Manfred Weinland
Echo! Bad Earth Band 13
ZAUBERMOND VERLAG
Das Angksystem wurde zur Heimat für eine neue Menschheit...
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Manfred Weinland
Echo! Bad Earth Band 13
ZAUBERMOND VERLAG
Das Angksystem wurde zur Heimat für eine neue Menschheit, die aus Sarah Cuthbert, Prosper Mérimée und dessen Ensemble hervorgegangen ist. Künftig werden sie dort – so ist es jedenfalls geplant – in friedlicher Koexistenz mit denjenigen Bractonen leben, die sich nicht Kargors Vorstoß zur Schwellenwelt angeschlossen haben. Ein kleines Kontingent dieser Menschen wurde von den ERBAUERN jedoch für die RUBIKON abgestellt; ein paar tausend Männer, Frauen und Kinder haben ihre Ankunft auf dem Rochenschiff angekündigt … Scobee indes kann es kaum noch erwarten, in den Leerraum zurückzukehren, um die in ihrem goldenen Schiff zurückgelassenen Gloriden aus der Versteinerung zu befreien, in die Porlac sie versetzte. Und dann ist da auch noch Yael, Jiims »Sorgenkind«: Glücklich zurück von Portas, beginnt er neue Eigenarten zu entwickeln, die zunächst keiner so richtig einzuschätzen vermag – bis Algorian einschreitet …
Die Treymor wachsen sich mehr und mehr zur galaktischen Gefahr aus. Doch John Cloud beschließt, sich zunächst auf die Spurensuche nach einer Bedrohung zu begeben, die für ihn nie aufgehört hat zu existieren: Was wurde aus den RUBIKON-Kopien, den sogenannten HAKARs, auf die sich die letzten Foronen zurückgezogen haben? Fielen die in der Milchstraße operierenden Einheiten auch Darnoks Rachefeldzug zum Opfer? Und was ist mit denen, die einst nach Andromeda aufbrachen, wie Siroona berichtete?
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Sato-
ga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Bizarre, nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Die Milchstraße ist zu einer Brutstätte des Chaos geworden. Galaxisweit ist die Zeit entartet – und die Quelle dieser Entartung ist erklärtes Ziel der Kargor-Mission. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher«, ganz in sei-
nem Streben nach Rache aufgehend: Es ist Darnok, der einstige Freund und Weggefährte, der in die Gefangenschaft Arabims geriet und später sogar mit diesem »verschmolzen« wurde. Ein absonderliches Schicksal hat Darnok wieder von seinem dunklen Gegenpol befreit. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON überwältigen ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Ein Besuch des irdischen Sonnensystems offenbart die ganze Dramatik: Auf der Erde-Mond-Bahn zieht nun eine gigantische Hohlwelt ihre Bahn – die sogenannte »Oortschale« umschließt beide Himmelskörper, und im Vakuum des Zwischenraums hat sich eine ganz neue Menschenspezies angesiedelt: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, was die höchste Instanz innerhalb des stark veränderten Menschenreichs auf den Plan ruft. John Cloud wird aus der RUBIKON weg entführt und auf der Erde von einem Tribunal zum Tode verurteilt. Oberster Richter ist, obwohl auf der Erde Jahrzehntausende vergangen sind, ein alter Bekannter: Reuben Cronenberg, der so lange mithilfe des mutierten Gigahirns einer ehemaligen Master-Residenz überleben konnte. Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von X-Schiffen, die mit Treymor besetzt sind, über der Erde auftaucht. Cronenbergs Geheimwaffe, den Fraktalen, gelingt es die Treymor-Schiffe für die Erde in Besitz zu nehmen. Der RUBIKON gelingt im letzten Moment die Flucht von der Erde. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart ihnen das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – auf den es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen
und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft. Er hinterlässt zwei Geschenke: erstens einen Ring, mit dem Scobee die versteinerten Gloriden auf RUDIMENT-2 erlösen will – und zweitens einen enormen Crewzuwachs für die RUBIKON …
Prolog Kontakt!, meldet die Stimme in meinem Kopf. Sie gehört meiner »anderen Seite«. Sie gehört einer Intelligenz, die nicht von Menschen ersonnen und erschaffen wurde, sondern von Wesen, die einst noch jenseits unserer Milchstraße beheimatet waren: Foronen. Bewohner der Sternenballung Samragh, die irdische Astronomen auf den Namen Große Magellan'sche Wolke tauften. Einst, als die Erde noch ein lebenswerter Ort und nicht von einer dicken Schale aus jahrmilliardenaltem Urgestein umgeben war. Die Erde … Ich weiß nicht, ob ich sie noch Heimat nennen kann. Sie ist völlig verändert. Manche ihrer Bewohner – nicht alle! – sehen nach wie vor so aus wie die Menschen, unter denen ich aufwuchs. Aber es gibt auch andere, extrem veränderte, die dank ihrer Physis befähigt sind, ohne weiteren Schutz im Weltraum zu leben. Dort bauen sie an und ernten sie Gewächse, die ebenfalls nicht mehr auf das Licht und die Wärme einer Sonne angewiesen sind – und die als Nahrung auf der unter Psischleiern liegenden Erde dienen. Auch der gute alte Mond ist in diesen kugelförmigen Hohlraum, die Oortschale, integriert, während die äußere Schale einen gigantischen, atmosphärelosen Planeten vorgaukelt … So sind die Verhältnisse im Solaren System, das ich nicht länger Heimat nennen will. Zugleich aber weiß ich, dass ich Schuld auf mich geladen habe. Manchmal wache ich nachts schweißgebadet in seiner Kabine auf, und in mir toben die Erinnerungen an meine Begegnung mit Cronenberg, an die Fraktalen, die X-Schiffe … all den Wahnsinn, für den ich mich mitverantwortlich fühle. Mir ist, als hätten wir dort, im irdischen Sonnensystem, etwas erweckt, was ohne unseren Vorstoß zur alten Erde für immer dort geblieben wäre und »unter der Schale« weiter geschlummert hätte. Nun aber ist es erwacht. Und hat mit den X-Schiffen der Treymor
womöglich ein Instrument zur ungehemmten Ausbreitung gefunden. Reuben Cronenberg, der Diktator des neuen, schrecklich entstellten Erde-Mond-Systems, wurde durch Darnoks Entartungsfeld sowohl unsterblich als auch in seinen späteren Möglichkeiten der Machtentfaltung beschränkt. Dank Darnok war es Cronenberg nie möglich, die Grenzen des Sonnensystems zu verlassen, weil alle Raumfahrt im Erinjij-Reich, wie auch überall sonst in der Milchstraße, zum Erliegen kam, alle Hochtechnik generell – nach Beseitigung des Darnokfeldes aber ist seinem Größenwahn nun Tür und Tor geöffnet. Das lässt mich nachts aus meinem Schlaf hochfahren. Kontakt!, wiederholt Seshas Stimme in mir. Und endlich lasse ich sie an mich heran, lasse es zu, dass sie mich ins Hier und Jetzt zurückholt, auf den Boden der aktuellen Tatsachen sozusagen. Ins Angksystem. In das von Bractonen erschaffene »ganz spezielle« Sonnensystem, auf dem mittlerweile Millionen und Abermillionen Menschen beheimatet sind. Sie alle gehen auf eine »Kernzelle« zurück: auf eine kleine Gruppe Entführter, die hier weit in der Vergangenheit von Kargor ausgesetzt wurden und aus denen sich abseits der verstümmelten Erde eine neue Menschheit entwickelt hat, die mir sympathischer ist als die Untertanen eines Reuben Cronenberg – wenngleich ich einräumen muss, dass jene veränderten und von einem Despoten regierten Erinjij-Nachfahren in der Mehrzahl wahrscheinlich schuldlos an der unguten Entwicklung sind, deren Zeuge ich wurde. Als ich vor dem Tribunal stand. Als – – – Ich dränge das neuerliche Aufsteigen der Erinnerungen mit Gewalt zurück. Kontakt, meldet Sesha unermüdlich, als wüsste sie um meinen Seelenzustand. Und nun erst wende ich mich wirklich, in vollem Bewusstsein und mit gespannter Neugier dem zu, was dort draußen, außerhalb meines »Körpers«, und dann fast übergangslos auch drinnen geschieht:
Die neuen Crewmitglieder treffen ein – oder sollte ich eher sagen: die neuen Bewohner des riesigen Komplexes, den mein Geist gerade durchstreift, als wäre er aus Fleisch und Blut. Die RUBIKON. Vielleicht ist es genau dieser Moment – in dem die uralte Arche der Foronen eine Flut neuer Passagiere erhält, die ihre vertraute Umgebung hinter sich lassen, weil Kargor es so bestimmt hat –, an den ich später noch oft zurückdenken werde. Als den Moment, in dem mir mit unerwarteter Klarheit bewusst wird, dass ich selbst längst eine neue Heimat gewonnen habe, fernab des düsteren Ortes, auf dem jetzt die Schatten und Schattenhaften regieren. Meine Heimat, das wird mir fast schmerzhaft klar, ist die RUBIKON. Und wenn ich mir etwas für die Zukunft wünschen darf, dann, dass all die aufgewühlten Seelen, die gerade an Bord drängen, irgendwann ebenso fühlen werden. Denn jeder Mensch braucht einen Anker, der ihm Halt und Kraft schenkt. Erst recht, wenn es ihn hinauszieht in die Weiten eines feindseligen Kosmos … den die Bractonen einst erfanden …
1. Kapitel »Kontakt«, sagte die Stimme aus dem Off. Scobee warf einen kurzen Blick auf den geschlossenen Sarkophagsitz, unter dessen Gehäuse der Kommandant der RUBIKON Platz genommen und sich mit dem Schiff in einzigartiger Weise verbunden hatte. Cloud hatte es vorgezogen, die Ankunft der neuen Besatzung auf diese Weise zu erleben. Scobee hingegen war froh, alle relevanten Bilder von der Holosäule geliefert zu bekommen. Ein historischer Moment stand unmittelbar bevor: die Wiederbevölkerung des Rochenraumschiffs, das in seinen »echten« Ausmaßen die Größe einer künstlichen Stadt hatte. Eingedämmt wurde dies nach außen hin durch sogenannte Dimensionswälle. Dem Betrachter vermittelte sich der Anblick eines Raumschiffs von immer noch beachtlicher Größe, das an einen irdischen Mantarochen erinnerte. Die Spannweite betrug runde 300 Meter – ohne die Wälle wäre es ein Vielfaches gewesen. Die RUBIKON bot Tausenden von Individuen Unterkunft und Lebensgrundlagen. Und Tausende von Menschen strömten jetzt herbei. Von allen bewohnten Planeten des rätselumwobenen Angksystems. Sie kamen via Straßennetz – Energiestraßen, die sämtliche Welten des Ersten Reiches miteinander verbanden, ausgenommen Portas natürlich. Portas nahm eine Sonderstellung im Verbund der Welten ein, die eines Krebsgeschwürs, wenn man Kargors Worten und den eigenen Erfahrungen bei Yaels Rettung trauen durfte. Auf Portas waren Kräfte aus den Fugen geraten und am Werk, die ein Mensch vermutlich niemals verstehen würde, wenn selbst die Bractonen daran scheiterten. Scobee wünschte Kargor, der mit vielen seines Volkes aufgebrochen war, um auf Portas nach dem Rechten zu sehen … und viel-
leicht den lang gesuchten Weg zurück in sein angestammtes Kontinuum zu finden …, dass ihm Erfolg beschieden sein würde. Milliarden seiner Art hatten sich jedoch entschieden, den Vorstoß ins Ungewisse nicht mitzumachen, sondern hier, in diesem Universum, das ihre Schöpfung war, zu bleiben. Bislang gab es keinerlei Anzeichen auf Machtgelüste, die sie zu diesem Entschluss geführt hatten. Vielmehr erhofften sie sich offenbar eine friedliche Koexistenz mit den angesiedelten Menschen. Was sich daraus in Zukunft entwickeln würde, war noch gar nicht absehbar. Die RUBIKON dockte an einen Knotenpunkt des interplanetaren Systems von Energiestraßen an – und damit war den Ankömmlingen der Zutritt an Bord ermöglicht. Eine Chance, die sie zu Tausenden wahrnahmen. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, auch Kinder, die offenbar zu bestimmten Erwachsenen gehörten und eine Familie bildeten, waren darunter. »Wie konnte er dazu nur seine Einwilligung geben?«, drang es raschelnd aus dem Gestrüpp von Cys Pflanzenkörper, der auf dem Sitz auf der anderen Seite des geschlossenen Sarkophags Platz genommen hatte. »Angst?«, fragte Scobee, die ihren Blick kurz aus der Holosäule löste, in der verschiedene Fenster unterschiedliche Bereiche des Schiffes zeigten – wo jetzt Menschen wie aus dem Nichts materialisierten, immer mehr. »Angst? Wovor?«, kam es knisternd zurück. »Bisher waren wir eine sehr überschaubare elitäre Gemeinschaft«, sagte sie. »Das wird sich nun nachhaltig ändern. Wir alle müssen mit der neuen Situation umgehen lernen.« »Ich halte mich für anpassungsfähig«, erklärte Cy. Seine Augenknospen zitterten leicht. »Das wollte ich dir auch nicht absprechen. Dennoch wird sich für uns alle einiges ändern. Wir werden erheblich mehr soziale Kontakte haben als seit einer kleinen Ewigkeit. Wer sich darauf einlässt, wird seinen Gewinn daraus ziehen – aber nur, wenn er sich seine Toleranz bewahrt.«
»Auch damit werde ich die wenigsten Probleme haben«, seufzte Cy. »Ich bin seit jeher darauf angewiesen, dass ich von anderen toleriert werde – weil ich mich in meinem Äußeren extrem von den meisten anderen hier an Bord und unterwegs unterscheide. Das lehrt eigene Toleranz.« »Schön. Ich wollte es nur angesprochen haben.« »Und du hast es schön ausgeführt«, lobte eine sonore Stimme von links. Dort saß Jelto, gleich neben Aylea, der Jüngsten der Stammbesatzung. Seine schockgrünen Augen blitzten. »Im Übrigen gehe ich mit Cy durchaus konform – auch ich frage mich, ob es klug war, diese von Kargor diktierte … Menschenschwemme an Bord zuzulassen.« »Hinter Kargors Angebot«, fühlte Scobee sich bemüßigt, Partei für den Bractonen zu ergreifen, »steht meines Erachtens das ehrliche Bemühen um Hilfsbereitschaft. Wir hätten es ablehnen können, neue Besatzungsmitglieder aufzunehmen – ich bin sicher, er hätte es akzeptiert.« »Mich wundert lediglich«, griff nun auch der spindeldürre Algorian in das Gespräch ein, »dass John so überstürzt eingewilligt hat. Meines Wissens hat er nicht einmal Referenzen des potenziellen Mannschaftszuwachses verlangt, ehe er den Zutritt erlaubte.« »Offenbar vertraut er Kargor … oder den Bractonen generell. Was ich befürworte«, sagte Scobee. »Dies hier ist zuallererst und vorrangig eine einzigartige Gelegenheit. Wer weiß, wann uns jemals wieder die Chance geboten wird, derart viele Menschen für unsere Art zu leben zu begeistern, wie es hier der Fall ist.« »Offenbar wurden sie seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet«, warf Aylea ein. Wer die blonde Elfjährige mit den Zöpfen kannte, wusste ihren Gesichtsausdruck zu deuten: Sie war ebenfalls hinund hergerissen in ihrer Bewertung dieser beispiellosen Situation. »Ja, das wurde uns von Kargor inzwischen bestätigt«, sagte Scobee. »Er selbst hat entsprechende Vorbereitungen getroffen und Maßnahmen verankert, die auf die Stunde X vorbereiteten.« »Die Stunde X war demnach unsere Ankunft im Angksystem – wohin Kargor mit seiner Tridentischen Kugel Prosper, Sarah und all
die anderen vor Jahrzehntausenden absetzte. Und wo sie sich seither fortpflanzten, bis hin zur heutigen Population«, beteiligte sich erstmals Jarvis an dem Gespräch. Seine Maske vermittelte die Illusion eines lebendigen Menschen, der da zwischen seinen Freunden saß. Tatsächlich war er ein Wesen geworden, das von seiner Umgebung vielleicht noch mehr Toleranz abverlangte als der schon extrem fremdartige Cy. »Aber wie sind die Neuankömmlinge zu verstehen?«, fragte Algorian, der den Eindruck vermittelte, als versinke er mehr und mehr in einer Trance. Vielleicht versuchte er gerade, die Gedanken von ersten Neumitgliedern zu espern. »Als echter Mannschaftszuwachs – oder einfach als ›Gesellschafter‹?« »Ich denke, das ergibt sich mit der Zeit von selbst«, bekundete Scobee ihre ehrliche Überzeugung. »Sie werden sich erst einmal häuslich einrichten und mit uns auseinandersetzen – so wie wir uns mit ihnen auseinandersetzen werden.« »Aber dir ist schon bewusst«, meldete sich Cy abermals, »dass mit ihnen die Verantwortung der Schiffsführung eklatant ansteigt?« »Durchaus.« »Ist es auch John klar, was für eine Bürde er sich – und uns – auflädt?« »Ich glaube, du kennst die Antwort auf deine Frage selbst«, erwiderte Scobee und blickte erneut zu dem geschlossenen Sarkophaggehäuse, in dem – anders als der Name suggerierte – kein Toter, sondern ein höchst Lebendiger ruhte. Cy raschelte. Danach schwieg er. Kurze Zeit später war der Transfer an Menschengut abgeschlossen. Die RUBIKON löste sich vom Knotenpunkt – und John Clouds Geist von den stählernen Gebeinen des Schiffes.
»Was dagegen, wenn wir dich begleiten?« Cloud war bereits auf dem Weg zum Türtransmitter. Er blieb kurz stehen und drehte sich zu Jarvis und Scobee um. »Wie könnte ich?
Vielleicht könnt ihr mir ja ein wenig soufflieren. Ich bin kein guter Redenhalter.« »Aber wir, oder wie?«, fragte Jarvis. »Du könntest mal in deinen Speichern nachsehen, ob nichts Passendes dabei ist.« Cloud grinste. Der Freund schien es weniger spaßig zu finden. »Du hättest dich ja auch während deiner Verschmelzung mit dem Schiff von Sesha damit versorgen lassen können. Die KI ist bestimmt genial und voller Esprit, wenn es um die Erstellung von pathetischen Reden geht – man muss sie nur von der Kette lassen.« »Du schaffst das schon allein«, hielt Scobee dagegen. »Ich glaube, dass du die richtigen Begrüßungsworte findest. Stell dir einfach vor, du wärst einer von ihnen – erzogen und ausgebildet, um eines Tages das Legendenschiff zu betreten, zu dem Kargor die RUBIKON hochstilisiert hat.« »Hat er das wirklich? Was weißt du darüber?« »Wenig. Du kennst seine Informationspolitik. Klar scheint nur, dass die Angkbewohner seit Generationen auf diesen Tag vorbereitet wurden – auf die RUBIKON ebenso wie auf die mögliche Rückkehr der ERBAUER, die künftig mit Menschen zusammen auf den Angkwelten leben werden.« »Nach wie vor ein eigenartiger Gedanke«, sagte Cloud. »Und wirklich begeistert davon, neue Crewmitglieder zu bekommen, scheinst du mir immer noch nicht zu sein.« »Merkt man das so deutlich?« Sie nickte. »Einerseits verständlich, andererseits …« »Ja?« »Du solltest dir wirklich keine Sorgen machen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Kargor diesmal ohne jeden Hintergedanken handelt. Er will die RUBIKON bereichern, nicht unterwandern.« »Legst du dafür wirklich deine Hand ins Feuer?« »Absolut.« Er merkte, dass sie es genau so meinte, wie sie es sagte. »Gut. Dann will ich versuchen, auch die letzten Vorbehalte abzustreifen. Ich hätte ohnehin nicht eingewilligt, sie an Bord zu nehmen, wenn
ich begründete Zweifel an ihrer Integrität hätte.« »Sie sind nicht vollkommen, erwarte das nicht«, bat Scobee. »Man sollte sie eher als Rohdiamanten nehmen, die noch ihren Schliff erhalten müssen.« »Als Schleifer eignet sich Jarvis doch hervorragend«, zwinkerte Cloud dem Freund zu. »Wäre das nicht eine Herausforderung für dich?« »Wenn ich sie schleife, bleibt von ihnen nichts mehr übrig«, beschied ihm Jarvis das Angebot abschlägig. »Ich weiß nicht, warum ihr immer den Militaristen in mir sehen wollt. Okay, ich wurde einst dafür konditioniert, im Kampf meinen Mann zu stehen. Aber ich habe auch eine softe Seite. Äh … hatte eine, wollte ich natürlich sagen. Inzwischen ist nichts mehr an mir weich. Meine Züchter wären stolz auf mich, wenn sie sehen könnten, was für ein harter Bursche dank Nanotechnik aus mir geworden ist …« Die Flachserei driftete in Sarkasmus ab. Cloud beschloss, die Notbremse zu ziehen. Das Wort »Züchter« erinnerte ihn daran, wie und mit welcher Prämisse die GenTecs einst in vitro gezeugt worden waren. Das war ein anderes Thema. »Na dann, packen wir's an«, sagte er und trat als Erster durch den Türtransmitter. Jarvis und Scobee folgten ihm unmittelbar. Auf der anderen Seite erwartete sie ein Menschenmenge, die ein kleines Stadion gefüllt hätte. Menschenmenge? Cloud machte mit geübtem Blick auch Humanoide aus, die unmöglich Menschen sein konnten. »Ich kenne sie«, raunte Scobee ihm zu. »Kargor hat sie mir gezeigt. Sie bewohnten früher die kobaltblauen Türme und haben für mich starke Ähnlichkeit mit Gloriden, auch wenn ihre ›Haut‹ völlig anders ist.« Das konnte Cloud nur unterstreichen. Die Humanoiden waren schwarz, weltraumschwarz – und dazu passend schienen auf ihrer Haut Sterne, ja ganze Galaxien vorbeizudriften. Wer diese Geschöpfe ansah, hatte das Gefühl, mit einem starken Teleskop ins Weltall
zu blicken. »Die Bractonen nennen die Gloriden Mortuas, wenn ich mich recht entsinne«, sagte er. »Gibt es auch einen Namen für diese Geschöpfe? Sind sie denn miteinander verwandt?« »Ich habe auf beides keine Antwort, tut mir leid«, bekannte Scobee. »Aber vielleicht müssen wir sie nur fragen.« Cloud nickte. Es war erstaunlich, wie diszipliniert die Menge – egal ob Menschen oder … dunkle Humanoide – sich verhielt, obwohl sie die Ankunft des Trios bemerkt hatte. Cloud zögerte nicht länger. Er trat zwei Schritte vor und hob, von Sesha mit einem vor seinen Lippen schwebenden Schallverstärker unterstützt, die Stimme an. »Willkommen!« Sie schauten erwartungsvoll, aber immer noch beherrscht. Nur wenige flüsterten mit ihrem jeweiligen Nachbarn. »Ihr habt euch entschlossen, dieses Schiff als neue Heimat zu wählen. Ihr kennt uns – die Stammbesatzung – kaum, und wir wissen noch wenig über euch. Eigentlich …« Er räusperte sich. »… wissen wir gar nichts über euch. Aber vielleicht liegt genau darin die Herausforderung. Mir wurde versichert, dass ihr alle freiwillig diesen Schritt in ein neues, ganz anderes Leben gewählt habt. Und dass ihr immerhin wisst – zu wissen glaubt –, was dieser Schritt für euch bedeutet. Ihr lasst Familien und Freunde hinter euch. Wann wir das Angksystem das nächste Mal besuchen werden, ist noch völlig ungewiss. Unsere erste gemeinsame Fahrt wird uns hinausführen in den Leerraum zwischen den Galaxien. Wir werden dort versuchen …« Er nickte Scobee zu, die Kargors Ring am Finger trug. »… alte Bekannte aus einer misslichen Lage zu befreien. Ich hoffe, es gelingt uns. Und ich hoffe auch, dass ihr davon so gut wie nichts mitbekommt. Ihr werdet die ersten Tage und Wochen vollauf damit beschäftigt sein, euch einzuleben und einzurichten. Für jeden von euch wird überdies eine Aufgabe zu finden sein, die seinen Talenten am nächsten kommt. Wichtiger als die Arbeit ist zunächst aber, dass wir uns alle miteinander besser kennenlernen. Knüpft Freundschaften, besucht einander. Das ist der erste Schritt. Alles andere wird sich er-
geben.« Er winkte ihnen zum Abschied zu. Dann wies er Sesha an, den Transmitter wieder zurück zur Zentrale zu justieren. Sie verließen den Sammelpunkt, und als sie aus der Gegenstation traten, fragte Cloud: »Na, wie war ich.« »Überzeugend«, sagte Scobee. »Zumindest hast du mich voll und ganz überzeugt, dass du recht hattest: Du kannst keine Reden halten. Das … war überhaupt nichts.«
2. Kapitel RUDIMENT-2 umkreiste das Wurmloch wie ein bizarres Schmuckstück. Aus der Entfernung, über die sich die RUBIKON an die Koordinaten herantastete, war der kugelförmige Auswuchs, der an dem ehemaligen HAKAR klebte, erst spät erkennbar. Er befand sich zunächst auf der Rückseite der Station, und ihre träge Eigenrotation ließ das goldene Gloridenschiff nur ganz allmählich sichtbar werden. »Es scheint alles noch so zu sein wie damals, als ich von hier fortmusste – als ich von Porlac nach Nar'gog entführt wurde«, sagte Scobee leise. Sie hatte diesen Moment – den Moment der Rückkehr – herbeigesehnt, aber nun, da sie hier waren, rückte die Sorge in den Vordergrund. Die Befürchtung, dass alles umsonst sein könnte und sie viel zu spät kam. Die Milchstraße lag eine halbe Million Lichtjahre hinter ihnen. Sie leuchtete für das bloße Auge nicht stärker als jede andere x-beliebige Sterneninsel, die das Samtschwarz des Weltalls durchsetzte. Wenn jetzt etwas schiefging – mit der RUBIKON schiefging, würden sie Siroonas damaliges Schicksal teilen. Hierher war sie geflohen, als RUDIMENT-1, im Halo Bolcrains – wie die Foronen die Heimatgalaxis der Menschen nannten –, der Essenz zum Opfer fiel … bei der es sich um nichts anderes als um Darnoks furchtbaren Vernichtungsfeldzug gehandelt hatte. Hier auf RUDIMENT-2 hatte Siroona sich in den Stasisschlaf zurückgezogen, abgeschnitten von jeder Möglichkeit, mithilfe der Transportkapseln weiterzureisen. Sowohl der Weg nach Bolcrain als auch nach Malragh war ihr verwehrt gewesen – von Samragh, der Großen Magellan'schen Wolke, aus der sie stammte, ganz zu schweigen. Siroonas Weg hatte sich in den Wirren auf Nar'gog verloren, als Kargor mit seiner mobilgemachten CHARDHIN-Perle aufgetaucht
war und Scobee ins Angksystem brachte. Damals waren auch Sarah Cuthbert und Prosper Mérimée samt seinem einstigen Zirkus mit an Bord gewesen. Damals … Wie lange war das alles her? Konnte sie ihrem Zeitgefühl überhaupt noch trauen? Ein entschiedenes Nein! formte sich in ihren Gedanken. Fast alle einmal für unumstößlich und kosmosweit für gültig geglaubten Annahmen über das Phänomen Zeit hatten sich als nichtig erwiesen. Zeit war keine Konstante mehr in Scobees Weltbild – und wohl auch in keinem der anderen Gefährten, mit denen sie wieder vereint war. Und das war der positive Aspekt all der Wirrungen und Irrungen: Sie waren wieder vereint. Die RUBIKON-Crew und sie, nachdem sich ihre Wege und Ziele damals in der Andromedagalaxis getrennt hatten. Als Cloud und der Rest ihrer Freunde mit der RUBIKON durch die dortige Portalschleuse zurück in die Vergangenheit gereist waren, während sie selbst sich für eine Aufklärungsmission gemeinsam mit Ovayran und anderen Gloriden zurück zur Milchstraße entschieden hatte. Mit einem der goldenen Kugelschiffe der Gloriden, der AUGE DES PERIGOR, waren sie dorthin aufgebrochen … … und dann hier, noch fern ihres eigentlichen Zieles, gestrandet. Wie sie letztlich wieder zusammengefunden hatten, die RUBIKON-Crew und Scobee, war wohl nur einer ganzen Kette von … Wundern zu verdanken. Wunder, an denen Kargor kräftig gedreht hat, dachte Scobee. Und nun, da der Bractone verschwunden war, hatte sie fast das Gefühl, ihn zu vermissen – etwas, was ihr früher undenkbar erschienen wäre. Der ERBAUER hatte nicht nur ihr übel mitgespielt. Wenn man es genau nahm, hatte er Prosper und die anderen auf Angk Ausgesetzten auf dem Gewissen, auch wenn er sie nicht eigenhändig umgebracht hatte. Das hatte er die Zeit für sich erledigen lassen – und alles im Namen des Großen Planes, von dem er oft gesprochen hatte. Inzwischen war klar geworden, was er damit meinte. Damals hatte
er alle Beteiligten im Ungewissen gelassen. Da war es schon wieder, dieses Damals. Nein, sie wusste nicht, wie viele Wochen, Monate oder Jahre real vergangen waren, seit Porlac und Felvert sie durch das immer noch vorhandene Wurmloch ins Zentralsystem der Jay'nac befördert hatten. Dort war es dann nach dem Abschalten von Darnoks Entartungsfeld zu brutalen Dimensionsverzerrungen und hyperphysikalischen Stürmen gekommen. Nur dem Zusammenspiel von Felorern und Keelon, die im Nar'gog-System stationiert waren, war es letztlich zu verdanken, dass die Heimat der Jay'nac nicht zwischen den Mühlsteinen dieser Urgewalten zerrieben worden war … um ein zweites Mal unterzugehen. All dies lag nun hinter ihr, und Scobee bemühte sich nach Kräften, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sich endlich wieder mit ganzer Kraft der Gegenwart und Zukunftsgestaltung widmen zu können. An manchen Tagen gelang es ihr, an anderen weniger gut. Heute war einer der suboptimaleren Tage. Was sich ändern konnte, wenn sie entgegen ihrer geheimen Ängste doch nicht zu spät kam. Sie lenkte den Blick weg von dem gigantischen »Schmuckstück« dort draußen im All und hin zu dem sehr viel filigraneren an ihrem Ringfinger. Kargors Abschiedsgeschenk an sie und zugleich ein Beweis, dass die Bractonen gelernt hatten, die Sorgen und Nöte der Bewohner dieser Niederungen – in die es sie selbst verschlagen hatte – ernst zu nehmen. Scobee hoffte, dass dieser Respekt keine Eintagsfliege war und dass die Angkbewohner – Menschen wie ERBAUER – es tatsächlich schafften, friedlich mit- und nebeneinander zu leben. »Wenn du bereit bist, sind wir es auch«, sagte der Mann an ihrer Seite, John. Sie löste den Blick von ihrem Ring. »Ich kann es nicht mehr erwarten. Bleibt alles, wie versprochen?« Der Kommandant der RUBIKON nickte. »Du startest mit Jarvis zu deiner fast schon privaten Mission …« Er lächelte ebenso verständ-
nisvoll wie aufmunternd – die Zeit der Missverständnisse zwischen ihnen war lange vorbei. »… während ich mich hier mit dem Rest der Stammcrew um dieses Konglomerat aus Jay'nac-Materie und ehemaligem HAKAR kümmere.« »Viel Glück«, sagte sie im Aufstehen. »Das«, erwiderte er, »wollte ich gerade dir wünschen. Ich weiß ja, wie viel dir daran liegt. Ich drücke dir die Daumen, dass alles glattgeht, toi, toi, toi!« Jarvis erhob sich nun ebenfalls aus seinem Sitz. »Wir können gleich von hier aus teleportieren«, sagte er. »Dazu musst du aber in mich rein.« »In dich rein?«, mimte sie gekonnt eine Empörung, die sie so keinesfalls empfand. »Das hättest du wohl gerne.« »Stimmt – aber davon abgesehen ist es auch notwendig. Niemand von uns kann sagen, welche Verhältnisse an Bord der AUGE DES PERIGOR herrschen. Ob die dortigen Aggregate überhaupt noch eine Atmosphäre erzeugen. Und ob diese so atembar und verträglich ist wie seinerzeit, als du Gast auf dem Gloridenschiff warst …« Er zuckte mit den Schultern. »Die Alternative wäre, dass ich zuerst allein hinüberwechsle und dich hole, sobald die Luft nicht nur vorhanden, sondern auch rein ist. Aber –« »Aber das würde alles nur verzögern.« Er nickte. »Dann will ich mal nicht so sein. Was muss ich tun?« »Du?« Er grinste. »Gar nichts. Lass mich nur machen.« Er streckte die Arme aus, während er plötzlich zu wachsen begann, sich regelrecht aufblähte. Und im nächsten Moment erlosch die Illusion komplett, offenbar hatte er die Maske abgeschaltet. Darunter kam sein wahres Äußeres zum Vorschein: der Robotkörper, dessen Ursprünge auf die Kampfrüstung des Foronen Mont zurückgingen. Der Körper aus Nanosubstanz öffnete sich senkrecht, als würde eine gewaltige Wunde aufbrechen, und im nächsten Moment fühlte sich Scobee ins Innere dieser Öffnung gezogen. »Du weißt aber schon, was du mir da an Überwindung abver-
langst?«, brachte sie gerade noch über die Lippen. Dann schloss sich der Spalt auch schon, und sie befand sich in einem Hohlraum, der noch enger war als die Gehäuse der Sarkophagsitze. »Frag mal mich, was du mir abverlangst«, tönte es ihr aus den allgegenwärtigen Sprachmodulen entgegen. Dann kam auch schon der Entzerrungsschmerz. Und nachdem ihr Jarvis ein »Alles okay!« zugerufen hatte, spie der Kunstkörper sie auch schon an Bord des anderen Schiffes aus. Wo die Steinernen auf sie warteten …
»Was genau hast du eigentlich vor, Chef?«, fragte das Mädchen mit dem Engelshaar und blickte ihn dabei an, als könnte es kein Wässerchen trüben. Cloud bemühte sich im Allgemeinen, Aylea als vollwertiges Mitglied der Besatzung zu betrachten, aber in diesem Moment konnte er nicht umhin, sie mit den Worten zu provozieren: »Etwas, das auf jeden Fall langweilig ist für ein Kind. Willst du dir stattdessen nicht lieber die Beine vertreten und Bekanntschaft mit ein paar Neuen schließen? Wie du weißt, haben im Angksystem nicht nur Erwachsene den Weg an Bord gefunden, sondern auch viele Kinder in Begleitung ihrer Erzeuger. So anschluss- und kontaktfreudig, wie du bist, wirst du sicher keine Mühe haben –« »Sind ein paar ganz nette Typen dabei«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber das hier interessiert mich momentan mehr. Das Ding da draußen ist faszinierend und keine Spur von langweilig. Was werden wir tun – es entern?« Mit dem Ding meinte sie zweifelsfrei die RUDIMENT-Station. Wen sie mit »Typen« meinte, wollte Cloud lieber erst gar nicht wissen – allerdings machte ihm ihre Wortwahl bewusst, dass er allmählich aufhören musste, in ihr nur das Kind zu sehen. Mit ihren elf Jahren war Aylea geistig schon weiterentwickelt als hoch begabte Jugendliche, denen er in der Prä-Master-Ära auf der Erde begegnet war. Und auch körperlich war sie bereits bedeutend reifer, als er die ganze Zeit hatte wahrhaben wollen.
»Gewissermaßen«, sagte er. »Allerdings erst einmal aus der Distanz.« Sie zog einen Flunsch. Was sie wiederum um Jahre zurückwarf. Jetzt war sie das Kind, das er in ihr sehen wollte. »Du verschaukelst mich. Wie soll das gehen – entern aus der Ferne?« Er seufzte. »Okay, schließen wir einen Deal. Du bleibst hier und siehst dir alles an – aber du nervst nicht. Wenn du Fragen hast, wende dich an Sesha. Ich möchte mich ganz auf das Vorhaben konzentrieren und –« »Kapiert und akzeptiert!«, brachte sie ihn zum Verstummen. »Hört sich gut an. Sesha ist nett. Netter als … na ja, als manch anderer halt.« Sie griente und lehnte sich mit verschränkten Armen in dem viel zu großen Kommandositz zurück, den, wenn Cloud nicht die Erinnerung trog, früher Siroona für sich beansprucht hatte, während er selbst traditionell auf Sobeks ehemaligem Platz saß. »Du fliegst sofort raus, wenn du dich nicht an unsere Vereinbarung hältst«, drohte er Aylea noch scherzhaft, dann wandte er sich der Holosäule zu und sagte, an die KI gerichtet: »Sesha, ich brauche die Aufzeichnung der Simulation des Netzwerks, mit der du uns vor Längerem einmal überrascht hast!« »Präzisiere bitte Netzwerk«, reagierte die KI prompt und höflich. »Ich meine die visuelle Darstellung der HAKAR-Verknüpfung – die Darstellung der Verteilung sämtlicher RUBIKON-Kopien über die Milchstraße.« Sesha fragte nicht »Wozu?« – womit sie sich wohltuend von gewissen Gören unterscheidet, fand Cloud –, sondern gehorchte. Eine neue Partition der Holosäule bildete sich in Kopfhöhe des Commanders heraus, und darin prangte nun in ihrer ganzen 3-D-Pracht das, was Sesha ihnen schon einmal präsentiert hatte: die Verteilung der HAKARs, wie sie seinerzeit Fakt gewesen war – rot pulsierende Markierungen, eingebettet in die Sternenspirale der Milchstraße. »So war es damals«, sagte Cloud. »Wie sähe diese Darstellung heute aus?« »Auf Bolcrain bezogen?«, fragte Sesha. »Ja, auf die Milchstraße.«
»Antwort zurzeit unmöglich.« »Ein Reichweitenproblem?«, fragte Cloud. »Korrekt.« »Wie nah müssten wir heran?« Insgeheim ärgerte er sich, dass ihm die Idee nicht schon früher – noch innerhalb der Milchstraße, im Angksystem etwa – gekommen war. Sicherlich wäre das Resultat höchst aufschlussreich gewesen. Über das Schicksal der HAKARs während der Kontrolle Darnoks über die heimatliche Galaxis war wenig – nichts eigentlich – bekannt. Und genau das wollte Cloud ändern. Durch Scobee wusste er einiges über Siroonas Schicksal, er wusste, wofür die Kette der RUDIMENT-Stationen einst errichtet worden war – über Sobeks Verbleib gab es bislang nicht die geringsten Informationen. Und auch nicht, was aus all den HAKARs geworden war, die weder für die Errichtung der RUDIMENT-Relaisstrecke gebraucht worden waren noch in der Milchstraße operiert hatten, als dort der Verderben bringende Einfluss des Entartungsfeldes wirksam wurde. Er war sicher, dass noch etliche RUBIKON-Ebenbilder existierten, die Frage war nur, wo – und wer gegenwärtig über sie gebot. Eine potenzielle Gefahr, die nicht unterschätzt werden durfte. Aber vielleicht warteten ein paar Antworten oder zumindest Hinweise dort drüben in diesem ausgebrannten Wrack eines HAKARs, das von den Foronen zum Baustein der Verbindungsstrecke nach Andromeda gemacht worden war. Bis, noch in den allerersten Anfängen dieses Streckennetzes, etwas fürchterlich schiefging. Etwas, das durchaus ebenfalls auf Darnoks Waffe zurückgehen mochte … »Ideal wäre der Milchstraßen-Halo«, sagte Sesha. »Die Maximaldistanz, um noch die gesamte Galaxie scannen zu können, liegt bei zweihunderttausend Lichtjahren.« »Das haben wir mit der gegenwärtigen halben Million ja knapp verfehlt«, meinte er süffisant. »Ich fürchte, da unterliegst du einem Rechenfehler. Die Distanz ist mehr als doppelt –« »Es war ein Scherz«, wiegelte er ab. »Aber zurück zu meinem ei-
gentlichen Anliegen. Aylea hatte mit ihrer Bemerkung nicht ganz unrecht – ich möchte den vor uns liegenden HAKAR ›entern‹. Allerdings auf die elegante Weise.« »Was soll ich tun?« »Zunächst einmal die alte Aufzeichnung des seinerzeitigen Netzwerk-Status ausblenden und dafür eine aktuelle Situation erstellen.« »Die dann aber nur zwei Schiffe beinhaltet«, machte die KI klar. »Dieses hier – und das veränderte Wrack in Sichtweite, zu dem gerade Scobee und Jarvis wechselten.« »Genau das möchte ich.« Und so geschah es. In der Partition baute sich ein Ausschnitt des lichtarmen Leerraums auf, in dem die RUBIKON und RUDIMENT-2 pulsierende Markierungen darstellten. »Es funktioniert also nach wie vor.« »Hattest du Zweifel?« »In der Tat …« Sesha schwieg. Cloud sagte: »Dann lass uns jetzt mal alle Möglichkeiten ausreizen, die sich uns durch die immer noch existente Verknüpfung eröffnen. Ich habe tatsächlich vor, den HAKAR – ob nun Jay'nac-ummantelt oder nicht – in meine Gewalt … oder sagen wir: unter meine Kontrolle zu bringen. Und zwar, ohne dass auch nur einer von uns leibhaftig an Bord der Station gehen muss. Ich möchte alle eventuellen Risiken ausschließen … aber auch nicht auf die Schätze verzichten, die da drüben auf uns warten.« »Schätze?«, platzte es eifrig aus Aylea heraus. »Verloren!«, bremste Cloud ihren Überschwang. »Du fliegst.« »Aber erst verrätst du mir, welche Schätze da drüben liegen!« Er zuckte die Achseln. »Informationen. Gespeichertes Wissen, an das ich heran möchte. Unersetzliche Daten über die Foronen, aber auch …« »Ja?« »… über die Vergangenheit. Als Darnok den Hochzivilisationen der Milchstraße den Strom abdrehte …«
Das goldene Schiff war still wie ein Mausoleum. Scobee zögerte, ihre Stimme zu erheben. Es kam ihr fast wie eine Entweihung dieser Stätte vor. So hatte sie die AUGE DES PERIGOR nicht in Erinnerung. Wenn sie an ihre Zeit an Bord zurückdachte, dann kamen ihr ganz andere Bilder in den Sinn – vor allem aber eine Grundstimmung, die stets positiv, manchmal sogar mitreißend enthusiastisch gewesen war. Nun hing allem der Geruch des Todes an. Auf Porlacs Geheiß hin hatten die Felorer mit etwas nach dem Raumschiff der Gloriden gegriffen … und die komplette Besatzung inmitten ihrer Bewegung eingefroren. Vielleicht waren bereits in jenem Moment alle gestorben, obwohl sie wie Statuen dagestanden und in ungewisse Ferne gestarrt hatten. Vielleicht … habe ich mich seither immer selbst belogen, mir immer selbst etwas vorgemacht. Warum hätten die Jay'nac die Gloriden schonen sollen? Himmel, sie sind alle tot. Alle … tot! Was soll ein Ring dagegen ausrichten? Der Ring an ihrer Hand entstammte dem Arsenal der Bractonen – das war der einzige Hoffnungsschimmer, den Scobee sich bewahrte. Bractonen vermochten alles. Oder etwa nicht? Sie vertiefte den Gedanken nicht, aus Furcht, ihn sonst mit mannigfachen Beispielen widerlegen zu können. »Mich friert, Jarvis – ich weiß, das hört sich dämlich an, aber die Atmosphäre hier –« »Ich kann keine besorgniserregenden Werte feststellen«, sagte der Ex-GenTec im Körper einer Maschine. Gleichzeitig begann sich zeitrafferschnell wieder seine Menschmaske aufzubauen. Einen Lidschlag später stand der Jarvis ihrer ältesten Erinnerungen wieder vor ihr. »Das meine ich nicht. Die Werte, die Temperatur … all das ist bestimmt völlig in Ordnung. Dass mich friert, hat andere Gründe. Hier riecht es nach Zerfall und Sterben. Und das lässt mich frösteln.« »Das bildest du dir ein.« Jarvis machte ein paar Schritte. Sie befanden sich in dem Raum, den Scobee ihm zuvor als Rematerialisierungspunkt der Teleportation beschrieben hatte – dem Raum, in
dem sie während ihrer Reise durch den Z-Raum Unterkunft bezogen hatte. Er war spartanisch eingerichtet, aber den wichtigsten Bedürfnissen eines Menschen – einer Frau – angepasst. »Hier hast du gehaust?« Jarvis blieb vor einer Art Spiegelkommode stehen und … vertiefte sich in sein eigenes Spiegelbild. Scobee fragte sich, was er in diesem Moment sehen mochte. Ging die Illusion, die Kargors Kristallsegment erschuf, so weit, dass sich Jarvis selbst davon täuschen ließ? Oder schaute er durch die irreale Fassade hindurch wie durch einen transparenten Vorhang? Sie entschied sich, ihn darauf anzusprechen. Er zuckte regelrecht zusammen, als sie sich bei ihm erkundigte, wie er sein Spiegelbild empfand. Offenbar fühlte er sich ertappt – oder in seiner Privatsphäre verletzt. »Darüber will ich nicht reden.« »Warum nicht? Wir sind Freunde. Du kannst über alles mit mir sprechen.« »Über alles …« Er lachte rau. »Was ist daran so lustig.« Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Daran ist absolut nichts … lustig.« »Warum lachst du dann?« »Aus Verzweiflung?« »Bist du das denn, verzweifelt?« »Wer ist das nicht – manchmal?« Sie nickte. »Ich kann mich nur wiederholen und dir anbieten, mir dein Herz auszuschütten, wann immer dir danach ist.« »Wenn ich eins hätte, würde ich das vielleicht. Aber ich fürchte, meine Lage ist aussichtslos. Solange ich es verdränge, wozu ich geworden bin, läuft alles prima. Aber wehe, ich werde daran erinnert – nachdrücklich erinnert. Wie jetzt gerade.« »Jetzt gerade?« Er machte einen Wink. »Das Spiegelbild?« Er nickte. »Dann siehst du dich also nicht … wie ich – wie wir anderen dich sehen? Das verstehe ich nicht. Ich bin sicher, es wäre für Kargor ein
Leichtes gewesen, das Gerät so zu modifizieren, dass auch du –« Er lachte jetzt laut auf, fast hysterisch. »Sicher wäre es das. Aber manche Geschenke haben ihren Preis. Und mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass er nichts ohne Hintersinn tut.« Sie horchte auf. »Du willst doch nicht sagen, dass du meinst, er hätte dich mit Vorsatz … quälen wollen?« »Genau das will ich.« Er nickte vehement. »Damals, kurz nach Erhalt der Schuppe, sah ich mich in einem Spiegel – und ich sah mich noch viele weitere Male in spiegelnden Flächen, meist, wenn ich mich in meine Kabine zurückgezogen hatte. Du ahnst nicht, wie aufbauend es war, mich wieder so betrachten zu können, wie ich vor meinem Tod wirklich war …« Sie setzte zum Protest an. Tod? Er war doch nicht … Aber er überging ihren Versuch. »Dass ich ausgerechnet hier in einem Spiegel wieder mit meinem wahren Aussehen konfrontiert werde, hat schon etwas zutiefst Deprimierendes. Für mich selbst zumindest ist damit der Zauber der Schuppe erloschen. – Ich hätte nicht herkommen sollen.« »Wie hättest du das ahnen sollen?« Er zuckte die Achseln. Für Scobee bestand der Zauber fort. Obwohl es sie drängte, in andere Bereiche des Schiffes vorzustoßen und den Ring zu erproben, den Kargor ihr hinterlassen hatte (war auch er ein fragwürdiges Geschenk, das nur darauf wartete, sie zu enttäuschen?), spürte sie, dass es in diesem Moment etwas noch Wichtigeres zu erledigen gab. »Habe ich dir jemals gesagt, wie wichtig du für mich bist? Ganz egal, in welcher … Hülle du vor mir stehst?« Er verzog das Gesicht. »Als Trösterin musst du noch ein bisschen üben, Scob – aber danke für den nett gemeinten Versuch.« »Ich lüge dich nicht an. Du bist mir wichtig. Neben John stehst du mir von allen am nächsten. Und daran ändert dein Äußeres nicht die Bohne!« Er sah sie nachdenklich an. Schließlich nickte er und wandte sich wortlos dem Türschott zu, das sich vor ihm öffnete, als er noch drei Schritte davon entfernt war.
