Danny Watts will in die Army. Doch weil sein Großvater, der ehemalige Top-Agent Fergus Watts, seine Militäreinheit verr...
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Danny Watts will in die Army. Doch weil sein Großvater, der ehemalige Top-Agent Fergus Watts, seine Militäreinheit verraten haben soll, wird Danny abgelehnt. Danny sucht nach dem Mann, der seinen Traum zerstört hat: sein untergetauchter Großvater. Zu spät bemerkt Danny den Verfolger an seinen Fersen. Irgendwer will sicherstellen, dass Fergus Watts und die Wahrheit nicht mehr ans Licht kommen. Nie mehr. Danny muss sich entscheiden, wem er vertrauen will. Und er muss lernen zu fliehen. Schnell. Sehr schnell.
DIE Andy McNab war als britischer GeheimAUTOREN dienstagent weltweit an militärischen Opera-
tionen beteiligt. Als er 1993 den Dienst als Special Agent quittierte, begann er, Agententhriller zu schreiben, und wurde damit binnen kürzester Zeit zum Bestsellerautor. Auch in Deutschland hat er eine große Fangemeinde. Robert Rigby begann sein Berufsleben als Journalist, arbeitete dann mehrere Jahre lang in der Musikbranche und schreibt seither vor allem für Radio, Fernsehen und Theater.
Andy McNab • Robert Rigby
Enttarnt Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst
cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
2. Auflage Deutsche Erstausgabe Januar 2007 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2005 der Originalausgabe by Andy McNab und Robert Rigby Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Boy Soldier« bei Doubleday, an imprint of Random House Children’s Books, London © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt/cbj Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Andreas Brandhorst Lektorat: Kattrin Stier Umschlagabbildung: James Fraser. Published by arrangement with Random House Children’s Books, one part of the Random House Group Ltd. Umschlagkonzeption: init.büro für gestaltung, Bielefeld st · Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-570-30284-2 Printed in Germany www.cbj-verlag.de
Prolog Kolumbien, 1997 Fergus hatte das Basislager sorgfältig gewählt. Er war immer vorsichtig. Diese Vorsicht hatte ihn während seiner zwölf Jahre beim Regiment am Leben erhalten, und jetzt, da er allein arbeitete, sollte sich nichts daran ändern. Der Dschungelboden war feucht und schlammig, von vermodernden Blättern bedeckt. Der Sonnenschein bohrte sich mit kräftigen Strahlen weit oben durchs Blätterdach und erhellte die Lichtung. Der Morgenregen hatte vor dreißig Minuten aufgehört, aber das Wasser tropfte noch immer von den Baumwipfeln, und alle kleinen Insekten, ob sie nun flogen oder krochen, schienen bestrebt, Fergus zu stechen. Es war heiß und stickig und ungemütlich, aber Gemütlichkeit zählte bei seiner Arbeit nicht zu den wichtigen Dingen. Wichtig war es, am Leben zu bleiben. Bei SAS-Einsätzen hatte Fergus auf die harte Art den PPVVLL-Grundsatz gelernt: Perfekte Planung und Vorbereitung verhindern eine lausige Leistung. Diesem Prinzip folgend, hatte er vor der Einrichtung des Lagers dafür gesorgt, dass es für den Fall eines Überraschungsangriffs zwei Fluchtwege gab. Sie waren zu beiden Seiten des Lagers ins Unterholz geschlagen und sorgfältig getarnt. Einer führte tiefer in den Dschungel, der andere zum Fluss, wo die vier Zodiac-Schlauchboote nur 5
ein oder zwei Meter vom Ufer entfernt versteckt waren. Innerhalb von Sekunden konnte man mit ihnen aufbrechen. Fergus musterte die jungen Guerillas, die vor ihm standen. Sie wirkten nicht sehr glücklich. »Noch einmal«, sagte Fergus auf Spanisch und drückte sich so einfach wie möglich aus. »Wir machen es noch einmal. Macht es wie ich.« Einer der Kolumbianer seufzte und murmelte seinen Freunden etwas zu. Fergus verstand ihn nicht – dazu sprach er zu schnell –, aber er kapierte, was gemeint war. Die jungen Leute langweilten sich. Sie wollten ihre Zeit nicht damit verbringen, ihre AK-47-Sturmgewehre auseinander zu nehmen und zu reinigen. Sie wollten sie benutzen. Fergus hielt seine AK in der rechten Hand und das gewölbte Dreißig-Schuss-Magazin in der linken. Er überprüfte das Magazin an der oberen Seite, um sicherzustellen, dass die glänzenden Messingpatronen richtig saßen, bevor er das Magazin ins Gehäuse schob und auf das Klicken lauschte, das ein richtiges Einrasten anzeigte. Dann schüttelte er das Magazin, um zu prüfen, dass es fest saß. »Jetzt ihr«, wandte er sich an die schwitzenden Guerillas. »Macht es mir nach.« Fergus konnte eine Waffe mit geschlossenen Augen laden, entladen und auseinander nehmen – das hatte er zigtausend Mal getan –, doch diesmal hielt er die Augen offen und beobachtete die zwölf Männer, als sie seine Bewegungen nachahmten. Männer? Es waren Jugendliche, die meisten nicht einmal zwanzig und der jüngste vielleicht siebzehn. Fast alle trugen zerrissene Jeans und alte Fußballtrikots. Bei einigen zeigte sich der erste Bartflaum. Sie schienen be6
weisen zu wollen, dass sie wirklich Männer waren, entschlossen und tapfer genug, um Guerillas der FARC, der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, zu werden. Die Wangen der Jüngeren waren völlig glatt; vermutlich hatten sie noch nicht einmal damit begonnen, sich zu rasieren. Fergus sah den Verdruss in den jungen Gesichtern. Sie hatten ihre armen Dörfer nicht verlassen, um Waffen zu reinigen. Sie wollten ihr Glück machen. Sie wollten Action. Und die sollten sie bekommen. Der Angriff erfolgte ganz plötzlich, ohne Vorwarnung und im denkbar schlimmsten Moment. Offenbar hatten die Regierungstruppen das Lager beobachtet und auf den für sie günstigsten Zeitpunkt gewartet. Zuerst hörte Fergus die Kampfhubschrauber. Das tiefe, kehlige Grollen ihrer Triebwerke, gefolgt vom Unheil verkündenden Klopfen der Rotorblätter. Die Baumwipfel gerieten in Bewegung und Regenwasser strömte herab. »Mist!«, brummte Fergus, als er sich umsah und oben den ersten Helikopter bemerkte. »Auf eure Posten! Macht euch bereit!« Die Guerillas schenkten seinem Befehl keine Beachtung. Die meisten von ihnen gerieten einfach in Panik und liefen in Richtung Fluss, ohne zu ahnen, dass der Schütze in der Tür des Kampfhubschraubers bereits mit einem schweren MG auf sie zielte. Fergus nahm die einzelnen Teile seiner Waffe und warf sich zu Boden. »Nein!«, rief er und rollte durch den Schlamm. »Nicht zu den Booten! Haltet euch von den Booten fern! Bleibt unten! In Deckung!« Aber es war bereits zu spät. Kugeln schlugen in die feuchte Erde, als die jungen Kolumbianer zum Fluss stürmten und 7
ihre Waffen zurückließen. Nino, der Jüngste, stand aufrecht da, wie ein erstarrtes Kaninchen im Scheinwerferlicht eines Autos, die Augen weit aufgerissen vor Furcht. Das Lager war umzingelt. Von allen Seiten näherten sich Soldaten und das Rattern von Automatikwaffen übertönte ihre Befehle. Der Angriff war gut geplant und im ersten Moment empfand Fergus so etwas wie Bewunderung dafür, als er seine AK lud. Er packte den entsetzten Jungen und zog ihn zu dem Fluchtweg, der durch den Dschungel führte. Sie hatten erst wenige Meter zurückgelegt, als Fergus einen erstickten Schrei hörte. Nino zuckte zusammen und sank zu Boden; Blut quoll aus einer Schusswunde im Hinterkopf. Fergus wurde getroffen, bevor er das Feuer erwidern konnte. Die Kugel bohrte sich ihm in den Oberschenkel, riss ihn zu Boden und warf ihn in den Schlamm. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Körper. Er hob den Kopf und sah den blutroten Knochen in der klaffenden Wunde in seinem Bein. Vom Fluss her kam das Geräusch von schwerem MGFeuer, und Fergus wusste: Die Guerillas, die es bis zum Fluss geschafft hatten, wurden von den Kampfhubschraubern erledigt, und ihre Leichen würden stromabwärts treiben. Und dann war alles vorbei. Die Schießerei hörte so plötzlich auf, wie sie begonnen hatte. Fergus versuchte, ins Unterholz zu kriechen, als er weitere Befehle hörte und dann Männer sah, die in seine Richtung liefen. Er wurde an der Schulter gepackt und umgedreht. Vier kolumbianische Soldaten starrten auf ihn herab. Schweiß glänzte in ihren geschwärzten Gesichtern, als sie die Waffen auf ihn richteten und aufgeregt riefen: »Gringo! Gringo!« 8
Zwei Soldaten wichen beiseite, um einem Offizier in der Uniform der Anti-Drogen-Polizei Platz zu machen. Er musterte Fergus, lächelte und holte ein Foto aus der Tasche seiner Kampfjacke. Immer noch lächelnd, betrachtete er es und winkte einen Sanitäter heran, bevor er Fergus einen ordentlichen Tritt gegen das verletzte Bein versetzte. Der Schmerzensschrei verhallte im Dschungel.
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1 Army Regular Comissions Board, RCB, Wiltshire, England, 2005 Danny lief. Sein Tempo war so stetig wie sein Atem; er bewegte sich in einem natürlichen Rhythmus. Darauf hatte er gewartet – endlich konnte er zeigen, wozu er fähig war. Wenn Danny lief, wenn er trainierte, hatte er meistens einen Walkman bei sich und sang leise vor sich hin, wobei er seine Schritte der Geschwindigkeit des jeweiligen Songs anpasste. Es bewahrte ihn bei längeren Läufen vor Langeweile und half ihm, das Tempo zu halten. Aber heute war er ohne Walkman unterwegs. An diesem Tag war er ganz auf den Lauf konzentriert. Er wollte gewinnen, obwohl von einem Wettkampf überhaupt keine Rede gewesen war. Danny wollte trotzdem gewinnen. Wie immer. Er lag in Führung, als er sich dem Bach näherte. Der schlammige Wasserlauf war zu breit, um ohne die Hilfe des einladend von einem dicken Ast herabhängenden Seils darüber hinwegzusetzen. Danny kniff die Augen zusammen, als er sich dem Ufer näherte. Ohne seine Geschwindigkeit zu drosseln, sprang er hoch, ergriff das Seil mit beiden Händen und schwang mühelos auf die andere Seite. Der beobachtende Unteroffizier lächelte anerkennend und sah auf die Namensliste an seinem Klemmbrett. »Gut gemacht, Mr Watts, weiter so!«, rief er, als Danny den Lauf in Richtung der hohen Mauer fortsetzte. Danny grinste. Mister Watts? Er? Er konnte sich nicht daran 10
erinnern, dass ihn zuvor jemals jemand Mister Watts genannt hatte. Man hatte ihn schon auf unterschiedlichste Art und Weise angesprochen, aber nie mit Mister. Doch hier war alles anders. Als sie sich am ersten Tag versammelt hatten, nervös und unsicher, waren sie von einem Sergeant darauf hingewiesen worden, dass man sie alle Mister nennen würde. »Weil Offiziere Gentlemen sind«, hatte er gesagt. »Und das gilt auch für potenzielle Offiziere wie Sie.« Danny scherte sich nicht darum, ob man ihn Mister oder General Watts nannte. Ihm ging es nur darum, dass er am Ende des dreitägigen Auswahlkurses ein Stipendium des Regular Commissions Board bekam und zur Offiziersausbildung zugelassen wurde. Er brauchte ein Stipendium. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, einen Platz an der Universität zu bekommen und schließlich die Militärakademie Sandhurst zu besuchen. Die Wochen der Vorbereitung zahlten sich aus. Danny hatte bereits mit Erfolg die medizinischen Untersuchungen und Fitnesstests hinter sich gebracht sowie einen guten Aufsatz über das Zeitgeschehen eingereicht. Seine übrigen schriftlichen Arbeiten mochten nicht unbedingt genial sein, aber er war sicher, dass er dafür gute Noten bekommen würde. Bei den Prüfungsgesprächen war er selbstbewusst, aber nicht großspurig gewesen. Er hatte sogar über die schlechten Witze des Offiziers gelacht. Er wusste, dass sie ständig unter Beobachtung standen, auch in ihrer Freizeit. Als einige der anderen damit begannen, in der Kantine ein Bier nach dem anderen zu kippen, trank Danny Cola Light. Ein großes Opfer war es nicht – er fand den Geschmack von Bier ohnehin grässlich. 11
Einer der »echten Biertrinker« machte sich lächerlich, indem er in weniger als einer Stunde vier Halbe trank. Es waren genau dreieinhalb Bier zu viel: Er übergab sich, bevor man ihn zu Bett brachte. Der Offizier vom Dienst war darüber ebenso wenig erfreut wie der Steward, der das Erbrochene aufwischen musste. Als Vier Halbe, wie ihn die anderen nun nannten, am nächsten Morgen erwachte, bekam er einen Riesenanschiss, was nicht dazu beitrug, seinen Kater zu lindern. Doch für Danny war es eine nützliche Erinnerung daran, dass man besser alles richtig machte. Er hatte nur diese eine Chance und musste sie so gut wie möglich nutzen. Der Hindernislauf war die letzte Prüfung und alles schien bestens zu sein. Er kletterte über die zwei Meter hohe Mauer und sprintete die letzten hundert Meter zur Ziellinie, wo der wartende Sergeant die Stoppuhr drückte und Dannys Zeit notierte. »Sehr gut, Mr Watts, wirklich ausgezeichnet. In Ihrer Bewerbung heißt es, dass Sie bereits bei den Landesmeisterschaften gelaufen sind.« »Mittelstrecken- und Crosslauf.« »Und möchten Sie damit fortfahren, wenn Sie beim Militär sind?« Danny zögerte und dachte daran, dass es auf die richtigen Worte ankam. »Solange es mich nicht bei der Wahrnehmung meiner anderen Pflichten behindert.« Der Sergeant lachte. »Ich glaube, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mr Watts – das Militär hat Topathleten immer gefördert. Denken Sie nur an Kelly Holmes. Sie war zehn Jahre bei der Army und inzwischen hat sie zwei olympi12
sche Goldmedaillen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Trainieren Sie weiter.« »Das werde ich, Sir. Danke.« »Sir? Ich bin kein Sir. Ich muss arbeiten, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Der Unteroffizier deutete auf die drei grünen Streifen an seiner Kampfjacke. »Es heißt Sergeant. Gehen Sie jetzt unter die Dusche, während ich auf die anderen warte.« Als Danny zu den Umkleideräumen joggte, sah er seine nächsten Lebensjahre deutlich vor sich, und sie waren genau so, wie es seinen Wünschen entsprach. Erst die Universität, dann Sandhurst, anschließend die Laufbahn als Offizier der Infanterie. Und obendrein würde man ihn vielleicht auch noch fürs Laufen bezahlen. Es konnte gar nicht besser kommen. Ein Gespräch mit dem zuständigen Colonel nach dem Essen beendete den Auswahlkurs. Er war ein rotgesichtiger, freundlicher alter Knabe, der den Prüflingen genau das sagte, was sie hören wollten: dass sie alle gute Leistungen gezeigt hatten und es einer der besten Auswahlkurse gewesen war, an die er sich erinnern konnte. »Aber das sagt er jedes Mal«, flüsterte jemand, der hinter Danny saß. Das leise Lachen verklang, als der Colonel sie daran erinnerte: Es gab nur eine begrenzte Anzahl von Stipendien, was bedeutete, dass einige von ihnen enttäuscht sein würden. Dreißig Minuten später saßen sie im Empfangsbereich und warteten auf den Bus, der sie zum Bahnhof bringen würde. Sie waren eine gemischte Gruppe: Ein paar kamen wie Danny von der Gesamtschule, aber die meisten hatten eine Ausbil13
dung an einer Privatschule, Officer Training Corps und Army Cadet Corps hinter sich. Manche allerdings stammten aus alten Militärfamilien. Vier Halbe hatte sich damit gerühmt, dass sein Stammbaum bis zu Wellington und der Schlacht von Waterloo zurückreichte – das war in der Kantine gewesen, kurz bevor er sich übergeben hatte. Was Danny betraf: Waterloo hieß der Ort, bei dem er auf dem Rückweg nach Camberwell umsteigen wollte. Seine Militärgeschichte konnte warten, bis er in Sandhurst war. Auf dem Flur waren feste Schritte zu hören und der Sergeant von der Hindernisstrecke näherte sich. »Mr Watts?« »Sergeant?« »Gut, diesmal machen Sie es richtig. Bitte begleiten Sie mich zum Büro des Colonels. Lassen Sie Ihre Sachen hier.« Der Sergeant drehte sich um und ging in die Richtung, aus der er gekommen war. Danny fühlte die Blicke der anderen Kandidaten auf sich. »Offenbar hast du’s geschafft«, sagte Vier Halbe und zwinkerte. »Bestimmt hat der Lauf den Ausschlag gegeben.« Danny eilte dem Sergeant hinterher und seine Gedanken rasten. Stimmte es? Hatte er bestanden? Der Colonel hatte darauf hingewiesen, dass am nächsten Tag Briefe an die erfolgreichen Kandidaten herausgehen würden. Sie erreichten das Büro des Colonels am Ende des Flurs, und als der Sergeant anklopfte, erklang sofort ein forsches »Herein!«. Der Sergeant öffnete die Tür, forderte Danny mit einem Nicken auf einzutreten und zog die Tür hinter ihm zu. Das Klacken seiner Stiefel auf dem Boden des Flurs wurde leiser, als er sich entfernte. 14
Auf der anderen Seite des dunklen Holzschreibtisches saß nicht der Colonel. Dieser Mann hier war blond und Mitte vierzig. Mit seinem glatten dunkelblauen Anzug und der senfgelb und rot gestreiften Krawatte sah er aus wie ein hoher Beamter. Danny erkannte die Krawatte. Er hatte einmal an einem Schulausflug zu einem internationalen Vergleichskampf auf dem Lord’s Cricket Ground teilgenommen; dort hatten dutzende von Mitgliedern des Marylebone Cricket Club solche Krawatten getragen. Eine halb volle Kaffeetasse stand auf dem Schreibtisch. Der Mann las in einer braunen RCB-Akte mit Dannys Foto vorn auf dem Aktendeckel. Er sprach, ohne aufzusehen. »Setzen.« Danny nahm gehorsam auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Am liebsten hätte er erwidert: »Hören Sie, ich bin kein Hund, und was ist mit Mister Watts passiert?« Doch er schwieg. Eine Uhr an der Wand tickte laut. Danny zählte, wie viele Sekunden verstrichen, bis der Mann schließlich den Kopf hob. »Das Regular Commissions Board wird Ihren Antrag auf ein Stipendium ablehnen, Watts.« Die Worte trafen Danny wie ein elektrischer Schlag. »Aber … aber warum? Meine Leistungen sind in allen Bereichen gut. Ich habe die medizinischen Prüfungen bestanden und meine schriftlichen Arbeiten waren ausgezeichnet. Oder zumindest gut genug.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Nun, Einstein sind Sie nicht gerade.« »Und ich habe den Hindernislauf gewonnen.« »Ja, Sie können laufen, Watts, das können Sie wirklich. Nun, voraussichtlich wird Ihr Schulabschluss für einen Platz 15
an einer der heutigen so genannten Universitäten genügen, aber wir alle wissen, dass das Bildungsniveau immer mehr sinkt. Die Army will Besseres als nur den Durchschnitt. Wir wollen die Elite.« Der Mann schien Gefallen daran zu finden, Danny auf die Folter zu spannen und zu verspotten. »Andererseits: Wenn Sie es allein durch die Universität schaffen und das Wunder vollbringen, einen besseren Abschluss als erwartet zu schaffen, so können Sie sich erneut bewerben. Aber …« Das dünne Lächeln ähnelte mehr einem höhnischen Grinsen, und das mitten in der Luft hängende Aber wies Danny darauf hin, dass es für ihn praktisch keine Hoffnung mehr gab, jemals Offizier der Army zu werden. »Ich habe keine Familie, die für die Universität bezahlen kann.« Noch ein dünnes Lächeln. »Das weiß ich.« Danny bemühte sich, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. »Sie kennen meinen voraussichtlichen Abschluss. Welchen Sinn hat es, mich hierher zu holen und dies alles mit mir durchzugehen, wenn es nur um eine Absage geht?« »Wir vertreten die Chancengleichheit für alle.« Das war zu viel für Danny. Er stand auf und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Unsinn!« Der Mann hob die Brauen und schwieg, und es blieb Danny nichts anderes übrig, als fortzufahren. »Der wahre Grund ist, dass ich nicht den richtigen Hintergrund habe. Ich spreche nicht mit einem piekfeinen Akzent wie Sie und ich habe nicht die richtige Schule besucht. Ich dachte, dieser Familienscheiß gehörte bei der Army der Vergangenheit an.« Die Antwort war ruhig und gemessen. »Kämpferisches Ar16
beiterklasse-Gehabe wird Ihnen kaum weiterhelfen.« Der Mann legte das Bewerbungsformular auf den Schreibtisch und hob die Stimme ein wenig. »Setzen Sie sich.« Danny sank auf den Stuhl und dachte, dass hinter dieser Sache vielleicht eine ganz andere Absicht steckte. Ein weiterer Test, der seiner Fähigkeit galt, Druck und Provokation zu widerstehen. Wenn das der Fall war, hatte er auf der ganzen Linie versagt. »Sie müssen lernen, sich zu beherrschen, Watts. Im Gegensatz zu dem, was Sie glauben, spielen familiäre Verbindungen in der Army noch immer eine sehr wichtige Rolle. Zum Beispiel Ihre.« »Meine?«, erwiderte Danny verwundert. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Diesmal lächelte der Mann nicht. Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und setzte sich vor Danny auf seine Kante. »Wann haben Sie Ihren Großvater zum letzten Mal gesehen?« »Meinen …« »Fergus Watts.« »Ich habe ihn … noch nie gesehen.« »Sind Sie ganz sicher?« Der gelassene, lakonische Stil war verschwunden. Die Fragen kamen jetzt wie Schüsse aus einer AK-47. »Hat er versucht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen?« »Mit mir nicht, nein. Und was hat er mit meiner Bewerbung zu tun?« »Mit Ihnen nicht? Wie meinen Sie das?« Der Mann beugte sich näher. »Antworten Sie, Watts.« Danny roch den Kaffeegeruch im Atem des Mannes. Seine Kehle war plötzlich trocken. So etwas hatte er beim besten 17
Willen nicht erwartet. »Als ich sechzehn war, hat jemand beim Sozialamt nach mir gefragt. Ich weiß nicht, wer es war. Wenn mein Großvater dahinter steckte, so hat er sich nie mit mir in Verbindung gesetzt.« Der Mann sah Danny in die Augen. Sein Blick war prüfend und fast hypnotisch. Schließlich schien er zufrieden zu sein und kehrte zu seinem Platz hinter dem Schreibtisch zurück. »Fergus Watts hat sein Land und sein Regiment verraten. Wussten Sie, dass er zum SAS gehörte?« Danny schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass er in der Army war, das ist alles.« »Es gibt gewisse Dinge, die wir mit Ihrem Großvater klären müssen, und wenn Sie uns irgendwie dabei helfen können …« Der Mann nahm das Bewerbungsformular. »Dann ist vielleicht doch noch ein Stipendium für Sie drin.«
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2 Das Schwarzweißfoto war vergilbt und verblasst. Es zeigte drei junge Männer in Soldatenuniformen, die Arm in Arm dastanden und glücklich lächelten. Junge Kameraden. Das Foto war Dannys einzige Verbindung zu seinem Großvater. Er betrachtete es erneut, riss es dann in der Mitte durch und warf die beiden Hälften zum bereits vollen Abfallkorb auf der anderen Seite des Raums. Sie verfehlten ihn und landeten auf dem Boden. Elena stand in der Tür von Dannys Zimmer. »Das bereust du vielleicht noch.« Mürrisch und mit finsterer Miene setzte sich Danny aufs Bett. »Warum? Das Einzige, was er jemals für mich getan hat: Er blockiert meinen Weg in die Army.« »Spiel nicht den Beleidigten, Danny. Das passt nicht zu dir.« »So ein Mist.« Die Rückreise aus Wiltshire hatte seine Stimmung nicht verbessert. Er war nicht nur eingeschnappt; er kochte. »Der Typ hat immer wieder neue Fragen gestellt. Ob ich wüsste, wo sich mein Großvater aufhält. Ob ich wirklich sicher bin, dass ich ihn nie gesehen habe.« Elena sah auf die beiden Hälften des zerrissenen Fotos hinab. Die lächelnden Gesichter waren noch immer zu erkennen. »Warum suchen sie ihn? Nach so langer Zeit?« »Das wollte mir der Kerl nicht verraten. Er meinte nur, sie müssten mit ihm reden.« »Willst du nicht Bescheid wissen?« 19
»Ich will überhaupt nichts von ihm wissen. Ich hasse ihn.« Unten waren Stimmen zu hören, und Elena, die in der Tür stand, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Ich sollte besser nach unten gehen. Dave the Rave dreht durch, wenn er mich hier oben erwischt.« Danny stand auf. »Ich werfe einen Blick in die Abendzeitung und sehe mir die Stellenanzeigen an. Der Teilzeitjob bei Tesco genügt jetzt nicht mehr, oder?« »Was ist mit deinem Schulabschluss?« »Was hat das jetzt noch für einen Sinn?«, erwiderte Danny, schob sich an dem Mädchen vorbei und ging zur Treppe. Elena hob die beiden Hälften des Fotos auf, schob sie in die Gesäßtasche der Jeans und folgte ihm. Sie wohnten in Foxcroft, einem privaten Wohnheim für Jugendliche in Camberwell, im Südosten von London. Seit fünf Jahren lebte Danny dort. Es war sein Zuhause. Besser gesagt: Es kam einem wahren Zuhause näher als alles andere in seinem bisherigen Leben. Als er sechs war, waren seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Danny hatte ebenfalls in dem Wagen gesessen, erinnerte sich aber nicht an den Unfall. Nicht einmal in seinen Träumen. Ohne Verwandte, die sich um ihn kümmern konnten, wurde er zu einem Sozialfall. Im Lauf der Jahre kam er bei vier verschiedenen Pflegeeltern unter, aber es klappte nie. Danny war kein Unruhestifter, aber er war unabhängig, legte Wert auf seinen Freiraum und wollte sich nicht den Vorstellungen fremder Leute von einem Familienleben anpassen. Er hatte seine eigene Familie verloren und wünschte sich 20
nicht, Teil einer anderen zu werden. Als er einen Platz in Foxcroft bekommen konnte, nahm er die Chance sofort wahr. Dort fühlte er sich wohl. Elena war kurz nach dem Tod ihrer Mutter eingezogen und inzwischen seit achtzehn Monaten im Wohnheim. Auch sie hatte keine Familie mehr. Ihr Vater war vor Jahren nach Nigeria zurückgekehrt, um, wie er Elena und ihrer Mutter gesagt hatte, dort sein Glück zu machen. An großen Ideen hatte es ihm nie gemangelt, wohl aber an Resultaten. Danny und Elena waren von Anfang an bestens miteinander zurechtgekommen. Sie passten einfach gut zusammen, auch wenn Elena ein Jahr jünger war. Zuerst dachte Danny, dass sie vielleicht mehr werden könnten als nur Freunde, aber Elena hatte ihm sofort klar gemacht, wie die Sache lief. »Ich möchte einen guten Freund, Danny«, sagte sie, als er einmal einen unbeholfenen Versuch machte, sie zu küssen. »Ich bin nicht daran interessiert, mit jemandem zu gehen. Jetzt noch nicht.« Deshalb begnügte sich Danny mit der guten Freundschaft, obwohl ihm Elena noch immer sehr gefiel. Und manchmal hatte er den Eindruck, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber vielleicht ließ sie ihn das auch nur glauben. Elena war selbstsicher, clever und scharfsinnig. Sie ließ sich von niemandem einschüchtern und konnte gut mit Menschen umgehen. Auch mit Danny, der ein wenig schuldbewusst wirkte, als sie ihn jetzt an der Treppe einholte. »Ich habe dich nicht einmal nach den Ergebnissen deiner Abschlussprüfung gefragt.« »Stimmt, das hast du nicht.« »Es tut mir Leid. Also, schieß los.« 21
Elena lächelte. »Soll ich bescheiden sein oder einfach ehrlich?« Danny lachte. Irgendwie gelang es Elena immer, ihn zum Lachen zu bringen. »Wann bist du jemals bescheiden gewesen?« »Wenn das so ist … Also, ich habe glänzend abgeschnitten. Fast alles Einsen und nur wenige Zweien. Toll, nicht wahr? Lass uns jetzt nach unten gehen.« Elena war die Starschülerin ihrer Schule, ein Genie, aber keine Streberin. Weder lernte sie stundenlang irgendwelche Bücher auswendig noch langweilte sie ihre Umgebung mit endlosen Strömen nutzloser Informationen. Allerdings hielt sie gegenüber ihren Freunden auch nicht hinter dem Berg damit, wie gut sie war – das aber auf äußerst nette Art. Foxcroft war ein altes viktorianisches Gebäude mit drei Hauptstockwerken und einem Dachgeschoss, in dem einst die Bediensteten untergebracht gewesen waren. Irgendwann zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hatte hier ein Regierungsminister gewohnt. Das hätte man jetzt nicht mehr für möglich gehalten. Der alte Glanz war traurig verblasst. Der Anstrich blätterte ab, der Boiler im Keller schnaufte und zischte wie ein alter Mann nach einem Leben mit zu vielen filterlosen Zigaretten. Die Schiebefenster klemmten und bei Wind schien das ganze Gebäude zu stöhnen und zu zittern. Aber Foxcroft hatte etwas, das fast alle mochten, die dort wohnten. Etwas Beruhigendes. Es verströmte immer noch den alten Ruhm, als lehne der es ab, sich einfach hinzulegen und aufzugeben. Von den Zimmern der Jungen im zweiten Stock gingen 22
Danny und Elena die breite Treppe zum ersten Stock hinunter. Dort hatten die Mädchen ihre Zimmer; Fernseh- und Wohnzimmer lagen im Erdgeschoss. Die Treppe hatte ein Geländer aus dunklem Eichenholz und einen verschlissenen, abgetragenen Teppich, der einmal rot gewesen sein mochte. Als Danny und Elena den ersten Stock erreichten, erschien Dave the Rave auf dem Treppenabsatz. An ihm konnten sie nicht vorbeischleichen. Dave war ein großer, kräftig gebauter ehemaliger Rugbyspieler. Er hätte sich vielleicht sogar einen Platz in der englischen Nationalmannschaft ergattert, wenn er sich nicht irgendwann am Rücken verletzt hätte. Er war so weit in Ordnung. Bei Dave the Rave wusste man, woran man war, und deshalb wussten Danny und Elena jetzt, dass Ärger drohte. Dave machte ein finsteres Gesicht. »Elena, du weißt, dass du auf der Jungenetage nichts zu suchen hast.« »Tut mir Leid, Dave. Ich habe Danny nur von meiner Abschlussprüfung erzählt.« »Das kannst du auch unten machen. Ihr beide solltet ein Beispiel für die anderen sein.« Normalerweise hielten sich Danny und Elena an die Vorschriften von Foxcroft. Sie respektierten Dave Brooker und seine Frau Jane. Sie waren fair und versuchten nie wie Eltern, Lehrer oder, schlimmer noch, Kumpel zu sein. Sie waren einfach Dave und Jane: Ihnen gehörte das Haus und sie bestimmten die Regeln. Daves hellblaue Augen blickten wieder sanfter – sein Ärger währte nie lange. Und er freute sich fast so sehr wie Elena über ihren guten Abschluss. »Ich glaube, sie ist das erste Genie, das wir je hier in Foxcroft hatten«, sagte er zu Danny, der nicht antwortete. 23
»Hör mal, Danny …«, sagte Dave behutsam. »Das mit der Army tut mir Leid. Ich weiß, wie viel es dir bedeutet hat.« Danny zuckte mit den Schultern, als wäre es nicht weiter wichtig. »Schon gut, Dave. Ich finde irgendetwas anderes.« »Ja, aber …« Weiter kam Dave nicht, denn Danny hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und ging weiter die Treppe hinunter. Elena sah Dave an, hob die Brauen und folgte Danny. Aus dem Fernsehzimmer ertönte die Titelmelodie von East-Enders, deshalb gingen sie ins Wohnzimmer, in dem jede Art von Lärm – Fernsehen, Gameboys und selbst Handys – strikt verboten war. Wie üblich hielt sich niemand in dem Zimmer auf. Elena sank auf das riesige alte Sofa an der einen Wand. »Willst du deinen Schulabschluss wirklich aufgeben?« Danny nahm in einem der Sessel Platz. Er passte nicht zu dem Sofa – keines der Möbelstücke passte dazu. »Mir bleibt keine Wahl. Ich kann mir kein Studium leisten und ich kann nicht hier bleiben. Ich muss mir einen Job suchen und woanders unterkommen.« »Dave ließe dich bestimmt hier wohnen.« »Nein, das geht nicht. Ich bin siebzehn und damit zu alt für dieses Wohnheim, wenn ich die Schule aufgebe.« Er stand auf und trat zu dem großen Schiebefenster, von dem aus man auf die Straße schauen konnte. Eine Scheibe hatte schon seit damals, als Danny eingezogen war, in einer Ecke einen Riss. Danny strich mit dem Finger darüber und sah aus dem Fenster. »Er steckt irgendwo dort draußen, Elena, und hat keine Ahnung, was er mir angetan hat.« Die Abendsonne ging hinter den Häusern auf der anderen 24
Straßenseite unter und sofort füllte sich das Zimmer mit Schatten. Danny drehte sich zu Elena um. »Ich werde ihn suchen.« Elena hatte an einem losen Faden an der Armlehne gezupft. Sie hielt inne und sah Danny an. »Deinen Großvater? Aber du hast doch gesagt …« »Ich weiß, was ich gesagt habe, aber du hast Recht, ich möchte mehr über ihn erfahren. Ich werde ihn finden und ihm sagen, dass er mein Leben ruiniert hat.« »Und wie willst du ihn finden?« Danny überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Du bist hier das Genie. Sag es mir.«
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3 Es war ein guter Platz für einen Imbisswagen an der Straße. Er stand an einer verkehrsreichen Nebenstraße der Hauptverbindung London-Southend. Hier fuhren viele Lieferwagen und Laster, die aus den Industrie- und Wohngebieten des südöstlichen Essex kamen oder dorthin unterwegs waren. Frankies Kundschaft bestand hauptsächlich aus ihren Fahrern. Hinzu kamen gelegentlich Handelsreisende, die bei ihm heimlich ein Sandwich mit Ei, Schinken und Ketschup aßen. »Meine Frau wäre nicht sehr erfreut, wenn sie sähe, dass ich so etwas esse«, sagten sie mit einem schuldigen Lächeln. »Sie setzt mir dauernd Müsli vor. Verdammtes Kaninchenfutter. Ich hoffe, Sie können ein Geheimnis bewahren.« Frankie bewahrte viele Geheimnisse. Der Parkplatz war voller Schlaglöcher, aber selbst für die größten Laster breit und tief genug. Die flache, baumlose Landschaft erlaubte es den Fahrern, den Imbisswagen mit dem Union Jack schon aus einer Entfernung von fast einem Kilometer zu sehen. Das Geschäft lief gut, und für Stammkunden, die es eilig hatten, stand eine Handynummer an der Seite des Wagens. Sie konnten anrufen, ihre Bestellung aufgeben und die voraussichtliche Ankunftszeit nennen. Das gab ihnen die Möglichkeit, innerhalb weniger Minuten ihr Essen abzuholen und weiterzufahren. Doch die meisten Kunden machten lieber Halt, um gemütlich eine Tasse Tee zu trinken und ein wenig mit Frankie zu 26
plaudern. Zwei Stammkunden namens Reg und Terry – Maler, die bei einer Fabrik in Benfleet arbeiteten – waren an diesem Morgen gekommen, um ihr übliches Frühstück und den starken Tee zu genießen. Schinken, Würstchen und Burger brutzelten bereits auf der Bratplatte. Reg gab den dritten Löffel Zucker in seinen Becher mit dampfendem Tee. »Ich weiß nicht, wie du es hier den ganzen Tag aushältst, Frankie«, sagte er und rührte den braunen, milchigen Tee energisch um, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Wird es dir nie langweilig? Du weißt schon, den ganzen Tag in einer kleinen Blechbüchse eingesperrt zu sein und nur die vorbeifahrenden Wagen zu beobachten.« Frankie gab ein Ei auf die Bratplatte. »Ich habe viel zu tun«, sagte er und nahm ein zweites Ei. »Dieser Kram bereitet sich nicht von alleine zu. Und ich lese Zeitung und höre Radio. In einem solchen Job erfährt man eine Menge.« Terry schlürfte Tee aus seinem Becher. »Ja, zugegeben, aber … Versteh mich nicht falsch, denn ich mag dein Essen, aber ich könnte nicht den ganzen Tag den Geruch von Bratfett ertragen. Klebt doch irgendwie an einem fest, oder?« Frankie gab das zweite Ei auf die Bratplatte. »Du meinst, so wie der Geruch von Farbe an euch festklebt?« Reg lachte und zog eine Ausgabe der Sun aus einer tiefen Tasche seines Overalls. »Da hat er Recht, Terry, da hat er verdammt Recht. Er riecht nach Gebratenem und wir nach Lackfarbe.« Er blätterte zur Seite drei und sah sich einige Sekunden lang das dortige Foto an. »Nein, mit dem Geruch würde ich fertig, kein Problem. Aber ich könnte es nicht ertragen, stundenlang in diesem kleinen Imbisswagen festzusitzen. Ich käme mir wie in einer Gefängniszelle vor.« 27
Die Eier waren fast so weit und Frankie drehte sich um, schmierte Butter auf die runden Brötchen. Dies sollte eine Gefängniszelle sein? Die Burschen hatten keine Ahnung. Eine Gefängniszelle war ein dunkler, fensterloser Betonwürfel, drei mal fünf Schritte lang, und man musste den Platz mit zwölf anderen Gefangenen teilen. Im Vergleich dazu war der Imbisswagen das Paradies. Man konnte die Tür öffnen und nach draußen treten. Man konnte hinaussehen, die Straße, die grasbewachsenen Seitenstreifen und die Häuser in der Ferne beobachten. Man konnte Radio hören und mit Leuten reden. Frankie hatte seine neue Identität vor drei Jahren angenommen, kurz nachdem es ihm gelungen war, nach England zurückzukehren. Er hatte lange für die Rückkehr gebraucht, volle neun Monate nach dem von ihm organisierten Massenausbruch aus dem kolumbianischen Gefängnis. Zuerst musste er fast vierhundert Kilometer durch den kolumbianischen Dschungel bis zur Grenze nach Panama hinter sich bringen. Er brauchte drei Monate und sein ganzes Geschick, um sich nicht noch einmal erwischen zu lassen und sich von dem zu ernähren, was er fangen oder pflücken konnte. In Panama ging er an Bord eines japanischen Frachters, der den Kanal auf dem Weg zum Atlantik durchquerte. Er versteckte sich zwischen dreitausend neuen Autos, aß nur Lebensmittel, die über Bord gekippt werden sollten, und verließ das Schiff, als es sechs Wochen später die Türkei erreichte. Er setzte die Reise per Anhalter oder in Lastwagen versteckt nach Frankreich fort und gelangte schließlich zusammen mit sieben illegalen Einwanderern verborgen unter einem Zug durch den Eurotunnel nach England. Essex schien so gut wie jeder andere Ort zu sein, um sich 28
niederzulassen. Dort wimmelte es von Menschen, die zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt waren, als dass sie auf einen weiteren gewöhnlichen, hinkenden Mann achteten. Er begann mit Gelegenheitsarbeiten, bar bezahlt und ohne weitere Fragen. Er behielt jeden Penny, den er verdiente, und als er sein Geld auszugeben begann, ging er dabei sehr klug vor. In einem Pub kaufte er für fünfzig Pfund eine neue Sozialversicherungsnummer und wurde zu Frank Wilson. Sich einen falschen Namen zuzulegen und als neue Person zu leben – daran war er von seiner Zeit bei geheimen Einsätzen des Regiments gewöhnt. Die Regel dabei lautete: Der neue Vorname begann immer mit dem gleichen Buchstaben wie der alte. Es half einem dabei, sich zu erinnern. Frankie erledigte alles in bar. Er hatte kein Bankkonto und keine Kreditkarten, mit denen man seinen Weg verfolgen konnte. Zunächst wohnte er in einem möblierten Zimmer, aber nachdem er den Imbisswagen aus zweiter Hand gekauft hatte, verbesserten sich seine Finanzen schnell. Inzwischen wohnte er in einem gemieteten alten Cottage, das recht baufällig war, aber auch jede Menge Privatsphäre bot. Und genau das wünschte er sich: Er wollte allein sein. Frankie stellte zwei Teller mit englischem Frühstück auf den Tresen. »Bitte sehr, die Herren. Dort steht der Ketschup. Bedient euch. Guten Appetit.«
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4 Die Schlagzeilen der Websites erzählten die Geschichte in entsetzlichen Details: SAS-HELD WIRD ZUM VERRÄTER … Fergus Watts, der frühere SAS-Held … WAS MACHT EINEN HELDEN ZUM VERRÄTER? … Hoch ausgezeichneter SAS-Mann, Fergus Watts … Und es wurde noch schlimmer: BRITEN, DIE IHR LAND VERRIETEN … Philby, Blunt, Fergus Watts … Es gab noch mehr über ihn. Viel mehr. Danny und Elena waren im Arbeitszimmer mit Elenas kostbarem Laptop online. »Wenn dein Großvater irgendwelche schrecklichen Dinge getan hat, sollten wir im Internet etwas darüber finden«, hatte sie zu Danny gesagt. Sie gab »Fergus Watts SAS« in die Suchmaschine ein und daraufhin erschienen die Ergebnisse. Sie scrollten durch die Websites und bekamen die meisten Informationen aus alten Zeitungsartikeln von vor acht Jahren. Angenehme Lektüre war es nicht, obwohl Fergus Watts’ Geschichte so gut begonnen hatte. Er war ein ausgezeichneter Soldat gewesen und schließlich vom SAS »übernommen« worden. Er hatte in Nordirland 30
Dienst geleistet, während des Höhepunkts des Konflikts, und beim ersten Golfkrieg war er für seine Arbeit hinter den feindlichen Linien ausgezeichnet worden. Er stieg zum Warrant Officer, Stabsfeldwebel, auf und hätte mit vierzig aus dem Dienst ausscheiden können, aber das Regiment war sein Leben, und deshalb entschied er zu bleiben. Als sie sich tiefer in das Leben und die Geschichte von Fergus Watts vorarbeiteten, sagte sich Danny immer wieder, dass diese vage Gestalt kein anonymer Fremder war, sondern der Vater seines Vaters. Sie gehörten zur gleichen Familie, waren ein Fleisch und Blut. Jede neue Information war eine Offenbarung. Sprengstoff war Fergus Watts’ Spezialität gewesen. Er hatte ein natürliches Talent für Sprachen, insbesondere Spanisch. Es war wie der Versuch, ein Puzzle ohne das Bild auf der Schachtel zusammenzusetzen. Die besonderen Fähigkeiten des SAS-Mannes führten ihn nach Kolumbien und in den Krieg gegen die Drogenbosse der FARC. Seine Aufgabe hatte darin bestanden, Patrouillen tief in den Regenwald zu führen, Anlagen für die Drogenproduktion zu finden und zu zerstören. Danny versuchte, sich den Dschungel vorzustellen, die Hitze, den heldenhaften Kampf. Doch dann verwandelte sich der Held in einen Schurken. Fergus Watts verschwand, und kurze Zeit später stellte sich heraus, dass er zur FARC übergelaufen war, für Geld. »Es stimmt«, sagte Danny, als sie durch eine weitere Seite scrollten. »Es ist genau so, wie der RCB-Mann sagte. Er hat das Regiment und sein Land verraten.« In einem langen, ausführlichen Artikel eines kolumbianischen Korrespondenten hieß es, dass Herstellung und Export 31
von Kokain in die USA und nach Europa ein Geschäft sei, bei dem es um viele Milliarden Dollar ging. Indem Watts seine Fähigkeiten in die Dienste der FARC stellte und ihr »Blutgeld« nahm, teilte er die Verantwortung für den Tod tausender junger Drogenkonsumenten. »Er ist nicht besser als ein Mörder«, sagte Danny zornig. »Ein Massenmörder.« Aus den Zeitungsberichten ging hervor, dass der Verräter nach einer Schießerei zwischen seiner kleinen Gruppe aus FARC-Guerillas und kolumbianischen Soldaten schließlich gefasst worden war. Watts hatte dabei eine Kugel in den Oberschenkel bekommen, wurde später verurteilt und in ein kolumbianisches Gefängnis geworfen. Nach dem Gerichtsverfahren und der Verurteilung verschwand der Name Fergus Watts für mehr als vier Jahre aus den Zeitungen, um dann auf dramatische Weise in die Schlagzeilen zurückzukehren: SAS-VERRÄTER FÜHRT MASSENAUSBRUCH AUS GEFÄNGNIS AN Seit dem Ausbruch hatte niemand Watts gesehen oder etwas von ihm gehört. »Er ist hier«, sagte Danny. »In England.« »Das kannst du nicht wissen«, erwiderte Elena. »Er könnte noch immer in Kolumbien sein. Oder vielleicht sogar tot.« »Ach? Und wer hat beim Sozialamt nach mir gefragt? Das muss er gewesen sein, es kommt niemand sonst infrage. Und ich werde ihn finden. Ich rufe die SAS an und frage dort nach ihm.« 32
»Es ist ein geheimes Regiment, Danny. Was willst du machen, die Auskunft anrufen und um die Nummer der SAS bitten?« Für solche Hinweise war Danny nicht in der richtigen Stimmung. »Na schön«, sagte er beleidigt, »das ist eine dumme Idee. Aber was soll ich sonst tun?« Normalerweise hätte Elena darauf scharf geantwortet, aber sie wusste, dass Danny durch die Neuigkeiten über seinen Großvater ohnehin am Boden zerstört war. »Versuch es mit einer anderen Nummer des Militärs – sie stehen bestimmt im Telefonbuch. Und vielleicht solltest du für diese Anrufe in den Garten gehen. Wir wollen ja nicht, dass jemand anders von der Sache erfährt. Ich setze die Suche im Internet fort. Aber wenn wir ihn tatsächlich finden, was dann?« »Dann übergebe ich ihn der Polizei«, sagte Danny und griff nach dem Telefonbuch. »Ich möchte, dass er leidet, so wie andere Leute wegen ihm leiden mussten.« Der Garten von Foxcroft war wie das Arbeitszimmer: Nur selten hielt sich dort jemand auf. Es gab nichts an ihm auszusetzen. Er war sogar schön, wenn man Blumen und Pflanzen mochte, die an den Gittern der hohen Backsteinmauer rund um den Garten entlangrankten. Aber da die meisten Bewohner von Foxcroft eine Rose nicht von einem Rhabarberstängel unterscheiden konnten, kamen sie nicht oft hier heraus. Jane Brooker war das nur recht. Sie kümmerte sich um den Garten fast ebenso liebevoll wie um die Kinder und Jugendlichen in ihrer Obhut. Der Garten bot Jane Gelegenheit, ihrem Alltagsstress zu entkommen. Sie brauchte ihn. 33
Wenn man sich dort aufhielt, konnte man meinen, man sei auf dem Land. Nur das unentwegte Brummen des Verkehrs auf dem Weg von und ins Stadtzentrum und die Glasscherben auf der Mauerkappe wiesen darauf hin, dass sich der Garten in einem geschäftigen und manchmal auch gefährlichen Teil der Stadt befand. Dave the Rave sagte oft scherzhaft, die Glasscherben dienten gar nicht der Abschreckung von Einbrechern, sondern dazu, die Foxcroft-Kids drinnen zu halten. Tatsächlich war aber oft in Foxcroft eingebrochen worden, obwohl es im Gebäude kaum etwas Stehlenswertes gab. Der Garten war leer, als Danny ihn mit seinem Handy und dem Telefonbuch betrat. Er setzte sich auf eine Holzbank und begann damit, nach den Nummern zu suchen. Er rief das nächstgelegene Rekrutierungsbüro an, das Pensionsamt der Army und sogar das National Army Museum. Ohne Erfolg. Während Danny telefonierte, setzte Elena die Suche im Internet fort. Sie gab »SAS« ein und bekam eine Liste von Websites, die Informationen von skandinavischen Fluglinien über Software bis hin zum Schweizerischen Akademischen Skiclub boten. »Wie dumm von dir«, sagte Elena zu sich selbst. »Benutz dein Gehirn, grenz den Suchbereich ein.« Sie tippte »Special Air Services Regiment« ein. Es gab zahlreiche dem Regiment gewidmete Seiten, die meisten von Möchtegernkriegern oder SAS-Fanatikern ins Netz gestellt. Elena stellte schnell fest, welche Sites nichts taugten und welche nützlich sein konnten. Schließlich fand sie die SAS Association, eine Organisation für ehemalige Mitglieder des Regiments. 34
»Nicht schlecht«, sagte sie und notierte die Telefonnummer. Dann klappte sie den Laptop zu und eilte in den Garten. Danny rief die SAS Association an und wurde nach einigen Sätzen gebeten zu warten. Auf einem schmalen Grasstreifen zwischen zwei Blumenbeeten ging er unruhig auf und ab und sah zu Elena. Sie hatte seinen Platz auf der Sitzbank eingenommen und blickte auf einen ungeöffneten blauen Luftpostbrief, den sie in beiden Händen hielt. Der Umschlag trug ihre Adresse und eine exotische Briefmarke. »Willst du ihn nicht öffnen?« Bevor Elena antworten konnte, knackte es in der Verbindung und die Stimme einer Frau kam aus dem Handy. »Haben Sie S. Watts gesagt, junger Mann?« Danny seufzte. »Nein. F für Fergus.« »Und er hat das Regiment vor zehn Jahren verlassen?« »Ungefähr. Er müsste jetzt zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig sein.« »Einen Moment, bitte, ich überprüfe es noch einmal. Aber selbst wenn er bei uns verzeichnet ist … Sie wissen doch, dass ich Ihnen weder seine Adresse noch die Telefonnummer geben kann, oder?« »Er ist mein Großvater. Ich möchte nur wissen, ob er noch lebt.« »Oh, meine Güte.« Anteilnahme erklang in der Stimme der Frau. »Bitte warten Sie.« Nach einer knappen Minute meldete sie sich wieder. »Wir haben einen Watts, aber er ist viel jünger. Eine ganz andere Generation. Sie schließen sich nicht alle der Association an, 35
wenn sie aus dem aktiven Dienst ausscheiden, wissen Sie. Einige scheinen einfach … zu verschwinden.« »Großartig«, sagte Danny. »Und was mache ich jetzt?« Er rechnete nicht damit, eine Antwort auf seine Frage zu erhalten, aber offenbar wollte die Frau ihm wirklich helfen. »Sie rufen aus London an, nicht wahr?« »Ja, und mein Handy-Guthaben geht allmählich zur Neige.« »Sie könnten es beim Victory Club versuchen. Viele der älteren Ehemaligen besuchen ihn. Vielleicht erinnert sich dort jemand an Ihren Großvater.« Es war nicht viel, aber wenigstens etwas. »Danke, vielen Dank«, sagte Danny. »Auf Wiederhören.« Er ging zur Bank und setzte sich neben Elena. Der Briefumschlag war noch immer nicht geöffnet. »Von deinem Vater?« Elena klang nicht sehr glücklich. »Wen sonst kenne ich in Nigeria?« »Willst du nicht wissen, was er schreibt?« »Das weiß ich bereits. Er hat erfahren, dass mir jetzt das von meiner Mutter gesparte Geld zur Verfügung steht, und darauf hat er es abgesehen. Geld ist das Einzige, was ihn jemals interessiert hat.« Seit ihrem sechzehnten Geburtstag durfte Elena Gebrauch von dem Geld machen, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Bisher hatte sie nur einmal auf die Ersparnisse zurückgegriffen und sich den Laptop und die Geräte gekauft, um damit die Breitband-Verbindung von Foxcroft in einen Hotspot verwandeln zu können. Es bedeutete, dass sie von jedem Ort im Gebäude aus drahtlos ins Internet konnte. Elena hatte ihre Zukunft bereits geplant. Nach der Universität wollte sie Informatikerin werden. Ihr moderner Laptop 36
war also kein Spielzeug, sondern eine Investition in die Zukunft. Danny beugte sich zur Seite und betrachtete die Briefmarke auf dem Umschlag. »Lies ihn. Vielleicht irrst du dich. Vielleicht ist dies ein Brief von jemandem, der mit dir Kontakt aufnehmen möchte.« Elena zögerte. Sie war schon oft von ihrem Vater enttäuscht worden. Die eine Geburtstagskarte, die sie in den vergangenen acht Jahren bekommen hatte, lag ganz hinten in einer Schublade in ihrem Zimmer, zusammen mit dem einen Brief, den er ihrer Mutter geschrieben und in dem er um Geld gebeten hatte. Auf der Karte stand sogar ein falsches Alter. Und jetzt dies. Elena hielt Danny den Brief hin. »Lies du ihn.« »Ich?« »Seit Stunden tue ich Dinge für dich, und jetzt wird es Zeit, dass du etwas für mich tust. Wenn er das Geld erwähnt, und sei es nur ein einziges Mal … Ich möchte, dass du es mir sagst. Dann kann ich den Brief zerreißen und wegwerfen.« Danny schob den Daumen in eine Ecke des Umschlags und öffnete ihn. Es war kein langer Brief – nur zwei billige, linierte Blätter aus einem Notizbuch –, aber Danny las sorgfältig jedes krakelig geschriebene Wort und war sich die ganze Zeit über bewusst, dass Elena in die andere Richtung sah. Schließlich faltete Danny die beiden Blätter zusammen und gab sie zurück. »Du brauchst den Brief nicht zu zerreißen.« Elena schwieg, aber sie schien zufrieden. Und erleichtert. Sie faltete die Blätter auseinander und begann zu lesen.
