Chicago Band 21
Familienbande
Pat Connor ist Privatdetektiv im Chicago der zwanziger Jahre. Kein leichter Job und k...
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Chicago Band 21
Familienbande
Pat Connor ist Privatdetektiv im Chicago der zwanziger Jahre. Kein leichter Job und keine gesunde Gegend, um diesem Job nachzugehen. Besonders, wenn die Stadt zwischen dem italienischen Syndikat von ›Il Cardinale‹ Rigobello und dem irischen von ›The Jar‹ O'Malley aufgeteilt ist. Seine Sekretärin Betty Meyer, meist damit beschäftigt, ihre Fin gernägel zu lackieren, ist ihm auch keine große Hilfe. Verlassen kann er sich aber auf seinen väterlichen Freund Bren don Smith, Reporter bei der Chicago Tribune, der ihm wichtige Infor mationen besorgt. Und auf Dunky, den Wirt seiner Stammkneipe, in der er sich regelmäßig mit illegalem Bourbon den Frust hinunterspült. Anlass dazu gibt es genug, nicht zuletzt in Person von Lieutenant Quirrer vom Police Departement und dessen Chef Captain Hollyfield. Jedes Mal, wenn eine Leiche auftaucht, ist für Quirrer zuerst Pat der Hauptverdächtige. * Wieder war ein Tag vorbei, ohne dass ein Klient aufgetaucht war. Bet ty stapelte die wenigen Akten auf ihrem Schreibtisch von rechts nach links und warf mir einen mürrischen Blick zu, als wäre ich daran schuld, dass der Laden zurzeit eine Flaute hatte. »Ich mache für heute Feierabend, Pat. Morgen ist Zahltag, denken Sie dran!« Etwas lauter als unbedingt nötig zog sie die Tür hinter sich zu. Und ob ich daran dachte. Ich zog mein Portemonnaie aus der Ho sentasche und schüttete den Inhalt auf meinen Schreibtisch. Ich brauchte nicht lange, um meine Barschaft zu zählen. 51 Dollar und 19 Cent. Für Bettys Wochenlohn würde es noch reichen, aber es wurde langsam Zeit für einen zahlenden Klienten. Ein Windstoß klatschte den Regen an die Scheibe. Mein Magen knurrte. Ich beschloss, auf einen Drink zu Dunky zu fahren, nahm den Regenmantel von der Garderobe und zog mir den Hut tief ins Gesicht. Ich würde meinen letzten Grant anbrechen müssen. Was hatte ich noch auf der Bank? Nicht mal mehr einen Hunderter und in zwei Wo chen war die Miete fällig. Es sah verdammt übel aus. Aber es hatte 4
schon schlimmer ausgesehen, dachte ich achselzuckend und schloss die Tür hinter mir ab. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Ich drehte den Schlüssel wieder um, ging rein und hob den Hörer ab. »Pat Connor, private Ermittlungen«, meldete ich mich. »Connor, bist du's?«, fragte eine vage bekannte Männerstimme. Sie gefiel mir nicht, aber ich konnte sie auch nicht einordnen. »Ja«, gab ich zurück. »Mit wem spreche ich?« Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, den Hörer so fort wieder auf die Gabel zu legen. »Ich bin's, Danny. Danny Fitzgerald. Weißt du noch?« Und ob ich wusste. Fitzgerald gehörte nicht gerade zu den ange nehmen Erinnerungen aus meiner Zeit bei der Chicago Police. Dass er mir wie viele andere Kollegen in den Rücken gefallen war, nahm ich ihm nicht weiter übel. Ich hatte mit den Jahren gelernt, wie selten Leute bereit waren, für andere ein zu stehen. Fitzgerald war ein ver flucht scharfer Hund gewesen, aber auch das waren viele. Doch bei ihm war noch etwas anderes dazugekommen: Er hatte ganz offen sichtlich Freude daran gehabt, anderen Schmerz zuzufügen. Seine Verhaftungen waren immer unnötig brutal abgelaufen. Gebrochene Knochen waren der Normalfall gewesen. Außerdem hatte er zu den wenigen Polizisten gehört, die sich auch gern an Frauen vergriffen. Die meisten Kollegen wussten damals über ihn Bescheid, aber wie sagt man so schön? Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Fitzgerald war so ziemlich der Letzte, mit dem ich jetzt reden wollte. »Was willst du?«, fragte ich knapp. »Ich bin mittlerweile auch nicht mehr bei der Truppe. Ich habe mich selbstständig gemacht und will dir einen Job anbieten.« »Als was?« »Das erkläre ich dir später. Wann können wir uns treffen?« »Was soll das? Sag mir zuerst, um was es geht!« In meinem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Von Fitzgerald konnte nichts Gutes kommen. »Ich kann jetzt nicht länger reden, Connor. Für dich springt auf jeden Fall einiges dabei raus. Ich lade dich zum Essen ein. In einer Viertelstunde hole ich dich ab, okay?« 5
Ich dachte an meine Barschaft und brachte die hartnäckige Stim me in meinem Kopf zum Schweigen. Ich musste mir wenigstens anhö ren, was er anzubieten hatte. »Bis gleich«, knurrte ich und hängte den Hörer ein. * Ich zog den 38er Smith & Wesson aus der Schreibtischschublade, ver gewisserte mich, dass er geladen war und überlegte kurz, ob ich ihn ins Halfter stecken sollte, dann legte ich ihn mit einem Achselzucken zurück. Bei Fitzgerald war es gesünder, mit allem zu rechnen, aber er würde mich wohl kaum auf offener Straße über den Haufen schießen wollen. Es klopfte, dann öffnete sich die Tür. Fitzgerald. Er hatte seine überflüssigen Pfunde abgelegt und durch Muskeln ersetzt. In seinem offensichtlich teuren Anzug sah er fast noch Furcht einflößender aus als damals in der Uniform. Der Stoff spannte über seinen Muskeln, der Hemdkragen schloss sich um seinen Stiernacken. Das rote Haar war zu einer Bürste geschoren, nur die großen grünen Augen blickten trüge risch sanft. Seine Hände waren riesig wie Schaufeln. Eine davon streckte er mir jetzt mit einem breiten Grinsen entgegen. »Wie geht's, Connor, wie laufen die Geschäfte?« Er sah sich um. »Könnte besser sein, was?« Er lachte dröhnend. Alles an diesem Mann war laut, aber ich wusste noch genau, wie absolut geräuschlos er sich bewegen konnte, wenn er wollte. »Wie wär's mit einem Kaffee?«, fragte er, ließ sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch fallen und streckte seine langen Beine aus. »Du bist nicht hier, um Kaffee zu trinken. Was für einen Job willst du mir anbieten?«, knurrte ich. »Darüber reden wir beim Essen, Pat. Ich dachte, wir plaudern erst ein bisschen über die guten alten Zeiten.« Er grinste wie eine Katze, die eine besonders fette Maus ins Visier genommen hat. Ich stand auf und nahm meinen Hut. »Lass uns gehen.« Fitzgerald lehnte sich bequem zurück und schlug die Beine überei nander. 6
Ich hatte das Gefühl, dass er irgendeins seiner Spielchen durchzie hen wollte und setzte mich langsam wieder. »Sag mir, was du willst, oder verschwinde!« Sein Grinsen gefror. »Immer noch ganz der Alte, was? Also gut, Connor, kommen wir gleich zur Sache: Ich will dich in meiner Truppe haben.« Mit schmalen Augen beobachtete er mich. »Was für eine Truppe?« »Privater Wachschutz. Ich stelle gerade eine Mannschaft zusam men und will nur die Besten.« Ich ignorierte die Schmeichelei. »Was für ein Wachschutz?« Fitzgerald zuckte die Achseln. »Was grad so kommt«, wich er aus. »Etwas deutlicher musst du schon werden«, hakte ich nach. So tief könnte ich gar nicht im Dreck stecken, dass ich diesen Job ange nommen hätte. Aber ich war neugierig geworden. »Bist du interessiert oder nicht? Es geht um jede Menge Geld und das kannst du offensichtlich brauchen.« »Was müsste ich dafür tun?« »Ab und zu ein kleiner Job. Spezialaufträge. Ein bisschen für Ord nung sorgen, du weißt schon. Diese Makkaronis tanzen uns schon viel zu lange auf der Nase herum und irgendjemand muss den Drecksker len zeigen, dass sie sich nicht alles erlauben können.« Ich hatte verstanden. »Verschwinde«, sagte ich ohne meine Stimme zu heben. »Raus, sofort.« »Hey, Connor...« Fitzgerald beugte sich nach vorn und stützte seine Pranken auf meinen Schreibtisch. »Frag mich nie wieder, ob ich einer deiner Killer werden will, oder es wird dir verdammt Leid tun.« Langsam zog ich die Schreibtisch schublade auf. Fitzgerald grinste und stand auf. »Du solltest dein Temperament in den Griff kriegen, wird dich sonst noch mal in große Schwierigkeiten bringen.« Er griff in seine Jackentasche und ich steckte meine Hand in die Schreibtischschublade. »Reg dich ab, Connor.« Fitzgerald zog einen Zettel aus der Ta sche, kritzelte etwas darauf und ließ ihn auf den Schreibtisch fallen. »Außerdem wärst du sowieso zu langsam gewesen. Du solltest mal 7
wieder üben, Connor, könnte sein, dass du es demnächst brauchst. Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst.« * Ich lockerte meine Krawatte und schüttete den Rest Kaffee in eine Tasse. Er war kalt, zähflüssig wie Teer und roch auch nicht viel anders. Ich streckte das Gebräu mit einem kräftigen Schuss Bourbon und setz te mich wieder an den Schreibtisch. Nachdem die Tasse leer war, hatte ich keine Lust, frischen Kaffee zu kochen und trank den Whiskey pur. Eine Weile blieb ich so sitzen und dachte nach. Vor dem Fenster krachte ein Donner, dann fielen Wassermassen wie aus Kübeln vom Himmel. Bisher hatten wir in diesem Sommer nur Hitze gehabt. Wie ein glühender Ball hatte die Sonne Tag für Tag an einem Himmel wie poliertem Stahl gestanden und langsam, aber sicher alles in Staub verwandelt. Das Gewitter brachte endlich etwas Abküh lung. Der Regen lief am Fenster herunter und passte zu meiner Stim mung. Hätte ich nur auf meine innere Stimme gehört! Was sollte ich jetzt tun? Da draußen lief ein machthungriger Fanatiker herum, der eine Eli te-Killertruppe auf die Beine stellte. Ich kannte Fitzgerald. Der ver fluchte Mistkerl meinte es ernst. Dass ich den Job abgelehnt hatte, würde ihn sicher nicht aufhalten. Wenn er die ersten Spezialaufträge erledigt hätte, würde es Krieg zwischen den Iren und Italienern geben. Andererseits - was ging mich das Ganze überhaupt an? Ich hatte genug eigene Probleme, um die ich mich kümmern müsste. Außerdem war ich noch nie ein besonderer Freund der Italiener gewesen. Mein Ex-Partner Joe Bonadore war einer von ihnen gewesen. Irgendwann nahm ich die Flasche und zog auf das Sofa um. Zu Hause wartete nichts auf mich. Genauso gut konnte ich heute Nacht im Büro bleiben. Als ich irgendwann erwachte, hatte ich das Gefühl, jemand hätte einen Presslufthammer neben meinem Kopf angeworfen. Verwirrt setzte ich mich auf und stellte fest, wo ich war. Es lohnte nicht, den restlichen Bourbon in die Tasse zu gießen und ich trank ihn gleich aus der Flasche, dann schüttelte ich eine Lucky aus der Packung 8
und riss ein Zündholz an. Bevor ich sie anstecken konnte, ging der Krach schon wieder los. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass jemand an meine Tür hämmerte und vermutlich nicht aufhören würde, bevor ich geöffnet hätte. Ich sah auf die Uhr. Halb ein Uhr nachts. Schwankend lief ich zum Schreibtisch, holte meinen 38er heraus und machte die Tür auf. Im Flur stand eine junge Frau mit atemberaubenden Kurven, einem unglaublichen Schmollmund und einer Flut schwarz glänzender Haare. Unwillkürlich strich ich meine Haare glatt und richtete mich auf. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich in der aufregenden Schönheit Gladys. Gladys Wyman. Ich atmete tief durch. Damals war sie bereits sehr hübsch gewesen, aber inzwischen hatte sie sich zu einer umwer fenden Schönheit gemausert. Heute war offensichtlich der Tag der alten Bekannten. Allerdings war der Anblick von Gladys um einiges er freulicher als der von Fitzgerald. Gladys hatte vor vielen Jahren in der Telefonzentrale der Polizei gearbeitet. Vermutlich war sie noch immer dort, sie war der beständi ge Typ. Ab und zu waren wir zusammen ausgegangen. Wir waren wohl so was wie Freunde, aber nachdem ich bei der Polizei aufgehört hatte, hatte ich sie nie mehr zurückgerufen. Nach einer Weile hörten auch ihre Anrufe auf. »Gladys!«, rief ich und wich einen Schritt zurück. Bei dem Ge schmack in meinem Mund wollte ich lieber nicht daran denken, wel chen Geruch ich verströmte. »Immerhin erkennst du mich noch«, antwortete sie trocken. In ih ren Augen lag ein fremder Blick, den ich nicht einordnen konnte. »Darf ich reinkommen?« Sie wartete meine Antwort nicht ab, ging an mir vorbei und setzte sich nach einem Blick zum Schreibtisch auf das zerwühlte Sofa. Sie starrte mich an. Ihre schwarzen Augen waren noch immer so schön wie früher, aber sie schienen mich nicht wahrzunehmen. Erst jetzt sah ich, dass an ihren Händen Blut klebte. »Kathleen wurde erschossen«, sagte sie mit ausdrucksloser Miene, doch in diesem Moment erkannte ich die Angst in ihrem Gesicht. 9
Ich setzte mich neben sie und wartete darauf aufzuwachen. Das nächste Mal sollte ich besser die Finger von dem billigen Fusel lassen. Genau in diesem Moment verdrehte Gladys die Augen und sackte zur Seite. Ihr Kopf knallte schmerzhaft auf mein Schlüsselbein. Das war ganz eindeutig kein Traum! Vorsichtig ließ ich Gladys auf das Sofa glei ten und stand auf. Erst einmal würde ich eine große Kanne Kaffee ko chen. * »Sie muss völlig ausgeblutet sein«, murmelte Gladys eine Weile spä ter. Nach einigen Tassen Kaffee waren wir beide wieder in der Lage, mehr oder weniger vernünftig miteinander zu reden. »Sie war völlig - zerfetzt.« Jetzt liefen Tränen über ihr hübsches Gesicht. »Das halbe Gesicht war weg. Alles war voll Blut.« »Willst du etwas trinken - einen Schluck Bourbon vielleicht?«, bot ich ihr an. Whiskey war doch immer noch das beste Hausmittel gegen einen Schock. Gladys nickte und wischte ihr Gesicht mit ihrem Ärmel ab. Ich stand auf und durchwühlte den Schreibtisch und die Schränke. Schließ lich fand ich noch eine kleine halb volle Flasche. Zusammen mit zwei halbwegs sauberen Gläsern stellte ich sie auf den Tisch und goss ein. Ohne weitere Aufforderung leerte Gladys ihr Glas in einem Zug. »Puh«, machte sie naserümpfend und verzog ihr Gesicht. Sie schenkte sich den Rest aus der Flasche ein, trank aus und schüttelte sich, dass ihre seidigen schulterlangen schwarzen Haare flogen. Früher waren sie länger gewesen und meist züchtig aufgesteckt. Dieser Look stand ihr eindeutig besser, fand ich. Ebenso wie der hautenge rosafar bene Pullover und der dazu passende enge Rock. Leider war beides mit rostroten Flecken verschmiert. Ich bot Gladys eine Lucky an, doch sie lehnte ab. »Also, Kathleen wurde erschossen?«, fragte ich und inhalierte tief. »Wer ist denn Kath leen?« 10
»Sie war Tänzerin.« Gladys machte eine winzige Pause. »Schön heitstänzerin. Sie war meine Freundin, na ja, besser gesagt, die Frau, mit der ich mir das Apartment teile. Freundinnen waren wir früher mal. Ich bin nach Hause gekommen und da lag sie, neben dem Sofa. Es war so widerlich. Überall Blut und ihr Gesicht...« »Ja, halb weggerissen, ich weiß.« So früh am Morgen hasse ich ekelhafte Einzelheiten. »Hast du die Polizei gerufen?« Gladys schüttelte heftig den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich bin sofort ins Auto gestiegen und zu dir gefahren.« Sie zitterte so heftig, dass ihre weißen Zähne aufeinander schlugen. »Dann tu es jetzt!« Ich stand auf. »Geht nicht.« Gladys hörte auf zu zittern. »Sicher geht das. Also los!« »Aber du bist doch Privatdetektiv. Du musst mir helfen«, sagte sie leise und sah mich an. Ihre Augen waren so schwarz, dass ich die Pupillen nicht erkennen konnte. »Was hat das denn damit zu tun?«, knurrte ich, doch ich setz te mich wieder. »Deine Freundin ist umgebracht worden! Da ruft man die Polizei. Wo wohnt ihr eigentlich?« Widerwillig murmelte sie die Adresse, dann stand sie auf. »Du hast sicher Recht. Am besten gehe ich nach Hause und rufe von dort aus die Polizei an. Sieht doch sonst komisch aus, nicht wahr?« »Ruf sie von hier aus an«, sagte ich, hob den Hörer ab und be gann, die Wählscheibe zu drehen. »Dann fahre ich dich nach Hause und warte mit dir auf die Polizei.« »Warte!«, rief sie hastig. »Leg wieder auf, bitte! Ich kann nicht die Polizei rufen. Die halten mich bestimmt für die Mörderin. Sieh mich doch an! Ich bin voller Blut. Außerdem sind meine Fingerabdrücke auf dem Revolver. Und ich habe sogar ein Motiv.« Ich starrte sie sprachlos an. »Hast du sie etwa getötet?« Ich fass te nach ihrem Arm. »Nein!«, schrie Gladys auf. »Siehst du, sogar du glaubst, dass ich die Mörderin bin. Aber ich hab's nicht getan. Ich hab Kathleen nur um gedreht, weil ich dachte, dass sie vielleicht noch lebt, dann hab ich ihr Gesicht gesehen.« Jetzt schluchzte sie herzzerreißend. Ihre Augen 11
schimmerten, die vollen Lippen bebten. »Den Revolver habe ich ein fach aufgehoben, ohne nachzudenken. Ich weiß, das war dumm von mir, aber dafür will ich nicht ins Gefängnis. Ich bin unschuldig.« Sie befreite ihren Arm aus meinem Griff und schubste mich weg. Härter, als ich gedacht hatte. Ich stolperte, der Teppich rutschte unter meinen Füßen weg. Ich fiel und schlug mit der Schläfe an die Schreibtischkante. Grellbunte Sterne tanzten vor meinem Gesicht, dann war alles schwarz. * Als ich die Augen öffnete, fiel mir alles schlagartig wieder ein. Zuerst hatte ich leichte Zweifel, ob Gladys wirklich bei mir gewesen war und von einem Mord erzählt hatte oder ob ich nur einen besonders wirren Traum gehabt hatte. Aber dann drehte ich den Kopf und sah die bei den Gläser auf dem Tisch. Eins war mit Lippenstiftspuren verschmiert. Unter meinem Kopf war es merkwürdig weich. Ich tastete und fühlte meine Jacke. Gladys war offenbar verschwunden, aber sie hatte mich zumindest bequem hingelegt. Ich sah auf die Uhr. Halb zwei. Ich war keine fünf Minuten bewusstlos gewesen. Hinter den Jalousien war Nacht. Es regnete noch immer. Dicke Tropfen klopften wie nervöse Finger an das Fenster. Mühsam stand ich auf und schleppte mich zur Couch. Ich wollte nur noch weiterschlafen. Aber nachdem ich mich ein paar Minuten von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, stand ich wieder auf, wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser und griff nach Hut, Regenmantel und Autoschlüsseln. * Der Regen klatschte wie aus Kübeln auf die Windschutzscheibe und die Scheibenwischer konnten mit den Wassermassen kaum fertig wer den. Inzwischen fühlte ich mich wach, aber nicht besser. Was zum Teufel machte ich eigentlich hier, mitten in der Nacht im Regen, auf dem Weg zu der Wohnung einer Lady, die mir von einem Mord erzählt, 12
mich ausgeknockt hatte und dann verschwunden war? Ich sah auf das Straßenschild: West Elm Street. Wenn mir mein Gedächtnis keinen Streich gespielt hatte, wohnte Gladys in dieser Straße. Nr. 437, 439, 441. Da war es. Ich hielt am Straßenrand und be trachtete das Gebäude. Ein vierstöckiges Mietshaus, nicht alt, nicht neu, nicht billig, nicht teuer. Im dritten Stock brannte Licht hinter den Jalousien. Ich schlug den Kragen hoch, stieg aus dem Wagen und rannte zum Eingang. Mit dem Feuerzeug beleuchtete ich das Klingel schild. Ich war an der richtigen Adresse: GLADYS WYMAN / KATHLEEN LAMBERT stand in säuberlichen Buchstaben neben dem Klingelknopf. Ich drückte drauf. Natürlich rührte sich nichts. Was wollte ich hier überhaupt? Wenn die Geschichte stimmte, die Gladys mir erzählt hatte, würde hier niemand mehr öffnen. Wenn nicht, hatte ich hier erst recht nichts verloren. Ich überlegte, endlich nach Hause zu fahren und ins Bett zu gehen. Für ein paar Stunden Schlaf würde es gerade noch reichen. In diesem Moment hörte ich die Sirenen. Hinter mir bremste ein Polizeiwagen. Sein Licht warf flackernde Schatten an die Wand. Die Haustür öffnete sich und ein alter Mann in ausgebeulten Hosen und einer Strickjacke schlurfte heraus, vermutlich der Hausmeister. Zwei Cops stiegen aus dem Wagen. Bevor ich unauffällig verschwinden konnte, stellten sie sich rechts und links von mir auf. »Guten Abend, Officers«, sagte ich freundlich. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Wohnen Sie hier?«, antwortete der jüngere der beiden. Mit sei nem hüpfenden Adamsapfel und dem flaumigen blonden Haar sah er auf den ersten Blick wie ein Küken aus. Doch seine blauen Augen wa ren hart wie Glas. Sein Kollege erinnerte an eine Billardkugel. Alles an ihm war rund, kahl und glänzte. »Ich wohne nicht hier, ich bin nur zufällig vorbeigekommen«, er widerte ich. Demonstrativ sah die Billardkugel auf die Uhr. »Zufällig?« »Ich konnte nicht schlafen, ich bin spazieren gegangen.« Er verzog keine Miene. »Kann ich verstehen, bei dem Wetter geht doch nichts über einen schönen Spaziergang. Wer sind Sie, Mister?« 13
Ich zog eine meiner Visitenkarten heraus und gab sie ihm. »Pat Connor. Private Ermittlungen«, las er vor, grinste und steckte sie ein. »Das ist wirklich ein netter Zufall. Bitte begleiten Sie uns, Mister Con nor.« Sie flankierten mich bis zu ihrem Wagen. Ich lehnte mich an das nasse Blech. »Nehmen Sie ihren Hintern vom Wagen!«, sagte der Jungspund. »Was sonst? Verhaften Sie mich dann?«, fragte ich zurück. Das war ein Fehler gewesen. Die beiden wechselten einen Blick und kamen näher. Ich entfernte mich einen Schritt von dem Auto. Ir gendwann sollte ich mir angewöhnen, den Mund zu halten. In diesem Moment fuhr ein zweiter Polizeiwagen vor. Mehrere Uni formierte stiegen aus und gingen zielstrebig die Treppe hinauf. Ein ziviles Fahrzeug hielt hinter unserem Wagen an. Ein blonder Mann im Regenmantel stieg aus. Der hatte mir gerade noch gefehlt! Lieutenant Quirrer von der Chicago Police. Ich drehte ihm den Rücken zu, zog meinen Hut noch tiefer in die Stirn und hoffte, er würde mich nicht erkennen. »Wen haben wir denn da?«, hörte ich hinter mir seine Stimme. »Connor, wieder mal mitten im Geschehen? Oder sollte ich besser sa gen: mitten in der Scheiße?« Er lachte hämisch. Ich drehte mich um. Billardkugel und sein junger Kollege grinsten. Quirrer hielt meine Karte in der Hand und wedelte damit vor meiner Nase herum. »Haben Sie die junge Lady erschossen, Connor?« »Was soll das, Quirrer? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Ich bin einfach nur spazieren gegangen und plötzlich haben mich Ihre Bluthunde«, jetzt grinste ich ironisch, »angefallen.« »Und Sie sind natürlich ganz zufällig mitten in der Nacht im strö menden Regen vor einem Haus herumspaziert, in dem einer jungen Frau in ihrer Wohnung das Gesicht weggepustet wurde«, fragte Quir rer spöttisch. »Sie haben's ausnahmsweise erfasst, Lieutenant Quirrer«, gab ich mit einem Grinsen zurück. 14
