Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Oberst Konräds Ulfs von der Rigaer Mordkommission steht vor einer ...
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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Oberst Konräds Ulfs von der Rigaer Mordkommission steht vor einer schwierigen Aufgabe: In einem Neubaugebiet wurden zwei Kassenboten überfallen, als sie kurz vor Ladenschluß die Tageseinnahmen eines Textilgeschäfts abholen wollten. Der eine wurde niedergeschlagen und schwer verletzt, der andere wurde aus dem Taxi, das von der Bank für solche Fahrten angefordert wird, erschossen. Mit einer Beute von 86000 Rubeln entkommen die Täter unerkannt im Taxi. Die Ermittlungen beginnen. Während die Verkäuferinnen lediglich etwas zur Kleidung des Täters aussagen können, liefert ein alter Mann, der sich zufällig im Laden aufgehalten hatte, eine recht genaue Beschreibung, die eine schnelle Aufklärung verspricht.
Verlag: Sowjetski pisatel, Moskau 1983 © Sowjetski pisatel, Moskau 1983 Aus dem Russischen von Helga Gutsche ISBN 3-360-00320-9
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1989 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/252/89 • LSV 7204 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Lichtsatz: Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V15/30 Druck und Binden: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 948 4
Das Haus begann Ludvigs Rimsas Vater vor einem Vierteljahrhundert zu bauen. Damals war die Welt gerade dabei, sich vom Krieg zu erholen, und die Grundstücke wurden noch nicht nach heutigem Maß bemessen: sechshundert Quadratmeter und keinen Fußbreit mehr. Damals suchte man sich einfach ein passendes Stück Land, markierte seinen Abschnitt, indem man vier Pflöcke einschlug, eine Sperrholzplatte anbrachte und mit Tintenschrift seinen Namen darauf schrieb. Das war alles. Ja, so gut wie alles, denn das Exekutivkomitee fertigte die nötigen Papiere rasch aus - schließlich gab es kaum Anwärter auf Bodenparzellen. Und hier, etwa zwanzig Kilometer von Riga entfernt, schon gar nicht: nach damaligen Begriffen war Doni genauso abgelegen wie Tukums oder Ligatne. Früher, als ein Stück Land noch mit barer Münze bezahlt werden mußte, sparten sich die Leute das Geld vom Munde ab, aber seit es kostenlos zu haben war, riß sich niemand mehr darum: man hatte einfach nicht mehr das Gefühl, in den Besitz einer Wertsache zu gelangen. Ja, eine Parzelle hinter dem Werk für Elektrotechnik mochte noch ihren Reiz haben: dort gab es guten, fetten Schwarzerdeboden. Wen aber lockte schon der Streusand von Doni? Hier wuchsen weder Kartoffeln noch Möhren oder Rüben, höchstens Spargel konnte man eventuell noch anbauen, und auch das nur, wenn man haufenweise Mist herankarrte. Und wie kam man überhaupt dorthin? In diese Einöde! Erst ging es mit der Straßenbahn Nummer sechs bis zur Endstation — die Linie wurde damals noch eingleisig befahren, und an fast jeder Haltestelle wartete man auf einem Ausweichgleis, bis die Gegenbahn durch war —, und
anschließend fuhr man noch anderthalb Stunden mit dem Dampfer. Na ja, im Sommer mochte das angehen, aber im Winter? Auf Skiern? Nein, besten Dank! Vater Rimsa besaß einen alten Moskwitsch, der in seiner besten Zeit nur halb so schnell fuhr wie der heutige Shiguli. Dabei rollte er durch tiefsten Morast, als befände er sich auf einer glatten Fahrbahn. Außerdem besaß Vater Rimsa einen kleinen Sohn. Der spielte den lieben langen Tag Hopse und war ständig auf der Flucht vor dem Hausmeister, der nichts Besseres zu tun hatte, als die mit
Kreide aufs Pflaster
gemalten
Felder
wieder
wegzuwischen. Und schließlich besaß Vater Rimsa eine kränkliche Frau und einen kleinen Garten in der Nähe der Rennbahn, wo er in seiner Freizeit neue Apfelsorten züchtete, obwohl die Nachbarjungen die Äpfel gewöhnlich von den Bäumen rissen, bevor sie reifen konnten. Obendrein besaß Vater Rimsa eine Angel und ein paar Schwimmer, eine Scheu vor Menschenansammlungen und einen Hang zur Natur. Dieser Hang steckte in den meisten Bauern, die in die Stadt übergesiedelt waren, sich dort scheinbar gut eingelebt hatten und nun mehr verdienten als ihre ehemaligen Dorfgenossen. Trotzdem brach Vater Rimsa anscheinend nur zum Spaß nach Dorn auf - das war doch verteufelt weit weg! Aber warum soll man nicht einmal einen Ausflug machen? In der Hoffnung, ein Stück Speck oder ein paar Eier dafür einzutauschen, schüttete er etwas Seifenstein in eine Schachtel aus Wellpappe, die einst eine Gasmaske beherbergt hatte, und machte sich auf den Weg. Von der Chaussee zweigte ein kaum erkennbarer, miserabler Weg ab. Ein hundsmiserabler Weg. Nur Sand und Kiefern-
wurzeln. Später sollte Vater Rimsa erfahren, daß diesen Weg noch nie ein Auto befahren hatte und daß er zu einem entlegenen Gehöft führte, in dem zwei einsame alte Leutchen hausten. Der Weg war so miserabel, daß Vater Rimsa längst wieder zurückgefahren wäre, wenn er nur irgendwo hätte wenden können. Nach etwa einem Kilometer endete der Wald plötzlich, und der Wagen rollte über eine Wiese zum See hinab. Vor ihnen lag der Weiße See mit seinem hellen Sandgrund. Darüber wölbte sich ein strahlend blauer Himmel ohne ein einziges Rauchfähnchen. Der Junge lief zum Wasser und las ans Ufer gespülte Muscheln auf. „Wir könnten baden gehen", sagte der Vater mit einem Blick auf den See. In Ufernähe wuchs dichtes Schilf, und die trockenen Kolben rieben sich aneinander. Im Schilf tummelten sich Rotfedern, die mit ihren Schwanzflossen das Wasser peitschten. Vater Rimsa zog Hemd und Hose aus, streifte die Sandalen ab, ließ nach kurzem Zögern auch die Badehose ins Gras fallen und stieg nackt in den See. Er tauchte mit offenen Augen. Wasserpflanzen ragten wie Wolkenkratzer vor ihm auf, zwischen denen ein mürrisch dreinschauender Kaulbarsch hing, der die listigen runden Äuglein hin und her drehte. Seine Vorderflossen bewegten sich träge. Wenn ich ein Boot hätte, würde ich eine Aalschnur auslegen, dachte er. Und schon malte er sich einen frühen Morgen aus ... Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und über dem See wogen blutrote Nebelschwaden, er aber kontrolliert seine Aalschnur. Er hört die Barsche an der Schnur zerren, sieht, wie der weiße Bauch eines Aals auftaucht und verzweifelte Achten beschreibt, wie
Bleie im Wasser hängen und ein an den Haken geratener Schleierkarpfen hartnäckig seinen Kopf in den Schlamm bohrt. Am Ufer steht ein Haus. Ein weißes, zweistöckiges Haus mit Tiefgarage, Keller und Zentralheizung. Am Steg schaukeln ein silbernes Motorboot und ein einfacher Angelkahn auf den Wellen. Und um das Haus herum zieht sich ein Garten mit Apfelbäumen und einem Treibhaus mittendrin. Ja, dieses Haus kannte er in allen Einzelheiten. So ein Haus hatte er einmal am Ufer des Kisusees gesehen. Erfrischt stapfte er ans Ufer. Seine Frau lief im Badeanzug und mit wehendem Haar hinter ihrem Sohn Ludvigs her - der Kleine planschte im flachen Wasser. „Wir werden das Haus ,Villa Ludvigs' nennen", sagte Vater Rimsa, als er sich auf dem Trittbrett des Wagens niederließ. „Unsinn! Ich hab nicht die Absicht, in dieser Einöde zu versauern!" „In zwanzig Jahren wird eine Hütte auf dieser Robinsoninsel teurer sein als eine Siebenzimmerwohnung im Zentrum von New York." „Hör auf! Wenn du unbedingt ein Haus bauen willst, dann geh zu meinem Onkel und laß dir eine Parzelle hinter dem ,Teika' zuweisen, wie alle das tun." „Wo alle hingehen, wird's bald zu eng sein." „Aber hierher kriegst du mich nicht!" Und ob ich dich hierher kriege, dachte er. Genau hier werden wir eines Tages wohnen. Er holte eine Axt aus dem Kofferraum, schlug vier Pflöcke zurecht, schnitt ihre stumpfen Enden schräg zu und schrieb den Namen Rimsa auf die Schnittflächen. Die Pflöcke schlug er so ein,
daß sein Traumland auch einen kleinen Hügel umschloß. Der ideale Platz fürs Frühbeet! Auch ein paar Weinstöcke wollte er anpflanzen. Wenn er sie im Herbst gut verpackte, brachte er sie vielleicht über den Winter. Auf dem Rückweg hielt er an der Brücke über die Jugla. Es ging bereits auf den Abend zu, und am Fluß wimmelte es von Anglern. „Vor dem Krieg war das hier eine gottverlassene Gegend. Wenn's hoch kam, begegnete man zwei oder drei Anglern", ließ er wie nebenbei fallen und warf den Motor wieder an. Für ihn stand fest: er würde das Haus am Seeufer bauen. Dabei hatte er das Gefühl, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen.
Der erste Tag
1
Das Textilgeschäft befand sich in einem Neubau.
Es war so geräumig und hell, wie das nur der Fall ist, wenn die Geschäftsräume nicht erst nachträglich eingebaut oder rekonstruiert wurden, sondern von Anfang an im Projekt vorgesehen waren. Die Kunden konnten ungehindert zwischen den Regalen auf und ab schlendern und sich alles in Ruhe ansehen. Die Verkäuferinnen langweilten sich. Das war ihre Hauptbeschäftigung: Das Geschäft lag weit vom Zentrum entfernt, in einem neuen Wohngebiet, und die Kunden stellten sich erst gegen siebzehn Uhr, nach der Arbeit, bei ihnen ein — etwas Besonderes erwarteten sie ohnehin erst zum Monatsende. Als
sich die Verkäuferinnen alles erzählt hatten, was es zu erzählen gab, blickten sie, um die Zeit totzuschlagen, aus den Fenstern, die schräg nach außen eingebaut waren und die ganze Vorderfront einnahmen. Was sich vor den Fenstern abspielte, bot wenigstens einigen Gesprächsstoff. „Diese Bohnenstange hat schon wieder einen neuen Mantel. Sieh mal!" „Wo die Leute nur das Geld hernehmen? Das begreife ich nicht! Ich brauche meiner Mutter kein Haushaltsgeld zu geben und kann alles behalten, aber so was kann ich mir trotzdem nicht leisten." „Vielleicht ist sie mit einem Wissenschaftler verheiratet..." „Seit wann haben Wissenschaftler Geld? Das soll wohl ein Witz sein? Außerdem ist ihr Mann noch jung." Ein sympathischer Mann!" „Manche Leute haben ein Glück!" Vom Sehen kannten sie fast alle Bewohner des Viertels. Besonders die, die regelmäßig zur O-Bus-Haltestelle kamen. Einige von ihnen hatten, ohne es zu ahnen, einen neuen Namen erhalten: Sonja, der Lahme, die mit dem Rotfuchs, Jesus, der Blumenmann. "Guck mal, was für ein komischer Alter!" sagte eine Verkäuferin. „Der ist nicht von hier. Anscheinend will er zu uns." Der Alte blieb an der Glastür stehen, hielt sich einen Zettel vor die Nase und betrat schließlich das Geschäft. Sein Blick war unstet und abweisend, und sein Gesicht drückte jene wilde Entschlossenheit aus, die Welt, koste es, was es wolle, zu bessern,
bei der allen, die mit einem Beschwerdebuch ausgestattet sind, das Herz in die Hosen rutscht. Augenblicklich lösten sich die Verkäuferinnen von der Wand, und die Kassiererin lächelte freundlich. Der Alte ging mit krummem Rücken direkt auf sie zu und unterwarf sie ohne Umschweife einem regelrechten Verhör. „Was steht hier geschrieben?" Er reichte ihr ein zerknittertes Stück Papier - offenbar ein aus einem Karoheft gerissenes Blatt. „Virsnavasstraße vier, Aufgang vier, Wohnung einunddreißig, sonnige Zimmer, Nordlage ...", las die Kassiererin laut vor. „Und welches Haus soll das sein? Ich laufe schon eine geschlagene halbe Stunde hier herum, es ist bald sieben, und ich hab's noch immer nicht gefunden! Wer ist hier für die Nummerierung der Häuser verantwortlich?" „Wir wohnen nicht hier", meinte die Kassiererin achselzuckend, während sie Geldscheine in einem Kassenbotensack verstaute, und fügte dann hinzu, ihrer Meinung nach müsse man um das Haus herumgehen, am dritten Aufgang rechts abbiegen und dort noch einmal fragen. „Danke!" sagte der Alte kurz angebunden und trippelte rasch zum Ausgang. „Er will seine Wohnung tauschen", murmelte die Kassiererin träge und verplombte den Geldsack. Viel Geld war nicht darin — keine zweihundert Rubel -, und sie dachte daran, daß es in diesem Monat wahrscheinlich wieder keine Prämie geben würde, weil der Plan so kaum zu erfüllen war. Sie hätte wetten mögen, daß viele Bewohner des Viertels sich in diesem Monat Jacken und
Pullover gekauft hatten, aber natürlich im Zentrum. Aus Gewohnheit. „Im Fernsehen kommt heute Hauptmann Kloss", sagte die jüngste Verkäuferin. „Wir sollten allmählich aufräumen." „In einer halben Stunde können wir zumachen." Da flog die Tür auf, und wieder kam der Alte von vorhin herein. Diesmal im Sturmschritt. Offenbar war er jetzt ernstlich böse, denn er versetzte der Tür einen solchen Stoß, daß sie noch lange in den verchromten Angeln hin- und herschwang. „Wo ist Ihre Hausverwaltung? Ich werde hier für Ordnung sorgen!" „Das weiß ich nicht", erwiderte die Kassiererin in scharfem Ton. Sie hatte genug von dem Alten. „Das brauche ich auch nicht zu wissen." „Sie wissen nicht, bei welcher Hausverwaltung Sie arbeiten? Das ist ja großartig!" „Ich arbeite im Handel!" Der alte Mann ging langsam zu den Verkäuferinnen am anderen Ende des Saales, um dort seine Frage zu wiederholen. Die Verkäuferinnen sahen das Taxi mit den Kassenboten vor dem Geschäft halten. Viktors kam wie üblich herein, um das Geld zu holen. Er war ein athletisch gebauter junger Mann. Das Flanellhemd mit den hochgekrempelten Ärmeln, der breite Gürtel mit der Pistolentasche und die Jeans gaben ihm das Aussehen eines Cowboys aus einem Wildwestfilm. Im Gegensatz zu seinen Kollegen war er äußerst schweigsam. Wie es hieß, wollte Viktors im nächsten Jahr sein Medizinstudium beenden. Fast im selben Moment, in dem das Taxi vor dem Geschäft
hielt, kam ein Mann mit einer großen Sonnenbrille herein. Er hielt eine zusammengerollte Zeitung in der Hand. Der Mann blieb vor dem drehbaren Ständer mit den Krawatten stehen und ging sie, das Gesicht der Wand zugekehrt, der Reihe nach durch. Die Verkäuferinnen sahen ihn hereinkommen, beachteten ihn aber nicht weiter. Fürs erste. Denn mit Viktors' herrlichen, gebräunten Muskeln konnte seine gebeugte Gestalt mit den abfallenden Schultern nicht konkurrieren. Viktors grüßte laut, empfing aus den Händen der Kassiererin en Geldsack und ging mit langen, federnden Schritten zur Tür. Er hatte sie schon fast erreicht, als sich der Mann mit den abfallenden Schultern rasch umdrehte und ihm die zusammengerollte Zeitung über den Hinterkopf schlug. Man hörte ein dumpfes Krachen. Viktors stand einen Augenblick wie erstarrt da und stürzte dann zu Boden. Die Verkäuferinnen stießen ein durchdringendes Kreischen aus, worauf im Geschäft Totenstille eintrat. Die Kassiererin sagte später aus, sie hätte in diesem Moment sogar das Ticken ihrer Uhr gehört. Der Mann mit den abfallenden Schultern schien es nicht eilig zu haben. Er warf die Zeitung beiseite, die schwer, aber ohne einen metallischen Laut aufschlug, nahm den Geldsack und verließ das Geschäft. Viktors' Partner sprang mit der Pistole in der Hand aus dem Taxi. Zu seinem Erstaunen kam der Räuber direkt auf ihn zu. Ohne jede Hast. In aller Ruhe. Viktors' Partner hob die Pistole, da aber fiel aus dem Wagen ein gedämpfter Schuß, und der Kassenbote stürzte auf den Rasen. Der Taximotor heulte auf, der Mann mit den abfallenden Schultern warf sich auf den Sitz neben dem Fahrer, und der
Wagen raste davon. Im Geschäft war alles starr vor Schreck. Aus Viktors Mundwinkeln sickerte Blut. Als erster kam der Alte zu sich. „Wo ist das Telefon?" rief er. Beide Verkäuferinnen stürzten los, um ihm den Weg ins Lager zu zeigen, in dem das Telefon stand. „Ich rufe an, kümmern Sie sich inzwischen um die Verletzten!" Er übernahm aus eigener Initiative das Kommando, und alle ordneten sich ihm widerspruchslos unter. Zwei Minuten später kam er aus dem Lager, sagte, im Apparat sei ständig ein Besetztzeichen zu hören, und lief zum Telefonautomaten auf der anderen Straßenseite. In der Eile vergaß er jedoch, daß er zweimal zwei Kopeken brauchte - er hatte jedoch nur eine Münze für den Anruf beim Rettungsamt in der Tasche. Zum Glück hatten sich vor dem Geschäft schon ein paar Leute angesammelt, so daß sich noch ein paar Kopekenstücke fanden. Als der Alte zurückkehrte, wies er die Leute an, nichts anzurühren, und nahm an der Ladentür Aufstellung, um Neugierigen den Zutritt zu verwehren.
2
Valoja gehörte zu den Orten, mit denen die Be-
hörden nach Belieben umsprangen. Ein Wunder, daß sie es noch nicht umbenannt hatten. Aus der kleinen Ortschaft wurde eine Stadt, dann eine Sieddlung städtischen Typs und anschließend eine einfache Siedlung. Dieser Wandel bereitete dem Städtchen keine besonderen
Sorgen. Die Sorgen begannen erst, als es zur Kreisstadt wurde und später wieder aufhörte, eine Kreisstadt zu sein. Heute baut der Sowchos in Valoja immer neue vierstöckige Häuser mit Gas, Zentralheizung und fließend warmem Wasser, aber damals, als Ludvigs Rimsa nach Valoja kam, wurde dort nur individuell gebaut. Angefangen hatte das zur „Kreisstadtzeit", als die Leute Arbeit in den Landwirtschaftsverwaltungen, bei der Statistik, der Staatlichen Versicherung und bei anderen Stellen fanden, die nun einmal in eine ordentliche Kreisstadt gehören. Aber noch während sie Ziegel herankarrten und Fundamente gossen, wurde Valoja der Rang einer Kreisstadt wieder aberkannt. Die Verwaltungen, die ihr Inventar nicht abschreiben und zu Brennholz machen konnten, luden es auf Lastwagen und verfrachteten es in die nächste Kreisstadt, ihre ehemaligen Mitarbeiter aber standen da wie trauernde Hinterbliebene. Wo es früher eng gewesen war, standen plötzlich viele Räume leer. Wer angefangen hatte zu bauen, wollte sein Haus jedoch unter Dach und Fach bringen. Am längsten mußten die Räume auf neue Mieter warten, die einst die Miliz beherbergt hatten — dort wollte niemand einziehen. Zu guter Letzt übernahmen die Feuerwehr, der Stab der freiwilligen Milizhelfer und die Konsumgenossenschaft das Gebäude und stritten sich endlos darum, wer die ehemaligen Zellen im Keller benutzen sollte. Als die Leute ihre Häuser fertig gebaut hatten, wollten sie natürlich nicht mehr fort - nun mußten die Öfen geheizt werden, damit die Feuchtigkeit aus den Mauern wich und die Fundamente nicht vom Schwamm befallen wurden. Von dieser Beschäftigung aber kann man nicht leben, und die Leute begaben sich auf
Arbeitsuche. Zurück in den Kolchos wollte niemand. In Valoja gab es eine Post, eine Molkerei, ein Feuerwehrdepot, eine Konsumgenossenschaft, eine Schule, ein Geschäft, einen Friseur und eine Bahnstation ... Viel hatte sich hier nicht verändert. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis sich die Kolchosbauern nicht mehr fragten: „Wofür sollen wir etwas kaufen?", sondern: „Was sollen wir kaufen?" Im Wartehäuschen an der Bushaltestelle tauchten
viele
gleichlautende
Annoncen
auf:
„Neues
Einfamilienhaus mit Obstgarten dringend zu verkaufen." Und bald darauf hieß es statt „dringend zu verkaufen" „billig zu verkaufen". Die Verfasser dieser Annoncen träumten Tag und Nacht von den märchenhaften Lichtern Rigas und beklagten die Armseligkeit Valojas. Käufer fanden sich jedoch nicht, und ein Haus einfach seinem Schicksal zu überlassen, bringt nur der fertig, der es nicht gebaut hat. Da bahnten sich im Herbst plötzlich drastische Veränderungen an. Die Kunde von ihnen raste wie ein Blitz über Valoja hinweg und fegte mit seinem feurigen Schweif die Wände des Wartehäuschens an der Bushaltestelle leer. Auf der Basis der umliegenden Kolchoswirtschaften wurde ein Sowchos gegründet. Und wer statt eines verschwommenen „Am Jahresende werden wir sehen . . ." ein festes Monatsgehalt in Aussicht hat, will nicht mehr unbedingt in die Hauptstadt. Der neue Sowchos fand soviel Anklang und arbeitete so erfolgreich, daß sich die Hoffnungen der Menschen bald erfüllten. Plötzlich gab es Leute, die dringend ein Haus suchten. Nicht doch, wer wird hier ein Haus verkaufen? Da wäre man ja schön dumm! Beschaffen Sie mir
lieber Ziegelsteine oder einen Sack Zement, daran können Sie was verdienen! Oder bauen Sie selbst — die Handwerker scheffeln heutzutage in Valoja das Geld mit beiden Händen! Jeder
will
aufstocken,
Brunnen
graben
und
solide
Nebengebäude hochziehen. Abends schafft man nicht mehr viel, und tagsüber muß man seinem Beruf nachgehen. Eben zu dieser Zeit kam Ludvigs Rimsa — ein siebenundzwanzigjähriger, bis auf die beginnende Glatze ganz ansehnlicher Junggeselle — in die Stadt und mietete sich hier ein Zimmer. Ein Zimmer, in dem außer einem Bett noch ein kleiner Koffer Platz hatte. Unter dem Bett. „Bleiben Sie länger?" erkundigte sich die Wirtin. „Zwei Monate. Letztes Jahr hab ich keinen Urlaub genommen und hab darum jetzt zwei Monate frei." „Zur Erholung hätten Sie lieber ans Meer fahren sollen." „Ich hab mit Ihrem Sowchos einen Vertrag über die Neuwicklung sämtlicher Elektromotoren abgeschlossen." „Sie wollen arbeiten?" „Ja, ich muß Geld verdienen." Der Wirtin lag die Frage auf der Zunge: Wozu braucht ein Junggeselle Geld? Sie hob sich diese Frage aber lieber für einen späteren Zeitpunkt auf. In aller Herrgottsfrühe, wenn Valojas Bewohner noch friedlich schliefen, ging Rimsa in die Elektrowerkstatt, wusch sich mittags die Hände, schlang in der Kantine rasch zwei Teller Suppe hinunter und lief wieder zu seinen Elektromotoren, wenn die anderen noch in der Sonne hockten und rauchten. Und auch abends hatte er es nicht eilig, in sein Zimmer zu
kommen - in der Elektrikerbude brannte bis spät in die Nacht hinein das Licht. Der Brigadier riet Stiga, dem Direktor, einen so auf die Arbeit versessenen Burschen, der in zwei Wochen vierhundert Rubel zusammenraffte, für immer in den Sowchos zu locken. Aber der Direktor winkte nur lachend ab. Rimsa wurde mit den vertraglich vereinbarten Arbeiten noch vor dem Johannistag fertig. Er legte sich erst nach Mitternacht schlafen und wachte am nächsten Morgen spät auf. Dann bat er die Wirtin — sie häufelte im Garten gerade die Bohnen an — um ein Bügeleisen, weil sein guter Anzug, in dem er hier angekommen war, im Koffer Falten bekommen hatte. Er aß sich in der Kantine satt und ging zur Hauptbuchhalterin - einer vierzigjährigen, noch ganz ansehnlichen, aber bereits völlig ergrauten Frau. Zu dieser Hauptbuchhalterin ging niemand ohne eine Tafel Schokolade oder ein Blümchen in der Hand. Man mußte ihr
die Möglichkeit geben, vorwurfsvoll, aber
wohlwollend und so laut, daß es in allen Winkeln des großen, mit Tischen vollgestellten Raumes zu hören war, auszurufen: „Aber das war doch nicht nötig!" Die Schokolade wurde von allen Kolleginnen gemeinsam vernascht, und der Besucher bekam, was er brauchte - eine Unterschrift, einen Stempel oder eine Überweisung. Entweder wußte Rimsa das nicht, oder er war zu geizig - jedenfalls kam er mit leeren Händen. „Ich hab alle vertraglich vereinbarten Arbeiten erledigt", sagte er zur Hauptbuchhalterin. Die jungen Rechnungsführerinnen, die genau wußten, was nun kommen würde, heizten der grauhaarigen Dame mit spöt-
tischen Mienen ein und reckten in Erwartung ihres schlangenartigen Zischens neugierig die Hälse. „Davon ist mir nichts bekannt!" „Hier sind die Unterlagen", sagte Rimsa ruhig. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, daß er jemanden gekränkt haben könnte. „Sorgen Sie bitte dafür, daß ich so rasch wie möglich zu meinem Geld komme. Sonst muß ich extra noch einen Tag länger bleiben." Die Mädchen versteckten sich kichernd hinter ihren Aktenstapeln. „Halten Sie mich nicht von der Arbeit ab!" „Und was wird mit meinem Geld?" „So eine Unverschämtheit! Raus!" „Ich bin nicht hierher gekommen, um mir von Ihnen Grobheiten sagen zu lassen." „Gehen Sie mir aus den Augen!" Das Gesicht der Hauptbuchhalterin verzerrte sich vor Wut. »Ihr Geld kriegen Sie erst im dritten Quartal." Eine Weile trat Rimsa noch unschlüssig von einem Bein aufs andere, dann verließ er schweigend den Raum. Den jungen Rechnungsführerinnen tat er ein bißchen leid. Der Hauptbuchhalterin wahrscheinlich auch, aber nun konnte sie nicht mehr zurück, es sei denn, dieser Rimsa entschuldigte sich öffentlich bei ihr. Direktor Stiga war ein kluger Leiter, der sich nicht in die Arbeit der Hauptbuchhalterin einmischte: ein Betrieb, in dem Direktor und Hauptbuchhalter im Streit liegen, kommt auf keinen grünen Zweig. Deshalb war die grauhaarige Dame äußerst erstaunt, als Stiga sie eine Stunde später zu sich rief und zu ihr sagte: „Am siebenundzwanzigsten, wenn der Kas-
sierer die Lohngelder geholt hat, rechnen Sie mit Rimsa ab." Der Direktor sprach in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und die grauhaarige Dame begriff sofort, daß alles genau so geschehen würde, wie er es gesagt hatte. Sie erbleichte und beschränkte sich auf ein Nicken. „Ich werde mein Möglichstes tun." „Ich bitte darum!" War dieser Rimsa etwa ein Verwandter von Stiga? Aber Stiga hatte nie in Riga gelebt, sondern nur in einem Rigaer Vorort an irgendeinem See. Vielleicht stammte Stiga aus demselben Doni wie dieser Rimsa? Bisher hatte die Hauptbuchhalterin Stiga für einen in jeder Hinsicht integren Mann gehalten, nun aber geriet dieser Glaube ins Wanken. Ihr fiel ein Gespräch ein, das sie zufällig einmal mit angehört hatte. Der Direktor wollte sich einen neuen Wagen kaufen. Er hätte gern einen Moskwitsch gehabt, man bot ihm jedoch einen Wolga an. „Na schön." Stiga winkte ab. „Auf ein paar Tausender kommt's mir nicht an. Die Hauptsache, ich kriege einen Wagen." Natürlich bezog der Direktor ein ordentliches Gehalt und bekam auch hin und wieder eine Prämie, aber er hatte eine fünfköpfige Familie zu versorgen, und seine Frau arbeitete nicht. Die Hauptbuchhalterin überschlug die Einkünfte ihres Direktors und gelangte zu dem Schluß, daß er in zwei Jahren höchstens zweitausend Rubel zusammengekratzt haben konnte. Von so mühsam erspartem Geld aber sagt niemand: „Auf ein paar Tausender kommt's mir nicht an." „Hör mal", fragte sie den Kaderleiter mit samtweicher
Stimme. „Wie hieß doch gleich der kleine Ort, in dem Stiga früher gearbeitet hat?" „Doni." „Ach ja, ich erinnere mich. Dort gibt's einen Sowchos oder einen Kolchos." „Das weiß ich nicht. Stiga war dort Abteilungsleiter im Gewerbekombinat und hat dann ein Fernstudium an der Landwirtschaftsakademie abgeschlossen." „Aha, vielen Dank!"
3
Als Alvis Grauds zu dem Geschäft in der Virsna-
vasstraße kam, waren die Leute, die für solche Fälle zuständig sind, schon beinahe vollzählig versammelt: zwischen den Fahrzeugen der „Schnellen Medizinischen Hilfe" standen ein paar Einsatzwagen der Miliz. Die Milizionäre versuchten, die dichte Menschentraube, die das Geschäft umlagerte und furchtlos auch einen Teil der Fahrbahn einnahm, zurückzudrängen. Wie bei einem Brand, dachte Grauds und begriff gleichzeitig, warum die Szene eine solche Assoziation in ihm weckte: die Rettungswagen hatten die Rundumleuchten nicht ausgeschaltet, die nun einen roten Schein auf die Gesichter und die Kleider der Leute warfen. Sacht, aber entschieden schob Grauds einen hochgewachsenen Mann im langen Ledermantel zur Seite, der in der letzten Reihe stand. Der Hochgewachsene sah verständnislos auf Grauds herab: Schließlich stand er hinter allen anderen und störte niemanden. Außerdem war er so groß, daß es
gewöhnlich niemand wagte, ihn einfach beiseite zu schieben. Er rief Grauds hinterher: „Willst wohl nächste Haltestelle raus?" „Sie gestatten!" Grauds schob eine blasse, blutarme Frau, in deren Augen Tränen standen, zur Seite. „Sie gestatten . . ." „Wohin?" fuhr ihn ein schnauzbärtiger Milizionär an, der die Menge der Schaulustigen zurückdrängte und ihnen nicht erlaubte, die lediglich in seinem Kopf existierende Linie auch nur um einen Zentimeter zu überschreiten. „Kriminalmiliz." Grauds schob die Hand in die Tasche, um seine Legitimation herauszuholen, ließ sie dann aber doch stecken, weil der Milizionär sie gar nicht sehen wollte. „Entschuldigen Sie!" Der Milizionär grüßte und wandte sich gleich darauf wieder zu den Leuten um. „Wo wollen Sie hin?" An der Ladentür stand der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft, ein feiner Kerl, den Grauds jedoch noch nie anders als ernst und konzentriert gesehen hatte. Er beobachtete, wie die Sanitäter den angeschossenen Kassenboten vorsichtig auf eine Trage legten. Der Krankenwagen war rückwärts auf den Rasen gefahren, seine Türen standen sperrangelweit offen, und in seinem Innern machten sich emsig wie Ameisen ein paar Leute in weißen Kitteln zu schaffen. „Guten Abend", sagte Grauds zu dem Untersuchungsführer. „Guten Abend, Genosse Grauds!" Sie tauschten einen Händedruck, und gleich darauf fügte der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft hinzu: „Diesmal waren wir schneller als Sie." „Ich mußte, erst die Anweisung durchgeben, das Taxi zu stoppen, und vorher hab ich in der Bank angerufen, um die Wa-
gennummer in Erfahrung zu bringen. Das hat mich beinahe zehn Minuten gekostet." „Ist denn der Genosse Ulfs . . ." Grauds wartete das Ende der Frage nicht ab: „Er hat sich nicht wohl gefühlt und ist gleich nach dem Mittagessen nach Hause gegangen. Ich hab ihn angerufen und einen Wagen hingeschickt." „Ach, der gute alte Konräds." Der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft seufzte mitfühlend. „Bei unserer Arbeit braucht man eine eiserne Gesundheit und Nerven aus Stahl." Grauds reizten solche Gespräche. Es gab viele, die davon sprachen, daß Oberst Ulfs wohl bald in Rente gehen würde; manch einer wartete vielleicht sogar darauf, daß der Sessel des Abteilungsleiters frei würde; viele warteten darauf, aber niemand wagte es, Ulfs daran zu erinnern. Die Unterhaltungen, die darüber in den Arbeitszimmern geführt wurden, waren mit den Jahren so schal geworden wie die Gespräche über das Wetter oder die pfiffigen Streiche der lieben Kleinen. „Ja, ja, Nerven aus Stahl und eine eiserne Gesundheit." Grauds nickte. „Aber Konräds begreift das nicht. Vielleicht erinnern Sie ihn bei Gelegenheit mal daran." Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Na, ich gehe dann." Der Untersuchungsführer
der
Staatsanwaltschaft
war
kein
Dummkopf, und die Spitze in Grauds' Worten entging ihm nicht. Sein Gesicht nahm sofort wieder den gewohnten ernsten und konzentrierten Ausdruck an, der während des Gesprächs fast von ihm gewichen war. Viktors war schon abtransportiert worden. Dort, wo er gelegen
hatte, sah man Blutspuren und die mit Kreide nachgezeichneten Umrisse seines Körpers, die sich deutlich von dem dunkelgrauen Beton abhoben. „Guten Abend!" Grauds trat auf den medizinischen Experten zu, einen grauhaarigen, stillen Mann mit immer erschrocken wirkenden vorstehenden Augen. „Guten Abend!" Der Experte ergriff Grauds' Handgelenk und drückte es vorsichtig. „Keine erfreulichen Nachrichten für Sie." Im Geschäft hatten sich Milizionäre in Uniform und in Zivil versammelt. Sie waren voller Tatendrang und warteten nur noch auf das entsprechende Kommando. Die Kassiererin stand an der Hintertür und achtete - sei es aus Gewohnheit, sei es aus tatsächlicher Sorge - darauf, daß sich niemand an den Waren vergriff. Vielleicht kam das Grauds ihres scharfen Blicks wegen auch nur so vor. Grauds grüßte und ging, ohne zu fragen, an der Kassiererin vorbei, öffnete die Hintertür, zwängte sich zwischen den Kartonbergen hindurch, die in dem langen, dunklen Korridor aufgestapelt waren, und wäre mit der Nase fast gegen ein Schild gestoßen, auf dem in Kursivschrift das Wort „Verkaufsstellenleiter" stand. Aus dem Raum drangen das Schluchzen einer Frau und eine Männerstimme. Durch die Türritzen fiel das kalte bläuliche Licht einer Neonlampe. Beim Anblick der vertikalen Lichtstreifen mußte Grauds wieder an Ulfs denken, der ständig gegen solche „neumodischen Einfälle" wetterte.
Grauds klopfte und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür. Vor ihm lag ein kleiner, mit Möbeln voll gestopfter Raum, der Enge wegen hatte man den Eindruck, daß sich die Gegenstände gegenseitig stützten und ein Anstoß genügte, um alles ins Wanken zu bringen. Am Tisch des Verkaufsstellenleiters saß Juris Garancs, ein ehemaliger Studienkamerad, der jetzt als Inspektor der Abteilung für Innere Angelegenheiten im Stadtbezirk arbeitete. In der rechten Schreibtischhälfte befanden sich zwei Schubfächer. Das obere, das herausgezogen war, beherbergte den Telefonapparat. Dem Schreibtisch gegenüber stand eine Couch, auf deren Kante zwei junge Mädchen in kurzen Arbeitskitteln mit entblößten Knien saßen. Neben ihnen hockte bedrückt ein runzliger alter Mann; er sah aus, als hätte er gerade in einen sauren Apfel gebissen. Eins der Mädchen hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte leise; das andere Mädchen befand sich in einem fast hysterischen Zustand - ihr Gesicht war kreidebleich, und die Schminke war verwischt, aber das schien ihr
gleichgültig zu
sein.
Ihr
Schluchzen wurde
immer
hysterischer. Garancs wirkte ratlos. Wahrscheinlich hätte er die Befragung am liebsten einem anderen überlassen oder sie auf den nächsten Tag verschoben. Dazu aber hatte er kein Recht, weil sie dringend eine Täterbeschreibung brauchten. Grauds war sofort im Bilde. „Und die Kassiererin?" fragte er. „Die hat nichts gesehen." „Wieso nicht?" "Das ist ganz normal. Sie übergab dem Kassenboten den Geldsack, und damit war der Fall für sie erledigt. Sie schüttete
eine Handvoll Kleingeld vor sich aus und beugte sich darüber, um es nachzuzählen. Als sie den Kopf hob, drehte der Täter ihr schon den Rücken zu. Er verließ das Geschäft und ging auf das Taxi zu, so daß sie ihn nur von hinten sehen konnte." „Also Fehlanzeige?" „Er trug einen braunen jugoslawischen Regenmantel mit Raglanschnitt. Größe zweiundfünfzig." „Gut beobachtet!'' „Als Verkäuferin sieht man so was." „Der Regenmantel war nicht ausgesprochen braun", mischte sich da plötzlich der Alte ein. Seine Augen sprühten vor Tatendurst. „Er war graubraun." „Sie hielten sich doch am anderen Ende des Saales auf." Garancs musterte den Alten mißtrauisch. Der reagierte kratzbürstig: „Na schön, dann sage ich eben nichts mehr." Das Schluchzen des Mädchens wurde immer hysterischer, und Grauds lief erschrocken hinaus, um den Arzt zu holen, der irgendein Beruhigungsmittel bei sich hatte. Als er mit dem Arzt zurückkam, teilte Garancs ihm mit, daß das Taxidepot angerufen habe. Der Fahrer Ludvigs Rimsa wohne in Doni bei Riga in der ,Villa Ludvigs'. Im Taxidepot halte man Rimsa eher für ein Opfer als für einen Verbrecher. Beim Einsteigen sah Grauds Konräds Ulfs kommen, wollte aber keine Zeit verlieren. „Schnell!" rief er dem Fahrer zu. „Nach Doni." „Wo liegt denn das? Da. wo sich die Füchse gute Nacht sagen?"
„Irgendwo am Weißen See, ich sehe gleich mal nach." Als Grauds Ulfs aussteigen und auf das Geschäft zugehen sah, hupte er, öffnete den Wagenschlag und rief: „Ich rufe nachher an!" Ulfs nickte - also hatte er verstanden - und ging in seinem langsamen Seemannsgang weiter.
4
Nelli traf zur gleichen Zeit in Valoja ein wie Lud-
vigs Rimsa, wenn auch aus einer ganz anderen Gegend und auf eine ganz andere Art und Weise: sie ritt auf einem Pferd. Eine besonders gute Figur gab Nelli dabei nicht ab, weshalb sie, sobald ihr junge Burschen entgegenkamen, die kleine Nase krauste. Ein Onkel holte Nelli nach Valoja, damit sie hier eine „saubere" Arbeit bei der Post aufnehmen konnte. Auf dem Fuhrwerk standen zwei Truhen und ein halbes Dutzend Koffer. Beim Abschied von der Tochter hatte die Mutter vor Freude und vor Kummer zugleich geweint: der Deckel der obersten Truhe war sicher noch nicht trocken. Die Mutter war froh, daß es ihrer Tochter gelungen war, vom Kolchos wegzukommen: nun würde sie auf der Post Briefumschläge verkaufen, immer manikürte Fingernägel
haben,
nur noch
Seidenblusen
tragen
und
irgendeinen Valojer oder - was ebenfalls möglich war - einen Einwohner von Cesis oder Valmiera heiraten. Auf einen Rigaer wagte die Mutter nicht zu hoffen, war sie doch selbst in ihrem Leben noch nie bis Riga gekommen. Die Mutter weinte also eher vor Freude als vor Kummer: sie hoffte, die Tochter würde sie nach der Heirat zu sich nehmen.
Nelli hatte gerade die zehnte Klasse hinter sich gebracht. Sie war nun achtzehn, kokettierte gern und hatte Spaß am Tanzen und an anderen Geselligkeiten. Sie war ein gefälliges, gutmütiges Mädchen, das mit allen mitfühlte, und niemand hatte sie je zornig gesehen. Nelli hätte zwar weder eine Mona Lisa noch ein Modell für einen antiken Bildhauer abgegeben, ja nicht einmal ein Titelbild für eine Modezeitschrift, wirkte aber trotzdem recht anziehend, und nicht einmal ihre ungeschickt geschminkten Lippen und Wimpern beeinträchtigten diese Wirkung. Natürlich rechnete sie nicht damit, allen Valojern den Kopf zu verdrehen, war sich aber ziemlich sicher, daß einer von ihnen den Kopf verlieren und einen passenden Ehepartner für sie abgeben würde. Am ersten Samstagabend zog sie, vor Ungeduld bebend, ihr bestes Kleid an, malte sich mit einem schwarzen Stift kleine Häkchen in die Augenwinkel, rieb ihre Lackschuhe blank und ging zum Tanz in den alten Park des ehemaligen Gutes. Dort hatte man eine quadratische Tanzfläche aufgestellt. Auf einer kleinen Empore spielte ein Orchester, aber noch fehlte den Tänzern der Mut. Die jungen Männer hielten sich abseits, rauchten und spuckten durch die Zähne. Die Mädchen zogen sich ohne jede Notwendigkeit die Lippen nach und musterten die phlegmatischen Burschen mit kritischen Blicken. Nelli erstand eine Eintrittskarte, legte sie in ihr Handtäschchen und stöckelte kühn über die leere Tanzfläche. Sie spürte interessierte Blicke auf sich gerichtet und wußte, daß es an ihr nichts auszusetzen gab das Kleid mit den großen bunten Blumen stand ihr ausgezeichnet.
Sie hatte schon fast die Hälfte der Tanzfläche überquert, als einer der jungen Männer ihr zurief: „Wie heißt du, meine Hübsche?" Sie drehte sich zu dem jungen Mann um und biß sich kokett auf die Unterlippe: „Raten Sie mal!" "Ilga!" „Vija!" „Maiga!" „Aria!" So rätselten die jungen Männer herum, während sie mit lächelnd gesenktem Kopf darauf wartete, daß jemand ihren Namen erriet. Dabei merkte sie nicht, daß sich das Spiel zu sehr in die Länge zog und allmählich langweilig wurde - so etwas aber ist immer gefährlich. „Das ist die Buntscheckige! Mu!" rief plötzlich jemand mit einem Blick auf ihr geblümtes Kleid. „Die Buntscheckige! Mu!" riefen die jungen Männer im Chor und bogen sich vor Lachen. Nellis Augen füllten sich mit Tränen, und die Tusche begann zu verlaufen. Ein Schluchzen unterdrückend, lief sie zur anderen Seite der Tanzfläche, wurde aber auch dort mit erstaunlicher Eintracht empfangen. Sopran-, Alt-, Tenor- und Baßstimmen machten tiefsinnig: „Mu!" Nelli schrie auf und stürzte davon. Nichts hängt einem in einer Kleinstadt so an wie ein Spitzname. Nelli schien damit fürs ganze Leben gezeichnet zu sein. Sie hätte viel dafür gegeben, sich von ihm befreien zu können. Vielleicht war in Wirklichkeit alles nur halb so schlimm, aber immer, wenn Nelli jemanden lachen hörte, fühlte sie sich ausgelacht, und ihre
Augen füllten sich mit Tränen. Trieb man die Kühe an der Post vorbei, so traten ihr wieder die Tränen in die Augen, und sie hätte alle Kühe umbringen können. Gegenüber dem Haus ihrer Tante befand sich seit eh und je eine Molkerei, Nelli aber kam es so vor, als stünde sie einzig und allein dort, um sie zu ärgern. Trotzdem mußte sie es eines Tages riskieren und zum Tanz gehen, weil es sonst überhaupt keinen Sinn hatte, länger in Valoja zu bleiben. Gleich hinter dem Gutspark lag die von privaten Häusern umgebene Irbulenuwiese. Der Boden war hier so ausgedörrt und hart, und das Gras war so kurz, daß man glauben konnte, es sei nur dazu da, daß man darauf Purzelbäume schoß. Nach und nach zweigten die Anlieger zwar immer mehr von der Wiese für sich ab, aber noch hatte sie eine Größe von fünf bis sechs Fußballplätzen. In der Woche gehörte die Irbulenuwiese den Besitzern von Kühen und Ziegen; sie pflockten ihr Vieh darauf an und setzten sich selbst mit einer Gerte in der Hand ins Gras. Am Johannistag aber fand sich hier ganz Valoja ein. So war es auch in jenem Jahr. Als erstes rammten ein paar kräftige Männer eine lange Stange mit einem Teerfaß am oberen Ende in den Wiesengrund und machten sie sicherheitshalber mit Trossen fest. Dann schafften sie Holz und alte Reifen herbei, die, wenn sie erst einmal brannten, einen solchen Qualm entwickelten, daß man aus der Richtung, in die der Wind wehte, nicht an sie herankam. Für die Musikanten wurden lange Bänke aufgestellt. Die Leute strömten zusammen, sobald es dämmerte. Sie kamen in kleinen Gruppen und hatten Körbe mit Pasteten und Käse bei
sich; die Männer schleppten Blechkannen und Eimer voller Bier, und bei manch einem steckten in der Brusttasche auch noch härtere Sachen. Jede Gruppe entfachte ein Feuer, die Leute tranken Bier und sahen sich um. Dies war die Zeit, da die Musikanten eintrafen und ihre Instrumente stimmten, was sich ziemlich lange hinzog, weil jede Gruppe es als eine Ehrensache ansah, eine Abordnung mit Pasteten und einem Eimer Bier zu den
Musikanten
zu
schicken.
Dann
gingen
die
Unternehmungslustigsten daran, das Teerfaß anzuzünden. Wie üblich, erlosch der Zünder ein paarmal, bevor die Flamme das Faß erreichte, und die Schuld daran erhielt natürlich der, der ihn angezündet hatte, obwohl das aus dem Zünder tretende Öl der wahre Schuldige war. Die Burschen kletterten einander auf die Schultern und versuchten es von neuem. Und schließlich kam der Augenblick, in dem die Flamme vom Zünder über den Rand des Fasses sprang. Anfangs schien es, als hätte der Teer die Flamme erstickt, gleich darauf aber leuchteten die Luftlöcher im unteren Teil des Fasses hell auf, und die Flammen begannen dumpf zu tosen. Diejenigen, die bisher am Lagerfeuer gesessen hatten, sprangen nun auf und blickten andächtig auf das Johannisfeuer. Die ersten, die wieder zu sich kamen, waren die Musikanten sie spielten zum Tanz auf und sorgten für Stimmung. Nun begab sich jede Gruppe mit einem Lied auf den Lippen zu einem anderen Feuer, um die Nachbarn zu bewirten und ihnen Loblieder zu singen; die Nachbarn revanchierten sich und zogen gemeinsam mit ihnen zu einem dritten Feuer, und bald darauf drängte sich alles um das gelbrot lodernde Johannisfeuer, und die Irbulenuwiese dröhnte unter den stampfenden Füßen. Aus
diesem Kreis wurde niemand ausgestoßen, keinem wurden Bier und Pasteten verweigert, und man durfte jedes Mädchen um die Taille fassen. Am Johannisfeuer waren alle Menschen gute Nachbarn und Freunde. Ludvigs Rimsa war sich noch nicht schlüssig, ob er zu dem Fest gehen sollte. Er stand gerade am Fenster, als ein Kollege aus der Elektrowerkstatt vorbeikam. Dieser Kollege war mit einem fröhlichen Trupp unterwegs zur Irbulenuwiese; zu viert schleppten sie ein mit langen Handtüchern umwickeltes Bierfaß und luden jedermann zum Mitkommen ein. „Komm mit, alter Junge!" Der Kollege winkte Rimsa zu. „Ich weiß nicht", meinte Rimsa achselzuckend. Das Faß wurde mitten auf der Straße abgestellt, und der ganze Trupp grölte im Chor, den Blick auf Rimsas Fenster gerichtet: „Heute ist Johannistag, Sonnenwende. . . Heut feiern wir die ganze Nacht, Sonnenwende . . ." Rimsa trank wenig und behielt einen klaren Kopf. Er war guter Dinge, sang, tanzte, schenkte Bier aus und dirigierte, sprang übers Feuer und erzählte Witze. Er war wieder so unbeschwert wie vor acht oder zehn Jahren, als das Haus ihn noch nicht belastet hatte. Gegen Morgen erblickte er ein hübsches Mädchen — sie stand mutterseelenallein da und weinte. „Na, so was! Wer wird denn in der Johannisnacht weinen?" Er ergriff das Mädchen bei den Händen und zog es auf die Tanzfläche. Als der Tanz zu Ende ging, klatschten alle, damit die Musikanten weiterspielten. Das Mädchen lächelte unsicher. Und in diesem
Augenblick
drängte
sich
ein
breitschultriger,
rauflustig
aussehender Bursche zwischen sie und brüllte Rimsa ins Gesicht: „Mu!" Wie auf ein Kommando fing das Mädchen von neuem zu schluchzen an. „Nanu? Hat der Jungstier seinen Nasenring verloren? fragte Rimsa. Der Bursche, dem darauf keine passende Antwort einfiel, rief drohend: „Paß bloß auf! Dir juckt wohl das Fell?" Und er stapfte mit schweren Schritten davon. Rimsa bat das Mädchen, mit an sein Feuer zu kommen. Das Mädchen hieß Nelli. Tagsüber hatte es geregnet, und jetzt, in der Nacht, war die Luft schwül und feucht und roch nach kuhwarmer Milch. Die welkenden Kränze, die Blumen und der Kalmus verbreiteten einen, süßlichen Duft. Als Rimsa Nelli wieder zum Tanz führte, sagte er sich, daß eine hauptstädtische Kapelle mit Solo-, Baßgitarre und Saxophon hier, auf der grünen Wiese, überhaupt keine Chancen hätte. Ein dörfliches Blasorchester dagegen bringt die Menschen einander näher und verlangt nicht allzu ernst genommen zu werden, so daß man zwischendurch ruhig einmal ein Bier trinken oder ein paar Küsse tauschen kann. Durch Nellis dünne weiße Bluse sah Rimsa den Spitzeneinsatz ihrer Unterwäsche und ihre erregt wogende Brust. Und als Nelli sich an ihn schmiegte, streifte ihr kastanienbraunes, seidenweiches Haar sein Gesicht. Nelli war schüchtern, zutraulich und sanft. Aber leider viel zu jung, dachte Rimsa. „Tanzen wir weiter, oder gehen wir ans Feuer und
trinken einen Schluck Bier?" fragte er fröhlich. „Tanzen wir noch ein bißchen. Hinterher schmeckt das Bier um so besser." Hätte Rimsa hellsehen oder auch einfach nur in Nellis Augen lesen können, so wäre ihm nicht entgangen, wie dankbar und erstaunt diese ihn ansahen. Zugleich hielt Nelli triumphierend unter den Tänzern nach ihren Beleidigern Ausschau. An ihrem Feuer war es still geworden. Die Sangeslustigen hatten sich am Nachbarfeuer versammelt, und zurückgeblieben waren nur ein paar ruhige, gesetzte Leute. Die Krüge wurden nun nicht mehr ganz so rasch geleert. Die Runde fachsimpelte: Einer hatte ein Stück Kreide aufgetrieben und zeichnete ein Schaltbild aufs Bierfaß. Rimsa füllte zwei Krüge und stieß geräuschvoll mit Nelli an. Sie sahen einander in die Augen und leerten ihren Krug bis auf den Grund. „Gehen wir ein Stück spazieren." Nelli hatte gewußt, daß das kommen würde, sie wußte nur noch nicht, wie sie sich verhalten sollte. Ihr blieb jedoch keine Zeit zum Überlegen. Rimsa faßte sie einfach unter, und es wäre dumm und taktlos gewesen, sich zu sträuben. Im Park war es kühl. Rimsa legte Nelli den Arm um die Schultern, und sie duldete es. Sie sagte sich, daß es albern wäre, sich zu zieren und zu fordern, daß er Hand in Hand, wie im Kindergarten, mit ihr umherspazierte. Sein Arm lag schwer auf ihren Schultern, und sie spürte, wie stark er war.
5
Natürlich kann man nicht behaupten, daß alle
Bürger der Republik Konräds Ulfs gekannt hätten, auch wenn er oft im Fernsehen auftrat, die Fragen eines Kommentators beantwortete und aus der Arbeit der Kriminalmiliz berichtete. Genauso wenig kann man behaupten, daß alle Bürger Rigas ihn gekannt hätten, auch wenn er schon lange hier lebte. Sogar schon sehr lange. Riga war seine Heimatstadt. Konräds Ulfs wurde 1913 genau an dem Tag geboren, an dem Krause bei den vorolympischen
„Mars-Wettkämpfen"
hundertneunundachtzig
Pfund
riß
mit
einer
und
die
Hand Rigaer
Stadtverwaltung für viertausendachthundert Rubel das erste Desinfektionsfahrzeug mit einem Motor von vierundzwanzig PS erwarb. Dieses Fahrzeug hatte Räder mit Speichen und zwei vernickelte Signalhörner, und auf ihm stand in drei Sprachen zu lesen: „Städtische Desinfektionsanstalt". Die Aufschrift in lettischer Sprache war für die Deutschen ein großes Ärgernis und wurde als offene Rebellion ausgelegt. Ulfs Vater war ein Mensch, wie ihn sich jede Macht wünscht, weil er den lieben langen Tag im Schweiße seines Angesichts arbeitete, um das Brot für seine Familie herbeizuschaffen, und den
Leitartikeln Glauben
schenkte, in denen zu lesen stand, daß alle es gleichermaßen schwer hätten. Ulfs' Vater entwarf für Zeitungen und Zeitschriften Reklametexte, die damals noch recht einförmig waren: zuerst kam in großen Buchstaben der Name des Geschäftsmannes, und dann folgten ein paar Zeilen über das, was er anzubieten hatte: W. K. RIESLING Basteiboulevard 4
Flügel, Pianos, Harmonien Günstige Zahlungsbedingungen Nur hin und wieder warf jemand seinen Köder ein wenig geschickter aus: Dem verehrten Publikum zur Kenntnis! Da neuerdings einige Geschäftsleute mein Firmenzeichen mißbrauchen, um minderwertige Waren an den Mann zu bringen, habe ich die Ehre, dem verehrten Publikum hiermit mitzuteilen, daß sich mein Delikatessengeschäft nur in der Mariinskastraße 22 befindet, wo man jederzeit erstklassigen Schinken erhält, dessen Qualität ohne Konkurrenz ist. J. Eglits, Inhaber der Firma E. Zommers
Von früh bis spät lief er in feinem abgetragenen Mäntelchen in der Stadt umher, ging den Leuten lächelnd um den Bart, machte zurückhaltende Angebote und trug die Bestellungen in sein Notizbuch ein, des Nachts aber entwarf er Texte. Die Familie wohnte gegenüber dem Verrnanapark, hoch oben in der sechsten Etage. Aus den Fenstern der beiden Zimmer sah man die Dächer der Nachbarhäuser. Der kleine Konräds saß auf dem Fensterbrett und sah zu, wie die Kater über die Dachfirste balancierten. Die Mutter, eine kleine Frau von strahlender Schönheit, hatte Duburs' Schauspielschule absolviert, aber plötzlich erkannt, daß aus ihr keine Schauspielerin geworden war und auch niemals werden würde. Aus Verzweiflung verfiel sie darauf zu heiraten. Da sie den schweren Konräds nicht die Treppen hinauf- und hinuntertragen konnte, bestand sie darauf, die Wohnung zu tauschen. Der Vater wehrte sich lange dagegen. Auf seiner
Visitenkarte stand: "J. Ulfs, Werbefachmann, Riga, Elisabetesstraße", und das garantierte ihm gute Einnahmen: ein Werbefachmann, der eine Wohnung im Zentrum hatte, fand die entsprechende Wertschätzung. Wohnten sie dagegen in einer Arbeitersiedlung am Stadtrand, so würden sie nicht mehr zurechtkommen und in Schulden geraten. Nach langem Nachdenken schlossen sie einen Kompromiß: sie zogen in eine hübsche kleine Wohnung in der Grisinkalnastraße, ließen auf der Visitenkarte des Vaters aber die alte Adresse stehen. Gegen ein geringes Entgelt suchte die dortige Portiersfrau die für Ulfs bestimmten Briefe aus der hier eingehenden Post heraus. Vater Ulfs hoffte, daß sein Sohn einmal in seine Fußstapfen treten würde. Er träumte davon, eines Tages auf der letzten Seite einer großen Illustrierten eine farbige Anzeige zu erblicken, deren Text er schon lange entworfen hatte:
Werbeagentur J. ULFS & SOHN Unbegrenzte Möglichkeiten, annehmbare Preise
Und kein Wort mehr, weil sich lange Texte nicht einprägen. „J. Ulfs & Sohn" würde dort in Blockschrift stehen - ein Symbol für Solidität und Ewigkeit. Seinen Traum machte er zu Beginn der dreißiger Jahre wahr, einer Zeit, da die Krise in der Weltwirtschaft Fuß faßte. Anfangs verdiente Ulfs nicht schlecht, indem er Geschäftsauflösungen anzeigte, und die Auktionsgesellschaft stellte ihm eine billige Ausstattung für sein Büro in Aussicht.
