Nr. 8 von 12
Erben der Lemurer von Susan Schwartz
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Nr. 8 von 12
Erben der Lemurer von Susan Schwartz
Was bisher geschah: Wir schreiben den Februar des Jahres 1225 NGZ. Auf Einladung der Historikerin Li da Zoltral besucht Atlan das auf einer Museumsinsel gelegene Epetran-Archiv, in dem Schätze und gehe imes Wissen der Lemurer lagern. Diese Erste Menschheit besiedelte schon vor weit über fünfzig Jahrtausenden die Milchstraße; von ihr stammen alle gegenwärtig in der Galaxis existierenden humanoiden Völker ab. Als Unbekannte unter den Augen der Besucher einen Krish’un stehlen, einen Umhang lemurischer Tamräte, nimmt Atlan die Ermittlungen auf. Mit dem Schweren Jagdkreuzer TOSOMA stößt er ins Zentrum von Omega Centauri vor, einem wegen seiner hyperenergetischen Bedingungen bisher unerforschten Kugelsternhaufen. Auf der Handelswelt Yarn enthält er Informationen über lemurische Hinterlassenschaften, die ihn zum Planeten Acharr führen. Dort stößt er auf eine Steuerzentrale der Lemurer. Sein Verdacht wird zur Gewissheit: Die Familie da Zoltral zieht im Hintergrund die Fäden. Atlan beschließt, sich in einem der drei Reiche umzusehen, die in Omega Centauri von Lemurerabkömmlingen gegründet wurden. Seine Wahl fällt auf Shahana, wo gerade ein Angriff des Reichs Baylamor bevorsteht. Die Tamrätin ist bereit, Atlan den Oberbefehl über ihre Flotten zu überlassen, wenn dafür seine Freundin Li da Zoltral als Geisel zurückbleibt. Nach der siegreichen Raumschlacht fliegt Atlan wieder Shahana an. Dort erfährt er, dass Li entführt wurde. Die Spur führt zur Wasserwelt Tarik im Reich Baylamor. Der Arkonide lässt sich in einem Shift heimlich absetzen und kann seine Freundin aus einem Biolabor befreien, in dem sie aus unbekannten Gründen festgehalten wird. Aber die Rückkehr zum Shift misslingt. Den Gejagten bleibt nur der Weg in den Ozean ...
Sie erwarten uns. Atlan, sie erwarten uns!« Ich hörte Akanaras junge Stimme in meinem Helmempfänger, als sich gerade das Wasser über uns schloss. Ich wusste nicht, ob ich seine Worte als Verheißung oder Warnung nehmen sollte. Vermutlich würde ich es früher herausfinden, als mir lieb war. »Sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich Abstand gewinnen«, sagte ich. Wir stellten unsere Antriebsaggregate auf höchste Beschleunigung – Zanargun, der Einzelkämpfer, Akanara, der Mutant von Yarn, und Li da Zoltral, die wir gerade befreit hatten. Unsere Arme an die Körper gepresst, preschten wir durch das türkisfarbene Wasser. Die Biofabrik lag hinter uns. Wir hatten uns mühsam hindurchgekämpft, erfolgreich, aber vergeblich, denn unser Stealth-Shift hatte genau auf der gegenüberliegenden Seite gewartet. Die Flucht durch das Röhrensystem war in die falsche Richtung erfolgt! * Die Verfolger hatten unsere Spur sofort aufgenommen. Notgedrungen hatte ich Altra und Cisoph an den Kontrollen des Shifts das verabredete Signal zum Start gegeben. Ich konnte nur hoffen, dass ihnen die Flucht gelungen war. Uns war nur das Abtauchen in den Ozean geblieben, wollten wir nicht am Strand wie die Hasen abgeknallt werden. Es ist völlig verrückt, was wir hier tun, vollkommen aussichtslos, meldete sich mein Extrasinn. Fällt dir etwas Besseres ein?, gab ich wütend zurück. Hätten wir uns ergeben sollen? Dafür ist es längst zu spät. Aber nicht so spät, dass wir jetzt einfach die Waffen strecken und uns treiben lassen. Ich suchte ständig die Umgebung ab und hoffte auf
syntronische Unterstützung meines Anzugs. Die Ortung war immer noch fehlerhaft. Seit wir auf Baylamor gelandet waren, hatten wir gegen unbekannte Störfelder zu kämpfen. Dem merkwürdigen Flirren, das auf die Innenseite me ines Helms projiziert wurde, konnte ich weder entnehmen, wie groß die Anzahl der Verfolger war, noch wie nahe sie uns waren. In dem trüben Wasser war auch nicht zu erkennen, ob es Versteckmöglichkeiten gab. Selbst die Annäherung eines Meeresbewohners würde ich zu spät bemerken. Ob uns weitere Gefahren drohten, wusste ich nicht. Immerhin funktionierten die Überlebenssysteme der Anzüge. Obwohl nach den Erfahrungen der letzten Stunden nicht ausgeschlossen war, dass auch sie plötzlich eine Fehlfunktion hatten. Dann würde es mehr als schlecht für uns aussehen. Mach dich nicht verrückt, ermahnte ich mich. Denke nicht darüber nach, was sein könnte – bis jetzt funktionieren die Anzüge. Es bleibt ein Wettschwimmen ins Ungewisse. Was hatte Akanara mit seiner Bemerkung gemeint, dass wir erwartet wurden? Lieferten wir uns einem neuen Feind aus? »Ihr hättet euch meinetwegen nicht in diesen Schlamassel bege ben sollen«, erklang Lis Stimme in meinem Helmempfän ger. »Sollen wir dich wieder zurückbringen?«, platzte es aus Akanara heraus. »Für eine erwachsene Frau redest du manchmal ziemlichen Unsinn.« Sie war vor zwei Tagen von Shahana entführt und hier auf Baylamor in der Biofabrik für genetische Experimente gefangen gehalten worden. Bis zu ihrer Befreiung hatte unser Plan gut funktioniert. Aber dann hatte Murphys Gesetz zugeschlagen: Der mitgeführte Mikrotransmitter, der als Ausweg gedacht gewesen war, hatte versagt. Alles war bis ins Detail geplant gewesen. Nach der Rettungsaktion hatten wir ohne Umschweife verschwinden wollen. Aber irgendein Dämon musste von dem Transmitter Besitz
ergriffen haben – wir konnten ihn nicht aktivieren, obwohl das so gut wie ausgeschlossen zu sein schien. Diese Geräte wurden seit Jahrhunderten hergestellt, sie waren zuverlässig und stets auf dem ne uesten technischen Stand. Die Chance für eine Fehlfunktion stand wahrscheinlich eins zu einer Million. Wir hatten zu der Erklärung Zuflucht genommen, dass wir nicht mit den hyperenergetischen Streustrahlungen in diesem Sternhaufen gerechnet hatten. »Immerhin bist du frei, was jede weitere Diskussion über dieses Thema überflüssig macht!«, pflichtete Zanargun dem Jungen bei. »Konzentrieren wir uns besser auf unsere Flucht.« Der Einzelkämpfer war nicht bereit aufzugeben. Auch Akanara, den wir wegen seiner besonderen Gabe mitgenommen hatten, zwei Minuten in die Zukunft zu schauen, zeigte keine Furcht, was bedeutete, dass uns keine unmittelbare Gefahr drohte. Der Junge war nur eineinhalb Meter groß. Dicke Stirnwülste schützten seine kleinen schwarzbraunen Augen vor der sengenden Wüstensonne seiner Heimat. Kopf und Körper waren von einem dichten, fast fellartigen Haarkleid bedeckt, das kleine Gesicht wurde von überproportional großen Ohren und einer deutlich hervorstechenden Nase beherrscht. Obwohl ein geborener Kämpfer und Überlebenskünstler, hatte er zeitweise depressive Anfälle, in denen er alles und jedem misstraute. Nur zu mir hatte er langsam Vertrauen gefasst. »Wir müssen überlegen, wie wir die Arkoniden abhängen«, fuhr Zanargun fort. »Sie werden bereits mit einem ganzen Aufgebot hinter uns her sein.« Wie um seine Worte zu bestätigen, fiel plötzlich ein Schatten auf uns. Als ich hochsah und durch das Wasser zu spähen versuchte, war nichts zu erkennen. Ich wandte den Kopf zu meinen Gefährten und entdeckte bei ihnen die gleichen nervösen Bewegungen. Unter uns stiegen Luftblasen auf. An mehreren Stellen. Als näherten sich uns Verfolger.
Du wirst noch paranoid!, ermahnte mich mein Logiksektor. Das kann alles Mögliche sein. Aber auch eine Menge Schlechtes. Ein Unterwassergefährt oder ein riesiges gefräßiges Wassertier. Wir verhielten uns nicht gerade unauffällig. »Ich glaube, ich habe einzelne Lebensformen geortet«, informierte mich Li. »Nur ganz kurz und sehr verschwommen ... Könnte natürlich auch ein Fischschwarm oder so etwas sein.« »Ich finde das unheimlich«, beklagte sich Akanara. »Es gibt keine Grenzen um uns, und trotzdem kann man nicht weit sehen.« Seine Worte klangen abgehackt, der Atem ging stoßweise. »Junge, ist alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt. »Ich ... ich weiß nicht. In dem geschlossenen Anzug wird mir allmählich zu eng, ich bekomme gar nicht richtig Luft. Was ist, wenn er nicht mehr funktioniert? Ich kann doch nicht schwimmen und unter Wasser atmen erst recht nicht.« Ich wandte den Kopf und sah, wie der junge Yarn plötzlich nach oben stieg. Ich beschleunigte und erreichte ihn gerade noch, bevor er die Oberfläche durchbrach. Mir war klar, was in dem Jungen vorging, immerhin stammte er von einem Wüstenplaneten. Wasser musste ihm in dieser ungeheuren Menge zwangsläufig unheimlich und unangenehm sein. Er war ja kaum dazu zu bewegen, sich damit zu waschen, und benutzte lieber eine Ultraschalldusche. Akanara wehrte sich gegen meinen Griff, aber ich ließ nicht locker. »Atme ruhig und gleichmäßig!«, ermahnte ich ihn und schüttelte ihn leicht, um ihn zur Besinnung zu bringen. »Wenn du zu schnell und kurz atmest, gerätst du in Gefahr zu hyperventilieren.« »Was – was bedeutet das?« Seine Knopfaugen starrten mich unter den dicken Stirnwülsten fiebrig an. Er hörte auf, sich zu wehren, atmete aber immer noch viel zu schnell.
»Du glaubst zu ersticken, obwohl du genug Sauerstoff zugeführt bekommst. Vertrau dem Anzug, er ist für das Überle ben im Weltraum konstruiert.« Kühne Worte. Ich vertraute dem Pikosyn ja selbst nicht mehr. Aber Akanara musste beruhigt werden; geriet er in Panik, brachte er uns alle in Gefahr. »Mach es mir nach.« Ich atmete betont ein und aus, hielt Akanara fest und sah ihn eindringlich an. Nach einer Weile beruhigte sich sein flatternder Atem, und ich hörte einen tiefen Schnaufer. Dann sagte Akanara zögernd: »Ja ... das scheint zu funktionieren. Ich fühle mich besser.« »Gut so. Weiter. Wir schaffen es, alle zusammen. Okay?« Der Junge nickte. In der kurzen Zeit bei uns hatte er sich viele menschliche Gesten abgeschaut. Wir kehrten zu den anderen zurück und schwammen weiter. »Also, wie ist unser Stand? Wir haben gerade den einzigen Kontinent des Planeten verlassen und befinden uns im nahezu unendlichen Ozean.« Zanargun streckte die Arme nach vorn aus und hielt seine Waffe bereit. »Irgendwo muss es Riffe, versunkene Berge, Versteckmöglichkeiten geben, aber dazu müssten wir tiefer.« Mit dieser diplomatischen Bemerkung machte er mich erneut darauf aufmerksam, dass er unsere bisherige Taktik des Geradeausschwimmens auf Dauer für wenig erfolgversprechend hielt. »In Ordnung«, stimmte ich zu, »gehen wir tiefer.« Vielleicht konnten unsere Scheinwerfer das trübe Wasser so weit durchdringen, dass wir ein Versteck fanden. Außerdem fiel es unseren Verfolgern dann wahrscheinlich schwerer, uns von oben auszumachen. Immer wieder fielen Schatten vorüberzie hender Gleiter auf uns. Es war nur noch eine Frage von Minuten, wann der erste Schuss fiel. Ich wollte gerade nach unten steuern, als ich gegen eine Wand prallte.
1. Vergangenheit: Mahanay »Es ist so weit, Mahanay, dein Namenstag ist angebrochen, deine Stunde bald gekommen!« Kala, Mahanays Mutter, kam aufgeregt in die Wohnhöhle ihrer Tochter. Sie hatte ihr meterlanges grünblaues Haar aufwändig geflochten und mit Perlmuscheln und diamantglitzernden Schneckenhäusern verziert. Ein wallendes Gewand aus Schleiergras umwogte ihren prachtvollen üppigen Körper und ließ ihn dadurch noch voluminöser erscheinen. Mahanay kauerte vor dem Spiegel und versuchte das funkelnde Krönchen, das aus der abgestoßenen Hülle eines Kristallseestachlers gefertigt worden war, auf dem Kopf zu befestigen. Sie trug zum ersten Mal das kostbare, aus den großen Schuppen eines Feuerfischs maßgeschneiderte, eng anliegende Kleid. Es unterstrich ihre Proportionen gefällig und leuchtete je nach Lichteinfall in den unterschiedlichsten Farben. Sie kam ganz nach ihrer Mutter und würde eines Tages sicher eine ebenso prächtige Speckschwarte besitzen wie Kala. Schon jetzt konnte sich die Vierzehnjährige vor Verehrern kaum retten. Aber daraus würde nichts werden. Mahanay war auserwählt, die Hüterin der Großen Mutter der Tarik zu werden, Nachfolgerin der alten Tellin, deren Namen sie eines Tages tragen würde. »Mahanay, Mahanay, bist du aufgeregt?« Kiri und Mellik kamen herein und zappelten wie Jungfische. Sie waren Zwillinge und vier Jahre jünger als Mahanay, übersprudelnd vor Energie und Tatendrang. Kala hatte alle Hände voll zu tun, sie im Zaum zu halten. Alle Kinder der Tarik wurden bis zum Eintritt der Pubertät auch außerhalb der Familie verwöhnt und verhätschelt, was diese leidlich ausnutzten, indem sie allen auf der Nase herumtanzten. Nicht einmal der warnende Spruch:
»Wenn du nicht brav bist, wirst du an Land geworfen und Sklave der Schwarzen Bestien!« konnte sie lä nger als fünf Minuten zum Stillhalten bringen. Und auf die Drohung: »Wenn du so hektisch weitermachst, wirst du dünn wie eine Gräte!« reagierten sie mit gesundem Appetit und dem Verschlingen einer doppelten Portion Ghorsamkath ... »Langsam, ihr Rabauken!«, wehrte Mahanay lachend ihre quirligen Geschwister ab, die um sie herumwuselten, an ihrem Kleid zupften, das Krönchen gerade rückten und ihre Wangen tätschelten, damit sie rosiger wurden. »Ihr seid ja viel aufgeregter als ich!« »Ja, weil wir heute schulfrei haben, dank dir!«, jauchzte Mellik. »Es ist so toll, dass unsere Schwester die Auserwählte ist!«, sprudelte Kiri hervor. »Alle meine Freundinnen beneiden mich! Und dich natürlich auch!« Damit sausten sie auch schon wieder mit eifrig paddelnden Füßchen hinaus. Mahanay blickte zu ihrer Mutter hoch und erschrak ein wenig über deren Gesichtsausdruck. »Was hast du, Mutter?« »Ich sehe dich nur an, Kind, und werde dabei rührselig.« Kala klapperte heftig mit den von dichten, langen schwarzen Wimpern gesäumten Auge nlidern. »Ich bin sehr stolz auf dich. Nie hätte ich gedacht, dass es unsere Familie so weit bringen würde. Nicht, nachdem ... Ach, lassen wir das. Du siehst wunderschön aus. Es ist fast eine Verschwendung ...« »Aber ich bin doch nicht aus der Welt, Mutter.« Mahanay fuhr sich mit den Fingern durch ihr langes, schleierartiges, feines Haar, das einen braungrünen Ton hatte. »Zumindest hat Tellin das behauptet. Ich darf euch hin und wieder besuchen.« »Aber du wirst niemals Kinder haben. Ein Jammer, ein Jammer! Deine Pflichten erlauben es dir nicht, damit du nicht abgelenkt bist.« »Dann musst du eben für mich noch ein paar Kinder
bekommen. Ich glaube, Vater hat nichts dagegen, so, wie er dich immer anschaut.« »Närrisches Kind!« Kala kniff gerührt in Mahanays Wange. »Es geht hier doch jetzt schon wie im Tollhaus zu!« »Und genau das liebst du.« Mahanay lachte und gab sich sorglos. Aber damit überspielte sie nur ihre Angst. Während ihre ganze Umgebung stolz auf sie war und es kaum erwarten konnte, bis die Zeremonie end lich stattfand, war Mahanay keineswegs so sicher, tatsächlich auserwählt zu sein. Gewiss, sie hatte bei den Prüfungen als Beste abgeschnitten und brachte hervorragende körperliche Voraussetzungen mit. Aber auch auf ihr lastete der Schatten der Vergangenheit, den ihre Mutter vorhin angedeutet hatte, und sie hatte Angst zu versagen. Andererseits – den Prüfern war dies alles bekannt. Gaben sie also ihren Segen, konnten die Chancen nicht schlecht stehen. Malo, Mahanays Vater, streckte seinen mächtigen Kopf zur Tür herein. Er trug einen Helm mit dem Rückenkamm eines Stachelseglers als Verzierung und einen gelben Schuppenan zug. »Es ist so weit, Tochter. Bist du bereit?« Mahanay nickte. »Ja, Vater.« Sie schwamm auf Malo zu und hakte sich bei ihm ein. Der Vater der Auserwählten führte sie zeremoniell der Namensgeberin zu und übergab sie in deren Schutz. Deswegen hatte Malo sich heute ganz besonders herausgeputzt; wobei er sich auch im Alltag stets Mühe mit dem Outfit gab. Er überragte seine Gefährtin Kala fast um Haupteslänge und stand ihr gewichtsmäßig nicht nach. Zweifelsfrei würden Kala und Malo wieder einmal die Attraktivsten des Festes sein. Mahanays Familie war trotz des Makels heute noch sehr angesehen, deshalb lag ihre Wohnhöhle auch tief im Inneren der Heimstatt, wie die Tarik ihre Hauptsiedlung nannten. Es gab im Ozean verstreut noch einige kleinere Siedlungen und sogar Einsiedlerhöhlen, aber das Zentrum des gesellschaft lichen Lebens war hier zu finden. Heimstatt wurde regelmäßig
von Nomadensippen besucht, die von Siedlung zu Siedlung zogen, Tauschhandel trieben und Neuigkeiten berichteten. Nomaden wurden stets sehr herzlich willkommen geheißen, sie galten als kühne Abenteurer. Für Kinder waren sie jedes Mal eine Sensation. Das Überleben im freien Ozean, außerhalb der Siedlungen, war nicht leicht, denn es gab viele gefährliche, bizarre Tiere, auch Pflanzen. Aber wer mit der Gefahr aufwuchs, lernte damit umzugehen. Der Reichtum, den das Große Wasser bot, entschädigte für alles. Kein Tarik musste jemals Not leiden, der Ozean gehörte allen und bot mehr Platz, als ihr Volk jemals brauchen würde. »Ich bin sehr stolz auf dich«, wisperte Malo, als sie langsam zum Haupt-Zeremoniensaal von Heimstatt schwammen, gefolgt von Kala und Mahanays Geschwistern. Rings um sie strömte eine große Menge Tarik ebenfalls dorthin; wer sie erkannte, grüßte höflich, mit einem bewundernden Lächeln. »Ich hoffe, ich werde euch nicht enttäuschen«, murmelte Mahanay kleinlaut. Sie fühlte sich jetzt weniger denn je für diese große Aufgabe bereit. Der anfängliche Stolz, die Siegerin zu sein, hatte sich inzwischen gelegt. Unzählige Augenpaare würden während der Zeremonie auf sie gerichtet sein, voller Erwartung, dass alles seine Richtigkeit hatte. Hoffentlich blamierte sie sich nicht! Und hoffentlich wusste sie später, was zu tun war ... Im Zeremoniensaal hatten Tausende Tarik Platz, dennoch mussten sie sich in den Sitzschalen auf den Tribünen zusam mendrängen, weil so viele das große Ereignis miterleben wollten. In der Mitte der kreisrunden Arena erwartete die alte Tellin bereits ihre Nachfolgerin. Sie war schmal und eingefallen, die Haut hing in Lappen an ihren Seiten herunter. Aber sie strahlte große Würde aus. Mahanay fühlte ihr Herz bis zu den Kiemen schlagen, als Malo sie zur Hüterin führte. Gesprochen wurde bei dieser Zeremonie nicht. Es wurde eine
Reihe komplizierter Tänze verlangt, bei denen die Figuren genau vorgegeben waren. Wochenlang hatte Mahanay bis zur Erschöpfung üben müssen, damit ihr kein Fehler unterlief. Selbst das zufällige Krümmen der Fingerkuppe könnte das ganze Ritual zunichte machen. Mahanay schlotterte am ganzen Leib, als ihr Vater den Arm von ihr löste, ihre Hand in Tellins Hand legte und sich dann langsam, würdevoll zurückzog. Sesshafte erwachsene Tarik bewegten sich im Allgemeinen gemächlich, um keine wertvolle Energie zu vergeuden und ihr Fett zu sparen. In der Sicherheit ihrer Siedlungen gab es auch keine Notwendigkeit, hektisch zu sein. Das Leben in den weitverzweigten, gut ausgebauten Höhlen war ruhig und angenehm, die meisten Nahrungsmittel wurden in abgesperrten Bezirken rund um die Siedlung gezüchtet. Wächter sicherten die Eingänge, und rings um Heimstatt achteten Patrouillen darauf, dass sich kein Fressräuber hierher verirrte. Nomaden bildeten eine Ausnahme, sie waren durchschnittlich langgliedriger, schlanker, sehniger; sie hatten durch ihre ständige Bewegung einen größeren Energieumsatz und mussten sehr viel mehr Nahrung zu sich nehmen. Aus dem gleichen Grund bestanden die Wandersippen auch fast nur aus Kindern, Jugend lichen und Erwachsenen bis sechzig Jahren. Die Älteren ließen sich zumeist in einer Siedlung nieder, um eine geruhsamere Lebensweise zu führen und Speck anzuset zen. Dadurch hatten sie immerhin eine Lebenserwartung von rund 120 Jahren. Der rituelle Tanz sollte das Leben der Tarik zum Ausdruck bringen, die Vielfalt des Lebens im Ozean und die innige Beziehung zum Großen Wasser. Die alte Tellin begann den Tanz; trotz ihres Alters führte sie kunstvoll alle symbolischen Gesten vor, auch diejenigen, die größte Körperbeherrschung und Geschmeidigkeit abverlangten. Während Mahanay zuschaute und auf ihren Einsatz wartete, wurde sie allmählich ruhiger. Sie vergaß die Zuschauer und konzentrierte sich auf
das Ritual. Genau zum richtigen Zeitpunkt schwamm sie auf die alte Tellin zu, hob die Arme und ahmte mit den Händen die Bewegungen einer Sonnenalge in sanfter Strömung nach, als stimmungsvoller Prolog zur Geschichte der ersten Tarik, die ins Wasser gingen. Der Anfang war spielerisch leicht, und darüber war das Mädchen sehr froh. Mahanays Bewegungen waren noch etwas linkisch und hölzern, aber nach wenigen Minuten hatte sie ihre Aufregung und die Sorge, etwas falsch zu machen, vergessen. Sie ging ganz in ihrem Tanz auf. Ihr Schuppenkleid unterstrich farbenschillernd ihre anmutigen Bewegungen. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass die alte Hüterin der Großen Mutter ihr Amt und ihren Namen in Maha nays Hände legen würde. Jubel und Beifall brachen aus, als die Zeremonie zwei Stun den später mit der symbolischen Übergabe endete. Viele Tarik verließen die Ränge, um der erschöpften Mahanay, die nun Tellin hieß, zu gratulieren und sie hochleben zu lassen. Ihre Familie kämpfte sich zu ihr durch, denn der Augenblick des Abschieds war gekommen. Die junge Tellin verabschiedete sich von Eltern und Geschwistern, als sei es für immer. Dann nahm die ehemalige, nun namenlose Hüterin ihre Hand und schwamm mit ihr zu einem großen, goldenen Tor, das nur zu diesem Anlass geöffnet wurde. Niemand durfte ihnen folgen. Die junge Tellin schaute ein letztes Mal zurück, bevor sie der ehemaligen Hüterin folgte und das Tor sich hinter ihr schloss. »Diesen Weg hier nimmst du nur zweimal in deinem Leben«, sagte die alte Tarik. Sie wirkte nicht minder erschöpft als Tellin; der Tanz hatte vermutlich ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. »Das erste Mal, wenn du dein Amt antrittst – und das zweite Mal, wenn du dein Amt übergibst. Von hier aus geht es auf fast direktem Wege zur Großen Mutter, die in einer geheimen Kammer im Innern von Heimstatt ruht.«
»Dann ... darf ich meine Familie nie mehr besuchen?«, rief Tellin erschrocken. »Natürlich darfst du das, Dummerchen. Von der Kammer aus führen Geheimwege überallhin. Du wirst sie erkunden. Aber du darfst niemals darüber sprechen, wo du bist, was du tust. Und du solltest nur in der Nacht, zur Ruheperiode, zu deiner Familie schwimmen. Allzu viele neugierige Blicke würden dir sonst folgen. Von jetzt an führst du ein Leben in aller Heimlichkeit. In die Öffentlichkeit trittst du erst wieder, wenn du zu alt geworden bist für deine Aufgabe und eine Nachfolgerin erwählt wird. Oder wenn ein ganz besonderes Ereignis stattfin det. Das musst du dann selbst entscheiden. Bewahre alle Geheimnisse, junge Tellin, und sprich niemals darüber, was du hier siehst, was geschieht. Sonst bringst du das ganze Volk in große Gefahr.« »Ich bin darauf vorbereitet, und ich habe ich mich dazu verpflichtet. Ich verspreche es. Ich werde keine Schande über unser Volk bringen«, sagte Tellin feierlich. Dann bemerkte sie zu ihrem Schrecken, dass die ehemalige Hüterin nach oben schwamm. Es wurde immer heller, vereinzelte Sonnenstrahlen, in denen winzige funkelnde Krebstierchen tanzten, fielen durch Risse und Löcher im Riff. »Verlassen wir etwa das Wasser?«, fragte das Mädchen beunruhigt. »Dir bleibt nichts anderes übrig, kleine Tellin. Die Kammer der Großen Mutter liegt in einer trockenen Höhle. Aber keine Sorge, dort gibt es ein Wasserloch mit Zugängen zur Heimstatt – eben die Geheimgänge, von denen ich sprach.« »Aber ... aber meine Familie hat schon seit Generationen das Wasser nicht mehr verlassen, nicht mal zum Sternspringen ...« Die ehemalige Hüterin verharrte. »Kleine Tellin, einst lebten die Tarik auf dieser Wasserwelt an Land. Sie hatten eine große Kultur entwickelt, Aber dann kamen die Schwarzen Bestien
und löschten sie aus. Unser Volk wäre zugrunde gegangen, hätten die letzten überlebenden Ahnen sich nicht ins Wasser zurückgezogen. Wir entwickelten Kiemen und konnten eine neue Kultur aufbauen. Aber gleichzeitig sind wir immer noch Lungenatmer und können an Land existieren, wenngleich wir uns nicht mehr ständig dort aufhalten. Es gibt viele Ausgänge von Heimstatt nach oben, wo das Riff über das Wasser ragt. Vor allem die Jugend geht hinauf, zu heimlichen Verabredungen, zum Sternspringen oder um sich in der Sonne zu wärmen.« »Aber nicht meine Familie«, sagte Tellin eisern. »Sobald einer das Wasser verlässt, verfällt er dem Wahnsinn.« Sehr zu ihrer Empörung lachte die Alte. »Was für ein abergläubischer Unsinn!« »Das ist überhaupt kein Unsinn! Holu war mein Ahne, und er ist übergeschnappt. Er weigerte sich, fett zu werden, wollte rank und schlank sein. Er hat sich die Haare kurz geschnitten und wollte fortan auf dem Land leben. Er verschwand, und man hat ihn nie mehr gesehen! Es war eine große Schande für uns. Heute noch liegt dieser Makel auf meiner Familie. Seine Geisteskrankheit hat sich auf uns vererbt, sie schlummert in uns, und ich werde sie nicht in mir wecken!« »Aber Kind, dein Verwandter war doch nicht geisteskrank. Es kommt durchaus vor, dass Tarik sich entscheiden, wieder an Land zu gehen. Manchmal bricht das alte Erbe in uns durch, und es bleibt jedem überlassen, auf welche Weise er lebt, solange er dadurch sein Volk nicht in Gefahr bringt. Du brauchst keine Sorge zu haben.« »Aber die anderen ...« »Es braucht dich nicht mehr zu kümmern, was andere sagen. Du gehörst nicht mehr zu ihnen, sondern stehst außerhalb.« Die Alte schwamm weiter. Tellin musste ihr notgedrungen folgen. Sie wurde vor Aufregung ganz bleich, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben aus dem Wasser kletterte.