»Werden Sie nicht unverschämt, Connor, oder ich buchte Sie we gen Beleidigung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt ein«, schnarrte Quirrer und nickte der Billardkugel zu. Ich biss mir auf die Lippen und verkniff mir eine Antwort. Für heu te hatte ich mir bereits genug Ärger eingehandelt. In diesem Moment fuhr ein weiteres Fahrzeug vor. Die Beifahrertür öffnete sich und die gewaltige Gestalt von Captain Morgan C. Hollyfield faltete sich heraus. Was hatte der Chef der Chicagoer Mordkommission mitten in der Nacht bei dem Mord an einer kleinen Tänzerin zu suchen? Hollyfield strebte auf den Hauseingang zu, dann sah er unsere kleine Gruppe und kam herüber. »Was ist hier los?« Er seufzte, nicht unfreundlich. »Sie schon wie der, Connor. Können Sie nicht einmal Ihre Finger aus einer Sache raushalten?« »Würde ich ja gern, aber Ihre Leute lassen mich leider nicht.« Quirrer erklärte dem Captain die Situation. »Kein Mensch nimmt Ihnen den Zufall ab, Connor. Also reden Sie! Was wissen Sie über die Schweinerei hier?«, fragte Hollyfield. Ich überlegte fieberhaft. Sollte ich hartnäckig weiter auf ›zufälliger Passant‹ machen oder von Gladys Wyman erzählen? Ich wollte unbe dingt den Tatort sehen. Vielleicht würde ich einen Hinweis finden, ob Gladys mir die Wahrheit gesagt hatte. Die Chance war größer, wenn ich dem Captain die ganze Story oder zumindest einen Teil davon er zählte. Ich berichtete ihm von Gladys' Besuch in meinem Büro und dass ich danach hierher gefahren war, um mich zu überzeugen, ob ihre Story stimmte. Hollyfield hörte schweigend zu. »Das ist alles?« Ich nickte. Noch immer fragte ich mich, was Hollyfield hier um diese Uhrzeit suchte. »Ich kenne Gladys Wyman, seitdem sie bei uns angefangen hat«, erklärte Hollyfield, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. »Ihr Vater war ein vorbildlicher Polizist, bis er bei einem Einsatz erschossen wur de. Ich kann nicht glauben, dass das Mädchen eine Mörderin ist.« Er seufzte und zuckte die massigen Schultern. »Gehen wir rein«, sagte er dann. 15
Ich folgte ihm. Die Wohnungstür im dritten Stock war geöffnet. Wir gingen hinein und standen in einem geräumigen Wohnzimmer, das in eine Küche überging. Zwei Schlafzimmer und ein Bad waren hinter den geöffneten Türen zu sehen. Alles war hell erleuchtet, überall liefen Uniformierte herum. Zwischen einem niedrigen dunkelbraunen Sofa und einem Couchtisch lag die tote junge Frau. Sie hatte einen silberblonden Bubikopf und war zierlich, allerdings mit üppigen Rundungen an den richtigen Stellen. Ihre Haut war außer ordentlich weiß, fast durchscheinend. Sie lag auf dem Rücken. Ihre Beine waren nackt und lang. Das schwarze Kleid war über die Schen kel gerutscht und an der Vorderseite aufgerissen. Von ihrem Gesicht war nicht mehr viel übrig geblieben, trotzdem konnte ich erkennen, dass diese Lady so weit oberhalb meiner Preisklasse gelegen hatte wie der Hope-Diamant. Gladys hatte nicht übertrieben. Ich wandte den Blick ab. Mir fiel auf, dass kein Revolver neben der Leiche lag und ich blickte mich suchend um. »Wurde die Tatwaffe schon sichergestellt?«, fragte ich Hollyfield. Er schüttelte den mächtigen Kopf. »Nein, die muss der Täter - o der die Täterin - mitgenommen haben.« Als Gladys bei mir gewesen war, hatte sie keine Tasche dabeige habt, in der engen Kostümjacke hätte ich den Revolver bemerkt, wenn sie ihn bei sich getragen hätte. Ich dachte nach. Hatte sie mir gesagt, was sie mit der Waffe getan hatte, nachdem sie diese aufgehoben hatte? Ich konnte mich nicht erinnern. Wegen ihrer Angst vor den Fin gerabdrücken war ich davon ausgegangen, dass sie den Revolver am Tatort hatte liegen lassen. Aber vielleicht hatte sie ihn auch weggewor fen. »Kommen Sie, Connor. Jetzt erzählen Sie mir alles noch einmal, ein bisschen genauer diesmal.« Hollyfield zeigte mit seinem Kinn auf die Küchenstühle und setzte sich. Unter seinen 110 Kilos ächzte das Möbelstück bedenklich. Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber. Wo war ich bloß schon wieder rein geraten? Ich sah Hollyfield an. Langsam war ich bereit, ihm wirklich alles zu erzählen, was ich wusste, wenn er mich endlich nach Hause in mein warmes Bett fahren lassen würde. 16
»Was wissen Sie über das Opfer?« Hollyfield lehnte sich vorsichtig zurück, der Stuhl knarrte wieder, aber er hielt. »Nichts«, sagte ich. »Nur, dass sie mit Gladys Wyman zusammen gewohnt hat. Wenn ich Gladys richtig verstanden habe, war es wohl mehr eine Zweckgemeinschaft als die beste Freundschaft.« »Was haben Sie mit Miss Wyman zu tun?« »Wir sind alte Freunde, das heißt, wir waren es. In den letzten Jahren haben wir uns aus den Augen verloren.« »Aber Sie sind offensichtlich noch so gut befreundet, dass die La dy mitten in der Nacht bei Ihnen vorbeikommt.« »Ich war selbst überrascht.« Mit einer Handbewegung wischte Hollyfield meine Bemerkung bei seite. »Wissen Sie mehr darüber, wie Miss Lambert Ihr Geld verdient hat«, fragte er mit einem viel sagenden Gesichtsausdruck. »Miss Wyman hat mir nur gesagt, dass sie Tänzerin sei. Hat sie denn noch etwas anderes gemacht?« Anstelle einer Auskunft lächelte Hollyfield nur. Ich wusste, ich würde heute von ihm keine Antworten auf meine Fragen bekommen. »Wo waren Sie zur Tatzeit, Connor?« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Bis Gladys bei mir aufge taucht ist, war ich in meinem Büro und zwar allein.« Ausdruckslos sah er mich an. »Gibt es noch irgendetwas, was Sie mir nicht erzählt haben, Connor?« Ich schüttelte müde den Kopf. Hollyfield hievte seine zwei Meter vom Stuhl hoch und sah auf mich herunter. »Fahren Sie nach Hause, Connor. Sie sehen erbärmlich aus. Kommen Sie morgen früh aufs Revier, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.« Ich stand ebenfalls auf und wünschte dem Captain einen schönen Abend. Ich verließ die Wohnung. Im Treppenhaus sah ich mich um. An der Wohnungstür waren keine Spuren von einem gewaltsamen Öffnen zu sehen. Der Mörder hatte entweder einen Schlüssel gehabt, oder Kathleen Lambert hatte ihn - oder sie - selbst in die Wohnung gelas sen. 17
Langsam stieg ich die Treppe hinauf. Im Treppenhaus war es dun kel, aber ich wagte es nicht, Licht zu machen. Stufe für Stufe tastete ich mich höher. Dann riss ich ein Streichholz an und sah mich um. Nichts. Die Treppe glänzte vor Sauberkeit. Ich wusste selbst nicht ge nau, was ich suchte. Ich zuckte zusammen, als die Flamme meine Fin gerkuppen ansengte und ließ mit einem unterdrückten Fluch das Zündholz fallen. Ich ging bis zum nächsten Treppenabsatz. Es roch nach Seife, Soda und Bohnerwachs. Durch ein kleines Fenster schim merte schwaches Licht in den Flur. Ich zuckte die Achseln und wollte mich umdrehen, als ich aus den Augenwinkeln etwas Helles in einer Ecke liegen sah, halb unter dem Teppich verborgen. Ich bückte mich und hob es auf. Verblüfft starrte ich ein Heiligenbildchen an. Eins der billigen Sorte, die einem die Heilsarmee manchmal in die Hand drück te. Es war abgegriffen und zerknittert. Ich steckte es in die Hosenta sche und machte mich auf den Heimweg. * Draußen wurde es bereits Tag. Der nasse Asphalt glänzte und das Morgenlicht machte den Anblick der Häuserschluchten auch nicht gera de erfreulicher. Die Polizeiwagen waren weg, dafür stand vor meinem Plymouth noch ein anderes Fahrzeug am Straßenrand. Der verbeulte Dodge fiel in dieser Straße auf der North Side nicht weiter auf, aber ich war mir sicher, dass er vorhin noch nicht da gewesen war. Vielleicht war es Zufall, aber irgendwie glaubte ich nicht daran. Ich ging an dem Wagen vorbei und beschloss, in den nächsten Coffeeshop zu fahren. Ich brauchte dringend einen Kaffee, so schwarz wie die Nacht, die jetzt endlich vorbei war. Gerade als ich direkt neben dem Dodge war, öffnete sich die Bei fahrertür einen Spalt. Neugierig sah ich hinein. Niemand würde sich so dämlich anstellen, wenn er mich umlegen wollte. Mit einem Ruck riss ich die Tür ganz auf. Keine Ladung Blei knallte mir in die Eingeweide. Am Lenkrad saß ein Typ, der fast genauso ab gewrackt aussah wie sein Dodge. Er trug einen zerknitterten braunen Anzug, der schon in seinen besten Tagen schäbig gewesen war, eine 18
rostrote Krawatte, die perfekt zu seinem Wagen passte und eine zer drückte Schiebermütze auf seinem kantigen Schädel. Das Grinsen in seiner Visage machte mir keine große Lust auf ein Gespräch. »Was wollen Sie?«, kam ich direkt zum Wesentlichen. »Presse«, gab er ebenso knapp zurück. Die heisere Stimme passte zu seinem bärenhaften Typ. »Kann ich Sie irgendwo hinfahren?« »Sie haben doch sicher einen Ausweis«, sagte ich. Ich war mir nicht sicher, ob er ein Bulle war, auch wenn ich Quir rer so einen abgefeimten Trick nicht zutraute. Außerdem hatte ich das Gesicht garantiert noch nie gesehen. Der Kerl aus dem Dodge reichte mir einen zerknitterten Ausweis, der schon verdammt lange abgelaufen war. »Der ist ja verdammt lange abgelaufen, Mister Brannigan«, sagte ich zu ihm. »Das kommt daher, dass ich seit ein paar Jahren in Rente bin, so zusagen«, erklärte er mir. »Und was soll dann Ihr Auftritt hier?«, fragte ich das Nahe liegen de. »Los, steigen Sie endlich ein und machen sie die Tür zu«, knurrte er. Ich setzte mich zu ihm in den Dodge und wiederholte meine Fra ge. »Ah, es lässt einen einfach nicht los, wissen Sie. Irgendwann, wenn Sie sich mal zur Ruhe setzen, werden Sie's selbst merken, mein Junge.« »Ich bin nicht Ihr Junge und wenn Sie mir nicht ganz schnell er klären, was Sie von mir wollen, bin ich weg, Mr. Brannigan. Also, was soll das hier?« Als Antwort ließ er den Wagen an und fuhr langsam los. Der Motor hörte sich übel an. Nicht gerade dezent, wenn das eine Beschattung sein sollte, dachte ich. Der Motor röhrte hustend auf, als wäre es sein letztes Mal. Brannigan trat das Gaspedal noch etwas weiter durch und seufzte. »Ich langweile mich zu Tode, verstehen Sie? Seitdem ich nicht mehr arbeite, liege ich Nacht für Nacht wach und irgendwann gebe ich auf. 19
Dann fahre ich durch die Straßen, klappere die Krankenhäuser ab, die Wachen, vielleicht stoße ich ja mal auf die ganz große Sache. Wo lang?« »Was?« »Na, wo soll's jetzt hingehen?«, wiederholte er lauter, als ob ich schwerhörig wäre. »Am besten, Sie drehen. Ich würde jetzt gern zu meinem Wagen und nach Hause fahren«, brummte ich. »Außerdem brauche ich drin gend einen Kaffee.« Brannigan beugte sich schräg über mich, kramte im Handschuh fach und zog einen halb vollen Flachmann heraus. »Auch einen Schluck?«, fragte er mich und hielt mir die Flasche unter die Nase. Als ich den Kopf schüttelte, zuckte er die Schultern und nahm selbst einen tiefen Schluck. »Ich glaube, ich kenne Ihre Visage ir gendwoher. Wollen Sie sich nicht langsam auch mal vorstellen?«, frag te mein Chauffeur. »Pat Connor. Ich glaube nicht, dass wir uns kennen. Lesen Sie ei gentlich öfter fremde Männer auf der Straße auf? Sie sollten aufpas sen, wir sind in Chicago.« Brannigan zog eine Zigarette aus einer zerknautschten Packung. Dann riss er ein Streichholz am Armaturenbrett an. »Connor, Connor«, murmelte er vor sich hin und kniff die Augen zusammen. »Alles klar, ich hab's!« Seine Miene hellte sich auf. »Connor, der Ex-Bulle. Das sind Sie, nicht wahr?« Ich antwortete nicht. »Ich kann mich noch gut an den Fall erinnern.« Er wollte weiterre den, doch nach einem Blick in mein Gesicht überlegte er es sich an ders. »Was machen Sie jetzt?« »Private Ermittlungen. Bis vor kurzem mit, jetzt ohne Partner.« »Das ist doch ein Witz, oder was?« Er begann zu kichern, aber dann verwandelte er es in ein Husten. Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche. »Wenn Sie ein echter Privater sind, Connor, haben Sie sicher schon gemerkt, dass man uns seit der West Elm Street/Penny Lane Street folgt.« Ich sah in den Seitenspiegel. »Der dunkelblaue Packard?« 20
Brannigan nickte. »Soll ich ihn loswerden?« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Mit dieser Karre?« Eisiger Blick. »Mit meinem Dodge. Ja!« »Okay, okay, mit Ihrem Dodge«, lenkte ich ein, noch immer grin send. »Aber das ist nicht nötig. Ich habe nichts zu verbergen.« »Man sollte kein Risiko eingehen. Schließlich sind wir in Chicago.« Brannigan grinste schief. »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir zu mir fahren. Wenn Sie nichts dagegen haben.« Er gab Gas, bog in die North Michigan Avenue ein und ließ den Motor auf husten. Wie ein Wahnsinniger raste er dann über sämtliche Kreuzungen in Richtung Lake Michigan. Ich sah in den Rückspiegel. Der Packard war dicht hin ter uns. Als Brannigan mit quietschenden Reifen um eine Kurve bog, wur de ich gegen die Seitentür geschleudert. Die nächste Kurve, eine wei tere Querstraße. Ein Lkw fuhr hinter uns laut hupend auf die Kreuzung und schnitt dem Packard den Weg ab. Krachen, Splittern. Fürs Erste würde uns keiner mehr folgen. Ich drehte mich zu Brannigan um. Er grinste zufrieden. Fünfzehn Minuten später bog er in eine schmale Straße und stopp te vor einem kleinen Häuschen, das mit dem Dodge verwandt sein musste. Es passte nicht ganz zu seinen eleganten Nachbarn in ihren adrett manikürten Vorgärten. Vermutlich hatte Brannigan nicht viele Freunde in der Gegend. Die Fensterläden waren geschlossen. Von der Tür blätterte die Farbe ab. Rostrot war anscheinend Brannigans Lieb lingsfarbe. Er ging voraus in die Küche, öffnete einen Schrank, zog hinter Marmeladen- und Erdnussbuttergläsern eine abgegriffene Akte hervor und knallte sie auf den Tisch. Eine Staubwolke flog hoch. »Le sen Sie, wenn Sie wollen, Connor«, knurrte er. Ich steckte meine Nase rein. Ein flüchtiger Blick reichte aus. Aus geschnittene Zeitungsartikel, vergilbt, aber eindeutig von Brannigan verfasst. Zwanzig Jahre oder mehr umfasste die Sammlung. Erinnerun gen aus einem langen Journalistenleben. Zerknittert, als würde er sie oft betrachten. »Überzeugt?«, fragte er und löffelte großzügig Kaffee in eine Kan ne. 21
»Kann ich hier telefonieren?«, fragte ich zurück. Er nickte und zeigte mit dem Kinn in den Flur. Ich wählte Bren dons Nummer. Nach einer Weile hob er ab. »Was?«, bellte er in den Hörer. »Kennst du einen Emerald Brannigan?« »Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Ich hoffe, du hast einen verdammt guten Grund für deine Frage.« Er schnauzte mich noch eine Weile an, doch ich konnte hören, dass das Räderwerk in seinem Kopf bereits angelaufen war. »Brannigan, knallharter Hund mit einer verdammt guten Schreibe, aber das ist schon ein paar Jahre her. Hat sich damals in eine zu große Sache verbissen. Wurde vertuscht, aber seine Karriere ist seitdem vor bei. Gib mir ein paar Minuten, dann fällt mir die ganze Geschichte wie der ein«, knurrte Brendon. »Ich ruf dich zurück.« Ich gab ihm Brannigans Nummer und hängte den Hörer ein. * Ich ging zurück in die Küche, wo Brannigan auf mich wartete. Er schob mir eine Tasse rüber. Sein Kaffee sah aus wie Altöl und schmeckte auch so, aber er hatte den Flachmann neben die Kanne gestellt und mit einem großen Schluck Bourbon machte er mich wenigstens halb wegs wach. Wir tranken und ich erzählte ihm von der Lady, der man ins Gesicht geschossen hatte. »Und wer ist sie?«, fragte Brannigan, als ich schwieg. »Hab sie vorher noch nie gesehen«, antwortete ich und sagte ihm, was ich wusste. Dass Gladys damals als Einzige von den Kollegen zu mir gehalten und mich jetzt um Hilfe gebeten hatte, als sie ihre Woh nungskollegin tot im Schlafzimmer gefunden hatte, dass sie ver schwunden war, nachdem ich ihr zu viele Fragen gestellt hatte und jetzt vermutlich selbst wegen des Mordes gesucht wurde, dass ich kei ne Ahnung hatte, worum es bei dieser Geschichte ging, aber Gladys nicht einfach hängen lassen konnte. Dass sie außerdem eine verflucht attraktive Lady war und ich sie schon damals verdammt gut leiden konnte, erzählte ich nicht. 22
»Kein Wunder, dass Sie mich für einen Bullen gehalten haben«, murmelte Brannigan, als ich fertig war. »Wer beschäftigt sich bei de nen mit dem Mord?« »Lieutenant James Quirrer.« Brannigan nickte langsam und goss sich nach, diesmal ohne Kaf fee. »Sie erzählen mir nicht alles, Connor, macht aber nichts. Ich gehe kurz telefonieren.« Er verließ die Küche ohne meine Antwort abzuwar ten. Kurz darauf kam er zurück, mit einem Zettel in der Hand, auf dem er sich etwas notiert hatte. Ich war mittlerweile beim dritten Kaffee, der Flachmann war leer. »Auf geht's!«, rief Brannigan. Sein zerfurchtes Gesicht sah plötz lich zehn Jahre jünger aus, seine Augen leuchteten. »Kathleen Lam bert hieß das Opfer, das wussten wir ja schon, siebenundzwanzig Jah re alt und Schönheitstänzerin.« Vor dem letzten Wort machte er eine bedeutsame Pause und zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Sie war keine richtige Nutte - noch nicht, besser gesagt - aber sie hat sich von ihren Begleitern aushalten lassen. Komische Wohngemeinschaft, oder hat Ihre Freundin Gladys vielleicht auch noch einen kleinen Ne benverdienst zu ihrem Polizistenjob gehabt?« »Ich hab sie in den letzten Jahren nicht gesehen...« Ich dachte an Gladys' göttlichen Körper, mit dem sie sicher ein kleines Vermögen hätte verdienen können. Aber dann fielen mir wieder ihr Lächeln und der ehrliche Blick ihrer schwarzen Augen ein und ich schüttelte den Kopf. »Sicher nicht.« Brannigan setzte sich und holte eine neue Flasche aus dem Schrank. Ich füllte meine Tasse mit dem billigen Bourbon und goss einen Schluck Kaffee dazu. Brannigan hob seine Tasse. »Das hört sich nach einer guten Story an.« »Sehe ich nicht so«, brummte ich. Das Telefon klingelte. Brannigan ging ran. »Ist für Sie«, rief er aus dem Flur. »Emerald Brannigan, zehn Jahre Redakteur bei der Chicago Tribu ne. Dann passierte vor einigen Jahren diese Story mit Senator Talley«, sagte Brendon knapp. »Brannigan konnte nachweisen, dass der Kerl sich mit Wählerspenden ein schickes Häuschen im Grünen gebaut hat 23
te und dort mit einigen Ladys regelmäßig die Wochenenden verbrach te. Aber bevor etwas darüber veröffentlicht werden konnte, ver schwanden sämtliche Unterlagen und Brannigan wurde fast totge schlagen. Danach war er seinen Job los, ist nur knapp ohne Verleum dungsklage davongekommen und seitdem von der Bildfläche ver schwunden. Reicht dir das?« »Ich glaube, ja.« Ich hörte die Sorge aus Brendons Stimme: »Was ist eigentlich los?« Das hätte ich auch gern gewusst. * Brannigan fuhr mich zu meinem Wagen. »Wieso waren Sie eigentlich ausgerechnet in der West Elm Street, als ich raus gekommen bin?«, fragte ich ihn beiläufig. Er grinste schief. »Ehrlich, ich war's nicht, Connor. Ich konnte nicht schlafen und bin ein bisschen durch die Straßen gefahren. Als ich gesehen habe, wie die Bullen zum Einsatz ausgerückt sind, habe ich mich einfach drangehängt. Wissen Sie übrigens, dass gestern bei der selben Adresse eine Schlägerei zwischen zwei jungen Damen gemeldet wurde?« »Zwei junge Damen?«, echote ich. Brannigan nickte. »Sehr damenhaft haben sie sich allerdings of fenbar nicht aufgeführt. Ein Nachbar hatte gemeldet, im Treppenhaus würden sich zwei Mädels die Fresse polieren. Quirrer wäre dumm, wenn er Sie nicht observieren lassen würde, damit Sie ihn zu Ihrer Freundin Gladys führen. Sie ist ganz eindeutig die Hauptverdächtige.« Das gefiel mir zwar nicht, aber er hatte nicht ganz Unrecht. »Wissen Sie, wer heute den Schuss gemeldet hat?«, fragte ich. »Eine ältere Witwe aus der Wohnung unter den beiden. Sie hat aber niemanden gesehen.« Er zuckte die Achseln. »Ich dachte mir, vielleicht kommt eine Story dabei raus. Allerdings war schon alles ab geriegelt, als ich angekommen bin und die Cops haben mich nicht rein 24
gelassen. Ich habe gewartet und dann kamen Sie aus dem Haus. Das war's auch schon.« Hörte sich glaubwürdig an. Wie ein mordlustiger Irrer wirkte Bran nigan nicht gerade auf mich, aber das hatte nichts zu bedeuten. Als wir vor meinem Plymouth hielten, war es fast sieben Uhr morgens. »Werden Sie ermitteln, Pat?«, fragte Brannigan. »Schon möglich.« »Halten Sie mich auf dem Laufenden?« Brannigans Stimme klang bittend. Ich antwortete nicht. Er zuckte müde die Achseln. »Viel Glück, Connor. Wenn Sie es sich anders überlegen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.« Er drückte mir einen Zettel mit seiner Telefonnummer in die Hand. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass sich heute alles wiederhol te. Hoffentlich nicht alles, dachte ich und stieg aus. Nur mit Mühe hielt ich auf dem kurzen Heimweg die Augen auf. Zehn Minuten später war ich bereits eingeschlafen. * Das Klingeln des Telefons riss mich aus dem Schlaf. Ich sah auf die Uhr. 8 Uhr 15. Mein Kopf brummte, als wäre ein Wespenschwarm dar in eingeschlossen. Ich taumelte zum Telefon und hob ab. »Hallo? Hallo, ist dort die Detektei Connor? Hallo?« Ich versuchte mich auf die Stimme zu konzentrieren, als ein Ge räusch, als ob jemand am anderen Ende den Hörer auf eine Tischplat te klopfte, fast meinen Kopf platzen ließ. »Hallo?«, brüllte eine tiefe Stimme wieder ins Telefon. »Connor, private Ermittlungen«, antwortete ich mit letzter Kraft. »Na, endlich! Irgendwas stimmt anscheinend mit Ihrer Leitung nicht.« »Sind Sie von der Störungsstelle?« »Ich, nein... Ich würde gern Pat Connor sprechen. Ich habe einen Auftrag für ihn.« »Am Apparat.« 25