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5 Etwa anderthalb Kilometer flussaufwärts vom Parlamentsgebäude, auf der südlichen Seite der Themse unweit der Vauxhall Bridge, steht ein seltsames Gebäude, bekannt unter der Bezeichnung Vauxhall Cross. Es sieht wie eine beigefarbene und schwarze Pyramide mit abgeschnittener Spitze aus. Zu beiden Seiten finden sich stufenartige Strukturen mit dicken Türmen und eine große Terrasse bietet Blick auf die Themse. Mit blinkenden Neonlampen hätte man das Gebäude für ein Kasino halten können. Aber Vauxhall Cross ist kein Spielkasino, sondern die Zentrale des Geheimdienstes, Secret Intelligence Service beziehungsweise MI6. Die Leute, die dort arbeiten, benutzen nur selten, wenn überhaupt, den Begriff MI6. Sie sind für die »Firma« tätig. Sie sammeln Informationen aus Übersee und organisieren geheime Einsätze. Sie »wahren den Einfluss des Vereinigten Königreichs im Ausland« und hüten das »Groß« in Großbritannien. George Fincham traf früh ein, wie fast jeden Morgen. Wie üblich trug er einen eleganten Anzug und ein weißes Hemd mit MCC-Krawatte. Er zog seinen Ausweis durch das elektronische Lesegerät und öffnete die schmale Metalltür. Eine Aktentasche oder irgendwelche Unterlagen hatte er nicht dabei. Die Mitarbeiter von Vauxhall Cross nahmen keine Arbeit mit nach Hause, nicht einmal so hochrangige wie George Fincham. Er ging zum Empfang, wo der erste Besucher des Tages da38
rauf wartete, abgeholt zu werden, nachdem er eine Ausweiskarte mit der Aufschrift »Überall in Begleitung« bekommen hatte. Wortlos nickte Fincham den beiden Empfangsdamen hinter der Panzerglasscheibe zu und setzte den Weg zu den Aufzügen fort. Sein Büro befand sich ganz oben im rückwärtigen Teil des Gebäudes, mit Blick über den Fluss bis zu Big Ben und dem Parlamentsgebäude. Fincham erreichte seine Etage und trat aus dem Aufzug. Der lange Flur wahrte wie üblich seine verschlossene Stille. Die einzigen Geräusche waren das leise Summen der Klimaanlage und das kaum hörbare elektronische Brummen der Leuchtstoffröhren. In einer der kleinen Küchen standen zwei andere Frühaufsteher mit ihren Ausweisen an Halsketten und kochten Kaffee. Sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, was nicht ungewöhnlich war: In Vauxhall Cross sprachen alle leise, wenn sie sich nicht in ihren eigenen Zimmern befanden. Fincham erreichte sein Büro, schloss die Tür aus massivem Holz auf und trat ein. Hier fühlte er sich zu Hause. Der Raum war funktional und unpersönlich. An den Wänden hingen keine Bilder; nur zwei Plasmafernseher waren in der einen Ecke an Halterungen angebracht. Ein Schirm zeigte ständig die neuesten Weltnachrichten auf Teletext. Der andere war auf BBC News 24 eingestellt, ohne Ton und mit Untertiteln am unteren Bildschirmrand. Der Schreibtisch stand in der Nähe des Panoramafensters, das eine ganze Seite des Büros einnahm. Fincham ging zum Fenster und öffnete die Jalousien, woraufhin das Licht der Morgensonne hereinströmte. Auf der Themse herrschte nur wenig Verkehr; noch nicht einmal die touristischen Vergnü39
gungsdampfer hatten mit ihren täglichen Fahrten über den schmutzigen Fluss begonnen. Ein zweimaliges Klopfen an der Tür unterbrach Finchams Betrachtungen der Aussicht, die bis zum Parlamentsgebäude reichte. Er sagte wie üblich: »Herein.« Marrie Deveraux präsentierte ein tadelloses Erscheinungsbild, wie immer. Ihr schwarzer Hosenanzug stammte eindeutig nicht von der Stange und wäre für die meisten weiblichen Angehörigen der Geheimdienstelite viel zu teuer gewesen. Zum Glück für Deveraux hing ihr teurer Geschmack nicht von dem Gehalt ab, das ihr die britische Regierung zahlte. Sie kam aus einer Familie mit westindischem Ursprung. Ihre Vorfahren hatten es vor langer Zeit zu Reichtum gebracht, indem sie mit den Franzosen kooperierten, als diese ihre Insel kolonialisiert hatten. Mit ihren hohen Wangenknochen, dem exotischen Flair, ihrem pechschwarzen Haar und der schlanken Figur sah Marcie Deveraux wie ein Supermodel aus. Aussehen, Stil und Klasse hatte sie dazu, aber Marcie Deveraux’ Ehrgeiz hatte von Anfang an in eine andere Richtung gezielt. Ihr erstklassiger Politologieabschluss in Oxford hatte zur Rekrutierung durch die Firma geführt, wo sie schnell befördert wurde. Sie wusste: Wenn sie es richtig anstellte und ein wenig Glück hatte, konnte sie in zehn Jahren »C« werden – so nannte man den Chef des Intelligence Service. Doch derzeit war sie die Nummer zwei in Finchams Abteilung, die sich um die innere Sicherheit der Firma kümmerte: Es galt unter anderem sicherzustellen, dass niemand im Service Geheimnisse an den Feind verkaufte, und außerdem durfte die Regierung nicht zu viel von den Aktivitäten der 40
Firma erfahren. Politiker mussten, wann immer möglich, in einem sicheren Abstand gehalten werden. »Guten Morgen, Sir.« Fincham wandte sich vom Fenster ab und bedeutete Deveraux, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich in den hochlehnigen Sessel hinter dem Schreibtisch. »Was haben Sie für mich, Marcie?« »Allem Anschein nach beginnt Ihr Plan, sich bezahlt zu machen, Sir.« Sie schob Fincham ein einzelnes Blatt zu. Dannys RCBAkte lag ebenfalls auf dem Schreibtisch. Das Foto war entfernt worden. Fincham nahm das Blatt und las das Kleingedruckte, während Deveraux fortfuhr: »Er ist bereits recht fleißig gewesen. Vier Kontakte wurden gemeldet, einer sogar beim Pensionsamt der Army. Das zeigt großen Einsatz.« »Und wir beobachten ihn?« »O ja, Sir. Wir behalten ihn aufmerksam im Auge.« Fincham gestattete sich ein dünnes Lächeln. »Gut. Sehr gut.«
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6 Ein leichter Sommerregen fiel. Danny zog den Reißverschluss seiner Lederjacke zu und klappte den Kragen hoch. Er schloss die Eingangstür von Foxcroft hinter sich und ging in Richtung Bushaltestelle. »Achtung. Achtung. Dies ist ein möglicher Bravo Eins Foxtrott. Er geht nach links.« Der dunkelblaue VW Golf parkte etwa sechzig Meter entfernt am Straßenrand. Zwei Personen saßen darin, ein Mann und eine Frau, beide in den Sitzen zurückgelehnt. Sie sahen sich nicht an. Sie bewegten sich kaum, betrachteten nur kurz das RCB-Foto von Danny auf dem Schoß des Fahrers. Ein Druck auf die Funktaste des Schalthebels aktivierte das verborgene Mikrofon des Überwachungswagens. »Es ist eindeutig ein Bravo Eins, braune Lederjacke und blaue Jeans, noch immer Foxtrott nach links, nähert sich der ersten Kreuzung auf der linken Seite.« Das Team bestand aus vier Personen. Der besseren Verständlichkeit wegen verwendeten sie nur Vornamen, wenn sie per Funk miteinander sprachen. Mick saß am Steuer des Golfs und Fran neben ihm. Sie waren zuständig für den Beginn der Überwachung, wenn sich das Ziel losbewegte. Sie leiteten die Verfolgung ein. Etwas weiter hinten auf der Hauptstraße saß Jimmy auf einem schwarzen Yamaha-TDM-Motorrad, gekleidet in schwarzes Leder und mit einem Helm unter dem Arm. In einer nahen Seitenstraße stand ein silbergrauer Nissan mit Bri42
an am Steuer. Beide lauschten den Informationen, die aus ihren kleinen Ohrempfängern kamen. Ihr Einsatz konnte jederzeit notwendig werden. »Bravo Eins bei der Kreuzung, noch immer geradeaus.« Fran verließ den Golf und vergewisserte sich, dass ihre Pistole und die beiden zusätzlichen Dreizehn-Schuss-Magazine am Jeansgürtel unter der Jacke verborgen blieben. Sie schlug dieselbe Richtung ein wie Danny. Mick nahm wieder Funkkontakt auf. »Fran ist Foxtrott. Mick hat immer noch Bravo Eins.« Fran befand sich fünfzig Meter hinter Danny, als sie den in den Schulterriemen ihrer Handtasche genähten Druckknopf betätigte und damit ihr verborgenes Funkgerät aktivierte. »Fran hat Bravo Eins, auf halbem Wege zur nächsten Kreuzung links. Er merkt nichts.« Mick begriff: Wenn sich Danny umdrehte und zurücksah, befand er sich direkt in seiner Sichtlinie. Es wurde Zeit, die Position zu wechseln. Er startete den Motor des Golfs, fuhr los und bog bei der ersten Gelegenheit nach rechts ab. Danny erreichte die Bushaltestelle. Fran betätigte erneut den Druckknopf. »Halt. Halt. Halt. Bravo Eins bleibt an der Bushaltestelle auf der linken Seite stehen.« Fran ging weiter und achtete darauf, nicht Dannys Aufmerksamkeit zu erregen. Nichts an ihrem Äußeren und ihren Bewegungen war ungewöhnlich. Alles schien vollkommen normal. Das gehörte zur Ausbildung. Auf keinen Fall auffallen. Darauf achten, dass es für jede Aktion einen Grund gibt. An Dritte denken. 43
Bei diesem Einsatz galt die Bezeichnung »Dritte« allen außer Danny Das Team wollte unbedingt vermeiden, dass irgendein selbst ernannter Menschenfreund merkte, wie Danny beschattet wurde, und daraufhin die Polizei anrief. Dadurch konnte alles auffliegen. Fran behielt den Finger am Druckknopf, als sie sich der Bushaltestelle näherte. »Ich sehe Bus Nummer sechsunddreißig, muss in Foxtrott bleiben, werde ihn verlieren.« Es kam darauf an, das Ziel die ganze Zeit über im Auge zu haben. Brian im Nissan und Jimmy auf der TDM wollten losfahren, als sich Mick meldete. »Mick bringt sich in Beobachtungsposition.« Mick war erst rechts und dann zweimal links abgebogen, kehrte zur Hauptstraße zurück und suchte nach einem Parkplatz mit Sicht auf die Bushaltestelle. Er musste schnell einen finden, denn Fran war Danny zu nahe, um die Beobachtung fortzusetzen. Kurz vor der Bushaltestelle trat sie nach links in eine Seitenstraße, sah einen Laden und näherte sich ihm. »Fran hat Bravo Eins nicht mehr.« Mick zog die Handbremse an und stellte den Motor des Golfs ab. »Mick hat das Ziel, Mick hat das Ziel.« Er hatte es geschafft. »Bravo Eins steht noch immer an der Bushaltestelle. Schaut auf den Fahrplan … sieht jetzt auf die Uhr. Schiebt die Hände in die Taschen. Scheint nichts zu merken.« Während sich Mick beeilt hatte, eine neue Beobachtungsposition zu erreichen, war Brian mit seinem Handy online 44
gegangen und hatte die Informationen gefunden, die das Team brauchte. »Bus Nummer 36 fährt von Camberwell nach Victoria, Marble Arch, Paddington und Endstation Queen’s Park. Das ist …« Mick unterbrach ihn. »Achtung! Achtung! Ein 36er nähert sich Bravo Eins. Er zählt Geld ab. Die letzten vier Zahlen des Kennzeichens sieben-sechs-acht-neun, mit dunkelgrüner Nikon-Werbung am Heck. Es geht los.« Der Bus hielt am Straßenrand. Die Luftpumpen zischten und die Türen öffneten sich. »Bravo Eins hat Geld in der Hand. Er betritt den Bus, ist nun im Bus außer Sicht. Wartet … wartet … Die Türen schließen sich, Blinker ist an. Achtung. Achtung … der Bus fährt los.« Jimmy der TDM-Fahrer klinkte sich ins Netz ein, indem er eine Taste bei den Lichtschaltern des Motorrads drückte. »Jimmy hat den Bus, bewegen uns zur ersten Ampel.« Jimmy leitete nun die Überwachung. Brian im silbergrauen Nissan setzte sich ebenfalls in Bewegung, als Mick losfuhr, um Fran aufzunehmen. Bisher lief alles glatt: Die Zielperson wurde verfolgt, ohne etwas zu merken. Der Bus war ziemlich voll, aber Danny fand unten einen freien Platz. Sein Blick schweifte über die anderen Fahrgäste. Die meisten starrten wie Zombies auf den Fernsehschirm, der vorn einen Werbespot nach dem anderen zeigte. Dannys Gedanken galten anderen Dingen. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte das alte Foto hervor, das 45
seinen Großvater und zwei Freunde aus der Army zeigte. Elena hatte die beiden Hälften mit durchsichtigem Tesafilm zusammengeklebt und der Riss war kaum mehr zu sehen. Danny blickte auf den helläugigen, lächelnden jungen Mann hinab und hatte zum ersten Mal das Gefühl, wie in einen Spiegel zu sehen. Fergus musste Anfang zwanzig gewesen sein, als das Foto entstanden war, nicht viel älter als Danny jetzt. Vom Aussehen her ähnelten sie sich sehr. Fergus war ein wenig größer als der Durchschnitt, so wie Danny. Er wirkte kräftig, war aber eher drahtig als muskulös, so wie Danny. Er hatte ein schmales Gesicht, ein breites Lächeln und klare, durchdringend blickende Augen, so wie Danny. Als Danny das Schwarzweißbild betrachtete, fragte er sich erneut, was den lächelnden, fröhlichen jungen Soldaten in einen zynischen Veteran verwandelt hatte. Doch er kannte die Antwort. Geld. Nicht mehr und nicht weniger. Zorn brannte in Danny. Er drehte das Foto um und las, was mit verblasster Tinte auf der Rückseite geschrieben stand: Watts 8654 – 2/6 zu bezahlen. Er wusste, dass 2/6 die alte Währung bezeichnete, aber er hatte keine Ahnung, was die anderen Zahlen bedeuteten. Der Bus hielt plötzlich, als vorn ein Lieferwagen in zweiter Reihe vor einigen Läden bremste. »Der Bus steht im Verkehr. Jimmy ist noch dran. Kann Bravo Eins nicht sehen.« Jimmy ließ den starken Motor seiner 850er TDM im Leerlauf aufheulen. Solche Situationen mochte er nicht; normalerweise warteten Motorradfahrer nicht im stockenden Verkehr.
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Fran stand am Straßenrand, als der Golf kam. Sie stieg ohne Eile ein und vermied alles, was die Aufmerksamkeit eines neugierigen Passanten wecken konnte. Aber als der Wagen wieder losfuhr, ging sie sofort auf Sendung. »Fran ist komplett.« Jimmy antwortete. »Roger. Jimmy ist noch am Bus dran. Der nähert sich langsam der Ampel. Kann jemand bei der nächsten Bushaltestelle übernehmen?« Der silbergraue Nissan befand sich nur drei Fahrzeuge hinter der TDM. »Brian kann übernehmen.« »Roger, Brian. Ampel springt auf Rot, wir müssen warten.« Mick steuerte den Golf durch ruhigere Nebenstraßen und folgte Frans Richtungshinweisen, als sie die Strecke der Linie 36 in ihrem Kartenbuch verfolgte. »Hier ist Mick. Wir fahren auf der Busstrecke voraus.« Die Ampel sprang um und der Bus rollte langsam weiter. »Achtung. Achtung. Ampel auf Grün. Kannst du jetzt übernehmen, Brian?« »Brian kann.« Jimmy gab Gas und fuhr durch die Lücke zwischen dem großen Doppeldecker und einem entgegenkommenden Lieferwagen. Unten im Bus hörte Danny das Donnern der TDM und blickte nach draußen, als die Maschine vorbeisauste. Er mochte Motorräder und hatte sich selbst eins versprochen, sobald er in der Army war. Er schüttelte den Kopf. Das war ein weiterer Plan, den sein Großvater zunichte gemacht hatte. »Brian hat den Bus. Blinker ist an.« 47
Der Bus hielt und Brian lenkte den Nissan hinter eine Reihe parkender Autos. »Bus hält, Bus hält. Brian hat ihn. Türen öffnen sich, Personen steigen aus. Ich warte …« Die übrigen Mitglieder des Teams hörten aufmerksam zu und fragten sich, ob ein neuer Foxtrott begann, ob Danny ausstieg und den Weg zu Fuß fortsetzte. »Türen geschlossen, von Bravo Eins nichts zu sehen. Blinker ist an, Bus fährt wieder los.« Das bizarre Spiel der abwechselnd in Bereitschaft »springenden« Fahrzeuge setzte sich durch die Straßen des Londoner Südostens fort bis in die Innenstadt hinein. Als sich der Bus der Haltestelle Marble Arch näherte, stand Danny auf und trat zu einer der Türen. Die TDM fuhr zum letzten Mal vorbei. Mick und Fran übernahmen bei der nächsten Bushaltestelle die Beobachtung. »Achtung, Achtung. Bravo Eins an der Tür. Er steht an der Tür und macht sich bereit für Foxtrott. Blinker an, Bus wird langsamer … Bus hält, Bus hält bei Marble Arch. Fran geht Foxtrott.« Fran war auf dem Bürgersteig, noch bevor Danny ausstieg, bereit, die Beschattung fortzusetzen. »Fran hat Bravo Eins Foxtrott an der Edgware Road, auf der linken Seite in Richtung der ersten Kreuzung links. Er sieht auf eine Straßenkarte.« Fran musste für kurze Zeit allein zurechtkommen, während die anderen versuchten, eine Abkürzung zu Danny zu finden. Es war eine kritische Phase, aber zum Glück konnte Fran in der Menge der Fußgänger untertauchen, ohne be48
fürchten zu müssen, Dritten aufzufallen. Kurze Zeit später hatte sie ein Problem. »Bravo Eins nähert sich der ersten Kreuzung links. Bravo Eins geht nach links. Ist vorübergehend außer Sicht.« Fran ging schneller, ohne zu laufen – es kam nach wie vor darauf an, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Kurz bevor sie die Ecke erreichte, meldete sich Jimmy. »Jimmy hat Bravo Eins. Foxtrott in der Seymour Street. Er wird langsamer … offenbar sucht er eine Adresse. Halten … halten …« Fran bog in die Seymour Street ein und sah die abgestellte TDM an deren Ende stehen. Von Jimmy war nichts zu sehen, aber Danny stand vor einem Gebäude mit einem gläsernen Vordach über dem Eingang. »Halten … halten … Bravo Eins betritt das Gebäude. Ist jetzt außer Sicht.« Fran funkte. »Gehe an dem Gebäude vorbei. Halten.« Gemächlich lief sie über die Straße und veränderte ihr Tempo auch nicht, als sie das Gebäude erreichte, sondern blickte nur kurz auf die Worte an der Seite des Vordachs. Sie lauteten: VICTORY CLUB.
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7 Das Innere des Victory Club überraschte Danny. Von außen wirkte das Gebäude alt und ehrwürdig wie die anderen in der Straße, doch hinter der automatischen Schiebetür präsentierte es dunkles Holz, Stahl und Spiegel. Ein trendiger Innenarchitekt musste alles völlig neu gestaltet haben. Links führte eine offene Tür in eine Art Kasino, wo einige Veteranen zu Mittag aßen. Danny hätte sie nicht unbedingt für ehemalige Soldaten gehalten – aber er wusste auch gar nicht, wie ehemalige Soldaten eigentlich aussahen. Geradeaus stand ein spiegelnder Empfangstresen, doch ein kräftiger Sicherheitsmann in einem schwarzen Anzug versperrte den Weg dorthin. Er hatte eine Liste in der Hand, auf der er die Namen dreier gut gekleideter Männer überprüfte, die soeben vor ihm standen. Danny sah auf seine Jeans und die Lederjacke. Er fragte sich, ob er eine Krawatte hätte umbinden sollen. Jetzt war es zu spät, und außerdem gab es ein viel größeres Problem: Sein Name stand nicht auf der Liste. Er überlegte schnell. »Handle eigenständig« – das hatte er immer wieder von den RCBLeuten gehört. Er sah sich in der Eingangshalle um und bemerkte ein großes Schild, das Auskunft über die Ereignisse in den verschiedenen Konferenzzimmern gab. Ganz oben stand: TRAFALGAR-ROOM. SEMINAR ZUR NEUORDNUNG DER ARMY. Als die drei Besucher die Erlaubnis bekamen, den Club zu betreten, gab sich Danny selbstbewusst und folgte ihnen. Er 50
sah den Sicherheitsmann nicht einmal an, und für einige Sekunden glaubte er, damit durchzukommen. Dann ertönte hinter ihm eine verblüffend hohe Stimme. »Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Danny drehte sich um und lächelte unschuldig. »Ich möchte meinen Vater besuchen. Er nimmt an dem Neuordnungsseminar teil und meinte, er wäre gegen Mittag in der Bar.« »Und Ihr Name lautet …?« So weit hatte Danny nicht gedacht, aber das Informationsschild wies auf ein weiteres Zimmer hin. Das musste genügen. »Carisbrook. Danny Carisbrook.« Der Sicherheitsmann sah auf seine Liste. »Hier steht kein Carisbrook. Tut mir Leid, Ihr Vater hat Sie nicht eingetragen.« Danny nannte sich in Gedanken einen Dummkopf. Er hätte keinen Namen erfinden sollen. Es wäre besser gewesen, ehrlich zu sagen, dass er nach seinem vermissten Großvater suchte. Doch das Glück war auf seiner Seite. Der Sicherheitsmann sah von der Liste auf und zwinkerte. »Wissen Sie was: Gehen Sie einfach an die Bar, und wenn Ihr Vater eintrifft, soll er zu mir kommen und Sie eintragen. Wir sind ein militärischer Klub, wissen Sie, und müssen auf Sicherheit achten.« »Ja, das verstehe ich«, antwortete Danny und versuchte, nicht zu grinsen. »Ich werde meinen Vater zu Ihnen schicken«, fügte er hinzu und eilte fort. Die Bar war schick. Alles glänzte. Und fast niemand hielt sich dort auf – die Klubmitglieder schienen Angst zu haben, sie könnten die neue Einrichtung ruinieren. Selbst der Teppich roch neu. Hinter dem Tresen wurde mit militärischer Präzision gear51
beitet. Der Barkeeper putzte Gläser, eins nach dem anderen, und stellte sie dann in einer Reihe auf die Theke. Sie bildeten eine perfekte Linie, wie bei einer Parade, zur Freude des stolzen Barkeepers, der demonstrativ laut seufzte, als Danny näher kam. »Ich kann Sie nicht bedienen.« »Wie bitte?« »Ich kann Ihnen nur etwas geben, wenn Sie in Begleitung eines Klubmitglieds sind.« »Ich möchte gar nichts trinken«, sagte Danny. Der Barkeeper stellte ein weiteres Glas in die Reihe und rückte es ein wenig zurecht. »Das ist unsere Aufgabe hier. Wir servieren Getränke. Wein, Bier, Spirituosen, auch alkoholfreie Getränke. Dafür bin ich hier.« Er nahm ein neues Glas. Danny seufzte. »Ich suche jemanden.« »Ein Mitglied?« »Ich glaube nicht. Aber vielleicht war er einmal Mitglied.« Der Barkeeper hörte widerstrebend mit dem Putzen auf und ließ das Glas sinken. Anscheinend begriff er, dass Danny erst dann gehen würde, wenn er seine Fragen beantwortete. »Name?« »Watts. Fergus Watts.« Der Mann hinter der Theke richtete einen strengen, argwöhnischen Blick auf Danny. »Und Sie sind?« »Ich bin sein Enkel, Danny. Und ich muss ihn finden, es ist wirklich dringend.« Die Strenge wich aus der Miene des Barkeepers. »Ich bin Harry«, sagte er mit einem Nicken und lächelte. Dann erstarrte sein Gesicht zu einer Maske, als er in Gedanken seine geistige Kartei nach vertrauten und halb vergessenen Namen durchsuchte. »Fergus Watts … Fergus Watts.« Schließlich 52
schüttelte er den Kopf. »Nein, der Name sagt mir nichts und ich kenne hier alle.« Danny zog das Foto aus der Innentasche seiner Jacke und gab es dem Mann. »Mein Großvater ist der in der Mitte. Es ist ein altes Foto, aber er kann sich nicht sehr verändert haben.« Harry betrachtete das vergilbte Foto, drehte es dann und las, was auf der Rückseite stand. »Zwei und sechs. Eine halbe Krone, hieß das. Das waren noch Zeiten.« »Und die anderen Zahlen?«, sagte Danny schnell, der vermeiden wollte, in ein Gespräch über die guten alten Zeiten verwickelt zu werden. »Die nach dem Namen. Was bedeuten die?« »Vermutlich seine letzten vier«, erwiderte Harry und zuckte mit den Schultern. »Die letzten vier? Die letzten vier wovon?« Harry lächelte nachsichtig. »In der Army hat jeder eine achtstellige Nummer. Vielleicht gab es in seiner Einheit noch andere namens Watts und deshalb hat man die letzten vier Ziffern zusammen mit dem Namen aufgeschrieben. Mit diesen letzten vier Ziffern vermeidet man Verwechslungen, insbesondere in den walisischen Regimentern, wo alle Jones oder Davis heißen. Niemand würde seine Nummer jemals vergessen.« Er winkte Danny ein wenig näher und fuhr fort: »Unter uns: Ich verwende die letzten vier bei meiner Bankkarte. In meinem Alter bringt man leicht etwas durcheinander und deshalb …« »Aber kennen Sie ihn?«, warf Danny ein. Offenbar war es nicht leicht, von diesem Mann eine einfache Antwort auf eine einfache Frage zu bekommen. 53
Harry blickte erneut auf das Foto. »Tut mir Leid, mein Junge. Nein, ich kenne ihn nicht. Und ich kann Ihnen mit Gewissheit sagen, dass er nie hier gewesen ist, denn ich bin länger hier als alle anderen. Ich gelte als Teil der Einrichtung, und damit meine ich die alte, nicht diesen neuen Kram.« Danny gelangte zu dem Schluss, dass alles Zeitverschwendung gewesen war und er auf diese Weise nicht weiterkam. Er nahm das Foto und wollte es wieder in die Tasche stecken. Harry griff nach dem Putztuch. »Sie sollten mit Big Kev reden.« »Mit wem?« »Dem größten Burschen auf dem Foto da. Ich meine den auf der rechten Seite. Auf dem Bild ist er viel jünger, aber Big Kev würde ich überall wiedererkennen.« Danny sah auf das Foto hinab. Den beiden anderen Männern, die rechts und links von seinem Großvater standen, hatte er nicht die geringste Beachtung geschenkt. Bis jetzt. »Kev Newman heißt er«, sagte Harry, nahm ein Glas und begann wieder zu putzen. »Er wird morgen hier sein. Ein ehemaliger Angehöriger des Regiments wird beerdigt und der anschließende Leichenschmaus findet hier statt. Und Big Kev hat noch nie ein Besäufnis ausgelassen.«
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8 An den meisten Tagen machte Frankie seinen Imbisswagen am Nachmittag zu. Dann kehrten die weißen Lieferwagen zu ihren Lagerhäusern zurück und die letzten Handelsreisenden waren bereits auf eine Tasse Tee und ein Schwätzchen gekommen. Es dauerte nicht lange, das warme Wasser abzudrehen, das Bratblech zu reinigen, den Abwasch zu erledigen und abzuschließen. Frankie konnte in weniger als zwanzig Minuten zu Hause sein. Aber er fuhr nie direkt heim. Seine Anti-Überwachungsroutine erforderte einen langen Umweg. Er schloss die Fahrertür seines dunkelblauen Fiestas auf und sah ein letztes Mal in beide Richtungen, bevor er einstieg und den Motor startete. Der Wagen war alt und unauffällig, aber in einem guten Zustand, und das entsprach genau Frankies Anforderungen. Er ging nie unnötige Risiken ein und vermied alles, was Aufsehen erregen konnte. Von der Polizei wegen einer Routineüberprüfung angehalten zu werden, stellte ein unnötiges Risiko dar, und deshalb hatten die Reifen des Fiestas genug Profil, Scheinwerfer, Rücklichter und Blinker funktionierten. Die Steuerplakette war zu sehen und das TÜV-Siegel zeigte ein aktuelles Datum. Auf dem Weg nach Rochford hielt sich Frankie an die Geschwindigkeitsbegrenzung, sah immer wieder in den Spiegel und merkte sich Art und Farbe der Fahrzeuge, die ihm folgten. Knapp fünf Kilometer vor der Stadt bog er in eine Parkbucht ein und gab vor, im Fußraum etwas zu suchen. Ohne 55
eine Kreuzung, die ein schnelles Abbiegen erlaubte, mussten die folgenden Wagen an seinem Fiesta vorbeifahren. Frankie registrierte sie alle. Wieder auf der Straße, fuhr er kurz vor der Stadt zweimal um einen Kreisverkehr und sah scheinbar unsicher auf die Schilder. Der Kreisel bot sich einer eventuellen Beschattungsgruppe für die Übernahme an: eine ideale Stelle, an der ein Verfolgerfahrzeug durch ein anderes ersetzt werden konnte. Während Frankie zweimal um den Kreisel fuhr, hielt er erneut nach verdächtigen Fahrzeugen Ausschau. Kurze Zeit später erreichte er hinter dem Stadtzentrum ein Neubaugebiet mit Apartment- und Einzelhäusern. Die ruhigen Straßen boten ihm viele Parkmöglichkeiten für die Nacht. An jedem Abend wählte er einen anderen. Er parkte den Fiesta, stieg aus, schloss ab, überquerte die Straße und ging durch eine Gasse, die zu den Geschäften führte. Frankie kannte das Beschattungsspiel nur zu gut. Am schwierigsten wurde es für das Team beim »Foxtrott«, bei der Verfolgung zu Fuß – je schneller er außer Sicht geriet, desto schwerer war es für die Beschatter, die Verfolgung fortzusetzen. Er ging so schnell wie möglich, achtete aber darauf, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht ein einziges Mal wandte er den Kopf, um zu sehen, was hinter ihm geschah. Er konnte sein Hinken nicht ganz verbergen, und je schneller er ging, desto deutlicher wurde es. Frankie hinkte seit dem verpatzten Einsatz in Kolumbien und daran würde sich sein Leben lang nichts ändern. Für eine Verfolgergruppe war das ein echter Bonus – ein solches Erkennungszeichen half ihnen, Frankie auch in einer großen Menschenmenge zu identifizieren. 56
Er betrat einen Laden und kaufte eine Abendzeitung. Während er vor der Kasse Schlange stand, blickte er aus dem Fenster und suchte nach Hinweisen auf eine eventuelle Beschattung. Hinweise wie jemand, der ein wenig zu lange vor der Tür verharrte oder beim Vorbeigehen den Eindruck erweckte, mit sich selbst zu sprechen – ein Fehler, der immer wieder vorkam, obwohl Beschatter bei der Ausbildung lernen, nicht die Lippen zu bewegen, wenn sie ins Funknetz sprechen. Frankie bemerkte nichts Verdächtiges, was aber nicht unbedingt bedeutete, dass ihm niemand folgte. Es konnte einfach bedeuten, dass die Beschattergruppe gut war. Er verließ den Laden, überquerte den kleinen Platz, ging durch eine weitere Gasse und erreichte ein kleines Parkhaus. Dort holte er einen Regenschutz aus grünem Nylon und eine zusammengerollte Mütze unter seiner Jacke hervor. Sein altes Drei-Gang-Fahrrad war ans Geländer gekettet. Rasch löste er die Kette, streifte den Regenschutz über, setzte die Mütze auf und radelte los. Ihn erwartete eine lange Fahrt nach Hause, aber daran war er gewöhnt. Die geschäftigen modernen Pendlerstädte im östlichen Essex wichen allmählich einer flachen, sumpfigen Landschaft, in der alte Dörfer wie Canewdon, Paglesham und Creeksea noch Lichtjahre vom 21. Jahrhundert entfernt schienen. Das Cottage stand inmitten abgelegener Felder, abseits einer ruhigen Nebenstraße und am Ende eines langen, unbefestigten Feldwegs. In der Nähe waren kleine Wäldchen und dahinter erstreckte sich Sumpfland bis zum Fluss Crouch hinunter. 57
Frankie erreichte den Weg und hielt dort inne, um festzustellen, ob irgendwelche Fahrzeuge Abdrücke hinterlassen hatten. Auf dem Boden waren aber keine Reifenspuren zu sehen. Er ging über den Weg und schob dabei das Rad am Sattel. Nach einigen Metern stand auf der einen Seite ein alter, nicht mehr benutzter Hühnerstall. Darunter, an einem Draht befestigt, befand sich eine Maglite-Taschenlampe. Ihr Lichtkegel war mit Klebeband bedeckt, sodass bei eingeschalteter Lampe nur ein dünner Lichtstrahl herausdrang. Frankie blickte unter den Hühnerstall und sah kein Licht, was bedeutete: Tagsüber waren die Bewegungsdetektoren am Haus nicht ausgelöst worden. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Frankie auf der Stelle kehrtgemacht, ohne jemals hierher zurückzukehren. Die einzige Regel hieß: überleben. Er ging zum Cottage und achtete dabei darauf, die vier anderen verborgenen Detektoren auszulösen. Ihre Drähte lagen im Boden, und die Sensoren waren in den Zweigen der verkrüppelten, windgebeugten Bäume verborgen, die den Weg säumten. Sie befanden sich in Schulterhöhe, damit sie nicht auf einen Fuchs oder einen Hund reagierten. Die Detektoren waren mit normalen Sicherheitslichtern am Weg und beim Haus verbunden. Normale Lichter, die Frankie aber für seine Zwecke bearbeitet hatte. Schichten aus infrarotem Filterpapier bedeckten sie, was bedeutete: Wenn sie aktiviert wurden, so leuchteten sie nicht hell. Stattdessen übertrugen unter den Lichtern verborgene Infrarotkameras Bilder zu der kleinen Monitorreihe im Haus. Das Cottage kam einer Festung gleich. Die Festung Frankie. Alle zu ihrer Verteidigung installierten Dinge stammten 58
aus Elektronikläden oder Baumärkten und Frankie hatte sie anschließend seinen besonderen Bedürfnissen angepasst. Für Frankie war Sicherheit zu einer Kunst geworden. Er erreichte das Cottage. Alles schien in Ordnung zu sein – das Gartentor war noch immer geschlossen. Mit der einen Hand tastete er unter die Klinke und fühlte den Streichholzkopf, den er beim Schließen des Tors am Morgen dort eingeklemmt hatte. Das Tor war nicht geöffnet worden. Niemand hatte einen Grund dazu; Frankie bekam nie Post. Er brachte das Fahrrad ins Haus, schloss die Tür ab, sah in jedes Zimmer und vergewisserte sich, dass alles an seinem Platz lag und stand. Die meisten Zimmer hatten kahle Bodendielen oder einen alten Teppich, aber in der Küche hatte Frankie einen Bodenbelag aus PVC mit Marmormuster ausgelegt. Vor der Spüle war ein dicker Teppich auf dem PVC festgeklebt. Frankie zog den Teppich an einer Ecke hoch und hob damit den Belag und die darunter verborgene Falltür hoch. Eine modrige Holztreppe führte in die dunkle Tiefe. Auf der ersten Stufe lag eine Taschenlampe. Frankie schaltete sie ein und ging in den Keller. Er war feucht und muffig, und die Nähe zum Fluss sorgte dafür, dass selbst in den Sommermonaten einige Millimeter Wasser den Boden bedeckten. Doch neben der abgelegenen Lage war der Keller der größte Vorzug des Cottage. An einer Wand standen einige Holzkisten aufgestapelt. Frankie rückte sie zur Seite und leuchtete mit der Taschenlampe in ein Loch, das sich auf halber Höhe befand. Der Lichtkegel fiel auf eine etwa sarggroße Höhle, die nach etwa anderthalb Metern in die Wand des Tunnels gegraben war. 59
Darin lag ein Müllbeutel mit Kleidung, Konserven und dem größten Teil von Frankies Ersparnissen. Dahinter zog sich der schmale Tunnel zwanzig Meter weit durch die Finsternis. An seinem Ende lag bei den Bäumen rechts vom Cottage ein getarnter Notausgang. Wenn das Haus jemals angegriffen werden sollte, bot dieser Geheimgang Frankie die beste Überlebenschance. Die Höhle war aber nur eines seiner Verstecke. Draußen im Wald gab es noch zwei weitere. Er kehrte ins Erdgeschoss zurück, sah auf die Monitore und stellte fest, dass er die Detektoren auf dem Weg zum Cottage tatsächlich ausgelöst hatte. Die Infrarotkameras zeigten den Feldweg als grün glühendes Band – alles in bester Ordnung. Und das war’s. Ende der Routine. Frankie konnte sich entspannen, soweit es für ihn Entspannung gab. Er würde sich etwas zu essen machen und dann wie immer den Abend vor dem Fernseher verbringen.
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9 »Dein Großvater war ein guter Mann.« »War?« Kev Newman zuckte mit den Schultern, trank einen großen Schluck Bier und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, der ihm kaum genügend Platz zu bieten schien. »Das habe ich nur so gesagt.« Man konnte leicht verstehen, warum man ihn Big Kev nannte. Er war riesig. Auf dem Foto sah er groß aus, aber in den vergangenen Jahren schien er noch an Masse zugelegt zu haben. Jetzt verwandelten sich die Muskeln allmählich in Fett, doch mit Händen wie Schaufeln sah Kev noch immer wie jemand aus, mit dem man lieber keinen Streit anfing. Im Gegensatz zu Dannys erstem Besuch herrschte reger Betrieb im Victory Club. Die »old and bold«, die »Alten und Kühnen«, wie man ehemalige SAS-Männer nannte, waren in Scharen gekommen, um einem Kameraden das letzte Geleit zu geben. Krawatten wurden gelockert, Jacken über die Rückenlehnen von Stühlen gehängt. Das Bier floss in Strömen, überall im Raum fanden angeregte Gespräche statt und es wurde auch gelacht. Die Beisetzung war vorüber und nun genossen alle den Leichenschmaus. Beim zweiten Mal war es für Danny einfacher gewesen, in den Victory Club zu gelangen. Auf seine Bitte hin hatte ihn der Barkeeper Harry unter dem Namen Carisbrook in die Liste eingetragen, und es gab keinerlei Probleme, auch deshalb nicht, weil er diesmal mit Jacke und Krawatte angemessener gekleidet war. Danny bemerkte Big Kev sofort, als er zusammen mit eini61
gen Freunden hereinkam. Man konnte Big Kev kaum übersehen. Die Gruppe holte sich ihre erste Runde Bier, und als die Männer dann zu einem Tisch in der Ecke gingen, hielt ein anderer Veteran Kev an. Danny wartete, bis Kev wieder allein war, trat auf ihn zu und stellte sich vor. Wenn der große Mann überrascht war, so zeigte er es nicht. Er sah Danny an und nickte, als bemerkte er die Ähnlichkeit von Enkel und Großvater. Dann schüttelte er Danny die Hand, wobei er ihm fast die Finger zerquetschte, und lud ihn zu der Gruppe am Tisch ein. Als sie dort Platz nahmen, sagte Kev einfach nur: »Das ist Danny.« Seitdem saßen sie ein wenig abseits der anderen und sprachen leise miteinander. Doch das Gespräch brachte Danny kaum weiter. Nach einer Weile beugte er sich vor. »Wissen Sie, wo mein Großvater ist?« Big Kev antwortete sofort. »Ich habe keine Ahnung.« »Aber Sie waren sein Freund.« »Das kann mal wohl sagen. Das Foto zeigt uns zu einer Zeit, als wir es noch nicht einmal ins Regiment geschafft hatten. Wir sind den ganzen Weg gemeinsam gegangen. Wir kamen zur gleichen Zeit zum Militär und dann …« Kev unterbrach sich und stand so plötzlich auf, dass er dabei fast sein Bier verschüttet hätte. Danny beobachtete verwundert, wie sich auch die anderen Veteranen erhoben. Dann erst bemerkte er den Grund. »Ihr braucht nicht aufzustehen, Jungs. Nicht mehr.« Kev war nahe daran, Haltung anzunehmen. »Alte Gewohnheit, Sir.« »Sir« war groß, grauhaarig und vornehm. Und er hatte eine Ausstrahlung, die auch Danny veranlasste aufzustehen. 62
»Ich wollte euch nur sagen, dass meine Frau und ich jetzt aufbrechen. Es ist eine lange Fahrt nach Hause.« »Schön, dass Sie beide gekommen sind, Sir«, sagte Kev. »Das war das Mindeste, was wir tun konnten.« Der Mann bemerkte Danny. »Wer ist das? Ein neuer Rekrut?« »Der Freund eines Freundes, Sir«, antwortete Kev, bevor Danny etwas sagen konnte. Sir sah Danny an und lächelte. »Lassen Sie sich von diesem Gaunerhaufen nicht irreführen. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen!«, sprachen die Veteranen im Chor und setzten sich wieder. Big Kev trank sein Bier aus und Danny nahm einen Schluck von seiner Cola. »Wer war das?« »Der alte Kommandeur. Colonel. Ein guter Mann.« Danny konnte die Worte nicht zurückhalten. »Wie mein Großvater?« Kev antwortete nicht. Er war ein Mann von wenigen Worten und die meisten davon schien er für sich behalten zu wollen. Aber alle anderen hatten viel zu sagen. Es wurde immer lauter im Raum. Die alten Kameraden erzählten sich Geschichten aus ihrer ruhmvollen Vergangenheit. Danny musste fast schreien. »Ich weiß, was er gemacht hat. In Kolumbien.« »Tatsächlich?«, erwiderte Kev so leise, dass es Danny schwer fiel, ihn zu verstehen. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht auch nicht.« Kev verriet nichts und in Danny stieg Ärger auf. »Ich muss ihn finden.« Einer der Männer auf der anderen Seite des Tisches hörte Danny. »Wen musst du finden? Von wem redet er, Kev?« 63
Inzwischen war es so laut, dass Danny rufen musste. »Von meinem Großvater!« Schallendes Gelächter ertönte am Nebentisch und gab dem Veteranen keine Chance, ihn zu verstehen. »Wie bitte?«, rief er zurück. Es folgte ein sonderbarer Augenblick, der sich vermutlich nicht einmal dann wiederholt hätte, wenn er hundertmal geprobt worden wäre. Als Danny die Hände am Mund wölbte und rief, sank plötzlich der allgemeine Geräuschpegel. Zwei Worte donnerten durch den Raum: »Fergus Watts!« Es wurde fast völlig still und alle Blicke richteten sich auf Danny. Er sah Kev an. »Was ist passiert?« »Heutzutage kein besonders beliebter Name im Regiment, mein Junge«, sagte Kev leise. Nach und nach lebten die Gespräche und das Gelächter wieder auf, doch zwei Tische entfernt behielt ein Mann Danny im Auge. »Fergus Watts«, flüsterte er. »Na, das ist ein Name, den ich schon lange nicht mehr gehört habe.« Vielleicht war es die Intensität seines Blicks, die Danny veranlasste, sich umzusehen. Vielleicht steckte auch nur Zufall dahinter. Wie auch immer, ihre Blicke trafen sich. Der starrende Mann schenkte Danny ein übertriebenes Lächeln, hob sein Glas und formte mit den Lippen ein »Prost«. Es war verwirrend und gespenstisch. Danny wandte den Blick ab, als Big Kev aufstand und einem seiner Freunde zurief: »Ich muss mal wohin. Hol uns noch eine Runde, Tony, und auch was für den Jungen.« Er sah Danny an. »Es sei denn, es wird Zeit für dich zu gehen.« Danny wollte sich nicht fortschicken lassen. »Ich habe es nicht eilig.« 64
Kev zuckte mit den Schultern und ging. Tony nahm die Gläser und machte sich auf den Weg zur Theke. Danny lehnte sich zurück und sah sich um. Die Veteranen schienen allesamt harte Burschen zu sein, aber es gab nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede. Er hatte eigentlich erwartet, dass alle so waren wie Kev Newman: groß, kräftig, muskulös. Aber in körperlicher Hinsicht gab es viele Variationen. Der gemeinsame Aspekt bestand darin, dass sie alle hart wirkten. Beziehungsweise abgehärtet. So als hätte das, was sie gesehen und erlebt hatten, ihnen eine andere Einstellung zum Leben gegeben, als Durchschnittsmenschen sie hatten. Danny fragte sich, was diese Leute zum Dienst beim SAS bewegt hatte. Die reguläre Army war anders, und er wünschte sich noch immer, dort einen Platz zu finden. Die Army bedeutete eine berufliche Laufbahn, einen Lebensstil und Reisen weltweit. Es bestand die Möglichkeit von Gefahr, aber nicht auf einer täglichen Basis, und vermutlich nie im gleichen Ausmaß wie beim SAS. Beim SAS war es eher, als würde man sagen: »Bringt mich in Gefahr. Ich möchte bei jedem Einsatz mein Leben riskieren. Ich möchte die gefährlichsten Orte aufsuchen, es mit Guerillas und Terroristen aufnehmen und mit allem, was die mir entgegenschleudern könnten.« Während es lauter wurde und das Bier schneller strömte, dachte Danny daran, dass sich SAS-Leute vielleicht nicht durch besondere Fähigkeiten auszeichneten, sondern durch eine besondere Art von Wahnsinn. Sein Blick glitt zur Tür, die zur Eingangshalle führte, und durch die Scheibe ganz oben sah er Big Kev. Er war gar nicht 65
auf die Toilette gegangen, sondern telefonierte mit einem Handy. Plötzlich begriff Danny: Big Kev wusste, wo sich sein Großvater befand. Und das Gespräch, das er jetzt mit dem Handy führte … Vermutlich telefonierte er gerade mit Fergus Watts. Danny war sich ganz sicher, aber während er noch darüber nachdachte, ob er in die Eingangshalle laufen und Kev zur Rede stellen sollte, kehrte der große Mann zurück. Er schob das Handy in eine Tasche der Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls hing, und sah zur Theke, an der es ziemlich geschäftig zuging. »Was ist eigentlich mit Tony los? Er hat ja noch nicht mal eine Bestellung aufgegeben.« Tony stand ein wenig abseits der Theke, die leeren Gläser in den Händen, und sprach mit zwei anderen Veteranen. »Wenn man etwas will, muss man es immer selbst erledigen«, knurrte Big Kev und stapfte zur Theke. Es dauerte nicht mehr als drei Sekunden. Ein kurzer Blick nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass niemand zusah, und dann befand sich Kevs Handy nicht mehr in der Jackentasche, sondern in Dannys Hand. Rasch ließ er es in seiner eigenen Tasche verschwinden und ging zur Toilette, um dort die letzte gewählte Nummer herauszufinden. Die Toilette war leer, aber Danny betrat eine der Kabinen und schloss die Tür. Kevs Handy war uralt, doch es fiel Danny trotzdem nicht schwer festzustellen, welche Nummer zuletzt gewählt worden war. Allerdings konnte er die Nummer nicht notieren oder speichern. Bei seinem eigenen Handy war das Guthaben aufgebraucht und deshalb hatte er es nicht mitgenommen. Er 66
hatte noch nicht einmal einen Kugelschreiber dabei. »Denk nach, Danny«, flüsterte er. »Denk nach.« Big Kev hatte an der Theke die Bestellung aufgegeben und wurde bedient. Der Barkeeper zapfte das letzte Bier und stellte es auf ein Tablett voller Gläser. Es war eine teure Runde und Kev bezahlte mit zwei Zwanzig-Pfund-Noten. Mit den Gedanken war er ganz woanders, als er das Wechselgeld einsteckte und das Tablett nahm. Danny verließ die Toilette und sah, wie Kev sich von der Theke abwandte und den Rückweg antrat. Er musste den Tisch unbedingt vor ihm erreichen und das Handy zurück in die Jackentasche stecken. Kev war dem Tisch näher, aber er trug auch ein Tablett mit leicht zu verschüttenden Getränken. Er erreichte seinen Freund Tony, der noch immer mit den beiden Veteranen sprach. »Bitte bleib stehen und rede mit ihnen«, flüsterte Danny, sah zu Kev und versuchte, möglichst normal zu wirken. Er durfte nicht laufen – jemand hätte sich nach dem Grund dafür gefragt. Aber Kev blieb nicht stehen; er brauchte offensichtlich sein Bier. Er setzte den Weg fort und würde den Tisch vor Danny erreichen. Hinter ihm ertönte eine Stimme. »Kev? Kev?« Big Kev drehte sich um. Der Barkeeper Harry trat auf ihn zu. »Du hast doch mit zwei Zwanzigern bezahlt, oder?« Der große Mann nickte. »Ja.« »Tut mir Leid, alter Junge. Ich habe dir Wechselgeld für dreißig gegeben. Wir haben so viel zu tun, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.« 67
Kev lächelte. »Schon gut, Harry. Leg den Rest aufs Tablett.« Als Kev das Tablett auf den Tisch stellte, befand sich sein Handy wieder in der Jackentasche. Danny saß auf seinem Platz und versuchte, entspannter zu wirken, als er sich fühlte. »Ich glaube, ich sollte jetzt doch besser gehen.« »Was ist mit deinem Getränk? Es hat lange genug gedauert, es zu besorgen.« »Nein, ich muss jetzt wirklich los.« Danny stand auf und war diesmal etwas besser auf Kevs große Hand vorbereitet. Trotzdem zuckte er zusammen, als der große Mann zudrückte. »Tut mir Leid, dass ich dir mit deinem Großvater nicht weiterhelfen konnte, Danny. Wenn du meine Meinung hören willst: Du solltest ihn vergessen.« Danny nickte. »Ja, vielleicht haben Sie Recht. Vielen Dank.« Auf dem Weg nach draußen machte er einen Abstecher zur Bar und lieh sich einen Kugelschreiber von Harry. Damit ging er noch einmal zur Toilette und in die Kabine, in der er zuvor gewesen war – dort hatte er die Telefonnummer mit Seife an die Wand geschrieben. Danny kopierte sie auf ein Stück Papier und putzte die Wand ab. Er war recht zufrieden mit sich selbst, als er zur Eingangshalle ging. Er hatte es geschafft. Er hatte die Telefonnummer und war mit Big Kev fertig geworden. Plötzlich fühlte er eine Hand auf der Schulter. »Warte mal.« Big Kev ließ sich doch nicht so leicht zum Narren halten. Langsam drehte sich Danny um. Aber es war gar nicht Big Kev. Es war der Mann mit dem starren Blick, der noch immer sein übertriebenes Lächeln aufgesetzt hatte. »Ich bin Eddie Moyes und würde mich gern ein bisschen mit dir unterhalten.«
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10 Von einer öffentlichen Telefonzelle rief Danny Elena an. Das Gespräch war kurz und fünfzehn Minuten später saß er in einem Internetcafé. Er besorgte sich eine Cola und wählte einen Computer, von dem aus er auf die Straße sehen konnte. Als er online ging und sich bei MSN einloggte, wartete Elena bereits auf ihn. Sie änderte regelmäßig ihren Nickname und nannte sich seit der Abschlussprüfung »Ein Star«. Bescheiden wie immer. Danny blieb bei Danny. Ein Star sagt: (16.34.09) W i los? Dein Anruf hat mich beunruhigt Danny sagt: (16.34.18) Werde vll verfolgt Ein Star sagt: (16.34.26) 0 ja klar Danny sagt: (16.34.47) Im Ernst. Ein Mtrad. Du weißt, dass ich immer auf Mträder achte. Habs gestern zweimal gesehen & heute erneut. Gleiches Mtrad, gleicher Fahrer Ein Star sagt: (16.35.01) Warum sollte dich jm verfolgen? Danny sagt: (16.35.13) kA … Könnte ausflippen
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Danny sah aus dem Fenster. Er war sicher, dass er die schwarze TDM an diesem Tag mindestens dreimal gesehen hatte, das letzte Mal kurz nachdem er aus dem Victory Club gekommen war. Ein Star sagt: (16.35.28) Beruhig dich Danny, du machst mich nervös. Was war im Club? Danny sagt: (16.35.43) Hab mit Big Kev geredet. Hab eine Handynummer, sicher die von meinem Gvater Ein Star sagt: (16.35.51) Big Kev hat dir die Nr gegeben?? Danny sagt: (16.36.06) Nein. Kev hat angerfn, ich habe die Nr von seinem Handy Ein Star sagt: (16.36.15) Willst du anrfn? Danny sagt: (16.36.27) kA. Weiß nicht, was ich machen soll Ein Star sagt: (16.36.40) Ruf nicht an. Könnte ihn verschrecken. Gib mir die Nr Danny sagt: (16.36.48) Warum? Ein Star sagt: (16.37.13) Vll kann ich rauskriegen, wohin Kevs Anruf ging, ich meine den Ort, wo dein Gvater war, als er den Anruf erhielt Danny sagt: (16.37.24) 70
Wie denn? Ein Star sagt: (16.37.36) Polizei macht das. Wenn Pz das kann, dann auch Ein Star. Gib mir Nr Danny holte das Stück Papier hervor und schickt Elena die Handynummer. Ein Star sagt: (16.37.56) Wmd während ich Nr checke? Danny sagt: (16.38.28) Typ im Club meinte, er könnte mir vll helfen Fergus zu finden. Heißt Eddie Moyes, möchte mich morgen treffen, aber iwn ob ich ihm trauen kann, muss was überprüfen Ein Star sagt: (16.38.43) Du bist para!!!!!! Danny sagt: (16.38.54) Vll aber ich traue nmd außer dir Ein Star sagt: (16.39.06) Bleib, wo du bist & keine Panik!!! Sie blieben beide bei MSN eingeloggt, aber beide mit dem Status nadT, nicht an der Tastatur. Dannys Unruhe wuchs. Jeden Augenblick rechnete er damit, das Donnern einer vorbeifahrenden TDM zu hören oder zu sehen, wie ein in schwarzes Leder gekleideter Motorradfahrer durch die Tür kam. Es war nicht viel los im Café. Ein junger Geschäftsmann empfing oder verschickte E-Mails, und 71
zwei australische Mädchen chatteten online mit Freunden daheim. Ihre Gespräche mussten recht interessant sein: Immer wieder kreischten die beiden Mädchen vor Lachen und flüsterten miteinander. Was Online-Technologie anbetraf, war Elena immer auf dem neuesten Stand. Sie wusste alles über Gesellschaften, die GSM-Lokalisierungsdienste anboten. Es war eine recht einfache Sache. Man stellte fest, mit welchem Antennenmast das Handy verbunden war; dann konnte die Position des Telefons bis auf hundert Meter genau festgestellt werden. Die Polizei nutzte diese Möglichkeit seit Jahren und hatte die Ortung von Handys oft als Beweismittel vor Gericht verwendet. Jetzt stand das System der Öffentlichkeit zur Verfügung und Elena wollte es ausprobieren. Viele Online-Gesellschaften boten den Dienst an. Sie loggte sich bei einer ein und las auf der Begrüßungsseite die Behauptung, von jetzt an könnten Eltern den Weg ihrer Kinder verfolgen, und Arbeitgeber wüssten immer genau, was ihre Angestellten machten. Elena wechselte zur Hauptseite und empfing dort die schlechten Nachrichten: Um den Dienst zu nutzen, war nicht nur die Telefonnummer erforderlich, sondern auch die vierstellige PIN des Handys. »Ich hätte mir denken können, dass es nicht so einfach ist«, murmelte Elena. Sie beschloss, einen Versuch zu wagen, bezahlte mit ihrer Geldautomatenkarte online eine Gebühr von 4,99 £ und bekam dafür vier Versuche für die korrekte PIN. »Vielleicht ist er dumm«, sagte Elena und probierte die offensichtlichen Kombinationen aus: 1234,4321,1111,2222. 72
Aber Fergus Watts schien nicht dumm zu sein. Für noch einmal 20 £ bekam sie zwanzig weitere Versuche. Danny sah sich noch einmal die Webseiten über seinen Großvater an. Seit sich Eddie Moyes im Victory Club vorgestellt hatte, war Danny sicher, den Namen schon einmal gehört oder gelesen zu haben. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Moyes sah gewiss nicht wie ein SAS-Mann aus. Er war übergewichtig und in schlechter Verfassung. Aber das bedeutete nicht unbedingt, dass er kein ehemaliger Soldat sein konnte, und es kam Danny so vor, als hätte er seinen Namen in mindestens einem Artikel über seinen Großvater gesehen. Und es gab noch einen weiteren Aspekt von Eddie Moyes, der sich nicht richtig anfühlte. Im Victory Club hatte Danny ihm erzählt, dass er der Enkel von Fergus Watts war und seinen Großvater suchte. »Tatsächlich?«, hatte Moyes mit schlecht versteckter Aufregung erwidert. »Ich glaube, ich kann dir helfen. Warum verlassen wir den Club nicht und suchen uns ein Plätzchen, wo wir in aller Ruhe miteinander reden können? Ich kenne da ein gemütliches Pub die Straße hinunter.« Danny hätte fast Ja gesagt, entschied sich dann aber dagegen. Alle anderen im Victory Club reagierten mit Abscheu auf den Namen Fergus Watts, doch dieser Bursche war voller Hilfsbereitschaft. Es erschien Danny verdächtig, zumal er bereits bemerkt hatte, dass man ihn verfolgte. Er hielt Moyes hin, indem er sagte, er müsste jetzt gehen, aber sie könnten sich am nächsten Morgen in einem Café bei Foxcroft treffen. Moyes drängte ihn nicht zu bleiben, lächelte 73
nur und erklärte sich mit allem einverstanden. Auch das beunruhigte Danny. »Vielleicht hat Elena Recht«, flüsterte er, als er die Seiten durchging. »Vielleicht werde ich paranoid.« Er saß am Computer und sah sich eine Seite nach der anderen mit Zeitungsartikeln an, doch der Name Moyes tauchte nicht darin auf. Er wollte schon aufgeben, als er auf eine Schlagzeile stieß, die er bereits kannte: SAS-VERRÄTER FÜHRENDER KOPF BEI MASSENAUSBRUCH AUS GEFÄNGNIS. Doch diesmal war es nicht die Schlagzeile, die Dannys Interesse weckte, sondern die Verfasserangabe darunter: Von unserem Korrespondenten Eddie Moyes. Danny lächelte. »Er will mir nicht helfen, sondern Fergus selbst finden. Nun, du hast es versucht, Eddie Moyes, aber über mich wirst du nicht an ihn rankommen. Das kannst du dir abschminken.« Ein leises akustisches Signal wies Danny darauf hin, dass Elena wieder bei MSN online war. Ein Star sagt: (17.06.01) Das hier könnte ewig dauern und mich v Geld kosten Danny sagt: (17.06.19) Was ist los? Ein Star sagt: (17.06.29) Brauche PIN f Überprüfung, 4 Zahlen. Kennst du seinen Gbtag, könnte der A oder das E davon sein. kA rate nur.
