Selbstbildnis des Dreizehnjährigen 1484 (Silberstiftzeichnung)
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Selbstbildnis des Dreizehnjährigen 1484 (Silberstiftzeichnung)
KLEINE
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LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D K U LT U R K U N D L I C H E H E F T E
OTTO Z I E R E R
ALBRECHT D Ü R E R Weg zur Vollendung
Signature Not Verified
Digitally signed by Mannfred Mann DN: cn=Mannfred Mann, o=Giswog, c=DE Date: 2005.03.03 17:42:25 +01'00'
i VERLAG S E B A S T I A N LUX Murnau • MÜNCHEN • INNSBRUCK.ÖLTEN
Am l. Oktober 1526 . . . Im sanften Wind treiben Wolken wie hochbesegelte Schiffe über den blauen Himmel. Fest, gleich einer Klippe vor dem Hafen, liegt die alte Kaiserburg mit ihren kühnen Türmen, den Wehrmauern und den prächtigen Innenhöfen auf dem Sandsteinrücken über der Stadt. Auf die spitzen Giebel und steilen Dächer fällt die milde Luft, streicht um die stattlichen Fachwerkhäuser zu Füßen der Burg, über den hohen Rücken der turmlosen Liebfrauenkirche am Hauptmarkt, um die ragenden Schiffe St. Ägidiens und die Türme St. Sebalds. Herbstlich-würzig weht der warme Hauch, in dem der Harzduft der Kiefernwälder und der Geruch des sich verfärbenden Laubes schwingt, über die dunkel dahintreibende Pegnitz und ihre Inseln. Die beiden Hälften der Stadt, die Sebalder- und Lorenzerseite, sind durch die steinernen und hölzernen Bänder der Brücken verknüpft und vom Gezack der Türme, Torbauten und Zinnenmauern umschlungen. An die 25 000 Seelen hausen in diesem steinernen Ring Alt-Nürnbergs. Drüben, auf der Lorenzerseite — von der Burg aus gesehen ein wenig zur Linken des doppeltürmigen St. Lorenz — duckt sich die St.-Katherinen-Kirche neben die Klostergebäude. St. Katherinen ist es, das seine hellen Glocken klingen läßt. Die tieferen Töne des Geläutes der Hauptkirchen fallen ein, bald rauscht der Festruf der freien Reichsstadt auf erzenen Wogen im Winde. Es ist der l. Oktober im Jahre des Herrn 1526, ein schöner, strahlender Tag, an dem nach altem Brauch die „Festschule" der Meistersinger in St. Katherinen stattfindet. Die ganze Stadt ist in Bewegung; langbärtige Greise in kostbaren Seideng ewändem, mit Ehrenketten und zierlich gefälteltem Spitzenkragen ziehen, geleitet von stämmigen. Jungen Gesellen, von den Zunftlokalen die Pfarr- und die Nonnengasse hinab. Von der Schüttinsel her drängt ein gewaltiger Auflauf heran: Mädchen mit Goldnetzen und bunten Bändern im Haar, Ehefrauen unter den weißgestärkten Hauben, alle in feiertäglichen Sonntagsröcken und ausgeputzten Miedern; viel müßiges Volk läuft herzu: Man sieht die neue Puffärmelmode, die geschlitzten und farbig unterlegten Strumpfhosen mit Bauschen, die genestelten und gereihten Wämser, die samtgefütterten Halbmäntelchen. Je näher man an St. Katherinen herankommt, um so dichter wird das Gewühl. Sollen doch heute die besten Meister sich in der Kunst
des Reimens und Singens messen: der alte Leonard Nunnenbedk und sein Meisterschüler, der Schuhmacher und Poet Hans Sachs, der gewandte Michel Behaim und der Erzgießer und Inhaber der größten Gußhütte Nürnbergs, Peter Vischer, samt seinen begabten Söhnen. Von der Burg — die nun fast auf den Tag genau hundert Jahre im Besitz der Stadt ist und die seit ebenso langer Frist die Reichskleinodien birgt — reitet der Burghauptmann mit seinen Gefährten die breite Pferdetreppe der Südseite herab. Vom „Ölberg" wendet sich der Aufzug zur Bergstraße und strebt zur großen Fleischbrücke, um auf die Lorenzerseite und zum Festort zu gelangen. Gleich unterhalb des Burgfelsens, so nahe, daß sein Schatten am Spätnachmittag den Fuß der aufsteigenden Treppen berührt, liegt ein stattliches, vierstöckiges Fachwerkhaus. Der Unterbau bis zum ersten Obergeschoß ist massiv aus Sandstein gemauert, dann folgt das Holzwerk. Aus dem breiten Schieferdach springen hölzerne Altane und ein großes Fenster vor. Von diesem hochgelegenen Fenster aus sieht man eben noch ein Stückchen vom festlichen Aufzug der Burgherren: bunte, bestickte Mäntel, ein Kettenglitzem und Federwehen, man vernimmt — hinter den halbgeöffneten Butzenscheiben — das Stampfen der reichgeschirrten Rosse, das Klirren der Waffen. Der Schwall versickert in dem Gewirr der Gassen. i Oben, hinter dem hohen Fenster, hat der weitgerühmte Maler Albrecht Dürer seine Werkstatt. Das Haus gehört ihm seit einigen Jahren, er darf sich einen wohlhabenden Nürnberger Bürger nennen. Albrecht Dürer ist ein ziemlich großer, schlank gebliebener Mann; als er in weitem, pelzverbrämtem Hausmantel ans Fenster tritt, um es zu schließen, fällt das Licht voll auf sein Gesicht. Welch ein Antlitz! Es ist bleich und ebenmäßig, von einer hohen Stime gekrönt. Die schön geschnittene Nase, der klare, vornehm geformte Mund mit dem blonden Bart auf der Oberlippe und um das Kinn geben ihm — zusammen mit den lang zu den Schultern wallenden Locken — eine gewisse Ähnlichkeit mit den Christusbildern der Italiener. Aber all dies ist nur wie ein edler Rahmen, das Bild selber wird von den seelenvollen Augen beherrscht, die so tief und dunkel glühen, als hätten sie alles Leid und alle Größe dieser Welt erblickt. Aus den lang und lose fallenden Ärmeln des Tuchmantels kommen schlanke, ausdrucksvolle Hände zum Vorschein, die nach dem Fensterriegel greifen und ihn festlegen: Hände, denen man Kraft, Anmut und Ausdrucksfähigkeit ansieht, die Hände eines großen Künstlers.