Wenige Monate später aber machte er bankrott. Die Krise hatte ihren Höhepunkt erreicht, und die Leute kauften nur noch Grütze und Brot, so daß sich jede Reklame erübrigte. Bis an sein Lebensende aber ließ der alte Ulfs bei jeder Gelegenheit die Floskel ins Gespräch einfließen: „Das war, als ich noch die Werbeagentur hatte . . ." Den Sohn verlor er unterdessen aus den Augen. Konräds studierte Jura, las Bücher, spielte Tennis und nahm einmal sogar an einem Rennen teil, das der Lettische Automobilklub organisiert hatte. Deshalb kam seine Verhaftung während des Staatsstreichs von Kärlis Ulmanis für alle überraschend. Er wurde jedoch nicht lange festgehalten und durfte sogar sein Studium an der Universität fortsetzen. Bei seiner nächsten Verhaftung war er bereits im letzten Studienjahr und absolvierte gerade ein Praktikum bei der Kriminalpolizei. Es kam zu einem aufsehenerregenden, von der Presse stark beachteten Prozeß, den der Angeklagte gewann. Der Jurastudent operierte so geschickt mit Fakten und Paragraphen, daß es ihm gelang, seine Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation zu widerlegen, seine Kameraden vor einer Verhaftung zu bewahren und einer Verschickung zur Zwangsarbeit zu entgehen, die allen politischen Gefangenen drohte. Wie sich herausstellte, war er nur ein
kleiner
Gauner,
dem
man
lediglich
eine
kurze
Gefängnisstrafe aufbrummen konnte. „Unbekannte" schickten ihm Rosensträuße und die Nachricht: „Wir betrachten dies als Deine Diplomarbeit!" Die Vertreter der Staatsanwaltschaft rauften sich die schütteren
Bärte. Kein
Wunder! Ein
Staatsverbrecher war seiner gerechten Strafe entgangen. Der
Vater aber gab endgültig die Hoffnung auf, jemals gemeinsam mit dem Sohn eine Werbeagentur betreiben zu können, obwohl der Name Ulfs nun auch ohne die Zuhilfenahme massiver Blockschrift bekannt geworden war. Der Vater begriff, daß sein Sohn einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Er wußte nur nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte - ändern konnte er nichts daran. In einer „Schwarzen Berta" brachte man Konräds Ulfs in das Gefängnis an der Bahnstation Brasa, steckte ihn in einen gestreiften, pyjamaähnlichen Anzug und zwang ihn, ein halbes Jahr in einer alles andere als erlesenen Gesellschaft zu verbringen: er teilte die Zelle mit Wirtschaftsverbrechern, Leuten, die einen Bankrott vorgetäuscht hatten, zwei Schweinedieben, zwei Einbrechern, zwei Falschmünzern und einem zornigen jungen Mann, der sich mit den Worten vorstellte: „Ich sitze fremder Freuden wegen!" Dieser junge Mann hatte ein illegales Freudenhaus betrieben. Konräds Ulfs, der auf dem einzigen Stuhl im Zimmer des Verkaufsstellenleiters saß, konnte sich nicht erklären, warum er gerade an diese Episode aus seiner Jugendzeit denken mußte.
Schließlich gab es in seinem Leben wesentlich angenehmere Momente: seine Befreiung aus dem Gefängnis, nachdem die Sowjetmacht wiederhergestellt worden war, seine Ernennung zum Leiter einer Milizabteilung, seine Auszeichnung mit einem Orden als Frontkämpfer, die Geburt seiner Tochter, die Ehrungen, die ihm anläßlich seines sechzigsten Geburtstages zuteil wurden . . Nein, all das war im Moment in weite Ferne gerückt, überdeutlich
dagegen standen ihm die Zelle, die Falschmünzer und jener junge Mann vor Augen, der „fremder Freuden wegen" gesessen hatte. Was soll's, wenn wir uns nur an Angenehmes erinnerten, würden wir selbstzufrieden und träge werden, dachte Konräds Ulfs. . . . Das Beruhigungsmittel wirkte, und die Tränen auf den Gesichtern der Mädchen trockneten allmählich. Inspektor Juris Garancs befragte nun den runzligen alten Mann. Die geistige Anstrengung und die Hitze - der Alte schmiegte sich mit dem ganzen Körper an die Zentralheizung wie an eine Braut - hatten ihm kleine Schweißtropfen auf die Stirn getrieben, und Garancs wunderte sich, daß in einem so verhutzelten alten Mann soviel Flüssigkeit steckte. „Also . . ." „Er war rothaarig wie Rasputin." „Und die Nase?" „Ganz normal." „Genosse Ulfs", sagte Garancs, „ich werd ihm mal das Album vorlegen." Das Album enthielt Fotos von verschiedenen Augen, Stirnen und Nasen. Dieses vorsintflutliche Album war zwar offiziell nicht mehr im Gebrauch, aber im Gegensatz zu den wuchtigen, hochmodernen Projektionsgeräten, mit deren Hilfe in speziellen Räumen Fotorobots angefertigt wurden, konnte man es in einer Aktentasche bei sich tragen. „Später. Erst soll er mal erzählen, was er weiß." „Erzählen?" Der Alte runzelte die Brauen. "Ja." Ulfs nickte. „Wenn mir nicht jemand eingeredet hätte, daß die Luft hier draußen besser ist als im Zentrum, wäre ich überhaupt nicht
hergekommen. Dabei ist das Unsinn - in Riga ist die Luft überall gleich schlecht. Erst dachte ich, der Gestank käme von der Müllgrube am Ende der Deglavastraße. Da haben sie nämlich mal Abfälle verbrannt. Aber nein. Die Müllgrube qualmt nicht mehr, und die Luft ist trotzdem nicht besser geworden." Garancs warf Ulfs einen verzweifelten Blick zu. Der Alte wird uns hier noch ein paar Stunden festhalten, sagte dieser Blick. Ulfs kramte eine dunkelrote Kirschholzpfeife, einen Tabaksbeutel und Streichhölzer aus seiner Tasche und legte alles auf den Tisch des Verkaufsstellenleiters. Ich könnte ihn ja unterbrechen, dachte er, aber dadurch würden wir nichts gewinnen. Er würde doch bloß wieder sagen: „Eine ganz normale Nase." Und wenn wir ihm das Album vorlegen, kommt er ganz und gar durcheinander. Soll er sich ruhig seinen Ärger von der Seele reden, das wird ihn beruhigen und ihm sein Gleichgewicht wiedergeben. „Ja, ja", pflichtete Ulfs ihm bei. „Woher denn auch!" Der Alte machte vor Freude beinahe einen Luftsprung: einer verwandten Seele begegnet man nicht alle Tage. Garancs beschloß, sich mit den beiden Verkäuferinnen einen anderen stillen Winkel zu suchen. Es war besser, wenn sie das Geschwätz des Alten nicht hörten: es würde ihre Phantasie nur unnötig anregen. Da sie sich schon fast wieder beruhigt hatten, wollte Garancs sie nicht in den Verkaufsraum führen. Er fürchtete, sie könnten dort von neuem hysterisch werden. Darum ließen sie sich im Lager auf irgendwelchen in Sackleinwand genähten Ballen nieder, von denen ein feiner, beißender Jutestaub aufstieg, und unterhielten sich leise wie Kinder, die sich
vor den Blicken der Erwachsenen in einen entlegenen Hofwinkel zurückgezogen haben. „Woher denn auch!" wiederholte der Alte. „Die vergiften uns noch ganz und gar!" Ulfs sog an seiner leeren Pfeife. Im Mundstück gluckste Nikotinsaft, aber einmal konnte er sie noch stopfen. „Genosse Vorgesetzter, ich wohne in der Dzirnavustraße. Wie Sie vielleicht wissen, ist das keine schlechte Wohngegend: Geschäfte, eine Wäscherei, ein Kino - alles in der Nähe. Im Stadtzentrum. Aber eins fehlt: Luft. Da lese ich plötzlich, daß jemand eine Zweizimmerwohnung in der Virsnavasstraße vier gegen eine Zweizimmerwohnung im Zentrum tauschen will, und fange an zu überlegen . . ." Ulfs stopfte seine Pfeife und rauchte sie an. Noch wollte er sich nicht eingestehen, daß ihn das Geschwätz des Alten kein Stück weiterbrachte. Trotzdem freute er sich insgeheim, daß Garancs noch nicht wieder zurück war und nicht hörte, wie Ulfs bei der Befragung vorankam. Natürlich hätte Garancs niemals gewagt, sich offen über ihn lustig zu machen, was aber nicht hieß, daß er es im stillen nicht doch tat. „Na, und da dachte ich mir: Ich hab ja eine schöne Wohnung, aber dort, in einem neuen Viertel, ist die Luft bestimmt besser. Für alte Leute wie uns ist das sehr wichtig. Wir dürfen nicht zu fett essen und müssen uns viel an der frischen Luft bewegen. Dann überleben wir noch so manchen Jungen. Wir sind nämlich aus einem anderen Holz geschnitzt!" Der Alte verstummte so überraschend, daß Ulfs das Gefühl hatte, in einem Bus zu sitzen, der in voller Fahrt mir nichts, dir nichts bremst.
„Na, und weiter?" fragte Ulfs, als er wieder zu sich kam. „Ich ziehe nicht hierher. Die hiesige Luft taugt überhaupt nichts, ehrlich gesagt, stinkt sie nach verfaulten Knochen. Ich werd lieber versuchen, nach Sigulda oder Cesis zu tauschen. Das liegt im Kurortgürtel, da hat niemand das Recht, die Luft zu verpesten." „Sie haben mir noch nichts von dem erzählt, was hier Vorgefallen ist." „Ach, das war alles wie im Kino!" „Fahren Sie bitte fort. . . Entschuldigen Sie, ich weiß gar nicht, wie Sie heißen." „Golubowski. Nikolai Golubowski. Ich kam also in das Geschäft, um die Kassiererin zu fragen, welche Hausverwaltung für die Numerierung der Häuser verantwortlich ist, aber sie wußte es nicht, und da ging ich ans andere Ende des Verkaufsraumes, um die Verkäuferinnen zu fragen. Ich hörte zwar, daß jemand hereinkam und nachher noch einmal die Tür ging, achtete aber nicht weiter darauf." Ulfs hörte dem Alten zu und notierte sich dessen Adresse. „Als ich mich dann umdrehte, Genosse Vorgesetzter, hatte Dursis schon zugeschlagen. Ich wußte bloß nicht, wem er da eins übergezogen hatte. Das begriff ich erst, als er sich den Geldsack schnappte und damit verschwand." „Wer hat zugeschlagen? Wiederholen Sie das noch einmal!" Ulfs wäre vor Verblüffung beinahe die Pfeife aus dem Mund gefallen. Er konnte sie gerade noch auffangen. „Dursis." Der Alte kramte eine schäbige alte Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Zeitungsausschnitt.
„A. L. Dursis." „Ist das Ihr Nachbar? Woher kennen Sie ihn?" Ulfs sprang auf. Er glaubte noch immer, nicht recht zu hören. „Dursis ist nicht mein Nachbar, sondern Uhrmacher. Aber es wäre für die Leute besser, er würde sie bestehlen, als ihre Uhren zu verderben. Hätte ich den Kerl bloß nie gesehen! Wissen Sie, ich hab zu Hause eine Gustav-Becker-Uhr. Vierzig Jahre lang ist diese Uhr wunderbar gegangen, vierzig Jahre lang hat sie zu jeder vollen und zu jeder halben Stunde geschlagen ..." Jetzt aber war Ulfs nicht mehr imstande, sich Geschichten von einem Wohnungstausch oder von einer Wanduhr anzuhören. Er stand vor Golubowski, starrte in sein ärgerliches, runzliges Gesicht und fragte mit fremder, eisiger Stimme: „Sie behaupten also, in dem Täter den Uhrmacher Dursis erkannt zu haben?" „Ohne diese große Brille hätte ich ihn bestimmt erkannt!", sagte Golubowski, als wolle er sich rechtfertigen. „Haben Sie ihn nun erkannt, oder haben Sie ihn nicht erkannt?" „Ich habe ihn so gut wie erkannt." „Wie soll ich das verstehen?" Ulfs war wie versteinert, nur seine Lippen bewegten sich. Er stand in einer äußerst unbequemen Pose da, mußte sie jetzt, da er angriff, aber beibehalten, weil jede überflüssige Bewegung die Spannung gelockert hätte. „Einerseits war er's, andererseits war er's nicht. Neulich hatte er noch einen kleinen Bart." „Haben Sie ein gutes Personengedächtnis?" „Hm . . . Wissen Sie was: ich hab nichts gesagt." „Sie haben aber etwas gesagt!" „Ich glaube, es war doch nicht Dursis."
„Sie behaupten also, daß Dursis nicht der Täter war?" „Ich behaupte gar nichts." Ulfs ging um den Tisch herum und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht knarrte. „Sie glauben also, den Bürger Dursis erkannt zu haben, sind sich aber nicht sicher." „Ja, so könnte man es sagen." „Wieso haben Sie das den Milizionären, die als erste am Tatort eintrafen, nicht gesagt?" „Ich fange schon an zu bedauern, überhaupt was gesagt zu haben." Der Alte ließ den Kopf hängen. „Jetzt wird man mich für nichts und wieder nichts durch die Gerichtssäle zerren. Wenn ich mir sicher wäre, daß es Dursis war, hätte ich's den Milizionären schon mitgeteilt. Meine Nase sagt mir einfach, daß er's war! Einen wie den finde ich unter Tausenden heraus, weil er mir meine kostbare Uhr verdorben hat! Eine Gustav-Becker-Uhr, ich sagte es bereits . . . Ich hab deswegen sogar an ,Rigas Balss' geschrieben, hier bitte..." Er reichte Ulfs den Zeitungsausschnitt, den beide mittlerweile vergessen hatten. Der Artikel unter der Überschrift „Was uns stört" war zweispaltig gedruckt und zehn Zeilen lang. In ihm wimmelte es von Begriffen wie „Revolution", „Fünfjahrplan", „Sozialismus", „Stoßarbeit", „Imperialisten", „Gustav Becker" und „Uhrmacher A. L. Dursis", der eine Reparatur nicht zum vereinbarten Termin und so nachlässig ausgeführt hatte, daß er dafür einen Verweis einstecken mußte. Die Unterschrift lautete: Nikolai Golubowski, Rentner. Die Spannung wich allmählich von Ulfs, dafür ereiferte sich plötzlich der Besitzer der verdorbenen Uhr, die nun nicht
mehr zu jeder halben Stunde schlug. Er schrie: „Ich hab eine Quittung! Die halbe Stunde leiere ich ihm noch aus den Rippen!" Golubowskis Aussage war äußerst interessant: Er behauptete, in dem Täter den Uhrmacher Dursis oder einen anderen Mann erkannt zu haben, der diesem - bis auf den Bart - unglaublich ähnlich sah. Das erleichterte die Fahndung erheblich, konnte man sich doch nun bei der Schaffung des Täterporträts auf ein Foto des Uhrmachers stützen. Der Gedanke, der Uhrmacher Dursis selbst könnte der Täter sein, entlockte Ulfs allerdings nur ein Lächeln. Inspektor Garancs hatte kein Glück: die Mädchen hatten absolut nichts gesehen. So merkwürdig es auch klingt: sie hatten zwar alles mit angesehen, sich aber kein Detail eingeprägt, das die Untersuchung hätte voranbringen können. Eine der Verkäuferinnen deutete zwar an, der Täter habe schwarzes Haar gehabt, berichtigte sich dann aber dahingehend, daß es einfach dunkel gewesen sei, und erklärte zu guter Letzt, daß sie sich das dunkle Haar möglicherweise nur einbilde. Während der Befragung bezog sich der Himmel, und es wurde dunkel. Die Mädchen hatten Angst, das Geschäft zu schließen und allein nach Hause zu gehen, so daß Garancs gezwungen war, Ulfs um einen Wagen zu bitten und sie nach Hause zu fahren. „Mach bei der Gelegenheit gleich die Adresse von A. L. Dursis ausfindig und besorg ein paar Fotos von ihm", sagte Ulfs. „Na, der wird sich über den späten Besuch freuen. Bei der Gelegenheit kann ich auch Golubowski nach Hause bringen, weil wir ihn morgen früh gleich wieder brauchen." Ulfs hatte nichts dagegen.
Golubowski, Golubowski . . . dachte er. Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor!
6
Durch die Faulbeer-, Jasmin- und Fliederbüsche
schallte es von der Tanzfläche herüber: „Mama, liebe Mama, laß mich bummeln gehn und ein kleines Weilchen nur an der Gauja stehn . . ," Die Worte des Liedes waren deutlich zu vernehmen. Der Widerschein der Feuer auf der Irbulenuwiese huschte über den dunklen Sternenhimmel. „Und wo finden wir hier eine Gauja?" „Gehen wir sie suchen." Nelli lächelte schüchtern. Rimsa wußte, daß man, in so einer Nacht mit einem Mädchen nicht über die Faradayschen Gesetze, die Romane Zolas, den wiederholten Boxkampf zwischen Liston und Peterson oder über die Wahl der „Miss World" in der Londoner Albert-Hall spricht, weil man besser überhaupt nicht spricht, sondern einander küßt. Rimsa bog Nellis Kopf zurück, streichelte ihr seidiges Haar und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. Dabei stellte er verblüfft fest, daß sie im Küssen noch völlig ungeübt war. Aber sie entzog sich ihm auch nicht, weshalb er sie beim Küssen nicht noch enger an sich preßte, sondern ihr Haar und ihre Schultern streichelte. Dabei spürte er, wie sie zitterte. „Eine Gauja gibt's hier zwar nicht, aber wir könnten zum See hinuntergehen."
„Gut", antwortete Nelli leise. Rimsa zog seine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. Sie kam sich vor wie ein kleines Mädchen. Heute war sie zum ersten Mal richtig geküßt worden, denn die Küsse, die sie bisher mit ihren Klassenkameraden getauscht hatte, zählten nicht. Von Rimsas Küssen dagegen war sie wie berauscht. Sie befand sich in einem Zustand, in dem man gehorsam bis ans Ende der Welt mitgeht. „Gehen wir über die Wiese", schlug Rimsa vor. „Gut." Er küßte sie noch einmal, zog ihr dann die Schuhe aus und steckte sie in seine Jackentaschen, aus denen die hohen Absätze hartnäckig herauslugten. Das taunasse Gras war kalt und kitzelte an den Waden. „Ihre Hosen werden naß", sagte Nelli besorgt. „Deine!" „Deine Hosen werden ...." Wieder folgte ein langer Kuß. Wenn man sich anstrengte, konnte man noch das Orchester hören. Vor ihnen, im Tal, lag, in Nebel gehüllt, der See. „Wollen wir baden?" Nelli schüttelte den Kopf. „Aber ich." Wieder legte er ihr den Arm um die Schultern und ging mit ihr weiter. „Willst du nicht doch baden?" Sie schüttelte noch einmal den Kopf und setzte sich auf die Jacke, die er fürsorglich für sie im Gras ausgebreitet hatte. Als er sich ausgezogen hatte und langsam in den dunkelblauen,
silbrig glänzenden See stieg, bedauerte sie es, keinen Badeanzug bei sich zu haben. Zu gern wäre sie jetzt an seiner Seite gewesen. „Das Wasser ist herrlich!" rief Rimsa begeistert und schwamm ein paar Runden im Schmetterlingsstil. Es war nicht seine Art zu prahlen. Trotzdem aber sagte er sich, daß in Valoja wohl kaum jemand diesen Stil beherrschte. Mit einemmal kam ein leichter Wind auf, der Nebel lichtete sich, und Nelli erblickte auf einem nahen Hügel eine Scheune mit grauem Blechdach. Sie erschrak. Nein, das hatte sie nicht gewollt. Auf diese Weise sollte es nicht geschehen. Plötzlich konnte sie wieder klar denken. Er hatte sie absichtlich hierher gelockt! Das war widerlich! Ihre Sympathie für Rimsa schmolz, bereit, sich ganz und gar zu verflüchtigen, dahin. Von der Irbulenuwiese schallte Kreischen und Lachen herüber: wahrscheinlich hatten die Burschen ein paar Kleidungsstücke der Mädchen auf einen Baum geworfen und forderten nun ein Lösegeld von ihnen. Rimsa kam aus dem Wasser und zog sich rasch an. Anscheinend war ihm kalt, denn er hatte eine Gänsehaut bekommen und klapperte fast mit den Zähnen. „Gehen wir nach Hause", sagte Nelli übellaunig. Sie stand auf und reichte ihm seine Jacke. „Wer wird denn in der Johannisnacht zu Hause sitzen?" protestierte Rimsa. „Ziehen Sie Ihre Jacke an, Ihnen ist kalt." „Dir ist kalt. Dir!" Nelli antwortete nicht, Rimsa aber ignorierte ihren plötzlichen Stimmungswechsel. Er hüllte sie wieder in seine Jacke.
„Lieber erfriere ich, als mit anzusehen, wie du zitterst. Deine Bluse ist doch viel zu dünn." „Gehen wir nach Hause." „Na schön. Gehen wir." Rimsa legte ihr wieder den Arm um die Schultern und wollte mit ihr über die Wiese zurückgehen, aber nach ein paar Schritten blieb Nelli plötzlich stehen. Später rechtfertigte sie sich damit, daß sie Rimsa nur habe auf die Probe stellen wollen. „Gehen wir über den kleinen Hügel dort", sagte sie. „Das ist, glaube ich, näher." „Wie du willst." Nelli schritt zaghaft aus. Und vielleicht wären sie an der Scheune vorbeigegangen, vielleicht hätten sie sie im Nebel einfach übersehen... Aber da fing Rimsa wieder an, sie zu küssen. Nelli erschrak und wollte jetzt wirklich nach Hause. „Wir müssen mehr nach links hinüber." Sie ergriff Rimsas Hand und zog ihn hinter sich her. Sie war fest davon überzeugt, die Scheune längst rechts hinter sich gelassen zu haben. „Der Himmel wird schon hell, bald ist es Morgen." „Schade." „Finde ich auch." Und wieder umarmten sie sich. Keiner der beiden merkte, daß sie direkt vor der Scheune standen. Jemand hatte das große Tor aus den Angeln gehoben, damit die Fuhrwerke hindurchfahren konnten, und es draußen gegen die Wand gelehnt. Es roch betörend nach Heu. Wie gut frisches Heu
riechen kann! Rimsa nahm Nelli auf die Arme. „Nein", sagte sie leise.
,
"Ja." „Nein", bat sie. Rimsa trug sie in die Scheune. Das Heu war warm und weich. „Nein, nicht. . ." Sie spürte seine Lippen und seine Liebkosungen und wollte sich losreißen, aber da glitten seine Hände unter ihre Bluse.. . Als Nelli erwachte, schien draußen die Sonne. Durch den Eingang sah man den blauen Himmel, und über den Himmel huschten gleichsam mit Tusche hineingezeichnete Schwalben. Rimsa lag auf dem Rücken und schlief mit leicht geöffneten Lippen; er atmete tief und regelmäßig. Nelli lag zusammengerollt unter seiner Jacke. Als sie merkte, daß sie nackt war, errötete sie, zog sich aber nicht an - sie empfand eine Art Stolz darauf, daß sie nun einen Mann hatte, der sie unbekleidet sehen durfte. Nelli setzte sich auf und betrachtete zufrieden ihre Eroberung, die einen gesunden Kinderschlaf hatte und herzhaft schniefte. Rimsa besaß regelmäßige Gesichtszüge, seine breiten Schultern sprachen jedoch eher von Kraft als von Ausdauer. Nein, ihr Ideal war er nicht, aber wer hat schon das Glück, seinem Ideal zu begegnen? Noch nie hatte Nelli von einem solchen Fall gehört. Nellis Ideal trug keine Anzüge von der Stange, war wesentlich schlanker als Rimsa und hatte dunkles Haar. Was sie am meisten störte, war die Halbglatze am Hinterkopf — sie wußte nicht, daß nach fünf, sechs Jahren fast alle Ringer so aussehen.
Auch sein abgetragener Sonntagsanzug, der selbst für Valoja ziemlich schäbig war, gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber wie auch immer - Rimsa gehörte ihr; sie war zerknirscht und glücklich
zugleich.
Und
zu
guter
Letzt
gewann
das
Glücksgefühl die Oberhand, weil Rimsa so mutig und unbekümmert war und sich an dem Geschehenen ohnehin nichts mehr ändern ließ. Plötzlich aber verwandelte sich die fast schon überwundene Zerknirschung in Angst, und diese Angst vertrieb das Glücksgefühl völlig. Vielleicht war er verheiratet? Vielleicht hatte er gar schon Kinder? Schließlich hatte er ihr nichts versprochen. Nein, was war sie doch für eine dumme Gans! Was sollte nun werden? Sie war drauf und dran, in Tränen auszubrechen, und wartete beklommen auf sein Erwachen. Rimsa reckte sich, schlug die Augen auf und erblickte neben sich ein zitterndes, halbnacktes Mädchen, das sich in seine Jacke gewickelt hatte und gespannt auf das wartete, was er sagen würde. Er sagte: „Guten Morgen." Das einzige, was man sagen kann, wenn man sich nur dunkel an die Ereignisse vom Vortag erinnert und erst einmal Zeit gewinnen will. Das Mädchen schluchzte auf. „Was hast du denn, meine Kleine?" Dummerweise hatte er auch noch ihren Namen vergessen. „Das hätten Sie nicht tun dürfen." „Du." Dieses Du beruhigte sie ein wenig. „Das hättest du nicht. . ." Er umfaßte ihren bebenden Körper und zog sie an sich, und sie bot ihm gehorsam die Lippen.
Am unangenehmsten war der Abschied, der hinter dem Park von Valoja stattfand, weil Rimsa hier nach rechts abbiegen mußte und Nelli nicht wollte, daß er sie begleitete. „Bis heute abend", sagte Rimsa. Nelli lächelte traurig. Sie spürte eine seltsame Leere in sich. Sie wußte bereits, daß Rimsa spätestens übermorgen abreisen würde. In ein Nest namens Doni. Er hatte nicht einmal gesagt, daß er ihr schreiben würde. Er nahm alles, was geschehen war, als selbstverständlich hin, ohne Gewissensbisse zu empfinden. Ich bin nicht die erste, die auf so was reinfällt, dachte Nelli bitter und beschloß, sich nicht mehr mit ihm zu treffen. Mochte auf einen Schlag alles zu Ende sein. Wozu sollte sie sich erst noch Illusionen machen? Kurz bevor die Post zumachte, erschien Rimsa. Er wirkte irgendwie besorgt. „Komm mal einen Moment mit raus", sagte er. Nelli folgte ihm. „Du kannst wohl heute abend nicht?" fragte sie. „Deswegen hättest du dir keine Gedanken zu machen brauchen." „Deswegen nicht. . . Weißt du, Nelli . . . Wir sollten heiraten." Nelli war sprachlos. „Übermorgen kriege ich mein Geld. Ich hab in Doni ein Haus . . ."
7
Garancs brauchte fast eine Stunde, um die
Adresse des Uhrmachers herauszufinden. Dursis wohnte in AltRiga, in der Nähe des Russischen Dramatischen Theaters, in einem häßlichen Gebäude, an dessen Barockportal die Schilder aller möglichen Institutionen hingen. Die Tür zur Treppe befand sich in einem Torbogen, in dem es ebenfalls von Schildern wimmelte. Diese Institutionen nähmen jedoch nicht das ganze Haus ein. Aus den großen, ungemütlichen, dunklen Wohnungen im obersten Stockwerk drangen dumpfe Geräusche. Garancs glaubte, den Besuch bei Dursis nur machen zu müssen, um die Sache abhaken zu können. So einfach war ein Verbrechen nicht aufzuklären. Jedenfalls war es bisher noch nicht vorgekommen, daß der Täter seine Visitenkarte am Tatort zurückgelassen hätte. Aber natürlich mochte es da auch Ausnahmen geben. An der Wohnungstür fand sich keine elektrische Klingel, sondern ein einfacher Klingelzug, der obendrein nicht funktionierte. Das Türschloß war offenbar schon mehrfach ausgewechselt worden, was man durch eine ungeschickt angebrachte Blechverkleidung zu verbergen suchte. Garancs klopfte energisch. „Wer ist da?" fragte eine tiefe, lispelnde Stimme. „Gut Freund!" „Einen Moment!" Garancs geriet in einen dunklen Flur, in dessen Tiefe sich die Umrisse eines Schrankes und eines Büfetts abzeichneten. In der Wohnung roch es muffig, wie in lange nicht gesäuberten und gelüfteten Räumen. „Komm in die Küche." In der Küche standen mehrere Gasherde und bunt zusam-
mengewürfelte Möbelstücke - ein sicheres Anzeichen dafür, daß es sich um eine Gemeinschaftsküche handelte. In einer Ecke waren auf einer weißen Kommode fünf Dreilitergläser mit einer blaßgelben trüben Flüssigkeit und ein henkelloser Krug aufgebaut. ,,Genehmigen wir uns erst mal einen", sagte der Hausherr und füllte den Krug. Er hatte ein breites, gedunsenes Gesicht. Anscheinend war er ein Opfer seiner eigenen Experimente mit Wasser, Zucker, Hefe und der entsprechenden Temperatur. „Erste Wahl", sagte der Hausherr, während er Garancs den Krug reichte. „Das braucht man nicht erst zu destillieren. Da kann keiner meckern! Also, hoch die Tassen!" „Prost!" Garancs schluckte das noch nicht ausgegorene süßliche Dünnbier, ohne mit der Wimper zu zucken. Als guter Freund durfte er dabei keine Miene verziehen. „Einwandfrei!" „Na, sag ich doch. Braucht man nicht erst zu destillieren." „Ist der Uhrmacher da?" Der Hausherr, der sich gerade Bier einschenkte, schüttelte den Kopf. „Der ist weggefahren." Irgendwie mußte Garancs den wortkargen Mann zum Reden bringen. „Macht er noch hin und wieder eine Sause?" fragte er, wie es sich für einen ordentlichen Zechbruder gehörte. „Hab ihn lange nicht gesehen." „In der Beziehung ist mit dem nichts los. Der will nicht mal von gekauftem Fusel was wissen."
„So'n Esel." „Sag ich doch! Nehmen wir noch einen zur Brust!" „Meine Karre steht unten", schwindelte Garancs. „Einen verträgst du noch. Ich geb dir nachher 'n paar Nelken zum Kauen, dann läuft alles wie geschmiert." „Hat er gesagt, wann er zurückkommt? Soll ich nachher noch mal mit 'ner Pulle Wodka wiederkommen?" „Wodka muß nicht sein. Nimm lieber zwei kräftige Wermut oder Obstwein. Die mischen wir dann unter unsere Hausmarke - das haut den stärksten Elefanten um." Beim Gedanken an diesen Cocktail stieg Garancs langsam ein Klumpen in die Kehle. „Wann soll ich denn kommen?" „Wann du willst. Aber Dursis ist nachher auch nicht da. Er will erst nächsten Monat wiederkommen. Hat sich den Rucksack und das Gewehr geschnappt und ist auf und davon." „Schon lange?" „Noch vor sechs." Garancs schüttelte sich, um wieder zu sich zu kommen, und ihm fiel nichts Besseres ein, als zu sagen: „Kipp noch einen ein." „Aber klar doch!" Hab ich einen Massel, dachte Garancs. Einen Riesenmassel! Er konnte noch gar nicht recht an sein Glück glauben. Als Alvis Grauds den Ort Doni im „Rigaer Stadtführer" entdeckt hatte, zeigte er ihn dem Fahrer. Der Kreis, der den Ort Doni bezeichnete, lag halb am Ufer des Weißen Sees, halb im Wasser. Der Fahrer gab Gas, und Grauds bat ihn, die Rundumleuchte auszuschalten - wozu sollten sie Passanten und Kraftfahrer unnütz
auf den gelb-blauen Wolga der Miliz aufmerksam machen. Wo war der Taxifahrer abgeblieben? Das Taxi mit der Nummer 8 6 - 3 7 hatte die Garage etwa vierzig Minuten vor dem Einsatz für die Bank verlassen. In diesen vierzig Minuten war der Fahrer anscheinend ausgewechselt worden. Der Fahrauftrag lag im Wagen, ans Lenkrad aber setzte sich ein anderer Mann. "Und nachdem er den ersten besten Milizionär nach dem Weg zur Staatsbank gefragt hatte, fuhr er los und holte sich die vollen Geldsäcke ab", hörte Grauds den alten Ulfs sagen. ,,Es könnte ein ehemaliger Taxifahrer sein, der sich in der Bank nicht schlechter auskennt als Ludvigs Rimsa." "Oder kein ehemaliger Taxifahrer, sondern einer, der heute gerade frei hat?" „Möglich." „Vielleicht auch kein Taxifahrer, sondern ein Angestellter der Bank, der sich dort gut auskennt, oder ein ehemaliger Angestellter." „Dann muß er einen Führerschein besitzen!" „Wieso? Er braucht nur fahren zu können. Ich weiß schon, was du denkst. Du glaubst, die Bank stellt nur Leute ein, die vertrauenswürdig sind. Aber wir, mein Junge, müssen anders lenken. Wir genieren uns nicht, das Wörtchen ,vielleicht' zu gebrauchen. Natürlich hängen wir das nicht an die große Glocke, aber ohne das Wörtchen ,vielleicht' wären unsere Gedankengänge wesentlich ärmer. Die Tatmotive sind so unterschiedlich, - daß wir auf dieses ,Vielleicht' auf keinen Fall verzichten können." Der Fahrer schaltete einen Gang herunter, und der Wagen
fuhr langsamer. "Sind wir schon da?" ,,Da vorn tut sich was." Etwa zweihundert Meter vor ihnen nahmen Mitarbeiter der Kraftfahrzeuginspektion
eine
Fahrzeugkontrolle
vor.
Am
Chausseerand standen Shigulis, Wolgas und Moskwitschs in einer Reihe. Nicht einmal Lastwagen und Busse blieben verschont. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den lackierten Dächern der Limousinen, wodurch sie alle rötlich wirkten. Mitten auf der Chaussee standen Verkehrsposten in blankgewienerten Stiefeln, in Stiefelhosen und grauen Uniformblusen und winkten mit ihren gestreiften Stäben die Autofahrer an den Straßenrand. Sie grüßten, ließen sich durch das Wagenfenster die Papiere reichen und baten, die Blinkleuchten einzuschalten. Im ersten Augenblick dachte Grauds, daß die Verkehrsmiliz anscheinend schon eine Täterbeschreibung hatte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder - seit er das Geschäft verlassen hatte, waren höchstens fünfzehn Minuten vergangen. „Hier ist ganz schön was los", sagte der Fahrer. „Wahrscheinlich ist was passiert." „Einer hat rechts geblinkt, ist dann aber auf die Überholspur gefahren und hat den Wagen, der hinter ihm fuhr, auf die Gegenfahrbahn gedrängt. Dabei ist eine Menge Schrott angefallen." Der Fahrer verringerte die Geschwindigkeit, um in den auf der Karte eingezeichneten Waldweg einzubiegen, aber wie sich herausstellte, führte nach Doni eine breite, asphaltierte Straße. Nein, der Täter mußte sich im Taxidepot auskennen. Er wußte genau, welche Wagen zur Bank fahren würden, und wahr-
scheinlich kannte er sich auch mit dem neuen Wolga aus, was ziemlich wichtig war, weil er nach der Tat so schnell wie möglich verschwinden mußte. Und vor allem mußte er Rimsas Wagen stoppen. Auf den Wink eines Unbekannten hin hätte Rimsa kaum angehalten. Natürlich nicht. Er hatte ja einen Auftrag, der ihm keine Zeit für einen Nebenverdienst ließ. Die Fahrt von der Garage zur Bank dauerte keine vierzig Minuten, aber man mußte die Zeit einplanen - das taten fast alle Fahrer, um vorher noch in Ruhe Mittag essen und tanken zu können. Der Kiefernwald lichtete sich, und zwischen den Bäumen leuchteten weiße Datschen auf, die die Kiefern bald völlig verdrängten. Dafür grünten hier Apfel- und Kirschbäume, aber der Boden war karg, und die Gärten boten einen traurigen Anblick. Die Datschen - alles leichte Sommerhäuschen - waren bunt zusammengewürfelt. In den Gärten wühlten halbnackte Leute, deren ungeschickte Bewegungen verrieten, daß sie im Gartenbau Anfänger waren. Es war schon spät am Abend, und die meisten Leute waren mit Gießen beschäftigt. Das Auftauchen eines Milizwagens in dieser Stille, die nur hin und wieder durch das Knattern eines Mopeds aufgestört wurde, weckte ein stummes, aber lebhaftes Interesse — dem Wolga folgten viele Blicke. Dort, wo die Straße breiter wurde und in eine Art Platz mündete, befand sich die Endhaltestelle der Buslinie nach Doni; dort stand ein gelber Tankwagen mit Bier, der von Durstigen umlagert wurde. Einige hatten sich mit ihren Gläsern gleich im Gras daneben niedergelassen. "Wir sollten jemand nach dem Weg fragen", schlug der Fahrer vor.
„Fahr weiter." An der nächsten Kreuzung hielten sie. Die hier stehende Datsche schien aus einem amerikanischen oder schwedischen Reklameheft ausgeschnitten zu sein. Aus Holz, Glas und farbigem Schiefer war eine Art Indianerwigwam entstanden — das steile Satteldach bildete zugleich die Wände. Die Stirnseiten waren völlig verglast, so daß man durch das Gebäude hindurchsehen konnte. Im Moment war dort eine Frau beim Bettenmachen - es sah aus, als dekoriere sie ein Schaufenster. Der Besitzer der Datsche saß in einer bequemen Schaukel und las Zeitung. Unter der Zeitung lugten nur die Segeltuchhosen und die Sandalen des Hausherrn hervor. Wahrscheinlich war er hier der einzige, der das Waldgras und ein paar Kiefern auf seinem Grundstück behalten hatte. „Der kauft seine Tomaten im Laden", meinte der Fahrer. Grauds stieg aus und schlug energisch die Wagentür zu, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Über der Zeitung tauchte ein Augenpaar auf. Der Hausherr erhob sich und trat an die Pforte. „Kann ich was für Sie tun?" Der Mann war nicht mehr jung, aber schlank und mit einem weißen Polohemd bekleidet. „Wo finde ich hier die ,Villa Ludvigs'?" Der Hausherr überlegte. „Wohnt da ein gewisser Rimsa?" „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen." „Rimsa ist Taxifahrer." „Ach, den meinen Sie! Da müssen Sie geradeaus weiterfahren! Das letzte Haus auf der linken Seite — dahinter beginnt der alte Weg. Ist was passiert?" „Dazu ein andermal." Grauds lächelte. „Auf Wiedersehen." „Eine diplomatische Antwort", brummte der Hausherr und ging wieder zu seiner Schaukel zurück. Die „Villa Ludvigs" - ein zweistöckiges Haus — war von einem hohen Metallzaun mit massiven Betonpfeilern umgeben. Der glänzenden Ölfarbe nach war der Zaun erst vor kurzem gestrichen worden. Im Zaun befanden sich zwei Tore. Das kleinere, schmiedeeiserne hatte die Größe einer Pforte, während das andere, größere, zur Tiefgarage führte. Es ähnelte überhaupt eher einem Zaunfeld als einem Tor. Dahinter sprang bellend ein großer Schäferhund umher. Zwischen der Pforte und dem Hauseingang lag ein mit rotem Splitt bestreuter Pfad, den Ziersträucher mit länglichen, silbrig schimmernden Blättern säumten. Da die Pforte verschlossen war, drückte Grauds auf den an
einem Pfeiler angebrachten Klingelknopf. Fast im selben Moment ging die Haustür auf, und eine etwa dreißigjährige Frau kam heraus. Die stark geschminkte Frau hatte jene gefährliche Grenze erreicht, da man sie nur aus Gewohnheit nicht als dick bezeichnete. „Ich komme schon", sagte sie mit sanfter, angenehmer Stimme. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand. „Sagen Sie, wohnt hier Ludvigs Rimsa?" „Ja, natürlich." „Und mit wem habe ich die Ehre?" „Ich bin seine Frau. Nelli Rimsa. Kommen Sie herein - was sollen wir hier draußen herumstehen. Sagen Sie mir bitte, was passiert ist." „Ich komme von der Miliz, mein Name ist. . ." „Das habe ich schon am Wagen gesehen. Hatte mein Mann einen Unfall?" „Nein. Es wäre besser, wenn Sie mich die Fragen stellen ließen." „Verstehe." Reserviert und beherrscht bat sie Grauds ins Zimmer. Hier deutete alles auf wohlhabende Besitzer hin. „Nehmen Sie bitte Platz!" „Danke, ich hab nicht viel Zeit. Sagen Sie: Wann war Ihr Mann das letzte, Mal zu Hause?" „Heute." „Um wieviel Uhr?" „Bevor er zur Bank fuhr." „Wollen, Sie damit sagen, daß er,. . .", murmelte Grauds verwirrt.
„Er hat heute Spätschicht und ist, bevor er zur Bank fuhr noch mal hergekommen." „Und warum?" „Sagen Sie mir erst, was passiert ist." „Beantworten Sie bitte meine Frage." „Er hat seinen Regenmantel geholt." „Wozu denn das? Es sah heute doch gar nicht nach Regen aus." „Ich weiß nicht." „Was hat er noch mitgenommen?" „Weiß ich nicht. Ich hab nicht darauf geachtet. Sagen Sie bitte . . ." „Er hat also noch etwas mitgenommen, aber Sie wissen nicht, was es war." „Mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen. Ich hab nur gehört, wie er den Flurschrank aufgemacht hat." „Zeigen Sie mir diesen Schrank!" Der Schrank war unmittelbar neben der Haustür in die Wand eingelassen. In ihm glänzten kalt die brünierten Läufe von Jagdwaffen. Neben den Gewehren hingen ein paar Patronentaschen. Im oberen Schrankfach lagen Schachteln mit Patronen, auf denen mit großen roten Zahlen das Kaliber angegeben war. Außerdem gab es da eine Waage, kleine Beutel mit Schrot und runde Schachteln mit rauchlosem Pulver. „Sind die Gewehre alle da?" „Ja, alle vier." „Sind Sie sicher?" „Ja. Drei sind registriert, das vierte nicht." Sie wies auf eins der Gewehre.
Grauds sah sich rasch die Gewehrläufe an. Nein, aus diesen Waffen war heute nicht geschossen worden. „Saß noch jemand bei ihm im Wagen, als er ankam?" „Nein." „Sind Sie da ganz sicher?" „Er fuhr auf den Hof. Ich stand am Küchenfenster und konnte alles gut überblicken." „Und er sagte, er käme nur, um den Regenmantel zu holen?" „Gesagt hat er überhaupt nichts." Sie lächelte grimmig. „Wir reden schon seit zwei Wochen nicht mehr miteinander." Nelli Rimsa beschrieb die Kleidung ihres Mannes und suchte auf Grauds Bitte ein paar Fotos von ihm heraus. „Haben Sie Telefon?" "Ja" Grauds beschloß jedoch, Ulfs nicht von hier aus anzurufen. Draußen ließ der Fahrer vor Langeweile den Motor an. Über der Pforte des gegenüberliegenden Hauses tauchte ein Mädchenkopf mit pechschwarzem Haar auf. In einem offenen Fenster erschien ein rundes Gesicht mit Brille - wahrscheinlich der Vater des Mädchens. „Fahren wir!" Grauds warf sich auf den Sitz neben dem Fahrer. Als sie weg waren, sank Nelli schluchzend auf einen der Polsterstühle. Sie bekam einen Weinkrampf. Der alte Weg zweigte in der Nähe der Kreuzung von der neuen Straße ab und brachte sie rasch zur Chaussee zurück. Hier stoppte die Verkehrsmiliz noch immer alle Fahrzeuge. „Wohin jetzt?" „Zum Fotolabor."
„Gut." Sie kamen zügig voran. Die Reifen surrten nur so über den Asphalt. „Schalte die Rundumleuchte ein, dann geht's schneller." Der Fahrer murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und auf dem Dach begann die blaue Leuchte zu blinken, deren Widerschein über die Motorhaube huschte.
8
Es gibt Dinge, zu denen man innerlich entschlos-
sen und reif sein muß. Ludvigs Rimsa war für die Ehe so reif wie ein Septemberapfel. Er hatte es satt, seine Wäsche in die Wäscherei zu tragen, nach Quark anzustehen, abends „Sprotten in Tomate", polnische Wurst und Eierkuchen zu essen und Tee mit Konfitüre zu trinken, die noch seine Mutter eingekocht hatte. Er konnte die Stille in dem großen, unfertigen Haus, das er ganz allein bewohnte, nicht mehr ertragen. Selbst Jerry hatte es nach dem Tod seiner Besitzer eilig gehabt, diese Welt zu verlassen, und bellte jetzt wahrscheinlich irgendwo im Hundehimmel. Rimsa hatte es satt, nach der Arbeit in die schmutzigen Segeltuchhosen zu steigen, sich eine Papiermütze über den Kopf zu stülpen, aus Kies, Gips und Zement Putzmörtel anzurühren und sich wie der Ärmste der Armen bis in die Nacht hinein mit Kelle und Spachtel abzuplagen. Die zweite Etage war noch nicht fertig ausgebaut, ja nicht einmal der Fußboden war gedielt. Rimsa hätte auf diese zweite Etage gern verzichtet, aber da sein Vater vor vielen Jahren mit dem Bau begonnen hatte, mußte er die Sache jetzt zu Ende
bringen. Er konnte nur nicht begreifen, wozu der Vater ein so großes Haus gebraucht hatte. Aus Tanzveranstaltungen und ähnlichen Geselligkeiten machte Rimsa sich nichts. Vor seiner Einberufung zur Armee hatte es für ihn nur die Arbeit, die Abendschule und das Training im Klassischen Ringkampf gegeben, und nach der Armeezeit war er dem Vater beim Bauen behilflich gewesen. Früher hatte Rimsa vor Schüchternheit kein Mädchen angesehen, später aber arbeitete er als Elektriker in einem reinen Frauenbetrieb, wo er seine Schüchternheit bald verlor und sich in einen ziemlich unverschämten Burschen verwandelte. Rimsa war genau in dem Alter, in dem die meisten heirateten, und viele junge Mädchen, aber auch geschiedene Frauen, die sich nach einer neuen Ehe sehnten, warfen ihre Angeln nach ihm aus. Und alle erwiesen sich dabei als so geschickt und erfinderisch, daß Rimsa sich für keine von ihnen entscheiden konnte, obwohl er ein paarmal kurz davor stand. Als er Mitte zwanzig war, kühlte er den „Kandidatinnen" gegenüber ab, und ein Jahr später schlossen sie ihn aus dem Kreis derjenigen aus, bei denen sich die Mühe lohnte. Hin und wieder geriet er an eine Verheiratete, aber illegale Küsse begeistern die Frauen wenig, und allmählich begann Rimsa seine Kolleginnen zu hassen: er fühlte sich gekränkt und hätte sich gern an ihnen gerächt. Da sich dazu aber keine passende Gelegenheit bot, richtete sich sein ganzer Haß gegen das Haus. Er würde es noch in diesem Jahr fertig bauen! Und wenn er sich die Nächte damit um die Ohren schlug. Da traf es sich, daß er seinem ehemaligen Nachbarn Stiga begegnete, der jetzt in Valoja einen Sowchos leitete. Stiga war bereit, mit Rimsa einen Vertrag über
die Neuwicklung sämtlicher Elektromotoren abzuschließen. Für das Geld, das Rimsa dabei verdienen würde, konnte er zwei Putzer und einen Dielenleger einstellen. Und wenn er selbst mit zupackte, war das Haus im September fertig. Rimsa nahm Urlaub, packte sein Werkzeug in einen Koffer und zog seinen besten Anzug an. Allerdings war seine Garderobe in einem bejammernswerten Zustand: vom schönen Geschlecht verwöhnt und nur mit dem Haus beschäftigt, hatte er aufgehört, sich um sein Äußeres zu, kümmern. Er stieg in den Bus nach Valoja, um dort den ersten besten nach Direktor Stiga zu fragen. Nachdem Rimsa sich am Park von Nelli getrennt hatte, ging er in sein Zimmer, um sich auszuschlafen. Dann aß er in der Kantine reichlich
zu
Mittag,
trank
Rhabarberkompott
hinterher,
verabschiedete sich von der Hausfrau, legte sich wieder aufs Bett und las in Brehms „Tierleben". Die vertraglich vereinbarten Arbeiten hatte er ausgeführt. Nun hielt ihn in Valoja nur noch das Geld, das er dafür zu bekommen hatte. Er brauchte nur noch die Zeit bis um fünf totzuschlagen und den morgigen Tag zu überstehen, um übermorgen abend wieder zu Hause zu sein. Das Bild, das ihn dort erwartete, sah er in allen Einzelheiten vor sich. Die Zimmer mit der abgestandenen Luft, die Kiste mit der schmutzigen Wäsche und den einsamen Teller mit dem trockenen harten Brotrest auf dem Küchentisch. Und da erinnerte er sich an sein heutiges Erwachen, an die halbnackte Nelli, die neben ihm im Heu saß und schluchzend zu ihm sagte: „Das hätten Sie nicht tun dürfen." Er mußte daran denken, wie fügsam sie ihm die Lippen geboten hatte und wie verführerisch ihr Körper war. Tja, wer heiraten will, muß in eine
Kleinstadt fahren! Warum heiratest du eigentlich nicht? dachte er plötzlich. Die Weiber werfen sich dir doch regelrecht an den Hals. So ein Mädchen aus der Provinz aber wird dich anbeten und dir nie ein böses Wort sagen. Und Nelli ist noch völlig unschuldig! An Liebe dachte er nicht, weil er nicht an sie glaubte. Nelli ist ein hübsches Mädchen und höchstens achtzehn Jahre alt. Das wird ein Schlag für diese Fabrikhexen sein, dachte Rimsa, während er zur Post eilte. Aber im Grunde genommen ging es gar nicht um die „Fabrikhexen". Rimsa mochte einfach nicht länger allein sein. Auf dem Weg vom Rigaer Busbahnhof nach Doni gingen sie beim Standesamt vorbei und bestellten das Aufgebot. Als Nellis Mutter davon erfuhr, erschrak sie: war das nicht ein wenig voreilig? Vielleicht hätte Nelli noch eine bessere Partie machen können? Man nimmt doch nicht den ersten besten! Vor allem aber kränkte es sie, daß man sie nicht um Rat gefragt und sie bei der Angelegenheit nicht das letzte Wort gehabt hatte. Dabei war sie doch am Ziel ihrer Wünsche angelangt: Das Mädchen würde nicht im Kolchos versauern. Die Hochzeit feierten sie bei der Schwiegermutter auf dem Dorfe. Drei Tage lang wurde hier gesungen, getrunken und gegessen, und doch blieb noch eine Menge übrig. Rimsa hatte aus Riga reinen Sprit mitgebracht, und sie hatten soviel Bier gebraut, daß jeder Gast noch etwas mit nach Hause bekam. Und trotzdem wurde ein Teil davon sauer. Die Kapelle kam aus Limbazi, der Sekt aus Valmiera, die Blumen wurden wer weiß warum in einer Gärtnerei bestellt, und eingeladen waren sogar die längst vergessenen Verwandten aus Latgale, die mit riesigen
selbstgemachten Torten aufwarteten. Um nicht der einzige Vertreter der Hauptstadt und der Familie Rimsa zu sein, lud Ludvigs seinerseits ein paar Kollegen ein, denen es völlig egal war, wo sie sich am Wochenende amüsierten, und die im Namen des Gewerkschaftskomitees der Fabrik gratulierten. Außerdem brachte er seinen Nachbarn Kozinds und dessen Frau aus Doni mit. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der, besonders wenn er etwas getrunken hatte, gern prahlte und überall herumerzählte, daß er mit der Obrigkeit auf du und du stehe, war Kozinds Frau fleißig, still und hilfsbereit. Wahrscheinlich ging es den Kozinds nicht gerade glänzend, hatten sie doch für ihr Haus eine Menge bezahlt. Ihre Bekannten wunderten sich überhaupt, woher Kozinds das viele Geld nahm, weil solche Summen nicht so leicht zusammenzukratzen waren, auch wenn er, der als Kraftfahrer arbeitete, nächtelang mit seinem Wagen vor dem Bahnhof stand und auf einen Nebenverdienst wartete. Als Nelli nach Doni kam, war sie klein und schüchtern. Das große Haus erdrückte sie geradezu. Dafür wirbelte ihre Mutter, die sie im Herbst besuchte, als die Farbe auf den neuen Dielen schon getrocknet war, wie aufgezogen im Haus umher und stellte die Möbel um. Sie bewegte sich wie der Taifun „Nancy", der den Japanern Milliardenschäden beschert hatte. Nelli lächelte verzagt, Rimsa aber begriff plötzlich, weshalb ein gutes Drittel aller Witze auf die Schwiegermutter gemünzt ist. Nach ihrer Abreise stellten sie die Möbel wieder auf ihren alten Platz und leerten eine Flasche Wein auf den glücklichen Umstand, daß das Dorf, in dem die Schwiegermutter wohnte, von Doni ziemlich weit entfernt war. Um in Zukunft solche Katastrophen zu
vermeiden, beschlossen sie, Nellis Mutter öfter zu besuchen.
9
Konräds Ulfs ließ sich hinter seinem großen,
wuchtigen Schreibtisch nieder und rauchte eine Pfeife. Er breitete ein paar Zettel vor sich aus, auf denen jeweils nur ein Name stand, und schnaufte wie ein Schleppschiff, das ein Floß bugsiert. Das bedeutete, daß er mit sich unzufrieden war. Auf dem Fußboden neben dem kalten Ofen stand ein elektrischer Kocher, auf dem ein Teekessel zischte. Alvis Grauds war dabei, aus verschiedenen Teesorten einen Zaubertrank zu mixen. Ulfs holte die Zuckerdose aus dem Schreibtisch. „Du bleibst also dabei, daß die Täter nicht mit dem Flugzeug entkommen sind?" „Wir haben doch die genaue Tatzeit. Wie auf Bestellung. Mehr können wir uns gar nicht wünschen." „Gehen wir alles noch einmal durch!" „Ich hab doch alles aufgeschrieben, es liegt auf dem Tisch." Paff, paff, paff, machte Ulfs' Pfeife. „Achtzehn Uhr fünfunddreißig. Einem Milizionär fällt an der Brücke über die Jugla ein Taxi auf, das sich in Richtung Pskow bewegt. Das Taxi fährt mit so stark überhöhter Geschwindigkeit, daß er sich die Wagennummer notiert." „Wo ist die Meldung des Milizionärs?" „Mehr stand nicht drauf. Ob Fahrgäste im Taxi saßen, hat er nicht gesehen. Er hat nicht einmal bemerkt, ob es mit grünem oder gelbem Licht gefahren ist." „Das Taxi hatte die Nummer 86 — 37." Mitunter wirkte Ulfs
greisenhaft brummig. „Und danach wurde es nicht mehr gesehen?" „Nein." Grauds stellte Ulfs' Glas auf den Schreibtisch, nahm sich selbst Zucker und spazierte, in seinem Glas rührend, im Zimmer auf und ab. „Und weshalb bist du so sicher, daß sie nicht auf dem Luftweg entkommen sind?" Schweigend hob Grauds eins der beschriebenen Blätter auf und legte es neben Ulfs' Glas. „Riga - Taschkent, achtzehn Uhr siebenunddreißig. Riga -AlmaAta, neunzehn Uhr fünfzig." „Das ist nur der eine Flugplatz. Und was ist mit Spilve?" „Von dort flog um neunzehn Uhr dreißig eine Maschine nach Minsk und um zwanzig Uhr zehn eine nach Liepäja." »Tja . . ." „Interessant sind für uns nur die Maschinen nach Minsk und nach Alma-Ata, weil die Passagiere der Maschine nach Liepäja von unseren
Kollegen
kontrolliert
wurden
—
da lagen
die
Beschreibungen Ludvigs Rimsas und des Uhrmachers bereits vor." „Also Alma-Ata oder Minsk." „Nein, nur Minsk! Mit der Maschine nach Alma-Ata traten unsere Leute in Verbindung, als sie sich noch in der Luft befand. Unterdessen landete allerdings das Flugzeug in Minsk, und die Passagiere gingen auseinander. Dabei handelte es sich jedoch nur um unsere Basketballspieler und ein paar einzelne Fluggäste. Wie die Stewardeß versichert, würde sie sie nach Fotos wieder erkennen. Wir werden sie gleich morgen befragen." Grauds
wurde allmählich ärgerlich. Noch immer sog Ulfs an der längst erkalteten Pfeife. Schließlich legte er sie auf den Tisch und trank in kleinen Schlucken den heißen Tee. Im Nachbarhaus schlug unüberhörbar eine Wanduhr. Wahrscheinlich schlug diese Uhr auch tagsüber, nur daß sie sie dann nicht hörten. Dafür war das vibrierende Geräusch am Abend deutlich zu vernehmen. Im Haus gegenüber brannte noch in den Fenstern der oberen Etage Licht. „Fahren Sie nach Hause?" fragte Grauds. „Ich muß auf Juris warten." „Ich kann auch bleiben." „Du kannst bleiben, du kannst bleiben!" äffte Ulfs ihn nach. „Was hab ich davon, wenn du bleibst? Wie heißt dieser Jurist übrigens mit Nachnamen? Das vergesse ich immer wieder." „Garancs." „Ach ja. Juris Garancs. Und was ist mit der Eisenbahn und den Bussen?" „Damit könnten sie ein ganzes Stück weit gekommen sein." Grauds trat an den Elektrokocher und zog den Stecker aus dem Netz. „Die Notizen über den Zugverkehr liegen rechts auf dem Schreibtisch." „Wie weit könnten sie also gekommen sein?" „Bis Sigulda oder bis Aizkraukle." „Und was meinst du dazu, mein Junge?" Ulfs lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Obwohl Ulfs einen etwas gönnerhaften Ton anschlug, wurde es Grauds gleich warm ums Herz.