Tellins Kiemenklappen schlossen sich automatisch. Sie stellte auf Lungenatmung um. Eine neue, nicht unbedingt angenehme Erfahrung. Nach einigem Japsen und reichlich Angst vor dem Erstickungstod kostete sie das Aroma der Luft in den Lungen. Es schmeckte rau und trocken. Sie musste einige Male husten, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Zitternd und furchtsam blickte sie sich um. Zu ihren Füßen breitete sich der Ozean aus, und als sie zum Horizont blickte, schien er sich ins Endlose zu erstrecken, durchbrochen von dunklen Flecken, die vermutlich Inseln waren. Darüber wölbte sich ein wolkenloser Himmel. Tellin musste blinzeln, damit ihre Augen nicht austrockneten. Die ungewohnt klare Sicht verwirrte sie und verursachte einen stechenden Schmerz hinter den Augäpfeln. Die Sonne wärmte ihren Körper, was ihr durchaus behagte. Das war aber auch schon alles an Erfreulichem. Tellin spürte, wie das Wasser auf ihrer speckig glänzenden, graublau schimmernden Haut rasch trocknete. Es begann sie überall zu jucken. Sie fühlte sich auf einmal sehr schwer und plump und fragte sich, wie man sich an Land wohl fortbewegte. Die ehemalige Hüterin machte es ihr vor: Sie stellte sich auf ihre kräftigen, mit Schwimmhäuten versehenen Füße und ging. Tellin, als die um so viel Jüngere, wollte der Alten darin nicht nachstehen und stemmte sich hoch. Sie stand wacklig und unsicher. Als sie den ersten Schritt versuchte, fiel sie wieder um und zerschrammte sich Knie und Ellbogen. »Holu war eben doch verrückt!«, rief sie wütend und rieb sich mit Leidensmiene die schmerzenden Stellen. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht, sondern hörte nur ein heiseres Krächzen. Dabei konnte sie so gut singen! »Wie kann einem so etwas nur gefallen? Es ist alles so schwer, eine drückende Last. Keine Eleganz, keine würdevolle, ruhige Anmut!« »Du wirst es rasch lernen«, sagte die Alte gelassen und setzte den Weg fort. Tellin kroch ihr auf allen vieren hinterher, von dem einen
Versuch hatte sie schon genug. Die ehemalige Hüterin ließ ihr keine Zeit, sich das aufrechte Gehen in aller Ruhe anzueignen. Sie musste einen Knoten in ihr langes Haar machen, weil es ihr im Weg war. Das Schuppenkleid schnürte sie ein und behinderte sie. Tellin war sehr unglücklich, denn sie gab bestimmt keine gute Figur mehr ab und hoffte, dass niemand sie so sehen konnte. Erleichtert seufzte sie auf, als die Alte vor einem Wasserloch anhielt. »Von hier aus geht es direkt zur Kammer. Der Weg hat rituelle Bedeutung. Du musst dich darauf einstellen, dich ab jetzt auch an Land zu bewegen. Du musst wissen, was uns umgibt, denn eine große Aufgabe liegt vor dir. Komm, kleine Tellin, gleich ist es überstanden.« Die Alte hechtete ins Wasser, und Tellin folgte ihr, spürte voller Freude das vertraute Element um sich, die Schwerelo sig keit ihres Körpers. Tief sogen die Kiemen das köstliche Nass ein. Nach kurzer Zeit durchbrachen sie in einer großen, runden Höhle wieder die Oberfläche, und Tellin sah sich staunend um. »Was ist das hier?« Die Höhle war mit vielen seltsamen Sachen voll gestellt, auf die sie sich keinen Reim machen konnte, in ein diffuses, warmes, dem Sonnenlicht ähnliches Licht getaucht. Es war aber keine Sonne zu sehen. Es gab keine Ritzen und Löcher, durch die einzelne Strahlen fallen konnten. Wie konnte es so hell sein? »Dies ist die Kammer der Großen Mutter«, erläuterte die Alte. »Die merkwürdigen Gerätschaften, die du hier siehst, nennt man Technik. Ein Erbe unserer Vorfahren, die auf dem Land lebten.« In der Mitte des Raums befand sich ein riesiger Behälter, des sen durchscheinende Wände den Blick ins Innere verzerrten. Tellin erkannte einen reglosen großen, dunklen. Körper. Von Neugier getrieben, verließ sie freiwillig das Wasser und kroch an Land. Langsam stand sie auf; auf dem flachen, ebenen
Boden ging es schon viel leichter. Sie wagte erneut den ersten Schritt. Dann den zweiten. Von Mal zu Mal ging es besser. Es war ungewohnt und anstrengend, plötzlich das eigene Gewicht tragen zu müssen; als Tellin den Behälter schließlich erreichte, zitterten ihre Beinmuskeln, und sie war froh, sich aufstützen zu können. »In diesem Tank ruht die Große Mutter«, bestätigte die ehemalige Hüterin Tellins Vermutung. »Sie wird bald erwachen und dir alles erklären.« 2. 1. März 1225 NGZ: Hinter der Barriere Versuche nicht, dem Unausweichlichen zu entgehen. Es war eine unsichtbare Wand, ein Prallfeld, das meine Messgeräte nicht rechtzeitig erkannt hatten. Ich schlug mit voller Wucht dagegen und wurde trotz der Dämpfungsfelder meines Anzugs so gewaltsam zurückgeschleudert, dass mir für zwei Sekunden die Luft wegblieb. Ohne meinen Schutzschirm, der sich – immerhin! – automatisch im Bruchteil einer Sekunde aufgebaut hatte, hätte das Prallfeld mir schwere Verletzungen zugefügt. »Atlan! Ist alles in Ordnung?« Lis erschrockene Stimme drang durch das Summen in meinen Ohren. »Es geht schon.« Ich taumelte wie ein Fisch mit defekter Schwimmblase durchs Wasser. Meine Gefährten hatten rechtzeitig anhalten können, nachdem ich so unerwartet rückwärts an ihnen vorbei gesaust war, und schwammen jetzt vor dem Prallfeld auf und ab, tasteten sich entlang. »Was ist das?«, fragte Akanara. »Warum können wir nicht
weiter?« »Jemand will verhindern, dass man an dieser Stelle den Ozean durchquert oder von der anderen Seite den Kontinent erreicht, eines von beidem«, antwortete ich nachdenklich. »Es ist ein energetisches Sperrgitter.« »Können wir nicht ein Loch hineinbohren? Oder nach dem Schloss suchen und es knacken?« Akanara war trotz seiner schnellen Auffassungsgabe manchmal von rührender Naivität. Aber der Sechzehnjährige wusste es nun einmal nicht besser, er war ohne Bildung in den Slums einer Wüstenwelt aufge wachsen. Zanargun gab an meiner Stelle Auskunft. »Nein, Junge, so einfach geht das leider nicht. Wir müssten dafür das Steuersystem lahm legen, und dazu müssten wir es erst einmal finden. Diese Zeit haben wir nicht.« »Dann – dann sollten wir wohl besser umkehren?«, stammelte der Yarn. »Keineswegs«, sagte ich. »So schnell geben wir nicht auf.« Li war unterdessen abgetaucht und kam wieder zurück. »Ich bin bis auf den Grund geschwommen, auch dort ist das Feld aktiv. In zwanzig Metern Tiefe beginnt übrigens jenseits des Feldes eine Felswand oder ein Riff, es war schwer zu erken nen.« Ich wusste ihre Voraussicht zu schätzen. Li war eine fabelhafte Frau, 36 Jahre alt und über einen Meter achtzig groß, mit langen Beinen und einer wunderbar anmu tigen, schlanken, durchtrainierten Figur. Sie besaß typisch arkonidische helle Haut und rubinrote Augen, aber als Kontrast knallrotes, kurz geschnittenes Haar. Sie war klug, witzig, intelligent und sprudelte vor Leben. Ich war von Anfang an fasziniert von ihr gewesen, und unsere Beziehung hatte sich zusehends vertieft. Es wunderte mich nicht, dass sie die Situation sofort erfasst hatte. »Atlan!«, rief Akanara alarmiert. »Sie sind hinter uns her! In
zwei Minuten kämpfen wir mit ihnen, ich habe es gerade in einer Vision gesehen!« »In Ordnung, Leute! Bereitet euch auf ...« Wir stoben auseinander, als von oben der erste Schuss fiel. Das Wasser brodelte um uns auf. »Achtung!«, rief ich, als ich ein Blitzen über mir sah, worauf wir den Abstand zueinander vergrößerten. »Wir müssen in Bewegung bleiben!« Ein zweiter Strahlenschuss brachte das Wasser zum Kochen. Als ich hinaufblickte, erspähte ich verschwommene dunkle Punkte, die rasch größer wurden. Uns blieb nicht mehr viel Zeit. »Wir müssen ganz nach oben!«, informierte ich meine Gefähr ten per Helmfunk. »Das Feld reicht sicher nur ein paar Meter über den Wasserspiegel!« »Willst du Zielscheibe spielen?«, protestierte Zanargun. »Das schaffen wir nie im Leben!« »Wir haben keine Wahl, so oder so.« »Aber beim Kampf Mann gegen Mann sind unsere Chancen viel größer!« »Wir springen. Unsere Verfolger werden davon ausgehen, dass wir in der Falle sitzen, und annehmen, dass wir uns kampfbereit machen. Der Überraschungseffekt liegt auf unserer Seite.« Ich nahm Kurs auf die Wasseroberfläche. »Ich gehe als Erster. Gib mir Feuerschutz, Zanargun, dann folgen Li und Akanara; du kommst zuletzt!« »Ich bin bereit. Auch wenn ich es für eine Schnapsidee halte, ich bin bereit.« »Mach schnell, Atlan!« Akanaras Stimme nahm einen schrillen Tonfall an. »Diese ... diese Schatten kommen immer näher, ich sehe, wie das Wasser sich rot färbt, voller Blut, ich sehe Schmerz und Tod ...« »Beruhige dich, wir werden es schaffen. Konzentriere dich auf den Sprung, versuche deine Visionen für einen Moment auszuschalten.«
Zanargun begann gleichzeitig mit mir zu feuern, als ich auftauchte. Drei Gleiter schwebten über unserer Position. Unser Gegner fackelte nicht lange und erwiderte das Feuer sofort; in dem energetischen Chaos war es nicht leicht, die Orientierung zu behalten. Während die Strahlenschüsse dicht an mir vorbeizischten, versuchte ich herauszufinden, wie hoch und breit das Prallfeld war. Solange ich nicht unter Punktbeschuss genommen wurde, konnte ich mich eine Weile auf meinen Schutzschirm verlassen – aber nicht auf Dauer. Schnell, schnell. Mein Syntron brachte eine Messung zustande, die besagte, dass das Prallfeld fünfzehn Meter hoch und drei Meter breit war. In der Ferne konnte ich einige kleine Inseln ausmachen. Ich übermittelte die Daten an meine Gefährten, während ich das Feld überflog und auf der anderen Seite wieder ins Meer tauchte. Dicht unter der Oberfläche gab ich den anderen Feuerschutz, und keine halbe Minute später waren wir alle wieder zusammen und tauchten ab. Die Sicherheit hier unten war natürlich trügerisch. Sie dauerte nur an, bis das nächste Kommando ausgeschleust wurde, um uns zu verfolgen. »Ohe«, erklang Akanaras verblüffte Stimme in meinem Empfänger. Ich hatte bisher noch keine Zeit gehabt, mich umzusehen. Das holte ich jetzt nach. Als seien wir in eine andere Welt getaucht: Ein gewaltiges, farbenprächtiges Riff umgab uns, so weit das Auge reichte. Korallen in Orange, Gelb und Blau, besetzt von vielfältigen Pflanzen und niederen Tieren. Schwärme grellbunter Fische zogen durch das zerklüftete Riff, dazu Krustentiere und viele bizarre Wesen, die mir unbekannt waren. Das Wasser war hier fast glasklar, und wir schwammen staunend durch diese blühende Unterwasserlandschaft. Plötzlich sah ich einen größeren, dunklen Schatten zwischen
den Korallen davonhuschen. Gleich darauf erblickte ich ihn erneut, als er durch eine Spalte schwamm, die vom Sonnenlicht durchflutet war. Kurz wurde im Lichtschein aus dem Schatten ein Lebewesen, das elegant durchs Wasser eilte, mit auf und ab schlängelnden Bewegungen ähnlich einer Muräne oder einem Aal, die Arme an den Körper gepresst, die Beine zusammengelegt. Im nächsten Moment war es verschwunden. Humanoid, meldete sich mein Extrasinn. Könnte ein Lemurerabkömmling sein. Und diese dunklen Spalten am Hals weisen auf Kiemen hin. So wie einer der Entführer Lis, der uns auf der Holoaufnahme vorgeführt wurde. Die Tarife sind also keine Legende. Meerjungfrauen und Wassermänner, schoss es mir durch den Kopf. Ich überlegte, ob ich dem Wesen folgen sollte, aber da schlug Akanara Alarm. Wenigstens zwanzig Verfolger waren uns auf der Spur, schwärmten aus und durchsuchten das Riff. Eine gewaltige Übermacht, der wir nicht viel entgegenzusetzen hatten. Zum Glück waren wir zwischen den Korallenformationen schlecht zu orten, weshalb die Gleiter auch in Warteposition verharrten. Im Augenblick hatten wir nichts zu befürchten. Setzten sie ihre Bordwaffen ein, war die Gefahr zu groß, versehentlich die eigenen Leute zu treffen. Wir verständigten uns nur noch mit Gesten, entschlossen zur raschen Flucht. Wir jagten kreuz und quer durch den Unterwasserpark, versuchten den Abstand zu den Verfolgern zu vergrößern, um Zeit für die Suche nach einem Versteck zu gewinnen. Akanara schwamm zu unserer Sicherheit an meiner Seite. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wurde er jetzt ständig von Visionen heimgesucht, die uns alle nicht sehr gut aussehen ließen. Die Hetzjagd führte immer tiefer das Riff hinunter. Es schien kein Ende nehmen zu wollen, wir stießen in Bereiche vor, die
dem Licht den Zutritt verwehrten. Die Schrunde der korallenbewachsenen Felsen stürzten jäh ab, bis sie im Dunkel verschwanden. Akanara übernahm die Führung. Rechts, links, ein paar Meter Aufstieg, dann Abtauchen auf achtzig Meter. Ein gutes Stück hinter uns erfolgte eine Explosion. Einer der Verfolger hatte wohl geglaubt, uns entdeckt zu haben, und das anvisierte Stück Riff in die Luft gejagt. Akanaras chaotische Fluchtfährte verwirrte nicht nur unsere Gegner, sondern allmählich auch uns. Ich verlor die Orientierung, hatte aber keine Zeit innezuhalten. Ich hoffte, dass wir uns nicht wieder auf die geheimnisvolle Barriere zubewegten. Plötzlich verschwand der Junge in einer Höhle. Ich zögerte, konnte gerade noch erkennen, wie er hektisch mit den Armen wedelte: keine Zeit mehr. Beeilung. Es war wohl der einzige Ausweg, den er noch sah. Wir schwammen ihm hinterher und erreichten ein weitläufig verzweigtes Höhlensystem, das einem Labyrinth auf dem Land in nichts nachstand. Wir scheuchten schlafende Fische auf, lauernde Räuber zogen sich zurück oder wagten einen wütenden Vorstoß, den wir mit einem Paralysestrahl mühelos abwehren konnten – und weiter ging es in wilder Flucht. So schütteln wir die Verfolger nie ab, raunte mein Logiksektor. Sie können unserer Spur leicht folgen, bei der Aufregung, die wir hier verursachen. Wir müssen langsamer werden und uns in eine Höhle zurückziehen. Vielleicht übersehen sie uns dann. Bei diesem großen Riff stehen die Chancen dafür nicht schlecht. Aber auch nicht gerade atemberaubend gut. Sie werden alles durchsuchen, bis sie uns gefunden haben. Und ich denke, dass sie, sobald eine gewisse Zeit verstrichen ist, eine zweite Truppe losschicken werden. Andererseits konnte Akanara zwei Minuten in die Zukunft sehen. Er hatte uns schon oft vor Schaden bewahrt.
Aber er ist kein Stratege, antwortete mein Extrasinn. Er kennt nur die Flucht, sein Verhalten zeigt deutlich seine Verzweiflung. Er hat Angst, dass es ihm nicht gelingt, unsere Zukunftschancen zu verbessern. Du musst eingreifen. Ich bremste Akanara und bewegte die Hand langsam von oben nach unten: Beruhige dich. Unter meiner Führung schwammen wir durch eine Art Röhre in eine Höhle, die wir auch zu viert halten konnten. Im Rücken konnte uns keiner angreifen. Wir verhielten uns ganz still, auch das Umfeld kam allmählich wieder zur Ruhe. Ich beobachtete Akanara, versuchte an seinem Gesicht abzulesen, was in ihm vorging. Dummerweise konnte man sich auf seine Paragabe nicht hundertprozentig verlassen; manchmal ließ sie ihn im Stich, manchmal entwickelten sich die Dinge ganz anders. Aber er war ja auch noch so jung; ich musste aufpassen, dass wir ihm nicht zu viel aufbürdeten. Im Grunde genommen war es nicht richtig, ihn auf solche Einsätze mitzunehmen, aber er hatte darauf bestanden und gute Argumente vorgebracht. Er wollte sich beweisen, seine Fähigkeit nutzbringend einsetzen. Ich konnte verstehen, dass er nach Anerkennung suchte, und ich war nicht sein Vormund. Akanara hatte sich bisher allein durchs Leben geschlagen. Ihn jetzt zur Untätigkeit zu verdammen hätte ihn nur noch tiefer in depressive Phasen gestürzt und sein Misstrauen verstärkt. Außerdem war er uns zugegebenermaßen unentbehrlich geworden. Es kam mir fast vor, als sei er schon immer bei uns gewesen, ein fester Bestandteil der Mannschaft, der durch seine Jugend vor allem viel Lebendigkeit und frischen Wind mitbrachte. Träum nicht, pass auf! Der junge Yarn gestikulierte wild. Wir begriffen sofort. Zanargun hatte seine Waffe schon gezogen und sicherte den Eingang. Ohne Worte waren wir übereingekommen, nicht mehr zu fliehen, sondern uns den Angreifern zu stellen.
Ohne Vorwarnung eröffneten unsere Verfolger das Feuer. Zanargun gab mir per Handzeichen zu verstehen, dass wir es mit vier Gegnern zu tun hatten. Li und Akanara blieben im Hintergrund, während der Einzelkämpfer und ich das Feuer erwiderten. »Verdammt, die Schutzschirme sind zusammengebrochen!«, rief ich. Es gab keinen Grund mehr, Funkstille zu halten. Ich versuchte, die Aggregate manuell zu schalten, aber sie reagierten nicht. Ob es an Störfeldern lag oder andere Ursachen hatte, konnte ich nicht feststellen. Es war wie bei dem verdammten Mikrotransmitter, der einfach die Funktion eingestellt hatte. Wahrscheinlich war es ab jetzt wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis das gesamte System einschließlich der Notversorgung zusammenbrach und wir erstickten, sofern wir nicht vorher erschossen wurden. »Schießen können sie, aber nicht treffen«, frohlockte Akanara aus dem Hintergrund; er hatte den Ernst der Lage noch nicht ganz erfasst. Oder kein schlechtes Vorzeichen gesehen. Das ist sicher keine Unfähigkeit der Arkoniden, sondern Absicht, meldete sich mein Extrasinn. In diesem Augenblick begann das poröse Gestein über uns zu bröckeln. »Sie wollen die Höhle zum Einsturz bringen!«, rief Li. »Wir müssen hier raus!« Zanargun und ich gaben Dauerfeuer und machten Li und Akanara Platz, die ebenfalls schießend aus der Höhle kamen und Deckung hinter einer Wand suchten. Keiner unserer Schüsse verfehlte sein Ziel. Zwei Angreifer verloren ihre Waffen, krümmten sich und sanken in einer Wolke aus Blut reglos nach unten, die anderen suchten Deckung. Das Blut breitete sich aus und färbte das Wasser. »Bald gibt’s hier jede Menge Räuber«, sagte ich. »Wir sollten besser verschwinden!«
Als die anderen eine Feuerpause einlegten, verließen wir die Deckung; Zanargun stieß mich an und deutete auf einen riesigen Schatten, der sich den beiden verletzten Angreifern von hinten näherte. Wir ersparten uns den weiteren Anblick. Hastig tauchten wir tiefer ins Höhlensystem hinein, auf der Suche nach der nächsten Deckung. Zehn Minuten später erreichten wir eine Art Kaverne, von der eine Vielzahl Gänge abzweigte. Bevor wir uns für einen Gang entscheiden konnten, saßen wir auch schon in der Falle. Aus drei Gängen kamen die restlichen Verfolger und nahmen uns ins Visier. Akanara, der uns ein Stück voraus war, wurde von zwei Arkoniden aufgegriffen, bevor ich etwas unternehmen konnte. Sie richteten demonstrativ ihre Warfen auf seinen Helm. Die anderen hielten uns mit den Strahlern in Schach. Zanargun stieß einen Fluch aus. Sie haben durch den günstigen Moment ihre Strategie erneut geändert und wollen uns jetzt gefangen nehmen, um uns später zu exekutieren, raunte der Extrasinn. So halten sie ihre eigenen Verluste geringer, die bisher von Mal zu Mal gestiegen sind, ohne dass sie einen Erfolg verbuchen konnten. So sieht es aus. Und wir haben keine andere Wahl, als uns zu ergeben, denn sie würden den Jungen, ohne zu zögern, töten. Sie haben logischerweise erkannt, dass wir es nicht dazu kommen lassen, ein Teammitglied aufzugeben, sonst hätten wir Li gar nicht erst befreit. »Es ist aussichtslos«, sagte der Einzelkämpfer zähne knir schend. »Was sollen wir tun?«, fragte Li. »Ich habe einen der beiden Burschen genau im Visier. Aber ich kann unmöglich auch den zweiten schnell genug erwischen.« »Kümmert euch nicht um mich!«, rief Akanara. »Ich habe gesehen, dass ...« Er verstummte, als ein dritter Gegner ihm die Waffe in den Magen rammte. Mit einem heftigen Aufkeuchen klappte der Junge zusammen.