Als sich die Flügel schließen, ist es, als habe Albrecht Dürer die laute Welt ausgesperrt. Gedämpft, wie eine ferne Brandung, klingt nun in die Stille seiner Werkstatt das Gedröhne der Glocken und das Lärmen der von den Wällen abgefeuerten Kartaunen. Dürer wendet sich seinem Freunde zu. In einem breiten, fellbedeckten Scherensessel sitzt Willibald Pircklieimer. Aus einem alten, reichen Nürnberger Patriziergeschlecht stammend und bis vor wenigen Jahren Ratsherr der Stadt, hat er — der selber einer der gelehrtesten Humanisten der Zeit ist — sein Haus zum Versammlungsort der bedeutendsten Künstler und Gelehrten gemacht. Männer wie Konrad Geltes, Ulrich von Hütten, Reuchlin, Spalatin oder Erasmus von Rotterdam zählen oder zählten zu seinen engsten Freunden. Pirckheimer ist in Festkleidung, ein Marderpelzkragen säumt den schweren Mantel aus flämischem Samt, das etwas breite und faltige Gesicht wird von grauen Locken umrahmt und von sprechenden, dunklen Augen erhellt. Seit vielen Jahren ist er der Berater, Freund und gute Geist Albrecht Dürers; er war ihm in seinen jungen Jahren, was Lorenzo von Medici für Michelangelo gewesen war, und für seine Reife bedeutete er ihm, was Graf Baldasarre Castiglione für Raffael bedeutet hatte: künstlerisches Gewissen, geschmackssicherer Ratgeber und unbestechlicher Kritiker. „Bevor du zur Festschule gehst, Willibald", sagt der Meister, „sollst du die neuen Tafeln sehen. Du weißt, daß ich seit einiger Zeit an den vier Heiligen: Sankt Johannes und Sankt Petrus auf der einen, und Sankt Paulus und Sankt Markus auf einer anderen Tafel arbeite. Das Werk wird Abschluß meines Lebenswerkes sein, mein ureigenstes und Letztes. Diese Bilder habe ich nicht nach Auftrag und Angabe anderer Leute gemalt, es gibt keinen Besteller für die vier Heiligen. Sie sind mein Werk, meine Idee, mein Versuch, über mein Leben hinaus auf die Nachkommenden zu wirken. Ich will sie dem Rat meiner Vaterstadt als Vermächtnis hinterlassen. Sieh sie dir an und halte nicht mit deinem Urteil zurück!" Er zieht mit einer Gebärde, die nicht des Stolzes entbehrt, den Leinenvorhang von den beiden hohen Staffeleien. Pirckheimer ist, als sich die beiden Gemälde enthüllen, jählings aufgesprungen, dann sinkt er langsam, von einem übermächtigen Gefühl überwältigt, wieder zurück, seine Hände umfassen haltsuchend die Armstützen. Er atmet schwer, die Augen blicken gebannt auf die heiligen Gestalten. Ein noch unbekannter Dürer offenbart sich hier der Welt. Diese beiden Tafeln, deren jede über mannshoch, aber sehr schmal, offensichtlich nur Flügel an einem
Die „Vier Apostel", 1526, München
Altare sein soll, sind das, was Pirckheimer sich von dem Freunde erhofft und was Dürer jahrzehntelang gesucht hat. Der Ratsherr erhebt sich, tritt auf den Meister zu. „In diesen .Aposteln' hast du dich selber vollendet. Albrecht!" sagt er. „Du wirst nie etwas Besseres schaffen. Du stehst auf jenem Gipfel, über den hinauszutreten keinem Sterblichen vergönnt ist. Jenseits davon beginnen die Bereiche Gottes und des Todes." * Diese Gesichter der Heiligen! Ein Leben lang hat Albrecht Dürer in der Wiedergabe der ^charakteristischen Züge menschlicher Antlitze geschwelgt. Willibald Pirckheimer denkt an die beiden Heiligen Georg und Eustach am „Paumgartner-Altar", denen Dürer einfach die Porträtköpfe der Stifter aufgesetzt hat. Auch die Apostelköpfe in der „Himmelfahrt Mariens" kommen ihm in Erinnerung; herrliche, eckige, knorrige Bauemköpfe, aus denen in jedem Fältchen und jeder Tönung der Alltag, das Leben, die Wirklichkeit spricht. Die Modelle liefen — alte, runzlige Handwerker oder verwitterte Bäuerlein — in den Nürnberger Zunfthäusern oder auf der Schranne herum —, aber es waren keine Apostel, keine Heiligen. Heilige, das sind „Gefäße tiefer und leidenschaftlicher Geistigkeit", Angehörige einer i Welt jenseits dieses streit- und kummerzerrissenen Alltags und doch einst ihr zugehörend. Viele haben es versucht, diese Wesen einer höheren, geistig-seelischen Sphäre zu malen. Aber wie viele haben dabei Schiffbruch erlitten! Die Italiener in ihrer neuen Manier schaffen gern „schöne" Gesichter, sie lieben die „Idealgestalt", und das Volk findet oft an jenen allzu entrückten Wesen, die man sich nicht mehr als Menschen auf Erden wandelnd denken kann, Geschmack. Die älteren Maler, über denen noch das goldene Dämmerlicht der scheidenden Gotik liegt, lieben die Vergeistigung durch verzückte Gebärde, theatralische Haltung, durch das Geknitter oder Geflatter der Gewänder, durch die geheimnisdunkle Mischung der Farbe. Dies aber ist etwas anderes. Hier scheinen sich die klassischen Maße der Italiener mit der Ausdrucksfülle der Gotik des Nordens verbunden zu haben. Mag sein, daß die Anordnung der Figuren auf das Vorbild der „Santa Conservazione" von Giovanni Bellini (1429—1516) — Dürers verehrtem Lehrmeister in Venedig — hinweist; sicher hat der Meister auch das freie Fluten der Gewänder, den reichen, prächtigen Wurf bei Johannes und den grandios-wuchtigen Fall des Stoffes bei Paulus, in Italien malen gelernt. Es ist südländische Technik, wie Albrecht Dürer hier durch das Falten- und Farbenspiel der Gewan-
düng jene Ausdruckskraft zu steigern versuchte, mit denen er die Figuren selber erfüllt hat. Doch das Leben und das Gewicht dieser Bilder ruht vor allem in den vier Köpfen. In ihnen glüht die Geistigkeit und Verinnerlichung der gotischen Zeit ebenso, wie in ihnen die Schicksalsgröße der zu irdischen Verfechtern und Verkündem des Gottesreiches Berufenen sichtbar geworden ist. Diese vier sind göttlich begnadete Menschen, denen man zutraut, daß sie fähig waren, die heidnische Welt aus den Angeln zu heben; sie sind die vier Säulen, auf denen das Riesengebäude der Kirche gebaut werden mochte. Es sind Menschen dieser Welt, stark unterschiedene Einzelpersönlichkeiten, aber der Schimmer des Ewigen umgibt sie. Je mehr Willibald Pirckheimer sich in den Anblick der vier Köpfe vertieft, um so stärker drängt sich ihm der Gedanke auf, daß die Tafel mit dem Evangelisten Markus und dem dreizehnten Apostel, Sankt Paulus, die „Vita activa" darstellt, jene Form des Lebens, die sich in Kampf und Sturm, in der Auseinandersetzung mit der Umwelt erfüllt, während die Tafel mit dem tiefsinnig forschenden Johannes und dem besinnlich festen Petrus die „Vita contemplativa", die Innerlichkeit, umfaßt, jene Welt der Seele, aus der die Verkündung des Wortes Gottes ihre Überzeugungskraft gewinnt. Aber die Sinnbildhaftigkeit dieser Gestalten greift noch weiter. „Du hast die vier Temperamente gemalt!" ruft Pirckheimer, erregt von seiner Entdeckung, „jeder Apostel ist ein anderer Charakter!" „Das hat auch der Schriftenmaler Neudörfer gemeint", erwidert Albrecht Dürer lächelnd, „er sagte es, als ich ihn unter die Tafeln jene Schriftstellen setzen ließ, die ich aus den Werken jedes dei Dargestellten gewählt habe!" *
Ja, auch das gehört zur Ausdeutung dieser Bilder, daß jede dieser Gestalten eine andere Grundhaltung der menschlichen Seele verkörpert. Da ist Paulus, ein Mensch starken, bewußten, in heiligem Zorn aurbegehrenden Charakters. Fest und sicher birgt er die Heilige Schrift in der Linken, aber die rechte Faust umklammert den Schwertgriff, bereit, das Heiligste zu verteidigen. Seine Ruhe ist nur mühsam beherrscht, das Wächterauge blitzt drohend nach links hinüber, wo er die Gegner des Wortes Gottes, die radikalen Bedroher des Gottesglaubens, versammelt sieht; die Adern seiner gewaltigen Stirn sind geschwollen, gleich wird er — einem alttestamentarischen Propheten ähnlich — im Zorne losbrechen. Daneben Markus — kein eigentlicher Apostel, sondern einer der Evan-
Dürers Vater, Silberstiftzeichnung des Knaben Dürer, 1486
Dureis Mutter 1514 Kohlezeichnung
gelisten, der den heiligen Petrus als Sekretär auf seinen Reisen begleitet hat. Aus dem Dunkel des Hintergrundes lodert das Feuer dieses Kopfes, das Antlitz eines Mannes leidenschaftlicher, heißblütiger, innerer Gewalt. Die Züge des sich im Eifer Verzehrenden sind vor innerer Spannung bleich, der Mund öffnet sich eben zu sprühender Verteidigung des Glaubens. Und die andere Tafel mit den Verinnerlichten! Der alte Petrus, der getreue Fischer, den der Ruf Gottes schon früh erreicht hat. Abgeklärt, über die Worte der Schrift nachdenkend, blickt er in das Evangelienbuch, das Johannes geöffnet hält. Ein lebensweiser, sich seines Glaubens sicherer Mann, der das Zeichen der höchsten Apostelwürde in Händen hält. — Johannes aber, zwischen Mann und Jüngling stehend, ein wenig traurig von Erfahrung und Wissen, ist der Nachsinnende, das Wort tiefgründig Deutende, der Wahrheitszeuge. Gleichgewichtig sind die beiden Verinnerlichten den kämpferischen Gestalten der Gegentafel gegenübergestellt. * „Ich sehe übrigens" — sagt Willibald Pirckheimer nach einer Weile —, „daß in dem Markuskopf ein leiser Anklang an dein Holzschuherporträt, im Kopf des Petrus eine Ähnlichkeit mit dem Bild des Jakob Muffel, den du heuer im Frühjahr gemalt hast, zu erkennen ist. Und der Johannes? Liegt nicht ein Abglanz vom Antlitz von Melanchthon auf ihm? Sage mir. Albrecht, was sind deine tieferen Absichten mit diesen beiden Tafeln? Weshalb die eigenartige Zusammenstellung dreier Apostel mit einem Jünger? Warum nicht Petrus und Paulus auf einem Bild, wie sie auch einen Feiertag haben? Dein Werk sagt doch etwas, nur vermag ich es noch nicht abzulesen." „Ja, Freund, es sagt etwas, und es möchte verstanden werden. Es ruft zur Einigkeit, zum Ausgleich des Gegensätzlichen, zum Maß in allem. Du hast es miterlebt, Willibald, wie im wilden Kampf der Geister sich die Menschen unserer Stadt und des Frankenlandes entzweit haben. Du selber hast dazu beigetragen, mich von dem allzu stürmischen, polternden Wesen der Eiferer fernzuhalten, das Maß zu suchen und die Versöhnung. Mich trifft es im Herzen, zu sehen, wie die Christenheit auseinanderfällt und die Einheit des Glaubens zerbricht. Darum habe ich diese Tafeln als mein Vermächtnis gemalt. Dem Paulus — dem stürmischen, schwertgewaltigen Vertreter des Glaubens, habe ich Johannes, den Lieblingsjünger des Herrn, gegenübergestellt. Verstehen, mein Willibald, wird man meine Aposteltafeln erst, wenn ich das Mittelbild vollendet habe: den ,Salvator mundi' — den Erlöser der Welt. Zu beiden Seiten dieses gemeinsamen 10
Christus sollen die Bilder der alten und der neuen Kirche stehen, und vor diesem Altar mag mein liebes Nürnberg in wiedergewonnener Einigkeit gemeinsam beten." Der Ratsherr erhebt sich und drückt in freundschaftlicher Rührung Dürers Hand. „Dank dir. Albrecht, für deine reine Absicht! Was kann es Höheres geben, als Wegweiser und Mahner seiner Brüder zu sein? Was soll nach diesem noch kommen . . . ?" Von einer jähen Wehmut überwältigt, verabschiedet sich Pirckheimer. Draußen haben die Glocken zu tönen aufgehört, die letzten Kartaunenschläge sind verhallt, das Fest in St. Kathermen beginnt, es ist Zeit für ihn zu eilen. Als Willibald Pirckheimer, leicht in den Schultern gebeugt, ergraut und mühsam zur Tür hinausgeht, blickt ihm Albrecht Dürer gedankenvoll nach. Wie alt der Freund geworden ist! Wie sich die Zeichen des beginnenden Verfalls dem faltigen und fahlen Gesicht, der schweren, unförmig gewordenen Gestalt aufgeprägt haben! Ist das Ende der Zeit so nahe? Es kommt ihm in den Sinn, daß Willibald Pirckheimer nur ein Jahr älter ist als er selber. So steht auch er vielleicht schon nahe der Schwelle, über die alle, mögen sie auch einst groß und kühn gewesen sein, hinübertreten müssen. Und wie war er einst jung! Wie war er einst voller Pläne und Hoffnungen, voller Wille und Feuer! Hat der alte Freund nicht gesagt, er wäre vollendet? Haben nicht die Römer in zarter Umschreibung von einem, der gestorben ist, gesagt: er sei vollendet? Schwer hat Albrecht Dürer ein Leben lang um seine menschliche und künstlerische Vollendung gerungen. Nun steht er ihr so nahe, daß ein Mann wie Pirckheimer sie ihm zuspricht. Was aber kommt nach der Vollendung, was steht am Ende eines erfüllten und ausgereiften Lebens anders als der unabwendbare Tod? Über die Vollendung hinaus führt kein Schritt. Gedankenschwer sinkt Albrecht Dürer in den Sessel," seine Augen schließen sich. Er geht im Geiste den Pfad noch einmal zurück, der ihn zu dieser Stunde geführt hat.
