S. P. Somtow
Dunkle Engel Roman
Aus dem Amerikanischen von Christel Roßkopf
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S. P. Somtow
Dunkle Engel Roman
Aus dem Amerikanischen von Christel Roßkopf
FESTA
1. Auflage Oktober 2001 © dieser Ausgabe 2001 by Festa Verlag, Almersbach www.Festa-Verlag.de Originaltitel: Darker Angels
© 1998 by Somtow Sucharitkul Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Druck und Bindung: Wiener Verlag, A-2325 Himberg Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-935822-09-X
S. P. Somtows fantastisch-historischer HorrorRoman führt den Leser in kunstvoll verschachtelten Geschichten von den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs zu den Sklavenauktionen von Haiti. Voodoo, Zombies, afrikanische Totenkulte und Magie werden vom Autor mit Schilderungen des Krieges kombiniert. Vor dem Sarg von Präsident Abraham Lincoln lernt die Witwe Paula Grainger den Dichter Walt Whitman kennen. Über ihn erfährt sie, dass ihr Mann an den okkulten Praktiken der schwarzen Sklaven interessiert war. Eine weitere zentrale Figur, die sich nachts in eine Leopardin verwandeln kann, ist Paulas afrikanische Dienerin Phoebe, der „Dunkle Engel“, Tochter der mächtigen Zauberin Eleuthera. Gemeinsam mit einem Schwarzen zieht die geheimnisvolle Leopardenfrau durch das vom Krieg zerstörte Land, erweckt tote Negersklaven und rekrutiert sie in einer Armee von Zombies. Eine spannende, düstere, nicht einfach zu lesende Lektüre aus der renommierten Horror-Reihe.
Danksagung und Dementi
Die Handlung dieser Geschichte spielt in annähernd dem gleichen Universum wie Moon Dance und die Vampire Junction-Reihe – einer Welt, die mit der unseren beinahe identisch ist, sich von ihr aber gleichwohl auf unmerkliche Weise unterscheidet. Es treten mehrere historische Persönlichkeiten auf, deren Handlungen jedoch frei erfunden sind. Nichts in diesem Buch ist wahr, keines der Ereignisse hat wirklich stattgefunden, und niemand hat die beschriebenen Dialoge tatsächlich gesprochen, mit Ausnahme der Zitate der Herren Lincoln und Whitman, die den verschiedenen Abschnitten als Epigramme vorangestellt wurden, und der vereinzelten Verse hier und dort aus Gedichten Walt Whitmans und Lord Byrons. Jede weitere Ähnlichkeit mit Personen, Orten oder Ereignissen wäre rein zufällig. Trotz alledem war viel Recherchearbeit nötig, um dem Roman einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Mein ganz besonderer Dank geht an Denise Angela Shawl, eine praktizierende Priesterin, für einige Einblicke in die Gebräuche der afrikanischen Religion und Magie; Dr. Ellison Sanders, der mir die feinen Unterschiede in den verschiedenen Plantagenidiomen und anderen afrikanisch-amerikanischen Dialekten des neunzehnten Jahrhunderts beigebracht hat; mehrere houngans, die nicht genannt werden möchten; Carline, eine haitianische Austauschstudentin; und an den verstorbenen Richard Evans, der schon immer von der Geschichte der Hispaniola fasziniert war und mich vor Jahren dazu ermuntert hat, diesen Roman zu schreiben. Da es anscheinend zumindest drei offizielle oder halboffizielle
Schreibweisen des haitianischen Dialekts gibt, ist die Einheitlichkeit nicht immer gewahrt. Fehler gehen, wie immer, auf mein Konto. Auch meinen Eltern, Dr. Sompong und Thaithow Sucharitkul, möchte ich Dank sagen, und meinen überaus geduldigen Verlegern Greg Cox und Jo Fletcher, sowie meinen Agenten, Eleanor Wood und Leslie Gardner, und meiner Verlegerin Valerie Lee für die Unterstützung, die es mir ermöglichte, während einer schlimmen persönlichen Krise weiter an diesem Roman zu arbeiten, und meinem Adoptivsohn William John Raitt für seine Geduld und seine Hilfe im Haushalt während der Zeit, die es brauchte, dieses Monster aus dem Mutterleib zu stoßen.
Es gibt einen physischen Unterschied zwischen der weißen und der schwarzen Rasse, die es den beiden Rassen für immer verbieten wird, politisch und gesellschaftlich auf gleichem Fuße miteinander zu verkehren. – Abraham Lincoln
Du dämmerentstammter schwarzer, göttlich beseelter Afrikaner, groß, edel gebildet an Haupt und Gliedern, zu Herrlichem geboren du, gleich und gleich mit mir! – Walt Whitman
Der wirkliche Krieg findet niemals Eingang in die Bücher. – Walt Whitman
Ein Toter Mann in New York 1865
1 WORIN MRS. GRAINGER EINE UNERWARTETE BEGEGNUNG MIT DEM ALLMÄCHTIGEN HAT
1 Ein toter Mann in einem abgedunkelten Raum… Ich hatte nie zuvor einen toten Monarchen gesehen. Jetzt will mir scheinen, daß ich einer solchen Erfahrung wohl nie näherkommen werde als durch den Anblick eines toten Präsidenten dieser großartigen Vereinigten Staaten von Amerika. Lincoln mag kein König gewesen sein, aber in diesem auf den Kopf gestellten Land, wo ich seit den letzten zwei Jahrzehnten lebe, war er der absolute Zenit dessen, was als Zivilisation gelten konnte.
Im Laufe der Zeit mußte ich lernen, daß das, was man für die Zivilisation hält, auch schon alles ist, was man überhaupt erwarten kann. Ich mußte lernen, daß die harmonischen Errungenschaften der Gesellschaft nichts weiter sind als eine Art Taschenspielerkunststück, ein Massenmesmerismus, hinter dem eine untergründig schwelende Barbarei lauert, der kaum jemand gegenüberzutreten wagt. An diesem Morgen, in dem abgedunkelten Raum mit dem toten Mann, mußte ich eine Reise antreten, die mit solch einem Gegenübertreten enden sollte. Und das war insofern recht merkwürdig, als ich an diesem Morgen lediglich einen flüchtigen Schauer gesucht hatte, eine kurze Epiphanie, meine eigene und aller Menschen Sterblichkeit betreffend. Nicht, daß ich den Präsidenten meines Gastlandes nicht bewundert hätte, aber ich komme aus einem Land mit einer älteren Geschichte, wo man mit den Schlagwörtern des Idealismus wesentlich zynischer umgeht. Mein verstorbener Mann, und nicht ich, war der Träumer gewesen, der zu tausend noblen Angelegenheiten seinen Beitrag geleistet hatte, von denen die Abschaffung der Sklaverei die einzige Bemühung war, die sich nicht als verloren herausstellte. Er wäre derjenige gewesen, der wirklich getrauert hätte. Er war es, der für die liberalen Positionen von Mr. Lincolns neumodischer Republikanischer Partei so eifrig eingetreten war, und er war es, der einen Handzettel nach dem anderen auf eigene Kosten hatte drucken lassen – oder, um genau zu sein, auf meine Kosten. Ich wollte in das Gesicht des Mannes schauen, den mein Mann so sehr verehrt hatte. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, viel mehr als ein weiteres Totenantlitz zu erblicken. Ich hatte schwerlich erwarten können, an diesem Morgen eine Unterhaltung mit Gott zu führen. Noch viel weniger wäre mir
in den Sinn gekommen, daß ich an diesem selben Nachmittag den Allmächtigen zum Tee einladen würde.
2 »Ich werde heute morgen Mr. Lincoln sehen«, sagte ich zu Phoebe, meiner Dienerin, als sie eine Auswahl Witwengewänder auf das Bett legte. »Mr. Lincoln ist für ein paar Tage im Capitol in Washington gewesen, gestern ist er durch Philadelphia gereist, heute bleibt er in Manhattan, und morgen fährt er mit dem Zug nach Illinois.« »Kenn kein Mr. Lincoln«, sagte Phoebe, »aber es höchste Zeit. Ein Jahr zu lange, um Schwarz tragen. Zu lange einsam sein, Mrs. Paula.« »Nun, ich werde ihn nur dieses eine Mal besuchen, und er wird nicht hier zu Besuch erscheinen, keine Angst. Er ist ein toter Mann, Phoebe, ein toter Präsident.« »Toter Mann besser als gar kein Mann«, sagte sie und kicherte, als sie das Teetablett beim Erkerfenster, das auf den Washington Square hinausgeht, absetzte und die Vorhänge aufzog. Das Licht der Gaslampen spielte auf dem braunen Sandstein; von der anderen Straßenseite hörte man das Wiehern ungeduldiger Pferde aus dem Kutschenhaus. Ich weiß nicht, warum ich darauf bestehe, vor Morgengrauen aufzustehen. Es ist ja nicht so, als ob wir schnell an die Druckerpresse hinuntereilen müßten, um unsere Plakate noch vor Sonnenaufgang anzukleben. Ich könnte ein müßiges Leben führen, wenn ich wollte, jetzt, wo die Erbschaft meines Großvaters von eintausenddreihundert Pfund jährlich nicht für die wohltätigen Marotten meines Mannes verwendet werden muß.
Ich wählte das schlichteste meiner Trauerkleider aus, einen altmodischen Reifrock mit einem nicht dazu passenden Umhang. Kein Schmuck, und den dichtesten Schleier, den ich besaß. Phoebe sammelte die anderen Kleidungsstücke ein und verschwand damit in meinem Wandschrank. Auch sie war eine von Aloysius’ Marotten gewesen: Bei einem seiner Besuche in Arlington hatte er irgendeinen mittellosen Colonel aus Virginia beim Pokerspiel geschlagen und anstatt der gewetteten fünfzig Dollar sie mitgenommen, ein dürres, farbiges Balg von einem Sklavenmädchen. Er hatte die großartige Vision gehabt, dem Kind das Lesen und Schreiben beizubringen und es zu einer Art ultimativem Symbol für die Fähigkeit der Neger, sich weiterzubilden, zu machen. Über Jahre listete er in einem Journal penibel ihre Bemühungen auf diesem Gebiet auf. Am Ende erwies sich das Mädchen einigermaßen als Enttäuschung. Als er sie nach ihrem dreizehnten Geburtstag zu sich ins Bett holte, machte mir das nicht wirklich etwas aus; ich bin nie eine besonders eifersüchtige Frau gewesen, und seine amourösen Aufmerksamkeiten waren mir ohnehin immer etwas lästig. Als Phoebe aus dem Schrank zurückkam, war ihr Benehmen von größerem Ernst. »Ich wollen auch gehen, Mrs. Paula«, sagte sie. »Ich wollen diesen toten Mann sehen, der nicht kommen besuchen.« »Will«, sagte ich. »Ich will.« »Ja, ich wollen, ich wollen.« Dreizehn Jahre unter New Yorkern hatten nichts gegen den Singsang ihres Plantagenidioms ausrichten können. »Es sieht so aus, daß man dich nicht lassen wird, Phoebe. Der gestrigen Times zufolge ist es Negern nicht gestattet, am Trauerzug teilzunehmen.«
»Dann wofür sie diesen Krieg gekämpft haben?« rief Phoebe mit plötzlich aufwallender Leidenschaft aus. Ebenso plötzlich hielt sie inne und wich verlegen zurück. »Mein liebes Mädchen, du hast dich verraten. Du wußtest sehr wohl, wer Mr. Lincoln war. Du hast dreizehn Jahre mit Mr. Grainger und mir zusammengelebt; du mußt doch begriffen haben, daß du mir gegenüber nicht die Dumme spielen mußt. Wir sind hier nicht in Virginia, und du bist so frei, wie ich es bin, und das, seit du vor dreizehn Jahren den Potomac überquert hast.« »Dann warum ich nicht können gehen mit Mrs. Paula?« Darauf hatte ich keine Antwort. Statt dessen nippte ich an meinem Tee und starrte auf den Square hinunter. Vielleicht sollte ich mir den Hof machen lassen, überlegte ich. Ich bin zwar keine Schönheit, aber ich habe ein verläßliches Einkommen. Und außerdem, so alt bin nun auch wieder nicht. Ich könnte sogar durchaus noch Kinder bekommen. Oder vielleicht mache ich mir nur etwas vor. Der Witwenstand hat auch seine Privilegien. Ich kann ohne Begleitung in eine Bar hineinspazieren, ohne daß man mich deshalb für eine Hure hält. Im gewissen Sinne, sagte ich mir, sind wir alle Sklaven. Ich leerte meine Tasse. Phoebe goß mir nach. Ihre Hand zitterte. Das Klappern des Teesiebs gegen mein feines Porzellan unterbrach meine Träumerei. »‘Tschuldigung, Mrs. Paula«, sagte sie. »Ich denken über Mr. Lincoln.« »Er war eine Art König.« »König, ja«, sagte sie. »In Afrika haben viel König.« »Die Freiheit deines Volkes war sein Tod«, sagte ich, mehr zu mir. Man unterhielt sich nicht mit Phoebe; man sprach, sie sprach, aber keiner hörte zu. »In Afrika, in alten Zeiten, ein großer König, er genannt Shangó; er sich selbst gehangen an riesengroße Baum. Viele
Tag, viele Nacht. Meine Mammy mir erzählen. Drei Nacht, drei Tag er runterkommen von Baum. Jetzt er ein Gott. Er wieder leben. Er uns aus toten Land bringen. Du liegen lange Zeit in Erde, vielleicht er dich rufen. Und du wieder leben. Meine Mammy mir immer sagen, oba kosó, oba kosó. Ich nicht wissen, was bedeuten. Shangó mächtig. Ein Gott von Götter. Weiße Volk ihn nennen Jesus.« Heute hatte ich zur Abwechslung einmal zugehört. Wovon schwafelte die Frau da? Halb Blasphemie, halb anspruchsvolle Verschmelzung verschiedener religiöser Vorstellungen? Mein Mann hätte aus dieser provozierenden Doppelung zweifellos eine ausgefallene Hypothese konstruieren können. Daß der Hl. Markus den Äthiopiern das Evangelium gepredigt hat, vielleicht, und wie das Evangelium sich mit Bocksprüngen durch den Dschungel nach Süden bis zu den Quellen des Nils ausbreitete, bis zu einem primitiven Königreich, und von dort durch Hörensagen zu Phoebes Vorfahren gelangte? »Willst du damit sagen«, fragte ich sie, »daß es so etwas gibt wie eine afrikanische Version vom Opfertod und der Erlösung unseres Herrn Jesus Christus?« »Nur Niggergeschwätz… Nicht kümmern drum.« Aber ich kannte sie besser. Die schlichte Vorstellung meines Mannes von ihr war die eines halbgebildeten, unschuldigen Mädchens, das eine größere Nähe zu kreatürlicher Ursprünglichkeit hatte als wir in unserer Kultiviertheit. Er hatte es als seine Pflicht angesehen, sie mit dem Zauber des gedruckten Wortes und der großen Sprache von Shakespeare und Milton und der King-James-Bibel aus dem Sumpf der Barbarei herauszuziehen. Doch bei all seiner Selbstlosigkeit und seinem Eifer war er nie auf den Gedanken gekommen, daß die Welt, der Phoebe entsprungen war, ihre eigenen Shakespeares, ihre eigenen Miltons gehabt haben könnte, die für uns ein einziges Kauderwelsch sind. Wie man weiß, neigen
Männer dazu, alles schwarz oder weiß zu sehen. Das ist letztlich auch der Grund, warum sie immer Kriege führen werden. Phoebe war eine Frau. Ich wußte, sie besaß Scharfblick. Wenn mein Mann ihr großartig den Konjunktiv Plusquamperfekt oder den Unterschied zwischen Vergleich und Metapher auseinandersetzte, hatte ich immer das Gefühl, daß sie ihn mit einer gewissen verwirrten Toleranz betrachtete, weil sie begriff, daß seine glühende Inbrunst, sie zu bilden, eine ganz und gar andere Leidenschaft maskierte. »Wenn ich zurückkomme«, sagte ich, während sie mir in mein Fischbeinkorsett half, »werde ich dir berichten, wie Mr. Lincoln ausschaut. Du kannst mir dann sagen, ob er irgendwie deinem Shangó ähnelt. Man sagt, er war ein großgewachsener Mann von beinahe übermenschlicher Statur.« »Vielleicht er wieder leben. Vielleicht er wieder von toten Land zurückkommen. Vielleicht er wiederkommen als Gott.« Ich lächelte. »Hier in Amerika, liebe Phoebe«, sagte ich, während sie den Reifrock zuschnürte und ich meine Arme ausstreckte, damit sie mir den Umhang überlegen konnte, »haben wir nur einen Gott, und das ist, wie du sehr wohl weißt, der Herr der himmlischen Heerscharen.« Es hat sich noch immer bewährt, dem Monotheismus Lippenbekenntnisse abzulegen, und wenn man mit einem, wenngleich freidenkerischen und radikalen, Geistlichen verheiratet war, fällt es nicht schwer vorzugeben, man habe keinerlei Zweifel.
3 Die Straße vor der Stadthalle war schon vor Tagesanbruch voller Menschen, Weißen und Farbigen, alle in düsterem
Schweigen. Die Wohlhabenden standen direkt am Rande des Bürgersteiges. Die Neger standen am weitesten hinten. Einige trugen Plakate, die den Präsidenten rühmten oder Trauer ausdrückten. Ich ging zügig an ihnen vorüber, aber als ich die vorderen Stufen erreichte, zupfte mich ein zerlumpter Bursche am Ärmel. »Ma’am«, sagte er, »wenn Sie ganz vorne stehen wollen, brauchen Sie eine Karte. Für vier Dollar kann ich Ihnen eine besorgen.« »Das ist eine Menge Geld, ein Wochenlohn für jemanden wie dich.« Während ich ihn noch wegjagte, bot mir schon ein anderer Strolch eine Karte für nurmehr drei Dollar. Ich beachtete sie alle nicht. Ich wußte, daß man mich schließlich erkennen würde und ich das Gebäude würde betreten dürfen. Tatsächlich war es einer von den kleinen Angestellten, der mich mit einem ernsten »Mrs. Grainger, nehme ich an« begrüßte und es mir erlaubte, in die Vorhalle einzutreten. Noch war keiner der Würdenträger angekommen. Ein oder zwei Soldaten liefen geschäftig hin und her. Männer im Gehrock standen in ernster Habachtstellung. Ein oder zwei von ihnen nickten mir kurz zu; ich kannte sie nicht, aber als aristokratisch auftretende Frau in mittleren Jahren hat man ja wirklich ein paar Vorteile. Es wurde einfach angenommen, daß ich als schmückendes Beiwerk irgendeines erlauchten Amtsträgers gekommen sei. Ich wurde zwar gesehen, war aber dennoch unsichtbar. Ich wanderte die Halle entlang, einen Gang hinunter, folgte der Spur einer gedämpften Unterhaltung. Nach einiger Zeit erreichte ich den Korridor, wo in einem der Räume aller Wahrscheinlichkeit nach der Präsident aufgebahrt war. Hier in diesem jungen Land geht es weniger pompös und zeremoniell zu als zu Hause: Nur zwei Männer bewachten den Eingang, einer war ein Neger – zweifellos als Symbol des Zeitgeistes. Beide waren sehr jung. Die meisten erwachsenen
Männer dieses Landes waren ja tot; in gewissem Sinne war Mr. Lincoln unter den namenlosen Tausenden nur ein weiteres Opfer. Das Foyer war schwach beleuchtet, aber ich konnte erkennen, daß sie sich große Mühe gegeben hatten, einen properen Eindruck zu machen. Doch ihre Mäntel waren an mehreren Stellen geflickt, und der Ärmel des jungen Negers wies ein Einschußloch auf. Vielleicht lag es an den unruhigen Schatten oder den hochragenden Konturen der Gewölbe und dem Aufwärtsschwung der korinthischen Säulen, aber die Jünglinge erschienen zwergenhaft klein und verletzlich. Und das war eigenartig, standen sie nicht wenige Tage vor dem Sieg? Natürlich hatte es das auch zuvor schon oft geheißen. In den Augen der Jungen lag etwas Gequältes. Ich wollte nicht wissen, was sie alles gesehen hatten. Einer der Wachen – natürlich nicht der Neger – kam mir irgendwie bekannt vor; er war einmal der Lehrbursche meines Schlachters gewesen. »Mrs. Grainger«, sagte er, indem er ungeschickt salutierte. »Schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen, Ma’am.« Eine Spur von irischem Akzent; als Kind wurde er, so erinnerte ich mich, von Irland herüberverfrachtet, und seine Vertragspapiere wurden von dem verdrießlich blickenden Schlachter in Alexandria unbesehen gekauft. »Ich freue mich auch, dich zu sehen… Christopher, nicht wahr?« Er strahlte. »Ja, Ma’am«, antwortete er. Der Negerjunge starrte düster zu Boden. »Ich frage mich gerade…«, murmelte ich. »Ich meine, dürfte ich… könnte ich nicht…« »Gehen Sie nur rein«, sagte der Schlachterbursche leise. »Bevor wir die Massen reinlassen. Ich weiß, daß Sie deshalb gekommen sind, Mrs. Grainger. Um einen Augenblick mit dem Präsidenten allein zu sein.«
»Ich werde mucksmäuschenstill sein.« Und kaum daß ich zu atmen wagte, schlich ich hinein… Die Stille, die stickige Luft, das gedämpfte Licht, die üppigen Samt- und Brokatdraperien, alles verlieh dem Raum einen numinosen Charakter. Nur der Geruch von Weihrauch fehlte, um sich vollends in einer papistischen Kapelle zu wähnen. Und dort, endlich, war Mr. Lincoln. Er war genauso groß, wie es immer geheißen hatte. Seine Gesichtsfarbe war mittlerweile wächsern geworden; ich wagte nicht, sein Gesicht zu berühren; im Tode schien er monumentalen Charakter angenommen zu haben, so als ob er gar nicht aus Fleisch und Blut bestünde, sondern als wäre er in Bronze gegossen oder aus einem Granitblock gemeißelt. Selbst seine Häßlichkeit trug ihren Teil zum Eindruck des Mythischen bei. Nur auf seinem Gesicht spielte ein wenig Licht, der übrige Raum lag im Dunkel. Ich fiel auf die Knie, ich weiß nicht warum; ich war nicht gekommen, um zu verehren, nur um zu schauen, zu erforschen, zu bewahren. Ich liebte Mr. Lincoln nicht. Er hatte meinen Mann immerhin das Leben gekostet. Aus noblen Gesinnungen machte ich mir nicht auch nur das geringste, außer daß der verstorbene Mr. Grainger ihnen so tief ergeben angehangen hatte; im übrigen wußte ich, daß sich Mr. Lincolns Treue zu einigen dieser Gesinnungen während der letzten vier Jahre nur aufgrund politischer Zweckdienlichkeit vom Pragmatismus zum Altruismus gewandelt hatte, wenngleich die Geschichte das sicher ganz anders beurteilen wird. Und dennoch, als ich ihn auf seinem Katafalk aufgebahrt liegen sah wie einen Pharao, unter dunklen Vorhängen mit goldenen Quasten, bewacht von Marmorbüsten, wurde mir bewußt, daß die Welt mit seinem Hinscheiden unwiderruflich eine andere geworden war. Ebenso wurde mir bewußt, daß mein Mann wirklich und wahrhaftig tot war.
Ich war nicht darauf gefaßt, daß mir Tränen in die Augen schossen, und ich war mir keineswegs sicher, um wen ich weinte: um diesen Regenten eines fremden Landes, um meinen Mann, den seine eigenen Träume besiegt hatten, oder um mich selbst, die nach einem Jahr des Witwenstandes schließlich zur Witwe geworden war. Oder weinte ich wegen all dieser unbekannten Soldaten, die im Namen der Einheit erschlagen worden waren? Die Tränen kamen jäh und flossen reichlich. Ich halte mir etwas darauf zugute, eine Frau zu sein, die nicht so leicht zu Gefühlsausbrüchen neigt. Auch bin ich gegenüber hysterischen Verwünschungen nicht anfällig, wie so viele meines Geschlechtes. Doch jetzt, wo ich über all meine Vorstellungskraft hinaus vom Schmerz gepackt wurde, rief ich den Allmächtigen an. »Gott«, rief ich, »oh, Gott, Gott, Gott, wenn du doch nur die Zeit zurückdrehen und sie alle zurückbringen wolltest.« Da hörte ich eine Stimme: »Seien Sie vorsichtig, Madam, wonach Sie verlangen.« Es war eine einschmeichelnde, sanfte Stimme, tief und gebieterisch. Es war die Art Stimme, wie man sie vom Allmächtigen erwartet hätte – die ruhige, kleine Stimme in der wütenden Flamme. Man könnte sich den Besitzer dieser Stimme sehr wohl als einen netten alten Mann mit weißem Bart vorstellen. »Warum?« fragte ich. »Weil ich es vielleicht bekommen würde?« »Nichts ist gänzlich unmöglich«, sagte die Stimme. Ich blickte auf. Die Schatten flackerten. Ich wandte mich um: im Türrahmen konnte ich die Rücken der beiden jungen Männer sehen, die die Kammer bewachten. Ich wandte mich abermals um. War es eine der Büsten, die von ihren Marmorsockeln herabstarrten? Mein Mann hatte sein ganzes Leben lang ein Zeichen des Allmächtigen herbeigesehnt;
welch eine Ironie, wenn ich, die Agnostikerin, diejenige wäre, die ein solches Zeichen erhielt. Stille. Sicherlich war es ein Echo, ein Streich der widerhallenden Akustik dieses Gebäudes, eine Unterhaltung aus einem anderen Raum. Nein. Jetzt nichts mehr. Nur ein toter Mann in einem abgedunkelten Raum, das Schlurfen entfernter Schritte. Vor Angst und Nervosität lachte ich ein wenig. »Du bist anscheinend meiner Phantasie entsprungen.« »Das wohl kaum«, sagte die Stimme leise, »meine liebe Mrs. Grainger.« »Du kennst mich? Dann mußt du wirklich derjenige sein, für den ich dich halte. Kannst du wirklich die Toten zum Leben erwecken?« »Ich habe es schon gesehen«, sagte die Stimme, »aber nie in New York.« »Aber es wäre machbar.« »Manchmal betrachte ich die Zeit als eine Hin- und Rückfahrt mit der Bahn. Manchmal halte ich den Tod für eine Art Tür mit doppeltem Scharnier.« Allmählich hatte ich mich an die Dunkelheit gewöhnt und meinte, in den Schatten etwas zu erkennen, das vielleicht drohend über dem Sarg auftauchte. Weiße Barthaare, die das Licht für einen winzigen Augenblick einfingen. Augen. Durchdringend. Klar. Jugendliche Augen in einem uralten Gesicht. Der weiße Bart, gewiß. Das klassische Bild von Gottvater. »Können wir ihn zurückholen? Und meinen Mann? Könnte es wirklich möglich sein, die Vergangenheit zu korrigieren?« »Ich weiß es nicht, Mrs. Grainger.« »Aber du weißt doch alles!« »Da hätten manche ihre Zweifel. Falls dieser Augenblick nicht so außergewöhnlich wäre, hätten Sie die wohl selbst.«
»Jetzt weiß ich, Herr, daß ich in einer Vision oder einem Traum gefangen bin. Ich muß allen Unglauben hintanstellen.« »Ich habe überhaupt nur gewagt, Sie anzusprechen, weil Sie in Ihrer Gemütserregung des Beistands zu bedürfen schienen.« »Oh, Herr, ich habe zum ersten Mal seit dem Tod meines Mannes mein Herz ergründet und darin eine so abgrundtiefe, erbarmungslose Leere gefunden; ich bin wie eine tote Frau, die in den letzten zwölf Monaten nur den Schatten eines Lebens geführt hat und erst in diesem Augenblick begriffen hat, daß sie tot ist.« »Interessant«, sagte er. »Also halten Sie sich für einen zombi.« »Was, falls ich fragen darf, ist das?« »Ich glaube das Wort stammt aus dem Kikongo, einer afrikanischen Sprache; es bezieht sich auf einen lebendig gewordenen Leichnam, einen lebenden Toten sozusagen.« »Bin ich das? Eine lebende Tote?« »Nur eine Metapher, meine liebe Mrs. Grainger, wie bei Poeten üblich.« Mein Mann hatte mir immer, wenn er über eine besonders gelungene Passage in den Psalmen oder den Klageliedern gestolpert war, gesagt, daß Gott, wenn nichts sonst, auf alle Fälle aber ein Poet sei. Es überraschte mich also nicht, daß der alte Mann mein ganzes Dasein in eine Metapher faßte. »Dies ist kein Traum, Mrs. Grainger. Wir alle sind lebende Tote. Dieses ungeheuerliche Verbrechen hat uns allen die Seelen geraubt.« »O Gott«, weinte ich. »Gott, heile mich, heile mich.« Da spürte ich die Hand des alten Mannes an meiner Wange; eine knorrige Hand, eine nur allzu menschliche Hand, voller Schwielen, schmutzig; ich roch den Schweiß eines Mannes. Ich schaute auf. Falls Gott tatsächlich ein Geist war, so war er urplötzlich Fleisch geworden und hatte sich das Ansehen eines
zerzausten Mannes in zerrissenem Körpermantel gegeben, dessen Benehmen und Haltung alles andere als göttlich waren. »Sie sind gar nicht Gott, nicht wahr?« fragte ich. »Wohl kaum, Mrs. Grainger!« sagte der Mann. »Ich komme aus Brooklyn.« »Woher kannten Sie dann meinen Namen?« »Der junge Flanagan hat ihn mir verraten«, lachte er. »Das ist ein Verstoß gegen die Regeln des Anstands.« Ich verbarg mein Unbehagen hinter der Empörung, die einer Dame angemessen ist, die fürchten muß, kompromittiert zu werden. »Ich bin eine Witwe, eine ehrbare Dame, und wir sind uns nicht ordentlich vorgestellt worden.« »Dann werde ich mich Ihnen selbst vorstellen, Ma’am«, sagte er und schüttelte seine weiße Mähne aus den Augen. »Ich bin Walt Whitman.«
2 WORIN MRS. GRAINGER VOM TOD TRÄUMT
1 »Ich habe schon von Ihnen gehört, Mr. Whitman«, sagte ich. »Sie sind so etwas wie ein Dichter, ein schlechter, wenn wir ehrlich sein wollen. Sehr modern, falls Sie gestatten; ohne Reim und mit sehr wenig Logik. Mein verstorbener Mann hat hie und da von Ihnen gesprochen.« In Wahrheit wußte ich nicht viel über Mr. Whitmans sogenannte Dichtkunst, aber bei Mittagsgesellschaften und Soireen hört man schon so einiges. »Das macht mir wenig aus«, erwiderte er. »Es gibt eine Zeit für Reim und Logik, aber in einer solchen Zeit leben wir nicht. Dies ist ein Jahrhundert des Wahnsinns und des Chaos’.« Mir war jetzt nicht nach Gesprächen über Poesie. In der Meinung, mit dem Toten und dem Göttlichen allein zu sein, hatte ich in diesem düsteren Raum mein Herz ausgeschüttet. Mir lag wahrhaftig nicht an einer Unterhaltung mit diesem Mann, der sich anmaßte, mir mit seinem schmutzigen Taschentuch weiter die Tränen abzutupfen. »Falls Sie mich nicht sofort loslassen, Mr. Whitman, schreie ich.« Selbstverständlich hätte ich es nicht getan, aber ich weiß, wie man sich als Dame zu verhalten hat. Mr. Whitman kniete sich neben mich. Er machte keine Anstalten, seine Hand zu entfernen. »Meine liebe Mrs. Grainger, Sie können sich dieser Verwicklung nicht mehr entziehen. Dazu ist es zu spät, denn wir haben einander
versehentlich zuviel von unserem verborgenen Inneren enthüllt.« Bei diesen Worten fing ich erneut zu weinen an. Und eigentlich hatte ich auch nichts gegen Mr. Whitmans Tröstungen, denn sein Blick war sanft, und allmählich begriff ich, daß er noch immer dieselbe Person war wie zuvor, als ich ihn für die Verkörperung des Allmächtigen gehalten hatte. Jawohl – er war ungepflegt und ungewaschen, aber diese Augen hatten die Gabe des Staunens behalten: es waren die Augen eines Kindes. Ich hatte drei Söhne bei der Niederkunft verloren, und das einzige Lebewesen, das ich Kind nannte, war Phoebe, meine Dienerin, meine Angestellte, meine Rivalin. »Sie haben mich ebenso überrascht wie ich Sie«, sagte er, als ich mich etwas beruhigt hatte. »Ich kam hierher, um ein Gedicht zu schreiben, wissen Sie. Ich war mir sicher, daß ich alleine war, aber dann hörte ich Sie weinen. Bitte, Mrs. Grainger, lassen Sie sich von meiner merkwürdigen Erscheinung nicht beunruhigen. Wir haben beide einen furchtbaren Verlust erlitten. Wir wollen ihn gemeinsam beklagen, Mrs. Grainger.« Ich konnte ihm das nicht gut abschlagen, vor allem, da nun auch er bitterlich zu weinen anfing. Der Anblick eines Tränen vergießenden erwachsenen Mannes ist nicht gerade üblich in unserer modernen Gesellschaft, in der es als unmännlich gilt, Gefühle offen zu zeigen. Wenn ich von seiner Dichtkunst auch nicht viel halten mochte, so war es doch offenkundig, daß der Brunnen, dem sie entsprang, an Tiefe der eines jeden anderen Dichters in nichts nachstand. Mit einiger Bestürzung wurde mir bewußt, daß mich seine Berührung nicht nur erregte, sondern daß ich ihm wahrhaftig in die Arme sank. Mr. Whitmans Umarmung war überaus zärtlich, und ich muß zugeben, daß die Tatsache, daß dies unter den Augen eines toten Präsidenten geschah, dem Ganzen
eine gewisse Pikanterie verlieh. Und dann passierte etwas, was mir in meinem ganzen Leben mit dem verstorbenen Mr. Grainger nicht passiert war. Es verlangte mich nach noch intimerer Berührung. Ich war ein Instrument, das gespielt werden wollte. Daß die Ereignisse eine derartige Wendung nehmen würden, hatte ich nicht im geringsten geahnt, als ich mich vom Washington Square auf den Weg gemacht hatte. Das Merkwürdige war, daß nur ich diese Leidenschaft empfand. Von Mr. Whitman war keine Erwiderung zu verspüren. Seine Umarmung war vollkommen keusch, voller Trost und Mitgefühl, weitaus mehr agape als eros. »Bitte, verstehen Sie meine Absicht richtig, Mrs. Grainger«, sagte er leise. »Sie schienen so sehr der Fürsorge zu bedürfen. Ich bin ein Krankenpfleger, wissen Sie. Ich habe viele sterbende Jungen in meinen alten Armen gehalten, habe schon vielen die Lippen geküßt, den letzten Atemzug manchen Mannes gestohlen. Ich bin nicht die Art Mann, die eine unglückliche Frau zwingen würde… oder überhaupt irgendeine Frau…« Ehrenhafte Gefühle, doch bei seinen Worten schien eine große Traurigkeit von ihm auszugehen, als ob hinter seiner vornehmen Zurückhaltung ein dunkles Geheimnis liege, das er nicht auszusprechen wagte. Vielleicht war es das, was mich dazu bewegte, ihn für heute nachmittag zum Tee einzuladen. Oder vielleicht lag es an diesem seltsamen, faszinierenden Gespräch über Tod und Auferstehung – diesem kleinen Anflug von Blasphemie in meinem Gespräch mit meinem phantasierten Gott – diesem Anflug von Sünde, der jeder hier verbrachten Minute anhaftete. Als wir die Kammer wenig später verließen, sah ich, daß der Neger-Wachmann von einem weißen Jungen ersetzt worden war, der fast der Zwilling von Christopher hätte sein können.
Sehr wahrscheinlich hatte sich irgend jemand in seinem Anstandsgefühl verletzt gefühlt. Oder vielleicht war es nur eine Vorsichtsmaßnahme, denn binnen kurzem würde die Öffentlichkeit Zutritt erhalten, und ich erinnerte mich, daß den Negern die Teilnahme am Trauerzug den Broadway hinunter verboten war. Als wir uns am Haupteingang der Stadthalle trennten, drückte ich Whitmans Hand und flüsterte: »Tee, vielleicht, Mr. Whitman, heute nachmittag?« »Wie englisch von Ihnen, Mrs. Grainger. Ich wäre geradezu entzückt.« Das Fehlen der Geräusche, die normalerweise am Morgen zu hören waren, war eigenartig: keine Zeitungsjungen, die mit ihren schrillen Stimmen die Schlagzeilen ausriefen, kein Straßenverkehr, der unablässig über das Pflaster rauscht, keine Straßenhändler, die den Passanten ihre Waren aufzudrängen versuchten. Das Babel New York war verstummt. Ich scheute mich zu sprechen. »Ich werde Sie dann zur Teestunde sehen«, sagte ich leise. »Meine Dienerin wird Scones backen.« Indem ich über Tee und Teegebäck sprach, vermied ich, über das zu sprechen, was an Lincolns Sarg passiert war. »Ich werde keine Angst vor Ihnen haben, Mrs. Grainger, all dem zum Trotz, was sich die Männer über Witwen erzählen. Ich werde in Begleitung kommen«, sagte er und lachte leise. Ich war neugierig, was er damit meinte, erlaubte mir aber nicht, danach zu fragen. Ich wandte mich von ihm ab und schritt langsam den Broadway hinunter; ich hatte keinen Anlaß, eine Mietkutsche anzuhalten; der Himmel war verhangen, doch es nieselte noch nicht; obwohl die Straßen überfüllt waren, sprach mich keiner an. Die Trauer baut eine unsichtbare Mauer um einen herum. Ich habe niemanden gesehen, und niemand hat mich gesehen.
Der Himmel und die Menschenmengen waren ein einziges Grau. Weil die Zeitungsburschen die Schlagzeilen nicht ausriefen, hätte ich beinah einen kleinen interessanten Leckerbissen übersehen. In dem angestrengten Versuch, jeden Gedanken auszuschalten, lief ich mit den Augen zu Boden gerichtet und stieß beinahe mit einem beleibten Herrn mit Kneifer zusammen, der eben die Times durchblätterte. Unauffällig standen auf einer Ecke der Titelseite die folgenden Zeilen: SINNESWANDEL DES BÜRGERMEISTERS: NEGER DÜRFEN AM ENDE DES TRAUERZUGES MITMARSCHIEREN Ich werde daran denken müssen, Phoebe zu sagen, daß sie nun doch noch den armen Mr. Lincoln, den Heiland und Märtyrer, mit eigenen Augen würde sehen können.
2 Als ich Phoebe sagte, daß wir Besuch bekommen würden, malte sich in ihrer Miene ein überaus selbstgefälliges Habeich-es-nicht-gesagt ab? Umsonst versuchte ich ihr auszureden, es handle sich um einen Verehrer. Sie glaubte mir einfach nicht und murmelte etwas, das sich wie »es funktionieren, es jetzt funktionieren« anhörte, was es auch immer sein mochte. Seit dem Tod von Mr. Grainger hatten wir den Salon nicht mehr benutzt; die gepolsterten Fauteuils waren mit Tüchern bedeckt, auf denen in dicken Schichten der Staub lag. Ich wies Phoebe an, das Zimmer präsentabel zu machen, und zog mich auf ein kleines Nickerchen in mein Schlafzimmer zurück. Wenn man sich den mittleren Jahren nähert, soll so ein
Nickerchen für den Teint ja wahre Wunder wirken. Aber was kümmerte mich das eigentlich? Unversehens hatte ich mich in eine närrische Debütantin verwandelt. Ich durchsuchte sogar die Schubläden nach den Resten von Puder und Rouge, womit ich früher meiner Attraktivität ein wenig aufgeholfen hatte. Es war kaum noch etwas zu finden. Andererseits, so dachte ich, Mr. Whitman hatte mich bereits in denkbar schlechtester Verfassung gesehen, und es schien ihm nichts ausgemacht zu haben. Allerdings gab es wiederum nicht das geringste Anzeichen dafür, daß er mich überhaupt anziehend gefunden hätte, selbst wenn ich angemalt gewesen wäre wie die sprichwörtliche Hure von Babylon. Ich legte meine Trauerkleidung ab und zog einen seidenen Morgenrock über und verspürte dabei einen kleinen Stich von Sündhaftigkeit, ich weiß nicht warum. Dann legte ich mich nieder. Obwohl ich wirklich müde war, drehte und wendete ich mich eine Zeitlang hin und her, bis ich mich auf einen Trick besann, den ein Bekannter meines Mannes, ein Jahrmarktshypnotiseur, mir einmal beigebracht hatte: Ich schloß die Augen und entspannte mich völlig, ich versuchte mir vorzustellen, daß ich sinke, sinke, sinke… bis hinunter an einen warmen, dunklen Ort in meinem tiefsten Innern. Laudanum wäre um einiges einfacher gewesen, aber künstliche Hilfsmittel nehme ich nur, wenn es gar nicht anders geht. Ich sank tatsächlich, verlor das Bewußtsein aber nicht. Ich befand mich in den Gefilden des Traumes, obwohl ich noch immer wach war. Dieser Zustand wird oft von Hypnotiseuren herbeigerufen, um einem Freiwilligen aus dem Publikum besser ihren Willen aufzwingen zu können. Ich sah mich in einer Art von Wald. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, aber ich vermochte es nicht. Ich stand dort, in dünne Seide gekleidet, und mir war, als ob ich auf jemanden warte… einen Liebhaber vielleicht?
Aber an so etwas zu denken schickte sich nicht. Ich bin jenseits der Vierzig – und ich bin eine Witwe. Das Kapitel Liebe sollte für mich abgeschlossen sein. Der Wald… keine Erinnerung an etwas früher einmal Erlebtes, sondern ein immerwährendes Jetzt, begraben in meinem Unterbewußtsein. Dieser Ort war mir vertraut, obwohl ich mir sicher war, noch nie zuvor hiergewesen zu sein. Ich kannte seinen Geruch. Verwelkte Blätter, die in feuchter Erde zerfallen, die Luft ist neblig und gesättigt vom Atem wilder Tiere. Ich lag auf dieser Waldlichtung und beobachtete die Sterne, die über mir ihre Bahn zogen. Eine Weile herrschte Zeitlosigkeit. Eine Brise, feucht und warm, strich über die Lichtung. Und dann – in einem Moment, der keinem anderen Moment gleicht, in einem Moment, der weder Vergangenheit noch Gegenwart ist, taucht drohend ein großer Mann über mir auf. Er riecht nach Einbalsamierungsflüssigkeiten. Er ist in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht im Mondlicht ist mit Kratern übersät, wie der Mond selbst. Er hat keine Augen, oder vielmehr liegen sie ständig im Schatten, und in sie hineinzuschauen ist wie der Blick in einen anderen Raum, das Reich der Angst. »Mr. President«, flüstere ich. Er beugt sich über mich. Streift meinen Handrücken, mit einem Finger kalt wie Marmor; dann, sich wieder aufrichtend, legt er den Finger an die Lippen. »Es ist fast an der Zeit«, sagt er. »Wofür?« frage ich. »Horch, horch, horch«, sagt er, und die Brise wird zu einem heulenden Wind, und in diesem Wind tönt der Ruf eines entfernten Signalhorns.
»Wer sind Sie? Die Gestalt eines dämonischen Verführers?« Denn ich kenne die griechischen Mythen und weiß von Wesen, die im Dunkel der Nacht Jagd auf Frauen machen. Ein schwaches Lächeln liegt auf Mr. Lincolns Lippen. Er zieht mich hoch. Er ist stark, stark wie die vergangene Zeit. Mein Morgenrock flattert hinter mir her. Meine Füße schweben einige Zentimeter über dem Boden. Ein anderer, neuer Geruch bestürmt meine Nase. Der Geruch von Verfall. »Komm«, sagt Mr. Lincoln. »Komm.« Der Ruf des Signalhorns ist jetzt lauter. Es ist eine unbeholfene, schwermütige Karikatur eines militärischen Weckrufes. Wir schweben. Auf einmal merke ich, daß wir die Lichtung verlassen haben und im Wald sind. Der Verwesungsgeruch ist nun stärker. Er kommt aus den Tiefen des Waldes. Der Wind ist heftiger, er reißt die Blätter von den Zweigen, fetzt die Rinde von den Baumstämmen. Trockene Blätter schlagen mir ins Gesicht. Mr. Lincoln hält mich fest an der Hand. Sein Griff saugt alle Wärme aus meinem Körper, und zurück bleibt ein eisiges Gefühl der Leere. Ich bin über jedes Entsetzen hinaus. Ich befinde mich in einem Zustand der Leere und Kälte. Sogar mein Herzschlag scheint aufgehört zu haben. Wir treiben. Tiefer. Tiefer. An einen Ort, wo das Mondlicht nur als ein paar kleine silbrige Sprenkel auf einer schwarzen Tapete aus Düsternis zu sehen ist. Überall der Gestank des Todes. Es würgt mich. Und dann ist da dieses andere Gefühl. Weiter unten. Das Gefühl, eine Frau zu sein, ganz Frau, allwissend. Von allem ist dies das Merkwürdigste. Der Wind fährt mit dem Stoff meines Morgenrockes über die intimsten Stellen meines Körpers, als habe sich die Natur selbst verschworen, mich meiner Tugend zu berauben. Ich bin aufgeregt und fürchte mich. Aber ich kann mich aus Mr. Lincolns Griff nicht befreien. Vielleicht will ich das auch nicht.
Die Dunkelheit ist fast mit Händen zu greifen. Sogar die kleinen Pünktchen und Sprenkel des Mondlichtes sind verschwunden. Genau in dem Augenblick jedoch, wo alles unerträglich zu werden droht. Dort ist eine Lücke… ein kalter blauer Lichtstrahl voll wirbelnder Staubkörnchen zerreißt die Dunkelheit. Ich seufze. Wir haben uns endlich aus diesem grauenerregenden Wald befreit. Aber dann sehe ich die Leichen. Aus dem Dunkel treten ihre Gesichter wie in einem teuflischen Clairobscur hervor. Augen quellen aus ihren Höhlen. Schleimiger Eiter sickert aus Pocken und Poren. Hier und dort haben die Maden das Fleisch bis auf die Knochen abgefressen. Arme und Beine sind miteinander verflochten. Feind umarmt Feind. Als wir uns langsam über die Toten hinwegbewegen, unsere Füße knapp über diesem Meer der Verwesung, breitet sich der Lichtstrahl über eine scheinbar unendliche Wiese aus, und allüberall liegen Tote, bis zum Horizont, zwei, drei, vier Leichen übereinander; hie und dort stöbert ein hagerer Hund; hie und dort sitzen Bussarde. Oh, diese Vision ist der alptraumhafteste aller Alpträume; das Entsetzen jedoch, das mich anfangs gepackt hatte, hat sich in mein Innerstes zurückgezogen; ich empfinde nur noch eine stumpfe, pochende Leere, irgendwo weit weg, und kein Gefühl regt sich in mir. In einiger Entfernung tanzt eine Frau. Eine nackte Frau; im Mondlicht; glitzernd; schwarz. Die Nacht selber. Sie tanzt. »Ach«, sage ich, »das ist doch Phoebe, oder nicht? Phoebe im Mondlicht. Wie sonderbar. Phoebe bedeutet Mondlicht, nicht wahr? Sie ist die Mondgöttin.« »Forsche tiefer«, sagt Mr. Lincoln. »Vielleicht findest du noch andere Bedeutungen.«
»Jetzt weiß ich mit Sicherheit, daß dies ein Traum ist. Immerhin weiß ich, daß Phoebe mein Dienstmädchen ist, nicht irgendeine Göttin, die über Tote tanzt.« »Sie tut mehr als nur das«, sagt Mr. Lincoln leise. Wir gehen weiter. Leise, schnell, über das Feld verrenkter Rümpfe, abgetrennter Glieder, über Gesichter ohne Augen und Augen ohne Gesichter. Wir gehen auf den Horizont zu, wo meine Dienerin tanzt. Jetzt sind wir nahe bei ihr. »Phoebe«, flüstere ich, »Phoebe, komm bald zurück, wir erwarten Mr. Whitman zum Tee.« Sie scheint nicht zu hören. Sie springt. Ihre Arme fuchteln herum. Ihr Hals bildet einen unnatürlichen Winkel, als ob er gebrochen sei. Sie scheint besessen. Vielleicht ist es ihr Gott. Derjenige, der von einem Baum hängend die Auferstehung und das Leben wurde. Shangó. Vielleicht. »Phoebe!« rufe ich. Ein Trompetenstoß übertönt mich. Aber sie hat mich gehört. Sie dreht sich zu mir um. Sie hat keine Augen, nein, sie hat die Augen nach oben gerollt. »Ich Ihnen bringen Mr. Grainger zurück, Mrs. Paula«, sagt sie, »so daß nicht mehr müssen einsam sein.« Die Leichen beginnen zu zucken. Und Phoebe tanzt. Tanzt. Wirft die Arme nach oben. Wirft den Kopf ruckartig nach hinten. Ihre Haut ist schweißnaß. Sie tanzt. Ab und zu schreit sie ein infernalisches Kauderwelsch. Gewiß irgend etwas Afrikanisches. Sie springt von Leichnam zu Leichnam. Wirbelt herum. Überschlägt sich. Die Schweißtropfen glitzern wie Quecksilber. »Kein Marschieren nicht hinter kein Zug«, schreit sie. »Ich die gnädige Frau von dies hier dunkel Land, ich tanzen die Toten zurück aus kalte, kalte Erde, ich hier machen heilig fromme Sache, ich eine Göttin, ich Erde, ich Wind, ich Feuer.«
Die Leichen zucken. Glieder kämpfen mit der Luft. Tote Augen öffnen sich, tote Münder öffnen sich, speien Erbrochenes voller Würmer. Hände fassen Hände, Körper klettern über Körper. Ich muß von dem Gestank würgen. Mr. Lincoln läßt meine Hand nicht los. Sie sind so jung, diese Toten, Kinder noch zum Teil, kleine tote Hände schlagen zersprungene Trommeln, deren Fell zerrissen ist wie die Haut der Kinder, der Klang ist nicht das scharfe Ra-ta-ta-tat, das zur Schlacht ruft, sondern ein hohles Getrappel wie von Kakerlaken, die durch ein Geisterhaus dahinjagen. Die Mondgöttin tanzt. Und dann, aus dem bebenden Meer der Toten, kriecht ein Mann an die Oberfläche, erhebt sich, steht vor mir. Sein Gesicht ist weggerissen. Eine Schlange züngelt dort, wo er einmal eine Zunge hatte. Er winkt mich mit seinem einen Arm zu sich, und ich kann sehen, daß er den Kragen eines Militärkaplans trägt. Es ist mein Mann. »Mr. Grainger«, sage ich leise. Mein Verhalten meinem Mann gegenüber war immer formell, selbst in unseren intimsten Augenblicken. Erst jetzt wird mir bewußt, daß es in meinem Leben einen wirklich intimen Augenblick nie gegeben hat, nicht einmal diesen berüchtigten Augenblick von DasSchicksal-ist-schlimmer-als-der-Tod, weil ich zwar meinen Körper, aber keinem Mann jemals meine Seele öffnete. »Ich gehe jetzt«, sagt Mr. Lincoln. »Ich habe dich vor das Angesicht deiner Bestimmung geführt.« Er läßt meine Hand los. Ich wende mich um. »Gehen Sie nicht!« rufe ich, aber er schreitet schon über das Leichenfeld, zurück in den Wald der äußersten Finsternis, sein Gehrock flattert. Ich bemerke, daß ich auf dem Gesicht eines toten Mannes stehe. Als ich ihn gerade noch sehen kann, wendet sich Mr. Lincoln kurz um. Sein Gesicht ist jetzt ein
Totenschädel, und auf seiner Schulter trägt er die Sense des Sensenmannes. Über das Meer faulenden Fleisches kommt der Leichnam meines verstorbenen Mannes auf mich zu, und im Mondlicht tanzt die Mondgöttin… »Paula, Paula«, sagt mein Mann. Der Wind pfeift durch seine von einem Bajonett aufgeschlitzte Luftröhre. »Paula, Paula, es gibt so vieles zu beklagen.« Er kommt immer näher. Nur halb bedeckt von meinem dünnen Morgenrock stehe ich wie angewurzelt, und er kommt zu mir, er streichelt meine Wange mit seiner kalten, grauen, verdorrten Hand… Und Phoebe ruft: »Egungun, egungun, egungun…« »Warum, Paula«, sagt er, »oh, warum hast du mich nie geliebt?« Und ich schreie und schreie, aber –
3 Immerhin war ich jetzt wach. Das Licht der Sonne drang durch die Vorhänge, Phoebe mußte sie zugezogen haben, während ich schlief. Ich hoffte, daß ich mit meinem Geschrei nicht die halbe Nachbarschaft alarmiert hatte. Ich lag einen Augenblick still und versuchte, das Hämmern in meiner Brust zu beruhigen. Ich atmete einige Male tief ein und aus, ein und aus, und versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken… bis ich merkte, daß der Fäulnisgestank noch in der Luft hing… daß er selbst in den Bettlaken hing. Irgend etwas stimmte nicht. Ich träume immer noch, sagte ich mir. Ja, genau – das ist es. Das ist einer dieser Momente, wenn man im Traum in einem bekannten Raum wach wird, an einem bekannten Ort… und
nicht merkt, daß der Alptraum ein Traum innerhalb eines Traumes war. Nun gut. Ich werde das irgendwie überstehen. So schlimm kann es nicht werden. Es ist ein Traum. Ein Traum. Ich setzte mich auf. Der Gestank war überwältigend. Ich zog das Bettlaken heraus und hielt es mir vor die Nase, und ich sah, daß sich an einer Ecke eine Blutlache ausbreitete. Ich schaute über den Bettrand und sah das Blut. Es kam von unter dem Bett. Nur ein Traum, sagte ich mir. Ein Traum, ein Traum. Ich schlug das Bettlaken beiseite, lehnte mich über den Bettrand und spähte unter das Bett. Da lag ein toter Hahn auf einem Silbertablett. Seine Kehle war aufgeschlitzt. Dort kam all das Blut her. Und da war auch ein eigenartiges, braunes, eiförmiges Götzenbild mit primitiv aufgemalten Augen und Nase und Mund aus Kaurimuscheln. Zeit aufzuwachen, sagte ich mir. Ich zwickte mich in den Arm. Fest. Noch fester. Der Schmerz war stark. Aber ich erwachte nicht. Ich schrie. Ich erwachte nicht. Ich schrie lauter. Ganz bestimmt laut genug, um Tote zu erwecken. Dann war Phoebe da, nicht nackt, sondern in ihre schwarze Dienstmädchenuniform gekleidet, einen Staubwedel schwingend. Ich hörte nicht auf zu schreien. »Nun guck dir dieses viele Blut an«, sagte Phoebe. Sie zog das Tablett hervor und starrte den toten Vogel entsetzt an. »Was ‘ne Verschwendung.« »Ich träume nicht?« »Ich wissen, Zauber nicht funktionieren im Land hier von weiße Mann.« Auf Händen und Knien wischte sie heftig das Blut mit einem alten Lappen auf und murmelte vor sich hin. »Ich träume nicht? Aber Mr. Lincoln – und mein Mann – und das Schlachtfeld voller Leichen…« »Mrs. Paula, Sie haben gesehen Mr. Grainger?«
»Wie willst du wissen, was ich gesehen habe? Was soll das ganze abergläubische Zeug? Scher’ dich zur Hölle, Phoebe – du bist doch bloß eine ungebildete Wilde…« Ich schickte noch ein paar weitere Flüche hinterher. In meiner Verwirrung führte ich mich nicht gerade wie eine Dame auf. »Egungun!« sagte Phoebe leise und bekreuzigte sich. Heidentum und Papismus in einem. Trotz meiner freidenkerischen Haltung war ich entsetzt. Und sie hatte dieses Wort ausgesprochen. Das Wort, das sie im Traum gesungen hatte. »Was ist egungun?« fragte ich. Sie sah mich an. »Mrs. Paula dieses Wort schon vorher hören?« »Nein! Ich bin nur neugierig«, sagte ich und versuchte angestrengt, ruhig zu bleiben. »Ja«, sagte sie. »Mrs. Paula dieses Wort schon vorher hören. Vielleicht in Traumland.« »Was solltest du wohl über meine Träume wissen?« »Traum«, sagte sie. »Nicht-Traum, alles ein Ort. Gott, er kann erreichen überall.« »Aber was bedeutet dieses Wort?« »Also doch«, sagte sie, »also doch funktionieren.« »Was?« rief ich. »Was funktioniert doch?« »Mir leid tun«, sagte sie. »Nicht wollen, Sie das sehen. Blut, sie laufen zu weit, zu schnell. Aber der Zauber, er funktionieren. Mr. Grainger zurückkommen aus den dunkel Land. Hallelujah! Preiset-den-Herrngesegnet-sei-Sein-heiligerName-Er-sei-gesegnet-gesegnet-sei-SeineHeiligkeitimmerdar.« Dies Letzte kam als ein einziges vielsilbiges Wort, das sie zweifellos in einer Predigt meines verstobenen Mannes gehört und mechanisch auswendig gelernt hatte. »Mr. Grainger«, sagte ich mit erhobener Stimme, hinter der ich meine Skepsis zu verbergen suchte, »Mr. Grainger ist im
Himmel, Phoebe, und wird nicht in Fleisch und Blut zurückkehren, bis die letzte Posaune ertönt und uns alle zum Jüngsten Gericht ruft.« »Sie das selbst nicht glauben! So. Sauber jetzt. Blut weg.« Wir hörten die Türklingel, und Phoebe hastete die Treppe hinunter, um meinen Gast einzulassen. Ich war allein und war mir immer noch nicht im klaren darüber, was von den Ereignissen dieses Nachmittags Eingang in das Reich der Träume gefunden hatte.
3 WORIN MR. WHITMAN ANDEUTUNGEN ÜBER EIN MIT DEM CHRISTENTUM NICHT ZU VEREINBARENDES
LEBEN NACH DEM TODE MACHT
1 Als Phoebe in mein Schlafzimmer zurückkehrte, kicherte sie wie eine Hexe. »Was für eine Sorte Mann Sie das nennen?« kreischte sie. »Ein Mann? Ein Mann?« Nun, Mr. Whitman war nicht gerade ein Bild von einem Gentleman, das gewiß nicht, aber ich verstand nicht, warum mein Dienstmädchen sich derartig über ihn lustig machte. »Das ist Mr. Whitman«, sagte ich kühl. »Eine Art Poet, wie er sich selbst bezeichnet. Ich verlange von dir, daß du ihm den gleichen Respekt entgegenbringst, wie ihn ein Schwarzer jedem Weißen entgegenzubringen hat«, fügte ich hinzu. »Du bist in letzter Zeit sehr aufsässig, gibst Widerworte, treibst selbst hier, in meinem Schlafzimmer, abergläubisches Zeug. Ich sollte dich…« »Was du machen – mich peitschen?« sagte Phoebe. Sie sah mir direkt in die Augen. An diesem Geschöpf war nichts Sklavisches, nichts Unterwürfiges, nichts Kriecherisches. Hatte die Befreiung von ihresgleichen sie so sehr verändert, die doch längst, noch ehe der Krieg überhaupt anfing, ihre Freiheit besaß? Was war es, was mich an ihr jetzt
so zornig machte, obwohl ich sie zu Mr. Graingers Lebzeiten ertragen hatte? Selbst daß sie mein Ehebett mit Beschlag belegt hatte, hatte mir nichts ausgemacht. »Du weißt recht gut, Phoebe, daß ich dich nie auspeitschen würde«, sagte ich. »Ich weiß nie, wann du meine Dienerin bist und wann ein aufsässiger kleiner Dämon.« »Dieser Mr. Whitman, ein Teufel!« »Hol mir jetzt irgendwas zum anziehen. Etwas Schlichtes. Für Mr. Whitman muß man keinen besonderen Aufwand treiben, glaube ich.« Phoebe ging an den Schrank und suchte etwas angemessen Schmuckloses heraus. Während sie mir beim Ankleiden half, wechselte ihr Benehmen zwischen ernstem Anstand und Anfällen hysterischen Gekichers hin und her. Wahrscheinlich machte Mr. Lincolns Tod uns noch alle verrückt. »Was ist denn los mit dir?« fragte ich schließlich. »Bloß weil ein Mann zum Tee kommt…« »Dieser Mann – außen Mann«, sagte sie, »innen Frau! Zwei von ihnen unten, Missus – zwei Mann-Frau-Dinger. Teufel!« »Was zum Teufel…«, sagte ich, überrascht, daß eine derartig gemeine Sprache über meine Lippen kam. »Ich Ihnen sagen, es Zeit, bringen nach Hause ein Mann. Und Sie holen das!« Sie spuckte aus. »Teufel! Zauberer!« Ich bin normalerweise eine sehr selbstbeherrschte Frau, aber dies Gewäsch gab meinen Nerven den Rest. Ich schlug ihr ins Gesicht. Ich bereute es sofort, denn ich hatte sie noch nie zuvor geschlagen – Mr. Grainger war der Meinung, daß keine wohlerzogene Person sich jemals zu Gewalttätigkeiten herablassen sollte. Eine Entschuldigung wäre mir jedoch unerträglich gewesen. Und ich war wütend, einfach wütend. Ihre mannigfachen Unverschämtheiten heute, und dann dieser gräßliche Alptraum, den sie sich auch noch zugute schrieb, das blutige Federvieh unter meinem Bett – ich warf mich auf sie
und schlug sie, wieder und wieder, bis ihre Nase blutete und sie mit dem Kopf gegen einen Mahagonikleiderschrank schlug. »Du – du abscheuliche Kreatur!« schrie ich. »Du dreckige kleine Niggerhure!« Sie starrte mich an. Ihre Augen glühten vor Haß. »Ich wußte, daß Ihr Abolitionismus nur oberflächlich war.« Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß sie nicht in ihrem primitiven Plantagenidiom gesprochen hatte, sondern in korrektem Englisch, dessen Aussprache nicht von der einer weißen Frau zu unterscheiden gewesen wäre. »Phoebe«, sagte ich, erstaunt, »was hältst du sonst noch vor mir verborgen?« Natürlich antwortete sie mir nicht. Aber ich sah plötzlich, daß ich sie in all den Jahren, die sie zusammen bei mir und meinem Mann gelebt hatte, nie richtig gekannt hatte; sie hatte ein Trugbild um sich herumgewebt, das erst jetzt, in den stürmischen Ereignissen in der Welt und in unserem Leben, fadenscheinig zu werden begann. Sie wischte sich mit einem Ärmel das Blut vom Gesicht. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, sagte ich. »Es wird nicht wieder vorkommen, ich verspreche es.« Sie antwortete nicht. Ihr Schweigen war noch zermürbender als ihr Trotz. »Kannst du mir in einfachem, klarem Englisch erklären, warum ein Hahn mit aufgeschlitzter Kehle unter meinem Bett liegt und was dieses Götzenbild mit den Kaurimuschel-Augen ist?« fuhr ich fort. Keine Antwort. Mit niedergeschlagenen Augen wandte sie sich von mir ab und ging mit betont schlurfendem Schritt zur Tür. Ich kleidete mich alleine weiter an. Niemals habe ich mich mehr als eine Fremde in diesem Land gefühlt. Es hatte mir nichts ausgemacht, nach Amerika zu gehen, der Nebel und die
Heuchelei fehlten mir nicht, aber nun wünschte ich, ich hätte England nie verlassen. Alles war falsch hier – die Gebäude waren zu eckig, die Diener zu verdrießlich, der Krieg zu blutig. Die heutigen Ereignisse hatten jede Spur von Vertrautheit aus meinem Kosmos beseitigt. Ich mußte ruhig bleiben. Wie immer würde der Tee meine Lebensgeister ein wenig besänftigen. Vielleicht könnten Mr. Whitman und ich über solche Nettigkeiten wie das Wetter plaudern. Banalitäten können manchmal sehr tröstlich sein. Ich mußte zugeben, daß mich am meisten die Tatsache beunruhigte, daß Phoebe, die ich für eine unwissende Wilde gehalten hatte, so geradewegs meine Fassade, den äußeren Anschein von Wohlanständigkeit, durchschaut und einen Blick auf die Frau dahinter erhascht hatte, leidenschaftlich, frustriert und auf perverse Weise fasziniert von dem, wovor eine ehrbare Witwe zurückscheuen sollte – ich meine die Sünden des Fleisches, die Verführungen der Mächte der Finsternis. Ich konnte mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß sich im Traum unter meiner Angst noch etwas anderes geregt hatte… etwas in mir hatte sich gleichsam angezogen gefühlt von den Umarmungen eines verwesenden Leichnams, bei dessen Liebkosungen jede anständige Frau nur Schmach empfunden hätte. Es gab da in mir etwas Dunkles. Ich wünschte von Herzen, daß es etwas Fremdes, meinen Sinnen nicht Zugängliches sei. Es anzuerkennen, hieße ja, es als mir zugehörig anzuerkennen, daß es kein eindringender Dämon, kein Inkubus war, sondern ein dunkler Teil meiner selbst. Das machte mir mehr Angst als alles andere, was sonst an diesem Tage geschehen war.
2 Mr. Whitman hatte einen Freund mitgebracht, einen jungen Mann. Der Altersunterschied war recht auffällig. Der Jüngling hatte flachsfarbenes Haar, seine natürlich helle Haut war durch langen Aufenthalt im Freien gebräunt. Er war die Art Junge, die man sich gut in einem Getreidefeld vorstellen kann, seine Augenfarbe rivalisierte mit der des Himmels und der Kornblumen; er hatte ein ungezwungen gutes Aussehen, war aber etwas unbeholfen, was von seiner Jugend herrühren mochte oder daher, daß ihm unsere städtische und weltgewandte Umgebung nicht vertraut war. Seine Kleidung war ärmlich – er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die Falten seiner billigen Levis-Jeans zu glätten – er trug sie jedoch mit einer gewissen unbewußten Anmut. Er war sicherlich nicht älter als siebzehn. Mr. Whitman, der neben dem Jungen stand, erschien dagegen wie das personifizierte Alter. Mit Ausnahme der Augen, versteht sich. Ein Kind schaute mich aus diesen Augen an. Nicht, daß ich viel über Kinder wüßte; ich bin nicht in der Lage, und war es noch nie, Kinder zu bekommen, die nicht Totgeburten waren. Wir haben viele Kinder begraben, Mr. Grainger und ich. Sie sind alle in einem Apfelgarten in Connecticut begraben, auf einem Stück Land in der Nähe von Branford, das wir einmal gekauft hatten, weil mein Mann für die Zeit nach dem Krieg von einer Anstellung in Yale geträumt hatte. Das Land hat Gräber und Äpfel, aber, leider, kein Haus. Wir besaßen nie das Geld dafür; was wir den aussichtlosen hochherzigen Unternehmungen meines Mannes verdankten. Aber ich sprach von den Augen Mr. Whitmans. Oh, er konnte einen damit verwirren, er konnte sicherlich das Herz einer Witwe stehlen, die nie geliebt hatte, die manchmal davon
träumte, was hätte sein können, wenn nur ihre Kinder am Leben geblieben wären. »Mrs. Grainger«, sagte Mr. Whitman, »ich möchte Sie mit Zachary Brown bekannt machen; er hat einmal eine Predigt Ihres Mannes gehört. Zachary, dies ist Mrs. Grainger.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte ich. Ich gab ihm die Hand. »Ich bin richtig stolz, Witwe Grainger«, sagte er, »richtig stolz. Ihr Mann, Ma’am, er hat mich richtig angespornt. Ich hab überlegt zu desertieren, als ich ihn über ein Feld von Toten weg predigen hörte… da hab ich meine Meinung geändert. Klar, wenn ich meine Meinung nicht geändert hätte, wär ich nicht von einer Kugel in den Bauch getroffen worden, aber dann hätten sie mich auch nicht in das Spital in Washington gebracht, und der alte Walt hätte meine Seele nicht aufgerichtet und mich gehegt und gepflegt und aus dem Land der Toten ins Leben zurückgeholt.« »Oh«, sagte ich. »Einer Ihrer Auferstandenen, Mr. Whitman, nehme ich an.« »Wenn ich diese Macht nur besäße, Mrs. Grainger«, sagte Mr. Whitman. »Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich mir diese Macht gewünscht habe. Als ich noch Pfleger in den Spitälern von Washington war, wandelten sich Jungs zu Stein, während ich sie in den Armen hielt. Wenn ich doch nur das Leben in ihre Lippen hätte zurückhauchen können! Aber, wie Sie ja schon entdeckt haben, Mrs. Grainger, ich bin nicht Gott.« Ich bat die beiden Männer in den Salon, von dem ein Erkerfenster auf den Square hinausgeht. Obwohl es mehrere Sessel gab, quetschten sie sich nebeneinander auf den Diwan neben diesem Fenster. Vielleicht war es die Aussicht, die es ihnen angetan hatte.
Phoebe war hereingekommen. Sie hatte ihr Gesicht gesäubert – da ich für Gewalttätigkeiten nie anfällig gewesen bin, machte es mir immer noch zu schaffen, daß ich die Hand gegen sie erhoben hatte. Wortlos und ohne jemanden anzusehen brachte sie die Teetassen, stellte Teegebäck, Butter und Marmelade auf den Tisch. Die beiden Männer schauten auf den Square hinaus, wobei Mr. Whitman dann und wann etwas in ein zerfleddertes Notizbuch schrieb. Ich saß in den tiefen Polstern eines Damastfauteuils und schenkte drei Tassen Tee ein. Ich habe gehört, daß die Japaner aus diesem Tee-Einschenken ein geradezu religiöses Zeremoniell machen. Ich verstehe auch warum. Ich versuchte, meine zitternden Hände stillzuhalten. Phoebe ging hinter den Gästen hin und her. Ich sah, wie sie die Männer verstohlen betrachtete. Sie flüsterte mir zu: »Sie sehen, Mrs. Paula, was ich haben sagen. Außen Mann, innen Frau. Kreatur-die-verwandeln.« »Was brabbelst du da?« »Im Anfang erschuf Mawu-Lissa Himmel und Erde«, stimmte sie in wunderlicher Nachahmung von meines verstorbenen Mannes Stimme an. »Gott ist Mann-Frau. Wenn Mensch sein Mann-Frau, Greuel. Mr. Grainger mir lernen.« Die beiden Männer wandten sich zu ihr um und starrten sie an. »Greuel!« rief Phoebe. »Tut Buße, oh, ihr Kinder von Sodom!« »Das reicht! Oder möchtest du, daß ich…«, und zum zweiten Mal an diesem Tag – zum zweiten Mal in meinem ganzen Leben – hob ich die Hand zum Schlag gegen sie. Ich war rasend – rasend! Ich wollte diese kleine Schwarze zermalmen. Was war es bloß, was mich an ihr so reizte? Ich wußte, daß es falsch war, daß es ein Verrat an allem war, woran mein
verstorbener Mann geglaubt hatte, und trotzdem – ich stürmte auf sie los. Sie wich mir aus. Sie schlängelte und tänzelte hin und her, indem sie mich verspottete: »Oh, oh, Mrs. Paula«, kicherte sie. »Ich Angst haben, ich Angst haben.« »Ich weiß, daß du ordentliches Englisch sprechen kannst«, sagte ich. »Hör mit diesem primitiven Geschnatter auf.« Sie machte einen Satz in die gegenüberliegende Ecke, die einzige Stelle des Raumes, in die kein Tageslicht fiel. Sie knickte sich zu einer kleinen Stoffpuppe zusammen – nur das Weiße ihrer Augen war noch zu sehen – und fuhr fort zu wimmern: »Ich Angst haben, ich Angst haben.« »Was soll ich nur mit ihr machen?« sagte ich laut. »Oh, Mr. Whitman, ich muß mich für diesen unglaublichen Tumult entschuldigen! Wir sind wegen Mr. Lincolns Tod alle so tief betrübt, und ich fürchte, keiner von uns ist noch halbwegs normal.« Mr. Whitman erhob sich vom Diwan und nahm mich entgegen jeglicher Etikette in den Arm. Das erschreckte mich jedoch nicht in dem Maße, wie es das eigentlich hätte müssen, zumal er sich diese Freiheit im Beisein eines völlig Fremden und einer Bediensteten herausnahm. Aber seine Umarmung war nicht die Spur unzüchtig. Er umarmte mich, wie Kinder sich umarmen, ohne sündhafte Gedanken; es lag etwas darin wie Liebe. Ich war ihm dafür dankbar. Mr. Brown geleitete mich an meinen Platz zurück. Wir drei tranken unseren Tee, blickten uns gegenseitig an, und ich bemühte mich, keine Notiz von dem kleinen schwarzen Geschöpf zu nehmen, das immer noch in der Ecke kauerte. »Ein düsterer Tag heute«, sagte ich endlich, denn wenn man sich nicht über das Wetter unterhalten kann, dann ist es aus mit kultivierten Gesprächen. »Ich hoffe doch, daß es während des Trauerzugs nicht anfangen wird zu nieseln.«
Es entstand eine lange Pause, in der ich mein Teegebäck mit Butter bestrich. Dann sagte Mr. Brown schließlich: »Walt, wir sollten es ihr sagen.« Mr. Whitman antwortete: »Ich weiß nicht, Zack.« Ich wartete ab. Mr. Whitman trank seinen Tee und sagte: »Mrs. Grainger, Sie haben die erstaunlichen Äußerungen Ihres Dienstmädchens gehört. Was halten Sie davon?« »Daß sie eine unverschämte Negerin ist, Mr. Whitman, und weder die Freiheit recht zu schätzen weiß, die wir ihr immer zugestanden haben, noch das Wohlwollen meines verstorbenen Mannes, der sie aus ihrer Knechtschaft befreit hat, indem er sie gegen eine Wettschuld eintauschte.« »Nun, das ist eine Deutung von dem, wovon wir gerade Zeuge waren. Ich weiß, daß Sie keine große Meinung von meiner Dichtkunst haben, Mrs. Grainger…« »Nun, meine Äußerung war etwas übereilt. Ich habe andere davon sprechen hören. Selber habe ich nicht besonders viele Gedichte gelesen.« »Aber als Dichter kann ich Ihnen versichern, daß auch Ihr Dienstmädchen die visionären Kräfte eines Dichters besitzt.« »Ach, Unsinn«, sagte ich nervös. Mr. Whitman lächelte. »Ich nehme an, Mrs. Grainger, ihre Vorfahren kommen aus dem Stamm der Yoruba?« »Was meinen Sie? Ihre Mutter stammt aus Afrika, glaube ich.« Ich blickte flüchtig in die Ecke hinüber und konnte erkennen, daß Phoebe ihm jetzt halb ängstlich, halb fasziniert gespannt zuhörte. »Und wie ich höre, heißt sie Phoebe… ein afrikanischer Name, so sagt man wenigstens.« »Wohl kaum, Mr. Whitman«, sagte ich. »Als Dichter werden Sie sicher die klassische Anspielung erkennen; Phoebe war die Mondgöttin der Griechen, nicht wahr?«
Er lächelte wieder. Dieses Mal noch breiter. Die Katze hatte die Maus am Schwanz gepackt. »Ich hatte nicht den Vorzug einer humanistischen Bildung«, sagte er, »und so mögen denn zu Zeiten meine Scheuklappen etwas weniger groß sein als die des durchschnittlichen Schulmeisters. Zum Beispiel habe ich gehört, daß in bestimmten Teilen Afrikas die Kinder nach dem Wochentag benannt werden, an dem sie geboren werden; unter diesen Kindern ist der Name Fibi, oder Freitag-Mädchen nicht ungewöhnlich.« Phoebe spitzte die Ohren. Sie murmelte etwas und kicherte. »Was hast du gesagt?«, fragte ich sie. »Halbbildung ist etwas Gefährliches«, sagte sie, wiederum in unverkennbarer Nachahmung des Tonfalls meines toten Mannes. »Tu einen tiefen Zug, nicht koste sonst vom pierischen Quell. – Mann-Frau schlau. Erst er sagen, ich Yoruba. Aber Fibi nicht Yorubasprache für Freitag. Fibi ganz andere afrikanische Sprache. Du denken, Afrika, Afrika, Afrika, alles großer Ort, alles gleiche Nigger. Du sehen, weiße Leute nicht so überlegen.« »Alexander Pope«, sagte Mr. Whitman, überrascht. »Du sollst nicht dulden das Leben einer einzigen Hexe«, zitierte Phoebe, wiederum aus einer bedeutenden Quelle. Dann verfiel sie in ein wunderliches kindliches Gehabe: sie schlang die Arme eng um sich herum und wiegte sich langsam vor und zurück. »Sie ist wohl komplett aus dem Lot?« fragte Mr. Whitmans Freund. »Nein«, sagte Mr. Whitman, »sie ist eine Art schwarzer Hamlet, weißt du, sie verstellt sich, verstellt sich ständig. Sie verstellt ihr Wesen, Zack, um uns besser hinter das Licht führen zu können. Aber sie hat mitbekommen, daß unsere Freundschaft von besonderer Natur ist…«
»Soll das etwa heißen, Mr. Whitman, daß an dem Greuel etwas dran ist, dessen mein Dienstmädchen sie bezichtigt?« »So würde ich es nicht nennen, Mrs. Grainger. Ich würde es eher Liebe unter Kameraden nennen, eine Liebe, geschmiedet aus den Härten dieses Krieges, geboren auf dem Schlachtfeld, entflammt in den Sterbenden. Eine Liebe, für die Plato, Michelangelo, Shakespeare leidenschaftliche Worte gefunden haben…« »Sogar dem großen Barden wollen Sie diese schändliche Begierde unterstellen?« fragte ich, völlig entgeistert. ›»Soll ich vergleichen dich mit einem Sommertag‹. Dies«, sagte Mr. Whitman, »war nicht für eine Frau geschrieben, Mrs. Grainger; das haben Sie doch bestimmt gewußt.« Ich wollte nicht zugeben, wie wenig bewandert im Werk Shakespeares ich war. Ich wollte nicht zugeben, daß ich unter meinem Dach mehr als ein Jahrzehnt lang eine heidnische Zauberin beherbergt hatte, in der Meinung, sie sei lediglich ein einfältiges Ding. Und ganz sicher wollte ich nicht über die Tatsache nachdenken, daß in meinem eigenen Salon zwei Anhänger eines unaussprechlichen Lasters saßen, zwei Männer, wie sie normaler, ja, sogar gesünder nicht hätten aussehen können. Ich wollte mir selbst nicht eingestehen, daß alles, was mir als heilige Wahrheit gegolten hatte, unversehens zur Lüge wurde. Ich mag keine Abenteuer; ich lege mich gern mit dem neuesten Schundroman vor den Kamin. Aber das, was sich hier so unvermutet offenbarte, war wohl eine Art Abenteuer. Mein fremder Kontinent sollte allerdings nicht das dunkelste Afrika sein, sondern die mondäne Welt um mich herum. Wie die Hirten in Bethlehem fürchtete ich mich sehr. Und trotzdem, da war diese brennende Neugier… Und so fragte ich denn Mr. Whitman: »Sie scheinen soviel darüber zu wissen. Wo haben Sie all diese Informationen her? Wissen Sie,
was ein toter Hahn unter einem Bett zu bedeuten hat? Wissen Sie, was mein Dienstmädchen mit ihrem Zauber bezweckt?« »Nichts Besonderes. Wahrscheinlich hat sie die Hoffnung verloren, daß Sie jemals wieder einen Mann heiraten, und hat daher Fetische und Opfer unter Ihr Bett gelegt, um sozusagen das Feuer in Ihnen wieder zu entfachen.« »Das ist absurd.« »Nicht für sie«, sagte Mr. Whitman. »Ich kann mir vorstellen, daß sie glaubt, ihr Zauber beginne bereits zu wirken. Vielleicht glaubt sie, daß sie Ihren toten Mann aus dem Reich der Toten zurückgeholt habe…« »Egungun! Dieses Wort hat sie ständig wiederholt«, sagte ich. »Ist das so etwas wie der Geist eines Verstorbenen?« »Ich weiß es nicht. Ich bin nicht allwissend, wenn es um Afrika geht«, sagte Mr. Whitman. »Obwohl ich meine Ohren auch dort offenhalte, wo andere sich nicht die Mühe machen würden. Jedoch in letzter Zeit, Mrs. Grainger, habe ich sehr viel von Geistern Verstorbener gehört…« »Nun, ich glaube fest an die Auferstehung des Fleisches«, sagte ich, obwohl mein Glaube keineswegs so fest war. »Aber daß der blutige Kadaver eines Huhnes irgendwie meinen Mann zurückbringen könnte…« Und ich erinnerte mich wieder an den Traum, erinnerte mich an die mit Blasen bedeckten Hände meines Mannes, wie sie durch die dünne Seide nach meinen Schultern griffen, erinnerte mich an die leeren Höhlen seiner Augen, erinnerte mich daran, wie ich in diese Leere hineinschaute, durch Dreck, durch Tiefen voller Würmer hineinschaute in eine feurige Dunkelheit, die gewiß die Hölle selbst war, obwohl mein Mann, mein wirklicher Mann, sicherlich schon unter den himmlischen Heerscharen weilte und mit den Engeln auf einem Thron saß, denn er war ein guter Mann, ein Mann, der sich mit all seiner Kraft für die Befreiung der Sklaven
abgemüht hatte… oh, und ich erinnerte mich an diese trostlosen Worte, »Oh, warum hast du mich nie geliebt«, und ich wußte, daß sie schmerzhaft und wahr zugleich waren. Als Mr. Whitman sah, wie Entsetzen und Qual Besitz von mir ergriffen, legte er mir den Arm um die Schulter und ließ mich weinen. Nachdenklich und ernst sagte er: »Ich habe den lauten Ruf Afrikas gehört und habe die Toten auf seinen Schultern tanzen sehen. Es gibt noch eine andere Auferstehung, nicht die im Testament verheißene, sondern eine, die schon stattgefunden hat – und noch immer stattfindet, irgendwo, heute. Aber die Engel dieser Auferstehung haben kein goldenes Haar und sind nicht mit Licht bekleidet. Ich weiß das, Mrs. Grainger, ich habe sie gesehen. Ihr Lied ist nicht der süße Gesang niedlicher Chorknaben, sondern der dumpfe Trommelschlag der Verwüstung. Ich weiß das, Mrs. Grainger, ich habe sie gehört. Es sind dies die schwarzen Engel. Es sind dies die Engel, die mit dem Einbrechen der Nacht kommen. Oh, Mrs. Grainger, ich habe sie gesehen, und ich fürchte, daß sie all meine Dichtkunst aus mir herausgestohlen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder Lieder zu singen. Kann sein, ich werde Lohnschreiber und verquirle die Tagebücher und Memoiren dieses gräßlichen Krieges. Was bin ich ohne Poesie weiter als ein kümmerlicher, alter Mann, der in einem Meer von Sterbenden seine Netze nach der Jugend auswirft?« »Oh, Walt«, sagte der junge Mann. »Alt, alt. Aber kümmerlich? Niemals! Ich schwöre bei Gott, du hast mich vom Rand des Grabes zurückgeholt.« Ich wartete und leerte still meine Tasse Tee. »Sag es ihr, Zack«, sagte Mr. Whitman. »Erzähl ihr davon, wie du von drüben zurückgekehrt bist.«
Und der Junge, der im Verlauf des Nachmittags so wenig gesagt hatte, wurde plötzlich redselig und fing an, seine ganze Lebensgeschichte auszubreiten.
Schweigsam kamst du, ohn’ alle Gabe – wir sahen einander nur an. Und oh! wieviel mehr gabst du mir als alle Schätze dieser Erde. – Walt Whitman
Ein verwundeter Mann in Washington 1864 4 WORIN ZACHARY BROWN SEINEN GLAUBEN VERLIERT
1 Ich bin kein großer Geschichtenerzähler (begann Mr. Brown), ich werde nur so schlicht und einfach wie möglich erzählen. Vorm Krieg war ich nie weiter wie zehn Meilen von zu Hause weg gewesen, hab niemals einen Nigger zu Gesicht gekriegt, nie dran gedacht, Soldat zu werden, schon gar nicht, auf einer Pritsche in Washington D.C. zu verbluten, schon gar nicht, daß man ein ganzes Gedicht über mich schreibt. Über mich! Stellen Sie sich das vor! Über mich, einen Präriejungen mit sonnenverbranntem Gesicht, der mit Kühen groß geworden ist, mit Händen so rauh wie Maishülsen, die Lippen von der Sommersonne aufgesprungen.
Ich bin nicht Soldat geworden, um Sezessionisten zu töten, und hab mich, weiß Gott, nicht freiwillig gemeldet, um die Schwarzen zu befreien. Ich schätze, es war nur das Abenteuer. Ein Brevet-General mit langen blonden Haaren kam eines Tages in die Stadt geritten, und er sah so gut aus, daß die Mädchen alle in Ohnmacht fielen, und so mutig und kühn, daß die Jungs alle schrien, sie wollen mit in den Krieg. Der General hat ein großes Getue gemacht, von wegen er war früher auch mal nichts Besseres als wir, und er hat es bis ganz nach oben geschafft wegen seinem Mut, und weil man im Krieg zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein kann. Jawollja, hat er gesagt, wie er vorm Krämerladen stand, der Krieg ist jetzt bald zu Ende, und wenn er vorbei ist, sind da die Indianer, direkt hier im Territorium, mit denen wir kämpfen müssen, und wer weiß, wie weit so eine militärische Karriere einen führen kann? Teufel, sagte er, er habe vor, eines Tages Präsident zu werden! Und das war das erste und einzige Mal, daß ich General George Armstrong Custer zu Gesicht bekam, der einer von den jüngsten Helden des Krieges war, aber am nächsten Tag hab ich mich gemeldet, also schätze ich, daß er es war, der mich dazu gebracht hat. Ich wußte, daß ich Gottes Werk verrichte. Das hat mir der Prediger gesagt, als ich mich verabschiedet hab. »Die Union«, sagte er, »ist wie eine Ehe. Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Schau dir Europa an – gottlos, entzweit, eine klare beispielhafte Manifestation eines neuzeitlichen Turmbaus zu Babel. Wir sind da anders. Gott hat gewollt, daß wir den sündigen Massen dieser alten dekadenten Länder zeigen, daß es ein neues Eden gibt, mit Völkern, die eine Sprache sprechen, eine Stimme haben; daß alle diese reichen und mannigfaltigen Staaten in der Lage sind, sich zu dem Status einer unteilbaren Nation aufzuschwingen. Kannst du das verstehen, Junge?«
Ich nickte und versuchte, ernst auszusehen. Ich fragte mich, warum er so besorgt darum war, diese vierunddreißig Staaten zu erhalten, wo Nebraska noch nicht mal dazugehörte. »Habe dich nicht gehört«, sagte der Prediger. »Ja, Sir«, sagte ich. Ich schätze, er übte für seine Sonntagspredigt, weil ich kein einziges Wort verstanden habe, das ging mir immer so mit seinen Predigten, aber da wir die Stadt an einem Freitag verließen, habe ich es nicht mehr rausfinden können. War auch nicht so wichtig, was er gesagt hat. Ich habe damals an Gott geglaubt, und ich glaubte an den Himmel und die Hölle, und ich glaubte, daß mein Leben ein Probelauf war für das große Danach. Hab nichts in Frage gestellt, hab nie gezweifelt. Warum auch? Die andern auch nicht. Ich und mein bester Freund Drew Hammet haben lange Zeit in dieser Kirche gebetet, na ja, gut, wir haben nicht nur gebetet, wir haben auch gespielt, wissen Sie, Unfug; im Schrank, wo der Reverend seine Gesangsbücher hatte, sprachen wir darüber, wie wir der feschen jungen Mary Moore auf dem Weg zum Kühemelken auflauern wollten, und es ihr reinstecken würden und alles. Bitte um Verzeihung, Ma’am, aber wir haben auch ein bißchen an uns rumgespielt; Jungs sind Jungs, und überhaupt, keiner von uns konnte jemals die fünfundsiebzig Cents zusammensparen, um für Miss Evelyn unten im Saloon zu bezahlen; und unsere Mütter hielten nichts davon, mit Damen von schlechtem Ruf rumzumachen. Ich würde Ihnen überhaupt nichts davon erzählen, Ma’am, außer daß das ein Licht wirft auf einen späteren Teil von meiner Geschichte. Reverend Jones gab jedem von uns einen glänzenden Halbdollar, die hatte er sich aus der Kollekte gespart, damit wir was hatten bis zum Zahltag, der nur einmal im Monat war, und da kriegten wir dann dreizehn Dollar. Ich hatte bis jetzt noch nie dreizehn Dollar gehabt, und schon vier Cent in meiner
Hosentasche haben sich ziemlich schwer angefühlt; für das Geld konnte man im Gasthaus an der Union Station in Omaha ein Steakdinner mit vier, fünf Gängen kriegen und soviel Bier trinken, wie man wollte. Das Geld war nicht lange in meiner Hosentasche, wenn ich ehrlich sein will. Mein Cousin Rodney kam als Trommlerjunge mit. Weil er nur zehn Jahre alt war, hat Reverend Jones ihm nur einen viertel Dollar gegeben. Rodney gab ihn für Gin aus, und wanderte benommen durch das Camp und stieß Captain Rawlins Eintopf um; haben ihn gehörig ausgepeitscht deswegen, hat er ja auch verdient; er war immer schon ein Wilder gewesen. Aber danach hat er sich gemacht. War nie unverschämt gegen Ältere, und jedes Wort hieß »Ja, Sir, nein, Sir, sofort Sir«. Hat ihm also gut getan. Wir waren alle jung. Ein oder zwei Tage marschierten wir, und wir sangen laute Lieder und standen schneidig Habacht, und wir schauten zu, wie die Offiziere vorbeiritten, vornehm und prächtig und glänzend. Gott weiß, ich hatte keine Ahnung, worum es in diesem Krieg ging. Ich wußte, daß wir loszogen, einen Haufen Rebellen zu töten. Ich wußte auch, daß einige von uns vielleicht sterben würden, aber darüber hab ich nicht sehr viel nachgedacht, weil ich zu jung war. Wir marschierten, und am Abend erzählten wir uns Geschichten, über das Essen von unseren Müttern und das Trinken von unseren Vätern, und wir erzählten Märchen über Mädchen, die wir geküßt hatten, und die Kämpfe, die wir gewonnen hatten, und die Pferde, die wir gestohlen hatten. Am dritten Tag schon gingen uns die Geschichten aus, und wir saßen am Feuer und haben nur getrunken und waren verdrießlich – wieviel Angst wir hatten, wollten wir nicht laut sagen. Der einzige, der das je gesagt hat, war mein bester Freund Drew, er hat geheult und es andauernd mit den feinen Zuckerkeksen von seiner Mami gehabt; er war erst vierzehn, aber für sein Alter war er groß, fast so groß wie
ich. In der dritten Nacht hat er sich in den Schlaf geweint, aber ich hab allen gesagt, das sei ein wilder Kojote, dem hätte ich ins Bein geschossen. Rodney hat niemals geweint. Wenn Drew richtig Angst hatte, beruhigte er sich, indem er die Enfieldbüchse von seinem Pa polierte, die das einzige war, was er zur Erinnerung an seinen Pa besaß. Im Illustrierten Katalog für Militärwaren von Schuyler, Hartley & Grahams hatte sie die Nummer 353, wie Drew mir andauernd erzählte. Neununddreißig Inch Zylinder, zehn Pfund schwer, erhöhtes Visier. Er hat diese Büchse poliert, bis sie glühte. Am siebten Tag gingen unsere Uniformen allmählich aus dem Leim, und, verzeihen Sie den Ausdruck, Ma’am, einige von uns bekamen ziemlichen schlimmen Dünnpfiff, und wir hielten die Köpfe nicht mehr ganz so hoch, und die Pfeifen taten unseren Ohren weh, und die Trommlerjungen konnten den Takt nicht mehr halten. Nebraska war weltenweit entfernt, und die Worte von Reverend Jones waren mir jetzt egal; meine Heimat war Nebraska, nicht irgendein formloses, riesiges Gebiet, das von Washington aus regiert wurde. Am achten Tag trafen wir mit einem anderen Regiment zusammen, und eine Zeitlang wurde der Gesang wieder ausgelassen, und wir versuchten uns gut zu präsentieren, damit es den anderen nicht gelang, uns auszustechen; sie waren Veteranen, sie hatten schon eine Schlacht gesehen, irgendwo, kann mich jetzt nicht an den Namen des Ortes erinnern, irgend so ein ausgetrockneter Wasserlauf, glaub ich. Wir lagen im Camp und kramten vor einem neuen Publikum unsere alten Geschichten hervor; und dann erzählten sie ihre Geschichten, die ein wenig anders waren: sie erzählten von Blut, Zerstückelung und Tod. Aber wir haben da noch nicht viel drüber nachgedacht; die Welt, von der sie erzählten, war uns noch ganz unbekannt.
Rodney liebte diese blutrünstigen Geschichten; für ihn waren das Märchen, nur nicht so unglaubwürdig. Er saß im Schneidersitz direkt am Feuer und kaute Zwieback und hörte den Lügengeschichten zu, bis seine Augen von allein zufielen und er, so wie er dasaß, anfing zu schnarchen, und ich ihn in unser Zelt trug, das wir uns miteinander teilten, ich und er und Drew und Kaczmarczyk, der so ein komisches Englisch sprach; er war irgendein Einwanderer aus Ungarn oder Polen, schätz ich, er hielt sich von den anderen fern, und ab und zu malte er Skizzen von mir und Drew und Rodney mit einem Kohlestift in ein kleines Notizheft, und wir fanden die ordentlich und lebensecht, aber ich komm jetzt mit der Reihenfolge durcheinander, ich wollte nur sagen, daß wir uns alle ein Zelt geteilt haben, wir vier, mehr nicht. Eine Ausbildung haben wir von denen nicht gekriegt, außer Auf- und Abmarschieren und ein bißchen Zielschießen. Ich wollte gar nicht wissen, wo wir waren; ich wollte nur irgendwohin, wo was los war. Keiner hat uns gesagt, wo wir hingingen; niemand hat uns das kleinste bißchen gesagt. Sie brauchten uns schnell, brauchten unsere warmen Körper, um die Lücken auf ihren Strategiebrettern zu füllen. Und so fanden wir uns ganz plötzlich in einer Schlacht wieder.
2 Noch jetzt fällt es mir schwer, daran zu denken. Sie haben die Bilder gesehen. Es ist anders, wenn man selbst dort ist. Das Grau der Fotografien kann verdammt viel Häßlichkeit überdecken. Auf den Bildern hängt der Kanonenrauch in der Luft, und die Körper liegen alle regungslos da. Die Schreie kann man nicht hören. Man bemerkt nicht den Schlamm an den Schuhen. Man wird nicht
vom Nieselregen durchgeweicht oder bespritzt mit Blut, das klebrig wie Melasse ist. Man rutscht nicht auf Erbrochenem und Exkrementen aus. Man versucht nicht, die Blase fest zusammenzupressen, damit man sich nicht in die Hose pißt. Es wurde viel geschrien. Die Rebellen schrien schlimmer als die Rothäute, wenn sie uns angriffen, und die Sterbenden schrien noch viel schlimmer. Da war soviel Rauch, daß man nicht sehen konnte, ob man auf einen Mann oder ein Pferd oder auf gar nichts schießt. Der Boden bebte, wenn die Kanone abgefeuert wurde, und Arme und Beine kamen durch die Luft geflogen, und es regnete Blut. Wir taten, wie man uns trainiert hatte: in kurzen Linien antreten, hinknien, feuern, nachladen – solange wir konnten. Fast das erste, das passierte, war, daß Drews wunderschöne, glänzende Büchse auf seiner Schulter explodierte, und es riß ihm den Kopf komplett weg. In der einen Minute sah ich, wie er lächelte, als habe er keine Angst mehr; in der nächsten sah ich nur noch, wie seine Halsknochen im Wind wackelten. Das Blut sprudelte nur so. Sein Kopf lag vor uns und starrte uns an, und er sah aus wie – nun ja, man könnte fast sagen, überrascht. Die Augen standen weit offen. Sein Hals steckte im Schlamm, fast so, als hatten wir ihn zum Scherz bis zum Hals dort eingebuddelt, und nach ein oder zwei Stunden würden wir zurückkommen und ihn wieder ausbuddeln, und dann würden wir alle nach Hause gehen, uns auf den Rücken schlagen und lachen. Drew starrte uns fortwährend an, wie wir feuerten und nachluden und feuerten und nachluden. Keiner von uns sah nach ihm zurück, wir versuchten es zumindest, wir haben alle versucht, über ihn wegzugucken, zum Feind rüber, der mit Gebrüll und Geschrei angriff und direkt auf unsere Schußlinie zulief. Und wir haben einfach gefeuert und nachgeladen und gefeuert und nachgeladen und ihre Schüsse abgekriegt, und um mich rum rutschen die Männer immer wieder im Schlamm aus.
Das seltsame war, daß Drew nie ausgerutscht ist, obwohl er keinen Kopf hatte. Er stand hinter mir, wankte hin und her und verströmte sein Blut. Und irgendwo weiter vorne – manchmal sah man ihn, wenn der Qualm sich zerteilte – schoß unablässig Rodney, das Gesicht zusammengekniffen und die Haare durchwühlt. Seine Augen waren wild und klar. Er stand da wie ein Todesengel und zuckte nicht zusammen, wenn er von Soldaten umzingelt wurde, die ihre Bajonette benutzten, zustachen, droschen, Hälse, Glieder, Mägen aufschlitzten, schnurweise Gedärme aufwickelten, Augen ausstachen. Nach dem Kommando »Nach Belieben feuern« hörte ich auf zu denken. Es wurde nicht einmal versucht, militärische Disziplin zu halten. Das Sausen der Kugeln, der Wind, die schrillen Pfeifen, die Ströme von Blut, es war alles eins. Ich wußte, daß ich meinen Mann stand, direkt neben dem Kopf meines besten Freundes, und ich wußte, daß ich aufgeschlitzt und geschlagen und verprügelt und verdroschen habe, bis auch ich hinfiel, nicht am Körper verwundet, aber im Geist. Ich fiel hin und wiegte den Kopf meines toten Kumpanen in meinen Armen. Ich dachte, auch ich sei tot. Alles wurde schwarz. Wissen Sie, Ma’am, ich fühlte »den Frieden wider alle Vernunft«, wie der Prediger immer sagte. Es kam mir vor, als klinge der Schlachtenlärm ab. Zum Schluß konnte ich nur noch den Schlag einer einzelnen Trommel hören. Und obwohl es absolut dunkel war, wußte ich, daß im Zentrum von dieser Dunkelheit Rodney stand und auf seiner Trommel den Herzschlag der Welt schlug. Nur seine Augen waren in der Dunkelheit. Die Augen von einem Engel. Und eine Stimme, die zu sagen schien »Nun schlafet, nun schlafet, im Arm von Gevatter Tod«. Die Stimme flüsterte weiter, die Dunkelheit schien eine Ewigkeit zu dauern, aber dann, langsam, trieb ich von dem Rande des Abgrunds zurück,
und ich öffnete die Augen. Sie sagten, daß die Schlacht gewonnen war. Ich weiß nicht, woher sie das wissen wollten. Ihre Toten und unsere Toten waren wie Zwirn zusammengeflochten. Als der Rauch sich verzog, sah ich, daß wir in einem Tal waren, und daß bald die Sonne untergehen würde, und den Hügel hinauf, an all den toten Körpern vorbei, war ein blaugrüner Wald. Wenn man über den Tod hinwegsah und vor dem Gestank die Nase zuhielt, dann war dies ein wunderschöner Ort. Ein Strom floß den Abhang herunter. Die Aasvögel sammelten sich, und meine Augen waren von Schweiß und Blut getrübt, aber ich wußte, daß dieses Land so schön war wie Nebraska, und daß wir es häßlich gemacht hatten. Trotzdem habe ich nicht geweint. Ich wollte stark sein, so wie Rodney. Sie sagten, daß die Schlacht fünfzehn Minuten gedauert habe. Rodney wurde nie gefunden. Sie setzten ihm nach, weil sie seine Leiche nicht finden konnten. Falls er weggerannt ist, bete ich, daß er entkommen ist. Sie würden doch wohl keinen Zehnjährigen als Deserteur erschießen, oder? Aber sie hatten ihre Befehle, oh ja. Später rief uns Captain Rawlins; er wollte einige Worte sprechen, ein Gebet für diejenigen, die an diesem Tag ihr Leben gegeben hatten. Ich kniete mich neben meine Kameraden, um zu beten, und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich dieses Wort nicht sagen. Ich meine Gott, Gott. Gott kam mir einfach nicht über die Lippen; ich würgte an Gott, als sei Gott ein Hühnerknochen.