»Bleibt ruhig!«, warnte ich meine Gefährten, die drauf und dran waren, sich auf unsere Gegner zu stürzen. Zum Glück waren die Arkoniden kaltblütig genug, nicht sofort das Feuer zu eröffnen. Sie wollten wirklich ein Blutbad vermeiden. Möglicherweise können wir jetzt doch verhandeln, sagte mein Logiksektor. Du musst es irgendwie schaffen, ihr Interesse zu wecken. Ich wollte gerade meine Arme heben, als es zu einem seltsa men Zwischenfall kam. 3. Vergangenheit: Tellin, die Mahanay war Die Namenlose gab Tellin nur wenig Zeit, sich zu erholen. Der erste Landausflug, das Tragen des eigenen Gewichts, erschöpfte die Tarik. Aber sie musste an der Seite der ehemaligen Hüterin bleiben, die sie nun in den technischen Gerätschaften unterwies. »Ich kann dir nicht sagen, wieso die Anlagen heute noch funk tionieren«, sagte die alte Frau. »Ich kann sie lediglich bedienen, so, wie ich es von der Hüterin vor mir gelernt habe. Unsere ehrwürdigen Vorfahren haben anscheinend für die Ewigkeit gebaut. Sie haben sehr weit vorausgeplant, um unser Überleben und die Erinnerung zu sichern.« Tellin gähnte unverhohlen. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Ihr ganzer Körper schmerzte, die Haut juckte unerträglich, ihre Muskeln zitterten. Ihr war schwindlig und übel, und sie wünschte sich weit fort. Sie zuckte zusammen, als sie die sanfte Berührung auf ihrer heißen Stirn fühlte. »Mein armes Kind«, sagte die alte Frau freundlich. »Es tut mir Leid, dir das alles so aufzubürden, aber mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Du musst alles können, was ich
konnte, bevor ich aus dem Leben scheide. Versäumst du etwas, ist es auf immer verloren.« Das rüttelte Tellin auf. Die Namenlose wollte sie nicht mit weiteren Prüfungen quälen, sondern brauchte sie, damit das Gedächtnis der Tarik erhalten blieb. »Fahre nur fort, alte Frau«, sagte sie tapfer. »Ich passe auf.« Erst viele Stunden später durfte Tellin wieder ins Wasser tauchen, um sich zu erholen. Es gab eine Einbuchtung in dem Wasserloch, die von einer früheren Tellin zu einem Ruhelager ausgebaut worden war, umgeben von weichen Moosalgen, die nicht viel Licht benötigten. Tellin kuschelte sich in das Nest und war einen Augenblick später schon eingeschlafen. Als sie erwachte, fand sie Essen in einem Korb; einen großen, süßlich schmeckenden Knackfüßler und einen nahrhaften Gurrfisch. Tellin verschlang gierig die Mahlzeit und fühlte sich danach vollends wiederhergestellt. Sie kroch an Land und fand die Namenlose kauernd vor dem Tank. Die alte Frau wandte sich ihr zu. »Du bist wach. Das ist gut. Wiederhole mir, was ich dir beigebracht habe.« Tellin hatte bereits in den Prüfungen bewiesen, dass sie über ein hervorragendes Gedächtnis verfügte. Sie machte nur zwei kleine Fehler. Die Alte schien zufrieden zu sein. »Ich habe eine Frage«, sagte Tellin vorsichtig. »Nur zu.« »Weshalb machen wir nichts aus dieser Technik? Warum lernt unser Volk nicht, damit umzugehen, sie vielleicht weiterzuentwickeln und für uns nutzbar zu machen?« »Die Technik hat uns den Untergang gebracht, mein Kind. Die Schwarzen Bestien hätten uns vielleicht nie gefunden, hätten wir uns nicht so weit entwickelt. Die Tarik überleben in aller Heimlichkeit, im Ozean benötigen sie heute keine Technik mehr. Oder bist du der Ansicht, dass wir Verbesserungen brauchen?« »Nein«, gab Tellin zu. »Unser Leben ist sehr angenehm.«
Die Alte hielt ihre Frage damit für ausreichend beantwortet und setzte die Einweisung fort. »Licht und Temperatur werden automatisch geregelt. Es gibt hier einen Aufbewahrungsapparat für Nahrungsmittel, du kannst dir einen kleinen Vorrat anlegen. Mach dir um den Nachschub keine Sorgen, einer dieser Gänge führt direkt zum Markt. Seit Anbeginn unseres Dienstes wird in der Nähe des Ausgangs stets ein Korb aufgehängt, mit allem, was erforderlich ist. Du kannst ihn dir nachts unbemerkt holen, wenn es dir beliebt. Solltest du aber vier Wochen lang den Korb verschmähen, öffnen sie das Tor und suchen nach dir, weil sie annehmen, dass dir etwas zugestoßen ist.« »Ist das schon einmal vorgekommen?« »Natürlich nicht. Sonst wäre das Wissen untergegangen, oder?« »Warum machen wir dann keine Aufzeichnungen? Das ist doch ein ziemliches Risiko.« »Es ist Sitte, dass das Wissen nur von Hüterin zu Hüterin weitergegeben wird. Und die Tarik sind äußerst gesund und langlebig. Krankheiten bekommen wir selten. Bisher hat es so funktioniert, und deshalb wird es auch so bleiben.« Tellin rieb sich die Stirn; sie fand diese Vorgehensweise nicht logisch, aber sie würde nicht daran rütteln. Am Ende beschwor sie noch eine Katastrophe herauf. Immerhin, darüber war sie sehr froh, hatte sie bis jetzt den Verstand nicht verloren, obwohl sie sich nun schon so lange an Land aufhielt. Also war es wohl doch Aberglaube gewesen ... * Nach drei Tagen hatte Tellin alles gelernt, was für ihren Dienst notwendig war. In dieser Zeit wurde die Namenlose zusehends schwächer und hinfälliger. Sie bereitete sich allmählich auf den nahen Tod vor.
Ein Letztes stand noch aus. Tellin drückte auf einige Knöpfe an dem Tank. Die milchige Oberfläche des Behälters fuhr mit leisem Zischen zurück. Dampf stieg aus dem Inneren auf. Tellin sah mit heftig klopfendem Herzen, wie sich ein Körper plötzlich regte und langsam aufrichtete. »Die Große Mutter ...«, flüsterte sie. »Ihr Name ist Naglyna Vunar.« Sie hatte die Körperform einer Tarik. Tellin erkannte die Ähnlichkeit, aber einige Unterschiede gab es. Die hellbraune Haut der Großen Mutter war dünn und so weich, dass sie viele Falten und Runzeln bildete, ihre Mandelaugen hingegen waren so blau wie das Meer an seiner tiefsten Stelle. Ihr Haar war schneeweiß und viel kürzer, aber dicker als Tellins. Und sie besaß keine Kiemen. Ihr schmaler Körper wirkte gebrechlich und gebeugt. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sie auf die Kante des Tanks legte, um sich abzus tützen. Die Große Mutter war uralt, älter als jedes Lebewesen, das Tellin kannte, älter wohl selbst als der schwarzgraue Dolpen, der nach der Legende seit Jahrhunderten den Ozean durchquerte und dabei immer noch wuchs, fünfundachtzig Meter sollte er inzwischen messen, wie die Nomaden erzählten. Das Auffälligste war aber sicher der violett schimmernde Kristall, der sich in der Mitte ihrer Stirn befand. »Ich grüße dich«, sagte die Große Mutter mit rauchiger Stimme zu der Namenlosen. »Was hast du mir zu berichten?« Die alte Tarik gab Auskunft, was seit dem letzten Erwachen der Großen Mutter geschehen war, und Tellin hörte aufmerk sam zu. Sie erkannte, dass sie bisher ein unbeschwertes, fast überbehütetes Leben geführt hatte, aber dieses Wissen machte sie nicht glücklicher. »Die Lagnofrias verwickeln uns immer wieder in Revierkäm pfe«, war eine der Neuigkeiten. »Ich konnte es bisher verhindern, dass sie die Heimstatt direkt
angriffen. Ihre Aktivitäten blieben mir nicht verborgen, und so konnte ich rechtzeitig vorsorgen, die Patrouillen verstärken und die Außenbezirke besser sichern.« »Ihr müsst Frieden schließen mit den Lagnofrias, nur so können beide Völker dauerhaft überleben«, sagte die Große Mutter. »Das ist unmöglich. Wir können uns mit ihnen nicht verständigen.« »Sie sind halb intelligent. Ihr seid die Klügeren. Es liegt an euch, einen Weg zu finden.« »Wir haben es versucht. Aber sie kennen nur den Kampf, sie sind sehr stark. Bevor wir ein Zeichen der möglichen Übereinkunft geben können, haben sie uns schon überfallen. Wir können sie nicht gefangen nehmen, weil sie dann sterben.« Die Große Mutter dachte einen Moment nach. »Vielleicht seid ihr noch nicht so weit. Aber du musst diese Botschaft weitergeben. Eines Tages müsst ihr es begreifen.« Dann erteilte sie noch einige weitere Ratschläge und Anweisungen. Zuletzt wandte sie sich an Tellin: »Nun zu dir, mein Kind. Hast du gut zugehört und dir alles gemerkt, worüber wir gesprochen haben?« »Ja, Große Mutter«, sagte das Mädchen ehrfürchtig. »Aber ich bedaure sehr, dass ich kaum etwas verstanden habe ...« »Du wirst bald begreifen, in der langen Zeit, die du meine Hüterin sein wirst. Deine Anwesenheit zeigt mir, dass meine alte Hüterin mich verlassen muss. Es ist nicht das erste Mal ... Ich sah so viele von euch kommen und gehen, bin selbst nunmehr unsäglich alt. Kannst du dir vorstellen, wie alt ich bin, mein Kleines?« Tellin wiegte verneinend den Kopf. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so alt ist wie du. Du bist sicher älter als der schwarzgraue Dolpen ...« Das Gesicht der Großen Mutter legte sich in viele Falten, als sie lächelte, ein breites, gütiges, erheitertes Lächeln.
»Von meiner Geburt bis jetzt hat deine Welt einhundertfünf undfünfzigtausendmal die Sonne umkreist.« Tellin hätte vor Schreck beinahe die innen liegenden Kiemendeckel geöffnet. »Wie ist das möglich ...«, hauchte sie fassungslos. Dieses Alter war allerdings unvorstellbar! »Hör gut zu.« Die Stimme der Großen Mutter war jetzt nicht mehr als ein flüsternder Hauch, und ihr Blick weilte in weiten Fernen. »Ich wurde auf dem Planeten Di’akir geboren und lebte dort als Wissenschaftlerin.« Sie berührte den Kristall auf ihrer Stirn. »Ich habe die Kristalle geschaffen, jeder hat sie getragen. Eines Tages wurde ich hierher versetzt. Hol Annasuntha nannten wir einstmals diesen Teil des achtunddreißigsten Tamaniums. Ich sollte das Plasma entwickeln ... Das ist alles so lange her. Nun bin ich uralt, und die Tage, die vor mir liegen, werden immer kürzer. Ich schlafe in diesem Tank und überdauere damit Jahrhunderte, Jahrtausende, aber ich bin nicht unsterblich. Mein Körper altert und verfällt.« »Es ist deine Aufgabe, die Große Mutter in bestimmten Abständen zu wecken und ihr zu berichten«, sagte die Namenlose zu Tellin, als die Große Mutter schwieg. »Aber fasse dich kurz, denn je länger die Große Mutter wach bleibt, umso schneller wird ihr Tod näher rücken. Wir müssen ihn so lange wie möglich hinauszögern.« »Ich – ich werde alles tun, was notwendig ist«, stammelte Tellin. »Das ist gut, mein Kind«, flüsterte die Große Mutter. »Ich lege mein Leben in deine Hände. Wache wohl darüber, und wache über dein Volk.« Sie sank zurück, der Behälter schloss sich automatisch wieder. Die Namenlose zeigte Tellin die letzten Handgriffe und die Bedie nung des Tanks und erklärte ihr, wie sie die Anwei
sungen weitergeben sollte. »Achte auf alle Vorgänge«, schärfte sie der Nachfolgerin ein. »Von jetzt an musst du Auge und Ohr des Volkes sein. Die Tarik sollen in Frieden leben, sie haben genug erlitten. Das gelingt aber nur, wenn einer die Wache übernimmt und die Ratschläge der Großen Mutter weitergibt. Es gibt Auserwählte in Heimstatt, die du bald kennen lernen wirst bei deinen nächtlichen Ausflügen. Du wirst es wissen, sobald du sie siehst. Sie werden entsprechend deinen Anweisungen handeln.« Tellin konnte nur noch nicken. Sie war so überwältigt, dass ihr für einige Zeit die Worte fehlten. Dass etwas so Großes auf sie zukam, hätte sie sich nie erträumt. Ihr ganzes bisheriges Leben war ein Traum gewesen, wohlgefällig und leicht. Die alte Tarik lächelte. »Willkommen in der Wirklichkeit.« Sie hatte Tellins Miene richtig gedeutet. »Tröste dich, mir erging es einst wie dir. Aber es ist wichtig, dass du das Geheimnis bewahrst. Du musst lernen, allein damit fertig zu werden. Andernfalls ist das Schicksal der Großen Mutter besiegelt – und unseres auch. Nur in Heimlichkeit können wir überdauern. Die Tarik sind seit Jahrhunderten Legende, und so soll es auch bleiben.« Mit langsamen, schwer schleppenden Schritten ging sie zum Wasserloch. Plötzlich wirkte sie älter und gebrechlicher denn je, beinahe schon so wie die Große Mutter. »Wohin gehst du jetzt?«, fragte Tellin. »Hinaus.« Die Alte streckte den Arm aus und deutete zum Ozean. »Dort draußen wird sich mein Leben vollenden. Ich gebe dem Großen Wasser zurück, was ich ihm einst genommen habe. Leb wohl, kleine Tellin.« »Leb wohl, alte Hüterin«, flüsterte Tellin. Dann war sie allein.
4. Die Tarik Aus mindestens sieben Gängen schwammen ungefähr drei Meter lange, tintenfischähnliche Wesen mit jeweils acht Greifarmen, von dunkelvioletter, fast schwarzer Farbe, in die Kaverne. Einige von ihnen hielten primitive, speerähnliche Waffen und Steine in den Greifarmen, die sie jetzt auf uns schleuderten. Gleichzeitig stießen sie Wolken tiefschwarzer Sekrete aus, die sich im Nu ausbreiteten und das Wasser schwärzten. Ich stellte meinen Helm auf Infrarotsicht um. Trotzdem war es nicht einfach, sich in dem Durcheinander zurechtzufinden. Die Krakenwesen schienen kein Problem mit der Orientierung zu haben, zielgerichtet griffen sie an. Unsere Angreifer wurden in heftige Kämpfe verwickelt. Aber nur unsere Angreifer! Die beiden Arkoniden, die Akanara in Schach gehalten hatten, mussten sich ihrer Haut erwehren. Den Yarn ließen die Meeresbewohner in Frieden. Ich stieß mich ab und schlängelte mich durch die kämpfende Menge, packte den Jungen, der wie betäubt erschien, und zog ihn mit mir. »Li, Zanargun, schnell!« Die Tintenfischartigen hatten letztendlich keine Chance gegen die Arkoniden, aber sie sorgten für ausreichend Verwir rung, die wir zur abermaligen Flucht nutzen konnten. Wir wählten einen Gang, der frei zu sein schien, und verschwanden. Unsere Flucht führte immer tiefer in das Höhlensystem hinein. Bislang wurden wir nicht verfolgt, offensichtlich schlugen sich die Meeresbewohner tapfer und bereiteten den Arkoniden erhebliche Probleme. Allerdings, das wunderte mich, hatten sie uns von Anfang an keine Beachtung geschenkt und auch nicht verfolgt. Welchen Grund hatte das?
Von der Körperform her waren wir von den Arkoniden nicht zu unterscheiden. Tiere reagierten optisch auf Farbe und Form und orientierten sich ansonsten nach dem Geruchssinn. Narr, das sind keine Tiere, schaltete sich mein Extrasinn ein. Sie müssen wenigstens halb intelligent sein, wie sonst willst du ihren Angriff mit Waffen erklären? Stimmt, dachte ich. Das erklärt aber nicht, weshalb sie sich nicht schon früher um uns gekümmert haben. Damit würde ich mich später befassen. Im Augenblick mussten wir dafür sorgen, dass wir mit heiler Haut wieder aus diesem Labyrinth herauskamen. Wir landeten in einer Sackgasse. Als wir umkehren wollten, versperrte uns ein Wesen mit gewaltigen Ausmaßen den Weg. Vielleicht eine Art Wurm, der sich durch das Höhlensystem schlängelte, andernfalls hätte ich mir nicht erklären können, wie so ein großes Tier bis hierher gekommen war. Ein riesiges, fransenbewehrtes, halb geöffnetes Maul mit armlangen, spitzen Zähnen und zwei nach vorn gerichteten, dunklen Fischaugen füllte den gesamten Ausgang aus. »Was jetzt?«, fragte Li ratlos. »Kannst du etwas visionär erkennen?«, wollte Zanargun von Akanara wissen. »Nein, ich ... Es ist alles so verworren, und ich weiß nicht, was ...« Der Yarn griff sich an den Helm und stöhnte leise. »Ich bin zu nichts nütze ...« »Schon gut«, sagte ich besänftigend. »Offensichtlich geschehen so viele Dinge, gibt es so viele Möglichkeiten, dass es dir nur noch wie ein wirres Chaos erscheint. Schone dich, zwinge dich zu nichts, alles andere bringt nichts und schwächt dich nur.« Der Junge ist überfordert, kein Wunder, flüsterte mein Logik sektor. Es sind zu viele Eindrücke auf einmal, angefangen damit, dass er gezwungen ist, sich unter Wasser aufzuhalten. Er kann nicht mehr auseinander halten, was Wunsch ist und
was Wirklichkeit, was imaginäre Furcht und tatsächliche Gefahr. Du hast wie meistens Recht. Dieses Seemonster vor uns war jedenfalls sehr real. Es riss den Rachen noch weiter auf und stülpte die Unterlippe vor, an deren Ende ein dünnes Stäbchen mit einer leuchtenden, zapfenübersäten Kugel hing. »Was soll das?«, fragte Zanargun. Der dreiundsechzigjährige Luccianer war Chef der Landungstruppen der TOSOMA, nicht groß, aber von gedrungener Gestalt, an 1,5 Gravos angepasst, mit kurz geschorenem grau meliertem Haar und hellgrünen Augen. Ein hervorragender Einzelkämpfer und vertrauenswürdiger Mann, der beste Begleiter für so einen Einsatz. Er kannte sich mit Kriegführung aus wie kaum ein anderer. Angesichts einer solchen Konfrontation zeigte allerdings auch er sich ratlos. »Es will uns locken ...«, flüsterte Li. »Das Tier hat uns als Beute gewittert und will uns jetzt mit dieser Angel in seinem Rachen locken. Sobald wir nahe genug kommen, schnappt es zu.« Zanargun hob seine Waffe, aber ich drückte sie nach unten. »Ich glaube, das wird nicht erforderlich sein. Wir können das auch anders lösen – ohne dass wir auf uns aufmerksam machen oder eine Katastrophe heraufbeschwören. Denk daran, unsere Anzüge funktionieren nicht perfekt. Wir sind leicht verwundbar, unter Wasser haben wir keine Chance.« Zwischendurch waren unsere Schutzschirme wieder aufgeflackert, aber nur für eine oder zwei Minuten. Sicher waren wir nicht allein in der Höhle. Im Wasser nahm meistens alles Organische seinen Anfang, und so existierte hier zweifellos eine Überfülle von Leben. Ich tastete die Wände ab und wurde bald fündig. In den Spalten und Nischen versteckten sich handspannenlange, flache Fische, die sich der Umgebung hervorragend anpassten. Ich scheuchte sie auf, bis sie kreuz
und quer durch die Höhle zischten. Einer beging den Fehler, instinktiv nach der bebenden kleine n Laterne zu schnappen, die er für eine leichtsinnige Beute hielt. Ich zuckte leicht zusammen, als den Bruchteil einer Sekunde später das riesige Maul zuklappte und das Seemonster sich zurückzog. Es war natürlich nur ein kleiner Imbiss gewesen. Aber das Tier verhielt sich seinen Instinkten entsprechend und schluckte erst einmal seine Beute hinunter, bevor es sich anderenorts wieder auf die Lauer legte. Das verschaffte uns Zeit, zu verschwinden. Zanargun war bereits am Eingang und sicherte nach allen Seiten. Schließlich gab er uns das Zeichen, dass der Weg frei war. »Hoffentlich schwimmen wir dem Ungeheuer nicht direkt ins Maul«, murmelte Akanara. »Es hat sich nach rechts zurückgezogen, in die Richtung, aus der wir gekommen sind«, antwortete der Luccianer. »Der Weg nach links ist frei – hoffentlich.« »Hat eigentlich irgendeiner eine Vorstellung, wo wir uns befinden?«, fragte Li. Niemand meldete sich zu Wort. Wir hatten keinen Plan des Höhlensystems, unsere Messgeräte registrierten nur Datensalat, und durch die schnelle Flucht und die vielen Abzweigungen hatten wir keine Möglichkeit, den Weg zurückzufinden. Selbst mein fotografisches Gedächtnis streckte die Waffen. Wir konnten überall sein – gleich neben dem Ausgang oder auf dem Weg ins Zentrum. »Wir sollten uns den nächsten markanten Punkt einprägen«, sagte ich. »Davon ausgehend können wir uns langsam vorantasten.« »Offen gestanden bereitet mir Akanaras Bemerkung Sorgen«, fuhr Li fort. »Es kann uns jederzeit passieren, dass wir versehentlich in einen Fressräuber hineinschwimmen. Viele der hier lebenden Tiere haben sich hervorragend ihrer Umgebung angepasst. Und es gibt keine Pflanzen, in denen sie sich
verstecken können. Das gilt für die Räuber genauso wie für die Beute.« Zanargun brummte: »Es wäre fast am besten, wenn wir unseren Verfolgern noch einmal begegneten. Dann könnten wir einen von ihnen gefangen nehmen und ihn zwingen, uns aus dem Labyrinth zu führen.« Vorausgesetzt, dass wir die Begegnung überlebten. Aber diesen Gedanken behielt ich für mich. Unsere Nerven lagen schon blank genug; vor allem musste ich auf Akanara achten. Ich war für ihn verantwortlich, und außerdem war mir der Junge ans Herz gewachsen. Als wir wieder eine Kaverne erreichten, von der viele Gänge abzweigten, hinterließen wir bei dem Durchgang, den wir wählten, eine Markierung. Diesmal wurden wir nicht überfallen, weder von den Arkoniden noch von den Tintenfischwesen. Einige große, haiähnliche Fische kreuzten unseren Weg, aber wir wichen ihnen tunlichst aus. Manchmal lugten große Scheren oder lange Tentakel aus Löchern, ohne dass wir angegriffen wurden. Solange wir nicht einen hinfälligen, schwachen oder kranken Eindruck machten, hatten wir gute Aussichten, unbehelligt durchzukommen. Wir können nicht mehr lange hier umherirren. Die anderen werden müde, sie verlieren die Konzentration. Wenn es nicht mehr anders geht, müssen wir uns vorsichtig mit den Waffen einen direkten Weg nach oben bahnen. Im Augenblick sah es so aus, als hätten wir keine andere Wahl. Wir hatten uns völlig verirrt und konnten nicht ewig nach dem richtigen Weg suchen. Plötzlich merkte ich, dass etwas anders war. Ich war tief in Gedanken versunken gewesen und hatte für einen Moment nicht aufgepasst. »Wo ist Akanara?«, fragte ich. Der Junge war verschwunden. Er reagierte auch nicht auf Funkrufe. Möglicherweise hatte er sein Gerät abgeschaltet.
