nehmen Sie das Zimmer oder nicht?» fragte der Empfangschef mit wiedergewonnener Autorität. In Ausnahmezeiten regierte nur das Geld. Der Mann hatte es nicht nötig, darauf hinzuweisen. Eva schüttelte den Kopf. «Unmöglich», sagte sie leise, aber wenig überzeugend. Zehn Minuten später verstauten sie ihre Sachen in den Schränken des einzig verbliebenen Zimmers des Hotel Oriente. Christoph öffnete die Fensterflügel und atmete die warme berauschende Luft. Er zeigte ihr, daß sich direkt unterhalb ihres Fensters, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das «Liceu», Barcelonas großes, altes Opernhaus, befand. Planen und Holzlatten verbargen die Fassade. Die dringend notwendige Renovierung wurde mit Benefizveranstaltungen finanziert. Als sich Eva aus dem Fenster beugte, schlang er seinen Arm um ihre Taille. «Da haben wir doch genau das richtige Zimmer erwischt. Allerdings muß ich zugeben, daß ich nicht ganz sicher bin, ob es mir gelingt, so zu tun, als wärst du nicht da, wenn wir zusammen in diesem Bett liegen.» Eva drohte ihm schelmisch und deutete auf das große Sofa, das sich dem Doppelbett gegenüber befand. Offen124
bar verstand Christoph den Wink, denn fürs erste verzichtete er darauf, sie weiter zu bezirzen. Am Nachmittag bummelten sie durch Barcelonas Altstadt. Dann schlenderten sie auf der kilometerlangen Prachtavenue Ramblas, die gesäumt ist mit klassizistischen Bauten, bis zum Hafen hinunter. Das Mittelmeer, die schwüle Luft, die Palmen: Eva zog ihre Sandalen aus, breitete die Arme aus und atmete das Flair der Stadt, sie fühlte sich im stolzen, lauten, melancholischen Barcelona frei. Wie lange hatten Jochen und sie keinen Urlaub mehr gemacht? Drei Jahre? Vier Jahre? Sie schloß die Augen und stellte sich für einen Augenblick vor, daß ihr Leben auch hätte anders verlaufen können: keine Geldsorgen, Kinder erst mit Anfang Dreißig, nachdem sie als Journalistin ihre Meriten gesammelt hätte, einen Mann an ihrer Seite, der sich liebe- und stilvoll um sie bemühte, ihr die Welt zu Füßen legte. Kein Pragmatiker wie Jochen, sondern ein unkonventioneller romantischer Held mit Humor und Verstand ... und ein zärtlicher Liebhaber. Na ja, wenigstens das letztgenannte hatte sie erwischt. Sie aßen Paella mit Meeresfrüchten in einem kleinen Restaurant am Strand, knackten die Schalentiere mit den Händen, schlürften das Gehäuse aus, und leckten sich die Fingerspitzen ab. Dazu tranken sie trockenen Weißwein. Eva genoß jeden Augenblick. Spontan deutete sie die Figur der Carmen an, in der sie sich zumindest im Augenblick ein Stück wiederfand. «Ich hoffe nur», sagte sie, während sie eine Krebs125
schere aufbrach, «ich hoffe nur, die Banderas gibt nicht wieder so eine entzückende, harmlose Carmen ab. Keine wagt das richtig zu spielen, oder? Dabei muß Carmen ordinär sein, hemmungslos und frech! Immerhin: Die Männer bekreuzigen sich vor ihr! Aus Angst!» «Armer Don José. Er kann einem leid tun.» Christoph nagte selbstvergessen an einem Garnelenbein. «Na, hör mal, schließlich bringt er sie um!» empörte sich Eva. «Sie ist der Underdog! Zigarettenarbeiterin, Zigeunerin, ein gesellschaftliches Nichts. Aber das Tolle ist