3 Danach gab es noch mehr Schlachten. Vielleicht habe ich ein paar Sezessionisten getötet, oder vielleicht auch nicht. Hab mich nicht mit Zählen aufgehalten. Nach der ersten Schlacht hab ich nicht viel über das Töten nachgedacht, mehr darüber, wie ich am Leben bleiben kann. Auch über das Beten hab ich nicht nachgedacht. Wollte nicht wissen, warum ich Gottes heiligen Namen nicht aussprechen konnte. Wollte auch nicht, daß jemand das mitkriegt. Ich war mehr Maschine als Mensch. Ging dorthin, wo man mir sagte, feuerte, wenn sie sagten »feuern«, und tötete, wenn sie sagten »töten«. Man könnte sagen, daß ich meinen Glauben verloren hatte. Nur, daß ich eigentlich gar keinen Glauben hatte zum Verlieren. Ich meine, in Reverend Jones’ Kirche, da hab ich die Psalmen so fröhlich gesungen wie mein Banknachbar, und genauso inbrünstig sagte ich Amen, aber was ich sagen will, ist: Als ich im Schlamm lag, meine Arme um Drew Hammets Kopf geschlungen, und als sie nach Rodney im Wald suchten, mit dem Befehl, ihn sofort zu erschießen, und als ich den Herzschlag der Welt in der gähnenden Dunkelheit hörte, wußte ich, daß diese Psalmen umsonst gesungen worden waren. Gott war nie mit mir gewesen, und ich war nie mit Gott gewesen. Jede Nacht, wenn ich die Augen zumachte, konnte ich Rodney sehen, wie er in dem schwarzen Wald stand und die Trommel schlug und wie er grade durch mich durchsah und da eine Wahrheit sah, die ich niemals sehen würde. Nach einer Weile, ohne meine Freunde und ohne meinen Glauben, entschied ich mich dafür, daß es das beste wäre, dorthin zu gehen, wo Rodney war, auch wenn das bedeutete, daß sie mich vielleicht erschossen. Ich plante meine Flucht sorgfältig. Ich sparte jeden Tag einige Zwiebäcke. Ich war
gerade soweit, wegzurennen, als ich einen Mann traf, der mir eine neue Weltsicht zeigte. Ich meine damit Ihren verstorbenen Mann, Witwe Grainger, den Reverend, der durch das Camp geritten kam. Es ist schon merkwürdig, wie Leute, die durch das Leben von jemandem geritten kommen, dieses Leben verändern können. Zuerst General George Armstrong Custer, und dann Reverend Aloysius Grainger, der zweit-ungewöhnlichste Mann Gottes, den ich je getroffen habe… ich sage zweit-ungewöhnlichste, weil ich später in dieser Geschichte noch von dem ersten erzählen werde.
5 WORIN MRS. GRAINGER ERSTMALS DIE DICHTKUNST VON MR. WHITMAN SCHÄTZEN LERNT
1 Als der Name meines verstorbenen Mannes fiel, war mir klar, daß der Besuch von Mr. Whitman und seinem Freund weit mehr als nur ein Zufall war. Hier war irgend etwas im Spiel; ob von Gott, Satan oder Menschen ins Werk gesetzt, mußte sich noch herausstellen. So ungeschliffen die Worte des jungen Mannes auch waren, ihre Aufrichtigkeit und Schlichtheit gaben ihnen etwas Poetisches. Der Tee war kalt geworden, und die Sonne war untergegangen. Obwohl ich diese Männer weniger als vierundzwanzig Stunden kannte, hatte sich zwischen uns eine gewisse Vertrautheit eingestellt. Das gab mir den Mut, sie einzuladen, über Nacht zu bleiben, denn die Aussicht, im Regen von Washington Square nach Brooklyn zurückzukehren, war nicht gerade sehr einladend, zumal es nicht einmal sicher war, ob sich überhaupt eine Mietkutsche zur Fähre finden ließ, da mit den vielen Trauernden die Stadtbevölkerung um ein Erhebliches angewachsen war. »Verzeihen Sie«, sagte ich, »wenn ich Ihnen ein Angebot mache, das möglicherweise gegen die Etikette verstößt, aber sehen Sie, ich bin eine Witwe, und bei meinen Jahren muß ich wohl kaum befürchten, von zwei Gentlemen, wie Sie es sind, kompromittiert zu werden.«
Ich wollte nicht hinzufügen, daß ich mich zum ersten Mal seit dem Tod meines Mannes vor dem Einschlafen fürchtete, Angst vor toten Tieren unter meinem Bett und toten Liebhabern in meinen Träumen hatte, Angst selbst vor meiner dunklen Dienerin hatte, die plötzlich soviel mehr als nur eine Aufwartefrau war. Ich wollte unbedingt den Rest von Mr. Browns Geschichte hören, wie sehr einige Einzelheiten darin mich auch entsetzt hatten. Ich würde wohl einige Zeit brauchen, um alles zu verarbeiten, was ich bis jetzt erfahren hatte, und um für weiteres aufnahmebereit zu sein, denn es würde bestimmt nicht weniger aufregend sein als das Vorhergehende. Während Mr. Whitman und sein Freund zur Straßenecke gingen, um ein schnelles Abendessen im Coach House einzunehmen, befahl ich Phoebe, das Gästezimmer herzurichten, das eine Etage über meinem Schlafzimmer und eine Etage unter der Dachstube lag, wo sie selbst wohnte. Das Zimmer war seit einem Jahr nicht mehr benutzt worden; zu Mr. Graingers Lebzeiten hatte dieses Zimmer einen nicht abreißenden Strom von Besuchern gesehen, von europäischen Würdenträgern bis hin zu Kavallerieoffizieren, von Dienern Gottes bis hin zu den Dienern des Mammon. Ich sagte Phoebe, sie solle ein paar Ziegelsteine für die Bettpfanne erwärmen und ein extra Federbett bereitlegen. Während all ihrer Geschäftigkeit sprach sie keinen Ton und benahm sich tatsächlich wie eine vorbildliche Dienerin, sittsam und aufs Wort gehorchend. Man hätte sich leicht damit beruhigen können, ihre Ausbrüche an diesem Nachmittag seien eine Art Verirrung gewesen, eine Art Laune, wie widerspenstige Hunde sie haben. Ich wollte es mir unbedingt so zurechtbiegen – und Phoebe so behandeln, als ob sie genauso kultiviert sei wie eine weiße Frau… dieser Gedanke hatte etwas äußerst Beunruhigendes. Wie Shakespeare so überzeugend sagt:
Nimm nur ein Quentchen fort, verstimme diese Saite Und horch, welch Mißklang auf dem Fuße folgt… Ich hatte Angst vor dem, was geschehen könne, falls diese Saite verstimmt wurde. Würden die Neger an unseren Dinnergesellschaften und Soireen teilnehmen, würden sie unsere Wasserklosetts und Teetassen benutzen? Kein allzu erfreulicher Ausblick.
2 Nun, ich überließ Phoebe ihren Arbeiten und ging hinunter, um im Salon etwas Ordnung zu machen, und sah dort auf der Fensterbank im Erker Mr. Whitmans Notizbuch liegen. Ich sah es und war einen Moment lang ein wenig besorgt, daß man mich dabei erwischen könne, aber dann wurde ich von der Neugierde derart überwältigt, daß ich anfing, es durchzublättern. Ich las: … O Herz! Herz! Herz! O Tropfen von Blut so rot. Wo auf dem Deck mein Käp’ten liegt, Gefallen, kalt und tot. Schau, dachte ich, er schreibt ja über Mr. Lincoln. Mein Käp’ten gibt nicht Antwort, seine Lippen sind bleich und still – Dies war nun keineswegs der avantgardistische, reimlose Unsinn, den Mr. Whitman angeblich verfaßte. Dies war Poesie
von ernster und starker Bedeutung. Die Bilder waren lebhaft, der Rhythmus klar und elementar. Von diesen Zeilen könnte gewiß niemand behaupten, sie hätten weder Rhythmus noch Versmaß. Sie riefen all meine eigenen Empfindungen wach, die in mir aufgestiegen waren, als ich neben dem toten Präsidenten stand und jemandes Stimme hörte, den ich für den Allmächtigen hielt. Freimütig bekenne ich, daß ich den Tränen nahe war. Dies war ein Mensch von großem Gefühlsreichtum und tiefer Empfindsamkeit. Ich nahm mir vor, Mr. Whitman geradeheraus zu sagen, daß ich schlecht unterrichtet gewesen war. Die Gelegenheit dazu ergab sich kurz danach, da er und Mr. Brown an die Eingangstür klopften und Phoebe nach unten eilte, um sie einzulassen. »Oh, Mr. Whitman«, sagte ich, als der alte Mann schlurfend in das Foyer kam und ich ihm entgegenging, sein Notizbuch noch in Händen, »Ihr Gedicht ist hervorragend, über die Maßen hervorragend.« Er riß mir das Notizbuch aus der Hand. Er lief wahrhaftig ziemlich rot an. Beinahe glaubte ich, er würde mich schlagen. »Knittelverse!« schrie er. »Knittelverse, platt und gewöhnlich!« »Aber es ist ein schönes Gedicht, und es hat mich bewegt.« »Aber haben Sie diese albernen Reime gehört, diesen kindischen Rhythmus, der dahinscheppert wie eine Blechtrommel?« »Ich habe nichts Albernes an…« »Ich sagte es schon, Ma’am«, brummte er, während er in den Salon marschierte und sich in das erstbeste Fauteuil warf, »die Gabe der Poesie verläßt mich allmählich. Dieser Blödsinn beweist es. Entschwunden sind die gewölbten Linien, die subtilen Tönungen und verschlungenen Synkopen. Statt dessen
bin ich gezwungen, meine Zuflucht zu dröhnenden Taktschlägen zu nehmen und jede Zeile mit einem Kinderreim zu beenden. Ich glaube nicht, daß ich das hier veröffentlichen werde; es ist eine Beleidigung des Stils, an dem ich so lange gearbeitet habe, um meinem Werk ein Gesicht zu geben…« »Sie hat recht, Walt«, sagte Mr. Brown. »Ich sag doch, es ist wunderschön.« Mr. Whitman hörte auf zu wüten. »Oh, Zack, wie du mich zuweilen beschämst. Da hämmere und meißele ich an den widerspenstigen Felsbrocken der Poesie herum, aber es gibt da immer noch etwas Schöneres als die Anordnung von Vokalen und Konsonanten. Komm, gib mir einen Kuß.« Ohne irgendein Schamgefühl erkennen zu lassen, tauschten die beiden Männer einen Kuß, keinen keuschen Kuß wie zwischen Vater und Sohn, sondern einen Kuß von einer solchen Laszivität, daß ich mich abwenden mußte. Die beiden Männer hielten sofort inne. »Um Vergebung, Witwe Grainger«, sagte Mr. Brown, da er sah, wie peinlich berührt ich war. »Aber falls ich etwas getan habe, das ich nicht hätte tun sollen, dann ist es wegen dem, was ich vom alten Aloysius gelernt habe.« Einmal mehr waren meine Gefühle beleidigt – dieser Junge sprach von meinem Mann mit einer vertraulichen Ungezwungenheit, wie ich selbst sie mir niemals gestattet hatte. Auch ich setzte mich und bereitete mich darauf vor, mehr von diesem fremden jungen Mann zu erfahren. »Erzählen Sie«, sagte ich. »Phoebe ist mit dem Bettenmachen noch nicht fertig, und ich bin äußerst begierig, mehr über meinen Mann zu erfahren, von dem ich, wie es jetzt den Anschein hat, weit weniger weiß, als ich dachte. Bitte, fahren Sie fort, Mr. Brown.«
»Ja, Ma’am«, sagte er. »Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht… Ma’am… meinen Sie, Sie könnten mich Zack nennen, einfach nur Zack? Mr. Brown ist ein wenig zu fein für mich.«
6 WORIN REVEREND GRAINGER ZACHARY BROWN DAS WAHRE GESICHT DER FREIHEIT ZEIGT
1 Wie ich eben sagte, Ma’am (fuhr Zack fort), war ich schon soweit, einfach abzuhauen, und ich hätte sogar in Kauf genommen, daß sie mich dafür vielleicht töten. Ich wollte einfach nur sterben, aber ich hatte nicht den Schneid, mich an der nächsten Pappel aufzuhängen. Ich hab kein Auge mehr zugemacht, weil Rodney in meinen Träumen rumspukte. Deshalb hab ich auch gemeint, daß er tot war; hab mal ein Theaterstück gesehen, Hamlet hieß das, und da war auch ein Geist dabei und ein Mann mit einem Totenschädel in der Hand. Der Geist verfolgte Hamlet und hetzte ihn, und dann kam zu jedem in dem ganzen Stück bald der Tod; kein Mensch ist übergeblieben, bis auf irgendeinen Norweger, der zum Schluß die ganzen Leichen weggetragen hat. Im Traum war Rodney noch klein und zerbrechlich. Aber er zeigte eine Stärke, die nur die Toten haben können, weil sie sich um nichts kümmern müssen. Und immer ruft er mir zu: »Zeit zum Schlafen, Zeit zum Schlafen«. Drew Hammet hab ich nie im Traum gesehen. Hatte auch Angst davor, schätz ich. Ich sah nur Rodney, den kleinen blonden Engel, der mich in den ewigen Schlaf trommelte. Ich hatte mir schon alles zurechtgelegt. Am Sonntag würde irgend so ein Komitee aus dem Osten kommen, die wollten zu
uns reden, worum es in diesem Krieg denn so alles ging. Die Teilnahme war nicht Pflicht und nichts, aber ich wußte, daß die Offiziere dort sein würden und zeigen wollten, wie toll sie sind, weil nämlich ein Kriegsberichtsreporter dabeisein sollte, irgend jemand von der New York Times, hieß es. Wenn es losging, könnte ich mich davonmachen, und bis zum nächsten Morgen würde mich keiner vermissen. Ich hab gedacht, wenn ich mich Richtung Nord-Nordwest halte, schaff ich es in vierzehn Tagen in die Territories zurück. Ich mußte nur sicher sein, daß die Richtung stimmt, wenn ich losging, weil ich mich nicht nach der Sonne richten konnte, wenigstens nicht bis Sonnenaufgang. Dann war der Abend da, wo ich abhauen wollte. Ich also raus und los. Es war leicht. Keiner stand Wache, keiner hielt mich auf. Alle waren sie so mutlos, obwohl wir am gewinnen waren, wenigstens hat der Captain das andauernd gesagt. Schätze, sie hätten mich sowieso nicht aufgehalten. Ich wachte durch den üblichen Traum auf, sah zu, daß Kaczmarczyk selbst im Land der Träume festhing, und schlich mich fort. Aber vielleicht hat er mich doch gehört; ich glaube, er hat sich bewegt. Ich ging weg. Ein ganzes Stück in den Wald rein, bis ich die Feuer nicht mehr sehen und den angebrannten Kaffee nicht mehr riechen konnte. Ich trug noch meine Uniform, was noch davon übrig war jedenfalls, wo Sie dran sehen können, was für ein Trottel von einem Jungen ich war. Da stand ich also im Wald, ganz alleine, und das Mondlicht rieselte die Bäume runter wie Silber. Ich machte mich auf den Marsch. Ein Stück weit bergauf, dann eine Art Pfad längs, der sich wieder zurück und bergab schlängelte, und ich glaubte, daß ich auf der andern Seite vom Berg war, von der das Gerücht ging, daß da vielleicht ein paar Sezessionisten lagern. Ich versuche, die Stelle zu umgehen und geh über eine Lichtung auf eine Weggabelung zu, da ist ein
Flecken voller Erdbeeren, die pflück ich alle und schling sie runter, hab aber immer noch Hunger, weil ich soviel marschiert bin, wahrscheinlich. Nach einer Weile hab ich solchen Hunger, daß ich die Zwiebäcke, die ich mir aufgespart hab, bis auf den letzten aufesse, und ich halt Ausschau nach einem Eichhörnchen oder Opossum oder so, das ich mit dem Bajonett aufspießen kann. Ich lauf und lauf und lauf, und ziemlich bald bin ich mir sicher, daß ich diesen Bach schon einmal oder ein paarmal gesehen habe, wo das Wasser gegen die Wackersteine schlägt und im Mondlicht glitzert. Ich lauf im Kreis rum, hab ich mir gesagt. Habe mich dann auf einen alten schartigen Felsen gesetzt und der Musik der Nacht zugehört. Den Insekten, die auf den Blättern zirpten. Der Eule. Dem Raubzeug, das sich auf den Ästen jagte. Ich saß eine lange Zeit dort. Wußte nicht, in welchem Staat oder Bezirk ich war; hätte genauso gut der Wald hinter der Scheune sein können, zu Hause. Alle Wälder sind irgendwie gleich, Ma’am. Egal, ob Eiche oder Tanne, bis auf den Geruch, der verrät einem, was für Bäume es sind. Walt sagt, daß der dunkelste Wald das menschliche Herz ist. Und dann kam es mir so vor, als hör ich das Weinen von einem Kind, das sich verlaufen hat, und ich dachte – jaja, kein sehr logischer Gedanke, aber ich war hundemüde und nicht mehr ganz bei der Sache – ich dachte, es sei vielleicht mein Cousin Rodney. Ich wollte nicht laut rufen, wo ich doch jetzt wußte, daß ich im Kreis gelaufen war, und weil ich glaubte, daß ich wahrscheinlich immer noch verdammt nah am Camp bin, und nach den paar wenigen Stunden in Freiheit wollte ich nicht wieder zurückgeschleift werden. Aber da war das Weinen nochmal. War vielleicht ein Tier gewesen, hörte sich aber ziemlich menschlich an. Bei dem Ton
gefror mein Herz zu Eis, Ma’am, weil ich sicher war, daß es meinen Namen gerufen hat. Die Rothäute glauben, daß wenn in der Nacht ein Tier deinen Namen ruft, ist es das Tier, das deine Seele besitzt. Mein Freund und Blutsbruder Wamdi hat mir das erzählt. Er war ein Santee, und er wußte eine Menge, aber er starb an den Masern, als er knapp zwölf Jahre alt war. Den Tag bevor er starb hat er über seiner Pritsche einen Adler gesehen, und der Adler hat seinen Namen geflüstert. Hat ihn heimgerufen, verstehen Sie. Wamdi bedeutet Adler in der Dakota-Sprache, Ma’am. Ich kann die Sprache einigermaßen, weil unten in der Ebene von unserer Farm eine Sippe von ihnen wohnte, bis die Regierung sie in das nächste Territorium geschickt hat. Ich rede um den heißen Brei rum, Witwe Grainger, weil ich Angst habe, zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen. Ist aber wahr, ich hab da an Wamdi gedacht, wie ich auf dem Felsen saß, hab daran gedacht, wie er starb; ich und Rodney und Drew, wir hatten alle die Masern gehabt, und es hat keinen von uns umgehaun. Schätze, so geht es eben manchmal. Auf eine Art sind die Rothäute schwächer wie wir. Ich dachte an Wamdi und wie der Adler, der über seinem Kopf Wache hielt, die Flügel ausgebreitet hat, und wie er aufpaßt, daß er sich die Seele von dem Kleinen schnappt; und ich fing an, darüber nachzudenken, was wohl für ein Tier kommt, um mich zu holen. Vielleicht ein alter großer Grizzlybär. Und dann hörte ich langsame, dumpfe Schläge. Nur mein Herz, dachte ich. Mein eigener Herzschlag. Aber nein. Es kam irgendwo aus dem Dunkel. Und es hörte sich an wie eine Trommel. Eine Trommel mit kaputten Schnarren. Rodneys. Ich wußte, diesmal träume ich nicht. Oder vielleicht träumte ich doch, aber Traum und Nicht-Traum waren irgendwie eins, wenn Sie wissen, was ich meine, so wie in einem Wachtraum. Noch so eine Rothautsache, eine Vision. Ich wußte gar nicht,
daß die Weißen so etwas erleben können. Die Trommel schlug weiter, und da waren auch Worte dabei, ein Flüstern in dem trockenen Knallen von den Stöcken auf den losen Schnarren. Ra-ta-ta-tat ra-ta-ta-tat Zeit zum Schlafen. Ich horchte eine Weile, und dann flüsterte ich: »Rodney, bist du’s?« Aber als Antwort kam nur dieses Ra-ta-ta-tat, Ra-ta-ta-tat, und ich hatte das Gefühl, daß egal, was da draußen war, daß es mich aufforderte, ihm weiter in die Dunkelheit zu folgen, fort vom Bach und dem silberblauen Licht, in den dichtesten Teil des Waldes rein. Und dann und wann erscholl da auch wieder dieses Rufen. Das mußte Rodney sein. »Ich komme, Cousin«, sagte ich leise. »Warte, warte.« Ich kletterte bergauf, in Richtung von den Tönen. Als ich näherkam, schien das Trommeln sich flach auszubreiten… jetzt kam es von den Bäumen selbst… das Schlagen von Zweigen gegen die Baumrinde… und das weinende Kind war ein Windhauch und ein Zirpen nächtlicher Insekten… Ich konnte fühlen, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. »Warum spielst du Verstecken mit mir, Rodney, Junge?« flüsterte ich. Nur das Ra-ta-ta-tat gab Antwort. Ja, und dann kam ein scharfer, eisiger Wind auf, und die Kälte ging mir bis auf die Knochen. Weiter vorne glühte etwas, etwas Warmes… ein Feuer. Und wenn es die Hölle selbst gewesen wäre – die innere Kälte ließ mich auf die Flammen zurennen, die hinter einer Baumreihe hochschlugen. »Rodney!« rief ich. »Rodney!«
Und sah ihn. Nur einen Moment. Eine Silhouette vor dem Rauch und dem rötlichen Geflacker. Der Schatten eines jungen Burschen, der deutliche Umriß der Trommelstöcke, Augen, kalt wie die Verzweiflung… und der Junge schaute mir direkt in die Augen und seine Lippen begannen, sich zu bewegen, und ich wußte, was er mir sagen wollte. »Zacko, Zacko, das hier ist das Ende deiner Reise, dieser Blätterteppich ist deine letzte Ruhestatt, dieser Baldachin aus Zweigen dein Leichentuch, der Mond allein wird Leid um dich tragen.« Und ich renne dorthin, von wo ich gemeint hab, daß er den Schatten wirft, und rutsche beinahe zur Hälfte den steilen Hang runter, und wie ich durch die Bäume durchgerutscht bin, gradewegs auf ein Lagerfeuer und Zelte zu, bin ich wieder da gelandet, wo ich weggerannt war, und auf einer umgekippten Munitionskiste stand ein Mann in einem Gehrock und mit Bartkoteletten, die Arme hatte er in die Höhe gestreckt, und seine meergrünen Augen blickten zu den Sternen empor. Und Rodneys Stimme verwandelte sich in die Stimme einer –
2 Eine schwarze Frau stand auf einem Schubkarren und sang aus voller Brust. Es war ein schmächtiges, kleines Mädchen und auf ihre Weise recht hübsch, und sie war schwärzer wie die Nacht. Sie trug aber eine Art Hochzeitsgewand, und das Weiße in ihren Augen kam dadurch richtig zum Leuchten; sie hatte die Handflächen aneinandergelegt und sang in einer Sprache, die ich nicht kannte, außer daß ich an der Inbrunst in ihrer Stimme gemerkt habe, daß jedes Wort ein Gebet zu Gott war, an den ich nicht mehr glaubte. Dieses schmächtige, kleine Mädchen, Ma’am, war niemand anderes als Ihre Dienerin – niemand anderes als Phoebe. Ich
würde sie überall wiederkennen. Außerdem, ich wußte, daß ich sie in Ihrem Haus hier sehen würde. Was sie gesungen hat? Latein, schätz ich. Und dann hörte ich eine bekannte Stimme: »Das ist ein Gebet an die Jungfrau.« Ich hab gesehen, das es der Gefreite Kaczmarczyk war, er erklärte das Lied einem Begleiter, der zu betrunken war, sich darum zu scheren. »Ave Maria«, sagte er, »gratia plena… Schubert. Sehr nett, aber es ist komisch, es mit einem solch primitives Orchester zu hören. Ich erinnere mich an Lankowska, eine Musikhalle in Danzig, dort sang sie dieses Lied… sie war ein Engel! Aber du verstehst das ja nicht.« Kaczmarczyk mußte wohl doch aufgewacht sein und ist zu dem Treffen rübergegangen. Oder vielleicht ist er vom Gesang der Frau aufgewacht. Ein Mann mit nur einem Bein spielte die Begleitung auf einem ächzenden Harmonium, und ein anderer, ein Stutzer, kratzte auf einer tonlosen Fiedel. Ein dritter Spieler schlug das Tambourin, dann schüttelte er es in der Luft, und das machte das trockene Klappern, das sich angehört hatte wie eine entfernte Trommel. Und als ich zuhörte, erstarb der Wind völlig. Es wahr wohl ein papistisches Lied, Ma’am, aber es war trotzdem schön. Der Prediger in meiner Heimatstadt hat nichts von der Papisterei gehalten, aber es gab da römischkatholische Padres, die die Rothäute zum Herrgott bekehren wollten; wie ich so darüber nachdachte, da war ich mir sicher, daß ihr Hokuspokus Latein war. Die Frau war schöner wie das Lied. Sie sehen sie jetzt, als Dienstmädchen und geduckt, aber damals war es anders; da war nirgends eine Spur von etwas Sklavischem an ihr. Das Lied strömte grade so durch sie durch, und es machte sie frei, nicht wie man einen Sklaven befreit, sondern wie ein Vogel frei ist. Sie war der erste Nigger, den ich jemals gesehen hab; in meiner kleinen Stadt hatten wir nie
welche gehabt; die nächsten waren wahrscheinlich in Omaha, aber ich bin da nur auf dem Weg in den Krieg durchgekommen. Sie sang, als ob sie besessen sei; ich meine nicht von Teufeln besessen, ich meine, sie sang, als singe ein Engel durch sie. Nun, ich glaube, die anderen haben das gleiche gedacht; ich hab gesehen, wie der alte Kaczmarczyk Tränen in den Augen hatte, und die Männer haben nicht randaliert oder sich schlecht benommen wie sonst. Als sie fertig war, folgte eine lange Pause; aber dann ist der Mann mit den Bartkoteletten, von dem ich gesprochen hab – also, ich mein, Ihr Mann – er stand auf dieser Kiste und sprach mit sanfter Stimme, und die klang durch die stille Nachtluft. »Männer«, sagte er. »Ich bin Reverend Aloysius Grainger, ich schreibe Flugblätter, ich bin Abolutionist und Altruist, und zu meiner Beschreibung gibt es noch eine Menge mehr hochgestochene Namen; und, um noch eins draufzusetzen, ich bin nicht mal Amerikaner. Vielleicht also, nur vielleicht, fragt ihr euch, was ich hier überhaupt mache. Einige von euch haben heute so hart gekämpft, daß ihr wahrscheinlich vergessen habt, daß heute der Tag des Herrn ist; und da ich zufällig in Begleitung von Mr. Donovan, dem Zeitungsreporter, durch dieses gequälte und schöne Land reise, hat man mir vorgeschlagen, eine Art Predigt zu halten, damit ihr eingedenk bleibt des heiligen Zwecks, zu dem man euch gerufen hat, eingedenk bleibt des großen Plans unseres Gottes, wegen dem dieser blutige und brudermörderische Krieg geführt wird. Diese Frau hier ist Phoebe, die einst eine Sklavin war; sie ist jetzt keine Sklavin mehr, sie ist jetzt eine befreite Nachtigall, die ihre Freude über die Freiheit hell hinaussingt über die dunkle Nacht der Sklaverei ihrer Landsleute. Glaubt ihr, Männer, daß das wahre Gesicht der Freiheit eine Frau auf der Rückseite einer Münze oder einer Banknote ist, mit Wolken bekleidet, eine flammende Fackel schwingend?
Stellt ihr euch vor, daß die Freiheit ein turmhoher Koloß ist, mit einer Robe, Krone und ständig lächelnd? Ich tue das manchmal. Und obwohl ich eine solche Statue noch nie gesehen habe, stelle ich mir vor, daß sie uns Anlaß sein könnte, über die Natur der Freiheit nachzudenken, und daß sie die Emotionen bis zum Äußersten treiben würde. Aber wir dürfen dieses Bild nicht mit der Wahrheit verwechseln. Die Freiheit hat ein menschliches Gesicht. In die Statue muß Blut fließen, wie in die Gravierung auf der Münze, wie in die Worte eines Abkommens, damit die Freiheit zum Leben erweckt wird. Die Freiheit, was ist sie denn? Ich habe die engelsgleiche schwarze Muse gesehen, meine Freunde, und sie wohnt in diesem schwarzen Diamanten, diesem Juwel Afrikas. Ihr seid es, die Phoebes Ketten gesprengt habt; ihr seid es, die die Melodie auf ihren Lippen befreit habt. Heute nacht will ich davon sprechen, was Freiheit für mich bedeutet, und, wie ich hoffe, für euch auch. Obwohl ich ein ordinierter Geistlicher bin, habe ich keine Kirche, keine Gemeinde, und keinen Klingelbeutel. Heute nacht seid ihr meine Gemeinde. Ihr habt viele Konfessionen, und manche von euch sind nicht einmal Christen, da dies ein Land ist, daß von keinem Menschen verlangt, er müsse einem bestimmten Glauben angehören. Ich werde euch darum nicht aus der Heiligen Schrift predigen, sondern aus meinem Leben. Und ich werde nicht hier oben stehen und euch überragen wie der Allmächtige in Menschengestalt, sondern ich werde mich unter euch begeben, ich werde mit euch sprechen wie ein Mann mit dem anderen, und ich werde euch in die Augen schauen; und von Zeit zu Zeit wird dieses Mädchen, diese jungfräuliche Blume Äthiopiens, euch mit den Melodien vieler Länder die Zeit verkürzen.« Damit stieg er von seinem Behelfspodest runter und ging umher, mal legte er einem Soldaten den Arm um die Schulter,
mal schüttelte er einem die Hände. Wissen Sie, ich glaube, daß unser Captain Rawlins nicht allzu glücklich darüber war, weil, er war ein Traditionsmann, der geglaubt hat, daß Gott oben im Himmel ist und die Menschen unten auf der Erde, und Geistliche haben irgendwo in der Luft dazwischen zu sein. Dieser Mann, der Reverend Aloysius Grainger, hielt sich nicht für etwas Höheres als das gewöhnliche Volk, obwohl er sich einer gepflegten englischen Sprache bediente. Ich habe nicht alles gehört, was er gesagt hat, weil, manchmal sprach er leise mit einem einzelnen Mann, aber nach einer Weile stand er dicht bei mir. Ich saß am weitesten hinten, weil ich gerade den Berg runtergeschliddert war, wo ich doch eigentlich fliehen wollte, und es schien, als rede er direkt zu mir. Und so kam es, daß ich die Geschichte des alten Aloysius hörte, vom Spieler, vom Sklavenmädchen und von der Frau, die im Inneren gestorben war.
7 WORIN REVEREND GRAINGER EIN LEBEN FÜR EIN LEBEN WETTET
1 Die Sklaverei, sagte Reverend Aloysius Grainger und blickte mir dabei fest in die Augen, ist ein furchtbares und vertiertes Laster, und es ist nichts weniger als ein Verbrechen gegen Gott, Menschheit und Natur, daß es innerhalb der Grenzen der großartigen und glorreichen vierunddreißig Staaten die Institution der Sklaverei gibt. Ja, junger Mann, ich weiß, daß es heißt »in meines Vater Hause sind viele Wohnungen« und daß der Weiße daher stets vom Schwarzen getrennt bleiben muß, da sich die Schwarzen in ihren Fähigkeiten, ihrem Intellekt und ihrer Klugheit von uns unterscheiden. Ihr habt bestimmt auch von der Geschichte von Noah und seinen Söhnen gehört und wie der Neger Harn und mit ihm sein ganzer Stamm auf ewig zur Knechtschaft unter Sem und Japheth verdammt wurde, denn er hatte die Blöße seines Vaters gesehen, was eine Sünde war. Diese Bibelverse werden am häufigsten benutzt, um die Versklavung der Neger zu rechtfertigen. Du kennst diese Verse. Wisse aber, daß die Bibel sowohl zur Rechtfertigung als auch zur Ablehnung der Sklaverei benutzt werden kann. Freilich, Moses führte sein Volk aus der Knechtschaft, aber die Knechtschaft selbst hat er nicht verurteilt, und sein ausgewähltes Volk besaß Sklaven und hat das nicht als Sünde
erachtet. Und der Hl. Paulus sagt, daß die Sklaven ihrem Herrn gehorchen sollen. Jedoch, hat nicht unser Herr Jesu Christus die Menschen oft und oft wegen ihrer Grausamkeit anderen gegenüber gescholten? Laßt mich darum die Bibel ganz weglassen, und laßt mich statt dessen eine Geschichte erzählen. Es gibt viel Heuchelei in der Welt. Ich wurde in England geboren, wo die Sklaverei laut verdammt wird, wo aber Kinder in Fabriken schuften und junge Knaben zu Meistern in die Lehre gegeben werden, die sie auf jede bestialische Weise mißhandeln, die sie peitschen, die sie verhungern lassen, und sogar geldliche Entschädigung von den Eltern verlangen, wenn so ein Kind durch ihre Mißhandlung einmal stirbt. Es war der Ruf der Freiheit, der mich in dieses Land gelockt hat. Obwohl ich wußte, daß die Neger in Amerika in der Sklaverei gehalten wurden, habe ich mir nichts dabei gedacht. Ich war mir damals nur halb bewußt, daß ein Neger ein menschliches Wesen ist, denn wenn man nie einen Neger zu Gesicht bekommen hat, stellt man sie sich als Wesen vor, die wenig mehr Empfindungsfähigkeit besitzen als Paviane oder Berberaffen. Mit neuer Hoffnung und neuer Frau (meine erste Frau war an der Schwindsucht gestorben) bestieg ich das Schiff nach Amerika und kaufte mir kurz darauf ein Haus in Neuengland. Dank der kleinen Erbschaft meiner Frau war ich in der Lage, mich Angelegenheiten zu widmen, die meiner geistlichen Berufung entsprachen. Ich stellte eine Suppenküche für Bedürftige auf die Beine, ich bewahrte junge irische Mädchen davor, an Bordelle verkauft zu werden; für einen Jungen, der aus Hunger gestohlen hatte und deswegen zum Tode durch den Strang verurteilt worden war, sammelte ich Geld, damit er einen Rechtsanwalt bekam, der es dann auch erreichte, das Urteil in eine Arbeitsstrafe umzuwandeln.
In Neuengland habe ich zum ersten Mal erfahren, daß es hier, in diesem Bollwerk der Freiheit, ein ganzes Volk von Untermenschen gab, das allein aufgrund seiner Rasse zu Knechtschaft verurteilt war. Diese Erkenntnis stürzte mich in tiefe Verzweiflung, bis ich auf Gleichgesinnte traf und die Veröffentlichungen der Abolitionisten las. Ich erfuhr von den aufrührerischen Anstrengungen der Lichtgestalten Neuenglands, die Neger aus ihrem Sklavendasein zu befreien. Ich erfuhr von Flüchtigen, die von Hundemeuten gejagt wurden, ich erfuhr von den Eigentumsrückgabegesetzen, durch die selbst die Flucht in den Norden keine Garantie lebenslanger Freiheit mehr war; ich erfuhr von Kopfgeldjägern und von Gesetzen, die den Besitzern jede Laune gestatteten und den Leibeigenen keinerlei rechtliche Zuflucht einräumten. Ich beschloß, selber die Sklavenstaaten zu besuchen und unternahm häufige Reisen in den Süden. Auf solch einer Reise bin ich dem Mädchen begegnet, dessen Stimme euch alle heute abend verzaubert hat. In Arlington, Virginia, gibt es keine riesigen Plantagen wie im tiefen Süden, und als ich mich vor zehn Jahren auf den Weg dorthin machte, wurde ich freundlich aufgenommen von mehreren Gentlemen der vornehmen Gesellschaft, die über Milton und Moses plauderten, die Plato und Plinius gelesen hatten und begierig auf Gespräche über Europa und London waren. Einer war ganz besonders nett zu mir, ein Tabakfarmer, sein Name war Ebenezer Judd. Seine Farm lag weit im Süden der Hauptstadt, nahe einem Dorf namens Poquoson, aber er besaß ein Stadthaus in Arlington, auf der anderen Flußseite von Washington, wo er üppige und häufige Einladungen gab. Sein einziges echtes Laster war das Glücksspiel – so schien es mir damals jedenfalls. Ich verdrängte, daß er ein Sklavenhalter war, aber in Arlington war das nicht annähernd so deutlich
erkennbar, da die Diener dort Iren mit Vertragspapieren waren. Auch eine Art der Sklaven, aber ich wußte damals noch nicht, wie schrecklich das Leben eines Vertragsdieners sein konnte, daß sie, den Negern nicht unähnlich, gekauft und verkauft wurden und ebenso häufig mißhandelt wurden wie die Schwarzen. Wir hatten in der Vergangenheit miteinander korrespondiert, und er hatte für meinen Fond für die Erziehung der Waisenmädchen von Connecticut gespendet. Auf meiner ersten Reise nach Washington, und noch bei vielen folgenden Anlässen, war ich daher sein Gast, und ich hatte oft Gelegenheit – wenngleich ich nicht daran teilnahm –, die Marathonsitzungen im Pokerspiel zu beobachten, die den unvermeidlichen Höhepunkt einer jeden Abendgesellschaft in seinem Arlingtoner Stadthaus bildeten. Mr. Judd war ein belesener Mann, und seine Sammlung von Biographien hätte jeden mit Neid erfüllen können – Lebensgeschichten waren seine Leidenschaft. Es war bei meinem vierten Besuch bei Mr. Judd, daß ich die Sklavin Eleuthera gesehen habe. Wir saßen beim Dinner – die Gesellschaft bestand ausschließlich aus Männern, da Mrs. Judd nach Poquoson zurückgekehrt war –, und da es ein schöner Sommerabend war und draußen noch immer sehr hell, hatte man im Garten ein Büfett aufgestellt und schmiedeeiserne Stühle, wie sie in den Cafes von Paris stehen. Es war ein Garten im Rokokostil, mit mehreren Springbrunnen, Rankgittern mit Bougainvillea und Miniaturnachbildungen klassischer Statuen aus den großen Gärten Europas, die Mr. Judd aus Bildbänden kannte, denn er war nie aus Virginia herausgekommen, wenn man von den Fahrten über den Fluß in die Hauptstadt absieht. An einem Tisch hatte bereits das Pokerspiel begonnen, aber ich las noch neben einem mit Cherubim verzierten
Springbrunnen im Leben des Hl. Franziskus, geschrieben von dem weltberühmten Kirchenhistoriker Joseph Kardinal Reed. Seine Eminenz hatte sich nicht gescheut, in diesem Werk die von den Franziskanern bis zu ihrer Anerkennung durch den Päpstlichen Stuhl offen praktizierte Promiskuität zu erörtern. Tatsächlich läßt er sich reichlich weitschweifig über das liederliche Fehlen des Zölibats aus, womit die ersten Franziskaner das Gebot der Nächstenliebe bis in sein Extrem ausdeuteten. Kardinal Reed nennt diesen sündhaften Exzeß »freie Liebe«, und für einige Szenen, in denen Seine Eminenz im Interesse der Wahrhaftigkeit eingehend den geschlechtlichen Verkehr zwischen dem Hl. Franziskus und der HL Agnes darstellt, erlangte das Buch eine gewisse traurige Berühmtheit; das Buch wagt sich so nahe an die Pornographie heran, wie ein religiöser Text das nur kann. Ich war in das Buch vertieft, und schenkte dem Pokerspiel keine Beachtung. Aber nach einer Weile unterbrach mich Mr. Judd. »Sieh an, Reverend«, sagte er, »da lesen Sie dieses skandalöse Leben, über das alle reden, das aber weder für Geld noch für gute Worte erhältlich ist.« Ich antwortete: »Die Buchläden in New Haven sind die besten in diesem Lande.« »Dieses Land, Sir, ist Virginia; ihr Engländer werdet wohl die feineren Unterschiede des amerikanischen Regierungswesens niemals begreifen. Ist das Buch wirklich so obszön, wie man behauptet?« »Ich fürchte, ja«, sagte ich und blätterte eine Seite um. »Nun, Aloysius«, sagte Mr. Judd. »Ich habe Lust, es aus Ihren Händen loszukaufen.« »Aber ich habe es noch nicht zu Ende gelesen.« »Zehn Dollar«, schlug er vor und ließ ein goldenes Fünfdollarstück aufblitzen.
Es überraschte mich nicht, daß er für so ein seltenes Buch soviel zahlen wollte; es wäre mir eine Freude gewesen, ihm den Band bei meiner Abreise als Entgelt für seine freigebige Gastfreundschaft zum Geschenk zu machen. Gerade wollte ich ihm dieses Angebot machen, als ich ein tiefes, nicht menschliches Stöhnen von jenseits des Springbrunnens hörte. Da erst sah ich, daß sich hinter einer riesigen Nachbildung der berühmten geflügelten Nike von Samothrake, an Händen und Füßen angekettet, eine Art menschliches Wesen befand. Ich hatte es zuvor nicht gesehen, weil der Garten kunstvoll angelegt war, mit überhängenden Reben und labyrinthartigen Hecken, und weil ihm niemand aus dieser doch recht zahlreichen Rasengesellschaft irgendeine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ich legte das Buch einen Moment beiseite und machte einen langen Hals, um besser sehen zu können. Es handelte sich tatsächlich um einen Menschen. Eine bis zum Skelett abgemagerte nackte Negerin. Ihre Gesichtsfarbe war so dunkel, daß sie fast ein Teil der Erde zu sein schien. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte ich. »Ich frage mich…« »Oh«, sagte mein Gastgeber freundlich, »das ist Eleuthera. Ich habe sie letzten Monat gekauft, da sie zu einer Lieferung prächtiger junger Männer gehörte; heute tut es mir freilich leid. Eine äußerst widerspenstige Kreatur, Reverend. Jetzt verweigert sie auch noch das Essen. Wenn ich sie in Poquoson lassen würde, wäre sie schon längst über den Jordan, und ich hätte einhundert Dollar mehr, um sie beim Poker zu verwetten.« »Darf ich sie sehen?« fragte ich und bemühte mich, meinen Ekel zu verbergen. »Selbstverständlich, Reverend. Wirklich, vielleicht können Sie sie ja dazu überreden, etwas zu essen.«
Ich ging zum Büfettisch hinüber, wo mir ein Butler eine Scheibe Smithfield Schinken, einen Löffel voll Okra, einen Löffel voll Erbsen und etwas Hühnersoße auf einen Teller tat und nahm ihn mit hinüber zur Nikestatue, Ebenezer Judd mir auf den Fersen, ohne Frage neugierig, was ein englischer Gottesmann einer äthiopischen Heidin zu sagen haben würde. Hinter der Nike, nur Zentimeter vom Luxus der Rasengesellschaft entfernt, traf ich auf eine Szene mittelalterlichen Elends. Die unpassend benannte Eleuthera – kommt das Wort nicht aus dem Griechischen und bedeutet Freiheit? – war in kauernder Stellung angekettet, wie ein Kind im Mutterleib. Ich hätte nicht sagen können, wie alt sie war, aber ich sah, daß sie vor der Zeit verwelkt war, die trockenen Zitzen hängend, mit seltsamen Opfernarben auf Wangen, Armen, Unterleib und Oberschenkel. Sie blutete aus Fleischwunden auf ihrem Rücken, und eine Reitgerte lag in der Nähe; ich fragte mich, wer wohl ihr Peiniger gewesen sein mochte. »Nun, Eleuthera«, sagte Ebenezer, »hier ist ein Reverend, der den weiten Weg von England gemacht hat, um dich zu sehen. Er heißt Meister Aloysius.« »Iß, Frau«, sagte ich. Ich bückte mich, um ihr den Teller hinzustellen. Aus durch und durch wilden Augen starrte sie mich an und knurrte. Ich hatte bis jetzt nur ein einziges Mal ein solches Knurren gehört… beim Leopardenkäfig in den Zoologischen Gärten in London. Es bereitete mir eine Gänsehaut. »Sie hat den Verstand verloren«, sagte Ebenezer. »Glaubt, sie ist ein Leopard.« »Trotzdem sollte sie etwas essen.« Ich schnitt ein Stückchen Schinken ab und versuchte, es ihr anzubieten.
»Sie werden es ihr wohl den Hals runterwürgen müssen«, sagte mein Gastgeber. Er kniete sich hin und machte ihr den Mund auf, so wie man das bei einem Hund machen würde. »So, Eleuthera. Ein Bissen Fleisch für die große Dschungelkatze. Fleisch, Fleisch. Nur zu, Reverend, schieben sie es einfach hinein.« »Aber das geht doch nicht. Sie ist doch kein Tier.« »Bis sie es lernt, sich wie ein Mensch zu benehmen«, sagte Ebenezer, »kann ich es mir nicht leisten, sie anders zu behandeln. Wenn ich sie aber etwas mästen könnte, damit ich sie im Süden verkaufen kann, für wenig Geld…« »In Ordnung, ich versuche, sie zum Essen zu bringen.« »Diese Wölfin und ihre Tochter… wirklich, an denen ist nichts Normales dran. Sie scheinen nicht zu begreifen, daß sie Sklaven sind. Und sie sprechen nicht einmal wie die anderen Schwarzen. Sie scheinen ihre eigene Sprache zu haben, irgendein Pidgin, das sie vielleicht in Afrika sprechen. Ich kann Ihnen sagen, ich wäre froh, wenn ich sie los wäre!« Einerseits war es würdelos, sie auf diese Weise zu füttern. Andererseits mußte sie eindeutig etwas essen, sonst würde sie sterben. Mit einer leichten Grimasse zwang ich ihr einen kleinen Happen zwischen die Lippen. In diesem Augenblick fühlte ich kleine Hände an meinem Ärmel zupfen. Ich merkte, wie mir der Teller aus den Händen geschlagen wurde, sah ihn gegen die Gipsstatue fliegen, wo er zersplitterte, sah, wie das Essen ins Gras verstreut wurde. Ich drehte mich um und sah ein bezopftes Negermädchen, ungefähr neun Jahre alt, das mit seinen kleinen Fäusten auf mich einschlug, mit all der Kraft, die sein schmächtiger Körper aufbringen konnte. Überrascht stolperte ich und fiel auf den Rasen. Als ich mir den Kopf rieb und aufblickte, sah ich Ebenezer Judd mit der Reitgerte auf den Rücken des Mädchens einschlagen und hörte
es kreischen: »Nein, Massa, nein Massa, Phoebe gutes Mädchen, nein Massa, nicht mich jetzt schlagen.« Und Ebenezer brüllte, völlig außer sich: »Wie kannst du es wagen, einen meiner Gäste anzugreifen! Einen Gottesmann! Wie kannst du es wagen, meinen Pokerabend derart mit deiner Verrücktheit zu ruinieren! Dieser Porzellanteller hat fünfzig Cent gekostet!« Es war entsetzlich mit anzuschauen, aber was als nächstes passierte, war noch schlimmer. Ebenezers Gäste, feine Herren in dandyhafter Gesellschaftskleidung, waren durch den Krawall aufmerksam geworden und kamen herbei, einige riefen ihm ermunternd zu: »Gib’s ihr gut, Ebenezer!«, »Verdammte Unverschämtheit!«, »Gib ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand!«, »Sie behandeln Ihre Nigger einfach zu gut, jetzt sehen Sie, wo das hinführt!« Ich hätte schwören können, einer der jungen Männer keuchte vor Erregung, wie sie normalerweise von den Gunstbeweisen des anderen Geschlechts herrührt, und begann zu stöhnen: »Oh, Ebenezer, schlag’ sie zu Tode, ich bitt’ dich! Ich zahle dir zehn Dollar für das Vergnügen!« Dieser Ausbruch verstörte sogar meinen Gastgeber etwas. Er hörte auf, das kleine Mädchen zu schlagen, ruckte mit den Schultern, warf die Reitgerte hin, und kehrte zu seinen Gästen zurück; und, nachdem das Spektakel vorüber war, nahmen seine Freunde die Unterhaltung wieder auf und widmeten sich wieder ihrem Pokerspiel. Nur ich blieb zurück und sah Phoebe zu, die auf Händen und Knien die Essensreste vom Rasen aufaß wie ein wildes Tier. »Was in aller Welt geht hier eigentlich vor? Warum verweigert diese Frau die Nahrung, und warum läßt du nicht zu, daß ich sie füttere?« In diesem Augenblick schaute mich die alte Frau an und sprach mit einer Stimme wie trockene Blätter im Herbstwind.
Es stimmt, den Akzent, mit dem sie sprach, hatte auch ich noch bei keinem Neger zuvor gehört. Aber sie sprach mit einem Ernst, sogar mit einer Poesie, die so gar nicht mit den grammatischen Schnitzern ihres Jargons in Einklang stand. Obwohl ihre Geschichte über alle Begriffe phantastisch war und ohne Zweifel den Fieberphantasien eines rasenden, dem Tode nahen Tieres entsprungen, war sie von geradezu visionärem Rang, fast wie die Delirien des Hl. Johannes, des Autors der Apokalypse, oder die sinnliche Hysterie der Hl. Theresa, die sich bis zu einer Ekstase peitschte, die fast einer sexuellen Vereinigung mit dem Allmächtigen gleichkam. Ich konnte mich meiner Rührung nicht erwehren, denn wenn die Sterbenden sprechen, so weissagen sie.
2 Du ein gut Mann, Marse Alwishus. Nicht einmischen mit Dinge, du nicht verstehen. Du lassen Leuthera sterben friedlich. Der Grab, sie rufen nach Leuthera schon lang Zeit jetzt. Leuthera müde. Leuthera wollen nur heim. Du kennen Heim, du auch weit von Heim weg… Heim über Meer. Das Meer sei Tod. Sie sagen, keine mehr Sklaven von Afrika kommen, alle Sklaven hier geboren, aber Leuthera von Afrika. Von Teil von Afrika, Weiße nennt Dunkelste Afrika. Afrika von Nacht, von Angst, von uralt Leidenschaft. Afrika sie haben meiste Angst. In Afrika Leuthera Zauberfrau. Viel Macht. Einige sagen, ich Hexe, einige sagen, ich weise alt Frau. Wie alt, wie alt? Du lächeln, weil du denken, Frau albern, über nix träumen. Du denken, ich alt vor Zeit. Du denken, ich erschöpfen, weil kein Essen, zuviel Schlagen, zuviel traurig, aber innen von ausgetrocknet Körper junge Frau. Nein. Ich älter wie du, ich
älter wie ganze Land Amerika. Leuthera älter, wie können vorstellen. Wie alt, wie alt? Leuthera sagen. Leuthera alt, wenn Moses kommen aus Ägyptenland. Leuthera alt, wenn Adam und Eva sie laufen auf Erde. Denken an Zeit vor Zeit. Leuthera schon da. Leuthera an rechte Hand Mawu-Lissa, Mann-Frau Mutter-Vater, sie machen Himmel und Erde. In die Zeit, ganze Welt nur schwarzen Völker, und die wohnen auf Afrika, und die Welt ganz jung und warm wie die Brust von nährenden Mutter. Dann Leuthera glücklich. Segen strömen von ihr. Die Welt ein glücklich Ort, ein Paradies. Aber Paradies muß enden. Leuthera verlassen dies Ort und zurückgehen an der Brust von Mawu-Lissa. Zweite Mal Leuthera kommen zu der Welt, sie sitzt auf Doppelthron von zwei Königreich. Sie sitzten mit Kobra um Kopf gewickelt. Sie entscheiden Tod und Leben. Sie halten in Hand heilige Feder ma’at, und Menschenherz wiegen wie schwer Gut und Böse. Sie sie nennen Löwin, Mutter, Königin. Dies Königreich nicht viel Paradies. Große Städte dort, und mächtige Kunstwerke und Reich, viel Reich. Aber Sklaventum dort, und Elend. Leuthera sitzen zwischen Pyramide und Sphinx, und Leuthera strahlen mit Gesicht von Sonne und Mond. Aber Zeit, sie vergehen und Leuthera wieder zurückgehen zu Schattenland. Ich bleiben in Totenland für immer, sie sagen. Ich nicht zurückwollen in Land der Elend. Brust von Mawu-Lissa, sie mich heilen, sie mir geben Frieden. Dann kommt eine dritte Zeit. Ein Juju-Mann, Zauberer, rufen aus Land von egungun. In Afrika wieder. Meine Leute rufen nach mir. Sandleute fegen runter von Norden, und von noch weiter Norden, Volk mit Gesicht wie Schnee. Kommen nehmen weg ihr Freiheit. Kommen nehmen weg ihr Stolz. Kommen nehmen weg ihr Seelen, ihr Herzen, ihr Kinder.
Zauberer, er mich rufen von dem Grab, er König von groß Stadt, von Volk von Yoruba und Fon. Leuthera geboren in Leopardenfamilie. Am Tag wir Menschen, in Nacht wir durchstreifen Wald. Leuthera aufwachsen als Prinzessin und Leopardenjunges. Schön und stark. Sie tragen die heiligen Zeichen von Katzen geritzt in ihr Körper. Juju-Mann sagen: »O, Inkarnation der glorreichen Vergangenheit, gehe in die Neue Welt, finde Quelle von dem bösen Ding, das dies Volk versklavt, gehe fort und heile sie, so daß nicht mehr siech sei die Seele.« Leuthera sagen: »Wie ich hingehen dort, ich, Frau, alleine, schwach? Sie viele Millionen, und Gottheit schwach in mir jetzt.« Zauberer sagen: »Trink Gottheit und erneuere deine Macht.« In Vollmond, Zauberer mich führen in Wald. Leuthera fallen auf Hände und Knie, schnuppern Boden, riechen Blut von lebend Tiere. Juju-Mann rufen Mawu-Lissa aus Erde und Himmel. Donner und Blitz kommen, und der Fluß weinen, und Blut strömt aus den Baum. Und Zauberer rufen mit mächtig Stimme: »Erfülle diese Frau mit der ewigen Wahrheit.« Und wir wie zwei Leoparden jetzt, springen und knurren und rennen in Dunkelheit, riechen Seele von Lebende und Tote. Und ich trinken Macht von Mond und von Stern, Katzenmacht, genau wie in Ägypten, wenn Leuthera Sekhmet, Löwin, Mutter. Und ich sagen: »Leuthera fertig gehen zu weiße Leute Welt.« Diese Nacht kommen Plünderer von Norden. Sie töten Leuthera Familie, töten Vieh, töten Kinder. Nehmen Leuthera an das Meer. An Meer ist große schwimmend Insel gemacht mit tote Bäume und von dies schwimmend Insel kommen Laut von Männer und Frauen sterben drinnen. Ich gehen nach Amerika zu Zeit sie nennen Keresimasi. Keresimasi ein große Feier von groß König kommen zu Welt,
König, der auferwecken Tote, König von groß Weisheit, wir nennen Shangó, und du nennen Jesus, beide König, die hängen von Stamm, um Weisheit den Männer machen. Ein Prediger-Mann nennen Leuthera für griechisch Wort, sie bedeuten »Freiheit«. Für ihn groß Witz. Ich arbeiten. Mammy für weiß Baby, Koch, Pflanz-Frau, Pflück-Frau, ich alles machen. Kein Massa mich behalten lange. Ich niemals lernen kein Niggersprache, kein jawo’ Massa, nein Massa. Niemals neigen Kopf. Sie verkaufen Leuthera. Leuthera sehen Land werden grün, Leuthera sehen wachsen viel Stadt. Aber Leuthera niemals sehen schwarz Kind werden fett, niemals sehen schwarz Mann werden reich. So Leuthera beten an Mawu-Lissa: »Große Gott, große Göttin, nehmen zurück mich zu kalte Erde.« In Licht von Mond hören Leuthera sprechen Gott. Nicht groß Mawu-Lissa, aber Legba, er Bote von hoch oben, er der gehörnte Gott, der sprechen für ander Götter, er Wächter von Stadttore. Legba zu mir sprechen in Nachtwind der heulen. Er sagen: »Verzage nicht, oh Tochter. Ein große Arbeit noch mußt du tun. Die weißen Leute ehren ein Vatergott, aber keinen Muttergott. Sie kennen nicht Gott-der-Mann-und-Frauzusammen-ist. Deshalb sie jubeln bei Tag und haben Angst bei Nacht. Ein Zauber noch müssen vollbringen. Ein Frauenzauber. Ein Frauengeheimnis. Gebäre ein MädchenKind, die singen die Nacht zu Tag. Gebäre ein Mädchen-Kind, die schmelzen das Herz von bös Mann. Gebäre ein MädchenKind mit einer Stimme so mächtig, sie können rufen weiß Mann mit egungun aus ihren Schattenland. Gebäre ein Mädchen-Kind, die verkünden die Herrlichkeit der Gott-derMann-und-Frau-zusammen-ist, die singen Name von Gott in Ort wo niemals hören kein Gott Name. Dann Leuthera können gehen heim. Nur dann.«
Ich sagen: »Aber Leuthera können nicht haben Kind. Leuthera immer halten rein, niemals berühren kein Mann.« Legba sagen: »Dich legen nackt in dunkel Wald hin, und Legba schicken ein Mann.« Dann ich sagen: »Wenn ich gebären Mädchen-Kind, dann schwarz Mann freikommen?« Legba lachen. »Universum nicht so einfach«, er sagen. »Aber du erziehen dies Mädchen-Kind. Wenn sie bereit, sie geben in Hände von weiß Mann-Fremder. Sie geben an erst weiß Mann, zuhören dein Geschichte und nicht machen lustig. Dann, dann, dann, und nur dann, Mawu-Lissa dich nehmen heim.« Und plötzlich Himmel und Erde ganz voll von sein Lachen, und machen mein Herz aufsteigen und singen. Mich erinnern an alte Zeiten, wenn wir alle leben in Wald und alle glücklich. Nach lang Zeit, Legba mich lassen allein in Wald, und ich sein mit Kind, und ich zurückgehen in Plantage. Manche sagen, Massa mir machen Kind. Manche sagen Aufseher. Manche sagen die Fänger, die fangen mich in Wald mit kein Paß. Niemand wissen, daß ein Engel, ein Bote von Mann-Frau, sie genannt Gott. Und wie Engel berühren Leuthera! Wie sie zittern wenn Wind von Legba herunter auf ihr geheimer Ort und sie pflügen und pflanzen sein Same! Oh, Leuthera diese Erinnerung behalten wenn gehen in nächste Leben. Leuthera die Erde wo blasen der Sturm, Leuthera das Meer wo sinken das Feuer. So Leuthera wissen, daß Leuthera-Kind sein MädchenKind von Vision. Nicht Kind von ein Massa tun an Gewalt, nicht Negerkind von irgendein Nigger er mich wollen besteigen, aber Kind von Gott. Ich hören das Lachen, aber ich kennen Wahrheit. Aber Massa, er hören das Lachen, und er nicht wissen Wahrheit, und mich zusammenschmeißen mit jung Bursche und mich verkaufen auf Auktion. Und so Leuthera kommen zu Marse Neezah Haus.
Leuthera Tochter wachsen in ihr, und sie geboren an Freitag, so Leuthera sie nennen Fibi. Und Leuthera ihr zeigen alten Weisen damit sie sein Frau mit groß Macht. Und Leuthera ihr zeigen wie singen egungun aus kalt Erde. Und Leuthera ihr geben alle Gaben kommen von Mawu-Lissa. Und nun Zeit für Leuthera heimgehen. Dunkelheit – sie rufen mich. Die Brust Mawu-Lissa rufen mich. Dies eine Zeit von Schmerz. Dies eine Zeit von Leid. Dies eine Zeit von viel weinen. Kein Essen können mich machen leben. Keine Peitsche können mich fühlen Schmerz. Der Ruf Mawu-Lissa wie groß Wind, er schütteln Leuthera Seele. Jetzt Zeit für Fibi heraussingen. Jetzt Zeit für Fibi erzählen Freiheitslied und alle sie hören, schwarz Volk und weiß. Du, Marse Alwishus, du erste weiß Mann hören diese Geschichte von Anfang zu Ende. Du nehmen mein Tochter jetzt und lassen mich sterben, weil Leuthera zurückgehen in dunkel Land.
3 Die Erzählung der Sklavenfrau war das Erstaunlichste, das ich in meinem ganzen Leben gehört hatte. Ich wußte, daß, wie alle Kinder Gottes, auch die Neger Verstand und freien Willen haben, denn so lehrt es die Kirche. Aber ich hatte angenommen, daß dieser Verstand irgendwie umwölkt sei, begraben unter der Bürde der Sklaverei und dem Schwarzsein selbst. Sicher, Eleutheras Geschichte war bizarr und wunderlich und in einem mir nicht vertrauten Jargon vorgetragen, aber sie besaß die zusammenhaltende Kraft einer literarischen Schöpfung oder eines uralten Mythos. Natürlich wußte ich, daß die Afrikaner Götter und Göttinnen hatten; jedoch nahm ich an, daß es sich dabei um den primitiven,
vorzeitlichen Abklatsch des Göttlichen handelte, Götzenbilder aus Holz und Stein. Warum hatte ich das angenommen? Von den Griechen und Römern nimmt man dies nicht an. Die Verkündigungen Legbas waren jedem verständlich, der das Lukasevangelium oder auch die Rias gelesen hat. Wahnsinnig war sie zweifellos – denn ich glaubte keinen Augenblick, daß dieses Geschöpf so alt wie die Schöpfung selbst war, obwohl sie ein wenig über die Antike zu wissen schien. Vielleicht war einer ihrer ehemaligen Meister ein Ägyptologe aus Liebhaberei, oder vielleicht hatte sie einen Gelehrten über dieses Thema sprechen hören, während sie bei Tisch bediente. Jedoch hatte sie die Fäden von Mythos und Geschichte zu einer glaubwürdigen Tapisserie verwoben. Wie irregeführt sie auch sein mochte, so brannte in ihr in gewissem Maße doch das Feuer eines Shakespeare und Milton, und sie hatte mich vollkommen durchschaut, da sie in mir die Leidenschaft hatte erwecken können, sie und ihre Tochter zu befreien und nach Connecticut mitzunehmen, weil es angesichts solch einer schlichten Beredsamkeit sicherlich niemand wagen würde, das Bekenntnis zum Abolitionismus zu verweigern. Ich verließ die immer noch angekettete Frau, entschlossen, ihre Freiheit und die ihrer merkwürdigen kleinen Tochter zu gewinnen. Das Pokerspiel war noch im Gange, und obwohl ich kein Spieler bin, wollte ich es riskieren, eine Weile mitzumachen. Als der Abend fortrückte, entzündeten die Diener Fackeln, damit wir nach Sonnenuntergang weiterspielen konnten. »Sie spielen nicht, Reverend«, sagte Ebenezer, »und dennoch will mir scheinen, Sie beobachten jetzt schon seit beinahe zwei Stunden sehr aufmerksam das Spiel.« »Ich sehe keinen rechten Sinn im Glücksspiel, und in jedem Fall bin ich nicht sehr gut darin«, entgegnete ich. »Außerdem
bin ich nicht so wohlhabend wie die meisten von Ihnen; ich kann es mir nicht leisten zu verlieren, sonst bin ich nicht in der Lage, meine Rückfahrt nach Connecticut zu bezahlen.« »Ah, aber etwas haben Sie sehr wohl, das zu verlieren Sie sich leisten könnten, Aloysius«, sagte Ebenezer Judd. Er deutete auf das Buch, welches ich auf der Bank geöffnet hatte liegenlassen, bewacht von einer kleinen Statue des Apolls von Belvedere: »Das Leben des Hl. Franziskus.« Plötzlich war mir klar, was ich zu tun hatte. Ich bezweifelte, daß ich die Freiheit dieser Frau erkaufen konnte – außer ich könnte meine Frau davon überzeugen, noch einen weiteren Teil ihrer oft mißbrauchten Erbschaft herzugeben –, aber Mr. Judd war ein Spieler. »Die Negerin und ihre Tochter«, sagte ich, »gegen diese ehrenrührige Biographie.« Ebenezer sagte: »Nicht die alte Frau. Sie wird sowieso innerhalb von ein, zwei Tagen tot sein. Und das kleine Mädchen ist für mich weniger wert als das Buch, das beste würden Sie also aus dem Handel nicht für sich herausholen. Trotzdem, lassen Sie uns spielen.« Wir spielten. Ich verlor. Zwei aus drei, schlug ich vor. Ich verlor abermals. Bis einer der Gäste – der gleiche, der Ebenezer angespornt hatte, die Gerte härter zu führen, der angeboten hatte, für das Schauspiel zu zahlen, wie das Kind in die Vernichtung geprügelt wurde – Mitleid mit mir hatte. Was für eine Ironie. Während er sich am Büfetttisch von der Ententerrine nahm, sagte mein neuer Freund, der sich als David Arthur Knight vorstellte, zu mir: »Sie sollten den alten Mann ein bißchen mehr im Auge halten. Er hat etwas in der Hinterhand.« »In der Hinterhand?« fragte ich verwirrt. »In der Hinterhand!« Mit dem Fuß deutete er unter den Pokertisch. Ich konnte Ebenezers Knie sehen, die er eng zusammengepreßt hielt. An seinem Hosenaufschlag, mit einem
Riemen am Schuh befestigt, schien er einen Metallstreifen angebracht zu haben. Ebenezer wackelte mit seinem Fuß, und dann rief er, »Drei Asse!« und nahm die Gewinne an sich. Ich stellte fest, daß er an seinem Körper eine Art Apparat befestigt hatte, der irgendwie durch den Druck seines linken Fußes in Gang gesetzt wurde; unter seiner Kleidung war ein ausgeklügeltes System von Metallstangen mit Scharnieren versteckt, das aufs Stichwort zusätzliche Asse aus seinem Ärmel herausspringen ließ, der, wie ich jetzt bemerkte, mit reichlich Rüschen versehen war, was die Tarnung sehr leicht machte. »Himmel noch mal«, sagte ich,» er mogelt ja.« »Sie mogeln alle«, flüsterte Mr. Knight. Ich schaute die Spieler einen nach dem anderen an. Auf allen Gesichtern lag die unbewegte Miene des gewohnheitsmäßigen Pokerspielers. Jedoch, wenn ich mir ihre Kleidung näher betrachtete, gab es da einige Ungereimtheiten. Der eine hielt die Ellenbogen unnatürlich gekrümmt, ein Hinweis darauf, daß er eine metallene Vorrichtung im Ärmel hatte; die Kniescheiben eines anderen waren zu spitz; ein Dritter klopfte ständig mit dem Fuß. Jeder einzelne von ihnen hatte irgendeine Art mechanischer Unterstützung! Ich gebe zu, daß ich in diesem Augenblick das bißchen Respekt, das ich vor dem Beruf des Spielers hatte, verlor. »Ich möchte nochmal spielen«, verkündete ich. »Ich verdopple oder nichts, oder wie es sonst heißt. Ich wette…«, und verzweifelt griff ich tief in meine Hosentasche, »… alles Geld, das mir noch geblieben ist.« Wir spielten. Ich hatte nur zwei Achter. Aber im Augenblick der Wahrheit, wo jeder zeigen muß, gab ich meinen Gastgeber, der mir gegenüber saß, einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein – die anderen hatten bereits aufgegeben –, und er war außerstande, die Asse aus seinem Ärmel zu schütteln. Und
so kam es, daß ich nicht nur in Besitz meines obszönen Buches blieb, sondern dazu noch die Herrschaft über zwei menschliche Seelen gewann. Ebenezer behielt seine gute Laune. »Naja«, sagte er, »Sie haben mich übertroffen, Sir, und wie immer hat der beste Mann gewonnen. Möchten Sie Ihren Besitz jetzt gleich an sich nehmen?« »Wenn ich darf.« Wir wanderten über den Rasen, wo die Sklavenfrau angekettet gewesen war. Aber als wir an die Stelle kamen, waren die Fesseln leer, und von dem Strafplatz stieg ein Gestank auf, der dem einer rolligen Straßenkatze ähnelte, nur intensiver. Es waren nur ein paar Blutschlieren zu sehen, die das Gipskleid der kopflosen Nike beschmutzten. In der Ferne hörte ich ein leises und drohendes Knurren, und ich überlegte einen Augenblick lang, ob Eleutheras Behauptung, eine Werleopardin zu sein, doch mehr gewesen sein könne als die phantasiereiche Einbildung einer alten Frau. »Wir werden sie schon finden«, sagte Ebenezer grimmig. »Was das Balg angeht, so wird sie Ihnen morgen früh zur Verfügung stehen, da sie für nächtliche Übungen noch ein wenig jung ist.«
4 Da es schon Nacht war und in Mr. Judds Stadthaus nur eine begrenzte Anzahl von Gästezimmern zur Verfügung stand, wurde vorgeschlagen, daß ich mir mit Mr. David Knight ein Zimmer teilen solle. Das beunruhigte mich ein wenig – ich war mir nicht sicher, ob ich Mr. Knight überhaupt mochte, immerhin hatte er Ebenezer dazu angestachelt, sich einem ekstatischen Wüten hinzugeben; dennoch konnte ich die
Zusammenlegung mit einem anderen Gast nicht zurückweisen, und außerdem, so überlegte ich, hätte Mr. Knight mir nicht die mechanischen Tricks gezeigt, die es Ebenezer ermöglichten, so geschickt zu gewinnen, hätte ich jetzt nicht die Freiheit des Mädchens gewonnen. Was die alte Frau anging, so war es klar, daß ihr einziger Wunsch war, zu sterben; ich hoffte, sie würde jetzt wissen, daß sie wenigstens als freie Frau starb. Ich wagte nicht daran zu denken, wohin sie geflüchtet sein könnte. Vielleicht hatten die anderen armen Leibeigenen – ich spreche von den vertragsgebundenen Iren – sie aus Mitleid direkt vor den Nasen ihrer Peiniger befreit. Nach dem Pokerspiel gab es die obligatorische Runde Kaffee und Zigarren; ich blieb eine Weile, aber viel Interesse konnte ich bei den Gesprächen über Plantagenerträge, die Zukunft des Tabaks, bei den wilden Spekulationen über den Sklavenhandel nicht vortäuschen; auch als das Gespräch sich dem Thema der Sezession zuwandte, schenkte ich ihm kaum Aufmerksamkeit; wie hätte ich denn auch ahnen sollen, daß binnen kürzester Zeit der Krieg ausbrechen würde? Allmählich wurde es Zeit, sich zurückzuziehen. Mr. Knight war schon im Gästezimmer, und eine Magd kümmerte sich um die Wärmpfanne unter dem Bett. Die Magd ließ uns allein, zog die Vorhänge um das Himmelbett zu, das mit einem protzigen Fries von geschnitzten Adlern, Hirschen und anderen für Amerika typischen Tieren verziert war. Das Gästezimmer war recht angenehm, mit Blick auf den Garten; im Mondlicht konnte ich die Nike, den Apoll und die Springbrunnen sehen, die diese kleine vierstöckige Stadtwohnung zu einer Miniaturvilla von vage europäischer Herkunft machten. David Arthur Knight war schon im Nachthemd und dabei, unter die Bettdecke zu schlüpfen. Er war ein gutaussehender Mann, mit festem Kinn und welligem blonden Haar, so wie ihn
sich jede heiratsfähige Frau wünscht. Außer dem Zug von Grausamkeit, den er unbewußt offenbart hatte, schien er ebenso ein Gentleman zu sein wie in diesen südlichen Gegenden eben üblich. Nachdem ich mich flüchtig gewaschen hatte, zog ich mich aus, kletterte neben ihm ins Bett und löschte die Kerze. Nach einer Weile sagte Mr. Knight: »Was für ein Abend. Ich bin verdammt froh, daß ich Ihnen Ebenezers Mogelapparat gezeigt habe. Die anderen trauen sich nicht; sie sind selber zu sehr mit dem Mogeln beschäftigt.« »Ich weiß es wirklich zu schätzen.« »Aber warum, Reverend, waren Sie so interessiert an diesem Sack Mist – ich meine die alte Mammy da – und ihr eigensinniges Negerkind? Den Spaß, sie auszupeitschen, kann ich ja verstehen, klar, aber warum, in Gottes Namen, wollten Sie ein wertvolles Buch für die Bagage einsetzen?« »Ich… ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich. »Haben Sie gesehen, mit welchem Haß sie mich angeschaut hat?« »Nun, wenn man bedenkt, daß Sie Mr. Judd gesagt haben, er soll sie zu Tode prügeln…« »Ach, das ist nur so eine Redensart. Die Schwarzen geben nicht viel auf solche Worte. Sie wissen, daß sie wertvolles Eigentum sind – nach dem Gesetz sind sie sowohl unbewegliches und bewegliches Eigentum – die wissen, daß man nicht einfach hingeht und sie umbringt.« »Immerhin.« »Das Mädchen ist ein Unruhestifter«, sagte er. »Na, wenn sie anfängt zu bluten, werden Sie wohl Ihr – wie nennt ihr schicken Europäer das? – Ihr droit de twat ausüben.« »Das droit de seigneur! Das ist schon seit gut fünfhundert Jahren überholt. Außerdem bin ich kein Lord, nur ein bescheidener Kleriker.«
»Ich hab’ die Lust in Ihren Augen gesehen, Reverend. Die tun es einem an, sogar die Kleinen. Das ist Tatsache. Sie leben ihr Leben näher dran am Eigentlichen wie wir. Hunger und Lust liegen dichter unter der Oberfläche. Das haben Sie doch bemerkt, oder nicht? Das zieht Sie an.« »Bitte, Mr. Knight…« »Sagen Sie einfach David zu mir, Reverend. Wenn man bedenkt, daß wir wie ein Weihnachtsganspaar in diese Decken zusammengewickelt sind. In Virginia sind wir nicht gar so förmlich wie ihr Engländer.« »David, ich bin ein Gottesmann.« »Und auch die Gottesmänner sündigen von Zeit zu Zeit, wie wir gehört habe«, sagte David. »Warum sonst würden Sie sich nach einem süßen, kleinen ungepflückten…« Der Mann war mir entschieden unangenehm. Er plauderte eine Weile lang weiter über das bezaubernde Negerkind, aber danach schien er sich selbst mit seinen eigenen Phantastereien in den Schlaf geredet zu haben. Dann passierte etwas noch Verwirrenderes. Ich lag da und fand keine Ruhe – David hatte sich im Schlaf umgedreht, und das Gewicht seines Körpers lag schwer auf meiner Hüfte. Ich konnte den Anblick der leeren Hand- und Fußfesseln nicht vergessen, und ich kriegte diesen fauligen, katzenartigen Geruch nicht aus der Nase. Auch ging mir das Wüten des kleinen Mädchens nicht aus dem Sinn, noch die mythische Poesie von Eleutheras Geschichte. Durch meine Gedanken schossen die Bilder aus ihrer Erzählung. Die Löwenkönigin aus dem alten Ägypten… die Leopardenfrau, die durch den Dschungel streift… der gehörnte Bote der Götter, von dessen wildem Gelächter Himmel und Erde erdröhnten. Da hörte ich das Schnurren wieder. Nahe bei mir. Am Fußende des Bettes vielleicht. Und der Geruch, zuerst nur schwach, war mehr als nur eine Erinnerung. Er erfüllte die
ganze Kammer. Ich mußte fast würgen, doch David Knight neben mir schnarchte ungerührt weiter. Dann hörte ich Schritte. Keine menschlichen. Der schleichende Tritt eines wilden Tieres. Hier. Auf den polierten Eichendielen, die unter dem Gewicht der Kreatur stöhnten und ächzten. Ich hörte etwas atmen. Nichts Menschliches. »David… Mr. Knight«, sagte ich leise. Er grunzte leicht; offensichtlich war er in tiefen Schlaf gesunken. Er murmelte einen Namen, den einer geliebten Frau vielleicht oder den eines Mitstreiters. Der Geruch war jetzt stärker. Er war exotisch und bestialisch, und trotzdem gab es in diesem üblen Geruch eine bizarre Spur von Erotik. Ich wagte nicht, die Vorhänge aufzuziehen. Plötzlich hörte ich, wie Stoff zerrissen wurde. Ich drehte mich um, aber genauso plötzlich legten sich zwei winzige Händchen über meine Augen und hielten mich in einem Griff, der so fest war wie der von Männerhänden – und ein schrilles, kindisches Lachen hallte in der Kammer wider. »Mr. Knight…« rief ich. Das Bett begann zu schwanken. Ein Arm fuchtelte über mir. Ich roch den wilden Moschusgeruch jetzt dichter, das ganze Bett erzitterte unter dem katzenartigen Schnurren, dann folgte rhythmisches Schlagen. Ich hörte Mr. Knight schreien. Ich versuchte mich zu befreien, aber die Hände hielten mich fest, und das kindische Gelächter schwoll an, bis es den ganzen Raum erfüllte und die Schreie des jungen Mannes übertönte. Ich konnte jetzt hören, wie Fleisch zerrissen wurde. »Laß mich los!« brüllte ich. »Ich muß jemanden warnen…« Das Kichern ging weiter. Und dann, direkt neben meinen Ohren, ertönte ein grauenerregendes Gebrüll. Ich versuchte, mich zu befreien, konnte mich aber überhaupt nicht mehr
bewegen. Ich sah nichts, und die Hände, die meine Augen zuhielten, strömten eine schweißige Flüssigkeit aus, die mir die Tränen in die Augen trieb. Ich wurde gegen den Bettpfosten geschleudert. Ich stieß mir den Kopf, aber der Schmerzensschrei blieb in meiner Kehle stecken. Auf mir, mich niederdrückend, lag eine angespannte und muskulöse Gestalt, und obwohl ihr Wüten nicht mir galt, bemerkte ich das Zerreißen von Knochen und Sehnen, das Zerfetzen von Fleisch, dessen Blut die Bettlaken und mein Gesicht und meine Arme bespritzte. Ich wäre sicherlich vor Entsetzen darüber ohnmächtig geworden, wenn mich nicht eine neue Empfindung überfallen hätte. Die kleinen Hände bedeckten immer noch meine Augen, aber nun fühlte ich die Bewegungen eines kleinen geschmeidigen Körpers an meinem. Das Kichern hörte auf, und ein engelhafter Gesang ertönte, ein tirilierender stratosphärischer Melodiebogen, ohne Worte. Er ließ meinen ganzen Körper vibrieren, als sei ich die Saite einer Geige und diese himmlische Stimme der Bogen, der darüberstrich. Ich spürte – oh Gott, ich schäme mich der Erinnerung daran – wie mein Fleisch aufstand – spürte das Necken einer kleinen Zunge auf meinem Hals, meiner Brust, meinen Brustwarzen – spürte einen Kleinen Ellenbogen unter mein Nachthemd kriechen – spürte kleine Füße, die mit den intimsten Teilen meines Körpers spielten, bis – trotz des Terrors, in dem ich mich befand – mein Körper von zuckender, sinnlicher Leidenschaft gepackt wurde und schließlich seinen Samen verspritzte – Samen, der sich mit gerinnendem Blut zu klebrigem Schleim vermengte – oh Gott, ich fühlte mich so unsäglich befleckt, gleichzeitig jedoch auf erotische Höhen gehoben, wie ich sie niemals zu träumen gewagt hätte –, und dann, ganz plötzlich, war alles verschwunden, das Schütteln, das Kichern, die Hände über meinen Augen, und…
Aus dem Augenwinkel sah ich eine riesige Katzengestalt, die durch das Fenster sprang und unten im Garten landete, und… ich sah das Mädchen Phoebe nackt an den Bettvorhängen schaukeln, sie herunterreißen, zur Tür springen, verschwinden, und… neben mir – teilweise auf mir drauf – die verstümmelte Leiche von David Arthur Knight. Langsam nahm ich den Anblick in mich auf. Mr. Knights Kopf war vollständig vom Körper abgetrennt und lag zwischen seinen Beinen, er starrte auf seinen Rumpf mit dem Stumpf des Halses, aus dem immer noch frisches Blut quoll. Ein Arm lag halb angekaut auf dem Fußboden. Seine Brust war aufgerissen, und sein Herz, das auf dem zerbrochenen Brustbein lag, war mit seinen abgetrennten intimen Körperteilen verziert. Sein ganzer Körper war mit seinen eigenen dampfenden Eingeweiden zusammengeschnürt. Und dies alles war geschehen, während ich hilflos in den Zuckungen eines geschlechtlichen Höhepunktes lag. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was mir durch den Kopf ging. Ungläubigkeit, zuerst einmal… denn ich wollte unbedingt, daß dies alles nur ein gräßlicher Alptraum sein sollte, aus dem ich bald erwachen würde. Dann erstarb die himmlische Stimme. Bald darauf jedoch schlug man gewaltig an meine Tür. »Reverend Grainger!« rief jemand. »Geht es Ihnen gut?« Die Tür wurde aufgestoßen, und ein paar von Ebenezers Gästen und Diener mit Gewehren kamen herein. Es gab genügend Kerosinlampen, und nun sah ich, daß das Bett völlig mit Blut durchtränkt war und daß ich selbst von Kopf bis Fuß damit bedeckt war, voll der Ausdünstungen des Todes. Ich verfiel in Panik. Immerhin war ich vollständig unversehrt, mit dem abgeschlachteten Körper eines Mannes neben mir im Bett, und nicht eine einzige Menschenseele sonst in Sicht! Was, wenn ich –
»Dem Himmel sei Dank, daß Ihnen nichts geschehen ist«, sagte einer der Diener. »Mr. David hatte nicht soviel Glück. Haben Sie gesehen, wo es hingerannt ist?« Er sah zu dem eingeschlagenen Fenster hinüber. Er rief einige Männer zu sich, und sie feuerten Schüsse in den Garten hinaus. Ich lag immer noch wie versteinert da und versuchte zu erfassen, was die Männer von den Vorgängen hier hielten. Anscheinend war irgendeine Kreatur gesichtet worden. Auch andere waren tot… und unser Gastgeber, Ebenezer, hauchte eben seinen letzten Atemzug aus. Ich stieg aus dem Bett. Ich warf mir einen Morgenmantel über und folgte einer Magd in das große Schlafzimmer hinunter. Dort lag Ebenezer, ebenso mit Blut durchtränkt wie ich, er jedoch verblutete. Die Kreatur hatte ihn ausgeweidet und ihn der langsamsten, qualvollsten Art zu sterben überlassen, die man sich vorstellen kann; mit einer Hand versuchte er seine Gedärme wieder zurückzuschieben, während er mit der anderen die meine ergriff und mir in die Augen starrte. »Oh, verdammt«, keuchte er. »Diese Niggerin war wohl doch eine Werleopardin. Verdammt will ich sein! Ich schätze, das sollte ich wohl gerade jetzt nicht sagen, wo ich so dicht am ewigen Höllenfeuer dran bin und alles, aber ich werde verdammt sein, und das ist die Wahrheit.« »Sicherlich, Ebenezer, wenn Sie Ihre Sünde bereuen…« »Scheiß drauf, Reverend, ich glaub nicht an Bekehrungen auf dem Totenbett; ich habe als Sünder gelebt, und ich werde als Sünder sterben. Sie kümmern sich jetzt um das kleine Mädchen, wenn Sie wissen, was das beste für Sie ist; wenn nicht, wird man Sie auseinanderreißen, so wie mich.« Ich konnte wenig zu seiner Erleichterung tun, außer seine Hand zu halten und den dreiundzwanzigsten Psalm zu
rezitieren, was ihm hoffentlich doch noch etwas Trost gegeben hat. Als ich den Psalm zu Ende gesprochen hatte, merkte ich, wie ihn die Kräfte verließen. »Schau«, sagte er. »Ein Engel im Türrahmen. Schau, wie schwarz er ist. Und er hat eine Schnauze, wie ein Schakal.« »Nichtsdestoweniger ein Engel«, sprach ich, »denn Gott liebt Sie doch.« »Verzeih mir«, hauchte er. Ich weiß nicht, ob diese Worte an Gott gerichtet waren oder an mich, oder an die alte Negerin, die er vor kurzem noch gequält hatte, oder an den schwarzen Engel, der darauf wartete, ihm das Geleit in das jenseitige Schicksal zu geben, was immer ihn da erwarten mochte. Da ich die Überlieferungen der Ägypter kenne, war mir klar, daß er keinen Engel, sondern Anubis gesehen hatte, den schakalköpfigen Todesboten. Es kam mir überhaupt nicht seltsam vor, daß seine letzte Vision ihm keine christliche Wesenheit gezeigt hatte, sondern eine afrikanische. In dieser Nacht schrieb ich einen liebevollen Brief an meine Frau, in dem ich ihr mitteilte, ich hätte beim Pokerspiel ein kleines Negermädchen gewonnen. Alles andere ließ ich weg. Ich wollte ihr nicht von meinem Entsetzen erzählen, von meiner Verzückung, von der unkontrollierbaren Lust, die dieses Entsetzen in meinem Fleisch ausgelöst hatte. Und am Morgen, als das Mädchen zu mir an den Frühstückstisch gebracht wurde und ich dabei war, Mrs. Judd – die, wie ihr euch erinnert, die Nacht auswärts verbracht hatte – zu erzählen, daß ein wildes Tier in ihr Stadthaus eingedrungen war, fühlte ich mich noch weniger geneigt, über die Wahrheit der nächtlichen Geschehnisse nachzudenken. Ich blieb danach nicht mehr lange, wenngleich ich bei den Begräbnisvorbereitungen behilflich war und eine kleine Predigt gehalten habe; und ich glaube, daß die Witwe Judd
froh war, mich loszuwerden, da sie vielleicht den Verdacht hatte, daß ich auf irgendeine mysteriöse Weise mit dem entsetzlichen Tod ihres Mannes zu tun haben könne. Aber sie hat mir nie Vorwürfe gemacht, und als ich mit dem Mädchen abreiste, hielt sie mir sogar auf europäische Weise die Wange zum Kuß hin.
5 Wisset nun, meine Freunde, die Wahrheit ist nicht immer eine festumrissene, glänzende, unveränderbare Sache. Ich habe in dieser Nacht viele Wahrheiten gesehen. Da war die Wahrheit – für die meisten ist es die harte, nackte Wahrheit –, daß eine wahnsinnige alte Sklavin entwischt war, daß Männer Poker spielten, daß ein oder mehrere Tiere in das Haus von Mr. Judd eingedrungen sind und einige Leute umgebracht haben, und daß ich, der ich nie spiele, ein widerspenstiges junges Mädchens gewann. Dann war da die christliche Wahrheit: daß die Frau eine Art Dämon oder Zauberin war, daß sie die satanischen Mächte herbeigerufen hat, um ihren Herrn zu vernichten, daß sie ein undankbares Eigentum war, eine unberechenbare Tochter des Harn, die nicht vermocht hatte, ihren rechtmäßigen Platz am unteren Ende der kosmischen Hierarchie auszufüllen. Und zum Schluß war da Eleutheras Wahrheit: daß sie eine uralte Kreatur war, die schon manche Reinkarnation durchlebt hatte, und die eine Art von schwarzem Messias zur Welt gebracht hatte, der ihre Leute mit der Macht des Gesangs erlösen würde. Selbstverständlich durfte Phoebe nicht mit mir zusammen in der ersten Klasse reisen; sie wurde dem Gepäckwagen
zugewiesen. Ich konnte sie aber nicht gut anketten lassen, denn ich hatte ihr gerade an diesem Morgen die Freiheit geschenkt. Nahe Baltimore geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ich war im Speisewagen und genoß pochierten Lachs, als ich jemanden flüstern hörte und sah, wie ein oder zwei Mitreisende auf mich deuteten und wieder wegsahen. Schließlich machte ich mich auf den Weg zum Gepäckwagen, durch den ganzen Schmutz der zweiten und dritten Klasse hindurch. Je mehr ich mich meinem Ziel näherte, desto stiller wurden die Passagiere, und ich wurde des gleichen fremdartigen Gesangs gewahr, den ich in der Nacht des Tötens gehört hatte. Und tatsächlich, es war Klein-Phoebe. Sie saß vor sich hin singend auf einem Lederkoffer. Sonderbarerweise war es das Lied Amazing Grace, das sie sang; die Stille der Reisenden war wunderbar, aber noch wunderbarer war die Tatsache, daß ihr Lied, so leise es auch war, das Poltern des Zuges zu übertönen schien, das Rattern der Räder, das Heulen des Windes draußen – es schien uns alle in einen Raum vollkommener Stille hineinzuziehen, wo es nur noch den Gesang gab. Und da verstand ich das merkwürdige Schicksal, welches dieses Mädchen zu mir gebracht hatte. Denn dieser Gesang war Engelsgesang, trotzdem er aus dem Mund eines schwarzen Engels erklang. Obwohl der Gott, den ich verehre, Jehovah heißt, und der Gott, den die Wahnsinnige beschworen hatte, einen groben, primitiven Namen trug, kam mir zum ersten Mal in den Sinn, daß die beiden Götter vielleicht doch nicht so weit voneinander entfernt sind. Ich wußte, daß dies eine gefährliche Lehrmeinung war, ein ketzerischer Gedanke für jede nur mögliche christliche Sekte, all jenen verhaßt, die die schwarze Rasse auf ewig der weißen Rasse Untertan meinen. Nachdem ich diesen Gedanken jedoch einmal hatte, konnte ich seine Wahrhaftigkeit nicht mehr leugnen. Gott – ob er nun Mawu-
Lissa oder der Herr der himmlischen Heerscharen genannt wurde – rief mir zu. Und darum, euch allen, die ihr in diesem harten Kampf euer Blut vergossen habt und noch mehr Blut vergießen werdet, und noch viel mehr Blut in den kommenden Monaten – euch allen sage ich, daß die Freiheit eine Sache ist, für die zu sterben es sich lohnt. Ich sage euch, die ihr aus den Prärien im Westen und von den Seen im Norden und sogar von jenseits des Meeres gekommen seid, hört die Stimme des Engels der Freiheit. Höret, und kämpft, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Höret, und wisset, daß im Tal der tiefsten Verzweiflung, in der größten Finsternis dennoch die Hoffnung wohnt. Höret, und wisset, daß ich die Wahrheit spreche. Der Herr segne euch und der Herr behüte euch. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Ich fühlte mich nicht in der Lage, weiteres zu hören. Zumindest heute abend nicht. Und morgen sollte der Trauerzug stattfinden. »Sie werden Ihre Ruhe brauchen«, sagte ich zu Zack. »Ich für mein Teil bin müde. Ich bin nicht mehr die Jüngste, und Ihre Geschichte steckt voller Verwirrungen.« »Das sollte sie bestimmt nicht, Ma’am«, sagte er. Ich läutete nach Phoebe. Sie kam nicht herunter; andererseits war es auch schon außerordentlich spät, sie schlief wohl schon, denn sie pflegte noch vor mir aufzustehen, um meinen Morgenkaffee zuzubereiten. Ich beschloß, den Männern selber den Weg in das Gästezimmer zu weisen. Sie zogen sich zurück und erboten mir ein respektvolles bonne nuit. Ich stand eine Weile auf dem Treppenabsatz, halb in der Erwartung eines Leoparden, der die Treppe heruntergesprungen kommt, oder eines abgetrennten Kopfes, der herabpoltert. Aber nichts dergleichen geschah. Warum auch? Ich schalt mich selbst. Dies ist das Jahr des Herren achtzehnhundertfünfundsechzig, und an die Stelle des Aberglaubens ist die Wissenschaft getreten. Dies Haus ist keine Dschungelhütte, sondern ein solider Sandsteinbau im Herzen von New York, der modernsten Metropole der Welt; und ich bin kein sentimentaler Backfisch, der mit Geistergeschichten und Erzählungen von afrikanischem Woodoo hinters Licht zu führen ist. Jedoch… War mein verstorbener Mann mir wirklich derart fremd gewesen? Hatte er ein inneres Leben gehabt, das er nur den Soldaten im Feld offenbart hatte, nicht aber seiner Frau? Ich würde ganz sicherlich darüber nachdenken müssen.
2 Am Morgen beschloß ich, doch nicht am Trauerzug teilzunehmen. Mr. Whitman und sein Freund würden natürlich hingehen müssen, und nun, wo der Bürgermeister in der Negerangelegenheit nachgegeben hatte, war klar, daß es auch Phoebe erlaubt sein müßte, mitzumarschieren. Verbieten konnte ich es ihr nicht – in Anbetracht all der Dinge, die ich über mein unberechenbares Dienstmädchen erfahren hatte, wagte ich es auch gar nicht erst. Während der Trauermarsch stattfand, wurde ich von Neugierde überwältigt. Ich hatte noch nie einen Fuß in Phoebes kleines Dachstübchen gesetzt – warum auch? – aber der Drang dazu ergriff derart Besitz von mir, daß ich die letzte Treppe hinaufstieg und die Tür zu dem kleinen privaten Reich meines Dienstmädchens öffnete. Es war schmuddelig, und obwohl es draußen Tag war, war ich gezwungen, eine Lampe anzuzünden. Trotz der Düsternis gab es zunächst nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Es roch vielleicht etwas muffig… vielleicht sogar nach einem katzenartigen Bewohner… gleichwohl hieß das für mich keineswegs, Phoebe für eine Art Wer-Kreatur zu halten, die mitten in der Nacht auf allen Vieren durch den Central Park galoppiert, vielleicht Stadtstreicher angreift, oder Straßenkinder auffrißt. Nein. Da war eine schmale Pritsche neben dem Bett, aber ich hatte schon gewußt, daß Phoebe Laken und Decken verachtete. Eine wettergegerbte Bibel lag neben dem Dachstubenfenster, das so mit Schmutz verkrustet war, daß es nur wenige Sprenkel Licht hereinließ. Neben dem Fenster stand ein kaputter Schrank, der einmal mir gehört hatte, während der Reise aus Connecticut aber einiges abbekommen hatte.
Ich setzte mich auf das Bett. Ich sah zum Fenster hinüber. Der Schmutz auf dem Glas – war doch nicht getrocknetes Blut? Bestimmt nicht. Ein menschlicher Totenschädel lag zu meinen Füßen. Ich beruhigte mich damit, daß es nur ein totes Ding sei, und es mir nichts anhaben könne. Ich bückte mich und berührte ihn vorsichtig. Dann hob ich ihn auf. Es war mehr als ein Totenschädel; die Schädeldecke war aufgesägt, und das Innere war mit einer Art Porzellan beschichtet, um ihn wasserdicht zu machen. Eine faulige Flüssigkeit klebte an der Schale, und kleine Dinge schwammen darin herum, unter anderem etwas, das wie das Auge eines kleinen Tieres aussah, und etwas, das dem Schwanz eines Reptils ähnelte. Ich stellte es schnell wieder zurück und wollte den Raum verlassen. Aber wiederum besiegte mich die Neugierde. Ich schaute unter das Bett. Da waren andere Schädel – keine menschlichen – und Flaschen mit grellgefärbten Salben. Und Federn. Und einige Statuetten mit angeschwollenen Köpfen und mißgestalteten Bäuchen, entsetzlich anzusehen. Da war auch eine große Truhe, in der man sonst vielleicht alte Decken oder kaum benutzte Kleidung aufbewahrt. Nicht in der Lage, mich zu bezähmen, zog ich sie hervor. Sie war nicht verschlossen. Sie enthielt Briefe, nichts als Briefe. Viele waren nicht einmal in Englisch geschrieben, sondern in irgendwelchen fremdländischen Hieroglyphen. Ein oder zwei davon schienen Mr. Graingers Handschrift zu tragen; ich mochte sie nicht anschauen, aus Angst, sie würden mir ein weiteres dunkles Geheimnis über ihn enthüllen. Da war auch ein Brief in einer festen, kühnen Handschrift, anscheinend war er an meinem Mann gerichtet. Der Absender auf der oberen linken Ecke des Blattes ließ mich zögern, denn dort stand zu lesen:
Weißes Haus, 1600 Pennsylvania Avenue. Er war mit 3. Februar 1864 datiert. Nicht lange danach war mein Mann gestorben. Wie konnte es angehen, daß ein Brief aus dem Weißen Haus in der Dachstube meiner Dienerin versteckt war? Warum hatte ich, Mr. Graingers rechtlich angetraute Ehefrau, nichts von einer solchen Epistel gewußt? Ich konnte nicht anders als weiterlesen. Mein lieber Aloysius, war sehr bewegt von der Vorführung Ihrer schwärzlichen Nachtigall. Ich glaube, so wie Sie, daß eine gewisse göttliche Absicht darin lag, daß Sie uns Ihre Negerin präsentierten, und bin sehr geneigt zu glauben, daß die Befreiung nun fortschreiten wird. War mein verstorbener Mann mehr als nur ein Verehrer des toten Präsidenten gewesen? Hatte er tatsächlich einen Teil zu dessen Entscheidungen beigetragen, als politischer Berater? Ein Abschnitt erwähnte »die zarten Empfindungen Ihrer Frau« und mahnte zur Geheimhaltung; war das der Grund, weshalb man mir nichts gesagt hatte? Ich überflog den Rest des Briefes, der zumeist nur aus Nettigkeiten bestand. Der letzte Absatz aber bestürzte mich: Was Ihre Behauptung angeht, daß an dem Hokuspokus des afrikanischen Aberglaubens eine Art Urweisheit steckt, gar die Kenntnis von der untergegangenen Kunst, die Toten wieder zum Leben zu erwecken, so habe ich in dieser Sache meine eigenen Berater und möchte daher vorschlagen, daß
Sie sich mit einer gewissen freien Farbigen in Verbindung setzen, Madame Laveau mit Namen, wohnhaft in New Orleans, die behauptet, auf wundersame Weise von den Toten zurückgekehrt zu sein, nicht ganz unähnlich der Art unseres Herrn Jesus Christus; stammte dies nicht aus einer Quelle, die an den Segnungen der göttlichen Vorsehung so arm ist und so tief im Sumpf der Verzweiflung primitiver Unwissenheit versunken, würde ich es für Blasphemie erachten. Und dennoch, Sir, die Geschichte möchte durchaus der näheren Untersuchung wert sein, und ich wäre überaus interessiert an dem, was Sie möglicherweise entdecken können. Ich verbleibe, Sir Ihr ergebener A.L. Was, in Gottes Namen, hatte das zu bedeuten? Hatte Präsident Lincoln ein heimliches Interesse am Okkulten bekundet, und war mein Mann – und meine rätselhafte Dienerin – einer der vielen Wege zu den entsprechenden Informationen gewesen? Wer war diese Madame Laveau, und war sie tatsächlich ein Beispiel für das, was Mr. Whitman als zombi bezeichnet hatte, eine lebende Tote? War A. L. tatsächlich der Präsident selber oder irgendein Betrüger, der sich eine wie auch immer geartete Nähe zu diesem Hohen Hause zunutze machte? Noch fieberhafter durchwühlte ich die anderen Papiere. Die Notizen in der Handschrift meines verstorbenen Mannes waren schwer zu entziffern. Ich las einzelne Fragmente, wie etwa: »Durchbruch mit P. unternommen«… und Auflistungen von Worten, die keinen Sinn ergaben, wie etwa: Babalu-ayé Damballah Koulèv
einschließlich Listen, die nach Vergleichen zu suchen schienen, wie etwa: Legba = Elggua (??) Laveau befragen und dann eine Notiz, in Großbuchstaben geschrieben: AUF KEINEN FALL PAULA DAVON IN KENNTNIS SETZEN darüber eine Reihe unverständliches Kauderwelsch geschrieben stand. Das Merkwürdigste sollte aber erst noch kommen, denn auf einigen Fetzen Papier, einschließlich aus Notizheften ausgerissenen Blättern, auf der Rückseite von Schecks, auf alten Servietten, fand sich eine Reihe handgemalter okkulter Zeichen:
und mehr desgleichen, sorgfältig gezeichnet, mit winzigen Bemerkungen in Mr. Graingers Handschrift versehen, Kommentare wie: nsibidi – scheinbar ein Motiv, das ein Begräbnis oder den Zustand der Trauer darstellt anaforuana – der Bote des Todes Es war klar, daß es sich hierbei um Notizen über afrikanischen Aberglauben handelte. Daß mein Mann, ein gottesfürchtiger Christ, sich für solche Angelegenheiten interessiert haben
sollte, war seltsam genug. Nach den Erzählungen von Mr. Brown wollte mir jetzt scheinen, daß meinem Mann dort unten in Arlington einige Offenbarungen zuteil geworden waren, daß er von Angesicht zu Angesicht einer Herausforderung seines Glaubens gegenübergestanden und sich nicht in der Lage gefühlt hatte, irgend etwas davon mit mir zu teilen. Und dies war für mich das Allerseltsamste. Denn in all unseren gemeinsamen Jahren war immer ich es gewesen, die gezweifelt hatte, diejenige, die nie gewagt hatte, ihrem Mann zu sagen, daß sie sich seinen religiösen Vorstellungen nur mit einigen Einschränkungen verpflichtet fühlte. Es war mir nie in den Sinn gekommen, daß es ihm vielleicht ähnlich ergangen sein mochte. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben nie für eine neugierige Frau gehalten; ich hatte mein Leben und dessen Bedingungen immer mit einer gewissen Ausgeglichenheit akzeptiert. Aber in den vergangenen Tagen war in mir ein Verlangen nach Erkenntnis gewachsen, das so stark war wie das Verlangen einiger Männer nach Laudanum oder Absinth. Ich nahm daher die Lampe und stellte sie neben das Bett, um besser sehen zu können, welche schaurigen Schätze sonst noch darunter lagen. Das erste war, sorgfältig in den reichlich vorhandenen Staub gemalt, ein großes, kreisförmiges Symbol, das fast die ganze Fläche unter dem Bett einnahm:
8 Worin Mrs. Graingers Verwirrung durch neue Offenbarungen noch weiter zunimmt
1 »Nun, Ma’am, das war’s eigentlich schon, was Ihr Mann gepredigt hat, und es war wie eine Erleuchtung, weil, in der Nacht, da hab ich alle meine Zweifel von mir getan und ich hab mich entschlossen, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen, nicht mehr für mich oder wegen dem armen kleinen Rodney, sondern für die Freiheit.« Es war schon weit nach Mitternacht, und da saß ich, seit einem Jahr verwitwet, und erfuhr von einem völlig Fremden mehr über meinen verstorbenen Mann als in den Jahren unserer Ehe. Ich war nicht allzu überrascht, daß mein Mann mich über manche Einzelheiten belogen hatte, was den Erwerb von Klein-Phoebe anging, andere Ungereimtheiten brachten mich weit mehr aus der Fassung. Zum Beispiel hatte ich immer angenommen, daß mein Mann nie Erfolg gehabt hätte, Phoebe die Anfangsgründe der Zivilisation beizubringen, und daß sie eine Art Spielzeug für ihn gewesen sei, ein Projekt, an dem er ab und zu basteln konnte – auf keinen Fall das Medium, aus dem er die Stimme des Allmächtigen hörte. Wie hatte ich das nur glauben können? Zwar hatte ich Phoebe ab und zu singen hören, aber immer nur kleine Liedfetzen, und ich hatte vermutet, daß sie lediglich nachahme, was sie irgendwo einmal aufgeschnappt hatte, wie eine höhere Spezies Schimpanse.