Welch eine Zeit! Die Jahre um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sind voller Gärung und Krisen. Aus dem Schoß des dahingehenden Mittelalters ist das riesige Habsburgerreich erwachsen: Von den Niederlanden, « 11
Dürers Lehrer Michael Wolgemut, 1516, Nürnberg
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die der Habsburgerkaiser Maximilian durch Heirat erworben hat» reicht der Ring der habsburgischen Lande über Lothringen bis nach Oberitalien und greift hinüber nach Spanien, wo Philipp — Maximilians Sohn — die Erbin des spanischen Thrones als Gemahlin gewonnen hat. Ihre Mitgift sind die Thronlande in Spanien, in Süditalien, in Sizilien und die riesigen Kolonien jenseits des Ozeans gewesen. Frankreich und der Kirchenstaat sind durch die plötzlich hereinbrechende habsburgische Übermacht umschnürt worden und suchen seitdem den Ausbruch aus der Umklammerung. Der Gegensatz zwischen Frankreich und Habsburg, die Wirren der zwischen dem Kaiser und seinen Gegnern schwankenden päpstlichen Politik bestmimen die Schicksale der Jahrzehnte, in denen Albrecht Dürei lebt. Hell brennt der Kampf auf, als in Karl V. die Kronen Spaniens und Österreichs und die deutsche Kaiserkrone dazu auf einem Haupte vereinigt sind. Zwei Kaiser hat Albrecht Dürer bewußt erlebt: Maximilian und Karl. Maximilian, „der letzte Ritter", war bestrebt, das Kaisertum der Hohenstaufen zu erneuern und an der Grenzscheide zweier Zeitalter eine Reichsreform durchzuführen; Karl V. aber ist ein Fremdling in deutschen Landen, das Weltreich, das er verwaltet, ist zu groß geworden und droht den Händen eines Einzigen zu entgleiten. Der Zug nach Ausweitung der fürstlichen Rechte, das Überhandnehmen der Hoheitsansprüche der Länder und die Verlagerung der Macht von Kaiser und Reich an die fürstlichen Höfe hat die ehemals tragenden Stände des Reiches um ihre Bedeutung gebracht; die Reichsritterschaft, die kleinen Grundherren und die freien Bauern sehen sich in ihren Lebensgrundlagen bedroht. Beamte und am Römischen Recht geschulte Richter und die gegen Sold für jeden zahlungskräftigen Herrn kämpfenden Landsknechtsführer sorgen dafür, daß die Fürsten zu Herren der neuen Jahrhunderte werden. Die Stände aber rufen nach der Wiederherstellung der alten germanischen Volksrechte und der ursprünglichen sozialen Ordnung. Dem Bauern geht es um die mißachteten Rechte seiner einstigen Freiheit, um seine Dorfgerichte, um Selbstverwaltung und Grundgerechtsame, Allmendenutzung, Erbrechte und die gesetzliche Regelung seiner Abgaben. Dazu kommt eine Unruhe von Grund aus; man fordert evangelische Gleichheit, das unverfälschte Wort Gottes, Urchristentum, Vereinfachung der Kirche, Reinigung des Klerus und des verweltlichten Papsttums. In den großen Aufständen der Reichsritter und der Bauern bricht diese Spannung überraschend über Deutschland nieder. 13
Viele Ursachen für die soziale Unzufriedenheit liegen in der schnellen Veränderung der Wirtschaft. Nach der Eroberung des großen christlichen Handelszentrums Konstantinopel durch die islamischen Türken im Jahre 1453 ist der Orienthandel weithin versiegt und das Geld knapp geworden; diesem gewaltigen Einbruch in das Wirtschaftsleben Europas ist dann bald schon die Verlagerung des Handels vom Mittelmeer zum Atlantischen Ozean gefolgt. Die Entdeckungsfahrten des Columbus, Cabral, Amerigo Vespucci, Cabot und der Vorstoß ins Indische Meer um die Südspitze Afrikas herum durch Vasco da Gama, Albuquerque und Magellan haben ganz neue Handels- und Wirtschaftsräume erschlossen. Cortes und seine Gefährten haben die Schleusen des Goldlandes Mexiko aufgezogen, und eine hochgestaute Flut von Edelmetallen, exotischen Waren und Rohstoffen ergoß sich auf die Märkte, die sich von Grund aus umschichteten. Auch das war eine Ursache für die Erhebung der Bauern geworden, daß sich der mittelalterliche Bauernstaat rasch in ein System von handeltreibenden, von Gewerbe und Handwerk lebenden Städten und Landschaften umwandelte; und die Ritterschaft rebellierte aus demselben Grunde, weil sie sehen mußte, wie der städtische Kaufherr riesenhafte Gewinne scheffelte und reich wurde, während sie selber immer mehr zur Bedeutungslosigkeit herabsank. Das Gebrodel der sich verändernden Kräfte erfaßte auch das geistige Leben an den Universitäten und in den Studierstuben der Gelehrten, die sich mehr und mehr von dem kirchlichen Weltbilde lossagten. Der die Geister aufrüttelnden Bewegung des Humanismus und der Renaissance in Italien gab die Erfindung der Buchdruckerkunst zu Mainz um 1450 weiteren Auftrieb, indem sie allen Ideen, Unruhegedanken und Reformwünschen tausendfache Zunge verlieh. In dieser Zeit weitete sich das Weltbild über die Ozeane, erzitterte Europa unter der ständigen Drohung der Türkengefahr, rüttelte die lutherische Reformation an den Grundfesten der bisherigen religiösen Einheit des Abendlandes. Fürwahr eine ungestüme, von Kriegsgedröhn, Umsturz und Wandlungen bis zum Rande erfüllte Zeit — Dürers Lebenszeit . . . Die Unrast trieb viele, die er gekannt hatte, in die Weite. Veit Stoß, der große Bildschnitzer, Hans von Kulmbach und der weitschichtig verwandte Hans Dürer waren in die nümbergische Handelsniederlassung Krakau gezogen; Hans Burgkmair und Hans Holbein wanderten nach dem lockenden Süden. Die Straßen jener Jahre waren voller schweifender Landstörzer, Mönche und Studenten. Die allgemeine Unsicherheit des Lebensgefühls, das sich aus 14
der Mystik der gotischen Zeit löste, äußerte sich in Unheilsprophezeiungen, Sündenangst, Pestfurcht, in den Schrecknissen des Hexenwahns, in Goldmacherei, Magie und Glaubensverfolgung, in Bauemund Ritterunruhen, Bürgeraufständen, Zunftaufläufen und Bilderstürmerei. Inmitten von Lebensangst und dem Aufbruch des Neuen blühten die Künste wie nie zuvor. Welch eine Lebenslust und Freudigkeit offenbarte sich in den Werken Baidungs und Manuels, welcher poetische Zauber erblühte in den Frühwerken eines Lukas Cranach oder Hubers S — Noch arbeiteten die Bauernmaler an ihren gotischen Altären, noch schnitzte ein Tilman Riemensdineider an seinen wundersamen Madonnen in alter Manier — aber schon schufen ein Holbein der Jüngere, ein Amberger, Bruyn oder Strigel wundervolle, lebenswahre weltliche Porträts — bezeichnender Ausdruck dafür, daß der Einzelmensch — das Individuum — wichtig geworden war. Noch dunkelte der Goldgrund auf den Altären des Landes, aber daneben entdeckten die Künstler der „Donauschule" — ein Altdorfer voran — die Schönheit der Landschaft. Über die Alpenberge herüber aber drang die verwirrende Farbenpracht der italienischen Großen, ihr Ruf und ihr Bekenntnis zur Natur und zu diesseitigen Schönheitsidealen, wie sie sich vor allem in der Renaissance von Florenz und Venedig herrlich entfaltet hatten. Reichstage jagten sich, Kriege erschütterten die Lande, der Türke und der Franzose marschierten, die Welt war voller Geschrei über die Seeräuber und das Wüten der Landsknechtshorden. Es war Dürers Lebenszeit — der Umkreis seiner Lebensjahre, in die er gestellt war und aus deren Stoff er sein Werk zu greifen hatte. Es waren die Jahre, durch deren Dickicht er einsam seiner Vollendung entgegengeschritten war. .,