eben, daß sie sich damit nicht abfindet. Sie provoziert, sie lügt, sie läßt sich nicht kleinkriegen von den Männern! So eine laue, halbherzige Nummer ist mit Carmen eben nicht drin!» Evas Brust hob und senkte sich heftig, während sie ihre wilde und unbezähmbare Carmen verteidigte. Vielleicht lag ihre Erregung aber auch am Alkohol. «Sie ist eben meine Lieblingsheldin, zur Zeit», fuhr sie fast entschuldigend für ihren furiosen Ausbruch fort, «Ihre doch auch?» Sie rutschte ins Sie, ungewollt. «Nein», sagte Christoph und lächelte verschmitzt, «meine ist eher blond.» Instinktiv fuhr sich Eva durch die Haare. Dann lehnte sie sich an ihn, mit dem kleinen runden Tisch zwischen ihnen eine kleine Meisterleistung. «Weißt du, was wir jetzt machen?» fragte sie ihn. «Alles, was du willst, Carmela mia.» Es war schwerer, als es schien, oder zumindest schwerer, als sie es sich nach zwei Flaschen Wein ausgemalt hatten. Christoph machte eine Räuberleiter, und Eva kletterte 126
kichernd und schwankend über den Bretterzaun, der das Liceu umschloß. «Laß mich jetzt bloß nicht fallen», japste sie, «ich hab's gleich geschafft.» Dann war sie drüben und hörte, wie er auf der anderen Seite rumorte und fluchte. «Und du meinst, ich komme da alleine rüber? Stockdunkel hier.» Sie lauschte auf das Kratzen und Schaben an den Holzlatten. Dann plumpste Christoph zu Boden, nicht direkt neben ihr, sondern weiter weg. Es war totenstill und stockfinster. Allein zwischen den Säulenreihen des baufälligen Opernhausportals überfiel sie Beklemmung. « Christoph?» rief sie. Hinter einer Säule kam er plötzlich zum Vorschein. «Da bist du», sagte sie erleichtert. Stumm trat er auf sie zu und faßte sie an den Hüften. Sie schlang die Arme um seinen Hals. Ihre Münder trafen sich. Es hätte irgendwer sein können, dachte Eva, es hätte Jochen sein können. Es war Christoph. Er schenkte ihr ein paar Kreolen. Während sie Bustiers für Claudia und Britta gekauft und ein braunes Kordhemd für Jochen ausgesucht hatte, dachte er nur an sie. Wie aufmerksam er war; Eva schämte sich in diesem Moment. Es gab nichts an ihm auszusetzen. Er war so perfekt, daß es einem Angst machen konnte. «Für mich?» «Ja.» «Wie schön, danke.» «Sieht gut aus.» Sie strahlte Christoph an und küßte ihn auf den Mund. 127
«Du hast überhaupt keine Mitbringsel gekauft», wunderte sie sich. «Die Zeiten sind vorbei. Es hat sich herausgestellt, daß ich nicht ehefähig bin. Man erwartet nichts mehr von mir in dieser Hinsicht. Ich bin egozentrisch, workaholic, nicht anpassungsfähig und unberechenbar.» Wie er das aufzählte, schien er nicht besonders unglücklich zu sein mit seiner Selbsteinschätzung. «Klingt vielversprechend», schmunzelte Eva, «sagt das deine Frau?» «So sagte sie, ja. Und zwar laut und ziemlich überzeugend. Was soll's, ist lange her, und ich hab mich daran gewöhnt ... dachte ich jedenfalls bis jetzt.» Er sah sie mit einem langen, liebevollen Blick an. Bewaffnet mit Rekorder und Notizblock gingen sie auf das Opernhaus zu. Beim Einlaß gab sich Christoph bescheiden als Evas Assistent aus. Der Pförtner winkte sie herein und wies ihnen den Weg zur Künstlergarderobe. Dort empfing sie eine dicke