Scobee eilte ihm nach und überholte ihn. »Lass mich vorausgehen. Ich kenne mich hier besser aus als du.« »Wie wirkt der Ring?«, fragte Jarvis, als hätten sie nie über Hochpersönliches gesprochen. »Das weiß ich, sobald wir einen Gloriden gefunden haben«, erwiderte Scobee. »Ich bin genauso gespannt wie du.«
Die Datenbrücke stand – und sofort floss ein präparierter Datenstrom in das System des abstrusen Objektes, dem niemand mehr ansah, dass es sich einmal um eine äußerlich völlig exakte Kopie der RUBIKON gehandelt hatte. Zu dick, zu schroff und verunstaltend war die Kruste, mit der eine anorganische Spezies den HAKAR versehen hatte – aus Gründen, über die selbst Scobee nicht viel hatte berichten können. Vielleicht hatten die Jay'nac hier draußen, fernab des mörderischen Einflusses, den Darnoks Feld ausübte, einfach ein Stück Heimat etablieren wollen. Und vielleicht war das tatsächlich der ganze Beweggrund. Vielleicht aber gab es auch ein ebenso dunkles wie gefährliches Geheimnis – und deshalb war Cloud durchaus erleichtert, als sich seine Idee unerwartet glatt in die Tat umsetzen ließ. Der Gedanke, die Netzverbindung auszunutzen, um so quasi durch die Hintertür Zutritt zu den Systemen des HAKARs zu bekommen, war ihm unmittelbar nach ihrer Ankunft in dieser Leerraum-Region gekommen. Und waren die spontanen Einfälle nicht meist die besten? Es schien tatsächlich so. Sesha jedenfalls tobte sich dank der Trojaner, die sie über die Datenbrücke einschleuste, hemmungslos in den dortigen Speicherbänken aus. Die foronischen Chiffriercodes zu entschlüsseln, war für eine foronische KI nicht mehr als eine Fingerübung. Und wie erhofft, erwiesen sich die aus ihrer kryptischen Verzerrung geholten Daten als überaus ergiebig.
»Wie viele Gloriden befanden sich denn an Bord, als ihr von der Andromeda-Perle aufgebrochen seid?«, fragte Jarvis, als ihr Marsch durch die Gänge und die Fahrt durch verschiedene Etagen der AUGE DES PERIGOR das stets gleiche Bild bot: Nirgends war auch nur der Zipfel eines Gloriden zu sehen. »Ich habe sie nicht gezählt, aber es waren einige. Ich bin ihnen auf Schritt und Tritt begegnet, wenn ich von der Zentrale in mein Quartier ging – oder umgekehrt.« »Und du bist sicher, dass diese ›Erstarrung‹, mit der sie durch die Jay'nac oder deren Verbündete, die Felorer, belegt wurden, ein anhaltendes Phänomen war?« »Bislang ging ich davon aus – und so hatte ich Porlac und Felvert auch verstanden.« »Die Versteinerung erfasste laut deiner Schilderung jeden Gloriden, wo er gerade war. In der Zentrale erwischte es Ovayran und andere …« Sie nickte und wusste längst, worauf er hinaus wollte. »Aber müssten wir dann nicht längst auf Versteinerte gestoßen sein?« Sie wusste es nicht. Sie war so naiv gewesen, sich vorstellen, dass bei ihrer Rückkehr alles noch so sein würde, wie sie es hinter sich gelassen hatte – zumindest war das ihre Hoffnung gewesen. Nun aber gewann unversehens wieder ihre Sorge die Oberhand. »Müssten wir, ja«, sagte sie. »Lass uns noch die Zentrale checken, dann sehen wir weiter.« Wenig später öffnete sich das entscheidende Schott vor ihnen … … doch auch in dem dahinter liegenden Kontrollraum, aus dem heraus Scobee von den Jay'nac verschleppt worden war, bot sich das bereits gewohnte Bild: weit und breit war keiner der erstarrten Gloriden zu sehen. Alles war leer und wirkte, wie überall auf ihrem Weg hierher, seit Langem verwaist. Scobee spielte unschlüssig an ihrem Ring, für den es offenbar keinen Bedarf mehr gab. »Wenn die Erstarrung irgendwann von selbst gewichen wäre«, sagte sie, »müssten wir die Besatzung doch erst recht vorfinden –
quietschfidel meinetwegen … Wobei ich es für unwahrscheinlich halte, dass sie mit ihrem Schiff dann noch immer bei der RUDIMENT-Station anzutreffen wären. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie ihre Fahrt fortgesetzt hätten Richtung Milchstraße – oder zurück nach Andromeda.« Jarvis nickte. »So sehe ich das auch. Aber es gibt natürlich auch noch eine Möglichkeit, die wir bislang außer Acht gelassen haben.« »Welche?« »Ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass das Schiff, das dich damals zur Milchstraße, ins Nar'gog-System, brachte, die komplette Stationsbesatzung mitnahm – nicht nur alle dort befindlichen Jay'nac, sondern auch alle felorischen Tormeister?« Sie zuckte die Achseln. »Das genau weiß ich eben nicht. Vergiss nicht, ich war eine Gefangene Porlacs. Ich hatte nicht die Einblicke in interne Geschehnisse. Aber ich halte es durchaus für denkbar, dass diese Station nur sporadisch bemannt wurde.« »Aber ebenso denkbar wäre das Gegenteil«, gab er zu bedenken. »Du meinst eine permanente Besatzung?« Er bejahte. »Die dann irgendwann hier auf das Gloridenschiff kam und …« Sie stockte kurz. »… die Gloriden mitnahm?« »Gut möglich, oder?« Plötzlich versteifte sie sich – in dem Moment, als ihr klar wurde, worauf Jarvis noch hinaus wollte. »Du denkst, die Station könnte immer noch bemannt sein – und die RUBIKON – wir alle! – somit in großer Gefahr schweben?« »Es ist zumindest nicht auszuschließen, auch wenn die bisherigen Anzeichen dagegen sprechen.« »Kannst du Kontakt zu John aufnehmen und ihn warnen?« »Ich habe bereits einen Spruch abgesetzt und hoffe, dass er die goldenen Wände problemlos durchdringt – eine Antwort habe ich noch nicht … Doch, Moment, da kommt etwas …« Er hielt inne, und nach ein paar Sekunden legte sich ein Ausdruck von Erleichterung über sein Gesicht. »Entwarnung«, sagte er. »Entwarnung?«
»John selbst hat mir gerade geantwortet. Und seinen Beteuerungen zufolge ist die RUDIMENT-Station definitiv unbemannt.« »Wie kann er sich dessen so sicher sein?« »Er hat die völlige Kontrolle über sie erlangt … frag jetzt nicht, wie, aber es scheint tatsächlich so zu sein. Sesha erhielt über einen Trick Einsicht in den ehemaligen HAKAR. Offenbar tauschte sie sich sogar mit der dortigen KI aus. Demnach ist die Station ebenso verwaist …« »… wie dieses Schiff?« Er nickte. »Was nicht zwangsläufig bedeutet, dass unser Verdacht völlig daneben liegt«, murmelte sie. »Wir wissen nicht, wann die Station verlassen wurde. Die Gloriden könnten vorher eingesammelt und weggebracht worden sein.« »Ich denke, der Zeitpunkt des Verlassens lässt sich leicht klären. Auch darüber muss es Aufzeichnungen seitens der anderen KI geben, und wie gesagt: Sesha hat den kompletten Zugriff auf alle dort gespeicherten Daten versichert.« »Dann lass uns das klären.« »Sofort oder gleich?« Er grinste. »Sofort wäre sinnvoll. Dann wüssten wir wahrscheinlich, ob sich eine weitere Suche überhaupt noch lohnt. Könntest du noch mal …?« Er verstand ohne viele Worte. Sofort begann wieder eine rege Funkkommunikation mit der RUBIKON. Und wenige Minuten später stand fest, dass die RUDIMENT-Station ebenso lange schon verwaist war, wie Scobees Verlassen derselben zurücklag. Als Porlac sie durch das Wurmloch nach Nar'gog brachte, hatte sich auch die gesamte Stationsbesatzung an Bord des Jay'nac-Schiffes befunden. Und in der ganzen Zeit danach war RUDIMENT-2 nicht wieder neu besetzt worden. »Jedenfalls nicht von Jay'nac«, schloss Jarvis seinen Bericht an Scobee. »Was soll das heißen?« »Dass jüngst offenbar eine andere Spezies vorbeischaute. Vor um-
gerechnet etwa drei Monaten.« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Sie kamen in mehreren Schiffen und interessierten sich kaum für den ehemaligen HAKAR. Laut dessen KI legten sie an der AUGE DES PERIGOR an. Die Fahrzeuge sahen aus wie gigantische X. Und die Geschöpfe, die RUDIMENT-2 nur flüchtig durchkämmten, dafür umso länger an Bord des Gloridenschiffes verweilten, würden wir beide als …« »… menschengroße Käferwesen bezeichnen?« Sein Blick sagte alles. »Die Treymor«, flüsterte Scobee. »Hölle und Verdammnis, sind die denn plötzlich überall? Weiß John schon davon?« »Natürlich.« »Sein Kommentar?« »In etwa mit deinem identisch. Du weißt schon: Hölle und Verdammnis …«
Cloud ließ das gerade Erfahrene auf sich wirken. Die Verbindung, der kurze Austausch mit Jarvis drüben in der AUGE DES PERIGOR war beendet. »Passt auf euch auf«, hatte er dem Freund noch mit auf den Weg gegeben, nachdem dieser angekündigt hatte, die Suche nach Gloriden im goldenen Schiff vorerst noch nicht aufzugeben. »Dito«, hatte die Antwort gelautet. Cloud seufzte. Algorian sagte: »Erst im Butterfly-System bei Darnoks Versteck, dann über der Erde … und jetzt hier. Wenn ich mich recht erinnere, war sogar Kargor von den Treymor beeindruckt. Ich fürchte, da kommt noch etwas auf uns … auf die Milchstraße zu.« »Die Treymor beherrschen nun mal bekanntermaßen BractonenTechnologie. Die X-Schiffe deuten sogar an, dass sie in der Lage sind, sie weiterzuentwickeln. Das müssen wir als gegeben hinnehmen. Und dass daraus Gefahren erwachsen – aktuell und für die Zukunft –, dürfte uns allen längst klar geworden sein.« »Genau das«, erwiderte Algorian niedergeschlagen, »bezweifle ich. Ich fürchte, dass wir zwar um die uns bisher bekannten Fakten
wissen, daraus aber noch nicht das größtmögliche Katastrophenszenario abgeleitet haben.« »Was meinst du? Worauf willst du hinaus?« »Nur darauf, dass wir die Treymor wohl auch weiterhin – trotz bester Vorsätze – unterschätzen werden.« Der Aorii machte eine resignierende Geste. »Ich weiß nicht, wie du auf eine solche Schlussfolgerung kommst. Ich bin durchaus gewillt, die Treymor genau so ernst zu nehmen, wie es ihnen gebührt. Sie sind im Besitz von ERBAUER-Technologie. Sie sind in derselben Galaxie beheimatet wie wir … allein das genügt für mich, um mehr als wachsam zu bleiben.« »Das wird aber nicht genügen. CLARON machte damals den gleichen Fehler.« Algorians Miene verfinsterte sich. »Die Allianz sah den Erinjij viel zu lange zu und ließ sie gewähren, bis …« … bis der Sturm über sie hinwegfegte und sie zerschlug, dachte Cloud bitter. Erst in diesem Moment begriff er, worauf Algorian wirklich hinaus wollte. Und wie viel allzu Wahres im Vorwurf des Freundes lag. Laut sagte er: »Ich weiß. Und du hast recht. Wir werden darüber sprechen … und handeln müssen. Das ist es doch, was du sagen willst: Wir sollten initiativ werden, bevor die Gefahr übermächtig wird und gar nicht mehr einzudämmen ist«. »Ich weiß es nicht, was wir tun können.« Algorian klang immer noch resigniert. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass nichts tun und die Lage lediglich beobachten ins Fiasko führt. Wie schon einmal …« »Ich werde deine Warnung überdenken«, sagte Cloud. »Aber jetzt widmen wir uns zunächst den erbeuteten Daten. Wie du ebenfalls weißt, gibt es noch eine weitere latente Bedrohung – die Foronen. Sobeks ungewisses Schicksal und das der anderen Hohen. Selbst Siroona kann als Gefahr nicht abgeschrieben werden. Im Gegenteil. Der Gedanke, sie bei den Jay'nac zu wissen, macht mich irgendwie nervös.« »Das kann auf keinen Fall ein Fehler sein.« Cloud nickte. Dann widmeten sie sich den Daten, die Sesha für sie
errungen hatte.
»Lass es mich versuchen«, sagte Jarvis. »Was haben wir schon zu verlieren?« »Zeit?«, erwiderte Scobee. »Das ja, klar. Aber andererseits brennt die uns momentan doch nun wirklich nicht so auf den Nägeln.« »Okay, ich gebe mich geschlagen. Aber ich würde mir an deiner Stelle nicht zu viel Hoffnung machen – womit ich aber nicht deine Fähigkeiten infrage stellen will.« »Das würdest du nie tun.« »Niemals!« Er nickte. Das Ding, in dem er steckte, nickte. Ich will tot sein, dachte Jarvis dumpf – dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Gut, dann beginne ich jetzt mit dem Scan.« Sie befanden sich immer noch in der Steuerzentrale der AUGE DES PERIGOR. Und sie waren immer noch ganz allein. Doch Jarvis hatte sich bei dem Kontakt mit Sesha die Werte des für Gloriden typischen Energiemusters übertragen lassen. Die KI hatte es seinerzeit bei Fontarayns Aufenthalt an Bord routinemäßig ermittelt und abgespeichert. Später, als die RUBIKON mit immer mehr Gloriden in Kontakt gekommen war, im Herzen Andromedas, hatte sich gezeigt, dass dieses Muster bei allen Perlenbewohnern nahezu identisch war und nur in winzigen Nuancen differierte. Als weitere Auffälligkeit hatte Sesha ermittelt, dass die Gloriden während ihrer stofflichen Phase dieselbe Energiesignatur ausstrahlten wie während ihrer energetischen Phase. Darauf aufbauend, wollte er die AUGE DES PERIGOR nun von innen heraus scannen, während Sesha von der RUBIKON ihrerseits die goldene Kugel durchleuchtete. Sesha wurde auf sein Signal hin aktiv, gleichzeitig tastete er von seinem Standort aus Deck für Deck des Schiffes mit seinen entsprechenden Modulen ab. Mit unglaublicher Geschwindigkeit kehrten die Tastechos zu ihm
zurück, und kaum war er fertig, meldete die KI auch schon: Negativ. Ich konnte kein typisches Muster aufspüren. Ich schon, gab Jarvis via Funk zurück. Und zwar ganz in meiner Nähe. Ich informiere den Commander. Warte noch, bis ich Gewissheit habe. Ich melde mich umgehend. »Was ist?«, fragte Scobee, die ihre Ungeduld kaum noch bezähmen konnte. »Treffer«, sagte er schlicht. »Wo?« Sie war ganz gespannte Erwartung. »Komm mit. Ich führe dich.« Sie verließen die Zentrale. Hätte Jarvis noch ein Herz besessen, hätte es jetzt wohl schneller geschlagen. Aber auch dieser Genuss war ihm nicht mehr vergönnt. Er hasste diesen Körper von Tag zu Tag mehr. Er wäre am liebsten tot gewesen …
Borovayn taktete. Er wusste nicht, wie und wann es begonnen hatte. Aber er wusste, wann es aufhören würde: nie. Borovayn taktete, und nichts sonst hatte noch Bedeutung. Die Zeit stand still für ihn. Seine Gedanken waren geronnen. Er war taub, und er war blind. Das Einzige, was noch fühlte, war der immerwährende Puls, der wie ein kranker, stossweiser Atem in ihm pochte. Das Echo eines früheren Lebens, das nicht aufhören wollte … … aber auch nicht weiterging …
»Da«, sagte Jarvis. »Dahinter muss es sein.« Sie standen vor einem Trennschott, auf dem ein Wirbel von Farben leuchtete. Es war keine Schrift, aber durchaus damit vergleichbar. Gloriden bedienten sich anderer Markierungen als Menschen. »Kannst du die Kleckse deuten?«, fragte Jarvis, als Scobee keine
Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen. Sie hob bedauernd die Schultern. »Nein. Aber mir wäre es recht, wenn ich dir den Vortritt lassen könnte. Du bist robuster als ich – warst es schon immer.« Sie zwinkerte ihm zu. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie auf seine Maschinenhülle anspielte. Sie hatte ihm ihre Einstellung dazu klar zu verstehen gegeben, und er glaubte ihr. Es änderte nur nichts daran, dass seine Gedanken fast unaufhörlich darum kreisten, was aus ihm geworden war – und dass es besser gewesen wäre, damals zu sterben. Wie Resnick … »Okay«, sagte er nur – und trat vor. Das Schott reagierte, glitt in die Wand. Dahinter zuckte Licht, das stetig, manchmal sprunghaft, seine Intensität änderte. »Ich glaube, ich weiß, wo wir sind«, sagte Scobee, während ihr Blick über all die fremdartigen Aggregate strich, die den Raum hinter der Tür füllten. »Ach – und wo?« »Im Maschinenraum. Hier, so vermute ich, wird die Kraft der Kleinen Perle gezähmt.« »Was soll das sein?«, fragte Jarvis. »Eine Art Meiler, in dem die Energie erzeugt wird, die Gloridenschiffe für ihren Antrieb und sonstige Funktionen benötigen. Ovayran hat den Begriff häufig erwähnt, ohne jemals zu erläutern, was eine ›Kleine Perle‹ ist.« »Eine kleinere Ausfertigung der Tridentischen Kugeln?« »Das ergäbe wenig Sinn, oder?« »Vermutlich.« »Ich habe keine Ahnung, ob es gefährlich ist, den Raum zu betreten – ich meine, wenn man kein Zwitter wie die Gloriden ist und eine natürliche Affinität zu jedweder Energie besitzt«, sagte Scobee. »Dann wartest du sicherheitshalber hier draußen.« »Ich wollte eigentlich genau auf das Gegenteil hinaus: Du wartest hier. Ich schätze mal, du bist weit anfälliger für energetische Rückkopplungseffekte als –«
»Das vergiss mal ganz schnell wieder. Ich mag anfällig sein – aber du bist tot, wenn auch nur so etwas ›Harmloses‹ wie ein Überschlagblitz in dich reinjagt. – Nein, nein, keine Widerrede … ich bin auch gleich wieder zurück, versprochen. Ich hab den Burschen schon im Visier …« Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat Jarvis durch das offene Schott. Dahinter hielt er für eine Sekunde inne. In dieser Zeit orientierte er sich endgültig, erfasste das Ziel mit seinen speziellen Sinnen … … und schnellte darauf zu. Hinter ihm hielt Scobee den Atem an, aber das wurde ihm kaum noch bewusst, dann befand er sich bereits in einer ganz eigenen Welt. Rasch wurde ihm klar, dass dies kein guter Platz für jemanden war, der nicht über die Talente und Eigenarten eines Gloriden verfügte. Es war kein Problem, zu der Stelle zu gelangen, wo sich das Ortungsecho zwischen einer Myriade anderer Reflexe verbarg. Aber es war durchaus ein Problem, diese Stelle wieder zu verlassen. Jarvis starrte in die steinerne Miene eines Perlenbewohners, der aussah wie eine Statue. Scobee hatte nicht übertrieben. Und leider behielt sie auch in anderer Weise recht: Dieser Ort, an dem die Kraft der Kleinen Perle wohnte, wollte Jarvis nicht. Und bewies es ihm nachdrücklich.
Er kehrte nicht zurück. Er brach sein Versprechen. Aber das war Scobees geringste Sorge. Sie aktivierte den Funk. »Jarvis?« Keine Antwort. Nur hässliches Knacken und Prasseln, als würden Hagelkörner gegen eine Glasscheibe prallen. »Jarvis!« Da – ein … Echo? Eine zerstückelte Antwort? Sie hätte es nicht zu sagen vermocht.
»Scheiße«, fluchte sie. »Scheiße, scheiße, scheiße.« Jarvis war nicht nur ihre Rückversicherung, um elegant wieder zur RUBIKON zurückzukommen – er war ihr Freund. Doch vielleicht musste sie nun ein »gewesen« hinter diese Aussage setzen. Nein!, entschied sie. Es können ganz gewöhnliche Interferenzen dahinterstecken, dass unser Funkverkehr nicht zustande kommt. Und er kann aufgehalten werden, weil sich der Ortungsreflex entweder nicht als Gloride entpuppt hat – oder der betreffende immer noch versteinert und schwierig zu bergen ist. Sie überlegte, Kontakt zur RUBIKON aufzubauen, einen Notruf abzustrahlen. Aber dann verwarf sie es wieder. Weil vielleicht doch jede Sekunde zählte. Die AUGE DES PERIGOR hätte ihr von ihrem Aufenthalt her vertraut sein müssen, aber seit ihrer Ankunft in Jarvis' Körper war das Schiff ihr so fremd, wie sie es nie erwartet hatte. Die Gloriden fehlten. Ovayran fehlte. Alles, was ein heimisches Gefühl hätte aufbauen können. Sie entschied sich, es zu riskieren. All ihre Stärken als GenTec, als genetisch optimiertes Geschöpf, in die Waagschale zu werfen. »Jarvis!«, rief sie ein letztes Mal – so laut, dass er es auch ohne Funkunterstützung hätte hören müssen – wenn er noch aufnahmefähig war. Aber es kam keine Antwort. Womit zwei Möglichkeiten blieben: Er hörte sie, konnte aber nicht mehr reagieren. Oder er konnte nicht mehr reagieren, weil er bereits komplett überwältigt war von … etwas. Von den Kräften in diesem Raum dort … oder einer heimtückischen Falle, in die er getappt war. Wir werden sehen, dachte Scobee. Dann eilte sie mit raumgreifenden Schritten durch das Schott, hinein in das zuckende Licht, das sich augenblicklich in ihre Haut zu fressen schien – spürbar, Schicht um Schicht tiefer –, und hinein in die plärrende Stille, die haarsträubenden Kräfte, die sie umtosten. Die Kleine Perle … was im Namen aller Heiligen verbarg sich hinter
diesem ach so harmlosen Begriff? »J-a-r-v-i-s?« Sie hatte das Gefühl, ihrem Ruf nacheilen zu können, ihn zu überholen, weil sich Schall plötzlich so unendlich langsam fortpflanzte, als ihr Körper sich bewegte. Sie huschte wie ein Gespenst durch den zuckenden Irrsinn sich ständig umbildender, umstrukturierender Aggregatblöcke, huschte zischen Gängen hindurch, die im nächsten Augenblick – unmittelbar hinter ihr – aufhörten zu existieren, sich schlossen, weil eine Maschine plötzlich doppelt so groß und in völlig neuer Form dort stand … während sich neue Wege, neue Pfade zwischen den Schluchten der Aggregatgiganten auftaten, in die sie hineinstürzte, in die sie hetzte und sie durchforstete … während das Licht um sie gefror, taute, zu kochen begann, wieder gefror, und die Luft so zäh wie Brei durch ihre Lungen quoll. Luft, die keine mehr war, sondern verflüssigtes Licht, verflüssigte Maschine, verdampfendes und wieder erstarrendes Gold … Da war er. Da waren sie. Zwei Gestalten. Jarvis und … ein Gloride. Tatsächlich ein versteinert zwischen spinnwebartigen Leitungen hängender Gloride! »Jar-vi-s?« Der Ruf schien ihn zu erreichen – als Scobee längst hinter ihm stand. Er drehte sich um. Kargors Schuppe schaffte die Kosmetik unter diesen Bedingungen nicht mehr. Da war blankes Metall, ein humanoider Roboter, dessen Züge nur einen Schatten des wahren Jarvis wiedergaben. Dennoch glaubte sie, Überraschung darin zu lesen – als wundere der Freund sich, dass sie ihm nachgekommen war. Als gäbe es aus seiner Sicht überhaupt keinen Grund dafür, als schwebe er gar nicht in Gefahr, sondern sei nur zu einer Langsamkeit verdammt, die ihm selbst verborgen blieb. Als hätte es ihn auf ein anderes Zeitlevel versetzt, ging es ihr durch den Sinn. Sie fasste ihn am Arm. Er seinerseits hielt den Gloriden mit beiden Händen umfasst, als wollte er ihn gerade hochheben.
Ein elektrisierendes Gefühl raste durch Scobees Haut, Nerven und Muskeln. Ein elektrisierendes Gefühl peitschte sichtbar durch Jarvis, der plötzlich schnell wurde. Dessen Körper mit einem Mal wieder auf der gleichen Zeitebene zu sein schien wie der von Scobee und … … und dem Gloriden? Scobee starrte an sich herab, und ihr Blick wurde eingefangen von etwas, was die Form eines banalen Rings verloren hatte. Saß da nicht ein winziger … Schmetterling auf ihrem Finger? Die Miniaturausgabe eines Bractonen? Eines ERBAUERS, der all das schwärende, zuckende, sich in ihre Haut bohrende Licht … auf sich zog, es absorbierte und dessen winziger Körper sich dabei zu verdunkeln begann, die gerade noch sichtbare Farbenpracht verlor? Ich verliere den Verstand! Sie wünschte sich fast, es wäre so. Jarvis hatte plötzlich wieder ein Gesicht. Und eine Stimme. »Danke!«, keuchte er. Sie fragte nicht, wofür. Sie hielt immer noch seinen Arm umfasst. Und er umklammerte den Steinernen. Gemeinsam stürzten sie durch das Labyrinth zurück zum Schott. Erstaunlicherweise war es kein Labyrinth mehr. Bewegten, vergrößerten und verformten sich die Aggregate nicht mehr. Der Ring – der Schmetterling! – an Scobees Hand schien nicht nur das überbordende, wahnsinnige Licht zu schlucken, sondern auch Einfluss auf die Veränderlichkeit der Aggregate zu nehmen. Die Frage war nur, wie sie dieses Hemmnis vertragen würden. Wie sie – »Grundgütiger, es wird uns umbringen! Das … das Schiff … – spürst du es auch?« Es war Jarvis, der ihr die akute Gefahr entgegenbrüllte, in der sie sich befanden – und die sie selbst noch gar nicht wirklich realisiert hatte. Der Untergang. Die totale Vernichtung. Immer näher kam das Schott, während der Raum sich aufbäumte wie ein gemartertes Ungeheuer in Fesseln, die ihm angelegt worden
waren … und die es sprengen würde. Sprengen musste. Weil nichts es (die Kraft einer Kleinen Perle!) in Ketten legen durfte! »Jarvis! Wir –« Dann waren sie draußen auf dem Gang. Das Schott schloss sich … … was aber nur bedeutete, dass sie der sich anbahnenden Katastrophe nicht länger ins Auge blicken mussten. »Komm!«, hörte die den ehemaligen GenTec noch rufen. Dann wurde sie von der Finsternis verschlungen. Zu spät … Erst als die Hülle sich wieder spaltete und etwas ihr einen Stoß versetzte, damit sie zusammen mit einer zweiten Gestalt ins Licht taumelte, begriff sie, dass Jarvis mit ihr … mit ihnen … teleportiert war. Rechts von ihr schwankte der Gloride. Nicht länger erstarrt oder versteinert, so wie der Schmetterling an ihrer Hand nicht länger Schmetterling war, düster und aller Farben beraubt, sondern ein unscheinbarer Ring, wie Scobee ihn von Kargor entgegengenommen hatte! »Weg!«, schrie Jarvis, der sich schneller zurechtfand als sie. »Weg, John! Volle Kraft! Hier geht gleich alles hoch!« Mit »Hier« meinte er nicht die RUBIKON, aber ihre unmittelbare Umgebung. Das Gloridenschiff und … Scobee sank zu Boden, wurde kurz ohnmächtig. Nur zwei, drei Sekunden vielleicht, aber als sie wieder zur Holosäule blickte (Jarvis hatte sie in die Zentrale versetzt), sah sie, wie der Verbund aus RUDIMENT-Station und AUGE DES PERIGOR hinter ihnen zurückfiel, sich in der Schwärze des Leerraums verlor … um nur Sekunden später so grell aufzuleuchten, dass die Automatik Filter generierte, um den Betrachtern keine bleibenden Sehschäden zuzufügen. So schnell die künstliche Sonne entflammt war, starb sie auch wieder. Scobee war völlig geschafft. Sie sah Cloud zu dem Gloriden treten und hörte ihn sagen: »Du wurdest von den Treymor als Einziger übersehen – wie ist dein Name?«
Zunächst sah es so aus, als verstünde der Gloride den Menschen nicht – oder als verweigere er die Antwort. Dann aber klang sein dünnes Stimmchen doch noch auf. »Ich bin Borovayn.« »Borovayn?« Cloud trat zu Scobee und half ihr auf die Beine. »Kannst du dich an einen Gloriden dieses Namens erinnern?« Sie schüttelte den Kopf, immer noch leicht benommen. »Borovayn … Hast du eine Erinnerung an die Treymor? An den Moment, da sie euer Schiff überfielen?« »Treymor?« Das androgyne Wesen wirkte völlig unwissend. Scobee hatte nicht den Eindruck, dass es seine Irritation nur spielte. »Was ist deine letzte Erinnerung?« »Ich wurde in den Maschinenraum geschickt, um einen Energieleiter zu warten, der Anzeichen von Labilität zeigte …« Scobee trat vor ihn. »Wann genau war das? Kennst du mich?« »Du bist das Menschenwesen, das mit uns zur Milchstraße reisen will.« »Wo sind wir?« »Wir müssten gerade bei dieser sonderbaren Station angelangt sein. Ich hörte davon, ehe mir befohlen wurde –« »Er weiß nichts«, wandte Scobee sich an Cloud und den bei ihnen stehenden Jarvis, der völlig erholt wirkte. Die Maske stand ihm gut. Sehr viel besser als das robotische Antlitz. »Seine Erinnerung, seine ganze Wahrnehmung muss in dem Moment geendet haben, als die Jay'nac oder Felorer ihre Waffe gegen die AUGE DES PERIGOR einsetzten. Von den Treymor hat er nicht das Geringste mitbekommen – und dass sie ihn übersahen, muss an den besonderen Verhältnissen in dem Raum gelegen haben, in dem vermutlich die Kleine Perle angezapft wurde.« Borovayn hörte ihr nur stumm zu. Sein Gesicht spiegelte nichts wieder, was sich auch nur grob hätte deuten lassen. »Ist es so?«, wandte sich Cloud an den Gloriden. »Ich weiß es nicht«, sagte Borovayn leise. »Ich will zu meinem Kommandanten. Wo ist Ovayran?« Scobee, Cloud und Jarvis tauschten Blicke. Schließlich sagte Cloud:
»Ich habe schlechte Nachrichten für dich …« Borovayns Physiognomie blieb unbewegt. Er hörte sich an, was Cloud ihm zu sagen hatte. Und das Einzige, was er danach fragte, war: »Habe ich noch eine Verwendung?« Scobee fröstelte. Es gab Momente, da wünschte sie sich weit, weit weg.
»RUDIMENT-2 ist zusammen mit der sie umgebenden Jay'nac-Materie und dem daran verankerten Gloridenschiff explodiert – es gibt keinerlei Zweifel. Die Trümmer sprechen eine eindeutige Sprache. Die AUGE DES PERIGOR hat diesen Vernichtungsprozess ausgelöst, möglicherweise durch unser Wirken dort«, resümierte Scobee, als sie mit Cloud und den meisten anderen Mitgliedern der Kernmannschaft auf dem Kommandopodest Platz genommen und die Ortungsergebnisse ausgewertet hatte. »Wo befindet sich der geborgene Gloride jetzt?«, fragte Jelto, der zwischen Aylea und Cy Platz genommen hatte. »Ich habe ihn zu Varx geschickt …«, sagte Cloud. »Ihr wisst schon, einer der … der Sternlinge, die im Angksystem mit an Bord gekommen sind.« »Verstehe.« Der Pflanzenhüter nickte. Seine Aura war unsichtbar, würde sich erst wieder entfalten, wenn er sich mit seinen zahllosen »Kindern« im hydroponischen Garten beschäftigte. »Sie wirken auf den ersten Blick ohnedies ziemlich ähnlich. Ihre Gestalt ist nahezu identisch, sie unterscheiden sich hauptsächlich darin, dass ihre Haut schwarz ist und man darin Ausschnitte des Weltalls zu sehen glaubt … Eigentlich verrückt, oder?« »Dass ausgerechnet ein Mann mit einer Aura so etwas sagt …« Cloud lächelte Jelto freundlich zu. Der winkte ab. »Ja, ja, du hast ja recht. Schon gut. Der Knabe tut mir eben leid. Ich mache mir Gedanken um ihn. Er hat alle verloren, die mit ihm an Bord waren – und offenbar ist er selbst nur durch einen glücklichen Zufall, durch glückliche Umstände davongekommen. Das muss ihm ganz schön zu schaffen machen.«
»Wir wissen wenig über die Mentalität der Gloriden«, erwiderte Cloud. »Aber trotzdem hast du sicherlich recht, und ich sehe es ähnlich. Deshalb meine Idee mit Varx. Ich habe auf dem Herflug einige Male mit ihm geplaudert. Er scheint mir ein sehr … nun ja, ein sehr einfühlsamer Sternling zu sein. Vielleicht sind das alle seiner Art, aber bei ihm habe ich es aus mancher Bemerkung herausgehört.« »Vielleicht hilft die Begegnung ja auch beiden«, warf Scobee ein. »Bei der Aufnahme der Sternlinge im Angksystem hatte ich durchaus das Gefühl, dass ihnen der Abschied ähnlich schwerfiel wie den Menschen, die an Bord kamen.« »Wir werden hoffentlich alle neuen Besatzungsmitglieder mit der Zeit besser kennenlernen, sodass wir einzuschätzen lernen, was wir ihnen zumuten dürfen – und was nicht«, schloss Cloud das Thema für den Moment ab. »Lasst uns jetzt über etwas anderes sprechen.« »Die aus der RUDIMENT-Station erbeuteten Daten?«, fragte Aylea vorlaut. »Genau die.« »Gibt es neue Erkenntnisse?«, fragte Jarvis, der sich ebenso wie Scobee wieder vollständig erholt zu haben schien. »Ich meine über die damalige Zeit? Darnoks unrühmliche Ära.« »Uns sind jetzt zumindest sämtliche Details über Sinn und Zweck der RUDIMENT-Strecke zwischen Milchstraße und Andromeda bekannt, wie sie entstand, nach welchem Verfahren sie eingesetzt werden sollte … und dass sie schon unmittelbar nach ihrer Fertigstellung auch schon wieder irreparabel beschädigt war.« »Wie kam es dazu?« »Die Details sind in einem Dossier zusammengefasst, das Sesha für jeden von uns zugänglich gemacht hat, schaut einfach in eurer Konsole nach. So viel nur in Kürze: Als die von den Foronen Essenz genannte Strahlung, die Darnoks Maschinerie milchstraßenweit freisetzte, auch RUDIMENT-1 erfasste – der unserer Galaxie am nächsten stationierte HAKAR –, löste seine Vernichtung offenbar eine Rückkopplung aus, die sämtliche ›angeschlossenen‹ Stationen der ›Bahnhofsstrecke‹ erfasste und dort wiederum die Kernanlagen zerstörte, die für einen Kapseltransfer unumgänglich sind. Laut der ge-
wonnenen Daten basiert die Kapseltechnik auf höchst seltenen Kristallen, die eine höherdimensionale Energie absondern. Diese Kristalle sind künstlich nicht herstellbar und kommen offenbar nur auf ein, zwei Welten der Großen Magellan'schen Wolke vor. Nachdem die Rückkopplung den gesamten Vorrat nicht nur auf RUDIMENT-2, sondern auf allen der Relaisstrecke angeschlossenen HAKARs zerstört hatte, war die Besatzung dazu verurteilt, ihr Dasein im Leerraum zu fristen. Laut der KI von RUDIMENT-2, mit der Sesha kommunizierte, ging das nach Siroonas Rückzug in die Stasis nicht lange gut. Das Perfide an Siroonas Flucht vor der Verantwortung war, wenn man den Daten Glauben schenkt – und es gibt keinen ernsthaften Grund, sie anzuzweifeln –, dass Siroona vor ihrem Rückzug noch verfügte, dass kein anderes Stationsmitglied in den Genuss dessen kommen durfte, was sie sich selbst gestattete.« »Du meinst, sie verhinderte, dass weitere Foronen in die Stasis gehen konnten?« »Genau das tat sie.« »Warum?« »Das weiß ich nicht verbindlich. Aber die meisten von uns hatten mehr als einmal Gelegenheit, die Mitglieder der foronischen Führungsriege in ›Höchstform‹ zu erleben. Ich meine damit die bodenlose Arroganz, mit der sie auf alle andere Lebewesen herabblicken oder -blickten. Selbst auf die Untergebenen ihrer eigenen Spezies. Ich könnte mir vorstellen, dass es für einen Charakter wie Siroona in der geschilderten Situation selbstverständlich war, sich – wie auch sonst – eine Sonderbehandlung zuzuerkennen.« »Was geschah weiter auf RUDIMENT-2? Wir wissen um die natürlich hohe Lebenszeit von Foronen. Eigentlich hätten sie bei Scobees Besuch noch da sein müssen – es sei denn, die Jay'nac hatten etwas dagegen. Was sagen die Aufzeichnungen? Geben Sie Aufschluss über das Schicksal der übrigen Besatzung?«, fragte Jarvis. »Durchaus.« Cloud nickte ernst. »Die Jay'nac haben mit ihrem Verschwinden nichts zu tun – auch nicht die Treymor, falls das jemand glaubt. RUDIMENT-2 war völlig verlassen – sieht man von Siroona in der Stasis ab –, als die Jay'nac den ehemaligen HAKAR für sich in
Beschlag nahmen. Damals umkreiste er übrigens noch einen riesigen Streunerplaneten, kein Wurmloch – in das verwandelte erst die felorische Technik ihn. Um ein Tor hierher zu öffnen.« »Wie sie es damals im irdischen Sonnensystem mit Jupiter taten«, erinnerte Scobee an das folgenschwere Jahr 2041 – das Jahr, als die Keelon-Master nach der Erde und der Herrschaft dort griffen. Cloud fühlte sich von einem Sog aus Erinnerungsfetzen erfasst. Er hatte Mühe, sich davon zu befreien. »Die Station war bei der Ankunft der Jay'nac und Felorer verlassen, weil die Foronenbesatzung da schon gemeinschaftlichen Suizid begangen hatte. – Es gibt sogar Bilder darüber, wie sie sich in einem fast religiös anmutenden Akt miteinander versammelten und dann der KI den Befehl gaben, sie zu desintegrieren.« Er ließ seine Worte wirken. Die Frage, ob er Aylea, einem Kind, eine solche Wahrheit zumuten durfte, stellte sich für ihn nicht, da er wusste, dass sie damit ebenso umgehen konnte wie jeder Erwachsene, der mit ihm auf dem Kommandopodest saß. Sie war durch die Schule des Gettos gegangen und hatte seither noch viel Schlimmeres verarbeiten müssen. Vielleicht wirkte sie auch deshalb um so vieles älter, als ihr biologisches Alter es hätte vermuten lassen. »Darauf kann ich verzichten, danke!«, sagte sie jetzt. Sie wusste genau, wo ihre Grenzen lagen. »Ich hatte auch nicht vor, sie euch zuzumuten. Es sieht gruselig aus«, sagte Cloud verständnisvoll. »Was RUDIMENT-1 und seine Vernichtung durch die Essenz angeht, so sind wir, den Wahrheitsgehalt betreffend, auf die Aufzeichnungen und Angaben Siroonas angewiesen, die einiges darüber in die Speicherbänke von R-2 einspeiste, bevor sie in die Stasis ging. Ihr zufolge wurde eine Großteil der damals in der Milchstraße verbliebenen und operierenden HAKARs ebenfalls Opfer der ›Essenz‹. Etwa zwei Dutzend konnten noch nach R-1 flüchten, wurden aber dort von der Strahlung des Entartungsfeldes eingeholt und wie die Station selbst vernichtet. Die Einzige, die rechtzeitig von dort flüchten konnte, war Siroona.« »Demnach«, brach Jarvis nach einer Weile das Schweigen, das Clouds Worten gefolgt war, »dürften heutzutage kaum noch Kopien
der RUBIKON existieren. Ein Fragezeichen muss wohl hinter die Schiffe gesetzt werden, die mit Sobek nach Andromeda zogen. Aber da er so lange Zeit keine erkennbaren Spuren hinterlassen hat, kann vielleicht auch von deren Vernichtung ausgegangen werden. Möglicherweise gerieten sie mit den JORR-Splittervölkern aneinander – oder gleich mit den Satoga …« »Wie du sagtest«, erwiderte Cloud und sah den Freund an, »es ist eine lange Zeit vergangen, seit Sobek die Brücke nach Andromeda – oder Malragh, wie die Foronen diese Galaxie nennen – errichtete und sich in den dortigen Sternendschungel begab. Ich schließe deshalb nicht aus, dass er inzwischen zurückgekehrt ist.« »Zurückgekehrt … wohin?«, fragte Jarvis. »In die Milchstraße.« »Das wäre sein Untergang gewesen. Darnoks Feld –« »Ich meine nach dessen Abschaltung. Man kann Sobek vieles nachsagen, aber nicht, dass er dumm oder ein Narr wäre. Er mag um die Tödlichkeit der Milchstraße gewusst haben und hat den Moment abgepasst, da die Gefahr endete. Er könnte sich zunächst nach Samragh, in die GMW, begeben und dort in Ruhe abgewartet haben. Die Virghgefahr ist dort beseitigt. Es mag Welten geben, die für Sobek und die Seinen noch einen Nutzen haben. Welten, die von den Virgh übersehen wurden …« »Dann hätte er viel Zeit gehabt, sich eine neue Machtstruktur aufzubauen.« Jarvis nickte nachdenklich, und auch den anderen war ihre Betroffenheit anzusehen. »Es hätte keinen Grund gegeben, wieder in die Milchstraße zurückzukehren. Soll er doch in der GMW bleiben – so stark, dass er unsere Galaxie bedrohen könnte, wird er nie wieder werden.« »Bist du dir dessen so sicher?«, fragte Cloud skeptisch. »Außerdem: Für Sobek gibt es durchaus einen Grund, die Milchstraße im Auge zu behalten. Und da er in Andromeda nicht fündig werden konnte …« »Von welchem Grund redest du?«, fragte Scobee. Er wandte sich ihr zu. »Uns«, sagte er. »Uns?«
»Um noch präziser zu werden: das Schiff, auf dem wir uns befinden. Die RUBIKON, die seine SESHA ist – die Arche, die bei den Foronen den Status eines Heiligtums genießt.« Er schürzte die Lippen und sah die Versammelten der Reihe nach an. Die in Augenhöhe transparent geschaltete Holosäule verdeckte kein Gesicht. »Ich bin sicher, wenn er noch lebt, hat er die Jagd nach uns nie aufgegeben. Und ich halte es für vorrangig und ratsam, uns darüber Gewissheit zu verschaffen.« »Wie?«, raschelte Cy fast schüchtern. »Indem wir die Strategie wiederholen, die uns die Datenfülle von RUDIMENT-2 gesichert hat.« »Du willst zurück zur Milchstraße«, begriff Jarvis. »Du willst erneut diese Netzwerkfunktion anwenden, um eventuell dort noch existierende HAKARs aufzuspüren. Kopien unseres Schiffes, die nach Beseitigung der Darnok'schen Gefahr in die Galaxie zurückgekehrt sind.« Cloud lächelte. »Genau so ist es.« »Und die Treymor?«, kam Algorian auf sein Lieblingsthema zu sprechen. »Sie stehen als Nächstes auf meiner Liste. Und sollten wir keinen HAKAR orten, werden wir unsere Erkundungsfahrten auf sie konzentrieren. Ist das ein akzeptables Angebot?« Niemand erhob Einwände. Und so verließ die RUBIKON den Leerraumsektor, in dem die ersten Trümmer von RUDIMENT-2 und der AUGE DES PERIGOR gerade in das winzige Schwarze Loch, das von all dem unberührt geblieben war, abzudriften begannen …
3. Kapitel Zwischenspiel Vergangenheit Der See lag so ruhig da wie ein Spiegel. Artas entledigte sich seiner Kleidung und trat hinaus auf den Steg, der dort aufhörte, wo auch die Zone seichten Wassers endete. Die Luft stand still wie kurz vor einem Sturm, wenn die Natur noch einmal Luft holte, ehe sie Winde mit Brachialgewalt über eine Landschaft hinwegfegen ließ. Aber es würde kein Sturm kommen. Der See hatte schon immer so ruhig dagelegen, und er würde es auch in Zukunft tun. Artas befand sich auf der EXPANSION EINS, einem von insgesamt 53 riesigen Flottentender, in dem das Kostbarste bewahrt wurde, was sein Volk überhaupt besaß: seine potenzielle Nachkommenschaft. Die Brut war heilig. Gemeinsam mit dem Rest der gewaltigen Armada durchkreuzte die EXPANSION EINS derweil die Kluft zwischen den Galaxien, und bald schon würden die ersten Sterne der neuen Heimat an ihnen vorüberziehen. Artas war ein glücklicher Mann. Nach Generationen der Ungewissheit war es ausgerechnet ihm beschieden gewesen, den Frieden mit den Dex zu ratifizieren. Ein Ereignis von überragender historischer Bedeutung. Dex und Satoga – die Erzfeinde über ungezählte Generationen hinweg, hatten ihre Missverständnisse ausgeräumt und einander verziehen. Wobei es den Dex – im Nachhinein betrachtet verständlicherweise – schwerer gefallen war, die Versöhnung zu befürworten. Immerhin hatten die Satoga in großem Maßstab ihre Kinder umgebracht. Wo-
bei Artas für sein Volk mildernde Umstände beanspruchte, auch wenn Unwissenheit nicht völlig vor Strafe schützte. Beide Spezies entstammten derselben Kleingalaxis (die Menschen, denen Artas begegnet war, nannten sie Sculptor-System), und für eine lange, lange Zeit hatte keine mit der anderen auch nur den geringsten Kontakt. Beide wähnten sich einzigartig unter den Sonnen ihrer Heimat, bis … ja bis die Tragödie ihren Lauf nahm. Bei den Dex handelte es sich um keine Lebensform, wie beispielsweise die Satoga es waren – oder besagte Menschen und zahllose andere auch –, denn sie wirkten eher wie … gewachsener Stein. Statt auf Kohlenstoff, wie alles sonstige Leben, basierten ihre Körper auf Silizium – und damit war der Grundstein für das Missverständnis gelegt, das eine Lawine der Gewalt ins Rollen brachte. Die Satoga ernteten seinerzeit Luminium als Grundlage für die Antriebe ihrer Raumschiffe. Jenes seltene Mineral war unverzichtbar, um schneller als das Licht zwischen den Sternen zu reisen und den dringend benötigten neuen Lebensraum für die ungemein fruchtbaren Satoga zu erschließen. Allerdings handelte es sich bei »Luminium« nicht nur um ein kostbares Mineral, wie Artas inzwischen mit Schaudern gelernt hatte, sondern um die Nachkommenschaft der Dex – was für organische Spezies aber nicht ohne Weiteres erkennbar war. Und so war die Erzfeindschaft entstanden. Die Dex waren von den Satoga gejagt und vernichtet worden, wo immer man ihrer habhaft wurde, und schließlich waren die Anorganischen aus dem SculptorSystem hin zur Milchstraße geflohen. Die vorgelagerte Große Magellan'sche Wolke hatten sie zur Bastion gegen die potenziellen Verfolger ausgebaut. Die Virgh, die später den in der GMW ansässigen Foronen zum Verhängnis wurden, waren eine Schöpfung der Dex, die über die Jahrtausende fortentwickelt wurden, um der Gefahr der endgültigen Ausrottung ihrer Schöpfer Paroli zu bieten. Artas war der Chef einer Flotte, die der Spur der Dex schließlich tatsächlich gefolgt war. Zum einen, um die etwaige Gefahr für immer zu eliminieren, zum anderen aber auch, um gleich die erste Flut von befruchteten Eiern in einer noch nicht vor schierem Leben aus allen Nähten platzenden neuen Galaxie freizusetzen: in der Milch-
straße. Doch nachdem klar geworden war, welche Schuld die Satoga auf sich geladen hatten, war Artas zum Umdenken bewegt worden. Nicht zuletzt durch den Gnadenakt der Dex, die es in der Hand hatten, die Satoga-Flotte bis auf die letzte Einheit zu zerreiben – dann aber durch die Vermittlung einer Spezies namens Mensch darauf verzichteten. Der erste Schritt zu einem dauerhaften Frieden zwischen den uralten Feinden war damit getan. Doch noch war er höchst zerbrechlich und brauchte vertrauensbildende Taten, die belegten, dass die Satoga bereit waren, auf Territorien zu verzichten und Kompromisse zu machen. Die Milchstraße, so der geschlossene Vertrag, würde für Satoga künftig tabu sein – zumindest als Brut- und Lebensstätte. Stattdessen hatte man vereinbart, dass die Flotte sich der nächsten großen Galaxie zuwenden und dort die Möglichkeiten ausloten sollte, sie zu kolonisieren. Auch dort würden bereits andere, vielleicht hochintelligente und raumfahrende Völker leben. Doch mit ihnen hatten die Satoga nie in einer Fehde gelegen, sodass die Chancen für eine friedliche Koexistenz weit größer waren. Wichtig würde sein, von Anfang an darauf zu achten, keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – und ihr Siedlungsvorhaben nicht auf Lügen aufzubauen. Mögliche Bewohner der anvisierten Galaxie mussten über die eigentlich lauteren Absichten in Kenntnis gesetzt werden – nicht sofort vielleicht, aber spätestens, sobald sich Komplikationen abzuzeichnen begannen. Artas hatte ein Botenschiff in die Heimat entsandt, um den dort Wartenden die neue Lage zu erklären – und zugleich darauf zu pochen, dass eventuell noch vorhandene Welten mit anorganischem Leben fortan unter besonderen Schutz gestellt wurden. Darauf würde man für die Zukunft aufbauen können, und irgendwann würde es sich den Dex gegenüber auszahlen, dessen war Artas sich sicher. Ihn fror immer noch leicht, wenn er an die bewegenden Ereignisse dachte, in deren Verlauf er auch die neuen Freunde in der Milchstra-
ße hatte zurücklassen müssen. John Cloud, Scobee … und wie sie alle hießen. Menschen. Eine ganz spezielle Spezies, schwierig mitunter und ungeheuer facettenreich – aber genau das machte sie den Satoga ja so ähnlich. Artas lächelte stumm in sich hinein. Die Anspannung eines langen Arbeitstages fiel von ihm ab, und er spannte die Beinmuskulatur an und tauchte mit einem Kopfsprung in das klare, erfrischende Wasser des Sees. Seine Module wisperten unter der Haut. Tief im Wasser leuchtete schon von fern jener Obelisk, über den er mit keinem Dex und auch mit keinem seiner Menschenfreunde gesprochen hatte. Ursprünglich war es eines der Mahnmale gewesen, welche die Dex seinerzeit beim Verlassen des Sculptor-Systems auf ihren ehemaligen Welten hinterlassen hatten. Ein imposantes Steinmonument, auf das in einer Schrift, die zu entziffern Generationen gedauert hatte, ein einziger Satz zu lesen stand: WIR SIND DAS WAHRE LEBEN.