Das helle Tor... Die Dürers waren aus der Fremde gekommen. Albrecht Dürer der Ältere — sein Vater — stammte aus dem Dorfe Eytas in Ungarn, war aber deutschen Geblütes. Da „Eytas" zu deutsch „die Türe" heißt, nannte er sich „Türer" oder Dürer. Er hatte das Goldschmiedehandwerk gelernt. Nach langer Wanderschaft, die ihn bis in die Niederlande führte, kam er ins fremdenfreundliche Nürnberg, trat in die Werkstatt Meister Holpers ein und nahm als Vierzigjähriger dessen junge Tochter Barbara zur Frau. Vierundzwanzig Jahre hat die Ehe der Eltern gewährt, bis der Tod sie schied, und achtzehn Kinder gingen aus ihr hervor. Albrecht war der zweite in der langen Reihe. 15
Sie waren keine reichen Patrizier wie andere Nürnberger, wie die Holzschuher, die Tucher oder Hirschvogel, die Pirckheimer, Behaim oder Muffel. In dem kleinen Haus und der Werkstatt am Hauptmarkt, nahe der Liebfrauenkirche, gab es manchmal nur Brennsuppe und trocken Brot; wie Albrecht Dürer später schrieb, hat der Vater „sein Leben mit großer Müh und schwerer, harter Arbeit zugebracht und nichts anderes zur Nahrung gehabt, als was er mit seiner Hände Fleiß für Weib und Kind gewonnen. Darum war es gar wenig . . ." Aber er war „ein geduldiger, sanftmütiger Mann, friedsam gegen jedermann und gar christlich gesonnen . . ., der sich wenig in Gesellschaft herumtrieb und keine weltliche Freude gesucht hat". Wenn Albrecht zurückdenkt, das Bild des Vaters vor seinem geistigen Auge heraufbeschwört, so wird immer wieder das Bildnis daraus, das er Anno 1486 gemalt hat; ein einfacher, schlichter Mann im bescheidenen Rock, der keinerlei Zierat aufweist und keine der Pelzverbrämungen zeigt, wie sie die Wohlhabenden auch damals schon trugen. In dem Antlitz haben die Not und die Sorge tiefe Furchen hinterlassen, die Augen blicken ein wenig prüfend, beinah mißtrauisch, wie bei einem, den das Leben allzu oft enttäuscht hat. Das ist alles so lange her, die Zeit hat ihre Nebel darüber gebreitet. Deutlicher sieht Albrecht Dürer die Mutter. Auch sie hat er kaum als junge und stattliche Frau in Erinnerung. Sie ist für ihn immer die alte, von des Lebens Last gebeugte, ausgemergelte Frau, so wie er sie im Jahre 1514 in Kohle gezeichnet hat. An diesem Gesicht mit den hautüberzogenen Backenknochen, den tiefen Kerben um Nase und Mund, der zerfurchten Stirne und dem runzligen Hals ist nichts mehr schön als die tiefen, trotz aller Kümmemisse und Schmerzen seelenvoll gebliebenen Augen. Das ist ein Mensch, der alles für die anderen gegeben hat, bis er selber nichts mehr war. Mit letzter Hingabe zog sie die Schar ihrer Kinder auf. In sein „Gedenkbuch" hat Dürer später einmal geschrieben: „Diese, meine fromme Mutter, hat achtzehn Kinder getragen und erzogen, hat oft die Pestilenz gehabt . . ., hat große Armut erlitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Worte, Schrecken und große Widerwärtigkeit . . . Ihre guten Werke kann ich nicht genug loben. Sie hat uns allesamt gottesfürchtig und gut erzogen ..." Und vor ihrem Hinscheiden „hat sie ihm den Segen gegeben und göttlichen Frieden gewünscht" — den sie allezeit besessen hat. Aber das sind Abschiedsgedanken. Als Albrecht jung war, konnte er die Tragödie im Leben seiner braven Eltern noch nicht begreifen. 16
Seibatbildnis um 1493, Federzeichnung
Er wurde in die Schule geschickt, half zu Hause mit und war ein 'S folgsames Kind, dem das Frommsein im Elternhause von früh an eingepflanzt war. Schon in der Schule zeichnete er und hatte viel Freude an Farbe, Stift und Kohle. Der Vater nahm ihn in die Werkstatt, er sollte die Lehre als Goldschmied mitmachen. Er galt als ein schüchterner, in sich ge- ' kehrter Junge, der lieber träumte und zeichnete, als sich an den lärmenden Spielen der anderen Knaben am Burgwall zu beteiligen. Oft stand er — so es seine Lehrzeit zuließ — vor der Werkstatt des Malers Wolgemut, eines angesehenen Handwerksmeisters. Und eines Tages wagte er es und bat den Vater, ihn Maler werden zu lassen. Er hatte dem gestrengen Vater zum Beweis seiner ernsten Absichten einige seiner bescheidenen Bildchen vorgewiesen. Darunter war auch eine Silberstiftzeichnung, zu der er sich selber vor dem Spiegel Modell gesessen hatte: ein schmächtiger, langhaariger und pausbäckiger Knabe im Kittel, der recht aufmerksam in die Welt schaut(1484). Das war immerhin erstaunlich — sowohl in der Idee als in der Ausführung; denn um diese Zeit gab es nördlich der Alpen kaum ein halbes Dutzend guter Porträts und fast kein Selbstbildnis. Der Vater versprach dem Knaben, ihn bei dem berühmten Meister Martin Schongauer, dessen Kupferstiche in Nürnberg recht verbreitet waren, im elsässischen Städtchen Kolmar in die Lehre zu geben. Aber Schongauer war eben auf Reisen, und so ging Vater Dürer mit seinem Albrecht nur ein paar Häuser weiter in die Werkstatt des Michael Wolgemut, der brav und bieder für die fränkischen Kirchen Altarbilder malte und mit dem Paten des Knaben Albrecht, dem Buchdrucker Anthoni Koburger, in Geschäftsverbindung stand und für ihn viele Holzschnitte anfertigte. Die anderen Lehrlinge, die Gehilfen und Altgesellen Meister Wolgemuts hänselten den verträumten und schüchternen Jungen viel — aber der hörte kaum hin. Ihm hatte sich ein helles Tor aufgetan, das hineinführte in die Welt der Farbe, des Lichtes, der Schönheit. Er hatte seinen Weg , erkannt und ihn angetreten, er war unterwegs, ein großer Meister zu werden und sein Leben der Kunst zu weihen.