„Ich meine, daß sie kurz hinter Riga in ein anderes Fahrzeug umgestiegen sind." „In einen Privatwagen?" Plötzlich schüttelte Grauds den Kopf, als wollte er einen unangenehmen Gedanken vertreiben. Ein Privatwagen . . . Er erinnerte sich an das breite Tor von Ludvigs Rimsas Tiefgarage. Rasch griff er nach dem Telefonbuch und blätterte darin. Doni. . . Aha .. . Rimsa. Rimsa, Ludvigs. Nach dem ersten Läuten wurde der Hörer abgenommen. „Hallo!" sagte eine gequälte Stimme. „Nelli Rimsa?" „Am Apparat." „Hier ist die Miliz, wir waren heute schon bei Ihnen." „Sagen Sie, was für einen Wagen hat Ihr Mann?" „Einen Saporoshez." „Einen neuen?" „Den, der aussieht wie ein Käfer." „Einen SAS - 365?" „Wahrscheinlich." „Steht der Wagen in der Garage?" „Natürlich." „Sind Sie da ganz sicher?" „Absolut." „Danke. Ich hab Sie doch hoffentlich nicht geweckt?" „Nein, ich hab noch nicht geschlafen." Nelli Rimsa legte auf; Ulfs ließ sich noch ein Glas Tee einschenken und rieb nach-
denklich seine Stirn. „Wozu soll so ein Anruf gut sein? Am Telefon schwindelt sich's leicht. Wenn man etwas nachprüfen will, muß man sich schon persönlich bemühen und sich mit eigenen Augen überzeugen." „Na schön", erwiderte Grauds gekränkt. „Ich weiß bloß nicht, wo ich morgen die zwei Stunden hernehmen soll, die ich für die Fahrt nach Doni und zurück brauche." Ulfs schwieg hartnäckig. Grauds rief die Auskunft der Dienststelle an und erfuhr, daß der Uhrmacher Dursis weder ein Auto noch einen Führerschein besaß. Juris Garancs ließ noch immer auf sich warten, und sie beschlossen, nach Hause zu gehen. Wenn nötig, würde Garancs sie schon aus dem Bett holen. Die Nacht würde ohnehin sehr kurz sein.
Der zweite Tag
10
Im Januar 1965 kam ein etwa fünfundfünfzigjäh-
riger hochgewachsener, blonder Mann aus der Arbeitskolonie. Er trug eine silbergraue Persianermütze und einen Wintermantel mit dazu passendem Kragen. In der Hand hielt er elegante, farblich mit den Schuhen harmonierende Lederhandschuhe, und auf seiner Nase saß ein goldener Kneifer. Nur die dicke Aktentasche
fehlte, um das Bild abzurunden und den Mann wirklich gediegen wirken zu lassen. Aber auch so war er eine imposante Erscheinung, und er schien zu denen zu gehören, die jedermann mit einem Blick zum Schweigen bringen. Weder seinem Äußeren noch seiner Haltung nach hatte er auch nur das geringste mit jenen unscheinbaren, verblichenen Geschöpfen gemein, die das Tor der Kolonie gewöhnlich auf das Straßenpflaster spie. Diese grauen Wesen waren mit Bündeln und alten Koffern beladen, und auf ihren grauen Gesichtern lag ein dümmliches Lächeln. In ihnen klangen noch die Sticheleien der Zurückgebliebenen nach. Was hatten sie zum Abschied nicht alles zu hören bekommen! Den Wunsch, sich bald wieder einzufinden, um das Festessen zum Ersten Mai nicht zu versäumen, und auch die durchaus ernst gemeinte Mahnung, sich möglichst lange auf freiem Fuß zu halten. Und diese Mahnung war nur zu angebracht. War es doch schon vorgekommen, daß einer, der zwei Jahre gesessen hatte, im nächsten Schnapsladen einen solchen Unfug verzapfte, daß eine neue Strafe fällig war. Wenn diese grauen Geschöpfe aus dem Tor kamen, wagten sie nicht zurückzublicken. Sie spuckten abergläubisch dreimal über die linke Schulter, zerbrachen ihren Aluminiumlöffel über dem Knie und warfen ihn über den Zaun, um nie wieder hierher zurückkehren zu müssen. Und wie erschraken sie, wenn der Löffel gegen den Stacheldraht prallte, der über dem Holzzaun aufragte, und auf der falschen Seite niederfiel. Dies war eine Kolonie mit strengen Haftbedingungen, in der nur mehrfach Vorbestrafte landeten, die schon mehr als eine Haftanstalt kennen gelernt
hatten.
Solche
„Verdienste"
haben
gewöhnlich
Taschendiebe, Einbrecher und Rowdys aufzuweisen. Gleich hinter der hölzernen Außentür befand sich ein eisernes Tor. Wenn dieses Tor zuschlug, drehten sich die Passanten auf der Straße um. Das ältere Ehepaar, das gerade vorbeikam, wandte sich jedoch gleich wieder ab, denn der Herauskommende unterschied sich durch nichts vom leitenden Personal der Kolonie. Romualds Sasko blieb stehen und atmete mit voller Brust die Luft der Freiheit. Sein Herz flatterte wie ein Vogel in der Schlinge. Um seiner Erregung Herr zu werden, nahm er den Kneifer ab, putzte die beschlagenen Gläser mit einem verwaschenen, aber sauberen Tuch und ging langsam in Richtung Stadtzentrum davon. Aus den Fenstern der Kolonie folgten ihm trotz des Verbots viele neidvolle Blicke - so mancher wäre jetzt gern an seiner Stelle gewesen. Sasko schritt gemächlich aus. An der Straßenbahnhaltestelle zögerte er, ging dann jedoch weiter - noch wußte er nicht, wohin er zunächst fahren wollte. Ein scharfer Wind wehte, und auf den Straßen lag kaum noch Schnee. Der Nordwind trieb winzige, kleinen Hagelkörnern gleichende Schneeflocken vor sich her. Ein starker Tatendrang erfüllte Sasko. Rache! schoß es ihm durch den Kopf. Rache! Das war es, was er wollte. Nun wußte er, wohin er zu gehen hatte. Schnell! Er durfte keine Zeit verlieren! Er mußte Vilis dazu bringen, daß er vor ihm auf dem Bauch kroch. Nur so konnte er seine Selbstachtung zurückgewinnen. Nur schnell!
Zum Glück entdeckte er bald ein freies Taxi. Der Wagen war neu, und in ihm spürte man das Kopfsteinpflaster kaum. Trotzdem mußte Sasko an seinen beschlagnahmten Mercedes mit den weichen roten Lederpolstern denken, und voller Bitterkeit sagte er sich, daß er so einen Wagen wohl nie mehr sein eigen nennen würde. Am Vidzemesmarkt blickte er kurz zu den Fenstern von Siens großer Wohnung hinauf. Ob er ihn aufsuchte? Siens würde bestimmt vor ihm auf dem Bauch kriechen, war er doch einer der wenigen, die genau wußten, daß Romualds Sasko bald wieder ein großer Mann sein würde. Dieser Siens war der geborene Speichellecker. Ein aalglatter Bursche. Und ein Schmarotzer. Damals hatte man Sasko gebeten, Siens zum Schein als Designer in seinem Werk einzustellen. Siens besaß mehrere Arbeitsbücher, und seine Gönner sorgten dafür, daß er ein paar Gehälter bezog. Dafür sicherte er ihnen ihr Inkognito und beschaffte ihnen Mädchen - darunter fünfzehnjährige und jüngere. Einmal hatte Sasko selbst gesehen, was sich in Siens' großem Saal mit dem Doppelbett in der Mitte tat. Fast alle Gönner Siens' bekleideten einen hohen Posten, besaßen aber genug Verstand, um sich ihrer inneren Leere bewußt zu sein, und darin bestand ihre Tragödie und die jener dummen, verführten Mädchen, mit deren Hilfe die „Säulen" der Gesellschaft die verlorene Selbstsicherheit zurückzugewinnen trachteten. „Wohin jetzt?" fragte der Fahrer. „Die Kalnciema hinunter — bis zum Übergang." „Die Adresse!" rief der Fahrer aufgebracht. „Die weiß ich nicht."
Der Fahrer schaltete das Radio ein, aus dem eine Hockeyreportage schallte. Der Reporter hatte eine so aufdringliche Stimme, daß man ihm unwillkürlich zuhörte. Er gebrauchte immer wieder das Wort „Exchampion". Saskos Rachedurst hatte sich ein wenig gelegt, und er dachte mit Bitterkeit, daß er seinen zahlreichen Titeln - Exoffizier, Exchef, Exdirektor - nun einen neuen hinzufügen konnte: Exsträfling. Schweren Herzens rang er sich schließlich dazu durch, sich auch als Exingenieur zu bezeichnen. Natürlich besaß er das Ingenieursdiplom, weshalb man ihn wahrscheinlich auch wieder als Ingenieur einstellen würde. So verlangte es das Gesetz. Ein sorgsam eingehaltenes, aber unverständliches Gesetz, das das Ingenieursdiplom mit dem Rentenbüchlein auf eine Stufe stellte. Noch heute durfte er sich Ingenieur nennen, obwohl er schon damals, als er einen großen Betrieb geleitet hatte, in Wirklichkeit kein Ingenieur mehr gewesen war. Vielleicht schon lange vorher nicht mehr. Möglicherweise schon seit er das Konstruktionsbüro aufgegeben hatte. Wenn man Ingenieur bleiben will, muß man ständig alles Neue verfolgen. Das aber tat er nicht mehr, seit er ein Organisator geworden war und jede freie Minute dieser damals noch ziemlich unpopulären Wissenschaft widmete. Die meisten seiner Kollegen, die schon mindestens ein Paar Hosen als Werkleiter abgewetzt hatten, glaubten, es genüge, mit Zuckerbrot und Peitsche zu jonglieren, und lachten ihn aus. Jahre mußten vergehen, ehe er die Möglichkeit erhielt, über seine Kollegen zu lachen, die in ihren Betrieben nicht gegen die Stillstandszeiten am Monatsbeginn und die Hauruckaktionen am
Monatsende ankamen, die sich verheerend auf die Qualität der Produktion auswirkten und Sasko die qualifiziertesten Arbeiter in die Arme trieben: Sie wollten sich am Wochenende ausruhen und die Gewißheit haben, für gute Arbeit einen guten Lohn zu erhalten. Auch das Werk muß ich mir nachher noch ansehen, dachte er und zeigte dem Fahrer, wo er abbiegen mußte. Die kleinen, schmalen Gassen waren schlecht beleuchtet, der Wagen rumpelte durch Schlaglöcher, in denen mit einer dünnen Eisschicht bedecktes Wasser stand. Die Eisschicht barst klirrend unter den Wagenrädern. Einfamilienhäuser aus grauem Gasbeton und weißem Kalksandstein mit Satteldächern und gepflegten Vorgärten glitten vorbei. Hier und da ragte ein Treibhaus aus dem Schnee. „Halten Sie hier!" Kurze Zeit später klopfte er an einer Tür. Vilis' Frau öffnete ihm. Anscheinend kam sie gerade aus der Küche, weil sie sich die Hände hastig an der bunten Kattunschürze abwischte. „Ist der Genosse Staatsanwalt zu Hause?" „Ja." Sie ließ den Gast in den Flur ein. „Legen Sie bitte ab!" Der Gast trug einen gut geschneiderten, aber völlig altmodischen Anzug und ein feines Leinenhemd mit tadellos gebundener Krawatte. „Für dich!" rief die Frau in den Flur hinein. Als sich nichts rührte, sagte sie: „Kommen Sie. Er hört nicht mehr sehr gut." Vilis war damit beschäftigt, eine Nähmaschine, die er in die Mitte des Zimmers, direkt unter den Kronleuchter, gerückt hatte, zu ölen. Er trug einen Arbeitskittel und Pantoffeln aus
Schaffell, summte vor sich hin und, klopfte mit einem Pantoffel den Takt dazu. „Guten Abend!" sagte der Gast. „Guten Abend!" antwortete Vilis. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf und fragte erstaunt: „Du?" „Auch sieben Jahre gehen mal vorbei." „Setz dich. Ich bin gleich soweit. Du hast doch nur fünf Jahre gekriegt!" Sasko ließ sich in einem Polstersessel nieder, der zwischen dem Fenster und einer langblättrigen Palme im hölzernen Kübel in der Zimmerecke stand. „Eines Tages gingen sie mit mir durch, und ich unternahm einen Ausbruchsversuch. Sieben Stunden hab ich die Freiheit genossen, dann bin ich in die Kolonie zurückgekehrt. Und wegen dieser sieben Stunden haben sie mir zwei Jahre drangehängt." „Ja, ungefähr soviel steht darauf, sagte Vilis, während er das Handrad drehte und das Öl in die Buchsen träufelte. Saskos Besuch war ihm unangenehm. Beide dachten an dasselbe, und jeder wartete, wie ein Rennfahrer beim Bahnrennen, auf den Start des Gegners. Vilis schob die Nähmaschine an ihren Platz zurück, wischte sich das Öl von den Händen, trat an ein altmodisches Büfett und öffnete eine der undurchsichtigen grünen Glastüren. Er stellte zwei dünne Gläser und einen Aschenbecher auf das kleine Rauchtischchen unter der großen Palme. Dann öffnete er ein zweites Schränkchen mit den gleichen grünen Glastüren und fragte: ,,,Zubrowka' oder ,Rjabinowka'?" „Am liebsten wäre mir ein ,Martell', wenn du schon keinen
,Napoleon'
hast",
erwiderte
Sasko
spöttisch.
„Also
,Rjabinowka'. Auf Kognak wirst du von jetzt an wohl auch verzichten müssen. Besonders auf französischen." Vilis füllte die Gläser. Seine Hände zitterten kaum merklich. „Warum bietest du mir kein Nachtlager an?" „Weil du nicht deshalb zu mir gekommen bist." Sasko lachte gezwungen. „Dir kann man nichts vormachen." „Doch. Auch das kommt vor. Du willst doch nicht etwa an mein Gewissen appellieren? Wenn's so ist, hast du dir den Weg umsonst gemacht.
Gewissensbisse hab ich nicht. Ich
fühle mich nicht schuldig. So gut wie nicht schuldig." „Das hört sich schon besser an." „Aber du irrst dich, wenn du glaubst, den Grund zu kennen." Sasko horchte auf. „Ich hab's mit der Angst gekriegt", fuhr Vilis fort. „Ich hätte deinen Fall nicht abgeben dürfen. Aber ich hab's getan. Ich fürchtete, daß man dich nach meinen Ermittlungen zum Tode verurteilen würde. Einzig und allein darum hab ich den Fall abgegeben, und das kam dir zugute. Der Kollege, der den Fall übernahm, arbeitete flink, aber oberflächlich. Anscheinend hat er sich von dir an der Nase herumführen lassen." „Hm" brummte Sasko vielsagend. „Schenk noch einen ein." „Bitte!" „Demnach bist du also mein Lebensretter!" Romualds Sasko behielt seinen ironischen Ton bei. „Da wären wir ja endlich quitt! Als ich dich aus dem Kessel holte und mir plötzlich klar wurde, daß der Stacheldraht unter Strom stand, hätte ich den Fall am liebsten auch abgegeben. Erstens warst du schwer und
zweitens bewußtlos, und drittens hätte ich mich allein viel leichter zu den Unseren durchschlagen können. Außerdem mußte ich noch mein Hemd zerreißen, um deine Wunden damit zu verbinden. Als Nichtschwimmer in einem lecken Boot ohne Ruder mitten auf der Daugava hätte ich wahrscheinlich weniger Angst gehabt." Nervös knetete Vilis eine Zigarette zwischen den Fingern, zündete sie an. Dann besann er sich und reichte auch seinem Gast die Schachtel, der aber lehnte mit der Standardfloskel des Nichtrauchers ab: „Das hab ich noch nicht gelernt." Vilis' Frau brachte auf einem Tablett starken Tee, eine Zuckerdose und einen Teller mit belegten Broten, wodurch sich die Atmosphäre ein wenig entspannte. Sie stellte alles auf dem Tischchen ab und ging wieder hinaus. Vilis füllte die Teegläser. „Na, lang zu!" „Keine Sorge, wir brauchten nicht zu hungern." Sasko trank aus, rührte die Brote jedoch nicht an. „Was kann ich für dich tun?" Vor Zorn bebend, sprang Sasko auf. „Jawohl, ich hab gestohlen! Aber ein Bettler war ich noch nie!" „Allerdings hast du gestohlen", erwiderte Vilis ruhig. So ruhig, wie nur ein Mensch sein kann, der jeden Zweifel überwunden hat. Sasko lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Weißt du, wie das Ganze angefangen hat?" fragte er, noch immer vor Zorn bebend, sein Ton aber verriet, daß er nach einer Rechtfertigung suchte. „Als ich das Werk übernahm, hatten wir nur eine einzige Lagerhalle. Eine einzige! Und wenn die Bahn ihre Waggons nicht rechtzeitig schickte, füllte sich diese Halle in zwei
Schichten, und wir mußten den Rest auf dem Hof stapeln. Wir deckten alles mit Planen ab, aber glaubst du, das half? Schließlich stellten wir empfindliche Geräte her. Ein paar Tropfen Wasser, und so ein Gerät ist hinüber. Wir wurden beschimpft, mit Reklamationen überhäuft, ins Ministerium zitiert und bekamen keine Prämien mehr. Meine Leute schufteten wie besessen, und es war meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie auf ihr Geld kamen! Schnee und Regen aber haben ihre eigenen Pläne und die Eisenbahn sowieso. Ein Eisenbahner läßt sich zwar manchmal mit ,Rigaer Balsam', Konfekt oder Torten bestechen, aber an sonnigen Tagen schwitzten unsere teuren Produkte unter den Planen, und dann konnte auch armenischer Kognak nichts mehr ausrichten! Was tut man normalerweise in so einem Fall? Man baut eine Lagerhalle. Dazu aber braucht man Geld. Unser Geld lag auf der Bank, aber glaubst du, wir wären da rangekommen? Kein Stück! Legen Sie erst das Projekt vor! Bitte sehr, hier ist das Projekt. Können Sie nachweisen, daß sich der Bau rentiert? Das ist doch keine Werkhalle, sagte ich. Wie sollen wir nachweisen, daß durch das Vorhandensein einer neuen Lagerhalle soundso viele Geräte vor dem Verrosten bewahrt werden? Das können Sie nicht? Dann kriegen Sie auch kein Geld!
Und
welcher
Baubetrieb
läßt
sich
schon
mit
Hungerleidern ein? Einem Hungerleider gibt niemand auch nur einen Ziegelstein. Zum Unglück hatten wir auch noch ein zeitiges, regnerisches Frühjahr." Sasko schenkte sich selbst aus der Karaffe nach und trank. „Und da lief mir Pundikis über den Weg", fuhr Sasko fort. „Pundikis kannte sich aus. Ich machte ihn zum Leiter der Versorgungsabteilung. Schon einen Monat
später hatten wir Geld, und in der Elektrolyseabteilung wurden sechs Zimmerleute als Galvaniseure geführt - sonst hätten wir ihnen keine zweihundertfünfzig im Monat zahlen können. Für das Geld schaffte Pundikis Baustoffe und fingierte Quittungen herbei. Anfang Juni war die Lagerhalle fertig, und ich steckte zerknirscht einen strengen Verweis wegen illegaler Bautätigkeit ein, damit der Neubau legalisiert wurde und eine Planstelle für einen Lagerleiter heraussprang. Keine Kopeke wanderte in meine eigene Tasche — ja, so fing das damals an! Und die da oben wußten genau, wofür sie mir den Verweis verpaßten! Und insgeheim waren sie auf meiner Seite, weil das Werk sonst nie zu einer Lagerhalle gekommen wäre!" „Wieviel hat Pundikis gekriegt?" „Zehn Jahre." Sasko stand auf. Anscheinend hatte er sich beruhigt. „Ich gehe dann. Es ist spät geworden." „Setz dich. Laß uns noch ein Gläschen trinken und über etwas Vernünftiges reden." „Ein andermal." Vilis brachte Sasko hinaus und kehrte ins Zimmer zurück, um das schmutzige Geschirr abzuräumen. „Wer war das?" fragte seine Frau. „Ein ehemaliger Kriegskamerad." „Und worüber habt ihr gestritten?" „Wir haben nicht gestritten."
Die Straße erinnerte an einen Tunnelschacht. Die spärlichen Lampen hoch oben an den Masten schaukelten im eisigen Wind. Hier und da brannte in einem der Häuschen noch Licht, die dünne Eisdecke splitterte unter den Füßen, und in der Ferne heulten, neuen Schneesturm ankündigend, ein paar Hunde. Ich hab mich von ihm abkanzeln lassen wie ein kleines Kind! dachte Sasko. Erst jetzt merkte er, wie sehr er Vilis haßte, weil er seine Pläne vereitelt hatte. Solange in der Staatsanwaltschaft des Bezirks, in dem das Werk lag, ein Fremder gesessen hatte, war Sasko vorsichtig gewesen. Dann aber wurde Vilis dorthin versetzt, und Sasko dachte erleichtert: Vilis wird dir nichts in den Weg legen. Die Hauptsache, die Papiere sind in Ordnung. Selbst als er ins Gefängnis kam, lachte er noch - felsenfest davon überzeugt, daß Vilis ihn retten und er, Sasko, mit einem blauen Auge davonkommen würde. Ich muß auf die Hauptstraße zurück, sagte sich Sasko. Da erwische ich vielleicht noch ein Taxi. Er schlug den Mantelkragen hoch, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Bald kam eine Kreuzung in Sicht, an der er die Scheinwerfer von Autos vorbeihuschen sah. Sasko legte einen Schritt zu. Der Taxifahrer schaltete das Taxameter ein und fragte mürrisch: „Wohin?" „Nach Doni." „Wo liegt denn das?" „Am Weißen See." „Hm", knurrte der Fahrer ärgerlich. Eine einträgliche Fahrt war das nicht: er würde leer zurückfahren müssen. Und schon
bedauerte er es, überhaupt angehalten zu haben. Eine Hoffnung hatte er jedoch noch. „Und in Doni ist dann Schluß?" „Nein, ich bleibe dort nur zehn Minuten. Wenn Sie wollen, können Sie auf mich warten." ,,Und wohin soll's dann gehen?" „Ins Zentrum." „Na schön, dann warte ich", brummte der Fahrer und raste durch die nächtlichen Straßen. Wozu hatte er Vilis aufgesucht? Was hatte er sich davon versprochen? Er brauchte weder dessen Mitleid noch seine Ratschläge. Hatte er sich Hilfe erhofft? Was für eine Hilfe? Sollte ein Blinder einen Sehenden führen? Sasko suchte nach den Gründen für seine Handlungen, vermied aber sorgsam das Wort „Rache". Hatte er Vilis beschämen oder eine Rechtfertigung von ihm hören wollen? Oder den Wunsch verspürt, ihm großmütig zu verzeihen, um ihn nur noch tiefer zu demütigen? Sasko fühlte sich unbehaglich. Er wußte, daß er an der Front ein anderer Mensch gewesen war, und bedauerte es, nie mehr so sein zu können. Wie war er nur darauf verfallen, sich das Ansehen, das er einst genossen hatte, nun erhandeln zu wollen?
11
Der Morgen erbrachte nichts Neues. Zu der kur-
zen Beratung, die um neun Uhr früh angesetzt worden war, erschien Ulfs mit vor Schlafmangel geröteten Augen. Früher hatten ihm zwei Stunden Schlaf genügt, um wieder frisch und munter zu sein. Jetzt aber reichte ihm das nicht mehr aus. Er hatte die Fähigkeit eingebüßt, von einem Augenblick zum anderen
einzuschlafen. Trotzdem lehnte er es ab, Schlafmittel zu nehmen überhaupt waren Kamillentee, Grog und bei Verbrennungen rohe geriebene Kartoffeln die einzigen Heilmittel, die er anerkannte. So kam es, daß er erst kurz vor dem Weckerklingeln eingeschlafen war. Im Arbeitszimmer des stellvertretenden Ministers hatten sich alle versammelt, die auf diese oder jene Art an der Untersuchung des gestrigen Verbrechens beteiligt waren. Als erster ergriff der medizinische Experte das Wort, um sein Gutachten zu verlesen. Ulfs, der das Gutachten schon kannte, schlief darüber ein. Eine Pause in dem monotonen Vortrag des Mediziners weckte ihn. Während er geschlafen hatte, war der Arzt auf den Gesundheitszustand des ersten Kassenboten vor dem Anschlag eingegangen, den man als gut bezeichnen konnte, und hatte sich dann lang und breit darüber ausgelassen, wie der zweite Kassenbote auf dem Rasen gelegen und in welche Himmelsrichtung seine Beine gezeigt hatten. Vor dem Hauptteil des Gutachtens holte er noch einmal tief Luft. „Auf den zweiten Kassenboten wurde aus einer Entfernung von zirka neunzig Zentimetern geschossen. Der Schuß erfolgte . ." Ulfs nickte wieder ein. Der Experte ging auf jedes einzelne Schrotkorn ein. Er schilderte, wo es in den Körper eingedrungen war und welche inneren Organe und Knochen es getroffen hatte. Er beendete seinen Vortrag mit einer Mitteilung, die keinem neu war und trotzdem allen die Stimmung verdarb: „Vor einer halben Stunde ist er im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen." Wahrscheinlich waren es eben diese Worte, die Ulfs weckten. Er
fühlte sich plötzlich ausgeschlafen, obwohl er wußte, daß das ein trügerisches Gefühl war und die Müdigkeit bald zurückkehren würde. Es folgte eine Information über die Absperrung sämtlicher Straßen, Bahnlinien und Flugplätze. Auch eine Mitteilung der Bank über die Höhe der erbeuteten Summe wurde verlesen – es handelte sich um 86000 Rubel. „Eine ausgezeichnete Arbeit", sagte der Vertreter der Staatsanwaltschaft. Als er ein unterdrücktes Kichern vernahm, merkte er, daß er sich mißverständlich ausgedrückt hatte, und berichtigte sich: „Ich meine natürlich die Arbeit der Kriminalmiliz! Seit dem Verbrechen sind erst wenige Stunden vergangen, wir aber haben schon die Fotos der Täter in den Händen." Jemand schlug vor, diese Fotos im Abendprogramm des Fernsehens zu zeigen. Der Vorschlag wurde angenommen. „Genosse Ulfs hat nun genug Lobreden gehört und möchte vielleicht zum Abschluß selbst noch etwas sagen." Der stellvertretende Minister lächelte. „Gut, das will ich tun." Ulfs verschränkte die Arme über der Brust, und Grauds dachte, daß ihm nun nur noch eine altertümliche Richterrobe und ein schwarzer Dreispitz fehlten. Damit ihn alle hören konnten, trat Ulfs in die Mitte des Raumes. „Für die Lobreden bedanke ich mich! Die größten Stücke von der Geburtstagstorte haben sich allerdings Alvis Grauds und Juris Garancs verdient, genauer gesagt, Juris Garancs und Alvis Grauds, denn Grauds hat gestern eine seiner Aufgaben sehr nachlässig ausgeführt und die Sache wahrscheinlich noch immer nicht in Ordnung gebracht. Er wird wissen, was ich meine." Grauds lief rot an. Sollte er tatsächlich extra noch einmal nach
Doni kutschieren, um seine Nase in Rimsas Garage zu stecken und sich davon zu überzeugen, daß in ihr ein stumpfnasiger Saporoshez stand? Der stellvertretende Minister warf Grauds einen fragenden Blick zu, und der mußte etwas sagen. „Ich fahre nach Doni, sobald ich kann." „Das erübrigt sich jetzt. Wenn der Wagen gestern unterwegs war, kann er heute trotzdem wieder in der Garage stehen. Und falls Nelli Rimsa in die Sache verwickelt ist, dürfte das nach deinem Anruf so gut wie sicher sein. Hat sie aber nichts damit zu tun, so ist eine Kontrolle überflüssig." „Ach, du wundertätige Heilige Mutter Gottes von Aglona!" Juris Garancs, der aus einer streng katholischen Latgaler Familie stammte, hatte die Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit auf einen Heiligen zu berufen. „Theoretisch ist das richtig." „Theoretisch ist auch richtig, daß es keinerlei Bioströme gibt und auch nicht geben kann!" Er würde jetzt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg halten. Ulfs stieß einen tiefen Seufzer aus. „Keiner von Ihnen glaubt an Intuition. Zumindest behaupten Sie das. Vielleicht, weil es modern ist, sie zu negieren. Und gegen die Mode kommt keiner an. Ich aber glaube an Intuition." „Geht's nicht ein bißchen konkreter?" Der stellvertretende Minister war ganz Ohr. „Bitte, wissen Sie, wo das Taxi mit der Nummer 86 - 37 abgeblieben ist? Das Taxi ist verschwunden. Wir haben es noch nicht gefunden. Und wir alle sind der Meinung, daß es nicht weit gekommen sein kann. Damit wären wir bei der ersten glaubwürdigen
Mitteilung: Das Taxi hat die Brücke über die Jugla überquert. In Sigulda aber ist es nicht angekommen, in Saulkrasti auch nicht, und auch in Ogre wurde es nicht gesichtet." „Also steht es irgendwo im Wald," „Wenn wir es heute nicht finden, gehe ich jede Wette ein, daß es auch nicht irgendwo im Wald steht." „Aber wir haben doch die Fotos der beiden Täter", sagte der Vertreter der Staatsanwaltschaft. „Der Täter? Wir haben lediglich die Fotos zweier Männer. Und hoffentlich kommt niemand auf die Idee, sie im Fernsehen mit dem Kommentar zu zeigen: ,Die Miliz sucht zwei besonders gefährliche Verbrecher.' Denn noch kann niemand mit Sicherheit behaupten, daß Dursis nicht tatsächlich friedlich in den Bergen umherkraxelt und Rimsa nicht bei einer Freundin steckt." „Golubowski gibt an . . ." „Das ist ja das Unglück, daß nur Golubowski und Nelli Rimsa etwas anzugeben haben! Und jeder über eine andere Person. Wenn nur einer von ihnen lügt oder sich täuscht, gerät das ganze mühsam aufgerichtete Gebäude ins Wanken. Wir brauchen ein sicheres Fundament! Zumindest brauchen wir den Beweis, daß Dursis und Rimsa überhaupt miteinander bekannt sind." „Ich hoffe, der Genosse Ulfs wird deshalb nicht ganz auf das Fernsehen verzichten wollen", sagte der stellvertretende Minister. „Das habe ich nicht gesagt. Rimsas Foto könnte man mit dem Kommentar zeigen: ,Hat das Haus verlassen und ist noch nicht zurückgekehrt . . .' Außerdem sollte man sich mit der Frage an die Zuschauer wenden, ob jemand das Taxi gesehen hat. Den
Uhrmacher zu zeigen, halte ich für verfrüht." Ulfs setzte sich. Es war, als hätte er sich überhaupt nie von seinem Stuhl erhoben. Ein ziemlich langes, peinliches Schweigen trat ein. „Der Genosse Ulfs hat uns alle Illusionen genommen, aber leider können wir seine Worte nicht widerlegen", sagte der stellvertretende Minister. „Möchte noch jemand etwas dazu sagen?" Niemand meldete sich zu Wort. „Vielleicht hat Oberst Ulfs einen Vorschlag?" „Ja!" Ulfs stand mit einem Ruck auf. Ihm war plötzlich ein verführerischer Gedanke gekommen, für den er sofort Feuer und Flamme war. Trotzdem zwang er sich, langsam zu sprechen und jedem Wort Nachdruck zu verleihen. „Ich würde gern ... Meine Abteilung arbeitet zur Zeit unter normalen Bedingungen. Außer dem zur Debatte stehenden Fall haben wir nur mit den üblichen Routineangelegenheiten zu tun. Die Genossen, die sich damit befassen, besitzen genügend Erfahrung und brauchen meine Ratschläge nicht unbedingt. Trotzdem muß ich mich auch um die Einbrüche und alles andere kümmern . . . Aber wozu erzähle ich Ihnen das? Sie verstehen mich schon . . ." Der stellvertretende Minister griff den Gedanken sofort auf. „Der Genosse Ulfs möchte vorübergehend von allen anderen Verpflichtungen entbunden werden und sich nur mit dem Überfall auf die Kassenboten befassen." „Natürlich kann ich nicht garantieren, daß ich damit besser fertig werde als irgendein anderer. Aber jeder glaubt nun mal an seinen Stern - und ich mache da keine Ausnahme." Seine Mitarbeiter starrten ihn verständnislos an. „Und wer soll die
Abteilung leiten?" „Man kann doch nicht wegen eines einzigen Delikts ..." „Ich habe einen guten Stellvertreter", fuhr Ulfs dazwischen, „der wunderbar zurechtkommt, wenn ich im Urlaub bin. Und wenn ich einmal in Rente gehe, wird er genauso gut zurechtkommen. Bitte berücksichtigen Sie die Gefährlichkeit des Verbrechers! Ich werde mir die geeignetsten Leute aussuchen und . . ." „Konräds", entgegnete der stellvertretende Minister, „wir alle schätzen Sie sehr. Das wissen Sie. Ich würde Ihrem Vorschlag gern zustimmen, aber wird Ihnen ein so krasser Wechsel im Arbeitsrhythmus nicht schwer fallen?" „Schwer fallen? Sie scherzen wohl! Seit zwanzig Jahren hat's für mich keinen Tag gegeben, an dem ich mir hätte erlauben können, mich nur einem einzigen Verbrechen zu widmen. Sie würden mich damit einfach um zwanzig Jahre jünger machen und mir auf diese Weise das Leben verlängern."
12
Wer zu Konräds Ulfs wollte, mußte Alvis
Grauds Arbeitszimmer durchqueren. Es gab zwar eine Tür, die vorn Korridor direkt in Ulfs' Zimmer führte, aber diese Tür wurde kaum benutzt. Sie blieb monatelang verschlossen, und wenn der Wachhabende, der alle Schlüssel in Verwahrung hatte, eines Tages bemerkt hätte, daß dieser Schlüssel fehlte, so hätte er Alarm geschlagen. Einigen Wachhabenden war es während ihrer ganzen Dienstzeit kein einziges Mal vergönnt, diesen Schlüssel
auszugeben, und selbst Ulfs hatte einmal, als er sein Schlüsselbund durchsah - niemand konnte begreifen, wo er so viele Schlösser hatte —, lange darüber nachgedacht, was das für ein Schlüssel sein mochte. Als Konräds Ulfs, Alvis Grauds und Juris Garancs von der Beratung zurückkehrten, schlug Grauds vor, auf geradem Weg, durch die zweite Tür, in Ulfs Zimmer zu gehen. „Dann stört uns bestimmt keiner!" „Trinken wir Tee?" fragte Ulfs, nachdem sie sich eingeschlossen hatten. Garancs zuckte gleichmütig die Achseln. Er kannte Ulfs zwar ziemlich gut, war aber zum ersten Mal hier, in diesem geräumigen und so gut wie leeren Arbeitszimmer, das ihm nicht sonderlich gefiel. „Ihre Erklärung hat natürlich alle schockiert, aber ich glaube, das Ganze ist halb so wild." Grauds stellte den Wasserkessel auf die elektrische Kochplatte. Garancs Bericht konnte man entnehmen, daß er wahrscheinlich die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Und so war es auch beinahe. Nach seinem Besuch bei dem Uhrmacher war er mit zwei Gehilfen zum Taxidepot gefahren, um mit den Fahrern zu sprechen, die in derselben Schicht arbeiteten wie Ludvigs Rimsa. Er hatte sich ans Tor gestellt und die Nummern der eintreffenden Wagen überprüft - der Dispatcher hatte ihm eine Liste der Kollegen gegeben, die in Rimsas Brigade waren. Dieser Brigade gehörte Rimsa an, seit er hier beschäftigt war, so daß die anderen Fahrer ihn gut kennen mußten. Die Wagen tauchten mit runden gelben Luchsaugen aus der dunklen Gasse und hielten gleichsam
sprungbereit vor dem Tor. In dem kurzen Augenblick, den sie anhielten,
erledigten
Wächter
und
Fahrer
die
nötigen
Formalitäten, und Garancs bereitete die Fahrer darauf vor, daß er sie nachher noch sprechen wollte. Gewöhnlich stieg Garancs gleich zu und fuhr mit auf den Hof des Taxidepots, wo sich der Fahrer zwischen Hunderten anderer Wolgas einen Parkplatz suchte. Die Fahrer erzählten bereitwillig, was sie wußten, weil das, was geschehen war, keinen von ihnen unbeteiligt ließ. Wenn Garancs mit einem der Fahrer gesprochen hatte, eilte er sofort wieder zurück ans Tor, um auf den nächsten zu warten. Traf er nicht rechtzeitig hier ein, so befragte einer seiner Gehilfen den nächsten Fahrer. Die Jungs waren mit Feuereifer dabei - wie alle Praktikanten von der Juristischen Fakultät, die plötzlich die Möglichkeit hatten, zur Aufklärung eines komplizierten Falles beizutragen. Gegen zwei Uhr nachts traf der letzte Fahrer der Brigade ein. Jemand hatte ihn überredet, von der Chaussee abzubiegen und einen Feldweg einzuschlagen. Auf halber Strecke war der Wagen steckengeblieben, und der Fahrgast hatte sich aus dem Staub gemacht, so daß der Taxifahrer jetzt auf niemanden gut zu sprechen war. „Ja, ich hab Rimsa vorher gesehen", sagte er. „Diese Fahrt für die Bank paßte ihm überhaupt nicht in den Kram." „Nein?" „Soviel steht fest: für die Bank fährt keiner gern. Und Rimsa schon gar nicht. Wenn für den nichts dabei rausspringt, rührt er keinen Finger. Kassenboten geben keine Trinkgelder, da akkert man den ganzen Tag nur fürs Gehalt."
Nachdem sie alle Brigademitglieder befragt hatten, ließ Garancs sich vom Dispatcher einen freien Raum zuweisen und zog mit seinen Gehilfen eine erste Bilanz. Ludvigs Rimsa war wie immer zur Arbeit erschienen. Um den Zustand seines Wagens machte er sich keine Sorgen, obwohl eine solche Fahrt bevorstand. Das kam allen ein wenig merkwürdig vor. Allerdings war Rimsas Wagen noch so gut wie neu und mußte deshalb vielleicht nicht unbedingt noch einmal durchgesehen werden. Schließlich kannte er seinen Wagen besser als jeder andere. Dann stritt Rimsa sich mit jemandem über die Vor- und Nachteile eines Selengenerators, verabredete etwas wegen eines Ersatzteils, schimpfte über die undankbare Arbeit, die ihm bevorstand, und fuhr vom Hof. Die Brigademitglieder hielten Rimsa für einen guten Familienvater und einen ausgesprochen häuslichen Menschen: Er hatte zu Hause immer etwas zu malern oder zu reparieren und verbrachte seine ganze Freizeit auf der Jagd, beim Angeln oder vor dem Fernseher. Er hatte nicht einmal eine Geliebte, was die Kollegen darauf zurückführten, daß Nelli eine schöne Frau war. Sie sahen sich bei Rimsa oft die Sportsendungen an, denn einen Farbfernseher besaß in der Brigade außer ihm noch keiner. Bei der Gelegenheit bewirtete Rimsas Frau sie immer mit Brötchen und Kaffee, und mitunter kamen auch stärkere Getränke auf den Tisch. Nelli Rimsa hatte gern Gäste und war zu jedermann freundlich. Während Garancs berichtete, bestellte Grauds einen Wagen, trank seinen Tee aus und wollte gehen. „Vielleicht besteht der gesuchte Beweis gerade darin, daß es unmöglich ist, eine Bekanntschaft zwischen Rimsa und Dursis
nachzuweisen?" fragte er beim Abschied. Ulfs lachte überraschend auf. „So kann man's auch sehen. Und wahrscheinlich gibt's da noch zehn andere Varianten." „Ich fahre dann", sagte Grauds entschieden. Er hatte den Eindruck, Ulfs habe alles gesagt, was es zu sagen gab. „Bei der Gelegenheit will ich Nelli ein Foto des Uhrmachers vorlegen. Soll ich den Genossen Garancs vielleicht ein Stück mitnehmen?" „Ja, ich müßte zur Abteilung." „Na, bitte." Alleingeblieben, stopfte Ulfs seine Pfeife und lehnte sich bequem auf seinem Stuhl zurück. Er sagte sich, daß die Zeit der Laufereien für ihn nun vorbei war, und trauerte dieser Zeit nach, wie man allem nachtrauert, was unwiederbringlich verloren ist. Der Trupp, der nach dem Taxi mit der Nummer 86 - 37 suchte, meldete, daß der Wagen noch nicht gefunden worden sei. Die Kollegen, die aufgebrochen waren, um das Privatleben der ehemaligen und jetzigen Bankangestellten zu überprüfen, teilten mit, daß sie nun ans Werk gingen, und Ulfs riet ihnen, sich vor allem um die ehemaligen Mitarbeiter zu kümmern. Aber das hatten sie ohnehin vorgehabt. Eine halbe Stunde später kam ein Anruf aus der Bank. Vor kurzem war ein Kassenbote namens Kujelis wegen schlechter Arbeitsdisziplin entlassen worden. Ein leichtsinniger, leicht beeinflussender Bursche. Ulfs regte an, Kujelis Alibi zu überprüfen. Dann meldete sich wieder der Trupp, der nach dem Taxi suchte. Es gab noch immer nichts Neues, und Ulfs erlaubte
ihnen, sich nur alle zwei Stunden zu melden: Schließlich kämmten sie ganze Wälder durch. Ulfs klopfte die Asche aus seiner Pfeife und spazierte im Zimmer auf und ab, um sich die Beine zu vertreten. Kurz vor elf meldete sich die Gruppe, die den Auftrag erhalten hatte, alle Taxifahrer zu befragen, die an jenem Tag für die Bank unterwegs gewesen waren. Noch fehlten zwar die Aussagen von zwei oder drei Kollegen, die aber am allgemeinen Bild nicht mehr viel ändern würden. Rimsas Taxi war leicht verspätet bei der Bank eingetroffen, jedenfalls waren die übrigen schon zur Stelle und warteten auf die Kassenboten. Die Fahrer standen zusammen, rauchten und erzählten sich Witze. Ludvigs Rimsa stieg nicht aus, aber daran war nichts Ungewöhnliches. Viele warteten ab, bis sie an der Reihe waren, und ließen sich erst dann den Fahrauftrag bestätigen. Ludvigs Rimsa, der sich verspätet hatte, ließ sich seinen Fahrauftrag erst bestätigen, als die anderen schon weg waren. Der Bankangestellten, die das erledigt hatte, wurden Fotos von Rimsa und von weiteren Taxifahrern vorgelegt, die Kassenboten befördert hatten. Sie konnte sich jedoch an keinen von ihnen erinnern. Das war doch schon etwas. Das gab zu denken. Ulfs schritt energisch im Zimmer auf und ab. Wieso hatte Rimsa sich im Depot ganz anders verhalten als in der Bank? Im Depot war er offenherzig und mitteilsam gewesen, in der Bank dagegen verschlossen. Na ja, das war zu verstehen: Der Mann hatte ein Verbrechen vor, er mußte sich konzentrieren und alle Kraft zusammennehmen. Er gab seine Familie und sein ganzes bisheriges Leben auf. Außerdem mußte er zweifellos auch mit
einer möglichen Bestrafung rechnen. Noch konnte er sein Vorhaben aufgeben. Oder konnte er das bereits nicht mehr? Vielleicht hatte er sich schon vor Jahren dazu verpflichtet? Vielleicht war er deshalb so verschlossen? Vielleicht wußte er im Depot noch nicht, daß er sich an dem Verbrechen würde beteiligen müssen? Vielleicht war er unterwegs jemandem begegnet, der ihn aus irgendwelchen Gründen in der Hand hatte? Oder hatte in der Bank schon nicht mehr Ludvigs Rimsa am Lenkrad gesessen? Ulfs bemühte sich jedoch, eine Verbindung zum Krankenhaus zu bekommen, was ihm erst nach einer ganzen Weile gelang. Die diensthabende Schwester machte sich auf die Suche nach dem Arzt. Sie legte den Hörer auf den Tisch, und Ulfs hörte die Tür klappen, als sie hinausging. Dann schob irgend jemand den Hörer beiseite. Endlich ertönte die ungeduldige Stimme des Arztes: „Ich höre!" „Hier ist Oberst Ulfs, Leiter der Kriminalabteilung." „Sehr angenehm!" „Ich rufe wegen des Kassenboten an, der gestern abend bei Ihnen eingeliefert wurde." "Ja?" „Man sagte uns, er sei außer Lebensgefahr." „Im Prinzip ist das richtig." „Sehen Sie . . . Es wäre für uns sehr wichtig, wenn wir ihm ein Foto zeigen und ihm eine einzige Frage stellen könnten. Die Frage: ,Saß gestern dieser Taxifahrer am Lenkrad?'" „In einer Woche." „In einer Woche, Teuerster, erübrigt sich diese Frage."
„In drei Tagen." „Im Moment ist für uns ein Tag soviel wert wie ein ganzer Monat." „Nicht vor übermorgen." „Geht's wirklich nicht eher?" „Nein." „Also abgemacht: übermorgen." „Aber rufen Sie vorher an!" „Gut. Auf Wiedersehen!" „Auf Wiedersehen!" Übermorgen . . . Eine lange Wartezeit! Eine Passagiermaschine legt in einer Stunde achthundert Kilometer zurück, in zwei Tagen kann man bis Wladiwostok und zurück fliegen. In zwei Tagen ist der Verbrecher an seinem Ziel. Dann dachte Ulfs, daß er möglicherweise längst an seinem Ziel angelangt war. Aus seiner Sicht natürlich. Garancs rief an. Er hatte Erkundigungen über Dursis eingeholt. Gegen ihn lagen nur ein paar Beschwerden vor wie gegen jeden anderen Uhrmacher auch. Nicht mehr und nicht weniger. Die Leute wollen einfach nicht begreifen, daß keine Uhr ewig geht, daß auch für sie einmal die Stunde schlägt. Sie bringen sie zur Reparatur, und wenn der Uhrmacher die Reparatur ablehnt, lassen sie ihren Ärger an ihm aus: angeblich hat er „alle guten Teile aus der Uhr entfernt — die aber war noch Friedensware". Und sie beschweren sich über ihn. Golubowskis Beschwerde nahm eine ganze Seite ein. Außerdem hatte Garancs einen Stapel Adressen von Dursis Freundinnen und Freunden aufgetrieben und wollte diese nun zusammen mit seinen
Gehilfen abklappern. Ein paar der Freunde waren schon dadurch interessant, daß sie in anderen Republiken wohnten - in Lwow, Odessa, Omsk, Saktanbergen, Alshikow und in der kasachischen Hauptstadt Alma-Ata. Garancs schlug vor, die dortige Miliz einzuschalten, und Ulfs hielt das für richtig, obwohl er fast davon überzeugt war, daß der Täter die Absperrung nicht durchbrochen hatte. Alma-Ata! Grauds hatte ihm versichert, die Täter seien nicht in der Maschine nach Alma-Ata gewesen. Aber konnte man sich hundertprozentig darauf verlassen? Die Gruppe, die nach dem Taxi suchte, war noch immer nicht fündig geworden. Der Wald wurde systematisch, Quadrat um Quadrat, abgesucht. Um die Suche zu beschleunigen, fuhr ein Wagen die Chaussee entlang, und an jedem Waldweg und jedem Pfad stiegen zwei Leute aus und schritten ihn ab, bis sie auf eine eingetrocknete Pfütze oder eine sandige Stelle stießen, wo die Wolgareifen garantiert eine Spur hinterlassen hätten. Im stillen suchte Ulfs immer noch nach einem Beweis für Rimsas Unschuld. Über einen anderen Apparat rief er die Abteilung zur Bekämpfung von Vergehen an sozialistischem Eigentum an, wo man sich mit den Schwarzmarktpreisen auskannte. „Wieviel muß ich für ein solides zweistöckiges Haus in Doni hinblättern?" fragte er. Er hörte, wie sich der Kollege am anderen Ende der Leitung konsultierte. Dann nannte er ihm eine astronomische Summe: 30000 Rubel. „Wieviel?" fragte Ulfs. „Mindestens dreißigtausend." „Danke, dann verzichte ich."
„Tja, darunter machen wir's nicht. Auf Wiederhören, Genosse Ulfs. Wir haben genug zahlungskräftige Käufer an der Hand." 30000! 30000 .. . Zum Verrücktwerden! Unsereins verdient zweihundert Rubel im Monat. Seine Hand langte mechanisch nach einem Stück Papier. Die Verbrecher hatten zu zweit 86000 erbeutet, das waren für jeden 43000. 30000 war das Haus wert, 2000 der Saporoshez, und dazu kamen mindestens 2000 für die Einrichtung und weitere 2000 für die Kleidung, die Gewehre und alles übrige. Dann fiel Ulfs ein, daß die Hälfte des Vermögens der Frau gehören konnte, und rief sicherheitshalber beim Exekutivkomitee von Doni an - schließlich hatte er im Moment sowieso nichts anderes zu tun. „Die ,Villa Ludvigs' hat Rimsas Vater dem Sohn noch zu Lebzeiten geschenkt", erklärte die Sachbearbeiterin des Exekutivkomitees. Weitere Fragen hatte Ulfs nicht: Er wußte, daß das Gesetz über die Teilung des Vermögens im Falle einer Ehescheidung für Geschenke nicht galt. 30000... 30000! Nervös klopfte Ulfs mit dem stumpfen Bleistiftende auf den Tisch. Nur ein Vollidiot konnte diese 30000 gegen 40000 eintauschen und dabei das Risiko eingehen, zum Tode verurteilt zu werden. Aus allem, was sie über Rimsa wußten, ging jedoch hervor, daß er alles andere als ein Idiot war. Wenn er Geld brauchte, konnte er einfach sein Haus verkaufen und mit den 30000 in Freuden leben. Nein, es gab nur zwei logische Varianten: Entweder verband ihn mit dem Täter ein dunkler Punkt in seiner Vergangenheit, oder er war überhaupt nicht in der Bank gewesen. Das Geld durfte ihn kaum gelockt haben!
Also war es nicht Rimsa, der das Verbrechen begangen hatte? Aber er war noch einmal nach Hause gefahren, um seinen Regenmantel zu holen! In diesem Augenblick rief Alvis Grauds an und warf all seine Überlegungen über den Haufen.
13
Die alte Frau, die gegen Mitternacht den Mülleimer
hinuntertrug und, ohne sich auch nur im geringsten um die Nachtruhe der anderen Mieter zu scheren, unbarmherzig damit gegen den Rand der Mülltonne klopfte, sah einen schlanken Mann mit hoher grauer Persianermütze in den Torbogen mit den zwei Treppenaufgängen treten und die Namensschilder studieren. Er suchte nach einer bestimmten Wohnung, war also vor sehr langer Zeit oder überhaupt noch nie hier gewesen. Zu wem mag ein so solider Besucher wollen? fragte sie sich und beobachtete, wie der Mann auf der Treppe verschwand. In Gedanken ging sie alle Mieter von der ersten bis zur sechsten Etage durch. Die Wohnungen in den beiden Aufgängen waren klein, und in ihnen lebten zwar nicht gerade Hungerleider, aber auch keine Leute, zu denen dieser Mann mit dem Kneifer und der hohen grauen Persianermütze passen würde. Sie hätte vor Wut heulen mögen, als oben eine Tür knarrte und der Gast eingelassen wurde, ohne daß sie mitgekriegt hätte, in welcher Etage das gewesen war. Fest stand nur: es war irgendwo ganz weit oben. Noch einmal ging sie alle Mieter durch - jetzt nur die in den
oberen Etagen -, kam aber auf keinen, dem die Ehre zuteil geworden sein konnte, einen solchen Gast zu empfangen. Hugo Langermanis doch wohl bestimmt nicht. Natürlich war Hugo weder ein Rowdy noch ein Trunkenbold, hatte aber ständig irgendwelche jungen Leute bei sich, ließ nächtelang Tonbandmusik durchs Haus dröhnen und arbeitete obendrein - einfach lachhaft! - als Rettungsschwimmer am Strand. Den Sommer über war er zwar braungebrannt wie ein Neger, verdiente aber auch nur sechzig Rubel im Monat. „Grüß dich, Vater!" „Grüß dich, mein Sohn!" Sie fielen einander gleich hier, in der Diele, in die Arme. Dann half Hugo dem Vater aus dem Mantel. „Ich dachte schon, du kämst erst morgen", sagte Hugo, während er den Vater in das Zimmer mit der sorgsam gedeckten Tafel führte. Romualds Sasko fiel ein Stein vom Herzen - hier schien alles in Ordnung zu sein. Wenn es auch nicht ganz so war, wie er es sich gewünscht hätte, ließen sich solche Kleinigkeiten doch ausbügeln. Der Junge hing an ihm, und das war die Hauptsache. All die Jahre hatte er gefürchtet, Hugo könnte auf die schiefe Bahn geraten — einen verwöhnten Zwanzigjährigen allein in einer Wohnung und im Vergleich zu früher völlig mittellos zurückzulassen, war doch ein ziemliches Risiko. In dem Jungen konnten Haßgefühle wach werden. Hugo wußte, daß Sasko nicht sein richtiger Vater war. Dieser lebte nicht mehr. Nur der Name war dem Jungen von ihm geblieben. Langermanis. Nein, bei dem Jungen war anscheinend alles in Ordnung. Mit sechsundzwanzig war man erwachsen. Wie redete man mit einem
erwachsenen Sohn? Am liebsten hätte er ihn sich vorgeknöpft wie einen kleinen Jungen, weil er sein Studium an den Nagel gehängt hatte. Aber hatte er dazu ein Recht? Sasko holte eine Flasche guten Kognak aus der Diele - den besten, den man am Büfett des Restaurants „Balozi" bekam. „Oho!" rief Hugo erstaunt. „Du hast wohl noch ein paar Reserven?" „Auf dein Wohl!" „Auf deine Rückkehr!" Und wenn sein Sohn ihm nur etwas vormachte? Diesen Gedanken verdrängte Sasko jedoch sofort wieder - das wäre ein zu schwerer Schlag für ihn gewesen. Ungewohnte Geräusche rissen ihn aus dem Schlaf - durch das halboffene Fenster drangen das Kreischen der Straßenbahnen und das Rattern der Räder. Schwere Lastwagen bremsten quietschend, ihre überanstrengten Motoren jaulten. Und wenn dieser Lärm vorübergehend verstummte, konnte man die Schritte der Passanten hören. Sasko hatte ausgeschlafen, mochte sich aber noch nicht aus dem süßen Schlummer lösen - er genoß das Gefühl, so lange schlafen zu können, wie er wollte, ohne Gefahr zu laufen, außer der Reihe zum Kartoffelschälen eingeteilt zu werden. Wäre die Wohnung seines Stiefsohnes - das Wort „Stiefsohn" gebrauchte Sasko allerdings nicht einmal in Gedanken - nicht so ordentlich gewesen, so hätte sie die Bleibe eines Bohemien sein können, in der der größte Teil der Möbel durch irgendwelchen Firlefanz ersetzt war, der einen rein ideellen Wert besaß. Nippsachen sagen gewöhnlich nichts über den Geschmack des
Hausherrn aus - schließlich würde er sich nie eine Kückenschar aus Tannenzapfen zulegen -, sondern einzig und allein über den der Frauen, die hier ein- und ausgehen. Da kann ein Plastepelikan neben einem mit Bernstein verzierten Bierkrug stehen und ein rötlicher Stein - Zeuge irgendeines wichtigen Ereignisses - oder eine simple Muschel neben einem alten Spielzeugauto und einer Figur aus Meißener Porzellan liegen, deretwegen ein Sammler weite Wege auf sich nehmen würde. An den Wänden hingen eine Karnevalsmaske, ein paar Bilder ohne Rahmen - wahrscheinlich Geschenke von Künstlern -und ein großes Stück Zeichenkarton mit einem Gedicht anläßlich des fünfundzwanzigsten Geburtstages. Ansonsten gab es nur noch ein Tonbandgerät, das am Kopfende der Couch auf dem Fußboden stand, ein selbstgebautes Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm, ein Tischchen, Hocker und einen von Gummiabsätzen gezeichneten Fußboden: die Spuren durchtanzter Nächte. Nicht einmal einen Schrank hat er, dachte Sasko, dann aber fiel ihm ein, daß es in der Küche zwei Einbauschränke gab. Auf diese Idee war der Bauleiter seines Werkes gekommen. „Was gibt's da lange zu überlegen?" hatte er gesagt. „Wozu braucht der Junge einen riesigen Kleiderschrank? Ich baue ihm daraus zwei erstklassige Wandschränke. Was Besseres kann er sich gar nicht wünschen!" Sasko und seine Frau hatten lange überlegt, was sie dem Jungen zum achtzehnten Geburtstag schenken könnten. Sasko schlug ein Motorrad vor, seine Frau aber war kategorisch dagegen — sie wollte den Jungen keiner Gefahr aussetzen, und Sasko gab ihr recht. Ein Auto? Zwei Autos in einer Familie fielen zu sehr auf.
Aber Hugo lernte fleißig und hatte ein größeres Geschenk verdient. Vielleicht sollten sie ihm einfach Geld geben? Nein, das war nicht das Richtige. Rein zufällig erwähnte Sasko dieses Problem
einmal
gegenüber
dem
Vorsitzenden
des
Gewerkschaftskomitees. Der wußte genau, auf wen es ankam und wem er mit allen - legalen und illegalen - Mitteln unter die Arme greifen mußte. Genauso wußte er, für wen sich keine Anstrengung lohnte. Er hatte in seinem Leben eine einzige Entdeckung gemacht, die ihn in der Gewerkschaft von Posten zu Posten trug. Diese Entdeckung bestand darin, daß es für einen Vertreter der Gewerkschaft immer von Vorteil ist, die Interessen der Leitung zu vertreten, Interessen, die man in strittigen Fällen für die Interessen des Staates ausgeben kann, denen gegenüber jedes andere Interesse null und nichtig wird. Diese Entdeckung gefiel ihm so, daß er allmählich selbst glaubte, ständig übergangen zu werden
und
eigentlich
längst
irgendwo
im
Rat
der
Gewerkschaften sitzen zu müssen. „Schenken Sie dem Jungen doch eine Wohnung, Genosse Direktor", sagte er ein paar Tage später. Sasko blickte ihn verständnislos an. „Mit achtzehn wollen die jungen Leute heutzutage nicht mehr nur Händchen halten, Genosse Direktor", sagte der Vorsitzende des Gewerkschaftskomitees mit beleidigter Miene, weil er unter anderem aktiv gegen den moralischen Verfall unter der Jugend ankämpfte. „Ich glaube, das wäre ein passendes Geschenk. Zum Glück hat der Junge einen anderen Namen als Sie. Wir könnten ihn sofort bei uns einstellen und ihm einen Platz im Wohnheim geben. Wann ist der Geburtstag?" „In zwei Monaten."