Artas kehrte bald darauf von seinem Ausflug in die Einsamkeit der Laichwasser in die Befehlszentrale des Brutschiffes zurück, wo die Logen damit beschäftigt waren, die erforderlichen Kräfte zur Beschleunigung der Riesenellipse zu entfachen. Mit ihren übergroßen Köpfen, die von Kragen mit Antischwerkraftmodulen gestützt werden mussten, wirkten die Magnetmeister selbst auf Artas bizarr. Sie entstammten seinem Volk, hatten aber einen völlig anderen Werdegang hinter sich als ein normaler Satoga. Ihre Gesichter waren winzig und wirkten von der Anstrengung immer ein wenig schmerzverzerrt; es sah aus, als würden sie von der Schädelmasse zerdrückt. »Du kommst gerade rechtzeitig, Herr«, begrüßte ihn Logensprecher Lorcan. »Wir durchdringen gerade die äußerste Grenzlinie von Mara Ronda. Du hast befohlen, mit Erreichen dieses Gebiets einen Phasenstopp einzulegen – bleibt es dabei?« »Es bleibt dabei, natürlich«, erwiderte Artas und kommunizierte gleichzeitig über seine Module mit den Satoga, die an den Ortungen
saßen. Das Befehlszentrum nicht nur der EXPANSION EINS, sondern im Grunde der ganzen Flotte, befand sich tief im Bauch des siebzig Kilometer langen und rund zehn Kilometer dicken Spezialschiffes. Aber der Raum erweckte den Anschein, als wäre er eine offene Fläche auf irgendeinem Planeten. Dort, wo man auf einer solchen Welt den Himmel erwarten durfte, prangten auch hier die Sterne wie in einem natürlichen Firmament. Tatsächlich aber war es eine Projektion, erschaffen von den Bordrechnern, die wiederum mit den Mentoren – stalaktitenförmigen Kristallen – und den Modulen der Besatzung gekoppelt waren. Zu den reinen Rechnerleistungen der kybernetischen Systeme wirkte so bei allen Beschlüssen und Prozessen auch immer noch die Komponente einer mit Gewissen behafteten organischen Intelligenz mit. Ein einzigartiges Konzept, auf das Artas stolz war. Es hob die Satoga seiner Meinung nach aus der Masse der über das bekannte Weltall verteilten Spezies heraus. Allerdings ging sein Stolz nicht so weit, dass er außerstande gewesen wäre, die Leistungen anderer Völker im Kosmos wertzuschätzen. Arroganz war ihm fremd. Überheblichkeit duldete er bei keinem in seinem Umfeld. Die Magnetmeister bildeten allerdings eine Ausnahme. Sie waren von Natur aus … schwierig. Aber wenn man bedachte, dass sie ein normales Leben dafür opfern mussten, um den Vermehrungsdrang ihres Volkes so kanalisieren zu können, dass ständig neuer Lebensraum erschlossen werden konnte. Nach dem Abschöpfen der Luminiumvorkommen hatten die Satoga umdenken und neue Wege zum überlichtschnellen Reisen erschließen müssen – der einzige bis heute wirklich effektive war dabei die Züchtung und Ausbildung der Großköpfe gewesen, die allein kraft ihrer gebündelten Magnetsinne in der Lage waren, selbst gewaltigste Körper durch den Weltraum zu peitschen. Die Logen waren seither so unverzichtbar wie es einstmals die auf Luminium basierenden Antriebe gewesen waren. Während Artas den Blick über seine Umgebung schweifen ließ, fragte er sich, was
wohl dieser Epoche einmal nachfolgen würde. In der Milchstraße und auch schon in der Großen Magellan'schen Wolke waren sie auf völlig andere, ebenfalls höchst effektive Antriebskonzepte gestoßen. Sobald etwas Ruhe eingekehrt war, würden sie ausgewertet werden. Aber der nächste Konflikt – diesmal interner Art – war damit vorprogrammiert. Die Magnetmeister würden sich nicht einfach damit abfinden, irgendwann zum alten Eisen zu gehören. Sie würden Gift und Magnetstaub versprühen, vielleicht sogar versuchen, eine Revolte anzuzetteln. Wenn wir es nicht klug anstellen, dachte Artas. Am besten wäre es, die Magnetmeister in neue Konzepte einzubinden. Aber war die Abkehr vom Bewährten überhaupt nötig? War es nicht vielmehr angeraten, an Traditionen festzuhalten und sich somit weiterhin – auch langfristig gesehen – von anderen Intelligenzen abzuheben? Die Zeit würde ihre Antwort darauf haben, er hatte sie nicht; nicht im Moment jedenfalls. All das war noch Zukunftsmusik, und zunächst einmal mussten sie sich dem elementaren Bedürfnis seiner Art widmen: der Fortpflanzung. Allein in den 53 Ellipsen befand sich genug befruchteter Laich, um damit in kurzen Zeiträumen ganze Planeten zu bevölkern. Und sobald die EXPANSION EINS bis DREIUNDFÜNFZIG »entleert« waren, würden sie zurück ins Sculptor-System fliegen, um dort weiteren Laich abzuschöpfen. Die alte Heimat vertrug kaum noch Zuwachs, sie musste permanent entlastet werden, sonst war der Kollaps unausweichlich. Was wäre wohl geschehen, wenn wir nie die Raumfahrt entdeckt hätten?, dachte Artas. Hätte sich unser biologischer Rhythmus dann dem nie größer werdenden Lebensbereich angepasst, hätte mein Volk gelernt, seine Triebe unter Kontrolle zu bekommen, oder hätten wir unseren Planeten irgendwann unter unserer schieren Masse erstickt? Er wusste, dass er darauf nie eine Antwort erhalten würde. Sie hatten die Raumfahrt entdeckt. Sie hatten Gigantisches vollbracht, als sie diese riesigen Einheiten mit ihrem gigantischen Fassungsvermögen erbauten und auf den Weg brachten. Nichts würde den Fortschritt mehr rückgängig machen. Und dort, wohin sie un-
terwegs waren, warteten Milliarden neuer Welten, die noch niemandem gehörten. Mara Ronda – die Menschen nannten sie Andromeda – würde die Satoga zu neuer Blüte führen. Wenn alles gut ging. Wenn nicht – »Ortung!«, meldeten aufmerksame Augen an den Geräten. »Wir registrieren eindeutige Hinweise auf regen interstellaren Schiffsverkehr.« Ein Schatten fiel auf Artas' Zuversicht. Aber er beschloss, zunächst die Detailinformationen der Fernortung abzuwarten. Keine voreiligen Schlüsse. Das war zu erwarten: winzige Sternenreiche. Aber diese Galaxie umfasst Sonnen und Planeten wie Sandkörner am Ufer eines Laichsees. Wir kommen in Frieden. Wir werden willkommen sein – wenn wir keine groben Fehler begehen und uns damit Feinde schaffen …
Artas befahl das Verweilen der Flotte aus Tausenden von Magnetschiffen der Kampfklasse und den 53 Spezialellipsen in der äußersten Randzone des Andromedanebels. Von dieser Position aus entsandte er schnelle Raumjäger in den Sektor, in dem die Ortung erstaunlich viele Hinweise auf überlichtschnellen Transfer von Sonnensystem zu Sonnensystem angemessen hatte. Das so frequentierte Gebiet umfasste Hunderte von Lichtjahren, und die Piloten der Raumjäger waren beauftragt, unauffällige Aufklärung in jeweiliger Systemnähe zu betreiben. Insgesamt schwärmten tausend Kundschafter aus, die alle die Maßgabe hatten, spätestens binnen dreier Njell wieder zurück in ihren Trägerschiffen zu sein und Artas' Beratern persönlich Rapport zu erstatten. Die Berater wiederum würden das Wichtigste aus den Berichten herausfiltern und konzentriert an den Ersten Expanser weitergeben. Artas verbrachte die Zeit bis zum Eintreffen erster Ergebnisse, die zusammengefasst ein sehr detailliertes Bild über die Verhältnisse in dem vakanten Sektor ergeben würden, in der Gesellschaft seines engsten Stabs. Dazu gehörte auch der Sprecher der Logen, Lorcan, der üblicherweise den Eindruck eines Oppositionellen vermittelte.
Für Artas kein Grund zu Besorgnis. Er konnte mit – berechtigter – Kritik umgehen, und im Allgemeinen hatten die Einwände des Logensprechers Hand und Fuß. So auch jetzt. »Möglicherweise haben wir bereits jetzt einen irreparablen Fehler begangen«, sagte er. »Was meinst du?«, fragte Artas. Die Zusammenkunft fand wie gewohnt unter dem täuschend echt wirkenden Sternhimmel im Innern von EXPANSION EINS statt. Über die Umgebung verstreut, waren Holzhaufen aufgeschüttet und entzündet worden. Die Flammen der Lagerfeuer erzeugten eine Atmosphäre, die Artas an manchen Aufenthalt in der Wildnis irgendeines Planeten erinnerte, wie er ihn früher sehr genossen hatte. Vor seiner Zeit als Erster Expanser. Inzwischen ließ seine Verantwortung keine derartigen Abstecher mehr zu, und er musste mit billigem Abklatsch – wie diesen Pseudofeuern in einer Pseudonatur – vorliebnehmen. »Wir hätten schon lange vor Erreichen des Sternennebels eine Aufteilung der Flotte vornehmen und dann aus verschiedenen Winkeln in großen Abständen in die Galaxie vorstoßen sollen. Das hätte die Gefahr einer Entdeckung drastisch verringert – und um die Folgen einer solchen Sichtung brauchten wir uns keine Sorgen zu machen.« »Du meinst, wer immer uns ortet, wird sofort an eine Kriegsflotte denken? Eine Armada, die in feindlicher Absicht kommt?« »Was dächten wir wohl, wenn Derartiges auf die Heimat zurollte?«, antwortete der Lorcan mit einer Gegenfrage. Artas machte eine Geste der Zustimmung. »Dein Vorschlag hat ebenso viele Für und Wider wie meine Vorgehensweise. Es ist möglich, dass wir missverstanden werden. Aber dieses Mal bin ich fest entschlossen, den Anfängen zu wehren und sofort mit den hiesigen Völkern in Kontakt zu treten, um Missverständnisse rasch auszuräumen. – Wären wir hingegen so vorgegangen, wie du es rätst«, fuhr er fort, »hätten wir mit dem Manko leben müssen, dass unsere Einzelverbände entweder keinen Kontakt zueinander pflegen könnten – oder dass gerade unser Funkverkehr über große Distanzen uns den Bewohnern von Mara Ronda verraten hätte. Womit wir wiederum
gefordert wären, Vertrauen zu bilden – aber unsere Situation wäre weder besser noch schlechter. Demzufolge übernehme ich für etwaige Folgen meines Handelns gerne jede Verantwortung. – Reicht dir das, Sprecher?« Der Magnetmeister formte den Mund auf eine Weise, die einer Bestätigung gleichkam. Artas wandte sich dem Firmament zu, wo der Andromedanebel in voller Pracht zu bewundern war. Gleichzeitig waren Markierungen eingeflochten, die die Position der Flotte und operierenden Raumjäger darstellten. »Alles sieht friedlich aus«, verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, dass das auch so bleiben möge. »Unsere Ortung misst nirgendwo Energieentladungen an, die auf Gefechtssituation hindeuten. Dieses Sternenmeer scheint zu sein, was wir uns von ihm erhofften: ideal für einen Neuanfang.« »Du redest, als wäre unsere Heimat untergegangen.« »Sie wird untergehen, wenn wir kein Gebiet finden, in dem wir für eine Entlastung der schwierigen Situation dort sorgen können.« »Leben ist heilig. Der Laich darf nicht angetastet werden!« »Eben«, erwiderte Artas in vollster Übereinstimmung. »Ich sehe, wir sprechen immer noch dieselbe Sprache. Uns geht es um ein und dasselbe, und das macht mich zuversichtlich. Die Logen sind unser Garant für eine friedliche Lösung. Der Dank unseres Volkes wird euch stets gewiss sein, und glaube mir, wir alle wissen um die Opfer – die persönlichen Opfer –, die ein jeder Magnetmeister erbringt, um der Gesamtheit zu dienen. Ich ehre und respektiere dich – einen jeden von euch.« »Wir ehren und respektieren auch dich, Erster«, erwiderte der Logensprecher in feierlichem Ton. »Nie hatten wir einen würdigeren Führer …«
Die Raumjäger kehrten zurück, ausnahmslos, es gab keinen Verlust zu verbuchen. Diskret, wie es ihre Aufgabe gewesen war, hatten sie in den verschiedenen Gebieten operiert und waren in keine Kon-
frontationen mit den lokalen Mächten verwickelt worden. »Ausgezeichnet«, lobte Artas, als seine Berater ihm das Resultat vorlegten und vor alles andere die Aussage stellten: »Unsere Flotte wurde nach allem, was wir ermitteln konnten, von den hiesigen Machtstrukturen noch nicht entdeckt. Offenbar verfügen die Bewohner des Sternennebels über keine Ortungsinstrumente, die den unseren den Magnetstaub reichen können. Wir sind also in der glücklichen Lage, weiterhin völlig unbelastet von anderen Interessen und Forderungen agieren zu können.« »Nicht ganz«, korrigierte Artas seinen Stab. »Auch wenn wir unentdeckt sind, haben wir Rücksicht zu nehmen. Erinnert euch an unser Versprechen, das wir den Dex gaben. Unsere Prämisse ist es, jeden Konflikt im Vorfeld zu vermeiden. Der Logensprecher hatte recht, als er mich kritisierte – es ist pures Glück, dass wir nicht bereits in Zugzwang geraten sind und uns vor den Bewohnern dieses Nebels rechtfertigen müssen. – Ist Genaueres über die Reichweite der verwendeten Ortungstechnik bekannt?« »Sie funktioniert über maximal tausend Lichtjahre verlässlich.« »Wie weit entfernt liegt das verkehrsreiche Gebiet von unserer aktuellen Position?« Die Antwort, die er erhielt, war beruhigend. »Dann werden wir, während ich Details zu den ansässigen Strukturen erfahre, Fahrt aufnehmen und mit der Flotte zur gegenüberliegenden Seite dieser Spiralgalaxie aufbrechen – das sind rund hunderttausend Lichtjahre, die wir damit zwischen die bereits von raumfahrenden Spezies frequentierten Bereiche des Nebels und den Sektor bringen, in dem wir uns nach geeigneten Welten für unser Volk umsehen.« »Von dort fehlen uns noch jegliche Ergebnisse einer Feinabtastung.« »Wir werden sie vor Ort ausführen.« »Wie du befiehlst, Herr.« Es gab Zeiten, da genoss Artas den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde. Aber es gab auch Zeiten, da er ihm regelrecht zuwider war. Warum genau er Letzteres in diesem Moment empfand,
wusste er selbst nicht. »Fahrt jetzt fort: Was haben wir über die hiesigen raumfahrenden Völker herausgefunden?« »Sie leben in einer Koalition – viele verschiedene Spezies, die einen gemeinsamen Konsens gefunden und sich zum sogenannten JORRVölkerbund zusammengeschlossen haben.« Das Beratungsgremium legte Artas im Detail dar, was unter diesem Machtbündnis zu verstehen war, das offenbar keinerlei aggressiven Hintergrund hatte. Da war kein Bund, der auf ungebremste Expansion ausgerichtet war (wie wir, dachte Artas schmerzlich berührt, da er sich manches Mal gewünscht hatte, die Satoga seien ein bisschen weniger fruchtbar – andererseits war das Leben heilig), sondern eine friedlich miteinander umgehende Interessengemeinschaft, in der der Schwerpunkt auf Handel gelegt wurde, nicht auf Ausweitung des Territoriums eines einzelnen Volkes, nicht einmal, wie er gerade erfahren hatte, auf die des gesamten Bündnisses. »Laut Erkundung unserer Scouts existiert die Koalition in den gegenwärtigen Grenzen bereits seit einer sehr langen Zeit.« Unvorstellbar, dachte Artas – und auf die eigene Art bezogen, war es das tatsächlich. Er hörte sich weitere Erkenntnisse an, während die Flotte mithilfe der Logen das JORR-Gebiet weitläufig umging und das entgegengesetzte Randgebiet der Spiralgalaxie ansteuerte. Nach langer Fahrt kam sie unbehelligt dort an, und eine erste Vermessung der Umgebung ergab, dass die Satoga hier offenbar völlig konkurrenzlos waren. Es gab weit und breit keine Aktivitäten, die auf den Einsatz von Raumfahrt schließen ließen. Wir sind also angekommen, dachte Artas. Ohne einen Tropfen vergossenen Blutes. Und ohne eine einzige wie auch immer geartete Drohung gegen uns. Fühlte sich so das an, wonach sie mit solcher Leidenschaft bis hin zur Selbstaufgabe (wie die Magnetmeister) gesucht hatten. Eine neue Heimat für ihr leidendes Volk?
Das Botenschiff aus dem Sculptor-System traf ein, gerade als Artas mit einem Schweber auf Besichtigungstour durch die neue Stadt war – die erste Satogastadt in Mara Ronda und Kern der neuen Satogakolonie. Er hatte keine Nachricht einer bevorstehenden Landung erhalten und war entsprechend ungehalten, als der Raumhafen, der in Sichtweite der Stadt lag, ihn davon unterrichtete. »Ich komme! Sie sollen auf ihrem Schiff bleiben, sie müssen sich nicht herausbemühen. Ich komme zu ihnen.« Damit unterbrach er die Verbindung. Sein Ärger beruhte darauf, dass die Ankömmlinge nicht einmal einen kurzen Spruch vorausgeschickt hatten, um auf ihre Ankunft vorzubereiten. Das war wider alle protokollarischen Regeln. Er war ehrlich erbost und fest entschlossen, es die Insassen des Magnetschiffes spüren zu lassen – wer immer es war. Als er den Raumhafen erreichte, steuerte er das Kugelschiff ohne Umweg an. Augenblicklich öffnete sich eine Schleuse am unteren Pol, und Artas steuerte den Schweber hinein. Das Empfangskomitee erwartete ihn bereits: allesamt Magnetmeister. Ihre Gestalten waren mit einem herkömmlichen Satoga nicht zu verwechseln. Artas sprang von seinem Gleiter, kaum dass er angehalten hatte, und eilte dem nächststehenden Magnetmeister entgegen. »Bist du der Sprecher der Loge? Ich will unverzüglich mit der Schiffsführung sprechen. Wer ist der Kommandant?« Wie stets wirkte das Gesicht seines Gegenübers wie von Schmerzen verzerrt. »Du stehst vor ihm, Erster. Mein Name ist Levcon.« Artas glaubte zunächst, sich verhört zu haben – oder an die Möglichkeit, dass dieser eine Magnetmeister unversehens so etwas wie Humor entwickelt haben könnte. Doch dann machte Levcon deutlich: »Ich sehe und verstehe dein Erstaunen, aber seit eurem Verlassen der Heimat ist dort viel geschehen. Es kam zu Unruhen aufgrund von kaum noch kontrollierbarer Überbevölkerung. Etliche Planeten mussten komplett gesperrt werden.«
»Gesperrt?«, echote Artas. »Was verstehst du darunter?« »Später. Du sollst alle Details hören, aber der eigentliche Grund meines Kommens ist, dass ich dringend sämtliche Einheiten vom Typ EXPANSION zurück in der Heimat benötige!« »Um sie neu zu bestücken«, sagte Artas. Es war keine Frage, sondern eine rhetorische Feststellung. Der Magnetmeister entgegnete zurückhaltend: »Darüber weiß ich nichts.« Artas überlegte kurz, dann sagte er: »Ich verstehe aber immer noch nicht, warum kein Kommandant an Bord –« »Du hast es immer noch nicht begriffen, dass ich der Kommandant bin.« »Du bist der Logensprecher. Aber wer erteilt dir deine Weisungen?« »Vielleicht begreifst du es eher, wenn ich noch einmal auf die Heimat zu sprechen komme. Die dortigen Unruhen wurden nicht von herkömmlichen Satoga wie dir beigelegt.« »Sondern?« »Von solchen wie mir«, antwortete der kleine, zerquetscht aussehende Mund, über dem sich Levcons Schädel wie eine immerwährende Strafe türmte. Artas riss die Augen auf. »Du meinst …?« »Ich meine, dass die Satoga nun endlich von denjenigen regiert werden, die dafür auch die besten Voraussetzungen mitbringen. Es gab einen Putsch, der niemandem schadet, nur Nutzen bringt. Die Magnetmeister haben nunmehr die Obergewalt über all unsere Welten und Schiffe … und damit auch über dich, diese Kolonie und die Flotte, mit der du in diesen Sternennebel kamst.«
Die unerwartete Entwicklung lähmte Artas in den ersten Stunden nach dem Besuch des Botenschiffes förmlich. Erst recht, da der befehlshabende Magnetmeister ihm Dokumente von unanfechtbarer Echtheit vorlegte, nach denen es tatsächlich zu dem geschilderten Putsch gekommen war.
Die Magnetmeister hatten die Macht in der alten Heimat übernommen … und griffen nun auch über ihren Gesandten nach der neuen. In den folgenden Tagen kam Artas sich wie eine Marionette vor, an deren Fäden ein anderer zog. Hilflos musste er mit ansehen und -hören, wie Levcon zu den Mannschaften der Flotteneinheiten sowie den Bewohnern der Stadt sprach und dabei unverblümt Propaganda für das neue Regime machte. Auf diese Weise seiner Autorität beraubt zu werden – mehr noch, seiner Ehre und aller bis dahin errungenen Verdienste für sein Volk –, schmerzte ihn mehr als alles andere. Schließlich forderte Levcon öffentlich die Abdankung des Ersten Expansers und ernannte auch gleich dessen vom fernen Regime befürworteten Nachfolger: Lorcan. Daraufhin zog sich Artas kommentarlos an Bord der PERSPEKTIVE zurück, die sein Schiff war und deren Besatzung ihm, wie er hoffte, immer noch treu ergeben war. Allerdings gab es auch dort eine Loge und Magnetmeister, und damit schien die Fortsetzung des Konfliktes vorprogrammiert. Dann aber überschlugen sich die Ereignisse. Levcons Schiff, zugleich seine Residenz, die er selten verließ, verging nur Stunden nach Artas' Amtsenthebung und dessen Rückzug in die PERSPEKTIVE in einer Explosion von ungeheuerlicher Vernichtungskraft, bei der auch Teile des Raumhafens verwüstet wurden. Als sich kurz darauf Lorcan bei Artas ankündigte, war diesem klar, was ihn erwartete: der neue Befehlshaber der Expansionsflotte würde keinen anderen als Artas als Drahtzieher des Anschlags gegen den Magnetmeister vermuten und kam, um ihn dingfest zu machen. Artas war zutiefst erschüttert. Aber er scheute die Begegnung mit Lorcan nicht. »Verlieren wir nicht viel Worte«, empfing er den schmächtigen Satoga mit dem überproportionierten Schädel, unter dessen Haut die Adern reliefartig hervortraten. »Ich werde keinen Widerstand leis-
ten. Ich weiß, was du mir vorwerfen willst. Gehen wir …« Er trat dem Magnetmeister entgegen. Doch Lorcan gebot ihm mit einer Geste, stehen zu bleiben. »Halt. Du missverstehst völlig. Ich bin gekommen, um mich dir auszuliefern …« Und dann erfuhr der staunende Artas, dass kein anderer als Lorcan hinter dem tödlichen Schlag gegen das Schiff des Gesandten steckte. »Wir alle schätzen und respektieren dich, solange du uns geführt hast, Artas«, sagte er abschließend. »Mein Schicksal liegt nun in deinen Händen. Aber ich konnte nicht zusehen, wie jemand die Ordnung, mit der auch ich zufrieden war, mit Füßen tritt und alles auf den Kopf stellt. Nach allem, was Levcon mir sagte, bin ich nicht mehr sicher, ob ich meiner alten Heimat dienen will, in der das Chaos herrscht. Ich vermute, meinesgleichen dort will die Ellipsenschiffe für egoistische Zwecke nutzen. Levcon ließ solches durchblicken während unserer Gespräche.« Artas hatte sich einigermaßen von seiner Überraschung erholt. »Was für egoistische Zwecke könnten das sein?« »Eine Art unnatürliche Auslese. Er erzählte etwas von Laich, der bereits präpariert wird, um nur Magnetmeister daraus hervorgehen zu lassen. Mit diesen will das neue Regime offenbar der qualvollen Enge in unserer Heimatgalaxie entkommen. Sie wollen ein neues Volk gründen, irgendwo, das nur noch aus solchen wie Levcon und mir besteht – für deinesgleichen wäre darin kein Platz mehr.« Artas versuchte, nicht zu zeigen, wie erschüttert er war. »Nun weißt du es, und ich bitte dich nur um eines: Lass mich die Schmach meiner Tat mit dem Vergessen sühnen – und gewähre mir ein schnelles Ende.«
Der Zuspruch der Schiffsbesatzungen – hier vor allen Dingen die Loyalitätsbekundungen der Logen – traf Artas völlig unvorbereitet. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass die Magnetmeister sich auf seine Seite stellen würden, nun, da in der alten Heimat doch gerade ihresgleichen erfolgreich an die Spitze der Macht-
pyramide gelangt war! Nein, es rührte ihn absolut, und letztlich war es eine Selbstverständlichkeit für ihn, dass er sich dafür bei Lorcan, der den Grundstock für diese unerwartete Wendung gelegt hatte, erkenntlich zeigte. Öffentlich sprach er sich für eine Begnadigung des Logensprechers aus – und auch diesbezüglich war die Resonanz einhellig. Letztlich schweißte Lorcans Tat Normalsatoga und Magnetmeister enger zusammen, als dies jemals zuvor in der Geschichte der Fall gewesen war. Dem Regime in der alten Heimat hatten sie damit eine klare Absage erteilt und pochten indirekt auf ihre Unabhängigkeit – aber das hatte sich bis dorthin noch nicht herumgesprochen. »Wir werden das Geschehene nicht auf Dauer verheimlichen können«, sagte Lorcan Tage später im Gespräch mit Artas. »Irgendwann werden sie neue Gesandte schicken, um das Schicksal des ersten aufzuklären. Wenn er sich nicht zurückmeldet, muss das für die Putschisten ein Alarmsignal sein.« »Das habe ich auch schon bedacht – und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir ein Warnsystem einrichten sollten, das uns rechtzeitig über Einheiten informiert, die Mara Ronda aus dem Leerraum ansteuern.« »Das unterstütze ich.« Und so geschah es. Allerdings kam es während der Errichtung des Warnbojensystems, das allseitig um die Spiralgalaxie gebaut wurde, zu einem ersten Kontakt mit einem der JORR-Völker. Ein friedlicher Kontakt, wenn auch von Misstrauen geprägt. Es wurden Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, die den JORR-Völkern aber dauerhaft nicht genügen würden. Wer war das, der da entlang der Galaxiengrenze Hightech-Objekte verteilte? Wieso war man nicht früher auf diese Spezies gestoßen, die offenbar im gleichen Sternennebel beheimatet war? Als die Nachricht Artas erreichte, entschied er, die diplomatischen Beziehungen zur JORR-Koalition aufzunehmen. Dabei ließ er zunächst unausgesprochen, dass sein Volk ursprünglich aus einer anderen Galaxie stammte. Er betonte immer wieder ihre Friedfertig-
keit, und trotz Argwohn waren die JORR-Völker offenbar bereit, den Satoga einen Vertrauensvorschuss einzuräumen. Die folgende Zeit war geprägt von einem rasanten Ausbau der Satoga-Kolonien auf nunmehr acht Planeten, die über eine gedachte Raumkugel von dreißig Lichtjahren verstreut lagen. Auf fünf dieser acht Welten waren bereits Laichprozesse angeregt worden. EXPANSION-35 bis 39 hatten sich über diese Planeten verteilt und dienten nun als Kontrollzellen der über die natürlichen Ozeane verteilten Laichmassen. In Kürze würden die ersten Populationen schlüpfen. Fast zeitgleich aber kam es zu einem Vorfall, der Artas fast ebenso hart traf, als wäre ein neues Botenschiff aus der alten Heimat geortet worden. Die der Milchstraße zugewandten Bojen schlugen in dem Moment Alarm, als der Erste Expanser die ehrenvolle Pflicht erfüllte, dem allerersten Spross eines andromedageschlüpften Satoga das heilige Zeichen in den Nacken zu brennen. Er tat das eigenhändig, und noch während der Neugeborene plärrte, erreichte Artas die dringende Aufforderung, sich ins planetare Zentrum zu begeben, wo er erfuhr, was die Bojen angemessen hatten. »Explosionen?«, echote er betroffen. »Supernovae, deren hyperphysikalische Strahlung uns hier erreicht?« »Nicht einfach nur Explosionen, wie sie immer einmal vorkommen und ganz normal wären«, verneinte Lorcan, der persönlich gekommen war, um Artas in Kenntnis zu setzen. Seit seiner Schuldfreisprechung war er zu Artas' engstem Freund avanciert. Darüber hinaus leitete er das Bojenprojekt. »Sondern?« »Dort drüben in der Galaxie, die uns beinahe selbst zum Verhängnis geworden wäre, geht Fürchterliches vor. Es handelt sich nicht nur um Lokal begrenzte Energiefreisetzungen. Das Phänomen überzieht weite Teile der Milchstraße. Es ist, als würden dort alle Hochzivilisationen systematisch … ausgerottet.«
Die Nachricht traf Artas wie ein Schlag gegen die Stirn. Sein Kamm schwoll vor Erregung. Für die nächste Zeit konnte er kaum noch an etwas anderes denken, und schließlich rang er sich zu einer Entscheidung durch, von der er wusste, dass sie bei seinen Vertrauten nicht unbedingt auf Verständnis stoßen würde. »Du willst ein solches Wagnis eingehen?«, machte dementsprechend Lorcan dann auch tatsächlich kein Hehl aus seiner Ablehnung für diese Idee. »Es sind Freunde. Und vielleicht brauchen auch die Dex Hilfe. Wir werden sehen. Es wäre eine Gelegenheit, unendliche Schuld wenigstens um ein Quäntchen abzutragen.« »Sie haben uns verziehen.« »Sie haben uns am Leben gelassen – das ist ein Unterschied.« Die Debatte ging hin und her, schließlich erklärte der Magnetmeister: »Wenn du schon unabwägbare Risiken eingehen willst, dann lass mich dich wenigstens begleiten.« »Das geht nicht«, lehnte Artas ab, obwohl er den Freund gern an seiner Seite gehabt hätte. »Du bist hier unverzichtbar. Nach mir traue ich nur noch dir zu, meine Vorstellungen eins zu eins in die Tat umzusetzen. Und zumindest einer mit Durch- und Überblick muss zur Stelle sein, wenn Schwierigkeiten mit den JORR-Völkern auftreten. Und wenigstens einer mit Rückgrat, falls sie kommen.« »Du meinst die Gesandten aus der alten Heimat?« »Ja, die meine ich.« »Allmählich beginne ich zu hoffen, dass sie nie hierherkommen. Sonst wären sie längst da, oder?« Artas antwortete nicht, wiegte nur skeptisch den Kopf. »Möglicherweise«, fuhr Lorcan in seinem Wunschdenken fort, »hat sich die Situation zu Hause so verschärft, dass die Putschisten andere Probleme haben, als hier nach dem Rechten zu sehen.« »Aber sie sind hinter den Ellipsenraumern her. Zu Hause gibt es nichts – zumindest gab es sie nicht bei unserem Aufbruch – Vergleichbares mehr. Und wenn stimmt, was Levcon andeutete, werden sie sich so leicht nicht geschlagen geben.« »Ich wünschte, du hättest unrecht.«
»Das wünschte ich auch.« »Du wirst mit der PERSPEKTIVE reisen?« »Sie ist von allen Schiffen das, auf dem ich mich immer am wohlsten fühlte. Ich kenne jedes einzelne Besatzungsmitglied und kann auf ihre Loyalität zählen.« »Sie wissen, was sie an dir haben.« »Schön, wenn es so wäre.« »Es ist so, und du weißt es.« Artas machte eine Geste der Demut. »Ich hoffe, dass die Wege unseres gespaltenen Volkes eines Tages wieder zusammenlaufen. Magnetmeister und übrige Satoga … das sollte irgendwann keine Frage mehr sein. Wir beide beweisen, dass es geht.« »Was geht?« »Freundschaft«, sagte Artas und merkte, wie sehr es ihn bewegte, einerseits von Abschied zu reden und andererseits von etwas so Wunderbarem wie Freundschaft. »Du machst mich stolz.« »Pass auf unsere kleine Kolonie auf«, bat Artas zum Abschied. »Achte darauf, dass ihr nichts zustößt. Du weißt, dass die Laichwasser in dieser Phase am verwundbarsten sind. Schütze unsere Brut – und überrasche mich bei meiner Rückkehr mit vielen Neugeschlüpften.« »So sei es.«
Die PERSPEKTIVE brach wenige Planetentage später auf und löste sich aus dem Orbit jener Welt, auf der Lorcan eine provisorische Zentrale errichtet hatte, in der alle logistischen Fäden zusammenliefen. Die Welt war von ihnen auf den Namen Einigkeit getauft worden. Auf Einigkeit würden eines Tages die prächtigsten Städte zu bewundern sein, die Satoga jemals gebaut hatten. Es brach Artas beinahe das Herz, all dies gerade jetzt, in diesem hoffnungsvollen und wegweisenden Stadium verlassen zu müssen. Aber er vertraute auf Lorcans lenkende Hand. Mit Höchstgeschwindigkeit durchquerte die PERSPEKTIVE zu-
nächst den Nebel von Mara Ronda und dann jene tiefe, fast Sternenlose Kluft, die zwischen dieser und der nächsten großen Spiralgalaxie lag. Und schon bald tauchte das Magnetschiff in den Halo der Milchstraße ein. Während der ganzen Fahrt hatten Artas' Spezialisten die Flut von Zerstörungen katalogisiert, die über die Fernortung messbar waren. Und mit Schaudern hatte der Erste Expanser anhand der Sternenkarten, die ihm die Menschen zum Abschied schenkten, abgleichen können, welche Gebiete besonders in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Demnach wütete das Unbegreifliche am heftigsten bei den Koordinaten der ehemaligen CLARON-Welten. Aber auch beispielsweise das Solare System, Heimat der Menschen, war betroffen. Artas wies seine Mannschaft an, alles Erdenkliche zu versuchen, um einen Kontakt zu John Clouds RUBIKON herzustellen. Dem Freund hatte er beim Abschied eine »Black Box« zum Geschenk gemacht. Hochtechnologie, die es ermöglichen sollte, selbst über den Abgrund von Galaxien in Kontakt miteinander zu treten, wenn es dafür einen triftigen Grund gab. Artas hatte versucht, die Black Box schon von Mara Ronda aus zu aktivieren, war aber gescheitert. In der Hoffnung, dies könnte vielleicht doch an der großen Entfernung liegen – was Unsinn war, wie ihm alle Experten versicherten, er aber nicht akzeptieren wollte –, hatte er beschlossen, es »vor Ort« noch einmal zu versuchen. Das Resultat war jedoch dasselbe. Negativ. Keine Verbindung. Die RUBIKON schwieg, und manches deutete darauf hin, dass sie ebenfalls der Zerstörungsorgie zum Opfer gefallen war. Artas trauerte um die Freunde, die sein Leben viel zu kurz bereichert hatten. Aber auch ohne ein Lebenszeichen von ihnen beschloss er, tiefer in die Milchstraße vorzustoßen, um herauszufinden, was dort vorging. Die Auswertung der Daten, die die PERSPEKTIVE ermittelt hatte,
in Zusammenspiel mit dem, was die Bojenortungen ergeben hatten, führte zu einem Sternensystem, das in den irdischen Karten als Butterfly-System verzeichnet war. Von diesem mutmaßlichen Zentrum aus, so hatte es den Anschein, breitete sich die Spur der Vernichtung ringförmig nach allen Seiten aus. »Es ist nicht anzuraten, in die Einflusssphäre dieser ständig wachsenden Zone zu geraten«, warnten die Experten. »Nach allen bisherigen Feststellungen nimmt sie Einfluss auf energieführende Systeme.« »Ist das der Grund für die Zerstörungen?« »Wir sind noch dabei, das zu ermitteln.« Artas gab sich damit zufrieden. Zumindest für den Moment. Er gab den Befehl, einen Sektor im Perseus-Arm anzufliegen, der noch gefahrlos zu erreichen zu sein schien. Allerdings erwies sich das als fatale Fehleinschätzung – wenngleich die Gefahr ein völlig unerwartetes Gesicht hatte. »Achtung – wir werden angegriffen!«, meldete die Ortung. Und dann brach auch schon ein Gewitter aus Kampfstrahlen über die PERSPEKTIVE herein.
Die Angreifer hatten grün schillernde Schiffe von nicht gerade imposanter Größe, die sich durch eine Ringkonstruktion auszeichneten, die von einer Art Steg durchlaufen wurde. »Schildstatus?«, rief Artas. »Hält stand. Wie es aussieht keine Gefahr, selbst bei gebündeltem Beschuss aller Angreifer gleichzeitig.« Diese Auskunft beruhigte Artas ein wenig, wenngleich er ihr nicht in vollem Umfang traute. Noch wussten sie zu wenig über die Unbekannten, um absolut verlässliche Prognosen wagen zu können. »Sollen wir zurückschlagen?«, fragte der Waffenspezialist. Die PERSPEKTIVE verfügte über vielfältige Waffensysteme, die den dreisten Angreifern allesamt überlegen zu sein schienen. Am effektivsten war dabei ein Projektor, der Ebenbilder der PERSPEKTIVE erschuf, die voll kampftauglich waren. Mit seiner Hilfe konnte
ein einziges Magnetschiff eine ganze Flotte gegen Aggressoren aufbieten. Diese wurden in aller Regel schon von der Verwirrung geschwächt, die um sich griff, wenn eine »Geisterschaltung« aktiviert wurde. »Nein«, erwiderte Artas. »Wir versuchen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Vielleicht werden wir gerade Opfer einer Verwechslung. Wir kennen diesen Schiffstyp nicht. Es gibt also keinen logischen Grund, uns vernichten zu wollen.« »Manche Gegner brauchen dafür keinen anderen Grund als den, alles und jeden, der ihnen in die Quere kommt, auszuschalten«, mischte sich Marnjan, der Sprecher der Bordloge ein. Artas machte eine Geste der Zustimmung. »Wir versuchen es trotzdem. Ein Kontakt könnte Aufschluss über die hiesigen Geschehnisse geben. Vielleicht wissen die Unbekannten mehr über die Hintergründe der Zerstörungswelle, die selbst von Mara Ronda aus anzumessen war.« »Oder«, gab Marnjan zu bedenken, »sie sind die Urheber.« Das, musste sich Artas eingestehen, konnte durchaus der Fall sein. Und wenn dem so war, würden sie wohl nicht umhinkommen, die Einschätzung der Lage, in der sie sich befanden, noch einmal neu zu überdenken. Denn dann mochten die Unbekannten vielleicht doch sehr viel ernster zu nehmen sein, als bislang geglaubt. Und wie um seinen Gedankengang zu bestätigen, ließen sie in diesem Moment die Fassade der Harmlosigkeit fallen. »Fremdeinwirkung auf alle Systeme!«, rief jemand. »Details!«, verlangte Artas, der sofort umschaltete. »Etwas scheint in unsere Systeme eingedrungen zu sein – von außen!« »Die Angreifer?« »Alles spricht dafür.« Bei den Heiligen Seen von Mon-Jamar, dachte Artas. Ihr lasst mir keine andere Wahl. Laut fragte er: »Irgendeine Reaktion auf unsere Kontaktbemühungen?« »Keine.«
»Dann«, sagte er düster, »tut es mir leid für sie. Fremdeinwirkungsmechanismen stellen und isolieren. Danach Aktivierung der Geisterschaltung!« »Waffensysteme gehorchen nicht. Fremde Agitatoren in unserem System widersetzen sich der Isolation. Externe Angriffe werden verstärkt. Schilde an der Belastungsgrenze.« Artas vergaß die Heiligen Seen endgültig. »Marnjan – Vorschläge?« »Magnetsprung«, sagte der Logenmeister. »Das letzte aller Mittel. Aber du weißt, Herr, dass dabei schwerste Überlastungsschäden an den Aggregaten zu erwarten sind.« »Wie hoch stehen unsere Chancen, ohne einen solchen Sprung davonzukommen?« »Wenn die Fremden uns vernichten wollen, wird ihnen das gelingen. Sie nutzen die Blockade unserer Waffensysteme, um ihre eigenen Angriffe noch punktgenauer zu führen. Außerdem haben sie Verstärkung bekommen. Unsere Ortungssysteme messen plötzlich die fünffache Angreiferzahl an …« Damit war für Artas die Entscheidung gefallen. »Magnetsprung!«, wies er den Logensprecher an. Die ihm unterstehenden Magnetmeister kamen dem Befehl sofort nach. Die PERSEKTIVE und sämtliche sie umlaufenden Trabanten wurden aus dem Raum-Zeit-Gefüge gerissen und über eine mehrere Lichtjahre große Distanz geschleudert. Kräfte, die sonst dazu dienten, die PERSPEKTIVE kontinuierlich anzutreiben, droschen das Schiff jetzt regelrecht durch den Sternenraum. Von einem Moment zum nächsten waren die Angreifer verschwunden und die akute Gefahr damit nach satogischem Ermessen beseitigt. Den Satoga selbst war jedenfalls kein Verfahren bekannt, um den Zielpunkt eines Magnetsprungs anzumessen. »Wir haben es geschafft«, stöhnte Artas, nachdem die Schmerzen, die der brutale Akt nach sich zog, wieder abgeklungen waren. »Status!« »Schwerste Schäden an allen Systemen«, meldete seine Mannschaft. »Die Fremdbeeinflussung der Systeme wurde jedoch soeben
ausgeschaltet. Nachdem die Angreifer außer Reichweite waren, griffen unsere Gegenmaßnahmen sofort. Die Gefahrenherde wurden isoliert. Offenbar bedurften sie der direkten Lenkung durch die Besatzungen in den Ringschiffen.« Wenigstens das war eine gute Nachricht. »Standortbestimmung!«, ordnete Artas an. »Höchste Alarmbereitschaft.« »Wir befinden uns ganz in der Nähe eines planetenreichen Doppelsternsystems«, kamen erste Informationen. »Insgesamt vierzehn planetengroße Umläufer bei dem einen Stern, vierundvierzig beim anderen. Die Sonne mit weniger Umläufern weist einen Sauerstoffplaneten auf, auf der vierten Bahn.« »Vorsichtig ansteuern.« Artas ahnte noch nicht, dass mit diesem Befehl ein Unheil seinen Lauf nahm, das weit mehr bedrohte als die PERSPEKTIVE und ihre Besatzung. Das Verderben, das dort lauerte, würde das Gesicht einer ganzen Galaxie verändern.
»Wenn wir nicht versprochen hätten, der Milchstraße den Rücken zu kehren, was jedwedes Kolonisationsprogramm angeht«, sagte Artas beim Anblick der grün schimmernden Welt, die ummantelt war von saftigem Dschungel und nur hier und da unterbrochen wurde von kleineren Seen, »würde ich sagen: Dies wäre eine ideale Siedlungswelt für Satoga.« Der Sprecher der Loge pflichtete ihm bei, gab aber zu bedenken: »Und wäre da nicht der ungeklärte Flächenbrand, der durch diese Spiralgalaxie jagt. Er wird diese Koordinaten über kurz oder lang erreichen. Die Welt, wie sie jetzt ist, wird darunter wahrscheinlich keinen Schaden nehmen. Aber wäre sie von uns kolonisiert, würden wir vermutlich sterben. Unsere Energieerzeuger –« »Es war nur ein Gedanke«, unterbrach ihn Artas. »Natürlich hast du recht.« In diesem Augenblick wurde das seltsame Phänomen an der Oberfläche entdeckt.