Die Unruh Es ist eine große Neuigkeit und Erregung für die Bürgersleute, als es heißt, der kranke Handwerksmann Peter Henlein habe eine neue Uhr ohne Wasser oder Sand geschaffen, die nicht größer sei als ein Ei. Auch Albrecht Dürer läuft eines Nachmittags in Peter 18
Henlelns Werkstatt und bestaunt das Wunderwerk mechanischer Kunst. Viele Räder sind im Inneren der Schale, eine Feder treibt ein kleines, ewig schwingendes Rädchen an, das Peter Henlein „die Unruh" nennt. Oft denkt der junge Maler, daß sein Herz dieser Unruh gleiche —, nicht nur weil es immer pocht und schlägt, sondern auch, weil es ihn allezeit vorantreibt, ihn niemals Ruhe finden und keine Selbstzufriedenheit und Bescheidung aufkommen läßt. Wie die Unruh in dem „Nürnberger Ei", so jagt auch ihn eine unbegreifliche Spannung, eine angeborene Unrast danach, immer weiter und höher hinauf zu streben. Kaum ist die dreieinhalb jährige Lehrzeit bei Michael Wolgemut zu Ende, da gibt sich der Neunzehnjährige Rechenschaft über das, was er gelernt hat. Es ist nicht viel — aber die Grundlage, das „Reißen für Holzschnitt und Kupferstich vor allem ändern" hat er gewonnen, die Führung des Pinsels und des Zeichenstifts ist noch von der Steifheit und handwerklichen Trockenheit des Lehrmeisters beeinflußt. Er muß hinaus in die gärende, brodelnde Welt, um größer und leuchtender zu werden. So nimmt der frischgebackene Malergesell den Wanderstab, streift durch die deutschen Lande und kommt gegen Ende des zweiten Wander Jahres nach Kolmar zu der berühmten Werkstatt Schongauers. Aber der große Martin ist schon ein Jahr tot. Nun geht es über Straßburg nach Basel weiter, wo Albrecht Dürer für ein Jahr in die Werkstatt der Brüder Schongauer eintritt und sich als Holzschneider und Maler hervortut. Da sich inzwischen der besorgte Vater um eine Braut für seinen Albrecht umgesehen hat, malt der junge Dürer im fernen Basel ein neues Selbstbildnis. Es zeigt einen modisch gekleideten, zweiundzwanzigjährigen Jüngling in Halbfigur. Die Haare fallen genialisch lang auf die Schultern, und die in gotischer Manier gespreizten Finger halten ein Sträußlein „Männertreu" — eben die rechte Gabf für eine künftige Braut. Im nächsten Frühjahr kommt durch einen wandernden Gesellen die Botschaft des Vaters, die ihn nach Nürnberg zurückruft, und Albrecht sagt den Meistern in Basel Lebewohl. Im Mai kommt er an der Pegnitz an, sie führen ihn gleich ins Haus des wohlhabenden Feinmechanikers und Kupferschmieds Frey, wo die Jungfrau Agnes auf seine Werbung wartet. Im Juli ist Hochzeit, und Agnes, eine tüchtige, sparsame und*brave Ehefrau, bringt mehr denn 3000 Gulden Mitgift ins Haus. Aber Albrecht ist nicht zufrieden, die ewige Unruh läßt es nicht zu, daß er schon seßhaft und bescheiden würde. Wieder ist er in Wolgemuts Werkstatt und arbeitet unter der Aufsicht 'des Meisters. 19
Die Dürerin ist streng und sieht ihm — der sich auf seiner Wanderschaft angewöhnt hat, großzügig mit dem Geld zu sein — scharf auf die Finger, kurz: der junge Meister ist nicht zu halten, ihn zieht es einige Wochen nach der Hochzeit wieder hinaus in die bunte Welt. „Leb wohl, Agnes!" sagt er ihr. „Da hast du ein paar schöne Holzschnitte, die Stöcke sind beim Paten — dem Anthoni Koburger —, er zieht dir neue Exemplare ab. Trag sie nur auf den Markt, die Leute werden sich reißen darum . . !" Damals ist Albrecht Dürer über die Donau und die Alpen ins Land der Sehnsucht gezogen: nach Italien. Welch eine seidige, alles durchleuchtende Luft! Was für eine Sonne, die eine farbentrunkene Landschaft überflutet! Zuerst pilgert Albrecht nach Padua, wo er sich an den wundervollen Fresken des Andrea Mantegna berauscht. Unter den vielen deutschen Studenten der Hochschule begegnet er dem Nürnberger Jugendfreund Willibald Pirckheimer, der zuvor Kriegsmann gewesen und nun ein gelehrter Humanist werden will. Als sie einmal über die murrend zu Nürnberg hinterbliebene Dürerin sprechen, meint Pirckheimer: „Ach, laß doch das nagend, argwöhnische und keifend Weib, ein Mann wie du ist mit der Kunst verheirat ..." Von Padua geht es nach der Lagunenstadt Venedig, wo Dürer sich mit dem berühmten Kupferstecher Jacopo de Barbari anfreundet. Dann aber rufen ihn Briefe, die Nürnberger Kaufleute ihm überbringen, zurück, und er geht wieder über die Berge. Die Unruh geht mit ihm. Als er sich, der nach der Heimkehr Nürnberger Bürgerrecht gewinnt und Meister ist, selbständig macht, wallt alles in ihm nach, was ihm der Wind der Straßen zugetragen. Sturm und Drang beherrschen ihn, er ist die Stimme geworden für seine Zeit, die Brennlinse, in der sich die Strahlungen einer Menschheit sammeln, die von Hungersnot, Pestilenz, Kriegsfurie und Umsturz bedroht, unter Fieberschauern die Schwelle einer neuen Zeit überschreitet. Er spricht es aus, was die Zehntausende in allen Landen nur fühlen; seine 15 Blätter in Holzschnitt zur „Apokalypse" (1498) sind der Weckruf eines neu empfundenen und durchdachten Christentums, Traumvisionen einer revolutionären Zeit in unruhvoller nordischgotischer Liniensprache; in diesen Blättern mischen sich germanische Heldenvorstellungen und christlicher Erlösungsgedanke. Jedes Bild ist ein Alarmruf, jede'Figur ein Posaunenstoß. Aber der wilde Ausbruch der gärenden Leidenschaft in der „Apokalypse" ist zugleich Befreiung vom Alpdruck der drängenden Zeitprobleme. Ein neuer, wie aus der Schale der leidenschaftlichen Ausdruckskunst geschlüpfter Dürer geht daraus hervor. 20
Selbstbildnis 1493
Ihn zeigt das Selbstbildnis des Jahres 1498. Es stellt einen Glücklichen im Festgewand dar, einen modisdi; gekleideten, bunt aufgeputzten Künstler, der auf seinen Auslands- !reisen allerhand Fremdländisches angenommen hat: die feinen Lederhandschuhe, die gestreifte italienische Haube, den Christusbart und die mit der Brennschere gelockten Haare. Auch die Hai-' tung ist italienisch, wie sie die Venezianer lieben; die Halbfigur steht nicht mehr — wie bei den früheren Selbstbildnissen — vor dunklem Hintergrund, sondern ist fest in den Baum gefügt: das geöffnete Fenster gibt den Blick auf eine Alpenseelandschaft frei. Noch deutlicher wird der Wandel dieses Mannes in dem Selbstbildnis von 1500. Das ist ganz klassisches Maß, ganz idealisierter Mensch — es ist der Albrecht Dürer, wie er sich selber als Idealfigur vor Augen hatte: der Volkommene und Vollendete. Diesmal wählt er keinen Hintergrund, alles Augenmerk soll auf dieses Antlitz voller Harmonie und Ausgeglichenheit gerichtet sein; denn nun erst — da er wieder daheim ist im Norden, wo die Kunst noch in gotischer Unrast und in Übersteigerung des Ausdrucks schwelgt — geht ihm auf, was die Renaissancekunst dort unten im Süden will, wenn sie die klassische Harmonie, die „Proportion", das „antike Maß" fordert. Er schreibt in sein Notizbuch: „Ohn' recht Proportion kann kein Bild vollkommen sevn, ob es auch so fleißig als möglich erdacht war ..." Wie hat er es den Italienern verargt, daß sie ihm das Geheimnis der rechten Verhältniszahlen des menschlichen Körpers und Antlitzes nicht verraten wollten! In echt deutscher Gründlichkeit hat er mit Richtscheit und Zirkel immer neue Zahlentabellen aufgestellt, um die rechten Maße zu ergründen. In dem Selbstbildnis von 1500 sind seine Ergebnisse zusammengefaßt: ein Idealkopf ist entstanden — ein innerer, hoheitsvoller Dürer mit den gelockten Haaren, dem Christusbart, den ebenmäßig im Gesicht sitzenden Augen, deren kleiner angeborener Schielfehler korrigiert ist, und als Gegengewicht dazu die leicht ins Pelzwerk der Schaube greifenden Finger der Rechten — eine zarte, elegante Künstlerhand. Italien wirkt in ihm nach. Er sucht das Geheimnis der Schönheit in der Natur. Während in diesen Jahren die brave Frau Agnes mit der Hucke die Ballen mit den Dürerholzschnitten vom Rother Markt nach der Ingolstädter Schranne schleppt, auf den Märkten in Augsburg und Frankfurt hinter den ausgelegten Blättern der Apokalypse sitzt und ihre Bilder ausruft, geht Albrecht mit Zeichenmappe, Farbkasten und Pinsel ins fränkische Land hinaus und blättert im großen Lehrbuch Gottes. Nah- und Fernsichten von Dörfern, Burgen, Häusergruppen, Gebirgstälern und Wäldern entstehen, mit 22
Silberstift oder Kreide sucht er sich schone Ausblicke aui schilfgedeckte Dörflein, skizziert wohl auch mal einen Bauersmann oder einen Dudelsackpfeifer oder wirft mit schnellen Pinselstrichen in Wasserfarbe seinen Eindruck hin, wenn über einem Weiher die Sonne versinkt. Eine neue Welt im Kleinen geht ihm auf. Er drängt in die Tiefe der Schöpfung und kann stundenlang vor, einem Häschen, einem Rasenstück, einer Akelei oder einem Veilchenstock sitzen und deren innerstes Wesen mit großer Sorgfalt einfangen. Aber er erschöpft sich nicht in der Zeichnung und Kleinmalerei. In diesen Jahren entsteht der berühmte „Paumgartner-Altar" (1498) und die „Stillende Maria" (1503). Für einen fürstlichen Mäzen, den Kurfürsten Friedrich den Weisen von Sachsen, dem er von dem aus Italien zurückgekehrten Freund Willibald Pirckheimer empfohlen worden ist, malt er die „Anbetung der Könige" (1504) — ein Bild, das eine antikisierende Landschaft und prächtig gekleidete Figuren im italienischen Stil zeigt und in dessen kleinem Beiwerk — wie in dem Schmetterling des linken Vordergrundes oder dem Hirschkäfer der rechten Seite — sich die reiche Schule der Natur erweist, die er genossen hat. Dann wieder arbeitet er im Holzschnitt, beginnt die „Große Passion" (1498—1500, vollendet 1510/11) und das „Marienleben" (] 501—1505, vollendet 1510/11), deren Blätter die gute Agnes verhökert oder in alle Welt verschickt. Eben diese vervielfältigten Blätter sind es, die seinen größeren Ruhm begründen; sein Werk wird in dieser Zeit schon so hoch geschätzt, daß sich auswärtige Verleger durch Fälschung des Namenszuges auf Blättern weniger bekannter Künstler an seinen Erfolg anhängen. Und selbst ein fränkischer Raubritter fühlt sich reich, als ihm ein Ballen Dürer-Blätter in die Hände fällt. Doch all diese Jahre bringen ihn nicht zur Vollendung, führen ihn noch immer nicht zur Gewißheit. Er muß abermals hinaus, muß zurück ins Wunderland Italien, um vielleicht in einer erneuten Begegnung mit dem Süden das Höchste in sich selber zu entdecken. Im Sommer des Jahres 1505 sagt er seiner Agnes abermals Lebewohl und geht — von Willibald Pirckheimer großzügig unterstützt — auf die zweite Italienreise.