»Ich bin Olivier Lambert, der Bruder von Kathleen.« »Kathleen?«, murmelte ich verwirrt. Dann fiel mir alles wieder ein. Die Lady, die ihr Gesicht verloren hatte. »Mein Beileid, Mister Lambert. Was kann ich für Sie tun?« »Ich will wissen, wer der Mörder meiner Schwester ist.« Mit einem Schlag war ich hellwach. »Am besten kommen Sie in mein Büro. Sagen wir um 9 Uhr 30.« »Danke, bis später.« Er legte auf. * Ich machte mich mit ein paar Händen voll kaltem Wasser frisch und trank eine Kanne Kaffee, dann fuhr ich ins Büro. An dem Zeitungs stand an der Ecke hielt ich an und kaufte eine Tribune. Noch am Kiosk schlug ich sie auf und suchte nach einer Meldung über eine ermordete Tänzerin. Nichts. Würde wohl in der nächsten Ausgabe erscheinen. »Pat Connor?« Ich drehte mich um. Zwei Männer starrten mich mit babyblauen Augen erwartungsvoll an. Sie waren ungefähr in meinem Alter und trugen trotz der Hitze Schiebermützen, Tweedjacken und weite Hosen, die sie in ihre Schnürstiefel gesteckt hatten. Hätte nicht der eine karot tenrotes, der andere lackschwarzes Haar gehabt, hätten sie wie Zwil linge ausgesehen. »Wer will das wissen?«, fragte ich zurück. Sie wechselten einen Blick. Ich konnte ihre Spatzenhirne förmlich ticken hören. »Ein Freund von uns will mit Ihnen reden«, sagte der Rothaarige endlich. Seine Stimme war fast mädchenhaft hell. Mit lässiger Bedroh lichkeit stellte er sich mir in den Weg und sah mich dreist an. »Dann soll er in mein Büro kommen. Ich stehe im Telefonbuch.« Ich schob ihn zur Seite und ging los. »Sie sollten besser mitkommen, sonst müssen wir Ihnen wehtun, Connor.« Der Bass musste von dem Schwarzhaarigen kommen, aber ich drehte mich nicht um, um nachzusehen. 26
Er überholte mich lautlos. In der Hand hielt er ein Schnappmesser. In seinen Augen konnte ich lesen, dass er es nicht zum ersten Mal benutzen würde. Ich hob resignierend die Arme. »Na gut. Wir müssen doch nicht streiten, Jungs. Wohin soll's denn gehen?« Er wirkte ehrlich erleichtert, so als wäre ihm eine unangenehme Arbeit erspart geblieben. Die beiden flankierten mich und nahmen mit festem Griff meine Arme. Wenige Minuten später standen wir vor ei nem schäbigen kleinen Hotel. Krakelige Buchstaben auf einem Papp schild verrieten, dass man die Zimmer in diesem Etablissement auch stundenweise mieten konnte. Die beiden Jungs ließen mir den Vortritt. Ich stieg die Treppe hoch. Der Flur war menschenleer. Auf dem ersten Absatz drehte ich mich blitzschnell um und versetzte dem Rothaarigen mit der Fistel stimme einen Tritt unter das Kinn. Er fiel rückwärts auf die Stufen, riss seinen schwarzhaarigen Freund mit sich und polterte bis zum Fuß der Treppe. Hinter den Zimmertüren rührte sich nichts. Ich hechtete mit zwei Sprüngen die Treppe hinunter und landete mit beiden Füßen auf Fistelstimmes Bauch. Seine Rippen knackten und er stieß mit einem grässlichen Geräusch die Luft aus. Der Schwarzhaarige war unsanft gelandet und rührte sich nicht. Aus seiner Nase sickerte Blut. Ich zog Fistelstimme am Kragen hoch und lehnte ihn an die Wand. Sein Ge sicht hatte dieselbe Farbe wie sein Haar angenommen, die Nase war gebrochen. Er würde niemals mein Freund werden. »Hurensohn! Du hast mir die Rippen gebrochen«, fiepste er. Er versuchte seinen Kopf vor meinen zu knallen, doch ich wich ihm aus und gab ihm noch einen Hieb auf die Nase. In seine Augen schossen Tränen und er war still. »Wer will mich sprechen?«, fragte ich ruhig. »O'Brian«, spuckte er aus. Mit einem Schlag war mein Hochgefühl verschwunden. Francis O'Brian war einer der Unterbosse des irischen Syndikats. Warum schickte er mir seine Gorillas auf den Hals? »Wo ist er?«, fragte ich. 27
»Such ihn doch«, gab Fistelstimme schon wieder frech zurück. Ich schlug ihm nicht allzu fest auf die gebrochenen Rippen, dann holte ich aus und zielte noch einmal auf seine Nase. Kurz vorher stopp te ich meine Faust. »Wo?« »Zimmer 218. Hurensohn«, wiederholte er. An seinem Schimpf wörterschatz musste er offenbar noch etwas arbeiten. Ich ließ ihn los. Wie ein nasser Sack rutschte er an der Wand her unter. Sein Kollege rührte sich immer noch nicht. Ich stieg die Treppe hoch, zog dabei meine Jacke zu Recht und strich mein Haar aus der Stirn. Ich spürte den mörderischen Blick von Fistelstimme in meinem Rücken und nahm mir vor, in der nächsten Zeit dunkle Ecken zu meiden. Ohne anzuklopfen stieß ich die Tür auf und sprang zurück. Als kein Schuss ertönte, ging ich langsam ins Zimmer und schloss die Tür leise hinter mir. »Mister O'Brian«, sagte ich freundlich. »Sie wollten mich spre chen?« Mit einem Blick erfasste ich die Szene. Zigarrenqualm waberte wie Nebelschwaden in der Luft. Auf einem abgewetzten Sessel saß ein Zwei-Zentner-Koloss mit einer Adlernase. Er musste O'Brian sein. Vor vielen Jahren hatte er vielleicht noch gut ausgesehen, doch jetzt hing die Haut in dicken Bernhardinerfalten um sein Gesicht. Seine vollen Lippen glänzten feucht. Dennoch ging eine fast körperlich spür bare Aura der Macht von ihm aus. Neben ihm wirkten seine beiden Lakaien wie Chorknaben. »Mr. Connor, nehme ich an?« Seine Stimme war sehr leise, dunkel und rauchig. Ich nickte wortlos. »Wo sind Sean und Eoin?« »Im Flur.« Mit dem Kinn deutete ich zur Tür. Er zog seine Brauen zu perfekten Halbkreisen hoch, dann gab er dem Mann zu seiner Linken einen Wink. Auch wenn dieser klein und fast schmächtig wirkte, ließ ich mich nicht täuschen. Als Francis O'Bri ans persönlicher Bodyguard musste er einiges draufhaben. Er tastete mich routiniert ab und stellte sich dicht hinter mich. Zu dicht, fand ich. 28
Ich hatte das Gefühl, seine Körperwärme durch den Stoff unserer An züge spüren zu können, doch ich rührte mich nicht. »Wo ist Gladys Wyman?«, fragte O'Brian leise. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Warum wollte O'Brian das wissen? Was hatte das Ganze hier mit dem Mord an Kath leen Lambert zu tun? Hing das Auftauchen von Captain Hollyfield am Tatort mit O'Brians Interesse zusammen? »Warum?«, fasste ich meine Gedanken zusammen. Ohne Vorwarnung schlug mir mein Aufpasser in die Nieren. Ich ächzte und krümmte mich zusammen. »Ich weiß es nicht.« Ich wusste, das würden sie mir nie glauben. Ich hielt die Luft an, wartete auf den nächsten Schlag, der auch sofort kam, diesmal im Doppelpack. Vor meinen Augen tanzten grelle Sterne und mein Bauch fühlte sich an, als hätte ich glühende Lava ge frühstückt. »Ich schwöre Ihnen: Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. Ich wusste nicht, wie viele Schläge ich einsteckte, bevor ich zu sammenbrach. Irgendwann fühlte es sich an, als gingen sie zu zweit auf mich los. Bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich noch einmal O'Brians heiseres Wispern: »Ich komme wieder. Dann wirst du die Antwort für mich haben.« * Dass ich aufgewacht war, merkte ich an dem Schmerz. Ich zwang mich dazu, der Reihe nach meine Glieder zu bewegen. Gebrochen war offenbar nichts. Sehen konnte ich auch noch, sogar mit beiden Augen. Ich fasste in mein Gesicht und spürte etwas Klebriges. Mühsam setzte ich mich auf, zog mich an einem wackeligen Tischchen hoch und schleppte mich zum Waschbecken. Ich drehte den Hahn auf, hielt ein Handtuch unter den eisigen Strahl und säuberte mein Gesicht. Es hätte auch schlimmer kommen können. Wenigstens hatte O'Brian ein Zim mer mit fließendem Wasser genommen. 29
Ich sah auf meine Uhr. Es war zehn Uhr dreißig, zu spät für meine Verabredung mit Olivier Lambert. Ich beschloss, trotzdem ins Büro zu fahren. Draußen knallte die Sonne auf das Pflaster. Der Regen der Nacht verdampfte und der Dunst lag drückend über den Straßen. Die Luft war zum Umfallen. Ich war todmüde und halb verhungert. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Falls Fistelstimme und sein Freund auf mich warteten, um sich für ihre schlechte Behandlung zu rächen, hatte ich ihnen nicht mehr viel entgegenzusetzen. Zwei Taxifahrer fuhren an den Straßenrand, als ich winkte. Nach einem Blick in mein Gesicht fuhren sie weiter. Der dritte hielt an und setzte mich an meinem Büro ab. Vor der Haustür stand ein Cop. Ver mutlich von Quirrer abgestellt, um mich zu überwachen. »Guten Tag, Officer«, grüßte ich ihn freundlich. »Wollen Sie zu mir?« Ohne zu lächeln, schüttelte er den Kopf. »Wo kommen Sie her?«, knurrte er. »Stadtrundfahrt«, grinste ich schief. Er musterte meine angeschlagene Erscheinung. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte ich ihn. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich nichts dagegen, dass ein Cop vor meiner Tür stand. Er musste bemerkt haben, dass mir der Sarkasmus für einen Au genblick vergangen war und mein Angebot fast von Herzen kam. »Nein«, sagte er mit einem flüchtigen Grinsen, »aber trotzdem danke. Halten Sie sich bitte der Polizei zur Verfügung.« »Ich werd mir Mühe geben.« Ich holte den Lift und fuhr in den zweiten Stock. Mit letzter Kraft öffnete ich die Tür zu meinem Büro. Betty saß hinter ihrem Schreib tisch. Anstatt sich wie üblich die Nägel in einem ihrer unzähligen Rot töne zu lackieren, tippte sie eifrig auf der Schreibmaschine. Vermutlich lag das an den beiden Männern, die mit einer Kanne Kaffee vor sich auf den Besucherstühlen an meinem Schreibtisch sa ßen. Einen davon kannte ich. »Brannigan! Was machen Sie denn hier?« 30
»Auch Ihnen einen guten Morgen, Connor.« Er grinste. »Dies ist Olivier Lambert, Kathleen Lamberts Bruder«, stellte er den jungen Mann an seiner Seite vor. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« »Bin unter einen Lieferwagen geraten«, murmelte ich und streckte Olivier Lambert meine Hand hin. Dann setzte ich mich vorsichtig. Ich goss Kaffee in meine Tasse und schüttete einen kräftigen Schuss aus der Flasche in braunem Packpapier dazu, die offenbar Brannigan zu diesem gemütlichen Treffen beigesteuert hatte. Der ers te Schluck brannte wie Feuer in meiner Kehle, aber dann löste sich der unerträgliche Druck in meinem Kopf. Ich steckte mir eine Lucky an, lehnte mich zurück und betrachtete meinen neuen Klienten. Auf den ersten Blick wirkte Olivier Lambert wenig liebenswürdig. Sein Hemd hatte ihm vielleicht früher mal gepasst, jetzt spannte es über seinem Bauch, sodass das weiße Unterhemd darunter zu sehen war. Für sein Alter hatte er bereits einen sehr hohen Haaransatz. Seine Miene war finster, die kleinen, stechenden Augen lagen unter buschi gen schwarzen Brauen, seine schmalen Lippen hatte er so fest zu sammengepresst, dass sie wie eine Narbe in seinem Gesicht wirkten. Aber immerhin war erst vor wenigen Stunden seine Schwester ermor det worden. »Mein Beileid, Mister Lambert«, sagte ich. Er nickte nur kurz, ohne seine Lippen zu verziehen, dann zeigte er zur Uhr über der Tür. »Wir warten seit mehr als einer Stunde auf Sie.« »Es tut mir Leid, ich bin aufgehalten worden.« »Sicher bei Recherchen zu dem Fall, nehme ich an«, mischte sich Brannigan ins Gespräch. »Die junge Dame«, er nickte in Bettys Rich tung, »kocht wirklich einen ganz ausgezeichneten Kaffee.« Die beiden lächelten sich zu. Ich musterte Lambert genauer. Er sah seiner Schwester nicht im Geringsten ähnlich. Bei ihr hatte alles an. den richtigen Stellen gesessen, sein Körper wirkte seltsam unhar monisch, so als wäre zwar alles vorhanden, aber irgendwie an die fal schen Stellen gerutscht. Sein Anzug war billig und glänzte an Ellenbo gen und Knien. 31
Brannigan schenkte eine neue Runde aus der Tüte ein. »Olivier und ich haben uns im Leichenschauhaus kennen gelernt«, erklärte er dann. Lambert nickte langsam. »Die Polizei wollte mir nichts sagen und Ihr Freund hat mir erzählt, dass Sie Kathleens Mitbewohnerin kennen und bereits im Falle meiner Schwester ermitteln. Außerdem meinte er, Sie wären der Beste.« Mit deutlichem Zweifel sah er sich um. »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Schwester, Mister Lambert«, forderte ich ihn auf. »Kathleen war eine Heilige«, sagte er leise. Brannigan zog die Brauen hoch und warf mir einen skeptischen Blick zu. »Sie war drei Jahre älter als ich, aber sehr zart. Ich musste immer auf sie aufpassen«, fuhr Lambert fort. »Sie war so wunderschön und ständig waren die Jungen aus der Gegend hinter ihr her. Wir sind auf einer Farm in Alabama aufgewachsen. Irgendwann wollte Kathleen dann unbedingt nach Chicago.« Er schlug seine Hände mit den viel zu kurzen Fingern vor das Gesicht. »Sie war so klug und talentiert. Hätte dieses Dreckschwein sie nicht umgebracht, wäre sie sicher noch be rühmt geworden.« Ich fragte mich, womit, aber ich ließ ihn weiterreden. »Sie war so unschuldig.« Ich vermied den Blick zu Brannigan. »Ich weiß, Kathleen hat als Tänzerin gearbeitet. Ich bin schließlich nicht blöd. Ich weiß auch, dass sie sich dabei...« Er stockte, sein Ge sicht lief rot an, dann räusperte er sich und redete leise weiter. »Sie hat Kostüme getragen, knappe Kostüme, das haben Sie sicher schon gehört. Aber trotzdem war sie unschuldig. Rein. Es hat sie nicht be rührt, wissen Sie. Im Innersten war sie noch immer eine Heilige. Die Kerle waren schon immer hinter ihr her, das ja. Es gab da diese Män ner, aber Kathleen hat sich nie mit dem Dreck besudelt, der sie umge ben hat.« Er hob den Kopf und starrte mich erwartungsvoll aus seinen kleinen farblosen Knopfaugen an. Ich fand seine Theorie sehr zweifelhaft, aber das behielt ich für mich. Ich nickte viel sagend. »Und was war mit Ihren Eltern?« 32
Sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, als hätte jemand mit einem Tuch eine Tafel abgewischt. »Wir hatten eine wunderbare Kindheit«, sagte er. Seine Stimme hörte sich trotzig an. »Mutter hat alles für uns getan.« »Und Ihr Vater?«, fragte ich leise. »Vater ist gestorben, als ich noch ein Baby war. Ich kann mich nicht an ihn erinnern, aber er hatte für uns vorgesorgt. Mutter hat die Farm geerbt. Sie... Es war zu viel Arbeit für sie allein...« Sein Blick be trachtete die Stäubchen, die vor dem Fenster in der Sonne tanzten. Dann lächelte er, aber seine Augen blieben ernst. »Als ich älter war, konnte ich ihr helfen. Es war eine gute Kindheit.« »Und irgendwann wurde Kathleen das Land zu eng und sie wollte die große Welt sehen?«, fragte ich. Die Geschichte war nicht gerade originell. Lambert nickte. »Eines Morgens war sie weg. Sie hatte einen Brief für uns auf dem Tisch gelassen. Sie hat uns zu sehr geliebt. Sie war so gut und sensibel. Sie konnte den Abschiedsschmerz nicht ertragen.« Das sah ich anders, aber auch das sagte ich nicht. Stattdessen nahm ich einen großen Schluck aus meinem Becher. Brannigan schenkte nach. »Hatten Sie in den letzten Jahren Kontakt zu Kathleen?«, fragte ich und zündete mir eine Zigarette an. Lambert nickte. »Selbstverständlich. Sie hat mir immer wieder ge schrieben. Aber sie hatte zu viel zu tun. Ich habe sie einige Male be sucht, vielleicht wäre sie auch bald wieder mit nach Hause gekommen, doch dann ist sie ermordet worden.« Seine Stimme brach. In seinen Augen glaubte ich einen Anflug von unbändiger Wut zu sehen. »Sie glauben also nicht, dass Kathleens Mitbewohnerin sie getötet hat?«, fragte ich. Lambert schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich habe Gladys Wyman kennen gelernt. Sie ist ein liebes und anständiges Mä del. Sie hätte Kathleen nie etwas zuleide getan. Nein! Ich weiß, wer es war.« Ich setzte mich auf und stützte die Hände auf den Schreibtisch. »Wer?« 33
»Einer der Kerle, die hinter ihr her waren. Einer, der es nicht ver kraftet hat, dass er sie nicht haben konnte. Einer dieser geilen Böcke, die sie ständig bespringen wollten und die sie einfach nicht abschütteln konnte. Meine wunderschöne kleine Kathleen.« Er endete mit einem Schluchzer. Klebrig aussehende Tränen liefen über sein Gesicht. Ich wendete den Blick ab und lehnte mich wieder zurück. Offenbar hatte Olivier Lambert kaum Hilfreiches zur Aufklärung beizusteuern. »Kennen Sie die Namen von einigen dieser Männer?«, fragte ich Lam bert, als er sich wieder gefangen hatte. Er zog ein zerknülltes und schon reichlich nasses Taschentuch aus der Hose und schnauzte sich kräftig. »Nein, natürlich nicht. Niemand von ihnen war so wichtig für Kathleen, dass sie seinen Namen erwähnt hätte.« »Aber sie wird doch hin und wieder einen Freund gehabt haben, Mister Lambert. Das ist doch nichts Schlimmes«, sagte ich sanft. Er biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Seine Wangen muskeln sprangen hervor. »Verdammt, Connor! So eine war sie nicht! Wieso begreifen Sie das nicht? Andere Frauen, Flittchen, Schlampen, aber nicht Kathleen. Niemals!« »Okay, okay, Kathleen war also eins von den guten Mädchen, nicht wahr?« Er nickte zufrieden. »Ganz genau, das war sie. Das beste.« Ich seufzte. »Gut, das haben wir dann ja schon mal. Und was ge nau soll ich für Sie tun?« »Finden Sie Kathleens Mörder. Ich traue der Polizei nicht. Meine Schwester war ein unbedeutendes Mädchen, eine... eine Tänzerin. Die Cops wissen ja nicht, dass sie...« »... eine Heilige war«, sagte ich und verbarg nur mit Mühe meine Ungeduld. »Sie haben mich bei der Polizei wie Dreck behandelt. Ich glaube nicht, dass sie sich dort wirklich darum kümmern. Die denken doch, dass Kathleen keins von den guten Mädchen war.« Ich nickte. »Also gut. Mein Honorar sind 25 Dollar pro Tag plus Spesen.« 34
Lambert griff in seine Hosentasche und zog sein Portemonnaie he raus. Er leckte seinen Daumen an und zählte sorgfältig zehn Jacksons ab. »Zweihundert Dollar, Mister Connor, reicht das fürs Erste?« Ich nickte wieder. »Ich fange heute noch an.« Lambert stand auf. Er wirkte fast zufrieden. Ich stand ebenfalls auf und reichte ihm die Hand. An der Tür drehte Lambert sich noch einmal um. »Ach ja, ich wüsste auch gern, wo Gladys Wyman sich aufhält. Bevor ich abreise, möchte ich mit ihr reden. Ich würde so gern alles hören, was sie mir über meine Schwester erzählen kann.« * Brannigan blieb noch, als Olivier Lambert gegangen war. Wortlos starr ten wir auf die Dollarscheine. »Ganz schöner Trottel, dieser Kerl«, brach Betty nach einer Weile das Schweigen. »Der versteht ja wirklich gar nichts von Frauen. Wahr scheinlich war seine Schwester eine billige kleine Nutte.« »Na, billig war sie sicher nicht.« Ich dachte an den leblosen Wahnsinnskörper auf dem Teppich. Ich steckte das Geld ein, zählte dreißig Dollar für Betty ab und steckte sie in einen Umschlag. Ganz egal, was Lambert für ein Typ war, auf jeden Fall hielt mich sein Honorar eine Weile über Wasser. »Er ist ein armer Hund, der nicht wahrhaben will, dass seine Schwester schon lange nicht mehr seinem Idealbild entsprochen hat«, murmelte Brannigan. »Aber machen das nicht mehr oder weniger alle so? Wer will schon wirklich die Wahrheit wissen?« »Amen«, sagte ich. »Ist bloß die Frage, wie Lambert reagiert, wenn meine Nachforschungen den ganzen Dreck an die Oberfläche holen.« Brannigan griff nach der braunen Papiertüte und drehte sie über seiner Tasse um, aber nur ein paar Tropfen fielen hinein. Er zuckte die Achseln. »Muss er ja nicht erfahren. Schließlich zahlt er nur für den Namen des Mörders, nicht für die Wahrheit über seine Schwester.« »Irgendwie tut er mir Leid«, murmelte Betty. 35
Erstaunt sah ich sie an. Seit wann hatte meine Sekretärin ihr wei ches Herz entdeckt? »Er ist noch ein richtiges Kind«, fügte sie leise hinzu. »Ach was, er ist fünfundzwanzig«, sagte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich meinte doch nicht sein Alter, Pat.« Betty seufzte und blickte mich mit einem herablassenden Augenaufschlag an. »Ja, er scheint nicht viel über die Welt zu wissen«, stimmte Bran nigan ihr nachdenklich zu. »Wer glaubt denn heutzutage noch an hei lige Schönheitstänzerinnen?« »Also, ich fand ihn irgendwie rührend.« Betty kramte in den Tie fen ihrer Handtasche, holte eine Flasche Nagellack heraus und schraubte sie auf. Offenbar betrachtete sie Brannigan bereits als einen Vertrauten. »Vielleicht hat einfach ein Einbrecher seine Schwester ermordet«, grübelte ich. Dann stand ich auf und griff nach meinem Hut. »Ich ster be vor Hunger.« Auch Brannigan stand auf. »Gute Idee. Reden wir beim Essen wei ter.« »Ich wüsste nicht, worüber.« »Über das, was Lambert uns gerade erzählt hat. Was halten Sie von der Story über seine Kindheit? Hörte sich irgendwie merkwürdig an, fanden Sie nicht? Als hätte er eine Menge ausgelassen.« »Warum auch nicht? Ich bin schließlich nicht sein Beichtvater.« Ich zuckte die Achseln und ging zur Tür. Im Moment hing mir die gan ze Geschichte ehrlich gesagt zum Hals raus. Ich wollte Eier, Speck, einen halben Ochsen, Toast und dazu nur noch meine Ruhe. »Haben Sie eigentlich schon mal in Betracht gezogen, dass Ihre Freundin vielleicht doch die Mörderin ist?«, fragte Brannigan, während wir auf den Fahrstuhl warteten. »Auf keinen Fall. Gladys könnte niemanden töten«, sagte ich und merkte selbst, wie hirnverbrannt sich das anhörte. »Jeder kann zum Mörder werden. Selbst die hübscheste Lady«, stellte Brannigan auch sofort tiefsinnig richtig. »Es passt doch alles zusammen: Sie gibt selbst zu, dass ihre Fingerabdrücke auf der Waffe 36