»Das gibt es doch nicht!«, ereiferte sich Zanargun. »Gerade eben war er noch hier!« »Schwimmen wir zurück«, schlug Li vor. »Suchen wir nach Seitengängen, die uns bisher nicht aufgefallen sind. Akanara kann noch nicht weit sein.« Wir tasteten uns an den Wänden entlang. Plötzlich griff ich ins Leere. »Kommt her!« Da war ein schmaler Durchgang, den wir übersehen hatten; die Felsen waren alle löchrig, zerklüftet, unsere Augen hatten die Abzweigung nicht wahrgenommen. Wir zwängten uns hinein, und schon war da auch Akanara, der mit einem der Tintenfischwesen kämpfte. Er entwand sich immer wieder einem zupackenden Greifarm, wurde dafür aber von einem anderen erwischt. An eine Seitenwand geklammert, entdeckte ich drei winzige, nicht mehr als zwanzig Zentimeter lange Tintenfische. Hatte Akanara ein Muttertier aufgescheucht, verteidigte es lediglich seine Jungen? Oder sollte er als Mahlzeit dienen? »Soll ich schießen?«, fragte Zanargun. »Zu gefährlich«, lehnte ich ab. »Du könntest Akanara treffen. Ich habe eine andere Idee.« Ich näherte mich den kleinen Wesen, die bei meiner Annäherung erstarrten und erbleichten. Aber sie schafften es noch nicht ganz, sich der Umgebung perfekt anzupassen. Ich richtete meinen Strahler auf die Jungtiere. »He!«, rief ich über Lautsprecher. Die beiden Kämpfenden verharrten verdutzt, sie hatten mich bisher nicht bemerkt. Wie mein Extrasinn vermutet hatte, waren die Tintenfisch artigen halb intelligent. Das erwachsene Tier erfasste sofort die Lage, stieß eine tintenschwarze Wolke aus. Bevor Akanara reagieren konnte, ringelte es einen Greifarm um seinen Hals und zog leicht zu. Ich hatte damit gerechnet und fast zeitgleich auf Infrarotsicht umgeschaltet; so konnte ich am panische n Gesicht des Jungen sehen, dass ihm die Luftröhre abgedrückt
wurde. Das Seetier zog sich langsam mit Akanara im Würgegriff in Richtung zu seinen Jungen zurück. Ich blickte ihm direkt in die handtellergroßen Augen. So begriff er hoffentlich, dass meine Sic ht keineswegs behindert war. Ich streckte den Arm aus. Jetzt hatte ich alle drei Jungtiere, die weiterhin in instinktiver Schreckstarre verharrten, zu meiner Verfügung. Wortlos deutete ich auf Akanara, dann auf die kleinen Tintenfische. Das Riesenwesen verharrte. Es schien zu begreifen, dass es seine Jungen niemals rechtzeitig erreichen konnte. Akanara war kleiner als ich, meine Geste konnte so interpretiert werden, dass ich die Jungen in Ruhe ließ, wenn das Muttertier mein »Junges« freiließ. Wir hatten ein Patt erreicht. Da lockerte es den Griff um Akanara und schubste ihn mit drei Greifarmen von sich weg. Ich packte den Yarn am Arm und zog mich zurück, die Waffe im Anschlag. Das Wesen folgte uns nicht. Schleunigst setzen wir den Weg durch den Gang fort. »Was ist passiert?«, fragte Li den Jungen. Ich sah, wie seine Lippen bebten, und deutete seitlich an meinen Helm. Jetzt schien er sich zu erinnern, dass der Funk desaktiviert war, denn gleich darauf hörten wir: » ... abgestellt, weil ich keine Ablenkung wollte. Ich versuchte, mich auf die Zukunft zu konzentrieren. In dem Moment wurde ich plötzlich gepackt und zurückgezogen. Es ging so schnell, ich konnte euch nicht mehr warnen!« Akanara räusperte sich und hustete, dann klopfte er sich ab. »Dieses Biest hat mich von oben bis unten abgegrapscht und versucht, meinen Anzug zu öffnen!« »Sonst alles in Ordnung?«, fragte ich. »Ja.« Er krächzte leicht. »So fest war der Griff nicht, aber es reichte, um Todesängste zu bekommen! Obwohl ich ausnahmsweise deutlich vorhersehen konnte, dass ich später wieder neben Atlan schwimme. Tut mir Leid, ich wollte keinen Ärger machen, sondern im Gegenteil
versuchen, einen Weg hier heraus zu finden! Aber ich bin immer noch überfordert. Die Wege sind zu lang, ich kann nicht vorhersehen, wann wir in einer Sackgasse landen oder wohin es geht. Es gibt so viele Möglichkeiten, in meinem Kopf herrscht ein wildes Durcheinander ...« »Atlan«, sagte Li plötzlich. »Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Merkst du es auch?« Sie verharrte und zeigte auf einige poröse Felswände. Dann sah ich es. Kleine, hauchzarte Pflanzen wuchsen an dieser Stelle, dazwischen Fächerpolypen ... und sie wiegten sich leicht in der Strömung. Das bedeutete, dass wir tatsächlich auf dem Weg nach draußen waren! »Wir müssen vorsichtig sein«, warnte ich die anderen. »Möglicherweise werden wir erwartet.« Vor uns wurde es heller, dann öffnete sich tatsächlich das Labyrinth zum offenen Meer. Endlich hatten wir es geschafft! »O weh«, sagte Akanara. »Sieht böse aus ...« Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. »Was sollen wir tun?« »Ich glaube, es ist egal.« Seine Stimme klang traurig. »Sie kommen von allen Seiten. Und ich kann wieder nur Blut sehen, überall ... und Dunkelheit ...« Li kam an meine Seite. »Sollen wir einen anderen Ausweg suchen?« Du kannst zwar mit deinem fotografischen Gedächtnis bereits bekannte Wege wiederfinden, das ist jedoch nur ein geringer Prozentsatz der tatsächlichen Möglichkeiten. Damit haben wir noch keinen Plan, um uns zurechtzufinden. Also sitzen wir in der Falle. Sie werden irgendwann reinkommen und nach uns suchen. Eine Konfrontation ist früher oder später unvermeidlich. Ich nickte Zanargun zu, der mich erwartungsvoll ansah. »Wir versuchen einen Ausfall.« Wir nahmen Li und Akanara in die Mitte, dann starteten wir.
Noch bevor wir ganz draußen waren, eröffneten wir das Feuer. Akanara hatte die halb verdeckte Position einiger Arkoniden in den Ausläufern des Felsenriffs vorausgesehen, diese nahmen wir als Erste unter Beschuss. Damit hatten wir zumindest ein Überraschungsmoment auf unserer Seite. Allerdings waren die anderen gewaltig in der Überzahl. Sie mussten Verstärkung bekommen haben. Wir trafen auf Anhieb vier Arkoniden und setzten sie außer Gefecht, die anderen eröffneten nach einer Schrecksekunde das Feuer. Wir mussten schleunigst Deckung suchen. Zwei-, dreimal unternahm eine kleine Gruppe einen direkten Angriffsversuch, aber wir konnten sie jedes Mal abwehren. Wie Akanara es vorausgesehen hatte, färbte sich das Wasser rot. Bald würden große Räuber angelockt werden und sich ebenfalls in den Kampf stürzen. »Es sieht schlecht aus!«, rief Zanargun. Ich konnte ihn kaum verstehen, in meinem Empfänger knackte und rauschte es. Immer wieder diese verfluchten Störungen! Die Zeit lief uns davon. Ich fragte mich nur, wer wohl das Rennen machen würde – die Arkoniden oder der Ozean, sobald unsere Systeme endgültig versagten. Akanara schrie auf: »Die Dunkelheit! Ich kann nichts mehr sehen ... Alles ist zu Ende!« Er hatte Recht. Die Dunkelheit kam wirklich, schwarz wabernd. Sie löschte sogar das blutige Rot aus. Aber damit war noch lange nicht alles zu Ende. 5. Vergangenheit: Die Landung In den folgenden Tagen und Wochen machte Tellin sich mit ihrer Aufgabe vertraut.
Sie kontrollierte regelmäßig alle Anzeigen, rekapitulierte, ob sie die Bedienung noch beherrschte, und achtete die ersten beiden Tage fast ängstlich darauf, dass der Großen Mutter im Tank nichts geschah. Undenkbar, wenn ausgerechnet jetzt etwas schief ging, die Technik ausfiel ... Als keine Katastrophe eintrat, fasste Tellin allmählich Mut und wagte es, sich im Wassernest gründlich auszuschlafen und sich von ihrem Muskelkater zu erholen. Sie gewöhnte sich bereits an den Aufenthalt an Land; mit der Zeit, nahm sie an, würde sie kaum einen Unterschied mehr bemerken. Nach und nach erkundete sie die Geheimgänge. Eines Nachts wagte sie sich dann zur Heimstatt. Der Weg zum Markt war der einfachste. Wie die Alte versprochen hatte, hing dort ein Korb. Bisher hatte sie sich mit tiefgefrorener Nahrung versorgt, die erste frische Mahlzeit mundete daher köstlich. Mit der Zeit lernte Tellin auch die anderen Geheimgänge kennen. Sie wurde gelassener und souveräner, verlor ihre Angst vor Entdeckung. Sie hatte gelernt, sich schnell wie ein Schatten zu bewegen, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen. Krönchen und Kleid hatte sie längst abgelegt und trug nur noch einen schlichten Schleierumhang, mit dem sie sich auch mal unters Volk wagen konnte und tatsächlich unerkannt blieb. Nach und nach begegnete Tellin den Auserwählten, von denen ihre Vorgängerin gesprochen hatte. Sie waren alle Wächter von Heimstatt, tauschten Informationen aus und vereinbarten regelmäßige Treffpunkte. Schließlich war Tellin bereit, an die Oberfläche zurück zukehren. Sie beobachtete von ihrem Sitz aus den Himmel und das Meer, und eines Tages begann sie auf Erkundung zu gehen. Sie wanderte im feinen Sand der umliegenden Inseln, lernte Landtiere kennen, traf Nomaden, die sie in ihre Dienste nahm. Nomaden kamen sehr viel weiter herum als Tellin, sie konnten in kurzer Zeit beachtliche Strecken zurücklegen. Sie wurden zu Tellins wichtigsten Informationsträgern und Boten zwischen
den Siedlungen der Tarik. Eines Tages besuchte Tellin ihre Familie. Jetzt fühlte sie sich gefestigt genug, ihren Eltern und Geschwistern gegenüberzutreten. Sie hatten sich gerade zum gemeinsamen Abendessen versammelt, als Tellin unerwartet mitten unter ihnen auftauchte. Schrecken und Freude spiegelten sich auf den Gesichtern. Niemand hätte in der Tarik, die große Würde und Autorität ausstrahlte, Mahanay, das unbeschwerte, fröhliche Mädchen von einst, wiedererkannt. Tellin war in kurzer Zeit zu einer ernsthaften jungen Frau gereift und ähnelte äußerlich frappierend einer Nomadin. Vor allem die Mutter war unglücklich, dass so wenig Speck auf Tellins Rippen saß. Die Geschwister überwanden ihre Scheu als Erste und bestürmten Tellin mit Fragen, aber sie gab nur allgemeine Auskünfte und war nicht gewillt, unnötig viel über ihre Aufgabe preiszugeben. Die Familie akzeptierte das, denn so war es bei ihr seit jeher Brauch. Sie verzichtete überhaupt auf Fragen. Viel wichtiger war, dass Tellin wieder bei ihnen war. Tellin genoss den Aufenthalt bei ihrer Familie, die Unbeschwertheit, die einem kleinen Urlaub glich. Aber noch vor Tagesanbruch war sie wieder verschwunden, um nach der Großen Mutter zu sehen. Keine Sekunde lang zweifelte sie an ihrer Aufgabe oder schwankte in der Entscheidung. Ihre Familie gehörte zu ihrem vergangenen Leben; sie würde sie weiterhin besuchen, aber trotz aller Zuneigung immer mehr zu einer Fremden werden. Der Abschied nach der Zeremonie war also gewissermaßen doch für immer gewesen. Mahanay existierte nicht mehr, sie war nun Tellin, Hüterin der Großen Mutter. * Eines Nachts, als Tellin auf ihrem Beobachtungsposten an der Oberfläche verweilte, geschah etwas Unglaubliches. Ein grelles
Licht wie eine Sonne leuchtete auf und erhellte die Nacht, tauchte den Ozean in einen gespenstischen Schein, dann stürzte der Feuerball, einen langen Flammenschweif hinter sich herziehend, mit einem gewaltigen Donnerschlag in weiter Ferne herab, wahrscheinlich ins Meer. Voller Entsetzen harrte Tellin aus und hielt die ganze Nacht nach weiteren Zeichen am Himmel Ausschau. Als jedoch am Morgen die Sonne aufging wie an jedem Tag, schien es vorbei zu sein. Kein Zeichen des Feuerballs der vergangenen Nacht war mehr zu entdecken. Als sei alles nur ein böser Traum gewesen. Zutiefst beunruhigt kehrte Tellin in die Kammer zurück und überlegte, ob sie die Große Mutter wecken solle. Aber was genau konnte sie ihr schon berichten? Vielleicht war es ein einmaliges Unglück gewesen, der Absturz eines Kometen. Die alte Hüterin hatte ihr davon erzählt, so etwas kam gelegentlich vor. Trotzdem setzte Tellin vorsorglich alle Wächter und Nomaden über ihr Erlebnis in Kenntnis und wies sie an, künftig auf merkwürdige Vorkommnisse zu achten. Ein beklemmendes Gefühl der Vorahnung sagte ihr, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Und sie sollte Recht behalten. Als Tellin einige Zeit später mit einem Nomaden zusammentraf, nahm er sie mit sich. »Ich muss dir etwas zeigen. Du musst es selbst sehen.« Und Tellin sah etwas Unfassbares. Der Nomade führte sie zum Großen Land, von dem es hieß, dass es Tausende Tagesreisen groß sei, größer als jede Insel. Tellin war hier schon einmal ge wesen, der Strand hatte feinen weißen Sand. Es war sehr friedlich, und die Hüterin hatte in Fantasien geschwelgt, wie die Vorfahren einst hier entlangpromenierten und den Sonnenuntergang im Meer betrachteten. Aber wie verändert war nun alles! Fremde waren erschienen, von der Körperform her den Tarik nicht unähnlich, aber sie waren reine Landbewohner, ohne Kiemen, ihre Körper aufrecht
und schlank, und sie besaßen helle Haare, eine feine helle Haut und rote Augen. »Woher sind sie gekommen? Was tun sie hier?«, fragte der Nomade. Sie beobachteten in einer Felsengruppe versteckt vom Strand aus das seltsame Treiben der Fremden. »Sie bauen«, antwortete Tellin. »Sie errichten so etwas wie Heimstatt. Schau, sie haben Maschinen. Sie verfügen über Technik, die sie wie einst unsere Vorfahren einsetzen. Sie sind uns absolut überlegen ... und ich denke, sie sind damals, in jener Nacht, vom Himmel gefallen. Anders kann ich mir ihr plötzliches Auftauchen nicht erklären.« »Stehen sie mit den Schwarzen Bestien im Bund?« »Ich weiß es nicht. Sie könnten zufällig gekommen sein. Ich weiß nur, dass es ihnen gefällt, so, wie es einst den Tarik gefiel.« »Aber das ist noch nicht alles.« Der Nomade stieß leicht an ihren Arm und deutete auf den Strand. In einiger Entfernung wanderte eine Gruppe ... Nein, das konnte nicht sein. Tellin keuchte und rieb sich die Augen, weil sie an eine Illusion glaubte. Aber es war grausame Wirklichkeit. Es waren Tarik, umzingelt von Fremden mit Waffen, aber nicht etwa Speeren oder Knochenschwertern. Die Art und Weise, wie die Fremden diese Dinger hielten und wie sie die Tarik einschüchterten, ließ keinen Zweifel offen. Es waren Waffen, die auf Technik basierten. Der Ausrüstung der Tarik weit überlegen. Was auch sonst. »Ich kenne zwei von ihnen, sie gehören zu einer Nomadensippe, der wir oft begegnen«, flüsterte Tellins Begleiter. »Sie versklaven sie, Tellin. Sie sind Feinde, wer auch immer sie sein mögen. Wahrscheinlich suchen sie schon den Ozean nach uns ab, wollen uns töten oder in Ketten schlagen wie einst die Schwarzen Bestien. Was können wir nur tun?«
»Ich muss zurück«, stieß Tellin hervor.
Zur Großen Mutter, dachte er. Sie wird wissen, was zu tun ist!
* Tellin atmete erst auf, als sie wieder in der Kammer war. Niemand war ihnen gefolgt, niemand schien sie bemerkt zu haben. Aufgewühlt drückte die Hüterin die Kontrollen zur Öffnung des Tanks und wartete ungeduldig auf das Erwachen der Großen Mutter. Mit hastigen Worten berichtete sie, was geschehen war. Die Große Mutter flüsterte: »Man hat uns wiederentdeckt. Die Fremden sind mit einem Raumschiff gelandet, die Geschichte wiederholt sich. Verbindet euch mit den Lagnofrias, sonst werden die Fremden euch alle vernichten.« Damit legte sie sich wieder schlafen. Tellin starrte in verzweifeltem Zorn auf den Tank. Das war der ganze Ratschlag? Ein Bündnis mit den Lagnofrias, was nie möglich gewesen war? Sie verfügten über sehr viel weniger Intelligenz als die Tarik und standen auf einer primitiven Stufe. Erst in jüngster Zeit hatte es wieder Revierkämpfe gegeben, Tellin hatte die Wachen verstärken müssen. Wie sollte es da gelingen, gegen die rotäugigen Fremden zu bestehen? 6. Feinde Erkenne, wer die Schatten sind. Wolken schwarzer Tinte wurden ausgestoßen, in dieser Deckung kamen sie heran. Aber nicht nur die Tintenfischwesen, sondern auch die Kiemenatmer. Sie hatten sich im Lauf der Evolution perfekt
dem Wasser angepasst. Obwohl sie keine Flossen besaßen, beherrschten sie perfekte Schwimmtechniken, die denen von Fischen in nichts nachstanden. Sie waren schnell, elegant und geschmeidig. Gemeinsam mit den Vielarmigen griffen sie die Arkoniden an, mit primitiven Schwertern und Speeren, aber auch mit modernen Waffen, die sie wohl erbeutet hatten. Sie waren in der Überzahl und nutzten das Überraschungsmoment. Ihr Vorgehen war bis ins Detail geplant. Die einen töteten die Feinde, die anderen warfen Netze über sie und versuchten sie zu fangen. Einige Arkoniden ergriffen die Flucht, kamen jedoch nicht weit. Ohne ersichtlichen Grund zuckten sie plötzlich zusammen, wie vom Schlag getroffen, führten eine Art wilden, ekstatischen Tanz auf und sanken schließlich reglos, mit verrenkten Gliedern, nach unten. Dann sah ich zwei lange, dunkle Schatten, wie Schlangen oder Muränen, herankommen. Die im Netz gefangenen Arkoniden gerieten in Panik, als die Tiere auf sie zuschlängelten, und gaben jeden Widerstand auf. Eines der Tintenfischwesen stellte sich den beiden unheimlichen Wesen in den Weg und stieß eine Wolke dunklen Sekrets aus, das sie erstaunlicherweise aufhielt. Sie schienen förmlich zu erstarren und wurden von den Kiemenatmern in einem Korb verstaut. Das alles geschah im Verlauf von höchstens zwei Minuten. Wir verharrten in unserer Deckung, an Flucht war zur Zeit nicht zu denken. Das Wasser vor uns kochte im wilden Kampf. Die Arkonid en hatten keine Chance. Fragte sich nur, ob das nun gut oder schlecht für uns war. Im nächsten Augenblick waren wir entdeckt. Einige Kiemenatmer und zwei Krakenwesen näherten sich uns von hinten aus einem der Labyrinthgänge. Sie richteten Speere und einen Strahler auf uns. »Wir ergeben uns«, sagte ich über Außenlautsprecher und hob die Hände. Meine Gefährten taten es mir gleich. Einer der
Kiemenatmer kam näher, ich erkannte eindeutig die Gesichtsform, den Körperbau eines Lemurers, allerdings sehr viel massiger. Wortlos nahm er meine Waffe weg und bedeutete mir vorauszuschwimmen, aus der Höhle hinaus. Der Kampf draußen war inzwischen vorüber. Mehr als die Hälfte der Arkoniden war tot, die anderen wurden im Netz fortgeschleppt. Wir wurden von über einem Dutzend Kiemenatmern und Tintenfischwesen bewacht, während wir in die andere Richtung schwammen, entgegengesetzt zu den gefangenen Arkoniden, zum offenen Meer. Das Wasser war hier wieder glasklar, die bunten Fischschwärme ließen sich von uns nicht beeindrucken. Sie schwammen ohne Scheu zwischen uns hindurch. Viele Meter unter uns, kurz vor der Dunkelzone, konnte ich einen riesigen rotbraunen, haiähnlichen Fisch erkennen, von mindestens zwölf Metern Länge, mit einem vier Meter langen, zähnestarrenden Maul. Seine langen, sehr breiten Flossen bewegten sich wie Flügel langsam auf und ab, als er unter uns vorbeizog. Unsere Wächter nahmen keine Notiz von ihm. Dann erreichten wir wieder ein Riff; schon von weitem konnte man die Farbenpracht der Korallen, Fische, niederen Tiere und Pflanzen leuchten sehen. Wir tauchten tiefer hinab, in die Dunkelzone hinein, über einhundert Meter. Aber es war nicht stockfinster, denn vom Riff selbst ging ein sanftes, vielfarbiges Leuchten und Blinken aus. Ein Durchgang zwischen dem porösen Gestein ermöglichte den Weg nach innen; er wurde von zwei mächtigen, mit modernen Waffen ausgerüsteten Kiemenatmern bewacht. Je weiter wir hineinkamen, desto heller wurde es. Es war wie in einem riesigen, verzauberten Märchenschloss. Ein fragiles, helles, offenes Gebilde aus Fels und Korallen öffnete sich den Blicken, mit einer Vielzahl von Wegen, die in alle vier Richtungen führten. Großzügige Kammern waren angelegt, in denen sich die Bewohner aufhielten, sich
unterhielten, seltsame Tänze aufführten, spie lten oder einfach nur ruhten. Vorratskammern, in denen Pflanzen und Seetiere gezüchtet wurden. Dazwischen viele geschlossene Türen, die vermutlich zu Wohnbereichen führten; hier war keine Durchsicht mehr möglich, und Pflanzen bildeten dichte, lebende Wände. In Körben gefangene Leuchtfische erhellten noch den letzten Winkel, wo keine Pflanzen oder Korallen mehr genügend Licht spendeten. Bis zu einer bestimmten Größe konnten Fische ungehindert durch das Riff schwimmen, aber auch Krusten- und Schalentiere fühlten sich hier wohl und eine Menge anderer Lebensformen, für die ich keine verglei chende Beschreibung fand. Die Lemurerabkömmlinge musterten uns unverhohlen neugierig und ohne jegliche Furcht. Sie waren alle, ob groß oder klein, jung oder alt, mit jeder Menge Schmuck am Körper und in den Haaren behängt; kunstvoll aus Korallen, Muscheln, Fischen und vielem anderen gefertigt. Die meisten trugen so etwas wie Kleidung aus Schuppen, Muscheln oder Pflanzen, aber mehr zur Zierde als zum wirklichen Schutz, gewiss nicht aus Schamgefühl. Ich fragte mich, wieso wir bisher verschont worden waren. Mit unseren Verfolgern hatten die Kiemenatmer kurzen Prozess gemacht, uns brachten sie nun hierher, in ihr Refugium. Was hatten sie vor? Ein großer, massiger Kiemenatmer erwartete uns an einer Kreuzung und übernahm die Führung. Jetzt ging es wieder nach oben, wie bisher auf gewundenen Wegen. Es wurde immer heller, die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Korallengerüst. Wir bogen erneut ab und schwammen zur Randzone, die an dieser Stelle nicht in den offenen Ozean führte, sondern an einer durchbrochenen Felswand endete. Wir wurden durch einen schmalen Gang geleitet, es ging nochmals nach oben ... und dann endete der
Weg in einer großräumigen Höhle, die nicht geflutet war, einer Kammer, die knapp über dem Meeresspiegel liegen musste. Sie wurde matt erhellt vom Sonnenlicht, das durch Ritzen und Spalten hereindrang. Wir krochen an Land, dann mussten wir unsere Anzüge ausziehen und abgeben. Auch die Kombiarmbänder nahmen sie uns ab. Sie verschwanden mit unseren Sachen, ohne Wachen zurückzulassen. Das wunderte mich nicht, denn wir saßen in der Falle. Ich war gespannt, wie viel Erholung sie uns gönnen würden. Vielleicht kehrten sie auch nie mehr zurück und ließen uns verrotten. Li sprang auf und ab und schlang sich die Arme um den Leib. »Brr, ist mir kalt«, stieß sie mit klappernden Zähnen hervor. Die dünne Unterwäsche bot kaum einen Schutz; das Wasser des Ozeans hatte etwa achtzehn Grad, die Luft höchstens zwanzig, hier in der Höhle deutlich weniger. Kein angenehmes Klima für Arkoniden. Ich ging zu ihr und nahm sie in die Arme, um sie zu wärmen. »Komm her«, sagte ich zu Akanara, der schon blau anlief; als Bewohner einer heißen Wüste litt er natürlich noch mehr. Zu dritt kuschelten wir uns aneinander, und so ging es einigermaßen. Zanargun schien als Einziger keine Probleme zu haben. Er sah sich in der Höhle um, suchte nach Fluchtmög lichkeiten, nach etwas, das als Waffe verwendet werden konnte, nach einer Deckung im Fall der Verteidigung. Schließlich brummte er: »Wir sind geliefert.« »Wir leben«, erwiderte ich. »Noch«, murmelte Akanara. »Sollte ich hier lebend herauskommen, werde ich nie mehr auf einer Welt mit Wasser landen, nie mehr.« »Da kommt jemand«, sagte Zanargun warnend. Zwei Kiemenatmer tauchten auf, mit Körben voller Fische und Krebse. Immerhin ließen sie uns nicht verhungern. Aber es
lebte alles noch. Sie stellten die Körbe vor uns hin, öffneten sie und warfen die zappelnden Fische auf den Boden. Sie deuteten erst auf die Fische, dann auf uns. »Das esse ich nicht«, sagte Li. »Ich esse grundsätzlich nichts, was versucht, von meinem Teller zu springen.« Der eine Kiemenatmer zog die Lippen zu einem Grinsen zurück. Er packte einen Fisch, drehte ihm mit einer geübten Geste den Kopf ab und hielt ihn Li hin. Sie wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück. Sein Grinsen wurde noch breiter, er riss mit seinen spitzen, kräftigen Zähnen einen Brocken Fleisch heraus und kaute genüsslich. Dann löste er einen zweiten Brocken, nahm ihn zwischen die Finger und hielt ihn uns hin. Akanara gab ein würgendes Geräusch von sich und drehte sich hastig um. »Pah«, machte Zanargun. »Ich hab schon Schlimmeres erlebt.« Er nahm den rohen Brocken und steckte ihn in den Mund. Erwartungsvoll schauten Li und Akanara ihm zu, wie er gelassen kaute und schluckte. Er nickte anerkennend. »Das Fleisch ist zart und aromatisch.« Der Kiemenatmer zwinkerte grinsend. Dann verschwanden er und sein Begleiter. »Ich habe schrecklichen Hunger«, klagte Akanara. »Aber so essen ... das kann ich einfach nicht.« »Tja, leider haben sie uns alles abgenommen, so dass wir nicht improvisieren können, um den Fisch zu garen. Setzt euch einen Moment hin, Zanargun und ich machen das schon.« Gemeinsam töteten wir ein paar Fische und Krebse, nahmen sie aus und lösten das Fleisch, so gut es ging, ab. Nach anfänglichem Widerwillen griffen auch die beiden ordentlich zu. Eine Stärkung konnten wir brauchen, und es schmeckte tatsächlich gut. Zanargun dachte bereits wieder einen Schritt weiter. »Jetzt haben wir nur noch ein Problem, und das ist Wasser. Wir
müssen die Kerle dazu bringen, uns wenigstens unsere Vorräte zu lassen, damit wir etwas zu trinken haben. Der Salzgehalt des Ozeans ist viel zu hoch für uns.« Ich nickte. »Allerdings hoffe ich darauf, dass wir hier nicht zu lange ausharren müssen. Immerhin wollen sie uns vorerst am Leben lassen, da sie uns Nahrung zur Verfügung stellen.« Leider konnte Li sich an ihre Entführung nicht mehr erinnern, sie war erst in der Biofabrik wieder zu sich gekommen. Deshalb konnte sie uns nichts über diese Lemurerabkömmlinge sagen. Und auch sonst wusste niemand, wer die Tarik waren. Baylamor galt seit rund siebenhundert Jahren als vernichtet, die Urbevölkerung war nur noch Legende, Gegenstand so mancher Schauermärchen für unartige Kinder. * Am späten Nachmittag, als wir kaum noch Sonnenlicht hatten, erhielten wir den nächsten Besuch. Leuchtfische wurden in Körben am Ufer deponiert, und die Höhle erhellte sich. Sie wurde in Dämmerlicht getaucht. Eine ganze Horde kam im Gefolge des massigen Lemurerabkömmlings – Männer, Frauen und Kinder. Wir waren wohl die Attraktion des Tages. Das gab mir Gelegenheit, unsere »Gastgeber« zu mustern. Abgesehen von den Kiemen wies die speckig glänzende, bläulich schimmernde, dicke Haut auf ein Leben im Wasser hin. Sie besaßen alle sehr langes, überaus feines Haar, das getrocknet wie ein Schleier herabfiel; die Farbnuancen reichten von einem satten Grün über Bräunlich bis zu Tiefblau. Ihre Augen waren sehr groß und leicht mandelförmig, ohne Weiß, mit tief schwarzen Pupillen, die fast die gesamte Fläche ausfüllten, und einer in den verschiedensten Farben glänzenden Iris. Ihre Lippen waren wulstig, der Unterkiefer kräftig. Zwischen Fingern und Zehen befanden sich Schwimmhäute.