„Das schaffen wir", erklärte er bereits ganz sachlich. „Ich hab auch schon eine Idee. Es ist zwar kein Neubau, aber eine Wohnung mit Vollkomfort. Eine unserer Familien zieht in eine Dreiraumwohnung um." „Aber . . ." Sasko wollte fragen, ob das kein böses Blut gäbe, weil in der Fabrik, wie überall, viele auf eine Wohnung warteten. Bis jetzt hatte man ihm alles mögliche vorwerfen können, aber nicht, daß er seine Arbeiter benachteiligte. „Lassen Sie das meine Sorge sein!" Das hört sich ja ganz so an, als würde er mir zuliebe mit Freuden den Kopf unters Henkersbeil legen, dachte Sasko und begriff nicht, was dahinter steckte - Speichelleckerei, Dummheit oder Hinterlist. Diesen Blutegel sollte man erschießen, dachte Sasko. Anfangs hatte er nur Ganoven um sich versammelt, die von Natur aus energisch und gerissen waren. Mit der Zeit aber ging er dazu über, alle leitenden Posten mit alten Männern zu besetzen, die kurz vor der Rente standen, und mit Leuten, die er ihrer mangelnden Bildung wegen jederzeit wieder auf die Straße setzen konnte. Sasko war zum Alleinherrscher avanciert und hatte sich damit ein doppeltes Joch aufgeladen. „Wozu brauchst du diese Schwätzer?" fragten ihn seine Kumpane erstaunt. „Hört euch doch mal an, was für Hymnen sie mir auf Tribünen und auch am grünen Tisch singen", erwiderte Sasko lächelnd. Allmählich fand er Gefallen an diesen „Hymnen" und nahm sie mehr und mehr für bare Münze. Romualds Sasko stieg aus dem Bett, um das Fenster zu schließen. Hugo hatte fürsorglich seinen warmen Morgenmantel über einen Hocker gelegt und ein Paar
Pantoffel daneben gestellt. Sie hatten bis spät in die Nacht hinein zusammengesessen und zum Abschluß noch eine Flasche Wodka geleert. Dann war Hugo gegangen. „Ein Junggeselle kommt überall unter", sagte er. In das Werk auf der anderen Straßenseite strömten Scharen von Menschen. Am Werktor wimmelte es wie vor einem Bienenkorb. Am Eingang standen mehrere Wagen. Motor- und Fahrräder nahmen die Arbeiter mit aufs Werkgelände. Sasko schloß das Fenster und zog die Gardine zu. Es ist noch früh, dachte er, beschloß aber trotzdem, ins Bad zu gehen. Da läutete das Telefon. „Hallo!" Wie lange hatte er nicht mehr telefoniert. . . „Guten Morgen, Hugo!" sagte eine Frauenstimme. „Hugo kommt erst nachmittags nach Hause. Er absolviert einen Lehrgang für Rettungsschwimmer." „Ach, so nennt man das heutzutage?" fragte sie in unüberhörbar ironischem Ton. „Wer sind Sie überhaupt?" „Ein Verwandter vom Lande." Sasko legte auf. Zum erstenmal im Leben zog er fremde Sachen an - auch wenn es nur ein Morgenmantel war — und rasierte sich mit einem fremden Apparat. Nein, das war nichts für ihn. Einen Rasierapparat, einen Morgenmantel und andere Kleinigkeiten konnte er sich kaufen, aber vor allem brauchte er eine Wohnung oder wenigstens für den Anfang - ein Zimmer. Und wieder packte ihn sein gewohnter Tatendrang, ein Begleiter, der ihn selten — nicht einmal in der Kolonie - für längere Zeit verließ. Als erstes mußte er „Ratte" aufsuchen. Der Alte war
zwar habgierig, aber immer auf dem laufenden. Und wenn er mit ihm nicht einig werden sollte... Nein, zuerst zu „Ratte". Er wählte eine Nummer, und fast im selben Augenblick drang eine krächzende, aber freundliche Stimme an sein Ohr: „Ich höre." „Sasko," „Einen Augenblick, mein Guter, ich mache nur die Tür zu . . . Grüß dich, mein Guter." „Ich würde gern mal vorbeischauen." „Ich weiß nicht recht, mein Guter . . . Die Herrschaften musizieren schon." „Hm. Wird's länger dauern?" „Sie singen schon in den höchsten Tönen. Ich könnte in den Park runterkommen. Soll ich was mitbringen?" „Eine Mütze, damit du dir nicht die Ohren abfrierst." Sasko hörte „Ratte" heiser lachen. Sie verabredeten ein Treffen um zwölf. In jener noch nicht allzu lange zurückliegenden Zeit, in der Sasko Pundikis kennenlernte und immer vertrauter mit ihm wurde, in der sein Nebenverdienst das eigentliche Gehalt um das Zehn- bis Zwanzigfache überstieg und er nicht zu überlegen brauchte, wie er zu Geld kam, sondern wie er es am besten ausgab, wurde Sasko einmal irgendwelchen nach der neuesten Mode gekleideten Leuten vorgestellt, die sich für die Creme der Gesellschaft hielten und so geschickt ein Doppelleben führten, daß sie zum Teil sogar hohe Posten innehatten und einen Dienstwagen fuhren. In diesen Kreisen nahm „Ratte" einen besonderen Platz ein: bei ihm trafen sie sich zum Kartenspiel. In
seiner Zweizimmerwohnung frönten sie ihrer ansonsten sorgsam versteckten Spielerleidenschaft. Hier brauchten sie nicht voller Angst auf das Ende des Fünfjahrplans zu warten, um Bilanz zu ziehen, hier konnten sie vom frühen Morgen an dem Partner mit ein paar Stichen die Hosen ausziehen und sich als Helden fühlen, um am Abend wieder Verlierer zu sein und mit einem König in der Hand dreitausend Rubel zu verlieren. Mittags versammelten sich in „Rattes" Vorderzimmer Fleischer, selbständige Schuhmacher, die sich seinerzeit eine goldene Nase damit verdienten, daß sie Damensandaletten aus Schlangenleder nähten, und Jockeys mit guten Bekannten, die Rennwetten abschlossen. Das war die Kleine Gilde. Hier spielte man Siebzehn und Vier und Solo und zahlte „Ratte" vier Prozent von den Bankeinnahmen — „Ratte" selbst schwor nur aufs Risiko, wenn er nichts zu riskieren brauchte. Die Mitglieder der Kleinen Gilde durchquerten eine schmale, schäbige Küche, in der ein Tisch mit billigen Konservendosen, ein Vorratsschrank und ein Klappbett
mit
Sparkassenbüchern,
einer
Matratze
Obligationen
standen, mit
die
mit
dreiprozentiger
Verzinsung und kleinen Mengen Bargeld vollgestopft war. In dieser Küche fristete „Ratte" geduldig sein Dasein und bediente das Telefon, das auf dem Fensterbrett stand. Er hatte es nicht leicht, denn seine einzige Zerstreuung war schon seit längerer Zeit das Anhäufen von Geld. Wenn er sich einmal etwas Gutes antun wollte, dann zählte er sein Kapital. Dabei wurde ihm anfangs warm ums Herz, später aber überkam ihn Traurigkeit, und er weinte dem Geld nach, das ihm entgangen war, weil sich die Zeiten geändert hatten. ,
„Alles halb so wild", pflegte „Ratte" zu sagen. „Nur die altmodische Redlichkeit stört." Dieser Spruch versetzte die Mitglieder der Großen Gilde immer wieder in Begeisterung und entlockte ihnen dröhnende Lachsalven, weshalb „Ratte" seinen Lieblingsspruch ziemlich oft wiederholte. Die Mitglieder der Großen Gilde spielten im Hinterzimmer Russische Preference, Poker oder Bridge und überließen „Ratte" ebenfalls vier Prozent der Bankeinnahmen. Die Tür zwischen den beiden Zimmern war schalldicht verkleidet und immer fest verschlossen. Daß nebenan höhere Wesen weilten, erkannten die Männer der Kleinen Gilde an den Flaschen mit den vielen Sternen, die „Ratte" seinem wohlgefüllten Vorratsschrank entnahm und durchs Vorderzimmer trug. Die Mitglieder der Großen Gilde erschienen am späten Abend in geschlossener Formation und meldeten sich vorher an. „Ratte" ließ sie durch eine zweite Tür ein, die in einen anderen Treppenflur mündete; die schmale Küche und das Vorderzimmer hatte noch keiner von ihnen zu Gesicht bekommen. Mit der Küche verband sie nur eine Klingel — sie brauchten bloß auf einen Knopf zu drücken, und schon erschien der diensteifrige Hausherr. „Ratte" kam zur vereinbarten Zeit in den Park, und Sasko stellte voller Neid fest, daß sich der Alte überhaupt nicht verändert hatte. Seine Augen waren so lebhaft und seine Bewegungen so flink wie eh und je. „Guten Tag, guten Tag! Herzlich willkommen." Das klang freundlich und aufrichtig. „Guten Tag, Dirigent!" antwortete Sasko scherzhaft. Es gefiel ihm, daß „Ratte" nie besser sein wollte, als er war. Nicht einmal
seine Habgier verbarg der Alte. Aber vielleicht sollte oder konnte er das gar nicht - kam er auf diese Weise doch leichter zu einer zusätzlichen Einnahme, indem er die Getränke und Speisen mit Aufschlag an den Mann brachte. „Mit meinen Musikanten ist nicht mehr viel los", klagte „Ratte". „Der höchste Einsatz sind fünfzig Kopeken. Die Schuster haben sich ruiniert und dem Trank ergeben, und die Rennbahn wurde geschlossen. Na, setzen wir uns." Der Wind hatte den Schnee so gründlich von der Bank geweht, als wäre eine Putzfrau mit dem Lappen darüber gefahren. „Ich könnte ins Herrenzimmer gehen", sagte Sasko. „Das ist im Moment besetzt", erwiderte „Ratte" ausweichend. Alles klar. Die Große Gilde hatte ihn ausgestoßen. Er war darauf gefaßt gewesen, daß einige seiner früheren „Kollegen" ihn bei einer Begegnung auf der Straße „übersehen" würden, aber nicht darauf, daß man ihn trotz seines Geldes nicht mehr in die Spielhölle einlassen würde. „Ratte" genierte sich wahrscheinlich, ihm vorzuschlagen, im Vorderzimmer zu spielen, aber Sasko wußte nun, daß es im Hinterzimmer für ihn keinen Platz mehr gab. Vielleicht hielten sich die dort Verbliebenen für etwas Besseres, oder sie fürchteten, Sasko könnte Geld von ihnen fordern, was eigentlich sein gutes Recht gewesen wäre. Vielleicht hätte seine Gegenwart ihnen die eigene Zukunft vor Augen geführt und sie deshalb bedrückt. Wie dem auch sein mochte: Gestrauchelte wurden dort offenbar nicht mehr aufgenommen. Bei diesem Gedanken überkam ihn ein hilfloser Zorn. Er hatte bei der Untersuchung keinen mit hineingezogen und viele von ihnen vor der Anklagebank bewahrt. Bis zuletzt hatte er
dichtgehalten,
und
trotzdem
verstießen
sie
ihn
jetzt.
Anscheinend ließen sie sich nur von ihrer Angst leiten. Diese Feiglinge! Schäbige Feiglinge waren das! Und Sasko begriff, daß sie ihrerseits auf seine Angst spekulierten. Natürlich könnte er zum Staatsanwalt gehen und auspacken. Dann gäbe es einen neuen Prozeß, bei dem sie alle einträchtig nebeneinander säßen. Sie wußten jedoch: Das würde Sasko nicht wagen, er würde nicht wieder ins Gefängnis zurück wollen. Und Sasko schwor sich, daß diese feige Bande eines Tages vor ihm auf dem Bauch kriechen sollte. Ein Schwur, der allerdings jeder realen Grundlage
entbehrte.
„Ich
brauche
eine
Wohnung."
„Wohnungen sind heutzutage teuer," „Vom Preis spricht man erst, wenn die Ware vorliegt." „Wie groß soll sie denn sein?" „Ich brauche mindestens drei Zimmer." „Zusammen mit Hugo?" „Ich bin siebenundfünfzig und will selbst noch was vom Leben haben." „Du solltest dir eine Zweiraumwohnung mit Durchgangszimmer nehmen. Eine größere wirst du sowieso nicht kriegen." „Bloß gut, daß du mir nicht auch noch rätst, arbeiten zu gehen und zu warten, daß man mir Wohnraum zuweist." „Ratte" öffnete seine schäbige Aktentasche, entnahm ihr ein Bündel Quittungen und reichte es Sasko. „Hier ist die Buchführung. Ich hab immer beim selben Postamt eingezahlt und auch den Absender nie verändert. Die Mädchen dort begrüßen mich schon mit den Worten: ,Guten Morgen, Herr Berzins.'"
„Er hat alles bekommen." „Das ist gut. Ich hatte schon Angst, das Geld würde ihn eines Tages nicht erreichen, und die Post könnte es zurückschicken das ist jetzt so üblich. Kannst du dir vorstellen, was für ein Kuddelmuddel das gegeben hätte? Darum hab ich auch diesen Absender genommen: Dort wohnt tatsächlich ein gewisser Berzins. Ich dachte mir, wenn er kein Esel ist, nimmt er das Geld und hält den Mund. Wie geht's Hugo?" „Alles in Ordnung." „Hast du ihn mit diesen Überweisungen auch nicht zum Faulpelz erzogen? Arbeitet er?" "Ja." „Ratte" holte ein ziemlich dickes, von einem Band zusammengehaltenes Bündel Geldscheine aus der Aktentasche. „Das ist der Rest. Hundertachtzig. Die Zinsen hab ich schon abgezogen. Damit wären wir quitt." „Ratte" will mich also auch loswerden, dachte Sasko. „Spielt Hugo auch bei dir?" „Er war ein paarmal im Vorderzimmer, aber wahrscheinlich interessiert er sich mehr für Mädchen." „Was ist also mit der Wohnung?" „Ich hab da eine Idee . . ." Bei dieser Idee ging es nicht um eine Wohnung, sondern um die obere Etage einer Villa mit drei Zimmern und einem großen Wintergarten. Der Spaß sollte siebentausend kosten, die Hauptsache aber war, daß es sich nicht um einen Kauf handelte, sondern um ein Geschenk. Vorläufig würde Sasko nur als Untermieter gelten, aber die Wirtin, eine alte Frau, würde ihn in ihrem Testament bedenken und ihm ein
paar juristisch einwandfreie Garantien dafür geben, daß sie es sich nicht anders überlegen würde. „Offiziell gehört dir also gar nichts, und eine entfernte Verwandte hat dich aus Mitleid bei sich aufgenommen." „Einverstanden." Abends rief Sasko noch einmal bei „Ratte" an, und sie verabredeten wieder ein Treffen im Park. Dabei stellte „Ratte" mit geübtem Blick fest, daß Sasko überhaupt kein Geld oder nur einen Teil aufgetrieben hatte. Und er sagte sich, das beste sei, sich einen solchen Kunden vom Hals zu schaffen. „Hast du's mit?" fragte „Ratte" treuherzig. Es war schon ziemlich spät, aber der helle Schnee ließ die Dunkelheit zur Dämmerung werden. „Ich werd's beschaffen!" „Dann eilt's also nicht mit der Besichtigung." „Nimmst du auch Gold?" „Fünf fünfzig das Gramm." „Ich hab elf bezahlt." „Du hast dein Geld untergebracht, und ich muß auch was dran verdienen." „Und wieviel gedenkst du daran zu verdienen?" „Mehr als sechs fünfzig kriegst du in Riga nirgendwo. Außerdem muß man's an Auswärtige verkaufen." „Natürlich! Riga liegt ja außerhalb von Zeit und Raum. In der ganzen Welt steigt der Goldpreis, in Riga aber fällt er." „Was in der Welt geschieht, weiß ich nicht", fiel „Ratte" ihm ins Wort. „Dafür weiß ich, daß ich nicht mehr zahlen kann als fünf fünfzig." „Gut. Genug davon. Gehört auch eine Garage zum Haus?"
„Ja-" „Dann besorg mir einen Wolga." „Oho!" „Ob das auffällt, ist mir ganz egal. Die sollen mir erst mal was nachweisen! Diese Schwachköpfe! Ich bin in einem Alter, wo ich zusehen muß, daß ich noch was vom Leben habe. Selbst wenn ich eine ganze Zimmerwand mit Zehnrubelscheinen beklebe, können sie mir nichts anhaben, weil ich bei einer entfernten Verwandten lebe und sie eines Tages beerben werde. Ehrenwort, ich werd eine Wand bekleben. Das kostet doch fast nichts: fünfhundert Rubel der Quadratmeter!" Vielleicht sollte ich ihn ins Herrenzimmer einladen, dachte „Ratte", tat es dann aber doch nicht, weil er es nicht mochte, wenn jemand mit seinem Geld prahlte. Außerdem hatte er einen Riecher für kommendes Unheil. Zwei Tage später bestieg Romualds Sasko, ein äußerst solide wirkender Bürger, mit einer kleinen, aber schweren Reisetasche eine Maschine, die in eine ferne kleine, für ihre Berge und ihren Wein berühmte Republik flog. Romualds Sasko blickte von oben auf Riga hinab und ahnte nicht, daß er es zum letzten Mal im Leben sah. Er war davon überzeugt, daß es ihm bei seiner Rückkehr zu Füßen liegen würde. Dann würde er der Erste sein! Sonst hatte das Leben keinen Sinn für ihn! Wenn auch nur der Erste unter Ganoven! Dann würde er wieder Geld haben und sich damit eine gewisse Macht kaufen können. Keinen Gedanken verschwendete er daran, daß er vor etwa fünfzehn Jahren - damals kannte er Pundikis noch nicht - bei jedem Abflug aus Riga genau wie jetzt auf die Stadt hinun-
tergeblickt und mit den Augen das Werk gesucht hatte, in dem es noch soviel zu tun gab. Dann hätte er sich von der Stewardeß am liebsten einen Fallschirm geben lassen. Wie oft war er im Krieg mit dem Fallschirm abgesprungen, und nie war ihm etwas passiert! Jetzt erblickte er das Werk gegen seinen Willen, weil es nicht zu übersehen war, und wandte sich ab, schaute dann aber doch noch einmal hinunter. Vielleicht sollte ich den ganzen Plunder ins Toilettenbecken werfen? dachte er. Das ergäbe einen Goldregen! Aber so etwas kommt nur in Träumen vor.
14
Der kleine Kurort Doni lag am Ufer eines Sees:
der weiße Sandstreifen und die grünen Wiesen, die sich bis an den Waldrand erstreckten — all das erinnerte an den Strand von Ainazi. Aber der Grund des Sees schien schlammig zu sein, denn die Badelustigen versammelten sich nur an einigen wenigen Stellen. Dort war der Sand von den vielen Füßen festgetreten und das Gras zerdrückt. Hier und da lag Butterbrotpapier herum. Der Sonnenschein hatte die Erholungssuchenden, die sich nun einen Ball und muntere Scherzworte zuwarfen, früh aus den Betten gelockt. Der Fahrer parkte im Schatten der Kiefern neben einem Wolga und einem Moskwitsch und meinte, es könne nicht schaden, ein Bad zu nehmen. Alvis Grauds kehrte zu Fuß ins Zentrum der Siedlung zurück.
Er mußte jemanden finden, der bezeugen konnte, daß Ludvigs Rimsa vor der Fahrt zur Bank tatsächlich noch einmal nach Hause gefahren war. Auf dem Platz sah er sich um: ein Zeitungskiosk, ein Geschäft, ein Postamt, ein Faß mit Kwaß. Rimsa mußte hier vorbeigekommen sein, und die Zeitungsfrau, der Briefträger und die Verkäuferin kannten ihn bestimmt, weil er seit Jahren in Doni wohnte und nicht nur den Sommer über herkam. Im Zeitungskiosk saß eine alte Frau mit weißem Kopftuch und einer Brille mit dünner Metallfassung. Während dicken
Monatsschrift
Grauds
in
einer
blätterte, fragte er, ob Rimsa seine
Zeitschriften bei ihr beziehe. „Ja, Rimsa ist ein guter Kunde." „In welchen Sprachen liest er?" „In deutsch und in polnisch." „Rimsa?" „Wer sonst? Polnisch hat er sich selbst beigebracht, und auf deutsch hat er schon als Kind mit seinem verstorbenen Vater so laut palavert, daß es durch den ganzen Wald schallte. Er hat eine Begabung für Sprachen." Aber am Tag zuvor hatte die alte Frau Ludvigs Rimsa nicht gesehen. Die Verkäuferin im Lebensmittelladen löste gerade mit einem langen Messer die Fäden von einem Rollschinken und warf sie in den Papierkorb. Ja, Ludvigs Rimsa kennt sie, aber gestern hat sie ihn nicht gesehen. Nein, weder im Wagen noch zu Fuß - überhaupt nicht. Er soll ja verschwunden sein, aber was reden die Leute nicht alles zusammen! Auch der Besuch im Postamt erbrachte nichts, und Grauds blieb
nichts anderes übrig, als die Einwohner von Doni zu befragen. Rimsa mußte die Hauptstraße benutzt haben, weshalb auch er diesen Weg jetzt einschlug. Wie zum Trotz brannte die Sonne aus Leibeskräften. Und obwohl die Hauptstraße asphaltiert war, wirbelte der Staub über ihr und klebte auf seiner verschwitzten Haut. Grauds kam sich bald vor wie ein Automat: Er öffnete eine Pforte, begrüßte lächelnd den Hausherrn oder die Hausfrau, wies sich aus, ertrug geduldig die forschenden Blicke der Leute, sagte, was es zu sagen gab, und ging dann weiter. Die Besitzer der Sommerhäuschen kannten Ludvigs Rimsa überhaupt nicht, sie wußten nur, daß die Alteingesessenen am Ende der Hauptstraße wohnten. Die meisten von ihnen waren noch nie dort gewesen, weil der Weg zum Strand durchs Zentrum führte und im Wald hinter den Höfen der Alteingesessenen ohnehin keine Pilze wuchsen. Eine Frau aber war am gestrigen Nachmittag zum Bus gegangen, und an ihr war ein Taxi vorbeigerast. Daran erinnerte sie sich, weil sie an den Straßenrand ausgewichen war und beinahe im Graben gelandet wäre, aber trotzdem in eine dichte Staubwolke gehüllt wurde und danach ihre Sachen abklopfen mußte. Der Busplan hing an der Haltestelle aus, und der Zeit nach konnte dies durchaus Rimsas Taxi gewesen sein. Jedenfalls war es genau in den vierzig Minuten hier vorbeigekommen, die zwischen der Abfahrt vom Taxidepot und seinem Eintreffen bei der Bank lagen. In den nächsten Häusern erkundigte sich Grauds schon nicht mehr nur nach Rimsa, sondern auch nach dem Taxi. Und er fand tatsächlich noch einen Mann, der das Taxi ebenfalls ge-
sehen hatte. Dieser Mann konnte die Uhrzeit zwar nicht so genau angeben wie die Frau, die zum Bus gegangen war, aber das Taxi hatte die gleiche Farbe gehabt, die auch die Frau wahrgenommen hatte und die das Taxi mit der Nummer 86 -37 trug. Auch eine andere interessante Einzelheit war dem Mann aufgefallen: Im Taxi hatte außer dem Fahrer niemand gesessen. Schließlich erreichte Grauds das Haus Kozinds, auf den er die meisten Hoffnungen setzte. Wenn am Rande einer Siedlung zwei einzelne, nur durch eine schmale Straße voneinander getrennte Häuser stehen, ist es kaum möglich, hier ein Auto zu übersehen. Kozinds Haus war ein
weißer
Kalksandziegelbau.
An
dem
gestrichenen
Staketenzaun standen Johannisbeersträucher mit dicken roten Beeren. Die Haustür war an der Stirnseite angebracht, und ihr gegenüber lag ein kleines Gebäude mit einer offenbar erst später angebauten Garage. Das Anwesen machte einen gepflegten Eindruck. Gerade dachte Grauds enttäuscht, daß er wahrscheinlich nur die Hausfrau antreffen würde, als der Hausherr beim Knarren der Pforte aus der Garage kam und den Unbekannten mit nicht allzu freundlichen Blicken bedachte. „Suchen Sie jemand?" „Ja, genau. Grauds, Inspektor der Kriminalmiliz." „Sehr angenehm." Der Hausherr reichte ihm die Hand. „Kozinds." „Ich hatte schon befürchtet, niemanden anzutreffen", gestand Grauds, „und höchstens mit der Hausfrau gerechnet." „Davon hab ich drei Stück. Welche hätten Sie denn gern?" Kozinds wischte sich die öligen Hände ab und steckte den
Lappen anschließend in die Tasche seiner nicht allzu sauberen Arbeitshose. Durch das offene Garagentor sah Grauds einen meerblauen Saporoshez mit verchromter Stoßstange. „Sie können sich sicher denken, weshalb ich hier bin." „Gehen wir in den Garten und setzen uns." Hinter dem Haus standen ein Tisch und ein paar Korbstühle unter großen alten Kirschbäumen. Die Kirschzweige hingen so tief herab, daß man sich in eine Laube versetzt glaubte. „Ist Rimsa noch nicht wieder aufgetaucht?" Grauds schüttelte den Kopf. „Das wird er auch nicht!" Kozinds schob die großen Daumen hinter die Träger seiner Arbeitshose und senkte so eigensinnig den Kopf, als wollte er seinen Gesprächspartner herausfordern. Grauds fuhr zusammen. „Gibt's einen Grund für diese Behauptung?" „Wenn's unter uns bleibt?" „Gut." Grauds fiel auf, daß Kozinds einen steil abfallenden Hinterkopf hatte.
Über
ihnen
summten
Telefondrähte.
Warum
summten sie so? Und warum schossen ihm allerlei dumme Gedanken durch den Kopf? „Wie hoch ist die Beute?" „86000." „Dann ist er jetzt schon über alle Berge, und Sie kriegen ihn nicht mehr." „Sie sind also davon überzeugt, daß Rimsa an dem Überfall beteiligt war?" „Ja, denn das war ein Exzeß, und Exzesse jeder Art passen zu
Rimsa. Er handelt immer impulsiv und denkt erst hinterher an die Folgen. Ansonsten aber ist er ein feiner Kerl und ein guter Nachbar. Einen besseren kann man sich gar nicht wünschen." Den größten Teil des Gartens nahmen Treibhäuser ein. In ihren hochgeklappten Fenstern spiegelte sich die Sonne. Von einigen Gewächshäusern waren die Fensterrahmen völlig entfernt und zu einer Pyramide zusammengestellt worden, und über den Pflanzen kreiste ein Wasserstrahl, der den Garten in einen regenbogenfarbenen Schleier hüllte. „Wissen Sie, wie seine Ehe zustande kam? Nein? Er lernte Nelli in der Johannisnacht kennen und machte ihr am Tag darauf einen Heiratsantrag. Mit fast achtundzwanzig! Brauchen Sie noch mehr Beweise? Einmal fiel ihm ein polnisches Buch in die Hand, er aber konnte es nicht lesen. Da packte ihn die Wut, und er ging ein halbes Jahr lang nicht aus dem Haus und lernte Polnisch. Ohne jede Notwendigkeit - nicht mal eine Reise hatte er vor. Und plötzlich, nach acht Jahren Ehe, verliebt er sich in seine eigene Frau. Als er sie heiratete, liebte er sie nicht, aber es schmeichelte ihm, daß sie ihn liebte. Acht Jahre später liebte sie längst einen anderen. Nun scharwenzelte Rimsa um sie herum, sie aber beachtete ihn gar nicht mehr. Es ist keine zwei Wochen her, da saß er genau dort, wo Sie jetzt sitzen, und sagte zu mir: ,Ich lasse ihr alles und gehe. Soll sie machen, was sie will!' — ,Warum willst du gehen?' fragte ich. ,Das Haus gehört dir.' Darauf meinte er: ,Ich hab sie geheiratet, ohne sie zu lieben.'" Kozinds schwieg eine Weile, dann tippte er sich mit dem Finger gegen die Stirn: Der hat sie nicht alle. „Haben Sie Ludvigs Rimsa gestern gegen vierzehn Uhr mit dem Taxi nach Hause
kommen sehen?" „Nein. Um die Zeit war ich nicht hier. Da hatte ich in der Stadt zu tun." „War Ihre Frau auch nicht zu Hause?" „Doch, meine Frau und meine Älteste müßten hier gewesen sein, weil am späten Nachmittag ihre Schicht begann. Sie arbeiten beide als Zugbegleiter - anderthalb Tage Dienst, drei Tage frei. Morgen früh kommen sie zurück. Soll ich Sie anrufen, wenn sie wieder da sind?" „Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Gegen Abend war bei Ihnen also niemand zu Hause?" „Doch, vielleicht meine Jüngste. Allerdings aalt sie sich meist am Strand. Warten Sie, ich glaube, ihre Tür hat geklappt. Ich sehe gleich mal nach." Kozinds trat an die Hausecke und rief: „Tereze! Tereze, komm doch mal her!"
,
Zur Antwort ertönte ein gedämpftes „Gleich!" „Im Haus sind zwei Wohnungen", erklärte Kozinds. „In der einen wohnen meine Frau und ich und in der anderen unsere Töchter. Anfangs, als ich das Haus kaufte, sagte mir das nicht sonderlich zu, später aber merkte ich, daß es gar nicht so schlecht ist. Wenn die Mädchen mal heiraten, haben sie eine Bleibe." Tereze war ein braunäugiges, flinkes Geschöpf in einem kurzen Frotteekittel. Anscheinend war sie ihrem Vater heute noch nicht begegnet, denn Kozinds fragte streng: „Wann bist du gestern nach Hause gekommen?" „Papa, du weißt doch, daß ich beim Karneval war." „Ich will nicht wissen, wo du warst, ich will wissen, wann du nach Hause gekommen bist."
„Wenn du schon so fragst, weißt du ganz genau, wann ich gekommen bin, weil du mich gehört hast", sagte sie gekränkt und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Papa, ich bin zwanzig!" Zum Glück wuchs sich der Familienkonflikt nicht aus. Kozinds machte Grauds mit seiner Tochter bekannt und kehrte in die Garage zurück. Das sollte heißen: Ich würde nur stören und lasse Sie deshalb allein. Tereze konnte ihre Neugier kaum bezähmen. Sie studierte im dritten Jahr Polytechnik und hatte jetzt Ferien.
15
Als Tereze am Tag zuvor gegen Mittag vom
Strand zurückkehrte und ihren Badeanzug im Garten aufhängte, stellte ihre ältere Schwester sie zur Rede. Die Schwester lag wie gewöhnlich
auf
einer
Decke
zwischen
den
schwarzen
Johannisbeeren - aus unerfindlichen Gründen sonnte sie sich lieber hier als am See. Sie warf Tereze Faulheit vor. Die Schwester hatte eine anderthalbtägige Zugfahrt vor sich und mußte ihren Unmut an jemandem auslassen. Es wurmte sie, daß sie nicht so hübsch war wie Tereze und daß sie als Zugbegleiterin arbeiten mußte, obwohl sie eine qualifizierte Weberin war. Diese Arbeit hatte sie angenommen, weil sie hoffte, auf diese Weise leichter einen Mann zu finden. Bis jetzt hatte sie jedoch kein Glück gehabt. Und nun lebte sie wie eine Nonne und sparte so verbissen, daß sie sich nicht einmal ein Eis gönnte. Da sie nicht schön war, wollte sie wenigstens tugendhaft sein. Die Schuld am Ausbleiben der Kavaliere schrieb sie im stillen der Schwester zu:
Tereze war jünger, hübscher und gebildeter und zog die jungen Männer an wie ein Magnet. Selbst die, die keine reale Chance hatten, ihre Sympathie zu gewinnen. Deshalb triezte sie die Schwester bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Mit Terezes guter Laune war es nun vorbei. Sie holte den bunten Zigeunerrock aus dem Schrank, den sie sich im Theater für den Karneval ausgeliehen hatte. An einigen Stellen waren zwar die Nähte auseinandergegangen, aber der Rock stand ihr so gut, daß sie sich wünschte, ihre Schwester möge hereinkommen, sie so sehen und vor Neid platzen. Die Schwester kam jedoch nicht. Und so suchte sich Tereze Nadel und Faden und setzte sich ans Fenster - ins Helle -, um den Rock auszubessern. Da sah sie Hugo aus dem Wald kommen. Er trat an Rimsas Pforte, holte einen Schlüssel hervor, sah sich nach allen Seiten um und schloß auf. Tereze war drauf und dran zu rufen: „Grüß dich, Hugo!" Auf Hugo hätte das wie ein kalter Guß gewirkt, und überhaupt wäre es ein herrlicher, wenn auch ein wenig boshafter Spaß gewesen, den Tereze sich bestimmt nicht hätte entgehen lassen, wenn sie angezogen gewesen wäre. Wenigstens strandmäßig. So aber blieb ihr nichts weiter übrig, als vom Fenster zurückzutreten. Nachdem Hugo die Pforte geöffnet hatte, verschwand er rasch im Garten. Rimsas Hund kläffte ein paarmal und verstummte dann er hatte Hugo erkannt, der ihm immer ein paar Leckerbissen mitbrachte. Nelli geht ziemlich weit, dachte Tereze. Warum riskiert sie soviel? Hugo hat doch eine Wohnung, und außerdem könnten sie sich an der Rettungsstation treffen. Hugo und Nelli waren schon ziemlich intim miteinander, als
Tereze sie zum erstenmal zusammen sah. Da kamen die beiden gerade aus einer Bierbar in Lielupe, und Hugo legte Nelli den Arm um die Taille. Nelli errötete verlegen: Sie kam sich zu alt vor, um so herumzulaufen, wollte Hugo jedoch nicht zurückstoßen und duldete seine Hand auf ihrer Hüfte. „Ciao, Nelli!" sagte Tereze lachend. „Guten Abend", erwiderte Nelli verwirrt. Als Nelli Tereze später beiseite nahm und mit Tränen in den Augen anflehte, Ludvigs nichts davon zu erzählen, konnte Tereze sich ein Lachen kaum verkneifen. Die arme, altmodische Nelli! Hugo war der Mann dazu, einer Stubenhockerin wie Nelli den Kopf zu verdrehen. „Er hat alle Eigenschaften, die ein guter Liebhaber braucht", sagte Tereze zu ihrem Vater, als der von dem Techtelmechtel zwischen Hugo und Nelli erfuhr und sofort von Scheidung zu reden begann. „Er hat alle Eigenschaften eines guten Liebhabers und ist außerdem nicht dumm. Darum glaube ich, daß er sich mit Nelli nur einen Spaß macht." Etwa eine halbe Stunde nach Hugos Ankunft hielt Rimsas Taxi vor dem Haus. Rimsa öffnete das große Tor und fuhr den Wagen in die Tiefgarage. Wahrscheinlich war am Wagen etwas nicht in Ordnung, und Rimsa hatte beschlossen, den Schaden selbst zu beheben — das ging immerhin schneller, als wenn er auf den Reparaturdienst des Taxidepots gewartet hätte. Oder hatte er etwa Verdacht geschöpft? Nein, wohl kaum. Hugo war ja erst zweimal bei Nelli zu Hause gewesen. Im Haus gegenüber blieb alles still. Natürlich: Rimsa war ein intelligenter
Mensch, und Hugo war kein Schläger. Solche Leute springen einander nicht gleich an die Kehle. Ob es zur Scheidung kommt? Bestimmt — so empfindlich, wie Rimsa ist. Er wird seine Liebe zu Nelli überwinden, da ja doch alles keinen Sinn mehr hat. Übrigens ist er selbst an allem schuld. Er hat seine Frau vernachlässigt. Nelli braucht nun mal einen Mann mit Charakter, der sie nach seiner Pfeife tanzen läßt. Hugo ist wie geschaffen für sie: Der bringt ihr bestimmt keinen Kaffee ans Bett und bügelt ihr nicht die Wäsche. Nicht umsonst sagt man: Du mußt die Männer schlecht behandeln. Man muß nur aufpassen, daß man sie nicht vergrault. Dann fuhr das Taxi wieder ab - genauso überraschend, wie es gekommen war. Nelli trat aus dem Haus und schloß seelenruhig das Tor. Tereze seufzte erleichtert auf — offenbar war alles noch einmal gut gegangen. Bei dem Gedanken, wie Nelli jetzt zumute sein mußte, hätte sie beinahe laut aufgelacht. Während Rimsa sich in der Garage zu schaffen machte, hatte sie Hugo wahrscheinlich versteckt. Wie in einem alten Roman! Tereze stellte sich vor, wie der halbnackte Hugo im Schrank hockt, seine Sachen, die er nicht mehr hat überziehen können, an die Brust preßt und kaum zu atmen wagt. Da kommt Rimsa und reißt die Schranktür auf. Der Nackedei springt heraus und erklärt feierlich: „Ich wollte mich schon lange mal mit Ihnen unterhalten!" Tereze gefiel diese Phantasieszene so, daß sie ans Telefon ging und eine Nummer wählte: „Ciao, Nelli!" „Ciao!" „Kann ich auf einen Plausch zu dir rüberkommen?"
„Jetzt nicht, ich bin furchtbar müde." „Dann geh doch ins Bett." „Das hatte ich auch gerade vor." „Richtig so. Das ist das beste, was man tun kann." „Mach's gut!" Dieser Hugo hatte Nelli total den Kopf verdreht. Kaum war sie aufgestanden, da ging sie schon wieder ins Bett. Ach, es mußte herrlich sein, sich so zu verlieben! „Haben Sie Hugo wieder weggehen sehen?" fragte Grauds und sah Tereze dabei so tief in die Augen, daß sie ganz verlegen wurde. „Nein." „Ist danach noch jemand bei den Rimsas ein- oder ausgegangen?" „Nein, mehr hab ich nicht gesehen. Ich hab doch nicht den ganzen Tag am Fenster gesessen." „Und Ihre Schwester?" „Keine Ahnung." „Haben Sie mich gestern abend kommen sehen?" „Ja, aber vorher ist niemand rein- oder rausgegangen." Rimsa hatte gewußt, daß Hugo kommen würde, ihn umgebracht und anschließend die Kassenboten ausgeraubt, um für die Flucht genügend Geld zu haben. Das war Grauds' erster Gedanke. Gleich darauf aber schämte er sich seiner Unlogik: Wenn Hugo umgebracht worden wäre, hätte Nelli nicht geschwiegen. „Wie heißt Hugo mit Nachnamen?" „Ich weiß nicht." „Und wo wohnt er?" „Das weiß ich auch nicht. Rufen Sie doch einfach die Rettungsstation an."
„Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Haben Sie Nelli heute schon gesehen?" „Ich hab angerufen, aber sie ist nicht da." „Rufen Sie bitte noch mal an!" „Dann können Sie mir bald ein Gehalt zahlen." Tereze trat ans Telefon und wählte eine Nummer. Aus dem Hörer drangen klägliche Piepstöne. In Rimsas Haus ging jedoch niemand an den Apparat. „Wo könnte Nelli stecken?" Tereze zuckte ungeduldig und nervös die Achseln. Grauds ging in die Garage, um sich von Kozinds zu verabschieden. Der brachte Grauds zur Pforte und sah zu, wie er eine Nachricht in Rimsas Postkasten warf. Dies war eine Aufforderung an Nelli, sich gleich nach ihrer Heimkehr bei der Kriminalmiliz zu melden. Zunächst aber mußte er Hugo befragen. Das mit Nelli hatte Zeit.
16
In jenem Schwarzmeerkurort war vom Winter
noch nichts zu spüren, obwohl der Oktober zu Ende ging und die Bewohner der gemäßigten Breiten ihren Kindern schon Schlittschuhe und Skier kauften und die Frauen in die gerade in Mode gekommenen hohen Stiefel schlüpften. Hier, in diesem subtropischen Klima, gab es einen Botanischen Garten, in dem Hortensien in allen Farbtönen blühten, Bananen ihre riesigen Blätter ausbreiteten, der Bambus mit seinen kräftigen, spitzen Trieben
den
Asphalt durchstieß
und reife Nüsse und
Zedernzapfen von den Bäumen fielen. Alles leuchtete in kräftigen grünen, roten, weißen und blauen Farben. Das Meer war tiefblau und das Wasser in ihm so durchsichtig und klar, daß man Steine und Fische sogar noch in einer Tiefe von mehreren Metern erkennen konnte. Fern n Horizont sah man weiße Ozeanriesen auf den Wellen schaukeln, und links davon konnte man einen in Dunst gehüllten Streifen Land - die Türkei - erkennen. Auf dem Basar ging es geräuschvoll zu. Der Weinbasar war ruhiger, hier hörte man nur die Stimmender Verkäufer, die die Kunden unter die rings um den großen Platz aufgebauten Schutzdächer lockten. „Zinandali!" „Gurdshani!" „Zelikouri!" „Tibaani!" „Chwantschkara!" „Saperawi!" „Mzwane!" Aber es waren fast nur Zugereiste, die hier etwas kauften. Vielleicht hatten die Einheimischen eigenen Wein zu Hause, oder sie zogen es vor, in staatlichen Geschäften einzukaufen. Durch die Menge schritt ein hochgewachsener Mann im Netzhemd, der einen Strohhut auf dem Kopf trug und eine kleine, aber schwere Tasche in der Hand hielt und vergnügt den lebensfrohen Lauten dieser ihm unbekannten Sprache lauschte. Ein Zugereister, der noch in keinem Hotel abgestiegen war. Der Mann mußte oft blinzeln - seine Augen, die sich noch nicht an das grelle Licht gewöhnt hatten, tränten. Der Mann ging an einem Händler vorbei, der Holzspielzeug verkaufte statt gewöhnlicher Nuckel bot er an Pfeifen erinnernde Apparate an, in die man etwas Süßes stopfen konnte -, und betrat eine verglaste Telefonzelle. Er holte sein Notizbuch hervor und wählte eine Nummer. „Ja!" sagte eine junge Frauenstimme. „Ich möchte Ansar Agulia sprechen."
„Entschuldigen Sie, wer ist da?" Die Stimme klang sehr sympathisch. Wahrscheinlich die Tochter, dachte der Mann. „Ein Kollege aus Riga." „Herr Agulia ist nicht zu Hause. Könnten Sie ..." „Entschuldigen Sie, spreche ich mit seiner Tochter?" „Nein." „Nana?" „Nein, die beiden sind ausgegangen. Ich bin die Haushälterin." „Könnten Sie mir die Nummer seines Dienstapparates geben? Ich hab schon versucht, ihn auf seiner Arbeitsstelle zu erreichen, aber er hat anscheinend eine neue Nummer. . ." „Herr Agulia ist in spätestens einer halben Stunde zu Hause. Sie könnten hier auf ihn warten. Haben Sie die Adresse?" "Ja." „Dann erwarte ich Sie." „Danke, sehr liebenswürdig, aber ich sehe mir lieber erst die Stadt an und melde mich später noch einmal." „Wie Sie wollen. Auf Wiederhören." „Auf Wiederhören." Romualds Sasko beschloß, ans Meer hinunterzugehen. Er bog in eine kleine Gasse ein und blieb vor einem Haus stehen, über dessen Portal eine rote Fahne mit einem weißen Halbmond und einem Stern wehte. Dies war die türkische Vertretung. Sasko nahm die Tasche in die andere Hand und ging weiter. Bald darauf stand er am Meeresufer, das hier einem Deich glich. Am steinigen Strand sonnten sich Urlauber in bunten Badeanzügen auf hölzernen Pritschen, andere badeten oder balancierten auf den riesigen Wellenbrechern. In der Nähe der Wellenbrecher wateten
Männer und kleine Jungen im flachen Wasser, fingen mit Hemden und Netzen kleine Fische, die aussahen wie Sprotten, und schütteten sie in Eimer. Dies waren Sardellen, wie man sie für Anchovispaste brauchte - eine steife Brise trieb sie ans Ufer. Im Wasser schienen graue Schleier zu wogen — in ihm wimmelte es nur so von den winzigen Fischlein, deren riesige Schwärme unaufhörlich ihre Form änderten. Bald glichen sie einem Zeppelin, bald einem Kraken mit ausgebreiteten Fangarmen. Den Sardellen folgten Stocker und Makrelen. Die Makrelen bildeten große, disziplinierte Geschwader, die blitzschnell auf einen Sardellenschwarm zuschössen, zwanzig oder dreißig Fischlein von ihm abdrängten und verschlangen. Und schon nahm das Geschwader zu einem neuen Überfall Aufstellung. Dicht bei dicht - wie Menschen in einer Straßenbahn — standen auf
den
Wellenbrechern
primitiv
ausgerüstete
Angler.
Wahrscheinlich gingen sie dieser Beschäftigung nur an den wenigen, mit einem unglaublich reichen Fang gesegneten Tagen nach. Sobald ein Sardellenschwarm in die Nähe des Ufers kam, schöpften sie die Fischlein mit ihren Mützen aus dem Wasser und kippten sie direkt auf den Beton, wo sie in der Hitze - sofort verendeten. Das waren ihre Köder. Die toten, getrockneten Fische spießten sie auf große Haken. Und kaum hatten sie die Angel ausgeworfen, da konnten sie sie auch schon wieder einholen — an ihr hing ein Stocker oder eine Makrele. Diese Verwandten des Thunfischs verschlangen alles, was sich außerhalb des Schwarms bewegte. Die Leute trugen ihren Fang in hohen Henkelkörben aus ungeschälter Rinde nach Hause und handelten schon zwei Stunden später auf dem Markt mit
gebratenem oder geräuchertem Fisch. Diese Stadt war ganz nach Saskos Geschmack. Alles, was ringsum vor sich ging, bildete für ihn ein sehenswertes Schauspiel. Hier hatte die Zivilisation die Menschen noch nicht wie Kieselsteine abgeschliffen. Ich sollte mir hier ein Haus kaufen, dachte er. An dieser exotischen Welt hätte ich noch jahrelang meine Freude. Inzwischen steigt der Wert der Häuser — die Menschen sind satt und gut gekleidet und streben bald nur noch nach Autos und Datschen. Nach ein paar Jahren, wenn ich von dem exotischen Treiben genug habe, kann ich das Haus mit Gewinn verkaufen und nach Riga zurückkehren. Hier wird niemand fragen, woher ich das Geld habe - Ansor Agulia ist ein einflußreicher Mann und inzwischen vielleicht sogar noch höher gestiegen. Vor der Obrigkeit aber stehen hier alle stramm. Ja, warum soll ich mir kein Haus kaufen, warum soll ich mein Leben nicht genießen? Ich suche mir irgendeine Beschäftigung — und basta. Beispielsweise als Fotograf. Darin würde ich aufgehen, meine Fotos zu Ausstellungen schicken und vielleicht sogar berühmt werden. Ich hab genug geschuftet und mir nie was gegönnt! In solche Gedanken vertieft, gelangte Sasko zu einem hölzernen Pavillon mit einer von wildem Wein umrankten Terrasse. Hier roch es nach gebratenem Hammelfleisch. Hinter dem Pavillon entdeckte Sasko einen Telefonautomaten und suchte ein Zweikopekenstück heraus. In Ansor Agulias Wohnung meldete sich wieder jene angenehme weibliche Stimme: „Der Kollege aus Riga?" "Ja."
„Herr Agulia ist noch nicht zurück, aber Sie könnten mir helfen, die Langeweile zu vertreiben. Wir haben einen wunderbaren Wein im Kühlschrank." „Ich werd's mir überlegen. Auf Wiederhören." „Auf Wiederhören." Ein verlockendes Angebot, hol's der Teufel! Eine Haushälterin, so, so . . . Ob Agulias Frau nichts merkt? Natürlich, sie ist nicht mehr die Jüngste und will vielleicht nichts merken. Eine Haushälterin . . . Ich muß Agulia fragen, was er ihr im Monat zahlt. Wenn das hier Mode ist, werd ich mir auch eine Haushälterin zulegen. Bei Gott! Was hab ich in Riga verloren? Ich muß nur dafür sorgen, daß der Junge das Haus für die siebentausend „erbt". Nur gut, daß ich noch jemand habe, dem ich alles hinterlassen kann. Aber das Studium muß er beenden — ohne Diplom kommt man heutzutage nicht weit. Der Bratenduft lockte ihn auf die Terrasse. Oder soll ich lieber zu dieser Haushälterin gehen? Nein, Agulia würde das vielleicht nicht gefallen, diese Südländer verstehen da keinen Spaß. Für mich aber ist's im Moment wichtiger, Agulias Wohlwollen zu erringen als das seiner Haushälterin, obwohl sich das mit der Zeit noch ändern kann. Im Pavillon wirbelte ein schnurrbärtiger Mann in einer schwarzen Weste umher. Er machte alles allein und arbeitete wie ein Äquilibrist. Mit der einen Hand entkorkte er eine Weinflasche und stellte die Gläser bereit, mit der anderen schnitt er Gurken und Tomaten — der Salat wurde vor den Augen des Gastes zubereitet. Gleichzeitig kassierte er und drehte die Schaschlykspieße um, die hinter ihm auf einer
Pfanne brutzelten. Nebenbei schnitt er noch Zwiebeln, beträufelte sie mit Weinessig, löschte die hochzüngelnden Flammen, streute gehackte Petersilie über den Salat, mahlte Pfeffer, richtete das Schaschlyk auf Tellern an, preßte einen Granatapfel darüber aus, trieb die Frau, die das Geschirr abräumte, zur Eile an und wünschte seinen Gästen Gesundheit und einen guten Appetit. Sasko bestellte sich eine halbe Flasche Wein, Schaschlyk und Salat. Nach den Tellern ging er zweimal, weil er die Tasche nicht am Tisch stehenlassen wollte. Das Schaschlyk war genau so, wie es sein sollte — weich und saftig. Sasko konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit solchem Behagen gegessen hatte. Wie viele Jahre mochte das her sein, und wo war das gewesen? Nein, er erinnerte sich nicht, beim besten Willen nicht. Von nun an aber würde er oft sein Mittagsmahl hier einnehmen. Einen Posten würde man ihm jetzt sowieso nicht mehr geben, und er brauchte auch keinen. Er würde sein Leben genießen. Zum Teufel mit allen Präsidien und Versammlungen! Zum Teufel mit allen Untergebenen! Er hatte genug gesenkte Köpfe gesehen. Es reichte! Jetzt stand für ihn fest, daß er sich hier ein Haus kaufen würde. Der Wein stieg ihm unmerklich in den Kopf. Was mögen sie hier für ein Gramm Gold zahlen? Ich sollte vielleicht erst einmal zehn Rubel verlangen - dann sehen wir weiter. Beim nächsten Kilo kann ich dann schon mehr fordern. Und ich Esel hätte „Ratte" mein Gold fast für knappe sechs Rubel überlassen!
Sasko tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab, machte dem Wirt eine Verbeugung und ging telefonieren. „Ja", meldete sich wieder jene angenehme Frauenstimme. „Der Kollege aus Riga? Ansor Agulia ist zu Hause, aber ich kann ihn nicht an den Apparat holen, weil er gerade in der Wanne sitzt. Ja, ich hab ihm von Ihnen erzählt, und er hat sich sehr gefreut. Er läßt Ihnen ausrichten, daß Sie sofort herkommen möchten. Auf Wiederhören!" „Auf Wiederhören!" „Ganz klar, daß der sich freut", murmelte Sasko vor sich hin. „Jetzt will er sich auf meine Kosten die Taschen voll schlagen!" Die Ironie des Schicksals wollte es, daß das, was die Frau mit der angenehmen Stimme von der Wanne gesagt hatte, die reine Wahrheit war. Ansor Agulia wurde tatsächlich gerade ins Gefängnisbad gebracht. Er war schon vor einem Monat verhaftet worden, und die Miliz hatte in seiner Wohnung einen Hinterhalt angelegt. Die Frau mit der angenehmen Stimme war Hauptmann Tschelidse, deren Sirenengesang schon mehrere Schieber in eine Falle gelockt hatte. Vor einer Woche hatten die Pilgerfahrten ins Mekka der Goldhändler aufgehört, und der Hinterhalt sollte aufgegeben werden. Wahrscheinlich hatte sich Agulias tragisches Ende auf dem schwarzen Markt herumgesprochen, und die Ganoven waren auf der Hut. Schließlich hatte Agulia beinahe zum Olymp gehört. Wenn die Miliz schon einen solchen Mann verhaftete, gab es für das Fußvolk, das nicht einmal ein Hinterland hatte, überhaupt keine Chance mehr. „Versiegeln wir die Wohnung", schlug der Major vor.
Hauptmann Tschelidse aber war dagegen, obwohl der Dienst in Agulias Wohnung für sie große Schwierigkeiten mit sich brachte: Sie mußte zweimal täglich nach Hause laufen, um ihr Kind zu stillen. „In die anderen Republiken ist die Nachricht von Agulias Verhaftung vielleicht noch nicht gedrungen." „Na gut, noch eine Woche", stimmte der Major schließlich zu. Am vierten Tag erschien in Agulias Wohnung ein Mann mit einem Kneifer, der seine schwere Reisetasche nicht aus der Hand ließ. „Friede Ihrem Haus!" Mit diesen Worten begrüßte Romualds Sasko Hauptmann Tschelidse, die ein einfaches Sommerkleid trug. Na ja, die Stimme ist noch das schönste an ihr, dachte Sasko bei ihrem Anblick. Vielleicht hat Agulia sie tatsächlich nur als Haushälterin engagiert. „Ich bin durstig wie ein Wanderer in der Wüste", sagte er. „Mögen Sie kachetischen Wein?" fragte Hauptmann Tschelidse und holte ein hohes Kristallglas aus dem Büfett. „Gern." Der Wein war glasklar und schien zu perlen. Es war das letzte Glas Wein in seinem Leben ...
17
Das grellgestrichene Häuschen der Rettungsstation
schien auf Zehenspitzen ins Meer zu waten. Dieser Eindruck entstand dadurch, daß die obere Etage bedeutend kleiner war als die untere und einem in die Höhe gereckten Hals glich - hier befand sich der Beobachtungsposten, und die großen hellen
Fenster blickten in alle Himmelsrichtungen. Die Station stand auf Betonpfeilern, und in den Räumen der unteren Etage hörte man die Wellen plätschern. Zu ihr führte ein gewöhnlicher Holzsteg, an dem ein Ruderboot und ein Motorboot festgemacht waren, dessen Umrisse an eine Möwe erinnerten. Hin und wieder rieben sich die beiden Boote aneinander. Der Motorbootfahrer, ein braungebrannter Bursche mit bloßem Oberkörper, saß mit einem kurzen Fischhaken am Bug des Bootes. Neben sich hatte er einen Eimer stehen, in dem er wahrscheinlich seinen Fang aufbewahrte. Obwohl es Sommer war und der Strand von Menschen wimmelte, hörte man hier draußen nur die Rufe des Fotografen: „Expreß-Fotos! Expreß-Fotos! Wer wünscht Expreß-Fotos?" Der Fotograf, der sich an einer Art Staffelei zu schaffen machte, an der Muster seiner Kunst ausgestellt waren, hatte eine klangvolle Stimme, die wie eine nach Mücken haschende flinke Äsche aus dem allgemeinen Getöse sprang. Im vorderen Raum saß eine junge Krankenschwester am Tisch und las in einem Buch. Sie war genauso braungebrannt wie der Bursche in dem Motorboot und trug unter ihrem weißen Kittel nur einen bunten Badeanzug. Als Alvis Grauds eintrat, schlug sie die Schöße ihres Kittels übereinander, damit er nicht allzuviel sehen konnte, und legte das Buch auf den Tisch. Sie war voller Neugier. „Kann ich den Chef sprechen?" Grauds las in dem aufgeschlagenen Buch die lateinische Überschrift: „Laryngitis acuta". Anscheinend studierte das Mädchen Medizin. „Er ist da oben." Sie wies mit dem Kopf auf die Treppe neben dem Eingang.
Der Chef saß auf einem Drehstuhl, sein Gesicht war dem Meer zugewandt, und auf seinen Knien lag ein Fernglas. Seinem Alter, der Marineuniform ohne Kragenspiegel und seinem Ton nach, der zugleich befehlend und gutmütig war, hatte Grauds einen ehemaligen Unterleutnant zur See vor sich. Anfangs musterte er Grauds mißtrauisch, als hätte der die Absicht, sich an staatlichem Eigentum zu vergreifen. Erst als Grauds sich vorgestellt hatte, wurde er ein wenig zugänglicher. Mit Hugo Langermanis war er im allgemeinen zufrieden. Der kam nicht zu spät zur Arbeit, ging pfleglich mit dem Inventar um und trank in Maßen. Bloß seine Weibergeschichten nahmen überhand. In der Spätschicht hatte er immer irgendein Dämchen bei sich. Er warf nicht gerade mit Geld um sich, sondern lebte eher sparsam, denn er bezog hier nur ein halbes Gehalt. Früher, vor etwa fünf Jahren, ja, da hatte er noch Geld gehabt wie Heu. „Woraus schließen Sie das?" „So was merkt man - an der Kleidung und daran, wer im Cafe bezahlt - die Dame oder er. Früher hat er immer selbst bezahlt. Und einmal, am Gehaltstag . . . Morgens, da kriegten wir alle gemeinsam keine zwanzig Rubel zusammen, und er hatte auch nichts, wir sammelten nämlich für ihn. Da beschlossen wir zu warten, bis wir unser Gehalt kriegten. Eine halbe Stunde später aber packte er einen Hunderter vor mir auf den Tisch - in einem Schein." „Vielleicht hatte er was von seinem Sparbuch abgehoben?" „Vielleicht. Was spielt das für eine Rolle?" „Hat er sein Sparbuch einmal erwähnt?"
„Nein, mir gegenüber nicht. Wieso interessiert Sie das?" „Weil meine Vorgesetzten sich dafür interessieren." Der ehemalige Unterleutnant nickte: Verstehe. Vor Vorgesetzten hatte er Respekt - selbst wenn es nicht seine Vorgesetzten waren.