sind, am Tag vor dem Mord haben die beiden Mädchen sich geprügelt, das zeigt doch, dass Ihr Häschen auch zur Furie werden kann. Und sie hat natürlich einen Schlüssel zur Wohnung.« »Das ist mir zu offensichtlich.« »Was wollen Sie denn, Connor? Alle Indizien passen zusammen.« »Na und? Es kann auch ganz genau so gewesen sein, wie Gladys mir erzählt hat. Wäre Kathleen eine brave Sekretärin oder Verkäuferin gewesen, würde ich Ihnen vielleicht eher zustimmen. Aber die Lady hat nun mal ein gefährliches Leben geführt. Möglicherweise ist sie ja auf den Gedanken gekommen, einen ihrer Liebhaber zu erpressen und er hat sie lieber aus dem Weg geräumt als zu zahlen.« »Hm«, brummte Brannigan, offensichtlich nicht ganz überzeugt. Immerhin widersprach er nicht mehr. Der Cop vor meiner Haustür war verschwunden. Vielleicht hatte Quirrer Gladys bereits gefunden. »Heilige Scheiße!« Abrupt hielt ich vor dem Zeitungskiosk. Von der Nachmittagsausgabe starrte mich Gladys an. Ich kramte nach ein paar Münzen und riss die Tribune heraus. Ist diese Frau eine Mörderin?, lautete die Überschrift. Wer den Ar tikel gelesen hatte, konnte nur noch mit einem Ja antworten. Wortlos stopfte ich die Zeitung in den nächsten Mülleimer. Der Appetit war mir vergangen. »Wenn Sie wissen, wo die Kleine ist, sollten Sie besser die Bullen informieren«, sagte Brannigan. »Verdammt, ich habe keine Ahnung. Jeder scheint das zu denken, aber ich weiß es einfach nicht!« Meine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Ich fuhr mir mit der Hand über das Kinn und spürte die krat zigen Bartstoppeln. Außerdem musste ich aussehen, als hätte ich in meinem Anzug geschlafen. »Okay, wenn Sie es sagen«, knurrte Brannigan. »Was hat Sie vor hin eigentlich aufgehalten?« Ich schüttelte müde den Kopf. »Noch jemand, der wissen wollte, wo Gladys steckt.« »Wir werden sie schon finden.« Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. »Es gibt kein wir, Brannigan, egal, wie viele Klienten Sie anschleppen. Nichts für ungut, 37
aber ich würde jetzt gern allein frühstücken. Es war eine verflucht har te Nacht und ich brauche ein bisschen Ruhe.« Brannigan nickte mir wortlos zu, drehte sich um und ging in die andere Richtung davon. * Jetzt drehte ich mit meinem Plymouth schon die dritte Schleife um Dunkys Speakeasy und war mir völlig sicher: Die beiden Kerle in dem blauen Ford folgten mir. Außerdem hatte ich einen dritten entdeckt, der nach einem Bullen in Zivil aussah. Offensichtlich hatte Quirrer ver sucht, sich auf eine unauffällige Beobachtung zu verlegen. In diesem Moment war mir das nicht einmal unangenehm. Meine anderen beiden Verfolger hatte ich noch nie gesehen. Sie sahen aus wie zwei klassische Vorstadt-Gigolos. Einer von ihnen trug ein rasiermesserdünnes Bärtchen auf der Oberlippe, der andere hatte seine hübsche Visage glatt rasiert. Beide hatten ihr Haar mit so viel Öl nach hinten geklatscht, dass es aussah, als würde es auf ihre billigen Anzüge tropfen. Ich dachte nach. Was wollten denn jetzt auch noch die Italiener von mir? Vielleicht fuhren sie ja nur zufällig auf der Straße herum, aber nachdem ich mittlerweile eine halbe Stunde Zickzack ge fahren war, ohne sie abzuhängen, glaubte ich das nicht mehr. Ich beschloss, erst einmal bei Dunky einen Denkbeschleuniger zu nehmen. Dabei würde mir sicher etwas zu den beiden Typen einfallen. Ich parkte am Straßenrand und stieg aus. Als ich mich noch einmal umsah, ob mir die Kerle immer noch folgten, entdeckte ich auf der anderen Straßenseite etwas Unglaubliches. Die beiden waren ebenfalls ausgestiegen und hatten sich getrennt. Der Glattrasierte war schnell wie eine Schlange hinter den Cop in Zivil getreten, zog ihn in einen Hauseingang und legte ihn mit einem geübten Griff schlafen. Den an deren konnte ich nicht mehr sehen. Alarmiert schnellte ich herum. Wieso hatte ich nach allem, was heute passiert war, meinen Smith & Wesson im Schreibtisch gelassen? In diesem Augenblick stieß mir etwas Kleines, Hartes in die Rippen und ein dunkelblauer Ford hielt neben mir am Bordstein. 38
»Steig in den Wagen, aber schnell«, befahl mir eine Stimme mit italienischem Akzent. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es der Makkaroni mit dem Bärtchen war, der mir seine Knarre in die Rippen bohrte. Eine Wagentür sprang auf, ich erhielt einen heftigen Schlag, wur de halb gestoßen, halb gezogen, hielt mich am Wagendach fest und stemmte meine Füße auf das Pflaster, um nicht auf den Rücksitz zu fallen. Der Cop auf der anderen Straßenseite lag noch immer in se ligem Schlaf. Ich hatte es verdammt satt, von Unbekannten auf Ausflüge mitge nommen zu werden. Ohne nachzudenken, drehte ich mich um und schlug dem italienischen Bastard unter seinen Arm. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Kanone fiel scheppernd auf den Bürgersteig. Bevor er sich bücken konnte, ballte ich die Faust und holte aus, um einen Schlag auf sein Oberlippenbärtchen nachzulegen. »Bitte steigen Sie ein. Gladys schickt uns«, rief eine Stimme aus dem Ford. Ich schlug zu. Der Kerl schwankte und fiel der Länge nach auf das Pflaster. Geschmeidig richtete er sich auf und wollte nach seiner Waffe greifen, doch ich war schneller. Mit einem Tritt beförderte ich sie aus seiner Reichweite. Der Cop auf der anderen Straßenseite wurde end lich wach. Er setzte sich auf, zog nach einem Blick auf unser Getümmel seine Waffe und stürmte über die Straße. Aus dem Augenwinkel sah ich den Baseballschläger. Dann nichts mehr. * »Was habt ihr denn mit ihm angestellt? Ist er etwa tot?«, hörte ich eine wütende Frauenstimme, die mir bekannt vorkam. Ich öffnete die Augen. Ich lag auf einer Matratze in einem stin kenden, fensterlosen Raum. Hände und Füße waren mit Stricken fest zusammengeschnürt. Offenbar musste ich eine ganze Weile bewusst los gewesen sein, denn ich konnte meine Finger kaum noch spüren. Vorsichtig bewegte ich meine Hände. Der Schmerz schoss bis in die Ellenbogen hoch. 39
Im Raum war es dämmerig, von der Decke hing eine schwache Glühbirne. Trotzdem konnte ich Gladys erkennen. Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt und schrie meine beiden Entführer an. Sie trug noch das rosafarbene Kostüm, es war inzwischen nur etwas schmutzi ger. Den mit Blut befleckten Pullover hatte sie gegen ein weißes Her renhemd ausgetauscht. Selbst jetzt war sie atemberaubend. Ich freute mich, sie zu sehen. Ich hatte entsetzliche Kopfschmerzen, mir war übel. Der Raum drehte sich, als ich den Kopf umwenden wollte, um mich umzusehen. Ich schien in einer Art Schuppen zu sein. Es roch nach Öl, an den Wänden klebte Fliegendreck, außer meiner Matratze gab es noch ein roh zusammen gezimmertes Tischchen und zwei klapprige Stühle. An der Wand mir gegenüber waren Kisten mit einem aufgedruckten A hornblatt bis zur Decke gestapelt. Über den Resten einer Mahlzeit auf dem Tisch summten Fliegen. »Gladys«, sagte ich, aber meine Zunge fühlte sich an wie ein alter trockener Socken. »Pat!« Gladys kniete neben meiner Matratze nieder und strich mir über die Stirn. Ihre Hände waren kühl und nahmen für einen Augen blick den Kopfschmerz. »Was machst du hier?« Ich hatte jede Menge Fragen an sie, aber ich konnte sie nicht in die richtige Reihenfolge bringen. »Warum bin ich gefesselt?« »Halt's Maul!«, brüllte das Oberlippenbärtchen. »Lasst ihn in Ruhe! Er ist mein Freund«, rief Gladys. »Er ist gefährlich«, gab der Glattrasierte zu bedenken. »Ihr seid doch völlig bescheuert«, rief Gladys. Ich schloss die Augen, bis die drei ihre seltsame Diskussion been det hatten. Ich wusste nicht, was schlimmer war: mein Hunger oder der Kopfschmerz. »Er ist ein Killer«, steuerte jetzt das Bärtchen seine Meinung bei. Was um Himmels willen wollten diese Idioten von mir? Ich hätte in diesem Moment zwar getötet, um etwas zu essen zu bekommen, aber Killer fand ich trotzdem reichlich übertrieben. 40
»Was wollt ihr von mir?«, fragte ich matt, als sie einen Moment schwiegen und sich feindselig anstarrten. »Spiel hier bloß nicht den Blödmann«, herrschte mich der Glattra sierte an. »Wir wissen, wer du bist.« »Dazu musstest du dein Spatzenhirn nicht anstrengen. Das steht sogar groß an meiner Bürotür«, antwortete ich. »Versuch nicht, witzig zu sein«, sagte Bärtchen und trat mir leicht in die Rippen. Ich beschloss, alle weiteren Scherze für mich zu behalten. Gladys schrie auf und fiel den bärtigen Italiener wie eine wilde Katze an. Er hielt sie an ihren zu Klauen erhobenen Händen fest. »Kennst du einen Danny Fitzgerald?«, fragte mich der Glattrasier te, während sein Kumpel versuchte, Gladys zu bändigen. »Ja, ja sicher«, gab ich zu. »Na also!« Was meinte er denn damit? »Wir waren Kollegen, vor vielen Jah ren«, erklärte ich. Unsicher sahen die beiden sich an. »Seitdem habe ich mit ihm nichts mehr zu tun«, ergänzte ich. Die Augen des Glattrasierten blitzten triumphierend auf. »Ver dammter Lügner! Ihr habt euch gestern getroffen!« Ich stöhnte auf. Der Raum drehte sich immer schneller um mich. Ich begriff nicht, was sie von mir wollten. Und warum Gladys hier war. In diesem Augenblick stürmte ein dritter Mann, ebenfalls ein Ita liener, in den Schuppen. Er hatte eine Tommy-Gun in der Hand. »Es kommt ein Wagen. Ohne Licht.« »Schaffen wir Connor weg«, schrie der Glattrasierte. Er zog ein Klappmesser aus der Hosentasche, ließ es aufschnap pen und hockte sich neben mich. Ich schloss die Augen, dann spürte ich, wie er meine Fesseln durchschnitt. Sofort setzte ich mich auf und wollte aufstehen, doch meine Füße waren taub und knickten unter mir weg. Hilflos lag ich wieder auf der Matratze. Gladys hatte sich neben mich gekauert. Sie sah aus, als woll te sie jeden Moment anfangen zu weinen. Meine Hände brannten wie Feuer, als langsam das Blut wieder durch die Glieder strömte. 41
»Sie sind da. Sie steigen aus.« Oberlippenbärtchen stand an der Tür und hielt uns auf dem Laufenden. »Lasst uns abhauen, komm endlich«, zischte mir der Glattrasierte zu und öffnete eine zweite Tür, die ich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es klüger war, mit den drei Italienern zu fliehen, oder auf die Ankömmlinge zu warten. Wenn sie Feinde der italienischen Bastarde waren, konnten sie vielleicht meine Freunde sein.. Vielleicht würden sie mir aber auch keine Gelegenheit geben, ihnen zu erklären, dass ich nicht freiwillig hier war. »Ich kann nicht laufen«, sagte ich. »Ihr habt mich zu fest gefesselt.« »Sie kommen. Ich verschwinde«, flüsterte Bärtchen und lief zur anderen Tür. »Dreckschwein«, sagte der Glattrasierte hasserfüllt. Mir war nicht ganz klar, wen er damit meinte. Dann hob er seinen Revolver, hielt ihn an meine Schläfe und sah mich unschlüssig an. Ne ben mir zitterte Gladys so stark, dass ich fürchtete, gleich von der Mat ratze zu fallen. Er ließ die Waffe wieder sinken, drehte sich um und flitzte seinem Kumpel hinterher. Ich sah Gladys an. »Du willst nicht mit ihnen fliehen?« Unter ihren Augen lagen Schatten, die fast ebenso schwarz waren wie ihr Haar. Ihre Augen wirkten riesig. Und traurig. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie. Ich massierte mir die Knöchel und verzog das Gesicht. Der Schmerz wurde zuerst schlimmer, dann ließ er langsam nach. Dabei lauschte ich auf die Geräusche vor dem Schuppen. Schüsse zerschnit ten die Stille, dann klappten Wagentüren und mit quietschenden Rei fen fuhren Autos weg. * Gladys und ich sahen uns schweigend an. Langsam stand ich auf, ging zur Tür und spähte vorsichtig nach draußen. Wir befanden uns offen bar in einem abgelegenen Lagerschuppen. Die Luft roch nach Eisen und brackigem Wasser. Über den Dächern konnte ich die Kräne an den 42
Docks erkennen und hörte von weitem die Rufe der Arbeiter, doch die ser Teil des Hafens war wie ausgestorben. Langsam ging ich zu den Kisten hinüber, die Deckel waren fest vernagelt. Ich nahm das Brotmesser vom Tisch und hebelte die erste auf. In einem Bett von Holzwolle lag eine Batterie Flaschen nebenein ander. Ich nahm eine heraus. Sie war mit einer klaren, goldbraunen Flüssigkeit gefüllt. Ich drehte den Verschluss auf, roch, dann trank ich einen Schluck. Kanadischer Bourbon. Allerfeinste Qualität. Ich drehte mich zu Gladys um. Mit großen Augen beobachtete sie jede meiner Bewegungen. Ich nahm noch einen kräftigen Schluck und spürte, wie der erstklassige Stoff direkt in meinen Kopf stieg. Ich schraubte die Flasche wieder zu und setzte mich neben Gladys. »Es wird Zeit, mir ein paar Dinge zu erklären, Süße«, sagte ich. Sie nickte müde. »Ich weiß. Es tut mir Leid, dass Alessandro und Beppo dich geschlagen haben, aber ich wusste nicht, was ich tun soll te. Ich dachte, sie lassen dich in Ruhe, wenn ich ihnen sage, dass du ein Freund bist.« »Am besten fängst du ganz von vorne an.« Ich trank noch einen Schluck, obwohl ich wusste, dass ich vorsichtig sein musste. Ich konn te mich nicht einmal erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas geges sen hatte. Oder geschlafen. »Es gibt nicht viel zu erzählen. Nachdem ich von deinem Büro weggefahren bin...« Sie unterbrach sich und sah mich mit einem zer knirschten Blick an, der mir die Hitze in den Kopf steigen ließ. Und nicht nur in den Kopf. »Es tut mir Leid, Pat. Ich wollte dir nicht weh tun, ich wollte dich einfach nur wegschubsen, aber dann bist du ge stolpert...« »Okay, du kannst jetzt mit den Entschuldigungen aufhören. Ich will endlich wissen, worum es hier geht«, knurrte ich unwirsch. »Also gut.« Sie holte tief Luft. »Ich wusste nicht wohin, deshalb bin ich zu Don Filasto gelaufen. Ich habe ihn durch Kathleen kennen gelernt.« Ich schnappte nach Luft. Nette Freunde hatte das Mädchen gehabt! Filasto war ein Unterboss der zurzeit einflussreichsten Italie nergang in Chicago. 43
»Filasto hat Kathleen ein paar Mal besucht«, fuhr Gladys fort. »Ich hatte nie viel mit ihm zu tun, aber ich wusste, dass er mich ganz gern mochte. Kathleen hatte mir erzählt, dass er eine Menge Macht und Einfluss hat. Ich dachte, er könnte mir helfen.« Sie blickte mich an. Ich nickte knapp. »Das hat er ja offenbar auch getan. Und wie komme ich in die ganze Geschichte rein?« »Das weiß ich nicht genau. Ich habe nichts damit zu tun, das schwöre ich dir!« Sie legte die Hand auf meinen Arm und beugte sich zu mir. »Heute sind plötzlich Alessandro und Beppo aufgetaucht und haben die ganze Zeit von dir geredet. Sie haben mich immer wieder nach dir gefragt, aber ich habe ihnen nichts gesagt. Ehrlich nicht. Ich wusste ja auch gar nichts. Sie haben mich auch nach einem Danny Fitzgerald gefragt, haben gesagt, dass sie ihn aufhalten müssen und er würde schon wissen, dass sie es ernst meinen, wenn er sieht, was sie mit dir gemacht haben. Aber ich weiß nicht, was sie damit gemeint haben, Pat.« »Sonst haben sie nichts gesagt?« Langsam sickerte in meinen Kopf, was die Italiener von mir gewollt hatten. Gladys legte ihre Stirn in Falten und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nicht mehr viel. Es ging irgendwie um Alkohol und dass die Iren ihnen ein Killerkommando auf den Hals schicken wollen.« Hätte ich nur auf die kleine Stimme in meinem Kopf gehört und Danny sofort zum Teufel geschickt. Offenbar war sein Besuch bei mir beobachtet worden. Die Italiener wussten von seiner Killertruppe und dachten jetzt, ich würde dazugehören. Ich wusste nicht, was sie mit mir anstellen wollten, um Danny dazu zu bringen, seine Truppe zu rückzupfeifen. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich es wissen wollte. Ich sah, dass meine Hände zitterten. Vor Wut oder vor Hunger. Ich trank noch einen Schluck Bourbon, steckte mir eine Lucky an und ü berlegte, was ich jetzt tun sollte. Vor dem Büro würden wahrscheinlich die Bullen, die Italiener, viel leicht auch Sean und Eoin auf mich warten. Dazu hatte ich jetzt Gladys am Hals, die von den Iren und der Polizei gesucht wurde. Außerdem musste ich den Mörder von Kathleen Lambert finden. Wo sollte ich also anfangen? 44
»Ich werde mich der Polizei stellen«, sagt Gladys müde. Sie schnappte mühsam nach Luft, als wäre sie am Ertrinken. »Ich kann nicht mehr. Es war dumm, einfach wegzulaufen. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht.« Gladys zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. In diesem Punkt würde ich der Lady nicht widersprechen. »Was hast du mit der Waffe gemacht, nachdem du sie angefasst hattest?«, fragte ich. Sie hob den Kopf und starrte mich verständnislos an. »Wieso? Nichts. Was soll ich damit gemacht haben? Das habe ich dir doch er zählt: Ich habe sie einfach fallen lassen, bin aus der Wohnung gerannt und sofort zu dir gefahren.« Ich setzte mich auf. »Hast du die Waffe denn nicht mitgenom men?« »Nein. Leider nicht, dann hätte ich mir ja keine Gedanken mehr wegen der Fingerabdrücke machen müssen.« Irgendjemand hatte die Knarre verschwinden lassen. Wenn es nicht Gladys gewesen war, wer dann? Als die Polizei an den Tatort gekommen war, war die Waffe verschwunden gewesen. War der Mör der noch in der Wohnung gewesen, als Gladys ihre Freundin gefunden hatte, oder war er später noch einmal zurückgekommen? Ich schüttel te den Kopf, um wieder halbwegs klar denken zu können. Das alles ergab für mich keinen Sinn. * In diesem Augenblick fuhr draußen ein Auto vor. Bevor ich mir etwas einfallen lassen konnte, betraten meine alten Freunde Beppo und Ales sandro den Schuppen. Bei unserem Anblick wirkten sie etwas erstaunt, als hätten sie nicht damit gerechnet, uns noch vorzufinden. Ich da gegen hatte nicht erwartet, dass sie zurückkommen würden und mich in dem Schuppen zu sicher gefühlt. Wahrscheinlich war mein ange schlagener Zustand an dieser unglaublichen Dummheit schuld. »Los, mitkommen«, forderte das Bärtchen uns auf und richtete seine Knarre auf uns. 45
Ich biss die Zähne zusammen. Gladys und ich standen auf. Sie zit terte, ich hielt ihren Arm. Er dirigierte uns durch die hintere Tür auf den Hof. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich einfach mitge gangen wäre. Ich weiß nur, dass ich plötzlich von weitem einen dump fen Knall hörte, vielleicht eine Kiste, die von einem der Kräne gefallen war. Ich überlegte nicht. In einer einzigen Bewegung stieß ich Gladys in den Schuppen zurück, trat Bärtchen die Waffe aus der Hand, hob sie auf und hechtete hinter Gladys her. Die Tür war aus massivem Eisen und hatte einen Riegel. Ohne mich darum zu kümmern, was mit Bärtchen passiert war, legte ich ihn vor. »Alessandro«, zischte Gladys in diesem Moment. Der Glattrasierte trat die Vordertür auf und schoss eine Salve aus einer Tommy-Gun in den Schuppen. Ziegelstückchen platzten von den rohen Wänden und flogen uns um die Ohren. Ich drückte Gladys hinter mir dicht an die Wand und schoss zurück. Alessandro schrie heiser auf und ging zu Boden. Hinter ihm tauchte sein Partner auf und zielte auf uns. Offen bar hatten sie von ihrem Boss die Anweisung bekommen, uns am Le ben zu lassen, sonst wären wir jetzt tot gewesen. »Leg die Waffe auf den Boden«, sagte er. »Ganz langsam.« Neben ihm stöhnte Alessandro. Ein großer roter Fleck breitete sich auf seinem Oberschenkel aus. Ich tat, was Beppo sagte. »Mitkommen!« Langsam ging er rückwärts aus dem Schuppen. Wir folgten ihm. Ich stand im Türrahmen, als er für einen Augenblick zu seinem Partner blickte. In meinem Blickfeld entdeckte ich eine Ei senstange an der Wand. Mir war kaum bewusst, was ich tat. Mein Körper war schneller als mein Gehirn. Fast verwundert sah ich, dass meine Hand die Eisenstange von der Wand riss und auf Beppos Arm schlug. Ich brach ihm das Handgelenk. Die Tommy-Gun fiel auf den Bo den. Er stieß ein heiseres Gebrüll aus, eine Mischung aus Schmerz und Wut. Dann biss er die Zähne zusammen. Ich schlug noch einmal zu. Er fiel auf den Rücken und war still. In dem Moment schrie Gladys hinter mir auf. Ich schnellte herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Alessandro mit schmerz verzerrtem Gesicht versuchte, seine Knarre zu erreichen. Gladys war 46
schneller und hob den Revolver auf. Mit spitzen Fingern reichte sie ihn mir rüber. Dann klappten ihre Knie weg und sie sackte auf den Boden. Während ich Beppo und Alessandro im Blick behielt, half ich Gladys auf. Ich hockte mich neben Alessandro, der mich hasserfüllt anstarrte. »Bestell Don Filasto, dass ich keinen Ärger will. Sag deinem Boss, Fitz gerald hat mir einen Job angeboten, aber ich habe ihn abgelehnt. Ich weiß nicht, ob er Killer auf euch hetzen will, aber ich bin garantiert keiner von seinen Männern. Hast du das verstanden?« Als Antwort spuckte Alessandro mich an. Ich wischte mit dem Är mel über mein Gesicht und zog Gladys zu dem Wagen der Italiener. Der Schlüssel steckte. Der dunkelblaue Ford war nicht besonders auf fällig. Er würde uns aus dem Hafengebiet herausbringen. * In der Luft lag ein Gewitter. Dicke schwarze Wolken ballten sich über den Lagerhallen und schoben sich langsam näher. Auf der Fahrt brach te ich Gladys auf den neuesten Stand. Wo konnten wir jetzt noch hin? Mittlerweile waren nicht nur die Iren und die Italiener hinter uns her, sondern mit Sicherheit auch noch die gesamte Polizei von Chicago. »Bitte bring mich zur Polizei«, sagte Gladys leise. Nach dem Zeitungsartikel hielt ich das im Moment für keine gute Idee und das sagte ich ihr auch. Solange der wahre Mörder nicht ge funden war, hatte Gladys kaum eine Chance, heil aus der Sache he rauszukommen. Ein erster Blitz zuckte über den Himmel und Gladys zuckte zusam men. »Was kann ich denn sonst tun?« Ich wartete den Donner ab, bevor ich antwortete. »Ich weiß es nicht, darüber denke ich gerade nach. Du hättest erst gar nicht ab hauen dürfen.« »Das hilft mir jetzt auch nicht weiter.« Gladys verzog ihre vollen Lippen zu einem Schmollmund. 47