Sie hatten kaum Probleme, sic h an Land zu bewegen und über Lungen zu atmen. Allerdings bewegten sie sich keineswegs anmutig, sondern plump und unbeholfen, weil sie es nicht gewohnt waren, ihr eigenes Gewicht zu tragen. Es war erheblich. Selbst die Kinder setzten schon den ersten Speck an, und die Erwachsenen, die in der Blüte ihrer Jahre standen, konnte man nur noch als fett bezeichnen. Aber sie kannten es nicht anders, denn der Speck schützte sie vor Auskühlung, sonst hätten sie als »Säugetiere« im Meer nicht lange überleben können. Sie drängten sich hinter ihrem Anführer in die Höhle; wir auf der einen Seite, sie auf der anderen. Akanara wich verunsichert zurück, als der massige Kiemenatmer auf ihn zustapfte. Er war über zwei Meter groß und wog mindestens vier Zentner. Er streckte einen Finger aus. »Du«, sagte er mit rauer, tief rollender Stimme. »Du bist frei. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir haben dich befreit.« »Was sagt er?«, flüsterte Akanara. »Er nuschelt so, ich verstehe ihn nicht.« Ich konnte ihn gut verstehen, das hiesige »Neu-Lemurisch« ähnelte dem von Shahana. Das erleichterte die Sache ungemein. Ich übersetzte es dem Jungen; Akanara konnte sich bestimmt leicht in den Dialekt hineinfinden, er war nur momentan so aufgeregt. »Was bedeutet das?«, fragte Zanargun. Der Lemurerabkömmling wandte sich ihm zu. »Du bist auch frei. Und die Frau. Aber du«, und jetzt wandte er sich mir zu, »du nicht.« Die Art, wie er das sagte, gefiel mir ganz und gar nicht. Ich zog es vor, zu schweigen. Sein Verhalten sagte mir, dass der Wassermann nicht der eigentliche Wortführer war. Nicht die Entscheidung darüber traf, was mit uns zu geschehen hatte. Also wartete ich weiter ab.
Einige Kinder wagten sich näher an Akanara heran, betrachteten ihn mit großen Augen und tuschelten. Einige Wortfetzen konnte ich dank meines guten Gehörs verstehen, sie brachten mich unwillkürlich zum Schmunzeln. »Die sind alle so ... Aber der am schlimmsten ... Wie schrecklich ... wie kann man nur so dürr sein ... abstoßend ...« Auch bei den Erwachsenen zeigten sich einige gerümpfte Nasen. »Diese armen Wesen«, sagte jemand. »Sie müssen doch ständig Hunger leiden. So dünn zu sein ist nicht normal. Was müssen sie alles durchgemacht haben!« Ein weiteres Kind schob sich nach vorn, einen zappelnden Fisch in der Hand. Es schielte immer wieder besorgt zu mir, während es Akanara den Fisch hinhielt. »Jetzt darfst du essen«, sagte es. »Da, nimm! Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Papa wird es nicht zulassen, dass er dir den Fisch wegnimmt.« Es schielte wieder zu mir. »Er muss dich schon sehr lange hungern lassen, armer Knochenmann.« Akanara hatte sich so weit gefangen, dass er antworten konnte: »Nein ... danke. Ich habe schon gegessen. Ich bin satt, wirklich.« Das Kind legte zweifelnd den Kopf schief. »Das kann nicht sein. Du brauchst wirklich keine Angst mehr zu haben ...« Der Yarn streckte abwehrend die Hände vor. »Ich will nichts, im Ernst.« In meiner Nähe hörte ich eine Männerstimme: »Ich könnte mit so einer nichts anfangen. Nur Haut und Knochen. Ich finde das widerlich.« »Denkst du, ich stehe auf so einen Fettsack wie dich?«, wisperte Li, so leise, dass nur ich sie verstehen konnte. »Wieso, er ist doch stattlich, da schwabbelt nichts ...« In der nächsten Sekunde lag ich flach am Boden. Ich hatte den Schlag nicht einmal ansatzweise kommen sehen; mein Schädel brummte. Ich sah Sterne. »Schweig!«, herrschte mich der Massige an. »Weg von den anderen! Wir
werden sie vor dir schützen.« Sie trennten uns, einige Kiemenatmer blieben wie ein Schutzwall zwischen uns. Zanargun wollte erst protestieren, hielt sich aber nach meinem warnenden Blick zurück. Die Kinder waren überhaupt nicht von Akanara wegzubringen. Inzwischen wagten sie es, ihn vorsichtig zu berühren. Sie strichen durch seine feinen, dichten Haare, die seinen gesamten Körper bedeckten; das wirkte natürlich faszinierend. »Warum bist du so?«, wollte eines wissen. »Ich komme aus der Wüste«, antwortete der Yarn. »Die Haare schützen mich vor der Austrocknung durch Sonne und Sand.« »Wüste? Was ist das?« »Es ist dem Ozean ganz ähnlich, erstreckt sich von Horizont zu Horizont, und wenn der Wind über die Dünen streicht, kommt Bewegung in sie, ähnlich den Wellen. Es gibt aber kein Wasser, es ist ganz trocken.« Die Kinder rissen Augen und Münder auf und schüttelten sich. »Ist das wirklich wahr? Erzählst du uns keine Lügen?« »Würde ich sonst so anders aussehen als ihr?«, antwortete Akanara. »Wie schrecklich ... kein Wasser, was für eine grausame Welt ... Du musst furchtbar gelitten haben ...«, schnatterten sie alle durcheinander. »Eigentlich leide ich eher hier«, meinte Akanara. »Es ist so dunkel, kalt und nass ...« Dann ruckte sein Kopf plötzlich hoch. »Sie kommt!« Zwei Minuten später tauchte eine Frau in der Höhle auf. Augenblicklich wichen alle Kiemenatmer ehrerbietig zurück. Sie war groß und muskulös, ihr Körper stämmig, wenngleich nicht ganz so massig wie bei den meisten anderen. Ihr bodenlanges, moosgrünes Haar bedeckte ihren Körper wie ein Kleid. Sie war es offensichtlich gewohnt, sich am Land aufzuhalten, denn sie bewegte sich beschwingter, fließender als
ihre Artgenossen und strahlte außerdem Würde aus. Einen langen Moment musterte sie einen nach dem anderen von uns. Dann sprach sie: »Wir haben euch beobachtet. Ihr seid vor den Arkoniden geflohen. Wir wollen wissen, weshalb, darum brachten wir euch hierher.« »Was ist mit unseren Verfolgern geschehen?«, fragte Zanarguri. »Die Lagnofrias haben sie. Ihr braucht sie nicht mehr zu fürchten. Sie haben es gewagt, die Barriere zu überschreiten, das bedeutet unausweichlich ihren Tod«, antwortete die Stammesführerin. »Ihr wurdet bisher verschont, weil ihr nicht alle Arkoniden seid.« Sie wandte sich Li zu. »Du scheinst besonders bedauernswert zu sein. Deine roten Augen zeigen mir, dass du ein Hybrid bist. Es tut mir Leid, was die Arkoniden dir angetan haben, aber nun bist du frei. Dir kann nichts mehr geschehen.« Nun war ich an der Reihe. »Du bist der Verantwortliche, das spüre ich deutlich. Was für ein Verbrechen hast du begangen, dass deine eigenen Leute dich verfolgen und töten wollen? Hast du diese Gefangene n oder Sklaven gestohlen? Wir mischen uns nicht in die Belange der Arkoniden ein, aber wir sehen nicht zu, wenn andere ihrer Freiheit beraubt werden, direkt vor unseren Augen. Deine finsteren Machenschaften sind hiermit zu Ende, Arkonide. Du wirst sterben.« 7. Vergangenheit: Tellin, die Ushylon war Es war ihnen gelungen. Nach Jahrhunderten hatten die Tarik einen Weg der Verständigung gefunden. Tellin – einst als Ushylon geboren – war es gewesen, die sich schließlich bewusst auf die Suche nach den Lagnofrias gemacht hatte. Sie
hatte sie in ihren Höhlennestern aufgespürt, auf der Jagd und beim Kontakt untereinander beobachtet. Begonnen, ihre Gesten nachzuahmen. Sie hatte sich vorgestellt, was in den Lagnofrias vorging, was ihr Verhalten zu bedeuten hatte. Die Lagnofrias konnten nicht reden, zumindest nicht so wie die Tarik. Aber dennoch beherrschten sie eine Gebärdensprache. Tellin fand schließlich ein Muster und Zusammenhänge heraus. So schwierig war es gar nicht. Die Lagnofrias waren bei weitem nicht so intelligent wie die Tarik, und damit sollte es eigentlich kein Problem sein. Die Große Mutter hatte Recht: Es musste einen Weg zur Verständigung geben. Bisher hatte sich nur noch niemand richtig damit befasst, weil die Lagnofrias Konkurrenten um die besten Plätze waren. Immer wieder versuchten sie, den Tarik das große Riff streitig zu machen. Es war heller, offener, lichter, eben viel schöner als das düstere Höhlenlabyrinth. Es ging immer nur um Kampf; auf die Idee, einmal einen friedlichen Kontakt aufzunehme n, kam keine der beiden Seiten. Sie waren sich gegenseitig im Weg. Nur ein toter Lagnofrias war ein guter Lagnofrias. Umgekehrt war es sicher das Gleiche. Sie hatten sich nie richtig miteinander beschäftigt und waren sich nach wie vor absolut fremd. Dabei waren diese Halbintelligenzen untereinander im Umgang ebenso friedlich wie die Tarik. Sie lebten in einer Art Matriarchat zusammen. Die Weibchen zogen gemeinsam den Nachwuchs auf, bauten das Höhlensystem aus, gingen auf die Jagd. Im Zentrum ihres Labyrinths hielten sie sich drei oder vier Männchen, die ausschließlich zur Zeugung des Nachwuchses gedacht waren und die Eier bis zum Schlupf in ihren Bauchtaschen bebrüteten. Die Weibchen hatten gelernt, primitive Werkzeuge und Waffen herzustellen, und waren mit ihren acht Armen ein furchterregender Fressfeind und Gegner, noch dazu, da sie zur Verteidigung und Verwirrung explosionsartig ein dunkles Sekret ausstoßen konnten, das für
manche Fische ein tödliches Gift enthielt. Aber sie verhielten sich immer nur gegen Beutetiere oder die Tarik aggressiv, niemals gegen ihre eigene Art. Selbst wenn ein fremder Lagnofrias auftauchte, wurde er nach ausführlichem Betasten, Tänzeln und hektischem Armfuchteln freundlich aufgenommen. Tellin, die zum Glück einmal so eine Szene miterlebte, merkte sich ganz genau den Ablauf. Da es bei den Tanzritualen der Tarik um ganz ähnliche Verhaltensmuster ging, fiel es ihr nicht schwer, diese Szene vor einem Spiegel nachzustellen und so lange zu üben, bis sie glaubte, sich nicht mehr von einem Lagnofrias zu unterscheiden. Und dann tat die Hüterin etwas überaus Kühnes: Sie schneiderte ein Lagnofrias-Kostüm. Vier Greifarme konnten von ihr bewegt werden, die anderen vier musste sie so mit Schnüren verbinden, damit auch sie lebendig wirkten. Zumindest fast. Der erste Versuch sah mehr als lächerlich aus, und zum ersten Mal seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden war die Kammer der Großen Mutter von schallendem Gelächter erfüllt. Tellin vergaß ihre Würde, sie kicherte wie ein Mädchen und lachte über sich selbst. Ein Wunder, dass die Große Mutter nicht erwachte! Aber Tellin gab nicht auf. Tag für Tag zwängte sie sich in das Kostüm und übte. Immer den gleichen Tanz, die gleichen Gesten. So lange, bis sie endlich zufrieden war. Selbst die Bewegung der falschen Arme passte nun. Von ihrem Vorhaben erzählte Tellin niemandem. Wahrscheinlich wäre sie sofort für verrückt erklärt und ihres Amtes enthoben worden. Aber sie sah es als einzige Möglichkeit an, die Lagnofrias zu ihren Freunden zu machen und gemeinsam gegen die rotäugigen Besatzer zu bestehen. Es gab keinen anderen Weg. Die Landbewohner würden nie mehr gehen und Tarik in Frieden lassen, das hatten die Ureinwohner
nach Jahrhunderten schmerzlich einsehen müssen. Die neuen Herrscher bauten eine große Stadt, setzten überall merkwürdige Trichterbauten in die Landschaft und gestalteten alles nach ihren Vorstellungen um. Das wäre noch gegangen, denn die Tarik lebten im Wasser. Sie hätten die Fremden nicht als Konkurrenten angesehen. Sie hätten friedlich nebeneinander her leben können. Aber die Landbewohner wollten alles. Sie machten Jagd auf die Tarik, fischten alles aus dem Ozean, was für sie nahrhaft oder von sonstiger Bedeutung war. Sie nannten sich Arkoniden und behaupteten stolz, die höchste existierende Rasse zu sein, die Herren von Baylamor, wie sie den Planeten kurzerhand umbenannten, ja sie herrschten über ganze Sternenreiche. Ausnahmen gab es nicht, selbst wenn die Tarik ihnen außer sich selbst nichts zu bieten hatten. Also was blieb Tellin schon übrig? Sollte sie scheitern und von den Lagnofrias getötet werden, nun, dann gab es eben keine Hüterin der Großen Mutter mehr. Aber was machte das schon, denn es gab ja bald auch keine Tarik mehr. Und die Große Mutter war so uralt und hinfällig, sie hatte ein sehr langes Leben gehabt. Sollte sie friedlich dahinscheiden, wenn es niemanden mehr gab, der sie bewachte. Natürlich hatte Tellin Herzklopfen, als sie sich mit dem Kostüm heimlich davonstahl und zum nicht weit entfernten Felsenriff der Lagnofrias schwamm. An einem geeigneten Platz schlüpfte sie in das Kostüm, was gar nicht so einfach war, denn jetzt zitterten ihr die Finger. Hoffentlich machte sie bei der Verschnürung alles richtig! Dies war die Premiere, es konnte nur einmal funktionieren. Entweder klappte es, oder ... Tellin rekapitulierte noch einmal, was sie einstudiert hatte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und schwamm auf den Haupteingang des Labyrinths zu. Wie nicht anders zu erwarten, kam sofort eine Gruppe Lagnofrias auf sie zu, aber nicht mit aggressiv ausgestreckten
Greifarmen, sondern in entspannter, eindeutig neugieriger Haltung. Sie hatten erkannt, dass sich ihnen ein fremder Artgenosse näherte. Jetzt musste Tellin schnell aktiv werden, denn sie hatte keine Ahnung, wie sich Männchen und Weibchen unterschieden. Sie hielt die Arme neutral, um zu signalisieren, dass sie in friedlicher Absicht kam. Dann deutete sie durch Gesten an, dass sie einen weiten Weg zurückgelegt hatte und sich aufgrund der vielen Abenteuer erschöpft und lahm fühlte. Auf diese Weise konnte sie ihre ungelenken Bewegungen erklären, ohne dass es verdächtig wirkte. Rotäugige Landbewohner hätten sie gejagt ... Tellin setzte ihre Gesten wohldosiert ein und hoffte, dass es kein zu großes Kauderwelsch war. Kleinere Abweichungen waren sicher nicht ungewöhnlich bei einem, der von so weit her kam. Und tatsächlich verharrten die »echten« Lagnofrias und beobachteten Tellins Tanz. Ich bin friedlich, signalisierte sie. Ich bin fremd, sehr fremd, ich suche Freunde. Ihr wurde zusehends mulmig, als die Lagnofrias sich ihr näherten, sie umringten, neugierig betasteten und befingerten. Saugnäpfe schmatzten über ihr Kostüm, aber es hielt der Überprüfung stand. Kein Wunder. Die Haut war echt ... Schüchtern beantwortete Tellin die Annäherungsversuche. Und dann geschah das Wunder: Sie wurde tatsächlich aufgefordert mitzukommen. Wir werden dich den Ersten vorsteilen. Jetzt ging es also aufs Ganze. Und Tellin wünschte sich schlagartig weit fort. Wie viel leichter hatte es da ein fliegender Marzling, der frei und ungebunden den Ozean durchstreifte. Oder ein gelb geränderter Krallkrebs, der seine Beute gleich vor der Haustür fand. Sie war verrückt, sich das anzutun! Hoffentlich war es das wert ... Jede Sekunde konnte alles vorbei sein. Und Tellin hing am
Leben, sie stand in der Blüte ihrer Jahre. Sie fürchtete sich vor dem, was ihr die Lagnofrias antun konnten. Sie hatte so entsetzliche Angst wie noch nie in ihrem Leben. Und beneidete die unbeschwerten, unwissenden Tarik in der Heimstatt. Als sie den Eingang passierte, gab es kein Zurück mehr für Tellin. Flucht war ausgeschlossen. Der Weg war lang und kompliziert, aber Tellin kannte sich längst hier aus. Das Labyrinth war so groß, dass selbst die Lagnofrias sich darin verloren. Man hatte tatsächlich Chancen, unentdeckt herumzuschleichen. Bis man den inneren Ring erreichte. Hier lag die eigentliche Brutstätte verborgen, das Herz des Volkes, mit den Männchen, dem jüngsten Nachwuchs und einigen Vorratskammern, in denen Schalentiere gezüchtet wurden. In einer großen Höhle lebten die Anführerinnen, die respektvoll »Erste« genannt wurden. Sie waren die Einzigen, die sich fortpflanzen durften, zumeist Schwestern mit gleicher Erblinie, wie Tellin später erfuhr. Viele weitere Lagnofrias waren hier versammelt, Sammlerinnen, Jägerinnen, Hüterinnen, alle hatten eine Aufgabe. Sie blickten Tellin aus ihren riesigen runden Augen neugierig entgegen, in entspannter Haltung. Kein Wunder – was könnte ein einzelner Feind hier schon ausrichten? Falls er überhaupt so weit kam. Also, Tellin, dann zeig mal, was du kannst. Ob du es wert bist, Hüterin der Großen Mutter und des ganzen Volkes der Tarik zu sein. Tellin wiederholte ihren Tanz. Nun, da es ohnehin keinen Ausweg mehr gab, war mit einem Schlag ihre ganze Angst fort. Sie fühlte sich, als sei eine schwere Last von ihren Schultern genommen. Was auch immer jetzt geschah, musste geschehen. Die »Ersten« schwammen nach Beendigung ihres Tanzes auf sie zu und begutachteten sie ebenso wie die anderen zuvor. Ihre Greifarme vollzogen frage nde Gesten. Sie wirkten deutlich
verunsichert und spürten, dass etwas mit der Fremden nicht stimmte. Einerseits gab sie sich schwach, drückte aber andererseits Selbstbewusstsein aus. Ich bin anders, signalisierte Tellin. Die Erste einer ganzen Sippe. Wir sind alle friedlich und wünschen die Freundschaft mit euch. Sie war sehr überzeugend, merkte es am Verhalten der »Ersten«, die verdutzt und zugleich beeindruckt waren. Und neugierig. Schließlich gestikulierte eine von ihnen: Dann sei willkommen, Schwester. Berichte, wer du bist, weshalb du anders bist. Wir merken, dass du nicht so bist wie wir, aber wir spüren, dass du friedlich bist. Wir sind neugierig. Ihr sollt es erfahren. Mit sicheren Handgriffen löste Tellin ihr Kostüm und präsentierte sich den Lagnofrias, mitten in ihrem Zentrum, umgeben von ihnen, allein, nackt und schutzlos als Tarik. »Ich bin Tellin«, sagte sie und gestikulierte gleichzeitig, »Hüterin der Großen Mutter der Tarik. Ich bin gekommen, um Frieden mit euch zu schließen. Ich ergebe mich eurer Großmut.« Für einen langen Moment herrschte verblüffte Regungs losigkeit. Keine Furcht. Eher Ratlosigkeit, Fassungslosigkeit. Als würden ihnen in diesem Moment die Augen geöffnet. Tellin wartete ab, auf alles gefasst. Aber nicht der erwartete Ansturm kam, sondern wiederum eine zögernde Geste, eine hilflose Frage: Wie ist das möglich? Und da wusste sie, dass es gelungen war. Sie waren neugierig. Wollten es wissen. Jetzt stand einer Verständigung nichts mehr im Wege. Tellin hätte jubeln mögen. So einfach war es gewesen! Wenn man sich nur Mühe gegeben hätte – auf beiden Seiten – , der Zwist wäre schon vor langer Zeit beendet gewesen. Wir sind nicht so verschieden, gestikulierte Tellin. Wir