»Was ist das?«, fragte Artas. »Wolken, Hochnebel?« »Weder noch«, behauptete die Ortung. »Das Phänomen widersetzt sich allen Versuchen, seine Schleier zu durchdringen. Unsere Instrumente messen nichts an. Gar nichts. Als wäre da unten tatsächlich eine Zone … die aus absoluter Leere ohne jede Eigenschaft besteht.« »Mitten im saftigen Grün des Dschungels?« »Die Fernbeobachtung liefert dafür keine Erklärung.« »Wie lange werden wir zur Reparatur der entstandenen Schäden brauchen?«, fragte Artas. Der zuständige Satoga nannte eine Spanne, die nicht sonderlich groß war. Aber ein wenig in Geduld üben würden sie sich schon müssen. »Gut, wir bleiben im Orbit, den wir so austarieren, dass wir dieses ›Nichts‹ einmal bei jeder Umrundung überfliegen. Vielleicht gelingt uns ja doch noch eine Analyse. Ich mag keine ungeklärten Phänomene.« »Verstanden.« Die Navigation korrigierte den Orbitalkurs. Kurz darauf überflog die PERSPEKTIVE das absonderliche Gebiet zum ersten Mal … … und geriet augenblicklich in einen unseligen Sog. »Krafteinwirkung!«, rief der Satoga an der Ortungskonsole mit schriller Stimme. »Wir wurden … von einer unbekannten Kraft erfasst, die uns festhält … nein, sie zieht uns hinab zur Oberfläche.« Du meinst hinab in das Phänomen, korrigierte ihn Artas. Er begriff ihre Pechsträhne nicht. Seit sie Mara Ronda verlassen hatte, stand keine ihrer Unternehmungen unter einem guten Stern. »Sofort Gegenmaßnahmen treffen! Maximalschub zur Befreiung!« »Wir sind bereits auf Maximalschub! Die Anziehung zeigt sich davon unbeeindruckt!« »Marnjan!« Der Logensprecher eilte herbei. »Herr?« »Wir müssen noch einmal alle Kräfte bündeln, um einen weiteren Magnetsprung zu initiieren …« »Unmöglich, Herr!« »Unmöglich?«
»Zu viele Kontrollelemente sind ausgefallen. Einen zweiten Sprung kann niemand überstehen. Die PERSPEKTIVE würde ohne die Potenzialausgleicher auseinandergerissen.« »Dann – werden wir sterben.« Artas schaffte es, seine Stimme beherrscht klingen zu lassen. »Es gibt immer noch eine minimale Hoffnung. Wir wissen nichts über –« »Wir sollten uns den Realitäten stellen. Sammeln wir uns zur letzten Segnung.« Marnjan rief die anderen Besatzungsmitglieder zusammen, während das Magnetschiff dem Untergang entgegentrudelte. In tiefe Meditation versunken, unterstützt von rituellen Gesängen und Düften, tauchte die PERSPEKTIVE wenig später in das hungrige Nichts ein.
Alle Gesänge erstarben abrupt. »Sog verschwunden«, meldete eine Automatik. »Sinkflug stabilisiert.« Artas fand nur mühsam in die Wirklichkeit zurück. Oben am »Himmel« erschien das Bild einer Ebene, auf der prachtvolle Vegetation gedieh. »Wie ist –«, setzte er an. Sein Blick suchte den Logensprecher. »Marnjan. Sind wir doch noch einmal in einen Magnetsprung gegangen?« Der Logenmeister verneinte. Er wirkte nicht minder verblüfft wie Artas. »Aber … was ist dann passiert?« »Wir befinden uns jedenfalls nicht mehr über dem ursprünglichen Planeten. Diese Oberfläche hier unterscheidet sich in vielen Details …« »Könnte das Phänomen eine Art Transmitter gewesen sein?«, fragte Artas. »Alles spricht dafür, dass die PERSPEKTIVE räumlich extrem versetzt wurde«, bejahte Marnjan.
Artas' Erleichterung überstrahlte die Sorge um das neuerliche Rätsel. »Wir landen.« »Bist du sicher, Herr? Sollten wir nicht lieber –« »Wir landen!« »Verstanden.« Kurz darauf setzte die PERSPEKTIVE unweit eines gewaltigen Kuppelbaus auf. »Es gibt hier einheimische Intelligenzen«, sagte Artas. »Sendet auf allen Frequenzen. Betont, dass wir in Frieden kommen.« Seine Mannschaft gehorchte, eine Antwort wurde von den Antennen nicht aufgefangen. »Wir orten noch weitere dieser Bauten. Sie könnten uralt sein. Ihre Erbauer müssen nicht mehr am Leben sein.« »Ich bin entschlossen, es herauszufinden«, sagte Artas. »Während die PERSPEKTIVE generalüberholt wird.« Er stellte ein Erkundungsteam zusammen, das in den Kuppelbau eindrang. Dazu musste Gewalt angewendet werden, ein Zugang wurde nicht gefunden. »Hier ist alles überaus verwirrend«, meldete Solvar, der Leiter des Teams. »Man hat fast den Eindruck, sich in etwas Lebendigem zu befinden, das ständiger Veränderung unterworfen ist. Ein Korridor kann sich blitzschnell in einen Raum verwandeln. Und umgekehrt. Es gibt allerdings keinerlei Hinweise auf Bewohner. Wir sollten –« Die Verbindung brach ab. »Solvar!« Der Satoga meldete sich nicht mehr. Dafür sagte ein Mitglied der Mannschaft: »Der Kuppelbau beginnt zu pulsieren. Unsere Leute müssen irgendetwas in Gang gesetzt haben. Er … er löst sich auf!« Und was ist mit meinem Team?, dachte Artas starr vor Entsetzen. In diesem Augenblick wurde die Außenhülle der PERSPEKTIVE von einer Unzahl winziger Projektile durchbohrt. Parrasstahl, einfach durchschlagen?? Artas fror plötzlich, wie noch nie in seinem Leben. Er durchquerte den Raum, stieß ein Logenmitglied an, dessen rie-
siger Kopf bedenklich ins Wanken geriet und der ihn nur ungläubig ansah. Ungläubig … oder schmerzerfüllt? Aus dem Nacken des Satoga ragte ein seltsames Ding. Bevor Artas sich jedoch näher damit beschäftigen konnte, sah er ein identisch gebautes Teil auf sich selbst zurasen. Es bohrte sich in seine Brust. Er fühlte sich von einem verführerischen Schwindel gepackt. Seine Umgebung schien sich um ihn zu drehen. Er bemerkte noch einen ganzen Schwarm dieser Geschosse, die sich andere Mannschaftsmitglieder auswählten, dann … … versank alles in einem Wirbel, der wenig Zweifel daran ließ, dass Artas nie mehr erleben würde, was Lorcan aus der jungen, aufstrebenden Kolonie in Mara Ronda formte …
Artas schüttelte sich. Was …? Wo … bin ich? Was für eine absurde Frage, dachte er. Er selbst hatte den Kurs befohlen. Und nur noch wenige Lichtjahre trennten sie von dem Gebiet, in dem eine neue Satoga-Gemeinschaft heranwuchs. Mara Ronda. Der Erkundungsflug hatte nichts Neues ergeben. Die Milchstraße, Heimat der Menschen, wurde von einer Naturkatastrophe ungeheuerlichen Ausmaßes heimgesucht. Sicherheitshalber würde Artas verbieten, sie je wieder anzusteuern. Er konnte nur hoffen, dass Mara Ronda nie von einer ähnlichen Zerstörungswelle heimgesucht werden würde. Noch vor Erreichen des Zielgebietes stellte er Funkkontakt zu Lorcan her. Der Freund war erfreut, von ihm zu hören. »Endlich! Niemand glaubte mehr –« »Ja, wir waren länger unterwegs als wir es wollten. Doch es gab so viel Elend. Wir versuchten zu helfen, wo es ging …« »Ich verstehe. Wir haben viel zu bereden. Und …« »Ja?«
»Du wirst die Kolonie, die du verlassen hast, nicht wiedererkennen. Wir pflegen inzwischen regen Handel und Technologieaustausch mit den JORR-Völkern. Ich hoffe, das ist in deinem Sinne.« Artas lächelte. Wozu seine nächsten Worte, kalt hervorgepresst, nicht passen wollten. »Die JORR sind die Pest«, sagte er. »Es wird Zeit, dass wir andere Saiten aufziehen. Aber ich bin ja bald da. Sorge dich nicht.« Er rieb sich über den Zapfen, der noch immer aus seinem Brustbein ragte. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Danach wirst du verstehen, was zu tun ist. Frieden ist keine Lösung. Mein Mitbringsel wird dir die Augen öffnen …« Lorcans Augen standen schon nach diesen Sätzen weit offen. Vor namenlosem Entsetzen.
4. Kapitel Die blutschwarzen Pfeiler ragten himmelweit in die Höhe. Um sie herum brodelte die Luft. Jeder Atemzug war pure Qual. Der kranke Schimmer des Lichts brannte sich tief in die Augen, und die Fäulnis, die ihm anhaftete, war körperlich spürbar. Alles an dieser Umgebung, die sich im schwärenden Dunst verlor, wirkte falsch, verdorben … und wie der Blick in eine abseitige Welt, die in diesem Universum nichts zu suchen hatte. Was daran liegen mochte, dass sie dieses Universum auch längst verlassen hatte … Yael schrak aus seinem Schlaf auf und lallte mit schwerer Zunge: »L-licht …« Schlagartig wurde es hell in der Hütte, die aussah, als hätte ein Narge sie mit primitivstem Werkzeug gebaut. Die Wahrheit war wesentlich ernüchternder: Das Schiff hatte sie erschaffen, genauer gesagt Sesha, die allgegenwärtige künstliche Intelligenz der RUBIKON. Yael räusperte sich mehrmals und machte ein paar unbeholfene Bewegungen in seinem Schlafgeschirr, dessen Metallteile gegeneinanderschlugen und wie ein Glockenspiel klangen, das niemand bestellt hatte. Es machte den Jungnargen noch nervöser, und je unkontrollierter seine Bewegungen wurden, desto mehr verhedderte er sich in dem von der Decke herabbaumelnden Konstrukt … bis er sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als mit schriller Stimme zu rufen: »Guma Sesha! Befreie mich …!« Die Arretierungen öffneten sich, und Yaels fast erwachsen großer Körper stürzte auf den vermeintlichen Holzbretterboden. Yael schlug sich die Knie und Ellbogen auf – und schon im nächsten Moment deckten ihn die erlahmenden Flügel zu, die einmal hektisch geschlagen hatten, dann aber, wie von einem Paralysestrahl getroffen, erlahmten. Yael quetschte einen Fluch aus der Kehle, von dem sein Elter nicht
einmal ahnte, dass er ihn kannte, und blieb für eine ganze Weile einfach nur still und regungslos liegen. Schließlich fragte Sesha, ohne dass man der Stimme der KI ehrliche Besorgnis hätte attestieren können: »Ist alles in Ordnung – oder soll ich ein paar Bots schicken, die sich um dich kümmern?« Yael kannte die wuselnden Robothelfer, die an vielbeinige Metallspinnen erinnerten, inzwischen aus eigener Anschauung. Zuletzt war er ihnen begegnet, nachdem die RUBIKON ihn auf Portas geborgen und weg von der Schwellenwelt gebracht hatte. Vorgänge, die er nur aus den Erzählungen anderer kannte. Er selbst erinnerte sich an keinen einzigen Moment auf der Verbotenen Welt des AngkSystems, von wo man ihn aufgefischt hatte … nachdem eine ungeklärte Kraft ihn eben dorthin entführte. Sagten die andern. Sagte sein Orham, sagte Jiim … Yael richtete sich abrupt auf. Schmerz stach durch seine Gelenke – vor allem dort, wo die Flügelwurzeln in seinem Rücken ankerten. Er keuchte, sah sich um. Die Hütte war, abgesehen von ihm selbst, leer. Nicht einmal eines der Holos, mit denen Sesha andere lebende Nargen vorgaukelte, geisterte durch die Umgebung. Chex etwa, der beste Freund seines Orhams. Yael hatte keine Freunde. ›Noch nicht‹, vertröstete ihn Jiim, wann immer die Rede darauf kam. ›Du musst geduldig sein. Spätestens, wenn wir nach Kalser zurückkehren, wirst du andere Jungnargen kennenlernen. Gleichaltrige, mit denen du das Band der Freundschaft flichtst. Du wirst sehen, alles wird anders, wenn wir erst einmal Heimatluft atmen.‹ Zum Ende dieser kleinen Ansprache hin wurde Jiims Stimme immer leiser; sie verebbte und erstarb schließlich wie an einem Strand auslaufende Wellen. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass seine Worte gleich zwei Unwägbarkeiten enthielten. Zum einen war da Yaels »Alter«, ein Mysterium an sich. Denn so alt, wie sein äußeres Erscheinungsbild suggerierte, war er beileibe nicht. Dass er bereits wie ein fast erwachsener Narge aussah, lag einzig und allein an der fast explosiven Wachstumsgeschwindigkeit, mit der Yael nicht nur sei-
nen eigenen Orham, sondern die ganze RUBIKON-Besatzung überrascht hatte. Sesha eingeschlossen. Nicht einmal die KI hatte eine Erklärung für den Reifeschub anzubieten, mit dem Yael aufwartete. Jiim hingegen schien der festen Überzeugung zu sein, dass sein Nabiss etwas damit zu tun hatte – zumal sich die goldene Ganfrüstung, die er noch auf Kalser in einer der Toten Städte erhalten hatte, ebenfalls aufs Merkwürdigste verändert hatte. Das Hauptmerkmal dieser Veränderung war, dass Jiim die Rüstung seit geraumer Zeit nicht mehr abzulegen vermochte – wie er selbst es seinem Spross erklärt hatte. Für Yael war es ein völlig normaler Anblick. Seit sein bewusstes Denken eingesetzt hatte, bot sich ihm Jiim auf diese Weise dar: mit golden schimmerndem Federkleid, das die Nabiss-Rüstung auf geheimnisvolle Weise vollständig absorbiert zu haben schien. Sie war nach wie vor »da«, nur eben mit dem organischen Gewebe verschmolzen. Sein Fleisch hatte sie assimiliert. Yael verspürte einen leichten Schauder, als er sich dies in Erinnerung rief. Zugleich wanderten seine Gedanken zur zweiten Unwägbarkeit, über die er sich nichts vormachte – im Gegensatz zu Jiim, und die, auf einen simplen Nenner gebracht, besagte: Kalser war nicht mehr Kalser. Die letzten von dort via morphogenetischem Netz empfangenen Bilder- und Wissensschnipsel – bevor die Verbindung kollabierte – hatten ein düsteres Szenario heraufbeschworen. Der Schrund war völlig zerstört worden und ein geheimnisvolles Wesen namens Ustrac hatte die letzten Nargen heimgesucht … Ustrac war, so viel stand wohl fest, Angehöriger eines bizarren Volkes, bei dessen Angehörigen es sich nicht um Geschöpfe handelte, deren Leben auf Kohlenstoffbasis funktionierte, wie es bei organischen Formen allgemein üblich war, sondern auf anorganischem Material, auf Silizium. Diese nach Yaels Verständnis eigentlich »tote«, aber dennoch beseelte und hochintelligente Spezies nannte sich selbst Jay'nac. Die Jay'nac hatten über Jahrzehntausende Krieg gegen eine in einer anderen Galaxie beheimatete Rasse namens Sato-
ga geführt, und erst in jüngster Vergangenheit war diese Fehde beigelegt worden. Jiim hatte viel darüber berichtet, aber letztlich wusste Yael noch immer nicht, was er von den Jay'nac zu halten hatte. Die Tatsache aber, dass die eigentlich untrennbare morphogenetische Verbindung zu den Kalser-Nargen unmittelbar nach Erscheinen Ustracs abgebrochen war, ließ nichts Gutes erahnen. Möglicherweise hatte er den endgültigen Untergang der Eisweltbewohner herbeigeführt, aus welchem Motiv auch immer. Yael streckte sich und schüttelte seine Flügel aus, bevor er sich an die versteckte Automatik der Hütte wandte und ein Glas mit kühlem Wasser bestellte. Es erschien wie von Zauberhand in der dunklen Nische, rechts neben dem großen Fenster, von dem aus der ganze Pseudoschrund zu überblicken war, das ganze, von imaginären Nargen bewohnte Dorf, das nichts anderes als ein perfektes Zusammenspiel von Projektion und Kulissenbauten war, von Sesha nach Jiims Vorgaben arrangiert. Die bordinternen Dimensatoren der RUBIKON erzeugten permanent eine Weite, die den realen Distanzen auf Kalser verblüffend nahekam. Yael hatte in Jiims Begleitung bereits einen mehrtägigen Ausflug (im wörtlichen Sinne!) unternommen und dabei auch eine eisüberzogene Tote Stadt aus der Ferne gesehen. Und es war seltsam gewesen: Obwohl er die vorgegaukelte Welt, in der er seinem Ei entschlüpft war, in Wirklichkeit niemals betreten hatte, fühlte er sich ihr auf bemerkenswerte Weise verbunden – viel mehr jedenfalls als irgendeinem x-beliebigen Raum an Bord dieses Raumschiffes, das von einem Menschen namens John Cloud – Guma Tschonk – befehligt wurde. Yael war gespannt darauf, wie es sich mit dem echten Kalser verhalten würde, falls sie wirklich in nicht allzu ferner Zukunft dorthin reisten – was er allerdings noch nicht so recht glauben konnte.
Die gut 100.000 Lichtjahre durchmessende Milchstraße lag in ihrer ganzen Pracht vor ihnen. Von ihrer Position aus, ziemlich genau
über einer gedachten Mittelachse, war der Besatzung der RUBIKON eine optimale Draufsicht auf die Spiralgalaxie vergönnt, der alle Lebewesen an Bord entstammten – mit Ausnahme des einzigen Gloriden, der in ihrer Gemeinschaft aufgenommen worden war, Borovayn. In der Gesellschaft von Varx hatte er den Weg in die Schiffszentrale gefunden, kaum dass die RUBIKON ihre geplante Position bezogen hatte: im Halo der Milchstraße. Wie auf einem gigantischen Teller ausgebreitet, lag das Sternenmeer da, und erhabener hätte das Gefühl, das der Anblick in den meisten Betrachtern auslöste, kaum sein können. Gut hunderttausend Lichtjahre durchmaß die von hier aus sichtbare »Scheibe«, ihre Dicke bei etwa 3.000 … und im Bereich der zentralen »Ausbauchung« sogar gute 16.000. Umgeben war sie vom galaktischen Halo mit einem Durchmesser von etwa 165.000 Lichtjahren. In diesen Halo eingebettet, existierten etwa 150 Kugelsternhaufen mit sehr alten Sternen sowie großen Mengen an Dunkler Materie – Grundlage des RUBIKON-Antriebs, der diese Substanz in überlichtschnellen Schub umwandelte. Cloud begrüßte die beiden Neuankömmlinge und nahm sich insbesondere für Borovayn Zeit. Der Gloride schien sich damit abgefunden zu haben, der Einzige zu sein, der von der ehemaligen Besatzung der AUGE DES PERIGOR hatte gerettet werden können. Das Schicksal der anderen, einschließlich Ovayran, war ungewiss. Entweder hatten die Treymor sie lediglich verschleppt, oder aber sie waren längst tot. Cloud tendierte dazu, das Schlimmste zu befürchten. »Wir sind so weit«, wandte er sich an Sesha. »Aktiviere das Netzwerk. Zeige uns … eventuelle Zwillingsschiffe der RUBIKON.« »Netzwerk baut auf«, antwortete die KI. »Echos werden ermittelt … Ich blende ein, lege eine Maske über die Echtdarstellung der Milchstraße.« Clouds Blick suchte Scobee, die psychisch angeschlagen wirkte, seit sie von der AUGE DES PERIGOR zurückgekehrt war, dann Jarvis. »Heißt das«, fragte er ins Off, »du bist tatsächlich fündig gewor-
den?« Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er die Holowiedergabe, konnte aber nichts sehen, was wie eine Markierung aussah. »Es gibt wirklich … HAKARs in der Milchstraße?« »Negativ«, sagte Sesha. Er schluckte. »Es handelt sich lediglich um einen einzelnen HAKAR«, fuhr die KI fort. »Und er befindet sich gegenwärtig hier.« Mit dem letzten Wort begann eine rote Markierung zu pulsieren. Nicht im Orion-Arm, in dem die irdische Sonne beheimatet war, sondern im benachbarten Perseus-Arm. »Das hätte ich nicht erwartet«, sagte Jarvis. »Wirklich nicht. Offen gestanden hielt ich das Ganze eher für eine Schnapsidee.« »Ist dieses Resultat verlässlich, Sesha?«, fragte Cloud. »Absolut.« »Vielleicht hast du eine lediglich ähnliche Energiequelle geortet, die –« »Es handelt sich um keine Ortung im eigentlichen Sinn. Deshalb ist das Ergebnis ja über jeden Zweifel erhaben«, sagte die KI. »Ich empfange das völlig fälschungssichere Echo einer Netzwerkkomponente, von dem ich allerdings zugeben muss, dass es schwach ist – viel schwächer, als ich mir erklären kann.« »Offenbar gibt es Störfaktoren.« »Offenbar.« »Aber du hast keine Ahnung, welcher Art sie sein könnten?« »Nein, sonst hätte ich die Möglichkeiten bereits in meine Analyse einfließen lassen.« »Natürlich. Ich vergaß, wie vorausschauend du bist.« Cloud seufzte. »Aber genug des Geplänkels. Genaue Koordinaten des Echos!« Sesha lieferte prompt. »Entfernung von unserem jetzigen Aufenthaltsort?« – Auch hier kamen die Angaben ohne merkliche Verzögerung. Demnach befand sich der ermittelte HAKAR rund 80.000 Lichtjahre entfernt. Für eine Transition ein Katzensprung. Cloud brauchte nicht lange zu überlegen. Sie waren in den Halo gereist, um genau das herauszufinden: ob es noch beziehungsweise wieder Foroneneinheiten in der Milchstraße gab. Jetzt hatten sie zu-
mindest einen Treffer erzielt, und das war in Anbetracht der Umstände mehr, als er tatsächlich hatte erwarten können. Deshalb gab es für ihn jetzt auch kein Zögern. »Wir sehen uns in dem Gebiet, aus dem das Echo kommt, um«, informierte er die Gefährten. »Und wenn wir den HAKAR wirklich finden …« »Was dann, Chef?« Aylea rollte mit den Augen. »… dann wiederholen wir das, was uns schon einmal gelungen ist.« »Du meinst die Übernahme der Kontrolle sämtlicher gegnerischer Schiffssysteme mit Seshas Unterstützung, Guma Tschonk?«, fragte Jiim skeptisch. »Genau das meine ich.« »Vergiss nicht, dass wir es im Leerraum mit einer unbemannten HAKAR-Einheit zu tun hatten. Die dortige KI scheint auch nicht sonderlich auf Zack gewesen zu sein, sonst hätten wir sicherlich kein so leichtes Spiel gehabt«, mischte sich jetzt Jarvis ein, während Jiim plötzlich unruhig auf seinem Platz wurde »Womit ich aber keinesfalls deine Idee oder Seshas Einsatz kleinreden will!«, fügte Jarvis hinzu. »Das solltest du auch tunlichst vermeiden. Sesha kann sehr nachtragend sein. Ich übrigens auch«, flachste Cloud. »Aber es bleibt dabei. Wir sehen uns dort im Perseus-Arm um. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, probieren wir die Übernahme des HAKARs. Wer immer sich dort an Bord befindet, er – oder seine KI – wird uns vieles zu erzählen haben.« Dem widersprach niemand. Cloud fiel Jiims Unruhe auf und fragte: »Gibt es Probleme, Freund?« Der Narge zögerte. »Nicht unbedingt Probleme – zumindest hoffe ich das nicht. Aber Sesha meldete mir gerade, dass Yael aufgewacht ist. Und ich würde gerne –« Cloud verstand sofort. »Natürlich, geh ruhig. Ich verstehe deine Sorge. Yael hat Unbeschreibliches hinter sich. Dass er sich nicht mehr an seine Erlebnisse erinnert, halte ich in diesem Fall für durch-
aus heilsam. Er wird sich sicher erholen, aber er braucht ebenso sicher deine besondere Zuwendung. Geh – du verpasst nichts. Ich weise Sesha hiermit an, dich auf dem Laufenden … Was ist?« Er sah sofort, dass sich Jiim Haltung erneut änderte. Diesmal war es Enttäuschung, die sich auf seinen Zügen widerspiegelte. »Es hat sich bereits erledigt«, sagte er leise. »Inwiefern?« »Er will mich gar nicht sehen. Er wünscht … zumindest hat Sesha es so formuliert … etwas Zeit für sich.« Jiim Brust entrang sich ein gequälter Ton. Zu frisch war noch die Erinnerung an Yaels Bemerkung: ›Ich ertrage deine Nähe nicht.‹ Auch diese Ablehnung schien sich mit dem Verlust seiner Erinnerungen an die Geschehnisse während seines unfreiwilligen Portas-Aufenthalts wieder gelegt zu haben. Doch Jiim knabberte daran nach wie vor, und bei der kleinsten Unstimmigkeit ließ er sich davon frustrieren. »Bei Kindern«, sagte Cloud sanft, »und ich schätze ihn immer noch als Kind ein, auch wenn er eine so rasante Entwicklung vollzogen hat, die uns allen immer noch Rätsel aufgibt, ist es nicht immer ratsam, sie ihren Willen in allen Lebenslagen durchsetzen zu lassen. Jedenfalls bei Menschenkindern nicht.« Jiim sah ihn aus großen Augen an. »Das ist bei Nargen nicht anders. Du meinst also, ich sollte …« »Die Entscheidung liegt bei dir. Du musst wissen, ob du seinen Launen nachgeben willst – besonders in einer Phase, in der er noch keineswegs die Stabilität erlangt haben kann, die er dringend braucht.« Der Narge erhob sich ruckartig. »Du hast recht. Ich gehe. Ich muss ihm beistehen – notfalls gegen seinen Willen.« »Aber sei behutsam.« »Er ist das Blut meiner Herzen – ich würde eher sterben als –« Cloud bremste Jiims Überschwang. »Ich weiß. Geh jetzt. Wir sehen uns …« »Ja«, sagte Jiim, bereits auf dem Weg aus der Zentrale, »wir sehen uns.« Dann war er verschwunden.
Sesha bereitete den ersten Sprung vor, der sie »schräg« in die Milchstraßenebene versetzte. »Neue Position!«, verlangte Cloud. Die Werte wurden visuell eingeblendet. »Noch runde zwanzigtausend Lichtjahre«, kommentierte Cloud, »der Sprung wurde exakt ausgeführt, keine Störungen oder Abweichungen. Demnach könnten wir schon mit der nächsten Transition bis zur Quelle des Echos vorstoßen … nur müssen wir davon ausgehen, dass die Strukturerschütterung angemessen werden kann. Wenn auf dem HAKAR keine völligen Versager sind, wird ihnen so etwas nicht entgehen. Nein, wir springen ›nur‹ bis auf etwa fünfhundert Lichtjahre heran. Außerdem werden wir von nun an in kurzen Abständen die Echokoordinaten überprüfen, um herauszufinden, ob der HAKAR sich merklich bewegt. Bislang gibt es dafür noch keine Anzeichen. Also, Sesha: Nächster Sprung – danach ›weiches‹ Vorantasten ans Zielgebiet via Streaming.« Der Begriff hatte sich seit Neuestem eingebürgert für die überlichtschnelle Fahrt der RUBIKON, die ohne Transition auskam. Dabei glitt das Schiff förmlich auf einem höherdimensionalen Polster dahin, und seine Schwingen bewegten sich, als wäre es tatsächlich ein Rochen, der sich durch die Tiefen eines Ozeans voranbewegte. »Ich bestätige. Der Sprung erfolgt in wenigen Sekunden.« Cloud nickte seinen Gefährten zu, drehte leicht den Kopf und schaute zu Varx und dem Gloriden. »Bei euch auch alles klar?«, fragte er, ohne wirklich eine aussagekräftige Antwort zu erwarten. Borovayn zeigte keine erkennbare Reaktion. Er wirkte nur irgendwie … traurig. Der Sternling hingegen überraschte mit der Bemerkung: »Ich verstehe, warum Sahbu euch vermisste. Ihr seid spaßig. Selbst wenn ihr dem möglichen Tod entgegenreist, verliert ihr nicht euren umwerfenden Humor.«
Yael trank das Glas aus, stellte es zurück und fragte: »Wo ist mein Orham?«
Sesha antwortete prompt: »In der Zentrale. Wir befinden uns im Anflug auf das Gebiet, aus dem das HAKAR-Echo kommt und bereiten gerade eine zweite Transition vor. Aber er wird gerade von mir über dein Erwachen informiert und sich unverzüglich zu dir –« »Nein! Bitte – das braucht er nicht. Ich komme gut zurecht, das wirst du ihm bestätigen können. Ich bin ganz froh, etwas Zeit mit mir allein verbringen zu können. Was meinst du mit HAKAREcho?« Sesha erklärte es ihm in knappen Worten. »Er soll sich die Spannung von mir nicht nehmen lassen. Versprich mir, dass du ihn davon überzeugst, dort zu bleiben. Mir geht es gut. Die Träume …« Er räusperte sich gurrend. »… die Träume darf man nicht überbewerten.« »Du hast wieder geträumt?«, kam die Frage, die er hatte vermeiden wollen, dann aber durch seine Äußerung geradezu provoziert hatte. Er machte einen wegwerfenden Flügelschlag. »Es war kürzer als die Tage davor. Und weniger … beängstigend.« »Du erinnerst dich neuerdings an das Geträumte?« Er machte eine Geste der Verneinung. »Es ist nur ein Gefühl, dass es erträglicher war als sonst.« »Du kennst Algorians Angebot …« Er trat aus der Hütte auf den verandaartigen Vorbau, unter dem eine baumhohe Tiefe lag. Unten bewegten sich Gestalten und gingen ihrem vorprogrammierten Alltag nach. Manchmal – seit er genug Verstand entwickelt hatte – fragte Yael sich, ob nicht auch die Welt jenseits der holografischen Illusion nur eine Täuschung war. Ob nicht auch dahinter irgendein höher entwickeltes Wesen nur an andersgearteten Schaltern und Hebeln manipulierte, um die Illusion eines selbstbestimmten Daseins für die Bewohner dieser Ebene aufrechtzuerhalten. Er hatte darüber noch nie mit Jiim … noch nie mit irgendeinem anderen, nicht einmal mit Sesha, gesprochen. Die Sonne stand milchig trüb im Zenit. Ein schwacher Wind wehte, die Thermik war ideal.
Yael warf sich, ohne nachzudenken, über den Rand des umlaufenden Balkons. Als er aber die Schwingen ausbreitete, geschah etwas, was noch nie zuvor passiert war. Er fand keinen »Halt«. Seine Flügel griffen ins Leere – als hätte eine perfide Macht soeben mit einem Fingerschnipsen die Atmosphäre von Pseudokalser gegen das Vakuum des Weltalls ausgetauscht. Wie ein Stein fiel Yael dem eisenharten Grund entgegen. Doch wenige Handbreit über dem Boden blieb er plötzlich in der Schwebe hängen. Eine lachende Stimme rief: »Jetzt haste dir in die Federn gemacht, was?« Yael versuchte, sich mit rasenden Herzen aus der Schwebe zu lösen. Doch zunächst wollte ihm das nicht gelingen. Er war wie gefesselt. Aus der Deckung des Baumstamms löste sich eine Gestalt. Ein Mensch, jung, wenn Yael das richtig einschätzte (die Flügellosen sahen für ihn bislang alle irgendwie gleich aus). »Hast du … das gemacht?«, kam es ihm über die Lippen. »Klar!« Das Menschenjunge baute sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor ihm auf. »Klasse Trick, oder?« Yael glaubte nicht eine Sekunde, dass es sich lediglich um einen Trick handelte. Und er ärgerte sich maßlos, denn mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass sich dieser … Mensch nur einen derben Scherz mit ihm erlauben wollte. Die Wut färbte Yaels Flügelspitzen dunkel. Er wünschte sich, er hätte es dem Idioten zurückzahlen können. Er wünschte – Plötzlich war alles anders. Plötzlich … stand Yael, und zwar hinter dem Halbstarken! Der starrte immer noch auf die Stelle, wo Yael gerade noch knapp über dem Boden gehangen hatte. »Buhh!«, machte Yael, so laut und heftig er konnte, gleichzeitig versetzte er dem Menschenjungen einen Stoß in den Rücken und feixte ihn grimassenschneidend an, als dieser im Fallen das Gesicht zu ihm drehte …
Der Schreck auf dem Gesicht des anderen entschädigte Yael für alles, was er selbst gerade mitgemacht hatte. Er entspannte sich und stellte sich über den Gestürzten, der ihn sprachlos vor Entsetzen anstierte. Schließlich gab Yael sich einen Ruck, beugte sich leicht vor und streckte dem Witzbold seinen Arm entgegen, der mit dem Flügel verwachsen war. Er tat das offenbar eine Spur zu forsch, denn der Gefallene kroch mit Panik im Blick rückwärts von ihm weg und geriet dabei in gefährliche Nähe der Abbruchkante des Schrunds. Der dort gähnende Abgrund war nicht nur täuschend echt holografiert – er war tatsächlich eine tödliche Gefahr für Lebewesen, die keine Flügel besaßen … oder nicht damit umgehen konnten. Und Menschen mochten für vieles, aber nicht für ihre Flugfähigkeiten bekannt sein; jedenfalls nicht ohne entsprechende technische Hilfsmittel. »Stopp!«, rief Yael dem Halbwüchsigen zu. »Bleib, wo du bist, sonst passiert ein Unglück! Ich will dir nichts tun! Bei Marons kalten Kindern, bleib!« Doch es war schon zu spät. Der andere musste taub sein – oder völlig hysterisch ob des gerade Erlebten. Er rutschte immer weiter, und noch bevor Yael den eigenen Schrecken in sinnvolle Aktion umsetzen konnte … … war er über die Bruchkante gerutscht und stürzte mit gellendem Aufschrei in die Tiefe. Yael brauchte eine Sekunde, um seine Lähmung abzuschütteln. Die Dimensatoren hatten einen Abgrund erschaffen, den ein Mensch unmöglich überleben konnte, wenn er in freiem Fall unten aufschlug. Der Narge wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als sich selbst über den Rand des Schrunds zu werfen und die Aufwinde zu nutzen, um seine Schwingen auszubreiten. Dadurch erlangte er freie Sicht auf das Menschenjunge, das immer kleiner wurde, je tiefer es fiel. »Sesha!«, rief Yael heiser. »Melde dich! Siehst du das? Er stirbt, wenn du nicht eingreifst! Fang ihn auf!«
Im nächsten Moment kam der Fallende nicht nur zum Stillstand, er wurde sogar auf A-Grav-Polstern wieder nach oben getragen. Yael gab sich seiner Erleichterung hin und landete selbst wieder oben bei den Baumhäusern nahe der Abbruchkante. Kurze Zeit später setzte das Menschenjunge ganz in der Nähe auf und blickte zu Yael herüber. Inzwischen hatten sich auch andere Bewohner des Baumdorfes – keiner von ihnen greifbarer als ein Schatten – versammelt, um über das Geschehene zu tuscheln. Yael achtete nicht auf sie. »Danke, Sesha. Das war in allerhöchster Not …« Die Stimme der KI antwortete: »Du brauchst mir nicht zu danken. Ich habe nichts getan.« Auch das Menschenjunge hatte offenbar die Worte gehört. In diesem Moment huschte über das gerade noch verstört dreinblickende Gesicht ein gänzlich anderer Ausdruck: diebisches Vergnügen. Gleich darauf begann der »Gerettete« schallend zu lachen. Yael stand da wie ein begossener Luffwurm. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er das dringende Bedürfnis, jemanden gehörig zu vermöbeln.
Für einen Moment war Cloud wie vom Donner gerührt. »Du kennst … Sahbu?« Der Sternling machte eine Geste, die selbst für einen Menschen als klare Bestätigung zu deuten war. »Und Paula, Macie, Caroux …« Cloud spürte, wie ihm der Hals trocken wurde. Er suchte die Blicke der Freunde, musste aber feststellen, dass es ihnen nicht besser erging als ihm – jeder, der die gerade Genannten gekannt hatte, wurde schlagartig ernst, ganz besonders Scobee, für die es noch kürzer zurücklag, dass sie ihnen in die Augen geschaut, ihre Stimmen gehört und ihre ersten Gehversuche auf Angk I gesehen hatte. Das Schlimme war: Auch Cloud hatte zumindest Sahbu und Paula noch in frischester Erinnerung. An die anderen Namen konnte er sich nicht auf Anhieb entsinnen, ihnen jedenfalls nicht gleich die
passenden Gesichter zuordnen – aber natürlich hatte er mit ihnen hier an Bord eine ganze Zeit lang gelebt, nachdem Darabim sie ihnen an der Front jenes unseligen Krieges, zwischen dem ganze Völker zerrieben wurden, ausgehändigt hatte. Sie alle waren längst tot, zu Staub zerfallen, hatten sich mit dem Erdreich ihrer neuen Heimatwelten vermischt … oder was immer für eine Bestattungsart sie erfahren hatten. Jahrtausende waren seither im Angksystem vergangen, zahllose Generationen hatten aufeinander aufgebaut, und gewiss konnte sich keiner der heute dort Lebenden an seine Ursprünge im BractonenSystem erinnern. Wobei, was das anging, war Cloud sich nach Varx' Äußerung keineswegs mehr sicher – Kargor und den Tavnern, die in seinem Auftrag auf die Menschensiedler aufgepasst hatten, war diesbezüglich allerhand zuzutrauen, und offenbar hatten sie das Andenken an die Gründer der Angk-Menschheit doch irgendwie in den heutigen Bewohnern verankert. »Das«, seufzte er schließlich, »ist eine Überraschung. Gibt es Aufzeichnungen über den Werdegang der ersten Menschen dort, woher du stammst?« Varx schien kurz zu überlegen. Vielleicht musste er sich erst vergegenwärtigen, was Cloud mit Aufzeichnungen meinte. Die Sternlinge schienen oft sehr abstrakte Vorstellungen von Dingen zu haben, die für andere intelligente Wesen selbstverständlich waren. Schließlich sagte er: »Ich besitze … Aufzeichnungen. Aber nennt ihr das nicht eher … Erinnerungen?« In diesem Augenblick erfolgte die Transition. Die RUBIKON wurde über Tausende von Lichtjahren versetzt … und kehrte in der Nähe einer blutroten Riesensonne in den Normalraum zurück. Für kurze Zeit war Cloud wie alle anderen in den Kommandositzen abgelenkt. »Neuorientierung«, ordnete er an. »Gibt es eine Verschiebung der Echoquelle?« »Negativ«, antwortete die KI. »Position unverändert. Beginne Streaming auf Zielkurs.« Cloud bestätigte. Dann wandte er sich wieder Varx zu. »Du sagtest
vorhin etwas von Erinnerungen in Bezug auf Sahbu. Das kann aber schlecht möglich sein, oder? Ich muss dich da falsch verstanden haben …« »Warum?«, fragte der Sternling, auf dessen schwarzer Haut ganze Galaxien vorbeitrieben. »Weil … weil wir inzwischen wissen, dass Kargor – die Bractonen – Sahbu und seine Begleiter tief in der Vergangenheit aussetzten. Du müsstest, wenn du sie persönlich gekannt hättest – und das setzt man gemeinhin voraus, wenn man von Erinnerungen an jemanden spricht –, so alt wie die menschlichen Kolonien im Angk-System sein.« »Weder älter noch jünger«, stimmte Varx ihm zu. »Meine erste Erinnerung an mich selbst beginnt in dem Moment, als Sahbu meine Hilfe als Lotse brauchte …« »Wo?«, fragte Cloud, obwohl er es immer noch nicht glauben konnte – oder wollte. »Im Turm auf Angk V, auf Arrankor.« »Hast du für diese Behauptung Beweise?« »Ich muss niemandem etwas beweisen. Ich sage, was ist. Was andere glauben, ändert nichts an dem, was ich weiß.« Cloud musterte ihn mir zusammengekniffenen Augen. »Du verscheißerst mich.« »Gern«, erwiderte Varx, es klang wie ein Seufzen. »Wenn du mir sagst, was ich dafür tun muss.« Scobee konnte nicht mehr an sich halten. Sie lachte kehlig. »Ich glaube ihm.« »Dass er Sahbu persönlich kannte? Dass er so alt ist wie die AngkKolonien? Und dass er jetzt hier bei uns an Bord ist, als Teil der Mannschaft, die Kargor für uns ausgesucht hat?« »Letzteres dürfte unbestreitbar sein. Und der Rest …« Sie zwinkerte ihm zu. »Gib ihm eine Chance.« »Wie meinst du das?« »Lass ihn erzählen, was er von Sahbu weiß. Wie dessen Leben weiterging, nachdem er mit den anderen auf der Angkwelt ausgesetzt wurde. Falls Varx die Wahrheit sagt – und davon gehe ich aus –, ist
er ein Quell von Informationen, die ohne ihn im Wind der Zeit verloren gegangen wären. Zumindest, wenn er ein gutes Gedächtnis hat. Und wer weiß, vielleicht kann er uns nicht nur von Sahbu, Paula und ein paar anderen berichten, sondern eine Chronik erstellen, aus der wir haarklein die Entwicklung und Ausbreitung der menschlichen Population im Bractonen-System nach vollziehen können …« Der Gedanke war mehr als reizvoll. »Nicht jetzt natürlich, aber sobald wir Zeit für historische Aufarbeitung haben«, fügte Scobee mit einem Fingerzeig auf das Ziel hinzu, dessen Koordinaten in die Holosäule eingeblendet waren. »Wir werden sehen. Falls Varx darauf brennt, seine Erinnerungen schon zum jetzigen Zeitpunkt mit jemandem zu teilen, empfehle ich ihm Sesha. Sie ist eine verdammt gute Zuhörerin, die auch so schnell nichts mehr vergisst, was sie einmal in sich aufgenommen hat.« »Gar keine schlechte Idee«, sagte Scobee. »Varx?« »Gern zu Diensten«, sagte der Sternling. »Über etwas Gesellschaft würde ich mich dabei aber freuen. Borovayn?« Der Gloride nickte. »Vielleicht würde eure KI auch mir zuhören, wenn ich sie darum bäte …« Als Varx und Borovayn gegangen waren, meinte Jarvis von seinem Platz aus düster: »Wenn ihr mich fragt, braucht der Junge vor allem eins: einen guten Psychiater. Und ich glaube nicht, dass Sesha dafür die nötigen Referenzen mitbringt. Wenn dem so wäre, hätte ich mir längst selbst einen Termin bei ihr geholt …«
Jiim näherte sich dem Zugang der Kalsernachbildung. Das Schott, das hineinführte, sah unspektakulär aus – zumindest, wenn man von dem freundlichen Warnhinweis absah, dass es dahinter nicht ganz ungefährlich zuging. Jiim lächelte, als er kurz auf das Kreidebild sah, das Yael auf das glänzende Metall der Tür gemalt hatte, um allzu leichtfertige und unbedarfte Besucher zu ermahnen, beim Eintreten die Augen offen zu halten.
Bislang hatte sich jeder daran gehalten, zumal sich die Zahl der Besucher in Grenzen hielt. Jiim betätigte den Türöffner, da sich dieses Schott, wie das einer jeden »Privatkabine« nicht selbsttätig bei Annäherung auftat. Er wollte gerade hinein, als ihn von Sesha besorgniserregende Neuigkeiten erreichten. Er zögerte und lauschte dem knappen Bericht. Dann gab er sich einen Ruck und eilte durch die Schottöffnung … just in dem Moment, da ihm von drinnen jemand entgegenstürmte, der den Weg hinaus suchte. Der Zusammenprall war unvermeidlich. »Yael!« »Orham …« Yael rieb sich die Stirn. Dann rappelte er sich wieder vom Boden auf und fluchte. »Wo ist er hin? Hast du ihn gesehen?« »Wen?« »Charly!« »Charly?« Mitten auf dem Gang erzählte ihm Yael, was seit seinem Erwachen passiert war. Die Sorgenringe um Jiims Auge mehrten sich mit jedem neuen Satz, den er sich anhörte. »Das alles … soll wirklich geschehen sein?« Er wiegte skeptisch die Flügel. »Aber da war niemand, der vor dir aus der Tür kam. Jedenfalls nicht kurz davor …« Yael versteifte sich plötzlich. »Du glaubst mir nicht.« »Ich würde gerne, aber … Sesha schilderte mir gerade etwas, was mich zutiefst beunruhigt. Außerdem meinte sie kürzlich, dass du unter seltsamen Träumen leidest – was dir niemand zum Vorwurf macht, versteh mich jetzt nicht falsch. Es ist sicher schwierig, den ungewollten Abstecher nach Portas zu verdauen. Aber billige mir bitte zu, dass sich das, was du gerade erzählt hast, nach einer Fantasie anhört. Erst recht, wenn ich es mit dem kombiniere, was die KI mir mitteilte …« »Was die KI mir mitteilte«, äffte Yael ihn nach. Er trat einen Schritt vor ihm zurück. Ihn so golden schimmernd vor sich zu sehen, erinnerte Jiim daran, dass er selbst einen ähnlichen Anblick bot – obwohl Gold nie die Gefiederfarbe eines Nargen gewesen war. Aber
seit das Nabiss eine sonderbare Symbiose mit Jiims Körper eingegangen war, wirkte die Ganf-Rüstung mehr wie ein körpereigener Bestandteil denn ein Kleidungsstück oder eine Hightech-Panzerung. Und was Yaels Goldton anging, so war dieser fast noch besorgniserregender: Er hatte ihn von Geburt an gezeigt. Gerade so, als hätte das Nabiss seinen Teil zum Erbgut des Jungnargen beigesteuert … Ein absurder Gedanke. Aber viel mehr noch ein schockierender. »Hör auf, dich wie ein verzogenes Junges zu benehmen. Lass uns lieber gemeinsam versuchen, dir zu helfen. Ich bin hoch besorgt. Jeder Elter wäre das, jeder … Orham.« »Was hat das alles mit Charly zu tun?« »Viel. Es gibt nämlich keinen ›Charly‹!« Yael starrte ihn an, als sei sein Elter der Irre. »Du stellst seine Existenz infrage?«, hauchte er schließlich. »Aber ich habe einen Zeugen – Sesha!« »Yael?« »Sag meinem Orham, was passiert ist. Sag ihm, dass dieser durchgeknallte Neue mich zuerst hat abstürzen lassen und dann selbst beinahe am Grund des Schrunds zerschmettert wäre, wenn nicht –« Er verstummte. Seine Augen glitzerten vor Wut. »Sag es ihm endlich!« »Ich fürchte, dein Elter hat recht, Yael. Es gibt keinen Charly. Du hast ihn dir offenbar nur eingebildet. Ich schlage einen Psychoscan und die Inanspruchnahme von Algorians Hilfsangebot vor.« Yael starrte zur Decke, als könnte er dort Sesha sehen. »Verräterin!«, keuchte er. »Was ist das? Ein Komplott? Wollt ihr mich alle zum Geisteskranken abstempeln? Charly ist real! Ich hätte ihn anfassen können, so wirklich ist er!« »Hast du es getan?«, fragte Jiim und machte eine beruhigende Geste. »Ihn angefasst? Nein! Aber ich hätte können!« Das war das schlechteste Argument, das Jiim jemals gehört hatte, und innerlich erschauderte er. »Komm«, er trat auf sein Junges zu, »lass uns hineingehen und in Ruhe alles miteinander bereden. Ich
werde keine Maßnahmen treffen, ohne sie vorher mit dir abgesprochen zu haben und ohne dass du dein Einverständnis gegeben hast.« Das schien Yael ein wenig zu beruhigen. Er ließ sich durch das offene Schott führen, hinter dem die Welt lag, die er nur aus Erzählungen und von dieser Kulisse her kannte. Jiim wünschte, das hätte sie geändert. Er wünschte, er hätte Yael den Unterschied zwischen Realität und Illusion durch einen Besuch der Urheimat klarmachen können. Denn beides auseinanderzuhalten, hatte er offenbar ein Problem. Ein enormes Problem. Denn kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, blickte Yael in Richtung des Baumdorfes und krächzte mit schriller Stimme: »Da ist er doch … da! Charly …?«
Jiim spürte kalte Hände, die sich um seine beiden Herzen schlossen und zudrückten. Es schmerzte ihn mehr als jede körperliche Verletzung, in welcher Verfassung er sein Junges erlebte. »Yael! Hör auf mit –« Sesha mischte sich ein. »Ich korrigiere mich. Es gibt diesen Charly offenbar doch. Jedenfalls messe ich ein Muster an, das ungefähr dem eines Menschen entspricht. Er steht bei den ersten Häusern und unterhält sich gerade mit dem Chex-Hologramm.« Jiims Blick folgte fassungslos der angezeigten Richtung. Und dort stand tatsächlich ein … Mensch. Er trug Kleidung, wie sie im Angksystem gerade Mode zu sein schien. Zweckmäßig, bequem und außerordentlich bunt. Ideal für jemanden, der keinesfalls übersehen werden wollte. Yael hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und hielt auf den jugendlich wirkenden Menschen zu. Jiim schloss sich ihm an und beschleunigte seinen Schritt. »Sei vorsichtig«, ermahnte er sein Junges. »Und du, Sesha, halte dich bereit, notfalls einzuschreiten. Was Yael von diesem Charly, den ich für ein Hirngespinst hielt, erzählte, klang nicht gerade vertrauenerweckend.«
»Das von Yael geschilderte Erlebnis kann ich nach wie vor nicht bestätigen.« »Darüber wird noch zu reden sein. Aber erst will ich mir das Bürschchen vorknöpfen.« Jiim holte zu Yael auf, und Seite an Seite legten sie die letzte Distanz zu »Charly« zurück. »Naa?«, begrüßte er sie. Aber nur an Yael gewandt, fragte er: »Wollen wir weiterspielen?« »Spielen?«, mischte Jiim sich ein und trat jetzt zwischen sein Junges und den Menschen. Ganz dicht an ihn heran kam er und hob den rechten, mit dem Flügel verbundenen Arm. »Darf ich?« »Was?«, fragte Charly ohne die geringste Scheu. »Dich kurz … anfassen?« »Klar. Wenn's nicht in Schläge ausartet. Dein Filius wollte mich vorhin am liebsten verprügeln. Da war ich schon etwas erschrocken. War doch alles nur Spaß. Irgendwie muss man sich doch kennenlernen – und beim anderen interessant machen.« »Das hast du offenbar mit Bravour geschafft.« Jiim berührte Charly an der Schulter. Der Widerstand war über jeden Zweifel erhaben. Das hier war keine der üblichen Projektionen, mit denen Pseudokalser ausstaffiert worden war. »Bist du einer der Angk-Leute?« Charly zuckte die Achseln. »Muss ich das sagen?« »Es wäre ein Gebot der Höflichkeit. Aber es würde immer noch nicht erklären, warum Sesha solche Anfangsschwierigkeiten hatte, dich wahrzunehmen … Andererseits: Man sagt den Angk-Leuten nach, dass sie möglicherweise besondere Talente besitzen. Könnte sein, dass Seshas Probleme darauf beruhen. Bist du ein Mutant?« »Ein … was?« Charly schüttelte sich und machte: »Brrrr!« Schließlich beruhigte er sich wieder und wandte sich an Yael: »Dein alter Herr hat ganz schön Fantasie. Offenbar glaubt er, ich sei so eine Art Ungeheuer, vor dem man sich in Acht nehmen muss. Dabei will ich doch nur –« »Spielen – ich weiß«, sagte Jiim. »Ich weiß nicht, wie es auf den Angkwelten gehandhabt wird, aber ich weiß ganz gern, mit wem mein Junges Umgang hat. Also?«
Charly kickte einen Stein zur Seite, den Sesha aus echter Materie erschaffen hatte. »Pff«, machte der Mensch. »Ich glaub, ich verschwinde mal wieder. Das hier wird mir zu anstrengend. Wenn du mal wieder Lust auf ein bisschen Zeitvertreib hast«, wandte er sich an Yael, »melde dich. Ich bin nicht nachtragend. Wir könnten hier einiges unternehmen. Da hat sich die KI ja mächtig ins Zeug gelegt. Jetzt fehlen mir nur noch Flügel, und wir könnten einen hübschen Ausflug machen. Mal sehn, vielleicht beim nächsten Mal. Ich passe mich gern an.« Er winkte zum Abschied und trottete ohne ein weiteres Wort Richtung Ausgang aus der Kalser-Illusion. »Stopp!«, rief Jiim ihm nach. »Sesha? Würdest du dich bitte seiner und der Sache annehmen? Ich erwarte Aufklärung über seine Identität – aus rein privatem Interesse, aber auch im Sinne der Schiffssicherheit.« »Verstanden.« Von irgendwoher näherten sich Seshas allgegenwärtige Helfer, die spinnenartigen Bots. Im Nu hatten sie Charly eingekreist und ihm A-Grav-Fesseln angelegt. Er setzte sich nicht zur Wehr, als er abgeführt wurde. »War das nötig?«, fragte Yael vorwurfsvoll, nachdem das ungleiche Grüppchen aus der Kalser-Illusion verschwunden war. »Absolut«, behauptete Jiim. »Aber jetzt ist erst einmal eine Entschuldigung fällig.« »Entschuldigung? Ich sehe nicht ein, dass ich –« »Ich meinte ja auch mich.«
Die RUBIKON näherte sich mit atemberaubendem Überlichtfaktor dem Zielsystem, aus dem das Echo kam. Die Überbrückung der verbliebenen Distanz würde jedoch trotz der hohen Geschwindigkeit mehr als einen Tag in Anspruch nehmen. Cloud gönnte sich eine ausgiebige Schlafphase in seiner Privatkabine, aus der er gerade erwacht war, und sich angezogen hatte, als der Türsummer einen Besucher meldete.