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Elena hatte Recht, es konnte eine Ewigkeit dauern. Die Wahrscheinlichkeit, durch Zufall auf die richtige Kombination zu stoßen, war etwa ebenso groß wie die für einen Gewinn in der Lotterie. Doch dann hatte Danny eine Idee. Er holte das alte Foto hervor und drehte es. Danny sagt: (17.07.12) Versuch es mit 8654 Ein Star sagt: (17.07.21) Warum? Danny sagt. (17.07.29) Versuch es einfach Elena kehrte zu der Site zurück und gab die vier Zahlen ein. Sofort wechselte die Webseite und teilte ihr mit, dass versucht wurde, ein Handy zu lokalisieren. Nach weniger als einer Minute erschien auf dem Bildschirm eine Karte mit einem Kreis um ein bestimmtes Gebiet in Essex. Elena konnte in die Karte hineinzoomen und notierte sich rasch die Details. Dann setzte sie sich wieder mit Danny in Verbindung. Ein Star sagt: (17.08.08) ES HAT GEKLAPPT Sie loggten beide aus. Danny wollte nach Foxcroft zurück, damit sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge bringen und entscheiden konnten, was zu tun war. Er fühlte sich besser, als er das Internetcafé verließ. Er war Moyes auf die Schliche gekommen und nirgends zeigte sich die TDM. Vielleicht wurde er gar nicht verfolgt. Vielleicht 75
bildete er sich alles nur ein. Er wandte sich nach rechts und ging zur Bushaltestelle. »Achtung, Achtung. Das ist Bravo Eins Foxtrott, er geht vom Internetcafé aus nach rechts. Fran ist Foxtrott.«
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11 »Ich verstehe das nicht. Er ist an der gleichen Stelle wie vorher, mitten im Nichts. Dort gibt es nur eine Straße. Keine Gebäude. Nichts.« Danny und Elena hatten das Frühstück ausgelassen und sich wieder bei dem Handy-Lokalisierungsdienst eingeloggt. Ganz offensichtlich befand sich Fergus – und Danny war sicher, dass es sich um Fergus handelte – an der gleichen Stelle wie am vorherigen Tag, mit eingeschaltetem Telefon. Doch die Online-Karte zeigte weder Häuser noch Fabrikgebäude, nicht einmal eine Tankstelle. Nur eine Straße. Elena blickte auf den Bildschirm ihres Laptops und runzelte die Stirn. »Vielleicht parkt er jeden Tag an der gleichen Stelle und wartet auf Anrufe. Aber warum?« Die Frage blieb unbeantwortet. Danny lehnte an der offenen Tür von Elenas Zimmer. Sie verstießen erneut gegen die Regeln von Foxcroft. Eigentlich sollte er nicht in ihrem Zimmer sein. Nun, er war ja nicht direkt darin. Elena wandte sich vom Computer ab. »Was nun?« Danny hatte bereits eine Entscheidung getroffen. »Ich sehe mir den Ort an. Heute. Ich nehme den Zug von Liverpool Street und dann einen Bus und den Rest gehe ich zu Fuß.« »Obwohl es nur irgendeine Stelle an einer Straße ist? Es könnte Zeitverschwendung sein.« »Ich mache mich auf den Weg, Elena, und ich werde ihn finden.« »Ich begleite dich.« 77
Danny schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Aber ich brauche deine Hilfe.« Elena loggte sich aus und klappte den Computer zu und dann gingen sie beide ins Arbeitszimmer hinunter. Dort herrschte keine arbeitsame Stille. Lucy – die Jamaikanerin, die Jane beim Saubermachen half – versuchte sich gerade als Kylie Minogue Double und tanzte mit dem Staubsauger herum. Sie bemerkte Elena und Danny in der Tür und unterbrach ihre Darbietung lange genug, um zu rufen: »Fünf Minuten, ihr Lieben, länger brauche ich nicht. Dann gehört das Zimmer euch.« Lucy wartete erst gar keine Antwort ab und setzte ihre Version von »Can’t Get You Out of My Head« fort. Wenn Lucy ein Lied mochte, dann mochte sie es. Wie alt es war, spielte dabei überhaupt keine Rolle, und dieser Kylie-Klassiker zählte zu Lucys Lieblingssongs. Danny und Elena warteten nicht auf den Refrain – es war nicht leicht, sich so etwas anzuhören. Sie gingen hinaus in den Garten und nahmen nebeneinander auf einer Bank Platz. Danny hatte bereits alles geplant. »Du bleibst hier, überprüfst die Site im Lauf des Tages und gibst mir Bescheid, wenn er weitere Anrufe entgegennimmt.« »Und was ist mit dem Reporter? Du bist doch mit ihm verabredet.« Danny lächelte. »Das glaubt er. Aber Mr Eddie Moyes wird lange warten müssen.« Mr Eddie Moyes war Warten gewöhnt. Er hatte zahllose Stunden damit verbracht, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und darauf zu warten, dass sich kleine Informations78
brocken zu einem wichtigen Exklusivbericht ansammelten. Während der letzten Jahre war es viel schwerer geworden, gute Storys zu bekommen. Man hatte ihn entlassen. Ihn, Eddie Moyes, jenen Mann, dem ein Knüller nach dem anderen gelungen war. Er war der Mann gewesen, der Beste, Numero Uno. Er hatte für alle wichtigen Zeitungen gearbeitet und zu den Topleuten der Medienbranche in Fleet Street gehört. Bis zu seinem letzten Job. Na schön, er war inzwischen fünfundvierzig. Na schön, er trank gern. Aber das gehörte alles zum Beruf: Die wichtigsten Informationen hatte er bei dem einen oder anderen freundlichen Bierchen gewonnen. Und ein paar Biere hatten sich nie schlecht auf die Qualität seiner Arbeit ausgewirkt. Der letzte Chefredakteur war anderer Meinung gewesen. Eins von diesen Wunderkindern, einer von der neuen Sorte, die den bequemen Universitätsweg genommen hatten, anstatt sich bei irgendeinem Lokalblatt die Sporen zu verdienen. Der Bursche hatte Eddie von Anfang an nicht leiden können und ihn mit Storys beauftragt, für die jüngere Leute besser geeignet gewesen wären. Sie stritten sich mehrmals, und als die Verlagsleitung auf die Notwendigkeit von Entlassungen hinwies, schlug das Wunderkind zu. Eddie gehörte zu den letzten Neueinstellungen und deshalb musste er als Erster gehen. Man hätte ihn zu einem Sonderfall machen können, aber diese Möglichkeit wurde nicht wahrgenommen. Die gute Arbeit in der Vergangenheit, sein Ruf – das alles zählte nicht. Seitdem hatte er sich als freier Journalist durchgeschlagen. Jetzt sah er eine Möglichkeit, ganz nach oben zurück79
zukehren, und er war entschlossen, seine Chance zu nutzen. Fergus Watts hatte ihm schon einmal zum Aufstieg verholten und das konnte er jetzt wiederholen. Er musste ihn nur finden. Eddie traf recht früh im Café in der Nähe von Foxcroft ein. Er besorgte sich schwarzen Kaffee, bestellte ein Schinkensandwich und nahm an einem freien Fenstertisch Platz, von dem aus er Foxcroft sehen konnte. Er zog zusammengerollte Ausgaben von Sun, Star und Minor aus der Jackentasche und überflog die Nachrichten. Eddie fühlte sich gut. Bald würden die großen Zeitungen wieder um seine Dienste betteln. Das Schinkensandwich kam. Eddie hob die obere weiche Weißbrotscheibe, gab ordentlich braune Soße hinzu und biss hungrig ins schmierige Sandwich. Es war köstlich, genau so, wie er es mochte. Etwas braune Soße tropfte ihm vom speckigen Kinn. Vierzig Minuten und einen zweiten Kaffee später wartete Eddie noch immer. Er war nicht überrascht und es spielte keine Rolle. Es handelte sich um einen der Rückschläge, mit denen alle Reporter fertig werden mussten. Er wusste, dass er beim Gespräch mit Danny Watts am vergangenen Tag zu eifrig gewesen war und den Jungen verschreckt hatte. Kein Problem. Inzwischen wusste er, wo Danny wohnte. Der Schinken für ein zweites Sandwich brutzelte bereits in der Bratpfanne. Eddie behielt Foxcroft im Auge. Während der vergangenen vierzig Minuten hatten zwei Jugendliche das Gebäude verlassen und keiner von ihnen war Danny gewesen. »Schinkensandwich!«, rief die Frau hinter dem Tresen. Eddie stand auf und sah im gleichen Augenblick, wie 80
Danny aus Foxcroft kam und in die entgegengesetzte Richtung ging. »Bitte zum Mitnehmen«, sagte Eddie und legte eine ZweiPfund-Münze auf den Tresen. »So schnell wie möglich.«
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12 Es geschah erneut. Auf dem Weg zum Bahnhof Liverpool Street hatte Danny erneut den Eindruck, dass er verfolgt wurde. Das TDM-Motorrad sah er nicht; es war nur so ein Gefühl. Jemand beobachtete ihn. Auf der Straße und im Bus schienen ihn alle anzusehen und sich dann abzuwenden, wenn er ihren Blick erwiderte. Er verließ den Bus, bevor er den Bahnhof erreichte, und ging zu Fuß. Ein Mann in einer braunen Bomberjacke folgte ihm, Danny war ganz sicher. Doch als er stehen blieb und in seine Richtung sah, betrat der Mann einen Laden. Danny überlegte, ob er laufen sollte, doch damit hätte er noch mehr Aufmerksamkeit erregt. Er ging schneller, am Eingang des Bahnhofs vorbei, und blieb in Bewegung. Über verschiedene Seitenstraßen kehrte er zurück und betrat den Bahnhof durch den Eingang an der Buszufahrt. Er eilte zum Schalter, kaufte eine Rückfahrkarte und ging zum Bahnsteig, wo der Zug bereits wartete. Der späte Vormittag gehörte bei Liverpool Street zu den ruhigeren Zeiten und Danny hatte ein ganzes Abteil für sich. Nach wenigen Minuten fuhr der Zug los und wurde schneller, als er durch das östliche London rollte. Der Wagen war schmutzig und trist, mit aufgerissenen Sitzen und zerkratzten Fensterscheiben. Der Zug hielt nicht, als er durch Stratford und Ilford fuhr, die Windhundrennbahn von Romford passierte und dann die Fahrt durch die Pendlergegend von Essex fortsetzte. Der erste Halt war Brentwood. 82
Einige wenige Leute stiegen aus, noch weniger ein, und Danny war erleichtert, als niemand in seinem Abteil Platz nahm. Nach Brentwood hielt der Zug an jeder Station. Shenfield, Billericay, Wickford, und dann kam Dannys Halt, Rayleigh. Nach den Website-Karten zu urteilen, war dieser Bahnhof dem Zielort am nächsten, aber nicht annähernd so nahe, wie er es sich gewünscht hätte. Danny sprang aus seinem Abteil und lief zum Ausgang, als der Zug stand. Er schaute nicht zurück, um festzustellen, wer ihm folgte, eilte am Bahnsteigschaffner vorbei auf die Straße. Er hatte damit gerechnet, in der Mitte eines Ortes zu landen, aber das war nicht der Fall. Erst ein langer Weg bergauf an frei stehenden Häusern vorbei brachte ihn zu den Läden und einem Gewirr von Einbahnstraßen. Er betrat ein Geschäft und kaufte eine Straßenkarte des ganzen Gebiets. Der Ladenbesitzer sagte ihm, dass er nach unten zurückkehren musste, um den Bus zu nehmen, den er brauchte. Von unterwegs rief er Elena an. »Hat er irgendwelche Telefongespräche geführt?« »Nein, er hat weder jemanden angerufen noch Anrufe erhalten. Ist bei dir alles in Ordnung?« »Ja, aber ich werde wieder verfolgt.« »Hast du jemanden gesehen?« »Nein, aber … Es ist nur so ein Gefühl.« Danny hörte den Ärger in Elenas Stimme, als sie antwortete. »Danny, du gehst mir damit auf den Keks und du machst mich nervös. Ich sitze hier und warte, dass du anrufst, und dann sagst du mir, dass du glaubst, verfolgt zu werden. Niemand folgt dir. Du bildest es dir nur ein. Ruf mich an, wenn du etwas Sinnvolles zu sagen hast!« 83
Sie unterbrach die Verbindung. Das hatte sie noch nie zuvor getan und es gefiel Danny nicht sonderlich. Der Bus brachte Danny aus dem Ort, an einer Wohnsiedlung vorbei und dann in ein dünner besiedeltes Gebiet. Er stieg in der Nähe eines großen Kreisverkehrs aus, der mit der Hauptstraße verbunden war, die er zuvor auf der Karte im Internet gesehen hatte. Dort stellte sich die Frage, ob er zu Fuß gehen oder trampen sollte. Danny entschied sich für die zweite Möglichkeit. Es war das erste Mal für ihn – im Südosten von London fuhr man nicht per Anhalter. Wagen und Laster donnerten vorbei; es herrschte dichter Verkehr. Schließlich hielt ein mit Baumaterial beladener zerbeulter Pick-up. Danny lief hin und die Beifahrertür öffnete sich quietschend. Der Fahrer beugte sich zur Seite, die Hand noch an der Tür, und Danny bemerkte die auf die Fingerknöcheln tätowierten Buchstaben HATE, Hass. Der Fahrer lächelte, als er Dannys Blick sah. »Keine Sorge, Kumpel. Die andere Hand ist freundlicher.« Er streckte ihm die rechte Faust entgegen und dort hieß es LOVE. Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Damals hat es mir irgendwie gefallen. Wohin willst du?« »Ich weiß nicht. Ein Stück die Straße hinunter.« Das schien keine gute Antwort zu sein. »Willst du mich verarschen?« »Nein. Im Ernst. Ich weiß erst, wohin ich will, wenn ich den Ort sehe.« Der Fahrer lachte. »Klingt nach der Geschichte meines Lebens, Kumpel. Steig ein. Ich bin Colin.« 84
Sie fuhren fast zehn Minuten lang. Danny blickte über die flache, offene Landschaft und hörte mit halbem Ohr Colin davon erzählen, dass seine Freundin Cheryl fast mit ihm Schluss gemacht hätte, als sie die Tätowierungen LOVE und HATE sah. »Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, aber eine Zeit lang war’s ein echter Albtraum. Sie wollte nicht mehr mit mir reden und ihre Mutter …« »Halt!« Colin trat auf Bremse und Kupplung. Die Reifen quietschten, der Lieferwagen rutschte auf den Seitenstreifen. Der Geruch von verbranntem Gummi breitete sich im Führerhaus aus und Colin sah Danny an. In seinen Augen blitzte es. »Bist du verrückt geworden? Du hättest uns beide umbringen können.« »Tut mir Leid, ich muss hier aussteigen. Das ist der Ort, den ich meinte.« Sie waren an einem Parkplatz auf der anderen Straßenseite vorbeigekommen. Dort stand ein Imbisswagen mit einer Handynummer an der Seite. Auf dem Dach wehte ein Union Jack. Daneben parkte ein alter blauer Fiesta. Danny öffnete die Tür und stieg aus. »Ich bitte um Entschuldigung … Und danke.« Er schloss die Tür und sah dem Pick-up nach, als Colin Gas gab und die Fahrt fortsetzte. Dann holte er sein Handy hervor und schickte Elena eine kurze SMS: HAB IHN GEFUNDEN. Er schaltete das Telefon aus. Jetzt wollte er nicht gestört werden, nicht einmal von Elena.
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13 Frankie benutzte sein Handy nicht oft. Es gab keinen Grund dafür. Einmal in der Woche rief er beim Großmarkt an und gab eine Bestellung für Schinken, Burger und so weiter auf. Tagsüber war sein Prepaid-Handy eingeschaltet, damit Kunden vorab bei ihm bestellen konnten, aber er schaltete es immer aus, bevor er sich auf den Heimweg machte. Er sprach gerade mit dem Großmarkt und vergewisserte sich, dass dort alles für die Abholung bereit war, als er die Schritte hörte. Es hatte kein Wagen angehalten und seine Kunden kamen nicht zu Fuß. Frankie unterbrach die Verbindung, legte das Handy beiseite und tastete nach dem Schlagstock unter dem Tresen. Dies war der Moment, den Frankie seit seiner Rückkehr nach England gefürchtet hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es auf diese Weise geschehen würde, aber er war dazu ausgebildet, das Unerwartete zu erwarten. Er geriet nicht in Panik. Frankie bewahrte immer die Ruhe. Die Schritte kamen näher und wurden lauter und dann verharrte der Unbekannte gerade noch außerhalb von Frankies Blickfeld. Frankie wartete, während sich seine Finger fester um den Stock schlossen, und dann trat der ebenso unerwartete wie unwillkommene Besucher auf ihn zu. Es war Danny – er erkannte ihn sofort. Aber damit kam keine Erleichterung; es bedeutete nur, dass sie beide in schrecklicher Gefahr waren. Danny erkannte ihn ebenfalls. Sein Großvater war älter, 86
doch das Gesicht, das seinen Blick erwiderte, gehörte dem Mann auf dem Foto, das er während der letzten Tage so oft betrachtet hatte. Und die Augen waren dieselben Augen, die Danny jeden Morgen im Spiegel sah. »Hast gedacht, dass ich dich nie finden würde, wie?«, knurrte er. »Hast gedacht, du könntest vor mir weglaufen, nicht wahr, Fergus Watts?« Fergus musste es mit einem Bluff versuchen. Er lächelte. »Tut mir Leid, mein Junge. Ich glaube, du verwechselst mich mit jemandem. Ich bin Frankie. Mein Name steht draußen am Wagen. Frank Wilson. Möchtest du eine Tasse Tee oder etwas anderes?« Aber Danny ließ sich nicht ablenken, dafür war er sich seiner Sache zu sicher. »Es ist mir gleich, wie du dich heute nennst. Du bist Fergus Watts. Mein Großvater. Ich wünschte, du wärst es nicht, aber du bist es.« Es war sinnlos, das falsche Spiel fortzusetzen. Frank Wilson, der lächelnde Imbissverkäufer, verschwand, und Fergus Watts, der ausgebildete und erfahrene SAS-Veteran, trat an seine Stelle. Der Rollladen rasselte herunter und Danny hörte das Klicken eines schweren Vorhängeschlosses. Die Tür öffnete sich und Fergus trat mit seiner Jacke und einem Schlüsselbund nach draußen. »Ins Auto«, sagte er, schloss die Tür des Imbisswagens und sicherte sie mit einem weiteren Vorhängeschloss. Danny holte sein Handy hervor. »Von wegen! Ich begleite dich nirgendwohin. Ich rufe die …« Weiter kam er nicht. Fergus packte ihn am Kragen seiner Jacke, zog ihm das Handy aus der Hand und steckte es ein. 87
Danny zappelte, aber Fergus achtete nicht darauf, zerrte ihn zu dem blauen Fiesta, öffnete die Tür und stieß ihn hinein. »Bleib da sitzen!«, rief er und schlug die Tür zu. »Achtung, Achtung. Jimmy hat Bravo Eins und einen eindeutigen Fergus in Richtung Wagen. Fergus ist positiv identifiziert. Er hinkt. Jimmy hat noch immer das Ziel an der Hauptstraße und kann Richtungshinweise geben. Halten … halten, beide sitzen im Wagen … der Motor startet. Wagen bewegt sich Richtung Hauptstraße …« Der Fiesta sauste fort, wirbelte feinen Kies und Staub vom Parkplatz auf. »Blauer Fiesta biegt nach links auf die Hauptstraße … wiederhole, nach links auf die Hauptstraße …« Eine andere Stimme kam aus Jimmys Ohrhörer. »Mick hat den Fiesta … folge ihm auf der Hauptstraße.« Das Team hatte Danny von dem Augenblick an beschattet, als er am Morgen aus Foxcroft gekommen war. Es war schwierig gewesen, als er bei Liverpool Street den Zug genommen hatte. Fran stieg ebenfalls in den Zug, setzte sich aber in ein anderes Abteil. Bei jedem Halt kontrollierte sie, ob Danny den Zug verließ, und ständig nannte sie den anderen Details. Für die beiden Wagen und das Motorrad begann eine schnelle Verfolgungsjagd durch die Straßen von Ostlondon und Essex, während der Zug durch die Vororte rollte und schließlich das Land erreichte. Die TDM war nicht mehr im Einsatz. Jimmy hatte begriffen, dass die Maschine zu heiß geworden war, um sie bei der Beschattung zu verwenden. Fünfzig Meter vom Parkplatz ent88
fernt kroch er aus dem Gebüsch und lief zu seinem neuen Fahrzeug, einem Ford Focus. Er hatte Danny im Pick-up verfolgt und beobachtet, wie der Wagen plötzlich bremste und auf dem Seitenstreifen zum Stehen kam. Daraufhin parkte er den Focus hinter der nächsten Kurve am Straßenrand, eilte zu Fuß zurück und versteckte sich bei den Büschen. Unterm Laufen streifte er die Gore-Tex-Jacke ab, mit der er seine Kleidung geschützt hatte. Er lief, so schnell er konnte, denn der Rest des Teams brauchte ihn auf der Straße. Mick fuhr noch immer den dunkelblauen Golf, mit neuen Nummernschildern. Er hatte Fran am Bahnhof Rayleigh abgeholt, und Brian saß nun auf einem Motorrad, einer Suzuki Ninja. Aber auch das dritte Fahrzeug war sehr wichtig, falls Fergus zu einer der nächsten Ortschaften unterwegs war. Jimmy lächelte, als er zum Focus sprintete. Er hatte gute Arbeit geleistet, schnell gedacht und alle Geschehnisse auf dem Parkplatz den anderen gemeldet. Inzwischen wussten George Fincham und Marcie Deveraux Bescheid und waren unterwegs. Schweiß strömte Jimmy übers Gesicht, als er den Wagen erreichte. Er schnappte nach Luft, hob die Hecktür und hörte Frans Stimme im Netz. »Halt. Halt. Halt. Der Fiesta steht in einer Parkbucht. Er passt auf und überprüft die vorbeikommenden Fahrzeuge.« Jimmy warf die Gore-Tex-Jacke auf die beiden Taschen im Kofferraum. Eine enthielt eine Gore-Tex-Hose, Gummistiefel, zusätzliche warme Kleidung und genug Konserven und Wasser für zwei Tage. Wenn eine Verfolgung schließlich auf die 89
Beobachtung eines abgelegenen Gebäudes hinauslief, so musste man das Ziel rund um die Uhr im Auge behalten. Dann war keine Zeit mehr, sich die notwendigen Sachen zu besorgen. Die zweite Tasche enthielt eine MP5-Maschinenpistole, volle Dreißig-Schuss-Magazine, eine kugelsichere Weste, ein Nachtsichtgerät und eine Erste-Hilfe-Ausrüstung. Das Team musste auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, auch auf Verwundungen. Zur Ausrüstung gehörten auch Literflaschen mit Blutplasma. Wenn einer aus dem Team eine Schussverletzung erlitt, so wussten die anderen, wie man die Löcher stopfte und das verlorene Blut ersetzte. Jimmy schloss die Hecktür, setzte sich ans Steuer und lenkte den Focus auf die Straße. Er berührte den Druckknopf am Schalthebel und sendete. »Jimmy ist mobil und gleich bei euch.«
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14 Es lief nicht ganz so, wie Eddie Moyes es sich vorgestellt hatte. Der erste Teil war einfach gewesen. In ein Taxi zu springen und »Folgen Sie dem Bus!« zu rufen, fühlte sich prächtig an, wie in der guten alten Zeit. Der Taxifahrer klagte darüber, dass Eddie Schinkenfett auf den Sitz tropfen ließ, aber Eddie murmelte ein schnelles »Tut mir Leid«. Sein Blick klebte an dem Bus fest, den Danny in der Nähe von Foxcroft genommen hatte. Doch Eddie wusste nicht, warum es eine so lange Fahrt bis in die Stadtmitte war. Als er Danny aussteigen sah, holte er einige zerknitterte Banknoten hervor und drückte sie dem Taxifahrer in die Hand. So viel Geld auszugeben, war schmerzhaft, aber bestimmt würde es sich auszahlen. Danny zu Fuß zu folgen, war nicht so einfach. Der Junge schien zu ahnen, dass ihn jemand beschattete, und deshalb ging er schneller. Eddie versuchte, sein Tempo zu halten, aber am Bahnhof Liverpool Street verlor er Danny aus den Augen. Einige Minuten später, als er vor McDonald’s wartete, sah er, wie Danny den Bahnhof durch einen Nebeneingang betrat. Eddie hielt sich nicht damit auf, eine Fahrkarte zu kaufen. Er folgte Danny einfach, als der den Bahnsteig des Zuges nach Southend betrat und einstieg. Eddie nahm ein Abteil hinter ihm Platz. Alles ging gut bis Rayleigh, als Danny plötzlich aus dem Zug sprang und durch die Schranke lief. Eddie versuchte, ihm zu folgen, wurde jedoch von einem 91
Fahrkartenkontrolleur aufgehalten. Bis er den Fahrpreis bezahlt und sich eine Belehrung, dass Schwarzfahren ein ernstes Vergehen sei, angehört hatte, war von Danny nichts mehr zu sehen. Der konditionslose Reporter schnaufte den Weg zum Ortszentrum hinauf und begriff, dass er die Sache verpatzt hatte. Er fragte in einigen Läden, aber angeblich war niemandem ein Junge aufgefallen, der Dannys Beschreibung entsprach. Daraufhin ging Eddie zu einem Geldautomaten, holte sich genug Bares für den Tag und machte dann, was er immer machte, wenn er mit einer Story nicht weiterkam: Er beschloss, sich ein Bierchen und etwas zu essen zu genehmigen. Zwei Stunden später befand er sich wieder in der Nähe des Bahnhofs. Er suchte sich eine Grasfläche im Schatten einiger hoch gewachsener Büsche neben dem Parkplatz und machte es sich bequem. Er entfaltete die Times, die er im Ort gekauft hatte, und begann, das Kreuzworträtsel zu lösen. Er würde warten. Danny musste ja irgendwann zurückkehren, und wenn Eddie ihn verpasste, würde er einfach am nächsten Morgen wieder vor Foxcroft Posten beziehen. Er dachte gerade über sieben senkrecht nach, als ein alter blauer Fiesta auf den Parkplatz bog. Zuerst schenkte er ihm keine Beachtung, aber als der Fahrer ausstieg und sich umsah … Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor. Dann öffnete sich die Beifahrertür und Danny stieg aus. Eddie lächelte, warf einen Blick gen Himmel und murmelte: »Danke.« Er beobachtete, wie Fergus den Wagen abschloss, Danny am Arm nahm und zur Bushaltestelle vor dem Bahnhof zerrte, wo zwei Busse standen. Sie stiegen in den ersten, der nur 92
wenige Minuten später losfuhr. Eddie war bereits beim Taxistand, und zum zweiten Mal an diesem Tag wies er einen Taxifahrer an: »Folgen Sie dem Bus.« Fergus wollte zum Cottage zurück. Vorerst zumindest. Dort konnte er sich Geld und eine Notfallausrüstung besorgen und entscheiden, wie es weitergehen sollte. Er musste davon ausgehen, dass Danny beschattet worden war, aber es hatte keinen Sinn, ihn deshalb auszufragen; bestimmt wusste er von nichts. »Hör mal, mein Junge«, sagte Fergus im Auto. »Es gibt Leute, die mich suchen, und dank dir sind sie jetzt vermutlich sehr nahe. Wenn sie mich finden, bin ich tot, und du ebenfalls!« »Ich?«, erwiderte Danny erstaunt. »Sie haben es auf dich abgesehen. Sobald dieser Wagen anhält, gehe ich zur Polizei und …« »Die Polizei kann dir jetzt nicht mehr helfen! Niemand kann dir helfen, nur ich. Also halt die Klappe und tu, was ich dir sage!« Danny war so verblüfft, dass er schwieg. Fergus konzentrierte sich darauf festzustellen, ob ihnen jemand folgte. Es gab keine verräterischen Hinweise, doch das bedeutete nichts. Er wusste, dass er nicht mit dem Wagen nach Hause fahren durfte – das hätte einer Überwachungsgruppe zu viel Zeit gegeben, ihn unter Kontrolle zu bekommen. Er fuhr nach Rayleigh; dort gab es Busse, die sie nahe genug zum Cottage bringen konnten. Sie nahmen hinten im Bus Platz. Fergus schob Danny auf den Fenstersitz, damit er nicht aufspringen und weglaufen 93
konnte. Aber Danny wollte gar nicht weg. Nicht mehr. Er hatte Angst. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte Fergus leise. Danny antwortete nicht. »Ich muss es wissen, Junge«, drängte Fergus. »Heraus damit.« »Dein Handy«, sagte Danny schließlich. »Ich hab die Nummer aus Kev Newmans Mobiltelefon und konnte dich so übers Internet finden.« »Aber wie?« »Mithilfe eines Handy-Lokalisierungsdienstes.« »Aber … aber dazu brauchtest du doch meine PIN, oder?« »Deine Armynummer, die letzten vier Ziffern.« »Woher wusstest du das?« Fergus schüttelte den Kopf. »Kev hat mich gewarnt. Er meinte, du seist ein hartnäckiger kleiner Mistkerl.« Der Bus war weit außerhalb der Stadt, als sich Fergus zur Seite beugte und den Halteknopf drückte. »Wir sind da.« Sie stiegen aus und versteckten sich hinter den Bäumen am Straßenrand. Kurze Zeit später kamen zwei Fahrzeuge vorbei, eines davon ein Taxi. Fergus beobachtete, wie sie in der Ferne verschwanden. Der Geruch der nahen Salzsümpfe hing in der Luft, und die einzigen Geräusche stammten von den großen schwarzen Krähen, die am frühen Abendhimmel ihre Kreise zogen. Danny wurde wieder zornig. »Wollen wir hier einfach nur herumstehen?« »Sei still«, sagte Fergus, setzte sich in Bewegung und ging an der Straße entlang. Danny bemerkte zum ersten Mal, dass sein Großvater hinkte, und ihm wurde klar, dass das eine Fol94
ge der Schießerei in Kolumbien sein musste. Es machte ihn nur noch zorniger. Sie erreichten einen langen Feldweg, der von der Straße abzweigte. An seinem Ende stand ein Cottage, und als Fergus in jene Richtung ging, blieb Danny nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Verwirrt beobachtete er, wie Fergus unter einen alten Hühnerstall sah und sich vergewisserte, dass die kleine Maglite-Taschenlampe nicht brannte. Anschließend setzte er den Weg fort, und Danny folgte ihm erneut, ohne die Kameras, Lichter und Bewegungsmelder zu bemerken. Am Tor überprüfte Fergus, ob sich das Streichholz noch an Ort und Stelle befand. Das war der Fall. Er öffnete die Haustür, zog Danny über die Schwelle und schloss die Tür wieder. Die Tür des Wohnzimmers stand halb offen, so wie es sein sollte. Danny sah die Monitore, die den Feldweg zeigten. Er wandte sich an seinen Großvater. »Was hat das alles zu bedeuten?« Fergus antwortete nicht, packte Danny am Kragen, zog ihn in die Küche und drückte ihn dort gegen die Wand. »Bleib da stehen und rühr dich nicht von der Stelle. Denk nicht einmal daran, dich zu bewegen.« Damit stürmte er davon und die Treppe hinauf. Danny hörte, wie er dort von Zimmer zu Zimmer ging. Einige Minuten später kam er wieder herunter, betrat die Küche, sah Danny nicht einmal an, öffnete den verborgenen Zugang zum Keller und nahm die auf der ersten Stufe liegende Taschenlampe. »Bleib, wo du bist«, knurrte er und verschwand in der Dunkelheit. Danny lehnte an der Küchenwand, sah zum Hinterausgang und überlegte, ob er einen Fluchtversuch wagen sollte. 95
Dann erklangen die Piepser, laut, schrill und durchdringend. Fergus kam aus dem Keller geschossen und lief zu den Monitoren. Zwei Wagen rasten über den Weg. Schlamm spritzte von ihren Rädern und das Licht ihrer Scheinwerfer schien von den Bäumen abzuprallen. Der erste Wagen war ein Ford Focus. Fergus fluchte, wandte sich Danny zu und schob ihn zur offenen Falltür. »Nach unten, schnell!« Danny stolperte die Kellertreppe hinab und blieb in der Düsternis mitten in einer Wasserpfütze stehen, während Fergus die Falltür schloss, seine Taschenlampe anknipste und dann zu den Kisten an der Wand ging. Er zerrte sie beiseite und leuchtete in den Tunnel. »Da rein, Junge, na los!« Jeder Widerspruch war zwecklos und so kroch Danny in die Öffnung. Fergus folgte ihm, zog die Kisten wieder vor die Wand und schaltete die Taschenlampe aus, um die Batterien zu schonen. Pechschwarze Finsternis umgab sie und Fergus schubste Danny weiter in den kalten, feuchten Erdtunnel hinein. »Los, Junge, mach Tempo!« Eddie Moyes war zufrieden, müde und hungrig, als er am alten Hühnerstall lehnte und zum Cottage blickte. Die ersten Anzeichen der Nacht glitten über die Landschaft. Das kam Eddie gelegen, denn dadurch war es leichter für ihn, sich dem kleinen Haus unbemerkt zu nähern. Er holte einen SnickersRiegel hervor, den er in Reserve gehalten hatte, und beschloss, ihn zu verspeisen, bevor er dem weiteren Verlauf des Weges folgte. Doch der Schokoriegel hatte noch nicht seinen Mund erreicht, als er zwei Wagen hörte, die mit hoher Geschwindigkeit über die Straße fuhren, bremsten und in den Weg ein96
bogen. Eddie ließ sein Snickers fallen und duckte sich hinter den Hühnerstall. Brian und Jimmy saßen im Focus; Fran und Mick folgten ihnen im Golf, fast Stoßstange an Stoßstange. Alle vier Mitglieder des Teams trugen dunkelblaue kugelsichere Westen und waren mit MP5-Maschinenpistolen bewaffnet. Jimmy hatte außerdem eine Pumpgun mit abgesägtem Lauf und acht Patronen im Zylindermagazin. Er war der Eingangsmann. Beide Wagen kamen dicht vor dem Gartenzaun zum Stehen. Jimmy war als Erster draußen, noch bevor der Focus hielt. Er sprang über den Zaun und lief zur Haustür. Er achtete nicht darauf, was um ihn herum geschah, war ganz auf die Tür konzentriert. Seine Aufmerksamkeit galt der Seite mit den Angeln. Er musste alles sofort richtig hinbekommen; die geringste Verzögerung gab den Personen im Haus wertvolle Zeit für die Flucht. Er hörte Brian hinter sich, als er die Pumpgun an den Türrahmen rammte, und zwar dort, wo sich die obere Angel befand. Die Waffe entlud sich mit einem dröhnenden Knall und Holzsplitter flogen über Jimmy und Brian hinweg. Jimmy kniete bereits und lud nach, während Brian wartete, den Blick und seine MP5 auf die Fenster im Obergeschoss gerichtet. Mick und Fran eilten herbei, als Jimmy auf die untere Türangel anlegte und erneut abdrückte. Diesmal schien der Knall noch lauter zu sein und wieder flogen Holzsplitter umher. Jimmy senkte die Waffe und wich beiseite, als Mick gegen die Tür trat. Sie gab sofort nach und fiel in den Flur, zusammen mit Mick. Fran befand sich direkt hinter ihm, sprang mit der Waffe 97
im Anschlag über Mick hinweg und lief durch den Flur. Sie blieb auf der rechten Seite, damit der Bereich der Tür frei blieb und die anderen beiden hereinkonnten. Deren Aufgabe bestand darin, das Erdgeschoss zu sichern, während Fran und Mick nach oben gingen. Fran ging geduckt, die Waffe entsichert. Den Zeigefinger am Abzug, hielt sie die ganze Zeit über nach Bewegungen am oberen Ende der Treppe Ausschau. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und richtete dabei den Lauf ihrer MP5 nach oben. Mick befand sich dicht hinter ihr. Sie hörten, wie die anderen beiden unten jedes Zimmer kontrollierten. »Leer!« Fran erreichte den oberen Treppenabsatz und blieb dort, die Waffe auf die beiden Türen gerichtet. Mick ging an ihr vorbei, erreichte die erste Tür und stieß sie auf, damit Fran ins Zimmer treten konnte. »Leer!« Für den zweiten Raum vertauschten sie die Rollen. Mick zielte auf die Tür, und Fran schob sich an ihm vorbei, drehte den Knauf und öffnete die Tür, damit Mick ins Zimmer sehen konnte. Die Waffe gehoben, die Augen weit geöffnet und mit dem Finger am Abzug, trat er ins Bad. »Leer! Das Obergeschoss ist leer!« Von unten kam die Antwort. »Das Erdgeschoss ist leer!« Eddie war kein tapferer Mann, aber durch und durch Reporter. Sein Riecher für eine gute Story sagte ihm, dass er näher herankommen und herausfinden musste, was da im Cottage vor sich ging. Es wurde dunkler. Eddie schlich näher und rutschte auf 98
halbem Weg zum Cottage in einen schlammigen Graben. Er war völlig durchnässt und schmutzig, aber das spielte keine Rolle. Dies war die Story, auf die er gewartet, um die er gebetet hatte. Er konnte es gar nicht abwarten, sie einer der großen überregionalen Zeitungen anzubieten. Er freute sich darauf, die Gesichter der so genannten Journalisten zu sehen, die ihn abgewiesen hatten, insbesondere das des eingebildeten neuen Chefredakteurs. Er wagte sich noch näher heran und verharrte hinter einer Hecke, etwa fünfzehn Meter vom Cottage entfernt. Während er noch darüber nachdachte, was er unternehmen sollte, sah er, wie sich die Scheinwerfer eines dritten Fahrzeugs über den Weg näherten. Nass und schmutzig duckte sich Eddie tiefer und beobachtete die Neuankömmlinge. Der Wagen hielt vor dem Haus, als Fran und der Rest des Teams gerade herauskamen und zu ihren Fahrzeugen gingen. Dort entnahmen sie ihrem Einsatzgepäck Nachtsichtgeräte, mit denen sie draußen nach den Zielpersonen suchen konnten – ihnen stand eine lange Nacht bevor. Ein Mann und eine Frau stiegen aus dem dritten Wagen. Beide waren gut gekleidet. Eddie erkannte auf den ersten Blick, dass dies keine Leute fürs Grobe waren. Die Chefs persönlich waren eingetroffen. Marcie Deveraux ging in Richtung Haus und rief dem Team zu: »Halt! Sie werden ihn nicht finden, er ist weg. Bestimmt gibt es irgendwo einen Fluchtweg aus dem Cottage. Suchen Sie ihn.« Sie wandte sich an Fincham. »Sollen wir umdrehen und den Wagen überwachen lassen, Sir?« Fincham ließ den Blick über die Felder schweifen. Bäume und Büsche verschmolzen mit der Dunkelheit, während sich 99
die Nacht um sie schloss. »Der Wagen nützt uns nichts. Da wird er sich jetzt nicht mehr hintrauen.« Zwanzig Meter entfernt hob sich eine gut getarnte Abdeckung im Boden einige Zentimeter weit nach oben. Fergus hörte die Stimme und sah Fincham im Licht, das aus den Fenstern des Cottage fiel. Danny hockte zwei Meter entfernt im Tunnel. Er zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Er fühlte sich von der schwarzen, feuchten Erde auf allen Seiten eingeengt. Die abgestandene Luft stank; er konnte kaum atmen. Der Lärm der Pumpgun hatte ihn zu Tode erschreckt, ebenso wie die Schreie und Geräusche im Haus. Aber am meisten Angst hatte er vor Fergus. Sein Großvater hob die Abdeckung noch etwas mehr und beobachtete, wie Deveraux und Fincham dem Team ins Haus folgten. Er wandte sich zu Danny. »Wenn sie uns sehen, sind wir so gut wie tot. Wir müssen fort von hier, bevor sie den Tunnel finden. Kapiert?« Danny nickte. Fergus schob die Abdeckung vorsichtig zur Seite, kletterte hinaus und nahm den schwarzen Müllbeutel mit, der seine Fluchtausrüstung enthielt. Dann beugte er sich in den Tunnel zurück und zog Danny nach oben. Stimmen kamen vom Haus und Fincham erschien in der Tür. Fergus drückte Danny in den Matsch, sank neben ihm zu Boden und flüsterte ihm ins Ohr: »Bleib unten.« Sie konnten Fincham beide sehen, wie er vor der Tür stand und in die Dunkelheit blickte. Er stand ganz still, bewegte nur den Kopf, von einer Seite zur anderen, während er Ausschau hielt. Für einige grässliche Sekunden sah er genau in ihre 100
Richtung. Doch dann drehte er sich um und kehrte ins Haus zurück. »Los«, hauchte Fergus und zog Danny auf die Beine. »Ich kenne den Mann«, flüsterte Danny, als sie von Baum zu Baum eilten. »Sei still und lauf«, erwiderte Fergus. Auch für Eddie wurde es Zeit zu gehen. Er wusste, dass die Einsatztruppe – wer auch immer die Leute waren – Fergus nicht geschnappt hatte. Sie würden jetzt aufräumen und nach Spuren suchen. Eddie hatte den Anfang einer großen Exklusiv-Story und hielt es für besser, sich aus dem Staub zu machen. Und zwar schnell. Geduckt schlich er in Richtung Straße zurück und war dabei so vorsichtig wie möglich. Aber nicht vorsichtig genug. Fran stand an einem Fenster im Obergeschoss und blickte mit ihrem Nachtsichtgerät nach draußen. »Das ist jemand!«, rief sie. Fincham eilte die Treppe hoch, gefolgt von Marcie Deveraux. Er nahm Fran das Nachtsichtgerät ab. »Ist es der Junge oder Watts?« Er wartete keine Antwort ab und hob das NSG vor die Augen. Im grünen Dunst sah er, wie Eddie Moyes durch den Dreck stolperte. »Weder noch. Zu dick für den Jungen und er hinkt nicht.« Er gab das Gerät Fran zurück. »Sollen wir ihn erschießen, Sir?« Es wäre keine große Sache gewesen. Sie hätten die Leiche nach London gebracht und gefroren, sodass sie leichter zerschnitten werden konnte – dadurch gab es weniger Spuren, die das Team beseitigen musste. Die Überbleibsel würde man bei den Krankenhäusern in London verteilen, wo man sie zu101
sammen mit anderen Körperteilen verbrannte. Niemand würde je erfahren, was aus Eddie Moyes geworden war. Er würde Teil der Statistik werden, zu einem weiteren Namen auf den Vermisstenlisten der Polizei. Fincham nickte, und Fran wollte sich auf den Weg machen, doch Deveraux bedeutete ihr zu warten. Sie sprach zu Fincham. »Sir, vielleicht wäre es besser, die Person dort draußen gehen zu lassen.« Fincham wandte sich vom Fenster ab. »Warum?« »Wir wissen nicht, wer der Mann ist. Wenn das Team ihm folgt, führt er es vielleicht zu Watts. Wenn wir ihn jetzt eliminieren, erfahren wir überhaupt nichts.« Fincham dachte kurz darüber nach und nickte erneut.
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15 Das erste Licht des neuen Tages zeigte sich. Danny lag ausgestreckt da, neben einigen Büschen an der Straße, doch sein Großvater stand noch immer und hielt Wache. Während der langen dunklen Stunden hatte Danny den Unterschied zwischen schnellem Gehen und einem Gewaltmarsch kennen gelernt. Fergus war fit und kräftig und konnte trotz seines Hinkens ein scharfes Tempo anschlagen. Sie verließen den unmittelbaren Bereich des Cottage und eilten dann querfeldein in einer scheinbar geraden Linie. Während einer kurzen Pause öffnete Fergus den Müllbeutel und holte einen nagelneuen, original verpackten Rucksack hervor, der die meisten Gegenstände des Müllbeutels aufnahm. Kleinere Dinge und das Geld wanderten in Fergus’ Hosentaschen. Dann setzten sie den Weg fort, und als Danny schon glaubte, dass ihnen keine Gefahr mehr drohte, sagte Fergus, dass sie nun kehrtmachen und ein Stück ihres Weges zurückgehen würden. Dadurch würden sie merken – und vielleicht auch sehen –, ob ihnen jemand folgte. Aber nichts deutete auf Verfolger hin, und schließlich wandte sich Fergus in die Richtung, die er eigentlich einschlagen wollte. Danny wusste nicht, welches Ziel er hatte. Fergus ging schweigend, und wenn Danny ein Gespräch anzufangen versuchte, meinte sein Großvater nur, er sollte den Mund halten und seine Kraft sparen. Nach einer Weile begriff Danny, dass es ein guter Rat war. 103
Sie hielten erst wieder inne, als sich erstes Licht am Horizont zeigte. Fergus nahm den Rucksack ab und sah zu Danny, der mit geschlossenen Augen im Gras lag. »Wir haben keine Zeit zu schlafen. Ich will, dass du wach bleibst.« »Ich schlafe nicht, ich ruhe nur die Augen aus«, erwiderte Danny, ohne die Lider zu heben. Fergus erlaubte sich ein kurzes Lächeln. Er setzte sich neben Danny ins Gras, griff in den Rucksack und holte zwei Büchsen hervor. Bohnen mit kleinen Würstchen. Er öffnete die Dosen und stellte eine auf Dannys Bauch. »Frühstück. Runter damit.« Danny öffnete die Augen. »Ich frühstücke nie.« »Heute schon. Du musst bei Kräften bleiben.« Danny setzte sich auf, nahm die Büchse und betrachtete die Bohnen und Würstchen. »Das Zeug ist ja kalt.« »Ja, es ist kalt. Und ich bin kein Pfadfinder. Rechne also nicht damit, dass ich ein Feuer entzünde, damit wir eine warme Mahlzeit bekommen. Und bevor du fragst: Nein, ich habe keine Teller, kein Besteck und auch keine Soße. Iss einfach.« »Aber ich mag keine …« »Iss!« Sie saßen im Halbdunkel und aßen. Langsam. Es war kein schöner Anblick. Doch als Danny den Inhalt der Büchse probierte, merkte er plötzlich, dass er großen Hunger hatte. Während er aß, beobachtete er seinen Großvater und musterte ihn zum ersten Mal genau. Bislang hatte er keine Gelegenheit dazu gehabt. Fergus sah eigentlich ganz normal aus. Ein Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte. Das Ge104
sicht war von Falten durchzogen, das kurze Haar überwiegend grau. Solche Männer gingen mit ihren Enkeln im Park spazieren. Oder sie sprachen mit ihren Freunden über die Rente und die Fußballergebnisse. Doch Danny wusste, dass sein Großvater kein normaler Mann war. Er hatte schreckliche Dinge getan. Geradezu unvorstellbare Dinge. Er hatte Menschen auf Schlachtfeldern und in Seitenstraßen getötet. Er hatte sie erschossen. Gegen sie gekämpft, um Leben und Tod, von Angesicht zu Angesicht. Er hatte die Ergebnisse des eigenen Kampfgeschicks direkt gesehen: klaffende Wunden, zerfetztes Fleisch. Er hatte beobachtet, wie Männer starben. Er hatte ihr Blut gesehen, es gerochen. Danny hatte selbst den einen oder anderen Kampf hinter sich, meist Schulhofrangeleien. Viel Getue, Schubserei und Drohgebärden. Doch einmal war es zu einem richtigen Kampf gekommen. Ein Junge namens Peter Slater hatte ihn über Wochen hinweg dazu angestachelt und schließlich konnte er die direkte Konfrontation nicht mehr vermeiden. Sie sollte nach der Schule stattfinden, hinter der Turnhalle. Den ganzen Tag über brüstete sich Slater damit, was er mit Danny machen würde. Alle in der Schule sprachen darüber; alle wollten dabei sein. Etwa zweihundert Zuschauer fanden sich ein, ebenso viele Mädchen wie Jungen. Sie standen in einem großen Kreis, mit Danny und seinen Freunden auf der einen Seite und Slater und seinen Kumpeln auf der anderen. Als es losging, schlichen sie beide durch den Kreis, traten gelegentlich vor und holten zu halbherzigen Schlägen aus, die sich leicht mit erhobenen Armen abwehren ließen. Die Zu105
schauer verlangten mehr Action, und daraufhin wurden die Schläge härter, trafen immer öfter ihr Ziel. Slater gelang der erste richtige Treffer. Seine Faust bohrte sich in Dannys Magengrube und nahm ihm den Atem. Danny wankte zurück, schnappte nach Luft und hörte die Rufe: »Gib’s ihm! Gib’s ihm! Gib’s ihm!« Slater lächelte, als er näher kam, um seinem Gegner endgültig den Garaus zu machen. Vielleicht war er zu siegessicher – er hatte die Arme gesenkt, als Danny zu einem Verzweiflungsschlag ausholte. Schmerz stach durch Dannys Arm, als seine Faust gegen Slaters Nase schmetterte, die wie eine überreife Tomate platzte, sodass das Blut herausspritzte. Slater ging zu Boden, und sein Blut war überall: im Gesicht, auf der Kleidung, dem weißen Schulhemd. Und an Dannys schmerzender Hand. Ein Mädchen schrie und wandte sich ab und dann wurden die Zuschauer still. Sie starrten auf Slater, der ohnmächtig dalag, während weiterhin Blut aus seiner geplatzten Nase quoll. Dies war echter Kampf. Es war blutig und schrecklich und geschah hier vor ihren Augen. Dies war kein Film und kein Videospiel. Kurze Zeit später kam Slater wieder zu sich. »Respekt«, sagte er nachher zu Danny, mehr nicht. Die Nase würde für den Rest seines Lebens krumm bleiben, aber es dauerte nicht lange, bis er damit zu prahlen begann. Für ihn war sie wie ein Ehrenzeichen, eine Medaille. Doch Danny wusste: Diese eine Begegnung mit echter Gewalt war eine andere Welt, ein anderer Planet, ein anderes Universum im Vergleich mit den Dingen, die sein Großvater gesehen und getan hatte. 106
Fergus schien Dannys Blick zu spüren. Er sah auf. »Was ist?« Danny schüttelte den Kopf und fischte weitere Bohnen aus der Büchse. Fergus griff noch einmal in den Rucksack und holte zwei kleine Wasserflaschen hervor. »Etwa zweihundert Meter die Straße hinunter gibt es eine Bushaltestelle«, sagte er und reichte Danny eine der beiden Flaschen. »Der erste Bus fährt in einer Stunde. Wir nehmen ihn.« »Und wohin geht die Reise?« »Nach Southend. Dort sind genug Menschen, zwischen denen wir untertauchen können.« »Mir reicht’s! Ich fahr nach Hause.« Fergus lachte. »Hast du es immer noch nicht kapiert, Junge?« »Hör auf, mich Junge zu nennen!«, rief Danny. »Du bist ein Killer, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du auch ein Mann bist. Ich bin mehr Mann als du. Ich habe nicht für Drogenhändler gearbeitet und ein Vermögen mit dem Elend anderer Leute verdient.« Als Fergus antwortete, war seine Stimme fast ein Flüstern. »Wie ich sehe, hast du Nachforschungen angestellt … Danny. Weißt du, dass ich jünger war als du, als ich zum Militär gegangen bin? Sechzehn. Damals nannten sie uns ›Boy Soldiers‹.« »Es ist mir völlig gleich, wie man euch nannte«, knurrte Danny. »Mir ist viel wichtiger, wie man dich jetzt nennt, einen Feigling und Verräter. Du bist mein Verwandter, der einzige, den ich habe, und ich schäme mich für dich.« Fergus trank einen Schluck aus der Wasserflasche. »Mag sein, aber wenn du die Wahrheit hören willst, dann erzähle 107
ich sie dir. Und wenn du überleben möchtest, solltest du lernen. Und zwar schnell.« »Ich kenne die Wahrheit, ich habe alles gelesen. Und es gibt nichts, was du mich lehren könntest. Zumindest nichts, was ich von dir lernen möchte.« In Gedanken kehrte Fergus acht Jahre in die Vergangenheit zurück, in den heißen, feuchten kolumbianischen Dschungel und zu der Gruppe verdrießlicher, ungeduldiger Jungen, die vor ihm Aufstellung bezogen hatten – keiner von ihnen war bereit gewesen, etwas von ihm zu lernen. Und dann sah er den jüngsten auf dem Boden liegen, mit einer Kugel im Kopf. Er würde nicht zulassen, dass so etwas mit Danny geschah, ganz gleich, was sein Enkel von ihm dachte. »Hör mir einfach nur zu. Du kannst mir sagen, was du davon hältst, wenn ich fertig bin.« »Ich will mir nichts anhören …« »Sei still!« Fergus bedachte Danny mit einem Blick, der ihn zum Schweigen brachte. »Ich gehörte zur SAS und befand mich seit zwei Jahren in Kolumbien. Wir hatten es auf die FARC abgesehen, die so genannten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens. Es sind Drogenhändler, die den ganzen Kokainexport ihres Landes kontrollieren.« »Das weiß ich«, schnappte Danny »Ich habe alles über dich gelesen. Alles.« Fergus überhörte ihn. »Wir versuchten, ihre Produktionsanlagen zu zerstören, aber wir kamen nur langsam voran. Und dann nahm mich die Firma in ihre Dienste.« »Die was?« 108
»Die Firma. Der Geheimdienst. MI6. Verschiedene Namen für die gleiche Sache. Als ich zur FARC überlief, setzte ich die Arbeit für unsere Seite fort, für die Firma.« »Du warst ein Verräter, so stand es in den Zeitungen«, sagte Danny. »Das wissen alle, selbst deine alten Kameraden.« »Vergiss, was in den Zeitungen stand. Ich war …« Fergus unterbrach sich, als er ein näher kommendes Fahrzeug hörte. Mit der einen Hand nahm er den Rucksack und mit der anderen zog er Danny mit sich. Sie duckten sich hinter einige Büsche. Ein Lieferwagen fuhr über die Straße und verschwand hinter der nächsten Kurve. »Ich war ein so genannter K, ein verdeckter Agent. Das bedeutet …« »Du versuchst, mich durcheinander zu bringen«, sagte Danny zornig. »Du verwirrst mich mit Worten und Ausreden.« Fergus bewegte sich so schnell wie der Blitz, packte Dannys Jacke mit beiden Händen und zerrte ihn nach vorn, sodass nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander trennten. »Es sind keine Ausreden! Ich hab dir gesagt, dass du die Wahrheit bekommen würdest, und hier ist sie!« Er stieß Danny fort und trank erneut einen großen Schluck Wasser. »Als verdeckter Agent kann man jederzeit fallen gelassen werden. Man erledigt schmutzige Arbeit, die von unserer Regierung nicht offiziell befürwortet oder genehmigt werden kann. Wenn die Tarnung auffliegt, ist man auf sich allein gestellt. Ein solches Risiko nimmt man auf sich. Meine Aufgabe bestand darin, das Vertrauen der Rebellen zu gewinnen, die Drogen-Produktionsanlagen zu lokalisieren und mich dann ab109
zusetzen. Ich war ganz nahe am Ziel. Und ich hatte auch noch etwas anderes entdeckt, etwas von weit größerer Bedeutung.« Wieder legte Fergus eine Pause ein, um Wasser zu trinken. Er sah Danny an, der seinen Blick mit ungläubiger Verachtung erwiderte. »Was denn? Was war denn so bedeutsam?« »Den Anführern der FARC wurden Informationen über Antidrogeneinsätze gegen sie zugespielt, und zwar vom Vertreter der Firma in der britischen Botschaft in Bogota. Er muss ein kleines Vermögen dafür kassiert haben. Aus diesem Grund waren uns die Rebellen immer einen Schritt voraus. Was ich nicht wusste: Als ich kurz vor dem erfolgreichen Abschluss meines Auftrags stand, hatte jener Mann herausgefunden, dass ich als K eingeschleust worden war.« Fergus leerte die Flasche und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Er gibt seinen Freunden in der FARC Bescheid und plötzlich schickt man mich auf eine Ausbildungsmission mit ein paar Jungs. Die FARC schert sich nicht darum, wenn sie ein paar Rekruten verliert, und so bekommt die Polizei für die Rauschgiftbekämpfung einen Tipp mit genauer Ortsangabe und allem Drum und Dran. Wir hatten keine Chance.« »Warum sollten sie so etwas tun?«, fragte Danny. »Wenn jener Mann in der Botschaft dich an die FARC verraten hat … Warum hat man dich nicht einfach umgebracht?« »Weil alles perfekt war. Welchen besseren Weg gibt es, einen Verräter zu schützen, als mit der Entlarvung eines Verräters? Ich musste als Sündenbock herhalten, und ich war ein verdeckter Agent – besser konnte es gar nicht kommen. Niemand würde versuchen, mich zu retten. Das ist die Wahrheit, Danny. Glaub mir oder glaub mir nicht, es liegt bei dir.« 110
Danny stand auf und ging zur Straße, dachte dabei über die gerade gehörte Geschichte nach. Er wollte sie glauben. Er wollte jedes einzelne Wort glauben. Er wollte glauben, dass sein Großvater ein Held war und dass er stolz auf ihn sein konnte, sich nicht für ihn schämen musste. Langsam drehte er sich um und sah zu Fergus zurück. »Du lügst. Du warst der Verräter. Das warst du damals und du bist es auch heute noch. Und es wird dir nicht gelingen, mir etwas anderes einzureden.«
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16 George Fincham stand in seinem Büro mit einer feinen Porzellantasse in den Händen und blickte durchs Fenster stromaufwärts in Richtung Parlamentsgebäude. Er konnte sich an diesem Anblick nie satt sehen, sein persönliches Bild vom Regierungssitz, dem Zentrum der Macht. Einer Macht, die er vor langer Zeit zu schützen und zu bewahren geschworen hatte. Fincham hatte viele Jahre lang unermüdlich und erbarmungslos gearbeitet, um seine eigene Position der Macht und des Einflusses zu erreichen. Als Leiter der Sicherheitsabteilung war er eine wichtige Person in der Firma. Und wenn er hier noch nicht so weit aufgestiegen war, wie er es seiner Meinung nach verdiente – so gab es dafür noch Zeit. Allerdings durfte es nicht zu viele erfolglose Einsätze geben, so wie der in der vergangenen Nacht mit dem Ziel, Fergus Watts zu eliminieren. Watts war ein Ärgernis, wie eine Fliege, die Finchams Kopf umschwirrte. Aber bald würde es gelingen, diese Fliege zu erschlagen. Sie zu zerquetschen. Dann würde es heißen, dass Watts versucht hatte, sich der Verhaftung zu widersetzen. Kein Aufsehen. Ein sauberer, effizienter Schlussstrich, wie Fincham es mochte. Er war stolz auf die Effizienz seiner Abteilung. Er konnte sich auf die Loyalität seiner Mitarbeiter verlassen, insbesondere auf die der vier Personen, die mit der WattsAngelegenheit beauftragt waren. Sie arbeiteten seit langem für ihn und er hatte sie selbst für diese Sache ausgewählt. Sie 112
kannten seine Methoden und stellten sie nie infrage. Und sie teilten seinen Stolz auf die Abteilung. Und dann war da noch Marcie Deveraux, die erst kürzlich zur Abteilung gekommen und schon unersetzlich war. Auf Marcie konnte sich Fincham ebenfalls verlassen. Sie glich ihm, war ebenso ehrgeizig und unbarmherzig wie er. Und sie wusste, dass sie durch ihn an die Spitze gelangen konnte. Fincham trank seinen Kaffee aus, wandte sich vom Fenster ab und nahm am Schreibtisch Platz. Er legte großen Wert auf seine Privatsphäre und ließ in der Firma nicht das geringste Detail seines Privatlebens bekannt werden. Nur einige wenige nahe Bekannte – Fincham hatte keine Freunde, sondern Bekannte – wussten, dass er Dinge von einzigartiger und exotischer Schönheit sammelte. Seine Junggesellenwohnung enthielt eine Sammlung präraffaelitischer Gemälde und viele aufwändig gebundene antiquarische Erstausgaben, die außer ihrem Eigentümer nur selten jemand zu Gesicht bekam. Es klopfte an der Tür. »Herein.« Für jemanden, der die ganze Nacht durchgearbeitet hatte, sah Marcie Deveraux unglaublich aus. Frisch und wie aus dem Ei gepellt. Sie nahm auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz. »Wir haben die Identität des Mannes, der sich in der Nähe des Cottage herumgetrieben hat, Sir.« »Um wen handelt es sich?« »Um einen gewissen Eddie Moyes. Freier Journalist. Hat seine Glanzzeit hinter sich. Treibt sich auf der Suche nach SAS-Geschichten oft im Victory Club herum, was vermutlich erklärt, warum er sich an den jungen Danny gehängt hat. Im Internet haben wir alte Zeitungsartikel gefunden, die er über Fergus Watts geschrieben hat.« 113
Fincham nickte. »Und?« »Das Team ist ihm bis zu einem Pub gefolgt. Dort blieb er eine Weile und nahm dann ein Taxi zurück zur Zivilisation. Fuhr anschließend mit dem Zug nach Hause. Dort ist er jetzt. Er schläft, nehme ich an.« Fincham sah zum Plasmabildschirm, der wie üblich die neuesten Weltnachrichten im Teletext zeigte. »Ich möchte nicht, dass hiervon irgendetwas die Presse erreicht, Marcie.« Deveraux schüttelte den Kopf. »Das wird nicht geschehen, Sir. Moyes hat nur eine halbe Story und als Freiberufler muss er das meiste aus seinen Informationen machen. Wenn er seinen ersten Bericht abliefert, stürzt sich die gesamte Londoner Presse auf diese Sache.« »Was schlagen Sie vor?« »Überwachung, Sir. Seine Telefone, sein PC. Und eine direkte Kontrolle seiner Wohnung. Ich bin um vier Uhr heute Morgen dort gewesen und habe mir die Schlösser angesehen. Wir sollten herausfinden, was er weiß, und es dann zu unserem Vorteil nutzen.« Fincham stand auf, ging zur Kaffeemaschine auf dem kleinen Beistelltisch und schenkte sich Kaffee ein. »Ausgezeichnet, Marcie. Moyes wird nie dazu kommen, seine Story abzuliefern.« Er sah die junge Frau an. »Kaffee?«