Was stellte es dar? Eine Verknüpfung verschiedener Kosmologien? Ein kabbalistisches Sinnbild? Ich wußte es nicht, wußte nur, daß es mich mit unvernünftiger Angst erfüllte, und ich schnappte die Kerosinlampe und setzte mich wieder auf das Bett; widersprüchliche Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Auf einmal hörte ich die fernen Klänge einer Marschkapelle, die eine ernste Trauermusik spielte – den Trauermarsch von Chopin – und ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht von dem Zug, den ich gerade unten versäumte, von hier oben einen Blick erhaschen konnte. Ich wollte keine Minute länger in diesem Zimmer bleiben; ich schloß den Korb mit den Briefen meines Mannes und versuchte, ihn an seinen Platz unter dem Bett zurückzuschieben, ohne die Hieroglyphe im Staub zu zerstören. Ich sah mich noch einmal genauestens um, um sicherzugehen, daß alles am richtigen Platz war, und ging auf den Treppenabsatz hinaus, wo sich eine kleine Tür befand, von wo aus man auf das Dach gelangen konnte, wo wir an sonnigen Tagen unsere Wäsche aufhängten. Es war ein langweiliges Dach; andere geben Teegesellschaften auf ihren Dächern oder pflanzen kleine Gemüsegärten an. Ich habe unserem Dach nie viel Beachtung
geschenkt. Staubig war es und dreckig, und die wenigen Büsche, die wir dort oben hatten, waren in ihren Töpfen verdorrt. Einer zog meine Aufmerksamkeit jetzt besonders auf sich. Es war einmal ein Rosenbusch gewesen, und mein Mann hatte ihn in einen schönen blau-weißen Porzellantopf gepflanzt, ein Geschenk eines wohlhabenden Orientalen. Der Topf war gesprungen, und Rosen gab es keine, aber es hingen da an Schnüren kleine Flaschen von den Ästen, und hier und da komisch aussehende Knochen und Federn und Perlenketten. Ein rechtes Elsternest war das, und ich hatte sofort den Verdacht, daß dies Phoebes Werk sei, ein weiteres Beispiel für ihre Art der Zauberei. In der Ferne machte ich die Sixth Avenue aus: eine Militärkapelle schritt langsam die Straße entlang, die dicht von Trauernden gesäumt war. Es nieselte leicht, und die Feuchtigkeit verschlimmerte meine düstere Stimmung noch. Auf einigen der Gebäude hingen die Flaggen der Union auf halbmast; auch mein Haus hatte einen Fahnenmast. Aber auf diesem Fahnenmast war etwas, das mich innehalten ließ; anstelle einer Fahne war ein schwarzer Regenschirm angebracht, und darunter hing eine kleine Ausgabe eines Gehrockes, liebevoll aus dem Stoff eines Bekleidungsstücks meines verstorbenen Mannes zusammengenäht, wie es schien. Von unten zeigten drei Pfeile von der Art, wie Indianer sie benutzen, darauf. Was war das? Hatte sich dieses langweilige Stadthaus direkt vor meiner Nase in eine Brutstätte bizarrer WoodooAktivitäten verwandelt? Das Bedürfnis, dies herauszufinden, brannte mir derart auf den Nägeln, daß es die Angst gänzlich auslöschte. Falls hier Magie und Hexerei im Gange waren, würden sie mir sicher nichts anhaben können. Vielleicht war ich nicht ganz reinen
Herzens, aber ich glaubte nicht, daß der Allmächtige mich den wilden Tieren preisgeben würde. Ich nahm mir vor, Phoebe danach zu fragen, sobald sie vom Trauerzug zurückkehrte. Nichts sollte mich aufhalten, all dem hier auf den Grund zu gehen. Ich ging in den Salon hinunter, und da saß ich nun, schaute auf den Square hinab, trank grimmig meinen Tee und wartete auf die Rückkehr dieser Frau. Sie kam nicht.
3 Statt dessen kam Zachary Brown. Mr. Whitman war nicht bei ihm. »Ihre Dienerin, Ma’am«, keuchte er, als ich auf sein beharrliches Klopfen hin die Tür öffnete. »Ich scheine sie aus den Augen verloren zu haben.« »Wo ist Mr. Whitman?« Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich für die Auskunft, die ich wollte, mehr tun müsse, als eine störrische Dienstbotin zu befragen. »Über ihn weiß ich auch nichts, Ma’am. Er sagte mir, daß er mit den Negern marschieren würde. Ihm würde es nichts ausmachen, was man über ihn sagt. Wir haben uns darauf geeinigt, uns an einem Kaffeehaus an der Ecke Broadway, Siebenundvierzigste Straße zu treffen, und ich habe dort gewartet, bis sie zugemacht haben…« »Glauben Sie, daß sie geflüchtet ist?« »Ich schätze, sie wollte Walt… Mr. Whitman, meine ich, irgend etwas zeigen. Er ist leicht abzulenken.« »Dann werden wir wohl abwarten müssen, nehme ich an.« »Aber, Witwe Grainger…«, antwortete er, und er sah dabei aus wie ein verlorenes Waisenkind. »Ich könnte zu seiner Wohnung in Brooklyn gehen und da warten, aber es ist eine
mächtig weite Strecke von hier, und ich habe keinen Dirne für eine Mietkutsche.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich und drängte ihn in Richtung des Salons, wo mein Tee bereits abkühlte. »Sie haben immerhin meinen verstorbenen Mann gekannt. Sie können, wann immer es Ihnen paßt, hierbleiben. Denn, sehen Sie, ich bin eine Frau mittleren Alters, noch dazu Witwe, und manches, was sich für mich nicht schickte, wenn ich jünger wäre, ist statthaft für eine Frau, die alt genug ist, um die Mutter eines jungen Mannes zu sein…« Ich setzte Zack hin und strich ihm ein Butterbrot. Es war eine Spur Wunschdenken dabei… ich dachte an meine eigenen Kinder, jedes einzelne noch vor seinem ersten Geburtstag im Grabe… und ich empfand diesem Jüngling gegenüber eine gewisse Zärtlichkeit. Wie sollte ich auch nicht? Er hatte während seiner kurzen Erdenzeit mehr Entsetzliches gesehen als ich in einer viel längeren Zeitspanne. Es war nicht nur aus einem zärtlichem Grund, warum ich ihn dabehalten wollte. Es war auch nicht das Grauen, das mich bei der Aussicht beschlich, diesen Abend alleine hier zu verbringen, in einem Haus, das mir nach so vielen Jahren plötzlich fremd geworden war. Es lag auch an dem Dämon der Neugierde. »Erzählen Sie mir mehr«, sagte ich schließlich, und Zachary Brown fuhr in seiner merkwürdigen Geschichte fort, die sich wie eine verwundete Schlange hin und her wand, bis ich das Gefühl hatte, in dem Labyrinth eines Herzens verlorenzugehen.
9 WORIN ZACHARY BROWN IN DER WILDNIS UMHERWANDERT
1 Wenn ich meine Geschichte jetzt weitererzähle (sagte Zack zu mir), also, um die Wahrheit zu sagen, Ma’am, sie wird immer härter. Ich hatte eine Schlacht mitgemacht, viele Alpträume hab ich gehabt wegen dieser einen Schlacht, und ich hatte den einen Glauben verloren, und einen anderen in den Stimmen von einer Negerin und einem Reverend gefunden. Man könnte sagen, ich hab in ein paar Wochen mehrere Leben gelebt. Ich glaubte, nun hätte ich alles gesehen, vielleicht können Sie das verstehen. Wo ich doch noch so jung bin und alles. Nun, als Reverend Aloysius mit dieser bewegenden Ansprache durch war und als ich meinen ersten Schwarzen gesehen hatte, war ich bereit, mich noch einmal in eine Schlacht zu stürzen. Am nächsten Morgen hab ich gehört, wie sie sagten, daß wir uns mit einhunderttausend Männern von der Potomacarmee zusammenschließen. Ich konnte mir unter einhunderttausend Männern überhaupt nichts vorstellen, weil meine ganze Heimatstadt gerade mal einhundert Menschenseelen hat, wenn man die Kühe nicht dazuzählt. Aber als wir auf dem Weg dahin waren, hat Captain Rawlins gesagt, daß wir etwas machen sollen, und er nannte das »ein bißchen in den Krämerladen gehen«. Da war eine kleine Stadt, sie hieß Hansen’s Creek, und ein paar Farmhäuser standen in
der Nähe. Sowieso keiner mehr übrig da, haben sie gesagt, bis auf ein paar Nigger, die wir befreien, emanzipieren, und als Konterbande vom Krieg einsetzen würden. Hörte sich gut an. Reverend Graingers Rede über die Übel des Sklaventums hatte mir fast das verdammte Herz gebrochen, und wenn man darüber nachdenkt, Rodney und Drew und alle meine besten Freunde waren wegen was gestorben, und ich wollte es ihnen beweisen, falls sie vielleicht vom Himmel oder vom Nichts oder wo sie jetzt waren, auf mich runterguckten. Wir versuchten, so geleckt wie möglich auszusehen an diesem Morgen. Ich habs sogar geschafft, mir die Schuhe mit einem Stück Stiefelschwärze zu polieren, das ich von meinem Sergeant erbettelt hatte. Wir kamen nach Hansen’s Creek am strahlenden Mittag. Es war schon verlassen, wie sie gesagt hatten, und ein paar von uns kriegten Befehl, die Stadt abzubrennen. Ich und Kaczmarczyk und zwei andere haben sie drauf angesetzt, daß wir uns auf die Futtersuche machen, und wir haben uns einen Wagen geklaut, um das transportieren zu können, was wir auftreiben würden, und haben eine Farm gefunden, vielleicht fünf Meilen die Straße weiter runter. Die Johnsons, die mit uns waren, waren flott drauf, und sie haben den ganzen Weg bis dorthin aus vollem Hals gesungen, ein neues Lied, das sie an diesem Tag gelernt hatten: Lauft, Ladies, lauft. Sonst kriegen wir euch alle. Lauft, Ladies, lauft, Ihr fallt in jedem Falle. Wir fanden eine Scheune, aber die Ausbeute war bescheiden: ein halber Schinken, einige tote, verfaulte Hühner. Nicht eine Menschenseele zu sehen. Da waren nur ich und der alte
Kaczmarczyk, die anderen beiden, Johnson und Johnson – keine Brüder – waren ins Haus gegangen. Ich bin die Leiter rauf auf den Heuboden und hab noch ein paar Reste gefunden, ein Sack Mehl, und drei Gläser Melasse. Ich hab sie Kaczmarczyk runtergeworfen. Dann hab ich in den Heuballen rumgewühlt, um zu sehen, was ich sonst noch auftreiben konnte. »Na, zumindest haben wir ein paar tote Tiere befreit«, rief ich runter. »Schätze, die Sklaven sind schon alle weggerannt.« Das Heu war höher als ein Mann und ganz dicht zusammengestapelt. Ich stieß mein Bajonett rein. Einige Sezessionisten waren unheimlich schlau im Sachenverstecken. Ich fand nichts in den ersten paar Stapeln, also stocherte ich etwas heftiger rum, vielleicht weil ich angefeuert war wegen der kleinen Predigt vom Reverend, vielleicht weil ich noch voller Wut war wegen Rodney und Drew und all meinen Freunden. Also stach ich und stach ich, und dann merkte ich, wie meine Klinge auf etwas Weichem abgleitet, und ich teilte das Stroh, und da war ein kleines schwarzes Mädchen, so nackt wie ein Neugeborenes, und ich hatte ihr eben die Kehle aufgeschlitzt, und irgendwie starrte sie zurück, als sie stirbt, mit dem gleichen Ausdruck der Überraschung, wie ich ihn beim armen Drew gesehen hatte, und dann fiel sie nach vorne in meine Arme und war tot. Ich trat zurück. War verdammt nah dran, selber vom Heuboden runterzufallen. Ihre Füße waren gefesselt, und noch jemand war mit angekettet. Als ich dran zog, kam noch ein kleines Wesen rausgekrabbelt, nicht älter als neun Jahre. Und das war an noch einen Burschen angekettet, und so weiter und so weiter, und da waren dann ungefähr ein Dutzend von denen zusammengekettet, und am einen Ende war eine alte Mammy, auch splitterfasernackt, und mit so Zitzen, die runterhängen
und hin und her baumeln. So wie die Schnitzbilder von den afrikanischen Wilden. »Nicht mich töten, Massa«, sagte sie und guckte mich ganz verlassen und erbärmlich an. Ich dachte darüber nach, was Reverend Aloysius gesagt hat, und ich wollte, daß sie versteht, daß ich ihr kein Leid zufügen will, und daß ich das Kind nur aus Versehen getötet hab. »Schon gut«, sagte ich, »wir sind nicht hier, um jemand zu töten, nur um Essen einzusammeln. Und du bist frei. Du bist emanzipiert worden… hast du das verstanden? Du bist frei und kannst gehen.« »Was du meinen«, sagte die alte Frau, »wir frei? Frei für was?« Die Kinder fingen an winseln und sammelten sich um ihre tote Kameradin, die sie knufften und anstocherten, als wäre sie eine tote Schlange, die auf der Straße liegt. Ich brüllte runter: »Kaczmarczyk – wir müssen hier oben ein paar Ketten abschlagen.« Kaczmarczyk ging weg, um nach Werkzeug zu suchen, schätze ich, und ich stand wieder vor der alten Frau und den Kindern, alle klapperdürr und mit entzündeten Wunden, und die Fliegen schwirrten um sie rum, aber sie hatten nicht mal die Kraft, danach zu schlagen. Sie mußten hungrig und durstig sein, aber sie haben nicht nach was zu trinken oder zu essen gefragt. Sie starrten einfach die leere Luft an. »Macht euch keine Sorgen«, sagte ich, weil ich merkte, daß die Stille mich belastete, und ich mußte die Luft mit irgendeinem Geplapper füllen. »Wir werden euch gleich füttern und euch auf den Weg in die Freiheit schicken.« »Und was wir anfangen mit Freiheit?« fragte die alte Frau. »Nun, Ma’am, du kannst damit machen, was du willst. Ein kleines Geschäft aufmachen, einen ehrbaren Job als Dienstmagd annehmen, wenn die häuslichen Pflichten dir
näherliegen, und wenigstens wirst du dafür bezahlt, was du vorher umsonst gemacht hast; vielleicht ein Handwerk lernen – vielleicht sogar singen«, fügte ich hinzu, wobei ich an das Phoebe-Mädchen dachte. Ich mußte aber zugeben, obwohl ich ihr diese Worte gesagt habe und sie damit trösten wollte, konnte ich sie mir bei gar keinen von diesen Sachen vorstellen. Ein Handwerk erlernen? Na, so viele Handwerke, wo Frauen für taugen, gab es ja nicht, und wer würde schon so eine schwarze Frau der Nacht gebrauchen können? Und sie wußte, daß das hohle Worte waren, weil sie sagte: »Kannst keine Tricks mehr beibringen an ein alte Hund. Nie haben verstehen Freiheit, nie Freiheit haben, nicht kennen, was mit diese dumme Freiheit machen, wo ihr Yankees immer drüber reden. Ich sein ‘ne Mammy einmal gewesen, und nun meine Brüste eingetrocknen. Ich schon pflücken Ernte vorher, aber nun diese alte Finger, sie mich schmerzen. Sklave nicht müssen suchen nach Essen. Essen ganz von alleine kommen.« »Und was machst du dann hier, zusammengekettet, in den Heustapeln?« »Massa uns hier tun. Er nicht wollen, wir Schwarzen für Yankees arbeiten, nicht wollen, daß wir Konterbande vom Krieg. Er sagen, wir so gut wie Gold, wie vergrabener Schatz.« Bald darauf kam Kaczmarczyk auf den Heuboden geklettert, und wir haben die Ketten abgeschlagen, aber die Sklaven saßen nur da. »Sag uns, wo das Essen ist«, sagte Kaczmarczyk. Die alte Mammy schüttelte den Kopf. Kaczmarczyk hat ihr dann ins Gesicht geschlagen. »Kaczmarczyk!« sagte ich. »Nur Befehle befolgen«, sagte er. »Geh zu Farmheiser. Finde Essen. Du da, kleiner Junge, wo ist Essen?« Er verhörte sie noch eine Weile, aber sie sagten nicht viel. Obwohl sie am Leben waren, hatte ihnen irgend etwas das
Leben aus den Körpern rausgeprügelt. Schließlich sagte er: »Sie sagen nichts. Gehen wir zum Haupthaus und sehen, was andere machen.« Wir verließen die Scheune und liefen zum Haupthaus rüber. Am merkwürdigsten war, daß die alte Mammy zusammen mit den Kleinen im Gänsemarsch hinter mir herlief, und sie folgten mir den ganzen Weg rüber, mit ihren glasigen Augen starrten sie gradeaus, als wären sie wandernde Tote. Auf einmal hörten wir noch eine Strophe von ›Lauft, Ladies, lauft‹ von innen aus dem Haupthaus. Als wir die Vorderseite erreichten, rannte eine beleibte Frau im weißen Nachthemd auf die Veranda raus, und diese beiden Gefreiten, die beiden Johnsons, rannten hinterher. Sie stolperte und sie packten sie, und sie beugten sie über das Geländer von der Veranda und rissen ihr das Gewand runter. Richtig rüschig war es, wie eine Spitzentischdecke. Ich hab kurz eine von ihren Zitzen gesehen, war geschwollen und blau; also schätzte ich, daß die Johnsons sie schon etwas bearbeitet hatten. Ihr Haar war aufgelöst, und es hing bis in den Dreck runter. »Nehmt eure Hände von mir, ihr dreckigen Yankees!« schrie sie. »Ich bin eine ehrbare Frau. Wartet, bis mein Mann nach Hause kommt!« Nun, der ältere Johnson ließ seine Hose auf die Knöchel fallen und fing an, sofort und am hellen Tag, sie zu pflügen, machte ihm nichts, daß sie etwas mehr Fleisch auf den Rippen hatte. Johnson, der jüngere, groß und hager mit hellblonden Bartkoteletten und einem schmucken französischen Schnurrbart, hat geholfen, sie niederzuhalten, während sein Namensvetter es diesem Sezessionistenmädchen ordentlich gegeben hat und dabei von einem Ohr zum anderen grinste, obwohl er nur zwei Zähne hatte. Bei dieser Zurschaustellung von Yankee-Männlichkeit kriegt die alte Mammy einen verrückten Ausdruck in ihre Augen, und
zum ersten Mal zeigt sie Anzeichen von Leben. »Du anfassen die Missus, du Stück weiße Müll, und die alte Mammy prügeln die lebendige Scheiße raus aus dir«, rief sie, und dann raste sie wie ein Berserker auf die beiden Johnsons los, schmiß sich auf den älteren, und mit einem Schlag ihrer Faust stieß sie sein Männchen aus der Pforte. »Noch eine Sorte Frau«, sagte der ältere Johnson lachend. »Hier, Sam, du verdammter Wichser, versuche ein Stück vom schwarzen Fleisch… gibt genug für alle.« »Den Sack Scheiße fick ich nicht«, sagte der jüngere Johnson. Er zwirbelte seinen Schnurrbart mit einer Hand, und mit der anderen zielte er mit seinem Colt auf die Stirn der Herrin. »Ich werde auf das bessere Stück Fleisch warten, wenn es dir nichts ausmacht.« »Misch dich nicht ein, Mammy«, keuchte die weiße Frau. »Da kann man nichts machen.« Der ältere Johnson schlug sie, damit sie Ruhe gab, und machte sich grunzend wieder über sie her. Die Mammy watschelte direkt zu ihm hin und gab ihm ordentlich eine übers Ohr. »Kein Yankee faßt meine Missus an. Diesen Brüste hat sie genuckelt, diesen Armen sie hat gehalten, als sie noch ein Baby.« Und sie fing an, mit den Armen zu fuchteln, wild und verzweifelt, hin und wieder landete sie einen Treffer. Ich war immer noch angefüllt von den noblen Gedanken von Reverend Aloysius. »Frau«, sagte ich, »wir sind gekommen, um euch zu befreien, nicht um euch zu schaden. Diese Frau ist eine böse Sklavenbesitzerin; sie hat euch in der Scheune in Ketten gelegt; wenn wir euch nicht gefunden hätten, wärt ihr jetzt tot. Jetzt seid ihr frei.« »Will kein Freiheit nicht«, sagte die Frau. Sie fing an, in wahnsinniger Hysterie auf meine Brust einzutrommeln. Ich war nicht darauf vorbereitet und fiel gegen die Gittertür, aber
bevor ich sie noch zu Verstand bringen konnte, hörte ich einen Knall. Der jüngere Johnson hatte ihr in den Kopf geschossen, und ihr Blut und ihr Hirn bespritzten mein Hemd, das ich den ganzen Morgen gebügelt hatte. »Warum hast du das gemacht?« fragte ich. Aber dieser eine Schuß löste bei den anderen eine regelrechte Schießorgie aus, und die Kinder wurden dadurch erschreckt wie eine Herde von Pferden und fingen an zu schreien und zu schreien, aber bald waren sie alle tot, auch die weiße Frau, obwohl der jüngere Johnson darauf bestand, sie trotzdem zu ficken, obwohl sie eben ihr Leben aushauchte. Und als das Blut aus den kleinen schwarzen Körpern rausfloß, begannen die beiden Johnsons noch eine Strophe von dem Lied zu singen, wobei sie wiederum aus Herzenslust sangen, als wenn sie gerade eine Bergspitze runterwandern würden oder beim Holzhacken seien: Ich hab ein Mädchen überm Berg, Wenn sie mich nicht küßt, ihre Schwester wird wollen; Und sollte die Schwester mir gar zu sehr grollen, Tu ich an der Mutter ein gutes Werk. »Was, zur Hölle, machst du denn da?« schrie ich. »Halt’s Maul, Wichser«, sagte der jüngere Johnson. »Sie ist noch warm.« Ich konnte nicht hingucken, Ma’am, und das ist die Wahrheit, und ich habe schon einiges gesehen. Ich habe eine Hinrichtung gesehen. Ich habe gesehen, wie ein Mann skalpiert wurde. Aber das hier war mir zuviel. Langsam wandte ich mich ab und begann mich von der Veranda zu entfernen. Kaczmarczyk lief mir hinterher. »Für
was läufst du weg?« sagte er. »Du glaubst, du bist besser wie wir?« »Wir kamen, um diese Leute zu befreien.« »Leute, Schmeute«, sagte Kaczmarczyk. »Dies ist Krieg. Ich gesehen Dinge, viel viel Schlimmeres. Hinten in der alten Heimat. Über dem Meer. Manche Leute sind verdammt schlimmer dran wie die Neger.« »Wir sind gekommen, um sie zu befreien, Kaz«, sagte ich. »Und sie wollten nicht einmal befreit werden. Und dann haben wir sie getötet. Was für Befreier sind wir denn, schätzt du? Ich bin mächtig durcheinander.« »Sie schon waren tot. Tot innendrin. Nur warme Kärper, die wandern. Keine Schuld. Zur Halle, keine Schuld für dich, keinen Fall. Du hast nicht mal gefeuert einen Schuß.« »Was ist mit der Sezessionistenfrau? Warum mußte sie…« »Dies ist Krieg«, sagte Kaczmarczyk, und seine Augen schauten weit weg, und sie schauten in ein anderes Land.
2 Die Kompanie, mit der wir uns zusammenschließen sollten, wurde die Wildniskompanie genannt, und sie wurde von General Grant oder General Meade geführt – hab das nie richtig gewußt, und die vielleicht auch nicht, weil, nach den Gerüchten konnten sie sich sowieso auf nichts einigen. Obwohl unsere kleine Futtersammlung nur sehr wenig an Proviant eingebracht hatte, hatten ein paar von unseren Freunden etwas mehr Glück. Einer kam sogar mit zwanzig Kühen an. Das war äußerst seltsam, weil – so haben wir das gehört – die Sezessionisten auf dem letzten Loch pfiffen, und viele waren am Verhungern.
Wir gingen einfach weiter diese Straße runter – ziemlich schmal war die, gerade breit genug für unsere Kanonen –, und die Armee wurde einfach größer und größer, weil sich uns noch andere Divisionen anschlossen. Sie können sich diesen Anblick nicht vorstellen, Ma’am, nicht, wenn Sie nicht dabei gewesen sind. Egal, ob du bis zum Horizont geblinzelt hast, diese Schlange von Männern hörte nie auf. Egal, ob du bergauf marschiert bist und nach unten geschaut hast. Und die Straße schlängelte sich nach Norden, und man würde meinen, daß man das Ende der Armee sehen kann, irgendwo ganz weit da draußen, nee, es gab einfach kein Ende. Das Wetter war so schwül, wie ich es mir nie vorgestellt hab, und der Schweiß durchtränkte unsere Klamotten, und die Mücken kamen mit der Dunkelheit und trieben uns fast zum Wahnsinn, und jede Nacht wurden mehr und mehr Männer krank und kriegten Schüttelfrost oder Grippe oder diese Anfälle von Husten, einige haben Blut gespuckt. Beim Marschieren haben wir immer wieder die gleichen Lieder gesungen, bis uns der Hals weh tat. Weil alle, mit denen ich aus Nebraska gekommen war, tot waren, hab ich mich dann an Kaczmarczyk gehalten. Er hat nicht viel geredet, und mir war nicht nach Hören zumute. Ich konnte die Bilder in meinem Kopf nicht ins Gleichgewicht kriegen: die Armee – der große Befreier, die Sklaven, die sich nicht befreien lassen wollten – die Negerin von Reverend Grainger und die Mammy in dem Farmhaus – die weiße Frau, rüttelnd und schüttelnd, wie die Johnsons noch in ihr sterbendes Fleisch stießen – die Negerkinder, die wie Kegel umfielen – und Drews Gesicht, das mich aus dem Schlamm anguckte – und Rodneys Stimme in meinen Alpträumen. Wir sausten die Orange-Fredericksburg-Landstraße runter und schwärmten im Wald aus. Vielleicht denken Sie, Ma’am, daß die Männer am Tag kämpfen und sich nachts ausruhen,
aber in der Wildnis war der Tag die Nacht. Die erste Schlacht dauerte zwei Tage, glaub ich, und es kam mir wie eine einzige Nacht vor, die kein Ende nehmen wollte. Die ganze Zeit war Nebel, und wir kämpften alle gegen Schatten, weil wir nichts sehen konnten, bis sich das Nichts aus den Bäumen oder aus dem Nebel auf uns gestürzt hat. Sie haben gesagt, daß wir zweimal so viele Männer wie die Rebellen seien, also haben wir wahrscheinlich viele von unseren eigenen Männer getötet. Ich könnte hier die ganze Nacht sitzen und von den Bergen aus toten Männern erzählen, von den furchtbaren Schreien der Verwundeten und von dem Rauch, durch den wir uns mit tränenden Augen durchkämpfen mußten, aber ich will nicht zuviel daran denken, wenn ich nicht unbedingt muß. Bergeweise trockene Blätter fingen Feuer, und um uns rum brannte meilenweit der Wald, und manchmal haben wir ein paar tote Männer aufeinandergestapelt, um uns eine Brustwehr zu schaffen. Siebzehntausend von uns starben in dieser einen Schlacht, habe ich sagen hören. Wie ich es geschafft habe zu überleben? Mitten im ärgsten Getümmel bin ich in eine Art Traum gefallen. Ich hab gedacht, daß die Hölle selber nicht schlimmer sein kann als das hier. Kaz und ich waren von den anderen abgeschnitten und umzingelt. Und dann, über den Schreien der Sterbenden und dem Donner und dem Pfeifen und dem Trommeln hab ich noch was anderes gehört… Flügelschlag. Ich guck den wirbelnden Rauch an, und ich sehe etwas, das vielleicht ein Gesicht sein könnte, vielleicht sogar Rodneys Gesicht, und im Ohr höre ich ein schwaches Flüstern: »Lauf schnell zu mir, Zacko, und sieh dich nicht um.« »Was, zur Hölle, willst du von mir?« rief ich, aber keiner hat mich gehört. Rodney sagte: »Ich möchte, daß du noch ein paar Augenblicke länger lebst.«
Und plötzlich laufe ich, das Bajonett halte ich bereit zum Zustechen, und in diesem Moment reißt eine Explosion den Boden auf, wo ich gerade noch gestanden bin, und ich renne weiter, direkt mitten in die Rebellen, und ich schätze, ich habe sie dermaßen überrumpelt, daß ich ihre ganze Linie durchbrochen habe, und meine Kameraden strömten durch diese Bresche, und bald steckten wir bis zu den Knien in Blut. Siebzehntausend Tote. Du lieber Himmel! Und ich habe keinen einzigen Kratzer abgekriegt. Das ganze Blut war das von den anderen. In meinen Träumen ging die Schlacht weiter. Und Rodney trommelte immer noch und rief meinen Namen, und er sagte mir, jenseits von dem nächsten Hügel, hinter dem nächsten Baum, da warte ein anderes Land auf mich. Es kam noch eine Schlacht, und noch eine. Dreizehntausend Union-Tote bei der einen, zehntausend bei der anderen. Einmal habe ich Grant gesehen. Er trug ein schlichtes Soldatenhemd, mit allen Knöpfen offen, und seine Streifen waren nur am Ärmel festgesteckt, und er ritt durch die Verwundeten und zählte sie, wie ein Pfennigfuchser seine Pfennige. Einige der Männer beschwerten sich, daß er doch ein bißchen mehr von sich hermachen solle, als gutes Beispiel und so, aber mir war das egal. Ich meine, er war der General. Er konnte sich verdammt nochmal so anziehen, wie er wollte. Na, die Wildnis war wie die Geschichte vom Labyrinth. Wir sind einfach gewandert und gewandert, und obwohl wir tausende und abertausende Jungs verloren, kamen aus dem Norden mehr frische Jungs, um uns zu unterstützen, und niemand kam, um General Lee zu unterstützen – wenigstens hat es so geheißen, obwohl ich meine Zweifel habe, daß es so einfach gewesen ist – mittlerweile weiß ich, daß sie die Hälfte von den Geschichten bloß erzählt haben, damit wir uns besser fühlen sollten und damit wir uns nicht soviel daraus machen,
getötet zu werden, obwohl, mittlerweile war es nicht das Totsein, das uns störte, sondern das Sterben machte uns Sorgen. Es war die vierte Schlacht, schätze ich. Ich kriegte eine Kugel irgendwo in die Eingeweide. Weiß nicht mehr viel davon. Den einen Augenblick stand ich da und bin am Nachladen, und im nächsten lieg ich in einem Wagen, und die meisten Leute auf dem Wagen waren wohl tot, wenigstens konnten sie es nicht mehr lange machen. Ich lag unter drei Lagen Leichen, und ich fühlte keinen Schmerz, als ich zu mir kam; ich dachte, daß bloß eine Minute vergangen war. Dann hörte ich, wie Captain Rawlins und noch einer sprach… ich glaube, sie haben die Verwundeten gezählt. »Der da bewegt sich«, sagte er. »Zieh ihn runter.« »Runter mit dem da von dem Wagen«, hörte ich eine bekannte Stimme. Kaczmarczyk war also bei dieser gräßlichen Aufgabe mit dabei. Ich merkte, wie oben etwas wackelte. Die Hand von jemand lag auf meinem Mund, und Blut sickerte in meine Nase. Ich konnte nicht schreien. Ich hätte den ganzen Mund voll Blut gekriegt. »Da drunter… drüben an der Seite.« Wieder der Captain, schätze ich. Ich merkte noch mehr Bewegung. Irgendwo um meine Füße rum. Die Leichen verschoben sich, und ich merkte, wie ich näher an die Oberfläche kam. Ich konnte jetzt ein kleines Stückchen Himmel sehen, vielleicht einen Handbreit im Durchmesser. »Ist das alles?« sagte der Captain. »Sieht so aus, Sir«, sagte Kaczmarczyk. »Begraben Sie den Rest, Gefreiter.« Wenn ich jetzt nichts tat, würde ich in einem flachen Grab landen. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen – und ich hab mich ziemlich schwach gefühlt – und ruckelte so ein bißchen
vor und zurück, ja, so könnte man wohl sagen, schätz ich, und das reichte, daß ich jemand von meiner Brust runtergeworfen habe und dann an die Oberfläche gekommen bin wie ein Delphin aus einer Blutwelle. »Halt!« brüllte Kaczmarczyk. »Da ist noch einer!« Ich merkte, wie Hände meine Knöchel packten und mich zogen. Dann kam der Schmerz wieder, und alles wurde dunkel. Aber vorher habe ich noch das Gesicht von Kaczmarczyk gesehen… was davon noch übrig war.
3 Ich sah dieses gleiche Gesicht, wie ich wieder zu mir kann – da war klar, daß das kein Traum war. Aber diesmal war das Gesicht etwas hübscher, weil sie eine Bandage um das meiste gewickelt hatten, und die unversehrte Seite von seinem Gesicht mehr oder weniger noch normal aussah. Wir waren in einem Zug, auf dem Weg nach Washington, wo sie viele von den Verwundeten hingebracht haben. Und bei jedem Räderdrehen stach mich der Schmerz in die Seite. Ich war mit Bandagen eingeschnürt und vermochte mich nicht zu bewegen. Ich konnte nicht mal scheißen. Die Abteilung war dritte Klasse, glaube ich, und mit kranken Männern vollgestopft und außerdem noch mit ein paar Schweine und Hühner. Der einzige gesunde Mann war einer in Handschellen, den sie raufschickten vors Kriegsgericht. Sie hätten ihn auch gleich erschießen können, schätze ich, aber vielleicht war sein Verbrechen zu abscheulich, so daß er es nicht verdient hat, an Ort und Stelle erschossen zu werden. »Ich wußte gar nicht, daß wir den Zug bei Fredericksburg überfallen haben«, sagte ich.
Kaczmarczyk lachte. »Du bist lange Zeit in Land der Treime«, sagte er. »Wir nehmen eine Zick-Zack-Route… Schiene, Wagen, egal… manchmal wir stehlen einen Zug.« »Es tut weh«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen, Junge«, sagte Kaz, der abgesehen von einer fehlenden Gesichtshälfte ein so heiler und ganzer Mann war, wie man ihn in diesem ganzen Zug suchen mußte. »Sie werden dich pflegen bei diesem Spital, und ich werde noch eine Zeitlang mit dir sein. Sie sagen, ich bin jetzt nutzlos. Bleed. Ich so gut kann kämpfen wie jeder andere Zweiäugige.« Ich trank ein paar Schlückchen Wasser und fiel wieder ins Dunkel. Die Wildnis meiner Träume… Meine Mutter gab mir einen Kuß und einen Laib Brot, und sie sagte zu mir: »Versuch, heil zurückzukommen, Sohn… und paß auf Rodney auf, er hat sonst niemanden.« Die ganze Zeit, seit General Custer unsere Stadt besucht hat, hab ich nicht an meine Eltern gedacht, aber jetzt, in meinen Träumen, da waren sie da. Im Wald. Geister. Sprachen zu mir aus Felsen und Bäumen und Flüssen. Mein Freund Wamdi hat mir gesagt, daß Felsen und Bäume und Flüsse zu einem sprechen können. Er ist gestorben. Das habe ich Ihnen schon erzählt, oder nicht, Ma’am? Die Grippe. Oder waren es die Masern? Ich hab’s jetzt vergessen. Auf jeden Fall eine Krankheit von Weißen, denk ich. Ein Kuß und ein Laib Brot… … Rodney, der aus den Wolken zu mir kommt, und… Felsen und Baum und Fluß. Und im Traum denke ich… ich weiß, es ist ziemlich seltsam, aber Felsen und Baum und Fluß scheinen vor Leben zu platzen, und die echten Leute, lebende, atmende, sind wie die Toten…
General Grant reitet vorbei, ungepflegt und unsauber… ein toter Mann zu Pferd. »Soll ich dir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen?« fragte Kaczmarczyk, so leise, daß ich dachte, seine Stimme sei das Seufzen der ungefetteten Kupplungen zwischen den Wagen. »Einmal, weißt du, in einem anderen Land, ich hatte auch ein Kind, ich erzählte auch Geschichten, ich weiß auch den Unterschied von Recht und Unrecht. Aber das war vor langer Zeit, und weit weg.« »Bist du meine Mutter?« flüsterte ich und schmeckte das frischgebackene Brot zwischen den Zähnen und die harte Kruste, die beim Kauen süß wurde. Wann würde es wieder so einen Laib Brot geben? Ich schmeckte Salz auf den Lippen. Schätze, die Erinnerung hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Irgendwo hat ein Junge gepfiffen. Die Melodie war ›Lauft, Ladies, lauft‹. Da hab ich dann wieder diese fette Frau von der Farm gesehen, viel deutlicher als vorher im echten Leben; ihr Unterkörper ruckte auf und ab wie ein hüpfendes Kaninchen, und um das Loch in ihrem Kopf klebte die Hirnmasse. »Deine Mutter ist weit weg von hier«, sagte Kaczmarczyk. Ein unheimliches Pfeifen kam aus seinem Mund; jedesmal wenn er sprach. Ich schätze, die Ladung, die ihn verwundet hat, hat wohl etwas mit seiner Luftröhre angestellt. »Willst du diese Geschichte?« »Klar.« Der Zug pfiff. Das Ram-pa-ta-tam der Räder lullte mich ein. Die stickige Luft roch nach Eiter. Es war Nacht. Der Wind, der durch die Fenster kam, war feucht. Die Feuchtigkeit hing in den Fetzen von meinem Hemd und klebte mir die Hose an den Arsch. Um meinen Bauch hatten sie ordentlich Leinen gewickelt. Ich glaubte, ich werde sterben, ganz allein, bis auf diesen komischen Mann von überm Meer. Und da horchte ich
dann, was er mir zu erzählen hatte, und seine Geschichte war ziemlich verwirrend, wirklich, aber die Art, wie er sie erzählte, seine beruhigende Stimme, das war, wie wenn ein netter Onkel mit einem verängstigten Kind spricht und das hat mich auch ein bißchen getröstet, und später hab ich immer wieder an seine Geschichte gedacht, weil sie mehr Bedeutung für mich hatte, als er ahnte.
4 Es war einmal (begann Kaczmarczyk, so gut ich mich erinnern kann, weil seine Geschichte sich verwoben hat mit meinen Träumen vom Sterben, und manchmal war’s nicht mal seine Stimme, die sprach, sondern die von meiner Mutter oder von Rodney, oder von jemand ganz Fremdem, jemand mit Flügeln und langen Haaren und beleuchtet von einem Licht wie durch ein Kirchenfenster), es war einmal eine scheene Keenigin und ein gerechter und stattlicher Keenig, henten in dem Land, wovon ich geboren wurde, ein scheenes, wunderscheenes Land, das nie nicht durch Krieg oder Gewalt besudelt wurde. Die Zeit der Keenigin war gekommen, daß se ein Kind gebäre. Eine Tochter war es, ihre Haut so weiß wie die Wolken und der Schnee, und ihre Lippen rot so wie Blut und Rosen, und ihre Augen blau so wie der Himmel und das Meer, und ihre Haare schwarz so wie die Bitternis von Liebe und Tod. Und das war das Land, wo ich groß geworden, weit weit weg, jenseits von den Seen, jenseits von den Bergen, wo die Toten noch immer umherwandeln bei der Nacht und die Lebenden kaum zu essen haben. Diese Prinzessin spendete allen in ihrem Volk Licht und Leben. Wenn se schritt durch die Straßen, teilte sich die Menge wie das Meer.
Da kamen zwälf Zauberer zu dem Palast, und jeder gab ihr Geschenke: Reichtum und Scheenheit, Glick und Stolz. Aber der dreizehnte Zauberer, Nathaniel, keine Einladung erhielt er, weil er lebte in dunklen Gegenden, und se sagten, er spricht zu Satan an jeder Donnerstagnacht, in einer Heehle am Bergfuß, die bewachte den Eingang zur Halle. In Wahrheit war Nathaniel kein Anhänger von der Finsternis, aber er war ein Mann mit einem furchtbaren Schmerzen im Herzen. Diesen Schmerz konnte man sehen in seinem Gesicht, in seinen Augen, und in den Narben rund um seine Wangen. Er haßte das Licht nicht, aber er haßte die Freehlichkeit, wo bringt das Licht. Und seine Bitternis machte, daß er zu dem Palast kam von der scheenen Keenigen und dem gerechten Keenig. »Ihr habt mech nicht zu Eurem Fest eingeladen!« schrie er. »Icl hätte Euch das greeßte Geschenk geben kennen von allen… nicht Scheenheit, nicht Reichtum, nicht Gesundheit, aber Wissen… Wissen, all diese Geschenke zu benutzen… die sonst nur ein Flitter sind in Euren Händen.« Und der Keenig sagte: »Nehmt diesen Mann weg und schlagt ihm das Haupt ab, denn solch ein Mann bringt Verderben zu unserem Land.« Und das war das einzige Mal, wo es dem Keenig an Gerechtigkeit fehlte; er war aber ungerecht, weil er seine Tochter liebte und weil stets die Gerechtigkeit der Liebe Sklave ist. Die Wachen kamen und warfen Nathaniel in den Kerker. Aber Nathaniel schrie: »Weil Ihr kein Wissen nehmt, gebe ich Euch an seiner Statt den Tod. Wenn die Prinzessin in das Alter kommt und es geht ihr zum ersten Mal nach der Frauen Weise, dann wird ihr Blut strömen, bis es nicht mehr strömt, und se wird ertrinken in ihrem ersten Monatsfluß, und ihr Tod wird Verderben bringen über das Keenigreich.«
Und se kamen zu Nathaniel in dem Kerker, und se schlugen ihm den Kopf ab, und se begruben seinen Kopf im Westen, und seinen Kärper im Osten. Und die Prinzessin kam langsam in das Alter, daß se eine Frau würde. »Se darf nicht das Alter iebertreten«, sagte die Keenigin. Und se suchten nach den gelehrtesten Doktoren im ganzen Land, und nach den besten Zauberern suchten se, aber da war nichts, was se tun konnten, doch gaben se ihr einen Trank, damit se jung blieb, und in einem goldenen Turm schlossen se se ein, sieben Jahre lang, und se nährten se mit dem Saft der Granatäpfel und vermischten den Saft mit Schnee, und badeten se in Jungfrauenblut. Und an dem Morgen, da ihr erster Monatsfluß kam, badete se im Fluß, und das Blut schoß heraus wie aus einem Springbrunnen. Es lief in ihre Kehle, ihre Lungen, und se erstickte und starb. Se trugen ihren Kärper zu dem heechsten Turm. Auf einen Altar aus Glas legten se se. Unter die heiligen Reliquien der Gatter legten se se. Se brachten das Kreuz der Christen. Auf ihre Lippen drickten se die Torah, und se meinten, der Kuß des Lebens werd se aufwecken. Und als se starb, da erloschen Licht und Leben im Gesicht von Keenig und Keenigin, und die Menschen in den Städten wurden traurig, und sangen nicht mehr auf den Plätzen im Mondenlicht und freiten sich nicht mehr in den Gärten des Friehlings. Langsam, langsam, langsam starb das Land, denn es hatte seine Seele verloren. Im Ende war das ganze Land verdorrt, und nur die Prinzessin war noch da und schlief in dem heechsten Turm. Begraben war Nathaniel, aber er war nicht tot. Die Zeit brachte den Wind und den Regen, und die zwei Hälften von Nathaniel brachte se zusammen, näher und näher, Stickchen
um Stickchen, wenn der Wind bläst und das Wasser fließt. Nathaniel nähte sich selber wieder zusammen, denn er war ein mächtiger Zauberer, und Leben streemte in ihn, denn er wußte den Pfad zwischen Leben und Tod. Wut und Haß haben ihn immer noch am Leben gehalten. Das Keenigreich war eine Wildnis geworden, wie ein Tränental. Und Nathaniel wanderte, wanderte, wanderte, bis er zu der toten Stadt und zu dem toten Schloß kam, und er sah das Stadtvolk und die Heeflinge und den Keenig und die Keenigin, die waren alle nur Knochen, bleiche Knochen unter der Wiestensonne. Und das Schloß war ein Schutthaufen. Eine einzige Treppe war noch da, die hatte keine Wände, eine Treppe zum Himmel war das, und ganz oben, auf ihrem Altar von Glas, lag die Prinzessin, die Hände gefalten, die Augen geschlossen, das Fleisch ohne Blut. Im Tod treimte se aber. Und im Traum war se auf einem Felsen, der war umgirtet von undurchdringlichem Feuer, und se wartet auf einen starken Held mit einem Schwert, den Ritter ohne Furcht und Tadel. Und in einem anderen Traum war se eine Prinzessin in den Dornenbischen, und ihr Prinz hat gekämpft mit Drachen, und er hieb auf die Dornen ein, damit er konnte zu ihr. Und in einen dritten Traum war se der Friehling, den hatte der Keenig der Unterwelt gestohlen, und se war dazu verdammt, sechs Monate im Jahr unter den Schatten der Toten zu verweilen, denn se hatte von den Kernen des Granatapfels gegessen. Nathaniel steigt, und steigt, und steigt. Das Sonnenlicht brennt ihm. Er war voll von Verzweiflung. Was er getan hatte, haßte er, und was er geworden war. Sein Zorn gegen die Prinzessin und das Keenigreich war in den Jahrhunderten geworden zu Liebe. Wie er im Ende ganz oben ankommt und
sieht die Prinzessin ohne Blut so bleich, da erkannte er, daß nur die Liebe se zurickbringt. Er warf sich ieber se und mit fleischlicher Leidenschaft erkannte er se, und wurde seine Leidenschaft ein Strom des Lebens, und er erweckte se vom Tode mit der Kisse drei. Und zum Leben se erwachte in seinen Armen. Ob se nun aber glicklich lebten bis an ihr Lebensende, das werde ich dir nicht sagen. Und ob das Keenigreich gedieh aufs neue und ob das Stadtvolk sich aus den verdorrten Knochen wieder bildete, das ist auch eine andere Geschichte. Ich werde dir nicht erzählen alles (sagte Kaczmarczyk zu mir), weil du selber noch am Flußufer hängst, und weil ich nicht will, daß du wirst riebergeschoben. Darum bleib bei mir. Schlaf jetzt, und träume, und träume wie die Prinzessin in dem Turm, die wartet auf den Prinz, der auch ein Zauberer der Finsternis ist.
5 Und ich schlief auch. Ich glaube, ich wäre gerne gestorben. Aber das Träumen hielt mich am Leben. Ich hab jeden in diesem Traum gesehen – ich meine, jeden der schon tot war: Rodney und Drew natürlich, und Wamdi, und zahllose Kameraden – und auch die Figuren aus Kaczmarczyks Geschichte, die eine eigenartige, verworrene Erzählung eines Märchens war, das meine Mutter mir erzählt hat, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hab, aber aufgewacht bin ich so: Ich war noch im Traumland, und vielleicht lag ich auf diesem Glasaltar, weil mein Bett hart und kalt war. Dann hat mich etwas berührt. Jemand. Sanft. Strich mir über die Stirn. Eine alte Hand, rauh, fest, lebendig.
Die Fingerspitzen bewegten sich auf meiner Wange runter, rieben eine Träne weg. Schwach, schwach hörte ich Stöhnen und Rufen um mich rum, und ich wußte, daß sie aus dem Land außerhalb meines Traumes kamen, aber ich wollte noch nicht wach werden. Ich wollte die Berührung dieser Hand spüren. Nathaniel, der Zauberer, der Prinz der Dunkelheit. Ich schätze, ich zitterte. Das Frösteln kam ganz plötzlich. Und genauso plötzlich legten sich zwei kräftige Arme um mich rum und hoben mich von dieser kalten, gläsernen Bahre. Und etwas Nasses und Warmes tropfte auf meine Lippen, und ich wußte, daß der Zauberer um mich weinte. Dann kam der Kuß, langsam, verweilend, die Haare von des Zauberers Bart kitzelten mein Kinn etwas. Solch eine Liebe in solch einem Kuß. Es waren drei Küsse. Der erste war keusch und förmlich, so wie wenn ein Vater seinen Sohn zum ersten Mal in die Schule schickt; der zweite war wie eine Mutter, tröstend, ein Kuß, um Schmerz zu lindern; aber der dritte war wie ein Liebhaber, und ich bemerkte, daß ich ihn zurückküßte, wobei ich mich aus dem Land der Toten herauskämpfte. Und dann war das Gewicht eines Mannes über mir, und ich erinnerte mich daran, wie ich und Drew unseren Unfug in der Kirche trieben, und meine Männlichkeit rührte sich etwas, und so kam ich allmählich aus dem Land der Träume. Die Augen konnte ich noch immer nicht aufmachen. Sie waren verkrustet. Meine Wunden schmerzten. Aber meine Lippen suchten weiter, und meine Zunge schmeckte Salz und Galle. Oh, ich wußte, daß das eine Sünde war, aber die Hölle konnte so schlimm nicht sein; ich hatte schon Schlimmeres als Feuer und Schwefel gesehen; ich war jetzt schon so verdammt, wie ich in der Zukunft überhaupt verdammt werden könnte, weil ich, wie Sie wissen, Ma’am, meinen Glauben verloren hatte, und der neue Glaube, den ich durch die Rede Ihres Mannes gefunden hatte, war ein Glaube, der anscheinend mehr aus dem
primitiven Afrika stammte wie aus den Lehren von einem Prediger aus Nebraska. Meine Zunge tauchte tiefer, auf der Suche nach einer warmen Stelle, und schließlich trank ich eine butterartige Flüssigkeit, und ganz plötzlich erinnerte ich mich an Kaczmarczyks Erzählung, und ich sah, daß diese sinnliche Leidenschaft so etwas wie der Fluß des Lebens geworden war, und das, was ich trank, war nicht der Samen von irgendeinem dreckigen Mann, sondern ein Elixier. Oh, da schrie ich auf, und im gleichen Augenblick, wo ich meinen Samen in meine zerfetzte, beschmutzte Unterkleidung spendete, öffnete ich die Augen und sah im Lampenlicht ein altes, wettergegerbtes Gesicht, das auf mich runterguckte, mit Augen, so tief und ruhig wie das unendliche Meer. Es war ein Gesicht, Ma’am, wie Gott es haben müßte. Der weiße Bart, der strenge und doch gütige Blick, und das Aussehen, wie wenn er die Welt immer neu erfinden könnte. Und dann lächelte er. »Oh, Gott«, sagte ich leise, »Ich habe gesündigt.« »Nenn mich nicht Gott«, sagte er, wie wenn das ein Name wäre, an den er schon irgendwie gewöhnt war. »Ich heiße Walt.«
10 WORIN ZACK AUF SEINE WEISE EBENFALLS EINE BEGEGNUNG MIT DEM ALLMÄCHTIGEN HAT
1 Als ich wieder wach wurde, war es Nacht, und der Ort, wo ich mich befand, so erfuhr ich später, war ein Spital, obwohl es einmal eine päpstliche Kirche gewesen war. Der Mann, der mich geweckt hatte, war nicht Gott, sondern ein Dichter. Aber er gab mir einen solchen Liebesbeweis, Ma’am, wie Gott das nie getan hat. Und darum darf ich behaupten, daß der Allmächtige durch ihn zu mir gesprochen hat. »Sprich mir nicht von Sünde«, sagte Walt. »Es gibt Tausende, die nur allzu schnell bei der Hand sind, den ersten Stein zu werfen; das mußt du dir nicht auch noch selbst antun.« »Aber…« »Dies ist eine andere Zeit«, sagte der alte Mann. »Hab keine Angst. Du warst schon in der Hölle.« »Wie willst du das wissen?« fragte ich. »Ich weiß es«, sagte Walt Whitman. »Ich weiß es einfach, Kamerad.« Wie? fragte ich mich. Er war nicht dabei gewesen, als ich sah, wie Drews Kopf wegflog. Er war nicht dabei gewesen, wie Rodney in den Wald verschwand. Aber irgendwie wußte ich, daß er diese Dinge durch meine Augen gesehen hatte. Er war ein Zauberer.
Ich fragte mich auch… »Dein Freund, der Gefreite Kaczmarczyk«, sagte Walt, »er liegt auf der nächsten Pritsche. Ihm geht es schlecht, sagen sie. Aber du, du wirst dich erholen.« Und das tat ich auch. Ich kam wieder zu Kräften. Ich hab dann auch an meine Mutter geschrieben und ihr gesagt, daß es mir gutgeht. Aber von all dem Entsetzlichen hab ich nichts erzählt. Das hat sie nicht verdient, daß sie das erfährt. Ich sag mal, wenn die Wahrheit zu sehr wehtun würde, dann sag sie nicht, das ist meine Meinung. Keinen halben Meter von meinem Bett weg lag Kaz, und er lag im Sterben, trotzdem daß er behauptet hatte, er sei stark genug zum Kämpfen und würde nur nach Washington reisen, damit er mich in das Spital begleitet. Wenn ich mich in meinem Bett aufsetzte, konnte ich ihn sehen, nie hat er sich bewegt, war kaum noch am Atmen. Sie haben seinen Kopf zweimal täglich angehoben und gossen ihm irgendeine Brühe den Hals runter, und er hat das anscheinend auch bei sich behalten. Manchmal rief ich ihn, aber er hat nicht geantwortet. Einmal sagte ich: »Kaz, du kannst nicht sterben … sonst kannst du mir nie das Ende von der Geschichte da erzählen…« Ich glaube, seine Augenlider haben ein bißchen geflattert. Oder seine Atmung ging schneller. Aber sicher bin ich mir nicht. Manchmal starrte er an die Decke und hat dabei vielleicht einmal in fünf oder sechs Minuten geblinzelt. Walt Whitman kam jeden Tag an mein Bett. Er erzählte mir, daß er mit der Straßenbahn gekommen sei, daß er in Logis wohne und daß er wirklich aus Brooklyn stamme. Er hat mich gewaschen und meine Bettpfanne ausgeleert. Ich war wie ein kleines Kind, und manchmal war er wie eine Mutter zu mir, manchmal wie ein Vater, und manchmal, um die Wahrheit zu sagen, ein Partner in dem, was einige Sünde nennen.
Als es mir soweit besser ging, daß ich ein wenig laufen konnte, hat er mir geholfen, aufzustehen, und mir die Straße vor der Kirche gezeigt – die lief an einem Fluß lang, und man konnte auf der anderen Seite Virginia sehen. Virginia, der Feind; aber von hier aus konnte man nichts sehen außer Grün und hier und da einen Kirchturm, der über das Laub rüberguckte, oder ein Bootshaus am Flußufer. Kein Rauch, keine Leichenhaufen, keine Kanonen, die auf uns zielten. Ich wurde kräftiger, aber Kaczmarczyk wurde immer weniger. Das war traurig, weil ich diesen bärbeißigen Mann lieben gelernt hatte, und er hatte mehr gelitten, als er uns je erzählt hatte. Die Ärzte gaben ihm nicht mehr lange, aber ich saß immer an seinem Bett und hab geflüstert: »Kämpf, Kaz, kämpf… du schaffst das, du kannst zurückkommen, hier gibt’s noch eine Menge Leute, die auf dich warten.« Aber eines Tages hat Walt etwas gesagt, daß es mich kalt überlief: »Vielleicht ist es Schicksal, Zack, daß es dir um so besser geht, je schlechter es ihm geht.« »Wie kommst du da drauf?« »Es ist der Klang«, sagte Walt. »Hör zu. Sag Zack, Zack, Zack.« Ich tat es. »Nun sag es rückwärts…« »Kaz«, sagte ich. »Oh… lieber Herr Jesus.« »Es war an dem, was ich sagte, überhaupt nichts dran«, sagte Walt, »keine Logik, keine Ursache und Wirkung. Ein Name ist etwas Zufälliges. Was sollte sein mit ihm? Jedoch – als ich diese Laute aussprach, wurde er plötzlich etwas Machtvolles. Hast du es gehört? Plötzlich verknüpfen sich eure Seelen, eure Lebenslinien miteinander, über den Wirbel der Geschichte hinweg. Und nur das bloße Aussprechen dieser zwei Silben hat diese Verknüpfung geschaffen. Da, Zack, da hat alle Magie ihren Ursprung, davon bin ich überzeugt.« Hinter der Kirche war ein Friedhof; da bin ich jeden Morgen bei Sonnenaufgang hin, und Kaczmarczyk brachten sie auch
mit raus und haben ihn auf den taunassen Rasen gelegt. Walt kam da auch immer hin und hat seine Gedichte vorgetragen, die er in einem Notizbuch aufgeschrieben hat. Das waren ganz andere Gedichte wie die, die wir in Mrs. Millers Schule lesen mußten. Nichts mit Blumen und Mägdelein, die durch die Felder hüpfen. Trotzdem überhaupt nichts Fremdländisches. Es war Amerika, das zu mir sprach, Amerika selbst. Und nicht das Amerika, das ich durchwandert hatte, das Amerika, das sich selbst bekriegte, sondern ein einiges Amerika, ein einziger, großer, mitfühlender Geist. Ich habe gehört, daß die Alten glaubten, daß jeder Fluß, Baum, Berg… jede Stadt, jedes Land seinen Genius hat, den Geist, der ihm Leben gibt, und, naja, Walts Stimme war der Genius von Amerika. Eine verdammte Schande, daß das anscheinend keiner wußte außer diesem Nichtsnutz von einem Präriejungen. Wir haben über vieles gesprochen, und, ja, wir haben gesündigt. Aber es kam mir nicht so sehr wie eine Sünde vor, und so, wie es Walt erklärte, war es genauso natürlich wie die Flüsse, Bäume, Berge von Amerika. Also habe ich nicht mehr darüber gegrübelt, und ich gab mich diesem Mann hin, so frei und aufrichtig, wie wenn ich mich Gott hingeben würde. Es kam mir nicht wie etwas Böses vor, vor Sonnenaufgang hinter die Grabsteine zu schlüpfen. Ich schätze, das hört sich ziemlich gotteslästerlich für Sie an, Ma’am, wo Sie doch die Frau von einem Geistlichen sind, aber es gibt mehr auf dieser Welt, als was die Prediger einem erzählen… Zwischen dem Reverend Jones von zu Hause und dem Reverend Grainger in der Wildnis wird es wohl eine Menge Prediger geben, von einem Ende der Frömmigkeit bis zum anderen, hab ich mir gedacht. Ungefähr zwei Wochen, nachdem ich im Spital aufgewacht bin, habe ich, als wir draußen auf dem Rasen sitzen wie immer,
einen von den verwundeten Kameraden über noch eine andere Art Prediger reden gehört. »Von ganz weit unten im Süden«, sagte ein Junge mit Namen Tyler Tyler, der keine Arme mehr hatte und von uns gefüttert werden mußte. »Es ist ein Junge in unserm Alter, er und sein Pa, sie sind über einen Fluß nach Norden geflohen, und sie predigen und heilen die Kranken.« »Manche Leute können aber nicht einfach so geheilt werden«, sagte Morgan aus Connecticut, der ein Bein verloren hatte. »Aber Evelyn, die Negerin, die jeden Sonntag meine Wunden wäscht, sie meint, daß dieser Prediger sogar die Toten auferstehen lassen kann«, sagte Tyler Tyler, zwischen den Bissen von getrocknetem Rindfleisch, mit dem ich ihn fütterte. Tyler Tyler hatte einen Arm auf dem Weg nach Andersonville verloren und den anderen auf dem Rückweg. Während er in Andersonville war, hatte er so ziemlich alles andere auch noch verloren, Leib und Seele. Er war dünn wie ein Skelett. Was hoffte er zu finden? »Er hat ein Zelt vor Bethesda aufgestellt. Es ist nur einen halben Tag entfernt.« Er rollte ein Stück Rindstreifen im Mund herum und kostete den Geschmack aus. Manchmal war tagelang keiner da, der ihn gefüttert hat. Wir hatten alle unsere eigenen Probleme, manchmal haben wir nicht dran gedacht. »Du glaubst doch wohl nicht, daß dir neue Arme wachsen, hoffe ich«, sagte ich. »Morgan hat recht, auch wenn es sich gemein anhört.« »Ich weiß, es gibt keine Heilung für das, was ich habe«, sagte Tyler. »Aber was ist, wenn ein Mann nur daliegt und er schon so gut wie tot sein könnte?« Und mit dem Kinn deutete er auf Kaz, der sich nicht bewegt hatte, sondern auf seiner Pferdedecke auf dem Rasen lag und vor sich hin starrte.
Walt aber sagte: »Weißt du noch, Zack, was ich dir über die Worte gesagt habe? Wie wir sie zu einem Stoff von solcher Zugfestigkeit weben können, daß er sogar der Stoff des Kosmos werden könnte? Erinnere dich, Zack, sogar in den Evangelien werden Gott und das Wort miteinander gleichgesetzt…« »Soll das heißen, daß an dem Gerede über Wiederauferstehung etwas dran ist?« fragte ich. Aber Walt lächelte nur und sah mich mit diesen tiefgründigen Augen an, und ich meinte, sehen zu können, wie in seinem Kopf ein neues Gedicht aufstieg, wie ein Delphin, der aus dem Meer springt.
2 Es war eine Kirche, wie ich keine vorher jemals gesehen hatte. Ich und Tyler Tyler und Walt, wir haben Kaz in einer improvisierten Maultiertrage da rübergebracht. Im Fluß gibt es eine Insel, westlich von Georgetown, und wenn man es genau nimmt, liegt diese Insel in Virginia und sozusagen in Feindesland; gibt aber nichts wie Bäume und kann man nur mit einer Fähre hinkommen, die von einem alten Mann mit rotem Gesicht bedient wird. Wie er uns kommen sieht und unsere Uniformen erkennt, fing er zu singen an, ›The Battle Hymn of the Republic‹, mit einer pfeifenden, tonlosen Stimme. »Ihr wollt wohl zu der Versammlung, schätze ich«, sagte er und sammelte von jedem von uns einen Penny für die Fahrt ein. »Das ist für hin und zurück, ein Penny hin und zurück. Hier kommen Leute her und haben die Taschen voll, und nach Hause gehen sie ohne was, also kriege ich den halben Penny jede Richtung vorher, bevor ihr einsteigt.«
Als er uns an der Anlegestelle absetzte, zeigte der Fährmann unbestimmt in Richtung Wald. Ich und Walt und Tyler und das Maultier mit der Schleppbahre, wir folgten einfach dem einzigen Pfad, und bald waren wir von Unmengen von Pappeln umgeben. Wir sind den Pfad weitergelaufen und an eine Lichtung gekommen, wo ein Zelt aufgeschlagen war. Eine Schlange Leute stand da ganz geduldig, keiner hat ein Wort gesprochen. Gab auch vereinzelt Soldaten – Rebellen und Yankees nebeneinander, und keiner hat dem andern böse Blicke zugeworfen oder Streit angefangen. Diese Lichtung war so etwas wie neutraler Boden, und wir wußten, daß hier, auf diesem winzigen Raum, der Krieg außer Kraft war. Walt sagte: »Schau, Zack. In diesem kleinen Kreis sind die Männer noch Brüder. Wäre es in der Welt doch ebenso.« »Er hat sie stillgezaubert. Aber das heißt noch nicht, daß er Tote auferstehen lassen kann.« »Ich hab’ Hunger«, sagte Tyler mürrisch, und ich fütterte ihm ein Stück Rinderstreifen und gab ihm einen Schluck aus meiner Feldflasche. Er spähte andauernd nach dem Zelt rüber, und mir war klar, daß er gegen alle Vernunft etwas erhoffte, was nicht sein konnte. Und das war für sich genommen schon ein Wunder; denn Andersonville, hatte ich gehört, tötet in einem Menschen alle Hoffnung, und diejenigen, die da lebend rauskamen, hatten alles Menschliche verloren, und auf ewig waren sie wenig mehr denn Tiere. Kaczmarczyk rührte sich nicht. Wir hatten uns in der Schlange eingereiht, die sich ganz langsam nach vorwärts bewegte. Jemand hatte ein Lagerfeuer angemacht, und eine Frau spielte auf einem Hackbrett und sang ein altes Volkslied, das so anfing:
S’ist die Gabe, schlicht zu sein, S’ist die Gabe, frei zu sein. Aus dem Zelt ertönte Getrommel, und das war nicht der trockene, rhythmische Schlag der Trommlerjungen, sondern ein chaotischer Schlag. Es hörte sich afrikanisch an, wenigstens meiner Meinung nach. Eine zweite Schlange Leute kam auf der andern Seite von dem Zelt wieder raus. Diese Leute da machten feierliche Gesichter und sahen aus, als hätte man sie tief in die Heilige Schrift eingetaucht. Ich hab ja ganz gut selber gewußt, wie Prediger sein können, mit ihrem andauernden Herumreiten wegen Verdammnis und Sündigkeit, die hier aber hatten einen ruhigen Stolz in der Art, wie sie die Köpfe hochtrugen. Keine Krüppel, die rumtanzten und ihre Krücken wegwarfen und Hallelujah kreischten. Keine Blinden, die behaupteten, sie sehen plötzlich wieder, und dabei rennen sie gegen Bäume und stolpern über Steine. Solche Versammlungen hatte ich schon gesehen, diese hier war anders. Die Schlange kam nur sehr langsam voran, und es war schon später Nachmittag, bis wir endlich kurz vorm Zelteingang zu stehen kamen und besser hören konnten, was drinnen vor sich ging. Das Trommeln war noch lauter geworden, und jetzt sah ich, wo es herkam. Das Zelt war schwach beleuchtet mit Kerzenlicht, und da waren ungefähr ein Dutzend Schwarze, große, stämmige Kerle, die auf diese Trommeln einschlugen und auf ausgehöhlte Baumstämme droschen, und sie waren splitterfasernackt, der ganze Haufen, bis auf einen blendendweißen schmalen Lendenschurz, und dadurch wurde ihre Nacktheit bloß noch mehr betont, wie sie da am Zelteingang saßen und Spektakel machten und die Aussicht versperrten.
»Prächtige Geschöpfe!« rief Walt. »Das Schimmern von Schweiß auf schwarzer Haut im flackernden Kerzenlicht… ich werde das nicht so bald vergessen…« »Aber«, sagte Tyler Tyler, »was hat ein Haufen nackter Nigger im Haus Gottes zu suchen?« Und er wurde immer nervöser; ich, der ich nichts erwartet hatte, war nicht so davon beunruhigt. »Das«, sagte Walt, »ist das Prächtigste von allem.« »Aber, Walt«, sagte Tyler, »es ist einfach unzivilisiert.« »Und wer behauptet, daß wir das Monopol auf die Zivilisation haben? Hat nicht Afrika die Pyramiden erschaffen?« Nun, Walt glaubte, daß alle Menschen Brüder sind, und das meinte er auch wirklich so, Schwarze und Chinesen und alle – ich habe noch nie einen Mann erlebt, der weniger Kompromisse gemacht hat als er. Ich bemerkte dann, daß sich in den Geruch von Kerzen und Weihrauch noch ein Geruch mischte, widerwärtig, wie der einer rolligen Katze. Und ab und zu hörte ich ein Tier knurren. Wie ein Löwe oder ein Tiger. Nicht, daß ich je einmal einen gehört hatte, aber so stellte ich mir das vor. Nun, das Trommeln ging weiter, und wir kamen dem Eingang immer näher, und mittlerweile ging unbemerkt die Sonne unter, und Tyler mußte wieder gefüttert werden. Und die Wahrheit ist, ich wurde ungeduldig und wollte gehen, bloß daß ich so hingerissen war von Walts Begeisterung; so einfältig diese ganze Angelegenheit auch für jemand war, der alle Religionsrichtungen kannte und ihre Tricks, sie hatte für ihn eine Art Zauber; und diese kleine Freude wollte ich ihm nicht mißgönnen. Nachdem ich seine kleinen Vorträge über die Macht des Wortes und die Göttlichkeit des Wortes über mich habe ergehen lassen – und es von seinen eigenen seltsamen, reimlosen Gedichten kannte, daß er im Englischen genauso
einen Rhythmus heraufbeschwören konnte wie das primitive Getrommel hier –, hab ich entdeckt, daß ich diese Exzentrizität von ihm liebte und daß sie mir fehlte, wenn er versuchte, sich etwas normaler zu verhalten. Im Eingang aber drehte ich mich nach Kaz um, der auf der Schleppbahre lag, ich dachte, da ist wirklich keine Hoffnung für ihn, und ich bückte mich und tätschelte seine Wange ein bißchen und war mir ziemlich sicher, daß er nicht mal mehr atmete. »Tyler«, sagte ich, »ich glaube, wir sind zu spät.« »Nein«, meinte Tyler, »er ist noch nicht tot. Manchmal ist man voreilig damit, daß man sagt, jemand ist tot. Das ist Faulheit, ist das. Ein Mann wird angeschossen, man schmeißt ihn auf einen Haufen Leichen, und man guckt nicht mal, ob er noch zuckt…« Da hab ich begriffen, daß Tyler jetzt noch einmal erlebte, was ihm passiert war. Damit, daß er darauf bestanden hatte, Kaczmarczyk hier mit rauszuschleppen, wollte er dem Schicksal vielleicht heimzahlen, was es aus ihm gemacht hatte. Ich fragte mich, ob Tyler jemals daran dachte, daß es für ihn besser gewesen wäre, wenn sie ihn hätten dort sterben lassen. Hat er sich in diesem Höllenloch von Andersonville jemals in den Haufen Leichen zurückgeträumt? War es eine Art Schuld, weshalb er Kaczmarczyk so verzweifelt retten wollte? »Hör’ mal«, sagte ich, »zucken ist eine Sache, aber Kaz atmet nicht einmal.« »Wir sind schon so weit gekommen.« Tyler schaute weg. Ich sah mich nach Walt um, damit er mir zur Seite stand, aber ich wußte, daß er nur Augen für das hatte, was im Zelt los war, egal was mit Kaz oder Tyler passierte, oder, wenn ich ganz ehrlich sein will, sogar mit mir; er war ein Mann, der ganz einfach alle Sachen wissen wollte, mußte sie anfassen, fühlen, riechen – mußte sie manchmal ficken, bloß weil sie da waren.
»Er ist tot, Freunde«, sagte ich. »Das Offensichtliche aussprechen«, sagte Tyler, »macht noch keine Wahrheit.« Und Walt legte nur den Arm um mich und flüsterte mir ins Ohr: »Laß ihn, Kamerad, er leidet für uns alle.« Endlich überschritten wir die Schwelle und waren im Zelt drin. Meine Augen brauchten eine Zeit, sich an das Dämmer zu gewöhnen. An die tausend Kerzen waren in dem Raum da, in Gläsern aufgestellt – päpstlicher kann es beim Papst auch nicht zugehen. Weihrauch war auch da, Weihrauch überall; aus Rauchfäßchen, aus kaputten Töpfen, aus alten Zigarrenkästen, von überall kam Weihrauch; das war mit ein Grund, warum wir von draußen nicht soviel sehen konnten. Auf dem Zeltboden lagen teure Perserteppiche, wie ich schon welche gesehen hatte, bei Plünderungen in den SüdstaatenVillen. Ungefähr hundert Leute hockten da auf dem Boden, ein ganz erbärmlicher Haufen. Einige hatten nur einen Arm oder ein Bein, ein paar hatten Pocken oder Lepra oder so komische Schwellungen, und manche spuckten Blut. Was ich ganz seltsam fand, war, daß da so viele Schwarze in dem Zelt waren, viele von denen mit nichts an außer der eigenen nackten Haut, und sie wippten im Takt zu den verrückten Trommelrhythmen und schwenkten die Arme und verdrehten die Augen. Bei dem Anblick hat Tyler Angst gekriegt, glaube ich. »Meinetwegen können wir nach Hause gehen, wenn du willst, Zack«, sagte er zu mir, und mit mehr Nachdruck zu Walt: »Und auch aus Rücksicht auf Mr. Whitmans Alter, wir sollten ihm Ruhe gönnen.« Aber Walt bewegte sich schon mit den Trommeln, richtig im Takt, glaub ich, und auch den Rhythmus verstand er anscheinend. Und dann fängt er auch schon wie ein Wirbelwind zu tanzen an, springt mit den Niggern rum und
schlägt Kapriolen. Und er war ja doch nicht mehr der Jüngste, Ma’am, Sie verstehen, ich hab Angst gekriegt, er fällt in Ohnmacht, und keiner von uns hatte Riechsalz dabei. Wer war denn nun aber der Prediger, oder die beiden Prediger, Vater und Sohn, über die sie im Spital gesprochen hatten? Das einzige, was wir sehen konnten, waren die Kranken und die wie verrückt tanzenden Schwarzen, die jetzt zwischen den Kranken umhergingen und mystische Handbewegungen um ihre Köpfe rum machten, und rübersprangen über die, die zu schwach waren zum Sitzen. Sie machten Purzelbäume und schlugen Rad mitten unter ihnen. Dann, als meine Augen sich noch mehr an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte ich endlich bis zur Mitte des Zeltes gucken. Da war mit weißem Kreidepulver ein plumper Kreis gezogen, und in den Kreis hatte eine zittrige Hand mit weißer Farbe ein viereckiges Symbol gemalt, und ich bildete mir ein, es müßte jedem entgegenschreien: ›Woodoo, Woodoo‹. Ich kann das Symbol nicht einmal ordentlich beschreiben, Ma’am, außer daß Tiere drin waren, glaube ich, und geometrische Figuren und Wellenlinien wie bei einer großen Flußbiegung. Ich habe dann einen Mann an einem Pult gesehen – ein Mann, vor der Zeit alt geworden, ganz knochig und hohläugig, er las aus einer Bibel, aber ich konnte nicht erkennen, daß ihm irgend jemand zugehört hat. Er murmelte und sprach vor sich hin, und ab und zu habe ich etwas aufgeschnappt von dem, was er geredet hat, und das war: »Hört mich an, meine herzlich geliebten Brüder, denn ich war im innersten Kreis der Hölle selbst. Ich habe gewißlich dem Drachen der Finsternis ins Auge geschaut, und ich habe die Ödnis im Herzen der herrlichsten Geschöpfe Gottes gesehen. Hört mich an, meine Brüder, hört mich an. Ein Königreich ist nahe, aber nicht das Königreich, das ihr meint.« Etwas Fremdartiges war an seinen Worten. Ich habe tausend Predigten gehört, und die Worte
waren immer die gleichen, er aber reihte sie irgendwie anders aneinander… und ich habe mich gefragt, ob unser Herrgott in diesem ganzen Spektakel irgendeinen Platz hat. Keiner schaute ihn an. Statt dessen starrten alle in die Mitte von dem Kreis, wo ein Junge saß, nicht älter wie ich, eher noch ein bißchen jünger, und er hat all die Schwarzen gar nicht beachtet, die da um ihn rumsprangen. Zu seinen Füßen lag ein Leopard und schlief. Von dort kam der Geruch her und auch das Knurren, das ich gehört hatte. Er war ein einfacher, blonder, blauäugiger Junge, wie Tausende andere, die neben mir gekämpft hatten, wie Tausende andere, die getötet wurden – denn, bis ich in die Armee eingetreten bin, waren unsere Männer, und von ihnen sogar noch viele mehr, zum großen Teil Jungs. Er hätte in Mrs. Millers Schule neben mir in der Bank gesessen haben können, bloß daß kein Schüler so lange so stillsitzen kann. Er war ganz ruhig, ganz in sich gekehrt, ganz verdreht in seinem unbequemen Schneidersitz. Nur seine Augen bewegten sich, hin und her, wie das Pendel von einer Standuhr. Fast habe ich darauf gewartet, daß er ›Kuckuck, Kuckuck‹ ruft. Was er kurz darauf plötzlich auch tat. Das war, als wir Kaz ganz in das Zelt reinbrachten und zu seinen Füßen hinlegten. Der Junge guckte ihn an, wie er so dalag, und wird mit einem Mal zum Berserker. Kriegt Schaum vor dem Mund, schlägt mit den Armen um sich, verdreht die Augen, daß man nur noch das Weiße sieht, wie Geisteraugen. Und dann fängt der Junge an zu singen, mit harter, voller Stimme, die von überall um uns rum zu kommen scheint, und was er da singt, war nicht in Englisch. Nach meiner Erinnerung hat sich das ungefähr so angehört: Koulèv, koulèv O – Koulèv, koulèv O –
Und dann riß er sich das Hemd runter und warf es in die Menge. Und dann sprang er in die Luft hoch und begann sich zum drehen, so schnell, daß ich ihn kaum noch sehen konnte, das ging wie ein Wirbelsturm. Und die tanzenden Farbigen, die machten alle einen Kreis um ihn rum und waren wie die Speichen von einem Rad, die aus dem komischen Jungen da Kraft zogen. Nicht lange, und er riß sich alles runter, was er auf dem Leib trug, und kein Anflug von Scham im Gesicht. Er schnellt hoch und krümmt und biegt sich zu Knoten, und die ganze Zeit sind seine Augen weiß und gleißen. Und währenddem brabbelt der alte Mann weiter, und ich habe gedacht, na, kann sein, er sagt etwas, was das Ganze hier erklärt. Ich hör also mit halbem Ohr zu ihm rüber bei all dem Getön, das jetzt immer lauter wird und meinen Pulsschlag in den gleichen blödsinnigen Rhythmus zwingen will. Was der Prediger aber gesagt hat, war dies hier: »Es gibt da eine mächtige Schlange, meine Brüder und Schwestern, und wir alle sind von ihren goldenen Windungen umschlungen, denn sie ist die Sonne und der Lebens Spender, und für die einen ist ihr Name Jehova, doch heute lehre ich euch einen neuen Namen: Damballah Wedo!« Lehren wie die da hatte ich noch nie aus der Bibel gehört, nein, Ma’am. Die einzige Schlange in der Bibel war eine böse Schlange. Na, und wie diese Worte aus dem Mund von dem alten Mann kamen, fing der Junge an zu fauchen und die Arme zu biegen, als sei er selber eine Schlange, und drehte und wendete sich und warf den Kopf zurück und schnellte ihn wieder nach vorn, als wäre er an Scharnieren festgemacht, und hat ihn so schnell hin- und zurückverdreht – ich hätte schwören können, daß er ganz rundrum gedreht war wie ein Korkenzieher. Und dann fingen die Schwarzen alle an mit Psalmodieren,
Koulèv, koulèv O – Koulèv, koulèv O – und drehten und wendeten sich hin und her, zusammen mit dem Jungen, und machten ihm seine ganzen Bewegungen nach, und das war einfach der Wahnsinn, das kann ich Ihnen sagen, dann fing der Junge auch noch an zu tanzen, quer durch die ganze Gesellschaft von Kranken und Sterbenden durch, und ab und zu bückte er sich zu einem runter und hat ihn berührt, und der fährt plötzlich hoch und guckt um sich, als träume er, ich weiß nicht, ob der Junge die Kranken nun gesund gemacht hat oder verrückt, aber da war eine Kraft am Werke, wie die magnetische Heilkraft, die die Zirkushypnotiseure benutzen. Das Trommeln zerrte an mir, als wäre ich eine Marionette und der Trommelschlag die Fäden. Ich kämpfte dagegen an. Ich hab zu mir selbst gesagt, ich laß mich nicht zu einem Wilden aus dem Dschungel machen, ich laß keinen Affen aus mir machen. Aber Walt, wissen Sie, der war da anders. Er gab sich einfach hin. Ich bemerkte, wie er kleine Bewegungen machte, mit den Hüften wackelte, mit dem Arm schlenkerte und sich so gut er konnte zurückhielt und dabei doch wußte, daß er von dem Ungestüm dieser Urwaldmusik gepackt war. »Walt, nicht«, sagte ich, und ich muß zugeben, daß ich einen Stich Eifersucht spürte, denn der Junge war schlank und leuchtend, und seine Haare wogten wie Baumkronen im Herbst, und ich wußte, daß Walt eine Schwäche für gutaussehende Jungs hat. Er sündigte anders als ich, nicht aus Zuneigung oder aus einem dringenden Verlangen, nein, nein, für ihn war das Sündigen eine Feier seiner selbst; er empfand ganz aufrichtig keine Scham, kein Vergehen gegen das Gesetz der Natur, nicht einmal eine Spur von Schuld. Ich kannte Walt
inzwischen so gut, daß ich sehen konnte, wie dieser von seinem Schlangentanz besessene, tanzende Junge Walts Lenden und auch seine Seele berührte. Als ich Walts Arm festhielt und er nichts von mir wissen wollte, ja, da war ich eifersüchtig, und, nein, Ma’am, er wollte diese Schlange mit beiden Händen packen und ihren Geist trinken und ihn tief in seinen Leib reinsaugen, so wie er es mit mir gemacht hatte, nur daß ich Fleisch und Blut bin und hier etwas war, was er nicht anfassen konnte. Oh Gott, aber auch ich habe es gespürt, spürte die scharfen, flimmernden Windungen der Schlange, spürte den Schlag ihres Schwanzes wie den Schlag einer Lederpeitsche, spürte, wie sie mir über das Gesicht züngelte, über die Hände, ja, sogar über meine intime Stelle, die sich gegen meine Hose spannte, als hätte die grellstbemalte Hure Babylons sie geküßt. Aber ich widerstand. Walt nicht. Bald konnte ich diese Schlange fast schon sehen… vielleicht Rauchgirlanden vom Weihrauch, vielleicht eine Feuerschnur, die wie ein Lasso die Luft einfing. Ich sah Walt in ihren Fängen. Ich sah ihn sich in Krämpfen bewegen, von der Macht der Schlange nach oben gerissen, nach unten gedrückt. »Das ist Satan!« schrie ich, und Walt drehte sich nur zu mir um und sagte: »Satan ist nur ein Wort, Junge, nur ein Wort.« Und als ich antwortete: »Aber Walt, du hast doch selbst gesagt, wie mächtig das Wort ist, daß es die Quelle der Magie ist«, da lachte er nur und sagte: »Widersprüche halten das Universum zusammen, Sohn, wußtest du das nicht?« Und dann machte er sich aus meinem Griff frei, und bald war er da vorne und tanzte direkt neben diesem hübschen Jungen, und sogar Tyler Tyler war von dem Taumel gepackt, er wippte ein bißchen mit den Hacken, die Arme konnte er ja nicht schwingen, aber seine Stümpfe bebten, und er warf den Kopf vor und zurück und fing an zu stammeln, genauso wie das In-
Zungen-Reden von den Leuten da bei den Wiedererweckungsversammlungen, und allmählich dachte ich, Herrgott, Scheiße, aber ich bin der einzige hier, der nicht tanzt, und ich kann die Wogen dieser Kraft hier spüren, und sogar den Herzschlag der Welt, aber mein eigenes Herz ist ein Stein, kalt, tot, unerreichbar. Und ich begann zu weinen. Und ich meine nicht nur eine kleine Träne hier und da, nee. Ich meine, ich heulte wie ein kleines Kind. Ich hatte nicht mehr so furchtbar geflennt, seit mein Pa mich geschlagen hatte, als ich ein Glas Melasse geklaut hatte; da war ich sieben. Was als nächstes passierte, konnte ich wegen den Tränen nicht richtig sehen. Die Kerzenflammen waren wie Lichtschlieren, und die Rauchstreifen des Weihrauches waren brennende Wolken, die durch das Halbdunkel brodelten, und es schien, als ob die Schlange sich wand und wand und wand und mich derart zusammenquetschte, daß ich kaum noch atmen konnte, und als nächstes sah ich meine Freunde und alle diese Farbigen, und dann diese ganze Gemeinde, wie sie alle nackt in den Flammen tanzen, aber es war kein Hexensabbat und auch kein Bacchanal von den Dämonen der Hölle, es war so eine statische Angelegenheit, langsam, ernst, ein bißchen traurig, zu einer zeitlosen Musik. Oh, ja, und während all dem hat dieser Leopard geschlafen. Oh, ab und zu hat er gebrüllt und in die Luft getatzt, aber mehr wie im Traum. Und als nächstes schien mir, daß der Prediger-Junge die Hand ausstreckte, und Feuerschlangen sind aus der Hand rausgekommen, und sie springen da rüber, wo der sterbende Kaczmarczyk liegt, und siehe da, sie lecken ihm über die Augenlider, und seine Augen öffnen sich weit und man hat bestimmt noch bei keinem Mann ein solches Erstaunen im Gesicht gesehen. Und er stotterte und stotterte, und ich schätze mal, er wollte etwas sagen. Und das tat er dann auch. Aber ich
habe es nicht verstanden. Es war in einer von diesen europäischen Sprachen, schätze ich, es sei denn, daß auch er in Zungen sprach. Zuerst war es nur so ein undeutliches Gemurmel, aber dann, wie bei einem Damm, wenn er zuerst nur ein bißchen knackst, und dann noch ein bißchen mehr, und dann bricht er plötzlich ganz zusammen, schreit er klar und deutlich; ich weiß nicht, was er gesagt hat, aber es hörte sich an wie »Dee schlung, dee schlung«. Was für eine verdammte Sprache war das? Es war mir egal. Kaz erwachte wieder zum Leben. Und auch ich, der dastand, der der Schlange widerstanden hat, ich, derjenige, der sich hingestellt hatte und geradeheraus gesagt hatte: »Er ist tot.« Das Offensichtliche aussprechen macht noch keine Wahrheit. »Allmächtiger Gott, Kaczmarczyk«, rief ich, »du bist ja überhaupt nicht tot.« »Wer hat gesagt, daß ich tot bin?« sagte er. Und seine Augen klagten mich an. Rote Augen waren es, als ob sie von den Flammen der Hölle erleuchtet seien. Und ich hatte Angst. Ich wollte wegrennen. Die Schlachten, die wir gesehen hatten, die Toten, die wir gesehen hatten, das war alles in seinen Augen drin. »Ich hab’s gesagt. Es tut mir leid.« Und Kaczmarczyk stand von seiner Schleppbahre auf, und auch er fing an zu tanzen, und sie tanzten alle, bis sie erschöpft waren, alle außer mir; von all denen war ich der, der sich gefürchtet hatte, mitzutanzen. Und ich habe nur den schlafenden Leoparden angestarrt, der doch nie die Augen aufgemacht hat, und das war gut so, weil – ich hätte Angst gehabt, hineinzuschauen. Und nachher blieben wir auf der Insel und schliefen unter den Bäumen, denn der Fährmann war schlafen gegangen.
3 Am Morgen kam mir alles nur wie ein weiterer Traum vor. Wir wachten bei Sonnenaufgang auf, und ich sah, daß Walt bereits eine Kanne voll Kaffee kochte, und Kaz, schon hellwach und scheinbar gesund, fütterte Tyler Tyler ein Stück Zwieback. Da waren kein Zelt und keine tanzenden Schwarzen und kein alter Mann, der Predigten über große gewundene Schlangen hielt. »War das alles ein Traum?« fragte ich, als ich mich aufsetzte und gegen einen Baumstamm lehnte. Nicht weit weg konnte ich den Fluß rauschen hören, und ich dachte daran, daß Washington nur eine halbe Tagesreise entfernt war. Walt sagte: »Nein, Zacko; sie haben die Zelte abgebaut, und die meisten Besucher sind schon fort.« »Sie haben nicht mal gesammelt«, sagte Tyler, und das war, um die Wahrheit zu sagen, das Merkwürdigste von allem, denn ich hatte noch nie zuvor von einer Religion gehört, die neben Gott nicht auch Reichtümer hatte. Jetzt sah ich den Mann, der gepredigt hatte, auf der anderen Seite von der Lichtung. Er schaute zwei Schwarzen zu, die Bündel auf einen Wagen luden. »Gehen sie zurück in den Süden?« fragte ich. »Nein«, antwortete Walt. »Ich habe gehört, daß sie ihr Glück oben im Norden versuchen wollen… sie behaupten, irgendeinem großen Kreis des Universums zu folgen.« »Und Kaz?« »Viel geredet hat er nicht«, sagte Tyler, »aber am Leben ist er sehr wohl.« Kaczmarczyk drehte sich zu mir um. Die ewige Verdammnis war immer noch in seinen Augen zu sehen. Ich sah weg.
Kaz sagte: »Du glaubst nicht, daß ich zurück bin, oder?« Und ich sagte: »Zack… Kaz… Zack… Kaz…«, und brütete über diesem zufälligen Laut-Palindrom, wie Walt es genannt hätte, und fragte mich, ob Kaz durch seine Rückkehr mich nun in das Land der Toten schicken würde. »Am Leben ist er sehr wohl«, sagte Tyler noch einmal. Warum wiederholte er das andauernd? War es, weil er wußte, daß ich umgekehrt wäre, wenn er nichts gesagt hätte? Oder war es, weil er, wie ich, nicht ganz an diesen lebenden, atmenden Kaczmarczyk glaubte? In dem Moment kam dieser junge Bursche auf uns zu. Ich meine, der Junge, der nackt im Weihrauchnebel getanzt hatte. Der, auf den ich eifersüchtig geworden war. Jetzt war nichts Unschickliches an ihm dran. Er hatte sich mit einem schwarzen Samtanzug feingemacht – er hätte auf dem Weg ins Kasino oder zu seiner eigenen Beerdigung sein können. Und hinter ihm lief dieser Leopard, zahm wie ein Hündchen. »Morgen, euch allen«, sagte er. »Ich bin Jimmy Lee Cox, der Sohn des Predigers.« Er kam direkt auf uns zu, drehte sich um und sagte dem Leopard, er soll sich unter den Schatten von einer Eiche hinlegen, was er auch tatsächlich gemacht hat, und dann beugte er sich runter und sah Kaz an, der mit einer Tasse Kaffee am Feuer saß. »Du bist der, der letzte Nacht berührt wurde«, sagte er. Kaz sagte: »Berührt«, dann schaute er weg, »aber nicht geheilt.« »Nein«, sagte der Junge. »Als das Feuer dich berührte, warst du schon weit übern Rand; aber da war wer, der dich vom Reinfallen zurückgehalten hat; ich war’s nicht.« »Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich war derjenige, der ständig gesagt hat, nein, nein, laßt ihn in Ruhe, er ist tot. Ich glaube, er ist mir deswegen böse.«
Jimmy Lee schaute mich an, schaute direkt in mich hinein, fragen Sie mich nicht, wie. Er konnte in mir wie in einem Buch lesen, obwohl ich gewettet hätte, daß er das ABC bestimmt nicht konnte. »Kann ich euch um eine Tasse von diesem Kaffee bitten?« fragte er. »Wo ich herkomme, mahlen wir ein bißchen geröstete Zichorie und kochen das mit Flußwasser, das vom Fleisch der Toten verseucht ist, und wir versuchen es so gut wie möglich zu filtern, und wir trinkens und sagen uns, Herr, das ist eine mächtig feine Tasse Kaffee. Manchmal habe ich so ein richtig echtes Verlangen nach richtig echtem Kaffee.« Walt goß ihm aus der Kanne ein. Und setzte sich neben uns. Er war von diesem Jungen verzaubert, denke ich. »Ihr seid keine Christen«, sagte Walt. »Nie sowas behauptet«, sagte der Junge. »Aber das Zelt – die gelegentlichen Bibelzitate…« »Als mein Daddy noch unter uns weilte«, sagte Jimmy Lee Cox, »war er ein Wanderprediger, aber er war nicht bewandert in Büchern und nichts; er hat nur den Farbigen gepredigt. Was wir aus der Bibel wissen, fliegt uns so an, aus der Luft, kommt aber aus keinem Buch nicht.« »Was meinst du damit«, sagte Walt, »während dein Daddy noch unter euch weilte? Wir haben deinen Vater doch gesehen, wie er in der Ecke über die große Schlange predigte.« »Für die großen Predigten«, sagte Jimmy Lee, »kommt er gerne zurück; da fühlt er sich wieder lebendig. Herrgott, das ist mal ein leckerer Kaffee.« Eine Zeitlang sagte er nichts. Man hätte meinen können, daß wir ihm einen Sack Gold gegeben hatten, soviel hat der Kaffee ihm anscheinend bedeutet. Ich teilte meine Tasse mit Tyler, und ich bemerkte, daß er sich zu Tode ängstigte. Er starrte dauernd die große Katze an, die weitab saß. Aber ich dachte mir, Mann, ich schätz mal, wenn dieser Leopard nicht zahm
wäre, daß er dann nicht frei in einem Zelt voll mit verrückten Tänzern rumlaufen dürfte; sonst würde er selber verrückt werden. Na, wie er schließlich seine Tasse leergetrunken hatte, drehte sich der Junge zu Tyler und sagte: »Bist du bereit?« Tyler sagte: »Gib mir einen Augenblick.« Was sollte das denn jetzt bedeuten? »Einen Augenblick«, sagte Jimmy Lee, »aber wenn es passiert, mußt du freiwillig gehen, also mach deinen Frieden mit dir selbst, so gut du kannst.« Tyler sank auf die Knie. »Gott, Gott«, sagte er. »Ich habe keine Arme, schätze, ich kann nicht einmal beten.« Jimmy Lee faßte ihn bei den Schultern: »Nun hör zu. Die Schlange hat dir schon einen Vorgeschmack von dem gegeben, wonach du verlangt hast. Aber der Rest wartet auf das, was du versprochen hast.« »Ich weiß«, sagte Tyler. Und ich sagte: »Tyler Tyler, auf was für einen satanischen Handel hast du dich eingelassen?« Tyler antwortete: »Ich sollte schon vor Andersonville sterben. Was ich seitdem durchgemacht habe und was ich jetzt durchmache – das ist sowieso eine ständige Hölle. Ich kann es genauso gut für jemand anders eintauschen.« »Was redest du?« fragte ich. »Das Leben ist kein Spiel mit Pokerchips.« Jimmy Lee sagte: »Aber das Leben ist ein Meer, und die Meere haben Gezeiten. Und wenn etwas an das eine Ufer angespült wird, fällt etwas anderes von einem entfernten Ufer in die Tiefe.« »Das klingt so biblisch«, sagte Walt, »ich habe es in der Bibel aber nirgendwo gelesen.« »Andere Leute«, sagte Jimmy Lee, »haben andere Bibeln, ist doch so, oder?«
Walt lachte laut. Ich glaube, irgendwie hatte ihn das von grade eben auf eine Idee zu einem Gedicht gebracht. »Nun komm schon«, sagte Tyler. »Ich hab genug von all dem; laßt mich einfach frei.« »Freiheit«, sagte der Junge leise. »Freiheit, Freiheit.« Aber er sagte dieses Wort nicht einfach nur so. Er rief den Leoparden damit. Und dann ging Tyler Tyler hinaus auf die Lichtung, und der Leopard riß ihm die Kehle auf, und er fiel hin, und der Leopard umkreiste ihn dreimal und stieß ein solches Gebrüll aus, daß es sogar das Lärmen einer Schlacht übertönt hätte. Und dann löste sich der Leopard auf… ja, so könnte man das nennen… der Leopard löste sich auf in die Bäume, das Gras und den Wind. Und ich und Walt rannten rüber, um Tyler anzugucken, und das haben wir gesehen: einen anderen Jungen, ein oder zwei Jahre älter als ich, aber ein ganzer Junge, die Arme über der Brust gekreuzt, über seinem Herz, wie auf den Fotografien von Ägypten die uralten Mumien und alles. Und Tyler lächelte, obwohl ich ihn noch nie hab lächeln sehen, als er noch lebte. Und er hatte keine Wunden am Hals, nirgends eine Kriegsverletzung, Tatsache; er war der Junge, den seine Mutter gekannt hatte, wie sie ihn in den Krieg schickte, wie meine eigene Mutter es getan hatte, mit einem Kuß und einem Laib Brot und einem Bündel voll Hoffnung und Furcht. Und als wir ans Feuer zurückkehrten, da war Kaz, schlaksig und kräftig stand er da und war dabei, seinen Verband vom Gesicht zu reißen, da wo es weggeschossen war; und er hatte zwei Augen, obwohl eins noch etwas geschwollen war, und zwei Ohren, obwohl eins etwas angefranst war, und zwei von allem, das zu zweit sein sollte; er war nicht so vollkommen wiederhergestellt wie Tyler, aber er hatte Leben, was Tyler nicht mehr besaß, obwohl er so friedlich aussah, daß man meinen konnte, er schläft nur.
»Kaz«, sagte ich… und sah, daß die Höllenflammen aus seinen Augen verschwunden waren. »Oh, Zacko. Die Orte, wo ich bin gewesen, die Dinge, die ich hab gesehen…« Und er umarmte mich, herzlich, wie ein Bruder, was mir wunderlich vorkam, denn obwohl ich wußte, daß er mich gern hatte, war er keiner, der Berührungen unter Menschen mochte. Kaczmarczyk sagte: »Wir wollen auf diese verdammte Fähre gehen, bevor ich vergesse, daß ich lebe.« Er schaute Jimmy Lee Cox an und wieder mich, und ich konnte sehen, daß er sich vor dem Jungen fürchtete, hätte ich wohl auch. Aber der Junge war in eine Unterhaltung mit Walt vertieft, und wenn Walt erst einmal sein Auge auf einen Jungen geworfen hatte, dann war es schwer, ihn von ihm loszuhauen – einige von meinen Kameraden würden mit anzüglichen Rippenstößen sagen, »mit einer Brechstange« –, aber ich habe niemals derartige Witze über meinen Freund gemacht, und ich mochte es auch nicht, wenn einer von den Soldaten den Mann den einen Abend, sagen wir mal, mit seinem Willy spielen läßt und ihn am nächsten Morgen einen dreckigen Sodomiten nennt; ich bin nicht gemacht für solche Heuchelei. Walt hatte eine Macht; er gab einem das Gefühl, König der Welt zu sein; und wenn er mit einem sprach, dann war man die Welt; nichts an dir entging seinem Interesse. Ja. Ma’am, ich habe ihn so sehr geliebt. Ich unterdrückte meinen Ärger darüber, daß der Junge Walt ablenkte, und ich setzte mich neben die beiden. Kaz stand weit weg, immer noch ängstlich. Und ich fragte den Jungen die vielen Fragen, die in mir brannten, und einige hat er beantwortet; und andere ließ er grade so in der Luft hängen, während er aus einem Blechbecher frischen Kaffee trank, und noch andere beantwortete er in Rätseln. »Jimmy Lee«, sagte ich, »ist dein Vater tot oder lebendig?«
»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal«, sagte er, »so fürchte ich kein Unglück.« Ich schaute Walt an. »Er sagt uns, daß sein Vater in einem Schattenland wandert und daß er aufrichtig nicht weiß, auf welcher Seite der Trennlinie er gerade wandert.« »Bist du ein Christ?« sagte ich. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.« Walt sagte: »Er meint, daß seine Kirche eine Kirche der Wiedergeburt ist, und was Christus über die Wiederauferstehung sagt, hat auch für ihn Bedeutung.« »Aber ehrst du den wahren Gott? Ich meine, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, und das ganze Gerede, das die Prediger am Sonntag immer von sich geben?« »Was ist Wahrheit?« fragte Jimmy Lee Cox, und das war das, schätze ich, was Pontius Pilatus damals zu unserem Herrn Jesus gesagt hat, bevor er ihm das Kreuz auflegte und ihn zum Tode verurteilte. »Ist Freiheit der Name deines Leoparden?« »Nein.« »Aber als du ihn gerufen hast, hast du ›Freiheit, Freiheit, Freiheit‹ gerufen.« »Sie ist nicht mein Leopard«, sagte Jimmy Lee Cox. »Wo ist sie jetzt?« »In Afrika.« Plötzlich fing Jimmy Lee herzlich zu lachen an, und er sagte: »Nun, Zacko, wir können diese Spielchen den ganzen Tag und die ganze Nacht spielen, und keiner von uns wird dadurch auch nur um einen Deut gescheiter.« »Ich will nur verstehen, was passiert ist – warum es passiert ist – wie es passiert ist.«
»Nun, dein Freund Tyler sehnte sich nach dem Tod, das ist alles, und dein anderer Freund, Kaczmarczyk, tja, er sehnte sich danach, zurückzukommen. Die merken nicht, ob eine Seele hier oder da ist; die zählen nicht so genau. So funktioniert alle Magie, weißt du… in den Ritzen, wo die Teile der wirklichen Welt sich nicht ganz schließen… meinst du, daß der Hase wirklich im Hut drin ist? Bruder, das ist er nicht.« »Und das ist alles, worum es sich beim Tote-AuferstehenLassen handelt?« sagte Walt. »Nur ein Salontrick?« »Nein«, sagte Jimmy Lee. »Aber um euch zu sagen, was es alles ist, müßte ich erzählen, wie die Macht zu mir kam und warum ich mit meinem Pa um die Erde wandere, und dabei versuche, die Ritzen in dem verwundeten Land zu versiegeln.« »Erzähl«, sagte ich. »Wir können auf die nächste Fähre warten.« Und so kam es, daß Jimmy Lee Cox uns seine Geschichte erzählte, die merkwürdigste aller Geschichten, die ich in der ganzen Zeit gehört habe, seit ich von zu Hause wegging, um Soldat zu werden. Es war eine Geschichte über Liebe, Tod und Wiedergeburt, wie alle Geschichten, die ich schon gehört hatte, von Kaczmarczyk, von Ihrem verstorbenen Mann, Ma’am, und allen anderen; aber in der von Jimmy Lee war irgendwie mehr selbst erlebtes Leid als bei den andern. Und da habe ich dann Walts Faszination von dem Jungen verstanden und begriffen, daß er nicht einfach nur wegen seinem goldenen Haar oder seinen klaren Augen Gefallen an ihm gefunden hatte, denn was in diesem strahlenden und schönen Körper steckte, war dunkel und schrecklich. Und wegen Jimmy Lees Geschichte, Ma’am, werde ich niemals mehr alleine schlafen, niemals wieder im Leben.