Garderobiere, die bei ihrem Anblick gelangweilt nach hinten rief: «Senora, las paparazzi estan aqui, Senora, die Paparazzis sind da.» Karlotta Banderas gestaltete ihr Erscheinen wie einen Bühnenauftritt. Selbst jetzt, im Morgenmantel mit Turbanfrisur, stellte sie sich in Positur und legte ein huldvolles Lächeln auf. «Buenos diaz, Señora Banderas», brachte Eva heraus und fühlte sich in der ebenso fleischlichen wie inszenierten künstlichen Gegenwart Karlotta Banderas' vom er128
sten Moment an eingeschüchtert. Die Diva schenkte ihr ein knappes Lächeln, dann richtete sie ihre Kajal-geränderten Liz-Taylor-Augen auf die Gestalt im Hintergrund, und in ihrer Physiognomie verrutschte etwas. Sie lachte warm und freundlich. «Dios mio! Christoph, du? Was für eine Überraschung! Wie lange ist es her?» Christoph trat auf sie zu und gab ihr einen formvollendeten Handkuß. «Wie schön, dich wiederzusehen.» «Aber seit wann heißt du Janssen? Man hat mir einen Janssen angemeldet», beschwerte sie sich. «Ich möchte dir Eva Janssen vorstellen. Unsere begabteste Redakteurin. Eine hervorragende ...» «Begabt sind wir alle! Und was haben wir davon?» unterbrach ihn die Diva ungalant. «Kopfschmerzen! Ihr macht doch Hörfunk, oder muß ich mich umziehen?» Eva gefror das Lächeln in den Mundwinkeln. Sie setzte sich auf den angebotenen Schminkhocker. Drei Köpfe über ihr schwebte Karlotta Banderas' Handtuchturban. Die Diva gab reserviert Auskunft auf die Fragen, die Eva stellte, und unterbrach das Interview immer wieder, um mit Christoph durch gemeinsame Erinnerungen zu schweifen. Gott verdammter, elender Trick, fluchte Eva, während sie in den häufigen Pausen an den Knöpfen ihres Bandgerätes spielte, der Kerl mimt den Hilflosen, lockt mich her, nur um mir dann eine der berühmtesten Opernsängerinnen der Neuzeit als Duzfreundin vorzustellen. Bravo. Sie hatte die beschämende Gewißheit, daß sie zum bloßen Anhängsel degradiert war, daß Christoph 129
sie von Anfang an nur zu einem einzigen Zweck mitgeschleppt hatte. «Unsere begabteste Redakteurin ...» Pah! Fragte sich nur, auf welche Art von Begabung er anspielte. Nach einer Dreiviertelstunde beendete Karlotta Banderas die Audienz, indem sie Eva umstandslos verabschiedete. «Ich fand es sehr nett, ich hoffe, wir sehen uns mal wieder.» «Das wünsche ich mir auch», erwiderte Eva höflich. Innerlich kochte sie. Kaum waren sie außer Sichtweite, unten im abgedunkelten Zuschauerraum, fiel sie über Christoph her. Sie trommelte mit den Fäusten auf seine Brust und schrie ihn vor Wut zitternd an: «Du kennst sie und hast mir nichts gesagt! Warum hast du das gemacht? Wie hab ich denn dagestanden? Mann, war das peinlich! Ich könnte dich umbringen.» Christoph lachte verlegen und wehrte die Attacke halbherzig ab wie die eines Kindes, das sich erst austoben muß, bevor es zur Ordnung gerufen wird. «Unsinn, du hast 'ne tolle Figur gemacht! Ehrlich! Völlig souverän.» «Spinn doch nicht! Ich habe eine absolut lächerliche Figur gemacht! Das war unfair, das letzte! Du hast sogar was gehabt mit ihr!» Nicht daß Eva Eifersucht auf die Sängerin verspürte, der Stich saß tiefer. Sie war das junge Dummchen gewesen, das der ehemaligen Geliebten zur gefälligen Begutachtung vorgeführt wurde, ohne Vorwarnung und ohne Chance, die glattzüngigen Bosheiten zu erwidern. Aber natürlich verstand Christoph das wieder falsch. Er war ja 130