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17 Während der Fahrt mit dem Bus schwiegen Fergus und Danny – beide waren tief in Gedanken versunken. Als sie Southend erreichten, überraschte Fergus seinen Enkel, indem er ihn sofort zu einem anderen Bus führte. »Zu viele Überwachungskameras«, sagte er, als sie hinten außer Hörweite der wenigen anderen Fahrgäste Platz nahmen. »Wir nehmen einen Zug an einem ruhigeren Ort.« »Mach, was du willst«, erwiderte Danny, als der Bus losfuhr. »Der einzige Zug, den ich nehme, fährt zurück nach London.« Fergus sprach leise. »Du hast es immer noch nicht begriffen, wie? Ohne mich kannst du jetzt nirgends mehr hin. Du kennst die Wahrheit, auch wenn du sie noch nicht glaubst. Und wenn er dich erwischt, wird er dich töten.« »Wer? Wer wird mich töten?« »George Fincham. Der Mann, den du angeblich schon einmal gesehen hast.« »Aber … woher kennst du ihn?« »George Fincham war der Verbindungsmann der Firma in Bogota. George Fincham war der Verräter, der Mann, der Informationen an die FARC gab. Glaubst du, er lässt uns am Leben, obwohl wir Bescheid wissen?« Danny wirkte verblüfft. »Du bist unglaublich. Du hast dir das alles ausgedacht und ich glaube dir kein Wort. Ich hab den Mann im RCB-Zentrum der Army gesehen. Er hat mir von dir erzählt.« 115
»Ja, und bestimmt hat er dich auf die Idee gebracht, mich zu suchen. Sie haben dich beschattet. Wie sonst konnten sie so plötzlich beim Cottage erscheinen?« Der Bus neigte sich zur Seite, als der Fahrer das Steuer herumriss, um einem Fahrrad auszuweichen. »Verdammte Fahrradfahrer!«, rief er. »Man sollte sie von der Straße verbannen!« Einige der vorn sitzenden Fahrgäste brummten zustimmend. »Auch ich bin Fincham begegnet«, sagte Fergus leise. »Bei irgend so einem Empfang in der Botschaft, lange bevor ich als K rekrutiert wurde. Ich habe ihn damals für einen schlauen, gewieften Burschen gehalten. Und das war er auch: schlau genug, um herauszufinden, dass ich als K eingeschleust worden war, obwohl das eigentlich streng geheim sein sollte. Finde dich damit ab, Danny: Er hat dich reingelegt. Und du hast dich genau so verhalten, wie er es von dir erwartete.« »Selbst wenn er mich reingelegt hat …«, erwiderte Danny. »Es bedeutet nicht, dass er der Verräter war. Warum sollte ich dir glauben?« »Weil ich die Wahrheit sage.« Danny schnaubte abfällig. »Du würdest die Wahrheit nicht einmal erkennen, wenn sie an dich heranträte und dir einen Schlag auf den Mund gäbe.« Aber er war nicht mehr ganz so sicher, wie er klang. George Fincham – wenn der Mann wirklich so hieß – hatte ihn auf die Idee gebracht, Fergus zu suchen. Danny hatte gespürt, dass ihm jemand folgte. Und der Angriff auf das Cottage hatte stattgefunden. Fergus wusste, dass mehr als nur die Frage von Wahrheit oder Lügen zwischen ihnen stand. Hinzu kam ihre Vergangenheit. Sie mussten darüber reden. »Ich kann verstehen, dass du nicht besonders gut auf mich zu sprechen bist, Danny. Als 116
Vater war ich eine Katastrophe und als Großvater bin ich nicht besser gewesen.« »Darüber mache ich mir schon seit langem keine Gedanken mehr.« »Erwartest du wirklich von mir, dass ich dir das glaube?« »Ja«, antwortete Danny zornig. »So wie du von mir erwartest, dass ich dir glaube!« Er wandte den Blick ab. »Warum? Warum hast du meinen Vater verlassen?« Fergus holte tief Luft. Er war ein Einzelgänger, ein Mann, der sein ganzes Leben lang seine Gefühle und Empfindungen unter Kontrolle gehalten hatte. Ein Mann, der es bisher vermieden hatte, seine Taten sich selbst gegenüber zu rechtfertigen, vom Enkel, dem er eben erst begegnet war, ganz zu schweigen. »Ich habe mit achtzehn geheiratet. Wir mussten, weil dein Vater unterwegs war – so lief das damals. Aber ich war so jung, kaum mehr als ein Kind. Ich wollte Soldat sein, zusammen mit meinen Freunden. Deshalb ging ich. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich kann es nicht leugnen. Es blieben also nur gelegentliche Besuche und dann irgendwann Briefe.« Danny blickte aus dem Fenster, während der Bus durch die Vororte von Southend brummte und sein Großvater mit der stockenden, zögernden Beichte fortfuhr. »Irgendwann kam ein Brief von deinem Vater, der erste seit langer Zeit. Zu der Zeit war ich gerade in Malaysia, oben im Norden. Er schrieb mir, dass er heiraten wollte und dass deine Großmutter an Krebs gestorben war. Es … es tat mir natürlich Leid, aber es war … es war wie ein anderes Leben. Es schien wenig Sinn zu haben, wegen der Hochzeit nach Hause zu kommen.« »Aber er war dein Sohn.« 117
»Ja, und er muss mich gehasst haben.« Danny wandte sich vom Fenster ab und sah seinen Großvater wieder an. »Erwarte nicht von mir, dass ich Mitleid mit dir habe! Du hattest bei dieser Sache immer die Wahl. Ich nicht.« Er holte das alte Foto hervor, das er die vergangenen Tage bei sich getragen hatte, und gab es Fergus. »Und er hat dich nicht gehasst. Das hier hat er aufbewahrt.« Fergus blickte noch immer auf das Foto hinab, als er erneut sprach. »Ich wusste nicht einmal, dass er es hatte. Ich war in Kolumbien, als ich von dem Autounfall erfuhr. Die Beerdigung hatte bereits stattgefunden. Es war zu spät zu sagen, dass ich es mir anders gewünscht hätte.« Sie schwiegen ein Weilchen, während Fergus das alte Foto betrachtete. Er drehte es und sah die Zahlen auf der Rückseite. »Meine letzten vier.« Er sah Danny an. »Jetzt weiß ich, woher du sie kanntest.« Sie stiegen in einem Ort namens Westcliff aus. Für Danny sah er wie eine Erweiterung von Southend aus. Etwas ruhiger und altmodischer. Viele ältere Leute waren zu einem frühen Morgenspaziergang auf dem so genannten Boulevard unterwegs. Die meisten von ihnen schienen ziellos umherzuwandern, blieben dann und wann stehen und blickten in die gleichen Schaufenster, in die sie wahrscheinlich schon tausendmal gesehen hatten. Es war der perfekte Ort, um sich abzusetzen. Der hinkende Fergus konnte Danny nicht aufhalten, und wenn er es versucht hätte, wären Westcliffs aufmerksame Bürger vielleicht bereit gewesen, die Polizei zu rufen. Doch Danny lief nicht weg. »Kann ich mein Handy wie118
derhaben?«, fragte er, als sie sich langsam von der Bushaltestelle entfernten. »Du weißt, dass ich es dir nicht geben kann«, erwiderte Fergus, ohne ihn anzusehen. »Keine Sorge«, sagte Danny. »Ich habe nicht vor, Fincham anzurufen. Ich möchte Elena sagen, was geschehen ist.« Fergus blieb stehen. »Wer zum Teufel ist Elena?« »Meine Freundin in Foxcroft. Sie hat mir geholfen, dich zu finden.« »Oh, wundervoll. Und wer weiß sonst noch Bescheid?« »Niemand. Nur Elena. Und ich vertraue Elena weit mehr als dir.« Fergus griff in die Tasche und holte das Handy hervor. »Ist das ein Prepaid?« »Natürlich. Ein Vertragshandy kann ich mir nicht leisten. Ich bin Waise, erinnerst du dich?« »Ruf niemanden an«, sagte Fergus und reichte Danny das Handy. »Stell nur fest, ob SMS eingetroffen sind. Wenn du eine Möglichkeit finden konntest, ein Handy zu lokalisieren, dann dürfte auch Fincham dazu imstande sein. Aber wir verschwinden von hier, bevor er mit den Informationen etwas anfangen kann.« Danny schaltete das Handy ein. Er hatte fünf neue Nachrichten und drei SMS. »Bestimmt sind alle von Elena.« »Überprüf die SMS. Die Nachrichten dauern zu lange.« Danny rief die erste SMS aufs Display und Fergus las sie mit ihm. WO BIST DU & WARUM ANTW DU N? ES IST SEHR SP. BIN IGS. »Blöde Sprache«, sagte Fergus, während er herauszufinden versuchte, was die letzten Kürzel bedeuteten. 119
Die zweite SMS lautete: DANNY!!! WAS IST LOS? DTR STELLT FRAGEN. BITTE MELDE DICH!!! »Was bedeutet DTR?«, fragte Fergus. »Dave the Rave, der Leiter von Foxcroft. Er ist okay.« Die letzte SMS stammte von neun Uhr morgens. ETWAS SCHLIMMES MUSS PASSIERT SEIN. WENN ICH IN DER NÄCHSTEN ST NICHTS VON DIR HÖRE, SAGE ICH DTR, WAS GESCH IST. ICH MUSS, ALSO BITTE RUF AN. Fergus blickte auf die Uhr. Es war zwanzig vor zehn. »Sie klingt ein wenig verrückt.« »Verrückt?«, erwiderte Danny verärgert. »Elena ist nicht verrückt, sie macht sich Sorgen um mich. Mehr Sorgen als du.« »Ja, schon gut, schon gut«, schnappte Fergus. »Die Nummer mit dem beleidigten Enkel hast du schon abgehakt und die Message ist bei mir angekommen. Aber jetzt geht es vor allem darum, dass wir beide am Leben bleiben.« »Wir beide? Du sprichst immer wieder von uns. Mir passiert nichts. Ich bin nicht mehr an dieser Sache beteiligt. Mach, was du willst. Ich kehre nach London zurück.« »Das kann ich nicht zulassen.« Danny lachte. »Wie willst du mich daran hindern? Mich fesseln? Mich erschießen? Mich mit Kokain voll stopfen?« Ihre lauten Stimmen fingen an, die Aufmerksamkeit der spazieren gehenden Pensionäre von Westcliff zu erregen, und Fergus beschloss, es anders zu versuchen. »Na schön. Vielleicht irre ich mich. Wenn Fincham weiß, dass du zurück bist, und wenn er mich nirgends findet … Vielleicht stellt er dir nur ein paar Fragen und lässt dich dann in Ruhe.« »Bestimmt. Und … ich werde ihm nichts verraten. Das 120
soll nicht heißen, dass ich glaube, was du mir gesagt hast, aber …« Fergus nickte. Er wollte auf keinen Fall zulassen, dass sich Danny irgendwelchen Gefahren aussetzte. Er versuchte nur, Zeit zu gewinnen. »Weißt du was? Ich begleite dich. Damit du sicher nach Hause kommst.« »Das ist nicht nötig.« »Wahrscheinlich nicht, aber ich möchte trotzdem mitkommen. Und dann verschwinde ich aus deinem Leben. Schick deiner Freundin eine SMS. Sag ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht und du in drei Stunden zurück bist. Und sag ihr …« »Ja, ich weiß«, unterbrach Danny seinen Großvater. »Sie soll mich nicht anrufen und mir keine weiteren SMS schicken.« Er schaltete das Handy ein, drückte die Tasten und wusste, wie sehr sich Elena über die kurze Nachricht ärgern würde. Als Danny fertig war, nahm Fergus das Handy und holte die Sim-Card heraus. »Ich besorg dir später eine andere. Zuerst kaufe ich dir was Neues zum anziehen.« »Warum?« »Du möchtest doch gut aussehen, wenn du zurückkehrst, oder?« Offenbar hatten sie sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was »gut aussehen« bedeutete. Auf der Haupteinkaufsstraße entdeckte Fergus einen Laden mit Gebrauchtwaren. Nachdem er festgestellt hatte, dass es keine Überwachungskamera gab, führte er Danny hinein und ging sofort zu den Kleiderständern. »Siehst du was, das dir gefällt?« 121
»So einen Mist ziehe ich nicht an.« Fergus nahm einen Anorak und drückte ihn Danny in die Arme. »Mach es für mich, Danny. Ich möchte nicht, dass man dich vor Foxcroft erkennt. Gestern bist du den ganzen Tag beschattet worden – die Leute wissen also, wie du angezogen bist. Such dir ein paar Sachen aus und lass uns dann gehen.« Fünf Minuten später verließen sie den Laden mit einer Tragetasche voller Kleidung. »Wir können uns im Zug umziehen«, sagte Fergus, der bereits eine neu erworbene Schiebermütze trug. »Mit dem Ding siehst du aus wie ein Schwachkopf«, meinte Danny, als sie zu dem kleinen Bahnhof gingen. »Vielleicht«, räumte Fergus ein. »Aber darum geht es ja. Mr Durchschnitt, jemand, der keinen zweiten Blick wert ist.« Danny trat auf den Bahnsteig und wartete, während Fergus beim Automaten Fahrkarten besorgte. Er bestand darauf, dass sie weiter auf Verfolger achteten, und deshalb saßen sie während der Fahrt zunächst in verschiedenen Abteilen. Der Pendlerverkehr des frühen Morgens war vorbei, und als Fergus glaubte, dass keine Gefahr bestand, wechselte er in Dannys Abteil. Der Junge trug jetzt eine Bomberjacke und eine Baseballmütze. Und er hatte nachgedacht. »Ich sage noch immer nicht, dass ich dir glaube, aber … Wenn man dich gelinkt hat, wieso hast du dann nicht versucht, deinen Namen reinzuwaschen?« »Wie ich schon sagte: Wenn man als verdeckter Agent auffliegt, ist man auf sich allein gestellt. Als ich gefasst wurde, war die Story von mir als Verräter perfekt für die Firma. Aber als ich entkam, wurde ich zu einer möglichen Peinlichkeit für Firma und Regierung, und solche ungeklärten Dinge mag 122
man dort ganz und gar nicht. Doch für Fincham hat alles perfekt geklappt: Er bekommt volle Unterstützung, um mich loszuwerden, und gleichzeitig kann er sich selbst schützen.« »Aber gibt es denn sonst niemanden, der weiß, dass du ein K warst? Jemanden außerhalb der Firma?« Fergus zuckte mit den Schultern. »Mein alter vorgesetzter Offizier, Colonel Meacher. Er musste die Versetzung genehmigen und …« »Ich bin ihm begegnet«, sagte Danny schnell. »Im Victory Club. Wir könnten uns auf die Suche nach ihm machen und mit seiner Hilfe deine Unschuld beweisen.« »Bisher hat er nicht eingegriffen.« »Aber jetzt ist er nicht mehr in der Army. Wenn wir zu ihm gehen und …« »Hör mal, Danny«, sagte Fergus, »ich weiß deinen Vorschlag sehr zu schätzen, aber solche Dinge überfordern mich. Ich bin dreiundfünfzig und kann nicht mehr richtig gehen. Ich bin nach England zurückgekehrt, um nicht aufzufallen und mich aus Schwierigkeiten herauszuhalten.« »Nun, diese Möglichkeit hast du jetzt verloren«, erwiderte Danny zornig. »Und was ist los mit dir? Ich hab die Geschichten gelesen. Du warst ein Held in Irland und auch im Golfkrieg. Du hast Medaillen bekommen. Und jetzt fühlst du dich überfordert. Willst du nicht leben?« Fergus lächelte. »Doch, ich möchte leben. Und ich dachte, du glaubst mir nicht …« Der Zug wurde langsamer, als er sich dem Bahnhof näherte, und Danny schaute aus dem Fenster auf die schmutzigen Häuser der Stadt. »Ich glaube dir nicht«, sagte er leise. »Und vielleicht bist du wirklich überfordert. Aber ich nicht.« 123
18 Mick und Fran hatten den Kürzeren gezogen. Sie waren auf Beobachtungsposten vor Foxcroft, obwohl sie nicht an Dannys Rückkehr glaubten. Fergus Watts war zu erfahren, um so etwas zu erlauben. Aber sie mussten sicherheitshalber dort sein. Die Ressourcen waren knapp. Jimmy und Brian arbeiteten mit Marcie Deveraux zusammen und bereiteten die Kontrolle von Eddie Moyes’ Wohnung vor. George Fincham hatte beschlossen, keine zusätzlichen Personen für diese Angelegenheit einzusetzen. Und wenn der Chef seine Gründe hatte, es bei den wenigen Auserwählten zu belassen, so war es ihnen recht. Sie verstanden es als Kompliment. Der Mangel an Beobachtungspersonal bedeutete, dass die Lücken mit Technik geschlossen werden mussten. Mick hatte zuvor einen weißen Transit an der Ecke einer Seitenstraße in der Nähe von Foxcroft geparkt. Die Rückseite des Fahrzeugs zeigte zum Gebäude, und eine der beiden Hecktüren wies winzige Löcher auf, so klein, dass sie mit dem bloßen Auge nicht zu sehen waren. Glasfaserkabel führten von den Löchern zu einem komplexen Kamerasystem im Innern des alten Lieferwagens, ausgestattet mit Software für die Gesichtserkennung. Die Enden der Kabel waren auf Foxcroft gerichtet und der Computer enthielt Dannys Bild. Eine einzige Erkennung würde genügen, um Mick und Fran zu alarmieren, die mit dem blauen Golf in der Gegend 124
unterwegs waren. Sie blieben in der Nähe, kamen aber nicht so nahe, dass die Gefahr bestand, die Aufmerksamkeit neugieriger Dritter zu erregen. Aber wenn Danny in oder außerhalb von Foxcroft identifiziert wurde, konnten sie innerhalb weniger Sekunden zur Stelle sein. Fergus versuchte alles, um Danny von Foxcroft fernzuhalten. Er bat, argumentierte, drohte und flehte fast, aber als sie nur noch ein knapper Kilometer vom Gebäude trennte, begriff er die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen. Danny blieb unnachgiebig. Er wollte unbedingt zurück, um Elena die Situation zu erklären. Und er musste die Lage mit Dave the Rave klären. Und er hatte einen Plan. Er würde Dave sagen, dass er bei einem Freund unterkam, mit dem er sich Arbeit suchen wollte. Das war sinnvoll, erläuterte er, denn er müsste Foxcroft ohnehin bald verlassen. Wenn mit Dave alles klar war, konnten sie sich auf die Suche nach Colonel Meacher machen. Es klang alles so einfach. Für Danny. Tageslicht und die Vorstellung, den Namen seines Großvaters reinzuwaschen, hatten die Schrecken seiner Erfahrung im Fluchttunnel verblassen lassen. In jenem Stadium wäre Fergus mit allem einverstanden gewesen. Er wollte Danny nur sicher in Foxcroft hinein- und wieder herausbringen und dann mit ihm verschwinden. Er hatte immer Pläne für den Fall seiner Enttarnung gehabt, doch sein Enkel war darin nie vorgesehen gewesen. Jetzt war alles anders. Und Dannys eigener Plan? Er war verrückt. Und dumm. Aber vielleicht, nur vielleicht … 125
Sie befanden sich in einer Straße, die parallel zur Rückseite des Gebäudes verlief, weniger als fünfhundert Meter von Foxcroft entfernt. Fergus hatte Danny erlaubt, Elena von einer öffentlichen Telefonzelle aus anzurufen. Inzwischen sollte sie am hinteren Gartentor bereitstehen, um es schnell aufzuschließen. »Verhalte dich so normal wie möglich, aber achte darauf, dass deine Augen unter der Mütze verborgen bleiben«, sagte Fergus. »Und halt dich drinnen im Haus von den Fenstern fern. Verstanden?« »Du hast es mir dreimal gesagt.« »Hast du verstanden?« »Ja!« »Und geh wieder durchs Hintertor hinaus. Ich bleibe in der Nähe. In fünfundvierzig Minuten treffen wir uns hier.« Danny nickte. »Wir müssen noch einen NT festlegen.« »Einen was?« »Einen Notfalltreffpunkt. Falls einer von uns in Schwierigkeiten gerät. Ein öffentlicher Ort, den wir beide leicht finden können und der nicht weit entfernt ist.« Danny zuckte mit den Schultern. »Der Burger King am Bahnhof London Bridge?« »Einverstanden. Also los. Unterwegs sage ich dir, was zu tun ist, wenn wir den NT benutzen müssen.« Einige Minuten später klopfte Danny ans hölzerne Gartentor hinter Foxcroft. Zwei schwere Riegel wurden beiseite geschoben und knarrend öffnete sich das Tor einen Spaltbreit. Elena lachte, als sie Danny sah. »Wie siehst du denn aus?« Danny hatte keine Zeit, über seine gebrauchte Bomberja126
cke und die ausgebleichte Baseballmütze zu reden. Er drängelte sich an der Freundin vorbei, schloss das Tor und schob die beiden Riegel vor. »Schon gut, hör zu, bevor ich zu Dave gehe. Mein Großvater wurde reingelegt. Er ist kein Verräter.« Fergus hatte sich die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen, beobachtete mit aufmerksamen Augen die Umgebung. Sein Blick glitt über geparkte und fahrende Autos, über die Fußgänger. Er befand sich jetzt vor dem Gebäude, etwa fünfzig Meter entfernt. Ein Teenager mit einem Walkman kam vorbei. Fergus hörte leise das dumpfe Dröhnen der Musik. Drei kichernde Mädchen näherten sich Arm in Arm aus der entgegengesetzten Richtung, und eins von ihnen sagte etwas, als sie an dem Jungen mit dem Walkman vorbeikamen. Der ging nicht auf die Bemerkung ein oder hörte sie nicht, aber die Mädchen freuten sich offenbar sehr, denn sie lachten schallend. Auf dem anderen Bürgersteig waren zwei junge Mütter in ein Gespräch vertieft, während sie die mit Einkaufstüten behängten Kinderwagen schoben. Alles sah vollkommen normal und alltäglich aus. Doch Fergus blickte hinter die Fassade des Alltags und suchte nach Anzeichen dafür, dass Finchams Team Foxcroft beschattete. Während sich Danny im Gebäude befand und möglicher Gefahr ausgesetzt war, musste Fergus auf der Straße Augen und Ohren offen halten. Er überprüfte die geparkten Fahrzeuge, hielt nach Insassen und beschlagenen Fenstern Ausschau. Vielleicht bedeutete es nur, dass ein achtloser Hundebesitzer seinen Fiffi ohne ausreichend Luft zurückgelassen hatte, aber es konnte auch be127
deuten, dass ein müder Beobachter achtlos geworden war. Fergus bemerkte nichts Ungewöhnliches. Weiter vorn stand ein weißer Transit an der Ecke einer Seitenstraße. Ein undurchsichtiges Rückfenster wäre ein offensichtlicher Hinweis auf Gefahr gewesen, aber in diesem Fall waren die Hecktüren ohne, keine Fenster auf. Trotzdem musste der Lieferwagen kontrolliert werden. Fergus beschloss, daran vorbeizugehen und einen Blick durch die Windschutzscheibe zu werfen. Doch zuerst wollte er sich die Gebäude und Fenster auf beiden Straßenseiten ansehen. Vielleicht waren nicht nur menschliche Augen auf Foxcroft gerichtet. Danny bekam einen Anschiss. Und wer den von Dave the Rave bekam, konnte als Empfänger nur dasitzen und versuchen, alles so gut wie möglich über sich ergehen zu lassen. Dave legte kaum Pausen ein, um Luft zu holen, als er Worte wie unverantwortlich, unreif, rücksichtslos, gedankenlos und egoistisch zu einem Strom verletzender Sätze vereinte. Sie befanden sich in dem kleinen Büro im ersten Stock, vorn im Haus. Die Tür war geschlossen, denn was Dave zu sagen hatte, sollte allein Dannys Ohren erreichen. Danny erklärte, dass er einen alten Freund getroffen hatte und sie zu ihm nach Hause gegangen waren. Und vor lauter Erzählen und Pläneschmieden hatte er ganz vergessen, anzurufen und Bescheid zu geben, dass er bei dem Freund übernachten würde. Dave schluckte die Geschichte und war voll und ganz dafür, dass sich Danny auf die Suche nach einem Job machen wollte. Aber er wollte trotzdem seinen Teil dazu sagen. »Solange du unter diesem Dach wohnst, lässt du uns wissen, was los ist. Du bleibst nicht ohne einen Anruf die ganze Nacht 128
fort. Jane und ich haben bessere Dinge zu tun, als uns um egoistische, rücksichtslose und hirnlose Idioten zu sorgen, die nur an sich denken.« Hirnlos. Das war neu. »Es tut mir wirklich Leid, Dave. Ich weiß, dass ich hätte anrufen sollen. Ich werde in Zukunft daran denken.« »In Zukunft? Du kannst von Glück sagen, dass du nach der vergangenen Nacht noch eine Zukunft hast!« Danny schauderte, als er sich an die letzte Nacht erinnerte. Dave ahnte nicht, wie nahe er mit seinen Worten der Wahrheit kam. Doch zum Glück für Danny ließ der vulkanartige Zornausbruch wie immer schnell nach. »Willst du deinen Schulabschluss denn wirklich aufgeben, Danny?« »Ich hab noch etwa eine Woche Zeit, das zu entscheiden«, sagte Danny und zuckte mit den Schultern. »Es kann ja nicht schaden, mal festzustellen, was für Jobs es für mich geben könnte.« »Wir werden dich vermissen, wenn du gehst.« »Und ich werde dieses Haus vermissen und dich und Jane. Ihr habt viel für mich getan.« Dave wurde verlegen. Mit einem ordentlichen Anschiss konnte er umgehen, aber mit Komplimenten und Dankbarkeit kam er nicht gut zurecht. »Geh schon. Wir halten dein Zimmer noch ein paar Wochen für dich frei.« Danny stand auf und vergaß die Anweisung seines Großvaters, sich von den Fenstern fern zu halten. Er schaute nach draußen und versuchte festzustellen, ob sich Fergus in der Nähe befand. Das war ein großer Fehler.
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Die Glasfaserkabel reagierten auf die Bewegung und weniger als eine Sekunde später klickte das Kamerasystem im Transit und sendete dem blauen Golf ein Erkennungssignal. Fran und Mick wechselten einen Blick. »Bingo«, knurrte Mick. Er schaltete einen Gang herunter, gab Gas und fuhr los. Fergus sah, wie sich Danny vom Fenster abwandte, und unmittelbar darauf bemerkte er einen blauen Golf, der sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Er war völlig verdreckt, und Fergus begriff, dass es sich um einen der Wagen beim Cottage handeln musste. Zwei Personen saßen darin, und er beobachtete, wie die Frau auf dem Beifahrersitz zum Haus hinübersah. Kein Zweifel – sie wussten von Danny. Fergus eilte zum Haus und gab sich dabei keine Mühe mehr, sein Hinken zu verbergen. Er musste Danny da rausholen, und zwar schnell. Doch dann sah er, wie der Golf nach links abbog, dorthin, wo der weiße Transit stand. Etwas weiter unten an der Straße hielt er an und die Heckklappe öffnete sich. Das konnte nur eins bedeuten. Fergus wechselte die Richtung: Er musste die Leute der Einsatzgruppe daran hindern, das hervorzuholen, was sich im Kofferraum des Wagens befand. Es blieb keine Zeit mehr zum Überlegen; es galt zu handeln. Die Gesichter der beiden Personen aus dem Wagen wirkten ernst, als sie nach hinten gingen und sich in den Kofferraum des Golfs beugten, um ihre Sachen hervorzuholen. Ihr festgelegter Plan war einfach: Sie würden ihre Taschen mit den MP5-Maschinenpistolen ins Haus hineintragen und Danny erschießen. Und Fergus ebenfalls, sofern er da war. Und sie hatten keinen Anlass zu der Annahme, dass er nicht da war – er würde Danny nicht einfach sich selbst überlassen. 130
Eine Story über einen »schief gelaufenen Drogendeal« war bereits fertig und lag für die Boulevardpresse bereit. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Mick und Fran am helllichten Tag an einem solchen Einsatz teilnahmen. Aber sie boten Fergus eine Chance. Bei einem Kampf auf der Straße hätte er sich kaum gegen sie durchsetzen können. Doch in den nächsten Sekunden, während sie in den Kofferraum gebeugt waren, konnte Fergus seine SAS-Fähigkeiten benutzen: Schnelligkeit, Aggression und Schonungslosigkeit. Das verletzte Bein gab fast unter ihm nach, als er zum Golf hastete. Noch einige Sekunden mehr und die beiden Agenten hätten sich aufgerichtet und umgedreht. Aber als sie nach den Taschen griffen, verlagerte Fergus sein Gewicht auf das gesunde Bein und sprang. Er packte die Heckklappe des Golfs und rammte sie nach unten. Vor Schreck und Schmerzen schrien die Getroffenen auf, als die Hecktür ihre Schultern und Nacken traf. Mick ließ die Autoschlüssel auf den Boden fallen. Fergus hob die Klappe noch einmal und schmetterte sie erneut auf seine beiden Opfer hinab. Aus den gedämpften Schreien im Kofferraum des Wagens klang eine Mischung aus Pein und Zorn. Mick brüllte vor Wut und versuchte, nach der Pistole an seinem Gürtel zu greifen. Aber Fergus sah die Bewegung und trat ihm mit dem rechten Fuß zwischen die Beine. Wieder erklang ein Schmerzensschrei und Mick vergaß fürs Erste die Pistole. Ein drittes Mal ließ Fergus die Hecktür herabknallen, hob dann die Autoschlüssel auf, humpelte nach vorn und setzte sich ans Steuer. Er hörte, wie Mick und Fran stöhnten, als er den Schlüssel ins Zündschloss schob. Der Motor sprang an und Fergus legte den Rückwärtsgang ein. Der Golf ruckte 131
nach hinten und Fergus trat auf die Bremse. Die Hecktür flog auf und Mick und Fran landeten auf der Straße. Das Getriebe knarrte laut, als Fergus nach dem ersten Gang suchte. Frans Gesicht war blutverschmiert, aber es gelang ihr, auf die Beine zu kommen und ihre Pistole aus dem Gürtelhalfter zu ziehen, als der Wagen fortraste. Doch es war bereits zu spät, sie konnte nicht mehr schießen. Fran fluchte und sah zu Mick. Der lag noch immer auf der Straße und stöhnte, während ihm Blut aus dem Mund quoll und eine kleine Lache auf dem Asphalt bildete. Fergus steuerte den Wagen mit der linken Hand und tastete mit der rechten unter den Sitz. Nichts. Er versuchte es im Türfach. Wieder nichts. Er griff unters Armaturenbrett und fand dort, was er suchte: die Wagenpistole. Sie steckte in einem unter dem Armaturenbrett festgeklebten Halfter. An der ersten Kreuzung bog er nach rechts und wusste, dass er den Golf bald aufgeben musste. Bestimmt war er mit Geräten ausgestattet, die seine Lokalisierung erlaubten, und inzwischen würde zumindest einer der beiden Agenten auf der Straße per Funk eine Meldung weitergeben. Aber ein Betreten von Foxcroft kam jetzt nicht mehr für sie infrage, selbst wenn sie dazu imstande gewesen wären. Ihr Plan war aufgeflogen. Bei der nächsten Gelegenheit bog Fergus links ab, fand einen Parkplatz, stieg aus, schloss ab und ging ruhig fort. Er fühlte sich besser und sicherer, denn jetzt hatte er eine neun Millimeter Halbautomatik in der Jeans. Leider verfügte er nur über ein Magazin mit dreizehn Schuss, aber das war immer noch besser als gar nichts. Wenigstens konnte er sich jetzt zur Wehr setzen. 132
An der nächsten Kreuzung gab es eine Bushaltestelle. Einer der neuen Gelenkbusse näherte sich. Fergus stieg ein, ohne ein besonderes Ziel zu haben. Er würde noch ein wenig umherfahren, bevor er den Notfalltreffpunkt aufsuchte.
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19 Am Bahnhof London Bridge ging es mit jeder verstreichenden Minute geschäftiger zu. Tausende von Pendlern drängten herein und blickten zu den Abfahrtanzeigen empor, um festzustellen, ob ihr Zug noch am Bahnsteig wartete. Wer Glück hatte, lief los, in der vagen Hoffnung, einen Sitzplatz zu bekommen und nicht wie üblich stehen zu müssen. Andere seufzten resigniert und suchten Trost bei einem Getränk oder einem Hamburger mit Pommes. Der überfüllte Bahnhof bot Fergus ein perfektes Versteck. Er stand bei den Fahrkartenautomaten und hielt Ausschau. Der vereinbarte Zeitpunkt für das Treffen lag inzwischen mehr als eine Stunde zurück. Er hatte Danny angewiesen, bei Burger King zu warten, aber nach dreißig Minuten weiterzugehen. Anschließend sollte er während der nächsten drei Stunden jede halbe Stunde vorbeikommen, bis er Fergus irgendwo entdeckte. Dann sollte er nur kurz Blickkontakt herstellen und weitergehen. Fergus würde zu ihm aufschließen. Fergus sah Danny, als der Ansager des Bahnhofs wie schadenfroh verkündete, dass sich ein weiterer Zug wegen eines Signalfehlers verspäten würde. Als Danny seinen Großvater bemerkte, huschte ein Ausdruck des Erkennens über sein Gesicht, und im ersten Moment schien es, als wollte er die Richtung wechseln und auf ihn zugehen. Doch dann erinnerte sich Danny an die Anweisungen. Er lernt, dachte Fergus. Es gab noch eine Menge zu lernen. Sie waren ein ganzes Stück vom Bahnhof entfernt, als sie 134
sich trafen. Die meisten Leute kamen ihnen entgegen, und deshalb dauerte es einige Minuten, bis sie Seite an Seite gingen. Danny sah Fergus nicht an, als er sprach. »Ich dachte, du wolltest am Hinterausgang von Foxcroft auf mich warten. Gab es ein Problem?« Fergus lächelte, bevor er antwortete. Er beschloss, Danny nichts von den Ereignissen auf der Straße vor Foxcroft zu erzählen. »Nein. Keine Probleme. Ich hatte nur plötzlich Lust, mit so einem schicken Gelenkbus zu fahren.« Danny hätte seinen Großvater fast groß angestarrt. »Ach?« Er zuckte mit den Schultern. »Dave hat alles ganz cool aufgenommen und mich ziehen lassen. Es ist also alles gut gelaufen.« »Ein Kinderspiel.« »Wohin gehen wir jetzt?« »Wir müssen ein paar Sachen einkaufen«, erwiderte Fergus leise. »Anschließend suchen wir uns eine Bleibe für die Nacht, ein Versteck. Und dann reden wir über deinen ColonelMeacher-Plan.« Danny lächelte. »Oh, das ist schon geklärt. Elena sucht ihn für uns.« »Was?« Fergus packte Danny am Arm und zog ihn in den Eingang eines Ladens. »Was zum Teufel hast du gemacht?« Danny löste sich aus dem Griff. »Wenn wir uns verstecken müssen, wie du immer wieder betonst, brauchen wir jemanden, der bestimmte Dinge für uns erledigt.« Fergus sah sich um – er wollte nicht die Aufmerksamkeit von Passanten erregen. »Es ist schlimm genug, dass ich dich bei mir habe. Jetzt ziehst du auch noch jemand anders hinein. Beachte meine Anweisungen, wenn du überleben willst.« 135
»Du warst nicht da und deshalb habe ich eine Entscheidung getroffen«, entgegnete Danny scharf. »Und ich ziehe niemanden hinein. Sie will helfen.« »Was hast du ihr gesagt?« »Dass wir Colonel Meacher finden müssen. Elena wird im Internet suchen und zwischen acht und neun Uhr morgens online sein, um Bericht zu erstatten. Ich hielt das für eine gute Idee.« Fergus schob Danny vom Eingang des Ladens fort und sie gingen weiter. »Du musst lernen, Befehlen zu gehorchen. Einsatzsicherheit. Je weniger die Leute wissen, desto sicherer sind wir. So gehen wir vor, kapier das endlich.« Er griff in die Tasche, holte einen Zettel hervor und gab ihn Danny. »Was ist das?« »Eine Einkaufsliste. Vielleicht kriegst du wenigstens das richtig hin. Besorg uns das Zeug auf der Liste.« Danny machte sich mit zwei Zwanzig-Pfund-Noten und der Liste auf den Weg zu einem Spar-Laden, während Fergus ein Geschäft aufsuchte, das Camping- und Skiausrüstung anbot und dank seiner langen Öffnungszeiten den größten Teil seines Umsatzes frustrierten Pendlern verdankte, die von einem Urlaub in der Ferne träumten. Im Spar-Laden trug Danny seine Baseballmütze tief in die Stirn gezogen – er war sich sowohl der beiden Männer hinter dem Tresen als auch der Überwachungskamera bewusst. Die Einkaufsliste war seltsam. Konservendosen und Wasserflaschen waren durchaus verständlich, aber Frischhaltefolie und Feuchttücher? Doch Danny gehorchte dem Befehl und kaufte alles auf der Liste. Und nicht mehr.
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Als sie sich wieder trafen, schlug Fergus einen Weg ein, der vom Bahnhof wegführte und den Eisenbahnschienen folgte. Diese befanden sich dreißig Meter über ihnen, auf einer rußigen Brücke mit großen Bögen aus Backstein. Im Lauf der Jahre waren die Bögen hinten und vorne zugemauert worden, wodurch Geschäftsräume entstanden. In der Nähe des Bahnhofs gab es In-Lokale und schicke Läden, doch es dauerte nicht lange, bis Fergus und Danny die Lichter, den Lärm und die Menschenmengen hinter sich gelassen hatten. »Zähl von hier an deine Schritte.« »Was?« »Zähl sie einfach.« Es begann zu regnen, als sie durch eine schmale, dunkle Straße gingen. Sie war voller Schlaglöcher und an den Rändern hatten sich über Jahre hinweg Abfälle angesammelt. Auf der rechten Seite gab es noch immer erweiterte Bögen. Hoch oben rasselten die Züge ins Pendlerland hinaus. Laster standen an der schmutzigen Straße. Dies war eine andere Welt, mit Geschäften, die nur Bargeld kannten. Hier bemerkte niemand, was in der Nähe geschah. Danny sah Reparaturwerkstätten, Autoradio-Einbaudienste und geschlossene Räume ohne irgendwelche Schilder. Es war eine dunkle, feuchte und bedrohlich wirkende Welt. »Wohin gehen wir?« Dannys Stimme hallte seltsam laut vom hohen Mauerwerk wider. »Das wirst du sehen, wenn wir da sind«, erwiderte Fergus leise. Sie setzten den Weg durch die schmale Straße fort, bis sie einen offenen Bogen mit Holzpaletten erreichten. Ein hand137
gemalter Hinweis an der Wand stellte in Aussicht, dass der Besitzer gutes Geld für mehr davon zahlte. »Hör auf zu zählen und merk dir die Zahl.« »Warum?« Fergus sah ihn nicht einmal an. Er zog Danny hinter einen Container mit flach gepressten Kartons, sah dann zum Bogen und über die Straße. Er beugte sich näher zu Danny und flüsterte. »Ich gehe dort hinein. Wenn du Schreie hörst oder ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin, gehst du zum NT und wiederholst dort die Prozedur, bis wir uns treffen.« Er wartete keine Antwort ab, legte die Schlaf sacke und den übrigen Kram aus dem Campingladen auf den Boden, ging dann zum Bogen und verschwand in der Dunkelheit. Die Minuten verstrichen langsam, während Danny wartete. Er hörte das Rattern der Züge und ein gelegentliches Hupen von den fernen Straßen. Die ganze Zeit über hielt er den Blick auf den Bogen gerichtet, während beständig Regenwasser von seiner Baseballmütze tropfte. Nach zehn langen Minuten, die sich mehr wie eine Stunde anfühlten, kam Fergus aus dem dunklen Bogen. Rasch kehrte er zu Danny zurück und hob die Sachen auf. »Komm.« Sie traten durch den Bogen. Drinnen ging von den Paletten ein starker Geruch nach Holz und Schmiere aus. Es war völlig finster und Danny fühlte sich auf sehr unangenehme Weise an die albtraumhafte Erfahrung im Fluchttunnel des Cottage erinnert. Fergus legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleib still stehen. Wir warten, bis sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.« Nach etwa einer Minute sah Danny die Konturen der Pa138
letten und der Mauern, sogar das Gesicht seines Großvaters. Er nickte, und Fergus begann damit, an den Paletten emporzuklettern. Danny folgte ihm. Sie erreichten das obere Ende eines hohen Stapels und dort blieben nur zwei Meter bis zum Gestein des Bogens. Fergus wandte sich von einer Seite zur anderen, überprüfte verschiedene Blickwinkel und den möglichen Fluchtweg. Als er festgestellt hatte, dass alles in Ordnung war, setzte er sich neben Danny. »Wir übernachten hier. Dies ist unser RR« »Unser was? Kannst du nicht normal reden?« »Ich rede normal, nach meinen Maßstäben, und ich empfehle dir, meine Sprache schleunigst zu lernen. Folgendes sollte dir klar sein: Wenn wir uns wirklich auf die Suche nach Meacher machen, müssen wir so leben. Und es gibt noch andere NER – normale Einsatzroutinen –, die du beachten solltest. Zum Beispiel muss heute Nacht immer einer von uns wach bleiben.« Fergus bemerkte Dannys fragenden Blick. »Um Wache zu halten. Und wenn uns jemand entdeckt, lassen wir alles stehen und liegen und verschwinden von hier. Ich zeig dir den Weg.« Danny folgte seinem Großvater zum hinteren Teil des Stapels, wo dem Bogen vor vielen Jahren eine Rückwand hinzugefügt worden war. Ein Loch erinnerte an ein längst zerbrochenes Fenster. »Steck den Kopf da durch und schau nach rechts«, sagte Fergus. Eine rostige alte Leiter war am Mauerwerk befestigt, führte nach unten und auch nach oben zu den Schienen. »Wenn’s brenzlig wird, klettern wir nach unten und hauen ab, du nach rechts und ich nach links. Anschließend treffen wir uns beim NT Burger King.« Sie kehrten zum vorderen Teil des Palettenstapels zurück, 139
von dem aus sie den Eingang sehen konnten. »Einen möglichen Ruhepunkt muss man vorher genau überprüfen«, sagte Fergus. »Wir hätten hier auch auf Obdachlose treffen können, die sich einen Platz im Trockenen wünschen.« Er nickte in Richtung Eingang. »Achte immer darauf, dass du vom RP aus jeden siehst, der sich nähert, damit du rechtzeitig die Flucht ergreifen kannst. Um zu fliehen, brauchst du einen Fluchtweg, wie den, den ich dir gerade gezeigt habe.« Es gab viel zu verarbeiten, aber Fergus war mit seiner Lektion über SAS-Einsatzweisheiten noch nicht fertig. »Was man zu einem RP mitnimmt, das verlässt ihn auch wieder. Man lässt absolut null Spuren zurück.« Fergus griff in eine große Tragetasche des Campingladens und reichte Danny ein nagelneues Leatherman-Messer. »Ich habe dir noch nie etwas geschenkt und du solltest so ein Messer haben. Pass gut drauf auf. Es heißt nicht umsonst: ›Du bist nur so gut, wie dein Messer scharf ist.‹ Da ist was dran.« »Danke«, sagte Danny. Er untersuchte das Messer, als Fergus ihm einen kleinen Rucksack zuwarf, gefolgt von einem Schlaf sack und einem leeren Wasserbeutel. »Mach es dir gemütlich, wir essen bald.« Danny entrollte den Schlafsack und hob dann den Wasserbeutel. »Wozu ist das?« »Überleg mal. Wahrscheinlich musst du es benutzen, bevor du dich schlafen legst.« Als Fergus den eigenen Schlafsack entrollte, dachte sein Enkel über den Zweck des Wasserbeutels nach, der überhaupt nicht fürs Trinken bestimmt war. Und während er noch darüber nachdachte, fiel ihm etwas anderes ein. »Was ist, wenn … wenn …« 140
Fergus lächelte. »Du hast doch Feuchttücher und Frischhaltefolie gekauft, nicht wahr?« »Alles, was auf der Liste stand.« »Gut. Also lassen wir absolut nichts zurück, was darauf hinweist, dass wir hier gewesen sind.« Er sah zu den Tragetaschen, die Danny mitgebracht hatte. »Sollen wir essen?« Danny war plötzlich der Appetit vergangen. Aber sie aßen. Während die Züge über ihnen dahinratterten, verspeisten sie den Inhalt der Konservendosen und zum Nachtisch Schokoriegel. Als sie fertig waren, packte Fergus die leeren Büchsen, Verpackungen und Flaschen in eine Tragetasche, während draußen Regen auf den Asphalt trommelte. Danny beobachtete, wie sein Großvater alles überprüfte und sich vergewisserte, dass nicht der kleinste Papierfetzen auf ihre Mahlzeit hinwies. »Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagte Danny. »Ich weiß gar nicht, wie ich dich nennen soll.« Fergus zuckte mit den Schultern. »Für Großvater ist es ein wenig spät, und es wäre sowieso keine gute Idee, ebenso wenig wie Fergus. Sprich mich überhaupt nicht mit einem Namen an, wenn es sich vermeiden lässt, aber wenn es unbedingt sein muss, dann nenn mich Frankie. Und ich nenne dich … Derek.« »Derek!«, entfuhr es Danny entsetzt. »Nein, ich will auf keinen Fall Derek heißen!« »Such dir einen Namen aus, der mit D beginnt. Dadurch behält man ihn leichter.« Danny dachte kurz nach. »Dean. Gegen Dean hätte ich nichts einzuwenden.« »Na schön. Dean.« 141
»Da ist noch was«, sagte Danny. Ein Zug donnerte über sie hinweg, der erste seit einigen Minuten – die Rushhour war längst vorüber. Fergus blickte nach vorn zur Öffnung des Bogens, und als er dort niemanden sah, setzte er sich auf seinen Schlaf sack. »Nur zu, frag.« »Wenn wir den Notfalltreffpunkt noch einmal verwenden müssen, soll ich drei Stunden lang jede halbe Stunde vorbeigehen, richtig?« »Ja.« »Und wenn du nach drei Stunden nicht erscheinst? Was bedeutet das? Und was soll ich dann machen?« Fergus nickte. »Es würde höchstwahrscheinlich bedeuten, dass Fincham und seine Leute mich erwischt haben. Wenn das passiert, gehst du nicht zur Polizei, denn die würden dich nur Fincham überlassen. Du wendest dich an die Presse, an eine Boulevardzeitung wie Sun oder Mirror. Und du sagst ihnen alles, was du von mir erfahren hast und was bisher passiert ist. Das wird einen solchen Wirbel machen, dass Fincham nicht wagt, etwas gegen dich zu unternehmen. Schlaf jetzt. Ich übernehme die erste Wache.«
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20 Marcie Deveraux parkte den alten, verbeulten Mazda zwischen einer Reihe von Wagen, die in einem noch schlechteren Zustand waren. Sie schaltete die Scheibenwischer aus und blickte über die Straße zu der heruntergekommenen Wohnsiedlung. Sie sah deprimierend aus, aber das kümmerte Deveraux nicht. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen und war entsprechend gekleidet und ausgerüstet. Sie trug keine Designersachen mehr, sondern Turnschuhe, Jeans und eine schwarze Baumwolljacke. Baumwolle deswegen, weil Nylon Geräusche verursachte. Ihr Haar war in Unordnung, fast zerzaust, und fiel über die Ohren. Auch dafür gab es einen Grund. In beiden Ohren steckten Ohrhörer, unter dem Haar verborgen. Einer war mit dem kleinen Funkgerät verbunden, durch das sie Kontakt mit dem Team hielt. Der andere stand über Bluetooth mit dem Handy in Verbindung, das sie an einer Halsschnur trug und das es ihr gestattete, mit Fincham zu sprechen. Er wollte über alles Bescheid wissen, was Deveraux entdeckte, und sobald sie es entdeckte. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe, als sie die Nike-Tasche auf dem Beifahrersitz kontrollierte und feststellte, dass der Reißverschluss ganz zugezogen war. Anschließend überprüfte sie die Schnur, mit der die Maglite-Taschenlampe an ihrer Jacke befestigt war. Sie musste sicher sein, dass nichts zurückblieb, wenn sie ihre Aufgabe erledigt hatte. Vorn war die Lampe mit schwarzem Klebeband zugeklebt, das nur eine 143
kleine Öffnung aufwies. Sie würde nur wenig Licht brauchen, und je mehr Licht, desto größer war die Gefahr, entdeckt zu werden. Deveraux durfte nichts bei sich haben, was über ihre Identität Auskunft gab, und deshalb vergewisserte sie sich, dass ihre Taschen leer waren. Sie wusste bereits, dass die Taschen nichts enthielten – sie hatte sie vor dem Verlassen ihrer Wohnung geleert –, aber wie üblich verzichtete sie nicht auf eine zusätzliche Überprüfung. Ein Paar kam mit einem tropfnassen Hund vorbei und beide hielten den Kopf gesenkt. Sie sahen nicht in den Wagen, wollten nur nach Hause und aus dem Regen. Deveraux sah ihnen nach, als sie durch die dunkle Nacht eilten, streifte Handschuhe aus transparentem Latex über und war bereit. Die Nachricht, auf die sie wartete, traf wenige Minuten später ein. »Brian hat Moyes komplett im Victory Club. Marcie, bitte bestätigen.« Mick war wegen gesplitterter Vorderzähne in Behandlung und Fran wegen einer gebrochenen Nase, was bedeutete: In dieser Nacht bestand das Überwachungsteam nur noch aus zwei Personen. Sie konnten von Glück sagen, dass Eddie Moyes mit seinem Wagen zum Victory Club gefahren war. Deveraux drückte den kleinen Knopf am Ende des Drahtes, der vom Uhrband zu ihrer Hand führte. »Roger. Marcie ist Foxtrott.« Sie nahm die Tasche, stieg aus und schloss den Wagen ab, bevor sie die Straße überquerte und sich dem Mietshaus mit Eddie Moyes’ Wohnung näherte. Jimmy und Brian waren ihm zum Victory Club gefolgt, behielten ihn im Auge und würden 144
Deveraux Bescheid geben, sobald er den Club verließ. Sie hatte Zeit genug, in die Wohnung zu gelangen und dort alles zu untersuchen. Von außen gesehen, gab das Gebäude nicht viel her. In seinen besten Zeiten war Moyes stolzer Besitzer eines LoftAppartements in den Londoner Docklands gewesen. Jetzt konnte er sich gerade noch die Miete einer einfachen Genossenschaftswohnung im Osten von London leisten. Deveraux ging die Treppe hinauf und sah einen Teenager, der in dem von Müll gesäumten Treppenhaus hockte, das Gesicht über eine Chipstüte gebeugt. Während er atmete, wurde die Tüte größer und kleiner, und der Geruch von Klebstoff stieg auf. Moyes wohnte im ersten Stock. Der Regen hatte die vordere Hälfte des Außenbalkons nass werden lassen, und deshalb ging Deveraux nahe an den Türen vorbei, bis sie Nummer 34 erreichte. Sie wollte keine Feuchtigkeitsspuren in der Wohnung zurücklassen. Die Fenster der Wohnungen, an denen sie vorbeikam, waren vergittert, manchmal sogar die Türen. Die beiden Schlösser der Tür von Nummer 34 hatte sich Deveraux bereits bei einer Erkundungstour um vier Uhr früh angesehen. Das erste war ein normales Yale-Zylinderschloss, das sie innerhalb weniger Sekunden knacken konnte. Um das zweite zu überlisten, brauchte sie etwas mehr Zeit: Es hatte vier Bolzen, die in der richtigen Position sein mussten. Deveraux hatte mit ihrer kleinen Taschenlampe ins Schloss geleuchtet und entschieden, welche Schlüssel sie mitbringen würde. Sie öffnete jetzt die Tasche und entnahm ihr drei Sicherheitsschlüssel an einem Ring. Als sie sich der blauen Eingangstür zuwandte, klang Brians Stimme aus dem einen Ohrhörer. 145
»Bei Moyes keine Veränderung. Noch immer im Victory Club. Fahrzeug steht.« Deveraux musste sich schnell Zugang zu der Wohnung verschaffen. Sie schob den ersten Schlüssel ins Schloss – er funktionierte nicht. Rasch versuchte sie es mit dem zweiten und hatte Erfolg. Der Schlüsselring verschwand wieder in der Tasche, und Deveraux holte ein Objekt hervor, das wie eine klobige Pistole aussah, bei der zwei Spitzen den Lauf ersetzten. Sie schob die Spitzen ins obere Schloss und drückte mehrmals den Abzug. Es rasselte im Schloss und beim vierten Abdrücken gelang die Entriegelung. Deveraux öffnete die Tür. Lautlos trat sie in den dunklen Flur und schloss die Tür hinter sich. Acht Kilometer entfernt im Victory Club beobachtete Eddie Moyes den Barkeeper Harry bei seiner Glasreinigungsroutine. Wie üblich stellte er die sauberen Gläser auf die Theke. Eddie nickte anerkennend. »Sie sind sehr tüchtig, Harry. Und ordentlich.« Harry rückte ein Glas zurecht. »Ich bin immer der Meinung gewesen, dass es ein guter Job ist. Bei der Army haben wir gelernt, die Dinge richtig zu machen.« »Das sehe ich.« Eddie trank aus und stellte sein Glas ans Ende der Reihe. Harry nahm es sofort weg. »Ich trinke das zweite kleine Bier auch noch daraus, Harry«, sagte Eddie, bevor der Barkeeper das Glas dem Abwaschgestell hinzufügen konnte. Kleine Biere trank Eddie nicht gern, aber er hatte schon einmal den Führerschein verloren und wollte nicht riskieren, dass das noch einmal geschah. Deshalb begnügte er sich mit zwei Kleinen, wenn er fuhr. 146
»Sie haben nie aus einem Blechnapf gegessen und sind nie am falschen Ende eines Gewehrs gewesen, oder?« Harry stellte diese Frage, als er das zweite Bier zapfte. Er wusste genau, dass Eddie nie bei der Army oder einem anderen Teil der Streitkräfte gedient hatte. Eddie lächelte, als er den verächtlichen Unterton in der Stimme des Barkeepers hörte. Er hob das Glas, richtete einen bewundernden Blick auf das Bier und trank fast die Hälfte in einem Zug. »Leider nicht, Harry. Aber Sie wissen ja, wie sehr ich die Army bewundere. Und unsere Männer und Frauen, die hier ihren Dienst leisten.« »Ich weiß, dass Sie sich Ihren Lebensunterhalt damit verdient haben, Artikel über sie zu schreiben. Manche davon haben es mit der Wahrheit nicht so genau genommen.« Eddie wollte das Gespräch in eine unverfänglichere Richtung lenken. Er sah sich in der Bar um. Nur zwei andere Gäste saßen zusammen an einem Ecktisch. »Ziemlich ruhig heute Abend, oder?« Der Barkeeper zuckte mit den Schultern und Eddie genoss einen weiteren Schluck. Aber er war schließlich nicht nur zum Biertrinken hergekommen. Fast den ganzen Tag hatte er sich alte Zeitungsausschnitte angesehen und in Notizbüchern geblättert, auf der Suche nach den Details der ursprünglichen Watts-Story Dabei war ihm der Name eines Mannes aufgefallen, mit dem er damals kurz telefoniert hatte, als dem nahe liegenden Ansprechpartner für Kommentare über den Verrat eines SAS-Mannes. Der Mann war Colonel Richard Meacher, Watts’ vorgesetzter Offizier. Eddie glaubte, dass es sich lohnen könnte, noch einmal mit ihm zu sprechen. Im Jahr 1997, als Watts in Kolumbien verhaftet worden 147
war, hatte Meacher die offizielle Linie vertreten und mit den erwarteten Klischees aufgewartet: Watts hatte sein Land und das Regiment verraten; er war der faule Apfel im Fass; das Regiment würde auch weiterhin tapfere Männer hervorbringen, die bereit waren, ihr Leben für die Verteidigung ihres Landes zu geben. Der übliche Kram, sorgfältig formuliert, um die britische Öffentlichkeit zu beruhigen. Aber zu jener Zeit war Meacher der befehlshabende Offizier des Regiments gewesen. Jetzt sah die Sache anders aus. Er befand sich im Ruhestand und war vielleicht bereit, mehr zu sagen, wenn er von Eddie erfuhr, dass sich Watts wieder in Großbritannien befand. »Sie wollten mir gerade von Colonel Meacher erzählen«, sagte Eddie wie beiläufig. Harry putzte auch weiterhin Gläser. »Wollte ich das?« »Kommen Sie, Harry, wir sind doch alte Kumpel. Ich muss mich mit ihm in Verbindung setzen.« Harry stellte das Glas, das er gerade gereinigt hatte, auf die Theke. »Ich würde uns nicht unbedingt Kumpel nennen, Eddie. Und ich sage Ihnen genau das, was ich auch allen anderen sagen würde. Er ist bei uns Mitglied. Und damit hat es sich.« Eddie trank sein Glas aus und stellte es ab. »Dann wünsche ich Ihnen einen guten Abend, Harry. Es war wie immer ein Vergnügen, mit Ihnen zu reden.« Harry nahm das leere Glas, drehte sich um und stellte es in den Geschirrspüler. Eddie blickte auf die Reihen perfekt angeordneter Gläser hinab. Dann lächelte er, schob zwei von ihnen einige Zentimeter beiseite und ging. Marcie Deveraux stand völlig reglos im Flur von Eddie Moyes’ 148
Wohnung. Sie versuchte, einen Eindruck von der Umgebung zu gewinnen, und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nebenan lief ein Fernseher. Eine Frau rief ihren Kindern zu: »Stellt das verdammte Ding leiser!« Deveraux roch die Reste von aufgewärmtem chinesischem Essen. Noch stärker war allerdings der Geruch nach verschwitzten Socken. Lautlos stellte sie die offene Tasche ab, entnahm ihr zwei Schutzhüllen und streifte sie sich um die Turnschuhe. Dann zog sie mit einer Hand den Teleskopstock aus dem Halfter an ihrem Gürtel und löste mit der anderen die Ohrhörer. Sie musste selbst die geringsten Bewegungen hören, denn vor der Untersuchung der Wohnung galt es festzustellen, ob sich niemand darin aufhielt. Moyes lebte allein. Das hatte Deveraux überprüft. Eine Freundin gab es nicht. Offenbar gab es überhaupt keine Freunde. Aber wer auch immer das Pech hatte, sich jetzt in der Wohnung zu befinden, müsste eliminiert werden. Dann würde alles nach einem Einbruch aussehen, bei dem der Einbrecher überrascht worden war. Deveraux hätte beim Verlassen der Wohnung irgendetwas mitgenommen. Der Wagen wäre zurückgeblieben und sie hätte den zuvor festgelegten Fluchtweg benutzt. Das Team hatte an alles gedacht. Deveraux ging los. Sie war gut. Vorschriftsmäßig gut. Zuerst der kurze, dunkle Flur. Langsam. Vorsichtig an der Küche auf der rechten Seite vorbei. Es kam gerade genug Licht von den Straßenlampen durch die schmutzig graue Netzgardine, um zu erkennen, dass sich niemand in dem Raum befand. Zum Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Der 149
dünne Lichtstrahl der kleinen Maglite-Taschenlampe wanderte durch den Raum, während der Regen ans Fenster klopfte. Das Licht erreichte einen Tisch, fiel auf einen PC, einen Fernseher und ein abgenutztes Sofa. Ein Schlafzimmer, das Bad. Leer. Deveraux kehrte zur Eingangstür zurück und schloss sie mit dem Sicherheitsschlüssel ab. Dann holte sie zwei hölzerne Türstopper hervor und klemmte sie unter die Tür. Wenn Moyes den Club unbemerkt verließ und zu seiner Wohnung zurückkehrte, würde alles normal erscheinen, bis er versuchte, die Tür zu öffnen. Dann blieb Deveraux genügend Zeit, Moyes zu erledigen und vielleicht seine Brieftasche zu nehmen, bevor sie sich absetzte. Zwei Schuhe mit hohen Absätzen klackten auf dem Außenbalkon. Eine Frau telefonierte mit ihrem Handy. »Aber es regnet. Kannst du mich nicht abholen?« Deveraux schob sich die kleinen Ohrstöpsel wieder in die Ohren und stellte einen Kontakt her. Sie sprach leise, aber deutlich. Flüstern hätte nur Verwirrung gestiftet und wertvolle Zeit vergeudet. »Dies ist Marcie, alles sicher und komplett.« Brian meldete sich sofort. »Roger, Marcie. Hier keine Veränderung. Moyes noch immer im Club und der Wagen steht.« Deveraux nahm die Tasche und hielt die kleine Taschenlampe zwischen den Zähnen, als sie einen Camcorder hervorholte. Sie nutzte seine Infrarotmöglichkeiten und filmte ihren Weg von der Tür ins Wohnzimmer. Den ganzen Raum zeichnete sie auf, auch den Teppich, bevor sie zum PC ging. Alle Dinge auf dem Tisch wurden aus verschiedenen Blick150