Sie wandern! Sie wandern! Ich weiß, daß sie wandern, doch weiß nicht wohin. – Walt Whitman
Ein Ausreisser in Raleigh 1863
11 JIMMY LEE COX BEGEGNET EINEM UNGEWÖHNLICHEN ALTEN MANN
1 Eines Tages (so begann Jimmy Lee seine Erzählung, während wir um das Feuer saßen) wird es Historiker geben, die alle Schlachten benennen und alle Toten zählen können. Sie werden die Taktiken der Generäle studieren, und sie werden alles kristallklar erkennen, als könnten sie mit den Augen der Engel sehen. Für mich aber war es anders. Ich weiß den Namen von keiner einzigen verfluchten Schlacht, die wir geschlagen haben, und wenn man mich auf den Kopf stellt. Ich hatte keine Zeit, die
Toten zu zählen, ich konnte sie durch den roten Nebel, der vor meinen Augen schwamm, nicht mal klar sehen. Und wie der blutdurchtränkte Nebel sich als Tau niederließ, wie die stinkenden, wurmigen Haufen von Toten sichtbar wurden, konnte ich sie nicht auseinanderhalten; es war ein Meer von Rümpfen, Köpfen und verdrehten Gliedern; die Toten waren so dicht umeinandergeschlungen, als ob sie Liebhaber wären; war nicht mehr wichtig, ob das jetzt unsere waren oder welche von denen. Ich weiß nicht mehr, was mich zurückbleiben ließ. War vielleicht, weil ich mein letztes Stück Papiergeld beim Küchenschabenrennen verloren hab. War vielleicht wegen dem Kaffee, der alles, bloß kein echter Kaffee war, sondern aus getrockneten Eicheln, die sie mit Speckschwarte dazu geröstet haben und zusammen mit ein bißchen Zichorie gemahlen. War vielleicht von wegen meiner Schuhe, die vom Marschieren so abgelatscht waren, daß ich bei jedem Schritt dachte, ich lauf über ein Schwefelfeld. War aber höchstwahrscheinlich, weil ich nun mal ein Ausreißer bin. Laufen liegt mir im Blut. Mein Pa und ich, wir haben unseren Teil am Laufen absolviert, und ich schätze, daß selbst, wie ich von ihm weggelaufen war und in den Krieg gegangen bin, da war das Lauffieber immer noch in mir drin und wollte mich nicht loslassen. Und als ich dann zurückgeblieben war, war mir klar, die schießen mich tot, falls ich wiederkomme, und falls sie mich erschießen, tja, dann käme ich gradewegs ins Ewige Höllenfeuer, weil wir doch kämpften, um die Gebote Gottes zu schützen. Ich war einfach nicht bereit für die Hölle, nicht nach bloßen vierzehn Jahren auf dieser vergänglichen Welt. Deshalb blieb ich dann bei den Toten, und so kam es, daß ich den alten Schwarzen traf, der früher mal unten bei den Andersons gearbeitet hatte.
Die Sonne war grade dabei unterzugehen, und der Ort war ziemlich ekelhaft, weil die Kadaver den ganzen Tag Zeit gehabt hatten, um anzuschwellen und zu verrotten und Vögel und Würmer und Fliegen herbeizurufen. Aber das Laufen auf den toten Leuten fühlte sich gut an, weil das für meine kaputten Füße weicher war. Die Leichen lagen in einem flachen Flußbett und bis ganz zu einem Waldrand rüber. Ich wußte nicht, wo ich war, und nicht, wo ich hinwollte. War nur noch wenig hell, und vor Einbruch der Nacht wollte ich noch irgendwo sein, egal wo. Es wurde kalt. Ich nahm einem Toten die Jacke ab und einem anderen die Stiefel, konnte ich aber nicht über die offenen Wunden ziehen, die Stiefel. Ihr denkt vielleicht, daß das eine Sünde ist, Tote zu beklauen, aber die Toten können ihr Gold und Silber nicht mehr gebrauchen. War grade noch genügend Tageslicht, damit ich ihre Taschen nach Münzen filzen konnte. Gab nicht viel Geld auf dem Schlachtfeld. Sind meistens nur wir armen Leute, die bei einer Schlacht getötet werden. War eine glitschige Angelegenheit, zwischen den Leichen rumzuwaten und drauf aufzupassen, ob irgendwo zwischen den aufgerissenen Rümpfen, den blinden Köpfen und Knäueln von Gekröse vielleicht was glänzt. Der Gestank hat mich beinah umgebracht, und gegen die Kälte hat die Jacke, die ich geklaut hatte, auch nicht viel geholfen. Ich bekam Hunger, und ich hatte keine Ahnung, wo ich was Eßbares finden könnte. Und dann kam der Nebel, da hab ich mir gesagt, jetzt nimmst du dir noch ein bißchen Kleingeld, und dann gehst du in den Wald und baust dir einen Unterschlupf und machst vielleicht noch ein Feuer. Würde mich keiner sehen, dünn wie ein Schößling, leise wie ein Schatten. Ich also durch den Fluß gewatet, war nicht schwer, gab ja genügend Leichen als Trittsteine. Ich war schon halb rüber,
wie ich den alten Nigger unter einer Pappel sehe, in einem Kreis, wo kein Aas rumlag. Er hatte ein kleines Feuer an und war was am braten. Über dem Fliegengesumme hörte ich das Brutzeln, und durch den Gestank der Verwesenden hindurch konnte ich den Duft von Bratfett riechen. Ich bewegte mich näher an ihn heran. Ich fiel beinah um vor Hunger und war soweit, daß ich für mein Abendbrot jemand hätte umbringen können. Er hockte da, Arme um die Knie geschlungen, und er bewegte sich vor und zurück, und ich meinte, ich hör, wie er irgendein Lied singt, ein Wiegenlied oder so, in einer Sprache, die mehr wie Französisch klang und nicht wie sonst Nigger so reden. Komisch war, ich hab das Lied schon mal gehört. Kann sein, meine Momma hat mir das mal vorgesungen, weil, sie kam ja aus Louisiana. Je länger ich zuhörte, um so weniger wollte ich den alten Mann töten. Er war ziemlich alt, das stimmte. Als ich näher kroch, hab ich gesehen, daß er keine Bedrohung war für mich. Sein Gesicht konnte ich immer noch nicht sehen, denn er saß mit dem Rücken zu mir und guckte in die untergehende Sonne. Aber ich sah, daß er welk und weißhaarig war, und schwarz wie die herannahende Nacht war er, und anscheinend hat er mich nicht mal näherkommen gehört, weil, er hat kein bißchen aufgemerkt, trotzdem daß ich bloß ein oder zwei Schritt hinter ihm war, im Schatten der Pappel. Da sagt er auf einmal, ohne daß er sich umdreht: »Nun, bonjour, Marse Jimmy Lee; ich hätte nie gedacht, noch mal in dein Gesicht zu schauen.« Und dann hat er sich umgedreht, und ich hab ihn an seiner schwarzen Klappe über dem rechten Auge erkannt. Herrgott, war das seltsam, ihn hier zu treffen, mitten im Tal des Todes.
Zehn Jahre war das schon her, daß mein Pa und ich rauf nach dem Gut von Anderson gegangen waren. War auch nie ein Grund zum zurückgehen, weil, eine Woche danach ist es bis auf die Grundmauern abgebrannt, und der alte Anderson starb, und seine Sklaven wurden alle verkauft. »Woher wußtest du, daß ich das bin?« fragte ich ihn. »Ich war ja erst vier Jahre alt, wie du mich das letzte Mal gesehen hast.« »Ist dein Daddy noch Wanderprediger, Marse Jimmy Lee?« fragt er. »Denke schon«, sagte ich, weil, ich wollte ihm nicht die Wahrheit sagen. »Ich bin nicht mehr zusammen mit Pa.« »Du warst schon immer eine Art Ausreißer«, sagte er und bot mir ein Stück von seinem Gerösteten an. »Was ist das?« »Denke nicht, daß ich dir das sagen sollte.« »Ich hab schon Opossum gegessen. Ich hab Feldratten gegessen. Unbekanntes Fleisch ist mir nichts Fremdes.« Ich nahm einen Bissen, und es schmeckte recht lecker. Aber ich hatte zwei Tage nichts Festes gegessen, und bald kotzte ich alles über die nächste Leiche wieder aus. Er fing wieder an, sein Schlummerlied zu singen, und da erinnerte ich mich, daß ich es das letzte Mal von ihm selber gehört hatte, an dem Tag, wo Pa Momma in den Rücken schoß, weil sie mit Farmer Choctaw weggehen wollte. Ich hab ihr das nicht verdenken können, weil, der Mann war zum mindesten Landbesitzer, und nebenbei hatte er noch vier Sklaven. Pa hat sie ihre Taschen packen lassen und den halben Weg über die Brücke gehen, dann hat er sie weggepustet ins Jenseits. Dann hat er meine Hand genommen und mich auf sein Pferd gesetzt und nach der Anderson-Farm mitgenommen, und als ich zum weinen begann, schlug er mir ins Gesicht, bis es grün und blau war, und sagte währenddem: »Sie verdient
deine Tränen nicht. Sie ist eine Ehebrecherin. So eine Frau sollte zu Tode gesteinigt werden, wie es in der Schrift steht. Eine Kugel war zu gut für sie. Ich habe mein Recht nach dem Gesetz ausgeübt, und wenn ich noch einen Muckser von dir höre, zieh ich dir eins mit dem Stock über, denn der liebet sein Kind nicht, der den Stock vor ihm zurückhält.« Und er leerte seine Flasche Sprit und rülpste. Ich habe den Namen Mary Cox nie wieder von seinen Lippen vernommen, die ganzen zehn langen Jahre nicht. Pa war kein geweihter Priester, aber die Plantagenleute meinten, zum Predigten halten für ihre Schwarzen war er gut genug, und das hat er auch jeden Sonntag gemacht, jede Woche ein anderes Gut, dann Mittagessen mit dem Gutsherrn oder der Gutsherrin, oder manchmal, wenn welche heikel waren mit armen weißen Ländlern, dann in der Küche mit den Hausniggern. Die Nigger nannten ihn den Reverend Cox, aber für die Weißen war er einfach Cox, oder Sprit-Cox, oder Blöder-Wichser-Cox, oder Elends-Jammer-Cox, so tief unten, daß seine Frau ihn für einen Indianer verlassen hat. Auf der Anderson-Plantage predigte er in der Scheune, und er nahm sich das Thema Ehebruch vor. Und da keiner auf mich acht gegeben hat, schlich ich mich aufs Feld raus und setzte mich in ein Dickicht von Zuckerrohr und schluchzte und heulte, als stünde der Weltuntergang bevor, und ich war erst vier. Und da war’s, wo ich dasselbe Lied gehört hab wie jetzt, und ich guck hoch und seh diesen uralten Nigger, mit einer Klappe über dem einen Auge, und er sagt zu mir: »Oh, Herzchen, es sein eine furchtbare Sache, ohne Mutter zu sein.« Ich erinnerte mich an seinen Geruch, ein beißender Geruch von frisch zerdrückten Kräutern. »Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als meine maman mir weggenommen wurde. Oh, nicht alleine trauern, weißes Kind.«
»Wie bist’n dazu gekommen, daß dein Auge weg ist?« »Das der Preis des Wissens, Herzchen«, sagte er leise. Ich schluckte meine Tränen runter, ein bißchen verlegen, weil mich jemand in meiner Einsamkeit beim Heulen gesehen hatte, und sagte zu ihm: »Du solltest nicht hier sein. Du solltest in der Scheune sein und meines Vaters Predigt anhören, wenn du dir nicht eine Tracht Prügel einfangen willst.« Er lächelte traurig und sagte: »Sie schon längst aufgegeben, den alten Joseph zu prügeln.« »Ist deine Momma auch tot, Joseph?« »Ja. Sie schon seit, oh, fast sechzig Jahre tot jetzt. Sie starb während der Revolution.« »Na, komm, sogar ich weiß, daß die Revolution vor fast hundert Jahren war, und ich weiß, daß du nicht so alt bist, weil, das Alter von Weißen ist sechzig Jahre und zehn, und das Leben von einem Nigger ist noch kürzer.« Nun, ich verstand ja nicht, was ich da sagte; das waren alles Sachen, die mein Pa immer und immer wieder in seinen Predigten gesagt hat. »Oh, ich red nicht von der Revolution der Weißen, sondern von der Revolte der Farbigen, die auf einer Insel passierte, heißt Haiti. Die Franzosen, sie folterten meine maman, aber sie verriet ihre Freunde nicht, da töteten sie sie und verkauften mich an einen Sklavenhändler, und das Schiff setzte Segel, nur einen Tag vor der Unabhängigkeit; und so bin ich ein Sklave noch im fremden Land, sechzig Jahre, nachdem meine Verwandten frei wurden.« Ich wußte, daß die Nigger immer voller Geschichten über Magie und ferne Länder steckten, und sie konnten die Wahrheit nicht immer von der Phantasie auseinanderhalten; mein Daddy hat mir gesagt, daß die Wahrheit für uns Weiße eine feste, solide Sache ist, und man kann sie so leicht greifen wie einen Stein oder ein Hufeisen, aber denen war sie was Unsicheres, wie ein Phantom. Darum hab ich die Lügen von
dem alten Mann auch nicht übelgenommen. Ich hab nur ruhig dagesessen und dem Klang von seiner Stimme gelauscht, und das beruhigte mich, und es schien, als hätte das geholfen, den Schmerz, den ich fühlte, zu lindern; nämlich bald, wie ich daran dachte, wie Momma auf der Brücke lag und an ihrem eigenen Blut erstickte, war mir, als wenn ich mich auch an die Sachen erinnern konnte, die ich an ihr liebte, wie sie meinen Namen rief, wie ihre Brustwarzen auf meinen Lippen schmeckten, weil, sie hatte meine neugeborene Schwester verloren und lief von Milch über, und manchmal hat sie mich dann nuckeln lassen, obwohl ich schon vier Jahre alt war. Und dann heulte ich wieder, aber diesmal waren das heilende Tränen. Der alte Joseph sagte dann: »Nun hör mir mal zu, Marse Jimmy Lee. Ich werd nicht immer dasein, wenn du brauchst dein Herz öffnen.« Na, da hab ich mich drüber gewundert, weil, ich konnte mich nicht besinnen, daß ich ihm was gesagt hab, was mir durch den Kopf ging. »Ich werd dir geben einem Geschenk«, sagte er, und aus einem Ärmel zieht er eine Flasche, eine Phiole, nur ein paar Zentimeter hoch, und in dieser Flasche war eine Puppe, aus Getreidehalmen gewebt. Es war geschickt gemacht, weil, der Kopf von der Puppe war größer als die Flaschenöffnung, und jemand mußte Stunden dafür gebraucht haben, um das hinzukriegen, und scharfe Augen noch dazu. »Also, das hier ist eine Sorgenpuppe. Sie kann dir zuhören, wenn sonst keiner zuhören will. Sie ist ein mächtiger Zauber von der Insel, wo ich geboren bin.« Er hielt mir das Fläschchen hin, und ich mußte lächeln, weil man mir oft gesagt hatte, daß die Schwarzen ein schlichtes Volk sind und an alle möglichen Arten von Magie glauben. Ich umklammerte es mit den Händen, aber vielleicht sah er die
Zweifel in meinem Gesicht, denn er sagte mit allergrößtem Ernst: »Mach dich nicht lustig über diesen Zauber, weißes Kind. Unter den Farbigen, die noch fürchten die alten Götter, nennen sie mich ein houngan, ein Mann der Macht.« »Die alten Götter?« »Shangó.« Beim Aussprechen des Namens beugt er das Knie und hüpft irgendwie komisch dazu, »Obatala, Ogun, Bablu Ave…« Die Namen wirbelten in meinem Kopf herum und herum, während ich ihm in sein gutes Auge starrte. Ich kann mich nicht entsinnen, was als nächstes passierte oder wie mein Pa mich gefunden hat. Aber an alles andere erinnere ich mich, als ob die zehn Jahre, die danach kamen, überhaupt nie gewesen wären, die Jahre des Wanderns, während der die Gewalttätigkeit und die Trunkenheit von meinem Pa immer schlimmer wurden. Es war, als ob ich im Kreis gegangen wäre und wäre am gleichen Ort und zur gleichen Zeit wieder angekommen. Nur, anstatt dem brennenden Sonnenlicht von dem Sommertag damals war hier die zunehmende Kälte und die Nacht. Anstatt der großen Zuckerrohrstengel, die klebrig waren vom Sirup, leisteten wir hier den Gefallenen Gesellschaft. Und ich war kein Kind mehr, obwohl ich auch noch kein Mann war. »Die poupée, die ich dir gab«, sagte der alte Joseph, als ich mich neben ihn setzte. »Hast du sie noch?« »Mein Pa hat sie am andern Tag gefunden. Er hat gesagt, er will keine Woodoo-Teufelspuppen in seinem Haus. Er hat sie genommen und zerbrochen und ins Feuer geschmissen, und dann hat er mir eine Tracht Prügel mit dem Nußbaumstock verabreicht.« »Und du jetzt ein Soldat.« »Ich bin ausgerissen.«
»Herr im Himmel, Herzchen, du bist vielleicht was zum angucken. Alter Joseph hat keine Puppen mehr für dich jetzt. Alter Joseph hat keine Zeit mehr zum Puppen zu machen. Da ist eine ungeheure Magie unterwegs in diesen Universum. Diese Magie ist der einzige Grund, warum alter Joseph noch lebt in dieser Welt. Alter Joseph hört die Magie ihn rufen. Alter Joseph, er bleibt zurück, zum hören, was die Magie ihm sagen will.« Wie ein Dummkopf hielt ich ihn für einfältig, als ich hörte, wie er von Magie sprach. Ich mußte lächeln. Es war das erste Mal in vielen Monaten, daß ich gelächelt habe. Ich lächelte, damit ich nicht heulen mußte, denn Heulen steht einem Mann von vierzehn Jahren schlecht an, der sein Gewehr in die Schlacht getragen hat, um sein Land zu verteidigen. »Du armes, verlorenes Kind«, sagte Joseph. »Du solltest des Morgens von Lerchengesang erwachen, nicht von dem Pfeifen der Miniekugeln oder von Donner der Kanonen. Du jetzt am Ende der Straße, kannst nirgends hin; deshalb wurden wir hierher gerufen, hier im Tal von Todesschatten. Es ward geschrieben seit dem Augenblick, wo wir uns getroffen, Marse Jimmy Lee. Zehn Jahre nun hab ich allein gewandert in der Wildnis. Nun haben die schwarzen Engel dich zu mir geschickt.« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude.« Ich staunte, daß er die Worte des Evangelisten kannte, denn dies war der Mann, der nicht zu der Predigt von meinem Vater gehen wollte. Er knabberte an dem verkohlten Fleisch. Einen Augenblick lang hatte ich den Verdacht, es sei Menschenfleisch. Aber es roch gut. Ich habe meinen Teil gegessen und trank aus dem blutroten Bach und schlief neben dem Feuer ein, zu den Klängen des Wiegenliedes, das der alte Mann sang.
2 Ich hatte dem alten Joseph nicht die ganze Wahrheit erzählt. Es war nicht nur das Laufenmüssen, das mich aus dem Haus meines Vaters getrieben hatte. Pa war ein harter Mann und ein Trinker und ein Mensch, der Visionen hatte, und in diesen Visionen sah er andere Welten. Er war grausam zu mir, und oftmals wollte er mir die Dämonen aus dem Leib prügeln – aber alles, was er mir antat, war im Einklang mit der Heiligen Schrift, die einem Vater sagt, daß die Liebe nicht immer etwas Süßes ist, sondern auch in der Strenge und mit Schlägen daherkommen kann. Ich hatte auch Visionen, aber die waren nicht himmlisch, so wie die seinen. Ich wollte meine Schuhe nicht tragen. Ich spielte mit den Niggerkindern aus der Stadt und brachte damit Schande über ihn. Ich wuchs wild auf und bin nie in irgendeine Schule gegangen. Aber ein bißchen lesen konnte ich, denn mein Pa hat mich an die Heilige Schrift gesetzt, um sie zu lernen, wann immer er mich dazu festnageln konnte. Daß ich ins Regiment eingetreten bin, kam so: Wir wohnten in so einem Schuppen hinter dem Haus von den Jacksons, direkt neben dem Neger-Beerdigungsplatz. Der junge Master Jackson hatte alle seine Schwarzen auf dem Friedhof versammelt, damit sie eine besondere Predigt von meinem Vaters anhören sollten, weil die Gerüchte über die Proklamation zur Befreiung der Sklaven unter ihnen überhandgenommen hatten. Es waren vielleicht dreißig oder vierzig von ihnen: die setzten sich ins Gras, lehnten gegen die Holzpfosten, und ein paar Negerkinder hockten am Boden. Ich saß im Schuppen und paßte auf einen Kessel mit Eintopf auf. Durch das offene Fenster konnte ich meinen Pa predigen hören. »Also, daß ihr Schwarzen dieser Emanzipations-
Proklamation nur keine Beachtung schenkt«, tönte seine Stimme, schallend und voll. »Es ist ein übler Schwindel. Sie versuchen, euch unschuldige Seelen zum Narren zu halten, damit ihr weglauft und euch mit den Schlächtern zusammentut, die aus dem Norden herunterkommen, um unser Land zu vergewaltigen und zu plündern, und sie halten euch die Freiheit hin als Belohnung für diesen Verrat. Aber die wahre Belohnung ist der Tod. Denn wenn ein Neger in der Uniform eines Yankee gefangen wird, hat unsere Regierung verordnet, daß er sofort und ohne Prozeß erschossen wird. Nein, dies ist nicht die Straße zur Freiheit! Es gibt nur einen Weg dahin für diejenigen, die in die Sklaverei hineingeboren wurden, und das ist der durch das Blut unseres Erlösers Jesu Christus, und eure Freiheit ist nicht in dieser Welt, sondern in der nächsten, denn steht nicht geschrieben, ›In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen‹? Dort gibt es eine Wohnung für dich, und dich, und dich, wenn ihr euren Herren in diesem Leben gehorcht und das Joch der Demut auf euch nehmt und die Peitsche der Bußfertigkeit; denn steht nicht geschrieben, ›Durch seine Striemen werden wir heil werden‹ und ›Selig sind die Sanftmütigen‹? Sie ist nicht für die Farbigen, die Freiheit dieser Welt. Und die niederträchtigen, mitleidlosen Yankees würden eure Einfalt ausbeuten. Sie würden euch fälschlicherweise glauben machen, das umstürzlerische Königreich auf Erden wäre das himmlische Königreich. Jedes Ding hat seine Zeit‹. Ja, es gibt Wohnungen für euch alle. Wohnungen mit weißen Steinsäulen und Säulenhallen, vor der Sonne geschützt. Der Ort der Heilung ist jenseits des Tals der Todesschatten…« Mein Pa konnte sich ordentlich gepflegt ausdrücken, wenn er wollte, und er hatte ein Kapitel und einen Vers für alles parat. Ich habe seine Worte allerdings nicht beachtet, denn es gibt für die Nigger besondere Kapitel und Verse, und wenn sie für die
Weißen zitiert werden, bedeuten sie nicht immer das gleiche. Nein, ich war damit beschäftigt, den Eintopf umzurühren und den Whiskey zu verstecken, denn Pa hatte immer mächtigen Durst, wenn er fertig war mit Predigen, und mit dem Durstlöschen kam die Gewalttätigkeit. Nach der Predigt begannen die Schwarzen mit Leidenschaft zu singen. Sie sangen All God’s Chillun Got Wings und Swing Low, Sweet Chariot. Pa ist nicht zum Singen geblieben, sondern kam in den Schuppen und verlangte sein Essen. Es war noch nicht fertig, also hat er ein paar Töpfe und Pfannen rumgeschmissen, und ich duckte mich, damit ich nichts abkriegte, und dann hat er schließlich die versteckte Flasche gefunden und polterte in die hintere Kammer, um zu trinken. Bald darauf kochte der Eintopf, und ich schöpfte ihm ein bißchen in eine Blechschüssel und trug sie ihm in die Kammer. Das war die Kammer, in der drin ich und er schliefen, auf einer Strohpritsche auf dem Boden. Eine leere Kammer mit nichts außer einer Kommode, einem Stuhl, dem ein Bein fehlte, und einem Jagdgewehr. Seine Nußbaumstöcke zum mich züchtigen hatte er da auch aufbewahrt. Ich hätte anklopfen sollen, denn Pa hat mich nicht erwartet. Er saß auf dem Stuhl, die Hosen runter bis auf die Knöchel. Er hat mich nicht gesehen. In einer Hand hielt er das Medaillon mit einem Bild meiner Momma. In der anderen Hand hielt er seinen knöchrigen Willy und gab sich eifrig dem Laster des Onan hin. Ich war mächtig erschrocken, wie ich das gesehen hab. Ich schämte mich sehr, meinen Vater nackt zu sehen, denn war dies nicht die Schande der Söhne von Noah? Und ich war wütend, denn in meinem Kopf war das Bild wieder da, wie meine Momma auf dieser Brücke niedersank, sich krümmte und vornüberstürzte, etwas, an das ich fast zehn Jahre nicht mehr gedacht hatte.
Puterrot stand ich da, voller Wut und Trauer um meine tote Mutter, und dann hörte ich ihn murmeln: »Oh, lieber Jehova, oh, lieber Herr, ich sehe dich, ich sehe die Gemeinschaft der himmlischen Heerscharen, ich sehe dich, meine süße Mary, auf einer Wolke, du streckst die Arme aus nach mir, nackt wie Eva im Garten Eden. Oh, oh, oh, ich sehe das Antlitz des Allmächtigen und höre das Lied der Engel.« Da zerbrach plötzlich etwas in mir, wie ich ihn so über Momma sprechen hörte. War es nicht genug, daß sie tot war, mußte er ihrer hingeschiedenen Seele noch mit seinen blasphemischen Gelüsten hinterhergieren? Ich ließ den Blechnapf mit dem Eintopf fallen, und er sah mich, und ich konnte die Wut in seinen Augen brennen sehen, und ich versuchte, dem fünften Gebot zu gehorchen, aber die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. »Schäm dich, Pa, daß du dir wegen einer Frau, die du kaltblütig niedergeschossen hast, einen runterholst. Glaubst du etwa, ich weiß nicht mehr, wie du sie getötet hast – in den Rücken geschossen, wie sie über die Brücke ging… und Choctaw auf der anderen Seite hat es gesehen, in seinem Zylinder und Gehrock, mit seinen vier Sklaven hinter ihm, und hatte da gewartet, um sie zu sich mit nach Hause zu nehmen.« Einige Augenblicke lang war mein Pa still, und das Zimmer war voll mit dem Katzengesang von den Niggern auf dem Friedhof. Wir standen da und starrten uns an. Dann packte er mich beim Genick und schleppte mich zum Stuhl rüber, taumelnd und stolpernd, weil er sich nicht mal die Hosen wieder hochgezogen hatte, und ich konnte den Alkohol an ihm riechen; und er murmelte: »Du hast recht; ich habe gesündigt; ich habe gesündigt; aber es ist die Sache des Sohnes, die Sünden dieser Welt auf sich zu nehmen; das Lamm Gottes; du, Jimmy Lee; oh, Gott, und du ähnelst ihr so; du erinnerst mich
so sehr an sie; oh, es ist eine schwere Bürde für dich, mein Sohn, die Sünden dieser Welt auf dich zu nehmen, aber ich weiß, daß du es aus Liebe tust«, und so weiter, und er langte nach dem Nußbaumstock und riß mir mein Hemd runter und fing an, heftig auf mich einzuschlagen, während er die ganze Zeit rief: »Oh, Mary, oh, meine Mary, es tut mir so leid, daß du mich verlassen hast… oh, mein Sohn, du sollst neununddreißig Striemen auf deinem Rücken tragen, zum Gedächtnis unseres Erlösers… oh, du wirst mich erlösen…« Und der Nußbaumstock sang, und ich schrie; nicht so sehr aus Schmerz, weil mein Rücken schon längst wie Leder geworden war vom langen Mißbrauch, und da war nicht mehr viel Gefühl drin. Ich biß die Zähne zusammen und versuchte es hinzunehmen, wie schon so oft zuvor, aber diesmal ließ es sich nicht ertragen, und als der neununddreißigste Hieb gefallen war, da habe ich mich vom Stuhl losgerissen und geschrien: »Du wirst mir nie wieder wehtun, weil ich kein Osterlamm bin, und deine Sünden sind deine Sünden, nicht meine«, und ich stieß ihn mit aller Kraft beiseite. »Gott, Gott«, flüsterte er, »ich sehe Gott.« Und er verdrehte die Augen himmelwärts, nur daß der Himmel ein leckes Dach aus ein paar Brettern war, die von den Sklavenbehausungen übriggeblieben waren. Und dann nahm ich das Gewehr von der Wand und schlug ihn drei-, vier-, fünf-, sechsmal mit dem Kolben auf den Kopf, bis er in die Streu hinfiel. Oh, ich war rasend und hatte Angst, und ich rannte auf der Stelle weg, ohne auch nur nachzugucken, ob er tot war oder nicht. Ich rannte mitten durch die Schwarzen durch, die immer noch sangen und rummachten, daß das die Toten aufwecken konnte; sie haben den hageren Jungen, der klein war für sein Alter, nicht durch sie hindurchschlüpfen und weg in den Wald rennen gesehen.
Ich rannte und rannte, mit drei Zehncentstücken in der Tasche und einem Bündel Papiergeld, das ich aus der Kommode geklaut hatte, ich rannte, und ich weiß nicht mal mehr, ob ich im Herd das Feuer gelöscht hatte. Und so kam es, daß ich zum Regiment kam, durch Blut und Matsch trampelte, und wegen der Grippe jeden Tag meine Gedärme rausschiß; und so kam es, daß ich neben dem alten Joseph schlief, dem Woodoo-Doktor, der mir ein zweiter Vater wurde.
12 WORIN MRS. GRAINGER VON VIELEN BISLANG UNBEMERKTEN VERKNÜPFUNGEN VON VERSCHIEDENEN
EREIGNISSEN IN IHREM LEBEN ERFÄHRT
1 Geschichten in Geschichten in Geschichten! Und jedesmal war eine weitere Geschichte nötig, um die vorangegangene zu erklären. Da saß ich also mit Zachary Brown, und wieder wurde der Tee kalt; mehr und mehr machte sich Verwirrung in mir breit. Doch je konfuser alles wurde, desto mehr sah ich mich gezwungen, mehr herauszufinden. Es war klar, daß der verstorbene Mr. Grainger weit mehr gewesen war als nur ein zerstreuter Ehemann mit einer Schwäche für hoffnungslose Fälle und ebenholzschwarze Frauen; er war in etwas Undurchschaubareres verwickelt gewesen. Wieder war die Sonne schon lange untergegangen. Phoebe war nicht zurückgekehrt und auch nicht Mr. Whitman, der verrückte Poet. Ich war allein im Haus mit einem jungen Mann; jung genug, um möglicherweise mein Sohn zu sein, doch in meinem ganzen Leben hatte ich es mir noch nie erlaubt, derart bloßgestellt zu erscheinen. Zu erscheinen? So dachte ich.
Doch für wen, dieses Erscheinen, für wen sollte es eine Rolle spielen, ob ich bloßgestellt war oder nicht? Es kam mir so vor, als ob dieses für wen, das mich so sehr beunruhigte, niemand anderes war als ich selbst. Ich hatte Angst, bloßgestellt zu werden, weil ich, aus einem Teil von mir, den ich längst für tot hielt, ein junges Mädchen mit verzweifelter Sehnsucht schreien hörte: »Liebe mich, denn ich brauche es so sehr, geliebt zu werden!« Ich hatte Angst, er könnte es in meinen Augen lesen. Ich hatte Angst, wie alle, die in einem christlichen Haus aufgewachsen sind, ich hatte Angst, daß der Gedanke schon die Tat sei, und ewige Verdammnis der Lohn. Ich hatte Angst, weil so eine Angst bereits als Kind in mich hineingepeitscht worden war, obgleich ich mittlerweile glaubte, daß sie grundlos sei und daß das Leben nach dem Tod weit komplexer ist als nur Himmel oder Hölle. Da stellte mir Zachary Brown eine dreiste und doch unschuldige Frage: »Witwe Grainger, ich habe keinen Platz zum Schlafen. Mrs. Whitman würde sich über mich wundern, wenn ich mitten in der Nacht ohne Walt ihre Treppe raufkäme, und da habe ich mir gedacht, obgleich Sie ja schon so liebenswürdig zu mir gewesen sind, zu einem Fremden, und überhaupt, daß…« Doch was nun geschah, war höchst unerwartet. Der Junge begann jämmerlich zu weinen, wie ein Kind. »Oh Gott«, rief er. »Der arme, arme Mr. Lincoln, und ich weiß noch nicht mal, ob das, wofür er gestorben ist, jemals eintreten wird…« Je mehr er weinte, desto klarer erkannte ich, daß das kein scheinheiliger Kummer um einen Mann war, den er noch nicht einmal gekannt hatte; er weinte um vieles andere mehr: möglicherweise um seine verlorenen Freunde, Tyler und Rodney und – Drew, so hieß er, glaube ich –, er weinte, weil er nie wieder seine eigene Unschuld wiederfinden würde; und
ich, ich, ich, deren Schoß nur den Tod hervorgebracht hatte, was wußte ich davon, wie man ein Kind tröstet? Denn er war ein Kind, obwohl er in der Schlacht gekämpft und erwachsene Männer erschlagen hatte und selbst verwundet worden war wie ein Mann. Ich dachte, wenn er bloß ein Kind ist, dann sollte ich diese anderen Gefühle, die da in mir aufstiegen, besser für mich behalten; sie sind unwürdig; ich muß ihn trösten wie eine Mutter ein weinendes Kind. Und so legte ich unbeholfen meine Arme um ihn. Doch er erwiderte dies mit solch einer heftigen Umarmung, daß ich erschrak; ich wünschte, er hätte nicht bemerkt, wie ich ein wenig zurückgewichen war, er sollte nicht denken, daß ich ihn irgendwie abstoßend fand; dann ging ich auf die Umarmung ein. Es erinnerte mich an meinen schwachen Moment in Gegenwart des armen Mr. Lincoln, als ich mich wie eine gewöhnliche Hure in Mr. Whitmans Arme geworfen hatte, nur um festzustellen, daß er völlig andere Neigungen besaß. Nun legte Zachary wieder die Arme um mich, und ich wischte mit einem kleinen Spitzentaschentuch, das ich im Dekollete trug, seine Tränen ab. Er ergriff meine Hand und küßte sie. Ein Schauer lief durch meinen Körper, denn ich erkannte, daß dieser junge Mann all das Feuer für eine Frau besaß, das seinem männlichen Liebhaber fehlte. Meine Hand mußte gezittert haben, denn er nahm sie in seine beiden, und bevor ich noch Atem holen konnte, fiel sein Mund über den meinen her, und – ob vor Schrecken oder Begierde, vermag ich nicht mehr zu sagen – ich wehrte mich nicht, ich sträubte mich nicht, als ich seine feuchte Zunge auf meinen rauhen, selten geküßten Lippen spürte. »Oh, Mrs. Grainger«, sagte er. »Sie sind so gütig und so freundlich und so, so mütterlich zu mir, und…«
Irgendwie – ich hatte gedacht, ich säße auf dem Sessel, neben dem Teegeschirr – hatten wir es geschafft, auf den Diwan zu gelangen. Dort war es, daß der junge Mann sich auf meinen Körper warf und mir in die Unterröcke griff, und ich – wie betäubt von der Unschicklichkeit, schon über die Maßen erregt von seiner Nähe, seiner Wohlgestalt, sogar vom fremden Geruch seiner Männlichkeit, der überall an seiner rauhen Haut haftete – ich wurde mitgerissen von der Woge seiner Leidenschaft, ohne auf das Brechen meines Fischbeinkorsetts und die Entblößung meiner Weiblichkeit zu achten. Und als er begann, mit seinen Fingerspitzen meine Schamlippen zu reizen und zärtlich meinen mons veneris zu streicheln, wurde ich schier ohnmächtig vor lauter ungewohnter Ekstase. »Zachary, Zachary…«, flüsterte ich. »Oh, Ma’am«, sagte er mit heiserer Stimme. »Es tut mir so leid, es ist keine Absicht, aber ich kann nicht an mich halten, ich brauche Sie so sehr, Ma’am, oh, bitte denken Sie nicht, daß ich Sie nicht respektiere, Ma’am, aber ich sehne mich so sehr nach einer Frau, und ich mag Sie so…« Die Hitze vom nackten Fleisch seiner Hand auf meinen geheimsten Körperstellen durchdrang mich wie eine Welle animalischer Anziehung. Mein eigener Ehemann hatte nie gewagt – hatte nie daran gedacht – und doch, mußte er mit dem Dienstmädchen Phoebe nicht genau dieselben Höhen erreicht haben? »Du brauchst nicht aufzuhören, Zack«, sagte ich. »Vielleicht bin ich nicht besser als eine gewöhnliche Hure, aber…« »Oh nein, Mrs. Grainger.« Er und unterbrach meine Einwände mit einem süßen, durchdringenden Kuß. »Wie können Sie das von sich sagen? Mrs. Grainger, Sie sind eine vornehme Frau…« »Aber ich bin alt… und verwelkt…« »Sie sind stark. Und Sie lieben.«
Währenddessen legte er meine Hand überall auf seinen Körper, forderte mich auf, ihn zu erforschen, zu erfühlen. Zu meinem Erstaunen öffnete ich die Knöpfe seines Hosenschlitzes und besaß die Kühnheit, solch eine Frucht zu berühren, zu schmecken und zu riechen, wie sie mir, selbst als es mir nicht verboten gewesen war, nie gehört hatte: denn mein Mann und ich hatten uns nur in höchst respektabler Weise vereinigt – abgesehen von ein paar geöffneten kleinen Häkchen, in vollständiger Bekleidung. Seine Hände begannen nun die Verschlüsse meines Korsetts zu umrunden, bis er es öffnete und meinen bloßen Busen liebkoste, der vor lauter Erregung anschwoll und steif wurde. Plötzlich war ich nicht mehr in der Lage, mich zurückzuhalten und gab laute, unschickliche Schreie von mir. Ein Glück, daß die Wände dick waren! Oh, ich schrie, ich umklammerte ihn, und unaufhörlich drückte er mich an sich; oh, wir waren wie die Bäume und der Wind! Doch dann, als der Sturm sich legte, hörte ich ein Knurren. Ich erstarrte. Horchte noch einmal. »Mrs. Grainger…«, der Junge saß ohne Hemd im Abendlicht – oh, und wie fest und muskulös er war, überhaupt nicht wie mein Ehemann. Er machte Anstalten, mich noch einmal zu umarmen, doch da kam wieder dieses Geräusch… »Still! Still!« sagte ich. Woher kam es? Es war ganz nahe. Im Haus. Der Schrei eines Tieres. »Du lieber Gott«, sagte Zack. »Ich kenne diesen Schrei.«
2 »Was sagst du da?« sagte ich. »Woher willst du den kennen?« Da kam das Geräusch wieder. Ein langsames, tiefes Grollen
mit einem leichten Schnurren. Auch ich kannte das Geräusch, obgleich ich es noch nie gehört hatte, kannte es von den Geschichten, die ich aus erster, zweiter und dritter Hand vernommen hatte, den Geschichten von Zack und meinem Mann und der Sklavin Eleuthera. Es war ein Leopard. »Eleuthera?« flüsterte ich. »Aber das war doch eine von den Geschichten meines Mannes…« Nun ein wütender Schrei, gefolgt von einem zischenden Knurren. »Hier? Aber warum?« sagte Zack. »In der Geschichte Ihres Mannes tötete sie einen Mann, der neben ihm im Bett lag…« Ich legte meine Hand über meinen entblößten Busen, die andere bedeckte meinen Unterleib. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich gesündigt hatte, schwer gesündigt, daß ich nicht nur das Andenken meines Mannes befleckt hatte, sondern im Begriff war, mich völlig aufzugeben für jemanden, der beinahe jung genug war, um mein Sohn sein zu können. Was mich aber am meisten erstaunte, war, wie wenig Schuld ich fühlte. Ja, es war geradezu befreiend… Doch nun war keine Zeit für Schuld oder Scham. Ein Tier lief frei im Haus herum. Wir mußten es vernichten. »Gibt es hier ein Gewehr?« fragte Zack. Hastig knöpfte ich mich, so gut es ging, zu und durchwühlte die Büroschublade, wohl wissend, daß – da. Eine Derringer. Ich hatte nie damit geschossen, wußte aber, daß sie geladen war. »Die wird nicht viel nützen gegen…«, sagte Zack. Das Brüllen war wieder zu hören, und diesmal erschütterte es das Haus. Dies war kein natürliches Tier, sondern ein Bestie, die unseren eigenen dunklen Ängsten entsprang. »Hinauf«, sagte ich.
Wie beeilten uns. Auf dem Flur fand ich in einem alten Überseekoffer eine weitere Waffe, einen fünfzehn Jahre alten Dragonercolt, und ich wies Zack an, in der Kommode nach Munition zu suchen. »Wenn es der Leopard ist, den ich meine«, sagte Zack, »will er uns vielleicht gar nichts antun…« Es brüllte wieder. Ich hatte panische Angst, doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben. »Vielleicht doch«, sagte ich. Ich mußte dieser Sache ins Gesicht sehen und sie loswerden. Sie wirkte unwirklich auf mich – oder eher halbwirklich, wie meine eigenen Alpträume. Und wie meine eigenen Alpträume mußte sie bewältigt werden. »Laß uns dieses Monster beseitigen.« »Sie sind vielleicht mutig, Ma’am«, erwiderte Zack bewundernd und vielleicht sogar ein bißchen besorgt. »Ich bin keine von diesen Plantagenfrauen, die es sich gemütlich machen, um nachher vergewaltigt und erschlagen zu werden. Es passiert gerade etwas… zwischen dir und mir… und ich weiß nun, daß ich hingehen und jedes dieser Gespenster aus meiner Vergangenheit vertreiben muß – oder ich werde nie wirklich leben.« »Ich wußte, daß Sie ein starke Frau sind, Mrs. Grainger«, sagte Zack. »Ich glaube, du solltest mich jetzt lieber Paula nennen. Es ist ein bißchen spät für Förmlichkeiten.« Wir stürmten geradezu die Treppen hoch. Wieder und wieder war das Brüllen zu hören, und wieder und wieder fühlte ich, wie mir das Blut gefror und mir das Herz bis zum Hals klopfte, doch der Zorn verdrängte meine Angst. Hexerei und Ehebruch und Sodomie in meinem eigenen Haus – und nun Löwen und Tiger und weiß der Himmel, was sonst noch alles! Und ich – im reifen und matronenhaften Alter von fünfunddreißig –
fühlte mich plötzlich zum ersten Mal als Frau! – Oh! Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, doch da war, vermischt mit dieser Angst, ein Hochgefühl. Noch eine Treppe hinauf. Wir sprachen nichts mehr. Wir horchten. Das Geräusch kam von noch weiter oben. Als würden wir angelockt, gerufen. Hinauf, am großen Schlafzimmer vorbei. Und hinauf, auf die Unansehnlichkeit des Dachbodens zu. Ein seltsamer Geruch kam aus Phoebes Zimmer, dessen Tür einen Spalt offenstand. Ein wilder Geruch, ein Brunstgeruch… die Säure von Katzen und die Fülle des Dschungels. Das Brüllen kam von innen. »Ich geh voran«, sagte Zack. Er hielt den Colt an die Schulter und stieß gegen die Tür. Schoß. Schoß noch einmal. Ich hörte einen Querschläger. Glas zerschlug. Auf dem Bett eine Blutspur, die zum Fenster führte. Ich rannte hin. Draußen auf der Dachterrasse, im Zwielicht, ein rennender Schatten… »Los«, sagte ich. »Aber Ma’am. Wir haben ihn in die Flucht geschlagen…« »Nein… Ich werde dieser Kreatur die Stirn bieten.« Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch die Gangtür auf die Terrasse hinaus. Der Flaschenbaum klirrte in seinem Topf. Da war die Fahnenstange mit ihrem bizarren Wappen. Ich horchte. Nichts. Der Wind. Die Sonne war bereits untergegangen. Auf der anderen Seite der Gasse, wo mein Dach fast das Eckhaus berührte, hing eine korpulente Frau im Lampenlicht ihre Wäsche auf. Bettlaken und lange Unterhosen blähten sich im Wind, und auch Mrs. O’Donnells Röcke. »N’ Abend, Mrs. Grainger«, rief sie. »Abend, Mrs. O’Donnell«, antwortete ich nervös.
Ich mußte einen schönen Anblick geboten haben, die Kleidung in Unordnung, eine Derringer schwingend, einen flotten, jungen Mann neben mir, dessen Hemd halb aufgeknöpft war und der den Colt mal hierhin und mal dorthin richtete. Ich versuchte, Haltung zu bewahren. Wenn alles im Chaos versinkt, sind Manieren das einzige, was einem bleibt. »Glauben Sie, daß es zum Regnen kommt?« fragte ich sie. Zack mußte mich für verrückt gehalten haben; es ist manchmal schwer für Amerikaner, unseren englischen Hang zu kleinen Höflichkeiten zu verstehen. »Würde sonst meine Wäsche nicht aufhängen«, sagte meine Nachbarin. »Obwohl, da ist ein seltsames Grollen um die Terrassen rum… wahrscheinlich Donner.« Ich hörte es. Es war kein Donner. Aus der Dunkelheit drang der unverkennbare Schrei eines wilden Tieres. »Mrs. O’Donnell!« rief ich. Ich konnte den Leoparden nun sehen, keine zwei Schritte von ihr entfernt, ein Schatten hinter einem großen weißen Bettlaken. »Um Himmels willen, Frau, rennen Sie!« schrie ich. Mrs. O’Donnell lächelte mich an. Sie zog eine Wäscheklammer aus dem Mund und streckte sich, um ein paar Kinderunterhosen aufzuhängen. Der Leopard erschien. Warf sich auf die Irin. Sie hatte nicht einmal Zeit, aufzuschreien. Zuerst konnte ich nicht hinschauen, doch dann, hin- und hergerissen zwischen Faszination und aufsteigender Wut, zwang ich mich. Die Frau schlug nur ein paar Augenblicke um sich, als der Leopard sie umschlang und an ihrer Brust riß. Ich feuerte meine Derringer ab, doch vergebens. Ich schoß nur ein Loch in die blutbespritzte Wäsche der Dame. Die Umarmung von Frau und Bestie war eine groteske Verzerrung dessen, was ich nur wenig zuvor getan hatte. Mrs.
O’Donnell stöhnte. Und diese Frau, dachte ich, sie hat doch Kinder, sie hat Mäuler zu stopfen! Ein maßloser Zorn brach in mir aus. »Los«, sagte ich. Mit grimmiger Miene marschierte ich auf den Rand des Daches zu und sprang, der Gefahr zum Trotz, hinüber auf die andere Seite. Der Leopard schaute auf, sah mich, lief weg. Weiter. Auf das nächste Dach zu. Offenbar hatte er die Frau nur angegriffen, um mich zu provozieren. Er wollte mich. Er mußte irgendwie mit mir kommunizieren. Und ich mußte den Leoparden töten. Oder zumindest mußte ich das Monster töten, das aus dem Dunkel meiner eigenen Gedanken aufstieg. Zack folgte mir. »Ma’am, die Frau lebt; sie ist nur übel zugerichtet.« »Zack, geh runter, renn in die Sixth Avenue und fahr mit der Pferdekutsche zu Dr. Tappan – bring ihn dazu, herzukommen – mein Mann war ein Freund von ihm.« Ich riß den unteren Teil meines Unterrockes ab und reichte ihm das Stück Stoff hinüber. »Eine Notbandage. Schnell. Sie blutet.« »Was ist mit dir, Paula?« »Ich bleibe hier. Ich nehme deinen Colt; hast du noch mehr Patronen?« Er gab mir die Waffe, und ich wartete nicht auf Antwort. Er hätte womöglich versucht, mich aufzuhalten. Ich mußte weiter. Ich fühlte mich irgendwie unverwundbar. Konnten ein paar Momente verbotener Fleischeslust meine inneren Fesseln so sehr gelöst haben? Ich vermochte es nicht zu sagen. Wo war der Leopard? Ich fing seinen Geruch auf. Vorsichtig überquerte ich Mrs. O’Donnells Terrasse. Der nächste Block war leicht zu passieren, die Terrassen waren alle miteinander verbunden. Plötzlich waren die Dächer in Licht getaucht, denn die Wolkendecke brach auf und enthüllte den Mond. In jeder
Hand eine Pistole, schritt ich vorsichtig über den kleinen Mauervorsprung. Da war das Brüllen wieder… weiter entfernt. Ich folgte. Das nächste Dach war in einem unglaublichen Zustand, herumfliegender Müll und zerbrochene Flaschen und ein schneidender Gestank, der von undefinierbaren Objekten ausging. Im größten Müllhaufen schlief, umgeben von leeren Flaschen, ein alter Penner. Zu seinen Füßen lag ein stark geschminktes junges Mädchen, das nur einer einzigen Berufsgruppe angehören konnte. Ich hatte nicht gewußt, daß ich so dicht an solch menschlichem Elend lebte. Ich ging an diesen Leuten vorbei… doch da waren noch weitere. Der Geruch des Raubtieres wurde fast – nicht ganz – überdeckt durch jenem von menschlichem Abfall und saurem Wein und dem widerlichen Geruch von Opium. Es war die Hölle! Ich hatte die Armutsviertel der Stadt gesehen – mein Mann hatte sich sehr um die Bedürftigen gekümmert – und dieses Dach war so grauenhaft wie sie alle. Ein Baby schrie. Es war in eine Zeitung gewickelt und wurde in den Armen von etwas hin- und hergewiegt, das aussah wie ein zehnjähriges Mädchen. Der Leopard! Er streifte ungehindert unter diesen lebenden Toten umher. Der Armut, dem Hunger, der Bedürftigkeit widmete er nur einen kurzen Blick. Er drehte sich um, blickte mich an, brüllte wieder. Seine Augen waren heller als die Sterne. Ich folgte ihm. Noch ein Dach. Ich hielt mich an einem Abflußrohr fest, als ich es überquerte. Was für ein Abend! Ich, die Frau eines Geistlichen, wurde plötzlich zur urzeitlichen Affenfrau, die im wilden Dschungel von Manhattan ein Raubtier verfolgt! »Wohin führst du mich?« schrie ich. Irgendwo unten trottete ein Pferdewagen vorbei; Glockenklang; ein Straßenhändler bot Fleischpasteten an.
Der Leopard sprang erneut. Diesmal war ich mir sicher, daß ich nicht folgen konnte. Der Spalt zwischen den Häusern war zu groß… obwohl, wenn ich mich auf eine der wackeligen Holzleisten stellte, könnte ich vielleicht auf die andere Seite hinüberspringen… Nein. Der Leopard wandte sich von mir ab, und nun sah ich, was er sah … was ich schon einmal gesehen hatte, doch nur in einem Traum… Ich sah mein Dienstmädchen Phoebe, wie sie nackt im Mondlicht tanzte. Das Dach, auf dem sie tanzte, war leer, abgesehen von ein paar Schornsteinköpfen, die aus dem Zement herausragten wie barocke Felsformationen; einer stieß Rauch aus, und in diesem Rauch tanzte mein Dienstmädchen, sie erzeugte den Rhythmus mit ihren eigenen Füßen und schwang dazu ein Tambourin. Sie wirbelte herum; ihre Hände krallten sich, den Leoparden nachahmend, in die Luft; sie ließ sich zu Boden nieder und imitierte seinen verstohlenen Gang; sie heulte und brüllte und fauchte. Der Leopard starrte gebannt auf meine Magd. Dann begann er, Phoebe zu umkreisen. Seine Hinterbacken wogten. Er entblößte seine Zähne, und ich dachte, er werde Phoebe angreifen. Doch nein. Langsam wurde sich Phoebe der Anwesenheit des Leoparden bewußt. Sie begann zu gestikulieren, streckte ihre Arme nach ihm aus, schwang sich hin und her; und jetzt stürzte sich der Leopard auf sie, aber nicht um zu töten; unheimlicherweise fing der Leopard ebenfalls zu tanzen an. Die Tambourinschläge wurden schneller. Der Leopard sprang über Phoebe hinweg, als sie sich hinkniete, in den Mond starrend und das Tambourin schüttelnd. Jetzt schlug sie fieberhaft Saltos, schlug Rad über den Leoparden hinweg, der den Boden mit seinen Pranken bearbeitete, umarmte den Leoparden.
Während ich diesen sinnlichen Pas de deux beobachtete, drang ein ganzer Regenbogen von Empfindungen auf mich ein. Der Dämon Neugierde natürlich. Das alles war von eigenartiger Schönheit. Aber mein Zorn gewann die Oberhand. Er schaltete meine Vernunft aus – denn sollte ich nicht eigentlich vor Entsetzen zittern und in meine Häuslichkeit fliehen? Statt dessen war da nur der Wunsch, sie alle zu töten – die Gespenster, die Verwirrungen, die geheimnisvollen Entdeckungen, die ich über meinen Mann gemacht hatte – ich wollte sie alle zum Verschwinden bringen. Der Leopardentanz erreichte einen Höhepunkt. Ich konnte kaum die Negerin und den Leoparden auseinanderhalten. Mittlerweile war mir das egal. Ich kletterte an einer Stelle hinüber, wo die Traufen sich fast berührten, schlich mich an die Tänzer heran, bis ich mitten unter ihnen war, und feuerte direkt in das Schwirren, das ich für den Leoparden hielt. Da war es nur noch eins. Phoebe stand dort im Mondlicht, mir gegenüber. Sie war nicht mehr nackt. Sie trug einen Leopardenumhang, und sie war mit einem Grashelm gekrönt, und in einer Hand hielt sie das Tambourin, und ich konnte sehen, daß das Tambourin blutete und das Blut überall auf die Pflastersteine der Terrasse tropfte. Sie schaute mich ernst an und sagte: »Nun, Mrs. Grainger, jetzt wissen Sie vieles, was Sie vorher nicht wußten.« »Der Leopard… deine Mutter?« »Eleuthera.« »Aber ist sie nicht gestorben? In der Geschichte meines Mannes hatte sie sich geweigert, weiterzuleben…« »Ja«, sagte Phoebe. Ich bemerkte, daß sie sich nicht länger hinter dem undurchdringlichen Dialekt versteckte, den sie zuvor benutzt hatte. »Meine Mutter lebt nicht so, wie Sie oder ich es verstehen würden.«
»Und wo ist sie jetzt? Habe ich sie verletzt?« »Sie kann nicht mehr verletzt werden.« Phoebe lachte. »Sie ist in mir. Aber manchmal, wenn die Zeiten finster sind, kommt sie gerne einmal zurück, um mit mir zu tanzen; im Mondlicht tanzen, Mrs. Paula, das heilt die Seele.« Sie wickelte das Leopardenfell enger um sich. »Mrs. Paula, ich bin nicht Ihre Dienerin. Das war ich nie. Ihr Mann und ich haben in den Augen von Mawu-Lissa einen Bund geschlossen, und ich bin eine wahre und ehrbare zweite Ehefrau. Ich habe ihn mit Blutritualen an mich gebunden. Wir sind sogar über einen Besenstiel gesprungen, so daß wir sowohl nach Sklavenbrauch als auch für die Freien Mann und Frau wurden. Daß ich den Boden geschrubbt und Ihre Kleidung gewaschen habe, ist nur meine Pflicht als zweite Ehefrau. Daß ich die Lieblingsfrau Ihres Mannes war, ist für eine zweite Ehefrau selbstverständlich. Sie sind es, Paula, die nie Ihren Platz in dem Schema der Dinge verstanden hat…« »Aber das ist so – so afrikanisch!« sagte ich. »Ja, so ist es. Und ich bin es auch.« Gemeinsam gingen wir zu meinem Dach zurück. Phoebe sprang mit Leichtigkeit über die Abgründe zwischen den Terrassen, dann beugte sie sich vor, um mir zu helfen. Sie hatte offensichtlich Übung darin. Jetzt, da ich sie mit neuen Augen betrachtete, sah ich, daß sie schon immer etwas Leopardenhaftes an sich gehabt hatte. Wie hatte mir das früher entgehen können? Selbst in der größten Unterwürfigkeit war sie wie eine Hauskatze gewesen, immer sich ihres überragenden Platzes in der Hierarchie des Kosmos’ gewiß.
3 Mrs. O’Donnel lag jetzt bei mir im Empfangszimmer und wurde von unserem Hausarzt versorgt. Wieder war es kurz vor Mitternacht; wieder wurden die Lampen entzündet und der Teekessel aufgesetzt; und wieder setzte ich mich mit Zachary Brown in den Salon, von meiner Dienstmagd bedient, die wieder in ihre schickliche schwarz-weiße Uniform gekleidet war, die knickste und zierlich einschenkte und die Rolle der gutgeschulten Negerin mit zynischer Kunstfertigkeit spielte. »Wie geht es ihr«, fragte ich, als Dr. Tappan in den Salon trat. »Nun, sie deliriert«, antwortete er. »Ich habe das Loch in ihrer Brust genäht, die Wunde hat zwar stark geblutet, ist aber nicht lebensgefährlich; ich habe ihr Laudanum gegeben; und sie stöhnt und schreit, und spricht von wilden Tieren auf dem Dach.« »Nun, Doktor…«, fing Zack an, aber mit dem Finger bedeutete ich ihm zu schweigen. »Wir haben nicht gesehen, was geschehen ist«, sagte ich. »Ich bin hinauf, um mir das Mondlicht anzuschauen. Ich meine, einen Kampf gesehen zu haben.« »Ah, einen Kampf«, sagte Dr. Tappan. »Aber der Übeltäter wird wohl schon längst verschwunden sein…« »Ich habe ihn erschossen, mit dem Dragonercolt meines verstorbenen Mannes.« Mittlerweile wimmelte es im Haus von zerlumpten Kindern, denn Mrs. O’Donnels Brut war recht zahlreich, und alle wollten sie gefüttert werden, weinten und heulten über das Unglück ihrer Mutter. Mr. O’Donnell war selbstverständlich im Krieg, wie jeder andere gesunde rotblütige Ire aus New York.
Nachdem Mrs. O’Donnels Wunden versorgt waren, ließ Dr. Tappan sie von den Buben nach nebenan tragen, und ich ging auf den Flur hinaus, um zu sehen, daß alles glatt lief. Aber als sie gingen, beugte sich Phoebe zu Mrs. O’Donnell hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Noch mehr Hexerei!« rief ich aus, aber Dr. Tappan lächelte nur. »Das schadet nichts, Mrs. Grainger. Dies ist das neunzehnte Jahrhundert; wir lassen uns das Leben doch nicht von ein bißchen Aberglauben durcheinanderbringen.« Aber als sich die Tür hinter ihnen schloß, hörte ich eines der O’Donnell-Kinder sagen: »Jesus, Maria und Joseph! Es blutet nicht mehr!« Phoebe stand bei der Tür und grinste. Sie erinnerte mich an etwas, etwas, das mir erst kürzlich über den Weg gelaufen war… ach ja. Die Cheshire-Katze. Ich hatte den höheren Unsinn eines Reverend Dodgson, der sich noch dazu bestens verkaufte, im letzten Monat gelesen; jemand hatte mir ein brandneues Exemplar aus England geschickt und behauptet, diese Phantastereien seien in Wirklichkeit in Kindergeschichten versteckte tiefgründige Philosophien. Mir war mittlerweile jedoch klar, daß mein wirkliches Leben sich in einem weitaus wunderlicheren Wunderland abspielte als dem einer Alice. »Phoebe«, sagte ich, »ich verstehe, daß sich die Dinge zwischen uns unwiderruflich geändert haben. Aber du mußt mir schon etwas Zeit lassen, das alles zu begreifen.« Sie lächelte nur, und dann war sie wie der Blitz die Treppe hinauf. Wieder eine Katze. Oder vielleicht war sie ein Leopardenjunges? Ich ging in den Salon zurück, wo Zack immer noch saß. »Du mußt sehr müde sein«, sagte ich. »Bin ich auch, aber es gibt noch soviel mehr zu erzählen.«
»In diesem Fall…« »Ich weiß, was Sie denken, Ma’am, aber ich muß gestehen, daß ich Angst habe, alleine zu schlafen. Nach alldem, was wir heute erlebt haben.« »Aber…« »Oh, Ma’am, Sie wissen, daß ich Sie respektiere, und ich werde mir keine Freiheit herausnehmen, die Sie mir nicht erlauben.« »Gut denn«, sagte ich. Mir war jetzt ängstlicher zumute als in meinen Alpträumen oder während der Begegnung mit dem Leoparden auf dem Dach. Dennoch schienen nur Augenblicke vergangen, bis wir zusammen allein im großen Schlafzimmer waren. Es war das erste Mal seit dem Tod meines Gatten, daß ich einem Mann Zutritt in das Allerheiligste gewährt hatte. Aber Zack ging einfach hinein und begann sich auszuziehen, er warf seine Kleidung im Licht der beiden Kerosinlampen und des Mondes, das durch die aufgezogenen Vorhänge hereinströmte, in alle möglichen Richtungen. Er war wie ein Junge. Sein Gemüt war nicht vom Bewußtsein der bedrückenden Vergangenheit dieses Zimmers belastet. Seine Haut war weiß und rot gefleckt und immer noch glatt, immer noch kindlich. Er stand dort, ohne Hemd und nur mit seiner Unterhose bekleidet, und lächelte, und ich dachte, nun, dies ist keine billige Begegnung zwischen einer frustrierten Witwe und einem gedankenlosen Jungen, der nur seinen Samen in die nächstbeste Furche säen will; an diesem Jungen ist viel mehr dran. Er war, im besten Sinne, ein Engel, denn dieses Wort, wie mein Mann immer wieder angelegentlich betonte, ist das griechische Wort für Bote. Plötzlich begann ich zu weinen.
»Ma’am«, sagte Zack, »wenn ich Ihnen zu plötzlich auf die Bude gerückt bin, ist es nur, weil ich ein rauher und ungebildeter Junge bin; seien Sie nicht zu streng mit mir.« Warum weinte ich? Begriff ich erst jetzt, daß Aloysius tot war, wahrhaftig und unwiderruflich tot? In diesem Fall war Zack wahrlich der Bote des Todes – und der Bote neuen Lebens, der mich aus meinem selbstauferlegten Gefängnis befreite. Sacht knöpfte er meine Jacke aus schwarzem Satin auf, löste die schwarze Schärpe um meine Taille. Zärtlich schnürte er mein Korsett auf. »Nicht weinen, Paula«, sagte er. Aber ich konnte nicht aufhören. Ich denke, es war mehr Bedauern als etwas anderes. Halb vergangen, hatte mein Leben nicht begonnen. Er berührte mich, wie ein Bildhauer einen unbehauenen Block Marmor berührt, behutsam die verborgene Form darin spürend. Er nahm einen der durchsichtigen Morgenmäntel vom Stuhl beim Frisiertisch und legte ihn über meinen nackten Leib, dann trug er mich auf mein Hochzeitsbett, ein Bett, unter dem ein geschlachteter Hahn und ein heidnischer Fetisch lagen. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Also ließ er von mir ab. Ich sagte: »Nein, Zack, ich will dir doch nicht verbieten, mich zu berühren…« Aber er lächelte nur traurig im Mondlicht und sagte: »Ich werde dir statt dessen eine Geschichte erzählen, bis du einschläfst.« »Was für eine Geschichte?« fragte ich. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Brust, und er sagte: »Ich habe dir erzählt von Jimmy Lee Cox und seiner merkwürdigen Odyssee durch das vernichtete Dixie… aber das Merkwürdigste von allem ist, wie die Geschichten sich mit dem, was wir jetzt erleben, zu spiegeln scheinen… denn ich war gerade an den Punkt gelangt, wo Jimmy und der alte
Nigger der Leopardenfrau begegneten, die du als Eleuthera kennst…«
13 DER ALTE JOSEPH ERWECKT DIE TOTEN UND BEGEGNET ELEUTHERA
1 Ich habe dem alten Joseph nicht gestanden, und mir selbst auch nicht, daß ich meinen Vater umgebracht hatte. Kann sein, daß er immer noch lebte. Ich versuchte, nicht an ihn zu denken. Mein altes Leben war tot. Es war klar, daß ich nicht zu den Jacksons zurückgehen konnte, auch nicht zur Armee oder zu sonst einem Ort, wo ich weggerannt war. Es gab jetzt nur noch mich und den alten Neger, Dreckfresser, Aasvögel, Fresser von Toten. Ja, es war bestimmt menschliches Fleisch gewesen, was mir Joseph zu essen gegeben hatte, an dem Abend da und am nächsten Morgen wieder. Er zeigte mir, wie man es macht, weil, es gab nämlich bestimmte Leichen, die laut riefen, man soll sie liegenlassen, und andere schrien danach, verzehrt zu werden. Wir folgten der Armee in sicherem Abstand, und wenn sie weiterzogen, nahmen wir von den Gefallenen Besitz. Er konnte immer wittern, wo eine Schlacht sein würde. Er hatte niemals mehr dabei als einen schwarz angemalten menschlichen Totenschädel, voll mit Kräutern, den gleichen Kräutern, nach denen er immer roch. Oh, es war Gottes Land, durch das wir zogen, Hügel, Wälder, Wiesen, Flüsse, und diese ganze Schönheit war zugrunde
gerichtet durch Menschenhand. Joseph lehrte mich, nicht aus den blutverseuchten Flüssen zu trinken, sondern am Morgen den Tau von Blüten und aus gewölbten Blättern zu lecken. Wie sein Vertrauen in mich größer wurde, ist er kühner geworden. Wir gingen in die Lager und setzten uns mitten unter die Soldaten, und sie haben uns niemals gesehen, kein einziges Mal. »Wir unsichtbar«, erklärte Joseph mir. Dann versetzte es mir einen Schlag, denn wir standen in vollem Tageslicht bei einer Weide, und auf der anderen Seite des Baches waren ungefähr fünfzig Zelte und dahinter ein dichter Wald. Die Luft war feucht und neblig-trüb. Ich konnte Angehörige meiner alten Kompanie sehen, mit ihren abgemagerten Gesichtern, die für ihre grauen Röcke zu groß waren, kaum in der Lage, das Bajonett vom Boden zu heben, und sie saßen da zusammengedrängt und warteten auf ihre Mehlsuppe, und da war ich, mit Toten genährt, legte wieder Gewicht zu, und die Röte kehrte in meine Wangen zurück; ich wunderte mich, daß sie mich nicht sehen konnten, wo ich doch auf der anderen Seite des Flusses auf und ab sprang; und ich sagte zu Joseph: »Ich glaube nicht, daß wir unsichtbar sind. Ich glaube… oh, Joseph, ich glaube, wir sind tot, schon seit dem Tag, an dem wir uns getroffen haben.« Joseph lachte; es war ein trockenes Lachen, wie Wind in trockenen Herbstblättern; und er sagte: »Du bist noch nicht tot, Herzchen; fühl das Fleisch auf den Knochen, nein, dein beaupére, er dich bringen zurück ins Leben.« »Warum sehen sie uns dann nicht? Sogar, wenn wir mitten unter ihnen gehen?« »Weil ich einen Mantel aus Finsternis geworfen über uns. Wir tragen das Antlitz von einem dunklen Gott über unserem eigenen.«
»Ich traue Gott nicht. Immer wenn mein Pa Gott gesehen hat, hat er mir wehgetan.« Lächelnd sagte er: »Dein Daddy war kein richtiger Priester, Herzchen; er nur ein houngan macoute, ein Mann, was den Namen Gottes benutzt, sich zu schmücken.« Er nahm meine Hand und führte mich über den kleinen Fluß, mitten unter die Soldaten, und sie sahen mich immer noch nicht. Wir bedienten uns mit Zwieback und Kaffee geradewegs aus dem Kessel. Aus der Ferne hörte ich die Schreie von einem Mann, dem sie das Bein festhielten, um es abzuhacken. Um uns herum lagen Männer, die stöhnten. Es gibt einen ekligsüßen Geruch, den Hungernde von sich geben, während sie ihre letzten Fetzen Fleisch verbrennen, um damit die Tage bis zu ihrem Ende zu nähren. Daher wußte ich, daß sie dem Tode nahe waren. Sie zitterten vor Kälte, obwohl es heller Tag war. Herrgott, viele von ihnen waren noch Kinder, und manche waren noch jünger wie ich. Ich wußte, daß der Krieg verloren war oder bald verloren sein würde. Ich hatte kein Land und keinen Vater bis auf einen schwarzen Zauberdoktor aus Haiti. Ein Signalhorn ertönte, und ein paar Männer blickten auf, aber die meisten von ihnen lagen einfach weiter da in ihrem Elend. Joseph und ich sahen Soldaten in das Lager kommen. Sie hatten einen Haufen Nigger bei sich, Nigger in blauen Uniformen, alle in einer langen Reihe aneinandergekettet, hinter einem Wagen, der hoch beladen war mit beschlagnahmten Waffen. Sie waren so ausgehungert und elend wie unsere eigenen Leute. Sie starrten vor sich hin, wie sie sich mühsam aus dem Wald auf die Lichtung schleppten. Auch ein oder zwei Weiße waren dabei, Offiziere, schätz ich. Eine Pause, wieder ertönte das Signal. Dann kam ein Captain aus einem Zelt und sprach zu den Gefangenen. Er sagte, mit schleppender Stimme, als wenn er es müde wäre, diese Ansprache zu halten: »Entsprechend dem mir vom Kongreß
der konföderierten Staaten von Amerika übertragenen Auftrag sind alle Neger, die bei ihrer Gefangennahme in der Uniform des Nordens angetroffen werden, nicht als Kriegsgefangene anzusehen, sondern unverzüglich der Sklaverei zu überstellen oder zu erschießen. Jeder weiße Offizier, der diese Neger befehligt, ist bei der Gefangennahme als Anstifter eines Aufstandes zu behandeln und ebenfalls zu erschießen.« Er drehte sich um und ging in sein Zelt zurück, und der Konvoi bewegte sich vorwärts, am Lager vorbei, den Bach hinauf. »Oba kosó!« flüsterte der alte Mann. »Sie sie werden töten.« »Laß uns weggehen.« »Nein«, sagte Joseph. »Ich spüren den Wind der Götter auf mich wehen herunter. Ich spüren den Atem von Loawurm. Ich stehen auf den Windungen von Koulev, der Erdschlange. Oh, nein, Marse Jimmy Lee, ich gehen nirgendwo, aber du frei und natürlich kommen und gehen, wie du willst, weil sein weiß.« »Du weißt, daß das nicht stimmt. Ich bin weniger frei als du. Und ich weiß, wenn ich dich verlasse, verlasse ich den Schutz von deinem Unsichtbarkeitszauber.« Dabei starrte ich den Gefangenen direkt in die Augen, und ich spürte ihren widerlichen Atem und roch den Eiter ihrer Wunden, aber kein Zeichen, daß sie mich wahrnahmen. Da war was dran an seiner Zauberkraft, obwohl ich mir sicher war, daß sie von finsterem Ort kam und nicht von Gott. Ich folgte ihm also den Bach längs, wie die Gefangenen in den Wald geführt wurden. Wir folgten ihnen eine Weile bergauf, bis wir den Rand einer flachen Kuhle erreichten, und da waren schon die Schwarzen, die gruben, um sie tiefer zu machen, und ich sah, was geschehen würde, und ich wollte nicht schauen, weil, dies war kein Kampf, dies war schlicht und einfach ein Abschlachten. Unsere Soldaten haben die Gefangenen nicht verhöhnt und beleidigt und nichts. Sie waren zu müde und zu hungrig. Auf
ihren Gesichtern war keine Gemütsbewegung zu sehen. Sie wollten es bloß hinter sich bringen. Unsere Männer stellten die Nigger und ihre Offiziere alle längs dem Graben auf und durchsuchten ihre Taschen nach Münzen oder Brosamen, und sie nahmen ihnen die Kleider und ihre Würde, und sie drehten sie um, daß sie in den Graben guckten, und sie schossen ihnen wirklich in den Rücken, einen nach dem anderen, bis die Grube voll war; dann kehrten die Südstaatler um und marschierten im Gänsemarsch ins Lager zurück. Oh, Gott! Als die ersten Schüsse fielen, mußte ich an meine Mutter denken, auf halbem Weg auf der Brücke tot auf ihrem Gesicht liegend, hinter sich ihr altes Leben, und ihr neues Leben vor sich, und die Blutflecken breiten sich von ihrem Rücken über die Spitze und den Kattunstoff ihres Kleides aus. Und Joseph sagte: »Herzchen, ich gesehen, was ich tun muß. Und ist ein finsterer Weg, den ich gehen muß, und vielleicht bist du nicht stark genug, mit mir zu kommen. Aber ich mag es nicht, alleine wandern. Der alte Joseph auch Angst haben zuweilen, trotz elfundelfzig Jahre auf dieser Erde. Ich rufen die Mächte zu bezeugen, ni aye áti ni drun.« »Was bedeutet das, Joseph?« »Im Himmel als auch auf Erden.« Ich sah, wie sein Auge glühte, und ich hatte gewaltige Angst. Auf einmal war er nicht mehr ein abgezehrter alter Mann. Sah aus, als hole er das Sonnenlicht in sein Gesicht, und daß es heller scheint wie der Sommerhimmel. Er stellte den Schädelkessel auf den Boden und murmelte, wieder und wieder: »Koulèv, Koulèv-O! Damballah Wedo, Papa! Koulèv, Koulèv-O! Damballah Wedo, Papa!« Und dann sagte er mit heiserer Stimme: »Achtgeben, Marse Jimmy Lee, der Gott gleich kommen herunter und jetzt in meinen Körper steigen… geh beiseite, wenn du nicht weggefegt werden willst vom Atem der Schlange!« Und er
flüsterte vor sich hin: »Oh, dieux puissants, warum ihr mich drängen für größte Magie, ich alter Zauberer ohne poudre und keine Kräuter? Oh, nehmt diesen Kelch von mir, nehmt, nehmt weg das bittere Gift von meinen Lippen, der alte Joseph, er nicht studieren mehr Leben und Tod.« Und sein alter Körper fing an, sich zu schütteln, und er riß seine Augenklappe ab und warf sie in den Matsch, und ich schaute in die leere Augenhöhle und sah ein inneres Auge, blutrot und leuchtend wie ein Rubin. Und an der Grube mit den Toten sank er hinunter auf seine Knie und fuhr fort zu murmeln und sich hin und her zu wiegen, vor und zurück, vor und zurück, und es war, als spreche er in Zungen. Und sein gutes Auge verdrehte sich nach oben. »Was jetzt, alter Joseph«, fragte ich ihn, »was hast du vor?« Aber er beachtete mich nicht. Er machte grad weiter mit seinem Hin- und Herwiegen und Schaukeln, und nach einiger Zeit stand er auf und fing einen seltsamen Hüpftanz an, und bei jedem Hüpfer schrie er »Shangó! Shangó!«, und seine Stimme verlor mehr und mehr alles Menschliche. Seine Stimme war schon fast wie das Rollen des Donners, und dann war sie der Donner, denn der Himmel hatte sich bezogen, und Blitze durchbohrten die Wolkenberge. Oh, der Himmel wurde dunkel. Der Kessel brodelte und glühte, obwohl er ihn nicht einmal angefaßt hatte. Für mich stand fest, er mußte bestimmt besessen sein. Die schwarzen Engel, von denen er mir erzählt hatte, sie sprachen zu ihm aus dem Schlund der Hölle. Ich schätzte, ich würde nicht mehr lange leben, denn der alte Mann brüllte aus voller Kehle, und wir waren nicht weit vom Lager entfernt; aber niemand kam uns suchen. Kann sein, sie kauerten in ihren Zelten, um sich vor dem Unwetter zu schützen. Jetzt fing es an zu regnen. Er prasselte auf uns runter, dieser Regen, und durchnäßte uns; es war ein heißer Regen, er
verbrannte meine Haut. Und beim Zucken der Blitze sah ich in die Grube, und ich dachte, ich sehe sich was bewegen. Kann sein, daß es nur das dahinschießende Wasser war, das die Leichen gegeneinanderwarf. Ich kroch näher an den Rand. Ich beachtete Josephs Warnung nicht. Ich schaute über den Rand, und bei dem nächsten Blitz sah ich, wie sie sich krümmten und ihre Arme und Beine schüttelten, wie sie ihre Hälse in die eine Richtung und in die andere verrenkten, und ich dachte bei mir, er erweckt die Toten, der alte Joseph. Joseph hörte nicht auf, diese afrikanischen Wörter herauszuschreien und herumzuspringen und mit den Armen zu rudern. Der Regen prasselte auf mich ein, und ich war nahe daran, ohnmächtig zu werden, denn das Wasser rann in meine Nase und geriet in meine Lunge, und wenn ich nach Luft schnappte, schluckte ich nur mehr und mehr Wasser. Keine Ahnung, wie der alte Mann es schaffte, immer weiter zu tanzen; im Licht der Blitze sah ich ihn, dunkel und wendig, und der strömende Regen ließ ihn glänzen, und seine Brust und seine Arme sahen aus wie die Schuppen von einer großen schwarzen Schlange; ich schaute ihn an und atmete in dem kochenden Wasser, und die Grube mit den toten Niggern zitterte und bebte, wie wenn die Erde selbst sich öffnen wollte, und von dem Massengrab kam ein blaues Licht, so blendend, daß ich nichts mehr sehen konnte; und so kippte ich zuletzt vor Entsetzen um.
2 Als ich meine Augen dann wieder aufgemacht habe, war der Regen nur noch eine Erinnerung, die Sonne ging gerade auf, der Wald war still und in Nebel eingehüllt. Und ich dachte mir, ich muß wohl geträumt haben und immer noch an dem Fluß
sitzen, an dem die Toten lagen, und ich habe den alten Joseph von früher nie gesehen; aber dann sah ich ihn, wie er ein Stückchen Pökelfleisch briet, das er aus dem Camp gerettet hatte. Kein Morgensignal zu hören, und ich denk mal, die Kompanie hat mitten in der Nacht zusammengepackt und ist losgezogen, sobald das Gewitter nachgelassen hat. Joseph hatte seine Augenklappe wieder an und sang vor sich hin, als Kind hatte ich das Lied gehört. Und als er sah, daß ich mich bewegte, sagte er: »Marse Jimmy Lee jetzt wach.« »Was ist das für ein Lied?« fragte ich ihn. »Es heißen ›Au Claire de la Lune‹, Herzchen, beim Mondenschein.« Ich setzte mich auf. »Joseph?« »Was, Marse Jimmy Lee?« »Ich hab heute nacht einen ganz seltsamen Traum gehabt… mehr wie eine Vision. Ich träumte, du warst besessen und du bist herumgehüpft und hast mit den Armen gewedelt und Lieder in einer afrikanischen Sprache gesungen, und du hast die Negersoldaten aus dem Grab zum Leben erweckt.« »Das Leben ist ein Traum, Herzchen«, sagte er. »Wir sie nennen les zombis. Sein von Kikongo-Wort nzambi, bedeuten ein Toter, der auf der Erde wandeln.« Der Nebel begann sich ein wenig zu lichten, und ich sah ihre Füße. Schwarze Füße, noch immer in Fesseln, noch immer bedeckt mit aufgescheuerten Wunden. Sie umringten uns. Und wie die Sonne den Nebel allmählich vertrieb, konnte ich ihre Gesichter sehen. Und obwohl sie sich regten und bewegten und um sich blickten, war in ihren Augen kein Feuer und in ihren Nasen kein Atem. Sie waren vielleicht nicht tot, aber lebendig waren sie auch nicht. Hochaufragend standen sie da. Alle mit einer glatten Durchschußwunde. Alle rochen sie nach Josephs Kräutern. Sie waren nackt, doch einige hatten ein paar alte
Lumpen gefunden, die sie sich um die Hüften gewickelt hatten, und sie waren still, still wie das Grab. »In mir immer noch Zauberkraft«, sagte Joseph, »sogar ohne den coup poudre.« Schätze, ich hab mich nie so gefürchtet wie da. Ich bekam eine Gänsehaut und mein Blut raste. Ich glaube, ich wäre am liebsten vor Angst gestorben. »Ich nie gedacht, daß alte Zauberkraft noch in mir«, sagte Joseph noch einmal. Aus seiner Stimme klang Verwunderung. Keine Furcht. Die Toten umringten uns und warteten; schien so, als ob sie keine eigene Meinung hätten. »Oh, Joseph, was sollen wir jetzt machen?« »Weiß nicht, weißes Kind. Ich noch im Dunkeln. Die Vision nicht mehr so deutlich; Joseph alt, alt.« Er gab mir zu essen und echten Kaffee, denn die geschlagenen Soldaten hatten welchen bei sich gehabt. Ich stand auf und ging zur Grube rüber, und die war jedenfalls leer bis auf die zwei weißen Offiziere. »Warum hast du die nicht auch auferweckt?« fragte ich. »Keine Vernunft nicht drin, Marse Jimmy Lee; für Weiße gibt es einen Himmel und eine Hölle; dazwischen gibt es nichts; vergessen sie am besten.« Also haben wir Erde über sie geworfen und sind weitermarschiert, eine Reihe von untoten Schwarzen im Gefolge. Ich könnte nicht sagen, wie das alles hieß, wo wir längs sind, aber Joseph wußte, wo er hinging. Es war in Richtung der aufgehenden Sonne, also nahm ich an in Richtung Südost. Raleigh hatten wir hinter uns gelassen, soviel wußte ich immerhin; schätze, wir machten Kurs auf South Carolina oder vielleicht Georgia. Aber für einen Jungen, der noch nicht viel von der Welt gesehen hatte, sah alles gleich aus.
Und alsbald führte Joseph uns in einen Wald, und wir marschierten den lieben langen Tag durch eine ruhige Gegend, die nie einen Krieg gesehen hatte. Wie marschierten, bis die Blasen an unseren Füßen gefühllos wurden und ich keinen Schmerz mehr verspürte. Der Wald war kühl, und die Dämmerung erinnerte mich an meine Mutter Mary, wie sie mich in ihren Armen hielt, als ich ein kleines Kind war. Vögel sangen in dem Wald, und die Bäche waren tief und klar und frei von Fäulnis. Ich löschte meinen Durst, und auch meine Seele fühlte sich rein. »Was ist das für ein Wald?« fragte ich Joseph, als wir uns an einen Bach setzten und uns einen Fisch teilten. »Du fragst zu viele Fragen«, sagte er, »und manchmal schwer antworten auf die Fragen, die du fragst.« »Hast du dich verirrt?« »Nein«, sagte Joseph, »wir gefunden.« Ich war einmal verloren, dachte ich, aber jetzt bin ich gefunden worden… War dies am Ende die Erlösung, im Freien zu lagern mit einem Zauberer, der sich die Gesetze Gottes und der Menschen gefügig machen konnte? Oh, aber ich konnte das nicht. Wie der Hirsch nach den Wasserbächen verlangt, so verlangt meine Seele nach dir, oh Gott, dachte ich, wobei ich an meinen Pa dachte und mir seine Art, zu unserem Herrn zu gelangen, ins Gedächtnis rief. Die Toten aßen nicht von den reichen Gaben dieses Waldes, noch tranken sie. Und als wir aus dem Wald wieder rauskamen, standen wir auf einer neuen, sauberen Straße; der Krieg schien auch diese Gegend nicht berührt zu haben. Allerdings sahen wir keine Menschenseele, weder Sezessionist noch Yankee; und alle Häuser, an denen wir vorüberkamen, waren unbewohnt. Es
vergingen viele Tage, bis wir einen Menschen zu sehen kriegten.
3 Bei Einbruch der Nacht machten wir Rast. Wir fanden ein Bauernhaus. Leute waren keine da, und die Tiere hatte man alle mitgenommen, aber ich fand einen Schinken in der Speisekammer und ließ es mir schmecken. Ich schlief die Nacht in einem richtigen Bett. Joseph saß auf der Veranda. Die zombis schliefen nicht. Vor dem Haus standen sie im Kreis und wiegten sich leise zu den Klängen von Josephs Gesang; als ich aus dem eingeschlagenen Fenster blickte, sah ich sie im Mondschein, und in ihren Augen war noch immer kein Leben. Mir fiel ein, daß sie an keinem Essen teilgenommen hatten. Wie war das, ein zombi zu sein? Wenn es stimmt, daß die Augen die Fenster der Seele sind, dann waren da ganz bestimmt keine Seelen in diesen fleischlichen Hüllen. Wir fanden eine Menge Gold in dem verlassenen Haus. Sie hatten es im Brunnen versteckt, tote Yankees lagen drum herum; schätze, sie haben ihn vergiftet, damit die Nordstaatler ihr Wasser nicht trinken konnten. Aber den Toten ist Gift egal. Am nächsten Tag wanderten wir weiter. Wir schauten wieder nach einem Bauernhof aus zum Übernachten, aber die nächsten Häuser schienen bewohnt zu sein, und wir wollten keinen Verdacht erregen. Ich schätze, wir waren wieder in einer Gegend, die vom Krieg heimgesucht worden war, denn die Leute, die ich heimlich in ihren Häusern beobachtet habe, sahen hungrig und traurig aus, manchmal saßen sie am Fenster und starrten in ein großes, trübes Nichts raus, und ich fragte mich, ob sie tot oder lebendig waren, wo ich jetzt doch wußte,
daß die Grenze zwischen Leben und Tod nicht so scharf gezogen war, wie ich mal geglaubt hatte. Falls eine Patrouille gekommen wäre, hätte ich vielleicht zur Not sagen können, daß die ganzen Nigger alle meine waren, obwohl, das war wohl schwer zu glauben, auch wenn ich mich im letzten Farmhaus mit Sachen aus einer Kommode ziemlich fein rausgeputzt hatte. Eine Jacke aus feiner schwarzer Seide hatte ich mitgehen lassen, die mir in den Schultern zu groß war, ein gutes Pferd noch dazu, obwohl ich mich nicht traute, drauf zu reiten, weil ich dachte, ich rieche nach den Toten. Oh, ich muß ausgesehen haben! Wir nahmen die schmalsten Straßen, und obwohl ich mit dem Pferd vorne ging, war es der alte Joseph, der gesagt hat, wo’s lang gehen sollte; und da war ich ihm für dankbar, weil ich mich so wenig zurechtgefunden hab, wie’s nur ging. Ich wußte ja nicht mal, in was für einem Staat wir waren, nur daß wir weit weg von zu Hause waren. Hinter uns lief diese Schlange Nigger. Bald war ich so verdammt müde, daß ich gesagt habe: »Alter Joseph, wir müssen uns ausruhen, wenn auch nur am Straßenrand.« Und er sagte: »Geduld, Marse Jimmy Lee. Wir fast da.« »Wo?« fragte ich. »Wo wir hingehen.« Die Sterne wurden schon sichtbar. Und ich war hundemüde. Die Toten nicht, schätze ich. Sie gingen einfach immerzu. Ich hatte das noch nicht rausgekriegt, wie so ein Toter sich fühlt. Alle paar Meilen hielt Joseph an und zog die Luft tief rein. »Witterst du jemand?« fragte ich ihm. »Ja, Herzchen, mach ich.« »Nach was, alter Joseph?« »Die Vision. Sie jetzt mehr deutlich. Sie mehr deutlich.« Schließlich schwenkte er die Arme, und die Kolonne kam zum Halten, und die hinteren Leichen stießen mit denen in der
Mitte zusammen wie ein Stapel Dominosteine. »Schau, Marse Jimmy Lee«, sagte er. »Sieh mal durch die Maulbeerbüsche da längs von der Straße.« Ich tat es. Ich sah ein altes, baufälliges Haus, ziemlich genauso wie die andern, an denen wir vorbeigekommen waren. Davor saß eine alte Frau in einem Schaukelstuhl und strickte und sang vor sich hin; war aber zu leise, konnte die Worte nicht hören; eine Laterne stand zu ihren Füßen. Und ich hörte ein Kind flennen. »Halten wir hier für die Nacht an?« »Ich schätze«, antwortete Joseph. Also zogen wir feierlich durch das Tor, das zu unserem Empfang aufschwang, dann brach es aus den Scharnieren und krachte auf die Erde. Von der Straße hatte es ausgesehen, daß das Haus dicht vor uns sei, aber der Steinpfad wand und drehte sich, und mal konnte ich den Gesang ganz nah am Ohr hören, mal kam er von weiter weg, wie Engelsgesang. Der Pfad war mit rauhen, unbehauenen Steinen gepflastert und überwachsen mit Unkraut. Und den ganzen Weg längs lagen tote Menschen. Da war ein Arbeiter mit einer Hacke, der war durchs Herz geschossen und lehnte noch gegen einen Pfirsichbaum. Er war schon lange Zeit tot, schätze ich, weil durch das vertrocknete Fleisch schon der Schädel sichtbar war. Ein Baby lag in zwei Hälften gehauen auf einem Wagenrad. Da war eine Frau, von Bajonetten bis zu den Knochen aufgeschlitzt, auf den Ästen von einem anderen Pfirsichbaum gespreizt, und von diesem Baum hingen Hunderte von Flaschen, die im übelriechenden Luftzug klingelten. »Wie können die nur so grausam sein?« wütete ich. »Und das zu ihren eigenen Leuten?« Joseph lachte ein trockenes, bitteres Lachen. »Und als deine Freunde mit Abschlachten der Nigger-Soldaten fertig waren, waren das nicht eigene Leute? Sprich nicht von diesen Leuten
und jenen Leuten, Marse Jimmy Lee. Du hast eine Seele, und deine Seele gleiche Farbe wie meine.« »Aber, Joseph«, sagte ich, »du hast die toten schwarzen Soldaten wiederauferstehen lassen, und die weißen hast du verrotten lassen.« »Ich dir sagen, da war kein Sinn nicht drin.« Vom nächsten Pfirsichbaum hing ein junger Bursche, dem Anschein nach mit seinem eigenen Gürtel erhängt. Er war jünger als ich, schätze ich. Dunkelhaarig, mit Augen wie Smaragde, wäßrig und grün. Seine nackte Brust war dünn, als habe er eine Woche nichts gegessen vor seinem vorschnellen Tod; er trug Nankinghosen, viel zu weit, sie hingen über seine Hüften und waren am Knie abgeschnitten. Und jetzt das Eigenartige: Sein linker Fuß war abgekaut, als hätte sich ein Bär über ihn hergemacht. Der alte Joseph guckte sich den Fuß von dem Jungen mächtig lange an, untersuchte die Größe von der Bißwunde und roch an den knochigen Resten von der Hacke. »Ja, dies das Haus, wo wir heut nacht halten.« Und unsere grausige Prozession ging den Pfad weiter rauf, bis zur Veranda, wo die Frau sang. Und dies war das Lied, das sie gesungen hat, ein schauriges Lied, weil sie saß da mit ihrem Strickzeug, und zu ihren Füßen lagen zwei tote Frauen, jung, blutjung: Lauft, Ladies, lauft, Sonst kriegen wir euch alle, Lauft, Ladies, lauft Ihr fallt in jedem Falle. Die zwei Damen zu den Füßen der Frau waren ganz in weiß gekleidet, als ob sie gerade auf dem Weg zur Kirche seien, vielleicht waren sie sogar auf dem Weg zu ihrer Hochzeit,
weil: Vor ihren Gesichtern hatten sie Schleier und kleine Blumensträuße in den Händen, und sie lagen übereinander, und jede hatte die Arme um die Schultern von der anderen gelegt. Aber jede trug ein Loch in der Brust, ein riesiges Loch, einen Spalt in den Rippen, und kein Herz, wo ein Herz hätte sein sollen. Ich wunderte mich darüber. Aber der alte Joseph hielt diesen Anblick scheinbar für so natürlich wie alles andere, was wir sonst schon gesehen hatten. Die Frau hatte dann noch ein Lied gesungen: Ich hab ein Mädchen überm Berg, Wenn sie mich nicht küßt, ihre Schwester wird wollen; Und sollte die Schwester mir gar zu sehr grollen, Tu ich an der Mutter ein gutes Werk. Da war mir klar, daß sie wahnsinnig geworden war, daß die Yankees das Haus geplündert und alle ihre Töchter geschändet hatten, und sie auch, und vielleicht sogar ihren Sohn, und daß sie davon wahnsinnig geworden ist. »Das ist ein Yankee-Lied«, sagte ich. »Bloß glaube ich nicht, daß sie ›küßt‹ singen; ich glaube, sie benutzen ein anderes Wort lieber.« »Das sein Lieder, die von Südstaatler gesungen«, sagte Joseph. »Die das gleiche sagen.« Die Frau sang dieses Lied immer und immer wieder; und dann fiel mir an ihrer Strickerei etwas auf: Was sie mit der einen Bewegung strickte, machte sie mit der anderen wieder auf; und so würde der Schal, den sie stricken wollte, niemals fertig werden. Sie saß in ein paar Augenblicken festgefroren und durchlebte diese Momente wieder und wieder und wieder.