ein egozentrischer und unberechenbarer Mann, wie er sich selbst stolz beschrieben hatte. Für ihn schien Evas Ausbruch nur ein Anfall von weiblicher Hysterie zu sein, amüsant und rührend zugleich. «Hör auf», kicherte er, «ehrlich, es war nur eine Nacht, ganz belanglos. Wenn ich dir davon erzählt hätte, wärst du nur befangen gewesen.» Eva kapitulierte vor so viel ungenierter Frechheit. «Das ist doch das letzte! Was bildest du dir eigentlich ein?» «L'amour est un oiseau rebelle»: Karlotta Banderas' Sopranstimme ergoß sich über die Sitzreihen, eine reine, klare, anschwellende Tonsäule aus müheloser Kraft und Schönheit: Die Habanera-Arie, eine Liebeserklärung an die Urgewalt der Leidenschaft, an das Vergebliche, an die Unbeständigkeit, an den Widersinn zwischen Mann und Frau. Das Probenlicht tauchte die Bühne in glühendes Rot. Die Banderas: ein kleiner Punkt in 30 Meter Entfernung, ihre Stimme jedoch wie aus Konzertlautsprechern rechts und links neben ihnen. Eva und Christoph erstarrten und lauschten. Reichenbach zog sie an sich und küßte sie überfallartig. Sie roch sein dezentes After Shave, spürte seine Zunge in ihrem Mund. Dann erwiderte sie seine hungrigen Zärtlichkeiten. Carmen, Carmela, Carmencita ... der kleine rebellische Vogel Liebe. Katastrophen überraschen ihre Opfer nur selten. In der Regel haben sie eine Entstehungsgeschichte wie Wirbelstürme oder Erdbeben. Eva hatte die Warnsignale ihrer 131
persönlichen Katastrophe übersehen: die Streitereien mit Jochen, die ständig knapper werdenden Momente gemeinsam verbrachter Zeit, seine merkwürdige Gleichgültigkeit angesichts ihrer kleinen Fluchten. Aber auch das hatte sie verdrängt: die Skepsis ihrer Freundinnen, als sie ihnen von dem Trip mit Reichenbach nach Barcelona erzählte. Selbst wenn sie sich all diese Punkte in Erinnerung rufen und ihnen Schritt für Schritt nachgehen würde bis zu dem Punkt, an dem das Desaster eingetreten war, auf das unscheinbare, entscheidende kleine Detail, auf den Auslöser wäre sie vermutlich nicht gekommen. Und der war Sarahs seltsamer Blick am Frühstückstisch an dem Morgen, bevor sie ins Flugzeug stieg. Ihre Tochter hatte sie heimlich beobachtet am Nachmittag zuvor, als sie mit Reichenbach im Gartenhäuschen an der Elbe das Für und Wider der Reise besprochen hatte. Nicht weil sie ihrer Mutter nachspionierte, sondern weil sie mit ihrem Freund Sven die Laube zu einem ganz bestimmten Zweck aufsuchen wollte. In der Gewißheit, niemanden vorzufinden, waren sie engumschlungen bis zu den Hecken am Eingang des Grundstücks geschlendert und erwischten genau den Moment, als Reichenbach Eva einen, den einzigen, scheuen Kuß gab. Schokkiert war Sarah davongelaufen und hatte sich Claudia in der Schule anvertraut. Claudia hatte mit Britta Kriegsrat gehalten, und die beiden waren übereingekommen, vorläufig eine neutrale Beobachterrolle einzunehmen, zumindest solange Sarahs schlimmer Kummer es noch nicht notwendig machte, Jochen einzuweihen.