wollten niemals eure Feinde sein. Ich will euch von unserem Leben erzählen. Die Hüterin begann einen langen Tanz, den sie sehr sorgfältig einstudiert hatte, damit die Lagnofrias ihn auch richtig verstehen konnten. Sie erzählte, wer die Tarik waren, wie sie lebten, woher sie gekommen waren. Die Lagnofrias verharrten andächtig, ihre Armbewegungen drückten Faszination aus. Keine Spur von Aggressivität, auch keine Furcht. Staunend wie Kinder umringten sie Tellin. Die Hüterin konnte es kaum fassen, als eine der »Ersten« vorsichtig einen Greifarm ausstreckte und sie zaghaft, beina he ängstlich berührte. Tellin hielt ganz still, während sie von oben bis unten abgetastet wurde, sich ein Arm um ihre Taille ringelte und sie sachte anhob, um sie wieder loszulassen. Sind denn alle so wie du?, fragte eine andere Schwester. Ja. Wenn ihr erlaubt, werde ich das nächste Mal jemanden mitbringen. Und ihr sollt auch uns besuchen. Die »Ersten« stimmten begeistert zu. Nun wollten sie alles erfahren! Tellin wurde eingeladen, jederzeit wiederzukommen. Ihr war natürlich bewusst, dass diese Euphorie wieder abklingen und einem gesunden Misstrauen Platz machen würde. Die Lagnofrias würden hin- und herschwanken zwischen Zuversicht und Unsicherheit. Aber den Tarik auf der anderen Seite würde es genauso ergehen; wenn man geduldig miteinander umging und offen war, konnte diese Hürde genommen werden. * Das nächste Mal brachte Tellin einen Nomaden namens Razuk mit. Es hatte einer Menge Überredungskunst bedurft, aber schließlich hatte er sich in die »Höhle der Bestien« gewagt. Immerhin hatten die beiden Konkurrenten sich früher
gegenseitig gejagt und hätten nicht gezögert, den jeweils anderen zu verspeisen! Und dann musste er auch noch sämtlichen Schmuck, Kleidung, Waffen, alles ablegen. Nomaden putzten sich erheblich mehr heraus als sesshafte Tarik, denn sie trugen ihren ganzen Besitz mit sich herum. Alles auf einmal wegzugeben war fast undenkbar. Tellin brachte die Sachen in die geheime Kammer und versprach hoch und heilig, dass sie dort sicher seien. Natürlich gab es einen ziemlichen Aufruhr in der Höhle der Lagno frias, als Tellin mit einem »Männchen« zurückkehrte. Razuk wurde ausführlich von oben bis unten begutachtet und betastet. Dann stellten die »Ersten« fest, dass er einen Tentakel mehr besaß, und wollten ihn sofort töten, weil er aus der Art geschlagen war und Tellin womöglich in Gefahr brachte. Eine ungerade Zahl Tentakel bedeutete immer Unglück. Und Tellin war nun ihre Freundin, ja eine Schwester, die beschützt werden musste. Es kostete Tellin einiges an Einfühlungsvermögen, erfolg reich zu vermitteln, dass dieser zusätzliche Tentakel ziemlich wichtig für den Fortbestand der Tarik war und darüber hinaus auch bei gewissen Zweisamkeiten erhebliches Vergnügen bereiten konnte. Nachdem die Lagnofrias verstanden hatten, worum es ging, konnte Tellin später deren Reaktion nicht anders als ein »albernes Kichern« beschreiben, ausgedrückt in Gesten natürlich. »Sie wären errötet, wären es Tarik gewesen, und hätten Kiemenflattern bekommen. Sie hatten einen Heidenspaß, aber mir war für einen Moment alles vergangen, weil ich wirklich dachte, jetzt schlagen sie zu.« Der Nomade Razuk trug es mit Fassung, irgendwann auch mit Humor. »Ja, das versteht natürlich jeder. Wir hätten von Anfang an Sex miteinander haben sollen, und die Probleme wären nie entstanden.«
Dass auch die Lagno frias Humor besaßen, war eine wichtige Gemeinsamkeit mit den Tarik. So konnten viele unausweichliche Missverständnisse mit Heiterkeit beseitigt werden. Zudem besaßen beide Rassen einen hohen Ehrenkodex und waren von Natur aus gutmütig. So schnell mochte keiner den anderen beleidigen und damit erneute Konflikte heraufbeschwören. Die Achtung der Tellin stieg bis ins Unermessliche. Es war unglaublich, was sie erreicht hatte. Beide Völker kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie einfach die Kommunikation war. Sie waren überhaupt keine Feinde, waren es nie gewesen; sie hatten sich nur an eine Tradition gehalten, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, ohne darüber nachzudenken. Nachdem die Lagnofrias vorgeführt bekamen, was für eine blühende Kultur die Tarik im Korallenriff geschaffen hatten, sahen sie ein, dass sie das selbst nie zustande gebracht hätten. Sie bewunderten die erfindungsreichen Nachbarn und wollten ihnen den besseren Platz nicht mehr streitig machen. Um die Gegenseite nicht ganz zu verprellen, trafen die Tarik jedoch eine Übereinkunft mit den Lagnofrias, wonach sie nur einen bestimmten Teil des Riffs nutzen durften. Sonst bekam jeder freien Zugang zum Wohnbereich des anderen, was die Lagnofrias in ihrer Entwicklung entscheidend vorwärts brachte. Sie fingen an, ihr Wohnzentrum im Höhlenlabyrinth besser auszubauen und sogar auszuschmücken. Sie lernten von den Tarik, Leuchtfische zu fangen und in Körben zu züchten, um Licht in dunkle Höhlen zu bringen. In den Gängen wurden phosphoreszierende Flimmeralgen angesiedelt, und die Tarik zeigten den Lagnofrias, wie sie ihren Lebensbereich mit der Ansiedlung und Zucht von Korallen erweitern konnten. Der Grundstein für den Zusammenhalt war gelegt, das Misstrauen schwand auf beiden Seiten sehr schnell. Die Tarik lernten die Gebärdensprache der Lagnofrias problemlos und
erweiterten sie noch um einiges. Die Kommunikation klappte auf der ganzen Linie. Nun lenkte Tellin geschickt das Interesse auf einen gemeinsamen Feind: die Landbewohner, die sich seit Jahrhunderten auf der Welt breit machten und alles Leben im Ozean jagten. Auch die Lagnofrias hatten unter den Angriffen der Rotaugen zu leiden, die bei ihnen als Delikatesse galten, desgleichen ihr schwarzes Sekret. Wenn man sich zusammentat, konnte man die Eindringlinge vielleicht vom Ozean fern halten – auf dem Land sollten sie tun, was ihnen beliebte. Mit diesen Aktivitäten führte Tellin die zweite große Veränderung herbei: Sie gab ihr heimliches Leben auf, übernahm nun offen die Führungsrolle des Volkes und teilte die Tage zwischen dem Dienst als Hüterin der Großen Mutter und als Anführerin der Tarik ein. Außerdem wählte sie selbst in einem besonderen Verfahren ihre Nachfolgerin aus, zog das erst fünfjährige Mädchen selbst auf und unterrichtete es in allem. Durch den Erfolg bei den Lagnofrias beflügelt, wollte Tellin um jeden Preis die Zukunft ihres Volkes sichern. * Eine jahrzehntelange Rebellion folgte. Aber auch gemeinsam konnten sie sich nicht gegen den Feind durchsetzen, nur gerade so bestehen. Viele Tarik verließen Heimstatt. Die Bevölkerung, ohnehin nie groß gewesen, schrumpfte rapide. Manche Tarik wurden zu Nomaden, andere zogen sich noch tiefer in den Ozean zurück und gründeten neue Siedlungen. Manche erinnerten sich auch an ihr Erbe und wechselten auf das Land über, freiwillig, weil sie ihr künftiges Sklavendasein für unausweichlich hielten. Sie stellten sich in den Dienst der Arkoniden, weil sie glaubten, nur so für das Überleben des Volkes sorgen zu können. Sie gaben
die Hoffnung nie auf, eines Tages wieder ganz frei zu sein und in den Ozean zurückkehren zu können. Manche hielten dieses freiwillige Exil jedoch nicht lange aus. Sie flohen zurück in den Ozean und kehrten nach Heimstatt zurück, wo sie wieder aufgenommen wurden. Immerhin brachten sie eine Menge neues Wissen mit, auch Kenntnisse über die Sprache der Arkoniden und vor allem die Schrift. Zum wiederholten Mal übertrat Tellin ein Verbot und führte ein Schriftsystem ein, um die Geschichte ihres Volkes für alle Ewigkeit aufzubewahren. Damit in ferner Zukunft, wenn auch die Invasoren nur noch eine Legende waren, noch eine Erinnerung an das Volk der Tarik übrig blieb. Die Hüterin hatte begriffen, dass sie sich anpassen mussten, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben. Sie erbeuteten Waffen der Arkoniden und machten sich mit dem Umgang Vertraut. So hatten sie immerhin eine Chance, sich bei Scharmützeln gegen die Übermacht zu behaupten. Tellin schickte immer wieder Truppen aus, die an Land gingen und Überfälle auf die Rotaugen verübten oder versuchten, ihre technischen Anlagen zu sabotieren. Die darauf folgenden Vergeltungsschläge warteten sie mutig ab, passten die Tauchergruppen zusammen mit den Lagnofrias ab, verwirrten sie, sprengten sie auseinander und führten sie in die Irre. Nicht immer ging das gut. Manchmal holten die Arkoniden zum vernichtenden Schlag aus und warfen Bomben auf ihre Heimstatt ab, die sogar noch die Höhlen des LagnofriasLabyrinths erschütterten. Dieser zermürbende Krieg dauerte irgendwann selbst den Arkoniden zu lange. Vielleicht hatten sie inzwischen auch genug Sklaven und Freiwillige. Jedenfalls errichteten sie eine unsichtbare Barriere rund um ihren Kontinent, die kein Seewesen überwinden konnte. Eine eindeutige Reviergrenze war gezogen. Der Ozean wurde von den Eindringlingen nur noch als gelegentliches Jagdgebiet oder zur »Schatzsuche«
angesehen. Ganz zerstören wollten sie diesen blühenden Lebensraum allerdings nicht. Die gefangenen oder freiwillig an Land gegangenen Tarik waren nun endgültig von ihrer Heimat abgeschnitten. Eines Tages wurden sie wahrscheinlich nicht mehr wissen, wie das Leben im Meer gewesen war. Nur die Kiemen würden sie dann noch daran erinnern, woher sie einst gekommen waren. Das zusammengeschrumpfte Volk kehrte nach und nach zum normalen, friedlichen Leben zurück. Unter der Leitung der Hüterin der Großen Mutter bauten sie ihre Kultur wieder auf, pflegten die Korallen, das vielfältige Leben kehrte zurück. Aber sie vergaßen niemals. Das Bild der hellhaarigen, rotäugigen Arkoniden wurde jedem heranwachsenden Kind genauestens eingeprägt, damit es wusste, wer der Feind war. Sollte sich jemals wieder ein einzelner Arkonide über die Barriere wagen, war er zum Tode verurteilt. Sie hatten einst gegen die Schwarzen Bestien verloren, das sollte nicht noch einmal geschehen. Es gab keinen Ort mehr, wo sie sonst noch hingehen konnten. 8. 2. März 1225 NGZ: Glaube oder nicht Dem Unausweichlichen kann niemand entgehen. »Du missverstehst da etwas«, mischte sich Zanargun ein. »Wir sind nicht seine Gefangenen, sondern seine Freunde.« Diese Bemerkung rief einen wahren Aufruhr hervor. Die Wassermenschen redeten alle durcheinander, bis die Anführerin mit erhobener Hand für Ruhe sorgte. Sie näherte sich dem Luccianer und strich behutsam über seinen Kopf. »Armes, fehlgeleitetes Wesen«, sagte sie mitfühlend. »So subtil sind inzwischen ihre Methoden, dass ihr gar nicht mehr
wisst, wer ihr seid. Auch wir hatten solche Verluste zu beklagen, in früheren Zeiten. Ja, auch heute noch gibt es durchaus Gemütskranke, die freiwillig unsere Gefilde verlassen und sich den Arkoniden an Land unterwerfen. Sie leugnen hartnäckig, wohin sie eigentlich gehören. Ihnen können wir nicht mehr helfen. Aber euch.« »Darf ich fragen, wie?«, warf Akanara ein. »Was sollen wir mit dieser so genannten Freiheit anfangen? Wir können nicht im Wasser existieren, so wie ihr. Wir sind Landlebewesen. Und um dorthin zu kommen, brauchen wir unsere Anzüge wieder. Aber dort fallen wir sicher wieder den Arkoniden in die Hände.« »Und wir gehen nicht ohne ihn.« Li deutete auf mich. »Wenn du mich unsere Geschichte erzählen lässt, wirst du verstehen, dass er ein Freund, kein Feind ist.« »Ja, eine Geschichte! Sie soll eine Geschichte erzählen!«, riefen die Kinder vorlaut dazwischen und kauerten sich erwartungsvoll hin. Die Anführerin gab nach. »In Ordnung. Wir haben so viel Zeit, wie der Ozean Wasser hat.« »So lange werde ich nicht brauchen«, sagte Li lächelnd. Dann berichtete sie von unserem Vorhaben, Crest-Tharo da Zoltral, dem wahren Feind, das Handwerk zu legen, von ihrer Entführung und anschließenden Befreiung durch uns. Die Anführerin hörte aufmerksam zu, aber ihr kritisches Gesicht zeigte mir, dass sie nicht überzeugt war. »Uns kümmert nicht, was außerhalb unserer Welt geschieht«, sagte sie schließlich. »Vor langer Zeit hat es dort draußen auch niemanden gekümmert, was mit uns geschah. Wir sind die Tarik, das heimliche Volk. Einst besiedelten wir das Land, bis die Schwarzen Bestien kamen. Die letzten Überlebenden zogen sich in den Ozean zurück. Dann kamen die Arkoniden, und die zweite Ausrottung stand bevor. Wir führten jahrhundertelang Krieg gegeneinander, verbündeten uns sogar mit den
Lagnofrias. Schließlich zogen wir uns noch weiter zurück, und die Arkoniden errichteten die Barriere. Sie lassen uns in Frieden, weil wir ihnen nicht gefährlich werden können; nur wer unvorsichtig ist, läuft auch heute noch Gefahr, aufgegriffen und versklavt zu werden. Als Hüterin der Großen Mutter, die Tellin, sorge ich dafür, dass die Vergangenheit nicht vergessen wird und unser Volk überlebt. Wir haben gelernt, uns anzupassen, und haben einiges Wissen von den Arkoniden übernommen, um zu verstehen, mit wem wir es zu tun haben.« »Werden sie nicht Rache nehmen für die Arkoniden, die ihr jetzt getötet habt?«, fragte Li. »Es war ihr Risiko, in unser Revier einzudringen. Wollten sie uns endgültig vernichten, hätten sie das schon vor Jahrhunderten getan. Aber dazu nehmen sie uns wohl nicht ernst genug, außerdem sind wir ihnen als Sklaven nützlicher.« Tellin sah mich an. »Die Tarik sind im Grunde ein harmloses, friedliches Volk. Aber der Hass auf unsere Unterdrücker sitzt tief, so tief, dass wir jederzeit bereit sind, zu kämpfen und zu töten. Du siehst genauso aus wie einer von ihnen, aber an dir ist sehr viel mehr, als deine Begleiter mich glauben machen wollen. Ich spüre deine mächtige Ausstrahlung ... Du bist ein großer Anführer. Darum frage ich mich, welche Absichten du tatsächlich hegst.« »Wenn du mir die Möglichkeit gibst, werde ich dich gern überzeugen«, antwortete ich. »Lasst ihn reden!«, riefen die Kinder. »Nein, bringt ihn zum Schweigen!«, warnten mehrere Erwachsene, darunter jener massige Mann, der sich zuvor als Wortführer hervorgetan hatte. Er ging zu Tellin. »Er wird uns einlullen wie seine Anhänger, die nicht begreifen, was mit ihnen geschehen ist. Er hat sie auf irgendeine Weise beeinflusst, dass er sich ihrer Loyalität sicher sein kann. Du darfst es nicht zulassen, Tellin!« »Jeder Angeklagte hat das Recht auf Anhörung!«, protestierte
ich. »Er ist ein Arkonide!«, schrien mehrere Tarik. »Wir haben niemals etwas Gutes von ihnen erfahren!« In diesem Moment sprangen Li, Zanargun und auch Akanara auf und scharten sich um mich. »Finger weg von ihm!«, warnte der junge Yarn. »Ich weiß, wovon ich rede! Noch nie traf ich jemanden, dem ich vertrauen konnt e. Atlan ist der Erste! Ihr werdet ihm nichts tun!« Li fuhr fort: »Atlan ist kein Arkonide von hier! Er ist sehr alt, er stammt von einer weit entfernten, fremden Welt! Nicht alle Arkoniden sind eure Feinde, nur der Anführer eurer Unterdrücker von hier!« Tellin musterte mich. »Du bist sehr alt? Älter als unsere Große Mutter?« »Ich weiß es nicht«, antwortete ich aufrichtig. »Vielleicht können wir das in einem gemeinsamen Gespräch herausfinden.« Sie starrte mich intensiv an. Ich merkte, dass ich sie erneut verunsicherte. Ich entsprach offensichtlich nicht dem Feindbild. Das sprach wirklich sehr für die Tarik, dass sie im Grunde friedfertig waren. Ein kriegerisches Volk hätte mich ohne jegliche Diskussion exekutiert. »Hör nicht auf ihn!«, zischte der Mann. »Ruhig, Bruder«, sagte Tellin ruhig. »Denke an die Lagnofrias. Jahrhundertelang waren wir Todfeinde, ohne zu wissen, weshalb. Es war so Tradition. Es ist auch Tradition, die Arkoniden zu hassen, diejenigen, die Tarik besetzten und unsere Welt in Baylamor umbenannten, sind und bleiben unsere Feinde. Aber dieser hier ist anders.« »Die anderen sind ihm hörig! Sie sind nicht zurechnungsfähig. Das kommt nur daher, dass sie immer Hunger leiden mussten. Sieh sie dir an, Tellin, wie heruntergekommen sie aussehen! Ihr Verstand ist vor Hunger
wie benebelt.« »Gilt das auch für ihn, Kafir?« Tellin deutete auf Zanargun. »Für einen Landbewohner ist er stattlich. Sieh dir das an, überall Muskeln. Er kann kein Hungerleider sein. Und du solltest wissen, dass die Landbewohner nic ht so viel Speck aufbauen müssen wie wir. Du lässt dich zu sehr von Vorurteilen leiten.« »Wir wollen die Geschichte hören!«, krähten die Kinder, denen allmählich langweilig wurde. Kafir musterte mich mit Augen voller Hass. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Sein Volk hatte gut siebenhundert Jahre lang unter der arkonidischen Knechtschaft zu leiden. Und da war ich nun, das personifizierte Abbild des Todfeindes. »Bitte, setzt euch wieder«, sagte ich zu meinen Gefährten. »Wir wollen es nicht noch komplizierter machen.« Dann blickte ich Tellin offen in die Augen. »Da ich immer noch am Leben bin, sollte ich auch die Gelegenheit zu einer Verteidigung bekommen. Ich kann derzeit meine Absichten nicht beweisen, aber vielleicht einiges darlegen, was das Bild vervollständigt.« Die Tarik schnatterten durcheinander, und Tellin schnitt sie scharf ab: »Ruhe!« Augenblicklich wurde es still, selbst die Kinder wagten sich nicht mehr zu mucksen. Tellin strich sich grübelnd über das große, etwas flache Gesicht. Unter den Tarik musste sie als ausgesprochene Schönheit gelten, ebenso wie ihr Bruder Kafir. »Nun gut«, stimmte sie endlich zu. »Ich werde dir zuhören. So lange bekommst du Aufschub. Ich werde wiederkommen. Und ihr anderen verschwindet! Lasst die Landbewohner allein. Sie müssen über ihre Zukunft nachdenken, denn es braucht gute Gründe, um mich zu überzeugen.« Sie wies auf meine Gefährten. »Überlegt euch gut, wo eure Loyalität liegt. Ihr habt die Wahl, frei zu sein oder mit eurem
Anführer Atlan zu sterben. Ich gebe euch eine Stunde Bedenkzeit, dann werde ich mir anhören, was ihr zu sagen habt.« Plötzlich waren wir allein in der Höhle. Es war inzwischen dunkel geworden, unangenehm feuchtklamm. Wir waren natürlich durch die Anzüge verwöhnt. Allmählich bekam ich auch Durst. Als Aktivatorträger machte mir das Salzwasser nichts aus, aber das konnte ich meinen Gefährten nicht antun. Bei der nächsten Gelegenheit wollte ich Tellin bitten, uns wenigstens unsere Vorratspacks aus den Anzügen zu überlassen, um genießbares Trinkwasser zu bekommen. »Und was jetzt?«, fragte Li. »Ein wenig Geduld«, beruhigte ich sie. »So schlecht ist unsere Lage nicht. Die Tarik sind nicht dumm, sie sind neugierig. Sie bringen niemanden leichtfertig um.« »Aber nach allem, was die Arkoniden ihnen angetan haben, wird es sehr schwer sein, sie zu überzeugen, dass du anders bist.« »Ich habe ein wenig Erfahrung mit solchen Situationen. Vertrau mir, Li.« »Ich vertraue dir ja. Aber mein Optimismus hält sich momentan in Grenzen.« Sie kauerte sich hin, zog die Beine an, umschlang sie mit den Armen und legte die Stirn darauf, das Gesicht verborgen. Damit zeigte sie mir, dass sie einen Moment für sich sein wollte. Auch Zanargun beschäftigte sich wieder damit, die Höhle auszukundschaften und vielleicht doch einen Ausweg zu finden. Akanara saß völlig abseits. Mir fiel auf, wie ungewöhnlich still und in sich gekehrt er war. Er hatte hin und wieder depressive Phasen, in denen er fast aggressiv auf alles reagierte. Das war verständlich, denn immerhin war er entwurzelt. Von seinem Volk ausgestoßen, hatte er nun auch seine Heimat verlassen, in der er gelernt hatte zu überleben.