»Ma’am«, sagte ich, und schwang meinen Schlapphut, den ich von der letzten Plantage geklaut hatte, »ich hoffe doch, daß ich mich Ihrer Gastfreundschaft erfreuen darf.« Denn jedes richtige Südstaatenhaus hat Gästezimmer, mit eigenem privatem Eingang, die von jedem, der des Weges kommt, benutzt werden können. »Und mag sein, sie können uns eine Scheune überlassen, damit meine Schwarzen sich ausruhen können.« Die Dame hielt in ihrem Gesang inne. Ich schätze, ich habe sie aus ihren Träumen geweckt oder den Zauberbann gebrochen, der sie in dieser einen Zeitspanne gefangengehalten hatte, denn sie sah aus, als käme sie wieder zu sich. Sie guckte mich die längste Zeit an. Meine Nigger hat sie natürlich nicht groß beachtet, die in einer langen Schlange den ganzen Kiespfad längs dastanden und schwankten. »Nun«, sagte sie endlich, »es ist ein Vergnügen, endlich Gäste begrüßen zu können. Es verlangt mich so sehr nach Gesellschaft. Und nun gar so ein feiner junger Herr, mit einem reichen Gefolge von Leibeigenen!« Ich verbeugte mich. »Dennoch, ach leider, ich bedaure, daß meine beiden Töchter schon versprochen sind. Ah, es ist ein Jammer, es ist ein Jammer!« »Sind das Ihre Töchter, Ma’am?« »Ah, ja«, sagte sie – während der ganzen Zeit ließ sie nicht einen Augenblick von ihrem Stricken und Wiederaufmachen ab – »Biddy und Lolly; so ein Jammer, daß einer ihre Herzen gestohlen hat.« Mich überlief es kalt, weil sie nicht mehr imstande zu sein schien, die Realität und die Phantasie auseinanderzuhalten; für sie war alles eins. »Wer war das?« fragte ich sie. »Nun«, antwortete sie, »zwei Herren aus dem Norden, beide Johnson genannt, ein älterer und ein jüngerer.«
»Der Feind.« »Nun, nun. All das Gerede über Feinde; das werden Sie doch nicht etwa glauben, Sir; Bruder gegen Bruder, Vater gegen Sohn; das ist ein Greuel, und ich möchte keinen weiteren Unsinn darüber in meinem Hause hören. Sind wir nicht alle, durch die Gnade Gottes, weiß?« »Und Sie, Ma’am«, fragte ich. »Sie auch?« »Nun, die Johnson-Brüder beliebten, der alten Frau den Hof zu machen, und wir haben ein oder zwei Tänze getanzt, ja, diese alten Beine können noch herumhüpfen, wissen Sie! Aber ich bin, leider, nicht mehr rein und jungfräulich; der Engel hat mich nicht würdig befunden, um mich mitzunehmen. Aber ich habe noch Hoffnung.« »Engel?« fragte ich. »Oh, oh, oh, oh, habe ich Ihnen das nicht erzählt? Nun, nach dem Hochzeitsfest kam ein mächtiger Engel herunter, um meine Mädchen ins Paradies zu tragen.« »Ein Engel?« »So leuchtend wie die Sonne, ein Engel mit hundert Augen«, sagte sie. »Und oh, oh, oh, es verlangt mich, diesem Engel in den Himmel zu folgen, aber Gott sagt mir, daß ich noch eine Weile hier verweilen muß. Oh, Sir, sind Sie dieser Engel? Denn die Diener Gottes erscheinen in allerlei Gestalt.« »Ich bin kein Engel nicht«, sagte ich, »obwohl ich das Wort Gottes ab und zu gepredigt habe, wenn mein Pa zu betrunken war, um die Heilige Schrift an der richtigen Stelle aufzumachen. Nicht, daß die richtige Seite was ausmachen würde; ich kann nur ein ganz kleines bißchen lesen und schreiben. Ich heiße Jimmy Lee Cox, Ma’am, und fühle mich sehr geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen.« »Und ich, Mr. Cox, bin Mrs. David Arthur Knight, Senior; aber Sie dürfen Valerie zu mir sagen; da ich verwitwet bin, bilde ich mir gerne ein, wieder eine Miss zu sein.«
»Miss Valerie«, sagte ich. Ich sah diese Frau an, die behauptete, einen Engel gesehen zu haben. Sie war eine Frau mit wilden, grauen Haaren, und Augen, die hin und her schnellten, und sie trug einen Kattunrock über Krinoline, modisch, aber zerfetzt; und in ihrem zerzausten Haar steckte eine Bernsteinnadel. Leute, die das Übernatürliche gesehen hatten, weiß ich, verändern sich innerlich. Und darum hab ich auch geglaubt, daß Miss Valerie irgend etwas gesehen hat – vielleicht nicht einen Engel Gottes, aber einen von der anderen Sorte. »Miss Valerie«, sagte Joseph, den sie plötzlich zum ersten Mal zu bemerken schien, »dieser Engel, den Sie gesehen, vielleicht hatte er eine andere Gestalt angenommen… denn Engel kommen in vielen Gestalten zu uns. Sagen Sie mir die Wahrheit, Miss Valerie… dieser Engel, sah er aus wie eine große, gefleckte Katze… ein Leopard?« Und da wußte ich, was diese Bißwunden am Fuß vom Jungen da waren. Und ich fragte mich, ob ein Leopard dazu fähig war, ein Herz sauber aus einem Körper rauszureißen und den Rest übrigzulassen. »Leopard? Leopard?« Miss Valerie kicherte und lachte, und dann heulte sie auch noch, und sie sagte: »Wir haben hier keine Leoparden, Junge. Mein Sohn, David Junior, wurde von so einer Kreatur getötet, haben sie gesagt; aber das war in einem anderen Land – Virginia, glaube ich – wo solche Biester vielleicht leben, kann sein. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht über Nacht im Haus von Ebenezer Judd bleiben, weil er ein Spieler und ein böser Mann war; sie sagen, daß ein wildes Tier meinen Sohn getötet hat, aber ich glaube, es war Judd selbst… der Mann hat nie gerne verloren, habe ich gehört. Leoparden genügend da oben, gut möglich, und Drachen und Einhörner, und alle möglichen Fabelwesen. Aber das waren keine Flecken auf der Haut dieses Engels, kann ich Ihnen sagen, das waren
seine hundert Augen, damit er das Gute und Böse in einem Herzen sehen kann.« Joseph rief mich für einen Augenblick beiseite und flüsterte: »Sag der alten Frau, du rufst ihr diesen Engel zurück; sag ihr, der Himmel wird sich öffnen, und sie wird sehen die Herrlichkeit und die Majestät Gottes dort droben.« »Was? Aber ich kann das doch gar nicht.« »Sag ihr, du kennen ein Zauber, der ihn wieder runterrufen, vom Herzen von Gott dem Vater.« »Aber ich kann nichts dergleichen!« »Sag ihr das. Du weißt, sie mir nicht zuhören.« »Miss Valerie«, sagte ich, »was, wenn ich diesen Engel zu Ihnen zurückbringen könnte? Was, wenn ich ihn aus dem Nebel wieder zurückrufen könnte?« »Oh, oh«, sagte sie, »oh, ist das nicht mein größter Wunsch! Ist es nicht mein Wunsch, daß er auch mich mitgenommen hätte, damit wir alle Zusammensein könnten, zur rechten Hand Gottes, Biddy und Lolly und ich! Ach, ich würde glücklich sterben.« »Nun, Ma’am, ich habe die Macht dazu.« »Haben Sie das, mein Junge? Ich wußte, daß wenn ich hier lange genug auf dieser Veranda sitze, würde ein Erlöser kommen. Die Geduld macht es, Mr. Jimmy Lee Cox. Oh, ich war versucht, ein Ende zu machen; ich war mit meinem Schal fertig, sehen Sie, und ich hatte nichts anderes zu tun; dann hatte ich die Idee, mit der einen Hand zu ernten, was ich mit der anderen gesät hatte, wenn Sie mir folgen können; also habe ich länger gewartet, als ich die Kraft dazu hatte. Meine Töchter sind hübsch, nicht wahr?« »Bestimmt, Ma’am.« Die toten Knight-Töchter rührten sich ein bißchen; durch die Zersetzung und die Würmer, die sich im Inneren regten, hatten sie einen Anschein von Belebtheit erlangt, denn die eine
streckte ihren Arm aus, und die andere fiel auf die Brust der ersten, ein Bild zärtlichster Schwesternliebe. »Nun«, sagte Valerie. »Es wird spät, aber Sie müssen einen kleinen Schlummertrunk zu sich nehmen, bevor Sie sich ins Gästezimmer begeben, und ich werde Klytämnestra anweisen, Ihnen die Ställe zu zeigen, wo Sie Ihre Schwarzen für die Nacht unterbringen können.« Und sie langte zu ihren Knöcheln runter und zog eine kleine Glocke vor, die sie mit aller Kraft läutete. Die Vordertür ging knarrend auf, und da stand eine Mammy, Hände auf den Hüften und ein Kopftuch um ihren Kopf gewickelt, wie ich bei den Reichen schon Hunderte gesehen hatte. Sie sah mich an, und dann den alten Joseph – und du hast nie so eine Angst in den Augen von einem Nigger gesehen. Und dann schrie sie ihn in einer afrikanischen Sprache an. Worauf er mit merkwürdiger Liebenswürdigkeit bloß erwiderte: »Mo là àlà«. Das heißt »Ich träumte«, sagte er zu mir. Aber was er geträumt hatte, hat er weder mir noch ihr erzählt. Die Sklavin beruhigte sich etwas und brachte mir ein Glas Sprit, das ich langsam und feierlich und der alten Dame zulächelnd getrunken hab. »Nun«, sagte sie, »Sie müssen mir sagen, wann. Wann, oh, wann darf ich den Boten des Herrn erwarten?« Ich sah den alten Joseph an, der eine Handbewegung machte, als ob er sagen wollte: Sag, was du willst. Also erwiderte ich: »Heute nacht.« »Brauchen Sie Verpflegung für Ihre Sklaven?« fragte sie. »Nein, Ma’am. Sie haben schon gegessen.« »Nun denn, Sir, gute Nacht, und bereiten Sie Ihren Zauber gut vor, und ich bete, daß wir uns im Paradies wiedersehen.« Und mit diesen Worten legte die Frau ihr Strickzeug hin und legte die Handflächen wie zum Gebet aneinander; und so
verharrte sie eine Zeitlang und achtete nicht auf unsere Unterhaltung, und so saß sie weiter da, und wir gingen um die Veranda herum zu den Gästezimmern. Aber als wir gerade die Tür erreicht hatten und ich mir sicher war, daß uns keiner hören konnte, sagte ich zu Joseph: »Was bedeutet das alles? Warum bleiben wir hier? Und wer ist dieser Leopard, von dem du ständig redest?« »Diese Leopard«, sagte Joseph, »sie meine Frau.«
14 DEM KLEINEN GUTEN ENGEL
1 »Deine Frau?« fragte ich meinen alten Begleiter. »Das ist doch verrückt. Ein Mann, der einen Leoparden heiratet?« »Weißt du, monchè«, sagte er, »daß Gott, Er nehmen viele Gestalten an und Er ist überall. Und die Engel auch. Warum nicht die Gestalt von einem Tier?« »Aber bestimmt paaren sich Engel nicht mit Menschen. Sie sind die reinsten und edelsten Geschöpfe Gottes. Sie sind ja auch nicht aus Erde gemacht wie Adam und Eva, sondern aus dem Äther, der Gottes Atem ist; wenigstens hat mein Pa mir das immer gesagt.« »Du hast deine Bibel nicht ganz durchgelesen, Herzchen«, sagte Joseph. »Da gab das Engel, die kamen runter, um mit den Söhnen der Menschen sich zu vermehren… in der Zeit vor der Großen Flut.« Ich hatte überhaupt nicht in der Bibel gelesen, obwohl ich alle Kapitel und Verse aus dem Kopf konnte, die Pa oft zitiert hatte; ich war mir nicht klar, ob der alte Mann mich nicht bloß zum besten hielt, wo er ja doch wußte, wie ungebildet ich war. Ich ging in das Gästezimmer, und er blieb draußen vor der Fliegengittertür, weil er wußte, wo sein Platz war. »Joseph«, fragte ich, »was ist ein zombi? Und wie wird ein zombi gemacht?« Obwohl er mir viel gezeigt hatte, erzählt hatte er mir nur wenig. Ich wußte, es war ein afrikanisches
Wort, ein Wort des Entsetzens und der Macht, aber ich wußte nicht, was es war, was die Toten wieder zum Laufen brachte. »Ein Körper«, erwiderte Joseph, »hat zwei Seelen. Eine die Große Seele, die in Gottes Schoß eingehen. Wir sie nennen gros bon ange. Aber da noch eine Seele. Eine kleine Seele, ein Doppelgänger… der Kleine Gute Engel, ti bon ange, der über dem leblosen Körper schweben eine Zeitlang, weiß nicht, daß Körper schon Staub, und Staub zu Staub; weil dein beau-pére ein mächtiger houngan, er können sehen die ti bon ange noch am leeren Fleisch haften, und er können greifen die ti bon ange und hindern, in das Land jenseits aufzusteigen; und so der Staub, er wieder laufen, und weiß nicht, daß er tot.« »Die Kleinen Guten Engel… die beiden toten Mädchen auf der Veranda … hast du die Kleinen Guten Engel von denen gesehen?« »Ja, sicher, Marse Jimmy Lee«, sagte der alte Joseph. Ich dachte darüber nach. Ich hatte mal gehört, daß die alten Ägypter glaubten, daß ein Körper zwei Seelen habe, genannt ka und ba. Aber ich hatte nie was drauf gegeben, weil ich das von einem Ägypter auf dem Jahrmarkt gehört hatte, der hatte ein Zelt, wo man für einen Penny eine echte ägyptische Mumie sehen konnte, und für einen Nickel durfte man ihre Pflaume berühren, hab ich auch gemacht, obwohl mich Pa danach geschlagen hat: nicht wegen dem, was ich getan hatte, sondern weil ich fünf Cents rausgeworfen hatte, wo er ein halbes Dutzend Havanna-Zigarren für gekriegt hätte. »Mag sein, alle Afrikaner haben zwei Seelen«, sagte ich, »aber ich weiß, daß ein weißer Junge wie ich bestenfalls mit einer umgehen kann.« Der alte Joseph lachte. »Warum nicht zwei Seelen? Du hast zwei Augen, oder nicht? Zwei Arme, zwei Ohren, zwei Lippen?«
»Da gibt es ein Ding, davon habe ich nur eins.« Ich lachte. »Und das ist mein bestes Stück, das ist mal sicher.« So hatte mein Pa das mal ausgedrückt, als er über die Frauen sprach. »Ruh dich bißchen aus, Marse Jimmy Lee«, sagte der alte Joseph schließlich. »Und später, um Mitternacht, wirst du sehen, was du sehen wirst; aber wenn du nicht das Herz dazu hast zum es sehen, dann schlaf und träum; wird dir keiner böse sein, wenn du weggucken.« Das Zimmer war bequem; da war frisches Wasser in der Waschschüssel und ein Krug Zitronenlimonade, und aufgeschnittener Schinken neben dem Bett, damit man was zum Abendessen hatte. Und ein sauberes, gebügeltes Nachthemd lag auf dem Bett. Ich aß und trank und sank in einen tiefen Schlaf; aber als ich wach wurde, war es immer noch dunkel, und ich wußte, daß ich jetzt die neuesten Zaubereien des alten Joseph sehen würde.
2 Es war eine helle Nacht. Nicht ganz Vollmond, aber der ganze Himmel war erleuchtet, nicht nur von Mond und Sternen, sondern noch von was anderem, ein sanftes Leuchten, das von der Erde aus strahlte, mag sein, vom Haus selber. Und es war warm, wärmer als sonst für diese Jahreszeit. Nur im Nachthemd ging ich auf die Veranda, wo die Larven der Erntemilben summten und die Mücken sangen und die Dame des Hauses immer noch im Schaukelstuhl wippte, hin und her, hin und her, jetzt war Klytemnästra da, fächelte ihr Luft zu und vertrieb die Viecher mit ihrer schieren Häßlichkeit. »Sind Sie gekommen, um den Engel herbeizurufen?« fragte Valerie Knight mit einem Blick in den klaren, hellen Himmel. »Oh, ich bin so froh, daß Sie das tun.«
»Denk ich doch, Ma’am«, sagte ich. »Und wird der Engel auch kommen?« »Weiß nicht so genau… denn hetzen kann man sie nicht.« »Ich erinnere mich an eine alte griechische Fabel… von einem betagten Paar mit komischen Namen, irgend etwas wie Phylemon und Bauxis, die in einer Hütte wohnten, einfache Schafhirten. Wie ich und meine Töchter, einfache Leute, ein bißchen was zurückgelegt für schlechte Zeiten vielleicht, und ein Dutzend Sklaven, aber nichts Großartiges. Mrs. Beaumont, unsere Schullehrerin, hat uns diese Geschichte erzählt, obwohl sie natürlich sagte, daß die Geschichte von Leuten aufgezeichnet worden ist, die noch nie den gesegneten Namen von unserem Herrgott gehört hatten, und also zu ewiger Verdammnis verurteilt sind, weil sie im falschen Jahrhundert geboren worden sind; dennoch hat sie uns davon erzählt, daß die Alten uns noch gute Sachen beibringen könnten, Moral und Manieren und dergleichen. Nun, Phy und Bo, diese alten Griechen – wer anders kam da eines schönen Tages in ihre einfache Hütte hereinspaziert als Jupiter, der König der Götter, und Merkur, sein Bote, verkleidet als einfache alte Bauern. Sie zogen durch das ganze Land, und nicht einer wollte sie für die Nacht aufnehmen, denn sie hatten keinen Tropfen christlicher Nächstenliebe in ihrem Blut. Nicht daß die christliche Nächstenliebe schon erfunden worden war, aber wir dürfen dieser Geschichte etwas Freiraum geben, um sie unserer Situation anzupassen. So kamen die Götter schließlich an das ärmste Haus im ganzen Land, und die alten Leute, Phy und Bo, nun, sie baten sie herein und gaben ihnen zu essen und zu trinken… gaben ihnen das letzte an Essen und Trinken, was sie in ihrer Hütte besaßen, und baten sie, sich zur Nacht im besten Bett des Hauses niederzulegen, und das war nur eine Strohpritsche, während sie selbst sich auf dem Boden ausstreckten. Nun, am Morgen sagten die Götter ihnen, wer sie
in Wirklichkeit waren; und sie sagten Phy und Bo, wie sehr gesegnet sie wären, daß sie den Göttern ihre Gastfreundschaft angeboten hatten… und sie boten ihnen alle Schätze der Welt an. Aber Phy und Bo sagten nur: ›Wir bitten um nichts, wir sind glücklich, unsere Pflicht getan zu haben.‹ Aber als die Götter sie bedrängten, sagten sie: ›Wir bitten, daß wir so sterben mögen, wie wir gelebt haben, allzeit gemeinsam, allzeit in Liebe füreinander.‹ Und dann, als die Zeit kam, daß sie sterben sollten, ja, da haben die Götter ihren Wunsch erfüllt und verwandelten sie in einen großen, doppelstämmigen Baum, mit Wurzeln hinab in die Erde, aber auf zum Himmel zeigend. War ein römischer Dichter, der diese Geschichte schrieb… denn wir sind nicht so ganz ohne Kultur hier im Hinterland, Sir, da gibt es einige, die noch ihr Latein und Griechisch können. Es ist eine schöne Geschichte über Liebe und Treue und das Gebot, gastfreundlich zu sein, meinen Sie nicht auch?« »Wirklich, es ist eine allerliebste Geschichte, Ma’am.« »Und deshalb ist unsere Tür immer für jeden Fremden offen, der vorbeikommt«, sagte Mrs. Knight. »Und deshalb kamen die Johnsons, um meine Töchter zu ehelichen, denn wir haben alle, so sagt es doch der Evangelist, schon einmal Engel bewirtet, ohne es zu wissen… und deshalb kommen Sie zu mir, heute nacht… oh, Sir, es ist schwer gewesen. Verstehen Sie, wie schwer? Ich habe ein kleines Buch, in dem steht, wie ich mit unseren ärmlichen Vorräten etwas zaubern kann, das an bessere Zeiten erinnert. Wollen Sie hören? Zu einer kleinen Schüssel Kekse, die in Wasser eingeweicht wurden, bis sie nicht mehr hart sind, einen Teelöffel Weinsäure hinzufügen, nach Geschmack süßen, Butter hinzufügen, und ein wenig Muskatnuß… und schon haben Sie Apfelkuchen ohne Äpfel, Sir, denn es gab welche, die nicht so nett waren wie die
Johnsons, die haben sowohl unsere Äpfel wie auch die Tugend unserer Damen weggenommen…« Nun, die Dame war ganz sicherlich verdreht, aber da war auch eine Art verrückte Logik in ihrem Rumphantasieren, und ich konnte mich leicht in diese Art des Denkens reinversetzen, wo die eine Sache an eine andere Sache erinnert, und bald ist jedes verdammte Ding und jeder Gedanke und jede Idee im ganzen Universum mit allem verbunden, wie Perlen an einer Kette, wie Arbeiter, die man aneinandergekettet hat, und so fing ich an, mit zu improvisieren: »Ja, der Apfel, Ma’am, der Apfel, der uns alle auf diese große Reise von der Sünde in die Erlösung schickte…« »Der Apfel, der nur für die Lieblichste erlaubt war, kennen Sie diese Geschichte, Sir?« »Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, sagte ich, denn das hatte ich einmal von einem Captain gehört, der seine Frau für eine reichere verlassen hatte. »Krieg, Krieg, Krieg!« rief Mrs. Knight. »Um künstliche Austern herzustellen, nehmen Sie jungen, grünen Mais, in einer Schlüssel verreiben, auf einen halben Liter dieser Masse ein steifgeschlagenes Ei hinzufügen, eine kleine Teetasse Mehl, zwei oder drei Eßlöffel Butter, etwas Salz und Pfeffer, alles zusammenrühren; ein Eßlöffel Teig ergibt die Größe einer Auster; braten, bis sie eine hellbraune Farbe angenommen haben, danach mit Butter bestreichen. Sahne, falls vorhanden, ist besser.« Es war offensichtlich, daß die Dame der Welt abhanden gekommen war. Was sollte ich bloß machen? Ich verließ sie, mit ihren verwesenden Töchtern, die sich zu ihren Füßen umarmten, und ging den Pfad hinunter, um den Kopf wieder klar zu kriegen. Die toten Nigger hatten die ganze Zeit um das Haus rum Wache gestanden in ihrem Hin- und Herschwanken. Aber jetzt
war rein gar nichts von ihnen zu sehen. Aber wie ich in das Pfirsichbaumwäldchen trat, dämmerte mir, daß sie noch da waren. Einige Male hörte ich ein Geräusch, wie das Knirschen trockener Zweige. Manchmal kam ein schlürfendes, gurgelndes Geräusch. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was das sein konnte, aber ich sah es bald genug. Denn der gehängte Junge war vom Baum runter, und als ich um die Ecke kam, sah ich ihn im Kies liegend, und einer der zombis zog ihm vorsichtig die Eingeweide raus, wie wenn er ein Knäuel Wolle aufwickelt; ein anderer zombi kniete über dem Kopf des Jungen und hieb wieder und wieder mit einem Stein darauf ein; ich hörte, wie der Schädel knackte und sah, wie der untote Schwarze dann reingriff und ein paar kleine Handvoll Gehirn rausholte; das hat er gegessen; nicht mit Genuß, sondern lethargisch, matt vor sich hin starrend. Der angekaute Fuß war ganz ab. Unter einem Ast knabberte ein dritter zombi daran. Oh, und der Gestank von all dem war widerlich, aber der süße Duft der reifenden Pfirsiche milderte ihn etwas. Keiner von denen machte Anstalten, mich anzufassen. Vielleicht aßen sie nur von anderen Toten; vielleicht hat der alte Mann einen Schutzzauber um mich herum gesponnen. Ich hab nicht abgewartet, um das festzustellen, sondern bin hastig weggegangen. Aber in der nächsten Wegbiegung gab es noch Gräßlicheres zu sehen. Der Arbeiter mit der Hacke lag jetzt in zwanzig oder dreißig Stücken auf dem Boden verteilt, zu einer grotesken Version des Heiligen Kreuzes unseres Herrn Jesus arrangiert, bloß daß der Kopf an der Stelle lag, wo seine Geschlechtsteile hätten sein sollen, und einer von den Untoten kaute auf seiner Zunge rum. Das Baby in den zwei Hälften von vorhin war jetzt wieder zusammengefügt, aber verkehrt rum, so daß der Kopf in die gleiche Richtung guckte wie der Hintern. Oh, Himmel, mir war speiübel beim Anblick dieser Mißgestalt, und noch übler wurde mir von den Geräuschen,
denn die zombis sprachen kein Wort beim Saugen, Schlürfen und Schlucken. Was für ein Fest der Verdammten! Hastig lief ich weiter, Richtung Scheune, wo die zombis eigentlich ausruhen sollten; am Scheunentor aber sah ich den alten Joseph mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen sitzen, als ob er in das Antlitz Gottes gucken würde. Aber ich hatte zuviel Angst, um auf seine Erweckung zu warten. Ich packte ihn an den Schultern und rief: »Joseph, Joseph, die Toten essen die Toten!« Er lächelte und behielt sein Auge zu. »Was macht das schon, Herzchen?« sagte er. »Sie alle tot, auf die eine Art oder die andere; die fühlen nichts. Aber ich, ich, dein beau-pére, ich fühle. Ich fühle meine Frau, sie kommen runter aus diesem leuchtenden Himmel.« »Deine Frau? Der Leopard?« »Beruhige dich, monchè, und höre.« Dann stand er doch auf, und er nahm einen Sack Maismehl, den er vielleicht von der Scheune her hatte, und machte ein Loch rein; und er fing an, im Gras auf und ab zu laufen, und streute ein Muster aus dem Maismehl; und so sah es aus:
»Was malst du da?« fragte ich. »Sei still, dies ein vévé, ein Bild von heiligen Wesen von Legba. Frag nicht zuviel.« »Aber Joseph…« »Ich dir gerade sagen, höre, höre mit deinen Ohren, nicht sprechen mit dem Mund!« schrie er, und ich schrak zurück, weil, er war niemals streng mit mir, und plötzlich sah ich meinen toten Pa in ihm aufblitzen. Noch hier waren die Geräusche von den kannibalischen Toten zu hören, obwohl sie außer Sichtweite waren. Zuerst konnte man vielleicht meinen, man hört das Surren der Insekten oder den Ruf der Frösche, alles gemischt mit dem Seufzen vom Wind und dem Rascheln der Pfirsichbäume, aber Himmel! In den Geräuschen der Natur gab es unnatürliche Töne. Ich hörte genauer hin und vernahm in dieser Nacht noch eine weitere, eine noch tiefere Schicht von Tönen. Es war ein langsames, beständiges Pochen… wie das Schlagen von einem großen Herz… obwohl es schwach war, mag sein sogar unter der Schwelle vom menschlichen Gehör, aber wenn ich lange
genug und scharf genug horchte, wurde es der größte Ton von allen, ein Ton, der durch alle meine Knochen vibrierte, der durch mein rasendes Blut sprudelte und mich über und über erzittern ließ. Es war wie das Schnurren einer Katze, nur riesengroß, wie von einer Katze, die so groß wie die ganze Welt geworden war… und ich wußte, was dieser Ton war … es war dieser Leopard, von dem vorher die Rede war… keine Zirkuskatze, sondern eine Kreatur, die aus uralten Träumen gewebt war… Oh, Herr, ich fürchtete mich so. Aber der alte Joseph sagte: »Nicht haben Angst, süßes Kind, zu dir wird sie sanft sein wie ein Kätzchen.« »Aber wo ist sie? Ich höre – ich kann es ja gar nicht nicht hören – aber ich sehe nichts.« »Dann schau nach oben zu den Sternen«, sagte Joseph. »Schau hinauf in das Land der Träume.« Und ich schaute. Und ich sah Sterne, zahllose Sterne. Aber dann, einige unter den Sternen da oben, sie standen nicht still am Himmel, sondern sie bewegten sich… und ich sah, daß hinter den Sternen die Gestalt einer großen Katze lag, schwärzer als die Nacht, die Muskeln ihrer Schenkel zitterten, wie sie zwischen den Konstellationen herumjagte… und sie kam auf die Erde runter… und wie sie zu uns runterkommt, verliert sie ihre Durchsichtigkeit, saugt immer mehr vom Stoff der Erde und vom Staub in sich auf, unser sterblicher Stoff… und wie sie schließlich auf der Erde ankam, war sie durch und durch irdisch und lief uns wachsam entgegen. Oh, das war ein schönes Ding, dieser Leopard, denn in seinen Augen schien noch das Leuchten der Sterne, und auf der Haut glänzte der Silberglanz des Mondes, und seine Flecken waren ganz bestimmt wie die hundert Augen, von denen Mrs. Knight gesprochen hatte. Und Joseph flüsterte, »Freiheit, Freiheit.« »Freiheit?« fragte ich.
»Das sein der Name von Leopard«, erwiderte er, und auch sein Auge glänzte, mit dem gleichen Sternenglanz, der aus den Leopardenaugen leuchtete, und er breitete die Arme aus und lief auf das Geschöpf zu, furchtlos wie das kämpferischste Regiment der Armee; und der Leopard lief in Sprüngen auf ihn zu, und dann, wie die beiden das vévé betraten, das Joseph gemalt hatte, wie sie sich berührten, wurden sie wie eins, irgendwie, und er wurde ein wenig wie ein Leopard und sie wie eine schöne schwarze Frau, alt, aber nicht wie eine alte Schindmähre, wie man sie auf den Farmen sieht, sondern eine große, kohlrabenschwarze Frau mit stolzer Haltung, so wie sie aus Afrika kamen, deren Geist nicht auf dem Auktionsblock gebrochen wurde. Sie war richtig hübsch, wenn man etwas Schwarzes hübsch nennen kann. Es umarmten sich also Mensch und Tier, und bestimmt war es ein Liebesakt. Doch was dann geschah, war angefüllt mit Schmerz. Denn wie Mensch und Tier sich trennten, waren sie nicht mehr der alte Joseph und seine Leoparden-Herrin, die auf dem mystischen Symbol standen, das im Gras gemalt war; denn zuerst kam da ein anderer Leopard, größer, mit einem Fellflecken, wo ein Auge hätte sein müssen, und mit silbernen Haaren und goldenen dazwischen; und dann diese Frau, von der ich grade sprach, die Irrlichtfrau, die aus Ebenholz geschnitzt war; sie standen dort zusammen, und ich sah, daß beide ein einziges Mannwesen und ein einziges Leopardenwesen waren, das sie untereinander austauschen konnten, so einfach, als seien es Hüte oder Überröcke. »Jimmy Lee«, sagte die Frau – sie hat mich nicht Massa genannt, was mir befremdlich vorkam, trotzdem daß ich selbst nie irgendwelche Schwarzen besessen hatte – »Ich Leuthera, und das ein uralt Wort – bedeuten Freiheit. Leuthera kommen
von ganz weit entferntes Land, über sieben Meere und Kontinente; ich sprechen zu dir aus dem Land der Toten.« »Wo ist der alte Joseph?« rief ich aus. »Wo ist mein beaupére?« Und ich fing schrecklich zu heulen an, denn ich hatte Angst, daß der alte Joseph mich hier verlassen würde, in der Wildnis, was mich eigentlich nicht überrascht hätte, weil: Sonst hat mich ja auch jeder auf die eine oder andere Art verlassen, den ich jemals geliebt hatte. »Oh, nicht machen Sorgen, klein Herzkind«, sagte Eleuthera. »Ich dir sagen, dein Stiefpapa bald zurückkommen zu dir. Aber zuerst wir müssen gehen Seelen stehlen.« Sie trug eine fließende Robe, gefärbt mit leuchtenden Farben, und ihre Haare waren geflochten und wogten wie eine Masse Schlangen, wirklich, wie ich näher hinguckte, waren ihre Haare manchmal Schlangen. Aus ihrer Brust zog sie eine Art Klapper, das war eine Kalebasse, in der das Skelett von einer Schlange steckte, und sie fing an, die zu schütteln. Wir drei gingen auf das Haus zu, wo die Frau mit ihren toten Töchtern uns noch immer erwartete.
3 »Oh, Herr«, sagte Mrs. Knight, und es war traurig mitanzusehen, wie sie ihre beiden Töchter in Wangen und Schultern stieß und versuchte, sie aus ihrem Totenschlaf zu wecken. »Oh, schau, Biddy, schau Lolly, die Himmlischen sind gekommen. Oh, Herr, Herr, Halleluja, unser-Vater-imHimmel, Frieden-auf-Erden-und-den-Menschen-einWohlgefallen.« Und ihre Stimme wurde schrill, denn die Erregung packte sie. »Oh, Herr, Herr, Herr, hier kommt der Engel mit den hundert Augen.«
»Mrs. Knight«, sagte ich, »hier ist der alte Joseph, der gekommen ist, Euch heimzuführen.« Und Eleuthera flüsterte mir zu, so leise, daß die anderen es nicht hören konnten: »Nun siehe, Kind, jetzt du wirst sehen deinen ti hon anges tanzen.« Und sie fing an, die Klapper zu schütteln, die ein Geräusch machte wie a-SSON! a-SSON! a-SSON! Und jetzt begann in der Ferne noch eine andere Musik. Klimpernd. Zupfend. Stöhnend. Seufzend. Sie hielt die Klapper hoch, und die Schlangenknochen wurden im Mondlicht feucht; es sah so aus, als weinten sie. Wo kam diese andere Musik her? Ich drehte mich um und sah die Musikanten den Pfad aus dem Pfirsichgarten raufkommen. Zombi hinter zombi, in schlurfendem Gleichklang marschierend, und jeder hielt ein gräßliches Instrument in den Händen. Einer blies eine Pfeife, die mal ein menschlicher Armknochen gewesen war. Ein anderer zupfte eine Harfe, deren Saiten waren die Gedärme eines Mannes. Ein dritter, ein vierter, ein fünfter schlugen Knochen gegeneinander, ein sechster trommelte einen feierlichen Schlag auf einen menschlichen Schädel!… Ich wußte, daß es der Schädel des Mannes war, dessen Hirn zuvor gegessen wurde… aber jetzt war die Öffnung mit einem Stück Haut gespannt, und als Schlagstock hatte der Tote einen Unterarm genommen. Und die anderen zombis sangen, falls man das so nennen kann, denn als sie den Mund aufmachten, kam eine trockene, keuchende, leere Melodie aus ihnen gequetscht, wie von einem kaputten Akkordeon oder einem zerplatzten Dudelsack. Und die Musik dieses Orchesters der Verdammten erfüllte die ganze Nachtluft, und die Rufe der Nachttiere und das Surren der Insekten, alles war mit reingemischt, und das gab eine wogende, tonlose Harmonie, die mir die Haare zu Berge stehen ließ, ich konnte mich jedoch
nicht davor verschließen, so wenig wie vor dem Rauschen des Windes, denn es drang mir bis tief in die Knochen. »Schau jetzt«, flüsterte Eleuthera, »hier kommen die Kleinen Guten Engel.« Ich ging auf die Stufen zu. »Oh, Sie machen aber eine mächtig gute Figur, junger Mr. Cox«, sagte Mrs. Knight. »Ich muß sagen, Sie sind so erfrischend anzuschauen wie ein kühles Glas Wasser; und Sie wissen ja, ein paar Blätter Schafsminze, vor dem Trinken im Mund gehalten, oder gekaut, und man meint, der Schluck Wasser ist um ein paar Grad kühler…« »Das alles können Sie jetzt vergessen, Mrs. Knight. All diese Rezepte für die harten Zeiten. Dort, wo Sie jetzt hingehen, werden Sie sie nicht mehr brauchen, denn das Wasser dort ist immer kühl, und die Austern immer frisch, und dort gibt es echte Äpfel im Apfelkuchen, mein Wort drauf.« »Oh, aber das sind gute Rezepte, und ich habe so große Mühe darauf verwandt, sie zu sammeln, damit meine Familie immer etwas zu essen hat, auch wenn es nichts gab.« »Das glaube ich unbedingt, Ma’am.« Sie lächelte. »Ich bin doch gut gewesen, oder nicht? Ich habe nie meine Sklaven geschlagen, bis auf ein- oder zweimal.« »Das waren Sie sicher, Ma’am.« Die Tränen liefen mir in den Augenwinkeln zusammen. »Dann nehmen Sie meine Töchter und nehmen Sie mich, und lassen sie uns alle gemeinsam in den strahlenden Glanz des Paradieses aufsteigen.« Biddy und Lolly lagen da, genauso tot wie vorher. Aber jetzt, als die Musik lauter wurde, sah ich, wie sie sich bewegten. Vielleicht waren es nur die Würmer, die den Takt mitschlugen und mit dem Rhythmus mitzuckten. Vielleicht auch nicht. Alsbald nämlich, da kam aus den Öffnungen, die einst ihre Herzen enthielten, ein Licht wie von rosigen Perlen und beleuchtete in dichtem Strahl die Holztreppen. Das Licht
zerbrach in kleine Fäden, die vor unseren Gesichtern schwammen, und dann strickten sich diese Fäden zu den Gestalten zweier junger Damen zusammen; gespenstisch, das kann man sagen, weil, man konnte durch sie bis auf die sich abschälende Farbe auf den Türpfosten durchgucken, aber sie waren flachsblond und richtig schön und in reinstes jungfräuliches Weiß gekleidet, Satingewänder, aus Licht und Luft gewoben. Und ihre Augen blendeten mich, denn sie waren mit ganz demselben Licht erfüllt, das im Auge des Leoparden brannte und in den Augen der Mohrenfrau aus dem Himmel. Und die Klapper sang: a-SSON, a-SSON, a-SSON. Und die Kleinen Guten Engel tanzten ein sanftes, zierliches Menuett. Sie lächelten nicht, aber ihre Augen taten es. Sie tanzten und tanzten. Und Mrs. Knight guckte zu, und die Tränen strömten ihre Wangen runter. Sie tanzten, und wie Eleuthera sich wiegte und ihre Klapper schüttelte, da kam der Leopard, der mein beau-pére war, die Treppe rauf, und, Stück für Stück, fraß er ihre Körper auf, schluckte sie in sich rein, bis sie nicht mehr da waren; es gab nicht mal eine Blutspur. Als die Mädchen sahen, daß ihre Körper verzehrt waren, drehten sie sich einander zu, und jede nahm eine Hand von ihrer Mutter, und sie begannen, an ihr zu ziehen, während sie weinte; und als die Musik anschwoll, haben sie ihre Seele freigezogen, und da war ein drittes Lichtgeschöpf unter ihnen, und das war auch mit den leuchtenden Gewändern der Götter bekleidet. Und alle drei stiegen in den Himmel auf und verloren sich in den Wolken. Die Musik spielte noch eine Weile. Schließlich verstummte sie allmählich, die Rhythmen wurden unrhythmisch, und das Gewinsel der Flöten verlor sich, und die Frau und der Leopard gingen zurück zur Scheune, und sie standen in der Mitte von
dem mystischen Symbol und umarmten sich zärtlich. Ich blinzelte die Tränen fort. Einen Augenblick lang waren sie nicht mehr zwei, sondern ein einziger brennender Lichtstrahl. Dann verblaßte auch der und mit ihm auch alles Licht, das den Himmel erleuchtet hatte, und es war richtig Nacht. Ich blieb mit Joseph alleine in der immer schwärzer werdenden Dunkelheit. Sogar das vévé war fort, denn der Wind hatte das Maismehl weggeweht. »Nicht viele«, sagte er dann endlich, »nicht viele können Mawu-Lissa sehen, die Mann-Frau, die gemacht hat das Univserum.« »Alter Joseph«, fragte ich leise, »wer bist du?« »Niemand«, antwortete er, »niemand, Marse Jimmy Lee; nur ein alter Sklave, monchè, nur ein alter Sklave.«
15 WORIN MR. WHITMAN ÜBER DIE NATUR DES KOSMOS NACHSINNT
1 »An dieser Stelle«, sagte Zack, »legte Jimmy Lee eine Pause ein. Er war regelrecht vom Weinen geschüttelt. Mich hat das nicht allzu sehr überrascht. Es war eine der tragischsten Geschichten, die ich in meinem kurzen Leben gehört hatte; tragisch und schön zugleich.« Wir hatten schon die halbe Nacht dort gelegen, ich in Zachary Browns zärtlichen und beschützenden Armen, auf einem Bett, das meine Dienerin und mein Mann einst entweiht hatten. Ich weiß nicht, ob ich während Zacks ganzer Geschichte wachgeblieben war; ich weiß, daß seine Geschichte an einer Stelle eine derartige Wahrhaftigkeit angenommen hatte, daß ich ihm wohl zugehört haben mußte, während ich träumte und mein Traum die dazugehörigen Bilder schuf. Ich war mir sicher, diese entsetzliche Beschwörung selbst miterlebt zu haben, das Orchester der lebenden Toten, und die Seelen der Mädchen, die in das Paradies hineintanzten, und den alten Mann und die alte Frau, die ihre Seelen und Körper tauschen konnten, und diesen armen Jungen, den Sohn des Predigers, dessen Sprache eine merkwürdige Mischung war aus den grammatikalischen Schnitzern der Hillbillies und der blumigen Sprache der King-James-Bibel. Alles schien mir
wahr und wirklich, keineswegs wie ein Phantasiegebilde, wenngleich recht phantastisch. Ich wollte in die dämmerige Welt von Zacks Erzählung zurückkehren. Denn obwohl sie voll von Schrecklichkeiten war, war sie von einer Klarheit, einer präzise geschichteten Struktur, wie diese Puppen, die sie in Rußland herstellen, eine in der anderen, wesentlich einfacher zu begreifen als meine verworrene und bittere Realität. Darum, und obwohl ich wußte, daß Zack müde war, sagte ich: »Oh, erzähl weiter… dich sprechen zu hören hat so etwas Besänftigendes.« »Nun«, sagte Zack, »dann erzähle ich dir davon, was Walt gesagt hat, und was Kaczmarczyk gesagt hat, wie Jimmy Lee Cox an dieser Stelle von seiner Geschichte angekommen war, wo er nicht weitersprechen konnte. Die Sache war die, Walt versteht es, Geschichten auseinanderzunehmen und sie anders wieder zusammenzusetzen, so daß man gezwungen ist, neue Sachen in ihnen zu entdecken. Und er hatte eine Menge dazu zu sagen.« »Sehr gern. Ich würde gerne erfahren, was der Poet in alledem gesehen hat.« »Nun, es war wieder Abend, und Walt stand auf – für einen Moment dachte ich, daß er die Fähre nehmen würde, obwohl die letzte Fähre ja schon abgelegt hatte, wieder ohne uns – aber nach einer Weile bin ich aufgestanden, um ihm zu folgen. Ich habe ihn gefunden, wie er am Ufer auf und ab lief, die Arme rumschwenkte und am Brüllen war. Also ging ich noch näher, um zu sehen, ob ich mitkriegen konnte, was er sagte. Es war alles völliger Unsinn, dachte ich: Wellen und Meere und Unwetter und Stürme und so was alles. Er hat mit dem Fluß gesprochen, und zum Wald auf der anderen Flußseite, und zu der Seele des Commonwealth of Virginia, und zur
untergehenden Sonne. Schließlich aber hat er mich gesehen und hörte auf.« »Nun, Walt«, fragte ich, »worum ging das da alles?« »Ein Gedicht«, sagte er. »Und ein großes Rätsel.« »Ein Rätsel?« »Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts wird jemals in diese Geschichtsbücher eingetragen werden, überhaupt gar nichts. Wir sind verdammt. Die Geschichte ist eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, und die Geschichten, die wir erzählen, sind nur Luft, sind nur soviel wie heiße Luft.«
2 »Es gibt da«, sagte Walt, »eine Wahrheit, die allen Geschichten, die wir gehört haben, zugrunde liegt, angefangen von der Geschichte der Leopardenfrau, die über ein ägyptisches Königreich herrschte, bis zu der Geschichte des Zauberers, der eine Frau mit den Stößen und Qualen seiner fleischlichen Lust von den Toten zurückgeholt hat; oh, ja«, sagte Walt, als wir um das Feuer saßen – Kaczmarczyk, der die Festigkeit seines neuen Körpers befühlte, ich beobachtend, und Jimmy Lee, der wegen seiner Erinnerungen von den zombis in den Baumwollfeldern weinte – und alte Zwiebäcke und guten Kaffee miteinander teilten. »Ja«, sagte Walt. »Die Wahrheit, die wir aus alledem lernen, ist, daß wir alle verwandt sind und enger miteinander geknüpft, als wir auch nur im Traum je für möglich gehalten haben, ob wir nun schwarz oder weiß oder rot oder lila oder blau sind; wir sind nicht miteinander verwandt, weil wir alle Kinder Gottes sind, oder aus sonst welchen fadenscheinigen Gründen der Prediger, sondern weil Menschen Menschen sind.
Oh, die Herrlichkeit und das Grauen, das der Mensch ist! Oh, die Großartigkeit und das Elend, die er um sich herum erschafft! Da ich diesen Geschichten zugehört habe, sehe ich nun, daß alle unsere Mythen und Träume und Phantasien sich aus einer einzigen Quelle speisen. Nein, Kamerad, lach du nicht. Da ist ein Mann mit nur einem Auge, der auf der Erde umherwandert, ein weiser Mann mit geheimnisvollen Kräften. Und einmal, in der kargen, schneebedeckten Einöde des germanischen Nordens, gab es auch einen Mann mit nur einem Auge, der auf der Erde umherwanderte, einer, der sein Auge um den Preis des Wissens hergab. Sie nannten ihn Odin, oder Wotan, oder Woden, und er ist es, der unserem Mittwoch seinen Namen gegeben hat, denn ein Mittler war er und vermittelte sein Wissen, und sie nannten ihn den König der Götter. In das gefrorene Land des Nordens fiel erobernd ein Volk aus dem Süden ein, mit großen Armeen, anderen Göttern, herrlichen Kriegern, mit ihren Bannern, Schwertern, Helmen, Pferden mit Schabracken, glänzenden, federgeschmückten Helmen, Schwertern aus hartem Stahl, und Feldherren, von welchen einer Cäsar hieß. Sie trafen auf die Nordländer und unterwarfen ihrer viele; und sie sagten, daß die Götter der Besiegten die gleichen wären wie ihre eigenen, und sie gaben einem jeden von ihnen den Namen eines ihrer eigenen Götter; und Odin nannten sie Merkur. Nun, Zacko, Odin und Merkur? Du hast schon die uralten Geschichten gehört, und du glaubst, du kennst diesen Merkur – schnellfüßig, jugendlich, beflügelte Sandalen, Bote der Götter, hier, dort und überall zugleich, eher Kobold als göttlich; so erzählen es die Geschichten. Vor Merkur aber war Hermes, der Gott der alten Griechen, der in Merkur aufgegangen war, genauso wie Merkur in Odin
aufgegangen war; und in Hermes, der wie Merkur war, schnellfüßig, goldgeflügelt, gab es noch einen älteren Hermes, einen ernsten alten Mann, der den Schlüssel zum Wissen der Alten in Händen hielt, ein Hermes, der im Augenblick des Todes kam, um dich zu den Hallen des Gerichts zu geleiten; und über diese Umwege gelangen wir zum ägyptischen Anubis, schakalköpfig, schwarz wie ein Neger, der die Seelen der Gestorbenen abholte, und von dort, immer noch weiter südlich, zu diesem Legba, dem Boten des Todes, dem Befruchter der Leopardenfrau, dem Herrn der Menschenseelen, dem schwarzen Engel. Sie alle sind Engel, Zacko, gleich, welchen Namen wir ihnen geben, denn Engel ist nur ein griechisches Wort für Bote. Siehst du, das gleiche Spiel können wir mit allen Figuren in diesen Geschichten spielen, Zack. Wir erkennen, daß hinter jeder eine andere, ältere steht, und hinter dieser wieder eine noch ältere, und in dieser eine noch viel viel ältere und so immer weiter bis zum Anbeginn der Zeiten. Dennoch Kamerad, wir sind hier, hier im schönen Columbia der schönen neuen Welt. Mit diesem Land verglich der Dichter Donne seine nackte Geliebte – ›O mein Amerika, mein neugefunden Land‹ – O, die helle glänzende Neuheit von Amerika! O, der polierte Glanz der neugefundenen Freiheiten! Wo ist die versteckte alte Wahrheit hinter all den glänzenden, ungetrübten Wahrheiten der Moderne? Ich sage dir, in diesen Geschichten steckt sie!« Ich sah mich um und bemerkte, daß Kaczmarczyk uns zum Flußufer gefolgt war. Und er hatte Walts tobendem Monolog gespannt und aufmerksam zugehört – denn mein weißhaariger Freund hatte bei seinen Reden mit geschwellter Brust und rot im Gesicht wild mit den Armen herumgefuchtelt, wovon ihm allmählich der Atem ausging.
3 Er sprach mit Leidenschaft – wenn er sprach, dann immer mit Leidenschaft – und seine Leidenschaft machte uns leidenschaftlich, obwohl wir aus diesem Kerl nicht halb so schlau wurden, wie er dachte. Aber so war Walt nun mal; er nahm jeden für Seinesgleichen, sogar Farbige. Er sprach von vier oder fünf Mythologien, wo ich schon mit einer genug Schwierigkeiten hatte; er verband alle winzigen Einzelheiten der Geschichte miteinander, wo sonst kein Mensch an so etwas gedacht hätte; jawohl, das war er, das war Walt. Der einzige, der anscheinend etwas von dem verstand, was Walt sagte, war Kaczmarczyk. Ich weiß nicht, warum. Kann sein, weil er von den Toten auferstanden war, hatte das seinen Verstand geschärft. Weil, man kann nicht sagen, jemand ist stumpfsinnig, bloß weil er anders redet als man selbst. Und dann überhaupt, mit dem halben weggeschossenen Gesicht und alles, vielleicht hatte auch er ein Auge für das Wissen eingetauscht, wie der alte Joseph oder dieser Kerl Odin. Denn wie Walt sich weiter darüber ausließ, daß »alles in der ganzen Welt miteinander verbunden« ist, und ich nicht mehr so richtig aufgepaßt habe, weil ich dachte, er redet sich noch so in Rage, daß er in den Fluß fällt, war Kaz offensichtlich ganz gefesselt. Bei jedem von Walts Argumenten nickte er, und anscheinend hatte er sogar mal etwas über die antiken Götter und Göttinnen gehört. »Hattest du nicht auch eine Geschichte zu erzählen, Kaz?« fragte ich ihn. Weil, das letzte Mal, wie er noch bei Bewußtsein war, hatte er mir diese verdrehte Version von Dornröschen erzählt, und ich war neugierig, ob Walt meinen würde, daß auch diese Geschichte ein Teil ist von all dem, was mit allem anderen verbunden ist.
»Eine Geschichte! Eine Geschichte!« rief Kaz aus. »Immer eine Geschichte! Willst du gar nicht wissen, wo ich gewesen, was ich gesehen, mit was für Teufeln ich getanzt?« »Also warst du doch tot«, sagte ich. Walt sagte: »Und was für einen Engel hast du gesehen… wie geformt, wie gestaltet? Sah der Engel des Todes mehr wie dieser Legba aus, oder war er vielleicht schakalähnlich wie Anubis, oder war es eher die übliche christliche Erscheinung eines schönen Mannes mit Flügeln?« Nun, danach hielt Kaz die Klappe. Eigentlich wollte er darüber kein bißchen was sagen. Das konnte ich nun wieder sehr gut verstehen. Ich wußte, wie das war, zwischen Leben und Tod zu schweben. Langsam gingen wir zum Lagerfeuer zurück. Jimmy Lee hatte sich überhaupt nicht bewegt. Er saß immer noch beim Feuer, seinen Blechbecher mit Kaffee in der Hand. Mußte inzwischen wohl kalt sein. Plötzlich aber stand er auf und sagte: »Bin gleich wieder da«, und lief über die Lichtung. »Muß nach Pa schauen«, hörte ich noch, bevor er verschwand. Zuerst wollte ich hinterher, aber Kaz berührte mich leicht an der Schulter, und da setzte ich mich wieder hin. »Wenn du willst heeren Geschichten«, sagte Kaczmarczyk, »hab ich noch eine zum zu Ende erzählen.« »Ja«, sagte ich, »das hast du.« Kaz starrte die längste Zeit ins Leere, bis er wieder zu reden anfing; und ich muß dir sagen, die Geschichte, die er erzählte, war nicht die Geschichte, die ich erwartet hatte, nein Ma’am, kein bißchen.
4 Wenn du glaubst (sagte Kaczmarczyk), daß der Zauberer Nathaniel und sein Domreeschen fier immer glicklich gelebt haben, dann hast du geheert zu viele gottverdammte Märchen. Denn ja, de Prinzessin erwachte zu sinnlicher Freude, und ja, der Zauberer salbte se mit seinem Samen, und se liebten sich, und so weiter und so fort; und das sollte eigentlich sein das Ende der Geschichte, aber das war nicht, was geschah. Ein Mann kann lieben und lieben und lieben, sogar den Weg aus dem Grab zurick kann er lieben, aber etwas anderes ist es, wenn se schließlech sind zusammen. Und so war es auch mit dem Zauberer und der Prinzessin. Zuerst war ihre Liebe vollkommen Harmonie, und aus dieser Harmonie kam eine Kraft zum Leben, de sich ausgebreitet hat von dem Turm in das ganze Keenigreich, und sickerte in den Boden, wo de Bewohner begraben lagen so lange Zeit; ihre Knochen, weiß von der Zeit, wurden durchdrungen, und zog es se aus dem Grab. Und also lebten se wieder, de Leute in diesem scheenen Keenigreich, und se lachten, und se weinten, und se liebten sich, und alle diese Dinge, wie geweehnliche Menschen machen. Aber egal wie sehr se sich behaupteten, se waren noch immer tot. Das ist, was ich dir verständlich machen wollte. Se waren tot. Und was bedeutet dies tot? Hatten se keine Seelen? Tanzten und schwebten da nur ihre Leiber und waren verwunschen von einer Zauberfleete, nämlich von der Liebe, de aus dem Palast der Prinzessin streemte? Ich weiß es nicht. Nur, ich weiß, daß nichts mehr war, wie es einmal war. Zum Beispiel, de Prinzessin und der Zauberer machten keine Liebe. Oh, se vereinigten sich, aber es war, wie wenn sich beriehren zwei Maschinen. Und wie der neue Keenig und de
neue Keenigin sich vereinigten, so machten es auch de Menschen, aber es war eine hohle Vereinigung, und wurden geboren keine neuen Kinder, und starb niemand jemals. Kurz, es war ein Land der vollkommenen Seligkeit und vollkommenen Harmonie und vollkommenen Liebe; es war ein Land von Toten. Eintausend Jahre lang lebten se auf diese Weise. De Gezeiten kamen und gingen; de Sonne ging auf und unter, am Tag flossen de Flüsse in das Meer, aber bei der Nacht kamen se zurück, wieder an ihre Quelle; de Räder drehten sich, aber das Gefährt kam nie voran. Aber de Zeit steht nicht für immer still. Was ist Leben, wenn nicht Staub und Wind? In der Wieste an den äußersten Grenzen des Landes, de Wieste, de das Land bewahrte vor eindringenden Barbaren und Eroberern, da gab es viel Staub und viel Wind. Der Staub, er blies hierhin und dorthin. Der Staub war das Chaos, das ewige Chaos. Wie aber de Jahrhunderte vergingen, spielte der Wind mit dem Staub, und er hauchte seinen Atem in den Staub, und langsam, langsam, langsam machte der Wind ein Muster in das, was das Chaos war, und das Muster war Leben; und das Leben wuchs, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von kleinen Formen zu großen Formen, bis der Wind und der Staub sich zu einem wirbelnden Sturm verschmolzen, ein riesiges Ungeheuer, und im Herzen von dem Sturm war ein lebendiges Herz, und der Sturm hatte eine Seele; und der Sturm fegte über de Wieste hinaus und bis in das Keenigreich hinein, wo Nathaniel regierte und seine Gemahlin, de Prinzessin, was von den Toten zurückkam. Menschliche Gestalt nahm der wirbelnder Staub an, und wo er stürmte, entwurzelte er de Bäume und flüchteten Menschen und Tiere. Wo der Sturm se aber betrat, verschlang er de Menschen, und wurden wieder zu Staub, aus dem se
gekommen waren, und wurden eins mit dem mächtigen Sturm, und der Sturm wurde noch immer mächtiger und mächtiger, und eins um das andere reihte er de Därfer in sich ein, und immer näher und näher kam der Sturm an de große Stadt, wo Nathaniel und de Prinzessin hofhielten. Und als de Kunde vor den Palast kam, daß ein mächtiger Wiestensturm alles, was lebte im Keenigreich, verschlang, da wurde Nathaniels Herz schwer, und er fürchtete sich sehr. »Prinzessin«, sagte er, »de Zeit, was wir zusammen verbrachten, was wir so teuer erkauft, se muß nun enden; das ist der Lauf der Dinge, denn das Leben ist kein Leben, wenn es nicht trägt de Samen der eigenen Vernichtung in sich.« »Aber«, sagte de Prinzessin, »ich habe dir noch kein Kind geboren. Ich habe dich noch nicht geliebt, wie eine Frau einen Mann liebt. Ich starb in dem Moment des Iebergangs, und als ich zum Leben wiedererweckt wurde, entdeckte ich, daß der Iebergang niemals kommen würde; Leben nennst du das?« Aber schon schlug der Staub an de Stadtmauern, und de Bewohner wurden erfaßt von Panik, und se schlugen an de Tore vom Palast und riefen: »Oh, Zauberer, oh, großer Zauberer, errette uns vor dem verschlingenden Staub.« In den Hof vom Palast streemten se, und se riefen zum Fenster des heechsten Turms hinauf, wo der Zauberer de Prinzessin aus ihrem Todesschlaf erweckt hatte. Se brachen de Portale ein und rissen de großen Statuen der verstorbenen Keenige und Keeniginnen nieder und legten Feuer an alles, was nicht Stein war, und um den Turm standen de Balken vom großen Speisesaal in Flammen, und bald brannte der ganze Palast lichterloh, bis auf den Turm, was aus seinem Herz aufstieg, denn nichts war an diesem Turm, was aus Holz war oder aus Stoff oder war vergänglich. Sein Erbauer hatte ihn für zehntausend Jahre errichtet, und sein Traum war, dieser Turm mächte noch stehen, wenn schon alles Leben vergangen wäre
und verschlungen alles vom Staub. Nun stand also alles in Flammen, und auch de Massen, was diesen Brand gelegt, wurden einer um den anderen ein Raub der Flammen und schrien dabei in ihrer Verzweiflung, und war das entsetzlich zu heeren. Aber das lebendige Ungeheuer aus Staub toste weiter um de Mauern des Palasts, und im hohen Turm saßen de Prinzessin und der Zauberer. Schließlich sagte de Prinzessin: »Meine Leute sterben; ich muß gehen und Abschied nehmen.« Se stand am Fenster und sah, wie ihre Leute sich in furchtbaren Schmerzen krimmten, und mit ersterbender Stimme se rufen noch immer ihren Namen. Se stand da, wie der Staubwind tobte, und weinte bitterlich, weil se ihre Leute nicht erretten konnte. Nathaniel sagte: »Ich habe neunhundertundneunundneunzig Jahre gelebt, aber nun bin ich zum ersten Male machtlos. De Liebe zu dir hat mich erhalten während meinem letzten Tod, se brachte mich zurick zu dir, se gab mir am Ende de entscheidende Kraft, dich dem Grabe zu entreißen, se gab mir de Macht, dies Keenigreich wiederzuerwecken zu einer Art Leben… aber oh, meine Prinzessin, oh, meine Leidenschaft, dies Leben ist nur ein Traum gewesen. Und weniger noch als ein Traum, denn ein Toter träumt nicht, und der Traum von einem Toten ist nur ein Traum von einem Traum von einem Traum.« Und de Prinzessin entgegnete: »So ist diese Stadt nur ein Traum? Dieser Turm? Dies schlagende Herz? Diese Jungfräulichkeit unberührt?« Nathaniel sagte: »Ich weiß es nicht.« Da erklomm de Prinzessin das Fenstersims, und der lebendige Staub kam, der verdunkelte de Flammen, und de Prinzessin breitete weit ihre Arme aus, denn in dem Staubsturm war das Leben, was nicht war in de Glieder vom
Zauberer; und da rief Nathaniel aus: »Oh, meine Prinzessin, oh, meine Liebe, mein Leben, nicht verlaß mich für den Wiestenwind, nicht laß mich den großen Steinen, nicht schließe mich ein in dieses Grab, von Flammen umzingelt, denn ich habe de Liebe geliebt, de hinausreicht über das Grab, und habe bezwungen de tote Erde für de Umarmung dieser Liebe.« De Prinzessin aber wußte, daß der Wind war das Leben und der Zauberer war der Tod. Und se umarmte den Lebensstaub, den Staub, aus was gemacht war de Erde, und der Wind umarmte se, und se schloß ihre Augen und sprang. Da zerfiel der Zauberer zu Staub. Da zerfiel der Turm aus Stein und zermalmte alles, was noch von Nathaniel iebrig war, und zermalmte seine Knochen zu Staub. Und alles, was von diesem Zauberkeenigreich iebrigblieb, war der Traum, der weniger war als ein Traum, der Traum von einem Toten, der Traum in einem Traum in einem Traum. Doch was war mit der Prinzessin? Se trieb dahen. Se schwebte in der dunklen Umarmung von dem Wind. Se war nicht tot und nicht lebendeg. Es war der Wend, siehst du, der de Liebe machte mit ihr. Er drang in ihre Seele. In den letzten Augenblicken von ihrem Traumdasein erwachte se endlich zum Leben und erfillte ihre Weiblichkeit; und am Ende, da verschlang das staubige Ungeheuer alles, was von ihrer Seele noch iebrig war, und da wurde se das Auge des Sturms, und eins war se mit Erde und Himmel. Was sagt diese Geschichte? Daß wir de Toten nicht aufwecken sollen? Daß wir nicht so sehr lieben sollen, vor Angst, daß de Liebe alles zerstört, Keenigreiche, Menschen, Seelen? Oder, daß wir auch jetzt leben in einem Traum, einem Traum, was nicht geträumt würde, wenn nicht irgendwo auf
der Welt eine Liebe wäre, was ieber de Orte der Finsternis henausreicht, eine Liebe, was de Ewigkeit selbst herausfordert? Ich weiß nicht. Zuvor wußte ich wenig. Und jetzt weiß ich sogar noch weniger als zuvor. Vielleicht hätte ich nicht zurückkommen sollen. Und vielleicht träume ich ja immer noch.
5 Die Geschichte machte mich nachdenklich. Hätte Kaz das Ende der Geschichte so erzählt, wenn Jimmy Lee Cox ihn nicht aus dem dunklen Land zurückgerufen hätte? Hätte er eine Geschichte erzählt, in der ein Mann und eine Frau glücklich lebten bis an ihr Lebensende, wie ich das von meiner Mutter immer erzählt bekommen hatte? Wollte Kaczmarczyk uns eine Nachricht aus dem Jenseits übermitteln? Herr, ich wünschte, ich wüßte es. Alles, was ich weiß, ist, daß ich nach einiger Zeit neugierig wurde und losging, um Jimmy Lee zu finden, weil ich wissen wollte, was bei seiner zombi-Reise durch den Süden passierte; und ich wollte wissen, was er gemeint hat, als er sagte, er müsse sich um seinen Pa kümmern; und, um die Wahrheit zu sagen, war Walt mitten in Kaz’ Geschichte eingenickt, oder wenigstens saß er mit geschlossenen Augen da, niemand beachtend, so wie es alten Leuten manchmal ergeht, und Kaczmarczyk schien nicht weiterreden zu wollen. Er kümmerte sich jetzt auch um Tyler Tyler, wickelte seinen Körper, der noch nicht steif geworden war, in eine Decke, und Tyler Tyler sah aus, als ob er nur im Gras schlafen würde, mit den Händen über der Brust, als ob er sich selbst umarmte. Tyler Tyler hatte langes Haar, dunkelbraun an den Wurzeln,
hell an den Spitzen; jetzt hingen ihm seine Haare in die Augen; Gott, er sah so jung aus. Ich ging also über die Lichtung – als ich über die Stelle kam, wo der Leopard die Kehle meines Freundes aufgerissen hatte, wurde mir leicht übel. Es war jetzt Nacht geworden, und die Frösche quakten, und die Grillen zirpten. Auf der anderen Seite der Lichtung glomm ein Feuer, und es stand ein Wagen da mit zwei eingespannten Maultieren. Der Wagen war nicht ganz so wie sonst die Planwagen; seitlich war er weiß gestrichen, und überall mit so Symbolen bedeckt. Ich schätzte, sie waren wohl das, was Jimmy Lee vévé genannt hatte, die magischen Zeichen, welche die Schwarzen in Afrika benutzten. Das Segeltuch war schwarz gefärbt, aber jetzt glühte es, vielleicht von einer Kerosinlampe im Inneren. Ich hörte von drinnen einen dumpfen Schlag oder so etwas ähnliches. Ich ging näher hin und horchte. Ich konnte Jimmy Lee sprechen hören, er sagte Sachen wie »Nun komm schon, Pa, du brauchst deine Kraft, nur ein bißchen mehr, na komm, Pa«, und so was. Ich also raufgeklettert und genauer gehorcht. Gesehen hab ich menschliche Gestalten, die sich bewegten, Schatten auf dem Segeltuch. Nun, gehört hab ich gurgelnde Geräusche… und ich erinnerte mich daran, wie Jimmy Lee uns erzählt hatte von den Leichen, die Leichen verspeisten irgendwo im Herzen von Carolina oder Georgia oder sonstwo… und mich hat es geschaudert, ich bekam eine Gänsehaut, wieder runter bin ich beinah gesprungen und bin zu unseren Lagerfeuer zurückgerannt. Ich hab mir vor Angst fast in die Hosen geschissen, bitte entschuldige diesen Ausdruck, und ich bin nicht der Typ, der sofort wegen ein paar Schatten und Geräuschen blaß wird. Da aber hörte ich die Stimme des Jungen. »Komm rein«, sagte er. »Ich versteck jetzt nichts mehr.«
Er schlug die Klappe beiseite, und ich sah ihn und seinen Vater. Sein Vater hatte seine Priesterkluft ausgezogen und saß nur in Unterhose vor der Lampe, und er war, nun, man könnte sagen, abgezehrt und jeder einzelne Brustknochen hat sich durch die Haut abgezeichnet, die so blaß wie Milch war und glänzte. Sein Mund war blutverschmiert, und er hat an einem Knochen rumgekaut, der noch das rohe Fleisch dran hängen hatte. Der Knochen war von einem Farbigen, der halbaufgefressen auf den Brettern lag, nackt und tot; seine Arme und Beine waren schon abgeschnitten. Jimmy Lee sagte: »Er ißt eher, wenn die Glieder von einem Körper kommen, der heil gestorben ist; das hier ist ein Patient, der wollte geheilt werden, aber die Götter wollten es nicht. Komm rein, Zacko, er tut dir nichts, und du kannst den Zwieback mit mir teilen und ein Stück gesalzenes Schweinefleisch, das ich mir aufgespart hab.« Ich kroch durch die Klappe, und sie schloß sich wieder, und ich war in der Höhle des Löwen und wußte irgendwie, daß der Herrgott mich diesmal nicht wieder rausbringen würde; das war an mir. Ich kniete mich direkt neben Jimmy Lee, diese Leiche da stank fürchterlich, und ich machte mir Sorgen wegen dem Pökelfleisch und hoffte, daß es nicht von dort herkam, woher ich es vermutete. Aber als ich sah, wie Jimmy Lee es mit Genuß verzehrte, habe ich mir erlaubt zu glauben, daß es das ist, was es zu sein schien; und als er ein Stück mit einem rostigen Messer abschnitt, habe ich es gierig gegessen, denn an Fleisch kam man sonst nicht so einfach ran. »Wie ich schon sagte, die abgelegten Fetzen von Lebenden mag mein Pa nicht. Die hier hab ich von irgend so einem Spital bekommen.« Jimmy Lee schlug ein Stück Stoff beiseite, unter dem ein ungeordneter Haufen von abgesägten Armen und Beinen lag. »Für fünf Cent das Stück; aber ein paar von den
Eigentümern laufen wohl noch rum, und das macht meinen Pa unglücklich.« »Warum kümmert ihn das denn noch?« fragte ich. »Nun, weißt du, er ist selber so eine Art Zwischenwesen, und mächtig empfindlich, was die Gefühle von anderen Zwischenwesen betrifft, und er weiß immer bestimmt, ob sie noch leben oder tot sind.« »Gut, das Schweinefleisch«, sagte ich. »Na, euer Kaffee aber auch.« Ich brauchte eine Weile, bis ich mich an den Geruch gewöhnt hatte – das stinkende rohe Menschenfleisch, dazu der Geruch von bratendem Speck, und überall der feuchte, naßkalt-muffige Geruch von ungewaschenen Kleidern und menschlichem Abfall. An den Anblick von allem konnte ich mich überhaupt nicht gewöhnen. Jedesmal, wenn ich mich umguckte, brachte das flackernde Kerzenlicht etwas Neues zum Vorschein – das eitrige Sickern aus einem Fingernagel, die glänzende Oberfläche eines Dickdarms, wie der sich längs den verschimmelten Brettern schlangenartig kringelte… oh, mir war so übel von dem allen. Aber ich war auch neugierig. Erinnere dich, ich war schon in der Hölle gewesen. Ich hatte Leichenberge gesehen. Du hältst das alles wahrscheinlich für eklig, aber ich hatte noch schlimmere Schauspiele von Grauenvollem gesehen, die nicht in einen kleinen Wagen reinpaßten. Ich wollte mehr wissen. Paula, du verstehst das. Du und ich sind uns viel ähnlicher, als du denkst. Wir beide besitzen dieses Etwas, daß, wenn es eine Tür, eine Kommode, eine abgeschlossene Schublade gibt, wir dann einfach wissen müssen, was da drin ist, egal ob wir uns dabei umbringen. Also, es gab da Dinge, die mußte ich ganz einfach wissen, und ich habe den Jungen schlankweg
danach gefragt. »Tyler Tyler«, sagte ich. »Den hattest du schon früher gekannt, nicht wahr?« »Holla«, meinte Jimmy Lee, »wie kommst du denn da drauf?« »Ihr wart euch so schnell einig; es war so, als ob du, was weiß ich, schon vorher dieses Treffen vereinbart hast, vor langer, langer Zeit.« »Wenn ein Jahr eine lange, lange Zeit ist«, sagte Jimmy Lee Cox, »dann hast du recht, Zacko.« Und so erzählte mir Jimmy Lee über seine erste Begegnung mit Tyler Tyler, und noch viel mehr dazu, und wie Tyler von einem ganzen Mann zu gar keinem Mann wurde, und wieder zurück.
16 DER EINÄUGIGE PROPHET TRIFFT DEN EINARMIGEN MANN
1 Nach diesem Tag und dieser Nacht (sagte Jimmy Lee Cox), nach dieser Nacht voll Schmerzen und Entsetzen und Liebe und Tod, marschierten wir weiter, Richtung Süden, nehm ich an. Wir liefen und liefen und liefen und sprachen nicht, weil, die Dinge, die ich gesehen hatte, lagen schwer auf meinem Herzen, und ich wußte jetzt, daß die Welt, die ich zu kennen geglaubt hatte, in so vielen Einzelheiten nicht richtig war, daß es besser für mich sein würde, von vorne anzufangen und aus all den kaputten Teilen in meinem Kopf eine neue Welt zu bauen. Oh, Gott, aber in meinem Kopf war nur Chaos und Leere, und ich rief laut nach einer Stimme, die sagen sollte: »Es werde Licht.« Wir liefen und liefen. Manchmal war der Leopard bei uns, manchmal nicht. Und manchmal, wenn sie nicht bei uns war, bildete ich mir ein, ich sehe sie geradewegs über den Nachthimmel spazieren, wo ihre feste und gelenkige Gestalt in den Sternenfeldern Wellen machte. Manchmal lief sie dann wieder neben uns her, eine alte, stolze Frau, aufrecht und hoheitsvoll, eine Frau, die nie eine Sklavin gewesen ist, egal wie oft man sie angekettet und geschlagen hatte.
Und wir liefen weiter; und der Haufen von lebenden Toten wurde eine Kompanie, weil, wo immer wir hinkamen, haben wir Nigger gefunden, die getötet worden waren, nicht nur solche, die in Yankee-Uniformen steckten, sondern auch manchmal eine Frau, die tot im Graben lag, oder einen jungen Burschen, der an einen Baum gekettet war, und den sie vergessen hatten, als seine Herren vor dem Feind geflüchtet sind, und dann war er verhungert, und einmal haben wir sieben Mischlingskinder tot in einem Käfig gefunden, mit Kopfschüssen; denn es waren wahnsinnige Zeiten, und die Menschen wurden zu Handlungen getrieben, die man zu Friedenszeiten nie für möglich gehalten hätte. Bei den toten Kindern war es, daß ich noch so eine poupée aus Maisstroh gefunden habe, wie die, die der alte Joseph mir vor zehn Jahren gegeben hatte, in einem Fläschchen sitzend, ein totes kleines Mädchen hatte es in der Faust; nachdem wir sie wiedererweckt hatten, hat sie es mir hingehalten, und ich dachte, ich hätte in ihren Augen einen Schimmer gesehen, aber mag sein, das war nur Einbildung. »Steht auf und wandelt«, sagte der alte Joseph. Und sie wandelten. Und ich sagte ihm immer und immer wieder: »Alter Joseph, wo gehen wir hin?« Und er sagte: »Zur Freiheit.« »Aber die Freiheit ist doch im Norden, oder?« »Die Freiheit ist im Herzen, mein Herzchen.« Wir marschierten. Viele Tage lang haben wir überhaupt keine Weißen gesehen. Wir sahen die ausgebrannten Gerippe von Farmhäusern und herumstreunende Hunde, die in Rudeln jagten. Wir gingen an weiten Schlachtfeldern vorbei, und die, wo es sich lohnte, hat der alte Joseph auferstehen lassen. Seine Macht nahm immer mehr zu. Es ging so weit, daß er nur mit den Händen wedeln mußte, ein oder zwei Worte sagen, und der
tote Mann kletterte einfach geradewegs aus der Erde raus. Und ich fing an, die Worte zu wiederholen, zuerst ohne Stimme, hab nur die Lippen bewegt; dann hab ich die Worte leise mitgesprochen, und schließlich – weil, wenn er mit seiner Zauberei beschäftigt war, hat er nichts sonst gesehen um sich rum – hab ich diese Worte auch rausgebrüllt, gleichzeitig mit ihm. Wie hat sich meine Zunge um diese verdrehten und barbarischen Laute gewunden! Es kam mir wirklich so vor, als wär ich es gewesen, der sie wieder auferstehen lassen hatte, daß ich es war, der in die Tiefe hineingriff und sie wieder herausholte! Und manchmal, abends, wenn ich dachte, daß der alte Joseph nicht guckt, habe ich diese vévé-Zeichen probiert, hab sie mit einem Zweig in die Erde gekratzt, aber wenn ich ihn kommen hörte, hab ich Erde drübergestreut oder trockene Blätter. Ich glaub, er wußte es trotzdem. Wirklich, ich glaub, er wollte, daß ich das lerne, weil, er hatte keinen Sohn, dem er das beibringen konnte, keinen Erben, der weitermachen konnte. Nachts vor dem Einschlafen hab ich meine Sorgen meiner poupée erzählt, und, siehe da, ich merkte, wie meine Last ein bißchen leichter wurde. Immer noch trafen wir keine Menschenseele. Die Sommersonne strahlte auf uns herab, und mir kam es vor, als wäre mein Schweiß Blut. Ich war mir gar nicht sicher, daß wir alle noch lebten und auf dieser Erde waren, denn das Land war verwüstet, trotz der grünen Wiesen und der Berge, die mit lila Blumen bedeckt waren, trotz des Geruchs der reichen Erde und des warmen Regens. Manchmal glaub ich, daß das Land, in dem wir wanderten, ein Trugbild war, ein falsches Eden. Oder daß wir irgendwie halb drin und halb draußen von dieser Welt waren. Obwohl ich nicht wußte, wo die Straße hinführte, war ich doch glücklich. Ich traute dem alten Joseph, und ich hatte sonst
niemand auf dieser Welt. Ich wurde nur traurig, wenn ich an den Tod von Pa und Momma dachte, und fragte mich, ob mein Pa jetzt bei Gott war, weil er gesagt hatte, daß er das Antlitz von Gott gesehen hatte, bevor ich ihm über die Rübe gehauen hab. Manchmal träumte ich davon, wie ich nach Hause komm und seh ihn wieder, heil und gesund. Ich träumte, wie ich meinen Vater umarmte und ihm sagte, was er mir nie gesagt hat; ich träumte vom Vergeben und Wiederversöhnen und von Liebe. Aber das waren nur Träume. Ich wußte, ich hatte ihn getötet. Am siebten Tag trafen wir auf unserm Weg wieder auf Menschen.
2 Und so ist es geschehen: Wir kamen von den Hügeln runter, und wir überquerten eine Ebene; da waren Felder, die vor ungepflückter Baumwolle platzten, und Villen, die in der Sonne schmorten. Wir gingen voraus, der alte Joseph und ich, und diesmal war Eleuthera bei uns, über die Felder springend. Hinter uns folgten die Nigger, ohne Deckung; ich schätze, wir waren übermütig geworden, weil, da war keiner mehr, der uns hätte fangen können; alle bewaffneten Männer waren im Krieg oder tot. Aber gegen Einbruch der Nacht hörte ich ein mir bekanntes Geräusch. Eine Hundemeute, die in der Ferne heulte, hinter den Pappeln am anderen Ufer von einem Flüßchen. »Hör mal«, sagte ich. »Niggerhunde«, sagte der alte Joseph. Er drehte sich um und sprach ein paar Worte in einer afrikanischen Sprache, und unsere Schwarzen bückten sich und rollten sich zusammen und schienen mit den Steinen und dem
Gras eins zu werden; klar, das war eine Sinnestäuschung, wenn man genau hingeguckt hat, waren sie noch da, aber man mußte sich ein paarmal über die Augen wischen, um zu erkennen, daß das menschliche Wesen waren. Ihr Yankees habt bestimmt niemals eine Meute Niggerhunde auch nur gehört, aber es sind die schrecklichsten Viecher auf Erden, und sie jagen einen Rüchtling den ganzen lieben Tag lang, bis sie den Nigger auf einen Baum treiben, oder sie ermüden ihn, daß er zusammenbricht, und dann kauen sie an seinen edlen Teilen und zerreißen sein Fleisch. Auch von ganz weit weg hört sich das Kläffen und Getöse nach Tod an, und man kann die Angst in der Luft riechen. Hinter den Hunden reiten die Patruller, wirbeln mit ihren Gewehren rum und schreien und fluchen und würden dem Flüchtling lebendig die Haut vom Leibe ziehen oder ihm wenigstens einen Fuß abhacken, damit er nicht mehr wegrennen kann. Aber Patruller waren hier nicht dabei. Statt dessen kam hinter den Hunden nur ein Mann zu Pferd. »Ich werd mir das angucken«, sagte ich. »Warum dein Leben wagen wegen ein Flüchtling?« sagte Joseph. »Besser abwarten, bis sie ihn töten; dann kann meine Magie ihre Arbeit tun.« »Was nützt deine Magie«, sagte ich, »wenn die Hunde ihn in Fetzen reißen?« »Wenigstens laß den alten Joseph dich unsichtbar machen«, sagte er, »wie die anderen.« Und er wedelte mit den Armen über meinem Kopf und malte ein Zeichen in die Luft, und diesmal konnte ich erkennen, daß es das Symbol für Legba war, den Götterboten. Und diesmal fühlte ich, wie die Unsichtbarkeit in mich reinsickerte, als wäre die Unsichtbarkeit ein Gas oder ein Atemzug, den man in sich reinsaugt und anhält, und man bleibt unsichtbar, bis man wieder ausatmet.
»Kommst du mit mir?« fragte ich, weil ich glaubte, wenn ich meine Angst zeige, dann mag sein, daß der Zauber verschwindet, und ich dastand, und die Niggerhunde würden mich zerfleischen, und ich wär tot, bevor noch der Kopfgeldjäger sie wegpfeifen könnte. »Ich werd nicht weit hinter dir sein«, sagte der alte Joseph. »Aber ich kann doch nicht ganz alleine da hingehen.« »Ruf den Leopard«, sagte Joseph. »Mag sein, sie mit dir kommen.« Hab ich also zum Himmel geflüstert: »Freiheit, Freiheit, Freiheit.« Und sofort spürte ich den Atem der Leopardin; ich konnte sie zwar nicht sehen, aber ich hab darauf vertraut, daß sie neben mir war; und im Vertrauen auf die Kraft und die Schnelligkeit der Leopardin bin ich auf die Pappeln zugerannt. Wie ich völlig außer Atem ankam, sah ich, daß die Hunde jemand in den Baum getrieben hatten, und ein paar Läufer waren bei den Hunden bei, mit Gewehren, obwohl sie dünn waren, und zu müde, um mitrennen zu können. Der Mann auf dem Pferd war ein alter Mann, rund und kahl, in der Uniform eines Colonels, und hatte sein Schwert halb aus der Scheide gezogen. »Ich will ihn da runter haben!« rief der Colonel. »Ich will, daß die Hunde ihn in Stücke reißen, bei Gott!« Was für ein Flüchtling konnte so einen Zorn verursachen? dachte ich. Ein Sklave ist schließlich ein Sklave und kann immer ersetzt werden. Warum sollte ein Weißer solche Umstände machen? Doch als ich näher rankam, sah ich, daß da kein Schwarzer in der Pappel war. Nebelhaft sah ich blondes Haar, und weiße Haut blitzte auf. Ich ging näher an den Baumstamm ran. Da waren zwanzig oder mehr von diesen Hunden, und sie heulten wie verrückt und hatten Schaum vor dem Maul und knurrten
und bellten. Es waren schwarze Hunde, groß und bösartig, richtige Höllenhunde. Aber ich war sicher, daß sie mich nicht sehen oder riechen konnten, weil, ich quetschte mich an denen vorbei, ohne daß auch nur einer was merkte, und bald kletterte ich rauf auf den Baum. »Freiheit«, rief ich leise, und ich spürte den Atem der Leopardin direkt neben mir, und er kribbelte mir im Nacken. Als ich halb oben war, schaute ich zur Ebene rüber und sah den alten Joseph, wie er langsam auf uns zukam; er ging langsam, aber stetig, als ob er überhaupt keine Sorgen hatte; wenn ich stark geblinzelt hab, konnte ich hinter ihm die Armee der Toten sehen, aber sie waren meist schwer zu erkennen, wegen dem Zauber. Ich kletterte bis zum Ast, wo der Junge drauf saß, zitternd, halb nackig. Tatsache; und er hatte nur einen Arm. Mit diesem einen Arm rieb er sich überall die Brust, hin und her, und ich schätze, er hat gefroren, obwohl es in Wahrheit ziemlich heiß war, und die Luft erstickte an der eigenen Feuchtigkeit. Er guckte nach oben und nach unten, weil der Ast ja geschüttelt wurde, denn ich war ja unsichtbar und auch der Werleopard. Er hatte soviel Angst, daß er sich bald in die Hosen geschissen hätte, und die Hunde sprangen hoch und schnappten nach ihm, sie verfehlten gerade mal eben seine Füße, und sie krallten sich in die Baumrinde, und oh, ihr Heulen war blutrünstig genug, einen Toten zu entsetzen. Na, ich kroch direkt auf ihn zu, und mag sein, daß er meinen Atem spürte oder etwas, weil, er fing an, furchtbar zu stöhnen und rief: »Oh, kommt und holt mich, ich weiß, daß ihr gekommen seid, um mich zu holen, ich werde eher hier oben im Baum sterben, als daß ich runterspringe und mich von den Hunden da Stück für Stück zerreißen lasse!« Ich packte ihn fest an den Schultern. Er ist fast aus der Haut gesprungen, aber ich versuchte, meine Unsichtbarkeit ein
bißchen nachzulassen, damit er wenigsten etwas sehen konnte, einen Schatten, etwas, das sich im Augenwinkel bewegte. »Glaub mir«, sagte ich, »ich bin kein Todesengel.« »Warum kann ich dich dann nicht sehen, zum Teufel?« fragt er. »Die Unsichtbaren sind Geister – wenn nicht Engel, dann Dämonen.« »Ich verstehe diese Sachen auch nicht besser wie du«, sagte ich, »aber du mußt mir glauben, daß ich dein Freund bin und dir gut will.« »Warum sollte ich dir trauen? Ich kann dich nicht mal sehen. Du bist nur so eine Art Stimme in meinem Kopf, und nur weil ich auf der Schwelle des Todes stehe, kann ich dich überhaupt hören.« Er sprach wie ein Yankee. Was machte er nur hier, alleine, so weit von dem Rest von seiner Leute entfernt? Also, dieser verfluchte Colonel ritt bis direkt an den Baumstamm, und er schrie: »Tyler Tyler, komm sofort runter, damit ich dich schnell töten kann; es sei denn, du hast Lust, den ganzen Tag und die ganze Nacht lang zu sterben.« »Tyler Tyler?« fragte ich. »Das ist aber nicht dein richtiger Name.« »Mein Familienname ist Taylor«, antwortete er, »aber die Kleinen, mit denen ich groß geworden bin, haben mich immer Tyler Tyler genannt, und der Name ist mir geblieben, weil ich mich mit meinen vier Cousins angemeldet habe – jetzt sind sie alle tot. Ich auch, bald genug.« »Mit wem, zur Hölle, sprichst du?« brüllte der Colonel. »Niemand«, brüllte Tyler zurück. »Du redest mit jemandem da oben – ich kann was sehen, das sich auf dem Ast bewegt. Ich weiß aber nicht, was.« »Ich bin wirr im Kopf.« sagte Tyler. »Wußten Sie das nicht? Am besten wär’s, Sie erschießen mich jetzt, während ich noch hier oben im Baum bin.«
Der Colonel feuerte ein paar Salven ab, aber er wollte nicht treffen, er wollte es Tyler nur ungemütlich machen. »Ich werde dich da runterholen«, sagte er schließlich. Er ritt davon und ließ die Läufer zurück, damit sie den Baum bewachen; sie standen da, die Gewehre auf Tyler gerichtet, aber auch sie wollten ihn nicht töten; sie waren Yankees, genau wie er. Kriegsgefangene, schätzte ich. Die Hunde kläfften noch den Baum an, und der alte Joseph lief jetzt auf den Bach zu, vielleicht hatte er ja noch einen Zauber im Ärmel. Auf dem Ast über uns saß die Leopardin und schnurrte so laut, daß der ganz Baum zitterte. Nun, bald kam der Colonel zurückgeritten, und diesmal hatte er ein Mädchen bei sich, ein wunderschönes Mädchen, würde ich sagen, fast weiß, mag sein, eine von diesen Achtelnegern aus New Orleans, mit langen, dunklen Haaren und glänzenden Augen, und nur eine Spur von farbig um die Lippen und die Nase. Der Colonel stieg ab. Er zog das Mädchen vom Pferd und schleifte sie beim Haar, und sie fing an zu rufen: »Tyler Tyler, Tyler Tyler…« Und der Colonel sagte: »Kein Kriegsgefangener wird mit einer meiner eigenen Hausdiener Romeo und Julia spielen, hörst du? Du hast mein Eigentum ruiniert, das hast du. Jetzt ist es wertlos, und ich kann es genauso gut wegschmeißen.« Ich sagte: »Was hat der denn? Na und, hast eben mit einem Hausnigger rumgespielt. Eine Sklavin ist dann doch immer noch eine Sklavin.« »Sie ist seine Tochter«, sagte Tyler Tyler. Tatsächlich gab es an einer Familienähnlichkeit keinen Zweifel, nur daß das, was in seinem Gesicht häßlich war, in ihrem verfeinert und schön geworden war. »Du enttäuschst mich, Tyler«, sagte der Colonel. »Hab ich dir nicht Extrazuteilungen gegeben, während deine Yankee-
Kumpels verhungerten? Ich hab dir gutes Geld für deine Arbeit gezahlt, und dafür darf ich wohl etwas erwarten. Hab dir das gleiche gezahlt wie den zweiarmigen Jungen, die ich gemietet hab, weil du lesen und schreiben konntest.« Die Hunde kläfften weiter; und die knochendünnen Yankees hoben ihre Gewehre, so gut sie konnten; obwohl, sie sahen weniger lebhaft aus als Tote. Wenn das einer sagen konnte, dann ich, ich lebte ja mitten unter ihnen. »Das wirst du noch bereuen, daß du mein wertvolles Eigentum besudelt hast«, tobte der Colonel weiter, »oder ich will nicht Griffin Bledsoe heißen.« »Nein, Masta«, sagte das Mädchen leise. »Laß ihn sein, Masta, ich gut zu dir sein, machen alles, du immer am meisten mögen. Laß ihn kein Niggertod sterben.« »Also liebst du ihn doch«, sagte Colonel Bledsoe, und er zog ihr ein paar mit dem Gewehrkolben über, aber sie wehrte sich nicht, lag nur da, still und mit weit aufgerissenen Augen. Auch geantwortet hat sie ihm nicht. »Tu ihr nicht weh!« rief Tyler. Aber Colonel Bledsoe hob sie auf – war ja einfach, weil, sie war nur ein schlankes, zierliches Ding – und trug sie bis zum nächsten Baum, und er setzte sie aufs Pferd, und schickte einen seiner Männer nach einem Seil, machte einen sauberen Henkersknoten, legte ihn ihr um den Hals und warf das andere Ende über einen Ast und band es fest, und die ganze Zeit sang er mit klarer, hoher Tenorstimme ein Lied in einer fremden Sprache. »Du kommst jetzt von diesem Baum runter«, sagte er, »oder, bei Gott, ich häng das Mädel, auch wenn sie ein Kind erwartet.« »Masta, Masta, mich nicht töten«, sagte das Mädchen – ich konnte sie kaum hören, weil sie so leise sprach – »er hat nie
Hand an mich gelegt… dies Kind, das du sagen, er mir hat eingepflanzt, das Kind nicht von ihm…« »Du lügst, um sein Leben zu retten«, sagte der Colonel. »Wer sonst hätte es gewesen sein können?« »Es dein Kind, Masta«, sagte sie. Sogar die Yankees waren davon überrascht, ließen ihr Ziel aus den Augen und sahen vom Colonel zu dem Mädchen und wieder zurück. Das Mädchen guckte zu Tyler rauf in den Baum. Ich weiß, daß sie mich gesehen hat, weil, wenn einer nah am Flußufer steht, kann er durch die Trugbilder durchgucken, die vom Zauberer gewebt waren. Und ich weiß, sie hat auch den Leoparden gesehen, denn in ihren Augen flackerte Angst, aber auch so was wie Hoffnung. Und sie lächelte, und das war so ein Lächeln, von dem die Geschichten immer so gern erzählen, so ein Lächeln, was das ganze Leben verändern kann; sie lächelte und flüsterte Tyler Tylers Namen, so leise, daß wir das nur hören konnten, weil der Wind irgendwie gedreht hatte; und wie Tyler Tyler das gehört hat, ist er vor Wut und Verlangen ganz verrückt geworden. Colonel Bledsoe versetzte dem Pferd einen Fußtritt, und das Pferd rannte ins offene Feld raus. Und Tyler schrie. Und dann warf er sich vom Baum, mitten in die Masse von aufgeregten Hunden. Ihn und die Frau trennte ein einziges Meer von schäumenden Mäulern, von weißen Fängen, die von Geifer glänzten, von wachen, blutunterlaufenen Augen. Bevor er noch weit kommen konnte, hatten sich die Hunde auf ihn gestürzt und zerrten an seinem Fleisch. Es war zu entsetzlich, das war nicht zum Aushalten. Und so sprang ich ihm nach und wehrte die Hunde ab, und der Leopard sprang vom Baum und biß gradewegs einen von den Hunden tot, hat seinen Rücken grade so durchgebissen, mit einem einzigen Zuschnappen seiner mächtigen Kiefer. Und Tyler lag auf der Erde und zog mit
seiner einen Hand sein Gerippe von einem Körper zu dem anderen Baum hin, und da war das Mischlingsmädchen am Strampeln und am Treten in der Luft, und, Herr, war das ein Anblick. Ich brüllte und trat nach den Hunden, und wie ich mich umdrehte, sah ich, daß Tyler den Baumstamm erreicht hatte und sich hochriß, damit er die Beine des Mädchens abstützen konnte, damit sie nicht erstickt; da zog Colonel Bledsoe eine Pfeife aus der Tasche und blies damit einen ohrenbetäubenden Pfiff, und die Hunde drehten sich um, alle auf einmal, wie wenn sie Teile von einer großen Maschine wären, und fielen über Tyler her, einer biß ihm in die Hand und ein anderer ins Handgelenk, und bald zerrten sie an diesem Arm, als ob sie ihn aus der Schulter reißen wollten, und schon kam Bledsoe auf ihn zu und hob seinen Säbel, als wolle er den Arm ganz abhauen; und Tyler schrie: »Nimm meinen Arm, zum Henker, aber verschone Amelias Leben…« »Ich will beides«, sagte der Colonel, aber in diesem Moment sah ich – Joseph, der auf dem Rücken des Leoparden stand. Nee, er hatte den Leopard um die Schulter, irgendwie war er mit diesem Leopard verschmolzen, und sein Gesichtsausdruck war so wild und drohend, selbst der Teufel hätte es mit der Angst zu tun gekriegt. Und er hebt den Arm und er greift die Beine des Mädchens, so daß sie nicht mehr hin und her strampelt, und dreht sich um und starrt diesem Colonel direkt in die Augen und sagt: »Griffin, Griffin, wie schnell hast du vergessen…« »Joseph!« rief er aus. Oh, Zacko, ein Schrei war das, von Erbarmen und ewiger Verdammnis. Da wußte ich, daß der Mann da Joseph kannte und daß das Treffen hier kein Zufall war, sondern der Wille von was weiß ich welchem geheimnisvollen Gott, der jetzt unser Leben bestimmte.
»Ja, Griffin«, sagte der alte Joseph, und obwohl er fast nur flüsterte, klang seine Stimme wie Donner. »Du wußtest, daß ich würde zurückkommen; und hier ich sein.« »Du bist weggegangen… über das kalte graue Meer«, sagte Colonel Bledsoe. »Ja, Griffin. Und nun ich zurückgekehrt, ich schreite zu dir über den glänzenden Himmel.« »Du hättest nicht zu kommen brauchen.« »Nein, brauchte ich nicht«, sagte der alte Joseph. »Aber über der brennenden Prärie habe ich deine Stimme gehört; du hast gerufen nach dem alten Joseph. Du warst es, der mich hierher bringen, der mich zwingen, zu unterbrechen meine Reise in diesem Tal von trockenen Knochen; denn du mich sehen als Engel, der die Seelen der Menschen holt, und du wissen, deine Zeit gekommen. Aber für diesen Jungen ist die Zeit noch nicht reif.« »Nein!« schreit Colonel Bledsoe, und er fährt mit dem Säbel auf Tyler Tylers Schulter und – Der Leopard springt hoch und zerreißt ihm die Kehle und – Ich schaute hoch. Da hing kein junges Mädchen am Baum; statt dessen war es der alte Joseph selber, aber doch wieder nicht er; er war größer als das Leben, und seine Füße ruhten auf dem Rücken des Leoparden, und seine Arme waren ausgebreitet, als wollte er uns alle umarmen, als wollte er, daß wir alle seine Kinder wären, seine geliebten Kinder… Und dann sah ich, wie die Hunde Tyler den verbliebenen Arm aus dem Gelenk rissen und damit in das dichteste Dickicht rannten, und das Blut schoß aus ihm raus, und er schrie: »Amelia, Amelia!« Wo war das Mädchen? Ich sah sie, am Baumstamm niedergesunken, wie sie halb die Augen abschirmte und halb
mit Grausen auf den Armstumpf ihres Geliebten starrte, aus dem das Blut nur so raussprudelte. Und der alte Joseph leuchtete von diesem Baum da hinab, sein gutes Auge so feurig wie die Sonne, und ein großes weißes Licht strömte aus seinen nach oben gedrehten Handflächen, ein Licht so weiß, so blendend, daß meine Augen brannten und fürchterlich zu tränen begannen. Aus seinen Lippen kam ein Feuer hervorgebrochen und wand sich um sein Gesicht rum und glühte als Heiligenschein über ihm; und wie ich in den Himmel über den Bäumen raufschaute, hätte ich schwören können, ich hätte dort eine himmlische Gesellschaft und die himmlischen Heerscharen gesehen, obwohl das dunkelgesichtige Engel waren, und ich hörte eine Musik, die sogar die Wolken rührte, und die Musik selbst war das Licht. Und gesungen haben sie: Oba kòso Onibante owó jinwinnin Und obwohl ich die Wörter da nicht verstand, erinnerte ich mich plötzlich, daß ich sie aber doch schon mal gehört hatte; denn jedesmal, wenn der alte Joseph über so einen afrikanischen Gott sprach, Shangó nannte er den, hat er immer diese Wörter gesagt und beim Aussprechen immer so komische Hüpfer gemacht. Shangó war ein afrikanischer König, der sich selbst erhängt hat, aber nicht gestorben ist, und ein Gott wurde; so hat der alte Joseph mir das erzählt. Dadurch war er so eine Art König des Todes und der Auferstehung, wie unser Jesus irgendwie, der am Kreuz hing, damit die Menschen erlöst werden. Und was der alte Joseph da gerade machte, war das, was sein Gott gemacht hat, was unser Herr für uns am Kreuz gemacht hat;
mag sein, das war Blasphemie, aber für mich war das alles irgendwie eins. Und dann sah ich über dem Heiligenschein des alten Mannes das vévé von dem Götterboten, mit Licht gemalt war das. Und ich wußte, daß der Leopard mit dem Namen Freiheit gekommen war, um die Seele von dem Colonel zu holen, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo er ihn hinbringen würde, ins Paradies oder in das Ewige Feuer, oder ob es noch einen dritten Ort gab, den weder Gott noch Satan kannten. »Sieh nicht mehr hin«, keuchte Tyler. Plötzlich konnte er mich sehen; ich war nicht mehr unsichtbar. Und er wußte etwas, was ich nicht wußte. »Um Gottes willen, Freund, um Gottes willen, Amelia, schließt die Augen vor dem Licht…« Ich schätze, ich hab noch gerade rechzeitig meine Augen zugemacht; weil, denn obwohl sie zu waren, legte sich eine so intensive Welle von Hitze und Grauen auf mich, daß ich sicher glaubte, sie vernichtet mich. Das Feuer rollte über uns hinweg. Ich wartete ab, während die schwarzen Engel wieder und wieder ihren Refrain sangen. Oba kòso Onibante owó jinwinnin Mit den geschlossenen Augen sah ich noch ein ganz anderes Bild, und plötzlich konnte ich auch die Worte verstehen… und das Bild, das an mir vorbeizog, sah so aus: schwarze Frauen, nackt, wie Gott sie schuf, die auf und ab hüpften, und schwarze Männer mit Leopardenfell um, die Trommeln aus Menschenhaut schlugen, und noch welche in phantastischen Masken aus Perlenstickerei in leuchtender roter, blauer, grüner Farbe, die wie die Gesichter von fremdländischen Vögeln und mythischen Tieren aussahen; die Frauen sprangen auf
tönernem Boden, und ihre schlanken Brüste schlugen gegen ihre glänzende Haut, und gesungen haben sie: Der König, er nicht hängen Weil gesegnet mit Millionen Kaurimuscheln. Was, zur Hölle, sollte das bedeuten? Klar war mir nur, daß die Vision verständlich machen sollte, was im Hier und Jetzt gerade geschah. Das Lied war hoch und süß, und die Trommeln tief und streng. Der Rhythmus des Liedes bohrte sich tief in meinen Kopf, ich ließ meinen Lebensgeistern freien Lauf und fand mich auf einmal selber mit den Schwarzen tanzen und diese Worte singen, und ich spürte meine eigenen Knochen sich mit den Trommelschlägen schütteln… Wie lange die Vision anhielt, weiß ich nicht, aber ich wußte, daß in der Welt da draußen etwas Schlimmes passierte… und so tanzte ich und tanzte ich und versuchte, die tanzenden Flammen um mich rum zu vergessen. Mir schien, ich tanzte eine ganze Nacht und einen Tag und eine zweite Nacht lang; und schließlich wurde ich wach, noch immer unter der Pappel wie ein Neugeborenes zusammengerollt, aber die Ebene hatte sich ganz und gar verändert. 3 Wir saßen inmitten einer schneebedeckten Kreisfläche, die sich vom Bach bis zu den fernen Hügeln erstreckte. Die Pappeln waren verbrannt; sie trugen keine Blätter mehr, und ihre Äste waren vom Feuer geschwärzt. Von jenem Baum hing niemand mehr runter; statt dessen saß mein beau-pére auf einem mächtigen Baumstamm, den die Blitze aus seinen Händen gefällt und tief ausgehöhlt hatten, und der Baumstamm war
jetzt wie ein Thron. Und drauf saß der alte Joseph, jeder Zoll ein König, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Um seine Schultern trug er einen großen, schweren Umhang aus Leopardenfell, und der Kopf von dem Leopard lag als Krone auf seinem Kopf. Und wenn er und der Leopard ganz oder halb sterblich waren – miteinander vereint war überhaupt nichts Menschliches an ihnen. Er schüttelte traurig den Kopf und zeigte auf den Bach. Ich setzte mich auf und drehte mich um. Im Strom stand Amelia Bledsoe. Ihre Haare waren wild und ihre Arme waren ausgebreitet und sie wirbelte umher, und rannte hier hin und dort hin, und ihre Augen waren weiß und kalt, denn der Feuerbrand hatte sie blind gemacht. Und wo war Tyler? Begraben im Schnee, in den Himmel starrend, mit Blutschlieren, wo seine Schulter einmal war. Mit gequälter Stimme schrie er: »Amelia, Amelia, warum hast du geguckt? Wußtest du nicht, daß die Herrlichkeit der Götter deine Augen versengt und deinen Geist für immer umnächtigt? Oh, Amelia, wenn du gucken wolltest, warum hast du mir das nicht gesagt, so daß ich auch geguckt hätte, und wir jetzt vereint wären in Wahnsinn und Blindheit?« Und Amelia sang: War eine Blume auf dem Feld, Pflück mich, pflück mich, wirf mich fort. Sie fing an zu lachen und zerrte an dem geblümten weißen Baumwollkleid, das sie trug, und zerriß sich die nackten Brüste, die in das klare Wasser bluteten; und dann lachte sie wieder und rief: »Ich taufe dich im Namen der sieben weißen Teufel«, und »Schufte! Und spinne! Und webe! Und bespringe!« und viele Aussprüche sonst noch, die hart an der Grenze von Frömmigkeit und Blasphemie waren.
Der alte Joseph schüttelte den Kopf, und im Winkel von seinem guten Auge stand eine einzelne Träne. Er war voller Mitleid für diese Geschöpfe, die das Schauspiel überlebt hatten, aber da war nichts, was er hätte tun können, um sie vor sich selbst zu retten; und ich weiß, das machte ihn traurig. Ich ging zu Tyler rüber, nahm eine Handvoll von diesem Schnee auf und rieb ihn zwischen meinen Fingern; Tatsache war, er war überhaupt nicht kalt zum anfassen, und er war so trocken wie Staub. Hier und dort im Schnee lag der Schädel von einem Hund oder ein menschlicher Oberschenkelknochen. Das war gar kein Schnee; das waren die zermahlenen Knochen von den Hunden und von den Männern und, mag sein, von diesem Colonel Bledsoe, von all denen, die von dem brennenden Licht niedergeworfen wurden, das der alte Joseph vom Himmel runtergerufen hatte. Tyler sah mich an und sagte: »Ich wünschte, ich wäre tot.« Er setzte sich auf – er war nicht viel älter als ich, aber in diesem Moment schien er tausend Jahre alt zu sein, und ich konnte sehen, wie ihn der Schmerz marterte und daß sein Schmerz größer war, wie ein Mensch ihn tragen sollte – und er sagte: »Oh, Herr, wie soll ich denn essen? Wie kann ich die Frau, die ich liebe, umarmen? Wie kann ich Amelia in meinen Armen halten? Wie soll ich denn überhaupt beten?« Und der alte Joseph sagte: »Tyler Tyler, du hättest vorsichtig sein müssen mit dem, worum du gebeten. Du hättest wissen müssen, das alles hat seinen Preis, den du zahlen müssen.« Amelia bespritzte uns mit Wasser, und wo das Wasser auf die gemahlenen Knochen traf, zischte das Wasser, und Rauch stieg von der Erde auf. Sie schöpfte Wasser mit den Händen und rannte aus dem Bach, und sie tröpfelte Wasser über Tylers blutende Schulter, und sofort verschloß sich die Wunde. Amelia wirbelte und tanzte, und ihr Tanz erinnerte mich an die Vision, die ich gesehen hatte, als das Feuer vom Himmel
gefallen war; ich glaube, sie sah auch diese Vision, nur daß sie die Augen nicht gegen die sengenden Flammen geschlossen hatte, und das hatte sie in den Wahnsinn getrieben. Ich folgte ihr, als sie tanzte. Sie sang in der gleichen afrikanischen Sprache wie in meiner Vision, aber ich hatte das Verständnis davon verloren. Ich rief einmal ihren Namen, aber sie antwortete nicht; mag sein, daß sie nicht nur blind, sondern auch taub geworden war. Herr, ich weiß nicht, was sie mit ihren blicklosen Augen gesehen hat, aber ich glaub, Tyler hat sie beneidet, weil sie diese Welt nicht mehr sehen mußte. Tyler setzte sich jetzt auf. Die Wunde verheilte sauber. Ich schätze, das Wasser aus dem Bach hatte magische Kraft. Er starrte das Mädchen an, für das er seinen Arm geopfert hatte, und weinte leise und ließ sich nicht trösten, obwohl ich ihn umarmte und versuchte, ihm ein bißchen Mut zuzusprechen. »Wer bist du?« fragte ich ihn. »Warum sind wir hierher gekommen?« »Ich sag es dir«, sagte Tyler, und plötzlich befanden wir uns mitten in einer anderen Geschichte.