Unterdessen hatte sich die Krankenschwester in der unteren Etage bis zum Abschnitt „Oedema glottidis" durchgekämpft. Sie arbeitete hier schon die zweite Saison, weil diese Arbeit ihr Zeit zum Lernen ließ. Das Gehalt hätte zwar höher sein können, aber so dachte wahrscheinlich sogar ein Minister. Hugo Langermanis? Ein hilfsbereiter Kollege, an dem nichts auszusetzen war. Nur daß er sich von Frauen aushalten ließ! Immer wieder gabelte er irgendwo eine alte Schachtel mit dickem Portemonnaie auf, die er dann nach Leibeskräften schröpfte. Im vergangenen Sommer wäre er fast zum Säufer geworden. Solche Männer waren ihr zuwider. In diesem Jahr ließ er die Urlauberinnen allerdings in Ruhe. Er hatte irgendwo eine ganz sympathische rundliche Dame mit einem Hündchen aufgetrieben. Sie kam jeden zweiten Tag und band ihren Köter draußen an den Steg. Der Hund hieß Jerry, aber wie die Dame hieß, wußte sie nicht. Freunde? Ja, einen Freund hatte er. Der arbeitete in irgendeinem Begrünungskontor, und wahrscheinlich bezog er von ihm die Gladiolenzwiebeln - seltene und auch gewöhnliche Sorten, die nicht so leicht abzusetzen waren. Letztes Mal halte er eine ganze Tüte voll für einen halben Liter abgegeben. So ein Hänfling, der damit prahlte, daß er sich ein Auto kaufen wolle. In diesem Jahr hatte sie ihn erst einmal gesehen - er war inzwischen fülliger und gesetzter geworden. Er hatte zwei Flaschen guten Wein und eine
Blume für sie mitgebracht. Im Winter war er mit seiner Frau nach Vidzeme umgezogen, er arbeitete dort als Gärtnergehilfe und versuchte auch Hugo dafür zu gewinnen. „Kommen oft Bekannte hierher?" „Ja, zwei oder drei. Aber seit er dieses Dämchen hat, schleppt er keine anderen mehr an." „Ich meinte Männer." „Nein, nicht, daß ich wüßte." Dann aber fiel ihr etwas ein, und sie biß sich auf die Unterlippe. „Doch, im Frühling war hier mal so ein Typ." Damals spazierten die Leute noch in Hut und Mantel am Strand umher, obwohl Schnee und Eis schon verschwunden waren und nur unter den Büschen in den Dünen noch zusammengesunkene schmutzige Schneehäufchen lagen. Die Jungs reparierten den im Winter zerbrochenen Steg und schleiften ächzend die Boote über den Sand. Der Chef besorgte im Lager neue Rettungsringe, Ballons für die Tauchgeräte, Manometer, leichte Taucheranzüge, Werg zum Abdichten der Boote und Hunderte anderer wichtiger Kleinigkeiten - die Rettungsstation bereitete sich auf die neue Saison vor. Wenn der Chef nicht da war, vertrat Hugo ihn, weil er am besten mit allem Bescheid wußte. Die Schwester ordnete gerade ihre Apotheke, als eine heisere Männerstimme rief: „Hallo, Puppe!" In der Tür stand ein mittelgroßer Mann von etwa vierzig Jahren, der ungeniert ihre unter dem Minirock hervorlugenden Beine betrachtete. Seine Blicke schienen sich regelrecht an ihnen festzusaugen.
„Arbeitet hier Hugo, die Flasche?" Er hatte das Gesicht eines Debilen. Es war zwar glattrasiert, wirkte aber trotzdem schmutzig. Seine Hosen steckten in russischen Stiefeln. Die Jacke, die er trug, war aus gutem Stoff geschneidert, aber völlig zerknautscht und unmodern - solche Modelle wurden schon lange zu herabgesetzten Preisen angeboten. Dazu trug er ein hellblaues Seidenhemd mit Reißverschluß. In seinem Mund blinkten Goldzähne. „Er ist irgendwo da draußen." „Du bist ein echt steiler Zahn!" Der Typ klatschte mit der Handfläche gegen den Stiefelschaft und machte sich auf die Suche nach Hugo. Er schien sich für unwiderstehlich zu halten. Die Schwester wunderte sich, daß Hugo sich überhaupt mit so einem Typ einließ. Sogar in sein Zimmer bat er ihn. Von dort drangen nur ein paar Gesprächsfetzen und vereinzelte Ausrufe des „Gastes" an ihr Ohr. Und obwohl sie ziemlich gut Russisch sprach, sagten ihr manche Wörter überhaupt nichts: "Kittchen", „Knast", „Polente", „Kledage" ... Nach jedem halben Satz folgte zur Bekräftigung des Gesagten ein deftiges Schimpfwort, das er in feierlichem Ton und mit Nachdruck ausstieß. „Worüber haben die beiden gesprochen?" fragte Grauds sichtlich interessiert. „Ich weiß nicht. Ich konnte nicht draus schlau werden." „Ist Hugo daraus schlau geworden?" „Keine Ahnung. Ich glaube, ihm war die Sache auch nicht ganz geheuer, weil er sich immer wieder alles erklären ließ." „Wirkte Hugo nach diesem Gespräch irgendwie bedrückt?"
„Nein, eher im Gegenteil." „Haben Sie ihn gefragt, wer das war?" "Ja, aber er hat mir keine vernünftige Antwort gegeben." „Und dieses Subjekt ist nicht wiedergekommen?" „Wahrscheinlich nicht, ich hab ihn jedenfalls nicht mehr gesehen. Und die Mädchen aus der anderen Schicht hätten's mir erzählt." „Hatte er irgendwelche besonderen Kennzeichen?" „Ja, die Hände. Ekelhaft! Die Fingernägel waren abgeknabbert und die Hände von oben bis unten tätowiert. Auf einer Hand war eine Sonne, die wie ein Igel aussah, und auf der anderen ein Frauenkopf. Auf den Fingern der einen Hand prangten Ringe und auf den Fingern der anderen Buchstaben." „Was für Buchstaben?" „Das weiß ich nicht. So genau hab ich nicht hingesehen." Grauds unterhielt sich noch etwa zehn Minuten lang mit dem Mädchen, brachte aber nichts Neues mehr in Erfahrung. Der Bootsführer arbeitete erst seit einer Woche hier. Stolz wies er Grauds seinen Fang vor: eine Maräne, die er mit der Larve eine Köcherfliege gefangen hatte — ein schönes, wie ziseliert wirkendes Exemplar. Dann legte er einen Deckel auf den Eimer, damit der Fisch nicht heraussprang. Unterwegs aß Juris Garancs in einer Kantine. Dies war eine ganz gewöhnliche Kantine im Keller einer der zahlreichen Verwaltungen. Hier standen nur ein paar Tische, und die Gäste mußten ihr Geschirr selbst abräumen. Das Essen war jedoch gut, und die Mitarbeiter der Verwaltung hätten nur Kompott aus getrockneten Früchten abgekriegt, wenn sie nicht einen Posten an die Tür gestellt hätten, der bis um drei keine Fremden hereinließ. Da sie jedoch
nicht so lange aufs Mittagessen warten konnten, war es hier nach drei gewöhnlich ziemlich ruhig. Als Garancs schon an seinem Tisch saß, kam noch ein älterer Mann herein - die beiden waren die einzigen Gäste. Garancs löffelte eine sättigende Erbsensuppe mit Speck und überlegte, was als nächstes zu tun war. Zuerst mußte er in die Dienststelle zurückkehren und den Innenministerien der Gebiete, in denen Dursis' Freunde wohnten, Telegramme schicken. Im allgemeinen ging man zwar davon aus, daß die Verbrecher jeden ihrer Schritte gründlich durchdenken, aber wie die Praxis zeigte, war das durchaus nicht immer der Fall. Dursis würde zweifellos irgendwo unterkriechen wollen. Also mußte er auf Reisen gehen. Nach dem, was sie über ihn wußten, war Dursis ein ganz vernünftiger Mensch. Einen Mann wie ihn zu fassen, war kaum möglich, wenn er nicht wußte, welche Strafe auf das von ihm begangene Verbrechen stand. Zum Glück aber wußten die Täter das gewöhnlich ganz genau, und deshalb meldete sich neben der Vernunft auch ihr Selbsterhaltungstrieb zu Wort, das heißt, die Nerven machten sich bemerkbar. Der Instinkt aber ist der Feind der Vernunft. Oft half dem Verbrecher vorübergehend
irgendeine
Dummheit.
Er
machte
einen
entscheidenden Fehler und wurde nur deshalb nicht gleich gefaßt, weil man solche Dummheiten nicht einplanen konnte. Erfahrungsgemäß zog jedoch keiner zweimal das große Los. „Sie gestatten?" „Bitte." Garancs schob seine Teller zusammen. Konnte der Mann sich nicht an einen anderen Tisch setzen - es war doch alles frei! Vorläufig gab es keine Komplikationen, also hielt der Verstand
des Uhrmachers seine Instinkte noch in Schach. Demnach würde er Hotels und die Gesellschaft zweifelhafter Existenzen meiden, weil diese ihn mit der Miliz in Berührung bringen konnten. Aber irgendwo mußte er absteigen. Daß die Miliz schon die Adressen seiner Freunde hatte, wußte er ja nicht. Sicherlich war diese Liste nicht
vollständig
-
überhaupt
war
es nur
ein
Glücksumstand, daß es sie gab. Vor ein paar Jahren hatte Dursis mit einer Freundin zusammengelebt. Bevor es zur Heirat kam, trennten sich die beiden jedoch wieder. Dabei packte die Freundin versehentlich ein paar an Dursis gerichtete Briefe zwischen ihre Bücher. Das war zwar schon eine Weile her, aber sie hatte die Briefe bisher nicht weggeworfen.- Vielleicht waren sie eine Erinnerung für sie? Die Adresse der jungen Frau hatte Garancs von einem Kollegen des Uhrmachers bekommen. Der Mann, der Garancs gegenübersaß, säbelte große Stücke von seinem Rippenstück und kaute schmatzend darauf herum. „Fehlt Ihnen was?" rief er plötzlich, als er sah, daß Garancs die Augen geschlossen hielt. Garancs stand auf und verließ, in seine Gedanken vertieft, die Kantine. Eine Stunde später ließ er sich in Ulfs Zimmer auf einen Stuhl fallen. „Er hat einen Trumpf in der Hand", sagte Alvis Grauds zu Ulfs. „Sieh mal, wie er strahlt!" „Wir können uns was auf unsere Dummheit zugute halten!" Garancs legte ein Blatt Papier auf den Tisch, auf dem nur einige wenige Zeilen standen. „Dursis, A. L., Uhrmacher, ledig, achtundzwanzig Jahre alt. Am
14. Juni d. J. erstand er in der Vorverkaufskasse ein Ticket für den Flug Nr. 8141 von Riga nach Adler. Am 28. Juni d. J. verließ er gegen siebzehn Uhr seine Wohnung in der Muceniekustraße. Am 28. Juni d. J. bestieg er um 17.30 Uhr die Maschine nach Adler. Auf diese Weise kann er an dem am 28. Juni d. J. um 18.35 Uhr verübten Verbrechen nicht beteiligt gewesen sein. A. L. Dursis' Aufenthaltsort am 29. Juni d. J. konnte noch nicht ermittelt werden. Inspektor der Kriminalmiliz Oberleutnant J. Garancs" „Ich hoffe, die lieben Kollegen wollen mir nicht weismachen, daß Dursis einen Doppelgänger nach Adler geschickt hat, um sich so ein Alibi zu verschaffen und seelenruhig die Kassenboten abmurksen zu können,?" „Nein, das werden die Kollegen nicht wollen." Ulfs runzelte die Stirn und griff nach dem Telefonhörer. „Sämtliche Lorbeeren auf diesem Gebiet hat bereits Marschall Montgomery eingeheimst." „Davon ist mir nichts bekannt." „Marschall Montgomery hat einen Doppelgänger zu einer Truppeninspektion nach Nordafrika geschickt, um die Wachsamkeit der Deutschen in Europa einzuschläfern und seine Truppen landen zu lassen." „Golubowski hat den Doppelgänger gesehen", sagte Grauds. „Ein Zeuge genügt nicht. Vielleicht phantasiert er, vielleicht täuscht er sich ... Da gibt's viele Möglichkeiten." Garancs und Grauds machten sich gemeinsam auf den Weg zu Hugo Langermanis' Wohnung. Es ging auf den Abend zu, so daß die tagsüber
aufgeheizten
Pflastersteine
jetzt
mehr
Wärme
spendeten als die Sonne. In der Stadt war es stickig, und wer konnte, der verließ sie. „Ich könnte mich ohrfeigen", sagte Garancs. „Als erstes hätte ich überprüfen müssen, wo der Uhrmacher abgeblieben ist. Ein ehrlicher Mensch braucht sich nicht hinter einem fremden Namen zu verstecken. Er geht einfach zur Kasse von Aeroflot und gibt seinen richtigen Namen an. Und natürlich fliegt er, weil er einen weiten Weg vor sich hat und die im Zug verbrachten Tage praktisch verlorene Zeit sind. Dursis muß auffallend rote Haare haben, denn die Stewardeß hat sich sofort an ihn erinnert. Wegen seiner roten Haare und seines riesigen Rucksacks. Er hat noch aus Jux zu ihr gesagt, daß er ein Federbett drin hat, weil es sich auf den Felsen zu hart schläft." Nachdem sie sich das Haus, in dem Hugo Langermanis wohnte, von außen angesehen hatten, stiegen sie die Treppe hoch. Sie klopften jedoch umsonst - es machte niemand auf. Da klingelten sie an der Tür nebenan. Nein, ein Geschenk Gottes ist dieser Hugo Langermanis nicht. Früher wurde bei ihm immer bis in den Morgen hinein getanzt. Da fanden sich mehrere Pärchen zusammen, aber seit fünf Jahren kommen nur noch Mädchen. Naja, ein Junggeselle. Aber höflich ist er. Auf der Treppe nimmt er einem immer das Wäschepaket oder die Kartoffeln ab und ist auch sonst recht hilfsbereit. Und wenn er sich mal Geld borgt, gibt er's rechtzeitig zurück, obwohl er selbst immer knapp bei Kasse ist. Im Frühling nahm er einmal einen Quartiergast auf, der ihn dann völlig ausraubte, und das vor aller Augen. Einen von oben bis unten tätowierten Knastbruder. Jedes dritte Wort von dem war
ein Schimpfwort. Und sein Mund war voller Goldzähne. Er wohnte nur eine Woche hier und trank pausenlos. Einmal, als Hugo auf Arbeit war, fuhr er mit einem Gütertaxi vor und räumte mit ein paar Lastträgern die ganze Wohnung aus. Nur die Gardinenstangen ließen sie zurück — ich hab's selbst gesehen. Direkt vor unseren Augen schafften sie alles raus. Er sagte noch zu mir: Oma, Hugo und ich werden von nun an wie die Grafen leben. Den Plunder hier schaffen wir in den An- und Verkauf und legen uns dafür schwarzlackierte Anbaumöbel zu. Noch nie gesehen? Alles mit Gold und Perlmutt besetzt! Und danach ward er nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich sitzt er längst wieder. Solche Leute halten sich unter ehrlichen Bürgern nicht lange! Auch Hugos Anzüge hat er mitgehen lassen und das Radio! Na, und das Tonbandgerät auch. Alles war wie leergefegt. Anfangs war Hugo ja ziemlich wütend, aber dann hat er wohl darauf gepfiffen. Wie gewonnen, so zerronnen. Wahrscheinlich wird er sich neue Möbel kaufen. Wie ich ihn kenne, hat er nicht mal Anzeige erstattet. Hugo ist viel zu gutmütig. Ein anderer an seiner Stelle hätte sich sein Hab und Gut mit Gewalt zurückgeholt. Nein, jetzt ist Hugo nicht zu Hause. Gestern, am Tage, ja, da war mir so, als hätte ich Schritte gehört. Jetzt, wo die Wohnung leer ist, schallt es sehr. Er hat so eine Arbeit wenn's losgeht, dann immer gleich für vierundzwanzig Stunden. Gleich hier, auf der Treppe, schrieb Grauds einen Zettel und warf ihn in Hugo Langermanis' Briefkasten. Er bat ihn, am nächsten Morgen zu Oberst Ulfs in die Kriminalabteilung zu kommen. „Seinem Benehmen und seinem Wortschatz nach war dieser
Quartiergast ein Krimineller", sagte Garancs, als sie auf die Straße traten, „Der elegante Hugo Langermanis und ein Galgenvogel . . . Eine merkwürdige Verbindung." An der O-BusHaltestelle blieben sie stehen. Im Filmtheater um die Ecke war gerade die Vorstellung zu Ende, und die Leute überquerten in einem endlosen Strom die Fahrbahn, ohne sich auch nur im geringsten um die verzweifelt hupenden Autofahrer zu scheren. „Das Ganze ist ziemlich verdächtig. Es war sicher keine Sympathie, was die beiden miteinander verband, sondern irgend etwas anderes. Aber auf Sachen, bei denen's ihnen an den Kragen gehen kann, lassen sich solche kleinen Gauner nicht gern ein. Auch die Summe ist dafür zu hoch. 86000 ... Gewöhnlich beträgt ihre Beute im besten Falle ein paar Hunderter, stimmt's?" „Ausnahmen bestätigen die Regel." „Damit kannst du alles beweisen." Grauds schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Morgen müssen wir diesen Typ ausfindig machen." „Das ist in einer Stunde getan. Er hat die Möbel und das Tonbandgerät sicher in den nächsten An- und Verkauf geschafft." „Der Kleidung nach war's kein Hiesiger." „Das nicht, aber vielleicht ist er hier entlassen worden." „Das kriegen wir morgen raus." Der O-Bus rollte langsam heran. Grauds blieb gleich an der Tür stehen, weil er nach zwei oder drei Stationen wieder aussteigen mußte.
Der dritte Tag
18
„Kater Wassja" stand in der Hierarchie der
Diebe auf einer der untersten Stufen. Seinem „Fach" nach war er ein „Klettermax", weil er nachts mit einer Leiter unterwegs war und von dem lebte, was offen stehende Fenster ihm einbrachten. Er stellte die Leiter in irgendeinem Hof ab und sah sich in dem Viertel nach offenen Fenstern um. Die Qualität der Gardinen und ein paar andere Merkmale sagten ihm, wo sich ein Einstieg lohnte. Dabei lockten ihn über Stuhllehnen geworfene Jacken und Kleider ebenso wie Wecker, Damenwäsche und Schuhe. Ließ jemand sein Schlafzimmerfenster offen, so stieg er ein und betrachtete gerührt die verheirateten und unverheirateten schlafenden Paare, was ihm den Spitznamen „Kater Wassja" eintrug. In andere Räume wagte er sich nicht hinein. „Kater Wassja" hatte so viele zugängliche und unzugängliche nackte Frauen, so viele schlafende Venusse gesehen, daß er, hätte er malen können, ohne Modell eine ganze Ausstellung hätte bestreiten können. Diese Arbeit war ein reines Saisongeschäft: Gewöhnlich stahl Wassja im Sommer, wurde im Sommer gefaßt und erhielt bei der Gerichtsverhandlung gewöhnlich genau zwei oder drei Jahre man sorgte gleichsam dafür, daß er im Sommer wieder freikam. In der Freiheit hielt er sich aber höchstens einen Monat lang, denn für die gebrauchten Sachen bekam er nicht viel und mußte deshalb
jede Nacht ein neues Risiko eingehen. Später verfiel er in einer mittelrussischen Stadt darauf, aus den Fenstern ins Kühle gehängte Lebensmittel zu stehlen und weiterzuverkaufen. Er baute sich eine Leiter, mit der er die dritte Etage erreichen konnte, bewaffnete sich mit einem Sack und zog los. Dabei erbeutete er gewöhnlich ein halbes Dutzend gerupfter Hühner und manchmal auch eine Gans oder ein paar Eier, so daß die Marktweiber schon einen gefährlichen Konkurrenten in ihm sahen. Es ging das Gerücht um, er sei ein ehemaliger Kulak, und seine Schwester wohne in der Nähe der Stadt, arbeite aber nicht im Kolchos, weil sie selbst eine eigene Wirtschaft und fast tausend Hühner besitze, und auf dem Markt bekomme sie das Futter, ohne anzustehen. So entdeckte Wassja überraschend sein Talent zum Händler, das fast vierzig Jahre lang ungenutzt in ihm geschlummert hatte. Er ließ seine Goldzähne blitzen und rief, daß es über den ganzen Platz schallte: „Kommen Sie näher, Herrschaften, genieren Sie sich nicht! Hier gibt's preiswerte, frisch geschlachtete Vögel!" Seine tätowierten Hände mußte er allerdings verstecken. Diese neue Domäne schien weniger gefährlich zu sein, weil er nun nicht mehr in die Wohnungen zu klettern brauchte. Die meiste Angst hatte Wassja nämlich vor Schlägen: Er war knochig und schwächlich und verstand nicht, sich zu wehren. Nur seine Stimme war mächtig wie ein Megaphon, und sein Wortschatz wirkte wie eine Steinbrechmaschine. Wenn man diese Waffe nicht fürchtete oder Wassja einfach nicht dazu kam, sie einzusetzen, so konnte man ihm mit Leichtigkeit Arme und Beine ausrenken oder ihm gar den Kopf abreißen. Ein paar Wochen lang hatte Wassja so sein gutes Auskommen und
schmiedete bereits Zukunftspläne, als er in einem Neubau auf dem Fensterbrett der dritten Etage zu seinem Unglück einen Truthahn erspähte. Dieser Truthahn war so groß und fett, daß sich das Netz über ihm spannte und seine zarte weiße Haut durch die Maschen lugte. „Der bringt mindestens fünfzehn Rubel ein", dachte Wassja und ging seine Leiter holen. Das Netz war nicht einmal angebunden — es hing einfach an einem krummen Nagel. Der Truthahn aber war schwer. So schwer, daß Wassja vor Freude beschloß, den Leuten das zweite Netz mit marinierten Pilzen zu überlassen. Er war schon beim Abstieg, hatte aber noch keine fünf Stufen hinter sich gebracht, als über seinem Kopf ein Fenster aufging, ein Muskelprotz in einem Matrosenhemd heraussah und brüllte, als hätte man ihm den Truthahn geradenwegs vom Teller gestohlen. Wassja beschleunigte seinen Abstieg, was den Muskelprotz so erboste, daß er sogar zu brüllen aufhörte. Die Stille währte allerdings nur eine Sekunde oder vielleicht sogar nur eine Zehntelsekunde. Der Besitzer des Truthahns packte die Leiter am oberen Ende, stemmte sie von der Wand weg und rief: „Halt, sonst krachst du runter wie von der Mastspitze!" Wassja lugte aus der Höhe der zweiten Etage in die Tiefe - unter ihm war harter Asphalt. Als Invalide der Stufe drei werde ich in der Kolonie als Gehilfe des Aufpassers eingesetzt, dachte Wassja und beschloß, lieber den Truthahn fahrenzulassen. Der klatschte wie eine überreife Pflaume auf das schmutzige Pflaster. „Den schrubbst du mir, bis er wieder sauber ist!" brüllte der Muskelprotz im Matrosenhemd über ihm.
„Zehnmal, hundertmal schrubbst du mir den!" Inzwischen rief jemand bei der Miliz an, und Wassja wurde so vorsichtig von der Leiter gehoben wie ein entflogener Papagei von einem Baum. Sie steckten „Kater Wassja" in eine kleine Kolonie. Hier wurden im Arbeitstrakt Radiogehäuse poliert und Bonbontüten geklebt, während man im Zellentrakt abends Volleyball oder Tischtennis spielen konnte. „Kater Wassja" leistete, wie in seiner Beurteilung zu lesen stand, gesellschaftlich nützliche Arbeit — er säuberte den Abschnitt, wie man in der Kolonie die Zellen nannte: Er fegte und wischte Staub. Dabei übernahm er sich nicht, war beim Essen immer der erste und kam auf diese Weise noch zu einem Nachschlag. Er hatte viel freie Zeit und spazierte oft, eine Zigarette im Mundwinkel, im Hof auf und ab. Wenn er einem „Kollegen" begegnete, schlenderten sie gemeinsam über den Hof und schwärmten von den alten Zeiten. Das Gespräch begann gewöhnlich mit einer Aufzählung der Daten und der Orte, an denen es früher Kolonien gegeben hatte. Dann folgten Erinnerungen daran, wie sie als die „Aristokraten" damals die Kolonien beherrscht, wie sie Hasch geraucht, Speck gegessen, gefaulenzt und sich auf den Pritschen gesielt, wie sie auf Gitarren geklimpert, Karten und Domino gespielt hatten. Und in ihrer Erinnerung wurden sie aus mit Besen bewaffneten Gehilfen wieder zu Herrschern. „Kater Wassja" war ein guter Karten- und Dominospieler. Faktisch hatten diese Fähigkeiten ihn in den Rang eines „Aristokraten" erhoben - seine mächtige Stimme lernte er erst später benutzen. Im Kartenspiel war er sogar so gut, daß er in der Kolonie bald keinen Partner mehr fand. Eines
Tages, als „Kater Wassja" auf dem Hof gerade mit seinen blitzblanken Stiefeln angab, traf ein Schub Neuer aus dem Gefängnis ein. Geduckt und schüchtern standen sie vor dem Bettenlager und warteten darauf daß man ihnen Matratzen und Decken herausgab. Wassja ging natürlich auf ein Schwätzchen zu ihnen hinüber: „Wieviel haben sie dir aufgebrummt? Aus welchem Bau kommst du? Hast du Fedja, den ,Zahn', dort nicht getroffen? Was bist du denn für 'n Vogel?" Mit Ausnahme eines kleinen, aber breitschultrigen und daher beinahe quadratisch wirkenden Mannes waren alle nicht zum ersten Mal in einer Kolonie. Der Breitschultrige hatte eine traurige Visage und große, abstehende Ohren. Er hieß Nikifors und sagte, er habe eine Verkaufsstelle in einer Siedlung geleitet, und in die Kolonie sei er nur eines Mankos wegen geraten. Den Richter bezeichnete er als eine Laus. „Wie ist hier das Essen?" fragte er. „Wir kriegen zweimal täglich Fleisch", erwiderte „Kater Wassja" und zwinkerte den anderen, die grinsend dastanden, zu. „Und zum Abendbrot?" „Gebratenen Fisch." „Na, das lasse ich mir gefallen." Nikifors seufzte erleichtert auf, während die anderen vor Lachen fast erstickten. „Kater Wassja" sah, daß der dumme Krämer einen wollenen Pullover trug. Der war ihm wahrscheinlich zu eng und daher etwas ausgeleiert, aber er war sichtlich dick und warm. Und auch in den Koffern des Krämers steckten sicher noch ein paar brauchbare Dinge. „Spielst du Karten?" fragte Wassja.
„Was spielt ihr hier denn so?" „Na, Binokel." „Höre ich zum ersten Mal." „Und Siebzehn und vier?" „In Siebzehn und vier bin ich unschlagbar! Da konnte mich in der ganzen Siedlung keiner übertreffen. Bei Siebzehn und vier kommt's drauf an, daß man die Nerven behält. Ich hab Glück im Spiel. Bei Siebzehn und vier hab ich bisher alle übertrumpft!" Der ist ja wie geschaffen dazu, bis aufs Hemd ausgenommen zu werden, dachte Wassja und sah sich noch einmal unauffällig den Pullover an - er war wirklich aus guter Wolle. Wenn er ihm selbst nicht paßte, konnte er ihn immer noch verscherbeln. Sie zogen sich in die letzte Zelle zurück und spielten auf der untersten Pritsche; an der Zellentür stand einer Schmiere, der von jedem Bankhalter eine Zigarette bekam. Sobald ein Aufpasser in gefährliche Nähe kam, gab er ein Signal. Dann schob Wassja die Karten flink unter die Matratze, und Nikifors und er liefen zum Tisch und taten so, als ob sie Zeitung lasen. Wassja ließ Nikifors zwei Schachteln Zigaretten, Konservendosen, ein halbes Kilo Zucker und ein Paar alter Filzstiefel gewinnen. Nikifors wußte sich vor Freude nicht zu lassen und rutschte so aufgeregt hin und her, daß die Pritsche knarrte. Nun konnte jeder sehen, daß er, Nikifors, im Kartenspiel unschlagbar war! Aber er war ein gutmütiger Mensch und würde die Konserven beim Abendbrot mit Wassja teilen. Mal sehen, was für eine Figur du heute beim Abendbrot abgibst, dachte Wassja, als er die Bank übernahm, verdreifachte seinen Einsatz und schmuggelte eine Zehn in die Mitte, um sie sich nachher zu
nehmen. Dann gab er Nikifors zwei Karten. Für einen Falschspieler ein ganz gewöhnlicher Trick. In diesem Augenblick kündigte der Mann, der Schmiere stand, das Nahen eines Aufpassers an. In Wassjas Vorstellung tauchten ein elender Karzer und andere Unannehmlichkeiten auf, die bei verbotenen Kartenspielen zu gewärtigen waren. Sie schreckten ihn nicht weniger als eine Tracht Prügel den Halbwüchsigen, die der Vater ihm in Aussicht stellt. Wegen dieses Holzkopfes werde ich noch zwei Wochen bei trockenem Zwieback sitzen, dachte Wassja erschrocken. Jetzt wird nicht länger gefackelt - ich muß den Kerl rasch ausnehmen, und dann ist Feierabend! Hätte er Gedanken lesen können, so wäre er sehr erstaunt gewesen, denn
sein
Partner hatte genau dieselbe Idee.
„Neunzehn." „Kater Wassja" zeigte seine Karten. „Zwanzig." Nikifors übernahm die Bank. „Du hast wirklich säuisches Glück." „Kater Wassja" lachte von Herzen. In den nächsten zehn Minuten aber begriff er die Welt nicht mehr. Er bekam kein gutes Blatt in die Hand. Sechzehn, siebzehn, neunzehn . . . Nach und nach trennte er sich von seinen Arbeitshosen, dem gestreiften Hemd und den neuen Socken, und innerhalb von zwei Minuten war er sein elegantes Jackett los. Wassja schleuderte Nikifors das Jackett ins Gesicht, um ihn aus der Fassung zu bringen. „Du trickst!" „Das mußt du mir erst mal beweisen!" erwiderte Nikifors mit
eisiger Stimme und einer völlig ungewohnten Intonation. Nach weiteren zwei Minuten trennte Wassja sich von seiner Wattejacke und seiner Mütze. „Ich bring dich um! Ich schlag dir die Fresse ein! Ich schneid dir den Sack ab!" brüllte Wassja. Als der, der draußen Schmiere stand, den Lärm hörte, verzichtete er auf sein noch ausstehendes Honorar und gab Fersengeld. Er hoffte auf eine vorzeitige Entlassung und hatte ganz und gar nicht die Absicht, sie einiger lausiger Zigaretten wegen aufs Spiel zu setzen. „Kein Stück kriegst du Gauner von mir!" Wassja beschloß, das Spiel abzubrechen, sich seine Habe mit Gewalt zurückzuholen, Nikifors zum Teufel zu jagen und ihm zum Abschied aus Rache einen Hocker gegen die Rippen zu schlagen. Da brüllte Nikifors plötzlich los: „In Vetlaga haben mir solche wie du die Stiefel geputzt, in Workuta haben sie mir die Fußsohlen gekitzelt, damit ich besser einschlafen konnte, und an der Kolyma ..." „Kater Wassja" wurde blaß. Er hatte schon davon gehört, daß gleichen Ort ein gefürchteter Bandenchef im Gefängnis saß: der „Raffer". Und an den war Wassja nun geraten! Nikifors, der „Raffer", stand auf und sagte: „Abgerechnet wird nach dem Abendbrot. Welche Stiefelgröße hast du?" „Vierzig." „Zu klein. Die muß ich umtauschen." Er klemmte sich seinen Gewinn unter den Arm und verschwand. „Kater Wassja" blickte auf seine traurig glänzenden Stiefel. Nein, die gab er nicht her! „Die Stiefel kriegt er nicht!" Wassja schlug mit der tätowierten Faust auf die Pritsche.
Durch das Gebäude schallten schon die Stimmen der anderen, die aus dem Arbeitstrakt zurückkehrten. Da riß „Kater Wassja" den Feuerlöscher, Typ „Recke", von der Wand, schraubte ihn auf und holte die Kapsel mit Schwefelsäure heraus. Dann nahm er ein Glas, füllte Wasser hinein, tat ein wenig Schwefelsäure dazu, warf die Ampulle mit dem Rest auf den Fußboden, trank die Flüssigkeit aus und legte sich auf den Stampflehmboden. Er horchte: Die Stimmen kamen näher. Und er schloß die Augen. „Kater Wassja" wurde ins Gefängniskrankenhaus gebracht. Solche Selbstmordversuche oder, genauer gesagt, solche vorgetäuschten Selbstmordversuche waren nichts Ungewöhnliches. Es kam immer wieder vor, daß Häftlinge Dominosteine, Löffel und sogar die Ketten verschluckten, mit denen die Latrinendeckel festgemacht waren, daß sie Seide rauchten, Glasstaub einatmeten und
sich
Finger
und
Zehen
brachen.
Dafür
gab
es
unterschiedliche Gründe. „Kater Wassja" hatte beispielsweise eine Spielschuld nicht bezahlt, aber sein Gesicht gewahrt. Nach einem Selbstmordversuch wurden keine Spielschulden mehr eingetrieben. Manche verstümmelten sich in der Hoffnung, daß die Richter, die über eine vorzeitige Entlassung entschieden, beim Anblick eines Krüppels milder gestimmt waren, andere hofften einfach darauf, sich eine Weile im Krankenbett wälzen und die Schwestern ansehen zu können; wieder andere träumten davon, Invaliden der zweiten Stufe zu werden, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Solche Selbstverstümmelungen konnte und wollte man nicht unbedingt nachweisen - ein Krüppel erweckt immer Mitleid. Die Ärzte pflegten sie gewissenhaft, und in dieser Hinsicht
gab
es
keinen
Unterschied
zwischen
einem
Gefängniskrankenhaus und einem gewöhnlichen Krankenhaus. Im Krankenhaus pumpten sie Wassja den Magen aus, schimpften ein bißchen mit ihm, erklärten ihm, daß es nicht gut sei, Schwefelsäure zu schlucken, und legten ihn in einem Zweibettzimmer in ein Bett mit sauberen Laken. Das zweite Bett stand leider leer, und Wassja langweilte sich so, daß er beinahe nach einer Zeitung gegriffen hätte. Das Bett blieb einen ganzen Monat lang leer. Eines Nachts aber trugen die Sanitäter einen alten Mann mit schlohweißem Haar und eingefallenen Wangen herein. Ärzte und Schwestern hasteten hin und her, verpaßten dem Alten Spritzen, ließen ihn Tabletten schlucken und Sauerstoff einatmen. Den wollen sie doch nicht etwa wieder auf die Beine bringen, dachte Wassja erstaunt. Dem sieht man doch schon an der Nasenspitze an, daß er nicht mehr lange zu leben hat. Der alte Mann röchelte. Die Schwester trug Wassja auf, nach ihr zu läuten, falls es dem Alten schlechter ging, und Wassja versprach es ihr hoch und heilig. Ein oder zwei Stunden später fragte der Alte plötzlich leise: „Warst du an der Front?" Im Krankenzimmer brannte zwar ein Nachtlicht, aber der Alte konnte „Kater Wassja" nicht sehen, weil er auf dem Rücken lag und sich nicht umdrehen konnte. „Damals war ich zehn." „Also bist du noch jung und hast das ganze Leben vor dir." Der Alte verstummte und schwieg eine gute halbe Stunde lang. Dann sagte er: „An der Front war alles anders." Und wieder herrschte lange Zeit Schweigen. Aber Wassja konnte nicht einschlafen. Der wunderliche alte Mann machte ihm Angst. „Ich war früher ein hohes Tier und hab viel gearbeitet." Der Alte
sprach mit langen Pausen, als müsse er für jeden Satz erst Kräfte sammeln. „Mein Leben hat jetzt keinen Sinn mehr. Ich will nicht mehr leben. Ich sterbe, weil ich nicht mehr leben will." „Sie haben hier gute Ärzte." „Was ich verloren habe, kann mir keiner ersetzen." „Die Hauptsache, man lebt!"
'
„Man lebt, solange man arbeitet." „Dann müßte ich schon längst tot sein." „So wird's wohl auch sein." Am Morgen horchten die Ärzte den alten Mann noch einmal ab und erklärten, die Krise sei überstanden. Der alte Mann bat, ihm aus der Zeitung vorzulesen, und zwar die Berichte über die Industriebetriebe. Sobald Wassja zur Landwirtschaft kam, fragte er: „Steht nichts mehr über die Industrie drin?" Dann mußte Wassja ihm aus alten Zeitungen vorlesen - das Datum war dem alten Mann ganz egal. Bei all den Meldungen über die Restaurierung von Werkhallen, die beschleunigte Montage von Werkbänken
und
die
Standardisierung von Großplatten-
konstruktionen schloß er beseligt die Augen, ja er schlief sogar ein und hatte anscheinend süße Träume. In der nächsten Nacht weckte Wassja eine tiefe Stille, Anfangs begriff er nicht, was los war, schließlich aber merkte er, daß der alte Mann nicht mehr atmete. Wassja sprang aus dem Bett, im selben Augenblick aber begann der Alte wieder zu atmen und sogar zu sprechen: „Wassja!" "Ja!" „Wann wirst du entlassen?" „In zwei Jahren."
„Ganz egal. Mit mir geht's zu Ende." „Nicht doch." Wassja hatte das zwar fröhlich sagen wollen, fand aber nicht den rechten Ton. „Hör zu! Wenn du rauskommst, fährst du nach Jürmala bei Riga und machst meinen Sohn ausfindig. Er arbeitet dort als Rettungsschwimmer. Er heißt Hugo Langermanis. Wiederhole den Namen!" „Hugo Langermanis." „An der Pforte zu unserer ehemaligen Datsche, auf dem Weg zum Meer, ist eine Milchflasche vergraben. Hugo kann bestimmt was damit anfangen. Für den Tip soll er dir einen Tausender geben! Merk dir das gut! Sag ihm, daß ich bis zuletzt an ihn gedacht habe und daß er sein Studium abschließen soll. Vergiß das mit der Flasche nicht. Es ist das letzte, was ich für den Jungen tun kann. Ich wollte ihm immer helfen . . ." Zwei Tage später starb der alte Mann, ohne noch einmal das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Von der Schwester erfuhr Wassja, daß er als Devisenschieber zu fünfzehn Jahren verurteilt worden war, daß er früher in Riga gelebt hatte und daß sein Name Romualds Sasko war. „Hugo Langermanis", notierte „Kater Wassja" auf einem Zettel, aber das war völlig überflüssig, weil es in seinem Hirn genug freien Platz gab und dieser Name sich dort festgesetzt hatte wie eine Glucke auf ihren Eiern. Riga . .. Na und? Sicherlich lebten dort Menschen wie überall, spielten Harmonika, tranken Wodka und fluchten. Sicherlich!
19
Ein Geräusch veranlaßte Alvis Grauds, sich im
Bett aufzusetzen. Beinahe instinktiv, wie ein Boxer, schob er den linken Arm vor und bekam trotz der Dunkelheit den Wecker zu fassen, der in seiner Hand fleißig weitertickte. Aber das Geräusch ging nicht vom Wecker aus. Als sich das aufdringliche Läuten wiederholte, erkannte Grauds, daß es aus dem Flur kam. Es war das Telefon. Dann hörte er, wie seine Mutter den Hörer abnahm und sagte: „Bitte? Ja. Gut. Verstehe. Ich hole ihn gleich an den Apparat." Die Mutter legte nach jedem Wort eine Pause ein, die wahrscheinlich vom Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung ausgefüllt wurde. Als die Mutter sagte: „Ich hole ihn gleich . . .", wußte Grauds, daß die Nacht für ihn vorbei war. Die Tür ging leise auf, und er hörte seine Mutter sagen: „Du wirst am Telefon verlangt." „Ulfs?" "Nein, eine Frau." Wahrscheinlich war das Nelli Rimsa. Sie war ja am stärksten betroffen. Wo hatte sie nur den ganzen Tag gesteckt? Um nicht die ganze Familie zu wecken, kehrte die Mutter in ihr Zimmer zurück, ohne die knarrende Tür wieder zu schließen. Grauds knipste die Nachttischlampe an und langte nach seinem Morgenmantel. „Hallo, hier Grauds." „Alvis?" „Ja, Alvis", antwortete er ärgerlich, weil er noch ziemlich unausgeschlafen und absolut nicht zum Plaudern aufgelegt war. „Hier spricht Tereze Kozinds." „Sehr erfreut. Wollen Sie mir mitteilen, daß Nelli wieder da ist?"
„Nein!" „Das war aber der einzige Grund dafür, daß ich Ihnen meine Telefonnummer gegeben habe. Wie spät ist es überhaupt?" „Halb vier." „Wie schön! Da habe ich ja den Sonnenaufgang noch nicht verpaßt!" „Alvis .. . Entschuldigen Sie, daß ich Sie beim Vornamen anrede, aber ich hab Ihren Namen nicht verstanden." „Grauds." „Ich rufe an, weil... Ich hab Angst! Ich hab heute nacht kein Auge zugetan." „Schlaftabletten bekommen Sie in der Apotheke." „Wollen Sie nicht mit mir sprechen?" „Doch, natürlich. Ich wüßte nicht, was ich lieber täte." „Bei den Rimsas brennt Licht, aber es geht keiner ans Telefon. Und man hat auch nicht den Eindruck, als wäre jemand da." „Hm." „Papa meint, sie haben einfach vergessen, das Licht auszuschalten, und es hat schon den ganzen Tag gebrannt, ohne daß wir's gemerkt hätten." „Da mag er recht haben." „Papa wollte nicht, daß ich bei Ihnen zu Hause anrufe, und ich hätte es auch sicher nicht getan, wenn der Hund nicht plötzlich angefangen hätte zu heulen." „Was für ein Hund?" „Rimsas Hund. Er ist im Haus eingesperrt und jault so fürchterlich, daß man eine Gänsehaut kriegt." Und nach einer kurzen
Pause fügte sie hinzu: „Sie halten mich wahrscheinlich für eine dumme Göre?" „Schließt Nelli den Hund immer ein, wenn sie weggeht?" „So lange war sie noch nie weg." „Ich rufe in fünf Minuten zurück." „Ja, gut." Aus Terezes Stimme sprach grenzenloses Vertrauen. „Oberst Ulfs am Apparat!" Während Grauds' Bericht ächzte und schnaufte Ulfs, und schließlich sagte er, daß von außen bestimmt nicht viel zu sehen sei und er einen Durchsuchungsbefehl erwirken wolle. Er versprach Grauds, in einer halben Stunde bei ihm zu sein, obwohl jeder normale Mensch diese Arbeit auf den Morgen verschoben hätte. Aber das Verschwinden dieser Nelli Rimsa sei wirklich rätselhaft. Als sie nach Doni kamen, tagte es gerade erst. Aus dem Wald wehte ein kühler Wind herüber, und über dem See lag dichter Nebel, den nur hier und da eine Schilfspitze durchstieß. Einer der Milizionäre schlug vor, Zeugen hinzuzuziehen, Ulfs aber meinte, das hätte noch Zeit. Grauds klopfte an Terezes Fenster. Das Mädchen schob sofort den Vorhang zurück - anscheinend hatte sie schon auf sein Klopfen gewartet. In ihren kurzen Bademantel gehüllt, öffnete sie das Fenster. "Sie können ruhig schlafen gehen." Grauds zwinkerte ihr zu. „Ich passe jetzt auf Sie auf." . „Ich bin aber neugierig." „Wann hat der Hund aufgehört zu heulen?" „Vor kurzem erst."
"Na schön. Lassen Sie das Zimmer nicht zu sehr auskühlen." „Auf Wiedersehen!" „Wir sehen uns bestimmt noch." „Sonst rufe ich noch mal nachts bei Ihnen an." „Aber dann bitte nicht ganz so früh. Bis dann!" „Auf Wiedersehen!" Das Mädchen ist von einer gefährlichen Freundlichkeit, dachte er. Er hörte, wie sie das Fenster schloß, und wäre am liebsten zu ihr zurückgekehrt. Tereze . . . Ein katholischer Name. Tereze . . . Ein Milizionär stellte eine Leiter ans Haus und stieg zu dem erleuchteten Fenster hoch. Ulfs stand unten und sah ihm, den Kopf zur Seite gelegt, nach. Der Milizionär balancierte auf der obersten Sprosse, lehnte ich an den Fensterrahmen, prallte zurück und lehnte sich wieder vor. „Wir werden doch Zeugen brauchen!" rief er hinunter. „Ist was zu sehen?" „Die Geldsäcke liegen da!" „Heilige Mutter Maria!" Im Erdgeschoß des Hauses bellte wieder der Hund. „Lauf und hol das Mädchen", sagte Ulfs zu Grauds. „Wer weiß, was uns da drin noch erwartet?" „Ja, du hast recht", stimmte Ulfs zu. „Dann müssen wir noch Baldriantropfen besorgen. Wecke ihren Vater." Die Milizionäre kamen mit einem älteren Mann und dessen Sohn aus dem übernächsten Haus. Grauds erinnerte sich, daß er am Vortag auch in diesem Haus gewesen war, aber nichts Interessantes erfahren hatte. Vater und Sohn trugen Gummistiefel und waren mit
Angelruten bewaffnet — sie wollten Hechte fangen, waren aber dem Milizionär in die Arme gelaufen und warfen nun ängstliche Blicke zum Himmel, der von Minute zu Minute heller wurde - im Sommer beißt der Hecht nur bis Sonnenaufgang. Grauds kehrte mit Kozinds zurück. Kozinds begrüßte die Nachbarn und klagte gähnend darüber, daß er abends lange nicht einschlafen könne und deshalb morgens nicht rechtzeitig wach werde. Der Hund bellte immer noch. Kozinds rief nach ihm, aber das regte das Tier nur noch mehr auf. Die Tür war rasch geöffnet und ging geräuschlos auf. Aus unerfindlichen Gründen setzte im selben Augenblick Stille ein. Man hörte sogar, wie der für alle Fälle aufgestellte Posten von einem Bein aufs andere trat. Dann fing der Hund wieder an zu bellen. Im Haus klang das Bellen jedoch leiser und gedämpfter als draußen. „Jerry ist in der Küche", sagte Kozinds. Der Flur war leer. Der Strahl von Grauds' Taschenlampe prallte gegen die Wand. Die Tür auf der rechten Seite - sie führte in die Küche, aus der man in die Garage gelangte - war geschlossen, die Tür gegenüber aber stand offen. Grauds und Ulfs gingen darauf zu. Mitten im Zimmer lag ein hochgewachsener schwarzhaariger Mann. Grauds erkannte ihn nach dem Foto wieder: es war Hugo Langermanis. Seine offenen Augen waren glasig - hier kam jede Hilfe zu spät. „Der Junge heißt Hugo", flüsterte Kozinds. „Er hat mir hin und wieder Salpeter und Kalidünger gebracht." Dann wurde Kozinds ohnmächtig. Während Grauds ihn nach Hause brachte, entdeckten die anderen im Keller die Leichen von Ludvigs und Nelli Rimsa. Sie waren mit Rimsas Gewehr erschossen worden,
das jetzt neben der Treppe lag. In der Garage stand das Taxi mit der Nummer 86 - 37. Der Saporoshez fehlte. Beim Anblick des Taxis wich Grauds das Blut aus dem Gesicht. Sogar seine Lippen wurden blau. „Genosse Oberst, gestatten Sie, daß ich mich entferne!" sagte Grauds leise, aber deutlich. Ulfs warf ihm nur einen kurzen Blick zu und war sofort im Bilde. „Geh!"
20
Mit Hugo Langermanis ging es bergab. Während
er die Ebbe in seiner Kasse am ersten und zweiten Gehaltstag nach der Abreise des Vaters noch mit Humor trug, erkannte er am dritten Gehaltstag den Ernst seiner Lage. Er borgte sich von „Ratte" für den Kauf eines Wolgas achttausend Rubel -eine Summe, die er noch nie auf einem Haufen gesehen hatte. Er brachte das Geld nach Hause und zählte es nach - es waren alles Zehnrubelscheine. Immer wieder verzählte er sich — jedesmal fehlte entweder etwas, oder es war zuviel. Endlich kam er darauf, einzelne Häufchen zu je hundert Rubeln aufzuschichten, damit er nicht jedesmal von vorn anfangen mußte. Das Los, auf das ein Wolga gewonnen worden war, sollte siebeneinhalbtausend kosten, er aber hatte sich von „Ratte" eine runde Summe geben lassen, um seine allmählich angewachsenen Schulden bezahlen zu können. Sein Stiefvater würde sich trotzdem über den günstigen Kauf freuen, und Hugo beschloß, ihm von den fünfhundert gar nichts zu sagen - sie waren sein Anteil an dem Geschäft. Jedem anderen hätte der Vater das Doppelte zahlen müssen. Die Gauner
nahmen ihn auf eine ziemlich primitive Art aus. Sie veränderten in der in der Zeitung abgedruckten Gewinnliste einfach eine Nummer. Als Hugo mit dem Losverkäufer in die Sparkasse kam, die merkwürdigerweise direkt neben ihrem Treffpunkt lag, saß dort ein Mann am Tisch, der seine Losnummern verglich. Er hatte etwa ein Dutzend Lose in der Hand. „Haben Sie die Zeitung mit der Gewinnliste?" fragte ihn der Besitzer des Loses. „Ich bin gleich fertig", antwortete der Mann an dem Tisch. „Warten Sie einen Augenblick." Kurz darauf reichte er Hugo die Zeitung mit der geänderten Nummer. Hugo verglich die Losnummern, und sie stimmten beide überein. Im Treppenflur neben der Sparkasse übergab er dem Losbesitzer die sorgfältig gebündelten Scheine. Daß er hereingelegt worden war, erfuhr Hugo erst am Ende des Monats, als er das Los auf seinen Namen umschreiben lasen wollte, damit auch er das Recht hatte, den Wagen zu benutzen. Dem Stiefvater gegenüber wollte er sich damit herausreden, daß er nicht gewußt habe wann dieser zurückkehren würde, und daß er gefürchtet habe, die Gewinnauszahlung zu verpassen. „Diesmal hat das Glück Sie verlassen." Das schöne Mädchen in der zentralen Sparkasse schlug kokett die Augen mit den langen Wimpern zu ihm auf. Hugo erstarrte. Er klapperte mehrere Sparkassen ab, darunter auch die, neben der er das Los erstanden hatte. Die aus der Zeitung ausgeschnittenen Gewinnlisten lagen auf allen Tischen unter einer Glasplatte aus. Jetzt erinnerte sich Hugo, daß der Mann, der seine Losnummern
verglichen hatte, eine große Aktentasche neben sich auf dem Tisch liegen gehabt und damit wahrscheinlich die Gewinnliste verdeckt hatte. Mit großer Mühe gelang es Hugo, den Gauner wiederzufinden. „Du bist reingelegt worden, sagst du? Damit solltest du dich lieber nicht brüsten." „Ich gehe zur Miliz." „Den Weg kannst du dir sparen. Mir kann keiner was nachweisen. Dich aber würden sie fragen, woher du das viele Geld hast. Verstanden?" „Das habe ich mir geborgt." „Erzähl das denen und nicht mir! Mach's gut und sei das nächste Mal schlauer." Damit knallte er die Tür hinter sich zu. Auch „Ratte" konnte ihm nicht helfen. Er weigerte sich entschieden zu bestätigen, daß er Hugo das Geld geborgt hatte. Woher sollte ein Rentner soviel Geld haben? Hugo sollte ihn aus dem Spiel lassen. Am besten sei es, auf die Rückkehr des Vaters zu warten. Romualds Sasko aber gab kein Lebenszeichen von sich. Einerseits lag Hugo im Moment nicht allzuviel an einem Wiedersehen mit dem Vater - es war ihm peinlich, wie ein dummer Junge geprellt worden zu sein -, andererseits wartete er voller Ungeduld auf ihn. Noch nie hatte er so dringend Geld gebraucht. Früher, als er jeden Monat hundert Rubel geschickt bekam, hatte er über die Leute gelacht, die sich mühsam von Gehaltstag zu Gehaltstag quälten und mehr als alles in der Welt fürchteten, Schulden machen zu müssen, weil sich nur der etwas borgen kann, der weiß, daß er bald genug besitzen wird, um seine Schulden zu
bezahlen. Wer sich dagegen mühsam zur Decke strecken muß, wird nie genug besitzen und gewöhnt sich daran, mit den Mitteln auszukommen, die er hat. Nun aber mußte er selbst sparen: Er kaufte die Milch nicht mehr in Tüten, sondern in Flaschen, weil sie eine Kopeke weniger kostete, aß in der Kantine nur noch Suppe und kochte zu Hause. Anfangs glaubte er, daß das nur ein vorübergehender Zustand sei, daß der Vater bald zurückkehren und ihm unter die Arme greifen würde und er wieder wie im Schlaraffenland leben könnte. Inzwischen nahm er es dem Vater bereits übel, daß er so lange nichts von sich hören ließ, und bereitete sogar ein paar vernichtende Reden vor, in denen er soweit ging, ihn nicht mehr als seinen Vater anzuerkennen. Und er hatte allen Grund dazu: Es ging auf den Sommer zu, und er brauchte neue Schuhe, neue Hemden und Hosen. Ein Casanova kann nicht herumlaufen wie eine Vogelscheuche! Dann kam ein Brief: „Mein lieber Sohn! Gesundheitlich geht es mir im allgemeinen gut. Ich bin zu fünfzehn Jahren unter verschärften Haftbedingungen verurteilt worden und darf Dir nur einmal im Monat schreiben. Ich sehe Dich noch als kleinen Jungen vor mir. In der Schule hast du immer so schöne Aufsätze geschrieben. Schreib mir öfter, denn außer Dir habe ich niemanden mehr. Früher besaß ich wenigstens noch Ideen und Überzeugungen, Freude an der Arbeit und Zuversicht, nun aber ist mir nicht einmal mehr das geblieben. Alle haben mich verlassen wie Ratten das sinkende Schiff. Schreib mir, das ist meine einzige Bitte an Dich. Höchstens ein paar Bücher könntest Du mir noch schicken. Was macht das Studium? Wenn ich eine Besuchserlaubnis für Dich bekomme, schreibe ich
Dir. Wie gering ist doch der Abstand zwischen den beiden Polen - dem Pol des Reichtums und dem Pol der Armut!" Mit diesem Brief lief Hugo in seiner Verzweiflung zu „Ratte". Anscheinend erhoffte er sich von ihm Hilfe. Vor Wut über den Geldverlust begann der Besitzer der Spielhölle zu schreien: Sasko interessiere ihn nicht, er habe Hugo das Geld geborgt, besitze dessen Unterschrift und werde davon Gebrauch machen. Warum habe Hugo den Gauner damals nicht angezeigt? Jetzt sei es zu spät, sich zu beklagen. Er selbst habe Hugo davon abgeraten? Er wisse von nichts! Für „Ratte" war der Verlust seines Geldes eine Tragödie. Er besaß weder Kinder noch eine Familie und hatte außer seinem Geld nichts zu verlieren. Hugo schickte seinem Vater einen bitterbösen Brief und ein Bücherpaket. Auch von seinen Schulden bei „Ratte" berichtete er ihm. Der Vater, den das alles sehr betrübte, teilte Hugo mit, daß er zwar arm wie ein Bettler sei, seine Schulden aber gern übernehmen wolle, falls das juristisch machbar sei. Auf „Ratte" wirkte dieser Brief seltsamerweise beruhigend. „Wenn er sich einen Bettler nennt, dann muß er noch was auf der hohen Kante haben. Wer wirklich nichts hat, prahlt nicht mit seiner Armut. Nur
ein
Reicher
kann
sich
erlauben,
in
Lumpen
herumzulaufen. Wahre Armut aber verbirgt man wie einen Aussatz." „Ratte" wollte, daß juristisch alles beim alten blieb und Hugo seine Schuld bei ihm abarbeitete. Er beschaffte handgestrickte Damenpullover mit ausländischem Firmenzeichen, die Hugo bei den Kurgästen vorteilhaft absetzen konnte. Trotzdem kam er
nicht aus seinen Schulden heraus. Obendrein kriegte die Miliz die Schwarzarbeiter zu fassen, und die beiden mußten noch froh sein, daß sie ungeschoren davonkamen. Eines Tages ließ sich Hugo von „Ratte" Geld geben und fuhr nach Sauliai, um dort billige, aber sehr schicke Sommerschuhe einzukaufen. Er setzte die Partie Schuhe im Nu wieder ab, überließ „Ratte" den größeren Teil des Gewinns, legte sich einen schicken hellblauen Anzug zu und glaubte schon, über den Berg zu sein und bald einen eigenen Wagen fahren zu können. Die billigen Schuhe aus Sauliai hatten allerdings nur Pappsohlen und fielen beim ersten Regen auseinander. Die Kurgäste stürmten die Rettungsstation und rissen Hugo fast in Stücke. Er konnte noch froh sein, daß sie nicht zur Miliz liefen, mußte aber den Verlust ersetzen. „Aus dir wird nie ein Geschäftsmann", murrte „Ratte". Er war gezwungen, seinem Kompagnon einen finanziellen Rettungsring zuzuwerfen, um nicht zusammen mit ihm unterzugehen. „Gefräßig bist du, das steht fest, aber denken kannst du nicht! Ich hab dir doch gesagt, daß du die Schuhe nur an Leute verkaufen darfst, die gerade abreisen wollen. Du aber hast sie jedermann aufgeschwatzt, und ich zahle drauf! Warum muß ich immer die Dummheiten anderer ausbaden?" Kurz darauf ließ Hugo sich mit Schiebern ein, die in Hafenkneipen herumsaßen und mit englischen, deutschen, finnischen und schwedischen Brocken um sich warfen. Zwei Monate später verständigte er sich mit ihnen durch Klopfzeichen von Zelle zu Zelle und warf nachts Zettelchen für die Bewohner der unteren Etagen aus dem Fenster. Der Prozeß förderte immer neue Dinge zutage: Der eine hatte
Dollars aufgekauft, der andere Quecksilber verschoben, und ein dritter hatte mit Stereoschallplatten und Schweizer Uhren gehandelt. Hugo dagegen war vorläufig nur bis zur ersten Stufe gekommen, auf der man an ausländischen Zigaretten verdient. Im Vergleich zu den anderen war Hugo ein kleines Licht Das Gericht hielt ihn für einen zufällig Gestrauchelten, der keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als sein Studium zu beenden und sich dann aufs Neuland zu verpflichten. Er wurde zu genau der Frist verurteilt, die er in Untersuchungshaft abgesessen hatte. Im Gefängnis waren Hugo drei Dinge klar geworden. Erstens: Mit ehrlicher Arbeit kommt man auf keinen grünen Zweig. Deshalb muß er irgendwo unterkommen, wo er sich nicht überanstrengt und sich frei fühlen kann, das heißt, die Rettungsstation ist dafür der geeignete Ort. Zweitens: Schulden sind zwar nicht angenehm, müssen aber nicht unbedingt zurückgezahlt werden. Allzu sehr darf man „Ratte" natürlich nicht reizen, weshalb er ihn immer wieder mit Versprechungen abspeisen muß. Und drittens: Man muß sich sein Geld durch eine Methode beschaffen, für die es im Strafgesetzbuch keinen Paragraphen gibt.