Nun gab es für ihn keine vertraute Umgebung mehr. Er musste sich ständig neuen Herausforderungen stellen. Da er gelernt hatte, niemandem zu vertrauen, und hinter jeder Freundlichkeit einen eigennützigen Gedanken vermutete, musste er sich zwangsläufig allein und verlassen vorkommen. Aber diesmal war es etwas anderes, keine Müdigkeit oder Furcht. Ich konnte spüren, dass ihn etwas zutiefst beschäftigte und bekümmerte. Wahrscheinlich würde er nicht von sich aus darüber reden, aber vielleicht konnte ihm geholfen werden. Ich ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Gefasst auf eine wütende Abfuhr, fragte ich: »Was plagt dich, mein Junge?« Ich erschrak, als er zu mir hochsah, mit einem gequälten Ausdruck in den Augen, so voller Furcht und Schmerz, wie ich es nie erwartet hätte. Geradeheraus antwortete er mir: »Einer von uns wird es nicht schaffen, Atlan.« Das war eine mehr als erschreckende Eröffnung. »Wie – in den nächsten zwei Minuten?« »Nein, das ist keine übliche Vision, die ich wie einen Film sehen kann ... es ist mehr ein Gefühl. Ich weiß nicht, wen von uns es trifft, aber ... es wird geschehen.« Seine Stimme war mit dem letzten Satz zu einem tonlosen Flüstern gesunken. Meine Erregung legte sich. Ich wischte einen Tropfen Sekret aus dem Augenwinkel. Ich konnte verstehen, was in dem Jungen vorging, und ihn beruhigen. »Das ist ganz normal. Jeder von uns hat in solchen Momenten schon Todesvisionen erlebt und geglaubt, dass alles zu Ende sei. Und dann ist doch alles gut ausgegangen.« Akanara schüttelte den Kopf. »Du verstehst mich nicht. Das ist kein Ausdruck meiner Furcht, meines Pessimismus oder so etwas. Es ist Gewissheit. Einer von uns wird sterben. Wer es ist, werde ich erst zwei Minuten davor sehen können. Aber dann wird es zu spät sein.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach ich, obwohl ich nicht mehr so überzeugt von meinen Worten war. Die Art und
Weise, wie Akanara darüber sprach, ließ meine Beunruhigung wieder wachsen. Was, wenn diese Ahnung tatsächlich stimmte? Immerhin war er ein Mutant. Und er hatte auch geahnt, dass wir im Ozean von den Tarik erwartet wurden. Es war eine sehr schwierige Situation, denn Akanara war auf der anderen Seite ein junger, emotio nsgeladener Mensch, aufgrund seiner Jugend starken Stimmungsschwankungen unterworfen. »Bisher haben wir noch jedes Mal etwas ändern können. Vergiss nicht, du siehst eine mögliche Zukunft voraus, keine unveränderliche. Das hat uns bisher das Leben gerettet.« »Das wird uns in diesem Fall nicht helfen. Es gibt einen Zeitpunkt, da kann man dem Unausweichlichen nicht mehr entkommen, es auch nicht hinauszögern.« Akanaras Stimme klang jetzt fest, bestimmt, sehr nüchtern. Das trug nicht gerade dazu bei, seine Behauptung nur für eine Laune zu halten. Der junge Yarn hatte es tatsächlich geschafft, mich zu verunsichern. Selbst mein Logiksektor schwieg. »Hm. Dann tu mir einen Gefallen, Junge. Sprich nicht mit den anderen über deine Befürchtung, einverstanden? Das würde sie nur unnötig belasten, denn wenn es ohnehin unausweichlich ist, nützt es keinem, vorher davon zu wissen. Immerhin hat jeder von uns eine größere Chance zu überleben, als zu sterben, denn wir sind zu viert, das ergibt fünfundzwanzig Prozent Trefferquote.« Akanara fixierte mich unter seinen dicken Stirnwülsten. »Wie kannst du nur so sicher sein, dass alles gut ausgeht?« »Ich lebe schon sehr lange, und ich habe dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt. Und ihn überlistet. Du bist erst sechzehn und musst diese Erfahrungen zunächst verarbeiten, um sie später verwerten zu können. In deinem Alter neigt man dazu, vieles negativ zu sehen oder bestimmte Zeichen überzubewerten. Vielleicht siehst du die Dinge etwas positiver, sobald du älter bist. Normalerweise ist das so.« Ich hoffte sehr, dass es sich wirklich nur um eine Krise aufgrund seines Alters
handelte und nicht um einen Ausdruck seines Psi-Talents. Ich musste ihm Zuversicht zeigen, ihn aus seiner Schwermütigkeit holen. Akanara blickte düster. »Du nimmst mich nicht ernst. Aber ich kann es nicht ändern. Ich sage dir, wie es ist. Glaub mir, ich wünsche mir ebenso wie du, dass es nicht dazu kommen wird.« Ich dachte einen Moment lang nach. »Sagen wir es so: Im Augenblick wird es nicht geschehen. Je mehr Zeit wir aber bis zu diesem Ereignis haben, desto größer sind die Chancen, die Gegenwart so zu gestalten, dass die Zukunft verändert wird. Ich werde daher noch sorgfältiger auf dich achten. Was bedeutet, dass sich deine fünfundzwanzig Prozent Wahrscheinlichkeit noch weiter verringern und du Gelegenheit bekommen wirst, noch deinen Enkeln von deinen Abenteuern zu erzählen. Akanara, der Raumfahrer, das ist doch etwas, findest du nicht? Als Geschichtenerzähler wärst du jedenfalls sehr gefragt.« Der Junge seufzte. »Du gibst die Hoffnung nie auf, nicht wahr?« »Wäre ich sonst unsterblich?« Ich lächelte und klopfte dem Jungen leicht auf die Schulter. »Bei alldem, was du schon erlebt hast, solltest du zuversichtlicher sein.« Akanara versuchte ein schwaches Lächeln. Aber er schien nicht überzeugt zu sein. Schließlich kehrte Tellin zurück. »Nun bin ich gespannt auf deine Geschichte.« Ich konnte ihr natürlich nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen, aber eine kleine Zusammenfassung war für das Verständnis meiner Motivation, Crest-Tharo da Zoltral das Handwerk zu legen, erforderlich. Ich musste Tellin glaubhaft machen, dass ihre arkonidischen« Unterdrücker genauso meine Feinde waren wie die der Tarik und dass ich nicht vorhatte, danach die Macht zu übernehmen. Dass ich keine gemeinsame Sache, mit den hiesigen
Arkoniden machte, war klar, immerhin hatten sie uns verfolgt, wir hatten gegeneinander gekämpft. Aber das bewies noch lange nicht meine guten Absichten. Tellin stellte zwischendurch Fragen an meine Begleiter, um sich ein Bild machen zu können. »Das ist alles«, schloss ich. »Ich hoffe, du schenkst meinen Worten Glauben.« Ich war dabei so behutsam wie möglich vorgegangen und hatte meine ganze Redekunst aufgewendet. Aber das Misstrauen war tief verwurzelt. Die Tarik hatten zu viel durchgemacht. »Ein Teil von mir ist von deiner Aufrichtigkeit überzeugt«, sagte Tellin. »Ein anderer Teil aber sieht in dir den Erbfeind, der unseren Planeten gestohlen und die Herrschaft übernommen hat.« »Du kannst doch nicht ein ganzes Volk über eine n Kamm scheren. Wir sind Individuen, nicht jeder teilt die Ansicht des anderen.« »Ich kenne die Mentalität der Landbewohner zu wenig. Ich kann nicht beurteilen, ob du die Wahrheit sagst oder nicht. Du kannst ein großartiger Blender sein. Vor allem aber kann ich nicht gegen mein Volk entscheiden.« »Du könntest versuchen, es zu überzeugen.« »Das werde ich. Aber wenn es deinen Tod fordert, werde ich seinem Wunsch entsprechen.« »Das wäre Mord.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es die Art der Tarik ist, leichtfertig zu morden. Sonst wäre ich nicht mehr am Leben.« Tellin nickte. »Das ist richtig. Aber die Frage lautet: Wie hoch ist das Risiko? Wenn es größer ist als die Schuld, die wir mit deinem Tod auf uns nehmen, so ist es die Schuld wert. Du bist ein mächtiger Mann, mit einem sehr starken Willen und großer Autorität. Ich muss gestehen, dass mich deine ungewöhnliche Aura erschreckt. Ich fürchte mich davor, und ich weiß, dass wir dir unterlegen sind. Du könntest unser Schicksal besiegeln, so oder so.«
»Genau«, stimmte ich zu. »Möglicherweise habe ich die Macht, euch zu vernichten. Aber ich habe genauso die Macht, euch zu helfen. Dafür zu sorgen, dass der tatsächliche Verursacher eurer Leiden zur Rechenschaft gezogen wird. Dann wärt ihr frei.« »Ich will dir zugestehen, dass du diesen Crest-Tharo vernichten willst, möglicherweise in guter Absicht. Aber was hindert dich dann daran, an seine Stelle zu treten? Wenn du die Macht so greifbar nahe hast? Könntest du der Versuchung wirklich widerstehen?« »Ja. Ich habe schon die Herrschaft über ein weitaus größeres Reich ausgeschlagen.« »Dafür brauche ich Beweise! Beweise! Schöne Worte nützen mir nichts.« Tellin ging zum Wasserloch. »Ich werde mich mit meinem Volk beraten. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, ob du die Wahrheit sprichst. Ein Gottesurteil, wenn du so willst. Mehr kann ich nicht für dich tun.« »Und was ist, wenn du die Große Mutter fragst?«, schlug ich vor. »Lass mich mit ihr sprechen! Wenn sie so uralt ist, wie du sagst, und nicht von hier stammt, besitzt sie auch ein sehr großes Wissen. Sie kann es sicher besser beurteilen.« Etwas blitzte in den Augen der Tellin auf. »Gut gesprochen. Und wahrlich keine schlechte Idee. Aber ich werde die Große Mutter keiner Gefahr aussetzen, und sei sie noch so unwahrscheinlich. Das wäre Verrat an meiner Aufgabe als Hüterin. Du wirst dich einer anderen Prüfung unterziehen müssen.« »Nun gut. Dann habe ich aber eine Bedingung: Sollte ich verlieren, werden meine drei Begleiter verschont. Bitte die Große Mutter darum, nach einer Lösung zu suchen, wie sie eure Welt verlassen können. Ich werde mich eurem Urteil beugen, sollte ich versagen.« Ich hob die Hand, als ich Lis Gesicht sah. »Ich habe mich entschieden, also bitte respektiert das.«
Tellin dachte einen Moment lang nach. Dann stimmte sie zu: »Ich werde versuchen, die anderen zu überzeugen, dass ihnen nichts geschehen wird. Sie erhalten die Anzüge zurück, und ich werde die Große Mutter um Rat fragen. Ich lasse euch nun allein, um mit meinem Volk zu sprechen. Inzwischen wird euch etwas zu essen gebracht.« »Dazu habe ich noch eine Bitte«, sagte ich schnell. »Wir brauchen Wasser. Das Meerwasser ist ohne Aufbereitung ungeeignet für uns. Wir brauchen einige Sachen aus unseren Anzügen, um ...« »Wenn ihr Süßwasser braucht, ist das kein Problem«, unterbrach sie mich. »Ich schicke einige Tarik zu einer der umliegenden Inseln, dort gibt es Süßwasser. Ich lasse euch etwas davon bringen.« Damit ließ sie uns allein. »Du bist verrückt! Das kannst du nicht machen!« Zanargun hatte gerade so lange gewartet, bis Tellin getaucht war. »Ich werde es nicht zulassen, dass du dich einfach umbringen lässt!« »Entweder alle oder keiner«, ergriff Akanara für den Einzelkämpfer Partei. Ich erinnerte mich an seine Worte: dass es einer von uns nicht schaffen würde. Vielleicht hatte er ja Recht. Nach all den Jahrtausenden war ich hier am Ende meiner Weisheit angelangt. Natürlich war ich potenziell unsterblich, aber nicht unverwundbar. Erstaunlicherweise regte es mich gar nicht so sehr auf. Es konnte schließlich jederzeit an jedem Ort geschehen. Wie jeder andere auch musste ich täglich auf meinen Tod gefasst sein. Wenn es hier so sein sollte ... »Wir werden keinesfalls dabei zusehen!« Li betrachtete mich mit Funken sprühenden Augen. »Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst! Willst du dich einfach ergeben?« Ich wollte ihr von Akanaras Vision erzählen, brachte es aber nicht über mich. Es konnte doch genauso gut sein, dass Li diejenige war, die es treffen sollte. Der Gedanke allein war mir
unerträglich. Ich konnte, durfte es nicht zulassen, dass ihr etwas geschah. Wenn ich mich opferte, veränderte ich die Zukunft, und sie würde überleben. Natürlich konnte es auch Zanargun treffen. Oder Akanara. Nichts von alledem würde ich geschehen lassen, ich war für sie verantwortlich, und hier zu sterben wäre ein sinnloser Tod für sie, alle drei. Bei mir war das etwas anderes. Ich hatte schon so viel erlebt. »Nein, natürlich will ich das nicht. Aber ich sehe momentan keine andere Möglichkeit, wie wir alle heil aus dieser Sache herauskommen sollen.« »Wir werden kämpfen«, knurrte der Luccianer. »Wir verkaufen unsere Haut teuer.« »Lächerlich. Nur in der Unterwäsche?« Die Vorstellung reizte mich zum Lachen. »Strategisch gesehen befinden wir uns in der schlechtesten aller Positionen. Wir können uns hier nicht einmal verschanzen. Selbst wenn wir versuchen, Tellin als Geisel zu nehmen, werden sich die anderen nicht davon abhalten lassen, uns zu töten. Ihr Hass auf mich ist so groß, dass sie notfalls ihre eigene Anführerin opfern. Und wo sollten wir schon ohne unsere Anzüge hin? Vergiss es.« »Aber was können wir dann machen?«, rief Akanara. »Hast du mich dafür aus dem Slum geholt? Ich sehe darin keinen Sinn!« »Nun mal langsam, Freunde.« Ich erhob mich. »Ihr tut gerade so, als ob ich sofort exekutiert werde. Aber Tellin hat sich einverstanden erklärt, mich zu prüfen. Damit habe ich immerhin eine fünfzigprozentige Chance, zu gewinnen und freigesprochen zu werden. Und ich habe auch schon eine Idee, wie ich diese Chance noch erhöhen kann.« Ich winkte Akanara zu mir und setzte ihm auseinander, was ich vorhatte.
9. Das Gottesurteil Die Gerechtigkeit ist stets ungerecht für den Einzelnen. Sie kamen zurück. Tellin, im Gefolge ihr Bruder Kafir und noch ein gutes Dutzend weitere Tarik. Wir wurden mit Essen und Trinkwasser versorgt und drängten uns dann fröstelnd aneinander. Akanara nahmen wir in die Mitte, der Junge schlotterte am ganzen Leib. »Ich werde nie mehr warm«, verkündete er mit klappernden Zähnen. »So muss sich ein Eiszapfen fühlen ...« Irgendwann nickten wir ein und schreckten hoch, als die Tarik auftauchten. Der massige Kiemenatmer baute sich vor uns auf. »Tellin hat viel gesprochen, aber wir sind nicht überzeugt. Das Risiko ist zu hoch. Du wirst sterben, deine loya len Gefährten mit dir.« »So war das nicht vereinbart«, sagte ich und stand auf. »Ich füge mich keinesfalls eurem Urteil, wenn ihr auch meine Freunde zum Tode verurteilt.« »Ihr habt eine Chance, davonzukommen. Wir werden die Blitzfische auf euch loslassen. Ihr habt sie gesehen, als wir in den Kampf eingriffen. Wenn sie kein Interesse an euch zeigen, seid ihr frei.« Die Aussicht, von einem elektrisch geladenen Fisch geröstet zu werden, behagte mir überhaupt nicht. Ich hatte diese Fische genau beobachtet, sie waren sehr aggressiv. Vielleicht würden sie uns übersehen, wenn wir uns tot stellten – was allerdings nicht so schwer werden dürfte, da wir unter Wasser schließlich nicht atmen konnten. »Das ist ein sehr fadenscheiniges Gottesurteil, denn wir haben keine K iemen und werden ertrunken sein, noch bevor die Fische uns angreifen. So leicht machen wir es euch nicht.« »Und wie willst du das verhindern?«
»Ich habe euch nicht alles gesagt. Wir haben noch etwas in der Hinterhand.« Ich wandte mich an Tellin. »Hast du etwas zum Aufschreiben? Könnt ihr lesen?« »Ja, wir haben früher einiges von den Arkoniden erbeutet, die jeweilige Hüterin hat lesen gelernt. Was hast du vor?« »Das wirst du bald sehen. Bitte gib mir etwas zum Schreiben.« »Dazu muss ich erst in die Geheimkammer ...« »Warum zögerst du das Unvermeidliche hinaus?«, brauste Kafir auf. »Ihr habt doch nichts zu verlieren«, sagte ich. »Diesen Aufschub könntet ihr uns gewähren, andernfalls seid ihr nicht besser als eure Feinde.« Das wirkte. Tellin verschwand und kam mit einem Stift und einer Schreibfolie wieder. »Ein Glück für dich, dass wir alles aufbewahren.« »Danke. Das ist sehr freundlich.« Ich ging zu Akanara, er flüsterte mir etwas zu, was ich niederschrieb. Dann gab ich die gefaltete Folie an Tellin zurück. »Sie h sie dir noch nicht an. Warte einen Moment ab. Du wirst wissen, wann es so weit ist.« Tellin machte ein verblüfftes Gesicht, ihr Bruder blickte misstrauisch und wollte ihr den Zettel aus der Hand reißen. Aber sie wies ihn mit einem warnenden Blick zurecht. Die übrigen Zuschauer drängten sich neugierig hinter ihr und tuschelten leise miteinander. Nach einer Weile wurden sie unruhig, und Kafir wollte soeben etwas sagen, als plötzlich zwei Kinder die Köpfe aus dem Wasser streckten und wissen wollten, ob wir denn schon tot seien. Eine Frau, ich nahm an, ihre Mutter, wies sie streng zurecht und scheuchte sie wieder fort: »Ich habe euch doch verboten mitzukommen! Könnt ihr mir denn nie gehorchen? Hier haben Kinder nichts verloren! Ab mit euch!« Die beiden Sprösslinge machten ein beleidigtes Gesicht und
setzten zu einem Widerspruch an, aber Kafir fuhr dazwischen: »Verschwindet, oder wir schicken euch für zwei Tage an Land!« Das wirkte. Die Köpfe verschwanden. Tellin sah mich fragend an, ich nickte. Sie öffnete die Folie und las mit angestrengt gerunzelter Stirn. Dann weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. »Was ist? Was steht da?«, riefen einige Tarik und wollten ebenfalls einen Blick auf die Folie werfen. »Genau das, was geschehen ist, das Auftauchen der Kinder«, sagte Tellin verdattert. »Unmöglich!«, protestierte Kafir. »Woher hätten sie das wissen sollen?« »Das ist es ja eben«, sagte ich ruhig. Insgeheim aber war ich immer noch aufgewühlt. Ich dankte Arkons Sternengöttern, dass Akanara mit seiner Vorhersage richtig gelegen hatte. Er war sehr erschöpft und ausgelaugt, seine Paragabe konnte ihm jetzt alle möglichen Streiche spielen. Immerhin waren wir noch nicht ganz vom Glück verlassen worden! »Und das kann ich jederzeit wiederholen. Es kann nicht im Sinn der Großen Mutter sein, mich zu exekutieren, bevor ich mit ihr gesprochen habe. Was ich weiß, ist von unschätzbarem Wert für sie, aber ich werde es nur ihr allein mitteilen. Auch nicht der Hüterin. Ihr müsst verstehen, dass ich ebenso wenig ein Risiko eingehen kann wie ihr.« Natürlich waren wir damit noch nicht frei, aber es war uns gelungen, die Tarik zu beeindrucken. »Und warum hast du das nicht gleich gesagt?«, zischte Kafir. »Weil ich es zuerst auf anderem Wege versucht habe. Glaubst du, es ist leicht, dieses Geheimnis preiszugeben? Normalerweise sollte es bewahrt bleiben. Das solltet ihr wissen, da ihr selbst eure Große Mutter wie ein Geheimnis bewahrt.« Tellin durchbohrte mich mit ihren Blicken. Ihr Gesicht war
ausdruckslos. Sie ahnt etwas. Sie ist sicher, dass du nur geblufft hast. Aber sie wird dich nicht verraten, sonst hätte sie den Inhalt des Zettels verborgen. Sie ist auf deiner Seite, konnte sich nur noch nicht durchsetzen. Mal sehen, ob sich das Blatt jetzt wendet. »Was sollen wir tun?«, fragten einige Tarik. »Er soll mit der Großen Mutter sprechen!«, machten sich andere für mich stark. Tellin blickte ihren Bruder an. »Ich habe es dir von Anfang an gesagt.« »Nun gut«, gab der massige Kiemenatmer nach. »Dann soll es so geschehen. Soll die Große Mutter entscheiden, was mit Atlan und seinen Gefährten zu geschehen hat. Aber zuvor muss er noch eine Prüfung bestehen. Kein Tarik außer der Hüterin darf jemals die Kammer betreten. Das gilt erst recht für einen Fremden. Atlan muss sich das Zutrittsrecht erkämpfen und beweisen, dass er würdig ist. Versagt er, werden wir das Urteil vollstrecken.« Tellin fragte mich: »Bist du damit einverstanden?« Darauf gab es nur eine Antwort. »Ja.« Ich hätte mir denken können, was nun kam. Kafir forderte mich zum Kampf. Sein Hass war nicht geringer geworden. Er hoffte wohl auf diese Weise, dass sich sein Wunsch nach meinem Tod erfüllen könnte. Zanargun wollte an meiner Stelle kämpfen, aber ich lehnte ab. Ich war schließlich Dagor-Großmeister. Einst hatte ich als Gladiator, Samurai, Ritter, als USO-Spezialist gekämpft. Meine Erfahrung sollte eigentlich reichen, um gegen diesen Koloss bestehen zu können. Auch wenn es unter Wasser war – eine Erfahrung mit einer gewissen Pikanterie. »Aber ich kann nicht ohne Anzug kämpfen«, sagte ich. »Ich ertrinke unter Wasser.« Kafir grinste. »Tut mir Leid, aber dann hättest du einen
technischen Vorteil. Du wirst die Luft eben so lange anhalten müssen. Wir werden im offenen Ozean kämpfen, so dass du Gelegenheit bekommst, Atem zu schöpfen – falls du so lange überlebst. Und ich überlasse dir die Wahl der Waffen.« Na, das war immerhin ein Trost. Es gab tatsächlich einen Ausgang aus der Höhle, den Zanargun bisher nicht gefunden hatte. Wir mussten allerdings erst ein paar Felsen beiseite schieben, und selbst dann war es noch ziemlich eng. Umständlich kletterten wir hinauf. Es wurde bereits wieder hell; wir genossen dankbar die wärmenden Strahlen der Morgensonne. Es tat gut, wieder Licht zu sehen, Weite um uns herum, und ohne dass es eine Spur von arkonidischen Gleitern gegeben hätte. »Du solltest es nicht tun«, flüsterte Li. »Ich habe keine Wahl. Es wird schon gut gehen.« Ich legte tröstend den Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Wange. Akanara sagte gar nichts, aber sein düsteres Gesicht sprach Bände. Ich wollte nicht wissen, was er sah. In diesem Fall nutzte es mir nichts. Zanargun machte seiner Empörung Luft, dass er nicht an meiner Stelle kämpfen durfte. Kafir breitete einige Tarik-Waffen aus, ich wählte ein langes, leicht gebogenes Messer. Kafir nahm ebenfalls ein Messer und sprang ins Wasser. Ich stellte mich an den Rand des Felsens und machte einige Atemübungen, um so viel Sauerstoff wie möglich in meinem Körper anzusammeln und das Lungenvolumen zu erweitern. Der Kampf musste schnell gehen, sonst war ich verloren. Kafir tauchte. Bei dem glasklaren Wasser konnte ich ihn aber nicht verlieren. Ich wartete einen Moment ab, dann folgte ich ihm. Ich hoffte, dass er ein fairer Gegner war. Zehn Sekunden später musste ich feststellen, dass Kafir es gar nicht nötig hatte, falsch zu spielen. Er sauste wie ein Torpedo durchs Wasser und stieß mit mir zusammen, noch bevor ich
mich richtig orientiert hatte. Im sprichwörtlich letzten Moment konnte ich mich noch so drehen, dass der tödliche Stoß mich verfehlte. Das Messer verfehlte knapp meine Wirbelsäule, ich spürte einen brennenden Schmerz. Mein Blut hinterließ rote Spuren im Wasser; zum Glück war die Wunde nicht tief, die Regenerationskräfte des Zellaktivators setzten augenblicklich ein. Die Blutung stoppte, aber der Schmerz blieb. Ich drehte mich gegen Kafir, versuchte ihn zu fassen, aber er entglitt mir mühelos und holte zum nächsten Stoß aus. Ich musste ihn entwaffnen, sonst war ich geliefert. Kafir bog sich, wand sich wie ein Aal und versuchte mich diesmal an der Brust zu treffen. Meine Luft wurde schon knapp, obwohl ich noch nicht einmal zwei Minuten im Wasser war. Luftblasen stiegen aus meinem Mund auf, die Kafir ganz richtig deutete. Er grinste mich breit an, öffnete und schloss seinen Mund mit übertrieben schnappenden Bewegungen. Angeber, dachte ich wütend. Immerhin war er für einen Moment abgelenkt, glaubte an ein leichtes Spiel. Ich bekam sein Handgelenk mit dem Messer zu fassen, erwischte die neuralgischen Punkte und drückte zu. Ein verblüffter Ausdruck trat auf sein Gesicht, als das Messer seiner plötzlich kraftlosen Hand entglitt und in die Tiefe sank. Schnell tauchte er hinterher. Ich konnte ihm leider nicht folgen und nutzte den Moment, um aufzutauchen und Luft zu schöpfen. Verschwommen sah ich meine Freunde und die Tarik auf den Felsen verteilt, offensichtlich atemlos vor Spannung. Im nächsten Augenblick war ich schon wieder unter Wasser. Kafir hatte mich mit der Linken am Fußgelenk gepackt und kraftvoll nach unten gezogen. Die Nerven seiner rechten Hand waren noch gelähmt, deshalb hatte er das Messer zwischen die Zähne geklemmt und versuchte mich jetzt mit den Beinen zu umklammern, um dann mit der Linken zuzustoßen. Ich
entwand mich ihm und wehrte ihn mit dem Messer ab. Normalerweise wäre dies ein tödlicher Schlag gewesen. Aber unter Wasser war ich langsam, quälend langsam, alles geschah nur im Zeitlupentempo, wohingegen Kafir ganz in seinem Element war. Plötzlich war das schadenfrohe Grinsen von seinem Gesicht gefegt, mit dieser Gegenwehr hatte er wohl nicht gerechnet. Sein voreiliger Triumph schlug um in Wut. Auch das war mir recht. Wer Emotionen im Kampf zuließ, hatte schlechtere Karten. Ich behielt einen kühlen Kopf, denn ich empfand Kafir gegenüber schließlich keinen Hass. Lediglich die instinktive Todesfurcht vor dem Ertrinken konnte zum Problem werden. Bisher konnte ich sie gut unterdrücken; ich hatte auch keine Zeit dafür. Kafir schnellte los und rammte mich, schob mich vor sich her und schleuderte mich geradezu aus dem Wasser. Schnell einen Atemzug nehmen! Ich drehte mich, bevor ich wieder auf dem Wasser aufprallte, und nutzte diesmal den geringen Luftwiderstand, um die volle Wucht für meinen nächsten Messerhieb auszunutzen. Kafir hob abwehrend den Arm und stieß einen leisen Schrei aus, als ich ihm den halben Unterarm aufschlitzte. Nun färbte sein Blut das Wasser rot, und das versetzte ihn in solchen Zorn, dass er mit dem Messer in der linken Hand blindwütig um sich schlug. Ich spürte, wie es mich an der Seite traf. Kafir war so schnell, und seine Hiebe waren so unberechenbar, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Dieser Stich saß tiefer, es quetschte mir einen Schwall Blasen aus meinem Mund, ich hätte beinahe reflexartig nach Luft geschnappt. Halb betäubt vor Schmerz, wehrte ich Kafirs Hiebe, so gut es ging, ab und trat ihm dabei versehentlich mit dem Fuß in die Leiste. Er knickte ein und verlor das Messer. Mit einem zweiten Fußtritt erwischte ich seinen Magen, Kafir wand sich wie ein verwundeter Fisch. Ich tauchte auf und rang nach Luft. Die neue Wunde brannte
wie Feuer, mir wurde schwindlig und übel, aber es war noch nicht vorbei. Ich sah Kafir heranschießen, seine Fäuste trafen meine rechte Schulter, das Messer entglitt meinen Fingern. Ich konnte es gerade noch mit den Fingern der linken Hand auffangen. Kafirs Ansturm riss mich mit, das Wasser schlug wieder über mir zusammen, dann spürte ich seine muskulösen Arme wie einen Schraubstock, er presste die Arme an meinen Körper, ich konnte mich nicht mehr rühren. Er tauchte, tauchte immer tiefer. Ich spürte den Druck auf meinen Ohren, hatte, das Gefühl, meine Augen würden aus den Höhlen quellen. Kafir kannte kein Erbarmen, er wollte mich ertränken. Ich musste immer mehr Luft aus den Lungen entweichen lassen, um den Druck zu ertragen, meine Kräfte ließen spürbar nach. Ich hatte es bis jetzt nicht geschafft, mich aus Kafirs Griff zu befreien, nun war es zu spät. Ich hatte den Kampf verloren. Langsam wurde es dunkel um mich. Über mir konnte ich flimmerndes Sonnenlicht ausmachen, während es immer tiefer ging. Allmählich ließ der Schmerz nach. Wir bluteten beide immer noch. Aber es war mir egal. Alles war egal. Ich hatte auch keine Angst mehr vor dem Ertrinken, glaubte mich schon längst darüber hinaus. Ein euphorischer Zustand erfüllte mich. Das ist die Sauerstoffnot, meldete sich mein Extrasinn mit panischer Intensität. Komm zu dir, du delirierst! Tu etwas, Narr, sonst gehst du zugrunde! Das ist das Ende! Feigling, dachte ich nur. Ich fühlte mich viel zu wohl, um mit ihm zu streiten. Plötzlich war ich frei. Mit trübem Blick sah ich mich um; statt zu sinken, stieg wieder leicht aufwärts, trieb ganz allein durch das endlose Meer. Wo war denn Kafir geblieben? Eigentlich war es mir egal. Aber ein bisschen wunderte ich mich schon. Und da ich von Natur aus neugierig war, wollte ich sein Verschwinden nicht einfach so hinnehmen.