Bis die Brücke für dich gebaut ist, Bis der lenksame Anker Halt findet, Bis der zarte Faden, den du auswirfst, Sich irgendwo verfängt, o meine Seele. – Walt Whitman
Eine Zauberin in Santo Domingo 1804
17 TYLER TYLER WIRD VON COLONEL BLEDSOE ANGEHEUERT UND VERLIEBT SICH
1 Andersonville war die Hölle (sagte Tyler Tyler), aber bei Colonel Bledsoe war es noch schlimmer. Außer, daß ich dort Amelia kennenlernte und sie mein Leben wurde. Als ich nach Andersonville gebracht wurde, hatte ich schon meinen rechten Arm verloren; war nichts Besonders dabei, nur eine Kanonenexplosion. Ich lag mit fünfzig anderen Verwundeten in einem provisorisch eingerichteten Krankenzelt, und unsere
Kompanie zog sich zurück, und die Sezessionisten fielen über das Lager her und nahmen alle Verwundeten gefangen. Außer denen, die sie erschossen. Das waren diejenigen, die zu schwach für einen Transport waren, oder die, die von der Ruhr zu verdreckt waren, als daß man sie noch für wert erachtet hat, transportiert zu werden. Bald darauf brachten sie uns nach Andersonville, das sich in Americus befindet, nicht weit entfernt von hier. Ich komme aus Baltimore, und ich kann ganz ordentlich schreiben und lesen, und Musik machen kann ich auch; und bevor mein Arm abgehackt wurde, habe ich ein bißchen Geige und Hackbrett gespielt. Vorm Krieg hab ich bei meinem Vater im Notendruck gearbeitet, ich lernte, wie man all die kleinen Symbole in Platten ätzt, um Lieder für Kapellen und Kirchen in ganz Maryland zu drucken. Er ist dann an den Pocken gestorben, und wir brauchten Geld. Ich ging zur Armee und schickte die dreizehn Dollar im Monat direkt an meine Mutter und meine Schwester. Zwei Jahre lang brauchte ich an keinen Kämpfen teilzunehmen, weil einer der Generäle meine gute Handschrift mochte und mich als seinen Sekretär beschäftigt hat, zum Briefe abschreiben und saubere Kopien an das Archiv in Washington schicken. Nun, Jimmy Lee, er starb, und sie schickten mich mit dem nächsten Zug Richtung Süden, und drei Monate später war ich in Andersonville. In Andersonville vergaßen sie manchmal, uns zu essen zu geben. Sie erschossen uns, wenn wir uns zu dicht an den Mauern aufhielten. Sie erschossen uns, wenn wir krank wurden. Sie pferchten uns zusammen, so daß wir kaum noch atmen konnten, und mal erschossen sie uns, weil wir atmeten, und mal, weil wir nicht mehr atmeten, sie erschossen uns einfach grad so, für nichts und wieder nichts. Sie warfen uns in Massengräber und machten weiter mit dem Erschießen, tagein, tagaus. Diejenigen, die überlebten, wurden
dünn. Die Haut hing uns von den Knochen wie Wäsche von einer Leine. Die ersten paar Wochen dachte ich noch an meine Mutter und meine Schwester und fragte mich, ob man ihnen wohl gesagt hatte, daß ich tot sei, oder ob sie immer noch die dreizehn Dollar monatlich bekamen; aber bald dachte ich nicht mehr an sie, nur daran, wie ich einem Mitinsassen eine kleine wurmstichige Kartoffel stehlen könnte, oder wie ich dem Erschossenwerden entgehen könnte, oder manchmal träumte ich auch davon, und dann hoffte ich, erschossen zu werden, unter der Erde zu liegen und nie mehr hungrig zu sein. Es war wirklich die Hölle. Es kam auch vor, daß sie uns wie Sklaven verkauften oder nach auswärts vermieteten, um Gräben auszuheben, wobei sie darauf achteten, daß wir alle aneinandergekettet waren, so daß wir nicht fliehen konnten. Wer vermietet wurde, war froh darüber, weil man da die Chance hatte, daß man vielleicht eine extra Schüssel Haferschleim bekam oder ein kleines Stückchen Fleisch. Mir ist das allerdings nur einmal passiert, wer kann schon einen einarmigen Arbeiter gebrauchen? Aber dann sah ich eines Tages Amelia Bledsoe. Der Colonel kam ins Lager geritten, und sie fingen an, uns aus den Hütten zu treiben, und ließen uns in langen Reihen in der Sonne antreten, und ab und zu schossen sie auf welche, die nicht ordentlich in der Reihe standen. Da standen wir, zerlumpt und jämmerlich, ein oder zwei brachen in der Hitze zusammen, und der Colonel saß ab und musterte uns und pickte den einen oder anderen raus. Am Tor stand ein Pferdekarren, und die, die er rausgesucht hatte, wurden in Beinschellen fortgeführt. Ich wußte, ich würde nicht gewählt werden, also gab ich nicht groß acht. Auf einmal aber kletterte eine Frau neben dem Fahrersitz runter und lief zum Colonel hin, und sie tippte ihm auf die Schulter, richtig vertraulich, was mir merkwürdig vorkam,
denn obwohl sie ziemlich hellhäutig war, war sie doch offensichtlich eine Farbige. »Masta«, sagte sie, »vergeß nicht jetzt, du brauchen ein Sekretär.« Er drehte sich zu ihr um. Obwohl sie offensichtlich seine Sklavin war, rügte er sie nicht für ihr Benehmen, sondern sagte freundlich: »Natürlich, Amelia. Dumm von mir, das zu vergessen.« Dann sagte er allgemeinhin: »Lesen und Schreiben – wer kann so etwas?« Bevor ich noch denken konnte, hatte ich schon geantwortet: »Ich, Sir.« Vielleicht war es, weil das Mädchen schön war, oder wegen der Art, wie sie mich ansah – nicht wie ein Tier im Käfig, sondern wie einen Menschen, der in einer anderen Welt und unter anderen Bedingungen ihr Freund hätte sein können. »Du hast nicht mal einen rechten Arm, Junge«, sagte der Colonel. »Nun, Sir, ich bin Beidhänder.« Woraufhin er derart zu lachen und zu prusten anfing, daß sogar ich ein bißchen lächeln mußte, und so wurde ich ausgewählt. Sie ketteten mich ganz vorne an, wo die farbige Dame saß. Der Fahrer war ein kräftiger Neger mit Narben im Gesicht, er trug eine schwarze Uniform, wie der Fahrer eines Leichenwagens. Sie sprach leise mit dem Fahrer in einer Sprache, die ich nicht ganz verstand, außer daß es ein bißchen wie Französisch klang, das ich etwas in der Schule gelernt hatte: »Ale, ale leglizla«, sagte sie, und er erwiderte: »Wi, mache.« Ich erlaubte mir, sie anzusprechen – warum auch nicht? Ihrem ganzen Auftreten zum Trotz war sie ja nur eine Sklavin, nicht wahr? – und sagte: »Wo werden wir hingebracht?« »Um eine Kirche zu bauen«, sagte sie. »Eine Kirche?«
»Sklaven sie abbrennen«, sagte sie, »und flüchten in den Norden.« »Ruhe!« rief ein Wächter, denn wir wurden von zwei wohlgenährten Sezessionisten bewacht, die ihre Gewehre auf uns gerichtet hielten, als der Pferdekarren langsam über die mit Schlaglöchern übersäte Straße zu unserem Bestimmungsort rumpelte. Ich ertappte mich dabei, daß ich nur die Frau anstarrte und von nichts anderem um mich herum Notiz nahm. Sie trug ein schlichtes Kattunkleid, weiß, mit hübschem blauem Blumenmuster, und auch in ihren dunklen Augen lag eine Spur von Blau. »Was du anstarren, Soldat?« fragte sie nach einer Weile. Die Sonne brannte auf uns nieder, und auf ihrer Stirn hatten sich ein paar Schweißperlen gebildet, die ihr die Wange runterliefen; einen Moment lang bildete ich mir ein, es wären Tränen. »Dich«, sagte ich. »Was, du noch kein Octoroon vorher gesehen?« sagte sie. »Was ist das?« »Ein-Achtel-Schwarze«, sagte sie, »und der Rest von mir weiß wie Schnee; und jedoch dieses ein Achtel Farbe, sie genug, um alle acht Teile als Sklave zu halten.« »Aber du bist schön.« »Und du bist es auch – du einarmiger Engel.« »Findest du?« »Nun«, sagte sie, »du ein wenig dünn, aber wir werden uns schon drum kümmern, bald genug. Ich mein Daddy sagen, er sich gut um dich kümmern.« »Wer ist dein Daddy?« fragte ich sie. »Der Fahrer von diesem Wagen mit dem eindrucksvollen Gehrock?« Darauf antwortete sie nur mit einem listigen, flüchtigen kleinen Lächeln und sagte: »Oh, nein«, sagte sie, »das da Hercules, einer der Hausneger.«
»Ist dein Daddy dann ein wichtiger Sklave?« fragte ich. Ich wußte über die Hierarchien dieser Leute nicht das geringste, aber ich wußte, daß es innerhalb der Sklavenwelt unterschiedliche Ränge gab. »Vielleicht der Oberbutler? Oder eine Art Aufseher?« Ich wußte, daß auf manchen Plantagen Schwarze als Herren über die anderen Schwarzen eingesetzt wurden; sicherlich führte dies zu Mißstimmungen. Wieder dieses seltsame kleine Lächeln, und sie antwortete: »Über manche Dinge soll man nicht reden.« Danach schaute ich sie also nur noch an, den ganzen Weg in die Stadt hinein.
2 Die Arbeit war leicht genug. Ich mußte Aufzeichnungen vom Wiederaufbau machen, soundso viel Holz, soundso viel Gips, soundso viele Nägel. Die anderen Männer mußten wirklich hart ran. Sie arbeiteten mit den Sklaven in einer Reihe, wurden in Ketten gehalten, man peitschte sie, wenn sie zu langsam waren, ganz genauso, als hätte man sie vom Auktionsblock weggekauft. Das Auspeitschen geschah auf merkwürdig bürokratische Weise: In der Stadt gab es einen Mann, Cordwainer Claggart mit Namen, der war offizieller Sklavenauspeitscher. Er besaß auch eine Apotheke, wo er unter anderem eine Salbe verkaufte, die angeblich die Folgen seiner Auspeitschungen linderte. Wenn ein Mann gepeitscht werden sollte, mußte ich eine Notiz ausfertigen, die das Delikt anzeigte und die Anzahl der Schläge, diese Notiz ging zur Unterschrift an den Colonel, dann wurde das Opfer bei Tagesanbruch zum Sklavenauspeitscher gebracht und am Abend wieder zurückgebracht. Ich nahm an, daß viele Bürger bei dem Mangel an Arbeitskräften und der Vielzahl der Flüchtlinge
dazu übergegangen waren, ihre Arbeiter aus dem Kriegsgefangenenlager in Americus zu beziehen – was natürlich gegen alle Vorschriften verstieß, aber keiner hat dagegen protestiert. In Anbetracht der Tatsache, daß diese Männer Weiße waren, hat Mr. Claggert nach dem Peitschen kein Salz und Pfeffer in ihre Wunden gerieben, so daß sie am nächsten Tag meistens wieder arbeiten konnten, manche aber starben daran, weil sie gegen eine solche Behandlung nicht abgehärtet waren. Dieser Colonel, dem ich nun gehörte, war pensioniert, und er widmete sein Leben dem, was er für gute Werke hielt. Der Wiederaufbau der Kirche war nur eines seiner vielen Projekte. Griffin Bledsoe besaß ein Haus in der Stadt, und ich durfte dort im Kohlenkeller schlafen und bekam ausreichend zu essen. Sehr bald merkte ich, daß die hübsche junge Amelia eine echte Macht im Haushalt darstellte, denn keiner wagte ihr je zu widersprechen. Die Haussklaven sprachen untereinander in einer Sprache, die sie kreyol nannten, und sogar der Colonel konnte sich darin, wenn auch nicht recht fließend, so doch recht gut unterhalten. Ich hatte gelogen; ich bin nicht wirklich beidhändig, und meine Schrift mit der linken Hand war miserabel. Aber ich durfte weiter dort arbeiten, ich denke, weil Amelia sich für mich eingesetzt hat und, um die Wahrheit zu sagen, weil sie Mitleid mit mir hatten. Bis die Woche herum war, liebte ich Amelia und sie mich. Das kam alles sehr schnell. Bevor sie sich für die Nacht zurückzog, brachte sie mir immer ein Glas Milch und ein paar Buttermilchkekse aus der Küche. Sie machten mich jede Nacht mit Handschellen am Ofen fest. Ich konnte mich nie richtig bequem hinlegen. Darum ließ sie mich meinen Kopf in ihren Schoß betten, und das war das erste Mal, daß ich etwas Weiches spürte, seit ich Baltimore verlassen hatte. Sie strich
mir sanft über die Stirn, bis sie glaubte, ich wäre eingeschlafen, dann schlüpfte sie wieder fort. In der zweiten Nacht blieb sie etwas länger. Obwohl ich die Augen geschlossen hielt und nichts sehen konnte, glaube ich, daß sie weinte, als sie leise flüsterte: »Immer schon wollen ein süß weiß Engel, immer schon wollen ein wie du, sogar einarmig, du haben alle Arme, die ich brauchen.« Da nahm ich sie fest beim Handgelenk und hätte beinahe etwas darauf erwidert. Ich dachte nicht an Mutter und Schwester, dachte nicht an Baltimore, den Salzwind im Hafen, die großen, zusammengedrängten grauen Steinhäuser, Reihe um Reihe, den Geruch der Gravursäure aus dem Hinterzimmer im Haus von meinem Vater, das die Bank uns weggenommen hat; irgendwie konnte ich nur noch an sie denken. Ich war von ihr besessen. Ich dachte an nichts anderes, und ich lebte für die Augenblicke, wo ich sie sehen konnte. Am dritten Tag durfte ich meine Mahlzeit im Eßzimmer einnehmen, aber an einem gesonderten Tisch und für die Dauer der Mahlzeit mit den Füßen in Eisen. Ich durfte auch der Unterhaltung zuhören, aber nur dann sprechen, wenn ich angesprochen wurde. Aber wenn ein Blick ein Gespräch sein kann, und ein Blick ein Kuß, und ein Lächeln ein Liebesakt, dann haben Amelia und ich während der Suppe mindestens ein Dutzend Mal gesündigt und während dem Hauptgang doppelt soviel. In dieser Nacht küßte sie mich ein um das andere Mal, aber wegen der Handschellen konnte ich sie mit meinem einen Arm nicht umarmen. Und es passiert nichts weiter, was weniger unschuldig als diese Küsse gewesen wäre, obwohl ich gerne mehr wollte, und ich glaube, sie wollte es auch. Und dennoch sprachen wir nicht viel miteinander. Schweigend kann viel gesagt werden.
Kurz bevor sie mich verließ, versuchte ich ihr jedoch zu sagen, wieviel sie mir bedeutete. Ich sagte: »Amelia, Liebling, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, hätten wir vielleicht…« »Sprich nicht von solchen Dingen«, sagte sie. »Ich muß jetzt gehen. Zu einem anderen Mann.« »Der Colonel? Aber ist das nicht eine Sünde, ich meine, ist er nicht dein…« »Nigger sind keine menschlichen Wesen«, sagte sie. »Kein Verbrechen, eine von uns zu schänden. Kein Sodomie, kein Notzucht, kein Inzest. Wir sind kein menschlichen Wesen. Hast du noch nicht begriffen, Yankee-Junge?« »Nein – ich verstehe das nicht. Ich werde es wohl nie verstehen.« »Was? Dann du Abolitionist?« »Wie soll ich das wissen? Ich bin kein Politiker.« »Du meinst, Amelia sollte frei sein?« »Über solche Sachen habe ich noch nie nachgedacht.« »Ich auch nicht«, sagte sie und küßte mich und schlüpfte nach oben, zu dem Mann, der ihr Liebhaber, ihr Vater war. Am vierten Abend waren viele Leute zum Essen eingeladen, Südstaatler-Aristokraten, nehme ich an, in weißen Anzügen, und ihre Damen, die mit den Fächern wedelten und Amelia schräge Blicke zuwarfen, die am Tischende der Gastgeber saß und die Herrin des Hauses spielte. Es gab glasierten Schinken und weiche Brötchen und gebratene Hühnerschlegel und grüne Bohnen, mit großen Stücken Rauchfleisch gekocht. So eine Mahlzeit hatte ich schon lange nicht mehr gesehen, und ich hatte Mitleid mit den anderen Arbeitern vom Gefangenenlager, die im Kirchenkeller in Ketten gehalten wurden und nur die üblichen kargen Rationen bekamen. Auch Wein. Ich hatte gehört, daß im Süden an allem Mangel herrschen sollte, weil sie im Begriff waren, den Krieg zu
verlieren, aber in diesem Hause merkte man nichts davon, aber überhaupt gar nichts, Jimmy Lee. Ich konnte nicht soviel essen. Andersonville hatte mich so ausgemergelt, daß ich genau wußte, ich würde meine Eingeweide auskotzen, wenn ich versucht hätte, wie ein normaler Mensch zu essen. Ich gab nicht allzu sehr auf die Unterhaltung acht. Nicht zu Beginn. Dann aber machte eine der Damen eine Bemerkung über eine farbige Dame. »Wirklich, Colonel«, sagte sie, »ich liebe meine Sklaven, als wenn sie meine eigenen Kinder wären, aber ich würde sie deshalb bestimmt noch lange nicht an meinem Tisch essen lassen.« »Und wieso nicht?« fragte der Colonel. »Bin ich nicht ein großzügiger Mann? Gestatte ich nicht sogar einem Yankee von den Brosamen zu essen, die da unter meinen Tisch fallen?« Die Gäste schauten alle zu mir herüber, wo ich am Seitentisch saß und ungeschickt versuchte, mit der linken Hand zu essen, und sie lachten über mich und klatschten dem Colonel Beifall wegen seinem raffinierten Bibelzitat, und ich raste und tobte innerlich, konnte aber nichts machen, außer dazusitzen und es hinzunehmen. Ich fühlte, ich war weniger als ein Mensch. Oh, ich schämte mich. Ich wollte sterben. War nicht das erste Mal während dieses gottverlassenen Krieges, daß ich sterben wollte, aber diesmal war es mir bitterernst damit. Amelia stand vom Tisch auf und kam an meine Seite. Sie sagte: »Sei nicht gemein zu ihm, Masta. Er genug schlechte Zeiten gesehen.« Der Colonel lief rot an vor Wut. Er sagte aber nichts; er wandte sich nur wieder seinen Gästen zu, befahl Hercules, Wein nachzuschenken, klatschte in die Hände, damit die Magd das Dessert brachte, einen von diesen flambierten Puddings. Eine Zeitlang sprach niemand. Obwohl sie ihre besten Kleider angelegt hatten und ihre altgewohnte Vornehmheit zur
Schau trugen, waren sie doch alle ziemlich hart dran, glaube ich, und einige von ihnen hatten wahrscheinlich ein oder drei Tage lang nichts Vernünftiges zu essen gehabt, denn sie schlangen diesen Pudding runter, als hätten sie so etwas noch nie zuvor gegessen. Ich selbst konnte nur ein, zwei Bissen runterkriegen. Ich dachte, bald würden sie wieder anfangen, sich über mich lustig zu machen, aber statt dessen begann der alte Colonel, Kriegsgeschichten zu erzählen, die wie alle Kriegsgeschichten waren – soundso viele getötet, soundso viele vor dem sicheren Tod gerettet, soundso viele Kanonen und Leichen und Kavallerieangriffe. Mittlerweile hatte ich eine Menge solcher Geschichten gehört, und es blieben auch jetzt die gleichen, als sie im Dialekt von Georgia erzählt wurden. Ich glaube, daß die Gäste nach einer Weile der Geschichten müde wurden, und eine Dame – die gleiche, welche die verächtliche Bemerkung über Amelias Anwesenheit bei Tisch gemacht hatte – sagte: »Colonel, warum erzählen Sie uns nicht eine romantische Geschichte aus Ihrer Jugendzeit? Wir wissen, daß Sie weit gereist sind – die Karibischen Inseln, England, Frankreich und noch weiter. In der Tat, es heißt, Sie hätten sich einige Ihrer, nun ja, wunderlichen Eigenschaften auf Ihren Überseereisen angeeignet.« Aufs neue richtete sie den Blick auf das Octoroon-Mädchen, und Amelia sah sie finster an, dann drehte sie sich zu mir und schenkte mir einen sehnsüchtigen Blick, den der Colonel bemerkt haben mußte, denn er blickte scharf erst zu ihr, dann zu mir herüber, dann starrte er in den Kamin und schüttete ein ganzes Glas Wein auf einmal hinunter. »Ich werde euch alles erzählen«, sagte er, »über Zauberer und Wahnsinnige, über kaffeebraune Schönheiten, über Wirbelwinde und Stürme, und Revolutionen und Greueltaten, und von einer Insel, wo die Nigger frei rumlaufen, und die Weißen sich kaum aus dem
Haus trauen – von einem Ort, den die einen Santo Domingo nennen, die anderen Saint-Domingue und wieder andere Haiti, die Hölle auf Erden.« »Du liebe Güte, Colonel!« sagte die Dame, die um eine Geschichte gebeten hatte. »Das übersteigt ja jede Vorstellungskraft.« »Das will ich gern glauben«, sagte Colonel Bledsoe. »Doch nur Geduld. Ich werde es Ihnen so wirklich erscheinen lassen, Ma’am, als ob Sie das alles selbst durchleben würden, so wie ich damals.«
18 WORIN DER JUNGE GRIFFIN BLEDSOE NACH SANTO DOMINGO KOMMT
1 Manche haben meinen Vater einen Piraten genannt, er selber zog die Bezeichnung Kaufmann vor. Um die Jahrhundertwende hatte er geschäftlich mit den Inseln zu tun und segelte oft nach Port-au-Prince, das sich im französischen Sektor einer Insel namens Santo Domingo befand, ein Land, das durch die Süße des Zuckers reich geworden war, den es dem Erdreich mit der bitterharten Hölle der Sklaverei entlockte. Die Indianer, von denen die Spanier das Land gestohlen hatten, nannten die Insel Haiti. Aber als ich da war, habe ich, bei Gott, keinen einzigen Indianer gesehen. Indianer eignen sich nicht als Sklaven, sagen die Spanier; manche meinen, sie wären an gebrochenem Herzen und an der Verzweiflung gestorben, und andere meinen, es seien die Masern und die Grippe gewesen; aber egal, wie es passierte, ihre Knochen haben sich schon längst mit der reichen Erde vermischt, zusammen mit den Knochen und dem Blut und dem Schweiß von Millionen Schwarzen, die nach ihnen kamen. In Port-au-Prince war mein Vater selbst so etwas wie ein kleiner Fürst. Denn 1803, als ich ein zwölfjähriger Junge war, herrschte bereits lange Jahre ein blutiger Bürgerkrieg in Santo Domingo, und die Schwarzen hatten – in befremdlicher Umkehrung der gottgewollten natürlichen Ordnung –
tatsächlich große Teile der Insel erobert und ihre Herren gemordet; angeführt wurden sie von einem gerissenen, mißgestalteten Zwerg namens Toussaint L’Ouverture, schwarz wie die Nacht und mit einem ebenso schwarzen Herzen, schätze ich. Nun, L’Ouverture war in einem Gefängnis in den Alpen, hörte ich sagen, aber der Krieg tobte noch, denn Napoleon war fest entschlossen, Santo Domingo unter französische Herrschaft zurückzubringen. In dem Land herrschte ein vollkommenes Durcheinander, Freunde. Aber – Geld regiert die Welt, der Zuckerhandel ging nur wenig beeinträchtigt weiter, und ausländische Kaufleute wie mein Vater übernahmen die Macht von den geschlagenen Franzosen, die ihre Schwarzen derart mißhandelt hatten, als wollten sie damit ihren eigenen Untergang geradezu heraufbeschwören. Die Franzosen flüchteten in Heerscharen von den Inseln; und mit ihnen ihre Mulatten, Quadroonen, und Octoroonen. Es herrschte auf Haiti die allerkürzeste Hierarchie, in der der Rang eines Schwarzen von seinem Anteil weiß bestimmt wurde; die hellhäutigen Nigger waren genauso verhaßt wie die Weißen, und die High-Yellows als die Nachkommen ihrer Herrschaft wurden von allen am meisten verabscheut, denn häufig waren sie grausamer ihren schwarzhäutigen Cousins gegenüber als deren Herren selbst. Daher kam es, daß viele einen Mittelsmann benötigten – entweder um Besitztümer oder manchmal auch sich selbst aus dem Land herauszuschmuggeln, denn das Land war ein sinkendes Schiff. Mein Vater verdiente ein Vermögen an dem Elend des Landes, obwohl ich damals zu jung war, um zu verstehen, was die Quelle unseres Wohllebens war. Da meine leibliche Mutter kurz nach meiner Geburt an der Schwindsucht gestorben war, reiste ich mit meinem Vater überall hin mit, und bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr blieb meine Erziehung dem Zufall überlassen, manchmal hatte
ich Privatlehrer, aber meistenteils gab es nur einen Stapel Bücher ohne irgendwelche Anleitung oder Führung. Irgendwie schaffte ich es jedoch, mir die Grundlagen des Lesens und Schreibens und der Mathematik anzueignen. Danach entschied mein Vater, daß ich eine weitaus härtere Schulung benötigte, aber davon werde ich später sprechen. Mein Vater hatte sich nie am Sklavenhandel direkt beteiligt; aber einmal war eines seiner Schiffe, die Persuasion, als Sklavenschiff hergerichtet worden. Aus diesem Grund durfte ich als Junge niemals in das Innere dieses Schiffes hinabsteigen; es gab Gerüchte von Spukgeistern, Nachtgespenstern, von Geisterketten, die im Frachtraum klirrten, von Stöhnen und Kreischen aus den Schiffsrippen. Wenn wir jedoch im Hafen lagen und mein Daddy zusammen mit den verschiedenen Bankiers und solchen Leuten die Buchhaltung durcharbeitete, hatte ich Zeit, die Umgebung von Port-au-Prince zu erkunden, oft in Begleitung eines schwarzen Jungen in meinem Alter, eines Burschen namens Jozef, der trotz seiner dunklen Hautfarbe einige Privilegien hatte, denn seine Mutter war die Konkubine eines einflußreichen Mulatten namens Jacques Leclerc, der Gastgeber meines Vaters, ein Mann, der – so entsetzlich es Ihnen und mir auch scheinen mag, meine Freunde – große Zucker- und Bananengüter besaß und eine stattliche Anzahl Sklaven sein eigen nannte. Das war Haiti – Sklaven, die Sklaven besitzen, Schwarze, die über Weiße herrschen – die vollkommene Verkehrung des natürlichen Laufs der Welt, wie die Schrift ihn lehrt, so daß es keineswegs eine große Überraschung sein konnte, daß das Land schnurstracks in die Hölle fuhr, wenn Sie mir meinen Ausdruck verzeihen mögen, meine Damen. Dieser Jozef, müssen Sie wissen, hatte eine vierzehnjährige Schwester namens Ameli, die so hellhäutig war wie ihr Bruder schwarz. Eines Nachts – ich schlief unter einem Moskitonetz in Leclercs
kleinem Gästehaus, Jozef auf der Veranda – weckte mich der Bursche mitten in der Nacht auf, und schleppte mich auf den Balkon hinaus. »Schau da runter, Griffin, monchè«, sagte er, »schön, reif, non?« »Ki kote?«, fragte ich, was in deren primitivem Negerfranzösisch soviel wie »wo?« bedeutet. Und dort, wo er hinzeigte, sah ich Ameli im Mondlicht – und sie war in der Tat, wie man das so sagt, reif; sie stand gänzlich ohne Scham nackt unter einem Gestrüpp von Mangobäumen und übergoß sich mit Wasser aus einer Regenwasserkruke, die beinah so groß war wie sie selbst. Mir war die weibliche Figur nicht vollständig unbekannt, verstehen sie; meine Mammy hatte immer noch die Angewohnheit, mich zwischen ihren Titten zu hätscheln. Mein Vater erwischte mich einmal dabei, wie ich auf Mammys Brüsten auf und ab hüpfte, beide waren wir völlig nackt; ich dachte, ich würde den Nußbaumstock zu spüren bekommen, aber er lachte nur, und sagte, das wäre gut, wenn Jungens die weibliche Anatomie kennenlernen würden, und daß der Bau einer Negerin so ziemlich der gleiche wie der einer weißen Frau war, trotz allem, was andere einem manchmal weismachen wollen. Aber Mammys Ausstattung waren großzügige Dinger, nicht zierlich und zart wie diese, süß und saftig wie die Mangos, die von den Bäumen um sie herum herabhingen. Oh, Ma’am, fangen Sie bloß nicht an, sich über meine gotteslästerlichen Sentimentalitäten zu beklagen. Eine Frau ist eine wunderschöne Sache, und ich möchte nicht, daß Sie, meine liebenswerten Damen, das verneinen – sie genießen meine Gastfreundschaft, überdies haben Sie mich um diese Geschichte gebeten, und ich werde sie so erzählen, wie es mir verdammt noch mal paßt, wenn Sie mir wiederum mein schlechtes Französisch verzeihen.
Ah, ja, die Franzosen! Ameli war französisch und äthiopisch, in eins verschmolzen – hinreißend, unberührt – und ich war ein zwölfjähriger Junge, der ihre reichen Reize begaffte. Mit abgrundtiefem Bedauern sah ich zu, wie sie sich ein formloses Kleid überzog, das sie Kaftan nennen, und ihre Haare mit einem weißen Kopftuch hochband. »Warum badet sie sich mitten in der Nacht?« fragte ich Jozef. »Weiß nicht«, sagte er. »Du möchten herausfinden?« Nun, meine Damen, ich war abenteuerlustig, die Welt war meine Auster, und ich war es nicht gewohnt, daß sich mir irgend etwas in den Weg stellte; also schlüpfte ich in diesem fremden Land mit einem frechen jungen Nigger aus unserem Gästehaus und auf die geschäftigen Straßen von Port-auPrince… diesem High-Yellow-Mädchen hinterher und blieb ihr so dicht auf den Fersen wie der schärfste Niggerhund. Das Mädchen huschte von Torweg zu Torweg, wir auch. Dies waren gefährliche Zeiten – Menschen wurden in der Dunkelheit niedergestochen, und weiße Leute wurden, während sie schliefen, in Stücke gehackt – aber ich schätze, ich wurde von einem Zauber beschützt, denn ich habe nur sie gesehen, obwohl wir durch eine Menge hindurchrannten, die vor den Soldaten weglief, und wir sahen, wie ein Mann oben auf einem Scheiterhaufen schrie, während er verbrannte, und dem Schauspiel sah nicht einmal jemand zu. Ich hatte überhaupt keine Angst; Sie müssen verstehen, daß ich so jung und dumm war, daß ich nicht einmal im Traum daran dachte, ich könnte mich in Lebensgefahr befinden. Es war alles nur ein großes Abenteuer, ein schönes Mädchen in den Alleen dieser der Verdammnis geweihten Stadt zu beschatten. Wenn ich heute daran denke, wird mir schlecht bei dem Gedanken an all die Gefahren. Eine Allee… ein verwundeter Legionär kroch neben einen Haufen verrotteter Bananen, zweifellos, um zu sterben. Eine
Kompanie mit Bajonetten trottete die Straße entlang. Frauen in weißen Umhängen mit Körben auf den Köpfen, die in ihrem primitiven kreyol sangen. Oh, es war eine schöne Insel, obwohl die Luft von den Sterbenden verpestet war, denn über dem Gestank verfaulender Leichen lag immer auch der Duft der nachtblühenden Pflanzen, und obwohl die Straßen von Mist beschmutzt waren, war da noch ein anderer Geruch, die Süßigkeit faulender Früchte. Und neben Blut und Schlamm blühten überall Blumen in wilder Fülle. Und Jozefs Schwester war von diesen Blumen nicht die geringste. Tja, und diese hinreißende Ameli nun führte uns direkt zum Hafen runter, wo die Persuasion vor Anker lag; und zu unserer großen Überraschung – denn zwei große Kerle mit Entermessern und Musketen bewaffnet standen Wache – hüpfte sie an ihnen die Gangway vorbei, fast als ob sie unsichtbar wäre. »Also«, sagte ich, denn ich fing an, etwas ängstlich zu werden, das will ich gerne zugeben, »vielleicht sollten wir wieder nach Hause gehen.« »Oh, das nichts«, sagte Jozef, »nur ein Unsichtbarkeitszauber. Komm.« Er kniete sich hin und klaubte eine Handvoll Staub von der Straße auf, spuckte drauf und murmelte etwas. Bevor ich noch »Hexerei« sagen konnte, hatte er meine Stirn schon mit einem Strich Staub markiert. »Was, zur Hölle, ist das?« »Verschwindungsmatsch«, sagte er. Und das Merkwürdigste: Er schmierte sich selbst etwas davon auf die Stirn, und – nun, er verschwand nicht geradezu in einer Rauchwolke, aber man konnte ihn plötzlich nur noch schwer erkennen. Vielleicht eine Täuschung des Lichts? Der Mond? Die Schatten der Schiffe? Es war schon ein Rätsel. Ich hielt eine Hand vor mein Gesicht, und das Mondlicht schien direkt durch sie durch – sie war noch
da, aber ich mußte meine Augen zusammenkneifen oder schräg gucken, um etwas von ihr zu sehen. »Ist das hier Woodoo?« fragte ich. Nun war ich aufgeregt, denn die Schwarzen von Haiti waren damals so gut wie heute dafür bekannt, daß sie die schwarzen Zauberkünste ausübten, und sie taten es besser als alle anderen Rassen auf der Welt. »Ich möchte aber kein Woodoo«, sagte ich. »Ich will nicht in die Hölle.« Woraufhin mein schwarzer Kamerad lachte, so laut, daß es die Toten wecken mußte, auf jeden Fall aber den Verdacht der Wachen hätte erregen müssen; aber sie sagten nichts. »Hölle«, sagte er, »ist, wo du sie machen.« Ich nahm ihn beim Wort. Warum nicht? Wir waren nur Kinder, nicht wahr? Für Kinder gibt es keinen Himmel und keine Hölle, auch nicht wirklich eine Vergangenheit oder eine Zukunft – da gibt es nur das Jetzt. Und so schlüpfte ich, der Führung meines Freundes folgend, an den Wachen vorbei und ging an Bord des Schiffes, das meinem Vater gehörte. Verlassen und ohne Crew, ohne die huschenden Kabinenjungen, die herumstolzierenden Leutnants und die Scheuermänner, die unter ihren Zuckersäcken stöhnten und ächzten, und vor allem ohne die beherrschende Anwesenheit meines Vaters, war das Schiff ein fremdes Territorium für mich. Aber wo war Ameli hin? Ich sah niemanden. Da war nur der Mond, der feucht-warme Wind, das vertraute Knarren eines im Hafen dümpelnden Schiffes, hie und da eine vorbeihuschende Ratte. Ich weiß nicht warum, aber mich beschlich ein Gefühl von Grauen; es nagte in meinen Eingeweiden; unwillkürlich gingen mir die Fäuste auf und zu. Vielleicht war es nur die Angst vor Prügeln, falls ich erwischt würde, auf jeden Fall raste mein Herz wie wild, und ich hatte ganz vergessen, daß
wir eigentlich einem hübschen Mädchen hinterherspionieren wollten. »Griffin!« sagte Jozef. »Du zitterst.« »Es ist nichts.« Ich tat ordentlich mutig, was ich aber ganz und gar nicht war. »Mein Herz hämmert bloß, das ist alles; ich glaub, mich fröstelt.« Er lachte wieder. »Ihn fröstelt! Diese Insel heißer als deine Hölle, monchè«, sagte er, »aber das nicht dein Herz, Griffin, das das Schlagen von Woodoo-Trommeln.« Und wahrlich, als ich genauer hinhörte, merkte ich, daß das Trommeln aus dem Bauch der Persuasion selbst kam. »Komm«, sagte Jozef. »Ich darf da nicht runter«, sagte ich. »Ha! Ihr pays-blancs-Leute alle Feiglinge.« »Das sind wir nicht!« sagte ich schrill. »Dann komm doch.« Ich folgte ihm. Wir stiegen hinunter. Das Gefühl der Angst wurde größer, aber es mischte sich auch etwas Neugier darin. Tiefer und tiefer, enge, knarrende Stufen hinab, im Dunkel unseren Weg ertastend, denn sehen konnte man fast nichts; hin und wieder fiel ein Mondstrahl durch eine Ritze in den Planken, aber als wir auf den alten Sklavendecks ankamen, war die Dunkelheit vollkommen. »Ich geboren in solch ein Ort«, sagte Jozef. Er nahm meine Hand, legte sie gegen ein hartes Brett und ließ mich den Weg zur nächsten Ebene ertasten… mehr als ein dreiviertel Meter konnte es nicht gewesen sein. »Sie stapeln uns auf«, sagte er, »hinlegen, alle zusammen, flach… kein Platz zum aufsitzen, Hunderte auf Hunderte. Oh, der Gestank! Manche zu weit von den Scheißkübeln angekettet, sie beschmutzen sich selbst in der Nacht. Ich beten an Pe L’étenel, niemals mich wieder an so ein Ort schicken.«
»Aber du sagst doch, daß du an so einem Ort geboren wurdest… da kannst du dich doch gar nicht erinnern…« »Das Herz, sie sich an alles erinnern, Griffin, du nicht das vergessen.« Die Trommeln waren jetzt lauter. »Komm«, sagte Jozef. Ich folgte ihm in das Dunkel. Er kannte seinen Weg auf dem Sklavendeck. Ich konnte ihn nicht sehen, aber seine Hand ergriff meine, und ich duckte mich hinter ihm her; er roch nach Schweiß und Mangos. Wir gingen den Gang entlang. Ich hörte das Rasseln von Ketten. Sicherlich hatte ich mir das eingebildet. Richtung Bug war ein Lichtspalt. Vielleicht die Tür zum Lagerraum. Wir näherten uns. Die Trommeln waren noch lauter jetzt, und ich hörte auch Gesang. Er klang fast wie die Spirituals, die die Schwarzen hier auf unseren Plantagen in Georgia singen, aber wilder, und von Lachen und Händeklatschen und Fußstampfen begleitet; es wurde immer lauter, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß das alles aus einem kleinen Lagerraum kommen sollte. Aber plötzlich flog die Tür auf und ich sah in einen höhlenartig ausgestemmten Kerker: das Sklavendeck auf dem Schiff meines Vaters. Ich sah Holzbalken voller Blut und Exkrementen. Sah die Pfähle, einige noch mit Schellen und Beineisen geziert. Ich blickte nur einen Augenblick in dieses entsetzliche Inferno, dann wurde ich in den Lagerraum gestoßen, und die Tür schlug hinter mir zu. Innen drin – die Kammer war nicht größer als fünfzehn Quadratmeter – waren Tänzer, Trommler, Sänger, alle mit Federn geschmückt, die Frauen halbnackt, die Männer beinahe ganz nackt, und auch Kinder waren da, splitterfasernackt, die zwischen den Tänzern hin- und herliefen und kicherten und schnatterten. An den Wänden entlang gab es menschliche
Totenschädel und auf den Schädeln klebten schwarze Kerzen, die ein rußiges Licht von sich gaben. Ich war der einzige weiße Mensch. Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich wußte, daß hier seit vielen Jahren ein Bürgerkrieg getobt hatte. Ich wußte, daß die Kinder von weißen Plantagenbesitzern aufgeschlitzt, geröstet und gegessen worden waren. Voller Entsetzen drehte ich mich zu Jozef und sagte: »Hol mich hier sofort wieder raus, rette mich!« aber er lachte nur und zeigte auf seine Schwester, die sich mitten im Zimmer herumwarf, ihr fester Körper glänzte vor Schweiß, und ihre blassen Brustwarzen lockten mich, wie Augen, die in das Dämmerlicht ihres Körpers gesetzt waren; ich schwöre Ihnen, daß Ameli das schönste Geschöpf auf Erden war. Eine andere Frau, in einen karminroten Kaftan gewickelt, glitt hinter uns vorbei, schwenkte ihre Hüften und verbog ihre Ellenbogen in unmöglichen Winkeln. Eine, die ihr ähnlich sah – sie hätten Schwestern sein können, bis auf den großen Umfang der anderen – tanzte hinter ihr und ahmte jede Bewegung von ihr nach, aber sie trug grüne Kleidung, und wenn sie herumwirbelte, flogen ihr die Haare wie eine schwarze Woge um die Schultern. Die Trommeln schlugen schneller und schneller, und ja, diese beiden Frauen, ihre Augen verdrehten sich nach oben, und sie fingen an, sich in einer Art religiöser Ekstase zu schütteln – ich bin sicher, Sie haben das schon gesehen, sonntags, bei Ihren eigenen Schwarzen –, und dann fingen sie an zu stöhnen und mit tiefen, männlichen Stimmen jede Menge Unsinn von sich zu geben. »Wer sind die? Was geht hier vor?« fragte ich Jozef. »Diese Frau, sie meine maman, Zetwal, und ihre Kusine, Marie Laveau«, sagte er. »Sie mambo – Hohepriesterinnen. Morgen Marie, sie fliehen nach Amerika, wegen Revolution.
Meine Familie hier in Freiheit bleiben, weil die Franzosen, sie bald kapitulieren.« Es schauderte mich. Ich wußte, daß die männlichen WoodooZauberer houngan genannt wurden, und die weiblichen mambo. Ich wußte jetzt auch, daß mein Kumpel Jozef mehr war, als er nach außen schien. Ich wußte auch, daß das schöne Mädchen, das mich faszinierte – damals wußte ich noch nicht, daß diese Sache Lust genannt wurde –, auch ein Opfer dieser dunklen Praktiken war. »Jozef, wir müssen hier raus und das meinem Vater sagen. Du weißt, daß es gegen das Gesetz ist, auf dieser Insel die schwarze Magie auszuüben.« »Welche Magie weiß, welche Magie schwarz? Dies eine alte Religion, Religion, die gehören meinen Vater Vater und mein Vater Vater Vater. Ist nicht Magie, wenn weißer Mann houngan den Wein in Blut von deinen Gottes verwandeln? Du beleidigen unsere Götter?« »Nein«, antwortete ich, denn egal, wie es in meinem Herzen aussah, mir war klar, daß ich zahlenmäßig unterlegen war. »Aber warum tanzen sie hier an Bord vom Schiff meines Vaters?« »Dies Schiff, er haben einen Fluch drauf.« »Einen Fluch?« Wieder war mein Verstand zwischen den Zwillingspolen der Angst und der Faszination gefangen. Denn ich war der Sohn eines Kaufmanns, und ich liebte nichts so sehr wie Geschichten über Piraten und Flüche und versunkenes Gold und Geisterschiffe; solche Geschichten lagen nur einen Schritt jenseits der Welt, die ich kannte. »Ja«, sagte mein Kumpel düster, »ja, ein Fluch.« »Warum tanzen sie?« »Sie tanzen die Franzosen weg, auf ein verfluchtes Schiff, über das Meer.« »Tanzen wird die Franzosen vertreiben?«
»Warum nicht?« Während ich jedoch zuschaute, glaubte ich so sicher wie an das Amen in der Kirche, daß ein Zimmer voller sich krümmender Negerinnen Napoleons Armee den ganzen Weg zurück nach Frankreich schicken könnte. Ich wußte, daß Tausende schon am Gelbfieber gestorben waren und an exotischen Tropenkrankheiten. Ich wußte, daß die Hitze ihnen jegliche Kampflust nahm. Und da halfen auch die schweren Uniformen nicht. Also, warum sollte diese Magie bei ihnen nicht funktionieren, wenn die Insel selbst sie schon ausgelaugt hatte, so daß sie nur noch Wracks waren? Deshalb hielt ich meinen Mund und schaute den Tänzerinnen zu. »Die loa reiten sie«, sagte Jozef. »Die Götter sind in ihre Körper gefahren.« Ihre Raserei wurde immer noch größer, und einer von ihnen nahm einen Kelch und zerschmetterte ihn und sprang auf den zerbrochenen Glasscherben auf und ab, ein anderer wälzte sich darin, während die Cousinen, die Hohepriesterinnen, ihren Hokuspokus mit voller Kraft herausschrien. Nun, das ganze Schauspiel kam vollkommen abrupt zum Stillstand. Die Frauen, die zuvor einen besessenen Eindruck gemacht hatten, wurden wieder normal. Die beiden Hohepriesterinnen, Jozefs Mutter und Tante, wurden ganz ruhig, beinahe wie Statuen. Die Dicke, Zetwal, sah mich plötzlich und rief: »Ki sa-a ye? Ki ti blannan?« »Lifre mwen«, sagte Jozef. Marie Laveau, die Dünne, sah mich mit einem aus Empörung und Ehrfurcht seltsam zusammengesetzten Blick an und sagte in reinem, klarem Englisch zu uns: »Kein weißer Junge ist dein Bruder, mein Neffe. Denk daran.« Dann rief sie mich mit gekrümmtem Finger zu sich hin – und das war das einzige
Mal, damals bis heute, daß ich mich gezwungen fühlte, dem Befehl eines Niggers Folge zu leisten. »Sage mir deinen Namen«, verlangte sie und strich mir über das Haar; für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, meine Mutter wiedergefunden zu haben, die doch seit langem schon im Jenseits weilte; was für ein komischer Gedanke das war, was für ein Gefühl einer Halbwilden gegenüber – aber ich war jung. »Griffin«, sagte ich. »Ein grimmiger Name«, sagte Marie Laveau, »für solch eine tipouée.« »Wir wohnen im Gästehaus von Monsieur Leclerc«, fügte ich hinzu. »Wir haben Jozef gesagt, daß er sich nicht mit weißen Kindern abgeben soll, denn eine Zeit kommt, wo die Welt auseinandergerissen wird, und wir müssen uns für eine Seite entscheiden.« »Es macht mir nichts aus, wenn er ein Sklave ist, denn er ist mein einziger Freund auf dieser wilden Insel.« »Ich rede nicht davon, ob es dich stört«, sagte Marie. »Es ist Jozef, der mir Sorgen macht.« Es war mir völlig fremd, daß eine schwarze Frau sich mehr Sorgen um ein schwarzes Kind als um mich machte. Hatte nicht meine eigene Mammy ihre eigene Brut angeschrien, wenn die mir auch nur ein Haar auf dem Kopf krümmten, und sie hart geschlagen, wenn sie mir weh taten, und mich dann zwischen ihre mächtigen Titten gedrückt, an denen ich so oft genuckelt hatte, auch als ich schon vier oder fünf Jahre alt war und mich immer noch nach ihrer Wärme sehnte? Na, ich konnte diese Marie einfach nicht verstehen. Sie lächelte und sagte: »Wir werden diesem Wahnsinn bald entfliehen; morgen nehmen wir ein Schiff nach New Orleans; aber meine liebe Cousine, sie ist, wie sagt man, von Amerika
eingeschüchtert. Pa mwen. Ich werde in New Orleans eine Königin sein, genau wie ich es hier bin.« »Bist du wirklich eine Königin?« fragte ich. »Aber wo ist dein Gefolge? Dein Palast? Deine Kronjuwelen? Dein Land?« Ihr Lächeln wurde noch breiter, und sie antwortete nur: »Liest du denn nicht deine eigene Heilige Schrift, Kind? ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt.‹« Ich fühlte mich an beiden Händen gepackt und wurde aus dem Raum gezogen; die Tür schlug wieder hinter mir zu, so daß ich plötzlich in dem feuchten und grauslichen Korridor unten im Sklavendeck stand. Mir kam es vor, als wäre ich plötzlich erblindet oder als wenn alles, was ich in diesem Lagerraum gesehen hatte, nur ein Traum war – aber was für einer! Ich erinnere mich an ein Gedicht, das ich einmal las und in dem es ähnlich zuging, ›La Belle Dame sans Merci‹, der Ritter, die hinreißende Frau, die Grotte, die Elfen, die Alpträume, das Erwachen, die Trostlosigkeit.
2 Nun, in der nächsten Nacht geschah etwas völlig anderes; als ich schlafend unter meinem Moskitonetz lag, erwachte ich aus einem süßen, blumigen Traum, und über mir schwebte noch einmal ein Traum – es war Ameli. Sie trug nichts außer einem weißen Stoff um die Hüften; ihre Brüste waren wohlgeformt, die Aureolen waren außerordentlich groß, ihre kecken kleinen Brustwarzen – oh, genug gekichert, meine Damen, ich weiß, daß Ihre Phantasie genauso schmutzig ist wie die von irgendeinem Mann, wenn Sie nur Ihren geheimsten Gedanken erlauben würden, sich auszudrücken. Nebenbei, über ihr Gesicht habe ich noch gar nichts gesagt, das so fein war wie das einer Dresdner Porzellanfigur und beinah weiß, bis auf
einen einzelnen, dunklen Fleck unterhalb von ihrem linken Auge, der sie seltsam verletzlich aussehen ließ, als ob ein eifersüchtiger Liebhaber ihr ins Gesicht geschlagen hätte. »Was machst du hier, zum Teufel?« fragte ich leise. Sie lachte nur und sagte, »Ti frè, ti frè«, was in ihrer Sprache ›kleiner Bruder‹ bedeutet. Dann huschte ihre Hand plötzlich zwischen meine Beine. Ich spürte, wie etwas Kaltes unter mein Nachthemd schlich, spürte einen kitzelnden Schauder an der kleinen Stelle zwischen… nun, meine Damen, vielleicht sollten wir es nicht derart ausführlich beschreiben, obwohl ich weiß, daß Sie förmlich danach lechzen, die saftigsten Einzelheiten zu hören, damit Sie ordentlich was zum tratschen haben nächsten Sonntag in der Kirche und sich beklagen können… Ich schaute auf und sah sie im Licht einer einsamen roten Kerze kichern. Mit einem Ruck wurde mein kleiner Peter so steif wie ein Stein, und sie rief entzückt: »Oh! Tu kapab!« Was, wie man sagt, soviel bedeutet wie ›Ihr könnt‹. Nun, Sie können sich meine Gefühlswallungen vorstellen, denn obwohl ich den anderen wohl weltklug vorkam, war ich doch ein Junge, der sich eher in Bücher vergräbt. Mir war heiß und kalt überall, und ich errötete vor Verlegenheit und Aufregung. Bevor ich es noch recht gewahr wurde, hatte sie sich über mich gebeugt, und meine Lippen befanden sich in nächster Nähe zu diesen himmlischen Aureolen. Herrgott noch eins, ich fühlte mich über mich hinauswachsen und hätte sicherlich die Gelegenheit sofort beim Schopfe ergriffen, wenn ich gewußt hätte, welche Art von Gelegenheit hier denn zu ergreifen gewesen wäre. Statt dessen platzte mein Vater in das Zimmer herein. Ameli schrie auf. Er riß das Moskitonetz auseinander und packte sie an den Schultern und warf sie auf den
frischgewachsten Boden, auf dem das Mondlicht glänzte, das durch das Fenster fiel. Dann wandte mein Vater sich zu mir. Er hatte eine kleine Reitgerte in der Hand, und ich war mir sicher, daß er mich direkt und sofort damit bearbeiten würde. Statt dessen gab er Ameli ein paar leichte Schläge auf den Po, die nicht tief in die Haut drangen; sie quiekte, halb in Verzückung, wie ich den Verdacht habe, und als er sich wieder mir zuwandte, war seine Haltung durch und durch jovial. »Wußte nicht, daß du schon soweit bist, eh, Griff!« sagte er. Und er schlug mir auf die Schulter – was mir weh tat, denn er war ein großer Mann – und fuhr fort: »Aber du darfst nicht mit dem Eigentum deines Vaters herumspielen. Sie ist nicht für dich. Ich werde dir etwas finden, mein Junge. Seines Vaters Sohn, eh! Gut gemacht, Bursche.« Schon am nächsten Abend hatte er was für mich gefunden, denn als Jozef und ich fertig mit spielen waren – wir kickten nach dem Abendbrot mit einem Ball im Garten –, fand ich eine erwachsene Frau in meinem Bett auf mich warten. Zu meinem Erstaunen war es die großzügig ausgestattete Zetwal – die Mutter des Mädchens, das mich letzte Nacht ihren ti frè genannt hatte. Zetwal streckte ihre Arme nach mir aus und sagte: »Ich sein Geschenk für dich von dein Papa«, und nach ein paar Minuten begann sie, mich in die Anfangsgründe der Begegnung der Geschlechter einzuweisen. Nun, wir müssen da nicht allzu lange verweilen, obwohl ich mir sicher bin, daß Sie, meine Damen, liebend gerne noch die eine oder andere Sache dazulernen würden –, denn, lassen sie es mich ruhig sagen, so rückständig ihre Rasse in vieler Hinsicht auch sein mag, wenn es um die ars amatoris geht, ist die Negerin weitaus leidenschaftlicher als die weiße Frau. Ich wage zu behaupten, daß es an der Hitze ihres Klimas liegt, die sie zu diesen höchsten Graden von Klammern, Krallen,
Umschlingen und Katzengeschrei treibt. Ich hatte nicht gewußt, zu welchen Einsätzen mein kleiner Peter alles taugen könnte, aber in dieser Nacht lernte ich deren drei oder vier. Nach einigen Stunden verließ sie mich, und beim Einschlafen ging mir die Hoffnung durch den Kopf, daß der Aufenthalt meines Vaters auf dieser verlassenen Insel vielleicht um einige Zeit verlängert würde. Denn, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte noch nie einen richtigen Spielgefährten gehabt, und Jozef füllte meine Tage mit Spielen und Rennen und frischer Luft; und nun schien es, daß auch noch die Nächte vergnüglich würden. Aber am nächsten Morgen sollte sich das alles ändern.
3 Es war am Frühstückstisch, der an jenem Morgen recht gut besetzt war – mein Vater mit einigen Geschäftsleuten, der Mulatte Leclerc, unser Gastgeber, der eine Weste aus Goldstoff und eine hohe Perücke trug; neben ihm meine Gefährtin der letzten Nacht, die mich ab und zu mit leisem Kichern anblickte, aber sich sonst nicht anmerken ließ, daß sie mit mir im Bett herumgetobt hatte. Denn war sie nicht Leclercs Geliebte und außerdem seine Sklavin? Was Rang und Anstandsregeln anging, so gab es unter diesen Leuten ein heilloses Durcheinander; wie ich schon sagte, es war ihr Untergang. Nun, wir waren schon halb mit dem Frühstück fertig, eine zusammengewürfelte Mahlzeit, teils beharrlich europäisch, mit jambon, Sardinen, Toastbrot, pochierten Eiern, Bücklingen und dergleichen, teils exotisch, mit gebratenen Bananen, Mangos und merkwürdigen Suppen, mit ungewöhnlichen Meerestieren, die uns aus dem Essen heraus anstarrten; tja, und dann ertönten
Schläge gegen das Tor und eine ganze Abteilung von Gendarmen kam in den salle à manger marschiert, und Zetwal wurde verhaftet. »Was hat dieser Aufruhr hier zu bedeuten?« protestierte Leclerc. »Wessen wird sie beschuldigt?« »Landesverrat«, sagte einer der Offiziere. Daraufhin stieß Zetwal einen ohrenbetäubenden Schrei aus, und ihr Liebhaber Leclerc erhob sich und sagte: »Wir hatten eine Vereinbarung. Der Handel sei unantastbar. Niemand, ob Franzose oder Schwarzer, darf sich in die Geschäfte dieses Hauses einmischen!« »Nicht protestieren, Jacques.« Zetwal gelang es, ihn zu beruhigen. »Es Marie, sie wollen haben, und ich sie nicht verraten.« »Auch wenn du es nicht tust«, sagte der Offizier, »du betreibst Magie, und das ist nach den Gesetzen dieser Insel verboten.« »Dann«, sagte Zetwal leise, »du mich töten, egal was ich auch sagen, also ich besser gar nichts sagen.« »Zauberin!« schrie der Offizier, und sie schlugen ihr ins Gesicht, immer wieder und ohne Erbarmen. »Herrin der zombis!« Es gab einen Tumult, weil ihre beiden Kinder aus der Küche angerannt kamen und gegen die Soldaten ankämpften; aber natürlich führte das zu nichts, und Ameli fing laut zu klagen an, und das Weinen kam aus einem gebrochenem Herzen und aus Entsetzen. »Sie keine Zauberin!« brüllte Jozef. »Sie heilige Frau – von Göttern gesegnet – Gefäß von Legba…« »Du tanzt nackt in der Nacht – du erweckst die Toten…«, knurrte der Offizier. Leclerc sagte leise: »Was Sie hier machen, ist unrecht, und es wird euch heimsuchen, euch, und eure Kindeskinder. Warum,
glauben Sie, daß Sie diesen Krieg verlieren? Diese Insel gehört nicht Pe L’életenel, dem Gott des weißen Mannes, sondern sie gehört den dieux puissants, die mit den Sklaven aus Afrika gekommen sind.« Der Offizier hörte auf, Zetwal zu schlagen. »Verfluche uns nicht«, sagte er leise. »Wir machen nur unsere Arbeit.« Er drehte sich flott auf dem Absatz herum und salutierte Monsieur Leclerc – das erste und einzige Mal, daß ich jemals gesehen habe, wie ein Weißer vor einem Schwarzen salutierte. »M’ale«, sagte Zetwal. Dann schleppten sie sie fort, und danach habe ich sie nie mehr wiedergesehen. Die nächsten Tage waren angefüllt mit hektischem Treiben. Ich habe nicht viel von dem, was da vorging, verstanden. Mein Vater und Leclerc verbrachten viel Zeit zusammen über Dokumenten und Karten. Die Seeleute, die bei meinem Vater angeheuert hatten, waren auch eifrig beschäftigt; sie vertrödelten ihre Tage nicht mehr in den Tavernen, sondern traten jeden Morgen in der Villa an, um die Anweisungen meines Vater entgegenzunehmen. Ich wußte, daß es sich um viel Geld handeln mußte. Ich fragte mich, ob Leclerc das Land verlassen wollte oder ob er versuchen würde, Zetwals Freiheit zu erkaufen. Jozef spielte verbissen den ganzen Tag lang. Bestimmt wollte er nicht daran denken, was um ihn herum passierte. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht, daß es ja seine Mutter war, die jetzt im Gefängnis saß und bestimmt gepeitscht und gefoltert wurde, um das zu verraten, was sie wußte; mir war immer beigebracht worden, daß die Familie bei Schwarzen nicht eigentlich eine Rolle spielt, sondern daß sie so in Gruppen aufgeteilt werden können, wie es für ihre Herren am zweckmäßigsten war. Es kam mir nicht in den Sinn, daß es ihn schmerzen könnte, daß seine Mutter mir eines Abends als Spielzeug überreicht worden war. Ich war oft böse auf ihn. Er
hat mir nicht mehr so oft in die Augen geschaut, und er nannte mich kaum noch monchè oder frè mwen, sondern immer mét – Herr. Als wir uns nach dem Abendessen davonschlichen, um eine mitternächtliche Exekution zu beobachten, sagte ich deshalb zu ihm, daß ich noch sein Bruder war, und er schüttelte den Kopf, langsam und traurig. Und während er den Kopf schüttelte, sauste die Klinge der Guillotine auf den Hals des hilflosen Verbrechers herunter – ein Verräter, an wem, wußte ich allerdings nicht –, und die Zuschauer seufzten alle auf, und der Kopf flog in den Korb, und eine Kapelle begann zu spielen. Ich merkte, daß er gar nicht der Enthauptung zuschaute, sondern mich nur mit einer schrecklichen Trauer beobachtete, als wäre ich derjenige, den man bemitleiden müßte, und er wäre der dunkelhäutige Prinz eines alten Königreiches. »Ich mir es wünschen«, sagte er. Und dann fing er an zu weinen, bitterlich und untröstlich.
19 WORIN MRS. GRAINGER MEHR MIT IHRER ANIMALISCHEN NATUR VERTRAUT WIRD
1 Zack schlief fest – wer würde das auch nicht, nach dem Versuch, die vielen Stränge seiner Erzählung zu entwirren? Denn inzwischen waren es viele Stimmen geworden, die darum bettelten, ihre Geschichten erzählen zu können. Nicht nur Zack, sondern auch der Sohn von diesem Prediger, Jimmy Lee Cox, der in der Gesellschaft eines einäugigen Hexendoktors durch den verwüsteten Süden wanderte. Es war ein paar Stunden vor Sonnenaufgang; früher, als ich normalerweise aufstehe. Ich ließ den jungen Mann schlafen und schlich mich im Morgenmantel nach unten, nur mit einer Kerze als Begleitung. Ich überlegte, wie hilfreich jetzt doch eine Tasse Tee sein könnte, um den Wirbel in meinem Kopf zu beruhigen. Ich betrete fast nie die Küche, das ist grundsätzlich Phoebes Herrschaftsgebiet, aber ich wollte zu dieser Stunde nicht nach ihr läuten. Letzte Woche noch hätte ich mir nichts dabei gedacht, aber jetzt, wo die Unterschiede zwischen uns etwas geringer geworden waren, ließ ich davon ab. Aber in der Küche brannte Licht, und im Ofen prasselte ein Kohlenfeuer. Phoebe stand am Küchentisch und zerstieß wild Kräuter – in einem Mörser, der aus einen Menschenschädel gemacht war. Normalerweise liegt auf dem Küchentisch eine
hübsche Spitzendecke, heute nacht aber war er mit einem Leopardenfell bedeckt. Hier lebte ich nun, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, dem Zeitalter größten wissenschaftlichen Fortschritts seit der Menschwerdung, und in meiner alltäglichen kleinen Küche braute eine Hexe ihre Zaubertränke. Ich stellte die Kerze hin. Phoebe nahm mich zur Kenntnis, ließ aber nicht von ihrer Tätigkeit ab. Eine ganze Zeitlang sagte ich nichts. Ich ließ die Finger über das Leopardenfell gleiten und staunte über seine Weichheit und Festigkeit. Das Fell war an Dutzenden Stellen beschädigt und vernarbt. Dies war kein Tier, das in den geschützten Grenzen eines zoologischen Gartens gelebt hatte; diese Kreatur kam aus dem Dschungel. Das ließ sich mit Bestimmtheit sagen. Plötzlich ertönte Phoebes Stimme: »Du möchtest bestimmt einen Tee, Paula?« »Ja«, sagte ich, »danke.« Sie setzte einen Kessel auf den Ofen und blies in die Kohlen, dann wandte sie sich wieder ihrer Zauberei zu. Wie konnte sie das bloß alles auseinanderhalten? Immer wieder mal schloß sie die Augen, wippte hin und her und murmelte ein oder zwei Sätze in der Yoruba-Sprache; dann ging sie ruhig an den Schrank, holte eine Teedose heraus, maß etwas davon in die Kanne, holte das Sieb, nahm Milch und Zucker aus der Speisekammer, setzte alles ordentlich an seinen Platz, um danach wieder ihre Litaneien aufzunehmen… Der Kessel kochte. Ich wollte sie nicht aus irgendeiner dämonischen Trance wecken, darum stand ich auf, um den Tee selbst aufzugießen, aber bevor ich noch beim Ofen war, war sie schon dort und goß das Wasser bereits auf, als ob sie durch eine Art Augenblicksbewegung dort hingekommen wäre –
wenn man dafür ein Wort erfinden müßte, wäre es Teleportation, vom Griechischen und vom Lateinischen. Sie goß ein, ich rührte und nippte; sie kehrte zu ihren Arbeiten zurück. Ich schaute ihr eine Weile zu, und als sie eine Pause machen zu wollen schien, fragte ich sie, was das alles sollte. »Oh, Paula«, sagte sie, »ich versuchen, endlich Frieden in dieses traurige Heim zu bringen.« »Frieden? Indem du menschliche Schädel und Gott weiß was noch benutzt?« »Paula, riechen die Dämpfe jetzt. Atmen jetzt ein heilige Kommunion von Mawu-Lissa. Gott ist Mann und Frau. Wenn Mann und Frau vereint, sie Gott. So es geschrieben in den Steinen der Erde. So es geschrieben in den Sternen des Himmels.« Sie leerte den Inhalt des Schädelmörsers in eine Kasserolle, die sie auf das Feuer setzte. Und wirklich, ein köstlicher Rauch erfüllte die Küche. Er enthielt eine Spur Minze und eine Spur Zimt, aber auch etwas Unbekanntes, etwas Blutähnliches. »Was ist da drin?« fragte ich sie. »Paula lieber nicht darüber denken.« »Tieropfer? Ich weiß, daß ihr Tieropfer bringt.« Sie lachte. »Du sollten dankbar sein, dein Haus nicht voll Ratten und Mäuse und Küchenschaben, und du niemals müssen kaufen keine Katze.« Ich hätte wohl entsetzt sein müssen bei der Enthüllung, daß meine Dienstmagd in meiner eigenen Küche Ratten und Mäuse verkochte. Aber … ich weiß nicht… irgend etwas in der Luft… vielleicht diese Dämpfe… ließ mich nur noch das Komische darin sehen. Ich brach in Gelächter aus. »Also, welche Zutat stillt jetzt meine schreckliche innere Qual? Ich nehme an, es ist das Rattenblut, das mich daran hindert, vor Entsetzen aufzuschreien?« sagte ich.
»Nein, Ma’am, das ist der Hanf.« Ich fing an, unbeherrscht zu kichern. »Hanf? Ich inhaliere Seile und Jacken?« Auch sie schien die Komik darin zu bemerken und brach in ein schrilles Böse-Hexe-Gegacker aus. »Vielleicht ich nicht bringen uns Ehemann zurück, Paula«, sagte Phoebe, »aber wenigstens du dir ein schönen jungen Mann geholt. Nun, du ihn nicht für dich allein behalten, hörst du!« »Wie kann ich etwas teilen, das ich nicht besitze?« »Niemand jemals nichts besitzen, Paula, außer deren Hände, deren Füße, deren Herz, deren Seele.« »Was ist mit der Gabe, die du anscheinend hast, dich in einen Leoparden zu verwandeln? Ist das etwas, das du besitzen kannst?« »Natürlich nicht. Es von den Göttern kommen.« »Also«, ich nahm einen tiefen Atemzug, und mein ganzes Wesen glühte in einem wunderbaren Gefühl von Wärme und Wohlsein, ich fühlte mich mutig und imstande, alles tun zu können, egal was, »heißt das, daß auch ich ein Leopard sein kann?« Urplötzlich hörte sie auf zu lachen und schaute mich mit ihren großen, traurigen Augen an, und als sie wieder sprach, tat sie es nicht in ihrem Plantagenidiom: »Paula«, sagte sie, »fragst du das im Scherz oder im Ernst?« »Was glaubst du denn?« kreischte ich und war selbst überrascht, mich derart wie ein Fischweib zu benehmen. »Ich bin von Zauberern umzingelt, oder nicht? Mein Mann hat ein Negerkind in eine mit Oxford-Akzent parlierende, anständige junge Frau verwandelt – du verwandelst dich blitzartig in eine Katze – Mr. Whitman webt aus der gewöhnlichen Sprache dissonante Bedeutungssymphonien – sogar der junge Zacko hat es geschafft, aus einer wohlerzogenen älteren Dame eine lüsterne, ausschweifende Person zu machen – nun, Himmel
noch mal, Weib, warum sollte nicht auch ich eine Spur Magie besitzen?« »Du möchtest, daß ich die Macht der Tierheit mit dir teile.« »Ja.« »Dann werden wir wahrhaftig Schwestern sein, du und ich. Nicht Herrin und Dienerin. Obwohl, nach außen hin sollten wir diesen Anschein lieber auch weiterhin aufrechterhalten.« »Ja! Ja! Ja!« »Zieh dich aus«, befahl sie. »Was? Vor dir?« »Keine Zeit für Empfindlichkeiten. Entkleide dich auf der Stelle, Paula.« Ich zog meinen Morgenmantel aus und faltete ihn zusammen. Dann schlüpfte ich aus meinem Nachthemd, und auch dieses faltete ich sorgfältig zusammen und krönte den kleinen Stapel zum Abschluß mit meiner Chantilly-Nachthaube. Phoebe entledigte sich ihrer Dienstbotenuniform. So standen wir einen Augenblick, die Schwarze und die Weiße. In meiner Nacktheit – trotz der Wärme des Ofens zog es vom Fenster her – kamen mir langsam Bedenken. »Leg sie ab«, sagte Phoebe, die meine Gedanken gelesen hatte. Dann tat sie etwas, das ich immer für einen Trick von Bühnenzauberern gehalten hatte: sie packte das Leopardenfell bei den Hinterläufen und zog es mit einem Ruck vom Küchentisch, wobei der Schädel, die Behälter mit den Ingredienzien, die Teekanne, und meine ach-so-englische Teetasse völlig unberührt stehenblieben. »Hock dich hin«, sagte sie, und sie kniete sich neben mich und warf das Leopardenfell über uns beide…
2 Und schon sind wir auf der Straße und rennen über das Pflaster. Rennen! In der grauen Finsternis, die die Morgendämmerung ankündigt – rennen! Oh! Wie fremdartig! Diese Beschwingtheit! Meine Nase dicht über dem harten Boden, meine Pfoten, die auf den Zement schlagen, die feste Muskulatur, die meine Hinterläufe anspannt und wieder locker läßt, das Durcheinander von Gerüchen – die trockenen Blätter, die Fährte von alter Jagdbeute, die ranzige Butter auf einem weggeworfenen Brötchen, der scharfe Gestank von Absinth aus einer engen Gasse. »Schwester!« rief mir der Leopard, der Phoebe war, über das Brüllen des Nachtwindes zu. »Schwester, freu dich! Wir sind die Nacht selbst.« Sie rennt neben mir. Ich bin der gefleckte, sie der schwarze. Schwarz, schwarz. »Der schwarze Panther ist der seltenste in der Leopardenfamilie und lebt nur in den dichtesten Wäldern.« Woher wußte ich das? Oh, schwarz. Wir denken nicht mehr wie Menschen, die den Strom der Zeit wie auf einer Einbahnstraße hinabreisen müssen, die immer die Vergangenheit hinter sich haben und die Zukunft vor sich… nein. Wir sind die Nacht. Wir sind das Jetzt. Wir laufen zusammen, ein vollkommenes Gespann, unsere Pfoten schlagen mit dem Takt unserer Herzen, mit dem Takt der sich drehenden Welt auf das Pflaster. Die Sixth Avenue ist nicht beleuchtet; der Broadway ist dunkel. Wir rennen. Wir rennen. Wir sind in vollkommener Verbindung miteinander.
Wir rennen. Wir sind Schwestern, im Fleisch und in der Seele. Wir rennen. Die Welt weitet sich, dehnt sich aus, und jenseits des Straßendrecks können wir die strenge Reinheit des Dschungels spüren. Wir wittern die Fährte von einer Million New Yorkern und wissen, daß sie lediglich Beute sind. Wir jagen den Wind. Wir jagen unsere eigenen Schwänze. Wir erschrecken die Pferde, als die Schaffner sie an die Straßenbahn anspannen, sie für die erste morgendliche Innenstadtfahrt bereitmachen. Wir rennen. Alles ist neu und hell und voll lebensprühender Farben, ich konnte nie zuvor so klar sehen in der Dunkelheit, so scharf hören, so gut riechen. Ich kann das Gleiten von Kugellagern in den Straßenbahnen hören, ich kann das Getrappel der Ratten in den Abwasserkanälen hören, ich kann das Gekräusel des Tabakrauchs und den Schweiß der Kaiarbeiter riechen, von den Docks, eine Meile entfernt… Oh, ja, wir rennen. Und schließlich hören wir für eine kleine Weile auf zu rennen. Wir halten in einem Hintergäßchen, angefüllt mit dem Aroma von Fischabfällen. Aus dem Abwasserkanal steigt Nebel auf; ich empfinde den Geruch nicht als faulig, sondern merkwürdig verlockend. Zwischen Haufen von alten Zeitungen liegen Katzen, satt, gemästet von Ratten und Tauben. Wir machen Rast. Wir schauen uns an. Leopard ist stark. Leopard ist schön. Leopard ist nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt. Leopard fühlt. Leopard macht. Wir tatzen uns mit den Pfoten, verspielt, schnurrend. Mein schwarzer Begleiter brüllt, daß es die Kanister mit faulendem Obst schüttelt. Ich tatze nach ihrem Gesicht. Es ist eine elektrische Berührung. Sie tatzt nach mir. Ein Stoß von animalischem Magnetismus läßt mich hochfahren. Dem Hinterteil der schwarzen Katze entströmt ein herbes Parfüm
der Lust. Oh, es erregt mich. Durch mein Blut rast es heiß. Ich verbrenne. Ich springe auf meinen schwarzen Begleiter. Es ist mehr als ein Spiel. Wir werfen unsere Vorderpfoten um den anderen, reiben unsere hinteren Öffnungen aneinander, lecken den sauren Wein der Lust. Das ist nicht Liebe, wie sie die Menschen kennen. Es ist Liebe und Wut und Verschmelzung und Aggression, alles zusammen und gleichzeitig. Menschen kennen das nicht. Ihre Instinkte sind durch ihre Fähigkeit zu denken abgestumpft. In der Finsternis ist vollkommene Freude. In der Finsternis ist Wahrheit. Nur die dunklen Engel sind die wahren Engel. Leopard ist stark. Leopard ist schön. Leopard ist ewig. Leopard ist Jetzt. Ja! Schlecke Leopards Pflaume mit deiner rauhen Zunge! Zerkratz ihre Haut mit deinen umarmenden Krallen! Ja! Fick mich! Fick mich! Als Mensch könnte ich diese Gedanken nicht einmal denken, aber in dieser Nacht finde ich Freiheit! Leopard ist Licht! Leopard ist Springen! Leopard ist Liebe! Ficke ficke die Leidenschaft ficke die höchste Freude ficke ficke die Ewigkeit ficke Leben ficke Tod ficke ficke. Dann, plötzlich, Menschsein. Zwei nackte Frauen in einer heruntergekommenen Gasse, in ein einziges Leopardenfell gewickelt. Wenige Streifen Morgenlicht, das über die Abfallhaufen leckt; eine alte Lagerhallenmauer, mit veralteten Plakaten der Abolitionisten zugepflastert. Es war vorbei. Warum? Oh, eine furchtbare Trauer durchschüttelte mein ganzes Wesen, und ich stöhnte so herzzerreißend, daß es jeden, der es gehört hätte, überzeugt hätte, der Weltuntergang stünde bevor. »Die Trauer«, sagte Phoebe sanft und streichelte meine Wange. »Daran gewöhnt man sich nie. Wenn du diese Wut, diese Freude, diese dunkelgeheimnisvolle Wahrheit gesehen
hast, dann willst du nicht zurück in die Menschenwelt. Ich das verstehen, Schwester, ich das verstehen.« Quälend machte sich mein praktisch veranlagter menschlicher Teil bemerkbar. »Wie kommen wir nach Hause?« rief ich. »Ich weiß nicht einmal, wo wir sind.« »Hab keine Angst«, sagte Phoebe. »Was wir gemacht, ist Zauber. Und Zauber hat an sich, selbst sich raushelfen. Sei geduldig. Beruhige dein Herz. Schau, ich glauben, Hilfe schon auf den Weg zu uns.« Sie schnüffelte. Ich auch, aber nicht mit dem geschärften Sinn von vorhin. »Kaffee?« sagte ich. »Und… und Salz.« »Komm.« Wir halfen einander auf die Beine, und, immer noch zusammen in das Fell gewickelt, gingen wir, ein unwahrscheinliches Paar siamesischer Zwillinge, auf das Lagerhaus zu. Und dann sahen wir ihn; er saß auf einer alten Zigarrenkiste und starrte auf das Meer hinaus, denn wir hatten den Hafen erreicht: den alten weißhaarigen Dichter in seinem Sergemantel, der aus einer Blechdose Kaffee schlürfte und in sein kleines Notizbuch schrieb. »Psst!« zischte ich. »Mr. Whitman!« Er drehte sich um und sah uns, wie wir über einen Haufen Abfall spähten. »Nun, Mrs. Grainger… und… Phoebe, nicht wahr? Und ihr seid mit dem Nachtwind geritten. So wie ich.« »Was müssen Sie von uns denken!« fing ich an, aber sein breites Lächeln und unbekümmertes Lachen brachte mich zum Schweigen. »Meine Meinung über Sie, meine schönen Damen, würde sich nicht ändern, ob ich Sie nun sehe, wie Gott Sie erschaffen hat, ob Sie in formlosen Kartoffelsäcken stecken oder die schönste Pariser Mode tragen – ich spreche nur die innere Frau an. Möchten Sie Kaffee? Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit einem schmutzigen alten Mann aus dem gleichen Becher zu
trinken.« Ich nahm die angebotene Tasse. Er zog seinen Mantel aus und reichte ihn mir. Während ich ihn überzog, blickte er diskret zu Boden. »Ich habe nur den einen«, sagte er zu Phoebe, »aber andererseits, meine Liebe, besitzen Sie ja die Gabe der Unsichtbarkeit.« Er hatte recht. Niemand konnte sie jetzt sehen. »Und jetzt«, meinte Mr. Whitman, »müssen wir die PferdeStraßenbahn nach Washington Square erwischen.« Als wir zu Hause ankamen, hatte Zack sich schon Toast gemacht und war dabei, Kaffee aufzusetzen. Und er nahm seine Erzählung über Jimmy Lee Cox und Tyler Tyler wieder auf, der gerade die traurige Geschichte über den Colonel und die haitianische Rebellion erzählte.
20 GRIFFIN BLEDSOE LERNT EINE SCHMERZLICHE LEKTION
1 Colonel Bledsoe fuhr mit seiner Erzählung fort, obwohl viele der Damen schon eindösten; ich, Tyler Tyler, blieb wach, aber nicht unbedingt wegen seiner faszinierenden Geschichte, sondern weil Amelia mir weiter schöne Augen machte und weil die Geschichte viel mit ihr zu tun hatte, oder zumindest mit einer ihrer Ahnen. Der Gedanke ließ mich nicht los, daß dieser Colonel sich gar nichts dabei gedacht hatte, mit der Mutter und der Tochter zu schlafen, und daß seine jetzige Mätresse eine Nachfahrin von Zétwal und Ameli sein mußte – und daher in einem unausdenkbaren Grad mit dem Colonel selbst blutsverwandt war. Aber ich war nur dem Namen nach kein Leibeigener. Ich konnte mir wohl kaum Kritik leisten, glaube ich. Ich hörte zu, und die Geschichte des Colonels wurde immer trauriger, und ich hatte fast Mitleid mit ihm, irgendwie…
2 Ein paar Tage später (sagte der Colonel) wurde ich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt. Es war mein Vater. »Wir reisen ab«, sagte er. Ich rieb mir die Augen. Dienstmädchen waren dabei, meine Kleider in Truhen zu stopfen.
»Wir reisen ab?« fragte ich. »Wir kehren nach Georgia zurück«, antwortete mein Vater. »Es ist mir gelungen, von allen, die irgendwie zuständig sind, Schutzbriefe zu bekommen, die uns sicheres Geleit garantieren, aber wir müssen vor Sonnenaufgang verschwunden sein.« »Monsieur Leclerc…« »Geflohen. Seine weltlichen Güter hat er uns überlassen. Wir werden sie versteigern, sobald wir die Zivilisation wieder erreicht haben. Den Erlös transferieren wir dann an seine Bankiers in Europa. Oh, wieso erzähle ich dir das überhaupt? Raus aus dem Bett, Junge!« »Meine Kleider…« »Mach dir keine Gedanken wegen der Kleider. Wenn du herumtrödelst, sind wir verloren.« Plötzlich bemerkte ich, daß es im Zimmer merkwürdig hell war, und ich sprang auf und rannte auf die Veranda hinaus. Ich sah das Haupthaus in Flammen stehen, Männer mit Fackeln und Musketen warfen in blinder Wut Stühle aus den Fenstern und setzten die Tische im Hof in Brand. »Was ist mit Jozef?« rief ich voller Angst, meinen Freund zu verlieren. »Und Ameli? Und Zetwal?« »Sie ist tot… ausgeweidet, aufgespießt, gevierteilt, verbrannt. Denk nicht an sie. Sei froh, daß sie ihnen nichts erzählt hat.« »Sie hat Marie Laveau beschützt?« »Darüber weiß ich nichts. Alles, was ich weiß, ist, daß sie uns nicht verraten hat. Unser Vermögen, unsere Dokumente, das Wie und Wo unserer Bankkonten – sie wußte über alles Bescheid, und sie ist gestorben, um sie zu schützen. Bewundernswerte Kreatur. Aber du mußt dich beeilen!« Ich raste die Treppe hinunter. Der Großteil unseres Besitzes war auf einen Ochsenkarren gepackt worden. Im Hof wurden
die Sklaven zusammengetrieben. Jedem wurde ein Joch um den Hals gelegt. »Vater…« »Leclercs gesamter Besitz«, sagte mein Vater, »alles soll von uns versteigert werden. Schau nicht hin, es wird dich nur aufregen.« Und wirklich, ich war bestürzt, denn zwei Gendarmen legten den Sklaven das Joch an, ein dritter schwang eine Peitsche, und ein vierter drückte jedem ein Brandzeichen auf, sobald er an die Fesseln geschlossen war. Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte den ganzen Hof; ich war nahe daran, mich zu übergeben. Plötzlich sah ich Jozef und Ameli. Schläfrig und nackt wurden sie von einem uniformierten Soldaten aus dem Gästehaus gepeitscht, der sie anschrie, »Vite, vite!« und zur Eile antrieb. Herr, war das ein Anblick! Da war ein Häuflein Negerkinder auf einem gesonderten Karren – sie trugen kein Joch um den Hals, sondern waren nur lose zusammengeschnürt, ihre Arme auf den Rücken gebunden und durch das Seil eine Stange geschoben, damit man je zwei und zwei von ihnen auf einmal anheben und besser ausbalancieren konnte. Der Soldat trieb meine beiden Freunde auf den Karren mit den Kleinen zu. »Vater!« brüllte ich. »Sie tun Zetwals Kinder mit den Sklaven zusammen!« »Sie sind Sklaven, Sohn… Aber du hast recht, sie sollten nicht mit der minderen Ware zusammengetan werden.« Er brüllte den Offizier an, sie gehen zu lassen, und sie kamen zu uns rübergerannt und heulten sich die Augen aus. Ameli duckte sich, die Arme um die Brüste geschlungen, die sie mir doch so stolz vorgeführt hatte; jetzt, so schien es, empfand sie zum ersten Mal Scham, wie Eva, nachdem sie den Apfel gegessen hatte. Jozef war voller Striemen. Er mußte sich gewehrt haben. Er sah nicht gut aus. Ich hatte noch nie
gesehen, daß jemand ihn geschlagen hatte, nicht mal ‘ne Ohrfeige. Mein Vater nickte, und sie kletterten zwischen unser Gepäck, und dann fuhren wir in die Dunkelheit los. Wahrhaftig, in Portau-Prince war in dieser Nacht die Hölle ausgebrochen. Unser kleiner Konvoi ratterte durch die Straßen, in denen Mord und Totschlag wütete. Der Nachthimmel war bis zum Bersten angefüllt mit dem Licht brennender Häuser. Überall sah ich Weiße, die man gepfählt hatte, enthauptet, in Blutlachen, oder zu blubbernden Fleischklumpen verbrannt. Blut lief über die Kopfsteinpflaster. Irgendwo heulte der Mob, und das Donnern ihrer Füße erschütterte die Straße. Mit ein paar französischen Soldaten zu unserem Schutz und einer weißen Fahne vorneweg fuhren wir so schnell wie wir konnten unter Vermeidung der Hauptstraße durch die Gassen. Als den Sklaven dämmerte, daß die revolisyon ohne sie stattfand, daß sie niemals frei sein würden, wurden sie immer aufgeregter, sie zerrten an ihren Ketten und schlugen gegen ihr Joch und brüllten und führten sich auf, so daß sie ständig mit der Peitsche zur Ruhe gebracht werden mußten. Als wir uns dem Hafen näherten, schrien sie dermaßen »Liberté, liberté!«, daß es einem fast das Herz brach, denn man schlug sie unbarmherzig die Gangway auf die Persuasion hinauf, während hinter ihnen Port-au-Prince in Flammen aufging. Jozef und Ameli weinten auch, ob um ihre tote Mutter, ihre sterbende Stadt oder ihre verlorene Kindheit, das konnte ich nicht sagen. Ja, meine Damen, es war ein herzzerreißender Anblick. Und wir waren keinen Augenblick zu früh an Bord, denn gerade, als wir die Anker lichteten, kam die Menge in den Hafen geströmt und warf Steine und Fackeln, und sogar eine Muskete wurde auf uns abgefeuert.
Captain Tucker, der das Kommando über unser Schiff führte, begrüßte meinen Vater. »Wir sind bereit, Sir Andrew«, sagte er, »den Umständen entsprechend.« Obwohl mein Vater die Revolution unterstützt hatte und sich als getreuen Bürger des Staates Georgia ansah, konnte er sich nie recht entschließen, auf seinen Rittertitel zu verzichten. Auf amerikanischem Grund und Boden benutzte er ihn nie, mit ganzem Herzen unterstützte er schließlich die amerikanische Konstitution, aber sowie wir ausländische Gewässer befuhren, bestand er nachdrücklich darauf. Einmal hat er sogar einen Schiffsjungen verprügelt, weil der ihn mit Mr. Bledsoe angeredet hatte. Als er mit dem vertrauten Titel angesprochen wurde, war mein Vater ganz in seinem Element. »Captain«, sagte er, »lassen Sie die Sklaven verstauen; lassen sie diese Bauern unsere Kanonen schmecken; und dann wollen wir unsere Ärsche in die Zivilisation zurücktragen!« Tucker bellte einige Kommandos, und die Sklaven wurden unter Deck getrieben. Als ich sah, daß sie Jozef und Ameli auch nach unten treiben wollten, rief ich: »Nein!« und eilte nach vorne, um sie zu retten. In dem Moment wurde das Schiff durch den Rückstoß der Kanonen beim Abfeuern erschüttert, die in die Menge der uns angreifenden Schwarzen im Hafen schoß. Beim ersten Schuß schon stoben sie auseinander. »Mwen pa esklav!« weinte Ameli und rannte auf meinen Vater zu, umschlang ihn mit beiden Armen und schluchzte. »Pa esklav, pa esklav!« »Non, non, choucoun mwen«, murmelte mein Vater, indem er sie mit dem Namen eines einheimischen Vogels ansprach. »Du wirst keine Sklavin sein.« Aber er sah ihr dabei nicht in die Augen, und mir auch nicht. Er rief einem der Leutnants zu, die beiden schwarzen Kinder in unsere eigene Unterkunft zu bringen.
Wozu taugte denn, überlegte ich, die Zauberei ihrer Mutter, wenn die sie nicht davor bewahren konnte, verschifft zu werden, wenn sie ihren eigenen Tod nicht abwenden konnte? Kann sein, daß hinter ihrer wilden Tanzerei ein tieferer Sinn steckte, aber ich vermochte ihn nicht zu entdecken. In meiner Kabine legte ich mich wieder schlafen. Jozef lag auf einer Pritsche zu meinen Füßen. Die Bewegungen des Schiffs schläferten mich schnell ein, und ich träumte von schwarzen Frauen, sie tanzten, von geheimnisvollen Göttern besessen, und ich dachte an die reizende Ameli, wie sie von dem ungeschlachten Körper meines Vaters erdrückt wurde und nach Luft rang.
3 Anfangs blieb alles beinah beim alten. Tagsüber tobten mein Spielkamerad und ich auf dem Deck herum, nachts lagen wir im Bett und redeten belangloses Zeug. Wir hatten wenig Ahnung von dem, was vorging, und lebten nur von Augenblick zu Augenblick. Das Pökelfleisch und der abgestandene Wein machten uns nichts aus, nur die Stunde freier Bewegung, die man den Sklaven einmal am Tag gewährte, war schlimm. Leclercs Besitztümer waren groß gewesen, aber es waren nicht genügend Sklaven, um den gesamten Stauraum des Schiffes zu füllen; der Großteil unserer Ladung bestand aus Zucker. Die Sklaven hatte man auf dem untersten Deck verstaut, das mein Freund und ich einmal im Dunkeln erkundet hatten, wo wir die Woodoo-Zeremonie beobachtet hatten. Natürlich durfte ich nicht dort hinuntergehen, und so sah ich sie immer nur während dieser einen Stunde. Das war nun eine ganz andere Art Tanz. Die Sklaven wurden heraufgebracht, ihre Augen von der Sonne geblendet, und sie
mußten zu Trommel und Geige, die eine irische Melodie spielten, im Takt auf und ab hüpfen. Wenn einer nicht hoch genug sprang, war auch gleich schon der Quartiermeister da und zog ihm mit der Peitsche eins über. Die Melodie war munter und der Takt lebhaft, und trotzdem sah man auf keinem Gesicht ein Lächeln, meine Damen. Sie tanzten mit finsterem Blick, manche weinten, die Schultern hochgezogen, die Arme eng um sich geschlungen. Die meisten konnten kein Englisch, sie sprachen den primitiven französischen Dialekt von Santo Domingo. Trotzdem mußten sie so urenglische Hymnen wie ›Rock of Ages‹ singen, zur Stärkung der Lungen. Ich ertappte einige, die den Liedern andere Texte unterlegten… Worte wie Damballah Wedo … und oba kòso. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Ich wußte, daß man die Sklaven auspeitschen würde, wenn sie verdächtig waren, ihre Hexerei auszuüben. An ein oder zwei Tagen schaute ich beim Sklaventanzen zu, danach blieb ich weg. Jozef aber beobachtete es an jedem einzelnen Tag, durch ein kleines Loch in meiner Kabinenwand. Wenn das Tanzen vorbei war, wurden die Sklaven mit eimerweise Essig gesäubert; noch Stunden später stank es danach. Aber eines Abends, wir saßen beim Essen, änderte sich alles. Captain Tucker und mein Vater waren in ernstem Gespräch. Ich sah, daß mein Vater kurz davor war, mit Tucker die Geduld zu verlieren. Er hielt sich aber zurück, um dessen Autorität nicht zu untergraben, und schickte die anderen Schiffsoffiziere hinaus. Ich blieb aus Neugierde zurück, saß in einer Ecke, ein Kind, unbemerkt, und beobachtete, wie sie ihren Willen aneinander maßen, ein Captain und der Mann, der ihn angeheuert hatte. »Wie kann es angehen, daß Sie derart unbedacht handeln konnten?« brüllte mein Vater, nachdem der letzte Offizier verschwunden war.
»Wir sind überstürzt abgereist, Sir Andrew«, sagte Tucker. »Wir konnten ja nicht ahnen, daß Sie menschliche Ladung mitbringen würden als auch…« »Hätten darauf gefaßt sein müssen. Trinkwasser für wie lange?« »Sieben Tage.« »Und wie viele Wochen bis…« »Zwei, Sir. Aber wir könnten Havanna anlaufen, um die Vorräte…« »Das wäre dann eine Frage der Wirtschaftlichkeit: ob nämlich die Kosten von zwei oder drei vergeudeten Tagen in Havanna finanziell dem Profit angemessen sind, der mit einer geringfügig größeren Ladung zu erzielen ist…« »Was wäre die Alternative, Sir Andrew?« »Setzen Sie sich, Captain. Es scheint, Sie brauchen Nachhilfeunterricht in der Kunst, harte Entscheidungen zu treffen.« Der Captain schluckte und setzte sich. »Erstens«, sagte mein Vater, »wieviel Mann müssen wir loswerden, um ohne Unterbrechung für die Aufnahme von Trinkwasser unser Ziel erreichen zu können? Denken Sie nach, Mann – und rechnen Sie einen Spielraum ein für schlechtes Wetter, Windstille, und was sonst noch.« Der Captain nahm Tinte und Feder und begann, mit krakeliger Schrift auf einem Papier zu rechnen. »Sir, zehn Mann weniger wären ideal.« »Gut!« sagte mein Vater. »Und Katastrophenfälle wie zum Beispiel unglaubliche Mißwirtschaft eines Kapitäns sind ja wohl mit der Frachtversicherung bei Lloyds vollkommen abgedeckt? Muß ich noch mehr sagen?« »Sie meinen – einen Teil der Fracht vernichten?« »Ja, natürlich. Selbstverständlich die Kranken zuerst.«
»Und wie sollen wir so eine – wenn ich das so nennen darf – Vernichtung bewerkstelligen?« »Ja, was weiß denn ich, Mann! Über Bord werfen, schätz ich. Sie sind der Captain, nicht ich. Aber wenn wir am Ende dieser Reise Verlust gemacht haben, dann sind Sie dran. Und schicken Sie mir den Schatzmeister rauf. Wir müssen die Versicherungsformulare ausfüllen.« Nun, der Captain schien nicht besonders glücklich, als er ging, und mein Vater noch weniger. Am nächsten Morgen wurde das grausame Ergebnis dessen, was ich belauscht hatte, nur allzu klar. Alle Sklaven wurden an Deck gebracht, auch die Kranken, die sich nicht bewegen konnten. Sie murmelten düster im Bewußtsein, daß ihnen etwas Schreckliches bevorstand, denn für ihre obligatorischen Tanzübungen war es noch viel zu früh. Ich und Jozef beobachteten, wie der Captain die Reihen schwermütiger Kreaturen entlangging, hier oder da auf einen zeigte, der besonders krank aussah, damit dem die Ketten abgeschlagen wurden. Die Ausgewählten wurden in einen provisorischen Verschlag an Steuerbord gebracht. Sie konnten nicht wissen, was mit ihnen geschehen sollte, aber es mochte ihnen dumpf bewußt sein, daß es bestimmt nichts Gutes sein würde. Manche konnten nicht einmal mehr stehen, sie lagen nur schwach und matt da und starrten in die Morgensonne. Als der Captain meinte, es wären genug, befahl er, die restlichen Sklaven wieder unter Deck zu bringen. Ein französischer Padre, der mit uns reiste, las ein paar nichtssagende Verse aus der Bibel, und dann hievten sie die Nigger über Bord, einen nach dem anderen. Manche nahmen das klaglos hin, andere aber kämpften um ihr Leben. Ich war von dem entsetzlichen Anblick dieses Schauspiels wie gelähmt und schaute gebannt weiter hin. Ein alter Mann, von dem niemand angenommen hätte, daß
überhaupt noch Leben in ihm steckte, stand einfach auf und attackierte seine Fänger, versetzte einem Mann einen Stoß in den Magen, so daß der zu Boden ging, daraufhin schlug ihm ein anderer Matrose mit einem rostigen Krummschwert den Arm ab und warf ihn in hohem Bogen ins Meer… ich und Jozef rannten raus, um uns das näher anzusehen, und da sahen wir auch schon die Haie, die zielstrebig auf der blutigen Spur dieses Armes herankamen und rund um unser Schiff noch reichlich viel mehr Brauchbares vorfanden. Es war schrecklich, das mit anzusehen, meine Damen. Die Haie warfen sich auf die Nigger und packten sie, als sie verzweifelt versuchten, sich an der Reling festzuhalten. Es war das, was die Seeleute Freßwut nennen. Mir drehte sich der Magen um. Ich konnte nicht mehr hinsehen. Ich raste auf die Backbordseite und erbrach mich ins Meer. Dann hörten wir auf einmal, wie tief unten im Schiff die Schwarzen ihre Stimme zu einem Chor erhoben, zu den Worten von diesem afrikanischen Hokuspokus. Hin und wieder eine Solostimme, und dann erwiderten die anderen Stimmen den Gesang. Es war gespenstisch und schön. Aber nach kurzem kam mein Vater aus seiner Kabine und rief zornig: »Bringe jemand diese Wilden zum Schweigen!« Daraufhin hörte ich die Peitsche ein paarmal knallen, und der Gesang verstummte. Er sah mich einen Augenblick lang an. Er sah meine Verwirrung und klopfte mir leicht auf die Schulter. »Mach dir nichts daraus, Sohn. Es ist gut, daß du das siehst. Du mußt dir bewußt sein, aus welcher Quelle der Reichtum unserer Familie stammt.« Dann wandte er sich Jozef zu und winkte mit einer gewissen Trauer einem der wartenden Seemänner. »Nimm den hier auch mit nach unten«, sagte er. Bevor ich noch recht
begriffen hatte, was passierte, war Jozef in Ketten und wurde nach unten geschafft. »Vater…« »Es ist besser so, Griff, eh«, sagte er. »Du mußt zwischen einem Menschen und einem Stück Ware unterscheiden. Ich weiß, es ist schmerzlich, aber wenn du in dieser Welt überleben willst, wirst du diese Lektion lernen müssen. Wir werden den Fehlbetrag irgendwie wiedergutmachen müssen; durch die Zahlung der Versicherung wird die Bilanz nicht vollständig ausgeglichen, und wir können es uns nicht leisten, sie für uns zu behalten. Sie sind Teil von Leclercs Besitz und müssen versteigert werden. Sei also gewappnet.« »Und was ist mit dem Mädchen? Wirst du sie auch dort unten anketten? Nach allem, was ihr zusammen gemacht habt? Ich weiß, was das ist. Du hast mir ihre Mutter geschickt, damit sie es mir beibringt. Willst du mir meinen Freund wegnehmen und dein eigenes Spielzeug behalten?« Seine Augen verengten sich. Ich hatte ihn noch nie so wütend auf mich gesehen. In der Gewißheit, daß er mich schlagen würde, wich ich zurück. Aber er richtete sich auf und sagte mit leiser Drohung in der Stimme: »Junge, wage es nicht, mich herauszufordern.« Er rief den Matrosen zurück und wies ihn an, Ameli zu suchen und sie zusammen mit den anderen auf dem Sklavendeck anzuketten.