Flucht in eine andere Weit... "" Venedig — unvergeßliche Märchenstadt in der Lagune! Wie glücklich ist er gewesen in Jener Stadt und in jenen Tagen! Oh, diese Paläste an dunklen Wassern, die kühn geschwungenen Bogenbrücken über Kanälen, durch die verschwiegene Gondeln 23
lautlos gleiten; diese versteckten Plätzchen voller lärmender Kinder und singender Matrosen. 1 Was für ein freies und ungetrübtes Glück, wenn er mit seinem ; Malerfreunde „Zorzo" — dem damals achtundzwanzigjährigen Giorgione — in einer der kleinen Garküchen den rotgoldenen Wein von Valpolicella trinkt und dazu das dampfende Venezianer Lebergericht ißt, während sie sich die Köpfe über Kunst und Leben heiß machen! Und welch ein Zauber, den die jungen Venezianerinnen ausstrahlen! Wie weit, wie für immer verloren ist dies alles . . . Giorgione ist schon ein paar Jahre nach Dürers Fortgang von Venedig an der Pest gestorben, sein alter Lehrer und Freund, Giovanni Bellini, ist tot, die übrigen Freunde sind in alle Winde zerstreut, nur der junge Tizian macht von sich reden. Nein, nichts kehrt wieder. Aber wozu die trüben Gedanken? Ist er damals nicht restlos beglückt gewesen? Aus dem gärenden* von Problematik erfüllten Norden ist er dem lächelnden Süden und seiner Heiterkeit zugelaufen; aus der wilden, drängenden Wirrnis Germaniens hat er sich in die schöne Welt der wiedergeborenen Antike geflüchtet und in den Reichtum einer verschwenderischen Natur. Er schreibt in sein Tagebuch: „Die Kunst steckt in der Natur, wer sie herausreißen kann, der hat sie!" Von Anfang an ist alles gut verlaufen. Als er im Spätsommer in der Lagunenstadt ankommt, verkauft er — obschon man ihn in Venedig meist nur als Stecher und Holzschneider kennt — fünf von sechs mitgebrachten Gemälden. Schon im Spätherbst 1505 kommt der erste große Auftrag von der deutschen Kaufmannsgilde Venedigs für einen Altar der Kirche S. Bartolommeo, nahe dem Fondaco dei Tedeschi, dem Handelshaus der deutschen Kaufleute. Er beginnt mit einer Leidenschaft wie selten zuvor sich dem neuen Werk zuzuwenden. Bald füllt sich seine Werkstatt mit Neugierigen aus der Zunft und aus der vornehmen Bürgerschaft. Als er das „Rosenkranzfest" — so heißt das farbenjubelnde, prächtige Bild von der Krönung Mariens — im September 1506 fertigstellt, drängen Patrizier und Räte, der Doge Leonardo Loredano und der alte Patriarch von Venedig, der greise Giovanni Bellini und hundert andere heran, das Bild zu bestaunen. Der Doge bietet dem deutschen Maler ein Jahresgehalt von 200 Goldstücken, wenn er in Venedig bleibe und für den Rat male. „Und ich hab auch die Maler gestillt (zum Schweigen gebracht)", schreibt er triumphierend an den Freund Pirckheimer nach Nürnberg heim, „die da sagten, im (Kupfer) Stechen war' ich gut, aber im Malen wüßt' ich nit mit Farben umzugehen. Jetzt sagt jeder24
Albrecht Dürer, Landsknechte
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mann, schönere Farben hätt' er nie geseh'n . . . Sie meinen, ein erhabener und lieblicher Gemäld war ihnen nit vorgekommen." Ja, damals hat er die Pforte zur italischen Farbfreudigkeit gewonnen, hat von den Italienern die Technik im feinen Charakteri- i sieren bei Porträts und — wenn auch seine Gestalten von Adam und Eva noch ein wenig steif und konstruiert wirken — sogar die Kunst des Aktzeichnens gelernt. Harmonie und Maß, die stiminungsmäßige Ausgewogenheit seiner Bilder — das stammt aus dem Süden, das dankt er Venedig. Aber er wird diese schöne Form mit seiner deutschen Seele füllen . . . Wie es immer im Leben ist, wenn man Erfolg hat und von den Mächtigen anerkannt wird — Aufträge und Ehren erreichen ihn in Überfülle. Man bietet dem hochgerühmten „Alberto Duro" die Ausmalung der Fondaco dei Tedeschi und andere Großwerke an, aber es zieht ihn plötzlich nach der Vaterstadt zurück, und seine letzte Tat ist es, den Auftrag für das deutsche Handelshaus dem Freunde Giorgione und dessen Gehilfen Tizian zuzuspielen. Deutschland ruft ihn, das Verlangen, sich in einem härteren Leben zu bewähren, treibt ihn, die Aufgabe fordert ihn. Und er sagt dem Gipfel seiner Jugend Lebewohl und weiß: Niemals wieder — für immer vorbei. . .