Er trat an das Panel neben dem Schott und aktivierte die Gangansicht. Draußen stand Scobee und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Mach schon auf«, drang ihre Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Sesha sagt, dass du da bist.« Er öffnete. Kaum war das Schott beiseitegeglitten, machte Scobee einen Schritt in den Raum. »Störe ich? Hast du geschlafen?« Er nickte. »Du hast mich geweckt.« »Lügner! Seit wann schläfst du in Vollmontur?« »Ich wusste, dass du vorbeischauen würdest.« »Noch mal Lügner! Dann hättest du garantiert keine Klamotten an.« Sie lachte, und er stimmte ein. Sie wussten beide, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, da sie sich die Einsamkeit erleichtert hatten. Anfangs hatten sie es für echte Gefühle gehalten, doch mehr als Freundschaft war nicht geblieben. Aber es reichte beiden. Oder hatte Scobee es sich doch anders überlegt? Wollte sie mehr? Ein Blick in ihre schalkblitzenden Augen genügten, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Irgendwie erleichterte es ihn. »Komm rein … Ach, entschuldige, du bist ja schon drinnen.« Er grinste breit. »Nimm doch Platz.« »Ich wollte mich nicht lange aufhalten.« »Sei nicht so ungemütlich. Ein Drink?« »Es geht um Jarvis.« »Um Jarvis?« Er hatte eher damit gerechnet, dass sie mit ihm über das HAKAR-Echo sprechen wollte. Oder über diesen Varx. Vielleicht auch den Gloriden oder Ovayrans ungewisses Schicksal. Aber Jarvis? »Ist es dir nicht aufgefallen? Ich meine …« Sie holte tief Luft. »… er sendet unaufhörlich Signale.« »Was meinst du damit?« »Hilfeschreie.« »Hilfe …?« »Hölle, du beweist gerade mal wieder, dass du ein Musterbeispiel von einem Mann bist«, reagierte sie scharf. »Ist das gut oder schlecht?«, trieb er sie noch höher auf die Palme.
»Hör auf damit. Ich weiß, dass du nicht so bist. Du kannst durchaus sensibel sein – dann sei es aber auch gefälligst, wenn es um etwas so Ernstes geht.« »Um Jarvis.« »Exakt.« »Was genau ist mit ihm?« »Er wird immer depressiver.« Er musterte sie eingehend. »Wie kommst du darauf? Er macht seine Scherze wie immer. Ich weiß aber durchaus, dass es Prickelnderes gibt, als so zu leben wie er. Doch abgesehen von der ein oder anderen Sache, die er vermisst, dürfte er doch froh sein, überhaupt noch unter uns zu weilen.« »Und was macht dich da so sicher?« Er starrte sie an. »Ich an seiner Stelle wäre es.« »Du an seiner Stelle wärst längst durchgedreht!« Das hielt er tatsächlich für möglich. Er gab sich einen Ruck. »Okay, ich werde mit ihm sprechen. Ich werde ihm sagen, dass du dir Sorgen machst, wahrscheinlich wegen seiner jüngsten Bemerkung, Sesha als Psychiaterin betreffend. Aber –« »Bist du wirklich so borniert?«, fuhr sie ihn an. »Ist dir wahrhaftig nicht aufgefallen, dass er verkümmert wie ein Pflänzchen, dem zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird?« »Soll ich Jelto zu ihm schicken?« Sie drehte sich mit zornfunkelnden Augen um und stapfte auf das Schott zu, das kaum schnell genug zur Seite gleiten konnte. Er holte sie ein und hielt sie am Arm fest. »Entschuldige. Manchmal ist da etwas in mir, das es genießt, dich zur Weißglut zu bringen. Aber nicht, weil ich dir Böses will, sondern weil du einfach so wahnsinnig anziehend wirkst, sobald du –« »Erspar mir deine Heuchelei.« »Ist es gar nicht.« Sie machte sich los. Er überholte sie und verstellte ihr den Weg. »Okay, du hast gewonnen – und: ja, ich habe es auch gemerkt. Ich will ihn mir schon die ganze Zeit mal zur Brust nehmen, von Mann zu Mann oder von
Freund zu Freund, was dir lieber ist. Ich habe es immer wieder hinausgeschoben, aber das ist keine Lösung. Ich spüre auch, dass er seine seelischen Leiden mit kessen Sprüchen überspielt. Ich kümmere mich darum. Obwohl ich natürlich für sein Hauptproblem auch keine Lösung habe.« »Du meinst seinen verlorenen Originalkörper.« Er nickte. »So toll war der doch gar nicht, oder trügt mich da meine Erinnerung.« Sie stemmte die Fäuste in die Taille. »Fängst du schon wieder an?« »Nein, nein. Friede!« Sie entspannte sich, ließ die Arme locker fallen. »Ich habe da eine vage Idee«, sagte sie leise. »Aber ich will, dass du sie ihm unterbreitest. Sie ist nicht neu. Sesha machte ihm das Angebot schon mal vor längerer Zeit. Damals lehnte er spontan ab. Aber seither hatte er Gelegenheit, nicht nur die offenkundigen Vorteile, sondern auch die Nachteile seines Kunstkörpers zu erfahren. Möglicherweise denkt er heute anders.« »Denkt anders worüber?«, fragte Cloud. Scobee sagte es ihm. »Oh«, machte er nur. »Ich weiß ehrlich nicht, ob man an solchen Dingen rühren sollte.« »Und ich finde, dass wir das ganz und gar ihm überlassen sollten.«
Jarvis mischte sich gern unter die Angk-Bewohner, die die RUBIKON bezogen hatten, als handele es sich dabei um eine leer stehende Stadt, die nur darauf gewartet hatte, sich wieder neu zu bevölkern. Und im Prinzip war es ja auch ganz ähnlich gewesen. Als die RUBIKON noch SESHA hieß, hatten hier die Foronen gelebt – die Flüchtlinge aus der GMW. Und für sie war es genau das gewesen: eine fliegende, raumtüchtige Stadt, die zugleich als Arche diente, um ein Volk vor dem völligen Aussterben zu bewahren. Erstaunlicherweise hatte sich noch niemand richtig mit den Alltagshinterlassenschaften der im Sonnenhof getöteten Foronen aus-
einandergesetzt. All die Kleidungsstücke, Einrichtungsgegenstände und anderen Habseligkeiten jener Spezies, die sich für einzigartig gehalten und – was viel schlimmer wog – wertvoller als alle anderen Lebensformen betrachtet hatte. Um nicht so sehr unter den »Neuen« aufzufallen, hatte er sich einen Trick einfallen lassen. Eigentlich war es mehr als das. Es hing mit Kargors Schuppe zusammen und damit, dass er vor Kurzem einen engeren Zugang dazu gefunden hatte. Viele gescheiterte Versuche lagen hinter ihm, aber schließlich war es ihm gelungen, eine Schnittstelle zwischen Foronen- und Bractonentechnologie herzustellen. Seitdem funktionierte eine gewisse Interaktion, über die er … Wünsche äußern konnte. Ursprüngliches Ziel war es gewesen, die Jarvis-lebt!-Maske so zu gestalten, dass sie auch funktionierte, wenn er selbst sich in einer spiegelnden Fläche betrachtete. Dies jedoch verweigerte die Schuppe aus unbekanntem Grund. Wesentlich zugänglicher hatte sie sich bei der Erfüllung eines anderen Wunsches gezeigt. Und nun wandelte er also unerkannt zwischen den Bewohnern der Raumstadt, die in ihm nicht mehr das Mitglied der Kernbesatzung erkannten, das ihnen bei der Begrüßung mit John Cloud entgegengetreten war. Dieses Inkognito war unglaublich angenehm. Zumal es ihm Gespräche und Kontakte ermöglichte, die ihm als Jarvis wahrscheinlich so nie möglich gewesen wären, da die Neuankömmlinge gehörigen Respekt vor der RUBIKON-Stammbesatzung zu haben schienen. Offenbar hatten die Tavner als ihre Lehrer da etwas tief greifend in ihnen verankert … »Wie heißt du?«, fragte die junge Frau gerade, zu der er sich wie selbstverständlich gesellt hatte. Sie saßen auf einer Brunnenumrandung, die einen Platz zierte, der erst kürzlich von Sesha fertiggestellt und auf die Bedürfnisse der neuen Bewohner abgestimmt worden war. Wasser sprudelte darin, und Jarvis' Blick fand sogar ein paar rotgolden schimmernde Fische, von denen nicht einmal er sagen konnte, ob sie künstlicher Natur
waren oder es sich um echte Lebewesen handelte. Am Himmel hing die Illusion einer Sonne, die sowohl die irdische als auch das Zentralgestirn des Angksystems hätte sein können. Es war warm, ein laues Lüftchen wehte. »Ja… Jarod«, antwortete Jarvis. »Und du?« »Mareica.« »Mareica … Das hört sich schön an. Von wo stammst du, Angk I, II, IIII oder …?« »Von Nomad.« »Das ist Angk II …« Sie nickte. Sie hatte rötliches Haar, war fast schon zu schlank und aufrecht gut 1,90 Meter groß. Ihre eher kleinen Brüste passten zu der sportlichen Figur. Sie trug ein bauchfreies Top und eine seidig, luftige knielang fallende Hose, die fast durchsichtig wirkte, aber kein intimes Detail preisgab. In ihrem Nabel steckte ein Schmuckstein, bei dem es sich, wie Jarvis mühelos erkannte, um einen Kommunikator handelte, wie er auf den Angkwelten zuletzt gebräuchlich gewesen war. Ob er hier an Bord noch funktionierte und überhaupt einen Sinn machte, war fraglich, aber er stand ihr zumindest gut. »Natürlich. Und wo hast du gelebt – ich meine hauptsächlich. Wir alle besuchten nach Möglichkeit ja auch andere Welten der Verknüpfung.« Jarvis rief ab, was ihm über das Angksystem bekannt war – inzwischen, dank Kargor und Scobees persönlichen Schilderungen kam da einiges zusammen. Und das wiederum war in dieser Situation hilfreich. »Ich wurde auf Myron geboren und verlebte dort auch den Großteil meiner Jahre … bevor die Tavner mich auswählten, um diesen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.« »Ja, wie sind wirklich Auserwählte.« Sie lächelte ihm zu. Die Erwähnung Myrons hatte sogar einen Ausdruck von ehrlicher Bewunderung auf ihr hübsches Gesicht gezaubert. Und so war es kein Wunder, dass sie darauf zurückkam. »Ich selbst war nie auf Angk VI, aber ich habe natürlich viel davon gehört. Myron-Stämmige gelten als überaus offen, sowohl dem Leben an sich als auch den schö-
nen Künsten gegenüber. Auf Myron, heißt es, lebten die Gründer. Und leben sie wieder, seit dieses wunderbare Schiff gekommen ist und sie uns zurückbrachte …« Jarvis fühlte sich peinlich berührt, als er merkte, wie sehr Mareica in seiner Lüge aufging. Wie vorbehaltlos sie ihm glaubte und seiner Aufrichtigkeit vertraute. Er räusperte sich. »Ich finde Nomad nicht minder beeindruckend«, sagte er. »Dort gibt es das Archiv der Zeitalter, und werden nicht auch Mortuas hergestellt, Gloriden?« Sie starrte ihn befremdet an, und er begriff seinen Fehler zu spät. »Was soll das sein? Was sind Mortuas – und was ist das Archiv der … Zeitalter? Ein Museum?« Ihm wurde klar, dass die Bractonen den Angkmenschen offenbar nicht alles über die Welten verrieten, auf denen sie lebten. Es gab Einrichtungen, die den neuen Menschen offenbar völlig unbekannt waren. Ehe er etwas erwidern konnte, wurde Mareica abgelenkt. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine Menschentraube, die sich in einiger Entfernung, am Rand des öffentlichen Platzes, gebildet hatte. Jarvis nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen und mit einem Wink auf den Lärm zu sagen: »Ich glaube, da passiert etwas. Ich sehe mal nach.« Er bedauerte es, sie zu verlassen, aber ihm war auch klar geworden, dass er ein Tabu gebrochen hatte. Es war unrecht, Menschen in dieser Weise zu belügen. Als er die Menge erreichte, begriff er schlagartig, was vorging. Cloud und Scobee standen dort, und Cloud hielt ein stiftartiges Instrument in der Hand, das wie ein Miniaturscanner aussah. Jarvis wollte gerade kehrtmachen, um die Begegnung zu vermeiden, als Cloud aufsah und in seine Richtung deutete. »Da!«, sagte er klar vernehmlich. »Das muss er sein!« Auch Scobees Blick richtete sich jetzt auf den Maskierten. »Jarvis?« Er fühlte sich restlos durchschaut und schaffte es sogar, seine Maske erröten zu lassen. Unfähig, sich von der Stelle zu bewegen, warte-
te er, bis die Freunde bei ihm eintrafen. »Warum tust du das?«, fragte Cloud. Und fügte sofort hinzu: »Ich wusste nicht einmal, dass du das kannst!« »Können wir das woanders besprechen?«, fragte er, während er, ohne den Kopf drehen zu müssen, über seine visuellen Module zum Brunnen zurückblickte, wo Mareica immer irritierter wirkte. Sicher fragte sie sich, was Jarod mit der legendären Schiffsführung zu schaffen hatte – denn genau danach, nach einem sehr vertrauten Umgang, sah es für sie zweifellos aus. »Einverstanden«, sagte Cloud. »Mir liegt hier ohnehin etwas zu viel Verehrung in der Luft. Damit muss ich wohl erst umzugehen lernen. Gehen wir zu dir, wenn's recht ist. Der Vorschlag kommt von Sesha …« Jarvis/Jarod zögerte, nickte dann aber. Ohne sich von Mareica zu verabschieden, führte er seine beiden ältesten Freunde in die Kabine, die er bewohnte. Und die ein Spiegel seiner inneren Zerrissenheit war …
»Vielleicht hätten wir uns schon viel früher mal hier zusammensetzen sollen«, meinte Cloud Minuten später mit vielsagendem Blick auf die Staffelei und die überall herumstehenden oder – hängenden Bilder in Jarvis' privatem Reich. »Du hast nie erzählt, dass du in deiner Freizeit malst.« »Es ist auch nicht von Belang.« »Findest du?« Scobee hob ihre tätowierten Augenbrauen. »Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Ich habe mich früher – damals noch im Geheimentwicklungszentrum für GenTecs auf der Erde – sehr für Malerei und Alte Meister interessiert. Es gibt mannigfache Beispiele für Maler, in deren Bildern sich Ähnliches widerspiegelte wie in deinen reichlich abstrakten Motiven hier.« Sie machte eine umfassende Geste. »Albrecht Dürer, Vincent van Gogh, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso; Auguste Renoir, ja selbst der legendäre Leonardo da Vinci hatte, was nur wenige wissen, einen ausgeprägten Hang zur Depression.«
Jarvis, der nun wieder wie Jarvis aussah, nicht wie ein Fremder namens … Jarod, hob ruckartig den Kopf und blickte Scobee an. »Was faselst du da von Depression? Ich bringe Stimmungen auf die Leinwand. Nicht zwangsläufig das, was ich gerade fühle, sondern ich versuche, mich in andere Menschen und deren Befindlichkeiten zu versetzen.« »Das hört sich verdammt an wie die Argumentation eines Süchtigen, der einem Freund erzählen will, dass er genau das nicht ist: süchtig.« Jarvis verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich frage mich gerade, ob es kein Fehler war, euch mitzunehmen und hier reinzulassen.« »Und meine Antwort lautet«, sagte Cloud sanft, »nein. Es war kein Fehler. Wir machen uns Gedanken um dich. Du wirkst stark ambivalent die letzte Zeit. Mal himmelhoch jauchzend, mal …« »… zu Tode betrübt?«, fragte Jarvis fast aggressiv. Er schüttelte heftig den Kopf. »Das will euch aufgefallen sein?« »Ist es«, bekräftigte Scobee. »Und es wundert auch niemanden, dass du Probleme hast, mit deiner Situation zurechtzukommen. Du hast es viel zu lange geschafft, dir selbst weiszumachen, dass es dir gut geht. Irgendwann musste der Bruch kommen. Du bist –« »– eigentlich längst tot«, vollendete er fatalistisch – und plötzlich brach die ganze mühsam aufrechterhaltene Fassade in sich zusammen. »Verdammt, okay, vielleicht habt ihr nicht ganz unrecht. Vielleicht bin ich ein wenig mitgenommen. Und ja, dieser Körper aus kaltem Metall macht mir zeitweise ziemlich zu schaffen. Vorhin zum Beispiel, als ich mit Mareica sprach.« »Wer ist Mareica?« »Ich traf sie dort am Brunnen, kurz bevor ihr gekommen seid. Ich wollte – und Hölle, es gelang mir auch! – mal für kurze Zeit aus meiner Jarvis-Kunsthaut in die eines anderen schlüpfen. Es tat verdammt gut, mal nicht von jemandem wie eine Monstrosität angestarrt zu werden.« »Niemand –«, setzte Scobee an. »Ich weiß, dass ihr es nicht aus Böswilligkeit heraus tut, aber ich
spüre es manchmal, wie mich Einzelne ansehen. Sie bringen mir keine Abneigung entgegen, aber da ist stets Unsicherheit. Sie wissen nicht, wie sie mit einem umgehen sollen, der nur noch Geist ist, welcher durch einen verrückten Schachzug im Körper eines Roboters gelandet ist … der neuerdings auch noch in der Lage ist, die Illusion zu erschaffen, kein Roboter zu sein.« Er verstummte. »Genau aus dem Grund sind wir hier«, sagte Cloud. »Offen gestanden war ich erst dagegen. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich froh, dass du uns endlich dein Innerstes offenbarst. Und vielleicht ist es ja eine Option, was Scob mir vorschlug …« Jarvis' Blick wechselte zu Scobee. »Ein Vorschlag von dir? Du weißt, ich schätze dich sehr, aber wenn es um Vorschläge, mich betreffend, geht, erlaube ich mir, eher skeptisch zu sein.« »Schwafel keinen Mist. Hör's dir einfach an und denk drüber nach. Mehr verlangt niemand.« »Danke, Schwester Erika.« »Schwester Erika?« Zwischen ihren Augen bildete sich eine steile Falte. »Muss ich das verstehen?« Er schüttelte den Kopf. »Lasst hören«, sagte er nur. »Es war schon mal ein Thema – vor längerer Zeit«, sagte Cloud. »Damals hattest du die Idee, ich schätze, nach reiflicher Überlegung, abgelehnt.« »Wenn es so war, wüsste ich nicht, warum ich heute –« »Weil seither viel Zeit vergangen ist. Und du viel gelitten hast. So was kann eine Meinung ändern«, fiel ihm Scobee ins Wort. Er schüttelte den Kopf. Mit Nachdruck. »Ich glaube, ich weiß jetzt, worauf ihr hinauswollt.« »Dann sag es.« »Auf die Möglichkeit … mir meinen Originalkörper wiederzubeschaffen – über einen kleinen Kunstkniff, versteht sich.« Cloud nickte. »Treffer. Sesha sagt, sie könnte dir einen Körper klonen. Aus Material, das –« »Entschuldigt, aber für mich klingt das wie Leichenfledderei!« »Es wäre deine Leiche.«
»Hölle, ich dachte, die wäre längst … weg.« »Ist sie nicht. Sesha hat sie damals in einen Konservationstank eingelagert. Sie befindet sich noch im selben Zustand wie im Moment deines körperlichen Todes.« Jarvis schüttelte sich. »Vergesst es! Niemals!« »Es ist mehr als genug DNA vorhanden, um wenigstens einen Versuch zu starten«, drängte Scobee. »Wir könnten abwarten, wie sich der Klonkörper entwickelt. Ob er gesund bleibt, trotz des künstlich beschleunigten Wachstums. Und wenn er ›fertig‹ ist, könntest du mit Seshas Hilfe und der vorhandenen Foronentechnik –« »Ich lehnte Seshas Vorschlag damals aus gutem Grund ab«, sagte Jarvis erregt. »Wer von euch kann mir versichern, dass der Klon ohne eigenes Bewusstsein heranwächst? Wer? Und was ist, wenn er selbst Geist, Persönlichkeit entwickelt? Lasse ich beides dann durch Sesha ersticken, indem sie mich darüber stülpt? Himmel, das hört sich für mich an wie finsterste Magie oder Alchemie, nicht wie vertretbare Wissenschaft!« »Es geht um dein Leben, deine Chance, endlich wieder glücklich zu werden«, sagte Cloud. »Und damit liegt die Entscheidung natürlich ganz allein bei dir, niemand würde dich zu etwas zwingen wollen, was du innerlich total ablehnst.« »Dann ist ja alles gesagt«, erwiderte Jarvis. »Ich lehne es innerlich total ab. Ich mag Probleme haben, meinetwegen mitunter auch etwas depressiv sein – aber damit muss ich lernen umzugehen und fertig zu werden. Vielleicht schaffe ich es, vielleicht nicht. Aber ich werde keinen anderen Jarvis dafür opfern, dass es dem alten gut geht!« »Dein letztes Wort?« »Mein allerletztes!«
»Wir nähern uns«, sagte Cloud Stunden später. »In wenigen Minuten erreichen wir das Zielgebiet – machen wir uns schon mal seelisch und moralisch auf eine Begegnung mit Foronen gefasst.« »Du glaubst, sie leben noch?«
»Wenn der HAKAR der Vernichtung durch Darnoks Machenschaften entgangen ist, spricht nicht viel dagegen.« Er blickte Scobee an, die mit ihm in die Zentrale gekommen war. »Wie genau willst du vorgehen?« »Das mache ich von den Verhältnissen vor Ort abhängig.« »Es gibt noch ein Problem«, sagte Jiim, der kurz nach ihnen die Zentrale betreten hatte und seither recht einsilbig neben ihnen saß. »Mit Yael?«, fragte Scobee. »Indirekt.« »Und das heißt?« Der Narge erzählte von seiner Begegnung mit »Charly« – und was dem vorausgegangen war. »Warum bin ich davon nicht sofort informiert worden?«, fragte Cloud verärgert. »Das hört sich keinesfalls nach einer Lappalie an. Nach Yaels bislang nicht restlos geklärtem Verschwinden nach Portas, wo wir ihn nur mit viel Dusel aufspüren und wieder an Bord nehmen konnten, sollten wir etwas sensibler reagieren, wenn sich Ungereimtheiten im Zusammenhang mit ihm ergeben. Ich dachte, das sei klar. Und ich als Kommandant möchte darüber auch unverzüglich unterrichtet werden!« »Ich dachte«, erwiderte Jiim nervös, »Sesha hätte es getan.« »Hat sie aber nicht! Sesha?« »Es gab keinen Grund, solange die Untersuchung läuft.« »Wie viele Minuten bis zum Abbruch der Streamingphase bleiben uns noch?« »Exakt fünfzehn Minuten, dreiundvierzig Sekunden …« »Okay, dann will ich jetzt wissen, was Sache ist. Zunächst: Wo befindet sich Yael?« »In der Kalsersimulation.« »Kannst du ihn klar orten?« »Ja.« »Ist er allein? Und mit allein meine ich natürlich keine Hologesellschaft!« »Er ist zurzeit allein.« »Gut. Dann möchte ich jetzt einen Einspieler über das Geschehnis,
das Jiim mir gerade schilderte: Yaels ›Kampf‹ mit Charly bei der ersten Begegnung.« »Es gab da keinen Charly.« »Eben!« In der Holosäule erschien ein Ausschnitt von Pseudokalser. Zu sehen war Yael, der zunächst aus unerfindlichem Anlass, statt zu fliegen, von seiner Baumhütte fiel – und erst knapp über dem Boden von einer unbekannten Kraft aufgefangen wurde. »Wer hat seinen Fall gebremst, du, Sesha?« »Negativ, Commander. Kraft nicht analysierbar. Unbekannt.« Ach, dachte Cloud säuerlich. Aber es gab ja keinen Grund, mich zu informieren … »Weiter«, knurrte er. Als Nächstes war zu sehen, wie Yael sich seltsam am Schrund benahm. Für einen Moment war er aus dem Bild. Dann stand er plötzlich ganz woanders. Und schließlich schwang er sich in die Lüfte über dem Abgrund und forderte Sesha auf, jemanden zu retten, der gar nicht zu sehen war und somit auch nicht in Gefahr schwebte. Kurz darauf sprach er offenbar mit dem Unsichtbaren. »Du bist sicher, dass da niemand war?« »Ich konnte niemanden feststellen, und auch die Aufzeichnung zeigt alles bis auf den Unsichtbaren, den Yael später Charly nannte.« »Der aber laut Jiim dann tatsächlich auftauchte. Als Jiim nach dem Rechten sah.« »Exakt.« »Woher kam er?« »Ich weiß es nicht.« »Und wo ist er jetzt?« »In sicherem Gewahrsam.« »Du hast ihn eingesperrt? Ohne mich –« »Ich wollte das Ergebnis abwarten. Es liegt jetzt vor.« »Welches Ergebnis?« Die Zornesader auf Clouds Stirn schwoll gefährlich an. »Der Abgleich mit der neuen Mannschaft.« »Zeig mir den Knaben – wenn du ihn in sicherem Gewahrsam
hast, dürfte das kein Problem sein.« In der Holosäule öffnete sich ein neues Übertragungsfenster, und Cloud sah einen jungen Mann von vielleicht sechzehn, siebzehn Jahren, der in einem kargen Raum auf einer Bank saß und ins Leere starrte. »Er sieht aus, als wäre er tot.« »Das ist er definitiv nicht. Seine Vitalwerte …« »Will ich nicht wissen. Er sieht harmlos aus. Was ergab der Abgleich?« »Er war, was den Versuch der direkten Identifizierung angeht, negativ.« »Soll das heißen, er kam nicht mit den Angkbewohnern an Bord?« »Es gibt exakte Feststellungen jedes Einzelnen, der aus der Energiestraße materialisierte. ›Charly‹ war nicht darunter.« »Na prima. Und weiter? Gibt es immer noch keine Anzeichen einer Unterwanderung, die Gefahr für das ganze Schiff bedeuten könnte? Immer noch keinen dringenden Grund, mich zu informieren, ohne dass ich erst nachfragen müsste?« »Wie sich die Sachlage jetzt darstellt –« »Ach, hör doch auf!« »Verstanden, Sir.« Cloud ballte die Fäuste. »Mimose! Raus mit der Sprache: Du warst noch nicht fertig. Die direkte Identifizierung war also nicht möglich – aber das klang, als hättest du noch eine Trumpfkarte in der Hinterhand.« »Wenn man es so nennen möchte … Meine Ermittlungen gingen weiter.« »Wie weit?«, fragte Jiim jetzt aufgeschreckt. Offenbar fürchtete er um den endgültigen Verlust jedweder Privatsphäre. »Ich rekonstruierte die Schritte Yaels, seit er von Portas zurück ist und wieder uneingeschränkt auf der RUBIKON verkehren kann.« »Aha«, sagte Cloud und warf Jiim einen beruhigenden Blick zu. »Und was kam dabei heraus?« »Dass er sich seit Erscheinen der Mannschaftsergänzungen häufiger in dem Gebiet aufhielt, das die Neuankömmlinge bezogen ha-
ben.« »Du meinst, er war neugierig und pflegte vielleicht sogar gewisse Kontakte zu Angkmenschen?«, versuchte Cloud es auf einen klaren Nenner zu bringen. Dabei warf er Jarvis einen Blick zu – den er aber sofort bereute. Er hoffte, dass der Freund es nicht bemerkt hatte. »So ist es.« »Und was leitest du daraus ab?« »Das hier …« Die Aufnahme von Charly verschwand, stattdessen erfolgte diashowartig die Vorstellung aller Personen, mit denen Yael offenbar zumindest flüchtigen Kontakt hatte. »Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinaus willst«, sagte Cloud, als die Vorführung endete. »Das alles sind offenbar ganz normale Angkmenschen, die jetzt die RUBIKON mit uns bewohnen und …« »Die Kontaktpersonen sind normal«, bestätigte Sesha. »Aber?« »Das hier weniger.« In der Holosäule zuckten jetzt noch einmal alle Gesichter von Angkmenschen, die Yael getroffen hatte, in aberwitzigem Tempo vorüber. Nur die Gesichter, isoliert vom restlichen Körper und stark vergrößert. Nach einer Weile sah es aus, als würde ein Programm sie miteinander verschmelzen lassen, ihre sämtlichen Merkmale zu einer neuen Kunstgestalt zusammensetzen. Und daraus ergab sich … Zum besseren Verständnis blendete Yael ein Parallelfenster mit Charlys Konterfei ein. Cloud stieß einen leisen Pfiff aus. Auch die anderen, insbesondere Jiim, waren höchst verblüfft. »Das … ist er!«, rann es über die Lippen des Nargen. »Das ist … ›Charly‹!« »Ein Konglomerat aus allen Personen, mit denen Yael seit Erscheinen der Angkmenschen zu tun hatte«, murmelte Cloud. »Ergibt das einen Sinn? Wer oder was sollte diese Gestalt annehmen? Annehmen können? Und warum?« Er wandte sich an Jiim. »Tut mir leid, al-
ter Freund. Aber ich muss Yael mit sofortiger Wirkung unter konsequente Quarantäne stellen. Er darf Pseudokalser vorerst nicht mehr verlassen – bis wir wissen, was hinter dem Charly-Trugbild steckt …« »… das offenbar aus Fleisch und Blut ist«, erwiderte Jiim wie in einem Reflex und ohne Anstalten zu machen, sich gegen die beschlossene Maßnahme zu empören. »Ich habe ihn berührt. Er war keine … Projektion!« »Das macht es nicht besser«, seufzte Cloud. »Es bleibt dabei. Sesha, Vollzug meiner Anordnung. Du bürgst mir für ihre strikte Einhaltung. Jiim? Wenn du lieber zu deinem Jungen gehen willst …?« Der Narge erhob sich bereits. »Ja. Ja, es ist besser. Verständigt mich über wichtige Erkenntnisse um den HAKAR … und auch alles andere betreffend.« Mit diesen Worten entfernte er sich. Kurz darauf kündigte Sesha das Erreichen der Zielregion an. Die RUBIKON ging auf Unterlicht. Vor ihnen lag ein Doppelsternsystem mit 58 Planeten und unzähligen Monden.
Das Friday-System, benannt nach dem Tag der Ankunft, lag ganz in der »Nähe« des angrenzenden Orion-Arms und ziemlich am Zipfel des Spiralarms zum Leerraum hin. Sein Reichtum an Planeten und anderen Umläufern war nicht weiter spektakulär, solche Systeme gab es im Kosmos häufig. Trotz der Menge an Planeten war es eher unerwartet, auch eine Sauerstoffwelt vorzufinden. Sie umlief Friday A in einer höchst exzentrischen Bahn, in deren Verlauf sie einmal pro Planetenjahr bedenklich nah an den Gravitationsbereich von Friday B geriet. Eine geringfügige Bahnabweichung hin zu dem zweiten Systemstern hätte eine Katastrophe auslösen können – doch über die Jahrmilliarden schien es dazu noch nicht gekommen zu sein. Es würde auch in absehbarer Zeit nicht passieren, aber irgendwann mochte dieses Schicksal unausweichlich werden.
Irgendwann. Cloud versuchte, nicht weiter an die Zeit und all das Unheil zu denken, das sie anzurichten imstande war. Allmählich entwickelte er eine Zeitallergie – insbesondere gegen Versuche jedweder Art, Zeit zu beeinflussen. Bislang war noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen. Und er hegte größte Zweifel, dass damit überhaupt manipuliert werden durfte. Aber wer fragt mich schon? Er zwinkerte Scobee zu, die nicht wusste, wie sie zu der Ehre kam, aber zurückzwinkerte. Irgendwie nahm das die Spannung ein wenig heraus. »Was macht unser Tarnfeld?«, wandte er sich an Sesha. »Steht störungsfrei. Eine Ortung mithilfe uns bekannter Techniken ist nicht zu erwarten.« »Auch nicht durch ein Schiff, das fast identisch mit unserem ist?« »Du sagst es selbst: fast. Es gibt, wie du weißt, sehr wohl Unterschiede, frappante sogar. Nimm als Faustregel, dass das Original der Kopie immer überlegen ist.« »Das hört sich gut an.« Sie durchstießen die imaginäre Grenze der äußersten Planetenbahn von Friday A. Von den 58 Planeten entfielen auf die A-Sonne nur ganze 14, der Rest umlief das B-Gestirn. Die Sauerstoffwelt war der vierte Planet, von der Sonne aus gesehen, und gleichzeitig war dies die Quelle, die Cloud hierher gelockt hatte – der Ausgangspunkt des Echos, dem sie nachjagten. »Befindet sich der HAKAR im Orbit um A-4?«, fragte Cloud, der es in diesem Fall vorzog, sich nicht hinter das hermetisch abgeschlossene Gehäuse eines Kommandositzes zurückzuziehen. Er wollte in Blickkontakt mit seinen Freunden bleiben. Die KI antwortete: »Negativ. Das HAKAR-Echo stammt von der Oberfläche, ist aber seltsam verzerrt – wie ich es schon bei der Erstfeststellung andeutete.« »Schiffe wie die RUBIKON oder dieser unbekannte HAKAR sind eigentlich nicht dafür geschaffen, um auf Planetenoberflächen zu
landen«, erinnerte Scobee. »Das sieht mir fast nach einer Bruchlandung aus. Was auch die verzerrte Signatur erklären würde.« Cloud gab ihr recht. »Sesha? Wahrscheinlichkeit von Scobees These?« »Achtundsiebzig Prozent. Nach gegenwärtigem Faktenbestand.« »Verdammt wenig«, maulte Scobee gespielt beleidigt. »Hast du etwas Besseres anzubieten, Sesha-Schätzchen?« »Negativ.« »Sei nicht so«, grinste Scobee befriedigt. »Was?«, fragte die KI und ging ihr auf den Leim. »Negativ, Schätzchen. Du musst positiv denken.« »Ich verstehe den Sinn dieser Aussage nicht. Ich bewerte Fakten. Die Fakten lassen keinen anderen Schluss zu als den, den ich –« »Schnauze, Schätzchen!« Das war Jarvis. Und irgendwie klang er in diesem Moment überhaupt nicht wie jemand, der eine psychische Stütze brauchte, sondern genauso direkt und unverblümt, wie ihn seine engsten Freunde schätzten. »Ich muss doch sehr –« »Du musst sehr darauf achten«, ergriff Cloud Partei für den Freund, »dass wir wirklich unentdeckt in den Orbit um A-4 gelangen. Ich verlasse mich da völlig auf dich und die Funktionstüchtigkeit des Tarnschildes.« »Ich sagte bereits, der Vorstoß ist unbedenklich, wenn auf der Gegenseite uns bekannte Technik zum Einsatz kommt. Bezüglich absolut fremdartiger Technologie, die hier – mit geringer Wahrscheinlichkeit – installiert sein könnte, lässt sich eine solche Zusicherung nicht geben. Ich mache aber auf jeden Fall darauf aufmerksam, dass die Schiffssensoren soeben eine Auffälligkeit entdeckt haben, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch identisch mit der Echoquelle ist.« »Was verstehst du unter Auffälligkeit? Hast du Bilder?« »In Kürze wird erstes, durch die Atmosphäre und Wolkenschichten allerdings stark beeinträchtigtes Bildmaterial vorliegen.« »Wann? Etwas mehr Präzision, bitte!«, spottete Jarvis. »In zwei Minuten, acht …« »Spar dir diese Sekunden-Spitzfindigkeiten«, knurrte Jarvis. »Zwei
Minuten ist okay. Sofort rein mit den Bildern, sobald du etwas hast, was die Bezeichnung verdient. Also bitte keine verschwommenen Kleckse, auf denen rein gar nichts zu erkennen ist, sondern –« »Schon gut«, bremste Cloud ihn gutmütig. »Ich glaube, Sesha hat verstanden.« Algorian erhob sich von seinem Sitz. »Ich würde gern zu Jiims Unterstützung nach Pseudokalser gehen.« Cloud blickte den Telepathen prüfend an. »Ich weiß nicht, ob du ihn zu dem überreden kannst, was du vorhast. Und ich weiß nicht, ob du es tun solltest, ohne sein Einverständnis zu haben.« »Ich werde nichts tun, was er nicht will«, erklärte der Aorii ernst. »Ich weiß. Viel Glück.« »Euch … und damit uns … auch!« »Wir passen auf uns auf«, versprach Cloud. »Ich wünsche dir Erfolg.«
Die RUBIKON schwenkte in den Orbit um A-4 ein. Die Sauerstoffwelt, über deren Oberfläche sie fortan mit knappen 30.000 Kilometern pro Stunde hinwegraste und damit fast einen kompletten Planetenumlauf schaffte, bot keine Anzeichen einheimischer intelligenter Bewohner, die irgendeine Form von Technik verwendeten. Es gab keinen messbaren Funkverkehr, keine im Orbit befindlichen Satelliten, nicht einmal urbane Strukturen. Nichts, was darauf hindeutete, dass der Planet überhaupt bewohnt war – sah man von der Vegetation ab, die aus dem All heraus klar sichtbar war. Über Tiere oder höhere Lebensformen ließ sich nichts sagen. Aber zumindest Erstere waren wahrscheinlich. Der planetenumspannende Dschungel – erstaunlicherweise von keiner ozeangroßen Wasserfläche unterbrochen, dafür von einer Unzahl von Seen – bot Unterschlupf und Lebensgrundlage für einen großen Artenreichtum und wäre Verschwendung gewesen, wenn er nur für sich selbst gestanden hätte. »Irgendwelche Energiequellen?«, fragte Cloud. »Keine«, antwortete Sesha. »Nicht einmal der HAKAR ist auf diese Weise anmessbar. Ich empfange weiterhin nur sein Echosignal, das
die Markierung der Netzwerkschaltung darstellt.« »Wann erreichen wir die genaue Position der Auffälligkeit?« Sesha rundete auf oder ab: »Drei Minuten.« Jarvis grinste. »RUBIKON so im Orbit fixieren, dass sie nicht genau über der Anomalie steht, sondern gut hundert Kilometer von ihrem Rand entfernt.« »Verstanden.« In der Holosäule formierten sich die ersten Detailaufnahmen des Zielgebiets. »Sieht nicht wirklich bedrohlich aus«, kommentierte Jarvis. »Eher wie eine Nebelbank. Eine allerdings zugegeben sehr dichte und große Nebelbank.« »Das Phänomen liegt gegenwärtig auf der Tagseite. Es umfasst eine Fläche von 250.000 Quadratkilometern«, meldete die KI. »Und es erreicht dabei die Höhe eines Berggiganten: an den Spitzen bis zu achttausend Meter.« »Das ist mehr als beachtlich«, sagte Scobee. »Und daraus kommt die Echo-Signatur?« Sesha bestätigte. »Lässt sich der HAKAR orten – durch die Schleier hindurch?« »Schleier ist gut«, frotzelte Jarvis. »Das Ding ist vollkommen undurchsichtig. Als wäre es greifbar, kompakt … Vielleicht ist es das sogar. Sesha?« »Geringe Wahrscheinlichkeit.« »Danke, das baut mich auf.« »Danke«, wandte sich Scobee an die KI, »dass du die Frage dieses Hirnis zuerst beantwortest, obwohl ich meine zuerst stellte!« »HAKAR nicht ortbar. Nur über –« »Ja, ja, ich weiß schon: nur über die Echo-Signatur wahrnehmbar.« »Korrekt. Ich liefere jetzt Detailbilder.« »Wow«, spottete Jarvis. »Detailbilder eines Nebels. Ich bin gespannt.« »Der Nebel an sich liefert auch in der höchsten Vergrößerung keinen Aufschluss über seine Zusammensetzung«, sagte Sesha unge-
rührt. »Interessant hingegen sind die Randgebiete.« Sie unterstrich ihre Worte mit Bildern, die in der Holosäule aufleuchteten. »Die Übergangszone zwischen Dschungel und Anomalie also.« Cloud ließ die gelieferten Detailaufnahmen ebenso auf sich wirken, wie jedes andere Crewmitglied auf dem Kommandopodest, bevor er sich dazu äußerte. Die Bilder waren von erstaunlicher Brillanz, obwohl sie aus einer Höhe von gut tausend Kilometern aufgenommen wurden. »Der Vegetation scheint die Nähe des Phänomens nicht unbedingt gutzutun«, sagte Aylea, die bislang geschwiegen hatte. Sie untertrieb damit gewaltig – aber vielleicht auch nur, um ihren Freund Jelto zu schonen, der jedoch gar nicht geschont werden konnte, da er die Realität sah. Kreidebleich keuchte er: »Verwelkt, verdorrt. Der Grenzbereich ist eine Todeszone. Es bricht mir das Herz!« In seiner Stimme schwang unendlicher Schmerz; er litt in diesem Augenblick mit der betroffenen Flora, und vor Erregung zündete immer wieder blitzlichtartig seine Aura. Cloud wusste nicht, wie er den Florenhüter beruhigen sollte. Aber Jelto war stark genug, allein damit fertig zu werden – oder mit dem Zuspruch Ayleas, die jetzt schon seine Hand hielt, was das Aufblitzen des Aurenlichts merklich verlangsamte. »Aber offenbar wirkt das Gift, das sie umbringt, sehr langsam, sonst hätten sich nicht so viele Pflanzen entlang der Grenzen erst ansiedeln können«, fügte Jelto, einigermaßen gefasst, seinen ersten Worten hinzu. »Das«, widersprach Sesha prompt, »ist leider eine Fehleinschätzung.« »Wieso?«, fragte Cloud. »Weil es voraussetzen würde, dass wir es mit starren Grenzen zu tun haben.« »Haben wir nicht?« »Nein. Wir haben es zwar mit einer sehr langsamen Ausweitung zu tun, aber sie ist definitiv vorhanden. Etwa ein halber Meter pro Stunde.«
»Sind rund vier Kilometer in einem Jahr«, rechnete Jarvis blitzschnell. »Das ist schneller, als sich in der Regel eine Sandwüste ausbreitet, und nicht zu unterschätzen.« »Das Phänomen kommt also dem Dschungel entgegen – es verschlingt ihn quasi«, murmelte Jelto. »Das ist schrecklich.« »Aber woraus besteht es? Was ist der Ursprung und Hintergrund diese Abnormität?«, wandte sich Cloud an die KI. »Die Fernortung erbringt dazu keine Informationen.« »Nichts? Kein noch so kleiner Hinweis? Eine Energieform vielleicht – oder …« »Definitiv keine Energieform, die wäre messbar. Aber es entzieht sich der Analyse. Allein der HAKAR ist als verschwommenes Echo eruierbar.« Cloud schüttelte ungläubig den Kopf. »Ist es möglich, den HAKAR aus dieser geringen Distanz zu übernehmen – wie wir es draußen im Leerraum taten? Dann könnten wir seine Datenbänke anzapfen und das Phänomen vielleicht von innen heraus begreifen lernen …« »Negativ. Es sind andere Störfaktoren, die den bloßen Versuch unterbinden.« »Wäre es denkbar«, mischte sich Aylea ein, »dass der HAKAR selbst dieses Phänomen erzeugt? Könnte es eine Form von … Tarnung sein?« »Mir liegen nicht genügend Fakten vor, um das beantworten zu können«, sagte Sesha. »Der HAKAR mag irgendwann irgendwo auf Fremdtechnologie gestoßen sein, die so etwas ermöglichen könnte. Aber es lässt sich keine tragbare Wahrscheinlichkeit ermitteln.« »Das heißt, da unten befindet sich ein Foronenschiff, aber wir stochern vollkommen im Dunkeln, was seinen Zustand angeht«, seufzte Cloud. »Wir wissen nicht, was mit ihm los ist. Theoretisch könnte es, eingebettet in diese Anomalie, sogar schon hier gestrandet sein, als Darnok sein Feld noch gar nicht aktivierte. Da wir nichts darüber wissen, können wir eigentlich auch nichts ausschließen. So wie es aussieht, könnte das Phänomen den verderblichen Einfluss von dem HAKAR ferngehalten haben – und somit könnte es auch durchaus
so sein, wie Aylea meint: Die Besatzung des HAKARs könnte sich damit versucht haben zu schützen.« »Und warum existiert es dann immer noch? Trotz der erfolgten Beseitigung der Darnok-Gefahr?«, fragte Jarvis. »Möglicherweise«, erwiderte Cloud, »hat es da drinnen noch keiner gemerkt, dass die Gefahr gebannt ist. Vielleicht liegen alle in Stasis.« »Und die Bord-KI?« »Könnte einer Fehleinschätzung unterliegen … Himmel, es gibt Zigtausend Möglichkeiten. So kommen wir jedenfalls nicht weiter. – Sesha?« »Commander?« »Bereite den Einsatz einer Sonde vor. Sie muss mit allen erdenklichen Sensoren ausgestattet und mit einem eigenen Schutzschirm ausgerüstet sein.« »Das erfordert keine Vorlaufzeit. Solche Sonden sind sofort verfügbar.« »Noch besser. Dann schleuse eine aus und gebe ihr das Innere des ›Nebels‹ als Ziel ein. Sie soll in ihn vorstoßen und uns permanent Daten über seine Zusammensetzung und die Verhältnisse darin übermitteln.« Sesha bestätigte, und wenig später konnten sie über die Holosäule den Flug der Sonde verfolgen. Sie steuerte zunächst in die Planetenatmosphäre und nahm dann direkten Kurs auf das Phänomen. Pausenlos kamen Daten von ihr herein, die sich jedoch zunächst auf planetare Merkmale bezogen. »Kompakt ist es jedenfalls nicht«, witzelte Aylea, als die Sonde in die Nebelwand eintauchte. Sofort aber brach auch jegliche Verbindung zu ihr ab. »Ihr Kurs ist so programmiert, dass er eine Parabel beschreibt«, sagte Sesha. »Der Wiederaustritt muss demnach hier erfolgen.« Sie markierte die berechnete Stelle in der Holowiedergabe des »Nebelgebildes«. »Wann?«, fragte Cloud, der frustriert über die Funkstörung zur Sonde war.