winkeln gefilmt, jeder Zettel, die Gelenkleuchte und der noch halb volle Becher Tee neben der Tastatur. Schließlich legte Deveraux den Camcorder beiseite und holte etwas hervor, das wie ein tragbarer CD-Player aussah. Das Gerät enthielt aber eine externe Festplatte, und es verfügte nicht über einen Kopfhörer, sondern über einen Multikonnektor, der eine Verbindung mit jedem beliebigen Computer ermöglichte. Moyes’ Computer hatte USB-Anschlüsse. Er war ausgeschaltet, aber bei dieser speziellen Trickkiste musste der Computer nicht eingeschaltet sein; mit ihr konnte man auch so herausfinden, was sich auf der Festplatte des Computers befand. Deveraux verband das Gerät mit dem PC und hörte kurz darauf das leise Summen der Speicherplatte. Mit diesem kleinen Helfer war es möglich, jede Firewall und jeden Passwortschutz zu durchbrechen, mit dem Moyes seinen Computer ausgestattet hatte, und dann wurde der Inhalt seiner Festplatte auf den Datenträger kopiert. Fünf kleine rote Lichter würden nacheinander aufleuchten und auf den Fortschritt des Downloads hinweisen. Das Gerät begann mit der Arbeit und Deveraux wandte ihre Aufmerksamkeit den anderen Dingen auf dem Tisch zu. Eddie Moyes ging nicht so umsichtig vor bei seiner Suche nach Informationen. Er nutzte einfach jede Möglichkeit, um zu erfahren, was er wissen musste, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. Der Barkeeper Harry hatte nur wenig verraten, aber es genügte. Er hatte bestätigt, dass Meacher Mitglied des Victory Club war, und mehr brauchte Eddie nicht. Er kannte den Weg zum Büro. Die Tür war nicht abge151
schlossen und Eddie trat auf leisen Sohlen ein. Die Mitgliederlisten waren im Computer gespeichert, aber Eddie nahm an, dass es auch Ausdrucke als Sicherungskopien gab. Er hatte richtig vermutet und fand sie in einem Aktenschrank, wohl geordnet und alphabetisch sortiert. Es hätte kaum einfacher sein können. Eddie suchte unter »M« und nahm den mit Meacher, Richard Col. beschrifteten Aktendeckel heraus. Er lächelte und holte ein altes Notizbuch hervor, das ihm damals viel eingebracht hatte. Juli 1997 – SAS-Verräter Watts stand in Eddies krakeliger Handschrift auf dem Umschlag. Dieses Notizbuch hatte er damals bei seinen Recherchen der ursprünglichen Fergus-Watts-Storys benutzt. Es enthielt auch seine Notizen über das kurze Telefongespräch mit Meacher, das er damals geführt hatte. Eddie schrieb Adresse und Telefonnummer auf die Rückseite des Notizbuchs und verstaute den Aktendeckel wieder im Schrank. Er war sehr zufrieden mit sich selbst. Und hungrig. Deveraux las alte Zeitungsartikel über Fergus Watts, viele von Eddie Moyes verfasst. Doch Neues erfuhr sie nicht. Nach der Lektüre eines jeden Artikels legte sie die Papiere genau so hin, wie sie sie vorgefunden hatte. Die Speicherplatte drehte sich noch immer und nahm Daten aus dem PC auf. Deveraux klappte ihr Handy auf und wählte. Fincham meldete sich sofort. »Was haben Sie gefunden?« »Nichts Nützliches. Nur Ausdrucke mit Online-Informationen und alte Zeitungsausschnitte. Vielleicht erfahren wir mehr aus dem Download und …« 152
Brians Stimme kam aus dem anderen Ohrempfänger. »Achtung, Achtung. Moyes ist Foxtrott vom Victory Club.« Deveraux hatte keine Zeit mehr für Fincham. »Er ist in Bewegung. Ich muss Schluss machen.« Sie schaltete das Handy aus und kontaktierte Brian. »Marcie braucht mehr Zeit. Ich hab erst zwei Lichter.« »Roger. Brian Foxtrott.« Eddies blauer verrosteter Sierra parkte zwei Straßen vom Club entfernt. Als er langsam zu dem Wagen schlenderte, war ihm Brian ein ganzes Stück voraus. Jimmy übernahm die Beschattung vom Auto aus. »Jimmy hat Moyes. Noch immer Foxtrott in Richtung Wagen.« Brian war bereits beim Sierra. Er holte sein LeathermanMesser hervor, steckte es ins Ventil des nächsten Vorderreifens und hörte, wie Luft entwich. Der Reifen war platt, bevor Moyes um die Ecke kam, und Brian richtete sich auf und ging fort. In der Wohnung betrachtete Deveraux ihre Videoaufnahmen von den Dingen auf dem Schreibtisch und vergewisserte sich, dass alles wieder an der richtigen Stelle lag. Dann filmte sie vor sich selbst, als sie zurückging, in den Flur und ins Schlafzimmer. Brian meldete sich. »Brian hat Moyes. Er nähert sich dem Wagen und hat den platten Reifen noch nicht bemerkt.« Deveraux filmte die Kommode mit der Taschenlampe im Mund. Es lag nichts Interessantes darauf, nur einige Tankquittungen und eine überfällige Gasrechnung. Sie öffnete eine Schublade, sah einen Stapel benutzter Re153
porter-Notizbücher und nahm die obersten beiden. Ihre Aufschriften lauteten: Nov. 1995: Fußballskandal und März 1999: Gebrauchtwagenschwindel. »Moyes tritt gegen den Wagen, er hat den Platten entdeckt. Öffnet jetzt den Kofferraum. Wie läuft es, Marcie?« »Ich warte. Bin im Schlafzimmer.« Die Reifenpanne gab Marcie wertvolle Zeit. Vorsichtig holte sie die Notizbücher hervor, filmte ihre Aufschriften und legte sie in der richtigen Reihenfolge zurück, bevor sie zum Kleiderschrank ging, um in Jacken- und Manteltaschen nachzusehen. »Moyes zieht jetzt die letzte Schraube an. Ist fast mobil.« Deveraux wurde nicht nervös, obwohl sie wusste, dass die Zeit immer mehr drängte. »Marcie, Roger. Bin noch immer im Schlafzimmer.« Sie erreichte die Schlafzimmertür und sah sich noch einmal um. Der Teppich hatte dichten Flor, in dem einige Fußabdrücke zurückgeblieben waren. Marcie kehrte ins Zimmer zurück und strich die betreffenden Stellen mit der Hand glatt. »Achtung, Achtung. Motor startet, Moyes ist mobil in Richtung Hauptstraße und blinkt rechts. Hol mich schnell ab, Jimmy.« Deveraux hörte, wie Jimmy Gas gab, als er sich übers Netz meldete. »Bin gleich da.« Marcie ging wieder ins Wohnzimmer und trat zum PC, als Jimmy ruhig die Verfolgung schilderte. Er befand sich zwei Wagen hinter Moyes. 154
»Brian ist komplett. Jimmy hat Moyes. Biegt nach rechts auf die Hauptstraße. Offenbar will er nach Hause. Bestätigung, Marcie.« »Marcie hat drei Lichter.« »Roger, Marcie. Ich schätze, er braucht noch zehn Minuten für die Heimfahrt.« Deveraux untersuchte die Küche. Sie fand dort nichts, was ihr etwas nützte, und der Geruch trieb sie ins Wohnzimmer zurück. »Marcie hat vier Lichter.« »Roger. Moyes erreicht jetzt die Wohnsiedlung. Es gibt Blaulicht vor dem Zielblock. Bestätigung, Marcie.« Deveraux huschte zur Küche zurück, durch deren Fenster Blaulicht von der Straße hereinfiel. Sie fragte sich kurz, ob jemand ihren Einbruch bemerkt und die Polizei verständigt hatte. Doch als sie aus dem Fenster blickte, sah sie einen Krankenwagen. Und dann beobachtete sie, wie Eddie Moyes’ Sierra dahinter auf den Parkplatz bog. Jimmy meldete sich wieder. »Halt. Halt. Halt. Er ist jetzt vor dem Ziel. Tür öffnet sich, er steigt aus, schließt jetzt ab.« Davon sah Deveraux nichts mehr. Sie war wieder beim PC. »Marcie hat fünf. Komme jetzt raus.« Schnell, aber ruhig löste sie die USB-Verbindung. Sie kontrollierte, dass sich alles in der Tasche befand und die Maglite-Taschenlampe an der Jacke steckte, und ging dann zur Tür. Jimmy beschrieb Moyes’ Aktionen in allen Einzelheiten. »Moyes wird an der Treppe aufgehalten. Eine Trage wird hinausgetragen. Steht noch immer beim Krankenwagen.« 155
Deveraux zog die Stopper unter der Tür hervor und entriegelte das Schloss. »Achtung. Achtung. Moyes Foxtrott auf der Treppe. Jetzt nicht mehr in Sicht. Er müsste gleich auf dem Treppenabsatz erscheinen. Marcie, Bestätigung.« Deveraux bestätigte, indem sie zweimal die Sendetaste an ihrem Uhrband drückte – die Teammitglieder hörten ein doppeltes Zischen. Auf diese Weise ging es schneller. Sie zog die Schutzhüllen von den Turnschuhen, öffnete die Tür und trat auf den Balkon. Als sie die Tür wieder abschloss, kam Jimmys Stimme aus dem Ohrhörer. »Achtung. Achtung.« Deveraux wusste, was das bedeutete. Sie wandte sich von der Tür ab und ging zur Treppe – es war der einzige Weg nach draußen. Moyes erschien vor ihr am Ende der Treppe. Er sah zum wegfahrenden Krankenwagen hinunter, richtete dann den Blick auf Deveraux, als sie aneinander vorbeigingen. Sie hielt den Kopf gesenkt und setzte den Weg zur Treppe fort. Eddie war froh, wieder zu Hause zu sein. Er hatte Hunger und hoffte, dass der Küchenschrank noch eine Büchse mit Bohnen in Tomatensoße enthielt. Er holte die Schlüssel hervor und schob einen ins untere Schloss. Als er ihn drehte, fragte er sich, warum ihm die Frau, der er eben begegnet war, so vertraut erschien. Er fand keine Antwort. Das Zylinderschloss klickte und er betrat die Wohnung. Als Deveraux das untere Ende der Treppe erreichte, stellte sie fest, dass der Klebstoffjunge nicht mehr da war. Jemand hatte die Polizei gerufen, vielleicht die Frau, die sie von der 156
Wohnung aus auf dem Außenbalkon gehört hatte. Der Junge konnte von Glück sagen. Diesmal. Deveraux erreichte den Mazda, stieg ein und startete den Motor. »Marcie ist mobil. Wir treffen uns im Büro.«
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21 Fergus und Danny verließen ihren RP um Viertel vor acht. Sie packten alles ein, obwohl ihr Plan eine Rückkehr später am Tag vorsah. Sie nahmen den Fluchtweg und kletterten die im Mauerwerk verankerte rostige Leiter hinunter. Zwischen den Bögen und der bereits geschäftigen Hauptstraße erstreckte sich ein offener Streifen, auf dem sich Abfälle aller Art angesammelt hatten. Aber dort schützten die großen Reklametafeln am Straßenrand vor neugierigen Blicken. Um fünf Minuten nach acht fanden sie beim Bahnhof London Bridge einen Internetanschluss und machten sich bereit, Elena online zu kontaktieren. Im Bahnhof wimmelte es von Menschen. Die gleichen müden Pendler, die am vergangenen Abend die Stadt verlassen hatten, drängten nun wieder hinein. »Benutzt du dabei deinen richtigen Namen?«, fragte Fergus, als sich Danny einloggen wollte. »Normalerweise. Bei Elena weiß ich nie, welcher Name mich erwartet. Kommt ganz auf ihre Laune an.« Fergus runzelte die Stirn. Er hatte es Danny noch nicht gesagt, aber wenn es nach ihm ging, sollte dies der erste und letzte Kontakt mit Elena sein. Es wäre ein Fehler gewesen, ihr keine Beachtung zu schenken – sie könnte in Panik geraten und sich verplappern. Doch wahrscheinlich würde es bei diesem einen Kontakt bleiben; es kam ganz auf Elenas Reaktion an. »Nimm einen anderen Namen.« 158
»Niemand kann etwas mitbekommen. Die Verbindung betrifft nur Elena und mich.« »Ich weiß, aber such dir trotzdem einen anderen Namen aus.« »Sie wird lachen, wenn ich mich Dean nenne.« »Dann lass dir irgendetwas anderes einfallen.« Danny überlegte noch, als er online ging. Elena war ihm wie üblich einen Schritt voraus. Oakeley sagt: (08.10.15) Habe Infos Fergus sah Danny über die Schulter. »Oakeley? Was bedeutet das?« Danny lächelte. »Wir haben Gruppen in der Schule. Um Teamwork zu fördern und so weiter. Oakeley ist Elenas Gruppe. Ich verwende den Namen von meiner.« Stockwell sagt: (08.11.19) Gut. Woher? Oakeley sagt: (08.11.49) Internt Who’ s who, leicht. Besorge andere Infos, die ihr braucht, Reisedaten etc. Wie soll ich liefern? Fergus nickte. Er war beeindruckt. »Gut. Sie benutzt ihren Kopf, überstürzt nichts und platzt nicht mit den Dingen heraus.« »Ich hab ja gesagt, dass sie vertrauenswürdig ist.« »Sag ihr, dass ich mit ihr reden möchte.«
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Stockwell sagt: (08.15.24) Mein Freund möchte mit dir sprechen Oakeley sagt: (08.15.35) ok Fergus nahm Dannys Platz an der Tastatur ein. Er schrieb langsam und sorgfältig. Für ihn kam es auf die Information an, nicht auf die Schreibgeschwindigkeit. Stockwell sagt: (08.17.06) Steck alles in einen schwarzen Müllsack, den du mit einem Gummiband schließt. Geh zum Bahnhof London Bridge, dann zum Ende des Bahnhofs in die Magnis Street, mit dem Bahnhof auf der rechten Seite. Geh die Straße hinunter, zwischen 1755 und 1800, also zwischen fünf vor sechs und sechs abends. Er schickte den ersten Teil der Nachricht und wandte sich an Danny. »Wie viele Schritte hast du gestern Abend gezählt?« »Eins vier sieben.« Bevor Fergus erneut schreiben konnte, traf Elenas Antwort ein. Oakeley sagt: (08.17.26) Ich habe von der 24-Stunden-Uhr gehört. Danny lächelte, aber Fergus ignorierte den Hinweis und konzentrierte sich aufs Schreiben. 160
Stockwell sagt: (08.19.11) Zähl die Schritte, während du gehst. Nach 147 Schritten siehst du auf der linken Seite einen Container mit flach gepressten Kartons. Auf der rechten Seite befindet sich ein Bogen mit Holzpaletten. Wirf den Müllsack in den Container und geh weiter. Sieh dich nicht um und sei nicht nervös. Verhalte dich ganz normal, als wärst du irgendwohin unterwegs. Stell dir vor, du würdest eine Rolle spielen, aber übertreib es nicht mit der Schauspielerei. Verstanden? Oakeley sagt: (08.19.24) Ich werde mir alle Mühe geben ☺ Fergus sah Danny an. »Was heißt das?« Danny lachte. »Sie zieht dich auf.« Auch diesmal ging Fergus nicht auf Elenas Sarkasmus ein. Stockwell sagt: (08.20.43) Geh weiter bis zu den Häusern am Ende der Straße und dann nach Hause. Achte darauf, dass der Müllbeutel gut zugeschnürt ist, damit kein Regenwasser hineingerät. Das ist alles. Und danke. Fergus sorgte dafür, dass Danny offline ging, bevor Elena Fragen stellen konnte. Sie hatte alle Informationen, die sie 161
brauchte, und es wurde Zeit, dass er mit Danny weiterkam. »Mir hast du nie für irgendetwas gedankt«, sagte Danny, als sie den Bahnhof verließen. Fergus sah seinen Enkel nicht an. »Ich warte noch darauf, dass du etwas richtig machst.« Er sah nicht das V-Zeichen, das Danny hinter seinem Rücken machte. »Diese Elena …«, sagte Fergus beim Gehen, »… ist also ein echter Computerfreak, wie?« »Ja«, bestätigte Danny. »Das könnte man so sagen.«
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22 Eddie Moyes hatte ein Frühstück bestellt. Ein großes. Zweimal Eier, Schinken, zwei Würstchen, Bohnen, Pilze und drei Portionen Brot und Butter. Er zog Brot und Butter gerösteten Brotscheiben vor, denn damit konnte man Eigelb, Bohnen und Tomatensoße besser aufstippen. Eddie nutzte die Wartezeit zum Arbeiten. Sein halb voller Becher Tee stand auf einem Tisch neben dem Münzfernsprecher in einer Ecke des Cafés. Das Notizbuch von 1997 lag auf einem Regal unter dem Telefon, und er schrieb, während er sprach. Er benutzte die restlichen Seiten des Notizbuchs, das er bei den ersten Storys verwendet hatte; dadurch konnte er schnell nachsehen, wenn es notwendig wurde. Eddie Moyes war kein Narr. Dazu war er zu lange im Geschäft. Er versuchte, Fergus Watts zu finden, und er wusste, dass andere ebenfalls nach ihm suchten, vermutlich Angehörige des MI5 oder MI6. Inzwischen durfte diesen anderen klar sein, dass er ebenfalls an der Jagd teilnahm. Den Sicherheitsdiensten entging so etwas nicht sehr lange. Deshalb, nur für den Fall, war Eddie vorsichtig. Dieser Anruf war wichtig, und er hielt es für besser, ein öffentliches Telefon zu benutzen und nicht sein Handy. Und Eddie hatte Glück. Es war nicht ganz das gewünschte Ergebnis, aber er kam voran und schrieb schnell. »Segeln? … Nein, mich kriegt man nicht einmal in ein Ruderboot in einem Park … Ja, ich habe verstanden, die Morgenflut … Sie ha163
ben mir sehr geholfen, Mrs Meacher, vielen Dank … Also übermorgen … Ja, ich rufe vorher an … Auf Wiederhören.« Er legte mit einem zufriedenen Lächeln auf. Und dann kam sein Frühstück. Er genoss seine Lieblingsmischung von Eigelb und Würstchen, als sich die Tür öffnete und eine junge Frau hereinkam. Eddie bemerkte die blauen Flecken in ihrem Gesicht, schenkte ihr aber kaum Beachtung. Menschen aller Art besuchten das Café, und für gewöhnlich hatten sie eine Geschichte zu erzählen, wenn sie jemanden fanden, der ihnen zuhörte. Alle Tische waren besetzt, und deshalb war Eddie nicht überrascht, als er kurze Zeit später von seinem Teller aufsah und feststellte, dass die Frau mit einem Becher Tee in der Nähe stand. Sie lächelte. »Sie lassen es sich offenbar schmecken.« Eddie schluckte den Rest des Würstchens hinunter. »Hier bekommt man immer ein gutes Frühstück.« »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich setze?« »Ganz und gar nicht«, sagte Eddie, nahm die letzte Scheibe Brot mit Butter und begann mit dem Aufstippen. Es dauerte nicht lange, und die junge Frau war so höflich, nicht hinzusehen, bis er fertig war. Eddie hatte die Mahlzeit genossen. Jetzt war er satt, zum Platzen voll, wie er es nannte. Er griff nach dem Becher und trank den Rest Tee. Als er ihn abstellte, fühlte er den Blick der jungen Frau. Er lächelte. »Essen Sie nichts?« Sie erwiderte das Lächeln und berührte vorsichtig ihr Gesicht. »Derzeit fällt mir das ein bisschen schwer.« »Oh, ja, tut mir Leid. Tja, mir sind die Prellungen auch aufgefallen. Ein Unfall, nehme ich an?« »Mhm. Bin gegen eine Tür gelaufen.« 164
Natürlich bist du das, dachte Eddie. Diese Erklärung hatte er tausendmal gehört. Aber was auch immer geschehen war, es ging ihn nichts an. Wenn die junge Frau einen gewalttätigen Freund hatte – es war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass sie keinen Ehering trug – und sich von ihm schlagen ließ, dann war das ihre Sache. »In Wirklichkeit steckt mein Freund dahinter«, sagte sie leise. »Ich weiß gar nicht, warum ich ihn schütze.« O nein, dachte Eddie. Eine Schwätzerin. Aber er war gut gelaunt und hatte es nicht eilig. Wenn sich die junge Frau etwas von der Seele reden wollte, war Eddie bereit, ihr zuzuhören. »Sie sollten nicht bei ihm bleiben. Bei meiner Arbeit habe ich solche Dinge zu oft gesehen.« »Wirklich? Was sind Sie, Sozialarbeiter oder so?« Eddie lächelte. »Wohl kaum. Ich bin Reporter.« Die junge Frau sah ihn mit großen Augen an. »Echt? Oh, das muss aufregend sein. Kümmern Sie sich um Mordfälle und so?« »Nun, ich kümmere mich nicht darum«, erwiderte Eddie und lachte kurz. »Ich berichte über sie. Ich berichte über viele Dinge.« Eddies Notizbuch lag auf dem Tisch und die junge Frau blickte darauf hinab. »Ich hatte mich schon gefragt, warum Sie ein Notizbuch dabeihaben.« Eddie nahm es und schob es in die Manteltasche. »Sie sind sehr aufmerksam«, sagte er mit einem Lächeln. »Sie gäben eine gute Reporterin ab.« Vierzig Minuten später saß die Frau in ihrem Wagen, holte ihr Handy hervor und wählte eine Nummer. Es klingelte dreimal. 165
»Ja?« »Sie hatten Recht, er hat das fehlende Notizbuch bei sich. Es trägt die Aufschrift: Juli 1997: SAS-Verräter Watts.« »Ausgezeichnet, Fran. Gute Arbeit. Wo ist er jetzt?« »In seiner Wohnung, mit allen Tageszeitungen. Scheint für eine Weile daheim bleiben zu wollen.« »Was ist mit den Prellungen und der Nase?« »Tut weh. Ich kann es gar nicht abwarten, unserem Freund Watts noch einmal zu begegnen. Hat Mick sich gemeldet?« »Ja. Er kommt später zu Ihnen, wenn die Schwellung ein wenig nachgelassen hat.« Fran lächelte. »Es ist seine eigene Schuld – er hätte die Beine zusammenhalten sollen. Was ist mit dem Chef? Ist er sauer auf uns, weil wir Watts zum zweiten Mal verloren haben?« »Er ist nicht sehr glücklich, Fran, aber Ihre Informationen sollten ihn davon überzeugen, dass die Wohnungskontrolle gestern Abend keine Zeitverschwendung war. Warten Sie, bis ich mich wieder bei Ihnen melde.« Fran unterbrach die Verbindung. Es stimmte, George Fincham war nicht sehr glücklich, und er würde so lange nicht sehr glücklich sein, bis Fergus Watts endlich eliminiert wäre. Marcie Deveraux hingegen war ganz und gar nicht unzufrieden mit der Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelten.
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23 »Deine Freundin …« »Sie ist einfach nur eine Freundin. Wir sind nicht zusammen.« »Na schön, einfach nur eine Freundin. Sie hat mein Handy lokalisiert?« »Ja, und es war ihre Idee.« »Könnte sie noch mehr leisten? Wäre sie imstande, Telefongespräche abzuhören?« »Das bezweifle ich. Warum?« »Wir brauchen Informationen, Danny. Wenn wir irgendwie herausfinden können, was Fincham macht, gelingt es uns vielleicht, ihm einen Schritt voraus zu sein.« Sie waren auf dem Rückweg zum Ruhepunkt. Ein langer Tag lag hinter ihnen. Nach dem Online-Gespräch mit Elena konnten sie nicht zum RP zurückkehren, weil sich in der Nähe Leute aufhielten, und deshalb meinte Fergus, dass sie sich für eine Weile trennen sollten. Finchams Team suchte nach ihnen beiden. Zusammen. Einzeln erregten sie weniger Aufmerksamkeit. Er gab Danny etwas Bargeld und wies ihn an: »Halt den Kopf unten und rede mit niemandem.« Sie vereinbarten, sich später am üblichen Ort zu treffen. Danny befolgte die Anweisungen. Er wanderte umher, aß mittags eine Pizza und sah sich am Nachmittag einen Film an. Fergus trank viel Kaffee und ging später zweimal am Bogen vorbei. Dort fand keine große Aktivität statt. Beim ersten Mal sah er einen Mann, der mit einem Gabelstapler Paletten 167
hin und her transportierte, während sein Kollege an der Mauer lehnte und Tee trank. Beim zweiten Mal, kurz nach halb fünf, beobachtete er, wie die beiden Männer Feierabend machten. Bei den anderen Bögen geschah überhaupt nichts und so kehrten Fergus und Danny gegen halb sechs zurück. »Was ist mit E-Mails?«, fragte Danny. »Wie wäre es, wenn sich Elena in Finchams E-Mails hacken könnte?« »Wäre sie dazu in der Lage?« Danny lächelte. »Ich wette, sie würde es gern mal probieren.« Elena begann damit, ihre Schritte zu zählen, als sie die Magnis Street hinunterging. Sie war genau zur richtigen Zeit gekommen. Unter dem einen Arm trug sie einen schwarzen Müllbeutel, fest mit einem Gummiband verschnürt. Der Beutel enthielt eine Generalstabskarte des Bereichs von Norfolk, in dem Meacher lebte. Seine Adresse, die Telefonnummer und sogar der Name der Ehefrau standen gut lesbar auf einem einzelnen Blatt Papier geschrieben. Elena hatte die Karte schon früher am Tag besorgt. Zug- und Busfahrpläne für die Gegend hatte sie aus dem Internet heruntergeladen. Den Abfallcontainer und den offenen Bogen mit den aufeinander gestapelten Paletten bemerkte sie lange vor dem Ende des Zählens, aber sie zählte trotzdem weiter. Als sie den Container erreichte, warf sie den schwarzen Beutel wie beiläufig hinein, blieb in Bewegung und fragte sich, wo Fergus und Danny waren und ob die beiden sie gesehen hatten. Bevor sie aufgebrochen war, hatte sie in einem Stadtplan von London nachgesehen und sich über den schnellsten Weg 168
zurück zum Bahnhof informiert. Sie bog nach links ab. Elena war nicht besonders ängstlich, aber die düstere, trostlose Straße weckte Unbehagen in ihr. Weit und breit war niemand zu sehen. Zwei ramponierte Pappkartons lagen mitten auf der Straße. Bei einem Gebäude stand die Eingangstür weit auf, doch drinnen sah Elena niemanden. Das war das Problem. Nirgends zeigte sich jemand. Man hätte meinen können, dass dieses Viertel in aller Eile evakuiert worden war. Elena sehnte sich nach der Gegenwart anderer Menschen zurück. Plötzlich trat zehn Meter vor ihr jemand mit gesenktem Kopf aus einer Tür und wandte sich ihr zu. Elenas Anspannung wuchs, und sie machte sich beim Weitergehen bereit, die Flucht zu ergreifen, falls ihr der Unbekannte zu nahe kam. Mit langen Schritten näherte er sich, hielt den Kopf noch immer gesenkt. Als die Entfernung auf weniger als zwei Meter geschrumpft war und Elena loslaufen wollte, hob der Bursche schließlich den Kopf. »Alles klar?« »Danny! Du … du … Idiot!« »Was ist los?« »Du hast mir einen Schrecken eingejagt, das ist los!« Danny verstand nicht, warum sich Elena so ärgerte. »Hast du die Sachen abgelegt?« »Natürlich. Ich hätte den Beutel behalten und dich damit schlagen sollen.« »Jemand hätte dir folgen können, und wir wollten nicht riskieren, dass jemand sieht, wie du die Sachen ablegst. Und er meinte, du würdest vielleicht in Panik geraten, wenn du mich bei dem Container bemerkst.« »Er scheint ja eine tolle Meinung von mir zu haben.« 169
»Mach dir nichts draus, denn mich behandelt er wie einen Fünfjährigen. Wir brauchen noch einmal deine Hilfe.« Sie standen an einem Wagen mit eingeschlagener Windschutzscheibe, während Danny ihr den Plan erklärte, dass sie sich in Finchams E-Mails hacken sollte. »Glaubst du, du kannst das schaffen? Bestimmt ist es eine sichere Site, mit Firewalls und so weiter.« »Inzwischen solltest du es eigentlich wissen: Online gibt es keine absolute Sicherheit. Ich versuche es heute Abend und gebe dir Bescheid, wenn wir morgen früh chatten.« Sie hörten die Schritte nicht, die sich näherten. Sie sahen nichts. Den Angriff bemerkten sie erst, als Danny einen heftigen Stoß gegen den Rücken bekam und der Länge nach zu Boden fiel. Arme schlangen sich um Elena und hielten sie so fest umklammert, dass sie kaum mehr atmen und erst recht nicht schreien konnte. Danny war mit der linken Schulter auf die Straße geprallt und sie schmerzte sehr. Er rollte auf die andere Seite und rechnete damit, zwei muskulöse Geheimdiensttypen zu sehen, die Pistolen auf ihn richteten. Doch es waren nur Jungen. Drei. Allem Anschein nach jünger als er, aber sie sahen trotzdem ziemlich fies aus. Und derjenige, der Elena festhielt, war groß und kräftig. Danny versuchte, auf die Beine zu kommen. »Bleib liegen!«, rief der Junge, der am nächsten stand. Er trat zu. Danny sah den Fuß kommen und spannte die Muskeln, als ihn der Turnschuh am Brustkasten traf. Er versuchte, mit dem Tritt zu rollen, doch es gelang ihm nicht. Erneut durchzuckte ihn heftiger Schmerz. »Das Handy!«, rief der Junge, der getreten hatte. »Gib uns 170
dein Handy und alles andere in deinen Taschen. Kreditkarten. Geld. Schnell.« »Ich hab kein Handy«, schnaufte Danny, als sich zwei der Angreifer über ihn beugten, jederzeit bereit, noch einmal zuzutreten. »Red keinen Scheiß, jeder hat ein Handy! Her damit, schnell!« »Es stimmt!«, rief Danny. »Da ist euch schon jemand zuvorgekommen.« Die drei Jungen waren unschlüssig. Sie wechselten Blicke und ärgerten sich, dass andere Gauner das Handy bekommen hatten. »Also gut, die Kreditkarten. Und bestimmt hast du Bares dabei.« »Gib es ihnen, Danny!«, rief Elena und versuchte vergeblich, sich aus der Umklammerung des kräftigen Jungen zu befreien. Er schlang die Arme noch fester um sie. »Tu, was sie sagt, Schwachkopf«, forderte er Danny auf. »Ich fang langsam an, mich zu langweilen, und wenn ich zu dir komme, trete ich dir die Gedärme aus dem Leib.« »In Ordnung, ich geb euch den Kram! Aber lasst uns dann in Ruhe!« »Klingt schon besser«, sagte der Junge, der getreten hatte. Er lächelte. »So ist es vernünftig.« Es war tatsächlich vernünftig. Nach allem, was Danny über solche Situationen gelernt hatte, sollte er sich genau so verhalten, wie es die Angreifer von ihm verlangten. Aber er wollte sich nicht fügen. Er hatte Schmerzen und war zornig, und alles in ihm drängte danach, den Angreifern einen Denkzettel zu verpassen. Ein oder zwei Sekunden lang dachte er daran, das Leatherman-Messer in der Jacke hervor171
zuholen, doch er verwarf die Idee sofort wieder. Damit wäre er einen Schritt zu weit gegangen, und außerdem: Vielleicht waren auch die drei Jungen bewaffnet. »Ich habe das Portmonee in der Jacke«, sagte er und hob die Hand. Die beiden Jungen in seiner Nähe wichen zurück. Danny nutzte die Gelegenheit, zog das Bein an und trat mit ganzer Kraft zu. Er traf den Jungen, der ihn zuvor getreten hatte, dicht unter dem Knie. Er ging zu Boden und schrie: »Du Wichser!« Danny drehte sich und trat nach dem zweiten Ziel. Diesmal traf sein Fuß den Oberschenkel und der Junge taumelte zurück. Danny sprang auf. »Danny, nein!«, rief Elena. »Nein!« Aber sie musste jetzt mitmachen, ob es ihr gefiel oder nicht. Der große Typ hielt sie über dem Boden, doch sein Hirn war offenbar nicht so schnell wie die Hände: Er konnte nicht entscheiden, ob er Elena loslassen und sich Danny schnappen sollte. Elena traf die Entscheidung für ihn, indem sie den rechten Fuß gegen sein Schienbein rammte. Er ließ sie los und quiekte wie ein Schwein. »Lauf, Elena!«, rief Danny. »Lauf!« Sie lief bereits. Danny war an ihrer Seite und zwei der Angreifer folgten ihnen. Der dritte lag noch immer auf dem Boden, hielt sich das Knie und fluchte laut. Es würde eine Weile dauern, bis er wieder laufen konnte. »Wie blöd von dir, wie blöd, wie blöd!«, rief Elena, als sie über die Straße rannten und dann nach links in die nächste bogen. Die Verfolger waren dicht hinter ihnen, holten aber nicht auf, und weiter vorn war schon die Hauptstraße. Dort gab es 172
Leute. Hunderte von Leuten. Genau das, was Elena wollte. Sie waren fast da. Viele Menschen bedeuteten Sicherheit. Fußgänger kamen am Ende der Straße vorbei, blieben stehen und beobachteten die vier laufenden Teenager. Und dann, als sie nur noch wenige Meter von der Kreuzung trennten, kam ein Polizist hinter der Ecke des Gebäudes hervor. Er sah die vier Läufer. Sie sahen ihn. Die beiden Angreifer blieben stehen, drehten sich um und stoben fort. Danny sah Elena an, schüttelte den Kopf und lief die Hauptstraße hinauf fort, während Elena stehen blieb. »Was ist los?«, fragte der Polizist. »Diese Jungs … sie … sie wollten mich überfallen.« Der Polizist blickte den Gestalten nach, die in unterschiedliche Richtungen liefen. Er fragte sich kurz, ob er die Verfolgung aufnehmen sollte, griff dann nach seinem Funkgerät und sah Elena an. »Name?«, fragte er. Elena zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie und lächelte schief. »Ich bin ihnen nie zuvor begegnet.« Der Polizist fand das nicht lustig. »Dein Name.« Danny hörte auf zu laufen, als er in der Menschenmenge untergetaucht war. Es war kein gutes Gefühl, Elena alleine zurückzulassen, aber er hatte keine andere Wahl. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren sein Name und seine persönlichen Daten im Computer der Polizei. Und er wusste, dass Elena nichts verraten würde. Er nahm einen Umweg zurück zum Ruhepunkt und benutzte die Leiter auf der Rückseite. Das gefiel Fergus, aber er war weniger entzückt zu hören, was auf der Straße geschehen 173
war. »Wo hast du nur dein Hirn?«, knurrte er. »Kampf ist immer die letzte aller Möglichkeiten. Man redet sich aus einer schwierigen Situation heraus oder man läuft weg. Von sich aus sollte man nie einen Kampf beginnen.« »Aber ich bin doch entkommen.« »Du bist entkommen. Was ist mit deiner Freundin? Wahrscheinlich sitzt sie jetzt auf irgendeiner Wache und erzählt der Polizei alles über dich!« »Nein, das ist bestimmt nicht so und sie würde auch nichts verraten.« Elena saß tatsächlich auf keiner Wache – sie war auf dem Rückweg nach Foxcroft. Sie hatte dem Polizisten ihren Namen und die Adresse genannt, und er hatte beides überprüft, während sie wartete. Angeblich waren es vier Jungen gewesen, die versucht hatten, sie zu überfallen. Sie gab genaue Beschreibungen der drei tatsächlichen Übeltäter, oder so genau wie möglich, und meinte dann, der vierte Übeltäter »sah ein wenig wie der bekannte Fußballer aus, wie Will Rooney«. »Ich glaube, du meinst Wayne Rooney, nicht wahr?« »Ja, genau den. So sah er aus. Er war nur etwas kleiner. Und dicker. Ich weiß es nicht mehr so genau.« Der Polizist nahm die Beschreibung des vierten Angreifers amüsiert entgegen, schien aber nicht daran zu zweifeln, dass Elena die Wahrheit sagte. Er wies sie darauf hin, dass junge Damen wie sie sich besser von so gefährlichen Gegenden fern halten sollten. Außerdem versprach er, dass sich die Polizei mit ihr in Verbindung setzen würde, wenn sie Verdächtige fand. Dann ließ er sie gehen. Elena kehrte zum London Bridge Bahnhof zurück und wartete fünfzehn Minuten auf einen Zug. Sie wollte nach 174
Foxcroft und zu ihrem Computer zurück. Sie wusste nicht, ob es ihr gelingen würde, sich Zugang zu Finchams E-Mails zu verschaffen, aber sie brannte darauf, sich dieser Herausforderung zu stellen. Die Fahrt nach Hause dauerte weniger als eine halbe Stunde. Als Elena die Eingangstür öffnete, stand Dave the Rave im Flur. »Wir haben auf dich gewartet«, sagte er, ohne zu lächeln. »Jemand möchte dich sprechen.« Elena konnte es kaum glauben. Die Polizei konnte Danny unmöglich gefunden haben, nicht nach der Beschreibung, die sie von ihm gegeben hatte. Vielleicht war es ihr gelungen, einen der drei Jungen zu schnappen. »Komm am besten mit in mein Büro«, sagte Dave und wandte sich der Treppe zu. Elena folgte ihm die Treppe hinauf zum Büro. Die Tür war geschlossen. Dave drehte den Knauf und öffnete sie. »Geh hinein.« »Kommst du nicht mit?« Dave schüttelte den Kopf. »Ich warte hier draußen.« Elena trat ein. Am Fenster stand ein Mann, der einen Anzug trug und nach draußen auf die Straße schaute. Langsam drehte er sich um. »Hallo, Schatz«, sagte er und lächelte breit. »Überrascht?« Elena glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. »Vater!«
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24 Fergus war beeindruckt, als er den Inhalt des schwarzen Plastikbeutels sah. Er erinnerte ihn an das Einsatzpaket, das er im Regiment vor einer Mission bekommen hatte. Elena gab ihm nicht nur die exakte Position des Ziels an, sondern lieferte auch Karten und Informationen darüber, wie man es erreichte. Sie hatten die Dunkelheit abgewartet, bevor sie den Beutel aus dem Container holten, und dann beschloss Fergus, dass sie es lieber nicht riskieren sollten, eine weitere Nacht in London zu verbringen. Sie hatten alles, was sie brauchten, um Meacher zu finden. Es wurde Zeit, sich wieder in Bewegung zu setzen. Im Spätzug nach Norwich ergriffen sie all jene Vorsichtsmaßnahmen, mit denen Danny nach und nach immer vertrauter wurde. Sie achteten auf mögliche Verfolger und saßen in verschiedenen Abteilen, bis Fergus sicher war, dass niemand sie beschattete. Er nickte, als er schließlich Danny gegenüber Platz nahm, schwieg aber. Der Zug ratterte durch die Nacht. Sie sprachen nicht miteinander und hörten Gesprächsfetzen der anderen müden Reisenden. Zum letzten Mal vor Norwich hielt der Zug in dem kleinen Ort Diss. Türen öffneten sich, fielen zu und die Waggons rollten wieder los. Danny stand auf und sah sich um. Sie waren allein. Er nahm wieder Platz und spürte dabei Schmerzen in der linken Schulter, eine unangenehme Erinnerung an die Begegnung mit den drei Jungen. »Du gibst mir den Rat, ich sollte einem Kampf auswei176
chen«, sagte er, rutschte auf dem Sitz umher und suchte nach einer bequemen Position. »Aber du bist beim SAS gewesen. Du bist nicht weggelaufen … Du hast Menschen getötet.« Fergus griff in seinen Rucksack, holte zwei abgepackte Sandwiches hervor und reichte Danny eins. »In der Spezialeinheit geht es nicht in erster Linie ums Töten. Es kommt vor, dass jemand getötet wird, doch meistens geht es darum, Informationen zu bekommen und strategische Ziele zu zerstören. Wenn es zu einem Feindkontakt kommt, dann meistens deshalb, weil er die Mission oder den Fluchtweg blockiert und man keine anderen Möglichkeiten mehr hat.« »Mit ›Kontakt‹ meinst du einen Kampf, oder?«, fragte Danny. Fergus nickte. »Und was dann?« »Dann handelt man mit extremer Schnelligkeit und Gewalt, damit der Gegner vor lauter Angst kaum reagieren kann. Und du bringst ihn um, bevor er dich umbringt.« Fergus lächelte, als er sah, wie Dannys Augen groß wurden. »Du hast gefragt, Danny«, sagte er. »Und wenn du mich jetzt so hinken siehst, fällt es dir vielleicht schwer, mir zu glauben. Aber so wurde ich ausgebildet. Als ich im Regiment war, hätte jeder mir bekannte Soldat lieber ein Loch gegraben und sich darin versteckt, als mit dem Feind in Berührung zu kommen. Es geht nur ums Überleben – und genau das versuchen wir gerade. Willst du nun das Sandwich essen oder mich den ganzen Abend so anstarren?« Danny hatte das Sandwich gerade aufgegessen, als der Zug Norwich erreichte. Es war ruhig im Bahnhof. Läden und Cafés hatten längst geschlossen. Sie fanden einen Internetanschluss, 177
den sie für einen Online-Kontakt mit Elena am nächsten Morgen nutzen konnten, und dann traten sie nach draußen in die Nacht. Die Lichter der Stadt tanzten auf dem dunklen Fluss. Ganze Heerscharen junger Leute strömten laut in Richtung der Clubs und Discos. Und die jungen Frauen, die mit Mikroröcken und hohen Absätzen herumwackelten, machten noch mehr Lärm als die anzüglich spottenden jungen Männer. Fergus sah sich um. »Wir brauchen einen …« »Ich weiß«, sagte Danny. »Einen RP.« Hinter dem Bahnhof gab es einen Großmarkt und dahinter fanden sie einen Bereich mit Mülltonnen voller Plastikverpackungen und leerer Kartons. Das musste genügen. Sie folgten den üblichen Sicherheitsmaßnahmen, bevor sie sich niederließen, und Danny übernahm freiwillig die erste Wache. Er war unruhig und nervös. Und als er mit Schlafen dran war, fand er einfach keine Ruhe. Schließlich nickte er ein, aber wirre Träume plagten ihn und konfrontierten ihn immer wieder mit »Feindkontakten«. Während Danny schlief, arbeitete Elena am Computer. Stundenlang hatte sie dagesessen und sich anhören müssen, wie ihr Vater Dave und Jane mit endlosen Scherzen und Geschichten unterhielt. Joey war genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte und wie ihre Mutter ihn beschrieben hatte. Und noch mehr. Er war so attraktiv, komisch, freundlich und gewitzt wie ein Politiker im Wahlkampf. Er war angeblich aus geschäftlichen Gründen nach Eng178
land gekommen, aber Elena wusste, was das bedeutete: Bei den »Geschäften« ging es darum, ihr möglichst viel von dem Geld abzunehmen, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Natürlich nicht sofort. Dafür war er viel zu schlau. Dieser Abend war erst der Anfang. Ein aalglatter Bursche, dachte Elena, während sie beobachtete, wie Dave und Jane sich von ihm einwickeln ließen. Joey schmeichelte hier und flirtete dort. Kein Wunder, dass sie ihm schließlich das Gästezimmer für einige Nächte anboten. Sein »Aber ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten« klang ehrlich und aufrichtig – er wusste genau, dass Dave und Jane auf dem Angebot bestehen würden. Und das taten sie auch. »Nun, wenn Sie meinen …«, sagte Joey und ließ seinen Worten ein Lächeln folgen, das einer Zahnpastawerbung würdig gewesen wäre. »Dann kann ich umso mehr Zeit mit meiner lieben Tochter verbringen.« Elena hätte kotzen können. Sie verabschiedete sich, so bald sie konnte, mit der Ausrede, sie wäre müde. Erst nach elf kam sie dazu, online zu gehen, und um halb drei war sie es noch immer. Ohne einen Schritt weitergekommen zu sein. Was sie zu Danny gesagt hatte, stimmte vielleicht. Vermutlich war keine Website absolut sicher. Aber sie hatte nicht erwartet, dass es so schwer sein würde, ins Computersystem des Geheimdienstes einzudringen. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass die Firma nicht über das normale Internet erreicht werden konnte. Sie musste die dunklen Ecken des versteckten Deep Web aufsuchen, um die Informationen zu bekommen, die sie brauchte. Sie war schon einmal dort gewesen, nicht als Hacker, son179
dern um Fakten zu finden, um zu erforschen und zu lernen. Elena verfügte noch immer über den Ausdruck einiger Sätze, die sie vor ein paar Jahren einmal online gelesen hatte: Die Suche im Internet ist vergleichbar damit, ein Netz über die Meeresoberfläche zu ziehen. Man kann eine Menge damit fangen, aber es gibt noch viel mehr in der Tiefe und auf dem Meeresgrund. Es existieren mehr als zweihunderttausend Deep Websites und sechzig der größten enthalten mehr als vierzigmal so viele Daten wie das ganze oberflächlich zugängliche Surface Web. Die Worte hatten Elena inspiriert, als sie sie zum ersten Mal gelesen hatte, und diese Inspiration dauerte auch heute noch an. Sie sah ihre Zukunft ganz klar vor sich. Nach der Universität wollte sie sich als Informatikerin einen Namen machen, doch in der Zwischenzeit saugte sie Internetinformationen wie ein Schwamm in sich auf. Und dazu gehörte auch herauszufinden, wie Hacker vorgingen, welche Sprache sie benutzten und welche Methoden sie verwendeten. Sie hatte Websites wie attrition.org besucht, wo Hacker für ihre erfolgreichen Angriffe Anerkennung finden; securityfocus.com, wo sich Details über die Geschehnisse in der dunklen Welt der Hacker und Hinweise darauf finden lassen, wie man sie abwehrt; und sogar cybercrime.gov, wo das amerikanische Justizministerium über seine Erfolge im Kampf gegen Hacker berichtet. Doch jetzt versuchte sie es selbst. Ganz konkret. Es war gefährlich, riskant und illegal, aber Danny und Fergus bewegten 180
sich außerhalb des Gesetzes, und Elena war bereit, das Risiko für sie einzugehen. Zuerst musste sie ihre Online-Identität verbergen, ihre IPAdresse spoofen, ihre Spuren verwischen. Es war relativ einfach, ein Programm zu finden und herunterzuladen, mit dem sie die IP-Adresse tarnen konnte, aber es kostete Zeit, wertvolle Zeit. Und das war erst der leichtere Teil der Übung. Aus Minuten wurden Stunden, als sie in dunklen Ecken nach einem Script suchte, das ihr Root-Zugang zu dem Computersystem gestattete, um das es ihr ging. Sie brauchte ein Script, das von einem erfahrenen Hacker geschrieben worden war, von einem Experten, der vermutlich über die umständlichen Versuche eines Scriptkids wie Elena lachen würde. Um Viertel vor vier hörte sie draußen ein Geräusch. Sie sah zum Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen und stellte fest, dass der Himmel hell zu werden begann. Das Geräusch war Vogelgezwitscher. Elena merkte plötzlich, wie müde sie war, aber sie wollte auf keinen Fall aufgeben. Sie fand erfolgreich eingesetzte Scripts und benutzte sie, ohne Erfolg. Sie kam ihrem Ziel nicht näher. Ihre Augen waren gerötet und brannten, und ihr Gehirn signalisierte, sie sollte aufhören. Elena konzentrierte sich und machte weiter, aber die Müdigkeit dehnte sich in ihr aus, brachte Zweifel und Enttäuschung. »Warum hilft mir niemand dort draußen?«, flüsterte sie, als sie sich bei einer anderen Site einloggte. Das war das Letzte, was Elena noch bewusst wahrnahm, bis der Wecker auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie hatte ihn auf halb acht eingestellt, damit sie rechtzeitig für den Kontakt 181
mit Danny online sein konnte. Sie griff nach dem Wecker, tastete nach dem Aus-Schalter und sah dann auf den Computerbildschirm. Das Gerät hatte sich längst ausgeloggt und war dann in den Standby-Modus gegangen. Nutzlos sagt: (08.07.16) Tml, ich schaffe es nicht Danny sah Fergus an und bemerkte, wie er die Stirn runzelte. »Es war einen Versuch wert.« Stockwell sagt: (08.08.02) Nicht nutzlos, wenn dus nicht schaffst, schafft es niemand Nutzlos sagt: (08.08.31) Das hatte ich auch gedacht. Habs wirklich drauf, was? Ach, und mein Vater ist hier, hat mir gerade noch gefehlt, es ist ein Albtraum »Dafür haben wir keine Zeit, Danny«, sagte Fergus. »Wenn sie nichts für uns hat, machen wir Schluss.« »Aber sie hat ihren Vater seit Jahren nicht gesehen.« »Dann hoffen wir, dass ihr Familientreffen besser läuft als unseres. Komm jetzt!« »Nur noch zwei Minuten, mehr nicht.« Danny wandte sich wieder der Tastatur zu. Stockwell sagt: (08.09.05) Alles ok mit dir? 182
Nutzlos sagt: (08.09.18) Geht so. Ich Versuchs später noch mal. Hab dann vll morgen was für dich »Sag Nein«, drängte Fergus. »Morgen besuchen wir Freunde und können sie nicht kontaktieren. Wenn alles gut geht, bist du übermorgen online.« Stockwell sagt: (08.09.47) Geht nicht. Morgen Besuch. Übermorgen. Muss jetzt los, pass auf dich auf Nutzlos sagt: (08.10.04) Du auch. Tsch Danny loggte aus und zehn Minuten später saßen sie in einem Nahverkehrszug nach dem Küstenstädtchen Cromer. »Warum sind wir hier ausgestiegen?«, fragte Danny, als sie den Bahnhof verließen und sich unter die zahlreichen späten Urlauber mischten. Es war heiß und schwül; ein Sommergewitter schien sich anzukündigen. »Weil es noch zu früh ist, um unser Nachtquartier aufzusuchen. Wenn wir uns die Zeit vertreiben müssen, dann am besten dort, wo viele Menschen sind. Wir brauchen einen ganzen Tag für Meacher, um die Lage zu peilen und dann Kontakt aufzunehmen. Darum kümmern wir uns morgen.« Von der Klippe aus blickten sie auf den Strand hinab, wo mutige Schwimmer in der grauen, kabbeligen Nordsee plantschten. Sie gingen zum Pier hinunter. Dort kündigten große Poster »Stars« an, von denen Danny noch nie etwas gehört hatte, und versprachen einen Abend voller Spaß, Glanz 183
und Aufregung beim »Seaside Special«. Offenbar erfreute es sich bei Cromers älteren Urlaubsgästen großer Beliebtheit, denn beim Kartenverkauf hatte sich eine lange Schlange gebildet. Fergus fand eine leere Sitzbank und bedeutete Danny, neben ihm Platz zu nehmen. Dann holte er die Karte hervor, die Elena ihnen besorgt hatte. »Ich kenne diese Gegend«, sagte er. »Bin als Kind mal hier gewesen. Ich glaube, wir können für heute Nacht einen Ort finden, der nicht weit von Meacher entfernt ist. Er wohnt noch etwas weiter entfernt an der Küste. Sehr abgelegen.« Danny blickte übers Meer. Ein großer Frachter glitt langsam am Horizont entlang. Näher an der Küstenlinie pflügten weiße Segeljachten durch die Wellen. »Was ist los mit dir?«, fragte sein Großvater. »Ich mache mir Sorgen um Elena.« Fergus faltete die Karte wieder zusammen und verstaute sie im Rucksack. »Es ist alles in Ordnung mit ihr. Ihr Vater ist bei ihr, nicht die Polizei. Du solltest dir besser Sorgen um dich selbst machen.« »Kein Wunder, dass du so was sagst. Du hast immer nur an dich gedacht, ohne dich jemals um andere zu sorgen.« Fergus erhob sich und forderte Danny mit einem Wink auf, ihm zum Ende des Piers zu folgen. Sie lehnten sich aufs Geländer. »Du hast Recht, ich hab mich nicht um andere gekümmert. Nicht genug. Nicht bis ich diesmal nach England zurückgekehrt bin.« Danny wandte sich seinem Großvater zu. »Soll das heißen, dir lag etwas an mir?« »Ich wollte wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Ich hab 184
mich erkundigt und herausgefunden, wo du wohnst. Und ich hab dich einige Male gesehen, außerhalb von Foxcroft.« »Aber warum? Was hatte es für einen Sinn, wenn du gar nicht mit mir reden wolltest?« Fergus zuckte mit den Schultern. »Vielleicht werde ich alt. Oder vielleicht wollte ich sehen, dass nicht alles, woran ich beteiligt bin, ein schlechtes Ende nimmt. Ich weiß es nicht. Ich wollte nur sehen, wie es dir geht. Genügt das nicht?« »Nein«, erwiderte Danny zornig. »Nein, es genügt nicht. Wie immer ging es nur um das, was du willst. Was ist mit mir und meinen Wünschen? Daran hast du nie einen Gedanken verschwendet, oder? Und welchen Sinn hat es, mir jetzt davon zu erzählen?« »Wie meinst du das?« »Nun, plötzlich habe ich einen treu sorgenden Großvater, und stell dir vor: Er könnte morgen oder übermorgen tot sein.« Fergus sah zum Frachter am Horizont, der sich kaum vorwärts zu bewegen schien. »Wie wär’s mit Fisch und Pommes? Cromer ist berühmt dafür.« Danny nickte. »Gut«, sagte Fergus. »Anschließend kaufen wir ein bisschen ein und gehen in ein Gartencenter.« »Ein Gartencenter? Hast du vor, Meacher Blumen mitzubringen?« Fergus lächelte. »So was in der Art.«
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25 Elenas Tag war die reinste Hölle. Joey platzte nicht gleich mit der Tür ins Haus. Die ersten Stunden verbrachte er damit, »seine schöne Tochter besser kennen zu lernen«, wie er es nannte. Sie gingen zusammen frühstücken. Auf ein üppiges englisches Frühstück hatte er sich gefreut, seitdem er das Flugzeug aus Nigeria verlassen hatte. Und dann begann seine Hol-dirdie-Rente-Aktion. Joey lächelte, scherzte und meinte immer wieder, wie schön es doch sei, dass sie sich wiedergefunden hätten. Zuerst hätte Elena es ihm fast abgenommen. Sie war gerne mit ihrem Vater zusammen. Sie zeigte ihm Sehenswürdigkeiten, und er erzählte ihr Geschichten von ihrer Familie in Afrika, die sie nie kennen gelernt hatte. Sie war fasziniert und interessiert, so wie er es beabsichtigt hatte. Erst am Nachmittag kam er langsam auf das Thema Geld und ihre Erbschaft zu sprechen. Es freute ihn so sehr, dass ihre liebe Mutter es geschafft hatte, ihr eine gewisse Summe zu hinterlassen, und er bedauerte es außerordentlich, ihr nicht ebenfalls finanziell unter die Arme greifen zu können. »Macht nichts, Vater«, sagte Elena. »Es ist einfach nur schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.« Aber Joey war noch nicht fertig. »Aber ich kann dir helfen, mein Schatz, und ich möchte es auch – es ist meine Pflicht als Vater. Ich habe da eine Investition aufgetan, die dein Geld garantiert verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht. Dort ist es 186
viel besser aufgehoben als bei der Bausparkasse mit ihren armseligen zwei Prozent Zinsen.« Elena war enttäuscht. Wenn er das nur nicht gesagt hätte. Wenn Joey doch nur die weite Reise gemacht hätte, um sie zu sehen. Sie hörte stumm zu, während er von dem Reichtum erzählte, zu dem sie beide gelangen würden, indem sie in das Vorhaben seines Freundes Sonny investierten, gebrauchte Haushaltsgeräte – Kühlschränke, Gefriertruhen und Waschmaschinen – nach Nigeria zu exportieren. »Weißt du, mein Schatz, in Afrika reparieren wir die Geräte, damit sie wieder benutzbar sind. Bei uns ist es nicht so wie hier in England, wo die Leute ihre Sachen nach ein paar Jahren wegwerfen, weil sie einen neuen Stil oder eine andere Farbe möchten. Es ist eine todsichere Sache, davon bin ich überzeugt, mein Schatz. Und glaub mir: Ich würde dein Erbe nicht riskieren, wenn ich Sonny nicht wie meinem eigenen Bruder trauen würde.« Elena nickte und lächelte und erklärte sich schließlich zu einem Gespräch mit Sonny bereit. Joey und sein Freund würden nicht einen einzigen Penny von ihrem Geld bekommen, aber im Augenblick war sie zu müde, zu enttäuscht und zu desillusioniert, um zu widersprechen. »Wie wär’s, wenn wir sofort zu ihm gehen, mein Schatz?«, schlug Joey mit einem breiten Lächeln vor. »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.« »Ja, schon gut.« Elena wollte die Sache einfach nur hinter sich bringen. Sie machten sich auf den Weg. Joey war davon überzeugt, kurz vor dem Vermögen zu stehen, das er seiner Meinung 187
nach verdiente, und Elena wünschte sich, dass er verschwand und nie mehr zurückkehrte. Sonny gefiel ihr genau so, wie sie es erwartet hatte, nämlich überhaupt nicht. Er war laut und überheblich und trug protzigen Goldschmuck. Während des Besuchs wurde er nicht müde, darauf hinzuweisen, wie glücklich sie sich schätzen konnten, dass er ihnen eine so gute Investitionsmöglichkeit bot. Sie wanderten in seinem Laden umher und sahen sich alte Kühlschränke, Gefriertruhen und Waschmaschinen an, die den Eindruck erweckten, dass sie auf einen Schrottplatz gehörten, anstatt wertvollen Frachtraum an Bord eines Schiffes nach Afrika zu beanspruchen. Sonny meinte, dass nicht nur Joey und Elena von seiner Güte profitierten. »Die Menschen in Afrika können froh sein, dass ich ihnen diesen Dienst erweise. Natürlich verdiene ich Geld, ich bin Geschäftsmann, aber ich denke, ich helfe auch den Ländern der Dritten Welt.« »Ja, du bist die Wohltätigkeit in Person«, flüsterte Elena im Stillen. Nach fast einer Stunde konnte sie es nicht mehr ertragen, zupfte an Joeys Ärmel und sagte leise zu ihm: »Ich möchte jetzt gehen, Dad. Sag ihm, dass wir darüber nachdenken.« »Natürlich, Schatz«, erwiderte Joey. »Bist du sicher, dass du genug erfahren hast?« »Ja, mehr als genug.« Es freute Sonny nicht, dass sie gehen wollten. Offenbar hatte er mit einem schnellen Erfolg gerechnet. »Lasst euch nicht zu viel Zeit für eure Entscheidung!«, rief er ihnen nach. »Es gibt noch andere Investoren, die an diesem Geschäft interessiert sind.«
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Die nördliche Küstenlinie Norfolks bildet von den Urlaubsorten Cromer und Sheringham einen langen Halbkreis aus flachen Sand- oder Kiesstränden. Der Wind kommt von den russischen Steppen und hält viele Strandurlauber fern. Wetterunempfindliche Wanderer gehen an den Kiesufern entlang und sehen sich die Seehunde an, die vor Blakeney Point im Sonnenschein liegen. Vogelbeobachter blicken durch Feldstecher und hoffen, einen seltenen gefiederten Besucher der britischen Küsten zu erspähen. Aber die meisten Besucher verlassen die Küste, sobald die Sonne verschwindet. Darauf zählte Fergus. Die Dunkelheit rückte heran, als Danny und er über die schmale Straße gingen, die zum isolierten Strandabschnitt führte, den er als Nachtquartier ausgewählt hatte. Die Straße endete an einem kleinen, leeren Parkplatz. Danny war müde. Ein langer Fußmarsch lag hinter ihnen, vom Bahnhof bis hierher. »Hier gibt es doch gar nichts«, sagte er gereizt. »Das ist es ja gerade«, erwiderte Fergus. »Hier stört uns niemand, und wir sind nahe genug an Meachers Wohnort, um ihn gleich morgen früh zu erreichen.« Aber sie waren nicht ganz allein. Als sie den sandigen Hang vor dem Strand erreichten, bemerkten sie zwei Fahrzeuge, die durch einen Einschnitt im Hang bis auf den Strand gefahren waren. Eins war ein alter Transit, die Seiten mit bunten Blumen bemalt, das andere ein noch älterer, verbeulter VW-Camping-Bus, mit Gardinen an den Fenstern und einem Dach, das sich öffnen ließ, damit man im Innern des Wagens stehen konnte. Unweit der beiden Wagen spielten verwildert wirkende 189
Kinder im Sand und ein langhaariger Typ warf Treibholz in ein Lagerfeuer. »Hippies«, sagte Fergus. »Die stören uns nicht.« Fergus führte Danny den Strand hinunter zu drei Hütten aus dunklem Holz. »Fischer benutzen sie, um ihr Zeug da drin aufzubewahren. Da kommen wir heute Nacht unter.« Danny sah zu den drei Türen, jede von ihnen mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. »Und was ist mit den Schlössern?« Sein Großvater ging zur Tür des letzten Schuppens. Das Schloss war groß und rund und hatte vorn eine schwarze Scheibe mit Zahlen von eins bis hundert. »Zieh einen von deinen Turnschuhen aus.« Danny lernte, die Anweisungen seines Großvaters nicht mehr infrage zu stellen. Während er einen seiner Nike Airs abstreifte, drehte Fergus das Schloss so, dass die glänzende stählerne Rückseite nach oben zeigte. »Schlag mit dem Absatz des Turnschuhs auf das Schloss.« Danny schlug zu und traf nicht nur das Schloss, sondern auch die Hand seines Großvaters. »Weiter so, schlag noch einmal zu.« Der Absatz des Turnschuhs klatschte ein zweites Mal auf das Schloss, dann ein drittes Mal. Als Danny zum vierten Schlag ausholte, öffnete Fergus das Schloss und reichte es seinem Enkel. »Die Federn darin wackeln, wenn man mit etwas Weichem auf das Schloss schlägt. Zum Beispiel mit einem Gummihammer. Oder dem Absatz eines Turnschuhs.« Düsternis erwartete sie im Schuppen. Es roch nach Fisch, und es schien, als würde er nur selten benutzt. Danny bemerkte zusammengerollte Seile, Fischernetze, Bojen und ei190
nen rostigen Anker in einer Ecke. Es blieb reichlich Platz, um beide Schlafsäcke auszurollen. Ihnen stand eine einigermaßen bequeme Nacht bevor.