Ich fuhr in eine kleine Seitenstraße und hielt an. »Ab hier gehen wir zu Fuß weiter.« »Warum?« Gladys sah mich fragend an, stieg aber folgsam aus. »Wir müssen den Wagen loswerden. Es wäre Selbstmord, noch länger mit einem Auto von Don Filastos Männern durch die Gegend zu fahren.« In der Nähe kannte ich ein kleines Hotel. Dem Besitzer Clyde Owen und seiner Tochter hatte ich vor einiger Zeit einen Gefallen erwie sen. Ich hatte etwas gut bei ihm. Vielleicht würde er uns ein Zimmer vermieten, ohne Fragen zu stellen und vor allem, ohne die Polizei über die Ähnlichkeit seiner neuen Mieterin mit der gesuchten Mörderin auf allen Titelseiten zu informieren. In diesem Moment brach der Regen los. Dicke Tropfen prasselten fast schmerzhaft auf uns herunter. Auf dem Wagendach hörten sie sich wie wilde Trommeln an. In wenigen Sekunden wären wir durch nässt. »Können wir nicht wenigstens noch den Schauer im Auto abwar ten?«, rief Gladys durch das Getöse. Ich zog Gladys weiter. »Der Regen ist unsere einzige Chance, hier wegzukommen, ohne dass du sofort erkannt wirst.« Die Straßen waren wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die von dem Gewitter überrascht worden waren, drückten sich in Hausein gänge oder versteckten sich unter ihren Schirmen. »Bei dem Wetter geht kein Mensch vor die Tür«, fuhr ich fort. »Ein paar Straßen weiter gibt es ein Hotel. Ich kenne den Besitzer. Wenn wir Glück haben, kannst du einige Tage dort bleiben.« Schutz suchend liefen wir nah an die Häuserwände gedrückt in Richtung Hotel. In wenigen Sekunden waren wir beide klatschnass. Bei diesem Wetter wirkten die erleuchteten Fenster des Chapell Inn direkt verlockend. Ich stieß die Tür auf. Eine Glocke schepperte unmelodisch. In dem düsteren Flur tauchte ein winziger alter Mann mit einem struppigen Haarschopf auf. Seine Strickjacke hing ihm bis in die Knie kehlen. Er schob seine Brille näher an die Augen und grinste breit. »Pat Connor!«, rief er und streckte die Hand aus. »Was führt Sie in mein bescheidenes Etablissement? Und Sie haben eine ganz entzü 48
ckende junge Dame mitgebracht!« Er kniff seine Augen zusammen und musterte Gladys. Ich stellte sie nicht vor, aber ich bezweifelte nicht, dass er sie sofort erkannt hatte. »Ich hätte gern ein Zimmer. Und etwas zu essen. Am besten ei nen ganzen Ochsen«, fragte ich. Zu unseren Füßen hatten sich kleine Pfützen auf den Holzdielen gebildet. »Kein Problem. Zufällig ist die Hochzeitssuite frei.« Owen kicherte asthmatisch. Ich winkte ab. »Das Zimmer ist nur für eine Person, für die junge Lady hier. Muss nicht gleich die Suite sein.« Owen grinste. »Ist aber auch das ruhigste Zimmer. Und es gibt sogar ein Radio.« Er nahm einen Schlüssel vom Schlüsselbrett und stieg vor uns eine knarrende Treppe hinauf in den zweiten Stock. Er öffnete die letzte Tür auf dem düsteren Flur und ließ uns den Vortritt. Das Zimmer sah besser aus, als ich erwartet hatte. Hinter einem geblümten Baumwoll vorhang gab es ein Waschbecken. In einer Ecke schälte sich die Tape te von der Wand. Das Bett war breit und sauber. »Wunderbar«, sagte Gladys und lächelte Owen an. Er strahlte über seine runzligen Wangen. »Ich werde dann mal den Ochsen grillen.« Ich stellte das Radio an, um vielleicht etwas aus den Nachrichten zu erfahren. Charleston-Klänge dudelten durch das Zimmer. Ich wollte einen anderen Sender suchen, aber Gladys sagte mir, ich sollte das lassen. Sie ließ sich auf das Bett fallen, schlug die Beine übereinander und zuckte im Takt mit den Füßen. Ich setzte mich in den schäbigen Sessel und steckte mir eine Lucky an. Ich musste reden, oder ich wür de auf der Stelle einschlafen. »Als du bei mir im Büro warst hast du gesagt, du hättest ein Motiv...« »Lass uns nicht mehr darüber reden«, murmelte Gladys. »Doch, wir müssen darüber sprechen. Hattest du ein Motiv, Kath leen zu töten?« Ich legte die Füße auf den Tisch. Langsam wurde mir wieder warm. Es kam mir vor, als würde die Feuchtigkeit aus meinem Anzug als Dampf aufsteigen. Mein Magen knurrte lauter als die Musik. Ich zündete mir noch eine Zigarette an und beobachtete Gladys durch 49
den Qualm. Sie hatte die Augen geschlossen und war so weiß wie das Laken. »Das Miststück hat Joey angemacht«, stieß sie plötzlich hervor. Ich erschrak über den Hass in ihrer Stimme. »Joey und ich waren ver lobt, wir wollten heiraten, aber das hat sie nicht abgehalten. Dabei hat er sie nicht einmal wirklich interessiert. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass jemand sie nicht wollte. Diese kleine Schlampe hatte an jedem Finger zehn Kerle, alle hat sie ausgenommen, mit jedem hat sie es getrieben, bis sie ihn leid war. Aber der Nächste stand bereits in der Schlange.« Sie lachte bitter. »Und einer von ihnen war mein Joey.« So viel zur heiligen Unschuld, dachte ich. »Wer ist Joey?« Gladys hatte noch immer die Augen geschlossen. »Mein Verlobter. Wir wollten in diesem Herbst heiraten. Er ist Polizist. Wir haben uns bei der Arbeit kennen gelernt. Eines Tages hat er mir erzählt, dass er mich nicht heiraten kann, weil er Kathleen liebt. Wenigstens war er ehrlich.« Sie stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Ich habe mit Kathleen gere det und sie hat sich über mich lustig gemacht.« »Warum hast du mit ihr zusammengewohnt? Hört sich nicht gera de an, als ob ihr viel gemeinsam gehabt hättet.« »Sie hat sich verändert. Als wir uns kennen gelernt haben, war sie noch nicht so ein Miststück. Na ja, wahrscheinlich doch«, sie zuckte die Achseln, »aber ich habe es nicht gemerkt. Sie hat jedem etwas vorge macht. Selbst Joey, der selbst schon viel von ihr mitbekommen hatte, hielt sie noch für eine halbe Jungfrau, die nur ein bisschen Pech ge habt hatte.« Gladys lachte bitter auf. »Als wir zusammengezogen sind, hat sie sich noch nicht von den Männern bezahlen lassen. Sie hatte die Wohnung, die sie sich allein nicht leisten konnte. Ich hielt es für eine gute Idee. Gib mir bitte eine Zigarette.« Ich steckte mir selbst noch eine an, dann warf ich die Luckys und die Zündhölzer zu ihr auf das Bett. »Hast du sie getötet?« »Nein. Ich habe mir gewünscht, dass sie tot wäre. Ich habe mir Nacht für Nacht die schlimmsten Dinge vorgestellt, die ihr zustoßen würden. Aber ich habe sie nicht getötet.« Gladys stieß den Rauch in einer dichten Wolke aus und ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. 50
»Als ich sie gefunden habe, war ich entsetzt. Das hatte ich nicht ge wollt.« Mir schoss durch den Kopf, dass Brannigan vielleicht doch Recht hatte. Alles passte zusammen. Mord aus Eifersucht war ein Klassiker. Was, wenn ich gerade einer Mörderin bei der Flucht half? Es klopfte und Owen kam mit einem voll beladenen Tablett zu rück. Er verteilte Teller mit Sandwichs, Eiern, Speck, Steak und Boh nen auf dem Tisch, dazu zwei dampfende Kaffeebecher und eine halb volle Flasche mit einer braunen Flüssigkeit. Er zwinkerte mir zu, bevor er ging. »Einen Ochsen hatte ich nicht.« Ich stürzte mich auf das Essen und stopfte es bis auf den letzten Bissen in mich rein. Gladys beschränkte sich auf den Kaffee. »Glaubst du, dass das für die Polizei ein ausreichendes Tatmotiv ist?«, fragte sie, als ich fertig war. Mir fiel darauf keine Antwort ein und ich füllte meinen Kaffee mit dem Bourbon auf. »Kennst du die Namen von Kathleens Freunden?« »Die meisten wahrscheinlich, warum?« »Irgendwo muss ich schließlich anfangen, wenn ich den Mörder finden will. Vielleicht ist einer von ihnen sauer geworden. Schreib mir alle auf, an die du dich erinnern kannst«, forderte ich sie auf. Sie nahm den Stift vom Nachttisch und begann mit gerunzelter Stirn auf das billige Hotelpapier zu schreiben. Meine Augen fielen immer wieder zu. Ich hievte mich mit letzter Kraft aus dem Sessel. »Ich werde dir jetzt was zum Anziehen besor gen, am besten auch Haarfarbe. Rühr dich nicht hier weg.« Gladys grinste schief. »Bring bloß kein Rot mit!« * Eine Stunde später war ich zurück. Ich klopfte. »Augenblick!«, rief Gladys. Kurz darauf: »Komm rein!« Der Vorhang vor dem Waschbecken war zugezogen, Gladys hatte sich offenbar dahinter versteckt. »Ich bin's, Gladys!«, rief ich. 51
Sie zog den Vorhang zurück. Ihr Anblick verschlug mir die Spra che. Sie hatte die Haare zu einem strengen Knoten geschlungen. Ihre Wimpern hatte sie abgeschminkt und die Augenbrauen neu gezogen. Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht entfernt. Sie blinzelte merk würdig und wirkte kurzsichtig. Selbst ihre Haltung war anders, krum mer irgendwie und flachbrüstig. »Himmel!«, stammelte ich schließlich und ließ mich auf die Bett kante fallen. »So schlimm?« Selbst ihre Stimme klang anders, weniger rau, da für mädchenhafter. Ich räusperte mich. »Für eine Misswahl würde es wahrscheinlich nicht reichen.« Ich streckte ihr die Tüten entgegen. In dem wadenlangen braunen Kleid, das ich gekauft hatte, dem scheußlichen glockenförmigen Hut und mit einer neuen Haarfarbe würde selbst ihre eigene Mutter sie nicht mehr erkennen. Gladys setzte sich neben mich. Ich musste sie einfach immer wie der ansehen. Ein seltsames Gefühl überkam mich, wie ein Prickeln an den Haarwurzeln und im Hinterkopf. Wo hatte Gladys gelernt, sich so zu verstellen? Wer saß da neben mir? Wann zeigte sie ihr wahres Ge sicht? »Ich bin so müde Pat«, murmelte sie. Langsam legte sie sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Ich hatte die Lady noch einiges zu fragen, aber ihr regelmäßiges Atmen zeigte mir, dass sie eingeschlafen war. Auch ich brauchte dringend Schlaf. Ich schob Gladys zur Seite, deckte sie mit der Steppdecke zu. Sie seufzte ein bisschen, aber sie schlief weiter. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und kroch zu ihr unter die Decke. * Brannigan nahm nach drei Sekunden den Hörer ab. 52
»Sie verfluchter Volltrottel!«, rief er, als ich meinen Namen ge nannt hatte. »Wissen Sie, dass die ganze verdammte Stadt nach Ihnen sucht? Was haben Sie angestellt?« »Ich...« »Wegen Ihnen habe ich die halbe Nacht bei den Cops verbracht«, unterbrach er mich. »Bei Ihnen wimmelt es nur so vor Bullen. Wo ste cken Sie? Angeblich sind Sie entführt worden! Was soll dieser ganze verfluchte Scheiß!« Er holte keuchend Luft. Ich hoffte, dass er kein schwaches Herz hatte. Ich brauchte ihn noch. »Ich erzähle Ihnen alles. Kann ich zu Ihnen kommen oder stehen Sie noch unter Beobachtung?« »Die Luft ist rein.« »In einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen. Behalten Sie die Gegend im Auge. Wenn irgendetwas nicht stimmt, schalten Sie die Lampe über der Tür ein und ich verschwinde wieder.« »Ist gut«, knurrte er und ich hängte ein. »Chicago Tribune!«, rief ein hemdsärmeliger Zeitungsjunge neben mir. »Druckfrisch, Mister.« Er fuchtelte mit einer Zeitung herum. Dann zuckte er die Achseln und ging weiter. »Halt, warte!« Ich kramte drei Cent aus meiner Tasche. Der Junge grinste zufrieden, reichte mir die Zeitung und zog mit seinem Lied wei ter. »Chicago Tribune! Frisch aus der Presse!« Als ich auf die Titelseite blickte, zog ich mir den Hut tiefer in die Stirn. Ich starrte in mein eigenes Gesicht. Allerdings würde mich dar auf im Moment kaum jemand erkennen. Es stammte aus einem frühe ren Leben. Ich trug Uniform und sah ordentlich und anständig aus. Nichts, was man heute Morgen über mich sagen könnte. Es wurde über die Schießerei und meine Entführung berichtet. Am wahrscheinlichsten schien die Theorie, dass es sich um einen Racheakt handeln musste. Keine gute Werbung für einen Privatdetektiv, wenn er nicht mal seine eigene Entführung verhindern kann, dachte ich ver drießlich. Dieser Artikel würde mir sicher keinen Klienten ins Haus brin gen. Es gab vage Spekulationen über einen Zusammenhang mit einem aktuellen Fall, doch leider hatten sie nichts gefunden. 53
Kein Wunder, außer dem Mord an Kathleen Lambert gab es zurzeit nichts Aktuelles. Kathleen wurde allerdings mit keiner Silbe erwähnt. Das war nicht normal. Die Polizei musste eine Nachrichtensperre ver hängt haben. Mir war allerdings nicht klar, warum. Ich zog den Hut noch ein Stück tiefer, den Jackenkragen höher und winkte ein Taxi heran. Ein paar Straßenecken vor Brannigans Haus ließ, ich den Fahrer anhalten und zahlte. Ich stieg aus und ging zu Fuß weiter. Immer wieder sah ich mich prüfend um. Niemand schien mir zu folgen. Sicherheitshalber hatte ich den Taxifahrer noch zweimal um den Block kreisen lassen, aber ich konnte nichts Verdäch tiges entdecken. Brannigan hatte bereits auf mich gewartet und öffnete die Tür, bevor ich klingeln konnte. In der Küche standen eine Flasche Whiskey und ein Aschenbecher mit etwa fünfhundert Kippen auf dem Tisch. Die Luft war so vernebelt, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich goss mir einen Schluck Bourbon ein. »Nur zu, nur zu, bedienen Sie sich, Connor«, brummte Brannigan. »Möchten Sie noch einen Schluck Kaffee dazu?« »Danke, sehr gern«, antwortete ich. Fünf Minuten später saß er mir mit einer Tasse in der Hand ge genüber am Küchentisch. »Also!«, forderte er mich auf. Ich steckte mir eine Lucky an und machte es mir bequem. »Wird eine Weile dauern«, fing ich an. Er nickte wortlos und wedelte ungeduldig mit der Hand. Ich erzählte ihm alles, was er wissen sollte. Nur meine Zweifel an Gladys' Unschuld behielt ich für mich. »Das ist doch ein Scheiß, Connor. Wer soll Ihnen diese Story glauben?« Er atmete tief durch, dann legte er los. »Außerdem - wissen Sie, dass Sie wahnsinnig sind? Es ist strafbar, eine gesuchte Mörderin zu verstecken. Und das, wo sie sich endlich selbst stellen will! Dafür gehen Sie in den Knast, Connor. Und ich auch, wenn die Sie hier fin den!« Seine Stimme wurde immer lauter. Er schien mit meinem Ver halten nicht ganz einverstanden zu sein. »Beruhigen Sie sich, Brannigan«, sagte ich gelassen. 54
»Habe ich«, gab er zurück und knallte die Faust auf den Tisch, dass die Kippen aus dem Aschenbecher in die Luft flogen und sich auf dem Tisch verteilten. »Werden Sie mir helfen?« »Sicher, was dachten Sie denn, mein Junge?«, knurrte er. Ich hasste es, wenn er mich Junge nannte, aber in diesem Mo ment schien es mir klüger, den Mund zu halten. Jetzt war Brannigan dran, von seiner Nacht bei den Cops zu erzählen. »Ich bin gegen acht bei Ihnen vorbeigefahren, dachte, wir könn ten ein Glas zusammen trinken und darüber reden, was Sie bisher raus gefunden haben. Aber vor Ihrem Büro haben die Cops gewartet und mich zur Wache mitgenommen. Dort hatte ich dann ein sehr langes Gespräch mit Lieutenant Quirrer. Der Junge scheint Sie richtig gern zu haben.« Er grinste schief. »Konnte sich gar nicht beruhigen. Ich hatte mir überlegt, denen alles über Gladys Wyman zu erzählen, was ich von Ihnen wusste, dachte, das könnte helfen, Sie zu finden, aber dann dachte ich, dadurch könnte ich Sie vielleicht in Teufels Küche bringen und habe den Mund gehalten.« Er zuckte mit seinen mächtigen Schultern. »Die wollten alles von mir wissen, wann ich Sie kennen gelernt habe, was ich bei Ihnen zu suchen hätte, einfach alles. Ich habe denen erzählt, dass ich einen Artikel über Sie schreiben will und Ihnen einen Gefallen getan und Olivier Lambert als Klienten gebracht habe. Das hätten die vermutlich sowieso rausgekriegt. Die hatten mich ja im Leichenschauhaus mit ihm gesehen und hätten das vermutlich sowieso überprüft. Dann haben sie mich noch gefragt, was ich über den Mord an Kathleen Lambert wuss te und ob ich wüsste, ob Sie mit Gladys seit ihrer Flucht Kontakt ha ben. Aber ich habe Quirrer gesagt, dass Sie mit mir über gar nichts reden würden. Stimmt ja auch«, brummelte er. »Als ich ihm dann er zählt habe, dass ich auf eine kleine Provision scharf war, weil ich Ihnen einen Klienten zugeführt habe, hat er mich gehen lassen. Hält mich jetzt sicher für einen erbärmlichen Schmarotzer. Aber was tut man nicht alles für seine Freunde.« »Besten Dank«, gab ich zurück. »Haben Sie bei Ihrer netten Plau derei mit Quirrer auch etwas Neues erfahren können?« 55
»Nichts Wichtiges. Kathleens Kleider waren zerrissen, ihr Höschen fehlte, aber es liegt kein Sexualdelikt vor. Im Klartext: Sie hatte keinen Geschlechtsverkehr, weder freiwillig noch unfreiwillig.« »Könnte also auch eine Frau getan haben«, sprach ich aus, was er mir damit sagen wollte. Offenbar war Gladys noch immer seine Lieb lingsverdächtige. Kein Wunder, schließlich war sie bisher auch die ein zige. »Sie müssen die Lady dazu bringen, sich der Polizei zu stellen. Wo, sagten Sie noch mal, haben Sie die Kleine untergebracht?« »Wir warten noch bis morgen früh«, sagte ich anstelle einer Ant wort. »Zuerst muss ich ein paar Sachen überprüfen. Gladys hat mir eine Liste mit Kathleens Freunden gegeben, denen werde ich auf den Zahn fühlen.« »Ich komme mit Ihnen.« Brannigan setzte sich auf. »Auf gar keinen Fall. Wollen Sie etwa in den Knast? Was glauben Sie, was passiert, wenn die Cops Sie zusammen mit mir erwischen? Dann sind Sie wegen Beihilfe dran. Aber sobald ich etwas weiß, sage ich Ihnen Bescheid.« Er sackte wieder in sich zusammen. »Also gut, Connor. Aber zu Fuß schaffen Sie das nie. Nehmen Sie meinen Dodge.« * Bevor ich Alphonse Baxter, den ersten auf der langen Liste von Kath leens Liebhabern, besuchen würde, wollte ich noch einmal zu Gladys ins Chapell Inn fahren. Während ich auf der North Michigan Avenue dahinrollte, ging mir ihre unheimliche Verwandlung nicht aus dem Kopf. Wie eine Schlange, die sich häutet, war sie mühelos in eine an dere Rolle geschlüpft. Ich ertappte mich dabei, dass ich mir wünschte, ihre Unschuld zu beweisen. Aber ich konnte mir nicht leisten, meine Professionalität zu verlieren. Zu viel stand auf dem Spiel - nicht zuletzt mein Leben. Ich zweifelte nicht daran, dass Francis O'Brian mich finden würde. Und wenn ich ihm dann nicht sagen würde, wo Gladys war, hätte ich ein Problem. 56
Ich fuhr langsamer als üblich, weil ich den Wagen nicht kannte. Einen Unfall oder eine Polizeistreife, die mich anhielt, konnte ich jetzt am allerwenigsten brauchen. Die Rezeption war leer. Alle Schlüssel hingen am Schlüsselbrett, auch der von der Hochzeitssuite. War Gladys etwa ausgegangen? Ich hatte ihr gesagt, sie sollte sich nicht aus dem Zimmer rühren, bis ich zurück war. Owen tauchte auch nicht auf, als ich auf die Klingel auf dem von den Jahren geschwärzten Holztresen schlug. Irgendwo in den Tiefen des Hauses dudelte ein Radio, aber das verstärkte noch den Eindruck der Leblosigkeit. Ich nahm den Schlüssel vom Brett und stieg die Treppe hinauf. Das Hotel wirkte wie ausgestorben. Hinter keiner der Türen war ein Geräusch zu hören. Owens Geschäfte liefen offen bar nicht besser als meine eigenen. Ich schloss die Tür auf. Das Zimmer war leer. Heute Morgen hatte ich Gladys schlafen lassen und einen Zettel auf das Kopfkissen gelegt. Jetzt war beides weg. Das Bett war sorgfältig gemacht. Die Vorhänge waren zurückgezogen, ein Fensterflügel stand auf. Im Tageslicht wirk te das Zimmer noch schäbiger. Ich spürte, wie eine Welle der Wut mich überrollte. Das verfluchte kleine Luder! Sie hatte mich schon wieder reingelegt. Die Tür ging auf. Ich drehte mich um und starrte die blonde Lady an, die ins Zimmer trat. Hatte Owen etwa ein Zimmermädchen? Dann erkannte ich Gladys. Sicher hatte sie noch nie schlechter ausgesehen, niemand, nach dem sich irgendjemand umgesehen hätte. Absoluter Durchschnitt, nicht schön, nicht hässlich. Genauso, wie sie jetzt sein sollte. »Verdammt«, knurrte ich. »Ich hatte ganz vergessen, dass du dir die Haare färben wolltest.« Sie warf eine Tüte aus braunem Packpapier auf das Bett. »Ich ha be eine Zeitung und einen Schlafanzug gekauft. Für dich«, setzte sie leise hinzu. Mein Mund klappte auf. »Na ja, ich bin heute Nacht aufgewacht und ein nackter Mann lag neben mir.« »Ich war nichtnackt. Ich hatte meine Unterhosen an.« 57
»Das nächste Mal hast du einen Schlafanzug.« »Ich habe nicht vor, hier noch weitere Nächte zu verbringen«, sagte ich. »Aber du bist doch auch auf der Flucht, oder nicht?« »Hör zu, Kleines, wir sind hier nicht in einem drittklassigen Krimi nalroman. Ich werde heute die Kerle von deiner Liste besuchen. Wenn dabei nichts rauskommt, gehe ich zur Polizei. Ist das klar?« »Aber mich wirst du doch nicht ausliefern«, sagte sie und stemm te die Arme in die Hüften. »Gestern wolltest du dich noch selbst stellen«, erinnerte ich sie. »Aber jetzt habe ich es mir anders überlegt.« Gladys zeigte auf die Chicago Tribune. »Ich habe nicht die geringste Chance, wenn sie mich schnappen. Ich bin doch schon verurteilt. Ich will nicht sterben.« Vielleicht würde sie mit Mord im Affekt davonkommen und nur le benslänglich kriegen, aber das würde sie im Moment sicher nicht trös ten, also hielt ich den Mund und setzte mich in den Sessel. Bevor ich mit meinen Nachforschungen startete, wollte ich sicher sein, dass Gladys mir alles erzählt hatte. Wir gingen es noch mal durch, wie sie Kathleen gefunden hatte, was sie danach getan hatte. War sie überraschend zurückgekommen? Hatte Kathleen sie zu einer bestimmten Uhrzeit erwartet? Hatte Kathleen ihr von einem abendli chen Besucher erzählt, hatte sie sich für einen Gönner hergerichtet, als Gladys sie zum letzten Mal gesehen hatte und wann war das gewesen? »Wir haben nicht gerade viel zusammen geredet. Ich habe dir doch erzählt, was sie mit Joey gemacht hat«, sagte Gladys genervt. Sie sprang vom Bett auf und lief durch das Zimmer. Zehn Schritte bis zur Wand und wieder zurück. »Aber du kanntest sie doch gut. Immerhin habt ihr ein paar Jahre zusammengewohnt. Ist dir nichts an ihrem Verhalten aufgefallen?«, hakte ich nach. Gladys setzte sich auf die Bettkante, stützte ihr Kinn auf ihre ver schränkten Hände und legte ihre Stirn in hübsche Falten. »Ich weiß nicht. Vielleicht«, murmelte sie nachdenklich. »Kathleen war nervös, ir gendwie aufgeregt, aber ich bin sicher, dass sie keinen ihrer Freunde erwartet hat.« 58