»Eine Minute.« Die Zeit verstrich quälend langsam. Und auch nach drei Minuten war die Sonde nicht wiederaufgetaucht. »Totalverlust«, kommentierte Jarvis. »Wir haben es also nicht nur mit einer Unterbindung des Funkkontakts zu tun.« Cloud fluchte leise. »Drei weitere Sonden vorbereiten«, befahl er dann. »Sie sollen das Phänomen an drei Stellen gleichzeitig anfliegen, aber mittels A-Grav direkt an der Grenze verharren und sich dann millimeterweise vorantasten. Dabei sollen sie Daten funken wie verrückt!« So geschah es. Doch die Resultate blieben in jedem Fall dieselben. Die Sonden berührten den »Wall« mit ihren Spitzen … und sofort brach die Funkverbindung ab. Ohne dass die Sonden aber sichtbar vernichtet wurden. Im Gegenteil: Im Schleichtempo schafften sie es, komplett einzutauchen, ohne dass der geringste äußere Schaden feststellbar war. Nur – sie kehrten nicht wieder zurück. »Neues Motto«, ordnete Cloud daraufhin an. »Gleiches Prozedere wie eben – nur dass eine einzelne Sonde auf Rückflug programmiert wird, sodass sie nach einem Eintauchen zu drei Vierteln den Rückwärtsgang einlegt und wieder an Bord kommt.« »Quarantänemaßnahmen?«, fragte Sesha. »Das Übliche«, bestätigte er. Und so startete Variante drei. Sie kehrte tatsächlich zurück – und wurde in der Folge ausgiebig an Bord der RUBIKON untersucht. Die einzelnen Komponenten gaben jedoch keinen Rückschluss darauf, warum die Funkverbindung stets bei der ersten Berührung mit dem Nebel abbrach, sie wirkten völlig unversehrt. Allerdings hatten die Sondensensoren während ihres Vorstoßes in das Phänomen auch nichts aufgefangen, was auch nur die Spur einer gewonnenen Information erbracht hätte. Es war, als wäre die Sonde niemals gestartet worden. Es gab keine neuen Erkenntnisse. »Eine Sonde ist eine Sonde«, sagte Jarvis daraufhin. »Ein Kasten aus Metall, mit Technik bestückt. Da kann man nicht viel mehr er-
warten. Ich melde mich hiermit freiwillig. Ich transitiere zur Oberfläche – und von dort aus gehe ich zu Fuß in das Ding rein. Mal sehen, was passiert.« Cloud lehnte kategorisch ab. »Du bist verrückt. Das werde ich nicht –« »Ich will es aber. Zumindest, wenn keine andere klare Chance auf Erfolg besteht.« »Was nennst du bei einem Einmannunternehmen, das aus dir besteht, eine klare Chance?« »Jetzt bekomme ich wohl schon Selbstvertrauen vorgeworfen, wie?« »Natürlich nicht.« »Hast du also einen besseren Vorschlag?« »Vielleicht. Sesha?« »Commander?« »Was ist mit den Transportkapseln? Kann die Gegenstation auf dem HAKAR angewählt werden? Auf diese Weise wäre das Risiko eines Vorstoßes wahrscheinlich um einiges geringer.« »Negativ«, antwortete Sesha – worauf Jarvis in die Hände klatschte. Ein metallener Ton hallte wie ein Gong durch die Bordzentrale und widersprach der Optik, die tatsächlich zwei normale Hände aufeinanderschlagen ließ. »Hah! Ich wusste es: Jarvis muss mal wieder ran – es gibt keine Alternative.« Cloud fragte sich, ob die aufgesetzte Begeisterung des Freundes nicht schon wieder ein Grund zu großer Besorgnis war. Das von dem ehemaligen GenTec vorgeschlagene Unternehmen roch verflucht nach einem Selbstmordkommando, und kein verantwortungsvoller Kommandant hätte dazu seine Einwilligung gegeben. »Nein. Ein für alle Mal: Vergiss es. Du wirst von mir nicht –« »Sesha?«, wandte Jarvis sich an die KI. »Ja?« »Auf welcher Technologie basiert diese Abgabe einer Echosigna-
tur, die den HAKAR für dich wahrnehmbar macht?« »Ich fürchte, es würde zu weit führen, dir das –« »Dann andere Frage: Hast du Zugriff auf sie und könntest du bei Bedarf einen mobilen Marker herstellen, der im Kleinen genau denselben Effekt hätte wie ein Raumschiff im Großen?« »Du meinst mit Marker eine Art Peilgerät in vertretbarer Größe, um von einem Lebewesen getragen zu werden?« »Oder von einem Roboter – ja!« »Das stellt kein Problem dar.« »Prima. Dann würde ich mich zu deiner Beruhigung, John, mit einem solchen Marker ausstatten lassen und ihr könntet meine Fortexistenz ständig überwachen. Auch innerhalb des Nebels. Die Sonde verriet ja wenigstens, dass offenbar kein völliger Ausfall ihrer Technik zu verzeichnen war.« »Jedenfalls nicht, solange sie nicht komplett in die Anomalie eingetaucht war«, schränkte Scobee ein. »Aber die anderen Sonden sind trotz vorprogrammiertem Rückkehrkurs eben nicht wieder aus dem Phänomen ausgetreten. Und das bedeutet …« »Dass sie offenbar bemerkt und abgefangen wurden«, sagte Jarvis. »Nicht mehr und nicht weniger. Aber die Sonden konnten sich auch nicht groß wehren – ich kann das durchaus, oder willst du mir das absprechen?« »Ich will dir absprechen, ins Verderben zu gehen.« »Danke, das freut mich. Ich hab dich auch lieb.« Er grinste breit. Das war wieder der Jarvis, wie ihn jeder kannte. Cloud musterte ihn eindringlich. Nach langem Überlegen und Abwägen ihrer anderer Möglichkeiten sagte er schließlich: »Okay. Du kannst deinen Plan in Angriff nehmen. Aber versprich mir, nicht leichtfertig zu handeln. Und wenn du drinnen bist – lieber rechtzeitig den Rückzug anzutreten, als dich von der unbekannten Macht, die dort vermutlich haust, überwältigen zu lassen. Ich setze auf dein Verantwortungsgefühl – deinen Freunden gegenüber.« »Klar doch. Sesha soll den Marker unbedingt so auslegen, dass ich damit auch eine Peilung des HAKARs vornehmen kann. Ist das machbar?«
»Negativ.« »Na gut«, brummte Jarvis. »Dann speichere ich eben ›nur‹ die üblichen Signaturdaten der RUBIKON, um einen Ortungsansatz da drinnen zu haben.« »Du scheinst wirklich davon auszugehen, dass du dich da drinnen frei bewegen und deine Stärken zum Einsatz bringen kannst«, seufzte Scobee, die offenkundig unglücklich mit Clouds Entscheidung war. »Klar.« »Wenn du dich da mal nicht verrechnest …« »Ich komme schon zurück«, versprach er, ohne vermutlich selbst zu wissen, woher er seine Zuversicht nahm. »Aber nicht ohne genaue Informationen über den HAKAR und seine Insassen.« »Du sollst keine unkalkulierbaren Risiken eingehen!« Cloud verzog das Gesicht. »Schon das Betreten ist ein unkalkulierbares Risiko«, erinnerte ihn Jarvis nun, nachdem er seine Erlaubnis für einen Vorstoß in der Tasche hatte. »Schon vergessen?«
»Algorian!« Der Aorii winkte dem herannahenden Jiim, während er sich von dem Türschott entfernte, das sich hinter ihm wieder geschlossen hatte. Eine Markierung zeigte an, wo es sich befand – auch nachdem die Illusion von Pseudokalser es zurückdrängte. »Sesha hat mich verständigt, dass du kommst. Was ist der Grund?« Einen Steinwurf entfernt erhob sich die Baumsiedlung. »Den Grund kennst du – ich habe dir … euch … mehr als einmal meine Hilfe angeboten.« »Yael will es nicht.« Algorian machte eine Geste, die ausdrückte, dass ihm das durchaus bekannt war. Dann aber sagte er: »Du bist sein Elter. Du kannst es bestimmen, wenn du willst. Ihm passiert ja nichts. Er wird es nicht einmal merken, wenn ich ihn espere.«
»Ich glaube nicht, dass das bei unserem aktuellen Problem hilft.« »Du meinst seinen speziellen Freund, diesen ›Charly‹?« Jiim bejahte. »Das mag sein. Aber wir könnten die Zeit nutzen, da er in Quarantäne gehalten werden muss, um etwas für die Aufarbeitung seiner Erlebnisse auf Portas zu tun. Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass das – bei aller Amnesie – spurlos an ihm vorbeigegangen ist?« »Nein«, sagte Jiim, »das will ich nicht. Es wäre eine Lüge. Er hat sich Sesha gegenüber offenbart, dass er seither unter Träumen leidet, die ihn regelmäßig heimsuchen. Es sind nur Szenensplitter, aber offenbar arbeiten sie seinen Portas-Aufenthalt auf.« »Das ist eine Vermutung, oder?« »Natürlich.« »Wir könnten zumindest, was das angeht, Klarheit gewinnen. Und wenn wir sie haben, wird es Yael dabei helfen, das Trauma zu bewältigen.« »Du hast keinerlei Erfahrung in so etwas.« »Worin, in espern?« »Nein, in dem, was sich gerade anhört wie eine Therapie für mein Junges.« »Man braucht dafür keine spezielle Ausbildung. Man muss nur analytisch denken können. Und das kann ich.« »Das stelle ich nicht in Abrede.« »Dann lass uns jetzt zu Yael gehen, lass mich mit ihm sprechen, und ich bin überzeugt, dass ich ihn überzeugen – überzeugen, nicht überreden – kann.« Jiim blickte zur Baumsiedlung, wo Yael sich gerade mit ein paar Nargen-Hologrammen unterhielt, als wären es echte Personen. Ein klammes, dunkles Gefühl griff nach ihm. Wie weit sind wir gesunken, wisperte es in ihm, dass wir uns fast nur noch an Trugbilder klammern? »Komm«, sagte er. »Wir sprechen mit ihm, beide. Vielleicht gibt er ja tatsächlich sein Einverständnis. Ich habe den Eindruck, dass er leidet. Aktuell noch mehr als unmittelbar nach seiner Bergung von
Portas. Ich glaube … so verrückt es sich anhören mag, wenn man die näheren Umstände bedenkt … er vermisst diesen Charly – wer oder was immer er ist.« Algorian schwieg. Er sprach nicht aus, was ihm auf der Zunge lag, es hätte die Sache nur verkompliziert. Aber ihm war klar, dass er gerade verstärkt an Rofasch denken musste, seinen »Hassbruder«. Niemand an Bord der RUBIKON ahnte auch nur in Ansätzen, wie sehr er seinen verlorenen Zwilling manchmal vermisste. Aorii trauerten für sich allein.
Die Vorbereitungen – beziehungsweise der Bau eines Markers nach Jarvis' Vorstellung – dauerten nur eine knappe Stunde. Sesha beauftragte die RUBIKON-Bots mit der Ausführung, und schon bald meldeten sie Vollzug. Sie hatten in Kooperation mit der KI nicht nur die Echofunktion integriert, sondern in einem gesonderten Speichermodul auch ein Trojanerprogramm abgelegt, mit dem Jarvis laut Sesha versuchen konnte, die künstliche Intelligenz des HAKARs auf seine Seite zu ziehen. Einer der spinnenartigen Roboter überbrachte Jarvis das Gerät in die Bordzentrale. Es war nicht größer als eine Münze. Jarvis verstaute es in seinem Körper. »Bereit«, sagte er dann zu Cloud, während der Spinnen-Bot sich wieder trollte. »Du hörst mich nicht jubeln, oder? Vielleicht kann ich dir die Mission ja noch mal ausreden …« »Träum weiter. Ich habe dein Okay. Darauf beharre ich. – Sesha? Arbeitet der Marker? Empfängst du ein Echo?« »Positiv«, bestätigte die KI. »Dann kann's ja losgehen. Seid ihr denn bereit?« »Du weißt, was wir besprochen haben. Riskiere nicht zu viel. Der HAKAR ist mir auf keinen Fall wichtiger als du!« Jarvis strahlte über das ganze Gesicht. »Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht – alte irdische Redensart, die nie an Wahrheitsgehalt einbüßen wird.« »Dann hau schon endlich ab!« Es gab ein leises Ploppgeräusch, dann war Jarvis verschwunden.
Jedenfalls von Bord der RUBIKON. Ohne messbaren Zeitverlust materialisierte er inmitten satten Grüns und einer Geräuschkulisse, die von einer enormen Vielfalt an Leben kündete – teilweise laut plärrendem Leben, und wenn er manches Gebrüll richtig deutete, hauchte gerade jemand sein Leben aus … Er scannte die Umgebung. Und fand einen der Sterbenden. Es war ein Tier, wie Jarvis noch keines gesehen hatte. Abgesehen von seinem exotischen Äußeren fiel als Erstes ins Auge, dass es amputiert war, regelrecht halbiert. Der komplette untere Bereich fehlte, und bedachte man die saubere Schnittfläche, war mehr als unwahrscheinlich, dass es den Zähnen eines größeren und stärkeren Tieres zum Opfer gefallen war. Jarvis hoffte nicht, dass die Ursache mit dem Nebelphänomen zu tun hatte. Denn dann hätte er davon ausgehen müssen, dass eine Berührung mit diesem Phänomen möglicherweise schwerste Folgen hatte. Aber hatte der Versuch mit der letzten Sonde nicht das genaue Gegenteil bewiesen? Sie war jedenfalls nicht in dem Bereich, der in die Anomalie vordrang, »amputiert« worden. Aber was mochte dann die Ursache sein? Das Tier verendete wenige Schritte von Jarvis entfernt, der allerdings noch mindestens einen halben Kilometer von der Nebelwand entfernt stand. So weit konnte sich die Kreatur unmöglich geschleppt haben, befand er, nicht mit dieser Verletzung. »Alles klar bei dir?«, kam die Anfrage von der RUBIKON. Cloud sprach. »Noch, ja. Bin aber gerade über eine Seltsamkeit gestolpert, die ich gerne aufklären würde, bevor ich mich dem eigentlichen Grund meines Trips zuwende.« Er schilderte knapp, was er gesehen hatte. »Was hast du vor?« »Es gibt da eine Schleifspur, die mir den Weg weisen wird, den das Opfer noch zurücklegte, nachdem jemand oder etwas es tranchierte.«
»Sieh dich vor.« »Das hatten wir schon mal.« Jarvis unterbrach die Verbindung. Rasch orientierte er sich und nahm die Fährte auf. Sie war unübersehbar … und führte ihn in kürzester Zeit zu einem Gegenstand, der unschwer als Falle zu erkennen war. Keine primitive, sondern eine Hightech-Falle! Jarvis stellte sofort wieder eine Verbindung zur RUBIKON her. »Bist du dir vollkommen sicher?«, kam die Frage, nachdem er von seinem Fund berichtet hatte. »Absolut. Traust du mir nicht zu, höhere Technologie zu erkennen, wenn ich sie sehe.« »Doch. Durchaus. Kannst du sie mit deinen körpereigenen Sensoren durchleuchten?« »Ich wollte euch erst in Kenntnis setzen, bevor ich es versuche. Wer weiß, …« Sein Grinsen musste selbst über Funk zu sehen sein. »… ob ich danach noch dazu in der Lage bin …« »Du hast eine seltsame Art von Humor.« »Aber du stehst drauf, gib's zu.« Cloud brummte etwas Unverständliches. »Scanne das Ding und sag, was du herausgefunden hast.« Jarvis richtete seine Instrumente darauf aus. Es hatte zylindrische Form und war etwa so groß wie der Oberschenkel eines erwachsenen Mannes. Ganz aus grün schillerndem Metall war es und mit »Poren« überzogen, die wie die Facettenaugen eines Insektes wirkten. Jarvis hatte, während er das Objekt einer Fernanalyse unterzog, tatsächlich mehrfach das Gefühl, von ihm angestarrt zu werden. Er war auf der Hut und rechnete jeden Moment mit einer Falle. Dabei stand er völlig regungslos da. Auch noch, als … … die Falle vor seinen Augen zuschnappte und ein weiteres Opfer fand. Es war ein Vogel ohne Federn, reptilisch anmutend, der sich offenbar von dem glänzenden Ding hatte anlocken lassen. Er war auf der Walze gelandet, und für wenige Sekunden hatte es ausgesehen, als bliebe das folgenlos. Doch plötzlich … … schossen Tentakel hervor, an deren Enden sich kleine metalli-
sche Greifklauen befanden, deren Ausläufer an Widerhaken erinnerten. Sie gruben sich in die zähe Haut des Tiers und nahmen ihm binnen eines Lidschlags alle Chancen auf eine Flucht. Das ist die Natur, dachte Jarvis, fressen und gefressen werden … Aber noch während er es dachte, wusste er, dass das falsch war. Hier traf nicht Natur auf Natur, hier wurde nicht ein Tier das Opfer eines anderen, sondern hier wilderte etwas Künstliches. Etwas von intelligenten Geschöpfen offenbar nur zu dem Zweck Erdachtes, sich die Bewohner des Waldes einzuverleiben. Was gerade geschah – noch während Jarvis hinsah. Plötzlich öffnete sich zwischen den augenartigen Poren ein gezacktes »Maul«, und der Vogel wurde unter grässlichen Schreien hineingezerrt, hineingestopft! Hinter ihm schloss sich die Walze wieder. Ruhe kehrte ein. Für eine Weile klangen die Laute der Wildnis fast idyllisch. Jarvis schickte eine Videosequenz des gerade erlebten Geschehens zur RUBIKON. Der Kommentar ließ nicht lange auf sich warten. »Das Ding scheint höchst gefräßig«, sagte Cloud. »Pass auf, dass es nicht auch noch Appetit auf dich bekommt.« »Soll ich es zerstören?«, gab Jarvis zurück. »Die hier lebenden Tiere würden mir dafür sicher einen Orden verleihen.« »Nein. Zu gefährlich. Und zu aufsehenerregend. Sicher bist du schon auf den gleichen Gedanken gekommen wie ich …« »Dass das Ding mit der Anomalie zu tun haben könnte? Alles andere wäre auf einem Planeten wie diesem auch mehr als seltsam.« »Eben. Ich schlage deshalb vor, du übst dich noch ein wenig in Geduld, bleibst, wo du bist …« »… und warte, bis das Ding abgeholt wird? Aber das kann Tage, vielleicht noch länger dauern.« »Es hat binnen kürzester Zeit gleich zweimal zugeschlagen. Warte wenigstens noch … sagen wir, zwei Stunden. Wenn dann nichts passiert ist, das Bewegung in die Sache bringt, dringe ohne heiße Spur in die Anomalie ein. Wenn es wirklich abgeholt würde, hättest du gleich eine Art Lotsen, um hinter das Geheimnis dieser Zone zu
kommen. Das wäre vorteilhaft, oder?« »Durchaus«, konnte Jarvis sich der Logik von Clouds Worten nicht entziehen. »Okay, zwei Stunden. Und ich suche mir derweil ein kleines Versteck, um nicht von irgendwelchen Ankommenden sofort entdeckt zu werden. Ich schalte auf einen Modus, der kaum oder gar keine Emissionen freisetzt. Und Kargors Schuppe weise ich an, mich in einen kleineren Baum zu verwandeln …« »Wie gesagt, lass dich nicht anknabbern. Da laufen auch Tierchen rum, die sicher vegetarisch ausgerichtet sind.« »Ha, ha.« »Schön, dass du es mit Humor nimmst. Bis später also. Melde dich in jedem Fall noch einmal vorher, ganz egal, unter welchen Umständen du in den Nebel vorstößt.« Jarvis versprach es. »Hoffentlich hat das Ding mich nicht längst irgendjemandem gemeldet oder sonst wie Alarm geschlagen …« »Dazu wurde es wahrscheinlich nicht konstruiert.« Der überzeugte Ton, in dem Cloud das sagte, konnte nur eine Beruhigungspille sein. Jarvis schluckte sie dennoch. Die Minuten verstrichen, die erste Stunde ging vorbei. Als die erste Hälfte der zweiten gerade verstrichen war, erschien ein neues auf Friday A-4 beheimatetes Tier. Es sah aus wie ein armdicker und ungefähr auch so langer Wurm, an dessen Leib sich Härchen wir Antennen aufrichtete, und der sowohl vorne als auch hinten ein Gesicht hatte – inklusive gefräßigem Maul. Auf seinem Weg zu dem Zylinder graste er alles ab, was er erreichen konnte, wobei er sich Zickzack dahinschlängelte, einmal schob der Körper das vordere Maul durch Gras und Dickicht, dann wieder, als lieferte eine innere Uhr ab, die die Zeit exakt stoppte, war das andere Ende an der Reihe. Auf diese Weise schaufelten beide Gesichter unverdrossen Nahrung in sich hinein. Ob sie damit auch zwei autarke Mägen versorgten, hätte Jarvis durchaus interessiert, aber er wagte es nicht, einen Scanstrahl mit Röntgeneffekt auszusenden, um nicht doch noch eventuell vorhandene Wahrnehmungssysteme des Zylinders auf
den Plan zu rufen. Dann war der Wurm in Reichweite des Zylinders – und wurde dessen Beute. Trotz heftiger Gegenwehr und starkem Winden gelang es der Kreatur nicht, sich aus den Fängen der hervorschießenden und jetzt wieder in die Falle zurückschnellenden Tentakel zu befreien. Der Kampf ging absolut lautlos vonstatten, offenbar hatte der Wurm keine Stimme und die beiden Mäuler ausschließlich zum Fressen. Jarvis richtete sich auf ein erneutes Warten ein, aber plötzlich erhob sich der Zylinder summend. Er verfügte offenbar über ein integriertes Antischwerkraftaggregat, das soeben startete. Und dann wurde klar, dass diese Hightechfalle von niemandem hier abgelegt worden war, sondern offenkundig selbst gekommen war – um jetzt ebenso aus eigener Kraft zu verschwinden, und zwar, wie erhofft, in Richtung »Nebelwand«. Jarvis verständigte die RUBIKON über die Entwicklung und teilte Cloud mit, dass er sich dem Wurmvertilger anschließen wollte. Cloud ermahnte ihn noch einmal zur – gern auch übertriebenen, wie er es formulierte – Vorsicht. »Ich gebe dir drei Stunden. Exakt drei Stunden, nachdem du in die Anomalie vorgestoßen bist, um den HAKAR drinnen zu finden und mit einem Resultat, auf das wir vielleicht aufbauen können, zurückzukehren. Bist du in drei Stunden noch nicht zurück, werde ich mit aller Macht gegen die Anomalie vorgehen und sie von hier oben aus zu ›knacken‹ versuchen. Sesha ist von mir bereits beauftragt, ein paar Möglichkeiten auszuknobeln, wie diesem Phänomen beizukommen sein könnte. – Du weißt, was es für dich bedeuten könnte, dass wir grob werden, wenn du dich zu dem Zeitpunkt noch im Innern der Anomalie aufhältst?« »Ich schätze mal, nichts Gutes.« »Behalte das im Hinterstübchen. Als kleinen Motivationsschub.« Jarvis ersparte sich jede Frotzelei. Die Verbindung wurde beendet, und er wechselte seine äußere Gestalt. Er wählte das Aussehen eines der Flugechsen oder Vögel, die dem Zylinder ebenfalls schon zum
Opfer gefallen war, und folgte der schwebenden Falle in gerade noch vertretbar geringem Abstand. Er wollte sie nicht dazu animieren, vielleicht doch noch einmal tätig zu werden, auch wenn er sicher glaubte, dass sie sich an ihm den Magen verderben würde. Kurz darauf tauchte der Zylinder in die Anomalie ein. Jarvis startete durch … und war zwei Sekunden später ebenfalls an der Grenze zwischen Normalität und dem Phänomen, das die Größe eines kleinen Erdstaates vor der Masterinvasion hatte. Er erwartete, dass seinen hoch technisierten Sinnen der Wechsel zu schaffen machen würde, aber nichts dergleichen geschah. Es war seltsam, für wenige Momente hatte er das Gefühl, dass gar nichts passiert, dass sich rein gar nichts verändert hatte. Dann aber wurde ihm klar, dass am Himmel nur noch eine Sonne stand und dass sich die Gewächse dieser Wildnis doch stark von denen des gerade verlassenen Waldes unterschieden. Das Verrückte war, dass sich die »Nebelwand« jetzt hinter ihm befand, in der Richtung, aus der er gekommen war. Wie es aussah, hatte er entweder den Planeten A-4 komplett verlassen – oder eine künstlich autark darauf errichtete Welt betreten, die in eine Art höherdimensionale Blase eingebettet war, ähnlich wie es die Technik der RUBIKON ermöglichte, nur dass die damit verbundenen Kräfte von keinem der dortigen Instrumente hatten angemessen werden können. Jarvis versuchte einen Funkkontakt zu Cloud herzustellen, wusste aber fast sicher, dass er damit keinen Erfolg haben würde – ebenso wenig wie die Sonden es geschafft hatten, die Grenzen der Anomalie zu überwinden. Waren sie hier noch irgendwo? Und wo war eigentlich die schwebende Tierfalle, der er gefolgt war? Jarvis sah sich um. Auf den zweiten Blick unterschied sich die Landschaft durchaus von dem Bereich A-4s, auf den er sich teleportiert hatte. Sie war … lichter. Kein hoher dichter Dschungel, der den Blick auf größere Fernen verwehrte, sondern eher ein Wald, dessen maximal zehn Meter hohe Bäume weit auseinander standen. Dazwischen gab es Graszonen, die fast an kultivierte Weiden erinnerten
und Jarvis unwillkürlich Ausschau nach grasenden Rindern halten ließen. In der Ferne lag eine Bergkette, die so farbenprächtig war, dass sie bis zu ihren Gipfeln über und über mit Blumen bedeckt sein musste. Auch in der Ebene, in der Jarvis stand, herrschte Blütenvielfalt, an den Bäumen beispielsweise, aber auch immer mal wieder zwischen den Grasflächen. Fast sahen diese »Inseln« im Grün aus wie fein säuberlich angelegte Beete. Von dem Fallenzylinder war auf normalvisuellem Weg nichts zu entdecken. Jarvis entschied sich, seine Vorsicht ein wenig zurückzufahren und die Umgebung auf Energieerzeuger zu scannen. Sofort empfing er ein Heer von Signalen! Manche waren offenbar stationär, andere bewegten sich mit unterschiedlichem Tempo. Und als Jarvis seine Optik auf eines der empfangenen Signale ausrichtete, fand er auch wieder den Zylinder, der sogleich offenbarte, warum Jarvis mit seinen normalen Sehmodulen bei der Suche nicht weitergekommen war. Der Zylinder offenbarte auf dieser Seite der Grenze eine Eigenschaft, von der es Jarvis im Nachhinein wunderte, dass er sie nicht auch schon »drüben« eingesetzt hatte, um sich vor seinen Beuteopfern zu verstecken: wie ein Chamäleon nahm er stets das Muster seiner Umgebung an, die er durchquerte. Einmal aber erfasst, entließ ihn Jarvis nicht mehr aus seinem Blick. Die Abtastung nach energetischen Quellen hatte er längst wieder eingestellt und widmete sich nun, während er dem Zylinder immer noch in der Gestalt einer Flugechse folgte, den ermittelten Daten. Er jubilierte vor allem, weil er auch die typische Ortungssignatur eines HAKARs aufgefangen hatte, sonderbarerweise aber immer noch sehr verschwommen – im Gegensatz zu den klaren Signalen fremder Energiequellen – wie die des Zylinders –, was ihm unerklärlich war, da er die Verfälschung bislang auf die Dämpfung durch die Anomalie geschoben hatte. Auf dieser Seite hätte sie jedoch seines Erachtens nach aufgehoben sein müssen. Und noch etwas stellte sich bei der blitzschnellen Auswertung heraus: Die schwebende Falle hielt mit ihrem A-Grav-Antrieb genau
auf den angepeilten HAKAR zu! An einen Zufall wollte Jarvis nicht glauben, und schon geisterten wieder die abenteuerlichsten Spekulationen durch seinen Verstand. Steckten womöglich die Foronen hinter der Anomalie – oder nutzten sie sie zumindest für ihre Zwecke, und entstammte die Zylinderfalle aus ihrem Arsenal? Welchen Zweck verfolgten sie dann aber damit? Brauchten sie fleischliche Nahrung? Der bloße Gedanke war abstrus. Foronen »aßen« nicht wie die meisten Jarvis bekannten Wesen, sie assimilierten Stoffe aus der Luft. Sie verfügten weder über einen Kauapparat noch das, was man einen Mund hätte nennen können. Zum Sprechen – sie waren auch Halbtelepathen, die allerdings auf den Berührungskontakt mit Artgenossen angewiesen waren, um das zu praktizieren – verwendeten sie eine runde Schallmembran, die bezeichnenderweise dort am Schädel platziert war, wo sich auch ein Mund hätte befinden können. Nein, die Theorie der Versorgung mit Nahrung für die Foronen selbst konnte er fallen lassen. Aber vielleicht mussten sie ja mit der Beute irgendwelche anderen Geschöpfe an Bord des HAKARs speisen, die dort inzwischen eingezogen waren? Möglich – aber wahrscheinlich? Jarvis verneinte auch diese These für sich. Erneut gab er seine Zurückhaltung auf und richtete einen gezielten Scanstrahl auf die Schwebefalle. Damit holte er nach, wovor er auf A-4 noch zurückgeschreckt war. Tatsächlich ließ sich das Gehäuse mit den entsprechenden Strahlen problemlos durchdringen, und Jarvis erhielt binnen eines kurzen Moments ein sehr präzises Bild vom Innenleben. Kaum war der Scanvorgang abgeschlossen, drängte sich ihm eine neue Hypothese auf. Es scheint eine Art … Sammler zu sein. Das da im Innern sind ganz klar winzige, voneinander abgetrennte »Abteilungen«, Minilabors, wenn ich die damit bestückten Instrumente richtig deute. Das Ding scheint – aus welchem Grund auch immer – Proben von A-4 einzusammeln und zu dem zu bringen, der es aussandte … Jarvis entschied sich, den Zylinder, der eher im Schneckentempo dahinglitt, zu überholen. Im selben Augenblick wurde ihm klarge-
macht, dass seine Flugechsen-Maske sinnlose Kosmetik – und sein wildes Scannen der Umgebung offenbar doch etwas zu sorglos erfolgt war. Der Angriff erfolgte von oben. Es regnete dornenartige Gebilde, die wie Hagel auf Jarvis Kunsthülle einprasselten. Und nicht alle prallten einfach davon ab …
»Weg! Der Funkkontakt ist wie erwartet abgebrochen. Wie steht es mit der Echosignatur seines mobilen Markers?«, wandte sich Cloud an Sesha. »Er hätte das niemals tun dürfen«, seufzte Scobee. »Kommt er wieder zurück?«, flüsterte Aylea. Sie sah Jelto dabei an. Und Jelto nickte. »Ganz bestimmt. Du kennst doch den alten Raufbold – er liebt die Herausforderung. Und er wird auch dieses kleine Problem in den Griff bekommen.« »Und wenn nicht?« Dann ist die Anomalie sein Grab geworden, dachte Cloud, während Jelto eine abwiegelnde Geste machte. War es das wert? Was können wir gewinnen, einen HAKAR? Und wozu? Noch während er den Gedanken fast reflexartig abtat, kam ihm plötzlich die Idee, dass ein zweites, der RUBIKON beinahe ebenbürtiges Schiff in ihrem Besitz nicht der schlechteste Gedanke wäre … Aber das war Zukunftsmusik. »Energiesignatur klar empfangbar.« »Meinst du mit klar, was ich glaube, dass du meinst?«, hakte Cloud bei der KI nach. »Ich meine damit, dass Jarvis' Echo im Gegensatz zu dem des HAKARs absolut unverfälscht, ungedämpft zu uns vordringt.« »Trotzdem beide sich in der Anomalie befinden?« »So ist es.« »Mögliche Erklärung?« »Die bereits angedachte Strandung inklusive vorheriger Bruchlandung, bei der wichtige Systemkomponenten zerstört wurden.« »Das heißt, alles, was Jarvis dort noch vorfindet, ist wahrscheinlich
ein wertloses Wrack … vermutlich ohne einen einzigen Überlebenden«, spekulierte Cloud. »Das kann es bedeuten. Aber es gibt potenzielle andere Möglichkeiten, für die mir aber die Grundlagen fehlen, um sie aufzuzeigen.« »Die wahrscheinlichste ist und bleibt aber vorerst die Wrack-Theorie. Ich hoffe nicht, dass Jarvis dafür Schaden erleiden muss …« »Ist das eine Frage?« »Verdammt, nein!« Er hieb mit der Faust auf die Sitzlehne und merkte im selben Augenblick, wie dünnhäutig er war. »Du darfst nicht so schwarz sehen, Chef«, versuchte sich ausgerechnet Aylea als Trösterin, die kurz zuvor noch selbst ihrer Sorge Ausdruck verliehen hatte. Wider Erwarten gelang ihm ein Schmunzeln. Noch einmal hieb er auf die Lehne – diesmal aber deutlich entspannter. »Du hast vollkommen Recht. Auf Jarvis ist Verlass, und selbst wenn dort unten ein wertloses Wrack liegt, werden wir ihn auf jeden Fall wohlbehalten zurückbekommen!« Vielleicht hätte er sich diese Prognose noch einmal überlegt, wenn er geahnt hätte, was in diesem Augenblick in der Anomalie geschah …
… wo Jarvis' Existenz gerade auf Messers Schneide stand. Er riss die Arme hoch. Die Maske fiel fast von selbst. Als deaktiviere sich Kargors Schuppe aus eigenem Antrieb, um den Jarvis preiszugeben, der sich wehren konnte – und wollte. Die Enden der Arm verloren ihre Struktur, die Hände des Amorphkörpers lösten sich auf, und an den Stümpfen bildeten sich Abstrahlpole. Eine Sekunde später jagten bereits die ersten Blastersalven aus ihnen heraus gen Himmel. Wo der Schwarm flog, der sich jetzt wie ein steter Strom auf ihn herabfallen ließ. Wo immer der hochenergetische Strahl auf die fingerlangen Metalldorne traf, lösten sie sich darin auf. Es kam zu einem Feuerwerk von Explosionen. Wahrscheinlich hatte Jarvis es nicht lediglich mit
abgefeuerten Projektilen zu tun, sondern mit Objekten, die über einen Eigenantrieb und eine eigene Energieversorgung verfügten. Kybernetische Angreifer. Wieder und wieder stoben die Salven gegen die Metalldorne, und schon nach einer halben Minute hatte Jarvis die am Himmel befindlichen Objekte restlos vernichtet. Als problematischer erwies sich jedoch das, was bis dahin schon durchgekommen war: Jarvis checkte seinen Kunstkörper und fand insgesamt dreizehn Dornen, die bis in tiefere Schichten des Nanogewebes vorgedrungen waren. Er fluchte lautlos und leitete umgehend einen Abkapselungsprozess ein, da er fürchtete, dass sich in jedem Dorn ein Mikrosprengsatz befand, der jederzeit zur Entladung gebracht werden konnte. So schnell er konnte, isolierte er die befallenen Körperbereiche und baute interne Schilde auf, die die Gewebeabkapselung noch zusätzlich sicherten. Danach spie er die Objekte aus – alle an eine gemeinsame Stelle des Bodens – und befreite sie dort mittels eines Befehlsimpulses von der Nanomaterie, die sie kokonartig umschloss. Auch die Schutzfelder wurden abgeschaltet. Während das abgespaltete Körpergewebe zu Jarvis zurückkehrte, eröffnete er bereits das Feuer auf die Dornen. Sie vergingen mit lautem Krachen, richteten aber außer im Gras keinen Schaden an. Nur noch geschwärzte Stellen verrieten kurz darauf, dass es hier zu größerer Hitzeentwicklung gekommen war. Jarvis fluchte immer noch. Über seine eigene Dummheit und Nachlässigkeit. Fest stand nun wohl, dass er entdeckt und sein Eindringen bemerkt worden war. Gleichzeitig fragte er sich, ob diese Dornen auch dafür verantwortlich waren, dass von den in die Anomalie entsandten Sonden nie mehr etwas zu sehen war. Er hielt es für wahrscheinlich und entschied, dass jetzt vor allem eines angesagt war: höchste Eile. Der Fallen-Zylinder interessierte ihn endgültig nicht mehr. Über ihm erschien bereits ein neuer Schwarm dieser lästigen Metallbiester. Kurz entschlossen probierte er aus, ob er auch in dieser Welt über die Fähigkeit der Transition verfügte, die diesen Robotkörper aus-
zeichnete. Teleportation … Transition … im Resultat war es für Jarvis ein und dasselbe. Er sprang zu den Koordinaten, die seine Ortung des HAKARs ergeben hatte. Die Umgebung wechselte. Aber vor ihm lag – das wurde ihm klar, während er gewohnheitsmäßig seine Jarvis-Maske überstülpte –, etwas völlig anderes als das, was er hier anzutreffen erwartet hatte …
»Korrektur«, meldete sich Sesha, als etwa ein Drittel der Dreistundenfrist verstrichen war. Cloud unterbrach sein Gespräch mit Scobee. Es war um Yael und dessen erstaunlichen Freund – Charly – gegangen … ohne dass sie einer Lösung dieses Rätsels näher gekommen wären. »Was ich vorhin über die Echosignatur von Jarvis sagte, wurde gerade hinfällig.« »Inwiefern?«, fragte Scobee alarmiert. »Es ist plötzlich auch nur noch sehr verwaschen und schwach zu empfangen.« »Verdammt!« Das war Aylea. Ihr Gesicht war fast wächsern. Cloud nickte Jelto zu, um ihn aufzufordern, sich um das Mädchen zu kümmern. Von ihrem sonst so vorlauten Mundwerk war nur dieser eine kurze Fluch geblieben. Als er genauer hinsah, glaubte Cloud sogar, die Metropgeborene zittern zu sehen. Für sie war Jarvis auf jeden Fall, das zeigte ihre Reaktion allzu deutlich, mehr als eine beseelte »Maschine«. »Vielleicht eine vorübergehende Trübung des Echos …« »Es sind die gleichen Charakteristika anzumessen, die auch das HAKAR-Echo auszeichnen«, erwiderte Sesha. »Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Die beiden Echos überlappen beinahe.« »Das heißt, dass Jarvis den HAKAR gefunden hat – und sich unmittelbar davor befindet«, überlegte Cloud laut. »Wahrscheinlichkeit für diese Vermutung: achtundneunzig Prozent.«
Cloud wusste nicht, ob er sich hundert Prozent überhaupt wünschen sollte. Die Gefahr, dass sich Jarvis erst ab diesem Moment unkalkulierbaren Risiken aussetzte, war gerade sprunghaft angestiegen.
Jarvis starrte auf den kuppelartigen Steinbau, der sich vor ihm erhob und, was seine schiere Größe anging, keinen Vergleich mit den Pyramiden von Gizeh zu scheuen brauchte. Im Gegenteil, die Kuppel hatte auf Bodenniveau einen Durchmesser von mehreren Kilometern und ragte wie eine Halbkugel gute zweieinhalb Kilometer in die Höhe. Jarvis wunderte sich, dass er sie nicht von seinem vorherigen Standort aus gesehen hatte, denn ihre Höhe übertraf noch die der gesichteten Bergkette. Das Kolossalmonument erhob sich, glänzend wie polierter Marmor, etwa dreihundert Meter von ihm entfernt, und Jarvis kam sich in seinem Schatten klein wie eine Spielzeugfigur vor. Wer solche Bauten errichtete, musste ein Meister der Statik sein. Und darüber hinaus Techniken beherrschen, wie kaum ein anderes Geschöpf im Kosmos. Jarvis hielt Ausschau nach den fliegenden Dornen, entdeckte aber keine. Daraufhin wandte er sich dem Gebäude zu und schritt ihm entgegen. Kurz darauf erreichte er die gewölbte Außenmauer, die sich allerdings als etwas anderes herausstellte als Stein. Das Material war nicht natürlich »gewachsen«, sondern ganz offenbar künstlicher Natur. Hergestellt. Wie aus einem Stück gegossen. Jarvis überlegte, ob er womöglich nur die obere Hälfte einer Kugel sah, die sich tief ins Erdreich gegraben hatte. Vorsichtig legte er seine kybernetischen Hände auf die Außenwand. Der Effekt war ungefähr derselbe, als hätte er einen x-beliebigen Felsbrocken berührt. Nein, er war noch sehr viel geringer: Es flossen keinerlei Informationen über das Objekt, mit dem er Kontakt hatte, in seine Außensensoren.