Melancholie... Daheim stürzt er sich in die Arbeit. Jetzt ringt er um die unverkennbar eigene Form, die ihm aus italienischer Lehre und deutscher Schule, aus dem Erworbenen und Ererbten zuwachsen soll. In fünf Tagen malt er das Bild „Christus unter den Schriftgelehrten" (1507) — auch das ist noch nicht die hohe Vollendung, die er sucht. Ein paar Jahre später malt er das große „Allerheiligenbild" (1511). Das ist der Himmel, wie ihn ein gläubiger Deutscher sieht, dem noch die innere Einheit der mittelalterlichen Welt etwas bedeutet: Alle Heiligen des Himmels mit der Gottesmutter an der Spitze, alle Seligen — geistliche und weltliche Heerscharen — knien einmütig betend vor der Erscheinung der Dreifaltigkeit; im Chor der Beter gruppiert sich die ganze wohlgegliederte mittelalterliche Welt um Papst und Kaiser, und wie zwei gewaltige Wogen fluten Jungfrauen, Propheten und Verklärte zum Throne Gottes. In Aufbau und Gliederung klingt das Vorbild Raffaels an, aber die Innigkeit im Ausdruck der Gesichter, die Kraft der naiven Frömmigkeit, das ist deutsch und ist Dürer. Die große, alles überwäl26
tigende Klarheit und Vollendung ist ihm indes auch dieses Werk nicht. Er weiß es wohl und strebt weiter. Aufträge kommen ihm in die Werkstatt, er erledigt sie fleißig und in sorgfältiger Kleinarbeit, doch sie erfüllen ihn nicht. Die Malerei bringt auch zu wenig Geld ein. Darum widmet er sich wieder dem Holzschnitt und Kupferstich, den man vervielfältigen und daher wirtschaftlicher verwerten kann. Er schafft die „Kleine Passion" und die „Kupferstichpassion", in deren Bildfolgen der Sturm und Aufschrei der „Großen Passion" aus früherer Zeit beruhigter widerklingen. Die lodernde Flamme der Jugend, die heilige Unruh der Jahre des Werdens sind stiller geworden: In dem reifer werdenden Manne drängt alles Gären und alle Auseinandersetzung mit dem Leben, das Ringen zwischen Gott und der Natur, zwischen Ideal und Wirklichkeit, das jedes feiner empfindende Künstlerherz inmitten einer aufgeregten Zeit bewegen muß, nach innen. Er ertastet sich den steilen Pfad zur Vollendung nur unter Schmerzen. Wie wird die Entscheidung fallen? Anno 1513 vollendet er den Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel". Der Rittersmann, eingehüllt in einen Panzer, der sein Herz unverwundbar gegen die Pfeile und gegen den Schmutz der Welt macht, reitet unbeirrt seinen Pfad. Was können ihn Tod und Teufel erschüttern, ihn, der sein Ziel kennt, der seinen Gott fest im Herzen trägt? Sollte man auf diese Weise leben: den Kampf aufnehmen und durch die stürmisch bewegte Landschaft des Daseins hinschreiten wie ein Unverletzbarer, wie ein Streiter des Glaubens, ein Mann und Kämpfer? Oder ist der andere Weg der richtige? Hat es einen Sinn, sich an die Welt zu verlieren, nutzlos sich zu mühen, da die Außenwelt doch weder Verständnis noch Gnade kennt? Liegen die wahren Werte vielleicht nur im Inneren, in der Abschließung und Stille? Und da er keine Antwort findet, zeichnet er mit dem Stichel in die Kupferplatte seinen „Hieronymus im Gehäus" (1514) — das Bild eines frommen, in seiner Stube sitzenden Gelehrten, abgeschlossen vom Lärm des Alltags, hingegeben an ein gedankentiefes und gewiß gotterfülltes geistiges Werk. Zwischen den beiden Polen des „Ritters" und des „Hieronymus" pendelt auch Albrecht Dürers Leben in diesen Jahren. Da ist der Konkurrenzkampf, den einige seiner Rivalen mit unlauteren Mitteln führen, so daß er sich 1512 um einen „Freibrief" des Kaisers Maximilian bemüht; der Kaiser verfügt, daß Dürers Namenszug auf Holzschnitt und Kupferstich geschützt sein soll; da steht er, um27
brandet von Bewunderung, Neid und Kritik und müht sich doch nut um das Letzte der Kunst, das so wenige begreifen. Er hat an deri Brudergeist in Italien — an Raffael Santi — ein Selbstporträt auf einer zusammenfaltbaren Leinwand mit durchschlagenden Farben geschickt und einen Teil seiner Holzschnitt-Passion und seiner Kupferstiche dazugelegt. Und Raffael. der große Maler des Mediceerpapstes Leo X., hat ihm freudig zurückgeschrieben und eine Menge Blätter von seiner Hand gesandt. Das ist wie der Strahl der Sonne, die leuchtend das Sturmgewölk des Lebens durchbricht. Aber dann überfällt ihn wieder die Müdigkeit vor der Welt, treibt es ihn zur Abkehr von dem geschäftigen Treiben, von den aufdringlichen Auftraggebern, die ohne Geschmack und Verständnis nur auf ihre vollen Geldkatzen pochen. Wie oft möchte Albrecht Dürer sich gleich dem Hieronymus ins Gehäus einschließen und nur noch seiner Kunst leben! Zu manchem Mißlichen, das ihn als Künstler trifft, kommen auch häusliche Sorgen. In seiner Ehe mit Agnes Frey, die kinderlos geblieben ist, fühlt sich der Meister nicht allzu glücklich. Er ist hinund hergerissen, ein Mensch unterwegs, den oft trübe Gedanken und schwere Stimmungen bedrängen. So schafft er den großen Kupferstich „Melancholia". Eine wuchtige, geflügelte Frauengestalt mit finster brütendem Ausdruck sitzt aufgestützten Hauptes inmitten einer Menge unverständlichen Gerätes, während der Hintergrund von einem zauberischen Regenbogen und dem Glanz eines drohenden Kometen erhellt wird. Die Dinge, die um jene Gestalt gelagert sind: Waage, Leiter, Kugel, Hobel, Richtscheit, Glocke, ein Zahlenquadrat an der Mauer, die Sanduhr, ein flächig behauener Steinblock, dazu ein Hund und ein kleiner, schreitender Putto, versinnbildlichen die weltlichen und geistigen Wissenschaften, die Erfindungen und Großtaten menschlichen Forschergeistes. Aber inmitten dieser Fülle der Erfolge trauert die Melancholia — verloren unter den unlösbaren Fragen der Welt und des Himmels, Sinnbild des im All verirrten Menschengeistes, der nicht heimfindet zu Gott und zur Wahrheit. Wie vermöchte der Wust all der Dinge rings um jene edle Frauengestalt zu erheben — sie, die Flügel trägt, die sie entführen sollten in die ewige Heimat! „Was nützet es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt", sagt die Schrift, „an seiner Seele aber Schaden leidet." Das Bild der Melancholie ist Dürers Bekenntnis, ist sein Aufschrei in schwerer Seelennot. Es entsteht in der gleichen Zeit, da im Turm zu Maulbronn der Doktor Faustus auf seine Weise mit Gott und dem Teufel ringt. 28
Der Ruhm ... In dieser Zeit dringt der Ruhm des Künstlers in alle Welt. Kaiser Maximilian, längst Dürers Bewunderer, wird sein Auftraggeber. Für ihn entwirft er zusammen mit seinen Gehilfen die Risse für die Riesenholzschnitte der „Ehrenpforte", des „Triumphzuges" und des „Trimphwagens" (1515); der höchste Fürst des Abendlandes lädt ihn 1516 auf den Reichstag nach Augsburg ein, und er darf Porträtskizzen vom Kaiser, bald auch (1518) ein gemaltes Porträt von ihm schaffen. Die Majestät, deren Gebetbuch er mit reizenden Randzeichnungen auf Pergament geschmückt hat, genehmigt ihm ein Jahresgehalt von 100 Gulden, Kurfürsten und Könige wenden sich an die berühmt gewordene Dürerwerkstatt in Nürnberg. Jetzt kann er das schöne Haus unterhalb der Burg kaufen und sich großzügig einrichten, denn er liebt — wie alle Maler der anhebenden Renaissance — ein wenig die Pracht und den Prunk. Als Maximilian, sein Gönner, 1519 stirbt und die Unruhe zwischen den Reformatoren und ihren Gegnern die Lande mit erregten Streitgesprächen, bald auch mit Waftenklirren und Fehden erfüllt, reist er mit seiner Frau und einer Dienerin auf die Weise vornehmer Herren mit Kutsche und Pferden nach den Niederlanden, wo der neue Herr der Welt — Karl V. — heraufzieht. Wie sein Freund Willibald Pirckheimer und andere große Leute — Erasmus von Rotterdam zum Beispiel — neigt auch er zunächst im Schmerz über den Verfall des religiösen Lebens zur lutherischen Sache, da er in dem großen Kampfgeist von Wittenberg den Reiniger von den Schlacken der Zeit, den Erneuerer der alten Kirche, den Verkünder des reinen Wortes Gottes verehrt. Als Luther aber ein neues Kirchengebäude errichtet, bleibt er zurückhaltend und bekennt sich zu der überkommenen Lehre. ' Die Reise quer durch Deutschland wird zu einem Triumphzug für den nun fünfzigjährigen Meister. Sorgfältig führt er Buch über Ausgaben und Einnahmen, speist in den Gasthäusern vornehm allein — während Frau und Magd sich in der Stube oben mit kargerem Mahl begnügen müssen; er wird von bedeutenden Persönlichkeiten eingeladen, nimmt Aufträge in Bamberg, Frankfurt und Köln entgegen und zeichnet alle berühmten Leute, die ihm begegnen: den Reichsherold Sturm, Erasmus von Rotterdam, die Statthalterin der Niederlande, viele Fürsten und Gelehrte. Die Stadt Antwerpen bietet ihm ein Jahresgehalt von 800 Philippsgulden, wenn er dort bleibe, aber er lehnt ab. Der Rat gibt ihm ein Bankett, und er schreibt darüber in sein Reisetagebuch: „Und da ich zu Tisch geführet ward, da stand das Volk zu beiden 29