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26 Eddie Moyes fühlte sich wohl. Er war langsam und gemütlich nach Norfolk gefahren und hatte sich in einem für gute Betten und leckeres Essen bekannten Gasthaus einquartiert. Er war mit seiner Unterkunft sehr zufrieden und jetzt wurde es Zeit fürs Abendessen. Während er an seinem zweiten Bier nippte, versuchte er, sich zwischen einem Steak und dem Teller mit Meeresfrüchten zu entscheiden. Die Speisekarte teilte ihm mit, dass die Meeresfrüchte aus heimischem Fang kamen und in der ganzen Region berühmt waren. Die Versuchung war sehr groß, aber Eddie mochte auch ein dickes, saftiges Steak, rare bis medium, serviert mit Zwiebelringen, Pommes und nur wenig Salat. Er wollte sich nicht von zu viel Grünkram daran hindern lassen, das Steak richtig zu genießen. Schließlich beschloss er, eine kleine Portion der Meeresfrüchte als Vorspeise zu bestellen. Natürlich nicht zu klein. Während der langen Fahrt hatte Eddie gründlich über die Nacht bei Watts’ Cottage nachgedacht. Die Angreifer waren vermutlich Angehörige des MI6 gewesen – die hatten das größte Interesse an Fergus. Aber was er nicht verstand, war die andauernde Stille seither. Warum kam kein offizieller Hinweis darauf, dass ein gefährlicher Flüchtling unterwegs war? Eddies Reporternase roch eine Vertuschung. Wenn das stimmte, könnte sich daraus eine noch bessere Story ergeben. Morgen würde er mit Meacher reden, obgleich Mrs Meacher nicht garantiert hatte, dass ihr Mann für ein Interview 192
zur Verfügung stand. Aber Eddie hoffte, dass er mit Schmeichelei und Überredungskunst ans Ziel gelangen würde. Er verließ sich darauf, dass alle ihren Namen gedruckt sehen wollten, solange sie über jemand anders sprachen. Nach Mrs Meachers Auskunft würde der Colonel mit der Morgenflut zurückkehren, aber Eddie hatte beschlossen, seinen Besuch nicht vorher telefonisch anzukündigen. Das hätte Meacher Zeit gegeben, über die Dinge nachzudenken und vielleicht zu entscheiden, nicht mit ihm zu reden. Eddies neuer Plan sah vor, am Kai auf die Ankunft des Colonels zu warten. Der Pub war angenehm voll, und Eddie saß auf einem Barhocker am Ende der Theke, mit dem Rücken zur Wand, während er auf sein Essen wartete. Ein jüngerer Mann näherte sich mit zwei leeren Gläsern und bestellte zwei kleine Lager. Eddie war zu einem Gespräch aufgelegt. »Nett hier, nicht wahr?« Der Mann lächelte. »Sehr. Sind Sie von hier?« Eddie lachte. »Ich? Nein, ich komme aus London und bin geschäftlich hier, für ein paar Tage.« Er nahm den Zimmerschlüssel mit dem großen Schlüsselanhänger von der Theke. »Aber ich wohne hier. Hab ein hübsches Zimmer bekommen. Mit allem Drum und Dran: eigenes Bad, Doppelbett, Blick auf den Garten.« »Klingt gut.« Der Mann bezahlte die beiden Biere, nickte Eddie zu und ging zu einem Tisch auf der anderen Seite, an dem bereits ein zweiter Mann saß. »Zimmer Nummer drei. Es ist nur ein einfacher Zimmerschlüssel. Leicht.« Finchams Team war Eddie von dem Moment an gefolgt, als er seine Wohnung verlassen hatte.
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Die Nachtluft war schwer, während das Gewitter langsam näher kam. Danny saß im Sand, umgeben von Dunkelheit. Er konnte gerade so die Küstenlinie erkennen und hörte das stete Donnern, mit dem die Wellen auf den Kiesstrand schlugen. Fergus war im Schuppen und überprüfte die Ausrüstung und den Weg zu Meachers Haus, den sie am nächsten Morgen nehmen wollten. Stimmen und Gelächter kamen vom Hippie-Lager weiter entfernt am Strand. Vier Personen saßen dort am Lagerfeuer. Die Kinder hatte man offenbar ins Bett verfrachtet. Der Schein des Feuers wirkte einladend, und Danny beobachtete ihn eine Zeit lang, bevor er aufstand. Zuerst hielt er alle Personen am Lagerfeuer für Frauen, aber als sie ihn hörten und sich ihm zuwandten, stellte er fest, dass zwei von ihnen nicht nur lange Haare hatten, sondern auch Bärte. »Hey, Mann, willkommen«, sagte der nächste Hippie. »Setz dich zu uns.« Danny murmelte ein »Danke« und ließ sich unweit des Feuers im Sand nieder. »Wir haben gesehen, wie ihr gekommen seid«, sagte eine der Frauen. »Ich bin Columbine und das ist Rosemary. Und die beiden Faulenzer da sind Rupert und Clive.« Sie alle lächelten und warteten darauf, dass Danny seinen Namen nannte. »Oh, oh, ja, ich bin Da … Dean.« »Freut uns, dich kennen zu lernen, Dean«, sagten sie alle zusammen, und es klang so, als käme es von Herzen. »Will dein Vater nicht zu uns kommen?«, fragte Rosemary. »Er ist gar nicht mein Vater, sondern mein Onkel Frankie«, sagte Danny. »Er ist müde. Vermutlich schläft er schon.« 194
»Wir machen grade Eintopf«, sagte die lächelnde Rosemary. Ein großer Topf hing an vier Eisenstangen über dem Feuer. »Möchtest du auch was?« »Ja, danke«, antwortete Danny. »Es riecht gut.« »Es ist ein vegetarischer Eintopf«, meinte Columbine. »Super. Ich liebe vegetarisches Essen.« Danny hatte noch nie zuvor in seinem Leben eine vegetarische Mahlzeit gegessen, aber er hatte Hunger, und der Eintopf roch wirklich gut. Wenige Minuten später aß er mit dem gleichen herzhaften Appetit wie die anderen. Er behauptete, sein Onkel und er machten eine Wandertour entlang der Küste, hörte dann zu, wie die Hippies davon erzählten, dass sie im Winter arbeiteten, um im Sommer reisen und relaxen zu können. »Keiner von uns ist besonders wild auf Arbeit«, sagte Rupert, als er Dannys Teller noch einmal füllte. »Wir sehen das nur als notwendiges Übel.« »Ein Übel, das uns letztes Jahr genug eingebracht hat, um bis nach Nordspanien zu kommen«, fügte Clive hinzu. »Diesmal haben wir es nur bis nach Ostengland gebracht.« Er lächelte. »Wir hätten mehr arbeiten sollen.« Es waren freundliche, offene Leute. »Wie lange campt ihr hier schon?«, fragte Danny. »Seit vier Tagen«, antwortete Columbine. Danny bemerkte nicht die leichte Veränderung in ihrem Tonfall, als sie den anderen einen Blick zuwarf und dann fortfuhr: »Aber ich glaube, wir sollten morgen weiterziehen. Der Sommer ist fast zu Ende.« Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Vielleicht lag es am Rauschen der Wellen, vielleicht auch daran, wie er ging: Sie 195
hörten Fergus nicht, als er näher kam. Plötzlich war er da und stand am Rand des Feuerscheins, den Blick auf Danny gerichtet. Worte waren nicht nötig. Danny wusste genau, was sein Großvater dachte. »Sie müssen Frankie sein«, sagte Columbine. »Setzen Sie sich und essen Sie was von unserem Eintopf.« »Nein, nein, danke«, erwiderte Fergus ruhig. »Ich bin nur gekommen, um Dean zu holen.« »Oh, bitte bleiben Sie doch«, drängte Rosemary. »Es ist noch viel im Topf übrig. Dean hat uns von Ihrer Wandertour erzählt.« Fergus schien sich ein wenig zu entspannen, als er begriff, dass Danny keine Geheimnisse ausgeplaudert hatte. »Na schön. Sehr nett von Ihnen.« Er setzte sich ans Feuer, nahm von Columbine einen Teller entgegen und lächelte, als Rosemary zum zweiten Mal die Vorstellung übernahm. »Haben Sie Urlaub?«, fragte Rupert. Fergus zögerte nicht. »Nein, ich arbeite nicht mehr. Früher war ich Mechaniker, aber ich bin vorzeitig in den Ruhestand gegangen, als ich die Gelegenheit dazu bekam.« Nach dem Essen standen Rupert und Columbine auf und gingen zum Transit. Kurze Zeit später kehrten sie zurück, Rupert mit einer Gitarre, an der Greenpeace- und Rettet-dieWale-Aufkleber klebten, und Columbine mit einem Karton. »Für gewöhnlich singen wir nach dem Essen«, sagte sie, entnahm dem Karton ein Tamburin und reichte es Rosemary. Sie griff erneut in den Karton und holte etwas hervor, das wie eine kleine Schildkröte mit Löchern im Panzer aussah, und bot es Danny an. »Kannst du Okarina spielen?« Danny schüttelte den Kopf und stellte erleichtert fest, dass 196
das kleine Musikinstrument in Wirklichkeit aus Ton bestand. Columbine lächelte. »Man hält die Finger auf die Löcher und bläst hinein.« Fergus stand auf. »Wir sollten jetzt besser gehen. Morgen brechen wir früh auf.« Die Hippies versuchten, ihn zum Bleiben zu überreden, aber diesmal bestand Fergus darauf, dass sie gingen. Danny ließ die erwartete Standpauke über sich ergehen. »Was zum Teufel fällt dir ein? Wie oft muss ich dir sagen, dass wir uns absolut immer an die vorgesehenen Einsatzroutinen halten?« »Ich weiß! Ich wollte nur mal mit normalen Leuten zusammen sein.« »Normal? Hältst du die Brüder und Schwestern dahinten vielleicht für normal?« »Sie sind jedenfalls normaler als du.« »Hör mal, Danny«, sagte Fergus verärgert. »Du hast mich zu dieser Sache überredet, und darüber bin ich froh, denn schließlich kann ich nicht mein Leben lang davonlaufen. Aber wir müssen auf meine Weise vorgehen, und das bedeutet: Wir halten uns an die Einsatzroutinen.« Er nahm Dannys Schlafsack und entrollte ihn. »Schlaf jetzt. Ich übernehme die erste Wache.« Danny kroch in den Schlafsack und lag in der Dunkelheit. Die Geräusche des Meeres vermischten sich mit der Musik der Hippies. Einer der Männer sang ein Lied, das endlos zu sein schien, und gelegentlich stimmten die anderen mit ein. Es ging darum, dass sich die Zeiten ändern würden Sie irren sich, dachte Danny. Die Zeiten haben sich bereits geändert. Mick brauchte nur einige Sekunden, um sich Zutritt zu Eddie Moyes’ Zimmer zu verschaffen. Seine Schlüsseltasche war etwa 197
so groß wie ein Terminplaner und enthielt mehrere Hauptschlüssel. Schon mit dem ersten gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Im Zimmer machte er von seiner kleinen Maglite Gebrauch, und es dauerte keine Minute, bis er fand, was er suchte. Er entdeckte das Notizbuch in Eddies Reisetasche. Mick legte das Notizbuch aufs Bett. Er wusste, dass er genug Zeit hatte. Unten behielten Brian und Jimmy Moyes im Auge, während der sich durch sein Steak arbeitete. Fran saß draußen in einem der Fahrzeuge. Unter Micks Sweatshirt steckte ein digitaler Scanner, etwa halb so groß wie ein DIN-A4-Blatt und etwas breiter. Er holte das Gerät hervor, schaltete es ein und drückte die Scan-Taste. Blaues Licht kam aus einem Halbkreis an der Unterseite des Scanners. Mit der freien Hand griff Mick nach dem Notizbuch und begann damit, den Text zu erfassen. Bei jeder Seite zog er den Scanner gleichmäßig von oben nach unten und das Gerät speicherte jedes geschriebene Wort. Während der Arbeit fühlte er ein Stechen im Rücken und in den Zähnen. Er lächelte bei der Vorstellung, auf welche Weise er an Fergus Rache nehmen würde, wenn er ihn schließlich erwischte. Er scannte die letzte Seite und legte das Notizbuch dorthin, wo er es gefunden hatte. Dann ging er auf Sendung. »Mick ist fertig. Verlasse jetzt das Zimmer.« Eddie hatte sein Steak verspeist. Er lehnte sich zurück, leckte sich die Lippen und trank den Rest seines Bieres. Danach war er so zufrieden, dass er zunächst darauf verzichtete, zur Theke zu gehen und sich noch ein Bierchen zu holen. 198
Inzwischen ging es im Pub nicht mehr ganz so friedlich zu. Eine Gruppe Motorradfahrer in Lederkleidung war hereingekommen und wurde immer lauter, insbesondere der große Bursche mit dem bierfeuchten rötlichen Bart. Bier tropfte auf sein schmuddeliges Hell’s-Angels-T-Shirt. Eddie hörte das Klirren von Glas, als die Kellnerin kam, um seine Bestellung für den Nachtisch aufzunehmen. Er runzelte die Stirn. »Solche Typen erwartet man eigentlich nicht in einem so netten Pub.« »Rowdys«, sagte die Kellnerin. »Führen sich auf, als gehörte ihnen das Dorf. Wir haben sie schon mal hinausgeworfen und das könnte sich heute Abend wiederholen.« »Solche Burschen gibt’s leider überall«, erwiderte Eddie und seufzte. »Ich nehme ein Stück von der Schokoladentorte.«
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27 George Fincham und Marcie Deveraux warteten in London, als die gescannten Seiten von Eddie Moyes’ Notizbuch eintrafen. Mick war zum Wagen zurückgekehrt, hatte den Scanner dort mit seinem Blackberry verbunden und die Daten per drahtloser E-Mail verschickt. Fincham las die Seiten schnell und suchte nach Hinweisen darauf, was Eddie Moyes plante und warum er sich in Norfolk befand. Und dann sah er den Namen. »Meacher. Natürlich, Meacher.« »Meacher, Sir?«, fragte Deveraux. »Watts’ vorgesetzter Offizier, als er im Regiment war. Er muss davon erfahren haben, dass Watts als K rekrutiert wurde.« »Ich nehme an, es war eine große Enttäuschung für ihn, als Watts zur anderen Seite überlief.« Fincham antwortete nicht sofort und Deveraux beobachtete ihren Chef aufmerksam. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er erwiderte: »Es gibt hier Sicherheitsaspekte, Marcie, und ich möchte nicht, dass Moyes bei Meacher Staub aufwirbelt. Die Leute vom Regiment halten zusammen. Wer weiß, was er sagen könnte.« »Was könnte er sagen, Sir?« Es war eine direkte Frage, aber Deveraux bekam keine direkte Antwort. Fincham sah sich die gescannten Seiten des Notizbuches an und las die Einträge, die Eddies Gespräch mit Mrs Mea200
cher betrafen. »Wir fahren morgen früh nach Norfolk und reden mit Meacher. Wir erinnern ihn an seine Treuepflicht.« »Wenn Sie das für notwendig halten, Sir.« »Auf jeden Fall.« »Sollten wir dann nicht sofort aufbrechen?« Fincham blickte noch immer auf die Notizen. »Meacher segelt. Er kehrt mit der Morgenflut nach Blakeney zurück.« Er ging zum Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. »Ich bin dort selbst segeln gewesen. Selbst unter günstigen Bedingungen ist die Rückkehr in den Hafen schwierig. Bei Dunkelheit und Ebbe wäre sie äußerst gefährlich. Er riskiert bestimmt nicht, heute Abend noch heimzukehren. Vermutlich liegt er in der Nähe von Blakeney Point vor Anker.« »Und das ist wichtig, Sir? Leider verstehe ich nicht viel vom Segeln.« Fincham wandte sich vom Fenster ab und lächelte. »Es ist sehr wichtig, Marcie. Es bedeutet, dass wir nach Hause fahren und einige Stunden schlafen können. Seien Sie morgen früh bereit.« Deveraux stand auf. »In Ordnung, Sir. Also bis morgen.« Fincham nickte und Marcie verließ den Raum. Er wartete einige Sekunden, nahm dann sein Handy und wählte eine Nummer. Es klingelte zweimal, und dann: »Ja, Sir?« »Sie haben heute Abend gute Arbeit geleistet, Fran.« »Danke, Sir.« »Aber dadurch ist ein ernstes Sicherheitsrisiko zutage getreten. Es gibt noch mehr für Sie zu tun.«
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Die letzten Tischgäste hatten das Hotelrestaurant des Blakeney Quay verlassen. Auch das Pub war leer. Die Lichter bei den Ferienhäusern am Strand gingen aus. Das Team stand bereit, eines der Schlauchboote am Kai »auszuleihen«. Es wäre kein Problem gewesen, einfach ein Boot zu stehlen, den Motor anzuwerfen und durch die kleine Bucht in Richtung Meer zu donnern. Doch nach Finchams Auftrag sollte alles nach einem Unfall aussehen, und deshalb musste das Boot heimlich genommen werden, ohne dass jemand etwas merkte. Der Plan war einfach. Das Schlauchboot hatten sie schon eine Stunde vorher ausgewählt, als die Anlegestellen noch nicht völlig verlassen gewesen waren. Jetzt hielt sich dort niemand mehr auf. Jimmy war noch einmal vorbeigegangen, damit das Team sicher sein konnte, dass sich seit der Auswahl des Bootes nichts verändert hatte. Jetzt stand er im Schatten eines Gebäudes auf der einen Seite des Kais. Mick befand sich auf der anderen Seite, außer Sichtweite. Sie überwachten den ganzen Bereich. Fran und Brian saßen in ihrem Wagen und warteten auf grünes Licht. Jimmy sendete. »Jimmy in Position. Alles klar.« »Mick in Position. Alles klar.« Es wurde Zeit für Fran und Brian. Fran sendete ebenfalls ins Netz. »Fran und Brian Foxtrott.« Sie verließen den Wagen. Die Innenbeleuchtung ging nicht an – es sollten sich keine neugierigen Blicke auf das Fahrzeug richten. Auf dem Rücksitz standen zwei rote Plastikbehälter 202
mit Treibstoff. Das Schlauchboot war mit einem Außenbordmotor ausgestattet, aber kein vernünftiger Bootsbesitzer hätte Benzin darin zurückgelassen. Fran schloss den Wagen ab und dann gingen sie zum Schlauchboot. Es war nicht nötig, dass sie miteinander sprachen oder sich umsahen – Jimmy und Mick sicherten alles für sie. Brian kletterte ins Schlauchboot hinab, drehte sich um und nahm die Benzinkanister von Fran entgegen. Als sie ihm ins Boot folgte, saß er bereits auf der Seite und begann damit, die Treibstoffleitung des leistungsstarken Yamaha-75-Motors mit dem ersten Kanister zu verbinden. Das Schlauchboot war auf die übliche Weise am Kai festgemacht, mit einer Achterleine, aber der Eigentümer hatte es außerdem mit einem Motorradschloss und einer Kette gesichert. Fran machte sich mit ihren Schlüsseln an die Arbeit. Die Maglite-Taschenlampe hielt sie zwischen den Zähnen, damit sie beide Hände frei hatte. Schon nach kurzer Zeit fand sie einen passenden Schlüssel. Das Schlauchboot war fast bereit. Fran musste nur noch den Knoten der Achterleine untersuchen und ihn sich einprägen. Wenn sie das Boot zurückbrachten, musste er genau auf die gleiche Weise geknotet werden. Brian löste vorsichtig die beiden an den Seiten befestigten Paddel, während Fran den Knoten aufknüpfte und dann auf Sendung ging. »Fran meldet Bereitschaft.« »Jimmy ist Foxtrott.« Er hob die Sporttasche zu seinen Füßen auf und ging zum Schlauchboot. Auch Mick trug eine Tasche. 203
»Mick ist Foxtrott.« Sie erreichten den Kai zusammen, kletterten ins Boot und öffneten ihre Taschen. Sie enthielten vier Gore-Tex-Jacken und -Hosen. Fran und Brian drückten das Boot vom Kai fort und begannen zu paddeln, während sich Mick und Jimmy umzogen.
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28 Im ersten Moment glaubte Fergus, das Grollen eines Gewitters draußen über dem Meer zu hören. Aber nur im ersten Moment. Dann begriff er, was wirklich geschah. Das Dröhnen des ersten Motorrades, gefolgt vom Klang weiterer Motoren, ließ ihn erkennen, dass es sich um einen Überfall handelte. Instinktiv griff er nach seinem Rucksack und holte die Pistole hervor, die er seit den Ereignissen bei Foxcroft vor Danny versteckt hatte. Danny beobachtete sprachlos, wie sein Großvater den Oberschlitten ganz zurückzog und dann wieder nach vorn schnappen ließ. Erneut zog er den Oberschlitten zurück, diesmal aber nur wenige Millimeter, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich eine Messinghülle mit einer Ladung schussbereit in der Geschosskammer steckte. Falls er den Abzug betätigen musste, wollte er auf keinen Fall das »Todesklicken« hören, wenn der Schlagbolzen ins Leere traf. Fergus ließ den Oberschlitten in die normale Position zurückgleiten und sicherte die Waffe mit dem rechten Daumen. Er kontrollierte, dass das Magazin fest saß, bevor er sich an der einen Wand des Schuppens bückte und durch eine Lücke zwischen zwei Brettern nach draußen sah, um die Angreifer zu zählen. Danny gab keinen Ton von sich und hielt die Augen fest auf die Pistole in der rechten Hand seines Großvaters gerichtet. Draußen wurde das Donnern der Motorräder noch lauter und vermischte sich mit Stimmen. 205
Dann stand Fergus auf und drehte sich zu seinem Enkel um. Er sah, wie Danny auf die Pistole starrte, erklärte ihm aber nicht, woher sie stammte. Er zog einfach nur das Magazin ab und den Oberschlitten noch einmal zurück. Die Patrone wurde ausgeworfen. Fergus fing sie auf und schob sie ins Magazin zurück. Jetzt war die Waffe sicher und Fergus steckte sie zusammen mit dem Magazin in den Rucksack. »Komm, wir brechen auf.« »Aber was ist los? Was geht da draußen vor?« Fergus rollte seinen Schlafsack zusammen. »Ein Streit. Einer Gruppe von Motorradfahrern scheinen die Hippies nicht so gut zu gefallen wie dir. Uns geht das nichts an.« Danny ging an der Lücke in der Wand in die Hocke und bemerkte fünf Motorradfahrer. Sie fuhren johlend um die beiden Wagen auf dem Strand und riefen spöttische Bemerkungen. Es sah nach einer Szene in einem alten Western aus: Indianer, die im Kreis um Planwagen ritten. Während Danny das Geschehen noch beobachtete, kam einer der Hippies – vermutlich Rupert – aus dem Transit und versuchte, sich trotz des Motorenlärms verständlich zu machen. Es hatte keinen Zweck. Einer der Rocker trat im Vorbeifahren nach Rupert und traf ihn am Oberschenkel. Der friedliche Hippie landete im Sand. Danny wandte sich an Fergus. »Sie haben es auf die Hippies abgesehen. Wir müssen ihnen helfen.« Fergus hatte seinen Rucksack gepackt und stand auf. »Das geht uns nichts an und wir dürfen uns nicht einmischen. Wir verlassen den Strand in der anderen Richtung.« Danny starrte ihn ungläubig an. »Aber wir können sie doch nicht einfach im Stich lassen.« 206
»Das können und werden wir! Nimm deine Sachen und lass uns aufbrechen. Ich hab dir schon gestern Abend gesagt: Man hält sich an den Einsatzplan.« »Du kannst dir deinen Einsatzplan sonst wohin stecken«, knurrte Danny. Bevor Fergus ihn aufhalten konnte, öffnete er die Tür des Schuppens und lief über den Strand. Die Rocker hatten angehalten und waren abgestiegen. Der Bursche mit dem rötlichen Bart roch noch nach dem Bier des vergangenen Abends. »Wir haben euch aufgefordert, von hier zu verschwinden. Wir haben euch gewarnt, aber ihr wolltet nicht hören. Jetzt zeigen wir euch, dass wir keine abgehackten Irren auf unseren Stränden dulden.« Clive stand vor dem im Sand liegenden Rupert, und die beiden Frauen versuchten, die Kinder daran zu hindern, den VW-Bus zu verlassen. »Bitte lasst uns in Ruhe!«, rief Columbine. »Ihr macht den Kindern Angst.« »Dann sollten sie besser im Wagen bleiben, Süße. Und bleibt selbst drin – das hier ist nichts für Zimperliche.« Einer der Rocker sah, wie Danny herankam. Er rief eine Warnung. »He, Roter, da kommt Verstärkung.« Als sich der Anführer umdrehte, war Danny fast da, ohne die geringste Ahnung, was er unternehmen sollte. Er lief einfach weiter, prallte gegen den Bauch des Motorradfahrers und fiel rückwärts in den Sand. Der Rote richtete einen Blick auf Danny, der ihm bedeutete, dass er gleich in den Sand gestampft werden würde. Dann bemerkte der Anführer Fergus, der zu ihnen herübergehumpelt kam. Er lachte. »Da kommt Papis Armee«, sagte er. »Keine Panik! Keine Panik!« Die anderen Rocker fanden das zum Brüllen komisch, aber 207
Fergus lächelte nicht. »Lasst die Leute in Ruhe, Jungs. Sie tun niemandem was zuleide.« »Verpiss dich, Opa«, sagte der Rote drohend. »Solange du noch ein Bein hast, auf dem du stehen kannst.« Fergus seufzte und richtete leise Worte an Danny. »Sei still und mach nichts. Du hast uns schon genug Schwierigkeiten eingehandelt.« Er ging zu Clive und Rupert, noch immer in der Hoffnung, den Roten und seine Bande beruhigen zu können. »Kommt schon, Jungs, ihr hattet euren Spaß. Lasst sie jetzt in Ruhe, okay?« »Ich hab gesagt, du sollst dich verpissen, Alter«, brummte der Rote. »Oder willst du auch eine Abreibung kassieren?« Fergus achtete nicht auf die Drohung und setzte seinen Weg zu Clive und Rupert fort. »Es ist alles in Ordnung, Clive, bringen Sie ihn in den Wagen. Ich helfe Ihnen.« Die beiden Hippies wirkten wie erstarrt. Ihre Blicke huschten zwischen Fergus und dem Roten hin und her. Der Anführer war daran gewöhnt, dass man ihm sofort gehorchte. Er trat auf Fergus zu. »Also gut, du willst es nicht anders. Ich hab dich gewarnt. Für wen zum Henker hältst du dich? Für Batman?« Nur fünf Schritte trennten sie voneinander. Fergus hielt den Kopf gesenkt und spannte die Muskeln in Erwartung eines Schlags. Bei einem Kampf konnte er sich nicht auf sein verletztes Bein verlassen und diesmal fehlte das Überraschungsmoment. Er musste von seiner Schnelligkeit und Erfahrung Gebrauch machen. Er ging weiter und blieb dabei links von dem Anführer. Als sie sich begegneten, packte er ihn mit der linken Hand am Kragen und rammte gleichzeitig die rechte Hand unters Kinn 208
des großen Mannes. Sein Kopf kippte nach hinten, und Fergus hielt ihn fest, während er weiterging. Als er losließ, konnte sich der Rote nicht mehr auf den Beinen halten und fiel. Verblüfftes Schweigen herrschte, als die anderen Rocker überrascht auf die Kämpfer starrten. Dann höhnten und lachten sie. Der große Bursche stand auf und schüttelte sich Sand aus Haar und Bart. In seinen Augen funkelte es, als er zu Fergus lief, der breitbeinig wartete, die Knie gebeugt und die Füße fest im Sand. Er hatte mit dem Angriff gerechnet. Der Rote trat zu, aber Fergus wich einfach zur Seite, packte das Bein mit beiden Händen, drehte es und schickte den Anführer der Bande erneut in den Sand. Als er fiel, versuchte er noch einmal, nach Fergus zu treten, aber er verfehlte das Ziel erneut und sah aus wie eine auf dem Rücken liegende, zappelnde Krabbe. Die übrigen Rocker standen bei ihren Maschinen und genossen das Spektakel. »Du wolltest unbedingt hierher und den Irren eine Lektion erteilen, Roter. Aber du wirst ja nicht mal mit dem alten Penner da fertig.« Der Rote kam wieder auf die Beine und begriff, dass sein Status als Anführer infrage gestellt war. »Du bist tot, Alter! Tot!« Der ungleiche Kampf langweilte Fergus. Er sah seinen schwerfälligen Gegner an und lächelte. »Komm her und gib dein Bestes, mein Junge.« Das entlockte selbst Danny ein Lächeln. Der Rote wankte auf Fergus zu, holte aus und schlug nach seinem Gesicht. Es war ein schlechter Versuch und Fergus musste nicht einmal zur Seite treten. Er hob den linken Arm, wehrte den Hieb 209
damit ab und der Rote kippte durch die Wucht des eigenen Schlags nach vorn. Auf halbem Wege nach unten hielt ihn eine Hand an der Kehle fest und drückte wie ein Schraubstock zu. Er sank auf die Knie, würgte und zerrte hilflos an der Hand an seinem Hals. Fergus sah zu den anderen Rockern, um festzustellen, dass sie noch immer lachten und nicht etwa vorhatten, in die Auseinandersetzung einzugreifen. Dann bückte er sich und flüsterte dem Roten ins Ohr: »Gib auf, Jungchen. Ich möchte dir nicht wehtun. Was würde das denn für einen Eindruck machen, hm?« Die anderen Motorradfahrer wurden unruhig. Ihr Anführer hatte eine Schlappe einstecken müssen, und sie hatten keine Lust mehr, die Hippies anzugreifen. Nacheinander setzten sie sich auf ihre Maschinen und fuhren weg. Als die Motorräder durch den Einschnitt im Uferhang verschwanden, löste Fergus die Hand von der Kehle des Anführers und ließ ihn in den Sand fallen. Er kehrte zu Danny zurück. »Wenigstens hast du dich diesmal an meine Anweisungen gehalten. Komm, lass uns von hier verschwinden, bevor man uns mit Hagebuttentee und Karottenkuchen dankt.« Danny sah zu den Hippies, die ihre Sachen einsammelten und rasch in den Wagen verstauten. Der Rote lag noch immer im Sand und schnappte nach Luft. »Warum hast du ihn nicht sofort fertig gemacht? Warum hast du gewartet, bis er dich angegriffen hat?« »Manchmal ist es besser, Gewalt nicht mit Gewalt zu begegnen«, sagte Fergus, als sie zum Schuppen gingen. »Die anderen Burschen haben gesehen, wie sich ihr Anführer zum 210
Narren gemacht hat, und haben darüber gelacht. Genau das wollte ich. Wenn ich ihn verletzt hätte, wären sie vielleicht bereit gewesen, in den Kampf einzugreifen, und das wäre für mich zu viel gewesen.« Sie betraten den Schuppen und Danny packte seinen Rucksack. »Hast du jemals Angst gehabt?«, fragte er Fergus. Sein Großvater stand in der Tür und sah über den Strand. Der Rote war zu seiner Maschine zurückgewankt und fuhr davon, ein ganzes Stück langsamer als bei seiner Ankunft. »Es ist nicht verkehrt, Angst zu haben. Es ist ganz natürlich und ich habe es immer zugegeben. Bis auf einmal.« »Wann war das?« »Später, Danny. Wir müssen los.« Sie traten nach draußen und Fergus sicherte die Tür wieder mit dem Kombinationsschloss. Als sie über den Strand gingen, begann plötzlich das Unwetter, das sich während der letzten beiden Tage angekündigt hatte. Ein Blitz flackerte über dem Meer und Donner grollte in den dunklen Wolken über ihnen. Danny fühlte die ersten dicken Regentropfen im Gesicht.
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29 Elena schlief, bevor sie den zweiten Versuch unternahm, ins Intranet der Firma einzudringen. Sie war entsetzlich müde und wusste, dass sie hellwach und konzentriert sein musste, wenn sie etwas erreichen wollte. Mit dem Hinweis auf starke Kopfschmerzen entkam sie ihrem Vater und ging früh zu Bett. Die Kopfschmerzen hatte Elena nicht erfunden. Nach dem Treffen mit Sonny hatte Joey sie zum Wahnsinn getrieben mit seinem ständigen Geschwafel, dass sie diese wundervolle Investitionsmöglichkeit so schnell wie möglich nutzen mussten. Sie stellte den Wecker auf halb vier in der Nacht – Elena wollte mindestens vier Stunden online sein können, bevor sich der Rest von Foxcroft rührte. Sie legte den Wecker unters Kopfkissen, damit sein Klingeln die Mädchen in den angrenzenden Zimmern nicht störte. Doch Elena erwachte, noch bevor er klingelte. Sie stellte eine Verbindung zum Internet her, spoofte erneut ihre IP-Adresse und gab sich diesmal den OnlineNamen Gola. Der Klang gefiel ihr. Rasch ging sie zu attrition.org, klickte auf Links und surfte fast eine Stunde lang umher, auf der Suche nach jemandem, der sich die Firma zum Ziel genommen hatte. Ein Hacker namens Red Dawn hatte einige Informationen über seinen Abstecher ins Intranet der Firma bei Vauxhall Cross gepostet, aber es gab kein Script, das Elena einen Weg hinein gezeigt hätte. 212
Elena las die geposteten Hinweise und wollte die Suche woanders fortsetzen, als sich ein Pop-up-Fenster auf ihrem Bildschirm öffnete. Willst du da wirklich rein? Ist ziemlich cool da drin. Schau mal, was Black Star für dich hat! Elena riss die Augen auf. Jemand war da. Jemand beobachtete sie und folgte ihren Versuchen, ins Computersystem der Firma einzudringen. Sie klickte auf den Link, der sie zu Black Stars Seite brachte. Eine Liste gab Auskunft über Leistungen, die von Atomkraftwerken bis zu Ticket-Agenturen reichten – Black Star bezahlte nie, wenn er ein Konzert hören wollte! Elena klickte auf den Link, der Einzelheiten über den Hack bei der Firma versprach. Angeblich hatte Black Star Root-Zugang bekommen, indem er durch die Firewalls getunnelt war. Firewalls ähnelten Brandschutztüren in der realen Welt, und manchmal waren sie nicht sicher geschlossen, sondern nur angelehnt, und dann konnte sich ein Eindringling hindurchtunneln. Wieder erschien ein Pop-up-Fenster auf dem Bildschirm: Willst du es versuchen, Gola? Ich weiß, dass du es willst. Ich hab das Script. J oder N? Elena lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Black Star bot ihr einen Weg hinein an. Sie wusste, dass es keine Möglichkeit gab, mit diesem echten Hacker irgendwo im Deep Web zu reden. Sie musste eine Wahl treffen und drückte die J-Taste. 213
Der Balken einer Statusanzeige erschien und ein Download begann. Black Star schickte ein weiteres Pop-up-Fenster: Probier dieses coole Script aus. Es findet die offene Firedoor für dich und bringt dich da rein, wo du hinwillst. Viel Spaß! Als der Download des Scripts zu Ende war, öffnete Elena Seiten voller Zahlen und Codes. Willst du es abschicken? J oder N? Diesmal zögerte Elena nicht, um zu überlegen. Sie drückte sofort die J-Taste. Nach einer Verzögerung von einigen Sekunden erschien erneut eine Statusanzeige und der Download begann. Denk daran, Gola: Wenn du geschnappt wirst, wartet der Knast. Das Pop-up-Fenster verschwand, als sich der Balken allmählich füllte. Etwa auf halbem Wege hielt die Anzeige an und nichts rührte sich mehr. Elena ließ die Finger von der Tastatur; sie hatte Angst, etwas durcheinander zu bringen, wenn sie jetzt eingriff. Nervös stellte sie sich vor, dass man sie entdeckt hatte und die Polizei bereits zu ihr unterwegs war. Dann meldete sich Black Star wieder.
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Du bist drin, Gola! Möchtest du die Software starten? Elena wusste, was das bedeutete. Eine Firewall war getunnelt worden, und jetzt ging es darum, das Script ins Computersystem der Firma einzuschleusen. Sie drückte J, das Pop-upFenster verschwand, und der Balken füllte sich weiter. Elena sah auf die Uhranzeige am oberen Bildschirmrand. Es war bereits Viertel nach sieben und sie hörte Schritte im Stockwerk über ihrem Zimmer. Ein neuer Tag begann in Foxcroft. Der Balken füllte sich ganz und verschwand. Black Star meldete sich zum letzten Mal. Du hast hohe Privilegien und Root-Zugang, Scriptkid! Ich liebe meinen Job, vergnüg dich dort drin. Ich klink mich jetzt aus. Das Pop-up-Fenster verschwand und Inhaltsverzeichnisse erschienen auf dem Bildschirm. Elena hatte freien Zugang auf eine Site, die zu den sichersten der Welt gehören sollte. Die Versuchung, alles zu erforschen, war fast unwiderstehlich, aber Elena konzentrierte sich auf die Aufgabe, die Danny ihr gestellt hatte. Finchams E-Mails waren leicht zu finden und zu öffnen, aber zuerst hatte es den Anschein, als wäre all die Mühe umsonst gewesen. Fincham war kein großer E-Mail-Nutzer. Elena überprüfte die geschickten Mails und fand dort kaum etwas Interessantes: interne Mitteilungen und Antworten auf Einladungen zu verschiedenen Anlässen, darunter die Zusage zu einem Emp215
fang im Parlament am kommenden Abend. Aber über Fergus Watts entdeckte Elena nichts. Sie sah sich den Inhalt der Inbox an, und auch dort fand sie zunächst nichts, was sie weiterbrachte. Dann öffnete sie eine E-Mail, die Fincham am vergangenen Abend bekommen hatte. Sie enthielt keinen Text, aber einen Anhang. Elena lud die Datei herunter und las die mit schwungvoller Handschrift geschriebenen Worte Juli 1997 – SAS-Verräter Watts. Ganz unten auf der ersten Seite stand ein weiterer Name, mit der gleichen Handschrift geschrieben: Eddie Moyes. Elena scrollte zur nächsten Seite und stellte schnell fest, dass es sich um die gescannten Seiten eines Notizbuches handelte, das dem Reporter gehörte. Seine handschriftlichen Notizen betrafen die ersten Fergus-Watts-Storys. Eine Seite folgte der anderen: Details, verschiedene Ereignisse, Verlautbarungen der Regierung, hervorgehobene Zitate aus unterschiedlichen Quellen. Und jeder Eintrag war mit einem Datum markiert. Elena hatte den Eindruck, dass es sich um Kurzversionen der Artikel handelte, die Danny und sie online gelesen hatten. Sie überflog den Text so schnell wie möglich und versuchte, nichts Wichtiges zu übersehen. Die Aufzeichnungen sprangen von dem Kampf im Dschungel zu dem Ausbruch aus dem kolumbianischen Gefängnis und dann bewegten sie sich auf der nächsten Seite plötzlich in der Gegenwart. Der jüngste Eintrag auf der letzten Seite trug das Datum des vorherigen Tages. Elenas Augen wurden größer, als sie den Namen Meacher sah, seine Adresse und Telefonnummer – all die Details, die sie Fergus und Danny besorgt hatte. Sie las von seiner Segeltour und von der voraussichtlichen Rückkehr am Morgen 216
dieses Tages. Moyes hatte die betreffende Stelle dreimal unterstrichen und geschrieben: »Muss unbedingt da sein!!!« Moyes hatte also vor, mit Meacher zu reden. Aber was schlimmer war, viel schlimmer: Fincham kannte seine Notizen und war vermutlich ebenfalls unterwegs, zu dem gleichen Ort, der auch das Ziel von Fergus und Danny war. Elena verließ das Computersystem der Firma vorsichtig und hoffte, dass sie dort keine verräterischen Spuren hinterlassen hatte. Dann fuhr sie ihr Notebook herunter und eilte aus dem Zimmer. Joey saß im Garten, trank seinen Morgentee und rauchte eine der abscheulichen Zigarren, die er aus Nigeria mitgebracht hatte. »Guten Morgen, mein Schatz«, sagte er und strahlte, als sich Elena nähert. »Gut geschlafen?« »Kannst du fahren, Dad?«, fragte Elena eilig. »Fahren? Sicher kann ich fahren, mein Schatz.« »Ich meine, hast du einen Führerschein?« Joey bedachte seine Tochter mit einem vorwurfsvollen Blick. »Elena, inzwischen solltest du wissen, dass ich nichts Illegales mache.« »Du musst mich nach Norfolk fahren.« »Wie bitte?« Joey erstickte fast an seiner Zigarre. »Das ist in Ostengland.« »Ich weiß, wo Norfolk ist, mein Schatz. Ich hab dort gelebt, falls du dich erinnerst? Aber warum …?« »Mein bester Freund ist in Schwierigkeiten und ich muss ihm helfen. Das Haus ist irgendwo in der Pampa, ich kann also nicht mit dem Zug dorthin. Wir mieten einen Wagen. Ich bezahle, aber wir müssen …« 217
»Langsam, langsam«, sagte Joey und stand auf. »Wir haben noch etwas zu erledigen, Elena. Sonny wartet auf eine Entscheidung und wir können nicht einfach aufbrechen …« »Du kannst das Geld haben!« Joey starrte sie groß an. »Was?« »Du kannst das Geld haben«, wiederholte Elena. »Einen Teil davon. Und du kannst damit machen, was du willst. Gib es aus, investiere es, überlass es Sonny, es ist mir gleich. Aber zuerst musst du mich nach Norfolk bringen.« Joey nahm einen letzten Zug von der Zigarre, ließ sie fallen und trat sie aus. »Ich hole meinen Führerschein.« Donner grollte am Himmel, als Eddie Moyes in dem Hotel oberhalb von Blakeney Quay saß und beobachtete, wie der Regen an die Fensterscheiben klatschte. Seine Laune war auf dem Tiefpunkt. Er war mit einer Magenverstimmung und einem schlimmen Kater aufgewacht, hatte sich aber gezwungen, das Bett zu verlassen und nach Blakeney zu fahren, um auf die Flut und Colonel Meacher zu warten. Die Flut war gekommen, aber Meacher nicht. Eddie wartete und beobachtete die Anlegestellen. Als das Gewitter begann, kehrte er zum Hotel zurück und trank dort den dringend benötigten schwarzen Kaffee. Noch immer kam kein einziges Boot in die Bucht. Eddie hatte die Hände um die Kaffeetasse gelegt. Wieder donnerte es. Er wusste, was schief gegangen war. Meacher hatte vermutlich ein Handy an Bord, und seine Frau hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass bei seiner Rückkehr ein Reporter auf ihn warten würde. Deshalb hatte er vermut218
lich einen anderen kleinen Hafen an der Küste angesteuert, wo er von Mrs Meacher mit dem Wagen abgeholt worden war. Eddie trank den schwarzen Kaffee und arbeitete an Plan B. Er beschloss, zum Haus des Colonels zu fahren und ihm dort vor der Haustür aufzulauern, wenn es nötig werden sollte. Und er würde erst gehen, wenn er alle gewünschten Informationen bekommen hatte. Aber er wollte nicht sofort aufbrechen. Erst brauchte er noch mindestens zwei Tassen schwarzen Kaffee. Und dazu vielleicht ein paar Kekse. Die Scheibenwischer von George Finchams Mercedes bewegten sich mit doppelter Geschwindigkeit. Sie befanden sich bereits in Norfolk. Auf der M11 waren sie gut vorangekommen und hatten dann die A11 durch Cambridgeshire nach Norfolk genommen. In einem Ort namens Brandon wurden sie zum ersten Mal aufgehalten und mussten an einem Bahnübergang warten, als ein Zug kam. Seit dem Verlassen von London hatten sie nur wenig miteinander gesprochen – Fincham zog es vor, sich die ganze Zeit über die Nachrichten von Radio Five Live anzuhören. Das war Marcie Deveraux nur recht. Dieser Job war schwierig und erforderte Fingerspitzengefühl, und je mehr Zeit sie zum Nachdenken hatte, um sich auf alle Möglichkeiten vorzubereiten, desto besser. Das Autotelefon klingelte, als sie Brandon und die letzten Ausläufer des Thetford Forest hinter sich zurückließen. Es war bereits auf die Freisprechanlage umgeschaltet und Fran reagierte sofort auf Finchams knappes »Ja?«. »Wir haben den Auftrag von gestern Abend ohne Proble219
me erledigt, Sir. Die Leiche wurde heute Morgen gefunden und die Polizei geht von einem Unfall aus.« Deveraux sah Fincham an. »Leiche? Welche Leiche?« Fincham nahm die linke Hand vom Steuer und bedeutete der jungen Frau an seiner Seite zu warten. »Und Moyes?« »Ist noch in Blakeney, Sir.« »Gut gemacht, Fran. Bleiben Sie in Bereitschaft. Ich melde mich bei Ihnen.« Der Regen ließ allmählich nach. Fincham beendete das Gespräch und schaltete die Scheibenwischer auf normale Geschwindigkeit. Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet, als er zu Deveraux sprach. »Meacher war ein ernstes Sicherheitsrisiko, ein alter Mann, der zu viel wusste. Wenn Moyes ihn dazu gebracht hätte, Einzelheiten über das Vorgehen von verdeckten Agenten preiszugeben, dann hätte uns das in große Verlegenheit gebracht. Anfragen im Parlament, Enthüllungen in den Zeitungen … Das galt es zu vermeiden.« »Und deshalb haben wir Meacher umgebracht?« Deveraux versuchte, ruhig zu bleiben. »Nur weil er eventuell etwas Falsches gesagt hätte?« Fincham sah sie noch immer nicht an, während er antwortete. »Meacher starb bei einem tragischen Bootsunglück, Marcie.« »Aber Sie hätten mich darauf ansprechen und mich um meine Meinung fragen können, Sir.« Diesmal drehte Fincham den Kopf und sah Deveraux an. Seine Augen blickten kalt und hart. »Ich setze große Hoffnungen in Sie, Marcie, sehr große. Aber ich leite die Abteilung auf meine Weise und ich treffe die Entscheidungen. Vergessen Sie das nicht.« 220
Deveraux blieb still. Es gab viele Dinge, die sie hätte sagen können und die sie gern gesagt hätte, aber ihre Mission war wichtiger. Deshalb schwieg sie und fasste sich wieder, bevor sie sagte: »Sir, wenn Sie wissen, was gestern Abend geschehen ist – warum machen wir dann diese Reise?« »Wir werden Mrs Meacher unser Beileid ausdrücken und dabei feststellen, wie viel sie weiß.« Fincham bemerkte, wie ihm Deveraux einen kurzen Blick zuwarf. »Nein, Marcie, ich rechne, was Mrs Meacher betrifft, nicht mit einem tragischen Unfall. Bitte setzen Sie sich mit Fran in Verbindung. Sagen Sie ihr, dass Moyes nicht mehr beobachtet werden muss. Das Team soll Meachers Haus im Auge behalten – es soll sicher sein, wenn wir es erreichen. Ich möchte dort nicht gestört werden.« Deveraux griff nach dem Telefon. »Und was ist mit Moyes, Sir?« »Um ihn kümmern wir uns später. Wenn er von Meachers Tod erfährt, wird er sich auf die Suche nach Watts konzentrieren, und genau das wollen wir.« Es regnete nicht mehr und die Scheibenwischer quietschten auf trockenem Glas. Fincham schaltete sie aus. »Und dann können wir diese Angelegenheit zu einem zufrieden stellenden Abschluss bringen.« »Ja, Sir«, erwiderte Deveraux ruhig. »Genau.«
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30 Nach der Karte, die Elena beschafft hatte, war die alte Scheune knapp anderthalb Kilometer von Meachers Haus entfernt. Für Fergus war sie der perfekte Ort, um die letzten Vorbereitungen für die Beobachtung des Hauses zu treffen. Das Gewitter war landeinwärts gezogen, aber als Fergus und Danny ihre Rucksäcke öffneten, tropfte noch immer Regenwasser durch die Löcher im Dach. »Wir machen diese Scheune zu unserem neuen Notfalltreffpunkt«, sagte Fergus. »Wenn wir voneinander getrennt werden, kehrst du hierher zurück und wartest sechs Stunden. Wenn ich dann noch nicht da bin, wendest du dich an die Presse. Denk daran. Und kehr nicht nach Foxcroft zurück.« »Im Victory Club bin ich einem Reporter begegnet«, sagte Danny. »Einem gewissen Eddie Moyes. Er hat Artikel über dich geschrieben, als du in Kolumbien warst.« »Geh zu ihm. Aber achte darauf, dass der Bericht in einer überregionalen Zeitung erscheint.« Danny nickte und kramte den Proviant hervor, den sie bei ihrem letzten Einkauf besorgt hatten. »Was soll ich hiermit machen?« »Hol die Marsriegel aus dem Papier und das Frühstücksfleisch aus den Dosen und wickle alles in Frischhaltefolie ein.« Fergus bemerkte Dannys verwirrten Blick. »Wir können nicht einfach zu den Meachers gehen und an die Tür klopfen. Wir müssen genau wissen, wer im Haus ist. Vielleicht steht 222
uns eine längere Wartezeit bevor, und ich bekomme irgendwann Hunger, auch wenn es dir nicht so geht.« »Ja, aber warum die Frischhaltefolie?« »Wegen der Geräusche. Unser Beobachtungsposten könnte dem Haus so nahe sein, dass man es anspucken kann. Deshalb nehmen wir Wasser ohne Kohlensäure in Plastikflaschen mit und keine Dosen, die beim Öffnen verräterisch zischen. Bis heute Morgen sind wir der Gefahr ausgewichen; jetzt begeben wir uns in eine Gefahrenzone. Bisher haben wir reagiert; jetzt agieren wir.« Furcht regte sich in Danny, als er die Bedeutung von Fergus’ Worten begriff. Fergus hingegen wirkte ganz unbesorgt, während er die Ausrüstung überprüfte, die er im Gartencenter und einem Eisenwarenladen gekauft hatte. Er sah auf und merkte, dass Danny ihn anstarrte. »Stimmt was nicht?« Danny zögerte. »Du wolltest mir von der einen Gelegenheit erzählen, als du nicht zugegeben hast, dass du Angst hattest.« Fergus’ Stimme klang ärgerlich, als er barsch erwiderte: »Warum willst du das alles wissen? Wir müssen weiter.« »Weil … weil ich Angst habe.« Fergus verstaute einen Hammer und einen Beutel mit Nägeln im Rucksack. Er nickte. »Ja. Ja, natürlich hast du Angst«, sagte er viel sanfter. »Lass den Kram eine Minute liegen und setz dich hierher.« Es floss weniger Regenwasser an den alten Mauern herunter, als sie sich Seite an Seite auf einem Haufen heruntergefallener Backsteine setzten. »Ich war neunzehn und führte als Gefreiter eine Infanteriepatrouille im südlichen Armagh. Mit meinem Bajonett und dem Helm kam ich mir ziemlich 223
cool vor. Plötzlich begegnete ich hinter einer Ecke einer Gruppe von Maskierten, die einer anderen Patrouille auflauerten.« Fergus schüttelte den Kopf, als er sich an das Chaos erinnerte, das der unerwarteten Begegnung folgte. »Die Ausbildung, die Übungen mit der Waffe, alles weg. Vor lauter Angst machte ich mir fast in die Hose. Und die Terroristen genauso. Einer von ihnen … Ich sah, wie er unter der Maske die Augen aufriss. Ich schoss auf ihn und er schoss auf mich. Wir schossen und schossen, bis er zu Boden ging. Ich habe ihn getötet, aber es hätte genauso gut mich erwischen können.« Danny starrte auf seine Turnschuhe. Er brachte es nicht fertig, seinem Großvater in die Augen zu sehen, während er die grässliche Geschichte zu Ende erzählte. »Nach dem Feindkontakt wollte keiner meiner Kameraden über Angst reden. So sind junge Infanteriebataillone, voller gespielter Tapferkeit. Sie wollten nur vom Kampf hören, vielleicht deshalb, weil sie sich vor ihrer eigenen Angst fürchteten. Ich war damals nicht Manns genug, meine Furcht einzugestehen. Ich erzählte nur das, was die anderen hören wollten.« Fergus stand auf, nahm den Schlafsack und seine übrigen Sachen. »Später, als ich älter wurde, begriff ich: Bei einem Feindkontakt hat jeder Angst. Es ist die Angst, die einen schießen lässt, wenn man selbst beschossen wird. Es ist die Angst, die einen dazu bewegt, sich dem Feind zu nähern. Es ist die Angst, die einen alles tun lässt, um zu überleben.« Er sah Danny an. »Es ist gut, Angst zu haben. Wer von sich behauptet, keine Angst zu kennen, ist ein Lügner.« Danny kehrte zu seinem Rucksack zurück und fuhr damit fort, den Proviant in Frischhaltefolie zu wickeln. Doch er 224
musste noch etwas anderes fragen. »Wie viele Menschen hast du getötet?« »Meine Güte, du willst wirklich alles wissen, wie?«, entgegnete Fergus. »Nun, das ist … sehr persönlich … eine private Angelegenheit. Ich muss damit leben und möchte nicht darüber reden, nicht einmal mit dir.« »Aber wie wirst du damit fertig zu sehen, wie jemand getötet wird?«, fragte Danny. »Ich versuche, das zu verstehen.« »Man wird einfach damit fertig, irgendwie«, antwortete Fergus, als er die Kleidung zusammenpackte. »Es bleibt einem nichts anderes übrig. Man muss damit fertig werden.« Er versteckte die Reserveausrüstung und die übrigen Sachen hinter dem Haufen aus Backsteinen und Schutt. »Wir nehmen in den Rucksäcken nur das Nötigste mit. Den übrigen Kram holen wir später. Das restliche Bargeld stecke ich ein, nur für den Fall, dass jemand hierher kommt und findet, was wir zurückgelassen haben. Komm, lass uns gehen.« Ihre Kleidung war noch immer nass, als sie sich der Zufahrt von Meachers Haus näherten. Dannys Jeans war schwer und klebte an den Beinen; die Haut fühlte sich kalt und klamm an. In der Scheune hatte er fragen wollen, warum sie keine trockenen Sachen anzogen, hatte dann aber beschlossen, den Mund zu halten. Bestimmt bekam er bald eine Antwort. Das Haus war von der Straße aus nicht zu sehen. Die schmale, von Bäumen gesäumte Zufahrt zweigte von der Straße ab und dichte Hecken schützten das Anwesen vor neugierigen Blicken. Fergus und Danny gingen an der Zufahrt vorbei und folgten dem weiteren Verlauf der Straße. Es gab keine direkten Nachbarn, und nach etwa hundert 225
Metern sagte Fergus, dass sie sich durchs Gebüsch schlagen und sich dem Haus von der Seite nähern sollten. Sie traten über den Grasstreifen und einen kleinen Graben, suchten sich vorsichtig einen Weg durchs Dornengestrüpp. Bei jedem Schritt spritzte Regenwasser von den Blättern auf sie herab. Danny lächelte still vor sich hin. Jetzt wusste er, warum sie keine trockenen Sachen angezogen hatten. Fergus wollte das Ziel von allen Seiten auskundschaften, um die beste Position für die Beobachtung des Hauses zu finden. Doch als sie zwischen den letzten wilden Büschen hervorkamen und zum ersten Mal das Gebäude und einen Teil des Gartens sahen, mussten sie feststellen, dass es ein Problem gab. Das große rote Backsteinhaus mit der symmetrischen Fassade und sein gut gepflegter Garten waren umgeben von einer Kombination aus einer hohen Ziegelsteinmauer und einem anderthalb Meter hohen Maschendrahtzaun dort, wo es Lücken in der Mauer gab. Der Zaun schien schon seit Jahren zu existieren, denn dichte Kletterpflanzen hatten ihn ganz für sich erobert. Ein voller Blick auf das Haus war nur vom Garten aus möglich. Fergus flüsterte Danny zu: »Wenn wir uns einem Ziel nähern, wollen wir Missverständnisse bezüglich unserer Positionen vermeiden, und deshalb benutzen wir Farben für die verschiedenen Seiten eines Gebäudes. Ganz gleich aus welcher Richtung man ein Gebäude sieht, das Farbsystem ist immer dasselbe. Vorn ist weiß und hinten schwarz. Die rechte Seite von vorn gesehen ist rot und die linke grün. Verstanden?« Danny nickte. Sie schlichen am Zaun entlang, näherten sich der roten Seite des Hauses und erreichten eine Stelle, wo eine Reihe 226
immergrüner Büsche auf der anderen Seite den Zaun vom Haus abschirmte. »Hier wechseln wir auf die andere Seite«, flüsterte Fergus und entnahm seinem Rucksack eine Baumschere. »Die Büsche geben uns gute Deckung. Es ist nicht perfekt – die Lücke im Zaun könnte entdeckt werden, während wir auf unserem Beobachtungsposten sind –, aber dieses Risiko müssen wir eingehen.« »Können wir nicht einfach über den Zaun klettern?« »Du könntest das, aber mit meinem Bein käme ich vermutlich nicht auf die andere Seite. Außerdem würde das zu viel Lärm machen.« Fergus holte ein Stück grünes Fasermaterial hervor, wie man es sonst unter einem Kiespfad auslegt, damit dort kein Unkraut wächst. Er forderte Danny auf, es ganz unten um den Maschendraht zu wickeln – als er den dünnen Stahl mit der Baumschere durchschnitt, dämpfte das Material die knackenden Geräusche. Als er mit dem Schneiden fertig war, richtete er sich auf und zog ein Stück von dem Zaun auf, das wie ein umgekehrtes V geformt war. Von den Kletterpflanzen tropfte Regenwasser auf sie herab. Fergus hielt das herausgeschnittene Segment auf, damit Danny mit seinem Rucksack durch die Öffnung kriechen konnte. Anschließend zog Danny den gelösten Teil des Zauns zur anderen Seite, sodass Fergus ihm folgen konnte. Sie drückten den herausgeschnittenen Teil zurück, ohne ihn zu sichern, falls eine rasche Flucht notwendig werden sollte. Bevor sie sich dem Haus näherten, hatte Fergus noch einen letzten Hinweis. »Wir gehen dabei in einzelnen Etappen vor.« »In was?« 227
»In mehreren Abschnitten. Wir kriechen – das kann ich noch. Folge ganz genau meiner Route, klar?« Sie krochen auf dem Bauch an den Büschen entlang, und Danny achtete darauf, genau den gleichen Weg zu nehmen wie sein Großvater. In Abständen von einigen Metern blieb Fergus still liegen, lauschte eine Zeit lang und hielt nach dem nächsten Etappenziel Ausschau. Nachdem sich das mehrmals wiederholt hatte, bekamen sie zum ersten Mal Gelegenheit, das Haus von vorn zu sehen. Rechts vom Gebäude befand sich eine moosbewachsene hohe Mauer, die noch älter wirkte als die Gartenmauer. Die darin eingelassene Holztür führte vermutlich zum Grundstück hinter dem Haus. Fergus wies Danny an, bei der Ausrüstung zu bleiben, kroch dann weiter nach links. Bald konnte er den Kiesweg der Zufahrt und einen kleinen Nissan vor dem Haus sehen – vermutlich Mrs Meachers Wagen. Vielleicht war der Colonel nicht daheim. Dann sah Fergus genau das, was er brauchte: einen großen, breiten Busch etwa dreißig Meter vor dem Haus. Er kroch dahinter und versuchte, einen Eindruck von der Position zu bekommen. Das Blickfeld war perfekt: Er konnte die gesamte weiße Seite sehen, auch die große Eingangstür, und außerdem ließ sich ein Teil von Rot beobachten, bis die alte Mauer den Blick versperrte. Es war ein guter Beobachtungsposten. Fergus wollte Danny gerade zu sich winken, als er auf der rechten Seite ein Geräusch hörte. Er erstarrte und konnte nicht erkennen, was geschah; die Büsche versperrten ihm den Blick. Aber Danny sah alles ganz deutlich. Die Tür in der Mauer 228
hatte sich knarrend geöffnet und ein alter Mann mit Mütze und Gummistiefeln trat hindurch. Mühsam schob er eine hölzerne Schubkarre, die noch älter zu sein schien als er, gefüllt mit Setzlingen, die vermutlich für ein Blumenbeet vor dem Haus bestimmt waren. Es überforderte den Alten fast, die Karre durch die Tür zu schieben. Dicht an der Mauer stellte er sie ab, richtete sich vorsichtig auf und griff sich an den schmerzenden Rücken. Dann kehrte er auf die andere Seite der Mauer zurück und schloss die Tür hinter sich. Danny bedeutete seinem Großvater, dass die Luft rein war, und Fergus winkte ihn zu sich. »Man begibt sich nie vor den Beobachtungsposten, denn das ist der Bereich, den der Feind sehen kann«, erklärte Fergus, als Danny ihn hinter dem Busch erreichte. Er zeigte auf den Weg, den Danny genommen hatte. »Und an einem solchen Tag würde er all das bemerken.« Die Abdrücke im nassen Gras waren nicht zu übersehen. »Deshalb muss man immer an die Route hinter dem Beobachtungsposten denken.« »Wie sollen wir durch den Busch sehen, wenn wir dahinter bleiben müssen?« »Wir brauchen nicht hindurchzusehen. Wir werden in ihm drin sein.« Zwanzig Minuten später befanden sie sich im Innern des Busches und hatten einen klaren Blick auf das Haus. Mit der Baumschere schnitt Fergus ein kleines Loch mit einem Durchmesser von etwa einem halben Meter unten in den Busch. Er legte die abgeschnittenen Zweige hinter sich und zeigte Danny, wie man sie so miteinander verband, dass die Öffnung wieder verschlossen war. 229
Während Danny arbeitete, schuf Fergus einen Tunnel bis ins Zentrum des riesigen alten Busches. Vorsichtig schnitt er Zweige ab und schob sie tiefer in den Busch, wodurch das Innere immer dichter wurde. Eine Art Höhle entstand. Als er fertig war, zogen sie sich mitsamt ihren Rucksäcken ins Innere des Busches zurück. Hinter ihnen rückten sie die Abdeckung aus kleinen Zweigen in Position. Danny hatte sie mit Gartenschnur zusammengebunden. Fergus zog an der Schnur und daraufhin verdeckte das Gebinde fast ganz die Öffnung im Busch. Dann nahm er das restliche Fasermaterial und befestigte es an den Zweigen im Innern. »Ohne dieses Material würde man uns sehen können, wenn die Sonne auf den Busch scheint«, sagte er. »Unsere größte Waffe ist nicht die Neun-Millimeter-Pistole, sondern ein gutes Versteck.« »Was ist mit den Nägeln? Die hast du gar nicht benutzt.« »Als letzten Ausweg hätten wir sie beim Klettern als Steigeisen verwenden können. Aber ich bin wie gesagt kein guter Kletterer mehr.« Während er erklärte, wie sie die Nägel eingesetzt hätten, blickte er zum Haus hinüber. Nach einer Weile öffnete sich die Holztür in der Mauer wieder und der Alte erschien noch einmal. Diesmal schob er ein uraltes schwarzes Fahrrad. Das Blumenbeet musste warten. Vorsichtig stieg er auf und radelte langsam über den Weg. »Eine Person weniger, auf die wir achten müssen«, flüsterte Fergus, als der Alte nur wenige Meter entfernt an ihnen vorbeikam. Das Knirschen der Räder im Kies wich fast sofort den Geräuschen eines heranfahrenden Wagens. »Vielleicht ist das Meacher«, sagte Danny. 230
Aber er irrte sich. Ein Polizeiwagen fuhr an ihnen vorbei und hielt vor dem Haus. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus, ein Mann und eine Frau. Sie gingen zur Eingangstür und klingelten. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür und eine hoch gewachsene grauhaarige Frau erschien. »Die Frau des Colonels«, flüsterte Fergus. »Ich erinnere mich an sie.« Mrs Meacher sprach kurz mit den beiden Beamten und führte sie dann ins Haus. Sie betraten ein Zimmer auf der roten Seite; Fergus und Danny konnten sie durch ein hohes Fenster sehen. Nach einigen Minuten setzte sich Mrs Meacher auf einen hochlehnigen Stuhl. Die Polizistin zog sich einen anderen Stuhl heran und nahm neben ihr Platz. Es sah nicht nach einem Routinebesuch aus.