»Warum?« »Sie hat das schwarze Kleid getragen, als ich sie gefunden habe. Das hatte sie schon ewig nicht mehr angehabt. Sie wollte es schon der Heilsarmee schenken, weil sie es so brav fand, aber dann hat sie es immer vergessen. Das alte Ding hätte sie sicher nicht zu einem Rende vouz getragen.« Das hörte sich überzeugend an. Irgendein Glöckchen klingelte bei ihren Worten in meinem Kopf, aber ich konnte es nicht einordnen. Gladys griff nach meinen Luckys und zündete sich eine an. Sie schüttelte die Schuhe von den Füßen und legte die Beine auf das Bett. Ich fing immer wieder von neuem an, versuchte aus Gladys he rauszubekommen, ob sie jemanden kannte, der Kathleen wehtun woll te, ob einer ihrer Freier besonders eifersüchtig oder gekränkt war, ob ihr noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Suchte nach einem Detail, das mir bisher entgangen war und wenn es noch so win zig gewesen wäre. Aber Gladys konnte mir nichts sagen. Oder sie woll te nicht. »Bist du jetzt endlich fertig?«, fragte sie gereizt. Ich zuckte die Achseln. »Denke schon.« »Was wirst du jetzt machen?« »Ich fahre zu den Männern von deiner Liste. Wenn ich bis heute Abend nichts raus gefunden habe, sollten wir zusammen zur Polizei gehen.« Sie sah mich an. Ihre Augen waren immer noch so schwarz wie vor ihrer Verwandlung zur grauen Maus. Plötzlich fand ich sie gar nicht mehr so unscheinbar. Im Zimmer war es plötzlich heiß und stickig. Mein Blick fiel auf den Schafanzug, der zusammengefaltet auf dem zweiten Kopfkissen lag. Wie würde es sein, nach Hause zu kommen, zu einer Frau und einem Bett, in dem ein Schlafanzug lag, den sie ge kauft hatte? Ich räusperte mich, stand auf und ging zur Tür. »Bleib im Zimmer. Owen wird dir etwas zu essen bringen.« Ich drehte mich nicht um. Vor dem Hotel wartete der braune Dodge. Ich stieg ein und blieb einen Moment still sitzen. Dann drehte ich den Schlüssel um. Der Mo tor stieß sein heiseres Husten aus und ich fuhr los in Richtung North 59
Side, zu Alphonse Baxter, dem ersten Namen auf der Liste. Dann über legte ich es mir anders und beschloss, zuerst Mike Hutchinson zu be suchen, Nummer zwei auf der Liste von Kathleens Liebhabern. Seine Fleischerei war in der Nähe der Stock Yards und lag näher. * Eine große Glasscheibe gab den Blick frei auf eine Theke voller Fleischstücke. Zwei Frauen, eine junge magere Bohnenstange und eine ältere Matrone, bedienten die Kundinnen. Geschäftig liefen sie in ihren weißen Kitteln herum, hackten, wogen und packten das Fleisch in Wachspapier. Ihre Haare waren unter weißen Tüchern versteckt. Ich stellte mich geduldig in der Schlange der Hausfrauen an. »Was darf's denn sein, der Herr?«, fragte mich die Jüngere, als ich an der Reihe war. »Ich suche Ihren Chef, Mister Hutchinson«, sagte ich und bedach te sie mit einem unwiderstehlichen Lächeln. »Weiß nicht«, antwortete die Kleine und ließ ihren Blick verwirrt über das Fleisch in der Theke schweifen, so als würde sie überlegen, ob Hutchinson vielleicht zu ihrem Angebot gehören würde. »Hinten«, rief die Ältere hilfreich herüber. »Holt den Schinken.« Ich bedankte mich und verließ das Geschäft. Dankbar nahm ich einen tiefen Zug von der frischen Großstadtluft und ging um das Haus herum. Im Hof war ein großer Schuppen, vermutlich der Kühlraum, in dem das Fleisch gelagert wurde. Ich blickte mich um, dann ging ich langsam über den Hof. Das breite zweiflügelige Eisentor war geschlos sen. Ich klopfte. Niemand regierte. Ich drückte die Klinke herunter, öffnete die schwere Tür einen Spalt und steckte meinen Kopf in den Schuppen. Der Geruch nach Blut und totem Fleisch nahm mir fast den Atem. Ich holte durch den Mund Luft und sah mich um. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Schweinehälften hingen an Haken von der Decke, in einem Regal wa ren Würste aufgestapelt. 60
Dann sah ich Hutchinson. Er würde keinen Schinken mehr in den Laden bringen. Er lag auf dem Boden. Irgendjemand hatte ihn der Länge nach aufgeschlitzt. Seine Innereien hatten sich auf dem Beton boden verteilt. Auch wenn man ihm seinen Zustand zugute hielt, war Hutchinson zu Lebzeiten sicher kein gut aussehender Mann gewesen. Er war sehr großzügig gewesen, hatte Gladys erklärt. Er hatte mit Begeisterung ein Vermögen für Kathleen ausgegeben. Hutchinson war einer ihrer ersten Kunden gewesen. Vielleicht hatte sie damals noch nicht das Selbstbewusstsein besessen, das auch reiche und attraktive re Männer für ihre Leistungen zahlen würden. Der Fleischer lag auf dem Rücken, halb zur Seite gedreht. Ein Schlachtermesser, vermutlich eins von Hutchinsons eigenen, steckte noch in seinem Bauch. Er konnte noch nicht lange tot sein, denn das Blut war noch nicht geronnen. Mit Widerwillen berührte ich seine Haut. Sie war so feucht, wie sie aussah. Trotz der Kühle im Lagerraum war die Leiche noch warm. Ich musste den Mörder um wenige Minuten verpasst haben. Ich nahm den Raum gründlich unter die Lupe, aber ich entdeckte keine Hinweise auf den Mörder. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich Gladys warnen sollte. Ich lief zum nächsten Coffeeshop. Aber zuerst musste ich die Polizei informieren, da half alles nichts. Nachdem ich das erledigt hat te, rief ich Owen an. »Oh, Mr. Connor, was...«, fing der Hotelbesitzer an zu plaudern. »Hören Sie zu! Ich habe nicht viel Zeit.« Ich erklärte ihm, wie ich den Fleischer gefunden hatte und jetzt vermutlich wegen Mordver dachts verhaftet werden würde. »Wenn Sie bis heute Abend nichts von mir hören, kümmern Sie sich bitte um Gladys. Bis dahin sagen Sie ihr kein Wort.« Wer weiß, was die Kleine anstellen würde, wenn sie die neue schlechte Nachricht bekommen würde. »Sie sind verhaftet, Mister Connor!«, rief Owen entsetzt. »Nein, aber das kann sich nur noch um Minuten handeln. Aber die Cops müssen mich wieder laufen lassen. Fragt sich nur, wann. Ich werde Ihnen alles erklären, wenn sich die Lage beruhigt hat, Owen. Bitte richten Sie Gladys aus, dass sie sich der Polizei stellen muss. Aber 61
sagen Sie Ihr auch, dass die Cops von mir kein Wort über sie erfahren werden.« »Alles klar, Mr. Connor.« Ich wusste, ich konnte mich auf den Hotelier verlassen. Ich ging die wenigen Meter zum Lagerraum zurück, steckte mir eine Lucky an und wartete auf Quirrer. Fünf Minuten später hörte ich die Sirenen der Polizeifahrzeuge. Er hatte das ganze Team mitgebracht. Die Unifor mierten verteilten sich. Sofort wirkte der Raum überfüllt. Manchmal hatte ich den Eindruck, Polizisten wären breiter als normale Menschen. Angewidert sah Quirrer sich die Leiche an. »Da haben Sie eine schöne Sauerei veranstaltet, Connor«, wandte er sich an mich. Er sah so fertig aus, wie ich mich fühlte. Vielleicht hatte meine Entführung ihm eine schlaflose Nacht bereitet. »Glauben Sie nicht, dass Hollyfield Sie diesmal retten wird.« Ich nickte müde. »Schon klar, Quirrer.« »Connor! Ich hatte schon befürchtet, dass wir Sie mit der Entfüh rung nicht losgeworden sind«, sagte eine bekannte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Captain Hollyfield. »Ich habe gehört, dass Sie wieder aufgetaucht sind und zwar mit einer übel zu gerichteten Leiche.« Er warf einen Blick auf den Fleischer. »Ich habe eine Unmenge Fragen an Sie.« »Schießen Sie los. Vielleicht kann ich einige beantworten.« Ich zuckte mit den Schultern. »Kommen Sie.« Er legte mir schwer seine Pranke auf die Schulter und schob mich zur Tür. »Captain! Endlich haben wir den Kerl!« Quirrers Stimme war schrill, wie kurz vor dem Überschnappen. »Was haben Sie jetzt mit Connor vor?« »Wir zwei werden uns unterhalten.« Quirrer blickte uns nach, als würde er sich wünschen, ich wäre die nächste aufgeschlitzte Leiche. * 62
Jetzt konnte mir nur noch die Wahrheit helfen. Zumindest ein Teil da von. Am Ende der Straße gab es ein Diner und Hollyfield und ich setz ten uns rein. Ich wusste nicht, wann ich wieder etwas zu essen be kommen würde und bestellte ein Schinken-Käse-Sandwich und einen Kaffee. Hollyfield wählte ein Blaubeermuff in und ebenfalls Kaffee. Ich erzählte ihm von den Italienern, Danny Fitzgerald und seinem Wachschutz, den Iren, die aus unbekannten Gründen nach Gladys suchten und versicherte ihm ein paar Mal, dass ich keine Ahnung von ihrem Aufenthaltsort hätte. Hollyfield wirkte nicht ganz überzeugt. »Wo waren Sie in der ver gangenen Nacht?« »Ich bin rum gelaufen, wusste nicht, wohin. Heute Morgen bin ich dann zu Brannigan gegangen. Er hat mir seinen Wagen geliehen und ich bin auf direktem Weg hierher gefahren.« »Rumgelaufen«, wiederholte er. »Hm. Was wollten Sie bei Hut chinson?« »Er war einer von Kathleens Freunden. Gladys hat mir bei unse rem ersten Treffen eine Liste von ihren zahlenden Liebhabern ge macht.« »Die Sie uns verschwiegen haben«, bemerkte er. »Habe ich glatt vergessen«, sagte ich, leerte die Tasse und gab der Bedienung ein Zeichen, sie noch einmal zu füllen. Hollyfield wartete, bis die Kellnerin mit der Kaffeekanne wieder unseren Tisch verlassen hatte. »Geben Sie mir die Liste.« Ich steckte die Hand in die Tasche. Als ich den zerknitterten Zettel zwischen meinen Fingern spürte, fiel mir ein, dass Gladys die Namen auf das Hotelpapier des Chapell Inn geschrieben hatte. »Sorry, Cap tain, ich habe ihn nicht dabei. Aber ich kenne die Namen auswendig. Ich kann sie Ihnen aufschreiben.« Hollyfield reichte mir einen Stift und ich notierte die Namen auf ei ner Papierserviette. Er überflog die Liste. »Sind einige Berühmtheiten der Chicagoer Lokalprominenz dabei. Könnte bei der ganzen Sache um Geld gehen«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht wollte die ermordete Lady einige ihrer Kunden erpressen, einer hat nicht mitgespielt und jetzt versucht irgendjemand, vielleicht 63
ihr Mörder, mit der Erpressung weiterzumachen. Jemand, der die Na men ihrer Kunden kennt.« Er sah mich an. Die Theorie hatte noch ein paar Schwachstellen, fand ich. Ich nickte bedächtig. »Kann schon sein, dass Sie damit Recht haben, Cap tain, aber wie bringt das die Iren in die ganze Sache?« »Wer außer Ihnen weiß noch von dieser Liste?«, fragte Hollyfield. »Niemand außer Brannigan. Ich glaube, ich habe sie ihm gegen über erwähnt, aber er hat sie nie gesehen. Er kennt auch nicht die Namen.« »Glauben Sie, dass das Ganze das Werk von einem einzigen Täter ist?«, fragte Hollyfield. »Zwei wären doch ein bisschen viel.« »Falls es nur einen Mörder gibt, würde ich auf Miss Wyman tip pen«, sagte Hollyfield nachdenklich. »Sie ist die Hauptverdächtige bei dem Mord an ihrer Wohnungskollegin und kennt die Namen ihrer Kun den, aber irgendwie passt dieser letzte Mord nicht ganz zu einer La dy.« Wir dachten beide an Hutchinson, der in seinen eigenen Innereien gelegen hatte. Hollyfield seufzte und trank seinen Kaffee aus. Ich be stellte noch ein Sandwich. »Wo war das Lagerhaus, in das die Italiener Sie gebracht ha ben?«, fragte Hollyfield, nachdem wir eine Weile vor uns hin ge schwiegen hatten. Ich beschrieb ihm so gut ich konnte die Lage des Schuppens auf dem Hafengelände, in dem ich den kanadischen Whiskey entdeckt hatte. »Passen Sie auf sich auf, Connor.« Der Captain stand auf. Mir fielen die Rocky Mountains vom Herzen. Offenbar hatte er nicht vor, mich zu verhaften. Aber ich wollte ihn unbedingt zum Tatort begleiten. Vielleicht gab es inzwischen Hinweise auf den Täter. Ich war überzeugt, dass derjenige, der Hutchinson zerlegt hatte, auch Kath leen Lambert auf dem Gewissen hatte. Hatte ich seinen Namen, war Gladys aus dem Schneider und ich hatte mir ein saftiges Honorar ver dient. 64
»Warten Sie, Captain, ich komme mit Ihnen.« Ich stand auf, warf ein paar Münzen auf den Tisch und eilte ihm hinterher. * »Nichts! Nicht einmal eine Flasche Wasser war in dem verdammten Lagerhaus.« Hollyfield hieb mit der flachen Hand so fest auf seinen Schreibtisch, dass Radiergummis und Stifte tanzten. Im Büro des Captains war es duster wie in einer Bärenhöhle. Zum Schutz gegen das gleißende Licht und die Hitze, die sich in den Stra ßen staute, hatte er die Jalousien vor den Scheiben heruntergelassen. »Die haben den Bourbon inzwischen verschwinden lassen«, mur melte ich und hoffte, dass meine Glaubwürdigkeit nicht noch mehr angekratzt worden war. Hollyfield hatte seine Leute zu dem Lager schuppen geschickt, aber die Whiskey-Kisten waren samt Inhalt spur los verschwunden. »Sind Sie sicher, dass Ihnen nicht doch noch etwas zum Aufent haltsort von Gladys Wyman einfällt?«, fragte er. »Ich würde es Ihnen doch sofort sagen, wenn ich etwas wüsste, Captain«, beteuerte ich. Hollyfield verdrehte die Augen. »Was werden Sie jetzt tun, wenn ich Sie laufen lasse?«, fragte er. Ich dachte einen Moment nach. »Den Nächsten von Gladys' Liste besuchen«, antwortete ich dann ehrlich. Er würde mir sowieso seine Leute an die Fersen kleben, also konnte ich es ihm genauso gut gleich erzählen. »Verschwinden Sie, Connor, bevor ich's mir anders überlege.« * Alphonse Baxter war der Besitzer des Nachtclubs, in dem Kathleen aufgetreten war. Eine Weile hatte sie ein Verhältnis mit ihm gehabt, dann hatten sie sich getrennt - laut Gladys in gegenseitigem Einer nehmen. Er hatte die neueste und jüngste Tänzerin zur Geliebten ge 65
nommen, Kathleen hatte einen lukrativeren Gönner gefunden. Angeb lich waren sie gute Freunde geblieben. Es war noch früh, also hoffte ich, Baxter noch zu Hause anzutref fen. Ich hielt vor einem großen neuen Backsteinhaus. Auf der Fahrt hierher hatte ich mir einen Spaß daraus gemacht, kreuz und quer durch die City zu jagen, aber ich bezweifelte nicht, dass Quirrers Leute an mir drangeblieben waren. Ich stieg aus und versuchte, einige von ihnen zu entdecken, aber entweder waren sie gut getarnt oder ich hatte sie doch abgehängt. Ich grinste, als ich mir Quirrers Gesicht vor stellte. Baxters Name stand neben einem der vier Klingelschilder aus glänzendem Messing. Die Wohnungen mussten so riesig wie Konzert säle sein. In diesem Haus hätte man mühelos zwanzig Großfamilien unterbringen können. Baxters Klingel war die oberste gewesen, also vermutete ich, dass er im vierten Stock wohnte. Ich drückte den Auf zugknopf und stieg in den eleganten schmiedeeisernen Käfig. Fast geräuschlos setzte er sich in Bewegung und glitt nach oben. Alphonse Baxter erwartete mich bereits in der geöffneten Tür. Offenbar hatte er weder Besuch erwartet, noch sich für die Arbeit umgekleidet. Über einem schwarzseidenen Schlafanzug trug er einen schwarz-weiß gestreiften Hausmantel. In seinem Gesicht hatten zu viel Alkohol und zu lange Nächte bereits ihre Spuren hinterlassen. Unter der schwarzen Seide zeichnete sich ein ausgeprägter Bauchansatz ab. Sein glattes schwarzes Haar hatte er nach hinten gekämmt, aber ei nige Strähnen fielen ihm in die Stirn. Er konnte nicht mehr direkt als Beau durchgehen, aber er sah immer noch gut aus. Genau der Typ, auf den die Ladys stehen. »Mein Name ist Pat Connor, private Ermittlungen«, stellte ich mich vor. Ich hatte mich entschlossen, es mit der Wahrheit zu versuchen. Vielleicht würde er mir aus alter Freundschaft zu Kathleen helfen, ihren Mörder zu finden. »Ich arbeite für den Bruder von Kathleen Lambert.« »Und was wollen Sie bei mir?« Sein Gesicht zeigte flüchtige Verär gerung. Seine Aussprache war leicht verschwommen und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Vielleicht hatte ihn der Mord an seiner ehe maligen Geliebten und Star-Tänzerin mitgenommen, oder er hatte ein 66
anderes Problem. Auf jeden Fall sah er nicht so aus, als ob er scharf darauf wäre, mit mir zu reden. Er ging einen Schritt zurück und runzelte gereizt die Stirn. Ich trat einen Schritt näher. »Ich halte Sie nicht lange auf, Mister Baxter«, sag te ich schnell, bevor er die Tür schließen konnte. »Kathleen Lambert hat vor ihrem Tod für Sie gearbeitet, außerdem habe ich gehört, dass Sie und Kathleen miteinander befreundet waren. Ich hatte gehofft, dass Sie mir vielleicht irgendetwas über sie erzählen könnten.« »Ich weiß nichts über den Mord. Nicht mehr, als dass Kathleen er schossen wurde. Guten Tag.« Er wollte die Tür schließen, doch ich trat schnell noch einen Schritt vor, direkt auf die Türschwelle. Wie unabsichtlich stützte ich meinen Arm in den Türrahmen. Wenn er sie jetzt schließen wollte, musste er mir schon den Arm bre chen. Er sah mich an, als wäre ihm das eine große Freude. »Mister Baxter, Sie wissen sicher eine Menge über Kathleen. Das würde mir schon helfen.« Plötzlich fiel sein arrogantes Gehabe in sich zusammen und er sah traurig aus. Er ließ die Arme sinken und starrte auf seine seidenen Hauspantoffeln. »Die arme Kleine. Es ist einfach entsetzlich.« Einen Moment lang glaubte ich, er würde in Tränen ausbrechen. Dann trat er zurück und öffnete die Tür. »Also gut. Kommen Sie herein, Mister Connor.« Wir gingen durch einen Salon, der vorwiegend in Braun und Gold gehalten war. In der Mitte des Raums stand ein Billardtisch. Schwere Brokatvorhänge rahmten die deckenhohen Fenster. Von der Decke hing ein gigantischer, funkelnder Kronleuchter. Die Wände waren holzgetäfelt und ließen den Raum trotz seiner Ausmaße gemütlich wir ken. Wir gingen weiter, durch ein kleineres Zimmer, das schließlich zu einer Art Büro führte. In diesem Arbeitszimmer hätte man mein ganzes Büro zweimal unterbringen können. Im Gegensatz zu der überladenen Einrichtung des Salons war der Raum fast leer. Die Wände waren ebenfalls mit Holz getäfelt. Ein rie siger, geschnitzter Schreibtisch, zwei ausladende Ledersessel vor ei nem Kamin, ein Bücherschrank bis zur Decke und ein gut bestückter Barwagen waren die ganze Einrichtung. Dunkelgrüner Samt vor den 67
Fenstern ließ den Raum kühl und schattig wie ein Wäldchen wirken. Baxter nahm ein Glas vom Barwagen, goss sich einen Bourbon ein und ließ sich in einen der Sessel fallen. Mir bot er weder Drink noch Platz an. Ich setzte mich ihm gegenüber. »Ich glaube nicht, dass Sie wegen Kathleen kommen. Sie sind das miese Schwein, das mich erpressen will«, sagte Baxter tonlos und blickte mich über sein Glas an. Ich kam zu dem Schluss, dass ich noch eine Weile bleiben würde. Wortlos stand ich auf, nahm mir auch einen Drink und setzte mich wieder. »Was sagen Sie da von einer Erpressung?«, fragte ich dann. »Verarschen Sie mich nicht, Mister!« An Baxters Schläfe pochte eine Ader, seine gesunde Gesichtsfarbe hatte in ein Scharlachrot ge wechselt, er atmete stoßweise. Offenbar brodelte es unter der ruhigen Oberfläche. Ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein. Baxter konnte jeden Augenblick explodieren, wenn ich das Falsche sagte. »Ich bin nur wegen einiger Informationen über Kathleen gekom men, Mister Baxter. Ich weiß nichts von einer Erpressung«, sagte ich ruhig, »aber lassen Sie uns in Ruhe zusammen reden. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er schnaubte verächtlich. »Sie - mir helfen! Warum sollten Sie das tun?« Doch seine Gesichtsfarbe wurde langsam wieder etwas blasser. Er nahm einen kräftigen Schluck und sein Atem wurde ruhiger. »Ich werde sowieso nicht zahlen. Auch wenn das Ärger bedeutet. Ich kenne ein paar einflussreiche Leute, die dafür sorgen werden, dass der Club nicht dichtgemacht wird. Selbst wenn ich jede Menge Scherereien be kommen sollte, ist das immer noch besser, als zu zahlen und so einem miesen kleinen Dreckschwein ausgeliefert zu sein.« »Da haben Sie völlig Recht«, stimmte ich ihm überzeugt zu. Er hob den Kopf von seinem Glas und sah mich an, als würde er gerade aufwachen. »Was, sagten Sie, sind Sie? Ein Privat-Schnüffler?« Ich nickte. »Ich bin Privatdetektiv und suche nach Kathleen Lam berts Mörder.« Er nahm eine armdicke Zigarre aus einem Kästchen und drehte sie knisternd zwischen den Fingern. »Rauchen Sie?« Er bot mir die Schachtel an. 68
Ich griff zu. Eine Weile waren wir mit dem Ritual des Anzündens beschäftigt. Tabakschwaden wehten wie die Schleier einer Bauchtän zerin durch den Raum. Schließlich lehnte Baxter sich zurück und sah mich an. »Warum kommen Sie zu mir?«, wiederholte er seine Frage. »Ich würde gern Ihre Meinung zu dem Mordfall hören.« »Und mit der Erpressung haben Sie wirklich nichts zu tun? Ein seltsamer Zufall, dass Sie gerade jetzt hier auftauchen. Es tut mir wirk lich sehr Leid, aber ich kann Ihnen gar nichts sagen.« Baxter blickte auf die Uhr neben der Tür. Der gemütliche Teil war offenbar beendet. »War nett, mit Ihnen zu plaudern, Mister... äh....« »Connor«, half ich ihm weiter. »Noch fünf Minuten, Mister Baxter. Ich habe gehört, dass Kathleen eine gute Freundin von Ihnen war. Ist es Ihnen wirklich so gleichgültig, ob ihr Mörder gefunden wird?«, frag te ich und leerte mein Glas. Der Bourbon war wirklich ausgezeichnet. Ich stand auf und schenkte mir nach. »Außerdem - wenn es Sie schon einen Dreck kümmert, wer Kathleen getötet hat, sollten Sie aus Sorge um Ihre eigene Gesundheit mit mir reden. Gerade ist der erste von Kathleens Exliebhabern abgeschlachtet worden und Sie werden offen bar von irgendjemandem erpresst. Ich glaube nicht an Zufälle. Sie sollten sehr vorsichtig sein.« Zu meinem Erstaunen grinste Baxter, immer breiter, bis er anfing laut zu lachen. Wahrscheinlich war alles ein bisschen viel für ihn gewe sen. »Sie sind wirklich überzeugend, Mister Connor. Okay. Also reden wir.« Er stand auf, nahm ein Blatt von seinem Schreibtisch und reichte es mir. »Sehen Sie! Das ist unter meiner Tür durchgeschoben wor den.« Die Wörter der Nachricht waren aus einer Zeitung ausgeschnitten und fein säuberlich auf das Blatt geklebt worden. Sah richtig nett aus, wie eine hübsche Handarbeit aus dem Kindergarten, aber der Inhalt war ganz und gar nicht nett: Ich weiß alles und ich kann es beweisen.