4 Oh, diese Schande! Mein Freund schmachtete in der Dunkelheit an einen Pfosten gekettet, konnte sich nicht aufrecht hinsetzen, während ich im ganzen Schiff umherlaufen konnte und täglich solche Leckerbissen wie gesalzenes
Schweinefleisch und alte Kekse schmausen konnte – das reinste Ambrosia für jemanden, der nur eine Handvoll Maismehl und eine Tasse fauliges Wasser pro Tag bekam! Oh, meine Damen, ich war wütend. Ich wußte, daß mein Vater im Recht war, aber nachts träumte ich von den Spielen, die wir zusammen gespielt hatten, und von der Zeit, als wir Ameli bis zu diesem Schiff hin gefolgt waren, von Ameli, die barbusig im Mondlicht stand, von Jozef und mir, wie wir die ganze Nacht über einen kindischen Witz lachten. Ich war außer mir vor Wut. An manchen Tagen wollte ich nicht einmal essen, und ich wußte, daß mein Vater den Grund kannte, und ich wußte, daß wir uns den Preis für zwei Sklaven leisten konnten… Kinder noch dazu… einhundert Dollar auf dem Markt… aber er und ich, wir waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, störrischer als Maulesel, und ich wußte, er würde einen einmal erteilten Befehl niemals zurücknehmen. Ich hab Ihnen schon erzählt, daß es mir bei Androhung schwerer Prügelstrafe verboten war, zu den Sklaven hinunterzugehen. Aber eines nachts wuchs der Zorn in mir so übermächtig an, daß ich mich nicht mehr bezähmen konnte. Ich nehme an, was dann geschah, hatte geschehen sollen. Also geschah es. Und es hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin, ob nun besser oder schlechter. Es war, wie ich mich erinnere, mein dreizehnter Geburtstag. Die ganze Nacht hatte ich schlecht geschlafen, von Alpträumen geplagt. Durch meine Träume spukte Zetwal. Immer wieder sah ich sie, wie sie die Arme um mich schlang, mein Gesicht an ihre weichen Brüste drückte, sich an meine Schulter schmiegte, und wenn ich dann aufsah, hing sie an einem Galgen, das Gesicht von den Krähen zerhackt, die Lippen abgerissen, so daß ihre zerschmetterten Zähne sichtbar waren, die Zunge an der Wurzel herausgerissen; die Brandzeichen, die immer noch auf den Wangen rauchten…
und bevor ich schreien konnte, legte sie mir die Hand auf den Mund und flüsterte: »Nicht sprechen, monchè, oder du verrätst uns alle, oh, sprich nicht, tipoupée mwen. Ich liebe dich noch vom Grabe heraus. Aber du darfst nicht sprechen.« In diesem Traum… falls es wirklich ein Traum war… war ich noch in meiner Kabine, mit einer flackernden Kerze am Bett, und die See hob sich und flüsterte, und die Sklaven stöhnten in ihrem Gelaß, und aus der Ferne hörte man die Wale weinen… dennoch – sie war dort, war in der Kabine, zwischen all den vertrauten Sachen. Sie roch nach Faulem. Obwohl ich gehört hatte, man hätte sie in Stücke zerhackt, waren diese Teile alle noch da, mit Draht und Garn zusammengeflickt. Aus ihren klaffenden Wunden strömte das Blut, ihre Augen waren weiß wie damals, als die Besessenheit von einem wilden Gott sie in die Ekstase getrieben hatte. Fliegen summten um ihre Wunden. Eine Made kroch in den Löchern in ihrem Gesicht herum. Trotzdem liebte ich sie. Dennoch sehnte ich mich nach ihrer Umarmung. Es wird Ihnen schwerfallen, meine Damen, sich das vorzustellen, ich weiß, aber sie war es, die mich lehrte, wie man eine Frau liebt. »Komm, Griffin«, sagte die Gestalt. »Ich dich jetzt mitnehmen.« »Wohin?« fragte ich. »In die Hölle«, kam die Antwort. Mit großer, kalter Faust ergriff sie meine Hand und zog mich aus dem Bett. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Traum war, denn die Kälte verbrannte mich und dennoch erwachte ich nicht. Ich nahm die Kerze von dem Nachttisch. Hielt sie ihr dicht ans Gesicht. Das konnte kein Trugbild sein. Das Nebelhafte der Träume fehlte. Die Würmer, das Geriesel von Blut, das Quietschen der Drähte, mit denen ihre Arme und Beine am Körper befestigt waren, alles war von grausiger Wirklichkeit. Diesmal hatte ich richtige Angst. Ich zitterte und
zitterte, und nur der feste Griff dieser eiskalten Hand bewahrte mich davor, zu Gallert zu werden. Sie führte mich aus meiner Kammer und behielt mich dabei fest im Griff, während mir die Kälte immer noch bis ins Mark drang. Ich trug nur ein Nachthemd. An Deck war alles ruhig. Eine tropische Brise wehte. Wachmänner dösten. Der Mond war nur eine Sichel. Doch tausend und abertausend Sterne standen am Himmel, und vom Schiff ging ein übernatürliches Leuchten aus, denn die Segel fingen das Sternenlicht ein und warfen es wie einen bleichen Heiligenschein über das Deck. Wir kamen an den verschlossenen Zugang zum Sklavengelaß. »Ich gehe jetzt, glaub ich, wieder schlafen, Zetwal«, sagte ich. »Wir können da sowieso nicht runtergehen.« »Türen und Schlösser halten mich nicht auf, mèt Griffin. Ich tot.« »Wenn du tot bist, Zetwal, was zum Henker machst du dann hier? Sollten die Toten nicht tot bleiben?« »Nicht wahr in Santo Domingo. Ich kommen, weil ich dich lieben, mèt, und weil man mich für dich geschickt haben.« »Wer hat nach mir geschickt?« »Du bald sehen.« Sie zeigte mit dem Fuß auf das Schloß. Es löste sich in Luft auf. Ebenso wie die Holztür. Wir gingen hinunter. Die engen Treppen hinab. Runter, runter. Der Gestank menschlicher Exkremente wurde unerträglich. Ich fing an zu würgen. Sie packte meine Hand fester, und ihr Griff bewirkte, daß mir das Erbrochene als fester Kloß im Halse saß. »Es nicht so schlimm, weißer Junge. Bald dran gewöhnen.« Einen langen Korridor entlang, der von Zucker- und Kaffeebohnensäcken und anderen seltenen Köstlichkeiten gesäumt war. Der Geruch von Kaffee und menschlichem Abfall vermischte sich zu einer widerlichen Melange, von der
Sie bestimmt auf der Stelle ohnmächtig geworden wären, meine Damen. Noch mehr Treppen hinunter. Und dann waren wir da. Nicht in der höhlenartigen Leere, die ich zuvor gesehen hatte – jetzt war der Raum beengt und überfüllt. Es war kohlrabenschwarz. Wohin der Schein meiner Kerze fiel, konnte ich jeweils ein ganz klein wenig erkennen. Jeder Sklave war mit Ketten mit seinem Nachbarn verbunden, und diese Ketten waren in Abständen an Ringen an Holzpfosten befestigt. Die Sklaven waren auf diese Holzborde gepfercht, manche lagen in ihren eigenen Exkrementen, denn für einige waren die Eimer zu weit weg, und andere waren zu schwach, dort hinzugelangen. Am merkwürdigsten, meine Freunde, war es, daß, obwohl ich in Begleitung eines wandelnden Leichnams durch diesen mit Elend angefüllten Raum ging, mich niemand zu sehen oder sich um mich zu kümmern schien, obwohl viele wach waren und manche mich mit stumpfem, leblosem Blick anstarrten. Dann sah ich Jozef und seine Schwester, die gleich neben ihm angekettet war, denn sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Geschlechter zu trennen, sondern sie grad wie Tiere eingepfercht. Jozef wälzte sich unruhig im Schlaf, und stöhnte mit kläglicher, kleiner Stimme »Maman, maman«. »Jozef«, flüsterte ich, »ich bin’s.« »Maman, maman«, weinte er. Und dann öffnete er die Augen und sah mich. Seine Mutter aber sah er scheinbar nicht. »Met Griffin«, sagte er. »Du sehen, wie sie mich bestrafen, daß ich gesagt haben frè mwen.« »Nein, Jozef. Deshalb haben sie dich nicht aus der Welt da oben entfernt. Es war alles nur wegen Versicherungen und Mathematik und Logistik und Dingen, die wir Kinder nicht begreifen können.«
»Begreife nur eines«, sagte er. »Schwarz ist schwarz und weiß ist weiß.« »Nein. Wir sind Brüder. Ich schwöre es. Und eines Tages werde ich dich befreien.« »Wie du das machen wollen? Du nicht besitzen ti Jozef.« »Ich weiß nicht, wie«, sagte ich. »Aber machen werde ich es. Ich schwöre.« Zetwals Hand schloß sich fest um mein Handgelenk, und ich biß vor Schmerz die Zähne zusammen. »Ich schwöre bei Pe L’étenel. Ich schwöre auch bei deinen Göttern, wenn du willst.« »Nicht das sagen. Legba, er alles hören.« »Ist mir egal.« Aber Jozef drehte sich nur um – wodurch die Ketten der ganzen Reihe ins Klirren gerieten – und schlief wieder ein. Ich wollte mich wegschleichen, aber in diesem Moment erwachte Ameli. Keine Frage, daß sie ihre Mutter sehen konnte, denn sie lächelte. »Du hast mir meinen ti frè gebracht«, sagte sie und lachte ein wenig. Oh, sie war schwach und matt, im weichen Kerzenlicht aber immer noch wunderschön; ihre Augen funkelten; sie hatte nie, weder damals noch später, das niedergeschlagene Benehmen eines echten Leibeigenen. »Ameli«, sagte ich, »siehst du nicht, wie sie sie gefoltert haben, wie sie sie in Stücke geschnitten haben?« »Ich sie sehen, wie sie war«, sagte sie, »weil ich nicht tragen Schuld.« »Wie siehst du sie?« »Ich sie sehen in Sternenlicht. Ich sie sehen strahlen wie die Nacht, die ich nicht mehr sehen kann. Ihr Name, weißt du, sie heißen Stern… zetwal… les étoiles.« »Aber warum konnte Jozef…«
»Er müssen etwas von sich selbst geben zuerst. Um eintreten in die Geisterwelt und lebendig zurückkommen, müssen etwas hinterlassen – vielleicht ein Glied, vielleicht ein Auge…« »Und du, Ameli? Was hast du zurückgelassen?« »Meine Unschuld«, sagte sie, und blickte von mir weg, an mir vorbei, wehmütig, in eine Vergangenheit, die ich mir nicht vorstellen konnte. Eine Weile unterhielt sie sich schweigend mit dem Geist ihrer Mutter. Ich konnte erkennen, daß sie sich ohne Worte, ohne Gesten unterhielten, und ich kam mir verloren und einsam vor. Aber nach einiger Zeit nahmen sie anscheinend Abschied voneinander. Der eisige Zirkelschluß um mein Handgelenk löste sich langsam. Ich drehte mich um und sah, wie Zetwal sich in das flackernde Licht auflöste und eins wurde mit der übelriechenden Finsternis, die mich umgab. Da packte mich Ameli mit beiden Händen und zog mich mit überraschender Kraft zu sich hinunter. »Ich muß dir geben einen ti kado«, sagte sie, »denn heute bist du ein Mann, nicht?« Und sie bließ die Kerze aus und stellte sie irgendwo in der Dunkelheit ab. Mein dreizehnter Geburtstag war unbeachtet vorübergegangen. Nicht einmal mein Vater hatte eine Bemerkung gemacht. Aber Ameli belohnte meine neue Männlichkeit in vollem Maße. Die Lektionen, die ich von Zetwal gelernt hatte, waren nur ein Vorspiel dessen, was Ameli mir zeigte. Oh, welche Befriedigung empfing ich in dieser Nacht, meine Damen! Mein kleiner Peter tauchte in neue Höhlen der Freuden hinab… man könnte sagen, er wuchs in dieser Nacht von einer Schlange zu einem Drachen… Oh, Sie können sich das nicht vorstellen… in diesem Höllenloch gequälter Seelen, in diesem stinkenden Loch von Scheiße und Elend, oh, welch eine Ekstase! Oh, meine Damen, meine Damen! Oh, du junger Yankee, der dort drüben am anderen
Tisch sitzt, mit deinen lüsternen Augen auf Amelis Enkelin, dreimal meines Blutes – oh, ihr alle wißt gar nichts von solch einer Verzückung und werdet es nie! Ich besaß sie voll und ganz, Leib, Herz und Seele. Oh, wir bewegten das Schiff über die Gewässer, wir versetzen die Welt in Schwingung. Das, meine Damen, das ist das, was Männer unter Liebe verstehen, obwohl mein Prediger es vielleicht nur Lust nennen würde. Ich versank in der Fülle der Dunkelheit, ich wurde von Wogen verschluckt und versank. Die ganze Nacht lag ich so, das erste Mal in friedlichem Schlaf, seit wir Port-au-Prince verlassen hatten.
5 Sie zerrten mich von ihr weg und schleppten mich vor meinen Vater hinauf, der mit dem Captain und dem Quartiermeister in der Offiziersmesse das Frühstück einnahm. »Meine Schlüssel sind mir gestohlen worden, Sir Andrew, aus der Tasche gestohlen, während ich schlief«, sagte der Quartiermeister gerade zu meinem Vater. »Das ist nicht wahr!« brüllte ich. »Es war Zetwal… sie kam zu mir in einem Traum… hat sie mit Zauberkraft aufgemacht…« Die beiden Offiziere lachten, aber mein Vater schlug mir derart ins Gesicht, daß ich keine Luft mehr bekam und beinah ohnmächtig wurde. »Hör mir zu, Griffin«, sagte er. »Das muß jetzt endlich aufhören. Sie haben mit ihrem ausländischen Aberglauben ja schon deine Seele verführt.« Er betrachtete mich mit einer überwältigenden Trauer. Er hatte mich oft geschlagen, wenn er wütend war, fünf oder sechs Schläge mit einem abgenutzten Nußbaumstock, das hatte mir aber nie so richtig etwas
ausgemacht, denn Schläge gehören zum Leben eines Jungen. Diese ungewohnte, betrübte Haltung aber, die er jetzt an den Tag legte, verstand ich überhaupt nicht, außer, daß sie wohl nichts Gutes für mich verhieß. Ich zitterte am ganzen Körper, das kann ich Ihnen sagen. »Hör jetzt gut zu, Griff«, sagte mein Vater, »ich möchte, daß du weißt, daß du alles bist, was ich habe, und daß ich seit dem Tod deiner Mutter nur weitergelebt habe, um sicherzustellen, daß du von allem nur das Beste bekommst. Aber es gibt Zeiten, in denen einem Kind Schmerzen zugefügt werden müssen, damit es zu einem besseren Menschen heranwächst. Und die Lektion, die du heute lernen wirst, wird vielleicht die bitterste in deinem Leben sein, aber es führt kein Weg daran vorbei.« »Vater«, sagte ich in aufsteigender Angst, »es tut mir leid, daß ich zum Sklavendeck hinuntergegangen bin. Ich wollte es nicht. Ich hatte einen Alptraum und… etwas hat mich gezwungen…« »Ruhe!« brüllte mein Vater. »Du bist weiß, Griffin. Sie sind schwarz. Du bist ein menschliches Wesen, und sie sind beweglicher Besitz. Wenn du bei ihnen sein willst, dich mit ihnen abgeben, dann sollst du wissen, wie es ist, einer von ihnen zu sein. Quartiermeister, notieren Sie ihn bitte für neununddreißig Hiebe.« »Sehr wohl, Sir Andrew«, sagte er. »Sir«, sagte der Captain, »in Anbetracht des zarten Alters des Jungen sowie seiner zarten Konstitution…« »Ich hoffe und bete, Sir, daß Sie niemals gezwungen sein werden, Ihr eigenes Kind mit solcher Härte züchtigen zu müssen.« »Aber Vater – ich werde sterben!« winselte ich. »Ich tat doch gar nichts so Böses. Ich bin nur mitten in Nacht auf Abenteuer
gegangen, mehr nicht. Ich habe nichts getan – ich habe mich an keiner Ware vergriffen…« »Mir hat man etwas anderes erzählt«, sagte mein Vater. In diesem Moment, da mir klar wurde, daß ich meinem Schicksal auf keine Weise entkommen konnte, verlieh der Zorn mir den Mut, ihm ins Gesicht zu schreien: »Es hat gar nichts damit zu tun, ob weiß oder schwarz, nicht wahr, Vater? Es ist schlicht und einfach die Eifersucht – weil ich mit dem Mädchen das gemacht hab, was du gemacht hast – weil ich jetzt auch ein Mann bin und kapab!« Mein Vater schaute mich nicht an, als sie mich wegschleppten. Er war auch nicht Zeuge der Strafe, die die schlimmste Erfahrung meines ganzen Lebens war, noch sprach er mit mir, als ich, dem Tode nahe, darniederlag und nur von Zetwals beiden Kindern versorgt wurde, die wunderbarerweise doch aus dem Inferno nach oben gebracht worden waren, damit sie sich um mich kümmern sollten. Als wir schließlich in Baltimore einliefen, wo die Versteigerung von Leclercs Vermögen stattfinden sollte, erfuhr ich, daß Jozef und Ameli doch nicht verkauft würden, sie sollten unsere Hausdiener werden. Mein Vater hatte sie sich selbst als Verkaufskommission zugeteilt. Und auf dem Weg nach Georgia erfuhr ich auch, daß Ameli schwanger war… mit Amelias Mutter, die Sie heute abend hier sehen. Das Mädchen sollte nach ihrer granmé benannt werden, Estelle, was das richtige französische Wort für Zetwal ist. Ich habe immer daran denken müssen – obwohl das sonst niemand tat – daß die Kinder keine Sklaven mehr gewesen wären, wenn sie sich besser versteckt hätten in der Nacht, als Leclercs Villa niedergebrannt wurde. Denn die Franzosen ergaben sich kurz nach unserer Abreise, und das Territorium wurde die Republik von Haiti, das erste freie schwarze Land unserer Zeiten.
Denken Sie darüber nach, meine Damen, wenn Sie sich über die Boshaftigkeit der Yankees auslassen. Auch sie sind menschliche Wesen. Wenn sie es nicht wären, meine Freunde, dann könnten sie auch unsere Gefühle nicht verletzen. Sie könnten unsere Häuser niederbrennen, uns unsere Männlichkeit nehmen, aber sie können nicht unsere Seelen berühren… wie Sie das, meine Damen, so oft getan haben.
21 VON AMERICUS NACH BALTIMORE
1 Während seiner ganzen Erzählung (fuhr Tyler Tyler fort) sah der Colonel mit Neugierde und Mißfallen zu mir herüber. Er weiß es, dachte ich, er weiß es, und er wird mich töten, weil er glaubt, ich hätte bereits Hand an dieses Geschöpf von ihm gelegt, seine Tochter, die Tochter seiner Tochter – oh, daran zu denken, wie er über die Jahre hinweg seine eigenen Geliebten herangezüchtet hat, wie Hunde, und sie mit jeder Generation weißer gemacht. Oh, dieser Mann war böse, obwohl er im Grunde auch zu bemitleiden war. In dieser Nacht kam sie wieder zu mir. Ich sagte ihr: »Komm nicht zurück. Es ist zu gefährlich. Der alte Mann weiß es.« Doch sie erwiderte nur: »Ich liebe dich.« »Geh!« sagte ich. »Der alte Mann ist kein Mann. Er mich nicht mehr anfassen zur Nacht. Er mächtig Angst haben. Er träumen von ein alt Mann mit ein Auge, ihn kommen holen in das Land der Toten.« »Wer?« fragte ich. »Jozef?« Sie nickte. Ich erinnerte mich, daß der Colonel in seiner Geschichte gesagt hatte, daß sein Freund seine eigene tote Mutter deswegen nicht sehen konnte, weil er noch nichts aufgegeben hatte – ein Glied – ein Auge. Mit dieser Geschichte muß es noch eine Menge mehr auf sich haben,
dachte ich. Wenn ich länger hierbliebe, würde ich wahrscheinlich alles erfahren. »Es ist zu gefährlich. Du mußt jetzt wirklich gehen – du mußt.« Widerwillig und unter Tränen ging sie. Was am nächsten Tag passierte, Jimmy Lee, ist der Grund, weshalb du mich heute hier siehst, ohne Arme in der Wildnis und zur Gefährtin eine Wahnsinnige. Am Morgen, als ich in meinem kleinen Büro bei der Kirche saß, die wiederaufgebaut wurde, und meinen Kameraden zuschaute, wie sie schufteten, kam ein Laufbursche mit einem Stapel Papiere, die abgezeichnet werden mußten – soundso viel Beton, soundso viel Ziegelsteine, soundso viel Holz. Auch ein Abstrafzettel war darunter. Diese Zettel waren mir zuwider. Normalerweise zeichnete ich sie schnell ab und warf sie dann in den Kasten. Sie gingen überhaupt nur deshalb durch meine Hände, um Colonel Bledsoe die Einführung eines einzigen Ablagesystems für seine gesamte Haushaltung zu erleichtern. Den einen aber mußte ich lesen, denn dort stand: An Cordwainer Claggart, Esq. Inhaber der Städtischen Bestrafungsanstalt: Amelia Bledsoe, neununddreißig Hiebe wegen Gehorsamsverweigerung trotz ernstlicher und dringlicher Ermahnung des Colonels. »Was haben die mit ihr gemacht?« brüllte ich, und der Laufbursche sah mich verwirrt an und stammelte: »Tja, Sir, sie ist schon an dem Peitschpfosten.« Auf der Stelle verließ ich die Kirche. Ich war ja nicht wie die anderen angekettet. Ich war ein Mann mit nur einem Arm, oder nicht? Was konnte ich denn schon tun? Ich stürmte auf die Straße. Ich rannte bis zum Peitschhaus, das nahbei lag, nur
zwei Blocks weiter. Beim Hämmern gegen die Tür ging die beinahe zu Bruch, und als Claggert mich hereinließ, sah ich sie, an den blutgefleckten Pfosten gebunden und schon einige Striemen auf dem Rücken. »Oh, willst das wohl aus der Nähe sehen?« sagte er. »Gibt einige, die da gern zugucken, wenn ihre Geliebten geschlagen werden; macht sie an, oh ja.« »Mach sie los, Claggart. Sie hat nichts getan. Wir haben nichts gemacht, niemals.« »Oh, tatsächlich? Aber du hast es ziemlich eilig mit dem Abstreiten von welchem Nichts auch immer, was ihr niemals gemacht habt, Sir. Das steht ja wohl mal fest.« »Nun kommen Sie schon, Mann, lassen Sie sie gehen, sagen sie einfach, sie hätten’s getan, und lassen sie gehen.« »Ich bin ein ehrlicher Mann, Yankee«, sagte Cordwainer Claggart, »und um die Wahrheit zu sagen, es kommt gar nicht groß drauf an, ob sie schuldig ist oder nicht; die Laune eines Herrn ist das einzige, was zählt; das hier sind Sklaven, Mann, keine Menschen; ihr Nordstaatler wollt das anscheinend niemals kapieren – ein Sklave ist nur zu drei Fünfteln ein Mensch, und auch das nur wegen der Volkszählung.« »Geh an deine Arbeit zurück, Tyler«, sagte Amelia. »Nichts geben zu, machen sowieso. In ein, zwei Jahre wir frei sein, selbst der Masta sagt das, wir diesen Krieg verlieren, wir nur leiden ein paar kurze Jahre…« »Ruhe!« Cordwainer Claggarts ließ die Peitsche krachend niedersausen, und über Amelias ganzen Rücken lief eine dicke Strieme. »Das mag sehr wohl sein, Fräulein, aber bis sie mir diese Befreiungsurkunde den Hals runterstopfen und mir meinen Job wegnehmen, mach ich, wofür ich bezahlt werde. Zum Teufel, wenn der Krieg vorbei ist, zieh ich nach Westen … hab meine Pläne, mächtig große Pläne… ich zieh irgendein Wundermittel auf Flaschen und verkauf es den
zivilisationshungrigen Weststaatlern für einen Dollar die Flasche… vielleicht mach ich auch eine Kirche auf und sammel ein Vermögen mit dem Zehnten von den Trotteln, die sich dafür einen Platz im Paradies erkaufen wollen… oh, ja, Cordwainer Claggart wird das schon irgendwie hinkriegen… raus aus dieser Sackgasse von einem Job, Nigger peitschen tagein, tagaus, und zwischendurch ein schneeweißer Lehrbursche, der mir die Last erleichtert…« Er lachte über seinen eigenen Witz, wobei er kräftig weiterpeitschte. Ich konnte sein Geschwätz nicht länger ertragen. Zwar war ich schmächtig und unterernährt, und ich hatte auch nur einen Arm, aber ich war so verdammt wütend, und der Anblick der nackten und hilflosen Amelia rührte sowohl an meine Liebe als an mein Mitleid. Ich sah mich nach einer Waffe um, entdeckte nichts und stürzte mich deshalb ohne alles auf den Mann und brachte ihn zu Fall, mehr, weil er überrumpelt war als wegen sonst was, denk ich. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Ich schnitt Amelia mit einem Klappmesser, das Claggert im Gürtel hatte, vom Pfosten los und sagte, sie solle mir folgen. »Sei nicht albern, Tyler! Wohin denn?« »Draußen stehen Pferde angebunden. Ich nehm mir eins. Wir fliehen. Die Linien der Yankees müssen ziemlich nah sein.« »Oh, du unmöglich, Tyler! Weißt du nicht, was du getan, sein Vergehen, der mit Erhängen bestraft werden? Auspeitschen sein nur eben Auspeitschen. Sie mich nicht werden töten oder nichts. Ein Sklave Geld wert, Tyler – ein Yankee können sie hängen.« »Ich liebe dich«, sagte ich. Sie begann zu weinen, als ich ihr ihre Kleider gab. »Hat nie ein Mann mir das vorher gesagt.« »Dann komm«, sagte ich und nahm ihre Hand mit meiner einen Hand, und wir rannten weg, und ich stahl tatsächlich ein Pferd. Eine Meile außerhalb der Stadt aber hörten wir die
Niggerhunde, und da stieß Amelia mich doch wahrhaftig vom Pferd, riß die Zügel herum und hielt wieder auf die Stadt zu. »Was, zum Teufel, soll das?« »Denen Hunde, sie gelernt, aufzuspüren Nigger«, sagte sie. »Wenn ich zurückgehen, vielleicht du hast Glück… werden frei.« Ich rappelte mich auf. »Nein!« brüllte ich. Aber da war sie schon in Richtung des Hundegebells davongaloppiert. Sie hatte so überzeugend von ihrem finanziellen Wert und meiner eigenen Wertlosigkeit gesprochen, und jetzt ritt sie in den Tod, um mein wertloses Leben zu retten. Hinkend ging ich los, in Richtung Norden, wie ich hoffte. Den Rest kennst du, Jimmy Lee.
2 Eine Zeitlang schwieg Tyler Tyler (fuhr Jimmy Lee fort), er lag nur still in dem Schnee, der in Wirklichkeit aus den zermahlenen Knochen der Toten bestand. Die erblindete Amelia tanzte noch immer und sang unmelodisch etwas von gepflückten Blumen. Es war ein erschütternder Anblick, Zacko, und ich wußte nicht, wie ein Mann, den die Umstände derart vernichtet hatten, je wieder wirklich Mut fassen sollte. »Oh, Tyler Tyler«, sagte ich, »was für eine Hilfe kann es da geben? Wie kann ich dir Beistand leisten, wenn es kein Heilmittel für solchen Schmerz gibt?« »Töte mich«, bat Tyler Tyler. Wie hätte ich mich dazu aber überwinden können? Er war kein verletztes Pferd, dem ich einfach einen Kopfschuß hätte versetzen können, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen,
außer, daß ich ein armes Geschöpf von seinen Leiden erlöst hätte. »Wir könnten dich mitnehmen.« »Und wo geht ihr hin?« fragte er. »Sicherlich nicht nach Norden. Weiter und immer weiter in die Arme des Feindes. An meinen Händen klebt das Blut eines Colonels… so werden sie es sehen. Töte mich lieber, Jimmy Lee, denn ich habe jetzt nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Amelia ist glücklich in ihrer geistigen Umnachtung. Sie braucht mich nicht. Sie braucht keine Augen, um sehen zu können.« »Was dann?« fragte ich. »Wir können dich nicht einfach hierlassen, nicht, nachdem Himmel und Erde sich deinetwegen in Bewegung gesetzt haben.« Und Amelia sang: Schau, die Felder sind blaß und ein Fest hat der Tod schau, die Felder sind rot von den Blumen voll Haß. Ich wandte mich an den alten Joseph… es war schwer, ihn sich als den kleinen Jozef vorzustellen, das haitianische Negerkind, einem weißen Jungen ein Bruder… wie er jetzt in seinem Leopardenumhang leuchtend an den Baumstamm gelehnt dastand. »Hilf mir, beau-pére«, sagte ich, »denn der Mann läßt sich nicht helfen.« »Dann, Herzchen, wie wir ihm können helfen?« antwortete der alte Joseph. »Bittet, so werdet ihr empfangen, sagt das Evangelium; aber nichts sagen, was passieren, wenn ein Mann nicht fragen. Am besten, du ihn vergessen«, fügte er hinzu, und ich entsann mich, daß er das auch gesagt hatte bei den getöteten Weißen, die zwischen den Schwarzen lagen, die er erwecken wollte.
Zum ersten Mal war ich wütend auf den alten Joseph, und auch beschämt. Wenn er Himmel und Erde auftun konnte, warum konnte er dann nicht die Liebe zwischen Tyler und Amelia retten? Ich schrie ihn an: »Mann, Joseph, du bist genauso bösartig wie die weißen Leute.« »Oh, nein, monchè«, sagte er, »aber ich weiß, wenn einem Mann nehmen die Wahl, das ist wie ihn zu töten; also werde ich nicht zu ihm sagen, komm, oder geh.« Sprach’s, wandte sich ab und setzte sich in Marsch, weiß nicht genau, wohin, kann sein, der aufgehenden Sonne entgegen. Und Amelia sang: Rosen sind rot, Veilchen sind blau, Er fickt meine Mammy Also fickt er mich auch. »Hör sie dir doch an!« rief ich dem alten Joseph nach, aber er war schon außer Hörweite. Und ein zombi nach dem anderen folgte ihm, schlurfte durch den Bach, eine wahrhafte Armee der Finsternis. Ich ging zu Tyler hinüber und versuchte, ihm aufzuhelfen. »Du mußt weitergehen. Du brauchst Freunde, du kannst dich nicht einfach hier hinlegen und sterben, nicht nach allem, was du durchgemacht hast.« »Du hast doch den alten Mann gehört, oder nicht?« sagte er. »Es ist meine Entscheidung, mich hinzulegen und zu sterben. Soviel Würde laß mir wenigstens.« Amelia war schon den zombis gefolgt, ging zwischen ihnen hindurch und benutzte ihre Körper, um ihre Schritte zu setzen. Und zum Schluß kam Eleuthera, die sich irgendwo versteckt haben mußte, schätze ich, auf Leopardenart mit den Bäumen
verschmelzend. Aber Tyler rührte sich nicht, obwohl seine Wunden schon gut verheilt waren. Immer noch wütend, rannte ich zu dem alten Joseph, der vorne am Kopf seiner Kolonne von lebenden Toten marschierte. »Warum kannst du nicht einem von den Toten befehlen, ihn auf die Schulter zu nehmen und mit uns zu tragen?« »Weil er muß fragen, getragen zu werden.« »Warum können wir nicht warten, bis er seine Meinung ändert?« »Weil er schon tot sein, Marse Jimmy Lee; merk dir meine Worte, Herzchen, bloß weil ein Mann sich bewegen und gehen, heißt nicht, daß er lebt. Wenn das einer müssen wissen, dann du.« »Du hast seinetwegen die Wut des Himmels heruntergerufen! Du hast diesen Colonel und seine Günstlinge weggepustet! Solltest du nicht wenigstens versuchen, ihn zu retten?« Ich wurde richtig rot im Gesicht und rief schließlich: »Mensch, Joseph, du bist nicht einen Deut besser als mein wirklicher Vater. Du läßt eine Seele sterben und gehst einfach weiter.« Daraufhin verlor er mit mir die Geduld. Er drehte sich um. Stampfte mit dem Fuß auf. Die zombis blieben sofort stehen und Amelia hörte auf zu singen. »Leg dein Ohr auf den Boden«, sagte er. Das war keine Bitte, sondern ein gebieterischer Befehl. Ich beugte mich nieder. Ich gehorchte. Zuerst hörte ich nichts. Aber dann hörte ich, wie im Traum, ein entferntes und beharrliches Rat-tat-tat-tat, und darüber das Pfeifen einer Flöte, so schwach, daß es der Wind selbst hätte sein können, aber die Melodie war die ›Battle Hymn of the Republic‹. »Die Yankees«, sagte ich leise. Nun konnte ich ihre Fußtritte ausmachen… wie entferntes Donnergrollen am klaren Sommerhimmel… bumm, bumm,
bumm. »Du wußtest, daß sie kommen. Nicht, alter Joseph, du wußtest, daß man ihn retten würde, nicht wahr?« Er hat mit keinem Wort geantwortet. »Du hast es die ganz Zeit gewußt«, sagte ich, »und trotzdem hast du über Entscheidung und menschliche Würde gefaselt, und die ganze Zeit über hast du es gewußt!« Und ich umarmte den alten Mann, und küßte ihn auf die Wange. Denn mein Glaube an seine Macht war so groß, daß ich gedacht hab, er hätte sogar die Yankee-Armee aus dem Norden herbeigerufen, um dieses verlorene Schaf vor dem Verderben zu retten. Schließlich sagte er zu mir: »Entscheidung, Herzchen, ist immer eine Illusion.« Und wir gingen weiter.
3 Jimmy Lee Cox erzählte mir dies alles (sagte Zack, als wir beim Morgenkaffee saßen), während wir in diesem Planwagen saßen und seinem wiederbelebten Vater zuschauten, wie er menschliche Eingeweide aß. Wie immer sprach er mit schlichter, unbewegter Stimme; und das, seht ihr, verlieh seiner Geschichte mehr als nur den Anschein von Wahrheit. Es war klar, daß man hier nichts übertreiben konnte. »Der Tod«, sagte Jimmy Lee, »kam schließlich doch noch zu Tyler, und er starb als ganzer Mann.« »Bist du immer noch wütend, daß er sterben mußte?« »Glaube schon. Aber es gab nichts, was ich hätte tun können.« Was wohl nur allzu sehr stimmte, mein ich. Aber es gab noch mehr, was ich unbedingt wissen wollte. Was ist aus Amelia geworden? Und wo war der alte Joseph jetzt? Und wie war es dazu gekommen, daß er sein Auge verlor? Darauf hatte Jimmy Lee keine Antwort. Und Tyler würde ganz bestimmt
nichts mehr erzählen. Ich fragte: »Wo wirst du jetzt hingehen?« Jimmy Lee murmelte: »Ich weiß nicht. Die Götter sagen nicht viel. Mag sein, daß ich Nebenvorstellungen in einem Vergnügungspark gebe… die Toten auferstehen lassen neben der Riesenratte und der unsterblichen Mumie… ich schätze aber, ich werde nach Westen gehen. Wo alles noch neu ist. Wo man wieder von vorne anfangen kann.«
4 Tyler Tyler! Wie ich zu den anderen zurückkam, hatten Kaczmarczyk und Walt ihn in ein behelfsmäßiges Leichentuch aus einem alten Stück Segeltuch gewickelt. Sie hatten es im Wind flatternd gefunden und es passend zurechtgeschnitten. Im Morgengrauen bot sich uns ein wirklich merkwürdiger Anblick. Walt hat es zuerst gesehen, weil er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, an jeglichem sich anbietenden Ufer, wie er es nannte, »byronisch schreitend« entlangzugehen. Ich hörte ihn rufen und kam aus dem Zelt gerannt. Kaz war allerdings vor mir da. Wir saßen auf drei Felsblöcken und beobachteten es im Wasser auf und ab hüpfen. »Ist das eine Art Kiste?« fragte ich. »Aber nein«, sagte Kaz, »dieses Ding da ist ein echter Sarg, wenn ich je gesehen einen vorher.« Und tatsächlich, das war’s: ein Sarg, der wie ein Stück Treibholz im Fluß schwamm. Na, er war fast in Greifweite – vielleicht drei Meter entfernt – und Walt krempelte seine Hosenbeine hoch und stakste hinaus in den Schlamm, um ihn an Land zu ziehen.
»Etwas für Tyler Tyler«, rief er aus, »vom Fluß der Zeit heraufgeworfen.« Und er schleppte ihn ans Ufer. Der Sarg war leer. Schätze, es muß wohl jemand drin gewesen sein, aber wer auch immer das gewesen sein mag, er war schon längst weggespült worden; er war ganz sauber innen drin, gebleicht von Sonne und Wind. Wir trugen ihn ans Lagerfeuer, wo auch Tyler lag. Es war ein antikes Ding, und auf dem Deckel war ein wunderschöner geschnitzter Engel, mit gespreizten Flügeln, die Hände zum Gebet gefaltet, und schaute hinaus auf die Welt. Zu Füßen von dem Engel war ein Skelett, und der Engel zertrat dessen Schädel mit der Ferse. Aus einer Augenhöhle kroch eine Schlange. Die Augen von dem Engel waren blank. Ich ließ meine Finger über das alte Holz gleiten, und es fühlte sich gut an, gut, solide, uralt. »So eine Arbeit sieht man heute kaum noch«, sagte Kaczmarczyk, »außer im Alten Kontinent.« Wir legten Tyler in den Sarg und schlossen den Deckel, und jeder sprach auf seine Weise ein Gebet. »Wo wird er jetzt hingehen?« fragte ich. »Nach Baltimore«, sagte Walt, »wo er geboren wurde. Ich werde seiner Mutter schreiben, und wir werden mit dem Zug rauffahren. Und vielleicht, Zacko, machen wir Halt beim Grab von Edgar Allan Poe.« »Wer ist das?« sagte ich, »ein Freund von dir?« Walt lächelte nur, nahm mich kurz in den Arm und sagte mir, daß er mich liebt.
Weich, weich, weich Schmiegt sich an jede Welle die nächste Welle Und wieder die nächste, Umarmend und schmeichelnd, dicht, so dicht, Aber mein Liebstes schmiegt sich nicht an mich, an mich. – Walt Whitman
Ein Chorsänger in Cambridge 1811
22 MRS. GRAINGER ERHÄLT EIN SENDSCHREIBEN IHRES VERSTORBENEN MANNES
1 »Baltimore!« rief Phoebe. »Und Edgar Allan Poe! Nun denn, Paula, es Zeit, das zu tun, was unser Mann mir gesagt haben zu tun.« »Und das wäre?« fragte ich.
»Er mir sagen, ich wissen, wenn richtige Zeit kommen«, erwiderte sie und verließ abrupt den Salon, wo wir alle beim Kaffee saßen. »Himmel«, sagte ich. »Es wird nicht einfacher, Phoebe zu verstehen, egal wieviel Neues über sie ich entdecke.« »Merkwürdig«, sagte Mr. Whitman. »Die Erwähnung von Edgar Allan Poe schien geradezu ein Zauberwort gewesen zu sein, eine Art ›Sesam öffne dich‹, wenn man so will. Vielleicht hatte Ihr Mann eine besondere Vorliebe für diesen makabren Herren gehabt?« »Ich glaube, sie haben sich ein- oder zweimal geschrieben. Vor ungefähr zwanzig Jahren.« Ich hörte Phoebes Schritte, und als sie wieder in den Salon kam, trug sie eine Holzkiste. Sie war mit einer Art Schellack überzogen und schwarz bemalt mit diesen Zeichen, die, wie ich jetzt wußte, vévé hießen. Sie überreichte mir die Kiste und sagte: »Mr. Grainger sagen, ich dir das geben, wenn du bereit sein.« Ich nahm die Kiste und war mir unsicher, ob ich sie vor allen anderen öffnen sollte. Denn obwohl es mir vorkam, als hätten wir mehrere Leben miteinander durchlebt, kannte ich diesen Dichter und seinen Freund immerhin erst seit ein paar Tagen. »Wir werden Ihre Privatsphäre respektieren, Mrs. Grainger«, sagte Mr. Whitman, und er und Zack gingen zum Diwan beim Fenster hinüber. Ich fragte mich, ob Mr. Whitman schon erahnt hatte, daß meine Beziehung zu seinem Freund inzwischen nicht mehr so unschuldig wie zuvor war. Ich war mir sicher, daß Phoebe wußte, was alles in dieser Kiste war, denn sie zeigte keine Neugierde. Wie auch immer, ich saß im Fauteuil, öffnete das Schloß. Meine Freunde hatten sich über den ganzen Raum verteilt und waren geflissentlich bemüht, meinem Blick auszuweichen. Es war eine beinah komische Situation. Einen Augenblick fühlte ich mich hochgradig verlegen, denn ich
hatte mich nicht einmal umgezogen und trug immer noch den Überzieher, der als einziges meine Blöße bedeckte. Phoebe jedoch hatte ich bei meiner Rückkehr in ihrer schwarz-weißen Dienstmädchenkleidung angetroffen, und die Küche war blitzblank sauber, ohne die geringste Spur von schwarzer Magie. Mochte dem sein, wie es wollte, ich öffnete die Kiste. Ich sah, daß Phoebe vollkommen über den Inhalt Bescheid gewußt haben mußte, denn eines der Dinge erkannte ich sofort wieder – es war das Notizbuch, das ich in der Kommode unter ihrem Bett gefunden hatte, das Notizbuch mit den Listen von afrikanischen Wörtern und Zeichnungen von den vévé genannten Sigillen. Ich blätterte es flüchtig durch und verstand immer noch nicht viel mehr als zuvor. Und dort war auch der Brief von Präsident Lincoln. »Das kenne ich alles«, sagte ich. »Schau weiter, Paula«, sagte Phoebe. »An dem Tag, als du die Papiere in der Kiste durchsucht hast, war ich gerade dabei, alles für dich zusammenzutragen. Jetzt sind sie alle geordnet. Du solltest mit dem versiegelten Brief anfangen, in dem dicken braunen LImschlag.« Ich zog ihn hervor. Das Wachs Siegel war ungebrochen. Er war folgendermaßen adressiert: An meine liebe Frau Paula, von Aloysius Grainger, ihrem vielgepeinigten Ehemann: Mit dem ernstlichen Wunsch, sie möge diese Worte erst lesen, wenn ich längst heimgegangen bin. Phoebe soll Zeit und Ort bestimmen. Die Handschrift meines Mannes war im allgemeinen sehr ordentlich und sehr klein, aber dies hier war grob und eilig aufs Papier geworfen, mit einer Hand, die gezittert haben mußte.
Hastig erbrach ich das Siegel. Einige Dokumente fielen heraus; das erste, in der Handschrift meines Mannes, war ein Brief, der aus fünf oder sechs Seiten bestand und sorgfältiger als die Adresse geschrieben war. Es war offensichtlich etwas, worüber er gründlich nachgedacht hatte. Ich zitterte, als ich zu lesen anfing.
2 Meine Liebste, begann der Brief, wenn Du dies liest, werde ich seit mindestens ein oder zwei Jahren im Grabe liegen. Es ist gut so. Ich wollte nicht, daß Dir diese Briefe ausgehändigt werden, während Du noch von Trauer um meinen Tod zerrissen bist und nicht in der Lage wärest, alles, was ich erlebt und gesehen habe, voll und ganz zu erfassen. Sei gewiß, meine Liebe, daß ich Dich über alles liebe und schätze. Ich weiß, daß es Zeiten gegeben hat, in denen es nicht danach aussah, aber ich bin schon immer ein schüchterner Mann gewesen und habe versucht, meine gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten dadurch zu überwinden, daß ich Dinge unternahm, die ich für edel und human hielt, oder daß ich mich für eine gerechte und rechtschaffene Sache eingesetzt habe. Sachen, Sachen, Sachen! Meine liebste Paula, Du kennst mich sehr gut als jemanden, der verlorene Sachen verfolgt. Du hast mich verwöhnt, zu sehr verwöhnt, um die Wahrheit zu sagen – und dennoch kennst Du nicht einmal die Hälfte davon. Der Abolitionismus – vielleicht die einzige Sache, die nicht ganz verloren war –, Du warst mir dabei eine enorme Hilfe. Die Entkräftung des Mesmerismus, Darwinismus und anderer Pseudowissenschaften waren weniger erfolgreich, aber wir hatten eine Menge Spaß dabei, meine Liebe, nicht wahr? Doch
da waren Sachen und Besessenheiten, von denen ich Dir nie etwas gesagt habe, meine Liebe, weil ich dachte, es hätte Dich beunruhigt. Eine davon war die Wiederauferstehung des Leibes. Ich hoffe, daß Dich das nicht gar zu sehr schockiert, meine Liebe. Aber ich habe Phoebe gesagt, daß sie Dir diese Schreiben nicht aushändigt, bevor Du nicht einigermaßen gewappnet bist. Im übrigen habe ich schon öfter den Verdacht gehegt, daß Du Dich nicht so streng an die Lehren unseres christlichen Glaubens hältst, wie Du unseren Bekannten vorgemacht hast. Wie ich, meine Liebe, bist Du eigentlich immer Agnostikerin gewesen. Wunderst Du Dich, wenn ich das sage? Hast Du möglicherweise geglaubt, vielleicht um meinetwillen der Schrift Lippenbekenntnisse ablegen zu müssen, weil ich geweihter Priester bin und es sich für die Frau eines Priesters nicht ziemt, Zweifel zu zeigen? Aber, meine Liebe, wir leben im neunzehnten Jahrhundert; wer sich an die Evangelien klammert, als ob wir uns noch im frühen Mittelalter befänden, ist ein Narr. Laß es mich darum noch einmal sagen, daß ich von der Wiederauferstehung schon immer besessen gewesen bin. Wir haben mehrere Kinder verloren. In alten Zeiten hätten wir geglaubt, dein Schoß sei verflucht, und hätten um eine Art ritueller Reinigung gebeten, aber meine ersten Gedanken waren wissenschaftliche. Ich hatte immerhin Frankenstein gelesen – welcher gebildete Mensch hat das nicht? Als unser erster Sohn starb, noch bevor er einen Monat alt war, bin ich vor Trauer schier verrückt geworden. Ich wollte, daß er wieder leben sollte, und hätte dafür meine Seele hingegeben. Ich hielt dies tote Kind in Armen, und frankensteinartige Visionen wirbelten mir durch den Kopf. Oh, Gott, ich gebe zu,
daß ich versucht habe, ihn von den Toten auferstehen zu lassen, indem ich die Techniken von Volta und Galvani angewandt habe, natürlich ohne daß etwas dabei herauskam. Die Wissenschaft schien im Kampf gegen den Tod nichts ausrichten zu können. Ja, Liebste, als Du Dich voller Trauer zurückgezogen hattest, unternahm Dein Mann in der Woche vor dem Begräbnis den Versuch, ein moderner Prometheus zu werden. Ich war so untröstlich, daß – oh, ich schäme mich, es zuzugeben – ich es nicht über mich bringen konnte, den Akt der Liebe mit Dir zu vollziehen, denn meine Lust welkte, wenn sie gerade begann – und ich fing an, schnelle Erleichterung bei anderen Frauen zu suchen. Das heißt, nur gelegentlich, und nur, wenn ich mich nicht länger beherrschen konnte. Aber so hatte es angefangen, Liebste. Dann zogen wir nach Amerika, und ich wollte einen neuen Anfang machen. Diese alptraumhafte Woche wurde in die hintersten Ecken meiner Erinnerung verbannt, und ich schwor mir, Dir niemals etwas davon zu erzählen. In Connecticut hast Du wieder ein Kind erwartet, und ich war noch nie so glücklich. Aber auch dieses Kind starb – nach nicht einmal einem halbem Jahr. Du zogst Dich wieder in Deine Schlafkammer zurück, und ich… ich stieg von den apollonischen Höhen der Wissenschaft hinab in den Sumpf des Aberglaubens… wie so viele zuvor und seitdem, versuchte ich es an der berüchtigten Indianer-Begräbnisstätte zwei Meilen nördlich von Branford, von der so viele geschrieben hatten… von der es hieß, sie würde die Toten wiederbeleben. Während Du Dich in den Schlaf weintest, versuchte ich das tote Kind wiederauferstehen zu lassen, schlief mit den Geistern auf dem kalten, verfluchten Boden der Urahnen. Auch dort wurde ich enttäuscht, und voller Trauer warf ich mich mit gesteigerter Energie auf die Angelegenheiten, für die ich eintrat, und hoffte
dadurch zu vergessen. Wohltätigkeiten, wohltätige Stiftungen, für die Bedürftigen sammeln gehen, dies alles half mir, meine Trauer eine Zeitlang zu vergessen. Aber meine Faszination von Tod und Wiederauferstehung ließ nicht nach. Ich war auch nicht der einzige. Es gab viele, die nicht nur ein Interesse an diesem Gebiet hatten, sondern auch wirkliches Wissen besaßen. Einer von ihnen war ein gewisser Mr. Poe, mit dem ich kurze Zeit einen Briefwechsel hatte, das war 1849, in seinem letzten Lebensjahr. Seit dem Tod seiner Frau hatte Mr. Poe selbst umfangreich über dieses Thema korrespondiert. Damals entschied ich mich, das Wissen der Alten auf diesem Gebiet zu studieren und alles zu lesen, was ich darüber irgend in die Finger kriegen konnte… dabei entdeckte ich in einer wissenschaftlichen Abhandlung über die schwarzen Künste auf den Karibischen Inseln, daß die houngan oder Hexendoktoren aus Santo Domingo die Toten wiederauferstehen zu lassen pflegten und sie dann zombi nannten. Hier sind einige Briefe von Mr. Poe und ein Dokument, von dem er behauptet, er habe es aus einem Kamin in London gerettet, während er dort zur Schule ging. Lies sie zuerst, meine Liebe, und dann werde ich Dir erzählen, was sich seitdem zugetragen hat und warum ich mit Sicherheit schon kalt im Grabe liege, wenn Du diese Schriften erhältst, es sei denn, es sei denn –
3 Es folgten Schriften in einer anderen Handschrift und ein zusammengeschnürter Stapel von Manuskriptseiten, deren Ecken versengt und unmöglich zu entziffern waren.
Ich nahm mir die Episteln zuerst vor, die alle ziemlich kurz waren, bis auf die letzte, die aus mehreren Bögen Kanzleipapier bestand. Mein lieber Aloysius (begann der erste), Habe versucht, die afrikanischen Sigillen zu benutzen, ohne Erfolg. Ich glaube nicht, daß sie mir noch einmal Zutritt ins Leichenschauhaus gewähren; sie glauben schon, ich sei ein besessener, morbider Mensch, der nicht weiß, wann es genug ist. Aber ach! Ich liebte sie so sehr! Wie kann man mir es verdenken, daß ich sie aus dem Jenseits wieder zurückholen möchte? Obwohl sie jetzt der Triumph der verhaßten Kunst des Einbalsamierers ist, ihr Gesicht eine leuchtende Maske aus Wachs und Formalin, ist ihr Fleisch doch kalt. Ich werde versuchen, noch eins dieser Rituale durchzuführen, aber ich glaube nicht, daß sie mich mit ihr alleinlassen werden. Der Leichenbestatter grinst schon anzüglich, wenn er mich kommen sieht und ich darum bitte, noch einen Augenblick mit meiner Virginia verbringen zu dürfen. Ich glaube, er vermutet dahinter eine unaussprechliche Perversion. Und – es ist merkwürdig, daß ich dies jemandem anvertraue, den ich kaum kenne, und trotzdem, aus irgendeinem Grund vertraue ich Ihnen. Wir müssen uns bald noch einmal im Kaffeehaus treffen. Mit Respekt und Zuneigung, Ihr Diener Edgar Fordham, New York Es gab noch einen weiteren Brief von Mr. Poe.
Mein lieber Aloysius (las ich), Deine Unterstützung während dieser überaus turbulenten Monate meines Lebens hat mir sehr geholfen. Es ist schön, jemanden zu haben, mit dem man sich austauschen kann, jemand, der nicht findet, daß das, was man anstrebt, hoffnungslos gotteslästerlich ist, so entsetzlich unnatürlich, daß man sofort als Instrument Satans gebrandmarkt wird. Das heutige Experiment wird das letzte sein müssen, denn meine geliebte Virginia muß nun sehr schnell beerdigt werden. Oh, wenn Du nur träumen könntest, was ich geträumt habe, Aloysius! Du würdest Grund haben, niemals wieder zu schlafen oder Unmengen Laudanum und Alkohol hinunterzuschütten, bis Du in einen traumlosen Schlaf versinkst. Ich werde versuchen, alle Worte zu sagen, die Du mir vorgeschlagen hast, und mein Bestes geben bei der Aussprache, was mir mit meinem Richmond-LondonBaltimore-Akzent sicher nicht leichtfallen wird! Ich hoffe, daß ein minimales Abweichen von der richtigen Aussprache nicht den falschen dunklen Gott heraufbeschwört! Mit meinen besten Wünschen, Edgar Fordham, New York Es gab noch einen dritten Brief in der gleichen Handschrift, aber hastig hingeworfen, viele Worte durchgestrichen, und einige Worte durch Tintenkleckse unleserlich… Mein lieber, lieber Aloysius, Ich fürchte, daß ich nicht mehr allzu lange werde schreiben können. Heute nacht erwachte meine Geliebte für einen kurzen Augenblick. Glaubst Du, daß ich verrückt bin? Kann ich ohne einen einzigen Zeugen, ohne die Möglichkeit, dieses
Experiment jemals wiederholen zu können, beweisen, daß die Toten ihre Augen öffnen können, denken können, fühlen können, lieben können? Können sie tatsächlich noch die Qualen fühlen, die sie im Leben erlitten haben, die Auszehrung, den blutigen Husten, die allmähliche Auflösung eines Menschen, die die Schwindsucht verursacht? Kann das Entsetzen einen Menschen über das Grab hinaus verfolgen? Kann eine ruhige, ätherische Schönheit eine Qual von diabolischem Ursprung verbergen? Oh, Gott, ich bin verrückt! Sag mir, daß ich verrückt bin! Es wäre besser, verrückt zu sein, als zu glauben, daß das, was ich gesehen habe, Wirklichkeit war… Laß mich Dir sagen, was passiert ist. Du bist ein Mann Gottes; Du hast die Kraft, es zu verstehen, vielleicht zu verzeihen. Ich kam bei dem Leichenbestatter um Mitternacht an. Sein Assistent ließ mich herein, und ich bemerkte, daß auch er mich nicht angesehen hat und ein überhebliches Lächeln unterdrückte, als ich ihn fragte, ob ich noch einen Moment mit meiner Virginia allein verbringen könnte. Sogar die Lehrlinge dachten also, daß meine nächtlichen Besuche bei meiner Geliebten etwas leicht Unzüchtiges hätten! Schließlich führte er mich jedoch in die kleine Kammer, wo Virginia lag; der Leichenbestatter hatte endlich seine Aufgabe erledigt, und Virginia ruhte in einem schlichten Sarg aus Ebenholz – da schwarz die einzig angemessene Farbe für einen Sarg ist –, die Hände zum Gebet gefaltet. Jede Spur der Schwindsucht, die ihren Körper zerstört hatte, schien von ihrem leblosen Körper genommen zu sein. Oh, wie war sie schön! Oh, wie ich mich dafür gehaßt habe, während unserer zehnjährigen Ehe nicht ein Muster der Gattenliebe gewesen zu sein, daß ich zu Zeiten mich dem Trunk ergeben hatte und ihr nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sie verdiente…
oh, wie ich mich quälte, als ich da saß und in ihr vollkommenes Gesicht blickte! Aber ich wußte, mir blieb nicht viel Zeit. Ich trug bei mir eine kleine Phiole coup poudre, von dem behauptet wurde, es wäre in New Orleans von der Königin des Woodoo, Marie Laveau, höchstpersönlich gemischt worden. Ich kannte die rituellen Worte, die ich aus unseren Gesprächen und aus einem anderen Dokument zusammengestellt hatte, das ich Dir eines Tages zeigen werde. Ich hatte alle afrikanischen Sigilla, die ich von Dir und von anderen Quellen sammeln konnte. Ich konnte nicht länger warten, ich mußte die Wiederbelebung versuchen. Ich verstreute das coup poudre auf meine Geliebte. Es war eine schlichte, weiße, aschige Substanz – den Gerüchten nach war es aus der getrockneten Leber des Puffisches hergestellt –, und ich legte das Tuch, das ich vorbereitet hatte, mit einigen vévé beschriftet, über ihr Gesicht. Dann fuhr ich mit dem Sprechgesang fort. Ich rief den Damballah Wedo, die große koulèv oder Schlange, von der die Wilden behaupten, ihr Schwanz würde sich um das ganze Universum ringeln. Ich rief Legba, den Boten der Götter. Ich rief die Namen vieler dunkler Engel, rief sie wieder und wieder, bis ich mir sicher war, daß mein Heulen die Lehrlinge herbeirufen müßte und sie mich ins Irrenhaus schaffen lassen würden. Schließlich ließ ich mich von einem Gefühlsausbruch überwältigt auf ihren Leib fallen, denn Virginia lag immer noch reglos da, trotz aller meine Versuche. Ich umarmte ihre kalten, kalten Glieder. Ich küßte ihre steinernen Lippen. Sie hatte keine Wärme, so schuf ich sie mir selbst; mein Körper erwachte zu einer verzweifelten und beunruhigenden Leidenschaft. Ich riß an den Bändern ihres Leibchens. Ich schüttelte sie. Ich wütete in diesem Sarg, weinend, aber erregt, und befreite meine eigene kleine Schlange aus den
Hosenknöpfen, machte meine Kragenknöpfe auf und keuchte nach Luft. In diesem Moment, Aloysius, bildete ich mir ein, ich hätte so etwas wie eine Erwiderung ihres kalten Fleisches verspürt. Mir schien, ihre Finger kneteten leicht meinen Rücken. Mir schien, ihre Zunge, die schwarz und von den Konservierungssalben beschmutzt war, ihre Zunge kämpfte sich durch die eisigen Lippen und zuckte an meinem Mundwinkel. Mir schien, ihre Lider flatterten. Entsetzt, und dennoch zu einer Leidenschaft aufgestachelt, die größer war als jedes Entsetzen, ergoß ich meine Lust in einer klebrigen Masse auf den schwarzen Satin ihres Leichenkleides. Erschreckt über meine Zügellosigkeit erhob ich mich von ihrem Leichnam. Ich keuchte. Sie fiel in den Sarg zurück… ich erstarrte… denn das, was ich für Einbildung gehalten hatte, schien plötzlich Wirklichkeit zu werden… die Fingerspitzen zuckten… die Augenlider flatterten… die Lippen schürzten sich, als ob sie sprechen wollten… und dann war es… Gott im Himmel! Virginia öffnete die Augen. »Ohhhh…« stöhnte sie. Da fiel ich auf die Knie und flehte sie um Verzeihung an für all die Ungerechtigkeiten, die ich ihr angetan hatte. Ich gestand meine Schürzenjägerei und meine Trunksucht. Ich schwor, daß ich von nun an nur für sie leben würde… wenn sie doch nur zurückkehren würde… Und sie sprach zu mir, mit stiller, kleiner Stimme, die vor übermächtigem Leiden bebte: »Edgar, Edgar, laß mir meinen Frieden…« »Virginia!« rief ich aus. »Sag mir wenigstens, daß es dir gut geht … daß du jetzt in den Wonnen des Paradieses lebst… daß du befreit bist von allen Qualen, mit denen die Schwindsucht dich gepeinigt hat… daß du Frieden hast…«
»Nein!« keuchte sie. »Der Schmerz!« Sie stieß einen Schrei aus voll unbeschreiblicher Qual, der sich mir in die Seele brannte, dann wurde sie still, ihre Augen jedoch blieben offen, anklagend, vorwurfsvoll, und ich wagte es nicht, sie zu schließen, wagte es nicht, sie zu berühren, im Bewußtsein des abscheulichen Aktes, den ich ihr gerade angetan hatte… Ich rannte aus der Kapelle hinaus. Die Lehrlinge waren noch im Empfangsraum und würfelten… was mich an die Soldaten erinnerte, die um das Gewand des Gekreuzigten würfelten. Ich starrte sie mit wildem Blick an. »Was habt ihr gehört?« brüllte ich. »Nun, Mr. Poe«, sagte der Junge, »was hätten wir denn hören sollen?« Und die Jungen kicherten zusammen und stießen sich gegenseitig in die Rippen. Die Narren! Sie hatten meinen Augenblick der Wahrheit zu einem obszönen Stelldichein herabgesetzt! Vielleicht hatten sie den grausigen Schrei meiner Geliebten für einen Anfall nekrophiler Lust gehalten! Aber was wäre, wenn… In der Tat, was wäre, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe? Was wäre, wenn meine Trauer mich in den Wahnsinn getrieben hat und ich in einer Illusion lebte? Jedoch, der Gedanke, in einer Raserei der Trauer gefangen zu sein, ist besser als die Alternative, nämlich zu denken, daß noch im verwesenden Fleisch ein Bewußtsein existiert… daß, wenn man sie in die kalte Erde herabläßt, ein Teil von ihr für immer schreit… Oh, Aloysius, mein Freund, was habe ich getan? Ich flehe Dich an, komm bitte nächste Woche in das Kaffeehaus, so daß Du mir ein paar Worte des Trostes geben kannst. Es ist schade, daß ich nicht mehr auf dem Broadway
wohne, so daß wir uns von einem Moment auf den anderen treffen und miteinander sprechen könnten… Dein gequälter Freund Edgar Es gab noch einen letzten Brief in der Handschrift von Mr. Poe. Dieser schien aus einer früheren Zeit zu stammen. Mein Mann hatte die Briefe nicht chronologisch geordnet, sondern hatte sie in ein System gebracht, das allmählich immer mehr enthüllte, so daß ich der Wahrheit etappenweise näherkommen würde und nicht unvorbereitet auf einmal davon überfallen würde. Sehr geehrter Reverend Grainger (begann diese letzte Epistel), Sie haben mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, wie ich zu diesem Interesse an der Wiederauferstehung gekommen bin, und ich habe Ihnen gesagt, das sei eine Geschichte gewesen, die aufgrund ihrer bizarren Zufälle und Ereignisse wenig glaubhaft erscheint. Man hat mich oft der Lügen bezichtigt – und ach, diese Vorwürfe waren nicht gänzlich unberechtigt, hatte ich doch behauptet, im hellenischen Freiheitskrieg gekämpft zu haben, was ganz offensichtlich frei erfunden war, um meine Wahlverwandtschaft mit Byron auszudrücken, dessen Werke ich als Jugendlicher sehr bewundert habe –, ich werde es Ihnen also nicht verübeln, wenn Sie meinem Bericht keinen Glauben schenken. Allerdings bin ich in Besitz eines Dokuments, das Ihnen, wie ich hoffe, den Wahrheitsgehalt beweisen wird. Wie Sie wissen, starben meine Eltern, als ich erst drei Jahre alt war, und ich wurde von Mr. Allan aus Richmond, Virginia, adoptiert, wo ich hauptsächlich von Nancy, dem
Dienstmädchen meines Adoptivvaters, erzogen wurde. Da ich meine leiblichen Eltern kaum gekannt habe und aus Dankbarkeit für die vielen Wohltaten, die mir die Familie Allan erwies, stelle ich meinem eigentlichen Familiennamen jetzt immer den Mr. Allans voran. Im Jahre 1815 zogen wir wegen der Geschäfte meines Vaters für eine Zeitlang nach England. Ich wurde in einem Londoner Internat eingeschult, es war eines der besten, wies aber dennoch alle engstirnigen Unmenschlichkeiten auf, die solchen Institutionen eigen. Als Engländer werden Sie damit wohl nur allzu vertraut sein – die Schläge, die Plackerei und dergleichen. Wie es in solchen Orten nun einmal zugeht, war es alles in allem gar nicht so schlimm, glaube ich. Aber ich muß Ihnen hier nicht das britische Schulsystem auseinandersetzen. Es genügt, wenn ich sage, daß ich in London zum ersten Mal mit dem Werk Lord Byrons bekannt wurde und über die Maßen hingerissen davon war. Ich verschlang jeden Band, den ich von meinem Vater durch insistentes In-den-Ohren-Liegen erbetteln konnte. Ich war erst sieben Jahre alt und hatte einen formbaren und empfänglichen Charakter. Was meine Lektüre betraf, war ich frühreif; von dem, was das Leben sonst ausmachte, wußte ich jedoch so gut wie nichts. Während unserer Jahre in London tätigte mein Vater Investitionen in die verschiedensten Arten von Geschäften, die allerdings häufig Mißerfolge waren, sei es, weil er sich nicht gründlich genug informiert hatte, sei es, weil er keine glückliche Hand hatte. 1820 jedoch beschloß Mr. Allan, er könnte vielleicht ein wenig in das Verlagswesen investieren, und freundete sich mit einem gewissen Mr. Murray an, Lord Byrons Verleger. Voller Ehrfurcht begleitete ich meinen Vater zu einem Essen in Mr. Murrays Haus in Mayfair. Einen noch größeren Eindruck machte mir die Anwesenheit von so erlauchten
Persönlichkeiten wie Lady Byron, Tom Moore und Augusta Leigh, obwohl der große Dichter, den ich so sehr bewunderte, irgendwo in Italien oder Griechenland oder etwas ähnlich Romantischem weilte, wohin ich selbst mich ebenfalls sehnte. London ist eine trostlose Stadt, mehr noch als Baltimore. Das Essen selbst war wunderbar – denn ich saß dort mit offenem Munde und aß nicht das kleinste bißchen, weil alle von »George dies, George jenes« daherplapperten. Daß man von dieser Gottheit schlicht und einfach als »George« sprach, erschütterte mich zutiefst. Viel geredet wurde auch über die Shelleys und über Frankenstein, den ich gerade jüngst gelesen hatte. Man ereiferte sich bedeutungsvoll über Dinge, »die zu wissen dem Menschen nicht zukam«, und dergleichen. Dann kam das Gespräch auf »Georges« Memoiren, mit denen Tom Moore betraut war und die er John Murray binnen kurzem zur Veröffentlichung übergeben wollte. Nach dem Essen wurde im Herrenzimmer der Kaffee serviert – wie es neuerdings Mode zu werden begann, wagten sich auch ein paar von den Damen in der Männer Allerheiligstes, pafften fleißig mit an der gemeinsamen Hookah und sprachen auch dem Portwein herzhaft zu. Nach ein, zwei Stunden war ich als Kind vielleicht das einzige nüchterne Wesen im Raum. Nachdem mein Vater einer kleinen Investition von dreihundert Pfund zugestimmt hatte, lag er ohnmächtig auf dem Diwan. Da das Gespräch sich jetzt von Byron abgewandt hatte, vergnügte ich mich damit, die Bücher in den Regalen anzuschauen – viele und manch alter Folio lang vergess’ner Lehr’, in der Tat! Denn Mr. Murray besaß viele Bände des Okkulten und Zauberbücher und merkwürdige kleine Volksbücher, viel gab es da, was meinen Geist fesselte. Auf einmal merkte ich, daß eine Auseinandersetzung im Gange war. »Absolut nicht, Mr. Murray!« rief Lady Byron gerade. »Dieses Buch wird uns alle in den Schmutz ziehen. Stellen Sie
sich vor, wenn die Wahrheit über Georges kleines Stelldichein mit seiner Halbschwester bekannt würde.« »Das ist nicht der Punkt«, sagte die Halbschwester selbst. »Es sind diese scheußlichen kleinen Eskapaden mit den Chorknaben in Cambridge, die mich beunruhigen. Nun, jeder weiß, daß solche Sachen passieren, natürlich, aber Himmel, er spricht ja wahrhaftig davon, wie er seinen, nun, Schwanz in…« »Oh!« kreischte Lady Byron. Mr. Moore sagte: »Nun, können Sie es nicht einfach irgendwo wegsperren? Nachwelt und so, wie? Ich meine, Teile davon sind hinreißend geschrieben…« »Ich nehme an, Sie meinen den Abschnitt, wo er die Größe von meiner Pflaume mit der von Mrs. Shelley vergleicht?« sagte Augusta Leigh, was jeden, der nicht vollkommen sturzbetrunken war, nach Luft schnappen ließ. »Nicht nur das«, sagte Lady Byron, »aber manches darin ist schlichtweg Müll – zum Beispiel die Szene, wo dieser kleine Negersklave irgendeinen dreckigen kleinen Jungen aus dem Grab zurückholt…« Ich spitzte die Ohren. Obwohl man diese Geschichte als nebensächlich abzutun schien – mir kam sie so verlockend vor, so entsetzlich pikant, daß es mich sehnlichst verlangte, mehr darüber zu erfahren, wie sich Schulbuben ja auch gegenseitig bis spät in die Nacht mit Gespenstergeschichten ängstigen. Mehr wurde aber nicht darüber gesprochen, nur mehr und zunehmend betrunken wurde die Gesellschaft, bis Mr. Murray schließlich sagte: »Nun denn, wenn die Damen darauf bestehen, tue ich es! Also los! Tausende von Pfund gehen in Rauch auf, damit der Schornsteinfeger auch eine Freude hat!« Ich kroch zum Kamin hinüber und spähte über den Rand eines Sofas – sie hatten meine Anwesenheit gänzlich vergessen – und sah, wie Mr. Brown aus einer Samt-Ottomane einen großen Stapel Papiere herauszog, die mit großer,
selbstherrlicher Schrift beschrieben waren. Beim Anblick des Titelblattes hätte ich vor Überraschung beinah aufgeschrien, denn es waren Lord Byrons Memoiren, die er während seines Aufenthalts auf dem Kontinent geschrieben und seinem Freund Mr. Moore in Gewahrsam gegeben hatte. »Es ist höchst unklug«, sagte Mr. Murray. »Wirklich, ich sollte das Zeug einschließen und abwarten, bis Sie alle ganz ganz tot sind – und dann mache ich ein Vermögen damit!« Er warf einige Blätter ins Feuer. »Vermögen!« sagte Lady Byron. »Haben Sie nicht genug Geld an diesem vulgären kleinen, romantischen Werk von dieser Mary Wollstonecraft verdient?« »Nein, bevor Sie Ihre Meinung ändern – «, sagte August Leigh, ergriff eine weitere Handvoll Papiere und warf sie ebenfalls in den Kamin. Binnen kurzem und mit Lachen beteiligten sie sich alle am Verbrennen des unschätzbaren Manuskripts. Eine Kuckucksuhr rief die Stunde. »Himmel!« sagte Mr. Murray. »Wir haben hier lang genug herumgetrödelt – wir müssen den Damen Gesellschaft leisten.« Woraufhin die beiden Damen, die es für gut gefunden hatten, gemeinsam mit den Männern zu rauchen, in ein herzliches Gelächter ausbrachen. Alle marschierten sie hinaus, bis auf meinen Vater, der der Welt ins Land der Träume abhanden gekommen war, und bis auf mich selbst, ein Kind, unbeachtet und unsichtbar. Ich verschwendete keine Zeit. Ich rannte zum Kamin und riß so viele Papiere heraus, wie ich konnte – es waren nur wenige Überbleibsel von dem ganzen brennenden Haufen. Ich hob eine Ecke des Perserteppichs an und schlug damit wiederholt auf die Seiten ein, um die Flammen zu ersticken, dann stopfte ich den Raub in meinem Matrosenanzug.
Aloysius – darf ich mir die Kühnheit erlauben, Sie so anzusprechen? – diese Papiere sollten den Keim meines Interesses für die Untoten in meine Seele legen. Die inzestuösen Liebschaften Lord Byrons oder sein Kokettieren mit der Sodomie interessierten mich überhaupt nicht. Aber die Blätter, die ich aus den Flammen hatte retten können, enthielten noch eine andere Geschichte, die, so glaube ich, für Ihr eigenes Hauptanliegen nicht gänzlich belanglos ist. Hiermit übersende ich sie Ihnen. Behalten Sie sie ruhig eine Zeitlang. Um ehrlich zu sein, ihre Anwesenheit in meinem Heim erfüllt mich mit unguten Gefühlen… zumal Virginias Schlafgemach sich neben meinem Arbeitszimmer befindet, in dem ich diese morbiden Texte verschlossen habe, und sie dort nebenan Blut hustet. Vielleicht können diese Papiere dem Material, das Sie selbst über die zombi der karibischen Afrikaner zusammengetragen haben, ein paar Einzelheiten hinzufügen. Ich verbleibe, mein neuer Freund und Mitschüler des Okkulten, als Ihr gehorsamer Diener, Edgar Allan Poe
3 Ich war so in diese vielen Briefe vertieft, daß ich gar nicht merkte, wie spät es geworden war. Als ich jetzt aber aufblickte, bemerkte ich, wie meine Gefährten mich gespannt ansahen. Also reichte ich Mr. Whitman die Seiten, die ich schon gelesen hatte. Es folgte eine weitere Notiz meines verstorbenen Mannes – ein einziger Absatz, der lautete: »Meine Liebe, wenn Du bitte diese selbigen Seiten von Lord Byron durchlesen würdest,
wirst Du, glaube ich, voll und ganz verstehen können, wo hier überall Berührungspunkte mit unserem Leben bestehen… und dann, Liebste, werde ich Dir erklären können, warum alles, was Du über unsere Dienstmagd Phoebe vermutet hast, nur vorgetäuscht war, und warum ich tun muß, was ich jetzt tue: warum ich jetzt sterben muß.« Mit dem größten Gefühl des Grauens, das man sich vorstellen kann, löste ich die Bänder um die angebrannten Papiere und begann zu lesen.
23 WORIN JOSEPH SEINE WAHRE BERUFUNG ERKENNT
1 Thyrza… Thyrza… Thyrza (begann dieses Manuskript, und danach fehlten einige Stellen, es folgten Teile, die anscheinend lediglich Skizzen waren und so aussahen, als sollten sie zu einem späteren Zeitpunkt vervollständigt werden… und dann fehlten natürlich ganze Abschnitte, weil das Feuer an diesen Stellen Löcher ins Papier gebrannt hatte)… Thyrza, Thyrza. Thyrza… in einer vollkommenen Welt, O Thyrza, hätte ich nicht verbergen müssen, daß du Thyrza und ***
John Edleston, ein Chorknabe hier in Trinity, sechzehn, noch nicht im Stimmbruch; versichert jedoch, kein Kastrat zu sein, da ich und dann war da noch der Amerikaner. Sein Vater war Engländer, wurde während der amerikanischen Revolution aber Staatsbürger von Georgia; ich nehme an, es war eine rein finanzielle Entscheidung, denn auf diese Weise konnte er so manchen Penny an Steuern sparen. Er war vielleicht siebzehn Jahre alt, als er ans Trinity kam; habe gesehen, wie er seine
Mahlzeiten am Hohen Tisch einnahm, und das Merkwürdigste war, daß er einen Negerdiener bei sich hatte, angetan mit einem entzückenden blauen Satinanzug und einer drollig altmodischen Perücke. Ein demonstrativ wohlhabender Bursche, dieser Griffin Bledsoe; und in Anbetracht dessen, daß meine Schulden an Michaeli sich auf viertausend Pfund beliefen, beschloß ich, seine Bekanntschaft zu machen. Zumindest war ich mir sicher, daß er mir einige Runden Ale spendieren würde; die Leute aus den Kolonien sind sehr leicht sehr schwer beeindruckt von einem echten vonund-zu-Lord, besonders, wenn man ihnen dann noch sagt, sie bräuchten einen nicht mit der Lordschaft anzusprechen – »Byron« reicht in der Regel –, wenn es sein muß, sogar Gordon. Nicht so dieser Bledsoe-Bursche. Er war womöglich lordschaftlicher als jedes Original. Dennoch schien es ihn zu freuen, daß ich ihn draußen vor der Halle ansprach und auf ein Glas Portwein zu mir einlud. Er brachte seinen Diener mit. Er fühlte sich nicht recht wohl hier. Er war auf der Suche nach einem Freund, und dieser Freund wollte ich nur allzu gerne werden – zumindest für die Zeit, die ich brauchen würde, ihn um ein paar hundert Pfund zu erleichtern. Ich brauchte einen neuen Anzug, seit beinahe zwei Monaten schon lief ich in der gleichen Kleidung herum. Meine Stimmung hob sich, als er an meine Tür klopfte und ich sah, daß sein Diener ein ganzes Faß Portwein mitgebracht hatte, das er zweifellos in dem kleinen Etablissement neben St. Edmunds gekauft hatte. Vielleicht waren Bledsoe die Gerüchte über Ausschweifungen zu Ohren gekommen, die sich in meinem Zimmer abspielten – in Wirklichkeit waren das Mythen, denen ich selbst sorgsam Nahrung verschaffte, indem ich mich morgens gelegentlich von der Aufwartefrau überraschen ließ, die mich scheinbar schlafend in scheinbar kompromittierenden Situationen vorfand, zum Beispiel mit einem Bären, einem
Chorknaben, einem Skelett aus der medizinischen Fakultät, einem Schaf und ähnlichem. Ich beeile mich, hinzuzufügen, daß dies reine Augenwischerei war, mit der ich meinen legendären Status ausbaute, um dahinter die tatsächlichen Ausschweifungen zu verbergen, von denen niemand etwas wußte. Um ehrlich zu sein, die Aufwartefrau in unserem Flügel des Gevierts kam selten in meine Räume; ich hatte sie ein- oder zweimal zu oft erschreckt. Meine Räume am Trinity College waren darum die unordentlichsten in ganz Cambridge. Auf jeden Fall war Thyrza diese Woche bei mir, und die Gelegenheit schien mir äußerst günstig, diesem Provinzler mit seinem herausgeputzten Sklaven einen Hauch von Dekadenz zu servieren. Ich ließ Thyrza in vollem Ornat – Spitzenmorgenrock, kleines Schönheitspflästerchen auf der linken Wange, Lippen so recht nach Hurenart rot angemalt – die Tür aufreißen und eine Begrüßung kreischen, deren verführerischer Ton der Phantasie wenig Raum ließ. »Oh, George, es ist dieser entzückende Amerikaner mit seinem petit-nègre! Ach, wie außer aller Maßen zau-ber-haft.« »Willkommen, Bledsoe«, sagte ich, und lud ihn mit träger Handbewegung ein, auf dem Diwan Platz zu nehmen, »darf ich Ihnen meine Geliebte, Thyrza, vorstellen.« »Entzückt, Madam«, sagte Bledsoe und küßte Thyrzas Hand. »Herein, meine Lieben! Ach, lieber Himmel, wahrlich, diese kleinen schwarzen Jungs, ich bete sie an«, quiekte Thyrza, der unser kleines Spielchen von Herzen genoß. Der kleine schwarze Junge brach sofort in Lachen aus. »Nun, Marse Griffin«, sagte er, »das ein Junge in diesem Kleid da.« Thyrza runzelte die Stirn. »Ich hätte gedacht, daß ich etwas überzeugender gewesen wäre«, sagte er mit seiner gespenstisch alterslosen Stimme.
Der Junge sagte: »Oh, du schon überzeugend, Sir; du haben diese Gabe; ich glauben, du seien Jünger von Mawu-Lissa, die heilige Mann-Frau, die gemacht haben das Universum.« Nun! Wenn ich vorgehabt hatte, zu verführen und zu mystifizieren, so hatte sich das Blatt jetzt gewendet. Dies war ein faszinierendes Paar, und während wir Portwein und Opium kreisen ließen, sollte ich noch mehr über sie erfahren. Thyrza, der ins Schlafzimmer gegangen war und nach kurzer Zeit als John wieder herauskam, war sogar entschieden teilnahmslos, da er nicht länger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Der Neger hatte eine interessante Art zu sprechen – nicht ganz dieser »nigger talk«, der so oft in den Groschenromanen strapaziert wird, sondern – trotz seines barbarischen grammatikalischen Satzbaus – eine Sprache mit ihren eigenen Regeln, und viele gebildete lateinische Worte, von den Französischbrocken gar nicht zu reden. Auch benahm er sich nicht so sehr wie ein Sklave, sondern beteiligte sich frei an unserem Gespräch. Griffin Bledsoe war ein häßlicher Kerl, aber er hatte eine Vergangenheit, die denn doch einiger Beachtung wert war. Sein Vater hatte ihn nach Cambridge geschickt, um seine Wildheit zu bezähmen und damit er sich etwas europäische Kultur einverleiben sollte. Wenn die Hälfte von dem zutraf, was er mir erzählte, dann hatte er in der Tat eine exotische Kindheit erlebt – Zuckerplantagen auf Santo Domingo, Baumwollfelder in Georgia – und sein Vater ein echter König, mit Sklaven, Schiffen und unendlich viel Geld. Ich begann die Möglichkeit zu überdenken, daß meine angehäuften Schulden am Ende vielleicht doch noch einer Tilgung zugeführt werden könnten. Es stellte sich heraus, daß Bledsoe und ich den gleichen Klassikdozenten hatten und wir uns daher also ziemlich oft begegnen würden, obwohl ich es mir zur Gewohnheit gemacht
hatte, mich so wenig wie möglich vor den Dozenten und Professoren zu zeigen, weil das meinen Ruf von Zersetzung, Verschwendung und romantischer Melancholie Lügen gestraft hätte. »Nun, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Lord Byron…«, sagte er. »Oh, nennen Sie mich George«, unterbrach ich. Noblesse oblige und all das. Übermäßig beeindruckt schien er davon jedoch nicht zu sein. Nun, in den Kolonien sind die Menschen weit weniger formell, es mag ihm also gar nicht recht bewußt geworden sein, was für ein Privileg ich ihm da eingeräumt hatte. »Was ich sagen wollte«, fuhr er fort, »der wirkliche Grund, weshalb man mich hier ins Exil geschickt hat, ist, daß mein Vater mich einmal zu oft dabei erwischt hat, wie ich, nun, sagen wir mal, mit der Ware herumgespielt habe.« »Ah, die schwarzen Mägdelein.« »Nun, es gab da einen ungesunden Wettbewerb zwischen uns beiden, und jetzt kann er sie alle für sich alleine haben.« Allem Anschein nach sah er seinen Aufenthalt in England gar nicht so sehr als eine Pilgerfahrt auf den Parnaß an, wo er ohne Umwege mit den Wurzeln seiner Kultur in Verbindung treten konnte – tatsächlich sah er darin ein graues und grauenhaftes Gefängnis, das ihn vom Luxus und den lüsternen Exzessen seines Lebens in der Heimat fernhielt. Ich hatte geglaubt, ihn mit meinen Erzählungen zu beeindrucken, statt dessen wurde ich von den seinen angezogen. Begegnungen mit Sklavenfrauen in Mangogärten, die Feuer von Port-au-Prince während der schwarzen Revolte, die tobenden Zeremonien der houngan und mambo, und, was noch faszinierender war, das Woodoo-Ritual der Wiederbelebung der Toten. Es war Joseph, der schwarze Diener, der uns die sensationellen Einzelheiten über diese Praktiken berichtete.
»Sie sehen, Sie Lordschaft«, sagte er, »wenn die Ältesten eines Dorfes oder der Haupt-houngan entscheiden, daß ein Mann zu böse ist, um weiterzuleben in dieser Welt, oder eine Frau muß wegen Ehebruch bestraft werden, dann sie beschließen, dieser Mensch werden ein zombi. Der Mann, der diese Zeremonie durchführen, er genannt houngan macoute – ein Zauberer der Finsternis. Also dieser houngan macoute, er sich sammeln alle Zutaten, um dieses Ding zu machen, genannt coup poudre, ein zombi-Pulver. Wenn dieses Pulver gemischt ist, er setzen das Puder auf die Türschwelle des Opfers oder er es blasen in die Augen oder es streuen in eine Hautwunde des Opfers; und in ein, zwei Tagen, dieser Mann verfallen in eine Art Tod, und sie ihn beerdigen. Aber am dritten Tag, sie ihn ziehen aus dem Boden, und sie ihn füttern mit Saft von einer Pflanze, er nennen concombre zombi, und der Mann wird zum lebenden Toten.« Man kann sich vorstellen, was für eine Gänsehaut ich bei diesen Reden bekam – oh, herrlich war es! –, und was John anging, so fürchtete er sich dermaßen, daß er sich auf dem Diwan ganz klein zusammenrollte. Vampire, Geister und dämonische Liebhaber waren nichts gegen die überaus sachliche Beschreibung dieses schwarzen Jungen von Grabschänderei und Reanimation! Seit damals haben sich viele von Mary Wollstonecrafts albernem kleinen melodramatischen Büchlein wohlige Schauer über den Rücken laufen lassen, aber ich kann Ihnen versichern, daß kein Schaudern bei der Lektüre dieses Schinkens gegen die aufrichtige und ehrliche Glaubwürdigkeit von der Geschichte dieses Sklaven aufkommt! Und zu denken, daß diese Frau nicht einmal zugegeben hat, mich davon sprechen gehört zu haben! Ein Aspekt an der ganzen Sache aber erregte meine Wißbegier besonders. Handelte es sich hier nur um abergläubische Magie, oder gab es für das alles eine
wissenschaftliche Grundlage? Pulver und Tränke deuteten auf Alchemie… doch das Geheimnis von Leben und Tod selbst… hatte es damit nicht etwas Metaphysisches auf sich? »Und was«, fragte ich ihn, »wenn du keinen Zugang zu solchen Zutaten hättest? Könnte ein Zauberspruch dennoch seine Wirkung tun?« »Ich das nicht wissen, Sie Lordschaft«, sagte er, »aber mag sein, ein wirklich machtvoll houngan…« »Ich verstehe. Noch tiefere und dunklere Geheimnisse.« »Um Wissen zu erlangen«, sagte der Junge, »immer müssen zahlen ein Preis.« »Wie absolut faustisch!« sagte ich. »Darauf müssen wir trinken!« Wir tranken alle noch einen Portwein, und dann mit dem Boot nach Granchester zum Erdbeeren pflücken, bevor wir ein kleines Wasserloch zum Baden gefunden, das von Bäumen beschattet war, dort trieben wir es nach Art der Griechen, ohne uns im geringsten unserer körperlichen Unvollkommenheiten zu schämen, denn, wie Donne sagte, Nacktheit! Alle Freuden verdanken wir dir und in der Tat, mit viel Gelächter, und viel Vergleichen unserer phalloi in den verschiedenen Stadien der Entwicklung, worauf Griffin eine Bemerkung über die hengstartige Beschaffenheit eines bestimmten Ne und starb. Oh, ihr unsterblichen Prinzipien! Oh, ihr Götter im Himmel, und starb! so daß ich
Thyrza! in der Kapelle des College, wo selbst das gotische Gemäuer mit Tränen benetzt schien, aber ja, John konnte mit seinem Gesang einen Stein zu Tränen erweichen, und eines Abends gab es eine Palestrina-Motette, die der Ton auch, der mich, wenn der arge schlimme, Mißmut mich faßte, lustdurchdrang, das süße Lied Himmelslied von deiner Stimme, das nur so süß, wenn sie es sang. Granchester wieder; Bledsoe und der Sklave; Hobhouse über das Wochenende verreist; kein John natürlich. John war vor einer Woche begraben worden. Grüne Wiesen, eine schöne Kellnerin schenkt Tee ein, Gänseblümchen und hübsch sich kräuselndes Wasser, das Boot an eine Trauerweide gebunden. Und die Erdbeeren natürlich. »Joseph«, sagte ich, »kannst du nicht diese Woodoo-Sache da machen … dieses zombi-Ding, wie du es nennst… und ihn zurückbringen?« »Lord Byron«, sagte Bledsoe, »Sie geben wirklich zuviel auf das abergläubische Geplapper eines Sklaven. Erinnern Sie mich bitte daran, ihm heute abend eine tüchtige Tracht Prügel zu verabreichen.« Joseph nahm sich noch eine Erdbeere. Die Drohung seines Herrn schien ihm nicht das geringste auszumachen. Seine Lippen waren sehr, sehr rot; sinnlich, könnte man sagen, wenn da nicht seine Stupsnase gewesen wäre. Ich gebe zu, daß Johns Tod mich regelrecht entmannt hatte. Ich suchte Hilfe im kleinsten Fünkchen Hoffnung, egal wie aussichtslos. Zeus! Aber wir waren jung. John Edleston, das begreife ich jetzt, war
nur ein hübsches, leicht schmuddeliges Mitglied der unteren Klassen, mit einer engelsgleichen Stimme und ein paar weiteren akrobatischen Fähigkeiten, die ich hier nicht auflisten werde, obwohl sie meinen alten Mitschülern aus Harrow zweifellos bekannt vorkommen dürften… Liebe war es nicht. Die Liebe würde ich nicht vor meinem Wiedersehen mit meiner Halbschwester Gus kennenlernen… aber das wartet auf ein anderes Kapitel meiner geheimen Memoiren. »Wissen Sie, Griffin«, sagte ich, »das ist kein müßiger Aberglaube. Sie wissen das. Sie haben diese Dinge gesehen, Mann! Ich weiß, daß das, was Sie mir beschrieben haben, nicht nur zusammenphantasiert ist. Das hätte nicht einmal ich gekonnt – und ich bin ein Dichter mit direktem spiritistischen Draht zu allen neun Musen!« Bledsoe entgegnete: »Es mag ja ganz schön und nett sein, an die Möglichkeit solcher Dinge zu glauben. Aber daß Josef hier diese Kräfte besitzen könnte…« Er kicherte. »Seine Mutter war eine sogenannte Zauberin. Aber die Franzosen haben sie in zwanzig Stücke zerschnitten, und sie kam niemals von den Toten zurück.« Er sah mir aber nicht in die Augen, als er das sagte. Ich wußte, daß er etwas verheimlichte. Ich hatte seine Geschichten auf Widersprüchlichkeiten oder Fehler hin analysiert. Dann kam mir die Erleuchtung. »Opfer«, sagte ich. »Das ist es! Alles hat seinen Preis, oder nicht?« »Was meinen Sie damit?« »Sie haben mir gesagt, Griffin, daß Joseph nicht wie seine Mutter oder seine Schwester die Zauberei ausüben kann, weil er noch kein Opfer gebracht hat… ein Glied, ein Auge… im Falle von Ameli, ihre Unschuld. Nun, dann ist die Lösung doch ganz einfach. Ich möchte John Edleston von den Toten
zurückgebracht haben. Joseph soll ihn zu mir bringen; er wird das aufopfern, was aufgeopfert werden muß.« »Ich kann ihn wohl kaum dazu zwingen, sich ein Glied auszureißen, Lord Byron…« »Warum nicht? Ist er nicht ein Sklave? Ist er nicht Ihr Besitz – Leben, Gliedmaßen, Körper, Seele?« »Es verhält sich so«, sagte Bledsoe, »daß seine Papiere auf den Namen meines Vaters ausgestellt sind, nicht auf meinen. Und, also, sie zu peitschen ist eine Sache, aber einen Arm abhacken, Mann, würden Sie denn diesem Tisch hier ein Bein abhacken? Von einem dreibeinigen Tisch würden wir diese Erdbeeren bestimmt nicht genießen können, oder?« Mir war klar, daß ich Bledsoe sehr beunruhigte. Ich hatte seine Geschichte gehört, wie die Sklaven über Bord geworfen wurden, um die Versicherungssumme für sie zu kassieren; ich hatte wirklich nicht geglaubt, daß er sich scheuen würde, einen Arm abzuhacken, zumindest nicht vom Prinzip her; aber er und der Sklave waren mehr wie Brüder und nicht wie Herr und Diener. Der Verlust Thyrzas hatte mich jedoch jeglichen Vernunftgründen gegenüber unzugänglich gemacht. Ich war noch keine zwanzig Jahre alt, und man war während meiner ganzen Kindheit auf den kleinsten meiner Wünsche eingegangen – wenn ich meinen Willen nicht bekam, verstärkte ich mein Hinken, und das reichte bei den meisten Menschen gewöhnlich, um sie umzustimmen. Selbstlosigkeit habe ich bis zum Alter von dreiundzwanzig nicht gelernt. Ich wollte diesen Chorknaben zurückhaben! Ich wollte, daß er wieder singt… diesmal vielleicht für mich alleine singt… daß er singt und noch vieles mehr. »Dann wird er es aus freien Stücken tun müssen«, sagte ich. Joseph ergriff das Wort. »Marse Griffin, und Sie Lordschaft, es gibt nichts auf dieser Welt, was mich können veranlassen, das aufzuopfern, was ich müßten aufopfern, um zu erfahren
das Geheimnis von Leben und Tod. Nichts auf der Welt so kostbar, daß ich schmecken so ein Leid.« Ich winkte Griffin, mir zu folgen. Wir gingen hinüber in den Schatten einer anderen Trauerweide. »Dein Freund ist tot, George«, duzte mich Griffin, jetzt, da wir unter uns waren. »Du solltest ihm seine Ruhe lassen.« Heftig hinkend lief ich auf und ab und sagte: »Um der Liebe Gottes willen, Mann – versprich ihm Gold! Versprich ihm Frauen! Versprich ihm seine Freiheit, aber bringe ihn dazu, John Edleston von den Toten zurückzubringen!« »Seine Freiheit?« sagte Bledsoe. »Aber es ist nicht an mir, sie ihm zu gewähren.« »Vielleicht nicht – aber versprich es ihm! – oder ich – ich werde deinem Vater schreiben und ihm erzählen, daß sie dich erwischt haben, wie du Analverkehr mit dem Sohn der Aufwartefrau…« »Aber das ist doch Unsinn.« »Er wird mir glauben. Ich bin ein Dichter. Und, was mehr zählt, ich bin ein Lord, und nach dem, was du mir über deinen Vater erzählt hast, will er nichts mit den gleichmacherischen Ketzereien seiner Wahlheimat zu tun haben.« ganz ohne Stein, darauf zu lesen, und bestochen mit der Freiheit, so daß Heil dir, Eleuthera! die Kapellen-Chorschule hatte nicht viel für Johns Beerdigung aufgewendet; dies war nicht wie in King’s oder John’s College und deren altehrwürdigen, herrschaftlich ausgelegten Chorschulen, deren Abendgesang tagtäglich von Angehörigen des Königshauses und von Bischöfen und dergleichen besucht
wurden. Tatsächlich war es so, daß Probst und Collegemitglieder oft geneigt waren, diese Chorschule ganz aufzulösen, da sie zur Reputation des Colleges nicht wirklich etwas beizutragen hatte… ergo, ein Armenbegräbnis, vier Meilen außerhalb von Cambridge. Und ganz einfach, sich in diesen Friedhof einzuschleichen, mitten in der Nacht, denn er lag nur eine Meile vom Dorf entfernt, und der Vikar war über achtzig Jahre alt und taub, und auch kurzsichtig, glaube ich, obwohl er die Messe noch recht gut zelebrieren konnte. Der Amerikaner, der Sklave und ich, ein paar Schaufeln und ein Beutel mit magischem Zubehör. Es war nicht schwer, über die Mauer zu klettern, und dann befanden wir uns unter den Toten. Ich gebe zu, da die Stunde näherrückte und es mir dämmerte, was für eine gotteslästerliche Handlung wir hier tatsächlich vollbringen wollten, ich gebe zu, daß ich da Angst hatte, obwohl ich mein Bestes tat, dies zu verbergen. Ich glaube nicht, daß die anderen etwas merkten. In Wahrheit glaubte ich nicht daran, daß dieses Ritual tatsächlich funktionieren würde. Welcher Student, der etwas auf sich hält, hat sich nicht schon in die College-Kapelle geschlichen, um eine schwarze Messe zu zelebrieren, oder versucht, den Teufel anzurufen, um einen Handel nach Art des Faust abzuschließen? Es ist nur ein Spiel, sagte ich mir, und ein aufregendes, Schauder erregendes divertissement, um die freudlosen Stunden der fleischlichen Entbehrung zu vertreiben. Es gab keinen Mond. Nur das Licht von drei Laternen, die wir an einer Eiche über dem Grab aufhängten. In meinem Gedicht sagte ich, daß es keinen Stein gäbe, auf dem man lesen könnte, wer hier liegt, womit ich mir eine gewisse Freiheit genommen habe, denn man konnte sehr wohl lesen, wer da lag, wenngleich die Inschrift nur auf einem Holzkreuz stand:
John Edleston, ein Chorknabe, Alter XVI. Der Sklave besorgte die meiste Arbeit beim Graben – meine Lähmung war ein guter Vorwand, mich nicht daran beteiligen zu müssen – und ich konnte durch den Friedhof gehen und mich meiner inneren Qual ganz hingeben, ich konnte das Entsetzen dieser Stunde voll auskosten und ließ mich davon fortreißen. Denn während des Grabens sang Joseph mit der brüchigen Stimme eines sich im Stimmbruch Befindlichen, ein afrikanisches Liedchen, und die Melodie drehte und verdrehte sich in der Nachtluft wie eine gequälte Nachtigall. Joseph grub schnell – hatte man ihm nicht seine Freiheit versprochen? – und das Grab war nicht tief, der Sarg aus unbehandelter Kiefer. Bald hatten wir die Kiste aus der Erde herausgehoben und den Deckel mit einer Brechstange aufgemacht. Und dort, im Dämmerlicht, war der Junge, den ich Thyrza nannte. Ihn tot zu sehen änderte alles. Ich hatte zuvor versucht, meine Angst mit Oberflächlichkeiten zu beheben, doch jetzt wurden meine Gedanken von den Bildern von all dem beherrscht, was wir zusammen erlebt hatten – die heimlichen Blicke in der College-Kapelle, die nächtlichen Treffen, die geheimen Küsse, die wir hinter dem Rücken des Kaplans tauschten – oh, und diese Stimme! Die Engel selbst hätten nicht himmlischer klingen können. Seine tote Gestalt war bemitleidenswert. Kein Einbalsamierer hatte hier seine Kunst geübt – wer sollte sich schließlich diesen Leichnam anschauen wollen, wer außer einem liebestrunkenen Lord, der es niemals gewagt hatte, weder seine Liebe noch seine Trauer öffentlich zur Schau zu tragen? Oh, ich arbeitete mich in einen Taumel der Trauer hinein. Und derweilen bestreute der schwarze Junge den Leichnam mit merkwürdig riechenden Kräutern und rief
flehentlich seine äthiopischen Götter an und zerriß die Luft mit tierischem Heulen. Dann entnahm er seinem Zauberkastenbeutel eine kleine Schellentrommel, gab sie Bledsoe und sagte: »Langsam zuerst, dann schneller; du wirst schon den Tempo spüren, Marse Griffin, und der loa, er wird bald zu dir herunterkommen, und dich reiten, wie ein Mann einen Pferd reitet.« Bledsoe, der anfangs nicht damit umgehen konnte, versuchte einige vorsichtige Schläge; mit wachsendem Zutrauen erinnerte er sich dann zweifellos an die beobachteten Zeremonien auf Haiti und schlug einen langsamen, festen Rhythmus, während Joseph mit mächtiger Stimme die große koulev anrief, deren Schwanz den Überlieferungen dieser Wilden zufolge das Himmelsgewölbe umzingelt: Koulèv, koulèv O! Damballah Wedo! er dann und mit einem haarsträubenden Schrei »Du mir hast versprochen die Freiheit, ja oder nein, Marse Griff in, du mich jetzt nicht belügen und schwöre es und denn, siehst du monchè, ché mèt mwen, Joseph, er jetzt müssen gehen in das dunkle Land, und Joseph, er jetzt müssen etwas von sich dalassen, das sind die Regeln hob die Leiche in seinen Armen auf und umarmte sie in einer entsetzlichen Parodie des Liebesakts und dann und begrab mich«, sagte er, und zog den Deckel auf sich und den toten Jungen. Und plötzlich hörte Bledsoe mit dem
Trommeln auf. Wir standen dort in der Stille und schauten uns die Kieferkiste an, die nun zwei Jungen enthielt, schwarz und weiß, lebendig und tot. »Fang jetzt nicht wieder mit deiner Lahmheit an!« brüllte Bledsoe endlich. »Hilf mir, sie zu begraben!« Also wußte er von Anfang an, daß ich schaufelten. Schaufelten. Schaufelten. Und jede Schaufel Erde schwerer als die vorige, und wir schaufelten immer noch, und Bledsoe weinte derweilen, und ich wußte, daß er trotz seiner vorgetäuschten Gleichgültigkeit seinen Sklaven liebte; dieses Wesen war sein wertvollster Besitz; und weil ich die Echtheit dieser Liebe erkannte und wieviel Bledsoe aufgegeben hatte, um ihm die Freiheit zu versprechen, schaufelte ich noch stärker, denn ich wollte der Falschheit meiner eigenen Gefühle nicht ins Gesicht sehen, ich wollte nicht, daß er wußte, wie sehr ich mich für meine Heuchelei und Worthurerei verabscheute. Die letzte Schaufel hatte das Gewicht der Welt. Aber alsbald war das Werk getan. Wir glätteten die Erde. Niemand würde etwas erfahren, denn das Grab war sowieso erst frisch gegraben worden. Wir saßen dort die ganze Nacht und warteten darauf, so denke ich, daß die beiden aus der Erde herausplatzen würden… schließlich sagte ich: »Mann, laß uns zumindest deinen Diener wieder ausgraben…« Aber Bledsoe wollte nicht; und die Trauer, die er empfand, war die Trauer um einen für immer verlorenen Freund.
2 Im Morgengrauen liefen wir nach Cambridge zurück, gerade rechtzeitig, um in der Halle zu frühstücken – Räucherheringe, Würstchen und Haferbrei. Dann, nachdem wir die Schaufeln sicher wieder im Gärtnerschuppen verstaut hatten, aus dem wir sie in der vorigen Nacht gestohlen hatten, überquerten wir den großen Hof und gingen die engen Treppen zu meinen Räumen hinauf. Joseph stand in der Mitte meines Wohnzimmers. Das Grab klebte an seiner Kleidung. Seine Haare waren weiß geworden. Sein Gesicht, seine Hände waren voller Erde; in den Löchern seiner Kleidung noch mehr Erde; Erde in seinen Haaren, Erde rieselte von seinen Lippen; Erde, Erde, Erde. Eines seiner Augen fehlte, herausgerissen; und aus der Augenhöhle sickerte eine Mischung aus Blut und Galle und Erde. »Ich bin gekommen nach Hause, Marse Griffin«, sagte er leise. »Jozef!« rief Bledsoe. »Ist dir kalt? Brauchst du einen Glühwein? Eine heiße Tasse Schokolade?« »Überhaupt nichts«, sagte er. »Es schön, dich wiederzusehen, Marse Griffin… fré mwen-an. Es ist zwar nur ein oder zwei Stunden für dich gewesen, aber für mich war es eine lange, lange Zeit. Ich überquerte einen mächtigen Fluß und durchquerte einen dunklen Wald. Ich haben gesprochen mit dem König der anderen Welt, der, der nicht gehängt wird, oba kòso, Shangó. Ich haben gelebt viele Lebzeiten an diesem dunklen Ort, monchè, und ich gefunden diese verlorene Seele, das die Lordschaft gesucht haben. Und immer war die Freiheit auf meinen Lippen.« »Das hast du gut gemacht, monchè«, sagte Bledsoe.
»Ich bin gekommen nach Hause, Marse Griffin, und ich haben gebracht Marse John Edleston zurück aus dem Land der Toten.« »Was?« rief ich. »Wo?« »Er auf Sie warten im Schlafzimmer«, sagte der Diener. »Aber zuerst, Sie müssen verstehen noch einige Dinge. Ich bin gewesen an einem fernen, fernen Ort. Ich gezahlt ein schweren Preis für Wissen, um ihn bringen zurück. Höre nun Josephs Worte. Wenn ein Mensch zurückkommen von der anderen Seite, es immer geben ein paar Bedingungen.« »Ja«, sagte ich. »Selbstverständlich.« Merkwürdig, wie alle Mythologien der Welt zusammenlaufen; ich nehme an, es beweist, daß die Seelen der Menschen einen einzigen Ursprung haben. Orpheus war es nicht erlaubt, Eurydike anzuschauen… ich habe einmal einen Inder kennengelernt, der mir erzählte, sie hätten eine ähnliche Geschichte in Indien, nur ist es da Eurydike, die in die Unterwelt hinabsteigt, um Orpheus zurückzubringen… in Indien nennt man sie Savitri. Ein paar euphonische Veränderungen, und sie haben fast den gleichen Namen. Wenn ich hier abschweife, meine lieben Leser, dann nur wegen meiner Angst vor dem, was ich als nächstes erzählen muß. »Sag sie mir, Joseph. Aber wenn ich meinen geliebten Thyrza nicht anschauen darf, dann weiß ich nicht, warum du dich durch die Hölle gequält hast.« »Gib mir meine Freiheit«, sagte Joseph zu Bledsoe. Aber Bledsoe konnte ihm nicht in die Augen sehen und murmelte nur: »Du weißt, Jozef, daß ich sie dir nicht geben kann… aber ich werde Vater wegen deiner Papiere schreiben… ich bin mir sicher, daß er dir deine Emanzipation erteilt, wenn er erst erfährt, welchen Dienst du geleistet hast … und dazu noch für einen englischen Lord…«
»Meine Freiheit«, sagte Joseph. Leise, und ohne eine Spur von Drohung, seine leere Augenhöhle eine offene Wunde, die uns beide ständig anklagte, bis Bledsoe, der das nicht länger mit ansehen konnte, sein Halstuch runterriß und es dem Jungen als Notverband um den Kopf wickelte. War seine Freiheit die einzige Bedingung? Ich dachte: Nun denn, ich bin davongekommen, denn diese Bedingung muß Bledsoe erfüllen, nicht ich. Dann ergriff Joseph mich beim Handgelenk, und sein Griff war hart und kalt wie Stahl; er schaute mich mit seinem einen Auge an, und ich glaubte, darin die schwefeligen Flammen eines infernalischen Ortes sehen zu können… eines Ortes, ich war mir damals so sicher, wie ich es heute bin, an den eines Tages zu reisen mir bestimmt ist. »My Lord«, sagte er, »dies ist die Bedingung. Der König des Todes, er mir stellen keine Bedingungen. Diese Bedingung kommen von Marse John selber. Er hat mich lassen ihn fortführen, wenn du das hier nicht verstehst: von nun an, my Lord, Sie werden mit ihm in voller Wahrheit leben.« »Die Bedingung ist leicht zu erfüllen«, sagte ich, »denn ich bin, falls nötig, ein sehr ehrlicher Mensch; ein Dichter muß das sein, denke ich.« »Sehen Sie zu, daß es so ist«, sagte Joseph. »Sehen Sie zu, daß es so ist.« Und so trat ich in mein Schlafzimmer und fand dort meinen kostbaren Chorknaben vor, der auf mich wartete, und erweckte ihn mit einem Kuß und verbrachte eine solche Nacht, wie ich keine zuvor verbrachte, als er noch lebte.