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31 Das Team war unterwegs zu Meachers Haus. Fran sah auf die Karte und funkte beim Fahren ihre Anweisungen. »Mick, es sieht nach einer langen Zufahrt aus. Ich möchte, dass du die Stelle im Auge behältst, wo sie auf die Straße stößt. Ich will wissen, wer zu dem Anwesen fährt und wer es verlässt.« »Mick, Roger.« »In Ordnung. Jimmy und Brian, ihr beobachtet das Haus. Ich möchte wissen, wer sich darin aufhält, bevor der Chef eintrifft. Roger bisher?« »Jimmy, Roger.« »Brian, Roger.« Alle vier Mitglieder des Teams waren auf verschiedenen Routen zu Meachers Haus unterwegs. Fran erreichte die Gegend vor den anderen. Sie hielt mit ihrem VW-Polo auf einem Parkplatz an einem kleinen Fluss, wo zwei Familien die Enten fütterten. »Fran steht etwa siebenhundert Meter südlich des Ziels. Bei der Brücke über den Fluss. Ich bleibe hier.« Fran wusste, dass Jimmy und Brian Foxtrott gehen mussten, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht wurde das auch bei Mick nötig, also musste jemand in der Nähe eines Wagens sein, um im Notfall eingreifen zu können. Sie öffnete das Handschuhfach und holte ein durchgeweichtes Käse-undZwiebel-Sandwich hervor, das sie am vergangenen Tag für die Fahrt nach Norfolk gekauft hatte. Es musste einen ganz nor232
malen Grund für ihren Halt auf dem Parkplatz geben, und so ging sie zu den Enten, brach Stücke vom Sandwich ab und warf sie am Flussufer auf den Boden. Einige Enten watschelten herbei, zeterten und schlugen mit den Flügeln, aber nachdem sie einige Male halbherzig nach den Sandwichbrocken gepickt hatten, kehrten sie zu dem anderen Futterangebot zurück. Vielleicht mochten sie keine Zwiebeln. Jimmy parkte etwa hundert Meter von der Zufahrt entfernt an einem unbefestigten Weg, der in einen Wald führte. Der Weg war gerade breit genug für ein Fahrzeug und von tiefen Furchen durchzogen. An seinem Ende summten Fliegen über einer vollen, von zugeschnürten Plastikbeuteln umgebenen Mülltonne. Hier wurden offenbar viele Hunde ausgeführt. Jimmy verband sich mit dem Netz, um ein Treffen mit Brian zu organisieren, der in der Nähe parkte. »Jimmy ist Foxtrott.« Fran kehrte zu ihrem Wagen zurück, als die Familien weiterfuhren. Sie nahm am Steuer Platz und ließ die Tür offen. Einige Enten watschelten in der Nähe herum und hofften vielleicht, bessere Dinge als Käse und Zwiebeln zu finden. Fran ging auf Sendung. »Bist du da, Mick?« Er arbeitete sich auf der anderen Seite der Zufahrt durchs Gebüsch. Es war nicht ideal – Fran hätte es vorgezogen, dass zwei Fahrzeuge auf alle Eventualitäten reagieren konnten –, aber nur so ließ sich der Bereich kontrollieren. Seine GoreTex-Kleidung schützte ihn vor den nassen Blättern, doch er kam nur langsam voran. Schließlich sah er die Zufahrt. »Mick ist in Position bei der Zufahrt. Der Blick reicht 233
nicht bis zum Haus, aber ich kann in beiden Richtungen über die Straße sehen.« Jimmy und Brian wählten eine Stelle, um an der grünen Seite des Hauses über die Gartenmauer zu klettern. Die Mauer war dort über drei Meter hoch, aber auf der anderen Seite standen einige Bäume, die noch alle ihre Blätter hatten und Sichtschutz gewährten. Jimmy stellte sich mit dem Rücken an die Mauer, beugte die Knie und wölbte die Hände zwischen den Oberschenkeln. Brian wich ein wenig zurück, setzte den Fuß auf Jimmys Hände und benutzte sie als eine Art Sprungbrett nach oben. Er schlang die Arme um den Mauerrand und klammerte sich dort fest. Unten drehte sich Jimmy um und drückte Brians Füße nach oben. Es dauerte einige Sekunden, bis Brian mit dem Oberkörper über der Mauer lag. Er richtete sich nicht zu weit auf, benutzte die Blätter als Deckung und drehte sich, sodass seine Beine über der Gartenseite baumelten und der Oberkörper Jimmy zugewandt war. Dann streckte er die Arme aus. Jimmy sprang nach oben und wie Akrobaten packten sie sich gegenseitig an den Handgelenken. Jimmy ging die Mauer hoch und hing fast mit dem Kopf nach unten, bevor er ein Bein über den Mauerrand bekam und Brian seine Handgelenke loslassen konnte, um den Körper zu fassen und nach oben zu ziehen. Auf der anderen Seite ließen sie sich fallen, landeten leise im Garten, lauschten und versuchten, einen Eindruck von der neuen Umgebung zu gewinnen. »Jimmy und Brian sind im Garten, auf der grünen Seite des Hauses.« »Roger.« 234
Die beiden Männer krochen los, blieben hinter einer Reihe aus Büschen, die sich auf der anderen Seite des Gartens wiederholte. Sie beschlossen, ihren Beobachtungsposten am Ende der Buschreihe einzunehmen. Von dort aus konnten sie die Vorderseite des Hauses, den Garten auf der anderen Seite der Zufahrt und die beiden Wagen sehen. »Jimmy und Brian sind beim Haus in Position. Kein Lebenszeichen. Zwei Fahrzeuge. Ein silberner Nissan Micra, Nordpol – Paula – Charlie – sechs – vier – null – eins – Nordpol. Das andere ist ein Streifenwagen der Polizei.« Jimmy sah den feuchten Kies an den Reifen des Polizeiwagens. »Er ist nach dem Regen gekommen. Der Nissan hat sich nicht bewegt.« In Finchams Wagen hörte Marcie Deveraux den Funkverkehr mit ihrem Ohrempfänger. Sie gab die Informationen an ihren Chef weiter. Fincham zuckte mit den Schultern. »Die Polizei bringt Mrs Meacher die Nachricht vom tragischen Unfall ihres Mannes. Hoffentlich ist sie kein hysterischer Typ. Ich möchte die Sache schnell hinter mich bringen.« Jimmy meldete sich. »Achtung, Achtung, Achtung. Die vordere Eingangstür öffnet sich … Zwei Polizisten, gehen zu ihrem Wagen. Möglicherweise Mrs Meacher in der Tür. Sie geht ins Haus, schließt die Tür. Die Polizisten steigen in ihren Wagen … Motor startet … Streifenwagen mobil in Richtung Straße. Jetzt außer Sicht.« Deveraux hörte aufmerksam zu, während sie die Karte auf 235
ihrem Schoß betrachtete. Nur noch wenige Kilometer trennten sie vom Ziel. »Die Polizei hat gerade Meachers Haus verlassen.« Fincham nickte. »Sagen Sie Fran: Wenn das Team alles klar meldet, fahren wir direkt dorthin.« Deveraux musste warten, während das Team die jeweilige Position des Streifenwagens meldete. Mick sah ihn, als er das Ende der Zufahrt erreichte. »Der Polizeiwagen erreicht die Straße. Bleibt dort stehen. Biegt nach rechts ab und kommt zu dir, Fran.« Mick beobachtete den Streifenwagen, bis er die Straße hinunter verschwand. »Wagen außer Sichtweite.« Von ihrem Beobachtungsposten aus sahen Fergus und Danny, wie Mrs Meacher in das Zimmer mit dem hohen Fenster zurückkehrte, zum Telefon ging und eine Nummer wählte. »Was ist los?«, fragte Danny. »Keine Ahnung. Ich würde gern wissen, wen sie jetzt anruft.« Mrs Meacher sprach etwa fünf Minuten lang. Kurz nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, fuhr der Mercedes über die Zufahrt und hielt dort, wo zuvor der Streifenwagen gestanden hatte. Fincham und Deveraux stiegen aus und gingen zur Eingangstür. »Er«, hauchte Danny. »Wie kann er wissen, dass wir hier sind?« »Er weiß es nicht. Vielleicht sind sie gekommen, um den Colonel vor uns zu warnen.« Mrs Meacher öffnete die Tür. Fincham wirkte ernst und 236
sorgenvoll, als er ihr die Hand schüttelte und dann Deveraux vorstellte. Mrs Meacher führte sie ins Haus und ins Zimmer auf der Seite. Auf der anderen Seite des Gartens teilten Jimmy und Brian dem Rest des Teams mit, was sie sahen. »Alle drei sind im Haus, jetzt außer Sicht.« Caroline Meacher gehörte zur alten Schule, war Ehefrau eines Army-Offiziers und bereit, selbst die schlimmsten Nachrichten mit der unerschütterlichen Ruhe der herrschenden Klasse aufzunehmen. Wenn sie das schnelle Eintreffen von Fincham und Deveraux überraschte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Ihre Jahre der engen Verbindung mit dem Regiment hatten sie gelehrt, das Unerwartete zu erwarten. Sie bot den beiden Besuchern Tee an, den diese höflich ablehnten, und während der nächsten Minuten sprach Fincham davon, dass ihr Mann ein ausgezeichneter Diener seines Landes gewesen sei und dass ihn alle vermissen würden, die ihn kannten. Fincham gab sich charmant und betroffen, doch Mrs Meacher blieb unbeeindruckt. »Haben Sie meinen Mann persönlich gekannt, Mr Fincham?« Fincham lächelte ein Lächeln voller Anteilnahme. »Leider habe ich nur von ihm gehört, Mrs Meacher, und das betrachte ich als persönlichen Verlust.« Deveraux schauderte innerlich. »Gibt es irgendetwas, das wir für Sie tun können, Mrs Meacher?« »Danke, nein. Ich habe mit meinem Sohn telefoniert. Er und seine Familie leben in der Nähe. Wir wollten unsere Enkelkinder möglichst oft sehen.« Mrs Meacher schwieg einige 237
Sekunden und ihre grauen Augen bekamen einen feuchten Glanz. »Mein Sohn und seine Frau werden in einer Stunde hier sein.« Fincham sah Deveraux an. Er wollte die Befragung hinter sich bringen, bevor die anderen Trauernden eintrafen. Fergus musste wissen, was im Haus geschah. Langsam schob er sich nach hinten, zur Öffnung des Busches. »Ich muss herausfinden, worüber sie reden. Schließ die Öffnung wieder, wenn ich draußen bin.« »Warte«, sagte Danny. »Lass mich gehen. Ich bin schneller dort als du.« Fergus zögerte – es widerstrebte ihm, seinen Enkel zusätzlicher Gefahr auszusetzen. Aber er wusste, dass Danny Recht hatte. »Beeil dich, aber überstürze nichts.« Danny löste die Abdeckung aus kleinen Zweigen und kroch aus dem Innern des Busches. Als er sich entfernte, schloss Fergus die Öffnung und beobachtete, wie Danny der Spur folgte, die sie bereits im Gras zurückgelassen hatten. Er blieb hinter den Büschen und näherte sich dem Haus. Die Kälte des nassen Grases drang bis auf Dannys Haut, aber er achtete nicht darauf und konzentrierte sich auf den Weg zum Fenster. Er erreichte das Ende der Buschreihe und schlich durch den offenen Bereich zum Fenster. Jimmy und Brian sahen ihn sofort. »Achtung, Achtung. Danny ist im Garten. Danny im Garten.« Deverauxs Augen wurden größer, als sie diese Worte aus ihrem Ohrempfänger hörte. Fincham befragte Mrs Meacher vorsichtig und ahnte nicht, was draußen vor sich ging. 238
An der Brücke schloss Fran beim ersten »Achtung« die Tür ihres Wagens und startete den Motor. Die Enten schnatterten und stoben auseinander, als der Polo in Richtung Haus losraste. Fran drückte die Sendetaste im Schalthebel. »Roger. Was sollen wir unternehmen, Marcie? In Ruhe lassen, ihn schnappen, ihn töten?« Eine sofortige Antwort blieb aus. Fran wusste, dass Deveraux nicht sprechen konnte, solange sich Mrs Meacher im Zimmer befand. »Benutzen Sie das Klicksystem, Marcie. Ich wiederhole, in Ruhe lassen, ihn schnappen, ihn töten?«
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32 Norfolk verlor seinen Reiz für Eddie Moyes, obgleich er sich ein wenig besser fühlte. Er hatte zwei Kaffee getrunken und sogar ein Krabbensandwich gegessen, nur um den Magen zu beruhigen. Aber er hatte mehr als genug von Blakeney, Booten und Meeresluft. Was ihn betraf: Er verstand nicht, warum so viele Leute ein Leben an und mit dem Wasser erstrebenswert fanden. Ihm war fester Boden unter den Füßen lieber. Es wurde Zeit, die Arbeit voranzubringen. Inzwischen war Meacher vermutlich bei seiner Frau daheim. Eddie hatte ihm genug Zeit gelassen, es sich zu Hause gemütlich zu machen. Er schlenderte zu seinem blau-rostigen Sierra – es grenzte an ein Wunder, dass ihn der alte Wagen ohne jeden Zwischenfall den ganzen weiten Weg bis nach Norfolk gebracht hatte. Eddie freute sich bereits auf die Rückkehr nach London. Er wollte die Story gleich am Abend schreiben und am nächsten Tag Verhandlungen mit der Boulevardpresse aufnehmen. Die Tür öffnete sich quietschend und Eddie ließ seinen massigen Körper auf den Fahrersitz sinken. Er hörte das eigene Schnaufen und begriff, dass er wirklich eine Diät machen sollte. Die Atkins-Diät – dabei konnte man so viel Gebratenes essen, wie man wollte – klang genau richtig. Aber morgen war dafür früh genug, nachdem er seine Story verkauft hatte. Beim dritten Versuch sprang der Motor schließlich an, und Eddie richtete einen letzten Blick auf die Küste, bevor er wegfuhr.
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Ein großer Lastwagen brummte an dem Mietwagen vorbei. Elena seufzte verärgert – ihr Vater fuhr mit der Geschwindigkeit eines Sonntagsfahrers. Auf diese Weise würde es viele Stunden dauern, bis sie Norfolk erreichten. »Können wir nicht ein bisschen schneller fahren, Dad?« »Schneller? Natürlich, mein Schatz.« Joey lächelte. »Ich habe nur die Aussicht und diese wundervollen britischen Straßen genossen. Hier sind die Fahrer so höflich. Bei mir zu Hause geht es immer jeder gegen jeden.« Joey gab mehr Gas, aber nur ein wenig. Er war sehr zufrieden. Ein kleiner Ausflug aufs Land kam ihm durchaus gelegen. Seine Tochter hatte ihm einen Teil des Gelds versprochen, und obwohl noch kein Betrag genannt worden war: Bestimmt konnte er sie dazu bringen, großzügig zu sein. Immerhin half er ihr jetzt gewaltig. »Also dieser Freund … Danny? Gehst du mit ihm?« »Er ist ein Freund, Dad, mein bester Freund.« »Hm.« Joey nickte. »Er muss in großen Schwierigkeiten stecken, wenn wir so weit fahren, um ihm zu helfen.« »Ja, Dad«, sagte Elena leise. »Er ist wirklich in großen Schwierigkeiten.«
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33 Deveraux antwortete mit einem doppelten Klicken und übermittelte damit eine klare Anweisung: Danny sollte »geschnappt« werden. Jimmy und Brian verließen ihren Beobachtungsposten, rannten über den Rasen und erreichten den Kies der Zufahrt. Danny war an der roten Seite des Hauses außer Sichtweite geraten, aber sie wussten genau, wo er sich befand. Fergus wandte sich um, sah die Bewegung und hörte im gleichen Augenblick die Geräusche. Sofort traf er eine Entscheidung. Er musste Danny retten. Er trat die Abdeckung fort, nahm den Rucksack, verließ den Busch und war dabei so laut wie möglich. Rasch stand er auf und sorgte dafür, dass Jimmy und Brian ihn sahen. Dann lief er, so gut er konnte, los, in Richtung Zufahrt. Die beiden anderen Männer änderten sofort die Richtung und verfolgten Fergus. »Wir haben Watts auf der Zufahrt! Watts auf der Zufahrt! In deine Richtung, Mick.« Mick hatte bereits die Straße überquert und befand sich im Gebüsch an der Zufahrt. Er hielt seine Pistole in beiden Händen und wartete darauf, den Fliehenden auf dem Kies zu hören. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit Fergus. Danny war neben dem Fenster, als er die Rufe hörte und sah, wie Fergus über die Zufahrt hinkte, von zwei Männern verfolgt. Er bemerkte die Pistolen in ihren Händen. Instinktiv stand Danny auf und wollte loslaufen, um seinem Großvater 242
zu helfen. Doch er glaubte fast zu hören, wie Fergus ihm zurief: »Halt dich an den Einsatzplan! Zurück zum NT!« Er sah zum Fenster. Eine Frau stand dort und starrte ihn an. Es war die Frau, die das Haus zusammen mit Fincham betreten hatte. »Geh«, formten ihre Lippen lautlos. »Lauf.« Sie hielt seinen Blick einige Sekunden fest und drehte sich dann um. Aber sie trat nicht vom Fenster fort – sie schien vor den anderen im Raum verbergen zu wollen, was draußen geschah. Danny wandte sich ab und lief, so schnell er konnte. Die beiden Verfolger holten rasch zu Fergus auf. Er verlangte seinen Muskeln alles ab und bei jedem Schritt zuckte der Schmerz durch sein Bein. Aber jeder zusätzliche Meter bedeutete weitere Sekunden für Danny. Und dann trat Mick aus dem Gebüsch und zielte mit der Pistole auf Fergus’ Kopf. »Stehen bleiben! Den Rucksack fallen lassen und die Hände hoch!« Mit quietschenden Reifen hielt Fran am Ende der Zufahrt, als Jimmy und Brian Fergus zu Boden drückten. Sie ließ den Motor laufen und die Tür offen stehen, als sie zu der Gruppe rannte. »Lasst ihn!«, rief sie. »Kümmert euch um den Jungen. Los, los!« Sie liefen los. Ohne ein Wort rasten sie zum Haus zurück, während Mick damit begann, den am Boden liegenden Fergus in den Bauch zu treten. Dem blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen, die Muskeln anzuspannen und den Schmerz hinzunehmen. Aber es dauerte nicht lange. Fran zog Mick von Fergus weg. »Dafür haben wir später noch genügend Zeit.« Mick sicherte mit seiner Pistole, als Fran Fergus zum Polo 243
zog. »Setz dich hinten zu ihm!«, wies sie Mick an. »Deinen Wagen holen wir später.« Sie schlug Fergus’ Gesicht ein paar Mal aufs Dach des Polos, bevor sie ihn in den Fond schob. »Verdammtes Arschloch!« Danny erreichte den Zaun, sprang zur aufgeschnittenen Stelle, kletterte hindurch und riss sich dabei die Jacke auf. Zur gleichen Zeit erreichten Jimmy und Brian den Beobachtungsposten, durchsuchten ihn und folgten dann den Spuren im Gras an den Büschen entlang. Danny lief in Richtung Straße und bahnte sich einen Weg durchs Dorngestrüpp. Wieder blieb er mit der Jacke hängen, riss sich los und sah kurze Zeit später die schmale Straße weiter von. Er rannte am letzten Busch vorbei und fiel fast, als er den Asphalt erreichte. Reifen quietschten. Danny sah etwas Blaues auf der linken Seite, bevor ihn der Wagen erfasste und ins Gebüsch zurückwarf. Dort blieb er auf dem Rücken liegen und vor seinen Augen drehte sich alles. Er wollte aufstehen, doch die Beine gehorchten ihm nicht. Eddie Moyes stieß die Tür auf und stieg aus. »Oh, Mist, Mist, Mist! Ich hab Sie nicht gesehen, Sie waren plötzlich da, und …« Er erreichte den auf dem Boden liegenden Körper. »Danny! Lieber Himmel …« Danny fand wieder zu sich, schlug die Augen auf und blickte in ein von Panik erfülltes Gesicht. »Bringen Sie mich in den Wagen. Wir müssen los, schnell! Sonst erwischen sie uns!« Jimmy und Brian waren beim Zaun, hörten die quiet244
schenden Reifen und die Stimmen. Sie kletterten durch die Öffnung und begannen zu laufen. Danny kam auf die Beine, stieß Eddies helfende Hände beiseite und zog die Beifahrertür auf. »Kommen Sie! Wir sind tot, wenn sie uns kriegen!« Eddie widersprach nicht, hastete zur Fahrerseite und sprang in den Wagen. Mit zitternder Hand griff er nach dem Zündschlüssel – beim Bremsen war der Motor ausgegangen. Er drehte den Schlüssel, aber der Motor sprang nicht an. »Na los!«, rief Danny. Jimmy lief vor Brian. Beide keuchten und schnappten nach Luft, als sie hörten, wie ein Motor beim zweiten Versuch ansprang. Aber sie waren jetzt schon ganz nahe. Eddie gab Gas und legte den ersten Gang ein. »In die andere Richtung!«, rief Danny. »In die Richtung, aus der Sie gekommen sind.« Eddie schnaufte und leitete ein Wendemanöver ein. Beim zweiten Zurücksetzen ging der Motor aus und Danny schlug aufs Armaturenbrett. »Verlieren Sie jetzt nicht die Nerven! Na los!« Als Jimmy und Brian aus dem Gebüsch kamen, verschwand der blaue Sierra in die Richtung, aus der er gekommen war, und dunkler Rauch kam aus seinem Auspuff. Jimmy sah noch, wie Danny zurückblickte, während sich der Wagen entfernte. »Danny sitzt in Moyes’ Wagen! Sie fahren vom Fluss weg!« Frans Gesicht blieb ausdruckslos, als sie die Sendetaste im Schalthebel drückte. »Fran kontrolliert.« 245
Sie näherte sich der Brücke, trat sowohl auf die Bremse als auch auf die Kupplung. Der Polo rutschte und kam in einer Wolke aus verbranntem Gummi zum Stehen. Die Enten flohen erschrocken, als Fran den Rückwärtsgang einlegte, sich mit dem linken Arm auf der Rückenlehne des Beifahrersitzes abstützte und nach hinten sah. Die rechte Hand hielt das Steuer, sie ließ die Kupplung kommen, und die Räder drehten durch. Der Polo ruckte nach hinten und wieder trat Fran auf Bremse und Kupplung. Sie riss das Steuer nach rechts, der Wagen schleuderte herum, nur die Hinterräder blieben dabei an Ort und Stelle. Als er sich ganz gedreht hatte, legte Fran den ersten Gang ein und trat aufs Gas. Kurze Zeit später raste sie an der Zufahrt von Meachers Haus vorbei und passierte Jimmy und Brian, die zu ihren Fahrzeugen liefen. Im Fond des Polos hielt Mick Fergus mit seiner Neun-Millimeter-Pistole unter Kontrolle – er hatte ihm den Lauf in den Mund geschoben. Blut tropfte von Fergus’ Nase auf die Waffe. Mick sah den Gefangenen an und lächelte. »Sieht ganz danach aus, als hätten wir bald auch den Jungen.« Fincham und Deveraux hatten sich von Mrs Meacher verabschiedet und stiegen in den Mercedes. Fincham ließ den Motor an und hörte sein leises, beruhigendes Brummen. »Sie haben das Gespräch ein wenig verlängert, Marcie. Es war doch offensichtlich, dass sie nichts weiß.« »Das war mir klar, Sir«, erwiderte Deveraux. »Aber im Garten gab es ein wenig Unruhe. Ich hielt es für besser, dass Mrs Meacher nichts davon bemerkte.« Fincham wollte gerade losfahren, zögerte aber und sah Deveraux an. »Unruhe?« 246
»Wir haben Watts, Sir«, sagte die junge Frau. »Soll ich Fran anweisen, ihn zum nächsten geheimen Stützpunkt zu bringen?« Fincham starrte sie groß an. Und dann lächelte er.
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34 Die lange, von Bäumen gesäumte Zufahrt, die eleganten Rasenflächen und der Garten, der nagelneue Range Rover vor dem großen roten Backsteinhaus – das alles war sehr beeindruckend. Joey saß am Steuer des Mietwagens und nickte. Wenn Elenas Freunde an solcher Art Orten verkehrten, dann hatte seine Tochter offenbar viel von ihm und seinen ehrgeizigen Plänen geerbt. Es war das perfekte Bild des friedlichen englischen Landlebens. Joey vermutete, dass das Aufregendste, was jemals in diesem Garten geschehen war, wahrscheinlich ein Krocketspiel war, gefolgt von einem frühen Abendessen im Schatten eines der großen Gehölze auf den weiten Rasenflächen. Elena stand an der vorderen Eingangstür und hatte ihren Vater gebeten, im Wagen zu warten. Das machte Joey nichts aus. Wenn die Hauseigentümer erfuhren, dass sie den weiten Weg von London hierher gekommen waren, um den Freund seiner Tochter zu finden, so würde man sie bestimmt hereinbitten und ihnen eine kleine Erfrischung anbieten. Und sie anschließend drängen, doch über Nacht zu bleiben. Die Engländer waren berühmt für ihre guten Manieren und ihre Gastfreundschaft. Die Tür öffnete sich und ein jüngerer Mann erschien und sprach mit Elena. Joey sah, wie er in seine Richtung blickte, und deshalb lächelte er betont freundlich und winkte. Der Mann achtete nicht auf ihn und setzte das Gespräch mit Elena fort. Joey war nicht enttäuscht. Er wusste, dass sich der Mann 248
nur an die Regeln der höflichen Etikette hielt und wartete, bis sie einander förmlich vorgestellt wurden. Joey hatte zum Teil Recht. Der Mann war höflich, aber zu einer Vorstellung kam es nicht. »Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er zu Elena. »Die einzigen Personen, die heute hierher gekommen sind, waren … offizielle Besucher. Und die Polizei.« Elena spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Die … die Polizei?« Der Mann atmete tief durch, und Elena bemerkte, dass er offenbar mit den Tränen kämpfte. »Mein Vater ist gestern Abend bei einem Bootsunglück umgekommen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden … Ich muss zu meiner Mutter zurück. Ich hoffe, Sie finden Ihren Freund. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.« »Es … tut mir Leid.« Mehr brachte Elena nicht hervor. Der Mann nickte und schloss die Tür. Elena drehte sich um und kehrte langsam zum Wagen zurück. Meacher war tot. Ein Bootsunglück. An einen solchen Zufall glaubte sie nicht. Bestimmt hatte man ihn umgebracht, bevor Fergus und Danny mit ihm Kontakt aufnehmen konnten. Aber was war mit Danny und Fergus geschehen? Wo waren sie? Elena konnte nur hoffen, dass sie die Polizei beim Haus gesehen und sich aus dem Staub gemacht hatten. »Was ist los, mein Schatz?«, fragte ihr Vater, als sie den Sicherheitsgurt im Auto anlegte. »Bleiben wir nicht zum Tee?« »Nein«, erwiderte Elena leise. »Danny ist nicht hier und er wird auch nicht mehr hierher kommen.« »Man bietet uns nicht einmal eine Tasse Tee an? Wo bleibt denn da die englische Gastfreundschaft?« 249
Joey startete den Motor. »Und jetzt?« »Wir suchen uns eine Bleibe für die Nacht. Vielleicht kann ich Danny morgen früh online erreichen.« Joey seufzte. Am Ende der Zufahrt bog er nach rechts auf die schmale Straße. Der Wagen passierte eine kleine Brücke, die über einen Fluss führte, und einige Minuten später kam er an einer alten Scheune abseits der Straße vorbei. »Wo bist du, Danny?«, flüsterte Elena. Danny saß in der Scheune, den Rücken an die Mauer gepresst, und schaute durch ein zerbrochenes Fenster dem vorbeifahrenden Wagen nach. Nur darauf kam es für ihn an: dass der Wagen weiterfuhr. Er hielt nicht. Niemand stieg aus, um die Scheune zu überprüfen. Seit drei Stunden befanden sie sich beim Notfalltreffpunkt, und Danny war entschlossen, sich an die Anweisungen zu halten und drei weitere Stunden auszuharren. Er wusste, wie gering die Wahrscheinlichkeit für ein Entkommen seines Großvaters war, aber er wollte sich an die normale Einsatzroutine halten. Er hatte überall blaue Flecken und Kratzer. Alles tat weh, aber Danny schenkte den Schmerzen keine Beachtung. Er wusste, dass sie bald nachlassen würden. Irgendwie war es ihnen gelungen, die Verfolger abzuschütteln, was sie purem Zufall verdankten und nicht etwa Eddies Fahrkünsten. Bei der ersten Kreuzung hatte Danny »Links!« gerufen. Wenige Minuten später bremste Fran an der gleichen Kreuzung, überlegte kurz und entschied sich für die rechte Abzweigung. Das war ein Fehler, der Eddie und Danny genug Zeit gab, die kurvenreiche Strecke zum NT hinter sich zu bringen. 250
Sie versteckten den Wagen so, dass er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, und stapften dann erschöpft zur Scheune. Eddie war ein Nervenbündel. Er zitterte und schwitzte, ging nervös umher und meinte immer wieder, dass sie zur Polizei gehen und dort um Schutz bitten sollten. Danny erwiderte nur, dass er sich hinsetzen und die Klappe halten sollte, wenn ihm sein Leben lieb war. »Sag du mir nicht, was ich tun soll!«, rief Eddie. »Deinetwegen hätte man mich fast umgebracht! Ich bin nur ein Reporter und hab mit dieser Sache nichts zu tun.« »Das hab ich am Anfang auch gesagt«, entgegnete Danny ruhig. »Aber jetzt steckst du mit drin, Eddie, und glaub mir: Wir können nicht zur Polizei gehen. Mein Großvater hat einen Plan und an den müssen wir uns halten. Wir warten hier sechs Stunden auf seine Rückkehr. Wenn er nicht kommt, erzähl ich dir alles.« »Sechs Stunden«, stöhnte Eddie und sah sich in der baufälligen Scheune um. »Aber …« »Dir bleibt keine andere Wahl«, sagte Danny. »Ich versichere dir: Wenn du jetzt gehst, bist du so gut wie tot.« Das Anwesen mit dem geheimen Stützpunkt war wie eine Betoninsel, auf allen Seiten von einem sieben Meter hohen Maschendrahtzaun abgegrenzt. Ein offener Bereich aus Gestrüpp und Entwässerungsgräben umgab das Gebäude und etwa achthundert Meter weiter streckte sich die dunkle Masse des Thetford Forest in alle Richtungen. Die Anlage gehörte zum Übungsgelände des Verteidigungsministeriums, aber Soldaten betraten sie nie und sie war 251
auf keiner Karte verzeichnet. Man erreichte sie über einen unbefestigten Weg, der von der Hauptstraße aus ins Übungsgelände führte. Der Weg zweigte nach links ab und führte durch den Wald, bevor er den offenen Bereich erreichte. Dort stand das erste von zahlreichen Warnschildern: GEFAHR – ZUTRITT VERBOTEN. TRUPPENÜBUNGSPLATZ. GEFÄHRLICHES GEBÄUDE. Achthundert Meter weiter am Ende einer rissigen Betonzufahrt erhob sich das imposante Doppeltor des Anwesens. Es war ebenso hoch wie der Zaun. Weitere Schilder, an den beiden Torflügeln und auf allen Seiten des Zauns, warnten unwillkommene Besucher. Ihre Aufschrift lautete: ACHTUNG! EINSTURZGEFAHR – ZUTRITT VERBOTEN. Der gesamte Boden des Anwesens bestand aus Beton. Unkraut wuchs aus Rissen. Ein Entwässerungsgraben führte an der rechten Seite der Anlage außerhalb des Zauns entlang und setzte sich dann durch das offene Gelände bis zum Wald hin fort. Der Stützpunkt befand sich in der Mitte der Betoninsel. Jedes Fenster des zweistöckigen Gebäudes war mit dem gleichen Maschendraht gesichert, aus dem auch der Zaun bestand. Nur eine Tür vorne in der Mitte führte in das Gebäude hinein. Dahinter und auf der rechten Seite stand eine große Wellblechbaracke, in der die Fahrzeuge verborgen waren. Die Stahltür öffnete sich, und Marcie Deveraux trat nach draußen, als zwei amerikanische Kampfjets über das Anwesen hinwegflogen und zur Landung auf dem Luftwaffenstützpunkt Lakenheath ansetzten. Deveraux schloss die Tür, blieb für einen Moment stehen und atmete tief durch. Dann ging sie hinter die Wellblechbaracke und vergewisserte sich, dass 252
man sie vom Gebäude aus nicht sehen konnte. Sie holte ihr Handy hervor, sah sich erneut um und gab eine Nummer ein. Fast sofort meldete sich jemand. Deveraux sprach leise. »Fincham mag den Anblick von Blut nicht und deshalb hat er Watts zunächst Fran und Mick überlassen. Er redet noch nicht, Sir. Es ist schade, dass er schon so früh bei dieser Operation gefasst wurde.« Wieder donnerten zwei Düsenjets über das Anwesen hinweg, und Deveraux wartete, bis der Lärm ihrer Triebwerke nachgelassen hatte. »Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen, aber Fincham wird mit ihm sprechen, bevor er nach London zurückkehrt, um am Empfang der Parlamentsabgeordneten im Unterhaus teilzunehmen. Er ist ebenso entschlossen wie wir herauszufinden, wer außerhalb der Firma davon wusste, dass Watts als K agierte. Aber wenn Watts nicht redet, weiß ich nicht, wie lange ich ihn noch am Leben halten kann, ohne meine eigene Situation zu kompromittieren, Sir.« Einmal mehr sah sie sich um und hielt nach eventuellen Beobachtern und Lauschern Ausschau, während sie der Stimme aus dem Handy zuhörte. »Ja, Sir, das dachte ich auch. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es einen Versuch wert.« Deveraux unterbrach die Verbindung und holte einen Zettel hervor. Darauf stand die Nummer eines Handys. Die sechs Stunden waren fast um. Danny stand draußen vor der Scheune, und Eddie blätterte in seinem Notizbuch, als sein Handy klingelte. Das Display zeigte keine Nummer an, und er nahm den Anruf ohne nachzudenken entgegen. »Sprechen Sie nicht, Mr Moyes, hören Sie nur zu und schreiben Sie Folgendes auf. Haben Sie einen Stift?« 253
»Was? Wer ist da?« »Sie sollen nicht sprechen. Sind Sie so weit?« Eddie holte den Bleistift aus seiner Jackentasche. »Ja, ich bin so weit, aber …« »Fergus Watts wird in der Nähe von Thetford festgehalten. Messtischblatt eins vier vier. Planquadrat acht zwei fünf acht zwei fünf. Ich wiederhole das noch einmal, Mr Moyes, schreiben Sie es auf.« Eddie notierte die Angaben. »Lesen Sie es mir vor, Mr Moyes.« »Messtischblatt eins vier vier. Planquadrat acht zwei fünf acht zwei fünf.« »Das ist korrekt. Morgen früh wird Watts wahrscheinlich nicht mehr am Leben sein, Mr Moyes. Und Sie haben verstanden, dass dies keine Angelegenheit der Polizei ist?« »Ja, ich verstehe«, sagte Eddie, als Danny in die Scheune zurückkehrte. »Eddie, nein. Leg auf! Leg auf!« Aber der Anrufer hatte die Verbindung bereits unterbrochen, noch bevor Eddie sein Handy sinken ließ. »Es war eine Frau. Sie hat mir gesagt, wo man deinen Großvater festhält. Und sie meinte, morgen früh wäre er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ich will jetzt Antworten, Danny. Warum will man Watts umbringen? Was zum Teufel geht hier eigentlich vor?« Danny sah auf die Uhr. Die sechs Stunden waren um. »Setz dich, Eddie. Ich geb dir die Antworten.« Er erzählte ihm alles, so wie Fergus es ihm aufgetragen hatte. Von der wahren Rolle seines Großvaters in Kolumbien und Finchams Verrat, von den Ereignissen seit seiner ersten 254
Begegnung mit Fincham im RCB-Zentrum der Army. Eddie hörte zu, ungläubig zuerst, doch dann begriff er langsam, dass alles so gut zusammenpasste, dass es einfach kein Lügengespinst sein konnte. Die einzelnen Puzzlestücke fügten sich zu einem Ganzen. »Da ist alles drin«, murmelte er und sah bereits die Schlagzeilen seines Exklusivberichts in der Sun. Oder im Minor – es spielte keine Rolle. »Drogen, Mord, Vertuschung, Korruption an höchsten Stellen. Das bringt mir nicht nur einen neuen Job ein. Hiermit gewinne ich Preise.« »Ja, aber noch ist es nicht so weit, Eddie. Zuerst müssen wir meinen Großvater befreien.« »Was? Bist du übergeschnappt? Der Anruf war eine Falle. Die Leute können uns nicht finden und benutzen deinen Großvater als Köder. Wenn wir da hingehen, bringen sie uns um.« »Nein«, erwiderte Danny verzweifelt. »Die Anruferin war bestimmt die Frau, die mich bei Meachers Haus gesehen hat. Sie hat mich aufgefordert zu fliehen. Sie hat mir geholfen, und ich glaube, jetzt versucht sie wieder, uns zu helfen.« »Das glaubst du! Das glaubst du! Du willst, dass ich mein Leben aufs Spiel setze, nur weil du glaubst, dass uns jemand helfen will? Ich seh vielleicht dumm aus, Danny, aber ich bin, verdammt noch mal, nicht verrückt. Lass uns nach London fahren, bevor sie uns hier finden.« »Wenn sie wollten, hätten sie uns schon vor Stunden finden können.« »Ach, und wie?« Danny deutete auf das Handy in Eddies Hand. »Ich hätte gleich daran denken sollen. Handys können bis auf wenige 255
Meter genau lokalisiert werden – auf diese Weise hab ich meinen Großvater gefunden. Hör mal, Eddie: Du hast eine viel bessere Story, wenn du mir hilfst, Fergus zu retten.« »Du bist ein mutiger Junge, Danny«, sagte Eddie und schüttelte den Kopf. »Aber ich bin kein Held. Ich bin ein Feigling. Ich bin es immer gewesen.« Danny seufzte. »Dann fahr mich wenigstens nach Thetford, damit ich in die Nähe komme.« Eddie griff in die Jackentasche und holte die Autoschlüssel hervor. »Na schön, ich fahr dich nach Thetford. Das liegt auf dem Weg.« »Und kann ich dein Handy benutzen? Ich muss eine Freundin anrufen.«
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35 Von außen gesehen wirkte das Gebäude heruntergekommen und baufällig, aber im Innern war es schlicht und sauber. Boden, Wände und Decke waren aus weiß gestrichenem Beton. Treppenstufen führten von der Eingangstür zu zwei Verhörräumen hinter stählernen Türen auf beiden Seiten des Treppenhauses. Die Einrichtung der Verhörräume bestand aus zwei Stühlen, einem Tisch und einer Holzpritsche. In einer Ecke gab es eine offene Toilette. Das Gebäude war nicht nur als geheimes Versteck vorgesehen, in dem sich Verhöre durchführen ließen; es konnte auch als Stützpunkt für einen Einsatz dienen. Die Betonflächen draußen boten einen Landeplatz für Helikopter, was bedeutete: Hier konnten Spezialeinheiten untergebracht werden, für den Fall, dass es in dem Gebiet zu einem terroristischen Angriff kam. Ein komplexes Sicherheitssystem schützte das ganze Anwesen. Entlang des unbefestigten Weges steckten in Abständen von hundert Metern Sensoren im Boden, die auf Fahrzeuge oder Personen eingestellt werden konnten. Die des Weges selbst waren für Fahrzeuge bestimmt. Bei einer leichteren Einstellung hätten sie von Wildtieren ausgelöst werden können. Weitere Sensoren befanden sich im Graben am Rand des Anwesens, in Abständen von jeweils fünfzig Metern. Diese waren auf Menschen eingestellt. Kein Reh würde durch den Graben laufen, nur jemand, der sich in seinem Schutz unbemerkt dem Haus nähern wollte. 257
Die Kabel der Sensoren verliefen ebenfalls unterirdisch und führten zu einem Überwachungssystem im Erdgeschoss, auf der linken Seite. Der Raum enthielt kaum etwas anderes: ein Spülbecken, einen Kessel, elektrische Heizgeräte, einen kleinen Kocher und Feldbetten. Im gegenüberliegenden Zimmer standen zusammengeklappt weitere Feldbetten und es gab eine Dusche und eine Toilette. In diesem Zimmer hielt sich Frans Team auf. Jimmy bereitete eine einfache Mahlzeit zu: Instant-Nudeln, Schnittbrot und dünner, billiger Schinken, gefolgt von Müsliriegeln. Fincham und Deveraux waren in dem anderen Raum. Jimmy goss gerade heißes Wasser auf die Nudeln, als sich die Tür öffnete und Fincham und Deveraux hereinkamen. »Das Essen ist fertig, Sir«, wandte sich Jimmy an Fincham. »Möchten Sie wirklich nichts davon? Normalerweise geben wir noch ein bisschen braune Soße und etwas Branston Pickle dazu, damit es besser schmeckt.« Fincham versuchte nicht einmal, seinen Widerwillen zu verbergen. »Nein, danke. Ich esse später in London.« »So was Gutes bekommen Sie dort bestimmt nicht, Sir.« Fran und Mick saßen auf Feldbetten und lächelten. Alle wussten, wie unwohl sich ihr Chef in dieser Umgebung fühlte, und Fran konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein wenig aufzuziehen. »Im anderen Zimmer gibt es noch Feldbetten, Sir. Sie können hier bei uns schlafen, wenn Sie bleiben möchten.« Fincham ging nicht auf den Vorschlag ein. »Ich gehe jetzt zu Watts. Brian, bringen Sie was von dem … Essen mit. Unser Gast soll nicht verhungern.« Brian nahm einen der Plastikbecher mit Nudeln, folgte 258
Fincham zur Treppe und zwinkerte Deveraux zu, als er an ihr vorbeikam. Fergus befand sich in dem Zimmer links von der Treppe. Mick und Fran hatten sich bei seinem Verhör vergnügt und er bot keinen schönen Anblick. Das Gesicht war angeschwollen und blutverschmiert. Blut, das nicht an den Bartstoppeln getrocknet war, war auf Hemd und Boden getropft. Die Lippen waren geplatzt und frisches Blut rann ihm aus der Nase. Er trug eine schwarze Augenbinde aus Plastik und hatte keine Schuhe an den Füßen. Beide Hände waren mit Plastikhandschellen an die Pritsche gebunden und angeschwollen. Fergus hörte, wie Schritte über die Treppe näher kamen und sich der Schlüssel im Schloss drehte, bevor die Tür geöffnet wurde. Er spürte, wie jemand seine Beine zur Seite zog und dann auch die Füße an die Pritsche band. Erst dann nahm ihm Brian sowohl die Handschellen als auch die Binde ab. Fergus kniff die Augen zusammen; das Licht der Leuchtstoffröhre blendete ihn. Die Tür wurde wieder geschlossen, und Fergus hörte, wie jemand die Treppe hinunterging. Langsam öffnete er die Augen. Sie gewöhnten sich allmählich ans Licht, und daraufhin sah er eine Gestalt, die einen Meter entfernt auf einem Stuhl saß. Zum ersten Mal seit Jahren standen sich Fergus und Fincham von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Es ist lange her«, sagte Fincham leise. Das Sprechen bereitete Fergus Schmerzen. »Nicht lange genug.« Fincham deutete auf den Teller mit den dampfenden Nudeln neben der Pritsche. »Meine Kollegen haben mir versichert, dass das da essbar ist.« 259
Fergus kannte die Taktik. Fincham, der alles unter Kontrolle hatte, entspannt auf seinem Stuhl saß und stumm beobachtete, wie der hilflose Gefangene mit den Fingern aß. Es sollte sein Gefühl der Verzweiflung und der Demütigung verstärken. Aber das war Fergus egal. Er hatte Hunger, trotz der bezogenen Prügel, und er wusste, dass er essen musste, um seine Kräfte zu erneuern, wenn er überhaupt eine Überlebenschance haben wollte. Die scharfen Gewürze brannten an den aufgesprungenen Lippen, doch Fergus achtete nicht darauf und schluckte die Nudeln, so schnell er konnte, für den Fall, dass Fincham den Becher beiseite trat, um das Verhör fortzusetzen. Aber Fincham sah wortlos zu, als Fergus den Becher schließlich sogar ausleckte, um sich auch nicht das kleinste Stückchen entgehen zu lassen. Schließlich beugte sich Fincham auf seinem Stuhl vor. »Ich frage Sie das nur einmal. Wer sonst wusste, dass Sie als K agiert haben?« »Selbst wenn ich das wüsste, ich würde es Ihnen nicht sagen«, antwortete Fergus, den Mund noch voller Nudeln. Er rang sich ein Lächeln ab. »Vielleicht gibt es noch andere. Damit müssen Sie leben, Fincham, so wie ich all die Jahre.« Es stank im Zimmer und die Luft war verbraucht. Fincham stand auf und ging zum Fenster. Der Metallrahmen ließ sich nur einige Zentimeter weit öffnen, bevor er an den Maschendraht stieß. Aber Fincham brauchte frische Luft. Der Geruch von Blut war ihm ebenso unangenehm wie sein Anblick. Er sah nach draußen, zum Wald. »Sie werden sterben, Watts, das ist Ihnen doch klar, oder?« Als Fergus nicht antwortete, fuhr Fincham ohne sich um260
zudrehen fort: »Natürlich hätte ich Sie in Kolumbien töten lassen sollen, aber nachdem Sie meine kleine Operation ruiniert hatten, genoss ich die Vorstellung, dass Sie irgendwo im Dreck verrotteten. Mit dem Ausbruch aus dem Gefängnis habe ich nicht gerechnet. Das war ein Fehler von mir.« »Sie haben nicht den Mumm, mich selbst zu töten, Fincham«, sagte Fergus und spuckte dabei Blut und Nudeln. »Aber bevor Ihre dressierten Affen das erledigen, werde ich ihnen erzählen, was Sie wirklich in Kolumbien gemacht haben.« Fincham atmete die frische Luft tief ein, wandte sich vom Fenster ab und kehrte zum Stuhl zurück. »Das letzte verzweifelte Gefasel eines Mannes, der weiß, dass er sterben wird und deshalb alles versucht, um sein Leben zu retten. Sie vergeuden damit nur Ihren Atem, Watts. Aber ich gebe Ihnen eine Chance.« Er beobachtete, wie ihn Fergus aus halb zugequollenen Augen ansah. »O nein, Watts, ich gebe Ihnen nicht die Chance, am Leben zu bleiben – Ihr Tod ist unvermeidlich. Nein, ich gebe Ihnen die Chance, nicht zu sehen, wie Ihr Enkel stirbt.« Fergus spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten. »Sie sind wirklich ein durch und durch mieser, sadistischer Mistkerl, Fincham. Aber Sie werden Danny nicht finden. Er ist längst verschwunden.« »Oh, ich werde ihn finden«, sagte Fincham ruhig. »Morgen oder übermorgen. Und dann eliminieren wir ihn. Aber Sie brauchen es nicht zu sehen, Watts. Nicht, wenn Sie mir sagen, was ich wissen möchte.« Er stand auf. »Denken Sie darüber nach. Da war Meacher, aber der stellt kein Problem mehr dar. Wer weiß sonst noch Bescheid?« 261
Als er keine Antwort bekam, sah Fincham auf die Uhr. »Man erwartet mich bei einem Empfang im Unterhaus. Gute Nacht, Watts. Ich bin sicher, meine Freunde kümmern sich um Sie.« Er verließ das Zimmer ohne einen Blick zurück. Wenige Minuten später brummte draußen der Mercedes und Fincham fuhr weg. Fergus hörte das Klacken des sich schließenden Tors. Er sah zum Fenster und hoffte inständig, dass sich Danny an seine Anweisungen gehalten hatte.