Es war, als wäre es gar nicht vorhanden. Aber wenn dies eine Art Illusion oder Fata Morgana war, dann handelte es sich um eine höchst greifbare. Das war alles, was er sagen konnte: Die Mauer war fest. Auch wenn seine Sensoren standhaft behaupteten, dass sie keinerlei Eigenschaften hatte. Ein Stoff ohne Eigenschaften? Jarvis' Cyberhände wanderten weiter, während er um den Monumentalbau herumlief und immer Himmel und Umgebung im Auge behielt. Plötzlich änderte sich etwas. Plötzlich war unmittelbar neben der Stelle, die er berührte, ein … Loch. Eine Öffnung, die sich wie die Irisblende einer altmodischen Kamera aufgetan hatte … Jarvis stellte sich davor und versuchte, ins Innere zu schauen. Doch obwohl er vor einer scheinbaren Lücke in der Wand stand, war es ihm nicht möglich, dahinter zu blicken. Es gab eine visuelle Schranke. Die er erst austrickste, als er … … den Gang über die Schwelle wagte. Und plötzlich sah er alles, was dahinter lag – alles, was ihn wie hypnotisch in seinen Bann zog …
»Du wirst es nicht bereuen«, sagte Algorian. Yael reagierte mit unverhohlener Skepsis. »Ach ja? Vielleicht bereue ich es ja jetzt schon …« Gerade hatte er dem Aorii sein Einverständnis gegeben, was keinen mehr als Yael selbst zu verwundern schien. Algorian hingegen gab sich, als hätte er nie an seiner Überzeugungskraft gezweifelt. »Wo?«, fragte Jiim, der sich betont im Hintergrund gehalten hatte und auch jetzt gleich hinzufügte: »Soll ich so lange weggehen? Ich will nicht stören, wenn –« »Mich störst du nicht«, sagte Algorian. »Mich auch nicht«, presste Yael hervor. Jiim nahm es schweigend zur Kenntnis. »Der Ort ist relativ egal. Aber wünschenswert wäre, dass sich die
… holografischen Bewohner des Dorfes etwas zurückhalten«, sagte Algorian. »Sesha?«, wandte sich Jiim an die KI. »Wärst du wohl so freundlich …?« Überall in der Umgebung erloschen Nargen, die gerade noch täuschend echt ihren täglichen Verrichtungen nachgegangen waren. »So radikal wäre es nun auch wieder nicht nötig gewesen«, seufzte Algorian. »Manchmal kommt mir diese KI wie ein verkappter Anarchist vor.« Sesha brachte nichts zu ihrer Verteidigung vor. »Setzen wir uns dorthin?« Algorian zeigte auf einen quer liegenden Stamm, der den Anschein erweckte, als hätte ihn vor langer Zeit ein heftiger Sturm zu Fall gebracht. In seinem Geäst waren sogar noch die Überreste eines Baumhauses zu sehen. Yael ging stumm zu dem Stamm und setzte sich so darauf, dass die Flügel an keiner Stelle den Boden berührten. Jiim blieb, wo er war. Algorian hingegen setzte sich unmittelbar neben den Jungnargen mit dem goldenen Gefiederflaum und den stellenweise bereits wie bei einem ausgewachsenen Nargen ausgebildeten goldenen Federn. Der Goldton wirkte erstaunlicherweise überhaupt nicht unnatürlich. Jiim mochte es anders sehen – obwohl er einen fast identischen Anblick bot … und dies bei ihm erstaunlicherweise auf den ersten Blick leicht störend, unnormal aussah. Verrückte Welt, dachte Algorian. »Wann fängst du an?«, fragte Yael, dem nun die Anspannung anzumerken war, obwohl er sich Mühe gab, unbeeindruckt zu wirken. »Das habe ich bereits. Ich … lese schon in dir«, erhielt er von Algorian zur Antwort. Yael zuckte zusammen. »Echt?« »Ich sagte dir immer, es tut nicht weh.« »Ja, aber dass ich gar nichts fühle …« »Wäre es dir lieber, dass es wehtäte?« »Natürlich nicht!« »Dann bin ich ja beruhigt. Ich würde es ungern mit Qualen für dich garnieren.«
»Das … könntest du, wenn du wolltest?« Jetzt wirkte Yael erst richtig erschrocken. Algorian machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nein, das war ein Scherz. Aorii-Humor, wenn du verstehst? Sieh es mir nach, ich habe wenig Gelegenheit, mich in die Psychen anderer Geschöpfe zu begeben. Da liegt es nahe, das hier nicht einfach so abzuwickeln, sondern zu zelebrieren.« Jiim blickte herüber, als zweifele er an Algorians geistiger Frische. Yael enthielt sich eines Kommentars. »Mach weiter«, sagte er nur. »Ich schließe jetzt die Augen.« »Ja, tu das«, bestärkte ihn Algorian, obwohl auch das völlig unnötig war. Es machte für ihn keinen Unterschied, ob Yael sich offenen oder geschlossenen Auges espern ließ. Langsam drang er in die tieferen Schichten des Nargenbewusstseins. Hatte er im Vorfeld ein hohes Maß an Verunsicherung und Instabilität erwartet, so wurde er von der Gefasstheit und dem Selbstvertrauen, auf das er traf, überrascht. Als er noch tiefer in den Geist des anderen vorstieß, schlossen sich, ohne dass er es gewahr wurde, ihm selbst die Augen. Eine Art Sog hatte ihn erfasst. Bereitwillig ließ er sich davon mitreißen – wie von einem Wildwasser, das über Wirbel, Untiefen und Stromschnellen hinwegführte. Er meisterte alle Tücken und gelangte in einen Bereich, in dem rumorte, was Yael nur in tiefem Schlafphasen an sich heranließ … und auch dann nur sehr bruchstückhaft. Immer nur gerade so viel, wie sein Verstand zu bewältigen in der Lage war. Portas …, dachte Algorian, in seinen Grundfesten erschüttert. Das … ist also Portas, wie … Yael die Schwellenwelt erlebt hat … Aber was sind das für Pfeiler, Säulen …? Und was für … Gestalten, die zwischen ihnen hervortreten, zwischen ihnen verschwinden? Ein ständiges Kommen und Gehen … Er löste sich von den Bildern, die seinen eigenen Geist, sein Vorstellungsvermögen anzugreifen begannen. Er löste sich, wollte zurücktauchen an die Oberfläche, zurückkehren in seinen eigenen Körper und nie wieder in Yael vorstoßen, nie wieder, aber … da war noch etwas, das ihn anzog. Noch etwas, das sich wie ein Schatten
über Yael gelegt hatte – aber nicht blutschwarz (schwarz wie das Blut eines Nargen), sondern in warmem Goldton, und dieses Etwas … Algorian gab einen erstickten Stöhnlaut von sich, der Jiim sofort alarmierte. Was wiederum der Aorii nicht merkte, da er immer noch fern von allem war, was ihn in der normalen Realität berührte. Er steckte noch tief in Yaels Hirn, tief in Yaels wisperndem Geist, der … ja, der wahrhaftig mit diesem goldenen Schatten … kommunizierte. Unentwegt. Und dieser Schatten steckte nicht nur in Yaels Hülle, er war auch verbunden über einen hauchfeinen Faden, geheimnisvoll wie Ektoplasma, mit einem fernen Ding, das … das – Die Erkenntnis schmetterte Algorian förmlich aus Yaels Körper, und mit einem Mal lag er wimmernd im Staub von Pseudokalser. Lag da und wand sich am Boden, keuchte schwer und brabbelte wirres Zeug. Erst nach einer halben Ewigkeit beruhigte er sich wieder und erkannte das Gesicht, das über ihm war. Jiim kniete neben ihm und wischte ihm mit einem feuchten Tuch über das schweißnasse, fieberheiße Gesicht. Woher er den Lappen hatte, wusste Algorian nicht, er wusste nur … »Ich weiß es!«, presste er hervor. »Deshalb esperte ich dein Junges nicht – aber jetzt weiß ich, wer dieser Charly ist! Unglaublich. Verrückt. Aber … hätten wir nicht längst darauf kommen müssen.« Neben Jiim tauchte Yael auf. »Sag es«, verlangte er von dem Aorii, der sich mühsam aufsetzte. »Ich ahne, dass es mir nicht gefallen wird, aber … verrat mir Charlys Geheimnis!« »Du wirst es womöglich nicht einmal glauben«, sagte Algorian und wich Yaels Blick aus. »Und ich habe nicht den kleinsten stichhaltigen Beweis für meine Behauptung. Ich kann nur beteuern, dass ich es … gespürt habe. Mit jeder Faser meines Seins.« »Dann sag es uns endlich«, verlangte nun auch Jiim. Algorian sammelte sich kurz, dann sagte er: »Charly ist eine Schöpfung, eine Kreation von … dir, Yael. Daran gibt es für mich
keinen Zweifel mehr. Du hast ihn gemacht – irgendwie im Zusammenspiel mit etwas, das in dir steckt und das …« »Ja?«, drängte Jiim, während Yael erst einmal betroffen schwieg. »… golden ist.«
5. Kapitel Überall waren Glyphen an den grauen Wänden, die sich verschoben und umgruppierten, sobald Jarvis sie berührte. Wahrscheinlich formten sie Symbolfolgen, die verständlich waren wie Sätze aus den Buchstaben des Alphabets – wenn man nur in der Lage war, sie zu lesen. Woher willst du das wissen? Hör auf, haltlos zu spekulieren, geh weiter. Geh. Umso eher kannst du wieder von hier verschwinden. Um ihn herum herrschte eine Düsternis, die sich nicht in Worte fassen ließ und nicht einmal von den leistungsstarken Technomodulen seines Kunstkörpers aufzulösen war. Lautlos hatte sich die Irisblende hinter ihm geschlossen, und seither fühlte er sich wie ein Gefangener. Vielleicht, weil ich einer bin? Er versuchte, es mit Galgenhumor zu nehmen. Doch da war auch der Jarvis, der einst auf der Erde gelebt hatte und zwar für einen Flug zum Mars konditioniert worden war – aber sich niemals hätte erträumen lassen, hier zu landen. Jahrhunderte später und so weit von seinem Heimatstern entfernt, dass die unsagbare Fremde fast wie ein zweites Blut durch seine Adern pulste. Dieser andere, gar nicht so abgebrühte Jarvis brach jetzt in ihm durch – im denkbar ungünstigsten Moment. Aber wie war es möglich, dass dieser Körper, in dem sein Geist gelandet war, plötzlich sogar … zitterte? Hier stimmt etwas nicht. Mit mir nicht. Aber wahrscheinlich geht das auf diese Umgebung zurück. Sie weckt etwas in mir, etwas, das besser begraben bliebe. Er überlegte, warum er gekommen war, und es bereitete ihm größte Mühe, sich daran zu erinnern. An die Mission. Zu der er Cloud gedrängt, fast genötigt hatte. Die Mission, einen HAKAR aufzuspüren, der inmitten einer Anomalie zu stecken schien. Eine Anomalie,
hinter der sich eine ganz eigene Welt verbarg – wie auch immer das möglich war. Und jetzt war dort, woher die HAKAR-Signale kamen, ein gewaltiger Kuppelbau, kein Raumschiff, das der RUBIKON ähnelte. Das Echo drang immer noch zu ihm vor. Aber ein HAKAR hätte nur im Schutz seiner Dimensionswälle in eine Kuppel von den hier gegebenen Ausmaßen gepasst. Und welcher Kommandant hätte es riskiert, sein Schiff so zu parken? Wenn die Wälle versagten, musste das Schiff mit der umgebenden Materie kollidieren, was unweigerlich zur Katastrophe, zur Zerstörung geführt hätte … Waren die Echoimpulse von Anfang an gefälscht gewesen? Hatte die RUBIKON ins Friday-System gelockt werden sollen? Aber von wem, wenn nicht den Foronen? Die Treymor? Sie tauchten plötzlich auf, wo niemand sie vermutet hätte – gemäß dieser Regel hätten sie also auch hier die Fäden ziehen können. Aber aus einem ihm selbst unerfindlichen Grund glaubte Jarvis daran nicht. Er setzte sich in Bewegung. Der Gang, der auf dieser Seite der Irisblende begann, war matt erhellt, seine Wände, der Boden und die Decke bestanden aus grauem Metall, die Glyphen darauf waberten, als stecke in jedem einzelnen Symbol ein Schatten, der vergeblich versuchte, sich daraus zu befreien. Wie äscherner Rauch wölkte er daraus hervor, immer nur ein winziges Stück weit, ehe ihn etwas zurückzog. Bis der aussichtslose Kampf von Neuem begann. Wie lange schon? Wie alt mochte dieses Bauwerk sein? Wer hatte es errichtet, und … lebten diejenigen noch? Lebten sie gar in dem Kuppelbau selbst? Hatten sie die Schwebefalle ausgeschickt, um Proben tierischen Lebens aus der Parallelwelt zu besorgen? Warum? Zu welchem Zweck? Jarvis merkte, dass sich seine Gedanken im Kreis zu drehen begannen. Ich muss mich sputen. Das Ding hier nagt an meiner Kraft, es saugt an meinem Verstand … Er beschleunigte sein Tempo und versuchte, ein Peilung der HAKAR-Signatur vorzunehmen, die nicht auf dem Netzwerk-Echo be-
ruhte, sondern allein auf den energiespezifischen Ausstrahlungen des gesuchten Raumschiffs. Die Peilung, die er herstellen konnte, zeigte in die Tiefe. Er stellte sie nicht infrage, sondern suchte einen Weg nach unten. Bislang war er nur auf einen ebenerdig verlaufenden Korridor gestoßen, der nicht einmal erkennbare Türen hatte. Abrupt bremste er ab. Vielleicht waren die rätselhaften Glyphen der Schlüssel. Vielleicht lösten sie bei Berührung einen Mechanismus aus, der Türen öffnete … Jarvis beschloss, das Wagnis einzugehen. Er befand sich hier auf vermutlich komplett feindlichem Territorium. Die Gefahr für sich wesentlich erhöhen würde er durch den beabsichtigten Versuch wahrscheinlich nicht. (Er wusste, dass er sich mit dieser Selbstsuggestion nur in Sicherheit wiegen wollte, aber es half ihm, überhaupt irgendwie aktiv zu werden – mit seinem Latein war er fast am Ende.) Seine rechte Kunsthand strich über das nächstbeste Symbol, tauchte in dessen wabernden Schatten … … der augenblicklich, wie endlich befreit, auf ihn übergriff, sich von der Glyphe löste und nun über Jarvis waberte. Das Gefühl, das den ehemaligen GenTec dabei überkam, weckte längst begrabene Erinnerungen. Der kriechende Schatten fühlte sich an, als würde eine Fingerkuppe vorsichtig – nein: zart! – über den Körper streichen, den er einmal hatte. Das Nanogewebe übermittelte ihm Empfindungen, die er zuletzt als vollwertiger Mensch verspürt hatte …! Dann war der Spuk auch schon vorbei. Der Schatten war mit jedem Zoll, den er sich über Jarvis' Körperhülle bewegte, kleiner geworden und hatte sich am Ende vollständig aufgelöst. Dabei war etwas wie ein Seufzer laut geworden … Verrückt!, dachte Jarvis. Vollkommen verrückt! Die schattenlose Glyphe stach indes aus dem Meer der anderen hervor. Jarvis berührte sie noch einmal und erinnerte sich dabei, wonach er suchte. Das Symbol sprang aus der Wand, entglitt seinem Zugriff … und
landete auf dem Boden, wo es sich wie ein seltsamer Schlüssel in einem jetzt erst sichtbar gewordenen Schloss, das exakt die Form der Glyphe hatte, drehte. Sekunden später gähnte ein Schacht vor Jarvis, groß genug, ihn aufzunehmen. Der Schacht war leer, aber es war künstliche Gravitation anzumessen. Jarvis setzte sich zunächst auf den Boden und ließ die Beine in die Schachtöffnung baumeln. Als er auf eine Kraft traf, die ihm ausreichend erschien, stieß er sich ab und rutschte in das Loch. Die Antischwerkraft fing ihn sofort auf, es kam zu keinem Sturz, sondern er wurde sanft und in einem Tempo, das an einen langsam dahingleitenden Lift erinnerte, nach unten getragen. Der Schacht war in gleicher Weise erhellt wie der Korridor darüber. Es dauerte Minuten, bis Jarvis am Fuße der senkrechten Führung ankam und vor sich einen neuen Korridor sah, der schon nach wenigen Metern endete. Aber nicht vor einer Wand, es war keine Sackgasse, im Gegenteil: Er mündete in einen riesigen Raum, der ebenfalls mit Glyphen übersät war, die von Schatten umwabert wurden. Aber das interessierte Jarvis nicht, als er ihn erreichte. Ihn interessierte nur, was darin stand, nein hing – denn so hatte er ein Raumschiff, das der RUBIKON wie ein Spiegelbild ähnelte, noch nie gesehen … deponiert in einem Hangar von gigantischen Ausmaßen und gehalten von netzartig gespannten Fäden, an denen der HAKAR zu kleben schien wie ein Insekt am klebrigen Gespinst einer Spinne! Gigantisch war der Raum, das Gewölbe, schon deshalb zu nennen, weil dieser HAKAR ohne seine verkleinernden Dimensionswälle darin untergebracht war. Kilometerweit und -hoch erstreckten sich Wände um Jarvis. Er stand wie ein Winzling vor dem HAKAR. Und glaubte mehr denn je an ein Trugbild, an eine gezielt projizierte Fata Morgana, die solche wie ihn anlocken sollte, um ihn dann – Narr! Für wie wichtig hältst du dich, dass jemand solchen Aufwand betreiben sollte, nur um dich umzubringen? Das hätten die, die das fertigbringen, sicher längst gekonnt, wenn sie es darauf anlegen würden.
Er wusste nicht, ob ihn seine eigene Zurechtweisung beruhigen sollte. Er löste sich aus seiner Erstarrung und marschierte auf den HAKAR zu, der wie ein Gebirge vor ihm thronte. Noch zögerte er, die Trojanerdatei, die Sesha ihm mitgegeben hatte, freizusetzen. Er wollte keine schlafenden Hunde wecken. Denn sah man von dem Netz ab, gab es bislang kein wirkliches Anzeichen von akuter Gefahr für ihn. Andererseits: Jarvis wäre nicht Jarvis gewesen, hätte er dem scheinbaren Frieden auch nur eine Sekunde über den Weg getraut …
»Was ist?«, wandte sich Cloud an Sesha, die gerade von einem beachtlichen Ereignis an Bord gesprochen und sich unaufgefordert zu Wort gemeldet hatte. Beachtlich, hatte sie gesagt, nicht besorgniserregend, alarmierend oder dergleichen. »Das fiktive Wesen Charly ist soeben aus seiner Arrestzelle verschwunden.« Und das sollte nicht alarmierend sein, nur … beachtlich? Cloud, der fieberhaft auf ein eindeutiges Lebenszeichen von Jarvis – am liebsten dessen Rückkehr – wartete, schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie konnte er das schaffen? Und was meinst du, verdammt noch mal, mit ›fiktiv‹?« Sesha berichtete, was Algorian gerade in der bordeigenen KalserNische herausgefunden hatte. Oder zumindest herausgefunden zu haben glaubte. Worauf Clouds Erstaunen nur noch wuchs. »Du stellst dich auf seine Seite?«, fragte er die KI. »Du unterstützt und glaubst diese hanebüchene These? Dieser Charly ist nicht einfach nur ein Trugbild, das hast du selbst mehrfach beteuert. Er lässt sich anfassen. Er ist stofflich. Wie sollte Yael –« »Vielleicht hat es mit der Rüstung zu tun«, warf Scobee ein, die alles mit angehört hatte. »Mit dem Nabiss.« »Jiim trägt … oder man muss wohl neuerdings sagen: hat das Nabiss, nicht Yael!«
»Aber wir vermuten schon länger, dass sich genau das – diese Verschmelzung Jiims mit der Ganfrüstung – auf die Gene seines Sprösslings ausgewirkt haben könnte. Vielleicht war diese uns noch nicht begreifliche, in Yael schlummernde Kraft auch der Auslöser, dass es ihn nach Portas verschlug.« »Das wäre pure Spekulation.« »Ja, aber damit glänze ich glücklicherweise nicht allein«, gab Scobee säuerlich zurück. »Letztlich ist unser ganzer Abstecher ins Friday-System auch nur die Folge von unbewiesener Spekulation.« »Wie meinst du das?«, fragte Cloud. »Sesha betonte mehrfach, dass das Echo, das sie erkennt, zwar einem HAKAR ähnelt, aber es ist auch zugleich verfälscht, verzerrt, verschwommen … such dir das Adjektiv, das dir dafür am liebsten ist, gerne aus. Und aufgrund eines solchen … siehe oben … Signals sind wir hierhergekommen und bringen Schiff und Freund in Gefahr.« »Das kann man nicht vergleichen.« Sie winkte ab. »Das war schon immer ein beliebter Konter, wenn die Argumente ausgehen.« Er dachte darüber nach und gestand sich ein, dass sie nicht ganz unrecht hatte. »Noch mal, Sesha: Schließt du dich Algorians These an? Wie ist er überhaupt darauf gekommen – und was sagt der Betroffene, Yael, selbst dazu?« »Yael ist von der Aussage des Aorii ebenso verblüfft wie sein Elter. Und Algorian stieß offenbar während seines telepathischen Vorstoßes in Yaels Geist auf Hinweise, die ihn zu dieser Idee führten. Sie ist durch nichts bewiesen, beachtlich ist jedoch, dass …« »Komm auf den Punkt!«, drängte Aylea ungeduldig. »… Charly im selben Augenblick verschwand, als Algorian Yael mit seiner Behauptung konfrontierte.« Cloud atmete tief durch. Ein Beweis war das für ihn immer noch nicht, aber immerhin bemerkenswert, das musste er einräumen. »Und wie genau sah dieses … Verschwinden Charlys aus?« Sesha blendete, wie schon einmal, ein Bild der Arrestzelle in die Holosäule ein. Es musste eine Aufzeichnung sein, denn dort saß
Charly noch auf seiner Bank. Für ein paar Sekunden jedenfalls, denn plötzlich wurde er zunehmend durchscheinender … und verblasste schließlich zur völligen Unsichtbarkeit. »Er ist definitiv nicht mehr in der Zelle?«, fragte Cloud. »Es könnte sich auch um die Parafähigkeit eines Angkmenschen handeln, der in der Lage ist, sich einfach … unsichtbar zu machen. Oder zu teleportieren …« »Beides ist auszuschließen. Ich hatte ein spezielles Psi-Eindämmungsfeld um die Zelle gelegt. Und Unsichtbarkeit wäre eine Option, wenn ich inzwischen nicht auch jeden Winkel von Bots hätte durchkämmen lassen.« »Wie sollte Yael ihn … erschaffen haben? Und dann wieder abschalten, zumal du besagtes Eindämmungsfeld aktiviert hattest?«, fragte Scobee. »Das kann ich nicht beantworten.« »Erinnert ihr euch an Boreguirs Fähigkeit?«, rief Aylea. »Er konnte sich nicht nur einfach unsichtbar machen, sondern irgendwie inexistent für andere, selbst für technische Sensoren. Vielleicht hat einer der an Bord Gekommenen eine ähnliche Fähigkeit …« »Die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedenfalls nicht höher als die von Algorians Vermutung«, sagte Cloud. »Ich werde, sobald es geht, persönlich ein paar Worte mit Yael wechseln. Und mir natürlich auch noch mal im Detail anhören, was Algorian zu sagen hat. Vorerst aber …« Er nickte zur Holosäule, wo immer noch der Dschungelplanet abgebildet war und in Detailfenstern die Umgebung der Stelle, wo Jarvis das Phänomen betreten hatte, und die Anomalie selbst. »Widmen wir uns zunächst aber wieder der momentan dringlichsten Angelegenheit. Was nicht heißt, dass du, Sesha, nicht alle Vorkehrungen triffst, die eine Schiffsgefährdung von innen, etwa durch diesen Charly – wer oder was auch immer er letztlich ist –, ausschließen.« »Selbstverständlich. Ich werde ein erneutes Auftauchen der fiktiven Person sofort melden.« Cloud nickte. »Irgendeine Veränderung der Jarvis-Signatur zu erkennen?«, fragte er dann.
»Unverändert«, erwiderte die KI. Unverändert schwach also, dachte Cloud. Und fürchtete den Moment, da sie ganz und gar verlöschen könnte …
Der HAKAR erweckte einen energetisch toten, zumindest aber auf Sparflamme köchelnden Eindruck. Ganz im Gegensatz zu dem »Netz«, das ihn festhielt. Jarvis scannte zunächst die dicken Stränge, die das Raumschiff festhielten, und fand Hinweise auf enorme hyperphysikalische Kräfte, die aktiv waren. Danach erst tastete er mit seinen Sensoren die Oberfläche des Schiffes ab … und fand zu seiner Überraschung eine der Hauptschleusen offen vor. Sofort begab er sich dorthin, und noch immer war keine direkte Bedrohung ersichtlich. Die Schleuse war dunkel. Jarvis schaltete auf Infrarotsicht um und rief in seinen Speichern den Grundriss der RUBIKON über sämtliche Decks ab. Auf diese Weise ermittelte er den von der offenen Schleuse aus direktesten Weg zur Schiffszentrale. Unterwegs begegnete er niemandem. Zunächst jedenfalls. Er benutzte die konventionellen Wege, um an sein Ziel zu gelangen, einem Transmitter hätte er sich nicht anvertraut, selbst wenn er auf einen aktiven gestoßen wäre – was nicht der Fall war. Kurz vor der Zentrale geschah erstmals etwas, was ihm das mulmige Gefühl, das ihn bei Betreten der Kuppel beschlichen hatte, dann hier unten aber allmählich abgeebbt war, schlagartig wieder zurückbrachte. Ein unheimliches Geräusch kündigte den Vorfall an. Dann … schienen sich plötzlich die Gangbegrenzungen zu verschieben … und etwas … drängte sich an Jarvis vorbei … Etwas Unwiderstehliches. Er wurde beiseitegeschoben. Das Geräusch schwoll ab. Und das undefinierbare Etwas zog davon, ohne Jarvis zu beachten. Es schien ihn nicht einmal bemerkt zu haben.
Jarvis brauchte minutenlang, um sich von der Begegnung mit dem Schemen zu erholen. Längst waren die Gangwände wieder zu ihrer normalen Form und Größe zurückgekehrt. Das Etwas hatte auch sie einfach … beiseitegeschoben, um seinem Volumen Platz zu schaffen. Jarvis lauschte in sich und überprüfte, ob es irgendwelche Aufzeichnungen seiner körpereigenen Sensoren gab, die sich aufbereiten ließen, um dem Spuk auf den Grund zu gehen. Doch da war nichts. Der Vorfall hatte keinerlei Spuren hinterlassen, weder in ihm noch an seiner Umgebung. Geistig angeschlagen setzte er den restlichen Weg zur Zentrale fort, stets auf der Hut, ob sich das unheimliche Geräusch wiederholen und damit die Wiederkehr des Spuks ankündigen könnte. Foronen begegneten ihm nicht, obwohl er immer stichprobenartig in Kabinen geblickt hatte. Das Schiff schien vollkommen verlassen – was Jarvis auf jeden Fall lieber gewesen wäre, als dass seine Besatzung aktuell aus Gespenstern bestand wie das gerade erlebte. Was tue ich hier eigentlich? Der HAKAR ist selbst für den Fall, dass er keine Besatzung mehr hat, für uns verloren. Wie sollten wir – ich! – ihn aus dieser Kuppel bekommen? Und wie groß wären die Chancen, ihn danach aus der Anomalie zu lenken? Wenn überhaupt, wäre dies nur in Kooperation mit der hiesigen KI machbar. Sie aufzuwecken, indem er das Trojanerprogramm freiließ, oder den Kontakt zu ihr zu suchen, zögerte Jarvis immer noch. Es gab keine Garantie, dass die speziellen Viren im Ernstfall ihr Werk verrichteten und das schafften, was Sesha mit »die fremde KI auf deine Seite ziehen« bezeichnet hatte. Nein, bislang war Jarvis über den Mangel an Beachtung nicht wirklich unfroh, und am liebsten wollte er es dabei noch ein Weilchen belassen. Vor ihm tauchte das Schott zur Bordzentrale auf. Auch das stand offen, ohne dass ein Transmitterfeld geschaltet gewesen wäre. Ob der Spuk sich auch hierher gewandt hatte und jetzt im Herz des Schiffes auf ihn wartete? Jarvis überwand seine Beklemmung und betrat die Zentrale, die
rein von ihrem Aufbau her absolut identisch mit der vergleichbaren Sektion in der RUBIKON war. Die Unterschiede lagen hauptsächlich darin, dass hier alles tot wirkte: die Holosäule war deaktiviert, Konsolen im weiten Rund schwiegen und zeigten keinerlei Aktivität in irgendeiner Form … und last but not least war niemand da, als Jarvis eintrat. Nicht einmal der Spuk. Etwas fiel ihm dennoch auf, als sein Blick zum Kommandopodest ging. Dort waren die gewohnten sieben Sitze kreisförmig verteilt, und dazwischen spannte sich im Normalfall die Holosäule bis zur Decke. Hier nicht, aber es gab eine Augenfälligkeit, die Jarvis' Neugier sofort weckte: einer der sieben Sitze war geschlossen. Er bot genau den Anblick, der die Menschen veranlasst hatte, die Plätze hier Sarkophagsitze zu nennen. Die anderen sechs waren offen, der siebte sah aus wie die letzte Ruhestätte eines altägyptischen Pharaos. Nur dass die Gehäuseoberfläche nicht vergoldet war. Jarvis seufzte innerlich. Er kannte den Notmechanismus, mit dem ein Sarkophagsitz von außen geöffnet werden konnte, falls der Insasse dazu, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr selbst in der Lage war – oder es nicht wollte. Auf Jarvis' Chronometer waren inzwischen mehr als zwei Stunden vergangen. Es ging stark auf die dritte Stunde zu und damit auf das Ende der vereinbarten Frist zur Erkundung der Anomalie. Cloud hatte nicht gesagt, wie er gegen dieses absonderliche Phänomen vorgehen wollte, aber Jarvis kannte den Freund zu gut, um ernsthaft in Zweifel zu ziehen, dass er handeln würde. Und dann muss ich hier raus sein! Nicht nur aus dem HAKAR, auch aus dem Gebiet, das hinter der Nebelwand lag. Nur eine Transition konnte ihn noch rechtzeitig zur Grenze bringen. Doch zuvor … Jarvis zog den versteckten Hebel. Die Notautomatik trat ohne erkennbare Verzögerung in Aktion. Zeitrafferschnell bildete sich der Gehäusedeckel zurück und gab den Blick auf das Innere frei. Wo ein Forone halb saß, halb lag.
Ein Forone in einer Rüstung, wie nur die sieben Hohen des Septemvirats sie ihr Eigen nannten, kein niederrangiger Angehöriger dieses sehr speziellen Volkes. Jarvis rief sich in Erinnerung, dass sein jetziger Kunstkörper einmal eine genau solche Rüstung gewesen war, ehe das Internprogramm sie umgeformt und ihr humanoide Gestalt verliehen hatte. Rasch glich er die Physiognomie des Gesichtes, das von der Rüstung ausgespart wurde, mit den in seinen Speichern verankerten Daten ab. Danach wusste er mit 99-prozentiger Sicherheit, wen er vor sich hatte. »So also sieht man sich wieder, alter Knabe«, murmelte Jarvis, während er zu verdauen versuchte, dass der Forone vor ihm lag, der das meiste Charisma von allen Hohen besaß. Sobek. Das da vor ihm war der Hohe Sobek, der schrecklichste, tückischste und arroganteste von allen Foronen, die Jarvis jemals persönlich erlebt hatte. Er hob die Hand und ließ ein Diagnosefeld materialisieren, mit dem er über Sobeks Körper strich. Vielleicht reagierte die Rüstung darauf. Vielleicht hatte Sobek aber auch nie wirklich geschlafen, sicher war nur eins: Jetzt war er erwacht … … und schnellte sich, wie von einer Feder getrieben, aus dem Sitz. Der Podestboden schien zu erbeben, als Sobek mit seinen schweren Stiefeln darauf landete und sich ohne irgendwelche Anzeichen eigener Verblüffung dem Eindringling zuwandte. Den er offenbar sofort erkannte. »Aaah«, drang es aus der Sprechmembran. »Als ich mich niederlegte, konnte ich davon nur träumen – davon, eines Tages wieder einem der Diebe gegenüberzustehen, die mein Heiligtum entweihten …« Fauchend veränderte sich Sobeks Körperhaltung. »… und raubten!« Jarvis wollte etwas erwidern, doch dazu kam er nicht mehr. Der Kampf auf Leben und Tod, an dessen Ende es nur einen Sieger geben konnte, war längst entbrannt.
»Was ist das für eine Modifikation der K-Waffe, die du vorschlägst?«, fragte Cloud. »Sie geht davon aus, dass es sich bei der Anomalie um ein höherdimensionales Phänomen handelt«, antwortete Sesha. »Wovon auszugehen ist. Also? Welche Modifikation?« Die Kontinuumwaffe war das mächtigste Pfund, mit dem die RUBIKON wuchern konnte. Aber sie war auch zugleich die am schwersten beherrschbare Waffe. Sie in Planetennähe einzusetzen, konnte den Untergang desselben herbeiführen, ohne dass das beabsichtigt war. Einmal entfaltet, vermochte ein Dimensionsriss, die gewaltsame Verletzung des universellen Raum-Zeit-Gefüges, eine Welt in Stücke zu reißen, zumindest aber ihre Umlaufbahn empfindlich zu stören. Schwerwiegende, nein irreparable Folge davon mochte sein, dass sie sich nicht wieder fing und haltlos in ihre Sonne stürzte … oder in die eisige Schwärze des extrasolaren Raumes abdriftete. Beides war das Todesurteil für die betroffene Welt und all ihre Bewohner, ganz gleich ob pflanzlicher, tierischer oder gar intelligenter Art. Das zu riskieren, selbst für einen Freund, schreckte Cloud zurück. Wäre die Welt unbewohnt, unbelebt gewesen, hätte er weniger Skrupel gehabt, aber so … »Ich arbeite seit Längerem an einer besseren Dosierbarkeit der Gewalten, die der Stachel der K-Waffe freisetzt«, erwiderte Sesha. »Es gibt inzwischen Fortschritte, die allerdings in der Praxis noch unerprobt sind.« »Was würde die Dosierbarkeit in unserem speziellen Fall bewirken?«, fragte Cloud. »Wir könnten einen Aufriss direkt innerhalb der Anomalie generieren. Die Zielkoordinaten sind mühelos zu erstellen. Sodass weder die Planetenoberfläche noch umliegende atmosphärische Gebiete berührt würden.« »Ist das nicht absolutes Wunschdenken? Die K-Waffe erzeugt ein
›Leck‹ in unserem Kontinuum und öffnet einem benachbarten Tür und Tor. Die entropischen Kräfte sind meines Erachtens nicht beherrschbar. Wären sie es, hätten die Foronen ihre Waffe schon vor langer Zeit modifiziert und – wie du es nennst – dosierbar gemacht.« »Das Bessere war schon immer der Feind des Guten, wenn es um Erfindungen geht. Und Technologie schreitet nun einmal voran, indem man an ihr arbeitet. Was ich getan habe.« »Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Mir geht es nur um die Beherrschbarkeit der Risiken.« »Die Alternative, um der Anomalie zu Leibe zu rücken«, erwiderte Sesha kühl, »wäre ein weiteres, schlagkräftiges Bodeneinsatzkommando.« Cloud verzog das Gesicht. Damit hatte sie ihn. Als KI war sie zu klug, um nicht abschätzen zu können, dass er genau das vermeiden wollte: noch mehr Gefährten in Gefahr zu bringen. Oder eine Materialschlacht zu führen, deren Verluste niemand vorhersehen konnte. Die K-Waffe war die deutlich elegantere Lösung. Wobei »elegant« im Zusammenhang mit den möglichen Folgen für A-4 beziehungsweise das ganze Friday-System fast schon pervers klang. »Wie lange noch bis zum Ablauf der Frist?«, wandte er sich an Scobee, die bis dahin alles schweigend und kommentarlos mit angehört hatte. »Sieben Minuten«, sagte sie. »Es wird ernst. Überleg dir gut, ob du Jarvis ins kosmische Nirwana schicken willst.« »Wie ausgeprägt ist die Echosignatur seines Markers?« »Unverändert«, antwortete Sesha. »Er befindet sich dort, wo der HAKAR ist. Ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes bedeutet, wissen wir nicht, da wir keine Informationen über die örtlichen Gegebenheiten haben.« »In sieben Minuten kann er es nicht mehr aus eigener Kraft aus der Anomalie herausschaffen.« Scobee bemühte sich um Fassung. »Wir könnten die Frist doch verlängern«, rief Aylea, worauf Jelto ihr sofort beruhigend die Hand auf die Schulter legte. »Ich dachte immer, die K-Waffe sei das letzte aller Mittel. Aber wir haben längst
nicht alles versucht. Jarvis würde nicht verstehen, dass du so rigoros handelst, Chef. Bitte, leg noch eine Schippe Zeit drauf!« In anderer Situation hätte er über ihre Formulierung vielleicht lächeln müssen. In diesem Moment war ihm danach absolut nicht zumute. Sie haben recht, dachte er. Jarvis ist da unten. Er wusste, dass es ins Auge gehen kann – aber er würde in umgekehrtem Fall nicht auf einen Befehl beharren, der den Tod desjenigen nach sich zieht, der sich freiwillig für alle anderen in Gefahr begeben hat. »Na –«, gut wollte er sagen. Und einlenken. In diesem Moment meldete die Ortung jedoch etwas, was alle Überlegungen bezüglich einer Fristverlängerung zurückstellte. »Ich weiß nicht, was Jarvis dort unten in Gang gesetzt hat – wenn er es überhaupt war -,« kommentierte Scobee die eingehenden Werte, »aber wir werden gerade angegriffen. Aus der Anomalie lösen sich mehrere Objekte unbekannter Bauart. Sie steuern exakt auf die Orbitalposition der RUBIKON zu.«
6. Kapitel Ringsum flammten Lichter auf, Aggregate und Gerätschaften erwachten wie aus einem Dämmerschlaf. Sobek stand für einen Moment wie die personifizierte Mordlust vor Jarvis. Sein knöchernes Gesicht, in dem es keine Augen im herkömmlichen Sinn gab, nur Rezeptoren, strahlte eine eisige Verachtung aus, die Jarvis selbst in seinem Nanokörper spüren konnte. In einem Winkel seines Geistes versuchte er, sich immer noch von der Überraschung zu erholen, hier ausgerechnet auf Sobek gestoßen zu sein. Sobek, der laut Siroonas Behauptung nach Andromeda aufgebrochen war. Wann war er zurückgekehrt? Und warum hatte er sich nie um seine frühere Geliebte gekümmert, die auf RUDIMENT-2 vor sich hin vegetierte, bis sie wegen Scobee aus ihrer Stasis geweckt worden war? Was lag hinter dem Hohen – und wo war der Rest der HAKARBesatzung? Spätestens als Sobek seine Rüstung schloss (sie wucherte wie ein Heer von metallischen Käfern über sein Haupt, bis es ebenso bedeckt war wie der Rest des Körpers), war Jarvis klar, dass er auf keine seiner Fragen eine Antwort erwarten durfte. Sobek hatte nur eines im Sinn: den Kontrahenten auslöschen. Zuvor vielleicht noch, wenn er die Klaue bereits – sprichwörtlich – um die Kehle des ExGenTec geschlossen hatte, aus ihm herauspressen, wo sein über alles verehrtes Archenschiff war. Aber dann … Er wird keine Gnade walten lassen – aber ich ebenso wenig! Die ausgestreckten Arme Sobeks hatten am Übergang von Arm in Hand eine Art Kragenwulst, aus dem in diesem Moment die erste Salve von Miniraketen auf Jarvis abgefeuert wurde. Patronengroße Projektile rasten wie winzige Cruise Missles auf ihn zu, folgten seinen blitzschnellen Ausweichbewegungen und …
… explodierten, als Jarvis die Attacke mit einer Fächersalve seiner Blaster beantwortete. Die Miniraks vergingen, ohne Jarvis einen Schaden zuzufügen. Auch die Umgebung blieb unversehrt. Offenbar schaltete jemand (Sobek, die Bord-KI, andere, irgendwo versteckt lauernde Foronen?) partielle Schilde, um die Zentralen-Einrichtung zu schützen. Jarvis bemerkte dies eher beiläufig, denn Sobek griff bereits wieder an. Er hatte seine Strategie gedankenschnell geändert. Als Jarvis zu dem Schott starrte, durch das er die Kommandobrücke betreten hatte, sah er, dass sich die Leere zwischen dem Rahmen mit Energie füllte, die aussah, als blicke man auf eine vertikal gestellte Wasseroberfläche, über die winzige Wellen liefen. Im nächsten Moment quoll ein Strom von Spinnenbots herein und formierte sich rasend schnell um die beiden Widersacher. Ein mehrfach gestaffelter Ring entstand, der allerdings offenbar nur das neue Schlachtfeld markierte. Die Bots griffen nicht weiter ein – für Jarvis der sichere Beweis, dass Sobek mental mit der Bord-KI in Interaktion getreten war. Offenbar hatte er ihr befohlen, sich herauszuhalten. Gewiss hielt er es für unter seiner Würde, sich gegen ein »Nichts« wie Jarvis helfen zu lassen. »Du hast es dir in Monts Rüstung bequem gemacht, Mensch. Aber dies ist die Stunde, in der du und deinesgleichen alles zurückgeben müsst, was ihr jemals aus Foronenhand übernommen habt! Dies ist die Stunde eures qualvollen Todes!« Sobeks Stimme wurde von der Rüstung verstärkt und dröhnte Jarvis mit einer Gewalt, vergleichbar der biblischen Posaunen von Jericho, entgegen. Er ließ den Schall über sich hinwegbranden. Dann erwiderte er bemüht kühl: »Du redest viel. Ich dachte, wir würden kämpfen.« »Du glaubst, denken zu können?« »Ich bin mir dessen sogar ziemlich sicher. Gerade denke ich mir jedenfalls meinen Teil …« Sobek ließ seine Fingerspitzen in einer Abfolge, deren Auswirkungen Jarvis nicht vorauszusehen vermochte, über die Brustplatte seiner Nanorüstung gleiten.
»Machen wir es kurz, Menschenwurm.« Vor Sobeks Brust baute sich etwas auf, das wie eine winzige Sonne waberte. Plasmaheiße Gase, zu einer Kugel geballt … … die im nächsten Moment auf Jarvis zuraste. Jarvis wollte ausweichen – aber unsichtbare Kräfte bannten in auf die Stelle. Wahrscheinlich hatte Sobek – oder die KI, aber das kam auf dasselbe heraus – ein Kraftfeld geschaltet. Jarvis konnte nur beten, dass dieses Feld nicht alles verhinderte. Er … transitierte. Die Berechnung des Sprunges basierte auf einer Laservermessung, die er in dem Moment abschloss, als sich der Plasmaball von Sobeks Rüstung löste. Klug wäre es gewesen, so weit wie nur möglich, aus dem HAKAR zu springen. Ihn und den Kuppelbau zu verlassen. Aber Jarvis handelte nicht klug, er handelte … schlau. Und tat damit erstmals etwas, was Sobek so gewiss nicht erwartet hatte. Denn der errechnete Rematerialisierungspunkt befand sich in Sobeks Rüstung. Irdische Physik hatte noch um die letzte Jahrtausendwende gelehrt, dass zwei Körper unmöglich zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein konnten. Und im Großen und Ganzen traf dieses Gesetz auch noch in der Gegenwart zu – auch wenn es hyperphysikalische Kunstkniffe gab, es zu umgehen. Hier und jetzt aber wollte Jarvis genau diese Physikregel bestätigt sehen. Wenn er in Sobeks Rüstung materialisierte … was würde dann aus Sobek werden? Matsch!, hoffte er. Und dann … war er in der Rüstung, die seinem Körper so sehr ähnelte. Sofort öffnete er sämtliche Sensoren, um seine Außenhaut nach Überresten des einstigen Foronen abzusuchen. Blutigen Überresten. Er wurde nervös, als er keine fand. Noch nervöser, als eine Stimme per Funk in ihm sagte: »Du hast dich selbst schachmatt gesetzt. Jetzt steckst du in einer Falle, aus der du nicht mehr entkommst.« War das Sobek? Oder nur noch dessen Rüstung, die den Tod ihres Trägers rächen wollte?
»Die Drohung an sich ist lächerlich«, gab er zurück. »Bevor ich mich einkerkern lasse, sprenge ich mich. Und mit mir dich, den HAKAR und …« »Das kannst du nicht.« Eine Art Gelächter begleitete die Behauptung. »Sobek?« »Wer sonst?« »Aber du müsstest …« »… tot sein? Ach, Menschlein. Wie lange steckst du schon in dieser Haut und hast immer noch nicht begriffen, wozu sie fähig ist? Wahrscheinlich überschaust du erst einen Bruchteil ihrer Möglichkeiten – es war Verschwendung, dir ein solches Machtmittel in die Hände zu geben. Unglaubliche Verschwendung …« »Wie hast du das gemacht? Wie hast du das überleben können? Vor allem aber – wo bist du?« »Ich bin ganz nah. Ich stehe neben meiner Rüstung, immer noch in der Zentrale des HAKARs. Sie versetzte mich aus dem Bereich, in den du wolltest. Und gelangt bist. Sie maß deine Aktivität ebenso an wie dein beabsichtigtes Ziel. Sie kümmert sich gut um ihren Träger. Und jetzt bist du ihr ausgeliefert. Oder sollte ich sagen: mir? Du kannst dich nicht sprengen und so den schnellen Tod suchen. Oder mich mit in denselben reißen. Die Rüstung wird nicht zulassen, dass zerstörerische Gewalt zu mir oder dem Schiff vordringt.« Er glaubt, was er sagt – und ich schätze, er glaubt es, weil es stimmt, dachte Jarvis frustriert. In diesem Moment wusste er, dass er die allerletzte Chance beim Schopf packen musste, um vielleicht doch noch davonzukommen – falls es dafür nicht längst zu spät war. Falls er nicht inzwischen zu lange damit gewartet hatte … Er setzte den Trojaner frei. Er täuschte eine Funkantwort an Sobek – oder dessen Rüstung – vor und nutzte sie als Trägerfrequenz für das heimtückische Virus, das er sowohl den Bordsystemen des HAKARs einimpfte als auch – in einer Modifikation – der Nanorüstung des Hohen Sobek! Danach wartete er ab. Wartete auf ein erneutes Aufbranden von Sobeks Stimme … oder
einem spürbaren Hinweis darauf, dass Seshas Heimtücke fruchtete. Aber für lange Zeit sah es einfach nur aus, als würde sich dieses Grab, in das er freiwillig gesprungen war, nie mehr für ihn öffnen.
»Was zur Hölle ist das?« Der aus der Atmosphäre heraustretende Schwarm bestand aus Hunderten von deltaförmigen Flugkörpern, ein jeder nicht größer als ein Mensch. Es waren Maschinen … aber welchen Zweck erfüllten sie? Cloud tippte auf Zerstörung. Wäre hier eine friedliche und harmlose Annäherung versucht worden, hätte das anders aussehen müssen. »Analyse!«, wandte er sich an Sesha. »Materialbeschaffenheit unbekannt. Antriebsart unbekannt. Gefährdungspotenzial –« »… unbekannt«, vollendete Cloud für die KI. »Danke. Dann darfst du jetzt tätig werden. Mach ihnen den Garaus – bevor sie es mit uns tun! Die Wahl der Mittel überlasse ich dir.« Sesha entschied sich für eine blassblaue Strahlenart, die in der Lage war, auf ihrer Schussbahn befindliche Dunkle Materie an sich zu binden, in Antimaterie umzuwandeln und auf ein Zielobjekt zu übertragen. In der Praxis – hier! – bedeutete das, dass die getroffenen Deltastrukturen binnen Sekundenbruchteilen aufhörten zu existieren. Alles, was von ihnen blieb, war diffundierende Energie. »Gut gemacht«, lobte Cloud. Doch der nächste Schwarm folgte auf den Fuß. Diesmal bestand er aus Deltastrukturen, die sich miteinander verbunden hatten. Dazwischen spannten sich silbrige Segel, die … »Nottransition!«, befahl Cloud, der in dem Moment, da Sesha eine weitere Salve der blassblauen Strahlen ankündigte, wusste, dass der Beschuss nicht mehr zu verhindern war. Damit wäre das Schicksal der RUBIKON, wenn er richtig vermutete, was der »Umbau« der Deltaobjekte bedeutete, besiegelt gewesen.
Der Notsprung rettete sie. »Warum hast du das getan?«, fragte Scobee. »Wolltest du lieber sterben?« »Sprich Klartext!« »Über welche Distanz ging die Transition?«, fragte er. »Wie in meiner Programmierung festgelegt, über drei Millionen Kilometer, systemauswärts gerichtet.« »Also immer noch Friday-System, Bereich Friday-A?« »Bestätigung.« »Gut.« »Gut?«, stöhnte Scobee. »Was – ist – los?« »Schwarmortung über A-4 möglich?«, wandte sich Cloud an die KI. »Positiv.« »Visuelle Darstellung?« »Im Grenzbereich. Unschärfe unumgänglich …« »Kein Problem. Ranzoomen!« So geschah es. »Hattest du die Salve bereits ausgelöst, als der Sprung angeordnet wurde?«, fragte Cloud, als die silbernen Konglomerate sichtbar wurden. Sesha bejahte. »Die Schussserie verließ die Gefechtsantennen praktisch mit dem Notsprung.« »Hattest du so schlecht gezielt?« »Ich hatte alle Ziele exakt im Visier.« »Warum fliegen sie dann noch da draußen?« »Keine Erklärung.« »Ich aber. Ich habe eine. Es war nur eine Ahnung, aber sie wurde gerade bestätigt.« »Du und deine Ahnungen«, murrte Scobee. »Was ist passiert? Deine Version!« »Die Anomaliebewohner haben reagiert. Die ersten Deltas wurden problemlos von uns beseitigt. Wahrscheinlich waren sie aber ohnehin nur ein Versuchsballon, um unsere Waffen zu testen.« »Und dann haben sie sich auf unsere Methode eingestellt?«
»Genau so ist es. Sie haben diese Deltaverbindungen geschickt, versehen mit reflektierenden Segeln.« Scobee begriff. Sesha noch nicht. Erstaunlich. Während Scobee nickte, führte Cloud für die KI weiter aus: »Die blassblauen Strahlen wären auf uns zurückgeworfen worden, wenn wir uns in der Abschussposition gehalten hätten – dessen bin ich mir mittlerweile völlig sicher. Und die Tatsache, dass die Deltaverbindungen noch existieren, obwohl du auf sie gefeuert hast, scheint mich zu bestätigen.« Sesha schwieg. »Sesha?« »Ja?« »Nichts, ich wollte nur wissen, ob du noch da bist.« Scobee grinste zu Clouds Worten. »Du hast sie sprachlos gemacht. Kompliment.« Er grinste noch breiter als sie. »Drei-Stunden-Frist abgelaufen«, meldete die KI und zeigte damit, dass ihre Sprachlosigkeit kein bleibender Effekt war. »Was hast du vor?«, wandte sich Scobee an Cloud. »Verlängerst du die Frist, oder …?« »Vielleicht müsste ich als Commander härter sein«, erwiderte er. »Aber ich kann nicht so rücksichtslos vorgehen, wie Sesha es vorgeschlagen … und auch vorbereitet hat.« »Das macht dich mir sehr sympathisch.« Sie lächelte. »Danke. Aber das hilft weder Jarvis noch uns merklich weiter.« »So ist es eben, wenn man nicht weiß, was unser Kundschafter gerade tut – in welcher Lage er sich befindet. Alles kann gut sein. Er mag den HAKAR betreten haben und gerade daran arbeiten, ihn unter seine Kontrolle zu bekommen … aber er kann auch längst überwältigt und handlungsunfähig sein. Dann können wir hier bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten …« Besser hätte Cloud ihre Misere auch nicht formulieren können. »Was ist mit der K-Waffe?«, wollte Sesha wissen. »Momentan nichts, gar nichts. Wir warten weiter ab«, kanzelte Cloud sie ab.
Aber wieder kam alles anders als geplant. Wieder bestimmte die Anomalie die Spielregeln, indem sie den nächsten Zug vornahm. »RUBIKON von Zugstrahl erfasst«, meldete Sesha. Außer einer leichten Bodenvibration war davon nichts zu spüren. Dennoch hegte Cloud keinerlei Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage. »Quelle?« »Die Anomalie.« »Heißt das …?« »Es heißt, dass wir darauf zugezogen werden – in sie hinein«, antwortete die KI. Clouds Blick suchte die Augen von Scobee. Wie würdest du jetzt entscheiden?, fragte er sie stumm. Ihre Blicke halfen ihm weiter. Danke, dachte er. »Besteht eine Möglichkeit, dem Traktorstrahl zu entkommen?«, wandte er sich an die Bordinstanz. »Durch Transition oder dergleichen?« »Der Zugstrahl hat besondere Eigenschaften. Er interferiert auf ndimensionaler Ebene. Eine Transition würde vermutlich eine Rückkopplung auslösen, die uns vernichten könnte.« »Hört sich nach einem Nein an«, sagte Cloud. »Andere Vorschläge?« »Eine Flucht ist nach meinen Berechnungen unmöglich«, sagte Sesha. »Dann«, nickte Cloud bitter, »bleibt uns wohl nichts anderes mehr übrig. Auf diesem Schiff sind aktuell ein paar tausend Leute. Ich muss sie schützen. Was sagt dein interferierender Zugstrahl zum möglichen Einsatz der K-Waffe?« Die Antwort Seshas darauf kam einem Freibrief gleich. Und klang gleichzeitig wie das endgültige Todesurteil für den Mann, der schon einmal gestorben war.