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Also hatten sie sich in Evas Abwesenheit wie abgesprochen um die Kinder und den Haushalt gekümmert. Ihre bemüht heiteren Mienen, gepaart mit Sarahs verheultem Gesicht und nicht zuletzt das völlige Ausklammern des Themas Eva bewirkten allerdings das völlige Gegenteil. Jochen wurde mißtrauisch und versuchte, seine Frau in ihrem Hotel in Barcelona anzurufen. Aus purem Zufall oder, wollte man der Theorie über die Entstehung von Katastrophen folgen, aus schicksalhafter Zwangsläufigkeit teilte ihm die Telefonzentrale an der Rezeption mit, daß Herr Reichenbach und Frau Janssen nicht auf ihrem Zimmer seien. Jochen bekam einen Tobsuchtsanfall, als er Claudia und Britta zur Rede stellte, die ihm kleinlaut die Wahrheit gestanden oder zumindest das, was sie für die Wahrheit hielten. Ironischerweise beruhte Sarahs Entdeckung ja auf einem Irrtum. Oder, besser gesagt, auf einem Warnsignal, das als bereits eingetroffene Katastrophe mißverstanden wurde. Die eigentliche Katastrophe folgte erst jetzt: Jochen setzte sich in das nächste Flugzeug nach Barcelona und klopfte an die Tür des Zimmers des Hotels Oriente, nachdem Herr Reichenbach und Frau Janssen – si, si, estan aqui - nach dem Interview mit der Opernsängerin wieder eingetroffen waren. Reichenbach schlenderte zufrieden im offenen Bademantel durch das Zimmer, und Eva zog sich gerade ihren Rock wieder an, als sie das Geräusch an der Tür hörten. «Ja, bitte», rief Eva und wendete sich leicht ab, damit 133
das Zimmermädchen nicht in Verlegenheit geriete, wenn sie in ihre Kleider schlüpfte. Das lange Schweigen, das auf das Türöffnen folgte, veranlaßte sie, sich wieder umzudrehen. Jochen stand in der Tür und schaute die beiden sprachlos an. «Jochen ...», schrie Eva entsetzt und raffte sich unsinnigerweise das Bettlaken vor die Brust. «Ich hab es nicht geglaubt... bis jetzt», sagte er tonlos, mehr zu sich selbst als zu Eva. Reichenbach erwachte aus seiner Versteinerung und schien ernsthaft den sinnlosen Versuch unternehmen zu wollen, die Situation zu verharmlosen. «Na, also, erst mal guten Tag, hätte ich das geahnt... ich meine, ich weiß, es sieht wirklich komisch aus, aber es ist nicht so, wie ...» Jochen ignorierte ihn vollständig. Er sah Eva mit unendlich traurigen Augen an: «Wie ist das nur möglich?» Sie konnte nichts erwidern und klammerte sich immer noch an das Bettlaken. Jochen machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Flur. Krachend fiel die Tür ins Schloß. Reichenbach atmete erleichtert auf und zog sich die Hose an. Gerade wollte er Eva komplizenhaft zublinzeln, als die Tür erneut aufgestoßen wurde. Mit wildem Blick und hochrotem Kopf stürmte Jochen wieder herein. «Ich gehe nicht! Wie komme ich denn dazu?» brüllte er. Dann faßte er Reichenbach ins Auge, der erschrocken zurückwich. «Wenn hier einer geht, dann Sie! Sie sind doch das Allerletzte, Abhängigkeiten auszunutzen, wie billig! In was fur ein schmieriges Stück bin ich hier eigentlich geraten?» Diese Unterstellung brachte Eva auf die Palme. «Ich 134