Eine
dieser
Methoden
kannte
er
schon.
Die
Urlauberinnen hatten ihn darauf gebracht. Er mußte sich nur ein wenig umstellen und nicht die Schönsten aussuchen, sondern die Reichsten und nicht lächeln, wenn ihm danach zumute war, sondern wenn es sich lohnte. Reichtümer erwarb man dabei zwar auch nicht, aber man amüsierte sich gut und ging in den besten Restaurants ein und aus. Auch das war eine ganze Menge, wenn man bedachte, daß andere für dieses Vergnügen teuer bezahlten. Auf diese Weise konnte er sich in aller Ruhe nach der richtigen
Frau umsehen - einer Geschiedenen oder einer Witwe - und mit der Zeit einen Wagen und ein Grundstück sein eigen nennen. Das Aussehen dazu hatte er, und auf den Mund war, er auch nicht gefallen. Nur ein ordentlicher Anzug fehlte ihm noch. Von Sasko kam hin und wieder ein Brief, und Hugo antwortete ihm. Aber als der Vater eine Besuchserlaubnis für ihn erwirkte, fuhr Hugo doch nicht hin, obwohl er es anfangs vorgehabt hatte. Ihm lief nämlich ein Dämchen über den Weg, das aus dieser Gegend stammte und bereit war, den Ausflug zu finanzieren. Dann aber überlegte sie es sich plötzlich wieder anders. Alle „überlegten es sich wieder anders'' und schenkten ihm keine Anzüge, sondern Rasierapparate, Manschettenknöpfe und Krawatten. Die modernsten davon konnte er wenigstens verkaufen, aber leider besaßen
nicht
alle
Damen
einen
guten
Geschmack.
Manchmal kam er sich wie ein Schoßhündchen vor, das man mit bunten Schleifen schmückt. Ein widerliches Gefühl, aber einen Ausweg wußte er nicht. Es kam vor, daß er mit einer dick angemalten alten Schachtel im Restaurant oder im Cafe erlesenen Kognak trank und Delikatessen dazu aß, während am Nebentisch hübsche junge Mädchen, die ihm soviel hätten geben können, ihre letzten Kopeken aus dem Portemonnaie kramten, um ihren Kaffee bezahlen zu können, und lächelnd ihre strahlend weißen Zähne zeigten. Ach, das waren für ihn schlimme Augenblicke, in denen er sich am liebsten hemmungslos betrunken hätte. Daß ihm das nicht immer gelang, lag nur an der Wachsamkeit seiner Begleiterinnen. Seinem Stiefvater schrieb er, daß er krank sei und deshalb nicht kommen könne. Sasko glaubte ihm. Mit der Zeit aber schrieb
Hugo immer seltener und hörte schließlich ganz und gar auf, Saskos Briefe zu beantworten, worauf auch dieser beleidigt verstummte. Hugo fühlte sich nun frei, ihm fiel ein Stein vom Herzen, schließlich hätte er dem Stiefvater wenigstens ein paar Lebensmittel oder Geld schicken müssen. Aber woher nehmen? So schlief diese Beziehung ganz von selbst ein, und zurück blieben zwei gekränkte Menschen. Den einen grämte es, daß man seine Großzügigkeit nicht zu schätzen wußte, der andere war verstimmt, weil der väterliche Geldsegen neuerdings ausblieb und er immer tiefer sank. Es fehlte nicht viel, und er stürzte in einen Abgrund. Hin und wieder nahm Hugo sich vor, ein neues Leben zu beginnen, kam aber über den guten Vorsatz nicht hinaus. Wenn er in die Zeitung sah, wunderte es ihn, daß es anscheinend Menschen gab, die anders lebten und durch ihre Arbeit zu Ruhm und Ansehen gelangten. Auf der Rettungsstation erhielt Hugo auch eine Ehrenurkunde, aber war das denn eine Arbeit? Allerdings lockte ihn auch kein anderes Betätigungsfeld. Die einen erfüllten den Siebenjahrplan und widmeten sich dann mit Feuereifer den Aufgaben des Fünfjahrplans, Staatsmänner besuchten einander und schlossen Verträge, irgendwo wurde gestreikt. . . All das war Hugo fremd und unbegreiflich. Dafür wußte er genau, wie man einen Platz in „Juras Perle" bekam, wo man mitten in der Nacht eine Flasche Wodka auftreiben konnte und auf welchem Markt der Schnapsverkauf zuerst begann. Einmal ließ er sich überreden, beim Verladen gestohlener Baumstämme zu helfen. Die Schieber versprachen ihm dafür einen Batzen Geld. Hugo gab sein bestes und schnappte vor
Erschöpfung wie eine ans Ufer geworfene Plötze nach Luft. Abends, bei der Abrechnung, aber sagten sie zu ihm: „Nimm's uns nicht krumm, aber bleib morgen lieber zu Hause, sonst sind die anderen sauer. Köpfchen hast du ja, aber keinen Mumm in den Knochen." Und da tauchte eines schönen Tages im Frühling „Kater Wassja" bei ihm auf. „Bist du Hugo Langermanis?" "Ja." „Dein Alter schickt mich." „Wohl aus dem Himmel?" „Nein, ohne Witz. Wo können wir ungestört reden?" In Hugos Zimmer fuhr „Kater Wassja" fort: „Dein Alter hat den Löffel hingelegt, und ich war dabei. Vorher aber hat er mir noch was geflüstert." „So?" Hugo horchte auf und erinnerte sich an „Rattes" Worte darüber, daß Sasko noch einiges auf der hohen Kante haben „Zweitausend!" Wassja wurde direkt rot, als er diese Summe nannte. Er fürchtete schon, zuviel verlangt zu haben, und war bereit, auf die Hälfte herunterzugehen. In Hugos Wohnung verhandelten sie weiter. Hugo versprach Wassja für das Überbringen der Nachricht tausend Rubel und eine Rückfahrkarte, weil es Wassja in Riga nicht gefiel – die Leute liefen geschniegelt und gebügelt herum, und an jeder Ecke stand ein Milizionär. Nachts fuhren sie, mit einem Spaten bewaffnet, zu Saskos ehemaliger Datsche. Zum Glück waren die Sommergäste noch nicht da, die kamen erst Ende Mai heraus, und sie konnten ungestört die verstöpselte
Milchflasche ausgraben. In ihr steckten jedoch weder Geld noch Wertpapiere, sondern nur ein Brief, der obendrein in einer Sprache abgefaßt war, die Wassja nicht verstand.
Nur
das
Datum
könnte
er
entziffern:
„17.2.1961", weil der Monat mit einer arabischen Ziffer angegeben war. „Damit hab ich nichts zu schaffen!" sagte Wassja. „Rück die Moneten raus!" Wassja war sauer. Da hatte er einmal im Leben die Aussicht gehabt, zu was zu kommen, und nun war es damit wieder Essig. „Ich steche dir die Glubschen aus! Ich schlag dir die Fresse ein!" Und um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, fügte er hinzu: „Ich mach dich kalt!" Nachts, auf der Klappliege in Hugos Zimmer, knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Warum hatte er auf diesen klapprigen, vertrottelten
Alten
gehört
und
sich
in
dieses
gottverdammte Nest locken lassen? Einen Abschiedsgruß hätte er dem Sohn auch per Post schicken können! Dieser verrückte alte Kerl! Tagelang setzte „Kater Wassja" Hugo zu, konnte ihm aber alles in allem nur zweihundert Rubel abpressen. „Bezahl, was du mir schuldest, sonst leg ich dich um!" brüllte Wassja. „Ich hab doch kein Geld", antwortete Hugo betrübt und entkorkte eine Flasche. Wassja ließ sich vollaufen und legte sich schlafen, am nächsten Morgen aber ging es weiter. "Bezahl, was du mir
schuldest!" „Ich hab kein Geld." «„Du Grünschnabel! Ich steche dir die Glubschen aus! Ich schneide dir die Kehle durch! Erkennst du deine Schulden wenigstens an?" „Ich .. . Was hab ich ..." „Ich mach dich kalt!" „Ich erkenne sie ja an", sagte Hugo und holte tief Luft, wußte er doch genau, daß bei ihm nichts zu holen und daß diese Schuld nicht rechtskräftig war. Und selbst wenn das der Fall sein sollte, wäre es kein Unglück. Da käme nicht viel zusammen. Die Hauptsache, der wahre Inhalt des Briefes blieb Wassja verborgen. Hugo hatte bei der Übersetzung des lettischen Textes nämlich ins Blaue hinein phantasiert. Eines Tages fand er Wassja nicht mehr in seiner Wohnung vor. Der war verschwunden, und mit ihm alles, was nicht niet-und nagelfest gewesen war. Hugos erste Regung war, zur Miliz zu laufen, dann aber beruhigte er sich bei dem Gedanken, daß er Wassja nun für alle Zeiten los war. Bei der Miliz hätten sie garantiert wissen wollen, was es mit diesem Brief
auf
sich
hatte.
Dieser
„Brief
aber
war
ein
handgeschriebenes Dokument, das für sich genommen keinerlei Wert besaß, in das Hugo aber große Hoffnungen setzte.
21
Gleich am frühen Morgen hatte Kozinds das
Glück, Fahrgäste aufzutreiben, die nach Ventspils wollten. Es waren Seeleute, die ein Gläschen zuviel getrunken und den letzten Zug nach Ventspils verpaßt hatten. Nun fürchteten sie, daß
es ihnen mit ihrem Schiff ähnlich ergehen könnte, und sahen einen Haufen Ärger auf sich zukommen. „Fährst du uns nach Ventspils raus?" fragte einer der Seeleute, nachdem er den Wagenschlag geöffnet hatte. Anscheinend rechnete er nicht allzu sehr mit einer positiven Antwort. „Dreißig Rubel", sagte Kozinds. Das war nicht allzuviel, aber jetzt, im Februar, waren die Fahrgäste rar, und er wollte die Seeleute nicht vergraulen. Wenn/ sein Chef aus Moskau zurückkam, war ohnehin Schluß mit den Extratouren. Da mußte er jeden Morgen mit dem Wagen vor dem Ministerium stehen. Erfreut stiegen die Seeleute zu ihm ein. Sie lebten wieder auf und dachten bereits daran, unterwegs an einem kleinen Laden anzuhalten und sich etwas zu essen zu kaufen. „Dreißig Rubel nach neuer Rechnung", präzisierte Kozinds. „Klar, geht in Ordnung!" Die Seeleute wollten gleich zahlen. Sie kramten das Geld aus ihren Taschen, die voller alter und neuer Scheine steckten, und reichten es Kozinds. Der warf nur einen flüchtigen Blick darauf und legte es, ohne nachzuzählen, ins Handschuhfach, in dem der Stadtplan und die Zeitungen lagen. Davon kriegt Tereze ein Paar Schuhe, dachte Kozinds. Das Mädchen wächst und wächst! „In Kuba wird wieder gekämpft", sagte er. „Solange wir an Land sind, geht uns das nichts an. Halte an, wenn du ein Geschäft siehst!" Auf dem Rückweg nahm er ein paar Leute mit, die auf den Bus warteten. Sie zahlten zwar nicht mehr, als die Busfahrt gekostet hätte, füllten dafür aber den ganzen Wolga. Die Straße war glatt, und obendrein setzte
Schneetreiben ein. Ich mache lieber Schluß, sagte sich Kozinds: Eigentlich hatte er an jenem Tag frei. Und als der letzte Fahrgast ausgestiegen war, machte er kehrt, um zur Garage zurückzufahren. Da aber winkte schon wieder jemand, und Kozinds bremste aus Gewohnheit. „Wohin soll's denn gehen?" „Nach Lielupe." „Und was zahlst du?" „Wir werden uns schon einigen." „ Wieviel?" „Hundert." „Also zehn?" „Hundert in alten Scheinen." "Steig ein!" Während des ganzen Gesprächs hatte Kozinds es nicht für nötig gehalten, sich einmal umzudrehen und den Fahrgast anzusehen, der es sich im Wagenfond bequem gemacht hatte. Plötzlich erblickte er dessen Gesicht im Spiegel, „Genosse Sasko?" „Ich hab dich auch eben erst erkannt. Wie geht's?" „Ich arbeite jetzt im Ministerium. Als Sie damals . . ." Er stockte. „Sprich ruhig weiter! Als Sie damals verhaftet wurden ... Wir beide wissen doch Bescheid." „Mich haben sie damals auch immer wieder vorgeladen, aber ich hab nichts verraten. Alle haben sich gewundert, daß der persönliche Fahrer von nichts wußte. Er ist ja meist im eigenen Wagen gefahren, hab ich gesagt." „Ich hab deine Aussagen gelesen. Du hast dich gut gehalten. Ich
stehe in deiner Schuld." „Ein Chauffeur muß verschwiegen sein wie das Grab." „Genau." „Hat man Sie wieder freigelassen?" „Wie du siehst!" „Schon Arbeit gefunden?" „Vorläufig ruhe ich mich erst mal aus." Eines Morgens brach Romualds Sasko aus der Kolonie aus. Am Tor wurden die Häftlinge in einen speziell dafür präparierten geschlossenen
Wagen
verfrachtet.
Die
Rückwand
des
Wagenkastens bestand, damit Luft und Licht hereinkamen, aus einem eisernen Gitter, das gleichzeitig als Tür diente. Gleich neben dem Gitter saßen zwei Häftlinge, denen der Wind in die Ohren blies und die mehr als die anderen froren. Die Häftlinge wurden zur Arbeit auf Baustellen in verschiedenen Stadtteilen gebracht. Diese Baustellen waren mit Stacheldraht umzäunt, hinter dem ein schmaler, sorgfältig geharkter Pfad lag. Trotzdem konnte man von hier viel leichter fliehen als aus der Kolonie, was jedoch noch nie vorgekommen war, denn auf den Baustellen setzte man nur Leute ein, die noch nicht vorbestraft waren und eine geringe Haftstrafe abzubüßen hatten. „Jetzt im Winter wollen Sie auf eine Baustelle?" fragte der stellvertretende Leiter der Kolonie erstaunt, als Romualds Sasko sich mit der Bitte an ihn wandte, ihn aus der holzverarbeitenden Abteilung auf eine Baustelle in Ciekurkalns zu versetzen. „Wir haben erst Anfang Januar und die schlimmsten Fröste liegen noch vor uns.". „Der Frost macht mir nichts aus. Die sechste Brigade braucht
einen Klempner. Viel mehr ist da jetzt nicht zu tun. Ich brauche nur in der Werkstatt einiges für ein Gebäude vorzubereiten, für das gerade das Fundament gegossen wird." Der stellvertretende Leiter der Kolonie war ein junger Mann; aus Saskos Akte kannte er dessen Verdienste im Krieg und seine großen Arbeitstaten in der Nachkriegszeit. Er wußte auch, daß Sasko ein heruntergekommenes kleines Werk in einen der führenden Betriebe verwandelt hatte und empfand unwillkürlich Respekt vor ihm. Deshalb sagte er leicht verlegen: „Aber Sie haben noch fast vier Jahre vor sich." Wäre er mit den Aufgaben eines Klempners der sechsten Brigade so gut vertraut gewesen wie Sasko, hätte er vielleicht gezögert, ehe er auf den Antrag schrieb: „Ich habe keine Einwände." Vielleicht war die Sache auch zu verführerisch: „Ich habe keine Einwände" ist etwas ganz anderes als „Ich ordne an". Aber das Ergebnis ist das gleiche! Sasko dagegen hatte sich die Sache gründlich überlegt und war nicht zu dem unmittelbar für ihn Zuständigen gegangen, sondern gleich zu diesem Mann. An Flucht dachte er seit Ende Dezember. Er wußte, daß er keine Gelegenheit zu einem zweiten Fluchtversuch haben würde, und bereitete sich deshalb sorgfältig darauf vor. Die sechste Brigade hatte für einen Klempner keine Verwendung mehr gehabt, und deshalb war Saskos Vorgänger auf ein anderes Objekt versetzt worden. Dann aber stellte sich heraus, daß doch ein paar Arbeiten liegengeblieben waren und die Brigade nicht ohne einen Klempner auskam. Am Unangenehmsten war, daß das für die Entlohnung des Klempners vorgesehene Geld anderweitig ausgegeben worden war, umsonst aber wollte keiner arbeiten, und
befehlen konnte man so etwas niemandem. Der Bauleiter raufte sich die Haare. In der Kolonie rührte der Brigadier die Werbetrommel: „Diesen Monat arbeitest du ohne Lohn. Dafür schließen wir im nächsten Monat einen Vertrag mit einem Lazarett ab, und dann verdienst du dir eine goldene Nase. Da soll nämlich ein Teil des Dachs ausgewechselt werden, und du weißt ja, wie solche Reparaturen bezahlt werden!" Trotzdem ließ sich keiner breitschlagen. Der eine meinte, auf dem Dach sei es ihm zu kalt, ein anderer beschloß zu warten, bis das Geld da war. Sie wußten, daß die Brigadiere einem immer goldene Berge versprechen. Das gehört nun einmal zu ihren Aufgaben. Romualds Sasko aber stimmte zu. Als Klempner hatte er zwar nur in den weit zurückliegenden Jahren seiner Ausbildung gearbeitet, aber für einen fertigen Bau mochte sein Können ausreichen - da ergab sich ganz von selbst, was zu tun war. Der Vertrag mit dem Lazarett kam tatsächlich zustande - dort sollte eine alte Überdachung ausgebessert werden. So wurde Sasko eines Tages zusammen mit den anderen zu dem Objekt gebracht und von einem Soldaten mit einer MPi in Empfang genommen. Der Soldat war ein feiner Kerl, der bald ganz ohne die MPi auskam: Das Lazarett lag nur etwa zweihundert Meter von der Straße entfernt, und der Soldat fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, wenn die Passanten Sasko als Mörder und ihn als Gefängniswärter ansahen. Statt der MPi trug er lieber Saskos Werkzeugtasche. Das Lazarett befand sich in einem großen gelben Sechsgeschosser in der Form eines L, der von allen Seiten mit kleineren Bauwerken umgeben war. Das Lazarettgelände war mit Brettern umzäunt, und in der Pförtnerloge saß ein wachsamer
Posten, der die Tür selbst dann hinter sich verriegelte, wenn er nur einem Fahrzeug das Tor auf- oder zumachte. Der Soldat führte Sasko auf den Dachboden, von dem man aufs Dach gelangen konnte, und bezog draußen hinter der Tür Posten, wo er sich auf eine rote Kiste mit Löschsand setzte und las. Gegen eins brachte er Sasko zum Mittagessen auf die Baustelle und ging anschließend selbst essen. Inzwischen bewachte ein anderer Soldat die Bodentür. Da dies der einzige Zugang zum Dachboden war, kam der Soldat nie auf die Idee, aufs Dach zu steigen und nachzusehen, ob sein Schützling noch da war. Ein paar Tage später hörte Sasko, wie der Soldat die Bodentür abschloß. Also ging er weg. Etwa eine Stunde später kehrte er zurück und stellte hocherfreut fest, daß Sasko an Ort und Stelle war. Mit der Zeit wurden diese Ausflüge immer häufiger, und jedesmal blieb er länger weg. Natürlich gibt es angenehmere Beschäftigungen, als den ganzen Tag auf einer Kiste mit Löschsand zu hocken und zu lesen. Die häufige Abwesenheit des Postens brachte Sasko auf eine Idee. Während er darauf wartete, auf den Boden gelassen zu werden, sah er aufmerksam zu, wie die Bodentür aufgeschlossen wurde. Es handelte sich um ein einfaches Schloß, und die Anfertigung eines Nachschlüssels klappte beim ersten Versuch der Schlüssel paßte wie angegossen. Sasko konnte also jederzeit ins Treppenhaus gelangen. Um in den Besitz von Bargeld zu kommen, verkaufte er auf dem „schwarzen Markt" in der Kolonie seine Uhr. Geld bekamen die Häftlinge nicht in die Hand — ihr ganzer Verdienst wurde ans Geschäft überwiesen, wo jeder, ähnlich wie in der Sparkasse, eine Kreditkarte hatte. Hier konnten sie Lebensmittel erwerben und Zeitungen abonnieren
und erhielten den Rest bei der Entlassung ausgezahlt! Auf dem „schwarzen Markt" aber war Geld in Umlauf. Hier war sein Wert jedoch bedeutend höher als gewöhnlich, weil man Wodka und Kodeintabletten, mit denen sich mancher über Wasser hielt, nur gegen Bargeld bekam - solche Waren gelangten mitunter auf geheimen Wegen in die Kolonie. Sasko hatte genug Zeit, um seine Flucht vorzubereiten: Ihm standen zwei Monate zur Verfügung. Er fürchtete nur, daß sein Posten inzwischen abgelöst oder er selbst krank werden könnte. So schleppte
er
nach
und
nach
möglichst
unauffällige
Kleidungsstücke aus der Kolonie und versteckte sie auf dem Dachboden. Die Treppe glaubte er ungehindert überwinden zu können.
Schließlich waren in
einem Lazarett nicht alle
Menschen miteinander bekannt. Die Patienten kannten höchstens die Ärzte, die ihnen bei der Visite begegneten, und die Schwestern, die eine Wespentaille, sehr dichtes, langes Haar oder einen verführerischen Busen ihr eigen nannten. Die übrigen wurden gewöhnlich übersehen. Also war nicht einmal das Personal im ganzen Haus bekannt. Von den Patienten hatte Sasko nichts zu befürchten — nicht einmal von denen, die ihn einmal von nahem gesehen hatten und wußten, daß er aus der Kolonie kam. Niemand würde ihn anhalten, weil er fürchten müßte, sich zu blamieren und für alle Zeiten einen Spitznamen einzuhandeln, der ihm zeitlebens, wie weit er auch von hier wegfahren mochte, anhängen würde, weil nichts so schwer abzuschütteln ist wie ein Spitzname. Und Sasko war davon überzeugt, daß die Jungs, selbst wenn sie einen Verdacht hegten, kein Wort darüber verlieren würden. Gefährlich konnte es nur
werden, wenn jemand, der Verdacht geschöpft hatte, plötzlich seinem Posten begegnete und beschloß, ihn zu foppen. Natürlich würde er sich über Saskos Flucht etwas Phantastisches ausdenken und seine Geschichte mit den unglaublichsten Einzelheiten ausschmücken, und doch würde dabei die Wahrheit ans Licht kommen, und man sofort Alarm schlagen. Nach Saskos Berechnungen konnte das jedoch frühestens zehn Minuten nach seinem Verschwinden vom Lazarettgelände eintreten. Am schwierigsten war es, das Gelände zu verlassen. Der Zaun war ziemlich hoch, und am Postenhaus kam niemand ohne Passierschein vorbei. Natürlich konnte er sich einfach über den Zaun schwingen, aber das würde Verdacht erregen: Ein Lazarett ist immerhin ein militärisches Objekt, und militärische Objekte sind in der Vorstellung der Leute immer mit einem wichtigen Geheimnis verbunden. Beim Anblick eines Mannes, der sich über einen Werkzaun schwingt, sägt niemand einen Ton, weil die Gründe dafür auf der Hand liegen: Entweder kommt er zu spät zur Arbeit, oder er will in einem Laden Wodka beschaffen. Eilten Werkzaun braucht man nicht zu fürchten: Da leisten sie einem noch Hilfestellung. Und mit dem gleichen Verständnis kann ein Soldat rechnen, der in der Nähe einer Kaserne oder eines Lazaretts ertappt wird, weil jedermann klar ist, daß der Junge eine Freundin besuchen will. Jeder versteht ihn, drückt ihm die Daumen und wirft den Offizieren im stillen die übertrieben pedantische Einhaltung gewisser Dienstvorschriften vor. Jeder hat seinen Wehrdienst abgeleistet, jeder hat sich einmal eigenmächtig von der Truppe entfernt, um eine Freundin zu besuchen, und dafür einen Extradienst aufgebrummt
bekommen, es sei denn, er gehört zu jenen feigen Memmen, aus denen niemals echte Soldaten werden. Ganz anders sieht es bei einem Zivilisten aus, der über einen Lazarettzaun steigt. Da kann man beim besten Willen keinen Zusammenhang entdecken. Ein Mann in Zivil, der sich über einen Lazarettzaun schwingt, erweckt sofort Verdacht. Man nimmt seine Verfolgung auf, versucht andere Bürger in die Verfolgung einzubeziehen und hält nach Milizhelfern oder nach einem Milizionär Ausschau oder geht kurzerhand zum Postenhaus und informiert die Wache. Wer weiß, wie Sasko dieses Problem gelöst hätte, wenn ihm nicht eines Tages aufgefallen wäre, daß immer wieder wie zu einem Theaterbesuch herausgeputzte junge Mädchen am Lazarett defilierten. Die Soldaten sahen ihnen mit hungrigen Augen nach. Jedesmal ging eins der Fenster auf, ein paar Worte wurden gewechselt, das Mädchen ging weiter, und das Fenster wurde geschlossen. Sasko fiel auf, daß alle Mädchen in dieselbe Richtung gingen. Und kaum war das Mädchen außer Sicht geraten, da tauchte in der Lazarettür ein Soldat mit einem Mülleimer auf und schlenderte zum ehemaligen Pferdestall hinüber, hinter dem die Mülltonnen standen. Mitunter kehrte der Soldat erst nach ein oder zwei Stunden von dort zurück. Wahrscheinlich war hinter dem Pferdestall ein Loch im Zaun, und die Abfälle wurden nur zum Schein dorthin getragen. Niemand
braucht
zwei
Stunden,
um
einen
Mülleimer
auszukippen! Also mußte er sich beeilen, solange die Obrigkeit nichts von dem Loch wußte. Möglicherweise drückte sie auch einfach ein Auge zu. Sasko beschloß trotzdem, nicht länger zu
warten. Selbst wenn kein Loch im Zaun war, gab es für ihn keine geeignetere Stelle als die hinter dem Pferdestall; hier konnte er sogar riskieren, über den Zaun zu steigen. Diesen Teil der Stadt kannte er zwar kaum, wußte aber, an welche Straße der Zaun grenzte und welche Richtung er einschlagen mußte, um ein Taxi zu finden. An jenem Morgen war es sehr windig, und während Sasko am Tor der Kolonie auf seinen Abtransport wartete, legte er sich ein Alibi zurecht. Er würde die Bodentür aufschließen und ein paar alte Blechplatten die Treppe hinuntertragen, obwohl er sie gewöhnlich einfach vom Dach in einen extra dafür abgetrennten Hofwinkel warf. Wenn ihn jemand anhielt, bevor er die Mülltonnen erreichte, wollte er sagen, er habe nicht gewagt, die Bleche vom Dach zu werfen, weil sie bei dem starken Wind davonsegeln und ein Fenster hätten einschlagen können. Außerdem würde er Stein und Bein schwören, daß die Tür nicht verschlossen gewesen sei und er überhaupt nicht gewußt habe, daß sie sonst immer abgeschlossen wurde. Es kam nur darauf an, so überzeugend wie möglich den einfältigen Klempner zu spielen. Das konnte seine Rettung sein. Er hoffte, sich selbst dann noch rechtfertigen zu können, wenn man ihn dabei erwischte, wie er über den Zaun stieg, und daß es nicht nur nicht zu einer Gerichtsverhandlung käme, sondern nicht einmal in der Kolonie etwas davon bekannt werden würde. Der Chefarzt des Lazaretts war ein Oberst, der mehrere Kriege mitgemacht und an verschiedenen Fronten gekämpft hatte. Er würde es verstehen, wenn ein Mensch, den nur zwei Schritte von der Freiheit trennten, in Versuchung geriet. Den meisten Ärger bekäme wahrscheinlich der Soldat, der sich fünf oder
vielleicht auch zehn Tage lang in der Arrestanstalt mit einer dünnen Suppe begnügen mußte, weil der Oberst nicht verstehen würde, wie jemand seinen Posten verlassen konnte. Der Soldat war guter Dinge. Man hatte ihm im März, wenn in seinem Dorf das Pflügen begann, Urlaub in Aussicht gestellt. Ob Sasko jemals eine gepflügte Steppe gesehen hatte? Ja? Na, dann brauchte er ihm nichts zu erzählen. Nein, eine Braut wartete nicht auf ihn, er wollte sich noch nicht ins Ehejoch spannen lassen. Wenn er nicht die Wirtschaft seines Vaters übernehmen mußte, wollte er versuchen, an einer landwirtschaftlichen Fachschule unterzukommen. Schade, daß er mit dem Armeedienst solches Pech hatte — bei einem technischen Truppenteil kam man mit fünf Berufen nach Hause, hier aber blieb man, was man gewesen war. Auf dem Dachboden angelangt, zog Sasko sich sofort um. Den grauen Regenmantel verbarg er unter einer Wattejacke, die er später irgendwo fallen lassen würde. Er wechselte auch die Hosen, die sich farblich nicht allzusehr von seinem Arbeitsanzug unterschieden. Der Posten schloß die Tür ab, drückte probehalber noch einmal auf die Klinke, und schon hörte Sasko ihn die Treppe hinuntersteigen. Der Soldat, der im März die heimatliche Steppe nicht wiedersehen würde, tat ihm leid. Er war ein feiner Kerl! Schnell die Stiefel... die Mütze .. . die Handschuhe und darüber die Arbeitshandschuhe . . . den Schal. . . Jetzt kam es auf jede Minute, ja auf jede Sekunde an. Er mußte sich beeilen. Er nahm ein paar scharfkantige Blechplatten auf die Schulter, öffnete die Tür und horchte. Auf der Treppe war niemand,
aus einem langen Korridor ertönten Stimmen und das Klappern von Tellern - dort wurde das Frühstück ausgegeben. Sasko stieg die Stufen hinunter. Er nahm die Bleche auf die linke Schulter, so daß nur ein Entgegenkommender sein Gesicht sehen konnte, während es für die Leute in den seitlich abzweigenden Korridoren verborgen blieb. Kein Mensch war im Treppenhaus! Schon streckte er die Hand nach der Tür zum Hof aus, als diese Tür plötzlich aufging und eine Krankenschwester mit einem Eimer vor ihm stand. Bei Saskos Anblick stellte sie sofort den Eimer ab und hielt ihm die Tür auf. „Vielen Dank!" sagte er. „Bitte, bitte", antwortete die Schwester freundlich. Sasko ging langsam über den Hof und lehnte das Blech gegen die Wand des alten Pferdestalls. Dann nahm er die Bleche einzeln auf, drückte sie zusammen und stopfte sie in eine leere Mülltonne. Er wollte erst einmal sehen, wie die Lage im Hinterland war. Alles blieb still, nur in der vierten Etage sahen zwei Patienten aus einem Fenster. Es war Frühstückszeit. Sasko bog das nächste Blech um, trat an die letzte Tonne, blieb neben ihr stehen, lugte um die Hausecke und er blickte im verharschten Schnee einen Trampelpfad, wie ihn eine Wildschweinherde im tiefen Schnee hinterläßt. An der Oberfläche war der Schnee verharscht, so daß dort keine Spuren zurückblieben. Der Pfad führte zum Zaun, aber ein Loch war in ihm nicht zu erkennen. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als rüberzusteigen, dachte Sasko und ging, ohne sich umzusehen, auf den Zaun zu.
Wie sich herausstellte, brauchte er doch nicht über den Zaun zu klettern. Genau an der Stelle, wo der Pfad auf den Zaun stieß, hingen die Zaunlatten nur an einem Nagel, und man konnte sie wie
einen
Vorhang
beiseiteschieben.
Auf
der
anderen
Straßenseite, genau gegenüber dem Durchstieg, fegte ein Hausmeister den über Nacht gefallenen Schnee vom Bürgersteig. Sasko kniff die kurzsichtige Augen zusammen. Zurück konnte er nun nicht mehr, und er rief dem Hausmeister, während er durch den Zaun stieg, zu: „Gott helfe Ihnen, Meister!" Der Hausmeister richtete den Rücken gerade. „Mit euch Brüdern wird's noch mal ein schlimmes Ende nehmen. Eines Tages schnappen sie euch!" Sasko ging mit raschen Schritten die Straße hinunter. Eigentlich mußte er die Wattejacke ausziehen, durfte aber jetzt nicht stehenbleiben. Da überholte ihn ein Taxi und hielt ganz in der Nähe. Sasko überquerte die Straße und hörte hinter sich den Wagenschlag klappen. Fuhr das Taxi weiter, oder kehrte es um? Nein, die Motorengeräusche kamen näher. Sasko blieb stehen und hob die Hand. „Wohin?" „Zum Strand." „Der Strand reicht von Ainazi bis Kolka und von Kolka bis zum Leuchtturm, und dort ist er immer noch nicht zu Ende." „Nach Lielupe." „Da könnten Sie auch mit dem Vorortzug hinfahren!" brummte der Fahrer und schaltete das Taxameter ein. Anscheinend rechnete er nicht allzusehr mit einem Trinkgeld. Der Grund für Saskos Ausbruch war die Geldreform. Gemunkelt
hatte man davon schon, als er noch in Freiheit gewesen war. Irgendwer wollte bereits die Entwürfe für die neuen Geldscheine und Münzen gesehen haben. Bei den Münzen sollte es sich um Kopeken und um größere Werte handeln wie um ein, zwei, drei und fünf Rubel. 1958 waren angeblich schon einmal Muster hergestellt worden, die jetzt von einer kompetenten geheimen Jury begutachtet wurden. Die Münzen sollten aus einer KupferNickel-Legierung bestehen und auf der einen Seite das Staatswappen, auf der anderen dagegen die Wertangabe tragen. Romualds Sasko bekam diese Gerüchte von jemandem zu hören, der es verdient hätte, in den entlegensten nördlichen Gegenden Unmengen von Holz zu zersägen. Aber wie das so üblich ist, machte sich Sasko diesen glücklichen Umstand nicht zunutze. Vielleicht weil von einem Geldumtausch auch andere faselten, deren
Äußerungen
alles
andere
als
glaubwürdig
und
widersprüchlich waren. Nach ihrem stürmischen Aufflackern Verstummten die Gerüchte jedoch wieder. Aber in der Münze liefen die Vorbereitungen schon auf Hochtouren. Die Jury lehnte die Entwürfe für die Zwei-, Drei- und Fünfrubelmünzen ab, und von ihnen blieben nur die Muster erhalten - Objekt der Begierde für Numismatiker aus aller Welt. Die Einrubelmünzen dagegen wurden für gut befunden und 1961 unter die Leute gebracht. In den Jahren des Aufschwungs hatte Sasko von den Gewinnen des ihm anvertrauten Betriebes tüchtig abgesahnt. Als dann die Zeit der Abrechnung kam, büßte er so gut wie alles wieder ein. Man nahm ihm seine Wohnung und sein Guthaben bei der Sparkasse, seinen Wagen und seine Datsche. Das war zwar
unangenehm, minderte aber nicht die Schadenfreude, die er empfand, wenn er an jene Pechvögel dachte, die nun vergeblich nach seinen Verstecken suchten. Sie dachten in ausgefahrenen Gleisen, während Sasko originelle Ideen hatte. Er hatte sein Geld weder in der Badezimmerwand versenkt noch im Ofen eingemauert oder im Garten vergraben. Er war zu klug und nicht habgierig genug, um das Geld in Reichweite aufzubewahren und jeden Morgen nachzusehen, ob es noch da war. Aber jetzt traf ihn das Mißgeschick der Klugen. Mißlang seine Flucht, so verwandelten sich seine gesamten Ersparnisse am 31. März in einen Haufen Makulatur - in Gold hatte er so gut wie nichts angelegt -, und er käme fast so arm aus dem Gefängnis wie irgendein erbärmlicher Dieb, der Bettlaken von Dachböden und Eingemachtes aus Kellern stahl. Ich bin zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen, dachte Sasko und beschloß zu fliehen. Außerdem war es seine Pflicht, Hugos Zukunft zu sichern. „Halten Sie bitte hier an! Ich will mir einen Spaten kaufen!" „Noch so ein Fahrgast, und mein Plan ist im Eimer!" sagte der Fahrer ärgerlich. Er war überhaupt ziemlich brummig. Nur die obere Bodenschicht war gefroren, darunter befand sich trockener, lockerer Sand. Sasko zog den sandigen Koffer aus der Grube und wischte ihn sorgsam mit der Wattejacke ab. Wattejacke und Spaten warf er einen halben Kilometer von der Grube entfernt in den Wald, damit sich kein Freund von Bilderrätseln
einen Reim darauf machen konnte, und
schleppte seinen Koffer zur Bahnstation. Fast bereute er es schon, das Taxi weggeschickt zu haben, aber der Fahrer hatte ihm nicht gefallen. Es wäre zu verdächtig gewesen, mit einem
Spaten in den Wald zu gehen und mit einem großen Koffer zurückzukommen. Die weißen Sandkörnchen an den Kofferecken wären dem Fahrer bestimmt nicht entgangen. In Zasulauks stieg Sasko aus, weil ein entflohener Häftling nichts Dümmeres tun kann, als mitten durch Riga zu spazieren. Hier nahm er sich wieder ein Taxi und fuhr zu „Ratte". Noch nie hatte „Ratte" so vorteilhaft Gold verkaufen können. Er verscherbelte alles, was er besaß, und bedauerte, nicht mehr davon zu haben. Auch einen Eimer mit Silbermünzen bot er Sasko an, und der kaufte sie ihm ab. Trotzdem steckte in dem Koffer noch immer eine Menge Geld. „Ich lasse dir ein paar Tausender hier, damit du meinem Jungen jeden Monat Geld schicken kannst", sagte er. „Zehn Prozent für den Umtausch", erwiderte „Ratte" und ärgerte sich gleich darauf, nicht mehr verlangt zu haben. Von „Ratte" aus rief Sasko bei der Staatlichen Versicherung an und versuchte lange Zeit, einen Inspektor zu überreden, ihn selbst oder wenigstens Hugo gegen einen Unfall zu versichern. Aber der Inspektor blieb hart: Beim Abschluß einer Versicherung muß man unbedingt den Ausweis vorlegen. Sasko kämpfte gegen die Versuchung an, Hugo anzurufen. Was konnte er dem Jungen schon sagen? Sollte er ihm einen guten Tag wünschen? Oder ihm Geld geben? Nein, von einem „Guten Tag!" hätte der Junge ebensowenig gehabt wie von einer großen Geldsumme. Wenn das Geld aufgebraucht war - und das konnte bei Hugos Gutmütigkeit und Leichtsinn nicht lange dauern -, würde er es noch schmerzlicher vermissen und sich zu guter Letzt noch auf irgendwelche Dummheiten einlassen. Der Junge konnte
mit
Geld
nicht
umgehen, brauchte aber immer welches.
Mochte „Ratte" ihm lieber monatlich einen Hunderter schicken. Das würde es dem Jungen erlauben, ein annehmbares Leben zu führen, ohne daß er einen Grund hätte, übermütig zu werden. Mittlerweile war es halb zwölf geworden. Zum Mittagessen könnte ich zurück sein, dachte Sasko. „Bestell mir ein Taxi!" „Halt lieber auf der Straße eins an. Um die Zeit stößt du auf Schritt und Tritt auf ein freies Taxi", riet ihm „Ratte". Ein Taxi zu bestellen, hielt er für Verschwendung, die ihm selbst dann gegen den Strich ging, wenn es sich nicht um sein Geld handelte. Sasko aber sagte sich, daß „Ratte" seine Gründe haben mochte, ihm kein Taxi zu bestellen, fragte aber nicht, was für Gründe das waren. Draußen herrschte starkes Schneetreiben. Ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen, dafür tauchte vor ihm ein Pkw auf, und Sasko hob die Hand. Die Straße war glatt, weshalb Kozinds sehr vorsichtig manövrierte. Die Sicht war schlecht. Es fehlte noch, daß ihm irgendein Raser in die Seite fuhr. Vor diesen Burschen gab es keine Rettung! Sie rasten auf ihren Jawas, so schnell sie konnten kaum saßen sie drauf, da gaben sie Gas. Also wich man ihnen lieber aus. Fast ein Jahr lang war Kozinds Saskos Fahrer gewesen. Sasko konnte sich nicht mehr erinnern, wer ihm Kozinds empfohlen hatte, er wußte nur noch, mit welchen Worten das geschehen war. „Wenn du bei seinen Extratouren ein Auge zudrückst, kannst du dir keinen besseren Fahrer wünschen. Er ist weder übermäßig dumm noch übermäßig klug und versteht's, den Mund zu halten."
Sasko bat Kozinds, in einiger Entfernung von seinem Versteck zu warten. Er vergrub das Gold und die Silbermünzen und wollte schon das restliche Geld hinterherwerfen, als ihm eine Idee kam. Es handelte sich immerhin um etwa 10000 Rubel. Er schüttete die Grube wieder, zu, warf Zweige darüber und kehrte zu dem Wagen zurück. Kozinds las Zeitung. Das tat er immer, wenn er irgendwo warten mußte. „Fahren wir!" Sasko rückte mit seinem Anliegen nicht gleich heraus. Erst erkundigte er sich nach Kozinds Familie und nach seinen Töchtern, ergründete seine Stimmung und seine materielle Situation und fragte, was er täte, wenn er plötzlich das große Los zöge. Erst dann sagte er: „Ich könnte dir zehntausend Rubel geben." Kozinds starrte ihn verständnislos an. „Ich meine es ernst. Sie haben mich nämlich nicht entlassen, ich bin aus dem Gefängnis ausgebrochen und hab soeben beschlossen, dorthin zurückzukehren. Lieber noch fünf Jahre absitzen, als sich bis an sein Lebensende verstecken müssen!" Kozinds wurde kreidebleich und hielt an. „Ich hab das Geld hier." „Aber ich kann Ihnen doch keinen Schuldschein ausstellen." „Ich brauche keinen Schuldschein." „Sie vertrauen es mir so an?" „Weißt du, die Summe ist ein bißchen zu hoch, um einfach so ..." „Ich könnte das Geld wirklich gut gebrauchen. In Dorn wird gerade ein Haus zum Kauf angeboten. Das hat einer gebaut, der jetzt als Sowchosdirektor nach Valoja geht. Das Haus kostet achttausend in neuen Scheinen. Ein solider Bau. Ich würde
Gladiolen züchten und in fünf Jahren alles zurückzahlen. Na, spätestens in sechs Jahren. Das hab ich mir schon ausgerechnet," „Stell mir eine Quittung aus. Hast du ein Blatt Papier?" „Ich hab nur ein Heft." „Das geht auch. Nimm einen Schreiber, ich diktiere dir. Überschrift: ,Quittung'. Weiter .. . ,Ich, Name, Vorname, wohnhaft in Riga, in der und der Straße, bestätige hiermit, von Romualds Sasko 106000 Rubel für den Kauf eines Hauses einschließlich des Inventars erhalten zu haben.' Und jetzt paß auf: ,Mir ist bekannt, daß dieses Geld widerrechtlich von staatlichen Mitteln abgezweigt wurde. Mir ist auch bekannt, daß Romualds Sasko den staatlichen Organen das Vorhandensein dieses Geldes verschwiegen hat und es in Anbetracht der Tatsache, daß er zur Konfiskation seines gesamten Vermögens verurteilt worden ist, faktisch dem Staat gehört. Datum und Unterschrift.'" Sasko griff nach dem Koffer, der auf dem Rücksitz lag, und öffnete ihn. „Hier ist es. Ich nehme mir nur ein paar Zehner für den Weg. Es wird Zeit, daß wir uns trennen. Viel Glück beim Hauskauf!" „Auch Ihnen alles Gute!" Der Weg war so glatt, daß der Wolga nicht gleich anfuhr. Das war ein Glücksfall! Das Geld wäre rettungslos verloren gewesen, so aber bekam er es eines Tages zurück! Sasko blickte auf die Uhr. Es war zwölf Uhr zwanzig. Noch konnte er bis zum Mittagessen zurück sein. Seine ehemalige Datsche war nicht mehr weit. Er sputete sich. In einem Lebensmittelladen erstand er eine leere Einliterflasche. Einen Spaten hatte er nun allerdings nicht mehr. Er versuchte die
Erde mit einem Stück Brett aufzugraben, das aber bald zerbrach. Da er kein passendes Werkzeug finden konnte, grub er mit den Händen weiter, bis seine Nägel brachen und seine Finger schmerzten. Als er die Chaussee erreichte, waren es bis zum Mittagessen nur noch fünfzehn Minuten. Trotzdem hoffte er, unbemerkt durch die Zaunlücke schlüpfen und sich je nach den Umständen herausreden zu können. Er tastete nach dem Schlüssel in seiner Tasche. Ein herrliches Beweisstück! Da würde sich der Untersuchungsführer aber freuen! Und Sasko warf den Schlüssel in den Schnee. Er trieb ein freies Taxi auf, und der Fahrer raste wie der Teufel, weil Sasko ihm dafür seine ganze restliche Barschaft versprochen hatte. An der Zaunlücke, durch die die Soldaten aus dem Lazarett immer zu ihren Mädchen geflohen waren, standen zwei Milizionäre, die einen Diensthund an einer Segeltuchleine hielten. Zu spät! Sasko ließ sich direkt vors Tor der Kolonie fahren. Kurze Zeit darauf stand er im Zimmer des Leiters und sagte, er könne noch immer nicht begreifen, was ihn zu der Flucht getrieben habe. Die Bodentür sei offen gewesen, er habe ein paar alte Blechplatten hinuntergetragen und bei den Mülltonnen dann zufällig die Zaunlücke entdeckt. Danach habe er gehandelt wie im Schlaf. Er sei durch die Straßen gelaufen und habe seine Tat schon bald bereut. Deshalb sei er nun zurückgekehrt. „Da haben Sie sich was Schönes eingebrockt", sagte der Leiter ärgerlich. „Wären Sie eine Stunde eher gekommen, so hätten wir die Sache vielleicht nicht an die große Glocke zu hängen
brauchen." Niemand hätte geglaubt, daß man Sasko zu zwei Jahren verurteilen würde - das war die auf Flucht stehende Höchststrafe. Daß er freiwillig zurückgekehrt war, hielten alle, auch das Gericht, für einen mildernden Umstand. Trotzdem fiel das Urteil - zur Abschreckung für die anderen - hart aus.
22
An jenem Morgen fuhr Ulfs nicht mehr nach
Hause. Es lohnte sich nicht, für knapp zwei Stunden auf die andere Seite der Daugava hinüberzufahren. Genausogut konnte er auch in ein Cafe gehen oder sich im Laden ein paar Pasteten holen und in seinem Arbeitszimmer frühstücken. Bei diesem Gedanken glaubte er schon den angenehm bitteren Teegeschmack auf der Zunge zu spüren. „Halten Sie hier", sagte Ulfs zu dem Fahrer. Das Geschäft war voll, wie immer kurz nach der Öffnung. Von der Backwarenabteilung am anderen Ende des Geschäfts wehten verführerische Düfte herüber. Ursprünglich wollte Ulfs nur ein halbes Dutzend Pasteten nehmen, aber da sie noch ganz warm waren, ließ er sich eine ganze Tüte voll geben - Abnehmer fanden sich immer. Am Ministerium angelangt, sah Ulfs, daß ein Milizionär bereits die Kassiererin aus der Virsnavasstraße abgeholt hatte und der alte Nikolai Golubowski ärgerlich aus einem Wagen stieg. „Guten Morgen!" sagte Ulfs zu Golubowski und dachte bedauernd, daß die Pasteten nun kalt werden würden. „Guten Tag!" Golubowski reichte ihm seine sehnige Hand. Sie gingen
gemeinsam nach oben. Zwei alte Männer. Der eine schritt aus wie ein Seemann und dankte, mit seinen Gedanken bei den Pasteten, für die Grußworte, die man ihm zurief. Der andere, ein menschliches Wrack, watschelte wie eine Ente neben ihm her und bedachte all jene, die Ulfs grüßten, mit einem breiten Lächeln. „Wenn ich die Sache richtig sehe", säuselte Golubowski, nachdem sie Ulfs' Arbeitszimmer betreten hatten, „hat die Wahrheit mal wieder triumphiert." „Setzen Sie sich." Ulfs bot dem Zeugen einen Stuhl an. Gleichzeitig hörte er im Nebenzimmer ein Geräusch, und Juris Garancs trat ein. In der Hand hielt er einen Bügel, auf dem ein hellbrauner Regenmantel im Raglanschnitt hing. Garancs hielt den Mantel hoch und drehte ihn hin und her: So begutachtet rnan ein Kleidungsstück an einem Marktstand oder in der chemischen Reinigung, wenn man kleine Flecken an ihm entdecken will. Garancs zeigte Golubowski die Rückseite des Mantels. „Erkennen Sie ihn wieder?" fragte Ulfs. Golubowski zuckte die Achseln, kratzte sich an der Schläfe und schob die Unterlippe vor. „Weiß der Teufel. .. Vielleicht. . . Einen ähnlichen Mantel hat der Mann bei dem Überfall getragen. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen! Da müßte ich mir schon absolut sicher sein. Um aber absolut sicher sein zu können . . ." „Danke, Juris!" „Um absolut sicher sein zu können . . ." „Auch Ihnen danke ich." Garancs schaffte den Mantel hinaus. Sie hatten ihn im oberen Stockwerk von Rimsas Haus neben den
Geldsäcken auf der Couch gefunden. Auch Ein-, Drei-und Fünfrubelscheine hatten dort herumgelegen — mit ihnen hatten sich die Verbrecher offenbar nicht abgeben wollen. Außerdem schienen sie in großer Eile gewesen zu sein, denn ein Geldsack mit fast dreitausend Rubeln lag noch unberührt auf der Couch. „Sehen Sie her!" Ulfs bat Golubowski, näher an den Schreibtisch zu treten. Dort hatte er eine ganze Reihe von Fotos ausgebreitet, auf denen verschiedene Männer, darunter auch Hugo, abgebildet waren. Ulfs knipste die Tischlampe an, damit Golubowski besser sehen konnte. „Ähnelt einer dieser Leute dem Mann, der in das Geschäft gekommen ist?" „Damals?" „Ja." Golubowski setzte die Brille auf und legte das Gesicht in Falten. Er konzentrierte sich und tat so, als wäre er sich der Wichtigkeit der ihm anvertrauten Aufgabe voll bewußt und der Sache wegen zu jedem Opfer bereit. Golubowski sah sich jedes Foto ein paarmal an und sagte mit Nachdruck: „Nein, er ist nicht dabei. Den Kassenboten hat der Uhrmacher Dursis überfallen. Das habe ich schon ausgesagt." „Und Sie bleiben dabei?" „Ich bleibe dabei, daß der Bürger Dursis oder jemand, der ihm täuschend ähnlich sieht, den Kassenboten überfallen hat." Ulfs nahm Hugos Foto beiseite und schob die übrigen mit langsamen, ja beinahe schläfrigen Bewegungen zusammen. So versuchte er, Zeit zu gewinnen. Dabei achtete er unauffällig, aber scharf auf Golubowskis Reaktion.
„War es nicht dieser Mann? Bitte, sehen Sie sich das Foto noch einmal genau an!" Golubowski hielt sich Hugos Foto dicht vor die Nase und rückte noch näher an die Lampe heran. „Nein. Den hier sehe ich zum erstenmal." „Das Foto ist ein oder zwei Jahre alt. Ich hab noch ein neueres, aber . . ." Er ließ den Satz absichtlich unbeendet, um Golubowski Gelegenheit zu geben, zu ihm zu sagen: „Zeigen Sie's mir!" Nun breitete Ulfs geschickt die Fotos auf dem Tisch aus, die nach Hugos Tod entstanden waren. Auf ihnen lag Hugo in Rimsas großem Zimmer auf dem Teppich. Es sah aus, als drückten ihn die schweren Ornamente des Teppichs und als habe er den Mund geöffnet, um sich darüber zu beklagen. In Golubowskis Gesicht zuckte kein Muskel, aber seine Hände begannen verräterisch zu zittern. „Er war nicht allein in diesem Haus. Es gab dort noch mehr Leichen", ließ Ulfs wie nebenbei fallen. Golubowskis Hände hörten auf zu zittern. Vielleicht war das Zittern nur eine Reaktion auf die schrecklichen Fotos gewesen? Schließlich war Golubowski weder Mediziner noch Jurist, die sich mit der Zeit an solche Bilder gewöhnen. „Furchtbar!" „Kennen Sie ihn nicht?" Golubowski schüttelte den Kopf. Er schien über etwas nachzudenken. Ulfs unterschrieb Golubowskis Passierschein und sagte: „Auf Wiedersehen!"
Golubowski fuhr zusammen, als hätte man ihn plötzlich aus dem Schlaf gerissen, nahm den Passierschein, verbeugte sich und ging rasch hinaus. Ulfs knetete eine Zigarette, um ihr eine runde Form zu geben. Die Zigarette zerbrach jedoch, und er warf sie in den Papierkorb. Wer war dieser Golubowski? Und warum log er? Golubowski . . . Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor. Im Zusammenhang mit ihm schien ihm jeden Augenblick etwas Wichtiges einfallen zu wollen, das ihm aber immer wieder entglitt, bevor er es fassen konnte. Wer war Golubowski? Das mußte er noch heute herausfinden. Juris Garancs berichtete, daß die Kassiererin aus dem Textilgeschäft den Mantel sofort wieder erkannt hatte. „Das ist genau derselbe", sagte sie. „Der
gleiche",
berichtigte
Garancs.
„Raglan,
Größe
zweiundfünfzig, Strich vier. Stimmt's?" „Haargenau." „Ich arbeite schließlich lange genug im Handel." Mit Hugos Fotos aber hatte sie nichts anfangen können: Das Gesicht des Verbrechers hatte sie nicht gesehen. „Möchtest du Tee mit Pasteten? Als ich sie kaufte, waren sie noch warm." „Später", erwiderte Garancs. „Soll ich der Kassiererin die Fotos auch vorlegen? Diese hier, die neuen?" „Wozu?" „Ja, ich glaube auch, daß das überflüssig ist. Dann lasse ich sie jetzt gehen." „Hat Alvis noch nicht angerufen?" „Nein."
„Na schön. Ich komme hier allein zurecht. Geh nur, aber sieh zu, daß du um elf zurück bist. Und laß dir was Kluges einfallen, damit wir auf der Beratung nicht wie die begossenen Pudel dasitzen. Die Sache ist so verzwickt, daß man sich am liebsten einen Strick nehmen möchte. Was ist mit Langermanis' Quartiergast? Hast du das inzwischen geklärt?" „Das war ,Kater Wassja'. Er sitzt schon wieder ein. Hat ein Fahrrad geklaut." „Wo sitzt er ein?" „Vorläufig noch in U-Haft. Er kommt bald vors Gericht. Den knöpfe ich mir vor, sobald ich eine freie Minute hab." „Na, dann geh. Worauf wartest du noch? Die Zeit drängt." Der Ärger mit Alvis Grauds hatte ihm gerade noch gefehlt. Aber da war nichts zu machen. Punkt zehn ging die Tür zu Ulfs' Arbeitszimmer auf, und an der Schwelle stand Alvis Grauds. Er war sorgfältig gekleidet und frisiert, und seine Miene verriet Entschlossenheit. Wenn man seinen Dickschädel in Betracht zog, verhieß das nichts Gutes. „Gestatten Sie einzutreten, Genosse Oberst?" „Treten Sie näher, Genosse Hauptmann", konterte Ulfs, weil ein so offizieller Ton sonst zwischen ihnen nicht üblich war. „Ich befehle Ihnen, den Antrag, den Sie in der Tasche haben, in den Papierkorb zu werfen!" Nein, auch das half nicht. Mit hölzernen Schritten, straff wie eine gespannte Saite, trat Grauds in Ulfs' Arbeitszimmer. „Ich habe einen dienstlichen Auftrag nachlässig ausgeführt, und das . . . Ich bin bereit, dafür in die Arrestanstalt zu gehen."