Seiten, als führte man einen großen Herrn. Es waren unter ihnen| auch gar viele treffliche Personen von Namen, die sich alle durch | tiefes Neigen des Kopfes aufs Demütigste gegen mich erzeigten."! Die Statthalterin lädt ihn ein, er porträtiert den dänischen König und verkehrt mit den berühmten niederländischen Meistern Quentin Massys, Lucas van Leyden und Barend van Orley. Als er am 6. Juli 1521 die Rückreise mit fast 120 Porträtskizzen und fünf Ölgemälden antritt, ist sein Beutel leer geworden. Der Ruhm kostete Geld, er muß sich die Summe für die Heimfahrt leihen. Was aber bleibt von Geschrei und Gaffen? Was wiegt die Verehrung der Menge, die gemischt ist aus Neugierde, Schaulust und Prahlerei, was sind die glatten Worte der hohen Herren wert, die heute dem und morgen einem anderen Komplimente machen, um die Geehrten ebenso schnell fallen zu lassen, so es der Vorteil gebietet? Albrecht Dürer erlebt es in den folgenden Jahren, daß all das, was die Welt an Ruhm zu vergeben hat, ohne Gewicht ist. Die reichen und angesehenen Kaufleute, die Räte und Würdenträger kommen in seine Werkstatt und schmeicheln ihm, daß er sie male: der feuerköpfige Hieronymus Holzschuher oder der verkniffene Jakob Muffel. Aber hernach — als die leidige Politik dazwischenfährt — ziehen sie sich zurück. Im Jahre 1525 erklärt sich der Rat von Nürnberg für die Luthersche Sache und nimmt die Reformation an. Albrecht Dürer, der Verehrer Mariens in vielen Bildnissen und in ebenso vielen Bildern der mannhafte Prediger einer religiösen und geistigen Erneuerung, hat sich ebenso wie sein hochgelehrter Freund Willibald Pirckheimer schon seit einiger Zeit von der Wildheit der örtlichen Religionskämpfe, von dem gewalttätigen Wesen und dem stürmischen Fordern vieler Eiferer abgestoßen gefühlt und wendet sich gegen jede Art des Radikalismus. Er gilt — noch dazu als Freund Pirckheimers — als Reaktionär, man läßt ihn abseits liegen. Wieder ist er zwischen zwei Extreme gestellt. Drei Gesellen seiner Werkstatt, die dem Einfluß des empörerischen Geistes des Johannes Denck verfallen sind, und denen Luther nicht weit genug geht, reden nicht nur gegen die alte Kirche, sondern lehnen gleich den Gottesglauben überhaupt ab und verkünden eine neue revolutionäre soziale Ordnung. Die drei Rebellen werden verhaftet und aus der Stadt verwiesen. Schwärmer, Fanatiker, Parteileute, kleine Geister füllen die Gassen, der Himmel der Zeit verdüstert sich, erneut erheben sich die Bauern; nach ihrer Niederwerfung nehmen die Herren furchtbare Rache. Das Frankenland ist von Wehegeschrei und Weinen 30
erfüllt; aus der Heimat der Vorväter aber — aus Ungarn — kommt die alarmierende Botschaft vom Anmarsch der Türkenheere. Albrecht Dürer ist fast ganz allein mit sich selber und seinen Gedanken, nur Willibald Pirckheimer hält ihm Freundschaft. In diesen Jahren, die nach innen blicken, die von Leid und Enttäuschungen gezeichnet sind, denkt Albrecht Dürer nicht mehr an das Glück, nicht mehr an die Melancholie, nicht mehr an den treulosen Ruhm. Rein und klar geworden, in einem schweren, an Kämpfen und Mühen reichen Leben gereift und geläutert, wendet er seine Kraft nur mehr der Kunst entgegen, jetzt ringt er um das Letzte, um die Vollendung ... '
Der Friede Draußen grollen die Kartaunen in polternden Schlägen auf, die Glocken heben von neuein zu läuten an. Jetzt hat wohl einer der Meistersinger den Preis — den „Davidsgewinner" — errungen, und die Stadt feiert den Sieger. Albrecht Dürer fährt aus seinem Sinnen auf — sein ganzes Leben ist noch einmal an ihm vorbeigezogen, und die Wirklichkeit wird ihm wieder bewußt. Die Uhr seines Lebens zeigt den l. Oktober 1526. Er zählt fünfundfünfzig Jahre, noch ist er kein alter Mann. Sein Blick fällt auf die Tafeln der „Vier Apostel". Ja — Pirckheimer hat recht! Das ist die Vollendung. - Wie lange lebt ein Mensch, fragt sich Dürer und gibt selber die Antwort: so lange wohl, bis er erfüllt hat, was ihm die Gottheit aufgegeben, bis er vollendet ist oder seine Aufgabe getan hat. Aber er ist nicht am Ende. Noch fehlt das Mittelstück des Altares, dessen Flügel diese Tafeln werden sollen: der Salvator mundi, der Erlöser der ganzen Welt — ihrer evangelischen und katholischen Hälfte. Er muß noch dieses größte aller Bilder malen, das den Heiland zeigt, der zu allen Menschen gesprochen hat und an dessen Seite die alte und neue Kirche in neugewonnenem christlichem Frieden stehen sollen. Oh, es gibt noch so viel zu tun: vor einem Jahr hat Albrecht Dürer ein Buch über die „Geometrie" geschrieben — jenen großen italienischen Vorbildern gleich, wie Leonardo oder Bellini, die in vielen Künsten sattelfest sind; jetzt, da der Türke das Vaterland bedroht und wider Wien heranrückt, arbeitet er an einer Befestigungslehre, die er mit reichem Bilderschmuck versieht, und er plant schon ein drittes Buch, das — dem Werk des Leonardo ähnlich — seine künstlerischen und maltechnischen Gedanken weitertragen soll: eine 31
Abhandlung über die rechten Verhältnisse des menschlichen Kör- , pers in der Zeichnung. Dieses Buch soll „eine Speis für die Malerknaben" werden und ihnen die Wege ebnen und die Geheimnisse lüften, die er selber so mühsam sich erkämpft hat. Ein weites Feld liegt noch vor ihm und er wird es bestellen . . . ,| so glaubt er. ' Schon bald darauf werden die beiden Tafeln mit den Heiligen in den Sitzungssaal des Nürnberger Rates überführt, und in feierlicher Handlung stiftet der Meister das Werk seiner Vaterstadt. ; ; Dann arbeitet er still an seinen Plänen weiter. Im Winter 1527 spürt er Schmerzen in der Milzgegend, die ihn schon öfter geplagt haben. Anno 1509 hat er einmal eine Selbstdarstellung gezeichnet, wobei er mit dem Finger auf die kranke Stelle seines Körpers deutet und das Blatt — als Frage gleichsam — an einen berühmten Arzt geschickt. Doch die Ärzte haben niemals die rechte Medizin gewußt. Jetzt tritt das Leiden peinvoller auf als je. Fieber kommt hinzu. Dürer kränkelt ins Frühjahr hinüber und hofft auf das Wunder der steigenden Sonne. Aber die Krankheit wird schlimmer und schmerzhafter. Er phantasiert und dämmert abgezehrt in immer tiefere Abgründe hinüber. Am 6. April 1528 wird er mit den Tröstungen der Kirche versehen und stirbt, am letzten Tage ruhig und klar werdend, fast ohne Kampf inmitten seiner Freunde und seiner Familie. Er ist vollendet, die Aufgabe ist erfüllt. Seiner Witwe hinterläßt der Meister außer dem großen Hause die stattliche Summe von 6848 Gulden, 7 Pfunden und 24 Pfennig. Deutschland vererbt er die Mahnung zu Einigkeit und Versöhnung, den Künstlern der Welt aber das leuchtende Vorbild eines zur Vollendung des Lebens und der Kunst Emporgestiegenen. Umsdilaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bild auf der vorderen Urnschlagseite: Selbstbildnis von 1498 (Madrid); Umschlagseite 4: Der heilige Eustachius um 1500 (Ausschnitt; darin Dürers Monogramm); Umschlagseite 2: Selbstbildnis des Dreizehnjährigen, 1484 (Silberstiftzeichnung). Lux-Lesebogen 2 (Kunst) H e f t p r e i s 25 Pf. Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (viertel). 6 Hefte DM 1,50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt - Verlag Sebastian Lux, Murnau (Oberb.), Seidipark - Druck: Greven & Bechtold, Köln - Printed in Germany 32
LUX H I S T O R I S C H E R E I H E GESCHICHTE
EINMAL
GANZ
Umfang 64 Seiten
ANDERS
Heftpreis 75 Pf
In fesselnder Darstellurg bringt diese Weitgeschichte in spannenden, in sich abgeschlossenen Einzelheften Zeitbilder und Szenen aus dem großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Menschen, Völker, historische Schauplätze und Landschaften aus allen Zeitaltern der Vergangenheit erstehen in bunter Folge vor dem Auge des Lesers. Geschichte wird zur lebendigen Gegenwart. Jedes Heft vermittelt ein abgerundetes Bild des dargestellten Zeitraumes. Die Reihe fesselt den Erwachsenen wie den Jugendlichen, der von der Anschauung zur Erkenntnis der Zusammenhänge in der Geschichte gelangen will. Aus maßgebenden Erzieherkreisen liegen höchst anerkennende Urteile über die HISTORISCHE REIHE vor. Die Hefte entsprechen der Forderung der Schule nach fesselnder, zuverlässiger Lektüre als Ergänzung und zur Unterstützung des Geschichtsunterrichtes. Dem Jugendlichen bietet die Reihe eine Lektüre, die ihn ebenso unterhält wie in seiner Allgemeinbildung vorwärtsbringt. Die Titel der ersten Hefte: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 1.
Sphinx am Strom Priester und Magier Götter und Helden Die Griechen Die Perserkriege Die Tempel Athens Alexanderzug
8. 9. 10. 11. 12. 13.
Pyrrhus - der Abenteurer Hannibal Untergang Karthagos Marius und Sulla Kaiser ohne Krone Das goldene Rom
In jedem Monat folgt ein weiteres Heft Jedes Heft mit farbigem Umschlag, Illustrationen, Landkarten, Anmerkungen und Zeittafeln. Bitte Prospekt anfordern!
VERLAG S E B A S T I A N LUX Murnau vor München