Dein Laden wird dichtgemacht und du wanderst ins Gefängnis. Wenn du nicht zahlst, mache ich dich fertig. 5000 Dollar heute um 23.00 Uhr am Hafen, Lagerhalle 86. 69
Das Ganze war ziemlich vage gehalten, fand ich. Vielleicht bluffte der Erpresser nur und wusste nichts über Baxters Geschäfte oder Lieb schaften oder was immer hier gemeint sein sollte. Oder er hatte ein fach den Spaß am Basteln verloren. »Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte ich. Baxter lachte wieder. »Gar nichts. Ich habe keine Ahnung, wovon der Kerl spricht. Aber was sollte mir schon passieren? Ich habe keine Ehefrau, die sich für meine Freundinnen interessieren könnte und was immer sich im Club abspielt - ein paar wichtige Leute werden dafür sorgen, dass nichts davon nach außen dringt. Sonst würden einige Be rühmtheiten mit mir baden gehen. Schlimmstenfalls muss ich aus der Stadt verschwinden, aber das wäre immer noch besser, als mich so ei nem dreckigen Erpresser auszuliefern.« Mit neuem Respekt sah ich Baxter an. Der Mann hatte Grundsätze. »Wann haben Sie den Erpresserbrief erhalten?«, fragte ich ihn. »Vor ungefähr einer Stunde. Kurz bevor Sie aufgetaucht sind. Darum dachte ich auch, dass Sie damit zu tun hätten«, erwiderte er. Nach dem Mord an dem Fleischer war er also hierher gekommen, ü berlegte ich. Zweimal hatte ich ihn knapp verpasst. »War der Brief in einem Umschlag?« Baxter nickte. »Einfacher weißer Umschlag, billiges Papier, kein Poststempel, nichts.« Ich sah ihn mir selbst noch einmal gründlich an, aber Baxter hatte Recht. Kein Hinweis auf die Identität des Erpressers. Dennoch war ich überzeugt, dass es sich um den Mörder von Kathleen und Hutchinson handelte. Baxter stand auf. »Ich muss in einer Stunde im Club sein, bitte entschuldigen Sie mich, Mr. Connor. Wenn es sonst nichts mehr gibt...« Er sah mich auffordernd an. Ich leerte mein Glas, etwas bedauernd. Hier hätte ich noch eine Weile sitzen und den exzellenten Bourbon schlürfen können. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen.« »Ich habe nur noch eine letzte Frage, Mister Baxter: Haben Sie ei nen Verdacht, wer Kathleen getötet haben könnte? Hatte sie vielleicht 70
einen besonderen Feind, jemanden, den sie in der letzten Zeit verär gert hat?«, fragte ich. Baxter grinste wieder. Seine Augen schienen in die Vergangenheit zu blicken. »Ich glaube nicht. Wissen Sie, Kathy hatte ein Talent, sich Freunde zu machen. Selbst wenn sie einen Liebhaber abserviert hat, dachte er noch, sie tue ihm damit einen Gefallen. Sie war ein ver dammt kluges Mädchen.« Er dachte einen Moment nach. »Vielleicht hat sie ein paar Ladys verärgert, mit deren Ehemännern sie ins Bett gestiegen ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine ehrsame Dame der Gesellschaft so ein Gemetzel veranstalten würde. Und für einen Auftragskiller ist die ganze Sache zu unprofessionell. Außerdem sind die meisten der Ladys aus der High Society insgeheim doch ganz froh, wenn ihnen eine andere die lästige Pflicht im Schlafzimmer ab nimmt, zumindest, solange es dezent abläuft.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Der Mann hatte nicht nur Grundsätze, sondern auch Humor. Ein bisschen zu viel für meinen Geschmack. Ich wartete, bis er aufgehört hatte zu lachen. »Kennen Sie Gladys Wyman?« Baxter schüttelte den Kopf. »Ist das nicht die Kleine, mit der Ka thy die Wohnung geteilt hat? Nein, leider nicht. Muss ein ganz flotter Käfer gewesen sein, aber sie ist nie in den Club gekommen.« Wir schüttelten uns die Hände. Ich war gespannt, ob auch der Nächste auf meiner Liste einen Erpresserbrief bekommen hatte. * Als ich aus der Tür trat, fiel mir ein Mann im Hauseingang gegenüber auf. Er trug einen dunklen Anzug und einen Hut mit breiter Krempe, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Als er mich entdeckte, drehte er sich um, studierte die Klingelschilder und drückte anschei nend auf eine der Klingeln. Ungeduldig, als würde er darauf warten, dass ihm geöffnet wurde, trat er von einem Fuß auf den anderen. Ich blickte mich um. Er konnte nicht der Einzige sein. Ein schnauzbärtiger junger Mann stand am Zeitungskiosk ein Stück die Straße runter und studierte die Schlagzeilen. In einem blauen Ply 71
mouth saßen zwei Männer und unterhielten sich offenbar angeregt. Im Idealfall waren es Cops. Beppo war sicher noch nicht so weit auf den Beinen, dass ich ihn und seinen Kumpel Alessandro erwarten konnte, aber langsam wurde es auch Zeit für die Iren, sich wie versprochen wieder bei mir zu melden. Als ich mir sicher war, dass niemand in mei ner unmittelbaren Nähe war, ging ich zügig zu Brannigans Dodge, stieg ein und fuhr los. Ich sah in den Rückspiegel. Auf der Straße brach Hektik aus. Der Kerl mit dem breitkrempigen Hut verständigte sich mit einem Handzei chen mit dem Mann am Zeitungskiosk und sie liefen zu einem dunklen Auburn. Die beiden Männer folgten mir in einigem Abstand. Ich beschloss, das Grüppchen abzuhängen und fuhr zu Dunky. Ich parkte vor dem Speakeasy, ging rein und setzte mich auf einen Platz am Tresen, der von draußen nicht zu sehen war. Der Laden war gut gefüllt. Dunky stellte mir einen Drink hin und kümmerte sich um seine anderen Gäste. Durch das Fenster könnte ich sehen, dass die Jungs draußen wie der in Position gegangen waren. Ich kippte den Bourbon, legte einen Dollar auf den Tresen und ging zu den Toiletten. Sie rochen nicht gut, aber sie lagen im Erdgeschoss und eine der Kabinen hatte ein schönes Fenster zum Hof. Der Nachteil war, dass ich, um unauffällig zu ver schwinden, den Dodge vor dem Speakeasy stehen lassen musste. Aber damit konnte ich leben. Ich stieg auf die Toilettenschüssel, öffnete das schmierige Fenster und versuchte, mich nach draußen zu zwängen, ohne meinen Anzug endgültig zu ruinieren. Ich landete unsanft auf dem asphaltierten Boden im Hof und verließ ihn durch eine Toreinfahrt im gegenüberliegenden Haus. Es geht doch nichts über eine gute Ortskenntnis, beglückwünschte ich mich und hielt nach einem Taxi Ausschau. Statt des Taxis näherte sich ein Packard, das neueste LuxusModell, nachtschwarz lackiert, die Felgen blitzten wie Sterlings-Silber. Der Packard holte mich ein, bremste ab und fuhr auf gleicher Höhe weiter. Ich sah mich um. Bis auf eine junge Mutter mit Kinderwagen, die mit ihrem Baby schäkerte und für den Rest der Welt blind war, war die Straße wie ausgestorben. Die Limousine überholte mich, hielt an, 72
die Beifahrertür wurde geöffnet und ein junger Mann stieg aus. Fast war ich erleichtert, als ich den schmächtigen Bodyguard von O'Brian erkannte. Zumindest wartete diesmal keine Überraschung auf mich. Dachte ich. »Einsteigen!«, knurrte der Bodyguard. Er hielt mir mit der linken Hand die hintere Wagentür auf, die an dere steckte unter seinem Jackett. Eine deutliche Beule unter der Ja cke zeigte mir, dass ich einen Fluchtversuch bereuen würde. Ich stieg ein und ließ mich vorsichtig auf dem weichen Ledersitz nieder. Die Tür wurde hinter mir zugeknallt. Ich warf einen kurzen Blick darauf und sah, dass die inneren Griffe entfernt waren. Zwischen den Vordersitzen und dem Fond der Limousine war eine Trennscheibe. Neben mir auf dem Polster saß Francis O'Brian. Er betrachtete mich neugierig, wie einen aufgespießten Schmetterling, der noch mit den Flügeln zuckte. Er trug einen weißen Anzug mit seidener Weste, in dem er wie ein Eisberg aussah. Ich fühlte mich ausgesprochen unwohl. Der Fahrer, von dem ich nur einen Stiernacken und einen kano nenkugelgroßen Kopf mit Hut erkennen konnte, fuhr los. Ich wartete. Eine Ewigkeit, wie mir schien. Die Häuser der City glitten langsam am Wagenfenster vorbei. Wohin auch immer wir wollten, wir hatten es nicht eilig. Endlich beugte O'Brian sich zu mir. »Ich will Gladys Wyman«, sag te er heiser. Das hatte ich befürchtet. Ich suchte nach einem Plan, aber mir fiel nichts ein. »Warum?«, fragte ich liebenswürdig. »Um sie auch umzu bringen? So wie Kathleen Lambert?«, ließ ich einen Versuchsballon los. O'Brian zuckte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. »Kathleen! Wie können Sie es wagen! Mein kleines Mädchen!« Seine kleinen Au gen, die tief in den Speckwülsten lagen, glänzten feucht. Ich verstand gar nichts von seinem Gefasel. Aber anscheinend war er nicht Kathleens Mörder. »Was wollen Sie von Gladys?«, fragte ich noch einmal. »Ich will sie ansehen. Einfach nur anblicken.« Der Kerl war ganz offensichtlich wahnsinnig. »Ich könnte Ihnen ein Foto von ihr besorgen«, bot ich ihm an. 73
O'Brian stieß einen Wurstfinger in meinen Arm. »Ich muss in ihre Augen sehen. Dann weiß ich, ob sie getötet hat. Ob sie meine kleine Kathleen umgebracht hat. Wenn das Mädchen unschuldig ist, lasse ich es laufen. Ich kann in den Augen eines Menschen seine Seele sehen«, behauptete er selbstbewusst. »Sie, zum Beispiel, sind kein Mörder. Sie sind ein Loser.« Er kicherte. »Sie sind nicht fähig, jemanden eiskalt zu töten.« »Und was passiert, wenn Sie die Lady für schuldig halten?«, kam ich wieder zum Thema zurück. Ich traute seiner Menschenkenntnis nicht besonders. »Dann wird sie sterben. Genau wie mein Baby.« Damit meinte er vermutlich Kathleen Lambert. Mich hatte die Lady nicht gerade an ein Baby erinnert. Ich wunderte mich wieder einmal, was Männer in Frauen alles sehen konnten. »Sie bekommen 1000 Dollar für Miss Wymans Aufenthaltsort«, sagte O'Brian. Seine Rache war ihm eine Menge wert. Wahrscheinlich war er Kathleens letzter Liebhaber gewesen und kam nicht über ihren Verlust hinweg. Ich versuchte, die Vorstellung von dem fetten Kerl neben mir und Kathleens makellosem Körper, schwitzend, keuchend, ineinander verschlungen, zu verdrängen, bevor mir übel wurde. »Warum wollen Sie den Mord an Kathleen Lambert rächen?« Ich erwartete keine ehrliche Antwort, aber ich versuchte, Zeit zu gewinnen. Noch hatte ich keine Idee, wie ich aus dieser Situation wie der herauskommen sollte. »Ich will die Wahrheit wissen, bevor ich Ihnen helfe. Warum sind Sie so scharf darauf, dass Kathleens Tod gerächt wird?«, versuchte ich es weiter. Ich stellte fest, dass das sogar stimmte. Ich war in diesem Fall mittlerweile zu oft überfallen, entführt, zusammengeschlagen und fast getötet worden, ohne dass ich der Wahrheit auch nur ein Stück näher gekommen war. Immer, wenn ich dachte, ich hätte eine winzige Spur gefunden, verschwand sie auch schon wieder, wie hinter einer dicken Nebelwand. Wenn ich schon sterben musste, wollte ich wenigstens wissen, was passiert war. 74
O'Brian sah mich scharf an. »Und dann, wenn ich Ihnen die Wahrheit erzähle, werden Sie mir dann sagen, wo Miss Wyman ist?« Ich zuckte die Achseln und schwieg. O'Brian öffnete eine kleine Tür, die vor unseren Sitzen in die Trennwand zum vorderen Wagenbereich eingelassen war. In einem winzigen gepolsterten Schränkchen funkelten Kristallgläser und eine flache silberne Flasche. O'Brian füllte zwei Gläser mit einer goldenen Flüssigkeit und reichte mir eins. Ich schnupperte daran und probierte einen Schluck. Das war der einzige Vorteil an dieser Geschichte: So viel erstklassigen Whiskey wie in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich schon lange nicht mehr getrunken. »Ich will Gerechtigkeit, reicht Ihnen das?«, fragte O'Brian und fuchtelte mit seinem Wurstfinger in der Luft herum. Ich schüttelte den Kopf. »Dafür werde ich Ihnen Gladys nicht lie fern. Gerechtigkeit ist die Sache der Justiz. Für wen halten Sie sich? Für Gott?« Ich seufzte. Ich hörte mich fast wie ein Prediger für Recht und Ordnung an. Mir fiel auf, dass O'Brian schwieg. Ich sah auf, er starrte mich fas sungslos an. Seine Hängebacken bebten bestürzt, sein fleischiger Mund stand auf. »Kathleen war mein Baby, sie war meine Tochter, mein einziges Kind.« Tränen liefen durch seine Falten und tropften auf das blüten weiße Hemd. Ich fühlte mich miserabel. Er tat mir fast Leid, wie er da in seiner ganzen schrecklichen Trauer saß, mit seinen dicken Fingern versuchte, die Tränen abzuwischen, die er um seine Tochter weinte. Allerdings tat er mir nicht so Leid, dass ich ihm gesagt hätte, wo er Gladys finden konnte. Dieser fette Kerl war ein skrupelloser Gangster, hatte sicher die meisten Gesetze in unserem Bundesstaat gebrochen und unzählige Menschenleben auf dem Gewissen. O'Brian zog ein riesiges Taschentuch aus der Jacke und schnauzte sich. »Wollen Sie noch einen?« Erhielt den Flachmann hoch. Ich nick te. Etwas zu essen wäre auch nicht schlecht gewesen. Ich spürte, wie mir der Whiskey langsam in den Kopf stieg. 75
O'Brian goss beide Gläser randvoll. »Es ist eine ganze Weile her. Kathleens Mutter, Jennifer, war meine Geliebte. Irgendwann wurde sie schwanger und ich habe mich von ihr getrennt. Eine banale Sache.« Er seufzte. Sein Blick schien in die Vergangenheit zu blicken. »Aber ich hatte sie wirklich gern. Wäre ich nicht verheiratet gewesen... wer weiß? Ich habe Jenny eine Farm in Alabama gekauft. Sie hatte immer gesagt, ein Stück Land wäre ihr größter Traum. Aber sie hatte ihn mit mir leben wollen. Sie ist nie glücklich geworden.« Er wischte über sei ne Augen. Es war nicht leicht, mir den bebenden Fleischberg als leidenschaft lichen Liebhaber vorzustellen, dem eine Frau hinterher trauerte. »Ich habe die ganzen Jahre über stets gewusst, was Jenny tat und wie es Kathleen ging«, fuhr O'Brianfort. »Jennifer ist nicht zur Ruhe gekommen. Sie hat nie geheiratet, aber sie hatte eine Menge Affären. Drei Jahre nach Kathleens Geburt ist sie noch einmal schwan ger geworden und hat einen Sohn bekommen. Irgendjemand in der Gegend muss ihren Lebenswandel sehr übel genommen haben.« O'B rian schloss die Augen und sprach so leise weiter, dass ich mich zu ihm hinüberbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Als Kathleen zwanzig Jahre alt war - der Junge war achtzehn - ist Jennifer getötet worden. Sie wurde in ihrer Küche erschlagen.« Ich schüttelte eine Lucky aus der Schachtel, riss ein Zündholz an meiner Sohle an und inhalierte tief. Noch eine Leiche. Die Familien chronik der Lamberts war ausgesprochen blutig. »Hat man den Mörder gefunden?« Er schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. »Nein. Vielleicht haben sie ihn auch nicht gesucht. Draußen auf dem Land gelten noch andere Gesetze. Ein paar Wochen nach dem Tod ihrer Mutter ist Kath leen nach Chicago gekommen. Ich habe sie seitdem beobachtet. Sie hatte sich sehr gut gemacht. Sie war ein starkes Mädchen und hatte eine Menge Talent.« Er lächelte stolz. Ich hätte Kathleens Laufbahn etwas anders beschrieben, aber die Menschen waren nun mal verschieden. »Haben Sie mit ihr Kontakt aufgenommen?« 76
Er stöhnte auf wie ein geprügelter Hund. »Nein! Hätte ich es nur getan! Dann wäre sicher alles anders gekommen. Aber ich hatte es vor. Vor einigen Monaten ist meine Frau gestorben. Sie konnte keine Kinder bekommen. Ich wollte Kathleen als Tochter anerkennen, aber ich wusste nicht, ob sie... Ich dachte, sie...« Er brach ab. Ich wusste, was er meinte: Der große Gangster Francis O'Brian hatte einfach Angst gehabt. Angst, dass seine Tochter nach all den Jahren, in denen er nicht für sie da gewesen war, nichts von ihm wis sen wollte. Und jetzt war sie tot. Irgendein Gedanke streifte durch meinen Hinterkopf, aber ich konnte ihn nicht greifen. Etwas an der ganzen Sache war komisch. Nicht nur, dass einige Jahre nach der Mutter auch die Tochter ermor det worden war. Irgendwo war ein Zusammenhang zwischen den Er eignissen. »Wissen Sie, wie Jennifer getötet wurde?«, fragte ich O'Brian. »Sie wurde mit einer Axt erschlagen. Entweder waren es mehrere Täter oder jemand muss rasend gewesen sein. Sie war förmlich zerstü ckelt. Kathleen hat sie gefunden.« O'Brian bedeckte das Gesicht mit den Händen, aber er stöhnte leise, als könnte er die Bilder nicht aus seinem Kopf verscheuchen. Ich dachte an Hutchinson, den ich mit heraushängenden Gedär men gefunden hatte und stieß die Luft aus. Niemand, vor allem kein Mädchen, sollte so etwas sehen. Und dann noch die eigene Mutter! Vielleicht war Kathleen Lambert ein gemeines Luder gewesen, aber sie hatte es verdammt nicht leicht gehabt in ihrem kurzen Leben. »Werden Sie mir jetzt verraten, wo ich Gladys Wyman finde?«, fragte O'Brian. »Sie war es nicht.« »Können Sie das beweisen?« Ich zuckte mit den Achseln. »Noch nicht, aber ich werde den Mör der finden.« »Die Polizei ist sicher, dass sie die Täterin ist.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Wenn ich Informationen will, bekomme ich sie. Ich habe meine Verbindungen.« 77
»Tut mir wirklich Leid, Mister O'Brian, aber ich weiß nicht, wo Miss Wyman sich aufhält. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie mich jetzt aus steigen lassen würden. Ich habe noch andere Termine.« »Nein«, sagte er. »Sie gehen erst, wenn ich die Adresse habe.« In diesem Moment fiel sein Blick auf einen Zeitungsverkäufer. Er wedelte mit dem Titelblatt der Tribune, von dem mich wieder einmal Gladys anschaute. O'Brian klopfte an die Scheibe und machte seinem schmächtigen Lakaien ein Zeichen. Der Wagen hielt am Bordstein. O'Brian kurbelte die Scheibe herunter und kaufte dem Zeitungsjungen eine Sonderausgabe ab. Es war noch ein altes Bild. Gladys' Haar war dunkel wie die Dru ckerschwärze. »Killer-Lady gefasst«, stand in riesigen Buchstaben über ihrem Kopf. O'Brian nickte seinem Bodyguard noch einmal zu und dieser öffne te wortlos die Wagentür. Ich stieg aus und ging langsam davon. Nie mand hielt mich zurück. * Was war passiert? Hatte Gladys sich freiwillig gestellt oder hatte Quir rer sie schließlich doch im Chapell Inn aufgespürt? Vor allem aber ver suchte ich, den Gedanken zu greifen, der seit O'Brians Erzählung wie ein Irrlicht durch meinen Kopf geisterte. Ich wusste, er würde mich der Lösung ein ganzes Stück näher bringen. Schließlich gab ich auf. Am nächsten Kiosk kaufte ich mir eine Tribune und las den Text unter Gla dys' Foto. Ich stutzte. Gladys hatte laut dem Zeitungsbericht die Polizei angerufen und sich selbst gestellt. Sie war im Chapell Inn verhaftet worden. Im Stillen schickte ich eine Entschuldigung an Owen. Aber wahrscheinlich hatte er sowieso keine Gäste gehabt, die sich von der Polizei gestört fühlten konnten. Unter der Matratze im Hotelzimmer war die Tatwaffe gefunden worden, außerdem eine Liste mit Männernamen. Der erste lautete Mi ke Hutchinson - und war rot durchgestrichen. Danach wurde von dem 78