"Du kriegst einen strengen Verweis mit einer Verwarnung!" fuhr Ulfs ihn an. „Auf der Versammlung kannst du deine Fehler analysieren." „Nein, ich bitte Sie, mich in die Arrestanstalt zu schicken!" „Das werde ich auch tun! Da kannst du dich ausruhen, wenn wir den Fall gelöst haben!" „Ich bitte Sie . . ." „Zum Teufel! Nun stell dich doch nicht so an! Was ist schon groß passiert? Du hast dich auf eine telefonische Auskunft verlassen und dir Rimsas Garage nicht mit eigenen Augen angesehen. Aber dazu hattest du auch gar kein Recht! Nelli Rimsa hätte dich einfach zum Teufel schicken können! Schließlich bist du kein Feuerwehrmann, der seine Nase überall hineinstecken darf. Du bist Kriminalinspektor und brauchst für sowas einen Durchsuchungsbefehl. Den Verweis kriegst du, weil du's nicht geschafft hast, deine Nase ohne Durchsuchungsbefehl in die Garage zu stecken." „Wenn ich sie gebeten hätte, mir die Garage zu zeigen, hätte sie's bestimmt getan." „Ja, einverstanden. Wenn der Saporoshez noch dringestanden hätte und das Taxi noch nicht wieder aufgetaucht wäre. Andernfalls hätte sie einen Durchsuchungsbefehl verlangt." „Wenn nicht die Toten wären . . ." „Dann hättest du keinen Arrest beantragt?'' „Nein." „Du willst dich ja bloß vor der Versammlung drücken. Dem neunmalklugen Grauds fällt's schwer, mit einer Selbstkritik aufzutreten. Glaubst 'du wirklich, die Arrestanstalt könnte dich vor den Folgen deines Fehlers bewahren? Auch die Versammlung
wird das nicht tun. So was gibt's gar nicht. Willst du ein paar Pasteten? Als ich sie kaufte, waren sie noch warm." „Nein, danke." „Wer soll sie denn sonst essen? Ich kann doch nicht die ganze Portion allein verdrücken! Hast du übrigens eine Vorstellung von dem, was sich in Rimsas Haus abgespielt hat?" „Da hat einer abkassiert." „Einer oder zwei? Vielleicht auch drei? Vielleicht. . . Nun setz dich doch endlich! Ich hab mir alle möglichen Varianten durch den Kopf gehen lassen - es ist zum Verrücktwerden!" fuhr Ulfs fort. „Wenn es zwei waren und wir den einen Unbekannten als x bezeichnen, sind verschiedene Kombinationen möglich: x + Rimsa. x + Hugo. Hugo + Rimsa. Nur Nelli ist unverdächtig, weil Tereze gesehen hat, wie sie hinter dem Taxi das Tor zugemacht hat. Sie hat Rimsa auch nach Hause kommen sehen, nur weiß sie nicht, wer später mit dem Taxi weggefahren ist. Keiner hat den Mann gesehen, der am Lenkrad des Taxis saß!" „Vielleicht sollten wir am anderen Ende anfangen. Bei der Schießerei. Ich war gegen halb acht in Doni und hab mit Nelli Rimsa gesprochen. Da befanden sich noch alle Gewehre im Schrank. Leider ist Tereze gleich nach meiner Abfahrt zum Karneval gegangen, sonst hätte sie noch die Schüsse gehört. Die anderen Nachbarn brauchen überhaupt nichts gehört zu haben, weil die Schüsse im Keller fielen. Bei Kozinds war keiner zu Hause: Terezes Schwester und ihre Mutter waren im Dienst, und der Hausherr hatte in der Stadt zu tun. Er kam um neun Uhr abends zurück und hat keine Schüsse mehr gehört. Also fand das Gemetzel zwischen halb acht und neun Uhr abends statt."
„Falsch! Die Nachbarn haben Schüsse gehört. Einen Schuß. Einen einzigen - gegen dreiundzwanzig Uhr. Allerdings hatte niemand den Eindruck, daß das wirklich ein Schuß war. Kozinds sagte: ,Ich hab etwas wie ein Händeklatschen gehört, konnte mir aber nicht erklären, was das war.' Ein anderer Nachbar dachte, die Kinder hätten eine selbstgebastelte Rakete abgefeuert. Na, willst du immer noch desertieren?" „Jawohl." „Um so schlimmer für dich. Du wirst's dir doch anders überlegen müssen. Juris ist nach Ogre gefahren, weil Rimsas Saporoshez gestern im Wald an der Straße zwischen Suntazi und Ogre gefunden wurde. Waldarbeiter hatten ihn schon morgens entdeckt, aber geglaubt, daß er Pilz- oder Beerensammlern gehört. Der Wagen wurde in der Nacht, bevor wir uns auf die Suche machten, dorthin gebracht." „Also ist der Gauner längst über alle Berge." „Leider!" Ulfs legte die Tüte mit den Pasteten auf den Tisch. „Hier, iß! Warum sollen sie verderben?" „Ich hole Wasser." Grauds griff nach dem Kessel. Grauds plagten Zweifel. Sah dieses Gerede über die Arrestanstalt nicht wie reine Ziererei aus? Nachts War ihm die Arrestanstalt wie eine verdiente Strafe und der einzig annehmbare Ausweg aus einer schwierigen Situation vorgekommen, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte. Jetzt aber neigte er dazu, das Ganze als kindische Angeberei anzusehen. Ulfs warf einen Blick in den Korridor. War auch niemand vom Brandschutz in der Nähe? Es war kein Mensch zu sehen. Er schaltete den Elektrokocher ein. Wenn ihn einmal einer vom Brandschutz erwischte, ging es
ihm an den Kragen. Da läutete das Telefon. Der Wachhabende vom Einlaß rief an. „Oberst Ulfs? Genosse Oberst, hier ist ein gewisser Nikolai Golubowski. Er will eine neue Aussage machen." „Wie sieht er aus?" „Ganz normal." „Ist er aufgeregt?" „Schwer zu sagen. Sein Gesicht ist starr wie eine Maske. Er verlangt, sofort zu Ihnen gebracht zu werden." „Gut, schicken Sie ihn rauf!" Die Tüte mit den Pasteten wanderte in den Tischkasten zurück. Golubowski . . .
23
Zu der Begegnung kam es an einem Sonntag.
Kozinds hatte gerade seinen Rundgang durch den Garten beendet, Wasser in den Tank gepumpt und die Beregnungsanlage eingeschaltet - für Blumen gab es nichts Besseres als einen kräftigen Guß am frühen Morgen. Dann hatte er die Treibhausdächer geöffnet, weil der Tag heiß zu werden versprach. Das würde den Tomatenpflänzchen gut tun. Auch die Blüten an den roten Johannisbeeren hatte er sich angesehen; in den Sträuchern summten schon die Bienen. Kozinds beschloß, sich ein paar Bienenstöcke zuzulegen: Dann hätten sie eigenen Honig, und auch für den Garten waren Bienen gut. Er hatte alles erledigt, was nötig war, und wollte gerade in die Küche gehen, um zu frühstücken, als er Hugo Langermanis hereinkommen sah.
Natürlich erkannten die beiden einander nicht wieder, weil seit ihrer letzten Begegnung eine Menge Zeit vergangen war. Kozinds musterte Hugo feindselig. Dieser abgewrackte Don Juan wollte sich wahrscheinlich für zwanzig Rubel einen Ferienplatz erbetteln. Typen wie der verschwanden morgens und fanden erst in der Nacht wieder nach Hause. Hier schlichen sie gebückt umher, am Strand aber wölbten sie die Brust vor und stolzierten wie die Gockel in roten Badehosen umher. Was die Frauen bloß an solchen Typen fanden? Zu guter Letzt fielen sie irgendeiner alten Schachtel in die Hände, die schon den dritten Mann unter die Erde gebracht hatte. Die hatte dann jemand, den sie am Sonntag auf Hochglanz bringen und an der Leine ausführen konnte. Nein, deine zwei Scheine kannst du dir an den Hut stecken. Einen wie dich würde ich nicht mal für zweihundert, dreihundert oder fünfhundert ins Haus nehmen. Mach, daß du wegkommst, und zertrample mir nicht den Rasen! „Bin ich hier richtig bei Kozinds?" fragte Hugo schüchtern. „Der Name steht doch draußen an der Tür!" Den hat sicher jemand zu mir geschickt, aber das ist mir egal! Soll der, der ihn hergeschickt hat, sich selbst ein Haus bauen und an Sommergäste vermieten. „Sind Sie's selbst?" „Ja. Was wollen Sie von mir?" „Haben Sie früher mal in der Kristapastraße gewohnt?" „Wer schickt
Sie? Etwa dieser vermaledeite Viktorovs?
Der..." „Ich muß Sie unter vier Augen sprechen." Hugo ließ Kozinds nicht ausreden. „Meinetwegen." Kozinds führte Hugo hinters Haus, wo unter
Kirschbäumen ein paar Korbstühle standen. Der will mir irgendwas andrehen, dachte Kozinds. Hugo reichte Kozinds eine große Fotokopie, wandte sich ab und betrachtete so angelegentlich den Garten, als hätte er noch nie ein Frühbeet, ein Treibhaus oder einen Gladiolenschößling gesehen. Seit Kozinds damals jene Quittung unterschrieben hatte, war er ein ganz anderer Mensch geworden. Ein Engel war er zwar nie gewesen, aber es wäre ihm auch nicht in den Sinn gekommen, jemandem an die Gurgel zu gehen. Er erstand für Saskos Geld ein halbfertiges Haus, baute es zu Ende und kaufte sich einen Gebrauchtwagen. Er hatte gehört, daß man mit der Gladiolenzucht eine Menge Geld verdienen könne. Erst einmal aber brauchte er gute Zwiebeln. Die Kozinds schnallten den Gürtel enger, weil Saskos Geld bald zu Ende ging. Nicht einmal neue Sommerkleider konnten sie ihren Töchtern kaufen. Das ganze Jahr liefen, die Mädchen in ausgetretenen Schuhen umher. Auch Kozinds Frau war eigentlich noch zu jung, um sich mit einem einzigen Rock zu begnügen und in jeder freien Minute in der Erde zu wühlen. Wie man in klugen Büchern lesen konnte, war alles ganz einfach: Man brauchte die Zwiebeln nur in den Boden zu stecken, die Blütenschäfte abzuschneiden, und schon war man ein gemachter Mann. Die viele Arbeit hatten sie einkalkuliert, aber das Geld blieb aus. Dabei würden sie eines Tages ihre Schulden zurückzahlen müssen. Sasko hatte ihnen die Möglichkeit gegeben, zu Wohlstand zu gelangen, und sie mußten diese Chance nutzen. Wenn andere Kinder Exkursionen mitmachten, wühlten Kozinds Mädchen im Garten, wenn die Nachbarskinder
neue Kleider bekamen, wurden für Kozinds Mädchen alte Sachen umgearbeitet. Keiner ihrer Mitschüler hatte so wohlhabende Eltern wie sie, aber in Wirklichkeit waren Kozinds Töchter übler dran als alle anderen. Haus und Garten verschlangen ihr ganzes Geld und ihre ganze Kraft. „Warum leben wir nicht wie alle?" fragte Kozinds Frau einmal. „Sei still!" Die Frau brach in Tränen aus. „Noch einen Sommer, und wir haben's geschafft. Schließlich mußten wir erst Erfahrungen sammeln." Kozinds blieb unnachgiebig. Im Winter aber wurde die Hälfte der Zwiebeln von einem Pilz befallen. Als Romualds Sasko 1967 bei Kozinds auftauchte, gab dieser ihm vor Schreck die fünfhundert Rubel, die er für den Kauf neuer Zwiebeln und Setzlinge zurückgelegt hatte. Saskos Besuch überrumpelte ihn so, daß er nicht mehr klar denken konnte. Spätabends klopfte es an seiner Tür. Kozinds hatte gerade den Fernseher ausgeschaltet, weil die Ansagerin allen freundlich eine gute Nacht gewünscht hatte. Er hatte bereits seinen Pyjama angezogen und sich eine letzte Zigarette angesteckt, als jemand an die Tür klopfte. „Wer ist da?" fragte er in einem Ton, der keinen Hehl daraus machte, daß morgen auch noch ein Tag war und er den Gast lieber ein andermal empfangen hätte. „Mach auf, Kozinds!" Achselzuckend - die Stimme sagte ihm nichts - öffnete er die Tür und sah Sasko vor sich stehen. Ihm rutschte das Herz in die Hosen. Später hätte er nicht mehr sagen können, wie sie in die Küche
gelangt waren. „Ich will mein Geld wiederhaben. Ich hab dir zwei Jahre länger Zeit gelassen als vereinbart, ohne dir Zinsen dafür zu berechnen." „Soviel hab ich nicht im Haus! Ich geb dir alles, was ich da hab!" Er verschwand für einen Augenblick im Zimmer und kehrte mit fünfhundert Rubeln zurück. In der Aufregung hatte er sogar noch das Wirtschaftsgeld gegriffen, so daß es noch ein paar Zehner mehr waren. „Warum hast du dich nicht angemeldet? Dann hätte ich was flüssig gemacht", schwindelte er, „Ich hab das Geld gut angelegt." „Reicht dir eine Woche?" „Ich will's versuchen." „Na gut, ich gebe dir zwei Wochen. Aber jetzt muß ich weg, das Taxi wartet. Auf Wiedersehen, Kozinds." Kozinds' erster Gedanke war, den Saporoshez zu verkaufen. So konnte er Sasko zwei Wochen oder sogar einen Monat lang hinhalten. Aber was dann? Soll ich das Haus verkaufen? fragte er sich. Aber ich hab doch keine andere Wohnung. Oder nur einen Teil des Hauses? Aber halbe Häuser sind nicht sehr begehrt. Ein paar tausend Rubel Schulden würde er trotz allem behalten. Jetzt konnte er sich nicht mehr auf die gewohnte Art und Weise beruhigen: Es wird schon irgendwie gehen, vielleicht lächelt dir eines Tages das Glück. Warum hatte er sich nur mit Sasko eingelassen? Inzwischen hätten sie längst eine neue Wohnung bekommen und würden leben wie alle normalen Leute. Hätte ihm jetzt jemand angeboten, in seine alte kleine Wohnung zurückzukehren, so wäre er wahrscheinlich darauf eingegangen - so sehr belastete ihn dieses Haus. Er konnte das Geld beim besten Willen nicht
aufbringen. Eines Tages aber kam ihm eine Erleuchtung: Er brauchte überhaupt nichts zurückzuzahlen. Sasko hatte einen Fehler gemacht. Wenn er die Quittung bei der Staatsanwaltschaft vorlegte, würde man Kozinds natürlich den Prozeß machen, Haus und Wagen beschlagnahmen und ihn selbst möglicherweise für ein Jahr einsperren. Was aber hatte Sasko in diesem Fall zu erwarten? Oho! Nein, der würde mit diesem Stück Papier nirgendwohin gehen! Damit würde er ja zugeben, daß er nicht nur die Kleinigkeiten veruntreut hatte, deretwegen er verurteilt worden war. 10000 rochen schon nach Blei und Pulver. Nein, Sasko würde nirgendwohin gehen! So dumm war er nicht. Eine Zeitlang plagten Kozinds noch Gewissensbisse — schließlich hatte er sich Geld geborgt und versprochen, es zurückzugeben. Selbst einem eingefleischten Gauner ist es unangenehm, wortbrüchig zu werden, es sei denn, er war speziell auf Dummenfang aus. Bald aber fing Kozinds an, nach einer Rechtfertigung für sich zu suchen. Und wer sucht, der findet mitunter sogar etwas, was er noch gar nicht vermißt hat. Da hatte dieser Sasko in seinem Werk gestohlen, was nicht niet-und nagelfest war, und ihm nichts davon abgegeben! Mochte er nun für seine Habgier büßen! So siegte zu guter Letzt die Gerechtigkeit, und er bekam seinen Anteil! Die Rechnung mit seinem Gewissen war damit beglichen. Nun mußte er nur noch mit Sasko ins reine kommen. Und er beschloß, die, Sache so beizulegen, wie dies zwei Chicagoer Gangsterbosse getan hatten: „Du hast einen Fehler gemacht, Joe! Ich hab gesiegt!" „Hol's der Teufel, Mike! Du hast recht, ich hab einen Fehler
gemacht! Barman, zwei doppelte Whisky!" Ich werde ihm alles ganz ruhig erklären, dachte Kozinds und ärgerte sich bereits darüber, Sasko diese fünfhundert Rubel in den Rachen geworfen zu haben, die er im Frühling für den Garten brauchen würde. Sasko aber ließ sich nicht mehr blicken. Erst Jahre später erfuhr Kozinds, daß Sasko im Kaukasus als Schieber verurteilt worden und im Gefängnis gestorben war. Und er seufzte erleichtert auf, ja er empfand sogar so etwas wie Mitleid. . . . Der Wind raschelte in den Zweigen des Kirschbaums, glitt über die Frühbeetscheiben hinweg, erfaßte die offene Gartentür und ließ sie zuknallen. Kozinds reichte Hugo Langermanis die Fotokopie zurück. „Das war ein Scherz." Und er lachte schallend. „Ein dummer Scherz, nicht wahr?" „Ein sehr dummer." „Und warum zeigen Sie mir diese Fotokopie?" „Weil ich Geld brauche." „Sie wollen mir das Stück Papier also verkaufen?" „So kann man's auch nennen", erwiderte Hugo finster und starrte zu Boden, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. „Tja, ein paar Gläser mit Eingemachtem mag es vielleicht wert sein." Kozinds lachte meckernd. „Es ist mehr wert. Ich bin Saskos Sohn. Und ich erhebe Anspruch auf die volle Summe, weil das Haus inzwischen mindestens das Dreifache wert ist." „Sie sind ja verrückt! Sie können mir gar nichts." Kozinds stockte. Er begriff, daß Hugo in der besseren Position war, daß er alle Trümpfe in der Hand hielt, weil er im Gegensatz zu seinem
Vater nichts zu befürchten hatte. Nur er, Kozinds, hatte allen Grund, sich zu fürchten. Und als sie sich das nächste Mal in Hugos leerer Wohnung trafen, merkte Kozinds, daß Hugo in seiner Verzweiflung bereit war, alles auf eine Karte zu setzen. Ich muß das Geld für ihn auftreiben, koste es, was es wolle. Sonst richtet er mich zugrunde und bringt mich hinter Gitter, dachte Kozinds und sprach mit Hugo wie mit einem guten Freund. „Soviel Geld hab ich nicht, aber ich werd's auftreiben." Kozinds hatte zu Recht vermutet, daß Hugo warten würde. Nun hatte er wenigstens eine gewisse Hoffnung, und das war weitaus angenehmer, als in einer leeren Wohnung zu hocken und sich damit zu trösten, daß es Kozinds im Gefängnis noch viel schlechter erging. Geld hatte Kozinds tatsächlich nicht. Der Garten warf zwar mittlerweile soviel ab, daß sie ganz gut leben konnten, aber übrig hatte er nichts.
24
Wie eintönig und grau ist das Leben in einem
Haus, dessen Bewohner einander nichts mehr zu sagen haben. Ludvigs Rimsa hatte wenigstens seine Arbeit, Nellis einzige Rettung aber war der Fernseher. Sie schaltete ihn schon am Nachmittag ein und sah sich wahllos alle Sendungen an. Ihrem Leben fehlte ein Sinn. Daran konnte der Fernseher zwar auch nichts ändern, doch half er ihr, die Zeit totzuschlagen. Arn Abend, beim Schlafengehen, grämte sie sich, daß sie wieder einen Tag älter geworden war. Wieder war ein Tag vergangen, ohne daß etwas passiert wäre. So konnte es nicht weitergehen. Wenn sie wenigstens ein Kind gehabt hätte. Aber die Ärzte
machten ihr nur vage Hoffnungen. Kurz nach der Heirat war Nelli schwanger geworden, aber Ludvigs machte sich nichts aus einem Kind. Da fuhr sie zu ihrer Mutter ins Dorf, um sich mit ihr zu beraten. Die Mutter lamentierte: „Wozu sich gleich mit einem Kind belasten? Genieße doch erst einmal dein Leben." Die Mutter, die sich in den Nachkriegsjahren mit Nelli mühsam durchgeschlagen hatte, wollte ihre Tochter vor einem ähnlichen Schicksal bewahren. Also ging Nelli für ein paar Tage ins Krankenhaus und wurde später nie wieder schwanger. Anfangs war sie ganz froh darüber, bald aber tauchten Befürchtungen auf, und wenige Jahre später bekam sie hin und wieder einen hysterischen Anfall. Sie merkte, daß Ludvigs ihr gegenüber abkühlte. Nach der Arbeit verschwand er sofort in der Garage oder im Garten. Er wußte zwar, daß er Nelli vernachlässigte, und versuchte das durch unbeholfene Aufmerksamkeiten wettzumachen, ia gab all ihren Launen nach. Nelli bekam, was sie sich wünschte, moderne Stiefel, Kleider und Nerzkragen. Die Fahrten zur Schneiderin waren ihre einzige Abwechslung. In ihnen lag ein besonderer Reiz, den nicht einmal der Umstand beeinträchtigte, daß sie gar keine Gelegenheit hatte, die neuen Kleider anzuziehen: Bekannte kamen kaum zu ihnen, eingeladen wurden sie selten, und Ludvigs war es völlig egal, was sie trug. In ihrem Haus gab Nelli großzügige Partys: die Woche über buk und kochte, marinierte und schmorte sie. Ihre Gäste aber waren gewöhnlich langweilige, verklemmte Leute, und es half auch nicht viel, daß Ludvigs ihnen „einheizte". Wenn sie sich satt gegessen hatten und der Wein ihnen in den Kopf gestiegen war, befahl der
Hausherr: „Und jetzt ein Lied!" Und in diesem tristen, grauen Dasein, in dem jeder alles über jeden wußte, in dem jeder den anderen längst satt hatte und Einladungen nur noch aus Höflichkeit ausgesprochen und angenommen wurden, tauchte plötzlich ein Mann wie Hugo auf. Die Kozinds brachten ihn mit und stellten ihn als einen guten Bekannten und entfernten Verwandten vor. Nellis Herz eroberte Hugo mit einem einzigen Satz. Als er ihr in die Küche folgte, um ihr beim Brotschneiden zu helfen, sagte er zu ihr: „Sie sind heute abend die Schönste von allen!" Hugo verstand es, den Frauen etwas vorzumachen, und eine Lüge klingt oft überzeugender als die Wahrheit, zumal sie meist auch angenehmer ist. Einen Monat später war Nelli bereit, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Hugo aber redete ihr zu, damit noch zu warten. Nelli wäre Hugo an jeden beliebigen Ort gefolgt: in die leere Wohnung, in das Zimmer in der Rettungsstation — ganz egal . . . Sie glaubte, in ihm das Ideal ihrer Jugend gefunden zu haben - ein Glück, das nicht jedem zuteil wird. Daß dieses Ideal schon ziemlich abgegriffen war, wollte sie nicht wahrhaben. Als Nelli anfing, von Scheidung zu reden, suchte Hugo einen Juristen auf. Danach eilte er wutschnaubend zu Kozinds. „Heirate die Schnepfe doch selbst!" tobte Hugo. „Bei einer Scheidung bekommt sie überhaupt nichts — nur ein bißchen alten Plunder und ihre Klamotten! Auf dem Sparbuch haben sie ganze anderthalbtausend. Für siebenhundertfünfzig Rubel kannst du sie allein heiraten. Mir stehen elftausend zu!" „Zehn!"
„Und auch das Haus kriegt sie nicht, das hat Ludvigs geschenkt bekommen! Da hast du mir vielleicht eine reiche Braut ausgesucht! Schaff endlich das Geld ran!" „Tja, weißt du . . ." „Ich weiß gar nichts! Ich kann dir nur eins sagen: Schaff das Geld ran, du Hanswurst! Dann fahre ich weg und fange ein neues Leben an! Diese Nelli aber kannst du dir sauer einlegen!" Und in' diesem Augenblick erinnerte sich Kozinds daran, daß Ludvigs Rimsa mitunter Kassenboten fuhr. Aus unerfindlichen Gründen sah Kozinds plötzlich ein dunkles Treppenhaus vor sich. Von dort gelangte man zunächst auf den Hof und dann auf die Straße. Es war noch gar nicht spät, aber damals, ein Jahr nach dem Krieg, kam der Einbruch der Dunkelheit für die meisten Menschen einer Sperrstunde gleich, hatte der Krieg doch eine neue Kaste zum Leben erweckt, die außerhalb der Gesellschaft stand und eine Gefahr für andere darstellte. In der Provinz hatte der Krieg Banditen hervorgebracht, in der Stadt kriminelle Banden. In den Kriegsjahren hatten Schlösser und Riegel nicht viel bedeutet, vor allem aber hatten viele das Arbeiten verlernt und sich an den Anblick von Blut und an ein Leben ohne eigene Verantwortung gewöhnt. In dem modrigen Treppenflur roch es durchdringend nach Schimmel. Tolik zitterte am ganzen Leibe. Er war ein hochaufgeschossener, knochiger Junge mit stahlharten Fäusten. „Wenn mir jetzt eine über den Weg läuft, verpasse ich ihr ein Ding, daß mir auf der Stelle warm wird." An Männer wagten sich die Jungen nicht heran, die konnten ihnen überlegen sein, denn sie waren erst fünfzehn. Kozinds wirkte ausgesprochen schwächlich, und auch Tolik war nicht gerade
ein Kraftprotz. Nach ihrer Flucht aus dem Heim hatten sie fast ständig gehungert. Im Hof ertönten Schritte. „Da kommt eine", sagte Tolik leise. Sie hatten Frauenschritte schon von Männerschritten unterscheiden gelernt. Die Frau öffnete die Haustür. Kozinds preßte sich an die Wand, damit ihn die Frau nicht sah. Sie trug eine Einkaufstasche in der Hand. Im nächsten Augenblick schoß Kozinds aus dem Dunkel, packte die Tasche und zerrte daran. Die Frau ließ die Henkel fahren, denn Tolik war im Nu hinter ihr und schlug im gleichen Augenblick zu. Die Frau kippte gegen die Wand und schrie: „Leutnant!" Trotzdem schlug Tolik noch einmal zu. Ins Gesicht. „Zieh den Mantel aus!" „Leutnant!" schrie die Frau wieder verzweifelt. Und Tolik schlug von neuem zu. Kozinds gefiel diese Härte nicht. Tolik war imstande, jemanden, der keinen Widerstand leistete, seelenruhig totzuschlagen. Als Kozinds ihm deshalb einmal Vorwürfe machte, sagte er: „Aber ich bin doch gar kein Mensch. Und du bist auch keiner. Mich hat wahrscheinlich der Esel im Galopp verloren, denn ich hab weder einen Vater noch eine Mutter. Nicht mal einen Vatersnamen hab ich. Und dir geht's nicht anders. Wie können wir beide also Menschen sein?" "Leutnant! Hilfe!" Tolik packte den Mantel der Frau an den Aufschlägen und riß ihn ihr vom Leib. Da aber ging eine Wohnungstür auf, und ein Trupp Betrunkener torkelte heraus. „Schnell weg!" rief Kozinds. Auf dem Hof holten sie sie ein. Als Kozinds wieder zu sich kam,
hörte er grölende Stimmen und trunkenen Gesang. Vorsichtig schlug er die Augen auf. Wie sich herausstellte, lag er in einem großen Zimmer in der Ecke auf dem Fußboden. An einem runden Tisch saßen etwa zehn Männer mit gedunsenen Gesichtern und drei oder vier Frauen. Eine der Frauen drückte ein nasses Handtuch gegen ihre Stirn und schimpfte auf Tolik, der reglos in einem anderen Winkel lag. Von Zeit zu Zeit ging sie in die Küche, um das Handtuch anzufeuchten. Dies war eine Bande, die an den Großen Friedhöfen ihr Unwesen trieb. Nicht anders als Kozinds und Tolik raubte sie Passanten Mäntel, Ringe und Uhren und brach in Lebensmittel-und Schnapsläden ein. Die Bande hauste in einer großen, verkommenen Souterrainwohnung, in der es viele Zimmer und Flure, Kammern und Küchen gab. Ihr Anführer war ein Mann in einer Infanterieuniform ohne Rangabzeichen, den sie „Leutnant" nannten. Kozinds blieb ein paar Monate bei der Bande und ließ sich von der Romantik ihres müßigen Lebens und von ihrem Traum vom „ganz großen Ding" anstecken. Vom „ganz großen Ding" sprachen sie jeden Abend, weil das „ganz große Ding" eine Art Legende war, der man sein Leben widmen konnte. Und Kozinds dachte: Die Jungs haben es nur noch nicht gedreht, weil sie zu schmalbrüstig dazu sind. Da das „ganz große Ding" auf sich warten ließ, raubten sie die Büfetts aus, die es damals in fast jedem dritten Haus gab. In der Regel waren das halbdunkle Räume, wo in einem Winkel jemand auf der Geige fiedelte oder Akkordeon spielte und dafür ein Honorar in Naturalien - in Form von Speisen und Getränken - erhielt. In einem anderen Winkel
wurde gesungen, und mitten im Raum füllte eine unermüdliche Büfettkraft, sich einzig und allein auf ihr Augenmaß verlassend, Wodka in Gläser und warf die Rubel in einen offenen Karton. Wenn der Karton voll war, kippte sie ihn in eine große Kiste aus gehobelten Brettern mit der Aufschrift „Bekonsexport". Die Überfälle waren einfach, aber effektvoll. Man drang mit Maschinenpistolen ein, schnappte sich die große Kiste und ging gemütlich nach Hause. Das war so leicht, daß keiner mehr Lust verspürte, sich auf Friedhöfen herumzutreiben und späte Passanten auszuziehen. Eines Abends klopfte es an der Wohnungstür. Kozinds befand sich gerade in der Toilette, die neben der Eingangstür lag, und hörte laut und deutlich den Befehl: „Hände hoch!" Kurz darauf war eine wilde Schießerei im Gange. Die Banditen versuchten, durchs Fenster zu entkommen, aber das Haus war umstellt. Zum erstenmal im Leben hörte Kozinds das Pfeifen von Kugeln, die Schreie Verletzter und das heisere Fluchen, mit dem man sich selbst Mut zu machen sucht. In der Toilette war dicht unter der Decke ein Hängeboden angebracht, auf dem Werkzeug und allerlei Gerümpel aufbewahrt wurde. Nur eine Leiter fehlte. Kozinds klammerte sich an die Wasserrohre und kletterte an ihnen hoch. Dann kroch er, auf den Spülkasten gestützt, auf den Hängeboden. Als die Schießerei aufhörte (den Gesprächen nach waren der „Leutnant" und eine der Frauen tot, während vier Banditen und zwei Milizionäre verletzt waren), ging die Toilettentür auf, und einer der Milizionäre kam herein. Beim Aufbruch sagte jemand im Korridor: „Wir müssen noch in der Toilette nachsehen."
Der Milizionär aber antwortete: „Nicht nötig, ich war gerade drin." In der Nacht verschwand Kozinds aus der Wohnung und ging zurück ins Heim. Dort steckten sie ihn in den Karzer und schickten ihn anschließend zur Lehre in eine Fabrik. Viele Jahre später, als er bereits Kraftfahrer bei einem hohen Tier war, mußte er im Hof der Bank oft auf seinen Chef warten. Er sah die Männer, die schweißüberströmt Säcke mit Kleingeld schleppten, beobachtete, wie das Geld in Container verladen wurde, sah die Taxis, die auf die Kassenboten warteten, die Taxifahrer, die sich ihre Route bestätigen ließen, und die Kassenboten, die das Geld transportierten, und er mußte oft an seinen Traum vom „ganz großen Ding" denken, der ihm jetzt allerdings nur ein Lächeln entlockte. Jetzt, wo er sein Auskommen hatte, war er auf krumme Touren nicht mehr angewiesen. Damals besaß er das Haus in Dorni noch nicht. Damals lebten die Kozinds in einer kleinen Wohnung, hofften aber, bald in eine größere umziehen zu können. Damals glaubte er, alles erreicht zu haben, was er erreichen konnte, und das gab ihm innere Ruhe und Frieden. Kozinds konnte es sich hin und wieder erlauben, ein Gläschen zu trinken, zu fahren, wohin er wollte, und sich eine Datsche am Strand zu mieten. Sein Gehalt war zwar nicht hoch, aber es gefiel ihm, daß die anderen Fahrer seinen vor Lack glänzenden Wagen respektvoll betrachteten, es gefiel ihm, mit weißem Hemd und Krawatte herumzulaufen, es gefiel ihm, anderen mit seinem prächtigen' Feuerzeug Feuer zu geben und den Kollegen gegenüber mit der Miene eines Mannes von Welt den einen oder anderen Satz fallenzulassen, den er während der Fahrt
aufgeschnappt oder mit dem sich der Chef freundlich an ihn gewandt hatte. Er war zufrieden. Sein Chef scherte sich nicht darum, daß Kozinds sich an den Abenden etwas dazuverdiente. So verschaffte er sich durch illegale Touren mindestens ein zweites Gehalt. Als Hugo gegangen war, suchte Kozinds sich an Einzelheiten aus Rimsas Erzählungen zu erinnern. Die Kassenboten . . . Das wäre ein „großes Ding". Ein „ganz großes" . . . Daß Hugo zur Miliz laufen würde, glaubte er nicht. Wenn er ihm doch wenigstens monatlich einen Hunderter in den Rachen werfen könnte! Aber Hunderter fallen nicht vom Himmel. Wenn das „große Ding" gelänge .. . Bei guter Planung mußte es einfach gelingen. Dann wäre er Hugo los. Außerdem könnte er sich einen neuen Wolga zulegen. Wundern würde sich darüber niemand mehr, glaubte doch alle Welt, daß mit der Gladiolenzucht Millionen zu verdienen seien. Mit dem Wolga würde er auf die Krim fahren. Dort würde er ein schneeweißes Hemd und einen bunten, breiten Schlips tragen. Er könnte sich beispielsweise als stellvertretender Finanzminister ausgeben. Ach, würde das ein Urlaub werden! Er wußte zwar nicht, wie es werden würde, aber er wußte genau: So einen Urlaub hatte er noch nie erlebt. Wenn Hugo bereit wäre, sich an dem „großen Ding" zu beteiligen, könnte er ihm nicht mehr mit der Miliz drohen: Dann wären ihm die Hände gebunden - selbst wenn aus dem Unternehmen nichts werden sollte. Und Kozinds ging auf einen Plausch zu Ludvigs Rimsa hinüber - einfach so - und brachte dabei unauffällig das Gespräch auf die Kassenboten.
25
Auch wenn Konräds Ulfs ein lückenloses Ge-
dächtnis gehabt hätte, wäre in seiner Erinnerung doch kein ähnlicher Fall aufgetaucht, obwohl er seit Jahrzehnten bei der Kriminalmiliz arbeitete. In Oberst Ulfs Arbeitszimmer erschien ein Mann mit zwei schweren Koffern. Ein Mann, der beschlossen hatte, ins Gefängnis zu gehen. „Hoffentlich haben Sie nichts Wichtiges zu Hause vergessen, Golubowski", sagte Grauds spöttisch. Golubowski warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Er war zu Oberst Ulfs gekommen und würde mit keinem anderen sprechen als ihm. „In unserem Alter, Genosse Oberst, weiß man nie, ob man nicht doch was vergessen hat", sagte Golubowski in schmeichelndem Ton zu Ulfs. „In unserem Alter kommt's vor allem darauf an, sich warm zu halten. Darum hab ich zwei dicke Jacken eingepackt. Die dürften eine Weile reichen." „Sie wollen Ihre Aussage ändern?" fragte Ulfs so ungerührt wie eine Maschine, für die Worte nur reine Information ohne jede emotionale Färbung bedeuten. „Ja", antwortete Golubowski. „Ich wollte . . " Alles rückte wieder auf seinen Platz: Ulfs stellte die Fragen, und Golubowski antwortete. „Ich warte." „Mit dem größten Bedauern sehe ich mich gezwungen, meine frühere Aussage zurückzuziehen. Ich habe erkannt, daß meine Position falsch war, und bitte darum, mich zu verhaften. Ich
bin bereit, jede Strafe anzuerkennen, die das Gericht mir auferlegen wird!" Das klang eher wie eine Ansprache auf einer Tribüne als eine Aussage vor einem Untersuchungsführer - auf einem einfachen Stuhl, den zwei Koffer mit Zahnbürste, Seife, Nähzeug, warmer Unterwäsche, Hemden und Mützen umgaben. Golubowski hatte sogar rasch noch ein paar Zeitungen und Zeitschriften abonniert, und in einem der Koffer lagen die Quittungsbündel — wenn seine neue Adresse feststand, wollte er beantragen, ihm die Presseorgane nachzuschicken. Auch ein paar Mathematikbücher und Logarithmentafeln lagen in den Koffern. „Ob Sie bereit sind, die Strafe anzuerkennen oder nicht, ist völlig uninteressant. Das Urteil wird auf jeden Fall vollstreckt." „Ich möchte etwas zu dem Überfall im Textilgeschäft in der Virsnavasstraße aussagen." „Ziehen Sie alle früheren Aussagen zurück?" „Ich ziehe alle früheren Aussagen zurück." „Schießen Sie los!" „Ungefähr eine Woche vorher kam Hugo, ein Bekannter, zu mir. Seinen Familiennamen kenne ich nicht, aber er wohnt. . ." „Sie wissen genausogut wie ich, wo er jetzt wohnt, nicht wahr? Weiter." Um Zeit zu sparen, setzte Alvis Grauds sich gleich an die Schreibmaschine. „Hugo Langermanis . . ," „In welcher Beziehung standen Sie zu ihm?" „Wir sind alte Bekannte. Ich war mit seinem verstorbenen Vater
befreundet. Unsere Familien verband eine alte Freundschaft. Ich habe mich um Hugo gekümmert wie um einen eigenen Sohn. Ich weiß noch, wie er ganz klein war . . ." „Ihre guten Taten können Sie bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache bringen, um die Schöffen milder zu stimmen. Hugo Langermanis kam also zu Ihnen. Anscheinend mit einem konkreten Vorschlag." „Etwa einen Monat vorher, vielleicht lag es auch schon länger zurück, war Hugo Langermanis bestohlen worden. Er hatte einen Quartiergast bei sich aufgenommen - irgendeinen Knastbruder mit Goldzähnen -, der ihm die Wohnung ausräumte." „Er hat keine Anzeige erstattet." „Hugo ist ein ausgesprochen gutmütiger Mensch, er möchte niemandem schaden. So nahm er auch diesen Kerl bei sich auf. Hinterher kam er zu mir und holte sich ein Klappbett und eine Decke, um nicht auf dem kahlen Fußboden schlafen zu müssen. Ich konnte Hugo noch nie etwas abschlagen und gab ihm, was er wollte. Meine Rente ist zwar nicht hoch, aber was braucht so ein alter Mann schon? Die Hauptsache, man friert nicht und hat was zu beißen." Auf eine ungeduldige Handbewegung von Ulfs hin kehrte der Alte gehorsam zum Thema zurück. „Also, eine Woche vorher kam Hugo Langermanis zu mir und sagte: ,Hilf mir, das ist meine letzte Hoffnung, sonst tue ich's allein. Wenn du also nicht willst, daß mir ein Unglück geschieht, mußt du mitmachen. Du brauchst gar nicht viel zu tun. Du gehst nur in das Textilgeschäft in der Virsnavasstraße, und zwar genau zu der Zeit, wo die Kassenboten das Geld holen.
Zuerst halten sie am Lebensmittelladen. Inzwischen gehst du in das Textilgeschäft und fängst irgendein Gespräch an. Wenn die Kassenboten vorfahren, komme ich rein. Dem, der in den Laden geht, ziehe ich eins mit dem Gummiknüppel über.' - ,Nein', rief ich", fuhr Golubowski, Grimassen schneidend, fort. „ ,Das wirst du nicht tun, Hugo!' — ,Doch', sagte er, ,ich muß es tun'. Es gibt keinen anderen Ausweg.' Den Kassenboten sollte nichts geschehen. Er sagte, das seien seine Freunde, und er habe sich mit ihnen geeinigt. Angeblich wollten sie nur Komödie spielen. Das Geld sollte unter ihnen aufgeteilt werden. ,Den Fahrer kennst du auch, er wartet unten', sagte Hugo. ,Er kann dir bestätigen, daß niemand zu Schaden kommen wird und das Ganze nur ein Gaunerstreich ist.' Und ich Esel hab ihm geglaubt'. Welche Strafe erwartet mich nun? Warum soll ich fremder Sünden wegen büßen?" Da trat auf Konräds Ulfs Gesicht plötzlich ein strahlendes Lächeln, das ganz und gar nicht zu diesem Gespräch passen wollte. Und auch seine Antwort klang überraschend. „Weil Sie früher fremder Freuden wegen gebüßt haben!" „Wie bitte?" „Sie haben doch ein illegales Freudenhaus unterhalten," „Woher wissen Sie das?" entschlüpfte es Golubowski unwillkürlich. „Wir wissen alles!" Welcher Triumph lag in diesen Worten! Ihr ironischer Unterton aber entging Golubowski. Dessen Blick huschte unstet hin und her, und er fragte sich nur eins: Was wissen sie noch? „Damals, unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesell-
schaft, blieb uns Werktätigen ..." „Sie waren ein Zuhälter." „Damals .. ." „Damals hat man Ihnen eine viel zu milde Strafe aufgebrummt! Welche Aufgabe hatten Sie bei dem Überfall auf die Kassenboten?" „Ich sollte gar nichts weiter tun. Ich sollte hinterher nur aussagen, daß der Täter ganz anders aussah als Hugo." „Großartig! Geschickt gemacht. Sie haben uns auf eine falsche Spur gelenkt. Wenn Sie wollen, sage ich Ihnen, wie es dazu kam. Vor allem mußten Sie sich einen Prototyp aussuchen. Damit Sie bei den Befragungen nichts durcheinander brachten und Ihre Aussagen möglichst überzeugend klangen, haben Sie einfach einen konkreten Menschen genommen, nämlich den Uhrmacher Dursis, mit dem Sie kurz zuvor zu tun gehabt hatten. Den Rest können Sie selbst erzählen." „Ja, ich ging noch mal in diese Werkstatt, um zu erfahren, ob Dursis dafür bestraft worden war, daß er meine Uhr verdorben hatte. Und genau da sagte er am Telefon zu jemand, daß er am nächsten Tag nicht kommen könne, weil er in die Berge fahre. Es tue ihm furchtbar leid, daß er das vorher nicht gewußt habe, aber er fliege am nächsten Tag um siebzehn Uhr ab. Das Ticket habe er schon in der Tasche. Am nächsten Morgen kam er nicht zur Arbeit, und ich erfuhr, daß er unbezahlten Urlaub genommen hatte." Grauds wunderte sich über die Ruhe, mit der Ulfs Golubowski anhörte. Hinterher fragte er ihn, wie er es fertig gebracht habe, so ruhig zu bleiben, und Ulfs erklärte, das sei reine
Gewohnheit gewesen. Emotionen seien bei Befragungen nur hinderlich. Früher habe er sich damit oft schwer getan, aber mit den Jahren lerne man es, sich zu beherrschen. Mit der Zeit gelinge das jedem. „In einem bestimmten Augenblick nimmst du nur noch die Fakten wahr, und das Verbrechen wird zu einer Gleichung, die du mit Hilfe bestimmter Daten lösen mußt", sagte Ulfs. „Die Emotionen sind dann völlig abgeblockt. Ich weiß nicht, ob das gut ist oder schlecht, aber dann hindert dich nichts mehr daran, die reinen,
ungeschminkten
Fakten
wahrzunehmen
und
zu
durchdenken, und allmählich setzt sich, wie die Sahne auf der Milch, die Wahrheit ab." Golubowski vermengte Halbwahrheiten mit Unwahrheiten und Lügen. Er wußte von nichts, er hatte nichts gesehen und hätte nie geahnt.. . Aber so was würde ihm nicht noch einmal passieren! „Ziehen wir also Bilanz", sagte Ulfs zu Golubowski. „Sie haben das Geschäft in der Virsnavasstraße aufgesucht, um die Untersuchungsorgane in die Irre zu führen." „Nicht ganz, denn . . ." „Wie groß sollte Ihr Anteil an der Beute sein?" „Aber lieber Oberst!" Golubowski faltete die Hände wie zum Gebet, „Ich hab keine Kopeke bekommen und auch nie im Traum an so was gedacht. Diese Dummheit hab ich nur dem Jungen zuliebe gemacht. Sein verstorbener Vater und ich waren gute Freunde!" „Bis jetzt hat diese Dummheit, wie Sie sich auszudrücken belieben, vier Menschenleben gekostet", sagte Ulfs und blickte zur Decke auf. Alvis Grauds begriff nicht, weshalb er Golubowski
diese Information gab. Golubowskis Schultern zuckten. Er schluchzte auf. Über seine Wangen rollten dicke Tränen. Der alte Mann bot einen kläglichen Anblick. Dieses runzlige Greisengesicht, die Tränen, die Koffer, die Aussicht, im Gefängnis zu landen . . . Einen Augenblick lang empfand Grauds so etwas wie Mitleid, wie man es beim Anblick einer hinfälligen alten Frau empfindet, die auf der Suche nach Altstoffen in der Nahe großer Häuser in den Abfalltonnen wühlt. Aus unerfindlichen Gründen haben wir das Gefühl, daß diese unangenehme Beschäftigung für sie notwendig ist. Ja, eben das Gefühl, denn unser Verstand sagt uns, daß jedermann ausreichend versorgt ist, daß das Wühlen in Abfällen eher der Gier entspringt, daß es eher der Wettleidenschaft bei einem Pferderennen gleicht. „Na schön", sagte Ulfs ungerührt, und Grauds spürte, daß er zu einem Entschluß gelangt war. „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Über Ihr weiteres Schicksal wird das Gericht entscheiden. Sie werden auch den Untersuchungsführern gegenüber noch Aussagen machen müssen. Man wird Ihnen eine Vorladung zuschicken. Auf Wiedersehen." Golubowski fuhr erschrocken hoch. Jetzt verstehe ich, glaube ich, worauf Ulfs abzielt, dachte Grauds. „Was?"
fragte
Golubowski
beinahe
aggressiv.
„Auf
Wiedersehen! Hauptmann Grauds wird Sie hinausbegleiten. Genosse Hauptmann, ist das Protokoll fertig?" „Bitte." Grauds zog das Blatt aus der Maschine und legte es vor Ulfs auf den Tisch.
„Wenn Sie es gelesen und unterschrieben haben, können Sie gehen." Ulfs schob das Protokoll zu Golubowski hinüber. Der explodierte. „Sie müssen mich verhaften! Ich bestehe darauf!" „Und ich lehne das ab", antwortete Ulfs seelenruhig. Freiheitsentzug vor der Gerichtsverhandlung ist eine harte Maßnahme. Jeder Häftling kostet den Staat hohe Summen, und in Ihrem Fall . . ." „Ich komme also nicht ins Gefängnis?" „Nein." „Dann möchte ich den Staatsanwalt sprechen!" „Sie können gleich von hier aus zum Staatsanwalt gehen. Hauptmann Grauds, erkundigen Sie sich bitte, wann der Staatsanwalt Sprechstunde hat." Grauds begriff, daß Ulfs mit Golubowski unter vier Augen sprechen wollte, und ging in sein Arbeitszimmer. Dort fragte er sich, ob der Alte nun die Wahrheit sagen würde, denn Golubowski wollte unbedingt ins Gefängnis. Wenn ein Mensch etwas unbedingt erreichen will, dann muß er dafür zahlen. Und Golubowski würde bezahlen. Natürlich hörte sich das merkwürdig an: Man soll dafür zahlen, daß man ins Gefängnis kommt. Warum aber wollte er unbedingt ins Gefängnis? Warum? Anscheinend fühlte er sich bedroht. Er wußte, daß der Haupttäter seine Kumpane fürchtete. Die Rimsas hatte er schon aus dem Weg geräumt, und die hatten wahrscheinlich nicht einmal allzuviel gewußt; auch Hugo Langermanis war tot. Warum sollte also der vierte Mann verschont bleiben? Grauds kehrte in Ulfs' Zimmer zurück und sagte, der Staatsanwalt habe am nächsten Tag ab
14.00 Uhr Sprechstunde. Ulfs reichte Golubowski ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber. „Gehen Sie nach nebenan und schreiben Sie alles ganz genau auf." „Sehr wohl." Golubowski schleppte seine Koffer ins Nebenzimmer, Grauds ließ ihn an seinem Arbeitstisch Platz nehmen und schloß die Tür hinter sich. „Den Staatsanwalt brauchen wir nicht mehr", sagte Ulfs mit einem schiefen Grinsen, als er mit Grauds allein war. „Hat er ausgepackt?" „Nein, so einer ist Golubowski nicht! Wie sich zeigt, kennen wir uns seit fünfunddreißig Jahren. Zur Zeit des Doktor Kärlis Ulmanis saßen wir im selben Gefängnis. Damals büßte er für fremde Freuden — er unterhielt ein illegales Bordell. Ein widerlicher, aalglatter Bursche." „Hat er gesagt, vor wem er solche Angst hat?" „Vor dem Mann, der das Taxi gefahren hat. Leider kennt Golubowski ihn nicht, Hugo Langermanis Worten nach aber kennt dieser Mann Golubowski. Ludvigs Rimsa war es jedenfalls nicht. Den hat Golubowski noch nie im Leben gesehen." „Kennt Golubowski viele Leute?" „Er versucht sich gerade zu erinnern. Bis vor etwa einem Jahr traf man sich bei ihm zum Kartenspiel. Dann aber hat jemand Staatsgelder an einen Falschspieler verloren, und es kam zu einer Schlägerei. Das Ergebnis waren schwere Körperverletzungen und eine demolierte Wohnung. Es gab auch einen Prozeß. Aber gegen Golubowski hatte man offensichtlich nichts in der Hand, und er
erhielt nur ein Jahr auf Bewährung. Wer die Besucher des Spielklubs waren, weiß anscheinend nicht einmal Golubowski selbst." „Was hat er noch gesagt?" „Er hat so einiges durchblicken lassen. Der Alte hat sich aus reiner Habgier an der Sache beteiligt. Langermanis' Vater war ein heimlicher Millionär. Nachdem er seine Strafe abgebüßt hatte, suchte er Golubowski auf, sagte ihm, daß er einen Wolga kaufen wolle, und reiste in den Süden. Kurz danach tauchte Hugo Langermanis bei Golubowski auf und erzählte ihm, daß man ihm ein Lotterielos angeboten habe, auf das ein Wolga gewonnen worden sei. Hugo borgte sich von Golubowski achttausend Rubel mit zehn Prozent Zinsen im Monat. Golubowski ging davon aus, daß Hugos Vater Wort halten und die Schuld zurückzahlen würde. Sie ließen den Schuldschein von einem Notar beglaubigen. Hugo Langermanis geriet jedoch an einen Gauner und blieb ohne Geld und ohne Wagen. Zunächst regte das Golubowski nicht weiter auf: Er verließ sich nach wie vor auf den Vater. Aber Monat auf Monat verstrich, ohne daß der zurückgekehrt wäre. Golubowski zählte die Zinsen zusammen und wurde allmählich unruhig. Und zu guter Letzt traf aus dem fernen Abchasien die Nachricht ein, daß Langermanis' Vater zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden war. Nun bekniete Golubowski Hugo, ihm wenigstens einen Teil der Summe zurückzuzahlen, aber bei Hugo war nichts zu holen. Sollte Golubowski zum Gericht gehen? Na schön, das Gericht hätte Hugo dazu verdonnert, Golubowski monatlich zehn Prozent von seinem Gehalt zu zahlen. Das wären sechs Rubel gewesen.
Damit wäre die Schuld erst in hundert Jahren beglichen worden. Schließlich einigten sie sich darauf, daß Hugo Golubowski jährlich zwanzig Prozent der Summe geben und außerdem nach einer Möglichkeit suchen würde, die Schuld auf einen Schlag abzuzahlen." „Sehr merkwürdig." „So merkwürdig ist das gar nicht. Golubowski hatte nun in Hugo ein billiges Werkzeug für seine Machenschaften", widersprach Ulfs und fuhr dann fort: „Jahre vergingen, und plötzlich schlug Hugo Golubowski vor, bei einem vorgetäuschten Raubüberfall mitzumachen. Wahrscheinlich hat er ihm tatsächlich nicht gesagt, wie gefährlich die Sache war. Wozu auch? Das hätte Golubowski bloß abgeschreckt." „Aber wozu brauchte er diesen Golubowski überhaupt? Welchen Sinn hatte das Ganze?" „Hat uns die Suche nach dem Uhrmacher nicht genug Zeit gekostet? Und das ganz am Anfang, wo es auf jede Minute ankommt!" „Trotzdem . . ." „Hugo konnte ja nicht ahnen, daß weder die Verkäuferinnen noch die Kassiererinnen sein Gesicht sehen würden. Andernfalls hätten Golubowskis Aussagen ihn gerettet. Besonders wenn ein Verdacht auf Hugo gefallen wäre. Dann hätte Golubowski Stein und Bein geschworen: Der war es nicht, das war ein anderer, ich hab den Kerl ganz deutlich gesehen." „Aber jetzt, wo er in der Klemme sitzt. . ." „Ja, jetzt zittert er um sein Leben, und das nicht ohne Grund."
„Vielleicht sollten wir ihn als Lockvogel einsetzen?" „Der Saporoshez wurde bei Ogre gefunden . . . Einen Lockvogel einzusetzen, ist eine langwierige Sache. Vielleicht hat Hugo Langermanis sich auch nur ausgedacht, daß der Bandit diesen Golubowski kennt. Ihm kam's schließlich nur darauf an, den Alten zum Mitmachen zu bewegen." An der Tür ertönte ein zaghaftes Klopfen. Golubowski überreichte Ulfs beinahe unterwürfig seine Erklärung. Auf vier mit einer kleinen, gestochen scharfen Handschrift gefüllten Seiten beklagte er sich über sein Leben, über den Betrüger Hugo Langermanis, über seine Armut und über jene Blutsauger, die die Wohnung eines armen Rentners für ihre verderbliche Spielleidenschaft mißbraucht hatten. Golubowski machte alle Welt schlecht. Aber leider gab er so gut wie keine Namen preis: Die meisten seiner Klienten kannte er angeblich nur vom Sehen. „Hauptmann Grauds, bringen Sie Golubowski in eine Zelle!" Als Grauds zurückkam, brühte Ulfs Tee auf. Auf dem Tisch lag wieder die Tüte mit den Pasteten. Grauds reichte Ulfs eine Logarithmentafel, die er in Golubowskis Sachen gefunden hatte. „Das hier wollte ich dir noch zeigen." Ulfs hielt das Heft gegen das Licht und entdeckte neben einigen Ziffern Nadeleinstiche. „Weiß Golubowski, daß du die Logarithmentafel gesehen hast?" „Nein. Er wurde in eine Zelle gebracht. Ich hab mir seine Sachen erst hinterher angesehen." „Was, glaubst du, hat das zu bedeuten?"
„Das sind die Nummern von mit drei Prozent verzinsten Obligationen." „Meinst du, er hat sie irgendwo vergraben?" „Wieso vergraben? Sie liegen auf der Sparkasse. Die Gewinne werden auf sein Konto überwiesen." „Die letzte Freude eines alten Zuhälters - im Gefängnis zu sitzen und die Nummern seiner Obligationen zu überprüfen? Sich in einen stillen Winkel zurückzuziehen und in den Tabellen zu blättern?" „Diese ,letzte Freude' ist Tausende von Rubeln wert." „Geld ist nur dann was wert, wenn man's ausgeben kann! Sonst ist es nur ein Stück Papier. Solange es auf der Sparkasse liegt, ohne daß man es für einen bestimmten Zweck spart, hat's überhaupt keinen Wert. Den Kapitalisten gab ihr Geld wenigstens noch eine gewisse Macht. . ." „Das Problem des Sparens interessiert mich nicht. Ich hab kein Sparbuch. Dabei fühle ich mich aber keineswegs glücklicher als die, die eins haben." „Du verstehst mich nicht." „Vielleicht." „Hier, nimm eine Pastete. Als ich sie kaufte, waren sie noch warm." „Ich bringe nur rasch Golubowskis Tabellen runter, wir brauchen sie ja vorläufig nicht." „Soll sich jemand anders damit befassen. Ich werde den Chef darauf aufmerksam machen." Das Wasser im Teekessel kochte. Ulfs schüttete etwas Tee in ein Glas, stellte einen Löffel hinein, damit es nicht platzte, und holte die Zuckerdose hervor.
26
So . . . die Gutachten der Sachverständigen . . .
Na, die werden nichts Neues ergeben. Nein, trotzdem . . . Hm . . . Ulfs spazierte in seinem Arbeitszimmer auf und ab und dachte nach. Von Zeit zu Zeit sah er die Gutachten der Sachverständigen durch. Er hatte kaum die Pfeife ausgemacht, als seine Hand schon wieder nach dem Tabaksbeutel griff. Der Tabak war weich, leicht gekräuselt und aromatisch, weil Ulfs ein rohes Kartoffelstück in den Beutel getan hatte, das für die nötige Feuchtigkeit sorgte. Der medizinische Sachverständige schrieb, daß der Tod Ludvigs Rimsas und Hugo Langermanis' sofort eingetreten sei, da die Kugeln die Wirbelsäule getroffen hätten. Der Bericht über Hugo Langermanis füllte zwei Seiten. Der Sachverständige hatte jede Stelle, an der eins der Fünfmillimetergeschosse eingedrungen, ausgetreten oder steckengeblieben war, exakt beschrieben und mit einem Buchstaben gekennzeichnet. Diese Exaktheit ließ darauf schließen, daß der Sachverständige Freude an seiner Arbeit gehabt hatte. „Die Kugel drang zwischen der vierten und fünften Rippe, zweiundzwanzig Zentime-1 ter von der Wirbelsäule entfernt, ein; der Weg der Kugel . . ." Ulfs konnte beim besten Willen nicht begreifen, wieso der Sachverständige die Schrotkörner als Kugeln bezeichnete. Er legte das Gutachten auf den Schreibtisch zurück. Es regte ihn auf, daß hinter jedem Punkt stand: „Schuß von hinten". Als ob bei einem Schuß zwölf Schrotkörner von hinten eindringen
könnten, eins aber von vorn. Hugo Langermanis hatten insgesamt dreizehn Stück Blei getroffen. Vielleicht sollten wir Golubowski doch lieber freilassen? dachte Ulfs. Der Alte gäbe einen guten Lockvogel ab. Wenn sich der Täter von ihm befreien wollte, würde er das in den nächsten Tagen in Angriff nehmen. Und ihnen dabei in die Arme laufen. Ein anderer Sachverständiger schrieb, jemand habe versucht, Rimsas Garage von innen mit einer Andrehkurbel zu öffnen, die bei der Durchsuchung neben dem Tor gefunden worden sei. Plötzlich warf Ulfs ärgerlich die Pfeife in den Aschenbecher. „Du alter Esel! Es wird Zeit, daß man dich auf Rente setzt!" Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rief er bei der für den Stadtbezirk zuständigen Milizabteilung an. „In Golubowskis Wohnung muß sofort ein Hinterhalt angelegt werden. Ja, ja, es besteht Grund zu der Annahme, daß man versuchen wird, ihn zu liquidieren. Außerdem müssen wir herausfinden, was für Vögel sich dort treffen. Wie Sie das anstellen sollen? Das ist doch ganz einfach! Wer ein Stück Vieh abschlachten will, der steckt sich zumindest ein Messer ein! Von den übrigen brauchen Sie nur die Personalien aufzunehmen. Die Schlüssel? Die wird Ihnen Golubowski geben. Er wird sie Ihnen geben, dafür garantiere ich. Ich werd mich mit dem Staatsanwalt in Verbindung setzen. Mein Gott, haben Sie nicht selbst einen Kopf? Schon gut, schon gut. . . Ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg. Sie tun folgendes: Wenn jemand in seiner Wohnung anruft, nehmen Sie den Hörer ab, melden sich aber nicht. Soll der Anrufer glauben, daß der Apparat gestört ist. Wer kommen will, der kommt. Alles Gute! Nein, hundertprozentig überzeugt bin
ich nicht, denn der Saporoshez wurde bei Ogre gefunden. Es ist ungewiß, ob der Täter nach Riga zurückgekehrt ist. Ich glaube es nicht. Dann hätte er den Wagen irgendwo in der Nähe stehenlassen. Also, viel Erfolg!" Grauds trat mit ein paar neuen Gutachten in der Hand ein. „Ist was passiert?" „Nein." „Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, daß was passiert ist!" sagte Ulfs ärgerlich. „Ich hab mir den gefundenen Saporoshez angesehen." „Und?" „Er ist durch Modder gefahren, so daß kaum noch was zu erkennen ist. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß das Nummernschild vor kurzem ausgewechselt wurde." „Ist das alles?" „Auf dem Lenkrad und an der Gangschaltung sind Fingerabdrücke." „Deutlich zu erkennen?" „Ja. Der Wagen hat ein helles Lenkrad. Die Gruppe konnte auf Anhieb bestimmt werden. An der Gangschaltung sind Abdrücke vom Daumen und vom Zeigefinger." „Oho!" Ulfs stopfte sich wieder eine Pfeife und sagte sich, daß er heute zuviel rauchte. „Ich hab's der Ordnung halber überprüft. Die Abdrücke stammen nicht von Ludvigs Rimsa. Das war auch nicht zu erwarten. Nach einer Fahrt von dreißig Kilometern . . . Wie sollten da Rimsas Abdrücke erhalten bleiben?" „Hast du ein Bildtelegramm abgeschickt?"