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36 »Wo genau bist du?« »In einem Ort namens Sheringham, nicht weit von dir entfernt.« Elena und Joey hatten sich in einer Privatpension einquartiert und spazierten gerade durch den kleinen Ort, als Elenas Handy klingelte. Sie hob das Mobiltelefon ans Ohr, und als sie Danny »Ich bin’s« sagen hörte, entfuhr ihr ein lautes »Danny!«. Halb Sheringham starrte sie an, und Elena begriff, dass sie lieber ein wenig diskreter sein sollte. Vor dem Anruf hatte Danny zu Eddie gesagt, er wolle herausfinden, ob seine Freundin es geschafft hatte, sich in Finchams E-Mails zu hacken. Eventuelle Informationen könnten hilfreich sein bei seinen Vorbereitungen auf den Rettungsversuch. Er sagte Eddie nicht, dass er trotz seiner tapferen Worte schon beim Gedanken an das, was vor ihm lag, erzitterte und dass er unbedingt Elenas Stimme hören wollte, bevor es losging. Elena hörte so geduldig wie möglich zu, während Danny ihr von den Ereignissen bei Meachers Haus und in den Stunden danach berichtete. »Du weißt, dass Meacher tot ist, oder?«, warf Elena ein, als sie sich nicht länger zurückhalten konnte. »Sie haben ihn getötet, um zu verhindern, dass Eddie Moyes oder dein Großvater mit ihm reden können.« Danny wandte sich an Eddie und teilte ihm die Neuigkei263
ten mit. »Meacher ist tot. Deshalb war die Polizei beim Haus.« Er konzentrierte sich wieder auf das Gespräch mit Elena, und sie erklärte ihm, was sie im Internet recherchiert hatte und dass sie mit ihrem Vater nach Norfolk gefahren war, um Fergus und Danny zu warnen. »Aber ich bin zu spät gekommen und in der Hoffnung hier geblieben, dich morgen früh online zu erreichen.« »Elena, ich muss versuchen, meinen Großvater zu befreien.« »Ich wusste, dass du das sagen würdest. Ich helfe dir.« »Nein.« »Keine Widerrede, Danny. Allein schaffst du es nicht, und wenn der Reporter-Typ dir nicht helfen will, dann brauchst du jemand anders.« Danny sah zu Eddie, der auf seine Armbanduhr klopfte, um ihm zu zeigen, dass er losfahren wollte. »Aber … was ist mit deinem Vater?« Joey saß auf einer Bank, genoss den Sonnenschein des späten Nachmittags und schien sehr zufrieden eine seiner Zigarren zu rauchen. Elena ging ein wenig weiter fort und sprach leise ins Telefon. »Ich war bei der Bank und hab ihm fünfhundert Pfund gegeben. Für den Anfang. Den Rest musste ich für morgen in Auftrag geben. Ich werde ihm sagen, dass ich bei dir und deinem … deinem Vater übernachte. Bestimmt ist es ihm egal; so hat er schon mal Gelegenheit, das erste Geld auszugeben.« Danny zögerte. »Bist du … bist du sicher? Es wird …« »Gefährlich. Ja, das hab ich mir schon gedacht. Wo treffen wir uns?« 264
»Ich frage Eddie. Aber bevor wir uns treffen … Kannst du für mich einkaufen gehen?« »Einkaufen?« »Es gibt da ein paar Sachen, die wir vielleicht brauchen.« Sie trafen sich außerhalb von Sheringham. Joey ließ seine Tochter nur zu gern gehen, erst recht, nachdem er sich Elenas ausgefeilte Lügengeschichte angehört hatte, dass Danny und sein »Vater« sich nach einer langen Trennung wieder gefunden hätten – »genau wie wir«. »Deshalb hab ich mir solche Sorgen gemacht«, fügte Elena hinzu. »Danny ist den ganzen weiten Weg bis nach Norfolk gefahren, und in Foxcroft traf die Nachricht ein, sein Vater könnte nicht kommen. Aber jetzt ist alles in Ordnung, sie haben sich doch noch getroffen.« »Mhm, ich verstehe, mein Schatz«, sagte Joey und zündete sich noch eine Zigarre an. »Aber dieses Haus, bei dem wir waren … Was hatte das zu bedeuten?« Elena überlegte schnell. »Das war … das war das Haus, von dem ich dachte, dass Dannys Vater dort wohnt. Er ist … Pfarrer und hat gerade eine neue Gemeinde übernommen. Aber ich hatte mich im Dorf geirrt.« »Ein Mann der Kirche, wie? Nun, dann ist ja alles in Ordnung, Schatz. Ich könnte dich kaum in sicherere Hände geben. Wir treffen uns also morgen in London und …« »Und gehen zur Bank, ja, Dad. Ich werde dort sein.« Während Elena die von Danny genannten Dinge kaufte, saß Joey im Wagen und überlegte, wie er die fünfhundert Pfund ausgeben konnte, die ein Loch in seine Tasche brannten. Kurze Zeit später trafen sie Danny und Eddie auf einem 265
Parkplatz. Joey stellte den Mietwagen ab und ging zusammen mit Elena zu dem alten Sierra hinüber. »Guten Abend, Reverend«, sagte Joey und streckte Eddie die Hand entgegen, als er ausstieg. »Das ist mein Vater Joey.« Elena bemerkte Eddies verwirrten Blick. »Ich habe ihm alles über Ihre neue Gemeinde erzählt, Reverend Watts.« »Meine neue …?« »Sind Sie inkognito unterwegs, Herr Pfarrer?«, fragte Joey und lächelte. »Inkog…?« »So leger gekleidet, ganz ohne Kollar«, sagte Joey. »Na ja, ich hab was für diese moderne Art übrig.« Er sah zu Danny, der ebenfalls verwirrt wirkte, und wandte sich dann wieder an Eddie. »Es freut mich, dass Sie und Ihr Junge wieder zueinander gefunden haben, Reverend, so wie meine geliebte Elena und ich. Und ich sehe die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden. Er ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.« »Wir sollten jetzt besser fahren«, sagte Elena hastig. Sie ging zu Joey, gab ihm einen Kuss auf die Wange, nickte dann Danny zu und bedeutete ihm, im Wagen Platz zu nehmen. »Ja, gut, dann auf Wiedersehen«, sagte Eddie und setzte sich wieder ans Steuer. »Und, äh … Gott segne Sie.« »Der Herr sei gepriesen!«, rief Joey, als der Sierra stotternd ansprang. Elena winkte durchs Rückfenster, während der Wagen vom Parkplatz auf die Straße rollte. Dann drehte sie sich um, sah Danny an und lächelte. »Frag bloß nicht«, sagte sie.
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37 Sie waren unterwegs. Endlich. Eddie zählte die Kilometer, die sie dem Ziel näher brachten, und dachte voller Sorge an den selbstmörderischen Rettungsversuch, während Danny und Elena im Fond saßen und Elenas Einkäufe in einen Rucksack packten. Sie wirkten aufgekratzt und erwartungsvoll. Elenas Ankunft schien Danny neue Zuversicht gegeben zu haben. Eddie fuhr schweigend, verfluchte sich innerlich für seine Feigheit und dachte gleichzeitig daran, dass er ohne anzuhalten direkt nach London fahren sollte. Aber er wusste, dass das zwecklos wäre. Danny war fest entschlossen, seinen Großvater zu retten. Vermutlich wäre er bereit gewesen, die Tür zu öffnen und aus dem fahrenden Wagen zu springen. Danny hatte Elena eine lange Einkaufsliste durchgegeben, auf der auch zwei handgroße Holzblöcke, ein Hammer und einige fünf Zoll lange Nägel standen. Er nahm einen der Blöcke und begann damit, einen Nagel hineinzuhämmern. Eddie blickte in den Rückspiegel, um zu sehen, was dort hinten vor sich ging. »Ich hab vorhin nicht nach dem Grund gefragt, als du diesen Kram haben wolltest«, sagte Elena, während Danny mit dem Hammer klopfte. »Aber, äh … wozu brauchst du das?« »Scheiße!«, fluchte Danny, als er den Nagel verfehlte und seinen Daumen traf. »Ich baue Steigeisen. Mein Großvater hat mir erklärt, wie man es macht.« 267
»Steigeisen? Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Danny: Wir sind in Norfolk. Hier gibt es keine Berge.« Danny achtete nicht darauf und hämmerte einen Nagel in den zweiten Holzklotz. Als in beiden Blöcken ein Nagel steckte, holte er sein Leatherman-Messer hervor und klappte die Zange heraus. Damit bog er die Köpfe der Nägel, sodass Haken entstanden und ein Teil des Nagels zwischen Holz und Kopf gerade blieb. Anschließend entnahm er seinem Rucksack zwei orangefarbene Nylonriemen von der Art, wie man sie benutzte, um Dinge auf einem Dachgepäckträger zu befestigen. Er wickelte beide jeweils um den geraden Teil der Nägel, formte sie dann zu großen Schlaufen, befestigte das andere Ende der Riemen an den Nägeln und sicherte sie mit den Schnallen. Fertig waren die Steigeisen. »Ich glaube, so sind sie richtig«, sagte Danny, während er sie sorgfältig im Rucksack verstaute. »Wenn sie nicht funktionieren, kannst du sie immer noch dazu verwenden, jemanden damit zu schlagen«, meinte Elena. »Die Dinger sehen verdammt gefährlich aus.« Kurz vor Thetford bogen sie bei einer Tankstelle ein. Danny wies Eddie an, abseits der Tanksäulen zu halten, damit der Wagen nicht von den Überwachungskameras erfasst wurde, und ging dann in den Tankstellenladen, um ein Messtischblatt Nr. 144 zu besorgen. »Kannst du ihm seine dumme Idee nicht ausreden?«, wandte sich Eddie an Elena, während sie im Wagen warteten. Elena lachte. »Wenn sich Danny etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bleibt er auch dabei. Es spielt keine Rolle, was ande268
re Leute sagen. Machen Sie sich keine Sorgen um uns, Herr Pfarrer, wir kommen schon zurecht.« Der Reporter drehte sich um und warf Elena einen verärgerten Blick zu. »Du hältst das hier wohl für einen Spaß, für ein Spiel! Aber das ist es nicht. Ihr könnt dabei sterben! Sterben! Kapierst du das nicht?« Elena wandte sich ab und blickte durchs Seitenfenster nach draußen. »Ich weiß, dass es kein Spiel ist«, sagte sie leise. Sie schwiegen, bis Danny zum Wagen zurückkehrte. »Das letzte Exemplar, das sie hatten.« Er öffnete die Karte und suchte das Planquadrat, dessen Koordinaten Eddie in seinem Notizbuch aufgeschrieben hatte. »Dort gibt es gar nichts«, sagte Elena und sah von der Karte auf. »Nur Wald.« Sie deutete auf ein Wort, das in den Zielbereich gedruckt war. »Siehst du das?« Dort stand: GEFAHRENZONE. »Es ist ein Truppenübungsplatz«, sagte Danny. »Solche Hinweise sollen die Leute abschrecken.« Eddie ließ den Motor an. »Ja, also bei mir funktioniert es.« »Hast du es ganz bestimmt so aufgeschrieben, wie es dir die Frau am Telefon gesagt hat?« »Ich bin Reporter und bin es gewohnt, Dinge aufzuschreiben.« Eddie machte einen letzten Versuch, Danny und Elena den Rettungsversuch auszureden. »Es ist dunkel und spät, und ihr habt keine Ahnung, was euch erwartet. Kommt mit mir nach London. Vielleicht kann ich die Sache noch heute Abend in die Fernsehnachrichten und morgen in die Zeitungen bringen. Dann werden die Leute da es nicht mehr wagen, Fergus etwas anzutun.« »Wir vergeuden Zeit, Eddie«, sagte Danny und faltete die 269
Karte wieder zusammen. »Bring uns einfach so nahe wie möglich ans Ziel heran.« Das Getriebe knirschte, als Eddie den ersten Gang einlegte und losfuhr. Sie parkten in einer Brandschneise im Wald, kurz hinter dem Weg, der zum Truppenübungsplatz führte. Danny leuchtete mit seiner Maglite auf die Karte. »Na schön, von hier an gehen wir zu Fuß.« Er nahm den Rucksack und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. »Danke, Eddie. Schreib die ganze Geschichte und pass auf, dass die Fakten stimmen.« »Wartet«, sagte Eddie. Seit dem Verlassen der Tankstelle war er still gewesen und hatte nachgedacht. »Ich, äh, begleite euch, nur um zu sehen, was da ist. Wenn ihr dann noch immer euren verrückten Plan durchziehen wollt, dann macht ihr das alleine. In Ordnung?« Danny nickte nur. Sie stiegen aus und gingen zu dem unbefestigten Weg. Weit und breit gab es keine anderen Wege oder Straßen, und deshalb konnten sie annehmen, dass er dorthin führte, wo Fergus festgehalten wurde. »Wir vereinbaren einen NT zwanzig Meter von hier und fünf Meter in den Wald hinein«, sagte Danny und deutete in die entsprechende Richtung. »Einen was?«, fragte Elena. »Unser Notfalltreffpunkt. Wenn etwas schief geht, treffen wir uns dort und …« »Ich hab’s dir ja gesagt, Danny«, warf Eddie ein. »Ich komm nur mit, um rauszufinden, was da ist. Wenn irgendetwas schief geht, mach ich mich aus dem Staub. Du brauchst 270
mir also nichts von irgendwelchen NTs oder was weiß ich zu erzählen. Ich bin ein Feigling, falls du dich erinnerst?« Dort, wo der Weg an die Straße grenzte, zeigten sich frische Reifenspuren im Schlamm. Doch als sie in die Dunkelheit auf der linken Seite des Weges traten, wurde der Boden härter, und sie verloren die Reifenspuren und fast alles andere aus den Augen. Schwarze Nacht umgab sie. Danny und Elena gingen rechts und links von Eddie und hielten den Reporter fest, der fast bei jedem Schritt stolperte. »Schalt deine Taschenlampe ein, Danny. Ich sehe überhaupt nichts.« »Bleib einen Moment stehen und warte, bis sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Bleib bei ihm, Elena.« Danny eilte weiter, bevor Eddie oder Elena ihn daran hindern konnten. Nach zwanzig Metern verharrte er, ging in die Hocke und lauschte. Seine Augen hatten sich bereits an die Finsternis gewöhnt: Er sah einzelne Bäume zu beiden Seiten des Weges. Während er versuchte, ein Gefühl für die Umgebung zu entwickeln, und das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln hörte, schlossen Eddie und Elena zu ihm auf. »Ich bin nicht mitgekommen, nur um mich um ihn zu kümmern«, klagte Elena, ohne Eddie anzusehen. »Lass mich nicht einfach so zurück.« Schweißperlen standen auf Eddies Stirn. Er schien kurz davor zu sein, aufzugeben und umzukehren. Aber Danny wollte den Reporter jetzt nicht gehen lassen, denn er begriff: Sie brauchten ihn und seinen Wagen, wenn es ihnen tatsächlich gelang, Fergus zu retten. »Ich brauch deine Hilfe, Eddie«, sagte er. »Bitte zähl deine 271
Schritte und gib mir Bescheid, wenn du bei zwölfhundert angekommen bist.« »Zwölfhundert? Das wird lange dauern …« »Du ebenfalls, Elena«, sagte Danny. »Damit wir sicher sein können, dass es stimmt.« »Aber warum?« »Wir müssen wissen, welche Strecke wir zurücklegen. Hundertzwanzig Schritte sind etwa hundert Meter, zwölfhundert also ein Kilometer.« »Woher weißt du das?« »Army-RCB«, sagte Danny und setzte sich wieder in Bewegung. »Wenigstens etwas hat’s mir genützt.« Eddie folgte. »Eins, zwei, drei …« Für die ersten zwölfhundert Schritte brauchten sie eine Stunde. Sie bewegten sich etappenweise, wie es Danny von Fergus gelernt hatte. Für den zweiten Kilometer brauchten sie noch länger. Schließlich schnaufte Eddie atemlos »Zwölfhundert«, und Danny merkte, dass er völlig erschöpft war. »Du machst das wirklich gut, Eddie, wir sind fast …« Er unterbrach mitten im Satz, als er Scheinwerferlicht auf dem Weg hinter ihnen bemerkte. Es kam schnell näher. »Ein Fahrzeug. Weg vom Weg!« Danny schob Eddie und Elena in den Wald. Zweige kratzten ihnen durchs Gesicht und zerrten an ihrer Kleidung, als das Scheinwerferlicht eines Wagens über die Bäume strich und näher kam. Danny ließ sich ins welke Laub sinken und zog seine beiden Begleiter mit zu Boden. Das Fahrzeug fuhr an ihrem Versteck vorbei, und ein gespenstisches Rot erfasste die Bäume, als der Fahrer auf die Bremse trat und nach links auf einen kleineren Weg abbog. 272
Danny hob den Kopf und beobachtete, wie der Wagen davonschaukelte und verschwand. »Er zeigt uns den Weg. Es kann nicht mehr weit sein, Eddie. Weniger als ein Kilometer, schätze ich.« »Ein Kilometer!« »Ach, jammern Sie nicht rum!«, sagte Elena, stand auf und klopfte ihre Kleidung ab. »Gehen Sie einfach weiter!«
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38 Jimmy saß am Steuer des Wagens. Er war zu einem rund um die Uhr geöffneten Tesco-Supermarkt gefahren, um Proviant zu holen. Er drückte die Sendetaste im Schalthebel. »Jimmy nähert sich dem Haus.« Brian hielt Wache und kontrollierte die Überwachungsgeräte, die das Anwesen schützten. »Roger, Jimmy. Hab dich.« Einer der Bildschirme vor ihm zeigte den unbefestigten Weg zum Haus in Form einer einfachen grafischen Darstellung. Jimmy war über die ersten Sensoren im Boden hinweggefahren und hatte damit einen Alarm ausgelöst. Ein zweites weißes Licht blinkte, dann ein drittes, als sich Jimmy dem Anwesen näherte. Er hielt kurz nach dem dritten Alarmpunkt an und schaltete das Licht aus. Langsam fuhr er in den offenen Bereich und auf den Beton, wartete dann darauf, dass Brian das Tor für ihn öffnete. Fran und Mick befanden sich ebenfalls in dem Überwachungsraum. Es gab keine Fertiggerichte mehr und deshalb aßen sie Sandwiches. Sie waren nicht besonders hungrig, langweilten sich nur. Das Essen half, die Zeit bei einem solchen Routinejob zu vertreiben. Marcie Deveraux war allein im gegenüberliegenden Zimmer. Sie wusste, dass sie wach bleiben musste, aber es war auch wichtig, ein wenig auszuruhen. Sie schaltete das Licht aus, legte sich aufs Feldbett und faltete die Hände hinterm Kopf. Als sie 274
in die Dunkelheit starrte, hörte sie, wie sich die Tür des Überwachungsraums öffnete. Es folgten Schritte auf der Treppe. Fran übernahm die Wache und als Erstes kontrollierte sie Fergus. Am oberen Ende der Treppe schloss sie die Tür auf, öffnete sie und richtete einen spöttischen Blick auf den Gefangenen, der auf dem Boden lag, die Füße an der hölzernen Pritsche festgebunden. »Haben Sie’s bequem?« Fergus sah trotzig zu ihr auf, als Fran hereinkam, die 9mm-Glock aus dem Halfter zog und sie auf eine Stelle zwischen seinen Augen richtete. »Ich freue mich schon darauf, Ihnen den Rest zu geben. Es ist immer wieder ein Vergnügen, einen Drogenhändler fertig zu machen.« Sie hob die freie Hand zur immer noch fleckigen Nase, überprüfte dann Fergus’ Fesseln und kehrte zur Tür zurück. »Den Jungen schnappen wir bald. Schade um ihn, aber wahrscheinlich wäre er genauso geworden wie Sie. Es liegt im Blut, schätze ich.« Fran lächelte. »Haben Sie dem Chef wirklich nichts zu sagen?« Fergus sah ihr in die Augen. »Fincham hat mich reingelegt. Er ist derjenige, der hier gefesselt sein sollte. Er ist der wahre Schuldige …« »Ja, natürlich, darauf habe ich schon gewartet«, sagte Fran. »Möchten Sie irgendetwas sagen, das einen Sinn hat?« Fergus wusste, dass er seine Zeit vergeudete. Er wandte den Blick ab. »Wie Sie wollen, es ist Ihr Begräbnis – obwohl Sie eigentlich gar kein Begräbnis bekommen werden.« Fran trat aus dem Zimmer, zog die Tür zu und schloss sie wieder ab. Sie ließ den Schlüssel im Schloss, damit er nicht verloren ging. Wieder im Erdgeschoss, verließ sie das Gebäude, kontrollierte das Vorhängeschloss am Tor, ging dann am Zaun ent275
lang und hielt nach herausgeschnittenen Stücken Ausschau. Es war die normale Einsatzroutine zu Beginn der zweistündigen Wache. Kurze Zeit später befand sie sich wieder im Überwachungsraum und sah auf die Bildschirme. Das Wasser im Kessel kochte und Mick gab Instantkaffee in bereitgestellte Becher. »Möchtest du Kaffee, Fran?« »Ja«, antwortete sie und wandte sich von den Monitoren ab. »Übrigens … Unser Freund dort oben hält sich für unschuldig und den Chef für den wahren Übeltäter.« »Na klar«, erwiderte Mick, als er heißes Wasser in die Becher goss. »Und du bist die Herzkönigin.« Danny hörte Geräusche im Gebüsch, als sie eine weitere Etappe beendeten. Er blieb stehen und spähte in die Finsternis. Eddie schnaufte so sehr, dass er nichts hörte. Der Reporter stieß gegen Danny. »Entschuldige«, sagte er viel zu laut. Das Geräusch aus dem Gebüsch wiederholte sich, und es klang so, als liefe jemand weg. Diesmal hörte Eddie es ebenfalls. »Was ist das?« »Pscht«, machte Elena und griff nach Eddies Arm. »Nur ein Reh«, sagte Danny. »Wir haben es verscheucht.« Eddie wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. »Warum bin ich nur mitgekommen?« Danny kniete auf dem Weg, um erneut Eindrücke von der Umgebung zu sammeln. Sein Knie ruhte genau auf einem runden Sensor, der unter dem welken Laub einige Zentimeter tief im Boden steckte. Zum Glück für Danny war er auf das Gewicht eines Wagens eingestellt. Im Überwachungsraum des Hauses trank Fran einen Schluck Kaffee und sah auf einen Bildschirm, der nichts anzeigte. 276
Danny richtete sich auf und ging weiter, bis sie zum Rand des offenen Bereichs gelangten. Dort verharrten sie, blickten durchs Gestrüpp und sahen den Beginn der Betonstraße. »Du hattest Recht«, flüsterte Elena Danny zu. »Aber hier sollte es nur Wald geben«, hauchte Eddie und starrte in die Düsternis. Danny wandte sich ihm zu. »Bleibst du jetzt bei uns oder willst du zurück?« »Ich bleibe bei euch. Nur noch ein bisschen.« Sie schlichen zur befestigten Straße und hielten sich links davon. Bald konnten sie voraus in der Dunkelheit die Umrisse des Gebäudes und des hohen Zauns erkennen. »Dort«, flüsterte Danny. »In jenem Haus wird Fergus festgehalten. Wir müssen die Lage auskundschaften.« Im Uhrzeigersinn folgten sie dem Verlauf des Zauns und näherten sich zuerst der breiten Seite des Gebäudes. Der stählerne Zaun bestand aus so kleinen Rechtecken, dass sie Händen oder Füßen keinen Halt boten. Mattes Licht kam aus einem Fenster links unten und aus dem direkt darüber. Danny und seine beiden Begleiter setzten den Weg zur grünen Seite fort, wo es keine Fenster gab. Bei Schwarz bemerkten sie Licht bei einem Fenster rechts unten und auch bei dem darüber. Sie passierten die Wellblechbaracke, erreichten die rote Seite und sahen den Entwässerungsgraben auf ihrer Seite des Zauns. »Und jetzt?«, fragte Eddie und setzte sich auf den Boden. »Wie wollt ihr hinein?« Danny sah auf die Uhr. Das Anwesen zu finden und die Auskundschaftung hatten Stunden gedauert. Elena wusste genau, was ihm durch den Kopf ging. »Uns 277
bleiben nur noch etwa vier Stunden, bis es hell wird. Wir können es uns nicht leisten, dann noch hier festzusitzen.« »Also los«, sagte Danny und huschte zur schwarzen Seite. Elena folgte ihm und Eddie kam mühsam wieder auf die Beine. Hinter der Wellblechbaracke nahm Danny die Kletterhilfe aus seinem Rucksack und sah zum Zaun. »Kein Berg, aber ziemlich hoch.« Eddie blickte ebenfalls zur aufragenden Stahlbarriere. »Das schaffst du nie.« »Und ob ich es schaffe.« »Wir schaffen es beide«, sagte Elena mit fester Stimme. »O nein«, widersprach Danny und entwirrte die Nylonriemen. »So etwas hast du noch nie benutzt.« »Ach, du etwa?« Das Gespräch wurde zu laut und hitzig. »Pscht«, zischte Eddie. »Bringt einfach den verdammten Zaun hinter euch!« »Ich dachte, Sie wollten nicht bleiben«, schnappte Elena. »Ich bleibe auch nicht. Ich beobachte nur, wie ihr hinüberklettert, das ist alles.« »Hier draußen nütze ich dir nichts«, wandte sich Elena an Danny. »Kletter über den Zaun und wirf mir diese Dinger zu. Wenn du es schaffst, schaffe ich es ebenfalls.« Danny wusste, dass es sinnlos war, weitere Einwände zu erheben, und außerdem hatte Elena Recht. Wenn sie auf dieser Seite des Zauns blieb, musste sie sich mit der Rolle des Zuschauers begnügen. Sie war schließlich nicht mitgekommen, um das Geschehen zu beobachten, sondern um zu helfen. Er vergewisserte sich, dass sein Rucksack fest auf dem Rü278
cken saß, trat zum Zaun und hakte einen der Holzklötze in Schulterhöhe an den Stahl. Der Nylonriemen hing davon herab. Den zweiten Block setzte Danny ein wenig höher, sodass dazwischen etwa eine Schulterbreite Platz blieb. Er griff mit den Händen nach den Blöcken, setzte den rechten Fuß in die unterste Schlaufe und zog sich mit der Kraft seiner Arm- und Beinmuskeln nach oben. Er vertraute der Schlaufe sein ganzes Gewicht an. Sie knirschte leise und der Zaun wölbte sich ihm entgegen und rasselte. Das Geräusch war nicht besonders laut, aber in der nächtlichen Stille klang es wie ein Beckenschlag. Die Schlaufe hielt. Danny setzte den Fuß in die andere Schlaufe, verlagerte sein Gewicht auf die linke Seite und zog sich hoch. Jetzt kam der schwierige Teil: Er musste den rechten Block aus dem Zaun lösen und ihn weiter oben hineinhaken, damit er weiterklettern konnte. Der erste Versuch schlug fehl. Als sich der Nagel löste, schwang Danny nach links und hing mitten in der Luft, mit dem Rücken zum Zaun. Elena eilte herbei, ergriff Dannys Beine und drehte ihn, damit er wieder dem Zaun zugewandt war. Er hakte den Holzklotz weiter oben fest, verlagerte sein Gewicht und zog sich hoch. »Pass bloß auf!«, hauchte Elena. Stumm beobachtete sie, wie Danny gleichmäßig und vorsichtig kletterte. Doch die Minuten vergingen schnell und der Aufstieg war schwer. Während er sich dem oberen Rand des Zauns näherte, protestierten die überanstrengten Muskeln mit stechenden Schmerzen. Die Kleidung verfing sich an den stählernen Spitzen, und Danny löste sie, bevor er sich auf die andere Seite schwang. Der Abstieg war fast so schwer wie zu279
vor der Weg nach oben, aber schließlich erreichte er den Boden und löste die Nägel vom Zaun. Er trat zurück und warf die beiden Holzklötze nacheinander über den Zaun. Innerhalb weniger Sekunden hatte Elena sie in die Stahlmaschen gehakt und begann mit dem Aufstieg. Durch den Zaun sah sie Danny an und flüsterte: »Leicht.« Es war fast Zeit für Mick, die Wache zu übernehmen. Er döste auf seinem Feldbett, als Fran ihn sanft an der Schulter rüttelte. Er schlug die Augen auf. »Wache in fünf Minuten«, sagte Fran leise. »Der Kessel ist aufgesetzt.« Mick nickte und gähnte. »Ich seh so lange mal nach Watts.« Er stand auf und ging zur Treppe. Als er zurückkehrte, hatte Fran den Kaffee fertig. Mick streifte die Jacke für den routinemäßigen Kontrollgang am Zaun über. »Bin gleich zurück«, sagte er und ging zur Tür. Danny und Eddie sahen Licht, als sich die Tür öffnete, beobachteten dann eine schattenhafte Gestalt, die zum Tor im Zaun schritt. Elena befand sich an der Innenseite des Zauns, auf halber Höhe. Von ihrer Position aus konnte sie das Tor nicht sehen, aber sie wusste, dass Gefahr drohte, als sie ein Rasseln hörte – Mick überprüfte das Vorhängeschloss. Elena hatte keine Wahl. Sie nahm den Fuß aus der Schlaufe und ließ die Holzklötze los – es blieb nicht genug Zeit, die Kletterhilfen vom Zaun zu entfernen. Sie prallte hart auf den Betonboden, doch das Adrenalin in ihrem Blut hatte ihr Schmerzempfinden betäubt. Danny zog sie auf die Beine, und sie liefen in die Wellbleckbaracke, während Eddie im Gestrüpp verschwand. 280
Mick begann mit seiner Runde und leuchtete mit der Taschenlampe über die unteren Bereiche des Zauns. Danny und Elena hockten dicht nebeneinander hinter einem der Wagen. Sie konnten nicht sehen, wie sich Mick der Stelle des Zauns näherte, wo sich die Holzklötze mit den baumelnden Nylonriemen befanden. Aber Mick freute sich auf den Kaffee und versäumte es, nach oben zu sehen. Er kam an den Kletterhilfen vorbei und setzte den Weg in Richtung der Baracke fort. Die Schritte näherten sich. Danny und Elena verharrten in völliger Reglosigkeit und hielten unwillkürlich den Atem an. Mick blieb stehen, weniger als drei Meter von ihnen entfernt. Das Licht seiner Taschenlampe strich übers Wellblech, sprang dann von Wagen zu Wagen. Für einige Sekunden blieb es an einer Stelle, wanderte dann weiter. Die Schritte setzten wieder ein, und der Schein der Taschenlampe glitt weiter unten über den Zaun, bis er schließlich verschwand. Danny und Elena hörten, wie sich die Tür des Hauses öffnete und schloss. Dann herrschte Stille auf dem Anwesen. »Überprüf die Autotüren«, flüsterte Danny und richtete sich auf. »Vielleicht brauchen wir einen der Wagen.« Elena huschte von einem Fahrzeug zum nächsten. Alle waren abgeschlossen. »Gehen wir«, sagte Danny. Geduckt überquerten sie den rückwärtigen Teil des Anwesens und gingen unter dem rechten Fenster im Erdgeschoss in die Hocke. Danny hob langsam den Kopf, sah durch den Maschendraht und bemerkte einen Mann, der hinten im Zimmer stand und ihm den Rücken zukehrte. Zwei weitere Männer schliefen auf Feldbetten und eine 281
Frau kroch auf einem dritten Feldbett in einen Schlafsack. Das passte zusammen: vier Wagen, vier Personen. Doch die Frau im Schlafsack war eine Weiße, während die Frau, die Danny in Meachers Haus gesehen hatte, eine Farbige gewesen war. Er hatte gehofft, eine Verbündete im Lager des Feinds zu haben, doch offenbar behielt Eddie Recht: Sie waren auf sich allein gestellt. Danny sah zum Licht auf, das durchs Fenster weiter oben fiel. »Bestimmt ist er dort«, flüsterte er Elena zu. »Und es gibt nur einen Weg nach oben.« Das äußere Abflussrohr von der Toilette in dem Raum wirkte stabil genug. Danny zog daran, um ganz sicher zu sein, wischte die feuchten Hände an der Mauer trocken und begann zu klettern. Im Vergleich mit dem Zaun war dies einfach. Innerhalb weniger Sekunden erreichte er das Fenster. Er griff nach der metallenen Fensterbank, die unter dem stählernen Maschendraht hervorragte, und klemmte die Füße zwischen Mauer und Abflussrohr. Dann hob er langsam den Kopf und spähte ins Zimmer. Fergus hörte die Bewegung am Fenster. Er setzte sich auf und dachte zunächst, dass es ein Vogel gewesen sein musste. Doch dann wiederholte sich das leise Klopfen am Maschendraht und es konnte unmöglich von einem Vogel stammen. Er sah hin und riss verblüfft die Augen auf, als er eine Hand sah. Danny beobachtete, wie sein Großvater die Pritsche vorsichtig über den Boden zog, damit sie so wenige Geräusche wie möglich verursachte. Fergus erreichte die Wand, kniete und öffnete das Fenster, das nach wenigen Zentimetern gegen den Maschendraht stieß. Doch es genügte, um Danny zu erkennen, der ihn anlächelte. 282
Fergus erwiderte den Blick erst überrascht und dann wütend. »Du … du verdammter Narr!«, zischte er. »Verschwinde von hier. Geh. Hau ab!«
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39 Aber Danny wollte nicht verschwinden – zumindest nicht, solange er sich an dem Abflussrohr festhalten konnte. Er senkte die eine Hand, holte das Leatherman-Messer hervor und schob es durch ein Rechteck des Maschendrahts. »So ein Messer kann wirklich sehr nützlich sein«, flüsterte er. Fergus drängte seinen Zorn beiseite und nahm das Messer entgegen. »Vier Aufpasser«, raunte Danny. »Alle in dem Raum unter diesem. Und vier Wagen. Kannst du Autos kurzschließen?« Fergus nickte. »Elena und Eddie sind bei mir.« »Elena und …? Danny, was zum Teufel glaubst du eigentlich …?« »Allein konnte ich es nicht schaffen«, zischte Danny. »Ich bin nicht perfekt wie du.« Es fiel ihm immer schwerer, sich an dem Rohr festzuhalten; seine Beine zitterten schon vor Anstrengung. »Warte, bis ich dir ein Zeichen gebe. Versuch dann, hier rauszukommen und die Wagen zu erreichen.« »Was für ein Zeichen?« »Das weiß ich noch nicht und vielleicht dauert es noch eine Weile. Aber du wirst es erkennen, wenn du es hörst.« Danny konnte sich nicht länger festhalten und rutschte am Rohr hinab. »Danny, verschwinde von hier und …« Aber er war bereits fort. Fergus schloss das Fenster und schob die Pritsche behutsam zu ihrer ursprünglichen Position 284
zurück. Er verbarg das Messer in der Jeans und richtete den Blick auf die Tür und das Schloss, in dem er die Spitze des Schlüssels erkennen konnte. Noch vor fünf Minuten hatte er ans Sterben gedacht und versucht, sich, so gut es eben ging, darauf vorzubereiten. Er war dem Tod oft nahe gewesen. Diesmal schien es keine Hoffnung mehr zu geben und zu viel Zeit, um über das bevorstehende Ende nachzudenken. Doch jetzt kam plötzlich wieder Hoffnung auf, auch wenn es nur ein schwacher Schimmer war. Andererseits: Es waren keine erfahrenen, bestens ausgebildeten SAS-Kämpfer da draußen, um für ihn zu kämpfen. Fergus’ Leben lag in den Händen seines siebzehnjährigen Enkels. Danny wartete, bis seine Beine nicht mehr zitterten, bevor er mit Elena zum Zaun zurückkehrte, an dem noch immer die Kletterhilfen hingen. Eddie kam aus dem Gestrüpp auf sie zu. »Was habt ihr gesehen? Ist er hier?« Danny nickte. »Im ersten Stock. Und vier Wächter im Erdgeschoss. Aber kein Anzeichen von Fincham oder der Frau bei Meachers Haus.« »Vier?«, wiederholte Eddie leise. »Steigt aus, solange ihr noch könnt. Wenigstens weißt du jetzt, dass dein Großvater noch lebt. Wir kehren nach London zurück und …« »Ohne Fergus gehe ich nirgendwohin«, zischte Danny. »Wir müssen ihm mit einem Ablenkungsmanöver Gelegenheit zur Flucht geben.« »Wir?« »Oh, keine Sorge, Eddie, wir schaffen es allein«, flüsterte Elena voller Spott. »Fahren Sie ruhig nach London, ohne einen 285
Gedanken an uns zu verschwenden. Denken Sie einfach nur an sich selbst. Wahrscheinlich werden wir umgebracht, wie Sie sagten, aber Ihnen droht keine Gefahr. Sie können in aller Ruhe Ihre Story schreiben und das ist Ihnen doch das Wichtigste, oder? Was spielen Menschenleben dabei schon für eine Rolle?« Die Worte sprudelten nur so aus Elena heraus, aber schließlich schwieg sie. Eddie starrte sie an. »Bist du fertig?« Sie nickte. »Es hat keinen Zweck, an meine bessere Seite zu appellieren, denn ich habe keine«, sagte Eddie. »Ja, das ist mir bereits aufgefallen.« »Und was könnte ich schon tun?« »Sie könnten Ihren Wagen benutzen.« »Wozu das denn?« Nicht nur Eddie starrte Elena an, sondern auch Danny. »Fahren Sie damit über den Weg auf das Gebäude zu. Hupen Sie, blinken Sie mit dem Fernlicht, drehen Sie das Autoradio auf, tun Sie alles, um die vier Wächter aus dem Haus zu locken. Sobald sich das Tor öffnet, drehen Sie und machen sich aus dem Staub. Wir erledigen den Rest.« Eddie sah Danny an. »War das deine Idee?« »Nein, es ist meine«, schnappte Elena. »Er ist nicht der Einzige mit einem funktionierenden Hirn.« »Wärst du dazu bereit?«, fragte Danny. »Wahrscheinlich ist es unsere einzige Chance.« »Aber ich brauche Stunden für den Weg zurück zum Wagen.« »Uns bleiben noch mindestens zwei Stunden bis Tagesanbruch, vielleicht drei.« 286
»Aber … Was ist, wenn … Aber …« Eddies Widerstand schwächelte. »Bitte, Eddie«, sagte Elena leise. »Bitte?« Der beleibte Reporter schüttelte den Kopf und seufzte. »Sobald ich sehe, wie diese Leute das Tor öffnen, mache ich mich auf und davon. Dann gebe ich Gas und verschwinde. Und zwar so schnell, dass selbst Michael Schumacher keine Chance gegen mich hätte.« Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, drehte sich um und marschierte los. Nach einigen Schritten blieb er noch einmal stehen und sah zurück. »Es ist Wahnsinn«, brummte er. »Wahnsinn.« Er zog die Jacke enger um sich und eilte durch die Nacht. Danny und Elena konnten nur noch warten. Und hoffen. Sie schlichen in den Sichtschutz der Wellblechbaracke und setzten sich auf den Beton. Die Nacht hatte ihre kälteste Stunde erreicht, und sie rückten zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. »Ich war ein bisschen hart mit ihm, oder?«, fragte Elena. »Ja.« »Glaubst du, er kommt zurück?« »Keine Ahnung.« »Was passiert, wenn er nicht zurückkommt? Was machen wir dann?« »Ich weiß es nicht, Elena. Warten wir’s ab.« Sie schwiegen eine Zeit lang. Die Kälte wurde ziemlich unangenehm. »Bist du müde?« »Hundemüde.« »Ebenso.« 287
Wieder schwiegen sie und dachten beide an Eddie, der durch den Wald stolperte und hoffentlich nicht aufgab. Sie kämpften gegen Kälte und Müdigkeit an, sprachen nur gelegentlich miteinander und nickten manchmal kurz ein, um kurze Zeit später mit einem Schreck zu erwachen. Nach zwei Stunden öffnete sich die Tür des Hauses und einer der Männer trat nach draußen. Schlagartig waren Danny und Elena hellwach und lauschten den Schritten, als der Mann das Tor kontrollierte und dann mit der Überprüfung des Zauns begann. Er kam an der Stelle mit den Kletterhilfen vorbei, ohne aufzusehen, beendete seinen Rundgang rasch und kehrte ins Gebäude zurück. Danny sah auf die Uhr und dann zum Himmel hoch. Über den dunklen Baumwipfeln zeigte sich das erste Licht des neuen Tages. »Er kommt nicht zurück, oder?«, sagte Elena. Danny schüttelte den Kopf. »Offenbar müssen wir allein zurechtkommen.« Sie standen auf und schlichen vorsichtig zur Rückseite des Hauses.
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40 Eddie war unterwegs und jagte seinen Wagen so schnell durch den Wald, wie es das rostige Fahrgestell erlaubte. Er hatte Angst, schreckliche Angst, aber er war unterwegs. Und er aß etwas: seinen letzten Mars-Riegel, der als Notration im Handschuhfach gelegen hatte. Der Marsch zurück durch den Wald war ein Albtraum gewesen, aber er hatte entschlossen einen Fuß vor den anderen gesetzt, in dem Wissen, dass er nur dem Verlauf des Weges folgen musste. Immer wieder war er gestolpert und gefallen und mit der Kleidung an Dornen und Zweigen hängen geblieben. Der Schrei einer Eule hatte ihn fast zu Tode erschreckt. Und er war nicht stehen geblieben, um zu verschnaufen. Nicht ein einziges Mal. Der Sierra holperte und rumpelte über den Weg und Eddie schaltete das Fernlicht ein. Alle im Haus sollten den Wagen sehen, wenn er das Anwesen erreichte. Wenn niemand reagierte, würde er hupen, bis die Leute aus dem Haus gerannt kamen. Dann würde er wenden und abhauen. Mit ein bisschen Glück – und Eddie glaubte, dass er sich inzwischen ein wenig Glück verdient hatte – erreichte er die Hauptstraße und war weg, bevor sie ihn erreichten. Brian hielt Wache und stellte den Kessel auf. Die anderen Mitglieder des Teams schliefen und die Bildschirme zeigten nichts an. Draußen war alles ruhig. Das Wasser im Kessel begann genau in dem Augenblick zu kochen, als die ersten Sensoren im Boden des Weges einen Alarm auslösten: Auf einem 289
Bildschirm erschien ein blinkender Punkt. Brian unternahm nichts; er wartete und behielt die Anzeige im Auge. Kurz darauf gesellte sich dem ersten blinkenden Punkt ein zweiter hinzu. »Achtung! Achtung! Ein Fahrzeug nähert sich!« Die Teammitglieder sprangen von ihren Feldbetten und griffen nach den Waffen. Fran war als Erste an der Tür und die anderen folgten ihr nach draußen. Danny und Elena hörten die Rufe und dann Schritte, die sich ihnen näherten. Danny nahm Elenas Hand, zog sie an der Rückseite des Gebäudes entlang auf die grüne Seite, wo sie außer Sichtweite waren. Es war anders als geplant – sie hatten erwartet, zuerst Eddies Wagen zu hören. Motoren starteten in der Baracke und die beiden Torflügel wurden rasselnd aufgezogen. Auch Fergus hörte die Stimmen und das Brummen der Motoren. Das musste das Signal sein. Er schnitt die Plastikfesseln durch und kroch zur Tür. Tausend Nadeln schienen sich ihm in die Beine zu bohren, als das Blut wieder frei zirkulierte. Er klappte die Nagelfeile aus dem Leatherman, denn er wusste: Wenn ein Schlüssel im Schloss steckt, kann man ihn von beiden Seiten drehen. Marcie Deveraux saß auf ihrem Feldbett und wartete. Jetzt traten die Einsatzroutinen des Stützpunkts in Kraft. Fran und Mick saßen in ihren Wagen und fuhren los, mit MP5-Maschinenpistolen auf dem Schoß und Pistolen in den Gürtelhalftern. Jimmy lief mit seiner MP5 durchs Tor zum Graben, um nachzusehen, ob sich dort jemand verbarg. Brian stand am Tor und beobachtete den offenen Bereich, der das Anwesen umgab. 290
Als Eddie den Wald verließ und den Betonweg erreichte, kamen ihm zwei Wagen entgegen. Entsetzt riss er die Augen auf. »Oh, Scheiße!« Es hatte keinen Sinn zu versuchen, den Wagen zu wenden. Eddie trat auf Bremse und Kupplung und der Sierra kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Er sprang aus dem Wagen und lief ins Gestrüpp. Danny spähte hinter dem Gebäude hervor und sah, dass alle vier Teammitglieder draußen waren. »Wir gehen rein«, sagte er zu Elena. Sie nickte. Gemeinsam huschten sie an der weißen Seite entlang und ins Haus. Drinnen betraten sie sofort das Zimmer, in dem Danny die Leute gesehen hatte. »Such nach Schlüsseln!«, rief Danny. »Wir brauchen einen Wagen.« Sie hörten Schritte auf der Treppe und wenige Sekunden später kam Fergus herein. Er sah, wie sie Reisetaschen und Jacken durchsuchten. »Schlüssel!«, rief Danny. »Wir suchen Autoschlüssel!« »Keine Zeit!«, erwiderte Fergus. »Los! Los!« Danny und Elena drehten sich um und sahen eine Bewegung in der Tür. »Hände hoch! Hoch damit, sofort!« Brian zielte auf Dannys Kopf. »Gehorchen Sie, Watts, oder ich erschieße ihn als Ersten und …« »Schon gut«, erwiderte Fergus und hob langsam die Hände. »Hübsch langsam«, sagte Brian. »Eine falsche Bewegung und ich …« Weiter kam er nicht. Ein zweimaliges dumpfes Knallen kam aus dem Flur. Brian taumelte nach vorn, als hätte ihn jemand von hinten an den Kopf gestoßen, dann sackte er auf den Boden. 291
Danny und Elena hatten gar keine Zeit, das schreckliche Geschehen richtig zur Kenntnis zu nehmen. Denn Marcie Deveraux erschien im Türrahmen und zielte mit ihrer Glock auf Fergus. »Schaut in meine Richtung!«, rief sie Danny und Elena zu, weil sie wusste: Wenn die beiden auf Brians Leiche geschaut und gesehen hätten, wie das Blut aus dem zerschmetterten Kopf quoll, wären sie wohl in Panik geraten. Aus weit aufgerissenen Augen starrten sie Deveraux an, die den Blick fest auf Fergus gerichtet hielt. »Es ist noch nicht an der Zeit für dich zu sterben, Watts. Verschwinde. Solange du die Möglichkeit dazu hast.« Sie sah auf Brian hinab. »Er fuhr den Toyota. Bestimmt hat er die Schlüssel bei sich. Nimm sie dir.« Fergus bückte sich, zog die Autoschlüssel aus Brians Jeans und schob Danny und Elena in Richtung Tür. »Wartet!« Deveraux ließ die Pistole fallen und wandte sich zu Fergus. »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte sie. »Sieh zu, dass es überzeugend aussieht.« Sie schloss die Augen. Fergus holte aus und versetzte ihr einen wuchtigen Schlag an die Seite des Kinns. Deveraux ging zu Boden und spuckte Blut. Fergus hob die Pistole auf. »Bewegt euch!«, rief er Danny und Elena zu. Draußen im Gestrüpp auf der anderen Seite des Grabens hörte Jimmy, wie es im Haus zweimal knallte. Er lief zum Anwesen zurück und sah drei Gestalten im Schatten der Wellblechbaracke. Fergus drückte den Knopf der Fernbedienung und die Blinker des Toyotas leuchteten auf. Sie sprangen in den Wagen, Danny und Elena in den Fond, und der Motor heulte auf. 292
»Kopf runter! Haltet den Kopf unten!«, rief Fergus. Er trat aufs Gas, der Wagen sauste nach draußen und riss dabei den Seitenspiegel des daneben geparkten grünen Renaults ab. Jimmy war fast beim Tor, als der Toyota das Anwesen verließ. Er hob seine MP5, zielte dicht vor Fergus’ Kopf und hoffte, dass ihn die Bewegung des Wagens in die Schusslinie brachte. Sie hörten ein dumpfes Plock-plock-plock, als Kugeln den Wagen trafen. Fergus duckte sich so tief wie möglich, fuhr aber weiter. Ein Seitenfenster zerbarst und Splitter fielen auf Danny und Elena. Weiter vorn standen drei Wagen mit offenen Türen und blockierten den Weg. »Festhalten!«, rief Fergus und lenkte den Toyota nach rechts, vom Weg herunter. Der Wagen schleuderte und drückte das Gestrüpp flach, während Fergus versuchte, ihn wieder auf den Weg zu bringen. Sie hatten fast den Wald erreicht, als Danny den Kopf hob und durchs Rückfenster sah. Fran und Mick hatten Eddie gefunden und zerrten ihn zu den Wagen. »Halt! Halt!«, rief Danny. Fergus trat instinktiv auf die Bremse, und bevor er sich umdrehen konnte, hatte Danny schon die Pistole gepackt, sprang nach draußen und lief in Richtung der drei Fahrzeuge. »Nein, Danny! Nein!«, schrie Elena. Fergus legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Fran bemerkte Danny, als er an dem Sierra vorbeilief. Sofort ließ sie den entsetzten Reporter los und jagte Danny hinterher. Im gleichen Augenblick kam der Toyota bei den drei Wagen zum Stehen und Fergus war mit einem Satz draußen. »Bleib drin und duck dich!«, rief er Elena zu. Eddie sah eine Chance für sich. Mit Tritten und Schlägen 293
befreite er sich aus Micks Griff und lief los. Er kam nicht weiter als drei Schritte. Mick hob die Pistole, zielte und schoss dem Reporter zweimal in den Kopf. Eddie war tot, noch bevor er auf den Beton fiel. Danny blieb stehen. Entsetzen erfasste ihn und der Schock lähmte seinen Körper. Er konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen und alles schien unwirklich und in weiter Ferne. Es summte in seinen Ohren. Er hörte weder die Schreie noch die anderen Geräusche, als sein Gehirn versuchte, das zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Die Pistole hing schlapp in seiner rechten Hand, während er auf den leblosen Körper am Boden starrte. Fran war weniger als zwanzig Meter entfernt. Als sie ihre Pistole hob, ratterte eine automatische Waffe hinter Danny. Der donnernde Lärm schien geradezu in seinem Kopf zu explodieren und brachte ihn in die Realität zurück. Er sah, wie Fran ins Gebüsch sprang, drehte den Kopf und beobachtete, wie Fergus hinter dem Sierra eine zweite Salve abgab. In seinen Händen befand sich die MP5 vom Beifahrersitz in Frans Wagen. Das Rattern verklang zwischen den Bäumen, und Danny hörte ein durchdringendes Heulen, das schnell lauter wurde und seine Aufmerksamkeit verlangte. Er schaute über den Weg zum Gebäude, von wo der grüne Renault direkt auf ihn zugerast kam. Furcht, ja Todesangst ließ Danny sich umdrehen und loslaufen, schneller als er jemals zuvor gelaufen war. Fergus schoss dreimal auf die Windschutzscheibe des Wagens. Der Fahrer trat auf die Bremse, die Reifen quietschten, und Qualm stieg von ihnen auf. Jimmy saß am Steuer und wurde von einer Kugel getroffen, als Fergus erneut schoss. 294
Der Wagen geriet ins Schleudern und prallte gegen eins der anderen Fahrzeuge. Aber er war zu schnell und blieb nicht stehen. Der Renault kam vorn nach oben, neigte sich zur Seite und fiel aufs Dach. Benzin spritzte aus dem aufgerissenen Tank und der Wagen ging in Flammen auf. Danny stürmte an seinem Großvater vorbei und sprang in den Fond des Toyotas. Fergus feuerte auf die Reifen der anderen Autos, richtete sich dann auf und schickte eine letzte Salve ins Gestrüpp, damit Fran und Mick den Kopf unten hielten. Rasch ließ er sich auf den Fahrersitz des Toyotas fallen. Die Reifen qualmten, als er aufs Gas trat, und der Wagen sauste in den Wald. »Man hält sich immer an die Einsatzroutine!«, rief er wütend, während er sich bemühte, das dahinrasende Fahrzeug auf dem unbefestigten Weg zu halten. »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Wie oft?« Danny hielt noch immer die Pistole in der rechten Hand, obwohl er sie kaum fühlte. »Leg sie weg!«, rief Fergus. »Leg die Waffe weg!« Wortlos und ohne ein Anzeichen, dass er die Anweisung seines Großvaters überhaupt gehört hatte, ließ Danny langsam die Pistole los. Sie fiel auf den Boden des Wagens. Der Toyota erreichte das Ende des Weges und sie fuhren aus der Düsternis des Waldes in den Sonnenschein. Es war Morgen. Fergus bog auf die Hauptstraße und sah dann im Rückspiegel zu Danny. »Der, den sie erwischt haben …«, sagte er. »Das war der Reporter, oder?« Danny hatte keinen Ton von sich gegeben, seit er in den Wagen gesprungen war. Er sah in den Rückspiegel und begegnete dem Blick seines Großvaters. »Eddie«, flüsterte er schließlich. »Eddie Moyes.« 295
Fergus nickte. »Man wird irgendwie damit fertig, Danny. Wie ich’s dir gesagt hab. Erinnerst du dich? Man wird irgendwie damit fertig.« Danny antwortete nicht, sah durchs zerbrochene Seitenfenster und kämpfte gegen die Tränen an, die in seinen Augen brannten. Sie setzten die Fahrt schweigend fort. Fergus plante; Danny und Elena waren sehr müde, konnten die albtraumhaften Bilder der Ereignisse im Wald aber nicht verdrängen. Fergus fuhr an dem Städtchen Thetford vorbei und fuhr in südlicher Richtung durch Norfolk. Schließlich befanden sie sich in Suffolk. »Weiß noch jemand, dass du in Norfolk gewesen bist, Elena?«, fragte er. »Nur mein Vater«, antwortete sie. »Er erwartet mich heute in London.« »Du wirst dort sein. Kehr so zurück, als wäre überhaupt nichts geschehen. Fincham weiß nichts von dir. Die Überlebenden im Wald haben dich nicht gesehen und was die andere Frau betrifft …« Fergus sprach nicht weiter. »Was ist mit ihr? Warum hat sie uns gehen lassen?« »Ich weiß es nicht. Aber es bedeutet, dass sie Fincham nichts von dir sagen wird, Elena. Danny und ich müssen fort – vielleicht brauchen wir noch einmal deine Hilfe.« Der Verkehr wurde stärker und der größte Teil davon ging in die andere Richtung: Laster, Autos, manche mit Wohnwagen. Die normale, alltägliche Welt schloss sich wieder um sie. Elena sah Danny an und nahm seine Hand. »Natürlich«, sagte sie. »Jederzeit.«
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Epilog Sechs Monate später Der Frühlingsmorgen war nicht nur warm, sondern heiß. TShirt-Wetter. In der unbewegten, feuchten Luft hingen die Fahnen schlaff an der Imbissbude. Das Geschäft ging gut. Die Kundschaft bestand sowohl aus Stammgästen als auch aus frühen Urlaubern auf dem Weg an die Südküste. Burger und Schinkenspeck brutzelten auf der Bratplatte. Dean kümmerte sich um das Essen und Frankie schenkte Tee aus. Zwei ihrer Stammgäste, junge Londoner namens Paul und Benny, ließen sich ihre Schinkensandwiches schmecken. Sie waren Bauarbeiter und erst seit kurzem in der Gegend, mit der Absicht, schnell reich zu werden: Sie wollten alte, heruntergekommene Häuser erwerben, sie renovieren und mit großem Gewinn verkaufen. Aber bisher schienen sie den größten Teil ihrer Zeit bei Frankies Bude zu verbringen. »Ich bin froh, dass wir euch gefunden haben, Frankie«, sagte Paul und rührte Zucker in seinen dampfenden Becher Tee. »Hier ist der einzige Ort weit und breit, wo man anständigen Tee bekommt.« Benny nickte. »Ja, und Deans Essen schmeckt fast so gut wie das von meiner Mutter.« Frankie lächelte. »No hay ningún lugar como el hogar.« Benny trank einen Schluck Tee. »Was bedeutet das?« 297
»Daheim ist es am schönsten«, sagte Dean und wendete einen Burger. »Ja, das stimmt«, erwiderte Benny. Sein Freund nickte und dann bissen sie wieder in ihre Sandwiches und beobachteten den Verkehr. Elena hatte Wort gehalten und geholfen, vor allem mit Geld. Nachdem Joey seinen Anteil genommen hatte, war ein Großteil ihres restlichen Geldes für die Flucht und die Einrichtung eines neuen Geschäfts draufgegangen. Und das Geschäft ging gut. Elena bekam bereits nach und nach ihr Geld zurück – es wurde über mehrere Banken auf ihr Bausparkassenkonto überwiesen. Frankie sah zu Dean, der die Flasche mit der braunen Soße auffüllte und auf den Tresen stellte. Während der letzten sechs Monate hatte er diesen in die Ferne gerichteten Blick oft bei ihm gesehen. »Du wirst sie eines Tages Wiedersehen«, meinte er. »Das sagst du mir immer wieder«, erwiderte Dean. »Aber wann?« Frankie wandte sich ab. Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt. »Wenn es sicher ist.« Die beiden Bauarbeiter kehrten zum Tresen zurück, als sie ihre Sandwiches aufgegessen hatten. »Noch zwei, Dean. Du bist ein großartiger Koch.« Dean lächelte, legte mehr Schinkenspeck auf die Bratplatte, hörte ihn brutzeln und flüsterte: »No hay ningún lugar como el hogar.« Es war ein warmer Tag in London. George Fincham traf wie üblich früh in seinem Büro ein, trank Kaffee aus seiner Lieblings-Porzellantasse und blickte stromabwärts aus dem Fenster. 298
Jemand klopfte an die Tür. »Herein.« Marcie Deveraux trat ein und wirkte so elegant wie immer. Nichts in ihrem Gesicht wies auf die umfassende zahnärztliche Behandlung hin, die nach der Begegnung mit Fergus Watts nötig gewesen war. Sie hielt ein einzelnes Blatt Papier in der Hand. »Watts und der Junge, Sir. Vielleicht sind sie gesehen worden.« Fincham blieb ruhig, fühlte aber, wie sein Herz schneller schlug. Die Kaffeetasse zitterte ein wenig in seiner Hand. »Wo?« Deveraux schob das Blatt Papier über den Schreibtisch. »Spanien.«