Der Mann, der schon einmal gestorben war, sah plötzlich wieder Licht um sich herum, denn Sobeks Rüstung teilte sich, als würde ein Laserskalpell sie von oben bis unten aufschneiden. Sie platzte förmlich von Jarvis weg … und fiel dann zu Boden. Den Boden der HAKAR-Zentrale und fast genau vor die Füße des Foronenführers, dessen knöcherne Physiognomie zwar keine Deutung zuließ, dessen Körperhaltung hingegen einiges verriet. Die Verblüffung drückte sich in jedem Quäntchen seiner Präsenz aus. Er war, stellte Jarvis mit großer Genugtuung fest, geschockt. »Ronfarr!«, bellte er gerade, und es klang, als würde er damit nach seiner Rüstung rufen – war das ihr Eigenname? –, die aber … nicht reagierte. Nicht einmal ansatzweise. Sie lag einfach nur da wie ein Bündel, das jemand weggeworfen hatte, der seiner nicht mehr bedurfte. Hightech-Müll. Jarvis wusste, dass das übertrieben war. Deshalb sandte er jetzt einen auf Seshas Programmviren fußenden Impuls an die Rüstung ab, die kurz zu zucken begann, als stecke immer noch ein Körper in ihr, dann aber wieder in Reglosigkeit verfiel. Als Nächstes suchte Jarvis den Kontakt zur künstlichen Intelligenz des HAKARs. Keine Reaktion. Sie schwieg. Aber sie schwieg auch, als Sobek wild gestikulierend nach ihr verlangte. Die gestaffelten Ringe der Spinnenbots waren immer noch da und warteten auf neue Befehle. Sobek wandte sich ihnen zu. »Greift ihn an!«, dröhnte es aus seiner Membran. »Bindet ihn mit euren A-Grav-Aggregaten und dann … zerlegt ihn!« Sie rührten sich nicht. Danke, Sesha, dachte Jarvis. Immerhin hast du es geschafft, mit deinen Trojanern alles hier lahmzulegen. Das ist mehr, als ich vor ein paar Augenblicken noch hoffen durfte. Er sprang vor. Er war es leid, auch nur ein einziges weiteres Wort mit Sobek zu wechseln. Stattdessen schickte er dem Foronenführer eine hoch do-
sierte Ladung Paralysestrahlen entgegen. Die wuchtige Gestalt wankte – und kippte dann einfach um, schlug hart zu Boden. »So habe ich dich mir immer gewünscht«, knurrte Jarvis, löste eine Teilsubstanz von seiner Körpermasse und schickte sie zu dem Foronen, den er damit in Fesseln legte. »Nein, das ist gelogen. Gewünscht habe ich mir dich nie. Besser, du wärst in Andromeda geblieben – oder gleich, wo der Pfeffer wächst! Mit dir hat man doch nur Schwierigkeiten!« Sprach's und bahnte sich einen Weg durch die Bots, die sich mühelos beiseite räumen ließen. Sein interner Chronometer verriet ihm, dass die Dreistundenfrist inzwischen abgelaufen war. Die Freunde »draußen« würden nervös sein. Hoffentlich taten sie nichts, was ihm schadete. Mit einer Transition konnte er sich an die Grenze der Anomalie bringen und sie dann zu Fuß durchschreiten. Jetzt, sofort hätte er das tun können – um Risiken zu vermeiden, sogar tun müssen! Aber hier war ein kompletter HAKAR, und sowohl ihr Kommandant als auch die darin wohnende KI waren zumindest schachmatt gesetzt. Mit ein wenig Glück konnte er die Kontrolle über sie und das Schiff vollständig erringen, und irgendwo in ihren Speichern musste sich eine Erklärung finden, wie der HAKAR in diese Anlage hatte geraten können … und wie er daraus wieder zu befreien war! Ein zweites Schiff wie die RUBIKON, es wäre alle Mühen wert gewesen … Jarvis wuchtete sich in den Kommandositz, aus dem Sobek ihm entgegengesprungen war. Ohne zu zögern, verband er seinen Körper mit den Schnittstellen zur Bordintelligenz und legitimierte sich über Seshas Trojaner als neuer Herr über das Schiff. Die Antwort … kam. »Autorisation bestätigt«, sagte die fremde KI, deren Stimme dunkler und aggressiver klang als die von Sesha. Jarvis ließ sich davon nicht abschrecken. Erleichterung und ein Vorgefühl von Triumph durchfluteten ihn. Er koppelte sich noch enger an die Schiffssysteme, was er aus einer
Restvorsicht zunächst vermieden hatte. »Daten!«, verlangte er – und präzisierte seinen Wunsch. In diesem Augenblick durchlief eine Erschütterung des Schiff. Jarvis war sofort alarmiert, insbesondere ob der Heftigkeit des Bebens. »Probleme?«, fragte er. »Ist irgendwo etwas explodiert?« Die KI schwieg überraschend. Stattdessen schrillte ein Alarmton durch die Zentrale, wahrscheinlich sogar durch das ganze Schiff. »Status!«, befahl Jarvis und strahlte auch über die Schnittstelle einen Dringlichkeitsimpuls ab. Endlich kam eine Erwiderung. »Zerstörungen an der Außenhülle.« Die nächste Erschütterung durchlief den HAKAR. Diesmal hatte Jarvis, obwohl fest mit dem Sarkophagsitz verankert, das Gefühl, kräftig durchgeschüttelt zu werden. Das Schiff musste heftigsten Gewalten ausgesetzt sein. »Zerstörungen welcher Art?«, gab er zurück. Vor ihm flammte die Holosäule auf, stach wie ein Balken intensiven Lichts vom Podestboden bis hinauf zum Gegenpol an der Decke und stabilisierte sich mit einer Zögerlichkeit, wie Jarvis es auf der RUBIKON noch nie erlebt hatte. Dann hatte sich die Darstellung stabilisiert, und Jarvis sah die Bescherung. »Wie –« Mehr kam nicht über seine imaginären Lippen. Über das Warum schien auch die KI keine Informationen zu besitzen. Sie konnte nur zeigen. Und die übermittelten Szenen sprachen eine unmissverständliche Sprache: Das sonderbare Netz, von dem der HAKAR in dem Gewölbe gehalten wurde, hatte aus unerfindlichem Anlass begonnen, sich gegen das Schiff zu wenden. Stränge waren gerissen, und ihre Enden bohrten sich durch die Außenhülle des Rochenraumers – jede dieser Aktionen war begleitet von einer erdbebenartigen Erschütterung! »Schilde hochfahren!«, ordnete Jarvis an. »Schilde sind hochgefahren!«, erhielt er lapidar zur Antwort. »Der Nutzen liegt jedoch bei null.« Kein Schutz gegen die Attacke der tollwütig gewordenen Netz-
stränge? »Gut, dann … Notstart!« »Negativ. Kein Start möglich. Der HAKAR würde gegen die Decke …« »Irgendwie musst du doch auch hier reingekommen sein!« Schweigen. »KI!« Kein Reaktion, dafür immer heftigere Beben in immer kürzeren Abständen. Die Holosäule surrte wie ein vor dem Kurzschluss stehendes elektronisches Gerät. Dann brach sie in sich zusammen, erlosch. Eine ganze Serie von Lichtern innerhalb der Zentrale folgten. Es wurde immer finsterer. Die herumliegenden Bots waren endgültig Schrott. »Verdammt, verdammt, verdammt!« Jarvis wuchtete sich aus dem offenen Sarkophagsitz. Überall knisterte und ächzte es, und fast erwartete er, dass einer der Stränge aus dem Boden, der Decke oder einer der Wände brechen und ihn aufspießen würde. Er rannte zu Sobek, der immer noch bewusstlos zu sein schien. Die Fesselung band Arm und Fußgelenke und war zudem miteinander verknüpft, sodass die Bewegungsfreiheit des Foronen auch im Wachzustand erheblich eingeschränkt sein würde. Jarvis hob ihn mühelos vom Boden auf und schulterte ihn. Dann glitt sein bedauernder Blick hin zu der Rüstung, in der Sobek gesteckt hatte, als sich der Sarkophag öffnete. Er hätte sie liebend gern … Sie bewegte sich. Sie – bewegte sich? Ja, sie kroch auf Jarvis zu! Eine Attacke? Hatte sie sich berappelt, das Trojanerprogramm bezwungen und wollte nun …? Jarvis erreichten gegenteilige Impulse. Die Rüstung wollte sich mit seiner Körpermasse vereinen. Ein verlockender Gedanke auf der einen, ein von Jarvis mit Argwohn quittierter auf der anderen Seite. Nein!, entschied er – und überließ die Rüstung sich selbst. Er hatte
sich entschieden, alles, was hier auf ihn und die Freunde in der RUBIKON hätte warten können, aufzugeben, hinter sich zu lassen und nur noch sich selbst – okay, auch Sobek, obwohl er sich fragte, warum er ihn nicht einfach hier sterben ließ – in Sicherheit zu bringen. Er … sprang. Mit der Last auf seiner Schulter. Und mit der Last auf seiner Schulter materialisierte er draußen im Freien, in Sichtweite der gigantischen Kuppel, an der nichts von dem Chaos in ihren Eingeweiden zu bemerken war. Unangetastet lag sie in der Mittagssonne. Auch von den Erschütterungen war hier nicht das Geringste zu spüren. Sobek begann sich schwach zu regen. Jarvis orientierte sich und setzte zum nächsten Sprung an, der ihn bis an die Grenze der Anomalie bringen würde. Doch dazu kam es nicht. Die Keule, die auf ihn und seine Umgebung niederknüppelte, war schneller. Alles versank in einem Wirbel aus negierenden Kräften.
»Wir wissen so gut wie nichts über die Gesetzmäßigkeiten der Anomalie – aber es ist kaum vorstellbar, dass etwas im Innern es überstehen kann, wenn du –« »Mir bleibt keine andere Wahl«, unterbrach Cloud Scobees verzweifelten Appell. »Sesha, gibt es eine Alternative, um dem Zugstrahl zu entkommen?« »Alternative unbekannt. Empfehle ausdrücklich modifizierte KWaffe. Und zwar innerhalb der nächsten zwanzig Sekunden, sonst –« Cloud versuchte, sein Gewissen zu betäuben. Jarvis, alter Freund. Ich will es nicht – aber ich muss es tun! »K-Waffe eine Sekunde vor Ablauf der gerade von dir genannten Frist aktivieren!«, wies er die KI an. »Sonst ist auch die RUBIKON nicht mehr zu retten, wenn ich die eingehenden Distanzdaten richtig deute.«
»Korrekt. – Erhalt des Befehl bestätigt. K-Waffe aktiv in zehn … neun …« Er wollte Jarvis bis zur letzten Sekunde Zeit geben, sich aus der Anomalie zu entfernen. In diesem Moment meldete Sesha: »Markersignatur von Jarvis hat sich bewegt. Scheint sich vom HAKAR zu entfernen. – Noch drei Sekunden bis Aktivierung K-Waffe … eine …« Zu spät, dachte Cloud und empfand es als bittere Ironie, dass Jarvis offenbar ausgerechnet in diesem Moment den Weg aus dem HAKAR gefunden hatte. Aber er würde dennoch nicht rechtzeitig aus der Anomalie herauskommen. Nicht einmal, wenn er – Längst hatte die RUBIKON den Dornfortsatz für die K-Waffe ausgefahren. Und dort an der Spitze des Auswuchses gleißte es in diesem Augenblick heller als tausend Sonnen auf. Ein Blitz raste der Anomalie entgegen, riss sie auf, öffnete eine Art »Abfluss«, durch die sie in ein fremdes Kontinuum gesogen wurde und – – säuberte die Dschungelwelt von ihrem Krebsgeschwür. Der Ausflug ins Friday-System aber war damit für die Besatzung der RUBIKON offenbar endgültig zum Desaster geworden.
Jarvis ist tot, dachte Cloud. Er glaubte es zehn zähe Sekunden lang. Dann hatte Sesha ein neues Umgebungsbild der Oberfläche aufbereitet – dort, wo sich die gigantische Anomalie erstreckt hatte. Und wo jetzt … »Was ist das für eine Landschaft? Woher … kommt sie?«, rief Jelto von seinem Platz aus. »Ihr Bewuchs ist nicht mit dem des Restdschungels identisch, das sehe ich auf den ersten Blick! Das sind ganz andere Pflanzen. Die Detailaufnahmen …« Cloud hörte nicht länger zu. Seine Gedanken überschlugen sich. Sie hatten – er zumindest! – erwartet, dass die K-Waffe nichts als »verbrannte Erde« hinterlassen würde. Dem war jedoch nicht so. Dort unten erstreckte sich plötzlich über die Fläche der verschwundenen Anomalie (jeglicher »Nebel« hatte sich verflüchtigt) sattgrüne Vegetation, die für Cloud selbst keine merklichen Unterschiede zu
dem aufwies, was A-4 sonst zu bieten hatte. Aber Jelto hatte dafür den schärferen Blick, das bessere Gespür … »Irgendwelche Anzeichen von Gefahr?«, wandte er sich an Sesha. »Gegenwärtig keine«, antwortete die KI. »Dafür …« Dafür blendete sie plötzlich einen Körper ein (eigentlich waren es zwei), der da unten im lichten Gras lag! »… scheint Jarvis den K-Blitz überstanden zu haben.« »Wen hat er da auf seiner Schulter? Einen Foronen?« »Definitiv.« »Scan der Umgebung. Ist der HAKAR auszumachen?« Während Jarvis weiter wie eine Statue im Bild zu sehen war, schwenkte das Kameraauge seitwärts und fand das geforderte Objekt. »Der HAKAR … sieht fürchterlich aus!«, kam Scobees erschütterter Ausruf. Die Rochenkonstruktion war durchlöchert, als hätte sie jemand mit einem altmodischen Revolver perforiert. Oder wohl eher mit Kanonenkugeln, denn die Lecks hatten einen Durchmesser von etwa einem Meter. Und der HAKAR selbst war … kilometergroß! »Seine Dimensionswälle wurden abgeschaltet. Das Wrack präsentiert sich uns in seiner Originalgröße«, sagte Sesha. »Erklärung!«, schnappte Cloud. »Wie kann es sein, dass … dass offenbar das Innere der Anomalie erhalten blieb, während die physikalischen Eigenschaften des Phänomens offenbar von der K-Waffe entfernt wurden?« Was Sesha ihm daraufhin an Redeschwall präsentierte, brachte seinen Schädel zum Schwirren – verstehen konnte er kein Wort. Fachchinesisch hoch zehn. »Genug!«, unterbrach er schließlich die Informationslawine, mit der die KI erläuterte, wie sie die K-Waffe modifiziert hatte – ohne am Ende diesen Effekt aber selbst vorhersehen zu können. »Kurzum: Es hat den Anschein«, schloss sie, »als hätte sich das hinter der Anomalie verborgene Gebiet, bei dem es sich wahrscheinlich um eine andere Realitätsebene handelte, mit der Natur von A-4 vereint. Alles, was sich eingebettet befand, liegt nun vor uns.«
»Jarvis kontaktieren«, schnarrte Cloud, den letztlich nur das Resultat interessierte. »HAKAR scannen. Es werden noch mehr Foronen an Bord sein. Darüber hinaus will ich eine Komplettkopie der dortigen Datenbänke gezogen haben. Sesha, du triffst alle erforderlichen Vorkehrungen!« »Datentransfer aus dieser Distanz nicht möglich. Aber vielleicht hat Jarvis ja schon einiges gebunkert. Kontakt zu ihm … steht!« »Jarvis?« Eine seltsame Lautfolge drang aus dem Audiosystem der Zentrale. Sie ergab keinen Sinn. »Sesha?« »Er scheint gerade erst zu sich zu kommen.« »Zu sich zu kommen? ER war … ohnmächtig?« »Sozusagen. Offenbar ein Nebeneffekt des K-Waffeneinsatzes.« »Jarvis, hörst du mich? Alles klar bei dir?« »Wie – wie habt ihr das gemacht?«, kam die Gegenfrage. »Eine längere Geschichte. Hier die Ultrakurzform: Sesha modifizierte die K-Waffe, wir brachten sie zum Einsatz … und plötzlich war die ›Nebelbank‹ verschwunden.« Kratzig erwiderte Jarvis: »Ich meine, wie habt ihr die Kuppel beseitigt?« »Welche Kuppel?« Die Erklärung des ehemaligen GenTec folgte auf den Fuß. Cloud war verblüfft. »Das kann ich dir nicht sagen. Wir sahen von Anfang an den HAKAR, allerdings schwer beschädigt, völlig durchsiebt. Die Löcher –« »– wurden ihm von dem verrückt spielenden Netz, in dem er hing, zugefügt. Das Schiff schien unrettbar verloren. Deshalb transitierte ich ins Freie. Und dann …« »… haben wir die K-Waffe gezündet.« »Ich schätze mal, so war es.« »Wer ist der Forone auf deiner Schulter?« »Erkennst du ihn nicht?« »Ist er denn so prominent, dass ich ihn kennen müsste?« »Es ist Sobek. Der Name sagt dir doch etwas, oder?«
7. Kapitel Die Wiedersehensfreude überstrahlte manch ungelöstes Rätsel in Zusammenhang mit der Anomalie. Wobei sich die Freude mit Sicherheit nicht auf Sobek bezog. Der »Foronenhäuptling«, wie Jarvis ihn nannte, war immer noch ohne Bewusstsein. »Ich transitiere jetzt mit ihm zu euch an Bord«, kündigte Jarvis an. »Bereitet mir schon mal einen Drink vor.« »Du wirst von mir eigenhändig geölt – jedes verdammte Nanopartikel einzeln, sobald du wieder hier bist. Aber lass das mit dem Transitieren«, hielt Cloud ihn zurück. »Du musst geschwächt sein, und wir wollen nichts riskieren. Ich schicke ein Shuttle runter. Es wird eine Mannschaft absetzen, die sich den HAKAR vornimmt und daraus birgt, was noch zu bergen ist. Dich und Sobek transportiert das Shuttle unverzüglich hier herauf. Du wirst also in Kürze wieder unter uns weilen.« »Ich kann es kaum erwarten. Was mache ich, wenn der Häuptling zwischenzeitlich zu sich kommt?« »Was genau hast du denn getan, um ihn in diesen Zustand zu versetzen?« Jarvis verriet es mit wenig bedauerndem Unterton. »Ebenso banal wie effektiv«, kommentierte Cloud. »Wiederhole es einfach. Ich habe augenblicklich auch keine gesteigerte Lust auf seine Litanei.« Jarvis strahlte. »Werde ich, werde ich. Ihr braucht euch auch nicht abzuhetzen. Hier unten ist es fast idyllisch, solange nicht diese verdammten Projektile unterwegs sind.« »Bei uns hatten sie Deltaform …« Cloud erzählte, was passiert war. »Aber es scheint fast«, schloss er, »als wären sie ebenso wie der von dir genannte Kuppelbau verschwunden, als der Anomalie der Garaus gemacht wurde.« »Dem allem weine ich keine Träne nach. Der Bau war … unheim-
lich. Genau wie das … ich weiß nicht, was es war … was mir an Bord des HAKARs begegnete. Das Bergungsteam soll vorsichtig sein. Niemand kann ausschließen, dass es noch da ist – falls ich es mir nicht nur eingebildet habe.« »Lieber übervorsichtig als tot«, erwiderte Cloud. »Nein, nein, die sollen hübsch die Augen aufhalten.« »Wenn ich wieder an Bord bin, werde ich mich persönlich bei Sesha für die tolle Vorarbeit bedanken. Ohne ihre Trojaner wäre ich jetzt Geschichte. Sobek hätte mich kalt lächelnd –« »Entspann dich.« »Du hast recht. Ich leg mich ein bisschen neben den Foronenhäuptling – und brate ihm eine über, sobald er auch nur mit der Membrane zuckt.«
»Sobek ist immer noch ohne Besinnung. Vielleicht spielt er uns auch nur etwas vor«, sagte Jarvis. »Sobald er wach und bei Bewusstsein ist, wird er uns eine interessante Geschichte zu erzählen haben«, erwiderte Cloud zwei Stunden später. »Ich bin wirklich neugierig, wie sein Werdegang verlief, nachdem sich seine und Siroonas Wege trennten. Wie er in diese Anomalie geriet – vielleicht kann er uns sogar mehr über ihre Schöpfer sagen.« »Ich bin stark im Zweifel, ob er uns überhaupt etwas von dem, was wir erfahren wollen, verraten wird«, sagte Jarvis skeptisch. »Ein klein wenig Druck wirst du schon ausüben müssen.« »Ich foltere nicht. Niemanden.« »Dann lass es mich tun!« »Dir geht es wieder viel besser, wie?« »Kann momentan nicht klagen.« Cloud nickte. »Für den Fall, dass er tatsächlich keinerlei Mitteilungsbedürfnis uns gegenüber hat, werden wir noch eine zweite Option ziehen.« »Und die wäre?« »Der HAKAR. Wir sehen zu, dass wir vollenden, was du begon-
nen hattest, aber dann unterbrochen wurdest.« »Die internen Daten abschöpfen?« »Exakt.« »Wie?« »In mühsamer, akribischer Handarbeit – ich entsende ein Team zur Oberfläche. Außerdem wird es den HAKAR nach weiteren Foronen durchkämmen, von denen bislang keine Spur zu finden war, obwohl es absolut unwahrscheinlich ist, dass sich nur Sobek an Bord befand.« »Das dachte ich auch – und rechnete auch die ganze Zeit während meines Aufenthalts mit Attacken weiterer Foronen. Aber die blieben aus. Ich schätze mal, es waren andere an Bord – aber sie könnten von jemandem – von etwas – abgeholt und entfernt worden sein.« Cloud nickte nachdenklich. »Du meinst dieses ominöse Gespenst oder Phantom, das dir an Bord über den Weg lief?« »Möglicherweise.« »Unklar ist auch, was Sobek in dem geschlossenen Sarkophag tat. Lag er in einer Art Stasis, als du ihn störtest?« »Das ergibt sich hoffentlich ebenfalls aus den Daten, die wir im Innern des HAKARs sicherstellen können.« »Vielleicht. Ich werde es sofort in Angriff nehmen …«
Scobee befehligte das »Enterkommando«, das an Bord des HAKARs ging. Bei ihr waren Algorian, Cy, Jiim und ein paar auf den Angkwelten Geborene, die ihre erste Feuertaufe bestehen sollten. Während Algorian sie gemeinsam mit dem Aurigen koordinierte, wandte Scobee sich mit einem Sicherheitstrupp aus RUBIKON-eigenen Spinnenbots der Zentrale zu. Sie führte das nötige Gerät bei sich, um die Datenbestände der hiesigen Speicherbänke eins zu eins auf eigens mitgebrachte Medien zu kopieren. Dazu stand sie in permanenter Verbindung zur RUBIKON und den Shuttletransportern, die sie aus dem Orbit zur Oberfläche der Dschungelwelt gebracht hatten. »Ich beginne jetzt«, meldete sie an Cloud, »mit der Übertragung
der –« Sesha unterbrach sie mit einem Dringlichkeitsalarm. »Verlasst sofort das Schiff! Achtung: Dies ist eine übergeordnete Order im Sinne des Erhalts eurer Existenz. Meine Sensoren messen eine dramatische Veränderung an Bord des HAKARs an. Er wird instabil. Etwas durchpulst ihn auf allen Ebenen …« Etwas durchpulst ihn auf allen Ebenen. Scobee spürte, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief. Neben ihr stand ein Angkgeborener, der sie mit großen Augen und einem namenlosen Entsetzen auf dem Gesicht ansah. Scobee bewahrte Ruhe und Überblick. Sie wusste, dass die SeshaWarnung nicht nur an sie ergangen war, sondern jeden anderen an Bord des HAKARs ebenso erreicht hatte. »Geordneter Rückzug!«, wies sie nun ihrerseits noch einmal alle Beteiligten an, unterstützt von Cloud, der aus dem Orbit forderte: »Es ist wirklich dringlich. Was wir von hier oben aus anmessen …« »Ja, ja, wir haben schon verstanden!« Scobee scheuchte die Männer und Frauen, die mit ihr zur Zentrale vorgestoßen waren, aus dem Raum. »Wir waren zu sorglos«, sagte sie. »Die Entfernung zur Schleuse ist gewaltig. Abhängig von der tatsächlichen Gefahr, könnte es eng werden. Verdammt, was sagt die ›umgedrehte‹ KI? Ich kriege keinen Kontakt zu ihr? Habt ihr mehr Glück, John?« »Negativ. Aber Sesha versucht gerade ihr Glück. Sie wirkt auf die Bordsysteme ein, schafft es aber nach eigenen Angaben nicht, die Sperren um die Datenbestände von hier oben aus zu lösen.« »Dann tun wir das.« »Nein! Dazu bleibt keine Zeit mehr. Dieses Risiko gehen wir nicht ein. Der HAKAR hat begonnen, die Farbe zu wechseln. Er sieht momentan fast rot aus.« »Und daraus schließt ihr –« »Was sollten wir sonst daraus schließen?« »Hier an Bord ist nichts von einer Bedrohung oder auch nur Veränderung zu spüren«, gab sie zurück. »Na ja, außer dass die KI plötzlich keine Antworten mehr gibt.« »Das klingt, als wolltest du bleiben.«
»Die Daten«, erinnerte Scobee. »Ich will einfach nur die für uns sehr wertvollen Daten –« »Das ist jetzt völlig nebensächlich! Ah … Sesha meldet, dass sie einen Erfolg erzielt hat!« »Welcher Art?« Scobee drehte sich um. Sie eilte mit ihrem Trupp einen Korridor entlang, der ihr direktester Weg zur Ausstiegsmöglichkeit einer Schleuse war. Aber da war plötzlich ein Summen. Noch bevor Cloud antwortete, sah sie, dass sich in ihrer Nähe ein Türtransmitter aktiviert hatte. »Sesha hat in der Nähe aller die an Bord befindlichen Transmitter aktiviert, die euch mit einem Schritt zur Schleuse befördern – ihr müsste nicht erst lange durch die Gänge hetzen!« »Ist den Übertragungsfeldern denn zu trauen?« »Ich an deiner Stelle würde es tun, denn die Außenhaut beginnt gerade noch stärker in ihrer Farbe zu wechseln, und allmählich müsstet ihr auch drinnen etwas davon spüren …« In diesem Moment kam das, was Sesha mit »durchpulsen auf allen Ebenen« gemeint haben musste, bei Scobees Trupp an. Der Gang flackerte plötzlich, als wollte er verlöschen, ohne dass der Boden unter ihren Füßen an Halt verlor. »Ich glaube, ich weiß, was hier vorgeht«, keuchte Scobee. »… sagen … ihr so schnell … dringend!« Die Verbindung zu Cloud war plötzlich von Störungen überlagert. Wir schaffen es nicht mehr, dachte Scobee. Ihr Blick suchte den Türtransmitter. Er war immer noch aktiviert. Aber funktionierte er auch noch? Konnte er in dieser Situation überhaupt funktionieren? Der Puls … er musste der Vorbote eines Vorgangs sein, der versuchte, den HAKAR zu – Scobee unterbrach ihren Gedankenfluss. Sie bedeutete den Angehörigen ihres Trupps, sich ihr anzuschließen. Die gleiche Weisung gab sie noch einmal über Funk an die anderen Gruppen: »Vertraut euch den Transmittern an! Es ist unsere einzige Chance, noch von hier wegzukommen! Tut es!« Sekunden später warf sie sich als Erste ihres Trupps durch das Feld, wollte den anderen die Angst nehmen. Sie taumelte aus der Gegenstation, orientierte sich … und atmete
erst auf, als hinter ihr sämtliche Mitglieder ihres Trupps nachgefolgt waren. Sie nickte ihnen aufmunternd und anerkennend zugleich zu. Dann legten sie das noch verbliebene kurze Wegstück zur Schleuse zurück und sprangen nach draußen. »Weg vom HAKAR! Weg, so weit ihr nur könnt!« Später sollte sie erfahren, dass sie die Letzten waren, die die Gefahrenzone verlassen hatten. Alle anderen Trupps hatten sich schon vor ihnen in Sicherheit bringen können. Und das Team um Algorian hatte immerhin die Rüstung Sobeks bergen können. Nur eine Minute später pulsierte der HAKAR in so schneller Abfolge, dass das Gehirn es kaum verarbeiten konnte. Und dann … hörte das stroboskopartige Flackern schlagartig auf … … und das riesige, durchlöcherte Schiff war verschwunden. Die Natur, dort, wo es gelegen hatte, wirkte völlig unversehrt. Nur Jelto oben auf der RUBIKON sah mit einem Blick den Unterschied: Als die Anomalie verschwand, hatte sie über die gesamte zuvor vereinnahmte Fläche A-4-fremde Natur zurückgelassen, fremde Flora und Fauna. Nun aber wuchs dort, wo der HAKAR verschwunden war, wieder A-4-typische Vegetation, und zwar in weitem Umkreis nur dort …
»Ich habe geahnt, dass das mehr wird als pures Zerstörungswerk«, sagte Scobee sofort nach ihrer Rückkehr auf die RUBIKON zu Cloud. »Du scheinst einen sechsten Sinn zu haben.« »Ja, ja, mach dich nur lustig.« »So war es gar nicht gemeint.« Er strich ihr besänftigend eine Strähne ihres dunklen Haars aus dem Gesicht. Sie standen neben einem Automaten, an dem Helran Scrol arbeitete, ein junger, auf Angk I geborener Techniker, der sich bereits blind in der Bedienung des Gerätes auszukennen schien, das für die Getränkeversorgung der Zentralebesatzung konstruiert worden war. Es hatte lange gedauert, mit Seshas Hilfe einen Apparat zu bauen,
der einen nahezu perfekten Kaffee lieferte. Die dafür nötigen Bohnen pflanzte Jelto neuerdings in einem Bezirk seines hydroponischen Gartens an, und er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, selbst die Röstung zu übernehmen. Leider hatte der Kaffeezubereiter manchmal seine Macken und musste häufig gewartet werden. Wie jetzt gerade. »So«, sagte Scrol und schloss fast feierlich die Gehäuseverkleidung des Geräts. »Jetzt sollte er wieder funktionieren.« Wie zum Beweis stellte er einen Becher unter den Ausschank und füllte ihn mit köstlich duftendem Gebräu. Cloud nickte Scrol, der trotz seines geringen Alters bereits grauhaarig war, wohlwollend zu und wandte sich an Scobee. »Du zuerst. Danke, Helran …« Der Mann entfernte sich gut gelaunt. »Erstaunlich«, sagte Cloud. Er wartete, bis Scobee sich bedient hatte, dann füllte er sich selbst einen Becher. »Was ist erstaunlich? Mein sechster Sinn?« »Auch. Aber ich meinte die Fähigkeit scheinbar aller neuen Besatzungsmitglieder, sich fast intuitiv in die RUBIKON-Technik einzufinden.« »Vielleicht haben Kargors Helfer auch dahin gehend Vorarbeit geleistet.« »Es hat beinahe den Anschein. – Aber was die Entführung des Wracks angeht …« »So bezeichnest du es?« »Wie sonst? Ich verlasse dabei nicht den Boden deiner eigenen These.« Sie nickte zögernd. »Also, was wolltest du sagen?« »Ich frage mich, wer hinter alldem steckt. Hinter der Anomalie als solcher, aber auch hinter der jüngsten Aktion, mit der nachhaltig verhindert wurde, dass wir uns in den Besitz vielleicht wertvoller Daten oder Teile des HAKARs bringen.« »Er wurde dorthin versetzt, wo wahrscheinlich auch der Kuppelbau geblieben ist, von dem Jarvis sprach. Und im Gegenzug … er-
hielt der Planet ein Stück seiner vorher gestohlenen Natur zurück – fast als hätte das geschehen müssen, um den HAKAR holen zu können …« »Als Masseausgleich, meinst du?« In diesem Augenblick meldete Sesha: »Soeben ist Gefangener Sobek aus seiner Paralyse erwacht.« »Vielleicht kann er uns mehr dazu sagen – eigentlich müsste er.« Clouds Züge wurden grimmig entschlossen. »Aber du kennst ihn auch«, gab sie zu bedenken. »Er ist ein ebenso zäher wie sturer Hund.« »Vorsicht, lass ihn das nicht hören. Du verletzt sonst vielleicht das Ehrgefühl eines Hohen.« »Wenn ich eines sicher weiß«, erwiderte Scobee, »dann, dass er keines hat. Keines, das auch nur andeutungsweise mit unserer Vorstellung davon kompatibel wäre.« »Wer weiß, vielleicht hat er sich in der langen Zeit ja geändert.« »Genau das fürchte ich ja. Bei ihm kann das nur heißen, dass er ein noch größerer Kotzbrocken geworden ist.« Darauf wusste Cloud nichts mehr zu erwidern. »Kommst du mit?«, fragte er. »Du willst zu ihm?« »Wir können unseren Kaffee auch bei ihm trinken, oder?«
Epilog Er hörte ein Geräusch und drehte den Kopf. »Orham?« Es war finster. Die Sterne an Pseudokalsers Himmel blinkten frostig, und selbst Marons fahles Licht hatte Mühe, zwischen den Ritzen des Baumhauses hindurchzusickern, wo Yael in seinem Schlafgeschirr hing. Die Gurte klirrten leise, als er den Kopf drehte und noch einmal wiederholte: »Orham?« Von Jiim kam kein Laut. Und Yaels Augen suchten auch vergeblich die vagen Umrisse seines Elters auf der gegenüberliegenden Seite des großen Raumes, wo das zweite Geschirr baumelte. Es war leer. Plötzlich segelte etwas Glühendes durch die Luft, und Yael reagierte auf eine Weise, die ihm selbst suspekt war: Er fing den Gegenstand mit der Hand auf, obwohl er nicht ausschließen konnte, dass das Glühen solche Hitze bedeutete, dass er sich die Finger verbrennen würde. Doch die Münze war ganz kühl, gleichwohl sie leuchtete. Verwirrt starrte Yael darauf. Es war kein Zahlungsmittel, das irgendwo anerkannt worden wäre, sondern sah mehr wie eine Sonderprägung irgendeiner Zivilisation aus. Irgendeiner Zivilisation? Sieh doch hin! Sieh richtig hin, dann weißt du, wofür die Münze steht! Ohne zu wissen, was es bedeutete, begriff er, dass er eine Kalsermünze in Händen hielt. Eine, die es auf der echten Heimat der Nargen nie gegeben hatte, wohl aber in seiner Fantasie. Seiner Fantasie. Das Lachen – Geräusch war der falsche Ausdruck gewesen für das, was ihn weckte – wiederholte sich. Es kam aus der Richtung, aus der die Münze herangeflogen war. »Licht«, sagte Yael, und die verborgene Automatik der nur ver-
meintlich primitiven Baumhütte reagierte prompt. Vor einem der Regale stand Charly und grinste. »Nette Bude«, sagte er. Yael erholte sich von seiner Verblüffung. Allerdings wanderte sein Blick kurz zu seinem Schlafgeschirr, als müsse er sich vergewissern, dort nicht immer noch zu hängen und das alles nur zu träumen. »Du hast schon verloren«, sagte er abweisend. »Verloren? Kapier ich nicht.« »Sesha ist überall. Sie hat längst Alarm geschlagen. Gleich werden sie kommen und dich –« Das Lachen des Besuchers wurde so verächtlich, dass Yael zornig mit den Flügeln schlug. Er stieß gegen eines der in der Nähe befindlichen Regale, und etwas Tönernes fiel zu Boden, wo es zerbrach. Das schürte seinen Ärger noch mehr. Charly blieb davon unbeeindruckt. »Du hast es immer noch nicht begriffen, wie?« »Was begriffen?« »Was ich bin. Wer ich bin. Warum ich bin.« »Alle glauben inzwischen, dass du nichts bist. Dass du von meiner Einbildungskraft erschaffen wurdest – die dich ebenso leicht wieder hat verschwinden lassen können.« »Hey, das ist gar nicht so dumm. Eigentlich ist es sogar ziemlich klug. Wärst du da selbst draufgekommen?« »Es stimmt also?« »Natürlich. Ich bin, weil du willst, dass ich bin. Du warst allein, fühltest dich missverstanden, und da hast du das einzig Richtige gemacht: Hast dir einen geschnitzt, der dir all das geben kann, was du vermisst.« »Geschnitzt?« »Nur so 'ne Redensart.« »Die ich nicht kenne, obwohl du angeblich nur ein Produkt meiner Fantasie bist?« »Na ja, ich sage nicht, dass es leicht zu kapieren ist.« »Egal. Gleich sind sie da. Du wirst wieder eingesperrt, diesmal ausgeklügelter als beim ersten Mal. Mein Orham sagt das. Er wollte
mich damit beruhigen, weil er irgendwie geahnt zu haben scheint, dass du wiederkommt.« »Niemand wird kommen. Niemand wird mich einsperren«, widersprach Charly im Brustton der Überzeugung. »Diesmal nicht. Weil du's nicht willst.« »Jetzt bist du übergeschnappt. Ich will durchaus, dass du verschwindest. Hau ab! Los! Wenn sie dich kriegen, werden sie dich auseinandernehmen. Und dann werden wir schon sehen, was du wirklich bist! Irgendein fremdes Wesen von einem fremden Planeten, das –« »Wenn du dich reden hören könntest.« »Was dann?« »Ach, stell dich einfach der Wahrheit.« »Deiner Wahrheit?« »Es ist auch deine. Tief in dir willst du um keinen Preis, dass sie mich noch einmal holen. Und deshalb wird es nicht geschehen. Du hast immer noch nicht kapiert, wozu du in der Lage bist. Was für eine Macht du in dir hast. Sesha kriegt gar nicht mit, dass ich hier bin oder dass wir beide gerade munter miteinander plaudern. Du willst es nicht, und damit basta. Da hat deine blöde KI keine Chance.« Yael verlor die Lust zu widersprechen. »Wenn du alles weißt, wo ist mein Orham?« »Wahrscheinlich sich ein bisschen frische Nachduft um das Näschen wehen lassen. Macht er nicht öfter solche Ausflüge?« »Manchmal.« »Er dachte, du schläfst, und wollte dich nicht wecken. Sonst hätte er dich mitgenommen.« Das klang tröstlich – weil Yael für einen Moment böse auf seinen Elter hatte werden wollen, dass der ihn allein gelassen hatte. »Du bist vielleicht gar keine solche Plage, wie ich zuerst dachte.« »Klaro. Haste übrigens gesehen?« »Was gesehen?« Charly drehte sich halb um seine Achse. Yael hielt den Atem an. Da wuchsen … Flügel aus den Schulter-
blättern des Besuchers. »Wie –« »Hab ich dir zu verdanken. Sind noch ein bisschen kümmerlich. Aber demnächst können wir mal ausfliegen, wenn du Lust hast.« Yael starrte ihn an. Er begriff es immer noch nicht wirklich. Dieser Charly … war ein greifbares Produkt seiner Fantasie? Aber warum sollte er, wenn er dazu tatsächlich in der Lage war, ausgerechnet einen Menschen als Figur wählen? Einen Menschen allerdings, der jetzt Ansätze von Flügeln hatte. »Vielleicht …« »Sag ja!« »Sie werden dich einfangen und sezieren.« »Drauf gepfiffen!« Yael wusste nicht, ab welchem Moment genau er angefangen hatte, Charly zu mögen. Aber es war so. »Wie sollte ich wohl hinkriegen, dass Sesha dich nicht bemerkt«, zweifelte er dennoch. »Sie hört mich doch sprechen – mit einem Unsichtbaren, falls es mir gelingt, dich vor ihr verborgen zu halten. Mich selbst kann ich doch nicht –« »So?«, fiel ihm Charly ins Wort. »Und wer sagt das? Du kannst alles schaffen, wenn du ganz fest willst!« »Schön wär's.« »Ob's schön wird, werden wir sehen. Aber bin schon ganz kribbelig, mit dir zu fliegen. Lass mich nicht hängen. Hol mich wieder zu dir, das nächste Mal mit richtigen Flügeln.« Yael schwieg. Charly stellte sich alles so einfach vor. Als hätte Yael einen Plan von dem, was er angeblich tat. Dem war aber nicht so. Was geht mit mir vor? Wenn ich diese Gabe tatsächlich habe, wieso habe ich sie? Und wofür sollte sie gut sein – sieht man von einem imaginären Freund ab? Ihm fiel ein, dass Algorian sich noch überhaupt nicht zu den Albträumen geäußert hatte, die auszuloten er eigentlich in ihm geespert hatte. Warum nicht? Hatte er etwas entdeckt, was er Yael lieber vorenthielt, weil er fürchtete, er könnte damit nicht leben?
Aber den fiktiven Charly als den Zögling deiner Fantasie hat er dir ohne Zögern zugemutet … Nein, vergiss es. Hier schont dich niemand. Er wird einfach nicht weitergekommen sein. Meine Erinnerung an Portas ist gelöscht. Niemand kann sie wieder zurückholen. Er war darüber nicht traurig. Vielleicht, überlegte er, werde ich eines Tages mit Charly darüber reden können. Und vielleicht gelingt es ja ihm, Verschüttetes wieder freizulegen. Auf einem unserer gemeinsamen Flüge … Irgendwie gefiel ihm der Gedanke. Irgendwie spürte er, dass er die ganze Zeit seit seinem Entwicklungs- und Reifeschub innerlich nach jemandem auf der Suche gewesen war, mit dem er über alles sprechen konnte, was ihn bewegte. Warum das nicht sein Orham war, misste er nicht, aber inzwischen war er so weit, es hinzunehmen. Als er sich umsah, war Charly verschwunden. »Sesha?« »Ja?« »Wo ist mein Orham?« »Unten vor der Hütte. Er hat sich ein Lagerfeuer gewünscht und unterhält sich gerade mit Chex über die guten alten Zeiten.« »Die guten alten Zeiten?« »Menschen tun das auch gerne, wenn sie älter geworden sind.« »Waren die … alten Zeiten denn wirklich so gut?« »Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.« Das klang einleuchtend. Aber irgendwie fand Yael, dass es vernünftiger war, über die jetzige Zeit zu sprechen, wenn überhaupt. Dafür hatte er jetzt Charly. »Sesha?« »Ja?« »Wer war gerade bei mir?« »Bei dir war niemand. Jiim ist unten bei Chex.« Yael fühlte eine wohlige Wärme durch seinen Brustkorb strömen, dort, wo die beiden Herzen schlugen. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass Charly gar kein so einzigartiges Konzept war. Hatte sein Orham nicht genau das Gleiche getan, als er sich ein
zweites Kalser an Bord der RUBIKON erschuf, mit … imaginären Freunden wie Chex? Yael lächelte still in sich hinein. Es gefiel ihm, worauf er gerade gekommen war. »Gute Nacht, Sesha. Ich geh jetzt wieder schlafen.« »Gute Nacht, Yael.« »Schläfst du nie?«, fragte er auf dem Weg zum Geschirr. »Nein.« »Hast du wenigstens jemanden, mit dem du über alles reden kannst?« »Natürlich. Ich kann mit jedem jederzeit in Kommunikation –« »Du verstehst mich nicht. Ich meine über die Dinge, die dich bewegen.« War da ein kurzes Zögern? »Mich bewegt … nichts.« Yael seufzte. »Wenn das wirklich stimmt, bist du zu bedauern, Sesha.« »Ich weiß«, sagte die KI. ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die
Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Rätselhafte Entität mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin, jedoch aus kristallinen Strukturen bestehend, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über der Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan. Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist ungeklärt. Sicher ist: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen CHARDHIN-Stationen herausgefallen zu sein und wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er beKargor
Aylea
Jiim
Yael
sitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete; eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwertiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 11-Jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennenlernte und ins sogenannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat. Jiims Junges, das einen rasanten Wachstumsprozess absolviert und dessen Gefieder überdies in der Farbe von Jiims Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlägt es kurzzeitig nach Portas im Angksys-
tem, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er anders ist, als sein Orham Jiim es je erwarten konnte … Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt.
Das Angk-System Angk I, Gismo – Die Steuerwelt der Ersten. Von hier aus werden alle sieben Umläufer synchronisiert. Würde Gismo untergehen, wäre auch der Rest des Systems dem Tode geweiht. Die fragile Balance zwischen den einzelnen Planeten würde ins Chaos abdriften. Angk II, Nomad – Beherbergt unter anderem das Archiv der Zeitalter und die Produktion der Mortuas (Gloriden). Die Mortuas sind das zentrale Element, das die Tridentischen Kugeln pflegt und wartet. Nomad ist von satter Vegetation bedeckt, dazwischen erheben sich sechs bis acht Meter hohe, termitenbauartige Säulen aus formbarer Nanomaterie, das gebräuchlichste Bauelement auf dieser Angk-Welt. Die Ressource scheint unerschöpflich. Es gibt unterirdische Erzeuger, die für Nachschub sorgen, wann und wo immer es erforderlich ist. Mittels der Basen kann der Kreativität der Nomad-Bewohner uneingeschränkt nachgegangen werden. Darüber hinaus gibt es auf Nomad die Totentürme, in denen Bractonen ihre letzte Ruhe im Negaschlaf gefunden haben. In den Lobpreisungen, die von den Türmen abgestrahlt werden, werden sie als mitfühlende, moralische Wesen beschrieben, deren äußere Erscheinung riesigen, aufrecht gehenden Schmetterlingen ähnelt. Angk III, Portes – Auch die Schwellenwelt genannt. Von hier aus wagten die Gründer den Versuch einer Rückkehr. Aber alles Bemühen scheiterte. Seither ist Portas versiegelt. Portas ist seither die Geschlossene Welt. Sie spielt im Kolonisationsprogramm der Bractonen keine Rolle. Angk IV, Schaggrom – Hier entstehen Tridentische Kugeln, denn der Kosmos wächst, die Entropie steigt. Gegenwärtiger Ruhebestand ist dreihundertneun Einheiten. 309 CHARDHIN-Perlen, die auf Schaggrom darauf warten, an irgendeinen Ort des Universums verbracht zu werden. Angk V, Arrankor – Die Welt der Edelelemente. Sie haben Ein-
fluss auf das Leben schlechthin. Wer Arrankor als Heimat hat, lebt länger als die Bewohner anderer Angk-Welten. Arrankor ist »Lohn für gute Gene«, wie Vulverpye es ausdrückte. Auf Arrankor finden sich die Besten. Angk VI, Myron – Der Ort der Kunst. Hier lebten die Bractonen, die der Urheimat am stärksten verhaftet waren und etwas davon auch ins Erste Reich einfließen lassen wollten. Myron ist der Planet, der seine Bewohner ins größte Glück zu stürzen vermag, aber auch die schwersten Opfer verlangt. Wer auf Myron überdauert, bereichert den Kosmos mit einem allem offenen Geist. Angk VII, Voosteyn – Hier existiert die sogenannte Kartei, über die noch nichts Näheres bekannt ist. Die Besiedlung ist möglich, Raum dafür genügend vorhanden. Aber die Zonen der Kartei sind markiert, ihre Grenzen unverletzlich und von keinem Unbefugten zu überwinden.
Vorschau Der Gott der Nargen von Lars Urban Nachdem das Unternehmen Gloriden-Befreiung zu einem Desaster wurde und auch die Suche nach verschollenen HAKARs in der Milchstraße um ein Haar in einer Katastrophe geendet hätte, überrascht John Cloud seinen Nargenfreund Jiim damit, dass er die RUBIKON Kurs auf Kalser nehmen lässt. Damit löst er das Versprechen ein, nach der Erde, die sich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert hat und unter Cronenbergs Allmachtsallüren zu leiden hat, auch dort nach dem Rechten zu sehen, woher Jiim stammt. Zuletzt brach ja bekanntermaßen seine Verbindung zum Morphogenetischen Netz ab. Er weiß also nicht, was in all der langen Zeit, seit ein Jay'nac namens Ustrac auf Kalser erschien, geschehen ist. Er weiß nicht einmal, ob er und Yael nicht vielleicht die Allerletzten seines Volkes sind …