Mord an dem Fleischer berichtet. Wenn nicht ein Wunder passierte, war Gladys geliefert. Wieso war die Tatwaffe unter der Matratze gefunden worden? Ich war sicher, dass sie noch nicht da gewesen war, als ich zum letzten Mal dort war. Wie hätte Gladys sie ins Zimmer bringen sollen? Mir fiel der Einkaufsbummel ein, bei dem sie mir den Schlafanzug gekauft hat te. Aber warum in aller Welt hätte sie die Waffe dorthin legen sollen? Außerdem hatte sie mir die Liste mit den Namen gegeben. Warum sollte sie eine neue schreiben? Um darauf die Namen durchzustrei chen, wenn sie gemordet hatte? Die Lady war alles andere als blöd. Wenn sie wirklich vorgehabt hätte, zehn Männer zu töten, könnte sie sich auch ihre Namen merken und welchen von ihnen sie bereits erle digt hatte. Nein, das ergab alles keinen Sinn. Irgendjemand hatte die Be weisstücke ins Zimmer gebracht, um Gladys zu belasten. O'Brian? Ich schüttelte den Kopf. Wenn er gewusst hätte, wo Gladys war, hätte er mich nicht nach ihr ausgefragt. Aber wer konnte von ihrem Aufent haltsort gewusst haben? War Owen doch nicht so vertrauenswürdig, wie ich geglaubt hat te? Nein, er hätte nie geplaudert, dachte ich. Es blieb nur eine Mög lichkeit: Gladys musste ihren Aufenthaltsort selbst jemandem verraten haben. Dem Mörder, denn nur er konnte im Besitz der Tatwaffe sein. Ich gab auf, allein durch scharfes Nachdenken auf die Lösung zu kommen und fuhr zu Dunky. Ein ordentlicher Bourbon würde meine grauen Zellen auf Hochtouren bringen. * Wortlos stellte Dunky ein gut gefülltes Glas vor mich hin, als ich mei nen Platz am Tresen eingenommen hatte. Heute war nicht viel los. Au ßer mir saß nur ein glatzköpfiger Mann am Tresen, der sich bestens mit sich selbst zu unterhalten schien. Unablässig bewegte er seine Lippen und kicherte hin und wieder vor sich hin, als hätte er sich einen neuen Witz erzählt. 79
Dunky war ausnahmsweise bester Laune. Dennoch verkniff er sich seine kleinen Scherze, nachdem er mir ins Gesicht gesehen hatte. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, erkundigte er sich fast teilnahmsvoll. Er stützte seinen Ellenbogen auf den Tresen und beugte sich zu mir, ein Zeichen für seine ungeteilte Aufmerksam keit. Ich erzählte ihm, was in den letzten vierundzwanzig Stunden pas siert war. Ich wusste, bei Dunky waren Geheimnisse sicherer als in einem Grab. »Kannst du dir vorstellen, dass die Lady sich freiwillig gestellt hat?«, beendete ich meine Story. Ich schob Dunky das Glas zu und ließ es noch einmal füllen. Dunky zog die Brauen hoch und legte seine hohe Stirn in Falten. »Nee«, knurrte er nach einer Weile entschieden. Er war nicht gerade redselig, aber seine Kommentare waren immer zutreffend. Ich war seiner Meinung. Irgendjemand musste Gladys reingelegt haben. * Mir fiel nur einer ein, der mir jetzt helfen konnte: Alphonse Baxter. Als ich den Club erreicht hatte, war es kurz nach neun Uhr. Eine breite Markise spannte sich über dem Eingang und Musik war bis auf die Straße zu hören. Neben mir hielt ein brandneuer Lincoln. Drei Männer in Abendan zügen stiegen aus und gingen in den Club. Ihr Fahrer fuhr ein Stück weiter und hielt dann am Straßenrand. Ich folgte den Männern. An der Garderobe stand eine junge Lady in einem hautengen Schwarzen. Als sie mich sah, gefror ihr liebenswürdiges Lächeln zu einer Grimasse. Auf atemberaubend hohen Absätzen kam sie mit schwingenden Hüften auf mich zu und versperrte mir den Weg. Ihr weißblonder Bubikopf wirkte wie aus Marmor gemeißelt, genau wie ihr atemberaubender Körper. Ich hatte ein trockenes Gefühl im Hals. Wenn das die Garde robenfrau war, wie heiß mussten dann die Gesellschafterinnen sein? »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte sie mit einer rauchigen Stimme. 80
»Ich möchte zu Mister Baxter.« Ich schenkte der Lady mein atem beraubendstes Lächeln. Sie verzog keine Miene. »Tut mir Leid, Sir. Mister Baxter ist nicht im Hause.« »Dann warte ich auf ihn.« Ich wollte an ihr vorbei in den Club raum gehen, doch sie griff nach meinem Ellenbogen und schob mich sanft aber bestimmt zur Tür. »Leider haben wir eine Kleiderordnung, Sir, der Sie nicht ganz entsprechen.« Erst jetzt fiel mir ein, dass ich nach den letzten vierundzwanzig Stunden wie ein Penner aussehen und vermutlich auch riechen muss te. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Bulle von Mann langsam auf uns zukam. Über seinen Schultern, breit wie ein Wandschrank und seinem Stiernacken wirkte sein Kopf wie eine Murmel. »Gibt es Probleme, Lesley?«, fragte er leise. »Ich denke nicht. Der Herr wollte gerade gehen.« Sie hob die ra siermesserdünnen Augenbrauen zu einem makellosen Halbkreis und machte den Satz damit zu einer Frage. Ich war das blöde Getue leid. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. »Sa gen Sie Mister Baxter, dass Pat Connor ihn sprechen möchte. Ich war te draußen. Ihr Boss erwartet mich.« Ich hatte die Türklinke noch in der Hand, als Lesley schon wieder auf mich zu rauschte. »Bitte kommen Sie mit.« Offensichtlich beleidigte mein Aufzug ihr empfindsames Gemüt. Ei lig schob sie mich durch eine schmale Tür in einen Flur. Hier erwartete mich bereits der Bullige. Wortlos öffnete er eine weitere Tür und ließ mich eintreten. Baxter saß hinter seinem Schreibtisch. »Warum kommen Sie her? Langsam werden Sie etwas lästig, Connor«, sagte er nicht unfreundlich. Er bedeutete mir, mich zu set zen. Ich ließ mich in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen und streck te die Beine aus. »Ich brauche Ihre Hilfe.« »Was wollen Sie denn noch, Connor? Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.« 81
»Es geht um die Erpressergeschichte. Sie sollten doch heute A bend die Kohle zu dem Treffpunkt am Hafen bringen.« Baxter füllte zwei Gläser aus einer Kristallflasche und schob eins zu mir über den Tisch. »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nicht im Traum daran denke, diese miese Ratte...« »Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Aber ich bitte Sie, trotz dem zu dem Treffpunkt zu fahren.« »Wieso sollte ich das wohl tun?« »Ich will ihn schnappen.« Er dachte kurz nach. »Ich habe das Geld nicht«, wandte er ein. »Ein Umschlag mit zurechtgeschnittenen Zeitungen reicht auch.« »Hm.« Er war nicht überzeugt, aber immerhin hatte er auch nicht nein gesagt. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Die Zeit drängte. »Werden Sie es machen? Es ist die einzige Chance.« »Was tue ich, wenn er mich auch aufschlitzen will, so wie den Fleischer? Ich schätze, der Kerl will nicht das Geld, sondern mich.« Genau das dachte ich auch. »Ich werde mich in Ihrer Nähe ver stecken. Er hat keine Chance.« »Und wenn er merkt, dass ich ihn reinlegen will und mich umlegt, bevor Sie eingreifen können?« Ich zuckte die Schultern. »Ein Restrisiko besteht immer.« Baxter grinste wieder. Er zog seine Schreibtischschublade auf und nahm einen hübschen doppelläufigen Remington Double Derringer he raus. Fast zärtlich streichelte er die Perlmuttgriffe. »Also los, Connor, lassen Sie uns den Dreckskerl schnappen.« * Ich sah auf meine Uhr. Halb elf. Das gelbe Licht der Gaslaternen reich te nicht aus, um die dunklen Gassen zu erhellen. Ich hatte mich von einem Taxi einige Straßen entfernt absetzen lassen und war das letzte Stück zu Fuß gegangen, immer im Schutz der Schatten. Das Gelände war wie ausgestorben. 82
Ein blechernes Geräusch hinter mir ließ mich herumschnellen, aber nur eine Ratte kam hinter einem Stapel Paletten hervor und lief an ei ner Mauer entlang in Richtung Wasser. War er schon hier? Irgendwo, in den Schatten, die sich zu bewe gen schienen, hinter einer Mauer versteckt und wartete auf Baxter, um ihn zu töten? Ich war sicher, dass er nicht an dem Geld interessiert war. Meine Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, aber ich konnte niemanden sehen. Ich hätte mir gern eine Lucky angesteckt, doch der Lichtschein hätte mich verraten. Ein Cadillac bog um die Kurve und fuhr langsam die Straße ent lang. Vor der Lagerhalle am Ende der Straße hielt er an. Die Schein werfer erloschen, aber das Licht einer Gaslaterne fiel auf den Wagen. Ich erkannte Baxter am Steuer und wartete. Warum stieg er nicht wie verabredet aus, stellte die Tasche neben den Wagen und suchte sich einen geschützten Standort? Was konnte ich tun, wenn der Mörder aus einem sicheren Versteck auf ihn schießen würde? Nein, dachte ich, er würde nicht schießen. Er musste ihn mit sei nen eigenen Händen töten. Er wollte das Blut seines Opfers spüren. In diesem Moment wusste ich, auf wen ich wartete. Jedes Mosaikteilchen fiel an seinen richtigen Platz. Wie hatte ich die ganze Zeit nur so blind sein können? Im selben Augenblick tauchte Olivier Lambert in den Schatten hin ter dem Cadillac auf und rannte auf den Wagen zu. Was war mit Bax ter los? Warum stieg er nicht endlich aus? Hatte er Lambert gesehen? Ich lief los, brüllte und versuchte, Lamberts Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, doch er drehte sich nicht einmal um. Dann hatte er den Cadillac erreicht, öffnete die Tür. Ein Schuss ging los. Lambert fiel auf seine Knie, ganz langsam, mir direkt vor die Füße. Er hielt seine rechte Schulter. Blut sprudelte zwischen seinen Fin gern hervor und hatte bereits seinen Anzug durchtränkt. Neben ihm auf dem Asphalt lag ein Messer, dass er fallen gelassen hatte. Mit seinem vertrauten Grinsen stieg Baxter langsam aus dem Ca dillac. »Guter Schuss, finden Sie nicht?«, fragte er. »Warum haben Sie sich nicht an den Plan gehalten?«, keuchte ich. 83
»Sie!«, stieß Lambert hasserfüllt aus, als er mich erkannte. »Drecksschwein, Hurensohn, Zuhälter...« »Soll ich die Polizei holen?«, rief Baxter munter. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Lambert in die Jacke griff. Ich warf mich herum. Ich spürte die Kugel, bevor ich den Schuss hörte. »Connor!« Baxters Stimme hallte seltsam in meinem Kopf nach. Ich hörte noch einen Knall, wusste nicht, ob ich ihn mir nur einbildete, dann wurde es still. * »Olivier Lambert war vermutlich schon als Kind wahnsinnig. Er war erst achtzehn, als er seine Mutter mit der Axt erschlagen hat«, sagte Hollyfield. Er saß an meinem Bett. Der weiße Krankenhausstuhl knarrte bedenklich unter seinem mächtigen Körper. Endlich erfuhr ich die gan ze Story. Obwohl ich mir das meiste schon zusammengereimt hatte, gab es noch einige Unklarheiten. Baxters zweiter Schuss hatte Lambert endgültig außer Gefecht ge setzt. Mittlerweile war er ins Gefängniskrankenhaus überführt worden. Dort redete er wie ein Wasserfall. Seinen endlosen Hasstiraden konnte man entnehmen, dass er seine Mutter, seine Schwester und Hutchin son getötet hatte. Er hatte sich vorgenommen, alle auszulöschen, die seiner Schwester die Unschuld geraubt hatten. Gladys, die er für mit schuldig am Untergang seiner Schwester hielt, sollte als Kathleens Mörderin hingerichtet werden. Mich hatte er gebraucht, um sie zu fin den. »Aber ich habe ihm Gladys' Aufenthalt nicht verraten! Wie hat er sie gefunden und die Waffe und die Liste in ihrem Hotelzimmer verste cken können?«, fragte ich und setzte mich auf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sackte ich wieder in die Kissen zurück. Lamberts Kugel hatte zwei Rippen durchschossen und die Lunge gestreift. Es würde noch eine Weile dauern, bis ich wieder auf dem Damm war. Hollyfield erhob sich halb, als ob er mich stützen oder mein Kissen aufschütteln wollte, dann ließ er sich wieder auf den Stuhl zurückfal 84
len. Mir das Kissen zu schütteln ging ihm wohl doch zu weit. »Soll ich eine Schwester rufen?«, brummte er. »Schon gut, Captain. Also, wie hat Lambert Gladys gefunden?« »Das war ein dummer Zufall. Er ist ihr über den Weg gelaufen, als sie Zigaretten holen wollte und hat sie sofort erkannt. Er hat ihr er zählt, dass er Kathleens Bruder ist und sie hat ihn mit auf ihr Zimmer genommen, war froh, jemanden zum Reden zu haben.« Ich schwieg eine Weile und dachte über das Schicksal nach. »Lambert hat eine Menge einstecken müssen, aber das ist keine Entschuldigung. Nicht für das, was er getan hat.« Hollyfield zuckte mit den breiten Schultern. »Von Kindheit an war er krankhaft gläubig. Er glaubt, der Geist Gottes sei schon früh über ihn gekommen.« Hollyfield tippte an seine Stirn. »Sein Zimmer hatte er mit Kruzifix und Heiligen bildchen geschmückt. Er hat fast hündisch seinen Lehrer in der Sonn tagsschule verehrt, der ständig gegen Hurerei und Sauferei gewettert hat. Lamberts Mutter war dummerweise beides: stadtbekannte Nutte und Säuferin. Die anderen Jungen in der Schule haben Lambert ge quält, sein geliebter Lehrer hat ihn als Hurenbrut bezeichnet und ver achtet. Irgendwann ist er dann wohl komplett durchgedreht, hat die Axt genommen und seine Mutter förmlich in Stücke zerlegt. Aber seine Schwester war für ihn eine Heilige. Mensch gewordene Reinheit und Unschuld.« Hollyfield stand auf und ging zum Fenster und lehnte seine Stirn an das Glas. »Kathleen muss gewusst oder zumindest geahnt haben, dass ihr Bruder die Mutter getötet hat«, fuhr er fort, ohne sich umzu drehen. »Wir werden wohl nie erfahren, ob sie ihn aus Angst oder Mitleid nicht angezeigt hat. Auf jeden Fall ist sie kurz nach dem Tod der Mutter nach Chicago gegangen, ohne ihrem Bruder eine Adresse zu hinterlassen. Sie hat nur das Nötigste mitgenommen und sich nachts still und heimlich aus dem Haus geschlichen. Irgendwann hat Lambert sie in Chicago aufgespürt. Er muss sie eine Weile beobachtet haben, um zu sehen, wie sie lebt. An dem Abend, als Kathleen ermor det wurde, hat er sie besucht, um sie auf den rechten Pfad zurückzu bringen, wie er sagt. Er wollte, dass sie mit ihm nach Alabama zurück kehrt und wieder auf der Farm lebt. Aber sie hat ihn ausgelacht und 85
ihm gedroht: Wenn er sie nicht in Ruhe lassen würde, würde sie ihn wegen des Mordes an ihrer Mutter anzeigen. Sie habe jetzt reiche und mächtige Freunde. Er ist durchgedreht und hat seine Schwester getö tet.« »Warum waren ihre Kleider zerrissen?«, fragte ich, aber eigentlich wollte ich es gar nicht so genau wissen. »Er behauptet, das wäre der Teufel gewesen«, sagte Hollyfield leise. Er ließ sich wieder vorsichtig auf den Stuhl sinken. »Was immer das heißen soll. Er hatte eine ziemlich kranke Beziehung zu seiner Schwester, würde ich sagen.« Hollyfield zuckte verständnislos die Ach seln. »Lamberts größter Wunsch war, mit ihr allein wieder auf der Farm zusammen zu leben. Vielleicht hat er versucht, sie zu vergewalti gen - bevor oder nachdem er sie getötet hatte -, es aber nicht ge schafft. Da müsste man in seinen Kopf reinschauen können.« »Danke, nein«, murmelte ich. »Am nächsten Tag hat er sich ein anderes Hotelzimmer genom men und so getan, als wäre er gerade erst in Chicago angekommen«, erklärte Hollyfield weiter. »Dann hat er Kathleen besucht. Ganz der arglose liebende Bruder aus Alabama, der in ihrer Wohnung leider nur auf die Polizei traf. Er wurde von uns über den Mord an seiner Schwes ter unterrichtet und ins Leichenschauhaus gebracht, wo er Ihren Freund Brannigan getroffen hat. Sie hat er dann engagiert, um an Gladys heranzukommen.« »Vielleicht wollte er auch insgeheim, dass ich ihn schnappe«, sag te ich nachdenklich. »Hören Sie bloß mit dem Scheiß auf, Connor!« Hollyfield warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Wenn's Ihnen nicht gut geht, komme ich besser morgen wieder.« Es klopfte und Betty trat ein. Heute hatte sie eine kunstvolle Fri sur, die an einen Heuhaufen erinnerte und das dünne Sommerkleid schmiegte sich mit jeder Bewegung an ihren Körper. Nagellack und Lippenstift waren aprikosenfarben. Mit ihr schwebte eine wuchtige Parfumwolke ins Zimmer. 86
»Pat!«, zwitscherte sie wie eine Lerche. »Ich bin so froh, dass es Ihnen wieder besser geht.« Da der einzige Stuhl besetzt war, setzte sie sich zu mir auf die Bettkante. Captain Hollyfield verabschiedete sich und Betty übernahm seinen Stuhl. »Jetzt wo es Ihnen doch wieder besser geht, Boss...« Sie stockte kurz. »Vielleicht könnten Sie mir mein Gehalt zahlen. Ich muss... die Miete... verstehen Sie?« Sie errötete sanft. »Auf meinem Schreibtisch liegt ein Umschlag. Der ist für Sie, Bet ty.« Ich unterdrückte ein Grinsen. Fast hatte ich geglaubt, Betty hätte sich Sorgen um mich gemacht. Gladys hatte mich heute Morgen besucht. Ihr Haar war wieder lackschwarz, nichts erinnerte mehr an das unauffällige Mädchen aus dem Hotelzimmer, das mir den Schlafanzug gekauft hatte. Sie war ohne Schwierigkeiten aus allem herausgekommen und hatte sich mit einem Kuss auf die Wange bei mir bedankt. Wenn ich wieder gesund war, wollten wir irgendwann zusammen essen gehen. Ein schales Ge fühl war zurückgeblieben. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Wieder klopfte es. Ein Krankenzimmer war schlimmer als ein Tau benschlag. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so beliebt war. »Connor, mein Junge!« Brannigan polterte ins Zimmer. »Gerade habe ich das Neueste erfahren: Olivier Lambert ist vor zwei Stunden an den Folgen eines Treppensturzes gestorben.« Ich ließ die Nachricht sacken. »Treppensturz«, wiederholte ich langsam. »Das ist unmöglich. Lambert hat es noch schlimmer erwischt als mich. Und selbst mir ist im Moment nicht nach Treppensteigen zu mute.« Mitleidig schaute Brannigan mich an. »Ich glaube auch nicht, dass er zur Treppe gelaufen ist, Pat«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Wir wissen doch, wie weit O'Brians Macht reicht. Aber es gibt natür lich, wie in solchen Fällen üblich, keine Beweise.« Ende 87