bin nicht abhängig! Von niemandem! Fällt dir nichts Besseres ein, als hier reinzuplatzen und uns zu beleidigen? Hör auf damit.» «Ach, so ist das: uns! Dann ist ja alles klar! Du hast nicht nur mein Vertrauen mißbraucht. . . » «Vertrauen?» fauchte Eva. «Da machst du es dir aber einfach! Komm jetzt bloß nicht mit deiner muffigen Moral.» Während sich der Streit zwischen dem Ehepaar zuspitzte, schlüpfte Reichenbach in Richtung Ausgang. Eva bemerkte es und hielt ihn zurück: «Nein, du nicht! Wieso solltest du gehen?» Dann packte sie mit erstaunlicher Kraft Jochens Arm und schob ihn aus dem Zimmer. Der ließ die Fäuste baumeln wie ein Boxer in der letzten Runde, sichtlich angeschlagen, aber derart aufgeputscht, daß er sich jederzeit wieder ins Getümmel stürzen würde bis zum Gongschlag. «Wir gehen», beschwor ihn Eva. «Unser Streit geht niemanden was an.» «Was gibt's denn da noch zu streiten», schrie Jochen mit überschnappender Stimme. Dann drehte er sich um und marschierte die Treppe hinunter. Erst im Foyer hatte Eva ihn wieder eingeholt. «Jetzt bleib doch mal stehen! Du kannst doch nicht einfach so abhauen! Jochen, laß mich doch wenigstens erklären ... wo willst du denn hin?» «Weg.» Er schob sie zur Seite und stürzte hinaus auf die Straße. Fluchend rannte Eva hinter ihm her. Diesmal erwischte sie ihn vor der Ampel an der nächsten Straßen135
ecke. Sie zerrte an seinem Ärmel. Die Ampel schaltete auf Grün, und Jochen setzte sich hölzern in Bewegung: «Laß mich in Ruhe.» «Nein, tu das nicht! Ich will mit dir reden, du läßt mich nicht hier einfach so stehen.» Wütend fuhr Jochen herum. «Was willst du eigentlich von mir?» Die Frage brachte Eva aus dem Konzept. Sie geriet ins Stottern: «Was ich?... Wieso? Ich meine, ich wollte dich nicht verletzen. Es tut mir leid. Aber du denkst, es hat nichts mit dir zu tun, und das stimmt nicht. Es hat sehr viel mit dir zu tun.» «Ach, jetzt bin ich auch noch schuld», fragte Jochen ironisch. «Nein ... schuld, das ist doch Blödsinn! Aber laß uns doch mal reden ... es ist doch alles nicht so schlimm.» Eva hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber jeder Ansatz von Erklärung verunglückte zu einem weiteren Mißverständnis. «Das darf doch nicht wahr sein!» Jochen verzog bitter seine Mundwinkel. Das Nicht-so-schlimm stachelte ihn sofort wieder auf. «Wo willst du denn jetzt hin?» fragte Eva kläglich. «Weiß ich nicht.» Vielleicht schoß ihm «My boots are made for walking» durch den Kopf. Einsam wie der Marlboro-Cowboy stapfte er weiter. Bittend hängte sich Eva bei ihm ein: «Ich will mit.» «Nein danke, mir reicht's, ich will allein sein.» Mit diesen Worten schüttelte er sie ab und verschwand im Strom der Passanten.