Da sah ich ihn, wenige Meter von mir entfernt, er kämpfte mit einem ... einem Irgendwas. Mehrere Meter lang und gut zwei Meter dick. Klobiger Kopf mit dreieckigen Haifischzähnen. Kleine Flossen, lange Barteln. Wenn ich es recht verstand, wollte es Kafir fressen. So war der Lauf der Welt. Großer Fisch frisst kleinen Fisch, der den noch kleineren Fisch fressen will. Ich war frei! Das klärte meinen Verstand wieder und dämpfte meinen euphorischen Zustand. Wurde auch Zeit! So sollte es nicht enden. Kafir hatte den Kampf schon fast gewonnen. Das hatte er nicht verdient, auch wenn das Glück damit auf meiner Seite war. Ich packte den Schwanz des Fischwesens, als es sich gerade an mir vorbeiwarf. Aber es beachtete mich überhaupt nicht. Langsam zog ich mich an ihm entlang und sah, wie es seine Zähne in Kafirs Schenkel schlug, während sein Gegner wie ein Besessener auf sein Maul eindrosch. Keine Chance. Ich schwebte nun über dem Kopf des Riesenfischs, und er achtete weiterhin nicht auf mich. Zum Glück erinnerte ich mich an das Messer in meiner Linken. Ich schloss beide Hände darum und trieb es mit aller Kraft, die mir noch geblieben war, in den Nacken des Untiers. Es ließ sofort von Kafir ab, wand sich und flegelte um sich, erwischte mich mit einem Schlag der Schwanzflosse und schleuderte mich ein Stück weit nach oben. Den Schwung ausnutzend, ruderte ich mit Armen und Beinen, um die Oberfläche zu erreichen. Über mir glitzerte verheißungsvoll die Sonne, es konnte gar nicht mehr so weit sein. Aber irgendwie schien ich dem Licht nicht näher zu kommen. Ich paddelte und paddelte, aber zwischen mir und der Oberfläche lag noch so viel Wasser, ein ganzer Ozean voll. Du schaffst es nicht mehr. Nein, wohl nicht. Der Zellaktivator hatte mich unter Wasser
länger überleben lassen, als es normalerweise möglich wäre. Perlentaucher aus der terranischen altchristlichen Zeitrechnung konnten bis zu fünf Minuten unter Wasser ausharren. Ich hatte keine Ahnung, um wie viel ich diese Zeit schon überschritten hatte. Aber irgendwann war auch die letzte Frist vorbei. Meine Bewegungen wurden immer langsamer, fahriger. Irgendwann würde ich dem Atemreflex nicht mehr widerstehen können, den Mund öffnen und meine Lungen mit salzigem Wasser füllen. Obwohl ich dem Licht entgegenschwamm, wurde es vor meinen Augen immer dunkler. Ich wurde kraftlos und schläfrig, und als ich den Punkt erreicht hatte, an dem ich erkannte, dass es nicht mehr weiterging, gab ich auf. Ich hörte einfach auf, mich zu bewegen. Eine Weile noch trieb ich nach oben, getragen von meinem eigenen Schwung, dann fing ich langsam an zu sinken. So endet es also, dachte ich. Akanara hatte Recht, manchmal kann man dem Unausweichlichen nicht entgehen. Kurz bevor mein Bewusstsein schwand, spürte ich, wie mich etwas an den Armen, an der Taille berührte. Wahrscheinlich noch so ein gefräßiger Fisch. Er hätte wenigstens warten können, bis ich tot war. Dann ... dann ging es aufwärts. Ich merkte noch, dass das Wasser wärmer wurde. Und es wurde wieder heller. Stimmen um mich herum ... Dann wusste ich nichts mehr. 10. Entscheidung Am Ende gibt es nur einen Weg. Jemand berührte meine Stirn. Eine warme, weiche Hand. Ich schlug die Augen auf und sah Li über mir. Ihre Wangen waren
nass, wohl von dem Augensekret, das ihre Augen in der Erregung abgesondert hatten. Oder weinte sie etwa? Ihr Gesichtsausdruck ... »Du lebst«, flüsterte sie. »Den Sternengöttern sei Dank, du lebst.« Ich richtete mich auf und sah mich erstaunt um. Ich lag auf dem Felsen, umringt von meinen Gefährten und den Tarik. Mein Leib war verbunden, die Wunden waren versorgt. Neben mir kauerte Kafir. Auch er trug mehrere Verbände aus grünen Fasern. »Das war knapp, mein Freund«, sagte er. »Obwohl dem Tode schon so nahe, hast du mein Leben gerettet. Du bist der tapferste Mann, dem ich je begegnet bin, der aufrichtigste. Verzeih meinen Hass, meinen Wunsch, dich zu töten. Ich stehe für immer in deiner Schuld.« Ich winkte ab. »Du schuldest mir gar nichts, denn du hast mich schließlich an die Oberfläche gebracht und ebenso mein Leben gerettet wie ich deines. Ohne dich wäre ich ertrunken. Hat es dich schlimm erwischt?« »Es ist nicht angenehm.« Er grinste schmerzlich. »Aber du erträgst mehr. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Alle Tarik werden sich für immer daran erinnern.« Akanara saß neben Li und sah mich mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an. Ich lächelte ihm zu. »Wir haben der Zukunft wieder ein Schnippchen geschlagen, Junge. Nun gibt es keinen Grund mehr, sich zu sorgen. Alles wird sich fügen.« Er nickte, sagte jedoch nichts. Es war noch zu viel für ihn. Aber ich war beruhigt, dass seine Vorahnung sich nicht so tragisch erfüllt hatte, und voller Optimismus. Li sah mich erstaunt an. »Ich erzähle es dir später.« Zu Tellin, die mich von einem erhöht en Platz aus beobachtete, sagte ich: »Und wie geht es jetzt weiter?« »Ich werde dich zur Großen Mutter bringen«, antwortete sie. »Es ist nicht weit von hier, nur ein kurzer Tauchgang.«
»Einverstanden«, sagte ich. »Aber nicht ohne meinen Anzug.« Kafir lachte dröhnend. * Li, Zanargun und Akanara sollten auf dem Felsen auf meine Rückkehr warten. Dann würden auch sie ihre Anzüge erhalten, und wir konnten hoffentlich starten. Tellin gestand mir, dass es sie große Überwindung kostete, mich mitzunehmen. Immerhin hatte seit vielen Jahrhunderten niemand außer der jeweiligen Hüterin die geheime Kammer betreten. Ich versprach ihr, dass ich mit keinem darüber reden würde. Nach einem Irrweg durch ein Höhlenlabyrinth tauchten wir in einer anderen, nicht gefluteten Höhle auf, die mit den technischen Überresten der ehemals Land bewohnenden Tarik voll gestellt war. In der Mitte der Kammer befand sich eine lemurische Tiefschlafanlage. Tellin bediente die Kontrollen, und kurz darauf setzte sich eine uralte Frau, eindeutig lemurischer Abstammung, mit einem in der Stirn sitzenden Kristall auf. Sie war so alt, dass man vor Falten kaum mehr die ursprünglichen Gesichtszüge erkennen konnte. Ihr Körper so gebrechlich, dass ich nicht gewagt hätte, ihn zu berühren. Sie stellte sich mir als Große Mutter Naglyna Vunar vor und erzählte mir ihre Geschichte. Tatsächlich war sie sehr viel älter als ich, umgerechnet wohl um die fünfzigtausend Jahre. Da gab es natürlich viel zu berichten, aber ich hatte leider nur Zeit für das aktuelle Geschehen, sprich die letzten siebenhundert Jahre. Das beanspruchte in der Zusammenfassung immer noch mehr als eine Stunde. Die Große Mutter zeigte auch Interesse an mir und war offensichtlich erfreut über meinen Besuch, obwohl ich eher mit dem Gegenteil gerechnet hätte. Sie war eine sehr sanfte, geistig
immer noch hellwache, freundliche uralte Frau. Sie vertraute mir an, dass sie schon längst den Tod gewählt hätte, sich aber viel zu sehr um die Tarik sorgte und ihre Zukunft gesichert wissen wollte, bevor sie ins ewige Nichts einging. »Die Tarik waren seit jeher zu unbedeutend für die Außenwelten, als dass sie Hilfe bekommen hätten. Sie haben nur mich.« Ich versprach ihr, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die Machenschaften der Arkoniden in Hol Annasuntha zu unterbinden. »Ich werde dein unterdrücktes Volk nicht vergessen.« Aber erst mussten wir Baylamor, das einst Tarik hieß, verlassen. Hier konnte mir die Große Mutter helfen: Es gab ein Funkgerät in der Kammer, das noch funktionstüchtig sein sollte. Nach dieser Auskunft verabschiedete sie sich und legte sich wieder schlafen, nachdem Tellin ihr versprochen hatte, uns in allen Belangen zu unterstützen. »Wirst du dein Versprechen halten?«, fragte sie mich noch, während wir nach dem Funkgerät suchten. »Du hast dich als sehr edelmütig erwiesen, aber wie wird es sein, wenn du wieder fort bist und größere Ereignisse dich ablenken?« »Ich vergesse niemals etwas«, antwortete ich ruhig. »Erst recht nicht ein Versprechen.« Schließlich wurde ich fündig, und es gelang mir tatsächlich, das Funkgerät in Betrieb zu nehmen. Die Tarik hatten damals wirklich vorgesorgt, automatische Wartungen eingerichtet und für ein einheitliches Klima gesorgt, das die Maschinen »am Leben« erhielt. Ich setzte einen gerafften Funkspruch an die TOSOMA ab, mit einem Vorschlag, wo man uns abholen sollte. Tellin hatte mir eine kleine Insel ganz in der Nähe gezeigt, wo sie auch das Wasser für uns besorgt hatte. Ich gab uns drei Stunden Zeit, dann musste die TOSOMA eingetroffen sein. Wir brauchten von hier zur Insel etwa eine Viertelstunde. Anschließend kehrten wir zu meinen wartenden Gefährten
zurück. Die Tarik begleiteten uns zu der Insel, dann verabschiedeten sie sich. Sie hätten zwar gern noch gewartet, aber das hielt ich für zu gefährlich. Der Anflug des Schweren Jagdkreuzers mit einhundertfünfzig Metern Durchmesser würde nicht unbeobachtet bleiben. »Ihr müsst in Sicherheit sein, hier könnt ihr nichts mehr für uns tun.« Wir hatten unsere Waffen und Anzüge wieder und waren nicht mehr ganz so wehrlos. Abgesehen davon, dass die Systeme nach wie vor nur fehlerhaft funktionierten. Trotzdem fühlten wir uns jetzt sehr viel sicherer als nur in der Unterwäsche. Die Tarik winkten uns noch einmal aus dem Wasser zu, bevor sie verschwanden. Für einen kurzen Moment beneidete ich sie um ihr friedliches, beschauliches Leben dort unten im Riff. Im Grunde genommen hätte ihren Vorfahren nichts Besseres passieren können. Ohne die Unterdrücker konnten sie ewig so weiterleben. »Sie kommt!«, rief Akanara. Er deutete zum Himmel, an dem am helllichten Tag ein glühender Stern erschien und langsam größer wurde, als er sich uns näherte. Jeden Moment konnten wir abgeholt werden, um endlich unsere Mission fortzusetzen. Aber dann sah ich, wie sich Akanaras Gesichtsausdruck veränderte. Er murmelte ein Wort in seinem Dialekt, das ich nur mit »verdammt« vergleichen konnte. Drei arkonidische Gleiter jagten über das Meer heran. Sie hatten den Funkspruch abgefangen und unsere Position ermittelt. Zwei von ihnen griffen die TOSOMA direkt an, die umgehend das Feuer erwiderte, der dritte setzte ein Landungskommando auf unserer Insel ab. Wir suchten augenblicklich Deckung und warteten mit den Waffen im Anschlag auf die feindlichen Arkoniden. »Sie schafft es nicht!«, informierte Li mich, die den Himmel
beobachtete. »Die Gleiter bekommen Verstärkung!« Trotzdem kam der Schwere Jagdkreuzer immer näher, entzog sich den angreifenden Gleitern, die ihn von allen Seiten in die Zange nehmen wollten, durch halsbrecherische Flugmanöver, die mir beim Zusehen den Magen umdrehten. Li schoss eine Signalkugel ab, um unsere Position mitzuteilen – dummerweise damit auch den Gleitern, aber eine andere Möglichkeit hatten wir nicht. Die TOSOMA donnerte über unsere Insel hinweg und beschoss das heranrückende Landekommando, setzte über uns noch ein Paket ab, bevor sie wieder Richtung Orbit beschleunigte. Sicher waren inzwischen arkonidische Kreuzer gestartet, um sie abzufangen. Li und Akanara bargen das Paket, während wir Wache hielten. Ein Teil des Landekommandos hatte überlebt, die Arkoniden näherten sich uns jetzt schnell. »Es ist ein mobiler Transmitter!«, rief Li. »Haltet sie auf, während ich ihn in Betrieb setze!« Zanargun und ich sahen gleichzeitig den ersten herannahen den Arkoniden und eröffneten das Feuer. Die anderen mussten sich eilig zurückziehen, denn sie hatten keine Felsen als Deckung, so wie wir. Momentan waren wir im Vorteil – solange nicht der nächste Gleiter heran war und uns unter Beschuss nahm. Akanara war geduckt zu uns gerannt und gab uns Hinweise, wohin wir zielen mussten. Li hatte jetzt den Transmitter aktiviert, diesmal funktionierte er. Die Arkoniden unternahmen einen Sturmangriff, den wir mit Dauerfeuer beantworteten, während wir uns langsam Richtung Transmitter zurückzogen. »Geh schon!«, schrie ich Li zu. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren! In spätestens einer halben Minute müssen wir weg sein!« Li ging hindurch. »Los, Akanara!«, rief Zanargun. »Lauf, wir geben dir Feuerschutz!«
»Nein!«, schrie der Junge. »Du musst zuerst gehen! Vertrau mir, es ge ht nicht anders! Schnell! Sonst ...« Wir hatten keine Zeit für langwierige Diskussionen. »Geh schon!«, befahl ich Zanargun. »Ich schaffe das hier!« Die Insel brannte inzwischen. Die Arkoniden kamen schon sehr nahe, es waren immer noch zu viele. »Es ist so weit«, sagte Akanara und packte mich am Arm, als wollte er mich wegzerren. »Du musst gehen!« »Ja, aber nicht ohne dich.« Ich ergriff den Jungen, er war ja nur ein Fliegengewicht, und schleppte ihn mit. Wir hatten den Transmitter fast erreicht, es waren nur noch zwei Meter, als Akanara mir so unerwartet und heftig gegen das Schienbein trat, dass ich ihn aus einem Reflex losließ und stolperte, mit den Armen um mein Gleichgewicht rudernd. Ich konnte mit dem Fuß kaum auftreten und drehte mich humpelnd zu dem Jungen um. Ein heftiger Schmerz schoss durch die Wunde an meiner Seite, ich spürte, dass sie wieder aufgebrochen war. »Akanara!«, rief ich. »Was ...« »Ich habe es dir gesagt, von Anfang an.« In seinen Augen standen Tränen und ein Ausdruck tragischen Wissens, der mich schockierte und für eine Sekunde lähmte. Akanara verlor diese Sekunde nicht, er versetzte mir einen weiteren Stoß, diesmal vor die Brust, und ich, durch den Schmerz in meiner Seite nicht im Gleichgewicht, konnte mich nicht halten und stolperte rückwärts in den Transmitter hinein. Das Letzte, was ich sah, war ein vielfältiges Aufblitzen und Akanara, den sechzehnjährigen Ausgestoßenen von Yarn, der im Zentrum des Feuers stand und selbst zu Feuer wurde. Er leuchtete auf, strahlte hell wie eine Kerze, die zu schnell verbrannte, weil der Docht an beiden Seiten angezündet worden war. Mein Mund öffnete sich zu einem Schrei. Aber als ich ihn ausstieß und mich selbst »Akanara! Nein!« schreien hörte,
befand ich mich schon an Bord der TOSOMA. Gulokhiz, der Halb-Ekhonide und Leiter der Schiffsverteidigung, schaltete den Transmitter aus, denn er deutete meinen Aufschrei ganz richtig, dass nach mir niemand mehr kam. Außer den Verfolgern. Ich konnte jetzt den Sturz nicht mehr aufhalten und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden, bevor Zanargun und Li, die ihre Hände nach mir ausgestreckt hatten, mich auffangen konnten. Ich rappelte mich hastig wieder auf und nahm Haltung an; ich durfte vor den anderen nicht außer Fassung geraten. »Akanara ...?«, fragte Li mit brüchiger Stimme. »Er hat es nicht geschafft«, antwortete ich fast kalt. »Entschuldigt, ich muss den Start beobachten.« Ich ging zu den Holos, während mir Tränen über die Wangen liefen. Diesmal waren es keine Tränen der Erregung, auch nicht des Schmerzes, sondern der Trauer; aber den Unterschied konnte niemand sehen, da ich meine Fassung bewahrte. Wie gelähmt beobachtete ich auf den Holos, wie mein Patensohn Altra da Orbanaschol die TOSOMA beschleunigte und die Transition einleitete. Nun konnte uns niemand mehr einholen, für den Augenblick waren wir sicher. Ich wurde nicht gebraucht und konnte mich endlich zurückziehen, um allein zu sein, mit mir und meiner Schuld. 11. 3. März 1225 NGZ: Wahrheit Wenige Minuten nachdem ich in meiner Unterkunft angekommen war, erklang der Summer. Ich öffnete. Li kam herein. Einen Moment lang sahen wir uns schweigend an, dann umarmten wir uns. Ich drückte sie an mich, als wollte ich mit
ihr verschmelzen, um sie nie mehr loslassen zu müssen. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Halsbeuge, ein Zittern durchlief meinen Körper, ich spürte erneut, wie meine Wangen feucht wurden. Sie war das einzige Wesen an Bord, vor dem ich mich gehen lassen durfte. Und konnte. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, flüsterte Li nach einer Weile. Sie streichelte meinen Rücken, fuhr mit den Fingern durch meine Haare. Natürlich wusste sie, was in mir vorging. »Wie sollte ich nicht«, erwiderte ich heiser. »Komm.« Sie löste sich von mir und zwang mich in einen Sessel, setzte sich selbst auf die Lehne und hielt meine Hand. »Erzähle es mir. Alles.« Ich erzählte ihr von Akanaras letzter Minute. Irgendwie konnte ich es immer noch nicht glauben, und ich erwartete halb, dass er jeden Moment hier hereinstürmte, rotzfrech die Privatsphäre und Türschlösser anderer missachtend, und auf Beutefang ging, an sich raffte, was seine langen dünnen Finger nur erwischen konnten. »Ich hätte ihn niemals mitnehmen dürfen«, stieß ich erschüttert hervor. »Der Junge war erst sechzehn.« »Er war ein Ausgestoßener seines Volkes und lebte im Slum. Was denkst du, wie viel Lebenszeit er wohl auf Yarn noch vor sich gehabt hätte?« Li legte ihren Arm um meine Schultern und ihren Kopf an meinen. »Du hast ihn niemals gezwungen, dich zu begleiten. Es tat ihm gut, in deiner Nähe zu sein. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich beachtet und geachtet. Er entdeckte, dass auch er etwas wert ist. Es gefiel ihm, dir mit seiner Begabung helfen zu können. Das war eine ganz neue Erfahrung für ihn.« »Aber ich werde diese Schuld immer mit mir herumtragen«, murmelte ich. »Das ist nicht die einzige Bürde, die du trägst. Und sie wird es auch nicht bleiben. Du bist unsterblich. Es war kein Fehler,
Akanara mitzunehmen. Wenn schon, war es ein Fehler, mich zu retten.« Ich seufzte. Natürlich hatte sie Recht. Das machte es nicht leichter, nicht in diesem Moment, da der Schock noch so tief saß. »Du hast alles getan, um ihn zu retten«, fuhr Li fort. »Es war seine Entscheidung. Das solltest du respektieren.« Auch das stimmte. Aber ... »Was mich besonders quält«, sagte ich und rieb müde meine Stirn, »Akanara hatte Recht mit seiner Ahnung, dass wir es nicht alle schaffen würden. Und er hat in den letzten zwei Minuten gesehen, wen es trifft. Wenn ich so darüber nachdenke, wie das Ganze gelaufen ist, bin ich sicher, dass er entweder seinen oder meinen Tod gesehen hat. Dieser Ausdruck in seinen Augen ... ich werde ihn nie vergessen. Aber ich kann ihn nicht richtig deuten, sosehr ich mir auch den Kopf zerbreche.« Ich richtete mich auf und drehte mein Gesicht zu Li. »Wenn Akanara seinen eigenen Tod gesehen hat, fügte er sich ins Unausweichliche, davon war er ja geradezu besessen. Wenn es aber mein Tod war, hat er sich für mich geopfert ... Was schwer zu ertragen ist. Und er hätte damit wieder die Zukunft verändert.« Li schwie g einen Moment, dann sagte sie: »Glücklicherweise wirst du die Antwort niemals erfahren.« Sie stand auf und zog mich aus dem Sessel. »Du siehst schrecklich aus. Komm unter die Dusche. Das wird uns beiden gut tun. Außerdem will ich mir deine Wunde ansehen, sie ist bestimmt aufgebrochen, ich sehe dir an, dass du Schmerzen hast.« »Das ist jetzt nicht wichtig.« »Ach – was ist dann jetzt wichtig? Akanara ist nicht damit gedient, dass wir herumsitzen und Trübsal blasen. Ihm wäre es ganz bestimmt lieber, wir würden uns gegenseitig Anekdoten über ihn erzählen, in Erinnerung an seine Späße lachen.
Akanara hatte eine andere Einstellung zum Leben, er sah dem Tod viel fatalistischer entgegen und lebte nur für den jeweiligen Tag.« Allmählich fühlte ich wieder meine Lebensgeister erwachen. In Lis Nähe konnte man nie lange trüben Gedanken nachhängen. Allein ihre Anwesenheit war ein Trost, dazu noch ihr Verständnis, ihre Freundschaft und Treue und ihre gesunde Lebenseinstellung. Sie kannte mich so gut, dass es mich manchmal fast ängstigte. Wir verstanden uns ohne viel Worte, und jeder nahm den anderen, wie er war. Ich war ihr so nah, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, und fühlte mich so jung wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. Li legte ihre Hände auf meine Schultern und küsste mich. »Akanaras Tod wird nicht sinnlos gewesen sein«, sagte sie in einem abschließenden, entschiedenen Tonfall. »Denke daran, wer für dieses Unheil eigentlich verantwortlich ist: Crest-Tharo da Zoltral. Ihn werden wir zur Strecke bringen und damit seine todbringenden Machenschaften beenden!« Das nächste Ziel dafür steuerten wir bereits an: das TalzorSystem mit dem Planeten Theka, der uns vielleicht wichtige Hinweise brachte, und nicht zuletzt den Situationstransmitter, der dorthin führte. Ich war gespannt, was wir an unserem Ziel vorfinden würden. ENDE
Atlan und Li da Zoltral ist die Flucht von der Wasserwelt Tarik gelungen. Aber sie haben einen schrecklichen Preis bezahlt: Akanaras Tod. Damit der junge Yarn nicht sinnlos gestorben ist, müssen sie die Pläne des verbrecherischen Arkoniden vereiteln, der als Oberhaupt des Zoltral-Khasurn über einen mächtigen Konzern gebietet ... Die Spur führt zu einer paradiesischen Urlaubswelt!
DIE MASKEN DER KOPFJÄGER So heißt die spektakuläre Fortsetzung unserer Miniserie, die in zwei Wochen erscheint. Geschrieben wurde sie von keinem Geringeren als Hans Kneifel, einem der bekanntesten deutschen Autoren historischer und fantastischer Romane.
Liebe ATLAN-Freunde, es lässt sich nicht leugnen: Wir werden unterwandert! Da erreichte uns doch neulich eine Lesermail, in der es hieß: »Noch ein interner Tipp an den Redakteur von CENTAURI. Er/Sie muss bei den ›Fremdautoren‹ stärker auf die RHODAN-Diktion achten. Bei Trekkie Claudia werden dauernd ›Schilde‹ hochgefahren, keine Schirme.« Der freundliche Mitarbeiter hat Recht. Auf solche Trekkie-Ausdrücke muss der Bearbeiter der Manuskripte, das ist meine Wenigkeit, wirklich stärker achten. Erst allmählich dämmerte uns, in welchem Ausmaß hier Anstrengungen unternommen wurden, unseren ATLAN zu »trekkisieren«. Auch Herr Thurner und Herr Frenz haben sich diesbezüglich schuldig gemacht, doch konnten ihre spratzelnden Konsolen und die durchgeschüttelte Kommandobrücke noch rechtzeitig abgefangen werden. Fräulein Kern haben wir als Anführerin dieser fünften Kolonne natürlich sofort zur Rede gestellt. Sie antwortete uns mit folgender Hymne:
STAR TREK UND ICH von Claudia Kern »Star Trek« ist wie Fußball. Jede Woche spielt sich ein neues Drama ab, und die Fans auf den Rängen wissen stets besser, warum die Mannschaft einmal gewinnt und einmal verliert – und glaubt mir, als bekennender Arsenal-Fan weiß ich sehr viel übers Verlieren. Aber wenn es auch mal nicht so gut läuft, kein wahrer Fan würde seiner Serie oder seinem Verein je den Rücken kehren. Man lästert, man regt sich auf, aber am nächsten Samstag steht man wieder im Stadion oder schaltet den Fernseher ein, obwohl man so viele Dinge tun könnte, die weniger schmerzhaft wären. Als der Heel-Verlag 1996 auf die Idee kam, eine Science-Fiction- Zeitschrift herauszugeben, heuerten sie Dirk Bartholoma und mich als Chefredakteure an. Wir bauten die SPACE VIEW auf, suchten Kontakte zu den Fernsehsendern in Deutschland und den Studios in den USA, schlugen uns mit unpünktlichen Autoren herum und versuchten den Lesern gute Unterhaltung zu bieten. Dabei kam die Literatur schändlicherweise viel zu kurz und »Star Trek« ... nun, »Star Trek« zeigte, dass die Fans nicht nur bereit waren, an den Samstagen auf den Rängen zu stehen, sondern auch das Training, die Spiele der Reservemannschaft und die C-Jugend sehen wollten.
Wir bekamen Briefe, in denen Fans schrieben: »Hallo, sagt doch mal Rick Berman, dass das scheiße ist mit der >Voyager<. Die soll die Transwarpkanäle der Borg nutzen, um nach Hause zu kommen. Live Long & Prosper, Jan.« Klar, Jan, machen wir. Drei wirklich gute Jahre lang beherrschte »Star Trek« durch die SPACE VIEW mein Leben, aber dann war es Zeit, sich nach etwas Neuem umzusehen. Ich bin immer noch Fan, auch wenn ich über Voyager noch keine positive Zeile geschrieben habe und die neue Serie Enterprise nicht sonderlich mag. Aber auch das gehört irgendwie dazu.