"Ja." Ulfs erhob sich und lief auf und ab. Die Sohlen seiner Sandalen knarrten leise. „Das ist schlecht." Ulfs blieb stehen. „Demnach ist er kein Profi." „Wer?" „Der Täter. Ein Profi hätte das Lenkrad abgewischt. Das gehört doch zum kleinen Einmaleins." „Vielleicht. . ." „Ein Profi hätte beim Einsteigen vielleicht unbewußt an den Rückspiegel gegriffen, um ihn richtig einzustellen, das Lenkrad aber hätte er abgewischt." „Das stimmt schon ..." „So was hat uns gerade noch gefehlt! Fingerabdrücke auf dem Lenkrad!" sagte Ulfs ärgerlich und fuhr dann, gleichsam zögernd, fort: „Kommen Sie nur, hier ist meine Visitenkarte!" Ulfs wurde immer wütender. Er redete sich mehr und mehr in Rage. Der Umstand, daß der Bandit genau wie Hugo Langermanis ein Anfänger war, gefiel ihm nicht. Ein Anfänger ist immer schwerer zu fassen als ein Rückfalltäter, der seine Treffs, eine bestimmte Denk- und Lebensweise und ein Bedürfnis nach Anerkennung hat. Der Anfänger aber hat eine ganz andere Denkweise. Daß sich Wünsche und Charaktere bei Anfängern und Rückfalltätern gleichen, hat wenig zu sagen. „Er hat sich mit dem Geld wie ein Krebs in seiner Höhle verkrochen, und wir können ihn suchen!" „Vielleicht hat er unterwegs mal kurz die Handschuhe ausgezogen und dabei automatisch ans Lenkrad gefaßt. Auch das ist
möglich." „Dann hätten sich die Abdrücke wieder verwischt." „Sie waren ölig. So was läßt sich nicht so leicht abwischen." „Da kann man nichts machen! Jetzt können wir nur noch hoffen. Ach ja, die Hoffnung! ,Du bist meine Hoffnung von Jugend an!' Ach, du hattest ja keinen Religionsunterricht. .." In diesem Augenblick läutete das Telefon. „Oberst Ulfs am Apparat. Ja, der Genosse Grauds ist auch hier!" Der Anruf kam aus der Fernschreibabteilung. „Wir haben soeben ein Telegramm erhalten", sagte eine Mädchenstimme. „Sie können es abholen." „Lesen Sie bitte vor, ich hol's mir nachher ab, wenn ich runterkomme.“ „Fingerabdrücke identifiziert. Markow, Pjotr Wladimirowitsch, geboren 1928, lebt in der Belorussischen SSR, in Minsk ..." „Sie brauchen nicht weiterzulesen, ich komme gleich runter." Grauds warf den Hörer auf die Gabel. „Soviel Glück kann's doch gar nicht geben", sagte Ulfs. „Lauf, ich melde inzwischen ein Ferngespräch an!" Eine knappe Stunde später
war
Grauds
auf
dem
Flugplatz.
Die
silbrig
schimmernden Maschinen bewegten sich so langsam, als würden
sie
geschoben.
Neben
den
einen
standen
Menschengruppen, an andere fuhr schon die Gangway heran, und vor ihnen bildeten sich Schlangen. In Minsk holte ihn ein Kollege mit dem Wagen vom Flugplatz ab. „Er ist zu Hause, unsere Jungs behalten ihn im Auge", berichtete der Kollege während der Fahrt. „Er hat heute frei. Er
ist Fernfahrer und fährt einen Siebentonner mit Anhänger. Vorgestern hat er eine Ladung Stoffe aus Riga geholt." „Das muß aber vor siebzehn Uhr gewesen sein", sagte Grauds. „Wenn man aufs Gaspedal drückt, kann man morgens schon wieder in Minsk sein. Er hat die Ladung aber erst am Abend abgeliefert." „Weshalb ist er vorbestraft?" „Wegen eines Eigentumsdelikts." „Wieviel Jahre hat er gekriegt?" „Fünf. Das war schon neunzehnhundertsiebenundfünfzig. Für die damalige Zeit eine ganze Menge." „Hat er die Strafe hier bei Ihnen abgesessen?" "Ja . " Der Wagen fuhr über die Ringlinie, um das Stadtzentrum zu umgehen. Zu beiden Seiten der Chaussee lag sumpfiges Gelände. Markow wohnte in einem weißen, vierstöckigen Haus aus Kalksandziegeln. Solche Häuser sieht man in fast allen Neubauvierteln. Unter Schutzdächern trocknete Wäsche, kleine Jungen trieben mit Hockeyschlägern einen Tennisball über den Asphalt, ein Mann beschimpfte wütend sein streikendes Motorrad. Der Mann warf ungeniert mit deftigen Ausdrücken um sich und schraubte an dem störrischen Feuerstuhl herum, unter dem ein paar Schraubenschlüssel lagen. Hinter den Ringelrosenbeeten gegenüber der Haustür unterhielt sich
auf
einer
Bank
der
Abschnittsinspektor
mit
der
Hauswartsfrau. Er hatte seine Mütze in die Stirn gedrückt, damit ihn die Sonne nicht blendete. Die Kehrschaufel der Haus-
wartsfrau lag neben der Bank, den Besen hielt sie in der Hand. Der Inspektor war ein junger Mann mit freundlichem, rundem Gesicht. Seine ganze Gestalt strahlte einen unverwüstlichen Optimismus aus. „Er hat das Haus nicht verlassen. Wahrscheinlich schläft er", sagte er, nachdem man ihn mit Grauds bekannt gemacht hatte. „Es wäre besser, wir gingen nur zu zweit hin", schlug Grauds vor. „Die Kollegen könnten hier unten warten." „Wie Sie wollen", erwiderte der Inspektor. Pjotr Wladimirowitsch Markow war ein mittelgroßer Mann mit schütterem Haar und dreisten kleinen Augen. Als sie ihn aus dem Bett holten, war ihm sofort klar, daß der Besuch keiner reinen Neugier entsprang. Er zog sich einen zerdrückten, breitgestreiften Pyjama über, schob die Füße in warme Pantoffeln, schickte den kleinen Jungen, der mit einer bunten Holzeisenbahn im Zimmer spielte, in den Korridor, setzte sich an den Tisch und sagte: „Das ist ein Schuß in den Ofen. Markow hat nichts auf dem Kerbholz!" Der Inspektor zwinkerte Grauds zu und fragte: „Haben Sie viele Bekannte in Riga?" „Keinen einzigen." Die kleinen Äuglein funkelten böse. Wir müssen herausfinden, mit wem er in der Kolonie befreundet war und ob dort nicht irgendein Rigaer eingesessen hat, dachte Grauds. „Kriegen Sie oft Post aus Lettland?" Markow zögerte mit der Antwort, aber vielleicht kam es Grauds auch nur so vor.
"Ja." „Könnten Sie uns ein paar der Briefe zeigen?" Markow holte einen Stapel Briefe aus dem Schreib schrank und warf ihn auf den Tisch. Die Briefe kamen aus Liepäja. „Sie können sie ruhig lesen, aber das, was Sie suchen, werden Sie da nicht finden! Ich habe einen Bruder in Lettland." Die Hausfrau klopfte, kam herein und bot Tee an, Markow schickte sie jedoch mit den Worten fort: „Die Herrschaften wollen keinen Tee, sie wollen mich einsperren." „Sonst kennen Sie niemand in Lettland?" „Doch. Die Frau meines Bruders und ihre minderjährigen Kinder." „Mir ist nicht nach Scherzen zumute." „Mir auch nicht. Was wollen Sie von mir?" „Ziehen Sie sich an, Sie müssen mitkommen." „Ohne die Erlaubnis des Staatsanwalts brauche ich überhaupt nicht... Ich werde mich beschweren! Ich werde nach Moskau schreiben! An den Generalstaatsanwalt!" „Ziehen Sie sich an!" Markows Haltung änderte sich von einem Augenblick zum anderen. Nervös zog er sich an. Er holte bald das eine, bald das andere Hemd aus dem Schrank, legte es wieder zurück, kramte in Schubfächern und erklärte: „Ehrenwort, ich hab nichts ausgefressen! Sie müssen sich irren!" „Ich wiederhole meine Frage: Wen kennen Sie in Lettland außer der Familie Ihres Bruders? Lebt die ganze Familie in Liepäja?" „Ja."
„Wen also kennen Sie dort noch?" „Niemand. Ehrenwort!" „Kennen Sie Hugo Langermanis?" „Den Namen höre ich zum erstenmal." „Ludvigs Rimsa?" Markow schüttelte den Kopf. „Sie sind auf der falschen Spur, Genosse Untersuchungsführer. In Minsk gibt's viele Markows und bestimmt auch welche, die Pjotr Wladimirowitsch heißen." „Kennen Sie ,Kater Wassja'?" „Nein. Sie sind auf dem Holzweg." „Gehen wir." Der Inspektor setzte seine Mütze auf. „Das wird sich alles klären." „Jewdokija, ich bin zum Abendbrot zurück", rief Markow, als sie an der Küche vorbeikamen. Der kleine Junge kehrte mit seiner Eisenbahn in das geräumige Zimmer zurück - er hatte für nichts anderes Augen. Grauds schwankte. Einerseits mußte Markows Wohnung durchsucht werden, andererseits hatte das noch Zeit. Nein, das war jetzt nicht nötig! Die Befragung fand in der Abteilung für Innere Angelegenheiten statt. Dabei waren mehrere Offiziere zugegen, woran Markow sofort erkannte, daß es um etwas Ernstes ging. Er beantwortete Grauds' Fragen exakt und ohne zu stocken. „Ihre Fahrstrecke?" „Minsk - Leningrad - Tallinn — Riga - Minsk." „Wann sind Sie in Riga angekommen?" „Kurz nach zwölf Uhr mittags."
„Wann haben Sie die Ladung übernommen?" „Später. Wann genau, weiß ich nicht mehr. Aber es war schon ziemlich spät." „Achtzehn Uhr? Siebzehn Uhr?" „Eher gegen siebzehn Uhr." „Weiter." „Ich hab den Wagen in einer Straße am Markt abgestellt und mich nach Mitbringseln umgesehen." „In welcher Straße war das?" „Daneben befand sich ein bewachter Parkplatz für Pkws." „Sind Sie lange auf dem Markt geblieben?" „Der Markt hatte schon zu. Da bin ich noch durch ein paar Geschäfte gelaufen. Ich hab meiner Frau ein Paar Schuhe und meinem Sohn eine Eisenbahn gekauft. Die haben Sie ja gerade gesehen." „Sie haben also Einkäufe getätigt, und ..." „Hinterher bin ich essen gegangen." Mit diesen Worten beendete Markow den von Grauds angefangenen Satz. „Wann war das?" „Gegen sieben. Die Geschäfte machten schon zu. Eigentlich sollte ich noch eine Decke für meine Schwiegermutter besorgen, aber das hab ich nicht mehr geschafft." „Wo haben Sie gegessen?" „Ich konnte ja nicht ahnen, daß Sie mich danach fragen würden." „War's eine Kantine? Ein Cafe?" „Eine Kantine. In der Altstadt. Daneben stand so ein runder Turm aus roten Ziegeln. Wahrscheinlich irgendein Denkmal. Davor drängten sich ein paar Ausländer mit Fotoapparaten." „Könnten Sie uns diese Stelle zeigen?"
„Natürlich. Aber Sie irren sich, Genosse Untersuchungsführer. Markow ist sauber, er hat nichts angestellt." Wenn Markow die Ladung wirklich erst um fünf übernommen hatte, war ihm für die Geschäfte nur wenig Zeit geblieben, und er konnte auf keinen Fall der Mann gewesen sein, der am Lenkrad des Taxis gesessen und auf den Kassenboten geschossen hatte. Das Taxi war um zwei bei der Bank vorgefahren, und von da bis zu dem Überfall mußte ein und derselbe Mann am Lenkrad gesessen haben, denn einen Fahrerwechsel hätten die Kassenboten nicht geduldet. Und wieder dachte Grauds trotz Ulfs' überzeugender Schlußfolgerungen, daß es auch Ludvigs Rimsa selbst gewesen sein konnte. Schade, daß sie Rimsa gegenüber nicht den „Paraffintest" anwenden konnten, denn auf ihn war ja auch geschossen worden, so daß sich jetzt nicht mehr feststellen ließ, ob er an jenem Tag eine Schußwaffe benutzt hatte oder nicht. Welche Rolle könnte Markow bei dem Überfall gespielt haben? Warum sollten sie ihn zu ihrem Komplizen gemacht haben? Wahrscheinlich war er nach Grauds' erstem Besuch in Rimsas Haus gekommen, hatte mit Hugo Langermanis abgerechnet, das Geld an sich genommen und das Weite gesucht. Er mußte die Täter gut kennen, sonst hätten sie ihn nicht ins Haus gelassen. An die Kantine konnte Markow sich auch von einem früheren Besuch her erinnern. Mal sehen, was er dort gegessen hat. Das läßt sich ja anhand der Speisekarte leicht nachprüfen. „Was haben Sie gegessen?" „Suppe mit Fleischklößchen, Sauerkrautsalat und Entrecöte. Sie vertrödeln wirklich nur Ihre Zeit!" „Sonst haben Sie nichts gegessen?"
„Doch, Schaumspeise." „Und dann sind Sie zu Ihrem Wagen zurückgekehrt?" „Ja, das wollte ich, aber unterwegs bekam ich Lust, ins Kino zu gehen. Als das Kino aus war, wurde es schon dunkel. Da hab ich dann auf die Tube gedrückt." „Welchen Film haben Sie gesehen?" „Einen Kriegsfilm." „Sie waren lange unterwegs." „Ich bin ja nicht pausenlos gefahren. Zwischendurch hab ich geschlafen. Früher bin ich oft die Nacht durch gefahren, aber jetzt hab ich nicht mehr die Kraft dazu. Ich bin gefahren, bis es völlig dunkel war, und dann von der Straße abgebogen. Direkt zur Daugava. Eigentlich wollte ich am nächsten Morgen mit der Spinnangel Fische fangen, hab aber geschlafen wie ein Bär." Grauds überlegte, wie er die nächste Frage formulieren sollte. Markows Sicherheit machte ihn stutzig: Der Mann mußte eiserne Nerven haben. „Haben Sie mir wirklich alles erzählt, was Ihnen während der Fahrt nach Lettland begegnet ist? Haben Sie nichts ausgelassen?" „Ich hab Ihnen alles gesagt - wie dem Pfarrer bei der Beichte! Ich hab mir nichts vorzuwerfen, und Sie können mir nichts anhängen. Sie suchen einen anderen Markow." Grauds holte die Fotos mit den Fingerabdrücken aus der Tasche und legte sie vor Markow auf den Tisch. „Das sind Ihre Fingerabdrücke. Wir haben sie auf dem Lenkrad und auf der Gangschaltung eines Pkws gefunden." Markow blinzelte verstört. Dann sprang er plötzlich auf. „Ein Saporoshez?" rief er. „Ein alter?" „Ja."
Eine Minute lang tobte Markow wie ein Berserker. Er stieß sämtliche Flüche aus, die er irgendwann einmal gehört hatte. Als ihm die Flüche ausgingen, setzten die Informationen ein. Zwanzig oder dreißig Kilometer von Riga entfernt, in der Nähe der Stelle, an der Markow übernachtet hatte, hielt ihn ein Saporoshezfahrer an und bat ihn, aufs Gaspedal zu treten, während er selbst die Anlasserkurbel drehte. Natürlich war Markow ihm behilflich, und der Motor sprang auch bald wieder an. Wie zu erwarten, erinnerte sich Markow nicht an das Gesicht des Mannes. Es war ja dunkel gewesen. Er erinnerte sich nur, daß der Mann ungefähr so groß gewesen war wie er. Wenn Markow nicht log — und anscheinend sagte er die Wahrheit —, dann hatte sich der Verbrecher auf diese Weise ein Alibi verschafft. Er hatte dafür gesorgt, daß die Miliz die Fingerabdrücke eines anderen auf dem Lenkrad fand. Sein Pech war, daß Markows Fingerabdrücke in der Kartothek vorhanden waren. Natürlich sah das Ganze nach der Begeisterung, die sie empfunden hatten, als sie glaubten, den Verbrecher in ihren Händen zu haben, eher wie ein Mißerfolg aus, aber jetzt wußten sie, daß der Verbrecher sich bewußt ein Alibi verschafft hatte. Also hielt er es für möglich, daß er früher oder später ins Blickfeld der Miliz rückte oder sogar schon gerückt war und daß man ihn mit dem Diebstahl des Wagens in Verbindung bringen konnte. Vor allem aber versuchte er den Eindruck zu erwecken, er habe Riga verlassen, während er sich in Wirklichkeit gar nicht vom Fleck gerührt hatte. Ein so gewiefter Bursche wußte natürlich, daß er
ein Risiko einging, als er Markows Fingerabdrücke aufs Lenkrad praktizierte. Viel einfacher wäre es gewesen, überhaupt keine Abdrücke zu hinterlassen, aber da er ein Alibi brauchte, ging er das Risiko ein. Daraus erklärte sich auch die Tatsache, daß Markow ihn nicht beschreiben konnte: Der Verbrecher hatte sich absichtlich im Hintergrund gehalten. Ja, er war sich des Risikos bewußt gewesen! Natürlich konnte man noch nicht völlig ausschließen, daß Markow log. Theoretisch hatte er genügend Zeit gehabt, den Saporoshez wegzubringen und im Wald zu verstecken, die zehn Kilometer bis Ogre zu laufen, in den Zug zu steigen und nach Riga zu seinem Laster zurückzukehren, aber das alles ergab wenig Sinn. Genausogut hätte er den Saporoshez in einer beliebigen Rigaer Straße stehenlassen und mit seinem Laster weiterfahren können, weil er ja nicht den Eindruck zu erwecken brauchte, er sei aus der Stadt verschwunden. Eher im Gegenteil. Grauds schickte Ulfs einen Fernspruch, in dem er ihm seine Überlegungen mitteilte, und fuhr zum Flugplatz.
27
Die Sonne ging bereits unter, und die Autos streb-
ten der Stadt zu wie Ameisen ihrem Haufen, um vor Einbruch der Dunkelheit am Ziel zu sein. Tagediebe gingen auf die Jagd, an den Restauranttüren erschienen Tafeln mit der Aufschrift: „Keine freien Plätze", aus Jürmala kehrten in Vorortzügen muntere Ausflügler mit nassen Badeanzügen zurück, Ecke Merkel astraße wurden die letzten Blumen
verkauft, und in den Parks küßten sich schon die ersten Pärchen. Zu dieser späten Stunde fuhr ein Dienstwagen beim Ministerium für Innere Angelegenheiten vor. Ihn bestieg ein solide wirkender älterer Mann, der eine Windjacke und einfache Sandalen trug. Zwischen seinen Zähnen steckte eine Pfeife. „Wohin fahren wir, Genosse Oberst?" „Nach Doni." Und fast gleichzeitig fragte er: „Stört Sie's, wenn ich rauche?" „Ich bin auch nicht frei von diesem Laster." „Tja, manchmal hat man sogar was von den Lastern seiner Nächsten." Die wenigen Stunden, die seit dem Eintreffen von Grauds' Fernspruch aus Minsk vergangen waren, hatte Ulfs in seinem Arbeitszimmer hinter verschlossenen Türen verbracht. Er hatte sich Tee gebrüht, seine Pfeife gepafft, sich in einen bequemen Sessel gelehnt, nachgedacht und weder auf ein Klopfen an der Tür noch auf Anrufe reagiert. Dabei hatte sein lebhaftes Gesicht ständig den Ausdruck gewechselt. Bald hatte es sich freudig aufgehellt, bald zweifelnd
verfinstert.
Er
war
gleichsam
durch
ein
Gedankenlabyrinth geirrt und im Dunkeln umhergetappt. Jeder Seitengang hatte in ihm die Hoffnung geweckt, einen Ausweg zu finden, im nächsten Augenblick aber hatte er wieder erkannt, daß er einem Irrtum unterlegen war. Und wieder hatte er sich voller Hoffnung vorwärts getastet. Schließlich kehrte Ulfs an seinen Schreibtisch zurück. Er nahm sich ein Blatt Papier und zeichnete den Rücken eines
Menschen darauf. Rippen und Wirbelsäule deutete er nur an. Nach kurzem Nachdenken heftete er das Blatt an das Gutachten des medizinischen Sachverständigen und schob es an die Schreibtischkante. Dann entnahm er dem Tischkasten die Hülse einer Jagdpatrone und einen Beutel Schrotkörner mit einem Durchmesser von fünf Millimetern. Er schob die Schrotkörner ein paarmal in die Hülse und kippte sie dann wieder zurück auf den Tisch. Dann nahm er drei Schrotkörner beiseite, füllte mit den übrigen die Hülse und schüttelte sie, damit sie sich gleichmäßig verteilten. Als das nicht gelang, trat auf sein Gesicht ein Ausdruck der Genugtuung. Alles war genau so, wie der Jäger es ihm gesagt hatte: In die Hülse paßten sechzehn Schrotkörner, von denen je vier übereinander lagen. Dann kehrte Ulfs zu seiner Zeichnung und zu dem Gutachten zurück. Der Experte hatte dreizehn Einschußstellen entdeckt, die Ulfs nun in seiner Zeichnung mit -kleinen Kreuzen versah. Dabei wurde erkennbar, daß der Mörder nicht direkt hinter seinem Opfer gestanden hatte - der Schuß kam von der Seite, und alle Einschüsse lagen auf der linken Seite der Wirbelsäule. Also hatten drei Schrotkörner Hugo Langermanis verfehlt. Ulfs erinnerte sich an Hugo Langermanis' Lage und versuchte sich vorzustellen, wo er vor seinem Tod gestanden haben mochte. Ein Schuß fällt. Hugo Langermanis stürzt zu Boden. Aber warum bleibt die Fensterscheibe heil? Das Fenster liegt links von Hugo Langermanis! Drei Schrotkörner sausen an ihm vorbei, und mindestens eins davon muß das Fenster treffen. Vielleicht ist es gegen die Wand geprallt? Doch das hätten die
Kollegen bei der Tatortbesichtigung bemerkt! Ulfs sah sich den Erdboden rings um die Gartenpforte der Rimsas aufmerksam an. In jener Nacht war hier alles zertreten worden. Trotzdem entdeckte er unmittelbar an der Schwelle zwei parallel zueinander verlaufende fußbreite Furchen von einem Zentimeter Tiefe — hier war der Erdboden weicher als anderswo, denn gewöhnlich schreitet man über diese Stelle hinweg. Die Luft im Haus roch abgestanden, und in der Küche kreisten große grüne Fliegen. Seine Schritte hallten dumpf durch den Flur. Am liebsten hätte Ulfs das Haus fluchtartig verlassen. Er holte die Lupe mit dem langen ausziehbaren Griff hervor, so daß er nicht mit der Nase über den Boden zu kriechen brauchte. Nein, wie zu erwarten gewesen war, hatten die Schrotkörner hier keinen Schaden angerichtet, waren also auch nicht hier abgefeuert worden. Ulfs wählte die Nummer von Juris Garancs, legte aber wieder auf, als er seine Stimme hörte. Er würde das allein schaffen. Ulfs schloß Rimsas Haus sorgfältig hinter sich ab, trat auf die Straße hinaus und sagte zu dem Fahrer: „Komm mir zu Hilfe, wenn du Schüsse hörst. Aber eigentlich dürfte nichts passieren." Er überquerte im Seemannsgang die Straße und betrat Kozinds' Hof. Eine Zeitlang wartete er hier in der Hoffnung, daß jemand aus dem Haus käme, aber es war niemand zu sehen. Er klopfte nichts rührte sich. Er drückte auf die Klinke - die Tür war verschlossen. Dann klappte ein Frühbeetdeckel, und er horchte auf. Ein feiner Regen schien im Blattwerk zu rauschen - wahrscheinlich sprengte
jemand den Garten. Wo mochte sich das Drama abgespielt haben? Doch nicht draußen vor der Tür! Er sagte sich, daß es ein geschlossener Raum gewesen sein mußte, weil andernfalls die Nachbarn den Schuß nicht wie ein Händeklatschen empfunden hätten. Ulfs betrat den Garten. Im Vorbeigehen warf er einen Blick in die Garage — die Tür stand sperrangelweit offen - und blieb wie vom Donner gerührt stehen: Er sah die Stelle, an der es passiert war. An der Wand erblickte er in Bauchhöhe drei fast nebeneinander liegende gelbliche, frisch verputzte Flecken. Genau hier war es geschehen. Hier waren die drei Schrotkörner, nach denen er in Rimsas Haus vergeblich gesucht hatte, in die Wand eingedrungen. Die Szene stand ihm deutlich vor Augen. Ungefähr hier hatte Hugo Langermanis gestanden - gegenüber diesen Flecken an der Wand. Der Mörder hatte ihm in den Rücken geschossen und ihn dann in Rimsas Haus geschleift. Hugo hatte Halbschuhe getragen, und die Absätze hatten im Erdboden zwei Furchen hinterlassen. Gleich nachdem der Schuß gefallen war, hatte der Mörder Hugos Leiche weggeschafft. Weil die Häuser so dicht beieinander lagen und zwischen dem Mord und dem Transport der Leiche so wenig Zeit verstrichen war, hatte der Experte nicht gemerkt, daß der Mord an einer anderen Stelle ausgeführt worden war. Ulfs nahm die Lupe, zog den Griff zu seiner vollen Länge aus und sah sich das Nummernschild von Kozinds' Wagen an. Dabei interessierten ihn vor allem die Schrauben, mit denen das Schild befestigt worden war.
Wahrscheinlich werden die Experten feststellen, daß die Nummernschilder an Rimsas und Kozinds' Wagen fast gleichzeitig und mit ein und demselben Schraubenschlüssel angebracht worden sind, dachte Ulfs, als er die Garage verließ, Der Halunke wußte, daß an den Straßen Posten standen, und wechselte vorsichtshalber das Nummernschild des Saporoshez aus. Dann fuhr er nach Turkalne. Vielleicht hat er dort auch die Beute versteckt? Oder wollte er dort den letzten Bus nach Ogre erreichen, um dann mit dem Vorortzug oder mit einem Taxi nach Riga zurückzukehren? Warum bin ich nicht gleich daraufgekommen, daß der Täter an jenem Abend ordentliche Fahrpapiere brauchte? Kozinds goß gerade seine Nelken. Als er Ulfs erblickte, legte er den Schlauch auf die Erde und rieb sich die sandigen Hände an der Hose ab. Die Hände in den Jackentaschen, stand Oberst Ulfs reglos vor ihm. Sein Blick war schwer und verhieß nichts Gutes.
28
Als Ludvigs Rimsa das Taxidepot verließ, sah er
Nelli am Straßenrand stehen und winken. Sie stieg vorn ein. Dabei ging ihr Mantel auf. Beim Anblick ihrer runden weißen Knie dachte Rimsa: Seltsam, zu Hause ist mir noch nie aufgefallen, was für verführerische Beine sie hat. „Wo willst du hin?" „Zum Markt." Nelli wirkte abgespannt, ihre Stimme klang besorgt. „Wann kommst du nach Hause?"
„Gegen elf." „Ich werde auf dich warten. Oh . . ." Plötzlich griff sich" Nelli ans Herz. „Mir wird ganz schwindlig." Früher hatte sie hin und wieder einen Herzanfall gehabt, wodurch das Ganze jetzt sehr natürlich wirkte. „Soll ich dich zur Poliklinik bringen?" „Nicht nötig. Das geht vorbei. Halt hier an! Ich leg mich hin." Rimsa hielt an und klappte ihre Sessellehne nach hinten. „Du solltest zum Arzt gehen", sagte er ärgerlich. „Ja, ja, ich gehe ein andermal zum Arzt. Könntest du mich nicht nach Hause bringen?" Rimsa sah auf die Uhr. Er zögerte. Dies war der schwächste Punkt ihres Plan: Rimsa konnte Nelli in ein anderes Taxi setzen, wenn er befürchtete, zu spät zur Bank zu kommen. „Bitte, fahr mich nach Hause", hauchte Nelli kläglich. Rimsas Wolga raste fast auf dem weißen Mittelstreifen entlang. Nelli stöhnte, und Rimsa erinnerte sie noch einmal an den Arzt. „Hilf mir nur, nach oben zu kommen, dann rufe ich den Arzt an. Aber fahr in die Garage, ich will nicht, daß man mich so sieht." „Einer Krankheit braucht man sich doch nicht zu schämen!" Nelli antwortete nicht. Sie zweifelte nun nicht mehr daran, daß Rimsa ihre Bitte erfüllen würde. Hugo stand hinter einem Mauervorsprung in der Garage. Um ins Haus zu gelangen, mußten Ludvigs und Nelli Rimsa an ihm vorbei. Er würde Rimsa mit einem Knüppel betäuben, ihn in den Heizkeller schleppen und die Eisentür verriegeln. „Nelli werde ich sagen, daß ich Ludvigs ein chloroformiertes
Tuch in den Mund gestopft habe", sagte Hugo Langermanis zu Kozinds. „Das beste Chloroform ist eine Axt", meinte Kozinds lachend. „Dann reißt du alle Schränke auf, ziehst die Schubfächer raus und verteilst alle Sachen im Raum", schärfte er Hugo ein. „Die Bullen sollen glauben, daß du was gesucht hast und dabei gestört worden bist. Davon müssen wir sie überzeugen. Dann fesselst du Nelli und stopfst ihr das Maul. Gegen acht komme ich mit dem Recht des Nachbarn ins Haus und befreie sie. Setz sie in die Küche, damit ich sie von der Außentreppe aus sehen kann." Kozinds holte tief Luft und fügte nachdrücklich hinzu: „Sie werden den Schuldigen unter den Taxifahrern suchen. Auf sie wird der schwerste Verdacht fallen. Schließlich wußten sie, daß Ludvigs Dienst hatte, und vielleicht auch, daß Nelli weggegangen war. Das läßt sich leicht telefonisch feststellen. Ich werde ihnen sagen, daß Jerry ungefähr zu dieser Zeit gebellt hat, aber gleich darauf wieder still geworden ist. Das bedeutet, daß ein Bekannter da war. Vielleicht einer von denen, die oft zum Fernsehen hier waren. Da kommen mindestens fünfzehn Mann in Frage. Und auch sonst weist alles auf einen Taxifahrer hin. Er haut mit Ludvigs Taxi ab und findet im Handschuhfach den Auftrag für die Bank. Wie er dahin kommt und was er da zu tun hat, weiß er. Eine einmalige Gelegenheit, ein ganz großes Ding zu drehen. Rein zufällig - das ist die Hauptsache. Davon müssen wir die Bullen überzeugen." „Wir können ihnen ja eine Nachricht hinterlassen", krächzte Hugo mit heiserer Stimme. „Nimm dir noch ein zweites Paar Schuhe mit und lauf damit im
Haus rum. Sollen sie ruhig glauben, daß es zwei waren." „Aber die Kassenboten kennen die Fahrer. Wenn man ihnen die Fotos von den Taxifahrern vorlegt, die ..." „Die Kassenboten sitzen hinten, und ich werd dafür sorgen, daß sie mich im Spiegel nicht sehen. Mach dir um mich keine Sorgen, mich werden sie nicht erkennen." „Einer könnte vorn mit einsteigen." „Ich steck mir irgendein Werkzeug ein und zerfetze den Bezug des Vordersitzes so, daß die Sprungfedern rausstehen. Dann kriegt er Angst um seine Hosen und setzt sich nicht dahin, wo wir ihn nicht haben wollen!" Hugo hörte einen Wagen kommen. Die Garagentür ging auf, und ein heller Lichtschein fiel herein. Rimsa wendete und fuhr den Wolga rückwärts in die Garage. „Hilf mir noch die Treppe rauf, dann kannst du fahren", hörte Hugo Nelli sagen. „Ja, gleich." Sie zwängten sich zwischen dem Saporoshez und dem Mauervorsprung vorbei, hinter dem Hugo lauerte, und gingen auf die Treppe zu. „Warte mal, ich hab hier was für dich. Das wird dir sicher helfen", sagte Rimsa und blieb stehen. Nelli ging an Hugo vorbei. „Ich komme gleich", rief Rimsa, und Hugo hörte, wie er sich im Heizkeller zu schaffen machte. Was er dort suchte, würde wohl für alle Zeiten ein Geheimnis bleiben. Mit einem Satz war Hugo an der Tür, schlug sie zu und verriegelte sie. „Schrei um Hilfe!" forderte er Nelli mit ein paar Gesten auf. Nelli kreischte und stieß ein paar zusammenhanglose Worte aus:
„Lassen Sie mich los! Hilfe! Miliz!" Als Ludvigs Rimsa die Schreie seiner Frau hörte, warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die eiserne Tür, bekam sie aber nicht auf. Hugo sprang in den Wolga, drehte den Zündschlüssel um und führ auf die Straße hinaus. Hier nahm Kozinds den Fahrerplatz ein. Hugo verriet ihm nicht, daß er Nelli nicht gefesselt hatte. „Liegt der Fahrauftrag im Handschuhfach?" fragte Kozinds rasch. „Ja, ich hab schon nachgesehen." „Na, dann Hals- und Beinbruch!" Die Räder des Taxis wirbelten Hugo den Staub ins Gesicht. Er schlenderte hinter dem Wagen her in Richtung Zentrum, ihm blieb noch genügend Zeit. Nein, er würde Kozinds nicht sagen, daß er Nelli nicht gefesselt hatte. Hugo ging in eine Telefonzelle und rief Nelli an. „Hallo?" „Grüß dich, meine Liebe! Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt! Ich liebe dich! Hörst du? Ich liebe dich! Ich rufe nur an, um dir das noch einmal zu sagen: Ich will nur dich!" „Mein Lieber!" Aus dem Hörer drangen leidenschaftliche, hastige Atemzüge. Es stimmt, was in der Zeitschrift „Sdorowje" steht: Diese kinderlosen Dämchen sind wirklich mannstoll, dachte Hugo. Wie alle Männer verachtete er unfruchtbare Frauen, an deren Kinderlosigkeit er nicht schuld war, denn unbewußt strebte auch er die Gründung einer Familie an, eine kinderlose Frau aber war für ihn so etwas wie eine möblierte Datsche, die man für einen Sommer mietet, wo man jedoch keine Wurzeln schlägt. „Ruf um acht bei der Miliz an und sag genau das, was wir aus-
gemacht haben. Aber vergiß nicht hinzuzufügen, daß du dich selbst von dem Strick befreit hast, mit dem du an den Stuhl gefesselt warst. Und laß Ludvigs vorher raus." „Er ist mir so zuwider." „Du mußt es unsertwegen tun." „Aber ich kann nicht mehr anrufen." „Wieso nicht?" „Ich hab eben mit Tereze gesprochen." „Wieso?" „Sie hat mich angerufen. Sie hat dich reinkommen sehen und bildet sich ein, wir liegen im Bett. Zum Glück glaubt sie, daß Ludvigs mit dem Wagen abgefahren ist und nicht du!" „Rühr dich nicht aus dem Haus! Warte auf mich! Küßchen!" Wütend hängte er den Hörer ein. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, seine Knie zitterten. Er glaubte, Kozinds' Stimme zu hören. „Nelli soll auf der Rückseite des Hauses ein Fenster offenlassen. Steig über den Zaun und dann durchs Fenster ins Haus. Und trample nicht so viel auf den Beeten rum, sonst merken die Bullen, daß bloß einer eingestiegen ist. . ." Er aber hatte sich von Nelli einen Schlüssel geben lassen, weil ihm das einfacher erschienen war! Hugo schlotterte vor Angst. Er ging ins nächste Cafe und trank ein Glas Kognak, verspürte aber keine Wirkung. Dann fuhr er nach Hause, um den falschen Paß zu holen. Eigentlich war es gar kein falscher Paß, und der Mann auf dem Foto sah Hugo auch nicht sonderlich ähnlich. Es war der Paß des Motorbootfahrers von der Rettungsstation. Hugo hatte ihn wenige Tage vor dem geplanten Überfall auf die Kassenboten
bei einer günstigen Gelegenheit an sich genommen. Nun glaubte Hugo, nicht mehr zurück zu können. Sobald er das Geld in den Händen hatte, wollte er so schnell wie möglich verschwinden. Noch hoffte er, daß es Kozinds gelingen würde, Tereze zum Schweigen zu bringen. Er wußte, daß Kozinds das so tun würde, daß auf ihn kein Verdacht fiel. In einer Grünanlage, zwei Haltestellen vor dem Geschäft in der Virsnavasstraße, sah er „Ratte". Der Alte saß auf einer Bank und wärmte sich mit aufgeknöpftem Hemdkragen den mageren Hals in der Sonne. „Ratte" sollte lieber schlafen gehen, dachte Hugo grimmig. Der sieht sein Geld nicht wieder! Ich brauche es jetzt dringender als die beiden zusammen. Schade war nur, daß er an Kozinds' Anteil nicht herankam. Als Kozinds auf den Hof der Bank gefahren war, hatte auch er gezittert, aber jetzt war die Angst weg. Von dem, was im Geschäft vor sich ging, sah Kozinds nichts, weil ihn der Knüppel, der unter dem Sitz neben ihm lag, einen Augenblick lang ablenkte. Der Kassenbote im Wagenfond behielt die Ladentür im Auge. Kurz darauf hielt Kozinds den Knüppel auf seinen Knien. Er überlegte, ob er dem Kassenboten gleich eins überziehen sollte. Dann brauchte er ihn, wenn Hugo zurückkam, nur noch rauszuwerfen. Er war sich aber nicht sicher, ob Hugo nicht noch irgendeine Dummheit machen würde. Erst mußte er Hugo aus dem Geschäft kommen sehen. Dann wollte er sofort zuschlagen. Der geladene Stutzen steckte für alle Fälle hinter seinem Gürtel und drückte ihn in die Seite. Kozinds konnte ihn leicht mit der
Linken herausziehen. Von ihm wollte er jedoch nur im äußersten Notfall Gebrauch machen. Wahrscheinlich wäre auch alles nach Plan gelaufen, wenn sich die Sonne nicht in der gläsernen Ladentür gespiegelt und Kozinds geblendet hätte. Wäre er nur einen Meter weiter gefahren, wäre ihr ..Einfallswinkel ein anderer gewesen, und die Sonne hätte dann vielleicht den Kassenboten geblendet, nun aber blendete sie Kozinds. Dem Kassenboten half die Sonne sogar - er konnte das ganze Geschäft überblicken. Er sah genau, was dort vor sich ging, und glitt wie ein Aal aus dem Wagen - eine Zehntelsekunde bevor Kozinds ausholen konnte, um ihm den Knüppel über den Schädel zu schlagen. Der Kassenbote angelte fieberhaft nach seiner Pistole. Kozinds war jedoch schneller, und der Bursche fiel mit dem Gesicht ins Gras. Erst da begriff Kozinds, was er angerichtet hatte. Beim Gedanken an das Gefängnis erfaßte ihn ein panischer Schrecken. Wäre Hugo nicht bereits auf den Wagen zugestürmt, hätte er allein das Weite gesucht. In seinen Schläfen hämmerte das Blut, und er hatte nur noch einen Gedanken: Nichts wie weg! Bis zur Brücke über die Jugla fuhr er wie ein Automat, bremste an den Kreuzungen automatisch und gab genauso automatisch wieder Gas. Erst als sie die Brücke überquert hatten, kam er allmählich zu sich und fing sogar an zu glauben, daß doch noch alles ein gutes Ende nehmen würde. „Warum hast du ihn . . .", fragte ihn der vor Angst schlotternde Hugo schüchtern. „So ist's sicherer. Er hat mich erkannt - wir sind uns schon mal irgendwo begegnet!" Die Lüge klang erstaunlich überzeugend. Hugo begriff sofort, daß
er an Kozinds' Anteil nicht herankommen und nur soviel erhalten würde, wie Kozinds ihm freiwillig gab. „Ratte" besaß auch nicht die geringste Chance, sein Geld zurückzubekommen. Und da erblickte Kozinds vorn auf der Chaussee plötzlich die Milizionäre. Er hatte keine Zeit zu überlegen, weshalb sie dort stehen mochten, weshalb sie alle Fahrzeuge der Reihe nach kontrollierten. Er sah nur die vielen wartenden Autos am Straßenrand und die Milizionäre auf der Chaussee. Selbst wenn er gewußt hätte, daß die Verkehrsmiliz nur den technischen Zustand der Wagen überprüfte, hätte er es nicht riskiert weiterzufahren. Er aber kam hier mit hundertzehn Stundenkilometern angerast, auf dem Rücksitz lagen die prall gefüllten Geldsäcke, und im Fahrauftrag stand, daß der Wagen zur Bank abkommandiert worden war. Kozinds tat das einzig Richtige: Er bremste und bog in den Waldweg ein. Dies war die alte Straße, die zu Ludvigs Rimsas Haus führte. „Laß den Wagen hier stehen!" stammelte Hugo. „Idiot! Mit Spürhunden finden die uns sofort! Wir müssen das Taxi in Rimsas Garage schaffen und in der Nacht weiterfahren." Etwa vierzig Kilometer von Riga entfernt hatten sie das erste Versteck vorbereitet und im Wald hinter der Schule von Turkalne das zweite. „Bis zu dem Versteck kommen wir nicht mehr! Die ganze Miliz ist auf den Beinen!" Als der Milizwagen vor dem Haus hielt, hockte Hugo Langermanis zitternd in dem im Obergeschoß gelegenen Schlafzimmer. Er war so durcheinander, daß er erst im letzten Augenblick
darauf kam, die Geldsäcke unters Bett zu schieben. Aus unerfindlichen Gründen bildete er sich ein, daß Alvis Grauds nur hereinzukommen und ihn zu erblicken brauchte, um ihn sofort zu verhaften, obwohl er doch für Grauds zu diesem Zeitpunkt noch ein völlig Unbekannter war. Hugo hörte, wie Nelli sich mit dem Milizionär unterhielt. Sie sprach in ruhigem, beherrschtem Ton, obwohl Ludvigs jeden Moment gegen die Kellertür hämmern konnte, was man im Haus deutlich gehört hätte. Allerdings hatte Hugo vorsorglich den Heizkeller ausgeräumt. Er hatte sogar den Eimer mit Briketts und den Feuerhaken herausgetragen. Jetzt erinnerte sich Hugo daran, daß an der Wand des Heizkellers ein trockenes Kräuterbündel gehangen hatte. Vielleicht war dies das Heilmittel gegen Herzbeschwerden, das Ludvigs hatte holen wollen, um Nelli zu helfen? Hugo verwünschte Kozinds, der jetzt wahrscheinlich in seinem Garten wühlte, damit jedermann sehen konnte, daß er zu Hause war, und er beschloß, falls man sie schnappen sollte, Kozinds nicht zu schonen. Das Ganze war Kozinds Idee gewesen - mochte er auch dafür geradestehen. Dann überlegte Hugo, wie er Nelli loswerden konnte. Gemeinsam zu fliehen, wäre unvernünftig gewesen, ein Pärchen war leichter zu fassen. Er wollte sich irgendein Alibi für Nelli ausdenken, aber ihm fiel nichts
Brauchbares
ein.
Aus
unerfindlichen
Gründen
überkamen ihn Erinnerungen an jenen Abend, an dem er Nelli überredet hatte, seine Komplizin zu werden. Gelungen war ihm das auf eine altbewährte Weise. Er hatte behauptet, völlig arm und vom Pech verfolgt zu sein. Das einzige, was er besitze, sei ihre Liebe. Und für diese Liebe werde er kämpfen. Er werde
in den Hohen Norden gehen und das nötige Geld verdienen, das sie zum Nestbau brauchten. Nein, sie müsse in Riga bleiben. Ein solches Opfer könne er von ihr nicht annehmen. Er würde es nicht überleben, wenn ihr etwas zustieße. Sie müsse hierbleiben und auf ihn warten. In ein paar Jahren werde er im Geld nur so schwimmen. Nelli wußte, daß sie nicht die schönste Frau der Welt war, aber sie war sich fast sicher, für Hugo die schönste zu sein — solange sie auf der Hut und immer an seiner Seite war. Von einer so langen Trennung hielt Nelli jedoch nichts. Was konnte inzwischen nicht alles geschehen! Sie erkundigte sich nach den Arbeitsmöglichkeiten in den südlichen Republiken, wo sie beide Geld verdienen konnten, erfuhr aber, daß die Leute von dort genauso arm zurückkehrten, wie sie vorher gewesen waren. Als Hugo in ihrer Gegenwart einen Personalbogen ausfüllte, war Nelli der Verzweiflung nahe. „Wenn das Sparbuch nicht auf Ludvigs eingetragen wäre!" jammerte sie. „Ich könnte ein paar Sachen verkaufen - was er dazu sagen würde, wäre mir egal —, aber für den alten Plunder kriegt man nicht mehr viel." „Ein paar Kopeken." „An die zweihundert, dreihundert oder vielleicht auch fünfhundert Rubel wären es schon!" „Na, sag ich doch." Am nächsten Tag rückte er mit seinem Vorschlag heraus: Er hatte einen alten Schulkameraden getroffen, der jetzt als Kassenbote arbeitete und in den gleichen finanziellen Schwierigkeiten steckte wie er. Der zweite Kassenbote war sein Kumpel. Wenn Hugo sich
eines Taxis mit dem entsprechenden Fahrauftrag bemächtigen und den richtigen Fahrer für ein paar Stunden aus dem Verkehr ziehen könnte, würden sie ihm vierzigtausend dafür zahlen. Das war eine etwas abgeschwächte Variante im Vergleich zu der, die „Ratte" zu hören bekam. Nelli stimmte sofort zu und hatte auch gleich eine Rechtfertigung für sich parat. „Ludvigs hat mein Leben zerstört. Es ist kein Unglück, wenn er seine Arbeit verliert. Dann hat er noch mehr Zeit für seine Mohrrüben und seinen Dill. Weißt du, er ist mir zuwider!" Den ganzen Abend verbrachten sie damit, das Geld zu zählen und zu sortieren. Hugo war mit Feuereifer dabei. Er bekam sogar Farbe und vergaß beinahe, daß man nach diesem Geld suchen würde. Er war stolz auf sich, weil er zwischen den Begriffen „Geld" und „Arbeit" noch nie einen Zusammenhang gesehen hatte. Er wußte nur, daß das durch Arbeit erworbene Geld nicht hin- und nicht herreichte und man sich zusätzliches Geld „beschaffen" mußte. Schon als Kind war ihm klar gewesen, daß seine Familie vorwiegend von solch „beschafftem" Geld lebte. Das war für ihn eine normale, alltägliche Erscheinung. Dabei war „beschaffen" etwas ganz anderes als „stehlen". Gestohlen wurden Gläser mit Eingemachtem und zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Geld aber „beschaffte" man sich. Meinen Stiefvater habe ich damit allerdings noch nicht übertrumpft, dachte Hugo beim Anblick der grünen, roten und fliederfarbenen Scheine. Er verglich sich mit dem Stiefvater im harten Kampf um die „Beschaffung" von Geld. Mit ihm kam er natürlich bei weitem nicht mit, aber im großen und ganzen
konnte er mit sich zufrieden sein. In Nelli weckte das geraubte Geld keinerlei positive Emotionen. Wenn man ihr noch einmal ein solches Angebot unterbreitete, würde sie rundweg ablehnen, auch wenn sie dann auf Hugo verzichten müßte. Sie hätte zwar nicht sagen können, warum, wußte aber genau, daß sie ablehnen würde. Dabei kannte sie längst noch nicht die ganze Wahrheit! „Soll ich meine Kleider mitnehmen?" „Nein." Hugo legte ihr den Arm um die Schultern. Das viele Geld beruhigte ihn. In ihm steckte eine seltsame Macht. Er mußte jetzt überlegen, wo er am besten untertauchte. Er schilderte Nelli ihr zukünftiges Leben in den herrlichsten Farben. Irgendwo, am Ufer eines anderen Meeres, würde er ein Haus bauen, das genauso schön sein würde wie dieses, sich einen Hund anschaffen — einen noch größeren als Jerry - und sich einen Wolga zulegen. Nelli stand leise auf und setzte sich ans Fenster. „Was hast du?" „Nichts. Ich möchte nur ein bißchen hier sitzen." „Wir werden ins Theater gehen, und du wirst aussehen wie eine Prinzessin! Einmal in der Woche, an einem bestimrnten Tag, werden wir Gäste empfangen. Die Tische werden sich unter der Last der Speisen biegen, und die Wände werden vor unseren Liedern erbeben." Über Nellis Wange rollte eine einsame Träne. Sie wußte zwar nicht, was sie wollte, aber eins wußte sie genau: Das, was Hugo ihr da versprach, wollte sie gewiß nicht. Das alles hatte sie bereits besessen, aber es hatte sich herausgestellt, daß das zum Leben zu wenig war. Erst jetzt begriff sie, daß es ihr gar nicht um Hugo ging. Sie brauchte etwas, womit sie ihr Leben ausfüllen, etwas,
womit sie ihm einen Sinn geben konnte. Vielleicht ein Kind. Das wäre ihr Beitrag gewesen. Kinder sind ein Beitrag zum Leben. Kinder - das ist man selbst. Die Ewigkeit ... In der Garage ertönte ein Knall, als wäre etwas umgefallen. Hugo sprang auf und lief die Treppe hinunter. Nelli kam sich plötzlich vor, als hätte ihr Mann sie mit einem Liebhaber im Bett überrascht. Es bedrückte sie, daß Ludvigs im Heizkeller eingesperrt war. Solange sie mit Ludvigs allein im Haus gewesen war, solange er noch hin und wieder gegen die Kellertür geschlagen hatte, war sie allerdings in Hochstimmung gewesen, weil das Ganze so herrlich nach einem Sieg aussah. Es war wie in einer alten Komödie. Dann war Hugo - ihr Liebhaber - gekommen. Ludvigs aber war ihr Mann. Und obwohl er keine Möglichkeit hatte einzugreifen, war er doch in der Nähe, und Nelli nahm seine Anwesenheit beinahe physisch wahr. Sie rief sich die unangenehmsten Seiten ihres Zusammenlebens in Erinnerung, suchte sich nur an Schlechtes zu erinnern und lud Ludvigs die Hälfte ihrer eigenen Sünden auf. Im stillen bedachte sie ihn mit Schimpfworten, aber je länger sie ihn beschimpfte, um so sinnloser wurden ihre Worte. Und zugleich trat ihr ihre eigene Schuld immer deutlicher vor Augen. Sie versuchte den Gedanken daran beiseite zu schieben, und für einen Augenblick gelang ihr das auch, aber er kam wieder und ließ sich nicht mehr abweisen. Nun hatte Ludvigs sich wahrscheinlich befreit. Sie hoffte zwar, daß das nicht der Fall sein möge - in der Garage konnte ja irgendein großer Gegenstand umgekippt sein -, aber ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß nichts ohne Grund umfiel und
daß dort unten außer der Tür zum Heizkeller überhaupt nichts umfallen konnte. Aber trotzdem hoffte sie noch immer. Eine physische Abrechnung hätte Nelli, ohne mit der Wimper zu zucken, auf sich genommen. Was sie fürchtete, war eine moralische Abrechnung. Und Nelli wußte, daß sie kommen würde, daß sie schon ganz nahe war. Da Hugo barfuß war, lief er lautlos die Treppe hinunter. Er hatte nur dreißig Schritte getan, geriet aber vor Aufregung ganz außer Atem. Er legte das Ohr an die Garagentür, hörte anfangs aber nur das Klopfen seines eigenen Herzens. Dann wurde ihm klar, daß sich jemand im Dunkeln an der Wand entlangtastete und gegen den Wagen stieß. Als er von der Tür zurücktrat, prallte er mit dem Rücken gegen etwas Scharfes — die Kante des Waffenschranks. Ich lasse ihn nicht entkommen, entschied er plötzlich. Die Patronen lagen, wie Hugo wußte, ganz oben. Rimsa hatte oft genug mit seinen Waffen geprahlt, und Hugo erinnerte sich, im oberen Schrankfach Patronen mit grünen, braunen und roten Hülsen gesehen zu haben. Alles andere befand sich im Fach darunter. Hugo tastete nach den Patronen. Er hatte von der Jagd nicht die geringste Ahnung und hätte genausogut nach den Patronen mit den für Tauben bestimmten Schrotkörnern greifen können, die nicht einmal ein Hemd aus festem Gewebe durchdringen. Aber er erwischte gefährliche Kugeln. Hugo lud damit ein Gewehr und stieß die Tür auf. Rimsa hatte die Scheinwerfer des Wolgas eingeschaltet und machte sich mit einer Andrehkurbel an den als Riegel dienenden Eisenstangen zu schaffen. Die rechte Stange war schon heruntergefallen, und nun ging er zur linken über.
„Zurück in den Heizkeller, sonst schieße ich!" Rimsa warf sich hinter dem Wagen zu Boden. Dann drehte er sich auf den Rücken und stieß mit beiden Beinen gegen das Tor. Wahrscheinlich war die linke Stange schon gelockert, und er hoffte, sie so herunterschlagen zu können. Wenn ich ihn verfehle, bin ich erledigt! Wenn dieser Bauer mich in die Finger kriegt, ist es aus mit mir! Noch einmal stieß Rimsa mit den Füßen gegen das Tor. Hugo konnte Rimsa kaum sehen - der Wagen bot ihm Dekkung - und schoß aufs Geratewohl. Er hörte ein Geräusch, als klatsche jemand mit der Faust auf weichen, fetten Lehm. Auf der Treppe hinter ihm ertönte ein entsetzter Schrei, und Nelli raste an ihm vorbei. Sie lief zu dem toten Rimsa, fiel auf die Knie und kreischte: „Verzeih mir! Verzeih mir! Verzeih mir!" Hugo machte einen Schritt auf sie zu. Sie starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an und schrie: „Du Ungeheuer! Du Ungeheuer! Verschwinde!" Da hob er das Gewehr und schoß noch einmal. Bei der Befragung sagte Kozinds, er sei gezwungen gewesen, Hugo Langermanis zu liquidieren, weil der den Verstand verloren habe. Vielleicht dachte er sich das nur aus, um sein Los ein wenig zu erleichtern, denn immerhin hörte sich das besser an, als wenn er gesagt hätte: „Ich habe ihn umgebracht, um meinen einzigen Zeugen aus dem Weg zu räumen und mir seinen Anteil anzueignen." Aber vielleicht entsprach es auch der Wahrheit: Aus seinen Aussagen schlössen die Psychiater, daß Hugo Langermanis offensichtlich an Verfolgungswahn gelitten hatte. Beim leisesten
Geräusch war er mit den Worten aufgesprungen: „Der Tag des Gerichts ist gekommen! Mein Stiefvater und ,Ratte' wollen ihre Tausender wiederhaben, ich aber kann ihnen nichts geben, weil ich so wenig verdiene!"
Die Akten mit den Unterlagen zu diesem Fall - Protokolle, Berichte, Erklärungen und Gutachten - waren längst ins Archiv gewandert und eingestaubt. Da verschlug es Alvis Grauds eines Abends im Oktober wieder nach Doni. Er hatte lange nach dem Zeugen eines Unfalls gesucht und schließlich durch einen Anruf erfahren, daß dieser Zeuge in Doni wohnte. Grauds bat den Fahrer, den alten holprigen Waldweg einzuschlagen. Die Wellen brachen sich geräuschvoll an der Sandbank und hüllten das Seeufer in weißen Schaum. In Kozinds' Hof hängte Tereze Wäsche auf. Der rauhe, Herbstwind ließ ihre schwarzen Haare flattern und zerrte an dem gelben Kleid, unter dem ihre braungebrannten Beine hervorlugten. Die Gladiolen im Garten leuchteten wie in die Erde gesteckte Fackeln. „Fahr langsamer." Grauds war traurig, weil es nicht anging, daß er auf Tereze zutrat und ein paar Worte mit ihr wechselte. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, das ging wirklich nicht. Die Türen zu Rimsas prächtigem Haus waren verschlossen und mit weißen Papierstreifen versiegelt. Der Garten war öde und verwildert, und man konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, daß hier einmal Menschen gewohnt hatten. „Eine verlassene Gegend", sagte der Fahrer. „Ja, fahren wir weiter."