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Eva brauchte keine zehn Minuten, um ihre Sachen in den Koffer zu werfen. «Wartet er unten?» fragte Christoph. «Nein, jedenfalls kann ich nicht hierbleiben.» Entschlossen hob sie ihren Koffer vom Bett. «Ich geh jetzt. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll...» «Nichts, nichts. Du machst das schon richtig. Es reicht ja auch, wenn einer von uns unglücklich ist.» Reichenbach meinte tatsächlich sich und nicht Eva. Er schien sich ganz ungeniert selbst zu bemitleiden. Sie schnappte die Tasche mit ihren Einkäufen, schob das Gepäck durch die Tür und ging. Als sie das Hotel verließ, lief sie Jochen direkt in die Arme. Er musterte sie unschlüssig. Schließlich fragte er betont sachlich: «Wo willst du hin?» «Weiß nicht», erwiderte Eva. Im gleichen Moment setzte sie sich in Bewegung, und sie gingen wortlos nebeneinander her. Nach einer Weile begann das Tragen des Gepäcks Eva anzustrengen. Sie wechselte den Kofferriemen zwischen rechter und linker Schulter. Aber Jochen machte keine Anstalten, ihr etwas abzunehmen. Schließlich brach er das Schweigen. «Verdammt! Was habe ich bloß hier verloren in dieser beschissenen Stadt.» An der Ecke befand sich ein Imbiß. Sie machten halt und kauften sich panierte Tintenfischringe in der Tüte. Eva rutschte auf der Holzbank zur Seite, bis genug Platz für beide war. Er nahm die stumme Aufforderung an und setzte sich neben sie. 137
«Ich will jetzt wissen, wie lange das schon läuft mit diesem Typen.» «Also ... eigentlich erst seit gestern», sagte Eva leise. Jochen grinste höhnisch: «Seit gestern, ja?» «Glaubst du etwa, ich habe die ganze Zeit eine Affäre, und du weißt nichts davon?» Mißmutig wendete Jochen den Kopf ab. «Was soll ich denn glauben, wenn du heimlich mit deinem Liebhaber nach Barcelona fährst?» «Heimlich? Ich habe es dir doch gesagt. Es hat dich nicht interessiert. Ich bin nachts um halb vier nach Hause gekommen, es hat dich nicht interessiert. . . » «Also ist doch schon was gelaufen vorher», hakte Jochen sofort nach. «Nein! Ein harmloser Flirt, mehr nicht! Aber daß du mich so ignoriert hast, das hat mich getroffen. Du warst so weit weg von mir ... Ich hab mich gefühlt wie ein Möbelstück, an das du dich gewöhnt hast.» Eva spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Wie konnte sie Jochen das Vorgefallene begreiflich machen, ohne ihn dabei fortwährend weiter zu verletzen? Auf den Vorwurf der Vernachlässigung und der Lieblosigkeit reagierte er erwartungsgemäß aufgebracht. «Verdammt noch mal, was erwartest du eigentlich von mir? Wir gehen seit fast siebzehn Jahren abends zusammen ins Bett und wachen morgens zusammen auf. Wir haben drei Kinder, die wir zusammen versorgen. Ich muß einen Haufen Geld verdienen. Soll ich jetzt auch noch jede Nacht den Don Juan machen, damit meine Frau sich keinen anderen nimmt? Ist es das, was du meinst?» «Nein. Aber ein bißchen mehr Don Juan wäre nicht schlecht», erwiderte Eva. 138
«Tut mir leid, wahrscheinlich bin ich nicht der Typ.» Eva tastete nach seiner Hand. Den Tränen nahe flüsterte sie: «Doch, du bist ein wunderbarer Don Juan, und ich habe mich nach dir gesehnt. Ich sehne mich nach dir, weil ich dich liebe.» Auch Jochen kämpfte mit seinen Gefühlen. Schließlich stand er abrupt auf. «Na, komm. Irgendwo müssen wir ja bleiben heute nacht.» «Männer und Frauen passen nur in der Mitte zusammen, und das auch nur manchmal», hatte Mamia immer gesagt. Sie lagen beieinander in dem winzigen Zimmerchen, das sie trotz des Festa Major noch auftreiben konnten. Das Metallbett reichte von Wand zu Wand. Ein schmales Fensterchen, knapp unter Deckenhöhe, warf kaleidoskopartig wandernde Lichtkegel der draußen vorbeibrausenden Autos an die Wand. Barcelonas Nachtleben. «Ich find's wunderbar hier!» sagte Eva. «Weil ich dich liebe und endlich allein mit dir bin, ganz weit weg, in einer Zelle mit Bett.» «Meinst du nicht, diese Zelle ist zu klein für uns?» fragte Jochen nachdenklich nach einer Pause. «Im Notfall können wir ja das Fenster aufmachen.» Wieder ließ sich Jochen Zeit mit der Antwort, schließlich sagte er: «Vielleicht sollten wir noch ein paar Tage dranhängen, was meinst du?»
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