3 Die Zeit verging; eine idyllische Zeit, um die Wahrheit zu sagen. Die Maiwoche rückte näher – ich habe mir nicht die Mühe gemacht, mich den Trimester-Examen zu unterziehen, denn, um ehrlich zu sein, ich hatte kein einziges Seminar besucht und wäre durch alle Prüfungen durchgefallen. Ich wollte meine Kränklichkeit vorschieben, um die Bezeichnung aegrotat zu erlangen, das heißt, man würde mir die Prüfungen als bestanden attestieren, ohne daß ich mich ihnen unterziehen müßte, weil ich ja schließlich krank war. In Harrow hatte ich damit ab und zu Erfolg, sogar noch bevor ich den Titel eines Barons erhielt. Ich hatte es John selbstverständlich nicht gesagt, aber um aufrichtig zu sein, empfand ich gegen seine Anatomie allmählich so etwas wie Widerwillen. Vielleicht war meine Besessenheit von Schwänzen nur eine sogenannte Phase gewesen, denn statt dessen begannen die Pflaumen der Damen mich mehr und mehr in Erregung zu versetzen, besonders die von Irene Perrier, dem französischen Mädchen des CollegeKaplans. Bledsoe bestand seine Prüfung sehr gut. Er bekam sogar eine II:i – was für ein Streber – trotzdem hatte er anscheinend immer noch soviel Zeit, sich des Abends hin und wieder zu betrinken. Aber dann kam die Zeit der Abrechnung… die Zeit, die Musiker zu bezahlen, wie man so sagt… die Zeit, ein schweres Opfer in dem Schachspiel namens Leben zu erbringen. Und es passierte, was nicht weiter überraschte, auf einem neuerlichen Bootsausflug, obwohl die Hölle bereits losbrach, ehe wir Granchester überhaupt erreicht hatten. Gut. Das Staken war Joseph überlassen, zu dieser Jahreszeit war die Landschaft sehr
lieblich, die Felder zu unserer Linken ein herrliches Grün, die Collegegebäude zu unserer Rechten eine verträumte, verhangene Kette aus Turmspitzen. Joseph stand dort, setzte mit gleichmäßiger Bewegung den Stab und starrte geradeaus, und der Fluß war glatt und murmelte sacht, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen… alles in allem ein Tag, an dem man nicht gar so oft an Selbstmord denkt wie sonst… kein guter Tag für dein tiefes Brüten, byronischer Mensch… byronisch ist inzwischen ein Begriff, nicht wahr? In ganz Europa tragen die jungen Männer das Haar so wie ich, laufen wie ich mit wildem Blick umher und machen sogar mein Hinken nach… aber an diesem Tag sollte ich erst noch ein Begriff werden… Ich war byronisch, nehme ich an, ohne mir dessen bewußt zu sein. Und unwissentlich verschlimmerte John Edleston mein Byrontum noch dadurch, daß er mich unablässig damit plagte, ihm doch Beweise meiner Liebe zu geben. »Wie, George«, sagte er, »liebst du mich denn nicht mehr?« und derlei ermüdendes Zeug. Ich antwortete nicht. Ich versuchte gerade, mir die Worte dafür zurechtzulegen, daß ich ihn nicht auf meine große Europareise mitnehmen wollte. Aber wie konnte ich ihm das begreiflich machen, wo ich doch – nachdem ich ihn von den Toten hatte zurückzaubern lassen – in gewissem Sinne für seine Existenz verantwortlich war? So brütete ich denn. Joseph fing an, verdrießlich zu werden, und verlangte von seinem Herrn zu wissen, ob die Freiheitspapiere aus Georgia denn noch nicht angekommen seien. »Griffin«, sagte er, »ich weiß, daß dein Daddy dir schon längst geschrieben hat.« »Mein Vater hat mir allerdings geschrieben«, antwortete Bledsoe endlich. Joseph steuerte das Boot ans Ufer. Er sprang an Land und setzte sich mit verschränkten Armen unter einen der vielen
Weidenbäume. Bledsoe zog einen zerknitterten Brief aus der Tasche. »Ich wußte einfach nicht, wie ich es dir sagen sollte«, sagte er. Und dann las er vor: Sohn, ich habe es Dir wieder und wieder gesagt: ein Sklave ist nur Besitz. Er ist eine Erweiterung Deiner selbst, geradeso wie eine Taschenuhr, eine Muskete oder ein Kleidungsstück. Wenn Du einen Sklaven zu außergewöhnlichen Aufgaben oder Diensten einsetzt, tust Du das, weil er ein besonders nützlicher oder dienstbeflissener Sklave ist. Wenn Dir Deine Uhr einen großen Dienst erwiesen hat – sagen wir mal, eine Kugel aufgehalten hat, so daß sie Dir nicht ins Fleisch drang – würdest Du sie dann befreien? Wenn Du das tätest, was für einen Zweck würde das erfüllen? Sie ist eine Uhr, und sie muß die Zeit anzeigen; Jozef ist ein Sklave und muß gehorchen; Du kannst nicht einfach alles wegwerfen, was er wert ist. Erinnere Dich, was Du alles durchgemacht hast, um ihn zu behalten! Erinnere Dich, daß er ansonsten schon längst hätte verkauft sein können, und an die neununddreißig Hiebe, die Du seinetwegen auf Dich genommen hast! Und, das ist der springende Punkt – ich war umsichtig genug, diesen wertvollen Besitz unter meinem Namen zu behalten. Ich wußte, wenn es nach Dir ginge, der Du sentimentalerweise diese Kreatur irgendwie für Deinen Freund hältst, dann möchtest Du vielleicht Narr genug sein, ihn in die Freiheit zu entlassen und damit leichtfertig auch Deinen eigenen Wert um mehrere hundert Dollar mindern. Ich bitte Dich, Sohn, solcherart Torheit kein zweites Mal Vorschub zu leisten, denn Deine Ausbildung und Erziehung ist ein teures Unternehmen, und wir müssen vor allem sparsam sein.
Dein liebender Vater Sir Andrew Bledsoe Der Ton dieses Briefes ließ deutlich erkennen, daß, so unwissend in Finanzangelegenheiten der junge Griffin sein mochte, sein Vater es umso weniger war und daß ich nicht damit rechnen sollte, daß der Bursche mir bei der Tilgung meiner Schulden nutzen könnte (obwohl es mir gelungen war, ihm hie und da einmal fünf oder zehn Sovereigns aus der Tasche zu locken). Josephs Gesicht verdunkelte sich. »Du mir hast versprochen«, sagte er. »Ich habe wirklich mein Bestes getan, monchè, aber mein Vater…« »Du mich nicht nennen monchè – nicht mehr.« Nun, mittendrin entschied sich auch mein Thyrza, lästig zu fallen. »George, George«, weinte er, »du mußt mir sagen, daß du mich liebst.« Es war eine geradezu possenhafte Szene: ein Hexendoktor, der seine Freiheit verlangte, ein zombi, der nach Liebe schrie. Was für ein Schauspiel! Wenig wahrscheinlich, daß sich so etwas in der eintönig grünen Landschaft Ostenglands abspielen sollte! Ich wußte nicht, ob ich laut herauslachen sollte, um den Bann zu brechen, oder ob ich mich zurücklehnen sollte und die menschlichen Gefühlsstürme, die sich da vor mir abspielten, genießen – Joseph, der wie ein jugendlicher Spartakus gegen die Ungerechtigkeit der Welt tobte, mein lebendtoter Geliebter, der um Aufmerksamkeit buhlte, wo doch meine Augen bereits andere Wege erkundeten, was sie ja, wenn ich nur ehrlich mit mir bin, bereits vor seinem Tode getan hatten, und der aufgeregt-verwirrte Griffin Bledsoe – in dem die Treue zu seiner Kaste und die Treue zur Kameradschaft in einem Widerstreit lagen, der ihn schier zerreißen wollte – oh, was für
eine glänzende Komödie nach Shakespeare-Art man daraus hätte machen können, wenn man auf der Bühne nur die Fleischeslust etwas deutlicher darstellen dürfte – denn John gab das liebreizende Mädchen gar zu gut. Thyrza also plagte mich, Joseph plagte seinen Herrn, und ich lehnte am Achtersteven und konstatierte unbeteiligt und sachlich die Ironie in dem Ganzen, bis ein kleines Wort aus der Komödie eine Tragödie machte. John stellte mir seine Frage, ob ich ihn noch immer lieben würde, einmal zu oft, und, mehr um ihn zum Schweigen zu bringen als aus sonst einem Grunde, sagte ich schließlich »Ja«. Daraufhin änderte sich alles. Über die kleine Versammlung legte sich ein Schweigen. John Edleston sah mich an. »Leb wohl, mein lieber Lord«, krächzte er. Ein winziger Riß zeichnete sich in seiner Wange ab, und heraus kam ein kleines, weißes Würmchen gekrabbelt. Er streckte mir die ausgebreiteten Arme entgegen, und seine Haut wurde gelb, und nun fraßen sich immer mehr Würmer aus seinem Fleisch heraus. »Was ich dir gesagt haben?« rief Joseph. »Er nur aus dem dunklen Land zurückkommen, nur wenn du schwören, in der Wahrheit mit ihm zu leben.« »Nein, John«, sagte ich und versuchte verzweifelt, meinen Fehler wieder rückgängig zu machen. »Nein, John, ich habe dich nie geliebt; bitte, verstehe, du warst sehr unterhaltsam, und du hast so süß gesungen, und du hast mich ein wenig an Harrow erinnert, nehme ich an, und es war nur meine Selbstsucht, die mich darauf bestehen ließ, dich von den Toten zurückzuholen – oh, was für ein Durcheinander habe ich da angerichtet…« Ich sagte noch vieles mehr, womit ich diesem verwesenden Jungen mehr von meiner Selbstverachtung gestand, als ich es jemals zuvor einem anderen Menschen gegenüber gewagt hatte. Aber ich wußte, es war zu spät. Ich
wußte, daß dieser Augenblick der wirkliche Grund für Thyrzas Wiederkommen war. Er hatte schon immer meine Unehrlichkeit in Gefühlsdingen erkannt. Ich war es, der lernen mußte, was Wahrheit wirklich ist. Ich, der Dichter von eigenen Gnaden, hatte meine Gewandtheit im Silbenzählen mit einer profunden metaphysischen Bewußtheit der menschlichen Natur verwechselt… »Komm zurück«, sagte ich. »Ich könnte lernen zu lieben; die fleischliche Lust ist nichts; ich könnte herausfinden, wer du in diesem wurmzerfressenen Fleisch wirklich warst, nein, bist…« »Leb wohl«, sagte John Edleston, und er küßte mich. Ihr Götter des Hohen Olymps! Nie werde ich diesen schrecklichen Kuß vergessen, den Geschmack der Maden auf der Zunge des Chorknaben, die Finger, die sich wie Zweige knackend um meine Taille legten, die wachsige Kälte dieser Lippen; denn kaum endete der Kuß, so zerfiel John Edleston zu Staub; je fester ich ihn hielt, je fester ich ihn umfaßte, um so schneller zerfiel sein Körper, und der graue Staub ergoß sich aus seinen Ärmeln, seinen Hosen, seinem Kragen. Am Ende lagen nur noch seine Kleider dort, die Kleider, die er sich nicht hätte leisten können, die Kleider, derentwegen ich mich verschuldet hatte, damit er sich wie ein Dandy anziehen konnte und ich mich in der Öffentlichkeit nicht mit ihm blamieren mußte. Sie lagen auf dem blanken Holz des Bootes, mit einem Häuflein Staub obenauf. Ich weinte wirkliche Tränen. Da sagte Joseph zu Bledsoe: »Jetzt, Marse Griffin, ich auch müssen Lebewohl sagen.« »Was soll das heißen?« sagte Bledsoe. »Du willst doch wohl nicht weglaufen! Die Polizei würde dich zu mir zurückbringen.«
Joseph sagte: »Ich gehen weg, Marse Griffin, über das kalte graue Meer; weil ich gefunden meine wirkliche Berufung. In dem dunklen Land, ich haben gelernt, was für ein Ding ich sein, und jetzt wissen, ich haben ein Schicksal, und einen Zweck, und einen Weg, den ich gehen.« Joseph stand auf. Er machte sich groß; größer, als ich es bei so einem kleinen Kerl für möglich gehalten hätte. Er stand am Rande des Wassers. Sein eines Auge brannte in blendendem weißen Licht, reiner als das Sonnenlicht. Bledsoe sagte: »Rede keinen Unsinn, Nigger! Wie kannst du das Meer überqueren? Wir sind nicht mal in der Nähe des Meeres. Und wie willst du die Überfahrt bezahlen? Weißt du nicht, daß deine einzige Möglichkeit, mit einem Schiff zu reisen, die im Verschlag unter Deck ist, in Ketten?« »Wenn ich nicht an das Meer kommen, Marse Griffin, dann das Meer, es kommen zu mir.« Den Herrn des Jungen packte einer dieser unbedachten Wutanfälle. Er sprang zornig empor und schlug auf den Kopf des Sklaven ein. Ich roch verbranntes Fleisch. Bledsoe schrie auf und zuckte zurück. Rauch stieg von seinen Fäusten auf. »Bist du schon jemals worden gebrandmarkt, Marse Griffin?« sagte der Junge – ganz leise, so daß wir uns anstrengen mußten, ihn zu verstehen. »Jetzt du wissen, wie sich das anfühlen.« Bledsoe tauchte seine Hände in den kalten Cam. Dampf stieg aus den Tiefen auf. »Nun hören mir zu«, sprach Joseph weiter. »Ich bin gewesen einige Zeit dein Freund, und dein Bruder, und dein Besitz. Ich haben nur einmal in meinem ganzen Leben dich nach etwas gefragt, und du es mir nicht und nicht wollen geben. Also gehe ich jetzt meinen eigenen Weg. Aber einem Tag ich werden zurückkommen. Wenn ich zurückkommen, dann du sehen, wie ich die Freiheit wie einen mächtigen Leoparden reiten. Dein
ganzes Leben wird Qual sein, bis ich zurückkommen, und wenn du mich sehen, dann wirst du wissen, ich gekommen, um dich zu befreien.« Joseph nahm seine gepuderte Perücke ab und warf sie ins Wasser. Das Wasser begann zu brodeln. Er nahm seinen mit Goldfäden bestickten Gehrock ab und warf ihn in den Fluß. Riß an seinem Kragen, zerriß sein Halstuch, riß seine Hosen bis zum Saum auf, stieg aus seiner Unterwäsche, stand nackt im Wasser wie ein junger Jesus, der auf Johannes den Täufer wartete, wartete, daß der Tröster, der Heilige Geist in Gestalt einer weißen Taube über seinem Kopf flattert. Zum Schluß warf er die Augenklappe von sich, und ein Licht strömte aus der Augenhöhle, ein Licht, das das Sonnenlicht überstrahlte; und er streckte seine Hände aus, und der Cam begann, über seine Ufer zu treten. Wo kam das Wasser her? Es strömte von flußaufwärts und flußabwärts zu uns heran, vom Himmel und dem Land. Das Wasser war grau und bitterkalt, obwohl der Tag sonnig und warm gewesen war, als ob seine Quelle der Styx selbst war, der Fluß, der die Lebenden von den Toten trennt. Dann fiel ein sturzbachartiger Regen. Das Boot machte sich los. Die Turmspitzen von Kings und Trinity und Caius versanken unter Wasserfällen dunklen Wassers. »Auf Wiedersehen, lieber Marse«, sagte Joseph leise, »denn ich dich haben so sehr geliebt.« Er küßte seinen Herrn auf die Wange, wandte sich um und wanderte fort über die Wogen. Bledsoe aber bedeckte seine Wange und schrie, denn der Kuß hatte ihn verbrannt wie Höllenflammen. Es gab kein Land. Es gab keine Sonne. Meer und Himmel waren grau, nur grau, und der Wind heulte, und das Wasser war kein Salzwasser, es schmeckte bitter wie Galle, bitter wie Wermut. Joseph wanderte davon, wanderte, bis wir ihn nicht mehr sehen konnten. Und allmählich verblaßte die Vision, und wir
befanden uns wieder am Ufer des Cam, im schönen Monat Mai, im hohen Gras sitzend: zwei Menschen, ein Bündel Kleider und ein zerschmettertes Boot, für das zweifellos jemand würde aufkommen müssen. Diese Zeilen von mir sind darum eine Lüge: Im Lebensmai zu leeren habe Des Kummers Becher ich allein; Doch wohnet Friede nur im Grabe, Wünsch ich dich nicht zurück, o nein! Und wenn in lichtren Sphären weilen All deine Tugenden, verleih Mir einen Teil des Glücks, zu heilen Mein Weh, sonst bricht mein Herz entzwei. Welch Falschheit! Welch Anmaßung! Ich wußte ja nicht einmal, was Liebe ist, als ich über Johns Tod schrieb. Die herrlichen Höhen und die schändlichen Tiefen wahrer Leidenschaft hatte ich nicht erfahren. Götter! Denn ich war unreif. Ich kann mir vorstellen, wie Mr. Murray diese Worte jetzt liest und wie es ihm schwerfällt zu glauben, daß der große Lord Byron hierin vielleicht eine kleine Spur von Demut offenbart. Nun, Mr. Murray, hier ist das Klümpchen, nach dem Sie so dringend verlangten. Ich hoffe, es macht Ihnen Freude, denn es wird schwerlich ein zweites geben. Der Junge, so scheint es, hatte mich geliebt. Das war das Traurige daran; ich hatte mein kleines Vergnügen an ihm, und das habe ich mit einem weitaus erhabeneren Gefühl verwechselt. Oh, und wie schön er singen konnte. Vielleicht hätte ich sein Geschlecht in diesem Gedicht von mir nicht verändern sollen; das war feige, nicht wahr? Ich hatte nicht den Mut eines Plato, eines Theokrit oder eines Callimachus oder
eines Catull… aber das waren damals auch andere Zeiten, nicht wahr? Ich sage nicht bessere, nur andere. Was den Amerikaner und den jungen Negermagier angeht… Was aus Bledsoe geworden ist, weiß ich nicht. Ich weiß, daß er sich nicht mal die Mühe gemacht hat, sein Abschlußzeugnis zu holen. Ich weiß, daß er den Verlust seines Dieners der Polizei meldete, wodurch sein Vater eine kleine Versicherungssumme kassieren konnte. So hat zumindest dies in gewissem Sinne ein gutes Ende für ihn genommen. Und das Zu-Staub-Zerfallen meines Freundes? Und das Ansteigen des Meeres? Und das herausströmende Licht aus des Negers blindem Auge? Oh, seitdem hatte ich ähnliche Erfahrungen gemacht, allerdings nur unter dem Einfluß von Kräutern, Pilzen oder Drogen. Dies hier bleibt meine einzige echte Begegnung mit dem Übernatürlichen. Eigentlich war ich froh, John losgeworden zu sein, nehme ich an. Obwohl es mir leid tut, daß ich Shelleys Geliebter diese Geschichte erzählt habe. Sie verbrämte sie mit einer Menge Wissenschaft und machte einen recht hübschen Gewinn damit, während ich nicht mal in der Lage war, meine paar Trinkschulden zu begleichen. Und dennoch – ein Teil von mir liegt mit John Edleston auf dem Grund jenes unwirklichen grauen Meeres. Sie werden fragen, welchen Teil dieser Chorknabe denn mit sich in den Hades genommen hat. War es meine Hybris? Vielleicht. Aber ich habe den Verdacht, daß es möglicherweise auch ein kleiner Teil meines…
4 Das war das Ende des Manuskriptes, das angeblich Lord Byron geschrieben hatte. Ein kleiner Brief war noch übrig, ein letzter
Brief meines Mannes. In dem Wissen, daß sich jetzt endlich die Teile dieses geheimnisvollen Puzzles zusammenfügen würden, las ich zitternd weiter.
24 UND SO FAND UNSER KRIEG EIN ENDE
1 Meine liebste Paula (begann der Brief), Jetzt verstehst Du, was es mit meiner düsteren Besessenheit auf sich gehabt hat. Und wenn es soweit ist, daß Phoebe Dir dieses Paket mit Briefen und Dokumenten überreicht, bin ich wahrscheinlich schon seit mindestens einem Jahr tot. Man wird Dir erzählt haben, daß ich an der Front gefallen bin, vielleicht von einer verirrten feindlichen Kugel getroffen oder während ich mich zu weit vorgewagt habe, um einen armen verwundeten Soldaten ins Lager zurückzutragen. Auf jeden Fall wird man Dir gesagt haben, ich sei den Heldentod gestorben. Nichts könnte weniger wahr sein. Wenn das, was in den Sonntagsschulen gelehrt wird, zutrifft, meine Liebe, sterbe ich als Verdammter, dem das Höllenfeuer bestimmt ist. Ich bin ein Selbstmörder. Von unseren ersten beiden Kindern habe ich schon gesprochen und von meinen verzweifelten Versuchen, sie ins Leben zurückzuholen. Nathaniel, unser drittes Kind, habe ich von allen am meisten geliebt, obwohl er nur wenige Minuten lebte. Ach, Paula, Du lagst darnieder, warst vom Laudanum benommen und vor Trauer erstarrt. Du hast nicht gemerkt, wie ich das Baby in die Arme nahm, es in eine Kiste mit sieben mystischen Kräutern legte, diese Kiste dann mit einem schwarzen Tuch umwickelte und oben auf dem Dach unseres
Hauses auf ein vévé legte, das ich dort auf den Boden gemalt hatte. Du konntest nicht wissen, wie ich in der Hoffnung auf ein Wunder den lieben langen Tag und die halbe Nacht gesungen und die Trommel geschlagen habe. Du weißt nicht, wie ich in der Morgendämmerung am Deckel des winziges Sarges ein Klopfen vernahm, und ach, wie mein Herz vor Hoffnung und Freude hüpfte! Du hast nicht gesehen, wie ich diese Holzkiste aufbrach, das Kind in die Arme nahm und beobachtete, wie es seine kräftigen kleinen Fäustchen auf und zu machte. Du warst nicht dabei in diesem bedeutungsschweren Zwielicht, als es seinen ersten glucksenden Laut von sich gab und ich vor Freude lachte. Paula, meine Freude war von kurzer Dauer. Dieses kleine Wesen schien übernatürlich intelligent zu sein: Nach ein paar Minuten schon zog es an meinem Finger und wollte auf dem Beton herumkrabbeln. Voller Stolz und Zufriedenheit sah ich ihm dabei zu. Dann fand es die tote Maus unter dem Flaschenbaum. Ich kann mir vorstellen, daß Phoebe sie dort als Opfergabe hingelegt hatte. Aber was unser geliebtes Kind dann tat, war nichts anderes als grauenerregend. Es packte den winzigen Leichnam beim Schwanz, riß ihn auseinander, zog die Eingeweide heraus, zerbrach das Brustbein, pflückte das Herz heraus und drückte das Blut in seinen Mund. Dann wandte es sich zu mir um, und in seinen Augen leuchtete die vollkommene Leere. Wenn die Augen tatsächlich der Spiegel der Seele sind, dann gab es dort keine Seele, die sich hätte spiegeln können. Ach, mein Liebling, ich setzte das Kind zurück in diese Kiste, ich nagelte den Deckel zu, ignorierte die hämmernden Fäuste und wütenden Schreie, ich saß dort und wartete, bis die Geräusche abebbten und schließlich ganz aufhörten. Dies liegt Jahre zurück, noch vor Kriegsanfang.
Es gibt noch einen anderen Krieg, meine Liebe, und das ist ein Krieg, der niemals endet: der Krieg der Finsternis gegen das Licht. Unser ist der mittlere Weg. Unsere Welt ist wie die alten Sklavenschiffe, und alle sitzen wir darin, in einem Verschlag unter Deck, allesamt aneinandergekettet, Schwarze und Weiße, im Ungewissen über das Woher und das Wohin unserer Reise. Letzten Endes sind wir alle Sklaven, denn unser eigenes Schicksal können wir nicht erkennen. Poesie und Kunst, und auch die Religion, sie alle sind Blendwerk. Hört sich das möglicherweise verbittert an? Laß mich Dir sagen, was ich aus all dem gelernt habe und woran ich es bei den vergeblichen Versuchen, unsere Kinder zurückzuholen, habe fehlen lassen: Ich habe kein Opfer dargebracht. Joseph, der Leibeigene, hatte das begriffen. Um die Herrschaft über Leben und Tod zu erlangen, brachte er ein Auge zum Opfer, tatsächlich war es noch mehr als dieses Auge, was er opferte, aber das Symbol dafür ist das Auge, wie bei Odin, wie bei Jesus, der an dem gleichen Baum sein Leben hingab, von dem Adam und Eva einst die verbotene Frucht gepflückt hatten. Paula, wenn Du diesen Brief erhältst, weißt Du mehr, als ich jemals gewußt habe. Du wirst die Macht haben, jemanden aus dem Jenseits zurückzuholen. Und ich weiß, daß es jemanden gibt, der zurückkommen muß, um die Aufgabe, die Sterblichen zu befreien, zu vollenden. Wenn Du diese Gabe benutzt, werde ich tot sein. Mein Tod ist ein Opfer. Ich bringe es jetzt gern, im voraus und im Bewußtsein, daß ich damit auch den Schmerz sühne, den ich Dir bereitet habe, indem ich Dir nicht die Wahrheit über mich offenbart habe, Dich vielleicht nicht genug geliebt habe, daß ich mit fremden Frauen ins Bett ging. Phoebe aber darfst Du nicht hassen.
Dies Letzte bleibt mir noch zu offenbaren, denn ich weiß, Du hast geglaubt, daß ich die Negerin zu meiner Geliebten gemacht habe, daß ich Dich nicht mehr begehrt hätte und daß ich ein herzloser Ehebrecher sei. Ja, ich habe gesündigt, aber nicht mit Phoebe. Nach dem Tod unseres dritten Kindes habe ich mich mit Frauen von schlechtem Ruf abgegeben und erkrankte alsbald am häßlichen Schanker der Syphilis. Ich wagte nicht mehr, Dich zu berühren oder es auch nur mit Phoebe zu versuchen. Ach, Paula, ich schäme mich so sehr. Mein Tod jedoch wird diese Schmach endigen und auch dem Krieg, der in meiner Brust tobt, ein Ende bereiten, jetzt und für immerdar. Amen. In Tränen, Dein Dich liebender Ehemann The Rev. Aloysius Grainger, M.A.
2 Es gab noch ein letztes Blatt, es enthielt eine vollständige Auflistung der magischen Wiederauferstehungsformeln, und zwar in der Yoruba-Sprache, im haitianischen Kreol und in Englisch. Ich werde sie hier nicht wiedergeben, auf daß kein falscher Gebrauch von ihnen gemacht werde und die ganze Welt bald voll von lebenden Toten ist. Jetzt hatte ich alles gelesen, was mein Mann mir geschrieben hatte. Wie vom Donner gerührt saß ich eine Zeitlang da, während Mr. Whitman mit gelegentlichem Nicken die Papiere durchging. Am Ende ertranken seine Augen in Tränen. »Wahrlich, Mrs. Grainger«, sagte er, »unser Krieg muß wirklich ein Ende haben. Sogar für den geplagten Jimmy Lee Cox hatte er ein Ende.« »Oh ja?« fragte ich.
»Ich werd’s dir erzählen«, sagte Zack. »Es war die letzte Geschichte, die mir Jimmy Lee erzählt hat, bevor wir uns verabschiedeten und zuschauten, wie die Fähre langsam über den Fluß auf uns zuglitt.« 3 Die Straße wurde breiter (sagte Jimmy Lee), und wir näherten uns einer Stadt. Ich wußte, daß es eine Hafenstadt war, vielleicht Charleston. Ortsschilder gab das keine, aber Pa und ich sind mal aus Charleston rausgeflogen und ich erinnerte mich, wie die Luft gerochen hat, feucht und scharf. Ein paar Meilen außerhalb der Stadt lief unsere Straße mit einer breiteren Straße zusammen, die von genau nördlich kam. Auf dieser Straße kam uns eine versprengte Kompanie Grauröcke entgegen. So richtig marschiert sind sie aber nicht. Einige stützten sich gegenseitig, ein paar humpelten, und einer, so ein Hänfling von einem Jungen, schlug leise die Seiten einer Trommel, der das Fell fehlte. Ihre Kleider hingen in Fetzen, und nur die wenigsten trugen ein Gewehr. Es waren nur alte Männer und Jungs, die Tauglichen waren ja alle schon längst gefallen. Sie hatten uns gesehen, und einer schrie: »Nigger-Soldaten!« Sie bildeten eine klägliche Formation, und die, die Gewehre hatten, zielten damit auf uns, und die, die Krücken hatten, fuchtelten damit herum. Ich rief: »Laßt uns vorbei… wir haben keinen Streit mit euch.« Denn es waren erbärmliche Kreaturen, diese Überbleibsel der Südstaatler-Armee, und ich war mir sicher, daß der Krieg schon längst verloren war und daß die hier auf dem Weg zurück waren, zu dem, was von ihren Häusern noch übrig war.
Aber einer von den Jungs, vielleicht ihr Anführer, schrie mich an: »Niggerfreund! Verräter!« Ich sah ihm in die Augen und erkannte in ihm meinesgleichen: armseliger Pöbel, der der Reichen Krieg kämpfte, er wie ich. Ich hatte Mitleid mit dem Betrogenen, weil ich wußte, daß es in diesem Krieg keine Gerechtigkeit gab und daß sie auf beiden Seiten nicht für Gott, sondern nur für sich selbst gekämpft hatten. »Es hat doch keinen Zweck!« rief ich dem Jungen zu, der mir so ähnlich war. »Die Schwarzen hier sind ja nicht mal lebendig. Das sind Schatten, die zum Meer marschieren. Sie haben keine Seele, die man töten könnte.« Der alte Joseph sagte: »Marschiert weiter, meine Kinder.« Und während all dem tanzte Amelia. Sie eröffneten das Feuer auf uns.
4 Das war nun das Furchtbarste, was ich auf der ganzen Reise erlebt habe – denn die Nigger-Soldaten marschierten und marschierten, und keine Kugel vermochte sie aufzuhalten. Die Miniekugeln flogen, und die weißen Jungs schrien ein gespenstisches Echo ihres Rebellenrufes, und les zombis marschierten einfach immer weiter, und ich und Joseph mit ihnen, von den Kugeln unberührt, denn sein Zauber beschützte unser sterbliches Fleisch. Die Nigger marschierten. Ihre Gesichter wurden auseinandergerissen, doch sie marschierten weiter. Das Hirn sickerte ihnen aus den Schädeln, die Eingeweide quollen ihnen aus den Bäuchen, doch sie marschierten weiter. Sie marschierten, bis sie zum Schießen zu dicht dran waren. Da stürzten sich die weißen Jungs auf uns und wurden in Stücke gerissen. Sie wurden auseinandergerupft
von toten Männern, die mit glasigen und leeren Augen geradeaus starrten. Dies letzte Scharmützel des Krieges währte nur ein paar Minuten. Die Schreie erstickten ihnen im Hals. Die zombis brachen ihnen das Genick und warfen sie zu Boden. Ihre Kraft war nicht die Kraft von Menschen. Sie langten einfach mit den Händen in den Bauch eines alten Mannes, brachen sein Rückgrat und zogen seine Eingeweide wie eine Rolle Schnur aus ihm raus. Sie nahmen ein Gewehr und brachen den Lauf einfach grad so auseinander. In ihrem Tun lag keinerlei Wut. Und sie machten beim Töten auch keinen Lärm. Sie taten es, wie man einen Strumpf stopft oder Hühner füttert, wie etwas, was man einfach erledigen mußte. Und während all dem tanzte Amelia, blind und taub für dies furchtbare Gemetzel, denn sie lebte nicht mehr in dieser Welt. Manchmal tanzte Eleuthera mit ihr zusammen, rum und herum, und Katze und Frau waren wie ein Nebelstreif. Wir marschierten weiter und überließen die Leichen der Verwesung. Es war nahe Sonnenuntergang. Oh, ich war stinkwütend. Diese Jungs, die wir da getötet hatten, waren keine Fremden aus dem Norden; sie hätten meine Brüder sein können. Oh, ich schrie den alten Joseph wütend an; mein Vertrauen in ihn war geschwunden; das Glück hatte mich verlassen. »Hast du gehört, wie er mich genannt hat?« brüllte ich. »Einen Verräter an meinen Leuten. Einen Niggerfreund. Und das stimmt, das ist die schlichte Wahrheit. Wenn du Freiheit haben wolltest, warum bist du nicht nach Norden zu den Yankees gegangen? Da hast du mir von einem großen Zauber gesprochen und von den Windungen der großen Schlange Koulèv und von dem Wind der Götter und den Stimmen der dunklen Engel… und was ist dabei rausgekommen? Satanszauber war das, Zauberei, um den
Toten eine Art Leben vorzugaukeln, so daß du noch mehr von meinen Leuten töten konntest!« »Schweig«, sagte er. In der Ferne erkannte man schon die Kirchtürme der Hafenstadt. »Dein Krieg nicht sein mein Krieg. Du glauben, die Yankees haben sich töten lassen, um zu befreien den alten Joseph? Du glauben, die Proklamation der Befreiung aller Sklaven sein geschrieben, um dem Nigger zurückgeben seine Seele? Ich dir sagen, weißes Kind, ein Stück Papier nicht befreien einen Mensch. Der schwarze Mann in diesem Land, er nicht wird frei sein morgen, nicht in hundert Jahren, nicht in tausend Jahren. Ich nicht haben zurückgeholt Menschen aus dunklen Jenseits, zu putzen eure Schuhe und abwischen euren Hintern. Die Armee, die ich führen – ihr Königreich nicht auf dieser Erde.« »Du bist verrückt, alter Joseph«, sagte ich, und ich weinte, denn er war nicht länger mehr mein Vater.
5 Wir marschierten in die Stadt. Hinter leeren Bierfässern spähten Kinder mit ernsten Augen. Pferde scheuten und wieherten. Frauen starrten uns mißmutig an. Die Yankees hatten die Stadt eingenommen, und die Hälfte der Häuser brannte. Erwachsene Männer waren nicht zu sehen. Über der zerstörten Stadt flatterte das Sternenbanner. Ich schätze, die Leute dachten, wir wären grad noch eine weitere Kompanie von Eroberern. Wir kamen an den Hafen. Am Kai lagen ein, zwei Segelschiffe, klapprige Pötte mit zerfledderten Segeln. Die Armee der Toten stand Habacht, und der alte Joseph sagte zu mir: »Nun ich wissen, warum du so weit gereist sein mit mir. Geben ein höheren Zweck für alles, ni ayé àti ni òrun.«
Ich wollte nicht mehr bei ihm bleiben. Als ich gesehen hab, wie les zombis meine Landsleute niederpflügten, war eine mächtige Wut in mir hochgestiegen, und diese Wut wollte nicht sterben. »Welchen höheren Zweck?« fragte ich. Der salzige Wind biß mir in die Lippen. »Du glauben, monchè«, sagte der alte Joseph, »daß der alte Joseph haben dich reingelegt, er dich haben verzaubert mit Spiegeln und Rauch; aber ich dir nie haben gesagt, wir auf der gleichen Seite kämpfen. Aber wir sein weit zusammen gekommen, und ich wollen, du mir tun letzten Gefallen, bevor wir uns trennen für alle Ewigkeit.« »Und was für eine Art Gefallen sollte das sein, alter Zauberer? Ich dachte, du kannst alles machen.« »Alles. Aber nicht dies hier. Siehst du, der alte Joseph, er sein ein Nigger. Nigger, er nicht können in Hafenbar reingehen und Gold anbieten für Schiff kaufen.« »Ein Schiff willst du? Wo willst du denn hin? Zurück nach Santo Domingo, wo der weiße Mann nicht mehr herrscht? Zurück, um die Freiheit zurückzuverlangen, um die man dich vor langer Zeit betrogen hat?« Der alte Joseph sagte: »Mag sein, es eine Art Haiti, wo wir hingehen.« Er lachte. »Haiti, ja, Haiti! Und ich werden sehen meine liebe maman, obwohl sie liegen sechzig Jahre kalt in ihrem Grab. Oder vielleicht sein Mutter Afrika selbst, wo wir hingehen. Oba kóso!« Und ich erinnerte mich, was er mir gesagt hatte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Er hatte die Worte unseres Herrn und Heilands benutzt. Oh, der Meereswind war warm und heulte, und die zerrissenen Segel knatterten gegen die Masten. Die Feuchtigkeit stand förmlich in der Luft. Und die Nigger standen da wie blinde Statuen. Vor uns stand der Leopard, und auf seinem Rücken saß das blinde, wahnsinnige Mädchen.
»Ich werde tun, was du verlangst«, sagte ich und nahm den Sack Gold, den wir aus dem vergifteten Brunnen geholt hatten. Ich lief den Hafen längs, bis ich in einer Bar einen Schiffskapitän zum Anheuern gefunden hatte, was nicht schwer war, weil das Embargo ihr Geschäft kaputtgemacht hatte. Ich hatte das Mädchen mitgenommen – sie konnte ja gut als Weiße durchgehen, besonders in einer Stadt wie Charleston –, und ein gutaussehender Kerl hat sich an sie rangemacht und ihr erzählt, daß seine Frau und alle seine Kinder von der Hand der Yankees getötet worden waren, und fragte sie, ob sie mit ihm gehen wollte. Amelia sang: Alle Blumen sind zum pflücken, alle Frauen sind zum ficken. und brachte sie damit alle zum Lachen, denn der Krieg hatte ihnen jeden Sinn für Anstand geraubt. »Amelia«, sagte ich, »sprich nicht mit diesen Männern, komm mit nach Hause.« Sie hörte plötzlich mit dem Tanzen und ihrem verrückten Gehabe und mit ihren sonderbaren Liedern auf, und sie sagte, so leise, daß nur ich es hören konnte: »Armer lieber Jimmy Lee, ich bin nicht wirklich wahnsinnig, weißt du. Die Welt ist es, die verrückt ist. Ich hab in dem vorgespielten Wahn meine Zuflucht gefunden… darum laß mich nur machen, Jimmy Lee.« Und dann tanzte sie wieder. Alsbald wurde Klavier gespielt, und sie tanzte mit dem schicken Kerl einen Walzer, mit stolz hochgerecktem Kopf wie eine Ballkönigin, als sei dieser Krieg niemals ausgebrochen und sie wäre keine Octoroon. Und so war es ja auch: Für sie war der Krieg zu Ende, denn er hatte sie weiß gemacht.
So ging ich denn zurück und sagte dem alten Joseph, daß alles bereit sei. Und die Nigger stellten sich in einer Reihe auf, um an Bord zu gehen. Die Nacht brach herein. Aber als sie Anstalten machten, an Bord zu gehen, konnte ich meine Zunge nicht mehr zurückhalten. »Alter Joseph«, sagte ich, »dein Königreich ist auf einer Lüge aufgebaut. Du hast diese Leichname aus der Erde erweckt, aber wo sind ihre Seelen? Du träumst vielleicht davon, diese Kreaturen in ein mystisches Land über’m Meer zu führen, und du träumst vielleicht davon, sie für immer aus den Fesseln der Knechtschaft zu befreien, aber wie kannst du befreien, was nicht befreit werden kann? Wie kannst du einen Stein, einen Baum, ein Stück Erde befreien? Staub waren sie, und Staub werden sie immer bleiben, in alle Ewigkeit.« Die zombi-Krieger standen dort, ohne eine Bewegung, ohne ein Blinzeln, und kein einziger Atemhauch ging über ihre Lippen, obwohl der Wind stärker wurde und uns ins Gesicht peitschte. Der alte Joseph schaute mich lange und scharf an, und ich wußte, daß ich gesagt hatte, was gesagt werden mußte. Er flüsterte: »Den Einfältigen hast du gegeben, die Wahrheit zu sprechen, o Herr.« Er fiel vor mir auf die Knie und sagte: »Und alle die Zeit ich haben gedacht, daß ich der Weise und du der Schüler. Oh, Marse Jimmy Lee, du haben richtig gesprochen. Es sein kein Leben in les zombis, weil ich nicht haben gewagt, zu bezahlen den letzten Preis. Aber jetzt, ich werden dies Opfer bringen. Einstmalen ich gegeben mein Auge für Wissen. Seien aber zwei Bäume in Eden, Marse Jimmy Lee; da seien der Baum der Erkenntnis, und da seien der Baum des Lebens.« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er drückte den Daumen in die Augenhöhle mit dem guten Auge und riß es heraus und schrie dabei zum allmächtigen Gott vor Schmerz. Seine Marter war echt. Sein Geschrei ließ mir das Blut in den
Adern erstarren. Ich mußte an die Züchtigungen durch meinen Pa denken, und wie meine Momma starb, und wie ich mit nackten Füßen über spitze Steine gelaufen bin, und an den Anblick von all meinen Kameraden, von Bajonetten durchstochen, von der Kanone zerfetzt, die Glieder abgerissen, die Bäuche aufgeplatzt, und wie das Leben aus ihnen heiß und jung und karmesinrot in den Fluß sprudelte. Oh, ich wollte so gerne seinen Schmerz tragen, aber er war es, der dazu ausersehen war, und ich war derjenige, der ihn dazu gebracht hatte. Und nun war sein Auge in seiner Hand, ein runde, weiße, glänzende Perle, und er rief mit donnernder Stimme: »Wenn dich dein Auge ärgert, dann reiß es heraus!« und er zielte blind und warf das Auge mit aller Kraft in das mächtige Meer. Ich umklammerte die ti poupée fest in meiner Hand. Dann blitzte es, denn der alte Joseph hatte die Macht der Schlange Koulèv angerufen, deren Windungen sich um die Erde schlingen. Jetzt entfesselte er den Regen, drehte er sich zu mir, aus seiner Augenhöhle strömte das Blut, und er rief mir zu, einem nichtsnutzigen armen Landjungen, der seinen eigenen Vater getötet hat und die Toten bestohlen hatte: »Ihr habt mich erlöst.« Da, und das war das einzige Mal, hab ich die zombis lächeln sehen. Als der Regen nachließ, als der Himmel in kaltem blauen Licht erglühte, das nicht von Sonne oder Mond stammte, da hörte ich tatsächlich das Gelächter der Toten, und das Feuer des Lebens flackerte in ihren Augen. Aber sie marschierten schon die Laufplanke hinauf, und da blieben nur noch ich und der alte Mann, jetzt vollkommen blind, und ich dachte, er stirbt bald. »Lebewohl«, sagt er zu mir.
Und ich flüsterte: »Nein, alter Joseph. Du bist jetzt blind. Du brauchst einen Jungen, der dich bei der Hand hält und dich führt, der dein Auge ist gegen das wilde blaue Meer.« »Nicht blind«, erwiderte er. »Ich wählen, nicht zu sehen. Ich werde immer gucken nach innen, auf das himmlische und majestätische, unendliche Licht.« »Aber was hab ich denn? Wo kann ich hingehen, außer, daß ich mit dir gehe?« »Herzchen, du nur gelebt vierzehn von deinen sechzig und zehn Jahren. Es nicht geschrieben, daß du folgen einen alten Mann über das Meer zu einem Land, das vielleicht nicht mal sein ein Land, außer in den Träumen von einem alten Mann. Geh jetzt. Aber zuerst du geben deinen beau-père ein Abschiedskuß, denn ich dich lieben.« Meine Tränen waren salzig, und seine waren blutig. Salz und Karmesin vermischten sich, als ich seine Wange küßte. Ich hab ihn nicht mehr gesehen; ich hab nicht gesehen, wie das Schiff die Segel setzte und den Hafen verließ; denn meine Augen waren blind vor Tränen. Aber der Leopard blieb bei mir, siehst du; denn das Werk der Freiheit ist nie fertig, nehm ich an.
6 Und so wanderte ich und wanderte und wanderte, Nacht und Tag und Tag und Nacht, bis ich zum Haus der Jacksons kam. Es war völlig niedergebrannt, und sogar die Felder waren verkohlt, und alle Tiere waren tot. Der Ort war gründlich geplündert worden; war nichts von Wert mehr da, kein Goldstück oder Silberlöffel, nicht mal die Teppiche, die die Jacksons von einem französischen Händler gekauft hatten, und auch kein Schinken in der Räucherkammer.
Ich ging die kleine Anhöhe rauf, wo der Nigger-Friedhof war und wo unsere Hütte mal gestanden hat. Die hölzernen Grabmarkierungen waren alle angesengt, und hier und dort hing ein Fetzen Selbstgewebtes; und ich dachte bei mir, mag sein, die Yankees haben die Jacksons überfallen, als ich noch nicht mal eine Stunde weg war und die Sklaven immer noch ihre Spirituals gesungen haben. Die Stoffetzen haben sie bestimmt den Sklavenfrauen abgerissen, da die Yankees es ja so gern mit den Schwarzen trieben. Und ich dachte, mag sein, mein Pa liegt noch immer in der Hütte im Hinterzimmer, neben dem Medaillon mit Mommas Bild drin, mit dem Nußbaumstock in der Hand und die Hose noch um die Knöchel. Und genauso hab ich ihn dann gefunden. Er stank nicht mehr. Es waren schon viele Monate vergangen, seit ich weggerannt war. Die Würmer hatten von seinem Gesicht nicht viel übriggelassen. Die Knochen stachen durch die papierdünne Haut an seinen nackten Lenden, und ein Schwarm Ameisen machte sich an ihm zu schaffen. Es war ein Wunder, daß noch soviel von ihm übrig war, denn in den Feldern trieben sich verwilderte Hunde herum. Ich setzte die ti poupée auf den Stuhl und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Was ich mir am meisten im Leben wünschte, war ein Neuanfang. Ich sprach zu dieser Puppe, denn ich wußte, daß irgendwie der Geist vom alten Joseph noch in ihr drin war, und ich sagte: »Ich weiß nicht, wo du hergekommen bist, und ich weiß nicht, wo du bist. Aber ach, gib mir die Kraft, noch einmal anzufangen, ach, hol mich weg aus diesem Totenland.« Ohne darüber nachzudenken, fing ich an, die Worte der Macht zu sprechen, die afrikanischen Worte, die ich nachgeahmt hatte, als ich beobachtet hab, wie er die Toten erweckte. Ich kniete mich neben den Leichnam von meinem Pa
und wartete auf den Atem der Schlange. Ich flüsterte die Worte immer und immer wieder, bis mein Geist ganz leer wurde und sich mit den Seelen der dunklen Engel anfüllte. Dann kam der Leopard ins Zimmer rein, und sie fing an, über die Knochen zu lecken, als seien sie Wunden, die noch geheilt werden können. Ich schätze, ich habe die ganze Nacht dort gekniet, oder mag sogar sein, mehrere Nächte. Aber als ich meine Augen aufmachte, war da Fleisch auf den Knochen von meinem Vater, und er fing an, sich zu regen, und in seinen Augen brannte das Feuer des Lebens, dafür, daß Joseph sein zweites Auge geopfert hatte. »Du bist ja richtig groß geworden, Sohn«, sagt er leise. »Du bist kein Bäumchen mehr; du bist ein mächtiger Baum.« »Ja, Pa«, sage ich. Der Leopard trat von ihm zurück und verschwand im Schatten. Aber ich wußte, daß sie immer bei uns bleiben würde, denn ihr Name war Freiheit. »Ach, Sohn, du hast mich aus einem furchtbaren Traum geholt. In diesem Traum habe ich dich ausgesetzt, und ich hab dir auf alle möglichen abscheulichen Arten Gewalt angetan, und ein dunkler Engel ist zu dir gekommen und wurde dein neuer Pa; und du bist ihm bis zum Ufer des Flusses, der die Toten von den Lebenden trennt, gefolgt.« »Ja, Pa. Aber ich bin am Ufer geblieben und hab zugeschaut, wie er fortgesegelt ist. Und ich bin zu dir zurückgekommen.« »Ach, Jimmy Lee, mein Sohn, ich war in der Hölle. Ich war unten in den Flammen der Verdammnis, und ich hab die Einsamkeit der Hölle gespürt. Und die grausamste Folter war, daß ich von dir abgeschnitten war, mein eigen Fleisch und Blut. Ach, lieber Jesus, Jimmy Lee, es war ja nur, daß du mich so sehr an sie erinnert hast, sie, die ich getötet habe, sie, die ich nie liebte, als ich sie in den Rücken schoß.«
Und das war merkwürdig, denn in den alten Zeiten hätte mein Pa nur über den Himmel gesprochen und davon, daß er das Antlitz Gottes gesehen hat, und wenn er dann Gott gesehen hatte, dann verprügelte er mich immer und rief dabei Seinen Heiligen Namen zum Zeugen an für seine Abscheulichkeit und meine Aufopferung. Aber nun hatte er die Hölle gesehen, und er war voll Sanftmut. Denn die Hölle hatte ihn gelehrt zu lieben. Dann sagte er: »Mein Sohn, ich bitte dich um Verzeihung.« »Gibt nichts zum Verzeihen.« »Nun denn, dann bitte ich um dein Verständnis.« »Gibt nichts zum Verstehen.« »Dann gib mir deine Liebe, denn du bist groß und stark, und ich bin alt geworden; und nun ist es an dir, der Vater zu sein und ich das Kind.« Es war Zeit, über die Brücke zu gehen. Es war Zeit, die Schmerzen zu heilen. »Meine Liebe hattest du schon immer, Pa.« Und damit umarmte ich ihn. Und so geschah es, daß unser Krieg ein Ende fand.
7 »Seitdem«, sagte Jimmy Lee (wie Zacko weitererzählte), »gehen wir dorthin, wohin uns der Leopard mitnimmt. Wir wandern durch Städte und über Land, und manchmal stellen wir unsere Zelte auf und predigen, und manchmal erwecken wir jemanden von den Toten, aber meistens bleiben wir unter uns. Mein Pa ist fast soweit, wieder unter die Erde zu gehen, aber wenigstens haben wir uns sagen können, daß wir uns lieben. Mehr kann man überhaupt nicht verlangen im Leben.«
Wir nahmen bei der Fähre Abschied voneinander, und wir haben Jimmy Lee nie wieder gesehen, auch nicht seinen Pa, aber manchmal hörte man Gerüchte über einen Predigerjungen, der die Toten auferstehen lassen kann; sogar von so weit wie dem Indian Territory, glaub ich, und einmal hat ein verwundeter Junge im Spital Walt erzählt, er hätte eine ähnliche Geschichte gehört, und er kam aus dem Dakota Territory, ganz in der Nähe, wo ich groß geworden bin. Es gab danach noch mehr Abschiede, Paula. Kaczmarczyk, der jetzt wieder ein ganzer Mann war, hatte die Lust verloren und nahm bald darauf ein Schiff zurück in die alte Heimat. Das war, nachdem wir nach Baltimore gingen, um Tyler Tyler zu beerdigen, und, ja, Walt hat mir die Ruhestätte von Edgar Allan Poe gezeigt. Sie haben mich aus der Armee entlassen und mir etwas Geld gegeben – einige der anderen Männer haben auch was dazugetan, so daß ich mit mehr als einhundert Dollar ging – und ich nahm den Zug zurück nach Nebraska. Ich habe mehrere Gräber besucht. Ich wußte, daß Drew Hammets Grab leer war und das von Rodney auch; sie waren nur zum Vorzeigen, damit ihre Eltern stolz sagen konnten, seht, seht, seht, unser Sohn starb für unser Land. Die hundert Dollar waren bald nur noch zehn, und darum kam ich nach New York, um einen neuen Anfang zu suchen. Ich wußte, daß Walt mit seiner Mutter in Brooklyn wohnte und daß ich ihn eine Zeitlang besuchen konnte; aber ich schätze, er möchte nicht, daß ich länger bleibe; die Leute könnten reden. Mein Krieg ist, glaub ich, noch nicht zu Ende. Ich bin frei und ungebunden, und ich weiß noch nicht, wohin ich mich wende, und manchmal habe ich immer noch Träume, besonders von Rodney; und hin und wieder spricht Drew mich an, ein Kopf, in der Erde verwurzelt wie ein Baumstumpf.
Jedenfalls bin ich jetzt hier. Ich hab dir erzählt, was ich weiß. Wie ich von einem Jungen zu einen Mann gewachsen bin, wie ich fast gestorben wäre und wie ich den schlimmsten Krieg dieser Erde überlebt hab, und wie ich erst jetzt herausgefunden hab, daß dieser Krieg noch nicht vorbei ist. Warum sind wir hier, Paula? Warum? Wir alle vier, mit unseren Geschichten in Geschichten – es muß einen Grund geben, weshalb wir hierhergebracht wurden. Es gibt etwas, das wir vier tun müssen… so daß wir wirklich wie Jimmy Lee sagen können, daß unser Krieg ein Ende gefunden hat. Sag es uns, Paula. Es ist dein Haus, in dem wir uns heute nacht alle getroffen haben. Es begann mit deinem Entschluß, Mr. Lincoln zu besuchen. Du bist es, die weiß, was wir tun müssen.
8 Da und erst da war es, daß die große Vision auf einmal und fix und fertig in mir aufstieg. »Wir werden Mr. Lincoln noch mal besuchen«, sagte ich. »Wir vier: der Dichter, die Zauberin, das mutterlose Kind, und die kinderlose Mutter.« »Ja, das ist es, nicht wahr?« sagte Walt Whitman, und das Feuer in seinen alten Augen sprühte. »Wie oft habe ich über das Geheimnis des Lebens gesungen, das Geheimnis und Rätsel unseres Seins, jedoch habe ich nie geahnt, daß ich einmal der Wahrheit von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde; durch einen dunklen Spiegel war das höchste, was ich mir erhoffen konnte; aber jetzt nicht mehr.« »Ja«, sagte Zack. »Wir haben das Buch… die Zauberworte… das Geheimnis des Lebens…«
»Und aus den Geschichten anderer unsere Lektionen gelernt«, sagte Mr. Whitman. »Ach, wir werden weiter sehen können, als es Poe und Byron konnten.« »Und das Leben, das mein Gatte aufgeopfert hat«, sagte ich. »In der Vorausschau dieses Augenblicks. Die Verdammnis herausfordernd.« Obwohl es bestimmt eine Sünde war, so zu denken, war ich mir sicher, daß die Höllenflammen Aloysius nicht verzehrt hatten. Am Ende hatte er zu seiner inneren Größe gefunden. »Wann geht der Zug?« fragte Mr. Whitman. »Heute nacht«, antworte Zack. »Und wo fährt er als nächstes hin?« fragte ich. »Cleveland, dann Chicago«, sagte Zack. Alle drei drehten wir uns zu Phoebe um, um zu hören, was sie dazu zu sagen haben würde, aber wie schon so oft zuvor war sie nicht zu sehen. Sie war, nehme ich an, mal wieder unsichtbar. Daran müßte ich mich noch gewöhnen. War sie noch bei uns? Oder war sie schon zu ihrer Mission aufgebrochen, die wir alle vier noch durchführen mußten? Dort auf dem Diwan ausgebreitet, wo es vorher nicht gelegen hatte, war das Leopardenfell. Ich hob es auf. Es prickelte. Da war ein Zauber in der Luft. In meinen Fingerspitzen. Heute Nacht war alles möglich. »Nun«, sagte ich. »Hockt euch nieder, ihr beide, an jeder Seite von mir einer. Rückt nah zusammen, sonst wird uns das Fell nicht alle drei bedecken. Näher ran, jetzt. Näher ran.« Denn ich war die Herrin des Zaubers geworden – ich, eine weltliche weiße mambo in mittlerem Alter, die mit den merkwürdigsten, ältesten, und schwärzesten aller Zauber spielte… ich war das Gefäß des Legba, Bote der Götter… ich, die gewöhnlichste aller Frauen, würde Mutter Erde selbst werden, die die Toten in ihrem dunklen und geheimen Schoß wiegt.
Da war ein Wort in dem Lexikon, das mein Mann zusammengetragen hatte: Anaforuana – Bote des Todes. War ich das denn? Oder war ich zur Lebensspenderin bestimmt? Ich zog das Leopardenfell über uns drei und wartete, daß die Zauberkraft sich ihre Bahn brechen würde.
O meine tapfere Seele! O weiter, weiter segle hinaus! O verwegene Lust! und doch in guter Hut! sind es nicht alles die Meere Gottes? O weiter, weiter, weiter hinaus! – Walt Whitman
Anaforuana 1865
25 Eine Reise mit dem Zug
1 Nacht! O Nacht! O Nacht Nacht Nacht! Nacht, glänzender als je ein Tag sein könnte, Nacht, durch die Augen einer Katze! So spricht der Schneeleopard in der Sprache der Nacht, einer wortlosen Sprache von Rufen und Schnurren, von beißenden Gerüchen unterbrochen. Der Schneeleopard ist der Poet; der braungelbe Leopard mit ausgelassenen und federnden
Sprüngen über den kalten Beton ist jung, geschmeidig, glänzend; ich bin der dritte Leopard, das Weibchen, gefleckt, ruhiger, voraus in der Gasse, nach Gefahren witternd – denn bei Katzen ist immer das Weibchen die Jägerin. Natürlich sprechen wir nicht, die Macht der Sprache haben wir verloren; statt dessen besitzen wir die Macht des Tieres, den Glanz und die Pracht unseres animalischen Ich. Der Schneeleopard frohlockt darüber; was seine Dichtkunst war, wird jetzt zum schnellen, geläufigen klopf klopf der Pfoten auf dem Pflaster, geht über die Dichtkunst hinaus, übersteigt das Wort und wird zum Sein oder Nicht-Sein der Tierheit. Ich hatte es schon verspürt, aber ihnen war es neu. Doch ich fühle, was sie fühlen; sie verströmen ihre Gefühle in den Wind – Tiere können das, indem sie tausend zarte Düfte versprühen, Düfte, die Menschen auch etwas sagen könnten, wenn sie nur mehr ihrer Sinnlichkeit lebten. Ich empfinde das Neue, die Ehrfurcht noch einmal mit ihnen mit, und so empfinde ich diese Gefühle doppelt. Das Getrenntsein der Menschen, Ich von Ich geschieden, das aus Menschen Individuen macht, es ist nicht so streng im Königreich der Tiere. Wir bewegen uns den Broadway hinauf. Keiner sieht uns. Es ist Nacht. Wenn Passanten uns erblicken, übersteigt, was sie sehen, derart ihr Fassungsvermögen, daß sie uns als Schatten abtun, als Täuschung des Lichts… und nicht das Rudel Raubkatzen erkennen, das da fröhlich im Mondlicht umherspringt. Oh, die Nacht! Der Schneeleopard schwärmt im Überschwang. Diese Nacht ist mit Gerüchen und Geräuschen elektrisch geladen! Diese Nacht, in der das Flüstern verwirrender leuchtet als der Sonnenschein! Schläfer auf den Stufen des Armenhauses, Strolche auf der Straße, eine Dame der Nacht, die ungeschickt mit ihrer femininen Zigarettenspitze hantiert; ein bärtiger Jude in
langem, wallendem Gewand ist in Richtung Stadtzentrum unterwegs, weiß nicht warum; ein einsamer Neger, der vor sich hin tanzt; dicht über dem Boden der Geruch von zertretenem Pferdemist, erdig und eigenartig süß. Noch weit entfernt, dampft es dicht über dem Boden. Metallisch scharfer Geruch mit saurem Beigeschmack. Wir sind nah bei den Zügen. Da ist er. Geschmeidig und schwarz. Selber ein Tier, aus Stahl. Stahl, Dampf und Rauch, die düsteren Behänge in rot, weiß und blau. Wachen auf dem Bahnsteig… Chris Flanagan wieder, aber diesmal mit einer besseren Uniform, ohne Einschußlöcher; noch mehr Wachen, manche mit Schwertern, der Bahnsteig nur schwach von Kerzen und Kerosinlampen erleuchtet. Seltsam, daß sie uns, die Geschöpfe der Nacht, nicht sehen können! Die Lokomotive hat die Nummer 331. Der Kuhfänger ist zu ungewohntem, satingleichem Silberglanz geschliffen. Wir rollen uns unter einer Kupplung zusammen. Die Wachen ganz entspannt; welche Gefahr konnte diesem Toten noch drohen? Sie reden, sie trinken ein wenig, sie teilen sich ihren Kautabak, ihre Pfeifen. Ich höre zu. »Ein Jammer, daß Mrs. Lincoln vor lauter Trauer zu erschöpft ist, um mitzukommen«, sagt der eine Mann. »Ein verdammter Jammer.« »Eine Witwe sollte bei der Beerdigung ihres Mannes dabei sein«, sagt ein anderer. »Es ist nicht recht. Allerdings hab ich gehört, sie ist völlig durchgedreht.« »Wann kommt denn General Hooker? Sollte er nicht übernehmen?« »Der ganze Aufwand hier«, sagt der erste, »und dabei bewachen wir einen Toten; als ob er aufstehen und abhauen würde.«
»Zwei Tote«, sagt der junge Flanagan. »Wir dürfen den Jungen nicht vergessen.« Ich schleiche mich aus den Schatten etwas näher heran. Junge? frage ich mich. Ich hatte nicht gewußt, daß sie zwei Leichname transportieren. »Der Präsident und sein Sohn«, sagt ein dritter Wachmann, »Willie.« »Ja; sie haben Willie Lincoln wieder ausgegraben, sie sollen Seite an Seite in Springfield bestattet werden.« Seite an Seite. Vater und Sohn. Ich denke an meinen verstorbenen Mann, wie er seine drei Söhne an die Brust drückt und sie einen nach dem anderen beerdigt. Ich denke an Jimmy Lee Cox, der seinen toten Vater umarmt, als der von den Toten zurückkehrte. Auch an Mütter und Töchter: Die Leopardenfrau gebärt mein Freitag-Mädchen, die mulattresse auf Haiti erzeugt weißere und weißere Versionen von sich selbst, bis eine durch den Wahnsinn zu einer Weißen wird. In dieser Geschichte bin ich die einzige, die anders ist: dreimal wurde mein Schoß aufgerissen, doch kein einziges Mal ist mir seine Frucht geblieben. Andere haben weitaus mehr getrauert als ich; keinen Verlust habe ich an mich herankommen lassen, habe immer eilig darüber hinweggesehen, mir nie eingestanden, daß ich Mutter gewesen war. Ich frage mich, ob die anderen das verstehen. Aber schau nur! Die Tore des Bahnsteigs schwingen auf. Da kommen die Würdenträger, die diese melancholische Reise begleiten. Mrs. Lincoln ist nicht dabei, aber Generäle, Staatsoffiziere, alle schwarzgekleidet; dort ist ein Pfarrer, und mit ihm, in anrührender ökumenischer Eintracht, auch ein katholischer Priester. Aber Frauen sehe ich keine; ich, ein Tier der Schatten, bin die einzige… außer… wer ist dies dunkelhäutige Wesen, das hinter zwei aufgeblasenen Männern
hineingeschlüpft ist, einer mit buschigen Bartkoteletten, der andere mit Salz-und-Pfeffer-Haaren? Wie kommt es, daß sie sie nicht sehen, wo sie doch eine weiße Robe trägt, als Priesterin der großen Schlange? Sie steht dort, halb im Schatten des Zuges, sie schirmt die Augen mit der Hand ab, schaut nach Osten… zum Meer?… nach Afrika? Weiß sie, daß wir hier sind? Sie huscht zwischen den sich sammelnden Trauergästen umher; sie ist so strahlend hell, daß man fast durch sie hindurchsehen kann… ja… jetzt ist sie durchsichtig, und ich merke, daß es nur meine geschärften Leopardensinne sind, die sie mir gezeigt haben; sie haben das Bild aus dem Geruch geschaffen, der in der Luft lag, aus dem Rascheln eines Kaftans gegen den Zement, aus dem Hauch von Zimt und alten toten Tieren. In dem Strahlen, das sie umgibt, sehe ich die anderen noch deutlicher, fast kann ich ihre Gedanken lesen, die so mannigfaltig sind wie die Menschen selbst… meine Frau, meine Frau, sie sitzt neben dem Feuer eine nackte Frau macht die Tür auf dieser Präsident wäre fast zum Essen gekommen Kaffee Kaffee neben dem Toilettenhäuschen und höre dem Mond zu der Frühling ist nicht schön Gedankenfetzen, Erinnerungsbruchstücke, sie irrlichtern durch die gesättigte, schweißdurchtränkte Luft des Bahnsteigs. Als nächstes Cleveland Es ist Zeit, schätze ich. Der Schneeleopard regt sich. Er hat von anderen Zeiten und Sphären geträumt, glaube ich, vom dunkel-dumpfigen Dunst glühender Wälder; er streckt sich; er stößt ein mächtiges Gebrüll aus, aber im gleichen Moment
setzt das Kreischen der Dampfpfeife ein, und Gebrüll und Gekreisch bilden einen dissonanten Akkord von Tier und Maschine. Auch der braungelbe Leopard, strotzend vor männlicher Energie, springt von den Schienen auf. Schließlich komme ich, die Nichtmutter-Mutter, und wir alle folgen der Menge. Die Menge wird kleiner, da die verschiedenen Gäste die ihnen zugewiesenen Waggons besteigen, aber wir wissen, welcher der unsere ist – der zweitletzte, der Schlafwagen, von dem ein schaler Verwesungsgeruch ausgeht, zu schwach für den menschlichen Geruchssinn, aber nicht für uns drei. Wir springen auf, einer nach dem anderen. Das Geklirr der Kupplungen beim Nachprüfen, die Schritte des Bremsers, der inspizierend von Dach zu Dach schreitet, hier etwas festzieht, dort etwas lockert; der Widerhall von Gesprächen in den Gängen: »Ich fürchte, es hat Mary zu sehr mitgenommen, ich bezweifle, daß sie sich davon erholt… aber der Krieg wird ja nun bald zu Ende sein, ein Gutes immerhin…« Die schweren, schwarzen Samtvorhänge sperren das wenige Licht aus, bis auf vereinzelte Mondstrahlen durch den Dachaufsatz… Sollen wir uns verwandeln? Wieder Menschen sein? Nein. Lieber so. Lieber Geräusche und Gerüche aufnehmen. Später werden wir uns in aller Ruhe unseren eigenen Reim darauf machen… Weitere Stimmen. Und vorüberschwebender Tabakrauch. »… warum müssen wir eigentlich zu so unchristlicher Zeit abfahren?« »Mein Lieber, um den Massen zu entgehen, die uns an jedem Halt ersticken; der Tod hat aus ihm ja einen Heiligen gemacht und seinem Leben die Krone aufgesetzt. Er wird noch zu einer Art Religion werden, denken Sie an meine Worte.« Ob sie uns sehen, wenn wir uns verwandeln, wenn wir unter ihnen herumlaufen?
Ach, still… ich weiß nicht… ich wittere… sie essen sole meunière… ein Hauch von Kapern. Wer spricht? Es ist schwer zu sagen. Wie schon gesagt, die Grenzen zwischen unseren Wesen sind irgendwie durchlässig geworden. Aber Lincoln? Wo ist Lincoln? Weiter weg. Durch die Mahagoni-Schwingtür. Höre, wie es knarrt, sie setzen die Lokomotive in Betrieb. Höre, wie der Dampf an Kraft zunimmt. Fühle, wie die Kraft die Zugwagen einen nach dem anderen erfaßt… und gewichtslos schwergewichtig setzen wir uns in Bewegung. Aber wo ist Phoebe? Wir fahren. Wir fahren. Ich krieche hinter einen Lederdiwan. Der Schneeleopard wählt einen Vorhang, der Braungelbe eine schwarze Portiere. Es dämmert; wir schlafen. Es dauert noch einige Tage, bis nach Ohio.
2 Nacht! Oh Nacht! Oh Nacht Nacht Nacht! Wieder kommt die Nacht. Der verregnete Tag verliert sich in unbestimmtem Dunkel. Die anderen schlafen noch. Ich kann nicht. Ich bin ruhelos. Natürlich. Das Weibchen dieser Spezies ist die Jägerin. Ich stehe auf. Ich wandere von Wagen zu Wagen. Zwischen den Waggons gibt es keine geschlossene Verbindung, jeder Wechsel ist eine kalte Begegnung mit dem Regen. Der Zug rattert, stößt Dampf aus, schwankt in den Kurven. Wenig zu sehen. Karten spielende Soldaten. Fette Männer in luxuriösen Abteilen, verstopft, dünkelhaft, sich ihrer Bedeutung bei dem Ganzen sehr wohl bewußt. Wo ist hier
Menschenliebe? Wo ist der Geist des Mannes, der von Nächstenliebe sprach? Ich beschließe, dorthin zu gehen, wo wir alle hingehen wollten, ich will Mr. Lincoln noch einmal ansehen. Ich gehe also zurück, komme zu dem kleinen Foyer, wo meine Begleiter noch immer im Schlaf liegen, öffne die Tür und befinde mich noch einmal in dem nämlichen sanctum sanctorum, mit dem diese Geschichte begann. Zwei Särge stehen dort, Seite an Seite, ein überlanger, für einen sehr großen Mann, und der andere rührend klein, denn in ihm liegt ein elfjähriger Junge. Es gibt noch weniger Mondlicht als gestern. Auf dem Sarg des Präsidenten brennt eine nachlässig hingestellte Kerze. Das Licht, das durch den Dachaufsatz hereinfällt, ist gesprenkelt und düster. In dieser Dunkelheit weint jemand, ein Kind. Was? Waren sie schon hier und haben die Toten ohne mich erweckt? Aber nein, um dieses Kind weht keine Grabesaura. Er ist zehn oder elf Jahre alt, und wie die anderen Reisenden trägt er Trauer, ein Miniaturpinguin. Er schluchzt ganz alleine, und ich kann nichts tun… er kann mich nicht sehen, oder? Aber nun ruft er: »Oh Gott, Gott, Gott«, und da hält es mich nicht länger. Ich strecke die Pfote zu ihm aus und streichle sanft seine Wange. Erschreckt hält er einen Moment mit dem Weinen inne. Hält die Kerze hoch. Seine Augen weiten sich. »Tiger, Tiger, strahlst voll Pracht, in den Wäldern dieser Nacht!« ruft er rhythmisch. »Wer bist du? Bist du Gott? Ich habe nach Gott gerufen, weißt du. Ich wollte, daß er kommt und mich auch zu sich nimmt. Meine Mutter ist wahnsinnig geworden. Sie ist zu Hause geblieben. Sie schwimmt auf einer Welle von Laudanum und sucht darin Vergessen. Ich sollte nicht mitkommen, aber es ist das Begräbnis meines Vaters. Du
bist ja überhaupt kein Tiger, nicht wahr? Eher wie ein Leopard. Und du bist ein Mädchen, das kann ich erkennen.« Menschen können mich nicht sehen, sage ich in der Leopardensprache. »Ich bin noch nicht Mensch«, sagte er, »ich bin nur ein Kind. Ich heiße Thomas Lincoln; sie nennen mich Tad.« Warum bist du… »Ach, ich wünschte mir nur, daß ich Auf Wiedersehen hätte sagen können.« Und dann fängt er wieder an zu weinen. Und wiederum kann ich mich nicht zurückhalten. Ich hatte niemals ein Kind, das so alt geworden ist wie er, habe aber vielleicht doch den richtigen Instinkt. Ich schlinge meine Vorderpfoten um ihn – und sie schimmerten im Mondlicht und streckten sich, und ich wandelte mich wieder in eine Frau um, immer noch in der zerknitterten Kleidung von gestern, und auch ich weinte, als wäre zwischen meinem Weinen im Rathaus und jetzt hier im Zug auch nicht eine einzige Minute verstrichen. Ich durchlebte jenen Augenblick so lebhaft wie den gegenwärtigen. »Na also«, sagte Tad Lincoln, »du bist eine Frau. Ich hatte auf eine Frau gewartet. Ich wollte, daß jemand mich einfach im Arm hält, und Mutter…« »Ist wahnsinnig geworden«, sagte ich leise und dachte an Amelia Bledsoe, die in einer Bar in Charleston Walzer tanzte. »Nur zu«, sagte ich zu dem Jungen, »nur zu, Tad, weine Tad, weine.« »Ah, ich kenne dich ja. Ich habe dein Porträt schon einmal in einem Medaillon gesehen… ja, du bist die Frau von Reverend Grainger. Jetzt weiß ich, das hier ist ein Traum und ich brauch also keine Angst zu haben.« »Ein Traum?« fragte ich. »Ich habe vor ein paar Wochen Alice im Wunderland gelesen, darum weiß ich, daß es Dinge gibt, die nur Kinder sehen
können… nun, ich hatte irgendwie gehofft, daß du es sein würdest, weißt du. Mutter hat Willie immer mehr geliebt, weißt du. Aber er hat es nie gegen mich ausgenutzt.« Ich saß auf dem Fußboden des Zuges und wiegte den Sohn des Präsidenten in meinen Armen. Ich ließ ihn weiterplappern. Manchmal übertönte das Pfeifen des Zuges seine Worte. Manchmal übertönte das Rauschen der Räder alles. Aber es tat ihm gut zu reden, egal was, nehme ich an. »Einmal haben wir Soldaten gespielt, und wir hatten eine kleine Stoffpuppe als Wache aufgestellt, und die Puppe ist eingeschlafen! Das war merkwürdig, denn die Puppe kam von einer Insel weit weg von hier, wo die Puppen und die Toten niemals schlafen. Die Puppe hieß Tippy. Die Frau von einem Anwalt aus Haiti hat sie uns geschenkt, und sie sagte, die Puppe würde ti poupée heißen, aber wir konnten das nie richtig aussprechen.« Bei diesen Worten fing mein Herz heftig an zu schlagen. Weil dieses Kind uns unwissentlich auf das, was unmittelbar anstand, zurückgebracht hatte und ich wußte, daß wir bald vollenden würden, weswegen wir hergekommen waren. Und in dem Moment, als er zu sprechen aufhörte, sah ich meine Reisegenossen aus den Schatten auftauchen. Tad schien über das Auftauchen eines alten und eines jungen Mannes aus dem Dunkel nicht zu erschrecken. »Bist du Mr. Whitman?« fragte er. »Ich habe schon von dir gehört; sie sagen, du wärst sehr skandalös. Dich kenne ich nicht, aber du bist wohl ein Soldat… ich werde dich den Unbekannten Soldat nennen, wenn du möchtest. Oh, was für ein visionärer Traum! Vater hätte ihn bestimmt gern mit mir geteilt!« Als die Tür dann aber ein weiteres Mal aufging, grinste er, wischte die Tränen mit dem Ärmel fort und rief mit solch freudigem Wiedererkennen: »Phoebe«, daß ich wußte, wir
würden noch eine endgültige, vielleicht apokalyptische Offenbarung erleben. Phoebe war prächtig. Sie war ganz in Weiß gekleidet, aber weiß alleine kann den reinen Glanz ihres Gewandes nicht beschreiben. Welche Hybris, daß ich angenommen hatte, ich würde der Anaforuana sein! Denn Phoebe war der Inbegriff eines dunklen Engels. In der Tat, es war durchaus vorstellbar, irgendwo in dem rauschenden Geklapper und dem Brüllen des Dampfes und dem Pfeifen des Windes das Schlagen großer Flügel zu hören. Sie war wunderschön. Sie war eine Göttin. »Ich wußte, daß du zurückkommen würdest«, sagte Tad. »Master Tad«, sagte sie, »ich dich sehr vermissen.« Sie nahm ihn in die Arme und küßte ihn auf beide Wangen. Und ich gebe zu, daß mich der Neid fraß, denn ich dachte an meine Unfruchtbarkeit, an die zuschanden gewordenen Hoffnungen meines Mannes und daran, wie mein Leben seinem Ende zuraste, so wie diese Lokomotive auf einen Friedhof zuraste. »Ach, Thomas«, sagte ich, »wenn du nur die Verkettungen des Schicksals kenntest, die uns alle hierher gebracht haben… wenn du wüßtest, wie sehr wir, jeder auf seine Art, deinen Vater geliebt haben, obwohl wir ihn nicht kannten… aber die Welt braucht ihn noch immer. Der Krieg ist noch nicht ganz zu Ende. Die Sklaven sind noch nicht ganz befreit. Die Wunden sind noch nicht verheilt. Ach, Tad, dein Vater kann noch nicht ruhen… sein Werk muß noch vollendet werden… wegen Amerika… zum Wohle der Menschheit.« Oh, ich hatte mich in einen weiteren Gefühlssturm hineingesteigert, aber Phoebe ließ mich mit innehalten, indem sie meine Schulter berührte und sagte: »Nein, Paula, nein. Wir nicht deshalb hier.« »Aber warum dann all diese ineinander verschachtelten Geschichten? Warum dann dieser furchtbare Krieg?«
Walt Whitman sagte: »Alle bedeutungsvollen Ereignisse, Paula… alle Kriege, alle großartigen Eroberungen, alle Unterwerfungen, alle menschlichen Greueltaten, alle sind am Ende kleine Tragödien, häusliche Spiele um Liebe und Tod, Familienangelegenheiten. Dieser Krieg war ein Familienstreit. Er ging um Väter und Söhne, um Brüder, um Freundesliebe, die sich ins Gegenteil verkehrte; darum hat er so einen großen Schaden angerichtet und darum war er so verhängnisvoll.« »Wir nicht hier, um die Welt zu retten«, sagte Phoebe und nahm meine Hand in die ihren. »Wir nur hier wegen dem Versprechen, was ich dem alten Marse Lincoln gegeben. Jetzt öffnet die Sargdeckel, Freunde, und ich werde euch eine letzte Geschichte erzählen. Ich erzähle sie den Lebenden und den Toten, die dabei waren, aber vielleicht eine kleine Erinnerung brauchen. Jetzt hört Phoebe zu, hört zu, und wisset, daß ich die Wahrheit spreche.« Walt und Zachary machten jeder einen Sarg auf. Mr. Lincoln war so, wie ich ihn in Erinnerung hatte, obwohl er bei der flackernden Kerze noch kantiger erschien. Willie Lincoln war ziemlich verwest, fast ein Skelett, obwohl sein Anzug sauber gebügelt war wie am Tag seiner Beerdigung. Als Tad seinen Bruder sah, stieß er einen furchtbaren Schrei aus, und ich dachte, sicherlich würde jetzt jemand kommen; aber nein. Vielleicht geschah dies alles hier ja in den Sphären eines Traums. Phoebe sprach. Manchmal hörte sie sich genauso Englisch an wie ich, und manchmal sprach sie mit dem singenden Kreol der Neger und manchmal in einer Sprache irgendwo dazwischen. Ihre Geschichte war die kürzeste von allen, zugleich aber auch die längste, denn sie erstreckte sich von der Gegenwart bis hin zur Erschaffung der Welt.
26 PHOEBE GIBT EIN VERSPRECHEN
1 Im Anfang (sagte Phoebe) gab es nur ein Lied und einen Tanz. Nur das gab es. Keine Erde, kein Himmel. Nur das Lied, und niemand, der es sang, nur der Tanz, und niemand, der ihn tanzte. Das Lied und der Tanz war Gott. Gott singt und Gott tanzt über der Ödnis, und dann, ganz plötzlich, in einem Augenblick, der der erste Augenblick war, denn vor diesem Augenblick gab es so etwas wie einen Augenblick nicht, Gott wurde zwei: Mawu-Lissa, Mann-Frau, Phoebe-Vater und -Mutter. Phoebe-Vater, er gemacht den Himmel, und Phoebe-Mutter, sie gemacht die Erde. Zwischen Erde und Himmel leben alle Geschöpfe, sichtbare und unsichtbare. Alle Geschöpfe leben da, die bleiben an ihrem Platz, Baum, Blume, Wurzel, und Geschöpf, das fliegen, schwimmen, rennen, tanzen, sprechen, singen. Ihr schon gehört, wie Phoebe-Mutter geboren viele Male in der Geschichte der Welt. Mal in Ägyptenland, dann wieder in Afrika, das die Menschen von Santo Domingo nennen Nan Guinée. Manchmal, wenn die Welt dunkel und voll Plagen, sie rufen nach Phoebe-Vater, er dann schicken Bote zu ihr, also Phoebe wiedergeboren, um bringen PhoebeVolk aus der Dunkelheit in das Licht. Phoebe immer geboren an ein Freitag. Phoebe ein Name, der bedeuten Mädchen-Kind, geboren an ein Freitag. Warum ein Freitag? Freitag ein Tag von Dunkelheit und von Tod. Schaut
euch euren eigenen Jesus Christus an, wie er gestorben ist an ein Freitag, aber an den Freitag, er sterben, es Beginn von großem Licht, das scheinen auf die weißen Menschen und ihm geben Herrschaft über die Welt, in der wir leben, hier und jetzt. Phoebe-Mutter haben viele Namen. Heute sie heißen Leuthera, ein Wort von altes Volk von Weißen. Leuthera bedeuten Freiheit. Leuthera geboren unter Leopardenvolk in Afrika. Sie kommen in das Amerikaland, und sie sehen Menschen in Knechtschaft, wie Moses in Ägyptenland. Also sie rufen den Boten des Himmels, und diesmal schicken Phoebe-Vater, er heißen Joseph, wie der Mann von Maria, Mutter von weißen Volkes Gott. Joseph kommen zu ihr aus dem Himmel, und ich in die Welt geboren an ein Freitag, zu führen meinen Volk aus der Knechtschaft… Aber nein, Tad, nein, ich bin kein Moses. Was du siehst, ist alles, was du siehst. Ich bin keine Zauberin, aber die Zauberei benutzt mich manchmal für ihre eigenen Zwecke. Ich spreche die schwarze Sprache und die weiße Sprache, und wenn die Sprache nicht ausdrücken kann, was gesagt werden muß, dann spreche ich eine Sprache, genannt Musik, eine Sprache, die ohne Umwege zur Seele spricht. Paula, dein Mann hat mich als dreckiges Kind gefunden, meine Mutter angekettet im Garten seines Gastgebers in Virginia. Ich schaute in seine Augen und sah seinen wachsenden Kummer, und da wußte ich, daß er ein guter Mann ist. Er konnte den großen Plan nicht auf einmal erkennen, sondern immer nur stückchenweise. Aber er war unschuldig, und seine Absichten waren aufrichtig. Ich liebte deinen Mann. Aber ich habe ihn nie fleischlich gekannt. Das war ein Teil meiner Tarnung. Es war für dich leichter, eine körperliche Begierde zu verstehen als eine Verführung des Geistes. Gegen Ende…
nun… da gab es vielleicht eine sinnliche Seite unserer Liebe, aber nein… er hat dich immer geliebt, nur konnte er diese Liebe nicht ausdrücken, nicht nachdem die Kinder gestorben sind, eines nach dem anderen; er hat seine Liebe in sich eingesperrt, Paula, aber – er hat dich wirklich geliebt. Ich formte mich nach Aloysius’ Visionen; die dunkle Schönheit, die die Ansichten der Weißen verändern konnte. Die Gabe der Musik, die die Götter mir geschenkt hatten, besaß ich schon. Es fiel mir nicht schwer, diese Gabe in die albernen kleinen Liedchen mit ihren abgedroschenen Texten fließen zu lassen, die er mir beibrachte, und sie auf direktem Weg an die Quelle der Empfindung zu schicken. Und so kam es, daß ich für ihn sang, und für seine Freunde drüben in der Druckerpresse, und manchmal in seiner Kirche, und schließlich sang ich für die Soldaten an der Front und für den von allen Seiten heimgesuchten Präsidenten der Vereinigten Staaten. In meinem Innern ist das erste Lied, das jemals gesungen wurde, das Lied, welches das Universum hervorgerufen hat. Ich konnte nichts dafür, daß die Menschen weinten, obwohl sie mich für eine bloße Negerin gehalten haben, niedrig und verachtenswert, die ihrer Meinung nach nur dazu gut war, Wasserkrüge auf dem Kopf zu tragen oder der schnellen Befriedigung ihrer Lüste zu dienen. Und so kam es, daß, nach langem Briefwechsel, dein Mann mich schließlich zu Mr. Lincoln brachte. Seine Absicht war, glaube ich, den Präsidenten davon zu überzeugen, daß Neger mehr waren als stumpfsinnige Lasttiere. Es war bekannt, daß der Präsident in der Frage der Sklavenbefreiung geteilter Meinung war. Vielleicht könnte die dunkle Nachtigall der Freiheit (wie Aloysius mich gerne nannte) den Führer unserer Nation auf die Gott wohlgefällige Seite bringen.
Und so sang ich also. Es war eine private Abendgesellschaft. Ich sang alles von deutschen Liedern bis zu Volksliedern der Appalachen. Reverend Aloysius Grainger, ein paar weitere berüchtigte Abolitionisten, ich glaube sogar ein Senator oder zwei, und Mrs. Lincoln, die als einzige unberührt dasaß. Vielleicht hat sie mich für eine Art dressierten Affen gehalten, der ohne Verstand etwas nachplappert, was er irgendwo einmal aufgeschnappt hat. Vielleicht hat sie bemerkt, wie ihr Mann mich ansah, und hatte Angst, er würde die Frau in mir anschauen – unwahrscheinlich, vermute ich; trotzdem daß er theoretisch der Ansicht zuneigte, alle Menschen seien gleich, so hat er doch die praktischen Aspekte, die Neger in diese Gleichheit mit einzubeziehen, nicht wirklich in Betracht gezogen. Wie auch immer, alle außer Mrs. Lincoln waren zu Tränen gerührt. Tatsächlich stürmte Mrs. Lincoln nach kurzer Zeit hinaus und murmelte vor sich hin: »Unsinn, Unsinn.« Tad, du warst damals dabei. Du warst ungefähr acht Jahre alt. Später am Abend wandte sich das Gespräch dem Thema der Totenerweckung zu. Der Präsident erwähnte eine Frau namens Marie Laveau… eine freie Farbige, die in New Orleans lebte und behauptete, seit dem Jahr 1804 nicht mehr gealtert zu sein. »Ich habe gehört«, sagte der Präsident, »daß diese Frau – eine sogenannte Zauberin – sich in regelmäßigen Abständen selber von den Toten erweckt, sich verjüngt und auf ewig weiterlebt. Andere hingegen sagen, daß die gegenwärtige WoodooKönigin in Wirklichkeit ihre Tochter sei, die die Stelle der Mutter einnimmt, und daß dies die wahre Quelle ihrer anhaltenden Jugend sei…« »Nur ein weiteres Beispiel afrikanischer Barbarei, fürchte ich«, sagte einer der Gäste. »Darum werden sich unsere Welten niemals treffen.«
»Natürlich werden sie das nicht«, sagte der Präsident, »und dennoch, zu Zeiten träume ich von einer solchen Möglichkeit…« Daraufhin ertönten Ausrufe wie »Unmöglich!«, sogar von den Abolitionisten. Nun denn, es war der kleine Tad, der seinen Vater am Ärmel zupfte und sagte: »Sie sollte für Willie singen.« Und so kam es, daß ich nach oben an Willies Krankenbett geführt wurde, und ich sah diesen bleichen dahinsiechenden Jungen, der an der Schwelle des Todes stand. Im Zimmer roch es schon nach Tod, obwohl der Gestank von einem ekelerregenden, süßen Duft von Potpourri und Opiaten überlagert war. In diesem Zimmer waren also nur ich und Tad und Master Lincoln und der sterbende Junge. Und Willie rief: »Vater, du hast mir einen Engel gebracht.« »Nein, Sohn«, sagte er, »dies ist eine befreite Frau; ihr Name ist Phoebe; ich dachte, du würdest sie gerne singen hören.« »Das habe ich schon. Eine Stimme wehte die Treppe herauf. Ich hatte Angst, Vater, und die Stimme hat all meine Ängste vertrieben.« Ich saß neben dem Bett des kleinen Jungen, und ich sang ihm ein altes Yoruba-Lied: b’aiyé tàn e ko má tan ‘ràre (Wenn die Welt dich betrügt, dann betrüge wenigstens nicht dich selbst…) Wir hatten keine Trommeln, also habe ich den Rhythmus leicht auf seinem Nachttisch geklopft. Wille lachte. Ach, Tad, er war so blaß; seine Haut war durchsichtig wie eine gelbe Kerze; aber er lächelte immer noch. Ich wußte, daß er Schmerzen hatte. Ich sang:
E má sikà l’aiyé nitori à nr’òrun, a ba de ‘bode e ro ro ‘jo (Sei nicht grausam in der Welt, denn in der nächsten gehen wir in den Himmel und am Eingang zu diesem Ort wird die Abrechnung kommen.) Natürlich konnte Willie die Worte nicht verstehen, und dennoch begriff er, daß es in dem Lied um den Tod ging und um das, was danach kommt. Er schloß die Augen. Er nahm meine Hand und hielt sie fest, sein Lächeln verstärkte sich, und bald verfiel er in einen tiefen Schlaf. Ich glaube, daß er nicht einmal geträumt hat, denn seine Augen blieben ruhig. Und auch Tad war am Fußende des Krankenbettes eingeschlafen, so daß ich in diesem Sterbezimmer mit dem einzigen Mann allein war, der die Macht hatte, mein Volk zu befreien. Master Lincoln setzte sich in einen gepolsterten Lehnstuhl, der mit einem Adlermuster geschmückt war. An Willies Bett brannte ein Kandelaber, aber eine Kerze nach der anderen erlosch. Durch die flackernde, rußende Flamme sah ich Master Lincoln und wußte, daß zwei große Qualen ihn plagten: die Qual seines geteilten Landes, und die Qual eines Vaters, der nichts zur Rettung seines Sohnes tun kann. Er sagte zu mir: »Ich komme zu einem unvermeidlichen Schluß, Phoebe. Wissen Sie, was das sein wird? Ach, ich bin genauso ein Sklave der Geschichte, wie deren Herr.« »Ja, Master Lincoln. Sie brauchen nicht zu sagen, was wir beide wissen. Das Licht, sie immer folgen das Dunkel.« »Aber ich muß es sagen. Trotz all meiner Bedenken, trotz meiner Zweifel, werde ich die Sklaven befreien.« Mein Herz hüpfte vor Freude, denn ich hatte den Zweck erfüllt, weshalb ich in diese Welt geschickt worden bin. »Gehen Sie runter nach Richmond«, sagte ich ihm, »und
tausend Neger werden Ihre Hand küssen und sich vor Ihnen niederknien und sie Vater nennen.« »Und doch kann ich meinem eigenen Sohn kein Vater sein!« Und dann begann er zu weinen. »Der Krieg laugt mich aus, ich komme hierher, um bei ihm zu sein, und von einhundert verbrannten Feldern rufen einhunderttausend grausige Tote nach mir; und ich merke, wie mir das Vatersein entgleitet. Ach, warum belaste ich Sie damit… eine Frau, die ich kaum kenne, eine Sängerin, die ein verrückter Abolitionistenpriester hergebracht hat, um mir zu zeigen, daß es für die Negerrasse Hoffnung gibt?« »Weil ich schwarz, Master Lincoln. Ich unsichtbar. Ich wie die Wände, wie die Möbel.« Vielleicht klang das bitter, aber wir beide wußten, daß es die Wahrheit war. »Ja, ich erkenne die Heuchelei jetzt… aber wie kann ich ihr jemals entkommen?« »Sie tun, was Sie tun können, Master«, sagte ich. »Es mehr als genug.« »Sind Sie wirklich eine Zauberin? Sind Sie wirklich ein Engel?« »Nein. Nur ein Gefäß.« »Oh, aber ich weiß, daß mehr an Ihnen ist, als Sie vorgeben. Ja, ich habe im Geheimen die Aberglauben Ihres Volkes studiert; und vielleicht sind sie nicht mehr als Aberglauben, und trotzdem habe ich das beständige Gefühl…« »Ich bin, was Sie aus mir machen.« »Dann versprechen Sie mir etwas… wenn Sie können.« »Ja, Master.« »Falls die Lasten der Welt mich so schwer in Anspruch nehmen, daß ich meinem eigenen Kind nicht Lebewohl sagen kann, dann erbitte ich von Ihnen, daß Sie mir eine solche Möglichkeit herbeischaffen; selbst in einem anderen Leben oder in einer anderen Welt.«
2 »Und das ist es«, schloß Phoebe, »was uns heute nacht hierhergebracht hat. Nicht ein großartiger Plan zur Wiederherstellung der Welt, nicht ein unvollendetes Werk, das Mr. Lincoln erreichen wollte, denn diese großen Werke erfüllen sich am Ende von selbst und hängen nicht von einem einzigen Individuum ab – wir sind hier, um einem Mann und seinem Sohn zu helfen. Weiter nichts.« Aber das hielt uns nicht davon ab, das ganze Ritual durchzuführen. Wenn ich irgend etwas daraus gelernt habe, dann ist es das: Es bedeutet genausoviel Arbeit, einen einzigen Mann zu erlösen wie eine ganze Welt. Dort, in dem beengten Abteil voll Verwesungsgeruch, wo ein einsames Kind um seine Familie trauerte, tanzten wir den Tanz, der, das glaube ich ganz fest, die gleiche Melodie hatte, mit der die Welt begann, der Gesang der Schöpfung. Statt der Trommeln hatten wir das geschwinde Rattern des Zuges. Als Chor hatten wir den Wind. Für die Worte hatten wir Phoebe, die sie in einer Sprache herausrief, die älter war als meine, die Sprache Shakespeares und Miltons. Sie war vielleicht noch älter als die nicht zu entziffernde Sprache der Sphinx und der Pharaonen. Das Scheppern der Räder bildete den Kontrapunkt zum Klatschen unserer Hände und unseren Rufen: »Oba kòso, Der König, er hängt nicht mehr.« Mitten in der Nacht wurde der Waggon von einem warmen Licht erleuchtet, das ohne Quelle war. Wir tanzten. Langsam bildete sich Fleisch auf Willies Knochen. Wir tanzten. Das Leben zuckte auf Mr. Lincolns mächtiger Stirn. Wir tanzten. Willies Hand begann, den Rhythmus zu schlagen. Zachary tanzte mit der Energie der Jugend. Mr. Whitman tanzte etwas
langsamer und genoß jeden Augenblick. Ich versuchte, mich würdevoll zu halten, tanzte am Ende aber mit aller Ausgelassenheit. Am wildesten von allen tanzte Phoebe. Sie brachte die stickige Luft zu Blitz und Donner mit ihrem Tanz. Sogar Tad tanzte, und er lachte über das Wunder, das da stattfand, und hatte seine Tränen vergessen. Ich tanzte nicht, um jemanden aus dem Grabe zurückzuholen. Es war aus schierer Freude daran. Am Ende war ich von einem großen, namenlosen Geist besessen, denn für einen Augenblick wurde ich zum ganzen Universum und hielt die Wahrheit selbst in meiner Hand. Als der Tanz beendet war, setzten sich der Präsident und sein Sohn in ihren Särgen auf, stiegen herunter und umarmten sich und Tad auch. Der Präsident wandte sich zu Phoebe und verneigte sich, er dankte ihr und uns allen mit schlichter Feierlichkeit. »Meine Liebe«, sagte er zu meinem Dienstmädchen, die von ihrer begeisterten Raserei noch erhitzt und schweißüberströmt war: »Sie haben mich befreit.« Aber Phoebe gab keine Antwort, denn sie war wieder verschwunden, und ich wußte, daß ich sie nun niemals wiedersehen würde, zumindest nicht in diesem Leben; denn sie hatte alles getan, was zu tun sie gekommen war. Einer nach dem anderen verließen wir diskret das Abteil, der junge Mann, der alte Dichter und ich. Was für Geheimnisse zwischen Vater und Söhnen ausgetauscht wurden, welche Weisheit sie Tad von jenseits des Grabes vermittelt haben, werden wir nie erfahren. Aber am Morgen waren die Särge wie zuvor, und die beiden so tot wie zuvor; und auf dem Teppich vor ihnen schlief Thomas Lincoln; und der Trauerzug fuhr in Cleveland ein.
Nachwort
Warum also hat mein Mann sich umgebracht? Warum also wurde dieser Krieg überhaupt geführt? Warum wurden so viele geopfert, von den Höchsten bis zu den Niedrigsten? Wessen Altar waren diese Millionen geweiht? Und wer oder was ist nun Gott? Man könnte genausogut fragen, warum die Sonne scheint oder warum die Jahreszeiten sich ändern. Ja, ich hatte die Wahrheit in meiner Hand gehalten. Aber ich habe sie nicht ergriffen. Ich war nicht Gott… nur das Gefäß eines Gottes. Walt Whitman hat das von mir bewunderte Gedicht doch veröffentlicht, jenes, das er selbst so gehaßt hat. Er hat noch vieles andere gemacht, was man für nicht ganz ehrenhaft halten könnte – etwa das Drucken begeisterter Artikel über seine Arbeit unter Nutzung eines Pseudonyms. Zum Schluß erlangte er dann doch noch eine Art Ruhm, denn die Briten erklärten ihn zu einem verrückten Genie, und zu seinen Anhängern gehörten solche Leuchten (wenn sie es denn sind) wie Bram Stoker. Der Krieg selbst wurde kurz nach den hier geschilderten Ereignissen beendet. Aber ich fürchte, er geht dennoch weiter. 1871 folgte Tad Lincoln seinem Bruder und seinem Vater ins Grab. Warum? War es eine geheime Wahrheit, die sie ihm offenbart hatten? Oder war es nur eine normale Krankheit? Mary Lincoln suchte ihre Zuflucht im Wahnsinn; anders als Amelia Bledsoe fand sie niemanden, der sie befreite. Mr. Whitman hat schnell genug andere Freunde gefunden. Zwischen ihm und Zack gab es keine Feindseligkeit, aber ich
glaube nicht, daß sie weitere sündhafte Augenblicke miteinander verbrachten. Für Zack war dies lediglich eine Phase gewesen, nehme ich an, oder es hatte an den besonderen Umständen, an den extrem qualvollen Kriegsbedingungen gelegen. Übrigens hat er mich geschwängert. Vielleicht hätte er zu diesem Zeitpunkt das Erforderliche tun sollen, aber ich bin eine Frau in mittlerem Alter, und er ist noch ein Junge. Ich hätte ihn nicht zu einer Zweck- oder Vernunftehe zwingen wollen, denn dafür hatte ich ihn viel zu gern. Ich wußte, daß er ein Mädchen in seinem Alter finden sollte, in Nebraska vielleicht, und eine Farm bestellen und einen ganzen Stall Kinder großziehen und nicht dazu verdammt sein, sein junges Mannsein darauf zu verwenden, sich um eine alte Frau zu kümmern. Ich warf meine Trauerkleidung fort. Um den Skandal machte ich mir nicht die geringsten Sorgen, aber ich sehnte mich nach einem Ort, der ganz anders als New York sein sollte, ein Ort ohne düstere Gebäude und ohne finster blickende Gesichter. Ich verkaufte also all meinen Besitz und bestieg, mit JungZachary im Schlepptau, den Zug nach Westen, ohne es je zu bereuen. In der Stadt, in der ich heute lebe, weiß man, daß ich verwitwet bin, aber man weiß nicht, das Zachary nicht der Sohn meines Ehemannes ist. Man weiß, daß ich wohlhabend bin, aber man weiß nicht, wo das Geld herkommt. Mein Geld schützt mich vor zuviel Aufmerksamkeit, und ich habe mich mit den richtigen Leuten angefreundet. Heute hat mein Sohn vor der Gemischtwarenhandlung einen toten Chinesen auf dem Gehweg gesehen. Er kam nach Hause gerannt. »Er war voller Blut, Mama«, sagte er. »Irgendein Revolverheld hat ihn erschossen, weil er Miss Percy zu lange
und zu doll angeguckt hat, drüben beim Saloon. Mama, ich hab ihn geknufft und gestoßen, aber ich konnte ihn nicht dazu bringen, sich zu bewegen.« »Sohn«, sagte ich, und drückte ihn an meinen Busen, »er ist tot.« An diesem Abend hab ich ihn in seinem Bett ganz fest zugedeckt. Immer und immer wieder küßte ich ihn. Er ließ es über sich ergehen und dachte sich wahrscheinlich, daß ich es mit der Mutterliebe etwas übertreibe. Manchmal glaube ich, daß Aloysius dieses Kindes wegen gestorben ist; manchmal glaube ich, daß mein Schoß irgendwie verflucht war, bis mein Mann mit seinem Opfer den Bann gebrochen hat; manchmal bin ich mir sicher, daß solche Gedanken nur alberne Einbildung sind, denn ich weiß, daß Menschen dem Unbekannten gern ihre Paradigmen und Muster aufdrücken, in der Hoffnung, es dadurch doch noch zu erkennen. Heute abend fragte mich mein Sohn mit aller Ernsthaftigkeit: »Was ist tot, Mama?« Ich sagte: »Das ist, wenn du nicht mehr lebst; du bewegst dich nicht mehr, und du atmest nicht mehr, und deine Seele geht weg.« »Aber Mama«, sagte er, »kann die Seele dann nicht wieder zurückkommen?« Ich umarmte ihn fest, und sagte: »Ich glaube, du bist alt genug, also werde ich dir eine Geschichte erzählen… aber es ist eine lange Geschichte, und es wird viele Nächte brauchen, bis sie erzählt ist, und manches darin ist gruselig.« »Ich hab keine Angst vor gar nichts!« sagte Klein-Zachary. »Aber manchmal ist es gut, wenn man Angst hat…« »Dann erzähl«, sagte Klein-Zachary. Ich begann. Und so wurde alles Geschehen wieder wach, doch nur in Worten, und nur in der Erinnerung, ohne Schaden
anzurichten; denn das Verborgene auszusprechen, heißt, es zu bannen, und die frische Wunde ausbrennen, heißt, sie zu heilen. »Ein toter Mann in einem abgedunkelten Zimmer…« Los Angeles, Denver, Bangkok: 1991-97